Jeder macht das, was er am besten kann

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JÜRGEN HEINRICH, DORTMUND
HANDELSBLATT, 14.5.2004

D

eutschland lebt vom Handel.
Allein im Monat März haben
deutsche Unternehmen Wa-

ren im Wert von 65 Milliarden Euro
ins Ausland verkauft. Damit profi-
tiert die Volkswirtschaft hierzulande
enorm vom Freihandel, also vom völ-
lig unbehinderten internationalen
Austausch von Gütern. Beim Freihan-
del gibt es keine Zölle, keine mengen-
mäßigen Beschränkungen und keine
Grenzkontrollen.

Waren

können

ohne besondere Genehmigung das
Land verlassen oder nach Deutsch-
land eingeführt werden. Es gibt keine
Hemmnisse bei der Abfertigung und
keine Hürden in Form von bürokrati-
schen Regeln zu Gesundheit, Technik
oder Verbraucherschutz.

In Europa ist Freihandel im Rah-

men des europäischen Binnenmark-
tes weitgehend erreicht. Weltweit
wird dieser Zustand durch allge-
meine Zollsenkungen im Rahmen der
Welthandelsorganisation WTO ange-
strebt und durch die Errichtung von
Freihandelszonen (zum Beispiel in
Nordamerika oder Asien) gefördert.

Freihandel ist damit das zentrale Ele-
ment und der zentrale Beweggrund
der Globalisierung der Weltwirt-
schaft.

Freihandel nutzt die Vorteile welt-

weiter Arbeitsteilung. Kein Mensch
produziert das alles selbst, was er
braucht: Kein Bauer stellt seine Trak-
toren selbst her, kein Bäcker baut
selbst

Getreide

an,

kein

Leser

schreibt sich selbst seine Zeitung. Je-
der produziert das, was er gut und bil-
lig produzieren kann und tauscht dies
dann gegen die Erzeugnisse der ande-
ren. Dies gilt auch und gerade für Län-
der und über Ländergrenzen hinweg.
„Wenn uns ein fremdes Land mit ei-
ner Ware wohlfeiler versehen kann,
als wir sie selbst zu machen im
Stande sind, so ist es besser, dass wir
sie ihm mit einem Teile vom Erzeug-
nis unseres eigenen Gewerbefleißes,
in welchem wir vor dem Auslande et-
was voraushaben, abkaufen“, schrieb
der Ökonom Adam Smith 1776.

Freihandel nutzt also die Unter-

schiede in den Produktionskosten
zwischen Menschen, Firmen, Regio-
nen und Ländern. Jedes Land produ-
ziert das, was es am besten und billigs-
ten kann. Unterschiede in den Pro-

duktionskosten entstehen auf den ers-
ten Blick dadurch, dass Rohstoffe un-
gleich verteilt sind, oder dass das
Klima dem einen Land erlaubt, güns-
tig Kaffee anzubauen, während das an-
dere Land besser Kartoffeln erzeugt.

Wichtiger sind aber Unterschiede

in der Ausstattung mit den Produkti-
onsfaktoren Arbeit, Boden und Kapi-
tal. Ein Land, das – wie zum Beispiel
Argentinien oder Kanada – über viel
und damit billigen Boden verfügt,
kann relativ günstig solche Produkte
erstellen, die in der Produktion viel
Boden verbrauchen, also etwa Rind-
fleisch, Getreide oder Holz. Ein ande-
res Land, das über viel und damit bil-
lige Arbeitskräfte verfügt – wie zum
Beispiel China oder Indien – kann re-
lativ günstig Produkte erstellen, die
in der Produktion viel Arbeit verbrau-
chen, wie etwa Textilien oder Möbel.
Und ein Land wie Deutschland, das
über viele und hochentwickelte Ma-
schinen verfügt, kann relativ günstig
solche Produkte erstellen, die maschi-
nenintensiv produziert werden, wie

beispielsweise Autos oder Werkzeug-
maschinen.

Am wichtigsten sind aber die allge-

meinen Spezialisierungsvorteile je-
der Arbeitsteilung. Wenn Firmen
sich auf die Produktion bestimmter
Produkte spezialisieren, können sie
diese Produkte in großer Serie unter
Einsatz spezieller Maschinen günsti-
ger produzieren, als wenn sie viele un-
terschiedliche Produkte in kleiner Se-
rie erstellen. Sie nutzen so die Kosten-
vorteile der großbetrieblichen Mas-
senproduktion. So spezialisieren sich
nur wenige Firmen und Länder zum
Beispiel auf die Produktion von Flug-
zeugen oder Lokomotiven. Sie reali-
sieren damit Kostenvorteile und tau-
schen die Produkte anschließend
über Ländergrenzen hinweg. In die-
sem Effekt liegt der entscheidende
Vorteil der europäischen Integration,
der entscheidende Vorteil der Oster-
weiterung und der entscheidende
Vorteil der Globalisierung: Die Pro-
dukte werden billiger, die Preise sin-
ken. Einer politischen Integration be-
darf es dazu nicht. Freihandel ist ge-
nauso gut zwischen ganz unterschied-
lichen Kulturen und politischen Syste-
men möglich.

Freihandel ist sogar dann für die

beteiligten Länder vorteilhaft, wenn
eines der Länder in der Produktion al-
ler Güter einen Kostenvorteil hat.
Wichtig ist nur, dass relative Kosten-
vorteile existieren. Dies hat David Ri-
cardo (1772 – 1823), neben Adam
Smith der führende Vertreter der eng-
lischen Klassik, in einem der berühm-
testen ökonomischen Lehrsätze dar-
gelegt. Dieses Theorem der kompara-
tiven Kostenvorteile kann an einem
einfachen Beispiel (das von Paul A.
Samuelson stammt) erklärt werden:

Ein berühmter Rechtsanwalt sei

gleichzeitig Weltmeister im Maschi-
nenschreiben, kann also beides bes-
ser als jede andere Person. Dennoch
lohnt es sich für ihn, sich auf die juris-
tische Beratung zu spezialisieren und
eine Bürokraft für Schreibarbeiten zu
beschäftigen. Der Grund: In der Zeit,
die er für Büroarbeiten einspart, ver-
dient er so sehr viel mehr Geld für
Rechtsberatung, dass er die Bürokraft
bezahlen kann und noch einen Über-
schuss erzielt. Seine komparativen
Vorteile, also seine vergleichsweisen
Vorteile, liegen in der Rechtsanwen-
dung. Die komparativen Vorteile der
Bürokraft liegen im Schreiben.

Jeder macht das, was er am besten kann

Professor Jürgen Heinrich erklärt die ökonomische Bedeutung des Begriffs „Freihandel“

Ökonomie kompakt

Liebe Leserinnen und Leser,
an dieser Stelle finden Sie an jedem
Freitag eine Folge der Serie
"Ökonomie kompakt".
Wir haben renommierte Professoren
gebeten, wichtige Begriffe aus der
Wirtschaft für uns zu erklären.
Heute schreibt Professor Jürgen
Heinrich von der Universität
Dortmund über den "Freihandel".

Preis

Wechselkurs

Freihandel

Zahlungsbilanz

Wettbewerb

Themen:

Bruttoinlandsprodukt
Wirtschaftsordnung

Staatsverschuldung

Opportunitätskosten
Eigentumsverfassung

Literaturhinweise:

Horst Siebert:
Weltwirtschaft, Stuttgart (UTB) 1997.

David Ricardo:
On The Principles of Political Economy
and Taxation, London 1817; deutsche
Fassung: Über die Grundsätze der
Politischen Ökonomie und Besteuerung,
Marburg (Metropolis Verlag) 1994.

Adam Smith:
An Inquiry into the Nature and Causes
of the Wealth of Nations, London 1776;
deutsch: Der Wohlstand der Nationen,
München (dtv) 1988.

SERIE: ÖKONOMIE KOMPAKT (FOLGE 3)

HANDELSBLATT, 14.5.2004

D

ie Frage, warum die Deutschen
Defizite beim Wirtschaftswis-
sen haben, beschäftigt die For-

scher. „In Deutschland herrscht gro-
ßer Nachholbedarf bei ökonomischer
Bildung“, sagte Hans Kaminski, Pro-
fessor an der Carl-von- Ossietzky-Uni-
versität Oldenburg, im Gespräch mit
dem Handelsblatt. „Wer keine Kennt-
nisse in Ökonomie und Politik hat, ist
der öffentlichen Meinung fast wider-
standslos ausgesetzt“, sagte Kamin-
ski, der in Oldenburg das Institut für
Ökonomische Bildung leitet.

Bei der Suche nach Ursachen und

Folgen der wirtschaftlichen Bil-
dungslücken sind Wissenschaftler
nun möglicherweise einen Schritt
weitergekommen. Vor allem die Ta-
buisierung des Geldes und andere
psychische Hemmschwellen seien
verantwortlich dafür, dass sich viele
Deutsche zu wenig mit ihren priva-
ten Finanzen beschäftigen, lautet
das Ergebnis der Studie „Die Psycho-
logie des Geldes“. Das Forschungsin-
stitut Sinus Sociovision hatte im Auf-
trag der Commerzbank erstmals die
Einstellungen der Deutschen zu ih-
ren Finanzen untersucht. Zwischen
Oktober und Dezember 2003 führ-
ten die Forscher 50 psychologische
Tiefeninterviews mit Männern und
Frauen

unterschiedlichen

Alters

und aus allen sozialen Schichten.
Die Ergebnisse der Untersuchung
wurden im Frühjahr vorgelegt.

„Wer finanziell wenig kompetent

ist, kann unter heutigen Bedingun-
gen nicht lebenstüchtig und schon
gar nicht autonom sein“, sagte Pro-
fessor Stefan Hradil, Leiter des So-
ziologischen Instituts an der Univer-
sität Mainz, der die Studie wissen-
schaftlich begleitet hat. Den For-
schern zufolge empfinden es Men-
schen als unangenehm, offen über
Geld zu sprechen. Eine weitere
Hemmschwelle sei das negative
Image des Geldes. Finanziell clever
und erfolgreich zu sein, werde als
Übervorteilung anderer gewertet.

„Das Thema ,persönliche Finan-

zen’ muss aus dem gesellschaftli-
chen Schattendasein heraus geführt
werden“, sagte Hradil. Es sei not-
wendig, in Familie, Schule und Öf-
fentlichkeit das Thema immer wie-
der „offen und kompetent anzuspre-
chen“, so der Wissenschaftler zu
den Ergebnissen der Studie.

mos

@

Weitere Informationen zum Thema
„Ökonomische Bildung“ unter:

www.handelsblatt.com/schule

Adam Smith (links oben) und David Ricardo (links unten) setzten sich früh mit dem Freihandel auseinander. Die weiteren Bilder: Getreidefeld bei Weimar, frühere Zollkontrolle in Frankfurt/Oder, Container im Hamburger Hafen.

Schlechte
Bildung und
ihre Folgen

Fotos:

dpa

(3),

ap,

AKG

Berlin

Textilien aus China,

Autos aus Deutschland

ÖKONOMIE

& BILDUNG

Freitag/Samstag/Sonntag, 14./15./16. 2004

A

– Seite 3


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