SAXA
Germanistische Forschungen zum literarischen Text
Beiheft 5
SAXA
Universität Vaasa
Institut für Deutsche Sprache
und Literatur
Postfach 700
FIN-65101 Vaasa
Finnland
Johannes Gutenberg-Universität Mainz
Fachbereich 23
Institut für Interkulturelle Kommunikation
An der Hochschule 2
D-76726 Germersheim
Deutschland
Andreas F. Kelletat
Reden ist Silber
Zur Ausbildung im Übersetzen und Dolmetschen
Universitätsreden 1994 bis 2003
Vaasa und Germersheim 2004
© Copyright 2004 by Andreas F. Kelletat (Germersheim) and SAXA (Vaasa/Germersheim)
Auf dem Umschlag ein Holzschnitt aus den Ruralia commoda des Petrus de Crescentiis
(Speyer 1493).
Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Über-
setzung, Nachdichtung, Dramatisierung und Verfilmung, vorbehalten. Kein Teil des Wer-
kes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren)
ohne schriftliche Genehmigung des Autors und des Herausgebers reproduziert oder unter
Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.
Herstellung und Redaktion: Susanne Hagemann, Germersheim
Druck: Steimer GmbH Agentur für Medien/Druckerei, Germersheim
Printed in Germany
ISSN 1457-3873
ISBN 952-9769-26-1
Interkulturelle Germanistik und Übersetzerausbildung
Vortrag auf dem Germanistentreffen Deutschland – Indien –
Indonesien – Philippinen – Taiwan – Thailand – Vietnam
(Bangkok, 3.–8. Oktober 1999)
In Bangkok vor Kolleginnen und Kollegen aus Indien, Indonesien, den Philippi-
nen, Taiwan, Thailand und Vietnam zum Thema „Interkulturelle Germanistik
und Übersetzerausbildung“ zu sprechen, setzt mich in Verlegenheit. Denn ich
wusste bisher kaum etwas über die Germanistiken in diesen Ländern, ich weiß
nichts über die Arbeitsbedingungen von Übersetzern und Dolmetschern in dieser
Region, fast nichts über Geschichte, Stand und Perspektiven der Ausbildung von
Übersetzern und Dolmetschern in Ihren Ländern, an Ihren Hochschulen, in Ihren
germanistischen Ausbildungsgängen. Völlig ahnungslos bin ich vor allem im
Blick auf die Frage, welchen Bedarf es in Ihren Ländern für das Übersetzen und
Dolmetschen mit der Arbeitssprache Deutsch überhaupt gibt, in der Wirtschaft,
der Politik, der Kultur, dem Tourismus…
Dieses Nichtwissen ist mir umso unerquicklicher, als ich Interkulturelle Ger-
manistik als eine Disziplin verstehe, die sich in Forschung und Lehre an Studie-
renden orientiert, die Deutsch nicht als Muttersprache sprechen und über einen
anderen Bildungshintergrund verfügen, als ihn deutsche Abiturienten angeblich
haben. Man soll den Leuten dort die Hand zu reichen versuchen, wo sie sie selbst
ausstrecken – aber das ist bei meinem Kenntnisstand Ihrer Arbeitsbedingungen
leider unmöglich.
Was ich Ihnen daher nur bieten kann, ist Information darüber, wie eine Über-
setzer- und Dolmetscherausbildung mit der Fremdsprache Deutsch an jener deut-
schen Universität strukturiert ist, an der ich seit sechs Jahren das Fach Interkultu-
relle Germanistik vertrete. Dieses Fach studieren zurzeit 1050 ausländische
Studenten aus über 70 Ländern und sie absolvieren die neunsemestrige Überset-
zerausbildung auf der Basis von elf Sprachen: Arabisch, Chinesisch, Englisch,
Finnisch, Französisch, Griechisch, Italienisch, Polnisch, Portugiesisch, Russisch
und Spanisch. Erfahrungen in der Übersetzerausbildung im Erst- und Zweitfach
Deutsch (als Fremdsprache) konnte ich ferner während einer zehnjährigen Tätig-
keit an der finnischen Universität Vaasa sammeln sowie durch Kontakte zu Kolle-
ginnen und Kollegen an Hochschulen in West-, Mittel- und Osteuropa sowie in
der arabischen Welt. Diese Erfahrungen werden sich nur sehr bedingt auf die
Verhältnisse in Ihren Ländern übertragen lassen. Ich wäre froh, wenn meine
Germanistentreffen (Bangkok, 3.–8. Oktober 1999)
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Anmerkungen zum Thema „Interkulturelle Germanistik und Übersetzerausbil-
dung“ für Sie dennoch den einen oder anderen interessanten Aspekt enthielten.
*
Auslandsgermanistiken unterscheiden sich von der in Deutschland betriebenen
Germanistik u. a. durch das starke Interesse, das sie an Übersetzungen haben. Der
italienische, arabische und vielleicht auch thailändische Germanist sieht sich häu-
fig auch zuständig für die Frage, wie deutsche Literatur in seine Sprache und
Kultur gebracht wird, und oft interessiert er sich zudem dafür, wie es um die
Rezeption italienischer, arabischer oder thailändischer Literatur in Deutschland
bestellt ist. Diese Teilnahme am interkulturell-literarischen Gespräch ist eingebet-
tet in eine philologisch-hermeneutische Tradition, die dem Faszinosum literari-
scher Texte nachfragt, die in unterschiedlichsten Mischungsverhältnissen zwei
Sprachen und zwei Kulturen angehören.
So traditionsreich diese Beschäftigung mit dem literarischen Übersetzen ist, so
neu ist für viele Auslandsgermanistiken die Aufforderung aus Politik und Wirt-
schaft, nunmehr auch selbst Übersetzer und Dolmetscher auszubilden – und zwar
Übersetzer nicht etwa für literarische Texte, sondern für Fachtexte aus den Berei-
chen Technik, Informatik, Recht, Politik, Wirtschaft, Tourismus, Medizin usw.
Derartige Studiengänge für Übersetzer und Dolmetscher im Rahmen seit Jahr-
zehnten bestehender Institute für deutsche Sprache und Literatur zu installieren,
ist nach meinen Erfahrungen ein heikles Unterfangen. Einem Auslandsgerma-
nisten, der sich bisher mit deutscher Barockliteratur oder der Analyse und Inter-
pretation hermetischer Poesie befasst hat, kann es nicht leicht fallen, nun das
Übersetzen z. B. von Computerhandbüchern zum Gegenstand seines Lehrens und
Forschens zu machen.
Und doch wird in jüngster Zeit genau diese Zumutung verstärkt an Auslands-
germanisten – nicht nur in den sog. Reformstaaten Osteuropas – herangetragen.
Denn Übersetzer oder gar Dolmetscher zu werden, das erscheint immer mehr
jungen Leuten, die sich für ein Fremdsprachenstudium interessieren, ein erstre-
benswertes Berufsziel. Die jungen Leute reagieren damit auf die sich rasant ver-
mehrenden internationalen Kontakte in Wirtschaft, Kultur und Politik, die ja ohne
eines gar nicht ablaufen könnten, ohne das Übersetzen und Dolmetschen, das
kompetente Mitteln zwischen verschiedenen Sprachen und Kulturen.
Und Arbeit gibt es in diesen Bereichen. Um jährlich 15 % wächst zzt. das Über-
setzungsvolumen, wobei der Löwenanteil auf den Bereich Technik und Informa-
tik entfällt. Firmen wie Mannesmann, IBM Deutschland oder Siemens-Nixdorf
lassen jährlich 60.000 bis 150.000 Seiten Fachtexte übersetzen, was bei einem Zei-
lenpreis von derzeit 2,20 DM Auftragsvolumina von 10 Mio. DM und mehr pro
Jahr ergibt. Sehr stark steigt auch der Übersetzungsbedarf bei den sog. neuen Me-
dien, Experten rechnen z. B. mit 70.000 Filmminuten, die pro Jahr in zahllose
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Interkulturelle Germanistik und Übersetzerausbildung
Sprachen übersetzt werden müssen, durch Synchronisierung bzw. Untertitelung.
Auch wenn die Phantasien der Medienmogule nicht ganz so rasch Realität wer-
den dürften, nach denen wir es in Zukunft mit 150 digitalisierten Fernsehpro-
grammen zu tun haben werden, die zu jeweils über 90 % aus übersetzten Filmen
gespeist werden sollen, so ist hier doch ein enormes Arbeitspotential zu erwarten.
Der Dolmetschmarkt expandiert ebenfalls, wobei neben der Wirtschaft, den natio-
nalen Regierungen, den Militär- und Geheimdiensten vor allem die Sprachen-
dienste der internationalen Organisationen eine wichtige Rolle spielen. Attrak-
tivster und größter Arbeitgeber sind in Europa die Organe der Europäischen
Union in Straßburg, Brüssel und Luxemburg, die eine ganze Armee von Sprach-
mittlern beschäftigen, um die derzeit 110 Sprachenkombinationen zu bewältigen.
*
Zu welchen beruflichen Aufgaben führt ein Übersetzer- und Dolmetscherstudium
im Rahmen der Interkulturellen Germanistik? Ich darf die gegenwärtige Arbeits-
situation einiger Übersetzer und Dolmetscher kurz skizzieren, die meisten von
ihnen ausländische Absolventen des Germersheimer Studiengangs:
– Die Diplom-Übersetzerin A arbeitet für einen Pharmakonzern in Ludwigs-
hafen. Sie übersetzt ausschließlich hoch komplizierte medizinische Fachtexte in
ihre Muttersprache Englisch. Charakteristisch ist, dass die deutschen Originaltexte
gar nicht veröffentlicht werden und daher von ihren Verfassern oft schlampig und
fehlerhaft formuliert werden, worauf sich die Übersetzerin einzustellen hat.
– Der Diplom-Übersetzer B ist nach dem Studium in sein Heimatland Palästina
zurückgekehrt, arbeitete zunächst am neu gegründeten Goethe-Institut und ist
inzwischen bei der deutschen Vertretung in Ramallah als Übersetzer und Dolmet-
scher beschäftigt. Er begleitet deutsche Minister und Parlamentarier z. B. zu Besu-
chen bei Jassir Arafat. Wenn einer von ihnen dann sagt: „Die Palästinenser sind
die Opfer der Opfer“, muss der Dolmetscher sich etwas einfallen lassen, damit
Arafat versteht, was sein deutscher Gast eigentlich meint. Neben der Dolmetsche-
rei ist für die deutschen Diplomaten in Palästina täglich eine Zusammenfassung
der arabischen Presse zu erstellen, vor allem zu dem, was dort über Deutschland,
die EU und den nahöstlichen Friedensprozess gesagt wird. Will ein deutscher
Botschafts-Gast Arafat-kritische Intellektuelle treffen, so fragt man den Überset-
zer, wen man denn da einladen könnte. Last not least ist der arabische Übersetzer
mit der Erstellung des sog. „settlement report“ für die EU befasst – in englischer
Sprache muss da über die jüdischen Siedlungsaktivitäten in den besetzten Gebie-
ten berichtet werden.
– Der Diplom-Übersetzer C spricht ebenfalls Arabisch als Muttersprache. Er ist
in Deutschland geblieben und hat sich als Freiberufler auf die Übersetzung arabi-
scher Familienstandsurkunden spezialisiert. Dafür benötigt er genaueste Kennt-
nisse der innerhalb der 12 arabischen Staaten stark divergierenden juristischen
Germanistentreffen (Bangkok, 3.–8. Oktober 1999)
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und islamisch-religiösen Normen. Auch Vertrautheit mit arabischer Kalligraphie
ist zur Entschlüsselung der handschriftlichen Dokumente unerlässlich. Neben
dem Urkundenübersetzen verdient er sein Geld als vereidigter Dolmetscher bei
Gerichten in Mannheim, Karlsruhe und Landau. Aus dem Deutschen in mehrere
arabische Dialekte und umgekehrt ist da zu arbeiten. Kompliziert wird es z. B.,
wenn die arabischen Angeklagten nicht verstehen können, warum der deutsche
Richter ihrer verletzten Ehre nicht jenes Gewicht beimessen will, das diese Verlet-
zung für sie selbst offenkundig hat. Neuerdings erhält der Übersetzer aus Alge-
rien Anfragen von Firmen, ob er nicht für deutsche Partner arabische Verträge ins
Englische übersetzen könne.
– Der nicht diplomierte Dolmetscher D (Studienfächer: Finnougristik und All-
gemeine Sprachwissenschaft) hat nach einigen Jahren als Ministerialbeamter und
anschließender freiberuflicher Tätigkeit eine der begehrten, mit ca. 10.000 DM
Anfangsgehalt dotierten Stellen beim Europäischen Parlament bekommen. Er
arbeitet in seine Muttersprache Finnisch aus den Sprachen Deutsch, Englisch und
Schwedisch. Ungarisch kann er auch, und um in Zukunft mindestens aus einer
romanischen Sprache dolmetschen zu können, lernt er zurzeit Spanisch. Manch-
mal muss er – was in der EU sonst tabu ist – aus seiner Muttersprache Finnisch in
die Fremdsprache Deutsch retour dolmetschen, nämlich dann, wenn in den übri-
gen 10 Dolmetschkabinen mit ihren je 3 Dolmetschern niemand zur Verfügung
steht, der aus der Fremdsprache Finnisch dolmetschen kann. Im Parlaments-
plenum, den Ausschüssen und Fraktionen werden tagein, tagaus alle nur denk-
baren Themen verhandelt: morgens eine Anhörung von Juristen, Produzenten
und Verbraucherschutzvertretern zur neuen EU-Direktive zum Musterschutz,
mittags BSE- und Gentechnologiefragen, abends Haushaltsberatung und dazwi-
schen ein Grußwort des Dalai Lama.
– Die in Istanbul diplomierte Übersetzerin E (Muttersprache Türkisch, Bil-
dungssprache Deutsch) arbeitet für bitterwenig Geld mit arbeitslosen türkischen
Jugendlichen an einem Theaterprojekt in Mannheim-Jungbusch, außerdem bringt
sie sog. Heiratsmigrantinnen Deutsch bei. Und „Türkisch für Türken“ unterrichtet
sie an der Universität, um türkischstämmige Bildungsinländer mit den besonde-
ren Herausforderungen des sog. „community interpreting“ vertraut zu machen.
Über diesen Bereich schreibt sie auch ihre Doktorarbeit.
– Der Studienabbrecher F aus dem Diplomstudiengang Übersetzen ist an der
Entwicklung eines EU-Computerprogramms beteiligt. Das soll es ermöglichen, bei
jedem aus dem Englischen bzw. Französischen zu übersetzenden Text all die Pas-
sagen automatisch wieder zu erkennen, die bereits früher einmal in eine der wei-
teren 9 Amtssprachen der EU übersetzt worden sind. Sodass dann „nur“ noch
jene Passagen neu zu übersetzen sind, die noch nie in einer englischen bzw. fran-
zösischen Vorlage vorgekommen sind. Die Übersetzer, sagt Übersetzer F, werden
in Zukunft wie Piloten in einem Airbus arbeiten: Der Computer übernimmt die
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Interkulturelle Germanistik und Übersetzerausbildung
Routine, der Pilot greift nur ein, wenn es brenzlig wird. Er muss alles können,
aber bei weitem nicht mehr alles tun.
– Die Diplomübersetzerinnen G und H arbeiten im Übersetzungsdienst einer
Automobilfirma und übersetzen technische Bedienungsanleitungen aus dem
Deutschen und dem Englischen in ihre Muttersprachen Spanisch und Italienisch.
Beiden macht der Umgang mit Kolleginnen aus unterschiedlichen Ländern viel
Spaß. Beide können sich nicht vorstellen, dass sie in 10 Jahren noch dieselbe Tätig-
keit ausüben.
Diese wenigen Beispiele gestatten schon einige Schlussfolgerungen für die
Übersetzer- und Dolmetscherausbildung:
1. Von der Vorstellung des „Allround-Sprachmittlers“, des „Experten fürs All-
gemeine“, ist abzurücken. Diese Vorstellung war jahrzehntelang verbreitet und
hat die Curricula einschlägiger Studiengänge in West- und Osteuropa geprägt. Sie
ist inzwischen jedoch überholt, die Berufspraxis ist fast durchgängig von einer
starken Spezialisierung auf ganz bestimmte übersetzerische Kompetenzen und
Aufgaben geprägt. Universalisten sind nicht mehr gefragt – Ausnahme: das Dol-
metschen im Bereich internationale Politik, etwa für das Europäische Parlament in
Straßburg bzw. Brüssel.
2. Ansteigend ist die Zahl jener Übersetzer und Dolmetscher, die mit Kenntnis-
sen der deutschen Sprache und Kultur allein ihr Brot nicht mehr verdienen kön-
nen. In fast allen Weltregionen muss vor bzw. neben dem Deutschen die Fremd-
sprache Englisch beherrscht werden. Dies könnte für die Arbeitsbedingungen in
Asien noch stärker gelten als in Europa. Sehr dringlich erscheint mir daher die
Entwicklung von Deutsch-als-Fremdsprache-Curricula, in denen weniger eine
kommunikative Allround-Kompetenz vermittelt werden soll, sondern eine sehr
gute passive Beherrschung des Deutschen. Das Deutsche müsste in solchen Stu-
diengängen – sehr verkürzt formuliert – auf neue Weise gelehrt werden: Man soll
es nicht perfekt sprechen können, man soll in ihm vor allem keine komplizierten
Texte schreiben können, aber man muss es sehr gut verstehen und aus ihm fehler-
frei übersetzen können – und das dann auch bei sehr anspruchsvollen Fachtexten.
Haupthindernis für die Einrichtung solcher Deutsch-Studien ist unser Vorurteil,
dass eine fremde Sprache nur der professionell beherrscht, der sie fehler- und
möglichst akzentfrei spricht. Dies ist aus der Perspektive des Übersetzens wie
Dolmetschens jedoch ganz und gar unsinnig. Passiver fremdsprachlicher Kompe-
tenz muss ein viel höherer Stellenwert eingeräumt werden, als wir es bisher tun,
gerade im Fach Deutsch als Fremdsprache bzw. Interkulturelle Germanistik.
3. Das sog. Muttersprachenprinzip setzt sich in Europa immer stärker durch.
Deutsche Arbeitgeber z. B. bemühen sich um einen französischen Muttersprach-
ler, wenn sie deutsche Texte ins Französische zu übersetzen haben. Weniger kon-
sequent wird das Muttersprachenprinzip bei sog. kleineren Sprachen beachtet:
Übersetzer in Dänemark, Finnland, Lettland, Ungarn, Rumänien usw. müssen
Germanistentreffen (Bangkok, 3.–8. Oktober 1999)
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auch in die Fremdsprache Deutsch übersetzen, da in Deutschland bisher keine
professionellen Übersetzer für diese Sprachen ausgebildet werden.
4. Englische Muttersprachler sind als Übersetzer rar gesät. Engländer wie
Amerikaner sind keine ambitionierten Fremdsprachenlerner. Nur sehr zahlungs-
kräftige Arbeitgeber wie z. B. die Europäische Zentralbank in Frankfurt können
sich daher englische Muttersprachler als Übersetzer leisten. Ansonsten werden
Übersetzungen ins Englische von Nichtmuttersprachlern angefertigt, besonders
dann, wenn diese Übersetzungen für Adressaten außerhalb Englands bzw. Ame-
rikas bestimmt sind.
5. Übersetzen ist heute keine Tätigkeit mehr, die sich mit Papier und Bleistift
bewältigen lässt. Hauptarbeitsmittel ist der mit übersetzungsrelevanter Software
ausgestattete Computer, Recherchemittel stehen über Internet in nicht mehr fass-
barer Fülle zur Verfügung. Wer diese Bedingungen in der Ausbildungspraxis
ignoriert, bildet keine professionellen Fachtext-Übersetzer aus.
*
Lassen Sie mich abschließend kurz darzustellen versuchen, wie wir im Fach
Deutsch als Fremdsprache in Germersheim auf die skizzierten Berufsbedingungen
zu reagieren versuchen. Was müssen die ausländischen Studierenden lernen?
Jeder Student muss sich neben der Fremdsprache Deutsch mit einer weiteren
Fremdsprache intensiv befassen, die meisten entscheiden sich für das Englische.
Außerdem ist ein sog. Ergänzungsfach zu belegen: Recht, Medizin, Wirtschaft,
Technik oder Informatik. Das Studium des Hauptfaches Deutsch bzw. Interkultu-
relle Germanistik umfasst 50–60 % der insgesamt zur Verfügung stehenden Stu-
dienzeit, wobei die bestandene DSH-Prüfung
Voraussetzung für die Aufnahme
des Studiums ist. Das Studium selbst ist konsequent auf den Erwerb übersetzeri-
scher Kompetenz ausgerichtet. Über die Hälfte der Lehrveranstaltungen sind
Übersetzungs- bzw. Dolmetschübungen – pro Woche 4 bis 10 Stunden –, und das
durch 4 bis 5 Jahre. Die Übersetzungsübungen sind möglichst praxisnah. Es wer-
den mit allen zur Verfügung stehenden Hilfsmitteln Texte bearbeitet, die in der
Berufswelt auch wirklich in erheblichem Umfang zu übersetzen sind. Es werden
also nicht literarische Texte gewählt, keine Feuilletonartikel, Glossen u. dgl., son-
dern Systembeschreibungen, Benutzerinformationen, Geschäftsberichte, Verträge,
Werbetexte, Urkunden und Zeugnisse, Patentschriften, Fachzeitschriftenartikel
usw.
Sehr umfangreich ist im Grundstudium das Lehrangebot im sog. Vertiefenden
Spracherwerb, denn das DSH-Niveau reicht natürlich nicht aus, um ins Deutsche
akzeptabel zu übersetzen oder gar zu dolmetschen. Das DSH-Niveau bietet auch
noch keine Gewähr, dass etwas komplexere deutsche Texte verstanden werden.
1
Deutsche Sprachprüfung für den Hochschulzugang ausländischer Studienbewerber.
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Interkulturelle Germanistik und Übersetzerausbildung
Die Erweiterung der fremdsprachlichen Kompetenz setzt sich im Hauptstudium
fort, sie als abschließbaren Prozess zu betrachten, ist nach meiner Erfahrung eine
irrige Vorstellung.
Neben den Vertiefenden Spracherwerb und die Übersetzungsübungen treten
dann sprach- und kulturwissenschaftliche Lehrveranstaltungen: Übungen, Pro-
und Hauptseminare, Vorlesungen, Kolloquien. Ziel dieser im engeren Sinne inter-
kulturell-germanistischen Veranstaltungen ist es, dass die Studenten „in
Deutschland ankommen“, dass sie verstehen, wie die deutsche Gesellschaft funk-
tioniert, wie das politisch-soziale System aufgebaut ist, worüber in Deutschland
wie diskutiert wird, wie Gesetze zustande kommen, welche Normen es in der
Gesellschaft gibt, wie Konflikte ausgetragen und Identitätsfragen ausgehandelt
werden, wie sich Deutschland in internationalen Kontexten positioniert usw. Um
es möglichst anschaulich zu machen: Ein Germersheimer Absolvent aus Polen
z. B. soll in der Schlussprüfung des Studiums sagen können, was wohl auf der
Gesprächsliste steht, wenn sich morgen der polnische und der deutsche Außen-
minister treffen oder die Wirtschafts- oder die Umwelt- oder die Verteidigungs-
minister oder die Top-Manager der führenden Banken.
„In Deutschland ankommen“ verlangt von der Lehre natürlich, den je unter-
schiedlichen Abstand, die Weglänge zu berücksichtigen. Einem Studenten aus
Florenz oder Paris ist leichter zu erklären, was „Aufklärung“, „Moderne“, „Fa-
schismus“ oder „Erlebnisgesellschaft“ bedeuten, als einem Studenten aus China
oder Ägypten. Interkulturelle Germanistik kann also nur sinnvoll betrieben wer-
den von Lehrenden, die mit mehr als nur ihrer eigenen Kultur vertraut sind.
Die Wissenschaftlichkeit der Ausbildung ergibt sich nach meiner Erfahrung
aus der Konzentration auf das Verstehen der fremden Texte. Wir bilden keine
Politologen, Historiker oder Soziologen aus, schon gar nicht Wirtschaftswissen-
schaftler oder Mediziner, aber auch keine Germanisten – sondern Leute, die an
Sprache gebundene Inhalte als Übersetzer vermitteln sollen. Und vermitteln kann
ich nur, was ich zuvor selbst verstanden habe. Die Methoden solchen Textverste-
hens finden sich in Sprach-, Literatur- und Übersetzungswissenschaft. Und aus
der Konzentration auf das Verstehen von Texten in eigentlich allen Lehrveranstal-
tungen des Studiums ergibt sich jener Synergieeffekt, der die Studenten dann
auch in die Lage versetzt, über recht komplexe Themen selbständig nachdenkend
interessante Forschungsbeiträge zu leisten.
Oder, wieder ganz simpel formuliert: Es hätte keinen Sinn, wenn unsere Ab-
solventen zwar drei oder gar vier Sprachen beherrschten, aber in keiner etwas zu
sagen hätten. Jeder Lehrveranstaltung, egal ob es eine Phonetik- oder Konversa-
tionsübung, ein Übersetzungspropädeutikum oder ein Seminar ist, muss man
ansehen können, warum sie eigentlich an einer Universität durchgeführt wird.
Wo dieser Standard erreicht und durchgehalten wird, muss man sich um die
berufliche Zukunft der Absolventen keine Sorgen machen.