SARA WOODS
Kommt nun zum Spruch
(Anthony Maitland 29)
PROCEED TO JUDGEMENT
Kriminalroman
Wilhelm Goldmann Verlag
Der Londoner Staranwalt Antony Maitland übernimmt die Verteidigung eines Arztes, der gemeinsam mit seine
Geliebten deren Mann ermordet haben soll.
Maitland weiß, daß es schwer sein wird, die beiden Ehebrecher vor der Verurteilung zu bewahren. Es gibt nur einen Weg: Er muß dem Gericht den wirklichen Mörder präsentieren...
Aus dem Englischen übertragen von Tony Westermayr
Herausgegeben von Friedrich A. Hofschuster
Made in Germany • 10/81 • 1. Auflage 119
© der Originalausgabe 1979 by Sara Woods
© der deutschsprachigen Ausgabe 1981 by Wilhelm Goldmann Verlag,
München
Umschlagentwurf: Atelier Adolf & Angelika Bachmann, München
Umschlagfoto: Richard Canntown, Stuttgart
Satz: IBV Lichtsatz KG, Berlin
Druck: Mohndruck Graphische Betriebe GmbH, Gütersloh
KRIMI 4913
Lektorat: Friedrich A. Hofschuster • Herstellung: Gisela Ernst
ISBN3-442-04.913-X
Ich ford'r euch auf beim Recht,
Wovon ihr ein verdienter Pfeiler seid,
kommt nun zum Spruch.
Der Kaufmann von Venedig, IV. Akt, l. Szene
Jede Erzählung, deren handelnde Figuren alle gleich vortrefflich wären, würde schon allein aus diesem Grund als unfaßbar langweilig verdammt werden. Deshalb kann keine Entschuldigung für die Niederträchtigkeit oder Torheit der in diesem Buch vorkommenden Menschen notwendig sein. Es dürfte überaus unwahrscheinlich sein, daß irgendeiner von ihnen Ähnlichkeit mit einer echten Person besitzt, sei er tot oder lebendig. Jede solche Ähnlichkeit ist völlig unbeabsichtigt und ohne böse Absicht zustande gekommen.
S. W.
Teil i
Sitzungsperiode Herbst 1971
Montag, 15. November
1
»Das ist eine sehr unorthodoxe Art, etwas anzupacken«, meinte Kevin O'Brien behaglich. Er hatte sich in einem der Ohrensessel im Wohnzimmer der Maitlands bequem ausgestreckt, und die Bemerkung, wenn sie denn der Wahrheit entsprach, schien ihm keinen Kummer zu bereiten. »Aber gerade Sie wird das ja nicht stören«, fügte er hinzu.
Antony Maitland, der auf dem Kaminvorleger knapp seitlich des Feuers stand, wechselte mit seiner Frau einen kurzen Blick der Resignation. Jenny hatte ihren Lieblingsplatz eingenommen und wirkte, in einer Ecke des Sofas zusammengerollt, so entspannt wie O'Brien; sie war durchaus bereit, sich auf die Rolle der Zuhörerin zu beschränken und am Gespräch nicht teilzunehmen, aber sie kannte die Gefühlslage, die zu dem Blickwechsel geführt hatte. Das Interesse ihres Mannes war geweckt, aber mit ihm ein gewisses Unbehagen. Es hatte schließlich schon so viele Gespräche gegeben, manche sogar hier in diesem Zimmer, die genauso begonnen hatten, und wenn sie damit anfangen sollte, sich erinnern zu wollen, wohin sie alle geführt hatten…
Aber solche Gedankengänge brachten nichts ein. Sie beschäftigte sich statt dessen mit ihrem Besucher, dem sie schon einige Male begegnet war, ohne ihn gut zu kennen. O'Brien war ein hochgewachsener, schmalschultriger Mann mit einem Anflug von Strenge im Aussehen, aber wenn er lächelte, war das alles vergessen, und die meisten Menschen pflegten Jenny anzulächeln. Selbst im normalen Gespräch klang seine Stimme sonor. Antony hätte ihr verraten können, daß diese Stimme im Gerichtssaal sehr eindrucksvoll sein konnte.
Maitland hatte auf die erste, versuchsweise hingeworfene Bemerkung eine Antwort gemurmelt, etwas Unverbindliches, das auf O'Briens Gesicht einen geradezu höhnischen Ausdruck hervorrief.
»Sie stellen sich die Frage, weshalb ich Sie am Abend störe«, sagte er, »und eigentlich bin ich mir selbst im unklaren, wie ich das am besten erklären soll, wissen Se.« Der Anflug von Dialekt, der seiner Stimme gelegentlich anzumerken war, beruhte auf Berechnung, wie Maitland genau wußte. O'Brien war in Yorkshire geboren und aufgewachsen. Früher hätte dergleichen Maitland geärgert, aber inzwischen kannte er seinen Barrister-Kollegen besser. Oder so gut, verbesserte er sich innerlich, wie man diesen eher rätselhaften Mann eben kennen konnte.
»Ich nehme an, es handelt sich um einen Fall«, sagte er, und wenn die Worte zögernd klangen, so deshalb, weil er sich über ihre Banalität keinen Zweifeln hingab.
»So ist es.«
»Vielleicht um einen, den selbst zu übernehmen Sie keine Zeit haben?« Das war Unsinn, und er wußte es. Der zuständige Solicitor hätte sich inzwischen mit Mallory in Verbindung gesetzt; O'Briens Vermittlung war da überflüssig, zumal, da er unerwartet und ganz gewiß gegen seine Art nur zögernd zur Sache kommen wollte.
»Nicht direkt«, gab Kevin zurück. »Ein Mandat, das ich übernommen habe. Aber es handelt sich um zwei angeklagte Personen.«
»Und um zwei verschiedene Solicitors, die sich nicht einig sind - «, begann Maitland, brach aber ab, als er begriff, daß auch diese Erklärung nicht viel Sinn ergab. »Fangen Sie lieber ganz von vorne an«, meinte er ergeben und griff nach seinem Kognakschwenker, den er auf den Kaminsims neben die Uhr gestellt hatte, um sich in dem Sessel O'Brien gegenüber niederzulassen. Wenn es eine ganze Geschichte zu erzählen gab, zog er es vor, während der Wiedergabe die Freiheit zu haben, im Zimmer umherzustreifen, aber vielleicht äußerte sich der andere unbefangener, wenn sein Publikum saß.
»Nun gut.« Kevin nippte an seinem Kognak, stellte das Glas wieder auf den Tisch neben sich und sah Jenny reumütig an. »Ich muß Sie schon im voraus um Entschuldigung bitten, Mrs. Maitland, für den Fall, daß ich Sie langweile.«
»Ich werde mich nicht langweilen«, sagte Jenny. Sie hatte schon angeboten, sich zurückzuziehen, als deutlich geworden war, daß in gewisser Weise eine berufliche Besprechung bevorstand, und machte sich nicht die Mühe, den Vorschlag zu wiederholen. »Aber Sie erschrecken mich langsam«, meinte sie ergänzend.
O'Brien quittierte das mit einem verwirrten Blick, bevor ihm ein Licht aufzugehen schien.
»Sie meinen, ich könnte ihn in etwas Gefährliches hineinziehen wollen«, erklärte er und zeigte ihr sein überzeugendstes Lächeln. »Als ob ich so etwas tun würde!« Sein Blick auf Antony verriet deutlich genug, daß er, wären sie allein gewesen, ihn daran erinnert hätte, derartige Eingriffe in der Vergangenheit seien auf Maitlands und nicht auf seine Anstiftung hin erfolgt. »Nein, nein, das ist eine ganz einfache Sache; keinerlei Komplikationen.«
Jenny erwiderte sein Lächeln. Vielleicht glaubte sie ihm, vielleicht hielt sie sich mit dem Urteil zurück.
»Wenn Sie nicht wollen, daß wir beide an Neugier sterben, Mr. O'Brien - «, meinte sie.
»Nun gut«, sagte Kevin noch einmal, aber trotzdem blieb sein Blick noch kurze Zeit an ihr haften. Zumindest Antony erschien das durchaus begreiflich zu finden. Ohne eine Schönheit zu sein, war Jenny unbestreitbar ein erfreulicher Anblick. Sie hatte braun-goldene Haare, die ohne Rücksicht auf die Tagesmode in kleinen Locken eng an ihrem Kopf anlagen, eine kurze, gerade Nase und ziemlich weit auseinanderstehende graue Augen, die ihr einen Ausdruck der Offenheit verliehen. Im großen und ganzen traf das auch zu, obwohl ihr Ehemann Beispiele hätte anführen können, wo sie dieses Geschenk der Natur bewußt zu Täuschungszwecken eingesetzt hatte. Er verfolgte jetzt geduldig, wie O'Brien diese Attribute auf sich wirken ließ, und fragte sich, ob Jenny durch die Behauptung, alles sei ganz normal, wirklich beruhigt war. Was ihn selbst betraf, so konnte er O'Brien gut leiden und neigte der Ansicht zu, er würde ihn um so mehr schätzen, je näher er ihn kennenlernte. Aber dabei blieb stets das Wissen außer acht, daß er, wenn er wollte, ein geriebener Bursche sein konnte.
O'Brien schien seine prüfende Betrachtung endlich abgeschlossen zu haben.
»Sie werden«, sagte er, während er sich ein wenig herumdrehte, um sich an beide zu wenden, »vom Mordfall Johnstone gehört haben.«
»Das war kaum zu vermeiden.« Maitlands Stimme klang trocken. »Nicht, daß die Zeitungen ein besonders gutes Bild liefern.« Er verstummte nachdenklich und schüttelte den Kopf, vielleicht über die Dürftigkeit der Informationen, über die er verfügte. »Eigentlich weiß ich nur, daß sie alle sehr erregt zu sein scheinen.«
»Na hören Sie.« O'Brien schien nicht gesonnen zu sein, ihm die behauptete Unwissenheit abzunehmen. »Sie haben von Johnstone & Lamb gehört. Jeder kennt sie.«
»Außer mir«, warf Jenny ein. »Wer sind sie?«
»Börsenmakler.«
»Dann sehe ich nicht ganz ein, wieso jeder - «
»Sie haben etwas Besonderes an sich«, erwiderte O'Brien schlicht. »Sie verdienen Geld, sogar ihre Kunden verdienen Geld… aber mit dem Fall hat das eigentlich nichts zu tun.«
»Eine recht unerquickliche Tat in der Familie«, meinte Maitland belehrend. »Wen von den Beschuldigten vertreten Sie?«
»Mrs. Johnstone.«
»Und der andere, der Arzt, der ihr Geliebter gewesen sein soll?« Maitland schien vergessen zu haben, daß er mit dem Fall angeblich nicht vertraut war. »Ich persönlich bin ja der Meinung, daß das ein Fall für gemeinsame Verteidigung ist, aber wenn sein Solicitor anders denkt - «
»So einfach ist es nicht.«
»Dann erzählen Sie.«
»Mrs. Johnstone war früher Kate Harley. Eine alte Familie, Grundbesitzer, denen es auf irgendeine Weise gelungen ist, einen beträchtlichen Teil des Barvermögens zu erhalten. Sie haben einen Landsitz, glaube ich, nichts Großartiges, aber in der Hauptsache scheinen die Leute in London gelebt zu haben. Ihr Solicitor ist ein gewisser David Shaw. Ich weiß nicht, ob Sie ihn kennen.«
»Shaw, Davidson und Cooper? Ich habe von ihnen gehört.«
»Nicht Ihr Gebiet. Shaw kennt sich in solchen Dingen natürlich überhaupt nicht aus, aber er war wenigstens so verständig, mir das Mandat anzutragen«, sagte Kevin mit einem Grinsen. »Da fängt es an, interessant zu werden. Der andere Solicitor - der von Collingwood - wollte gemeinsame Sache machen, aber die Harleys wünschen das auf keinen Fall.«
»Ich verstehe nicht ganz - «
»Sie gehen davon aus, daß Kate unter Collingwoods Einfluß gehandelt hat, sehen Sie. Sie wollen, daß ich sie entlaste, soweit das möglich ist, ohne ihre Schuld ganz zu bestreiten, indem ich ihm die größere Schuld zumesse.«
»Das ist natürlich ein Standpunkt.«
»Und da sie die Kosten tragen - «
»Man kann die Schwierigkeiten sehen. Aber welche Rolle spielen Sie, O'Brien? Falls Sie nicht gerade meinen, ich wäre ein so untüchtiger Gegner… und selbst dann hätte ich gedacht, daß es Doktor Collingwoods Solicitor angestanden hätte, sich an mich zu wenden.«
Kevin schloß kurz die Augen, und als er sie wieder öffnete, war der Blick, den er Antony zuwarf, ein halb reumütiger, halb belustigter.
»Ein Mann von unserem Stand sollte sich eigentlich besser ausdrücken können, nicht wahr? Versuchen wir es noch einmal. Aus meinen eigenen Gründen, zu denen ich gleich komme, möchte ich für Collingwood die beste Vertretung sichern - «
»Ich bin natürlich geschmeichelt, aber - «
»- aber in diesem Fall war klar, welches Ergebnis ein Herantreten an Sie über Mallory gehabt hätte. Er hätte rundweg abgelehnt.«
Maitland zog die Brauen zusammen.
»Wieso das?« fragte er.
»Seine Honorarvorstellungen sind berüchtigt.«
»Mr. Mallory ist sehr… ergeben«, meinte Jenny.
Antony, überrascht vielleicht von der Unterbrechung, noch mehr aber durch diese Beschreibung von Sir Nicholas Hardings Bürovorstand, der dem Neffen seines Brotgebers alles andere als ergeben war, blickte in ihre Richtung und sah, daß ihre Augen funkelten. Was er eine unerquickliche Familientat genannt hatte, mochte langweilig sein, barg für sie aber keine Schrecken. Sein Stirnrunzeln verschwand, und als O'Brien hinzufügte: »Collingwood hat keinen roten Heller«, rief die sanfte Schlichtheit der Feststellung bei Maitland ein zögerndes Lächeln hervor. »Ich würde Ihnen anbieten, mein Honorar mit Ihnen zu teilen«, sagte Kevin großzügig, »nur hege ich gewisse Zweifel, daß ich es je kassieren werde.«
»Auch das scheint einer näheren Erklärung zu bedürfen.«
»Ich sagte schon, daß die Harleys ihre eigenen Vorstellungen darüber haben, wie die Verteidigung geführt werden soll. Als ich ihnen klarmachte, daß ich nicht die Absicht hätte, ihren Wünschen zu entsprechen… Wenn es sein muß, lasse ich die Honorarforderung unter einem Erinnerungsposten laufen«, schloß O'Brien kampfeslustig, »aber ich gebe das Mandat nicht auf.«
»Das Vermögen von Douglas Johnstone? Nein, versteht sich, wenn Ihre Mandantin verurteilt wird, hat sie keinen Anspruch darauf. Aber wenn Sie ohnehin vorhaben, mit ihren Eltern zu streiten, sehe ich keinen Grund, weshalb Sie nicht die beiden gemeinsam verteidigen können.«
Kevin sah ihn prüfend an.
»Sie stellen sich hier sehr begriffsstutzig, Maitland«, sagte er schließlich, griff bedächtig nach seinem Kognakglas und begann langsam zu schlürfen, ohne bemüht zu sein, den anderen weitere Aufklärung zuteil werden zu lassen. Jenny sah den Gesichtsausdruck ihres Mannes und lachte laut.
»Verstehst du denn nicht, Antony?« sagte sie. »Mr. O'Brien hält beide Angeklagten für unschuldig.«
»Das ist zunehmend klarer geworden. Trotzdem… warum gerade ich?«
»Weil er die Wahrheit wissen will. Du hast selbst oft genug gesagt, das sei die einzige richtige Verteidigung. Und du hast sehr viel Erfahrung - mehr als die meisten Menschen - darin, die wahren Fakten eines Falles ans Tageslicht zu fördern.«
Der belustigte Ausdruck um Maitlands Augen war nun sehr auffällig geworden.
»Ich könnte mir reizvollere Möglichkeiten vorstellen, das auszudrücken«, meinte er gedankenvoll und machte seinerseits eine kleine Zeremonie daraus, ein Schlückchen Kognak zu trinken. »Ist es das, was Sie gemeint haben, O'Brien?« fragte er nachdrücklich, als das Glas wieder sicher auf dem Tisch stand.
»Genau das meine ich«, antwortete Kevin so lebhaft, daß er sich offenbar zurückgehalten zu haben schien, während Jenny das Wort gehabt hatte.
»Und wie kommen Sie darauf, daß ich das übernehme?«
»Das ist schwieriger. Es gibt da einen Ausdruck, den ich über Ihr Vorgehen gehört habe - ich weiß nicht, wer ihn aufgebracht hat. Er ist mal wieder auf einem seiner verdammten Kreuzzüge. Und da dachte ich, vielleicht - «
»Aha.« Auch hier gab es Anlaß zur Belustigung, wenn der andere es nur hätte erkennen können, denn wenn es je einen Verfechter aussichtsloser Sachen gegeben hatte, der sich mit ungezügelter Begeisterung in jede neue Schlacht stürzte, dann war es Kevin O'Brien, Queens Counsel. »Das bißchen, das ich über den Fall gelesen habe, überzeugt mich natürlich nicht gerade… freilich wissen Sie mehr darüber als ich«, fügte Antony höflich hinzu. »Aber sehen Sie, der Haken bei meinen verdammten Kreuzzügen , wie Sie das nennen, ist eben der, daß sie in der Regel für Leute unternommen werden, die ich für unschuldig halte. Und da könnten Sie im Irrtum sein«, betonte er bedauernd.
O'Brien kannte ihn wenigstens so gut, daß er die Entschuldigung mit einem Gran Salz aufnahm und fröhlich erwiderte: »Bin ich nicht.«
»Dafür habe ich nur Ihre Meinung.«
Kevin, der manchmal einen schläfrigen Ausdruck an den Tag legte, riß daraufhin die Augen auf.
»Stellen Sie meine Urteilsfähigkeit in Frage, mein Lieber?« fragte er.
Jenny widerstand der Versuchung, einzuwerfen: »Antony hat nur gemeint - «, stand auf und holte die Kognakkaraffe.
»Denn, wenn Sie das tun - «, sagte O'Brien und verstummte, als sie zu ihm trat.
»Ich glaube, Sie sollten mir lieber auseinandersetzen, welche Haltung Mrs. Johnstone bei dem Ganzen einnimmt«, sagte Antony. Er sah diesmal nicht seinen Gast an, sondern beobachtete Jenny bei ihrer Tätigkeit.
»Sie sagt, sie hätte es nicht getan. Nun, ich gebe zu«, erklärte Kevin, »daß ich ihr zuerst nicht ganz glaubte.« Das Eingeständnis war ihm leicht von der Zunge gegangen. »Aber sie hat etwas an sich, Sie werden sehen, was ich meine, wenn Sie selbst mit ihr zusammentreffen, Sie würden es wohl Lauterkeit nennen.«
»Ich nehme an, sie ist eine gutaussehende Frau«, sagte Maitland herzlos.
»Das ist sie tatsächlich, sie ist… sehr sogar. Nun ja, aber sehen Sie« - er wurde ganz ernst - »das hat damit überhaupt nichts zu tun. Ich glaube, ich kann inzwischen erkennen, wann ein Zeuge die Wahrheit sagt.«
Aber das war das Problem bei O'Brien; man brauchte ihm nur eine Sache anzutragen, von der er sich einreden konnte, sie sei eine gute, und schon war er nicht mehr zu halten. Maitland, selbst oft ein Opfer von Zweifeln, hatte häufig Gelegenheit gefunden, den anderen um seine Gewißheit zu beneiden. Aber im vorliegenden Fall…
»Ist dieser Doktor Collingwood nun tatsächlich ihr Liebhaber gewesen?« fragte er plötzlich. Es war wenigstens eine Alternative dafür, O'Brien seine Bedenken darzulegen, was nicht auf Gegenliebe gestoßen wäre, gleichgültig, wie taktvoll er sie vorgetragen hätte.
»Sie gibt es nicht zu, nur, daß sie ihn sehr, sehr gern hat.« Kevin, so schien es, war durchaus fähig, über seine Schwächen zu lachen. Maitland atmete ein wenig auf.
»Glauben Sie das auch?« fragte er leichthin.
»Tja, das ist eine Sache, bei der ich mir nicht sicher bin. Sie behauptet aber ganz entschieden, daß er mit dem Tod ihres Mannes nichts zu tun hatte.«
»Haben Sie mit Collingwood gesprochen?«
»Ja.«
»Welchen Eindruck hat er auf Sie gemacht?«
»Einen guten, insgesamt gesehen. Es gibt keinen Zweifel, daß er die Frau liebt, aber so, wie ich die Sache sehe, ist er auch unschuldig, wenn sie es ist.«
Maitland stand auf, ging kurz zum Fenster und kam wieder an den Kamin zurück. Diesmal setzte er sich nicht.
»Erzählen Sie mir lieber etwas von den Umständen«, sagte er kapitulierend.
O'Brien schien durch die Aufforderung nicht besonders aufgemuntert zu sein.
»Douglas Johnstone war ein Mann Mitte Vierzig«, sagte er und erweckte den Eindruck, seine Worte mit Bedacht zu wählen. »Er war Diabetiker und brauchte regelmäßig Insulinspritzen, die er sich in der Regel selbst verabreichte. Irgend jemand tauschte das Insulin gegen eine Überdosis Morphium aus, und - tot war er.«
Antony zeigte mit einem freudlosen Grinsen seine Zähne.
»Damit bleiben hundert Fragen unbeantwortet «, meinte er.
»Das ist mir durchaus klar. Ich glaube aber gehört zu haben, daß Sie eine Schwäche dafür besitzen, sich Ihre Fakten aus erster Hand zu holen.«
»Das hat etwas für sich«, bestätigte Maitland. »Aber worauf stützt sich, grob ausgesprochen, die Anklage?«
»Auf Streitigkeiten. Es gibt Hinweise darauf, daß sie sich scheiden lassen wollte und er erklärt hat, er werde auf die Kinder nie verzichten. Sie wollte eine einvernehmliche Trennung, er sagte, er könne Ehebruch beweisen, und unter den Umständen ist keine Frage, wem die Kinder zugesprochen worden wären.«
»Gut, das ist das Motiv… ein sehr überzeugendes noch dazu. Und der Rest?«
»Die Tatgelegenheit? Die Injektionsspritze wurde in Johnstones Badezimmer aufbewahrt. Es war seine Gewohnheit, sie nach jeder Injektion neu zu füllen. Und unter diesen Umständen, wissen Sie - «
»Dienerschaft?« fragte Maitland abrupt und kehrte wieder ans Fenster zurück.
»Kein denkbarer Grund für irgend jemanden vom Personal, so etwas getan zu haben. Niemandem scheint gekündigt worden zu sein, und er war, soviel ich zu erkennen vermag, nicht der Mensch, links und rechts Legate zu verteilen. Außerdem kommt da noch mehr.«
Maitland, der auf den Platz hinuntergestarrt hatte, drehte sich um.
»Das dachte ich mir«, sagte er.
»Doktor Collingwood besuchte Mrs. Johnstone am frühen Nachmittag. Später sah man sie aus dem Zimmer ihres Mannes kommen. Das Dienstmädchen, das sie sah, war überrascht, sie hatten geraume Zeit nicht mehr miteinander geschlafen. Und aus der Praxis, zu der Collingwood gehört, fehlt eine bestimmte Menge Morphium - er ist tätig bei einem Doktor John Trevelyan, der übrigens sowohl die Harleys als auch die Johnstones zu seinen Patienten zählt.«
Antony ging darauf nicht ein. Er kam wieder ans Kaminfeuer zurück, diesmal mit schleppenderen Schritten; ein hochgewachsener, schwarzhaariger Mann mit vielleicht mehr Sensibilität, als für ihn gut war. Auch mit mehr Humor, wiewohl er im Augenblick völlig ernst war. Er bewegte sich eher steif, und Jenny, die ihn beobachtete, dachte: Er ist interessiert, zu interessiert, um daran zu denken, daß seine Schulter ihm in letzter Zeit wieder Beschwerden macht. Dieser Fall könnte genau das sein, was er braucht, schwierig genug, um ihn zu beschäftigen, aber ohne die Gefahr der Geschichte vergangenen Monat. Doch Maitland sah seinen Besucher einigermaßen düster an.
»Erklärungen?« fragte er.
»Sie werden Ihnen nicht behagen«, warnte ihn Kevin, und diesmal lächelte Antony.
»Das erwarte ich nicht anders«, sagte er. »Sie würden kaum solche Umstände machen - «
»Also gut!« Die Worte klangen, vielleicht absichtlich, wie eine Drohung. »Collingwood erklärte der Polizei, er sei ins Haus gekommen, weil Dougie, der kleine Sohn, erkältet gewesen sei.
Nicht sehr vernünftig von ihm, wenn der andere Arzt, sein Arbeitgeber, erst an diesem Vormittag einen Hausbesuch gemacht hatte, um nach dem Patienten zu sehen, und er außerdem der Hausarzt der Johnstones war. Als man Collingwood das vorhielt, sagte er nur, das sei seine eigene Sache und hätte mit niemand anderem zu tun.«
»Und das ist der Mann, den Sie mir als Mandanten aufhalsen wollen! War wenigstens Ihre Mandantin vernünftiger?«
»Nur bis zu einem gewissen Punkt. Sie sagte, es sei ein Privatbesuch gewesen, um sich nach Dougie zu erkundigen; für einen Freund des Hauses nichts Ungewöhnliches.«
»War das Kind denn so krank?«
»Laut Doktor Trevelyan ein starker Schnupfen, nicht mehr. Ich sagte schon - «, fügte er hinzu, als er Maitlands Ausdruck sah, versuchte aber nicht, zu Ende zu sprechen.
»Allerdings. Und Sie haben völlig recht, es behagt mir ganz und gar nicht. Aber unterstellen wir einfach meine Empfindungen, ja, und befassen wir uns mit Ihren Erklärungen. Weshalb kam Mrs. Johnstone, gegen alle Gewohnheit, aus dem Zimmer ihres Mannes?«
»Sie gibt an, ihr Dienstmädchen, das auch kleine Reparaturen an der Garderobe ihres Mannes ausführt, sei nachlässig geworden, und sie hätte sich vergewissern wollen, daß seine Hemden über alle Knöpfe verfügten. Es könnte wahr sein«, meinte O'Brien, diesmal äußerst skeptisch. »Sie sagte, es sei eine Art Parteinahme des Mädchens gewesen, und sie hätte nicht eingesehen, weshalb Douglas unter der Einstellung der Frau leiden sollte.«
»Hatte Johnstone nicht einen eigenen Diener?«
»Nein.«
»Angesichts seiner finanziellen Verhältnisse - «
»Ich bin zu dem Eindruck gelangt«, erklärte Kevin ganz feierlich, »daß das in gewisser Weise gegen seine Religion verstieß.« Er beobachtete kurz die Wirkung dieser Worte auf seine Zuhörer und fuhr dann mit einem Anflug von Ungeduld fort: »Ich verstehe diese Puritaner nicht.«
»Ist er das? Ich verstehe sie übrigens auch nicht«, fügte Maitland nachdenklich hinzu. »War er ein religiöser Mann?«
»Nicht besonders, soviel ich habe feststellen können. Nur die Grundüberzeugung, alles, was angenehm ist, müsse Sünde sein.«
Maitland verzog den Mund.
»Vielleicht könnten Sie mit entschuldbarem Totschlag durchkommen«, meinte er. »Aber im Ernst, ich nehme an, ihre ehelichen Zwistigkeiten waren im Haushalt allgemein bekannt.«
»Es stand schon lange schlecht zwischen ihnen.«
»Das Dienstmädchen stellte sich auf die Seite der Frau. Und das übrige Personal?«
»Es waren Johnstones Bedienstete, schon bei ihm beschäftigt, als er vor zehn Jahren heiratete. Sie waren gern bereit, über die Unstimmigkeiten zwischen Mann und Frau auszusagen.«
»Verstehe.« Maitland dachte kurz nach. »Es ist Ihnen doch klar - nicht wahr? -, daß jede Antwort, die Sie mir geben, eine ganze Folge neuer Fragen aufwirft?«
»Um so mehr Anlaß, daß Sie mit den Leuten selbst sprechen sollten«, gab O'Brien unschuldig zurück.
»Warten Sie mal. Es bleibt immer noch die wichtigste Frage von allen. Was ist mit dem vermißten Morphium?«
»Ein gewisses Maß an Schwund, glaube ich, nennen sie das, wird einberechnet. Collingwood behauptet das jedenfalls, und Trevelyan scheint ihm recht zu geben.«
»Sie sagen damit, daß so oder so nichts bewiesen werden kann.«
»So ungefähr. Hören Sie, Maitland, wollen Sie nicht wenigstens mit Collingwood sprechen?«
»Wie sieht es da aus?«
»Sein Solicitor ist ein persönlicher Freund von ihm, ein Mann namens Keils. Ich brauche Ihnen nicht zu sagen, daß es genug aufstrebende junge Leute gibt, die angesichts der Tatsache, daß der Fall das öffentliche Interesse erregt zu haben scheint, danach gieren, ein Mandat zu bekommen. Ja«, fügte er hastig hinzu, »ich weiß, das ist von Ihrem Standpunkt aus ein Nachteil, aber Collingwood braucht die Art von Hilfe, die Sie ihm geben können. Übrigens meine Mandantin auch«, räumte er treuherzig ein, so daß Antony wieder lächelte, diesmal wirklich belustigt. »Ich habe Keils deshalb überredet, eine Entscheidung hinauszuschieben, bis ich mit Ihnen gesprochen habe.«
»Es wundert mich nicht, daß Sie mit einer Entschuldigung für unorthodoxes Verhalten angefangen haben.«
»Es war nicht so sehr eine Entschuldigung, als eine Feststellung«, betonte O'Brien.
»Gewiß. Dann sollte Keils sich also an Mallory wenden, den ich in der Zwischenzeit angewiesen habe, das Mandat für ein nominelles Honorar anzunehmen.« Er warf einen Blick auf Jenny und sah, daß sie das Humorvolle an der Situation so gut erkannte wie er. »Ja, Liebes, das geht, aber um welchen Preis? Sie sehen doch aber wohl, was das bedeutet, nicht wahr, O'Brien? Ich bin gehalten, Collingwood als Mandanten zu nehmen, bevor ich ihn überhaupt gesehen habe.«
»Ist das so ungewöhnlich?«
»Natürlich nicht, aber angesichts dessen, was Sie von mir verlangen, nämlich, Nachforschungen anzustellen… Ich mache es nicht, solange ich mir nicht ziemlich im klaren darüber bin, daß es etwas aufzuklären gibt.«
»Das ist ganz in Ordnung.« O'Brien widmete sich wieder dem Kognak, drehte sich aber bald danach zu Jenny herum. »Ich stehe nicht an, Ihnen zu erklären, Mrs. Maitland, daß es niemanden gibt, den ich in diesem schwierigen Fall als Kollegen lieber hätte, Nachforschungen hin, Nachforschungen her.«
2
»Nicht, daß das so schwierig sein müßte«, sagte Jenny später, als O'Brien gegangen war. »Ich glaube, ich bin froh darüber, daß du gesagt hast, du übernimmst es.«
»Therapie?« meinte Antony lächelnd.
»Was ich gemeint habe - «
»Ich weiß genau, was du gemeint hast, Liebes. Etwas, das interessant genug ist, um mich ganz zu beschäftigen, so daß nicht viel Aussicht besteht… Die Sache vom vergangenen Monat tut mir leid, Jenny, wirklich.«
»Du mußt doch zugeben, daß das einmal eine nette Abwechslung zu sein scheint«, sagte Jenny, ohne auf die Entschuldigung einzugehen.
»Falls Mallory mich nicht selbst ermordet, wenn ich ihm damit komme.« Aber Jenny ging auch darauf nicht ein, sondern lächelte ihn nur ruhig an. »Ich bin neugierig darauf«, gab er zu, als deutlich wurde, daß sie nicht reagieren würde, »dieses Paar kennenzulernen, dem O'Brien glauben zu wollen scheint.«
»Ich dachte immer, wenn er sich gefühlsmäßig so engagiert hat - «
»Das ist natürlich der Haken, er ist ein emotioneller Mensch.«
»Während du, versteht sich, allein vom Intellekt beherrscht wirst.«
»Auf jeden Fall mehr als er«, behauptete ihr Mann störrisch. Er griff nach zwei Kognakgläsern und ging zur Tür. »Und wenn du ironisch wirst, Liebste«, sagte er über die Schulter, »wird es höchste Zeit, daß wir zu Bett gehen.«
Dienstag, 16. November
1
Das Gespräch mit Mr. Mallory, der alt war und seine festen Meinungen hatte, fiel nicht leichter aus als erwartet. Der Bürovorstand duldete die jüngeren Anwälte in Sir Nicholas' Sozietät bestenfalls; im schlimmsten Fall, der Antony betraf, begegnete er ihnen mit entschiedener Mißbilligung. Es war natürlich keine Frage, daß Antony sich schließlich durchsetzen würde, aber die Prozedur konnte ermüdend sein.
Die Beziehung zwischen Antony Maitland und seinem Onkel Sir Nicholas Harding war eine engere, als sie gewöhnlich zwischen Onkel und Neffen besteht. Antony war nach dem Tod seines Vaters, nur wenige Tage nach seinem dreizehnten Geburtstag, in den Junggesellenhaushalt am Kempenfeldt Square eingezogen, und später, als Wohnungen rar waren, hatte man das hohe, alte Haus aufgeteilt, um in den beiden oberen Stockwerken ein Ehequartier für Jenny und ihn zu schaffen. Wenn alle drei Betroffenen die Wahrheit sagten, hätte die Regelung eine vorübergehende sein sollen, um dann doch die Jahre auf irgendeine Weise zu überdauern. Ein Wandel schien sich anzukündigen, als Sir Nicholas, vielleicht zum erstenmal in seinem Leben, impulsiv handelte und gleich nach Ende der am 12. August auslaufenden Sitzungsperiode dieses Jahres seine Barrister-Kollegin, Miss Vera Langhorne, heiratete; aber nun, da die langen Ferien vorbei waren und die herbstliche Sitzungsperiode längst im Gange, schien der Haushalt sich behaglich ausgedehnt zu haben, um die neue Lady Harding mit einzuschließen.
Daneben war Maitland seit dem Ende seines Studiums in Sir Nicholas' Anwaltspraxis im Inner Temple tätig. Es gab Zeiten, in denen er erklärt hätte, es sei ein Nachteil, auch noch unter demselben Dach zu leben, wenn sein Onkel mit der gewohnten Offenheit über dieses oder jenes Tun des jüngeren Mannes seine Meinung äußern wollte. Auf der anderen Seite hatte es eindeutige Vorteile, die Kämpfe auf eigenem Boden austragen zu können.
Doch an diesem Vormittag ging der Kampf gegen Mallory, und er war viel weniger belebend, als das ein Strauß mit Sir Nicholas gewesen wäre.
»Ich kann mich vor fünf Uhr auf keinen Fall freimachen«, sagte Antony schließlich mit Entschiedenheit, »aber wenn es Mr. Keils nichts ausmacht, ein wenig über die Zeit hinaus zu arbeiten, könnten wir dann nach Brixton fahren.«
Mallory entfernte sich mit unzufriedener Miene und versäumte es, die zustimmende Antwort zu diesem Vorschlag vor drei Uhr nachmittags zu übermitteln, so daß Antony - der es eigentlich besser hätte wissen müssen - sich schuldbewußt fühlte, als er Jenny anrief, um ihr zu sagen, daß er sich verspäten werde.
»Macht nichts«, sagte sie heiter. »Ich habe Vera und Onkel Nick als Gesellschaft.«
Das gehörte zu den Traditionen, daß Sir Nicholas jeden Dienstagabend bei ihnen speiste, wenn Mrs. Stokes, seine Haushälterin, ihren freien Abend hatte. Jenny argwöhnte, daß Vera sich gern einen Abend lang in der Küche betätigt hätte, aber obwohl ihr zu jedermanns Erstaunen die beiden ständigen Angehörigen des Hauspersonals aus der Hand fraßen, wäre das fast mit Gewißheit für sie des Guten zuviel gewesen.
Richard Keils erschien zehn Minuten vor fünf Uhr in der Kanzlei, und Willett, einer der jüngeren Angestellten, der aus irgendeinem Grund Maitlands Angelegenheiten als sein spezielles Arbeitsgebiet betrachtete, führte ihn in den schmalen, ziemlich dunklen Raum, wo Antony arbeitete. Antony, der reichlich verzweifelt einen Wust von Papieren durchstöberte, sagte dankbar: »Kann ich das Ihnen überlassen, Willett?« und wandte sich dem Solicitor zu, um ihn mit einem Interesse zu betrachten, das, wie er bald belustigt bemerkte, erwidert wurde.
Keils war um die Dreißig und sah eher einem Berufs-Rugbyspieler als einem Rechtsanwalt ähnlich, obwohl er korrekt gekleidet war. Maitland, der sich erhoben hatte, schätzte, daß der Besucher ihn um mindestens fünf Zentimeter überragte; seine Haare waren dunkel und stark gewellt, aber als er in seine Augen sah, die braun waren und ziemlich tief in ihren Höhlen lagen, entschied Antony, daß es dort an Intelligenz nicht mangelte. Da der offen prüfende Blick des anderen ihn ein wenig unsicher machte, sagte er abrupt: »Wollten Sie mich wirklich haben, oder hat O'Brien Sie ebenfalls beschwatzt?« Er glaubte Willett, der sich mit den Papieren auf dem Schreibtisch beschäftigte, vorwurfsvoll mit der Zunge schnalzen zu hören, aber seine ganze Aufmerksamkeit galt dem Mann, den er angesprochen hatte.
Wenn Keils durch diese etwas originelle Art der Begrüßung verblüfft war, ließ er sich nichts anmerken. Statt dessen sagte er leichthin: »Die Gelegenheit, eine solche… Berühmtheit… wie Sie beauftragen zu können, kommt nicht jeden Tag. Unter den gegebenen Umständen muß ich Ihnen dafür danken, daß Sie das Mandat übernehmen, und Mr. O'Brien wohl dafür, daß er Sie dazu überredet hat.«
Es hing an einem Haar, daß Maitland daraufhin die Beherrschung verlor oder nicht; er schätzte Hinweise auf das Aufsehen, die seine Fälle manchmal erregt hatten, ganz und gar nicht. So stellte er nur ebenso lässig fest: »O'Brien kann sehr überzeugend reden.« Dann sagte er, mit einem Anflug von Verlegenheit, der nicht seiner Art entsprach, wenn es um berufliche Dinge ging: »Ich weiß nicht, wie offen Sie über die Sache miteinander gesprochen haben.«
Willett erwiderte: »Ich mache das später fertig, Mr. Maitland«, verließ das Zimmer und schloß die Tür hinter sich. Antony winkte vage einladend mit der Hand und ließ sich wieder in den Sessel hinter dem Schreibtisch zurücksinken, löste aber den Blick nicht von dem Solicitor, als dieser sich ebenfalls setzte.
»Ich glaube, ich darf sagen, daß ziemlich offen gesprochen wurde«, erklärte Richard Keils. In seiner Stimme schwang eine Spur von Belustigung mit, aber auch ein wenig Neugier. Maitland beschloß, sie mit etwas größerer Freimütigkeit zu befriedigen.
»Worauf ich hinauswill: Ich habe das Mandat angenommen. Wie immer mir zumute sein mag, wenn ich unseren Mandanten gesprochen habe, ich werde die Akten gründlich studieren und mit den Fakten, die Sie mir geliefert haben, vor Gericht das Beste tun. Aber O'Brien will mehr als das, er ist von der Unschuld der beiden Beschuldigten völlig überzeugt. Ich habe ihm so offen erklärt, wie ich das jetzt Ihnen gegenüber tue, daß ich mich auf Nachforschungen nicht einlasse, solange ich nicht der Überzeugung bin, daß es plausible Gründe für Zweifel gibt.«
»Ich glaube, da bin ich mir ziemlich klar.« Der prüfende Blick blieb. »Aber plausible Gründe kann sehr viel bedeuten, Mr. Maitland.«
»Allerdings.« Und ich rede mit dir, dachte er, um den Augenblick hinauszuschieben, in dem ich die Strafanstalt verlasse, in dem ich gezwungenermaßen voll und ganz begreife, daß hier ein Mann ist, der nicht hinauskann, für den die Türen versperrt und verriegelt sind. Und unweigerlich werde ich mich dem fügen, was alle diese Leute - sogar Jenny - wollen, weil es unerträglich wäre, ein falsches Urteil abzugeben. Und vielleicht werde ich recht, vielleicht unrecht haben - so oder so, die Zweifel werden kommen. Und vielleicht versteht der Mann hier von alledem etwas, ich würde es ihm zutrauen. »Was wissen Sie über Doktor Collingwood?« fragte er scharf.
Zum erstenmal schien der Solicitor ein wenig aus der Fassung zu geraten.
»Er ist ein Freund von mir«, sagte er vorsichtig.
»Dann können Sie sich zuerst darüber auslassen. Wie lange kennen Sie ihn schon?«
»Wir sind beide aus derselben Stadt. Tilham, in der Grafschaft Sussex. Kennen Sie den Ort?«
»Ich bin dort geboren.« Er wartete nicht, bis Keils seiner Überraschung darüber Ausdruck gab. »Aber ich bin weggegangen, als ich dreizehn war. Das war vor Ihrer Zeit.«
»Ja, hm, das Seltsame war, daß James und ich einander nicht kannten, bis wir auswärts auf die Schule kamen. Aber daß wir aus derselben Stadt waren, führte uns wohl zusammen. So war das jedenfalls. Danach sahen wir uns natürlich nicht mehr so oft, weil ich in Tilham mein Praktikum machte und er ein Medizinstipendium im Norden bekam. Wir blieben aber in Verbindung, und als er zu Doktor Trevelyan kam, stellten wir fest, daß wir wieder ganz nah beieinander wohnten.«
»Es ist Ihnen klar, daß ich nicht einmal weiß, wo alle diese schlimmen Dinge stattgefunden haben.«
»Nein, wohl nicht. Kennen Sie den Wilgrave Square?« Maitland nickte. »Sowohl die Harleys als auch die Johnstones leben dort… Douglas Johnstones Familie, meine ich. Doktor Trevelyan ist gleich um die Ecke von ihnen, am Cheston Place, während ich viel näher am Victoria-Bahnhof wohne.«
»Und Doktor Collingwood?«
»Habe ich das nicht deutlich gemacht? Er wohnt bei den Trevelyans. Was eigentlich auch erklärt, wie er Kate kennengelernt hat. Und da ist noch etwas, das ich Ihnen sagen sollte - «
»Wenn Sie von Geld sprechen wollen… bitte nicht!«
»Die Ehrlichkeit James gegenüber gebietet es«, sagte Keils störrisch. Offenbar kein Mensch, der leicht von seinem Weg abzubringen war. »Ich glaube nicht, daß seine Familie jemals viel Geld gehabt hat, jedenfalls nicht in dem Sinn, wie die Harleys und Johnstones dieser Welt das betrachten. Sein Vater war Bauunternehmer und hatte keine Schwierigkeiten, die Internatskosten zu bezahlen oder behilflich zu sein, als James Medizin studierte. Aber sein Tod, ungefähr zu der Zeit, als James seine Prüfung ablegte, traf zufällig mit einer Rezession in seiner Branche zusammen. Es war gerade genug da, um eine kleine Leibrente für Mrs. Collingwood zu kaufen. James hat ihr seither stets geholfen, und es steht natürlich nicht zur Debatte, daß er sich in die Praxis einkauft.«
»Verstehe.« Maitlands Stimme klang nachdenklich. »Was sagt er zur… Anschuldigung, beispielsweise?«
»Ich dachte, es wäre Ihnen klar, daß auf Nicht schuldig plädiert wird.«
»Es kann trotzdem nichts schaden, mir zu sagen - «
»Er hat das Morphium nicht beschafft. Die Menge, die nach der Behauptung der Polizei fehlt, ist nicht größer als das, was sich normal erklären läßt.« Keils zögerte. »Nach seinen Angaben. Ich glaube aber, daß ihn das ein wenig beunruhigt.«
»Möchte wissen, was Doktor Trevelyan dazu zu sagen hat.«
»Er wird James' Angaben bestätigen, aber er ist auch beunruhigt, und das merkt man. Die Sache ist nämlich die: Er sagt, er sei ganz sicher, daß er persönlich keinem seiner Patienten Morphium gegeben hat… Sie wissen, daß in diesem Fall keine Aufzeichnungen geführt werden müssen.«
»Das wußte ich zwar nicht, aber sprechen Sie weiter.«
»Nun, James sagt dasselbe. Und die Menge an Schwund , die normal ist… was fehlt, ist nämlich mehr als eine tödliche Dosis.«
»Das ist ein bißchen vage. Nein« - er hob die Hand - »ich möchte im Augenblick keine Einzelheiten hören, dafür bleibt später noch Zeit genug. Aber ich gehe doch davon aus, daß Sie damit eine größere Dosis meinen, als sie Douglas Johnstone gegeben worden ist… wieviel das auch gewesen sein mag?«
»Eine erheblich größere Menge.«
»Schwierig«, sagte Maitland. Er stand bei diesen Worten auf. »Ich halte Sie auf, und das tut mir leid«, fügte er hinzu. »Haben Sie einen Wagen, oder suchen wir uns ein Taxi?«
2
Aus irgendeinem Grund gab es im Gefängnis eine Verzögerung, als James Collingwood gebracht werden sollte. Richard Keils schien sich beinahe entschuldigen zu wollen, so, als sei das seine Schuld, aber Maitland war derart in seine Gedanken vertieft, daß er darauf kaum achtete. Er verabscheute diese Besuche in Gefängnissen, obwohl es in diesem Fall ganz offenkundig keine Möglichkeit gab, ihn zu vermeiden. Aber je eher er vorbei war, desto lieber war es ihm.
Vielleicht wegen der Rolle, die der Arzt in dem Drama gespielt haben sollte, das sich langsam offenbarte, hatte Antony ein filmstarähnliches Aussehen erwartet. Als Collingwood endlich hereinkam und die Tür geschlossen wurde, erwies er sich als ein ganz gewöhnlich aussehender junger Mann, bei dem auf den ersten Blick außer einem dichten Schopf dunkelroter Haare nichts auffiel. Er war blaß, aber das wohl von Natur aus, es hatte nichts zu tun mit seinem Aufenthalt in diesen düsteren Mauern, und obwohl der Sommer schon weit zurücklag, hatte er Sommersprossen im Gesicht und an den Händen. Es waren gutgeformte Hände, gleichzeitig kräftig und sanft (wo, um alles in der Welt, hatte er nur diesen Gedanken her?), und er war ein stiller Mensch, der ohne viele Gesten sprach. Maitland nahm sich, während sie einander begrüßten, die Zeit zu der Überlegung, wie tief der Anstrich der Gelassenheit wohl reichen mochte.
Dann saßen sie, unbequem genug. Der lange, nackte Tisch war staubig, die Kante am hinteren Ende, wo Maitland sich niedergelassen hatte, war durch irgend etwas aufgerauht worden. Man lief Gefahr, sich einen Splitter einzuziehen. Maitland stützte die Ellenbogen auf den Tisch und unterdrückte seinen Wunsch, im Zimmer auf und ab zu gehen; das durfte nicht sein, bis sein Klient sich bei ihm so ungezwungen fühlte, daß ein zwischen ihnen aufgenommener Faden nicht sofort wieder zerriß.
»Nach allem, was Richard mir sagt, habe ich Anlaß, Ihnen dafür dankbar zu sein, daß Sie meine Verteidigung übernehmen«, sagte Collingwood, die Initiative ergreifend.
Das war das letzte Thema, über das Maitland zu sprechen wünschte. »Lassen wir alle Fragen der Dankbarkeit, bis das Urteil gesprochen ist«, schlug er vor und war erleichtert, als sein Mandant nach einem raschen fraglichen Blick zu seinem Solicitor verständig genug war, das Thema fallenzulassen. »Und wenn wir gehen, sind Sie mir vielleicht gar nicht mehr so dankbar«, fügte Antony mit dem Anflug von Humor hinzu, der nie weit unter der Oberfläche seines Denkens lag.
Das schien das Interesse des Untersuchungsgefangenen zu wecken.
»Warum nicht?« fragte er wachsam.
»Weil es Fragen geben wird… verdammt unverschämte Fragen, Ihrer Meinung nach. Das ist jetzt eine Art Untersuchung, zu der wir uns zusammensetzen.«
Collingwood dachte darüber nach, schien aber eher zum Gleichmut zu neigen.
»Nicht schlimmer als das Polizeiverhör, nehme ich an«, sagte er. »Und Sie sind auf meiner Seite.«
»Aber ich muß - darüber sollten Sie sich von Anfang an im klaren sein, Doktor - ich muß wirklich alles wissen, was die Anklage vor Gericht gegen uns vorbringen könnte.«
Das rief auf dem Gesicht des Häftlings eine leichte Röte hervor, aber er antwortete durchaus ruhig: »Ich glaube, das ist mir alles klar.«
»Also gut.« Geradewegs zum Kern vorstoßen, was er im allgemeinen instinktiv tat, oder sich auf einem harmlosen, vergleichsweise wenig peinlichen Weg langsam vorarbeiten? Collingwood nahm ihm die Entscheidung schließlich ab, als er seine Gedankengänge unterbrach und lebhaft sagte, ganz so, als könne er die Frage nicht mehr zurückhalten: »Haben Sie Kate gesehen?«
»Mrs. Johnstone? Noch nicht. Allerdings vereinbart O'Brien einen Besuchstermin für mich. Ich war der Meinung, meine erste Pflicht gelte meinem Mandanten.«
»Dann möchte ich Sie etwas fragen. So unverblümt, wie Sie Ihre Fragen stellen wollen. Ich habe nämlich von Ihnen gehört, Mr. Maitland… der Mann, der nie einen Prozeß verliert . Ist es möglich, daß Sie für mich einen Freispruch erzielen könnten und die Geschworenen Kate trotzdem für schuldig befinden?«
»Also, erstens« - Maitland, der in seinem Leben soviel Zeit dafür aufwendete, Fragen zu stellen, hatte eine seltsame Abneigung dagegen, selbst welche zu beantworten - »ist alles Unsinn, was Sie gehört haben. Ich würde mir wünschen, daß es anders wäre, aber es ist so. Ich hoffe also, daß Sie sich nicht auf irgendwelche Wunder verlassen. Aber was das übrige angeht… ja, das wäre wohl im Bereich der Möglichkeit. Ich weiß, wohlgemerkt, von diesem Fall noch sehr wenig, so daß ich das schwer sagen kann. Aber bei Geschworenen ist alles möglich.«
»Aber sehen Sie… Richard sagte - «
»Ich bin sicher, Mr. Keils hat Ihnen erklärt, daß O'Brien der beste Mann ist, den man haben kann.« Collingwood begann Anzeichen von Erregung zu zeigen. »Er ist, zum Beispiel, viel eloquenter als ich«, fügte Maitland mit Überlegung hinzu.
»Es geht nicht nur um Beredsamkeit. Verstehen Sie denn nicht, es ist so ungeheuer wichtig -?« Er sprach seinen Verteidiger immer noch direkt an, aber es war Keils, der sich vorbeugte, um zu antworten.
»Mr. Maitland hat O'Brien seine Unterstützung zugesagt«, erklärte er.
»Ja, ich verstehe.« Die momentane Erregung flaute ab. »Inzwischen leben wir auf Bewährung.« Seinem Tonfall schien jede Bitterkeit zu fehlen, und Antony beschloß, auf die Bemerkung nicht einzugehen. Es wäre auch schwer gewesen, auf den tieferen Sinn des Satzes zu antworten. Statt dessen beschloß er, ohne Umschweife zur Sache zu kommen, wobei er sich sagen konnte, daß sein Mandant ihm den Weg dazu selbst eröffnet hatte.
»In welcher Beziehung stehen Sie zu Mrs. Johnstone?« fragte er.
Collingwood schien gerade die Plötzlichkeit der Frage aus irgendeinem Grund als stützende Hilfe zu empfinden. Seine Hände lagen, unverkrampft ineinander verflochten, regungslos vor ihm auf dem Tisch.
»Das kann ich nicht anders als auf die abgedroschenste Weise beantworten«, sagte er. »Wir waren… wir sind… gute Freunde.«
»Und wenn Sie beide unversehrt davonkommen?« Er wußte schon, während er das sagte, daß es der falsche Ausdruck war, denn wer konnte seinen Erinnerungen entkommen? »Wären Sie immer noch gute Freunde , oder würde sich die Frage einer Heirat stellen?«
»Wie kann ich das sagen? Die Situation wäre eine ganz andere, weil Kate keine verheiratete Frau mehr ist. Ich versuche, ehrlich zu Ihnen zu sein«, betonte er, weil er in Maitlands Blick vielleicht so etwas wie Skepsis entdeckte, und Antony grinste ihn plötzlich an.
»Lassen wir Ihre Ehrlichkeit einmal aus dem Spiel«, meinte er. »Die Frage ist, was für Beweise kann die Anklage dafür erbringen, daß Sie ein Liebespaar gewesen sind?«
Er hielt es für möglich, daß Collingwood Einwände gegen den Ausdruck erheben würde, und neigte dazu, Keils Anerkennung dafür zu zollen, daß er offen mit seinem Mandanten gesprochen hatte, als der erwartete Einwand nicht kam. Wieder zeigte sich die verräterische Rötung, aber der Arzt antwortete ganz ruhig: »Getroffen haben wir uns nur in einer Teestube am Cheston Place - Richard sagt mir, daß die Polizei Beweise dafür hat. Kaum der Ort, den ich mir ausgesucht hätte, wenn mir an einer Verführung gelegen gewesen wäre.«
»Aber Sie haben sich regelmäßig dort getroffen?«
»Sooft ich mit meinen Hausbesuchen rechtzeitig fertig war.«
»Mrs. Johnstone hat dort auf Sie gewartet?«
»Nun ja… fast an jedem Wochentag. Das Zusammensein dauerte aber nie lange. Ich kam erst spät weg, und sie wollte immer noch eine Stunde mit den Kindern Zusammensein, bevor sie ins Bett mußten.«
»Und an manchen Tagen saß sie da, und Sie kamen gar nicht.«
»Ja, das kam vor. Es muß eigentlich oft der Fall gewesen sein.«
»Dann gehen Sie ein bißchen zurück. Wie lange kannten Sie die Johnstones?«
»Ich wußte von ihnen, seitdem ich meine Arztzulassung erhalten hatte und bei Doktor Trevelyan mit der Arbeit anfing. Ungefähr vier Jahre. Aber er ist ihr Hausarzt, ich hatte nie Gelegenheit, das Haus zu betreten, bis vor zwei Jahren die Kleine Mumps bekam. Da lernte ich Kate kennen.«
»Sie war nie in der Sprechstunde gewesen, entweder allein oder mit einem der Kinder?«
»Johnstone war kein Patient des Staatlichen Gesundheitsdienstes, niemand von seiner Familie war das. Ein Arzt muß seinen Platz in der Ordnung der Dinge kennen. Selbst Trevelyan, der praktisch ein Freund der Familie ist.«
»Verstehe. Und bei dieser ersten Begegnung… war es Liebe auf den ersten Blick?«
»Ich habe nicht gesagt… also gut, wenn es sein muß, da war wohl eine Anziehung.«
»Aus der Liebe wurde?«
Wieder kam der argwöhnische Blick zu seinem Solicitor.
»Unter den gegebenen Umständen würde ich das gerne bestreiten, aber ich kann es nicht.«
»Haben Sie sie zu Hause besucht?«
»Im Verlauf meiner beruflichen Pflichten - «
»Sie weichen wieder aus, Doktor Collingwood. War Mrs. Johnstone Ihre Patientin?«
»Nein, nie. Nicht einmal insoweit, daß ich sie anstelle von Doktor Trevelyan behandelt hätte. Was das Ausweichen angeht« - zum erstenmal hatte seine Stimme einen widerspenstigen Unterton - »weiß ich nicht, was Sie anderes erwarten.«
»Ehrlichkeit«, sagte Maitland und lächelte plötzlich. Durchaus nicht belustigt, dachte Keils, der ihn beobachtete. Er fand auch, daß der Tonfall des Verteidigers etwas Spöttisches hatte, als er hinzufügte: »Oder ist das zuviel verlangt?« Jemand, der Maitland besser kannte - beispielsweise Geoffrey Horton - hätte, an dieser Stelle aufgehorcht. Er mochte unverblümt sein und nicht darüber erhaben, den Versuch zu unternehmen, einem Zeugen überraschend ein Eingeständnis zu entlocken, aber ein Mandant, für den er nichts übrig hatte, würde stets mit der äußersten Höflichkeit behandelt werden.
»Sie sagten, wir wollen meine Ehrlichkeit vorerst beiseite lassen«, erinnerte ihn Collingwood steif. Und fügte hinzu, als sei es zu anstrengend, seine Würde zu behaupten: »Es geht um Kate, wissen Sie. Darum, wie man das alles hinstellen kann.«
»Mr. O'Brien wird ihr, wie ich Ihnen, klargemacht haben, daß es für die Verteidigung unabdingbar ist, das Schlimmste zu erfahren, was vorgebracht werden kann.«
»Ja, ich frage mich - «
»Sie fragen sich, ob sie zu ihm offener gewesen ist, als Sie es zu mir sind.«
»Ich - «
»Schon gut. Worauf es im Augenblick ankommt, sind nicht Ihre Gefühle, sondern das Ausmaß, in dem die Anklage irgendeine Liebschaft wird nachweisen können. Sie müssen also noch Geduld mit mir haben, Doktor Collingwood. Haben Sie jemals Douglas Johnstone behandelt?«
»Nein. Das hätte er nicht hingenommen.«
»Was soll das nun wieder heißen?«
Collingwood wirkte überrascht.
»Nur, daß Trevelyan sein Hausarzt war. Er hätte es als Abstieg betrachtet, von einem bloßen Assistenten behandelt zu werden.«
»Mr. Keils wird Ihnen bestätigen, daß eine solche Antwort, unüberlegt vor Gericht gegeben, durchaus falsch ausgelegt werden kann.«
»Aber ich habe doch erklärt - «
»Der Vertreter der Anklage gibt Ihnen vielleicht keine Gelegenheit, etwas zu erklären. Man kann sogar davon ausgehen, daß er es nicht tun würde.«
»Oh!« Er dachte kurz nach. »Ich bin wohl sehr naiv bei dem Ganzen. Ich habe hundertmal darüber nachgedacht, wie meine Aussage vor Gericht klingen würde, aber ich glaube nicht, daß ich mich jemals ernsthaft mit dem Gedanken an ein Kreuzverhör befaßt habe.«
»Dann tun Sie es jetzt. Sie müssen sich sehr genau überlegen, was Sie sagen, Doktor Collingwood, sogar, wie Sie Ihre Antworten formulieren.«
»Das werde ich wohl müssen. Das ist schon schlimm genug. Aber - wird Kate aussagen müssen?«
»Das hängt von O'Brien ab. Wenn die Zeugen der Anklage abgetreten sind, werden Sie allerdings feststellen, daß es Fragen gibt, die beantwortet werden müssen.«
»Sie ist so naiv, wissen Sie. Ich glaube nicht, daß sie gegen Hinterlist aufkäme.«
»Dann müssen wir hoffen, daß die Geschworenen sie so sehen, wie Sie das tun.«
»Sie wird sich bestimmt heillos verheddern«, versicherte Collingwood düster.
»Dagegen können wir im Augenblick nichts tun. Kehren wir zu unseren Tatsachen zurück, zu Dingen, die man beweisen kann. Wenn Sie beruflich ins Haus der Johnstones kamen, dann zu den Kindern?«
»Richtig. Das erstemal geschah das zufällig, weil Doktor Trevelyan besonders beschäftigt war, aber um die Wahrheit zu sagen, ich glaube, er verliert im Alter ein wenig die Verbindung zu seinen jüngeren Patienten. Jedenfalls kam ich mit Dougie und Janet sehr gut aus, also spielte es sich so ein, daß ich mich um sie kümmerte. Abgesehen von den vereinzelten Hausbesuchen, die er machte, wie am Vormittag von Johnstones Tod, um zu zeigen, daß er das Interesse an ihnen nicht verloren hatte.«
»Johnstone hatte gegen diese Regelung nichts einzuwenden?«
»Meines Wissens nicht.«
»Und wie oft fanden Ihre Besuche statt?«
»Nur ganz vereinzelt.«
»Können Sie schätzungsweise angeben, wie oft Sie im Verlauf der zwei Jahre, von denen Sie sprachen, die Kinder behandelt haben?«
»Ohne meine Unterlagen… fünf- oder sechsmal, würde ich sagen. Sie könnten das nachprüfen, wenn es wichtig sein sollte.«
»Ich glaube - «, meinte Maitland und warf einen Blick auf Keils, der sich eine weitere Notiz auf seinem Schreibblock machte. »Irgend etwas Ernstes?« fuhr Antony fort, wieder an seinen Mandanten gewandt.
»Ich verst… ach so, die Kinder. Der Mumps war das Schlimmste, und einmal hatten sie beide einen Darmkatarrh. Im übrigen nur die gewohnten Erkältungen.«
»Augenblick mal! Das muß zu mehr als sechs Besuchen geführt haben.«
»Ich meine… Sie sagten, wie oft ich sie behandelt hätte, und ich glaube, daß es etwa sechs verschiedene Fälle waren. Mehr Besuche als nur ein einziger bei jeder Krankheit, versteht sich.«
»Ja, natürlich. Vielleicht mehr Besuche, als unbedingt nötig gewesen wären.«
»Das ist Ansichtssache. In diesem Fall hatte ich es zu beurteilen.«
»Wen haben Sie bei diesen Gelegenheiten außer den Patienten gesprochen?«
»In der Regel Kate. Sie machte sich immer schreckliche Sorgen. Und jedesmal das Kindermädchen.«
»Helen Gatsby«, sagte Keils. »Sie tritt für die Anklage auf«, fügte er verdrossen hinzu.
»Aha. Was kann sie angeben?« fragte Maitland seinen Mandanten.
»Sie schien Kate gern zu haben.«
»Das muß keine Rolle spielen. Sie wird unter Eid stehen, und es gibt immer noch Leute, die das ernst nehmen, einmal ganz abgesehen von der Möglichkeit, wegen Meineids belangt zu werden.«
»Tja, ich glaube… sie könnte gemerkt haben, daß etwas in der Luft schwebte. Nichts - durchaus nichts Auffälliges.«
»Haben Sie bei diesen Gelegenheiten Mrs. Johnstone außer in Gegenwart des Kindermädchens gesehen?«
»Sie ging jedesmal mit mir hinunter und gab mir im Salon eine Tasse Kaffee, wenn ich es nicht zu eilig hatte. Oder Tee, wenn ich am Nachmittag kam. Daran ist nichts auszusetzen«, fügte er plötzlich angriffslustig hinzu, was Maitland wieder ein Lächeln entlockte.
»Gar nichts«, bestätigte er. »Aber ich würde das Gericht an Ihrer Stelle nicht darauf hinweisen. Das gehört zu meinen Aufgaben. Sie werden mit Mr. Keils aber vor der Verhandlung noch einmal sprechen, er kann Sie auf solche Dinge aufmerksam machen.«
»Ich will versuchen, mir das zu merken«, sagte Collingwood ernüchtert.
»Gut. Also - haben Sie, abgesehen von diesen Krankenbesuchen, Mrs. Johnstone sonst in ihrem Haus aufgesucht?«
»Nur an jenem letzten Tag. Ich dachte, Dougies Erkältung sei Ausrede genug, obwohl Doktor Trevelyan am Vormittag dagewesen war.«
»Warum hat er das Ihrer Ansicht nach getan? Sie sagten, die Kinder hätte er Ihnen überlassen.«
»Da ist nur der Grund, den ich vorhin erwähnt habe… um zu zeigen, daß er nicht alles Interesse verloren hatte. Es sei denn…«
»Ja?«
»Glauben Sie, er könnte Gerüchte gehört haben, über Kate und mich, meine ich, und zu dem Entschluß gekommen sein, die Behandlung lieber wieder selbst zu übernehmen?«
»Hatte er Ihnen Anlaß gegeben, das zu glauben?«
»Nein. Er war wie immer.«
»Dann wollen wir hoffen, daß Ihre erste Vermutung zutrifft. Warum wollten Sie Mrs. Johnstone gerade an diesem Nachmittag besuchen?«
Collingwood zögerte.
»Es gab keinen besonderen Grund. Sie war ein, zwei Tage nicht im Cafe gewesen… natürlich wollte ich sie sehen.«
»Bei Dougie sind Sie auch gewesen?«
»Ja.«
»Wo ist sein Zimmer in Beziehung zu dem Badezimmer, wo Mr. Johnstone seine Injektionsspritze aufbewahrte?«
»Du lieber Himmel, darüber habe ich nie nachgedacht. Ich könnte das alles selbst gemacht haben, nicht?«
»Hätten Sie es gekonnt?«
»Na ja, eigentlich nicht, weil ich nicht die geringste Ahnung habe, wo die einzelnen Zimmer oben sind, abgesehen von den Kinderzimmern und ihrem Spielzimmer. Nicht im selben Stockwerk wie die ihrer Eltern, nehme ich doch an. Das Haus ist ziemlich hoch, und sie liegen ganz oben. Aber das ist auf jeden Fall ein Gedanke. Glauben Sie, daß Sie ihn Mr. O'Brien nahebringen könnten?«
Richard Keils begann daraufhin zu protestieren, aber Maitland beachtete ihn nicht und sah seinen Mandanten verdrossen an.
»Wenn Sie sich schuldig bekennen wollen, dann tun Sie es und Schluß«, sagte er. »Teilen Sie es Mr. Keils mit, der den Auftrag an mich entsprechend ändern wird. Aber unausgegorenes Heidentum nehme ich nicht hin.«
Collingwood dachte, nicht sichtbar beschämt, darüber nach.
»Keine gute Idee«, räumte er schließlich ein.
»Freut mich, daß Sie wenigstens insoweit Vernunft erkennen lassen«, erklärte Maitland. Jenny hätte beklagt, daß das eine der Gelegenheiten sei, bei der er sich ganz wie Onkel Nick benahm, aber die Nachahmung, obwohl zutreffend, geschah ganz unbewußt. »Zu diesem letzten Besuch nun: Zuerst waren Sie bei Dougie. Hat Mrs. Johnstone Sie begleitet?«
»Nein, aber sie kam in die Halle, als ich eintraf, und bat Sophie, den Tee in den Salon zu bringen; wir würden uns sprechen, wenn ich herunterkäme.«
»Sophie ist -?«
»Das Stubenmädchen.«
»Um welche Zeit war das?«
»Gegen drei Uhr.«
»Sind Sie lange oben gewesen?«
»Das war nicht nötig. Das Kindermädchen teilte mir mit, Doktor Trevelyan sei am Vormittag dagewesen… das wußte ich zwar schon, ließ es mir aber nicht anmerken. Ich ging also hinunter zu Kate.«
»Und Sie behaupten immer noch, es hätte keinen besonderen Grund für einen Besuch gegeben.«
»Nur, daß… ich sagte schon, daß ich Kate ein, zwei Tage nicht gesehen hatte.«
»Kann Sophie von Ihrem Gespräch etwas belauscht haben?«
»Möglich… als sie den Tee brachte. Jedenfalls war es nichts von Belang.«
»Wie lange sind Sie geblieben?«
»Ungefähr zwanzig Minuten.«
»Worüber haben Sie gesprochen?«
»Ich kam zu dem Schluß, daß sie an diesem Nachmittag wieder nicht ins Cafe kommen würde. Wir stritten uns ein bißchen.«
»Sie sagen, Sie hätten sie ein, zwei Tage nicht gesehen. Hat sie Ihnen einen Grund dafür angegeben?«
»Nur, daß Dougie nicht gesund sei.«
»Hatten Sie den Eindruck, er sei so krank, daß das als Begründung gelten konnte?«
»Hm… nein. Deshalb stritten wir wohl miteinander.«
»Verstehe. Was hat Mrs. Johnstone Ihnen über ihre Beziehungen zu ihrem Mann anvertraut?«
»Nicht sehr viel. Daß sie nicht glücklich war, sah ich, aber sie brachte keine bestimmten Klagen vor.«
»Sie haben sie sehr oft gesehen. Sie waren in sie verliebt - «
»Ich habe nicht gesagt, daß sie mich geliebt hat.«
Die Worte wurden mit solchem Nachdruck gesprochen, daß es eine Weile still blieb. Maitland, mit seinem Mandanten ganz beschäftigt, fiel plötzlich Keils' Anwesenheit ein, und er blickte, zu ihm hinüber. Der Solicitor seinerseits betrachtete seinen Freund und Klienten mit zusammengezogenen Brauen. Antony gestand sich selbst Zweifel ein. War das ein Eingeständnis gewesen, das Collingwood höchst ungern gemacht hatte, oder war es wieder eine Lüge? Das einzige, dessen er sicher sein konnte, war, daß die Worte gequält klangen.
»Wenn Sie sich Ihnen nicht erklärt hat, wem könnte sie sich dann anvertraut haben?«
»Das weiß ich nicht.«
»Vielleicht einer engen Freundin.«
Collingwood schüttelte nur den Kopf. Keils sagte zögernd, als sei er ungewiß, wie der Einwurf aufgenommen werden würde: »Was ist mit Jean Lamb?«
Collingwood warf ihm einen mißbilligenden Blick zu.
»Das wäre immerhin möglich«, meinte er ohne Begeisterung.
Antony wandte sich an den Solicitor um Aufklärung.
»Mir war nicht klar, daß Sie die Johnstones auch kennen.«
»Ich kannte sie auch nicht. Mrs. Lamb war aber eines Abends im Ralstone's mit Kate Johnstone beim Abendessen, als James und ich auch dort saßen. Ihr Ehemann war Douglas Johnstones Teilhaber, und sie befanden sich bei irgendeinem Treffen in der City. Ich empfand sie damals als eine sanfte, sympathische Person, eine gute Zuhörerin, genau von der Art, die zu Vertraulichkeiten einlädt. Und ich sollte hinzufügen«, erklärte er, wobei er Collingwoods Blick diesmal mied, »daß die Anklage sie als Zeugin benennen wird.«
Daraufhin stand Maitland, der bis dahin tapfer auf seinem Stuhl ausgeharrt hatte, auf. Der schmale Raum bot nicht viel Platz für Bewegung. Zwei Schritte bis zur rechten Wand, vier bis zur gegenüberliegenden. Er kam zurück und blieb hinter seinem Stuhl stehen, wo er die oberste Holzleiste an der Rückenlehne umklammerte, bis seine Fingerknöchel weiß wurden.
»Ich hoffe zu Gott, daß Sie sich auf die eine oder andere Weise in ihr irren«, sagte er sonderbar ruhig.
Das führte zu einem Protest seines Mandanten.
»Aber Jean ist mit Kate befreundet.«
»Ich habe schon klargemacht… sind Sie schon einmal bei einer Gerichtsverhandlung dabei gewesen?«
»Nein.«
»Dann kann ich Ihnen eines versichern: Mrs. Lamb scheint genau die Art von Zeugin zu sein, wie die Anklage sie sich wünscht, selbst bei direkter Befragung. Wer übernimmt den Fall? Garfield, versteht sich. Na also!«
»Ich muß Ihnen recht geben«, sagte Keils langsam. »Aber vielleicht hat sie gar nichts mitzuteilen, wissen Sie.«
»Mag sein. Wer hat Douglas Johnstone nach Ihrer Meinung umgebracht?« fragte er seinen Mandanten unvermittelt.
»Das kann ich nicht beantworten. Ich habe nicht die leiseste Ahnung«, erwiderte Collingwood, dessen Stimme auf einmal viel zuversichtlicher klang.
»Nichts, was Mrs. Johnstone jemals erwähnt hat -?«
»Sie erzählte manchmal von ihren Freunden. Ich glaube nicht, daß ihr außer Jean irgend jemand besonders nahestand. Und sie sprach von ihren Eltern, aber die waren… sie standen auf Johnstones Seite«, erklärte Collingwood mit einem Nachdruck, der die Meinung, die sein Verteidiger sich über seine Empfindungen dem Toten gegenüber gebildet hatte, bekräftigte. »Kate mag Ihnen da natürlich behilflich sein können«, fuhr der Häftling fort, »aber ich sehe nicht ein, warum irgendeiner von ihnen - «
»Lassen Sie nur. Noch eine Frage, Doktor Collingwood, dann vertagen wir uns. Zum Morphium - «
Collingwood fuhr dazwischen, bevor er ausreden konnte.
»Ich kann das nicht begreifen«, platzte er heraus, »und Doktor Trevelyan übrigens auch nicht.«
»Ich dachte, bei Kontrollen gibt es einen gewissen Spielraum.«
»Den gibt es auch. Sie können das hervorheben, ich habe es Richard erklärt. Aber der Haken ist der: Es hätte nichts fehlen dürfen, wenn das Mittel nie verwendet wurde.«
»Nie?«
»Darauf läuft es hinaus.«
»Aber wenn der verantwortliche Arzt selbst die Injektion gibt oder sie in seinem Beisein und auf seine Anweisung hin erfolgt, brauchen keine Aufzeichnungen geführt zu werden… soviel ich weiß. Damit wäre eine Fehlmenge doch zu erklären.«
»In jeder anderen Praxis, ja, da würde ich Ihnen recht geben, wenn auch vielleicht nicht eine Menge wie die fehlende. Aber Doktor Trevelyan ist, was die Suchtgefahr angeht, geradezu fanatisch und erklärt, wie mir Richard sagt, ganz entschieden, er hätte es nie verwendet. Die dumme Sache ist die - ich auch nicht. Da ich bei ihm angestellt bin, hielt ich mich natürlich an seine Wünsche. Sie können von Schwund reden, soviel Sie wollen, ich glaube nicht, daß es überzeugen wird.«
»Wie erklären Sie sich dann -?«
»Überhaupt nicht.«
»Sie können mir aber wenigstens sagen, wo das Morphium aufbewahrt wird.« Maitland sprach mit erzwungener Ruhe.
»Seitlich am Haus ist ein eigener Flügel angebaut, nicht sehr groß, in dem Teil der Stadt ist Grund sehr teuer. Unten das Wartezimmer und mein Sprechzimmer, eine Kammer für die Sprechstundenhilfe, oben Untersuchungszimmer und Doktor Trevelyans Sprechzimmer.«
»Kann man von dort ins Haus gelangen?«
»In jeder Etage gibt es eine Verbindungstür.«
»Sie haben mir immer noch nicht gesagt, wo die Drogen aufbewahrt werden.«
»In einem abgesperrten Schrank in Doktor Trevelyans Zimmer. Glastüren, selbst von einem Fremden leicht genug zu erkennen, aber nicht leicht zugänglich.«
»Ein Patient -?«
»Die meisten seiner Patienten sind Privatpatienten wie die Johnstones und erwarten, zu Hause behandelt zu werden.«
»So daß sein Sprechzimmer möglicherweise oft nicht besetzt ist?«
»Ja, das ist zweifellos richtig. Aber ich kann mir nicht vorstellen, wie einer meiner Patienten hinaufgefunden haben könnte.«
»Hat Mrs. Johnstone jemals -?«
»Nein!«
Die hingeschleuderte Antwort schien Maitlands gute Laune wiederherzustellen. Er lächelte seinen Mandanten an, ließ die Stuhllehne los und ging zur Tür.
»Wir wollen Ihre Geduld nicht länger strapazieren, Doktor Collingwood«, sagte er sehr förmlich. »Mr. Keils wird sich bemühen, wenn ich Sie noch einmal sprechen möchte.«
»Sie können sich jedenfalls darauf verlassen, daß ich da bin.«
Keils stand schon an der Tür, aber Collingwood schien, obwohl er aufgestanden war, nicht recht zu wissen, was von ihm erwartet wurde. Wenn ihn noch eine Frage bedrängte, stellte er sie jedenfalls nicht. Maitland blieb vor ihm stehen und streckte die Hand aus.
»O'Brien hat veranlaßt, daß ich Mrs. Johnstone morgen sprechen kann«, sagte er.
Collingwoods Augen leuchteten plötzlich auf, aber die Frage blieb trotzdem unausgesprochen. Ihr Händedruck schien für die beiden Männer jedoch einen Bund zu besiegeln.
Auf dem Rückweg in die Stadt neigte Maitland zur Schweigsamkeit. Er hoffte nur, daß er seinen Part in dem unausgesprochenen Bündnis später nicht bereuen würde.
3
Er kam noch später nach Hause, als er erwartet hatte. Abgesehen davon, daß er an Gibbs' mißbilligendem Blick in der Halle vorbei Spießruten laufen mußte, bekam er nur ein Glas Sherry, bevor Jenny sie an den Tisch rief. Wie sie vorausgesagt hatte, waren Sir Nicholas und Lady Harding vor ihrem Gastgeber eingetroffen. Er entschuldigte sich für seine Verspätung, aber sie schienen durch das Wartenmüssen nicht verärgert zu sein. Das Abendessen verlief in Ruhe, und erst als sie mit ihrem Kaffee vor dem Kaminfeuer saßen und Antony sich fragte, ob Jenny daran gedacht hatte, Kognak nachzubestellen, bezog sein Onkel sich indirekt auf den Grund für seine Verspätung. Sir Nicholas war so hochgewachsen wie sein Neffe, aber viel massiger gebaut; seine Haare waren blond genug, um zu vertuschen, daß es grau wurde, und er besaß eine von Natur aus herrische Art, die ihm gar nicht zum Bewußtsein kam. Im Augenblick schien er aber guter Laune zu sein, und obwohl Antony und Jenny keine Zweifel daran hatten, wohin seine Fragen führen mochten, dachten sie doch beide, daß Vera aller Wahrscheinlichkeit nach durch sein Gebaren in gewisser Weise irregeführt wurde. Darin unterschätzten sie ihre neue Tante allerdings. Vera lernte rasch.
Sir Nicholas begann mit seinen sorgfältigen Vorbereitungen auf den Genuß einer Zigarre. Jenny hatte dem Eßtisch seine gewohnte Ordnung wiedergegeben. Vera, die inzwischen gelernt hatte, nicht mit einem Hilfsangebot aufzuspringen, beobachtete ihren Mann beinahe so, als versuche sie sich eine Geschicklichkeit anzueignen, die sie eines Tages brauchen mochte. Maitland, der zu seiner Erleichterung feststellte, daß der Vorrat an Lieblingskognak seines Onkels aufgefrischt worden war, hatte seinen Fund zum Sekretär in die Ecke getragen, wo schon die Gläser bereitstanden.
»Man wird dir nicht eigens sagen müssen, daß Mallory nicht erfreut ist über dich, Antony«, erklärte Sir Nicholas, nachdem er endlich seine Wahl getroffen hatte.
»Das hat er durchaus klargemacht«, erwiderte sein Neffe trocken.
»Es könnte interessant sein, zu wissen, welche Form sein Mißvergnügen… bei dieser Gelegenheit angenommen hat.« Der Tonfall das älteren Mannes klang nachdenklich. Er war sich über die Einstellung des Bürovorstandes völlig im klaren, so, wie Maitland längst die Hoffnung aufgegeben hatte, vom alten Mr. Mallory zu erlangen, was ein anderer als den gehörigen Respekt bezeichnet hätte.
»Er nahm für mich diese Vertragsbruch-Geschichte an und besaß dann die Stirn, zu erklären, er sei sicher, das entspreche meinen Wünschen«, sagte Antony, aber die Belustigung, die in dem kläglichen Ton mitschwang, entging seinem Onkel nicht. »Ist natürlich stocklangweilig und gar nicht mehr mein Fach, so daß ich mich auch noch eingehend damit befassen muß.«
»Deine Leistungen auf diesem Gebiet waren einmal nicht unbeträchtlich«, erinnerte ihn Sir Nicholas, was einen verblüfften Blick hervorrief; vielleicht war es ganz gut, daß Maitland mit dem Eingießen schon fertig war. Vera dagegen, die so gut wie er begriff, daß jede Belobigung, die in dem Satz enthalten sein mochte, eine rein zufällige war, aber auch erkannte, daß das zur Methode ihres Mannes gehörte, sie über alle Angelegenheiten, ihre neue Familie betreffend, zu informieren, nahm mit gemurmeltem Dank ein Glas entgegen und fügte auf ihre gewohnte knappe Art hinzu: »Könnte interessant sein, davon zu hören.«
Antony hatte den größten Respekt für ihre Fähigkeiten gehabt, als sie noch beruflich tätig gewesen war, aber das war für ihn zuviel.
»Langweilig«, sagte er noch einmal.
Vera war eine große, kräftig gebaute Frau mit dichten schwarzen Haaren, die vermischt waren mit grauen Fäden. Es begann sich schon jetzt, so früh am Abend, von den beengenden Haarnadeln zu lösen. Das war alles schon so, seit er sie kannte, aber daneben gab es auch bestimmte Veränderungen. Ihr Kleid war immer noch sackartig, aber nun ein Sack mit gewissen Ansprüchen auf Eleganz und von ansprechendem Blau. Maitland sah sie mit großer Zuneigung an, während noch die Endgültigkeit in seiner Stimme eine Ablehnung ihres Wunsches andeutete. Seit Sir Nicholas geheiratet hatte, war Maitland in der Lage, aus Veras Anwesenheit ein schlichtes Vergnügen zu ziehen und echte Belustigung bei ihren ein wenig originellen Methoden zu finden, mit den unberechenbaren Launen ihres Mannes fertigzuwerden. Aber selbst Vera vermochte Sir Nicholas nicht ganz zu bändigen.
Er griff jetzt, ohne den Wortwechsel zwischen seiner Frau und seinem Neffen zu beachten, nach der Kiste Swan Vestas , und seine Stimme nahm einen weichen Tonfall an.
»Ich bestätige natürlich, daß deine Energie sich in letzter Zeit anderen, vielleicht weniger wünschenswerten Dingen zugewandt hat. Und das führt uns wieder zum gegenwärtigen Wagnis. Erneut ein Mord«, meinte er versonnen. Was entschieden ungerecht war, wenn man bedachte, daß seine Kanzlei sich vorwiegend mit Strafsachen befaßte.
»Eine unerquickliche Familiengeschichte«, sagte Jenny, als sie sich zu Vera aufs Sofa setzte. Der Ausdruck schien Vera zu gefallen. Das Tablett stand schon an seinem Platz; als Antony die Gläser verteilt hatte, trat er zu ihr, um es mit dem Kaffee ebenso zu machen. Sie zeigte ihm ein herzliches Verschwörerlächeln, als sie ihm Veras Tasse hinhielt. »Überhaupt nichts Nachteiliges, Onkel Nick«, sagte sie beruhigend.
»Ich bin natürlich froh über deine Bürgschaft in diesem Punkt.« Zwischen den Worten gab es Pausen, als er das Streichholz an seine Zigarre führte und paffte. »Nichtsdestoweniger möchte ich betonen, daß die Sache gewisse Merkmale aufweist, die - sagen wir - eine Klarstellung erfordern.«
»Es war alles ganz klar, bis du angefangen hast, es zu verdunkeln. Es gibt zwei Angeklagte. Kevin O'Brien vertritt eine Person und hat Antony überredet, die andere zu übernehmen. Ohne Honorar, ich weiß, aber - «
»Darauf kommt es nicht an«, erklärte Sir Nicholas, wie sie es nicht anders erwartet hatte. Die Zigarre zog jetzt zufriedenstellend; eine gleichmäßige Glut. »Es stand O'Brien eigentlich nicht an, als Mittelsmann aufzutreten.«
»Nur hält er seine Mandantin für unschuldig«, erklärte Antony. »Wodurch er zu der Ansicht neigt - auch wenn das, zugegebenermaßen, kein konkreter Beweis ist -, daß auch mein Mandant unschuldig ist.«
»Genau das ist der Punkt, den ich dir klarzumachen versuche. Was hältst du davon, meine Liebe?« fragte er, unvermittelt zu Vera gewandt… ein Mann, zusammenknickend unter der Last der Verständnislosigkeit jüngerer Menschen. »Es handelt sich um einen unverhohlenen Appell an Antony, eine seiner Untersuchungsaktionen zu starten, und dagegen wende ich mich. Außerdem kann ich mir nicht vorstellen, daß O'Brien auf einen Mann von Antonys Gemütsart insgesamt einen guten Einfluß ausüben wird.«
»Was ist denn mit ihm?«
»Ein Angehöriger der Partnerschaft sollte Anzeichen von Besonnenheit erkennen lassen«, erklärte Sir Nicholas vernichtend.
»Ich habe ihm völlig klargemacht«, sagte Maitland, von dieser Kritik unberührt, »daß ich über ein Studium der Akten hinaus nichts unternehmen würde, solange ich nicht des Glaubens sei, es gäbe gute Gründe für weitere Nachforschungen.«
»Und nachdem du deinen Mandanten gesprochen hast, was heute abend offensichtlich der Fall war?«
»Es gibt einige Fragen, die geklärt werden müssen.«
»Du hast dir, möglicherweise bevor du ihn gesehen hast, eingeredet, daß er die Wahrheit sagt.«
»Im Gegenteil, ich bin überzeugt davon, daß er mich mindestens dreimal angelogen hat. Trotzdem - «
»Verstehe leider nicht, was du meinst«, warf Vera ein. Nach jahrelanger Teilnahme an solchen Diskussionen besaß sie nicht Jennys Talent, still dabei zu sitzen, während ein Meinungsstreit tobte. Vielleicht hatte sie auch Angst vor einer Explosion ihres Ehemannes, wenn sie jeden Kommentar ihm überließ.
Antony lächelte sie an.
»Erinnerst du dich an Fran Gifford?« fragte er. Im Zusammenhang mit der Verteidigung Miss Giffords hatten sie sich kennengelernt, als Vera selbst noch Strafverteidigerin gewesen war.
»Selbstverständlich.«
»Sie hat uns am Anfang Lügen aufgetischt, aber wie sich herausstellte… was ich damit sagen will, ist, er mag in gewissen Punkten lügen und braucht trotzdem nicht des Mordes schuldig zu sein.«
Vera zeigte ihm ihr eher grimmiges Lächeln, das am Anfang ihrer Bekanntschaft auf seinen Kampfgeist eine durchaus lähmende Wirkung ausgeübt hatte.
»Hätte dich nicht weitermachen lassen, wenn ich geglaubt hätte, daß sie lügt«, erklärte sie.
»Trotzdem - «, wiederholte Maitland.
Diesmal war es sein Onkel, der ihn unterbrach.
»Niemand kann die Richtigkeit deiner Behauptung bestreiten«, bestätigte er. »Aber du weißt sehr wohl, daß ich diese außerplanmäßigen Aktivitäten von dir nicht billige. So gut sie gemeint sein mögen«, fügte er hinzu und lehnte sich zurück, als sei der Fall damit abgeschlossen.
Das hätte auch so sein können. Es war Jenny, die ungewollt alles wieder aufrührte, als sie empört sagte: »Das ist nicht fair, Onkel Nick. Du hast dich nicht gescheut, Antony im Hintergrund einzusetzen, wenn es dir gepaßt hat.«
»In der Regel aber auf seine Anregung hin. Du wirst mir zugeben, meine Liebe«, sagte er und drehte sich so ruckartig zu Vera herum, daß ihm beinahe der Aschenkegel von der Zigarre fiel, »diese Fälle in deinem Gerichtsbezirk…«
»Mehr meine Schuld als die von Antony«, räumte Vera ein. »Nicht die deine.«
Das war durchaus nicht das, was Sir Nicholas hatte hören wollen, und Jenny hätte über seine Miene am liebsten gelacht. Statt dessen fuhr sie entschieden fort, weil sie nicht in der Stimmung war, etwas unter den Teppich zu kehren: »Du kannst das nicht wissen, Vera. Barbara!« Was ohne Zweifel ein Volltreffer war, weil Barbara Wentworth, jetzige Barbara Stringer, ganz gewiß Sir Nicholas' Mandantin gewesen war, bevor Maitland jemals etwas von ihr gehört hatte.
Sir Nicholas legte seine Zigarre vorsichtig ab und griff nach seiner Kaffeetasse, die Jenny heute abend genau bis zu der Grenze gefüllt hatte, auf der er bestand, sechs Millimeter unter dem Rand.
»Du scheinst etwas beweisen zu wollen«, sagte er in mildem Tonfall. »Ich weiß nur nicht recht, was.«
An Jennys Ausdruck war zu erkennen, daß sie das beinahe selbst aus den Augen verloren hatte.
»Nur, daß es für Mr. O'Brien ganz selbstverständlich ist, warum er Antonys Hilfe brauchte«, sagte sie nach kurzem Zögern. »Und daß es ein gewöhnlicher Fall ist, kein gefährlicher, meine ich.« Aber Antony erkannte ein wenig betroffen, daß sie selbst es war, die sie zu überzeugen versuchte, nicht die anderen.
»Wenn du dich auf die Sache Wentworth als einen Präzedenzfall berufst - «, meinte Sir Nicholas.
»Es ist ein gutes Beispiel«, erwiderte Jenny kratzbürstig.
»Ich sehe mich genötigt, dich daran zu erinnern, daß im Verlauf des Falles ein Mann, an dessen Namen ich mich nicht erinnere, deinen Mann zu ermorden versucht hat. In der Kanzlei«, fügte er hinzu, so, als sei das der Gipfel.
»Aber es bestand kein Grund zur Sorge«, meinte Antony heiter. Er wußte nicht recht, was in Jenny gefahren war, hatte aber das undeutliche Gefühl, daß man sie beruhigen mußte. »Onkel Nick hieb ihm ein Exemplar der Urteilssammlungen oder etwas Ähnliches auf den Kopf - «
»Das Mallory mir reichte«, sagte Sir Nicholas. Er hatte sich wieder beruhigt und schien die Erinnerung zu genießen.
»Ja, das wird er mir auch nie verzeihen, und im ganzen gesehen ist das ungerecht«, bestätigte Antony.
Vera sah ihren Mann an. In ihren Augen funkelte Spott.
»Hast mir von dem Fall erzählt, aber das nie«, behauptete sie.
»Das war ein Zwischenfall, den ich lieber vergesse.« (Aber Antony war plötzlich davon überzeugt, daß später, wenn die beiden allein waren, gelacht werden mochte.) »Wie dem auch sei, Jenny« - bei Sir Nicholas sprach kaum etwas dafür, daß ihm das Gesprächsthema entglitt - »ich glaube, du verkennst die Ursache meiner Besorgnis. Es geht nicht um Antonys Sicherheit, sie gerät bei einem Familienproblem kaum in Gefahr, wie du betont hast. Aber es kann seinem Ruf nicht guttun, einen Fall zu verlieren, von dem bekannt ist, daß er sich so vollkommen mit ihm identifiziert hat. Und jetzt teilt er uns mit, daß sein Mandant ihn belogen hat.«
»Zurück auf Feld eins«, sagte Jenny keck, aber es war unübersehbar, daß diese Darlegungen sie aufgeheitert hatten. Sie schaute sich in der Runde um, ob Kaffeetassen leer seien, dann rollte sie sich in ihrer Sofaecke bequemer zusammen. »Komm, Antony, erzähl uns, was das für Lügen waren. Wenn du kein Mitleid mit meiner Neugier hast, dann denk an Vera und Onkel Nick.«
»Und wie wirken sie sich auf die Verteidigung aus?« fragte Sir Nicholas, während er wieder nach seiner Zigarre griff.
»Ich muß erst die Anklage umreißen, bevor ich das erklären kann.« Er tat es kurz, und einmal in seinem Leben hörte Sir Nicholas zu, ohne etwas einzuwerfen. »Ich habe natürlich eine Erklärung verlangt«, sagte Maitland zum Abschluß, »und ich glaube, daß mein Mandant da von der Wahrheit abgewichen ist.«
»In welcher Weise?«
»Nun, zuerst erzählte er uns, Kate Johnstone hätte bei ihm keine bestimmten Klagen über ihre Ehe vorgebracht. Ich glaube, daß sie bei ihm geschwätzt hat, was das Zeug hielt.«
»Intuition?« erkundigte sich Sir Nicholas kalt.
»Mutmaßung«, gab Antony zu. Er wußte sehr wohl, daß dergleichen Dinge seinem Onkel ein Greuel waren. »Er sagte zwar, er hätte gewußt, daß die Ehe keine glückliche gewesen sei, aber es muß ihm klar gewesen sein, daß ein Dutzend Leute mir das ebenfalls hätten sagen können. Er hat auch gelogen - schon gut, Onkel Nick, ich habe bei diesen Dingen keine Gewißheit, die gibt es nicht - ich glaube, er hat auch gelogen, als er sagte, es hätte keinen besonderen Grund dafür gegeben, daß er am Nachmittag des Mordes zum Wilgrave Square gefahren sei, abgesehen von der Tatsache, daß er Mrs. Johnstone schon einige Tage nicht mehr gesehen hätte. Ich habe ein Gefühl, daß in ihrer Beziehung vielleicht eine Art Höhepunkt erreicht worden war, so daß er, zumindest von seinem eigenen Standpunkt aus, einen sehr guten Grund hatte, sie sehen zu wollen.«
Er verstummte und sah sich in der Runde um. Sir Nicholas legte dreieinhalb Zentimeter Asche von seiner Zigarre ab.
»Und die dritte Lüge?« fragte er beiläufig.
»Er bestritt, daß Mrs. Johnstone Ehebruch mit ihm begangen habe. Ich gebe zu, es wäre nicht leicht für sie gewesen, aber in diesem Punkt habe ich Angst vor dem, was die Polizei an den Tag bringen könnte.« Er sah Sir Nicholas' Miene und fügte hastig hinzu: »Ich nehme ihm das nicht übel, Onkel Nick. Er versucht nur, sie zu decken.«
»Und das ist das Paar, für das ihr, du und O'Brien, eure wertvolle Zeit vergeuden wollt«, sagte Sir Nicholas mit Bitterkeit. »Gibt es irgendeinen Hinweis darauf, daß das etwas anderes ist, als es zu sein scheint… ein Mord in der Familie - unerquicklich, wie Jenny es so passend ausgedrückt hat?«
»Es ist dir klar, daß nach aller Wahrscheinlichkeit Garfield als zweiter Kronanwalt die Anklage vertreten dürfte«, meinte Antony gelassen.
Sein Onkel warf ihm einen scharfen Blick zu, Vera einen verwirrten, weil so offenkundig war, daß das in gewisser Weise als Antwort auf den Einwand seines Onkels gedacht war.
»Würde das gerne verstehen, Antony«, sagte Vera nach einer Pause.
»Tja, siehst du, Garfield besitzt ein besonders strenges Moralempfinden. Gibst du mir da recht, Onkel Nick?«
»Das schon, aber - «
»Er braucht ein Gegengewicht, jemanden, der dem Gericht klarmacht, daß über Mord verhandelt wird, nicht über Moral.«
»Und O'Brien und du, ihr wollt euch für diese Aufgabe als besonders geeignet ansehen«, sagte Sir Nicholas böse.
»Weil wir schon davon sprechen, ich sehe Doktor James Collingwood wirklich nicht als besonders verkommen an«, versicherte ihm Maitland. Ob sein Onkel das registrierte oder nicht, auf jeden Fall trat wieder einer seiner verblüfften Stimmungsumschwünge ein.
»Wenn wir O'Briens und deinen Charakter vergleichen, Antony, müßte es lehrreich sein, euch bei einer gemeinsamen Verteidigung zu beobachten«, erklärte er jovial. Und erst viel später, als er und Vera sich verabschiedeten, fügte er hinzu, was als Zusatz zu dieser Bemerkung gelten mußte. »Schließlich kommt es nicht darauf an, deine Berufskollegen zu unterhalten. Ich bin aber nach wie vor der Meinung, daß Ausfragen keine Form des Gesprächs unter Gentlemen ist.«
Mittwoch, 17. November
1
Jenny kam am nächsten Morgen darauf zurück. Sie ließ Antony in Ruhe frühstücken, aber er war sich die ganze Zeit über unausgesprochener Dinge bewußt, und als sie ihm schließlich die dritte Tasse Kaffee eingoß, fragte er sie: »Was gibt es, Liebes?« Es klang aber sehr beiläufig, und vielleicht lag es daran, daß sie zu einem Ton griff, der bei ihr nicht üblich war.
»Johnson!« sagte sie mit trauerumflorter Stimme.
»Johnstone?« Er schien ehrlich zu rätseln, aber Jenny war nicht in der Stimmung, etwas durchgehen zu lassen.
»Nein, natürlich nicht. Onkel Nick gestern abend. Er hat Dr. Johnson zitiert«, erklärte sie.
»Ach das! Ich nehme an, es war nur die Ähnlichkeit der Namen, die ihm sein Lieblingszitat ins Gedächtnis rief.«
»Das glaube ich ganz und gar nicht. Du weißt, daß das immer Ärger bedeutet.«
»Aber in diesem Fall… nein, im Ernst, liebste Jenny, du hast selbst gesagt - «
»Du weißt ganz genau, daß Onkel Nick seine Ahnungen hat.«
»Hm, ja, aber… das hat er erklärt. Es würde ihm nichts ausmachen, wenn ich das Mandat annehme und den Fall auf normale Weise verliere. Das kommt schließlich andauernd vor. Nur, wenn bekannt ist, daß ich mich zu sehr mit den Interessen meines Klienten identifiziere, glaubt er, daß ein verlorener Prozeß schaden könnte.«
»Verstehe.« Das war einer von Antonys Ausdrücken, den sie übernommen hatte, und sie gebrauchte ihn zweifelnd. Dann hellte sich ihr Gesicht jedoch auf. »Ich hätte das Anrüchige der Affäre wohl nicht betonen sollen. Aber es ist so tröstlich - «
Maitland hing seinen eigenen Gedanken nach.
»Onkel Nick ist eine seltsame Mixtur«, meinte er. »Für jemanden, der so tolerant ist - «
»Tolerant?« wiederholte Jenny mit einem Laut, der einem Kichern gefährlich nahekam. »In mancher Beziehung ist er fast so schlimm wie Mr. Garfield.«
»Na komm, das ist sehr unfair. Denk nach, Liebes. Er beliebt bei uns einen hohen moralischen Ton anzuschlagen; als ich heranwuchs, nahm er seine Verantwortung als Ersatzvater sehr ernst, glaub mir. Außerdem kam mir gestern abend der Gedanke, er könnte davor zurückscheuen, Vera zu schockieren, was natürlich Unsinn ist; sie war plädierender Anwalt fast so lange wie er. Trotzdem hat er viel zuviel Erfahrung mit der menschlichen Natur, um nicht auch ihre Verirrungen ins Spiel zu bringen.«
»Da hast du wohl recht. Antony, was, glaubst du, ist geschehen, wenn die beiden unschuldig sind?«
»Du lieber Himmel!« Er trank seinen Kaffee aus und stand auf. »Ich muß mich beeilen, Jenny. Wir wollen um elf Uhr im Gefängnis Holloway sein, und vorher ist noch einiges zu erledigen.«
»Du hast meine Frage nicht beantwortet.«
»Woher soll ich das wissen? Ich weiß ja noch nicht einmal etwas über Douglas Johnstone, geschweige denn über seine Gewohnheiten.«
Jenny griff nach der Kaffeekanne und schüttelte sie, dann stellte sie resigniert Tasse und Untertasse auf ihren Teller.
»Na ja«, sagte sie. »Man lernt nie aus.« Sie grinste ihn an, um zu zeigen, wie gut ihr bekannt war, daß sie ihn wieder einmal selbst zitierte.
2
O'Brien hatte mit seiner gewohnten Energie für ein Auto gesorgt und holte Antony, kurz bevor er fertig war, in der Kanzlei ab. Im Wagen stellte er Maitland David Shaw, den Solicitor, vor, der ihm das Mandat übertragen hatte. Shaw war ein älterer Mann, der für die Rolle des Familienanwalts wie geschaffen schien und unverkennbar die ganze Geschichte allgemein und vielleicht Antonys Beteiligung im besonderen mißbilligte.
»Aber es steht keine gemeinsame Verteidigung zur Debatte, wissen Sie«, erklärte er umständlich, als die Limousine anfuhr. »Unter den obwaltenden Umständen - «
»Überlassen wir die Umstände einmal sich selbst.« Kevin O'Briens Lebensgeister waren an diesem Morgen offenbar im vollen Saft, und Maitland beneidete ihn angesichts des bevorstehenden Gesprächs um seine Heiterkeit. »Maitland ist in beratender Funktion hier. Daran ist nichts auszusetzen.« Er sagte es leichthin, und der Solicitor rümpfte mißbilligend die Nase.
»Solange Sie sich über die Dinge im klaren sind«, sagte er im Märtyrerton. »Es kann nicht in Frage kommen, daß ich entgegen den Anweisungen meiner Mandanten etwas billige.«
O'Brien fing Maitlands Blick auf. Antony hätte es nicht beschwören können, war aber ziemlich sicher, daß sein Kollege ihm zugezwinkert hatte. Das trug nicht dazu bei, seine eigene Stimmung zu bessern, aber er war sich einer Überlegung bewußt: Die Erkenntnis, daß Mr. Shaw Kate Johnstone nicht mehr sehr lange vertreten würde, hätte eigentlich eine gewisse Heiterkeit hervorrufen müssen. Das war aber O'Briens Problem. Er richtete den Blick bewußt auf die vertraute Szenerie außerhalb des Autofensters und versuchte, nicht schon von vornherein den unverwechselbaren Geruch eines Frauengefängnisses entstehen zu lassen, der keinem anderen auf dieser Welt gleicht, oder das Gefühl der Platzangst voraus zu empfinden, das ihn überfallen würde, sobald man eine Tür nach der anderen hinter ihm absperrte. Es war schon lange her, seitdem es unerträgliche Qual für ihn gewesen war, eine versperrte Tür hinter sich zu wissen, aber er bezweifelte, daß er von den Erinnerungen, die er mit solcher Anstrengung zu unterdrücken versuchte, jemals frei werden würde.
Und im Gegensatz zum gestrigen Ablauf wurde Mrs. Johnstone mit lobenswerter Eile vorgeführt. Sie war eine kleine, zierlich gebaute Frau mit einer Wolke schwarzer Haare und mit grauen Augen, die ihn sofort an Jenny denken ließen, obwohl er in diesem Moment nicht hätte sagen können, worin die Ähnlichkeit lag. Sie kam leise herein, begrüßte David Shaw mit einer Art sanften Zuvorkommens, die anzuzeigen schien, daß er ein alter Freund der Familie war, sprach Kevin O'Brien förmlicher an und richtete den Blick dann auf den Fremden, ohne eine Vorstellung abzuwarten.
»Sie müssen Mr. Maitland sein«, sagte sie. »Ich bin so froh, daß Sie James helfen werden.«
Er überlegte, ob er sie, wie seinen eigenen Mandanten, warnen sollte, daß ihr seine Fragen nicht gefallen mochten, aber damit konnte man sich befassen, wenn es soweit war. Sie hatte eine Ausstrahlung innerer Kraft… selbst schon in diesem frühen Stadium ihrer Bekanntschaft fragte er sich, wie berechtigt James Collingwoods Beschreibung von ihr sein mochte. Aber für einen verliebten Mann…
»Ich glaube«, sagte Mr. Shaw - es war natürlich völlig korrekt, daß er die Leitung des Gesprächs übernahm - »daß dieses überaus regelwidrige Gespräch glatter vonstatten gehen wird, wenn wir uns alle setzen.«
Kate gehorchte sofort, Maitland überließ O'Brien den Platz an der Stirnseite des Tisches und setzte sich an die Längsseite, dem Solicitor gegenüber, aber seine ganze Aufmerksamkeit galt der Untersuchungsgefangenen.
»Sie wissen, warum ich dieses Gespräch gewünscht habe«, sagte O'Brien.
»Damit Mr. Maitland sich informieren kann.«
Es war ein hoffnungsvolles Zeichen, dachte Antony, daß sie bereitwillig antwortet und meine Anwesenheit nicht übelzunehmen scheint.
»Ja, natürlich. Was ich Ihnen erklären wollte, ist, daß man Sie vielleicht auffordern wird, sich zu wiederholen… noch einmal Fragen zu beantworten, die ich Ihnen schon gestellt habe, meine ich. Aber von seinem Standpunkt aus - «
»Ich habe eine Schwäche dafür, mir meine Fakten aus erster Hand zu holen«, erklärte Antony, als Kevin nicht den Eindruck machte, den Satz zu Ende führen zu wollen. »Und Mr. Shaw war so freundlich, seine Zustimmung zu geben.«
Wenn als Folge dieses Gesprächs offene Worte fallen würden, was für ihn feststand, ging ihn das nichts an. Inzwischen hatte man die Anstandsformen zu wahren.
Kate Johnstone richtete auf ihren Solicitor einen Blick, der, flüchtig wie er war, weder etwas Sanftes noch Zuvorkommendes an sich hatte. Als sie sich wieder Maitland zuwandte, geschah das jedoch nahezu ohne jede Gefühlsbewegung.
»Ich habe meinen Mann nicht umgebracht«, erklärte sie rundheraus.
Antony nahm das lediglich mit einem Kopfnicken auf. In diesem Augenblick hätte er sich nicht festlegen mögen, aber von einem war er schon überzeugt: Wenn die Harleys glaubten, ihre Tochter sei bei irgendeinem Plan, ihren Mann zu töten, eine widerwillige Partnerin gewesen, dann täuschten sie sich. Von den beiden Angeklagten war sie bei weitem die stärkere Persönlichkeit.
»Wer, glauben Sie, hat es dann getan?« fragte er beiläufig.
Mr. Shaw dachte, die Frage zeige vielleicht einen Mangel an Interesse an, und begann zu hoffen, daß seine Freunde, die Harleys, sich nun doch durchsetzen würden, aber O'Brien, der Maitland besser kannte (wenn auch nicht ganz so gut, wie er glaubte), lehnte sich zurück und begann Zurückhaltung zu üben. Die legere Art verbarg einen scharfen Verstand, wie er wußte.
Die Antwort war rasch gekommen.
»Nicht James«, sagte Kate ebenso entschieden.
Wieder gab es auf die Feststellung keine direkte Antwort.
Wieder wurde auf die Feststellung nicht direkt eingegangen.
»Erzählen Sie mir von Ihrem Eheleben«, schlug Maitland vor.
»Ich war nicht glücklich mit Douglas. Das Personal wird Ihnen sagen, daß es Streitigkeiten gegeben hat.«
Und das ist der einzige Grund, weshalb du das vor mir zugibst. Aber trotz dieser Erkenntnis hatte sie eine Direktheit an sich, die ihm gefiel.
»Gehen Sie ganz zum Anfang zurück«, sagte er. »Wann haben Sie ihn geheiratet? Und warum?«
Das erzeugte ein Stirnrunzeln.
»Das ist eine seltsame Frage«, meinte sie.
»Trotzdem würde ich gern die Antwort wissen.«
»Wir haben vor zehn Jahren geheiratet. Was das Warum betrifft, könnte ich sagen, aus dem üblichen Grund .«
Er lächelte sie an.
»Entspricht das der Wahrheit?«
»Ich denke schon… in gewisser Beziehung. Ich war achtzehn Jahre alt und… Sie wollen die Wahrheit hören, nicht? Die ganze Wahrheit und nichts als die Wahrheit?«
»Treffend ausgedrückt.«
O'Brien, der sie beobachtete, glaubte einen Augenblick lang, sie werde sich gegen den belustigten Tonfall Maitlands auflehnen. Statt dessen sagte sie ernsthaft: »Ich war zu Hause nicht glücklich und wollte um jeden Preis von dort weg, wenn Sie das wissen müssen. Und Douglas… er war fünfzehn Jahre älter, gutaussehend, ein Mann von Welt. Das dachte ich damals. Er hat mich wohl geblendet.«
»Und Ihre Eltern billigten die Heirat?«
»Das hätte mich warnen sollen, nicht wahr?« Sie ließ nun selbst einen Anflug von Ironie erkennen, aber er war verschwunden, als sie weitersprach. »Der Lack hielt nicht lange. Ich entdeckte einen mürrischen Menschen in ihm - das wäre sein eigener Ausdruck gewesen, aber er wäre natürlich nie auf den Gedanken gekommen, ihn auf sich selbst anzuwenden. Er hing keiner festen Religion an, sondern einer Unmenge von Vorurteilen, noch mehr als jene, vor denen ich aus dem Haus meiner Eltern geflüchtet war. Ich erinnere mich - « Sie zögerte. »An diesen Dingen können Sie kaum interessiert sein.«
»Glauben Sie mir, ich bin es.«
Sie sprach trotzdem nicht sofort weiter. Ihre Augen waren auf sein Gesicht gerichtet, als versuche sie die Wahrheit seiner Worte einzuschätzen. Als sie endlich wieder das Wort ergriff, klang ihre Stimme leiser.
»Er hatte mich natürlich nie mit Make-up oder Parfüm gesehen, aber ich dachte, das sei jetzt möglich. Ich kaufte mir ein ziemlich teures Parfüm. Er zerbrach die Flasche, und im Schlafzimmer stank es tagelang. Und das erinnerte ihn natürlich immer wieder - «
»War er ein gewalttätiger Mensch?«
»Ob er mich geschlagen hat, meinen Sie? Nein, das hat er nicht getan.« Erstaunlicherweise spielte ein Lächeln um ihre Lippen. »Ich glaube jedoch, daß es ein- oder zweimal auf Messers Schneide stand. Ich muß eine schreckliche Prüfung für ihn gewesen sein. Aber er wollte eine vollkommen gefügige Frau, die Einladungen gab, seinen Haushalt führte, seine Kinder zur Welt brachte, verstehen Sie? Ich war durchaus bereit, meinen Anteil zu leisten, auch wenn das hieß, daß ich alle meine natürlichen Instinkte ständig unterdrücken mußte. Aber nichts, was ich tat, war je gut genug, was wohl nicht sehr überraschend ist. Ich bin eine ganz gewöhnliche Frau, Mr. Maitland, keine Heilige.«
Zumindest zum Teil traf das zu. Was das gewöhnlich anging, war er nicht so sicher.
»Spielte es keine Rolle, als die Kinder kamen?«
»Nein, weil… sie waren nur wieder Anlaß für Zwistigkeiten. Dougie ist nicht sehr kräftig - Doktor Trevelyan meint, das würde sich geben, und James gibt ihm recht, aber Douglas bestand auf einer sehr strengen Erziehung - um einen Mann aus ihm zu machen, wie er sagte - und er war der Meinung, ich verweichliche ihn.« Ihre Stimme war zärtlich geworden, als sie von dem Kind sprach, und zum erstenmal sah Maitland sie als verwundbar. »Nun ja« - sie zuckte die Schultern, und wieder huschte ein Lächeln über ihr Gesicht - »vielleicht war seine Meinung da gar nicht so falsch.«
»Und das Mädchen?« Maitland achtete nur auf seine Zeugin und darauf, daß sie jetzt ungehemmt zu sprechen schien, und hatte nicht einmal einen Gedanken für O'Briens unnatürliches Schweigen übrig.
»Janet? Ah, das war eine ganz andere Sache. Ein Wildfang, und er wollte eine Porzellanpuppe. Sie sehen - das sehen Sie doch, nicht wahr, Mr. Maitland? -, man konnte es ihm einfach nicht recht machen.«
Zwei unglückliche Menschen - und warum, wenn sie unschuldig war, malte sie ihren Ehemann in den schwärzesten Farben, die sie finden konnte? James Collingwood war da vernünftiger gewesen, oder hatte sie sich in dieser Beziehung wirklich so diskret verhalten, wie der Arzt behauptete? Beinahe so, als hätte sie seine Gedanken erraten, sagte sie in die Stille hinein: »Ich sollte Douglas nicht anschwärzen. Er war, so, wie er es verstand, ein guter Mensch. Es wäre vielleicht gerechter, zu sagen, ich konnte seine Ansprüche nicht erfüllen.«
»Ist Ihnen je der Gedanke an eine Trennung, vielleicht an eine Scheidung gekommen?«
»Nicht, bis - « Sie verstummte und blickte von einem ihrer Anwälte zum anderen - auf David Shaw steif, und mißbilligend auf Kevin O'Brien, der ihr ein herzliches, aufmunterndes Lächeln schenkte.
»Aber sicher, das können Sie uns ruhig sagen«, meinte Kevin freundlich. Maitland war in seine Beschäftigung sogar so vertieft, daß er nicht einmal eine Zuneigung bemerkte, die ihn normalerweise geärgert hätte; allerdings erinnerte er sich später ganz gut daran und ging soweit, dem Satz ein mein Schatz anzufügen, als er Jenny von dem Gespräch berichtete.
Vielleicht war es diese Ermahnung, vielleicht war sie aber auch von Natur aus aufrichtig. Kate zögerte einen Augenblick und sagte dann mit fester Stimme: »Bis ich James kennenlernte.«
»Verstehe. Das ist zwei Jahre her, wie er mir sagte. Wie lange hat es gedauert, bevor Sie begriffen - «
»Daß ich ihn liebte?« Sie schien jetzt beinahe begierig darauf zu sein, sich zu offenbaren. »Das dauerte natürlich seine Zeit. Ich glaube, es ist ungefähr sechs Monate her, daß ich Douglas gegenüber das erstemal von Scheidung sprach.«
»Und wie reagierte er darauf?«
»Er war wütend. Er hatte keine Ahnung, wissen Sie. Ich sagte ihm natürlich nicht, daß…. daß da jemand anderer war.«
»Es wurde also nichts entschieden?«
»Nein. Ich wollte eigentlich, daß er sich an den Gedanken gewöhnte, und ich es später noch einmal versuchte.«
»Und -?«
»Ich sprach mit ihm im September, Anfang des Monats, glaube ich. Diesmal war er vorbereitet und gab sich sehr kalt und förmlich. Er sagte, er ziehe es vor, einen Skandal zu vermeiden, und hätte nicht die Absicht, mir eine vereinbarte Scheidung zu ermöglichen. Da war etwas - oh, er war so eisig - ich verlor an dieser Stelle die Beherrschung. Das passiert mir nicht oft, ich schäme mich hinterher immer ein bißchen und fühle mich nicht wohl, aber ich erklärte ihm rundheraus, ich würde ihn dann eben verlassen und die Kinder mitnehmen. Und er… er lachte mich aus, Mr. Maitland. Er sagte, in diesem Fall werde er sich von mir scheiden lassen. Er könne Ehebruch beweisen, und es sei ganz unstrittig, daß man ihm Dougie und Janet zusprechen werde.«
»Wen wollte er als Mitbeklagten angeben?«
»James.«
»Das ist ungünstig, nicht? Und konnte er das wirklich… Ehebruch beweisen, meine ich?«
Es kam ihm so vor, als sei sie daraufhin blaß geworden, aber die Beleuchtung im Zimmer war grell und nahm ohnehin das bißchen Farbe weg, das sie gehabt haben mochte.
»Ich nehme an, er hatte mich beobachten lassen, und er gab zu, daß er jemanden vom Personal dafür bezahlte… Sophie, vermute ich. Aber es gab nur die Zusammenkünfte in der Teestube, und natürlich, wenn James ins Haus kam. Daraus hätte man nichts aufbauen können.«
»Wußte Doktor Collingwood, daß Sie eine Scheidung erwogen?«
»Ja, ich… wir waren immer ehrlich zueinander.«
»Wie reagierte er auf das letzte Gespräch, das Sie beschrieben haben?«
»Wir waren… unglücklich, Mr. Maitland. Aber James erkannte so gut wie ich, daß Douglas rechtlich im Vorteil war, obwohl...« Sie verstummte abrupt, aber diesmal blieben ihre Augen auf Maitland mit einem entsetzten Ausdruck gerichtet, der unverkennbar war. Vielleicht hatte sie vergessen, daß sie nicht allein im Zimmer waren.
»Kommen Sie, Mrs. Johnstone, ein bißchen von der Ehrlichkeit, von der Sie sprachen.« Maitland hatte seine eigenen Methoden, einen widerstrebenden Zeugen aufzumuntern, und zwar ganz andere als O'Brien. In diesem Fall schienen sie aber fast genauso gut zu wirken.
Kate erwiderte so leise, daß er sich trotz der Stille im Zimmer anstrengen mußte, es zu verstehen: »Douglas sagte noch einmal, er wünsche keinen Skandal, ich könne bleiben, wenn ich wolle. Aber ich solle nicht glauben, es falle ganz schrecklich ins Gewicht, wenn ich ginge, er hätte sich schon oft gewünscht, bei Dougie und Janet freie Hand zu haben. Also blieb ich natürlich. Er wäre nicht bewußt grausam gewesen, Mr. Maitland, aber Kinder in diesem Alter - in jedem Alter - brauchen Zuneigung. Außerdem konnte ich nicht ohne sie existieren.«
»Sie bleiben aber dabei, daß es keine Vorfälle gegeben hat, die Ihr Mann hätte ausschlachten können?«
»Selbst ohne das hätte ein Prozeß James nicht wiedergutzumachenden Schaden zugefügt.«
»Es blieb also alles beim alten?«
»Ja.«
»Mr. Johnstone erhob keine Einwände dagegen, daß Doktor Collingwood die Kinder behandelte, wenn es nötig war?«
»Er hat es vielleicht nicht gewußt.«
»Das Mädchen -?«
»Ach ja, Sophie. Sie wird es ihm wohl gesagt haben, aber er kam nie darauf zu sprechen.«
»Erzählen Sie mir von den Kindern.« Er gab sich wieder kurz angebunden, vielleicht, weil er wußte, daß die Frage einen empfindlichen Punkt berührte.
»Es gibt nicht viel zu erzählen. Dougie ist jetzt acht, ich sagte schon, daß er empfindlich ist, aber ich sehe, wie er mit jedem Jahr kräftiger wird. Janet, die sechs wurde, tut ihm gut. Sie ist quicklebendig und glücklich. Ich bin froh, daß sie wenigstens Zusammensein können.«
»Befinden sie sich bei Ihren Eltern?«
»Nein.« Obwohl diese Fragen sie offenkundig aufwühlten, lächelte sie wieder schwach. »Es ist wohl schlimm, wenn ich sage, daß ich darüber froh bin, aber da ich diejenige zu sein scheine, die im Unrecht ist, könnten sie kaum darauf bestehen, die Vormundschaft übertragen zu bekommen. Charles - das ist Douglas' Bruder - und seine Frau Felicity haben sie vorerst aufgenommen. Sie haben mir versprochen, sich um sie zu kümmern, wenn ich nicht heim darf. Aber das ist eigentlich kein rechter Trost, Mr. Maitland, sie brauchen mich so sehr wie ich sie.«
Danach gab es eine Pause. Antony benutzte die Gelegenheit, einen Blick auf seine Begleiter zu werfen - auf Kevin O'Brien, der so ganz gegen seine Art schweigsam war, auf den Solicitor, der immer noch eine mißbilligende Miene zeigte.
»Das bringt uns zum Tag des Mordes«, sagte er schließlich und wandte sich wieder der Frau zu, die rechts neben ihm saß.
»Was wollen Sie wissen?«
»Na ja, was die Gelegenheit zur Tat angeht, wollen wir zuerst über die Ihrige reden.«
»Das liegt wohl nahe«, meinte sie bedrückt.
»Ich fürchte. Doktor Collingwood besuchte sie, darauf kommen wir gleich. Es gibt also keinen Zweifel, daß er Ihnen das Morphium hätte übergeben können, und später sah man Sie aus dem Zimmer Ihres Mannes kommen.«
»Das war wieder Sophie, die von Douglas den Auftrag hatte, mir nachzuspionieren.«
»Sie sagte, sie sei überrascht gewesen.«
»Das lag daran, daß wir seit Monaten getrennte Zimmer hatten.«
»Und Ihr Grund dafür, dort zu sein? Mr. O'Brien hat ihn mir genannt, aber ich möchte ihn auch von Ihnen hören.«
»Es ist furchtbar, zugeben zu müssen, daß die Bediensteten bei unseren Differenzen Partei ergriffen haben, Mr. Maitland. Aber so war es, und mein Zimmermädchen Daisy war neben dem Kindermädchen die einzige, die auf meiner Seite stand. Ich stelle selbst keine großen Ansprüche, und Daisy sollte sich auch um Douglas' Sachen kümmern, kleine Reparaturen, Knöpfe annähen und dergleichen. Aber ich befürchtete, daß sie da nachlässig geworden war, wollte lieber selbst nachsehen, und es ergab sich zufällig so, daß ich mir diesen Nachmittag dafür aussuchte.«
»Das Badezimmer, wo seine Injektionsspritze lag, befand sich neben seinem Schlafzimmer, nicht?«
»Ja.« Sie schwieg kurze Zeit und fügte dann ein wenig verzweifelt hinzu: »Ich hätte hineingehen können, habe es aber nicht getan.«
»Dann erzählen Sie mir von Doktor Collingwoods Besuch.«
»Er kam zu Dougie.«
»Im Gegenteil, Mrs. Johnstone, er kam zu Ihnen.«
»Mr. Maitland - «, protestierte sie, und plötzlich war er an der Reihe, sie anzulächeln.
»Er hat es mir gegenüber praktisch zugegeben, Mrs. Johnstone, und ich glaube, ich kann mich auf sein Wort verlassen. Gab es einen besonderen Grund dafür, daß er Sie sehen wollte?«
»Eigentlich nicht.«
»Na, kommen Sie, das wissen Sie doch besser. Er teilte mir mit, Sie wären einige Tage nicht zum Rendezvous in die Teestube gekommen.«
»Ich hasse dieses Wort«, sagte Kate ein wenig verdrossen. »Ich war nicht dort gewesen und wollte auch nicht mehr hingehen. Ich hatte ihm das schon bei unserem letzten Zusammentreffen erklärt.«
»Verstehe. Und wie war Ihnen zumute, nachdem Sie diesen Entschluß gefaßt hatten?«
Sie schloß kurz die Augen, als sei die Erinnerung zu schrecklich.
»Furchtbar«, sagte sie. »Furchtbar. Aber es war das einzige, was uns übrigblieb. Ich hatte Angst um James, das sagte ich schon. Und ich fürchtete mich davor, die Kinder zu verlieren.«
»Wußte Doktor Collingwood, wo sich das Badezimmer Ihres Mannes befand?«
»Nein, woher auch? Er war nie oben, nur im Stockwerk, wo die Kinder ihre Räume hatten.« Sie sprach ziemlich schnell, und ihre Stimme klang scharf. »Sie sind doch auf seiner Seite, oder?« fragte sie beinahe angriffslustig. »Ich hätte nie mit Ihnen gesprochen, wenn ich nicht davon ausginge.«
»Ich bin auf seiner Seite, und das scheint zu bedeuten, daß ich auch auf der Ihren bin«, versicherte er ihr. »Mr. Shaw und Mr. O'Brien werden Ihnen jedoch schon klargemacht haben, daß wir über das Schlimmste Bescheid wissen müssen.«
»Aber - «
»Erzählen Sie mir vom Personal«, sagte er schnell.
»Es waren Douglas' Bedienstete, nicht die meinen«, gab sie zurück. »Alle, bis auf Daisy, die zu mir kam, als ich heiratete, und natürlich die Kinderschwester, die eingestellt wurde, als Dougie auf die Welt kam.«
»Ist jemand davon im Testament Ihres Mannes bedacht worden?«
»Ich weiß es nicht, aber das glaube ich kaum. Er bezahlte gut, war jedoch kein besonders großzügiger Mensch.«
»Ich habe es mir angelegen sein lassen, das zu klären«, sagte David Shaw, der damit zum erstenmal das Wort ergriff. »Es hat keine solchen Legate gegeben.« Seine Stimme klang nach wie vor mißmutig, aber Maitland war froh darüber, daß er selbst in einem so geringen Maße mitarbeitete.
»Und niemand hatte etwas gegen Ihren Mann?« fragte er beharrlich.
»Nicht daß ich wüßte.«
»Und niemandem war in letzter Zeit gekündigt worden«, warf Shaw ein. »Außerdem - woher hätten sie das Morphium nehmen sollen?«
»Das ist allerdings eine schwierige Frage, wenn wir nicht unterstellen, daß Doktor Collingwood es geliefert hat. Und ich bin nicht bereit, das zu tun.« In Maitlands Stimme schwang eine Entschiedenheit mit, die ihr vorher gefehlt hatte. Die beiden Männer sahen ihn scharf an. »Hatten Sie an jenem Tag Besuche?« fragte er Kate.
»Charles kam zum Mittagessen.«
»Charles Johnstone, Ihr Schwager?«
»Richtig.«
»War das vereinbart?«
»Ja. Douglas wollte zu Hause sein, wurde im Büro aber aufgehalten.«
»Ihre Schwägerin war nicht eingeladen?«
»Natürlich war sie das, aber sie nahm an einem Essen teil, bei irgendeiner Wohltätigkeitsveranstaltung. Charles und ich aßen deshalb allein zu Mittag, und die Kinder durften sich zu uns setzen.«
In den letzten Minuten hatte Maitland in seiner Tasche einen zerknüllten Briefumschlag gefunden und machte sich darauf Notizen. Sie schienen unleserlich zu sein. Er hob wieder den Kopf.
»Hätte Mrs. Felicity Johnstone ihre Anwesenheit nicht gebilligt?« fragte er.
»Im Gegenteil. Es lag daran, daß Douglas nicht da war - er hatte festgelegte Zeiten, zu denen er die Kinder sah, aber nicht beim Mittagessen.«
»Standen sie sich nah, diese beiden… Ihr Mann und Ihr Schwager?«
»O je!« Zum erstenmal kehrte sie ihre Aufmerksamkeit von Maitland ab und sah der Reihe nach ihre beiden Anwälte an. »Wenn ich ehrlich sein soll - «
»Wie ich vorhin schon sagte, würde ich das begrüßen.«
»Nun gut. Sie waren so verschieden. Charles ist ein durch und durch menschliches Wesen. Er liebt Kinder und alles Schöne im Leben. Aber Douglas hatte ein Pflichtgefühl, was etwa die Verbindung zu seinen Verwandten anging, und Charles war viel zu gutmütig, um jemals eine Einladung abzuschlagen.«
»Ich nehme an - vermutlich können Sie das beantworten, Mr. Shaw -, daß Charles Johnstone aus dem Tod seines Bruders keine finanziellen Vorteile zog.«
Wieder griff David Shaw widerwillig in das Gespräch ein. »So ist es«, meinte er knapp.
O'Brien sagte gar nichts, aber sein Blick hatte sich von Mrs. Johnstone gelöst und verfolgte Maitlands Mienenspiel. Antony sagte ebenso kurz »Danke« zu dem Solicitor und wandte sich wieder an Kate. »Was für einen Beruf hat Charles Johnstone?«
»Er ist einer der Geschäftsführer von Bramley's Bank.«
»Tatsächlich?« Das hätte das finanzielle Motiv selbst dann beseitigt, wenn es vorhanden gewesen wäre. Jedenfalls nahm er das an. »Sind die Kinder die ganze Zeit bei Ihnen gewesen, während er im Haus war?«
»Nein, wir tranken zuerst miteinander einen Sherry, dann kamen sie herunter und aßen mit uns, und anschließend gingen sie sofort wieder.«
»Und - «
»Charles trank eine Tasse Kaffee mit mir, aber er mußte zu einer Besprechung.«
»Sie sind also ständig zusammengewesen, während er im Haus war?«
Er war nicht sicher, ob er erwartet hatte, daß die Frage sie beunruhigen könnte, aber ihre Antwort kam nur zögernd.
»Mir gefällt das ganz und gar nicht, Mr. Maitland.«
»Sind Sie nicht auf den Gedanken gekommen, daß, wenn Sie und Doktor Collingwood unschuldig sind, wie Sie gemeinsam und einzeln erklärt haben, jemand anders der Schuldige sein muß?«
»Aber nicht… nicht jemand, den ich so gut kenne, den ich mag.«
»Denken Sie jetzt darüber nach«, riet er.
»Ich brauche nicht nachzudenken.«
»Dann sagen Sie mir, was ich wissen will.« Er war wieder in Frage und Antwort vertieft, ohne zu übersehen, daß Kevin O'Brien an der Schmalseite des Tisches sich unbehaglich bewegte. Vielleicht hatte sich von Kates Unruhe etwas auf ihren Verteidiger übertragen. »Kommen Sie schon«, sagte Maitland aufmunternd. »Wenn wir vor Gericht sind, können wir Ihren Bediensteten dieselbe Frage stellen.«
»Nun gut.« Es gefiel ihr nicht, aber sie gab vergleichsweise mit Abstand nach. »Er ging, bevor er sich verabschiedete, nach oben, und es war seine Gewohnheit, Douglas' Badezimmer zu benutzen.«
»Und wie lange war er bei dieser Gelegenheit abwesend?«
»Nicht so lange, daß es auffällig gewesen wäre.«
»Aber er war vertraut mit dem Leiden und den Gewohnheiten Ihres Mannes?«
»Das kann ich nicht bestreiten.« Doch dann wandte sie ein: »Das ist alles so albern, wenn Sie nur wüßten - «
»Was, Mrs. Johnstone?«
»Wie lächerlich das ist. Charles ist der sanftmütigste Mensch, den es gibt; er kann keiner Fliege etwas zuleide tun.«
»Ich werde es mir merken.«
»Das sollten Sie auch.«
»Und ist Felicity ebenso sanftmütig? Sie verzeihen die vertrauliche Anrede, aber bei den vielen Johnstones erscheint das weniger verwirrend.«
»Sentimental«, sagte Kate. »Außerdem war sie nicht da.«
»Wie ich höre. Nun habe ich den Eindruck, irgend jemand hätte mir erklärt - waren Sie das, O'Brien? -, daß es an diesem Tag einen weiteren Besuch gegeben hat: Mrs. Lamb.«
»Jean? Ja, sie war da, aber Sie können doch nicht glauben - «
»Sie haben mir noch nichts geliefert, worauf ich mich stützen könnte, Mrs. Johnstone. Um ganz offen zu sein, mich interessiert mehr, was Sie ihr über Ihre Beziehung zu Doktor Collingwood erzählt haben mögen.«
Wieder schien sie betroffen zu sein. »Warum?« fragte sie scharf. »Weil, wenn Sie halbwegs offen zu ihr waren - «
»Sie würde das doch niemals der Polizei erzählen!«
»Vor Gericht bleibt ihr vielleicht keine andere Wahl.«
»Aber sie… sie ist nett. Sie und Charles würden ein gutes Paar abgeben, nichts für ungut, was die anderen betrifft.«
»Das ist leider nicht der Punkt. Genoß sie Ihr Vertrauen, was die Beziehung zu Ihrem Mann anging?«
»Sie wußte… ach, sie wußte, daß es Reibungen zwischen uns gab.«
»Und daß Sie die Scheidung verlangt hatten?« Irgend etwas an seinem Ton mußte sie darauf aufmerksam gemacht haben, daß er bereit war, notfalls den ganzen Tag auf eine Antwort zu warten. Sie schaute sich wieder um, diesmal ein wenig wild, und sagte dann mit einer Würde, die Maitland aus irgendeinem Grund als rührend empfand: »Ja, natürlich habe ich ihr das auch gesagt. Wir sind immer gute Freundinnen gewesen.«
»Hatten Sie ihr gegenüber Doktor Collingwood erwähnt?«
»Nur, daß er die Kinder behandelt. Erst an diesem Tag - «
»Nach Ihrem Gespräch mit ihm waren Sie verstört. Was haben Sie ihr gesagt?«
»Daß ich ihn liebte. Daß ich ihn nicht wiedersehen würde.«
»Wie lange dauerte ihr Besuch?«
»Ungefähr eine Stunde. Sie ging, kurz bevor Douglas heimkam.«
»Ohne nach oben zu gehen?«
»Sie ging hinauf, und ich begleitete sie.«
»Sie hatte also keine Gelegenheit, sich an der Injektionsspritze zu schaffen zu machen?«
»Nein, gar keine. Wir gingen in mein Zimmer, wo sie ihren Hut und die Handschuhe gelassen hatte.«
»Und als Ihr Mann heimkam?«
»Das war etwa zehn Minuten vor sechs Uhr. Er schien guter Stimmung zu sein. Ich war in der Halle, als er hereinkam, und er küßte mich. Das hatte er schon lange nicht mehr getan.«
»Und dann?«
»Ging er hinauf. Es war Zeit für seine Injektion, oder fast Zeit. Ich machte mir keine Sorgen, als er nicht wieder herunterkam… na ja, ich dachte, er wäre fertig damit und in sein Arbeitszimmer gegangen. Es war das Hausmädchen, das ihn fand, kurz vor dem Abendessen. Sie ging in das Zimmer, um das Bett aufzuschlagen. Danach kam der Arzt und, viel später, die Polizei. Hat es irgendeinen Sinn, sich mit alledem zu befassen, Mr. Maitland?«
»Vielleicht nicht.« Er steckte den Bleistiftstummel ein, mit dem er geschrieben hatte, und schob den Umschlag wieder in die Tasche. »Sie waren sehr geduldig mit mir, Mrs. Johnstone, ich möchte Sie jetzt nicht weiter belästigen.« Er stand bei diesen Worten auf, und Kate tat es auch und drehte sich ein wenig herum, damit sie ihn weiter ansehen konnte, als er zur Tür ging. Er blieb vor ihr stehen. »Ich habe Doktor Collingwood bereits versichert, daß ich für Sie beide mein Bestes tun werde«, sagte er. Das stimmte zwar nicht ganz, aber er glaubte, diese Versicherung habe sich von selbst verstanden, als er von seinem Mandanten Abschied genommen hatte.
Kates Augen leuchteten auf, als er das sagte, und sie streckte impulsiv die Hand aus.
»Ich danke Ihnen«, sagte sie. »Oh, vielen Dank. Wissen Sie, wenn ich sie nicht mehr wiedersehen würde… James oder Dougie oder Janet… ich wüßte nicht, wie ich das ertragen sollte.«
Daß zumindest das der Wahrheit entsprach, bezweifelte er nicht im geringsten, weder in diesem Augenblick noch später.
3
Mr. Shaw gab sich, nachdem sie das Gefängnis verlassen hatten, noch bissiger, aber Kevin O'Brien war in überschäumender Stimmung, und es war nicht daran zu denken, seine Einladung zum Mittagessen abzulehnen.
»Ich habe nämlich einen Tisch bei Astroff reservieren lassen«, sagte er, »und es gibt Dinge, die wir besprechen müssen.«
Das mochte zwar zutreffen, aber als sie in die Stadt zurückfuhren, herrschte im Wagen unbehagliches Schweigen, und als sie das Lokal erreichten, lehnte Shaw jede andere Erfrischung als Grapefruitsaft ab, wohl, um zu vermeiden, daß Alkohol seine Stimmung besänftigen könnte.
»Also«, sagte Kevin O'Brien, nachdem der Kellner das Bestellte gebracht und sich wieder entfernt hatte, »allem Anschein nach stehen Sie doch auf meiner Seite, Maitland.«
Antony antwortete nicht sofort. David Shaw hatte offenbar vieles, was er mitzuteilen wünschte, und es bestand durchaus die Gefahr eines Schlaganfalls, wenn ihm die Gelegenheit dazu versagt bleiben sollte. Tatsächlich platzte er sofort empört heraus.
»Das ist unerträglich«, sagte er. »Ich habe diesen Besuch auf Ihr Drängen hin zugelassen, Mr. O'Brien, aber unter dem klaren Vorbehalt, daß nichts geschehen würde, was den Wünschen meiner Mandantin widerspricht.«
»Da irren Sie sich aber.« Was immer O'Briens Ton sagen mochte, versöhnlich war er nicht. »Sie mögen sich den Harleys gegenüber für verpflichtet halten, Mr. Shaw, aber Kate Johnstone ist meine Mandantin, und es sind ihre Wünsche, die ich zu berücksichtigen habe. Dieser Vorschlag, sie möge sich schuldig bekennen - «
»Das ist der sicherste Weg für sie, gleichgültig, wie es für Ihren Mandanten aussehen mag, Mr. Maitland.« An der Heftigkeit von Mr. Shaws Gefühlen gab es keinen Zweifel, und Kevin O'Briens jovialer Ton trug nicht dazu bei, ihn zu beruhigen. Der Solicitor machte eine Pause und fuhr sachlicher fort: »Können Sie beide mir aufrichtig erklären, daß irgend etwas von dem, was Sie bisher gehört haben, das Gericht von ihrer Unschuld überzeugen könnte?«
Das war ein Problem, weil es darauf nur eine einzige ehrliche Antwort gab.
»Trotzdem«, sagte Maitland und war sich, während er antwortete, der Schwäche seines Arguments bewußt, »habe ich das Gefühl, daß weitere Nachforschungen angebracht sind.«
»Das sagte ich doch«, warf O'Brien behaglich ein. »Hören Sie, Mr. Shaw«, fuhr er in einem Tonfall fort, der nicht dazu angetan war, empörte Gefühle zu beruhigen, »warum sprechen Sie nicht allein mit Mrs. Johnstone? Warum fragen Sie nicht rundheraus, was sie tun möchte? Ich garantiere Ihnen, daß sie die Anweisung geben wird, Maitland weitermachen zu lassen.«
»Aber dann - « Antony empfand ein gewisses Mitgefühl für den Solicitor. »Die Harleys sind seit Jahren Mandanten von mir und meiner Kanzlei. Ich kann nicht… ich muß mich an das halten, was sie verlangen.«
»Dann geraten Sie in ein Dilemma«, stellte O'Brien fest. »Es gibt in ganz England keinen Verteidiger, der sich anweisen läßt, gegen die Wünsche seines Mandanten zu plädieren.«
Es war nur zu deutlich, daß David Shaw sich darüber völlig im klaren war. Er stellte das halbvolle Glas Saft auf den Tisch und stand auf.
»Ich werde bei erster Gelegenheit mit ihr sprechen«, sagte er steif. »Und danach - « Eine Geste vervollständigte den Satz. Er drehte sich um und ließ sie allein, ohne ein Wort des Abschieds.
Maitland, der sich still auf sein Getränk konzentriert hatte, stellte das Glas hin und sah seinen Begleiter an.
»Was nun?« fragte er.
»Ich nehme an, unsere liebe Kate wird sich einen anderen Solicitor nehmen«, meinte O'Brien. In seiner Stimme schwang mehr als nur eine Spur von Befriedigung mit. »Inzwischen gehen wir so vor, wie wir es geplant haben. Was werden Sie als erstes tun?«
»Ich möchte heute nachmittag bei Mrs. Johnstones Hausmädchen und Doktor Trevelyans Sprechstundenhilfe anfangen«, sagte Maitland nachdenklich. »Immer vorausgesetzt, daß ich sie finden kann, versteht sich. Wollen Sie mitkommen?«
O'Brien grinste nur.
»Wollen Sie mich wirklich dabeihaben?« fragte er. »Es ist manchmal einfacher - «
»Ich weiß, ich weiß. Wir können morgen unsere Notizen vergleichen.«
»Aber Sie lassen es nicht dabei bewenden?«
»Nein, da sind auch noch die Harleys und Charles Johnstone und seine Frau und die Lambs. Im Verlauf der Gespräche mit ihnen - soweit sie dazu bereit sind - erfahre ich vielleicht noch von weiteren Bekannten und Freunden. Das sollte für den Anfang genügen, nicht?«
»Allerdings. Jetzt könnten Sie mir ja sagen, was Sie zu Ihrer Entscheidung bewogen hat?«
Maitland verzog den Mund.
»Wenn ich mich wirklich entschieden hätte, wäre alles viel einfacher«, gab er zu.
»Aber Sie machen sich Ihre Gedanken«, erklärte O'Brien überzeugt. »Und Sie haben sie auf dem Gewissen, ob Ihnen das gefällt oder nicht.«
»Das ist wohl so«, sagte Antony mit schiefem Lächeln. »Und da das ein schrecklicher Vormittag war«, fügte er hinzu, nachdem er sein Glas geleert und sich nach dem Kellner umgeschaut hatte, »stimme ich dafür, daß wir noch ein Glas trinken, bevor wir in den Speisesaal gehen.«
4
Daisy, Mrs. Johnstones Zimmermädchen, besaß eine eigene Art von Selbstgerechtigkeit, die Maitland schon sehr bald nach Beginn ihres Gespräches daran verzweifeln ließ, sie als Zeugin zu benennen, die wenigstens in Teilen die Aussagen der anderen Bediensteten widerlegen konnte. Das kam, nachdem er vor den Augen des Stubenmädchens Spießruten gelaufen war. O'Brien hatte ihm erklärt, daß das gesamte Personal im Haus der Johnstones weiterbeschäftigt wurde, was er als merkwürdig empfand, weil Kate, selbst wenn sie freigelassen werden sollte, kaum dorthin würde zurückkehren wollen. In diesem Fall war es jedoch sehr günstig, und er durfte schließlich mit Daisy in der Bibliothek sprechen.
Sie war durchaus freundlich und schien auf ihre spröde Art ihre Herrschaft zu mögen. Die anderen Bediensteten konnte sie nicht leiden, und sie zeigte sich nur allzu bereit, die Schuld an allen häuslichen Scharmützeln, die es gegeben haben mochte, Douglas zuzuschieben. Als es aber um den einen Punkt ging, wo sie eine Hilfe hätte sein können - um die Frage, was Kate am Nachmittag von Douglas' Tod im Zimmer ihres Mannes getan hatte -, reagierte sie sofort starr auf die Andeutung, so taktvoll diese auch formuliert sein mochte, sie könnte in irgendeiner Beziehung einer Pflichtverletzung schuldig gewesen sein.
»Die gnädige Frau hatte mich gebeten, seine Sachen in Ordnung zu halten«, sagte sie. »Das tat ich dann natürlich, und ich bin sicher, daß sie niemals Anlaß zu Zweifeln hatte. Fehlende Knöpfe an seinen Hemden, so, als würde ich dergleichen zulassen! Aber ich weiß nicht, warum er nicht wie jeder normale Mensch einen eigenen Diener beschäftigen konnte.«
Er fragte sie also nach dem Tag des Mordes, aber alles, was sie zugeben wollte, war, Dr. Collingwoods Rücken gesehen zu haben, als sie vom ersten Stock die Treppe zum Erdgeschoß hinuntergegangen sei. Sie sei eben aus Mrs. Johnstones Schlafzimmer gekommen und könne, auch unter Eid, nicht erklären, ob der Arzt im Zimmer von Mr. Johnstone gewesen sei oder nicht. Was die anderen Besucher an diesem Tag angehe, so habe sie keinen davon gesehen.
Er gab es auf, und Daisy führte ihn selbst hinaus. Er war froh darüber, Sophie, dem Stubenmädchen, nicht noch einmal begegnet zu sein, auch wenn er unter anderen Umständen natürlich gern die Gelegenheit benutzt hätte, sie zu befragen. Der leichte Nebel, der am Vormittag seine Lebensgeister niedergedrückt hatte, war jetzt Sonnenschein gewichen. Der Spaziergang um die Ecke zum Cheston Place, wo Dr. Trevelyan wohnte und praktizierte, war allzu kurz.
Er erkannte das Haus sofort, noch bevor er einen Blick auf die Hausnummer geworfen hatte, an dem von James Collingwood erwähnten Anbau. An diesem Nachmittag gab es keine Sprechstunde, und er fand Dr. Trevelyans Sprechstundenhilfe mit ihren Unterlagen beschäftigt. Sie hieß, wie er von Richard Keils erfahren hatte, Amy Hunter und schien ein nettes Mädchen zu sein, so daß er sich über den Zorn wunderte, mit dem sie seine sorgfältige Erklärung, weshalb er hier sei, begrüßte.
»Doktor Trevelyan ist ein überaus gründlicher Mann«, stellte sie fest. »Das Morphium kann einfach nicht auf normale Weise verschwunden sein.«
»Sie wollen damit sagen, daß jemand es entwendet hat?« fragte Antony in der Hoffnung, die unverblümte Frage werde wenigstens dazu führen, daß sie nachdachte. Sie antwortete jedoch ohne jedes Zögern: »Aber natürlich!«
»Wer hatte Gelegenheit dazu?«
»Brauchen wir über Doktor Collingwood hinauszusehen?«
»Deshalb bin ich hier. Beispielsweise hätte doch Doktor Trevelyan eine noch bessere Gelegenheit gehabt, nicht wahr?«
»Die Drogen werden in seinem Zimmer aufbewahrt, gewiß«, gab sie frostig zu. »Aber Doktor Trevelyan würde niemals - «
»Ich behaupte nicht, daß er es getan hat, verstehen Sie? Ich sage nur, daß er es hätte tun können. Wie steht es mit den Patienten?«
»Der Schrank ist abgesperrt. Ich wüßte nicht, wie jemand von den Patienten ihn hätte öffnen können.«
»Gehen wir der Sache ein bißchen auf den Grund. Wo wird der Schrankschlüssel aufbewahrt?«
»In der mittleren Schublade von Doktor Trevelyans Schreibtisch.«
»Und er hält sich nicht sehr viel in seinem Sprechzimmer auf, nicht wahr?«
»Eigentlich nicht.«
»So daß ein Patient von Doktor Collingwood oder sogar ein Fremder von Ihnen ungesehen vorbeigeschlüpft sein könnte.«
Wider Willen war ihr Interesse erregt.
»Kein Fremder«, wandte sie ein. »Ich wüßte nicht, wie jemand gewußt haben könnte, wo er suchen muß.«
»Aber jemand hätte unbemerkt an Ihnen vorbeischleichen können.«
»Ja, ich bin immer sehr beschäftigt. Im Wartezimmer hängt ein Anschlag, der die Patienten bittet, sich bei mir zu melden, wenn sie kommen, aber wenn sie es nicht tun, bemerke ich sie vielleicht gar nicht.«
»Dann einer von Doktor Collingwoods Patienten?«
»Für sie gilt dasselbe: Sie wüßten auch nicht, wo sie suchen müßten.«
»Ja, ich verstehe«, sagte Maitland nachdenklich. »Aber wenn jemand von Doktor Trevelyans Patienten… das führt zu einem ganz neuen Gedanken, wissen Sie.«
Aber er hatte zuviel gesagt. Sie war erschrocken und fürchtete, indiskret gewesen zu sein.
»Ich weiß nicht, was Sie sich da in den Kopf gesetzt haben«, erklärte sie mürrisch, »aber ich kann Ihnen nicht weiterhelfen.«
»Danke, Miss Hunter, das ist auch nicht nötig.« Er war so begierig darauf, fortzukommen, wie sie, ihn gehen zu sehen, und er konnte es nicht ganz verbergen.
»Sie sollten mit Doktor Trevelyan sprechen«, meinte sie ein wenig entgegenkommender.
»Das kann ich derzeit nicht, erst, wenn ich ihn vor Gericht treffe. Ich trete für die Verteidigung auf, wie ich Ihnen schon erklärt habe, und er ist Zeuge der Anklage.«
»Das ist er allerdings«, sagte sie leer, weil sie offensichtlich kein Wort begriff, aber einige Augenblicke später gingen sie einigermaßen freundlich auseinander, und er marschierte, mit seinen Überlegungen vollauf beschäftigt, die Straße hinunter zum Grosvenor Place.
Trotz der Kürze der beiden Gespräche war es schon vier Uhr. Er erwog, in die Kanzlei zurückzukehren, entschied aber, daß der Spaziergang nach Hause ihm einen klaren Kopf verschaffen würde. Von dort aus konnte er anrufen, um in Erfahrung zu bringen, ob es etwas gab, das seine sofortige Aufmerksamkeit verlangte. Als er den Kempenfeldt Square erreichte, vergaß er das jedoch alles. Gibbs trieb sich, wie es seine Gewohnheit war, in der Halle herum und teilte mit, daß Mrs. Maitland fortgegangen sei, und während sie miteinander sprachen, kam Vera aus dem Arbeitszimmer und wirkte ein wenig bekümmert, was ihn erstaunte.
»Eine Dame ist hier, die dich sprechen möchte, Antony«, sagte sie. »Da Jenny nicht im Haus ist, wollte ich ihr Gesellschaft leisten, bis du kommst.«
»Wir haben Sie nicht so früh erwartet, Mr. Maitland«, sagte Gibbs. Es war deutlich genug herauszuhören, daß damit irgendeine Pflichtvergessenheit angeprangert wurde. Gibbs war ein übelgelaunter alter Mann, der sich weigerte, in den Ruhestand zu gehen, und seit er mit der neuen Lady Harding einverstanden zu sein schien, hatte sie jede Hoffnung, er könnte es doch tun, aufgegeben. Antony quittierte den Vorwurf mit einem zerstreuten Lächeln.
»Wer ist es denn?« fragte er Vera.
»Mrs. Collingwood«, sagte Vera. »Die Mutter deines Doktor Collingwood.« Sie trat ein wenig näher heran und senkte die Stimme. »Sie hat großen Kummer, Antony. Wenn du möchtest, daß ich bei dem Gespräch dabei bin - «
»Ja, danke.« Es gab keinen Zweifel, daß seine Dankbarkeit tief empfunden war. »Das wird sein wie in alten Zeiten«, fügte er hinzu, als er mit ihr durch die Halle ging und ihr ins Arbeitszimmer folgte.
Das war Sir Nicholas' Lieblingszimmer, und es wurde fast immer benutzt, wenn nicht gerade eine Gesellschaft gegeben wurde oder Veras komplizierte und teure Stereoanlage im Salon ein Konzert bot. Vera trat ein und sagte aufmunternd: »Da ist er, Mrs. Collingwood.« Maitland, der hinter ihr hereinkam, erkannte sofort den Grund für den herzlichen Ton. Mrs. Collingwood, am Kaminfeuer in dem Sessel zusammengekauert, den sonst Sir Nicholas bevorzugte, war vermutlich bei keiner Gelegenheit eine besonders fröhlich wirkende Frau. Heute hatte sie auf ihr Aussehen offenkundig keinerlei Wert gelegt, und obwohl ihr Mantel ordentlich aussah, wirkte ihr Haar zerzaust und strähnig, und sie hielt ein Taschentuch an die Nase und schnupfte ab und zu in einer Weise auf, die Maitland für die Anwesenheit einer anderen Frau besondere Dankbarkeit empfinden ließ. Als die Besucherin ihm die Hand gab, lag diese einen Augenblick schlaff in der seinen, und sie sah mit tränennassen Augen zu ihm auf. Er zog seine Hand zurück und stellte sich auf den Kaminvorleger, mit dem Rücken zum Feuer. Vera ließ den anderen Lehnsessel frei, für den Fall, daß er sich später setzen wollte, und nahm auf dem Sofa Platz.
»Also dann«, sagte Maitland und bemerkte, daß er Veras aufmunternden Tonfall nachahmte. »Was kann ich für Sie tun, Mrs. Collingwood?«
Sie schneuzte sich, bevor sie antwortete. Eine Frau, die nah am Wasser gebaut hat, dachte er. Es war vielleicht tadelnswert, daß vieles von dem Mitgefühl, das er ihr normalerweise entgegengebracht hätte, von dieser Überlegung eingeschränkt wurde.
»Es handelt sich um James«, sagte sie.
»Das dachte ich mir«, erklärte er ernsthaft. »Ich bin gestern bei ihm gewesen, wissen Sie. Er ist in bester Verfassung und guter Dinge.« Aber seine Ehrlichkeit veranlaßte ihn, das doch ein wenig einzuschränken. »Wenn man alles recht bedenkt«, sagte er.
»Das hat mir Richard auch gesagt.« Trotz der Versicherung klang ihre Stimme beinahe beleidigt. »Er kann sich dort nicht anders als unbehaglich fühlen, aber Richard sagt, bis zum Prozeß ließe sich daran nichts ändern. Und selbst dann, meinte er… Mr. Maitland, wie schätzen Sie James' Chancen ein?«
»Es wird Ihnen klar sein, daß es noch sehr früh ist, sich darüber zu äußern. Ich habe mit ihm gesprochen und gehört, was er zu sagen hat; ich bin bei Mrs. Johnstone gewesen - «
Sie richtete sich auf. Das Taschentuch war vorübergehend vergessen.
»Diese Frau!« sagte sie, und wieder wunderte er sich über die Gehässigkeit, mit der sie sprach.
»Kennen Sie sie?«
»Natürlich nicht.« Es klang verächtlich. »Aber ich habe mir anhören müssen, wie James sich über sie und die Kinder ausließ. Solche Frauen, die mit dem eigenen Mann nicht genug haben - «
»Ich glaube doch« - er warf Vera einen Blick zu, als suche er nach einer Eingebung -, »daß da echte Zuneigung geherrscht hat.«
»Und was für ein Recht hatte sie, Zuneigung für ihn zu empfinden, möchte ich wissen. Nachdem er längst vorher eine gute Ehefrau hätte finden können.«
»Mrs. Collingwood, was versuchen Sie mir klarzumachen?«
»Daß alles ihre Schuld ist. Wenn James getan hat, was er nicht hätte tun sollen - «
»Sie haben das Gefühl, Mrs. Johnstone hätte ihn verleitet?«
»Ich sage, das liegt doch nahe.«
»Das entspricht nicht dem, was man mir mitgeteilt hat.« Er glaubte, sie werde dafür eine Erklärung verlangen, aber sie war zu sehr in ihre eigenen Probleme vertieft. »Ihr Sohn plädiert auf nichtschuldig, wissen Sie«, erklärte er.
»Sie stehen angeblich auf seiner Seite, Mr. Maitland. Die beste Art, ihn zu verteidigen, ist die, deutlich zu machen, daß diese Frau ihn dazu verführt hat.«
Er setzte sich nun doch, um ihren Blick direkter erwidern zu können. Die Tränen waren versiegt, und sie sah ihn zornig an.
»Das entspricht nicht meinen Kenntnissen«, betonte er noch einmal.
Und wieder stellte sie die Behauptung nicht in Frage.
»Was werden Sie dann für ihn vorbringen? Richard hat mir erklärt, daß eine gemeinsame Verteidigung erfolgt.«
»In der Praxis, ja. Jeder der Angeklagten hat seinen eigenen Verteidiger.« Er stellte das automatisch richtig, obwohl er daran zweifelte, daß sie begriff, worum es ging.
»Ich glaube nicht, daß das genügt«, erklärte sie rundheraus.
Diesmal sah er Vera gequält an. Zu seiner Erleichterung beschloß sie, ihm beizustehen.
»Sie könnten uns helfen, wenn Sie wollen, Mrs. Collingwood«, sagte sie.
Mrs. Collingwood wandte sich ihr beinahe wütend zu.
»Uns?« fragte sie, und es gab keine Zweifel an der Angriffslust in ihrer Stimme.
»Lady Harding ist selbst Barrister, eine frühere Kollegin«, erklärte Antony. Zu seiner Überraschung und Erleichterung schien ihre Besucherin vorübergehend ihren Kummer vergessen zu haben.
»Was meinen Sie mit helfen ?« fragte sie argwöhnisch. Immerhin war das der tränenreichen Atmosphäre zuvor bei weitem vorzuziehen.
»Immer nützlich, etwas über den Hintergrund eines Mandanten zu wissen«, sagte Vera, zu ihrem Kürzelstil zurückkehrend.
»Da kann ich dienen.« Sie ging so weit, ihr Taschentuch in die Handtasche zu stopfen. »Er ist immer ein guter Junge gewesen, von Anfang an. Nicht wie manche, so heimtückisch. Nicht, daß ich alles billige, was man ihm beim Medizinstudium beigebracht hat, wohlgemerkt, aber so sehr hätte das seinen Charakter nicht verändert.«
Maitland, bis zu einem gewissen Grad von der Verantwortung für das Gespräch entbunden, von dem er sich auf lange Sicht nicht das mindeste versprach, begann an der Situation auch eine komische Seite zu erkennen.
»Ich kann durchaus verstehen, daß das nicht der Fall sein konnte«, sagte er. Seine Stimme klang so ernsthaft, daß Vera ihn scharf ansah, aber Mrs. Collingwood schien mit der Antwort vollauf zufrieden zu sein.
Offenbar war sie jetzt in Fahrt.
»Mein Joseph ist immer ein guter Versorger gewesen«, sagte sie. »James war von Anfang an darauf erpicht, Arzt zu werden, und Joseph tat alles, um ihm das zu ermöglichen. James ging auf eine gute Schule und dann nach Leeds, was ja sehr gut sein soll. Und war, wie ich schon sagte, so nett und zuvorkommend wie immer. Wir hätten natürlich gern gehabt, daß er sich in eine Praxis einkaufte, als er die Prüfung bestand, aber mein armer Joseph starb um diese Zeit, so daß das nicht in Frage kam. James bestand darauf, daß ich eine Leibrente kaufte, er fühlte sich nicht wohl, bis er wußte, daß ich versorgt war. Er bekam einen guten Posten oder behauptete es wenigstens und war immer da, um mir zu helfen, wenn ich ein bißchen knapp war.«
»Bin sicher, daß Sie ihn richtig sehen«, meinte Vera. Was Antony nicht klar zu sein schien, war, wie sie über den Charakter seines Mandanten überhaupt etwas wissen konnte, aber vielleicht sollte die Bemerkung auch nur ein Linderungsmittel sein. »Ich denke, es würde Ihnen helfen, wenn Sie sich dazu überwinden könnten, an ihn zu glauben, wissen Sie.«
Mrs. Collingwood schien jetzt vor allem verwirrt zu sein. Sie blickte von einem zum anderen und sagte dann kopfschüttelnd:
»Aber Richard hat gesagt - «
»Was hat Mr. Keils Ihnen gesagt?« fragte Maitland, als klar wurde, daß sie nicht weitersprechen würde.
»Er sagte, er wage nicht, mir allzu große Hoffnungen zu machen.«
»In gewisser Beziehung hat er recht.« Maitlands Stimme klang jetzt sanft, was unklug war, wie Vera ihm hätte sagen können. »Ich glaube aber nicht, daß er damit andeuten wollte, Ihr Sohn sei schuldig.«
Das Taschentuch trat wieder in Aktion.
»Sie sind mir ein großer Trost gewesen, Lady Harding«, sagte Mrs. Collingwood. Antony empfand das als gleichermaßen unzutreffend wie ungerecht. Er hielt es für an der Zeit, ihre Aufmerksamkeit wieder auf sich zu ziehen. »Was wissen Sie über Richard Keils?« fragte er.
»Er ist ein guter Freund von James, und sie kennen sich mit Unterbrechungen fast ihr ganzes Leben. Aber ich habe ihn einige Jahre nicht gesehen, bis er jetzt nach Tilham kam, um mir zu sagen, was mit James geschehen war.«
»Hat er Ihnen die Lage erklärt? Daß Ihr Sohn gemeinsam mit Mrs. Johnstone angeklagt wird.«
»Ja, das hat er. Deshalb dachte ich ja - « Sie drehte den Kopf und sah Vera an, erneut auf der Suche nach Mitgefühl. »Sie verstehen das, Lady Harding. Sie hätten genauso empfunden.«
»Schien er die Johnstones zu kennen?«
»Er sagte, er hätte sie einmal gesehen, als er mit James essen ging und sie mit einer Freundin an einem Nebentisch saß. Ich glaube, sie setzten sich dann zusammen. Aber ich wollte nichts von ihr hören, Mr. Maitland« - das Taschentuch spielte wieder eine Hauptrolle -, »weil mir völlig klar war, daß sie nichts Gutes im Schilde führen konnte.«
An diesem Punkt schien Vera zu begreifen, daß jedes Interesse, das Maitland anfangs aufgebracht haben mochte, geschwunden war, und vielleicht auch, daß er nicht recht wußte, wie er das Gespräch beenden sollte. Sie übernahm deshalb das Kommando und führte Mrs. Collingwood mit sanfter Hand zurück zu Reminiszenzen über die früheren Jahre ihres Sohnes. Trotzdem dauerte es noch immer eine halbe Stunde, bis die Frau sich endlich verabschiedete. Antony begleitete sie in die Halle und schloß mit einem Seufzer der Erleichterung hinter ihr die Haustür. Als er wieder ins Arbeitszimmer trat, legte Vera ein Holzscheit in den Kamin nach. Sie drehte sich um und lächelte ihn an, aber ihre Worte klangen barsch wie immer.
»Verstehe dich nicht«, sagte sie. »Was soll das alles mit Richard Keils?«
»Er ist der Solicitor, der mich beauftragt hat«, erwiderte Antony. Es hörte sich nicht so an, als widme er dem Thema seine ganze Aufmerksamkeit.
»Um so mehr Grund - «
»Er ist ein Freund von Collingwood. Offenbar hat er ihn besucht und kennt sich im Haus der Trevelyans aus.«
Vera überlegte.
»Halte nicht viel davon«, meinte sie schließlich.
»Ich eigentlich auch nicht, aber im Augenblick suche ich verzweifelt nach Ideen. Bei einem Mann wie Douglas Johnstone sollte es mich nicht wundern, wenn alle möglichen Motive auftauchen. Aber Tatgelegenheit ist wieder eine ganz andere Sache.«
»Was für ein Mensch?« fragte Vera. Ihre Fragen kamen gewöhnlich direkt zur Sache.
»Hart, puritanisch, ein erfolgreicher Geschäftsmann.« Maitland schüttelte vage den Kopf, als sei das bei weitem noch keine vollständige Liste über die Eigenschaften des Toten. »Aber ich habe kaum erst die Oberfläche angekratzt, Vera. Gib mir Zeit.«
»Wann wird der Prozeß stattfinden?«
»Nicht vor der Sitzungsperiode, die im Januar beginnt.«
»Da bleibt dir genug Zeit.«
»Leider läßt sich nicht viel tun. Alle Leute, die uns hätten helfen können, sind von der Anklage als Zeugen benannt.«
»Alle?«
»Nein, ich übertreibe natürlich. Ich bin auf etwas gekommen, als ich mit Doktor Trevelyans Sprechstundenhilfe sprach, aber als ich heimging, schien sich das wieder zu verflüchtigen.«
»Pech.« Bei Vera entsprach das dem Ausdruck tiefstempfundenen Mitgefühls.
»Jedenfalls hast du mir das Leben gerettet, und dafür bin ich dir dankbar.« Er hätte vielleicht noch mehr gesagt, aber in diesem Augenblick hörten sie Stimmen in der Halle. Gibbs lag natürlich wieder auf der Lauer, doch Antony erkannte auch die hellere Stimme seiner Frau. »Ich gehe besser«, meinte er. »Onkel Nick hat so viel über den Fall gehört, wie im Augenblick für ihn gut ist.« Er tauschte mit Vera ein vertrautes Lächeln und ging.
5
Meg und Roger Farrell waren wohl die engsten Freunde der Maitlands. Sie kannten Meg - den Theaterbesuchern besser bekannt als Margaret Hamilton - bei weitem länger, schon, seitdem sie nach London gekommen war und sich mit einer besonders grimmigen Darstellung von Lady Macbeth einen Namen gemacht hatte. Die Umstände hatten Antony und Roger jedoch in eine enge Verbindung gedrängt, die sie beide begrüßten, und es war an vielen Abenden der Woche Farrells Gewohnheit, die Maitlands nach dem Abendessen zu besuchen, sobald er seine Frau mit Bedauern zum Theater gebracht hatte. Im allgemeinen stellte das eine erfreuliche Abwechslung gegenüber den Vorgängen des Alltags dar, aber an diesem Abend erwartete Maitland die Ankunft seines Freundes mit einiger Ungeduld. Roger war Börsenmakler, und über die Angelegenheiten des Toten mochte einiges in Erfahrung zu bringen sein, von dem Antonys Solicitor nichts wußte.
Die Premiere von Megs neuem Stück hatte erst vor einer Woche stattgefunden, aber beide Maitlands hatten es noch nicht gesehen.
Roger zeigte einen Anflug von Verdrossenheit, als er sich eine Tasse Kaffee geben ließ.
»Es scheint ziemlich lange laufen zu wollen«, sagte er. In seinen Augen war Megs Beliebtheit kein reiner Segen.
»Macht nichts«, sagte Jenny mitfühlend.
»Ich habe dich gewarnt«, sagte er. »Und du hast eine ganze Woche Urlaub in Grunning's Hole gemacht, bevor sie mit den Proben anfing, also hast du keinen Grund, dich zu beschweren.«
»Alles schön und gut - « Aber Roger gehörte nicht zu den Leuten, die sich von ihren Beschwerden nicht losreißen können. »Ich glaube jedoch nicht, daß sie mit der Rolle ganz glücklich ist«, fügte er hinzu.
»Nun, wie auch immer - « Antony schloß sein wohltätiges Werk ab und nahm seinen gewohnten Platz auf dem Kaminvorleger ein - »es gibt da etwas, wo du mir, glaube ich, helfen kannst. Ich will dich ausquetschen.«
»Du könntest wenigstens warten, bis er nach dem Aufstieg wieder zu Puste gekommen ist«, meinte Jenny. Worauf die beiden Männer einen Blick wechselten, weil Roger, wie üblich, in bester körperlicher Verfassung war und die Bemerkung nur als Provokation verstanden werden konnte.
»Ich warte, wenn du willst«, erklärte Maitland großzügig.
»Wenn es je einen gegeben hat, der einem die Neugier - «
»Also gut, mache ich weiter. Es ist eigentlich sehr einfach. Was weißt du von der Firma Johnstone & Lamb?«
»Du hast dich in den Mordfall Johnstone eingelassen«, stellte Roger fest.
»Du hast davon gehört?«
»Das war kaum zu vermeiden. In der City ist es das Tagesgespräch. Wenn du über die Firma Bescheid wissen willst, die Leute sind außerordentlich tüchtig und erfolgreich. Man hält sehr viel von ihnen.«
Antony grinste.
»So sagt man. Aber O'Brien drückte sich so zynisch über sie aus, daß ich das Gefühl habe, er muß einmal hereingefallen sein. Nicht gerade durch diese Firma, versteht sich.«
»Sie haben wirklich erstaunliche Erfolge erzielt«, erklärte Roger nachdenklich.
»Erzähl mir von Johnstone.«
»Guter Gott, über ihn weiß ich gar nichts. Nur, was die ganze Welt weiß.«
Maitland entfernte sich vom Kamin und setzte sich nach kurzem Zögern.
»Und was wäre das?« fragte er beiläufig. Seine Zuhörer ließen sich davon nicht im geringsten täuschen. Roger schlürfte seinen Kognak.
»Die Johnstones waren immer eine begüterte Familie«, sagte er nach einer Pause. »Charles, der Bruder, ist bei Bramley's Bank; nicht nur ein Direktor, auch nicht bloß in der Kreditabteilung, sondern einer der Geschäftsführer.«
»Ja, das habe ich gehört, aber ich frage nach Douglas.«
»Er soll ein harter Mann gewesen sein - «
»Wo habe ich das nur schon einmal gehört?«
»- und er hatte ganz gewiß sehr strenge Grundsätze. Und wenn du sagen willst, um so besser , kann ich dir nur mitteilen, daß er nicht beliebt gewesen ist. Es gab einige Ungerechtigkeiten in der Behandlung des Personals. So hörte man jedenfalls.«
»Das interessiert mich aber. Was für Ungerechtigkeiten?«
»Wenn irgend etwas nicht klappte, mußte jemand die Schuld übernehmen. Da kannst du sagen, das sei nur gerecht, aber den Gerüchten nach war Douglas selbst nicht immer ohne Schuld. Es gab einen gewissen Glidding, den man eines Fehlers wegen entließ, von dem der immer behauptete, Douglas Johnstone hätte ihn selbst gemacht. Ich persönlich glaube ihm, aber das ist nur meine private Meinung. Ich mag mich irren.«
»Glidding«, sagte Antony, so, als versuche er in dem Namen eine besondere Bedeutung zu entdecken. »Weißt du über ihn nicht mehr als das?«
»Nein, nur seinen Namen.«
Maitland kramte wieder in den Taschen. Der Umschlag wurde als erstes herausgezogen, aber als Roger entgegenkommend einen Druckbleistift hinreichte, schüttelte er den Kopf.
»Bei mir brechen die immer ab«, sagte er und zog triumphierend seinen Bleistiftstummel heraus. »Glidding«, sagte er noch einmal, während er schrieb. »Aber wie, zum Teufel, sollte ein Angestellter in einem Maklerbüro an Morphium herankommen?«
»Ich würde das für sehr unwahrscheinlich halten«, erklärte Roger. »Das ist aber interessant. Ist denn dein Mandant nicht schuldig?«
»Weißt du immer noch nicht, daß alle seine Mandanten unschuldig sind?« sagte Jenny spottend.
»Durchaus nicht.« Maitland schien diesen Einwurf mit unangebrachter Ernsthaftigkeit aufzunehmen. »Aber in diesem Fall… also, hör mal, Roger, ich muß über Johnstone und seine Mitarbeiter herausfinden, was ich kann.«
»Tja, ich weiß konkret von keinem anderen Angestellten, der Grund zur Klage gehabt hätte, aber ich weiß noch, daß einige von den ältesten Börsenmitgliedern die Köpfe schüttelten, als Glidding flog, und erklärten, das sei nicht das erstemal, daß so etwas vorkomme.«
»Dann Lamb. Ernest Lamb. Woran erinnert mich das?«
»Toytown«, sagte Jenny sofort. »Ernst der Polizist und Larry das Lamm.«
»Ich wußte doch, da war etwas. Also, Roger, wie ist es damit?«
»Ich kenne Lamb persönlich, falls du das meinst, wenn auch nicht gut. Er ist ein völlig anderer Fall, ein viel netterer Mensch. Meg und ich haben mit ihm manchmal zu Abend gegessen.«
»Dann kannst du mir sagen… wenn du ihn einen netten Menschen nennst, nehme ich an, daß einem nicht sofort der Ausdruck Erster Mörder einfällt.«
»Genau das meine ich. Hör doch, Antony, ich dachte, der Fall sei das, was er zu sein scheint: eine Familienangelegenheit.«
»Unerquicklich«, warf Jenny ein. »Onkel Nick behagt er ganz und gar nicht.«
»Und Mrs. Lamb?« Antony dachte nicht daran, sich von seinen Fragen abbringen zu lassen.
»Jean?«
»Richtig. Sie war am Tag des Mordes sogar im Haus.«
»Ausgesprochen verdächtig«, sagte Roger mit einem Unterton von Sarkasmus. »Jean ist das sanftmütigste Wesen, das man sich denken kann.«
»Wenn ihr Ehemann ein Motiv hatte, könnte er sie ja an der Kandare gehabt haben.«
Roger lächelte.
»Auch das nicht. Sie ist… na ja, man könnte sagen, sie ist ihr eigener Mensch.«
»Und was soll das genau heißen?«
»Ist doch völlig klar«, meinte Jenny. »Sie weiß, was sie will.«
Antony wirkte unzufrieden.
»Das bringt uns nicht weiter«, sagte er. »Ich hatte gehofft - «
»Ich habe dir ja früher schon gesagt, daß wir in der City friedliche Leute sind«, erklärte Roger gelassen. Und Antony stand plötzlich wieder auf den Beinen.
»Du weißt doch etwas«, sagte er anklagend.
»Erhoff' dir nicht zuviel. Es ist nichts Greifbares, nichts, was du verwenden könntest. Aber es gibt da ein Gerücht, ein sehr beharrliches Gerücht, daß etwas Großes im Gange ist, und daß Johnstone & Lamb mittendrin stecken.«
»Herrgott noch mal, kannst du denn nicht präziser sein?«
»Das ist alles. Ich frage natürlich herum, kann aber keine überraschenden Enthüllungen versprechen«, betonte Roger.
»Schon gut.« Maitland bückte sich, um den Briefumschlag in die Tasche zu stecken, schaute sich um, ob irgendwo nachgeschenkt werden mußte, und setzte sich wieder. »Ich werde Meg nach Jean Lamb fragen«, entschied er. »Sie ist von der Anklage benannt worden und könnte eine gefährliche Zeugin sein.«
»Wieso denn? Sie ist doch nicht… nein, jetzt paß mal auf, Antony - «
Antony ging auf den klagenden Ton des Einwurfs nicht ein.
»Weil sie sich nach der Sorte Frau anhört, die vor Gericht leicht in Verwirrung zu bringen ist. Ich gehe auch davon aus, daß sie Kate Johnstone wohlgesinnt ist, aber das nützt uns vielleicht nicht viel.«
»Wer wird sie ins Kreuzverhör nehmen?« fragte Jenny und machte es sich bequemer, weil sie gespürt hatte, daß der dienstliche Teil des Abends vorüber war.
»Ich rede nicht vom Kreuzverhör. Aber Garfield vertritt die Anklage - «
»Der zweite Kronanwalt?«
»Das ist er jetzt. Der Haken dabei ist der - ich wiederhole mich vermutlich -, daß er ein Mensch ist, der Beweise für einen Fehltritt auch gleich als Beweise für einen begangenen Mord ansieht. Und da er sehr überzeugend reden kann, sollte er die Geschworenen auf seine Seite bringen können. Ich finde übrigens, daß das ein Fall ist, bei dem wir es wie in den Staaten machen und eine Woche dafür aufwenden sollten, die Geschworenen auszusuchen.«
»Wie kommst du darauf?« fragte Roger interessiert.
»Kevin O'Brien, der Kate Johnstone verteidigt - und der mich übrigens in die Sache mit hineingezogen hat - ist das, was man eine schillernde Gestalt nennt; das Gericht wird uns beide wohl als ein Paar verrufener Burschen ansehen und unsere Mandanten im selben Licht betrachten.« Er bewegte die Schultern, während er das sagte, als schüttle er eine Last ab, und schloß lebhaft: »Damit aber genug für heute. Reden wir von etwas anderem.«
6
Obwohl es schon spät war, als Roger sich verabschiedete, um Meg vom Theater abzuholen, ging Antony ans Telefon und wählte die Nummer, die Richard Keils ihm gegeben hatte.
»Ich habe einen Namen für Sie«, sagte er, ohne sich zu entschuldigen, als der andere sich meldete. »Glidding. Den Vornamen weiß ich nicht. Er war bis vor eineinhalb Jahren bei Johnstone & Lamb angestellt und schied unter unklaren Umständen aus. Er gab Johnstone die Schuld an seiner Entlassung. Dahinter könnte sich etwas verbergen.«
»Was soll ich Ihrer Meinung nach tun?«
»Ich nehme an, daß Sie ständig mit einem Ermittlungsbüro zusammenarbeiten. Sonst ist Cobbold's sehr gut. Bringen Sie über ihn in Erfahrung, was Sie können, egal, was es ist.«
»Gut, das mache ich. Ich habe aber eine Neuigkeit für Sie, die Sie nicht gerade erfreuen wird, Mr. Maitland.«
»Das ist eine schöne Abendstunde für schlechte Nachrichten.«
»Es ist nur so, daß der Prozeß vorverlegt worden ist. Man wird ihn noch in dieser Sitzungsperiode anberaumen, vermutlich kurz vor der Weihnachtspause.«
Maitland fluchte kurz und mit Nachdruck.
»Aber einen großen Unterschied kann ich nicht erkennen«, meinte er nach kurzem Nachdenken. »Ich hege keine großen Hoffnungen, was vorprozessuale Nachforschungen betrifft. Würden Sie für Sonntag eine Besprechung vereinbaren, dort, wo es O'Brien am besten paßt?«
»Wollen Sie noch einmal mit James sprechen?«
»Im Augenblick nicht. Wenn Sie morgen gegen elf in die Kanzlei kommen, setze ich Sie ins Bild über die heutigen Ereignisse. Können Sie das?«
»Ich werde da sein. Gute Nacht.« Keils legte so plötzlich auf, daß man beinahe den Eindruck hatte, er wolle oder könne nichts mehr hören. Antony drehte sich am Telefon um und stellte fest, daß Jenny Tassen und Gläser abgeräumt hatte und auf dem Kaminvorleger kniete, um die Überreste des Feuers noch einmal zum Lodern zu bringen.
»Du machst dir Sorgen, Antony«, sagte sie, als sie sah, daß er ihr seine Aufmerksamkeit widmete. »Hatte Onkel Nick also doch recht?«
»Keine Spur. Es ist nur… wenn die Menschen nur nicht so vertrauensvoll wären, Liebes.«
»Daran läßt sich nichts ändern«, sagte Jenny bedrückt und bedauerte, ihm nicht mehr Trost bieten zu können. Dann hellte sich ihr Gesicht aber auf. »Ich glaube, ich hole dir noch etwas zu trinken. Danach sieht vielleicht alles besser aus.«
»Und noch ein Glas schmutzig machen? Gott behüte. Außerdem gehören wir schon lange ins Bett.«
Freitag, 19. November
1
Der nächste Tag und der Freitag wurden den tausend Dingen gewidmet, die in der Kanzlei erledigt sein wollten. Er bekam Sir Nicholas kaum zu Gesicht, der neue Akten studierte und deshalb unzugänglich war, fragte sich aber, wie Vera mit ihrem Mann zurechtkam, wenn er in dieser Stimmung war. Bei schwierigen Fällen gab es stets einen Punkt, an dem Sir Nicholas erreichte, was sein Neffe die Fauch-Etappe nannte.
Inzwischen war Willett bedrängt und bei Strafe seines Lebens verpflichtet worden, für Maitland am Samstag bestimmte Termine zu vereinbaren. Wie schon angedeutet, war Willett unter dem alten Mr. Mallory einer der Anwaltsgehilfen, der sich mit Maitlands Interessen beinahe völlig identifizierte. Es hieß von ihm, er gehe nie, wenn er laufen könne, und tatsächlich schien er auch stets in Eile zu sein, aber Maitland hatte es längst aufgegeben, an seiner Tüchtigkeit zu zweifeln. Trotz der ständigen Hast, die er an den Tag legte, schien er nie etwas Wichtiges zu vergessen.
Antony kam am Freitag ziemlich spät nach Hause, aufgehalten von einer Besprechung, die zu keinem anderen Zeitpunkt hatte stattfinden können. Im letzten Augenblick entdeckte er, daß sein Onkel noch im Büro saß, und sie fuhren gemeinsam im Taxi zum Kempenfeldt Square zurück. Aber Sir Nicholas war immer noch in seine Gedanken vertieft und kam nicht wieder auf die Beschäftigung seines Neffen mit dem Fall Johnstone zu sprechen.
Als Antony oben in seiner Wohnung eintraf, erwartete ihn Jenny schon in der Diele.
»Da ist ein Mann«, sagte sie und zeigte zerstreut auf die geschlossene Wohnzimmertür. »Er muß sehr beharrlich gewesen sein, sonst hätte Gibbs ihn nicht heraufgeschickt.«
»Was ist denn passiert?« fragte Antony, der ganz richtig auslegte, was vorging.
Jenny schüttelte verwirrt den Kopf.
»Er ist ein schäbig aussehender kleiner Mann«, sagte sie, worauf die Brauen ihres Mannes in die Höhe schossen, weil so etwas von Jenny der Gipfel an Lieblosigkeit war. »Ich kann nicht begreifen, warum er dich sprechen will«, fuhr sie fort.
»Dann muß ich etwas unternehmen, um das herauszubekommen.« Maitland durchquerte mit langen Schritten die Diele und riß die Wohnzimmertür auf. Jenny machte keine Anstalten, ihm zu folgen, also schloß er die Tür hinter sich und blieb einen Augenblick stehen, um seinen Besucher zu betrachten.
Er stellte sofort fest, daß der Ausdruck schäbig haargenau auf den Mann paßte, auch wenn es mehr als erstaunlich war, daß Jenny ihn gebraucht hatte. Ein magerer Mann, mittelgroß, in einem Anzug von der Stange. Er hatte bessere Zeiten gesehen. Das auf den ersten Blick. Ein zweiter belehrte ihn, daß mehr dahintersteckte. Zwei sehr helle blaue Augen begegneten den seinen mit einem Blick, der beinahe herausfordernd wirkte. Aber da war noch etwas - Antony suchte nach dem Wort - etwas Raubtierhaftes an dem Mann. Er schmeckte den Ausdruck kurz ab und lächelte wegen der Übertriebenheit über sich selbst. Vielleicht lag es nur an der Adlernase und dem schmalen Gesicht.
»Sind Sie Mr. Maitland?« fragte der Unbekannte abrupt, ohne jede Begrüßungsfloskel.
»Der bin ich.« Maitland ging durch das Zimmer, bis er bei seinem Besucher auf dem Kaminvorleger stand. »Nehmen Sie lieber Platz«, sagte er mit einer Geste, »und verraten Sie mir, worum es geht.«
Der Neuankömmling gehorchte insoweit, als er sich auf der Armlehne des Ohrensessels niederließ, der mit dem Rücken zum Fenster stand.
»Der Mr. Maitland, der Doktor James Collingwood verteidigt?« fragte er beharrlich.
»Derselbe. Wissen Sie etwas über den Fall?«
Das schien den Fremden zu belustigen.
»Weiß ich was?« sagte er und lachte heiser auf.
»Wenn das der Fall ist, wäre ich für Ihre Hilfe dankbar.«
»Es ist eigentlich nicht so sehr Hilfe, die ich anbiete.« Er war jetzt sicherer geworden. »Ich habe etwas, das Ihrer Verteidigung den Boden entzieht.«
Maitland betrachtete ihn kurz von oben bis unten.
»Ich halte es für sehr unwahrscheinlich, daß Sie über die Art der Verteidigung irgend etwas wissen können«, erklärte er kalt.
»Was ich nicht weiß, kann ich erraten, oder? Zu sehr Dame, um zuzugeben, daß sie sich hingelegt hat, was? Und er zu sehr Gentleman, um sie damit in Verlegenheit zu bringen, daß er zugibt, was sie getrieben haben.«
»Sprechen Sie zufällig von den beiden Angeklagten im Fall Johnstone?«
»Allerdings. So sehe ich sie jedenfalls.«
Antony glaubte nicht, daß er schon einmal einen Menschen so lüstern hatte feixen sehen, aber das war unzweifelhaft eine gute Beschreibung für den Ausdruck, den der Unbekannte ihm zeigte. Er drehte sich um, ging zum Sessel seines Onkels und setzte sich.
»Sie werden mir jetzt erklären, daß Sie bei dem verstorbenen Douglas Johnstone beschäftigt gewesen sind«, sagte er.
»Das ist aber richtig schlau von Ihnen, Mr. Maitland. So ist es.«
»Darf ich Ihren Namen erfahren?« Das war ganz die Art von Sir Nicholas, aber wie üblich ahnte Antony nichts davon.
»David Bingham. Meine Freunde nennen mich Dave.«
»Ich kann kaum das Gefühl haben, solche Höhen erklimmen zu können. Was haben Sie mir zu sagen, Mr. Bingham?«
»Es geht nicht so sehr darum, was ich für Sie tun kann, als darum, was Sie für mich tun können, Mr. Maitland. Es ist die andere Seite, die das Geld hat, Mrs. Johnstone und ihre Leute.«
»Sie wollen Geld für Ihre Information?« Er spielte absichtlich auf Zeit, weil das etwas war, das ihm ganz und gar nicht gefiel.
»Jetzt kommen wir zur Sache.« Binghams Stimme verriet eine gewisse Befriedigung. »Ich will nicht so sehr Geld für die Information, als dafür, daß ich den Mund halte.«
»Verstehe.« Wenn er seinen aufsteigenden Zorn zeigte, mochte er die abstoßenden Einzelheiten dessen, was der Mann zu sagen hatte, nie erfahren. »Teilen Sie mir lieber mit, was Sie zu verkaufen haben«, sagte er beherrscht, ohne aber die Verachtung aus seiner Stimme ganz heraushalten zu können.
»Das sagte ich schon. Mein Schweigen.«
»Bis ich weiß, worüber Sie schweigen wollen - « Maitlands Stimme klang rauh, aber er machte sich nicht die Mühe, den Satz beenden zu wollen. Der andere betrachtete ihn zum erstenmal mit Unruhe, war aber trotzdem bereit, deutlich zu werden.
»Ich kann der Polizei genaue Einzelheiten über einen Nachmittag berichten, den die beiden in einem kleinen Hotel miteinander verbracht haben«, sagte er. »In einem, das auf diesem Gebiet nicht so streng ist.«
»Warum glauben Sie, daß die Polizei davon nichts weiß?«
»Ich kenne den Portier, wissen Sie. Es ist keiner gekommen, um ihm Fragen zu stellen. Er ist derjenige, der sie identifizieren müßte, weil natürlich ein falscher Name verwendet worden ist.«
»Schlagen Sie vor, daß wir auch den Portier schmieren?«
»Keine Sorge, ich war taktvoll bei ihm. Er hat keine Ahnung, wer die Gäste waren, aber wenn man beispielsweise eine Polizeiparade machen würde - «
»Verstehe.« Und er verstand wirklich, nur allzu gut. »Darf ich fragen, warum Sie zu mir gekommen sind, statt zu Mrs. Johnstones Anwalt?«
»In meinem Beruf lernt man Ihresgleichen kennen. O'Brien soll sehr jähzornig sein, heißt es.«
Das galt für Maitland auch, und in diesem Augenblick hätte man behaupten können, daß er sich enorm anstrengte, um die Beherrschung nicht zu verlieren.
»Sie dachten, ich würde Sie vielleicht gelassener empfangen?« fragte er einigermaßen ruhig.
»Na ja, von Zeit zu Zeit wird über Sie geredet, Mr. Maitland. Und da dachte ich, wenn Sie ihm das klarmachen - «
»Sie haben mein Einverständnis vorausgesetzt?«
»Hatte ich nicht recht?« Seine Selbstsicherheit war zurückgekehrt, und aus irgendeinem Grund brachte die überhebliche Art, wie er das sagte, das Faß zum Überlaufen.
Maitland stand plötzlich auf.
»Was mich betrifft, können Sie mit Ihrer Information zum Teufel gehen«, sagte er wutentbrannt.
Einen Augenblick lang schien es, als begreife Bingham nicht, obwohl er sich im Sessel ein wenig zusammenduckte.
»Ich gehe sofort zur Polizei«, erklärte er warnend.
Antony streckte die linke Hand aus, packte den Besucher am Jackett und riß ihn hoch. Er widerstand der Versuchung, den unwillkommenen Gast zu schütteln, wie ein Terrier eine Ratte, und sagte mit erstaunlicher Liebenswürdigkeit: »Das erspart mir die Mühe, mich selbst an sie zu wenden.«
Einen Augenblick lang ging es Bingham nur darum, freizukommen, dann hastete er zur Tür. Als er sicher hinter dem Sofa stand, fuhr er herum und fauchte: »Damit sind sie geliefert, warten Sie nur ab.«
Antony unternahm keinen Versuch, ihm zu folgen.
»Man wird auch sehr interessiert sein, von Ihrem Erpressungsversuch zu erfahren«, sagte er ruhig.
Daraufhin ergriff der andere endgültig die Flucht. Jenny, die kurz darauf hereinkam, sah Antony fragend an.
»Was hast du denn zu dem armen Mann gesagt, Antony? Er sah aus, als wären sämtliche Höllenhunde hinter ihm her.«
»Ist er fort?«
»Ja, er stürzte hinaus und ließ die Wohnungstür offen. Als ich sie zumachte, hörte ich ihn die Treppe hinunterpoltern. Ich weiß gar nicht, was Gibbs sagen wird.«
»Er wird es zu Onkel Nick und nicht zu uns sagen, und Onkel Nick ist zur Zeit in neue Akten vertieft.«
»Ja, und was wollte er… der Mann?«
»Mich erpressen, oder vielmehr - «, fügte er schnell hinzu, als er ihren Gesichtsausdruck sah, »einen meiner Mandanten. Und dabei fällt mir ein, daß ich am besten sofort Kevin O'Brien anrufe, Liebes.«
»Es ist dieser Fall, nicht? Geh nach dem Abendessen lieber hinunter und sprich mit Onkel Nick. Du weißt, daß er interessiert ist.«
»Ich bezweifle, ob er mir zuhören würde. Oder vielleicht… da ist ein moralisches Problem, Liebling. Kann sein, daß ich ihm das vorlege, sobald ich mit O'Brien gesprochen habe.«
O'Brien war zu Hause. Es war seine Gattin, die sich am Telefon meldete. Er hatte eine Frau aus seiner Heimatstadt geheiratet, und Antony fühlte sich auf unklare Weise getröstet, den North Country-Dialekt zu hören, als sie den Hörer abnahm. Außerdem brachte ihn das auf eine Idee.
»Ja, er ist da«, sagte sie, als er nach Kevin fragte. Kurz danach hörte er O'Briens Stimme.
Antony schilderte kurz, was geschehen war.
»Sie sollten es als Kompliment betrachten«, sagte er abschließend, »daß er lieber zu mir als zu Ihnen gekommen ist. Offenkundig werde ich von den zwielichtigeren Figuren seines Berufes selbst als ein wenig zwielichtig angesehen.«
»Wird er zur Polizei gehen?«
»Das glaube ich weniger. Er rannte wie ein Hase, als ich von Erpressung sprach. Aber dafür stellt sich eben die Frage, ob wir selbst hingehen sollen, O'Brien.«
»Auf gar keinen Fall.« Er schwieg kurze Zeit und fügte dann beschwichtigend hinzu: »Der Kerl scheint Sie geärgert zu haben, Maitland, aber sehen Sie nicht, daß das in Wirklichkeit ein Glückszufall ist? Wenn die Polizei später dahinterkommt, sind wir wenigstens auf das Schlimmste vorbereitet, was bei Gericht vorgebracht werden kann.«
»Ich bin nicht gerade glücklich darüber, daß unsere beiden Mandanten uns angelogen haben.«
»Das wußten Sie aber doch, oder nicht?«
»Mag sein«, sagte Maitland widerstrebend. »Aber das ist nicht ganz dasselbe, als wenn man es um die Ohren geschlagen bekommt.«
»Sie werden sich besser fühlen, wenn Sie gegessen haben«, sagte O'Brien aufmunternd.
»Na, wenigstens… macht es Ihnen etwas aus, wenn ich Onkel Nick das Problem vorlege?«
»Natürlich nicht. Er besitzt gesunden Menschenverstand«, meinte Kevin, schon im Begriffe, aufzulegen.
Antony und Jenny gingen also um halb zehn Uhr hinunter.
»Obwohl ich gar nicht sicher bin, daß er mir auch nur zuhören wird«, meinte Antony unterwegs bedrückt.
»Ja, das hast du schon einmal gesagt. Wenn er so tief in seinen Akten steckt«, erklärte Jenny nachdenklich, »wird das für Vera eine neue Erfahrung sein. Bin neugierig, wie sie zurechtkommt.«
Sie hätte sich keine Gedanken zu machen brauchen. Sie fanden die Hardings im Arbeitszimmer, Sir Nicholas nicht an seinem Schreibtisch, wie Antony fest erwartet hatte, sondern vor dem Kamin, schon drei Zentimeter Asche an seiner Zigarre. Er begrüßte sie auf seine gewohnt gemächliche Art und stand auf, um die Honneurs zu machen. Es gab Benedictine für Jenny, seinen besten Kognak für Antony (was schon für sich ein Anreiz war, nach dem Abendessen herunterzukommen), und Vera, die seit ihrer Verheiratung Geschmack an härteren Getränken entwickelt hatte, war bereits mit Kognak versorgt.
»Wie läuft es in der Sache Connor, Onkel Nick?« fragte Antony, als Jenny und er sich dem Feuer gegenüber nebeneinander auf das Sofa setzten.
»Läuft schon, läuft schon.« Sir Nicholas, wieder in seinem Sessel, gab sich so abwesend, als hätte er von dem Fall noch nie gehört.
»Ich hatte befürchtet, du arbeitest daran.«
»Zeit genug dafür in der Kanzlei«, erklärte Sir Nicholas mit einer Lässigkeit, die seinem Neffen den Atem raubte. Das war das zweite Wunder, das Vera bewirkt hatte, nach dem ersten, das Personal dazu zu bewegen, daß es sie akzeptierte, aber es kam ihm noch erstaunlicher vor; früher hatte man mit seinem Leben gespielt, wenn Sir Nicholas mit einem schwierigen Fall in den Wehen lag. Jetzt kann ein Kind mit ihm spielen, dachte Antony respektlos. Er betrachtete seine frischgebackene Tante mit Respekt.
»Du siehst müde aus, Antony«, stellte sein Onkel nach einer kurzen Pause fest. »Wohl die Sache Collingwood. Kannst du nicht wie ich deine Arbeit in der Kanzlei lassen?«
»Das machst du auch erst, seit du mit Vera verheiratet bist, Onkel Nick«, betonte Jenny. Es war ein Grundsatz bei ihr, ihm keine Bemerkung durchgehen zu lassen, die sie für ungerecht hielt. »Aber du hast völlig recht, es ist der Fall Collingwood. Vor dem Abendessen war ein Mann hier - «
»Das hat Gibbs mir berichtet. Kein angenehmer Mensch, Sir Nicholas«, äffte er Gibbs nach, obwohl er auf diesem Gebiet nicht über Antonys Geschick verfügte, »aber nicht davon abzubringen, daß er auf Mr. Maitland warten wollte. Da nun Lady Harding im Arbeitszimmer war - «
»Das ist der Kerl.« Zum zweitenmal schilderte Antony sein Gespräch mit Bingham. »O'Brien ist der Meinung, wir wären nicht verpflichtet, die Polizei zu unterrichten«, sagte er, als er fertig war und sein Onkel offenbar nicht gleich etwas beizusteuern hatte. »Ich habe ihm erklärt, daß ich das mit dir bespreche.«
Sir Nicholas setzte sich daraufhin kerzengerade auf und verlor die Asche an seiner Zigarre.
»Das nenne ich, deine Skrupel ein wenig zu weit treiben, Antony«, erklärte er. »Du hast natürlich keine Verpflichtung, irgend etwas zu sagen.«
»Dann muß ich O'Briens Meinung bestätigen, daß der Besuch ein Glück im Unglück war. Wenigstens wissen wir jetzt das Schlimmste.«
»Und die Tatsache, daß dein Mandant nicht vertrauenswürdig ist, stört dich gar nicht?« fragte Sir Nicholas kalt.
»Ich wußte, daß er sich nicht ganz an die Wahrheit hält, das habe ich schon gesagt, Onkel Nick. Herrgott noch mal, an seiner Stelle würde ich vermutlich auch lügen.«
Das war eine unglückliche Bemerkung, weil sie seinen Onkel an die eine oder andere Episode in der Vergangenheit erinnerte, die besser unerwähnt blieb. Er raffte sich zu einem Vortrag auf, als Vera mit einem warnenden Blick auf das jüngere Paar ruhig sagte: »Ich glaube, Nicholas hat recht, Antony. Wenn du jetzt beruhigt bist, brauchen wir wohl nicht mehr zu fachsimpeln.« Was eigentlich recht kaltblütig war, wie sie später übereinstimmend feststellten, wo das Fachsimpeln in diesem Juristenhaushalt doch einen so hohen Rang einnahm und Vera selbst eine der größten Sünderinnen war. Aber inzwischen war Sir Nicholas zum Schweigen gebracht, etwas, das Antony auch gern beherrscht hätte, und sie verbrachten einen friedlichen Abend mit Gesprächen über andere Dinge.
Samstag, 20. November
1
Das erste Gespräch, das Willett für ihn vereinbart hatte, war für den folgenden Vormittag elf Uhr mit Kates Eltern Horace und Amelia Harley angesetzt, und man konnte nicht behaupten, daß Maitland sich in irgendeiner Form darauf freute. Der Wilgrave Square war stets eine elegante Wohngegend gewesen, und die wenigen Häuser, die noch im Privatbesitz waren, erwiesen sich als außerordentlich gut gepflegt. Das Haus der Harleys an der Nordseite - im ganzen angenehmer als die Südseite, wo die Johnstones gewohnt hatten - machte da keine Ausnahme. Antony zögerte einen Augenblick, bevor er die sechs Stufen zur Eingangstür hinaufstieg. Er wußte, daß er seine Gedanken inzwischen besser hätte ordnen sollen, aber er hatte immer noch nicht entschieden, wie er das Gespräch am besten führen sollte. Außerdem rechnete er damit, von jemandem eingelassen zu werden, der so mißgelaunt war wie Gibbs oder Sophie, und auch diese Erwartung erfüllte ihn nicht mit Vorfreude.
Die Tür wurde jedoch von einer fröhlichen älteren Frau geöffnet, deren graue Locken unter dem Häubchen eines Dienstmädchens hervorlugten. Sie sagte nicht gerade mein Lieber oder lieber Herr zu ihm, aber er hatte das Gefühl, daß nicht viel fehlte. Vielleicht täuschte er sich bei ihren Herrschaften ebenso.
»Mr. Harley sagte, ich soll Sie ins Arbeitszimmer führen«, erklärte sie und ging voran.
Obwohl nirgends ein Stäubchen sichtbar war, handelte es sich offenbar um einen Raum, der nie benutzt wurde. Ein Zeichen dafür, was sie von mir halten, dachte er bedrückt, als Verteidiger des Mannes, der ihre Tochter verführt hat. Sie mußten eine vorgefaßte Meinung von ihm haben, wie von seinem Mandanten auch, und er mochte mit Engelszungen reden, er sah keinen Weg, daran etwas zu ändern.
Sie kamen miteinander herein, ein in sich ruhendes, freundlich aussehendes Paar, Horace Harley nicht größer als seine Tochter, und seine Frau Amelia wohl keine einsfünfundfünfzig. Es dauerte einen Augenblick, bevor er begriff, daß sie ihn beide frostig ansahen, und als Harley zu sprechen begann, klang seine Stimme wenig liebenswürdig.
»Ich habe mich nur zu einem Zweck bereit gefunden, Sie zu empfangen, Mr. Maitland«, sagte er. »Um eine Erklärung für diese Verschwörung zu erhalten.«
Welche Begrüßung Maitland auch erwartet haben mochte, das war sie nicht gewesen.
»Verschwörung?« sagte er verständnislos. Seine Verwirrung war echt. Er warf dabei einen Blick auf Mrs. Harley, aber sie sah ihn eher noch abweisender an als ihr Mann.
»Ich hätte nicht gedacht, daß das einer Erklärung bedarf«, stellte sie fest.
»Aber doch.« Vielleicht war es ganz gut, daß er sich nicht genau überlegt hatte, wie das Gespräch zu führen sei, denn das hätte ihn zweifellos aus der Fassung gebracht.
Mrs. Harley ging gemessenen Schrittes an ihm vorbei, um sich zu setzen.
»Das dauert vielleicht einige Zeit«, meinte sie. »Ich glaube, Horace - «
»Gewiß.« Er zeigte auf einen Stuhl. »Wenn Sie Platz nehmen wollen, Mr. Maitland - «
Antony gehorchte, obwohl er, wie üblich, lieber hin und her gegangen wäre.
»Sie werden mir glauben müssen, daß ich nicht verstehe, wovon Sie sprechen«, erklärte er rundheraus.
»Hilft es, wenn ich Ihnen sage, daß ich seit Ihrem Gespräch am vergangenen Mittwoch mit meiner Tochter mit David Shaw gesprochen habe?«
Nun ja, natürlich, das war nur zu erwarten gewesen, und Horace Harley war offenkundig ein Mann, der es für selbstverständlich hielt, daß alles nach seinem Willen geschah.
»Das erklärt nicht die Verwendung des Wortes Verschwörung «, sagte Antony, und es klang für ihn so abweisend wie die Worte der Harleys.
»Kathleen hat unseren Rat völlig zurückgewiesen, in einem Maße, daß David nicht mehr ihr Solicitor ist. Sie und dieser O'Brien scheinen sie überredet zu haben… und wenn das keine Verschwörung ist, Mr. Maitland, weiß ich nicht, was eine sein soll.«
»Ihre Tochter wünscht zusammen mit meinem Mandanten James Collingwood auf nichtschuldig zu plädieren, Mr. Harley. Ich wüßte nicht, was daran zu beanstanden wäre.«
»Können Sie aufrichtig behaupten, daß das nach Ihrer Meinung der beste Weg für sie ist? Können Sie der Jury klarmachen, daß es wahr ist, was sie sagt?«
»Ich kann beides nicht eindeutig beantworten.«
»Wenn man dem Gericht klarmachen könnte, daß sie unter dem Einfluß dieses Collingwood gehandelt hat - «
»Ja, aber das glaube ich nicht, wissen Sie.«
»Dann sind Sie also fest von Ihrer Unschuld überzeugt?«
Das war eine schwierige Frage. Wenn sie O'Brien gestellt worden wäre, hätte ihm die Antwort sicherlich keine Schwierigkeiten bereitet, und er beneidete seinen Kollegen wieder einmal um seine Gewißheit.
»Ich glaube, sie hat das Recht, zu plädieren, wie sie will, und das Recht auf eine unparteiische Verhandlung im Rahmen des Beweismaterials«, sagte er bedächtig. »Wir, O'Brien und ich und unsere Referendare und natürlich auch die Solicitors, die uns beauftragt haben, werden versuchen, dafür zu sorgen, daß sie das erhält. Meine Rolle besteht darin, darauf zu achten, daß alle Indizien… nun, zur Verfügung stehen. Und deshalb brauche ich Ihre Hilfe.«
Horace Harley hatte dafür nur einen verächtlichen Blick übrig.
»Sie verurteilen sie damit vielleicht zu lebenslänglich, statt zu einer kurzen Gefängnisstrafe«, erklärte er. »Wenn dem Gericht klargemacht würde, daß sie unter Collingwoods Einfluß gehandelt hat… aber für Sie ist das wohl alles werbewirksam.«
Wenn man bedachte, wie sehr Antony jedes Aufsehen haßte, hätte diese Bemerkung ihn sehr wohl aufbringen können. Statt dessen blickte er von einem zum anderen, hob mit einer hilflos wirkenden Geste die Hände und sagte: »Sie glauben, daß Ihre Tochter schuldig ist. Überzeugen Sie mich.«
Es war Mrs. Harley, die den Fehdehandschuh aufnahm.
»Wir kennen Kathleen, Mr. Maitland. Sie ist immer ungezügelt und eigensinnig gewesen, schon als Kind.«
»Vielleicht können Sie mir ein paar Beispiele dafür nennen.«
»Als sie zehn Jahre alt war, weigerte sie sich, weiter den Tempel zu besuchen.«
Er gab sich Mühe, seine Verwirrung zu verbergen.
»Tempel?« wiederholte er so sachlich, wie es ihm möglich war.
»Wo wir beten. Der Prediger ist ein so großartiger Mensch, Mr. Maitland.« Einen Augenblick lang schien es, als hätte sie den Anlaß des Gespräches vergessen und sei bemüht, ihn zu ihrem Glauben zu bekehren. »Wir haben auch ein Haus auf dem Land, und Kathleen wollte immer hinfahren, aber in Wirklichkeit war sie bestrebt, dem Besuch des Tempels hier zu entgehen.«
»Sie haben ihr den Willen gelassen?«
»Natürlich nicht, das kam gar nicht in Frage. Sie begleitete uns weiterhin, bis sie heiratete. Aber ich glaube, Sie können jetzt verstehen, warum wir so erleichtert waren, als ein vernünftiger Mann wie Douglas Johnstone ihr einen Antrag machte und sie ihn annahm.«
»Das war ihr eigener Wunsch? Sie mußte nicht dazu überredet werden?«
»Ganz ihr eigener Wunsch. Wir hätten nicht im Traum daran gedacht, Zwang auszuüben.«
In Anbetracht dessen, was sie ihm eben erzählt hatte, war das eine merkwürdige Behauptung, aber seine Miene blieb so ernst wie die der Harleys.
»Welche Meinung hatten Sie von Johnstone?« fragte er.
»Ein feiner Mensch. Nicht auf konventionelle Weise religiös«, (betrachtete sie ihre eigenen Ansichten als orthodox?), »aber mit sehr festen Grundsätzen.«
»Wir dachten beide, bei ihm wäre sie sicher«, sagte Horace Harley. Er sprach schleppend, so, als bedrücke ihn der Gedanke, wie sehr sie sich geirrt hatten.
»Wie lange dauerte es, bis Sie erkannten, daß bei ihnen nicht alles in Ordnung war?«
»Leider nicht lange. Es war Kathleens Halsstarrigkeit, wissen Sie, alles mußte nach ihrem Kopf gehen. Man konnte nicht verlangen, daß Douglas das hinnahm.«
»Sie waren ihm also gram, weil Kates Leben nicht in jeder Beziehung Ihren Wünschen entsprach?«
»Ich weiß nicht recht, was Sie damit meinen, Mr. Maitland.« Harley griff wieder ein. »Wenn Sie damit andeuten wollen - «
Maitlands Interesse war geweckt, und er hatte tatsächlich nicht bedacht, wie die Frage klingen mochte.
»Ich hatte keine Hintergedanken«, erklärte er und zwang sich ein Lächeln ab.
»Auf jeden Fall ist die Antwort ein Nein. Was an Schuld gegeben war, lag bei Kathleen, nicht bei Douglas.«
»Und das ist der ganze Grund, weshalb Sie sie für schuldig halten? Es ist ein weiter Schritt von - wie sagten Sie? - Halsstarrigkeit bis zur Ermordung des Ehemannes.«
»Natürlich glauben wir nicht, daß sie, sich selbst überlassen, so etwas getan hätte. Deshalb messen wir diesem Collingwood solche Schuld zu. Ihrem Mandanten«, erinnerte ihn Amelia Harley.
»Genau. Mein Standpunkt muß natürlich ein völlig anderer sein als der Ihre… finden Sie nicht? Was wissen Sie, zum Beispiel, über ihn?«
»Daß er sich ins Haus eingeschlichen hat, als Doktor Trevelyan beschäftigt war, und zwar ohne Douglas' Wissen. Daß er Kathleen zu einer unzulässigen Beziehung überredet hat. Daß sie Douglas um die Scheidung bat.«
»Von wem stammen Ihre Informationen dazu?«
»Von Douglas selbst. Und ich darf sagen, ich gehe völlig einig mit seinem Wunsch, die Kinder zu behalten, nachdem Kathleen sich so schlecht benommen hatte.«
»Hat Kate mit Ihnen jemals über Doktor Collingwood gesprochen?«
»Es kann sein, daß sie seinen Namen erwähnt hat, aber das war, bevor wir wußten, was vorging.«
»Sie glauben nicht, daß ein Mann von Douglas Johnstones eher strengem Charakter - entschuldigen Sie, da sind Sie mit mir nicht ganz einer Meinung, nicht? - sich außerhalb seines Familienkreises Feinde geschaffen haben könnte?«
»Ich weiß von niemandem«, erklärte Horace Harley, aber er sah seine Frau dabei an, als heische er Bestätigung.
Sie schüttelte heftig den Kopf.
»Ich bin sicher, daß da niemand war«, sagte sie. »Außerdem geht es um das Morphium. Es ist offenkundig, daß Ihr Doktor Collingwood es beschafft hat.«
»In vielen Familien gibt es jemanden, der beispielsweise an Krebs gestorben ist, wofür so etwas verschrieben worden sein mag, ohne daß es verbraucht oder weggeworfen worden wäre. Es steht keineswegs fest, daß das Mittel aus Doktor Trevelyans Praxis stammt.« Maitland stellte das entschieden genug fest, obwohl er innerlich gewisse Zweifel hatte.
Mrs. Harley schien darüber nachzudenken.
»Ich bin ein wenig enttäuscht von Doktor Trevelyan«, sagte sie schließlich.
»Sie kennen ihn also?«
»Gewiß kennen wir uns. Er behandelt uns, wenn es erforderlich ist, aber das kommt zum Glück nicht oft vor.«
»Und weshalb sind Sie von ihm enttäuscht?«
»Weil er offenbar unsicher ist, was die Herkunft des Morphiums betrifft«, sagte Horace Harley, der sich nun wieder am Gespräch beteiligte. »Er wird von der Anklage benannt, was zeigt, was man dort davon hält, aber er bleibt bei seiner Sympathie für Collingwood und gibt sich alle Mühe, ihn zu verteidigen.«
»Er kennt ihn schließlich viel besser als wir alle«, betonte Maitland ruhig.
»Darauf kommt es wohl kaum an«, sagte Mrs. Harley in einem Ton, der eigentlich sagen wollte: Genug von diesem Thema. »Nun haben Sie gehört, wie wir über die Dinge denken, Mr. Maitland. Halten Sie es immer noch für richtig, Kathleen zu ermutigen, daß sich sich gegen uns stellt?«
»Es geht eigentlich nicht um eine gegensätzliche Einstellung«, sagte er und suchte nach den richtigen, den überzeugendsten Worten. »Ich glaube, sie verdient eine unparteiische Anhörung, das ist alles.«
»Dann gibt es nichts mehr zu sagen.«
»Aber ich habe noch gar nicht… Ich hoffte - «
Vielleicht hatte Horace Harley doch menschliche Schwächen, etwa, daß er neugierig war.
»Ich finde, wir sollten uns anhören, was Mr. Maitland zu sagen hat«, schlug er vor.
Seine Frau neigte den Kopf. Maitland, der sie entschieden für die Gefährlichere der beiden hielt, wandte sich diesmal direkt an Horace Harley.
»Ich wollte wissen, was Sie mir über Charles Johnstone und seine Frau sagen können«, erklärte er.
Offenbar handelte es sich hier wieder um zwei Menschen, von denen seine Gastgeber nicht viel hielten.
»Sie haben die Vormundschaft über die Kinder«, stellte Mrs. Harley verbittert fest.
»Aber das ist doch wohl -?«
»Wir hätten sie genommen. Natürlich hätten sie zu uns kommen sollen. In diesem Haus lernen sie nichts Gutes.«
»Charles hat also nichts von der bewundernswerten Art seines Bruders?« fragte Maitland und erntete einen scharfen Blick von Amelia.
»Ein frivoles Paar«, sagte Horace nur, und damit schien das Thema abgeschlossen zu sein.
Antony brachte seinen letzten Punkt ohne große Hoffnung zur Sprache.
»Douglas Johnstones Teilhaber?« sagte er und machte eine Frage aus den Worten.
Mrs. Harley rümpfte die Nase.
»Ich weiß nichts gegen ihn«, sagte sie, und Maitland wurde das Gefühl nicht los, daß das eine Enttäuschung für sie war. »Dagegen Jean. Ich war immer der Meinung, daß Jean auf Kathleen einen guten Einfluß ausüben würde.«
»Haben Sie Ihre Meinung darüber geändert?«
»Nicht unbedingt, aber Kathleen hätte eine leitende Hand brauchen können, Mr. Maitland, und auf uns wollte sie nicht hören.«
Maitland stand langsam auf.
»Wann haben Sie Ihre Tochter das letztemal gesehen?« fragte er.
»Das liegt einen ganzen Monat zurück, nicht wahr, Horace?«
»Und Douglas Johnstone?«
»Zur selben Zeit. Sie waren zum Abendessen bei uns.« Sie stand ebenfalls auf, und ihr Tonfall klang so abschließend, wie es nur irgend möglich war. »Ich hatte gehofft, Ihnen klarmachen zu können, daß das, was Sie tun, für Kathleen nicht gut ist, Mr. Maitland«, sagte sie kalt.
Obwohl danach ein paar verbindliche Abschiedsworte geäußert wurden, blieb die Kälte, bis er endlich im Freien stand.
Der Haken dabei ist, dachte er, während er nach einem Taxi Ausschau hielt, daß sie sogar im Recht sein mögen. Er versuchte sich mit dem Gedanken zu trösten, daß Kate Johnstone O'Briens Problem war, nicht das seine, aber er war sich die ganze Zeit über unbehaglich bewußt, daß er, zumindest stillschweigend, Verantwortung gegenüber beiden Angeklagten übernommen hatte.
2
Weil Samstag war, fuhr er zurück zum Kempenfeldt Square zum Mittagessen, das er und Jenny an diesem Tag stets mit Sir Nicholas einnahmen. So unwahrscheinlich sich das auch anhörte, Sir Nicholas schien seinen eigenen mühevollen Fall vorübergehend vergessen zu haben. Er war an diesem Vormittag voller Fragen nach Antonys Schritten, und obwohl er dazu nur sagte: »Reine Zeitverschwendung«, war offenkundig, daß ihn das Gehörte durchaus nicht erfreute. Zu Antonys Belustigung hatte Vera jedoch unübersehbar Spaß an der Diskussion, so großen sogar, daß er sich fragte, ob sie nicht doch bedauerte, nicht mehr selbst im Beruf zu sein. Jenny beschäftigte sich mit ihrem Teller. Schon immer eine bessere Zuhörerin als Rednerin, war sie an diesem Tag vielleicht ungewöhnlich schweigsam, aber er hoffte, der einzige Grund dafür könnte der sein, daß sie seine Gesellschaft an einem Tag entbehren mußte, an dem sie sonst damit rechnen durfte, ihn bei sich zu haben.
Seine nächste Fahrt führte ihn in die entgegengesetzte Richtung von heute morgen. Charles Johnstone und seine Frau wohnten in Bayswater, in einem alten Haus, nicht ganz so schmuck wie das von den Harleys bewohnte, und auch hier waren viele Gebäude in der Nachbarschaft in Bürohäuser oder Einzelwohnungen umgewandelt worden. Charles Johnstone war ein großer, zottiger Mann, auf ungewöhnliche Weise, vielleicht zu Ehren des Wochenendes, mit einem ebenso zottigen Tweedanzug angetan. Er mußte seinen Besucher schon erwartet haben, weil er ihn selbst ins Haus ließ und sofort in einen großen, bequemen Salon führte.
Felicity, seine Frau, erwartete sie dort, und Antony kam auf den Gedanken, daß sie in der Kleidung ihres Mannes (die ihr sehr gut gepaßt hätte) und unter Hinzugabe eines Schnauzbartes in einer dunklen Nacht sich sehr gut für ihren Mann hätte ausgeben können. Aber sie nahmen ihn freundlich, ja sogar überschwenglich auf, was nach seinem Erlebnis am Vormittag bei den Harleys eine willkommene Abwechslung war.
»Nicht, daß ich erkennen würde, was wir tun können«, sagte Charles, als er sich endlich davon überzeugen ließ, daß sein Gast nichts von der beunruhigenden Vielfalt an Erfrischungen begehrte, die er angeboten hatte, »abgesehen davon, daß wir in Bereitschaft stehen und uns um die Kinder kümmern. Aber wenn Sie natürlich glauben - «
»Ich… fische im dunklen herum«, sagte Maitland. Er hatte diesen Ausdruck schon öfter verwendet und fand ihn nützlich, wenn es galt, einen nervösen Zeugen zu beruhigen. Nicht, daß einer von den Johnstones auch nur von fern nervös gewirkt hätte; angeregt wäre ein besserer Ausdruck gewesen, wobei sie ihre Erregung jedoch angesichts des Ernstes der Lage unterdrückten.
»Also dann!« sagte Charles Johnstone, zur Sache kommend. »Was den armen Douglas angeht - «
»Es ist Ihnen klar, daß ich Ihre Schwägerin nicht direkt vertrete. Mein Mandant ist Doktor Collingwood.«
»Na und? Kommt auf dasselbe raus«, meinte Charles heiter.
Antony fragte sich nebenbei, wie er zu diesem Schluß gekommen sein mochte.
»Ich mochte damit beginnen, daß ich Sie bitte, mir von Ihrem Besuch im Haus Ihres Bruders an diesem Tag zu berichten.«
»Nun, es ist kein Geheimnis, daß Douglas und ich keine allzu engen Freunde waren. Keine Mißhelligkeiten, wohlgemerkt, wir hatten nur eben nichts gemeinsam. Die Einladung zum Mittagessen war praktisch eine Formalität, und Felicity war sehr froh darüber, eine Ausrede zu haben. Als ich ankam und entdeckte, daß auch Douglas nicht gekommen war, fand ich das ein wenig stark. Ich muß aber sagen, daß ich das Essen in Kates Gesellschaft um so mehr genoß, und ich glaube nicht, daß meine Frau mir das übelnimmt.«
Felicity Johnstone lächelte.
»Ihr habt ja die Kinder als Aufpasser gehabt«, erklärte sie.
»Nicht die ganze Zeit.«
Es war offenkundig, daß sie über das Thema Witze miteinander zu machen pflegten, und während Antony von einem zur anderen sah, fragte er sich, ob hier nicht zur Abwechslung einmal ein wirklich einiges Paar vor ihm saß.
»Dann können Sie mir von Kate erzählen, wie sie an diesem Tag war.« Er entschuldigte sich nicht wieder dafür, den Vornamen gebraucht zu haben, er ging davon aus, daß sie begriffen, weshalb er das tat: um Verwirrung zu vermeiden. »Hatte sie irgend etwas an sich -?«
Zum erstenmal zog Charles Johnstone die Brauen zusammen.
»Wenn Sie darauf abzielen, daß wir etwas gegen Kate sagen - «
»Nichts lag mir ferner, glauben Sie mir.«
Zum Glück schienen beide seine Aufrichtigkeit in diesem Punkt zu akzeptieren. Es war Felicity, die das Schweigen brach.
»Jetzt tut es mir leid, daß ich nicht hingegangen bin. Ich kenne Kate sehr viel besser als Charles, wissen Sie. Ich bin oft hingegangen, um die Kinder zu besuchen. Wir haben selbst keine, und sie sind einfach reizend. Aber Charles kann Ihnen sagen - «
»Sie war genauso, wie sie immer ist, ganz die alte.« Es war ein bißchen zu nachdrücklich gesagt.
Maitland erklärte, scheinbar ohne Anlaß: »Sie müssen sich darüber im klaren sein, Mr. Johnstone, daß die Wahrheit die beste Waffe ist, mit der die Verteidigung antreten kann. Selbst wenn sie unangenehm ist.«
»Nichts Unangenehmes«, berichtigte Charles sofort. »Ich fand, daß sie an diesem Tag ziemlich traurig war, wenn Sie es wissen müssen. Natürlich hatte sie sich Sorgen um Dougie gemacht, er war den ersten Tag auf und wirkte sehr blaß und still. Kate ist eine gute Mutter, das muß man ihr lassen.«
Antony wandte den Kopf und sah Felicity an.
»Hat sie sich Ihnen jemals anvertraut, Mrs. Johnstone?«
»Wenn Sie meinen, was diesen Doktor Collingwood angeht, nein, nie. Aber im Rückblick glaube ich, daß sie manchmal, wenn es nicht notwendig war, seinen Namen ins Gespräch brachte, und das vielleicht nur aus dem Wunsch heraus, von ihm sprechen zu können. Aber Sie können Kate sagen - werden Sie sie sehen, Mr. Maitland? -, daß die Kinder sich bei uns sehr wohlfühlen.«
»Und viel besser dran sind als je bei Douglas«, entfuhr es Charles.
»Wenn Kate… wir können sie natürlich nicht gesetzlich adoptieren, solange sie lebt, aber wir können formell die Vormundschaft erhalten. Sagen Sie ihr das, Mr. Maitland«, drängte Felicity. Zum erstenmal schien sie ihm sorgenvoll zu wirken; vielleicht war es Sorge um ihre Schwägerin, vielleicht auch um die ungezügelte Zunge ihres Mannes.
»Ganz gewiß. Vielleicht würden Sie mir erlauben, die Kinder zu sehen, bevor ich gehe, Mrs. Johnstone.«
»Ich wüßte nicht, warum nicht, was meinst du, Charles?«
»Durchaus kein Einwand«, sagte er jovial. »Inzwischen fahren wir besser mit der Inquisition fort, nicht? Teilen Sie mir die Rolle des Ersten Mörders zu?«
Das war eine sonderbare Frage, ein Echo seines Gespräches mit Roger.
»Heißt das« - er sah sie der Reihe nach an -, »daß Sie Kate nicht für schuldig halten?«
»Sie haben mit Horace und Amelia gesprochen«, stellte Felicity Johnstone fest. »Sie haben an Kate nie ein gutes Haar gelassen, schon seit ihrer Kindheit nicht.«
»So lange kennen Sie sie schon?«
»O ja, viele Jahre.«
»Was übrigens Ihre Frage betrifft, Mr. Johnstone, ich habe im Augenblick keinen Kandidaten für diese Rolle. Aber ich möchte wissen, ob Ihnen etwas aufgefallen ist, als Sie nach dem Essen zum Zimmer Ihres Bruders hinaufgingen.«
»Ich habe nichts Besonderes gewollt«, erwiderte Charles. Er schien ein wenig betroffen zu sein, weil diese Frage gestellt wurde. »Ich wußte natürlich von den Injektionen, und wenn die Spritze nicht dagewesen wäre, hätte ich das vermutlich bemerkt, aber alles war wie immer.«
»Kennen Sie Doktor Trevelyan?«
»Mein ganzes Leben schon«, sagte Charles, und fast gleichzeitig erklärte Felicity: »Seit wir verheiratet sind.«
»Ein zuverlässiger Mann?«
»Vorsichtig«, sagte Charles und nickte.
»Aber ich bin nicht so sicher, daß er es mit Kindern jetzt noch am besten versteht«, erklärte Felicity.
»Und der Teilhaber Ihres Bruders?«
»Ach, Ernest ist das Salz der Erde. Aber wenn Sie jemanden suchen, der Kate wirklich nahestand, Mr. Maitland, warum wenden Sie sich nicht an Jean?«
»Sie ist Zeugin der Anklage«, sagte Antony ohne weitere Erläuterung. Er zögerte. Die beiden schienen wohlgesinnt zu sein, warum die Frage also nicht stellen? »Vielleicht können Sie mir etwas über das Testament Ihres Bruders sagen, Mr. Johnstone?«
»Hm, ja, zufällig weiß ich Bescheid. Alles fällt an Kate, so daß Sie daraus kein Motiv für eine andere Person herleiten können. Wenn sie verurteilt werden sollte, erben wohl die Kinder, aber das ist Sache der Rechtsanwälte.«
»Wäre Kate fachlich in der Lage, den Anteil ihres Mannes an der Firma zu übernehmen?«
»Die Frage stellt sich nicht. Eine Klausel sieht vor, daß Ernest Douglas' Anteile übernehmen kann, und er hat mir erklärt, daß er sie kaufen will. Unter den gegebenen Umständen verzögert sich das natürlich, aber soviel ich weiß, wird eine Regelung ausgearbeitet, bei der er gedeckt ist, gleichgültig was kommt.«
»Verstehe.« Das war nun wahrlich Stoff genug zum Nachdenken. »Die Kinder«, sagte er und lächelte Felicity Johnstone an. »Wenn es sich machen ließe -?«
»Ich lasse sie von Helen herunterbringen.«
»Ist das ihr Mädchen, das sie schon immer hatten?« fragte Maitland.
»Ja, wir wollten es ihnen so leicht machen wie möglich.«
»Dann holen Sie sie vielleicht lieber selbst, Mrs. Johnstone. Sie gehört auch zu den Leuten, mit denen ich eigentlich nicht reden darf.«
Es gab eine kleine Verzögerung, bis die Kinder hereingeführt wurden. Ihrem adretten Aussehen nach hatte man sie erst hergerichtet. Dougie kam, wie es seinem Alter zustand, als erster heran, um ihm die Hand zu geben, und benahm sich ganz wie ein Erwachsener. Janet hielt sich ein wenig im Hintergrund und beobachtete den Fremden, schien aber zu dem Schluß zu kommen, daß er harmlos war, und trat ebenfalls vor. Sie waren ein hübsches Paar, aber Antonys Interesse galt mehr der besitzergreifenden Art, die Mrs. Johnstone an den Tag legte. Gleichgültig, wie sie die Verhaftung ihrer Schwägerin betrachten mochte, es war unverkennbar, daß die tragische Angelegenheit für sie auch eine gute Seite hatte.
Hinterher fand er es merkwürdig, daß keiner der beiden Johnstones es für nötig gehalten hatte, ihm beim Gespräch mit den Kindern Vorsicht anzuraten. Er hoffte, es möge daran liegen, daß sie instinktiv seinem gesunden Menschenverstand vertrauten. Als Janet, die er rasch als die Anführerin ausgemacht hatte, ihre Schüchternheit überwand und zu ihm sagte: »Tante Felicity sagt, Sie sind bei Mami gewesen«, begriff er jedoch, daß diese Offenheit vielleicht die vernünftigste Einstellung war, zu der die Johnstones sich hatten entschließen können.
Er hatte sich wieder hingesetzt, und das kleine Mädchen blieb an seinen Knien stehen. Sie war so schwarzhaarig wie ihre Mutter, bereits jetzt ein hübsches Ding, später wohl einmal eine Schönheit. Dougie war eher blond, ein stämmig aussehender Junge, trotz des Geredes über seine Zartheit. Offensichtlich war es nicht Mangel an Interesse, das ihn veranlaßte, stiller zu sein als seine Schwester, vielmehr verfolgte er das Gespräch mit fast schmerzender Aufmerksamkeit.
»Ja«, sagte Maitland, »ich bin am Mittwoch bei eurer Mutter gewesen. Es geht ihr sehr gut, und sie läßt euch grüßen.« Zur Abwechslung verursachte ihm die kleine Verdrehung der Wahrheit nicht einmal sekundenlang Unbehagen.
»Tante Felicity sagt, sie kann nicht kommen und uns besuchen, weil die Leute Schlechtes über sie reden«, teilte ihm Janet vertraulich mit.
»Ich fürchte, das ist wahr, aber wir geben unser Bestes, um das richtigzustellen.«
»Und unser Doktor?«
»Doktor Collingwood?« Er warf einen fragenden Blick auf Mrs. Johnstone, die nachdrücklich nickte.
»Ja, richtig«, sagte sie, »sie haben ihn sehr gern.«
»Wir lieben ihn«, erklärte Janet entschieden, um die Sache zu bekräftigen. »Nicht wahr, Dougie?«
Dougie, der vorsichtiger oder vielleicht auch gehemmter war, begnügte sich mit einem Nicken. Janet griff nach Maitlands Ärmel und sagte vertrauensvoll: »Ich glaube, ich traue Ihnen.«
Das war wohl das letzte, was er hören wollte.
»Du darfst darauf vertrauen, daß ich mein Bestes gebe«, sagte er und verabscheute die Worte schon, während er sie aussprach. Aber er fing dabei Dougies Blick auf und wurde überrascht von einem mitfühlenden, beinahe verschwörerischen Blick, als wollte er sagen: Diese Frauen! »Erinnerst du dich an den Tag, bevor ihr zu eurer Tante und eurem Onkel gekommen seid?«
»Der Tag, an dem Pappi in den Himmel kam«, sagte Janet, ohne diesmal seinen Blick zu erwidern. Aber Dougie wurde mutiger.
»Der Tag, an dem er starb«, sagte er unverblümt.
»Richtig. Was habt ihr an diesem Tag gemacht?«
»Dougie war krank gewesen.« Janets Mitgefühl für diese Invalidität schien nicht groß zu sein. »Aber es war ein wunderschöner Tag, weil Mammi zum Mittagessen da war und Onkel Charles gekommen ist. Sonst essen wir im Spielzimmer zu Mittag.«
»Am Nachmittag hat euch Doktor Collingwood besucht?«
»Er ist zu mir gekommen«, gab Dougie gewichtig zurück.
»Seid ihr überrascht gewesen, ihn zu sehen?«
»O nein, er kommt immer, wenn einer von uns krank ist. Dougie war natürlich gar nicht mehr krank, sondern mußte sich nur noch schonen«, erklärte Janet auf eine sehr erwachsene Art.
»Ist einer von euch mit hinuntergegangen, als er sich verabschiedete? Oder euer Kindermädchen?«
»Nicht direkt«, sagte Janet. »Dougie war müde, aber ich habe ihn die halbe Treppe hinunterbegleitet.«
»Du meinst die Treppe zwischen eurem Stockwerk und dem, wo die Schlafzimmer sind?«
»Aber natürlich.« Janet war bei Erklärungen nie geduldig. »Es tat mir leid, daß er schon ging, wissen Sie, also blieb ich stehen und sah ihm nach.«
»Hast du von deinem Platz aus die Haupttreppe sehen können?«
Sie hielt das offensichtlich für eine alberne Frage und sagte noch einmal ungeduldig: »Aber natürlich.«
»Ist er aus irgendeinem Grund stehengeblieben?«
»Nein, wozu denn? Er ging über den Absatz und die Treppe hinunter. Mammi hatte Jean wohl gebeten, den Tee zu bringen.«
Maitland gab sich große Mühe, jede Betonung aus seiner Stimme fernzuhalten. Ein interessanter Punkt, aber im Grunde nicht von Belang. Die Anklage behauptete nicht, James Collingwood hätte die Spritze selbst aufgezogen. Trotzdem war er froh darüber, mit den Kindern gesprochen zu haben, und als sie sich verabschiedet hatten, Dougie mit angemessener Ernsthaftigkeit, Janet sehr lebhaft, sah er sie hinter Felicity Johnstone hinausgehen und begriff unbehaglich, was es für ihre Mutter bedeuten mußte, von ihnen ebenso wie von allem anderen, durch welches das Dasein lebenswert wurde, getrennt zu sein.
Die Angebote von Erfrischungen wurden erneuert, es dauerte eine Zeit, bis er sich losmachen konnte, aber endlich gelang es ihm, und er trat hinaus in den stillen, sonnigen Nachmittag. Nur noch ein Gespräch, bevor er für heute aufhören konnte. Er hoffte, Ernest Lamb so sympathisch zu finden wie die Johnstones.
3
Die Lambs hatten es vorgezogen, in einen der neuen, großen Blocks mit Luxuswohnungen, die auf die Themse hinausblickten, zu ziehen. Auch die Einrichtung sah neu aus, so, als hätten sie beschlossen, mit einem Schlag auf ihren ganzen alten Besitz zu verzichten. Für Maitlands Auge, der an die ein wenig abgewetzte Eleganz im Hause seines Onkels gewöhnt war, sah das seltsam aus, aber er begriff bald, daß Jean Lamb trotz skandinavischer Möbel und hochmoderner Vorhangmuster als häuslicher Mensch gelten mußte. Alles war auf Behaglichkeit abgestimmt, die Farben, die sie ausgewählt hatte, paßten ideal zu den Blumen der Jahreszeit. Erst später kam er auf den Gedanken, daß das vielleicht eine eher sterile Behaglichkeit war - es lagen keine Zeitungen herum, keine aufgeschlagenen Bücher auf dem Sofa, es gab keine Stereoanlage, und die Scheite im Kamin waren künstlich.
Willett hatte die Vereinbarungen offenbar mit Geschick getroffen und alle erforderlichen Erklärungen geliefert. Es wäre peinlich gewesen, Mrs. Lamb von ihrem eigenen Kamin fortzuzwingen, aber solange er sich in der Wohnung aufhielt, entdeckte Maitland keinen Hinweis darauf, daß sie zu Hause war. Das erste, was ihm einfiel, als Ernest Lamb aufstand, um ihn zu begrüßen, war, daß eine Beschreibung, die er von Jean erhalten hatte, auch auf ihren Mann anzuwenden gewesen wäre. Sanftmütig, verständnisvoll, ein Mensch, mit dem man reden konnte. Lamb hatte nichts von der überströmenden Herzlichkeit Charles Johnstones, er war klein und zierlich, mit glatten, fast kohlschwarzen Haaren und einem schmalen schwarzen Schnurrbart. Die Ausstrahlung von Güte umgab ihn für Maitlands vielleicht zu phantasievollen Blick jedoch wie eine Wolke.
»Sie vertreten Doktor Collingwood«, sagte er. Bei einem anderen Menschen hätte das wie eine Anschuldigung klingen können, aber bei ihm war es eine schlichte Feststellung. »Und von Mr. Keils, der mit mir gesprochen hat, bevor Ihr Mitarbeiter anrief, um diesen Termin zu vereinbaren, höre ich, daß Sie auch bei Kates Verteidigung mitwirken. Obwohl ich einräumen muß, daß ich nicht ganz verstanden habe, was er damit meinte.«
Maitland, auf dem Stuhl sitzend, den sein Gastgeber ihm angeboten hatte, machte sich daran, die Lage mit möglichst wenigen Worten zu erklären. Als er fertig war, sagte Lamb bedächtig: »Das wird Horace und Amelia nicht gefallen.«
»Sie kennen die Harleys?«
»O ja, wir sind alte Freunde. Aber ich muß zugeben, daß sie in ihrer Einstellung ein wenig starr sind und daß sie ihre Meinung über Dinge oder Personen nicht mehr ändern, sobald sie einmal gefaßt ist.«
Maitland mußte lächeln, er konnte nicht anders.
»Den Eindruck hatte ich auch, als ich sie heute vormittag kennenlernte«, meinte er.
Ernest Lamb ging weiter seinen eigenen Gedanken nach.
»Ich kenne Kate fast schon seit ihrer frühesten Kindheit«, sagte er, »und deshalb bin ich froh, daß Sie ihr helfen.«
»Ich tue mein Bestes«, sagte Antony. Es war das zweitemal an diesem Tag, daß er eine Formulierung gebrauchte, die ihm besonders zuwider war, aber die Umstände schienen es zu erfordern. Er zögerte und sagte dann: »Es gibt hier eine kleine Schwierigkeit, Mr. Lamb. Ich möchte wissen, was Sie von den Johnstones halten - ich meine Douglas Johnstone und seine Frau - muß Sie aber bitten, mir nur mitzuteilen, was Sie aus eigener Kenntnis wissen.«
»Kein Hörensagen«, bestätigte Lamb entgegenkommend. Zu Antonys Erleichterung verlangte er keine Erklärung der Regeln, an die sein Besucher sich zu halten hatte. »Ich glaube, alle ihre Freunde wußten, daß es Schwierigkeiten zwischen ihnen gab. Douglas war ein reizbarer Mensch, ich selbst habe das immer auf seine Krankheit zurückgeführt, und obwohl ich glaube, daß Kate sich große Mühe gegeben hat, es ihm rechtzumachen, hatte sie nicht immer großen Erfolg damit.«
»Gab es Unstimmigkeiten auch wegen der Kinder?«
»Sollte mich nicht wundern, aber das war nie festzustellen, wenn ich ins Haus kam, Mr. Maitland.«
»Glauben Sie, Kate fühlte sich so weit getrieben, daß sie an Mord dachte?«
»Nein, das glaube ich nicht. Aber was Ihren Mandanten betrifft« - er lächelte bei diesen Worten, um ihnen jeden Stachel zu nehmen - »kenne ich ihn nicht gut genug, um mir sicher zu sein.«
Das war jedenfalls etwas, das er nun wußte. Wenn Collingwood die Tat begangen hatte, dann mit Kates Einverständnis. Wenn Maitland nur etwas von O'Briens Gewißheit hätte verspüren können… aber das konnte er nicht, also war es am besten, die Bemerkung nicht zu beachten.
»Sie haben den Klatsch gehört?« fragte er, und Lamb hob schnell den Kopf, von dem rauhen Tonfall vielleicht überrascht.
»Klatsch? O ja, ich habe aber nicht darauf geachtet.«
»Sie haben sich eben so geäußert, als kennten Sie Doktor Collingwood zumindest oberflächlich.«
»Er behandelte Jean einmal, als sie Grippe hatte. Doktor Trevelyan war damals auch grippekrank.«
»Und Doktor Trevelyan« - nun war es an Maitland, zu lächeln - »ist auch ein alter Freund?«
»Und ob!«
»Wann haben Sie die Johnstones zum letztenmal gesehen?« Er schien von einem Thema zum anderen zu springen, etwas, das Onkel Nick verurteilt hätte, aber aus irgendeinem Grund fiel es ihm schwer, sich zu konzentrieren.
»Ungefähr eine Woche, bevor Douglas starb, glaube ich. Jean… aber das gehört zu den verbotenen Dingen, nicht wahr, Mr. Maitland?«
»Ich fürchte es.« Seine Stimme klang wehmütig. »Was können Sie mir über einen Mann namens Glidding sagen?« fragte er.
»Davon haben Sie gehört? Möchte nur wissen - « Lamb sagte es nachdenklich, sprach aber nicht zu Ende. »Ich selbst wäre zu dem Mann nicht so hart gewesen, seine Indiskretion war allenfalls zweifelhaft, aber Douglas bestand darauf, und unter den gegebenen Umständen konnte ich nichts tun. Ich frage mich aber doch, wie Sie davon erfahren haben.«
»Soviel ich weiß, wurde an der Börse viel darüber geredet«, erklärte Antony unverbindlich. »Glauben Sie, daß Glidding ihm das nachgetragen haben könnte?«
»Davon bin ich überzeugt, aber nicht bis hin zu einem Mord. Übrigens weiß ich gar nicht, wen von uns er überhaupt als den Verantwortlichen erkennen konnte. Wollen Sie mir nahelegen, auch vorsichtig zu sein?«
»Das glaube ich kaum. Ich nehme an, daß Sie nie den Wunsch hatten, die Teilhaberschaft aufzulösen.«
»Douglas war ein sehr tüchtiger Mann, Mr. Maitland. Ich hätte mir keinen besseren wünschen können. Eine Partnerschaft mit ihm war zweifellos zu meinem Vorteil.«
»Aber soviel ich weiß, übernehmen Sie die Firma jetzt ganz, sobald alle Formalitäten abgeschlossen sind.«
»Wer hat Ihnen das gesagt?« Er beantwortete seine Frage gleich selbst. »Wohl Charles. Er ist der indiskreteste Mensch, den ich kenne, aber er meint es nicht böse, durchaus nicht.«
»Aber in diesem Fall hatte er recht?«
»Die Situation ist kompliziert, ja, im Prinzip hatte er recht.«
»Verstehe.« Auch bei ihm klang es nachdenklich.
Nach einer kurzen Pause sagte Lamb mit schärferer Stimme als vorher: »Wenn Sie es genau wissen wollen, wird das, so wie die Dinge jetzt stehen, zu meinem Vorteil sein.« Dann lächelte er, wieder gut gestimmt. »Aber wenn Sie ein Mordmotiv suchen, Mr. Maitland, da gibt es eines, an das Sie vielleicht noch nicht gedacht haben. Felicity und Charles sehnen sich nach Kindern, seit sie geheiratet haben, und nach allem, was Felicity Jean erzählt, ist es praktisch aussichtslos. Sie sind beide ganz wild auf Dougie und Janet und würden natürlich die Vormundschaft bekommen.«
»Das ist mir ein bißchen zu kompliziert«, sagte Maitland leichthin, obwohl er kaum noch an etwas anderes dachte, seitdem er Felicity Johnstone zusammen mit den Kindern gesehen hatte. »Wenn Kate nicht angeklagt und dann verurteilt wird… und wie sollte jemand das sicherstellen?«
»Es war kein ernsthafter Einwurf, sie sind Freunde von uns«, sagte Ernest. »Was ich Ihnen eigentlich klarmachen wollte, Mr. Maitland, war, daß es Unsinn ist, in unserem engen Bekanntenkreis nach Motiven zu suchen.«
»Das haben Sie erreicht.« Maitland stand auf. »Obwohl Sie meinen Hinweis auf Glidding auch nicht annehmen wollten«, erinnerte er seinen Gastgeber. Er schwieg einen Augenblick, dann sagte er: »Sie betonen, daß Sie mein Eingreifen begrüßen. Wie sollte ich Ihrer Meinung nach vorgehen?«
»Ich sehe durchaus, wie schwer Sie es haben.« Ernest Lamb wirkte jetzt bedrückt. »Nur ein Narr würde auf einen Unfall abstellen, aber ich kann nicht glauben… lassen wir das. Ich wünsche Ihnen alles Gute, Mr. Maitland, obwohl ich der Meinung bin, daß Sie sich blamieren werden, wenn Sie versuchen, diesen Mord Charles anzulasten.«
Antony war auf dem Weg zur Tür.
»Wir scheinen irgendwo durcheinandergeraten zu sein«, sagte er so liebenswürdig, wie es vielleicht der andere getan hätte. Und wieder gebrauchte er den banalen Ausdruck, der als Beruhigung aufgefaßt werden sollte: »Ich fische im dunklen herum, das ist alles.«
4
»Das sind zwei kluge Kinder«, berichtete er Jenny am Abend. Sie waren eben aus dem Theater zurückgekommen, wo Megs neues Stück Das Gefäß des Töpfers , wie Roger düster prophezeit hatte, alle Aussichten hatte, ein Riesenerfolg zu werden. Jenny war ganz auf eine Diskussion des Abends eingestellt und hatte im Schlafzimmer die Heizung eingeschaltet, während sie einen Gutenacht-Schluck tranken. Antonys Gedanken hatten sich jedoch sofort nach Ende der Vorstellung unausweichlich wieder den Ereignissen des Tages zugewendet; sie spürte seine Stimmung und war bereit, ihm zuzuhören.
»Demzufolge, was du mir vorher erzählt hast, konntest du aus ihnen mehr herausholen als aus Tante und Onkel «, meinte sie.
»Das kann man sagen. Aber es hilft nicht weiter, weißt du. Die Anklage geht nicht in dieser Richtung vor, und O'Brien braucht nicht überzeugt zu werden.«
»Du meinst, es sei ihm ohnehin klar, daß Doktor Collingwood es ohne Kate nicht getan haben könnte?«
»Nicht unbedingt. Er hat eines seiner Glaubensbekenntnisse abgelegt, und ich wünschte mir nur, dazu auch imstande zu sein.«
Das brachte Jenny vorübergehend zum Schweigen. Sie wußte sehr gut, was für ein Mensch ihr Mann war, einer, der nicht auf der anderen Seite gleichgültig vorbeigehen konnte. Wenn es auch nur den kleinsten Zweifel gab… das war das Dumme, es galt für beide Seiten.
»Du hast dir irgend etwas in den Kopf gesetzt, Antony«, sagte sie schließlich leise, beinahe so, als wollte sie sich entschuldigen.
»Du weißt, daß ich immer Ideen im Kopf habe; das besagt nichts. Aber ich glaube doch, daß ich morgen mit Sykes reden sollte.«
»Was, um alles in der Welt, sollte Inspektor Sykes für dich tun können?«
»Chefinspektor«, verbesserte er sie automatisch, wie stets, seit der Kriminalbeamte befördert worden war, obwohl er inzwischen wußte, daß das keinerlei Erfolg hatte. »Er hat mit dem Fall nichts zu tun, so daß es keine Ungehörigkeit darstellt, wenn ich mit ihm rede. Aber er läßt sich vielleicht herbei, mir zu sagen - «
»Was?« fragte Jenny, als deutlich wurde, daß das alles war, was er verraten wollte. Antony schüttelte aber nur den Kopf und griff nach seinem Glas, so daß sie schließlich von ihrem Theaterbesuch zu sprechen begann.
Sonntag, 21. November
1
Sie frühstückten am nächsten Morgen spät, und da die Sonne offenbar entschieden hatte, es sei zuviel verlangt, daß sie im November zwei Tage hintereinander schien, war es keine große Bußübung, auf ihren gewohnten Spaziergang zu verzichten, nachdem der Tisch abgeräumt worden war. Antony ging zum Telefon, das auf dem Schreibtisch in der Ecke stand, und bereitete sich auf eine überzeugende Rede vor. Die Fragen, die er stellen wollte, waren unhaltbar, und obwohl er über das Thema gründlich nachgedacht hatte, stand für ihn immer noch nicht fest, wie er es anstellen sollte, sie anders klingen zu lassen.
Chefinspektor Sykes von der Kriminalpolizei bei Scotland Yard (für seine Freunde Bill, obwohl Antony aus zuverlässiger Quelle wußte, daß er in Wahrheit Marmaduke hieß), war der einzige Polizeibeamte, mit dem Maitland beinahe so etwas wie Freundschaft verband. Wegen bestimmter Vorgänge in der Vergangenheit hatte der Kriminalbeamte das Gefühl, daß er Maitland auf irgendeine Weise verpflichtet sei. Strenges Gerechtigkeitsgefühl hätte Maitland zu dem Eingeständnis zwingen müssen, daß eine etwaige Schuld dieser Art längst beglichen war, ja, in seinem Inneren war er sich darüber völlig im klaren - und trotzdem hatte er keine Hemmungen, sich des Werkzeugs zu bedienen, wenn es ihm paßte. Er zögerte deshalb jetzt nicht, Sykes zu Hause anzurufen; an einem Sommervormittag hätte er keine Aussicht gehabt, ihn im Haus anzutreffen, weil Sykes begeisterter Gärtner war. An einem trüben Vormittag zu dieser Jahreszeit jedoch konnte man ihn am ehesten vor seinem Kamin finden, die solideren Sonntagszeitungen in den Händen.
Mrs. Sykes präsentierte ihn denn auch ohne Verzögerung. Sykes gemächliche North-Country-Aussprache war so wenig zu verwechseln wie die Tatsache, daß seine Begegnungen mit Maitland ihm in der Regel ein gewisses Vergnügen verschafften; damit hatte Antony sich seit langem abgefunden. Die Belustigung war deutlich erkennbar, nachdem sie einander begrüßt hatten, was einige Zeit in Anspruch nahm, weil der Polizeibeamte großen Wert auf die Anstandsformen legte.
»Ich habe seit mindestens einem Monat nichts von Ihnen gehört, Mr. Maitland«, sagte er.
Was vor einem Monat geschehen war, wollte Maitland lieber vergessen, obwohl er bezweifelte, daß ihm das jemals möglich sein würde. Zu jeder anderen Zeit hätte ihn der Hinweis verärgert, aber an diesem Vormittag konzentrierten seine Gedanken sich ausschließlich auf seine Mandanten, und er nahm den Hieb ohne Kommentar hin.
»Wissen Sie«, sagte er vertraulich, »ich möchte Ihnen ein paar Würmer aus der Nase ziehen.«
Es gab eine Pause, während Sykes darüber nachdachte. Er reagierte niemals schnell, stets erst nach gründlicher Überlegung.
»Ich habe gehört, daß Sie und Mr. O'Brien zusammenarbeiten«, meinte er schließlich.
»So, wie es bei unseren Mandanten steht, scheint eine gewisse Zusammenarbeit angebracht zu sein«, sagte Antony vorsichtig.
»Und Sie haben völlig recht, es ist der Fall Johnstone-Collingwood, über den ich mit Ihnen reden möchte.«
»Nee, damit hab' ich nischt zu tun«, sagte Sykes, in den Dialekt seiner Jugend verfallend, wie es manchmal seine Gewohnheit war.
»Das weiß ich. Es mag zwar seltsam klingen, aber ich habe die Akten gelesen«, sagte Maitland mit einigem Stolz auf diese Leistung. »Aber erzählen Sie mir nicht, daß Sie von dem Fall nichts wissen. Ich würde Ihnen nicht glauben.«
Sykes ging darüber hinweg.
»Tja, Inspektor Conway - «, sagte er, um den anderen zappeln zu lassen.
»Sie wissen ganz genau - « Das war eine Falle, in die er nicht zu tappen gedachte. »Es ist nur eine Kleinigkeit, die ich wissen möchte«, fügte er hinzu.
»Soll das heißen, Ihr Solicitor, von dem Sie den Auftrag haben, hätte nicht alles erfahren, was ihm zusteht?«
»Durchaus nicht. Das hat mit dem Fall gegen Mrs. Johnstone und Doktor Collingwood nichts zu tun«, erklärte Maitland.
»Dann verstehe ich nicht ganz - «
»Nur etwas, das mich neugierig macht.«
Das führte wieder zu einer Pause. Antony glaubte, die Gedankengänge des anderen durchaus verfolgen zu können. Eine gemeinsame Verteidigung bedeutet, daß sie sich für nichtschuldig erklären, und wenn Maitland beteiligt ist, sucht die Verteidigung offenbar nach einer anderen Person, die als schuldig in Frage kommt.
»Ich glaube nicht, daß ich Ihnen helfen kann, Mr. Maitland«, stellte Sykes bedauernd fest.
»Es kann ja nichts schaden, sich die Frage anzuhören, oder?«
»Solange Ihnen klar ist - «
»Das ist eine Sache, die der Polizei bekannt sein muß, falls Conway nicht unfaßbar schlampig gearbeitet hat, was ich nicht glaube. Aber es hat mit der jetzigen Beschuldigung nichts zu tun, und ich bilde mir ein, daß die Anklage deshalb gar nichts davon gehört hat. Es gibt, jedenfalls soweit ich das erkennen kann, noch jemanden, der ein sehr gutes Motiv hat.«
»Ich wußte es doch«, sagte Sykes beinahe aufstöhnend.
»Ich spreche von Douglas Johnstones Teilhaber Ernest Lamb. Ist sein Alibi nachgeprüft worden?« Sykes antwortete nicht sofort, so daß Antony nach einer Pause fortfuhr: »Es besteht die Möglichkeit, daß, weil Kate Johnstone und James Collingwood so belastet erschienen, im anderen Fall nichts unternommen wurde.«
»Wenn das Ihr Bestes ist, was Sie gefunden haben, Mr. Maitland - «
»Es hört sich nicht so an, als hielten Sie viel davon.«
»Tja, ich muß sagen, das tue ich auch nicht.« Es gab wieder eine Pause (Sykes ringt mit seinem Gewissen, dachte Maitland respektlos). »Ich möchte nicht, daß Sie sich blamieren, wenn der Fall verhandelt wird, Mr. Maitland«, sagte der Kriminalbeamte schließlich.
»Im großen und ganzen möchte ich das auch vermeiden.« Wenn er der Meinung war, daß sich alle einig zu sein schienen, seinem bevorstehenden Auftritt mit düsteren Vorahnungen entgegenzusehen, war das nicht der Augenblick, es auszusprechen. »Außerdem - Sie kennen mich inzwischen ziemlich gut, Chefinspektor - habe ich vor Gericht nie jemanden angegriffen, wenn ich persönlich nicht fest davon überzeugt war, daß es richtig war, das zu tun.«
»Das weiß ich, und deshalb sollten Sie das in diesem Fall lieber vergessen. Conway und Mayhew haben seinen ganzen Tag Minute für Minute überprüft. Er hatte keine Gelegenheit, irgendwann an das Haus der Johnstones heranzukommen, geschweige denn, unbemerkt hineinzugelangen und den Inhalt der Injektionsspritze auszutauschen.«
»Conway hat sich also doch Gedanken gemacht«, meinte Maitland nachdenklich.
»Er ist ein vorsichtiger Mensch, Mr. Maitland, das müssen Sie ihm lassen. Und nach allem, was ich höre« - bei jedem anderen hätte der Hinweis gehässig geklungen - »haben Sie sich diesmal etwas Schweres aufgeladen.«
»Ich bin Ihnen für Ihre Hilfe jedenfalls dankbar. Da ist nur noch ein Punkt - «
»Hätte ich mir denken können«, sagte Sykes, aber seine Stimme klang wieder spöttisch. »Noch jemand mit einem guten Motiv?«
»Keine Spur. Die Nachforschungen über die Herkunft des Morphiums.«
»Da kann ich Ihnen nicht helfen. Die Anklage geht davon aus, daß es aus Doktor Trevelyans Praxis stammt.«
Maitland wies nicht darauf hin, daß ihm das wohlbekannt war. Hier konnte ein Ansatzpunkt sein, aber erst, wenn sie vor Gericht waren. Für ihn stand fest, daß die Sprechstundenhilfe von dem, was geschehen sein mochte, nichts wußte.
»Dann will ich Sie nicht länger aufhalten«, sagte er. »Und ich meine es ernst, Chefinspektor, wenn ich Ihnen sage, daß ich dankbarer bin, als ich Ihnen klarmachen kann.«
Aber er gab sich kaum Mühe, seine Enttäuschung vor Jenny zu verbergen, die darauf wartete, die Ergebnisse dieses ganz unzulässigen Gespräches zu hören.
»In Wirklichkeit ist für dich dadurch alles nur noch schwieriger geworden«, meinte sie mitfühlend, als er fertig war.
Aber er wußte sehr wohl, daß er gar nichts anderes erwartet hatte.
2
Die Besprechung war für den frühen Nachmittag in der Kanzlei anberaumt, wo Maitland das Zimmer seines Onkels mit Beschlag belegt hatte.
»Viel behaglicher als bei mir«, sagte O'Brien anerkennend, als er umherging, bevor die anderen eintrafen. Trotzdem erschien es ihnen, als die ganze Gruppe von Juristen versammelt war, ein wenig eng. Kevin hatte seinen Referendar Joseph Whitehead mitgebracht, den Sohn des Mannes, bei dem Antony vor vielen Jahren sein Praktikum gemacht hatte. Derek Stringer, ein Kanzleikollege, der Maitland bei der Verteidigung unterstützte, war ebenfalls anwesend, natürlich auch Richard Keils und Kate Johnstones neuer Solicitor Geoffrey Horton.
Daß die Wahl auf letzteren gefallen war, beunruhigte Maitland ein wenig, obwohl er selbst O'Brien gegenüber Hortons Namen unter mehreren anderen genannt hatte. Geoffrey war ein alter Freund, der ihn schon oft beauftragt hatte, aber der Wahrheit entsprach auch, daß es bei mehr als einer Gelegenheit heftige Meinungsverschiedenheiten zwischen ihnen gegeben hatte. Antony war sich deshalb keineswegs sicher, wie die Kombination Maitland/O'Brien auf den Solicitor wirken würde.
Und wenn man es genau nahm, war es ein fruchtloses Zusammentreffen ohne greifbare Ergebnisse.
Nur Keils und Horton waren davon unterrichtet worden, daß das Stubenmädchen die Aussage ein wenig abgeändert hatte; sie erinnerte sich jetzt, gesehen zu haben, daß Dr. Collingwood am Nachmittag von Douglas Johnstones Tod Mrs. Johnstone ein Päckchen gegeben hatte. Sie wollten alle beide die erste Gelegenheit nutzen, von ihren Mandanten eine Erklärung dafür zu verlangen, aber so unschuldig diese auch sein mochten, es handelte sich nicht gerade um einen Punkt, der die Verteidigung erfreuen konnte.
Man besprach den Verhandlungstermin - »auf jeden Fall vor Weihnachten«, sagte Keils und wirkte nicht gerade glücklich dabei - und vereinbarte einen neuen Termin für eine gemeinsame Besprechung, nicht allzu lange vor dem Gerichtstermin. Antony berichtete kurz von den Gesprächen, die er geführt hatte, und dachte, sobald die Besprechung vorbei war, ein bißchen wehmütig, daß er dazu einiges gehört hätte, wenn sein Auftrag nicht von Keils, sondern von Horton gekommen wäre. So aber ging Geoffrey zusammen mit den anderen nach ungefähr einer Stunde. Nur Kevin O'Brien blieb, so, als hätte er noch etwas zu sagen.
Anfangs unternahm er jedoch keinen Versuch, ein Gespräch zu eröffnen, sondern schlenderte ans Fenster und schaute in den Hof hinunter. Antony wartete mit dem Maß an Geduld, das er aufzubringen vermochte, und Kevin wandte sich nach einer Weile vom Fenster ab.
»Das war kein ganz vollständiger Bericht, wie?« fragte er.
»Nicht ganz vollständig«, bestätigte Maitland, ohne näher darauf einzugehen.
Kevin trat wieder an den Kamin.
»Wir kommen viel besser zurecht, wenn Sie offen zu mir sind«, erklärte er mit einer Stimme, die bewußt ruhig klang. Dann entfuhr es ihm: »Herrgott noch mal, Mann, das ist doch der Sinn des Ganzen, oder?«
»Zwei Dinge«, sagte Maitland, ohne zu widersprechen oder sich rechtfertigen zu wollen. »Ich sah keinen Grund, sie bei der allgemeinen Besprechung zu erwähnen. Als ich bei Charles Johnstone und seiner Frau war, sprach ich auch mit den Kindern.«
»Davon haben Sie nichts erwähnt.«
»Nein, weil… Eine Sechsjährige und ein Achtjähriger. Wieviel Glauben würde man ihren Aussagen schenken? Aber ich glaube Janet, das ist die jüngere der beiden, wenn sie sagt, daß sie James Collingwood die Treppe ganz hinuntersteigen sah, nachdem er Dougie besucht hatte. Er ging hinunter in die Halle, ohne sich in dem Stockwerk, wo die Schlafzimmer sind, aufzuhalten.«
»Ja, ich verstehe, was Sie meinen. Das ist mehr oder weniger das, was die Anklage bestreitet, nicht?« Wenn O'Brien vorher gereizt gewesen war, merkte man ihm davon nichts mehr an, vielleicht deshalb, weil er sich durchzusetzen schien. Er sagte mit einem Lächeln, das für Maitlands Empfindungen mehr Verständnis bewies, als man hätte erwarten können: »Hat es dazu beigetragen, Sie von der Unschuld Ihres Mandanten zu überzeugen?«
»Ich würde viel dafür geben, wenn ich fest an den einen oder anderen glauben könnte.«
Kevin sah ihn erstaunt an.
»Ich dachte - «
»Sie dachten, ich wäre ein besonders leichtgläubiger Mensch.« Er lachte, als er den Gesichtsausdruck des anderen sah. »Nein, ich will Sie nicht kritisieren, ich wünsche mir nur, daß ich so energisch sein könnte wie Sie, das ist alles.«
O'Brien dachte kurz darüber nach, bevor er zu dem Schluß kam, daß, wenn schon kein Kompliment darin versteckt war, dann auch keine Kränkung.
»Zwei Dinge, sagten Sie«, erinnerte er ihn.
»Das ist etwas, das nun wirklich nicht weiter verbreitet werden sollte, nicht einmal unter unseren Kollegen. Ich habe mit Sykes gesprochen - «
»Er hat den Fall nicht bearbeitet.«
»Das ist der springende Punkt, wenn Sie es sich recht überlegen. Nach einigem Geplänkel erklärte er mir, wir brauchten uns bei Ernest Lamb nicht anzustrengen. Conway hat sich mit seinem Alibi befaßt. Es ist unerschütterlich.«
»Sie denken doch nicht daran«, sagte O'Brien - der nun, wie vorher schon Sykes, unverkennbar skeptisch war - »unsere Mandanten entlasten zu wollen, ohne jemand anderen zu belasten?«
»Wenn wir nicht mehr erreichen, würde ich mich mit einem Spruch Nichtschuldig zufriedengeben. Aber Sie wissen, daß das bei vielen Leuten jedesmal Zweifel hinterläßt.«
»Gibt es sonst etwas, das Sie noch klären wollen?«
»Im Augenblick nicht. Keils läßt diesen Glidding unter die Lupe nehmen, aber ich neige da eher zu Ernest Lambs Meinung, daß nichts dahintersteckt. Achtzehn Monate sind eine zu lange Zeit, um so nachtragend zu sein, daß ein Mord daraus wird.«
»Es hat Fälle gegeben - «
»Jetzt kommen Sie mir mit der Literatur.« Er drehte sich um und zertrat mit dem Schuh das Feuer, damit keine Gefahr entstehen konnte, wenn sie fort waren. »Jedenfalls kümmert Keils sich darum. Wie kommen Sie mit Horton zurecht? Er ist einer der Besten, deshalb habe ich ihn vorgeschlagen.«
O'Brien folgte ihm hinaus in den Flur.
»Außerdem weiß ich, daß er schon mit Ihnen zusammengearbeitet hat.«
»So daß man davon ausgehen kann, daß er mich erträgt. Es könnte aber auch umgekehrt kommen, wissen Sie.« Maitland blieb stehen, damit sein Begleiter aufholen konnte. »Wissen Sie, O'Brien, mir wäre nur lieb, daß ich nicht soviel Zutrauen zu Chefinspektor Conways Gründlichkeit hätte.«
»Das klingt so, als würden Sie sich langsam meiner Meinung anschließen.«
»J-ja.« Er zweifelte offenbar. »Ich sehe mich nicht hinaus«, sagte er nach einer Pause.
Kevin schien diesmal zu begreifen, daß er ernsthaft schwankte. Er sagte lebhaft: »Dann tun wir eben vor Gericht, was wir können. Collingwood wird trotzdem Anlaß haben, Ihnen dankbar zu sein.«
»Darauf kommt es nicht so sehr an.« Er zuckte mit den Schultern und ging weiter zur Kanzleitür. »Es könnte so weit kommen, aber ich habe so ein Gefühl, wissen Sie - «
Er sprach nicht weiter, und O'Brien befragte ihn auch nicht danach, was er damit meinte. Sie traten gemeinsam in den düsteren Nachmittag hinaus und sprachen, bis sie Abschied voneinander nahmen, nicht mehr über den Fall.
3
Tee am Sonntagnachmittag, mit Roger und Meg Farrell neben Sir Nicholas und Vera als Gästen, wurde, obwohl als Tradition noch nicht lange eingeführt, rasch zu einer festen Regel. Die Hardings wollten später ein Konzert besuchen und zu einem späten Abendessen heimkommen (eine Neuerung in Sir Nicholas' Haushalt, an die Jenny fast nicht glauben mochte), während die Farrels, damit Meg ihren einen freien Abend genießen konnte, zum Essen und der endlosen Unterhaltung bleiben sollten, die bei engen Freunden an der Tagesordnung ist.
Als Maitland hereinkam, waren sie schon alle versammelt. Die Teetassen waren zum erstenmal gefüllt, und Roger, dessen piratenhaftes Äußeres eigentlich nicht erwartete Häuslichkeit verbarg, war auf der Suche nach mehr heißem Wasser verschwunden. Antony begrüßte die Gesellschaft und begab sich zu seinem Lieblingsplatz vor dem Kamin. Jenny, die ihn beobachtete, merkte nur allzu deutlich, daß er Schulterschmerzen hatte, und dachte erbost an Kevin O'Brien, der ihn in einen Fall verwickelt hatte, unter dem er litt. Sir Nicholas war sich der Erschöpfung seines Neffen vielleicht ebenso bewußt und sagte sachlich: »Hat dich deine Besprechung weitergebracht?«
»Hast du das schon einmal erlebt?« fragte Antony, ohne eine gewisse Bitterkeit ganz verbergen zu können. Er ging zu Jenny, um sich die Tasse geben zu lassen, die sie ihm hinhielt. »Und diesmal war es besonders nutzlos.«
Zu Jennys Erleichterung sagte Sir Nicholas nicht: Das hätte ich dir gleich sagen können , sondern nur nachdenklich: »Du und O'Brien, ihr müßtet ein gutes Team abgeben. Es wird lehrreich sein, euch gemeinsam auftreten zu sehen.«
»Was das angeht, hat er den schrulligen Einfall gehabt, ich sei nicht offen zu ihm«, berichtete Maitland mit schiefem Lächeln. »Wir können nicht viel tun, bis wir vor Gericht sind, und - «
Er versuchte nicht, zu Ende zu sprechen, und Vera sagte nach einer kurzen Pause auf ihre knappe Art: »Möchte wissen, was du meinst.«
Er lächelte nun doch.
»Die Antwort darauf ist wohl die, daß ich es eigentlich selbst nicht weiß«, gab er zurück.
»Keine Ideen?« fragte sie.
Jenny glaubte, ihr die Antwort darauf geben zu können, und war erstaunt, als ihr Mann den Kopf schüttelte.
»Keine, die irgendwo hinführt«, sagte er. »Es ist eine Frage der Gelegenheit, weißt du.«
Roger war rechtzeitig zurückgekommen, um den letzten Satz noch zu hören. Er stellte die Kanne mit dem heißen Wasser neben Jenny auf das Tablett und gab den Rest des gebutterten Toasts Sir Nicholas, der eine Vorliebe dafür hatte.
»Du hast mich nach Ernest Lamb gefragt«, sagte er beiläufig.
»Ich interessierte mich für ihn«, gab Antony zu. »Der Haken ist nur der, daß er ein Alibi hat.«
»Wer sagt das?« fragte Meg.
»Ich habe es Sykes entlockt. Conway und Mayhew haben sich damit befaßt, und du weißt, wie gründlich sie sind, Onkel Nick.«
Sir Nicholas wischte Butter von seinen Fingern.
»Ich glaube, daß du Mr. Lamb in diesem Fall streichen kannst«, erklärte er. »Es sei denn - «
Vera hatte nur allzu offenkundig darauf gewartet, daß ihr Mann verstummte. Als er mitten im Satz abbrach, sagte sie hastig: »Du hast uns erzählt, daß die Frau an dem Tag dort war.«
»Sie scheint aber gar nicht der Mensch dafür zu sein«, warf Jenny ein. »Sowohl nach dem, was Mr. O'Brien gesagt hat, wie auch nach deiner Schilderung, Antony.«
»Tja, ich werde sie erst vor Gericht sehen, aber es scheint Einigkeit darüber zu herrschen, daß sie ein sanftmütiger, einfühlsamer Mensch ist. Außerdem hat sie selbst ein Alibi - sie war im Haus, dort aber nie allein - und da wir Kate Johnstones Aussage dafür haben, dürfen wir wohl davon ausgehen, daß es zutrifft.«
»Ich weiß nicht, Schatz - «, sagte Meg.
Antony wartete einen Augenblick, um zu sehen, ob sie weitersprechen wollte, dann fragte er. »Was meinst du, Meg?«
»Nicht das Alibi, versteht sich«, sagte Meg und zeigte ihm ihr strahlendstes Lächeln. »Wenn du sagst, sie hat eines, wirst du gewiß recht haben. Aber bei dir wirkt sie schrecklich fade und farblos. In ihr steckt bestimmt mehr.«
»Unter den Umständen - «
»Sie war dort«, sagte Vera. »Sie kann etwas gesehen haben.«
»- und da du sie ins Kreuzverhör nehmen wirst, wie ich annehme«, erklärte Sir Nicholas abschließend, »tust du vielleicht gut daran, Megs Warnung zu beherzigen.«
»Das werde ich gewiß tun, aber ich wüßte nicht, was sie gesehen haben sollte.«
»Du hast davon gesprochen, daß es um die Gelegenheit geht«, betonte sein Onkel. »Wer fällt noch in diese Rubrik?«
»Doktor Trevelyan war an jenem Vormittag auch dort. Ich werde ihn ebenfalls erst vor Gericht sehen«, erläuterte er Meg und Roger. »Was die Gelegenheit betrifft, so könnte man sagen, daß er an erster Stelle steht, weil das Morphium in seiner Praxis aufbewahrt wurde. Aber das ist ein Punkt, den wir alle zu vergessen scheinen, vor allem wohl deshalb, weil bei ihm auch nicht die Spur eines Motivs erkennbar erscheint.«
»Deine Nachforschungen scheinen dich nicht weit gebracht zu haben. Ich weiß gar nicht, warum du dich so abstrampelst«, sagte Sir Nicholas mit einer gewissen Strenge.
Antony, der zur Abwechslung einmal die Vorzeichen des Sturms nicht beachtete, antwortete ernsthaft, statt das Thema auf sich beruhen zu lassen: »Weil ich glaube, daß die beiden eine Chance verdienen.«
»Ich hätte die Begründung für zwingender gehalten, wenn du gesagt hättest: Weil ich sie für unschuldig halte «, stellte Sir Nicholas kalt fest.
»O'Brien tut es.«
»Wenn dir das genügt - «
»Leider nicht. Aber ich mache mir doch meine Gedanken, Onkel Nick. Und da sind die Kinder. Ob ihre Mutter nun unschuldig ist oder nicht, sie verdienen etwas Besseres, als ihnen zuteil wird. Nicht, daß Charles Johnstone und seine Frau nicht nett zu ihnen wären«, fügte er hinzu.
»Leider kann das Gesetz auf unschuldige Betroffene keine Rücksicht nehmen.«
»Das weiß ich wohl. Aber du mußt mich das auf meine eigene Weise machen lassen, Onkel Nick. Wenn das Nichtschuldig-Bekenntnis das richtige ist… Himmel Herrgott, ich habe mich sogar gefragt, ob nicht mein beauftragender Solicitor der Schuldige sein könnte!«
Sir Nicholas setzte sich plötzlich auf und vergoß beinahe seinen Tee.
»Das ist Wahnsinn«, sagte er. »Was für einen denkbaren Grund -?«
»Gar keinen, das ist es ja. Und auch keine Gelegenheit. Aber ich habe mit Mrs. Collingwood, mit James' Mutter, gesprochen. Und ich weiß nicht, warum, aber ein, zwei Dinge, die er zu ihr gesagt hat, beunruhigen mich.«
»Wenn das alles ist, worauf du dich stützen kannst - «, knurrte sein Onkel.
»Ja.« Es klang endgültig. Er setzte sich zwischen Vera und Jenny auf das Sofa und schaute sich in der Runde um. »Reden wir von etwas anderem«, schlug er vor. »Wann seht ihr euch Das Gefäß des Töpfers an, Vera?«
Montag, 22. November
1
Der Montag wurde von anderen Pflichten, anderen Akten und anderen Mandanten in Anspruch genommen. Keils rief an, um mitzuteilen, daß der Fall Johnstone vor Richter Carruthers verhandelt werden würde, was Maitland ein wenig aufmunterte, und daß sein Fall wohl der letzte sei, den man am Ende der herbstlichen Sitzungsperiode verhandeln werde, was ihm ganz und gar nicht gefiel. Es würde natürlich weitere Besprechungen geben, mindestens noch ein Gespräch mit seinem Mandanten, aber da sich so wenig tun ließ, quälte ihn die Verzögerung. Das war unvernünftig, weil ihm durchaus klar war, daß sie von Glück sagen konnten, den Prozeß noch vor Jahresende abwickeln zu können, und was das öffentliche Interesse anging, fiel wohl nicht schwer ins Gewicht, daß das der letzte Fall vor der alten Gerichtsbarkeit, statt der erste vor den neuen Krongerichten war, die nach den Ferien eingeführt werden sollten. Beides sollte wohl von Zeitungen und Öffentlichkeit zusätzliches Interesse eintragen.
Die letzte Besprechung des Tages betraf einen Mr. Cook und seinen Solicitor, Mr. Bellerby. Sie war für Maitland besonders ärgerlich, weil Cook trotz stärkster Hinweise auf das Gegenteil darauf bestand, einen glücklichen Ausgang zu erhoffen, und Mr. Bellerby, dieser Befürworter von Güte gegenüber Mandanten, nicht der Mensch war, ihn aufzuklären. Diese Aufgabe oblag seinem Verteidiger, und Antony fühlte sich einigermaßen aus der Fassung gebracht, bis er die Kanzlei verließ.
Er ging zu Fuß nach Hause, in der Hoffnung, den Dämon damit vertreiben zu können, ärgerte sich aber über die Maßen, als er die Halle betrat und Gibbs wie üblich vor der Tür zu den Räumen des Hauspersonals herumlungern sah. Es war unsinnig, sich davon aufbringen zu lassen, er sollte sich inzwischen an die Art des alten Mannes gewöhnt haben, und seitdem Vera im Haus am Kempenfeldt Square wohnte, stand es im allgemeinen besser, aber er war müde und überanstrengt, nicht zuletzt der Ungewißheit wegen, die ihn den ganzen Tag genervt hatte.
»Mrs. Maitland hat mich gebeten, Sie zu ersuchen, daß Sie sofort hinaufgehen, wenn Sie kommen«, sagte Gibbs in seine Gedanken hinein.
Eine Antwort darauf wäre gewesen: Was hat sie denn sonst erwartet? , eine zweite, gar nichts zu sagen. Dazu neigte er, weil Gibbs es, wie ihm gegenüber meistens, fertigbrachte, kritisch zu wirken; früh oder spät, das blieb sich gleich, etwas Tadelnswertes war immer daran. Als Maitland schließlich beim Erreichen der Treppe ein »Dankeschön« zustande brachte, glaubte er, sich im großen und ganzen mit Würde aus der Affäre gezogen zu haben.
Während er langsamer als gewohnt hinaufstieg, fragte er sich aber trotzdem, weshalb Jenny es für nötig gehalten hatte, eine solche Nachricht zu hinterlassen.
Sie mußte ihn kommen gehört haben und wartete oben in der Diele. Als er sich vorbeugte, um sie zu küssen, fand er, daß sie… nicht ganz in Form zu sein schien. War sie blaß? Aber Farbe hatte sie nie viel.
»Antony«, sagte sie drängend, beinahe noch, bevor er sich wieder aufrichten konnte, »ist alles in Ordnung mit dir?«
»Ich bin verwundert, das ist alles. Was hast du dir bloß dabei gedacht, Gibbs so etwas ausrichten zu lassen, Liebes? Was dachtest du, wohin ich gehen könnte?«
»Manchmal ist Onkel Nick - «
»Ja, und selbst wenn er mich sprechen wollte, was wäre da neu? Er wird mich kaum wirklich angreifen, vor allem, wenn Vera dabei ist.« Er sagte es ein wenig neckend, aber Jennys Miene hellte sich nicht auf. »Also, was ist los?« fragte er.
»Ach, ich weiß nicht, Antony, ich habe mir Sorgen gemacht, das ist alles. Ich hätte dich angerufen, nur habe ich gewußt, daß du sagst, ich sei dumm.«
Er hatte ihren Arm ergriffen und zog sie ins Wohnzimmer.
»Wann habe ich das je gesagt?« fragte er belustigt.
»Manchmal hast du es gesagt, glaube ich«, erwiderte Jenny, die ihn wörtlich nahm. »Und ich habe mir schon vor Jahren vorgenommen, daß ich nie so sein würde wie diese dummen Frauen in Büchern, die sich von gefälschten Nachrichten und dergleichen täuschen lassen. Und das schien so harmlos zu sein, daß ich vielleicht übertreibe.«
»Hol tief Luft und fang noch einmal an«, riet er ihr. Jennys Erklärungen waren noch nie für ihre Klarheit berühmt gewesen. »Du hast einen Brief bekommen? Hat jemand angerufen?«
»Nein, nein, nichts dergleichen.« Sie sah ihn einen Augenblick zweifelnd an, so, als frage sie sich, wie sie es ihm nur begreiflich machen könnte. »Es war das Päckchen, weißt du.«
»Was für ein Päckchen?« fragte Antony mit aller Geduld, die er aufzubringen vermochte.
Jenny ging zum Tisch, der schon für den Abend gedeckt war, und blieb mit dem Rücken zu ihm stehen, so, als wollte sie vor seinen Blicken etwas verbergen.
»Du kennst das neue Süßwarengeschäft an der Ecke Avery Street? Eigentlich kein Süßigkeitenladen, sondern ein Geschäft, in dem besonders gute Pralinen hergestellt werden, wie man sie seinen Freunden schickt, wenn einem nichts anderes einfällt.«
»Nein, kann nicht sagen, daß mir das aufgefallen wäre.«
»Spielt ohnehin keine Rolle. Das Geschäft gibt es. Am hinteren Ende, auf derselben Seite wie das Hotel. Und auf der Karte bei der Packung steht, daß sie an ein paar ausgesuchte Leute Proben versenden, um bekannt zu werden, verstehst du?«
Sie hatte nun seine ganze Aufmerksamkeit.
»Du willst damit sagen, daß dir jemand anonym eine Schachtel Pralinen geschickt hat?« fragte er scharf.
»Die Karte - «
»Ja, ich habe schon gehört.« Er zog sie weg und starrte böse auf die noch eingewickelte Pralinenschachtel auf dem Tisch. »Du hast doch von den verdammten Dingern nichts gegessen?«
»Du weißt doch, ich esse nie welche.«
»Nein, stimmt.« Da sich seine Besorgnis als unbegründet erwiesen hatte, sprach er weniger barsch weiter: »Hast du in dem Geschäft angerufen, Schatz? Man hätte dir dort gesagt - «
»Ich dachte, da mache ich mich nur lächerlich«, meinte Jenny halblaut.
»Als käme es darauf an.« Er zog sie an sich und umarmte sie kurz. »Zum Telefonieren ist es jetzt wohl zu spät. Auf jeden Fall wollen wir gemeinsam albern sein und die Dinger mit größter Vorsicht behandeln.«
»Das dachte ich auch«, sagte sie und fügte hinzu, als ihr Interesse die Sorge vorübergehend überwog: »Glaubst du, daß Fingerabdrücke vorhanden sein könnten?«
»Wir berühren die Schachtel außen so wenig wie möglich und untersuchen nur den Inhalt«, schlug er vor. Er nahm währenddessen mit den Fingerspitzen vorsichtig den Deckel ab, holte die Pralinen einzeln heraus und untersuchte sie genau. »Denkst du dasselbe wie ich?« fragte er.
»Wenn Onkel Nick recht hatte und die Gespräche, die du geführt hast… es ist der Fall Johnstone, nicht?«
»Es ist der einzige, in dem ich zur Zeit herumpfusche, wie Onkel Nick das nennt.«
»Aber wenn jemand dir schaden will… das ist doch eine schrecklich umständliche Art und Weise.«
»Ich weiß nicht. Wir sind hier recht gut abgeschirmt, ganz oben im Haus und Gibbs ständig auf dem Posten. Und wenn es der Fall Johnstone ist… Wir haben es mit gewöhnlichen Menschen zu tun, Schatz, nicht mit Gangstern.«
»Das weiß ich.« Sie verstummte und sah ihn an. »Da ist doch nichts, oder?«
»Nein, es scheint nichts… aber warte mal. Die da mit der Mandel obenauf.« Jenny beugte sich vor. »Da war jemand unvorsichtig, man sieht, daß das Stück angefaßt worden ist.«
»Es sieht ein bißchen zerdrückt aus«, bestätigte sie.
»Ja, und da ist noch etwas. Ganz winzig, aber das könnte die Stelle sein, wo eine Injektionsspritze hineingestochen wurde«, erklärte er und zeigte darauf.
»Dann… oh, Antony! Ich esse doch gar keine Pralinen und du nur solche mit Mandeln.«
»Ein Zufall?«
»Du behauptest immer, daran glaubst du nicht«, betonte Jenny.
»Normalerweise nicht, aber ich wüßte nicht, was das sonst sein sollte. Wo ist die Karte, von der du gesprochen hast?«
»Die muß hier irgendwo… da.«
Maitland betrachtete sie kurz.
»Kein Druck«, sagte er schließlich. »Schönschrift.« Er sah sie verwirrt an. »Aber was, zum Teufel, kann sich jemand davon erhofft haben?«
»Glaubst du, daß man nur eine Praline präpariert hat?«
»So sieht es aus. Die betreffende Person scheint es nicht gekümmert zu haben, wer von uns sie ißt.«
»Es wäre wohl so oder so ein… eine Ablenkung für dich.«
»So kann man es auch ausdrücken. Hast du Einwickelpapier, Jenny? Ich packe das Zeug ein und bringe es morgen zu Sykes.«
»Nicht Inspektor Conway?«
»Du weißt, was er von mir hält. Aber wenn es das ist, was ich vermute, wird er bald genug davon hören.«
Jenny machte sich an die Arbeit und trug nach einiger Zeit ein halbwegs ordentliches Päckchen in die Diele. Als sie zurückkam, goß Antony Sherry ein.
»Hältst du es nicht für besser, zuerst hinunterzugehen und Onkel Nick Bescheid zu sagen?« fragte sie.
Antony antwortete nicht sofort. Die beiden Gläser waren randvoll, und er trug sie vorsichtig durch das Zimmer. Als das ihre an seinem gewohnten Platz stand, rollte Jenny sich resigniert auf dem Sofa zusammen und sah zu, wie ihr Mann sein Glas auf den Kaminsims neben die Uhr stellte und sich ihr zuwandte.
»Er würde mir bloß wieder ein Johnson-Zitat an den Kopf werfen«, meinte er düster.
»Es hat wirklich keinen Zweck, ihn unnötig zu ärgern«, erklärte Jenny, während sie an ihrem Glas nippte.
»Das sage ich ja. Muß er es überhaupt erfahren?«
»Sei nicht albern, Antony. Du weißt, wie rasch sich in Juristenkreisen etwas herumspricht. Wenn Mr. Halloran nicht davon erfährt und es Onkel Nick erzählt - «
»Du hast natürlich recht.« Er griff nach seinem Glas und trank einen kräftigen Schluck. »Ich gehe nach dem Essen hinunter«, entschied er.
Schließlich gingen sie beide nach der Abendmahlzeit zum Arbeitszimmer hinunter. Die Diskussion dauerte lang und wurde, zumindest von Sir Nicholas, in scharfem Ton geführt. Aber später - um genau zu sein, zwei Tage danach, als Sykes anrief - war Maitland froh, Jennys Rat befolgt zu haben. In der einen Praline hatte sich eine Dosis Morphium befunden.
»Sie hätten tot sein können oder auch nicht«, erklärte Sykes lakonisch. »Das hängt davon ab, wie Sie das Zeug vertragen.« Aber auch er machte sich Sorgen und hielt Maitland einen kurzen Vortrag über das Thema Wie man auf sich aufpaßt , den sein Zuhörer - von dem Gespräch mit seinem Onkel noch nicht ganz erholt - nicht im mindesten zu schätzen wußte.
Kurze Zeit war sogar Jennys Seelenfrieden erschüttert, sie konnte es kaum erwarten, Antony nicht neben sich zu wissen, und lief, wie ihr Mann das wenig schmeichelhaft beschrieb, herum wie ein Geist, der sich eben in einem Spiegel erblickt hat. Aber als eine Woche vergangen und nichts weiter geschehen war, wurde sie wieder zuversichtlicher und lange, bevor der Prozeß begann, ganz die alte. Die Besprechungen der Anwälte, die mit der Verteidigung befaßt waren, schienen nichts zu erbringen; als feste Tatsache schälte sich lediglich heraus, daß Mr. Glidding nach Schottland gezogen war und sich auf keinen Fall in London aufgehalten hatte, als Douglas Johnstone gestorben war… im besten Fall negative Information.
Aber Jenny empfand diesen Mangel an Fortschritt als einen Anlaß vager Befriedigung, auch wenn sie das niemals zugegeben hätte.
Dienstag, 14. Dezember
1
Am Abend, bevor sie bei Gericht auftreten sollten, drang Sir Nicholas in das Zimmer seines Neffen in der Kanzlei ein. Ein ungewöhnliches Vorgehen, zumal an einem Dienstag, wenn sie sich später ohnehin beim Abendessen sehen würden. Es war ein langer, dunkler, nicht sehr behaglicher Raum, vor allem für Besucher, und Sir Nicholas blieb in der Tür stehen.
»Guter Gott«, sagte er, »wie kannst du hier nur arbeiten?«
»Mir bleibt nicht viel anderes übrig.« Maitlands Belustigung wurde gemäßigt durch die Erkenntnis, daß sein Onkel in einer seiner eher schwierigen Stimmungen war. Wenn das zutraf, glaubte er den Grund ziemlich leicht erraten zu können.
»Du wolltest mit mir über etwas sprechen«, sagte er zögernd.
»Ich hätte gedacht, das ergibt sich von selbst.« Sir Nicholas Stimme klang immer noch gereizt, aber in einem seiner plötzlichen Stimmungsumschwünge grinste er den jüngeren Mann plötzlich kameradschaftlich an. »Ohne Zurückhaltung«, sagte er, und für den Fall, daß Antony noch nicht begriffen haben sollte, »ohne Anwesenheit der Damen.«
»Das dachte ich mir«, sagte Maitland und schlenderte zum Fenster.
»Du wirst morgen im Fall Johnstone vor Gericht gehen - « (»Und ob ich das weiß!« murmelte Antony widerspenstig) »- und was noch schlimmer ist, Garfield wird die Anklage vertreten.«
»Ich sehe nicht ein, was das damit zu tun hat.«
»Er hat eine Gabe, sarkastisch zu sein, und ich habe das unangenehme Gefühl, Antony, daß du ihn dazu verleiten wirst, sie einzusetzen.«
Maitland drehte sich um und sah seinen Onkel an.
»Ich habe schon früher etwas riskiert«, erklärte er.
»Worüber du dir klarwerden solltest, ist, daß der Fall eine Cause celebre wird. Wenn du aus dem Rahmen fällst, wird das Aufsehen erregen.«
»Das ist mir klar«, sagte Antony ganz im Ton wie vorher. »Aber wer hat gesagt, daß ich aus dem Rahmen falle?«
»Ich weiß genau, was du denkst«, sagte sein Onkel kalt. »Du hast dir eingeredet, daß sowohl dein Mandant, als auch O'Briens Mandantin unschuldig sind - «
»Glaubst du nicht, daß ich Grund dazu habe? Auf jeden Fall seit der Geschichte mit der vergifteten Praline.«
»Hast du mit O'Brien darüber gesprochen?«
»Natürlich. Ich versuchte ihm die Bedeutung klarzumachen, kann aber nicht behaupten, daß ich großen Eindruck erzielt hätte. Seine Einstellung ist die, daß es zahllose Menschen geben muß, die mir etwas nachtragen - da ist er sich mit der Polizei ziemlich einig - und daß ich schon etwas Besseres vorbringen müßte, wenn ich erreichen wollte, daß er mich ernst nimmt. Sykes war natürlich nicht ganz so offen. Er stelle Nachforschungen an, sagte er, was auf dasselbe hinauslief.«
»Siehst du!« sagte Sir Nicholas, als sei damit erwiesen, was er meinte.
»Du willst mir erzählen, daß du das glaubst?«
»Ich weiß nicht, was ich glaube«, räumte Sir Nicholas ein. »Aber ich weiß, daß es dich getroffen hat, etwas, das Jenny hätte gefährlich werden können, und wenn du vor Gericht die Beherrschung verlierst, tust du dir oder deinem Mandanten nichts Gutes damit.«
»Das ist wohl das letzte, was ich tun werde.« Er ging langsam und steif durch das Zimmer und begann die Unterlagen auf seinem Schreibtisch unnötigerweise zu ordnen. Onkel Nick hatte recht, das war das Problem, und er war sich in diesem Augenblick seiner eigenen Grenzen schmerzhaft bewußt.
»So?« fragte sein Onkel skeptisch.
Es blieb noch Gelegenheit, dieses Gespräch in einen heftigen Streit ausarten zu lassen. Antony hob den Kopf und zwang sich ein Lächeln ab.
»Die Sache ist die, Onkel Nick, ich glaube jetzt wirklich, daß sie unschuldig sind. Wie du erraten hast, glaube ich auch zu wissen, wer der Schuldige ist. Aber was den Beweis angeht - «
Es hing an einem Haar, aber zu seiner Erleichterung reagierte Sir Nicholas ganz freundlich.
»Laß dich von deinem Glauben nur nicht dazu verleiten, unklug zu handeln«, sagte er und fügte, ohne daß es zur Sache gehört hätte, hinzu: »Vera wird im Gerichtssaal sein.«
Nun war Antony an der Reihe, Überraschung zu bekunden.
»Wird sie?« Er machte eine Pause und fügte zögernd hinzu: »Begleitest du sie?«
»Ich werde vor Richter Conroy stehen«, erwiderte Sir Nicholas. Auch er zögerte einen Augenblick, vermutlich, um die offenkundige Erleichterung seines Neffen gehörig zu genießen, dann sagte er mit einem Mangel an Betonung, der Maitland verriet, daß er es sehr ernst meinte: »Ich habe dir gesagt, was ich denke, Antony. Denk daran. Das ist alles, was ich mir wünsche.«
Teil ii
Regina gegen Johnstone und Collingwood 1971
Mittwoch, erster Verhandlungstag
1
Richter Carruthers war ein kleiner Mann mit dem Gesicht eines intelligenten Spürhundes. Er amtierte schon lange, so daß sich nicht bestreiten ließ, daß er älter wurde, obwohl er so lebhaft wirkte wie immer. Unter den Strafverteidigern gab es Leute, die es für hoch an der Zeit hielten, daß er in den Ruhestand ging, aber das lag vermutlich daran, daß die betreffenden Herren glaubten, die scharlachrote Richterrobe stehe ihm besser als die weniger auffällige in Schwarz-Weiß. Sir Nicholas, der einmal ein Richteramt mit der vorgeschobenen Begründung abgelehnt hatte, es wäre entnervend, in dieser Rolle vor Gericht seinem Neffen zu begegnen, befand sich nicht unter ihnen. Ebensowenig Maitland; er schätzte Carruthers und wußte, daß dieser fair verhandelte und nicht so stark zu ätzenden Kommentaren neigte wie gewisse andere, deren Namen er hätte nennen können.
Der Richter seinerseits entsetzte sich nicht wie so viele seiner Kollegen über Maitlands unorthodoxe Methoden; im Gegenteil, er betrachtete sie als angenehme Quelle der Unterhaltung. Als er an jenem Morgen in den Gerichtssaal hinausblickte, kam ihm der Gedanke, daß eigentlich die Funken fliegen müßten, da Garfield und Maitland sich im selben Raum aufhielten. Paul Garfield, jetzt zweiter Kronanwalt, war ein hochgewachsener Mann, trotz einer großen, kräftigen Nase beinahe gutaussehend. Seine moralischen Ansichten waren puritanisch, und er war so humorlos, wie ein Mensch es nur sein konnte. Diejenigen, die ihn gut kannten, hätten darauf hingewiesen, daß sein starkes Gerechtigkeitsgefühl beide dieser Eigenschaften überwog. Maitland hatte aber recht mit seiner Vermutung, daß der Hauch von Ehebruch, der die beiden Angeklagten umgab, ihn erheblich gegen sie einnahm.
Überdies gibt es noch das unwahrscheinliche Bündnis zwischen Maitland und O'Brien, dachte der Richter. War es überhaupt ein Bündnis? Jeder würde für seinen eigenen Mandanten kämpfen, das war richtig und angemessen, aber O'Brien war nicht als geduldiger Mensch bekannt, und Maitland konnte, wenn er sich auf einem Feldzug zur Erforschung der Wahrheit befand, ein großes Ärgernis werden. Die juristischen Mitarbeiter der beiden beachtete Mr. Carruthers nicht weiter. Das eigentliche Interessante an dem Prozeß würde sich aus dem Zusammenprall der Persönlichkeiten dieser ersten drei führenden Juristen ergeben.
Auf seine Weise war, wie Sir Nicholas am vergangenen Abend mit solchem Nachdruck erklärt hatte, aus dem Prozeß tatsächlich eine Cause celebre geworden. Richter Carruthers betrachtete die Angeklagten und dachte bei sich, wie bedauerlich es sei, daß zwei so nette junge Leute einen derart entsetzlichen Ausweg aus ihren Schwierigkeiten gesucht hatten. Falls es wirklich so gewesen war; Maitland war dafür bekannt, daß er vor Gericht mit Überraschungen aufwartete. Kate stand steif an ihrem Platz, mit fast ausdruckslosem Gesicht, aber während der Richter sie beobachtete, drehte sie sich herum und lächelte ihren Mitangeklagten an, und das Lächeln verlieh ihrem Gesicht beinahe Schönheit. Der Mann schien von ganz angenehmem Wesen zu sein, wenn auch vom Äußerlichen her nichts Auffallendes an ihm war, aber ob er es verdiente oder nicht, er schien ihre Zuneigung gewonnen zu haben. Gemeinsam hatten sie sich jedenfalls etwas Feines eingebrockt.
Die Anklage war verlesen, für die Angeklagten hatte man Stühle gebracht, Paul Garfield stand auf, um sein Eröffnungsplädoyer zu halten. Der Richter seufzte und griff nach seiner Feder.
Maitland war sich bewußt, daß O'Brien neben ihm am Brodeln war, während er zuhörte, aber in diesem Stadium konnte man nichts unternehmen, und eine Folge von Einsprüchen würde nur die Geschworenen gegen sie aufbringen. Der Vertreter der Anklage würde ausführlich sprechen, er war ein Mann, der offenbar keine sehr große Meinung von der Kollektivintelligenz einer Jury hatte. Aus diesem Grund wurde jeder Punkt bis zum Überdruß wiederholt. Maitland hörte jedes vernichtende Wort, obwohl jeder, der ihn nicht gut kannte, behauptet hätte, er schlafe. Zum Glück hatte Derek Stringer nicht versäumt, Richard Keils auf diese Eigenheit des Verteidigers hinzuweisen, so daß der Solicitor halbwegs ruhig blieb.
Und vernichtend war genau der richtige Ausdruck. Man hatte sich darauf verlassen können, daß Garfield die Gesamtheit der Tatsachen so wirkungsvoll vortragen würde, wie das nur immer möglich war. Antony, der kurz die Augen öffnete und Kates Blässe und James' angespanntes Gesicht sah, wünschte sich, wie schon oft vorher in derartigen Fällen, ihnen erklären zu können, daß Garfield nur die eine Seite der Medaille darstellte. Er würde an die Reihe kommen, O'Brien ebenso, und O'Brien war ein gewaltiger Streiter vor dem Herrn.
Aber schließlich nahm er ein Ende, der überzeugend vorgetragene, mit Wiederholungen gespickte Bericht über den Stand der Dinge im Haushalt der Johnstones, von Kates wachsender Freundschaft mit James Collingwood, und von Douglas Johnstones letztem Tag auf der Welt. Maitland öffnete die Augen und setzte sich auf. Garfield ließ sich eben wieder auf seinem Platz nieder. Er wirkte selbstzufrieden. Neben Antony glitt Derek Stringers Hand gleichmäßig über den Block und schloß die Notizen ab; O'Brien raunte so leise, daß nur Antony es hören konnte: »Du mußt es dreimal sagen.«
Maitland antwortete mit einem ziemlich zerstreuten Lächeln. Das gehörte zu dem Material, mit dem er vollkommen vertraut war, hier war für sie beide nichts zu machen. Nachweis der Person; der Pathologe mit Einzelheiten über die Art des Todes von Douglas Johnstone; ein Mann aus dem Laboratorium, wo die Injektionsspritze nach Morphiumspuren untersucht worden war. Das stand alles nicht im Streit, und selbst Kevin O'Brien zeigte keine Neigung, an der Tatsache herumzukritteln, daß Garfields Mitarbeiter seinen Zeugen unverhohlen Suggestivfragen stellte.
Anschließend unterbrach der Richter die Sitzung zur Mittagspause. Maitland, der zur Galerie hinaufschaute und sich sagte, es werde schwer sein, Vera in dem Gedränge zu entdecken, stellte zu seiner Überraschung fest, daß beide Harleys gekommen waren. Sie hatten ihre Tochter also nicht völlig im Stich gelassen, obwohl sie ihren Rat nicht annehmen wollte. Man kann sich in den Menschen so leicht täuschen, dachte er, und vielleicht habe ich mich auch bei mancher anderen Schlußfolgerung geirrt. Aber dann sah er, daß Vera ihm winkte, und er wandte sich an O'Brien und bat ihn, mitzukommen, um seine neue Tante kennenzulernen. Derek Stringer hatte anderes zu erledigen und erwiderte, wie schon so oft: »Ich muß rennen.«
Nach der Mittagspause kamen die Aussagen der Polizei, zuerst die eingesetzten Beamten, dann sein alter Freund oder Widersacher, je nach Standpunkt, Chefinspektor Conway. An dieser Stelle machte Antony sich unbeliebt, indem er genaue Grundrißpläne des Hauses verlangte und sie nach einer kurzen Verzögerung auch bekam. Conway wirkte gereizt, aber dem Chefinspektor hatte er es noch nie recht machen können. Was von seinem Standpunkt aus ungünstiger zu sein schien, war, daß O'Brien fast ebenso ungehalten wirkte.
»Sinnlos, den Kerl aufzubringen«, murmelte er, »und welchen Nutzen Sie sich davon versprechen - «
»Man weiß nie«, gab Maitland ungerührt zurück. Onkel Nick hatte ihn davor gewarnt, die Beherrschung zu verlieren, und wenn er das jetzt schon tat, noch dazu bei seinem Verteidigerkollegen, war es nach seiner Vermutung mit seinem Mandanten geschehen.
Und Chefinspektor Conways Aussage war natürlich mehr oder weniger eine Wiederholung dessen, was der Vertreter der Anklage dem Gericht bereits vorgetragen hatte. Garfield ging jetzt behutsamer vor und lieferte keinen Anlaß für Einsprüche. Die Hauptbefragung schien ewig zu dauern, aber endlich war auch sie vorbei, und Maitland sah seinen gelehrten Freund Kevin O'Brien aufstehen und zum Kreuzverhör ansetzen, wobei Antony ein Prickeln der Erwartung verspürte.
»Seine Lordschaft hat Ihnen gestattet, die erste Aussage meiner Mandantin als Beweisstück vorzutragen, Chefinspektor. Würden Sie sagen, daß sie irgend etwas enthält, das auf besondere Weise ihre Schuld anzeigt?«
Das war eine neuartige Methode, und Conway wirkte verständlicherweise ein wenig betroffen.
»Ich sollte Sie vielleicht noch darauf hinweisen«, erklärte er nach kurzem Zögern, »daß es noch andere Zeugen für die Tatsache gibt, daß Mrs. Johnstone mit ihrem Ehemann nicht auskam.«
»Darauf kommen wir zu gegebener Zeit. Im Augenblick befassen wir uns mit Mrs. Johnstones Angaben. Sie hat Ihnen unverhohlen erklärt, daß sie mit dem Verstorbenen gestritten hatte?«
»Bei zahlreichen Gelegenheiten«, sagte Conway.
»Und daß sie ihn verlassen hätte, wären die Kinder nicht gewesen?« setzte O'Brien nach.
»Das hat sie gesagt, ja.«
»Finden Sie nicht, daß das eine sehr normale Reaktion bei einer Frau mit starken Muttergefühlen ist?«
»Vermutlich.« Conway sagte es widerwillig, aber auf seine Art war er beinahe ebenso prüde wie Garfield und vermochte sich damit nicht zu begnügen. »Ein zwingender Grund wäre ihr Verhältnis - «
»Das wollte ich eben ansprechen, Chefinspektor.« O'Brien unterbrach ihn rasch, schien aber nicht ganz zufrieden zu sein. »Wir haben sehr viel über dieses sogenannte Verhältnis gehört, sowohl von Ihnen als auch von meinem ehrenwerten und gelehrten Freund Mr. Garfield. Ich stelle Ihnen anheim, daß Freundschaft ein besserer Ausdruck wäre. Eine einsame junge Frau mit einem älteren, sehr ernst gestimmten Ehemann… aber sollen wir das nur von Ihnen übernehmen oder können Sie uns Beweise anbieten?«
Diese Frage war nun sichtlich nicht nach Conways Geschmack. Maitland beobachtete ihn und dachte: Wenigstens hatte ich darin recht, Bingham ist keineswegs zur Polizei gegangen.
»Der Vertreter der Anklage hat erwähnt, daß er Beweise vorlegen wird«, sagte Conway, seiner Sache offenbar nicht zu sicher.
»Beweis für eine Freundschaft. Beweis dafür, daß Doktor Collingwood mit Mrs. Johnstone Tee trank, nachdem er eines der Kinder in seiner Eigenschaft als Arzt besucht hatte.« O'Briens Stimme goß Hohn und Spott über jeden aus, der so unklug sein mochte, aus diesen nicht sehr belastenden Tatsachen die falschen Schlüsse zu ziehen.
»Und daß sie sich fast jeden Nachmittag getroffen haben«, erklärte Conway, der sich wieder ein wenig gefaßt hatte.
»In einer Teestube? Können Sie sich etwas Harmloseres vorstellen?«
Der Kriminalbeamte war jetzt angespornt, sein Bestes zu geben, und seine Aufrichtigkeit war unverkennbar.
»Da Sie mich schon fragen, Sir, kann ich mir ein völlig harmloses Motiv für diese Begegnungen nicht vorstellen«, stellte er fest.
O'Brien ließ das Thema auf sich beruhen, was vielleicht ganz klug war.
»Meine Mandantin wird uns mitteilen - das steht auch in ihrer Aussage, Mylord - daß die Krankheit ihres Sohnes für Doktor Collingwood Anlaß genug war, das Haus an diesem Nachmittag aufzusuchen. Würden Sie das bestreiten, Chefinspektor?«
»Angesichts des Besuches von Doktor Trevelyan am Vormittag würde ich das schon tun.«
»So, so. Ihnen kann man es schwer recht machen, Chef Inspektor.« Diese Kehrtwendungen O'Briens waren für einen Zeugen verwirrend, wie Antony wußte. »Da ist auch noch die Frage, die nach Mitteilung meines Freundes durch das Stubenmädchen belegt werden kann, wonach an jenem Nachmittag ein Päckchen zwischen den beiden Angeklagten den Besitzer gewechselt haben soll.«
»Von Doktor Collingwood zu Mrs. Johnstone. Genau!« sagte Conway.
»Und von dem Mrs. Johnstone behauptet, daß es nichts Verdächtigeres enthielt als einen Schnappschuß der Kinder, den der Doktor bei Gelegenheit seines letzten Besuches gemacht hatte.«
»Das behauptet sie«, sagte Conway schwerfällig.
»Ich werde die Aufnahme zu gegebener Zeit vorlegen.« O'Brien war verdächtig liebenswürdig. »Es gibt nur noch einen Punkt, zu dem ich gern Ihre Meinung hören würde. Es ist ein wichtiger, wenn auch sehr einfacher. Finden Sie es wirklich so erstaunlich, ist es wirklich so belastend, daß eine verheiratete Frau gesehen wird, wenn sie das Schlafzimmer ihres Mannes verläßt?« Er setzte sich rasch, bevor der Zeuge antworten konnte, und Maitland stand langsam auf. Es mochte nicht danach aussehen, daß sein Kollege sehr viel erreicht hatte, aber für sein späteres Plädoyer den Geschworenen gegenüber war ein Fundament gelegt, und das konnte nur nützlich sein.
»Sie haben selbst einige Fragen an Chefinspektor Conway, Mr. Maitland?« erkundigte sich Carruthers höflich.
»Ein paar, Mylord. Ich werde das Gericht nicht lange aufhalten. Wir haben sehr viele Mutmaßungen gehört; aus Fakten, die für die meisten Menschen völlig harmlos zu sein scheinen, sind viele Schlüsse gezogen worden. Wenn ich Sie also frage - «
Weiter kam er nicht. Garfield war auf den Beinen.
»Einspruch, Mylord!«
Aber Maitland beobachtete Conway und sah ihn lächeln; ein Lächeln, das so deutlich sagte, als wäre es ausgesprochen worden: Warte nur, bis wir mit unseren Zeugen aufwarten. In diesem Augenblick war er nahe daran, jede Vorsicht außer acht zu lassen, aber die Erinnerung an O'Briens zurückhaltendes Kreuzverhör bewahrte ihn davor.
»Ich wollte nur fragen, Mylord«, sagte er in einem Tonfall, von dessen Bescheidenheit Carruthers sehr wohl wußte, daß sie unecht war, »ob übergroße Besorgnis bei einem Arzt im Hinblick auf ein krankes Kind als tadelnswert gelten kann.«
Garfield stand immer noch, aber er brauchte nicht einzugreifen. Carruthers erklärte mit einigem Nachdruck: »Das ist keine Frage, die sinnvollerweise dem Chefinspektor vorgelegt werden kann, Mr. Maitland.«
»Wie Eure Lordschaft wünschen. Wann waren Sie von der Schuld der beiden Angeklagten überzeugt, Mr. Conway?«
Es mochte die Plötzlichkeit der Frage sein, die Conway im ersten Augenblick stumm bleiben ließ. Er blickte vom Richter zu Garfield und sah dann wieder Maitland an.
»Ich habe mir Mühe gegeben, keine voreiligen Schlußfolgerungen zu ziehen«, sagte er in vernichtendem Ton. Im Anschluß daran verdarb er die Wirkung aber wieder, als er fortfuhr: »Trotzdem machte mir die Last des Beweismaterials rasch deutlich - «
Diesmal war es Antony selbst, der den Richter aufgebracht ansah. Carruthers hüstelte, Conway verstummte mitten im Satz, und der Richter fragte nach einer kurzen Pause in einem freundlichen Ton, der seinen Zuhörern hätte klarmachen müssen, daß Sturmböen bevorstanden: »Was wollen Sie eigentlich genau sagen, Mr. Maitland?«
»Mylord, es ist wohlbekannt, daß eine vorgefaßte Meinung für einen Ermittlungsbeamten nicht opportun ist. Ich möchte ganz einfach wissen, ob Chefinspektor Conway auch die anderen Möglichkeiten berücksichtigt hat.«
»Welche Möglichkeiten meinen Sie?« fragte Carruthers interessiert.
»Die Möglichkeit, daß es die Verschwörung zwischen meinem Mandanten und Mrs. Johnstone nie gegeben hat, Mylord. Mit anderen Worten, daß jemand anderer Douglas Johnstone getötet hat.«
Das führte zu Geraune unter den Zuschauern, und der Gerichtsdiener verlangte mit lauter Stimme Ruhe. O'Brien zerrte an Maitlands Robe.
»Setzen Sie sich hin«, sagte er, »und blamieren Sie sich nicht mehr, als notwendig ist.«
Antony, der nicht den Wunsch hatte, sich mit seinem Kollegen anzulegen, zeigte ihm ein eher vages Lächeln, das ihn aber kaum zu trösten schien. Der Richter ließ wieder zu, daß die Stille sich ausdehnte. Sein Blick wirkte kalt, und Antony verspürte Überraschung und Erleichterung zugleich, als er ihn schließlich sagen hörte: »Ich finde, das ist eine Frage, die zulässigerweise gestellt werden kann, Chefinspektor. Aber vielleicht eher von mir als von der Verteidigung. Haben Sie alle Möglichkeiten untersucht, ob sie Ihnen nun als wahrscheinlich erschienen oder nicht?«
»Ja, Mylord.« Conway war jetzt starr vor Zorn, und Maitland dachte reumütig, daß das für ihr nächstes Zusammentreffen nichts Gutes erwarten ließ. Aber er hatte zur Sprache gebracht, worauf es ihm ankam, und würde in den folgenden Tagen immer wieder darauf zu sprechen kommen können, ohne daß er sich jetzt weiter damit zu befassen brauchte. Er setzte sein Kreuzverhör ganz in der Art von O'Brien fort, ging mit dem Kriminalbeamten erneut seine Aussage durch und rückte die Dinge, so gut er konnte, ins beste Licht. Es war später Nachmittag, als er fertig war, und der Richter vertagte ohne langes Zögern.
Die Angeklagten waren abgeführt worden. Keils fragte sorgenvoll: »Wie ist es nach Ihrer Meinung gelaufen?«
Antony, der O'Brien ansah, entdeckte, daß die roten Zornflecken an seinen Backenknochen, die ihn verrieten, wenn er die Beherrschung verlor, verblaßt waren.
»Was denken Sie?« sagte er, um die Frage weiterzugeben. Und wartete ein wenig verzagt auf die Antwort.
»Noch zu früh, um das beurteilen zu können.« Für den Augenblick war O'Briens ganzer Charme auf Richard Keils gerichtet und anschließend kurz auf seinen eigenen Solicitor. Als er sich Maitland zuwandte, geschah es mit einem schiefen Lächeln. »Gott bewahre uns vor unseren Freunden!« sagte er.
2
Es gelang ihm, Vera im Gedränge ausfindig zu machen. Es kam nicht oft vor, daß schon am ersten Verhandlungstag ein solcher Andrang herrschte. Der Prozeß schien zu seinem Mißbehagen, wie jeder offenbar bewußt entschlossen war, ihm das nahezubringen, das Interesse der Öffentlichkeit geweckt zu haben, und er fragte sich nur, was die beiden Angeklagten dabei empfinden mochten. Sein eigener Mandant hatte gegen Ende des Tages einen verbissenen Ausdruck angenommen, so, als sei er fest entschlossen, seine Gefühle nicht zu zeigen, aber Kate hatte sichtlich zu welken begonnen. Es mochte an der Atmosphäre im Gerichtssaal oder an den Dingen liegen, die zu hören sie gezwungen gewesen war. Wie auch immer, es machte ihm keine Freude, darüber nachzudenken; Kate und James mußten eine weitere Nacht hinter Gittern verbringen, bei versperrter Tür, damit sie nicht entkommen konnten, und seit für Maitland endgültig feststand, daß sie unschuldig waren, erschien ihm dieser Gedanke unerträglich.
Er holte Vera ein und fand sogar ein Taxi, obwohl das schon schwieriger war. Vera, die sich nie äußerte, bevor sie Zeit zum Nachdenken gehabt hatte, ließ sich im Fahrzeug über eine Vielzahl von Themen aus und fällte das Urteil, auf das er wartete, erst, als er die Tür des Hauses am Kempenfeldt Square aufgeschlossen hatte und mit ihr in die Halle getreten war.
»Hättest das nicht tun sollen, weißt du«, sagte sie, ganz auf ihre direkte Weise.
Er täuschte nicht vor, sie mißzuverstehen.
»Aber ich wollte es wissen«, erwiderte er vernünftig.
Das brachte sie kurz ins Stocken, während sie überlegte, wie weit das ausreichte, um seine Handlungsweise zu rechtfertigen. Schließlich zog sie die Schultern hoch.
»Tu, was du für richtig hältst, das hast du immer gemacht«, meinte sie. Sie wandte sich der Tür zum Arbeitszimmer zu, die einladend offenstand, und fügte hinzu: »Komm und trink einen Schluck.«
Daß die Tür offenstand, bedeutete, wie er aus langer Erfahrung wußte, daß sein Onkel ihn sprechen wollte. Es konnte aber auch bedeuten, daß Jenny unten war und Sir Nicholas Gesellschaft leistete. Zu seiner Erleichterung traf das diesmal zu. Falls Vera nicht gerade den düsteren Plan verfolgte, ihren Mann zu Einwürfen gegen ihn zu veranlassen, konnten sie beim Sherry eine vergleichsweise friedliche Unterhaltung führen. Aber der Prozeß beschäftigte ihn, er konnte sich nicht ganz davon lösen.
»Ich wollte dich schon fragen, Vera, was du von O'Brien gehalten hast«, sagte er, als das versprochene Getränk serviert war.
»Ein beweglicher Verstand, reagiert schnell. Mehr Verstand, als ich einem Iren zugetraut hätte«, sagte Vera rundheraus.
Antony grinste.
»Seine irische Abstammung ist wohl etwas verwässert«, meinte er versonnen. »Jedenfalls ist er in Yorkshire geboren, genau in Arkenshaw. Nicht, daß er es sich deswegen versagen würde, Dialekt zu sprechen, wenn es ihm paßt. Er ist wohl der Meinung, daß das auf manche Leute wirkt.«
Sir Nicholas, der seine Frau und den Neffen begrüßt hatte, machte es sich wieder bequem.
»War es, insgesamt gesehen, ein interessanter Tag, meine Liebe?« fragt er.
»Garfield ist genauso, wie du ihn mir beschrieben hast. Sollte mich nicht wundern, wenn er der Meinung wäre, Ehebruch sei gleichbedeutend mit Mord. Heute war natürlich erst das Vorgeplänkel. Aber sein Material ist stark, und er wird jeden Vorteil nutzen, der sich ihm bietet.«
Antony, der das alles schon wußte, hing seinen eigenen Gedanken nach.
»Ich nehme an, du hast die Angeklagten gut beobachten können«, sagte er.
»Wozu war ich sonst dort?« Vera tauschte einen Blick mit ihrem Mann, und Antony fing gleichzeitig Jennys Blick auf. Wenn die beiden gemeinsam auf mich losgehen, könnte das Leben durchaus unerträglich werden, dachte er. Aber diesem Gedanken folgte auf den Fersen ein anderer, annehmbarerer. Er hatte zu Jenny einmal gesagt, Veras Einzug in das Haus könnte sich als das Beste erweisen, das dem Haushalt zugestoßen sei, seitdem sie selbst dazugekommen wäre, und es mochte sehr wohl sein, daß diese Einschätzung zutraf. Nicht zum erstenmal kam ihm der Gedanke, daß Sir Nicholas vielleicht trotz seiner eigenen und Jennys Anwesenheit im Haus sein Junggesellendasein nicht ganz befriedigend empfunden hatte. Da war, zum Beispiel die Einsamkeit… Es kam ihm zum Bewußtsein, daß Vera weitersprach und wohl seine Frage nach den Angeklagten beantwortete.
»- sympathisches Paar«, sagte sie. »Und ich weiß, daß du dir Sorgen um die Kinder machst. Aber investier' nicht zuviel Gefühl in einen Fall.«
Und auch das war zweifellos richtig. Antony schwieg einen Augenblick und trank seinen Sherry. Nach einer Weile meinte er mit ungewohnter Offenheit (über die Sir Nicholas die Augen aufriß, während Jenny zusammenzuckte und beinahe ihr Getränk verschüttete): »Wenn man nichts mehr empfindet, kann man ebenso gut tot sein.«
»Na, mein lieber Junge, da bist du aber ungerecht«, erklärte Sir Nicholas, und Antony hob rasch den Kopf, weil er wußte, daß diese Form der Anrede Ärger bedeuten mochte. »Was Vera gemeint hat - «
»Ich weiß, was sie gemeint hat. Der Haken bei der Sache ist der, Onkel Nick«, gab er zu, »daß es Zeiten gibt, in denen mir nur noch dieser Weg offenzustehen scheint.«
»Und das ist eine?« Einen Augenblick lang glaubte Maitland, sein Onkel werde die Warnung vom Abend wiederholen wollen. Statt dessen warf Sir Nicholas Vera einen Blick zu, der unumstritten eine Warnung enthielt, aber trotzdem, und obwohl er seinen Neffen kannte, äußerte er sich unvorsichtig. »Du wirst dein Bestes tun«, sagte er.
Das veranlaßte Maitland, rasch aufzustehen, zum Fenster zu gehen und wieder zurückzukommen.
»Das ist eben das Problem«, meinte er rauh. »Ich tue mein Bestes, und sie gehen ins Gefängnis. Vielleicht, wenn ein anderer oder sogar O'Brien allein - «
»Was meint O'Brien?« fragte Sir Nicholas, den Redefluß ohne Skrupel unterbrechend.
Vielleicht hatte die Gelassenheit seiner Stimme eine beruhigende Wirkung; auf jeden Fall lachte Maitland, wenn auch ohne große Freude, und sagte mit gut gespielter Beiläufigkeit: »Im Augenblick liebt er mich nicht besonders.«
»Das ist schade. Ich bin aber überzeugt davon, daß ihr zurechtkommen könnt. Und was auch geschieht, Antony«, erklärte Sir Nicholas mit Nachdruck, »ich bin der Meinung, du solltest vorgehen, wie du es für richtig hältst. Du wirst es bereuen, wenn du es nicht tust.«
Eine völlige Umkehrung des gestern abend Gesagten. Er hatte mit Vera gesprochen, das war die einzige Erklärung. Aber Vera selbst hatte den kleinen Anfang, den er heute gemacht hatte, nicht gebilligt. Er gab es vernünftigerweise auf, setzte sich wieder zu Jenny und widmete sich seinem Sherry.
Aber Verständnis war noch nie Maitlands Stärke gewesen, und seine Verwirrung hielt den Abend hindurch an, obwohl Jenny, die sein Widerstreben spürte, den Prozeß nicht mehr erwähnte. Roger kam zu Besuch, und seltsamerweise brachte er das Thema auch nicht zur Sprache. Antony kam zu dem Schluß, daß eine Verschwörung des Stillschweigens bestehen mußte, was ihn hätte ärgern können, wäre er nicht im großen und ganzen mit den Ergebnissen durchaus zufrieden gewesen.
Donnerstag, zweiter Verhandlungstag
1
Der nächste Tag begann ganz ruhig, mit der Aussage der Kellnerin aus der Teestube, die Mrs. Johnstone und Dr. Collingwood regelmäßig bedient hatte. Sie wußte sehr genau, wer sie waren, Mrs. Johnstone hatte ihr ganzes Leben in der Nachbarschaft verbracht, und der junge Arzt war schon seit dem Tag, als er bei Dr. Trevelyan als Assistent eingetreten war, ein Anlaß für Interesse und einige Aufregung gewesen. Zum einen brauchte ein Arzt eine Ehefrau, zum zweiten wußte man von Dr. Trevelyan, daß er heikel war, und man zerbrach sich die Köpfe darüber, ob der Neue seinen Idealvorstellungen würde entsprechen können.
»Erinnern Sie sich an die letzte Gelegenheit, als Sie die beiden Angeklagten zusammen gesehen haben?« fragte Garfield.
Sie ließ sich einen Augenblick Zeit, um die Beschreibung zu überdenken.
»Es war ein Montag. Ich erinnere mich genau, weil ich die Woche darauf in Urlaub ging. Und ich war überrascht, daß ich sie die ganze Woche nicht sah, aber am Samstag kam jemand ins Lokal und sagte, daß Mr. Johnstone gestorben sei. Also dachte ich, daß seine Frau natürlich beschäftigt gewesen sein mußte, wenn er krank gewesen war.«
Douglas Johnstone war an einem Freitag gestorben. Nach einem kurzen Scharmützel legten sie das Datum zu Garfields Zufriedenheit fest.
»Wir werden auf diese… Begegnungen… zwischen den beiden Angeklagten zurückkommen«, erklärte er. »Schienen sie miteinander intim zu sein?«
»Sie sprachen wie alte Freunde miteinander, wenn Sie das meinen.«
Es war nicht genau das gewesen, was Garfield gemeint hatte, und sowohl Maitland als auch O'Brien spitzten in Anbetracht der Wortwahl der Zeugin die Ohren.
»Vielleicht würden Sie uns erklären, was genau Sie damit meinen«, sagte Garfield, mit ihr nicht ganz so zufrieden wie vorher.
»Nun ja, ich mußte ziemlich oft in der Nähe ihres Tisches sein, verstehen Sie,- weil ich den Tee und alles andere servierte. Manchmal verstummten sie, wenn ich in die Nähe kam, und ich nehme an, daß es vielleicht etwas gab, das ich nicht hören sollte. Aber am letzten Tag hörte ich sie sagen: Ich halte das nicht mehr aus, James. Und er streckte die Hand aus und legte sie auf die ihre, aber was er ihr geantwortet hat, weiß ich nicht.«
»War das die einzige Gelegenheit -?«
»Die einzige, an die ich mich erinnern kann.«
Garfield machte noch eine Weile so weiter und brachte es sehr gut fertig, eine Atmosphäre der Heimlichkeit darzustellen. Als er sich endlich setzte, warf O'Brien einen Blick auf Maitland, der ein wenig den Kopf schüttelte und ihm grünes Licht gab. O'Brien stand langsam auf und betrachtete die Zeugin abschätzend.
»Wie lange arbeiten Sie schon in der Teestube Rosebud ?« fragte er.
»Na, ich weiß nicht… es müssen zehn Jahre sein«, antwortete sie mit größerer Entschiedenheit.
»Und in all der Zeit müssen sehr viele Gäste das Lokal besucht haben.«
»Wir sind immer gut besucht.« Sein beiläufiger Ton schien sie zu beruhigen, sie richtete sich auf eine lange Plauderei ein.
»Es gibt Mittagessen, wir bieten auch leichte Sachen zu Mittag, nicht nur Tee, und wenn jemand einen Imbiß möchte, wir haben bis sieben Uhr geöffnet.«
»Eine gute Gelegenheit, die Menschen zu studieren. Ich nehme an, Sie haben bei Ihrer Arbeit viele seltsame Dinge gehört und gesehen.«
»O ja, natürlich. Da war die Dame mit dem Pekinesen, der neben ihr auf einem Stuhl sitzen und Teegebäck essen mußte. Und ein Paar, das immer Hand in Hand hereinkam, bevor jeder Bücher oder Zeitschriften las, solange sie an einem Tisch saßen. Ich könnte Ihnen so manches - «
»Ja, das merke ich. Sie haben das Publikum im allgemeinen interessant gefunden und im Verhalten oft eigenartig.«
»Das kann man wohl sagen.«
Es klang jetzt ein wenig zweifelnd, so, als wolle er sie über den Punkt hinausführen, bis zu dem sie gehen wollte.
»Und glauben Sie angesichts der Dinge, die Sie beobachten konnten, wirklich, daß meine Mandantin sich so sonderbar verhalten hat? Oder auch Doktor Collingwood, weil wir schon dabei sind?«
»Ich habe mir nie etwas dabei gedacht, bis ich erfuhr - «
»Bis Sie erfuhren, daß man sie verhaftet hatte? Nein, davon bin ich überzeugt. Es bestand ja wirklich kein Anlaß, sich etwas dabei zu denken.«
Richter Carruthers sah Maitland fragend an, als O'Brien sich wieder setzte, aber Maitland schüttelte den Kopf.
»Danke, Euer Lordschaft, mein ehrenwerter und gelehrter Freund hat alles gesagt, was zu dem Thema zu sagen ist.«
Da Garfield auf ein nochmaliges Zeugenverhör ebenfalls verzichtete, wurde der nächste Zeuge aufgerufen.
Sofort, als er den Namen hörte, war Maitland klar, daß er ihn nicht kannte. Es bedurfte nicht Richard Keils' Hand auf seiner Schulter oder seines drängenden Flüsterns, um ihn darauf aufmerksam zu machen. Er wollte schon aufstehen, als er sah, daß O'Brien ihm zuvorgekommen war. Auch gut, ein Einspruch der Verteidigung war so gut wie der andere.
Der Zeuge war ein bleicher junger Mann in einem gut gebügelten aber ziemlich abgetragenen Anzug. Er hieß Cyril Hobart und war Portier im Hotel Rochester . Garfield entschuldigte sich mit offenkundiger Unaufrichtigkeit bei den beiden Verteidigergruppen dafür, einen Überraschungszeugen vorzuführen; er habe bis zu diesem Morgen von Mr. Hobarts Aussage nichts gewußt. Geschehen sei folgendes: Mr. Hobart habe im Abendblatt die Fotos der Angeklagten gesehen, habe erkannt, daß hilfreich sein konnte, was er zu sagen hatte, und sei richtigerweise zur Polizei gegangen. Er (Garfield) bedaure die Unannehmlichkeiten, die der Verteidigung dadurch entstehen mochten…
Das nahm ihm ab, wer wollte. O'Brien setzte sich wutentbrannt. An diesem Vormittag war Antony an der Reihe, gleichmütig zu reagieren.
»Wir haben wenigstens gewußt, daß das vorgebracht wird«, meinte er. »Schon seit dem Tag, als der üble Bursche bei mir gewesen ist.«
»Sie haben natürlich recht.« O'Brien grinste ihn schief an und beruhigte sich. Garfield befaßte sich bereits mit dem Zeugen.
»Vielleicht teilen Sie dem Gericht den Kern der Aussage mit, die Sie gestern abend vor der Polizei gemacht haben, Mr. Hobart.«
Man konnte nicht behaupten, daß Cyril Hobart sich in seiner neuen Rolle sehr behaglich fühlte. Pflichtgefühl kann etwas sehr Unbequemes sein, dachte Maitland nicht ohne Zynismus.
»Es lag daran, daß ich das Bild in der Zeitung gesehen hatte«, sagte Mr. Hobart. »Ich dachte, ich hätte die beiden erkannt. Brown nannten sie sich, als sie ins Rochester kamen.«
Es folgte einiges über Daten, und man legte das Meldebuch des Hotels vor. Er erinnerte sich sehr gut an den Vorfall, die Dame hätte nervös gewirkt. Sie wollten das Zimmer nur für ein paar Stunden, damit sie sich nach der Reise ausruhen und umziehen könnten, bevor sie am Abend ausgingen. Aber er hätte zufällig mit seiner Ablösung geredet, als sie gegangen seien, und die Dame hätte immer noch dieselbe Kleidung getragen. Übrigens hätten sie auch gar kein Gepäck gehabt, wie ihm noch einfiel.
Aus irgendeinem Grund war die Szene, die er schilderte, überaus glaubhaft, mit Kate, die in ihrer Nervosität zuviel redete und Dinge erklärte, die nicht erklärt zu werden brauchten. Garfield stellte alle Fragen, die zu erwarten waren. Sei er seiner Sache noch ganz sicher, da er jetzt die betroffenen Personen sehen könne? Aber Garfield bekam zum Kummer der Verteidigung die Antworten, mit denen er offensichtlich gerechnet hatte. Der Zeuge mochte über die Lage, in der er sich befand, unglücklich sein, aber er war bereit, Stein und Bein zu schwören, daß Mrs. Johnstone und Dr. Collingwood sein Mr. und seine Mrs. Brown seien.
Ein Kreuzverhör schien sich kaum zu empfehlen, man konnte alles nur noch schlimmer machen. Sowohl Maitland als auch O'Brien verzichteten auf das zweifelhafte Vorrecht. Cyril Hobart trat dankbar ab, und der nächste Zeuge war zur Erleichterung der Verteidiger durchaus keine Überraschung.
Er war ein Solicitor namens Edward Green, ein großer, hagerer Mann, bei dem Maitland sich den Spaß machte, ihn sich eher als Bestattungsunternehmer vorzustellen. Kate hatte ihn wegen einer Scheidung zu Rate gezogen - wieder wurde ein Kalender befragt und das Datum festgelegt: über ein halbes Jahr, bevor Douglas Johnstone gestorben war - aber als es in die Einzelheiten gegangen war, hatte er ihr mitteilen müssen, daß nichts zu machen sei. An diesem Punkt gab es eine anhaltende Debatte zwischen den Juristen. Der Richter hatte bereits entschieden, daß Kates Aussage vor der Polizei vorgelegt und als Grundlage für die weitere Befragung verwendet werden könne; O'Brien vertrat die Ansicht, daß bestimmte Teile davon ausgeschlossen werden sollten. Am Ende blieb die Verteidigung siegreich, und Mr. Green durfte abtreten, während der größte Teil seiner Kenntnisse ungehört blieb, ebenso natürlich ohne Kreuzverhör. Als der Richter die Sitzung aber bis zwei Uhr unterbrach, waren weder O'Brien noch Maitland sehr glücklich. Sie waren auf Aussagen von der Art Cyril Hobarts gefaßt gewesen, gewiß, aber annehmbarer wurde sie dadurch nicht.
2
Wieder war Vera im Gerichtssaal, und wieder hielt Maitland nach ihr Ausschau, als die Menge sich zu zerstreuen begann. Er entdeckte sie ohne Mühe, sie war ja nicht leicht zu übersehen, aber diesmal war er erstaunt, Meg Farrell bei ihr zu sehen. Auf Anhieb konnte er sich nicht erinnern, daß sie schon einmal einen Prozeß besucht hatte, ganz gewiß nicht, wenn er auftrat, und aller Wahrscheinlichkeit nach auch sonst nicht. Er begrüßte sie deshalb eher argwöhnisch.
»Ich wußte nicht, daß du um diese Tageszeit schon auf bist, Schatz«, sagte er verdrossen, als er ihren zu häufigen Gebrauch des Koseworts nachahmte.
»Unsinn, Schatz.« Meg ließ sich keineswegs einschüchtern. »Ich bin immer auf, wenn Roger in die City fährt. Und heute früh dachte ich eben… und Vera sagte, sie würde sich über meine Gesellschaft sehr freuen.«
Man sprach nichts mehr, bis sie in Maitlands Lieblingsrestaurant Astroff's saßen, das aus naheliegenden Gründen von vielen Juristen besucht wurde. Sie konnten sicher sein, dort in Frieden gelassen zu werden, falls sie es nicht eilig hatten - in diesem Fall wurden sie rasch und gut bedient. Heute eilte es nicht sonderlich, weil Richter Carruthers es vorzog, sich beim Mittagessen Zeit zu lassen.
»Interessanter Vormittag«, meinte Vera und fuhr fort: »Nur gut, daß ihr schon vorher gewußt habt, daß die Polizei den Portier finden könnte.«
»Allerdings.« Zunächst beachtete Maitland Meg nicht, die ihren gewohnten Dubonnet bestellt hatte und sich zur Abwechslung einmal damit zu begnügen schien, still dabeizusitzen und zuzuhören. »Trotzdem kann ich nicht behaupten, daß mir seine Aussage paßt, und… Vera… hast du Kate Johnstones Gesicht gesehen?«
»Bin nicht blind«, gab Vera zurück. »Wenn du recht hast, was das Mädel angeht, Antony - «
»Ich habe bei beiden recht«, erklärte Antony entschieden. »Und ich würde mir wünschen«, fügte er mit einem Anflug von Humor hinzu, der nie tief unter der Oberfläche seines Denkens zu liegen schien, »daß du mir klarmachen könntest, wie ich es anstellen soll, das zu beweisen.«
»Ich bin eigentlich gekommen, um Jean Lamb aussagen zu hören«, teilte Meg mit, ohne auf diese Frage einzugehen. »Es ist also gut, daß du uns zum Essen führst, Antony, damit ich am Nachmittag mit Vera wieder in den Gerichtssaal gehen kann, ohne vor Hunger ganz schwach zu sein.«
Antony runzelte die Stirn.
»Hältst du das wirklich für eine gute Idee?« fragte er.
»Warum denn nicht?«
»Na ja… eigentlich kein Grund.« Er dachte, ohne es laut auszusprechen: Du sagst, sie sei eine Freundin von dir. Es wird dir vielleicht nicht behagen, was ich ihr zu sagen habe, so wenig wie O'Brien. Aber Meg brachte ihn von diesem Gedankengang ab, indem sie heiter hinzufügte: »Jedenfalls habe ich heute vormittag Ernest im Saal gesehen. Und wenn er dabei sein kann, sehe ich nicht ein, warum nicht auch ich.«
»Ernest Lamb?« sagte Antony. Aus irgendeinem Grund wurde fast ein Schrei daraus, so daß Vera ihm einen scharfen, fragenden Blick zuwarf.
»Ich kenne den Mann nicht«, sagte sie, aber Meg antwortete gleichzeitig: »Natürlich war er da, Schatz, und ich fand das lieb von ihm. Er wollte nicht, daß Jean sich verlassen vorkommt, wenn sie in den Zeugenstand muß.«
»Du glaubst… hör mal, Meg, bist du sicher, daß du wieder in den Saal willst? Ihre Aussage wird die Angeklagten stark belasten. O'Brien und ich haben keine andere Wahl, als sie zu zerpflücken.«
Megs Lächeln hatte, wie ihm schien, etwas Katzenhaftes an sich.
»Deshalb will ich dabei sein«, sagte sie. »Um zu hören, was ihr zwei mit ihr macht. Zwei kluge Männer… laßt euch von ihr nicht einwickeln, Schatz.«
Antony sah sie lange an.
»Du willst mich warnen, Meg«, sagte er schließlich ohne Betonung.
»Tja, ich dachte, du hättest neulich abends vielleicht nicht so aufgepaßt. An Jean ist mehr dran, als äußerlich zu sehen ist. Viel mehr.«
»Ich werde das kaum vergessen.« Aber es war kein Thema, das er ausführlich diskutieren wollte. Statt dessen wandte er sich an Vera. »Was meinst du?« fragte er. »Die Strategie, die ich dir und Onkel Nick dargelegt habe - «
»Hab' noch nie erlebt, daß du mich um Rat gefragt hättest«, erklärte Vera barsch.
»Aber - «
»Hätte sagen sollen, hab' noch nie erlebt, daß du ihn annimmst. Würde ich auch nicht machen«, stellte Vera ernsthaft fest, »aber wenn du deiner Sache sicher genug bist, wirst du weitermachen, und nichts, was ich sagen könnte, wird ins Gewicht fallen.«
Antony grinste. Bei Vera kam das praktisch einem Segen gleich. Er schickte sich an, seine Gäste mit einer Konversation zu unterhalten, die nicht den Prozeß betraf, aber man konnte nicht behaupten, daß er es bedauerte, als das Zwischenspiel zu Ende ging.
3
Jean Lamb, erste Zeugin nach der Sitzungspause, war wieder ganz kleine Frau mit gewellten braunen Haaren und haselnußbraunen Augen. Obwohl sie hochaufgerichtet stand, wirkte sie im Zeugenstand winzig und sehr einsam. Maitlands Mut sank, als er sie sah. Sie hatte etwas Weiches an sich und erweckte den Eindruck, als wolle sie jedermanns Freund sein, was bei den Geschworenen gut ankommen mußte. Der größere Teil ihrer ersten Aussage wurde vom Standpunkt der Anklage aus beeinträchtigt durch zahlreiche Einsprüche O'Briens. Antony konnte es ihm nicht verübeln, obwohl er wußte - so gut, wie Kevin das klar sein mußte - daß sie sich als nutzlos erweisen würden. Die andere Seite für die Gespräche, über die berichtet wurde, befand sich im Gerichtssaal, auf der Anklagebank, und würde für ein Kreuzverhör zur Verfügung stehen, sobald die Verteidigung ihre Zeugen präsentierte. So wurden die Tatsachen langsam und unter Mühen an den Tag gebracht; Jeans Widerstreben war sehr deutlich. Sie sei eine Freundin ( eine sehr enge Freundin , fügte sie mit Nachdruck hinzu) von Kate Johnstone. Selbstverständlich sei ihr im Lauf der Jahre, teils aus eigener Beobachtung, teils aus dem, was Kate ihr erzählt hatte, klargeworden, daß die Ehe nicht gerade glücklich zu nennen war. Aber erst in letzter Zeit hätte die Angeklagte zugegeben, daß sie einen anderen Mann liebe, doch nicht mitgeteilt, wer das sei.
»Aber Sie waren eine enge Freundin von ihr«, erklärte Garfield einschmeichelnd. »Ich bin sicher, Sie müssen irgendeine Vorstellung gehabt haben - «
Das führte zum ersten Einspruch O'Briens - mehr oder weniger zu einem Protest -, dem der Richter stattgab. Garfield, der nach Antonys privater Meinung alle diese Unterbrechungen mit stoischer Ruhe ertrug, formulierte seine Frage um.
»Haben Sie Ihre Freundin, Mrs. Johnstone, und Doktor Collingwood jemals zusammen gesehen?«
»Ich sah ihn einmal im Haus, die Kinder waren erkältet.« Sie zögerte kurz und fügte auf eher befangene Weise hinzu: »Es gab noch eine Gelegenheit, als Kate und ich in einem Restaurant zu Abend aßen. Doktor Collingwood und ein Freund von ihm kamen herein. Aber das war purer Zufall.«
»Sind Sie da so sicher?«
Die Zeugin nahm die Frage offensichtlich gequält auf.
»Ich versuche nicht, Sie irrezuführen«, wandte sie ein, »aber es ist so schwer, in irgendeinem Punkt Gewißheit zu haben.«
»Was kam bei dieser Zufallsbegegnung heraus?« Garfield ließ eine Spur Sarkasmus anklingen, obwohl das seine eigene Zeugin war.
»Wir aßen alle zusammen. Es war sehr lustig«, fügte sie hinzu, so, als ließe sich damit die Harmlosigkeit des Zusammentreffens noch deutlicher belegen. »Doktor Collingwood hatte mich natürlich schon einmal ärztlich behandelt.«
»Sie sind eine gute Beobachterin, Mrs. Lamb«, sagte Garfield, was reine Schmeichelei war, weil er nichts wußte, was dafür als Beweis hätte dienen können. »Welchen Eindruck hatten Sie von der Beziehung zwischen den beiden Angeklagten?«
Das brachte Maitland auf die Beine. Er zeigte sich ein wenig verwirrt darüber, daß ein so erfahrener Mann wie Garfield sich soviel Spielraum gestattete. Es müsse tatsächlich so sein, wie er, wenn auch halb im Scherz, behauptet hatte, nämlich, daß der Vertreter der Anklage Beweis für Ehebruch einem Beweis für Mord gleichsetze.
»Mylord!« sagte er empört.
Richter Carruthers nickte schon und wartete gar nicht erst ab, daß der Verteidiger seinen Einwand formulierte.
»Ja, Mr. Garfield, ich glaube, Sie müssen sich mit den Beweisindizien begnügen, die Sie uns vorlegen können.«
Garfield war viel zu routiniert, um sich von dergleichen aus dem Konzept bringen zu lassen. Sein »Wenn Euer Lordschaft wünschen« klang so respektvoll, wie selbst der spitzfindigste Richter es sich nur wünschen konnte. Er blieb noch einen Augenblick stehen und warf den beiden Verteidigergruppen einen verächtlichen Blick zu, dann wandte er sich wieder der Zeugin zu.
»Keine Fragen mehr«, sagte er und setzte sich.
Maitland zupfte am Ärmel seines Kollegen.
»Diesmal ich, O'Brien«, flüsterte er drängend.
Kevin O'Brien sah ihn forschend an. Wenn der Richter nicht Anzeichen von Ungeduld hätte erkennen lassen, hätte er wohl noch länger gezögert.
»Na gut«, sagte er schließlich, aber Antony konnte sich über sein Widerstreben nicht im Zweifel sein.
Er stand langsam auf, verbeugte sich vor dem Richter, um zu bestätigen, daß dieser durchaus eine Mahnung wegen der Verzögerung hätte aussprechen können und es nicht getan hatte, dann richtete er seine Aufmerksamkeit auf die Zeugin. Sie wirkte immer noch schüchtern und verwundbar, und er begann zurückhaltend mit dem Kreuzverhör.
»Sie haben meinem ehrenwerten und gelehrten Freund erklärt, Sie seien mit Kate Johnstone sehr gut bekannt«, sagte er, »und Sie hätten meinen Mandanten, Doktor James Collingwood, zwei- oder dreimal gesehen. Ich bin sicher, daß mein Kollege, Mr. O'Brien, dazu in Kürze einige Fragen haben wird, aber im Augenblick möchte ich mich auf etwas konzentrieren, das die Anklage unerklärlicherweise außer acht gelassen hat.«
Er hatte sich hier nicht unterbrechen wollen, aber die Zeugin selbst unterbrach ihn und sagte überrascht: »Sie sind also Mr. Maitland?« Es klang ganz so, als seien ihr die Worte ungewollt herausgerutscht.
»Der bin ich«, sagte Maitland und lächelte sie an. Nun wartete er.
Sie schien es für nötig zu halten, eine Erklärung zu liefern.
»Sehen Sie, Sie sind bei Ernest, meinem Mann, gewesen, und da dachte ich - «
»Gewiß«, meinte er verbindlich. »Aber das gehört alles nicht zur Sache, Mrs. Lamb, und mein ehrenwerter und gelehrter Freund wird ungeduldig.« Noch ein bißchen, dachte er, und Garfield wird aufspringen. »Die Fragen, die ich Ihnen stellen möchte, betreffen den Tag von Douglas Johnstones Tod. Sie haben das Haus am Wilgrave Square aufgesucht, nicht wahr?«
»Ja.« Ihre Stimme klang so leise, daß er sie kaum verstehen konnte. »Ich denke aber nicht gerne an diesen Tag.«
»Ich fürchte, ich muß Sie trotzdem bitten, es zu tun.« Es klang immer noch ruhig und höflich, aber sie hob den Kopf, um ihn anzusehen, und er war verblüfft über die Art, wie sie ihn anfunkelte. »Ich muß Sie sogar bitten, mir einigermaßen genau zu berichten, was bei diesem Besuch vorgefallen ist. Gleich als erstes: Um welche Zeit sind Sie angekommen?«
»Es war… ach, es wird gegen halb fünf Uhr gewesen sein.«
»Wer hat Sie hereingelassen?«
»Na, Sophie natürlich.«
»Mylord!« Garfield war ohne Hast aufgestanden, und als er weitersprach, verriet seine Stimme - oder sollte sie verraten - eine gewisse Langeweile. »Der Punkt ist irrelevant«, betonte er.
»Was haben Sie dazu zu sagen, Mr. Maitland?«
»Mein ehrenwerter und gelehrter Freund hat mit der Zeugin seinen Spaß gehabt.« Das war eine bewußte Provokation, der Gebrauch des Wortes Spaß war in Verbindung mit einer von Garfields völlig ernsten Befragungen so unpassend, daß es lächerlich erschien. »Es gibt nach wie vor einige Tatsachen, die ich herausfinden möchte. Ist das zuviel verlangt?«
»Unter den Umständen, Mr. Garfield«, sagte Carruthers mit seiner gewohnten Höflichkeit, »muß ich, glaube ich, Ihren Einspruch ablehnen. Allerdings, Mr. Maitland - «
Antony war nicht im Zweifel darüber, wie er das aufzufassen hatte. Er wurde warnend aufgefordert, vorsichtig zu sein, und genau das hatte er vor.
»Sophie hat Sie also eingelassen«, sagte er. »Haben Sie mit ihr gesprochen?«
»Ich sagte GutenTag , versteht sich. Ich kenne sie sehr gut.« Die Zeugin besaß an der Oberfläche nach wie vor Selbstsicherheit, aber er glaubte erste Ansätze von Nervosität zu erkennen. »Dann sagte sie, Kate sei im Salon, und ich ging sofort hinein, weil wir keinen Wert auf Höflichkeitsformen legen. Und ich kannte mich natürlich aus.«
»Und war Mrs. Johnstone im Salon?«
»Ich sagte schon - «
»Sie haben mir mitgeteilt, was Sophie gesagt hat, Mrs. Lamb. Sie könnte sich geirrt haben.«
»Hat sie aber nicht! Kate war da - «
»Allein?«
»Ja, allein.«
»Was hat sie gemacht? Gelesen? Genäht?« Er konnte nun Garfields Unruhe angesichts eines Frageverfahrens spüren, das er, Garfield, nicht verstand und von dem nicht zu erwarten war, daß es der Verteidigung nützen konnte. Aber noch stärker nahm er O'Brien neben sich wahr, eine Art schwelenden Zorns, der nicht typisch für ihn war… bei Kevin flammte der Zorn stets rasch auf und verrauchte ebenso schnell wieder. »Was hat Mrs. Johnstone gemacht?«, wiederholte er, als Jean Lamb keine Eile zu zeigen schien, seine Frage zu beantworten.
»Sie… saß einfach da.«
»Haben Sie eine Bemerkung dazu gemacht?« Er bemühte sich um einen leichten Tonfall. » Möchte wissen, was du denkst … oder etwas Ähnliches?«
»Ja, ich fragte sie… weil es Kate nicht ähnlich sah, untätig zu sein.«
»Und sie erzählte ihnen, woran sie dachte?« Garfield machte eine Bewegung, als wolle er aufstehen, überlegte es sich aber anders. Als er die Zeugin hatte befragen können, waren O'Briens Einsprüche schließlich auch kurz abgefertigt worden. Einen Augenblick danach war er froh, den Mund gehalten zu haben.
»Sie erzählte mir, sie hätte eben etwas Schreckliches getan«, sagte Jean Lamb laut und deutlich. Das entlockte den Zuschauern ein Aufstöhnen. Maitland war keinesfalls sicher, daß seine eigenen Kollegen nicht eingestimmt hatten. Aber das war nicht der Zeitpunkt, sich von dem ablenken zu lassen, was er vorhatte.
»Ich bin sicher, dabei haben Sie es nicht bewenden lassen, Mrs. Lamb«, sagte er. »Sie haben Sie gefragt, was sie damit meine, und sie hat es Ihnen gesagt.«
»Ja, natürlich.«
»Und jetzt werden Sie es uns sagen.« Das war aufmunternd gemeint, aber sie warf ihm wieder einen ihrer Blicke zu. Es kam ihm so vor, als zögere sie einen Augenblick, vielleicht in der Hoffnung auf ein Eingreifen Garfields, aber als sie sah, daß es nichts half, antwortete sie ganz klar und deutlich: »Sie sagte, James sei vorher am Nachmittag dagewesen, und sie hätte ihn endgültig weggeschickt.«
»Das ist aber sehr interessant, in Anbetracht dessen, was an diesem Tag zwischen ihnen vorgefallen sein soll. Sie hielten es nicht für angebracht, das meinem Freund, der die Anklage vertritt, mitzuteilen?«
»Er hat mich nicht danach gefragt«, erklärte Jean Lamb sachlich. Irgend etwas an ihrem Tonfall ließ ein Raunen der Belustigung durch die Reihen der Zuhörer gehen. »Ich sehe auch nicht ein, weshalb das so wichtig sein soll«, fügte sie trotzig hinzu.
»Nein?« Er ließ seine Skepsis deutlich werden. »Nun, wenn Sie es sagen, Mrs. Lamb. Was wurde anschließend gesprochen?«
»Nichts.«
»Na, hören Sie, wie lange sind Sie denn bei ihr gewesen?«
»Ungefähr eine Stunde, glaube ich.«
»Dann bin ich überzeugt davon, daß Sie nicht die ganze Zeit stumm dagesessen haben.«
»Natürlich nicht.« Das Wort natürlich schien sie zu bevorzugen; vielleicht stand es symbolisch für die Verachtung, die sie seinen Fragen entgegenbrachte. »Ich offenbarte ihr mein Mitgefühl, wissen Sie, aber ich begriff doch, daß es das einzig Richtige gewesen war.«
»Das heißt doch - nicht wahr? - Sie haben ihr geglaubt, was sie sagte.«
Zum erstenmal sah Jean Lamb die Frau auf der Anklagebank direkt an.
»Sie ist meine Freundin«, sagte sie vieldeutig. Aber bevor Maitland sie daran hindern konnte, fügte sie hinzu: »Wenn Sie die Wahrheit wissen wollen, ich glaube nicht, daß sie fähig gewesen wäre, bei diesem Entschluß zu bleiben.«
»Verstehe.« Er glaubte wirklich zu begreifen, konnte aber durchaus verstehen, was O'Brien empfinden mußte. Die Hilfe, die er gesucht hatte, hätte außerhalb des Gerichtssaales gegeben werden sollen, nicht in einem, wie es ihm erscheinen mußte, nutzlosen Kreuzverhör der Anklage-Zeugen; inzwischen war er wohl der Meinung, ungewollt den Teufel beschworen zu haben. »War mein Mandant Doktor Collingwood an diesem Nachmittag das einzige Gesprächsthema?« fragte Maitland so geschmeidig, als wäre er nie von einem Gedanken abgelenkt worden, den er unter anderen Umständen als amüsant empfunden hätte.
»Nein, das war er nicht. Kate schien über die Sache gar nicht reden zu wollen. Ich versuchte, sie auf andere Gedanken zu bringen, indem ich nach den Kindern fragte. Dougie war ja nicht gesund gewesen.«
Wenn Maitland vorher angespannt gewesen war, wie immer, wenn er sich mit einem Zeugen befaßte, so schien seine Konzentration nun noch verstärkt worden zu sein.
»Hatte Mrs. Johnstone dazu noch etwas zu sagen?«
»Nur, daß es ihm eigentlich besser gehe und es deshalb albern sei, daß beide Ärzte an diesem Tag gekommen seien. Aber Dougie war immer noch ein wenig teilnahmslos, und Janet - «
»Was war mit Janet?« fragte Maitland scharf. Er hatte nicht in diesem Ton reden wollen und hätte die Zeugin nicht zu unterbrechen brauchen, die offenkundig davon berichten wollte.
»Sie langweilte sich, weil sie keinen Spielkameraden hatte. Und das ist eigentlich alles.«
»Der Rest Ihrer Unterhaltung -?«
»Kate war an diesem Tag keine sehr lebhafte Gesellschafterin. Ich weiß wirklich nicht mehr, worüber wir gesprochen haben.
Ich vermute, ich versuchte irgend etwas zu finden, um sie abzulenken. Aber ich bin nicht lange geblieben, weil ich vor Ernest zu Haus sein wollte - bevor mein Mann heimkam, meine ich.«
»Aber ehe Sie das Haus verließen, sind Sie hinaufgegangen?«
»Ja, natürlich. Sophie gab meine Sachen stets Daisy, damit sie in Kates Zimmer gelegt wurden. Das war immer der Fall.«
»Sie kennen sich in dem Stockwerk, wo die Schlafzimmer liegen, also gut aus?«
Das war für Garfield zuviel. Er stand so rasch auf, daß seine Robe ihn umwirbelte.
»Mylord!« sagte er. »Diese Art der Befragung ist weit genug gegangen.«
»Vielleicht zu weit.« Richter Carruthers' Tonfall klang verdächtig liebenswürdig. »Mr. Maitland, die Bedeutung der Vorgänge an diesem Tag ist mir klar, aber wenn es keine weiteren Gespräche zwischen der Zeugin und Mrs. Johnstone gegeben hat - «
»Nein, Mylord«, sagte Jean schnell.
»- dann glaube ich, haben Sie alles in Erfahrung gebracht, was von Belang sein kann.«
»Das, Mylord - «
»Nein, Mr. Maitland«, sagte der Richter in unwiderruflichem Ton.
»Wie Euer Lordschaft wünschen.« Der Verteidiger zeigte eine widerspenstige Miene, aber es blieb ihm nichts anderes übrig, als sich wieder hinzusetzen, wobei er sich einen wütenden Blick von O'Brien einhandelte. Kevin zeigte wieder die Rötung an den Backenknochen, die Antony das erstemal aufgefallen war, als sie sich in einem Prozeß im Norden Englands als Gegner gegenübergestanden hatten, und von der er seither wußte, daß sie Ärger bedeutete. Er machte sich aber deshalb keine allzugroßen Gedanken; es war genau das, was er erwartet hatte.
O'Briens Kreuzverhör hielt das Gericht nicht lange auf und beschränkte sich ausschließlich auf Punkte, die Garfield bei der ersten Befragung angesprochen hatte. In dieser Richtung war nicht viel zu machen, das hatte Maitland instinktiv gefühlt, aber wenn es O'Brien gelingen sollte, einen besseren Eindruck für seine Mandantin zu erwecken, entsprach das natürlich seiner Aufgabe. Jedenfalls war er sehr vorsichtig, es ergab sich nichts von Bedeutung, und nicht lange danach setzte er sich wieder, diesmal, ohne seinem Kollegen einen Blick zuzuwerfen.
Die nächste Zeugin war die Haushälterin von Douglas Johnstone und seiner Frau, ein Dragonerweib, völlig eins mit Garfields Zielen. Vielleicht zu sehr sogar für das Interesse der Anklage, denn Garfield verbrachte die Hälfte der Zeit damit, ihre offenkundige Abneigung gegen Mrs. Johnstone zu dämpfen. Sie hätte gewußt, daß etwas im Gange sei, wie alle, und bei mehr als einer Gelegenheit sei es zwischen Mr. und Mrs. Johnstone zu Streitigkeiten gekommen. O'Brien begnügte sich damit, hervorzuheben, was Garfield zu dämpfen versucht hatte, etwas anderes konnte man kaum tun, und als Maitland an der Reihe war, verzichtete er auf ein Kreuzverhör.
Die nächste Zeugin, Helen Gatsby, das Kindermädchen, stimmte andererseits nur zu sehr mit Kate überein. Paradoxerweise fügte das der Verteidigung mehr Schaden als Nutzen zu und verlieh den Angaben, die Garfield unter großen Schwierigkeiten aus ihr herausholte, größere Glaubwürdigkeit. Soweit sie sich erinnern konnte, sei sie immer anwesend gewesen, wenn Doktor Collingwood die Kinder besucht habe, und Mrs. Johnstone, eine sehr liebevolle Mutter, sei in der Regel auch immer dabeigewesen. Zuerst hätte es sich natürlich um rein ärztliche Besuche gehandelt, aber mit der Zeit hätte sie nicht übersehen können, daß sie… einander mochten. Sie meine damit nichts Böses, sie hätten sich stets völlig korrekt benommen.
»Aber in Gegenwart der Kinder war das doch nicht anders zu erwarten«, meinte Garfield geschmeidig.
Diesmal war es O'Brien, der auf sein Recht zum Kreuzverhör verzichtete. Maitland aber stand langsam auf und suchte nach der richtigen Methode.
»Wenn ich Sie recht verstanden habe, Miß Gatsby, gab es für Doktor Collingwoods Besuche stets einen guten Grund.«
Sie antwortete ganz eifrig.
»O ja, immer. Eines der Kinder war stets… Dougie ist nicht sehr gesund, wissen Sie.«
»Das habe ich gehört. Ich bin dankbar, daß Sie diesen Punkt bestätigen können, Miß Gatsby«, fuhr er fort. »Doktor Collingwood kam, wenn das aus ärztlicher Sicht notwendig war, und Mrs. Johnstone hat nicht mehr getan als jede liebevolle Mutter, wenn sie anwesend war, während er die Kinder untersuchte.«
»Das ist völlig richtig.«
»Wir kommen also zum Tag von Douglas Johnstones Tod. Ich nehme an, Sie erinnern sich noch gut daran.«
»Das gehört nicht zu den Dingen, an die man gerne denkt, aber so ist es natürlich.«
»Sie erinnern sich, daß beide Ärzte kamen, um die Kinder zu besuchen? Waren Sie überrascht, Doktor Collingwood am Nachmittag zu sehen, nachdem Doktor Trevelyan schon am Vormittag dagewesen war?«
»Ich glaube - « Es klang zögernd, aber dann fuhr sie entschiedener fort: »Ich glaube, ich war eher überrascht, Doktor Trevelyan zu sehen.«
Nun, das war eine riskante Frage gewesen, die zu einem guten Ergebnis geführt hatte.
»Wieso das?« fragte er.
»Weil er die Kinder in der letzten Zeit nie besucht hatte. Es war immer Doktor James… unser Doktor, wie die Kinder ihn nannten.«
Nicht zu beurteilen, wie das auf die Geschworenen wirken würde.
»Sind Sie den ganzen Tag bei den Kindern gewesen?«
»Außer, daß sie zum Mittagessen mit ihrer Mutter und Onkel Charles hinuntergingen«, antwortete sie und fuhr fort, ohne ein Stichwort zu benötigen: »Doktor Collingwood kam an diesem Nachmittag allein herauf. Mrs. Johnstone begleitete ihn nicht.«
»Was wissen Sie von dem Tag noch?«
»Daß Dougie unruhig war. Es ging ihm besser, aber noch nicht gut, wissen Sie. Und Janet wollte, daß er mit ihr spielte, aber ich glaube, er war zu müde. Dadurch wurde auch sie unruhig. Sie hat soviel überschüssige Energie.«
»Kein leichter Tag für Sie, wenn Sie auf beide achten mußten.«
»Sie sauste wie ein Schachtelmännchen zum Spielzimmer hinein und wieder hinaus«, sagte Miß Gatsby versonnen. Und ohne weitere Fragen, zur offenkundigen Überraschung des Gerichts, zeigte Maitland ihr unerwartet ein strahlendes Lächeln, dankte ihr und setzte sich.
4
Anschließend vertagte der Richter die Verhandlung bis zum nächsten Morgen. Maitland sammelte seine Bücher und Akten ein.
»Ich fahre nicht in die Kanzlei zurück«, sagte er zu Willett, als er ihm das Material gab. Er drehte sich herum, so daß er Richard Keils und Geoffrey Horton gleichzeitig ansehen konnte, und sagte: »Ich möchte unsere Mandanten noch einmal sprechen, wenn Sie das veranlassen können.«
»Jetzt?« sagte Richard, aber Geoffrey, der seinen Freund besser kannte, sagte nur: »Kein Problem« und griff nach dem Arm seines Solicitor-Kollegen.
O'Brien hatte mit seinem juristischen Mitarbeiter gesprochen, drehte sich jedoch plötzlich um und sagte zu Maitland in demselben wütenden Ton, den er vorher gebraucht hatte: »Zuerst sollten wir einiges besprechen.«
Maitland wandte sich ihm zu und war so unklug, einen Anflug von Belustigung erkennen zu lassen.
»Bedauern Sie es jetzt, daß sie damals abends zum Kempenfeldt Square gekommen sind?« fragte er.
»Ich möchte wissen, was, zum Teufel, Sie eigentlich vorhaben. Was soll das nützen, diese Vorstellung heute nachmittag?«
»Wenn Sie mein Kreuzverhör von Jean Lamb meinen - «
»Allerdings!«
»- Carruthers ließ mich nicht so weit gehen, wie ich gehofft hatte, aber ich habe mich von ihrer Böswilligkeit überzeugt.«
»Wenn Sie es nicht selbst gehört haben, werde ich es Ihnen kaum erklären können.« Maitlands Stimme klang plötzlich müde. »Ihre sämtlichen Kommentare waren zweischneidig, und selbst wenn es schien, als verteidige sie Kate, hat sie ihr nach meiner festen Überzeugung mehr geschadet als genützt.«
»Aber wieso Mrs. Lamb? Mir war, weiß Gott, klar, daß Sie etwas im Schild führen, aber ich wußte nicht, daß es Sie veranlassen würde, uns beide so zu blamieren.«
»Sie werden sich vielleicht erinnern« - Antonys Stimme klang so ruhig, wie die seines Onkels geklungen hätte -, »daß ich auch Anlaß zum Zorn habe.«
»Wenn Sie die verdammten Pralinen meinen, dann fehlt es an jedem Beweis, daß sie mit diesem Fall etwas zu tun hatten.«
»Sie werden mir verzeihen, wenn ich anderer Meinung bin. Das paßte alles zu gut. Ich habe an einem Wochenende des vergangenen Monats meine Fragen gestellt, und am Montag abend kamen die Pralinen an.«
O'Briens Zorn schien ein wenig nachzulassen, und als er weitersprach, klang es eher verwirrt.
»Aber die Polizei hat ermittelt, daß man sich in dem Laden nicht erinnern konnte, wer diese eine Packung gekauft hatte. Und an der Verpackung waren keine Fingerabdrücke, und die Karte lieferte keinerlei Hinweise. Ich frage Sie also noch einmal, Maitland, warum Mrs. Lamb?«
»Jemandem paßte es nicht, daß ich Fragen stellte.«
»Das will ich Ihnen zugeben, wenn Sie möchten«, sagte O'Brien nachgiebiger, »aber das erklärt immer noch nicht - «
»Jemand, der so viel über uns wußte, daß Jenny überhaupt keine Pralinen ißt und ich nur solche mit Mandelgeschmack mag«, sagte Maitland. »Und Sie denken wohl, ich sollte dafür dankbar sein, daß man sich immerhin die Mühe gemacht hat, ihr nichts anzutun«, fügte er scharf hinzu. »Aber zu so viel Nachsicht bin ich leider nicht fähig.«
»Sie haben mir immer noch nicht gesagt - «
»Nein, das habe ich nicht, wie? Bei den Leuten, die ich befragt habe, brachten mich drei Punkte dazu, meine Aufmerksamkeit besonders den Lambs zuzuwenden. Ernest hatte ein Motiv, Jean war an dem bewußten Tag tatsächlich im Haus, und sie sind die einzigen, die gewußt haben können, welche Vorlieben wir bei Süßigkeiten haben.«
»Wie denn das nur?«
»Durch die Farrells, von denen Sie mich haben reden hören. Sie sind mit den Lambs bekannt. Meg ist keine Klatschbase, aber wenn - wenn man in der Presse gerade über mich berichtet hat, als die beiden Paare sich trafen, könnte das Gespräch auf uns gekommen sein, und dabei sind vielleicht ein paar Eigenheiten von uns erwähnt worden.«
»Haben Sie Mrs. Farrell danach gefragt?«
»Sie erinnert sich noch, daß Jenny und ich einmal erwähnt worden sind. Das war kurz nach… na, das spielt keine Rolle, aber es hatte eine gewisse Gefahr bestanden. Ich bin ziemlich sicher, daß sie das Thema möglichst schnell gewechselt haben wird, aber Sie können erkennen, daß das sehr wohl zu solchen Mitteilungen geführt haben kann, wie ich sie unterstelle.«
»Gut, aber - «
»Roger erinnert sich an gar nichts - er wird wohl nicht zugehört haben. Trotzdem, O'Brien, das ist die einzig mögliche Verbindung, und wenn Sie unsere Mandanten retten wollen, ist das auch der einzige Ansatzpunkt, den wir haben.«
Der Gerichtssaal leerte sich, aber Garfield, der noch mit seinem Mitarbeiter sprach, drehte sich erstaunt um, als Kevin O'Briens Stimme sich vor Empörung überschlug.
»Aber Kate Johnstone selbst liefert Jean Lamb ein Alibi.«
»Ein Alibi, das ich gern widerlegen möchte.«
»Ja, ich sehe jetzt schon, worauf Sie hinauswollen. Wenn Carruthers Sie nicht aufgehalten hätte… trotzdem, glauben Sie, Kate hätte bei einem Punkt, der so zu ihren Gunsten spricht, gelogen?«
»Nicht bewußt, nein. Ich glaube, der ganze Besuch lief aus ihrer Sicht so alltäglich ab, daß sie gar nicht darüber nachdachte. Und wir wissen, wie es ihr widerstrebt, ihre Freunde zu verdächtigen.«
»Ich glaube immer noch… hören Sie, haben Sie den Zeugen der Anklage noch mehr solche Fragen zu stellen?«
Maitland sah ihn an. Er war müde, seine Schulter tat weh, und es galt, eine Aufgabe zu erfüllen, die zufriedenstellend abzuschließen er keine Möglichkeit sah. Trotzdem erfaßte ihn eine Welle der Sympathie, beinahe der Zuneigung für den anderen, und er lächelte. O'Brien mochte ein großer Kämpfer sein, aber er hatte seine eigenen Methoden, und es waren nicht die von Maitland. Jetzt war er entschieden aufgebracht, so daß Antony fragte: »Wen ruft die Anklage morgen auf?«
»Sophie, das Stubenmädchen, und Doktor Trevelyan.«
»Ich fürchte, für die habe ich auch peinliche Fragen.«
»Aber Sie können doch nicht… Selbst wenn Sie recht haben, läßt sich nie beweisen, daß Jean zu irgendeinem Zeitpunkt nicht in Kates Gesellschaft war.«
»Es könnte einen Weg geben, ich muß noch mit einer Zeugin sprechen. Das heißt, ich habe schon einmal mit ihr gesprochen, aber heute abend…« Er ließ den Satz unvollendet und lächelte wieder. O'Brien hat für einen Tag genug mitgemacht, entschied er.
Das Gespräch mit den beiden Angeklagten war kurz und für Antony quälend. Kate schien in Lethargie verfallen zu sein; bei sich dachte er, daß es die Aussage der Kinderschwester war, die sie aus dem Gleichgewicht gebracht hatte, mit dem Hinweis auf die Kinder, die ihr so fehlten. Was Jeans Besuch anging, so schien sie sich völlig gegen die Ereignisse zu sperren, die dem Tod ihres Mannes vorausgegangen waren. Sie bekamen nichts aus ihr heraus, sie schien sich nicht einmal dafür zu interessieren, warum die Fragen gestellt wurden.
James Collingwood dagegen war voller Fragen, die in diesem Stadium alle noch nicht beantwortet werden konnten. Maitland stieß einen Seufzer der Erleichterung aus, als sie ihre Mandanten endlich in dem Sprechzimmer unter dem Gerichtssaal allein ließen, aber O'Brien wirkte nach wie vor nachdenklich und verabschiedete sich draußen auf der Straße mit äußerster Kürze.
5
Maitland fuhr vom Old Bailey-Gerichtsgebäude sofort zum Haus von Charles Johnstone, wo er - wenigstens dafür durfte er dankbar sein - freundlich empfangen wurde. Seine Bitte stieß auf leichte Überraschung, wurde aber bereitwillig erfüllt. Die Kinder aßen früh zu Abend, doch man wollte Janet sofort holen, sobald sie fertig war. Inzwischen könne ein Gläschen gewiß nichts schaden.
Er wartete also mit aller Geduld, zu der er fähig war, bis Felicity sich endlich entfernte und bei ihrer Rückkehr Janet mitbrachte. Zum Glück schien sich die Kleine sofort an ihn zu erinnern und stellte sich vertraulich an sein Knie, wie schon bei seinem ersten Besuch.
»Mammi hat uns immer noch nicht besucht«, stellte sie fest.
Er konnte lügen, wenn die Situation es verlangte, auch wenn ihm das immer peinlich war, aber ein Kind anzulügen, brachte er nicht über sich.
»Es ist im Augenblick schwer für sie«, sagte er lahm, »aber es geht ihr recht gut, weißt du, und sie denkt an euch.«
Janet betrachtete ihn einen Augenblick lang ernsthaft, was ihn verlegen machte, aber zum Glück schien die Antwort sie zufriedenzustellen.
»Ich möchte unseren Doktor auch sehen«, sagte sie. Offenkundig hatte sie das seinerzeitige Gespräch nicht vergessen.
»Hoffentlich heißt das nicht, daß du dich krank fühlst«, meinte er neckend.
»Nein, wir sind ganz gesund. Sogar Dougie - «
»Das letztemal, als du Doktor Collingwood gesehen hast - «, begann er hoffnungsvoll.
»An dem Tag, bevor wir hierherzogen.« Janet nickte.
Er fragte sich, auf welche Weise ihr kindliches Gemüt diesen beschönigenden Ausdruck für den Tag gefunden hatte, an dem ihr Vater gestorben war.
»Es gibt da noch etwas an diesem Tag, wonach ich dich fragen möchte«, sagte er. »Macht es dir etwas aus?«
»N-nein.« Es klang zweifelnd, was ihn beunruhigte, aber sein Gewissen wurde gleich darauf erleichtert, als sie hinzufügte:
»Nicht, wenn ich es noch weiß.«
»Es handelt sich um den Nachmittag, nachdem Doktor Collingwood gegangen war. Ihr seid im Haus geblieben, weil Dougie sich noch nicht so wohl fühlte, daß er hinaus konnte. Und ich glaube - man hat es mir gesagt -, daß er noch nicht so gesund war, um mit dir spielen zu können.«
»Der arme Dougie«, sagte Janet seufzend.
»Du hast dich also allein beschäftigen müssen.«
»Im Spielzimmer war es so langweilig.«
»Da bist du vielleicht auf den Treppenabsatz hinausgegangen. Nicht nur, als Doktor Collingwood ging, sondern auch später.«
»Ja, das stimmt. Ich konnte da hin und her laufen und rutschen.«
»Was hielt Miß Gatsby davon?«
»Nanny? Ach, sie wurde nach einiger Zeit ganz böse auf mich. Als sie mich hörte, daß ich nach Mammi rief, kam sie heraus und bat Mammi, heraufzukommen und mit mir zu reden.«
»Was hat deine Mutter gemacht, als du sie gerufen hast?«
»Sie ging mit Tante Jean in ihr Schlafzimmer. Als sie mich hörte, kam sie wieder heraus, und Miß Gatsby kam aus dem Spielzimmer und bat sie, heraufzukommen.«
»Weißt du noch, wann das war?«
Für Janet war das offenkundig die bisher unvernünftigste Frage.
»Aber klar. Ich bin schon fast sieben«, betonte sie gereizt.
»Kannst du dann sagen, wie spät es war, als Mammi heraufkam?«
Sie mußte nun doch kurz nachdenken.
»Na, nicht, weil ich auf die Uhr geschaut hätte«, sagte sie schließlich. »Aber Mammi hat es getan, weil sie sagte: Sie bekommen in zehn Minuten ihren Tee, dann wird sie ja beschäftigt sein. «
»Und was für einen Schluß hast du daraus gezogen? Ich meine, zu welcher Zeit bekommt ihr euren Tee?«
»Immer um halb sechs. Es war also zwanzig Minuten nach fünf, als Mammi heraufkam, sehen Sie«, sagte Janet triumphierend.
»Wie lange war sie bei euch?«
»Hm… sie sah sich Dougies Puzzle an. Ich glaube nicht, daß er sehr weit gekommen ist damit. Darum machte sie was vom Himmel für ihn, das ist das Schwerste. Und sie hat eine Weile mit ihm geredet - Mammi ist nie richtig böse, wissen Sie, aber sie hat mir erklärt, ich sollte mehr Rücksicht auf Dougie nehmen.« Der Versuch einer Nachahmung war zu erkennen, und er lächelte sie an.
»Sagen wir, fünf Minuten?«
»Ja, vielleicht.« Sie griff plötzlich nach seinem Ärmel und zerrte daran, als hätte ihr nicht schon seine ganze verspannte Aufmerksamkeit gegolten. »Wenn Sie Mammi sehen, sagen Sie ihr, daß ich jetzt rücksichtsvoll bin«, meinte sie.
Er blieb, nachdem sie gegangen war, noch eine halbe Stunde bei den Johnstones. Das schien das mindeste zu sein, was er tun konnte. Aber als er sich auf den Heimweg machte, war er sehr nachdenklich. Er warf sich eine versäumte Gelegenheit am vergangenen Nachmittag vor.
6
Zum Glück wurden sie bis nach dem Abendessen in Frieden gelassen. Dann erschienen Sir Nicholas und Vera und verlangten eine genaue Schilderung der Vorgänge an diesem Prozeßtag.
»Aber du bist doch dabeigewesen«, sagte Antony verwirrt.
»Konnte nicht klug aus dem werden, was du gemacht hast«, gab Vera zurück.
»Außerdem hat Halloran mich angerufen«, sagte Sir Nicholas mit besonderer Beiläufigkeit. »Er sagte, du kämst wieder mit deinen alten Tricks daher.«
»Also das nenne ich ungerecht.« Maitland war empört. »Wenn ich für meinen Mandanten keine angemessene Verteidigung aufbauen darf - « Er verstummte und fügte dann düster hinzu: »Außerdem wollte Carruthers mich nicht so weit gehen lassen, wie ich vorhatte.«
»Was vermutlich ganz gut war.«
»Aber wenn die Frau schuldig ist… Herrgott noch mal, Onkel Nick, du kannst doch nicht wollen, daß ich sie davonkommen lasse!«
»Das hast du mir alles erläutert, sogar erschöpfend, darf ich sagen«, stellte Sir Nicholas fest. »Zu beweisen, daß jemand anderer den Mord begangen haben könnte, bringt dir noch nicht unbedingt einen Freispruch ein.« Eine Wahrheit, die Antony gerade in diesem Augenblick nicht ausgesprochen hören wollte.
Maitland antwortete nicht sofort. Statt dessen verließ er seinen Platz vor dem Kamin, um ihren Gästen Kognak einzuschenken, und erst als er wieder vor dem Feuer stand, sagte er betont beiläufig: »Ihr habt noch nicht gehört, was ich gemacht habe, seit die Verhandlung vertagt worden ist.«
»Fragte mich schon, wo du geblieben bist«, sagte Vera.
»Dabei fällt mir etwas ein.« Antony drehte sich ein wenig herum, um sie direkt anzusprechen. »Was hat Meg von den Vorgängen am Nachmittag gehalten?«
»Hielt dich für schlau, wie du mit den Zeugen umgegangen bist«, erwiderte Vera.
»Da sieht man, was sie versteht. In Wirklichkeit habe ich ganz schön gepfuscht«, gestand Antony.
Vera sah ihn mitfühlend an, aber sein Onkel richtete sich im Sessel ein wenig auf.
»Das ist eine besonders unglückliche Feststellung«, beklagte sich Sir Nicholas. »Ich hätte schon gern, daß du dich auszudrücken vermagst, ohne der Umgangssprache zu bedürfen.«
»Ich hatte nicht überlegt«, sagte Antony hastig.
Sir Nicholas blieb bei seinem eigenen Gedankengang.
»Wenn das kein so wichtiger Fall wäre - «, sagte er und verbesserte sich hastig. »Nun, eigentlich ist wohl jeder Fall wichtig, wenigstens für den Angeklagten. Aber das Aufsehen, das dieser Prozeß erregt, macht es besonders bedauerlich, daß du dich entschlossen hast, dich einzumischen.«
»Hast uns noch nicht erzählt, wo du nach der Vertagung gewesen bist«, sagte Vera. Sie war nicht sicher, ob die Antwort einen neuerlichen Protest ihres Mannes auslösen würde, aber Antony war offensichtlich entschlossen, sie zu geben.
»Bei Janet Johnstone«, sagte er und gab sich zunächst keine Mühe, das näher zu erläutern.
Jenny, die bis jetzt ruhig dagesessen und an ihrem Glas genippt hatte, sagte besorgt: »Das hast du mir auch nicht erzählt, Antony. Aus irgendeinem Grund bedrückt dich das, nicht wahr?«
»Sie ist sechs Jahre alt. Fast sieben«, fügte er mit einem Lächeln für Janets stolze Erklärung hinzu. »Und sie - sie ist sehr vertrauensvoll.« Das war natürlich der Haken, die Menschen vertrauten einem, und man ließ sie im Stich. Und Onkel Nick hatte eben recht, es gab keine Beweise.
Sir Nicholas ließ sich im Sessel wieder zurücksinken.
»Warum bist du zu ihr gefahren?« fragte er lässig, was seine Zuhörer keine Sekunde lang täuschte.
Antony lächelte plötzlich.
»Dir wird das nicht gefallen, Onkel Nick«, prophezeite er. »Es war ungeheures Glück, sie hat mir genau das erzählt, was ich hören wollte, aber es war reine Vermutung, die mich zu ihr geführt hat.«
»Werden wir erfahren, was sie dir gesagt hat?« Das war der sanfteste Ton seines Onkels; es wurde deutlich, daß ihm gar nicht gefiel, was er über die Ereignisse des Tages gehört hatte. Antony war ziemlich sicher, daß Vera nichts aufgerührt haben würde, aber Bruce Halloran war einer von Sir Nicholas' engsten Freunden und würde nicht hinter dem Berg gehalten haben. Es gehörte zu den Lebensrätseln, warum es ihm stets gelang, der erste zu sein, der von kursierenden Gerüchten erfuhr.
»Natürlich sage ich es euch«, erwiderte Maitland und berichtete in knappen Worten. Als er fertig war, nickte sein Onkel anerkennend.
»Eine Tatsache!« sagte er. »Die erste, die du bei dieser Geschichte herausgefunden hast, soviel ich mich entsinne. Falls man einem Kind in diesem Alter trauen kann.«
»Ich glaube, ich kann es.«
»Es bleibt aber die Frage, was du damit machen wirst.«
»Die Kinderschwester noch einmal in den Zeugenstand rufen. Das ist der Fehler, von dem ich gesprochen habe. Ich hätte das alles aus ihr herausholen müssen.«
»Und dann?«
»Hole ich das Kind in den Zeugenstand, wenn es sein muß.«
»Du hast das schon früher gemacht und bist damit durchgekommen«, meinte Sir Nicholas mit Überlegung, »aber - «
»Wenn du Claire Canning meinst, die hast du selbst benannt.«
Das war Jenny, die empört widersprach. Sir Nicholas warf ihr einen kalten Blick zu.
»Auf Anregung deines Mannes, meine Liebe«, sagte er. Dann ließ er sich jedoch erweichen und fügte hinzu: »Aber ich gebe zu, daß es richtig war.«
»Erinnere ungern - «, begann Vera.
»Ich weiß, ich weiß, Beweis für Gelegenheit zur Tat ist kein Schuldbeweis.«
»Wollte ich nicht sagen. Muß immer noch eine Erklärung für das Morphium gefunden werden.«
»Und Doktor Trevelyan wird morgen aussagen.«
»Ist das von Belang?« fragte Sir Nicholas.
»Das Morphium muß aus seiner Praxis stammen, Onkel Nick. Vielleicht gibt es etwas - «
»Das er der Polizei nicht mitgeteilt hat?« Sir Nicholas schien nicht viel davon zu halten.
»Du weißt so gut wie ich, daß es oft darauf ankommt, das Richtige gefragt zu werden.«
»Und das willst du morgen tun?« erkundigte sich sein Onkel spöttisch. Sein Glas war leer, und als Antony nachgefüllt hatte, ließ er zu, daß das Thema übergangen wurde und man von weniger strittigen Dingen sprach.
Maitland war erleichtert über diesen vorübergehenden Waffenstillstand, aber in dieser Nacht schlief er trotzdem schlecht.
Freitag, dritter Verhandlungstag
1
Als Richter Carruthers am nächsten Morgen den Gerichtssaal betrat, spürte er als ein Mann, der empfindsam für die Atmosphäre war, auf der Stelle eine Kälte zwischen den beiden Strafverteidigern, die es vorher nicht gegeben hatte. Wenn es nicht so unwahrscheinlich gewesen wäre, hätte er beinahe gesagt, daß Kevin O'Brien nervös wirkte. Die Situation war nicht ohne humorvolle Seite, weil er sehr genau wußte, daß Kevin Maitland überhaupt erst dazu bewogen hatte, sich für den Fall zu interessieren; nun erntete Kevin, was er gesät hatte, und in Anbetracht von Maitlands Ruf hätte er auf ein Feuerwerk gefaßt sein müssen. Es gab gewisse Ähnlichkeiten zwischen den beiden Männern, trotz ihrer völlig verschiedenen Temperamente: Jeder hatte ein Gewissen, jeder oft zu viele Skrupel. Der Unterschied lag darin, wie sie diese Emotionen bewältigten. O'Brien, ein leidenschaftlicher Kämpfer für das, was er als richtig und wahr betrachtete, wollte trotzdem nicht den einen Schritt tun, der nötig war, um die Schuld jemand anderem nachzuweisen als seiner Mandantin. Maitland, seiner selbst viel weniger sicher, war nichtsdestoweniger entschlossen, aufs Ganze zu gehen, etwas, das O'Brien eigentlich hätte bedenken müssen, bevor er mit seinem Appell zu ihm gekommen war.
Der Richter beobachtete sie also und verbarg seine Belustigung; gleichzeitig war ihm bewußt, daß die Spannung zwischen den beiden Hauptverteidigern sich auf ihr jeweiliges Gefolge ausdehnte. Garfield machte ein mißbilligendes Gesicht, das fiel nicht aus dem Rahmen, aber die Mißbilligung verstärkte sich, als Maitland aufstand, ohne den Aufruf des ersten Zeugen abzuwarten.
»Ich bitte um Erlaubnis, Mylord, noch einmal eine Zeugin der Anklage in den Zeugenstand zu rufen«, sagte er, als es ihm endlich gelungen war, Carruthers' Blick auf sich zu ziehen.
»Welche Zeugin meinen Sie, Mr. Maitland?«
»Miß Helen Gatsby, die Kinderschwester der Johnstone-Kinder. Mit der Erlaubnis Euer Lordschaft, versteht sich, und der meines ehrenwerten und gelehrten Freundes Mr. Garfield.«
»Darf ich nach dem Grund für diese Bitte fragen?«
»Mir ist etwas zur Kenntnis gekommen, Mylord - « Er versuchte nicht, das näher zu erläutern, sondern wartete im Stehen, während der Richter überlegte.
»Stimmen Sie der Bitte zu, Mr. O'Brien?« fragte Carruthers schließlich.
O'Brien war sich der Belastung Maitlands so deutlich bewußt, als hätte er sie eingestanden. Und ganz plötzlich war seine Empörung über das, was er für eine Unüberlegtheit - ja, für eine ganze Reihe von Unüberlegtheiten - hielt, wie weggewischt.
»Ich habe selbst keine Fragen an die Zeugin, Mylord«, antwortete er, »aber ich stimme Mr. Maitland darin zu, daß die Angelegenheit, die er erwähnt hat, geklärt werden sollte.«
»Nun gut.« Der Richter neigte den Kopf. »Mr. Garfield, unter den gegebenen Umständen finde ich, daß wir Mr. Maitlands Bitte erfüllen sollten.«
»Wenn Eure Lordschaft es wünscht.« Da der Richter seine Meinung kundgetan hatte, blieb Garfield nicht viel anderes übrig, als zuzustimmen. Nicht, daß er das mit großer Freude getan hätte, aber das war im Augenblick Antonys geringste Sorge.
Er lächelte O'Brien dankbar an, als er sich wieder setzte, und murmelte: »Danke für die Unterstützung.«
Es trat eine kurze Pause ein, während Miß Helen Gatsby geholt wurde, im Zeugenstand Platz nahm und sich den Hinweis anhörte, daß sie nach wie vor unter Eid stehe. Als der Richter einen Blick auf den Vertreter der Anklage warf, schüttelte Garfield nur den Kopf.
»Nun gut, Mr. Maitland«, sagte Carruthers einladend.
»Eine Kleinigkeit, Miß Gatsby«, sagte Maitland. Er hatte den Eindruck, daß sie nervös wirkte, unter den Umständen war das aber nur natürlich. Sie mußte sich fragen, was im Gange sein mochte. »An jenem Tag befanden Sie sich nachmittags mit den Kindern im Spielzimmer?«
»Ja, aber - «
»Könnten Sie da ein bißchen ausführlicher werden?«
»Ich weiß nicht, was Sie von mir hören wollen. Doktor Collingwood kam - «
»Ja, das haben Sie uns erzählt. Ich denke jetzt an den späteren Nachmittag. Denken Sie nach.«
Die Zeugin schwieg gehorsam einige Zeit, schien aber immer noch nicht recht zu wissen, was man von ihr erwartete.
»Es war ein ganz gewöhnlicher Tag«, erklärte sie schließlich. »Dougie war nicht gesund gewesen, wie Sie wissen. Er setzte ein Puzzle zusammen, aber ich glaube nicht, daß er viel Interesse daran hatte.«
»Und Janet?«
»Es war fast wieder Zeit für die beiden, die Schule zu besuchen, und ich muß sagen, ich wäre froh gewesen, wenn diese schon wieder angefangen hätte«, stellte Miß Gatsby mit Nachdruck fest. »Ich versuchte Janet für ein Buch zu interessieren, aber ich glaube, sie war mehr draußen an der Treppe als bei uns im Zimmer.«
»Zehn Minuten vor dem Tee«, sagte Maitland. Es war unverkennbar, daß er zitierte, und Garfield sah ihn scharf an. »Erinnert Sie das an etwas?«
»O ja, natürlich, Mrs. Johnstone kam herauf. Ich hörte, daß Janet sie rief, und hielt es für angebracht, sie zu bitten, daß sie mit dem Kind sprechen möge, damit sich die Kleine vielleicht ein wenig beruhigte.«
»Wissen Sie, was Mrs. Johnstone gerade machte, als Sie nach ihr riefen?«
»Ja, weil sie sagte, sie könne nur eine Minute bleiben, Mrs. Lamb sei in ihrem Schlafzimmer und mache sich zum Weggehen fertig.«
»Nur eine Minute?« fragte Maitland leise. Und das war nun wahrhaft ein Risiko, wenn er je eines eingegangen war.
»Das hat sie gesagt.« Miß Gatsby lächelte. »Aber den Kindern konnte sie nicht widerstehen, wissen Sie. Sie half Dougie ein bißchen bei seinem Puzzle, und dann mußte sie sich natürlich ebenso lang Janet widmen und ihr nicht nur sagen, sie solle brav sein, was sie an diesem Tag nicht unbedingt war.«
»Wie lange ist Mrs. Johnstone dann Ihrer Meinung nach im Kinderzimmer gewesen?«
»Mindestens fünf Minuten, aber ich glaube, es waren eher zehn.«
»Während Mrs. Lamb allein im Stockwerk darunter war… dort, wo die Schlafzimmer liegen?« sagte Maitland und setzte sich rasch, bevor Garfield protestieren konnte. »Schmerzloses Zahnziehen besonders günstig«, sagte er mit seinem schiefen Lächeln zu seinem gelehrten Freund Mr. O'Brien.
Garfield brachte seinen Einwand vor. Wie Maitland von früheren Begegnungen her wußte, konnte er sehr sarkastisch sein, wenn er wollte, und an diesem Vormittag ließ ihm der Richter die Zügel schießen. Unter den Zuschauern herrschte große Unruhe.
»Jetzt sitzt der Fuchs im Hühnerstall«, meinte O'Brien, aber er schien sich mit Antonys Taktik abgefunden zu haben, etwas, das er anschließend gleich erklärte. »Wenn man schließlich den Teufel beschwört -!« Und konnte nicht verstehen, weshalb Maitlands Lächeln sich bei diesem Echo seines eigenen Gedankens verstärkte.
Aber die Dinge beruhigten sich wieder, sogar Garfields Empörung ließ nach, und man konnte die nächste Zeugin rufen. Das war Sophie, das Stubenmädchen. Maitland fand sie auf Anhieb unsympathisch. Es kam nichts an den Tag, was für die Verteidigung neu gewesen wäre, aber Maitland und O'Brien waren sich jedes einzelnen Punktes, den man hervorhob, bewußt und übersahen nicht, welche Wirkung das auf die Geschworenen hatte. Sie begann ganz ruhig auszusagen und äußerte sich im einzelnen zu Streitigkeiten zwischen Kate und ihrem Mann, die sie gehört hatte.
»Das hätte ich auch gar nicht vermeiden können«, fügte sie naserümpfend hinzu. »Sie hielten mich nicht für einen Menschen, nehme ich an, ich hätte ebensogut ein Möbelstück sein können, sowenig achteten sie auf mich.«
Garfield hielt sich bei den Details auf, bis es keinen Zweifel mehr daran geben konnte, daß alle Geschworenen sie begriffen hatten. Dann ging er weiter zu dem noch belastenderen Punkt von James Collingwoods Besuch im Hause Johnstone am tödlichen Nachmittag.
»Mrs. Johnstone traf ihn in der Halle«, sagte Sophie. »Sie bestellte Tee, aber das hatte ich ja erwartet. Und er war nur ein, zwei Minuten oben. Dafür lohnt sich ein Besuch gar nicht, wenn Sie mich fragen. Dann saßen sie im Salon beisammen.«
»Sie haben ihnen dorthin den Tee gebracht?«
»Ja.«
»Gibt es etwas, das Sie uns dazu noch sagen wollen?«
»Sie standen auf dem Kaminvorleger nah beieinander. Ich sah, daß er ihr etwas gab, nein, was es war, konnte ich nicht erkennen, ein Päckchen, in dünnes Papier gewickelt.«
Es gab eine Diskussion um die Größe des Päckchens, aber ihre Angaben blieben ungenau, sie konnte sich an keine Einzelheiten erinnern. Garfield ging endlich weiter.
»Wurde zwischen den beiden Angeklagten etwas gesprochen, als Sie sich im Zimmer befanden?« fragte er.
»Sie dankte ihm für das, was er ihr gegeben hatte.« Ihr Tonfall klang zurückhaltend. Maitland kam auf den Gedanken, daß da noch etwas dahinterstecken mochte, und O'Brien schien dasselbe zu denken, weil er sich eine Notiz machte.
»Wie lange ist Doktor Collingwood geblieben?« fragte Garfield weiter.
»Eigentlich nicht lange, ungefähr eine halbe Stunde, würde ich sagen.«
»Sind Sie gebeten worden, ihn hinauszubringen?«
»Nein, aber ich hörte ihn gehen und kam in die Halle, da sah ich sie gerade nach oben gehen.«
»Mrs. Johnstone?«
»Wen denn sonst?«
»Was haben Sie dann gemacht?«
»Das Teegeschirr abgeräumt, versteht sich. Gegessen hatten sie nichts. Dann wollte ich mich frisch machen, weil das die Tageszeit für Besucher war. Ich ging auf der Hintertreppe zum Badezimmer im ersten Stock hinauf.«
»Nicht in Ihr eigenes Zimmer?«
»Die ganzen Treppen? Bestimmt nicht!«
»Aber kurze Zeit später haben Sie Mrs. Johnstone gesehen?« (Schon wieder eine Suggestivfrage, aber keine, bei der ein Einspruch sich lohnte. Was hier besprochen wurde, stand alles nicht im Streit.)
»Ja, ich sah sie aus dem Zimmer ihres Mannes kommen. Und ich dachte mir noch, das ist ja mal was anderes. Muß Monate her sein, seit sie das letztemal in dem Zimmer war.«
Diesmal protestierte O'Brien energisch, aber der sich anschließende Disput mit Garfield trug nach Maitlands Meinung nichts dazu bei, die Aussichten der Mandantin zu fördern. Sophies Gehässigkeit war offenkundig, aber die Geschworenen hatten keinen Grund, daran zu zweifeln, daß sie die Wahrheit sagte, und bis der Richter seine Entscheidung fällte, würde sich das allen gründlich eingeprägt haben. Die Angeklagte war ihrer Wege gegangen, hatte nicht mit ihrem Mann in einem Zimmer gewohnt, war aber am Nachmittag vor seinem Tod unerklärlicherweise gesehen worden, als sie diesen Raum verließ.
Danach gab es die übliche Wiederholung, wobei Garfield besonders darauf achtete, alles für ihn Wichtige herauszumeißeln. Er hatte vermutlich recht damit; ein sorgfältiger Mann, ein präzise denkender Mann, der bei seinen Unternehmungen zumeist erfolgreich war. Als er seiner Zeugin endlich dankte und sich setzte, war es O'Brien, der zum Kreuzverhör aufstand, aber er hatte nicht viele Fragen zu stellen.
»Sie sind bei Mr. Johnstone beschäftigt gewesen, bevor er geheiratet hat, nicht wahr?« begann er.
»Drei Jahre vorher. Ich war dreizehn Jahre bei ihm, als er starb.«
»Wie lange hatte er Sie damit beauftragt und dafür bezahlt, seiner Frau nachzuspionieren?«
»Aber ich - « Damit hatte sie nicht gerechnet und sah beinahe verzweifelt den Richter an, als glaube sie, er werde sie schützen. Als er aber ihren Blick nur stumm und ernsthaft erwiderte, wandte sie sich wieder O'Brien zu und sagte mürrisch: »So war es gar nicht. Es war ja nur natürlich, daß er wissen wollte, was vorging.«
»Und was haben Sie ihm berichtet?«
»Die liebten sich, die zwei, die Sie verteidigen.«
»Sie haben mir nicht gesagt, wie lange Mr. Johnstone Sie bezahlt hat.«
»Ungefähr neun Monate.«
»Sie mögen Mrs. Johnstone nicht, wie?«
»Wieso denn auch? Seit sie ins Haus gekommen ist, gab es nichts als Ärger.«
»Sie meinen, Sie hatten dadurch mehr Arbeit?«
»Natürlich, mit den Kindern und allem.«
»Dann kehren wir zu dem kurzen Besuch zurück, den Doktor Collingwood dem Haus am Nachmittag des Mordes abstattete. Es wurde ein Päckchen übergeben, das Sie nicht sehr gut beschreiben zu können scheinen. Könnte es Fotografien enthalten haben?«
»Ist es das, was sie behauptet?« O'Brien ging nicht darauf ein, sondern wartete. »Na ja, könnte sein«, gab die Zeugin endlich widerstrebend zu.
»Sie sagen, sie hätte sich bedankt, und das sei das einzige, was Sie gehört hätten. Sind Sie ganz sicher, daß Doktor Collingwood gar nichts gesagt hat?« Aber bevor sie antworten konnte, fügte er schnell hinzu: »Vielleicht ist das ein geeigneter Moment, Sie noch einmal daran zu erinnern, daß Sie unter Eid stehen.«
Sie ließ sich Zeit zum Nachdenken.
»Tja, gesagt hat er schon etwas«, gab sie endlich zu.
»Ich fürchte, Sie werden uns mitteilen müssen, was das war.«
Es war nicht zu übersehen, daß sie keine Lust dazu hatte, aber bei irgendeiner Gelegenheit mußte sie gehört haben, daß Meineid eine gefährliche Sache sei.
»Er sagte: Wenn das so ist, kann ich nur das als Erinnerung zurücklassen, Kate. «
»Wie klang seine Stimme, als er das sagte?«
Garfield stand halb auf, sank aber auf seinen Stuhl zurück, als er dem Blick des Richters begegnete.
»Traurig«, sagte die Zeugin nach kurzem Überlegen.
»Danke«, nickte O'Brien und setzte sich abrupt.
Sophie wollte den Zeugenstand verlassen, als der Richter sie zurückrief.
»Ich glaube, Mr. Maitland hat auch noch Fragen an Sie«, sagte er zu ihr. »Mr. Maitland ist der Verteidiger von Doktor Collingwood«, erläuterte er.
»Ach, meinetwegen«, gab die Zeugin unwirsch zurück. Jede Scheu, die sie vorher bei ihrer Rolle als Zeugin vor Gericht empfunden haben mochte, schien verschwunden zu sein.
Maitland stand langsam auf und sah sie lange an. Das war eine Manier, die er Garfield abgeguckt hatte, der sie oft beim Kreuzverhör anzuwenden pflegte, und Antonys chamäleonhaftes Verhalten gegenüber den Eigenheiten anderer Menschen hatte ihn denn auch früher mehr als einmal in Bedrängnis gebracht. Garfield war sich der Nachahmung diesmal aber ebensowenig bewußt wie James Collingwoods Verteidiger selbst. Nur der Richter registrierte sie und fragte sich, mit welcher Überraschung Maitland nun aufwarten würde.
Antony begann durchaus in geziemender Weise.
»Ich will Sie nicht lange aufhalten. Mein gelehrter Freund, Mr. O'Brien, hat die meisten der Punkte mit Ihnen besprochen, die vorher zu erwähnen Sie nicht für nötig hielten.«
»Ich weiß wirklich nicht, was Sie meinen«, erwiderte die Zeugin aufgebracht.
»Ihre Aussage bei der Polizei hat ein, zwei entscheidende Dinge ausgelassen«, erklärte Maitland. »Ich kann nicht glauben, daß mein ehrenwerter und gelehrter Freund, der die Anklage vertritt, nicht ausreichend informiert worden wäre«, fügte er höflich hinzu.
»Ich habe alles beantwortet, was ich gefragt worden bin.«
»Verstehe. Nun, ich habe nur eine Frage an Sie, die allerdings zu weiteren führen kann. War Mrs. Johnstone die einzige Person, die Sie an diesem Tag im ersten Stockwerk, wo sich die Schlafzimmer befanden, gesehen haben?«
»Ich habe den Doktor nicht da oben gesehen, wenn Sie das meinen, aber wir wissen, daß er ganz oben bei den Kindern war.«
»Das habe ich ganz und gar nicht gemeint, wie Sie wohl auch wissen. Wer bringt den Kindern den Tee hinauf?«
»Das war nicht meine Sache.«
»Wer bringt ihn hinauf?« Er drängte sie jetzt unverhohlen, und die Fragen folgten rasch aufeinander.
»Das war Delias Aufgabe.« Sie schwieg kurz und fügte dann widerstrebend hinzu: »Aber sie war an diesem Tag nicht da.«
»Wer hat ihn dann hinaufgetragen?« fragte Maitland noch einmal. »Ich bin sicher, daß man von Miß Gatsby, die beide Hände voll mit den lebhaften Kindern zu tun hatte, nicht verlangen konnte, ihn in der Küche zu holen.«
»Dafür ist sie sich zu gut«, sagte Sophie verdrossen. »Kann man von ihr nicht verlangen, sagte man zu mir. Na, ich bin mir nicht zu gut dafür, auszuhelfen, wenn man mich höflich bittet«, fügte sie in merkwürdig gezwungener Tugendhaftigkeit hinzu.
»Sie haben ihn also an diesem Tag hinaufgetragen? Und gewissenhaft, wie Sie sind, haben Sie das gewiß ganz pünktlich getan.«
»Ja.«
»Haben Sie die Vorder- oder die Hintertreppe benutzt?«
»Die vordere. Das geht leichter, wenn man ein Tablett zu tragen hat.«
»Können Sie schätzen, wie spät es ungefähr war?«
»Kurz vor halb.«
»Halb sechs?«
»Richtig.«
Er spürte den ersten Anflug von Erregung. Es war wie beim Zähneziehen, aber er war jetzt praktisch überzeugt davon, daß es hier etwas aufzudecken gab.
»Sie haben etwas gesehen oder gehört, als Sie im ersten Stock über den Treppenvorplatz gingen«, stellte er fest.
»Tja, ich - «
»Entweder ja oder nein.«
Das erbrachte ein Rucken mit dem Kopf; vielleicht erinnerte sie sich an O'Briens Warnung. Jedenfalls konnte er sie beinahe denken hören: Ich schneide mich doch nicht ins eigene Fleisch.
»Na ja, stimmt«, sagte sie.
»Gesehen oder gehört?«
»Beides, wenn Sie es wissen wollen. Sie muß gerade in ihr Schlafzimmer gegangen sein - «
»Mrs. Johnstone?« fragte er scharf.
»Wer sonst?«
»Sie müssen die Frage wirklich mit Ja oder Nein beantworten«, sagte Carruthers vorgebeugt.
»Ja, Mylord.« Sie schmollte wieder und sprach nicht weiter, bis Maitland sie drängte. »Ich dachte, sie wäre eben hineingegangen, weil sie fragend Jean? rief.«
»Und hat Mrs. Lamb geantwortet?«
»Natürlich nicht, sie war ja nicht da.« Plötzlich fiel das Widerstreben von ihr ab; er hatte das Gefühl, daß sie von einem kleinen Machtrausch befallen wurde, weil sie etwas wußte, wovon alle diese Leute nichts ahnten. »Mrs. Lamb stand auf der anderen Seite vom Treppenabsatz, halb verborgen durch einen Schrank. Ich ließ mir nicht anmerken, daß ich sie gesehen hatte, weil ich mir dachte, das wäre ihr peinlich gewesen, sie hatte ja kein Recht und keinen Grund, dort zu sein.«
Garfield war aufgesprungen, hatte aber erst jetzt den Blick des Richters auf sich ziehen können.
»Bedaure, Mr. Garfield, ich muß Ihren Einspruch zurückweisen«, sagte Carruthers. »Wenn Mr. Maitland in dieser Stimmung ist, bleibt nichts anderes übrig, als ihm nachzugeben.«
Maitland warf Garfield einen beinahe bedauernden Blick zu. Die augenblickliche Erregung war abgeflaut, er spürte nur große Müdigkeit. Er wollte seinen Mandanten heraushauen, und Kate Johnstone natürlich auch, das verstand sich von selbst. Aber diese Geschichte gefiel ihm nicht, ganz und gar nicht, und selbst wenn er das endgültige Eingeständnis erzielte, auf das es ihm ankam, war das immer noch kein Beweis.
»Wo stand Mrs. Lamb in Beziehung zu Douglas Johnstones Schlafzimmer?« fragte er.
»Gleich daneben, so, als wäre sie rasch an den Schrank getreten, damit ich sie nicht sehen konnte.«
»Und Mr. Johnstones Schlafzimmer lag -?«
»An der Rückseite des Hauses, links neben dem Treppenabsatz.«
»Danke.« Maitland sah den Richter beinahe verzweifelt an. »Keine Fragen an diese Zeugin mehr, Mylord«, sagte er.
Keiner seiner Kollegen sprach ihn an, als er sich wieder setzte, aber zu seiner völligen Verblüffung legte O'Brien eine Hand kurz, aber mitfühlend, auf die seine.
2
Die Anklage hatte noch einen Zeugen zu präsentieren, Dr. John Trevelyan, bei dem James Collingwood tätig gewesen war. Von Anfang an war erkennbar, daß seine Sympathie der Verteidigung galt; er stellte ungefragt für Maitlands Mandanten das aus, was man als Charakterzeugnis bezeichnen konnte, und handelte sich vom Richter für den Vortrag einer unerbetenen Meinung eine sanfte Rüge ein.
Aber es gab nicht viel, was er tun konnte. Sein Morphiumvorrat weise eine Fehlmenge auf, er könne sie sich nicht erklären, weil er das Mittel nie verwende, und er sei ziemlich sicher, daß auch James Collingwood aus Rücksicht auf seine Meinung es nie verwendet habe. Er sprach viel von der Schwundmenge , die man als normal betrachten könne, aber die Geschworenen konnten nicht umhin, den Eindruck zu gewinnen, daß es sein Vorrat war, den der Täter benutzt hatte. Überdies mußte er zugeben, daß er seinem Assistenten von seinem Besuch am Vormittag bei Dougie Johnstone erzählt hatte, so daß keine Notwendigkeit für einen weiteren Besuch am Nachmittag bestanden hatte, nicht die geringste.
O'Briens Kreuzverhör bemühte sich lediglich darum, diese unbehaglichen Tatsachen möglichst zu verharmlosen, aber er schien sich jetzt mit dem von Maitland eingeschlagenen Kurs abgefunden zu haben und wünschte ihm viel Glück, als dieser seinerseits aufstand, um sich mit dem Zeugen zu befassen. Stillschweigend gingen die beiden Männer über die Frage hinweg, weshalb er das Haus der Johnstones überhaupt aufgesucht hatte, obwohl es nicht mehr zu seinen Gewohnheiten gehörte, die Kinder zu behandeln. Es mochte darauf eine ebenso unbehagliche Antwort geben… etwa jene, die Collingwood seinem Verteidiger angedeutet hatte.
»Doktor Trevelyan.« Ein wohlgesinnter Zeuge, hier bedurfte es keines scharfen Tonfalls. »Sie haben meinem ehrenwerten und gelehrten Freund, Mr. Garfield, mitgeteilt, das Morphium sei in einem verschlossenen Schrank in Ihrem Sprechzimmer aufbewahrt worden. Der Schlüssel wurde aber in keinem sehr einfallsreichen Versteck untergebracht, wie Sie zugeben werden.«
»Wenn jemand danach sucht, würde er wohl als erstes an die Mittelschublade meines Schreibtisches denken.«
»Aber Sie hatten natürlich keinen Grund zu der Annahme, daß jemand nach dem Schlüssel suchen würde.«
»Nicht den geringsten.«
»Trotzdem steht fest, daß Sie keine regelmäßigen Sprechstunden abhalten. Die meisten Ihrer Patienten ziehen Hausbesuche vor.«
»Das ist völlig richtig.«
»Es muß also oft vorkommen, daß Ihr Ordinationszimmer leer ist.«
Dr. Trevelyan lächelte beschwichtigend, als sei ihm die Frage peinlich.
»Das Zimmer steht die meiste Zeit leer«, bestätigte er.
»Halten Sie es für vorstellbar, daß jemand von außerhalb hineingelangen könnte?«
»Ich glaube nicht, daß meine Sprechstundenhilfe jemanden sieht, der sich nicht bei ihr meldet.«
»Gehört Mrs. Jean Lamb zu Ihren Patienten?« Diese Frage kam unvermittelter, und der Zeuge blickte besorgt zum Vertreter der Anklage hinüber.
»Muß ich das beantworten?« fragte er.
Bevor Garfield etwas erwidern oder protestieren konnte, sagte der Richter: »Ich glaube, unter den vorliegenden Umständen dürfen Sie antworten, Doktor Trevelyan.«
»Also gut.« Er war nicht glücklich darüber, antwortete aber ohne Zögern. »Mrs. Lamb gehört zu meinen Patienten.«
»Vielleicht auch zu Ihren persönlichen Freunden?«
»Das ist richtig. Sowohl sie als auch ihr Mann.«
»Nun, Doktor, wenn wirklich Morphium aus Ihrem Vorrat gefehlt hat, können Sie sich nicht vorstellen, wann es weggenommen worden sein könnte?«
»Ganz und gar nicht.«
»Angenommen, wir gehen von einem Zeitraum von, sagen wir, zwei Wochen vor Douglas Johnstones Tod aus. Würden Sie an diese Zeit zurückdenken?«
Der Arzt zog die Brauen zusammen. Vielleicht fiel es ihm schwer, der Bitte zu entsprechen, auf jeden Fall schien er die Frage ernst zu nehmen.
»Ich weiß nicht recht, was Sie herausfinden wollen«, sagte er schließlich.
»Könnte während dieses Zeitraumes etwas Ungewöhnliches geschehen sein, irgend etwas?«
»Ich erinnere mich an nichts Derartiges.«
»Augenblick!« Maitland war auf seinen Zeugen konzentriert, gab sich aber nun weniger förmlich. »Ich möchte, daß Sie genau nachdenken, Doktor. Was ich meine, ist etwas, das Gelegenheit zu einem unbefugten Besuch in Ihrem Sprechzimmer geboten haben könnte.«
»Ich - « Er schüttelte verwirrt den Kopf. Es gab eine quälende Pause, während welcher Maitland Zeit hatte, über die mutmaßlichen Folgen eines Scheiterns nachzudenken, bis der Zeuge weitersprach. »Ich habe vorher nicht daran gedacht«, erklärte er, »aber da war dieser Anruf. Obwohl ich nicht begreife, was er damit zu tun gehabt haben soll.«
Maitland war plötzlich völlig regungslos. O'Brien, der neben ihm saß, hatte den Eindruck, daß er den Atem anhielt, vielleicht aus Angst, die Stille zu zerstören, die sich ausgebreitet hatte.
»Der Anruf?« sagte er schließlich leise.
»Es war eigentlich nichts, etwas was heute ebenso vorkommt.«
»Bitte, erklären Sie das, Doktor.«
»Ein schlechter Scherz«, sagte Dr. Trevelyan, von neuem empört, als ihm der Vorfall wieder in Erinnerung kam. »Es kam ein Anruf - als ich meine Sprechstundenhilfe später befragte, teilte sie mir mit, es sei eine Frauenstimme gewesen - in dem ich gebeten wurde, sofort eine sehr alte Patientin von mir zu besuchen, die einen Herzanfall erlitten hätte. Als ich in ihr Haus kam, fand ich sie aber gesund und munter bei ihrem Tee.«
»Das war also zur Teezeit.«
»Der Anruf kam, glaube ich, gegen halb vier Uhr. Meine Patientin wohnt aber nicht in der Nähe, ich brauche bei dem heutigen Verkehr gut eine halbe Stunde bis zu ihrem Haus.«
»Und eine halbe Stunde zurück«, meinte Maitland nachdenklich. »Sie waren also eine ganze Stunde fort.«
»Sogar etwas länger, da sie darauf bestand, daß ich eine Tasse Tee mit ihr trank. Ich war ein bißchen in Sorge, weil - «
»Weil was, Doktor?«
»Mit dieser unglücklichen Geschichte kann das nichts zu tun haben, aber ich muß wohl antworten.« Dr. Trevelyan sagte das mit beinahe humorvoller Resignation. »Meine Frau erwartete mich, weil wir zum Tee Besuch hatten und sie wünschte, daß ich dabei war.«
Die Anspannung in Maitlands Stimme war nun sehr offenkundig; es schien, als könne er es kaum über sich bringen, die Stille zu stören.
»Wer war dieser Besuch?« fragte er, aber erst, als die Atmosphäre im Gerichtssaal nahezu unerträglich geworden war.
Wieder schaute sich der Arzt um, wartete aber diesmal die Entscheidung des Richters nicht ab.
»Die Dame, die Sie vorhin erwähnt haben«, sagte er. »Mrs. Jean Lamb.«
»Und als Sie heimkamen, haben Sie festgestellt, daß sie Mrs. Trevelyan an diesem Nachmittag wirklich besucht hatte?«
»Sie saßen noch beisammen. Meine Frau verstand natürlich - «
»Danke, Doktor. Sie haben sich an so vieles erinnert, vielleicht darf ich Sie bitten, sich noch mit einem anderen, kleineren Problem zu befassen. Zwischen Ihrem Haus und dem Anbau, in dem sich die Arzträume befinden, gibt es eine Tür, nicht wahr?«
»Zwei Türen, um genau zu sein, in jedem Stockwerk des Anbaus eine.«
»Werden diese Türen abgesperrt?«
»Das ist nicht nötig. Wir tun das nachts, aber vermutlich ist das eine überflüssige Vorsichtsmaßnahme. Untertags… sie sind für unsere Bequemlichkeit da, und es ist praktischer, sie offenzulassen.«
»Danke, Doktor«, sagte Maitland noch einmal. Er schaute sich im ganzen Gerichtssaal um, bevor er sich setzte, so, als versuche er die Wirkung des Vorgegangenen zu beurteilen. »Ich habe keine Fragen mehr«, fügte er hinzu und verfolgte ohne Überraschung, wie Garfield aufstand, um seinen Zeugen erneut zu befragen.
Sofort, als der Vertreter der Anklage damit fertig war, das vorangegangene Kreuzverhör mit Hohn und Spott zu übergießen, unterbrach der Richter die Verhandlung für die Mittagspause. Vera war heute zu Maitlands Erleichterung nicht im Saal, und er war auch fest überzeugt davon, daß Meg sich nicht unter den Zuschauern befand. Es gab deshalb eine kleine Diskussion unter den Juristen der Verteidigung, aber am Ende machten Antony und Kevin sich allein auf den Weg zu Astroff's .
Sie gingen in stillschweigender Übereinkunft zuerst in die Bar.
»Es wird Ihnen wohl klar sein, daß Sie alle Ihre Brücken hinter sich abgebrochen haben«, erklärte O'Brien, als ihre Getränke serviert waren und der Kellner sich wieder entfernt hatte. »Wenn der Spruch jetzt gegen uns ausfällt - «
»Das ist mir völlig klar«, gab Maitland zurück, tapfer um einen leichten Tonfall bemüht. »Ein etwas schäbiger Trick, eine unschuldige Frau anzugreifen. Das wird man sagen.«
»Tja, ich habe Sie da hineingezogen, und es hat Zeiten gegeben, in denen ich das bedauerte«, gestand O'Brien. »Aber Sie haben ganz gewiß Ihr Bestes getan.«
Nichts hätte mehr dazu angetan sein können, Maitland aufzubringen. Wenn O'Brien das nur geahnt hätte. Vielleicht wäre das sogar gut gewesen, damit Maitland seine jetzige Teilnahmslosigkeit hätte abschütteln können, aber bevor er etwas erwidern konnte, gab es eine Störung. Ein Mann blieb an Ihrem Tisch stehen, und eine Stimme, von der Maitland das Gefühl hatte, sie kennen zu müssen, sagte heiser: »Meine Herren, ich muß mit Ihnen reden.«
Er hob den Kopf und sah, daß es Ernest Lamb war.
3
Maitland war auf stürmische Attacken gefaßt und ziemlich sicher, daß O'Brien die Zeichen ebenso deutete. Er hatte Lamb am Vormittag unter den Zuschauern nicht bemerkt, aber ohne Zweifel war Lamb dagewesen, und nach allem, was ausgesprochen worden war… Um so erstaunter war Maitland, als Lamb, statt in wütende Vorwürfe auszubrechen, einen Stuhl herauszog, sich setzte und dann erst sagte: »Stört es Sie, wenn ich mich dazusetze?«
O'Brien fand seine Fassung oder wenigstens die Sprache wieder, bevor sein Kollege sich erholt hatte.
»Ich glaube wirklich nicht, daß wir einander etwas Sinnvolles zu sagen haben«, erklärte er.
Ernest Lamb wischte sich die Stirn.
»Wenn Sie nur recht hätten.« Als er das sagte, begriff Maitland, daß das nicht einfach Zorn auf die Anspielungen war, die vor Gericht gefallen waren; der Mann litt Seelenqualen, wollte nicht sprechen und wurde doch von einem inneren Drang getrieben, es zu tun.
»Lassen Sie sich ruhig Zeit, Mr. Lamb«, schlug er vor. »Wir verhandeln erst um zwei Uhr weiter.«
»Was ich zu sagen habe, wird nicht so lange dauern.« Er sah O'Brien an und richtete den Blick wieder auf Maitland, vielleicht, weil er bei diesem ein größeres Verständnis für seine Bedürfnisse spürte. »Sie haben viel geleistet, um zu beweisen, daß Jean Douglas getötet haben könnte«, sagte er. Seine Stimme klang bitter, aber gleichzeitig schien in dem Satz kein Groll mitzuschwingen, so sonderbar das war.
»Wir mögen die Gelegenheit nachgewiesen haben, aber das ist noch kein Freispruch für unsere Mandanten, wissen Sie.« Es klang ganz so, als wolle Maitland ihn beruhigen.
»Deshalb bin ich hier«, sagte Lamb und verstummte wieder.
Nach einer Weile begann Maitland leise zu sprechen, obwohl ihm durchaus bewußt war, daß sich die Wirkung seiner Worte auf keine Weise abschwächen ließ.
»Wir wissen, daß sie die Gelegenheit zur Tat hatte, wenn auch noch fraglich ist, ob sie die Mittel dazu besaß. Und ich weiß - obwohl das zu den ungreifbareren Dingen gehört, die schwer zu beweisen sind - daß Sie ein Motiv hatten.«
»Deshalb bin ich hier«, wiederholte Lamb. »Das ist alles meine Schuld«, fuhr er in demselben gequälten Ton fort. »Ich hätte nicht soviel darüber reden sollen, wie gern ich die Teilhaberschaft auflösen und die Firma allein übernehmen wolle. Sehen Sie, es gab da eine günstige Gelegenheit, wirklich großes Geld zu machen - «
»Aber Mrs. Lamb war… sagen wir, interessiert?«
»Ach, mehr noch.« Plötzlich strömten die Worte aus ihm heraus. »Sie fragte mich endlos danach aus, was wir tun könnten. Nur gab es eigentlich nichts. Mit Douglas war nicht gerade leicht auszukommen, aber ich hatte keine Klagen gegen ihn vorzubringen, und wenn ein solches Geschäft in Aussicht stand, würde er natürlich nicht verkaufen wollen.«
»Ich verstehe Ihr Dilemma. Was haben Sie getan?«
»Gar nichts, das schwöre ich Ihnen!«
»Aber nun glauben Sie, Mrs. Lamb könnte so sehr interessiert gewesen sein, daß sie von sich aus handelte?« Er bemühte sich um Vorsicht, aber Ernest Lamb hatte ein Stadium erreicht, in dem reden für ihn so lebenswichtig war wie atmen.
»Glauben? Ich bin mir sicher! Weshalb, meinen Sie, wäre ich sonst hier? Ich konnte es einfach nicht glauben, selbst gestern abend nicht, und ich fragte sie… ich hatte den Eindruck, daß ihre Art… daß sie nicht ganz offen zu mir war, aber vielleicht war sie nur zornig auf mich, daß ich so etwas denken konnte. Wir hatten auch unser Auf und Ab, Mr. Maitland, aber sie ist mir eine gute Ehefrau gewesen. Doch ich schätze Kate sehr, und ich schwöre Ihnen, wenn ich gewußt hätte, was geschehen ist - «
»Sie sagen, Ihre Frau hätte bestritten, daß sie etwas unternommen haben soll, um Ihre Ambitionen wahrzumachen.«
»Ja, das hat sie, und ich bin sicher, daß sie das wiederholen würde, wenn ich sie noch einmal fragen sollte. Aber ich blieb zu Hause, als sie heute früh zum Gericht fuhr, und durchsuchte ihre Sachen. Und ich fand eine Injektionsspritze - wir haben so etwas nie gebraucht - und Ampullen dazu. Eine war leer, die anderen… O Gott!«
Maitland und O'Brien tauschten einen Blick.
»Und Sie glauben -?« sagte Maitland zögernd, wieder zu Ernest Lamb gewandt.
»Was konnte ich anderes denken, als daß sie es getan hatte? Ich war außer mir«, sagte Lamb, und keiner seiner Zuhörer zweifelte auch nur eine Sekunde daran, daß er die Wahrheit sagte. »Und als ich rechtzeitig zu Ihrem Kreuzverhör des Stubenmädchens in den Saal kam… ich wußte, daß ich mit Ihnen reden mußte, ich sah keinen anderen Ausweg.«
»Und wir sind Ihnen dankbar.« Maitlands Stimme klang förmlich. Das war nicht der Augenblick, um Gemütsaufwallungen anzuregen. O'Brien, praktischer gesinnt, winkte dem Kellner und bestellte einen doppelten Black Label für den Besucher, ohne ihn erst lange zu befragen.
»Wir müssen darüber sprechen, Maitland«, sagte er, als der Whisky kam und Lamb das Glas wie einen Rettungsring umklammerte. »Wie geht man in dieser Situation am besten vor?«
»Das hängt in der Hauptsache von Mr. Lamb ab.« Dieser trank den Whisky in sich hinein, als sei er durstig. »Sind Sie bereit, vor dem Vertreter der Anklage zu wiederholen, was Sie uns mitgeteilt haben?« fragte Maitland ihn.
»Ich weiß, daß ich das muß.« Lambs Stimme klang nicht entschlossen; er wirkte gebrochen. »Sehen Sie, sie hätte nie… sie hätte niemals… wenn sie bei Verstand wäre… ich kann nicht zulassen, daß sie weitermacht und vielleicht noch jemandem etwas antut. Aber ich muß allen klarmachen, daß ich die Schuld trage.«
»Dann gehe ich davon aus - «
»Ja… ja… ja…!«
Sie ließen ihn in Ruhe austrinken; der Gedanke an etwas Eßbares stieß ihn offenbar ab. Er schien schließlich in eine Art Lähmung zu versinken, und da die beiden Barrister nichts Besseres zu tun wußten, setzten sie ihr Gespräch halblaut fort. Es kam offenkundig nicht in Betracht, diesen Zeugen in seinem jetzigen Gemütszustand sich selbst zu überlassen.
»Sobald wir wieder im Gerichtssaal sind, bitten wir um eine Besprechung mit Carruthers im Richterzimmer«, sagte O'Brien. »In Anwesenheit von Garfield, versteht sich. Ich glaube nicht, daß es danach noch Schwierigkeiten geben wird, eine Vertagung zu erreichen, um der Polizei Zeit zu geben, weitere Ermittlungen anzustellen.«
»Sykes sagt immer, sobald man wisse, wo man hingreifen muß, finde man immer Beweismaterial«, erklärte ihm Maitland mit gedämpfter Stimme. »Und in diesem Fall - « Er verstummte, weil es auf einmal unmöglich zu sein schien, noch etwas zu sagen. Er war seiner Sache sehr sicher gewesen, sonst hätte er den gefährlichen Kurs gar nicht erst eingeschlagen, aber nun überfiel ihn die Erkenntnis, daß er sich trotz allem im Irrtum hätte befinden können. Vielleicht fühlte er sich deshalb so unwohl, aber es mochte auch an Ernest Lambs mißlicher Lage oder an seiner eigenen Rolle bei dem Ganzen gelegen haben.
»In diesem Fall waren Sie von Anfang an auf dem richtigen Weg«, sagte O'Brien großzügig. »Aber sind Sie mit dem Verfahren einverstanden, das ich umrissen habe? Mir scheint das wirklich das einzig mögliche zu sein.«
»Ich b-bin n-natürlich einv-verstanden«, sagte Maitland. Sein Stottern, das ihn sonst nur überfiel, wenn er zornig wurde, war plötzlich sehr auffällig. Er erkannte die Unausweichlichkeit der Ereignisse, die er in Gang gesetzt hatte, aber wohler fühlte er sich deshalb nicht. »Ich g-glaube, ich t-trinke lieber noch etwas, bevor wir w-weitermachen«, fügte er hinzu. »Ich brauche es offenbar so notwendig wie unser Freund hier.«
Das war ein Vorschlag, dem O'Brien, der die Bedürfnisse seines Kollegen klarer erkannte, als manche ihm zugetraut hätten, sofort zustimmte. Hinterher führten sie, nicht ohne Schwierigkeiten, nicht ohne Einwände von Garfield, aus, was sie sich vorgenommem hatten. Aber Garfield war trotz seiner Fehler, die er in Maitlands Augen haben mochte, ein Mann mit starkem Gerechtigkeitsgefühl, und so setzten sie sich am Ende durch.
Das Verfahren wurde ausgesetzt, aber sie waren beide nicht in Jubelstimmung. Ihre Solicitors erhielten den Auftrag, ihren Mandanten die frohe Nachricht zu überbringen.
Dienstag, nach dem Urteil
1
An diesem Dienstag nachmittag kam Antony früh vom Gericht nach Hause und entdeckte überrascht, daß nicht nur Sir Nicholas und Vera, sondern auch Roger und Meg mit Jenny zusammen Tee tranken.
»Wo das Aas liegt, versammeln sich die Geier«, meinte er nicht gerade höflich, als er durch das Zimmer ging.
»Wir wollten genau wissen, wie es ausgegangen ist, Schatz«, erklärte Meg.
Da das Thema am Wochenende erschöpfend behandelt worden war, empfand Antony das als unvernünftig.
»Das war doch von vornherein klar«, wandte er ein.
»Durchaus nicht«, sagte Roger.
»Als die Frau in dem Süßwarengeschäft Jean Lamb als Kundin erkannt hatte, war die Polizei davon überzeugt, daß sie die Pralinen hierher geschickt haben mußte. Das zu allem anderen genommen… das Morphium gab eigentlich den Ausschlag, wißt ihr.«
»Kann man sich denken.«
»Der arme Mr. Lamb«, meinte Jenny.
»Aber etwas wißt ihr noch nicht«, sagte Antony. »Jean hat ein Geständnis abgelegt, und so - «
Daraufhin redeten alle gleichzeitig, bis Sir Nicholas' Stimme gelassen darüber hinwegtönte.
»Ich nehme an, du wirst mir erklären, daß die Gerechtigkeit wieder einmal gesiegt hat, Antony.« Es klang gelangweilt, aber Antony hütete sich, das für bare Münze zu nehmen.
»Ich hoffe doch, daß ich mich nicht so blasiert ausdrücke«, gab er zurück.
»Ich möchte nur wissen, ob dir klar ist, mit was für einem Glück du gesegnet warst«, fuhr sein Onkel nachdenklich fort. »Wenn Lamb nicht zu diesem Zeitpunkt mit einem entscheidenden Indiz aufgetaucht wäre - «
»Würde kein Hund mehr ein Stück Brot von mir nehmen. Das weiß ich«, sagte Maitland. Sir Nicholas, der eine außerordentliche Abneigung gegen Slang bekundete, schloß die Augen und drohte in Ohnmacht zu fallen. Antony beachtete ihn nicht und fügte, auf das vorhin Gesagte zurückkommend, in nüchterner Weise hinzu: »Ich verspüre wirklich keine Überheblichkeit, um genau zu sein.«
Jenny wußte das sehr gut, wie vielleicht auch manche der anderen. Sie kannte seine Reaktionen am Ende eines Falles nur zu gut.
»Ich möchte wissen, warum sie es getan hat«, meinte sie. »Glaubst du wirklich, daß sie den Verstand verloren hat?«
»Ihr unglücklicher Ehemann scheint es jedenfalls zu glauben.
Nein, ich vermute, sie erwartete ehrlich seine Billigung für das, was sie getan hatte, und als sie entdeckte, daß er sogar so entsetzt war, daß er sie anzeigte, schien nichts mehr eine Rolle für sie zu spielen.«
Vera hatte dazu eine Frage.
»Glaubst du wirklich, daß er nichts wußte?« fragte sie.
»Wenn du mit ihm gesprochen hättest… Ich glaube wirklich, daß er nichts wußte«, versicherte ihr Antony.
»Aber du hast uns noch nicht erzählt, was heute bei Gericht geschehen ist«, sagte Jenny, die gern bei der Sache blieb.
»Garfield hielt sich an die Abmachung, brachte nichts mehr vor und beantragte die Abweisung des Falles. Carruthers wies die Geschworenen an, die Angeklagten freizusprechen, und damit war die Sache erledigt. Wenn sich herumspricht, daß Jean Lamb verhaftet worden ist, wird jedermann wissen, daß der Spruch der richtige war, und meinen Mandanten und seine Angebetete kann nichts mehr daran hindern, in Zukunft glücklich miteinander zu leben.«
»Der arme Mr. Lamb«, sagte Jenny noch einmal mit einem Seufzer. Und fügte hoffnungsvoller hinzu: »Glaubst du, sie werden es tun?«
»Ich nehme es an. Könnt ihr euch vorstellen«, sagte er und kam damit auf einen Punkt zurück, der ihn mehr interessierte, »Kate vermag sich immer noch nicht daran zu erinnern, daß sie Jean an jenem Tag im ersten Stock alleingelassen hat. Sie weiß zwar, daß sie zu den Kindern hinaufgegangen ist, aber nicht, daß sie Jean dabei allein ließ.«
»Jeans Besuch war so alltäglich, daß sie das als selbstverständlich ansah. Aber ich glaube, Kate muß ein sehr lieber Mensch sein«, erklärte Jenny, die immer froh war, bei den Menschen Gutes zu entdecken, »wenn sie nie auch nur einen Verdacht hatte.«
»Verstehe immer noch nicht«, sagte Vera, »wie Ernest Lamb die ganzen Jahre mit Jean zusammenleben konnte, ohne auch nur zu ahnen, was für ein Mensch sie ist.«
»Offenbar ein Herr mit sehr wenig Scharfblick«, stellte Sir Nicholas versonnen fest. An irgendeinem Punkt des vorangegangenen Gesprächs schien er sich von seiner Ohnmacht erholt zu haben.
»Da kann ich dir nicht recht geben, Onkel Nick.« Auch Antony befaßte sich damit. »Jeder, der sie kannte, wies ganz besonders darauf hin, was für eine nette Frau sie sei, und als ich sie bei Gericht sah, selbst als ich begriff, was sie Kate anzutun versuchte… tja, es war schwer zu glauben, mehr kann man nicht sagen.«
»Eine Art Lady Macbeth«, sagte Meg mit ihrer tiefsten Stimme. »Ich hätte euch sagen können, wie sie ist.«
»Warum, zum - warum hast du es dann nicht getan?« sagte Antony scharf.
»Du hättest behauptet, das sei gutes Theater, aber nicht das wirkliche Leben«, gab Meg zurück.
Und als Antony später darüber nachdachte, sah er ein, daß daran vielleicht sogar etwas Wahres sein mochte.