Greene Jennifer Zartliche Hande


JENNIFER GREENE

ZÄRTLICHE HÄNDE -

STARKE GEFÜHLE

(Body and Soul)

19861. KAPITEL

- Mach bitte jetzt erst mal den Oberkörper frei.

Das Gesicht ihres Gegenübers ließ Claire erschauern. Eine lange, verblaßte Narbe zog sich über seine rechte Wange, die Oberlippe war gespalten, und ein grünlich-violetter Bluterguß umgab das Auge. Mit gleichgültiger Miene und ausdruckslosem Blick sah er Claire an. Makowsky war siebzehn Jahre alt.

Er zog sich das blutverschmierte T-Shirt über den Kopf. Claire preßte die Lippen zusammen, als sie die Stichwunde sah. Aus dem Schnitt oberhalb der rechten Brustwanze sickerte noch immer Blut. Claire öffnete den Instrumentenschrank neben sich und entnahm Gaze, Wunddesinfektionsmittel, Nahtmaterial und eine sterile Nadel.

- Wenn ich deine Mutter wäre, würde ich dich übers Knie legen; - bemerkte Claire über die Schulter hinweg.

Makowsky blieb stumm. Feindselig musterte er Claire, als sie sich ihm näherte, um die Wunde zu versorgen. Seine Finger krampften sich um, das Schnappmesser in seiner Hand, so daß es automatisch herausschnellte.

- Hast du nichts Besseres zu tun, als dich mit Straßenbanden herumzuschlagen? - Claire übersah das Messer geflissentlich und arbeitete flink und gewissenhaft. Obwohl sie aufrichtig verärgert war, klang ihre Stimme nicht lauter als ein Murmeln. Einen Augenblick lang sah sie den Jungen mitleidig an. - Jetzt wird es weh tun. Ich fürchte, sogar sehr - flüsterte sie sanft hinzu.

Als sie ihm das Mittel zur örtlichen Betäubung in die empfindliche Stelle neben der Brustwarze spritzte, verzog Makowsky keine Miene. Mindestens fünfzehn Stiche sind für die Wunde nötig, überlegte Claire. Wenn der Stich auch nur ein wenig tiefer gegangen wäre, hätte er die Lunge verletzt. Makowsky starrte gelassen auf die gegenüberliegende Wand, als sie zu nähen begann.

- Was für ein harter Mann du doch bist! - spottete Claire halblaut.

- Todesmutig und heldenhaft. Ich bin tief beeindruckt. Nur, das ist jetzt das dritte Mal in drei Monaten, daß du hier aufkreuzt. Allmählich kann ich deinen Anblick nicht mehr ertragen. -

Mit keinem Wimpernzucken verriet Makowsky, ob er ihr zuhörte. - Weißt du nicht mehr, was ich dir beim letzten Mal gesagt habe? Schön, du bevorzugst offenbar diese Unfallstation, aber es gibt Krankenhäuser, die wesentlich näher bei deinem Zuhause liegen. Wenn du dich wieder einmal dermaßen zurichten läßt, dann läufst du gefälligst nicht mehr quer durch die Stadt hierher, verstanden? -

Die Augen des Jungen blitzten Claire an, seine Hand schloß sich fester um das Messer.

Elf Stiche waren bereits gesetzt, vier mußten noch folgen. - Hast du mich verstanden? - beharrte Claire. - Spar dir dein Ich-bin-der-Größte­Gehabe für deine Straßenbanden auf, mich kannst du damit nicht beeindrucken. -

Endlich war sie fertig. Der Junge erhob sich und glitt vom Behandlungstisch. Obwohl er kein Wort sagte, wirkte er stehend noch bedrohlicher.

- Noch etwas. Solltest du das nächste Mal doch wieder zu uns kommen, dann unterlaß wenigstens, die Krankenschwestern in To­desangst zu versetzen. Wenn du deine Stärke nur mit stehender Klinge beweisen kannst, werde ich dich kurzerhand dazu verdonnern, für eine Weile die Bettpfannen auszuleeren! -

Während sie schimpfte, sah sie zu, wie Makowsky sich das schmutzige T-Shirt wieder überzog und sich dann die Lederjacke über die Schultern hängte. Er war schon halb zur Tür hinaus, da rief Claire ihn zurück.

- Warte! Hast du genug Geld für ein Taxi, um nach Hause zu kommen?

Zum erstenmal, seit sie den Jungen kannte, überzog ein seltsamer, fast menschlicher Ausdruck sein Gesicht. Bei jedem anderen hätte man das den Versuch eines Lächelns nennen können.

- Ich habe noch nie einen Menschen getroffen, der so viel reden kann wie meine Mutter. Außer Ihnen vielleicht.

Mit einem dumpfen Laut fiel die gepolsterte Tür des Behandlungs­raums hinter Makowsky ins Schloß.

Claire blies sich eine Strähne ihres schwarzen Haars aus dem Gesicht. Normalerweise saß ihr kinnlanger Pagenschnitt perfekt, aber diese Freitagnacht im Februar war schlimmer als sonst gewesen: zwei Autounfälle, ein Brand, eine mißhandelte Frau - und nun auch noch Makowsky.

Für eine Notfallstation waren dies alles normale Fälle, insbesondere für eine Freitagnacht. Auch war Claire gerade in Notfällen überaus belastbar, aber das Schicksal von Menschen wie Makowsky ging ihr stets sehr nahe. Sie konnte diese Menschen ärztlich versorgen, aber wirklich helfen, nein, das konnte sie nicht.

Die Tür öffnete sich leise, und ein blonder Wuschelkopf mit Schwesternhäubchen wurde sichtbar. Janice überragte Claire um Haupteslänge und wirkte, obwohl sie gar nicht mehr so jung war, wie ein quirliger, übermütiger Teenager. Trotz der Gegensätze bildeten die Krankenschwester und die Ärztin ein perfekt funktionierendes, völlig eingespieltes Team. Und das wußten sie beide zu schätzen.

- Ist er fort?

Claire nickte bestätigend, und Janice trat ein. Sie entfernte die zerknitterte Papierunterlage vom Behandlungstisch und breitete eine frische darauf aus.

- Es ist für unbegreiflich, wie du mit diesem Kerl fertig wirst. Mich erschreckt er jedesmal fast zu Tode. Er sieht aus, als könne er einen ohne mit der Wimper zu zucken umbringen.

- Er schadet einzig und allein nur sich selbst - erwiderte Claire knapp. - Das solltest du eigentlich erkannt haben.

Janice schüttelte mißtrauisch den Kopf. - Mir wäre es dennoch lieber, er würde in seinem Stadtviertel bleiben. Ich werde nie verstehen, wie du bei solchen Patienten einen kühlen Kopf bewahren kannst.

- Was soll daran so schwer sein?

- Lassen wir das, du würdest es ohnehin nicht begreifen. Du bist die einzige hier auf der Station, die nicht aufatmet, wenn der Dienst um Mittemacht vorbei ist. Wahrscheinlich könnte dich nicht einmal der Beginn des dritten Weltkrieges aus der Ruhe bringen. Trotzdem mußt du aber bemerkt haben, daß er ein Messer in der Hand hatte?

- Habe ich dir nicht von einem Judokurs erzählt?

- Du warst doch nie dort!

- Nun ja, du hast recht - gestand Claire schmunzelnd, und beide Frauen mußten lachen. - Wer ist der Nächste? Oder hat Barton ihn inzwischen übernommen?

- Dr. Barton ist beschäftigt, der Patient in Nummer sieben gehört dir ganz allein. Mehr sage ich dazu nicht, außer, daß ich mich liebend gern um ihn kümmern würde, wenn du vielleicht eine Pause einlegen möchtest!

- Ich bin nicht müde, Janice.

- Zu schade.

- Ich nehme an, es handelt sich um einen attraktiven Junggesellen?

- Claire, bei ihm wäre es mir egal, ob er Junggeselle ist. - Lachend machte Claire sich auf den Weg. - Ist es ein sehr dringender Fall, oder habe ich eine Minute Zeit?

- Er hat eine leichte Schnittverletzung an der rechten Hand. Könnte ich ihm nicht tröstend die gesunde Hand halten, während du die Wunde versorgst?

- Ich überlasse ihn dir für die Aufnahme seiner Personalien. - Claire betrat einen kleinen Raum, zu dem nur Angestellte der Klinik Zutritt hatten, und zog sich einen frischen, weißen Kittel an. Danach wusch sie sich gründlich die Hände und studierte dabei ihr Gesicht im Spiegel über dem Waschbecken. Große; dunkelgraue Augen, die sowohl Intelligenz als auch Sensibilität verrieten, blickten ihr entgegen. Umrahmt von dichtem schwarzem Haar wirkte ihr ovales, feinge­schnittenes Gesicht ausgesprochen zart.

Im landläufigen Sinn war Claire keine Schönheit, die Bezeichnung apart traf besser auf sie zu. Claire besaß eine Ausstrahlung, die sie besonders anziehend machte. Diese Tatsache hatte ihr nie viel bedeutet; für sie war es stets wichtiger gewesen, daß der weiße Arztkittel einigermaßen richtig saß.

Mit einem spöttischen Lächeln trocknete sie sich die Hände ab. Es grenzte tatsächlich fast an ein Wunder, wenn sie einen passenden Kittel erwischte. In der kommenden Woche feierte sie ihren vierund­dreißigsten Geburtstag, und sie gab die Hoffnung nicht auf, eines Tages vielleicht doch noch ein paar Zentimeter zu wachsen. Mit ihrer Größe von nur einem Meter sechzig wurde sie von den Kollegen nicht selten geneckt und liebevoll Zwerg genannt.

Claire trat hinaus in den Korridor und strebte dem Zimmer Nummer sieben zu. Flüchtig registrierte sie den Namen des Patienten, den Janice auf eine Karteikarte geschrieben und an die Tür geheftet hatte, und drückte die Klinke nieder.

Sobald Claire dem Patienten gegenüberstand fühlte sie sich nur mehr als Ärztin. Der Mann war etwa Mitte Dreißig, ziemlich groß und sehr schlank. Ein Smokingjackett lag nachlässig zusammengefaltet neben ihm auf dem Behandlungstisch. Bestimmt hatte er es sich nicht träumen lassen, den Abend in der Notaufnahme eines Krankenhauses zu verbringen. Ungeduldig und zugleich niedergeschlagen runzelte der Mann die Stirn.

Claire schenkte weder seiner Miene noch seinem guten Aussehen weitere Beachtung. Ihr Blick konzentrierte sich auf den behelfsmäßi­gen Verband an seiner rechten Hand. Die Wunde schien noch immer zu bluten, aber es bestand offensichtlich kein Anlaß zu besonderer Eile.

Es blieb Claire also noch genügend Zeit, sich ein Bild über den allgemeinen Gesundheitszustand des Verletzten zu machen. Beruhigend lächelte sie ihn an.

- Mr. Brannigan? Ich bin Dr. Barrett. Soweit ich informiert bin, haben Sie sich geschnitten.

- Die Verletzung ist eigentlich nicht der Rede wert, - versicherte er ihr hastig. - Im Grunde hätte ich überhaupt nicht zu kommen. brauchen. Es gelang mir nur nicht, die Blutung zu stillen. So etwas Dummes. - Unmutig schüttelte er den Kopf über seine eigene Ungeschicklichkeit. - Ich habe mich mit einem Hackmesser geschnitten - fügte er geistes­abwesend hinzu.

In diesem Augenblick sollte eine Frau das letzte sein, womit ich mich in Gedanken beschäftige, ermahnte sich Jim Brannigan. Sonst erregte eher der hochgewachsene, langbeinige Typ seine Aufmerksamkeit. Und doch zogen die samtweiche Stimme und der sanfte Blick der Ärztin ihn merkwürdig in ihren Bann.

Mit erfahrenem Blick erkannte er, daß sich ein sehr weiblicher, doch zierlicher Körper unter dem weiten Kittel verbarg. Auch das, was Jim sehen konnte, gefiel ihm ausnehmend gut: die schlanken, gepflegten Hände, die feine Nase und das energische Kinn. Erheitert stellte er fest, daß sie ihn genauso eingehend betrachtete, allerdings schien sich ihr Augenmerk ausschließlich auf den Patienten zu richten, nicht auf den Mann.

Als Claire behutsam den Ärmel von Jims Hemd hochschob, fiel ihr auf, daß ihr Patient zwar schlank, aber muskulös und gut durchtrai­niert war. Sie sah ihm in die Augen, und für den Bruchteil einer Sekunde irritierte sie deren Farbe. Sie waren weder dunkelblau noch hellblau, irgendeine seltsame Nuance dazwischen. Ein Blau, dem man nicht trauen darf, schoß es Claire durch den Kopf. Das war in diesem Moment jedoch für sie ohne Belang, entscheidend war jetzt allein, ob die Pupillen erweitert waren oder nicht. Bei jeder Art von Verletzung war die Möglichkeit eines Schocks nicht auszuschließen.

Die Pupillen waren normal. Der Mann sah Claire mit klarem, forschendem Blick an, und zwar von Kopf bis Fuß. Und was er sah, schien seine uneingeschränkte Zustimung zu finden, das war deut­lich an seinem Gesichtsausdruck zu erkennen. Von Schock konnte also daher Rede sein.

- Sie haben sich also mit einem Hackmesser geschnitten - wieder­holte Claire und nahm den provisorischen Verband ab.

- Ja, beim Zwiebelschneiden.

Ein Schnitt in der Handfläche wurde sichtbar. Er war nicht sehr groß, wirkte aber ziemlich tief. Bestimmt, hatte der Mann starke Schmerzen. Wieder sah sie ihm ins Gesicht, diesmal genauer. Er hatte sich nicht bewegt, als sie die Wunde berührte. Wehleidig war er demnach nicht. Und doch, seine Blässe beunruhigte Claire.

- Haben Sie sich beim Zwiebelschneiden noch andere Verletzungen zugezogen? - erkundigte sie sich beiläufig.

- Ja, an meinem Stolz. Ich fürchte, er hat einen unheilbaren Knacks davongetragen.

Claire mußte lachen. Mit der gesunden Hand umfaßte der Mann ihr Handgelenk. Das war nicht weiter ungewöhnlich. Viele Patienten suchten Hautkontakt zur Beruhigung. Diesmal jedoch durchströmte Claire eine Empfindung, die damit gar nichts zu tun hatte und die sie verwirrte:

- Was werden Sie tun, Frau Doktor?

- Die Wunde mit ein paar Stichen nähen - erklärte sie kurz angebunden. Mit dem Daumen strich Jim sanft über ihren Puls. - Mr. Brannigan, Sie brauchen wirklich nicht nervös zu sein - fügte sie freundlicher hinzu.

- Nervös? Nervös war ich zum letztenmal mit sechs Jahren. Da stand ich zwischen einer zerbrochenen Fensterscheibe und meinem aufge­brachten Vater!

Nein, Jim Brannigan sah tatsächlich nicht aus, als sei er ein nervöser Mensch. Er wirkte vielmehr wie einer, der es verstand, sich im Leben durchzusetzen und der sich niemals einschüchtern ließ. Jedoch die blasse Gesichtsfarbe irritierte Claire, ebenso die Tatsache, daß er noch immer ihre Hand hielt.

- Ich verspreche Ihnen, dies wird längst nicht so schlimm, wie die Auseinandersetzung mit ihrem Vater - versicherte sie ironisch. - Glau­ben Sie mir, in ein, zwei Minuten ist alles vorbei. Möchten Sie lieber sitzen, oder ziehen Sie es vor, sich dabei hinzulegen?

Er blieb ihr die Antwort schuldig. Offenbar wollte er mit seinem Schweigen demonstrieren, wie lächerlich es ihm vorkam, sich wegen dieser Kleinigkeit hinzulegen. Langsam gab er ihre Hand frei. - Meinen Sie wirklich; wir müssen einen solchen Aufwand wegen dieses Kratzers machen? Jetzt, wo er zu bluten aufgehört hat, schäme ich mich beinahe, Sie behelligt zu haben.

- Die Wunde ist tatsächlich nicht so schlimm. Dennoch halte ich ein paar Stiche für angebracht. Verletzungen in der Handfläche heilen verhältnismäßig schlecht, und diese ist obendrein noch ziemlich tief.

Claire desinfizierte die Hände, legte das erforderliche Nähmaterial zurecht und zog mit dem Rücken zum Patienten eine Betäubungssprit­ze auf.

Nachdem sie alles in einer Nierenschale bereitgelegt hatte, schob sie ein steriles Tuch unter die verletzte Hand und begann, die Wunde zu reinigen.

- Arbeiten Sie immer im Nachtdienst?

- Fast immer. Ich bin ein Nachtmensch.

,;Warum ausgerechnet in einem Krankenhaus? Weshalb haben Sie keine eigene Praxis?

Claire lächelte, sie war solche Fragen gewöhnt. Viele Patienten fingen an, wie ein Wasserfall zu reden, wenn sie nervös waren. Gewöhnlich dachten sie sich dabei nichts Besonderes.

Claire aber war dankbar für alles, was die Patienten von der Behandlung ablenkte.

Die Wunde war jetzt gesäubert, und Claire griff hinter sich nach der Spritze. Dabei erzählte sie in sanftem, beschwichtigendem Ton:

- Ich habe zwei Jahre lang frei praktiziert Ehrlich gesagt, die Aufgabe hier sagt mir mehr zu. Die Nachtstunden, die ständige Herausforderung, das Gefühl, dringend gebraucht zu werden. Was haben Sie, Mr. Brannigan?

Mit dem untrüglichen Instinkt des Arztes sah sie auf.

Wie hypnotisiert sah Jim auf die Injektionsnadel, sein Gesicht wurde kreidebleich. Langsam sackte er vornüber. Claire legte schnell die Spritze fort und versuchte, den großen, schweren Körper aufzufangen. Dabei verlor sie das Gleichgewicht und lag, ehe sie sich versah, rücklings unter ihm begraben auf dem harten Linoleumboden.

Mühsam bewegte sich Claire, um festzustellen, ob Jim Brannigan verletzt war. Glücklicherweise nicht, denn im Sturz hatte sie instinktiv seinen Kopf an ihre Brust gedrückt. Ihr ging es weniger gut, die gesamte Rückseite schmerzte, und unter Jims Gewicht hatte sie Schwierigkeiten zu atmen.

- Janice! - Claires Stimme klang laut, aber völlig ruhig. Schließlich hatte es keinen Sinn, die Patienten in den Nebenräumen unnötig zu beunruhigen. Und Janice kannte Claire inzwischen gut genug, um den Tonfall richtig zu deuten.

Tatsächlich erschien Janice umgehend.

- Lieber Himmel! Daß ich bei diesem Mann hätte schwach werden können, gebe ich unumwun­den zu. Aber von dir hätte ich das nie erwartet! - Trotz der Hänseleien eilte sie sofort zu Claire und half ihr, sich von Jim zu befreien. - Vielleicht sollte ich lieber einen Pfleger holen?

- Laß das, reich mir nur schnell die Spritze - ordnete Claire an, nachdem Janice ihr geholfen hatte, aufzustehen.

- Wie bitte?

- Dieser Mann hat panische Angst vor Spritzen. Ich hätte gleich darauf kommen müssen. Halt ihn bitte fest, ja? Ich injiziere jetzt, danach werden wir uns überlegen, wie wir ihn wieder auf den Tisch bekommen.

- Es ist nur eine kleine Ohnmacht, er wird gleich wieder zu sich kommen.

- Hoffen wir's - meinte Claire sarkastisch.

Kaum hatte sie die Nadel aus der Haut gezogen, kam Jim Brannigan wieder zu Bewußtsein. Wild gestikulierend versuchte er, allein aufzu­stehen. Nur mit Mühe schafften es Claire und Janice, ihn zurück auf den Behandlungstisch, zu bringen.

Mit vornübergebeugtem Kopf saß er eine Weile schweigend auf der Kante, dann stieß er einen leisen, aber vernehmlichen Fluch aus, und legte sich zurück

Janice und Claire tauschten einen belustigten Blick aus.

- Ich denke, er ist über den Berg - bemerkte Janice halblaut.

- Mir geht es sogar ausgezeichnet, und ich würde mich gern entschuldigen, wenn Sie beiden mich ließen!

- Brauchst du mich noch, Claire? - wollte Janice wissen. - Auf Zimmer neun liegt ein neuer Patient

- Geh nur, Mr. Brannigan und ich werden schon zurechtkommen. - Zweifelnd schaute Jim Claire an. - Verflixt, habe ich Sie etwa mit zu Boden gerissen? Haben Sie sich weh getan? - fragte er entsetzt.

- Es ist nicht so schlimm - beschwichtigte Claire ihn.

- Wirklich nicht?

Im Augenblick hatte Claire andere Probleme. Aus Erfahrung wußte sie, daß Handflächen schlecht zu nähen waren. Daher wollte sie es um jeden Preis vermeiden, daß Brannigan ihr dabei zusah. Sie kannte ja jetzt seine Reaktion auf Nadeln.

Nach kurzem Nachdenken setzte sich Claire mit dem Rücken zu Jim auf die Kante des Behandlungstisches und rutschte so nah wie möglich an ihn heran. Sie zog seinen rechten Arm unter dem ihren hindurch und legte die verletzte Hand mit der Fläche nach oben in ihren Schoß. Auf diese Weise konnte sie gut arbeiten, ohne daß Jim Brannigan etwas sah.

- Keine Sorge, eine Spritze bekommen Sie nicht mehr, das ist längst geschehen - versicherte sie ihm über die Schulter hinweg. Sie mußte sich eingestehen, daß sie sich über ihn freute. Die meisten Männer hätten eine Ohnmacht überheblich heruntergespielt. Er hingegen hatte sich zuerst danach erkundigt, ob ihr nichts passiert sei. Das war wirklich reizend gewesen. - Sie müssen jetzt nur einige Minuten lang stillhalten. Würden Sie das für mich tun?

Jim hatte plötzlich das Gefühl, als schnüre ihm etwas die Kehle zu. Das Drehen im Kopf ließ zwar langsam nach, aber so benommen konnte er gar nicht sein, daß er nicht den Druck ihres Körpers spürte. Wenn er die Augen aufschlug, sah er einen schmalen, gebeugten Frauenrücken vor sich. Seine Hand mochte zwar betäubt sein, das Handgelenk jedenfalls war es nicht: Und dieses Handgelenk ruhte genau zwischen ihren Schenkeln. Jim räusperte sich, um seine Stimme zu finden.

- Ich glaube, ich würde eine ganze Menge für Sie und mit Ihnen tun wollen - sagte er leise.

Überrascht hob Claire die Augenbrauen. Normalerweise erholten Menschen sich nicht so rasch von einer Ohnmacht. Aber dieser Mann schien in mancherlei Beziehung anders als andere Menschen zu sein, das wurde ihr immer klarer.

Behutsam setzte sie den ersten Stich.

- Spüren Sie etwas? - fragte sie beiläufig.

- Ja, Ihre Hüften an meinen Rippen. Reizende Hüften. Übrigens, ich glaube; anschließend benötige ich unbedingt eine Mund-zu-Mund-­Beatmung. Wann haben Sie Feierabend - meinte er lächelnd.

- Um Mitternacht. Bitte benehmen Sie sich, Mr. Brannigan. - Claire setzte zum vierten Stich an.

- Sie sind schön.

- Vielen Dank.

- Wenn ich mich nicht irre, haben Sie mich davor bewahrt, daß ich mir den Kopf aufgeschlagen habe, oder gar vor Schlimmerem. Laut einem chinesischen Sprichwort gehört einem das Leben, das man rettet.

- Mir genügt schon, wenn Sie sich künftig von Küchenmessern fernhalten.

- Rutschen Sie mit Ihrer reizenden Kehrseite ein wenig nach hinten, dann sitzen Sie bequemer.

Endlich hatte Jim es geschafft, daß Claire sich zu ihm umdrehte. Ihre ausdrucksvollen dunklen Augen musterten ihn drohend. Wie zart ihr Gesicht ist, dachte er.

Sie braucht keinen Lippenstift, ihr schön geschnittener Mund hat ein wundervolles natürliches Rot . . .

- Werden Sie sich jetzt anständig benehmen? - wiederholte sie gefährlich sanft.

- Ich glaube nicht. - Diese Ärztin ist durch nichts aus der Ruhe zu bringen, dachte Jim. Jetzt wirkt sie sogar, als müsse sie sich ein Lächeln verbeißen.

Und Jim wollte sie unbedingt lächeln sehen:

- Es gehört wohl einiges dazu, Sie aus der Fassung zu bringen? - fragte er keck.

- Sie glauben doch nicht im Ernst, daß Sie der erste Patient sind, der mir ohnmächtig in die Arme gefallen ist? Die meisten warten damit allerdings, bis sie meine Injektionskünste gesehen haben.

- Ich werde dieses Versäumnis nachholen und mir Ihre Künste nach Dienstschluß vorführen lassen. Nicht die der Ärztin, sondern die der Frau.

Ohne zu antworten, wandte Claire sich wieder der Verletzung zu.

- Spüren Sie etwas? - fragte sie, bevor sie den letzten Stich setzte.

- Ja, an den verschiedensten Stellen. Meiner Hand aber geht es dort, wo sie liegt, ausgesprochen gut Sind Sie eigentlich verheiratet?

- Hat Ihnen schon mal jemand gesagt, daß Ihre Denkweise ziemlich einseitig ist?

Jim lachte auf. Ihm gefiel, daß Claire nicht aus der Ruhe zu bringen war. Vielleicht war es gerade das, was ihm am meisten an ihr gefiel.

- Sie haben meine Frage nicht beantwortet - sagte er lässig.

- Und Sie nicht die meine. - Claire stand auf und fing aus Verlegen­heit an, die Instrumente fortzuräumen.

Vorsichtig richtete Jim sich auf und sah Claire eindringlich an. Das brachte sie fast aus dem seelischen Gleichgewicht

Eine Haarsträhne fiel Jim locker in die Stirn und ließ ihn wie einen harmlosen großen Jungen aussehen. Falsch, sagte sich Claire im stillen, dieser Mann ist schon als kleines Kind nicht harmlos gewesen.

Mit einem Stirnrunzeln betrachtete Jim die versorgte Wunde.

- Ist das alles? Bekomme ich keinen Verband? Keinen dicken, weißen und eindrucksvollen Verband?

- Nichts dergleichen, Mr. Brannigan. Halten Sie die Wunde sauber und trocken. In einer Woche kommen Sie dann wieder, um die Fäden ziehen zu lassen. Sie können natürlich auch zu Ihrem Hausarzt gehen. .

- Nennen Sie mich bitte Jim. Das klingt nicht so förmlich.

- Also schön, Jim.

- Kein Jod? Keine Wundsalbe? Gar nichts?

- Gar nichts. - Claire beobachtete, wie er aufstand, um sicher zu sein, daß er keine Kreislaufbeschwerden hatte. Erst dann gestattete sie sich, ihn näher anzusehen. Diesmal nicht als Ärztin, sondern als Frau.

Dieser Jim Brannigan hat die durchtriebensten Augen, die ich je gesehen habe, dachte Claire. Offen stand darin zu lesen, welche Absichten er hegte. Die hohen, markanten Wangenknochen und die kleine Narbe am Kiefer gaben ihm ein kühnes, fast rauhes Aussehen, das im krassen Gegensatz zu dem feinen Smoking stand, den er trug.

Die Linien auf Jims Stirn sprachen von Erfahrung, von schweren Zeiten und erlittenem Schmerz. Es war nicht einfach, Schlüsse aus diesem Gesicht zu ziehen, so, wie Jims ganze Erscheinung voller Widersprüche war.

Claire wurde sich bewußt, daß sie ihn anstarrte. Am belustigten Ausdruck seiner Augen erkannte sie, daß Jim ihre Gedanken gelesen hatte. Sogleich wurde seine Miene wieder undurchdringlich.

- Kaffee? - fragte er ruhig.

Claire schüttelte den Kopf.

- Das war eine ernstgemeinte Einladung, Frau Doktor. Vorausgesetzt, Sie bringen Ihre Nadeln nicht mit!

- Ich habe meine Nadeln immer dabei. Schließlich verdiene ich mein Geld damit, Menschen zu stechen, ist Ihnen das etwa entgan­gen? - Trotz ihres scherzhaften Tons kam Claire nicht umhin sich einzugestehen, daß dieser Mann sie verwirrte. Entschlossen ging sie zur Tür und öffnete sie. - Keine Schwindelgefühle mehr? - erkundigte sie sich sachlich.

Jim überging die Frage. Nachdenklich blickte er Claire an.

- Ich bin sicher, wir werden uns wieder über den Weg laufen. - Die Bemerkung klang nicht wie eine Vermutung, sondern wie eine Tatsache. Mit großen Schritten verschwand er.

Erst als Claire tief Luft holte, bemerkte sie, daß sie den Atem angehalten hatte. Leise lachend schloß sie die Tür. Durch ihre Arbeit bekam sie in einer Woche mehr unbekleidete Männer zu sehen, als die meisten Frauen während ihres ganzen Lebens. Aber seit langer Zeit hatte sie wieder einmal jenes seltsame Prickeln verspürt, das sich einstellt, wenn man mit einem Mann flirtet

Jim Brannigan war nicht der erste Patient, der sich mit einem kleinen Flirt von seinen Sehmerzen abzulenken versuchte. Das hatte sie schon oft erlebt, und sie war weit davon entfernt, den Zwischenfall ernst zu nehmen.

Aber dieser Mann hatte ihr gut gefallen. Sie mochte seine blauen Augen, seine Unverfrorenheit und sein Lächeln. Das Sirenengeheul eines Rettungswagens holte Claire schnell in die Realität zurück.

2. KAPITEL

Nur im Unterbewußtsein nahm Claire das zarte Stimmchen wahr. Schlaftrunken drehte sie sich auf die andere Seite und zog sich das Kissen über den Kopf.

- Tante Claire, schläfst du immer noch? - Jemand lüpfte unbarm­herzig das Kissen.

Mißmutig öffnete Claire die Augen, und ihr Blick fiel auf zwei lustige, blonde Rattenschwänzchen und ein Paar entwaffnende un­schuldige Kinderaugen.

- Ich warte schon eine Ewigkeit darauf, daß du endlich wach wirst! - schmollte die Vierjährige. - Ich habe Eier und Speck gebra­ten, ferngesehen und Omi beim Anziehen geholfen. Ja, und dann habe ich noch das ganze Geschirr abgewaschen. Inzwischen ist schon fast wieder Schlafenszeit!

- So? - murmelte Claire mundfaul. Der Wecker auf dem Nacht­tisch zeigte etwas ganz anderes; demnach war es erst sieben Uhr morgens. Sie gähnte und bemühte sich, die Augen offen zu halten. - Du hast Eier und Speck gebraten?

- Ja, und ganz allein. - Energisch stopfte Melanie die winzigen Fäuste in die Taschen ihres Overalls. - Außerdem war heute morgen schon ein Räuber hier. Er hat Omi fast zu Tode erschreckt, aber ich habe ihn verjagt. Er hat meine Lieblingspuppen und zwei andere Spielsachen mitgenommen. - Die Kleine seufzte. - Ich denke, ich werde ohne sie leben müssen. Es sei denn, jemand geht heute mit mir einkaufen.

- Sonst hat er nichts gestohlen? - erkundigte Claire sich ernst.

Das Kind schüttelte den Kopf. - Aber du hättest ihn sehen sollen! Er hatte eine rote Sonnenbrille auf, trug einen langen, weißen Bart und besaß zwei Gewehre!

- Melanie? - rief es aus der Diele. Noch ehe Claires Mutter das Schlafzimmer ihrer Tochter betrat, war es dort mucksmäuschenstill geworden. Nur ein verräterischer kleiner Hügel zeichnete sich unter Claires Bettdecke ab.

Nora Barrett stemmte die Hände in die Hüften, betrachtete einen Moment lang schweigend die eigenartige Erhöhung und zwinkerte Claire zu.

- Ich habe Melanie gewarnt! - sagte Nora laut. - Ich sagte ihr, wenn sie es wagen würde, vor neun Uhr auch nur in die Nähe deines Zimmers zu kommen, dann könne sie etwas erleben!

- Ich habe sie nicht gesehen - , erklärte Claire heiter.

- So. Falls sie dir doch über den Weg laufen sollte, dann richte ihr aus, daß sie heute Ärger bekommt! Du arbeitest bis spät in die Nacht und brauchst dringend deinen Schlaf. Auch Vierjährige müs­sen lernen, Rücksicht zu nehmen. Glaubst du, du kannst noch einmal einschlafen?

Claire schüttelte fröhlich den Kopf:

- Nein, mach dir keine Sorgen, Mutter.

- Hast du wirklich ausgeschlafen?

- Ja. - Claire ahnte bereits, wie es weitergehen würde. Liebevoll beobachtete sie, wie sich ihre Mutter am Fußende des Bettes niederließ.

Nora war schon beinahe sechzig, ihr schwarzes Haar wies jedoch noch keine grauen Strähnen auf. Ihr Gesicht wirkte fast so glatt und zart wie das ihrer Tochter. Darüber hinaus war sie ein unermüdli­ches Energiebündel. Seit Jedd Barretts Tod vor zehn Jahren gehörte ihre ganze Liebe dem Haus. Sie gab zudem Nachhilfestunden in Musik und Französisch, arbeitete im Garten, war Mitglied in zahllo­sen Vereinen und kümmerte sich um Melanie. Das Problem dabei war, daß sie gelegentlich versuchte, all diese Aktivitäten gleichzeitig auszuüben.

- Mir ist ein kleines Mißgeschick passiert - eröffnete Nora.

- Schlimm?

- Nun, ich wollte heute morgen Wasser im Kessel erwärmen. Leider bemerkte ich zu spät, daß ich das Wasser vergessen hatte. Der Boden des Kessels ist durchgebrannt. - Ängstlich wartete Nora auf die Reaktion ihrer Tochter, aber sie hätte wissen müssen, daß Claire sie niemals wegen solcher Dinge schalt. - Auch scheint mit der Kochplatte etwas nicht in Ordnung zu sein. Sie knistert jetzt so seltsam, wenn man sie anstellt.

- Ich werde sie mir anschauen - versprach Claire beruhigend.

- Gut. Und wenn du dann schon in der Küche bist . . . - Nora brach nervös ab.

Claire gähnte. Ein spitzer Kinderellenbogen stieß ihr unter der Bettdecke in die Rippen. Sie legte sich etwas bequemer hin und hob dabei leicht die Decke an, damit Melanie besser Luft bekom­men konnte.

- Was ist denn noch passiert? - wandte sie sich wieder an ihre Mutter.

- Die Messinglampe scheint kaputt zu sein.

- Die Messinglampe? Aus der Küche?

- Nein, die Stehlampe aus dem Wohnzimmer. Die Leitung ist mir aus Versehen in den Staubsauger gekommen. Ich wollte die Lampe in der Küche reparieren.

Claire verdrehte theatralisch die Augen.

- Ich habe das Gefühl, ich sollte jetzt schleunigst aufstehen!

- Ich will dich doch nicht aus dem Bett hetzen! - Nora schaute Claire an. - Schließlich sollst du ja heute Abend für deine Verabre­dung ausgeruht sein. Selten genug, daß du einen Abend für dich hast . . . Walter!

Ein riesiger Mischlingshund war jaulend ins Zimmer gelaufen und mit einem Satz auf das Bett gesprungen. Er hechelte, seine Augen starrten Claire angsterfüllt an. In der Feme ging eine Feuersirene.

- Keine Angst, es ist ja gleich vorbei - tröstete Claire den zitternden Hund.

- Hier geht es wieder einmal zu wie in einem Tollhaus! - klagte Nora. - Husch, Walter, sofort herunter von Claires Bett!

Das Tier vergrub den Kopf unter Claires Arm, als glaube es, sich dadurch unsichtbar machen zu können.

- Wenn ihr mich jetzt alle in Ruhe laßt, verspreche ich, sofort aufzustehen - schlug Claire gelassen vor. - Ich werde die Lampe und die Kochplatte reparieren. Dann gehe ich einkaufen und an­schließend mit dem Hund auf einen kurzen Spaziergang in den Park. - Bei den letzten Worten hob der Hund erwartungsvoll den Kopf. Sie nickte ihm zu. - Jawohl! Aber jetzt erst mal alle hinaus. Alle!

Es dauerte eine Weile, bis das Zimmer endlich leer war, aber etwas anderes hatte Claire auch nicht erwartet. Während sie aufstand, überlegte sie, wie einfach es wäre, unter diesem Dach ein Verhältnis zu haben. Bei dem ständigen Chaos würde niemand merken, wenn sie einen Mann abends mit nach Hause brächte. Schwierig war nur, einen Mann zu finden, dem es nichts ausmachte, von einer einfalls­reichen Vierjährigen, einer unheilverkündenden Mutter und einem jaulenden Hund geweckt zu werden. Schließlich gehörte zur Familie auch noch Sandra, Claires Schwester, und Melanies Mutter. Durch ihr mehr als nervöses Wesen verschlimmerte Sandra meist das allgemeine Durcheinander.

Barfuß ging Claire zum Fenster und stellte erfreut fest, daß es geschneit hatte. Sie liebte frischgefallenen Schnee, genauso, wie sie die beiden riesigen alten Eichen draußen im Hof und das kunstvolle schmiedeeiserne Gartentor liebte. In diesem Haus im Norden Chica­gos war sie aufgewachsen, und sie hing sehr daran.

Doch es wurde höchste Zeit, daß sie auszog und sich ein eigenes Heim aufbaute. Vor zwei Tagen war sie vierunddreißig geworden. Seitdem erfüllte sie eine eigenartige Ruhelosigkeit. Für eine Frau, die großen Wert auf Unabhängigkeit und Privatsphäre legte, mußte sie schon viel zu lange auf beides verzichten.

Nach ihrer Scheidung vor vier Jahren war sie wieder nach Hause gezogen. Im selben Jahr war auch Sandra zurückgekommen, ver­zweifelt und mit einem unehelichen Baby. Daß Claire schließlich zu Hause blieb, war weniger eine Frage der freien Entscheidung gewe­sen, sondern vielmehr eine Art Notwendigkeit. Claire wurde ge­braucht, sowohl von dem liebebedürftigen Kind, als auch von ihrer sich ständig in Nöten befindenden Mutter. Ganz zu schweigen von Sandra, die es sich zum Ziel gesetzt hatte, sich an allen Männern für das zu rächen, was ihr ein einziger angetan hatte.

Claire wurde von ihrer Familie und ihrem Beruf so in Anspruch genommen, daß ihr keine Zeit für männliche Bekanntschaften blieb. Erst an ihrem letzten Geburtstag war plötzlich die Ernüchterung gekommen. Wollte sie wirklich ihr ganzes Leben auf diese Weise verbringen? Ihre Familie konnte auch ohne sie auskommen, selbst wenn man ihr ständig das Gegenteil beteuerte.

Als Claire wenig später in die Küche trat, fiel alle Ruhelosigkeit von ihr ab. Sie nahm Melanie auf den Schoß und schälte ihr eine Banane. Während die Kleine aß, rief Claire den Elektriker wegen der Kochplatte an. All die Zeit über spielte das Radio dröhnende Rocksongs - Noras Lieblingsmusik.

Mit einer dampfenden Tasse Kaffee neben sich machte Claire sich dann daran, die Messinglampe zu reparieren. Nebenbei zupfte sie Walter bunte Klebebildchen vom Fell, mit denen Melanie ihn - ver­schönert“ hatte.

- Du brauchst ja ewig! - stellte die Kleine betrübt fest.

- Hör auf, die Geschäfte machen erst in einer Stunde auf!

- Wenn du schon einkaufen gehst, Kind, könntest du da nicht einiges aus dem Lebensmittelladen mitbringen? - meinte Nora.

Claire seufzte. Eigentlich hatte sie vorgehabt, eine Bluse für ihr weißes Winterkostüm zu suchen. Aber das konnte warten, wie so vieles andere auch. Ein Mann, zum Beispiel.

Steve hatte phantastisch ausgesehen, war liebevoll und geistreich gewesen. Claire hatte sich Hals über Kopf in ihn verliebt. In den zwei Jahren ihrer Ehe mußte sie jedoch erkennen, daß Steve sie zu sehr liebte. Er war eifersüchtig auf ihre Arbeit, ihre Familie und auf jeden Mann, der Claire öfter als einmal ansah. Daraus waren häßliche, schmerzliche Auseinandersetzungen entstanden, und Clai­re konnte es nicht fassen, daß etwas, das so schön begonnen hatte, so traurig enden konnte.

Ihre Beziehung war schön gewesen, jedenfalls bis zum Tag der Hochzeit. Mit der festen Bindung kam die Wende. Plötzlich wurde ihr Anspruch auf Privatsphäre von Steve mißverstanden. Er wollte immer alles von ihr wissen, sie konnte keine Minute mehr allein sein, ohne ihm dafür Rechenschaft ablegen zu müssen. Eines Nachts war es zu einem absolut lächerlichen Streit gekommen. Steve hatte in seiner grenzenlosen Eifersucht wissen wollen, ob Claires männliche Patienten sich bei den Untersuchungen ausziehen mußten oder nicht. Im Verlauf der Auseinandersetzung hatte er sie geohrfeigt. Das war das Ende ihrer Ehe gewesen.

Stets hatte Claire sich selbst für liebevoll und fürsorglich gehalten. Und obgleich sie ganz sicher war, alles Mögliche zur Rettung ihrer Ehe getan zu haben, fürchtete sie insgeheim, Steve könne recht gehabt haben mit seiner Behauptung, sie sei nicht geschaffen für die Verpflichtungen, die eine feste Bindung mit sich brächte.

So zog Claire es vor, mit ihrer Familie zusammenzuleben . . .

*

Fröstelnd trat Claire durch die Drehtür des Falk-Hochhauses. Sie streifte die Handschuhe ab und sah sich um. Das Gebäude war relativ neu und nur drei Häuserblocks von der Universitätsklinik entfernt. Der Marmorboden in der Eingangshalle und die schweren Kristalleuchter vermittelten einen Eindruck von Luxus und Eleganz.

So etwas sieht man nicht alle Tage, dachte Claire und lächelte ironisch. Ralph hatte auf einem verspäteten Geburtstagsessen bestanden.

Ob er sich aber ausgemalt hatte, was dies kosten würde, bezwei­felte Claire. Wenn er nicht ein so guter Freund gewesen wäre, hätte sie sicher abgesagt.

Während Claire auf den Aufzug wartete, zog sie den Mantel aus. Die automatischen Türen des Lifts öffneten sich schließlich vor ihr, doch Claire blieb wie versteinert stehen. Ihr Mund war plötzlich wie ausgetrocknet. Nervös biß sie sich auf die Lippe.

Diese dumme Klaustrophobie, dachte Claire verzweifelt. Wenn sie wenigstens einmal in einem engen Raum eingesperrt gewesen wäre, dann hätte sie diese Platzangst wenigstens verstehen können. Aber das war nie der Fall gewesen, und es gab keine sinnvolle Erklärung dafür. Plötzlich war diese Angst erstmals vor vier Jahren aufgetreten, zuvor hatte Claire niemals Probleme damit gehabt.

Sie sah an sich herab. Normalerweise zog sie das weiche, weiße Angorakleid immer an, wenn sie ihre Stimmung aufbessern wollte. Diesmal aber trug es nicht dazu bei.

Sei nicht kindisch, schalt Claire sich und holte energisch Luft. Entschlossen betrat sie die Aufzugskabine.

Die Panik kehrte zurück, sobald der Fahrstuhl sich in Bewegung setzte. Die unmöglichsten Katastrophenfilme, in denen Aufzüge eine verhängnisvolle Rolle gespielt hatten, tauchten vor Claires geistigem Auge auf.

Sie versuchte, ihre panische Angst unter Kontrolle zu bringen, doch es gelang ihr nicht.

Im zweiten Stock hielt der Lift an. Ein Mann im Smoking stieg zu, und vorübergehend war Claire von ihrer Furcht abgelenkt. Nein, sie hatte ihn nicht vergessen. Vielleicht, weil er in jener Nacht auf der Notstation auf so unrühmliche Weise ohnmächtig in ihre Arme gefallen war. Vielleicht aber auch, weil er einfach ein Mann war, den eine Frau nicht so schnell vergißt.

Jim wollte auf den Knopf für den dreiundzwanzigsten Stock drücken, hielt aber inne, als er sah, daß dies bereits geschehen war, und drehte sich um. Bei Claires Anblick leuchteten seine Augen erfreut auf. Anerkennend wanderte Jims Blick über ihre Gestalt, und plötzlich versprach dieser Tag, der so düster angefangen hatte, einen vielversprechenden Abschluß zu finden.

Sie war genauso, wie er sie in Erinnerung gehabt hatte. Dieses Gesicht mit den ausdrucksvollen dunklen Augen, den dichten schwarzen Wimpern, den sanft gewölbten Brauen und den frischen roten Lippen war nicht nur schön, sondern drückte auch Charakter aus. Am meisten beeindruckte Jim die Mischung aus Empfindsam­keit und Intelligenz, die dieses Gesicht widerspiegelte. Auch sah Claire aus, als ließe sie sich niemals unterkriegen, egal, was das Leben ihr bieten mochte. Schon immer hatten Jim Frauen gefallen, die sich zu behaupten wußten.

Aber das war nicht alles, was ihm gefiel. Die Farbe ihres Kleides hätte den Eindruck von mädchenhafter Unschuld vermitteln sollen, aber das Gegenteil war der Fall. Das Weiß bot einen reizvollen Kontrast zu ihrem schwarzen Haar und dem ebenmäßigen, zarten Teint. Der weiche Angorastoff schmeichelte ihrem Körper und ließ weibliche Rundungen ahnen. Und dann die Beine: wohlgeformte, schlanke Beine in zierlichen Lederpumps.

Warum habe ich mich damals nicht gleich um diese Frau geküm­mert? fragte sich Jim und verstand sich selbst nicht mehr. Er lehnte sich an die Kabinenwand und lächelte.

- So sehen Sie also ohne Arztkittel aus. Eigentlich sollte ich es Ihnen ja nicht sagen, aber Ihre Figur ist atemberaubend!

- Sehen Sie sich vor, ich habe Spritzen in der Handtasche - scherzte Claire mit ernster Miene.

Jim lachte.

- Apropos, Sie haben hervorragende Arbeit geleistet. Hier, meine Hand ist völlig geheilt. - Er hielt ihr die Handfläche hin, auf der nurmehr ein dünner rosa Strich zu sehen war. - Sind Sie gekommen, um sich das Unglücksmesser anzusehen?

- Wie bitte?

- Sie fahren doch ins - Top Hat“ im dreiundzwanzigsten Stock, oder?

- Ja, ich habe eine Einladung zu einem verspäteten Geburtstagses­sen - erklärte Claire lächelnd. - Mein Bekannter wartet oben auf mich. ­

Jim ließ sich nichts anmerken. Er war im südlichen Teil Chicagos in einem Armenviertel aufgewachsen und wußte aus Erfahrung, daß hinter jeder Ecke sich Schatten verbergen konnten. Für ihn waren Schatten kein Hindernis, sondern eine Herausforderung.

Wieder verspürte Claire in Jims Gegenwart das erregende Prik­keln, das sie schon bei der ersten Begegnung beunruhigt hatte. Eigentlich hätte er ihr wie ein Fremder vorkommen sollen, aber dem war nicht so. Allerdings hatte sie im Moment Schwierigkeiten, die Unterhaltung aufrechtzuerhalten. Die Angst vor der engen Kabine kehrte mit aller Macht zurück.

- Steht Ihnen dieser Freund sehr nahe?

Claire hörte Jims Frage wie durch einen dichten Nebel. Da der Aufzug in diesem Augenblick einen kleinen Ruck tat und in der dreiundzwanzigsten Etage hielt, antwortete sie nicht. Nur ein Gedan­ke erfüllte sie jetzt: So schnell wie möglich aussteigen. Aber die Türen öffneten sich nicht.

Jim runzelte die Stirn und drückte vergeblich auf den Knopf zum Türöffnen.

- Keine Sorge - sagte er leichthin. - Dieses Problem kennen wir schon, seit der Aufzug eingebaut wurde. - Er zog einen Schlüssel aus der Tasche und schloß damit ein kleines Fach über dem Schaltbrett auf. In seinem Innern befand sich ein Telefon.

Die Anweisungen, die Jim in den Hörer gab, vernahm Claire kaum. Sie schluckte krampfhaft und blickte sich nach einer Fluchtmöglich­keit um. Es gab nur einen kleinen Notausstieg an der Decke der Kabine.

Bilde ich mir das nur ein, oder wird die Atemluft tatsächlich knapper? dachte Claire entsetzt. Wie aus der Ferne hörte sie, daß Jim zu ihr sprach.

- Ich habe das dumpfe Gefühl, daß Sie vor Aufzügen eine ähnli­che Angst haben, wie ich vor Spritzen - stellte er trocken fest. - Ich versichere Ihnen, in fünf Minuten ist alles vorbei.

- Ja. - Sie spürte förmlich, wie die Farbe aus ihrem Gesicht wich. Doch, die Luft wurde tatsächlich knapper.

- Es ist ausreichend Luft vorhanden - beruhigte Jim sie, als hätte er ihre Gedanken gelesen. - Sie haben doch nicht Angst, oder?

- Natürlich nicht. - Jeder hätte ihm bestätigen können, daß sie durch nichts umzuwerfen war. Trotzdem wurden ihre Handflächen unangenehm feucht.

- Sie fallen mir doch nicht in Ohnmacht? - Mit einem einzigen Schritt war Jim bei Claire und packte sie an den Schultern. - Hören Sie mir überhaupt zu?

- Ja. - In gewisser Weise half seine Nähe. Krampfhaft versuchte Claire ihren Blick auf das blütenweiße Hemd vor sich zu konzentrie­ren. Sie spürte die Wärme, die von Jim ausging, und eine seltsame Schwäche befiel sie.

- Gleich sind wir frei. Der Aufzug besitzt ein Belüftungssystem für Fälle wie diesen. Zugegeben, der Lift hat manchmal seine Launen, aber gefährliche Mängel besitzt er nicht. Hören Sie mir zu?

- Ja - antwortete Claire abwesend.

Jim seufzte. Plötzlich ertappte er sich dabei, wie er mit der Hand ­über ihr Haar strich: Wollte er sie wirklich nur beruhigen, oder suchte er eine Ausflucht, sie zu berühren? Wie schwarze Seide wanden sich die Strähnen um seine Finger. Behutsam legte er Claire die Hand unter das Kinn und hob ihr Gesicht an. Wie sanft und verletzlich sie aussah. Er ahnte, daß sie ihre Verletzlichkeit nur selten offen zeigte.

Fragend blickte Claire ihn an. Sie fühlte sich willenlos, schläfrig und träge. Lag das daran, daß die Luft weniger wurde, oder daran, daß dieser Mann nicht aufhörte, sie anzusehen?

- Sagen Sie, müssen Sie manchmal unübliche Methoden anwen­den, um einen Patienten zu heilen?

Claire bemühte sich, den vollen Sinn dieser ungewöhnlichen Frage zu erfassen:

- Ja, sicher, warum?

- Ich suche nach einer Entschuldigung dafür, daß ich Sie jetzt küssen werde. Mir scheint, ich habe eine exzellente gefunden. - Langsam senkte Jim den Kopf, und Claire ließ es widerspruchslos zu, daß seine Lippen die ihren berührten. Sein Mund war weich, warm und verheißungsvoll. Claire brauchte nicht viel von Jim zu wissen, seine Lippen verrieten, daß er ein Meister der Verführung war. Im Grunde wollte sie jetzt auch nicht darüber nachdenken. Zu lange war es her, daß ein Mann sie so geküßt hatte. Verdrängte Gefühle erwachten in ihr. Claire konnte sie nicht beim Namen nennen, aber sie waren unglaublich stark. War es Einsamkeit? Sinnlichkeit? Der Wunsch, sich begehrt zu fühlen? Oder alles zusam­men?

Handtasche und Mantel rutschten zu Boden, a1s Claire Jim die Arme um den Hals legte. Augenblicklich wurde Jims Kuß kühner, fordernder. Claire spürte seinen erregten Körper an dem ihren und fühlte sich unbeschreiblich hilflos, beinahe ausgeliefert Ihr war, als existiere nur noch dieser eine Mann für sie. Und genau diesen Eindruck schien Jim ihr mit seinen Liebkosungen vermitteln zu wollen.

Ich muß dem ein Ende bereiten, und zwar sofort, ermahnte sich Claire. War ihr Verstand machtlos gegen das verführerische Spiel seiner Lippen, die so zärtlich waren und ihr Dinge versprachen, von denen sie nicht einmal mehr zu träumen wagte.

- Jim. - Atemlos löste sich Claire von ihm. Es wurde höchste Zeit, in die Realität zurückzukehren.

- Du erinnerst dich ja an meinen Namen - stellte er zufrieden fest. - Und die Farbe kehrt auch wieder in dein Gesicht zurück. Die Behandlung hat also geholfen. Ich habe nur völlig vergessen, gegen was die Behandlung helfen sollte! Würdest du mich bitte noch einmal küssen?

Als Antwort bot Claire ihm stumm die geöffneten Lippen, und seine Zunge tastete sich sanft in ihren Mund. Aber je länger der Kuß dauerte, desto mehr wurde Claire sich bewußt, daß Jim sich niemals mit Küssen zufriedengeben würde. Er wollte mehr, das spürte sie ganz deutlich. Sie war alt genug zu wissen, daß sie mit dem Feuer spielte. Dennoch war sie zu schwach, sich dagegen zu wehren.

Jims Hände glitten zärtlich über den weichen Stoff ihres Kleides und blieben auf ihren Hüften liegen. Mit einer bestimmten Bewe­gung zog er Claire an sich und preßte seinen Körper gegen den ihren.

Heißes Verlangen durchströmte Claire. Errötend wich sie zurück. Jim hatte sie tatsächlich dazu gebracht, für eine Weile alles zu vergessen. Hatte sie dieses Vergessen gesucht? Wollte sie wieder einmal von einem Mann berührt und liebkost werden? Wie schön mußte es sein, sich völlig dem Verlangen hinzugeben und zu spüren, daß man begehrt wurde.

Dies ist keine Entschuldigung dafür, daß ich meine Gefühle außer Kontrolle geraten lasse, ermahnte sich Claire im stillen. Schließlich bin ich nicht bereit dazu, die vollen Konsequenzen dafür zu tragen. Eine momentane Leidenschaft kann die schmerzlichen Erfahrungen der Vergangenheit nicht auslöschen. Schon einmal bin ich Opfer meiner Gefühle geworden.

Jims Atem ging unregelmäßig, sein Herz klopfte zum Zerspringen. Schon lange hatte es keine Frau mehr gegeben, die ihn derart faszinierte. Für eine Weile hatte er wirklich jedes Gefühl für Ort und Zeit verloren. Er hob die Hand und strich Claire mit einer zärtlichen, beruhigenden Geste das Haar aus der Stirn.

Unwillkürlich hob Claire den Kopf und sah Jim an. Leidenschaft sprach noch immer aus seinen Gesichtszügen, und Claire ahnte, daß Jim ein Mann war, der selten spielte, auch wenn er den gegenteiligen Eindruck zu erwecken versuchte. Niemals aber würde er mit sich spielen lassen.

Die Fahrstuhltür öffnete sich unerwartet. Nervös zuckte Claire zu­sammen, als eine männliche Stimme ertönte:

- Alles in Ordnung; Mr. Brannigan?

Jim bückte sich, hob Claires Tasche und ihren Mantel auf und reichte ihr beides. Dann wandte er sich dem neugierig blickenden Mann im Arbeitskittel zu.

- Wie oft muß dieser Fahrstuhl noch repariert werden, bis er endlich einwandfrei funktioniert? - erkundigte Jim sich schroff, um die Aufmerksamkeit des Mechanikers auf sich zu lenken. Claire sollte den sensationslüsternen Augen dieses Menschen nicht ausge­setzt sein.

- Wir dachten, wir hätten den Fehler schon beim letztenmal gefunden.

- Das war auch kein persönlicher Vorwurf. Trotzdem schlage ich vor, Sie bleiben jetzt hier und merzen den Fehler ein für allemal aus.

Jims Stimme duldete keinen Widerspruch. Die zärtliche Sanftheit, die Claire wenige Minuten zuvor darin gehört hatte, war verschwun­den.

Verwirrt verließ sie die Kabine und stolperte dabei. Sofort griff Jim nach ihrem Arm, um sie zu stützen.

- Der Dame fehlt doch nichts? - fragte der Mann vom Wartungs­dienst

- Der Dame geht es ausgezeichnet. Bitte warten Sie hier auf mich.

Jim führte Claire um die nächste Ecke, aus der Sichtweite des neugierigen Mannes. Augenblicklich verschwand der autoritäre Aus­druck von seinem Gesicht, er mußte schmunzeln bei Claires An­blick. Ihre Frisur war in Unordnung, der Lippens6ft verwischt

- In dieser Richtung geht es zu - Damen“. Dort kannst du dich ein wenig frisch machen. Glaub mir, du siehst zauberhaft aus, aber vielleicht möchtest du ein paar Spuren beseitigen, ehe du zu deiner Verabredung gehst.

Mit einem Schlag kehrte Claire in die Wirklichkeit zurück.

- Hören Sie, ich glaube, Sie haben etwas mißverstanden. - Absichtlich benutzte sie das vertrauliche Du nicht mehr.

- Nein. Ich weiß, was es heißt, wenn eine Frau meine Küsse erwidert. Bitte, bleiben wir doch beim Du. - Um Jims Lippen spielte ein schelmisches Lächeln. - Ich werde dafür sorgen, daß du und dein Bekannter einen besonders angenehmen Abend verbringen werdet.

- Moment mal, was soll das heißen? - fragte Claire irritiert.

Jim hatte sich schon umgewandt und ging, eine Hand in der Jackentasche, mit lässigem Schritt zu dem Mechaniker zurück.

3. KAPITEL

In der Damentoilette betrachtete Claire sich aufmerksam im Spiegel. Der Lippenstift war fort, dennoch leuchtete ihr Mund ungewöhnlich rot und wirkte leicht geschwollen. Und dann das Haar - von einer Frisur konnte nicht mehr die Rede sein. Auch hatte Claire das Gefühl, als trüge sie überall am Körper die Abdrücke von Jims Händen. Natürlich war das nur Einbildung; mochte sie selbst immer noch den Druck seiner Hände spüren, zu sehen war jedenfalls nichts davon.

Sorgfältig bürstete Claire sich das Haar und legte neues Make-up auf. Mit energischen Schritten verließ sie den, Raum. Ihr war zwar noch immer etwas schwindelig, aber allmählich wurde ihr Kopf wieder klarer. Beim Gedanken an das Vorgefallene schämte sie sich ein wenig, doch gleichzeitig empfand sie eine gewisse Erheiterung. Vier Jahre lang war sie enthaltsam gewesen. Vielleicht war es an der Zeit, daß jemand sie aus dem Dornröschenschlaf herausriß.

Ralph unterhielt sich mit dem Oberkellner, und Claire entdeckte ihn sofort, als sie das Lokal betrat. Obwohl Ralph ein Jahr jünger war als Claire, begann sein Haupthaar sich bereits stark zu lichten. In wenigen Jahren würde er wohl völlig kahl sein, jetzt erinnerte er Claire allerdings eher an einen liebenswerten, zotteligen Teddybär. Zur Feier des Tages trug er einen dunklen Anzug, der ausnahmsweise nicht zerknittert aussah. Ein freundliches Lächeln erhellte sein Gesicht, als Claire ihn herzlich umarmte.

- Ich dachte schon, du würdest überhaupt nicht mehr kommen!

- Und ich befürchtete, du würdest einen Rückzieher machen, sobald du die Preise gesehen hättest! - neckte Claire ihn fröhlich.

- Hör mal, wir feiern deinen Geburtstag. Wenn du das Lokal ausgesucht hättest, wären wir in einem Schnellimbiß gelandet!

- Was ist so schlimm daran? Der vierunddreißigste Geburtstag ist wirklich nichts Besonderes.

Der Kellner führte sie zu ihrem reservierten Tisch und reichte ihnen die goldgeränderten Speisekarten. Claire warf einen Blick hinein und sah dann über den Rand der Karte hinweg zu Ralph.

- Ich habe dir doch gesagt, wir hätten besser in einen Schnellimbiß gehen sollen! Du hast dich doch gerade erst in diese Praxis einge­kauft.

- Pst, kein Wort mehr! Bete lieber, daß nächste Woche möglichst viele Mütter ihre Kinder zu mir zum Impfen bringen!

Claire gab es auf. So war Ralph nun einmal, und sie fühlte sich immer ausgesprochen wohl in seiner Nähe. Seit zwei Jähren war er geschieden, und so gingen sie oft gemeinsam essen. Er hatte sich auf Kinderheilkunde spezialisiert, ein Gebiet, das auch Claire ungemein interessierte. Es bereitete ihnen großes Vergnügen, stundenlang darüber zu fachsimpeln.

Entspannt lehnte sie sich zurück und verbot sich, weiter an das Erlebnis im Fahrstuhl zu denken. Sie gestand sich ein, daß sie offenbar für zwanzig Minuten den Verstand verloren hafte; warum auch nicht. Es würde jedenfalls nicht wieder vorkommen. Jetzt wollte sie unbe­schwert den gemütlichen Abend genießen.

In nur einem Jahr hatte das „Top Hat“ es geschafft, zu einem der beliebtesten Restaurants Chicagos zu werden. Claire konnte verste­hen, weshalb. Die Speisekarte bot eine Vielfalt ausländischer Speziali­täten, griechische und persische Gerichte waren darauf ebenso zu finden wie französische und russische.

Die Inneneinrichtung allein war schon eindrucksvoll. Das Restaurant bestand aus mehreren Räumen. In einem befand sich eine Bar im alten englischen Stil. Eine Frau sang dort mit gefühlvoller Stimme Liebeslieder für die Paare, die sich auf der winzigen Tanzfläche zum Rhythmus der Musik bewegten. Ein zweiter Raum wirkte wie eine tropische Gartenanlage, in der selbst ein zierlicher Springbrunnen inmitten allerlei exotischer Gewächse nicht fehlte. Durch eine Schwingtür gelangte man von hier in ein kleines, italienisches Bistro.

Ralph hatte einen Tisch reservieren lassen in einem länglich geschnittenen Raum, von dem aus man einen Blick über den Michigansee hatte. Der flauschige Teppichboden war purpurrot, ebenso die Tischdecken, auf denen Kerzen in silbernen Haltern leuchteten, Durch die hohen Panoramafenster konnte man die Eisschollen auf dem nächtlich schwarzen See erkennen. Die Stadt selbst war nicht zu sehen, aber das war auch nicht nötig, denn all ihre Lichter spiegelten sich glitzernd auf der Wasserfläche wider.

Für Claire gab es keine Stadt auf der Welt, in der sie lieber hätte leben mögen als Chicago. Und daran würde sich wohl nie etwas ändern. In der State Street konnte man die elegantesten Theater und die schäbigsten Sexshops in friedlicher Koexistenz finden. Und in der Michigan Avenue war es durchaus möglich, in einem Geschäft Schuhe für sieben Dollar zu finden, zwei Häuser weiter welche für tausend­zweihundert Dollar. Unbedenklich konnte man in Chicago Tennis­schuhe zum Nerzmantel tragen. Alt und Jung bildeten in dieser Stadt keinen Gegensatz, genauso wenig wie Reich und Arm. Menschen aus den unterschiedlichsten Volksstämmen waren hier zu Hause. Nicht zuletzt bedeutete Chicago auch Musik: Jazz, Blues, Country, Klassik und Rock - Hauptsache Musik. Musik war das Herzblut dieser pulsierenden Großstadt.

- Nun, bist du aus deinen Träumen zurückgekehrt? - erkundigte Ralph sich einfühlsam.

Claire stützte das Kinn auf den Handrücken und wandte den Blick vom Fenster fort.

- Es tut mir leid, Ralph, ich war in Gedanken.

- Heute abend liegt ein eigenartiger Ausdruck in deinen Augen. Ich werde diese dumme Angst nicht los, du könntest eines Tages etwas so Unsinniges tun, wie dich zu verlieben. Was soll ich dann ohne meinen Eßpartner anfangen? - Ralph blickte Claire belustigt an.

- Keine Sorge, das ist nicht sehr wahrscheinlich.

- Bist du dir sicher? Manchmal habe ich den Eindruck, du hast eine ziemlich romantische Ader.

- Kein Arzt kann auf Dauer seinen Glauben an Romantik bewah­ren.

- Nanu, so zynisch?

- Nein, eher ernüchtert, - verbesserte Claire. - Im Grunde ist die Wirklichkeit gar nicht so übel, man muß nur das Beste aus ihr machen. Es gab einmal eine Zeit, da habe ich mich hinreißen lassen, Luftschlösser zu bauen. Das wird mir nie wieder passieren.

Der Kellner erschien und verneigte sich höflich.

- Der Besitzer meint, Sie würden vielleicht gern einen trockenen Weißwein als Aperitif zu sich nehmen. Eine kleine Aufmerksamkeit des Hauses, wenn Sie gestatten? - Er beugte sich vor und füllte die Gläser. Die angebrochene Flasche stellte er in einen silbernen Kühler auf dem Beistelltisch.

Nachdem der Kellner sich zurückgezogen hatte, nahm Ralph einen kleinen Schluck und sah Claire dabei erstaunt fragend an.

- Frag mich nicht, was das bedeutet - sagte sie leichthin. Aber ihre Ahnungslosigkeit war nur gespielt, jetzt konnte sie sich alles zusam­menreimen.

Es störte Claire keinesfalls, daß Jim der Eigentümer dieses Lokals war. Ihr kamen lediglich Zweifel, ob die Küsse im Fahrstuhl tatsächlich ohne Folgen und einmalig bleiben würden. So lange sie Jim nicht sah, konnte es ihr vielleicht gelingen, ihn zu vergessen. War er aber in ihrer Nähe, wurde dies unmöglich.

Noch immer sah Ralph sie forschend an.

- Ich glaube, ich habe den Besitzer vor geraumer Zeit auf unserer Station behandelt - erklärte Claire betont gelassen.

- Der Wein ist köstlich.

- Ja. Ralph, wir müssen wirklich nicht hierbleiben. Ich würde genausogern woanders hingehen. Durch die Praxis hast du doch jetzt größere Ausgaben, außerdem mußt du Unterhalt zahlen.

- Nichts da, wir bleiben - beharrte Ralph. - Mir gefällt es hier!

Claire hatte das Gefühl, als würde ihr der Boden unter den Füßen weggezogen. Jetzt blieb ihr nichts anderes übrig, als stark zu sein. Ralphs Blick ließ sie nicht los, und so zwang sie sich, zu plaudern. Dies klappte recht gut schon bald waren sie in einem beruflichen Gespräch vertieft.

Fast fühlte Claire sich wieder gänzlich entspannt, als sie hinter sich eine tiefe Männerstimme vernahm.

- Gestatten Sie? Jim Brannigan. - Er reichte Ralph die Hand. - Ich hoffe, der Aperitif hat Ihnen zugesagt. Ich möchte Ihnen gern ein paar unserer Spezialitäten bringen lassen. Schließlich sind wir ja alte Freunde, ist es nicht so? - Er wandte sich mit einem schelmischen Lächeln zu Claire. - Wie heißen Sie eigentlich mit Vornamen, Dr. Barrett?

- Claire.

- Alte Freunde? - Ralph sah skeptisch von einem zum anderen.

- Ich bin auf der Notfallstation ohnmächtig in Dr. Barretts Arme gesunken. Ich bezweifle, daß sie mir dies verziehen hat, ebensowenig wie einige andere Dinge. Deshalb dachte ich, ich könnte sie vielleicht mit einem Abendessen versöhnlicher stimmen! - Jim lachte jungenhaft, und Ralph stimmte mit ein. Nachdem auch er sich vorgestellt hatte, nahm Jim auf dem Stuhl zwischen ihnen Platz.

Ein Kellner erschien und servierte Austern, denen ein italienischer Salat folgte. Als Hauptspeise empfahl Jim Claire ein persisches Gericht, Lammfleisch mit Nektarinen.

Ralph wählte ein Saltimbocca, in Weißwein geschmortes Kalb­fleisch. Als das Essen aufgetragen wurde, unterhielten Jim und Ralph sich bereits wie alte Freunde. Dem aufgeschlossenen Ralph machte es von jeher Freude, neue Bekanntschaften zu schließen.

- Dieses Lokal ist große Klasse - lobte er. - Wie ich hörte, haben Sie erst vor einem Jahr eröffnet?

- Vor gut einem Jahr. Nächstes Jahr möchte ich etwas Ähnliches in San Francisco eröffnen, vorausgesetzt, das „Top Hat“ läuft weiterhin so gut.

- Ich wüßte nicht, weshalb es das nicht sollte: - Ralph trank genüßlich einen Schluck Wein. - Verzeihen Sie mir die Frage, wie sind Sie eigentlich zur Gastronomie gekommen? Claire schimpft immer mit mir, daß ich zu neugierig bin. Wahrscheinlich färbt der Umgang mit Kindern auf mich ab. Die fragen auch den lieben langen Tag, was ihnen gerade einfällt.

Jim lächelte.

- Ich nehme Ihnen die Frage nicht übel. Nun, ich bin über das Jurastudium darauf gekommen.

- Wie bitte?

- Schon während der Schulzeit habe ich nebenbei gearbeitet, auch mein Studium finanzierte ich so. Ich fing an als Koch in einem Schnellimbiß. Mit der Zeit arbeitete ich mich in bessere Lokale hoch. Irgendwann kam ich dann zu dem Schluß, ich könnte eigentlich selbst etwas auf die Beine stellen. Das „Ruby Plate“ war mein erstes eigenes Restaurant. Es geht immer noch gut, aber das „Top Hat“ ist mein Lieblingskind.

Claire hätte Jim am liebsten verboten, weiter zu reden. Er sah zwar Ralph an, aber sie spürte, daß er eigentlich zu ihr sprach. Obgleich sie sich nicht berührten, erregte sie Jims Nähe. Im Aufzug mochte es dafür eine Entschuldigung gegeben haben - sie war durch ihre Platzangst geschwächt gewesen - aber jetzt gab es keine Rechtfertigung für diese Reaktion. Schließlich war sie kein unreifer Teenager mehr, sondern eine erwachsene, vernünftige Frau.

Mitten in seinen Ausführungen über seine Tätigkeit als Kinderarzt bekam Ralph einen Hustenanfall.

- Pfeffer! - keuchte er und schnappte nach Luft.

Jim sprang auf und klopfte ihm auf den Rücken.

- Zuviel Pfeffer? Das darf nicht wahr sein! - Er winkte dem Kellner und sagte energisch: Bringen Sie dem Herrn bitte sofort etwas anderes.

- Das ist doch wirklich nicht nötig! - protestierte Ralph hustend.

- O doch. Hören Sie, Sie entspannen sich jetzt ein paar Minuten und genießen den Wein, bis das neue Essen kommt. In der Zwischenzeit erlaube ich mir, Ihnen Claire für einen Tanz im Nebenraum zu entführen, wenn Sie nichts dagegen haben.

- Nein, natürlich nicht, gehen Sie nur - beeilte Ralph sich, zuzustim­men, ehe ihn ein erneuter Hustenanfall schüttelte. Jims Finger schlossen sich um Claires Handgelenk, und sie folgte ihm.

*

Die Tanzfläche war überfüllt mit Gästen, die sich an diesem Freitag­abend entspannen wollten. Eine dunkelhäutige Blues-Sängerin in einem roten Satinkleid sang einschmeichelnde Lieder. Als Jim am Rand der Tanzfläche stehenblieb und sich Claire zuwandte, machte diese keine Anstalten zu tanzen. Steif stand sie ihm gegenüber und blickte ihn eiskalt an.

- Das war Absicht!

- Was denn? - Jim blickte sie unschuldig an.

- Der Pfeffer in Ralphs Essen.

- Claire, ich habe wie ein Besessener daran gearbeitet, meinem Restaurant einen einwandfreien Ruf zu verschaffen. Glaubst du tatsächlich, ich würde diesen aufs Spiel setzen für einen Tanz, um den ich dich ohnehin gebeten hätte?

Einen Moment lang zögerte Claire, und diese Unschlüssigkeit nutzte Jim aus.

Er legte ihr die Arme um die Taille und bewegte sich zum Rhythmus der Musik.

- Ich muß zurück - beharrte Claire kläglich.

- Nein, ein Tanz ist erlaubt.

Claire blieb stehen.

- Jim, wenn ich mit einem Mann ausgehe, dann verlasse ich das Lokal auch mit ihm. Ich bin dir nur hierher gefolgt, weil ich dir etwas sagen muß. Ich weiß, du hast mein Benehmen im Fahrstuhl mißverstanden, du konntest gar nicht anders.

Wie hilflos sie sich fühlte. Und tanzen konnte sie auch nicht. Jim nahm sie fester in den Arm, um es ihr leichter zu machen, seinem Rhythmus zu folgen. Er hatte geahnt, daß er den Trick mit dem Pfeffer niemals würde zugeben dürfen. Er war auch nur auf diese Idee gekommen, als ihm klargeworden war, daß Claire ihn den ganzen Abend über ignorieren wollte.

- Nun komm, Claire. Dein Ralph hat wirklich nichts gegen diesen einen Tanz. Der Hustenanfall war ihm unangenehm. Deshalb wird er dankbar sein, wenn wir ihn für einige Zeit allein lassen. ­

- Das ist nicht wahr - entgegnete Claire trotzig.

Vielleicht war es wirklich nicht wahr, Jim wollte es nicht auf einen Streit ankommen lassen. Er lockerte etwas den Druck seiner Arme und tanzte schweigend mit ihr weiter.

Lorene, die Sängerin, warf ihm verführerische Blicke zu. Jim wußte schon lange, daß sie einem Verhältnis mit ihm nicht abgeneigt war. Gleich nach seiner Scheidung hatte er viele kleine Abenteuer gehabt. Allmählich war ihm jedoch bewußt geworden, wie wenig ihm solche Affären gaben.

Wenn man es ihm auch nicht ansah, er war in Liebesangelegenhei­ten genauso mißtrauisch wie Claire. Ihre Augen jedoch, ihr Lachen, ihre frische, natürliche Art hatten ihn gefangen genommen, und dies zu einem Zeitpunkt, als er schon fast glaubte, so etwas sei nicht mehr möglich. Er war es gewohnt, im Leben alle erdenklichen Risiken einzugehen. Dennoch hatte er schon lange nicht mehr den Mut gehabt, seine wirklichen Gefühle offen zu zeigen, aus Angst, verletzt zu werden. Obwohl Jim instinktiv spürte, daß dieses zarte Wesen in seinem Arm die Macht besaß, ihn ernsthaft zu verletzen, wollte er sie nicht gehen lassen.

Das Licht in der Bar war schummerig und anheimelnd. Andere Paare stießen beim Tanzen gegen sie, Claire nahm es nicht wahr. Ihre Wange ruhte an Jims Schulter. Sanft, aber nachdrücklich hatte er ihren Kopf dorthin geschoben.

Einem Mann wie Jim war sie noch nie begegnet. Mit Ralph wußte sie umzugehen, auch mit anderen, die oberflächlich mit ihr zu flirten versuchten. Sogar die Enttäuschung ihrer Ehe hatte Claire irgendwie in den Griff bekommen. Dieser Mann hingegen brachte sie gänzlich aus der Fassung.

Ich fühle mich nur körperlich zu ihm hingezogen, beruhigte sie sich in Gedanken. War das nicht verständlich? Schließlich hatte sie lange allein gelebt.

Doch als Jims Hände sanft über ihren Rücken strichen, keimte in Claire der Verdacht, all ihre Gründe für die Ablehnung seien nur fadenscheinige Vorwände. Jim erweckte Gefühle in ihr, die neu und ungewohnt waren. Die Art, wie er sie berührte, und wie er sie ansah, ließen sie erahnen, was Liebe sein konnte.

- Wir werden uns wiedersehen - flüsterte er in ihr Haar.

- Nein.

- Und wir werden uns lieben - fuhr er leise und beschwörerisch fort. - Ich begehre dich, Claire, stärker, als je eine andere Frau vor dir.

Hilflos schüttelte sie den Kopf. Die Musik verstummte, und Claire versuchte, sich aus seinen Armen zu lösen.

- Noch einen Tanz, bitte!

- Nein!

Claire wich seinem Blick nicht aus. Jim konnte ihre innere Span­nung förmlich spüren. Behutsam legte er Claires Hände wieder auf seine Schultern. Mit einem Seufzer barg sie den Kopf an seiner Halsbeuge. Jim schloß die Augen und strich zärtlich mit den Lippen über ihr Haar.

Während des Tanzes fühlte sich Claire, als habe sie jemand auf hoher, stürmischer See ausgesetzt, und Jim wäre der einzige Halt, der sich ihr bot. Die Welt um sie her versank. Es existierten nur noch zwei Körper, die sich in vollkommener Harmonie im Rhythmus der Musik bewegten. Claires Verlangen wuchs mit jeder Sekunde. Ja, ich begehre diesen Mann, gestand sie sich schließlich ein.

Bald würde das Lied zu Ende sein. Warum sollte sie dieses berauschende Gefühl nicht unbedenklich genießen? Sie waren in einem Restaurant, viele Leute umgaben sie. Hier konnte nichts Ernstliches passieren.

- Was ist mit dir? - Jim küßte Claire sanft auf die Stirn. - Du machst den Eindruck, als hättest du gerade das Feuer entdeckt.

- Vielleicht? - lächelte sie.

- Entweder, du nimmst dich jetzt ein wenig zusammen, oder ich werde dich vor all diesen Leuten lieben! - Als Claire ihn nur anlächelte, schüttelte er den Kopf. - Du willst es nicht anders!

- Das würdest du nie tun. - Claire sah, wie das amüsierte Lächeln aus Jims Gesicht verschwand, und ihr wurde klar, daß sie einen Fehler begangen hatte. Ehe sie noch etwas sagen konnte, beugte er sich über sie und küßte sie.

Leidenschaftlich preßte Jim ihren Körper an sich. Sein Kuß war wild und fordernd.

Die Musik, die Menschen um sie herum, alles versank im Nichts. Nein, dies war kein Spiel mehr, und dieser Mann war ganz gewiß kein leichtzunehmender Flirtpartner.

Als er Claire endlich freigab, wirkte sein Gesicht wie versteinert, seine Augen funkelten erregt. Es schien Jim gleichgültig zu sein, ob man sie beobachtete oder nicht. Die Musik war unterdessen ver­stummt, Claire hatte es gar nicht bemerkt. Die Sängerin war ver­schwunden, die Tanzenden hatten die Bar verlassen und waren zu ihren Tischen zurückgekehrt.

Mit einem Ruck riß Claire sich von Jim los. Ein einziger Gedanke erfüllte sie: Flucht. Wie gehetzt eilte sie zum Tisch zurück, wo Ralph sie strahlend erwartete.

- Du kannst dir nicht vorstellen, wie phantastisch ich gegessen habe! Ich schwöre dir, es waren bestimmt sieben verschiedene Gänge, so etwas habe ich noch nie gesehen. Ich wollte an sich auf dich warten, aber der Kellner ließ sich nicht beirren und brachte immer neue Gerichte.

- Ralph, ich habe entsetzliche Kopfschmerzen. - Claire bemühte sich, ruhig zu wirken. - Es ist mir schrecklich unangenehm, aber würde es dir etwas ausmachen, mich nach Hause zu bringen?

- Natürlich nicht, Liebes. Um Himmels willen; was hast du nur? Du klagst doch sonst nie über Kopfschmerzen.

Wie rührend er doch war. Nur dauerte dies alles für ihre Begriffe viel zu lange. Der Kellner weigerte sich, eine Rechnung zu bringen, und erklärte, sie seien Gäste des Restauranteigentümers gewesen. Ralph wollte die Einladung zuerst nicht annehmen und diskutierte eine Weile mit dem Kellner. Claire, schon im Mantel, stand daneben und sah sich immer wieder nervös um.

Aber Jim war fort, spurlos verschwunden. Erst als sie das Lokal verlassen hatten, konnte Claire wieder einigermaßen frei durchatmen. Ralph willigte ohne zu zögern ein, die Treppe nach unten zu benutzen.

Nicht ohne Grund trägt Chicago den Beinamen „die windige Stadt“. Hier ist es niemals völlig windstill. Auch als Claire und Ralph aus dem Gebäude traten, pfiff der Wind eisig durch die Straßen und blähte ihre Mäntel bauschig auf. Lachend kämpften sie dagegen an, bis sie endlich im Auto saßen.

- In dieses Restaurant müssen wir wieder einmal gehen - bemerkte Ralph und fügte schelmisch hinzu: - Besonders schön wäre es natürlich, wenn wir jedesmal auf Kosten des Besitzers essen könnten.

Claire schwieg. Am liebsten hätte sie ihm gesagt, daß der Preis für das Essen in ihren Augen ziemlich hoch gewesen war.

In dieser Nacht fand sie keinen Schlaf. Rastlos ging sie in ihrem dunklen Schlafzimmer auf und ab. Ihre Mutter und Melanie schliefen in den angrenzenden Zimmern. Sandra war noch nicht da, sie kam selten vor Mittemacht nach Hause.

Alles schien so normal. Der bleiche Wintermond, der durchs Fenster schien, die Bücherregale an den Wänden, der ordentlich aufgeräumte Kleiderschrank und die Parfümflaschen auf der Frisierkommode. Alles war, wie es immer gewesen war.

Nur das große Messingbett blieb leer. Claire wollte sich nicht hinlegen, weil sie wußte, daß sie keinen Schlaf finden würde.

Wäre es wirklich so schlimm, ein Verhältnis mit Jim zu haben? fragte sie sich. Aber warum bin ich dann vor ihm weggelaufen?

Tief in ihrem Inneren wußte sie, weshalb. Jim brauchte es ihr nicht mit Worten zu sagen, daß er sie mit Leib und Seele besitzen wollte. Im Vergleich zu ihm war sogar Steve harmlos gewesen.

Nein, sagte sie sich, so weit wird es nie wieder kommen. Nie wieder wollte sie sich an einen Mann verlieren und von ihm beherrscht werden. Nie wieder würde sie ihr Ich aufgeben: Vielleicht würde sie eines Tages ein Verhältnis eingehen. Aber nie und nimmer mit Jim.

4. KAPITEL

- Guten Morgen. - Claire stand müde auf der Türschwelle und schaute in die Küche. Ihre Mutter und ihre Schwester waren am Herd und brieten Speck.

- Guten Morgen! - Nora strahlte. - Wie war das Abendessen mit Ralph?

- Prima, danke.

- Wo wart ihr denn? - wollte Sandra wissen.

Claire ging zum Tisch und schenkte sich eine Tasse Kaffee ein. In groben Zügen berichtete sie vom vergangenen Abend. Im Nebenzim­mer dröhnte der Fernseher, und Walter schlief, alle viere von sich gestreckt, auf dem Küchenfußboden. In dieser Atmosphäre fiel es Claire leichter, nicht an den großen, dunkelhaarigen Mann zu denken, der noch immer in ihrem Kopf herumspukte.

- Warst du gestern abend mit Roger weg? - fragte Claire ihre Schwester.

Nora kam Sandra mit der Antwort zuvor.

- Sie kam um vier Uhr nach Hause. Ich habe es gehört.

Sandra raffte seufzend ihren Morgenrock über der Brust zusammen, trank einen Schluck Kaffee und wandte sich an Claire.

- Ganz im Gegensatz zu dem, was Mutter vermutet, habe ich die Zeit bis vier Uhr damit verbracht, mit ihm Schluß zu machen.

- Ich weiß nicht, ob ich das als gute oder schlechte Nachricht werten soll - bemerkte Nora spitz. - Bei deinem Männerverschleiß in den letzten Jahren, wirst du wohl bald Chicagos männliche Bevölkerung durchhaben.

- Dann kann ich ja immer noch nach New York ziehen.

- Könntet ihr mit euren Streitigkeiten nicht wenigstens bis nach dem Frühstück warten? - Claire verdrehte mit gespielter Verzweiflung die Augen. Obwohl sich die drei Frauen äußerlich sehr ähnlich sahen, waren sie von der Wesensart her absolut verschieden. Sandra und Nora gerieten - immer wieder wegen Meinungsverschiedenheiten aneinander:

- Du solltest endlich aufhören herumzutändeln - fuhr Nora unbeirrt fort. - Such dir lieber einen Ehemann!

- Ehemänner gibt es in Hülle und Fülle. Viel schwieriger ist es, einen Alleinstehenden zu finden!

- Sandra! Du hast doch nicht etwa...

- Nein, sie hat nicht - fiel Claire ihrer Mutter ins Wort und warf ihrer Schwester einen bedeutsamen Seitenblick zu.

- Glaubt ihr nicht, daß heute ein besonders schöner Tag für den Zoo ist? - Melanie stand in der Tür und sah ihre Mutter mit graßen, hoffnungsvollen Augen an. Ihr Auftauchen verhinderte die Fortsetzung des Streitgesprächs.

Sandra lachte freudlos und meinte:

- Hör mal, Dummchen, es ist doch mitten im Winter!

Der Hoffnungsschimmer in Melanies Augen erlosch.

- Das weiß ich doch - erwiderte sie leise. - Aber ich habe gehört, daß es im Zoo einen neuen Pandabären gibt. Der soll größer als ein Hochhaus sein. Den wollte ich besuchen.

Sandra stand auf und sah ihre kleine Tochter unwillig an.

- Du weißt genau, daß das nicht stimmt. Ich habe dir erst vor kurzem gesagt, du sollst nicht dauernd solche Geschichten erzählen. Und jetzt ab, geh wieder fernsehen.

Enttäuscht ließ Melanie die Schultern hängen und gehorchte. Als Sandra aus der Küche ging, um sich anzuziehen, tauschten Nora und Claire einen vielsagenden Blick.

- Mit ihren Affären habe ich mich abgefunden - begann Nora resigniert - Sie ist schließlich erwachsen und wird früher oder später von allein zur Vernunft kommen. Aber ich kann nicht mit ansehen, wie sie mit dem Kind umgeht.

- Sie hat nicht halb so viele Affären wie du denkst, Mutter. Ist dir schon aufgefallen, daß sie sich stets mit Männern trifft, die blonde Haare und blaue Augen haben, genau wie Melanie?

- Also mit Männern, die wie Greg aussehen. Seit er sie verlassen hat, ist sie nicht mehr dieselbe. Früher war Sandra stets lustig und lange nicht so selbstsüchtig wie jetzt. Ach, du liebe Güte! - Nora war mit dem Ellenbogen an die Zuckerdose gestoßen. In unzählige Scherben zerbarst das Porzellan auf dem Küchenboden.

- Laß nur, ich bringe das in Ordnung. - Claire holte Schaufel und Besen und fegte die Scherben auf. - Und was das Kind betrifft, Mutter, so kümmern wir uns eben um Melanie.

- Aber wir können niemals die eigene Mutter ersetzen.

- Das ist mir klar. - Claire richtete sich auf. - Dennoch habe ich daran gedacht, Melanie eine Zeitlang von Sandra zu trennen.

- Wie bitte? - Nora sah sie überrascht an.

- Es ist nicht Melanies Schuld, daß sie ihrem Vater ähnlich sieht - erklärte Claire ruhig. - Wenn ich sie für geraume Zeit zu mir nehme, wird Sandra vielleicht einsehen, was sie falsch macht: Es soll ja nicht für immer sein, obwohl ich auch dazu bereit wäre, wenn es nicht anders geht. Ich dachte daran, für ein Jahr in eine andere Stadt zu ziehen. Angebote von Krankenhäusern habe ich genug. Ich würde wieder den Nachtdienst übernehmen, müßte allerdings während meiner Abwesenheit einen Babysitter für Melanie engagieren. Dafür wäre ich aber tagsüber immer bei ihr.

- Wie lange trägst du dich denn schon mit diesem Gedanken?

- Seit Wochen, ich weiß nicht mehr genau. Warum?

- Weil es dir ähnlich sieht, dich so um andere zu sorgen - sagte Nora liebevoll. - Dennoch möchte ich nicht, daß es so weit kommt.

- Ich auch nicht. Schon meiner Schwester zuliebe nicht.

- Dir zuliebe auch nicht - verbesserte Nora. - Du würdest selbst dein letztes Hemd geben, um jemandem zu helfen: Egal, wie groß das Opfer für dich auch sein mag.

- Soll das ein Scherz sein? Hast du nicht gemerkt, daß ich mich in den letzten Jahren in eine selbstsüchtige alte Jungfer verwandelt habe?

Mit kläglichem Gesicht kam Melanie erneut in die Küche.

- Wo ist Mami?

- Ich weiß es nicht Jedenfalls hatte ich vor, nach dem Frühstück in den Zoo zu gehen. Vorausgesetzt, ich finde jemanden, der mich begleitet - bemerkte Claire leichthin.

- Ich! Ich begleite dich! - bot Melanie prompt an.

- Es ist aber ganz schön kalt dort - warnte Claire.

- Das macht nichts.

- Über dem Reden haben wir das Frühstück völlig vergessen! - stellte Nora fest. - Möchte jemand Rühreier zum Speck?

Die Stimmung im Haus wandelte sich schlagartig. Singend machte sich Melanie daran, den Tisch zu decken. Walter stimmte laut heulend in ihr Lied mit ein. Nora drehte das Radio lauter, um ihr Lieblingslied besser hören zu können, und schlug dann ein paar Eier in die Pfanne. Claire ging in ihr Zimmer und zog sich ein Paar alte Jeans und einen warmen Pullover an. Als sie zurück in die Küche kam, war der Lärm so ohrenbetäubend, daß sie beinahe allesamt das Läuten der Türglocke überhört hätten.

Über den Hund hinweg eilte Claire zur Tür und öffnete sie. Einen Augenblick lang verschlug es ihr die Sprache, als sie Jim, in Jeans und einer dicken Schafspelzjacke, vor sich sah. Seine Wangen waren von der Kälte gerötet, und in seinem Haar glitzerten ein paar Schneeflok­ken. Lächelnd begrüßte er sie.

- Wer ist denn da? - rief Nora aus der Küche.

- Wer ist denn da? Wer ist denn da? - echote Melanie in fröhlichem Singsang.

Jim wandte den Blick nicht von Claire.

- Ich dachte mir, am Samstagmorgen habe ich sicher die beste Chance, dich zu Hause anzutreffen - erklärte er ruhig. - Claire, ich mußte dich wiedersehen.

Mit neugierigen Augen erschien Nora hinter Claire. - Um Himmels willen, kommen Sie herein. Es ist ja eiskalt draußen! Wir trinken gerade Kaffee. Claire, steh nicht so herum!

Mechanisch trat Claire beiseite und ließ Jim eintreten. Sekunden­lang empfand sie fast Mitleid mit ihm. Er ahnte ja nicht, was es bedeutete, ein Freund der Familie zu sein.

Nora schlug für Jim drei Eier in die Schüssel, schob ihm einen Stuhl hin und begann, über Gott und die Welt zu plaudern.

Artig reichte Melanie Jim die Hand und hockte sich im Schneidersitz auf den freien Stuhl neben ihm. Sie bot Jim großzügig ihre Puppe zum Spielen an und fragte ihn, ob er wisse, daß sie im Garten einen lebenden Bären großzögen. Walter erhob sich gähnend, setzte sich neben Jim und legte ihm vertrauensvoll seinen Kopf auf das Knie.

Nein, dachte Claire und schüttelte kaum merklich den Kopf, meine Familie ist wirklich nicht zurückhaltend. Doch warum war Jim gekom­men? Bei der Erinnerung an den vergangenen Abend wurde es ihr ganz heiß. Warum sah er sie nur so an? Hatte er vergessen, daß ihre Mutter und Melanie anwesend waren?

Claires Herz schlug vor Glück über Jims Anwesenheit schneller, ihr Verstand hingegen schalt sie, weil sie ihm die Tür nicht vor der Nase zugeschlagen hatte.

Höflich versuchte Jim, den Lärm in der Küche zu übertönen.

- Ich habe vor, Claire heute morgen zu entführen, sofern sie nichts anderes vorhat - gestand er Nora.

- Tut mir leid - wandte Melanie prompt ein. - Tante Claire geht heute mit mir in den Zoo. Sie hat es hoch und heilig versprochen!

- Nein, das hat sie nicht, Melanie - verbesserte Nora freundlich, aber bestimmt. - Tante Claire kann ein andermal mit dir in den Zoo gehen. Wenn du unbedingt heute dorthin willst, wirst du mit mir vorlieb nehmen müssen.

- Sie hat es mir aber versprochen, Omi. Nicht, Claire?

- Tante Claire heißt das - tadelte Nora, dann stieß sie einen Schreckenslaut aus. - Himmel, ich habe die Eier vergessen!

- Bitte setz dich, Mutter - befahl Claire freundlich, aber bestimmt. Sie verquirlte die Eier, ließ sie in der Pfanne stocken und teilte sie in gleichgroße Portionen auf.

Während des Frühstücks fiel ihr auf, wie problemlos Jim sich in den Familienkreis einfügte. Es hatte fast den Anschein, als gehörte er schon immer dazu. Claire beobachtete, wie Jim zuerst Melanie, dann Nora und schließlich auch die später hinzugekommene Sandra mit seinem Charme bezauberte.

- Hast du das gehört? - unterbrach Melanie freudig Claires Gedan­kengang. - Jim kommt mit uns in den Zoo!

- Mr. Brannigan, mein Kind - korrigierte Nora: - Und wenn du jetzt nicht sofort stillsitzt und brav bist, dann wirst du schön zu Hause bleiben, kleines Fräulein!

- Er mag Pandabären, wußtest du das Tante Claire? Und Affen mag er auch. Außerdem sagt er, daß es für den Zoo nicht zu kalt ist.

- So, sagt er das? - Claire begegnete Jims Blick. Ihre Augen blickten ihn wachsam und abschätzend an. Vielleicht! lautete ihre Botschaft.

Jim lehnte sich erst einmal zurück und lächelte zufrieden.

*

Der Lincoln-Park war fast menschenleer. Wahrscheinlich ziehen es die meisten Leute vor, an diesem kalten Februarmorgen zu Hause zu bleiben, dachte Claire und blickte zu der warm eingemummten Melanie hinauf, die auf Jims Schultern ritt.

- Jetzt zu den Löwen - , forderte Melanie, während sie das Pinguin­haus verließen.

- Nein! die Löwen sind am anderen Ende des Parks, Jim!

- Ich hoffe, ihr werdet sie vor ihrem elften Lebensjahr in eine Klosterschule schicken. - Mit gespielter Verzweiflung wandte sich Jim an Claire. - Sie hat schon jetzt einen Augenaufschlag, der den stärksten Mann zu Wachs in ihren Händen werden läßt.

- Hast du schon einmal daran gedacht, sie abzusetzen und sie selbst laufen zu lassen? - schlug Claire kurz und bündig vor.

- Aber sie möchte doch gar nicht laufen!

- Jim trägt mich gern! - verkündete Melanie von oben. - Stimmt's nicht, Jim?

- Aber selbstverständlich, Herzchen. Hast du vielleicht eine Ahnung, wieviel du wiegst?

- Genau siebenundvierzighundert Pfund.

- Dis dachte ich mir fast.

Bis ein Uhr hatten sie den Park bis in die letzte Ecke abgelaufen, jedes im Winter geöffnete Tiergehege besichtigt. An einer Bude kaufte Jim Hamburger und Popcorn für alle, und sie setzten sich zum Essen auf eine Bank.

Danach tollte Melanie im Schnee herum, und Jim verfütterte das restliche Popcorn an die Tauben. Träge und schläfrig lehnte Claire sich zurück; viel zu bald kam Melanie und drängte zum Weitergehen.

Während des ganzen Spaziergangs hatte Jim keinerlei Anstalten gemacht, sich Claire zu nähern. Man hätte meinen können, er hätte nichts anderes im Sinn gehabt, als ein vierjähriges Kind zu unterhalten. Als sie den langen Rückweg zum Auto antraten, blickte Jim Claire verschmitzt an.

- Siehst du? - fragte er.

- Was soll ich sehen?

- Wie harmlos ich bin! Habe ich dich auch nur einmal angerührt? Aber wie lange muß ich dieses gute Benehmen noch durchhalten?

Wider ihren Willen mußte Claire lachen.

- Noch eine Stunde. Würdest du uns bitte nach Hause fahren? Dann könnte ich mich schnell umziehen, bevor ich zur Arbeit gehe.

- Uns bleibt also nur noch eine Stunde für das, was zwischen uns zu klären ist - Jim blieb stehen und zupfte Claires Schal zurecht. Ernst sah er ihr in die Augen.

Claires Zuhause hatte Jim förmlich umgeworfen. Sein Plan war gewesen, sie einzuladen und mit ihr irgendwo Kaffee zu trinken. Statt dessen war er in einem Chaos gelandet. Aber mit welcher Anmut Claire dieses Chaos beherrschte! Sie kam ihm vor wie eine ruhige Insel im stürmischen Meer. Seine Insel.

Seit Jahren war er nicht mehr verliebt gewesen. Er wußte nicht, ob er über seine gegenwärtige Gefühlslage lachen oder weinen sollte. Wie fest hatte er sich vorgenommen, seine Gefühle für Claire wieder unter Kontrolle zu bringen. Es war ihm nicht gelungen.

Zu Beginn des Spaziergangs hatte Claire versucht, still und zurück­haltend zu sein. Lange hatte sie das nicht durchgehalten; dazu war sie viel zu fröhlich veranlagt. Wie sehr er es liebte, wenn sie lachte, wenn sie mit ihrer kleinen Nichte herumalberte und wenn sich ihre Wangen und die kleine Nase in der Kälte rot färbten.

Nein. Claire war viel zu natürlich, um sich lange hinter einer Maske verstecken zu können. Und mit dergleichen Natürlichkeit würde sie Teil seines Lebens werden.

- Was müssen wir denn klären? - unterbrach Claire Jims Gedanken­gang.

- Daß ich nicht darauf aus bin, nur eine Nacht mit dir zu verbringen, falls du das glauben solltest.

Claire sah sich hastig nach dem Kind um.

- Keine Angst, sie hat nichts gehört. Sie sucht vierblättrige Kleeblät­ter für mich.

- Im Februar?

- Deshalb wird sie ja auch einige Zeit brauchen. - Jim lachte und hakte sich bei Claire ein. Mit ausgestrecktem Arm wies er auf den Zwerg im roten Schneeanzug in der Ferne. - So ein Kind möchte ich auch haben. Genau dieses Kaliber.

- Du bist alt genug, bereits ein halbes Dutzend Kinder zu haben.

- Ich war zwar fünf Jahre verheiratet, aber meine Frau wollte keine Kinder haben.

- Jim, ich will dich nicht aushorchen.

- Still. Ich bin dabei, dein Vertrauen in mich zu vergrößern! - Er legte ihr den Finger auf den Mund und fuhr fort: - Nancy und ich heirateten noch während meines Studiums. Die Vorstellung, einen Rechtsanwalt zu heiraten behagte ihr sehr, die Ehe mit einem angesehenen Restaurantbesitzer schien für sie das Höchste zu sein. Das Problem war, ich konnte nicht dauernd so sein, wie sie mich haben wollte. Mir macht es Spaß, viel Geld zu verdienen: In meiner Freizeit, zu Hause, trinke ich dennoch lieber Bier als Champagner, dann ziehe ich ein Erdnußbutterbrot einem Steak vor. Und ich trage Jeans mit Löchern. Ich glaube, ich habe Nancy das Leben zur Hölle gemacht Gut, sie war ein bißchen versnobt, was an sich kein Verbrechen ist. Nur ich habe mich so benommen, als wäre es eines. Ich war einfach zu jung, zu dickköpfig und wahrscheinlich viel zu gefühllos.

- Wirst du jetzt still sein? - schalt Claire lächelnd. - Das geht mich doch gar nichts an.

Behutsam nahm er ihr Gesicht zwischen die Hände und drehte es so, daß er ihr in die Augen sehen konnte.

- Ich will kein Luxusge­schöpf, so etwas hatte ich schon einmal. Genauso ist es mit kurzlebi­gen Affären, auch diese Phase habe ich hinter mir. Was ich will, Claire, ist eine Frau, mit der ich reden kann. Die mit mir lacht, mit mir streitet - ­und trotzdem am nächsten Tag noch bei mir ist. Ich will eine Frau, in deren Gegenwart ich auch mal schweigen kann. Verstehst du, was ich meine?

- Ja - war alles, was sie darauf erwidern konnte.

- Keine Spielchen, Claire. Ich will nicht mit dir spielen. Hörst du?

- Ja.

Jim seufzte und tippte ihr sanft auf die Nasenspitze.

- Was noch wichtiger ist, glaubst du mir auch?

- Was ich glaube, ist, daß du mir eine Menge Kopfzerbrechen bereiten wirst

- Sehen wir uns am Mittwoch, zum Mittagessen?

Ihre Einwilligung bedeutete, daß sie ihm endgültig Zutritt zu ihrem Leben gewährte, das wußte Claire. Sie betrachtete Jims Gesicht, als könne sie darin eine Antwort auf alle Fragen der Zukunft finden.

- Wieviel Zeit habe ich zum Überlegen?

- Ganze drei Sekunden!

- Na schön, ein Mittagessen - stimmte sie leicht gereizt zu. Schelmisch blickte Jim sie an. - Da hinten ist Melanie. Laufen wir um die Wette?

- Wie bitte? - Für Claire kam der Themawechsel zu abrupt.

- Komm, ich, will sehen, ob du gut in Form bist!

Natürlich gewann Jim den Lauf auf Grund seiner langen Beine mit großem Vorsprung. Er legte einen Arm um Claire, nahm Melanie an die Hand, und gemütlich schlenderten sie zum Auto.

Während der Heimfahrt versuchte er nur einmal mit Claire zu sprechen. Sofort plapperte Melanie dazwischen und erzählte eine ihrer schier endlosen, erfundenen Geschichten. Und dabei blieb es.

Jim parkte genau vor dem Haus. Stürmisch verabschiedete sich Melanie von ihm und rannte ins Haus, um Nora von ihren Erlebnissen zu berichten. Claire blieb mit Jim am Auto stehen.

- Wenn dich unser Haushalt nicht zu sehr einschüchtert, bist du herzlich auf einen Kaffee eingeladen, Jim. Ich habe zwar nur noch eine halbe Stunde Zeit, aber ich denke, etwas Heißes könnten wir beide gut vertragen.

- Vielen Dank, aber Kaffee möchte ich nicht.

Noch ehe er die Arme nach ihr ausstreckte, wußte Claire, was er wollte. Er zog sich die Handschuhe aus und umfing ihr Gesicht mit den Händen. Dann spürte sie seine kalten Lippen auf den ihren.

Die Umgebung um sie herum schien in einem Meer von Empfin­dungen zu versinken: die alten Häuser mit ihren verschneiten Vorgär­ten, die kahlen Bäume, deren Äste in der Kälte knackten, und die bleiche Wintersonne mit ihrem wässrigen Schein. Claire legte die Arme um Jims Hals und ließ sich ganz von ihren Gefühlen beherr­schen. Kälte und Einsamkeit waren wie weggeblasen, nichts schien mehr wichtiger als zu lieben und geliebt zu werden.

Wieder war es, als könne Jim ihre Gedanken lesen.

- Ich glaube, mit dir würde die Liebe auch im Schnee Spaß machen - raunte er gegen ihre halbgeöffneten Lippen.

- Da wäre ich mir nicht so sicher.

- Doch, wir würden uns gegenseitig warm halten.

- Jim, meine Mutter ist zu Hause. Ich bin sicher, sie beobachtet uns.

- Na und? Von mir aus kann die ganze Nachbarschaft zusehen. - Seine Lippen hinterließen eine heiße Spur auf ihrem Hals, liebkosten ihr Ohr und wanderten schließlich zu ihrem Mund zurück. Suchend glitt Jims Hand unter ihren Mantel, und Claire spürte, wie ihre Knie nachzugeben drohten.

Sie hatte sich vorgenommen, niemals ein Verhältnis mit diesem Mann anzufangen.

Doch sie erkannte jetzt, daß sie diesen Vorsatz nicht würde aufrechterhalten können. Sie war auf dem besten Weg, sich erneut Kummer einzuhandeln. Und dies nur wegen der vagen Hoffnung, Jim könne anders als die meisten Männer sein. Vielleicht war er der Mann, den sie lieben konnte und der sie wiederliebte. Der Mann, der seine Interessen nicht über die ihren stellte. Wer weiß, vielleicht hatte sie diesmal Glück?

Die Mütze rutschte Claire vom Kopf und fiel hinab in den Schnee; sie bemerkte es nicht. Sie spürte nur Jims warmen Atem auf ihrer Haut.

- Das täte ich nicht, wenn ich du wäre - zwitscherte ein Stimmchen neben ihnen und ließ sie auseinanderfahren. - Meine Tante mag so etwas nicht - teilte Melanie Jim sachlich mit.

- Was mag sie nicht, Kleines?

- Wenn außer mir sie jemand auf diese Weise küßt. Tante Claire sagt, solche Küsse seien das einzig Wahre, wenn man sich ganz toll lieb hat. Aber damit meinte sie nur mich.

- Melanie, geh sofort zu Großmutter - befahl Claire streng.

Das Kind nickte, tat einen Schritt auf das Haus zu und blieb stehen. Ernst wandte es sich an Jim.

- Ich wollte es dir ja nur sagen, weil ich dachte, du müßtest das wissen.

- Lieb von dir. Danke, Kleines.

Das Knallen der Haustür verriet ihnen, daß sie jetzt wirklich allein waren. Jim betrachtete Claire aufmerksam.

- Mir scheint, Melanie gab mir soeben deutlich zu verstehen, daß es schon lange keinen Mann mehr in deinem Leben gab.

Claire lächelte.

- Du weißt doch; daß Melanie dauernd irgendwel­che Geschichten erzählt. Sie ist außerordentlich phantasievoll.

- Wie lange, Claire?

- Wenn du noch einen Kaffee haben möchtest, mußt du dich jetzt entscheiden - lenkte sie schroff ab.

- Ich sehe dich also Mittwoch zum Mittagessen.

Jim stieg ins Auto und fuhr davon. Reglos sah Claire ihm eine Weile nach. Ein Schauer überlief sie. Jim wußte schon viel zuviel von ihr, und das bereits nach so kurzer Zeit Sie hingegen kannte ihn noch nicht lange genug, um ihm Vertrauen zu schenken. Dabei wünschte sie sich nichts, wenn sie ehrlich war, sehnlicher als das.

5. KAPITEL

- Claire, ist das nicht reizend? - rief Nora vom Wohnzimmerfenster her.

- Was denn? - Claire kam aus ihrem Zimmer und befestigte soeben einen ihrer leuchtendroten Ohrclips.

- Jim ist da!

Wie angewurzelt blieb Claire stehen.

- Das kann doch nicht sein, es ist erst Viertel nach elf!

- Er ist es aber. Du solltest bloß mal das Auto sehen, einfach hinreißend!

Jim ist schon da, und ich habe noch nicht einmal Schuhe an! dachte Claire und eilte davon, um die eleganten schwarzen Pumps zu holen. Ob sie in dem weißen Kostüm mit der schwarzen Satinbluse zu förmlich angezogen war? Sicher; die roten Ohrclips lockerten das Ganze ein wenig auf. Andererseits, was sollte sie sonst anziehen, wo sie nicht einmal wußte, wohin Jim mit ihr gehen wollte!

- Ich gehe schon - bot Nora an. - Dann hast du noch ein, zwei Minuten mehr Zeit.

Claire nickte dankbar. Sie hörte, wie Jim ihre Mutter begrüßte, schlüpfte in die Schuhe und griff nach dem Mantel. Durch den Nachtdienst und die wenigen Stunden Schlaf hatte sie nicht viel Zeit gehabt, über die Verabredung zum Mittagessen nachzudenken und nervös zu werden. Sie war etwas verärgert, daß Jim zu früh gekommen war. Doch als er sie jetzt mit einem strahlenden Lächeln empfing, konnte sie ihm nicht mehr böse sein. Er half ihr in den Mantel, und sie verabschiedeten sich von Nora.

Auf dem Weg zum Wagen betrachtete Claire Jim von der Seite. Er trug eine sportliche, dunkelgraue Kombination, die an jedem anderen Mann bieder gewirkt hätte. Bei ihm war jedoch das Gegenteil der Fall, dunkle Farben schienen auf geheimnisvolle Weise seine Männlichkeit besonders hervorzuheben, sie verliehen ihm etwas Sinnliches. Dazu paßte auch dieser Blick seiner durchdringenden blauen Augen.

Jungenhafte Begeisterung sprach aus Jims Gesicht, als sie das Auto erreichten. Claire spürte, wie stolz Jim auf diesen Wagen war und bemerkte scherzhaft:

- Wie konntest du es übers Herz bringen, dieses Prachtstück dem Straßenschmutz auszusetzen?

- Es ist ein Oldtimer, ein Sedan aus dem Jahr 1935.

- Ah! - staunte Claire und setzte eine Kennermiene auf.

- Er hat den ganzen Winter über in der Garage gestanden. Heute dachte ich mir, ihr solltet einander kennenlernen. Weißt du, das ist deine einzige ernsthafte Konkurrenz!

Vermutlich hat Jim stundenlang überlegt, wie er mir feinfühlig mitteilen kann, daß er zur Zeit nicht gebunden ist, dachte Claire amüsiert. Aber für solche Überlegungen war jetzt nicht der richtige Zeitpunkt. Trotz der Kälte lief sie gemächlich um den Wagen herum und bewunderte wortreich dessen windschnittige Form, die blitzenden Chromteile und die aparte, silbergraue Lackierung.

- Ich bin zutiefst beeindruckt - beendete sie die Begutachtung.

Jim brach in schallendes Lachen aus. Es war nicht zu übersehen, daß Claire nicht die mindeste Ahnung von Autos hatte.

- Komm, du erfrierst mir sonst noch. Steig lieber ein! - Aufmerksam hielt er ihr die Tür auf. - Schön, daß du kein Spielverderber bist.

Erleichtert ließ Claire sich in den weißen Ledersitz sinken und wartete auf Jim. Er setzte sich neben sie, und steckte den Schlüssel ins Zündschloß. Dann beugte er sich zu ihr hinüber und gab ihr einen Kuß.

- Guten Tag, Claire! - Es war nur ein kurzer Kuß, aber er hatte es nicht länger abwarten können. Sie gefiel ihm heute einfach zu gut. - Hör mal, ich hatte meine Einwilligung nur für ein Mittagessen gegeben! - erinnerte sie ihn beiläufig.

- Ja, leider.

- Was sagtest du?

- Ach nichts! - Lange hatte Jim überlegt, wo er Claire hinführen könnte. Einerseits wollte er sie am liebsten ganz für sich allein haben, andererseits sollte sie sich auch hundertprozentig wohl fühlen.

*

Vor einem schäbigen Gebäude, das dringend einen neuen Anstrich benötigte, hielt Jim an und parkte das Auto. Claire sah sich neugierig um und entdeckte ein Schild mit der Aufschrift „Shar-Su`un“.

- Heb dir dein Urteil auf, bis du das Lokal von innen gesehen hast - bat Jim und half ihr aus dem Wagen. Er führte sie ins Innere des Hauses, nahm ihr den Mantel ab und bückte sich, um die Schuhe auszuziehen. - Das ist hier üblich - erklärte er.

Claire folgte seinem Beispiel, und fast im selben Moment erschien ein kleinwüchsiger Asiate in schwarzem Kimono. Er bat sie, ihm zu folgen.

Soweit sie erkennen konnte, war das Haus in mehrere kleine Säle unterteilt, Tische und Stühle allerdings waren nirgens zu sehen.

Der Mann führte sie eine schmale Treppe hinauf und blieb dann mit einer Verbeugung vor einer großen, geschnitzten Tür stehen.

Einen Moment lang zögerte Claire, dann verbeugte sie sich eben­falls. Der Mann lächelte sie freundlich an und öffnete die Tür.

Der Anblick, der sich Claire beim Eintreten bot, verschlug ihr den Atem. Mit einemmal fühlte sie sich in eine andere Welt versetzt.

Der kleine Raum war mit goldfarbenem Teppich ausgelegt, dicke, goldene Kissen lagen auf dem Boden um einen niedrigen, schwarzen Lacktisch herum.

Ein Wandgemälde mit Sonnenaufgang und goldgefiederten Schwalben gaben dem Raum Tiefenperspektive. In einer Ecke breitete ein Bonsai seine zierlichen Äste über einen winzigen, indirekt beleuch­teten Springbrunnen aus. Trotz der Enge des Raums spürte Claire keine Beklemmung.

- Gefällt es dir?

- Es ist zauberhaft - Anmutig ließ sie sich auf einem Kissen nieder. Jim folgte ihrem Beispiel. Lächelnd beobachtete Claire, wie er versuchte, seine langen Beine unterzubekommen. Schließlich machte er es sich im Schneidersitz dicht neben ihr bequem und sah sie an. Verlegen blickte sie zur Seite. Sie hatte sich vorgenommen, das gemeinsame Essen in unbefangener, zwangloser Stimmung zu genie­ßen, und dabei sollte es auch bleiben.

- Hast du soviel Vertrauen zu mir, daß ich für dich 'mitbestellen kann?

- Nie und nimmer! - Claire hatte schon einmal japanisch gegessen; roher Fisch gehörte nicht zu ihren Lieblingsgerichten.

- Nanu, keinen Mut? - neckte Jim sie.

Der Kellner trug lautlos die georderten Gerichte auf und wartete im Hintergrund, um zu sehen, ob sie mit allem zufrieden waren. Genauso leise wie er gekommen war, zog er sich dann wieder zurück.

Claire hatte sich für ein Standardessen entschieden, von dem sie wußte, daß sie nichts falsch machen konnte. Neugierig betrachtete sie die phantasievoll arrangierten Speisen, die vor Jim standen.

- Hier, probier wenigstens einmal. - Jim hielt ihr einen Bissen hin.

- Was ist das denn?

- Wird nicht verraten. Ein kleines Risiko wirst du eingehen müssen!

Zögernd kostete sie. Zu ihrer Überraschung mußte sie zugeben, daß es vorzüglich schmeckte. Jim schmunzelte und schob seinen Teller näher zu ihr.

- Du scheinst auf den Geschmack zu kommen - stellte er zufrieden fest.

- Allerdings! Aber nun sag mir bitte, was das ist!

Er ließ sich nicht überreden, statt dessen fing er an, von sich und seinem Leben zu erzählen. Er sprach freimütig und offen, und Claire hörte interessiert zu.

Als sie fertig gegessen hatten und der Tee serviert wurde, lehnte Jim sich behaglich an die Wand zurück.

- Wer hätte gedacht, daß dir Krakenfleisch so zusagt? - staunte er.

- Ich habe dir fast alles weggegessen - gestand Claire schuldbewußt.

- Und das mit großem Appetit - erwiderte er vergnügt.

Claire hörte schon gar nicht mehr richtig zu. Sie war in Gedanken noch viel zu sehr mit dem beschäftigt, was er ihr erzählt hatte...

Jim war in einem Chicagoer Armenviertel aufgewachsen. Seine Mutter war fortgelaufen, noch ehe er zur Schule kam, und sein Vater hatte mit der Arbeit nicht viel im Sinn. Mit zehn Jahren hatte Jim angefangen in einem Schnellimbißlokal zu arbeiten, er räumte die Tische ab und wusch das Geschirr. Auf diese Weise konnte er sich wenigstens einigermaßen ernähren.

Es war ein langer, mühseliger Weg gewesen vom kleinen Tellerwä­scher bis zum erfolgreichen Restaurantbesitzer. Jim hatte nicht viel darüber gesagt, genug jedoch, um Claire ahnen zu lassen, daß er sich im wahrsten Sinne des Wortes hatte durchboxen müssen. Ohne Zweifel, seinen Aufstieg hatte er nur seiner Zähigkeit und seiner grimmigen Entschlossenheit zu verdanken.

Claire vermutete, daß Jim bisweilen sehr einsam war, und empfand Mitgefühl und Sympathie für ihn. Sie hütete sich jedoch, das zu zeigen. Schließlich hatte er ihr seine Geschichte nicht erzählt, um ihre Sympathie zu gewinnen. Er wollte etwas ganz anderes von ihr, und jeder Blick von ihm verriet, was das war.

Lag es an der unwirklichen Atmosphäre dieses Raums, oder an dem Gefühl, sich mit Jim allein in einer anderen Welt zu befinden, daß sie genau das gleiche wollte wie er?

Sie sehnte sich danach, sich an ihn zu schmiegen, die einsame Vergangenheit abzuschütteln und die tröstliche Wärme des Augen­blicks zu genießen.

- Du hast die besondere Gabe, mich zum Erzählen zu bringen - stellte Jim ruhig fest.

- Ich höre dir gern zu. - Claire schenkte ihm eine weitere Tasse Tee ein.

- Auch ich möchte dir zuhören!

- Was soll ich denn erzählen?

- Claire! Das weißt du ganz genau. - Jim nahm ein Kissen; hielt es an die Wand neben sich und bedeutete Claire, näher zu rücken und sich anzulehnen.

Einen kurzen Augenblick lang zögerte sie noch, folgte dann jedoch der Aufforderung.

- Willst du eine kurze Zusammenfassung meines Lebens?

- Für den Anfang wird das genügen.

- Mein Leben verlief ganz anders als das deine, Jim. - Claire setzte ihre Tasse ab. - Ich habe es immer leicht gehabt: Mir hat es nie an Liebe gefehlt, und alles, was ich brauchte, stand mir stets zur Verfügung. Mein Vater war Professor an der hiesigen Universität, ich habe ihn sehr geliebt. Sein Tod war die härteste Belastungsprobe in meinem Leben. Ich kann mir nicht vorstellen, daß mich jemals wieder etwas so treffen wird.

Jim zog ein Bein an und stützte den Ellenbogen auf das Knie, um sie besser ansehen zu können.

- Und dein Medizinstudium? War das immer einfach für dich?

- Nein - gab Claire lächelnd zu. - Aber es war mein Herzenswunsch. Darum nahm ich alle Schwierigkeiten gern in Kauf.

- Wolltest du schon immer Ärztin werden?

- Frag nur meine Mutter! Schon mit vier Jahren brachte ich eine Taube mit gebrochenem Flügel nach Hause. Beharrlichkeit - die manchmal sogar an Starrsinn grenzt - ist eine Familieneigenschaft der Barretts - erklärte Claire ironisch. - Wenn wir uns einmal etwas vorgenommen haben, bringt uns so schnell nichts und niemand davon ab.

Jim konzentrierte sich einen Moment lang ganz auf den sanften Ton ihrer Stimme. Ein leichtes Zögern schwang darin mit, Claire schien es nicht gewöhnt zu sein, über sich selbst zu sprechen.

- Du bist ziemlich sparsam - bemerkte er schließlich.

- Weshalb?

- Wo bleibt der Rest deiner Lebensgeschichte? Zum Beispiel die Erlebnisse aus deiner unmittelbaren Vergangenheit. - Er streckte den Arm aus und zog sie mit absoluter Selbstverständlichkeit an sich.

Claire schloß die Augen. Das ist eine ganz normale, freundschaftliche Geste, sagte sie sich. Hier sitzen zwei Menschen beieinander, die sich nach einem guten Essen entspannen, nichts weiter. Dennoch beunruhigte sie die Wärme seines Arms, die sie durch den dünnen Stoff ihrer Bluse spürte. ­

Bevor ihre Gedanken in eine unerwünschte Richtung abschweifen konnten, schlug Claire die Augen auf. Verwundert stellte sie fest, wie lange sie sich nun schon in diesem winzigen Raum aufhielt, ohne daß sie sich eingeengt fühlte.

- Tag für Tag flickst du Leute zusammen, und verdienst dir deinen Lebensunterhalt damit, Claire. Du bringst sie wieder auf die Beine. Ich habe dich im Umgang mit deiner Familie beobachtet, in gewisser Weise tust du dort das gleiche. - Er hob sacht ihr Kinn an und sah ihr in die Augen. - Schon in jungen Jahren habe ich gelernt, Risiken ins Auge zu sehen. Ich habe keine Angst, einen Kampf oder auch materielle Dinge zu verlieren, denn diese Dinge haben nichts mit Gefühlen zu tun. Du hingegen läufst täglich Gefahr, einen Teil deiner selbst zu verlieren, weil du dich um Menschen kümmerst.

- Nein, so ist das nicht, Jim.

- Dann sag mir, wie es ist.

Nachdenklich sah Claire Jim an. Er hatte einen ganz besonderen Blick, wenn er etwas von einem wollte. Man konnte nicht anders, man mußte ihm ungeteilte Aufmerksamkeit schenken. So auch jetzt. Zwar strich er ihr zärtlich über das Haar, aber in seinen Augen war etwas, das keine Ausflüchte zuließ.

Jim wollte teilhaben an ihren persönlichen Problemen. Da sie noch nicht vertrauensvoll genug war, über sich selbst zu sprechen, begann Claire von Sandra zu erzählen. Wahrscheinlich interessierte ihn das nicht sonderlich, aber es war die einzige Art, ihm zu zeigen, daß auch sie nicht unfehlbar war und wie sehr sie darunter litt, wenn sie nicht helfen konnte.

- Vor fünf Jahren verliebte Sandra sich in einen Mann namens Greg Barker. Sie begann damals in einer Werbeagentur zu arbeiten, und Greg war ihr Chef. Als man ihm eines Tages einen Posten im Osten des Landes anbot, ließ er sie ohne zu zögern sitzen und ging. Sie war im dritten Monat schwanger.

- Wußte er das?

Claire schüttelte den Kopf.

- Sandra sagte, es sei schon davor zu Ende gewesen. Er liebte sie nicht, auch war längst eine andere Frau im Spiel. Sandra hat sich das Ganze mehr als nur zu Herzen genommen, sie ist daran zerbrochen.

- Inwiefern?

- Sie geht unbewußt nur Beziehungen mit Männern ein, die so aussehen wie Greg. Auch an Melanie, die ihrem Vater sehr ähnlich sieht, läßt sie ihre Frustration aus. - Claires Blick trübte sich. - Nicht körperlich, dazu wäre sie nie imstande. Aber seelisch. Sie schenkt dem Kind keine Beachtung, keine Liebe, keine Zärtlichkeit. Mutter und ich versuchen, dies so gut wie möglich wettzumachen. Aber wenn sich Sandra nicht ändert, sehe ich keinen anderen Ausweg, als Melanie eine Zeitlang von zu Hause fortzunehmen. Im Ernst, ich habe schon darüber nachgedacht, woanders hinzuziehen und Melanie mitzuneh­men.

Ohne ein Wort zu sagen; strich Jim Claire über die Wange. Sie sah ihn offen an.

- Du machst dir ein falsches Bild von mir, wenn du denkst, ich könnte anderen Menschen wirklich helfen. Ich habe nicht einmal eine Ahnung, wie ich meiner eigenen Schwester helfen kann. Manchmal möchte ich sie schütteln, bis sie zur Vernunft kommt, dann wieder nur tröstend in die Arme nehmen.

Claire schwieg kurze Zeit.

- Ich gehe niemals leichtfertig ein Risiko ein, Jim. Menschen sind wie durch unsichtbare Bande aneinander geknüpft. Beschäftigst du dich mit einem, so ziehst du automatisch einen anderen mit hinein. Ich könnte mich auf eine harte Auseinander­setzung mit Sandra einlassen, aber dann würde sie dies an Melanie auslassen. Es ist genau wie bei meiner Arbeit: wenn ich einen Patienten behandele, muß ich mir exakt über die einzelnen Körper­funktionen im klaren sein. Denn sonst heile ich vielleicht eine Sache und schädige damit gleichzeitig eine andere.

- Weißt du zufällig den Namen der Firma, für die Greg arbeitet?

- Wie bitte?

Claire war noch viel zu sehr damit beschäftigt, ihm zu erläutern, daß sie nicht so risikofreudig war wie er, auch nicht, was Gefühlsangelegenheiten betraf. Aber sie wollte ihn dennoch zumindest an einem Teil ihres Lebens teilhaben lassen.

- Weißt du den Namen der Firma? - wiederholte Jim.

- Irgendetwas mit Fankin oder so. Warum?

- Ganz einfach - erklärte Jim freundlich. - Du hast absolut recht, wir sind in verschiedenen Welten aufgewachsen. In meiner ist es üblich, sich unerträglichen Situationen zu stellen, und sie zu bekämpfen. Eine andere Wahl gibt es nicht. Ich kann nicht dafür garantieren, ob dies Melanie zugute kommen wird, aber zumindest für deine Schwester ist es immens wichtig, diesen Mann wiederzusehen. Sie muß endlich über diese Sache hinwegkommen, wie, das ist einerlei. Soll ich Greg für euch finden?

- Ich weiß nicht, ob das so einfach geht - zögerte Claire.

- Wir werden sehen.

Ja, er würde es versuchen. Greg Barker interessierte ihn dabei überhaupt nicht: Jim wollte Claire beweisen, daß es immer lohnte, sich dem Leben zu stellen.

Nachdenklich nahm Jim Claires Hand, drehte die Innenfläche nach oben und folgte mit dem Zeigefinger den Linien.

- Ich erkenne eine sehr lange Lebenslinie: Sie gehört einer Dame, die bereit ist, ausführlich über andere Menschen zu sprechen, aber niemals über sich selbst. Wir werden uns darum kümmern müssen. Aha, die Gesundheitslinie ist ebenfalls recht lang.

Er sah auf.

- Das wäre schön.

Mit ernster Miene fuhr Jim fort, aus Claires Hand zu lesen.

- Du hast als Kind ziemlich oft Schläge bekommen, stimmt's?

- Sag mal, gehören neben den Iren auch Zigeuner zu deinen Vorfahren?

Jim nickte und warf Claire einen strafenden Blick zu, weil sie ihn unterbrochen hatte.

- Sie waren wohl allesamt verdient, die Schläge. - Energisch hinderte er sie daran, die Hand zusammenzuballen. - Ich finde sogar, es hätten noch ein paar mehr sein können.

- Deine Deutungen sind etwas ausgefallen, Jim - stellte Claire ironisch fest

- Du wirst unzählige Menschen retten. Du magst elegante, hochhak­kige Schuhe. Du hast wunderschöne Beine.

- Sag mal, wie lange betreibst du das Handlesen schon?

- Viele, viele Jahre, mein Kind. - Er zog unwillig die Brauen zusammen. - Aber ich brauche Ruhe, um mich konzentrieren zu können!

- Verzeihung.

Zärtlich strich Jim über den Puls an Claires Handgelenk

- Nach deinem Abitur bist du die ganze Nacht aus gewesen.

- Stimmt nicht! Da hatte ich Grippe!

- Ja, jetzt sehe ich es - korrigierte Jim sich augenblicklich. - Du bist nicht die ganze Nacht aus-, sondern aufgewesen! Jeder kann sich mal irren.

- Selbst wenn man das mit berücksichtigt, bist du ein ganz schöner Scharlatan!

- Habe ich da irgendwelche Beschwerden gehört?

- Natürlich nicht, mein Herr.

Jim ließ die Hand los und blickte Claire tief in die Augen.

- Ich sehe da einen Mann - begann er langsam. - Einen Mann, der dir sehr weh getan hat.

Ihr Lächeln erstarb.

Claire hätte nicht sagen können, was in ihr vorging, aber auf einmal war die seltsame Platzangst wieder da. Jim spielte nicht mehr, er wußte genau, worauf er hinaus wollte. Er wollte viel zuviel wissen, zu einem viel zu frühen Zeitpunkt.

Das Gefühl, von einem Mann in die Enge getrieben zu werden, kannte Claire nur zu gut Dieser Mann wollte sich nicht mit ihrer Liebe allein zufrieden geben, sondern auch noch von ihrer Seele Besitz ergreifen. Benommen ließ sie den Kopf nach vorn sinken.

- Claire!

- Es war ein Fehler, mit dir hierherzukommen.

Sie griff nach ihrer Handtasche und zwang sich, Jim in die Augen zu sehen. Sie war sehr blaß, das Lächeln wollte ihr nicht recht gelingen.

- Es tut mir leid - sagte sie sanft - Mehr, als du ahnen kannst. Glaub mir das, Jim.

- So warte doch!

- Ich danke dir für die Einladung.

Es gelang Claire, aus dem Raum zu flüchten, ehe Jim aufstehen konnte. Atemnot befiel sie, während sie durch die schmalen Gänge hastete. Sie hörte seine Schritte hinter sich, aber er konnte sie nicht einholen. Deutlich wurde ihr bewußt, wie lächerlich sie sich benahm, aber sie war nicht imstande sich gegen ihre Panik zu wehren.

Das grelle Tageslicht blendete sie schmerzhaft, als sie ins Freie trat Sie hielt das erste Taxi an, kletterte hinein und schlug schnell die Tür zu. Das Auto fuhr los; Claire sah sich nicht mehr um.

*

Normalerweise war es mittwochs abends relativ ruhig auf der Notfall­station, aber dieser Tag schien eine Ausnahme zu sein. Allein bis einundzwanzig Uhr waren die Verletzten eines Auffahrunfalls zu verarzten, ein Beinbruch einzurichten, ein Brandopfer und ein stark fieberndes Kind zu versorgen. Claire blieb die ganze Zeit über gelassen und ruhig. Wie immer verdrängte sie ihr Privatleben aus ihren Gedanken, während sie arbeitete. Keiner hätte vermuten können, daß sie noch vor wenigen Stunden in völliger Panik aus einem Restaurant geflohen war. Janice wäre es zuerst aufgefallen, wenn Claire sich irgendwie anders benommen hätte, und sie hätte das auch gesagt Aber nichts dergleichen geschah.

- Jetzt geh endlich etwas essen - forderte sie Claire wie immer auf.

Die Cafeteria für das Personal befand sich auf der anderen Straßenseite im gegenüberliegenden Gebäude. Claire eilte hinüber, ging zur Selbstbedienungstheke und steuerte einen Tisch in der Ecke an, an dem bereits drei Kollegen saßen.

Geistesabwesend nahm sie ihr Essen ein. Ihre Gedanken wanderten zurück in den kleinen verwunschenen Raum mit den weichen Kissen und dem Mann, der sich in ihr Leben drängte. Eine innere Stimme riet ihr, ihn anzurufen und ihm zu sagen, daß es ihre Schuld war, nicht seine.

Der Piepser in ihrer Brusttasche riß Claire aus ihren Grübeleien, sie wurde dringend gebraucht. Die Kollegen nickten ihr mitfühlend zu, als sie die Hälfte des Essens stehenließ und eilends die Cafeteria verließ.

Janice wartete schon auf sie, zum erstenmal schien sie ernstlich nervös zu sein. Sie zog Claire in das Behandlungszimmer und wies auf die stöhnende Frau auf der Liege. Ihr Bauch war stark gewölbt.

- Es war keine Zeit mehr, sie in den Kreißsaal zu bringen. Der Kopf des Babys ist bereits zu sehen. Ich fürchte, die Nabelschnur hat sich um den Hals des Kindes geschlungen. Dr. Baker hat alle Hände voll zu tun mit einem Herzinfarkt. Der Blutdruck der Patientin steigt beängsti­gend, und sie spricht kein Wort Englisch! Ich kann mich ihr nicht einmal verständlich machen.

Janice beruhigte sich augenblicklich, als Claire mit fester Stimme zu reden begann. Die Patientin war klein und zierlich, ihre dunklen Augen blickten angsterfüllt. Claire konnte kein Spanisch, aber sie begann leise und beschwichtigend auf die Frau einzureden. Nein, sie solle jetzt nicht pressen. Ja, es würde nun ein wenig weh tun, aber sie müsse die Nabelschnur finden, gleich sei alles vorbei. Dem Baby würde nichts geschehen, sie müsse sich nur entspannen, ganz ruhig sein, ganz ruhig...

Es war ein Junge. Für Claire gab es nichts Schöneres, als den ersten Schrei eines Neugeborenen. Zu sehen, wie sich ein kleiner, feuchter Körper mit aller Entschiedenheit dem Leben entgegendrängte, für sie war es immer wieder ein einzigartiges Erlebnis. Janice lächelte; als Claire das Baby etwas länger als nötig im Arm behielt. Aber dann hieß es, sich zu beeilen. Das Kind mußte gesäubert, die Mutter versorgt werden. Anschließend wurden beide auf die Wöchnerinnenstation gebracht

- Ich brauche einen Kaffee - stöhnte Janice, als alles vorbei. war. - Was ist denn nur los? Ein ganz gewöhnlicher Mittwochabend, trotzdem geht alles drunter und drüber! Ich hatte solche Angst, sie würde es nicht überleben. Verzeih mir, daß ich so durcheinander war.

- Laß nur, das ist doch ganz normal. Niemand ist perfekt.

- Das stimmt, zum erstenmal hast auch du ziemlich mitgenommen ausgesehen. Der Patientin ist das natürlich nicht aufgefallen. - Janice lächelte unvermittelt - Du siehst in der Tat ausgesprochen ramponiert aus! Wer hätte das gedacht!

- Vielen Dank! Wie wäre es, wenn du jetzt deine Pause nehmen und mir aus den Augen gehen würdest? - schlug Claire lachend vor.

Pünktlich um Mittemacht wurde sie abgelöst. Sie eilte zum Du­schraum, legte die Dienstkleidung ab und machte sich frisch. Danach zog sie das weiße Kostüm und die hohen Pumps wieder an. Während sie den Flur entlang ging, schlüpfte sie in den Mantel. Vor dem Eingang des Krankenhauses blieb sie abrupt stehen. Sie hatte ganz vergessen, daß sie im Taxi zum Dienst gekommen war und ihr Auto gar nicht dabei hatte.

Sie beschloß, zu Fuß zu gehen. Schon oft war sie den kurzen Weg nach Hause gelaufen. Diesmal allerdings schlug sie die Richtung zum Falk-Hochhaus ein, das nur drei Häuserblocks entfernt war.

In den vergangenen acht Stunden hatte Claire sich ausschließlich auf ihre Arbeit konzentriert. Das war ihre Pflicht, schließlich war sie Ärztin und mußte sich um die ihr anvertrauten Patienten kümmern. Jetzt aber dachte sie darüber nach, daß sie sich in gewisser Weise auch um Jim kümmern mußte. Sie hatte ihn verletzt, obgleich sein einziges Vergehen menschliche Anteilnahme gewesen war. Es ging nicht an, daß er darunter leiden mußte, daß sie mit gewissen persönlichen Problemen nicht zurecht kam. Sie schuldete ihm eine Erklärung und eine Entschuldigung.

Das Falk-Hochhaus war geöffnet. Unschlüssig sah Claire zum Fahrstuhl hinüber, entschied sich dann aber, die Treppe zu benutzen. Auf dem Weg nach oben schalt sie sich eine neurotische Person, stieg aber dennoch unbeirrt die dreiundzwanzig Stockwerke hinauf.

Völlig erschöpft stand sie dann endlich vor dem Eingang des „Top Hat“ und mußte zu ihrer Überraschung lesen: „Geschlossen“.

6. KAPITEL

Claire ignorierte das Schild und drückte prüfend gegen die Tür. Sie gab nach, und Claire trat zögernd ein. Das Hauptlicht war schon ausgeschaltet; in den Räumen herrschte geradezu gespenstische Stille.

Aus der Bar drangen gedämpfte Stimmen, also machte Claire sich leicht humpelnd auf den Weg dorthin. Ihre Beine schmerzten, nach der Arbeit im Krankenhaus war das Treppensteigen nicht eben eine Erholung gewesen.

An einem kleinen Nischentisch saßen zwei Männer und unterhielten sich halblaut bei einem Drink. Der Barkeeper, ein großer, hagerer Mann mit Nickelbrille und schlohweißem, gewelltem Haar, hantierte hinter dem Tresen herum.

- Eigentlich haben wir schon geschlossen, aber wenn Sie auf die Schnelle noch etwas trinken wollen, bitte sehr! - Er wies einladend auf einen Barhocker.

Dankbar ließ Claire sich darauf nieder, erleichtert, endlich sitzen zu können.

- Wissen Sie zufällig, ob Mr. Brannigan noch hier ist? - erkundigte sie sich.

- Aber ja. Er ist sicher in seinem Büro. Soll ich ihn rufen?

Claire schüttelte ablehnend den Kopf. Natürlich war sie gekommen, um Jim zu sehen, aber zuerst wollte sie sich ein wenig ausruhen.

- Was darf's denn sein? - fragte der Barkeeper.

- Nichts, oder doch - ein Glas Wasser.

- Wasser? - Ungläubig sah der Mann sie an.

- Das ist nichts, was du zusammenmixen mußt, Willie - ertönte eine träge Stimme hinter Claires Rücken. - Das ist das klare Zeug, das aus der Leitung kommt.

Claire drehte sich um und erkannte die Sängerin, die sie bei ihrem Besuch mit Ralph gesehen hatte. Lorene trug diesmal ein äußerst gewagtes, saphirblaues Kleid, das mehr enthüllte, als es verbarg. Freundlich lächelnd setzte sie sich auf den Hocker neben Claire.

- Was ist mit ihrem Bein? - erkundigte sie sich, als sie sah, wie Claire sich die schmerzende Wade massierte.

- Es hat etwas gegen das Treppensteigen!

Lorene nickte mitfühlend.

- Das kenne ich, ich bekomme immer Wadenkrämpfe, wenn ich hier den ganzen Abend über in hochhacki­gen Schuhen vor dem Mikrofon stehe. Sie sind die Ärztin, hab' ich nicht recht?

- Wie bitte?

- Ich habe Sie neulich gesehen, als sie mit Jim tanzten. - Lorene nahm einen kleinen Schluck von ihrem Drink. - Da Jim sonst nie mit Gästen tanzt, habe ich ihn gefragt, wer Sie sind Deshalb weiß ich, daß Sie Ärztin sind. An der Universitätsklinik?

- Richtig. - Der Schmerz in Claires Bein ließ nach. Neugierig betrachtete sie ihre Gesprächspartnerin.

- Sie werden sich sicher fragen, warum er mir das erzählt hat. Wissen Sie, direkt gestellte Fragen beantwortet Jim immer. Anfangs dachte ich, das sei ein Segen, aber das stimmt gar nicht. Auf die Hälfte der Fragen wünscht man sich oft gar keine Antworten.

- So habe ich das noch gar nicht gesehen.

- Jim ist sehr ehrlich, nicht einmal kleine Notlügen läßt er gelten. Andererseits, wenn man einmal Probleme hat, dann ist er da, zuverlässig und ohne zu fragen. Aber Sie wundem sich jetzt bestimmt, weshalb ich Ihnen das alles erzähle!

Claire lachte leise.

- Allerdings.

- Wie geht es Ihrem Bein?

- Besser, denke ich.

Lorene stand auf. - Gut, dann kommen Sie, ich bringe Sie zu Jim.

Claire folgte ihr durch die schwarze Tür hinter dem Tresen, hinaus in einen nur schwach beleuchteten Korridor. Er war ganz mit dickem Teppichbaden ausgelegt, der den Laut ihrer Schritte schluckte. Lorene führte sie an zwei Türen vorbei und klopfte schließlich an der dritten und letzten.­

Dann trat sie mit einem schwer zu deutenden Lächeln zur Seite, um Claire den Weg freizugeben.

- Jeden Samstag abend versuche ich, ihn zu becircen. Das war schon immer so, und daran wird sich auch nichts ändern. Aber niemand soll mir nachsagen, ich sei nicht fair der Konkurrenz gegenüber. Viel Glück, also!

Noch einmal klopfte Lorene an öffnete die Tür und verschwand in derselben Richtung aus der sie gekommen waren. Claire sah ihr nach und fragte sich, wie ein Mann einer solch verführerischen Frau widerstehen konnte.

Neugierig blickte Claire in Jims Büro, wenn man das überhaupt ein Büro nennen konnte: An der linken Wand befand sich zwar ein Computer, aber gleich daneben stand ein Bett. Auf dem blauen Teppichboden lagen überall bunte Kissen herum, und der niedrige, lange Couchtisch war vollbepackt mit Geld.

Jim saß im Schneidersitz auf dem Boden, inmitten von gebündelten Geldscheinen. Er trug weder Schuhe noch Strümpfe, sein weißes Oberhemd stand offen, und seine Haare waren zerzaust. Wenn er sich geärgert hatte, daß Claire ihm am Mittag davongelaufen war, so ließ er es sich jetzt zumindest nicht anmerken. Auch zeigte er keinerlei Überraschung über ihr unerwartetes Erscheinen. Unbefangen winkte er sie zu sich.

- Gut, daß du da bist. Ich brauche dringend deine Hilfe!

- Soll dies dein Büro sein?

- Du meinst wegen des Bettes? - Er schmunzelte. - Dies ist eine Mischung aus Erste-Hilfe-Station, Kontrollraum, Sprechzimmer für die Angestellten und, wie du siehst, die Finanzabteilung! - Wieder wies er einladend neben sich. - Möchtest du die Zehner oder die Zwanziger zum Zählen?

Claire stand noch immer reglos da.

- Jim, das muß ja ein Vermögen sein!

- Leider sind das die Brutto-, nicht die Nettoeinnahmen. Diesen Teil meiner Arbeit erledige ich mit einer Art Haßliebe. Jede Nacht muß ich eine Abrechnung erstellen und alle Beträge sind zweimal zu überprü­fen. Es gibt keine schmutzigere Arbeit, als Geld zu zählen, das sage ich dir. Also, krempel die Ärmel hoch und hilf mir!

Jim wußte ganz genau, weshalb sie ihn aufgesucht hatte. Claire war nicht der Typ, der ohne Erklärung davonlief. Außerdem erkannte er an ihrem nervösen Blick, daß sie sich entschuldigen und für immer gehen wollte. Aber das würde er nicht zulassen.

- Nimm dir ein Kissen, Claire.

- Jim - begann sie hilflos. Sie wußte nicht recht, was sie sagen sollte. - Jim, hör mich bitte an. Ich schulde dir eine Erklärung.

- Hast du den Fahrstuhl benutzt, oder bist du gelaufen? - unterbrach er sie und reichte ihr einen Packen Zehndollarnoten. - Mach einzelne Bündel mit jeweils zehn Scheinen, dann geht das Zählen leichter.

Mit widerstrebenden Gefühlen kniete Claire sich Jim gegenüber an den Tisch.

- Nein, ich bin die Treppe hinaufgestiegen.

- Ich werde das Restaurant ins Erdgeschoß verlegen müssen.

- Keine schlechte Idee.

- Und wir werden auch nicht mehr in beengten, kleinen Räumen zu Mittag essen.

- Deshalb wollte ich mit dir sprechen. Jim, es war wunderschön, ich wollte dich nicht verletzen.

Claire hatte ihren Stoß Dollarnoten gebündelt. Da Jim offensichtlich nicht auf ihre Erklärung eingehen wollte, erkundigte sie sich, was sie nun mit dem Geld tun solle.

- Leg Banderolen darum.

Er gab ihr ein paar braune Papierstreifen.

- Hier, auf einer Seite der Banderole befindet sich ein Klebstreifen.

- Danke. - Sie fuhr mit der Arbeit fort.

- Möchtest du dir danach einmal das Restaurant ansehen?

- Ja. Das heißt, vielleicht. - Claire sah Jim skeptisch an. Nun war es aber genug.

Offenbar hatte er nicht die geringste Lust, sich anzuhören, weshalb sie gekommen war. Und um ihn nicht auf falsche Gedanken kommen zu lassen, fügte sie halb im Scherz, halb im Ernst hinzu:

- Ich werde nicht mit dir schlafen, Jim.

Er ließ sich nicht das Geringste anmerken.

- Ist heute abend auf deiner Station wieder ein Mann in Ohnmacht gefallen?

- Nein. Obwohl ich einigen eine Spritze geben mußte.

- Und was. noch?

- Einem Baby habe ich ans Licht der Welt geholfen.

Mittlerweile waren sie mit dem Zählen fertig, und Jim verstaute die Geldbündel in einem Lederkoffer. Aus den Augenwinkeln heraus hatte er gesehen, wie Claires Augen freudig aufleuchteten, als sie von dem Baby sprach: Offenbar machte ihr die Geburtshilfe besonders viel Freude.

Jim konnte sich gut vorstellen, wie Claire half, ein Baby zur Welt zu bringen, ebensogut konnte er sie sich bei der Vesorgung eines Unfallopfers vorstellen. In beiden Situationen würde sie ruhig und gelassen bleiben und sich keinerlei gefühlsmäßigen Regungen hinge­ben. Erst im Privatleben gestattete sie es sich, ihren Empfindungen freien Lauf zu lassen.

Deutlich hatte Claire gezeigt, daß sie sich durch nichts aus der Fassung bringen ließ, auch nicht davon, daß er mit keinem Wort auf ihr Weglaufen eingegangen war. Nur mit einem wurde Claire nicht fertig: mit engen, geschlossenen Räumen.

- Möchtest du meinen Kühlraum in Augenschein nehmen? - schlug Jim beiläufig vor.

- Nein.

- Aber du mußt dir wenigstens die Küche anschauen!

Jim zog die Schuhe und auch die Strümpfe wieder an und führte Claire durch das Restaurant, bis in den letzten Winkel. Claire hatte keine Vorstellung gehabt, was sie erwartete, auf keinen Fall hatte sie damit gerechnet, daß allein das Getränkelager größer war als ihr Schlafzimmer. Beeindruckt war sie auch von den Ausmaßen der Kühlschränke; mit deren Inhalt wohl die halbe Chicagoer Bevölkerung hätte verköstigt werden können. Die Küche war ausgestattet mit zahlreichen praktischen Apparaten, und für jede kulinarische Anforde­rung gab es das entsprechende Gerät. Jim zeigte Claire sogar das berüchtigte Hackmesser, mit dem er sich geschnitten hatte.

Beeindruckt registrierte sie, was man alles brauchte, um ein Lokal dieser Größenordnung unterhalten zu können, und welch perfekte Organisation dazu vonnöten war. .

Hier war Jim in seinem Element. Er kannte jeden einzelnen seiner fünfundsiebzig Angestellten und wußte genau, was sich in der kleinsten Ecke und der hintersten Schublade seines Unternehmens befand. Mit halben Sachen gab er sich nicht zufrieden.

Claire fragte sich, weshalb sie noch nicht nach Hause gegangen war. Vielleicht, weil man mit Jim so gut reden konnte, und weil er ein Nachtmensch war wie sie. Nach einem anstrengenden Nachtdienst war sie zwar körperlich müde, geistig aber noch zu aufgekratzt, um schlafen zu können. Jim ging es ebenso. Beide hatten sie das Bedürfnis, nach dem Streß der Arbeit erst einmal zu entspannen.

Dazu kam noch etwas anderes. Tief in ihrem Innern fühlte sie, daß sie Jim gar nicht mehr aus ihrem Leben bannen wollte. Seine Gesellschaft war angenehm und unterhaltsam - abgesehen von den Momenten, in denen er ihr zu nahe kam. War ein rein freundschaftli­ches Verhältnis zwischen ihnen wirklich nicht möglich? Einen Men­schen zu haben, mit dem sie sich um drei Uhr in der Frühe unterhalten konnte, wäre sehr schön gewesen.

Es war tatsächlich drei Uhr, als sie ihren Rundgang durch das Restaurant beendet hatten. Jim schaltete die Lichter aus und schloß die Tür hinter sich ab.

- Wollen wir wirklich all die Treppen hinunter­laufen, oder kannst du dich überwinden, den Aufzug zu benutzen?

- Du kannst mit dem Lift fahren. - versicherte Claire ihm eilig.

- Wir nehmen ein Kartenspiel mit in den Fahrstuhl. Eine Runde Poker wird dich ablenken.

Die Idee war verrückt, aber sie wirkte. Jim war ein unerbittlicher Spieler, und als sie im Erdgeschoß ankamen, hatte Claire siebenund­dreißig Cents an ihn verloren. Aber die Fahrt hatte sie überstanden, wenn auch ihre Knie etwas zitterten, als sie ins Freie traten.

*

Ein scharfer, kalter Wind fegte durch die Straßen. Jim legte den Arm um Claire und fragte lächelnd:

- Bist du zu Fuß vom Krankenhaus hierhergekommen?

- Ja, aber ich kann mit einem Taxi nach Hause fahren.

Er erwiderte nichts. Darüber war Claire erstaunt, denn sie hatte mit einem Einwand gerechnet. Als Jim keine Anstalten machte, sie zurück­zuhalten, winkte sie ein vorüberfahrendes Taxi herbei.

- Also dann... - Sie drehte sich um, um Jim gute Nacht zu wünschen. Wortlos nahm dieser sie am Arm, schob sie in das Taxi und setzte sich neben sie. Er reichte dem Fahrer einen Geldschein nach vorn und bat ihn, ein wenig durch die Stadt zu fahren. Claire schaute Jim verblüfft an.

- Warum siehst du mich so an? Ich möchte meine Stadt einmal bei Nacht sehen - erklärte er leise.

- Aber du hast doch selbst ein Auto!

- Natürlich! Nur, wenn man selbst fährt, kann man die Aussicht nicht genießen. Ich hole mein Auto, nachdem ich dich zu Hause abgesetzt habe. Du bist doch nicht bereit, ins Bett zu gehen, oder?

Lächelnd, bemerkte Jim, daß seine Frage Claire verlegen gemacht hatte w seine Absicht gewesen war. Er wollte, daß sie die Zweideutigkeit aus seinen Worten heraushörte. Nein, Claire war nicht bereit, die Nacht mit ihm zu verbringen, heute noch nicht

- Komm, kuschel dich an mich. - Er streckte den Arm aus und zog sie an sich. - Früher oder später müssen wir doch nach Hause, jeder in sein eigenes, leeres Bett. So etwas Unsinniges...

Claire blickte nervös auf den Taxifahrer, aber der tat, als habe er nichts gehört.

- Es ist nicht unsinnig - flüsterte sie äußerst gereizt.

- Versuch nicht, mir weiszumachen, wir seien nur gute Freunde, sonst lege ich dich übers Knie. Du weißt es nämlich besser. Du weißt sogar genau, was mit uns beiden geschehen wird. - Jim zog sie noch dichter zu sich heran und streckte zufrieden die Beine aus.

Claire legte die Wange an seine Schulter und schloß die Augen. In diesem Augenblick erkannte sie, daß Jim recht hatte: sie würden ein Liebespaar werden.

- Wir werden uns nicht lieben - flüsterte sie trotzig.

- Doch.

- Aber ich kenne dich noch nicht gut genug.

- Doch, das tust du.

Ich hätte mir denken können, daß er dieses Thema wieder aufnimmt, dachte Claire wachsam.

Und das war jetzt der Fall, Claire fror, und ein Gefühl der Schwäche durchströmte sie. Ihr Körper sehnte sich danach, sich an Jim zu schmiegen, seine Wärme zu spüren und geborgen zu sein.

In der Nacht hatte sie in der Klinik gekämpft, Leben zu erhalten. Das war, was sie sich immer gewünscht hatte. Sie empfand Stolz, wenn sie ihre Aufgabe gut bewältigte, einen Stolz, den sie mit niemandem teilen wollte. War der Dienst jedoch vorbei, dann war die Vorstellung sehr verlockend, einen Mann zu haben, der einen in die Arme nahm und an den man sich lehnen konnte. Dieses Gefühl der Schwäche, der Verletzlichkeit, war für Claire neu und ungewohnt, es bereitete ihr sogar ein wenig Angst. Sie war es gewohnt; Stärke zu beweisen. Ein Mann, der diese Stärke zu schätzen wußte und ihr dennoch Augen­blicke der Schwäche zugestand, war ihr noch nie begegnet

Sie ließen das blinkende Lichtermeer der Innenstadt hinter sich und fuhren das Seeufer entlang. Bei Nacht wirkte der See unendlich groß, man konnte meinen, er nähme nirgendwo ein Ende.

- Jim, ich bin eine sehr selbstsüchtige Frau. - Claire sprach ruhig, ohne dabei die Wange von Jims Schulter zu nehmen.

Sanft strich er ihr über das Haar und lächelte. Sie war bei weitem die selbstloseste Frau, die er je gekannt hatte.

- Glaubst du?

- Ich weiß es. Ich habe hart darum gekämpft, mein eigenes Leben zu leben, und werde es für nichts und niemanden aufgeben.

- Du scheinst anzunehmen, daß man in einer Beziehung jedes Recht auf Eigenständigkeit aufzugeben hat, Claire.

- Ich bin mir dessen sicher. Ich habe so etwas schon einmal durchgemacht. - Sie wandte den Kopf und sah Jim ins Gesicht. - Willst du ein Verhältnis mit mir, Jim? Wenn ja, dann kehren wir um und fahren zu dir. Ich komme mit. Aber nur unter der Voraussetzung, daß daraus nichts Festes wird. Keine Bindungen, keine Verpflichtungen, ganz wie es dem Trend unserer Zeit entspricht.

Behutsam zeichnete Jim mit dem Finger die Konturen ihres Gesichts nach.

- Welch kühner Vorschlag von einer Frau, die, das möchte ich wetten, noch nie zuvor ein kurzlebiges Verhältnis gehabt hat.

- Ich versuche nur, dir gegenüber aufrichtig zu sein.

- Dann will ich genauso ehrlich sein. Ich suche kein vorübergehen­des Abenteuer. Nicht mit dir. Das habe ich dir schon einmal gesagt. - Er sah ihr tief in die Augen, und Claire überlief ein Schauer.

Die Anzeichen, vor denen Claire hatte fliehen wollen, waren unüber­sehbar. Als sie Jim an diesem Abend aufgesucht hatte, war es für beide schon unnötig gewesen, die üblichen, höflichen Begrüßungsformeln auszutauschen. Jim hatte ohne Worte gefühlt, was sie ihm sagen wollte. Auch die Tatsache, daß sie sich in seiner Nähe stets entspannt und behaglich fühlte, bestätigte, was sie ohnehin schon längst wußte: auf unerklärliche Weise war ihr Leben bereits fest mit dem seinen verbunden.

- Wo sitzt der Schmerz denn genau? - erkundigte Jim sich mitten in ihre Gedanken hinein.

- Was meinst du?

- Ohne es zu merken, massierst du dir nun schon eine ganze Weile das Bein. Als Ärztin solltest du wissen, daß man gezielt gegen so einen Muskelkrampf vorgehen muß. Also, wo ist die Stelle, Claire?

- Als Ärztin kann ich mir durchaus selbst helfen.

Jim hatte sich schon nach vom gebeugt und tastete prüfend über das schmerzende Bein.

Claire hielt den Atem an und war froh, daß die Dunkelheit ihr Gesicht verbarg, zumal jetzt auch der Taxifahrer neugierig in den Rückspiegel schaute.

- Laß das! - befahl sie Jim mit leiser Stimme.

Doch dieser ließ sich nicht beirren und fuhr fort, nach dem verkrampften Muskel zu suchen.

- Da haben wir ihn - sagte er plötzlich und sah auf. - Ich möchte dich vorwarnen, es tut ziemlich weh, diese Verspannung zu lockern.

Darüber machte Claire sich die wenigsten Sorgen. Sie lehnte sich zurück und versuchte, die sanfte Berührung seiner Hände zu ignorie­ren, aber es gelang ihr nicht.

- Du mußt ganz locker sein - schalt Jim leise. - Wenn du dich so verkrampfst, machst du alles nur noch schlimmer.

- Das war leichter gesagt, als getan.

- Claire! Ich meine es ernst!

Claire biß die Zähne aufeinander und ließ ihn gewähren. Ein letzter, stechender Schmerz, dann war alles vorbei. Jim strich ihr den Rock wieder glatt, küßte sie leicht auf die Stirn und lehnte sich in den Sitz zurück.

- Besser?

- Ja.

- Jetzt ein warmes, nicht zu heißes Bad und dann für ein paar Stunden absolute Ruhe.

- Jawohl, Herr Doktor.

Jim erwiderte nichts auf die ironische Bemerkung und nannte dem Fahrer Claires Adresse.

Die Beinmassage hatte Claire noch mehr verunsichert. Jims Berüh­rung war gleichzeitig sanft und energisch gewesen, jedoch ohne jegliche Erotik. Und gerade das brachte Claire völlig aus dem Konzept. Sie wußte, Jim begehrte sie. Dennoch war er absolut ohne Hinterge­danken vorgegangen, als er sich ihrem Bein widmete. Er begehrte sie nicht nur, er sorgte sich auch um sie, das war dabei ganz deutlich geworden.

Das helle Licht einer Straßenlaterne erhellte für Sekunden sein Gesicht, dann versank es wieder im Dunkel. Claire konnte nur noch seine Augen erkennen, die sie aufmerksam ansahen.

Ohne ein Wort zu sagen zog Jim sie an sich und küßte sie. Seine Hand glitt in ihren Mantel und strich sanft über ihre Schultern und ihre Brust.

Das Taxi hielt an, sie bemerkten es nicht Claire gab sich ganz dem verführerischen Spiel seiner Lippen hin. Eng schmiegte sie sich an Jim. Ein Strom jähen, ungekannten Verlangens durchströmte sie.

Durch den Stoff ihrer Bluse hindurch konnte Jim spüren; daß Claire auf seine Zärtlichkeiten zu reagieren begann. Langsam ließ er seine Hand hinauf zu der empfindsamen Stelle an ihrem Hals wandern, wo ihr Puls schlug.

Wie zart und verletzlich Claire ist, dachte er liebevoll. Doch sie muß erkennen, es selbst fühlen, daß etwas Besonderes zwischen uns ist. Wenn sie dies nicht in diesem Augenblick fühlte, dann würde es lange dauern, bis er sie wieder berühren durfte, das wußte Jim. Nein, es würde kein kurzes Abenteuer geben, so wie Claire sich das vorstellte. Sie aber zu etwas zu drängen, hieße, sie zu verlieren, das hatte er durch ihr Davonlaufen aus dem japanischen Restaurant gelernt.

Er wollte sie nicht verlieren. Doch für die Geduld, die er für sie würde aufbringen müssen, sollte sie ihn jetzt entschädigen.

Wieder und wieder küßte Jim Claire, er ließ ihr kaum Zeit zum Atemholen. Sein Mund und seine Hände gaben ihr keine Möglichkeit, aus dem Strudel des Verlangens aufzutauchen.

Ich fühle mich wie ein Vogel im Käfig, schoß es Claire durch den Kopf. Ich sehne mich nach der Freiheit, gleichzeitig aber möchte ich auf die Verlockungen der Gefangenschaft nicht mehr verzichten.

- Soll ich noch einmal um die Stadt fahren? - ließ sich der Fahrer ungeduldig vernehmen.

- Nein, warten Sie - befahl Jim und schenkte ihm keine weitere Beachtung. Claire aber war erschrocken, zusammengezuckt. Zärtlich strich Jim ihr die Haare aus dem Gesicht, knöpfte ihr den Mantel zu und hauchte ihr einen letzten Kuß auf den Mund. - Ich hole dich morgen nach der Arbeit ab.

Nur mit Mühe fand Claire in die Wirklichkeit zurück.

- Nein, Jim. Ich will nur ein vorübergehendes Verhältnis.

- Meinst du, du wirst um Mitternacht fertig sein?

- Du hörst mir ja gar nicht zu!

- Stimmt. Also, um zwölf?

Gereizt öffnete Claire die Autotür und stieg aus. Jim folgte ihr wortlos bis zur Haustür. Mit gesenktem Kopf suchte Claire in ihrer Tasche nach dem Schlüssel, ihre Hände zitterten dabei.

Jim sah dies, und er liebte Claire deswegen. Geduldig wartete er ab, bis sie die Tür geöffnet hatte, dann kehrte er zum Taxi zurück.

7. KAPITEL

Als Claire in der nächsten Nacht die Notfallstation verließ, wartete Jim bereits auf sie. Einen Augenblick lang schaute sie ihn sprachlos an.

Irgendwo in der Ferne ertönte eine Sirene, Nebel zog vom See her durch die Straßen. Später einmal würde Jim sich an jene Einzelheiten erinnern, im Moment jedoch schenkte er ihnen keine Beachtung. Zu sehr mußte er gegen die Versuchung ankämpfen, Claire in die Arme zu nehmen und ihr den Trotz einfach aus dem Gesicht fortzuküssen. Er beherrschte sich und erwiderte statt dessen schweigsam ihren Blick. Seine Augen sagten jedoch deutlich, daß ihn nichts davon abhalten konnte, sie immer wieder vom Nachtdienst abzuholen.

- Hol dich der Teufel - stieß Claire endlich hervor.

Mit einem herzhaften Lachen reagierte Jim auf diese Begrüßung, und damit waren die Weichen gestellt. Als der Februar sich dem Ende neigte, waren Claire und Jim die Straßen der Stadt bei Nacht ebenso vertraut wie bei Tag. In manchen Nächten schlenderten sie am Seeufer entlang, dann wieder bevorzugten sie das Vergnügungsviertel oder einen Schaufensterbummel in der Michigan Avenue. Häufig kam es auch vor, daß sie schweigend und ohne Ziel einfach drauflosgingen.

Jim bemühte sich, Claire so wenig wie möglich zu berühren. Dafür beobachtete er sie und lernte sie so mit der Zeit besser kennen. So mochte sie es zum Beispiel nicht, langsam zu gehen, sie schritt rasch und zügig aus. Stets trug sie einen Schal, der viel zu lang war. Jim legte ihn ihr immer sorgfältig um den Hals, damit sie nicht irgendwo damit hängenblieb.

Zu jenen späten Stunden begegneten sie nur wenigen Menschen, und die gähnten zumeist und hatten müde Augen. Bei Claire war das nicht der Fall, immer wieder ertönte ihr tiefes, angenehmes Lachen. Sie war voller Lebensfreude und genoß sichtlich die nächtliche Stille.

Allerdings war sie am Boden zerstört, wenn sie einen Patienten verloren hatte. Das erste Mal hatte Jim raten müssen, was geschehen war, sie sagte ihm nichts davon. Sie war kreidebleich und hocherhobe­nen Hauptes aus der Klinik gekommen und ohne ein Wort zu sagen, in einer steifen, fast unnatürlichen Haltung losgelaufen.

Das war das einzige Mal gewesen, wo Jim beinahe seinem Vorsatz untreu geworden wäre. Er hätte sie am liebsten in die Arme genommen, sie nach Hause gebracht und sie dort so lange geliebt, bis der quälende Ausdruck aus ihrem Gesicht verschwunden wäre. Er tat nichts dergleichen, denn inzwischen kannte er Claire sehr gut Tag für Tag war sie mit dem Tod konfrontiert, er war Teil ihres Berufs, und sie mußte und wollte allein damit fertig werden.

In jener Nacht lief Jim mit Claire schweigend quer durch die halbe Stadt und wieder zurück. Er schenkte ihr keine Rast, Claire sollte bis zur völligen Erschöpfung laufen. Um fünf Uhr morgens war es endlich so weit: der schmerzerfüllte Ausdruck war aus ihren Augen verschwunden, und sie fiel fast um vor Müdigkeit. Da brachte er sie nach Hause.

Von diesem Tag an war Jim in der Lage zu erkennen, in welcher Stimmung sich Claire befand, wenn sie die Klinik verließ. Hatte sie geholfen, Babys auf die Welt zu bringen, dann sprudelte sie förmlich über vor Ausgelassenheit und neckte ihn bei jeder Gelegenheit. Er hatte es sich angewöhnt, immer ein paar Süßigkeiten in der Tasche zu haben. Schokolade war das Höchste für Claire, aber auch für Erdnüsse hatte sie eine Schwäche. War sie strahlender Laune, dann machte es ihr ein diebisches Vergnügen, ihm die Leckereien aus der Tasche zu stibitzen.

Es kam aber auch vor, daß sich Claire hinter einer Mauer aus Groll verbarg, wenn sie von der Arbeit kam. Unfälle, die leicht zu vermeiden gewesen wären, waren daran Schuld, mißhandelte oder vernachläs­sigte Kinder, Menschen, die sich sinnlos Schaden zugefügt hatten. Jim wußte genau; wann so etwas vorgefallen war, denn dann suchte Claire Streit. Hatte sie jedoch angenommen, sie könne ihn mit Temperamentsausbrüchen in die Flucht schlagen, so entpuppte sich dies als Irrtum. An solchen Tagen schritt Jim kräftig aus, und meist schon nach kurzer Zeit vernahm er einen ihm nun schon wohlbekann­ten Seufzer. Er lächelte, wußte doch genau, was folgen würde. Für gewöhnlich endete eine solche Nacht damit, daß sie ihn über sein Leben ausfragte. Wißbegierig und in die Tiefe gehend stellte sie ihre Fragen.

Manchmal schüttelte Jim lachend den Kopf über das, was sie alles erfahren wollte. So wußte Claire inzwischen, daß er als Fünfjähriger eine Packung Kaugummi gestohlen hatte. Sie kannte auch die Geschichte, wie er mit vierzehn zum erstenmal mit einem Mädchen geschlafen hatte, was für ihn eine niederschmetternde Erfahrung gewesen war.

Jim beantwortete alle ihre Fragen, hütete sich jedoch davor, selbst welche zu stellen. Er ahnte, daß Claires Ex-Mann außergewöhnlich besitzergreifend gewesen sein mußte. Anscheinend hatte er ihr weiszumachen versucht, daß Liebe gleichzusetzen sei mit totaler Selbstaufgabe, daß sie den absoluten Einsatz nicht nur des Körpers, sondern auch der Seele verlange. Jims Frau war aus dem gleichen Holz geschnitzt gewesen, deswegen verstand er jetzt nur zu gut, was Claire durchgemacht hatte.

Andererseits konnte er sich zunehmend besser in ihre Exehepartner hineinversetzen, und das erstaunte ihn nicht wenig. Denn auch er wollte alles von Claire, ihren Körper und ihre Seele. Jim machte erst gar nicht den Versuch, das Besitzergreifende dieses Wunsches abzu­leugnen. Er konnte die Vorstellung nicht ertragen, einen anderen Mann an ihrer Seite zu sehen. Er wollte der einzige sein, der ihr Gesicht zu sehen bekam, wenn es von einem Lächeln erhellt wurde. Und er wollte auch der einzige sein, der ihr den Schal zurechtlegte. Niemand außer ihm sollte sie sehen, wenn sie durch den Tod eines Patienten niedergeschlagen und verzweifelt war und mit aller Macht die erlösen­den Tränen zurückzuhalten versuchte.

Und doch gab es einen großen Unterschied zwischen seinen Gefühlen und denen ihrer ehemaligen Partner. Jim wollte Claire nicht verändern oder ihre Persönlichkeit unterdrücken. Er wollte sie nur lieben, und dieser Wunsch wurde allmählich übermächtig.

*

- Mutter, du solltest wirklich endlich begreifen, daß man nicht alles durch das Abflußrohr einer Spüle jagen kann!

- Das weiß ich doch, Claire! Aber ich dachte, das Stückchen Papier wäre klein genug, um das Rohr nicht zu verstopfen.

Zähneknirschend hantierte Claire mit der Klempnerzange am Ab­flußrohr herum.

Nora sah ihrer Tochter besorgt über die Schulter. Sie wollte gern helfen, wußte aber nicht, wie.

- Bist du schlechtgelaunt heute mor­gen? - fragte sie schließlich verwundert.

Leise fluchend versuchte Claire, den hartnäckigen Verschlußring zu öffnen, der nicht einen Millimeter nachgeben wollte.

- Allerdings bin ich schlechtgelaunt! Und das ist noch leicht untertrieben! Diese Familie scheint tatsächlich anzunehmen, ich sei Hobbyhandwerker! Was mich dabei besonders ärgert, ist die Tatsache, daß du über all diese Dinge ebenso gut Bescheid weißt wie ich. Früher war das jedenfalls so. Ich wehre mich dagegen, daß ihr euch ständig auf mich verlaßt!

- Ich verstehe - entgegnete Nora heiter. - Du bist mir böse, weil du uns in den letzten Jahren so verwöhnt hast!

Darauf wußte Claire nichts zu sagen.

- Laß mich ein paar Minuten über deine Bemerkung nachdenken - murmelte sie schließlich.

- Tu das, Liebling. Soll ich mal probeweise das Wasser anstellen?

- Nein!

Nora zuckte zusammen.

- Dann mache ich dir inzwischen eine Tasse Kaffee. Das wird dich aufmuntern.

Langsam richtete Claire sich auf und verlagerte das Gewicht auf die Fersen. Sie hatte die Ärmel ihres roten Sweatshirts aufgerollt und strich sich mit der Hand durch das Haar.

Am Vortag war sie beim Friseur gewesen und hatte sich einen lustigen Fransenpony schneiden lassen, was dem akkuraten Pagen­schnitt die Strenge nahm. Auch hatte Claire an diesem Tag etwas Parfum benutzt und mit größerer Sorgfalt als sonst ihr Make-up aufgelegt

Diese kleinen Veränderungen hatte sie natürlich nur vorgenommen, weil sie sich selbst etwas Gutes tun wollte. Mit Jim hatte das überhaupt nichts zu tun.

Im Gegenteil, sie war sehr froh, daß er keinerlei Annäherungsversu­che mehr unternommen hatte. Zum erstenmal in ihrem Leben hatte sie einen Mann zum Freund, mit dem sie reden und lachen konnte, ohne daß er versuchte, die Situation auszunutzen. In seiner Gesell­schaft war es ihr möglich, sich völlig natürlich zu geben.

In der Tat, die gemeinsam verbrachten Stunden waren einzigartig gewesen. Nur eines verstand Claire nicht ganz: Jim hatte anfangs ganz deutlich gezeigt, daß er sie begehrte. Nicht einen einzigen Annähe­rungsversuch hatte er jedoch seit der Nacht im Taxi unternommen. Hatte sie jetzt vielleicht wo er sie besser kannte, jegliche Anziehungs­kraft auf ihn verloren? Vielleicht fand er, daß sie im Grunde eine normal aussehende Frau war, eine Frau ohne besonderen erotischen Reiz.

Warum, um alles in der Welt, wirkte seine Anziehungskraft dann so unvermindert stärk auf sie? Sie hatte sich so sehr gewünscht, mit ihm nur gut Freund zu sein. Aber jedesmal, wenn er sie in den vergange­nen Wochen in zufällig berührt hatte, war ihr gewesen, als stünde sie unter Strom. Endlich gab es eine Abwechslung in ihrem sonst so wohlgeordneten, aber eintönigen Leben, und sie war dennoch nicht zufrieden.

Mit aller Kraft versuchte Claire ein letztes Mal, den Verschlußring zu bewegen, und tatsächlich gab er nach. Nun kostete es nur noch ein paar Handgriffe, und schon nach kurzer Zeit floß das Wasser wieder problemlos ab.

Erleichtert atmete Claire auf. Nora und Melanie begannen zu applaudieren, der Hund Walter jaulte aus Sympathie mit. Im allgemei­nen Lärm ging das Klopfen an, der Tür gänzlich unter.

Jim wußte inzwischen, daß es zwecklos war darauf zu warten, bis jemand ihn hörte, und trat einfach ein. Melanie stürzte begeistert auf ihn zu, Nora folgte der Kleinen. Claire mußte unwillkürlich lächeln. Noch im Mantel schwenkte Jim Melanie im Kreis herum und trug sie durch die Küche zum Geschirrschrank, wo er sich eine Tasse nahm.

- Ich bin gekommen, um mein Lieblingsmädchen zum Mittagessen einzuladen - teilte er dem Kind mit und stellte es wieder auf den Boden.

- Meinst du etwa mich? - fragte Melanie ungläubig.

- Dich. Hast du Lust, dir mal meine Wohnung anzusehen?

- Au ja, Jim!

- Mr. Brannigan - verbesserte Nora automatisch. Sie schenkte Jim Kaffee ein und erzählte ihm von dem Film, den sie am vergangenen Abend gesehen hatte. Melanie plapperte munter dazwischen.

Sobald sich ihm Gelegenheit bot, wagte er einen verstohlenen Blick in Richtung Claire. Ihm gefiel, daß sie barfuß war, und auch die veränderte Frisur entging ihm nicht. Wie sie so unschlüssig dastand, in ihrem roten Sweatshirt und den engen Jeans, bot sie einen bezaubern­den Anblick. Sein Herz schlug schneller.

- Wie kommt es, daß du mich zum Essen einlädst? - wollte Melanie wissen.

- Einfach so. Ich dachte, ein bißchen Gesellschaft am Samstag wäre genau das richtige.

- Aber Tante Claire hat deine Wohnung doch auch noch nicht gesehen.

- Vielleicht hat sie keine Lust dazu.

- Hast du sie denn schon gefragt?

Jim lächelte.

- Wie ist es, Tante Claire, möchtest du mit uns zusammen ein paar Erdnußbutterbrote essen? - Ohne ihre Antwort abzuwarten, wandte er sich wieder an Melanie. - Lauf schnell zu deiner Mutter und frag, ob du mitdarfst.

Melanie hob die Augenbrauen.

- Warum? Ihr ist doch egal, was ich mache. Wahrscheinlich merkt sie nicht einmal, daß ich fort bin.

Einen Augenblick lang herrschte betretene Stille in der Küche. Dann lief Claire auf die Kleine zu, nahm sie in die Arme und küßte sie.

- Das stimmt doch gar nicht, Herzchen. Deine Mutter hat dich sehr lieb. Nur zeigt dies jeder Mensch auf andere Weise.

Über Melanies Kopf hinweg schaute sie Jim bekümmert an. Trotz ihrer Sorge um Melanie konnte Claire nicht umhin festzustellen, daß er ein wirklich attraktiver Mann war. Seine Ausstrahlung bewirkte, daß sie sich neben ihm klein und wehrlos fühlte.

Er schien ihre neue Frisur nicht bemerkt zu haben, seine Aufmerk­samkeit konzentrierte sich augenscheinlich' ausschließlich auf Melanie. Claire ging in ihr Zimmer, zog Strümpfe und Schuhe an und nahm eine Jacke mit. Noch vor einem Monat hätte sie sich kaum in die Höhle des Löwen gewagt. Jetzt hingegen hatte sie das wenig erbauliche Gefühl, daß sie auch ohne Melanies Anwesenheit in Jims Wohnung ungefährdet sein würde.

Jim und Melanie verließen fröhlich das Haus, Claire folgte ihnen unbeachtet.

Sie öffnete sich die Wagentür selbst und nahm neben Melanie auf dem Rücksitz Platz.­

Einerseits hätte Claire Jim küssen mögen für die Zuwendung, die er Melanie schenkte. Die Kleine verschlang förmlich jedes seiner Worte und sah ihn immer wieder bewundernd an. Jim war bemüht, sein Verhältnis zu Melanie betont unkompliziert zu halten. Es war, als wisse er, daß sie zu sehr darunter leiden würde, wenn er nicht dauernd bei ihr war.

Schließlich mußte sie ohne Vater aufwachsen; es konnte also leicht geschehen, daß sie ihn als eine Art Vaterersatz betrachtete. So gab sich Jim lässig, ohne allzuviel von seinen Gefühlen für das Kind durchscheinen zu lassen. Dennoch wurde es Claire warm ums Herz, wenn sie die beiden beobachtete.

Andererseits aber hätte Claire Jim glatt umbringen mögen. Die Art, wie er sie behandelte, zeigte überdeutlich, daß er in ihr nur eine gute Freundin sah. Daß sie eine Frau war, schien er gar nicht zu bemerken.

*

Jim und Melanie veranstalteten ein Wettrennen die Treppe hinauf bis zum neunten Stock. Geduldig warteten sie, bis Claire sie einholte.

- Ich wette, wir hätten sie auch geschlagen, wenn sie den Fahrstuhl genommen hätte, nicht Jim? - fragte Melanie fest.

- Das einzige, mein Schatz, womit wir deine Tante nicht necken dürfen, ist ein Fahrstuhl. - Jim schloß die Tür auf und schob die beiden in die Wohnung. - Was haltet ihr davon, daß Claire sich zuerst ein bißchen ausruht und sich die Wohnung ansieht, während Melanie und ich das Essen machen?

- Prima! Wird es eine Überraschung? - fragte Melanie begeistert.

- Hundertprozentig! Deine Tante darf auf keinen Fall in die Küche schauen, solange wir beschäftigt sind.

Aus den Augenwinkeln heraus sah er, daß Claire sich sichtlich unbehaglich fühlte. Er zog Melanie in die Küche, schloß die Tür hinter sich und lehnte sich dagegen. Ein leises, zufriedenes Lachen kam ihm über die Lippen. Fragend sah Melanie ihn an. Jim konnte ihr schlecht erklären, warum er sich so freute. Das Lamm hatte sich tatsächlich bereitwillig in die Höhle des Löwen begeben!

Claire ließ ihre Jacke auf einen Stuhl fallen und sah sich um. Mit einem Achselzucken warf sie einen letzten bedauernden Blick zur verschlos­senen Küchentür.

Wenigstens ein Gutes hatte das Ausgeschlossensein. Seit Wochen quälte Claire eine heimliche Neugier, wie Jims Wohnung wohl aussehen würde. Sie befand sich im neunten Stock eines modernen Hochhauses, mit Aussicht auf den Chicago River. So etwas hatte Claire fast erwartet. Jim liebte die Stadt, es paßte zu ihm, daß er sich einen Platz mitten in der City ausgesucht hatte.

Die Einrichtung des Wohnzimmers überraschte sie hingegen. Offen­sichtlich hatte Jim keinen Innenarchitekten bemüht, um sich eine perfekte Atmosphäre schaffen zu lassen. Nachdenklich wanderte Claire herum und betrachtete die einzelnen Gegenstände.

In dem großen Raum kontrastierten die verschiedensten Materialien miteinander, wie beispielsweise der flauschige beige Teppichboden mit dem Rauhputz der Decken und Wände, der Eckkamin aus Naturstein mit den Bücherregalen aus Teakholz. Das wuchtige Sofa besaß dicke moosgrüne Polster, in denen man völlig versinken konnte. Alt und modern ergänzten sich harmonisch. Einerseits besaß Jim einen jener neuen Fernseher mit überdimensionalem Wandbild­schirm, andererseits aber auch alte, in Leder gebundene Bücher, Zinnfiguren und eine Reihe wertvoller Originalradierungen.

Nervös zog Claire die Hand zurück, mit der sie gedankenverloren einige der Gegenstände berührt hatte. Sie beschloß, sich ganz ruhig hinzusetzen und auf Jim und Melanie zu warten. Aber sie hielt es nicht lange aus und stand auf, um ins Badezimmer zu gehen und sich zu kämmen.

Gegenüber vom Waschbecken war eine riesige, dunkelrote Bade­wanne in den Boden eingelassen, in der mindestens zwei, wenn nicht drei Personen Platz gehabt hätten. Die Handtücher von der gleichen Farbe sahen unwahrscheinlich weich aus und waren so groß, daß Claire sich zweimal darin hätte einwickeln können.

Nachdem sie ihren Kamm wieder in der Handtasche verstaut hatte, verspürte sie den unsinnigen Wunsch, ein wenig in diesem Raum zu verweilen. Es duftete hier so unwiderstehlich nach Jim, nach seinem Shampoo, seinem Rasierwasser, seiner Seife.

Was ist nur los mit mir, dachte Claire. Neuerdings benehme ich mich wie ein verliebter Teenager!

Sie entdeckte eine Waage und stellte sich gedankenverloren darauf. Erschrocken fuhr sie zusammen, als eine Computerstimme schnarrte:

- Sie sollten umgehend zum Arzt gehen. Sie haben seit gestern dreiundachtzig Pfund abgenommen.

Eilends verließ sie das Bad und ging ins Wohnzimmer zurück. Die Küchentür war noch immer verschlossen, aber eine halbgeöffnete Tür zwischen Wohnzimmer und Küche erregte Claires Aufmerksamkeit. Sie trat näher und blickte in den Raum. Dies mußte Jims Arbeitszim­mer sein, den vielen Akten auf dem Schreibtisch nach zu urteilen. Auch einen Computer und eine Rechenmaschine entdeckte sie. Er scheint sehr hart zu arbeiten, ging es Claire durch den Kopf. lm selben Moment fuhr sie ertappt zusammen, als sie Jims Stimme hinter sich vernahm.

Lautlos war er mit Melanie aus der Küche gekommen und sah nun Claire verschmitzt lächelnd an.

- Wir werden im Schlafzimmer essen - teilte er ihr mit ernster Stimme mit. - Deine Nichte hat mir erzählt, daß sie zu Hause niemals im Bett essen darf. Hier, bei mir, ist das durchaus erlaubt.

Claire nickte und folgte den beiden.

- Du hattest mir angeboten, mich ein wenig umzusehen. Ich hoffe, es stört dich nicht, daß ich es tatsächlich getan habe?

- Natürlich nicht, Tante Claire - versicherte Melanie an Jims Stelle. - Deshalb hat er uns doch eingeladen! Also, mir gefällt alles ganz prima, Jim. Und Tante Claire bestimmt auch. Möchtest du, daß wir bei dir einziehen und bei dir wohnen?

- Deine Großmütter würde dich sicher sehr vermissen, Liebes.

- Sie könnte doch mitkommen.

Claire traute Jim zu, mit jedem weiblichen Wesen, und sei es eine Vierjährige, gut allein fertigzuwerden. Deshalb beschloß sie, nicht einzugreifen, und sah sich statt dessen im Schlafzimmer um. Inmitten des mit dunkelrotem Teppichboden ausgelegten Raumes stand ein riesiges Bett - und das war auch schon alles. Hinter der langen, verspiegelten Schrankwand vermutete sie seine Kleidung und alles andere, dessen er sonst noch bedurfte. Eine in viele Glasquadrate unterteilte Tür führte hinaus auf den Balkon, von dem man einen herrlichen Blick über den Fluß hatte. Claire hatte in diesem Moment keinen Sinn für die Aussicht, wie gebannt mußte sie immer wieder zum Bett hinübersehen. Jim hatte ein großes Tablett in die Mitte plaziert und streckte sich nun daneben aus. Melanie hockte sich im Schneidersitz dazu.

- Los, komm auch! - forderte sie Claire ungeduldig auf.

Zögernd trat Claire näher und stellte fest, daß nur wenig Platz für sie auf dem Bett übrigblieb, wenn sie Jim nicht zu nahe kommen wollte. Sie zog sich die Schuhe aus und ließ sich vorsichtig auf der Bettkante nieder, um die drei Limonadengläser auf dem Tablett nicht umzuwer­fen. Jim zog sie näher zu sich heran.

- Du wirst hinunterfallen, wenn du dich so weit an den Rand setzt! - warnte er belustigt.

Claire zuckte nur die Achseln und besah sich das Tablett genauer. Saftige rote Trauben schienen die Vorspeise zu bilden, daneben stand ein Schälchen mit Studentenfutter. Auf einer Platte stapelten sich kleine, mit Käse belegte Brothappen - Melanies Werk, vermutete sie.

- Dies ist Schweizer Käse, erklärte Jim. - Das hier ist Kashkaval, ein ziemlich salziger, jugoslawischer Käse. Der Gorgonzola dort kommt aus Italien, dies ist ein dänischer Butterkäse, jener ein holländischer Gouda. Und Brie gibt es natürlich auch. Melanie hat mir gestanden, daß sie es leid ist, immer nur langweiliges, gesundes Mittagessen zu bekommen. Deshalb haben wir uns etwas Verrücktes einfallen lassen.

Natürlich wußte er genau, daß dies kein „verrücktes“ Essen war, sondern eine kleine Ansammlung von Delikatessen. Oder wohl auch wußte, daß sein Bein das ihre berührte? Selbstverständlich weiß er das, dachte Claire gereizt.

Und es macht ihm überhaupt nichts aus.

- Iß nur, und mach dir keine Gedanken wegen der Krümel - zwitscherte Melanie vergnügt.

- Das werde ich auch nicht tun.

- Du mußt unbedingt alles probieren. Wenn es dir nicht schmeckt, kannst du ja ins Bad gehen und es wieder ausspucken - aber kosten mußt du alles.

Melanie legte sich auf den Bauch und begann mit Appetit zu essen.

- Ich finde, diese Anordnung ist viel vernünftiger als die, unbedingt den Teller leer essen zu müssen. Jim sagt, niemand sollte gezwungen werden, seinen Spinat ganz aufzuessen.

- Gut, hier gelten Jims Regeln, aber bei uns zu Hause müssen wir uns nach Omis Regeln richten - stellte Claire vorsichtig klar.

- Jim hat ganz andere Regeln. Willst du sie mal hören?

- Natürlich!

- Niemand darf an die Schublade mit den Messern.

- Ausgezeichnete Regel!

- Man darf stundenlang auf dem Sofa herumspringen, solange man keine Schuhe an hat.

- Ebenfalls ganz ausgezeichnet!

- Man darf bei ihm in jeden Schrank hineinschauen und fragen, soviel man will. Er sagt, das sei ganz wichtig, es gäbe keine Frage, die man nicht stellen dürfe. - Genüßlich nahm Melanie eine weitere Handvoll Studentenfutter. - Und noch etwas ganz Wichtiges. Ehe man zu weinen anfängt, weil man ein G1as Limonade umgeschüttet hat, soll man Jim lieber umarmen.

- Wie oft mußtest du Jim denn umarmen?

- Dreimal.

Über den Kopf des Kindes hinweg deutete Claire Jim an, ob sie die Bescherung in der Küche beseitigen solle, aber er schüttelte be­schwichtigend den Kopf.

Während des Essens stand Melanie immer wieder auf, um in der Wohnung herumzuwandern und sich alles anzuschauen. Als sie außer Hörweite war, flüsterte Jim Claire zu:

- Ich habe ihn gefunden!

- Wen?

- Melanies Vater. Er ist inzwischen zweimal umgezogen, deshalb konnte deine Schwester ihn nicht erreichen. Es dauerte eine Weile, ihn aufzuspüren. Jim wischte sich die Hände sauber. - Er lebt jetzt in Minnesota. Er ist unverheiratet und es scheint ihm sehr gutzugehen.

Claire hatte Jims Angebot, Melanies Vater zu suchen, längst vergessen. Es berührte sie, wieviel Mühe er sich gemacht hatte, und war gleichzeitig ratlos, was sie mit der erhaltenen Information anfangen sollte.

- Glaubst du, es könnte Sandra helfen, wenn sie ihn wieder­sieht?

- Hat sich denn das Verhältnis zwischen Melanie und deiner Schwester gebessert?

Traurig schüttelte Claire den Kopf.

- Sandra ist auf dem besten Weg, ihr Leben zu ruinieren, nur weil sie einmal an den falschen Mann geraten ist. Sie ist klug genug, um es besser zu wissen.

Jim dachte einen Augenblick lang gnadenlos, daß auch Claire klug genug sein müßte, um sich nicht durch die schlechten Erfahrungen mit einem einzigen Mann dauerhaft beeinflussen zu lassen. Nur, Klugheit hatte nichts mit Gefühlen zu tun.

- Nach dem, was du mir erzählt hast, wird es für sie höchste Zeit, die Gespenster der Vergangenheit zu vertreiben - stellte er ruhig fest. - Was kann sie schon verlieren?

- Nichts. - Bekümmert fügte Claire hinzu: - Höchstens ihre Tochter, wenn sich nichts ändert

- Denkst du noch immer daran, ihr das Kind fortzunehmen?

- Im Grunde bin ich dazu verpflichtet - antwortete Claire unglück­lich.

- Vielleicht wird es tatsächlich so weit kommen - sagte Jim sanft. - Aber es kann auch sein, daß Sandra zur Besinnung kommt, wenn sie erkennt, was der wirkliche Grund für ihre Probleme war. Ich finde, es ist einen Versuch wert. Nur um eins möchte ich dich bitten, Claire. Hör auf, dir Sorgen um Melanie zu machen. Sie wird niemals seelischen Schaden erleiden, solange du da bist und ihr Liebe schenkst.

Zärtlichkeit sprach aus Jims Augen, aber nur für den Bruchteil einer Sekunde. Er wandte den Blick von Claire ab und stellte das Tablett auf den Boden. Aber noch ehe er sich wieder aufrichten konnte, kam Melanie ins Zimmer gestürzt Sie sprang ihn an und kitzelte ihn. Jim rief Claire zu Hilfe, und in kürzester Zeit waren sie alle drei in eine fröhliche Balgerei verwickelt

Claire wußte nicht recht, wie es geschah, aber plötzlich hatte Melanie sie zum Opfer auserkoren. Das Kind hielt ihr die Arme fest und forderte Jim auf, Claire zu kitzeln. Sie lachte atemlos, und Jim beugte sich über sie. Claire sah das Leuchten in seinen Augen und spürte sein Gewicht auf ihrem Körper. Mit einemmal ahnte sie, wie es sein würde, wenn sie sich liebten. Auch er dachte daran, das fühlte sie, und eine Weile verharrten sie beide reglos.

Lautstark beklagte sich Melanie, daß Jim Claire nicht kitzelte, und der Moment der Spannung war vorüber. Jim und Melanie trugen das Tablett in die Küche, Claire folgte ihnen nach einem Blick auf ihre Armbanduhr. Der Samstag war der arbeitsreichste Tag der Woche für sie und Jim. Sie mußten sich beeilen, wenn sie nicht zu spät kommen wollten.

In nur zehn Minuten hatten sie die gröbste Unordnung in der Küche beseitigt und standen im Mantel an der Wohnungstür. Jim legte die Hand auf den Türgriff, dann hielt er plötzlich inne.

- Die wichtigste Regel habe ich dir noch nicht gesagt - wandte er sich an Melanie.

- Und welche ist das?

- Ich bekomme jetzt einen Kuß von euch für das Essen, oder ihr dürft nicht hinaus.

Er beugte sich zu der Kleinen hinunter, die ihm lachend einen Kuß auf die Wange gab.

- Möchtest du noch einen?

- Wenn er so gut ist, wie der erste, ja!

Melanie küßte ihn erneut, sah dann erwartungsvoll zu Claire auf.

- Los, beeil dich! - bettelte sie.

Lächelnd legte Claire Jim die Arme um den Hals. Jim lächelte nicht, als sich ihr Mund dem seinen näherte, und sein Kuß war alles andere als sanft und freundschaftlich.

Einen Monat lang hatte Jim sie nicht berührt. Einen Monat lang hatte Claire nur träumen dürfen, vom Zauber seines Kusses. Da war es wieder, dieses Prickeln auf ihrer Haut, dieses verwirrende Gefühl des Verlangens. Claire verschränkte die Finger in Jims Nacken und schloß die Augen. Viel zu schnell ging der Augenblick vorüber. Jim hob den Kopf und fragte Melanie:

- War das gut genug, oder muß sie mich noch einmal küssen?

- Nein. Sie kann ja nichts dafür, daß sie nicht so gut küssen kann, wie ich - wehrte Melanie großzügig ab.

- Da hast du natürlich recht.

Hat er wirklich nicht gespürt, wie sehr sein Kuß mich erregt hat, oder tut er nur so? fragte Claire sich verwirrt auf dem Weg zum Auto.

- Meinst du, ich darf Tante Claire fragen, ob sie mich am nächsten Dienstag besucht und sich ein Football-Spiel mit mir ansieht? - erkundigte Jim sich bei Melanie.

- Ich mag keinen Football.

- Deshalb wollte ich ja auch Tante Claire fragen.

- Tante Claire interessiert sich tatsächlich für Football - teilte Melanie ihm mit. - Aber am Dienstag gibt es gar kein Spiel.

- Auf meinem Videorecorder schon. Ich habe neulich das Pokalspiel aufgenommen, weil ich arbeiten mußte.

- Da habe ich auch gearbeitet Dienstag ist Tante Claires freier Tag.

- Gerade deshalb wählte ich diesen Tag. - Jims und Claires Blicke trafen sich im Rückspiegel.

- Abgemacht - sagte Claire. Warum klang ihre Stimme so gereizt? Sie liebte Football. Und, zu ihrem Mißfallen, liebte sie auch Jim.

8. KAPITEL

- Jim, du bist tatsächlich ein großes Kind - In gespielter Verzweiflung schüttelte Claire den Kopf.

Energisch rüttelte Jim die Pfanne mit den Maiskörnem auf der Herdplatte:

- Football ohne Popcorn ist ein Ding der Unmöglichkeit!

- Und ich dachte, du seist ein weltmännischer eleganter Mann mit Niveau, als ich dich zum erstenmal sah.

- Als du mich zum erstenmal sahst, fiel ich in Ohnmacht!

- Aber nicht sofort. Vorher sah ich einen überlegen wirkenden Mann im Smoking. Und jetzt? Sieh dich doch mal an!

Jim ging nicht auf Claires Bemerkung ein und schmunzelte. Er trug ein ausgeleiertes schwarzes Sweatshirt und verwaschene Jeans.

- So­weit ich mich erinnere, war auch die Dame seinerzeit wesentlich formeller gekleidet.

- Man kann sich ein Football-Spiel nun einmal nicht in Schuhen anschauen!

- Auch nicht in Socken?

Claire tat, als sei sie zu beschäftigt, um zu antworten. Jim schüttete das fertige Popcorn in eine Schüssel, und Claire nahm zwei Dosen Bier aus dem Kühlschrank. Kurz darauf kauerten sie im Wohnzimmer auf dem Boden vor dem großen Bildschirm. Jim stellte die Schüssel zwischen sich und Claire, zog ein paar dicke Kissen heran, die sie sich hinter den Rücken schoben, und drückte auf die Fernbedienung.

Mit einem zufriedenen Seufzen lehnte Claire sich zurück. Die Vorliebe für Football hatte sie von ihrem Vater. A1s er noch lebte, hatten sie viele Sonntagnachmittage vor dem Fernseher verbracht und die Spieler lautstark angefeuert In den letzten Jahren hatte Claire sich dieses Vergnügen wegen ihrer Arbeit nicht mehr leisten können, und sie hatte dies sehr vermißt. Nicht so sehr die Football-Spiele, sondern vielmehr die gemütliche Stimmung jener Nachmittage. Jim war in gewisser Weise ihrem Vater sehr ähnlich: die Mannschaft aus Miami war gerade zum drittenmal im Ballbesitz, da sprang er schon auf und begann, laut auf die Spieler zu schimpfen.

Claire lachte leise und nahm sich eine Handvoll Popcorn. Behaglich verschränkte sie die Arme im Nacken.

- Ich wette fünf Dollar auf Montana - bot sie heiter an.

- Sehr lustig, wir wissen doch schon, wie das Spiel ausgegangen ist! - grollte Jim.

- Ich finde, du hättest ein anderes Spiel aufnehmen sollen. Anschei­nend kannst du die Niederlage von Miami nicht verschmerzen! Warum hältst du eigentlich nicht auch zu Montana? - Claire runzelte die Stirn, einem ihrer Lieblingsspieler war ein Schnitzer unterlaufen. - Zum Donnerwetter, was soll das? Nun lauf doch schon!

Jim brach in schallendes Gelächter aus.

- Du solltest denen mal Nachhilfestunden geben!

- Die Versuchung ist groß!

Jim stellte sich vor, wie Claire in ihren engen Jeans und dem weichen gelben Angorapullover der rauhbeinigen Footballmannschaft die Leviten las.

- Ich bin überzeugt, du könntest die Spieler sehr beeindrucken - bemerkte er trocken.

An diesem Tag war Claire völlig entspannt. Sie hatte nicht einen Moment gezögert, einen gemütlichen Nachmittag allein mit Jim in seiner Wohnung zu verbringen. Und Jim hatte bewußt darauf verzichtet, für dieses Ereignis Kerzen und Champagner einzukaufen. Es war schwer genug gewesen, Claires Vertrauen zu gewinnen.

Er nahm die Popcornschüssel fort und setzte sich dicht neben Claire. Immer, wenn sich das Spiel dramatisch zuspitzte, stampfte sie ärgerlich mit dem nackten Fuß auf. Jim fand es schließlich interessanter, Claire zu beobachten und nicht das Spiel.

Wie reizend sie aussah, wenn sie sich über das Spiel ereiferte! Ihre Wangen röteten sich, und die Augen begannen zu glänzen. Ihr Busen hob und senkte sich dann bei jedem Atemzug schneller. Ab und zu setzte sie sich kerzengerade auf und ballte vor Empörung die Fäuste. Dann wieder ließ sie sich auf den Rücken fallen und schlug die Hände vors Gesicht Wenn Jim ihr den Arm um die Schultern legte, lehnte sie sich an ihn, und das freute ihn am meisten.

Obwohl Claire den Blick noch immer auf den Bildschirm gerichtet hatte, war doch auch sie in Gedanken längst mehr bei Jim. Ganz gleich, ob er sich bewegte oder still dasaß - stets war sie sich seiner Gegenwart und seiner Männlichkeit bewusst.

Seit Wochen bemühte sie sich, die Welt aus seiner Sicht zu betrachten. Es gab nichts, was ihn umzuwerfen vermochte. Mit ihm konnte Claire schweigen, streiten oder lachen. Sie hatte sich in ihn verliebt, eine Tatsache, die sie um jeden Preis hatte vermeiden wollen.

Während sie sich behaglich an ihn lehnte, spürte sie wie ihr warm wurde. Von Zeit zu Zeit strich Jim ihr abwesend übers Haar, wobei ihr leichte Schauer durch den Körper liefen. Es fiel ihr schwer, den Blick von seinen langen, muskulösen Beinen zu wenden.

Das Licht im Zimmer war gedämpft. Wegen der hellen Sonne hatte Jim vor dem Spiel die Vorhänge zugezogen. Der Widerschein des Bildschirms erhellte seine Züge, ließ sie mal klar und deutlich hervortreten, dann wieder im Dämmerlicht verschwimmen. Plötzlich erschien Claire die Luft im Zimmer unerträglich heiß.

- Montana sollte nicht dauernd von der Flanke her angreifen - sagte sie schließlich, um sich abzulenken.

- Montana war schon seit mindestens drei Minuten nicht mehr im Ballbesitz, Claire.

Claire schaute Jim an und erwartete, Belustigung auf seinem Gesicht zu sehen. Aber Jim lächelte nicht. Überhaupt schien es mit einemmal unerklärlich still im Zimmer geworden zu sein, die Geräu­sche der Übertragung drangen wie durch einen dichten Nebel an Claires Ohr.

In Jims Augen glomm ein seltsames Feuer. Unversehens wurde ihr alles ganz klar: Seine Zurückhaltung während der letzten Wochen war Taktik gewesen, jetzt war seine Geduld am Ende. Er hatte gesiegt, er war an seinem Ziel.

Bei dieser Erkenntnis überlief Claire ein Schauer. Das war wirklich ein meisterhafter Schachzug von Jim gewesen. Er hatte so lange gewartet, bis es zu spät für sie war. Zu diesem Zeitpunkt konnte sie sich nicht mehr in die Ausrede flüchten, ihre Beziehung sei nur ein kurzes Abenteuer. Auch wäre es jetzt unglaubwürdig gewesen, ihre Gefühle für ihn als rein körperliche Anziehungskraft abzutun, dazu kannte sie ihn mittlerweile viel zu gut.

Claires Puls beschleunigte sich bei dem Gedanken, daß Jim noch viel durchtriebener war, als sie es sich vorgestellt hatte.

Mit seinem ersten Kuß schien er sie dafür um Verzeihung bitten zu wollen. Unendlich sanft berührten seine Lippen ihren Mund. Obwohl Claire Jim wegen seiner Taktik zürnte, spürte sie wie ihr Körper sich nach ihm sehnte. Zu lange hatte sie seine Küsse vermißt, jetzt war ihr, als müsse sie all das Versäumte nachholen. Wie gefährlich das verführerische Spiel seiner Zunge sein konnte, daran hatte sie gar nicht mehr gedacht Jims Kuß konnte sie dazu bringen, alles zu vergessen.

Langsam hob Jim den Kopf. Ohne den Blick von ihr zu wenden, schob er die Kissen beiseite, griff nach der Fernbedienung und schaltete den Ton ab.

Claire sank zurück auf den Teppichboden. Im Halbdunkel sah sie Jims Gesicht über sich, das seine Empfindungen widerspiegelte: Selbstbeherrschung, Sehnsucht und Begehren.

Mit beiden Händen umschloß Jim ihr Gesicht und strich ihr dabei das Haar aus der Stirn. Claire hatte das Gefühl, als erwache ihr Körper aus einem vier Jahre dauernden tiefen Schlaf. Schon am ersten Tag ihrer Begegnung hatte Jim in ihr sinnliche Empfindungen geweckt, aber bis zu diesem Tag hatte Claire nie konkrete Vorstellungen davon gehabt.

- Wage nicht, mir zu sagen, daß du es nicht willst, Liebste.

- Das habe ich niemals behauptet

- Du weißt sehr gut, daß ich noch mehr verlange. Ich will alles von dir, Claire, und auch ich will dir alles geben.

Jims Kuß war nicht länger sanft und zurückhaltend, sondern ungestüm und fordernd. Er gab ihren Mund nur frei, um mit seinen Lippen ihren Hals zu erforschen. Sein Bein schob sich zwischen ihre Schenkel, so daß es ihr fast unmöglich war, sich zu bewegen. Behutsam schob er ihren Pullover nach oben. Ein kaum hörbarer Laut entrang sich ihren Lippen, als Jim leicht über die samtige Haut ihres Bauches strich. Ohne ihren Blick loszulassen, öffnete er den Verschluß ihres BHs.

Claires Augen nahmen einen verträumten Ausdruck an, eine zarte Röte überzog ihre Wangen.

- Hör auf - murmelte sie erstickt.

- Womit?

- Mich so anzusehen.

Er schüttelte den Kopf. Mit einem Finger umkreiste er abwechselnd die zarten Spitzen ihrer Brüste, die unter dieser Berührung hart wurden. Als Jim den Kopf neigte und eine der empfindsamen Spitzen zwischen die Lippen nahm, schloß Claire die Augen. Unwillkürlich wölbte sie sich ihm entgegen. Ihr Atem ging schneller, und sie erstarrte, als Jim den Verschluß ihrer Jeans öffnete.

- Pst! - Jim küßte sie auf den Mund. - Wir werden nichts überstürzen, und ich will dich auch zu nichts drängen, Claire. Ich möchte dich nur ansehen. Wehr dich nicht dagegen:

- Ich wehre mich ja nicht - gab sie genauso leise zurück.

Claire lachte schüchtern auf.

- Du mußt annehmen, ich hätte noch nie zuvor so etwas getan. Ich wußte nur nicht, daß es so sein würde.

Er lächelte sie zärtlich an.

- Wir haben noch nicht einmal angefan­gen. Liebes.

Er versteht nicht, was ich meine, dachte Claire. Noch nie hatte sie einen Mann auf diese Weise geliebt Berührungen, ja, die kannte sie, auch die damit verbundene Erregung war ihr vertraut. Aber noch niemals hatte sie ein so starkes, schier unkontrollierbares Verlangen nach einem Mann gespürt.

Unablässig Koseworte murmelnd, begann Jim, sie zu entkleiden. Dabei küßte er die Stellen, die er entblößte. Claire erbebte, als seine Lippen behutsam ihre Beine hinauf bis zur zarten Haut an der Innenseite ihrer Schenkel glitten. Er verlangte so viel von ihr. Intimitäten, die sie noch nie erlebt hatte, und Gefühle, die sie noch keinem Mann entgegengebracht hatte. Und doch drängte es sie mit aller Macht danach, dieses berauschende Gefühl der Lust festzuhalten und auszukosten.

Zaghaft strichen ihre Hände über die glatte, feste Haut seiner Schultern, fuhren durch das lockige Haar auf seiner Brust. Ihre Liebkosungen wurden selbstbewußter, bestimmter. Schon nach kür­zester Zeit schien ihr sein Körper so vertraut, als kenne sie ihn bereits ein Leben lang.

Sie hatte ihn von Anfang an begehrt, und er hatte es gewusst. Je mehr sie ihn jetzt streichelte, desto mehr belohnte er sie mit immer leidenschaftlicher werdenden Küssen. Schließlich stahl sich ihre Hand zum Verschluß seiner Jeans, und sie hörte, wie Jim mit einem scharfen Laut den Atem einzog.

Beim Abstreifen seiner Kleidung half ihr Jim, und nun war es an ihr, den Atem anzuhalten. Ein Beben durchlief sie beim Anblick seines durchtrainierten, erregten Körpers. Claire fühlte sogar etwas Furcht, als Jim sich neben sie legte und sie in die Arme schloß.

- Ich werde sehr zart sein - versprach er leise.

- Ich weiß.

Sie gab dem Wunsch nach, mit den Fingern sanft die Linien seines Gesichtes nachzuziehen. Wie gut er aussah, und welches Verlangen in seinen Augen zu lesen war. Sie fürchtete sich, ohne zu wissen, weshalb.

Der rauhe Teppich unter ihrem Rücken bildete einen erregenden Kontrast zu Jims zärtlichen Liebkosungen. Unruhig warf Claire den Kopf hin und her, als sie glaubte, ihr Verlangen nicht mehr länger zügeln zu können.

- Jim, komm!

Behutsam drang er in sie ein. Langsam, dann immer kraftvoller werdend bewegte er sich auf ihr.

- Sieh mich an - bat Jim leise. - Weißt du, wie lange ich mich schon nach diesem Augenblick sehne?

Claire schloß die Augen.

- Bitte, schau mich an. Ich möchte dich beobachten. Ich möchte in deinen Augen lesen, was du empfindest. - Jim fuhr fort, ihr Dinge zu gestehen, die ihr noch niemals von einem Mann gesagt worden waren. Claire hatte das Gefühl, zum erstenmal im Leben wirklich begehrt zu werden.

Ihre Erregung wuchs, Claire gab sich ihr völlig hin. Sie spürte, Jim liebte und begehrte nicht nur ihren Körper, sondern auch ihre Seele, ihr ungeteiltes Ich. Wieder und wieder flüsterte sie seinen Namen. Sie bäumte sich auf, und in einem Rausch von Licht und Farben entlud sich ihre Leidenschaft

Als Claire wieder zu sich kam, bemerkte sie erstaunt, daß Jim ihr Tränen vom Gesicht küßte.

- Hast du jemals geglaubt, es würde weniger außergewöhnlich sein, wenn wir uns lieben? - fragte er halblaut.

*

Die Morgendämmerung erhellte nur spärlich das Zimmer. Vorsichtig zog Claire den Arm unter Jims Schulter hervor und setzte sich auf. Liebevoll betrachtete sie ihn eine Weile. Um keinen Preis hätte sie ihn jetzt verlassen mögen, und doch war es genau das, was sie tun mußte.

Nachdem sie sich zum erstenmal geliebt hatten, war Jim in die Küche gegangen und hatte etwas zu essen geholt. Aber sie hatten es beide nicht angerührt, und Claire konnte nicht einmal mehr sagen, was er zubereitet hatte. Dagegen erinnerte sie sich deutlich daran, wie er sie ins Schlafzimmer getragen hatte. Noch zweimal hatten sie sich geliebt, dazwischen hatte er ihr ein Glas Wein gebracht und mit ihr geredet und gelacht. Claire hätte es sich nie träumen lassen, jemals einen Mann wie Jim zu finden, einen Geliebten, der gleichzeitig realistisch und romantisch, zärtlich und wild war. Er gab alles.

Und er erwartete auch alles. Noch immer brannte ihre Haut dort, wo er sie liebkost hatte. Schließlich war sie so erschöpft gewesen, daß sie sich unfähig glaubte, ihm noch irgend etwas geben zu können. Aber wie sehr hatte sie sich getäuscht! Er wußte genau, wie er es anstellen mußte, um in ihr die Glut des Begehrens erneut zu entfachen. Und er hatte sie gelehrt, wie sie bei ihm verfahren mußte. Er hatte sie ermutigt, angetrieben und bestärkt. Trotz ihrer anfänglichen Müdigkeit hatten sie beide einen Höhepunkt erlebt, der die vorangegangenen sogar übertraf. Jims glückliches Lachen, ehe sic einschliefen, klang ihr noch in den Ohren.

Langsam stand Claire auf und strich sich mit der Hand durchs zerwühlte Haar. Stundenlang hatte sie schlaflos neben ihm gelegen, und im Laufe der Zeit war eine namenlose, schmerzliche Angst in ihr erwacht. Sie hätte es wissen müssen, wie es zwischen ihnen sein würde, hatte Jim gesagt. Ja, sie hatte es gewusst. Jim forderte alles von ihr, wollte ihr ganzes Ich. Sie liebte ihn von Herzen, dennoch war sie verzweifelt.

Geräuschlos zog sie sich in der Dunkelheit an, holte den Mantel aus dem Wohnzimmer und verließ die Wohnung. Schon einmal war sie bereit gewesen, sich für einen Mann aufzugeben, für einen Mann, der bei weitem nicht an Jim heranreichte, in keiner Hinsicht.

Claire wußte, daß Sex nur einen Teil ihrer Beziehung zu Jim ausmachte. Er sah das, was zwischen ihnen geschehen war, als den Anfang für etwas viel Bedeutenderes an.

Genau erinnerte sie sich daran, wie sie sich nach ihrer Scheidung gefühlt hatte: verloren, wie ein abgeschobener Gegenstand. Sie konnte nicht vergessen, wie besitzergreifend ein Mann in einer festen Beziehung werden konnte, und Jim hatte sich schon jetzt, als sie sich geliebt hatten, als ziemlich besitzergreifend erwiesen.

Mit Tränen in den Augen und Verzweiflung im Herzen hastete Claire die Treppen hinunter ins Freie.

*

- Lieber Himmel, Claire, du bist aber schon früh auf. - Nora stand gähnend in der Küchentür.

- Hm. Der Kaffee ist fertig, und der Toast auch gleich. - Claire gab sich betont heiter. Sie wandte das Gesicht ab, um dem prüfenden Blick ihrer Mutter zu entgehen. Für gewöhnlich erkannte Nora blitzschnell, wenn irgend etwas nicht stimmte.

Wenig später erfüllte fröhlicher Lärm die Küche. Claire war dankbar, daß sie alle Hände voll zu tun hatte, so kam sie wenigstens nicht zum Nachdenken.

Mittwochs ging Melanie in den Kindergarten, aufgeregt erschien sie in einem gepunkteten Pullover zu gestreiften Hosen. Als Nora darauf bestand, sie solle sich etwas anderes anziehen, brach sie in lautes Protestgejammer aus. Walter hob den Kopf und stimmte in Melanies Heulen mit ein.

Unausgeschlafen, aber schon fertigangezogen und geschminkt, trat in diesem Augenblick Sandra in die Küche. Mit einem Schrei wich sie zurück, als Nora ihr aus Versehen Kaffee über das hübsche Kleid schüttete.

Wie immer schaffte es Claire, im Handumdrehen für Ordnung zu sorgen. Sie lieh ihrer Schwester ein Kleid von sich, schenkte ihr eine neue Tasse Kaffee ein, tröstete das Kind und den Hund und schickte ihre Mutter an den Toaster.

Die erste Hürde schien genommen, das Leben ging weiter. Jim würde sie kaum vermissen, denn bestimmt gab es irgendwo eine Frau, die ihm genau das geben konnte, was er sich wünschte.

Dieser Gedanke verursachte Claire Höllenqualen, aber es war ihr ernst damit. Jedes Hinauszögern der endgültigen Trennung würde ihr Unglück nur verstärken. Sie hatte sich in ihn verliebt, trotzdem war es noch nicht zu spät, den Schlußstrich zu ziehen, ehe sie wieder in die gleiche Misere stürzte wie in ihrer ersten Ehe: Auch damals war die Liebe anfangs schön gewesen.

Der Frieden in der Küche war nicht von langer Dauer. Melanie erschien in einer noch abenteuerlicheren Kleiderzusammenstellung, Sandra murrte etwas von unnötigen Reinigungskosten, und aus dem Toaster stieg unheilverkündender Rauch. Genau in diesem Moment wurde die Tür des Hintereingangs aufgestoßen.

Jim war unrasiert, er hatte nur schnell geduscht und frische Sachen angezogen. Genau wie Claire war er nach nur drei Stunden Schlaf ziemlich übernächtigt. Sie erkannte auf den ersten Blick, daß er wütend war. Seine Brauen waren drohend zusammen8ezogen, und seine Züge wirkten so versteinert, daß Claire erschrak.

- Jim! - Melanie warf sich in seine Arme. - Sag ihnen, daß ich mich nicht noch einmal umziehen will! Stimmt's nicht, du findest doch auch, daß ich schön bin?

Aber Jim achtete nicht auf die Kleine. Durchdringend sah er Claire in die Augen.

- Ich möchte wissen, was los ist! - sagte er gefährlich langsam.

Verlegen sah sie zur Seite. Was sollte sie ihm darauf antworten? Nora hantierte mit dem verbrannten Toast herum, Sandra versuchte Melanie einzufangen, und Walter sprang sofort zur Verteidigung des Kindes herbei.

- Claire!

Erwartete Jim im Ernst eine Erklärung, jetzt inmitten des Durchein­anders? Während sie den einzelnen Familienmitgliedern zu Hilfe eilte, überlegte sie fieberhaft, was sie ihm sagen könne. Es fiel ihr nichts ein, ihre Gedanken überschlugen sich.

- Wo ist denn Jim? - vernahm sie plötzlich Melanies hohes Stimm­chen.

Claire sah auf und wurde blaß. Er war gegangen. Er hatte also allen Ernstes eine Erklärung erwartet. Er hatte geglaubt, sie würde ihre Beziehung über ihr ganzes bisheriges Leben stellen. Das war nicht vernünftig, das war zuviel verlangt.

- Wo ist er nur hingegangen, Claire? - fragte nun auch Sandra befremdet. - Er war doch eben noch da!

- Liebling, was ist denn los? - erkundigte Nora sich mitfühlend.

Jim ist verschwunden, von hier und aus meinem Leben - das ist los! dachte Claire verzweifelt. Der Schmerz drohte sie zu überwältigen. Entschlossen griff sie nach ihrem Mantel.

9. KAPITEL

Ein scharfer Wind schlug Claire entgegen, als sie durch die Hintertür ins Freie trat. Sie sah, wie Jim aus der Parklücke fuhr und mit heulendem Motor davonfahren wollte. Durch die Windschutzscheibe konnte sie sein Gesicht erkennen, es wirkte hart und grimmig. Dann hörte sie plötzlich Bremsen quietschen.

Claires Verzweiflung wich einem Zorn der Erleichterung. Innerhalb weniger Sekunden stand sie neben dem Wagen. Jim kurbelte das Fenster herunter, Claire sah ihn mit funkelnden Augen an.

- Du hättest wenigstens eine Minute warten können! Du hast doch gesehen, welches Chaos bei uns herrschte!

- Alles, was ich sehen konnte, war, daß du dich hinter diesem Chaos versteckt hast. - Jim musterte sie kalt. - Ich habe dir schon einmal gesagt, Claire, daß ich keine Zeit für Spielchen habe. -

- Sag mal, gibst du dich nicht päpstlicher als der Papst, Jim Brannigan? Du hast mich gestern abend regelrecht um den Finger gewickelt. Und zwar mit Popcorn und Football an Stelle von Cham­pagner und Kerzenlicht. Aber das ändert nichts an der Tatsache, daß du es getan hast. Du wußtest sehr gut, daß ich nicht erwartet hatte...

- Mit mir zu schlafen? Damit hättest du aber rechnen müssen. Egal, steig jetzt ein.

Ein Auto hinter ihnen hupte, ein zweites schloß sich an. Claire sah ratlos und verwirrt zu den Fahrern.

- Steig ein, Claire! - Jim lehnte sich zur Seite und öffnete ihr die Beifahrertür.

Sie zögerte kurz, lief dann um den Wagen herum und stieg ein. Ihr Zorn war verflogen, sie empfand nur noch Nervosität beim Anblick seiner eisigen Miene.

- Es war falsch von mir, letzte Nacht einfach davonzulaufen - gab sie schließlich unbehaglich zu.

- Allerdings - erwiderte er mißmutig.

- Es lag nicht daran, daß diese Nacht nicht wunderschön gewesen wäre.

- Unser Zusammensein war mehr als wunderschön, das weißt du ganz genau.

- Ich versuche, mich zu entschuldigen. Also hör bitte auf, mich anzuschnauzen!

- Aus irgendeinem unbegreiflichen Grund pflege ich niemals sanft zu schnurren, wenn ich wütend bin!

Claire spürte, daß auch Jims Ärger allmählich verflog. Seinem Blick nach zu urteilen, schien es ihm im Moment auszureichen, daß sie jetzt bei ihm im Wagen saß. Das hieß aber noch lange nicht, daß er in umgänglicher Stimmung war.

- Du brauchst nicht zu schnurren, anbrüllen sollst du mich nicht. Wo, um alles in der Welt, fährst du eigentlich hin?

- Genau dahin, wo ich mit dir hingefahren wäre, wenn du mich heute nacht nicht verlassen hättest. Mittwochs morgens habe ich eine Verpflichtung, die du schon längst hättest kennenlernen müssen. Also, warum bist du fortgelaufen?

- Weil ich plötzlich unerklärliche Angst hatte. Warum sonst sollte ich wohl mitten in der Nacht weglaufen?

- Wenn es wirklich so war, dann hättest du mich wecken sollen und mir sagen müssen: „Jim, ich habe Angst. Laß uns darüber reden“. Das wäre weitaus besser gewesen, als mich allein zu lassen und mir einen Schreck einzujagen.

- Jim, ich hatte Angst, laß uns bitte darüber reden - wiederholte Claire pflichtschuldig und sah blicklos zum Fenster hinaus. Ihre Stimme klang bedrückt - Ich wollte dir nicht weh tun, Jim, genauso­wenig, wie ich verletzt werden wolle. Aber ich hatte das Gefühl, daß genau das eintreffen würde, wenn ich bei dir bliebe.

- Das einzige, was geschehen wäre, ist, daß wir uns am Morgen geliebt hätten.

Sie warf ihm einen Seitenblick zu.

- Das meinte ich nicht

- Ich weiß, Liebling. - Jims Stimme klang ganz ruhig und ohne jede Verärgerung. - An ein paar altmodischen Wertvorstellungen halte ich ganz besonders fest, Claire. Ich glaube, das weißt du. Damit schütze ich mich selbst. Was ich habe, halte ich eben fest. Ich möchte eine Frau, die zu mir gehört - im traditionellen Sinn. - Er zögerte. - Für mich gehört dies dazu, wenn ein Mann eine Frau liebt.

- Liebe muß nicht immer gleichbedeutend mit Glück sein, Jim. Ich habe vor geraumer Zeit gelernt, daß es besser ist, nicht jemandem zu gehören.

- Ich glaube nicht, daß du das von dir aus gelernt hast, Claire. Jemand muß es dich gelehrt haben.

- Liegt darin ein Unterschied?

- Ja. - Mit leiser Stimme fuhr er fort: - Sollte mir je dein Exehemann über den Weg laufen, dann erinnere mich bitte daran, daß ich ihm den Hals umdrehe.

- Wie bitte?

Jim parkte den Wagen.

- Leider müssen wir die Fortsetzung dieses Gesprächs auf später verschieben.

Erstaunt blickte Claire sich um. Sie befanden sich auf einer menschen­leeren Straße in einem der Armenviertel von Chicago. Das dreistöcki­ge Ziegelgebäude vor ihnen sah aus, als sei es einmal eine Schule gewesen. Schmucklose, heruntergekommene Mietskasernen bildeten die Nachbarschaft. Trotz des gelblichen Fabrikdunstes hingen Wäsche­leinen mit ärmlichen Kleidungsstücken in den öffenen Fenstern. Der Wind fegte Papierfetzen und Abfall über das Straßenpflaster.

Eigentlich hatte an diesem Morgen schon so etwas wie Frühlings­stimmung in der Luft gelegen, hier war davon allerdings nichts zu spüren. Die ganze Trostlosigkeit dieser Gegend spiegelte sich in der Gestalt eines etwa sechsjährigen Jungen wieder, der einsam zwischen den abgestellten Autos spielte.

Kaum war Jim aus dem Wagen gestiegen, als ein finster dreinschau­ender Halbwüchsiger aus dem Schatten der Häuser trat Jim reichte ihm einen Geldschein, und Claire ahnte, daß der Junge auf Jims Auto aufpassen sollte. Fragend blickte sie Jim an, aber der schob sie wortlos ins Innere des Ziegelbaus.

Sie stiegen eine breite Treppe hinunter, und Claire sah sich um. Wenn das Haus noch nicht für abbruchreif erklärt worden war, so würde dies bestimmt nicht mehr lange auf sich warten lassen. Die Wände waren feucht und fleckig, und überall blätterte der Putz ab. Das Linoleum wies Löcher auf, und die Türen der Garderobenschränke hingen schief in den Scharnieren.

Als Jim schließlich eine Tür aufstieß, schlug ihnen übermütiges Gelächter entgegen. Der Turnsaal hatte zweifellos bessere Tage gesehen, aber die Basketballkörbe an beiden Enden der Halle waren offensichtlich brandneu. Ungefähr fünfzehn Jungs in Jeans, T-Shirts und Turnschuhen standen in Grüppchen herum. Keiner von ihnen schien älter als sechzehn Jahre zu sein, trotzdem hatten alle jenen abgestumpften, feindseligen Ausdruck in den Augen, der Straßenkin­dern zu eigen ist, die schon von klein auf für sich selbst sorgen müssen.

Kaum hatten die Jungs Jim entdeckt, als sie sich auch schon um ihn scharten.

- Mann, du bist ziemlich spät dran!

- Wer ist denn die Puppe da?

- Hey, Mann, ist das deine Braut?

Jim stellte die Tasche ab, die er mitgebracht hatte, und zog sich die Jacke aus.

- Das ist Claire. Wenn ihr sie irgendwo in dieser Gegend trefft, dann sorgt dafür, daß sie von niemandem belästigt wird. Ist das klar?

- Glasklar.

- Ist sie nun deine Braut, oder nicht?

Mit undurchdringlicher Miene sah Jim Claire an. Zum erstenmal an diesem Morgen hätte sie beinahe gelacht. Diese Jungs waren wirklich einmalig. Zwei von ihnen zogen sich ihretwegen einen Kamm aus der Hosentasche, andere standen breitbeinig und selbstbewußt da und musterten sie. Claire versuchte, sich beeindruckt zu geben von ihrem männlichen Gehabe. Dennoch ging ihr der Gedanke nicht aus dem Kopf, daß diese Jungs eigentlich in eine Schule gehörten.

- Seid ihr so weit? - fragte Jim.

- Mann, schon lange! Du bist derjenige, der zu spät gekommen ist.

- Er hatte ja auch einen ganz heißen Grund dafür!

- Redet nicht so viel, bewegt euch lieber - schnitt Jim ihnen kurzerhand das Wort ab.

Claire erklomm einige Stufen der Zuschauertribüne und setzte sich. Die Ellenbogen auf die Knie gestützt, verfolgte sie den Spielbeginn. Zwar bedrängten sie noch die unterschiedlichsten Empfindungen, aber jetzt war nicht der Zeitpunkt, sich damit auseinanderzusetzen.

Die Jungs spielten Basketball, als befänden sie sich im Krieg, und Jim wäre ihr General. Innerhalb einer Viertelstunde landeten ihre durchge­schwitzten T-Shirts am Spielfeldrand, die bloßen Oberkörper glänzten vor Schweiß. Claire kannte die Spielregeln nicht genau, dennoch wurde ihr klar daß Jim von den Jungs den totalen Einsatz forderte. Er brüllte ununterbrochen mit ihnen und feuerte sie an. Bis das Spiel nach einer Stunde zu Ende war, hörte man nur noch den schweren keuchenden Atem der Spieler. Jim schickte die Bande zum Duschen, und Claire verstand nicht, warum ihn die Jungs mit solch offensichtli­cher Verehrung ansahen.

Jim kam zur Tribüne herüber und wischte sich mit dem Sweatshirt den Schweiß von der Stirn. In diesem Augenblick liebte Claire Jim ganz besonders. Nur die wenigsten Menschen würden sich so intensiv mit diesen Jungs beschäftigt haben.

- Nun, Claire, was meinst du dazu?

- Du warst ziemlich grob zu ihnen.

- Bist du rot geworden dabei?

- Ich habe solche Worte schon öfter gehört.

- Aber wohl kaum in dieser Lautstärke. - Schmunzelnd schaute er auf die Uhr. - Gib mir fünf Minuten Zeit zum Duschen. Ich verspreche dir, länger dauert es nicht.

Er kam jedoch nicht bis zur Dusche, weil die Jungs aus den Umkleideräumen zurückkamen. Neugierig beobachtete Claire, wie einer nach dem anderen zu Jim ging, ihm ein Buch oder eine Zeitschrift vorzeigte, und dieser sich Notizen in einem kleinen, schwarzen Buch machte.

Das Kinn auf die Hände gestützt beobachtete Claire die Szene. Genau wie die Jungs hatte auch Jim sein Sweatshirt ausgezogen. Schweiß glänzte auf seiner glatten, goldbraunen Haut Claire sah es gern, wenn er sich bewegte, denn seine Bewegungen waren so geschmeidig wie die eines Raubtiers. Plötzlich überfiel sie die aufregen­de Vorstellung, wie es wohl wäre, wenn er sie hier, direkt auf der Tribüne, verführte. Seufzend rief Claire sich zur Vernunft. Dieser Mann brachte sie zum Träumen, selbst wenn er von einer Bande von Halbstarken umgeben war!

Zu spät, flüsterte eine innere Stimme ihr zu. Selbst wenn du weißt, daß es nicht gut enden kann, müßte dein Herz dir sagen, daß es zum Davonlaufen längst zu spät ist.

Als der letzte Junge gegangen war, steckte Jim seinen Kugelschrei­ber ein.

- Entschuldigung, Claire. Hättest du noch fünf Minuten Geduld, bis ich mich geduscht habe?

Sie lächelte.

- Bis jetzt habe ich mich noch nicht beklagt, oder?

- Normalerweise dauert es nicht so lange.

- Das macht doch nichts, ich fühle mich absolut wohl hier!

- Ich verspreche dir... - Jim brach mitten im Satz ab. - Los, komm mit. Oben im zweiten Stock sind noch ein paar Leute, die eine Unterkunftsmöglichkeit für von zu Hause ausgerissene Jugendliche einrichten wollen. Aber hier unten ist keine Menschenseele. Du kannst mich also ruhig begleiten.

- Ich kann doch nicht mit in die Männerumkleideräume gehen!

Natürlich konnte sie, obgleich sie sich etwas seltsam fühlte, als sie die sonst ausschließlich den Männern vorbehaltenen, Räume betrat Dieses. Gefühl verstärkte sich noch, als Jim sich anschickte, sie allein zu lassen.

- Mach es dir bequem! Ich hole mir nur schnell ein Handtuch und schaue nach, ob die Burschen nicht allzuviel Unordnung hinterlassen haben.

- Was hast du vorhin eigentlich mit den Büchern und Zeitschriften gemacht? - rief Claire hinter ihm her. Sie steckte die Hände in die Taschen und wanderte ein wenig herum.

Drei Räume gab es hier: im ersten befanden sich die Kleiderspinde, im zweiten war ein kleines Büro untergebracht; und im dritten entdeckte sie die Gemeinschaftsduschen. Erst vor kurzem schienen die Wände frisch gestrichen worden zu sein, Claire hatte den Verdacht, daß Jim dies getan hatte. Überhaupt wirkte alles sehr sauber. Kein Modergeruch hing in der Luft, und die Böden waren, trotz ihres Alters, blitzblank.

- Die Jungs müssen jede Woche den Nachweis bringen, daß sie etwas gelesen haben, andernfalls dürfen sie nicht mitspielen - beant­wortete Jim ihre Frage aus einer Umkleidekabine heraus. - Meistens bringen sie irgendwelche Zeitschriften mit Mädchen an. Das ist mir egal, solange sie überhaupt in der Lage sind, das Gedruckte zu lesen. Die meisten von ihnen haben die Schule nach der neunten Klasse verlassen, ohne je richtig lesen gelernt zu haben.

- Warum engagierst du dich so?

Jim kam zurück. Er war völlig nackt und hatte sich nur ein weißes Handtuch um die Schultern gelegt. Er runzelte die Stirn.

- Warum hast du dir keinen Stuhl aus dem Büro geholt?

- Ich brauche keinen. Du hast meine Frage nicht beantwortet! - Claire kicherte wie ein junges Mädchen, als Jim ihr das Handtuch an den Kopf warf.

- Jim!

- Um auf deine Frage zurückzukommen: Den Schlüssel dazu findest du in meiner Kindheit - Jim ging in den Duschraum und drehte den Wasserhahn auf. - Ich interessiere mich für diese Jungs, weil ich wie sie in dieser Gegend aufgewachsen bin.

Vor Claires geistigem Auge tauchte das Kind Jim auf, ein einsamer, verängstigter kleiner Junge, der sich in diesem gefährlichen Viertel herumtrieb. Wie oft schon hatte sie klaffende Wunden nach Messerste­chereien zwischen Jugendlichen zusammengeflickt, wie gut kannte sie den Anblick von jungen Drogenabhängigen und Kindern, die niemals hatten wirklich jung sein dürfen.

Dampfend strömte das heiße Wasser über Jims Körper. Die Wange fest gegen die kühle, glatte Wand gelehnt, schaute Claire zu. Eine lange, verblichene Narbe zog sich über Jims Rücken. Schon in der vergangenen Nacht hatte Clane sie gespürt, aber nicht gefragt, woher sie stammte.

Sonst war sein Körper sehnig und hart, und Claire war davon überzeugt, daß das immer so sein würde. Jim hatte frühzeitig gelernt, daß Zähigkeit und Widerstandskraft ihm Sicherheit garantierten, Schwächen hätte er sich niemals gestattet.

Anderen gegenüber konnte Jim geduldig, verständnisvoll und sanft sein - aber gegen sich selbst? Wer hatte sich jemals wirklich um ihn gekümmert?

Schon nach wenigen Minuten war er mit dem Duschen fertig. Das Wasser lief ihm aus den Haaren in die Augen, und Claire ging mit dem Handtuch auf ihn zu, um ihn abzutrocknen.

Als er wieder richtig sehen konnte, zwinkerte er ihr verschmitzt zu.

- Das ist vielleicht ein Service!

Claire wandte den Blick ab.

- Niemand kann sich selbst den Rücken abtrocknen.

- Das tue ich schon, so lange ich denken kann.

- Sicherlich streitest du auch schon, seit du sprechen kannst

- Ich streite doch gar nicht - gab Jim ruhig zurück.

Claire hörte ihm kaum zu, gedankenverloren rieb sie ihm mit dem Handtuch den Rücken trocken. Eigenartig, dachte sie. Als Ärztin kann ich jeden menschlichen Muskelstrang, jeden Nerv, jedes Blutgefäß beim Namen nennen, und doch kommt es mir jetzt vor, als würde ich einen Körper zum erstenmal betrachten. Dieser Mann ist schön: die breiten, geschwungenen Schultern, die straffen Muskeln unter der glatten, geschmeiden Haut...

Jim drehte sich zu ihr um und nahm ihr das Handtuch fort. Ein verwegener Ausdruck lag in seinen Augen.

- Nein - wehrte Claire ahnungsvoll ab.

Er warf das Tuch zu Boden.

- Nein, Jim, doch nicht hier, im Umkleideraum!

- Es hat mir gefallen, wie du mich abgetrocknet hast.

- Ich weiß. Ich gehe jetzt hinaus und warte, bis du dich angezogen hast.

- Liebling, der Ausgang ist in der anderen Richtung!

Claire blieb stehen, schob die Hände verlegen in die Taschen und versuchte, so gelassen wie möglich zu wirken.

- Hör mal, Jim, wir sind beide erwachsene Menschen.

- Genau das denke ich auch. - Er trat einen Schritt auf sie zu.

- Jim, ich traue dem Blick deiner Augen nicht!

- Du mußt für das geradestehen, was du angerichtet hast

Eigentlich hatte er sie nur küssen, sie necken wollen. Aber als Claire mit unvermuteter Leidenschaft auf seinen Kuß reagierte, die Arme um seinen Hals legte und sich an ihn schmiegte, konnte Jim nicht widerstehen.

- Du bist ja ganz kalt - flüsterte sie.

- Dann wärme mich doch.

Mit einer einzigen Bewegung streifte er ihr den Mantel von den Schultern. Seine Hände glitten unter ihren Pullover, fieberhaft suchten seine Lippen ihren Mund. Einen Halt suchend lehnte Claire sich gegen die Wand.

- Du gehörst mir, so wie eine Frau nur einem Mann gehören kann - flüsterte Jim. - Und du glaubst, daß du dich davor fürchtest, Claire. - Er zog ihr den Pullover aus und küßte sie auf den Hals. - Du glaubst, ich wüßte nicht, was es heißt, eingeengt zu werden. Aber das stimmt nicht, Liebling. Ich habe dir heute diese Jungs gezeigt. Das sind Menschen, die von ihrer Umwelt eingeengt werden. Mir ging es einst genau wie ihnen. Ich bin Beziehungen eingegangen, in denen immer ich derjenige war, der Zugeständnisse machte, niemals die anderen. Ich liebe dich, Claire: Das heißt jedoch nicht, daß ich dich besitzen und beherrschen will.

Seine Hand fand ihre Brust und begann, sie zu liebkosen. Wir sind in einem Umkleideraum, rief Claire sich in Erinnerung. In einem kahlen, weißgetünchten Raum, in dem man sich nirgends hinlegen kann.

Aber da war Jim, seine kühle, straffe Haut, die sich unter ihren Händen langsam erwärmte, seine Muskeln, die auf ihr Streicheln reagierten, sein Verlangen nach ihr, das ihre Sehnsucht nach ihm schürte. Wie gern hätte Claire geglaubt, daß es einen Unterschied gab zwischen zueinander gehören und einander besitzen: In seinen Armen fiel es ihr schwer, daran zu denken, irgend etwas könne nicht so sein, wie es sollte.

Jim öffnete den Reißverschluß ihrer Jeans und preßte Claire an sich. Sie spürte, wie erregt er war, und vergrub die Finger in seinem Haar. Wenn Jim sie rückhaltlos liebte, warum sollte sie sich dann beherrschen? Sie schmiegte sich an ihn und küßte ihn genauso leidenschaftlich wie er sie zuvor.

Tausend verschiedene Dinge gingen Claire durch den Sinn. Um ein Haar hätte sie Jim verloren. Eines war ihr dabei klargeworden: Ganz gleich, wie sie über eine dauerhafte Bindung dachte, sie würde vor Kummer sterben, wenn er sie eines Tages wirklich verließe. Dieser Mann hatte schon viel Schweres im Leben durchgemacht, das wußte sie, auch wenn er ständig bemüht war, ihr das nicht zu zeigen.

Claire verspürte den übermächtigen Wunsch, ihn all das vergessen zu lassen.

Ihre Liebkosungen wurden kühner und fordernder. Mit leichten Händen strich sie über seine bloße Haut, während ihr Mund spielerisch über seinen Hals hinab zur Brust glitt.

- Claire!

Sie lächelte ihn an, sich ganz der Tatsache bewußt, daß sie allein der Grund für sein Begehren war.

- Was heißt Claire? Du hast doch damit angefangen!

- Zugegeben. Aber wenn du so weitermachst…

- Ich werde so weitermachen.

Sie mußte sich auf die Zehenspitzen stellen, um mit den Lippen sein Ohr zu erreichen. Als Jim ihr Jeans und Slip von den Hüften streifte, befürchtete Claire, ihre Beine würden nachgeben. Er streichelte sie an den empfindsamsten Stellen ihres Körpers und steigerte ihre Erregung, bis heiße Schauer sie durchliefen.

- Jim, ich habe Sehnsucht nach dir. Aber hier ist es unmöglich!

Er sah sie an, seine Züge wirkten im grellen Neonlicht beinahe hart. Der Anflug eines Lächelns umspielte seine Mundwinkel.

- Zwischen einem Mann und einer Frau gibt es nur sehr wenige Dinge, die unmöglich sind. Sag mir, was du möchtest, Claire.

Sie schüttelte den Kopf.

- Sag es mir!

Sie konnte es nicht. So viel wünschte sie sich von ihm, aber sie glaubte nicht daran, daß auch nur einer dieser Wünsche in Erfüllung gehen würde. Sie trug Narben, und ein leidenschaftlicher Rausch konnte daran nichts ändern.

Wieder nahm sein Mund Besitz von ihren Lippen, und als sie die Arme um seinen Hals legte, spürte sie, wie er sie vom Boden hochhob. Ein leiser Aufschrei entrang sich ihrer Kehle, als Jim behutsam in sie eindrang. Unwillkürlich umklammerte sie ihn mit den Beinen und stützte sich mit dem Rücken an der Wand ab.

- Du bist mein, Claire. Sag mir nicht, daß du das nicht willst.

Sie konnte es nicht, sie konnte überhaupt nichts sagen. Eben noch war alles nur ein sinnliches Spiel gewesen; jetzt aber war etwas anderes daraus geworden. Claire zitterte am ganzen Leib.

Jim faßte sie bei den Hüften und bewegte sie langsam und gleichmäßig gegen sich. Nie zuvor hatte Claire so etwas erlebt. Nur wenige Zentimeter waren seine Augen von den ihren entfernt. Kraftlos ließ sie den Kopf an seine Schulter sinken.

Mit zärtlicher Stimme flüsterte Jim ihr ins Ohr:

- Laß dich gehen, Claire, laß mich dich lieben.

Ihre Finger verkrampften sich in seinem Haar. Sie stöhnte auf, als sie spürte, wie sein Körper sich anspannte und sich dann immer schneller gegen den ihren bewegte. In einem Meer von Farben versank die Welt um sie herum. Claire kam erst wieder zu sich, als sie Jims leidenschaft­lichen Kuß spürte. Vorsichtig stellte er sie zurück auf die Erde.

- Nicht weinen - raunte er zärtlich.

- Ich weine doch gar nicht.

Wortlos wischte Jim ihr die Tränen aus den Augenwinkeln. Schwei­gend und engumschlungen blieben sie lange Zeit stehen.

- Jim - flüsterte sie schließlich. - Wir sollten gehen, ehe jemand herkommt.

- Daran hättest du eher denken müssen, mein Schatz!

- Wir waren völlig verrückt. - Claire griff nach ihrer Jeans, ihre Stimme wollte ihr nicht gehorchen. - Du mußt einen schlechten Einfluß auf mich haben! Eigentlich war mir das von Anfang an klar.

Jim zog sie noch einmal an sich und küßte sie auf den Mund. Als er sie freigab, sagte er ganz ruhig:

- Ich liebe dich, Claire. Ich. liebe dich mit Leib und Seele. Und genauso will und begehre ich dich. Versuche nicht, dir einzureden, daß ich mit weniger zufrieden sein werde.

Ich liebe dich mit Leib und Seele. Diese Worte hallten in Claire noch nach, als sie schon längst wieder bei der Arbeit war. Die Nacht verlief ausnahmsweise ruhg, es gab nur zwei Autounfälle.

Claire hatte viel Zeit, um in Ruhe über Jim nachzudenken. Alles schien so einfach zu sein. Nie hatte sie einen Menschen mehr geliebt, in seiner Nähe fühlte sie sich wohl. Sie hatte ihn gesehen, als er zornig, müde und abgespannt war, aber sie hatte ihn auch liebevoll und zärtlich erlebt. Sie kannte ihn, wenn er schlief, und sie wußte, wie leidenschaftlich er sein konnte. Sie liebte alles an ihm, seine guten und seine schlechten Seiten. Die Warnung aber, die er ihr gegeben hatte, war unmißverständlich gewesen. Jim wollte eine feste, dauerhafte Beziehung, mit weniger würde er sich nicht zufriedengeben.

Vier Jahre lang hatte sie sich eingeredet, es gäbe diese Art von Liebe nicht mehr für sie. Weder an unbeschwerte Verliebtheit, noch an alles auslöschende Leidenschaft hatte sie geglaubt

Jim holte sie von der Arbeit ab. Er sah todmüde aus und hatte dunkle Ringe unter den Augen. Claire wußte, daß sie selbst nicht viel besser aussah. Schweigend legten sie die Fahrt zu ihrem Elternhaus zurück.

Als Jim den Motor abstellte, beugte sie sich zu ihm und küßte ihn.

- Falls du es noch nicht wissen solltest, ich liebe dich, Jim - gestand sie leise. - Ich werde versuchen, die Schatten meiner Vergangenheit zu vertreiben. Willst du noch etwas Geduld mit mir haben?

Statt einer Antwort drückte er ihr nur fest die Hand. Wenig später lief Claire ins Haus, streifte sich die Schuhe ab und fiel auf ihr Bett.

10. KAPITEL

Über Tage hinweg hatte Claire jede freie Minute mit Jim verbracht Am Samstagmorgen war sie daher völlig verwirrt, in ihrem eigenen Bett aufzuwachen, und konnte im ersten Moment. nichts mit dem zarten Stimmchen neben sich anfangen.

- Tante Claire, Tante Claire, wir brauchen einen Arzt!

Claire war viel zu müde, um die Augen zu öffnen.

- Liebling, das haben wir doch schon geklärt - murmelte sie schlaftrunken. - Wegen einer Schramme am Knie brauchen wir keinen Arzt.

- Es ist nicht wegen meines Knies, es ist wegen Mami. - Melanie schüttelte verzweifelt den Kopf. - Sie blutet zwar nicht, doch sie weint ganz fürchterlich. Ich habe ihr den Verbandskasten gebracht, aber sie hat mich weggeschickt und gesagt, ich solle niemandem etwas erzählen.

Bei dem Wort „weinen“ war Claire hellwach geworden. Sie sprang auf und griff nach dem Morgenmantel.

- Gut; Kleines, ich werde mich um sie kümmern.

- Aber sag ihr nicht, daß ich mit dir gesprochen habe!

- Ganz bestimmt nicht

Melanie führte Claire zum Schlafzimmer ihrer Mutter. Claire klopf­te am und öffnete langsam die Tür. Es war dunkel im Zimmer, doch sie konnte die zusammengekauerte Gestalt ihrer Schwester auf dem Bett erkennen. Mitleid ergriff Claire.

Leise sagte sie zu Melanie:

- Ich werde das ganz schnell wieder in Ordnung bringen. Ausnahmsweise will ich das einmal ohne deine Hilfe tun, Liebes. Weißt du, wo Omi ist?

- In der Waschküche. Ich habe ihr schon beim Wäschesortieren geholfen.

- Omi braucht Hilfe, Melanie. Willst du mir einen Gefallen tun?

- Natürlich.

- Ich möchte, daß du zu Omi gehst und ihr während der nächsten Stunde hilfst, wo du nur kannst. Laß sie nicht auch nur für eine Minute allein, ja?

- Warum? - Melanie schaute Claire neugierig an.

- Das ist ein Geheimnis - flüsterte Claire. - Du kannst dir ein großes Schokoladeneis damit verdienen.

- Au ja!

Die Kleine eilte fröhlich davon, und Claire betrat ruhig das Zimmer ihrer Schwester. Unbedeckt lag Sandra auf dem zerwühlten Bett, das Gesicht hatte sie ins Kopfkissen vergraben. Dennoch konnte Claire ihr ersticktes Schluchzen hören. Auf dem Fußboden lagen verstreut Sandras Kleider herum. Claire beugte sich über die Gestalt auf dem Bett und berührte sie an der Schulter.

- Laß mich allein. Bitte!

- Nein.

Claire legte die Arme um ihre Schwester und zwang sie sanft, ihr das Gesicht zuzuwenden. Mit einem erstickten Laut barg Sandra den Kopf an Claires Schulter.

- Mein Gott, ich bin so dumm gewesen.

- Erzähl mir, was dich bedrückt. - Tröstend strich Claire ihrer Schwester übers Haar.

- Greg ist zurückgekommen. Ich habe dir und Mutter nichts davon erzählt. Er rief mich im Büro an, und gestern abend ging ich dann mit ihm aus. - Sandra richtete sich auf und rieb sich die Augen. Stockend sprach sie weiter. - Ich habe ihn all diese Jahre über geliebt. Immer hatte ich gehofft, es würde ihm eines Tages leid tun, daß er mich verlassen hat, und er käme zurück. Ich stellte mir oft vor, wie ich ihm Vorhaltungen machen würde und wie ich ihm zeigen wollte, wie gut ich ohne ihn zurechtkomme. In Wirklichkeit aber wollte ich nur, daß er zurückkäme. Es hat nie einen anderen für mich gegeben.

- Ich weiß, Liebes. - Seufzend lehnte Claire sich gegen das Kop­fende des Bettes, und Sandra rutschte neben sie. Ihre Hände flatterten vor Nervosität.

- Ich konnte es zuerst nicht glauben, daß er wieder in der Stadt war. Warum gerade jetzt? Anfangs war auch alles wunderschön. Wir lachten viel und gingen in ein Lokal, das uns schon früher gut gefallen hatte. - Sandra konnte nicht weitersprechen und räusperte sich, um die Stimme wieder in ihre Gewalt zu bringen. - Und dann wurde plötzlich alles ganz anders. Ich erzählte Greg von Melanie. Weißt du, wie er darauf reagierte? - fragte Sandra.

- Wie?

- Er wurde wütend! Nicht etwa, weil ich ihm seine Tochter ver­schwiegen hatte, nein! Er war wütend, weil ich damals nicht abge­trieben habe! - Sandras Stimme überschlug sich fast - Abtreiben? Meine Melanie?

- Ruhig, ganz ruhig - beschwichtigte Claire.

- Sie ist doch seine Tochter! Aber das war ihm gleichgültig. Ich sehe noch seinen besorgten Blick, als fürchte er, ich könne Geld von ihm verlangen. Geld! - stieß Sandra hervor. - All die Jahre über habe ich mich wegen dieses Mannes gequält Ich habe es zugelas­sen, daß dieser Kummer mein ganzes Leben überschattete. Für nichts und wieder nichts! Ich will ihn nicht. Ich mag ihn nicht einmal mehr. Dieser Kerl weiß ja gar nicht, was ihm alles entgeht. Er wird es nie erleben, daß seine Tochter ihm eine ihrer Geschichten erzählt, wie sie mit roten Bäckchen im Bett liegt und schläft, wie sie ihre Puppen füttert. - Du hältst mich bestimmt für albern, Claire.

- Nein, Sandra.

- Ich liebe meine Tochter!

- Das weiß ich.

Sandra verbarg ihr Gesicht in den Händen.

- Glaubst du, mir ist nicht klar, wie schändlich ich mich meinem Kind gegenüber benom­men habe? Melanie bedeutet mir alles, mehr als meint Leben. Das war schon vom Tag ihrer Geburt an so. Nur, es tat mir weh, sie anzusehen. Sie erinnerte mich so sehr an Greg. - Wieder wischte sie sich die Tränen aus den Augen. - Wie konnte ich nur all die Jahre so blind sein? Ständig hat die Vergangenheit die Gegenwart überschattet Ich hielt beharrlich ein Buch aufgeschlagen, das schon längst hätte zugeklappt werden müssen.

Claire zuckte zusammen. Ihr war, als sei an einer alten, schlecht verheilten Wunde gerührt worden. Jahrelang hatte sie Sandra kriti­siert, ohne darüber nachzudenken, daß sie sich im Grunde des gleichen Fehlers schuldig machte. Sie ließ es zu, daß ihr Leben durch ihren Ex-Mann beeinflußt wurde.

*

Die Schwestern sprachen noch eine ganze Weile miteinander. Als Claire das Zimmer verließ, waren ihre Augen feucht. Nachdenklich kleidete sie sich an und machte sich dann auf die Suche nach ihrer Mutter und Melanie. Sie fand die beiden in der Küche.

Nora saß am Küchentisch und malte, Melanie stand dabei und spielte Lehrerin.

Unwillkürlich mußte Claire lächeln, doch über Melanies Kopf hinweg sah Nora sie mit besorgtem Blick an.

- Hast du herausbekommen, was mit Mami los ist? - wollte das Kind wissen.

- Na klar - erwiderte Claire betont heiter.

- Hat sie aufgehört zu weinen?

- Ja. Jetzt ist wieder alles absolut in Ordnung.

Diese Auskunft war mehr für Nora bestimmt, die sofort erleichtert lächelte.

- Dann sehe ich nun wohl besser nach ihr. - Melanie rutschte vom Stuhl herunter. - Omi, du malst das Bild inzwischen fertig. Paß aber auf, daß du nicht wieder über den Rand fährst!

Claire fing die Kleine ab, bevor sie die Tür erreicht hatte, und wirbelte sie übermütig herum.

- Immer mit der Ruhe, mein Schatz! Hast du schon vergessen, daß wir beide ein Eis kaufen müssen? Ich bin mir ganz sicher, daß deine Mami dich danach sehen will!

*

Gegen zehn Uhr abends war das Personal zu dem Schluß gelangt, daß man Jim an diesem Tag besser aus dem Weg ging. Schon seit Stunden war die tiefe Falte - bei ihm Ausdruck von Gereiztheit ­auf seiner Stirn zu sehen.

Samstags abends ging es immer hoch her, aber diesmal war es schlimmer als sonst.

Ausgerechnet an diesem Abend waren die beiden Chefköche wegen einer Preiselbeersauce aneinandergeraten. Es war nichts Neues, daß sich Harry und Geraldine ständig darüber stritten, wer von ihnen der bessere Koch war. Normalenweise hatte Jim diese Querelen gut im Griff. Beide benötigten ihre Streicheleinheiten, die sie täglich in Form von Lob und Zuspruch verdientermaßen auch stets großzügig erhielten. An diesem Tag jedoch hätte Jim die beiden am liebsten gepackt und mit den Köpfen aneinandergesto­ßen.

Die Sängerin Lorene hatte sich krankgemeldet. Ihre Vertreterin schaffte es zwar - dank ihres fast durchsichtigen Kleides - Gäste in die Bar zu locken, aber ihre Stimme war schlichtweg eine Katastro­phe.

Einem Kellner war mitten im gut besetzten Lokal ein vollbelade­nes Tablett aus der Hand geglitten.

Die Frau des Oberkellners war schwanger. Dies an sich war durchaus eine erfreuliche Tatsache, nur hatte George alle Reservie­rungen durcheinandergebracht, seit er davon wußte. Stirnrunzelnd mußte Jim mit ansehen, wie die Gäste Schlange standen und auf ihre Tische warteten, die schon längst hätten für sie frei sein müssen.

Um das Maß voll zu machen, war auch noch der Bourbonwhis­key ausgegangen. Da Jim aber selbst für die Spitituosenbestände verantwortlich war, konnte er niemand anders zur Rechenschaft ziehen, ein Umstand, der seine Laune nicht gerade verbesserte.

Um zehn Uhr schließlich plagten ihn heftige Kopfschmerzen. Es grenzte schon fast an Selbstbestrafung, daß er auf seinem Weg ins Büro noch einmal in die Küche schaute. Er stieß die Schwingtür auf und sah sich um. Alles war wie immer blitzsauber und ordentlich, die Kellner liefen geschäftig herum - und Harry plauderte in größter Eintracht mit Geraldine.

Der Grund für diese Harmonie saß, ganz in Weiß und mit lässig baumelnden Beinen, auf der Anrichte. Claire hielt ein Pastetchen in der einen Hand, ein Hühnerbein in der anderen und kaute mit sichtlichem Appetit.

Zum erstenmal seit Stunden spürte Jim, wie sich seine Gesichtszü­ge zu einem Lächeln entspannten.

- Ich kann nichts dafür - beteuerte Claire, nachdem sie hastig einen Bissen hinuntergeschluckt hatte. - Ich kam her, um dich zu sehen. Ich habe nur eine knappe Stunde Essenspause, und als Harry das hörte, hat er mich sofort in die Küche gelotst. - Sie nickte Harry und Geraldine verschmitzt zu. - Die beiden meinen ich müß­te unbedingt zunehmen, ich sei viel zu dünn.

- Hat sie Ihnen schon mal gesagt, was sie sonst während ihrer Essenspause zu sich, nimmt? - wandte Harry sich grollend an Jim.

- Ja, ich weiß.

Claire kam kaum dazu sich Mund und Hände an einer Serviette abzuwischen, da hatte Jim sie schon von der Anrichte herunterge­hoben. Für den Bruchteil einer Sekunde nahm sie das unmißver­ständliche Funkeln in seinen Augen wahr. Jim war es völlig egal, ob er alle Hände voll zu tun hatte oder nicht, er wollte mit ihr allein sein. Er nahm sie bei der Hand und zog sie aus der Küche.

- Auch wenn Sie sich dauernd darüber streiten - ich kann Ihnen versichern, daß Sie beide ganz ausgezeichnete Köche sind - rief Claire Harry und Geraldine im Hinausgehen zu. - So etwas Gutes habe ich schon lange nicht mehr gegessen. Ich hoffe, Jim weiß das zu schätzen!

Claire hörte noch das Gelächter der beiden, dann hatte Jim sie schon in sein Büro geschoben.

Jim drängte Claire gegen die Wand und sah ihr in die Augen.

- Willst du keinen Begrüßungskuß?

- Was glaubst du, weshalb ich hier bin? Wenn man bedenkt, dass ich in genau dreiundzwanzig Minuten wieder in der Klinik sein muß, dann solltest du dich jetzt besser beeilen!

Jim senkte den Kopf und ließ seine Lippen spielerisch über ihren Hals gleiten.

- Auf den Mund, mein Herr!

- Warte nur, der kommt auch noch dran!

Nach einiger Zeit hob er den Kopf und sah Claire an. Ihre Augen schimmerten, ihre Hände lagen zärtlich auf seinen Schultern.

- Hör mal, dazu haben wir jetzt wirklich keine Zeit. Außerdem sehe ich aus wie eine Vogelscheuche, siehst du das nicht? Wo bleibt dein guter Geschmack in bezug auf Frauen?

Mit den Händen tastete Jim prüfend über ihren weißen Kittel.

- Der ist nur noch unvermindert vorhanden. Im Moment möchte ich herausfinden, was sich unter diesem Kittel verbirgt.

Claire schüttelte den Kopf und entwand sich mit einer blitzschnel­len Bewegung seinen Armen.

- Der Hauptgrund für mein Kommen ist, daß ich dir wegen meiner Schwester danken möchte.

- Hat sie ihren Greg wiedergesehen?

- Du weißt sehr gut, daß sie Greg wiedergesehen hat. Schließlich hast du ja die ganze Sache eingefädelt

Jim tat, a1s habe er ihre Bemerkung nicht gehört.

- Und? Was ist geschehen? - Er ließ sich in einem Sessel nieder, streckte die Beine aus und deutete Claire an, sich auf seinen Schoß zu setzen.

Da sie wußte, daß ständig irgendwelche Leute ins Büro kamen, schüttelte sie ablehnend den Kopf.

- Das ist geschehen: Sandra hat endlich eine Beziehung beendet, die nie gut für sie war und auch niemals geworden wäre. Und was ihr Verhältnis zu Melanie betrifft, so kann man nur sagen, daß Rom auch nicht an einem Tag erbaut worden ist. Sandra hat viel gutzumachen. Aber wenn du gehört hättest, wie sie heute von ihrer Tochter sprach, oder wenn du gesehen hättest, wie geduldig sie heute Nachmittag mit ihr gespielt hat, dann würdest auch du sagen: Diese beiden gehören zusam­men. - Claire vergrub die Hände in den Taschen. - Es wird eine Weile dauern, aber ich bin sicher, daß meine Schwester eines Tages eine gute Mutter sein wird. Du hattest auch insofern recht, daß dieser Schritt schon längst hätte unternommen werden müssen. Jim?

- Hm? - Er mußte lachen, als er ihren Gesichtsausdruck sah.

- Ich kann Männer nicht ausstehen, die immer recht haben! - Ernst fügte sie hinzu: - Du hast dir die Mühe, Greg zu finden, nicht nur meiner Schwester zuliebe gemacht.

- Sondern?

- Du wolltest mir damit zeigen, daß sie nicht die einzige ist, die ihre Vergangenheit noch nicht bewältigt hat.

- Nun, hast du es geschafft, mit dem Lift zu fahren, oder bist du über die Treppe gekommen?

Claire senkte den Blick.

- Über die Treppe. - Sie seufzte. - Ich weiß, das ist neurotisch. Obwohl du es nie gesagt hast, bist du sicher der gleichen Meinung. Immer wenn ich in die Nähe eines Fahrstuhls komme, habe ich plötzlich das Gefühl, dicke Kissen kämen auf mich zu und wollten mich ersticken.

- Wenn ich dich sehe, muß ich auch immer an Kissen denken - gestand Jim verschmitzt.

Das Telefon läutete. Jim streckte den Arm aus, um den Hörer abzunehmen. Gleichzeitig zog er die völlig überraschte Claire auf seine Knie. Er erledigte das Gespräch in kürzester Zeit und wandte sich dann vorwurfsvoll an Claire.

- Warum wehrst du dich so? Du willst dich doch bei mir bedanken; das will ich dir nur ein wenig erleichtern!

Genau das ist das Problem mit diesem Mann, dachte Claire. Es gab so viele Dinge, die Jim für sie leicht und problemlos werden ließ. Er machte es ihr leicht, ihn zu lieben, alles bisher Gewesene zu vergessen. Sie legte ihm die Arme um den Hals und ließ sich von ihm küssen.

- Hör auf - flüsterte sie schließlich. - Ich wollte mich bei dir bedanken, und nicht umgekehrt. Ich habe da meine eigene Methode.

Skeptisch sah Jim sie an, als sie sich daranmachte, ihn zu überzeugen. Behutsam öffnete sie erst zwei, dann drei Knöpfe seines Hemdes und ließ ihre Hand sanft über seine warme, feste Haut gleiten. Dann begann sie, ihn leidenschaftlich zu küssen.

Es dauerte nicht lange, bis Jim sich unbehaglich zu bewegen begann. Claire spürte, daß er seine Erregung kaum noch unter­drücken konnte.

- Dafür wirst du büßen, Liebling.

- Glaubst du, ich habe mich nun gründlich genug bedankt?

- Nun, eigentlich hatte ich etwas mehr erwartet.

Beinahe hätten beide jegliches Gefühl für Ort und Zeit verloren, wenn nicht jemand das Zimmer betreten und diskret gehüstelt hätte. Claire hob den Kopf und entdeckte George, Jims Oberkellner, der angestrengt zum Fenster hinaus sah. Lachend sprang sie auf, griff nach ihrem Mantel und klopfte George im Hinausgehen freundlich auf die Schulter.

- Alles in Ordnung heute abend, George?

- Bestens, Claire. Habe ich Ihnen schon erzählt, daß meine Frau ein Baby erwartet?

- George! Das ist ja wundervoll!

Wieder läutete das Telefon.

Claire hörte, wie Jim sie zurückrief. Aber sie winkte ihm und George nur kurz zu und ging. Dr. Barton hatte ihr angeboten, sie während der Essenspause zu vertreten, und sie wußte, daß man derartige Angebote auf einer Notfallstation nicht über Gebühr aus­nutzen durfte. Sie wurde wieder gebraucht, und auch Jim würde im Lokal noch alle Hände voll zu tun haben.

*

Bis etwa elf Uhr befand Claire sich in regelrechter Hochstimmung, dann aber wurden zahlreiche Verletzte von einem Hotelbrand einge­liefert. Die Wartezimmer und Behandlungsräume füllten sich schnel­ler, als das Ärzte- und Schwesternteam mit der Versorgung nach­kam. Die meisten Opfer hatten nur oberflächliche Verletzungen davongetragen, zwei jedoch brachen mit einem Kreislaufkollaps zusammen. Schwerste Verbrennungen wies hingegen das Kind auf, das durch Zündeln mit Streichhölzern das Unglück heraufbeschwo­ren hatte.

Bis ein Uhr früh war Claire so beschäftigt, daß sie nicht einmal einen Blick auf die Uhr werfen konnte. Als sie endlich erschöpft und niedergeschlagen die Klinik verließ, war es bereits vor zwei. Ein leichter Regen empfing sie, was sich nicht gerade förderlich auf ihre Stimmung auswirkte.

Sie entdeckte Jim auf der anderen Straßenseite, und das erste Lächeln seit Stunden erhellte ihr Gesicht.

- Hast du die ganze Zeit hier gewartet? Du weißt doch, daß wir uns samstags nie fest verabreden.

- Ich dachte, es sei eine schöne Nacht zum Spazierengehen.

Wieder mußte Claire lächeln, alles Alptraumhafte der letzten Stunden fiel von ihr ab. Sie legte den Arm um Jims Taille, und der Regen machte ihr plötzlich nichts mehr aus.

- Du mußt etwas aufsetzen.

Jim blieb stehen, fand einen Schal in Claires Manteltasche und band ihn ihr um. Seine Bewegungen wirkten etwas unbeholfen, aber unglaublich liebevoll. Das Haar hing ihm tropfnaß ins Gesicht, auch hatte er ganz vergessen, die oberen Knöpfe seines Mantels zu schließen. Claire holte dies nach.

- Du bist mir davongelaufen - erinnerte er sie. - Das werde ich dir nicht so schnell verzeihen!

- So?

- Wenn du noch fünf Minuten länger geblieben wärst, hätten wir uns im Büro geliebt.

Claire lachte und legte den Arm wieder um seine Taille. Langsam gingen sie weiter.

- Ich kann doch nichts dafür, wenn du deine niedrigen Instinkte nicht besser im Zaum halten kannst!

- Wir gehen jetzt nur zu Fuß - erwiderte Jim und tat beleidigt, - weil ich deinen Instinkten nicht traue, wenn wir im Auto sitzen!

- Wir laufen, weil du mir sofort angesehen hast, daß ich eine aufreibende Nacht hinter mir habe - korrigierte Claire. - Gedanken­lesen ist nun einmal deine Stärke. Wir gehen immer spazieren, wenn ich etwas Schreckliches erlebt habe.

- Was war es denn heute, Claire?

- Ein Kind mit schweren Verbrennungen. - Sie schluckte. - Aber das kleine Mädchen wird durchkommen.

Im Regen schlenderten Claire und Jim am Seeufer entlang, bis sie zu der Straße kamen, die zu Claires Elternhaus führte. Der See breitete sich schwarz und still aus, man hörte nicht einmal die Regentropfen, die seine Oberfläche benetzten. Während sie so dahingingen, stellte Claire fest, daß sie eigentlich nur dummes Zeug redeten, daß sie beide allmählich naß und vor Kälte klamm wurden - und daß sie nie zuvor glücklicher gewesen war.

Den ganzen Tag lang hatte Claire Erinnerungen aufgefrischt und war zu dem Schluß gekommen, daß Jim in nichts ihrem ehemali­gen Mann glich. Auch hatte sie Steve nicht annähernd so geliebt, wie sie jetzt Jim liebte. Es war wirklich an der Zeit, mit der Vergangenheit Schluß zu machen. Jim hatte ihr immer wieder sowohl mit Worten als auch mit Gesten bewiesen, daß er sie nicht mit Besitzansprüchen bedrängen wollte.

- Sieh mich nicht so an, Claire. Du brauchst heute Nacht deinen Schlaf. Und so lange du nicht für immer bei mir wohnst, heißt das, daß ich dich von Zeit zu Zeit nach Hause schicken muß.

- Allein schlafe ich neuerdings nicht mehr sehr gut.

- Ich schlafe überhaupt nicht.

Lächelnd stellte Claire sich auf die Zehenspitzen, um ihn zu küssen.

- Willst du damit sagen, ich bin für deinen schlechten Gesundheitszustand verantwortlich, wenn ich dich nicht heirate?

Jim blieb reglos stehen und versuchte, Claires Blick zu ergründen.

- Scherze nicht damit. Nicht mit so etwas.

- Ich habe nicht gescherzt. - Mit unsicheren Händen machte sich Claire an seinem Mantelkragen zu schaffen. - Solltest du inzwischen deine Meinung geändert haben...

Jim ließ Claire nicht aussprechen. Stürmisch hob er sie hoch, preßte sie an sich und küßte sie leidenschaftlich. Seine spontane Reaktion räumte bei Claire alle Zweifel aus.

Engumschlungen setzten sie ihren Weg fort, beide befanden sich in einem Schwebezustand der Glückseligkeit, auch wenn sie völlig übermüdet waren. Drei Uhr war längst vorbei, als sie endlich Claires Haus erreichten. Weder er noch sie verspürten den Wunsch, sich gleich zu trennen.

- Komm noch mit hinein - schlug Claire vor.

- Du weißt genau, was dann geschehen wird.

- Ich möchte uns nur einen heißen Kaffee machen. An etwas anderes dachte ich gar nicht.

- Wenn ich jetzt auf einen Kaffee mitkomme, findet uns deine Mutter am Morgen zusammen in deinem Bett. Willst du das? - Jim gab Claire einen liebevollen Klaps und schob sie ins Haus.

- Du bist ein kalter, gefühlloser Mensch. Wie kannst du mich jetzt allein lassen, Jim! Ich begreife nicht, warum ich dich liebe!

Als Jim nicht auf ihre Beschuldigung einging, schloß Claire die Tür mit einem Seufzer hinter sich. Sie beobachtete durch das Fenster, wie er langsam die Straße hinunterging: Gegen ihren Willen mußte sie herzhaft gähnen.

- Claire?

Sie zuckte zusammen und erblickte ihre Mutter in der offenen Küchentür.

- Wenn es schon so weit ist, daß du unbekümmert stundenlang durch den Regen läufst, dann wird es höchste Zeit, den Mann zu heiraten - bemerkte Nora weise.

- Ja - lautete Claires schlichte Antwort. Sie erschauerte plötzlich und redete sich ein, schuld daran sei nur die Übermüdung.

11. KAPITEL

Prüfend sah Claire in den Badezimmerspiegel und begutachtete ihr Augenmake-up. Sie fand es dramatisch und fast ein wenig zu auffällig. Dr. Hunter war zum Chefarzt ernannt worden, was Claire für ihn freute, aber sie hatte keine große Lust, einen wertvollen, freien Montagabend auf einer langweiligen Stehparty zu verbringen.

- Laß mich mal sehen - zwitscherte Melanie hinter ihr, und Claire drehte sich gehorsam um. Melanie musterte sie mit solchem Sachver­stand, daß Claire unwillkürlich schmunzeln mußte.

- Schön - ent­schied die Kleine. - Nicht ganz so schön wie Mami, aber dafür kannst du ja nichts Tante Claire. - Sie dachte nach. - Ein purpurroter Lidschatten könnte vielleicht noch etwas retten.

- Rot paßt aber nicht sehr gut zu Grün, Liebling.

- Rot paßt zu allem! - Melanie nahm Claire bei der Hand und zog sie ins Schlafzimmer. - Weißt du, ich würde ja furchtbar gern mit auf diese Party kommen, aber Mami und ich wollen heute abend Popcorn machen.

- Das ist natürlich wesentlich wichtiger - stimmte Claire ernsthaft zu und schlüpfte in ihr schmalgeschnittenes blaugrünes Seidenkleid. Der tiefe Ausschnitt brachte das wertvolle Smaragdhalsband, ein Erbstück von ihrer Großmutter, besonders gut zur Geltung. Eigentlich zu sexy, dachte Claire unsicher, als sie sich vor dem Spiegel drehte.

Sie wußte selbst nicht, warum sie deprimiert war. Seit zwei Wochen verlief alles zu ihrer vollsten Zufriedenheit. Sandras fröhliches Lachen klang durch das Haus wie schon seit Jahren nicht mehr. Melanie war ausgelassen und zufrieden, die Arbeit machte Claire Freude wie eh und je, und die vergangene Nacht mit Jim war unsagbar schön gewesen. .

Ein verträumter Ausdruck trat in ihre Augen. Sorgsam tupfte sie etwas Pärfum an. Dieser Mann war einfach unglaublich. Er schien nichts anderes im Sinn zu haben, als sie unendlich g1ücklich zu machen und ihr das Gefühl zu geben, sie sei die schönste und begehrenswerte­ste Frau der Welt.

- Es hat geklingelt - verkündete Melanie. - Soll ich Jim die Tür aufmachen?

- Sei bitte so lieb, Kleines. - Claire warf einen letzten Blick in den Spiegel und bemerkte, daß sich ihr Herzschlag beschleunigt hatte, noch ehe sie Jim überhaupt zu Gesicht bekam. Sie zog hochhackige Pumps an, legte sich das weiße Cashmerecape um die Schultern und verharrte einen Augenblick reglos.

Jim konnte jeden langweiligen Abend für sie zum aufregenden Erlebnis werden lassen, daß wußte Claire. Dabei spielte es keine Rolle, wo sie waren oder was sie taten, ob sie stundenlang in Jeans spazierengingen oder an einem festlichen Essen teilnahmen.

Dennoch konnte sie dieses Unbehagen nicht loswerden. Am vergangenen Tag, nachdem sie sich geliebt hatten, wollte Jim den Termin für die Hochzeit festlegen. Ihm wäre es am liebsten gewesen, wenn Sie schon am nächsten Tag geheiratet hätten. Ihr ging es ebenso, es gab keinen Grund, länger zu warten. Nicht nur, daß sie nicht mehr nach Hause gehen wollte, wenn sie sich geliebt hatten, Claire wünschte sich ein Kind von ihm. Sie wollte immer bei ihm sein. Warum also bedrückte sie nach wie vor das Gefühl, eingeengt zu werden?

Jim betrachtete sie eingehend von Kopf bis Fuß und nickte anerkennend. Ihm war deutlich anzumerken, wie begehrenswert er sie an diesem Abend fand.

Noch ehe sie das Haus verließen, war es ihm gelungen, sie etwas aufzuheitern und zum Lachen zu bringen.

- Du bist heute miserabler Laune, stimmt's? - stellte er beiläufig fest. - Wenn uns die Party zu langweilig wird, setzen wir uns in eine ruhige Ecke und spielen Karten!

Claire schüttelte den Kopf. Insgeheim stellte sie fest, daß er in seinem dunklen Anzug wieder atemberaubend gut aussah: Und wie unternehmungslustig seine blauen Augen strahlten.

- Du hast ja keine Ahnung, wie entsetzlich es sein wird - warnte sie. - Wir werden stundenlang herumstehen und nichts anderes zu hören bekommen als klinikinternen Klatsch und Fachdiskussionen. Die Drinks werden nicht die besten sein, aber manche Ehefrau eine Plage. Die meisten der feinen Damen, daß man genau weiß für welchen Wohltätigkeitsverein sie sich engagieren. Weh dir, wenn du darüber nicht im Bilde bist, ihre ganze Verachtung wirst du zu spüren bekommen!

- Willst du damit diskret andeuten, daß ich besser mit einer Großtante im Vorstand des Internationalen Roten Kreuzes aufwarten sollte? - Demonstrativ schob Jim sich die Krawatte zurecht, während sie ins Auto stiegen.

- Warte nur ab, jetzt lachst du noch darüber. In einer halben Stunde schon wird dich die Gesellschaft anöden!

- Zur Belebung der Stimmung könnte ich ja ein paar Geschichten aus meiner Zeit als Straßenrowdy auftischen.

Bis sie ihr Ziel erreicht hatten, war es Jim gelungen, Claire aufzuhei­tern. Auch wenn er den Grund für ihre ungewohnt schlechte Laune nicht kannte, so konnte er sich doch einen Reim darauf machen. Claire mochte große Menschenansammlungen nicht und reagierte mit Nervosität darauf.

- Ich weiß nie, was ich den Leuten erzählen soll - bemerkte sie unsicher, als er ihr im Foyer des Hauses aus dem Cape half.

Davon merkte man ihr jedoch nicht das geringste an. Stolz beobachtete Jim, wie sofort einige Ärzte mit ihren Frauen auf Claire zukamen und sie ausgesprochen herzlich begrüßten. So viel Aufmerk­samkeit mochte ihr unangenehm sein, aber es war ganz offensichtlich, daß Claire bei ihren Kollegen überaus beliebt war.

In kürzester Zeit wurde sie von Jim getrennt. Das störte ihn nicht. Auf seinem Weg durch die Räumlichkeiten, die für diesen Empfang gemietet worden waren, bestaunte Jim die außergewöhnlich ge­schmackvolle Einrichtung. Die Bewirtung war zuvorkommend, sein Glas würde schneller wieder vollgeschenkt, als ihm lieb war.

Viele Fremde kamen auf ihn zu und begrüßten ihn, offenbar wußten alle, daß er zu Claire gehörte. Es mangelte ihm daher nicht an Unterhaltung, und er kam auch ohne Claire sehr gut zurecht. Wie Claire vorausgesagt hatte, machte er Bekanntschaft mit einigen oberflächlichen Geschöpfen, die meisten Gäste jedoch machten einen gebildeten Eindruck. Der leichte Männerüberschuß war nicht zu übersehen.

Während der ersten halbe Stunde ließ Jim Claire kaum aus den Augen. Dann aber wandte er seine Aufmerksamkeit mehr den männlichen Gästen zu. Ihm fiel auf, daß sich alle mehr oder weniger lange in Claires Nähe aufhielten. Standen Ärzte nicht im Ruf, besonders attraktiv auf Frauen zu wirken? Bei diesem Gedanken änderte sich Jims Stimmung schlagartig. Nie zuvor hatte er bedacht, mit wie vielen möglichen Rivalen Claire zusammenarbeitete. Voller Mißfallen beobachtete er, wie sie immer wieder auf die Wange geküßt wurde.

In regelmäßigen Abständen gesellte sich Claire zu Jim, aber stets nur für kurze Zeit, dann verschwand sie wieder. Ein Arzt, von dem Jim ziemlich sicher wußte, daß er verheiratet war, zog Claire in eine stille Ecke und verwickelte sie in ein fachliches Gespräch. Von Medizin verstand Jim nichts, aber den Gesichtsausdruck des Mannes konnte er sehr gut deuten. Am liebsten hätte Jim sich mitten in den Raum gestellt und allen Leuten zugerufen, daß Claire ihm gehöre. Sein Ärger wuchs von Minute zu Minute.

Der Empfang hätte eigentlich um neun Uhr beendet sein sollen, aber niemand machte Anstalten, sich zu verabschieden. Gegen zehn nach neun sah Jim, wie Claire sich gutgelaunt und mit leuchtenden Augen einen Weg zu ihm bahnte. Lächelnd hängte sie sich bei ihm ein.

- Wollen wir diesem Zirkus den Rücken kehren? Wir sind lange, genug geblieben - flüsterte sie ihm ins Ohr.

Sie erwartete eine scherzhafte Antwort, aber Jim blieb stumm. Während Claire sich von einigen Gästen verabschiedete, holte er ihr Cape.

Eine herrliche Frühlingsnacht empfing, Claire und Jim, als sie ins Freie traten. Der Wind raschelte in den zarten, jungen Blättern der Bäume, und ein betäubender Duft von Narcissen und Hyazinthen erfüllte die Luft.

- Du bist ein Engel, daß du dir zwei Stunden lang diesen Unsinn angehört hast - stellte Claire fest, als sie ins Auto stiegen.

- Hm.

Erst jetzt fiel ihr Jims ungewohnte Schweigsamkeit auf.

- Was hast du denn?

- Nichts.

Sie betrachtete ihn eine Weile und war erstaunt, wie versteinert seine Züge wirkten:

- Doch, du hast etwas - beharrte sie ruhig.

- Du warst wunderschön heute abend.

- Vielen Dank. Dennoch werde ich das Gefühl nicht los, daß dies weniger ein Komplement als eine Kritik ist.

- Es ist ein Kompliment, ehrlich. - Er lächelte sie an, aber dieses Lächeln erreichte Augen nicht - Obwohl, wunderschön ist nicht der passende Ausdruck; verführerisch, verwirrend und bezaubernd.

Claire lehnte lächelnd den Kopf zurück.

- Nanu, was ist denn in dich gefahren? Übrigens, ich habe gesehen, wie du die ganze Zeit über von Frauen umlagert und umschwärmt wurdest, Du warst bei weitem der bestaussehendste Mann von allen, und ich fürchtete schon, das könne dein Selbstbewußtsein übersteigert haben!

- Und wie ist as mit dir? - erkundigte Jim sich gefährlich ruhig. - Wie meinst du das?

- Hat der heutige Abend dein weibliches Selbstbewußtsein befrie­digt? Ich habe nicht einen Mann gesehen, der dir nicht begehrlich in den Ausschnitt geschielt hätte.

Claire erstarrte, als sie die Eifersucht aus Jims Stimme hörte.

- Ich glaube nicht, daß mein Ausschnitt außergewöhnlich tief ist.

- Das habe ich ja auch nicht behauptet.

- Willst du mir unterstellen, ich hätte es bewußt darauf angelegt, anderen Männern den Kopf zu verdrehen?

- Nein. Ich wollte damit nur sagen, daß du anziehend auf andere Männer wirkst, und das stimmt ja auch. Kein Wunder, so wie du aussiehst. Ach, zum Teufel - seufzte er und lockerte sich die Krawatte. - Diese Bemerkung war überflüssig. Gib mir einen Moment Zeit, ja? Ich war einfach krank vor Eifersucht, als ich sah, wie dich diese Männer umschwärmten. Dieser frischverheiratete Chefarzt hat dich auf eine Art und Weise betrachtet, daß ich ihn am liebsten zusammengeschlagen hätte!

Claire überlegte, ob sie Jim sagen solle, daß sie seit fünf Jahren mit diesem Mann zusammenarbeitete, ohne daß dieser jemals einen Annäherungsversuch gemacht hätte. Aber sie verwarf diesen Gedan­ken wieder. Wortlos schloß sie die Augen, sie fühlte sich richtiggehend krank.

Das Gefühl, dies schon einmal erlebt zu haben, traf sie zutiefst. Schon einmal hatte sie über jeden ihrer Schritte Rechenschaft ablegen müssen, hatte jedes noch so harmlose Gespräch mit einem anderen Mann Mißtrauen erweckt.

- Claire?

- Sie schlug die Augen auf und stellte fest, daß Jim sie stirnrunzelnd betrachtete. Der Wagen stand bei Rot vor einer Ampel, ganz in der Nähe ihres Hauses.

- Ich möchte aussteigen, Jim.

- Wie bitte?

- Ich möchte hier raus und zwar sofort.

Claire wartete seine Antwort nicht ab, stieß die Tür auf und stieg aus. Ihre hohen Absätze klapperten laut auf dem Straßenpflaster. An der frischen Luft atmete sie tief durch.

Bremsen quietschten hinter ihr. Claire hörte das Zuschlagen einer Autotür und hastige Schritte. Hände legten sich auf ihre Schultern und zwangen Claire, stehenzubleiben und sich umzudrehen.

- Was ist denn los mit dir? - fragte Jim aufgebracht. - Ich war eifersüchtig. Gut, das ist nicht gerade eine noble, aber, zumindest eine sehr menschliche Regung. Das heißt doch nicht, daß ich kein Vertrauen zu dir habe!

- Das kann sich sehr schnell ändern.

- Was soll das heißen?

- Es fängt immer mit solchen Kleinigkeiten an. Erst nach und nach wird es schlimmer. Das ist schlecht. Ich will das nicht noch einmal durchmachen, - Claire kämpfte mit den Tränen.

- Warte einen Moment. - Das helle Licht der Straßenlampe ließ Jims Gesicht geisterhaft bleich wirken. - Laß uns nicht um den heißen Brei herumreden sondern die Karten offen auf den Tisch legen. Ich sehe es nicht gern, wenn andere Männer dich anfassen. Ist das ein Verbre­chen?

- Nein - erwiderte sie voll Bitterkeit. - Das ist ganz normal - und genau das ist das Problem. Laß mich bitte allein, Jim, ja?

Wie gehetzt lief Claire ein paar Schritte weiter, doch Jim packte sie am Handgelenk und hielt sie fest. Das Gefühl, gefangen zu sein, verstärkte den pelzigen Geschmack in ihrem Mund.

- Jetzt hör mir mal zu, Claire - sagte Jim scharf. - Du bist erwachsen und kannst auf eigenen Füßen stehen. Du besitzt genug Urteilsvermö­gen, um wahre Freunde von falschen zu unterscheiden, und ich vertraue dir darin völlig. Ich habe dir auf dieser Party keine Szene gemacht, und hätte es auch nie getan. Ein Mann, der seine Frau nur mit Drohungen oder Gewalt halten kann, taugt nichts. Entweder Liebe und Vertrauen haben eine Beziehung zusammen, oder alle hat keinen Zweck. Ich bringe dir diese Liebe und dieses Vertrauen entgegen.

Als sie weiterhin stumm blieb, fuhr er beinahe schroff fort.

- Ich bin ein Mann, Claire, aber in erster Linie bin ich ein Mensch. Diesbezüglich habe ich dir nie etwas vorgemacht. Menschen sind höchst unvollkom­mene Wesen. du erwartest, daß ich nichts dabei empfinde, wenn dich ein anderen Mann berührt, dann muß ich dich enttäuschen, das wird niemals der Fall sein. Das heißt aber noch lange nicht, daß ich dich deshalb an die Kette legen will. Es ist nur ein Gefühl, daß zum Ausdruck kommt, weiter nichts. Himmel, Claire, bist du denn wirklich so unnachsichtig?

Sie konnte die Tränen nicht länger zurückhalten.

- Laß mich gehen - bat sie leise.

- Nein.

- Laß mich los, Jim. Du tust mir weh.

Abrupt gab er sie frei.

- Ich liebe dich - beteuerte sie. - Aber das ist nicht genug. Vielleicht bin ich unnachsichtig, vielleicht kann ich dich nicht so lieben, wie du dir das wünschst. Alles, was ich ganz sicher weiß, ist, daß ich genauso unvollkommen bin wie du. Jim, ich kann nicht mit der ständigen Angst leben, eingeengt und erdrückt zu werden.

Sie drehte sich um und ging mit hocherhobenem Kopf davon. Tränen strömten ihr über die Wangen.

Jim kam ihr nicht nach, er rief sie auch nicht. Sie spürte, daß er noch immer dastand und ihr nachschaute. Gern hätte sie sich die Tränen abgewischt, aber sie war zu stolz. Sie wollte nicht, daß er diese Bewegung sah.

Schweren Herzens ging Claire auf ihr Elternhaus zu. Die Männer zeigen Verständnis für die Unabhängigkeit, solange sie ungebunden sind, dachte sie bitter. Gehen sie erst einmal eine feste Beziehung ein, beginnen sie sogleich, Besitzansprüche anzumelden.

Zu glauben, Jim könne anders sein, hatte sich als Trugschluß erwiesen. Diese Erfahrung war sehr schmerzhaft. Einziger Trost blieb, daß sie so etwas nie wieder würde durchmachen müssen. Denn nach Jim würde sie keinen Mann mehr an sich heranlassen.

*

In den folgenden Tagen kletterte Melanie immer wieder auf Claires Schoß und umarmte sie liebevoll. Auch Walter folgte Claire auf Schritt und Tritt, er schien neuerdings ein unstillbares Verlangen nach ihrer Nähe zu haben. In der Klinik fing Janice an, ihr warmes Essen mitzubringen.

Eines sonntags morgens stand Sandra in Claires Schlafzimmertür. Sie hielt die Hände in den Taschen ihres Morgenrocks vergraben und lehnte die Wange an den Türrahmen.

- Weißt du - begann. sie langsam. - Du warst diejenige, die die Familie seit Vaters Tod zusammengehalten hat. Du hast uns in allen möglichen Situationen erlebt und uns zur Seite gestanden. Ich finde, es ist an der Zeit, daß du dir auch einmal von uns helfen läßt. Sprich dich aus, Schwesterherz...

Eine Woche später zog Nora Claire in die Küche, verschloß die Tür und setzte ihrer Tochter eine dampfende Tasse Tee.

- Habe ich dir je erzählt, wie oft dein Vater und ich uns gestritten haben? - fing sie beiläufig an. - Man kann jemanden nicht wirklich lieben, wenn man nicht auch mit ihm streiten kann. wenn in einer Beziehung immer alles glattginge, würde es schon sehr bald langweilig werden. Mich jeden­falls würde das langweilen. Vielleicht ist das bei dir anders.

Da Claire sich bemühte, mit heiterer Miene ihren normalen Verpflichtungen nachzugehen, konnte sie nicht verstehen, weshalb ihr anscheinend alle Welt ansah, wie es um sie stand. Die Schatten unter ihren Augen hatte sie sorgfältig mit Make-up bedeckt, und eine vorübergehende Appetitlosigkeit mußte ja nicht gleich bedeuten, daß etwas nicht in Ordnung war. Nein, sie ließ sich ihren Kummer nicht ansehen, dazu hätte sie viel zuviel Stolz.

Die Stunden nach Mitternacht waren die schlimmsten. Wenn Claire aus der Klinik kam, und niemand wartete auf sie, redete sie sich ein, daß sie nur zu dem Punkt kommen mußte, an dem sie aufhörte, nach Jim zu suchen, dann würde sich alles wieder einrenken. Aber diesen Punkt erreichte sie nicht. Sie suchte jede Nacht nach Jim, doch er war nicht da.

- Immer mit der Ruhe - beschwichtigte Claire. - Das bekommen wir schon wieder in die Reihe. In einer Minute bin ich fertig.

Sie richtete den Schein der Taschenlampe wieder auf den Sicherungskasten und warf einen Blick auf ihr Publikum: Nora, Sandra und Melanie saßen erwartungsvoll auf dem alten Tisch im Keller und beobachteten Claire zuversichtlich. Bestimmt würde sie die Sicherung finden, die für das Licht oben in der Küche zuständig war.

Das Haus war alt, moderne Sicherungen gab es hier noch nicht. Wären sie alle markiert oder nach Zimmern numeriert gewesen, hätte Claire keine Mühe gehabt, sich zurechtzufinden. Aber das waren sie nicht, und so mußte sie eine Sicherung nach der anderen überprüfen, ob sie noch intakt war. Dummerweise sahen alle unbeschädigt aus.

- Eigentlich solltet ihr das selbst machen können - bemerkte Claire gereizt. Zum zigstenmal ließ sie den Lichtkegel über die Sicherungen wandern.

Schritte auf der Kellertreppe ließen alle vor Schreck erstarren. Claire biß sich auf die Lippe und richtete mutig den Strahl der Taschenlampe auf den Eindringling.

Mit einem erstickten Laut ließ sie die Lampe fallen, und das Licht erlosch. Claire bückte sich, um die Lampe zu suchen. Vor Aufregung pochte ihr Herz wie verrückt.

Jim war gekommen. Im fahlen Licht hatte sie erkennen können, wie blaß und erschöpft er aussah. Schmerzhaft wurde sie sich der Einsamkeit der letzten Wochen bewußt.

- Ich habe sie. - Dicht neben Claire knipste Jim die Lampe wieder an. Schulter an Schulter sahen sie in den Sicherungskasten. - Dann wollen wir mal. Wir können unser Publikum doch nicht enttäuschen.

Geschickt machte er sich daran, die alten Sicherungen durch. neue zu ersetzen, und schon bei der sechsten flammte das Licht in der Küche auf. Applaus ertönte hinter ihnen, und im selben Augenblick hasteten Nora und Sandra, ohne ein Wort zu sagen, aus dem Keller. Melanie zögerte und winkte Jim zu, aber Sandra kam zurück und zog die Kleine mit sich fort.

- Aus irgendeinem Grund wollen sie uns hier im Keller allein lassen - stellte Jim ironisch fest, abwesend spielte er mit der schadhaften Sicherung.

Mit rätselhafter Miene sah er Claire an.

- Keine Sorge, ich bin nicht gekommen, um mit dir zu reden oder dich unter Druck zu setzen. Ich bin nur wegen deiner Platzangst hier.

Der winzige Hoffnungsschimmer in Claire verlosch.

- Wie bitte?

- Es gibt eine Behandlungsmethode, die sich schon oft bewährt hat. Wenn du eine Stunde Zeit hast, schlage ich dir vor, sie einmal auszuprobieren.

Claire war unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen.

- Eine Stunde?

- Ja. Was ist schon dabei? Schaden kann es nicht.

Nach kurzem Zögern willigte sie ein. Sie ging nach oben, um sich eine Jacke zu holen, während Jim in der Küche auf sie wartete.

- Ich gehe kurz weg - verkündete sie.

Die anderen nickten verste­hend und lächelten. Verlegen und wortlos folgte sie Jim zum Wagen. Schweigend fuhren sie los, und beklommen registrierte Claire, daß sie die Richtung zu seinem Lokal einschlugen.

- Wir müssen in mein Büro gehen - erklärte er.

Die Beklommenheit wich tiefer Enttäuschung. Sein Büro, natürlich. Nichts war Claire im Moment gleichgültiger als ihre Platzangst.

Claire konnte den Blick nicht von Jim wenden und suchte nach der Entschuldigung für ihren Gefühlsausbruch in jener Nacht. Sie wollte ihm sagen, daß sie sich absolut lächerlich benommen hatte, und ihn bitten noch etwas Geduld mit ihr zu haben. Denn in den vergangenen Wochen hatte sie eines gelernt: es war sinnlos, vor etwas davonzulau­fen. Problemen mußte man sich stellen, nicht sie umgehen. Auch war Claire bewußt geworden, daß das Leben ohne ihn keine Freude machte.

Aber sie brachte keinen Ton heraus, es war, als sei ihr die Kehle zugeschnürt. Vielleicht würde es ihr in ein paar Minuten gelingen, wenn Jim etwas zugänglicher geworden wäre. Er sah so unnahbar aus und schien seine Gefühle hinter einem Schild aus Gleichgültigkeit zu verbergen. Freundlich und kühl saß er neben ihr, wie ein Mann, den nichts mehr dazu bringen konnte, seine Empfindungen zu zeigen.

Stumm folgte er ihr die Treppen hinauf, dann schloß er die Tür zum Lokal auf.

- Du kennst ja den Weg ins Büro.

Claire nickte und ging voraus. Betroffen blieb sie in der Tür des Büros stehen und blickte auf das Durcheinander vor ihr. Überall im Raum lagen Kleidungsstücke herum. Fragend sah sie sich nach Jim um.

- Bringst du es fertig, mir jetzt für zehn Minuten völlig zu vertrauen? - fragte er ruhig.

- Natürlich kann ich das.

Ein kaum merkliches Lächeln umspielte seinen Mund.

- Gut. Dann komm hier herein.

Claire war nie aufgefallen, daß sich in der Wandverkleidung eine Tür befand, noch weniger hatte sie damit gerechnet, daß sich im direkten Anschluß an das Büro ein Raum befand. Neugierig trat sie ein. Jim folgte ihr und zog die Tür hinter sich ins Schloß.

- Was soll das, Jim?

Sie befanden sich in einer winzigen, fensterlosen Kammer, die mit Teppichboden ausgelegt und abgesehen von einer grellen Lampe, völlig leer war. Es dauerte nicht einmal eine Minute, bis Claire das Gefühl hatte, die Wände kämen auf sie zu und erdrückten sie.

- Du hast versprochen, mir für ein paar Minuten dein Vertrauen zu schenken - erinnerte Jim sie.

- Das tue ich auch.

- Liebst du mich?

Tränen stiegen Claire in die Augen.

- Ja. Ja! - Verzweifelt fügte sie hinzu: - Jim, 1aß uns hinausgehen und über alles reden!

- Gleich.

Ohne ein weiteres Wort zog er sie in die Arme, und Claire schmiegte sich willig an ihn. Leidenschaftlich küßte er sie. Furcht überkam Claire, eine nicht zu definierende Furcht, die nichts mit ihrer Platzangst zu tun hatte.

Mit drängenden Händen öffnete Jim die Knöpfe ihrer Bluse, den Verschluß des BHs und den Reißverschluß ihrer Jeans. Der wilde, fordernde Ausdruck seiner Augen ließ Claire erschauern.

- Berühr mich, Claire - flüsterte er. - Jetzt.

Nur zu gern gehorchte sie ihm. Sie hatte es so sehr vermißt, seine warme, straffe Haut, das Spiel seiner Muskeln und den Schlag seines Herzens unter ihrer Hand zu spüren.

All das gehört mir, nur mir, dachte sie trunken vor Glück. Nie zuvor hatte sie verstanden, wie schön es sein konnte, jemandem zu gehören. Es erfüllte sie mit unbeschreiblicher Freude, zu spüren, wie Jim auf ihre Liebkosungen reagierte.

Mit einemmal stellte Claire fest, daß sie auf dem Boden lag. Sie konnte sich nicht erinnern, wie dies zugegangen war.

- Sieh dich um - befahl Jim leise.

Aber sie sah nur, was ihr im Moment am wichtigsten erschien. Seine Augen. Er neigte den Kopf und liebkoste mit den Lippen die empfindsame Haut ihres Halses, ihrer Brüste. Seine Hand streichelte dabei die Innenseite ihrer Schenkel. Claire stöhnte auf vor Verlangen.

- Weißt du, wo du bist, Claire?

Natürlich wußte sie es. Sie war bei ihm.

- Es tut mir leid, Jim. Ich war im Unrecht: Ich erwarte gar nicht von dir, daß du vollkommen bist. Ich hätte genau wie du reagiert, wenn ich dich mit einer anderen Frau gesehen hätte.

Er schien ihr nicht zuzuhören. Sie schloß die Augen, hin- und hergerissen zwischen dem Wunsch, ihm alles zu erklären, und dem Verlangen, sich ganz ihren Empfindungen hinzugeben.

Worte bedeuteten jetzt nichts mehr. Jim war alles, was jetzt noch zählte, Jim und die Gefühle, die er in ihr entfachte. Als sie schon glaubte, ihre Lust nicht mehr ertragen zu können, nahm er sie.

Sie steigerten sich gegenseitig auf den Höhepunkt ihrer Leiden­schaft, wo eine Woge der Lust sie erfaßte und sie mit sich forttrug.

- Wann gedenkst du die Augen wieder aufzumachen, Claire? - scherzte Jim halblaut.

Sie lächelte und kuschelte sich dichter an ihn. Wären Jims Arme nicht gewesen, hätte sie völlig die Orientierung verloren. Das grelle Licht der Lampe blendete sie, und als sie den Arm ausstreckte, berührte sie eine Wand.

- Warum sind wir in dieser Kammer?

- Um dir etwas zu beweisen. - Jim strich ihr das Haar aus dem Gesicht und glättete die wirren Strähnen. - Wenn wir zusammen sind, Liebling, fühlst du dich nicht eingeschlossen. Das mußte ich dir klarmachen. Mit uns beiden ist alles anders. Mir ist egal, wie es dir mit einem anderen erging. Jetzt geht es um uns, Claire. Ich mußte noch einen letzten Versuch unternehmen, um dir zu zeigen, was uns verbindet. Du mußt es endlich einsehen.

- Das habe ich bereits, Jim.

- Ich stelle keine Forderungen an dich, Claire. Das tun andere, deine Patienten, und deine Familie beispielsweise. Aber das ist es nicht, was ich von einet Frau will. Ich möchte der Mann sein, zu dem du nach Hause kommst, zu dem du dich vor den Anforderungen des Lebens flüchten kannst. Ich möchte der Mann sein, bei dem du dich frei fühlen kannst, bei dem sich jeder Druck in Nichts auflöst, und von dem du dich...

- Geliebt fühlst? - Sie sah ihn mit leuchtenden Augen an. - Ich fühle mich geliebt, Jim, mit Leib und Seele. Und ich liebe dich auf die gleiche Art.

- Du mußt dir dessen ganz sicher sein.

- Ich bin mir sicher.

- Ich meine, auf lange Sicht. Ich spreche von einem gemeinsamen Lebensabend.

- Wenn du sehen willst, wie schnell ich dich heiraten möchte, dann bring mich sofort aus dieser Kammer heraus!

Jim setzte sich auf und sah sie mit gespielter Entrüstung an.

- Ich dachte, wir hätten dich endgültig von deiner Platzangst geheilt? Falls dem nicht so ist, dann...

Lachend zog Claire ihn wieder zu sich auf den Boden.

- ENDE -



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