Leo Tolstoj
Die Mücke und der Löwe
Eine Mücke flog zu einem Löwen und sprach zu ihm: „Gewiß glaubst du, daß du stärker bist als ich. Das ist aber ein Irrtum, mein Lieber! Was hilft dir schon deine ganze Löwenkraft gegen mich, wenn ich dich angreife! Du wirst vergeblich kratzen und beißen mit deinen Klauen und Zähnen, genauso wie die Bauersfrauen, wenn sie mit ihren Männern streiten. Ich werde es dir beweisen. Komm, wir wollen kämpfen!“
Und das winzige Insekt stieß seinen hohen, summenden Mückenkampfruf aus, stürzte sich auf den Löwen und stach ihn in seine empfindliche Nase, immer wieder.
Der Löwe schlug mit den Tatzen nach der Mücke, zuerst ärgerlich, dann wütend. Aber er zerkratzte sich nur selber sein Gesicht und konnte der flinken Mücke kein Leid antun. Schließlich gab er, blutend und erschöpft, den ungleichen Kampf auf.
Die Mücke summte triumphierend und flog fort, so eingenommen von sich selbst, daß sie beinahe vor Stolz platzte. Weil sie aber nicht darauf achtete, wohin sie flog, flog sie geradewegs in das Netz einer Spinne hinein, und die Spinne kroch zu ihr und begann ihr das Blut auszusaugen.
„Ich habe den Löwen besiegt, den Stärksten unter allen Tieren“, dachte die Mücke, bevor sie starb, „und nun tötet mich - welche Ungerechtigkeit - eine armselige Spinne!“
Aus: Das große Fabelbuch. Verlag Carl Uebereuter, Wien/Heidelberg 1965.