Geschichten vom Krieg

Martin Auer
Geschichten vom Krieg








Dieses Manuskript wurde vom Autor zum privaten Gebrauch oder zum Gebrauch in Schulen und anderen pädagogischen Einrichtungen zur Verfügung gestellt. Die Rechte liegen bei den angeführten Verlagen, wo kein Verlag angeführt ist, beim Autor.

Der kommerzielle Gebrauch ist an die Einwilligung der jeweiligen Verlage bzw. des Autors gebunden.


Wenn Sie diesen Manuskript benutzen, teilen Sie dem Autor doch Ihre Erfahrungen, Ihre Kritik und Ihre Anregungen mit.

E-Mail: martin.auer@chello.at

FAX: +43 1 913 66 03

Brief: Martin Auer, Rotenmühlgasse 44, A-1120 Wien







Vorwort, das man auch nachher lesen kann

Die UNO-Vollversammlung hat das Jahr 2000 zum “Jahr der Kultur des Friedens” erklärt. Aus diesem Anlass habe ich diese kleine Sammlung von Geschichten zusammengestellt.

Seit ich Bücher für Kinder schreibe, war es mir immer ein wichtiges Anliegen, das schwierige Thema “Krieg und Frieden” in einer für Kinder verständlichen Form zu behandeln. Mir scheint, dass es nicht genügt, den Kindern zu erzählen, dass Krieg schrecklich und Frieden viel schöner ist. Obwohl das natürlich schon ein Fortschritt ist gegenüber einer Jugendliteratur, die Soldatentum und Kriegstaten verherrlicht, die es ja auch gegeben hat. Aber die meisten Kinder in unseren Breiten wissen, dass Krieg etwas Schreckliches und Frieden viel schöner ist. Aber ist Frieden möglich? Oder ist der Krieg nicht ein unvermeidliches Schicksal, das immer wieder über die Menschen kommt? Lehrt uns nicht der Geschichtsunterricht ebenso wie die täglichen Abendnachrichten, dass es Krieg immer und überall auf der Welt gegeben hat und gibt? Kultur des Friedens, Verständnis für die anderen, friedliche Beilegung von Konflikten - das ist alles schön und gut: Aber was ist, wenn die anderen nicht wollen?

Ich kann mir nicht vorstellen, wie wir den Krieg aus dem Leben der Menschheit verbannen können, wenn wir nicht nach den Ursachen forschen, die den Krieg hervorbringen. Erst, wenn man die Ursachen einer Krankheit erkennt, kann man sie gezielt und wirkungsvoll bekämpfen.

Ich habe zwar mein Geschichtsstudium an der Uni nur geschwänzt, aber für mich zu Hause habe ich das Studium der Geschichte bis heute fortgesetzt, weil mich als Schriftsteller natürlich immer die Frage beschäftigt, was denn das Tun und Denken der Menschen bestimmt. Aber natürlich kann ich nicht behaupten, dass ich den Stein der Weisen gefunden hätte und in meinen Geschichten restlos erklären könne, was denn die Ursachen des Krieges sind. Und ich kann auch kein fertiges Rezept zur Vermeidung künftiger Kriege vorlegen. Aber die Geschichten wollen doch mehr sein als sogenannte “Denkanstöße”. Die Dichter wollen immer nur Denkanstöße geben, aber irgendwann muss mal auch jemand zu denken beginnen. Die Geschichten, die ich hier gesammelt habe, wollen eine Richtung vorschlagen, in der man weiterdenken könnte, sie wollen ein Gefühl dafür vermitteln, wo und wie nach den Ursachen des Krieges geforscht werden könnte.

Die Geschichte "Der Träumer" entstand während einer Workshopwoche im Ötztal, die die Kulturinitiative "Feuerwerk" zum Thema "Frei wie Wind und Wolken" veranstaltete. Ich schrieb dort mit den Kindern ein "Wind- und Wolkenbuch".

"Der blaue Junge" schrieb ich für die ZDF-Kinderserie "Siebenstein". Ich schrieb sie kurz nach der "Wende" 1989, als die ganze Welt von einer kurzfristigen Friedenseuphorie befallen war. Als die Geschichte in Buchform erschien, hatten wir bereits den Golfkrieg erlebt. In dieser Geschichte geht es um die seelische Verhärtung, die Angst bewirken kann. Die Pointe der Geschichte ist nicht, dass der Junge am Schluss sein Gewehr wegwirft, sondern warum er es wegwirft. "Du könntest dein Gewehr ja wegwerfen", genügt nicht. Erst muss Hoffnung auf Veränderung da sein.

"Der Krieg auf dem Mars" ist ein Versuch zu zeigen, wie die Tatsache, dass jeder seine - eigentlich harmlosen - Eigeninteressen verfolgt, zu Ergebnissen führen kann, die keiner gewollt hat.

Ähnliche Mechanismen zeigt auch "Auf dem Karottenplaneten". Es zeigt, wie ein bestimmtes System des Zusammenlebens eine Eigendynamik entwickeln kann, so dass es sehr schwer wird, etwas daran zu ändern, und sogar die, die durch das System eigentlich benachteiligt werden, zu seinen Verteidigern werden.

Auch in "Der Sklave" geht es darum, wie es geschehen kann, dass Menschen sich Systeme schaffen, zu deren Gefangenen sie dann selber werden.

In "Die Leute vom Planeten Hortus" geht es schlicht und einfach um die Kosten des Kriegführens.

"Der seltsame Krieg" zeigt eine mögliche Form des passiven Widerstands. Welche Art des Widerstands möglich ist, hängt freilich von den Zielen der Angreifer ab. Wenn es den Angreifern darum geht, das andere Volk auszurotten, wird diese Form des Widerstands nicht möglich sein. Doch die meisten Kriege werden geführt, um Völker zu unterwerfen, nicht um sie auszurotten.

"Arobanai" berichtet vom Leben der Pygmäen als Beispiel für die Lebensform der Sammlerinnen und Jäger. Sie beruht auf den Forschungen von Colin Turnbull.

"Sternenschlange" dagegen ist die Geschichte eines jungen aztekischen Kriegers und die Geschichte der Entstehung des Aztekenreiches.

"Bericht an den Rat der vereinten Sonnensysteme" ist die Zusammenfassung und ist vielleicht das, was der Blaue Junge erkannt hat in den Jahren, in denen er durchs Fernrohr den blauen Planeten studierte. Die erste Fassung dieser Geschichte schrieb ich auch bei jener Workshopwoche im Ötztal, bei der die Kinder sich von mir Geschichten wünschen durften. Ein Mädchen, das zufällig den gleichen Nachnamen trägt wie ich und mit Vornamen Nina heißt, brachte mir damals einen Zettel auf dem stand: "Martin bitte sag mir, warum es den Krieg gibt." Die Geschichte beruht unter anderem auf den Forschungen von Lewis Mumford (“Der Mythos der Maschine”), aber natürlich auch auf meinen eigenen Überlegungen. Früher war ich der Meinung, dass es eine Zeit gegeben hat, wo die Menschen den Krieg überhaupt nicht kannten. Als ich bei Jane Goodall von einem Krieg unter Schimpansen las, musste ich diese Meinung revidieren. Auch in der Epoche der Sammlerinnen und Jäger*1 konnte es geschehen, dass eine Gruppe neue Jagdgründe suchen musste und dabei einer anderen ins Gehege kam. Doch mit der Vertreibung der einen Gruppe war der Krieg vorbei. Er konnte vorkommen, aber er war kein entscheidender Bestandteil der Kultur. Erst die Entwicklung der Landwirtschaft in Form von Ackerbau oder Viehzucht gab den Menschen die Möglichkeit, Vorräte anzulegen, so dass sie überhaupt die Zeit für Kriegszüge hatten, und auf Seiten der Opfer waren diese Vorräte etwas, das man rauben konnte, ohne die Beraubten dadurch unbedingt zu vernichten. Der Krieg wurde zu einer ständigen Einrichtung, weil er ein Mittel war, die Überschüsse kleinerer Menschengruppen zusammenzufassen und in Maßnahmen zu investieren, die eine Erhöhung der Produktivität zur Folge hatten, also die Erzeugung von noch mehr Überschüssen, die wieder in den Fortschritt investiert werden konnten usw. Und zwar ein weit effektiveres

Mittel, als es etwa Verhandlungen und freiwillige Zusammenschlüsse gewesen wären. Dabei ist nicht so entscheidend, was die Motivation der einzelnen Machthaber und Krieger war. In der Natur entstehen Eigenschaften wie, sagen wir, Hörner durch zufällige Mutation. Ob die Hörner erhalten bleiben oder verschwinden hängt davon ab, ob sie ihren Trägern einen Fortpflanzungsvorteil bieten oder hinderlich sind. Ein Häuptling mag einen Krieg anfangen aus Hass auf die Nachbarn, aus Geltungsdrang, aus religiösen Gründen, aus purem Übermut, aus aufgestauter Aggressivität, aus sexueller Frustration, was auch immer. Aber als ständige Einrichtung erhalten bleiben kann der Krieg, weil er die Zusammenfassung der Mensch in großen Reichen befördert und so die Zusammenfassung ihrer Überschüsse ermöglicht, weil er zweitens einem großen Teil dieser Menschen mehr an Überschüssen abverlangt, als sie freiwillig bereit wären, in die gemeinsame Sache oder in die Zukunft zu investieren, weil er also letztlich den “Fortschritt” in Gestalt der Erhöhung der Produktivität der menschlichen Arbeit befördert. Der Vorteil für die Gesellschaft muss allerdings kein Vorteil für das Individuum sein. Eine Gemeinschaft von 500 freien Bauernfamilien wird glücklicher gewesen sein als ein Heer von 100.000 Bauernfamilien unter der Herrschaft eines Kriegerhäuptlings. Doch die Hauptstadt mit Tempeln und Priesterschulen, wo der Lauf der Sterne erforscht wurde, konnte sich nur das Reich des Kriegerhäuptlings leisten.

Die Aggression, zu der Menschen fähig sind, ist sicher eine Voraussetzung dafür, dass überhaupt Kriege geführt werden können, aber sie ist nicht ihre Ursache. Waren die jungen Männer in Österreich-Ungarn 1914 etwa aggressiver als, sagen wir, 1880? Oder ist der Kaiser auf seine alten Tage aggressiv geworden? Oft muss die Aggressivität der Menschen und ihr Hass auf die Nachbarn erst geschürt werden, damit sie bereit sind, in den Krieg zu ziehen oder ihre Kinder ziehen zu lassen. Oft muss aber die Aggressivität der Soldaten auch gezügelt werden. Während man auf der einen Seite für bestimmte Spezialeinheiten Menschen zu Berserkern erzieht, wie z.B. die Green Berets in Vietnam, braucht eine moderne Armee in erster Linie Menschen, die diszipliniert sind und verlässlich funktionieren, also sich möglichst wenig von Emotionen leiten lassen. So wichtig alle Erziehungsmaßnahmen sind, die dem Abbau von Aggressionen dienen, dem Verständnis für fremde Kulturen, der Fähigkeit zur friedlichen Konfliktlösung im Privaten - die Ursachen des Kriegs können sie nicht beseitigen. Die industrielle Marktwirtschaft, die heute das Zusammenleben der Menschen auf unserem Planeten beherrscht, ist wie keine andere Gesellschaftsform vorher auf die Erhöhung der Produktivität aus, darauf, noch mehr Güter mit noch weniger Arbeit zu erzeugen und die Überschüsse sofort wieder in die Steigerung der Produktion und der Produktivität zu investieren. Das führt nicht nur dazu, dass wir bald an die Grenze dessen stoßen, was der Planet ökologisch verkraften kann. Hier liegt auch die Wurzel neuer Kriege. Man sagt, dass die Kriege der Zukunft um knapper werdende Ressourcen geführt werden könnten, z.B. um Wasser. Das ist denkbar. Doch ebenso denkbar ist es, dass die künftigen Kriege zwischen den großen Wirtschaftsblöcken geführt werden, und es darum gehen wird, wer wem etwas verkaufen darf.

Um künftige Kriege zu vermeiden müssen sich 6 Milliarden Menschen - und bald werden es 7 und 8 Milliarden sein - auf neue Formen des Wirtschaftens und des Zusammenlebens einigen. Nicht mehr die ständige Steigerung der Produktivität darf das Ziel sein - mit immer weniger Arbeit immer mehr zu erzeugen; nicht der Austausch von Dingen darf der Hauptinhalt zwischenmenschlichen Handelns sein; die Tatsache, dass die Dinge mit immer weniger Arbeit hergestellt werden können, darf nicht dazu führen, dass immer mehr Dinge hergestellt werden, sondern dass die Menschen die freiwerdende Zeit dazu benutzen können, soziale (“Dienst”-)Leistungen miteinander auszutauschen: Kunst, Unterhaltung, Pflege, Heilung, Unterricht, Forschung, Sport, Philosophie...


Wenn jedes Werkzeug auf Geheiß, oder auch vorausahnend, das ihm zukommende Werk verrichten könnte, wie des Dädalus Kunstwerke sich von selbst bewegten, oder die Dreifüße des Hephästus aus eigenem Antrieb an die heilige Arbeit gingen, wenn so die Webschiffe von selbst webten, so bedürfte es weder für den Werkmeister der Gehilfen, noch für die Herren der Sklaven.

Aristoteles


Wären wir nicht eigentlich soweit?





Der Träumer

Es war einmal ein Mann, der war ein Träumer. Er dachte sich zum Beispiel: Es muss doch möglich sein, zehntausend Kilometer weit zu sehen. Oder er dachte sich: Es muss doch möglich sein, Suppe mit der Gabel zu essen. Er dachte: Es muss doch möglich sein, auf dem eige­nen Kopf zu stehen, und er dachte sich:

Es muss doch möglich sein, ohne Angst zu leben.

Die Leute sagten zu ihm: ,,Das alles geht doch nicht, du bist ein Träumer!" Und sie sagten: ,,Du musst die Augen aufma­chen und die Wirklichkeit akzeptieren!" Und sie sagten: ,,Es gibt eben Naturge­setze, die lassen sich nicht ändern!"

Aber der Mann sagte: ,,Ich weiß nicht... Es muss doch möglich sein, unter Wasser zu atmen. Und es muss doch möglich sein, allen zu essen zu geben. Es muss

doch möglich sein, dass alle das lernen, was sie wissen wollen. Es muss doch möglich sein, in seinen eigenen Magen zu gucken."

Und die Leute sagten: ,,Reiß dich zusam­men, Mensch, das wird es nie geben. Du kannst nicht einfach sagen: Ich will und deswegen muss es geschehen. Die Welt ist, wie sie ist, und damit basta!"

Als das Fernsehen erfunden wurde und die Röntgenstrahlen, da konnte der Mann zehntausend Kilometer weit sehen und auch in seinen eigenen Magen. Aber niemand sagte zu ihm: ,,Na gut, du hast ja doch nicht ganz Unrecht gehabt." Auch nicht, als das Gerätetauchen erfun­den wurde, sodass man problemlos un­ter Wasser atmen konnte. Aber der Mann dachte sich: Na also. Vielleicht wird es sogar einmal möglich sein, ohne Kriege auszukommen.


Aus: Martin Auer, “Der bunte Himmel”, Gabriel 1995






Der blaue Junge

Weit draußen hinter den Sternen ist alles ganz anders als hier. Und noch weiter draußen ist alles noch ganz anders als dort, wo alles ganz anders ist als hier.

Aber wenn man ganz weit fliegen würde, ganz weit, ganz fern, dorthin, wo alles ganz anders ist als überall, dort wäre es vielleicht dann wieder fast genauso wie hier.

In dieser fernen Gegend ist vielleicht ein Planet, so groß wie unsere Erde, und auf diesem Planeten leben vielleicht Leute, die fast genauso aussehen wie wir, nur dass sie blau sind und ihre Ohren zuklappen kön­nen, wenn sie nichts hören wollen.

Und auf diesem fernen Planeten war vielleicht ein­mal ein großer Krieg ausgebrochen, und viele der blauen Leute waren gestorben. Viele Waisenkinder waren zurückgeblieben, und auf den Trümmern eines Hauses, das die Bomben zerstört hatten, saß ein klei­ner blauer Junge und weinte um seinen Vater und seine Mutter. Er saß lange Zeit so da und weinte, aber dann hörte er auf, denn er hatte alle Tränen geweint, die er gehabt hatte. Er klappte seinen Kragen in die Höhe, steckte die Hände in die Taschen und ging davon. Wenn er einen Stein sah, kickte er ihn fort, und wenn er eine Blume sah, trat er darauf.

Ein kleiner Hund kam ihm entgegen, sah ihn an und wedelte mit dem Schwanz. Dann drehte er um und ging neben dem Jungen her, so, als hätte er sich entschlossen, ihn zu begleiten.

»Geh weg!« sagte der Junge zu dem Hund. »Du musst weggehen. Wenn du bei mir bleibst, muss ich dich lieb haben, und ich will in meinem ganzen Leben nie­manden mehr lieb haben.«

Der Hund sah ihn an und wedelte lustig mit dem Schwanz. Da fand der Junge ein Gewehr, das neben einem toten Soldaten lag. Er hob das Gewehr auf und zeigte es dem Hund. »Dieses Gewehr kann dich erschie­ßen!« sagte er böse. Da lief der Hund fort.

»Dich nehme ich mit!« sagte der Junge zu dem Ge­wehr. »Du wirst mein guter Kamerad sein.« Und er schoss mit dem Gewehr auf einen toten Baum.

Dann fand er in einem Feld einen verlassenen Flug­roller. Er setzte sich hinein und versuchte ihn zu starten. Der Flugroller funktionierte.

»Jetzt habe ich ein Gewehr und einen Flugroller«, sagte der Junge. »Die sollen jetzt meine Familie sein. Ich hätte auch einen Hund haben können, aber er wird vielleicht getötet werden, und dann werde ich vor Weinen sterben müssen.«

Er flog mit dem Flugroller, bis er ein Haus sah, aus dem Rauch kam. »Dort lebt noch jemand«, sagte der Junge. Er flog um das Haus herum und schaute durch die Fenster. Es war nur eine alte Frau da, die etwas kochte.

Der Junge stellte seinen Flugroller vor dem Haus ab, nahm sein Gewehr und ging hinein. »Ich habe ein Gewehr!« sagte der Junge zu der alten Frau. »Du musst mir etwas zu essen geben!«

»Ich würde dir auch so etwas geben«, sagte die alte Frau, »du kannst dein Gewehr ruhig wegstellen.«

»Du sollst nicht nett sein zu mir!« sagte der Junge böse. »Mein Gewehr kann dich erschießen!«

Da gab die alte Frau ihm etwas zu essen, und er flog weiter.

So lebte der Junge nun. Er richtete sich ein Versteck ein in einem verlassenen Haus. Wenn er hungrig war, flog er irgendwohin, wo es Leute gab, und zwang sie mit seinem Gewehr, ihm etwas zu essen zu geben.

Sonst flog er über die verlassenen Schlachtfelder und sammelte Teile von Waffen und Fahrzeugen, die dort liegengeblieben waren. Das brachte er alles in sein Versteck.

»Ich werde mir einen Riesenpanzerroboter bauen!« sagte er zu sich selbst. »Er wird hundert Meter groß sein und hunderttausend Tonnen schwer, und ganz oben in seinem Kopf werde ich meine Lenkkabine haben. Dann bin ich mächtig, und niemand kann mir etwas tun.«

Eines Tages kam an seinem Versteck ein Mädchen vorbei. Der Junge ging mit seinem Gewehr hinaus und sagte: »Du musst weggehen! Mein Gewehr kann dich erschießen !

»Ich will doch gar nichts von dir«, sagte das Mäd­chen. »Ich bin nur schauen gegangen, ob die Pilze wieder wachsen.«

»Du musst weggehen!« sagte der Junge. »Ich will niemanden bei mir haben!«

»Bist du denn ganz allein?« fragte das Mädchen.

»Nein«, sagte der Junge, »ich habe ein Gewehr und einen Flugroller, die sind meine Familie. Und eines Tages werde ich einen Riesenpanzerroboter haben!«

»Hast du denn niemand Lebendiges'?« fragte das Mädchen.

»Ich hätte einen Hund haben können. Aber wenn man ihn getötet hätte, hätte ich vor Weinen sterben müssen.«

»Ich habe auch niemand Richtiges«, sagte das Mädchen. »Wir könnten zusammenbleiben.«

»Ich will niemand haben, den ein Gewehr erschießen kann!«

»Dann musst du dir eben jemand suchen, den kein Gewehr erschießen kann!« sagte das Mädchen und ging fort.

Der Junge aber baute sich einen Riesenpanzerroboter und setzte sich hinein. Ganz oben in den Kopf setzte er sich, dort, wo er die Lenkkabine eingebaut hatte.

Dann machte er sich auf und führ in seinem Rie­senpanzerroboter durch das Land. Überall schrieen die Leute, wenn sie ihn kommen sahen, und wollten da­vonlaufen. Aber dem Riesenpanzerroboter konnten sie nicht entkommen.

Der Junge hatte oben in seiner Lenkkabine ein Mikrofon, und alles, was er da hineinsagte, kam brüllend aus dem Mund des Riesenpanzerroboters. »Ist hier jemand, den ein Gewehr nicht erschießen kann?« brüllte der Roboter. Aber wo immer er hinkam, liefen die Leute nur vor ihm davon, und nie fand er jemanden, den ein Gewehr nicht erschießen kann.

Eines Tages aber sah er von seiner Lenkkabine hoch oben, dass da unten jemand nicht weglief vor ihm, sondern stehen blieb und etwas hinaufrief. Er war aber so hoch oben, dass er es nicht hören konn­te.

»Vielleicht ist das jemand, den ein Gewehr nicht erschießen kann?« dachte der Junge und kletterte hin­unter. Es war aber die alte Frau, die ihm damals Essen gekocht hatte. »Wolltest du mir etwas sagen?« fragte der Junge.

»Ja«, sagte die alte Frau. »Ich habe von jemandem gehört, den ein Gewehr nicht erschießen kann. Ich dachte, das muss ich dir sagen.«

»Und wer ist das?« fragte der Junge.

»Es ist ein alter Mann, der oben auf dem Mond wohnt. «

»Dann muss ich ihn suchen«, sagte der Junge ,»denn ich will niemanden haben, den ein Gewehr erschießen kann.« Und er legte einen Hebel um, und sein Rie­senpanzerroboter verwandelte sich in eine Riesen­panzerrakete und flog mit ihm zum Mond.

Oben auf dem Mond musste der Junge lange su­chen. Aber schließlich fand er den alten Mann. Der saß hinter einem Fernrohr und schaute auf den blauen Planeten hinunter.

»Bist du der, den kein Gewehr erschießen kann?« fragte der Junge den alten Mann.

»Ich glaube schon«, sagte der alte Mann.

»Und was siehst du da in deinem Rohr'?«

»Ich studiere die Leute auf dem Planeten un­ten.«

»Kann ich vielleicht bei dir bleiben?« fragte der Junge.

»Vielleicht«, sagte der alte Mann. »Warum willst du denn gerade bei mir bleiben?«

»Weil ich bei niemandem bleiben will, den man erschießen kann. Als meine Eltern gestorben sind, habe ich alle Tränen geweint, die ich hatte. Ich hätte einen Hund haben können, aber wenn man ihn getö­tet hätte, hätte ich vor Weinen sterben müssen. Ich hätte auch bei einer alten Frau bleiben können oder bei einem kleinen Mädchen. Aber sie waren nicht gepanzert gegen Gewehrkugeln, und wenn man sie getötet hätte, hätte ich vor Weinen sterben müs­sen.«

»Es ist gut«, sagte der alte Mann, »du kannst bei mir bleiben. Mich kann niemand erschießen, denn hier gibt es keine Gewehre.«

»Ist es nur das?« fragte der Junge.

»Ja, nur das«, sagte der alte Mann.

»Ich habe aber mein Gewehr mitgebracht.«

»Schade«, sagte der alte Mann, »jetzt kannst du nicht bei mir bleiben. Dein Gewehr könnte mich erschießen. «

»Dann muss ich also wieder gehen«, sagte der Junge.

»Ja«, sagte der alte Mann.

»Schade«, sagte der Junge.

»Tut es dir leid?« fragte der alte Mann.

»Ja«, sagte der Junge, »ich wäre gern hier geblie­ben.«

»Du könntest vielleicht dein Gewehr wegwerfen?« sagte der alte Mann.

»Vielleicht«, sagte der Junge.

»Und dann könntest du doch bei mir bleiben«, sagte der alte Mann.

»Vielleicht«, sagte der Junge. »Und was würde ich dann tun?«

»Du könntest durch dieses Fernrohr schauen. Dann könntest du vielleicht herausfinden, warum die Leute da unten Kriege führen.«

»Und warum führen sie Kriege?«

»Ja, ich weiß es auch nicht. Es hat wohl damit zu tun, dass sie nicht genug voneinander wissen. Dass sie so viele sind und ihr Leben so kompliziert ist, dass keiner weiß, was seine Taten für Folgen haben. Dass sie nicht wissen, woher das Fleisch kommt, das sie essen, und wohin das Brot geht, das sie backen. Dass sie nicht wissen, ob aus dem Eisen, das sie aus der Erde holen, Bagger gemacht werden oder Kanonen. Dass sie nicht wissen, ob sie das Fleisch, das sie essen, nicht anderen wegessen. Wenn sie sich so von oben sehen könnten, würden sie vieles vielleicht besser verstehen. «

»Dann müsste man es ihnen zeigen?« sagte der Junge.

»Vielleicht«, sagte der alte Mann, »aber ich bin zu alt und zu müde dazu.«

Da erst ließ der Junge sein Gewehr fallen, und es fiel durch den Weltraum hinunter, bis auf den Planeten, und dort zerbrach es.

Der Junge aber blieb lange, lange Zeit bei dem alten Mann auf dem Mond und schaute durch das Fernrohr und studierte die Leute da unten. Und eines Tages ist er vielleicht hinuntergeflogen und hat ihnen erklärt, was sie falsch gemacht haben.


Aus: Martin Auer, “In der wirklichen Welt”, Beltz & Gelberg 1990
Auch erschienen als “Der blaue Junge”, Beltz & Gelberg 1991






Auf dem Karottenplaneten

Auf einem winzigen Planeten, da lebten einmal welche, die waren fleißig, und andere, die wa­ren weniger fleißig. Dann gab es noch ein paar ganz Fleißige und ein paar ganz Faule. Mit einem Wort - es war so wie überall im Universum.

Nur dass die Faulen und die Fleißigen alles, was sie erzeugten - es waren hauptsächlich verschiedene Sor­ten Karotten -, auf einen Haufen schmissen und dann gemeinsam davon aßen. Das war nicht so wie überall.

Eines Tages aber sagten ein paar ganz Fleißige:

Jetzt reicht's aber. Wir schuften und schuften, und dann kommen die andern daher, die den ganzen Tag auf dem Rücken liegen und in die Sonne pfeifen, und wollen unsere Karotten essen.” Und sie schmissen ihre Karotten nicht mehr auf den gemeinsamen Hau­fen, sondern behielten sie zu Hause und fraßen sich dicke Wänste an.

Die ganz Faulen zuckten nur die Achseln und aßen weiter vom großen Haufen, und natürlich aßen sie mehr davon weg, als sie selber hinbrachten.

Da merkten die Mittelfleißigen und die Mittelfau­len, dass jetzt doch auf jeden weniger kam; denn die ganz Fleißigen hatten ja immer besonders viele Ka­rotten gebracht, mehr, als sie selber aßen.

Also sagten die Mittelfleißigen: “Dann wollen wir aber auch unsere Karotten selber behalten”, und sie schmissen sie nicht mehr auf den großen Haufen, son­dern machten sich jeder ein kleines Häuflein bei sich zu Hause.

Und die Mittelfaulen machten es ebenso. “Es bleibt uns ja gar nichts anderes übrig”, sagten sie zu den ganz Faulen.

Und jetzt hatte jeder seinen eigenen Karottenhau­fen vor seiner Hütte, und wenn er Lust auf eine Karottensorte hatte, die nicht in seinem Haufen vor­kam, dann musste er sehen, ob er sie bei jemand anderem eintauschen konnte.

Da fing bald ein Kommen und Gehen an, und nach der Arbeit hatten die Leute noch stundenlang zu tun mit Karottentauschen, bis jeder alle Karottensorten im Hause hatte, die er brauchte oder zu brauchen glaubte.

Das sind ja ganz neue Sitten!” sagten die ganz Faulen unter sich. Für sie gab es jetzt keinen gemein­samen Haufen mehr, von dem sie hätten schmarotzen können. Daraus zog aber jeder eine andere Lehre. Einige sagten sich: “Na schön, da muss ich eben doch mehr arbeiten.” Das war allerdings nicht so einfach, denn wenn so ein bekehrter Fauler auf ein Feld kam, um dort Karotten zu pflanzen, war da meistens einer, der sagte: “He, hier habe doch immer ich Karotten gepflanzt, das ist mein Feld!”

Andere aber gingen einfach zu den Hütten der Rei­cheren und nahmen sich dort von den Karottenhau­fen, worauf sie gerade Lust hatten. “Wir haben immer vom gemeinsamen Haufen genommen. Und wenn es jetzt viele Haufen gibt, dann sind das eben viele ge­meinsame Haufen. Wir nehmen uns jedenfalls davon”, sagten sie.

Das war natürlich den Reicheren nicht recht, und einige fingen an, Zäune um ihre Karottenhaufen zu bauen. Da mussten bald alle Zäune um ihre Haufen bauen. Denn je mehr Leute Zäune um ihre Haufen hatten, um so mehr holten sich die ganz Faulen, die an den alten Sitten festhielten, von den Haufen ohne Zäune.

Über kurz oder lang hatten alle, die einen Haufen hatten, auch einen Zaun darum. Jetzt hatten sie nach der Arbeit nicht nur mit dem Tauschen, sondern auch noch mit dem Flicken und Ausbessern ihrer Zäune zu tun und mit dem Aufpassen, dass keiner drüberklet­terte.

Bald murrten einige: “Früher haben wir uns nach der Arbeit alle beim großen Karottenhaufen getroffen und Witze erzählt und Bockspringen veranstaltet. Jetzt hocken wir nach der Arbeit nur noch zu Hause, bewachen unsere Karotten und bessern unsere Zäune aus. Und am Morgen sind wir todmüde und können gar nicht gescheit Karotten pflanzen. Irgendwie ha­ben wir jetzt viel mehr zu tun als früher, aber die Karotten werden davon nicht mehr.”

Und einige schlugen vor, man sollte doch wieder zur alten Sitte mit dem großen gemeinsamen Haufen zurückkehren. “Lieber füttern wir doch ein paar ganz faule Schmarotzer mit, als dass wir uns dauernd mit dem Tauschen und Aufpassen und Zäuneflicken ab­plagen!”

Aber die Reichsten sagten: “Nein, wenn wir zur alten Sitte zurückkehren, dann heißt das, das Schma­rotzen zu erlauben. Dann werden alle schmarotzen wollen, und keiner wird mehr Karotten anpflanzen, und wir werden alle verhungern!”

Aber so doch nicht”, sagten die anderen. “Den meisten ist es zu langweilig, den ganzen Tag auf dem Rücken zu liegen und der Sonne was vorzupfeifen. Es gibt doch nur ganz wenige, die wirklich so faul sind. Karottenpflanzen macht doch in Wirklichkeit Spaß.”

Nein”, sagten die Reichsten, “Karottenpflanzen macht keinen Spaß. Nur Karottenhaben macht Spaß.

Ihr könnt ja eure Karotten mit den Faulenzern teilen, wenn ihr wollt. Wir jedenfalls reißen unsere Zäune nicht mehr ab!”

Tja”, sagten da einige von den Mittelreichen, “wenn die Ganzreichen nicht mitmachen, dann wol­len wir unsere Zäune lieber auch behalten, wir haben ja nicht soviel, dass wir es mit den Faulenzern teilen könnten.”

Und die Mittelarmen sagten: “Ja, wenn nur wir teilen sollen, dann haben alle zuwenig, da können wir nicht mitmachen. Wir müssen unsere Zäune leider behalten. “

Und so wurde diesmal nichts daraus. Und obwohl eigentlich die meisten wussten, dass jetzt alle mehr Ar­beit hatten, ohne dass es deswegen mehr Karotten gab, schafften sie es einfach nicht, zur alten Sitte zu­rückzukehren.

Dafür passierten einige andere interessante Dinge. Einige von denen, die keine großen Karottenfelder hatten, gingen zu einigen Reicheren und sagten:

Hört einmal, wenn ihr mir jeder jeden Tag ein paar Karotten gebt, dann pass ich dafür auf eure Haufen auf.”

Und andere kamen auf die Idee und boten an: “Wer mir Karotten gibt, dem flicke ich dafür seinen Zaun!”

Und wieder andere gingen von Haus zu Haus und sagten: “Gebt mir ein paar von euren Karotten, ich gehe sie für euch eintauschen, wenn ich dafür jede fünfte Karotte behalten darf.”

Das ging so eine Weile, und dann kratzten sich ei­nige am Kopf und sagten: “Eigentlich sollte ich jetzt mehr Zeit haben, aber jetzt muss ich wieder mehr Karotten anpflanzen, damit ich den Zäuneflicker und den Nachtwächter und den Karottentauscher bezah­len kann!”

Und wieder schlugen einige vor, zur alten Sitte zu­rückzukehren und die Zäune abzureißen. Aber selt­samerweise waren jetzt nicht nur die Reichsten dagegen, sondern auch die Ärmsten: “Wollt ihr uns unsere Arbeit wegnehmen!” schrieen die Zäuneflic­ker.

Wovon sollen wir leben?” schrieen die Nachtwäch­ter.

Sollen wir verhungern?” schrieen die Karottentau­scher.

Tja, und so blieb es eben bei der neuen Sitte.


Aus: Martin Auer, “In der Wirklichen Welt”, Beltz & Gelberg 1990






Angst

Warum

sieht mich der da so misstrauisch an?


Hat er Angst vor mir?


Warum

hat der da wohl Angst vor mir?


Glaubt er, ich will ihm was tun?


Warum

glaubt der da, ich will ihm was tun? Ich tu doch keinem was!


Ich tu keinem was, außer, es will einer mir was tun!


Wenn der also glaubt, ich will ihm was tun, dann nur, weil er weiß: Ich tu jedem was, der mir was tut

Also: will er mir was tun!


Da geh ich wohl besser gleich hin und hau ihm eins in die Fresse,

damit er mir nichts tun kann.


Autsch!

Seine Faust war schneller als meine.

Jetzt liege ich da.


Aber ich hab's ja gleich gewusst,

dass der mir was tun will!


Aus: Martin Auer, “Der Sommer des Zauberers”, Beltz & Gelberg 1988






Noch einmal Angst

Wir sind ein friedliches Land
und greifen niemanden an.
Es sei denn,
wir würden angegriffen.


Wer nicht vorhat,
uns anzugreifen,
braucht keinerlei Angst vor uns zu haben.


Wer sich vor uns
zu schützen versucht,
beweist dadurch,
dass er Angst vor uns hat.


Wer vor uns Angst hat,
beweist dadurch,
dass er vorhat,
uns anzugreifen.


Also ist doch klar,
dass wir jeden angreifen müssen,
der Verteidigungsmaßnahmen vorbereitet.


Aus: Martin Auer, “Der Sommer des Zauberers”, Beltz & Gelberg 1988






Die seltsamen Leute vom Planeten Hortus

Auf dem Planeten Hortus lebten die Apfelleute, die Pflaumenleute, die Birnenleute und die Himbeerleute. Die Apfelleute lebten von Apfelmus, Apfelkompott, Apfelmarmelade und Apfelkuchen. Die Pflaumenleute lebten von Pflaumenmus, Pflaumenkompott, Pflaumenmarmelade und Pflaumenkuchen. Und bei den Birnenleuten und den Himbeerleuten war es so ähnlich.

Das ging eine Zeit lang ganz gut, aber eines Tages hing den Birnenleuten die ewige Birnenmarmelade zum Hals heraus. Da sagte einer von den Birnenleuten: “Wisst ihr was! Wir sollten Räuber werden!”

Räuber? Was ist denn das?”

Ganz einfach: Wir schleichen uns in der Nacht an die Pflaumenleute heran, und wenn sie alle schlafen, fallen wir über sie her und verprügeln sie. Dann nehmen wir so viele Pflaumen, wie wir tragen können, und rennen davon. Und dann können wir endlich einmal Pflaumenmus und Pflaumenmarmelade, Pflaumenkompott und Pflaumenkuchen essen!”

Bravo! Das wird ein Spaß!”

Und sie schlichen sich an das Dorf der Pflaumenleute an, und als alle schliefen, fielen sie über das Dorf her, drangen in die Häuser ein und verprügelten die Pflaumenleute. Dann nahmen sie so viele Pflaumen, wie sie tragen konnten, und rannten davon.

Die Pflaumenleute waren ganz erschrocken und traurig. “Was war das? So etwas hat es noch nie gegeben!”

Vielleicht sind die Birnenleute verrückt geworden? Wir sollten die Frau Zwetschkenstiel zu ihnen schicken!” _

Die alte Frau Zwetschkenstiel konnte nämlich aus Pflaumenkernen ein Öl machen, damit heilte sie alle Krankheiten außer gebrochenen Beinen.

Also machte sich die Frau Zwetschkenstiel mit ihrem Kännchen voll Pflaumenkernöl auf den Weg.

Aber am Abend kam sie wieder zurück. “Sie wollen sich nicht heilen lassen” sagte sie. “Sie haben mir Prügel angedroht und mich weggeschickt.”

Das ist schlimm! Was machen wir jetzt?”

Wenn sie sich nicht heilen lassen wollen, dann sind sie nicht krank, sondern böse. Wir müssen sie bestrafen!”

Ja, das machen wir! Wir überfallen sie, und nehmen ihnen ihre Birnen weg. Das ist nur gerecht!”

Und alle jubelten und schrieen durcheinander, und nur die Frau Zwetschkenstiel schüttelte besorgt den Kopf.

Also machten sich die Pflaumenleute auf den Kriegspfad, und in der Nacht fielen sie über die Birnenleute her und verprügelten sie. Dann nahmen sie so viele Birnen, wie sie tragen konnten, und liefen weg.

Und was macht ihr, wenn sie morgen wieder über uns herfallen? Da schauten alle besorgt, aber der junge Herr Kern sagte: “Wir stellen einfach Wachen auf rund um das Dorf, mit langen Stangen, und wenn sie dann kommen, verprügeln wir sie.”

Und das machten sie auch, und als die Birnenleute ein paar Nächte später wieder kamen, kriegten sie entsetzliche Dresche.

Na, was hab ich gesagt! Wir haben es ihnen ordentlich gegeben! Die trauen sich so bald nicht mehr über uns herzufallen.”

Schön, schön. Aber weißt du was: wir haben zwei Wochen lang jede Nacht Wache gehalten, und am Tag haben wir geschlafen. Inzwischen haben wir allen unseren Pflaumenkuchen und alle unsere Pflaumenmarmelade aufgegessen, und wir haben keine Zeit gehabt zu kochen oder zu backen!”

Dann sollen euch alle etwas geben! Denn ihr habt ja für alle Wache gehalten!”

Da gaben alle Pflaumenleute den Wächtern etwas, und der Herr Kern kriegte am meisten. “Denn ich muss mich ja um alles kümmern! Ich trage die Verantwortung!”

Aber nach einiger Zeit murrten die Pflaumenleute, denn bisher hatte es immer gerade für alle gereicht. Aber jetzt, wo all die jungen Männer Wache hielten, statt sich um die Pflaumenbäume zu kümmern und zu kochen und zu backen, jetzt reichte es nicht mehr.

Ja” sagte der Herr Kern, “Wer ist schuld, dass unsere jungen Männer nicht arbeiten können, sondern Wache halten müssen? Die Birnenleute! Also müssen die Birnenleute dafür bezahlen!” _

Und er marschierte mit seinen Männern zum Dorf der Birnenleute, um sie wieder auszurauben. Aber die Birnenleute hatten auch Wachen aufgestellt, und es gab eine fürchterliche Prügelei in der Mitte zwischen den beiden Dörfern, und die Pflaumenleute kamen nicht an die Birnen heran.

Da sagte der Herr Kern: “Wir müssen Netze knüpfen, und sie über die Wachen der Birnenleute werfen. Dann können wir sie besiegen und das Dorf ausrauben!”

Also mussten alle Pflaumenleute Netze knüpfen, und diesmal gelang der Raubzug.

Stolz kam der Herr Kern an der Spitze seiner Truppen zurück, und jeder der jungen Männer trug einen Sack Birnen auf den Schultern. Der Herr Kern trug auch etwas, nämlich die Verantwortung.

In der Mitte des Dorfs ließ der Herr Kern die Birnen auf einen großen Haufen aufschütten. Dann teilte er den Haufen in drei kleinere Haufen. “So” sagte er: “Ein Haufen wird unter alle Dorfbewohner verteilt, damit alle genug zu essen haben. Ein Haufen wird unter meine Soldaten verteilt, weil sie so tapfer gekämpft haben. Und einen Haufen bekomme ich, weil ich die Verantwortung für alles trage.”

Und alle jubelten und klopften dem Herrn Kern auf die Schulter. Nur die alte Frau Zwetschkenstiel schüttelte besorgt den Kopf, und sagte: “Und wenn sie jetzt auch Netze knüpfen, die Birnenleute?”

Ich weiß schon! Wir bauen eine Mauer rund um das Dorf, dann können sie uns nie mehr überfallen”

Und so mussten die Pflaumenleute eine Mauer rund um das Dorf bauen.

Aber die Birnenleute wollten ihre Niederlage nicht auf sich sitzen lassen. Und als ihre Kundschafter berichteten, dass die Pflaumenleute eine Mauer um ihr Dorf bauten, da bauten die Birnenleute auch eine Mauer um ihr Dorf. Und sie knüpften Netze, um die Wachen fangen zu können. Und außerdem bauten sie sich Leitern, um über die Mauer der Pflaumenleute klettern zu können. Und eines Nachts überfielen sie mit ihren Leitern das Pflaumendorf und raubten es aus.

jetzt ist es genug! Wir müssen diesen weichen Birnen endlich eine Lektion erteilen, von der sie sich nie wieder erholen. Aber die Birnenleute bauten inzwischen eine gewaltige Steinschleuder, mit der sie die Mauer des Pflaumendorfs zusammenschießen wollten.

Und eines Nachts schlich die Armee der Pflaumenleute auf das Dorf der Birnenleute zu, und die Armee der Birnenleute schlich auf das Dorf der Pflaumenleute zu. Und weil die Nacht dunkel und neblig war, schlichen die Armeen aneinander vorbei, ohne es zu bemerken. Als die Birnenleute ihren Turm vor der Mauer der Pflaumenleute aufgestellt hatten, stieg der Herr Kern hinauf und brüllte: “Macht das Tor auf, und ergebt euch, sonst zünden wir euer ganzes Dorf an.”

Und als die Birnenleute ihre Steinschleuder vor die Mauer des Pflaumendorfs geschoben hatten, schrieb ihr Anführer auf einen Zettel: “Ergebt euch, sonst wird euer ganzes Dorf zerschossen! Und weil die Armee der Birnenleute fort war, machten die Dorfbewohner die Tore auf und ließen die Pflaumenleute herein. Und die Pflaumenleute machten auch die Tore auf, und ließen die Birnenleute herein.

Aber als die Armeen anfangen wollten zu rauben, da war fast nichts mehr da. Nur ein paar Töpfchen Marmelade, ein paar vertrocknete Kuchen, und ein Rest Kompott, aber das war schon schimmlig geworden.

Es ist nichts mehr da” sagte die Birnenleute zu den Pflaumensoldaten. “Wir haben keine Zeit gehabt zu kochen und uns um die Bäume zu kümmern, es ist alles für den Krieg aufgegangen.”

Wir haben nichts mehr” sagten die Pflaumenleute zu den Birnensoldaten, “wir haben keine Zeit gehabt, die Bäume zu pflegen und Kuchen zu backen, es ist alles für den Krieg aufgegangen.”

Mist!” sagte der Anführer der Birnensoldaten, und kehrte wieder um.

Verdammt! Im Morgengrauen trafen sich die beiden Armeen in der Mitte zwischen den beiden Dörfern , und vor lauter Zorn fingen sie eine Prügelei an. Aber die beiden Feldherren prügelten sich nicht. Sie standen jeder auf einem kleinen Hügel, schauten einander böse an und grübelten.

Als sie fanden, dass die Armeen sich genug geprügelt hatten, kommandierten sie Abmarsch, und zogen mit ihren Armeen heim.

Am nächsten Tag rief der Herr Kern die Pflaumenleute zusammen und sagte: “So, jetzt müssen wir schleunigst an die Arbeit gehen und schnell ein paar Pflaumenkuchen backen. Wir müssen schneller backen als die anderen, damit wir früher als sie für die nächste Schlacht gerüstet sind!”

Aber die Frau Zwetschkenstiel sagte: “Das geht nicht. Es sind nämlich keine Pflaumen da, weil sich niemand um die Bäume gekümmert hat. Sie sind alle am Boden verfault. Und Mehl für Kuchen ist auch keines mehr da. Und überhaupt geht das so nicht mehr weiter. Was für einen Sinn hat es, dass wir uns gegenseitig ausrauben. Wenn wir genug zu essen haben wollen, muss ein jedes den ganzen Tag arbeiten, die Birnenleute genauso wie wir. Vom Rauben wachsen keine Pflaumen und auch keine Birnen. Wir müssen mit den Birnenleuten Frieden schließen!”

Und die Pflaumenleute, die sich endlich wieder um die Pflaumenbäume kümmern und Kompott machen wollten, stimmten ihr zu.

Nur der Herr Kern war sauer. Denn wenn kein Krieg war, konnte er nicht kommandieren und die Verantwortung tragen, und es gab keine Beute, von der er sich den größten Teil nehmen konnte.

Er wanderte ins Dorf der Himbeerleute und sagte zu ihnen: “Hört zu. Die Birnenleute haben nichts mehr zu essen, sie haben alles für den Krieg ausgegeben. Also besteht die große Gefahr, dass die Birnenleute als nächstes euch ausrauben werden!”

Die Himbeerleute kratzten sich hinter den Ohren und sagten: “Wir haben ihnen doch nichts getan!”

Das ist egal” sagte der Herr Kern, “sie sind Räuber und holen sich ihre Beute, wo sie sie kriegen können.”

Das ist schrecklich!” sagten die Himbeerleute. “was sollen wir denn da machen? Wir verstehen nichts vom Kriegführen.”

Aber wir!” sagte der Herr Kern. “Ich habe einen Vorschlag: Gebt uns ein paar Kübel Himbeeren - wir sind nämlich zufällig gerade etwas knapp mit Obst - und wir helfen euch gegen die Birnenleute.”

Na schön”, seufzten die Himbeerleute, “was bleibt uns denn anderes übrig!”

Und dann ging der Herr Kern wieder zurück ins Pflaumendorf, und sagte zu den Pflaumenleuten: “Bis nur nächsten Pflaumenernte dauert es noch fast ein Jahr! Wovon wollt ihr denn in der Zwischenzeit leben? Wenn wir Frieden schließen, müssen wir ein ganzes Jahr hungern. Aber wenn wir uns mit den Himbeerleuten verbünden, um gegen die Birnenleute zu kämpfen, dann kriegen wir jetzt gleich Himbeeren von ihnen.”

Ja, das ist besser” schrieen die jungen Männer, die sich schon ans Kämpfen gewöhnt hatten. “Kämpfen können wir besser als Pflaumen züchten.”

Die anderen Pflaumenleute kratzten sich hinter den Ohren und sagten: “Ein ganzes Jahr hungern, wer soll denn das aushalten?” und stimmten auch dem Herrn Kern zu. Nur die Frau Zwetschkenstiel schüttelte besorgt den Kopf.

Der Feldherr der Birnenleute aber hatte sich inzwischen mit den Apfelleuten verbündet. Und so fing alles wieder von vorne an: Die Himbeerleute und die Apfelleute mussten auch Mauern um ihre Dörfer bauen, Netze knüpfen, Leitern und Schleudern und Belagerungstürme bauen, und außerdem noch ihren Beschützern die Hälfte von ihrem Obst abgeben. Und als das Jahr um war, gab es auf dem ganzen Planeten nichts mehr zu essen und nichts mehr zu rauben.

Da rief die Frau Zwetschkenstiel alle Frauen des Planeten zusammen - das ging, weil es ja nur vier Dörfer waren - und sagte zu ihnen:

So geht das nicht weiter. Vom Rauben und Kriegführen wachsen keine Pflaumen und keine Himbeeren, keine Äpfel und keine Birnen. Irgendwer muss die Arbeit machen, sonst gibt es auch keine Beute. Und weil es nur gerade reicht, wenn ein jedes seine Arbeit macht, können wir uns die ganze Räuberei einfach nicht leisten! Netze und Leitern und Steinschleudern und Mauern und Belagerungstürme kann man nicht essen!”

Richtig!” sagten die Frauen.

Also, dann sagt euren Männern, dass sie sich die Hand geben sollen und schleunigst in die Gärten zurückkommen. Sonst werden wir alle verhungern!”

Gut!” sagten die Frauen.

Und so wurde ein Vertrag geschlossen, und die Männer gaben sich alle die Hand und murmelten: “Entschuldigung, wird nicht mehr vorkommen” und dann war wieder Frieden auf dem Planeten Hortus. Und nach zwei, drei knappen Jahren hatten alle wieder genug zu essen, und die Frau Zwetschkenstiel schickte in alle Dörfer Töpfe mit Pflaumenmarmelade, und die Frauen aus den anderen Dörfern schickten Apfelkuchen und Birnenmus und Himbeerkompott.

Und weil solange Frieden herrschte, hatten die Leute Zeit, auch ein bisschen nachzudenken und etwas zu erfinden. Da erfand einer eine Apfelpflückzange, mit der man die Äpfel pflücken konnte, ohne auf die Bäume zu klettern. Und einer züchtete Himbeersträucher ohne Dornen. Und einer erfand ein Gerät, mit dem man die Pflaumen ganz leicht entkernen konnte. Und einer erfand ein Spezialmesser zum Birnenschälen.

Fein” sagten die Frauen, “jetzt braucht ein jedes nur mehr den halben Tag zu arbeiten, und es reicht trotzdem für alle”

Aber eines Tages stand der Herr Kern auf, und sagte zu den Pflaumenleuten: “Das geht nicht, dass wir den halben Tag auf der faulen Haut liegen, nur weil die Arbeit mit dem neuen Pflaumenentkerner jetzt leichter geworden ist. Was ist, wenn den Birnenleuten einfällt, über uns herzufallen und uns zu zwingen, die andere Hälfte des Tages für sie zu arbeiten? Die Birnenleute haben ein neues Birnenschälmesser erfunden. Das ist eine große Gefahr. Denn wenn sie nicht mehr den ganzen Tag arbeiten müssen, damit sie genug zu essen haben, dann haben sie jetzt Zeit, neue Belagerungstürme und Steinschleudern zu bauen! Also dürfen wir nicht den halben Tag mit Spielen und Geschichtenerzählen vertrödeln: mit unserem neuen Pflaumenentkerner haben wir jetzt Zeit genug, um an unsere Verteidigung zu denken. Statt dass wir alle nur den halben Tag arbeiten, sollte lieber die eine Hälfte von uns den ganzen Tag arbeiten, und die andere Hälfte sollte Steinschleudern bauen und exerzieren. Denn jetzt können wir es uns endlich leisten, eine ständige Armee zu erhalten. Nur so können wir uns davor schützen, dass die Birnenleute wieder über uns herfallen, und uns am Ende noch versklaven!”

Und so hätte beinahe wieder alles von vorne angefangen, wenn nicht. . .


. . . wenn nicht die Frau Zwetschkenstiel aufgestanden wäre, und vor aller Augen dem Herrn Kern ein runtergehaut hätte. Da setzte er sich ganz still hin und sagte nie wieder ein Wort.


Aus: Martin Auer, “Die seltsamen Leute vom Planeten Hortus”, Diesterweg 1992






Die zwei Kämpfer

Zwei kämpften einen schweren Kampf miteinander. Der eine war groß, der an­dere war dick, der eine war schwer, der andere zäh, der eine war stark, der ande­re war wild.

Der Starke haute dem Wilden die Nase ein. Da spürte er: Der hat ja eine Nase wie ich.

Der Wilde zerbrach dem Starken die Rippen. Da spürte er: Diese Rippen knacken ja wie die meinen.

Der Starke bohrte dem Wilden ein Auge aus. Da spürte er: Das Auge ist ja weich und empfindlich wie meines.

Der Wilde trat den Starken in den Bauch. Da spürte er: Dieser Bauch gibt ja nach wie der meine.

Der Starke drückte dem Wilden den Hals zu. Da spürte er: Der braucht Luft zum Atmen wie ich.

Der Wilde presste dem Starken die Faust in die Herzgrube. Da merkte er: Dem schlägt ja ein Herz wie das meine. Als die beiden hinfielen und nicht mehr hochkommen konnten, da dachten sie beide: ,,Der ist ja wie ich, der da." Aber das nützte ihnen nicht mehr viel.






Der Krieg auf dem Mars

Der große Krieg auf dem Mars war zu Ende ge­gangen. Müde und traurig schleppten sich die hellrosa Gnuffs nach Hause. »Nie wieder einen Krieg!« stöhnten sie. Sie hatten den Krieg verlo­ren.

Müde und traurig schleppten sich auch die blasslila Moffer nach Hause. »Nie wieder einen Krieg!« stöhnten sie. Dabei hatten sie den Krieg gewonnen.

Aber auf dem Schlachtfeld lagen fast genauso viele tote Moffer wie tote Gnuffs, und schrecklich viel grünes Blut war geflossen Der Großpräsident der Gnuffs und der Hochkönig der Moffer trafen sich an dem Grenzfluss und schlos­sen einen Vertrag miteinander ab. »Nie wieder soll es Krieg zwischen den Gnuffs und den Moffern geben«, versprachen sie einander. Und in beiden Ländern wurden große Friedensfei­ern abgehalten.

»Schicken wir unseren General in Pension! « schrieen die Gnuffs auf ihrer Feier. »Geben wir unserem Marschall die Kündigung!« riefen die Moffer bei ihrem Fest. »Die Soldaten sollen Erdbeeren pflanzen!« schrieen die Gnuffs. »Die Soldaten können jetzt Hosen nähen!« riefen die Moffer.

Doch da sagte der General der Gnuffs: »So geht das nicht. Wenn wir keinen General und keine Soldaten mehr haben, dann fallen die Moffer gleich wieder über uns her. Wir müssen eine starke, wachsame Ar­mee haben, damit es nie wieder einen Krieg gehen kann!«

Und der Marschall der Moffer sagte: »So geht das nicht. Wenn die Gnuffs sehen, dass wir keine Armee mehr haben, werden sie sich doch sofort für den ver­lorenen Krieg rächen. Also brauchen wir Soldaten und einen Marschall.«

»Na ja, stimmt ja wohl«, grummelten die Gnuffs.

»Wo er recht hat, hat er recht«, mümmelten die Moffer. Und dann gingen alle nach Hause und an ihre Ar­beit, die Gnuffs in ihre Türme und die Moffer in ihre Höhlen.

Und der General der Gnuffs sagte zu sich: »Ich will nicht schon wieder einen Krieg, aber wenn ich nicht zeige, dass ich ein tüchtiger General bin, werde ich doch noch in Pension geschickt.« Und er sagte zum Oberpräsidenten: »Unsere Armee braucht mehr Schwerter, damit wir nicht wieder überfallen werden können. Verlangen Sie, bitte, höhere Steuern, damit wir von den Schmieden mehr Schwerter kaufen kön­nen.« Und der Oberpräsident machte das. Und die Schmiede sagten sich: »Krieg wollen wir keinen mehr, aber wenn wir viele Schwerter verkau­fen, können wir uns für unsere Kinder die teuren Schulen leisten. « Und die Gesellen in den Schmieden sagten sich: »Krieg wollen wir keinen mehr, aber wenn wir sagen, wir wollen die Schwerter nicht machen, werfen uns unsere Chefs hinaus, und dann haben unsere Kinder nichts zu essen.«

Und der Marschall der Moffer sagte zu sich: »Ich will Frieden, aber wenn ich nicht zeige, dass ich ein tüchtiger Marschall bin, werde ich vielleicht doch ge­kündigt.« Und er sagte zum Hochkönig der Moffer: »Ich habe gehört, dass die Gnuffs für ihre Armee Schwerter kaufen. Lassen Sie, bitte, die Steuern er­höhen, damit wir mehr Soldaten zur Armee holen können.« Und der Hochkönig erhöhte die Steuern, und es wurden mehr Soldaten zur Armee geholt. Und die Bauern der Moffer sagten zu sich: »Wir wollen Frieden, aber wenn wir der Armee keine Kar­toffeln verkaufen, können wir die neuen Steuern nicht bezahlen. «

Und die Schneider sagten: »Wir wollen Frieden. Aber je mehr Soldaten, umso mehr Uniformen kön­nen wir verkaufen. « Und die Speermacher sagten: »Wir wollen Frieden,

aber je mehr Soldaten, umso mehr Speere können wir verkaufen.«


Da geschah es, dass bei den Gnuffs ein Erfinder ein Gift entdeckte, ein schrecklich starkes Gift. Es war aber für Gnuffs völlig unschädlich, nur für Moffer war es tödlich. »Ich will niemandem etwas Böses tun«, sagte der Erfinder zu sich, »aber wenn ich meine Erfindungen für mich behalte, kann ich meine Rechnung bei der Milchfrau nicht bezahlen.« Und er schrieb in einem Buch, wie man das Gift herstellen kann. Da geschah es, dass bei den Moffern ein Professor entdeckte, wie man eine Bombe bauen kann, die alles über der Erde vernichten konnte, aber für die Moffer nicht gefährlich war, weil die Moffer in Höhlen leb­ten.

»Ich wünsche niemandem etwas Übles«, sagte der Professor zu sich, »aber ich muss meine Entdeckung bekannt machen, sonst glauben die Leute, dass ich von meiner Wissenschaft nichts verstehe.« Und er schrieb in einem Buch, wie man die Bombe bauen kann. Als der Marschall der Moffer davon hörte, sagte er zum Hochkönig: »Diese Bombe müssen wir wirklich bauen, denn ich habe gehört, dass die Gnuffs ein schreckliches Gift gegen uns haben!«

Und der General der Gnuffs sagte zum Großpräsidenten: »Dieses Gift müssen wir wirklich erzeugen lassen, denn ich habe gehört, dass die Moffer eine gefährliche Bombe gegen uns haben.«

Und so wurde das Gift gemischt, und die Bombe wurde gebaut. Und die Gnuffs bauten eine riesige Giftspritze, die das Gift zu den Moffern spritzen konnte, und die Moffer bauten einen riesigen Ballon, der die Bombe zu den Gnuffs bringen konnte. Da sagte der Großpräsident der Gnuffs bei einer Ansprache: »Jetzt kann es nie mehr Krieg geben, denn wir wollen den Frieden, und die Moffer werden sich niemals trauen, auf uns loszugehen, weil wir das schreckliche Gift haben.« Und der Hochkönig der Moffer sagte bei einer An­sprache: »Jetzt muss es immer Frieden gehen, denn wir wollen keinen Krieg, und die Gnuffs werden es niemals wagen, uns anzugreifen, weil wir die fürch­terliche Bombe haben.«

Eines Tages sagten die Schmiede der Gnuffs: »Wir haben nicht mehr genug Eisen für alle die Schwerter und Pflüge und Sensen und Wagen, die wir bauen könnten. Wir müssen zur Eiseninsel fahren, Eisen ho­len!«

Und die Schmiede der Moffer sagte ii: »Wir brau­chen mehr Eisen für unsere Speere und Wagen und Pflüge und Sensen. Wir müssen Eisen holen von der Eiseninsel!”

Da schickten die Gnuffs ein Schiff zur Eiseninsel, und die Moffer schickten auch ein Schiff zur Eiseninsel. Als die Schiffe zurückkamen, berichteten die Seeleute zu Hause, dass auch die anderen Eisen von der Eiseninsel geholt hatten.

»Die Moffer nehmen uns das Eisen weg!« schrieb eine Zeitung der Gnuffs.

»Die Gnuffs wollen alles Eisen für sich!« berichtete eine Zeitung der Moffer.

Und die anderen Zeitungen, die berichteten, dass alles nur halb so schlimm sei, wurden leider wenig gelesen, denn über aufregende Sachen lesen die Leute immer lieber als darüber, dass alles in Ordnung ist. Da kriegten die Gnuffs wieder Angst vor den Mof­fern, und die Moffer kriegten Angst vor den Gnuffs.

»Wir müssen die Eiseninsel für uns haben«, sagten welche von den Gnuffs, »sonst kann es keinen Frieden geben.«

»Die Eiseninsel muss uns gehören«, sagten welche von den Moffern, »sonst gibt es wieder Krieg!«

»Wenn wir kein Eisen für Pflüge haben, haben wir nichts zu essen«, sagten welche von den Gnuffs, »und dann kann uns auch das schreckliche Gift nicht hel­fen!«

»Wenn wir kein Eisen haben, müssen wir hungern«, sagten welche von den Moffern, »und dann hilft uns auch die große Bombe nichts.«

Und die Gnuffs schickten ein Kriegsschiff zur Ei­seninsel, und die Moffer schickten ein Kriegsschiff zur Eiseninsel. Und als der Kampf unentschieden war, schickten die Gnuffs noch ein Kriegsschiff, und die Moffer schickten noch ein Kriegsschiff.

»Wir dürfen sie keine Kriegsschiffe bauen lassen!« sagte der General der Gnuffs und griff mit seinen Truppen die Schiffswerft der Moffer an.

»Wir müssen verhindern, dass sie Schiffe bauen«, sagte der Marschall der Moffer und griff mit seinen Truppen die Schiffswerft der Gnuffs an.

»Sie haben uns überfallen!« schrieen die Gnuffs.

»Sie haben uns angegriffen!« schrieen die Moffer. »Wir wollten den Frieden«, sagte der General der Gnuffs, »aber jetzt hilft nichts mehr. Wir müssen das Gift auf sie spritzen, bevor sie die Bombe auf uns werfen! «

»Wir haben den Krieg nicht gewollt!« sagte der Marschall der Moffer, »aber jetzt ist es zu spät. Wir müssen die Bombe auf sie werfen, bevor sie das Gift auf uns spritzen!«

Und die Giftspritze wurde gefüllt, und der große Ballon wurde gestartet.

»Jetzt ist es aus mit ihnen!« sagten die Gnuffs.

»Jetzt ist es aus mit ihnen!« sagten die Moffer.

»Und mit uns auch!« sagten die Gnuffs, als sie den Ballon sich langsam erheben sahen.

»Und mit uns auch!« sagten die Moffer, als sie die Spritze am Horizont auftauchen sahen.

»Ich hätte vielleicht doch das Gift nicht erfinden sollen!« sagte der Erfinder.

»Ich hätte vielleicht doch die Bombe nicht erfinden sollen!« sagte der Professor.

»Wir hätten vielleicht doch keine Schwerter ma­chen sollen!« sagten die Schmiede.

»Wir hätten vielleicht doch keine Speere machen sollen!« sagten die Speermacher.

»Wir hätten vielleicht doch keine Uniformen schneidern sollen!« sagten die Schneider.

»Wir hätten vielleicht doch keine Kartoffeln liefern sollen«, sagten die Bauern.

»Wir hätten vielleicht doch keine Soldaten werden sollen«, sagten die Soldaten.

»Wir hätten vielleicht doch unseren General in Pension schicken sollen!« sagten die Gnuffs.

»Wir hätten vielleicht doch unseren Marschall kün­digen sollen!« sagten die Moffer.


Und da sagte ein Gnuff zu seinen Freunden: »Uns können wir nicht mehr retten. Aber die Moffer - sie waren auch nicht blöder und gemeiner als wir.« Und sie kletterten auf die Giftspritze und warfen sie um, in dem Moment, bevor sie losging.

Und ein paar Moffer sagten zueinander: »Jetzt ge­hen wir drauf wegen unserer Blödheit. Aber die Gnuffs sollen wenigstens wissen, dass es auch ein paar anständige Moffer gegeben hat.« Und sie hängten sich an die Seile und kletterten auf den Ballon und ließen die Bombe explodieren, bevor sie über den Gnuffs war.

»Moffer haben uns gerettet!« sagten erstaunt die Gnuffs, als sie merkten, dass die Bombe sie verschon­te.

»Gnuffs haben sich für uns geopfert!« flüsterten ganz baff die Moffer, als sie merkten, dass das Gift sie nicht traf. Und dann ließen alle die Schwerter und Speere aus den Händen fallen, setzten sich auf den Boden und stöhnten: »Das ist ja gerade noch einmal gutgegan­gen.« Und viele fingen vor Erleichterung zu weinen an.

Dann schickten sie den General und den Marschall in Pension, auch den Großpräsidenten und den Hoch­könig und sagten: “Diesmal müssen wir aber schlauer sein!”


Aus: Martin Auer, “In der wirklichen Welt”, Beltz & Gelberg 1990



Der Sklave

Ein Mann hatte einen Sklaven. Der muss­te für ihn alle Arbeiten tun. Der Sklave wusch den Mann, kämmte ihn, schnitt ihm das Essen klein und steckte es ihm in den Mund. Der Sklave schrieb dem Mann seine Briefe, putzte ihm die Schu­he, flickte ihm die Socken, hackte ihm das Holz und heizte ihm den Ofen ein. Wenn der Mann beim Spazierengehen Himbeeren sah, musste der Sklave sie pflücken und ihm in den Mund stecken Damit der Sklave nicht davonlief, hielt der Mann ihn immer an einer Kette fest. Tag und Nacht musste er ihn festhalten und mit sich herumschleppen, sonst wä­re der Sklave davongelaufen. In der an­deren Hand hielt der Mann immer eine Peitsche. Denn wenn der Sklave an der Kette zog und zerrte, dann musste der Mann ihn auspeitschen. Wenn ihm dann die Arme schmerzten und er ganz er­schöpft vom Auspeitschen war, fluchte er auf den Sklaven und auf die Kette und überhaupt auf alles.

Manchmal träumte er heimlich von den Zeiten, als er noch jung gewesen war und noch keinen Sklaven gehabt hatte. Damals konnte er noch frei durch die Wälder schweifen und Himbeeren pflücken ohne dieses ständige Zerren an der Kette. Jetzt konnte er nicht einmal allein aufs Klo gehen. Erstens, weil der Sklave sonst weggerannt wäre, und zwei­tens, wer hätte ihm sonst den Hintern abgewischt? Er selbst hatte ja gar keine Hand dazu frei.

Einmal, als er so fluchte, sagte einer zu ihm: ,,Na gut, wenn es so schrecklich ist, warum lässt du den Sklaven dann nicht frei?"

,,Ja", sagte der Mann, ,,damit er mich umbringt!" Aber heimlich träumte der Mann von der Freiheit.

Und der Sklave, träumte der auch von der Freiheit? Nein, an die Freiheit glaub­te der schon längst nicht mehr. Er träum­te nur noch davon, selber der Herr zu sein und den Mann an der Kette zu führen und auszupeitschen und sich von ihm den Hintern abwischen zu lassen. Davon träumte er!


Aus: Martin Auer, “Der bunte Himmel”, Gabriel 1995






Der seltsame Krieg

Auf einem fremden Planeten oder in einer anderen Zeit gab es einmal zwei Länder, die hießen Hüben und Drüben. Es gab noch andere Länder wie Nebenan und Weitfort, aber diese Geschichte handelt von Hüben und Drüben.

Eines Tages hielt der Oberstgewaltige von Hüben eine Ansprache an seine Bürger. Er sagte, dass das Land Hüben von dem Land Drüben bedrängt würde und dass die Hübener nicht mehr länger zusehen könnten, wie das Land Drüben mit seiner Grenze das Land Hüben drückte und einengte.

Sie liegen so dicht an uns, dass uns nicht einmal mehr Platz zum Schnaufen bleibt!” schrie er. “Nicht das kleinste Bisschen können wir uns rühren. Sie sind nicht bereit, ein bisschen zu rücken, ein bisschen Platz zu machen, uns ein wenig Bewegungsfreiheit zu gönnen. Aber wenn sie dazu nicht bereit sind, dann werden wir sie eben zwingen müssen.

Wir wollen keinen Krieg. Wenn es nach uns geht, gibt es den ewigen Frieden. Aber es geht leider nicht nach uns. Wenn sie nicht bereit sind, mit ihrem Land ein wenig von uns wegzurücken, dann zwingen sie uns ja zum Krieg. Aber wir lassen uns den Krieg nicht aufzwingen. Wir nicht! Wir werden nicht zulassen, dass sie uns zwingen, unsere besten Söhne sinnlos zu opfern, damit unsere Frauen zu Witwen, unsere Kinder zu Waisen werden! Darum müssen wir die Macht von Drüben brechen, bevor sie uns zwingen, einen Krieg anzufangen. Und darum, Mitbürger, um uns unserer Haut zu wehren, um den Frieden zu schützen, um unsere Kinder zu retten, erkläre ich hiermit in aller Form dem Staat Drüben den Krieg!”

Die verwirrten Hübener sahen erst einander an. Dann sahen sie ihren Oberstgewaltigen an. Und dann sahen sie die Sonderpolizeitruppen mit den Panzerhelmen und Vernichtungsstrahlern an, die den Platz umstanden, und klatschten begeistert Beifall und schrieen: “Hoch der Oberstgewaltige! Nieder mit denen von Drüben!”

Und der Krieg begann.


Noch am selben Tag überschritt die Armee von Hüben die Grenze. Es war ein gewaltiger Anblick. Die Panzerfahrzeuge sahen aus wie riesige eiserne Drachenfische. Sie walzten alles nieder, was sich ihnen in den Weg stellte. Aus ihren Kanonenrohren konnten sie Granaten schießen, die alles zerfetzten, und giftige Gase blasen, die alles umbrachten. Jedes ließ hinter sich einen hundert Meter breiten Streifen Tod.

Vor ihnen lag ein blühender Wald, und hinter ihnen lag nichts mehr.

Wo die Flugzeuge flogen, wurde der Himmel dunkel, und wer darunter stand, fiel angstgeschüttelt auf sein Gesicht, bloß von dem Lärm. Und wo ihr Schatten hinfiel, da fielen auch ihre Bomben hin.

Zwischen den Riesenflugzeugen am Himmel und den Panzerfahrzeugen am Boden surrten Schwärme von Hubschraubern wie kleine, bösartige Mücken. Die Soldaten aber sahen aus wie stählerne Kampfroboter in ihren Schutzanzügen, die sie unempfindlich machten gegen Kugeln, Gas, Gift und Bazillen.

In ihren Händen trugen sie schwere Kampfapparate, die tödliche Geschosse versprühen konnten, oder Laserstrahlen, die alles zerschmolzen.

So marschierte die unaufhaltsame Armee von Hüben, um jeden Feind erbarmungslos niederzumachen. Doch seltsam sie fand keinen Feind.


Am ersten Tag drang die Armee zehn Kilometer ins feindliche Gebiet ein, am zweiten Tag zwanzig. Am dritten Tag überquerte sie den großen Fluss. Überall fand sie nur verlassene Dörfer, abgeerntete Felder, ausgeräumte Fabriken, leere Lagerhäuser. “Sie verstecken sich, und wenn wir an ihnen vorbei sind, überfallen sie uns von hinten!” brüllte der Oberstgewaltige. “Durchsucht alle Heuschober und alle Misthaufen!”

Die Soldaten durchstöberten die Misthaufen, aber alles, was sie dabei fanden, waren haufenweise Ausweispapiere: Personalausweise, Geburtsurkunden, Heimatscheine,

Reisepässe, Impfzeugnisse, Immatrikulationsbescheinigungen, Rundfunkgebühren-ermäßigungs­berechtigungsscheine, Hundesteuerentrichtungsnachweise und hunderterlei andere Dokumente. Und aus allen Lichtbildausweisen waren die Fotos herausgerissen. Was das bedeuten sollte, konnte sich niemand erklären.


Ein großes Problem waren die Wegweiser. Sie waren abmontiert oder verdreht oder übermalt, aber manche stimmten auch, so dass man sich nicht einmal darauf verlassen konnte, dass sie falsch waren. Immer wieder gingen Soldaten verloren, ganze Kompanien verliefen sich, Divisionen führen in die Irre, und so mancher verlassene General schickte fluchend Motorradfahrer in alle Richtungen, um seine Soldaten zu suchen. Der Oberstgewaltige musste sofort alle Vermessungsbeamten und Geographielehrer von Hüben zum Militär einberufen, damit das eroberte Land ordentlich beschriftet werden konnte.


Am vierten Tag des Feldzuges machte die Armee von Hüben ihren ersten Gefangenen. Es war aber kein Soldat, sondern ein Zivilist, den sie im Wald gefunden hatten mit einem Pilzkorb überm Arm. Der Oberstgewaltige ließ ihn persönlich zu sich zum Verhör kommen. Der Gefangene sagte, dass er Hans Müller heiße und von

Beruf Pilzesammler sei. Seinen Ausweis, sagte er, hätte er verloren, und wo die Armee von Drüben sei, das wisse er nicht.

In den nächsten Tagen nahm die Armee von Hüben einige Tausend Zivilisten fest. Alle hießen Hans oder Lieschen Müller, und alle hatten keine Ausweise. Der Oberstgewaltige tobte.

Schließlich besetzte die Armee von Drüben die erste größere Stadt. Überall sah man Soldaten, die Straßennamen an die Wände pinselten. Die Stadtpläne hatte man vom Geheimdienst kommen lassen müssen. Durch die Eile gab es natürlich viele Irrtümer, und manche Straßen hießen auf der linken Seite anders als auf der rechten, und am oberen Ende anders als am unteren. Ständig irrten suchende Kompanien durch die Stadt, voraus ein fluchender Feldwebel mit dem Stadtplan in der Hand. Überhaupt funktionierte in der Stadt gar nichts. Das Elektrizitätswerk arbeitete nicht, das Gaswerk, das Telefon, nichts funktionierte.

Der Oberstgewaltige ließ sofort bekannt machen, dass es verboten wäre zu streiken und dass alle sofort an die Arbeit zu gehen hätten.

Die Leute gingen auch in die Fabriken und Büros, aber es funktionierte trotzdem nichts. Wenn die Soldaten hinkamen und fragten: “Warum wird hier nicht gearbeitet?”, dann sagten die Leute: “Der Herr Ingenieur ist nicht da” oder “Der Meister ist nicht da” oder “Die Frau Direktor ist nicht da”.

Aber wie sollte man die Frau Direktor finden, wenn alle Lieschen Müller hießen?

Der Oberstgewaltige ließ verkünden, dass jeder erschossen würde, der nicht seinen richtigen Namen und Titel sagte. Da nannten sich die Drübener nicht mehr Müller, sondern irgendwie, aber was half das schon.

Je weiter die Armee in das Land vordrang, desto schwieriger wurde alles. Es war schon bald kein frisches Essen für die Soldaten aufzutreiben, alles musste von Hüben gebracht werden. Die Eisenbahn funktionierte nicht, die Eisenbahner standen herum, führen sinnlos mit den Loks hin und her. Die Zugführer stritten sich um die Waggons, und natürlich waren alle Chefs, die sich auskannten, verschwunden. Niemand konnte sie finden.

Den Soldaten tat niemand was. Da wurden sie bald unvorsichtig, liefen mit offenen Panzerhelmen herum und plauderten mit den Leuten. Und die Leute von Drüben, die alles Essbare vor den Beschlagnahmekommandos der Armee versteckten, teilten ihr bisschen Essen mit den einzelnen Soldaten oder tauschten mit ihnen frischen Salat oder selbstgebackenen Kuchen gegen Konserven; denn davon hatten die Soldaten genug, und sie hingen ihnen zum Hals heraus.

Als der Oberstgewaltige das erfuhr, kriegte er einen Tobsuchtsanfall und verbot allen Soldaten, ihre Unterkünfte zu verlassen, außer, wenn sie im Trupp auf Patrouille gingen. Das gefiel den Soldaten nicht.

Schließlich besetzte die Armee die Hauptstadt von Drüben. Aber auch hier war alles wie überall in diesem Land. Es gab keine Straßenschilder, keine Hausnummern, keine Namensschilder an den Türen, keine Direktoren, Ingenieure, Meister, keine Polizisten und keine Beamten. Die Ministerien waren leer und alle Akten verschwunden. Wo die Regierung war, wusste niemand.

Da beschloss der Oberstgewaltige endlich hart durchzugreifen. Er ließ verlautbaren, dass alle Erwachsenen in ihre Betriebe und Büros gehen sollten. Wer zu Hause bliebe, würde erschossen.

Dann ging er selbst ins Elektrizitätswerk und ließ alle Soldaten und Offiziere dorthin kommen, die zu Hause mit Elektrizitätswerken zu tun hatten. Er hielt den Arbeitern eine Rede ,und dann sagte er, in zwei Stunden müsse Strom sein. Die Offiziere kommandierten, und die Soldaten kontrollierten, und die E-Werksarbeiter rannten hin und her und taten gen au das ,was ihnen die Offiziere sagten. Das gab natürlich ein fürchterliches Chaos und keinen Strom.

Da rief der Oberstgewaltige die Offiziere wieder zurück und sagte zu den E-Werksarbeitern: “Wenn nicht in einer halben Stunde Strom ist, werdet ihr alle erschossen!” Und siehe da, nach einer halben Stunde war Licht. Da sagte der Oberstgewaltige: “Seht ihr, ihr Bande, man muss euch nur richtig Beine machen!” und zog mit seinen Soldaten zum Gaswerk, um es dort genauso zu machen.

Aber am nächsten Tag gab es wieder keinen Strom, und als der Oberstgewaltige wütend mit einer Kompanie seiner speziell ausgebildeten Mördersoldaten anrückte, um alle E-Werksarbeiter auszurotten, war das E-Werk leer, und die E-Werksarbeiter und E-Werksangestellten hatten sich in den Fabriken und Büros unter die Leute gemischt.

Da gab der Oberstgewaltige seinen Soldaten den Befehl, einfach tausend Leute von der Straße zusammenzusammeln und zu erschießen.

Aber durch die heimtückische List der Leute von Drüben, immer freundlich zu den Soldaten zu sein, war die Moral der ~Truppe schon so aufgeweicht, dass niemand bereit war, einfach irgendwelche tausend Leute zu erschießen, die gar nichts getan hatten. Da gab der Oberstgewaltige seinen Mördersoldaten den Befehl. Aber seine Offiziere ließen ihn wissen, dass die gewöhnlichen Soldaten schon sehr unzufrieden wären und es vielleicht sogar eine Meuterei geben könnte, wenn die tausend Leute erschossen würden.

Und der Oberstgewaltige kriegte Briefe von den Mächtigen zu Haus~, die ihm schrieben: “Oberster der Gewaltigen! Sie haben Ihre Feldherrengabe und Ihr militärisches Genie bewiesen, und wir beglückwünschen Sie zu Ihren zahllosen, glänzenden Siegen. Doch bitten wir Sie nun, wieder zurückzukommen und diese Verrückten von Drüben sich selbst zu überlassen. Sie kosten uns zuviel. Wenn wir hinter jeden Arbeiter einen Soldaten

mit einer Maschinenpistole stellen müssen, der ihn mit Erschießen bedroht, und einen Ingenieur, der ihm sagt, was er zu tun hat, dann lohnt sich das ganze Erobern irgendwie nicht mehr. Bitte, kommen Sie nach Hause, denn zu lange hat unser geliebtes Land schon Ihre glänzende Gegenwart entbehrt.”

Da packte der Oberstgewaltige seine Armee zusammen, ließ an wertvollen Maschinen und anderen Kostbarkeiten mitgehen, was seine Truppen transportieren konnten, und fuhr fluchend wieder nach Hause.

Aber gezeigt haben wir's ihnen”, knurrte er. “Diese Feiglinge. Was werden sie jetzt tun, die Narren! Wie werden sie jetzt feststellen, wer ein Ingenieur ist, wer ein Arzt, wer ein Tischler? Ohne Zeugnisse und Diplome! Wie werden sie regeln, wer in der Villa wohnen soll und wer in der Mietwohnung, wenn keiner beweisen kann, was ihm gehört? Wie werden sie sich zurechtfinden, ohne Besitzurkunden, ohne Strafregister und Führerscheine, ohne Titel und Uniformen? Was für ein Durcheinander werden sie haben! Und das alles nur, damit sie nicht mit uns Krieg führen müssen, diese Feiglinge.”


Aus: Martin Auer, “Der Sommer des Zauberers”, Beltz & Gelberg 1988



Der wortgewandte Elefant

Als die Elefanten
sich einmal verrannten
und in Zorn entbrannten
gegen ihre Verwandten;
als sie Onkel und Tanten
vor Wut nicht mehr kannten,
sie Verräter nannten
und Intriganten;
als die Elefanten
Kriegserklärungen sandten,
Kommandanten ernannten
und Adjutanten,
die den Angriff planten;
als sie ihre Verwandten
aus dem Lande verbannten,
ihre Fahne verbrannten,
ihre Häuser umrannten -

da sagte einer
(und zwar ein kleiner
mit Namen Heiner):
"He, ich find das nicht fein
sondern ziemlich gemein
und fies obendrein!"
Die andern sagten:
"Was soll das sein?
Du bist viel zu klein
um so rumzuschrei'n,
lass die Kinderei'n
und misch dich nicht ein!"
Doch der kleine
sprach: "Nein!

Weil ich genauso sterben kann,
geht mich der Krieg genauso an.
Ich brauch nicht die Häuser von meinen Kusinen
ich will viel lieber spielen mit ihnen."

und er redete, bis die Elefanten
sich wieder entspannten,
ihren Fehler erkannten
und ihren Verwandten
mit charmanten
und galanten
Entschuldigungen Geschenke sandten
die überreicht wurden von Musikanten
und Komödianten;
so dass Onkel und Tanten
und alle Elefanten-
Verwandten
sich mit toleranten
und kulanten
Worten zum Frieden bekannten,
ihre Waffen verbrannten
und sich ab nun nur mehr amüsanten
und eleganten
Tätigkeiten zuwandten.
Und natürlich kamen alle als Gratulanten
zu dem kleinsten der Elefanten,
den sie ihren furchtlosen Retter nannten.

Sagt ihr, solche Sachen sind nur zum Lachen,
es hört doch eh keiner auf die Schwachen?
Vielleicht.
Aber einer muss doch den Anfang machen?


Aus: Martin Auer, “Trügst du mal meine Stiefel”, Gabriel 1999






Arobanai

Arobanai hob den Kopf aus dem Wasser des Flusses. Vor ihr lag Apa Lelo in der Sonne des Nachmittags. In der Ferne war Donner zu hören, doch der Regen würde erst später kommen. Zeit genug, die Hütten aufzubauen. Auf der grasbewachsenen Lichtung spielten schon Kinder, hier und da lagen Bündel im Gras. Die Männer, die schon früher angekommen waren, hatten sie dort abgelegt, wo sie später ihre Hütten haben wollten, und waren gleich auf die Jagd gegangen. Die Frauen mit den Kindern hatten sich mehr Zeit gelassen bei ihrer Wanderung, weil sie unterwegs noch Pilze und Wurzeln sammeln wollten. Arobanai rieb ihren Körper im Wasser ab. Es war schön ein neues Lager frisch zu betreten, den Staub und Schweiß der Wanderung und aller früheren Lager von sich abzuwaschen. Ein neues Lager war immer ein neuer Anfang, voll neuer Möglichkeiten und Aussichten. Sie schüttelte das Wasser aus ihrem kurzen, krausen Haar und watete zum Ufer zurück. Dann hob sie ihr Bündel hoch über den Kopf und trug es durch den Fluss ans andere Ufer. Sie wusste, wenn sie so die Arme hob, ragten ihre festen Brüste noch angriffslustiger hervor, und das Wasser des Flusses ließ ihren Körper glänzen und all seine Formen noch schöner zur Geltung kommen. Drüben traten gerade die ersten jungen Burschen mit ihrer Jagdbeute aus dem Wald.

Apa Lelo war der schönste Lagerplatz, den Arobanai kannte. Der Lelo machte hier eine Schlinge, so dass der Lagerplatz nahezu eine Insel war. In der Mitte der Insel standen die Bäume weit auseinander und bildeten eine natürliche Lichtung, trotzdem stießen ihre Kronen weit oben beinahe aneinander, so dass der Platz hell war, aber doch nie im prallen Sonnenlicht lag. Ungefähr in der Mitte der Insel teilte eine Baumgruppe den Platz in zwei annähernd gleiche Hälften. Die Kinder hatten schon ihren Spielplatz unter den Bäumen am Ufer in Besitz genommen, etwas entfernt von dem Platz, wo die Hütten stehen würden, aber doch in sicherer Nähe.

Arobanai suchte das Bündel ihres Vaters Ekianga. Ihre Mutter war noch nicht angekommen, und so schnürte sie als erstes das Blätterpäckchen auf, in dem sie ein glühendes Scheit hierher gebracht hatte. Sie legte ein paar dürre Stöckchen darauf, blies auf die Glut, und die Flammen griffen nach den Ästchen.

Nach und nach trafen immer mehr Menschen ein. Einige Männer brachten Fleisch und brachen wieder auf, um Stöcke und Blätter zu schneiden. Die Frauen fachten Feuer an und begannen zu kochen. Fast alle hatten Pilze und Wurzeln gesammelt - die Kinder schleppten sie armvollweise an - und in den Kürbisschalen wurde daraus jetzt eine Soße gekocht, in die Fleischstückchen geworfen wurden.

Wenn die Männer mit Stöcken und großen Bündeln der breiten Mongongo-Blätter ankamen, begannen die Frauen die Hütten zu bauen. Sie stießen die Stöcke kreisförmig in den Boden, dann banden sie mit Lianen die Spitzen zu einer Kuppel zusammen. In das Gerüst wurden dünnere Zweige geflochten, und in dem Geflecht die breiten, herzförmigen Blätter befestigt. Immer noch kamen Wanderer an, die später aufgebrochen waren oder sich unterwegs mit der Suche nach irgendwelchen Delikatessen aufgehalten hatten, und die Frauen, die schon an ihren Hütten bauten, lachten und riefen ihnen zu, wie nass sie werden würden, denn die Regenwolken kamen immer näher.

Aber die Männer, die ihre Frauen mit Baumaterial versorgt hatten, liefen wieder in den Wald und schnitten Holz und Blätter für die Spätankömmlinge. Verwandte und Freunde bauten ihre Hütten nahe beieinander. Familien, die nicht gut aufeinander zu sprechen waren, ließen sich an entgegengesetzen Enden des Lagers nieder, und wenn das nicht möglich war, legten sie ihre Hütten so an, dass die Eingänge von einander abgewandt waren.

Die Gewitterwolken brachten einen frühen Abend, die Feuer wurden in die Hütten gebracht, und immer wieder einmal musste die Lage eines Blattes korrigiert werden, wo ein kleiner Wasserstrahl in die Hütte drang. Doch der Regen dauerte nicht lange, die Feuer brannten bald wieder vor den Hütten, die Frauen brachten noch einige Verbesserungen an den Dächern an und die Männer schlenderten noch einmal mit Pfeil und Bogen in den Wald, um vielleicht noch einen Vogel oder einen Affen zu erwischen, bevor es zu dunkel war. Die Hütten dampften, und blauer Rauch lag über dem Lager, der sich plötzlich orange und gold und rot färbte, als sich die Wolken teilten und die Sonne noch rasch einen letzten Strahl über den Himmel schoss.

Arobanai lag in der Hütte ihrer Eltern auf dem Rücken und hielt ihren kleinen Bruder an einem Ärmchen fest, während sie den Kichernden mit den Beinen hochhob. Aus den Hütten rundum hörte man die Familien schläfrig miteinander plaudern, und gelegentlich gab ein ungebetener Zuhörer seinen deftigen Kommentar ab, der einen Ausbruch von Gelächter zur Folge hatte.

Eine der Nachbarhütten hatte sich Kenge gebaut, ein noch unverheirateter junger Jäger. Bei ihm drängte sich ein Großteil der jungen Burschen. Arobanai hörte, wie sie einander erzählten, welche Tiere sie von diesem Camp aus jagen und mit welchen Mädchen sie hier schäkern wollten. Als sie Kelemoke ihren Namen nennen hörte, rief sie hinüber: "Du hast mir zu krumme Beine. Werd erst einmal ein Jäger, du kleiner Bub du!" Dröhnendes Gelächter antwortete ihr, die Jungs drüben schlugen sich auf Brust und Schenkel und wälzten sich hilflos vor Lachen herum. Kelemoke war einer der flinksten Läufer und hatte immerhin schon allein einen Büffel erlegt.

Ekianga, ohne zu rufen, sagte nur laut, aber so, dass man es fünf Hütten weit hören konnte: "Mit diesem ganzen unnützen Geschrei kriegt man ja Kopfweh. Es sollte endlich einmal Ruhe sein, damit man hier schlafen kann!"

Das brachte die Burschen drüben immerhin dazu, sich aufs Flüstern zu verlegen, und nur gelegentlich hörte man sie kichern und prusten. Arobanai lächelte. Dieses Lager würde ein gutes Lager werden, sie fühlte es. Sie würde viel Spaß haben hier.


Am Morgen aber herrschte Trauer. Ein langgezogener, schrecklicher Schrei weckte Arobanai, die grauenhafte Klage eines Wesens, das in absolute Finsternis gefallen ist. Alle stürzten aus ihren Hütten. Balekimito, eine Tante von Arobanais Vater Ekianga, die Mutter von Amabosu und Manyalibo, war tot, ganz tot. Die alte Frau, von allen geachtete vielfache Großmutter, war schon vor dem Aufbruch ins neue Lager krank gewesen. Ihre Söhne Amabosu und Manyalibo wollten sie nicht zurücklassen, sie wären bei ihr geblieben, bis es ihr besser gegangen wäre, doch die Jagd war schlecht gewesen im alten Lager, und Balekimito hatte darauf bestanden, den Umzug mitzumachen. Doch die Wanderung hatte sie geschwächt, und nun war sie ganz tot und würde bald tot für immer sein. In ihrer Hütte drängten sich ihre Verwandten, ihre Söhne liefen tränenverschmiert auf und ab, ihre Tochter Asofalinda versuchte ihre Brüder zu trösten, brach aber immer wieder weinend neben dem Lager der Alten zusammen. Nur Balekimito selber war ruhig inmitten der stöhnenden, weinenden Menge. Sie griff nach den Händen ihrer Söhne, zog ihre Tochter zu sich heran und flüsterte: "Ich bin bei meinen Kindern. Ich bin nicht allein beim Sterben. Es ist gut."

Mit ihren immer noch wachen Augen schaute sie in der Hütte herum und erblickte ihre Großnichte Arobanai. Sie winkte sie mit ihrer Hand, die durchsichtig war wie ein dürres Blatt, zu sich. "Du bist hübsch geworden" flüsterte sie. "Hast du dir schon einen Liebsten ausgesucht?". Sie kicherte, und hielt Arobanais Handgelenk umklammert. Arobanai hockte starr neben dem Lager der Alten. Balekimito schlief ein, doch ihr Griff lockerte sich nicht. Das Mädchen blieb hocken. Die Männer und Frauen unterdrückten ihre Klageschreie, um den Schlaf der alten Frau nicht zu stören. Als die Sonne hoch über dem Lager stand, hörte Balekimito auf zu atmen.

Nun gab es keinen Grund mehr, sich zurückzuhalten. Asofalinda hatte plötzlich ein Bastseil in den Händen und legte sich eine Schlinge um den Hals. Drei Männer mussten sie daran hindern, sich ein Leid anzutun. Kinder drängten in die Hütte und liefen wieder hinaus, warfen sich zu Boden und schlugen in hilflosem Zorn auf die Erde ein. Der uralte Tungana und seine Frau Bonyo hockten vor ihrer Hütte und die Tränen liefen ihnen über die verwelkten Gesichter. Arobanai hockte immer noch erstarrt inmitten des Heulens und Klagens, und das Heulen und Klagen würde nie mehr enden, denn Balekimito würde nie mehr aufwachen. Sie war tot, nicht nur einfach tot, sie war tot für immer, und würde immer so liegen und ihr Handgelenk halten.

Erst als Arobanais Mutter Kamaikam herantrat und sanft die Finger der Toten aufbog, konnte auch Arobanai in Tränen ausbrechen, sich auf dem Boden wälzen und ihren Kummer und Schrecken hinausweinen.

Erst am Abend beruhigte sich das Lager langsam. Vom Kummer erschöpft hockten und lagen alle vor oder in ihren Hütten. Da trat der alte Moke in die Mitte des Lagers und fing ganz leise zu reden an. Man rückte näher, um ihn zu hören, und er sagte mit seiner ruhigen, melodischen Stimme: "Das ist nicht gut, dass alle herumsitzen und traurig sind. Die Feuer brennen herunter und niemand kocht essen. Morgen werden alle hungrig sein und zu schwach und zu müde für die Jagd. Sie, die uns allen eine gute Mutter war, ist gut gestorben. Alle sollten froh sein, dass sie so lange gelebt hat und dass sie einen so guten Tod gehabt hat."

Allgemeines Nicken antwortete ihm.

Manyalibo sagte: "Ja, es stimmt. Alle sollen froh sein. Dieses ganze Jammern führt zu nichts, es soll aufhören. Wir sollten ein Fest machen. Wir sollten den Molimo rufen und ein Fest für den Molimo abhalten."

Und Njobo, der große Jäger, der allein einen Elefanten getötet hatte, sagte: "Ja, ihr Tod ist eine große Sache, und wir sollten ein großes Fest abhalten. Wir sollten feiern, bis der Mond einmal oder zweimal voll gewesen ist, oder sogar dreimal!"


Am nächsten Tag gingen zwei Burschen mit einem Lianenlasso von Hütte zu Hütte. Sie warfen die Schlinge in die Hütte und warteten. Die Bewohner der Hütte legten ein paar Bananen in die Schlinge, Wurzeln oder auch ein Stück getrocknetes Fleisch. Die Burschen taten, als ob sie die Spende einfangen und um sie kämpfen mussten, dann gingen sie weiter zur nächsten Hütte. In der Mitte des Lagers hing bald ein gut gefüllter Korb an einer Stange neben dem Molimo-Feuer.

Währen des Tages taten die Burschen sehr geheimnisvoll wegen des Molimo. Frauen durften den Molimo nicht sehen. Die Burschen deuteten an, dass der Molimo gefährlich sei, das große Tier des Waldes, und nur Männer mit ihm fertig werden konnten. Arobanai, die mit ihren Freundinnen das Innere aus Baumrinden schälte, um daraus Bast zu gewinnen, wollte ärgerlich auffahren, aber eine Tante griff nur ruhig nach ihrem Arm, lächelte ein wenig und schüttelte den Kopf. Am Abend, nach dem Essen, verzogen sich die Frauen mit den Kindern hastig in ihre Hütten. Die Alten Männer, die Jäger und die Burschen versammelten sich ums Feuer und begannen zu singen.

Arobanai spielte mit ihrem kleinen Bruder. Draußen sangen die Männer. Als Arobanai schon einschlafen wollte, gab ihr Kamaikan einen kleinen Stoß. Im Schein der glühenden Scheiter konnte Arobanai sehen, dass ihre Mutter lächelte und mit dem Kopf nach draußen deutete. Sie lauschte. Die Männer sangen, und leise, dass sie es nicht hören sollten, summte Kamaikan mit:

"Um uns ist Dunkelheit, große Dunkelheit.

Dunkelheit ist um uns, große, schwarze Dunkelheit.

Aber wenn es Dunkelheit gibt,

dann ist die Dunkelheit gut.

Dunkelheit ist um uns, große schwarze Dunkelheit,

aber wenn es Dunkelheit gibt,

und die Dunkelheit zum Wald gehört,

dann ist die Dunkelheit gut."


Jede Nacht sangen die Männer die Lieder des Molimo. Und die Frauen verzogen sich in ihre Hütten und taten, als ginge sie das alles nichts an. Wenn die Männer sangen, antwortete ihnen das große Tier des Waldes. Es rief mit der Stimme des Büffels, mit der Stimme der Antilope, mit der Stimme des Elefanten. Es rief mit Vogelstimmen und mit Leoparden und Affenstimmen. Und dann aber wieder, dann sang und summte es die Lieder der Männer am Feuer, die Männer sangen, und das große Tier des Waldes antworte ihnen. Es sang bald näher, bald ferner, bald aus Norden und bald aus Süden.

Bis in den frühen Morgen sangen die Männer manchmal. Jeder Mann musste teilnehmen, jeder Mann musste die Nacht mit Singen und Essen, Essen und Singen verbringen. Wenn einer schlief, so hieß es, würde das Große Tier des Waldes ihn fressen.

"Die brauchen nicht so reden!" sagte Akidinimba mürrisch, als sie mit Arobanai und anderen Mädchen beim Beerenpflücken war. "ich weiß doch, was es ist. Es ist ein großes Rohr, ein Rohr aus Bambus, da blasen sie hinein und rufen und singen. Gestern war es Ausu, der mit dem Rohr im Wald herumgelaufen ist."

"Er hat eine schöne Stimme!" sagte Arobanai.

"Man redet nicht darüber!" sagte Kidaya. "Frauen reden nicht darüber!"

Aber nachts, wenn die Männer sangen, lächelte Kamaikan und summte die Lieder mit, und Tante Asofalinda erzählte: "Einmal, vor Zeiten, hat der Molimo den Frauen gehört. Die Frauen haben die Lieder gesungen und sind mit dem Molimo durch den Wald gelaufen. Der Wald ist gut zu uns und gibt acht auf seine Kinder. Darum singen wir Lieder für ihn, damit der Wald fröhlich wird. Doch manchmal schläft der Wald, dann können böse Dinge passieren. Dann wecken wir den Wald, dann holen wir den Molimo, damit der Wald aufwacht und seine Kinder nicht vergisst im Traum."

"Und warum laufen die Männer jetzt mit dem Molimo?"

"Ach, die Männer. Sie wollen immer alles besser wissen. Sie sagen, sie sind die großen Jäger, sie wissen, wie man mit den Tieren des Waldes fertig wird."

Und Kamaikan lächelte geheimnisvoll und sagte, Arobanai sollte warten.

In der fünften Nacht des Molimo kam Kelemoke zu ihr in die Hütte. Arobanai war grenzenlos verblüfft. "Wenn du nicht mit den Männern singst, wird das Große Tier des Waldes dich fressen!" sagte sie und stieß ihn mit dem Finger in die Seite.

Kelemoke lachte leise. "Warum soll es mich fressen? Deine Mutter und Tante schlafen, dein Vater singt, welche bessere Zeit gibt es für die Liebe? Warum soll mich das Tier des Waldes fressen, wenn wir tun, was alle tun?"

Jede zweite oder dritte Nacht fand Kelemoke Gelegenheit, sich vom Kumamolimo fortzustehlen. Arobanai schlich sich aus der Hütte und sie trafen sich meist auf dem Bopi, dem Spielplatz der Kinder. Dort kicherten und flüsterten sie und spielten das Spiel der Liebe. Es war umso aufregender, als es verboten war. Ein Junge und ein Mädchen aus derselben Jagdgruppe konnten nicht heiraten. Arobanai wusste auch, wen sie heiraten wollten, Tumba, einen Jungen, der mit der Gruppe von Abira und Motu jagte. Aber warum sollte sie sich in der Zwischenzeit nicht mit Kelemoke vergnügen, dem stärksten Jäger unter den jungen Burschen, der schon längst eine Frau haben könnte, wenn er nicht warten müsste, bis auch eine seiner näheren weiblichen Verwandten heiratsfähig war und, wenn ein Mädchen aus einer anderen Gruppe zu ihm kommen würde, im Austausch einen Mann aus der Gruppe des Mädchen heiraten würde. Würden die Jäger nicht ihre "Schwestern" austauschen, könnte es sein, dass eine Gruppe einmal ohne Frauen dastünde. Kein Mädchen hätte zu Kelemoke nein gesagt, aber sie, Arobanai, war die schönste, darum hatte er sie erwählt. Keine hatte so schöne Brüste wie sie und so schlanke Beine und so runde Hinterbacken. Wenn der Mond sie mit dem Blut segnen würde, dann war immer noch Zeit zum Heiraten.


Der nächste Tag brachte erregte Debatten und Geschimpfe. Sefu war eingetroffen, der alte Unruhestifter. Es war ja nicht so, dass man ihn nicht mochte, den listigen Witzbold. Aber warum musste er ein eigenes Lager aufschlagen, gerade einmal fünfzig Schritte vom großen Lager entfernt? Fünf Familien waren es, als deren Anführer er sich fühlte. Wie wollten denn fünf Familien eine Jagd organisieren? "Es wird wieder so sein, wie das letzte Mal", sagte Asofalinda, die Schwester von Ekianga: "Wenn er etwas braucht, dann ist er einer von unserem Lager, und wenn er etwas hat, dann ist er 'nur zufällig hier in der Nähe'". Sie machte Sefus weinerliche Sprechweise nach. Als sich das Lachen gelegt hatte, sagte Masisi, der mit Sefu verwandt war: "Es ist gut, viele Jäger zu haben und viele Netze". "Ja, und viele Fresser!" sagte Asofalinda.

Asofalinda sollte Recht behalten. Sefu gab nur selten etwas für den Kumamolimo, den Essenskorb, der jeden Tag gefüllt werden musste. "Es ist nicht mein Molimo", sagte er am Tag. Aber wenn er etwas gegeben hatte, oder vielmehr, wenn jemand aus seinem Lager etwas gegeben hatte, dann kam Sefu und verschlang große Mengen. Wenn er sich sattgegessen hatte, sang er ein bisschen und nutzte die nächste Gelegenheit, wieder in seine Hütte zu verschwinden. "Wenn er sich nicht benimmt", drohten die jungen Burschen, "werden wir ihn in seiner Hütte aufsuchen, und wenn wir ihn schlafend finden, werden wir ihn mit unseren Speeren am Boden festnageln und dann, wenn er für immer tot ist, unter dem Molimo-Feuer vergraben. Seiner Frau werden wir sagen, das Tier des Waldes hat ihn gefressen, und dann wird niemand mehr von ihm reden!"

Aber natürlich blieb es bei den Drohungen, und Sefu sagte: "Warum soll ich nicht schlafen, wenn ich müde bin? Niemand wird so ein Tier sein, einen müden Mann am Schlafen zu hindern. Außerdem ist dieser Molimo nicht mein Molimo. Ich komme nur aus Freundschaft, um dem Molimo Ehre zu erweisen, und man bedroht mich mit Speeren!"

Freilich, am Morgen wurde er oft vom Molimo gerügt. Denn der Morgen war die Zeit, wo der Molimo ins Lager kam. Dicht von Burschen umgeben, so dass man ihn nicht sehen konnte, kam der Molimo. Die Burschen rannten und tobten mit ihm zwischen den Hütten, und wer sich am Vortag in irgend einer Weise schlecht benommen hatte, bekam eins aufs Dach. Die Burschen schlugen mit ihren Speeren auf die Hüttendächer und rüttelten an den Wänden. Sefus Hütte bekam oft etwas ab, aber auch Paare, die lauten Streit gehabt hatten, Jäger, die zu oft der Jagd ferngeblieben waren, Mädchen, die zu offensichtlich mit ihnen verwandten Burschen geflirtet hatten, wurden so getadelt. Der Molimo kannte keinen Respekt, wer von ihm getadelt wurde, musste es hinnehmen.

Die Tage in Apa Lelo waren fröhliche Tage. Arobanai ging oft mit auf die Jagd. Meist wurde am Abend schon besprochen, wo am nächsten Morgen gejagt werden sollte. Die Männer und Burschen berichteten von den Fährten, die sie gesehen hatten, und wogen die Aussichten, hier oder dort Wild zu finden, gegeneinander ab. Die Frauen gaben ebenfalls ihre Meinung ab, vor allem in Hinblick auf die Waldfrüchte, die sie vor und nach der Jagd sammeln wollten. Die ersten Burschen brachen bald nach Sonnenaufgang mit ihren Netzen und Speeren und einem glühenden Scheit auf, um das Jagdfeuer zu entzünden. Das Feuer war das größte Geschenk des Waldes, und man musste dem Wald das Feuer zurückgeben. Dann war der Wald freundlich gestimmt und schenkte seinen Kindern gute Jagdbeute. Wenn das Jagdfeuer brannte, trafen auch die anderen Jäger ein, auch die Frauen und Kinder kamen in den Wald, suchten nach Pilzen und Beeren und gingen bestimmten Lianen nach, bis sie zu deren Wurzeln kamen, die süß und schmackhaft waren.

Eines Morgens, als die Jäger versammelt waren, fehlte Sefu. Er war wohl vom Lager aufgebrochen, doch am Jagdfeuer war er nicht vorbeigekommen. Man schüttelte den Kopf, und jemand meinte, vielleicht hatte Sefu ein eigenes Jagdfeuer angezündet. Nein, schrieen alle, nicht einmal Sefu macht so etwas. Als man am Ort eintraf, wo man zum ersten Mal die Netze ausspannen wollte, war Sefu schon da, hatte sich ein Feuerchen gemacht und aß geröstete Waldbananen. Ekianga und ein paar andere Männer machten einen kurzen Erkundungsgang und gaben dann Anweisungen, in welcher Richtung die Netze ausgespannt werden sollten. Die Frauen nahmen ihre Bündel und gingen mit den Kindern voraus. Alle hörten auf zu plaudern und zu plappern, kaum hörbar glitten sie durch den Wald. Die Männer schwärmten ebenfalls aus, jeder wusste genau, wo er sein Netz, das mehr als hundert große Schritte lang war, auszuspannen hatte, so dass alle zusammen einen großen Halbkreis bilden würden. Als Ekianga mit dem Ruf des Kuduvogels das Zeichen gab, stürmten die Frauen und Kinder mit Geschrei und Gejohle in breiter Linie durch den Wald. Arobanai scheuchte ein Sondu auf. Die Antilope sprang erschreckt aus einem Gebüsch. "Sie wird in Kelemokes Netz laufen", rief sie erfreut Kidaya zu, die neben ihr rannte.

Als sie bei den Jägern angelangt waren, hatte Kelemoke schon begonnen, die Antilope zu erlegen. Seine Mutter packte schon die besten Stücke in ihren Korb. Um die beiden drängten sich die anderen Frauen: "Mein Mann hat dir seinen Speer geliehen!" - "Wir haben deinen Schwestern Leber geschenkt, als sie hungrig waren und euer Vater nicht da war!" - "Mein Vater und deiner haben immer miteinander gejagt!" schrieen sie. Kelemoke genoss seine Rolle und teilte mit großer Geste das Fleisch an die Frauen aus, ohne sich um ihre Beteuerungen zu scheren. Er wusste schon, wem etwas zustand.

Sefu kam daher und jammerte, dass er kein Glück gehabt hatte. Aber niemand bot ihm einen Anteil an. Er wandte sich an die Frauen: "Ihr treibt das Wild absichtlich weg von meinem Netz. Warum treibt ihr es nicht auch zu mir her?"

"He, du hast eigenes Weibervolk, beschwer dich bei denen!"

"Ach die, die sind bloß faule Dummköpfe."

Die Frauen lachten ihn aus und zuckten die Achseln.

Kelemoke hatte Arobanais Mutter ein besonders schönes Stück aus der Keule gegeben. Arobanai ging schon einmal mit dem Korb, der gefüllt war mit Fleisch und Nüssen zurück ins Lager. Sie wollte wiederkommen, wenn die Jäger das dritte Mal die Netze ausspannten. Sie ging mit Kidaya, die sie nach Kelemoke ausfragte, aber Arobanai beschränkte sich darauf zu lachen und Anspielungen zu machen. Unterwegs trafen sie den alten Moke, der eine Leopardenspur gesehen hatte. Im Lager erzählten sie den anderen Mädchen und Frauen von der Leopardenspur. "Die Männer werden einen Schreck kriegen, wenn sie die sehen!" riefen sie kichernd. Arobanai bückte sich und machte das Schleichen eines Leoparden nach. Die anderen Frauen bildeten eine Reihe, als ob sie die Jäger wären, die im Gänsemarsch durch den Wald zogen. Der Leopard sprang auf sie los, und die Jäger flüchteten kreischen in die Bäume.

Nachdem sie sich halb tot gelacht hatten, wollte Arobanai wieder in den Wald zu den Jägern zurückkehren. Doch die Männer kamen früher von der Jagd zurück als erwartet, mürrisch und niedergeschlagen. Keiner wollte sagen, was geschehen war, nur Kelemoke sagte muffig: "Dieser Sefu, er macht einfach zuviel Lärm!" Und Kenge sagte, "Bisher haben wir ihn immer als Mann behandelt, aber er ist ein Tier, und wir sollten ihn wie ein Tier behandeln." Und er schrie zu Sefus Lager hinüber: "Tier, Tier!", obwohl Sefu noch gar nicht da war.

Der kam erst später mit einer Gruppe älterer Jäger. Ohne zu jemandem ein Wort zu sagen, ging er hinüber in sein Lager.

Ekianga und Manyalibo, die zuletzt gekommen waren, hockten sich ans Molimo-Feuer. "Dieser Sefu hat uns allen Schande gemacht!" sagte Ekianga, an niemanden besonders gerichtet. Und Manyalibo sagte: "Sefu hat dem Kumamolimo Schande gemacht. Wir werden den Kumamolimo abbrechen. Das Molimofest wird zuende sein. Am besten gehen wir in ein neues Lager."

"Alle sollen herkommen", sagte Ekianga, "alle sollen zum Kumamolimo kommen. Das ist eine ernste Sache, das muss jetzt gleich geregelt werden!"

Man versammelte sich, saß auf Hockern aus vier zusammengebunden Ästen oder auf Scheitern, und Kenge schrie wieder hinüber: "He du Tier, komm her, Tier!" Die Jungen lachten, aber die Männer schenkten ihm keine Beachtung.

Sefu schlenderte herüber, bemüht, ganz unschuldig dreinzuschauen. Er sah sich um, aber keiner bot ihm einen Sitzplatz an. Er ging zu Amabosu, einem der jüngsten Burschen, und rüttelte an seinem Hocker. "Tiere liegen auf dem Boden!" sagte Amabosu.

Sefu war den Tränen nahe: "Ich bin ein alter Jäger und ein guter Jäger. Es ist nicht recht, dass alle mich wie ein Tier behandeln".

Schließlich sagte Masisi Amabosu, er solle aufstehen und Sefu seinen Hocker überlassen.

Dann stand Manyalibo auf begann eine lange Rede: "Jeder will, dass dieses Lager ein gutes Lager ist. Und jeder will, dass dieses Molimofest ein gutes Molimofest ist. Aber Sefu verdirbt alles. Das Lager ist kein gutes Lager mehr und das Fest ist kein gutes Fest. Als seine Tochter gestorben ist, hat er es gerne angenommen, dass wir für ihn unseren Molimo geholt haben. Aber jetzt, wo seine Mutter gestorben ist, will er nichts für den Kumamolimo beitragen."

"Sie war nicht meine Mutter”, sagte Sefu trotzig.

"Nicht deine Mutter?" schrie Ekianga, "sie war die Mutter von uns allen hier im Lager. Ich hoffe, dass du auf deinen Speer fallen und sterben wirst wie ein Tier! Ein Mensch stiehlt nicht Fleisch von seinen Brüdern, nur ein Tier macht so etwas!" Ekianga schüttelte zornig seine Faust.

Sefu brach in Tränen aus. Jetzt erst erfuhr Arobanai, was geschehen war. Beim zweiten Jagdzug hatte Sefu sein Netz vor den Netzen der anderen aufgebaut, und so das erste Wild abgefangen, das die Treiberinnen aufgescheucht hatten. Aber er war erwischt worden. Jetzt redete er sich heraus, dass es nur ein Missverständnis gewesen sei, er hätte die anderen Jäger aus den Augen verloren und nicht mehr gefunden. Nur darum hätte er sein Netzt dort aufgebaut, wo er eben gerade war.

"Ja, ja" sagte der alte Moke, "das glauben wir ja. Du sollst nicht soviel Lärm machen. Unsere Mutter, die gestorben ist, ist nicht deine Mutter. Also gehörst du ja nicht zu uns. Du kannst dein Netz aufstellen, wo du willst und jagen, wo du willst und dein Lager aufschlagen, wo du willst. Wir werden weit weggehen und unser Lager woanders aufschlagen, damit wir dich nicht stören."

Da musste sich Sefu geschlagen geben. Mit seiner Gruppe von vier Familien konnte er keine Treibjagd organisieren. Er entschuldigte sich und sagte, es sei wirklich nur ein Versehen gewesen, aber er würde ja alles Fleisch zurückgeben.

"Dann ist es ja gut!" sagte Kenge, und stand sofort auf, und die anderen standen auch auf und begleiteten Sefu zu seinem Lager. Dort sagte er schroff zu seiner Frau, sie sollte das Fleisch hergeben, und die jungen Leute fielen über die Hütten her und suchten nach Fleisch, das unterm Dach versteckt war. Sogar die Kochtöpfe wurden ausgeleert. Sefu versuchte zu weinen, aber alle lachten ihn aus. Er hielt sich den Bauch und krümmte sich: "Ich werde sterben vor Hunger, und meine Familie auch, alle meine Verwandten werden sterben, weil meine Brüder mir alles Essen wegnehmen. Ich werde sterben, weil niemand mir die Achtung gibt, die ich verdiene."

Man ließ ihn jammern und kehrte zum Kumamolimo zurück. Das Fest war wieder ein Fest, und alle sangen und tanzten und aßen. Von Ferne hörte man Sefus Gejammer. Die Frauen riefen ihm Spottwörter hinüber und machten sein Jammern nach. Aber als alle gegessen hatten, füllte Masisi einen Topf mit Fleisch und Pilzsoße, die seine Frau gekocht hatte, und verdrückte sich. Kurze Zeit später hörte das Jammern auf.

Nachts, als Arobanai aus ihrer Hütte schlich, um sich mit Kelemoke zu treffen, sah sie Sefu mit den Männern am Molimofeuer sitzen und singen. Ein Kind des Waldes wie alle anderen.

Arobanai hatte es schon oft erlebt. Man zankte, man beklagte sich, man drohte einander. Aber die Kinder des Waldes brauchten einander. Allein, ohne die anderen, konnte niemand existieren. Darum fand sich immer eine Lösung, ein Ausweg. Wer eine Klage hatte, trat in die Mitte des Lagers und begann zu lamentieren, zu fluchen oder bombastisch seinen Rechtstandpunkt darzulegen. Aber oft genug wandten die um Beistand angerufenen Lagermitglieder sich nicht gegen den, der im Unrecht war, sondern gegen den, der den größten Lärm machte. Ein gutes Lager war ein friedliches Lager. Ein lautes, zerstrittenes Lager war auch ein hungriges Lager. Oft entschied schon ein lautes, allgemeines Lachen einen Streitfall. Aber wenn man jemand beschämt hatte, versöhnte man ihn auch wieder.

Arobanai erinnerte sich daran, wie Tante Kondabate mit ihrem Mann Streit gehabt hatte. Im Zorn hatte sie angefangen, Blätter vom Dach ihrer Hütte zu reißen. Das war ihr gutes Recht, schließlich hatte sie die Hütte auch gebaut. Ihr Mann hatte nur wortlos zugeschaut. Da hatte sie weitere Blätter von der Hütte genommen. Jetzt hätte ihr Mann eingreifen müssen, sie versöhnen müssen. Denn wenn die Frau die Hütte abriss, war das das Ende der Gemeinschaft. Doch Kondabates Mann hatte nichts gesagt, und so hatte sie weiter Blatt um Blatt von der Hütte genommen. Die Tränen waren ihr schon heruntergerollt, doch der Mann war hart geblieben. Nach einer Weile hatte er nur gesagt: "Kondabate wird es heute nacht ziemlich kalt haben". Da musste sie weiter die Hütte abdecken, was blieb ihr übrig, denn beschämen lassen wollte sie sich nicht. Schließlich gab es keine Blätter mehr, und sie begann, unter Tränen, an den Stangen zu rütteln. Jetzt schauten schon alle gebannt zu, denn wenn sie die letzte Stange aus dem Boden gerissen hätte, hätte sie ihr Bündel schnüren und ins Lager ihrer Eltern zurückkehren müssen. Auch Kondabates Mann war den Tränen nahe, denn er liebte sie sehr, und wollte gewiss keine Scheidung. Doch hätte er jetzt nachgegeben, hätte er noch tagelang das Gelächter seiner spottlustigen Freunde ertragen müssen. Jeder konnte sehen, wie es in seinem Kopf arbeitete. Schließlich sagte er ruhig: "Die Stangen brauchst du nicht abzubauen, nur die Blätter sind schmutzig!"

"Aii?" schrie Kondabate erstaunt. Doch dann begriff sie und sagte erleichtert: "Ja, diese Blätter sind voller Ungeziefer." Und gemeinsam gingen die beiden zum Fluss, um die Blätter zu waschen. Dann hängten sie sie wieder auf die Hütte.

Nie zuvor hatte jemand Blätter gewaschen. Doch Kamaikan, Arobanais Mutter nahm ein paar Blätter vom Dach ihrer Hütte, murmelte: "Dieses Ungeziefer ist wirklich lästig!" und ging ebenfalls zum Fluss, Blätter waschen, als ob das so üblich wäre. Und noch einige Tage gingen die Frauen zum Fluss, und wuschen, ihr Schmunzeln verbergend, ein paar verlauste Blätter ab.

Die Tage flossen leicht dahin wie der Lelo-Fluss. Der Wald schenkte seinen Kindern Nüsse und Wurzeln, Beeren und Früchte, Pilze und Fleisch. Die Burschen prahlten mit ihrem Jagdglück und schäkerten mit den Mädchen, die Alten grasten die nähere Umgebung des Lagers ab, aber meistens saßen sie im Schatten und sprachen von längst vergangenen Taten. Die Kinder spielten am Fluss, kletterten in Gruppen auf junge Bäume, bis diese schwankten und sich zum Wasser bogen. Dann sprangen sie ab, und wer nicht schnell genug war, wurde vom zurückschnellenden Baum ordentlich durchgeschüttelt. Die Männer machten für die kleinen Jungen kleine Bogen mit stumpfen Pfeilen, und dann spielten die kleinen Mädchen und Jungen Treibjagd mit einem müden, abgeklärten Frosch. Die Frauen zeigten den Mädchen, wie man eine kleine Hütte baute, und dann kochte das kleine Mädchen voll ernst ihrem jungen Freund ein Essen aus Matsch und Nüssen, und dann gingen sie in die Hütte und spielten Kindermachen, wie sie es bei den Großen gesehen hatten. In ihren Spielen erprobten sie alles, was sie als Große einst können mussten, und unmerklich würde aus dem Spiel Ernst werden. Die Kinder nannten alle Erwachsenen Vater oder Mutter, jeden Alten Großvater oder Großmutter, und immer fand sich jemand, der sich als Büffel von ihnen jagen ließ oder als Leopard sie aus dem Hinterhalt ansprang und mit viel Gekitzel und Gelächter auffraß.

Doch die Stange mit dem stets gefüllten Essenskorb neben dem Feuer in der Mitte des Lagers erinnerte jeden Tag daran, dass ein großes Fest im Gange war, dass der Wald selbst angerufen worden war, sich seiner Kinder zu erinnern und mit ihnen fröhlich zu sein.

In diesen Tagen wurde Kidaya mit dem Blut gesegnet. Stolz teilte sie das ihren Freundinnen mit. Und nur wenige Tage später war es auch bei Arobanai so weit. Nun würde es zusätzlich zum Molimo noch ein Elima-Fest geben. Tante Kondabate baute an ihre Hütte noch eine zweite Kuppel an. Da hinein zogen die Mädchen nun mit ihren Freundinnen. Von Kondabate lernten sie hier neue Lieder, Lieder, die nur die Frauen sangen.

Gäste kamen an. ein altes Paar, das sonst bei einer Jagdgruppe im Norden lebte, wie es hieß. Sie kehrten zuerst bei Sefu ein, wo der Mann Verwandte hatte. Dann kamen sie ins Hauptlager. Der alte Moke begrüßte sie ehrfurchtsvoll. Die alte Frau ging gleich in Kondabates Hütte. Auch Kondabate begrüßte sie mit großer Ehrerbietung. Die Mädchen betrachteten sie scheu. Die Alte hockte sich hin und sang und übte mit den Mädchen. Doch sie sang nicht die Lieder der Frauen, die Lieder des Elima, sie sang die Lieder des Molimo, die nur den Männer vorbehalten waren. Die Mädchen erschraken, doch Kondabate nickte ernst und begann, die Lieder mitzusingen. Scheu stimmten die Mädchen ein.

An diesem Abend hingen nicht ein, sondern vier mit Essen gefüllte Körbe am Kumamolimo. Manyalibo holte von jeder Hütte ein brennendes Scheit für das Molimofeuer. Die Männer und Burschen waren erregt und nervös, als sie zu singen begannen. Da kamen die Mädchen aus der Elimahütte, von der Alten geführt. Die Alte nahm Scheiter vom Molimofeuer und entzündete ein zweites Feuer neben dem ersten. Um das gruppierten sich die Frauen. Die Mädchen, die sich mit der Farbe der schwarzen Gardenia bemalt hatten, tanzten in langer Reihe, und die Frauen sangen immer lauter, immer kräftiger die Lieder des Molimo. An diesem Abend führten die Frauen den Gesang an und die Männer sangen mit. Die Alte aus dem Norden saß an dem Feuer, das sie entfacht hatte, und schaute mit unbewegtem Blick in die Flammen. Ihr gegenüber saß Kondabate, die schöne Kondabate. Wie vom Blick der Alten gebannt starrte auch sie regungslos in die Flammen. Dann begann die Alte langsam mit den Händen zu tanzen. Ihre dürren, ausgetrockneten Finger spreizten und krümmten sich, ihre knochigen Arme zuckten und schlugen in alle Richtungen, als ob sie nicht zu ihr gehörten. Dann aber erhob sie sich, und begann zu tanzen. Sie tanzte um das Feuer der Männer, während die Männer sangen, ohne sie anzuschauen. Immer heftiger wurde der Gesang, immer heftiger ihr Tanz. Sie sprang in die Glut und tanzte in der Glut, dann begann sie, mit ihren Füßen das Feuer auseinander zu reißen. Mit wilden Tritten stieß sie glühende Scheiter nach allen Richtungen, und die Männer mussten sehen, wie sie ihnen auswichen. Der alte Moke erhob sich, und trug das Feuer wieder zusammen, doch von neuem riss die Alte es auseinander. Dreimal erinnerte sie so die Männer daran, dass die Frauen es waren, die das Feuer gezähmt und gehütet hatten, dass es an den Frauen lag, ob das Feuer ausging oder weiterbrannte, ob das Leben endete oder weiterging. Dann ergriff die Alte ein Lianenseil und legte es nacheinander in Schlingen den Männern um den Hals. Wer die Schlinge um den Hals hatte, verstummte, und als der letzte Mann gebunden war, war das Singen verebbt. Eine Weile herrschte Stille, in der nur die Stimme des Waldes zu hören war. Dann sagte der alte Moke: "Es ist wahr, wir sind gebunden. Wir sind gebunden und können nichts tun. Wir müssen etwas geben, um wieder frei zu werden." Ekianga sagte: "Wir geben das Fleisch einer Antilope, um wieder frei zu werden." Manyalibo sagte: "Geben wir auch das Fell einer Zibetkatze". Die Männer stimmten zu. Da löste die Alte die Schlingen, und wer frei war, begann wieder zu singen.

Am nächsten Morgen waren die Alte und ihr Mann verschwunden.

Andere Besucher kamen. Burschen aus Gruppen, deren Jagdgründe viele Tagereisen entfernt lagen. Die Nachricht vom Elimafest war schnell gereist. Überall wo Jäger im Wald auf Jäger anderer Gruppen trafen, wurde erzählt, getratscht, wurden Nachrichten über Verwandte eingeholt, das Jagdglück besprochen, Heldentaten großer Jäger zu noch größeren Taten aufgebauscht.

Die Burschen schlossen sich den Jägern von Apa Lelo an. Die meisten von ihnen hatten Tanten und Onkel oder entferntere Verwandte in der Gruppe, bei denen sie unterschlüpften, oder sie hingen in den Hütten der Junggesellen herum. Ihr Ziel war es, abends in die Elimahütte einzudringen. Doch die Mütter der Mädchen bewachten die Hütte und warfen mit Steinen und brennenden Scheitern nach den Belagerern.

Manchmal brachen die Mädchen aus, mit weißem Lehm bemalt und mit langen, geflochtenen Peitschen bewaffnet. Sie stürmten durchs Lager, und wer ihnen gefiel, nach dem schlugen sie mit ihren Peitschen. Manchmal schlugen sie auch erwachsene und alte Männer, doch das war Spaß, ein freundlicher Tribut an ihre Männlichkeit. Doch wenn sie einen heiratsfähigen Jüngling schlugen, bedeutete das eine Verpflichtung. Der Getroffene musste das Mädchen, das ihn geschlagen hatte, in der Elimahütte besuchen.

Tumba, den Arobanai sich im Stillen auserwählt hatte, ließ sich in Apa Lelo nicht blicken. Da beschlossen Arobanai und ihre Gefährtinnen, einen Ausfall zu machen. An einem frühen Morgen brachen sie auf, Brüste und Hinterteile mit weißen Mustern verziert, und liefen nach Westen, Antilopen- und Elefantenpfaden folgend, liefen mit langen, lautlosen Schritten, bis sie am späten Nachmittag das Lager erreichten, in dem sich Tumbas Gruppe aufhielt. Mit Geschrei fielen sie über das schläfrige Lager her, jagten die Männer um die Hütten. Die Männer und Burschen verteidigten sich, wie sie konnten, stürzten zu den Abfallhaufen hinter den Hütten und warfen, was sie in die Hände kriegten, nach den hitzigen Mädchen. Endlich erspähte Arobanai ihren Auserwählten. Der benützte seinen Bogen, um trockene Bananenschalen nach den Mädchen zu schießen. Doch gegen die neun wilden Streiterinnen musste er unterliegen. Arobanai schonte ihn nicht.

Am fünften Tag kam er endlich in die Elimahütte. Er lieferte den Müttern einen mannhaften Kampf, um einzudringen, doch als es ihm gelungen war, hatte er seine Pflicht getan. Er hätte sich nun Arobanai widmen können oder auch wieder gehen, oder ein anderes Mädchen erwählen. Und das tat der Kerl auch. Er schäkerte mit Kidaya, und als es Nacht wurde, konnte Arobanai nur zu gut hören, was die beiden miteinander trieben. Da entschloss sie sich, Aberi zu erhören, der schon sich schon am ersten Tag den Weg in die Elimahütte erkämpft hatte, und ihr seither mit allen Mitteln zu gefallen suchte. Sie würde mit ihm tun, was Tumba und Kidaya miteinander taten, und wenn es ihr gefiel, würde sie ihn bitten, ihren Eltern eine Antilope zu jagen, und in seiner Gruppe eine Schwester zu finden, die einen ihrer Brüder heiraten wollte. Und wenn es ihr nicht gefiel - es waren noch mehr schöne Burschen da draußen, große Jäger, die damit prahlten, dass sie den Eltern ihrer Braut nicht eine, sondern zwei Antilopen, was heißt Antilopen, einen Elefanten oder vielleicht auch zwei bringen würden. Das Leben war schön. Der Wald sorgte für seine Söhne und Töchter, er schenkte ihnen nicht nur Fleisch und Früchte zum Essen und klares Wasser zum Trinken, er schenkte ihnen das Feuer und er schenkte ihnen die Freuden der Liebe.

"Um uns ist Dunkelheit" flüsterte Arobanai,

"doch wenn es Dunkelheit gibt,

ist die Dunkelheit gut."

Dann legte sie sich zu Aberi auf seine Matte und begann ihn zu kitzeln. Er kicherte und griff nach ihr.


Aus Martin Auer, “Und jetzt? - Eine kurze Geschichte des Lebens” (Romanmanuskript in Arbeit)

Copyright © Martin Auer 1999





Sternenschlange

Hier bin ich. Ich tanze. In langer Reihe tanzen wir, geschmückt zu Ehren des Gottes. Bald werden wir bei Huitzilopochtli sein, bald werden wir die Sonne am Himmel begleiten. Wir waren Krieger, jetzt sind wir Gefangene. In langer Reihe tanzen wir, und vorne stehen die Opfer­priester. In langer Reihe tanzen wir, und einer nach dem anderen sinkt dahin, als Opfer für die Götter. Bald werden sie auch mir das Messer aus schwarzem Stein in die Brust stoßen, mein Blut wird über den Opferstein fließen, und sie werden mein Herz herausschneiden. Mein Blut ist Nahrung für die Götter. Mein Blut ist Nahrung für Huitzilopochtli, die Sonne.

Ich tanze. Sie haben mir Pulque zu trinken gegeben, jetzt bin ich leicht und tanze. Erst war ich traurig, dass nicht ich es war, der einen Feind zum Gefangenen machte. Aber jetzt bin ich leicht: Durch mich wird die Erde gerettet werden, mein Opfer wird die Götter versöhnen, dass sie die Erde nicht vernichten. Ich werde aufsteigen zu Huitzilopochtli, ich werde ihn am Himmel begleiten. Und dann werde ich zu einem Kolibri werden, wie alle tapferen Krieger, die im Kampf gefallen sind, die im Kampf geopfert wurden, und werde von Blume zu Blume fliegen und immer fröhlich sein, solange die Erde besteht.

So war es immer, und so muss es sein.

Ich tanze, und immer näher komm ich zum Opferstein. Ich tanze, und während ich tanze, erinnere ich mich:

Ich wurde am Tag 1 des Ozelotmonats geboren, und so hat mir das Schicksal den Tod als Kriegsgefangener bestimmt. Als ich zur Welt kam, sagte die Hebamme zu mir: "Geliebter Sohn, wisse, dass dein Haus nicht dein Geburtshaus ist, denn du bist ein Krieger, du bist ein Quecholli-Vogel, und das Haus, in dem du zur Welt kamst, ist bloß ein Nest. Du bist dazu bestimmt, die Sonne mit dem Blut deiner Feinde zu laben und die Erde mit ihrem Leib zu ernähren." So werden alle Knaben begrüßt. Wäre ich ein Mädchen gewesen, so hätte sie gesagt: "Du musst im Haus sein, wie das Herz im Leib. Du darfst das Haus nicht verlassen, du musst sein wie die Asche im Herd". Viele Reden wurden gehalten bei meiner Geburt, Verwandte und Freunde kamen, und der Wahrsager wurde nach meinem Schicksal befragt. Er legte den Tag meiner Taufe fest, und an diesem Tag wurde ich vielmal mit Wasser besprengt, und die Hebamme sagte die Worte: "Nimm und empfange, denn vom Wasser wirst du auf dieser Erde leben, vom Wasser wächst und grünst du; das Wasser schenkt uns, was uns not tut zum Leben." Dann wählten sie den Namen Citlalcoatl für mich, das heißt Sternenschlange.

Acht Jahre lebte ich im Haus meines Vaters. Sobald ich laufen und sprechen konnte, musste ich schon Wasser und Holz holen und meinen Vater zum Markt begleiten. Später lernte ich fischen und segeln, meine Schwestern aber lernten spinnen und weben, fegten das Haus und mahlten den Mais auf dem Reibstein.

Mit acht Jahren brachte mein Vater mich in den Calmecac, in die Tempel­schule, und nicht in die gewöhnliche Kriegerschule. "Höre mein Sohn", sagte er zu mir, "du wirst weder Ehre noch Achtung ernten. Du wirst vernachlässigt, verachtet und erniedrigt werden, Jeden Tag wirst du Agavendornen schneiden, um Buße zu tun. Du wirst dich mit den Dornen stechen müssen und dein Blut als Opfer geben, und Nachts wird man dich wecken, damit du im kalten Wasser badest. Stähle deinen Körper in der Kälte, und wenn die Fastenzeit kommt, so brich sie nicht und lasse dir beim Fasten und bei Bußübungen nichts anmerken."

In der Tempelschule lernte ich ein Mann zu sein. Opfer und Selbstverleugnung wurde von uns verlangt. In der Nacht mussten wir im Gebirge den Göttern Weihrauch und unser Blut opfern. Bei Tag mussten wir auf den Feldern des Tempels hart arbeiten. Das kleinste Vergehen wurde streng bestraft. Manchmal weinte ich, und dachte, wie schwer es ist, ein Krieger zu sein und ein Mann. Doch mit der Zeit wurde ich stärker. Und ich verachtete die Knaben, die die gewöhnliche Kriegerschule besuchten. Die mussten Holz schlagen und die Wassergräben und Kanäle reinigen und auf dem Gemeindeland ackern. Aber bei Sonnenuntergang gingen sie alle ins Cuicacalco, das Haus des Gesangs und tanzten und sangen da bis Mitternacht und schliefen bei Mädchen, mit denen sie nicht verheiratet waren. Sie verkehrten nur mit Kriegern, deren Taten sie bewunderten und nachahmen wollten. Von den höheren Dingen, von Wissenschaft, Künsten und Götterverehrung hatten sie keine Ahnung.

Wir Schüler des Calmecac waren zu höheren Aufgaben bestimmt, wir konnten Priester oder Beamte werden. Selbstbeherrschung und Härte lernte ich in der Tempelschule. Aber auch mit Anstand reden und grüßen lernte ich, die Sitten, die am Hof des Kaisers herrschen, den richtigen Umgang mit Beamten und Richtern. Ich lernte auch die Sternenkunde und Traumdeutung, die Berechnung der Jahre und den Wahrsage­kalender. Ich lernte, die Zeichen und Bilder für Zahlen und Namen zu malen, und die Schriften unserer Vorfahren zu entziffern. Und ich lernte die heiligen Gesänge unseres Volkes, die Lieder, mit denen die Götter geehrt werden, und die Lieder, die die Geschichte der Azteken erzählen. Denn ein großes und mächtiges Volk sind wir, und werden gefürchtet von allen Völkern der Erde.

Einst zogen wir aus von Aztlan, unserer ersten Heimat, nach der wir Azteken benannt sind. Die Sagen berichten, dass Aztlan vom Wasser umgeben war, und wir dort als Fischer gelebt hatten. Zu Anfang waren wir arm, wir kleideten uns in Felle und hatten nichts als Pfeile und Bogen und Wurfbretter für unsere Speere. Wir waren nicht besser als die Waldmenschen, die nördlich unseres Reiches leben.

Vier Priester waren unsere Anführer, die einen Schrein aus Schilf trugen. Darin war unser Gott, Huitzilopochtli, der zu ihnen sprach und ihnen sagte, was wir tun sollten. Nachdem wir Aztlan verlassen hatten, befahl uns unser Gott, wir sollten uns von nun an die "Mondleute" nennen, die Mexica.

Wenn wir einen günstigen Ort fanden, blieben wir vielleicht ein paar Jahre. Wir säten Mais, aber nicht immer blieben wir lange genug, um ihn auch zu ernten. Meistens nährten wir uns von der Jagd, von Hirschen und Rehen, Kaninchen Vögeln und Schlangen, und von dem, was auf der Erde wuchs.

Unser Gott aber versprach uns: "Wir werden uns niederlassen und sesshaft werden, und wir werden alle Völker der Welt erobern; und wahrhaftig, ich sage euch, ich will Euch zu Herren und Königen machen über alles auf dieser Welt; und ihr werdet herrschen und unzählige Lehensleute haben, die euch Tribut entrichten und euch zahllose und sehr kostbare Steine darbringen werden, dazu Gold, die Federn des Quetzalvogels, Smaragde, Korallen, Amethyste, und Ihr werden Euch damit schmücken. Ihr sollt auch vielerlei Federn haben und Kakao und Baumwolle in vielen Farben. Das alles werdet ihr erleben!"

Manche sagen, dass Huitzilopochtli nicht von Anfang an unser Gott gewesen ist. Unser Stamm bestand aus sieben Sippen, und jede Sippe beriet ihre Angelegenheiten unter sich und wählte sich ihren eigenen Anführer. Und so sagen sie, jede unserer sieben Sippen hätte ihren eigenen Gott gehabt. Doch Huitzilopochtli war der größte unter ihnen, der Gott der Sonne und des Krieges.

Wir kamen durch viele Länder, manche waren öd und nicht besiedelt, andere waren bewohnt, und wir mussten mit den Einwohnern kämpfen. An manchen Orten blieben wir länger und bauten unserem Gott einen Tempel. Aber immer trieb es uns weiter. Oft mussten wir unsere Alten zurücklassen, wenn wir weiterzogen. Manchmal trennten sich auch Gruppen von unserem Stamm und schlugen eine andere Richtung ein. Dafür stießen andere zu uns, Jäger, die noch nie in Dörfern gelebt hatten.

Endlich kamen wir in das schöne Land zwischen den Bergen, das heute unseren Namen, den Namen der Mexica trägt. Hoch über beiden Meeren liegt es, geschützt und umgeben von Bergen. Ewiger Frühling herrscht hier, nur selten gibt es hier Frost, und wenn es im Sommer heiß ist, so bleiben die Nächte doch kühl. Quellen in den Bergen versorgen das Land mit Wasser, und am Grunde des Tales liegen fünf kühle Seen, umgeben von Dörfern und Städten.

Hier war einst ein mächtiges Reich gewesen, das Reich von Tula, der Stadt des Gottes Quetzalcoatl. Doch Quetzalcoatl, der Gott der Künste und des Kalenders, hatte seine Stadt verlassen und das Reich war zerfallen. Die Dörfer und Städte an den Lagunen waren klein, und sie hatten keinen gemeinsamen Herrscher. Jedes Volk lebte für sich in seiner Stadt, mit eigenen Sitten und eigenen Göttern.

Wir fanden ein Heim an einer Stelle, die Heuschreckenhügel genannt wurde, Chapultepec. Dort wählten wir zum ersten Mal einen einzigen Anführer für den ganzen Stamm. Denn wir mussten zu oft Kriege führen mit unseren Nachbarn, und brauchten einen kriegserfahrenen Häuptling. Unsere Nachbarn sorgten sich, als wir uns niederließen und vermehrten, und sie fielen über uns her. Wir verteidigten uns gut, doch als sie zu stark wurden, vertrieben sie uns. Unser Anführer wurde gefangengenommen und geopfert, und wir mussten uns unseren Nachbarn unterwerfen.

Die Herrscher von Culhuacan wiesen uns einen Ort an zwei Stunden von ihrer Stadt, wo es von Schlangen wimmelte. Dort sollten wir leben, denn sie hatten Angst vor uns, und wollten uns nicht in ihrer Nähe haben. Doch wir fingen die Schlangen und brieten sie, denn wir waren von unserer langen Wanderschaft gewohnt, mit Widrigkeiten fertig zu werden, und darum nannten sie uns Schlangenfresser. Doch sie hatten Respekt vor uns, weil wir überlebt hatten, wo keiner sonst überleben konnte. So konnten wir bald mit ihnen Handel treiben, sie heirateten unsere Töchter und wir die ihren und wir wurden verwandt miteinander. Als sie Krieg hatten mit ihren Nachbarn, da riefen sie uns zu Hilfe, und wir machten uns Waffen und retteten sie. Doch als sie sahen, wie gute Krieger wir waren, da bekamen sie Angst vor uns und dankten uns nicht. Da führten wir Krieg mit ihnen.

Wir mussten fliehen, und kamen nach Acatzintlan. Dort machten wir uns Flöße aus unseren Schildern und Speeren und fuhren über das Wasser auf eine kleine Insel im See.

Da erschien Huitzilopochtli einem seiner Priester, und sagte ihm, wir sollten einen Feigenkaktus suchen, auf dem ein Adler sitzen würde. Dieser Platz sollte "Ort der Kaktusfrucht" heißen, Tenochtitlan, und dort sollten wir eine Stadt gründen. Wir suchten, und fanden den Adler auf dem Kaktus sitzen, und er verspeiste eine rote Kaktusfrucht, wie die Sonne die Herzen der Krieger verspeist. Da stachen wir Rasenstücke aus dem Boden, und schichteten sie zu einem Hügel auf dem wir Huitzilopochtli ein Gebetshaus aus Schilf errichteten.

"Hier", so sagte Huitzilopochtli zu uns, "hier werden wir uns zu Herren über alle Völker machen, über ihren Besitz, über ihre Söhne und Töchter. Hier werden sie uns dienen und Tribut zahlen; an diesem Ort wird die berühmte Stadt aufgebaut, die bestimmt ist, Königin und Herrin über alle anderen zu werden - wo wir eines Tages alle Könige und Fürsten empfangen werden, die kommen müssen, um der mächtigsten Stadt zu huldigen.

So waren wir wieder an einem Ort, der von Wasser umgeben war, wie unsere alte Heimat Aztlan.

Wie wir es von alters her gewohnt waren, teilten wir die Stadt in die heilige Zahl vier. Vier Viertel hatte die Stadt, und jedes Viertel war in Unterbezirke geteilt, die Calpulli hießen. Jeder Calpulli gehörte einer Sippe und hatte seinen eigenen Tempel für den Sippengott. Das Land gehörte der ganzen Sippe, und den einzelnen Familien wurde es nur geliehen.

Vögel und Fische gab es hier im Überfluss. Doch da das Land beschränkt war, legten wir Gärten im Wasser an. Wir flochten Wände aus Schilf, und schichteten zwischen diesen Wänden Wasserpflanzen und Schlamm auf, bis sie aus dem Wasser ragten. Dann konnten wir Bohnen und Mais darauf pflanzen.

Nach einigen Jahren kam es zum Streit, und ein Teil des Stammes zog aus, und gründete Tlatelolco auf einer nahen Insel.

So lebten wir zwischen Schilf und Binsen auf unserer Insel, und hatten weder Holz noch Steine. Seit unserem Auszug aus Aztlan waren zweihundert Jahre vergangen.

Wir unterwarfen uns niemand, denn unsere Stadt lag an der Grenze dreier Gebiete, der Tepaneken, der Acolhua und der Leute von Culhuacan, die alle rund um den See siedelten. Wir gingen auf ihre Märkte und handelten mit ihnen. Wir brachten ihnen Fische, Frösche und andere Wassertiere, und sie gaben uns Holz und Steine für unsere Häuser und Tempel.

Als unser Anführer und Oberpriester Tenoch starb, baten wir den Herrscher von Culhuacan, uns einen Herrn zu geben. Denn die Mexica waren verachtet und unbedeutend, und wir dachten, es würde unser Ansehen heben, den Sohn eines großen Fürsten zum Herrn zu haben. Wir baten ihn, uns Acamapichtli zum Herrn zu geben, der der Sohn eines Mexikaners und einer Culhua-Prinzessin war. Er war aber auch mit den Acolhua verwandt. Tlatelolco aber wählte sich einen Sohn des Tepanekenhäuptlings zum Herrn, sodass wir mit allen Staaten rund um den See verwandtschaftliche Beziehungen hatten. Acamapichtli regierte friedlich, er ließ Häuser, Wassergärten und Kanäle bauen.

Von allen Völkern rund um den See waren die Tepaneken die mächtigsten. Sie führten Krieg gegen andere Städte, und wenn sie sie besiegt hatten, verlangten sie Tribut von ihnen. Als sie immer mächtiger wurden, mussten auch wir ihnen Tribut zahlen und mit ihnen in den Krieg ziehen, wenn sie es verlangten.

Als unser Herrscher Acamapichtli starb, wählten unsere Führer seinen Sohn Huitzilihuitl, Kolibrifeder, zum Nachfol­ger, und der heiratete eine Enkelin des Tepanekenherrschers. So wurde unsere Lage besser, und die Tepaneken mussten uns achten. Huitzilihuitl führte Krieg mit den südlichen Ländern, wo es Baumwolle im Überfluss gab. So bekamen die Mexica die ersten Baumwollkleider, denn bisher hatten sie nur grobe Stoffe aus den Fasern der Agave gekannt. Dann eroberte er Cuauhtinchan, Chalco, Otumba, Tulancingo und noch andere Städte. Er begann den Krieg gegen Texcoco.

Sein Sohn war Chimalpopoca, der nach ihm zum Herrscher gewählt wurde. Er beendete den Krieg gegen Texcoco und eroberte die Stadt. Der Tepanekenherrscher übergab die Stadt den Mexica und sie mussten uns Tribut zahlen. Aber noch immer mussten auch wir Tribut an die Tepaneken bezahlen.

Doch als der Herrscher der Tepaneken starb, wollten wir nicht mehr Untertanen sein. Unsere Stadt war größer geworden, und wir lebten nicht länger in Hütten, sondern bauten uns Häuser aus Stein. Wir wollten nicht länger den Tepaneken dienen. Freilich, die kleinen Leute, die Bauern, fürchteten sich vor dem Krieg. Denn sie hatten die Macht der Tepaneken kennengelernt. Da sagten die Oberen - das waren die Verwandten des Herrschers, die Priester und die Anführer der Krieger -: "Wenn wir mit diesem Krieg keinen Erfolg haben, so geben wir uns in euere Hände. Ihr könnt euch dann an uns rächen und uns in schmutzigen Käfigen verkommen lassen." Darauf antwortete das Volk: "Und wir versprechen, euch zu dienen und für euch zu arbeiten, eure Häuser zu bauen und euch als unsere wahren Herren anzuerkennen, solltet ihr diesen Krieg gewinnen".

So verbündeten wir uns mit denen von Texcoco, mit denen wir früher Krieg geführt hatten, und kämpften gegen die Tepaneken. Hundertvierzehn Tage belagerten wir ihre Stadt. Dann eroberten wir sie. Ihr Herrscher Maxtla wurde geopfert und sein Herz herausgeschnitten. Dann wurde er begraben, wie es einem Herrscher gebührt.

Nun hatten die Mexica viel Land erbeutet. Dieses Land wurde nun verteilt. Und entsprechend der Abmachung zwischen den Oberen und dem Volk, bekamen der Herrscher und die Oberen den größten Anteil vom Land, die Sippenverbände aber bekamen ganz wenig, nur soviel, dass sie ihre Tempel erhalten konnten. Manche sagen aber, diese Abmachung zwischen dem Volk und den Oberen hätte es nie gegeben, und die Oberen hätten sie nur erfunden. Das Volk sagte, das sei ungerecht, und früher hätte aller Boden dem ganzen Stamm gehört, und alle hätten das gleiche Recht gehabt. Aber konnten sie sich wehren? Die Krieger hatten den Krieg gewonnen und das Reich vergrößert. Und wer sollte im Lande mächtig sein? Die Bauern, die ein bisschen Mais aus der Erde ziehen? Oder die Krieger, die das Reich vergrößern, und andere Völker tributpflichtig machen, und die dafür sorgen, dass immer Gefangene da sind, um bei den Festen geopfert zu werden, damit die Götter uns nicht zürnen und nicht die Welt vernichten?

Als wir noch herumzogen und arm und verachtet waren, da waren wir alle gleich gewesen, das stimmt. Jeder war Krieger und Bauer und zugleich. Aber wie soll man Kriege führen und Städte erobern, wenn alle durcheinander reden und jeder ein Ratgeber sein will? Und sollen die Priester, die Richter, die Beamten etwa auch den Boden aufhacken? Wie sollen sie da ihr Amt ausüben?

Nein, es ist eine gerechte Ordnung: jeder junge Mann nimmt am Kriegsdienst teil. Wenn der Knabe zehn Jahre alt ist, schneidet man ihm die Haare vom Kopf, und nur hinten am Nacken bleibt ein Schopf stehen. Wer zum ersten mal einen Gefangenen macht, und wenn es auch mit Hilfe von einigen Kameraden ist, der darf den Schopf abschneiden. Er ist ein Iyac. Aber erst, wer allein vier feindliche Krieger gefangengenommen hat, der wird ein Tequia. Und stehen einem Tequia nicht alle Ämter und Ehren offen? Ein Tequia bekommt einen Teil der Steuern, die der Herrscher einhebt, er darf Federn und lederne Armreifen tragen, er kann ein Jaguar-Ritter oder ein Adler-Ritter werden. Ein Tequia kann vom Kaiser für hohe Ämter ausgewählt werden. Aber wer es nicht schafft, nach ein oder zwei Feldzügen ein Tequia zu werden, der muss auf den Acker. Er muss Steuern zahlen und wird für die öffentlichen Arbeiten herangezogen, er muss die Straßen reinigen oder die Dämme reparieren, und muss auf den Äckern der hohen Beamten arbeiten. Er darf keine Baumwollgewänder und keinen Schmuck tragen. Ist das nicht gerecht?

Wer sich aber auszeichnet als Krieger und als Beamter, der wird beschenkt mit Kleidung, Schmuck und Land. Die anderen müssen für ihn arbeiten und seine Speicher mit Mais füllen.

Wir sind ein großes und ein reiches Volk geworden. Auf dem Markt gibt es Mais, Gemüse, Geflügel, Frauen kochen auf kleinen Feuern vielerlei Gerichte, die man von ihnen kaufen kann, Händler bieten Stoffe, Schuhwerk, Getränke, Felle, Geschirr, Seile, Pfeifen und allerhand Werkzeuge an. Die Fischer bringen Fische, Schnecken und Krebse vom See in die Stadt. Unsere Kaufleute bringen aus den fernsten Gebieten grüne Jade und Smaragde, Schildkrötenpanzer und Jaguarfelle, Bernstein und Papageienfedern. Die Städte, die wir erobert haben, liefern uns als Tribut jedes Jahr 52.000 Tonnen Lebensmittel, endlos sind die Kolonnen der Träger. 123.000 Baumwollgewänder müssen die Tributpflichtigen liefern, 33.000 Bündel Federn. Die Provinz Yoaltepec schickt uns jährlich vierzig Goldreifen von Fingerdicke, Tlachquiauco muss zwanzig Kürbisflaschen Goldstaub abliefern. Aus Xilotepec kommen jedes Jahr 16.000 Frauenkleider, 16.000 Männerkleider, zwei Kriegertrachten mit Schild und Kopfschmuck und vier lebendige Adler. Aus Tochpan kommt Pfeffer, aus Tochtepec kommt Gummi und Kakao. Die Provinzen liefern uns Mais, Getreide, Kakao, Honig, Salz, Pfeffer, Tabak, Möbel und Geschirr. Sie müssen Gold von der Südküste herbeischleppen, Türkis und Jade von der Ostküste. Huaxtepec liefert Papier, Cihuautlán Muscheln.

Haben wir nicht viele Städte zusammengeschlossen zu einem großen Reich? Unsere Steinschneider, die aus den Edelsteinen den Schmuck machen, stammen sie nicht aus Xochimilco? Und die Federflechter, die den herrlichen Kopfschmuck erzeugen, sind sie nicht aus Amantlan? Haben wir sie nicht besiegt und ihr Haus in Flammen aufgehen lassen? Aus dem fernen Süden aber stammen die Goldschmiede.

Unser Kaiser Moctezuma ist in seinem Palast von 3000 Hofbediensteten umgeben, nicht zu reden von all seinen Adlern, Schlangen und Jaguaren, die jeden Tag 500 Truthähne fressen. Im Monat Uey tecuihuitl, wenn die Armen ihre Vorräte verzehrt haben, öffnet der Kaiser seine Speicher und lässt Speise und Trank unter das Volk verteilen. 700.000 Menschen leben in der Stadt Mexico-Tenochtitlan, wir haben die Inseln befestigt, Dämme ins Wasser gebaut, Brücken über die Kanäle gelegt, Tempel und Paläste haben wir erbaut, einen Aquädukt, der Trinkwasser von Chapultepec in die Hauptstadt bringt. Wenn der Kaiser einen Tempel bauen lässt, liefern die Städte ihm Steine und Kalk. Tausende Arbeiter muss der Kaiser ernähren, die den Göttern den Tempel errichten. Gärten und Bäder haben unsere Kaiser errichten lassen, und Tiere und Pflanzen aus dem ganzen Reich hier versammelt. Wenn der Kaiser ein Fest feiert, lädt er die Herrscher der feindlichen Städte ein, und beschenkt sie mit Schmuck und reichen Kleidern. Wer ist so reich, so mächtig wie wir, die Mexica? Als unser Kaiser Ahuitzotl den Aufstand der Huaxteken niederschlug, da dauerten die Feiern viele Wochen. Allein die Opferung der Gefangenen dauerte vier Tage! Kein Volk ist größer, kein Volk ist stärker als das unsere!

Aber:

Wie sie sagen, wohnen wir hier nicht,
noch sind wir gekommen, um hier zu verweilen.
Oh, ich muss die schönen Blumen lassen,
Ich muss hinunter auf der Suche nach dem Jenseits.

Oh, für einen Augenblick wurde mein Herz müde:
die schönen Lieder

sind uns nur geliehen.

Die Götter brauchen Opfer. wir müssen die Götter mit Opfern ernähren, damit sie die Welt nicht vernichten. Ich tanze. Die Trommeln schlagen, die Flöten klagen, ich tanze. Immer schneller, tanze ich, immer wilder. Bald werde ich bei Huitzilopochtli sein. Nein, ich selbst bin Huitzilopochtli, trage ich nicht sein Gewand, bin ich nicht gekleidet wie er? Hier steht der Priester mit dem Messer aus schwarzem Stein. Nun bin ich an der Reihe.


Copyright © Martin Auer 1991







Stau

Wo viele Menschen zusammen sind, passieren immer wieder Dinge, die keiner voraus­gesehen oder geplant hat. Ja, es können so­gar Dinge passieren, die keiner will. Und trotzdem sind es die Menschen selber, die diese Dinge tun. Das klingt unglaublich?

Denk zum Beispiel an den Stau auf unseren Autobahnen. Will denn jemand den Stau? Will denn irgendjemand gerne auf einer heißen, staubigen Autobahn herumstehen und schwitzen? Nein, natürlich nicht. Jeder will nur möglichst schnell irgendwohin kommen. Und genau deswegen stecken sie dann alle im Stau. Und zwar regelmäßig und immer wieder.


Copyright © Martin Auer 1993



Bericht an den Rat der Vereinten Sonnensysteme

Auf Grund unserer Beobachtungen während ungefähr 10.000 Umdrehungen des Planeten Yer müssen wir dringend davon abraten, diesen Planeten und seine Bewohner in die Vereinten Sonnensysteme aufzunehmen.

Es gibt auf Yer eine Art von Bewohnern, die sich für intelligent hält und sich während der letzten Million Umdrehungen gewaltig vermehrt und über den Planeten ausgebreitet hat, die sogenannten Nin, Menschen oder Orang. Diese Art, die ursprünglich von Baumbewohnern abstammt, hält sich zwar für intelligent, doch sind die derzeit vorhandenen fünf Milliarden Nin nicht imstande, ihre Handlungen irgendwie sinnvoll aufeinander abzustimmen. Oft zerstören die einen, was die anderen geschaffen haben, sie nehmen einander auch Nahrung und Kleidung weg. Sie erzeugen zwar Dinge, die ihnen das Leben erleichtern und verschönern sollen, aber indem sie diese Dinge erzeugen, zerstören und vergiften sie die Atmosphäre, das Wasser und die Erde ihres Planeten, und machen sich so das Leben wiederum unendlich viel schwerer. Eine der schlimmsten Plagen, unter denen sie leiden ist eine Sitte - oder sollen wir es eine Krankheit nennen? - die sie wojna, war, Krieg oder guerra nennen. Wenn eine wojna ausbricht, gehen große Gruppen von Nin aufeinander los und zerstören einander. Sie zerstören die Wohnstätten und Nahungsmittel der “Feinde” und quälen einander aufs Schrecklichste. Unser Forscherteam hat versucht herauszufinden, warum sie das tun. Tatsächlich sind die Nin selber sich völlig uneinig in dieser Frage. Es gibt, und das ist das seltsame, sehr viele unter ihnen, die diese grausame Sitte ablehnen und als das größte Unglück betrachten, das die Ninheit befallen kann. Andere allerdings lieben wojna, erzählen davon oder sehen bewegte Bilder darüber an. Die Nin, die wojna ablehnen, haben verschiedene Anschauungen darüber, warum es dazu kommen kann. Manche halten es einfach für einen Ausbruch von Wahnsinn bei einer größeren Gruppe von Nin. Andere meinen, dass die Nin sozusagen zwei verschiedene Seelen in sich tragen, eine gute, die die anderen Nin liebt, und eine böse, die die anderen Nin hasst. Wieder andere meinen, wojna sei zwar nicht schön, aberleider hin und wieder nötig. Oft kommt es vor, dass zwei Gruppen von Nin miteinander wojna beginnen, und jede Gruppe sagt; “Ja, wir wollen diese wojna nicht, aber die anderen zwingen uns leider dazu.”

Unser Forscherteam neigt zu der Ansicht, dass das Grundproblem der Nin ist, dass sie nicht imstande sind, die Handlungen von großen Gruppen miteinander in Einklang zu bringen. Sie scheinen überhaupt noch nicht begriffen zu haben, dass sie keine Einzelwesen sind, sondern miteinander und allen anderen Bewohnern des Planeten verbunden. Um den Nin begreiflich zu machen, was gemeint ist, könnte man das Beispiel von zwei Yer-Bewohnern heranziehen, die von manchen Nin Ochsengenannt werden. Spannt man zwei von diesen Ochsen vor ein Fortbewegungsmittel, das auf Yer von einigen Wagengenannt wird, und der eine Ochse zieht nach Norden, der andere aber nach Westen, so werden die beiden nach Nordwesten kommen, obwohl eigentlich keiner von den beiden dorthin wollte. Die Nin haben noch nicht begriffen, dass sie mit allen anderen 6 Milliarden Nin so verbunden sind, wie die zwei Ochsen vor dem Wagen. Nur sind ihre Handlungen viel komplizierter als das Ziehen eines Wagens, und das Ergebnis der Handlungen von 5 Milliarden auszurechnen ist natürlich schwerer, als den Weg der beiden Ochsen zu berechnen. Bis jetzt scheint es, als ob die Intelligenz der Nin dazu nicht ausreichte.




Es folgt nun der Bericht unseres Forscherteams über die Entstehung von wojna auf dem Planeten Yer.

Vor vielen, vielen tausend Planetenumdrehungen, als die Nin noch vom Sammeln und Jagen in den Wäldern lebten, da kannten sie wojna noch nicht.

Die Nin lebten damals in kleinen Gruppen zusammen und streiften durch die Wälder. So eine Gruppe bestand nur aus sechzig bis achtzig Nin, vielleicht zehn bis fünfzehn sogenannte Familien.

Jede Gruppe hatte ein bestimmtes Jagdgebiet, das sie im Lauf eines Jahres durchwanderte, auf der Suche nach Beeren und Früchten, nach Pilzen und Wurzeln, nach Schnecken und Fröschen und natürlich nach Wild, das sie jagen konnten. In einem Gebiet, sagen wir, in einem Gebirgstal, lebten nur ganz wenige solcher Gruppen, vielleicht drei oder höchstens vier. Eine größre Menge von Leuten kann der Wald nicht ernähren. Diese Nin kannten keine Könige oder Häuptlinge, keine Gerichte, keine Polizei oder Gefängnisse, und sie hatten auch keine Gesetze. Wozu denn? Wenn einer etwas tat, was den anderen nicht passte, konnten sie sich abends am Feuer zusammensetzen und darüber reden. Wenn sie Gazellen jagen wollten, dann folgten sie ihrem besten Jäger. Aber wenn die Zeit kam, wo man den Honig der wilden Bienen finden konnte, dann folgten sie der Frau, die sich am besten mit den Bienen auskannte. Und wenn es Streit gab, dann folgten sie dem Rat der ältesten Frauen und Männer, weil die die meiste Erfahrung hatten. Die Nin hielten zusammen und teilten alles miteinander, denn anders hätten sie nicht über­leben können.

Wenn eine Gruppe zu groß wurde, musste sie sich teilen, und die eine Hälfte musste woanders neue Jagdgründe suchen. Da konnte es passieren, dass sie in das Gebiet einer anderen Gruppe eindrang. Und dann, doch, dann konnte es Kampf geben. Aber so ein Kampf war schnell zu Ende. Es war viel­leicht nur eine große Rauferei. Und sobald eine Gruppe die Flucht ergriff, war der Kampf zu Ende.

Solche Kämpfe waren aber eine Ausnahme und kamen nur vor, wenn eine Gruppe auswandern musste. Das kam nicht oft vor, denn bei fast allen Völkern kannten die Frauen bestimmte Kräuter, die verhinderten, dass sie Kinder bekamen. So konnten die Frauen verhindern, dass die Gruppe zu groß wurde und sich vielleicht teilen musste. Ansonsten gab es keinen Grund für Kampf. So eine Ningruppe hatte nicht den Wunsch, ihr Jagdgebiet immer größer und größer zu machen. Ein größeres Jagdgebiet hätte sie gar nicht ausnutzen können. Es hatte auch keinen Sinn, die Nachbargruppe zu überfallen und auszuplündern. Denn da gab es nichts zu plündern. Die Nin damals hatten nur sehr wenige Vorräte. Sie lebten von der Hand in den Mund und sammelten und jagten nur soviel, wie sie bald aufessen konnten.


Vor ungefähr 6000 Planetenumdrehungen änderte sich in bestimmten Gegenden, wo die Nin lebten, das Klima. Die Unterschiede zwischen trockener und feuchter Jahreszeit wurden größer, und bestimmte Pflanzen wuchsen nicht mehr. So blieben auch die Tiere aus, die von diesen Pflanzen gelebt hatten. Aber bestimmte Pflanzen, die als Samen harte Körner trugen, konnten in diesem Klima besonders gut gedeihen, und die Nin entdeckten, wie sie diese Pflanzen hegen und pflegen konnten., und dass man so auf kleinem Raum viel mehr Nahrung gewinnen konnte, als wenn man durch die Gegend streifte und nahm, was man fand. Diese Nin konnten nicht mehr herumwandern, sie legten die ersten Dörfer an und wurden Bauern. Sie behielten aber viele ihrer Jägersitten bei. So, wie sie früher gemeinsam gejagt hatten, arbeiteten sie jetzt gemeinsam auf den Äckern. Das Land gehörte niemandem - oder allen. Wenn es gemeinsame Angelegenheiten zu entscheiden gab, versammelten sich die Dorfbewohner und besprachen die Sache. Sie wählten keine Anführer, aber wenn es eine bestimmte Sache zu organisieren gab, zum Beispiel ein neues Waldstück zu roden, oder ein Gemeindehaus zu bauen, oder einen Jagdzug zu unternehmen, dann baten sie einen Mann oder eine Frau, die etwas davon verstanden, die Leitung zu übernehmen. Das war früher auch so gewesen. Die Männer gingen immer noch auf die Jagd nach dem spärlicher gewordenen Wild, und ein großer Teil der Arbeit auf den Feldern wurde von den Frauen gemacht. Aber da die wichtigste Nahrung von den Feldern kam, galt das Wort der Frauen oft mehr als das der Männer.

Das Bauernleben hatte Vorteile und Nachteile. Man war vom Getreide abhängig geworden. Als sie noch Sammlerinnen und Jäger gewesen waren, war es nicht so schlimm, wenn eine Pflanzenart in einem Jahr nicht gedieh. Es gab Hunderte andere in den Wäldern. Wenn jetzt eine Dürre kam, mussten sie hungern. Ihr Essen war auch einseitiger geworden, wenig abwechslungsreich, so dass sie schlechte Zähne bekamen und ihre Kinder kleiner blieben. Und die Arbeit war hart und eintönig, das Leben war nicht mehr so abwechslungsreich und aufregend wie früher. Doch ein Zurück gab es nicht mehr. Schon allein, weil Jäger und Sammlerinnen viel mehr Land brauchen als Bauern.

Das Neue war, dass sie jetzt nicht mehr von der Hand in den Mund lebten. Sie konnten mehr erzeugen, als sie verbrauchten. Sie konnten einen Vorrat anlegen. Da hatten sie etwas für schlechte Zeiten, ein Sicherheitspolster, wenn es einmal eine Dürre geben sollte oder eine Überschwemmung. Und wenn die Vorräte groß genug waren, konnten sie auch etwas davon in die Zukunft investieren. Das heißt: Wenn sie genug Korn eingelagert hatten, konnten sie es sich zum Beispiel erlauben, im nächsten Jahr ein paar Äcker weniger anzubauen. Ein Teil der Leute konnte stattdessen einen Bewässerungskanal graben, so dass im übernächsten Jahr die Ernte noch reicher ausfiel und der Überschuss noch größer wurde. Dann konnten sie es sich entweder bequemer machen, oder den Überschuss wieder in etwas anderes in­vestie­ren. Wenn nicht alle auf den Äckern gebraucht wurden, konnte sich eins auf das Schmieden spezialisieren und ein anderes auf das Töpfern und so weiter, und diese Künste weiterentwickeln, was wiederum in späteren Jahren die Arbeit von allen erleichterte. Genauso gut konnten sie es auch einigen gestatten, sich aufs Heilen, aufs Beten oder aufs Dichten von Liedern zu spezialisieren. Das erhöhte zwar nicht den Überschuss, aber es machte das Leben für alle angenehmer und reicher. So hielt langsam und gemächlich der Fortschritt seinen Einzug, Schmuck wurde erzeugt, Bilder wurden gemalt und Statuen gemeißelt, Lieder und Erzählungen wurden gedichtet, die Kleider wurden schöner und die Tänze komplizierter. Es war ein friedliches Leben.

In anderen Gegenden folgten Jäger den Herden von Huftieren. Gazellen, Hirsche, Schafe und Ziegen grasten im Winter in der Ebene, im Sommer auf den Höhen. Die Jäger folgten ihnen auf ihren Wanderungen. In der Ebene fanden sie Datteln, an den Hängen Eicheln, Mandeln und Pistazien, auf den Höhen Äpfel und Birnen. Wilde Körner reiften in verschiedenen Höhen zu verschiedenen Jahreszeiten. Je bessere Jäger die Menschen wurden, um so gezielter konnten sie die Tiere auswählen, die sie sich zur Beute erkoren. Wenn sie hauptsächlich junge Böcke und Widder erlegten, und die weiblichen Tiere schonten, konnten die Herden sich besser vermehren. Die Jäger erlegten Bären, Wölfe und Füchse, damit sie den Herden keinen Schaden zufügten. Sie trieben die Herden in Gegenden, wo sie sie besser schützen konnten. Schafe und Ziegen waren weniger scheu als Gazellen und Hirsche, gewöhnten sich leichter an die ständige Gegenwart von Menschen. Also folgten die Jäger lieber ihnen. Und aus Jägern wurden Hirten. Das Leben der Hirtenvölker hatte noch viele Ähnlichkeiten mit dem früheren Leben der Jäger. Sie zogen noch immer im Jahreskreislauf durch ihre Weidegründe, und natürlich jagten sie auch Tiere, die sich nicht zähmen ließen. Da das Jagen immer mehr Männersache gewesen war, betrachteten die Männer die Herden als ihr Eigentum, und so galt bei den Hirten das Wort der männlichen Nin mehr als das der weiblichen.


Hirten und Bauern trafen natürlich bald aufeinander. Jeder hatte etwas, was der andere brauchen konnte. Die Hirten konnten von den Bauern Getreide und Brot bekommen, Töpfe aus Ton und andere Dinge. Die Bauern bekamen dafür Fleisch, Leder und wilde Früchte und Nüsse.

Aber eines Tages entdeckte ein Hirtenhäuptling, der auch ein großer Jäger war, dass man den Bauern auch wegnehmen konnte, was man wollte, ohne ihnen etwas dafür zu geben. Die Bauern, die die Jagd nicht mehr gewohnt waren, waren keine guten Kämpfer. Die Hirten waren dem alten Jägerleben noch viel näher. Für sie waren die Bauern einfach ein neues Wild. Und so gewöhnten sie sich an, die Bauern regelmäßig zu überfallen und auszurauben. Nicht, dass ihr glaubt, sie wären plötzlich schlechte Nin gewor­den. Sie blieben einfach bei ihrer gewohnten Erwerbsweise und wandten sie nur auf ein neues Wild an: auf den Bauern mit seinem Vieh und seinen Kornvorräten. Untereinander blieben sie freundlich und hilfsbereit wie eh und je, teilten die Beute miteinander, regelten gemeinsam ihre Angelegenheiten und waren lieb zu ihren Kindern. Sie waren Jäger, keine Krieger, und trotzdem brachten sie den wojna in die Welt.


Warum konnten sie das Bauerndorf immer wieder überfallen und ausplündern? Weil die Bauern eben mehr Nahrung herstellen konnten, als sie selber unbedingt brauchten. Wenn die Jäger die Scheunen nicht komplett ausplünderten, wenn sie nicht alle Schafe und Schweine mitnahmen, wenn sie die Felder nicht anzündeten, dann konnten die Bauern sich irgendwie bis zur nächsten Ernte durchbringen. Und dann war wieder etwas da, was die Jäger rauben konnten. Mit der Zeit schlossen die Jäger sogar Verträge mit den Bauern: wenn die Bauern ihnen freiwillig Korn und Fleisch gaben, man nannte das »Tribut«, dann würden sie sie nicht mehr überfallen, sondern stattdessen sogar beschützen. So wurden die Jäger zu Herrschern und Kriegern, und die Bauern wurden ihre Knechte. Und jetzt passierte etwas Eigenartiges: Obwohl die Herrscher und Krieger ja nichts arbeiteten und außerdem einen ganz schönen Teil von dem, was die Bauern erzeugten, verprassten, blieb der Gemeinschaft als Ganzes ein größerer Überschuss als den Bauern früher, als sie noch frei waren. Die Bauern behielten jetzt weniger von dem, was sie erzeugten, und sie erzeugten mehr als früher. Früher, als sie frei über ihre Zeiteinteilung entscheiden konnten, hatten sie natürlich nicht das Äußerste geleistet, was ein Nin leisten kann, und sie hatten sich nicht mit dem Notwendigsten begnügt, was ein Nin braucht. Welcher freie Nin, der bei Sinnen ist, würde das tun? Aber genau dazu wurden sie jetzt von ihren Herrschern gezwungen: sie mussten das Äußerste leisten, und sich mit dem Notwen­dig­sten begnügen.

Und weil diese Krieger-Bauerngemeinschaft einen größeren Überschuss erzeugte als jede andere Gemeinschaft, konnten hier mehr Bewässerungs­kanäle angelegt werden, mehr Werkzeuge geschmiedet werden, mehr Erfin­dungen gemacht werden als anderswo. Es konnten mehr Waffen und bessere Be­festigungen gebaut werden, und es konnten auch mehr Tempel gebaut und mehr Priester durchgefüttert werden als anderswo. Mit einem Satz: eine solche Gemeinschaft war allen anderen überlegen, sie konnte sich schneller vermehren, und konnte andere Gemeinschaften unterwerfen und ihnen dieselbe Lebensweise aufzwingen.


Die früheren Jägerstämme hatten nie den Wunsch gehabt, ihr Jagdgebiet größer zu machen. Sie hätten es ja gar nicht ausnützen können. Die Bauern hatten auch nicht den Wunsch gehabt, ihr Land zu vermehren. Sie hätten es ja nicht bearbeiten können. Aber die neuen Herrscher hatten den Wunsch, immer mehr Dörfer zu unterwerfen. Denn je mehr Dörfer sie beherrschten, um so mehr Tribut konnten sie bekommen. Und je mehr Tribut sie bekamen, umso mehr konnten sie für Verbesserungen verwenden, die ihre Macht noch weiter stärken würden. Es gab ja auch bald an anderen Orten Krieger- und Bauern­gemein­schaften, vor denen sie auf der Hut sein mussten. Und so wurde der Krieg zu einer ständigen Einrichtung, sogar zur Gewohnheit.


Das Traurige war also das: Die freien Nin verwendeten die Zeit, die ihnen die Arbeit übrig ließ, für Dinge, die das Leben schöner machen: fürs Musikmachen und Tanzen, fürs Geschichtenerzählen, für das Erzeugen von Schmuck, für das Verschönern der Kleider, oder für die Bemalung ihrer Körper.

Dort, wo die Nin von Kriegern beherrscht wurden, wurden sie gezwungen, möglichst viel Nahrung herzustellen, damit andere wiederum Metalle gewinnen und Waffen herstellen, Schutzmauern und Burgen bauen konnten, lauter Dinge, die den Nin eigentlich nur Leid und Schmerz bringen. Eigenartigerweise gab es in den Ländern der Krieger aber auch schönere Kleider, kostbareren Schmuck, großartigere Statuen und auch bessere Musik. Wie ist das möglich? Weil es all diese schönen Dinge ja nur für die Herrscher gab. Sie holten die besten Künstler in ihre Paläste, gaben ihnen gutes Essen, schöne Häuser und Kleider, sodass sie den ganzen Tag nur ihre Künste verbessern konnten. Für die einfachen Nin aber gab es keine Künste.

Bei den freien Nin gab es in jedem Dorf Musiker und Schmuckhersteller, aber die waren gleichzeitig auch Bauern und hatten nicht soviel Zeit, ihre Kunst zu verfeinern.


Ein Kriegervolk war also meistens reicher, als ein Volk von freien Nin sein konnte. Aber nur deswegen, weil die meisten Nin dieses Volks in Armut und Unwissenheit lebten, und nur der Herrscher und seine Krieger über den Reichtum verfügten. Deswegen waren die Krieger aber stärker als die freien Nin, und konnten sie unterwerfen.


So wurde Yer eine Welt des Kampfes, des Raubes und der gegenseitigen Unterdrückung.


Nicht die Lebensweise setzte sich durch, die den meisten Nin den größten Spaß versprach, sondern die Lebensweise, die den größten Überschuss hervorbrachte und den schnellsten Fortschrittermöglichte.


Wohin das führte, soll noch kurz am Beispiel eines Gebietes abgehandelt werden, das Römisches Reich genannt wurde.


Die Kriegerfürsten kamen bald dahinter, dass sie noch reicher werden konnten, wenn sie die besiegten Feinde zu Sklaven machten. Ein Sklave hatte überhaupt keine Rechte mehr, er musste arbeiten wie ein Tier und wurde oft schlimmer als ein Tier gehalten. Freilich arbeitet ein Sklave nur dann, wenn er dazu gezwungen wird. Und freilich lebt ein Sklave, der nicht einmal so gut wie ein Tier gehalten wird, nicht sehr lange. Aber das macht ja nichts, man kann ja neue Kriege führen und neue Sklaven einfangen. In Rom kam es bald soweit, dass kein freier Römer mehr arbeiten wollte. Arbeit war Sklavensache. Das Römische Reich führte ständig Kriege, um immer mehr und mehr Sklaven zu bekommen, die die ganze Arbeit tun und das Reich ernähren mussten. Die freien Römer waren alle entweder Soldaten oder arbeitslose Herumlungerer, bis auf die wenigen, die Beamte des Kaisers oder Grund- und Sklavenbesitzer waren. Das Römische Reich führte ständig Kriege und dehnte sich immer mehr aus. Es beherrschte die Welt. Aber eines Tages brach es zusammen. Es war so groß geworden, dass die römischen Soldaten nicht mehr ausreichten, um die weiten Grenzen zu verteidigen und gleichzeitig im ganzen Land die Sklaven zu bewachen. Es kam der Punkt, wo der Krieg das Land nicht mehr stärker machte, sondern es so schwach machte, dass es zugrunde ging.


Andere Reiche sind an seine Stelle getreten, andere Formen des Zusammenlebens entstanden. Aber eines blieb gleich: Nicht die Formen des Zusammenlebens setzten sich durch, die für die Menschen am angenehmsten waren, sondern die, die den meisten Überschuss brachten. Immer konnten diejenigen Reiche oder Staaten, die den größeren Überschuss erzielten, die anderen unterwerfen und ihnen ihre Lebensform aufzwingen. Daran hat sich nichts geändert, und darum ist auch wojna bis heute aus dem Leben der Nin nicht verschwunden. Bis heute verwenden sie den größten Teil ihrer Überschüsse, um neue, noch bessere Waffen herzustellen. Heute haben sie Waffen, mit denen sie das ganze Leben auf ihrem Planeten auslöschen können. Darum sind sie zu einer Gefahr für den ganzen Planeten Yer geworden.


Erst, wenn die Nin begreifen, dass wojna und Unterdrückung nur scheinbaren Reichtum schaffen, dann können sie eine neue Art des Zusammenlebens finden. Dazu müssen sie aber begreifen, dass wahrer Reichtum nicht darin besteht, möglichst viele Dinge zu haben, mit denen man wieder möglichst viele Dinge produzieren kann und so weiter. Der wahre Reichtum kann für die Bewohner dieses Planeten wohl auch nur darin bestehen, dass möglichst viele Nin möglichst viel Zeit haben, um Musik zu machen, zu tanzen, miteinander zu plaudern, zu spielen, zu dichten, zu malen, zu erzählen, Sport zu treiben, mit einem Wort, das Leben zu verschönern. Sonst kann es ihnen passieren, dass wojna ihren ganzen Planeten zerstört, wie er einst das Römische Weltreich zerstört hat.


Auf jeden Fall ist es ganz und gar ausgeschlossen - so scheint es jedenfalls unserem Forscherteam - die Nin in die Gemeinschaft der Vereinten Sonnensysteme aufzunehmen, solange sie die einfachsten Grundregeln des Zusammenlebens von Vielen nicht verstanden haben.


Copyright © Martin Auer 1991



Offene Worte
von einem Europäer


Ich will jetzt einmal ganz offen etwas sagen. Gerade jetzt, wo viele um den Brei herumreden, wo keiner sagt, was er wirklich denkt, weil es "sich nicht gehört", weil es gegen die Tradition ist, weil es an Erinnerungen rührt, die besser begraben bleiben sollten, gerade da ist es nötig, dass einer einmal offen ausspricht, wie es wirklich ist.

Natürlich sind Ausländer, auch die aus dem Süden und Osten, auch Menschen. Das bestreitet ja keiner. Natürlich haben sie Augen, Mund und Nase wie wir, sie empfinden Liebe und Angst wie wir, sind begabt oder dumm wie wir und so weiter und so fort. Natürlich gibt es unter ihnen genauso wie unter uns Anständige und weniger Anständige, und wenn sie in geordneten Verhältnissen aufwachsen, sind sie nicht krimineller als wir.

Aber darum geht es doch nicht. Worum es geht, ist: Wir haben hier etwas zu verteidigen. Wir haben hier unsere Kultur zu verteidigen, und wir haben hier unseren Wohlstand zu verteidigen, ohne den es diese Kultur nämlich nicht gäbe. Tatsache ist doch: Wir leben hier in einem der reichsten Länder der Welt. (Und das gilt für alle, die das hier lesen können, für Deutsche genauso wie für Schweizer und Österreicher.) Wir haben hier einen Wohlstand und eine soziale Sicherheit, von denen die Griechen oder die Polen bei sich zu Hause nur träumen können. Äthiopier oder Kolumbianer können sich das nicht einmal vorstellen.

Schauen wir den Tatsachen ins Auge: Von den sechs Milliarden Menschen auf dieser Welt leben nur eine Milliarde in den "Industrieländern". Und zu denen gehören eben wir. Wir, das reiche Sechstel der Menschheit, wir besitzen vier Fünftel des Reichtums der Erde! Wir verbrauchen 70 % der Energie, 60% der Lebensmittel, 85% des Holzes auf dieser Erde. Was, wenn die anderen daherkommen und ihren Anteil verlangen? Bis jetzt sind es eine oder eineinhalb Millionen arme Teufel, die sich zu uns flüchten, vor politischer Verfolgung, vor einem Krieg oder vorm Verhungern.

Na schön. Aber da draußen schauen nicht Millionen, sondern ein paar Milliarden armer Teufel voll Neid auf unseren Wohlstand!

Wir, das reiche Sechstel, haben sechzigmal soviel wie das ärmste Sechstel.. Das muss man sich einmal klarmachen, ganz ohne falsche Scham. Ein Deutscher verbraucht soviel Erdöl wie zehn Schwarzafrikaner. Ein Deutscher lässt soviel C02 in die Luft ab wie 65 Schwarze. Bei uns kommt auf zwei Einwohner ein Auto, Kinder mitgerechnet, in Indien kommt ein Auto auf 455 Leute. Wenn die auch alle so leben wollten wie wir, könnten wir den Planeten zusperren, da beißt die Maus keinen Faden ab! So viel Erdöl gibt es auf der Welt einfach nicht, dass die Schwarzen und Chinesen auch alle Auto fahren können. Das sind die Fakten!

Alle, die bei einem Tässchen Kaffee gern von Gerechtigkeit reden, die sollen sich einmal überlegen, wieviel sie für den Kaffee bezahlt haben. Vor zehn Jahren haben die Schwarzen da unten oder die Indios für 13000 Sack Kaffee von uns den Gegenwert von einer Lokomotive bekommen. Heute müssen sie uns, wenn sie eine Lokomotive kaufen wollen, 45000 Sack liefern. Man kann doch nicht sagen, dass uns das schadet. Auf unseren billigen Kaffee wollen wir alle nicht verzichten. Wie viele von denen, die so gerne von Gerechtigkeit reden, kaufen denn freiwillig den teureren Kaffee aus dem Dritte-Welt-Laden? Wer fragt, wenn er ein billiges indisches Baumwollhemd oder ein hübsches Seidentuch kauft, ob die nicht nur deswegen so billig sind, weil sie durch Kinderarbeit erzeugt werden?

Nein, uns allen ist das Hemd näher als der Rock, wir alle denken zuerst an die eigene Zukunft, an die eigene Familie. Das ist doch nur natürlich. Die Inder oder Chinesen würden es auch nicht anders machen, wenn sie die führenden Nationen der Welt wären.

Machen wir uns nichts vor: Unsere ganze Weltordnung beruht auf der Vorherrschaft der Weißen. Wo liegen denn die Industrieländer? In Nordamerika, in Europa, in Australien, Südafrika, Japan, Rußland kann man schon gar nicht mehr dazurechnen. Praktisch sind das alles Weiße, die Japaner einmal ausgenommen.

Und mit absoluter Selbstverständlichkeit tun die Industrieländer alles, um ihre Vorherrschaft in der Welt zu verteidigen. Heute vor allem mit politischen und wirtschaftlichen Mitteln. Wir schützen ja nicht nur unsere Grenzen vor den Flüchtlingen aus den armen Ländern, wir schützen auch unsere Märkte vor ihren Produkten. Wir legen zum Beispiel auf rohe Baumwolle lange nicht so hohe Zölle wie auf fertige Textilien. Wir lassen uns von ihnen den Kakao liefern, aber keineswegs die fertige Schokolade. Wir müssen schließlich unsere Textil- oder Schokoladefabriken vor der Konkurrenz schützen. Wir können in Wahrheit überhaupt nicht daran interessiert sein, dass die Länder da unten ihre eigenen Industrien aufbauen, sich "entwickeln". Schließlich wollen wir ihnen weiter unsere Industrieprodukte teuer verkaufen und von ihnen billige Rohstoffe einkaufen.

Aber werden wirtschaftliche und politische Mittel - wie etwa die europäische Einigung - immer genügen, um unsere Vorherrschaft in der Welt zu sichern? Werden es eines Tages nicht auch militärische Mittel sein müssen? Als das Rote Weltreich zusammenkrachte, da haben einige eine Zeitlang so getan, als ob jetzt der ewige Frieden ausbrechen würde. Aber den Weiterblickenden war es klar, dass in Wahrheit die Probleme nicht so sehr aus dem Osten, sondern aus dem Süden kommen. Seit dem Golfkrieg ist das ganz klar: Als Saddam Hussein versucht hat, sich Kuwait unter den Nagel zu reißen, da hat er von uns, vom reichen Fünftel, auf die Finger gekriegt, dass es gekracht hat. Zum Glück hatten wir es da mit einem echten Diktator zu tun und einer echten Völkerrechtsverletzung, so dass niemand sagen kann, wir wären nicht im Recht gewesen. Aber nicht nur Saddam hat zu sehen gekriegt, was technologisch-militärische Überlegenheit ist. Der Fernsehkrieg hat dem ganzen Süden gezeigt, wer die Bosse sind auf der Welt. Und einen ähnlichen Dienst hat uns Herr Milosevic erwiesen, der zum Glück ebenfalls ein unbestreitbarer Diktator und Kriegsverbrecher ist, so dass es niemand wagt mir dem Finger auf uns zu zeigen und uns anzuklagen, dass wir diesen Krieg durch unannehmbare Ultimaten und andere diplomatische Taten und Unterlassungen mitverursacht haben. Denn diese Kriege waren letztendlich für uns notwendig.

Täuschen wir uns nicht! Täuschen wir uns nicht darüber, wie die anderen uns sehen: Jeder von uns kann sich im tiefsten Winter für 1,50 Mark eine Nelke aus Kolumbien kaufen. Ja und, fragt da jemand? Jeden Tag fliegen Flugzeuge um die halbe Welt, nur um uns frische Blumen von der anderen Seite der Erdkugel zu bringen!. Einen solchen Luxus konnten sich nicht einmal die Kaiser im Alten Rom leisten. Sind wir nicht die Aristokraten der Welt? Wir wären naiv, wenn wir uns einreden würden, dass die restlichen fünf Sechstel uns lieben.

Natürlich profitieren wir hier nicht alle gleich von unserer Vorrangstellung in der Welt. Ein paar kommen immer zu kurz, dagegen kann man nichts machen. Wir sind nun einmal eine Leistungsgesellschaft, und da geht es zu wie im Skirennen: Wenn einer um zwei Hundertstelsekunden langsamer ist als der andere, ist der doch deswegen nicht wirklich ein schlechterer Skiläufer. Aber es können eben nur drei eine Medaille kriegen, so sind die Regeln, und die anderen gehen leer aus.

Wir sind natürlich nicht nur eine Leistungsgesellschaft, sondern auch eine Wohlfahrtsgesellschaft, und die ärmsten Sozialhilfeempfänger bei uns leben immer noch besser als die meisten Mosambikaner. Aber darauf kommt es nicht an. Es gibt halt welche, die wissen, dass sie nie eine Medaille kriegen werden, die wissen, dass sie nie zu den Erfolgreichen und Berühmten zählen werden. Und die sind eben frustriert. Dagegen kann man nichts machen.

Sicher wäre es schön, wenn wir andere Werte an die Spitze stellen könnten, Freundlichkeit, Umgänglichkeit, Humor oder die Fähigkeit, sich zu freuen und das Leben zu genießen. Aber dann wären wir nie so reich geworden, wie wir es heute sind, darüber muss man sich im klaren sein. Unseren Wohlstand verdanken wir nicht zuletzt unserem Wertesystem, das den Erfolg an die Spitze stellt.

Und die da zu kurz gekommen sind, die sich überflüssig und nicht gebraucht vorkommen, die fühlen sich gedemütigt und haben eine Wut im Bauch. Sind sie nicht auch Weiße, Europäer, Deutsche, Angehörige einer Industrienation? Gehören sie denn nicht zu der Gruppe, die für sich in Anspruch nimmt, das Salz der Erde zu sein? Warum denn gerade sie nicht?

Natürlich können diese meist jungen Leute nicht verstehen, warum wir uns einerseits bei unseren wirtschaftlichen Aktivitäten in der Welt nur in äußerst begrenztem Maß von humanitären Überlegungen leiten lassen, aber andererseits doch einer - im Grunde verschwindend kleinen - Gruppe von Menschen humanitäre Hilfe gewähren. Sie überlegen - sicherlich vereinfachend - so: Wenn wir uns auf staatlicher und wirtschaftlicher Ebene gegenüber anderen Völkern als die Herren aufführen, warum dürfen wir das dann nicht auch gegenüber den einzelnen Angehörigen fremder Völker, und noch dazu im eigenen Land?

Sie übersehen, dass ein gewisses Mindestmaß an Humanität notwendig für unser Ansehen in der Welt ist und dadurch natürlich auch zu unseren wirtschaftlichen Erfolgen beiträgt. Sie übersehen auch, dass die Kosten dieser Humanität (wenn wir sie natürlich auch gerne herausstreichen) in Wahrheit nicht allzu hoch sind. Allein die deutschen Banken verdienen an den Zinsen, die die Entwicklungsländer für Kredite zahlen, das Vier- oder Fünffache dessen, was die Bundesregierung für die Flüchtlinge und Asylbewerber ausgibt. Sowieso kommen bei uns auf 1000 Einwohner nur 3 Flüchtlinge, während, sagen wir, ein Land wie Malawi mit 105 Flüchtlingen pro 1000 Einwohner fertig werden muss. 85 % der Weltflüchtlinge bleiben zum Glück sowieso in der Dritten Welt.

Dennoch sollte man für diese vielleicht übereifrigen, radikalisierten jungen Menschen Verständnis aufbringen und sie nicht in Bausch und Bogen als Rechtsextreme und Neonazis verteufeln.

Natürlich ist es unfein, Asylantenheime anzuzünden oder "Kanaken aufzuklatschen". Das ist primitiv und roh. Vor allem schaden solche extremen Aktionen unseren internationalen Beziehungen und damit direkt unseren Exportinteressen. Aber hinter diesen dummen, und - ich wiederhole es - absolut abzulehnenden Übertreibungen steckt doch auch eine Ahnung, ein ganz realistischer Gedanke: dass es notwendig ist, einen Schutzwall zu errichten gegen den Ansturm des Südens.

Sicher muss man die Ausschreitungen unterbinden. Die Ordnung muss gewahrt bleiben. Auf der anderen Seite müssen wir erkennen, dass die Grundhaltung, die sich in diesen Ausschreitungen ausdrückt, durchaus gesund ist und sich vollkommen logisch aus unserer Stellung in der Welt als politische und wirtschaftliche Macht ergibt. Und möglicherweise, ja höchstwahrscheinlich, werden wir diese Grundeinstellung einmal in einem noch viel stärkeren Ausmaß brauchen als heute: Wer kann sagen, dass wir unsere Errungenschaften, unsere Stellung in der Welt nicht eines Tages auch mit militärischen Mitteln verteidigen werden müssen? Wenn es einmal hart auf hart kommt, wenn es einmal erforderlich wird, unsere Kultur, unsere Werte, aber nicht zuletzt auch unseren Wohlstand und unsere Vorrangstellung in der Welt mit letzter Konsequenz zu verteidigen, dann wird das nur möglich sein, wenn ein gesundes, markiges "Deutschland zuerst", "Österreich zuerst" oder "Europa zuerst" als einer der Grundwerte unserer Kultur in den Köpfen und Herzen der Menschen verankert sein wird. Darüber müssen wir uns klar sein, darüber dürfen uns sentimentale Vorurteile nicht hinwegtäuschen!


Ein Europäer

Copyright © Martin Auer 1993/1999

1* Ich schreibe nicht SammlerInnen und JägerInnen aus zwei Gründen: 1.: Auch wo Frauen sich an der Jagd beteiligt haben, war die Jagd in erster Linie Domäne der Männer, und 2.: Das Fleisch, das die Männer brachten, war zwar eine willkommene Delikatesse, doch die Hauptnahrungsquelle waren immer Früchte, Wurzeln, Beeren, Pilze etc., die in erster Linie von den Frauen gesammelt wurde.

Geschichten vom Krieg Seite 40


Wyszukiwarka

Podobne podstrony:
Geschichten vom Herrn Keuner
Bertolt Brecht Geschichten vom Herrn Keuner
Die Geschichte vom Indianer und der Grille
Bertolt Brecht Geschichten vom Herrn Keuner
Alexander Lohmann, Bernd Frenz, Bernd Perplies, Ruggero Leò Grosse Geschichten vom kleinen Volk 02
Piłsudski - Z cytadeli do wolności, STUDIA i INNE PRZYDATNE, [ Geschichte ]
Geschirr
Unia Lubelska, STUDIA i INNE PRZYDATNE, [ Geschichte ]
Die Geschichte der Elektronik (15)
tłumaczenie?r siebenJ krieg
Die Geschichte der Elektronik (06)
7e 24ook flirt kurs vom anbaggern zum flirten deutsch german YNLRH5E5PJFDFH7C3WYQHZMFTOWNOK
Regierungserklärung?s Bundeskanzlers Willy Brandt vom(
Die Geschichte der Elektronik (17)
D'Alquen, Die SS Geschichte Organisation der Schutzstaffeln NSDAP
Die Geschichte der Elektronik (04)
Feuchtwanger ?r judische Krieg

więcej podobnych podstron