Cordonnier, Marie Die Nacht mit Isabelle

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Marie Cordonnier

Die Nacht mit Isabelle

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- Und jetzt grand allegro…
Die letzte Klaviermusik schien die schmale Gestalt im dunklen

Trikot mit den türkisfarbenen Legwarmers hochzutragen. Schlanke
Beine streckten sich graziös in der Luft und landeten federleicht.

Einen Augenblick lang herrschte Stille in dem großen leeren

Gymnastiksaal. Dann erhob sich die alte Dame am Flügel und stützte
sich auf ihren Stock mit dem silberfarbenen Griff.

- Schluß für heute, Isabelle. Es ist besser, wenn du dich nicht

überanstrengst. Du weißt, daß dein Bruder es nicht gern sieht, wenn du
zu lange trainierst!

- Pah! - So kurz und wütend kam dieser Protest, daß die alte Dame

zusammenzuckte.

Isabelle Delorme streifte ungeduldig das elastische Band ab, das ihre

langen blonden Haare bändigte.

- Mein Bruder! - Isabelles Worte klangen verächtlich. - Am liebsten

würde er mich mit einem juwelenverzierten Halsband wie ein
Hündchen auf einem seidenen Diwan festbinden!

- Still! - Der Stock knallte wütend auf den Boden. - Du weißt genau,

daß du deinem Bruder Unrecht tust und daß du wieder mal eine deiner
Launen hast. Hör auf, mich an der Nase herumzuführen, Kind!

Die Antwort war ein abgrundtiefer Seufzer.
- Entschuldigen Sie, Madame Olga, Sie haben natürlich recht. Aber

es ist schwer zu ertragen, wie mein Bruder über mich bestimmt. Warum
läßt er mich nicht in Ruhe? In diesem Haus kann mir doch nichts
passieren…

Isabelle brach ab. Sie war sich im klaren darüber, daß ihre

Krankengymnastin, Gesellschafterin, Pflegerin und ältere Freundin,
Madame Olga Tamerkowa, nicht begriff, wie sehr ihr Pierre in letzter
Zeit auf die Nerven ging.

Sein ewiges Gerede und die schrecklichen Vorwürfe, die er sich seit

dem verhängnisvollen Unfall machte, waren nicht auszuhalten.

Seine Überbesorgtheit, die sie in diesem einsamen Haus über dem

Meer wie eine Gefangene einschloß, reizte sie einfach zum Protest.
Schon allein deshalb, weil sie genau wußte, daß ihr nichts anderes
übrigblieb, als diese Fürsorge zu akzeptieren.

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Wie sollte sie ohne Hilfe leben? In dieser dunklen Welt, die nur aus

Geräuschen und Berührungen bestand, war für immer jede
Selbständigkeit erstickt worden.

Isabelle schüttelte die unliebsamen Gedanken ab, konzentrierte sich

kurz und ging dann mit sicheren Schritten zum Ausgang.

- Ich brauche Sie nicht mehr, Olga. Ich werde jetzt duschen und

anschließend ein bißchen Sonne tanken.

Sie wußte, daß ihre Begleiterin jetzt nickte und ihr vermutlich mit

sorgenvollem Blick nachsah. Isabelle hatte so etwas wie eine besondere
Antenne für das entwickelt, was die anderen Menschen dachten.

Ob es nun die liebe Olga war, die ihr gutes Herz hinter schroffen

Ermahnungen verbarg, Lisette, die Köchin und Haushälterin, oder
Constant, der Gärtner.

Alle waren ständig bemüht, ihr alle Schwierigkeiten aus dem Weg

zu räumen. Ganz zu schweigen von Pierre, dessen Schuldgefühle
manchmal wie ein Felsblock auf ihr lasteten. Und alle versagten
Isabelle hartnäckig die Erfüllung ihres sehnlichsten Wunsches: ganz
normal behandelt zu werden.

Sie war blind! Seit drei endlosen, verzweifelten Jahren blind, ohne

jede Hoffnung, jemals wieder sehen zu können. Die besten Ärzte
Europas hatten nichts ausrichten können.

Isabelle versuchte mit zusammengebissenen Zähnen dieses Leben zu

ertragen. Es mußte doch auch für einen blinden Menschen etwas
Sinnvolles zu tun geben! Auch ein Leben in Dunkelheit konnte doch
nicht nur aus Schlafen, Essen, Vorlesen und tänzerischer Gymnastik
bestehen.

Warum verstand niemand ihre Sehnsucht nach richtigem Leben?

Warum packten alle sie in Watte und fürchteten schon um ihre
Gesundheit, wenn das Ballett-Training einmal die übliche Stunde pro
Tag überschritt?

Unter der eiskalten Dusche fand Isabelle Ablenkung von ihren

deprimierenden Gedanken. Auf dem breiten Polsterbett lagen - in der
üblichen, korrekten Anordnung - ihre Kleidungsstücke, die Madame
Olga jeden Morgen für sie aussuchte.

Ihre Fingerspitzen ertasteten die Spitzenkante des seidenen

Hemdhöschens, das ihre zierliche Figur betonte.

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Prüfend fuhr Isabelle mit den Händen über ihre kleinen festen

Brüste, den flachen Bauch und die schlanken Oberschenkel. Ein
sportlicher durchtrainierter Körper, der einem Mann gefallen würde,
wenn sie je einen zu sehen bekäme.

Bitter auflachend schlüpfte Isabelle in das hautenge Trikotkleid,

schob die Träger über die Schultern und genoß den weichen Stoff auf
ihrer Haut.

Obwohl sie weder Farben noch Schnitte sehen konnte, legte sie Wert

darauf, modisch und gut gekleidet zu sein. Es war so eine Art
Verbindung mit der richtigen Welt für sie.

Auch die unvermeidliche, große Sonnenbrille und die flachen

Tanzschuhe

mit

der

hauchdünnen

Veloursledersohle

waren

bereitgelegt.

Isabelle hatte schnell festgestellt, daß sie sicherer gehen konnte,

wenn sie durch dünne Sohlen auch die kleinste Veränderung des
Bodens spüren konnte. Pierre, dem keine Verrücktheit für sie zu teuer
war, ließ diese Schuhe in allen Farben für sie anfertigen.

Unter seiner Anleitung war auch das alte Ferienhaus der Delormes

so umgebaut worden, daß es keine Schwellen oder Hindernisse für
Isabelle gab.

Der weitläufige Bungalow, der versteckt in einem wildromantischen,

provencalischen Park lag, war Isabelles Heim, das sie seit 18 Monaten
nicht mehr verlassen hatte. Hoch über einer schmalen Sandbucht, die
nur vom Meer aus zugänglich war, gehörte es zu jenen Villen, die die
Bucht von St. Tropez bis hinaus zum Cap St. Pierre säumten.

Als Isabelle die Zimmertür öffnete, blieb sie einen Moment

lauschend stehen. Das Töpfeklappern aus der Küche verriet, daß Lisette
vom Markt zurück war. Madame Olga leistete ihr sicher Gesellschaft,
um den neuesten Klatsch aus St. Tropez zu hören.

Das bedeutete, nur Constant war im Garten, und der würde sie nicht

verraten. Lautlos huschte sie über die Teppiche und erreichte die kleine
Gartenpforte zum Strandweg, die Constant stets geölt und geöffnet
hielt. Er war der einzige Mensch, der begriff, daß Isabelle sich in den
Mauern des Gartens eingesperrt fühlte, auch wenn sie sie nicht sehen
konnte.

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Er hatte den Weg hinunter in die Bucht ausgeholzt, von

Hindernissen befreit und ihr die ersten paar Male geholfen. Jetzt fand
Isabelle den Pfad auch ohne jede fremde Unterstützung.

Er zog sich in Serpentinen den Hang hinunter und war von Ginster

und wilden Rosen gesäumt.

Isabelle sog den süß-würzigen Duft des blühenden Ginsters ein und

versuchte, sich das satte Sonnengelb seiner Blüten in Erinnerung zu
rufen. Eine sanfte Brise vom Meer trug eine Prise Salzluft herüber, und
das leise Plätschern der Wellen beruhigte Isabelles gereizte Nerven.

Sie wandte sich dem Meer zu und lehnte sich mit dem Rücken an

eine der windzerzausten Kiefern, die hier hartnäckig der Witterung
trotzten. Über dem Rückenausschnitt des Kleides spürte sie kratzig die\
rauhe Rinde. Ein schmerzhafter Kontakt mit der Wirklichkeit, den
Isabelle auf seltsame Weise genoß.

Einige Zeit ignorierte sie das warnende Kribbeln in ihrem Magen, zu

unglaublich war die Vermutung. Sie spürte, daß sie nicht allein war.
Doch dann wandte sie den Kopf mit einer schnellen Bewegung nach
links.

- Wer sind Sie? - fragte sie.

***


Ein leises, amüsiertes Lachen antwortete Isabelle. Ein Mann. Der

Stimme nach ein jüngerer, selbstsicherer Mann, dachte Isabelle.

- Wie kommen Sie an diesen Strand? - Sie unterdrückte den Anflug

von Angst.

- Sollte ich das nicht eher Sie fragen, Mademoiselle? Ich habe

wenigstens mein Boot dabei. Aber welcher Zufall bringt Sie auf diesen
Schmugglerpfad? Man sagte mir, die meisten dieser Buchten seien
Privatbesitz, für Touristen kaum zu erreichen…

Isabelle setzte ein Puzzle aus wenigen Andeutungen zusammen. Er

sprach Französisch, mit einem leichten Akzent. Sie tippte auf
Amerikaner. Seine Lässigkeit deutete darauf hin, daß er es gewöhnt
war, von Frauen bewundert zu werden. Er konnte ja nicht ahnen, daß
ihre Augen nichts mehr sahen.

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- Wer sagt Ihnen denn, daß ich eine Touristin bin…, - antwortete sie

mit einer Gegenfrage.

Wieder dieses Lachen.
- Nun, zumindest wirken Sie, als wären Sie aus dem Schaufenster

einer Boutique am Alten Hafen von St. Tropez entstiegen. Erst heute
morgen

habe

ich

dort

diese

eigenartigen,

bonbonfarbenen

Trikotschläuche bestaunt und mich gefragt, ob es eine Frau auf der
Welt gibt, die die Traumfigur hat, sie tragen zu können, ohne daß es
aussieht, als hätte sie ihrem Opa die Wäsche geklaut…

Isabelle lächelte. Ein geschickter Jongleur mit Worten war dieser

Unbekannte.

- Tatsächlich? Verpetzen Sie mich jetzt bei meinem Großvater? -

parierte sie schlagfertig.

Das Knirschen des Sandes verriet ihr, daß er näherkam. Ihre

empfindliche Nase nahm den Hauch eines teuren, amerikanischen
Rasierwassers wahr, kombiniert mit dem Aroma schwarzer, filterloser
Zigaretten - und Pastis. Am Vormittag schon Alkohol? Eigenartig.

- Wohl kaum… - Jetzt war der Mann beunruhigend nahe. - Bei einer

Größe von einssechzig…

- Irrtum, einsachtundfünfzig! - korrigierte sie ihn.
Er beachtete es nicht.
-…einem Fliegengewicht von höchstens neunundvierzig Kilo, einer

hinreißenden Figur und einem so entzückend frechen Busen, wirkt es
ausgesprochen sexy! - vollendete er.

Trotz dieser Frechheit lächelte Isabelle.
- Ihr Talent, Touristinnen einzuschätzen, scheint beachtlich,

Monsieur! - meinte sie.

- Wenn Sie sich jetzt auch noch überwinden könnten, diese

ausgesprochen häßliche Brille abzunehmen, könnte ich sogar
beurteilen, ob Ihre Augen halten, was der Mund verspricht. Und erst die
Haare. Sollte die Farbe echt sein?

Isabelle schwieg verwirrt. Ihre Kunst zu flirten, war in den

vergangenen Jahren nicht gerade gefördert worden.

Er schien ihr Zurückweichen zu spüren.

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- Bin ich zu schnell? Kann doch nicht sein. Man hat mir immer

wieder bestätigt, daß die Schönen rund um St. Tropez auch in diesem
Jahr schnell zur Sache kommen…

Isabelle schluckte.
- Und als Amerikaner glauben Sie natürlich alles, was hier so erzählt

wird? - Sie rettete sich in Sarkasmus.

Sie spürte, daß der rechte Träger ihres Kleides ins Rutschen geriet,

als sie eine unbewußte Bewegung machte. War sein Blick auf Ihrem
Ausschnitt? War es der Wind oder sein Atem, der die feinen Härchen
an ihren Schläfen bewegte?

- Sieh an, die kleine Dame ist nicht nur hübsch, sie hat auch Haare

auf den Zähnen. Dabei hätte ich geschworen, ohne Akzent zu sprechen.

Machte er sich über sie lustig?
Als Isabelle die Fingerkuppe spürte, die ganz zart die Umrisse ihrer

Lippen nachzeichnete, war es zu spät, zurückzuweichen. Reglos
duldete sie die Liebkosung, die den Schlag ihres Herzens total aus dem
Takt brachte.

An der Tatsache, daß sein Atem ihre Stirn streifte, erkannte sie, daß

er ein gutes Stück größer sein mußte als sie.

- Sind Sie mit Ihrem Urteil über Unbekannte immer so fix bei der

Hand? - murmelte Isabelle.

- Das ist noch kein Urteil, Mademoiselle. - Der leicht heisere Tonfall

seiner Stimme wirkte seltsam faszinierend auf sie. - Reine Spekulation.
Solange Sie mir verbieten, in Ihre Augen zu sehen, kann ich die
Begutachtung nicht abschließen. Welche Farbe haben sie? Schwarz wie
die Nacht? Blau wie der Himmel beim Mistral? Hexengrün oder
rätselhaft grau?

Isabelle war wie verzaubert. Unter der spielerisch arroganten

Selbstsicherheit mußten Gefühl und Wärme stecken. Mimte er den
erfolgreichen Playboy aus Langeweile oder aus Selbstschutz? Wie
schade, daß sie ihn nach diesem Intermezzo nie wiedertreffen würde.

- Machen Sie Ferien in St. Tropez? - erkundigte sie sich ablenkend

und neugierig.

- Sowas Ähnliches. Wo es mir gefällt, bleibe ich eine Weile,

langweile ich mich, packe ich wieder die Koffer. Man könnte mich als

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eine Art Reiseschriftsteller bezeichnen. Zugegeben, kein rasend
erfolgreicher, aber ich verhungere nicht…

Warum hatte sie das untrügliche Gefühl, daß seine Worte nur

oberflächliches Geplauder waren? Eine Art Schutzmauer, hinter der
sich eine völlig andere Wahrheit versteckte? Dieser Mann war nicht
ehrlich, soviel stand für Isabelle fest.

- Und bis der Erfolg Ihrer Bücher kommt, genießen Sie Ihren Erfolg

beim weiblichen Geschlecht! - mokierte sie sich, um ihn noch weiter zu
provozieren.

Vergeblich. Er lachte sie aus.
- Warum nicht…? Frauen sind die hübscheste Erfindung des lieben

Gottes, um sich jede Art von Wartezeit zu vertreiben!

Seine Hand schob den herabgerutschten Träger ihres Kleides wieder

an die richtige Stelle und verharrte sekundenlang auf ihrer nackten
Schulter.

Isabelle spürte ein aufregendes Prikkeln auf ihrer Haut. Eine winzige

Bewegung neben ihrem Kopf bewies ihr, daß er seine Hand gegen den
borkigen Baumstamm gestemmt hatte.

Sie konnte der Versuchung nicht widerstehen, sie berührte mit ihrer

Wange seinen Arm. Das Spiel war gefährlich. Sie wußte es. Aber ein
paar Sekunden lang schlug sie alle Bedenken in den Wind.

Sie wollte die Wirklichkeit vergessen und so begehrenswert sein,

daß dieser Mann seinen Flirt mit ihr fortsetzte.

- Aber, Cherie, du bist ja gar nicht so kratzbürstig wie du tust…
Seine Lippen berührten ihr Haar und Isabelle hob die rechte Hand zu

seinem Gesicht. Straffe Haut, die an den Mund und Augenwinkeln ein
feines Netz von Fältchen aufwies. Die Andeutung von Bartstoppeln
und die Haare im Nacken glatt.

Würde er sie jetzt küssen? Mit angehaltenem Atem und völlig reglos

erwartete Isabelle diesen Kuß.

Er enttäuschte sie nicht, aber nach all dem gefährlichen Geplänkel

war die Berührung seiner Lippen so sanft, so zärtlich, so
hingebungsvoll, daß Isabelle sich unbewußt an ihn schmiegte und ihre
Hände in seinem Nacken verschränkte. Schon lange hatte sie sich nicht
mehr so wunschlos glücklich auf einer Wolke des Wohlbehagens
davontragen lassen. Ihre Fingerspitzen verrieten ihr, daß seine Muskeln

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sich strafften, als ihre gemeinsame Erregung zu leidenschaftlichem
Feuer ausbrach.

Tastend, vorsichtig und doch ohne Hemmung öffnete Isabelle die

Lippen und erbebte unter der heißen Glut seiner stürmischen Zunge.
Sie fühlte seine Hände, die über ihren halbnackten Rücken streichelten
und die gleich darauf die Rundung ihrer Brüste erkundeten.

Sie reckte sich auf die Zehenspitzen und preßte sich sehnsüchtig an

den muskulösen Körper des Fremden. Sie war wie berauscht und keines
vernünftigen Gedankens fähig.

Sie stöhnte enttäuscht auf, daß er seine Lippen von ihrem Mund

löste, doch der Laut wurde zum Seufzer, als er seine Liebkosungen
über ihren Hals nach unten fortsetzte.

Unter seinen erfahrenen Händen richteten sich ihre Brustwarzen hart

und erregt auf. In diesem Moment hätte Isabelle sich diesem Fremden
hemmungslos hier im warmen Sand der Bucht hingegeben, wäre auch
nur die kleinste Andeutung eines Versuches in dieser Richtung von ihm
gekommen.

Statt dessen erkannte sie traurig, daß er sich darauf beschränkte, den

leidenschaftlichen Sturm, der sie beide ergriffen hatte, unter Kontrolle
zu bringen.

Sie kehrte wieder auf die Erde zurück, nahm die Sonne auf ihrer

Haut wahr und fand sich zwischen zwei kräftigen Armen geborgen.

- Du überrascht mich, Cherie. Weißt du das? Kleine Mädchen

sollten sich nicht so leichtsinnig fremden Männern in die Arme werfen.
Dein Vertrauen könnte dich in eine verdammt gefährliche Situation
bringen.

Er war erstaunt, und diese Verblüffung gab seinen Worten eine

tiefere Bedeutung. War es möglich, daß er verunsichert war?

Isabelle schwieg. Sie atmete heftig. Verwirrt versuchte sie ihre

eigenen Gefühle zu deuten. Zum einen war sie maßlos erleichtert, daß
sie ihre Fassung wiedergefunden hatte, zum anderen hätte sie über
seinen plötzlichen Rückzug am liebsten geweint.

Seine Hände umschlossen jetzt ihr Gesicht.
- Willst du nicht endlich dieses häßliche Monster von Sonnenbrille

abnehmen? Laß dir in die Au… - Er brach ab.

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Isabelle wußte, daß er jetzt in ihre leblosen dunkelblauen Augen

starrte, die seinen Blick nicht erwiderten. Die Brille fiel ihm mit einem
häßlichen Klirren aus den Fingern.

Das Schweigen begann sie zu irritieren. Warum sagte er nichts?

Warum ließ er sie jetzt allein?

Ihr Stolz gewann schließlich die Oberhand. Isabelle richtete sich auf.
- Ja, ich bin blind… Mister Playboy! Na und? - sagte sie trotzig und

viel lauter als es nötig war. Nach seinem Keuchen zu schließen, war er
völlig geschockt.

Gekränkt über dieses wortlose Entsetzen wandte Isabelle sich zum

Gehen. Nun gut, das Abenteuer war vorbei, der Traum ausgeträumt. Sie
würde wohl nie erfahren, wie das war - leidenschaftliche Hingabe,
Ekstase, Liebe, Sex. Ein Paradies, aus dem die Dunkelheit und der
Unfall sie ausgeschlossen hatten.

Wann würde sie endlich lernen, diese Tatsache in Ruhe und

Überlegenheit zu akzeptieren? Isabelle ließ die Bucht hinter sich und
stieg vorsichtig über den Felspfad wieder nach oben.

Pierre kam ihr in den Sinn. Wie oft hatte sie an seine kühlen Worte

gedacht, wenn sie sich schlaflos und unruhig in ihrem Bett wälzte und
sich nach etwas sehnte, von dem sie nicht einmal genau wußte, was es
war.

- Hör auf, dir unerreichbare Ziele zu setzen, Schwesterchen. Ich

weiß, es ist hart für eine Frau, auf Ehe und Kinder zu verzichten. Aber
wie willst du Liebe empfinden, wenn du deinen Partner nicht sehen
kannst? Und - es tut mir leid, dir das sagen zu müssen - seit diesem
Unfall kannst du bedauerlicherweise auch keine Kinder mehr
bekommen. Sei nicht so verzweifelt. Ehe und Liebe sind nicht nur
Heiterkeit und Freude. Es bleibt dir auch viel Kummer und Schmerz
erspart. Und außerdem bist du ja nicht einsam, du hast mich, Madame
Olga, Lisette und Constant. Wir sind doch alle für dich da!

Pierre. Ihr cooler, überlegener Bruder, für den alle Dinge faßbar und

bezahlbar sein mußten. Wie konnte sie einem solchen Mann ihre
unstillbare Sehnsucht nach Zärtlichkeit erklären, wie konnte er
begreifen, daß nur ihre Augen und nicht ihr Körper tot waren.

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Immerhin, die vergangenen verzweifelten Jahre hatten sie gelehrt,

ihre Gedanken und Wünsche für sich zu behalten. Gelassen zu
erscheinen, jede Verzweiflung zu vertuschen.

Ob der Fremde noch da war? Isabelle zwang sich, nicht mehr an ihn

zu denken. Nur der Druck der Steine durch die dünnen Schuhsohlen
war wichtig. Sie mußte ihre aufgewühlten Sinne unter Kontrolle
bringen, bis sie wieder im Garten war.

Endlich, die kleine Tür. Isabelle warf sie mit einem lauten Knall ins

Schloß. Das Geräusch tat wohl, und niemand hielt sie auf dem Weg in
ihr Zimmer auf.

***


Bis zum Mittagessen hatte Isabelle sich wieder in der Gewalt.

Ruhig, fast ein bißchen abwesend, saß sie an ihrem Platz und wartete
darauf, daß ihr Madame Olga wie üblich das Essen vorbereitete.

Die demütigende Erfahrung, nicht einmal ohne Hilfe essen zu

können, war für sie mit das Schlimmste gewesen, als sie damals aus
dem Krankenhaus kam. Inzwischen hatte sie sich daran gewöhnt.

Madame Olga tat ihr Möglichstes, damit diese gemeinsamen

Mahlzeiten normal und unbeschwert verliefen. Sie erzählte Isabelle den
neuesten Klatsch aus St. Tropez, berichtete über die Skandal-
Schlagzeilen der Boulevard-Presse und half währenddessen dezent, das
Fleisch zu schneiden oder rückte die Salatschüsseln zurecht.

Im Augenblick gab es nicht viel Neues. Ende April lag St. Tropez

noch im ausklingenden Winterschlaf. Die großen Touristenströme
würden um die Pfingstzeit über den Ort hereinbrechen.

Das übliche Geplauder rauschte an Isabelles Ohren vorbei, bis eine

nebensächliche Bemerkung ihre Aufmerksamkeit erregte.

- Tatsächlich? Die Strandvilla am Cap St. Pierre ist endlich

vermietet worden…?

Madame Olga nickte.
- Ja. Auf dem Markt sprach man davon. An einen jungen

Amerikaner, einen Schriftsteller. Aber Monsieur Herve vom Maison de
la Presse hat noch nie etwas von ihm gehört.

Isabelle schluckte.

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- Was heißt jung?
- Um die Dreißig, glaube ich. Ein gutaussehender Playboy. Madame

Doras führt ihm den Haushalt, und sie sagt, die wenigen Touristinnen,
die schon da sind, machen die reinste Jagd auf ihn. Angeblich hat er das
Haus für zwei Monate gemietet und voraus bezahlt. Seine
Schreibmaschine hat er jedoch noch nicht mal ausgepackt. Seine
schriftstellerischen Ambitionen sind wohl weniger ausgeprägt… - In
Madame Olgas Stimme klang deutlich die Verachtung mit, die sie für
diese Art Männer verspürte.

- Wie… - Isabelle mußte sich räuspern. - …wie heißt er denn? Und

wie sieht er aus, wenn sich die Damenwelt so um ihn reißt?

Das leise Zögern, ehe Madame antwortete, sagte mehr als alle

Worte. Vermutlich fragte sie sich erst, ob sie Isabelle mit einer zu
ausführlichen Schilderung vielleicht zu Träumen verleitete, die nicht
gut für sie waren. Wieder hätte das Mädchen gern gewußt, woher ihre
Umgebung das Recht nahm, auch ihre Gefühle und Gedanken zu
kontrollieren.

- Madame Doras ist ganz hingerissen von seinem Charme, - bekam

sie jetzt zu hören. - Angeblich spricht dieser Mister Jasen Jeffers
hervorragend Französisch und macht den sportlichen, amerikanischen
Serienhelden im Fernsehen Konkurrenz. Blond, hochgewachsen.
Schrecklich, diese schönen Männer, wenn du mich fragst, Isabelle. Sie
glauben, daß ihr Aussehen so eine Art persönliches Verdienst ist. Ich
verstehe die Mädchen nicht, die hier ihre Ferien verbringen und sich
mit solchen Typen einlassen…

Aha, eine Information, verpackt in eine Moralpredigt, damit ich

nicht auf dumme Gedanken komme. Gereizt registrierte Isabelle den
Schachzug.

Und ihre Empörung verleitete sie zu einer allzu freien Antwort.
- Ich schon!
Das plötzliche Schweigen sprach Bände. Es dauerte einen

Augenblick, bis sich Madame gefaßt hatte.

- Isabelle, was soll das heißen?
Isabelle lachte bitter auf.
- Was gehen uns die Ferienabenteuer anderer Mädchen an, Olga?

Erstens sind die Zeiten nicht mehr so prüde. Und wer weiß, vielleicht

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ist so ein bißchen Sex mit einem Playboy genau die Medizin, die den
langweiligen Alltag erträglich macht.

Man konnte spüren, wie verblüfft Madame Olga über diese

ungewöhnliche Äußerung nachdachte. Ihr Seufzer klang abgrundtief.

- Wie kann ein Mädchen mit deiner Erziehung nur eine solche

Einstellung haben? Ich begreife manchmal nicht, was in dir vorgeht!

Isabelles strapazierte Nerven hielten dieser Unterredung nicht länger

stand. Sie sprang wütend auf und warf ihr Besteck achtlos auf den
Tisch. Ein lautes Klirren verriet ihr, daß sie dabei ein Glas oder gar die
Weinflasche getroffen haben mußte.

- Ein Glück, daß ich noch ein paar Gedanken haben darf, die mir

allein gehören! - fauchte sie zornig. - Oder hat Pierre bereits den
Lügendetektor bestellt, an den er mich einmal in der Woche anschließt?
Das würde euch so passen. Dann könntet ihr mich endlich nach
Herzenslust manipulieren!

- Isabelle, Kind, sei nicht ungerecht!
Isabelle beachtete den Aufschrei der alten Dame nicht. Sie rannte so

überstürzt aus dem Zimmer, daß sie sich das Schienbein an einem Stuhl
stieß und leicht humpelnd davonlief.

Sie warf sich auf ihr Bett und weinte bis zur Erschöpfung. Es

dauerte eine Weile, bis sie wieder zu sich kam und über sich selbst
erstaunt liegenblieb. Es war schon lange nicht mehr passiert, daß sie so
viel von ihren Gefühlen verraten hatte.

***


Das weitläufige Landhaus mit seinen rauh verputzten, sandfarbenen

Wänden lag in absoluter Stille unter der flirrenden Nachmittagssonne.
Kein Laut verriet menschliches Leben. Nur der durchdringende Gesang
der Zikaden, den Isabelle gar nicht mehr als Geräusch wahrnahm,
bildete die Begleitmusik zu ihren Selbstvorwürfen.

Wie dumm, sich derart gehen zu lassen. Vermutlich hatte Madame

Olga längst Pierre angerufen, um ihm mitzuteilen, daß seine Schwester
gefährlich nahe an einer Depression war.

Pierre befand sich im Moment in Grasse, dem traditionellen

Hauptsitz der Delorme-Cosmetics, die ihnen beiden gehörte.

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Während der moderne Glaspalast in Paris eher dazu diente, den

ausländischen Kunden zu imponieren, schlug das Herz der alten
Parfümfabrik, die ihr Urgroßvater gegründet hatte, noch immer in den
Bergen bei Nizza. Von Grasse nach St. Tropez fuhr man bei guten
Verkehrsbedingungen weniger als zwei Stunden, und Isabelle haßte die
fürsorglichen Besuche ihres Bruders.

Sie brachte in letzter Zeit nur schwer die Selbstbeherrschung auf,

seine Bevormundung - die stets mit dem Mantel selbstloser Liebe
verbrämt war - zu ertragen.

Schon bei dem Gedanken daran zerknüllte sie ein kleines

Seidenkissen wütend zwischen den Fingern. Sie wußte, daß Olga
diesen Bruder, der nur das Wohl seiner Schwester im Auge hatte,
bewunderte. Sie gehorchte seinen Anweisungen bedingungslos und
hielt ihn über Isabelles Leben pausenlos auf dem laufenden.

Ein Glück, daß Olga wenigstens nichts von ihrem vormittäglichen

Erlebnis am Strand wußte. Pierre würde Amok laufen, wüßte er, daß
sich seine Schwester von einem amerikanischen Playboy hatte küssen
lassen.

Jason Jeffers. Isabelle beschäftigte sich jetzt mit ihm. Blond war er

also, sicher mit blauen Augen. Daß er über einen sportlichen,
gutgebauten Körper verfügte, hatte sie mit eigenen Händen ertasten
können.

Sie glaubte, seine Hände wieder auf ihrer Haut zu spüren. Und erst

dieser Kuß! Unbewußt dehnte Isabelle ihren Körper nicht vorhandenen
zärtlichen Händen entgegen. Wie seltsam sanft und doch aufwühlend
die Berührung seiner Lippen gewesen war.

Immer noch wütend kam sie wieder zu sich. An diesem ganzen

Durcheinander war nur ihre allzu überreizte, sinnliche Phantasie schuld.

Warum konnte sie sich nicht damit abfinden, daß sie körperliche

Liebe nie kennenlernen würde. Daß die Zuneigung zu einem Mann für
sie ein unerreichbares Ziel war.

Ein Kapitel, dessen erste Seiten sie vor drei Jahren zusammen mit

Raimond gerade erst sehr vorsichtig aufgeschlagen hatte. Eine behütet
aufgewachsene

„höhere

Tochter“

und

ihr

zurückhaltender,

romantischer Verlobter.

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Im Sommer wurde sie 26 Jahre alt. Wie lange mußte sie noch diesen

Körper und seine geheimen, unerfüllbaren Wunsche ertragen?

Keine Liebe, keine Ehe, keine Kinder. Pierre hatte ihr das in seinen

typischen, umständlichen Formulierungen doch sehr klar beigebracht.

- Ich weiß, wie schrecklich es für dich ist, daß Raimond bei diesem

entsetzlichen Unfall ums Leben kam, Kleines. Aber vielleicht war es
besser so. Er hätte sich Kinder gewünscht, eure Verlobung wäre
vielleicht zerbrochen, und du hättest gekränkt und enttäuscht nicht
einmal mehr die Erinnerung an die schönen Stunden, die du mit ihm
verbracht hast.

Isabelle verzog das Gesicht. Es war sehr schwierig für sie, ihr

Verhältnis zu ihrem großen Bruder klar zu sehen. Die große Liebe war
es nie gewesen, dafür war Pierre einfach zu steif und zu verschlossen.

Erst die Verlobung mit Pierres Freund Raimond hatte sie ein

bißchen näher zusammengebracht. Eine rätselhafte Freundschaft. Der
charmante, schöne, romantische Raimond und der selbstbeherrschte,
ehrgeizige Pierre Delorme. Damals waren sie ein paarmal zusammen
ausgegangen, hatten zu dritt einiges unternommen.

Isabelle hatte sich über Pierre amüsiert und in ihrem Glück sogar

seine knochentrockenen Bemerkungen als persönliche Note akzeptiert.
Bis zu jenem verhängnisvollen Abend, als der Unfall passierte!

Pierre hatte am Steuer des schnellen Sportwagens gesessen und das

entsetzliche Unglück verursacht.

Isabelle konnte sich an nichts mehr erinnern. So sehr sie sich auch

den Kopf über den genauen Unfallhergang zermarterte, sie prallte an
eine schwarze Wand, die nicht den kleinsten Hinweis gab.

Pierre war als einziger mit ein paar harmlosen Prellungen und

Schürfwunden davongekommen. Isabelle hatte viele Wochen im
Krankenhaus gelegen und mußte sich mit dem Verlust ihres
Augenlichtes abfinden. Erst nach Monaten erfuhr sie, daß Raimond
qualvoll eingeklemmt in dem Autowrack verbrannt war.

Ebenso schwer wie das eigene Entsetzen und der eigene Kummer

waren danach Pierres Selbstvorwürfe zu ertragen. Isabelle begriff, daß
sein Bemühen um ihre Gesundheit und ihre Zufriedenheit dazu
beitragen sollten, sein schlechtes Gewissen zu beruhigen.

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Die ersten Jahre hatte sie sich gefügt. Doch jetzt ertrug sie seine Art

immer schwerer. Sie fühlte sich nervös in Pierres Gegenwart, war
gereizt, widersprach ihm und fand selbst keinen Grund für ihre
eigenartige Aggression.

Dabei hatte sie allen Grund, ihm dankbar zu sein. Ohne Pierres Hilfe

hätte sie Delorme-Cosmetics nicht behalten können.

Die Firma war seit dem Tod der Eltern ihr Eigentum, aber Pierre

sorgte dafür, daß alles den rechten Weg ging. Er hatte sich mit geradezu
fanatischem Eifer in die neue Aufgabe gestürzt und versicherte ihr
immer wieder, wie fabelhaft alles lief.

Warum also geriet sie schon bei dem Gedanken in Panik, Pierre

könnte heute herkommen? Lag es immer noch an der alten Geschichte?

- Es ist einfach ein Jammer mit dem Mädchen. Isabelle ist zu

heißblütig und zu leichtsinnig. Immer will sie ihren Dickkopf
durchsetzen. Ich habe heute schon Angst davor, in welch unmögliche
Situationen sie sich einmal bringen wird, wenn sie erwachsen ist. Das
Vernünftigste wäre, sie einzusperren!

Isabelle hatte diese Bemerkung ihres Bruders ganz zufällig anläßlich

der Feier ihres zwölften Geburtstages aufgeschnappt. Ihr Vater hatte
darüber gelacht, doch sie hatte Pierre dieses dumme, pauschale Urteil
nie verziehen.

Die Tatsache, daß das Schicksal dafür gesorgt hatte, daß er seinen

Willen bekam, empörte und verzweifelte sie gleichzeitig.

Isabelle warf das inzwischen arg gebeutelte Kissen in weitem

Schwung von sich. Was brachte es, die alten Probleme jeden Tag aufs
neue durchzugrübeln…

Als das Telefon klingelte, tastete sie nach dem Apparat, der in einer

Halterung neben dem Bett befestigt war. Obwohl sich ihre Gedanken
mit Pierre beschäftigt hatten, traf die leicht metallisch klingende
Stimme ihres Bruders sie doch völlig unvorbereitet.

- Isabelle, mein Kleines, wie geht es dir?
- Pierre… - Sie verzog das Gesicht.
- Wie geht es dir. Hast du schöne Tage verbracht?
- Warum fragst du? Hat dir Madame Olga nicht alles haarklein

berichtet? - erkundigte Isabelle sich aufsässig.

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- Kleines, nimm doch nicht alles so schwer. Sei froh, daß du nicht

mit mir tauschen mußt. Die Einkäufertagung ist diesmal ganz
besonders aufreibend…

- Mein Beileid…, - spottete Isabelle.
- Sobald ich mich freimachen kann, werde ich dich besuchen. Es

liegt sicher wieder am Wetter, daß du dich nicht besonders fühlst.
Vermutlich bekommen wir Mistral. Warum gehst du heute nicht etwas
früher zu Bett und nimmst eine Schlaftablette. Du wirst sehen, morgen
wirkt die Welt wieder wie neu. Nun…? Warum antwortest du nicht,
Isabelle? Bist du noch dran?

Isabelle zwang sich zur Ruhe.
- Natürlich bin ich noch dran. Laß dir nur Zeit mit deinem Besuch.

Ich komme schon allein zurecht.

Ein etwas gekünsteltes Lachen klang ihr aus dem Hörer entgegen.
- Daran zweifle ich nicht, mein Kleines! Mach's gut!
Isabelle warf den Hörer auf die Gabel, erhob sich und ging zur

Terrassentür. Sie stieß die angelehnten Läden zurück und hielt ihr
Gesicht in die Sonne. Mistral? So ein Unsinn, nicht das kleinste
Lüftchen bewegte sich. Der Rest dieses Tages lag so bleiern und
schwer wie die leblose Hitze des Nachmittags vor ihr.

Gefangen in der Dunkelheit, allein mit ihren Gefühlen und

Wünschen, ersehnte sich Isabelle nichts mehr als einen Menschen, dem
sie ganz nahe sein und dem sie ganz vertrauen konnte.

Aber wo passierten schon Wunder? In ihrem Leben mit Sicherheit

nicht.

***


Noch ehe sie richtig wach war, wußte Isabelle, daß sich was

verändert

hatte.

Das

sorgsam

von

Pierre

ausgearbeitete

Tagesprogramm, das sie vor Depressionen und Langeweile bewahren
sollte, war unwichtig geworden.

Sie hatte eigene Pläne! Ihr Entschluß, irgendwann nach Mitternacht

und langen schlaflosen Stunden gefaßt, stand unumstößlich fest.

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18

Sie wollte Jason Jeffers anrufen und ihm den ersten Teil ihres Planes

unterbreiten. Ein Playboy seines Rufes hatte sicher keine Skrupel, auch
ihre weiteren Bitten zu erfüllen.

Immerhin war deutlich zu merken gewesen, daß sie ihm - ehe er von

ihrer Blindheit wußte - gefallen hatte. Sie sah in Jason ihre einzige
Chance, endlich auch ein winziges Bißchen vom echten Leben zu
haben.

An seiner Reaktion am Telefon würde sie schon merken, ob er

geneigt war, einem Treffen zuzustimmen. Weiter wagte Isabelle nicht
zu denken. Träume und Wünsche wurden gewaltsam zurückgedrängt.
Ihre ruhige gelassene Miene verriet nichts von dem Sturm, der in ihr
tobte.

Madame Olga registrierte erleichtert, daß Isabelle ihre Depression

vom Vortag offensichtlich überwunden hatte.

- Guten Morgen, mein Kind. Es ist kurz nach neun, hast du gut

geschlafen?

Isabelle nickte und bewunderte Madame Olgas Talent, wichtige

Informationen in harmlosen Geplauder zu verstecken, so daß sie
Entscheidungen treffen konnte wie eine Gesunde.

- Der Wetterbericht behauptet, daß es heute noch heißer wird als

gestern. Keine Ahnung, was man bei diesem Wetter anziehen soll,
damit man nicht zerfließt. Am besten nichts, aber das wäre nicht
schicklich. Was hältst du von deinem blauen Baumwollkleid mit dem
Corsagen-Oberteil? Ich finde, es steht dir immer ganz besonders gut! -

Isabelle griff nach dem Bademantel, der am Fußende ihres Bettes

lag, und ging ins Bad. Als sie kurze Zeit später, völlig angekleidet, auf
dem weichen Frisierhocker saß und Madame Olga ihre Haare kämmte,
hob sie ruckartig den Kopf.

- Bin ich eigentlich schön?
- Was zum… - Im letzten Moment verschluckte die ältere Frau eine

empörte Antwort. Es fiel ihr ein, daß Isabelles Frage nichts mit
Eitelkeit zu tun hatte. Immerhin hatte sie an jenem Sommerabend vor
drei Jahren zum letzten Mal ihr eigenes Spiegelbild gesehen.

Ihre Stimme klang weich und mütterlich, und sie strich über

Isabelles makellose Schultern.

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- Ich finde dich wunderschön, Kleines. In deinen Haaren hat sich die

Sonne versteckt, und deine Augen sind so klar und groß, daß niemand
auf die Idee käme, daß du blind bist. Um deine Figur können dich die
meisten Frauen beneiden.

- Ach Olga… - Dankbar küßte Isabelle die faltige Hand der Frau. -

…und wozu das alles? Wäre es nicht besser, der liebe Gott hätte damit
eine Frau ausgestattet, die auch etwas davon hat?

- Verlier nicht den Mut, Isabelle. Denke daran, was Professor

Lockwood nach den ersten Untersuchungen sagte. Die Medizin bleibt
nicht stehen. Sie entwickelt sich mit riesigen Schritten. Vielleicht gibt
es schon in wenigen Jahren neue Behandlungsmethoden, die dir helfen
können!

- Vielleicht aber auch nie…, - murmelte Isabelle. - …der

Abschlußbericht des Professors, den Pierre mir vorgelesen hat, klang
nicht gerade wie eine Aufforderung zum Hoffen!

Madame Olga stieß wütend die Luft aus. Es klang wie das

Schnauben eines unwilligen Pferdes.

- Unsinn, Kind. Nur wer sich selbst aufgibt, ist verloren. Ich glaube,

es war Henry Ford, der einmal gesagt hat: „Es gibt mehr Leute, die
kapitulieren, als solche, die scheitern!“

Isabelle nahm es als gutes Zeichen, daß Madame Olga ausgerechnet

einen Amerikaner zitiert hatte, um ihr Mut zu machen. Sie lächelte.

- Na siehst du. - Befriedigt legte die alte Dame die Haarbürste weg. -

Und jetzt Schluß mit dem Philosophieren. Lisette hat den
Frühstückstisch auf der Terrasse gedeckt, und danach machst du deine
Runden im Swimmingpool.

***


Der Vormittag war bereits weit fortgeschritten, ehe Isabelle endlich

wieder Zeit hatte, an ihren kühnen Plan zu denken. Zuerst mußte sie
Constant finden und ihn bitten, die Telefonnummer der kleinen Villa
am Cap herauszusuchen.

Madame oder Lisette traute sie nicht ganz. Constant war der einzige,

der ihr diesen Dienst leistete, ohne überflüssige Fragen zu stellen.

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Isabelle schlenderte durch den Garten, doch kein Geräusch deutete

darauf hin, daß Constant irgendwo arbeitete. An der kleinen Pforte zur
Bucht blieb sie wie magisch angezogen stehen.

Sollte sie sich die ganze Sache noch einmal überlegen? Vielleicht

unten am Strand? Warum nicht? Sie würde sich auf die Felsen legen
und den Wellen zuhören.

Zeit war etwas, das sie in Hülle und Fülle zur Verfügung hatte, und

die Villa am Cap war auf zwei Monate vermietet worden. Jason Jeffers
konnte ihr nicht entkommen.

Isabelle bezwang ihre Ungeduld und konzentrierte sich auf den

steilen Pfad, dessen Unebenheiten sie unter ihren Fußsohlen ertastete.
Sie tauchte in die Duftwolke des Ginsters ein, die erst unten am Strand
dem Salzhauch des Meeres wich.

Jetzt war Sand unter ihren Füßen. Isabelle blieb stehen und wandte

ihr Gesicht dem Meer zu. Er war da. Sie fühlte es so sicher, als würde
sie ihn sehen.

- Jason? - Ihr Flüstern übertönte kaum das Murmeln des Wassers,

das die Felsen umspülte, die die kleine Bucht begrenzten.

- Du hast mir etwas voraus, Cherie, du kennst meinen Namen. Willst

du mir deinen nicht endlich verraten?

Isabelle atmete tief durch. Freude erfüllte sie. Er hatte auf sie

gewartet!

- Ich heiße Isabelle. Isabelle Delorme. Warum sind Sie wieder

hergekommen?

- Gegenfrage, woher kennst du meinen Namen?
Sie lächelte spitzbübisch.
- Die Gerüchteküche von St. Tropez ist blitzschnell und sehr

verläßlich, Mister Jeffers. Ich wurde bereits zum Mittagessen mit allen
wichtigen Details über die Bereicherung des Playboy-Stammes
versorgt.

Er näherte sich. Isabelle hätte es instinktiv gespürt, auch wenn sie

das leise Knirschen des Sandes nicht gehört hätte.

- Du bist also keine abenteuerlustige Touristin, Isabelle Delorme. -

Eine Feststellung, keine Frage.

- Warum sind Sie hier? - beharrte sie jetzt.
Er zögerte, die Worte fielen ihm vermutlich nicht leicht.

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- Vielleicht ist mir aufgefallen, daß ich mich gestern nicht sehr

höflich benommen habe. Als ich mich entschuldigen wollte, war es zu
spät. Du warst verschwunden wie die Fee in einem Märchen. Du gingst
mir nicht aus dem Kopf, und als ich heute nacht überlegte, wie ich dich
wiedersehen könnte, kam mir dieser Strand in den Sinn. Ich wußte, daß
du wieder herkommen würdest. Ich weiß nicht warum. Es war, als
hätten wir eine Verabredung getroffen…

Das dumpfe Dröhnen eines Rennbootes, das ziemlich nah am Strand

vorbeizog, war eine willkommene Gelegenheit für Isabelle, mit der
Antwort zu warten.

- Sie sind mit dem Boot da…? - wollte Isabelle wissen, ohne auf

seine Bemerkung einzugehen.

Er nickte, und als ihm klar wurde, daß sie diese Bewegung ja nicht

sehen konnte, fügte er hinzu:

- Ja, klein, aber fein. Ein Zodiac mit einem 75-PS-Motor!
Isabelle zog die Unterlippe zwischen ihre Zähne, dann gab sie sich

einen Ruck.

- Würden Sie… ich meine, ich will nicht aufdringlich sein, aber

könnten wir vielleicht ein paar Minuten aufs Meer hinausfahren?

Er lachte, und sie war sich bewußt, daß ihr Herz einen Takt schneller

schlug.

- Aber natürlich. Gern, wenn es dir Spaß macht. Es gehört, glaube

ich, zu einem richtigen Playboy, daß er hübsche Mädchen auf sein
Schiff entführt, hm?

Ein mühsamer Witz, und sie verzog keine Miene. Sie streckte

wortlos die Hand aus und fühlte ihre Finger von einer festen,
vertrauenerweckenden Männerhand umfaßt.

Er half ihr nicht ins Boot. Er legte lediglich ihre Hand auf die

sonnenwarmen Gummiwülste des kleinen Fahrzeuges, das er ein Stück
auf den Sand gezogen hatte. Isabelle kletterte hinein und setzte sich auf
die schmale Bank mit den aufblasbaren Gummikissen. Ruckartige
Bewegungen zeigten ihr, daß er das Boot ins Wasser schob. Dann
schaukelte es heftig, während er zustieg und den Motor anwarf.

- Vollgas? - fragte er.

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- Bitte, ja! - Isabelle klammerte sich fest und genoß das Tempo.

Gischtnebel berührten ihre nackten Arme, und die Geschwindigkeit hob
das kleine Boot mit dem starken Motor halb aus den Wellen.

Der Fahrtwind zerrte an Isabelles Haaren und preßte das

Sommerkleid an ihren Körper. Es war wie ein Rausch. Sie hätte ewig
so weiterrasen können. Zwischen Himmel und Wasser in endlose
Weiten davonfliegen. Wunderbar!

Enttäuscht merkte sie, daß Jason den Motor drosselte.
- Schade… - sagte sie.
Er lachte über ihre Bemerkung.
- Wenn wir jemals wieder ans Ufer zurückwollen, muß ich leider mit

unserem Treibstoff ein bißchen sparsamer umgehen.

Isabelle lehnte sich über die Bordwand und tauchte die Hand in das

kühle Wasser.

- Es ist schön, so über das Meer zu fliegen. Einfach so ohne Ziel…
- Flucht? - Zigarettenrauch und das Klicken eines Feuerzeuges

zeigten an, daß er sich eine seiner schwarzen, filterlosen Zigaretten
anzündete. - Vor wem oder was?

- Keine Ahnung…, - antwortete sie vage. - …vor mir, vor dem

Leben… vor allem, was mich angeht.

- Seit wann bist du blind? - Ganz sachlich und ohne Emotionen

stellte er diese Frage.

- Woher wollen Sie wissen, daß ich nicht schon immer blind war? -

fragte Isabelle leise.

- Deine Sprache und deine Bewegungen. Wer von Geburt an blind

ist, spricht stockender, bewegt sich zögernder, vorsichtiger. Du muß die
Welt einmal mit sehenden Augen kennengelernt haben.

Isabelle wunderte sich.
- Und woher sind Sie genau über Blinde und ihre Schwächen

informiert, Jason Jeffers?

Die folgende Pause war lange, aber nicht peinlich. Das leise

Plätschern der Wellen machte die Zeit auf eigenartige Weise
gegenstandslos.

- Von Cathy… - Es schien ihm schwerzufallen, diesen Namen

auszusprechen.

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- Wer ist Cathy? - Isabelle hätte gerne den Ausdruck seines

Gesichtes gesehen. So war sie nur auf die Stimme angewiesen, in der
sie unterdrückten Schmerz zu hören glaubte.

- Cathy war meine Verlobte. Ein intelligentes, sportliches und sehr

schönes Mädchen. Sie studierte Chemie und arbeitete im Labor ihres
Vaters. Bei einer Versuchsreihe für neue Lösungsmittel kam es zu einer
Explosion. Cathy wurde schwer verletzt, beide Augen waren zerstört.
Es war schrecklich. Du kannst dir dieses von Verbänden entstellte
Gesicht, in dem nur noch der zitternde Mund lebte, nicht vorstellen. Sie
muß gespürt haben, wie fassungslos, wie entsetzt ich war. Ein paar
Wochen nachdem sie aus der Klinik kam, beging sie Selbstmord. Sie
ertrug das Leben nicht, das vor ihr lag. Als wir sie fanden, war es für
jede Hilfe zu spät.

Sonderbarerweise ahnte Isabelle, was hinter seinen Worten steckte.

Qualvolle Selbstvorwürfe.

- Aber Sie sind doch nicht Schuld an ihrem Tod, Jason! Sie hat

Selbstmord begangen. Es war ihre eigene Entscheidung!

Er gab einen erstickten Laut von sich.
- Und ob ich das bin. Ich habe sie geliebt, bewundert und angebetet.

Pausenlos habe ich ihr erklärt, wie wunderschön sie sei. Mein Gerede
war daran schuld, daß sie die Zerstörung ihrer Schönheit nicht
überwinden konnte. Ich habe ihr Todesurteil gesprochen. Sie mußte
glauben, daß ich sie verlassen würde.

Seine unterdrückte Verzweiflung brachte ihn Isabelle nahe. Sie

begriff, daß der Tod dieses Mädchens für ihn ein entscheidendes
Erlebnis gewesen war. Ein Schlag, den er bis heute nicht überwunden
hatte.

- Und jetzt reisen Sie durch die Welt, um vor Ihren Erinnerungen

davonzulaufen und trinken Pastis, weil Sie nüchtern doch nicht so ganz
daran glauben können, daß wir Frauen tatsächlich nur die hübscheste
Erfindung des lieben Gottes sind, um sich die Zeit zu vertreiben…, -
griff sie einen seiner Sätze vom Vortag auf.

- Woher weißt du, daß ich trinke?
Isabelle schüttelte unwillig den Kopf.

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- Männer, deren Küsse bereits am Vormittag nach Anis

schmecken… Ich bezweifle, daß man damit Probleme lösen kann. Oder
haben Sie gute Erfahrungen gemacht?

Er ignorierte ihren Spott.
- Es gibt keine Lösung, - bemerkte er bitter.
- Stimmt. - Isabelle nickte. - Aber es bringt auch nichts, auf dem

Meer herumzufahren und der Vergangenheit nachzuweinen, oder?

Ihre gewollt muntere Stimme brach den eigenartigen Bann, der über

ihnen lag. Isabelle spürte förmlich Jasons skeptischen Blick und wußte,
daß er die Stirn runzelte.

- Hast du einen besseren Vorschlag? - fragte er.
Sie nickte und gab sich einen Ruck. Nicht lange überlegen,

beschwor sie sich. Spring einfach hinein und sag's ihm.

- Sie haben mir gestern deutlich zu verstehen gegeben, daß ich als

Touristin ein Abenteuer wert bin, abgesehen von der lästigen Tatsache,
daß ich blind bin, natürlich. Können wir diesen Makel für ein paar
Stunden vergessen, Jason? - Sie atmete tief durch und fügte hinzu: -
Würden Sie mit mir schlafen, Jason?

Diesmal war das Schweigen nicht mehr erträglich. Sie empfand den

Schock, den sie ihm eben versetzt hatte, förmlich am eigenen Leib.

Hastig setzte sie hinzu:
- Ich kenne keinen anderen Mann, an den ich diese Bitte richten

könnte. Ich weiß, daß wir uns nur flüchtig kennen, aber… - Ihre
Stimme war ein fast lautloser Hauch: - Ich möchte wenigstens wissen,
wie es ist, von einem Mann geliebt zu werden. Ich will nicht nur von
Zärtlichkeit und Leidenschaft träumen. Ich will sie einmal erfahren…
einmal…

Jason räusperte sich unbehaglich.
- Das… das kann doch nicht dein Ernst sein…
Isabelle nickte heftig.
- Doch, mein voller Ernst. Und bitte… ich möchte nicht darüber

diskutieren. Es ist meine Entscheidung, und ich stehe dazu. Sagen Sie
einfach ja oder nein. Ich werde beides akzeptieren. Ich werde im
Sommer sechsundzwanzig Jahre alt, ich bin kein kleines Mädchen
mehr. Und…- Obwohl es Isabelle peinlich war, so ins Detail zu gehen,

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mußte sie es tun, um Jasons Bedenken zu zerstreuen, - …ich kann
keine Kinder bekommen. Es ist also völlig risikolos für Sie!

Jason schnappte hörbar nach Luft.
- Als ob das bei diesem ganzen verrückten Vorschlag das einzig

Wichtige wäre! - knurrte er.

- Ja oder nein, Jason! - Isabelle spürte seinen brennenden Blick.
- Du weißt, daß du wunderschön bist, Cherie. Daß es ein Wahnsinn

von dir ist, mich derart in Versuchung zu führen… aber, ich bin
vielleicht ein Schuft. Also, wenn du es ernsthaft willst, ja!

- Gut! - Isabelle nickte erleichtert und entspannte sich.
Vor diesem Moment hatte sie am meisten Angst gehabt. Jason

würde nie erfahren, wieviel Kraft die vergangenen Minuten sie gekostet
haben.

- Dann laß uns zu dir fahren, - schlug sie vor. In ihrem Kopf

überschlugen sich die Gedanken. Was dachte er? Wie schätzte er sie
jetzt ein?

Sie zwang sich, nicht zu denken, und bemerkte aufatmend, daß auch

Jason der Sinn nicht nach einer belanglosen Unterhaltung stand.

Wortlos warf er den Motor wieder an und jagte das Boot in Richtung

Cap St. Pierre.

***


Die äußerste Landspitze der Halbinsel von St. Tropez war das

Domizil der Wohlhabenden. Die meisten Villen erreichte man nur von
der See her oder über versteckte Privatwege.

Viel zu schnell nahm Jason das Tempo wieder weg. Aber jetzt war

es für Isabelle zu spät für Gewissensbisse und Bedenken.

- Wir sind da, - sagte er rauh. - Bleibst du bei deinem Entschluß? -
- Selbstverständlich! - Seine spürbare Unsicherheit verlieh ihr

wieder Stärke. Jasons Hand war kalt, als er ihr aus dem Boot half. Kam
das vom Fahrtwind?

- Der Weg zum Haus ist gefließt. Willst du dich auf meinen Arm

stützen? - fragte er.

Isabelle spürte die Sonne auf ihren Schultern, deren Mittagshitze

von den glatten Marmorplatten unbarmherzig zurückgeworfen wurde.

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Der Stein unter ihren dünnen Schuhsohlen glühte. Flüchtig dachte sie
daran, daß Madame und Lisette jetzt mit dem Mittagessen auf sie
warteten. Es war egal, die nächsten Stunden gehörten ihr.

Plötzliche Kühle zeigte ihr, daß sie in den Schatten des Hauses

getreten waren. Isabelle fröstelte.

- Möchtest du etwas zu trinken? - Es fiel Jason offensichtlich

schwer, mit der ungewohnten Situation fertig zu werden.

- Wenn du einen Schluck Weißwein hast, gern… - Isabelle fühlte

sich in die weichen Polster eines Sofas gedrückt.

- Der Tisch steht vor dir. Hier ist dein Wein!
Ein kaltes, beschlagenes Glas befeuchtete ihre Handflächen. Isabelle

trank einen großen Schluck und genoß den herben, fruchtigen
Geschmack des Weines. Das erneute Gluckern einer Flasche verriet,
daß auch Jason sich Wein einschenkte.

Die Temperatur in dem luftigen Wohnraum war angenehm.

Vermutlich hatte Jason vor dem Wegfahren die Fensterläden
geschlossen. Noch ehe sich die Polster neben ihr unter seinem Gewicht
senkten, verriet ihr seine „Duft-Visitenkarte“ aus Anis und schwarzen
Zigaretten, daß Jason näherkam.

Mit geschlossenen Augen wandte Isabelle sich ihm zu. Ihre

Fingerspitzen ertasteten die Knopfleiste eines halbgeöffneten
Batisthemdes, dann warme Haut, gekräuselte Haare und ein dünnes
Kettchen.

- Ein Talismann? - murmelte sie und prüfte die runde Münze. Sie

spürte seinen schnellen Atem, seine Bedenken, die er nicht
auszusprechen wagte.

- Hör auf, nach Gründen und Worten zu suchen, Jason. Hast du

immer so viele Skrupel, wenn du ein Mädchen lieben willst?

Isabelle schmiegte ihr Gesicht an die breite Männerbrust und

lächelte, weil die Härchen ihre Nasenspitze kitzelten. Seine Arme
schlössen sich um sie, und er vergrub das Gesicht in ihren weichen
Haaren. Das dumpfe Klopfen seines Herzens nahe an ihrem Ohr klang
hart und schnell.

- Ich weiß nicht, ob du überhaupt ein Wesen aus Fleisch und Blut

bist, - raunte Jason gedämpft. - Vor ein paar hundert Jahren hätte man

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eine Frau mit solchem Haar, eine Versuchung wie dich, vermutlich auf
dem Scheiterhaufen verbrannt. Hexenhaar…

- Du willst prüfen, ob ich eine Hexe bin? - Isabelle kicherte

vergnügt. - Immer dieses alte Vorurteil gegen Rothaarige. Ich hätte
nicht gedacht, daß Amerikaner so abergläubisch sind. Warum küßt du
mich nicht, um es herauszufinden?

- Also gut, aber sag hinterher nicht, daß ich dich nicht gewarnt hätte!
Isabelle stieß einen erstickten Laut aus, als ihre Lippen sich plötzlich

trafen. Jasons Hand schloß sich fest um ihren Nacken und zog sie
unaufhaltsam näher.

Einen Augenblick überkam sie Panik, wollte sie Widerstand leisten,

dann gab sie sich diesem Kuß hin. Zaghaft, eher scheu als
leidenschaftlich, erwiderte sie die Zärtlichkeit.

Sie fühlte, wie Jason sie aufhob, als wäre sie eine Feder. Er trug sie

in ein anderes Zimmer. Kein Wort fiel zwischen ihnen, während er sie
in die kühlen Leinenkissen eines breiten Bettes legte.

Unendlich langsam und sanft fuhren
seine Hände die Konturen ihrer ebenmäßigen Schultern nach, die

das luftige Corsagenkleid nackt ließ. Sein Mund fand die aufgeregt
pochende Ader an ihrem schlanken Hals.

- Du zitterst, dir ist kalt, du weichst zurück… - murmelte er.
- Nein… nein… bitte… - Isabelle lachte nervös, und er begriff, was

in ihr vorging. Er glitt neben sie auf das Bett und nahm sie beschützend
in die Arme. Reglos, einer an den anderen gepreßt, lagen sie da.

- Hab keine Angst, Cherie. Ich will dir nicht weh tun. Entspann dich,

hör in dich hinein. Liebe kann wie Musik sein. Akkorde, die leise
beginnen, und im Laufe der Zeit erst ihre Melodie finden. Wir müssen
die Harmonien suchen. Du brauchst nur dein Herz und deine Hände
dafür…

Erregt umklammerte Isabelle seine breiten Schultern, die sie

gleichzeitig fremd und vertraut empfand. Das war kein Playboy, der da
sprach, kein Mann, der Frauen wie Trophäen sammelte.

Seine streichelnden Hände streuten explodierende Funken über ihre

Haut. Sie stand in hellen Flammen. Halb aufgerichtet, streifte sie selbst
das leichte Kleid ab und überließ sich seinen Zärtlichkeiten. Ihr

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schlanker Körper erwachte zu leidenschaftlichem Leben unter seinen
Fingern.

- Du bist bezaubernd, kleine Hexe! - flüsterte Jason und liebkoste

die vollkommenen Rundungen ihrer Brüste mit heißen Lippen. Fast
schmerzvoll heftig richteten sich die rosigen Warzen auf.

Isabelle taumelte in ein Chaos der Gefühle. Jasons Hände waren

überall, und sie bog sich seinen Berührungen entgegen. Sie suchte Halt
und glitt doch wie eine Ertrinkende immer tiefer in den Strudel.

Jason war nicht weniger erregt als sie.
Es war, als hätten sie beide von Anbeginn nur darauf gewartet,

einander zu begegnen. Alles war vollkommen und wunderbar, ein
erregendes Spiel, das seinem Höhepunkt unaufhaltsam zustrebte.

- Du… du bist sicher, daß du es wirklich willst? - Angstvoll auf ihre

Antwort wartend, hielt Jason inne.

- Ja… - hauchte Isabelle und zog ihn näher, - …ich… ich wußte

nicht, daß es so herrlich sein kann. Ich… ich hatte keine Ahnung.

- Isabelle, ich schwöre dir, so war es für mich noch nie…
Jason riß sich seine Sachen vom Körper. Dann berührte er das

seidene Dreieck des winzigen Höschens.

Seine Küsse brannten Feuerspuren auf Isabelles Haut. Sie preßte

ihren Mund auf seinen, umarmte den kräftigen Männerkörper, dessen
heißes Begehren sie spürte, und drängte ihre kleine Zunge zwischen
seine Lippen.

Vorsichtig schob Jason ein Knie zwischen ihre Schenkel. Isabelle

zitterte unter der ungewohnten Berührung. Sie schlang ihre Beine um
seinen Leib und ließ ihn nicht mehr aus.

Es gelang ihr nicht ganz, den schmerzhaften Aufschrei zu

unterdrücken, als Jason zu ihr kam. Er hielt sich zurück, aber sie bog
sich ihm sehnsüchtig entgegen.

Isabelle keuchte. Sie wußte nicht mehr, ob aus Lust oder Schmerz.

Es dauerte, ehe die Pein nachließ. Doch dann wurde ihr plötzlich der
erregende Gleichklang ihrer Körper bewußt. Wellen einer unbekannten
Flut trugen sie davon.

- Jason, was… was machst du mit mir… - stammelte sie, während

ihr noch die Tränen in den Augen standen.

- Denke nicht, Cherie. Hör auf die Melodie und komm mit mir…

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Fassungslos und hingerissen taumelte Isabelle in die Ekstase eines

gemeinsamen Höhepunktes. Sie waren eins. Nicht nur ein Körper, eine
Seele, ein Gedanke, ein Leben.

***


Isabelle kam erst wieder zu sich, als Jason vorsichtig ihren Kopf im

Nacken anhob und das kühle Weinglas ihre wunden Lippen berührte.

Sie nahm ihm das Glas ab und trank es in einem einzigen langen

Zug aus. Dann sank sie in die zerwühlten Kissen zurück.

Sie schmiegte sich an Jason, spielte mit den Haaren auf seiner Brust.

Ihre Finger verfingen sich wieder in der Fessel des Talisman-Kettchens
und tasteten über die kaum merkbaren Spuren einer Gravur auf der
glatten Münze.

- Ein Liebespfand? - scherzte sie.
Jason nahm sie in die Arme und gab ihr einen freundlichen Klaps

aufs Hinterteil.

- Sei nicht so frech, kleine Hexe. Es handelt sich um das Geschenk

eines alten Lehrers.

Danach war wieder Stille. Das gleichförmige Schrillen der Zikaden

untermalte ihre tiefen Atemzüge. Aufgewühlt, erschöpft und zugleich
hellwach und überdreht, schob Isabelle alle Gedanken einfach von sich.

Dieser Augenblick zwischen Zeit und Raum gehörte nur ihnen. Sie

hatte nicht gewußt, was sie von Jason forderte. Die paar
leidenschaftlichen Küsse und leichtsinnigen Zärtlichkeiten, die sie mit
Raimond getauscht hatte, waren keine Vorbereitung für dieses
aufregende Erlebnis gewesen.

Auch Jason schien mit seinen Gedanken weit weg zu sein. Nur der

Arm, der sie an sich preßte, der Druck seines Körpers an ihren Brüsten
war Wirklichkeit.

- Zwei Schiffbrüchige auf einer Insel, - schoß es Isabelle durch den

Kopf. Sie schloß vor Wohlbehagen und Zufriedenheit die Augen.

Sie wußte nicht, waren Stunden oder Minuten vergangen, als sich

ihre Hände erneut trafen und das sanfte beruhigende Streicheln in ihrem
Inneren wieder ein Echo fand.

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- Laß es, Cherie, ich will dir nicht weh tun… - wehrte Jason ihre

kühnen Zärtlichkeiten ab.

Isabelle lachte leise und übermütig.
- Vorhin hast du so schön von Musik gesprochen. Weißt du nicht,

daß auch ein paar Untertöne in Moll zu jedem Stück gehören? - Mit
plötzlichem Ernst suchte sie seine Lippen. - Du hast mich zur Frau
gemacht, Jason. Ich werde es dir nie vergessen. Du weißt nicht, was
dies für mich bedeutet. Laß uns noch einmal davonlaufen. Zeig mir ein
letztes Mal die Sterne, und dann bring mich nach Hause…

Jason küßte die Tränen aus ihren Augenwinkeln.
- Rede keinen Unsinn. Wir werden uns wieder treffen. Du meinst

doch nicht, daß ich dich jemals aus meinem Leben gehen lasse.

- Pst! - Isabelle legte einen Zeigefinger auf seine Lippen. - Du hast

mir ein Geschenk gemacht, für das ich dir dankbarer bin, als Worte es
ausdrücken können. Wenn du wieder auf Reisen gehst, behalte mich als
Erinnerung im Gepäck. Ein heißer Nachmittag, an dem du zum Konzert
der Zikaden in St. Tropez ein rothaariges Mädchen geliebt hast. Nicht
mehr, aber auch nicht weniger!

- Hör auf, Isabelle, das ist kein Spaß. Du bist für mich kein

Sexabenteuer. Das mußt du doch gespürt haben. Erzähle mir von dir.
Ich will alles wissen. Was ist mit deinen Augen? Bist du in
Behandlung, warst du schon bei einem vernünftigen Spezialisten? Du
ahnst ja gar nicht, welche Fortschritte die Medizin gemacht hat!

- Pst, Jason… ich kenne sie alle, deine Spezialisten. Es gibt wohl in

ganz Europa keinen, bei dem ich nicht gewesen bin. Sogar der
berühmteste - ein Professor Lockwood in Paris - hat mir bescheinigt,
daß mein Fall hoffnungslos ist. Warum soll ich erneut Träumen und
Wünschen nachjagen, die mir schon soviel Kummer bereitet haben?

- Aber hör mal, Brian Lockwood ist…
- Jason, wenn du nicht möchtest, daß ich böse werde, änderst du

besser das Gesprächsthema! - Isabelle rückte von ihm ab und setzte
sich auf.

- Isabelle, ich bitte dich…
- Nein! - Ihr schmerzvoller Schrei brachte Jason zum Verstummen.

Sanft zog er sie wieder in den schützenden Kreis seiner Arme zurück.

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- Gut, ich quäle dich nicht mehr… - Aber unausgesprochen klang

mit, daß er dieses Thema nicht aufgeben wollte.

Er streichelte ihre knisternden, rötlich schimmernden Locken und

bewunderte die feinen Wangenknochen, die geschlossenen goldenen
Wimpern, die wie ein dichter Kranz waren.

Die drei hauchzarten Sommersprossen auf der Nasenspitze betonten

Isabelles durchsichtigen Porzellanteint nur noch. Ihre Lippen waren
leicht geöffnet und zeigten zwei Reihen perlweißer Zähne. Das
winzige, aber energische Kinn verriet Willenskraft und Mut.

- Du bist wunderschön. Ich wollte, ich könnte dich malen. Dabei

weiß ich nicht, welche Farben dir überhaupt gerecht werden könnten! -
flüsterte er hingerissen.

- Was für hübsche Komplimente du machen kannst, Mister Playboy!

- Isabelle versuchte die allzu ernsthafte Stimmung zu entkrampfen.

Sie genoß das Vergnügen, Jasons Körper zu streicheln. Sie

erkundete ihn mit ihren Händen und fühlte die erregten Schauer, die
dabei über seine Haut liefen. Sein Gesicht fühlte sich kantig an.
Männliche Züge, eine sehr gerade Nase, buschige Brauen,
überraschend weiche Lippen.

Einzelne Teile, die sie nur unvollkommen zu einem Bild

zusammenfügen konnte. Wie sah er aus? Attraktiv, schön, männlich?

Was bedeuteten all diese Worte in ihrer Welt aus Schatten? Sie

wußte nur eines, Jason war gütig, zärtlich, verständnisvoll,
leidenschaftlich, hartnäckig, poetisch, verletzbar und - sie liebte ihn.

Jason hatte Gefühle in ihr geweckt, von deren Vorhandensein sie

nichts geahnt hatte. Ihre Finger wühlten in seinen kurz geschnittenen
Haaren, rubbelten die Schatten kommender Bartstoppeln und
zeichneten die Falten rechts und links der Mundwinkel nach. Dann
küßte sie ihn auf die Augen, zwang ihn, sie zu schließen.

- Jetzt sind wir im Dunkeln vereint, - wisperte sie. - Kannst du mich

sehen? Kannst du auch mit deiner Seele erspüren, Jason Jeffers?

- Lehr es mich, Cherie. Laß dich lieben!
Sie fühlte spielerisch sanfte Bisse auf ihrer Haut, Lippen, die sich

um ihre Brustwarzen schlössen, seine Zunge, die schmeichelnd die
rosigen harten Spitzen koste.

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Isabelle genoß sein Verlangen, sie gab sich ihrer Lust hin, ohne an

das Morgen zu denken. Ein ganzes Leben lang würde sie an diese
Stunden denken, und sie wußte bereits jetzt, daß sie nicht eine einzige
Sekunde davon bereuen würde.

Endlich hatte sie einmal das Gefühl, zu leben, in Wirklichkeit zu

existieren. Auch der Schmerz ihrer erneuten Vereinigung war keine
Qual, sondern wunderbares sich verlieren.

Sie war eine Frau! Eine Frau, die Jason Jeffers begehrte, die Ursache

seiner Seufzer und seines Entzückens sein konnte. Niemand - nicht
einmal Pierre - würde ihr je den Schatz dieser Erinnerungen rauben
können.

Jason spürte nur den verzweifelten Ernst, mit dem sie ihre Hände um

seinen Nacken schlang, die Hemmungslosigkeit, mit der sie auf ihn
reagierte, und sie beide in einen Wirbel der Lust warf, den er nie
erwartet hatte.

Irgendwann gelang es Isabelle, dem unausweichlichen Ende dieser

Stunden zu begegnen.

- Bitte, du mußt mich jetzt nach Hause bringen, - flüsterte sie mit

gebrochener Stimme. - Und mich wieder vergessen.

- Ersteres gerne, letzteres nie! - sagte Jason. Es war ihm unmöglich,

auch nur daran zu denken, daß es eine Trennung für immer geben
könnte.

Isabelle spürte seine Gedanken, als ob er sie ausgesprochen hätte.

Aber was sollte sie diskutieren? Jason würde selbst merken, daß das
Leben stets andere Wege fand.

***


Auf dem Weg zum Boot fiel Isabelle auf, daß die größte Hitze des

Tages vorbei sein mußte. Die Sonne hatte ihre Kraft verloren, und vom
Meer kam eine sanfte Brise.

- Wie spät ist es? - wollte sie wissen.
- Kurz nach fünf Uhr. Wird man dich vermissen?
Sie antwortete nicht. Nur widerstrebend dachte sie, daß in der Villa

über der kleinen Bucht inzwischen vermutlich das Chaos ausgebrochen
war.

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33

Madame Olga hatte sicher Pierre alarmiert, Constant die Bucht und

den Garten abgesucht und Lisette drängte bestimmt, endlich die Polizei
zu holen.

Jason respektierte ihr Schweigen. Er warf den Bootsmotor an.
Vermutlich konnte er sich nicht im entferntesten vorstellen, wie

Isabelles Leben normal verlief. Sie konnte ihm auch schwer erklären,
daß die vergangenen Stunden nur eine Art „Urlaub“ von ihrem privaten
Gefängnis gewesen war.

Sie beherrschte sich eisern, um nicht zu weinen. Und als er das Boot

in der kleinen Bucht auf den Sand ziehen wollte, winkte sie ab.

- Laß nur, Jason. Ich finde den Weg allein. Ich kenne ihn. Fahr jetzt

wieder zurück.

- Kommt nicht in Frage, Isabelle. Ich lasse nicht zu, daß du allein

auf diese Kletterpartie gehst.

Sie lächelte müde.
- Sei nicht albern, was glaubst du, wie oft ich hier in der Bucht

Zuflucht suche!

- Was gewesen ist, ist mir egal! - Jason griff nach ihrer eiskalten

Hand. - Wichtig ist nur, was jetzt ist und was sein wird.

Isabelle hatte keine Kraft für einen Streit. Da sie innerlich die

Konfrontation mit ihrer „Familie“ fürchtete, war sie dankbar für Jasons
Begleitung.

Der Skandal konnte auch nicht schlimmer werden, wenn Madame

Olga den „amerikanischen Playboy“ sah…

Doch die eiskalte Stimme, die sich über das aufgeregte

Stimmengewirr von Olga und Lisette erhob, ließ Isabelle mitten im
Schritt erstarren.

- Isabelle! - Pierre Delorme schoß auf das Paar zu. - Um Himmels

willen, wo hast du gesteckt? Was ist passiert? Wer ist dieser Mann?
Reden Sie schon, Monsieur, was haben sie mit meiner Schwester zu
tun!

Isabelle wußte, welcher Anblick ihr Bruder für Jason war. Ein

mittelgroßer,

schlanker,

dunkelhaariger

Franzose

mit

scharf

geschnittenen Gesichtszügen und einem Oberlippenbart, der die
schmalen, meist zusammengekniffenen Lippen noch betonte.

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Vermutlich trug er den üblichen Geschäftsanzug mit Weste, polierte
Schuhe und eine teure Krawatte.

Jasons Tonfall ließ erkennen, daß er nicht sonderlich beeindruckt

war.

- Ich bin mit Ihrer Schwester befreundet, Monsieur Delorme! Wir

haben einen Bootsausflug gemacht.

Pierre Delorme stand kurz vor einem Wutanfall.
- Monsieur! - fauchte er. - Ich weiß zwar nicht, wer Sie sind, aber es

ist verantwortungslos und unverschämt, meine kranke Schwester zu
belästigen.

- Moment mal. - Isabelle bewunderte Jasons ruhige Überlegenheit. -

Zu Ihrer ersten Frage: mein Name ist Jason Jeffers. Im übrigen wüßte
ich nicht, warum ich sie um Erlaubnis bitten muß, wenn ich mit
Isabelle zusammen sein möchte. Sie ist volljährig und kann sich ihre
Freunde sicher ohne Ihre Hilfe aussuchen. Sie sollten sich Ihre
Anschuldigungen also etwas gründlicher überlegen!

- Jetzt reicht es mir aber! - brüllte Pierre mit beachtlichem

Stimmaufwand.

- Sie verlassen sofort dieses Grundstück! Sonst benachrichtige ich

die Polizei! Ich werde nicht dulden, daß Playboys Ihrer Art meine
Schwester…

Isabelle verzog angewidert das Gesicht.
- Pierre, spar dir deine Sonntagspredigt. Du bist weder mein Vater,

noch mein Vormund. Ich selbst habe Jason um diesen Ausflug gebeten.

- Isabelle! - Sie fühlte sich brutal am Oberarm gepackt und versuchte

vergeblich, sich loszureißen. - Du weißt nicht mehr, was du sagst. Du
bist ja völlig außer dir. Madame Olga, bringen Sie das Kind sofort auf
sein Zimmer. Wir meinen es alle nur gut mit dir, mein Schatz!

Jason mischte sich ein.
- Lassen Sie sie sofort los. Sehen Sie denn nicht, daß Sie ihr weh

tun?

Isabelle begriff instinktiv, daß nur noch eine Kleinigkeit fehlte, dann

wäre die schönste Prügelei zwischen den beiden Männern im Gange.
Sie wollte nicht, daß dieser Tag so endete. Sie ignorierte die Schmerzen
in ihrem Arm und sagte kühl:

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- Solange du mich nicht losläßt, kann ich wohl kaum ins Haus

gehen, Bruderherz. Wenn dir daran liegt, kann ich dir natürlich gern
meinen Arm zur Verfügung stellen…

Ihr Spott wirkte Wunder. Sein Griff lockerte sich, sie konnte

zurücktreten. Ein letztes Mal wandte sie sich Jason zu.

- Adieu, Jason! Es ist besser, du gehst jetzt. Danke für alles!
Ohne auf eine Antwort zu warten, ging sie in Richtung Haus und

Uberließ es Madame Olga, ihr zu folgen. Pierres Worte hörte sie
trotzdem noch.

- Worauf warten Sie noch, Jeffers! Für Playboys und Mitgiftjäger ist

hier kein Platz. Ich rate Ihnen auch dringend, sich hier nicht mehr sehen
zu lassen. Sollten Sie meine Schwester erneut belästigen, schalte ich die
Polizei ein. Ich kann Ihnen versichern, daß die Familie Delorme in
dieser Gegend einem unangenehmen Ausländer das Leben ganz schön
schwermachen kann. Suchen Sie sich ein anderes Opfer. Meine
Schwester ist für Sie tabu!

- Ich hatte keine Ahnung, daß mein Bruder über derartiges

Temperament verfugt, - murmelte Isabelle.

Madame Olga schwieg, obwohl sie mehr als nur neugierig war. Sie

spürte, wie aufgewühlt Isabelle war und beschloß, erst einmal Ruhe in
die ganze Sache zu bringen.

- Ich lasse dir ein Bad ein und hole dir eine Kleinigkeit zum Essen! -

schlug sie vor. Das Mädchen nickte erleichtert.

Wenig später ließ sich Isabelle in das warme Wasser gleiten und

legte erschöpft den Kopf auf das Badekissen. Ob sich Jason über ihren
Bruder sehr wunderte? Vermutlich wäre der Familien-Skandal vor
versammelter Dienerschaft vermieden worden, wenn sie ihre
Verabredung nicht so spontan und unüberlegt getroffen hätte. Aber sie
wußte auch genau, eine Nacht voller Nachdenken und Abwägen hätte
sie mit Bestimmtheit davon abgehalten, sich in die Arme eines
Fremden zu werfen.

Isabelle spürte, wie ihr erschöpfter Körper sich im Wasser

entspannte. In Gedanken glitt sie in Jasons Arme zurück, rief sich seine
Zärtlichkeiten in Erinnerung und ertappte sich bei der Frage, ob er im
Augenblick wohl auch an sie dachte. Jason.

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Das Glück der vergangenen Stunden würde ihr helfen, dieses

sinnlose Dahinleben in ihrem goldenen Käfig weiterhin zu ertragen.

Isabelle ahnte nichts von dem Telefongespräch, das Jason führte,

sobald er die Tür seines Hauses hinter sich ins Schloß geworfen hatte.

***


- Brian? Hier spricht Jason!
Einen Moment war verblüfftes Schweigen in der Leitung, dann rief

der andere Teilnehmer.

- Jason, alter Junge, wo steckst du? Immer noch in Japan? Die

Verbindung ist aber fabelhaft!

- Ich bin dir ein Stück nähergekommen, Brian. Im Moment führe ich

mein atemberaubendes Playboy-Dasein in St. Tropez!

- Was suchst du in dieser Touristenfalle? Schwing dich in Auto,

Bahn oder Flugzeug und komm sofort nach Paris. Was glaubst du, wie
lange ich schon auf dich warte, du alter Gauner!

Jason grinste vergnügt. Brian Lockwood war einer seiner besten und

ältesten Freunde. Einer der wenigen, die in allen Einzelheiten über sein
verpfuschtes Leben Bescheid wußten.

- Hör mal, Professor, es könnte sein, daß ich schneller bei dir bin, als

dir lieb ist. Aber vorher habe ich ein paar Fragen an dich, auf die ich
eine Antwort möchte, auch wenn sich deine ärztlich verschwiegene
Seele dagegen sträubt. Verrät dir deine Patientenkartei, ob du vor ein
paar Jahren eine Patientin namens Isabelle Delorme hattest?

- Isabelle Delorme? Dafür benötige ich keine Kartei. Verrate mir

sofort, was du mit Isabelle zu tun hast? Sag nur noch, du hättest sie auf
der Hafenpromenade kennengelernt…

Jason lachte bitter auf.
- Du solltest wissen, daß ich bei blinden Mädchen nicht über eine

Spur Humor verfüge, Brian. Aber beruhige dich, ich erzähle dir gern
die ganze Story, wenn du mir verrätst, warum dieses Mädchen blind ist,
und warum du ihr gesagt hast, daß ihr Fall hoffnungslos ist.

- Dir bekommt wohl die Sonne da unten nicht? - protestierte

Professor Lockwood empört. - Ich weiß genau, was in meinem
Abschlußbericht stand, schließlich kenne ich die Familie Delorme nicht

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erst seit gestern. Isabelles Mutter war eine Freundin meiner Mutter. Ich
kenne dieses Mädchen, seit es in den Windeln lag, und ich habe
kilometerlange Briefe an Kollegen in der ganzen Welt geschrieben, um
ihr zu helfen. Hätte sie die Behandlung nicht auf eigenen Wunsch
abgebrochen, wäre längst klar, ob der Fall tatsächlich so total
hoffnungslos ist. Ich kann niemanden zur Behandlung zwingen, Jason,
aber du kannst Gift darauf nehmen, daß ich es täte, wären ihre oder
meine Eltern noch am Leben.

- Hm. - Jasons Seufzer konnte alles mögliche bedeuten. - Erzähle

mir die ganze Geschichte, bitte. Es bleibt unter uns.

- Einverstanden, ich weiß, daß ich dir vertrauen kann, Jason. Isabelle

wurde bei einem Verkehrsunfall verletzt, den ihr Bruder Pierre
verursachte. Er raste auf der Heimfahrt von einem Discoabend gegen
einen Baum. Isabelles Verlobter verbrannte in dem zerstörten Auto.
Pierre und Isabelle wurden herausgeschleudert. Während Pierre mit ein
paar Schrammen davonkam, hatte sie schwere Kopfverletzungen,
konnte jedoch völlig wieder hergestellt werden. Normalerweise dürfte
sie nicht blind sein. Gründlichste Untersuchungen haben nicht die
kleinste organische Ursache dafür gebracht. Ich habe in meinem
Bericht die Theorie aufgestellt, daß diese Blindheit möglicherweise
durch einen starken Unfallschock ausgelöst wurde. Eine entsprechende
Therapie könnte helfen, die psychische Blockade zu lösen. Einen
Versuch wäre es in jedem Fall wert. Isabelle hat sich geweigert, diesen
Versuch zu machen. Sie hat jede Verbindung mit mir abgebrochen und
auf keinen meiner Briefe geantwortet.

- Und ihr Bruder?
- Du ahnst nicht, wie oft ich mit ihm telefoniert habe. Er scheint

keinen Einfluß auf sie zu haben. Sie weigert sich, Ärzte, Tests und
Therapien über sich ergehen zu lassen. Sie hat sich mit ihrem Schicksal
abgefunden und möchte nur noch in Ruhe gelassen werden. Pierre hat
meine Arbeit mit einem großzügigen Scheck honoriert. Das war das
letzte, was ich von der Familie Delorme gehört habe. So, jetzt bist du
an der Reihe…

- Was ist mit ihren Eltern? Warum trifft dieser Pierre alle

Entscheidungen für seine Schwester?

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- Isabelles Eltern kamen bei einem Flugzeugabsturz ums Leben, als

sie siebzehn war. Seit dieser Zeit sorgt Pierre für sie. Er ist nicht gerade
wahnsinnig sympathisch, aber ich muß ihm attestieren, daß er sich
rührend um sie kümmert. Er macht sich auch die schwersten Vorwürfe
wegen dieses Unfalles.

Einen Augenblick herrschte Schweigen, dann fragte der Professor:
- Woher kennst du Isabelle und ihren Bruder?
- Sei mir nicht böse, Brian, das ist eine lange und sehr komplizierte

Geschichte. Ich kann heute nicht darüber sprechen. Ich muß selbst erst
begreifen, was alles passiert ist. Ich bin ziemlich durcheinander, aber
du hast mir sehr geholfen. Ich rufe dich in Kürze wieder an, okay?

- Okay, Jason… entschuldige die Frage, aber… bist du dabei, in eine

neue Katastrophe zu schlittern?

- Ich weiß es nicht… ich weiß es nicht…
Langsam, wie ein Schlafwandler legte Jason den Hörer auf den

Apparat zurück. Seine Gedanken waren bei Isabelle.

***


Die Aufregungen und auch die physische Erschöpfung hatten dafür

gesorgt, daß Isabelle in dieser Nacht trotz allem tief und traumlos
schlief.

Dennoch fühlte sie sich seltsam mutlos und traurig, als sie am

nächsten Vormittag wieder zu sich kam. Die Tatsache, daß Pierre an
ihrem Bett saß, trug nicht dazu bei, ihre Laune zu heben.

Am Abend vorher hatte er sich die Auseinandersetzung gespart.

Isabelle wußte jedoch, daß sie ihr nicht entkommen konnte.

- Schwesterchen, ich muß mit dir reden, ehe ich nach Grasse

zurückkehre, - begann Pierre in seiner üblichen unterkühlten Art.

Isabelle gähnte wortlos.
- Constant hat auf meine Anweisung das kleine Gartentor verriegelt.

Den Schlüssel habe ich vorsichtshalber an mich genommen, damit du
ihn nicht bitten kannst, meinen Befehlen zuwiderzuhandeln.

- Wie kannst du es wagen…, - fuhr Isabelle empört auf.
- Beruhige dich, Schwesterchen. Begreif doch, daß mir nichts so

sehr am Herzen liegt wie dein Wohlbefinden und deine Sicherheit. Ich

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kann nicht zulassen, daß du dich leichtsinnig in Gefahr begibst. Männer
wie Jeffers sind eine ernsthafte Gefahr für jedes anständige Mädchen.
Ich habe Erkundigungen über diesen Herrn eingezogen, und ich möchte
dir die schmutzigen Details ersparen. Tatsache ist jedoch, daß er sich
.Reiseschriftsteller' nennt, ohne jemals ein einziges Buch veröffentlicht
zu haben. Seit Jahren treibt er sich in der Welt herum, hat wechselnde
Affairen mit Frauen. Wie er diesen Lebensstil finanziert, ist ein
einziges Rätsel. Vermutlich läßt er seine Freundinnen bezahlen. Merkst
du nicht, daß du das ideale Opfer für einen solchen Frauenjäger bist? Es
ist meine Pflicht, dich vor ihm zu schützen, auch wenn du das nicht
einsehen willst!

- Rede doch keinen Unsinn, Pierre! Jason will mich weder heiraten,

noch hat er mich angepumpt!

- Bitte, Kind… - Pierre klang wie ein Schullehrer, - …ich weiß, daß

dein Leben nicht leicht ist. Aber flüchtige Abenteuer mit Playboys, die
unter deinem Niveau sind, werden dich nur noch mehr deprimieren.
Warum tust du nicht etwas Vernünftiges? Lerne doch endlich die
Blindenschrift! Wenn du wieder lesen kannst, wirst du dich weniger
langweilen. Ich weise Madame Olga an, dir eine hervorragende
Lehrerin zu suchen. Einverstanden?

- Und vergiß nicht, den gesamten Haushalt in Mönchskutten und

Nonnenkleider zu stecken, damit das Kloster auch optisch einen guten
Eindruck macht! - sagte Isabelle aufsässig.

- Ich sehe, es ist unmöglich, mit dir heute vernünftig zu reden. Dein

Trotz kränkt mich, Isabelle. Warum begreifst du nicht, wie gut es alle
mit dir meinen? Du solltest deine strapazierten Nerven etwas ausruhen.
Bleib im Bett, und überanstreng dich nicht mit Schwimmen oder
Ballettübungen. Ich rufe heute abend an und erkundige mich nach
deinem Befinden. Adieu, meine Kleine.

Die Tür klappte, dann war Isabelle endlich allein. Bedrückt

kuschelte sie sich tiefer in ihre Kissen.

Auch wenn Pierre sich Sorgen um sie gemacht hatte, so war das kein

Grund, sie wie eine Gefangene in Haus und Garten einzusperren.
Warum konnte er sie nicht in Frieden lassen?

Hinzu kam, daß alle Verbote völlig unnötig waren. Sie wollte von

sich aus nie wieder mit Jason zusammentreffen. Sie hatte ihren Kopf

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durchgesetzt und die Liebe kennengelernt. Wie sie nun mit ihrer
schmerzhaften Sehnsucht, ihren Erinnerungen und dem vergeblichen
Traum Was-hätte-sein-können zurechtkommen würde, war allein ihre
Sache.

Da Pierre die entsprechenden Anweisungen gegeben hatte, blieb

Isabelle tatsächlich ungestört. Sie hatte Zeit, sich ihren Phantasien
hinzugeben und ihre Gedanken zu ordnen.

Die geschlossenen Holzläden sperrten die Sonne aus, trotzdem

seufzte Isabelle über die Sauna-Temperaturen. Nur mit einem
hauchdünnen Nachthemd bekleidet, versuchte sie, ihre zunehmende
Unruhe einfach zu ignorieren.

Es gelang ihr nicht. Sie kam sich vor wie ein Tiger, der seinen zu

engen Käfig mit immer schnelleren und verzweifelteren Schritten
durchmißt.

Die Erlösung, die sie sich von ihrem gestrigen Erlebnis erhofft hatte,

trat nicht ein. Schauer flogen über ihre Haut, wenn sie an Jasons Küsse
dachte, an seine streichelnden Hände auf ihrem Körper.

Hatte sie sich verändert? Sah man ihr an, was passiert war?
Der Gedanke, Madame Olga danach zu fragen, entlockte Isabelle ein

schwaches Lächeln. Sicher wäre ein entsetzter, prüder Aufschrei der
alten Dame die einzige Antwort. Arme Madame. Vermutlich hatte
Pierre ihr die Hölle heiß gemacht und mit sofortiger Kündigung
gedroht, wenn sie Isabelle erneut ihrer Aufsicht entkommen sollte. Eine
Drohung, die die alte Dame mit Sicherheit fürchtete, denn ein zweites
Mal würde sie eine solche Stellung nicht bekommen. Dann bliebe nur
noch die winzige Rente und das schäbige Zimmer in Frejus, das sie
bewohnt hatte, ehe sie zu Isabelle zog.

Resignation und Schweigen schienen wie ein dichter Schleier über

dem ganzen Haus zu liegen. Isabelle drängte sich unwillkürlich der
makabere Vergleich mit einer stillen Gruft auf. Würden ihre Tage von
jetzt an alle so sein?

***


Isabelle verlor das Gefühl für Zeit. Ab und zu schlief sie ein

bißchen, und sie hatte keine Ahnung, wie weit der Tag fortgeschritten

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war, als ein leises Geräusch an ihrer Terrassentür sie zusammenfahren
ließ.

Eine Art Kratzen, als würde draußen jemand versuchen, die

Lamellenflügel zu öffnen, die von innen mit einem eisernen Kippriegel
gehalten wurden.

Isabelle tastete nach der Uhr. Zwanzig Minuten vor neun Uhr. Es

mußte längst dunkel sein. Einbrecher?

Barfuß huschte sie zur Tür und hörte dann fassungslos die leise

Stimme.

- Isabelle, bist du da drin? Mach auf bitte… schnell!
- Jason? - Isabelle tastete ungeschickt nach dem Riegel und lag

schließlich in Jasons Armen. Ihre Lippen fanden sich in einem
fieberhaften, endlosen Kuß. Jason roch nach Wind und Meer. Isabelle
klammerte sich wie eine Ertrinkende an ihn.

- Warum warst du nicht unten in der Bucht? Ich bin dreimal

herübergekommen. Nie warst du da… ich bin fast verrückt geworden
vor Sehnsucht nach dir. Weißt du, daß es das erste Mal in meinem
Leben ist, daß ich mich als Einbrecher betätige?

Atemlos und völlig hingerissen lauschte Isabelle seinen Worten.

Alle Vorsätze, alle Hemmungen, waren vergessen. Sie spürte nur seine
starken Hände, die ihren Körper durch das seidige Gespinst ihres
Nachthemdes streichelten.

Sie preßte sich an ihn, genoß das unverhoffte Geschenk, ihm so

erregend nahe zu sein.

- Jason… Jason… - stammelte sie immer wieder, - …ich bin

verrückt. Sicher wache ich jeden Moment auf und habe alles nur
geträumt.

- Ist das geträumt? - fragte er und preßte seinen Mund auf ihren.

Isabelle bebte unter dem heißen Drängen seiner Zunge und gab die
leidenschaftlichen Zärtlichkeiten ebenso heftig zurück. Sie schmolz
förmlich in seinen Armen.

- Isabelle, mein Liebes. Treibt sich dein Bruder noch hier herum?

Wenn er meint, daß er mich so einfach los wird, kann ich ihn nur eines
Besseren belehren.

Sie lachte nervös.

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- Pierre würde sich hüten, die Polizei zu alarmieren. Nicht mal in

Frankreich wird die Tugend der Mädchen von der Gendarmerie
geschützt. Pierre macht sich nur wichtig - wie immer. Er hat sogar eine
Auskunft über dich eingeholt!

- Verheerend, was? - In Jasons Stimme klang verhaltenes Lachen

mit.

Isabelle lächelte.
- Und ob. Du bist ein wilder Frauenheld, ein böser Mitgiftjäger, der

es nur auf mein Geld abgesehen hat und ein schlimmes Leben führt.
Stimmt es, daß du noch kein einziges Buch veröffentlicht hast, Herr
Schriftsteller?

- Ja, das stimmt, und jetzt fragt sich dein Bruder, warum ich nicht

wie der arme Poet in der Dachkammer verhungere, sondern in St.
Tropez kleinen Mädchen nachlaufe?

- Kleine Mädchen gingen ja noch, aber reiche Erbinnen sind tabu!
- Und was fragst du dich?
Isabelle legte die Arme um Jasons Taille und preßte ihren Kopf an

seine Brust.

- Nichts. Ich weiß alles. Ich weiß, daß ich wahnsinnig werde, wenn

du mich nicht augenblicklich in deine Arme nimmst und mich liebst.
Ich weiß, daß ich keine anständige höhere Tochter bin, daß meine
niederen Instinkte viel zu sehr überwiegen. Ich glaube… nein, ich weiß,
daß ich dich liebe!

Isabelle fühlte sich aufgehoben von Jasons Armen und fand sich auf

ihrem Bett wieder. Die Terrassentür war einen Spalt aufgeblieben, so
daß silbernes Mondlicht das Mädchen im weißen Gewand in eine
Märchenfee verwandelte.

- Was hast du nur für ein aufreizendes und sündiges Gewand an, -

spöttelte Jason liebevoll und lüftete die hauchfeinen Seidenfalten über
Isabelles Hüften. - Hast du mich erwartet? Ich warne dich, du wirst die
Konsequenzen tragen müssen.

Isabelles Hände schlüpften unter sein T-Shirt und streichelten seinen

muskulösen Rücken. Dann wanderten ihre Finger zur Gürtelschnalle
und öffneten den Reißverschluß seiner Jeans.

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Sie legte sich keine Rechenschaft darüber ab, was sie tat. Sie war

nur von einem drängenden Gedanken besessen, zu lieben und geliebt zu
werden.

Jason ließ sich von ihrer Leidenschaft mitreißen. Er spürte, wie ihr

Körper unter dem dünnen Stoff glühte.

Sie gönnten sich beide keine Zeit für langsame Zärtlichkeiten,

sondern stürzten sich sofort in eine wilde Vereinigung.

Schlagartig wußte Isabelle, warum dieser Tag so entsetzlich leer und

sinnlos gewesen war. Sie konnte nur noch durch Jason fühlen und
leben. Und während sie aneinandergeklammert in ungeahnte Höhen
taumelten, wunderte sie sich darüber, wie es ihr gelungen war, so lange
Jahre mit ihrem Körper zu leben, ohne ihn genau zu kennen.

War das Liebe, dieses gleißende Entzücken, dieses Fliegen auf

Wolken voller Zärtlichkeit? Dieses bedingungslose Vertrauen zu einem
Mann, den sie noch nie gesehen hatte? Einfach wunschlos glücklich in
seinen Armen vergehen zu wollen?

Zum ersten Mal, seit sie in diese entsetzliche, verunsichernde

Dunkelheit versunken war, hatte Isabelle das Gefühl, daß ihr nichts
Böses mehr passieren konnte.

Langsam beruhigte sich das wilde Trommeln ihrer Herzen, und

Isabelle nahm die Wirklichkeit wieder wahr. Ihre Fingerspitzen
verrieten ihr, daß Jason die Augen geschlossen hatte, daß sich seine
Brust in heftigen Atemzügen hob und senkte und er sie fast schmerzend
fest an sich gepreßt hielt.

Flüchtig dachte sie an Pierre. Wie sollte er jemals Verständnis für

eine Leidenschaft dieser Art aufbringen? Er würde nie damit
einverstanden sein, daß sie bei Jason blieb. Ganz abgesehen davon, daß
Jason noch gar nicht gesagt hatte, ob er das überhaupt wollte.

Er schien ihre Gedanken lesen zu können.
- Du weißt, daß du so nicht weiterleben kannst, Cherie. Du darfst

deinem Bruder nicht erlauben, über dich zu bestimmen!

- Und wie stellst du dir meinen Zwergenaufstand vor? Soll ich Pierre

das Haus verbieten? - Ihr Spott klang nicht ganz echt.

- Rede keinen Unsinn. Als erstes wirst du mit mir nach Paris zu

Professor Lockwood fahren und dich endlich seiner berühmten
Therapie unterziehen.

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Isabelle erstarrte.
- Nein! Jason, ich kenne die Berichte. Du hast ja keine Ahnung, wie

quälend es ist, pausenlos sinnlose Tests und Untersuchungen über sich
ergehen lassen zu müssen.

- Du wirfst eine reelle Chance weg, gesund zu werden. Tu es mir

zuliebe, wenn du selbst nicht den Mut dazu hast!

- Jason, du phantasierst, - beschwerte sich Isabelle. - Soll ich

vielleicht zu Pierre sagen: Lieber Bruder, ich fahre mit diesem
verkrachten Genie, diesem Mitgiftjäger Jason Jeffers nach Paris, bitte
kauf mir eine Fahrkarte und laß mich in Frieden.

- Warum nicht! - Jason rüttelte sie. - Du kannst tun, was du willst.

Hör auf, dich selbst zu bedauern!

Sie schmiegte sich an ihn und seufzte.
- Wenn man dich so hört, klingt das alles ganz einfach und leicht,

aber wenn ich wieder allein bin…

- Du bist nicht mehr allein, Cherie. Begreife das doch endlich. Du

hast mich!

Geborgen in seinem Arm und eingehüllt in seine zärtliche Stimme,

war Isabelle fast bereit, zu glauben, was er sagte. Sie wollte so gerne
den Traum dieser Sommernacht mit ihm träumen, während der Duft
nach Meer, Ginster und den ersten Rosen ins Zimmer zog.

In der Nacht waren sie gleichberechtigt, nur auf ihre Fingerspitzen,

ihre Hände und die Kontakte ihrer Haut angewiesen.

Jason zog die leichte Decke über ihre erhitzten Körper und wachte

über Isabelles Schlaf. Sie kam erst wieder zu sich, als er sie sanft auf
die Schläfe küßte.

- Es ist nicht mehr lange dunkel. Ich muß gehen, ehe dein

Wachpersonal Alarm schlägt. Wirst du noch einen Tag Geduld haben
können?

Schlaftrunken fragte sich Isabelle, was er wohl meinte. Jason klärte

sie auf.

- Ich habe mir alles überlegt, während du schliefst. Wir werden

fliehen. Einfach bei Nacht auf und davon, wie im schlechten
Liebesfilm. In Paris, wenn du in Professor Lockwoods Klinik bist,
kannst du deinem Bruder Nachricht geben.

- Bist du sicher, daß sich das in die Tat umsetzen läßt?

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- Und ob. Kannst du hier im Haus jemandem so vertrauen, daß er dir

heimlich einen Koffer packt? Oder schaffst du das selbst?

Isabelle schüttelte den Kopf.
- Ich weiß nicht mehr, wem ich vertrauen kann und wem nicht. Ich

werde selbst versuchen, alles zusammenzutragen.

- Gut. Ich komme, sobald es dunkel ist. Laß dir nichts anmerken.

Verbring den Tag so wie immer. Du schaffst es, ich weiß es. Ich werde
ununterbrochen an dich denken!

Isabelle zog die Decke fest um sich während Jason in seine Sachen

schlüpfte. Ein letzter zärtlicher Kuß, ein leises Knarren der Läden, und
dann hätte sie diese Nacht auch geträumt haben können.

Aber das Kissen bewahrte noch Jasons Duft und die Stelle des

Lakens, auf der er gelegen hatte, war noch warm. Isabelle warf sich mit
ausgebreiteten Armen darüber und schlief wieder ein.

***


Ungewohntes Hin und Her in ihrem Zimmer schreckte Isabelle auf.

Einen Herzschlag lang lag sie reglos und lauschte. Schritte, das
Geraschel von Kleidern, leise schwingende Schranktüren.

- Madame Olga? - fragte sie müde.
- Isabelle! Guten Morgen. Du hast schon lange nicht mehr so fest

geschlafen. Es ist zwanzig Minuten nach zehn.

Isabelle gähnte und streckte sich.
- Was machen Sie in meinem Zimmer?
- Ach, Isabelle… - Die Matratze senkte sich, und Madames weiche

Hand berührte ihren Arm. - Ich will mich ja nicht beschweren, aber die
Anweisungen deines Bruders sind seltsam konfus. Heute morgen hat er
angerufen und angeordnet, daß die Villa geschlossen wird. Lediglich
Constant soll ab und zu nach dem Rechten sehen. Wir werden nach
Grasse ziehen. Ich habe bereits begonnen, deine Sachen zu packen. Der
Wagen wird am frühen Nachmittag geschickt. Ich weiß nicht, wie
Monsieur Delorme sich das vorstellt. Man kann doch einen ganzen
Haushalt nicht an einem einzigen Tag auflösen.

Völlig gelähmt ließ Isabelle diesen Sturzbach aus Worten über sich

ergehen. Zu Pierre nach Grasse? In das alte Haus der Großeltern?

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Bereits in wenigen Stunden? Und Jason? Sie wagte nicht, den
Gedanken zu Ende zu führen.

Während jedoch die normale Morgenroutine ablief, wurde ihr klar,

daß Pierres Einfall eine Menge Vorteile hatte. Von selbst brächte sie
nie die Kraft auf, mit Jason Schluß zu machen. Beruhte diese ganze
leidenschaftliche Liebe nicht auf einer Illusion?

- War nicht auch die Hoffnung, die Jason in der vergangenen Nacht

in ihr wachgerufen hatte, bei Tageslicht betrachtet unhaltbar? Zu genau
erinnerte sich Isabelle an den Abschlußbericht von Professor
Lockwood, den Pierre ihr vorgelesen hatte. Da war nicht die kleinste
Hoffnung für sie geblieben. Außerdem war der Professor ein alter
Freund der Familie. Er würde doch sofort anrufen, sollte es neue
Entwicklungen oder Heilungschancen für sie geben.

Nein, sie mußte die Tatsachen akzeptieren. Jason belog sich selbst

und sie. Irgendwann würde eine blinde Frau zur Belastung für jeden
gesunden Mann werden. Wenn die leidenschaftliche Liebe mit dem
Alltag konfrontiert wurde, kämen die Probleme und das Ende.

Pierre hatte ihr ahnungslos einen Gefallen getan. Er zeigte ihr einen

Ausweg, eine Lösung ihrer Probleme.

Und Jason? Isabelle biß sich auf die Unterlippe, daß es schmerzte.

Sollte sie ihn anrufen, ihm schreiben, sich verabschieden? Sie entschied
sich dagegen.

Warum auch Jason mit der Trauer und der Verzweiflung belasten. Er

sollte das kleine Abenteuer von St. Tropez schnellstens vergessen. Der
Ärger über ihren plötzlichen Abschied wurde ihm dieses Vergessen
noch erleichtern.

Resigniert und nahezu erleichtert, daß ihr eine Entscheidung

abgenommen worden war, nahm Isabelle das Durcheinander des
Umzugs kaum zur Kenntnis. Sie fühlte sich so weit weg von allen
Dingen, und der alte, sehr verführerische Gedanke aus der ersten Zeit
ihrer Krankheit tauchte wieder auf.

Wäre es eine Lösung, einfach Schluß zu machen, aufzugeben?

***

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Jason traute seinen Augen nicht, als er nach Einbruch der Dunkelheit

über die Ziegelmauer kletterte, die Isabelles Garten umschloß. Die
Villa lag verlassen im Mondlicht.

Alle Läden waren dicht, mit Ketten gesichert, die Türen versperrt,

die bunten Gartenmöbel verschwunden.

Ein leeres Haus, in dem nie ein Mädchen mit rotgoldenen Haaren

und traurigen dunkelblauen Augen gelebt hatte? Ein Spuk, ein Traum,
ein Zauber?

Es dauerte Tage, bis Jason erkannte, daß es wohl Isabelles Absicht

gewesen war, dieses wortlose Verschwinden. Irgendwann gab er es auf,
eine Nachricht zu erwarten, auf einen Anruf zu hoffen. Das war der
Moment, in dem er den sonnigen Süden nicht mehr ertragen konnte.

Im intensiven Blau des Meeres suchte er nach Isabelles Augen, und

die Glut der Sonnenuntergänge gaukelte ihm die Erinnerung an die
goldenen Reflexe auf ihrem Haar vor.

Er packte seine Koffer und ging wieder auf Reisen.

***


Die beiden Männer, die sich in der halbdunklen, holzgetäfelten

Bibliothek

gegenübersaßen,

blickten

schweigend

auf

das

Naturschauspiel draußen vor den Fenstern.

Der böige Wind jagte drohende Wolkentürme über die Wipfel der

hohen alten Bäume des weitläufigen Parkes. Blitze zuckten, und ferner
Donner grollte. Abgerissene Blätter tanzten im Sturm, und das leichte
Brausen des Stadtverkehrs ging im Getöse eines Sommergewitters
unter, das sich an diesem Nachmittag mit Urgewalt über Paris entlud.

Der jüngere der beiden hatte das Kinn auf seine Hände gestützt.

Seine hellen Augen blickten düster, und die ausgeprägten Falten, die
sein jungenhaftes Gesicht so männlich und herb erscheinen ließen,
wirkten tiefer als sonst.

Besorgt musterte Professor Brian Lockwood seinen Freund. Jason

sah noch elender aus, als er ihn in Erinnerung hatte. Seit Jason seinen
Aufenthalt in St. Tropez so abrupt abgebrochen hatte, war er ohne
Nachricht geblieben. Vor genau einer Stunde war er dann vor der

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Klinik, deren weit verzweigter Gebäudekomplex im großen Park lag,
aus dem Taxi gestiegen.

Geduldig respektierte der Professor das Schweigen des anderen.

Jason würde reden, wenn ihm danach zumute war. Endlich kam Leben
in die reglose Gestalt.

Jason deutete lässig nach draußen, wo nun auch der Regen

losgebrochen war.

- Wenn du wissen möchtest, wie es in mir aussieht, schau nach

draußen!

Brian Lockwood hob sein halbvolles Cognac-Glas, trank einen

Schluck und erkundigte sich:

- Willst du darüber reden?
Jason lachte bitter auf.
- Wenn ich nicht mehr weiter weiß, lande ich immer bei dir, was?
- Das war früher nicht so, Jason. Bist du immer noch dabei, alles zu

zerstören, was in dir stark, gut und wichtig ist?

Man sah Jason an, daß ihn diese Worte getroffen hatten, aber er ging

nicht darauf ein.

- Okay, ich muß mit jemandem über die Geschichte reden, sonst

werde ich verrückt. Du erinnerst dich an meinen letzten Anruf?

- Deine Frage nach Isabelle Delorme, über deren Ursache du so

hartnäckig geschwiegen hast? Hör mal, ich bin zwar schon
fünfundvierzig, aber deswegen noch lange nicht verkalkt.

Jason grinste schwach, dann berichtete er in allen Einzelheiten, was

sich in St. Tropez zugetragen hatte.

- Und was hast du gemacht, als die Villa verschlossen war? - Brian

Lockwood beugte sich interessiert vor.

- Was sollte ich tun? Zur Polizei gehen? Isabelle suchen? Hätte sie

gewollt, daß ich bei ihr bleibe, hätte der kleinste Anruf, die winzigste
Zeile genügt. Ich hatte ihr meine Telefonnummer gegeben. Sie rief aber
nicht an. Ganz egal ob ihr Bruder etwas damit zu tun hat oder nicht, es
war auch in ihrem Sinn, Schluß zu machen. Das darfst du mir glauben.
Sie ist eine der dickköpfigsten und zielbewußtesten Frauen, die ich je
kennengelernt habe.

Der Professor beugte sich vor, um eine Stehlampe anzuknipsen, da

das Unwetter den Raum in Dunkelheit tauchte.

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- Und was willst du jetzt machen? Daß du ziellos in der Welt

herumfährst, kann doch nicht das Nonplusultra sein? Du verschwendest
mit Absicht leichtsinnig ein begnadetes Talent. Du hast nicht das Recht
dazu - aber das habe ich dir schon so oft gesagt, daß es mich selbst
langweilt.

Er brach ab, und Jason verzog das Gesicht zu einer traurigen

Grimasse.

- Bitte, Brian, nicht wieder die alte Platte. Wenn ich wüßte, was mit

mir los ist, könnte ich ja etwas tun, aber so… Ich bin unruhig, ich
mache mir Sorgen. Ich habe das deutliche Gefühl, daß ich mich um
Isabelle auch gegen ihren Willen kümmern sollte. Wie erklärst du dir
zum Beispiel, daß sie aus deinen Berichten herausgelesen haben will,
daß absolut keine Heilungschancen für sie bestehen? Du behauptest das
Gegenteil. Isabelle ist nicht dumm, also stimmt da doch etwas nicht.
Belügt sie sich mit Absicht selbst? Kennt sie die Wahrheit gar nicht? Ist
sie in Gefahr…?

Da der Professor Jasons Schicksal kannte, wußte er, welche Frage

der andere nicht zu artikulieren wagte.

- Du möchtest wissen, ob Isabelle Delorme labil genug ist, um einen

Selbstmord als Ausweg zu sehen?

Jason nickte. Einen Moment schwieg Lockwood, dann schüttelte er

energisch den Kopf.

- Ich will nicht ausschließen, daß sie den Gedanken erwogen hat,

aber ich bin sicher, daß sie stark genug ist, um der Versuchung zu
widerstehen. Denk nur mal an dein Erlebnis mit ihr. Welches blinde
Mädchen bringt schon den Mut auf, sich in ein solches Abenteuer mit
einem Unbekannten zu stürzen? Sie hätte gewaltig hereinfallen können.
Nein, die einzige Gefahr, die ich sehe, liegt in der Tatsache, daß sie
sich eines Tages mit ihrem Bruder bestimmt in die Haare geraten wird.

- Ein reizendes Ekel. Ich habe mir überlegt, ob ich ihn verprügele!
Der Professor achtete nicht auf diese Worte. Er gab sich einen

merkbaren Ruck.

- Jason, ich muß dir etwas sagen. Es gibt eine sehr seltsame Sache in

dieser Familie. Leider habe ich mich erst nach deinem Anruf daran
erinnert. Möglicherweise - wenn ich deine Erzählungen bedenke - liegt
eine Menge Zündstoff in dieser Information. Isabelle Delorme ist ein

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sehr reiches Mädchen. Die Firma Delorme-Cosmetics, die sie von ihrer
Mutter geerbt hat, hat weltweit einen ausgezeichneten Ruf. Der
Stammsitz des Unternehmens wurde in Grasse gegründet. Die
Südfranzosen sind auf ihre Eigenständigkeit und ihren Dickkopf ganz
besonders stolz.

- Der Patriarch dieser Familie war da keine Ausnahme. Seine

Erbbedingungen waren geradezu alttestamentarisch. Meine Mutter hat
sich immer darüber amüsiert. Isas Großmutter setzte als einziges Kind
ihren Willen durch und heiratete einen gutaussehenden, mittellosen
Arbeiter. Ihr Vater war wütend, konnte es aber nicht verhindern, also
bestimmte er in seinem Testament, daß jeweils die älteste Tochter
alleinige Besitzerin der Werke wird.

- Existiert keine Tochter, fällt das Vermögen einer gemeinnützigen

Stiftung zu. So kommt es, daß bei den Delormes Geld und Macht
ausschließlich in den Händen der Frauen liegen. Männer dürfen
mitarbeiten. Zu sagen haben sie nichts.

- Verrückt, - staunte Jason. - Und die Söhne?
- Bekommen ihren normalen Pflichtteil, aber keinerlei Macht in der

Firma. Da Isabelle jedoch ihre ursprüngliche Aufgabe als Firmenchefin
nicht wahrnehmen kann, ist nach außen hin Pierre der Boß. Er hat
keinerlei echte Verfügungsgewalt. Alle Anweisungen müssen von
Isabelle gegengezeichnet werden.

- Und damit sie das auch brav tut und ja nicht aufzumucken wagt,

hält er sie in einer Art goldenem Käfig gefangen! - beendete Jason die
Erzählung.

Brion Lockwood zuckte mit den Schultern, man sah ihm an, daß

auch er diesen Gedanken erwog.

Jason hielt es nicht mehr in seinem Sessel. Er sprang erregt auf und

durchmaß den Raum mit weit ausgreifenden Schritten.

- Das bedeutet doch auch, daß Pierre ein dringendes Interesse daran

hat, daß Isabelle unverheiratet bleibt und keine Kinder bekommt. Sonst
ist seine Machtposition in Gefahr. Wobei die Sache mit den Kindern ja
sowieso dank des Unfalls erledigt ist.

- Was willst du damit sagen? - Der Professor sah verwundert auf. -

Seit wann bekommt man keine Kinder mehr, wenn man
Kopfverletzungen hat?

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- Aber Isabelle hat es selbst behauptet…
Die beiden Männer blickten sich an. Und beide dachten das gleiche.
- Pierre?
Jason nickte.
- Natürlich, er mußte ihr so etwas sagen, um ihr von Anfang an jede

Idee an Liebe und Heirat auszutreiben. Es paßt unheimlich gut zu
seinem Auftritt, zu seinen Beschimpfungen und zu der Tatsache, daß er
Isabelle weismachen wollte, daß ich ein wilder Frauentyp bin, der von
einer zur anderen flattert.

- Weißt du, was du da behauptest? - Brian Lockwood stocherte in

seiner Pfeife. - Im Klartext meinst du, daß Pierre seine Schwester
hermetisch von der Welt abriegelt, vielleicht sogar ihre Heilung
verhindert, weil er kein Interesse daran hat, daß sie jemals wieder
gesund wird. Eine gesunde Isabelle könnte ihre Arbeit in der Firma
aufnehmen, und Pierre, der so gern den Chef spielt, stände auf der
Straße.

Jason stemmte die Hände auf die Armlehnen des Sessels und sah

dem Freund aus nächster Nähe in die Augen.

- Grasse, hast du gesagt? Könnte es sein, daß Isabelle in Grasse ist?
- Keine Ahnung, Jason. Der Hauptsitz ist in Grasse, aber die

Geschäfts-Zentrale ist hier in Paris. Ein hypermodernes Bürogebäude
an den Champs-Elysees. Willst du Pierre Delorme dort aufsuchen?

- Darauf kannst du Gift nehmen! Begreifst du denn nicht, ich muß

Isabelle wiederfinden, um jeden Preis! Ich liebe sie! Ich werde nicht
zulassen, daß ihr verrückter Bruder ihr Leben ruiniert!

- Wenn du doch mal für dich selbst und deine eigenen Probleme so

viel Energie und Zielstrebigkeit aufbrächtest, Jason! - konterte Brian
Lockwood. - Warum willst du nicht wieder arbeiten? Hör auf,
herumzuzigeunern. Ich bin sicher, daß du in einem halben Jahr wieder
auftreten kannst, wenn du intensiv übst. Du weißt, daß deine Platten
noch immer verkauft werden. Du bist nicht vergessen. In der Villa
drüben lebt Renato nur für den Augenblick, in dem du endlich wieder
vernünftig wirst!

- Hör auf zu predigen. Wir haben das alles vor vielen Jahren

besprochen. Ich kann nicht. Glaub nicht, daß ich es nie versucht habe.
Aber nach Cathys Tod ist etwas in mir zerbrochen…

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Der Professor deutete auf die kleine Jugendstilvilla, deren helle

Mauern durch die Bäume schimmerten.

- Wenn Renato ein Wort davon glauben würde, hätte er längst seine

Koffer gepackt und wäre zurück in die Staaten.

Jason warf keinen Blick auf das Haus, das er mit so vielen

Erwartungen und Träumen eingerichtet hatte.

- Renato ist ein Träumer… - murmelte er, aber es klang etwas wie

widerwillige Bewunderung durch seine Worte.

- Du weißt selbst, daß du Unsinn redest. - Brian Lockwood beharrte

auf dem Thema. - So leicht wimmelst du mich nicht ab. Wenn du so
weitermachst, werde ich dir noch mit hundert Jahren bestätigen, daß du
ein trauriger Idiot bist, der sich in seinem Selbstmitleid suhlt. Cathy ist
seit acht Jahren tot. Willst du dir ewig die Schuld daran geben?
Abgesehen davon, daß du keine hast? Cathy war ein verwöhntes,
entzückendes, kleines Biest, dem immer alles nach der Nase gegangen
ist. Sie hatte den großzügigsten Vater, die besten Zeugnisse,
logischerweise auch den talentiertesten und attraktivsten Verlobten.
Glaubst du, sie hätte dir einen Blick zugeworfen, wenn du
durchschnittlich ausgesehen und in einer Bank gearbeitet hättest? Ich
bestätige dir gerne, daß ihr Unfall tragisch und die Folgen entsetzlich
waren, aber nur ein Egoist wie Cathy konnte einen Selbstmord begehen
und ihn auch noch mit einer Menge pathetischer Abschiedsbriefe
garnieren.

- Für einen Mediziner bist du bemerkenswert brutal!
Brian Lockwood lachte auf.
- Eine Grundvoraussetzung für meinen Beruf. Wenn du nicht ehrlich

sein kannst, laß die Finger von Patienten. Ich…

Er verstummte, als er das verzweifelte Gesicht seines Freundes sah.

Er ertrug es einfach nicht, daß Jason die leichtsinnige Cathy mit einem
Glorienschein versah, daß er alles für sie aufgab, daß ihr Tod ihn völlig
aus der Bahn warf.

Ob Isabelle Delorme zu einem Rettungsanker für Jason werden

könnte? Seit Jahren hatte er sich nicht mehr so intensiv um einen
anderen Menschen gekümmert. Die Frage war nur, wo war Isabelle?

***

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Isabelle ahnte nichts von Jasons Unruhe. Die endlosen Tage, die sie

in der kleinen schäbigen Pension am alten Hafen in Nizza verbrachte,
zerrten an ihren Nerven.

Warten, immer wieder warten, ob es Madame Olga gelang, die

wenigen Schmuckstücke, die sie ihr gegeben hatte, einigermaßen
günstig zu verkaufen.

Jetzt bedauerte Isabelle, daß sie sich nach dem Tod ihrer Mutter

geweigert hatte, den Familienschmuck zu tragen. Die überladenen
Ringe, Colliers und wuchtigen Broschen waren ihr damals ganz und gar
nicht passend zu Jeans und modischen Kleidern erschienen.

- Tu die Klunkern in einen Banksafe, sonst klaut uns noch jemand

die Scheußlichkeiten! - hatte sie Pierre angewiesen und ohne Bedauern
davon Abschied genommen.

Jetzt waren ihr nur ein kleines, perlenbesetztes Medaillon, ein

schlichter Diamantreif und zwei Goldketten zum Versetzen geblieben.
Schade, daß sie das Medaillon nicht behalten konnte. Sie hatte es
besonders geliebt.

Es war das romantische Verlobungsgeschenk von Großvater an

Großmutter gewesen, aber sie hatte jetzt keine Zeit für
Sentimentalitäten. Sie mußte viel bedenken…

Isabelle erkannte Madames Schritte bereits auf dem Flur. Ein

bißchen außer Atem von den vier steilen Treppen, schnaufte Olga ins
Zimmer und sank auf einen knarrenden Stuhl.

- Nun? - Ungeduldig wandte ihr Isabelle das Gesicht zu.
- Sechstausend Francs, mehr hat mir der Juwelier nicht geboten. Ich

habe gehandelt und gestritten wie ein Marktweib, aber er blieb eisern.

- Sechstausend Francs. - Isabelle überlegte. - Egal, Madame Olga,

damit kommen wir ein Stück weiter. Es reicht in jedem Fall für die
Fahrkarten nach Paris und für ein paar Hotelübernachtungen. Ich bin
sicher, daß mir Professor Lockwood irgendwie helfen wird. Er weiß ja,
daß er sein Geld zurückbekommt.

Olga Tamerkowa hatte ihren Atem endlich wieder unter Kontrolle.
- Ich habe die Fahrkarten bereits gekauft. Ich dachte, daß es keinen

Sinn hat, unnötig länger Geld für dieses prachtvolle Zimmer hier
auszugeben. Was meinst du?

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Isabelle lachte fröhlich.
- Wirklich, Madame, Sie entwickeln ungeahnte Qualitäten. Ich

wußte nicht, daß Sie ein so guter Entführer und Reisemarschall sein
können.

- Mach keine Witze, Kind. Das ist das Mindeste, was ich tun konnte,

als ich begriffen hatte, bei welch schäbigem Spiel ich ahnungslos
mitgeholfen habe.

Isabelle konnte es immer noch nicht ganz fassen. Gerade Madame

Olga, von der sie gedacht hatte, daß sie Pierre total ergeben sei, hatte
die rücksichtslosen Pläne ihres Bruders aufgedeckt. Sie hatte ihre
sichere Stellung aufs Spiel gesetzt, um ihr zu helfen. Olga wußte auch,
welche Frage Isabelle noch besonders am Herzen lag.

- Ich habe mit Madame Doras telefoniert, Kind. Ihr Mieter… - sie

vermied es, den Namen auszusprechen, - …ist wenige Tage nach
unserem Verschwinden ebenfalls abgereist. Er hat keine Adresse
hinterlassen. Dummerweise hat Madame auch den polizeilichen
Meldezettel nicht ausfüllen lassen. Sie wußte nur, daß er sich ein Taxi
zum Flughafen in Nizza bestellt hat.

Isabelle nickte. Sie hatte nichts anderes erwartet. Jasons überstürzte

Abreise zeigte deutlich, wie enttäuscht und gekränkt er gewesen sein
mußte.

Aber es war zu spät, diesen Fehler zu korrigieren. Sie mußte jetzt

allein weiterkommen.

Madame Olga legte ihr tröstend die Hand auf die Schulter.
- Mut, Isabelle. Wir schaffen es, ich werde dir helfen.
- Danke, Olga. - Zärtlich berührte Isabelle mit ihrer Wange die

Hand. - Danke für alles…

Den größten Teil der Nachtfahrt im Express von Nizza nach Paris

nahm Isabelle gar nicht richtig wahr. In eine Ecke des Abteils gelehnt,
überließ sie sich ihren Gedanken.

So viel war in den vergangenen Monaten passiert, daß sie manchmal

das Gefühl hatte, nur zu träumen. Die ersten Wochen in der alten Villa
in Grasse, die schon seit über hundert Jahren auf dem
Firmengrundstück stand, hatte sie wie in Trance verbracht. Sie litt
schrecklich unter dem Abschied von Jason und begriff selbst nicht, wie

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sie in diesen wenigen Stunden eine so intensive Verbindung zu diesem
Mann bekommen hatte.

Sie fügte sich in diesem Schmerz kommentarlos allen

Reglementierungen ihres Lebens, die Pierre befohlen hatte. Daß ihr
Pierre verbot, in den Garten zu gehen, ihre Ballettübungen strich und
ihr Leben dem einer Gefangenen glich, kam ihr gar nicht zu
Bewußtsein.

Sie verbrachte ganze Tage auf dem Bett liegend, eingesponnen in

eine Traumwelt und ohne Kontakt zur Wirklichkeit. Sie war unendlich
müde, aß kaum und wurde immer blasser. Ihre Lethargie begann
Madame Olga mehr und mehr zu besorgen.

Sie war eine rebellische, tatkräftige, fast launische Isabelle gewöhnt,

die gegen ihr Schicksal ankämpfte, die sich ständig dagegen verwahrte,
wie eine Kranke behandelt zu werden.

Dieses abwesende, träumende Mädchen jagte ihr Angst ein. Sie

sprach mit Pierre Delorme über Isabelles seltsame Veränderung.

- Drängen Sie sie nicht, Madame, - hatte Pierre Delorme gesagt. -

Lassen Sie sie in Ruhe. Sie muß selbst entscheiden, was sie tut. Wir
können sie ja nicht zum Essen zwingen.

- Aber, Monsieur, das Kind sieht krank aus.
- Das muß nicht Ihre Sorge sein, Madame!
Diese kühle Antwort hatte Olga entsetzt und zum Nachdenken

veranlaßt. Auch die Tatsache, daß er sich weigerte, einen Arzt kommen
zu lassen, der Isabelle untersuchte, ließ sie erkennen, wie wenig Pierre
an der Gesundheit seiner Schwester lag. Jetzt protestierte Madame
gegen die Beschränkungen in Isabelles Leben. Sie forderte frische Luft,
mehr Bewegung. Doch Pierre stoppte diese Opposition brutal und
rücksichtslos.

- Wenn Sie sich als Gesellschafterin meiner Schwester nicht mehr

wohlfühlen, Madame, können Sie ja kündigen. Ich bin sicher, daß ich
jederzeit eine andere, fähige Pflegerin für sie bekomme.

Pflegerin! Als ob Isabelle krank wäre oder bettlägerig!
Es war schließlich Mitte Juni, und sogar in der benzinverseuchten

Luft von Grasse lag ein Hauch des blühenden, betäubend duftenden
Lavendels, der um diese Zeit auf den Feldern rund um die Stadt
geerntet wurde.

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Zuerst hatte Madame Olga an eine Täuschung geglaubt, aber dann

war sie sich über die Ursache von Isabelles Krankheit relativ sicher.

Tödlich blass war Isabelle nach dem Aufstehen ins Bad getaumelt

und hatte sich in einem würgenden Anfall übergeben. Den prüfenden
Blick, mit dem Madame beim Ankleiden ihre Figur musterte, konnte
Isabelle weder fühlen noch wahrnehmen.

Sie wußte nur, daß sie am liebsten auf der Stelle gestorben wäre. Ihr

war in den letzten Tagen ständig übel, und der scheußliche Brechreiz
raubte ihr die letzte Kraft.

Madame Olga schwieg über ihre Vermutungen, bis sie völlig sicher

war. Dann stand ihr Entschluß fest. Isabelle war offensichtlich
ahnungslos. Sie mußte mit ihr reden. Obwohl sie sich tagelang den
Kopf über die richtigen Worte und Formulierungen zerbrach, fiel sie
dann doch mit der Tür ins Haus.

- Isabelle, ist dir eigentlich bewußt, daß du ein Kind erwartest?
- Ein Kind? Ich? - Im ersten Moment fragte sich Isabelle verblüfft,

von wem Madame Olga sprach. Ein Kind? Sie? Unmöglich! Pierre
hatte doch gesagt…

- So ein Blödsinn. Nach dem Unfall kann ich doch gar keine Kinder

bekommen! - platzte sie heraus.

- Isabelle! - Madame legte beruhigend ihre Rechte auf die zitternden

Hände. - Obwohl ich keine Kinder habe, kenne ich als Frau die
Symptome einer Schwangerschaft. Ich weiß zwar nicht, wie du es fertig
gebracht hast, aber meiner Meinung nach bekommst du ein Baby. Ich…

Olga stockte. Das Weitersprechen fiel ihr schwer.
- Ich habe einen Test besorgt, den du machen kannst, ehe du einen

Arzt aufsuchst. Wenn du also möchtest…

Das Testergebnis war klar gewesen und hatte Isabelle mit einem

Schlag wieder auf die Beine gebracht.

Ein Baby! Jasons Kind! Allein diese Worte zu denken, bedeutete,

von heißer Freude überflutet zu werden.

Nächstes Jahr um diese Zeit würde sie ein Kind in den Armen

halten. Ein Kind, das sie nie sehen würde…

Seltsamerweise

beschäftigte

Isabelle

dieses

Problem

am

allerwenigsten. Schlagartig begriff sie, daß dieses Kind nie zur Welt
kommen würde, wenn Pierre davon erfuhr.

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- Ich muß hier raus! - erklärte sie Olga mit neuerwachter Energie. -

Mein Bruder verlangt sonst mit Sicherheit, daß ich eine Abtreibung
vornehmen lasse. Ein Kind, unehelich und möglicherweise auch noch
ein Mädchen, dieses Risiko wird er nicht eingehen…

Isabelle brach ab. Sie begriff, daß sie laut ausgesprochen hatte, was

sie in ihrem Unterbewußtsein längst wußte: Pierre ging es
ausschließlich um die Firma. Die Delorme-Cosmetics waren sein
alleiniger Lebensinhalt. Eine Machtposition, die er nur behalten und
erhalten konnte, solange sie, Isabelle, blind war und nicht heiratete und
keine Kinder bekam.

Warum sonst auch diese Lüge, daß sie keine Kinder bekommen

könnte? Warum der Versuch, sie hermetisch von der Außenwelt
abzuschließen?

Madame Olga nickte. Auch sie begriff inzwischen das schäbige

Spiel.

- Und der Vater des Kindes? - warf sie vorsichtig ein und dachte an

den Nachmittag im April, als Isabelle so rätselhaft verschwunden war.

Die junge Frau unterdrückte tapfer die aufsteigenden Tränen.
- Ich habe keine Ahnung, wo er ist, Madame. Sicher ist er nicht

mehr in St. Tropez. Außer seinem Namen weiß ich nichts von ihm…

Mit Madames Hilfe war Isabelle überraschend problemlos aus

Grasse geflohen. Pierre, der nicht im geringsten damit gerechnet hatte,
daß Isabelle Hilfe bekommen könnte, fand eines Abends die
Zimmerflucht im ersten Stock leer vor.

Die beiden Frauen hatten am Vormittag die Tatsache genützt, daß

Pierre in der Firma war und das Hauspersonal emsig beschäftigt.
Niemand hielt sie auf, als sie durch den Hinterausgang ins Freie traten.
Zwei kleine Koffer, Isabelles Schmuck und Madame Olgas Ersparnisse
waren ihr ganzes Kapital.

Ihr erstes Ziel war Nizza. Dort ließ sich Isabelle von einem

Gynäkologen untersuchen.

- Kein Zweifel, junge Frau, Sie sind im dritten Monat schwanger! -

verkündete der Arzt. - Ihr Baby wird Mitte Januar zur Welt kommen!

Danach traf Isabelle eine schnelle Entscheidung.
- Ich fahre nach Paris zu Professor Lockwood. Ich muß genau

wissen, wie es um mich steht. Vielleicht hat Pierre auch auf diesem

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Gebiet gelogen. Ich bin es meinem Baby schuldig, jede Chance zu
nützen.

Und nun saß sie im Zug nach Paris und horchte in sich hinein. Sie

war nicht mehr allein! Sie erwartete Jasons Kind. Ein Baby, dem sie all
die Zuneigung geben konnte, die sie Jason verweigert hatte. Und selbst
wenn sie nicht sehen konnte, ihre Liebe würde ihre Augen ersetzen.

Die Ruhe und Gelassenheit, die Isabelle trotz ihrer ungewissen

Situation umgab, färbte auf Madame Olga ab. Jetzt, wo ihr Leben wie
durch ein Wunder einen Sinn bekommen hatte, war Isabelle wieder
eine echte Delorme. Einer jener selbstbewußten, tatkräftigen und auch
geschäftstüchtigen Frauen dieser alten Familie, denen schon ihr
Großvater mehr zugetraut hatte als den Männern.

***


Etwas hilflos blickte Olga Tamerkowa auf das Gewimmel vor dem

Hauptportal des Gare de Lyon. Der Verkehr auf dem Boulevard
Diderot brauste fast direkt an ihren Füßen vorbei und irritierte sie mit
Lärm und höllischem Tempo. Endlich entdeckte sie ein Taxi und hob
winkend die Hand.

- Sollen wir uns nicht zuerst ein Hotel suchen? - wandte sie sich

fragend an Isabelle.

Die schüttelte energisch den Kopf.
- Nein, ich möchte sofort in die Klinik. Wenn es jetzt kurz nach acht

Uhr ist, sind wir bis Sprechstundenbeginn gerade dort. Das Taxi muß
schließlich durch die ganze Stadt.

Und Frühstück? Madame Olga versagte sich die unpassende Frage.

Sie begriff, daß Isabelle im Moment nicht an derart alltägliche Dinge
dachte. Sie war endlich in Paris und würde auf der Stelle tun, wofür sie
hergekommen war.

Der Taxifahrer warf die beiden Gepäckstücke in seinen Kofferraum

und begann eine halsbrecherische Fahrt durch den morgendlichen
Berufsverkehr.

Isabelle dachte an Jason. Es kam ihr vor, als handelte sie auf seine

Anweisungen. Hatte er nicht darauf bestanden, daß sie sich erneut
untersuchen lassen sollte? Professor Lockwoods Spezialklinik hatte, als

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sie zum ersten Male dort gewesen war, gerade ihr dreijähriges Bestehen
gefeiert. Sie erinnerte sich, wie ihr Pierre die modernen, weitläufigen
Gebäude unter den alten Bäumen des Parkes mit nüchternen Worten
geschildert hatte.

- Wir werden sehen, was der Professor sagt! erklärte sie im stillen

ihrem Baby. Vielleicht hat dein Vater ja recht, und er kann mir
tatsächlich helfen. Was meinst du…?

Das Taxi bremste auf der Einfahrt, und Isabelle überließ es Olga,

sich um die Bezahlung und das Gepäck zu kümmern.

Die Schwester beim Empfang, die mit geübtem Blick die Blinde

erkannte, half Isabelle die wenigen Stufen hinauf.

- Haben Sie einen Termin beim Professor? - erkundigte sie sich

freundlich.

Isabelle schüttelte den Kopf.
- Nein, wir sind eben mit dem Nachtzug aus Nizza gekommen.

Sagen Sie dem Professor, daß Isabelle Delorme um ein Gespräch bittet.
Er kennt mich und wird sicher etwas Zeit für mich erübrigen.

- Sofort! - Die Schwester tippte ein paar Zahlen auf einer

Telefontastatur und sprach einige Worte. Ihre Antwort klang lauter und
sehr erstaunt. Isabelle hörte die wenigen Sätze.

- Ja, Herr Professor, Isabelle Delorme. Nein, sie hat es mir selbst

gesagt… natürlich… aus Nizza sagt sie… aber gewiß, sofort.

Madame Olga fiel auf, daß die Schwester Isabelle einen eigenartigen

Blick zuwarf. Die Antwort des Professors mußte sie verblüfft haben.

Hatte Pierre den Professor angerufen? Etwas besorgt folgte sie der

Schwester mit Isabelle in das Vorzimmer des Arztes.

- Einen Augenblick, der Professor wird sofort zu Ihnen kommen. -

Dann verschwand die Schwester.

Isabelles Hände waren eiskalt. Aufregung schnürte ihr die Kehle

zusammen. Die absolute Stille des Raumes wurde nur vom leisen
Summen der Klimaanlage unterbrochen. Von fern vernahm Isabelle das
Echo zweier Männerstimmen, ohne ihre Worte zu verstehen.

Dann klappte eine Tür.
- Isabelle! Sie sind es tatsächlich!
Professor Lockwood ergriff ihre Hände.
- Wo haben Sie nur gesteckt, Kind?

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Isabelle hob erstaunt die Augenbrauen.
- Das klingt, als hätte ich ein Rendezvous mit ihnen versäumt,

Professor. Hatten wir eines?

Brian Lockwood lachte.
- Genau genommen nicht, aber… nun, es geht ziemlich wild zu in

ihrer Familie. Pierre sucht Sie - wie die berühmte Stecknadel im
Heuhaufen, wußten Sie das? - Er unterbrach sich selbst. - Ich darf Sie
nicht so überfallen. Kommen Sie in mein Arbeitszimmer!

Der Professor nickte auch Madame Tamerkowa zu und öffnete

einladend die breite Tür, die in sein Arbeitszimmer führte. Als alle in
den ledergepolsterten Sesseln um einen ovalen Glastisch Platz
genommen hatten, hob Isabelle den Kopf.

- Lassen wir Pierre und seine Sorgen beiseite, Professor. Ich komme

als Patientin zu Ihnen. Und ich möchte, daß Sie sich auf Ihre ärztliche
Schweigepflicht berufen, sollte Pierre sich erneut melden. Ich möchte
nicht, daß er erfährt, wo ich bin. Unsere Wege haben sich getrennt.

Brian Lockwood sah auf Madame Olga, die zu Isabelles Worten nur

bestätigend nickte.

- Vertrauen Sie mir, Isabelle! - beruhigte er Isabelle. - Ich bin froh,

daß Sie sich endlich entschlossen haben, zu mir zu kommen. Als ich
auf meinen Bericht keine Antwort bekam, fürchtete ich schon, daß Sie
Ihre berechtigten Chancen nicht wahrnehmen wollen.

Isabelle schluckte.
- Heißt das, es… es gibt tatsächlich Hoffnung… - Sie faßte sich

mühsam. - Ich fürchte, daß ich den Inhalt Ihres Berichtes nicht so genau
kenne, wie ich ursprünglich annahm. Pierre las mir vor, daß ich
angeblich für immer blind bleiben werde.

- Also, das ist doch… - Zornig beugte sich der Professor vor und

drückte auf die Taste seiner Sprechanlage. - Schwester Marie, bitte die
Unterlagen Isabelle Delorme sofort in mein Arbeitszimmer. - Dann
wandte er sich wieder an Isabelle. - Wollen Sie mir nicht erzählen, was
passiert ist, bis der Bericht kommt.

Nervös verflocht Isabelle ihre schlanken Finger und suchte nach

Worten.

- Bis vor wenigen Wochen lebte ich in unserer Villa in St. Tropez,

das wissen Sie ja. Pierre kümmerte sich fast zu viel um mich. Er wollte

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mich in Watte packen und ließ mich nicht den kleinsten Schritt
außerhalb des Grundstückes tun. Ich… ich protestierte, aber was sollte
ich tun? Bis… also… dann… nun, nach einem fürchtlichen Krach
schloß Pierre die Villa und nahm mich mit nach Grasse. Ich will Sie
nicht mit Einzelheiten langweilen, aber ich hatte meine Gründe, Pierres
Fürsorge mit Madames Hilfe zu verlassen. Ich… ach, warum sollen Sie
es nicht wissen: Ich bekomme ein Kind!

Sie bemerkte die Überraschung des Professors und lächelte.
- Ein medizinisches Wunder, nicht wahr? Schließlich hat mir Pierre

gesagt, daß ich nach dem Unfall keine Kinder bekommen kann.

- So ein Unsinn, - polterte Lockwood los. - Sie hatten ausschließlich

Kopfverletzungen und auch die sind völlig verheilt.

- Offensichtlich. - In Isabelles Stimme klang eine gehörige Portion

Schadenfreude mit, wenn sie von Pierre sprach. - Aber da Sie unsere
Familie kennen, begreifen Sie vermutlich, daß ich nicht das Risiko
eingehen möchte, zu einer Abtreibung gezwungen zu werden. Pierre
würde gar nichts anderes übrigbleiben.

Brian Lockwood wurde nachdenklich.
- Und Sie, Isabelle? Möchten Sie Ihr Baby zur Welt bringen?
Isabelle nickte und sah plötzlich sehr traurig aus.
- Ja, Professor, und ich weiß auch, was Sie mich fragen möchten.

Wo der dazugehörige Vater ist, nicht wahr? - Ihre Stimme war nur ein
Hauch. - Ich weiß es nicht… er wird wohl nie erfahren, daß mir eine
lebendige Erinnerung an ihn geblieben ist. Ich habe ihn sehr gekränkt.
Aber hätte ich ihm erlauben sollen, sich mit einer blinden Frau zu
belasten?

Madame Tamerkowa mischte sich ein.
- Bitte, quälen Sie Isabelle nicht, Professor. Ihr Bruder hat dafür

gesorgt, daß Isabelle jeden Kontakt zu diesem Mann aufgegeben hat,
noch ehe sie wußte, daß sie ein Kind erwartet. Unsere Nachforschungen
sind leider ebenfalls erfolglos geblieben.

- Hm… - Mehr sagte der Professor dazu nicht, und Isabelle

unterdrückte die drohenden Tränen, um weiterzusprechen.

- Ich… ich habe noch ein Problem, Professor. Ich muß das

erwähnen, ehe Sie mich untersuchen. Ich habe kein Geld, Ihre
Behandlung zu bezahlen. Pierre verwaltet mein Vermögen, und ich

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besitze keinerlei Bargeld. Ich habe meinen Schmuck versetzt, aber viel
brachte das nicht. Ich nehme an, daß Ihre Rechnung sicher eine
fünfstellige Summe ausmacht. Ich… besteht die Möglichkeit, daß ich
dieses Honorar später bezahle, wenn sich meine Anwälte mit Pierre
geeinigt haben? Sie haben doch meine Eltern gekannt, bitte, helfen Sie
mir!

- Mein Gott, Isabelle! - Brian Lockwood faßte ihre Schultern und

schüttelte sie unwillig. - Reden Sie nicht so einen Unsinn. Sie wissen,
daß Geld für mich keine Frage ist. Für unsere Klinik übrigens auch
nicht, denn wir werden von der Besonny-Stiftung finanziert und
unterstützt.

Isabelle runzelte die Stirn.
- Und was bedeutet das für mich?
- Die Besonny-Stiftung verwendet ihre Mittel zur Erforschung und

Behandlung von Augenkrankheiten. Sie verfügt unter anderem über
einen speziellen Hilfsfond für Notfälle. Ich bin sicher, daß die Stiftung
in Ihrem Falle besonders gern die nötigen Mittel bereitstellt. Der
Alleinerbe von Besonny-Chemie hat nach dem tragischen Tod des
Firmeninhabers die gesamte Erbmasse der Stiftung zur Verfügung
gestellt. Sie können persönlich mit ihm sprechen, denn ich hatte eine
Unterredung mit ihm, als Sie ankamen.

- Aber… - Isabelle protestierte unsicher, - …ich kenne diesen

Herren doch gar nicht. Ich…

- Keine Angst, Isabelle. Ich bin sicher, daß Sie mit ihm Ihre

Probleme lösen können.

Aus den Geräuschen schloß Isabelle, daß der Professor aufstand und

eine Tür öffnete. Sie wartete auf ein Begrüßungswort des Unbekannten,
doch es blieb aus.

Langsame, zögernde Schritte kamen näher. Ein Fremder? Sie

lauschte seinen gepreßten Atemzügen. Warum sagte er nichts? Madame
Olga und der Professor schwiegen.

Isabelle konzentrierte ihre Sinne auf diesen Mann. Ihre Gedanken

überschlugen sich, und ihre Nasenflügel bebten, als sie die Luft einsog.

Sie stand auf. Nein, sie täuschte sich nicht. Ohne ihn ein einziges

Mal gesehen zu haben, hätte sie ihn unter Tausenden erkannt. Sie

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seufzte und ertastete mit den ausgestreckten Fingerspitzen, das
halboffene Sporthemd aus Batist.

Ihre Hände wanderten zum Gesicht und legten sich auf die kratzigen

Stoppeln eines Tage alten Bartes. Sie spürte den Ruck, der durch seine
Gestalt ging, als sich seine Arme um sie schlössen.

***


- Jason, - flüsterte Isabelle, ehe ein leidenschaftlicher Kuß ihre

Lippen verschloß. Sie fühlte sich hochgehoben und fast erdrückt.

- Du… - stöhnte Jason mit rauher Zärtlichkeit, - …ich bin fast

verrückt geworden vor Sehnsucht nach dir. Mach sowas nie wieder mit
mir.

Der Professor mischte sich ein.
- Wenn du ihr noch ein bißchen Luft zum Atmen läßt, hat sie

vielleicht eine Chance, dir zu antworten.

Isabelle wischte sich verstohlen ein paar Tränen ab, und Madame

schnaubte gerührt in ein Taschentuch.

Es klopfte und eine eifrige Lernschwester trat ein, die Jason einen

bewundernden Blick zuwarf.

- Die Krankengeschichte Delorme, Herr Professor, - meldete sie und

legte eine graue Mappe auf den Tisch.

Brian Lockwood nickte dankend, wartete, bis sie den Raum

verlassen hatte, und meinte dann:

- Ein Glück, daß du endlich in festen Händen bist. Du bringst mir

meine Schwestern ganz aus dem Häuschen. Soll ich Renato sagen, daß
du Gäste hast? Ich nehme nicht an, daß du Isabelle und Madame in
deinem Absteigequartier bei mir unterbringen möchtest, oder?

Jason überlegte sichtlich verwirrt und nickte dann widerwillig.
- Wenn das die einzige Lösung ist… okay.
Isabelle merkte an seiner Hand, die sich auf ihrer Schulter

verkrampfte, daß es noch einige Dinge in seinem Leben gab, von denen
sie nichts wußte. Jason schien noch eine Menge Überraschungen für sie
bereit zu haben.

Jetzt setzte er seinen Satz etwas ungeduldig fort:

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- Du hast mich ausgetrickst, Brian. Aber du hast recht, ich bringe die

beiden hinüber, damit sie sich ein bißchen frischmachen können.
Inzwischen kannst du Isabelles Unterlagen durchsehen. Du weißt, daß
wir viel von dir erhoffen.

Lockwood räusperte sich.
- Wir können keine Wunder vollbringen, aber was machbar ist,

werden wir tun. So - und nun schlage ich vor, daß ich Madame Olga zu
einem Frühstück in die Kantine entführe, während du dich um Isabelle
kümmerst. Ich nehme an, euch steht nicht der Sinn nach Hörnchen und
Kaffee?

Während Jason dann Isabelle vorsichtig über die kiesbestreuten

Parkwege führte, schwiegen beide befangen.

Mit neu erwachten Sinnen nahmen Isabelle die Wärme des

Sommertages wahr und lauschte dem Konzert der Vögel, das fast das
ferne Verkehrsrauschen des großen Boulevards übertönte.

- Du hast ein Haus hier? - wollte Isabelle schließlich wissen. Jason

bejahte widerstrebend.

- Ich hoffe, daß dort alles in Ordnung ist. Ich habe noch nie dort

gewohnt. Renato kümmert sich darum.

- Wer ist Renato?
- Mein alter Lehr… ein Freund. Er wohnt in dem Haus.
Isabelle blieb stehen und zwang Jason so ebenfalls zum Verharren.

Sie sah sehr ernst und sehr traurig aus.

- Bitte versprich mir eines, Jason: Sag mir, wenn du mir etwas nicht

erzählen möchtest, aber lüge mich nie bewußt an. Wenn du ernst
gemeint hast, was du in St. Tropez gesagt hast, dann belüge mich nicht.
Willst du nicht an diese Worte erinnert werden, ist es besser, wir
trennen uns auf der Stelle.

Beschämt küßte Jason sie auf die Stirn.
- Gib mir ein bißchen Zeit, ja? Irgendwann werde ich dir alles

erzählen, aber nicht sofort und nicht heute. Ich bin noch gar nicht ganz
bei mir… Eben überlege ich noch verzweifelt, was ich tun und wie ich
dich finden soll und dann stehst du plötzlich vor der Tür…

Isabelle nickte. Sie begriff seine Gefühle nur zu gut.
- Gut, einverstanden… und dein Renato, wird er mich überhaupt

akzeptieren?

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- Er wird dich anbeten! - prophezeite Jason und er behielt recht.

***


Das gutmütige Gesicht des grauhaarigen Mannes verzog sich zu

einem breiten Grinsen, als er die zierliche Frau an Jasons Seite
entdeckte.

Der Professor schien ihn am Telefon gründlich informiert zu haben,

denn er begrüßte Isabelle wie die lange vermißte Hausherrin.

Jason leitete sie in ein Zimmer und rückte ihr einen Stuhl zurecht.

Der appetitliche Duft von frischen Croissants und heißem Kaffee
machten Isabelle bewußt, daß sie zum ersten Male seit Wochen richtig
Hunger hatte.

- Beschreibe mir das Zimmer. Wie sieht es bei dir aus? - forderte sie

Jason auf. Er sah sich um, als würde auch er diesen Raum zum ersten
Male wieder richtig wahrnehmen.

- Es ist das Eßzimmer, Isabelle. Quadratisch, nicht sehr groß,

weißgrün gestreifte Tapeten, ein weißer Schrank mit Glastüren, ein
ovaler Rosenholztisch mit sechs Stühlen, hellgrüner Velourbezug.
Weiße Vorhänge, zwei große Terrassentüren in den Garten, ein paar
Bilder…

- Was für Bilder? - Isabelle war beim dritten Hörnchen angelangt.
- Nun… ich… entschuldige. - Ein Flaschenhals klirrte an Glas. Es

gluckerte. - …ich brauche jetzt einen Schluck. Ich verstehe nicht, wie
du so vergnügt hier sitzen kannst, nach allem, was du erlebt hast. Ich
habe keine Ahnung, was passiert ist, und du sitzt hier und fütterst für
zwei.

- Für zwei. Ja, das stimmt genau, - antwortete sie übermütig.
- Was meinst du damit? - Das Glas wurde hart auf die Tischplatte

gestellt.

- Hatte das Nebenzimmer keinen Mithörapparat? - Isabelle machte

das Gespräch Spaß. - Ich bin Pierre davongelaufen, weil ich ein Kind
bekomme, Mister Jason Jeffers! Ich erwarte tatsächlich ein Baby. Mitte
Januar wird es da sein. Wir werden ein süßes Kind bekommen, ich
schwöre es dir!

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Jason hatte es die Sprache verschlagen. Er starrte Isabelle an. Sie

strahlte vor Glück, aber man sah ihrem durchsichtig blassem Gesicht
und den violetten Schatten unter ihren Augen an, daß sie schlimme
Zeiten hinter sich hatte. Jason ertappte sich erneut bei dem Wunsch,
Pierre Delorme mit eigenen Händen windelweich zu prügeln.

Feinfühlig ahnte Isabelle, welche Gedanken ihn bewegten. Sie

erinnerte sich an Professor Lockwoods erste Bemerkung.

- Bist du zu Pierre gegangen?
- Ja, ich war in eurem Chrom- und Glaspalast. Monsieur gab sich

äußerst hochnäsig. Trotzdem hatte ich das Gefühl, daß er sich von mir
Informationen über deinen Aufenthaltsort erwartete. Er spielte den
Beleidigten und ließ mich erst gehen, als er sicher sein konnte, daß ich
ebenso ahnungslos wie er war. Der Besuch hat ihm einen tüchtigen
Schrecken eingejagt, das darfst du mir glauben.

- Das gönne ich ihm. - Isabelle gab sich keine Mühe, ihre Rachsucht

zu verbergen. - Ich hoffe, daß er Blut und Wasser schwitzt, weil ihm
keiner seine kostbaren Papiere unterschreibt. Ich… - Sie unterbrach
sich, weil sie Gähnen mußte.

- Entschuldige, die Zugfahrt steckt mir noch in den Knochen. In

Anbetracht unserer schlechten Finanzlage hat Madame auf den
Schlafwagen verzichtet. Da wir gerade von Geld reden… wie war das
mit dieser Stiftung? Bist du dieser steinreiche Chemie-Erbe, der sein
Vermögen der Stiftung zur Verfügung gestellt hat?

Isabelle hörte, daß Jason aufstand und unruhig auf und ab ging.
- Ich habe dir doch von Cathy erzählt. Sie hieß mit vollem Namen

Catherine Besonny. Ihr Vater hat ihren Selbstmord nie überwunden. Er
starb kurz darauf bei einem Verkehrsunfall, der aussah, als habe er
Selbstmord begangen. Er hat mich gegen meinen Willen zum Erben
eingesetzt. Ich wollte das Geld nicht. Wenn ich schon nicht fähig
gewesen war, Cathy zu helfen, konnte ich vielleicht anderen Menschen
helfen.

Isabelle erhob sich langsam. Sie wartete, bis Jason zu ihr kam. Sie

streichelte zärtlich über sein Gesicht.

- Du bist ein rätselhafter Mensch, Jason Jeffers. Heißt du überhaupt

so? Oder ist das ein Künstlername…?

Jason küßte ihre geschlossenen Augen.

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- Vertrau mir, Isabelle. Bitte vertrau mir…
Sie akzeptierte das Ablenkungsmanöver und ließ sich von ihm eine

teppichbelegte Holztreppe hinaufführen. Er öffnete eine Tür und
drückte sie auf ein Bett.

- Hier kannst du dich ein bißchen ausruhen. Ich lehne die Läden an,

dann scheint die Sonne nicht so herein…

Isabelle strich über den seidigen Bettüberwurf.
- Dein Schlafzimmer?
- Ja. Das Haus ist nicht sehr groß. Deine Madame kann im

Fremdenzimmer schlafen. Ich hoffe, daß du mir hier ein Plätzchen
reservierst. Immerhin ist das Bett zwei Meter breit…

Isabelle schüttelte ihre Schuhe von den Füßen.
- Möchtest du mir nicht beim Ausziehen helfen?
Verwirrt nestelte Jason an den Knöpfen ihres weißblauen

Hemdblusenkleides.

- Bist du… ich meine… wie ist das mit dem Baby? - wollte er

schließlich nach einem Räuspern wissen.

Isabelle schob seine Hände weg, reckte sich auf die Zehenspitzen

und gab ihm einen Kuß. Dann schlüpfte sie aus dem Kleid und dem
spitzenbesetzten Hemdhöschen, das sie darunter trug.

- Unser Baby kann sich gleich an die Liebe gewöhnen, oder gefalle

ich dir etwa nicht mehr?

- Du ahnst nicht, wie hinreißend du aussiehst! - murmelte Jason mit

belegter Stimme und starrte auf den nackten Frauenkörper.

Die Schwangerschaft war Isabelle noch nicht anzusehen. Nur der

Busen war voller geworden und verlieh ihrer knabenhaften Figur einen
ungeahnten, weiblichen Reiz.

- Nun, Liebster?
Mit einem Stöhnen nahm Jason sie in seine Arme. Isabelle preßte

sich an ihn. Seine streichelnden Hände waren wie Flammenzungen auf
ihrer Haut.

Ihre Lippen öffneten sich, um seinen heißen, leidenschaftlichen Kuß

zu begegnen. Gemeinsam auf das Bett taumelnd fanden sie die
glühenden Zärtlichkeiten und das wortlose Verstehen wieder, die sie
bereits in St. Tropez so magisch aneinandergebunden hatten.

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- Wenn du mich liebst, habe ich das Gefühl, sehen zu können! -

flüsterte Isabelle an Jasons Mund und überließ sich selig seinen
Liebkosungen.

Glücklich spürte sie sein Begehren und tastete mit den Fingerspitzen

immer wieder über sein Gesicht. Sie fühlte ihr Verlangen wie einen
wunderbaren Schmerz in sich wachsen, während Jasons Lippen die
weichen Rundungen ihrer Brüste streichelten und zu dem rotgoldenen
Tal glitten, wo sich ihre langen Beine trafen.

- Jason, ich liebe dich! - keuchte sie hingerissen und zerschmolz fast

unter seinen Küssen.

Sie fieberte dem Moment entgegen, wo sie ihn endlich ganz in sich

spürte, und der Pulsschlag ihrer gemeinsamen Begierde ließ sie in
seinen Armen erbeben. Das bedingungslose Vertrauen, die
vollkommene Harmonie dieses Augenblicks ließen Jason die Worte
finden, die ihm sonst nur schwer über die Lippen kamen.

- Ich liebe dich, Isabelle! Ich liebe dich, wie ich noch nie eine Frau

geliebt habe. Verlaß mich nie mehr, ich bitte dich. Ich bin fast verrückt
geworden, als ich vor den verschlossenen Türen deines Hauses stand.
Du hast meinem Leben wieder einen Sinn gegeben, ich bete dich an.
Du bist alles für mich!

Wie ein Windhauch legten sich Isabelles Lippen auf seinen Mund

und besiegelten wortlos ihr unauflösliches Bündnis. Es bedurfte keiner
Worte zwischen Ihnen.

***


Noch halb im Schlaf gefangen versuchte Isabelle, sich zu

orientieren. Sie lag auf der Seite und an ihren Rücken geschmiegt, die
Knie in ihren Kniekehlen, den Arm besitzergreifend über ihre Hüften
gelegt, schlief Jason. Seine tiefen Atemzüge verrieten, daß er noch
nichts von ihrem Erwachen bemerkt hatte. Isabelle versuchte die
Stimmung des Raumes, des Hauses, auf sich wirken zu lassen. Es
duftete nach Sommer, nach frisch gemähtem Rasen.

Irgendwo im Haus schlug eine Tür. Sie hörte Madame Olga lachen.

Wie spät mochte es sein? Isabelle streichelte zärtlich mit den Zehen

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Jasons Bein und erkannte, daß er, wie ein Bär brummend, nicht
geweckt werden wollte.

- Jason, bitte wach auf!
- Hm…
- Wach auf, du Schlafmütze! Ich brauche einen Kammerdiener für

eine Dusche und fürs Anziehen!

- Kommt nicht in Frage, - brummelte Jason und vergrub sein Gesicht

in ihrem Nacken. - Du bist meine Gefangene. Wenn du was möchtest,
mußt du zu dem bösen Zauberer erst einmal ganz lieb sein!

Belustigt machte Isabelle das Spiel mit.
- Wenn ich nicht auf der Stelle ins Bad komme, wirst du das

bereuen.

- Das möchte ich ausprobieren… - Jason lag wie ein Felsbrocken.
Isabelle warf sich zu ihm herum. Sie trommelte mit ihren Fäusten

gegen seinen Brustkasten.

- Jason Jeffers, es gibt Situationen, da hört die leidenschaftlichste

Liebe auf. Hast du schon mal von elementaren menschlichen
Bedürfnissen gehört? Zeigst du mir jetzt dein Bad, oder… oder…

Sie suchte noch nach Worten, als sie hochgehoben wurde. Als Jason

sie abstellte, spürte Isabelle eine flauschige Badematte unter den Füßen.

- Das Badetuch hängt neben der Tür, Duschmittel steht hier… und

was du vielleicht sonst noch brauchst, ist genau neben der Dusche. Also
schimpf nicht wie ein Rohrspatz, sondern ruf mich, wenn du mich
brauchst. Ich versuche inzwischen, deinen Koffer aufzutreiben.

Jason respektierte Isabelles unausgesprochenen Wunsch, für sich

selbst zu sorgen. Nach einem letzten, prüfenden Blick verließ er das
Bad.

Als Isabelle in ein großes, flauschiges Badetuch gehüllt ins

Schlafzimmer zurückkam, empfing sie die vertraute Stimme von
Madame Tamerkowa.

- Ich habe dein dunkelblaues Seidenkleid aufgebügelt, und hier ist

die Wäsche. Wenn du auf diesem Stuhl Platz nimmst, kann ich deine
Haare fönen.

Mit einem dankbaren Lächeln zog sich Isabelle an. Während ihr

Madame Olga ihr seidiges Haar fönte, fiel kein Wort zwischen ihnen.

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Isabelle war dankbar für die kleine Atempause, die es ihr erlaubte, ein
bißchen Ordnung in ihre Gedanken zu bringen.

Sie fühlte sich einfach wunderbar. Olga erkannte es an der Art, wie

sie ihre Schultern straffte und vor sich hinlächelte.

- Monsieur Jeffers ist zum Professor in die Klinik hinüber, -

bemerkte sie beiläufig und fügte hinzu: - Ich bewohne das
Fremdenzimmer in diesem Stock. Ein sehr hübscher Raum mit
Jugendstilmöbeln. Überhaupt, dieses Haus ist ein Schmuckkästchen.
Dabei hat mir Renato Gardone erzählt, daß Monsieur Jeffers nie hier
gewohnt hat…

Die letzte Feststellung enthielt eine Frage. Doch Isabelle schüttelte

den Kopf.

- Keine Ahnung, Madame. Ich weiß auch nicht mehr als Sie. Ist

dieser Renato ein Italiener?

- Ja. Aber er kam bereits als Kind nach New York. Jetzt lebt er seit

fast acht Jahren hier. Er scheint Monsieur Jeffers sehr ergeben zu sein,
doch ich halte ihn nicht für seinen Diener.

Isabelle erinnerte sich an Jasons Versprecher.
- Ein Lehrer? - überlegte sie laut. - Nein, wozu braucht ein

erwachsener Mann einen Lehrer? Ich habe den Eindruck, dieses Haus
hält noch eine Menge Überraschungen bereit, Olga.

- Renato hat mir erzählt, daß es im vergangenen Jahrhundert eine

Art Lustschlößchen war, das ein reicher Bankier für seine Mätressen
gebaut hat.

- Wieviel Zimmer stehen denn zur Verfügung?
- Im Tiefparterre sind die Wirtschaftsräume, Vorratskeller und ein

Diener-Apartment, - zählte Olga auf. - Im Erdgeschoß sind der Salon,
das Eßzimmer, eine Bibliothek und das Musikzimmer. Oben nur Schlaf
räume und Bäder.

- Ein Musikzimmer? - Isabelle pickte die interessanteste Information

heraus.

- Ja, es ist mit Abstand das größte Zimmer. Ich habe es nicht

gesehen. Angeblich muß es verschlossen bleiben. Monsieur Jeffers hat
es so angeordnet.

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Isabelle lauschte Madames Geplauder und machte sich so ihre

eigenen Gedanken. Es wäre nicht falsch, sich einmal allein mit Renato
zu unterhalten.

Jason unterbrach ihre Grübeleien. - Morgen früh um neun wirst du

in der Klinik erwartet. Der Professor hat seinen Terminplan umgestellt
und steht dir zur Verfügung. Er hat deine Unterlagen auf den neuesten
Stand gebracht, und ich darf dir sagen, daß er berechtigte Hoffnungen
hat, dir helfen zu können.

- Ach, wunderbar. - Madame Olga zog sich mit einem erleichterten

Seufzer zurück.

Sie schien nicht recht zu wissen, ob sie diesem gutaussehenden

Mann mit den harten Zügen trauen konnte. Ihre Angst um Isabelle war
noch immer groß.

Jason erkannte ihre Gedanken.
- Sie mißtraut mir, deine Madame, - stellte er fest.
- Wundert dich das? - fragte Isabelle. - Sie ist fast sechzig Jahre alt

und bei allem Verständnis für die jetzige Zeit, ist ihr die Tatsache, daß
ich es fertiggebracht habe, innerhalb weniger Stunden einen Geliebten
und ein Kind zu bekommen, schon ein bißchen suspekt. Ein Gentleman
hätte sich ihrer Ansicht nach nicht so leicht verfuhren lassen…

- Ist sie blind? - murmelte Jason und schloß sie in seine Arme. -

Weiß sie nicht, daß du eine männermordende Sirene bist?

Isabelle erwiderte seinen Kuß, machte sich dann aber energisch frei.
- Ich habe mir etwas überlegt. Bist du einverstanden, morgen

Vormittag Pierre aufzusuchen und ihm eine Vollmacht über mein
Vermögen zu präsentieren, die ich dir ausstelle?

- Wäre das klug, Isabelle?
- Ich bin für klare Verhältnisse. Irgendwann erfährt er es doch. Es ist

in jedem Fall besser, wenn in der Firma so schnell wie möglich klare
Regelungen getroffen werden.

- Du hast vor ein paar Stunden beanstandet, daß du nicht einmal

weißt, ob mein Name stimmt. Jetzt willst du mir die
Entscheidungsgewalt über dein Vermögen anvertrauen!

Isabelle warf energisch den Kopf in den Nacken.
- Rede keinen Unsinn. Einmal glaube ich nicht, daß der Initiator der

Besonny-Stiftung auf mein Vermögen aus ist, und zum anderen weiß

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ich, daß du nicht lügst, wenn du mich in deine Arme nimmst. Ich kann
dir zwar nicht in die Augen sehen, Jason Jeffers, doch mein Instinkt für
Menschen war schon immer gut. Ich weiß, daß du ein Problem mit dir
herumschleppst, daß du manchmal zuviel trinkst und vor Gespenstern
deiner Vergangenheit davonläufst. Ich kann spüren, daß da etwas ist,
das dich belastet und dein Leben überschattet. Es hat etwas mit Cathy
zu tun, nicht wahr?

Jason schwieg eine Weile, dann strich er mit der Hand über ihre

weichen Haare.

- Dafür, daß du blind bist, siehst du tatsächlich eine Menge, Kleines.

Also gut, gib mir die Vollmacht. Wir werden ja erleben, was dein
Bruder sagt. Ich werde mir den Spaß morgen vormittag leisten, dann
kaue ich wenigstens nicht an den Fingernägeln, während du untersucht
wirst.

Isabelle schmiegte ihre Wange in seine Hand.
- Du hast wunderschöne Hände, das ist mir von Anfang an

aufgefallen. Künstlerhände. Pianistenhände…

Jason zuckte zusammen.
Isabelle merkte es erstaunt. Hatte sie etwas Falsches gesagt?
Egal, dann kam es auf die nächste Frage, die sie stellen wollte, auch

nicht mehr an.

- Warum magst du dieses Haus eigentlich nicht?
Jason atmete schwer. Irgend etwas schien ihn erschüttert zu haben.

Endlich antwortete er.

- Ich liebe dieses Haus, Kleines. Ich liebe es, seit Cathy es mir zum

ersten Mal zeigte. Es ist so eine Art Sommerhäuschen. Es gibt hier
keinen Vorhang, keinen Teppich und kein Bild, das ich nicht
ausgesucht habe, und doch habe ich nie hier gewohnt.

- Warum?
- Es sollte die Insel werden, die ich brauchte, um arbeiten zu können.

Ein Paradies für zwei Menschen, Cathy und mich. Als alles
zusammenbrach, konnte ich seinen Anblick nicht mehr ertragen.
Entschuldige… ich muß raus…

Jason lief aus dem Zimmer, von Erinnerungen gequält und von

Gespenstern verfolgt.

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***


Isabelle runzelte nachdenklich die Stirn.
Renato! beschloß sie. Das ist der Mann, den ich jetzt sprechen muß.
Sie tastete sich zur Tür, deren leises Quietschen beim Öffnen Renato

sofort herbeirief.

- Madame, kann ich Ihnen helfen?
Er hatte eine sympathische Stimme, und Isabelle lächelte dankbar.
- Gut, daß Sie da sind, Renato. Würden Sie mich bitte ins

Musikzimmer führen?

- Madame? - Seine Stimme hätte nicht entsetzter klingen können.
- Ich weiß, Renato, Jason hat angeordnet, daß der Raum

verschlossen bleibt. Ich bin mir aber sicher, daß Sie einen Schlüssel
dazu haben…

- Ja… aber…
Isabelle faßte nach seinem Arm.
- Nur Mut, Renato. Sie wollen doch auch, daß er endlich wieder

anfängt, wie ein vernünftiger Mensch zu leben - oder?

- Ja, Madame… - Der Seufzer kam aus tiefstem Herzen.
Isabelle hatte gesiegt. Ohne weiteren Protest führte er sie hinunter

und drehte den Schlüssel der Doppeltür zweimal um.

- Einen Moment, ich öffne die Vorhänge. Es beginnt schon zu

dämmern. Ich werde Ihnen Licht… - Er brach ab. - Entschuldigen Sie,
ich hatte vergessen…

- Schon gut, machen Sie nur Licht Renato. - Isabelle machte einige

Schritte in den Raum, registrierte die weichen Teppiche unter ihren
Sohlen und stieß an ein großes Hindernis, das mitten im Zimmer stand.
Glatt poliertes Holz mit abgerundeten Kanten. Sie kannte die Antwort,
ehe Renato den Mund öffnete.

- Ein Steinway-Flügel, Madame. Ein Konzertflügel, ein wunderbares

Instrument für einen wunderbaren Musiker. Ein Verbrechen, daß es
nicht mehr gespielt wird.

Isabelle stützte sich auf den Flügel.
- Und wie sieht das Zimmer aus? - fragte sie.
- Als ob die Sonne hier wohnt. Gelbe Vorhänge, zartgetönte Wände,

verspielter weißer Stuck, Goldbrokatstühle. Dann der Rokokoschrank

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mit den Noten, die Stereoanlage, Jasons Plattensammlung, seine
Bücher, seine Fotos. Ein Museum, das ihn selbst am allerwenigsten
interessiert.

Verbittert, wie eine Anklage, sagte es der alte Herr.
- Nicht mehr lange, Renato, das schwöre ich Ihnen. Was tun Sie da?

- Isabelle lauschte den Geräuschen in einer Zimmerecke.

Ein kaum hörbares Knacken. Dann setzte die Musik ein, von einer

Platte. Isabelle kannte das langsame, getragene Klavierthema. Die
Sonate von Ludwig van Beethoven, die „Mondschein-Sonate“.

Sie fühlte die gepolsterte Klavierbank an ihren Knien und setzte

sich. Fasziniert lauschte sie. Noch nie hatte sie dieses Musikstück so
gehört. Diese ungewöhnliche, leidenschaftliche und moderne
Interpretation traf sie auf seltsame Weise ins Herz. Renato mußte ihr
nicht mehr sagen, wer der Pianist war. Sie hatte die Botschaft erhalten.

- Jason Jeffrey Sandhurst, - flüsterte sie erschüttert.
- Ja. - Renato atmete schwer. - Mein Meisterschüler. Ich erkannte

seine Begabung, als er in das New Yorker Konservatorium eintrat.
Während er seine Karriere aufbaute, blieb ich bei ihm - als Lehrer,
Freund, Impressario, Manager. Ein Talent wie das seine ist ein
Geschenk des Himmels, Isabelle. Er hat magische Hände. Es gibt kaum
einen Pianisten, der die Technik des Instruments mit einer so
traumhaften Sicherheit beherrscht und der gleichzeitig soviel Herz und
Seele in sein Spiel legen kann…

Isabelle begriff. Das also war der Bruch in Jasons Persönlichkeit,

den sie bereits erahnt hatte. Der Grund für seine Ruhelosigkeit, seinen
äußerlichen Zynismus und den Alkohol. Er hatte in seinen eigenen
hochgespannten Wert-Maßstäben versagt und suchte nun instinktiv die
Selbstzerstörung.

- Und Cathy? War sie dieses Opfer wert? - Isabelle wußte, daß sie

Renato bedingungslos vertrauen konnte.

Er überlegte lange, ehe er eine vorsichtig formulierte Antwort gab.
- Man kann schlecht über eine junge Liebe urteilen, die nur die

heitersten Seiten erlebt hat. Cathy war hübsch, eigensinnig, erfolgreich,
temperamentvoll, egoistisch, und sie wollte immer im Mittelpunkt
stehen. Es schmeichelte ihr, daß sich ein so berühmter Musiker in sie
verliebt hatte. Ich wage zu behaupten, daß ihre Zuneigung die

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Schwierigkeiten einer Musikerehe nicht überlebt hätte. Sie riet Jason,
dieses Haus zu kaufen. Sie wollte ihren Wohnsitz in Paris nehmen, weil
sie sich einen Wirbel aus Vergnügungen und Partys erwartete. Sie
begriff nicht, daß es für Jason eine Insel war, auf die er sich
zurückziehen mußte, um als Künstler bestehen zu können. Das Haus
und das Grundstück wurden damals vom alten Besonny gekauft. Jason
hat nur diese Villa aus dem Erbe behalten. Wenn Sie mich fragen,
Isabelle, Charles Besonny wußte, daß seine Tochter keinen Anlaß hatte,
Jason die Schuld für ihren Selbstmord zu geben. Das Erbe war eine
Geste der Entschuldigung, aber das Unglück war schon passiert. Es
erregte damals großes Aufsehen, als Jason von einem Tag auf den
anderen seine Karriere abbrach. Er fühlte sich schuldig, glaubte, Cathy
in den Tod getrieben zu haben und bestrafte sich selbst mit dem Entzug
der Dinge, die er noch mehr als Cathy geliebt hatte: Seiner Musik und
seines Flügels. Er verließ die Staaten und ging auf Reisen. Ich hatte
eine Menge zu tun, seine nicht eingehaltenen Verträge, die abgesagten
Tourneen und Plattentermine abzusagen. Es hat ihn eine horrende
Konventionalstrafe gekostet, aber Geld war ihm schon immer egal. Als
alles vorbei war, bin ich in meine Räume in diesem Haus gezogen. Das
Dachgeschoß ist zu einer kleinen Wohnung für mich ausgebaut.
Seitdem warte ich. Darauf, daß Jason von selbst zur Besinnung kommt
oder daß er vielleicht einen Menschen trifft, der ihm dabei hilft.

Isabelle erfaßte, was er damit sagen wollte, schon ehe er fortfuhr:
- Isabelle, Sie könnten die Brücke sein, die Jason ins Leben

zurückbringt. Es ist Ihnen bereits gelungen, die Mauer aus Sarkasmus
und Menschenverachtung zu zerstören, die er um sich herum aufgebaut
hat. Lassen Sie sich nicht entmutigen, bleiben Sie stark. Er braucht Ihre
Stärke wie ein Ertrinkender einen Rettungsring.

- Sie kennen die Delormes nicht, Renato, sonst würden Sie mir einen

solchen Rat nicht geben. Wir sind berühmt für unsere Dickköpfe.
Können Sie nicht einen Klavierstimmer holen? Wenn dieses Instrument
acht Jahre nicht gespielt wurde, ist das bestimmt nötig. Jason will
morgen vormittag meinen Bruder aufsuchen, dann wäre es günstig…

- Jason wird toben… - gab Renato zu bedenken.
- Er wird so oder so toben. Warum dann nicht gleich tun, was

vernünftig ist, - meinte Isabelle lächelnd.

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Renato warf ihr einen bewundernden Blick zu.
- Ich sehe schon, Sie wissen wirklich, was Sie wollen. Ich rufe die

entsprechende Firma an. Möchten Sie jetzt in den Salon?

Isabelle schüttelte den Kopf.
- Lassen Sie mich noch ein bißchen hier sitzen, Renato. Legen Sie

mir eine andere Platte auf, bitte. Warten Sie, gab es nicht eine
Aufnahme von Chopinmusik, die alle Kritiker zu Begeisterungsstürmen
hingerissen hat? Ist sie da?

- Natürlich, hier sind alle seine Platten. Ich lasse die Tür offen, dann

brauchen Sie mich nur zu rufen, wenn ich die Seiten wechseln soll…

Isabelle saß ganz entspannt da. Sie war mit sich und der Welt im

Frieden.

Völlig in die Musik verloren, überhörte Isabelle das Klappern der

Haustür. Erst Jasons jähzorniger Schrei ließ sie hochfahren.

- Verdammt, was geht hier vor?
Er stürzte wütend in den Raum und riß die Platte von der

Stereoanlage. Isabelle hielt sich die Ohren zu, so unerträglich war das
kreischende Geräusch des mißhandelten Saphirs.

Renato stürzte herbei.
- Nein, Jason! Halt! Mamma mia, mach die Platte nicht kaputt!
In diesem Moment erst bemerkte Jason die Frau am Klavier. Er

knirschte hörbar mit den Zähnen und versuchte vergeblich, sich zu
fassen.

- Das habt ihr euch fein ausgedacht, ihr zwei. Ich wußte, daß ihr

unter einer Decke stecken würdet. Nur das Tempo verblüfft mich. Idiot,
der ich bin, mich noch einmal in eine Frau zu verlieben. Laßt mich in
Frieden, hört ihr!

Isabelle stand auf und ging auf ihn zu.
- Liebster, schrei bitte nicht so. Hör mir zu, du…
- Nein, jetzt hörst du mir zu, Isabelle Delorme, und du brauchst mich

nicht mit schönen Worten zu betören. Ich habe es satt, satt! Du hast mit
diesem Museum nichts zu schaffen. Renato soll in der Vergangenheit
leben. Er ist alt genug, um selbst zu entscheiden, was er tun will. Aber
du halst dich da raus, sonst gehe ich!

- Jason… - Sie spürte, daß er aus dem Raum lief.
Er durfte nicht gehen. Dieser häßliche Streit durfte so nicht enden!

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Ohne an ihre Behinderung zu denken, lief Isabelle los und stolperte

über eine Teppichfalte. Sie versuchte, das Gleichgewicht zu halten,
ruderte hilflos mit den Armen.

- Jason! - Ihr schrecklicher Aufschrei brach ab, als sie mit der Stirn

gegen die Kante des Flügels schlug. Ohnmächtig brach sie zu Füßen
des kostbaren Instrumentes zusammen.

- Jason, komm zurück!
Doch Jason hatte weder ihren Schrei noch Renatos Ruf vernommen.

Er rannte wie besessen in den Park hinaus, geradewegs in Brian
Lockwoods Arme, der zu seinem üblichen Abenddrink mit Renato
kam.

- Jason, hast du Tollwut? - erkundigte er sich mit freundlichem

Spott.

- Oh… ich… Brian…
- Tatsächlich, so heiße ich. Leidest du unter den ersten Anzeichen

geistiger Umnachtung? Hat dich Isabelle um den Verstand gebracht?

- Ha ha, Isabelle… - Jason schnaubte wie ein Stier in der Arena.

Eben wollte er ansetzen, um seine Wut an Brian auszulassen, da
keuchte Renato atemlos heran.

- Schnell, Professor! Ein Glück, daß Sie da sind. Ein Unfall…
Jason erschrak. Sein Gesicht wechselte die Farbe.
- Isabelle?
- Sie wollte dir nachlaufen und ist gestürzt. Vermutlich schlug sie

mit… mit der Stirn auf den Flügel! Sie hat das… das Bewußtsein
verloren.

Der Professor und Renato liefen zum Haus, während Jason wie

versteinert stehenblieb.

- Was habe ich getan? - murmelte er vor sich hin.
Er mußte sich zwingen, das Haus zu betreten. Brian telefonierte

gerade mit der Klinik.

Dann wandte er sich seinem entsetzten Freund zu.
- Ich kann nichts sagen. Ihre Herztöne sind schwach, eine Prellung

an der Stirn. Eine ungewöhnlich tiefe Ohnmacht, die ich mir nicht
erklären kann.

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- Und ich bin schuld! - Jason ballte hilflos die Fäuste. - Ich bin

schuld, als hätte ich sie selbst zu Boden gestoßen. Brian, wenn Isabelle
oder dem Baby… ich wage nicht, daran zu denken…

- Jason! - Der Professor packte ihn an den Schultern und schüttelte

ihn. - Spiel nicht den hysterischen Helden. Ein Unglück dieser Art
passiert Blinden immer wieder. In Streßsituationen vergessen sie die
gewohnte Vorsicht und ihre Behinderung. Fang nicht schon wieder an,
dich in eine Schuld hineinzusteigern.

Müde öffnete Jason die verkrampften Finger, seine Schultern sanken

nach vorn.

- Okay, du hast recht. Bitte tu für Isabelle, was du kannst.
- Das ist selbstverständlich, - erklärte der Professor und wandte sich

den beiden Krankenpflegern zu, die mit der fahrbaren Trage in der Tür
standen.

***


Isabelle war schon geraume Zeit wach. Doch sie wagte nicht, sich zu

rühren. Sie spürte, daß Jason ihre Hand hielt und daß sie in einem Bett
lag, das sie nicht kannte.

Der typische Geruch nach Desinfektionsmitteln brachte sie zu der

Überzeugung, daß sie im Krankenhaus liegen mußte.

Jason atmete schwer. Seine Hand zitterte leicht.
Isabelle erinnerte sich plötzlich wieder an den häßlichen Auftritt im

Musikzimmer. Sie war ins Stolpern geraten, gefallen und hatte mit der
Wucht eines Hammers einen Schlag an die Stirn bekommen. Von da an
wußte sie nichts mehr. Sie fühlte sich nicht schlecht. Die bohrenden
Kopfschmerzen waren auszuhalten.

Armer Jason. Vermutlich machte er sich eine Menge Vorwürfe.

Beinahe hätte sie tröstend seine Hand gedrückt.

Er ahnte nicht, wie gut sie seinen verzweifelten Wutanfall verstand.

Wenn sie jemandem Vorwürfe machte, dann nur sich selbst.

Es war dumm von ihr gewesen, nicht daran zu denken, daß Jason

jeden Moment nach Hause kommen könnte. Daß sie im Musikzimmer
saß und seine Platten hörte, war eine Provokation gewesen.

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Sie hatte eigentlich vorgehabt, Jason in langsamen Schritten dazu zu

bringen, ihr mehr und mehr zu vertrauen.

- Es tut mir leid, Jason. Verzeih mir, daß ich so neugierig war, -

murmelte sie und spürte, wie er ihre Hand erschreckt preßte.

- Isabelle, Gott sei Dank, du bist wieder bei Bewußtsein. Wie fühlst

du dich?

- Ganz gut… nein… - Sie hielt seine Hand fester, - bitte läute jetzt

nicht nach einer Schwester oder dem Professor. Ich möchte erst allein
mit dir sein. Ich wollte mich nicht in dein Geheimnis drängen. Aber
irgendwie hatte ich Angst um dich. Du weißt nicht, wie eigenartig du
manchmal sein kannst. Seltsam fremd. Ich hatte die wildesten
Vermutungen, und dann war ich so erleichtert, daß ich alles um mich
herum vergaß.

Jason legte wortlos die Fingerspitzen auf ihren Mund. Isabelle küßte

sie, schob sie aber dann weg.

- Ich muß dir noch etwas sagen, Jason. Du bist zu nichts verpflichtet.

Du mußt dich nicht um mich und das Kind kümmern. Wir schaffen es
auch allein. Ich… - Ihre Stimme bebte, aber sie sprach tapfer weiter. -
Ich will keine Belastung für dich sein. Du hast nicht die Pflicht, bei mir
zu bleiben, nur weil ich blind bin. Widersprich mir nicht, bitte. Aber
wenn du möchtest, daß wir zusammen leben, dann behandle mich bitte
nicht wie ein Dummchen. Ich will deine Partnerin sein, die andere
Hälfte von dir. Ich will alles, deine Liebe und dein Vertrauen. Wenn ich
dich mit einer Toten teilen muß, verzichte ich lieber.

Jason küßte die Tränen weg, die unter ihren geschlossenen Lidern

hervorquollen.

Endlich, nach endlosen Sekunden begann er zu sprechen.
- Ich kann ohne dich nicht mehr leben!
Isabelle stieß zitternd den angehaltenen Atem aus. Sie streckte die

Hände aus und zog seinen Kopf zu sich herunter.

- Küß mich! - wisperte sie an seinen Lippen.
- Aber, Kleines, dein Kopf. Der Professor hat gesagt, du hast…
- Ein bißchen Schmerzen. Ist deswegen Küssen verboten?
Isabelle preßte ihren Mund auf den seinen. Eine Berührung, die sie

beide die Welt vergessen ließ. Isabelle wußte, daß dies der glücklichste
Moment ihres Lebens war.

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Ewigkeiten vergingen, ehe sie mit einem Seufzer ins Kissen

zurücksank und die Lider öffnete. Eine sinnlose Bewegung, immer
wieder wurde ihr das bewußt. Sie hatte die Augen bereits wieder
geschlossen, als ihr klar wurde, daß sie eben den Eindruck von
Helligkeit gehabt hatte. Lichtgraue Schleier, schattenhafte Konturen.
Unwillkürlich hielt sie die Luft an. Litt sie schon unter Einbildungen?
Hatten die seelischen Erschütterungen der letzten Zeit sie so
mitgenommen?

Ihre Hand krampfte sich um Jasons Arm, und er sah erstaunt ihr

ernstes, blasses Gesicht. Isabelle starrte ihn an, als könnte sie ihn
sehen!

Er ahnte nicht, daß sich nach und nach die nebelhaften Umrisse vor

ihren Pupillen klärten.

Sie sah den Mann an ihrem Bett. Sie sah ihn wirklich! Reglos

versuchte Isabelle diesen Traum - denn dafür hielt sie das Ganze -
festzuhalten. Jede Einzelheit seines Gesichtes wollte sie sich einprägen.

Er sah gut aus. Ein Mann, bei dem jede Frau den Atem anhielt. Ganz

besonders, weil das feine Strahlennetz der Augenfältchen und die
Furchen, die von der Nase zum Mundwinkel liefen, seinem Gesicht
einen Hauch männlicher Verwegenheit gaben.

Verwirrt begegnete Isabelle seinem Blick. Solange er nicht sprach,

war er ihr fremd. Ein Mann, den sie eben erst entdeckt hatte.

- Isabelle, Kleines! Was ist mit dir? - Ihre starre Miene beunruhigte

Jason. - Fühlst du dich nicht wohl?

Sie konnte ihm nicht antworten. Ihre Kehle war wie zugeschnürt.

Jason sprang auf und lief zur Tür.

- Schwester! Bitte, holen Sie Professor Lockwood, schnell! - Er

kehrte zum Bett zurück und sprach beruhigend auf Isabelle ein.

- Keine Angst, Brian hilft dir. Beweg dich nicht. Alles wird gut

werden. Ich bin ja bei dir…

Schnelle Schritte näherten sich. Mit wehendem weißen Mantel kam

der Professor ins Zimmer. Isabelles Blick wanderte von Jasons blauen
Augen zu den dunkelbraunen Brian Lockwoods.

Der Professor schob die schmale Metallbrille in die Stirn und stutzte.

Wortlos prüfte er mit einem kugelschreibergroßen Instrument die
Reaktion ihrer Pupillen.

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Dann räusperte er sich und fragte leise:
- Isabelle… können Sie… können Sie etwas erkennen?
Jason fuhr zusammen.
- Wie… wie meinst du das? Du glaubst doch nicht…
- Schau! - Der nadeldünne Lichtstrahl tanzte über ihre Pupillen.

Isabelle schloß, geblendet von der Helligkeit, die Augen. Die
Dunkelheit war wie ein schützender, wohlbekannter, sicherer Freund.

Jasons Hände schlössen sich erregt um ihr Gesicht. Er beugte sich

ganz nahe zu ihr hinunter.

- Isabelle, bitte antworte uns… kannst du… - er hatte sichtlich

Mühe, das Wort auszusprechen, - kannst du uns…sehen?

Mit einer schwerfällig automatischen Bewegung nickte Isabelle. Sie

drehte den Kopf und preßte ihre Lippen auf Jasons Hand.

Er spürte die Feuchtigkeit ihrer Tränen und hörte die gehauchten

Worte:

- Ich… ich begreife es nicht…
Der Professor erfaßte sehr wohl den Unterton von Panik in ihrer

Stimme. Schnell und routiniert gab er seine Anweisungen.

- Ich lege Sie auf die Intensiv-Station, Isabelle. Ich möchte jetzt kein

Risiko eingehen, Sie sind zu erregt. Wir müssen auch an das Baby
denken. Ein Glück, daß ihm bei dem Sturz nichts passiert ist.

Isabelle nickte ergeben. Sie merkte selbst, wie sie an allen Gliedern

zu zittern begann. Alles war ein bißchen zu schnell über sie
hereingebrochen. Trotzdem hatte sie noch eine Frage, und Brian
Lockwood gab ihr die Antwort, ohne daß sie sie aussprechen mußte.

- Soweit ich das im Moment sagen kann, hat sich meine Diagnose

bestätigt, Isabelle. Ich habe immer angenommen, daß ihre Blindheit
nicht ursächlich auf den Unfall zurückzuführen ist, sondern auf einen
seelischen Schock. Meine Behandlung hätte versucht, diese Blockade
mit therapeutischen Mitteln zu brechen. Die Ereignisse der
vergangenen Stunden scheinen mir diese Arbeit abgenommen zu
haben. Weitere Einzelheiten werden unsere Untersuchungen ergeben.
Im Moment ist es wichtig, daß Sie erst einmal ruhig gestellt werden.
Jason, du verabschiedest dich besser.

- Aber ich… - protestierte er, brach aber sofort ab. Die Miene des

Professors zeigte deutlich, daß er Isabelles Zustand bedenklich fand.

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Und so war der Schatten seiner hochgewachsenen Gestalt der letzte
Eindruck, den Isabelle mitnahm, ehe ihr Bett aus dem Zimmer gerollt
wurde.

***


Isabelle stand am Fenster, als Jason das Zimmer betrat. Sie blickte in

den Park hinaus, als könne sie es immer noch nicht fassen, daß sie das
Grün der alten Bäume und den blaßblauen Pariser Himmel wirklich
sehen konnte.

Sie trug eine Leinenhose und einen grobmaschigen Baumwollpulli

aus naturfarbenem Garn. Die Sonne zauberte leuchtende Reflexe auf
ihre rotgoldenen Haare, und Jason blieb verunsichert stehen.

Zwei lange Tage hatten sie sich nicht gesehen. Der Professor hatte

darauf bestanden, Isabelle total von der Umwelt abzuschirmen, aber
heute hatte er ihre Akte geschlossen.

Isabelle hatte Jason nicht gehört, da sie den Vögeln im Park

lauschte. Doch sie spürte seine Anwesenheit und drehte sich ruckartig
um.

Jason zuckte zusammen. Isabelles zarte Schönheit, die sie so hilflos

und mädchenhaft hatte wirken lassen, war nicht mehr da. Vor ihm stand
eine hinreißende junge Frau mit strahlenden Augen.

- Was guckst du so? Gefalle ich dir nicht mehr? - fragte sie.
Mit ein paar schnellen Schritten war er bei ihr und riß sie in seine

Arme. Während Isabelle ihre weichen Lippen auf seinen Mund preßte,
hielt er sie so fest, als ob er sie nie wieder loslassen wollte.

Ihre Hände verwuschelten seine Haare und streichelten über sein

Gesicht.

- Ich liebe dich, Isabelle! Du ahnst nicht, wie sehr ich dich liebe! -

murmelte Jason zwischen ihren heißen Küssen.

- Weitermachen! - befahl sie schelmisch. - Schwüre dieser Art kann

ich nie genug von dir hören.

Er lachte und schwenkte sie übermütig. Lachend und etwas

schwindelig taumelten sie schließlich auf das weißbezogene Klinikbett.

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- Wenn du so weitermachst, komme ich auf dumme Gedanken, und

ich glaube nicht, daß Brian begeistert wäre, wenn wir uns allzu intim
miteinander beschäftigen.

Isabelle nickte ein bißchen verlegen. Sie erkannte sich selbst nicht

mehr. Die

so lange unterdrückte Sehnsucht hatte sie mitgerissen.
- Vielleicht hast du recht. - Sie strich ihren Pulli glatt. Jason konnte

es nicht unterlassen, das großzügige Dekollete zu küssen und ihren
festen Busen mit einer Hand zu streicheln.

Schließlich entzog sich Isabelle ihm.
- So kommen wir nie nach Hause, mein Lieber! Und du bringst mich

doch nach Hause…?

Er nickte und spielte mit einer Strähne ihres Haares.
- Vielleicht wird es mit deiner Hilfe endlich ein Zuhause!
Professor Lockwood entdeckte die beiden zufällig bei einem Blick

aus dem Fenster seines Arbeitszimmers.

Hand in Hand liefen sie wie zwei übermütige Kinder den Weg zur

Villa entlang. Wenn er jemals zwei Menschen viel Glück gewünscht
hatte, dann diesen beiden.

Aber noch waren nicht alle Hindernisse beseitigt. Was würde

Isabelle in den nächsten Tagen und Wochen an Jasons Seite erwarten?

***


Der erste Blick der jungen Frau galt der geschlossenen Tür des

Musikzimmers. Kein Schlüssel steckte.

Nun, ich werde ja sehen, sagte sich Isabelle und folgte Jason in den

hellen, sonnigen Wohnraum. Madame Olga und Renato warteten dort
auf sie.

Gerührt fielen sich die beiden Frauen in die Arme. Zwischen ihnen

bedurfte es keiner Worte.

Renato erhielt die typisch französischen Begrüßungsküßchen auf

beide Wangen, die ihn erst irritierten, aber dann sichtlich erfreuten.

Isabelle sah sich unternehmungslustig um.
- Wißt ihr, was ich jetzt habe?
Sie lächelte über die fragenden Blicke.

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- Hunger wie ein sibirischer Steppenwolf! Ich gehe jetzt in die

Küche und esse systematisch einen Vorratsschrank nach dem anderen
leer! - Dann war sie, nach einer spielerischen Pirouette, auch schon
verschwunden.

Jason flimmerte es regelrecht vor Augen. Durch Isabelles Blindheit

an langsame, bedachte Bewegungen gewöhnt, entdeckte er jetzt ein
flinkes Teufelchen, das sich noch dazu über seine Verwirrung
amüsierte.

Draußen dämmerte es bereits, als das improvisierte „Küchen-

Picknick“ rund um den blankgescheuerten Holztisch langsam zu Ende
ging.

Madame Olga hatte ihre Kochkünste mit einem Kräuter-Omelett

unter Beweis gestellt. Isabelle hatte soviel Rotwein getrunken, daß
Jason schließlich protestierte.

- Du darfst nicht soviel Alkohol trinken, Cherie. Denk an das Baby!
Isabelle stupste lächelnd mit dem Zeigefinger an seine Nasenspitze.
- Ach ja? Gut, schließen wir einen Pakt! Du trinkst vor siebzehn Uhr

nachmittags kein Schlückchen Alkohol mehr, und ich beschränke mich
bis Januar auf Milch und Fruchtsaft! - Sie hielt ihm ihre schmale
Rechte hin. - Einverstanden?

Das Gelächter der anderen ließ Jason gespielt finster aufschauen.
- Da bin ich ja in eine Räuberhöhle geraten! - protestierte er. Doch er

ergriff Isabelles Hand und küßte sie leidenschaftlich.

Isabelles vom Wein gerötete Wangen wurden noch einen Ton

dunkler, als sie das verheißungsvolle Streicheln seiner Zungenspitze
spürte.

- Am besten, ich entführe die Prinzessin jetzt, - setzte Jason den

Spaß fort, da er Isabelles Verlegenheit richtig deutete. - Hier gerät sie
doch nur unter schlechten Einfluß!

- Und was halten Sie von einem Abendspaziergang durch den Park?

- erkundigte sich Renato höflich bei Madame Olga, die geschmeichelt
auf das Angebot einging.

Jason erfaßte den diplomatischen Hintergrund dieser Einladung und

meinte, als sie die Treppe hinaufgingen beiläufig zu Isabelle:

- Ich glaube, es wird Zeit, daß wir heiraten, sonst fühlen sich unsere

beiden Anhänger in ihren moralischen Grundsätzen ganz schön

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85

erschüttert. Gehört sich ja auch, daß die unschuldige Schöne kein
uneheliches Kind auf die Welt bringt… oder?

Isabelle blieb mitten auf der Treppe stehen und schlug mit Fäusten

wütend auf die breite Männerbrust.

- Willst du damit sagen, daß du die bodenlose Frechheit besitzt, mir

hier so ganz nebenbei einen Heiratsantrag zu machen? Wo bleibt der
Kniefall? Wo sind die Blumen? Wo die Geschmeide, das nächtliche
Ständchen? Ich denke gar nicht daran, so einen groben Klotz wie dich
zu heiraten!

- Ha! - Jason nahm sie kurz entschlossen auf die Arme, trug sie nach

oben und stieß mit dem Ellbogen die Schlafzimmertür auf. Mit dem
Absatz knallte er sie wieder zu und ließ seine süße Last dann auf das
breite Bett gleiten.

- Dann wirst du eben ohne Trauschein vergewaltigt. Bei Räubern ist

das so Sitte! - Unter Gelächter preßte er Isabelle mit seinem ganzen
Gewicht in die Kissen. Isabelle begann mit Hingabe an seinem rechten
Ohrläppchen zu knabbern.

- Sag mal, bist du ein Vampir? - erkundigte sich Jason grinsend und

brachte sein Ohr in Sicherheit.

- Von wegen! - Isabelle rollte sich geschickt unter ihm hervor und

richtete sich auf. Dann drückte sie Jason in die Kissen.

- Schon mal was von der Raupe Nimmersatt gehört? Die wird dich

jetzt mit Haut und Haaren zum Dessert verspeisen? - erklärte sie und
begann sein Hemd aufzuknöpfen.

Nach jedem Knopf tupfte sie einen Kuß auf das frei werdende

Stückchen Haut und streichelte es mit ihren Fingerspitzen.

- Schatz, du machst mich schwach… - murmelte Jason mit belegter

Stimme.

- Ist genau meine Absicht! - Ungerührt machte Isabelle weiter und

flüsterte, ohne ihn anzusehen: - Ich möchte dich kennenlernen, mein
Liebster. Ich weiß, was du fühlst, was du denkst… aber wie du
aussiehst, weiß ich nicht…

An den Schauern, die über seine Haut flogen, erkannte sie, daß auch

ihn dieses leidenschaftliche Spiel nicht kühl ließ. Langsam zog sie das
Hemd aus seinem Gürtel und streifte es ihm über den Kopf.

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- Ich habe mir Pianisten immer blaß, schwächlich und so

vorgestellt… - sagte sie.

Jason verpaßte ihr einen strafenden Klaps auf den Po. Isabelle ließ

sich nicht stören. Ihre Hände zogen jetzt den Reißverschluß seiner
Jeans auf. Jason las Bewunderung in ihren Augen, als Isabelle auch den
schmalen Slip entfernt hatte. Sie setzte sich auf ihre Füße zurück und
betrachtete das Wunder dieses Männerkörpers, von dem sie bisher nur
geträumt hatte.

Jason

begriff,

was

in

ihr

vorging.

Aber

auch

seine

Selbstbeherrschung hatte ihre Grenzen.

- Findest du nicht, daß du ein bißchen zuviel anhast? - erkundigte er

sich rauh und zog sie näher. Isabelle gab ihm einen Kuß auf die Nase
und schlüpfte geschmeidig aus ihrem Pulli. Rasch fielen auch die
anderen Hüllen.

Jason stöhnte auf, als sich ihre Brüste mit den harten rosa Spitzen in

das dichte Haargekräusel auf seiner Brust preßten.

Mund an Mund begegneten sich ihre heißen Zungen zu einem

verführerisch glühenden Spiel.

Es war eine besondere Nacht, die sie beide erlebten. Stunden voller

Verzückung, voll verzehrender, hemmungsloser Leidenschaft.

Sie waren eins in dem Bewußtsein, daß sie mehr aneinanderband als

nur ein flüchtiger Rausch der Sinne. Sie waren zwei Hälften, die sich
gefunden hatten und nur zusammen vollkommen sein konnten.

Längst hatte Jason die Initiative übernommen und liebkoste Isabelles

Körper mit Küssen, bis sie um Erlösung flehte.

Sie sahen sich an, als Jason endlich zu ihr kam und sekundenlang

reglos in ihr verharrte. Sie ließen den Blick nicht voneinander, während
Jason sie erst zögernd, dann immer schneller in seinen Rhythmus
mitriß.

Isabelle schrie auf, als die Welt um sie herum zu explodieren schien

und eine Welle der Lust sie davontrug…

***


Irgendwann in den stillen Stunden nach Mitternacht, geborgen in

Jasons Armen und in die silberne Lichtbahn des Mondes blinzelnd, der

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durch die offenen Fenster hereinschien, fand Isabelle auch den Mut,
über all die Schrecknisse zu sprechen, die bei der Untersuchung in der
Klinik wieder in ihrem Bewußtsein aufgetaucht waren.

- Ich war gar nicht sofort ohnmächtig, Jason. Ich glaubte es nur die

ganze Zeit. Es war so eine Art „Filmriß“, hat mir der Professor erklärt.
Ich konnte nicht ertragen, was passierte, und wollte einfach nicht
glauben, was ich sah. Raimonds Tod war zu entsetzlich.

- Wer war Raimond? - Seine ruhige Stimme erleichterte ihr die

Erinnerung.

- Wir waren verlobt. Ich hatte Raimond auf einer Party

kennengelernt, kurz nach meinem Schulabschluß. Er sah umwerfend
aus, ein glutäugiger Südfranzose, immer gut gelaunt, temperamentvoll
und sportlich. Er studierte Medizin, und unsere Familien waren sehr
angetan von der Verbindung. Nur Pierre, der nach dem Tod meiner
Eltern eine Art Vormund spielte, war dagegen. Natürlich setzte ich
meinen Willen durch, aber Pierre mischte sich ständig ein. Unter
anderem interessierte er sich sogar dafür, ob ich auch die Pille nahm.
Raimond platzte fast vor Wut, als ich es ihm erzählte.

- Am Unfallabend waren wir in St. Maxime in einer Disco. Pierre

kam zufällig dazu und verdarb uns die Stimmung so gründlich, daß wir
eher aufbrachen. Raimond fuhr einen dieser dreisitzigen Sportwagen,
eine Rakete. Auf der Fahrt kam es wegen dieser blöden Pillen-
Geschichte zum Streit. Raimond beleidigte Pierre, und der war so in
Rage, daß er ins Steuer griff. Den Rest kannst du dir vorstellen.
Raimond fuhr wie immer zu schnell. Er konnte nie etwas langsam
machen. Der Wagen geriet ins Schleudern und raste gegen einen Baum.
Ich wurde herausgeschleudert. Als ich wieder zu mir kam, sah ich
Pierre. Er hatte nur ein paar harmlose Schrammen und stand
bewegungslos vor dem brennenden Auto.

Isabelle klammerte sich an Jason, und er konnte das Entsetzen

spüren, das sie überlief.

- Verstehst du? Er stand reglos da und sah zu, wie Raimond hinter

dem Steuer verbrannte. Ich glaube, daß ich in diesem Augenblick den
Verstand verlor. Irgendwann kam ich wieder zu mir, und alles um mich
war dunkel. Ich konnte mich an nichts mehr erinnern. Der Unfall war in
meinem Kopf wie ausgelöscht. Also glaubte ich Pierres angebliche

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Verzweiflung und seine Selbstvorwürfe. Was sollte ich sonst tun? Ich
war ein Pflegefall, und Raimond, der einzige Mensch, der mir geholfen
hätte, war tot.

Sie schwieg. Jason streichelte zärtlich ihre Schultern und ließ ihr

Zeit, sich zu fassen. Dann sagte er:

- Bewahre Raimond einen Platz in deiner Erinnerung, aber vergiß

den Unfall. Denk an die Zukunft, an uns und unser Kind. Der Alptraum
ist endlich vorüber. Du mußt nur noch eine Entscheidung treffen…

Isabelle nickte.
- Ich weiß, Pierre.
- Du willst… - er zögerte ein bißchen, - ihn strafen?
Isabelle gab einen Laut von sich, der halb Seufzer und halb Protest

war.

- Ich weiß nur eines, ich möchte ihn nie wiedersehen. Ich kann nicht

beweisen, daß er Raimond absichtlich verbrennen ließ. Aber sein
Verhalten mir gegenüber, zeigt, daß dieser Verdacht nicht von der
Hand zu weisen ist. Er soll sich aus der Firma zurückziehen. Die
Anwälte werden entsprechende Verträge ausarbeiten. Er bekommt sein
Pflichtteil, und der Fall ist erledigt. Ich glaube, daß ihn das mehr treffen
wird als jede andere Strafe. Wirst du von jetzt an mein Vertreter sein
und diese Gespräche für mich führen?

- Natürlich. Aber die Anwälte werden durch deinen Entschluß viel

Geld verdienen. Du weißt, daß solche Trennungen nicht problemlos
sind?

Isabelle nickte.
- Das ist mir egal. Ich bin nicht so fanatisch mit Delorme-Cosmetics

wie Pierre, aber ich muß an unser Kind denken. Wenn es ein Mädchen
wird, tritt Großvaters verrücktes Testament wieder in Kraft und
außerdem… - in ihren Worten klang gutmütiger Spott mit, - …im
Moment ist dein Einkommen wohl unregelmäßig, hm? Kannst du dir
dieses Lustschloß überhaupt leisten?

- Du freches, kleines Ding! - schimpfte Jason. Doch seine Küsse und

seine Hände sprachen eine ganz andere Sprache.

***

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Der dunkelblaue Kastenwagen ohne Firmenaufschrift fiel Jason bei

seiner Rückkehr am nächsten Mittag sofort auf. Er parkte direkt vor
dem Hauseingang, und der Blick ins leere Führerhaus brachte keine
Erklärung. Außer einer Thermosflasche und der neuesten Ausgabe von
Paris Match war nichts zu entdecken.

Isabelle hatte Jason gesehen und kam ihm entgegen. Sie flog

förmlich in seine Arme, und einmal mehr bewunderte er ihre graziösen
Bewegungen.

- Haben wir Besuch? - murmelte er, ohne die Lippen mehr als einen

Millimeter von ihrem Mund zu heben.

- So etwas Ähnliches, komm herein. Erzähl mir, wie es war! -

Isabelle zog Jason ungeduldig in das große Terrassenzimmer, schubste
ihn in einen der Sessel und setzte sich auf seinen Schoß.

Im dunklen Anzug mit modischer Krawatte und passendem Hemd

sah er ungewohnt aus, aber mindestens ebenso attraktiv wie im
Freizeitlook. Sie sagte es ihm mit vielen Küssen, während sie seine
Krawatte über zwei Finger rollte.

- Erspare mir die Einzelheiten, - meinte Jason, als er endlich zu Wort

kam. - Pierre tobt und hält mich für den Schurken in diesem Stück, aber
er muß nachgeben. Euer Firmenanwalt, der auf deiner Seite zu stehen
scheint, hat ihm keine Hoffnung gelassen. Du wirst dich mit ihm in
Verbindung setzen müssen, um die Details zu klären. Kosmetik und
Parfüms sind nicht mein Spezialgebiet.

Isabelle schien mehr auf die Männerstimmen im Flur zu hören. Dann

klappte die Haustür, und Renato trat ein. Bei Jasons Anblick erschrak
er etwas, faßte sich aber schnell.

Er nickte Isabelle zu. Jason runzelte die Stirn. Die beiden erinnerten

ihn an Verschwörer.

- Was ist hier eigentlich los? - wollte er wissen. Doch Renato

vermied seinen Blick und verließ sofort das Zimmer.

- Was auch immer es ist, es war deine Idee, und Renato lehnt

demonstrativ jede Verantwortung dafür ab.

- So könnte man es nennen, - bestätigte Isabelle gelassen. -

Versprichst du mir, mich in Ruhe anzuhören und nicht gleich zu
brüllen?

Jason lehnte sich zurück und rückte etwas von ihr ab.

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- Das kann nur bedeuten, daß du mit mir über mich sprechen

möchtest, stimmt's?

Isabelle lehnte ihr Gesicht an seine Wange und fuhr mit einer Hand

durch seine Haare.

- Über uns, Jason. Nur über uns. Willst du nicht endlich einsehen,

daß du deine Tage nicht mehr damit verbringen kannst, in der
Weltgeschichte herumzureisen, schwarze Zigaretten zu rauchen und
Pastis zu trinken?

- Heute habe ich noch keinen Tropfen getrunken? - protestierte er.
- Du, das war kein Witz. Ich meine es ernst. Du bist kein Playboy,

sondern Jason Jeffrey Sandhurst, und ich finde, das ist eine Art
Verpflichtung.

- Ich meine es auch ernst, Isabelle. Ich kann nicht mehr spielen. -

Man merkte Jason an, wie schwer ihm die Worte fielen. - Ich habe es
versucht… es geht nicht mehr. Irgend etwas ist kaputt, seit Cathy
gestorben ist. Ich kann mich nicht an den Flügel setzen und mir
zuhören, wie ich die Noten ohne Herz und Seele herunterklimpere.

- Jason! Isabelles Lippen streiften seine Schläfe.
- Du mußt mir nicht sagen, daß das Leben schwierig sein kann. Ich

weiß das. Aber ich weiß auch, daß es immer einen Weg geben muß!

- Ich kann nicht.
- Versuch es wenigstens! Komm mit ins Musikzimmer. - Sie stand

auf und wollte ihn hochziehen.

- Laß das, bitte. Ich will nicht ins Musikzimmer. Meinetwegen soll

Renato auf dem verstimmten Steinway spielen, aber ich nicht.

Isabelle beugte sich vor, suchte seinen Blick und erkannte traurig,

wie trostlos grau und stumpf seine blauen Augen wirkten. Aber sie gab
nicht auf. Sie wollte kämpfen und ihn wachrütteln. Sie mußte es tun.

Sie zwang sich zur Heiterkeit.
- Ach herrje… jetzt ist unser Künstler im Selbstmitleid versunken.

Bitte bring mich nicht zum Weinen, Mister Sandhurst. Außerdem ist
der Steinway dank deiner künftigen Gattin gestimmt. Der Mann hat
drei Stunden an dem Instrument geschuftet. Er war überrascht, ein so
kostbares und seltenes Instrument in unserem Haus vorzufinden, das so
lange nicht gespielt worden ist.

- Isabelle! - Er sprang auf.

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Sie ging zur Tür und öffnete sie.
- Wirst du freiwillig ins Musikzimmer kommen, oder muß ich dich

hinschleppen?

Isabelle sah, wie es in seinem Gesicht arbeitete. Sie durfte nicht

nachlassen. Sie mußte Jason an das Instrument bekommen, ehe er
erkannte, daß sie sich längst nicht so sicher war, wie sie tat.

- Soll ich dich für albern halten? - Ihr kühler, fast arroganter Ton

verriet nicht, wie ihr Herz raste.

Der Vorwurf traf ihn. Betont lässig ging er an ihr vorbei.
- Also gut, da du ja doch keine Ruhe gibst, überzeug dich selbst, daß

es sinnlos ist…

In der Tür zum Musikzimmer blieb er verblüfft stehen. Isabelle hatte

im ganzen Raum Vasen mit frischen Sommerblumen verteilt.
Margeriten, Rittersporn, feurige Dahlien und verschwenderisch
blühende Sommerrosen leuchteten in allen Farben.

Massig, schwarz und wunderschön hob sich der kostbare Flügel vor

diesem prächtigen Rahmen ab. Seidig glänzte die frisch polierte
Tastatur.

Jason griff zum Hals und lockerte Kragen und Krawatte, als bekäme

er keine Luft.

- Die Kritiker haben dir bescheinigt, daß du einer der wenigen

Pianisten bist, die ihre Technik mühelos und wie im Schlaf
beherrschen. So etwas verlernt man nicht, - sagte Isabelle leise.

Jason blickte auf seine Hände. Lange, schmale Hände mit schlanken,

sensiblen Fingern.

Isabelle biß sich so fest auf ihre Unterlippe, daß es weh tat. Jason

rührte sich nicht.

Isabelle trat vor. Energisch wie ein tapferer kleiner Soldat kämpfte

sie mit Worten.

- Jason, du weißt, daß ich dich mehr liebe als alles auf der Welt.

Diese Liebe gibt mir auch das Recht, dich ehrlich und ungeschminkt zu
sehen. Ich will nicht die Frau eines frustrierten Weltenbummlers ohne
Beruf und Aufgabe sein. Solange du allein warst, konntest du mit
deinem Leben machen, was du wolltest. Aber du bist nicht mehr allein!
Du hast eine Frau und bald auch ein Kind. Was willst du deinem Sohn

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oder deiner Tochter antworten, wenn sie dich einmal fragen, was du
geschaffen hast? Daß du mutlos auf halber Strecke aufgegeben hast?

Isabelle weinte, ohne es zu wollen. Unwillig wischte sie die Tränen

mit dem Handrücken ab.

- Verdammt, Jason, spiel endlich! - schrie sie ihn an.
Er senkte bezwungen den Kopf. Isabelle wagte es nicht zu glauben.

Hatte sie es geschafft? Mit zitternden Knien stand sie da.

Tatsächlich riß Jason sich das Jackett ab und warf es achtlos über

einen Stuhl. Es wirkte wie die verzweifelte Vorbereitung für ein Duell.

Schwer ließ er sich auf der Klavierbank nieder und schlug

vorsichtig, prüfend und langsam eine erste Tonleiter an. Das Instrument
war perfekt.

Ihre Blicke begegneten sich. Isabelle versuchte ein Lächeln. Sie

hatte die Tränen vergessen, die feuchte Spuren auf ihre Wangen
zeichneten und ihren Augen einen leuchtenden Glanz gaben. Jason
verlor sich in diesem Leuchten und begann zu spielen.

Perlend, klar und rein reihte sich eine Tonfolge an die andere. Innig,

voller Kraft und Freude, die mit zunehmendem Spiel triumphierend
wuchs.

Irgendwann merkte Isabelle, daß Renato neben ihr stand und einen

Arm um sie legte. Eine Sekunde lehnte sie sich erschöpft an die
Schulter des alten Herrn.

Endlich wagte sie es, hinter Jason zu treten und die Arme um seinen

Hals zu legen.

Mit einem Ausdruck im Gesicht, der Isabelle vor Freude erbeben

ließ, wandte er sich halb zu ihr, um ihr einen Kuß auf die Nasenspitze
zu hauchen. Er hielt inne. Dann griff er ein neues Thema auf, und
Isabelle erkannte, daß Jason ihr eine Liebeserklärung in der Sprache
machte, die er so meisterhaft beherrschte: Er spielte den Liebestraum
von Liszt.

Renato hatte Tränen der Rührung in den Augen, während er neben

Madame Olga im Wohnzimmer saß und der Musik lauschte.

Er zwang sich zur Beherrschung und brummte mit seinem

fürchterlichen Akzent:

- Für ein öffentliches Auftreten wird er natürlich noch einige Zeit

arbeiten müssen, aber ich wage zu behaupten, daß er besser spielt als je

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zuvor. Die schrecklichen Jahre haben ihm eine Reife verliehen, die man
nicht erlernen kann. Ich wußte, nur eine Frau konnte die Wunden
heilen, die ihm eine andere Frau aus Egoismus geschlagen hat.

Madame Olga lächelte über den südlichen Überschwang seiner

Worte. Sie hatte nie daran gezweifelt, daß Isabelle ihren Dickkopf
durchsetzen würde.

Draußen im Park hatte es sich der Klavierstimmer mit Zeitung und

Thermosflasche unter einer alten Eiche bequem gemacht.

Es war 12.30 Uhr und seine Mittagspause war für ihn ein

jahrzehntelanges, geheiligtes Ritual. Es war ein älterer Herr, der im
Laufe eines langen Berufslebens viele Musiker gehört hatte.

Diese Liszt-Interpretation war jedoch auch für ihn ein nie gehörtes

Wunder. Er hatte noch keinen Pianisten gehört, der so viel zärtliche
Innigkeit mit einer so verblüffenden technischen Brillianz paarte.

Er ließ die Zeitung sinken und genoß die Musik.

-ENDE-


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