DIE ZEIT
02/2005
»Das Publikum ist mir jetzt alles«
Präzis anvisiert und eiskalt platziert - Schiller setzt auf Überwältigung. Ein Blick auf die Tricks, mit denen der coole Friedrich die Leute auf seine Seite bringt
Von Robert Gernhardt
Eine Weile galt es als progressiv, den »elaborierten Code« gegen den »restringierten« auszuspielen, was zur Folge hatte, dass der elitäre Schiller von den Lehrplänen gestrichen und durch die kritische Lektüre der Bild-Zeitung ersetzt wurde. Nun, da der Zeitgeist sich gewandelt hat, ist der Zeitpunkt gekommen, erneut die Frage zu stellen, was denn vom Dichter Schiller zu halten sei.Der Stuhlspas ist der Schiller-Forschung bis auf den heutigen Tag ein Rätsel. Leider ist nicht mehr festzustellen, auf welchen Vorfall im Körnerschen Haushalt sich diese Scherzzeichnung bezieht. War es womöglich das wöchentliche Großreinemachen? © Illustrationen: Friedrich Schiller aus dem Buch:"Der lachende Tragiker, Humoristische Bilder von Friedrich Schiller", Beinicke Library - Yale University; mit freundlicher Unterstützung des Literaturarchivs Marbach BILD
Betrachten wir seine Anfänge. Am Vortag seiner Konfirmation soll der Herumtollende auf Bitten seiner ruhebedürftigen Mutter sein erstes Gedicht verfasst haben, ein derart gefühlvolles Poem, dass der Vater dem Vernehmen nach ausrief: »Bischt närrisch worde, Fritz?«
»Närrisch« - spätere Schiller-Apologeten haben in ähnlichen Fällen das Wort »enthusiastisch« gewählt, und ein vergleichbares Doppelgesicht kennzeichnet auch Schillers ersten öffentlichen Auftritt als Dichter, da gibt er sich zugleich clever und närrisch, hemdsärmlig und hoch pathetisch. Clever war es, eine Anthologie auf das Jahr 1782 zusammenzustellen, närrisch hingegen darf die Idee des 23-jährigen Medizinstudenten genannt werden, seine Anthologie wg. Beiträgermangels weitgehend selber zu füllen, sich für den Druck zu verschulden, das Buch im Selbstverlag herauszubringen, es als Sibirische Anthologie zu deklarieren und zu behaupten, sie sei »Gedruckt in der Buchdruckerei Tobolsko«.
Hier entfaltet er sich erstmals zu voller Blüte, der Schwerpathetiker Schiller. Aber hier zeigt er sich auch als ein ganz anderer, als einer, der selber dem Spott nicht abgeneigt ist, vor allem aber einer, der seine Worte so aufzuladen weiß, dass ihnen Flügel wachsen, was sie zu geflügelten Worten werden lässt. Kastraten und Männer ist das Gedicht überschrieben, in welchem Schiller dieses Kunststück erstmals gelingt. Ein Gedicht des zehn Jahre älteren Gottfried August Bürger hatte seinen Widerspruch erregt, das so beginnt: »Wer nie in schnöder Wollust Schoß / Die Fülle der Gesundheit goß, / Dem steht ein stolzes Wort wohl an, / Das Heldenwort: Ich bin ein Mann!« Von gleicher Keuschheit singen die folgenden 16 Strophen, denen Schiller so entgegentritt:
Ich bin ein Mann! - wer ist es mehr?
Wers sagen kann, der springe
Frei unter Gottes Sonn einher
Und hüpfe hoch und singe!
Was aber ein richtiger Mann ist, der zeigt's dem anderen Geschlecht:
Und röter wird das Mädchen dann,
Und 's Mieder wird ihr enge -
Das Mädchen weiß, ich bin ein Mann,
Drum wird ihr 's Mieder enge.
Drum Pfui auch über jene Männer, welche Keuschheit predigen, sie sind
Wie Wein von einem Chemikus
Durch die Retort' getrieben:
Zum Teufel ist der Spiritus.
Das Phlegma ist geblieben.
Drum fliehn sie jeden Ehrenmann,
Sein Glück wird sie betrüben -
Wer keinen Menschen machen kann,
Der kann auch keinen lieben.
Volltreffer! Präzis anvisiert und eiskalt platziert - wie verträgt sich dieser coole Friedrich mit dem erhitzten Pathetiker Schiller? Beide sind die zwei Seiten einer Medaille, auf der das verbindende Credo eingraviert ist: Wirkung. Wirkung setzt Publikum voraus, und das braucht Schiller nicht nur aus hoch künstlerischen, sondern auch aus finanziellen Gründen.
1784 gründet er seine erste Zeitschrift, die Rheinische Thalia, die er so ankündigt: »Das Publikum ist mir jetzt alles, mein Studium, mein Souverain, mein Vertrauter. Ihm allein gehör ich jetzt an. Dieses nur fürchte ich und verehr ich.«
In diesem publikumsfreundlichen Organ erscheint 1786 eines der publikumswirksamsten Gedichte Schillers, die Ode an die Freude. Ein hochgestimmter Gesang und zugleich ein Gelegenheitsgedicht, erlebt und verfasst im Loschwitzer Landhaus des Freundes Körner und in weinfroher Runde. Schiller habe derart heftig angestoßen, dass sein Rotweinglas zersplittert sei, berichtet Körners Ehefrau Minna, worauf der Dichter die Anwesenden aufgefordert habe, ihre Gläser als Gabe an die Götter auf das Tischtuch zu entleeren und sie sodann über die Gartenmauer zu werfen. Jedenfalls wird in den 18 Strophen so viel weggetrunken, dass man sie auch Ode an die Freude an mehr als nur ein Viertele überschreiben könnte:
Freude sprudelt in Pokalen
In der Traube goldnem Blut
Trinken Sanftmut Kannibalen,
Die Verzweiflung Heldenmut -
Brüder, fliegt von euren Sitzen,
Wenn der volle Römer kreist,
Laßt den Schaum zum Himmel sprützen:
Dieses Glas dem guten Geist.
Wieso aus weingefüllten Römern bierbedingter Schaum sprützen kann, wird ebenso Schillers Geheimnis bleiben wie die Begründung seiner Behauptung, Menschenfresser seien ausgerechnet durch Alkohol zu besänftigen. 1797 beklagt sein in Frankfurt weilender Freund Goethe die dortige »Scheu gegen poetische Produktionen«. In einem Antwortbrief erklärt Schiller, wie man den trägen Lesern beikommen kann: »Man muß sie inkommodieren, ihnen ihre Behaglichkeit verderben, sie in Unruhe und Erstaunen setzen. Eins von beiden, entweder als ein Genius oder als ein Gespenst muß die Poesie ihnen gegenüber stehen.«
Genius oder Gespenst - das meint: Poesie, die wirken will, hat extrem zu sein. Bye bye Harmonie, Reinheit, Ideal und Klassik, hello Reiz, Kick, Mischung und Moderne. In seiner berühmten Marburger Rede über Probleme der Lyrik wird Gottfried Benn dem Kollegen vorbehaltlos zustimmen: »Lyrik muß entweder exorbitant sein oder gar nicht.«
Schiller ist darin unser Dichter-Zeitgenosse, dass ihm beim Dichten jedwede Naivität abgeht. Wie Gottfried Benn versucht er unablässig, bisher unbekannte Sprachreize ausfindig zu machen, wie nur je ein Expressionist steigert er unermüdlich den »Wallungswert der Worte«, wie Bertolt Brecht wechselt er die Dichterrollen und die Sängerkostüme nach Belieben und nach Bedarf.
Das macht er auch in seinen Balladen, die bis auf den heutigen Tag unauslöschlich mit seinem Namen verbunden sind. Was ist das: eine Ballade? Wörtlich übersetzt ein Tanzlied, folgt man jedoch Goethe, eine Gedichtform, die drei sonst geschiedene Dichtarten vereint, das Epos, die Lyrik und das Drama. Goethe hat selber Balladen verfasst, den Erlkönig, den König von Thule, Musterbeispiele stimmungsvoller Erzählgedichte. Ein Vorlauf, der Schiller gänzlich fehlte, als er sich 1797 daran machte, auf dem Balladenfeld mit dem zehn Jahre älteren Kollegen zu wetteifern. Unter seinen frühen Gedichten findet sich lediglich ein längeres erzählendes Gedicht, dessen Titel bereits geballten Unernst verrät: Wundersame Historia des berühmten Feldzuges / als welchen HUGO SANHERIB, König von Assyrien, / ins Land Juda unternehmen wollte / aber unverrichteter Ding wieder einstellen mußte / Aus einer alten Chronik gezogen und in schnakische Reimlein bracht von SIMEON KREBSAUGE, Baccalaur.
Das Werk hebt denn auch in vergnüglichem Moritatenton an:
In Juda - schreibt die Chronika -
War olim schon ein König,
Dem war von Dan bis Berseba
Bald alles untertänig.
Ein nicht ganz reiner Reim, was freilich den reifen Schiller nicht hindern wird, ihn in einer seiner bekanntesten Balladen erneut einzusetzen, im Ring des Polykrates, welch Letzterer seinem Gast die folgende Mitteilung macht:
Dies alles ist mir untertänig,
Begann er zu Ägyptens König…
Aber verlassen wir die beiden Herrscher, um noch eine schöne Strophe lang bei Schillers Jugendwerk zu verweilen:
Ein großer Herre, wie man weißt,
Ist nicht wie unsereiner -
Wenn unsre Seele weiterreist
Drob kümmert sich wohl keiner -
Ein Schnuppen, den ein Großer klagt,
Wird in der Welt herumgesagt.
So kess tönt der Schiller von 1783, noch deutet nichts darauf hin, dass die gleiche Feder 14 Jahre später dazu imstande sein wird, Balladenhit auf Balladenhit zu landen. Hit - ein Begriff aus der Pop-Kultur, den ich mit Bedacht nutze, wobei ich mich auf jemanden berufen kann, der noch am Ende des 20. Jahrhunderts so kühn war, Balladen nicht nur zu bedenken, sondern auch zu verfassen, nämlich auf Peter Hacks: »Unter Schlagern sind solche, die balladeske Züge aufweisen. Jede Ballade aber will und sollte ein Schlager sein.«
Schiller hat mindestens fünf solcher Schlager gelandet, fünf absolute smash hits unter jenen lediglich elf regelrechten Balladen, die er fast alle 1797 und 1798 verfasst hat. Goethe und er betrachteten ihr Balladenprojekt als Gemeinschaftsunternehmen, jeder bestrebt, den anderen zu stützen und zu befördern, wobei Goethe sich beim Korrigieren und Initiieren besonders hervortut. Kann man Gedichte verbessern? Für Goethe und Schiller war das keine Frage - geradezu exemplarisch wird ihre Einstellung durch die Entstehungsgeschichte einer der bekanntesten Schiller-Balladen belegt: Die Kraniche des Ibykus.
Ein antiker Stoff, den ursprünglich Goethe behandeln wollte. Am 26. Juni 1797 schickt ihm Schiller seinen Ring des Polykrates zu und nennt ihn »ein Gegenstück zu Ihren Kranichen«. Innerhalb eines Monats aber scheint der Stoff seinen Bearbeiter gewechselt zu haben, da Schiller am 21. Juli meldet, er werde nun sein »Glück an den Kranichen versuchen«. Am 17. August schreibt Schiller: »Endlich erhalten Sie den Ibykus. Möchten Sie damit zufrieden sein.« Am 22. August bereits antwortet Goethe: »Die Kraniche finde ich sehr gut geraten« - doch nach solchem Pauschal-Lob steigt er tief in die Detailkritik: »Nun auch einige Bemerkungen: die Kraniche sollten, als Zugvögel, ein ganzer Schwarm sein, die sowohl über den Ibykus als über das Theater wegfliegen, sie kommen als Naturphänomen und stellen sich so neben die Sonne und andere regelmäßige Erscheinungen. Auch wird das Wunderbare dadurch weggenommen, indem es nicht eben dieselben zu sein brauchen, es ist vielleicht nur eine Abteilung des großen wandernden Heeres, und das Zufällige macht eigentlich, wie mich dünkt, das Ahndungsvolle und Sonderbare in der Geschichte.«
Tags darauf fügt Goethe hinzu: »Ich wünschte, da Ihnen die Mitte so gelungen ist, daß Sie auch noch an die Exposition mehrere Verse wendeten, da das Gedicht ohnehin nicht lang ist. Meo voto würden die Kraniche schon von dem wandernden Ibykus erblickt, sich, als Reisenden, verglich er mit den Vögeln, sich, als Gast, mit den Gästen, zöge daraus eine gute Vorbedeutung, und rief alsdann unter den Händen der Mörder die schon bekannten Kraniche, seine Reisegefährten, als Zeugen an…«
Bereits am 30. August bedankt sich der ornithologisch unerfahrene Schiller für die nützlichen Tipps (»mir sind Kraniche nur aus Gleichnissen bekannt«), und das Ergebnis weist ihn als ebenso lernfähigen wie verbesserungsbereiten Dichter aus:
Zum Kampf der Wagen und Gesänge,
Der auf Korinthus' Landesenge
Der Griechen Stämme froh vereint,
Zog Ibykus, der Götterfreund.
Ihm schenkte des Gesanges Gabe,
Der Lieder süßen Mund Apoll,
So wandert' er, an leichtem Stabe,
Aus Rhegium, des Gottes voll.
Schon winkt auf hohem Bergesrücken
Akrokorinth des Wandrers Blicken,
Und in Poseidons Fichtenhain
Tritt er mit frommem Schauder ein.
Nichts regt sich um ihn her, nur Schwärme
Von Kranichen begleiten ihn,
Die fernhin nach des Südens Wärme
In graulichtem Geschwader ziehn.
Schiller hat alle Anregungen aufgegriffen, und nach der ausgefeilten Exposition kann die Ballade Fahrt aufnehmen. Zwei Mörder stellen sich dem Sänger in den Weg:
Und schwer getroffen sinkt er nieder,
Da rauscht der Kraniche Gefieder,
Er hört, schon kann er nicht mehr sehn,
Die nahen Stimmen furchtbar krähn.
»Von euch, ihr Kraniche dort oben!
Wenn keine andre Stimme spricht,
Sei meines Mordes Klag erhoben!«
Er ruft es, und sein Auge bricht.
Lassen wir die Frage unberücksichtigt, ob Kraniche »furchtbar krähen« - die Vogelbücher sprechen übereinstimmend von »trompetenden Rufen« -, überspringen wir den Beginn der Festspiele, den Auftritt des Chors der Eumeniden und deren Verfluchung des bisher noch unentdeckten Mörders, werden wir Zeuge, wie er sich selbst verrät:
Da hört man auf den höchsten Stufen
Auf einmal eine Stimme rufen:
»Sieh da! Sieh da, Timotheus,
Die Kraniche des Ibykus!«
Und finster plötzlich wird der Himmel,
Und über dem Theater hin
Sieht man in schwärzlichtem Gewimmel
Ein Kranichheer vorüberziehn.
Wegen dieses unbedachten Ausrufs schöpfen die Umstehenden Verdacht, die beiden Mörder ereilt die Strafe in der letzten Strophe, wobei der Dichter sich einer Ökonomie befleißigt, die er selber am besten zu begründen weiß: »Die wirkliche Entdeckung der Tat, als Folge jenes Schreies, wollte ich mit Fleiß nicht umständlicher darstellen, denn sobald nur der Weg zur Auffindung des Mörders geöffnet ist, (und das leistet der Ausruf, nebst dem darauf folgenden verlegenen Schrecken), so ist die Ballade aus, das andere ist nichts mehr für den Poeten.«
Auf Schillers berühmten Taucher scheint Goethe keinen erkennbaren Einfluss genommen zu haben, ein Umstand, welcher der Ballade nicht zum Vorteil gereicht hat. Der ohnehin nicht allzu naturkundige - oder sollte ich sagen: ganz und gar nicht naturinteressierte? - Schiller, jemand, der die selbst heute häufig zu beobachtenden Kraniche lediglich aus Gleichnissen kannte, wusste vom Meer noch weniger, um nicht zu sagen: gar nichts. Anders als der weit gereiste Goethe hatte er es nie gesehen, und solcher, um mit Schiller selber zu reden, »Mangel einer lebendigen Anschauung« hatte Ungereimtheiten zur Folge. Die Exposition freilich lässt davon noch nichts ahnen, sie ist bester Schiller, Suggestion pur:
Wer wagt es, Rittersmann oder Knapp,
Zu tauchen in diesen Schlund?
Einen goldnen Becher werf ich hinab,
Verschlungen schon hat ihn der schwarze Mund.
Wer mir den Becher wieder kann zeigen,
Er mag ihn behalten, er ist sein eigen.
Zweimal wiederholt der König seine Aufforderung, dann, in der achten Strophe, springt ein Edelknecht ins aufgewühlte Meer, das sich in der siebenten für einen Moment zurückgezogen hat:
Doch endlich, da legt sich die wilde Gewalt,
Und schwarz aus dem weißen Schaum
Klafft hinunter ein gähnender Spalt,
Grundlos, als gings in den Höllenraum,
Und reißend sieht man die brandenden Wogen
Hinab in den strudelnden Trichter gezogen.
Ausgerechnet in diesen »strudelnden Trichter« lässt Schiller seinen Helden springen:
Jetzt schnell, eh die Brandung wiederkehrt,
Der Jüngling sich Gott befiehlt -
und damit tut er auf Geheiß seines Dichters das Falscheste, was ein Taucher in dieser Situation tun kann. Wer jemals ins aufgewühlte Meer gesprungen ist, der weiß, dass nur Brandungshöchststand eine Gewähr dafür bietet, sich nicht den Schädel einzuschlagen. Man soll von den Klassikern lernen? Nein, man muss ihnen auf die Finger schauen, zumal einem Schiller, welcher dem unguten Rat weit fragwürdigeren Bericht folgen lässt. Vier Strophen lang lässt er den Hofstaat bangen, dann kehrt der Jüngling mit dem Becher zurück, um ausführlich Bericht zu erstatten:
Denn unter mir lag's noch, bergetief,
In purpurner Finsternis da,
Und ob's hier dem Ohre gleich ewig schlief,
Das Auge mit Schaudern hinuntersah,
Wie's von Salamandern und Molchen und
Drachen
Sich regt' in dem furchtbaren Höllenrachen.
Die dichterische Freiheit ist ein hohes Gut. Dass der Jüngling im Nordmeer Korallen und im Salzmeer Drachen gesehen haben will, mag seiner Unkenntnis oder seiner blühenden Fantasie geschuldet sein, dass ihn Schiller jedoch in diesem Meer Süßwassergeschöpfe wie Molche und Salamander sehen lässt, ist nicht zu entschuldigen. Da möchte man dem Dichter doch in Abwandlung einer seiner Zeilen zurufen: »Zurück, du rettest dein Werk nicht mehr« - doch Schiller macht weiter, indem er den König den Becher ein zweites Mal ins Meer werfen lässt. Der Jüngling, diesmal betört vom Versprechen, er werde neben dem Becher auch noch die Hand der Königstochter erringen, kehrt vom zweiten Tauchversuch allerdings nicht mehr zurück:
Es kommen, es kommen die Wasser all,
Sie rauschen herauf, sie rauschen nieder,
Den Jüngling bringt keines wieder.
Klappe zu, Jüngling tot - da hat der merkwürdigerweise namenlose Freund, welcher es dem Damon in der Ballade Die Bürgschaft ermöglicht, die Schwester dem Gatten zu frein, doch mehr Glück. Gerade noch vor Ablauf der Dreitagefrist kehrt der des versuchten Tyrannenmords Überführte zurück, rettet den Freund davor, statt seiner ans Kreuz geschlagen zu werden und rührt dadurch das Herz des Tyrannen derart, dass der statt auf Rache auf Freundschaft dringt: »Ich sei, gewährt mir die Bitte, / In eurem Bunde der Dritte.«
Ein solch blitzsauber pointierter Schluss ist Schiller at his best, ebenso wie die Exposition der Ballade, ein rasanter Beginn, der in unglaublicher Verdichtung alle für den Fortgang des Gedichts relevanten Fakten in sieben vierhebigen Zeilen mitteilt:
Zu Dionys, dem Tyrannen, schlich
Damon, den Dolch im Gewande;
Ihn schlugen die Häscher in Bande.
»Was wolltest du mit dem Dolche, sprich!«
Entgegnet ihm finster der Wüterich.
»Die Stadt vom Tyrannen befreien!«
»Das sollst du am Kreuze bereuen.«
Schiller rief nicht nur mit einzigartig rhetorischem Genie in den Wald der deutschen Sprache, es - und das wiederum ist ein Ruhmesblatt für seine Landsleute - schallte auch ungewöhnlich laut heraus. Sage und schreibe 15 Seiten räumt der »Büchmann« jenen Worten Schillers ein, die zu geflügelten wurden, in dichter Folge reihen sich Wortpaarungen, Sätze und Gedichtfragmente, die bis auf den heutigen Tag unseren Sprachgebrauch bereichern, ohne dass wir sie in jedem Fall noch mit ihrem Schöpfer verbänden:
Festgemauert in der Erden
Steht die Form aus Lehm gebrannt.
Heute muß die Glocke werden,
Frisch, Gesellen! Seid zur Hand.
Von der Stirne heiß
Rinnen muß der Schweiß,
Soll das Werk den Meister loben,
Doch der Segen kommt von oben -
Da reiht sich erkennbar Zitat an Zitat. Aber wussten Sie, dass auch die folgenden Wortfindungen von Schiller stammen? Donner und Doria, Kirchhofsruhe, leben und leben lassen, das ewig Gestrige, man soll den Tag nicht vor dem Abend loben, Bretter, die die Welt bedeuten, was da kreucht und fleucht…
Schiller-Parodien füllen heute noch Bände; in vergangenen Zeiten haben sie Bibliotheken gefüllt. Parodiert wird nicht unbedingt das, was gefällt, Vorbedingung jeder Parodie jedoch ist, dass da was aufzufallen wusste. 1798 schreibt Caroline Schlegel an ihre Tochter Auguste Böhmer: »Über ein Gedicht von Schiller, das Lied von der Glocke, sind wir gestern Mittag fast von den Stühlen gefallen vor Lachen.« Und ahnungsvoll berichtet sie einem anderen Adressaten: »Die Glocke ließe sich herrlich parodieren.«
Und ob sie das tat! Schillers Parallelführung von Glockenguss und Bürgertugend setzte zahllose Federn in Gang, die das lang und breit ausmalende Vorbild - oft unter akribischer Wahrung von Umfang, Metrum und Wortwahl - dadurch profanierten, dass sie es auf das Nähen und Bügeln einer Jacke übertrugen, auf das Schweineschlachten, auf die Herstellung einer Wurst oder auf den Beischlaf. Ignaz Franz Castelli heißt der wackere Wiener, welcher die gesamte Glocke Zeile für Zeile in eine Sauglocke transponierte, ein derart schweinöses Unternehmen, dass ich nur die ersten Zeilen zitiere: »Strotzend, steif empor gerichtet, / Steht der Schwanz in stolzer Kraft; / Deine Jungfrauschaft zernichtet / Er und heilt mit Lebenssaft.«
Für den Verursacher all des Gealbers und Gelächters gilt neben Goethes Vermutung, der von großen Wirkungen auf große Ursachen schließt, auch die Faustregel »Viel Spaß, viel Ehr«. Man sieht: Schiller ist kein kopflastiger Bebilderer von Ideen, im Gegenteil! Zuerst waren die Bilder da, dann suchte der Dichter den Ideenrahmen, in den er sie einpassen konnte. Das war auch bei Bertolt Brecht so, am Anfang stand der Ausdrucksdrang, der Ausdruckszwang, ja die Ausdruckswut, dann erst trat der Marxismus auf den Plan, der Drang, Zwang und Wut kanalisierte und instrumentalisierte. Und so wie Brecht der Gefahr eines sinnfernen und dadurch in seinen Augen wertlosen Nihilismus nur dadurch entkommen zu können glaubte, dass er sich als Artist-Leninist bewährte, so wünschte auch Schiller sein zwanghaftes Produzieren - sprich: seinen Zwang, unter allen Umständen wirken zu wollen - dadurch zu adeln, dass er sich als kantianisch geschulter, philosophisch versierter Idealist gab, während er doch in Wahrheit Künstler war und blieb, ein Ideartist, dem wir Werke der Kunst verdanken, welche Maßstäbe gesetzt haben: Wer immer ihm am Zeuge flicken will, muss eine verdammt heiße Nadel führen.
Robert Gernhardt, geboren 1937 in Reval, studierte Germanistik sowie Malerei und ist Lyriker, Mitbegründer der »Neuen Frankfurter Schule« und der Zeitschrift »Titanic«