Leni Behrendt
Das Haus im grünen Grund
Gemächlich tickte die Standuhr in die Stille des Gemachs,
in dem das Ehepaar saß, so recht zufrieden mit seinem
Geschick. Und dazu hatte es auch allen Grund. Denn es
hatte alles, was ein Mensch sich wünschen kann. Ein
sorgenloses Leben, ein behagliches Heim, zwei
wohlgeratene Kinder und einen Schwiegersohn, der ihnen
zusagte. Er war Arzt mit einer gutgehenden Praxis und
konnte seine junge Frau nach der Hochzeitsreise in ein
hübsches Haus führen, das komplett eingerichtet war. Und
da der Rechtsanwalt und Notar Dr. Rudolf Danz seiner
Tochter noch eine gute Mitgift geben konnte, war es ein
festes Fundament, auf dem die Ehe gegründet wurde.
Gestern hatte man die Hochzeit groß gefeiert im ersten
Hotel der Stadt, und nach dem Festessen hatte das junge
Paar sich heimlich entfernt, um sich auf die Hochzeitsreise
zu begeben.
Nun saßen die Eltern der jungen Frau beisammen und
sprachen von dem Fest, auf dem alle so froh und
leichtbeschwingt gewesen waren. Ihr Sohn, ein Bursche von
sechzehn Jahren, hatte nach der ausgedehnten Feier noch
nicht aus dem Bett finden können, und auch seine junge
Base schlief noch in seliger Ruh.
Danz hatte das Bruderkind vor einer Woche aus dem
Töchterheim geholt, wohin der Vater seine Tochter
gegeben, nachdem seine Frau durch Leichtsinn ums Leben
gekommen war, denn Leichtsinn war es, stark erhitzt vom
hohen Sprungbrett kopfüber ins eiskalte Wasser zu
springen. Dabei machte das durch Sport überanstrengte
Herz nicht mehr mit, es tat seinen letzten Schlag.
Gleichgültig war das dem Gatten natürlich nicht, schnitt
aber auch nicht ins Lebensmark. Auch die vierzehnjährige
Tochter traf der Tod der Mutter nicht sehr, da die fanatische
Sportlerin sich wenig um ihr einziges Kind gekümmert
hatte. Der Vater befand sich viel auf Forschungsreisen, also
blieb die Kleine bezahlten Kräften überlassen, die gewiß
nicht liebevoll mit ihr umgingen. Da hatte sie es im
Töchterheim schon besser, weil sie mit jungen Mädchen
zusammenkam, während sie im Elternhaus einsam
gewesen war.
Vor einem halben Jahr war nun auch der Vater durch ein
bösartiges Fieber ums Leben gekommen, das er sich in den
Tropen zugezogen hatte. In seinem Testament hatte er zum
Vormund der Tochter seinen Bruder, den Notar Dr. Rudolf
Danz, bestimmt. Ferner hätte er bestimmt, daß seine
Tochter bis nach Absolvierung des Abiturs in dem Heim
blieb, das dafür bekannt war, seinen Zöglingen eine
tadellose Erziehung und vielseitige Ausbildung zu geben.
Danach sollte der Vormund sein Mündel väterlich
betreuen.
Was er denn auch tat, indem er sein Mündel nach Bestehen
des Abiturs in sein Haus holte. Sie war ein entzückendes
Menschenkind, die neunzehnjährige Ortrun Danz, dazu
noch eine reiche Erbin. Was Wunder, wenn die Mitgiftjäger
mobil wurden.
Der gefährlichste unter ihnen war der Baumeister Zerkel.
Ein routinierter Schwerenöter, der sich gestern auffallend
um Ortrun bemüht hatte. Darüber sprach soeben Frau
Danz, was dem Gatten gewissermaßen die Galle
hochgehen ließ.
»Ich wäre diesem aalglatten Laffen am liebsten an den
Kragen gegangen«, brummte er verdrossen. »Das könnte
ihm so passen, mit dem Geld Ortruns sein Geschäft zu
sanieren, das über und über verschuldet ist. Wahrscheinlich
nimmt er an, daß Ortrun bei der Heirat für mündig erklärt
wird und somit über ihren Reichtum verfügen kann.«
»Und ist dem nicht so?«
»Nein. In dem Testament ist die gesetzliche Volljährigkeit
ausdrücklich betont. Erst dann darf Ortrun über das Geld
frei verfügen, was immerhin länger als ein Jahr dauert. Und
so lange kann der Mann nicht warten, sonst geht er pleite.«
»Nun, dann ist ja keine Gefahr.«
»Meinst du, aber ich sehe da weiter. Nämlich, daß dieses
junge, unerfahrene Kind, das so lange wohlbehütet im
Töchterheim lebte, sich von dem schmeichlerischen
Blender gestern das Köpfchen verdrehen ließ. Und damit
Ortrun schleunigst aus der Nähe dieses gefährlichen
Mitgiftjägers kommt, wirst du mit ihr auf Reisen gehen.«
»Aber bester Mann, wie denkst du dir das eigentlich? Ich
kann doch unmöglich dich und den Jungen, überhaupt die
ganze Wirtschaft im Stich lassen und auf unabsehbare Zeit
in der Weltgeschichte herumgondeln. Ich habe euch viel zu
sehr verwöhnt, als daß ihr ohne mich fertigwerden könntet.
Vielleicht kann man Ortrun bei Bekannten unterbringen.«
Und siehe da, schon trat diese Bekannte ein. Fräulein
Frauke Gortz, dreiundzwanzigjährig, sehr hübsch und als
guter, anständiger Mensch bekannt. Sie war nach dem Tode
ihres Vaters, eines höheren Beamten, zu dessen Schwester
gezogen, wo sie als besseres Dienstmädchen schuften
mußte, zwei Jahre lang. Dann jedoch hatte das Schicksal
mit der geplagten Frauke ein Einsehen und bescherte dieser
eine Erbschaft, mit der sie nie gerechnet hatte. Zuerst hielt
sie es für einen Witz, was ihr der seriöse Anwalt Danz da
vorlas. Nämlich, daß ein Vetter ihres Vaters ihr nicht nur
sein Haus nebst acht Morgen Land und zehntausend Mark,
sondern auch noch eine monatliche Rente von vierhundert
Mark vermacht hatte. Kein Wunder, daß die von den
Verwandten geduckte Frauke so viel Glück zuerst nicht
fassen konnte. Doch als sie endlich begriffen hatte, brach
eine rührende Freude durch. Lachend und weinend
zugleich fiel sie dem Notar um den Hals und dankte ihm,
als wäre er der Geber all der Herrlichkeit.
Und nun trat sie ein, lachend über das ganze Gesicht.
»Hallo, Fräulein Frauke, Sie strahlen ja wie ein ganzer
Weihnachtsbaum«, empfing der Hausherr sie
schmunzelnd. »Und dabei müßten Sie doch ganz klein und
häßlich sein.«
»Nanu, was hab ich denn verbrochen?«
»Sie sind nicht zur Hochzeitsfeier erschienen.«
»Um mich deshalb zu entschuldigen, bin ich hier«, nahm
sie dankend den ihr gebotenen Platz ein. »Ich mochte mit
den Verwandten nicht mehr zusammentreffen, mit denen
ich vorgestern eine ekelhafte Auseinandersetzung hatte.«
»Also gab es Krach, als Sie ihnen eröffneten, daß Sie die
zärtlichen Verwandten verlassen wollten?«
»Und was für einen Krach! Man wurde direkt gemein.
Unverschämtheit und Undankbarkeit war noch das
gelindeste, was man mir vorwarf. Und als sie hörten, daß
Hulda mit mir käme, da war vollends der Teufel los. Ich
entfleuchte, schnürte mein Bündel und siedelte mit meiner
Getreuen in ein Hotel über, um so weiteren Gemeinheiten
zu entgehen. Deshalb erschien ich nicht zur Hochzeitsfeier,
worum ich jetzt um Entschuldigung bitte.«
»Und wann soll die Reise losgehen?«
»Morgen, Herr Doktor.« .
»Gleich mit Sack und Pack?«
»Ja.«
»Wäre es nicht ratsam, sich zuerst einmal den ererbten
Besitz anzusehen?«
»Nein«, kam es mit Entschiedenheit zurück. »In welch
einem Zustand sich auch das Anwesen befinden mag, ich
werde auf jeden Fall meinen Wohnsitz dort nehmen.«
»Und wenn Ihre Verwandten Sie dort belästigen?« gab Frau
Danz zu bedenken.
»Das sollen sie nur wagen!« blitzte es in den graugrünen
Augen gefährlich auf. »Dann werfe ich das gemeine Pack
kopfüber hinaus.
Ich habe unter ihm genug zu leiden gehabt«, fuhr sie nun
ruhiger fort. »Habe zwei Jahre lang für sie geschuftet wie
ein Kuli, ohne dafür auch nur einen Pfennig zu
bekommen. Wenn ich nicht das kleine väterliche Kapital
gehabt, hätte ich mir nicht mal ein Paar Strümpfe kaufen
können. Hulda hat auch nicht immer ihren Lohn
bekommen – na, Schwamm drüber! Es ist ja jetzt
überstanden, Gott sei Dank!«
»Haben Sie denn nie daran gedacht, sich in fremdem
Hause einen Posten zu verschaffen?« fragte Frau Danz. »Da
hätten Sie bestimmt bei viel weniger Arbeit noch ein gutes
Gehalt bezogen.«
»Und wie ich daran dachte. Habe mich immer wieder um
Posten beworben, die meinen Kenntnissen entsprachen.
Aber nirgends wollte man Hulda mit übernehmen, was für
mich ausschlaggebend war. Denn das hat die treue Seele
wahrlich nicht verdient, von einem Menschen im Stich
gelassen zu werden, dem und dessen Familie sie zwei
Jahrzehnte aufopfernd diente. Also blieb ich ihretwegen
immer weiter bei den Verwandten.«
»So was nennt man Treue«, betrachtete Danz wohlgefällig
das junge Mädchen, das da so hübsch und adrett vor ihm
saß. Mittelgroß und schlank mit rundlichem Gesicht, in
dessen Wangen beim Lachen zwei allerliebste Grübchen
spielten. Die graugrün schillernden Augen waren von
dichten dunklen Wimpern umsäumt. Das kastanienbraune
Haar war gepflegt, wie überhaupt das ganze Mädchen, das
etwas ungemein Klares, Sauberes ausstrahlte.
Außerdem gewann Frauke Gortz durch ihr frisches,
natürliches Wesen, ihr lustiges Lachen und ihre warme
Stimme. Es gab wohl kaum einen Menschen, dem sie nicht
sympathisch war. Und zu den Ausnahmen gehörten
ausgerechnet ihre Verwandten, für die sie sich zwei Jahre
lang abgeschuftet hatte, ohne Bezahlung und gegen
schlechte Behandlung.
»Schofles Pack«, dachte der Anwalt laut und mußte dann
über die verdutzten Gesichter der beiden Damen lachen.
»Ihr seid natürlich nicht gemeint. Also brauchen Sie nicht
gleich zum Aufbruch zu rüsten, Fräulein Frauke.«
»Deshalb tu ich es bestimmt nicht«, fiel sie vergnügt in das
Lachen ein. »Ich bin ziemlich dickfellig geworden, dafür
hat die liebe Verwandtschaft gesorgt.
Wissen Sie übrigens, Herr Doktor, daß der junge Zerkel
scharf hinter Ihrer Nichte her ist?«
»Und wie ich das weiß«, nickte er grimmig. »Er benahm
sich ja auffällig genug bei der Umgarnung des
Goldfischchens. Mag er nur mit seiner Werbung kommen,
er wird bestimmt mit langem Gesicht abziehen. Denn
meine Nichte darf laut Testament über die
Hinterlassenschaft ihres Vaters erst dann verfügen, wenn sie
volljährig geworden ist, und das dauert immerhin noch
länger als ein Jahr. Ich glaube kaum, daß der aalglatte
Schleicher so lange warten kann, dafür sitzt ihm das Messer
zu dicht an der Kehle. Nichtsdestotrotz werde ich die
Kleine aus der Gefahrenzone bringen, bevor dieses
unerfahrene Kind sich ganz und gar das Köpfchen von
diesem üblen Scharlatan verdrehen läßt.«
»Und damit täten Sie recht«, nickte Frauke. »Schon aus
Niedertracht allein würde der ekelhafte Bursche das
Mädchen betören, weil es ihm nun doch mal Spaß macht,
seine Unwiderstehlichkeit zu erproben. Und damit brüstet
er sich auch noch. Der Gefahr dürfen Sie Ihre Nichte nicht
aussetzen, Herr Doktor. Bringen Sie sie in Sicherheit vor
dem Bel ami, auf den die Mädchen und Frauen ja leider
Gottes prompt hereinfallen, bevor es zu spät ist.«
»Das ist auch meine Sorge. Ich machte schon meiner Frau
den Vorschlag, mit der Kleinen so lange auf Reisen zu
gehen, bis im Netz des üblen Fischers ein anderes
Goldfischchen zappelt. Aber unser liebes Muttchen will
ihren Pflichtenkreis nicht verlassen, was ja zu verstehen ist.
Wohl könnte ich ohne weiteres für mein Mündel eine
Reisedame verpflichten, aber weiß man, in wessen Hände
es da käme? Und Verwandte oder gute Bekannte haben wir
nicht, wo man die Kleine unterbringen könnte. Ich muß
schon sagen, daß ich da ziemlich ratlos bin.«
»Geben Sie mir das Mädchen mit«, entschied Frauke
spontan. »Bei mir wäre es bestimmt in guter Hut.«
»Ist das Ihr Ernst, Fräulein Frauke?«
»Na was denn sonst?« fragte sie erstaunt zurück. »Ihre
Nichte tut mir leid, deshalb möchte ich sie schützen,
gemeinsam mit Hulda, die ein guter Zerberus ist. Laß die
Mitgiftjäger nur kommen. Ein Eimer kaltes Wasser übern
Kopf gestülpt ist ihnen sicher«, schloß sie lachend, und
amüsiert fiel das Ehepaar ein.
»Das traue ich Ihrer Hulda ohne weiteres zu«, sagte der
Anwalt. »Also es gilt, Fräulein Frauke?«
»Es gilt, Herr Doktor. Fragt sich nur, ob Ihre Nichte damit
einverstanden ist, was über ihren Kopf hinweg bestimmt
wird.«
»Daran ist sie vom Töchterheim her gewöhnt. Da hatte sie
nichts zu wollen, sondern widerspruchslos zu gehorchen.
Also wird sie es auch jetzt tun.«
Womit er recht hatte. Denn als die Nichte gleich darauf
erschien und der Onkel ihr den Vorschlag unterbreitete,
sah sie mit ihren leuchtendblauen Augen Frauke eingehend
an, die lächelnd dem inquisitorischen Blick standhielt.
Dann sagte das Mädchen mit einer Ernsthaftigkeit, die zu
einer Neunzehnjährigen gar nicht passen wollte:
»Wenn du es für richtig hältst, Onkel Rudolf, dann gehe ich
selbstverständlich mit Fräulein Gortz.«
»Auch gern, Ortrun?«
»Sehr gem. Schon deshalb, weil ich auf dem Lande leben
möchte. In dieser großen Stadt ist es mir zu unruhig, zu
laut, zu turbulent. Ich glaube kaum, daß ich mich hier
wohl fühlen könnte«, bekannte sie freimütig, setzte dann
jedoch verlegen werdend hinzu: »Das betrifft natürlich nur
die Stadt, Onkel Rudolf, nicht dein Haus. Ich habe mich
nur ungeschickt ausgedrückt, nicht wahr?«
»Nein, mein Kind«, beruhigte er sie, die ihn ängstlich
ansah. »Ich weiß schon, wie du es meinst und kann es gut
verstehen. Der Kontrast zwischen dem abgelegenen
Töchterheim und der lärmenden Stadt ist eben zu groß.
Daher ist es gut für dich, wenn du als Zwischenstation in
ein Dorf kommst. Vorläufig jedenfalls, später sehen wir
dann weiter.«
»Und jetzt laß das Kind erst einmal frühstücken«, schaltete
sich die resolute Gattin ein. »Komm, mein Herzchen,
lassen wir uns etwas servieren!«
Als sie gegangen waren, lachte Frauke kurz auf.
»Das könnte dem Zerkel so passen, sich dieses
bezaubernde Menschenkind einzufangen samt seinem
Geld. Ich kann mir denken, daß er gestern bei dem Fest alle
Minen springen ließ. Wie reagierte das Mädchen darauf?
War es sehr entzückt?«
»Eigentlich nicht«, entgegnete er versonnen. »Eher ängstlich
und verwirrt. Sicherlich ist es der erste Mann, der sie
umgarnte. Denn in einem Töchterheim werden die
Zöglinge natürlich den Männern ferngehalten. Also kein
Wunder, wenn so ein naives Menschenkind auf den ersten
besten Blender hereinfällt. Vielleicht ist es auch
übertriebene Vorsicht von mir, das Mädchen aus der
Gefahrenzone zu schaffen. Aber ich sage mir, daß
vorbeugen immer besser ist als heilen. Jedenfalls bin ich
Ihnen zu großem Dank verpflichtet, daß Sie sich der
Kleinen annehmen wollen.«
»Von Dank kann keine Rede sein«, wehrte sie ab. »Sie tun
mir direkt einen Gefallen, wenn Sie mir Ihre Nichte
mitgeben. Da habe ich wenigstens Gesellschaft. Noch
etwas?«
»Ja. Wir müssen noch die finanzielle Seite erörtern. Ich
zahle Ihnen monatlich die gleiche Summe wie dem
Internat.«
»Herr Doktor, Sie sind wohl nicht recht gescheit! So ein
Institut – welches ist es überhaupt?«
»Das Elitetöchterheim. Ist Ihnen das ein Begriff?«
»Nein. Aber es hört sich schon so exquisit an.«
»Es ist das vornehmste in seiner Art.«
»Aha! Dementsprechend wird wohl auch die Bezahlung
sein. Im übrigen sollten Sie nicht so vertrauensselig sein,
als Jurist schon gar nicht. Wenn ich nun das viele Geld
annehme und den größten Teil davon für mich verwende?«
»Dann hänge ich meinen Beruf an den Nagel«, bemerkte er
trocken. »Denn ein Jurist mit einer so miserablen
Menschenkenntnis soll lieber Filzschuhe wichsen.«
»Dazu will ich Sie denn doch nicht degradieren«, lachte sie
hellauf. »Da will ich lieber großmütig sein und ehrlich
bleiben.«
»Na also«, schmunzelte er. »Dann sind wir uns ja einig.
Hier haben Sie meine Hand, schlagen Sie ein. Schließen
wir ein Schutz- und Trutzbündnis zu Heil und Frommen
des Waisenkindes Ortrun Danz.«
Am nächsten Tag ging dann die Reise los. Der
Rechtsanwalt, der die »Auswanderer« gern zur Bahn
gebracht hätte, mußte davon absehen, da ein Prozeß ihn in
Anspruch nahm. So mußte er denn zu Hause von der
Nichte Abschied nehmen.
Die Ermahnungen, die er ihr mit auf den Weg gab, nahm
sie schweigend hin. Sie war ja vom Töchterheim an
derartige Sermone gewöhnt, sie machten ihr gar nichts
mehr aus.
Ruhig sah sie den Mann an, der ihr so fremd war, wie jeder
andere Mensch auch. Zwar hatte er sie jedes Jahr einmal im
Internat besucht. Doch die wenigen Stunden, die er bei ihr
verweilte, hatten nicht genügt, um ihn ihr vertraut zu
machen. Daher fiel ihr auch jetzt der Abschied von ihm
nicht schwer.
Und von der Tante schon gar nicht, die ihr das Geleit zum
Bahnhof gab, wo man mit Frauke Gortz zusammentraf.
Warum sie mit ihr gehen sollte, darüber zerbrach Ortrun
sich den Kopf nicht. Sie kannte es ja nicht anders, als
andere über sich bestimmen zu lassen, durfte keinen
eigenen Willen haben. Sie hatte sich widerspruchslos dem
zu fügen, was andere von ihr verlangten. Warum auch
nicht jetzt? Ihr Vormund bestimmte, und sie gehorchte.
»Da bist du ja«, empfing Frauke sie freudig erregt. »Wir
sagen gleich du zueinander, lassen ein Fremdsein erst gar
nicht zwischen uns aufkommen. Das da ist unsere liebe
Hulda, die dich bestimmt verwöhnen wird. Je mehr sie
nämlich zum Verwöhnen hat, um so wohler fühlt sie sich.«
Schüchtern reichte Ortrun der ihr Vorgestellten die feine
Hand, die in der verarbeiteten Rechten der großen,
grobknochigen Person beinahe verschwand. Alles wirkte
derb an ihr. Auch das Gesicht mit dem glatten, dunklen
Scheitel.
Und doch fühlte Ortrun sich zu dem alten Mädchen sofort
hingezogen, obwohl es brummig dreinschaute. Und jetzt
wurde die Miene sogar grimmig. Denn Hulda hatte etwas
erspäht, was sie mit Grimm erfüllte bis zur Halskrause.
Finster hing ihr Blick an der Familie, die in Begleitung eines
weißhaarigen Herrn den Bahnsteig entlangkam. Der Herr
mußte schon eine wichtige Persönlichkeit sein, da die
beiden Damen ihm zu einer Stunde das Geleit gaben, an
der sie gewöhnlich noch zu schlafen pflegten.
Rasch trat Hulda vor Ortrun, das grazile Personellen mit
ihrer robusten Gestalt völlig deckend. Denn das fehlte
gerade noch, daß der geleckte Affe ihre Kleine entdeckte
und auf sie zuscharwenzelte. Und als er dann später doch
ihrer ansichtig wurde, befand sie sich bereits mit Frauke am
Abteilfenster. Und Zerberus Hulda, die hinter den beiden
stand, sah schadenfroh in das verblüffte Gesicht des
Mannes, den man mit geschniegelt und gebügelt
bezeichnen konnte. Er sagte etwas zu Eltern und Schwester,
die vor dem Fenster verharrten, hinter dem sich der
weißhaarige Herr befand.
Und nun starrten vier Augenpaare ungläubig zu Ortrun
hin, die gefesselt auf das turbulente Treiben des
Reiseverkehrs schaute, während Frauke sich mit der
draußenstehenden Frau Danz unterhielt. Sie hatten längst
die Familie Zerkel entdeckt und amüsierten sich über die
verdatterten Gesichter der vier Herrschaften, die so ganz
einander würdig waren. Allein schon in ihrer auffallenden
Kleidung, die man bei Tochter und Sohn noch
entschuldigen konnte, da sie beide jung waren. Doch daß
die Mutter, die bereits die Fünfzig überschritt, wie ein
Backfisch aufgeputzt war und der noch ältere Vater wie ein
Dandy herumstolzierte, das machte sie im höchsten Grade
lächerlich.
Dann kam der Augenblick, den jeder nervöse Reisende
kaum erwarten kann. Die Wagentüren knallten zu, der
Mann mit der roten Mütze gab das Abfahrtszeichen, und
langsam setzte sich der Zug in Bewegung. Taschentücher
flatterten, wurden ferner und ferner, kamen schließlich
ganz außer Sicht. Die Reisenden verließen den Gang und
suchten die Abteile auf, wo sie vorsorglich einer! Platz
belegt hatten. Was nicht schwierig ist, wenn der Zug auf der
Station eingesetzt wird, was hier ja der Fall war.
So hatten denn die drei »Auswanderer« fürs erste sogar ein
Abteil für sich, was sie natürlich begrüßten. Den einen
Fensterplatz nahm Frauke ein, auf den zweiten wurde
Ortrun von Hulda geschoben, obwohl sie dagegen
protestierte:
»Aber der kommt mir als Jüngsten doch nicht zu.«
»Was heißt hier zukommen?« schnitt Hulda ihr das Wort
ab. »Ich mach sowieso ein Nickerchen. Da ist es mir egal,
wo ich sitze. Hauptsache, daß der Platz bequem ist.«
Sprach’s, kuschelte sich in die Türecke und war vorläufig
nicht mehr zu sprechen.
»Tja, das ist unsere Hulda«, lachte Frauke. »An ihre
kurzangebundene Art wirst du dich schon gewöhnen
müssen. Größtenteils brummt sie, weniger schmunzelt sie,
und manchmal lacht sie sogar. Aber gut meint sie es
immer, hat ein treues, warmes Herz. Mach es dir nur recht
bequem, wir fahren mit diesem Zug drei Stunden.«
»Und wann sind wir am Ziel?« fragte Ortrun schüchtern.
»Oder darf ich das nicht wissen?«
»Warum denn nicht?« gegenfragte Frauke erstaunt.
»Weil ich im Töchterheim – «
»Aha!« unterbrach die andere sie lachend. »In dir steckt
noch der gewohnte Drill. Den schüttle ja rasch ab und
sprich mit uns, wie dir das Schnäbelchen gewachsen ist. Ich
bin ja schließlich keine Respektsperson für dich, sondern
eine um vier Jahre ältere Freundin, zu der du Vertrauen
haben darfst. Gleichfalls zu der brummigen Hulda. Wir
wollen uns immer gut vertragen, da wir aufeinander
angewiesen sind. Wollen uns das Leben so schön wie
möglich einrichten. Sollte es dir jedoch bei uns nicht
gefallen, kannst du zu jeder Zeit zu deinem Vormund
zurück.«
»Bitte nicht«, fiel Ortrun ihr ängstlich ins Wort. »Er ist mir
so fremd – so – so – ach bitte, schick mich nicht fort.«
Das letzte klang schon tränenerstickt und rasch griff Frauke
nach den flatternden Händen.
»Mädchen, du zitterst ja am ganzen Körper«, sagte sie
kopfschüttelnd. »Es fällt mir gar nicht ein, dich
wegzuschicken. Dafür bist du mir jetzt schon zu fest ans
Herz gewachsen. Ich machte dir doch nur einen Vorschlag.«
»Der sehr dumm war«, kam es brummend aus der Ecke, in
der Hulda saß. »Mach mir das arme kleine Ding nicht noch
kopfscheuer, als es ohnehin schon ist. Dann kriegst du es
mit mir zu tun.«
»Oha!« lachte Frauke amüsiert. »Huldchen droht und dann
wird’s gefährlich. Ich dachte, du schläfst.«
»Tat ich auch. Aber was du da sagtest, das erweckte mich
wie die Posaunen von Jericho.«
Da mußte selbst die schüchterne Ortrun lachen, und Hulda
nickte zufrieden.
»Na also. Klingt wohl noch zaghaft, aber bald wird es
anders sein. Fahren wir schon lange?«
»Ungefähr zehn Minuten.«
»Na, meinem Magen nach zu schließen sind es Stunden. Er
hängt mir ganz schief.«
»Dann stopfe ihn dir gerade«, neckte Frauke ihre resolute
Getreue. »Hast ja für Furage genügend gesorgt.«
»Wohl mir, daß ich nicht auf dich hörte, sondern meinen
Kopf durchsetzte.«
»Tust du das nicht immer, Huldchen?«
»Bei dir auch nötig, mein Herzchen. Sonst könnte ich in
diesem rasenden Ungetüm verhungern.«
»In dem gibt es einen Speisewagen.«
»Ach was«, winkte Hulda verächtlich ab. »Das ist alles nur
Nuschtwerk und unverschämt teuer. Ich bin mehr für
Selbstversorgung.«
Damit hob sie aus dem Netz einen kleinen Koffer, stellte
ihn aufs Polster, klappte den Deckel hoch und was man da
erblickte, konnte einem schon das Wasser im Mund
zusammenlaufen lassen. Belegte Brote, zerteiltes Geflügel,
delikate Happen, Obst, das alles zusammen bot ein
verlockendes Stilleben. Eine Thermosflasche mit Kaffee
nebst drei Bechern war auch vorhanden, selbst ein
Fläschchen Kognak fehlte nicht. Auch nicht Pappteller,
Papierservietten und kleine Bestecke, an alles harte Hulda
gedacht.
»Das hast du wieder einmal großartig gemacht«, lobte
Frauke. »Bei dem Anblick verspürt man einen
Mordshunger.«
»Das hab ich mir so ungefähr gedacht«, nickte das alte
treue Mädchen zufrieden. »Wenn man eine Reise antreten
will, ist man viel zu aufgeregt, um vorher zu essen. So war
es doch auch mit Ihnen, kleines Fräulein, nicht wahr?«
»Ja«, nickte Ortrun verlegen. »Wollen Sie mich, bitte, nicht
duzen? Dann fühle ich mich nicht so fremd.«
»Na schön«, brummte Hulda. »Dann aber nur auf
Gegenseitigkeit. Und nun wollen wir essen, solange wir
noch allein sind. Kommen erst andere hinzu, sind wir
nicht mehr so ungeniert.«
Womit sie rechtbehalten sollte. Denn kaum hatte sie den
Koffer ins Netz zurückgelegt, als der Zug auf einer größeren
Station hielt und eine Menge Reisende hinzustiegen. Die
bisher nur mäßig besetzten Abteile füllten sich.
Neben Ortrun setzte sich ein älterer Herr mit strengem
Gesicht, der so den Eindruck machte, als wäre nicht gut mit
ihm Kirschen essen. Neben ihm nahm eine junge Frau
Platz, zu der zwei Knaben gehörten, deren Erziehung alles
zu wünschen übrig ließ. Hulda, die auf der andern Seite
neben Frauke saß, bekam eine Nachbarin, die wie eine
vom Tod vergessene Gouvernante anmutete in ihrem
vorsintflutlichen Habit. Denn sie trug tatsächlich noch eine
Hemdbluse mit steifgestärktem Kragen nebst Krawatte,
einen langen Rock und ein Pincenez, wie man es vor einem
halben Jahrhundert von wegen der vornehmen Note trug.
Selbst von solchen, die eine Brille nicht benötigten und
Fensterglas in die bügellose, oft sogar goldene Fassung
setzen ließen. Und da der Volksmund ja zu allen Zeiten
solche Schwächen zu glossieren pflegt, so prägte er den
Ausspruch: Ohne Brill’ ist nichts zu machen, ohne
Pincenenz kein Sonntag.
Nun, für diese Dame war das Raritätenstück eine
Notwendigkeit, das merkte man ihren kurzsichtigen Augen
an. Wahrscheinlich hätte eine Brille mit dicker Fassung gär
nicht zu ihr gepaßt. Nicht zu dem feinen Gesicht und der
ganzen Haltung. Denn trotz der lächerlichen Aufmachung
machte die Dame einen vornehmen Eindruck.
Ortrun sah hilflos zu Frauke hinüber, als der größere der
beiden Jungen derb ihren Arm packte und frech verlangte:
»Steh auf, laß mich da sitzen! Ich will durchs Fenster
sehen.«
»Na, nun mal langsam«, begann Frauke, kam jedoch nicht
weiter, da der Herr wie ein böser Kettenhund knurrte und
nach dem Schuh griff, wo hinter dem Oberleder ein
Hühnerauge prächtig gedieh. Was ja nun selbst einen
Gemütsmenschen zum Berserker machen kann, wenn auf
das Prachtstück herzhaft getreten wird. Und das hatte der
kleinere Knabe getan, der in dem engen Gang
herumhampelte.
»Mach bloß, daß du aus meiner Nähe kommst!« schrie der
Schmerzgepeinigte den Jungen an, worauf dieser ihm die
Zunge herausstreckte, was die Frau Mama vor Stolz strahlen
ließ.
»Recht so, mein Sohn, laß dir nichts gefallen.«
Doch gleich darauf mußte er sich die Ohrfeige gefallen
lassen, die Mutterhand ihm verpaßte. Denn der kleine
Rüpel hatte blitzschnell eine Rasche aus der am Boden
stehenden Tasche gezogen, sie geöffnet – und schon ergoß
sich der rote Saft über den neuen Frühjahrsmantel, wofür
die eben noch so stolze Mutter absolut kein Verständnis
hatte, sondern das liebe Söhnchen gar kräftig ohrfeigte. Das
zweite Herzenskind bekam gleich eine mit, weil es sich
über das Malheur halb totlachen wollte. Und als sie gar
noch die schadenfrohen Mienen der Mitreisenden sah, da
wurde sie weiß vor Wut. Stieß die lieben Kinderchen aus
dem Abteil, nahm das Gepäck und zog zorngeschwellt ab.
»Gott in deine Hände«, sprach Hulda in die Stille nach
dem Sturm hinein. »Was soll aus solchen Kindern werden.«
»Strolche«, entgegnete der Herr trocken, indem er sich
erhob und nach seinem Gepäck griff, da der Zug sein
Tempo verlangsamte. »Solche Typen von Mütter und
Kindern sind mir bekannt, da ich seit zwei Jahrzehnten
einen Stadtpark verwalte, in dem sich ein großer
Kinderspielplatz befindet. Wehe, wer sich da nicht
durchsetzen kann!«
Der Zug hielt, er verließ das Abteil, das Minuten später ein
Herr betrat, der höflich grüßte, die Mitreisenden flüchtig
musterte, dann Platz nahm und sich gleich hinter einer
großen Zeitung verschanzte. Somit sah man nur seine
langen Beine, die in einer tadellosen Hose steckten.
Jetzt kam noch ein Herr hinzu, der so aussah, als ob er sich
selbst nicht leiden könnte. Mürrisch drückte er sich in die
Türecke und verkroch sich in seinem Mantel, wo er bald
entschlummerte.
Die altmodische Dame machte ein Nickerchen, im
wahrsten Sinne des Wortes. Denn immer wieder nickte sie
im Schlaf, wobei der Kneifer lustig mitwippte. Es war ein so
drolliges Bild, daß Frauke ihre beiden Begleiterinnen
darauf aufmerksam machte. Und als der schlafende Herr
noch so komische Grunztöne von sich gab, da preßten sie
ihre Taschentücher gegen den Mund, um so das Lachen zu
ersticken.
Sie hatten keine Ahnung, daß sie von dem andern Herrn
über die Zeitung weg beobachtet wurden, da sie keine
Notiz von ihm nahmen. Daher entging ihnen das
stillvergnügte Schmunzeln, mit dem er alles ringsum in
sich aufnahm.
Als der Zug wieder einmal seine Fahrt verlangsamte, warf
Frauke einen Blick auf die Armbanduhr.
»Ich glaube, wir sind am Ziel«, sagte sie hastig. »Halten wir
uns bereit.«
Und damit taten sie recht. Denn kaum, daß sie in ihre
Mäntel geschlüpft waren und nach dem Gepäck gegriffen
hatten, hielt der Zug auf der Station, wo sie ihn verlassen
mußten. Der erste Teil ihrer bestimmt nicht langweiligen
Reise war geschafft.
Auf dem Bahnsteig bat Frauke einen Beamten, ihr den Weg
zur Kleinbahn zu beschreiben. Dann schlossen sie sich
dem Menschenstrom an, der zur Sperre strebte, dann durch
die Bahnhofshalle dem Ausgang zu. Dort blieben sie zuerst
einmal stehen und sahen sich das muntere Treiben an, das
allen drei neu war, weil sie noch fast gar nicht gereist
waren.
Auf dem weiten Platz standen, Privatautos, Taxis und
Omnibusse, zu denen die Menschen eilten. Alle hurtig, alle
voll Hast. Ein Gefährt nach dem andern fuhr ab, bis der
Platz; leer war.
»So, denn wollen wir mal«, sagte Frauke vergnügt. »Wie hat
der Beamte gesagt: durch das Bahnhofsportal auf die
Straße, dort rechtsum und fünf Minuten lang der Nase
nach. Tun wir also.«
So zogen sie denn los, frohgemut und mit leichtem
Gepäck; denn das große hatten sie aufgegeben. Führten nur
im Köfferchen das mit, was unbedingt notwendig war.
Schon von weitem sahen sie den Zug, der bereits unter
Dampf stand. Sie waren noch nie in so einem Bähnlein
gefahren und freuten sich nun darauf, wie sie sich über
alles und jedes freuten in ihrer Unverwöhntheit. Wie war
doch das alles so reizvoll und interessant.
Nachdem Frauke die Fahrkarten gelöst hatte, suchte man
nach einem Abteil zweiter Klasse, welches man als einziges
an diesem Züglein fand und das jetzt noch unbesetzt war.
Frauke und Ortrun nahmen die Fensterplätze ein, Hulda
placierte sich heben erstere, also saß man genau wie,
vorher im D-Züg. Später bekam Ortrun eine Nachbarin, die
für ihre Behäbigkeit so viel Platz brauchte, daß sie das
grazile Persönchen in die Ecke drückte. Ihr frisches
Vollmondgesicht drückte dabei so viel Wohlwollen und
Güte aus, daß man ihr nicht böse sein konnte.
Die noch Zusteigenden waren alle miteinander bekannt
und unterhielten sich zwanglos. Immer wieder gingen ihre
Blicke verstohlen zu den drei Fremdlingen hin, in denen sie
Feriengäste vermuteten, obwohl Mitte März noch keiner
das idyllische Dorf aufzusuchen pflegte. Warum diese es
taten, hätten sie zwar brennend gern gewußt, aber man
fragte natürlich nicht. Man hatte ja schließlich Erziehung –
o bitte sehr!
Mit einem grellen Pfiff setzte sich das Bähnlein prustend
und schnaubend in Bewegung. Interessiert schauten die
drei Fremdlinge zum Fenster hinaus, entzückt von der
Landschaft, die das Züglein eilfertig durchzuckelte. Überall,
wohin man auch schaute, sah man lachendes, knospendes
Land, schützend von Wald umschlossen. Grüne Weiden,
auf denen trotz der frühen Jahreszeit schon Vieh graste,
rote Dächer, die durch Bäume lugten, ein munteres
Bächlein, das sich genauso durch die Wiesen schlängelte
wie der kleine Zug die Schienen entlang, der oft hielt.
Frische, gesunde Menschen, denen die Hast des
Großstädters unbekannt war, stiegen gemächlich ein und
aus. Gingen zu Fuß über Landwege und Wiesenpfade ihren
Bauerngehöften zu oder fuhren im Pferdewagen davon.
Alles lachte und grüßte einander zu, jeder schien jeden zu
kennen.
Nachdem man eine knappe Stunde gefahren war, hielt der
Zug nicht vor der üblichen Wellblechbuche, wie kleine
Stationen sie aufwiesen, sondern vor einem roten
Backsteinhäuschen, und schon hörte man von draußen die
Stimme des Schaffners:
»Grünergrund – Endstation!«
Es waren nicht mehr viele Passagiere, die ausstiegen, die
meisten hatten den gutbesetzten Zug schon unterwegs
verlassen. Zu Fuß verließ man den kleinen Bahnhof, nur
die gewichtige Dame ging auf ein Gefährt zu, in dessen
Deichsel ein wohlgenährter Brauner steckte. Doch
unterwegs verhielt sie den Schritt und sah zu den drei
Fremdlingen hin, die unschlüssig dastanden.
»Nanu, meine Damen, werden Sie nicht abgeholt?« fragte
sie verwundert. »Der Friedrich von der ›Grünen Gans‹
pflegt doch sonst pünktlich zu sein.«
»Grüne Gans?« fragte Frauke lachend. »Die muß aber noch
sehr jung sein.«
»O nein«, schmunzelte die Dicke. »Sie ist im Gegenteil
schon recht betagt, aber ganz nett auf komfortabel
zurechtgestutzt. Die ›Grüne Gans‹ ist nämlich das
hübscheste Hotel in unserem grünen Dorf. Ja, ja, meine
Damen, bei uns ist alles grün. Da kann es einem niemals
schwarz vor den Augen werden.«
Jetzt lachte man ein fröhliches Quartett, und dann fragte
Frauke nach dem Weg zum Gemeindeamt.
»Das ist hier ganz in der Nähe«, gab die stattliche Dame
Auskunft, ihre Neugierde dabei heroisch unterdrückend.
»Gehen Sie die Straße rechts hinunter bis zum Marktplatz,
überqueren Sie ihn und marschieren Sie direkt in das große
Haus, das zur Abwechslung weiß ist. Dann sind Sie am
Ziel. Kapiert?«
»Auf Anhieb. Besser hätten Sie es gar nicht erklären
können, gnädige Frau.«
»Das freut mich. Also dann alles Gute, meine Damen.«
Ihnen freundlich zunickend kugelte sie ab und stieg mit
einer Behendigkeit in den Wagen, die für ihre Körperfülle
erstaunlich war. Der Kutscher ließ die Peitschenschnur
sacht über den blanken, breiten Rücken des Braunen
spielen, der sich darob gemächlich in Bewegung setzte.
»Das nennt man Gemütlichkeit«, lachte Frauke. »Ich
glaube, in diesem idyllischen grünen Dorf reißt sich keiner
ein Beinchen aus. Und nun auf zum Herrn
Gemeindevorsteher. Wollen wir uns von ihm überraschen
lassen.«
So zog man denn vergnügt von dannen und nahm entzückt
das schmucke Bild in sich auf. Das ganze Dorf war
blitzsauber. Zusammengebaute Häuser gab es in dieser mit
Bäumen umsäumten Straße nicht, die sehr lang zu sein
schien, die rechts einen Bürgersteig, links einen Fahrradweg
aufwies. Zwischendurch erstreckte sich eine glatte
Asphaltstraße.
Jedes Haus war von einem Garten umschlossen, den ein
grüner Staketenzaun von dem Nachbargrundstück trennte.
Ein schmuckes Dorf, ein gepflegtes Dorf.
Der Marktplatz war im Viereck von Gebäuden
abgeschlossen. In der Mitte plätscherte ein Springbrunnen,
umrandet von Blumenbeeten. Die Bürgersteige säumten
alte, prächtige Lindenbäume. Zwei davon standen vor dem
Gemeindeamt wie stumme Wächter.
Die Gans war tatsächlich grün, die auf ein Schild gemalt
war, das über dem Eingang des schmucken Hotels lustig
baumelte. Geschäft reihte sich an Geschäft; denn der große
Marktplatz war Zentrum.
Der Gemeindevorsteher, ein jovialer Herr mit kräftiger
Gestalt, frischem Gesicht und angegrautem Borstenkopf
ging den Eintretenden zögernd entgegen.
»Guten Tag. Wenn ich nicht irre, sind Sie die von dem
Notar Dr. Danz avisierten Damen?«
»Stimmt«, entgegnete Frauke liebenswürdig. »Ich bin
Frauke Gortz, das ist Fräulein Hulda Selk und das Fräulein
Ortrun Danz.«
Nachdem die Begrüßung erfolgt war, nahm man an einem
runden Tisch Platz, und ohne Aufforderung legten die
Mädchen ihre Ausweise nebst einer polizeilichen
Bestätigung vor. Der Gemeindevorsteher prüfte die Papiere
sorgfältig und reichte sie dann mit verbindlichem Lächeln
zurück.
»Danke, meine Damen, alles in Ordnung. Hm – ja, wollen
Sie denn das ererbte Haus beziehen?«
»Warum denn nicht?« gegenfragte Frauke erstaunt. »Gibt es
da etwa Schwierigkeiten?«
»Nicht was die Erbschaft selbst betrifft, da geht alles klar.
Nur ist das Anwesen – nun, um es beim richtigen Namen
zu nennen – verwahrlost. Um es in Ordnung zu bringen,
werden Sie eine Menge Geld hineinstecken müssen, mein
gnädiges Fräulein.«
»Das ist vorhanden«, erklärte Frauke kurz. »Jedenfalls
soviel, um die größten Schäden zu beheben. Alles andere
wird nach und nach erfolgen.«
»Das freut mich«, atmete der Mann sichtlich auf. »Denn das
Anwesen war immer ein Schandfleck unseres schmucken
Dorfes, das jährlich immer mehr Sommergäste anzieht. Ein
Glück, (daß dieses – na ja – nicht im Mittelpunkt, sondern
an der Grenze liegt.«
»So daß die Dörfler es verleugnen können«, warf Frauke
trocken ein, was den Mann verlegen machte. »Hat mein
Onkel wenigstens ein anständiges Begräbnis gehabt?«
»Aber gewiß, gnädiges Fräulein«, beeilte er sich zu
versichern. »Der Herr Professor hatte ja eigens dafür eine
Summe bestimmt, die wir in einem versiegelten Umschlag
auf dem Schreibtisch fanden. Ich habe alle Ausgaben
gewissenhaft vermerkt und die Rechnungen beigefügt.«
Er stand auf und trat an den Geldschrank, dem er einen
versiegelten Umschlag nebst einigen Schlüsseln entnahm.
Mit einer Verbeugung überreichte er es Frauke, die es in die
Handtasche gleiten ließ.
»Ich danke Ihnen, Herr Gemeindevorsteher, für die Mühe,
die Sie mit meinem Onkel gehabt haben.«
»Aber bitte, gnädiges Fräulein, ich tat nur meine Pflicht.
Wenn Sie meine Hilfe benötigen sollten, ich stehe Ihnen
gern zu Diensten.«
»Danke. Welchen Weg müssen wir einschlagen, um zu dem
Anwesen zu gelangen?«
Ȇber den Marktplatz, dann rechts ab und immer die
Straße entlang bis zum letzten Haus linker Hand. Nun
möchte ich die Damen in unserm grünen Dorf
willkommen heißen und Ihnen alles Gute wünschen.«
»Phrasen«, sagte Frauke verächtlich, nachdem sie mit ihren
Begleiterinnen das Amtszimmer verlassen hatte. »Der Mann
machte so den Eindruck, als hätte er uns gern abgeschoben.
Nichts da, mein Lieber, wir bleiben. Doch zuerst gehen wir
in die ›Grüne Gans‹, um unseren Hunger zu stillen.«
Der Raum, den sie gleich darauf betraten, war niedrig und
langgestreckt. Alles darin blitzte vor Sauberkeit. Sie
nahmen an einem der breiten Fenster Platz, von dem aus
sie den Marktplatz übersehen konnten. Und schon
watschelte ein Dicker auf seine einzigen Gäste zu.
»Guten Tag, die Damen. Was ist gefällig?«
»Ein gutes und reichliches Mahl, Herr Wirt.«
»Die Damen werden zufrieden sein«, reichte er ihnen
dienernd die Speisekarte hin. »Bitte zu wählen.«
Sie wählten alle drei dasselbe, das sich als reichlich und
schmackhaft erwies. Kalbsschnitzel mit gemischtem Salat
und als Dessert eingeweckte Kirschen. So richtig gesättigt
legten sie sich in die bequemen Polsterstühle zurück, und
Frauke griff zur Zigarette. Ein Laster, dem sie allerdings nur
als sogenannte Sonntagsraucherin frönte. Hulda rauchte
natürlich nicht und Ortrun als bisheriger Internatszögling
schon gar nicht.
»Nun laßt uns mal beraten, was wir beginnen sollen«,
sprach Frauke leise, um von den gespitzen Ohren des
Wirtes hinter der Theke nicht gehört zu werden. »Am
besten ist, wir belegen hier Zimmer. Denn in dem
verwahrlosten Haus, wie es der Gemeindevorsteher so
liebenswürdig betitelte, werden wir vorerst wohl nicht
übernachten können. Was meint ihr zu meinem
Vorschlag?«
»Für ein oder auch zwei Nächte ist er annehmbar«,
brummte Hulda. »Aber länger nicht. Bedenke, daß so ein
Hotel sündhaft teuer ist und daß wir sparen müssen. Denn
nach den Andeutungen des Gemeindevorstehers zu
schließen, muß deine ererbte Villa ja ein richtiges – na ja –
sein, dessen Instandsetzung dein Portemonnaie auffressen
wird.«
»Ganz Hulda«, lachte Frauke hellauf, was dem Wirt ein
Schmunzeln entlockte. Na, die konnte vielleicht lachen!
War überhaupt ein blitzsauberes Frauenzimmerchen,
schien was Besseres zu sein.
Und die andere? Olala! Die war wie ein Mairöslein, so
taufrisch und duftig. Augen so blau wie der
Frühlingshimmel, Haare wie Sonnenstrahlen und ein
Figürchen wie ein Elflein so zart und fein.
Und die dritte? Knochen wie ein Kürassierpferd und ein
Gesicht wie eine bissige Dogge.
Diese Betrachtungen unterbrach ein Herr, der soeben
eintrat. Wie Jung-Siegfried anzuschauen, so groß, so sehnig
und so blond. Blaue Augen blitzten in einem kantigen
Gesicht. Er trug eine Reithose, Stiefel und eine grüne Joppe,
die ihm vorzüglich stand. Als er die drei Gäste bemerkte,
stutzte er. Das waren doch seine Mitreisenden aus dem D-
Zug. Wahrscheinlich die ersten Feriengäste.
»Guten Tag, Herr Doktor«, grüßte der Wirt wohlwollend.
»Ein Bierchen gefällig?«
»Jawohl. Und ein kräftiges Mittagessen dazu«, entgegnete
eine tiefe, wohllautende Stimme. »Bei meiner Wirtin
bekomme ich heute nichts, die sitzt beim Zahnarzt.«
»Um sich den Speilzahn ziehen zu lassen?«
»Werden Sie hier nicht boshaft«, lachte der Gast, indem er
Platz nahm. Der Wirt jedoch kugelte ab. Bestellte durch ein
Klappfenster das Essen, füllte ein Seidel mit Bier, das er vor
den Herrn stellte. Gern hätte er noch mit ihm ein
Schwätzchen gemacht, doch dazu ließen ihm die
Mittagsgäste keine Zeit, die rasch hintereinander eintraten.
Frauke gelang es gerade noch, für die Nacht Zimmer zu
bestellen, dann tauchte der Wirt zwischen den Tischen
unter, und die drei weiblichen Gäste entfleuchten.
»Puh!« Frauke blies draußen die Backen auf. »Es war das
reinste Spießrutenlaufen durch das besetzte Lokal. Und
alles Mannsleut. So viele auf einem Haufen hab ich schon
lange nicht mehr gesehen. Und nun kommt, damit wir den
Schandfleck des grünen Dorfes in Augenschein nehmen.«
Hurtig schritten sie fürbaß. Die Köfferchen hatten sie
mitgenommen, weil sich darin auch Schürzen befanden,
die Hulda vorsorglich eingepackt hatte. Und wie
notwendig die waren, sollte sich bald herausstellen.
Nachdem sie eine Strecke zurückgelegt hatten, bog die
Straße in scharfer Kurve links ab und ein Schloß wurde
sichtbar, das sich wie ein Wahrzeichen auf einer Anhöhe
erhob, auf der saftiges Weidegras wuchs, das weithin
leuchtete in seinem jungen Grün. Auf ebenem Grund
jedoch standen Bäume so dicht, daß es von weitem aussah,
als wären ihre Kronen zusammengewachsen.
»Wenn das da man nicht der Park ist, der unsere Villa
umschließt«, brummte Hulda ahnungsvoll, und Frauke
nickte bang.
»Scheint mir auch so. Na, machen wir uns auf alles gefaßt.
Ärger als arg wird’s schon nicht werden.«
Und dann standen sie vor einem Anwesen, das man nicht
nur mit verwahrlost, sondern auch mit düster bezeichnen
konnte. Hinter dem wackligen Zaun wucherten Bäume,
durch die man sich schlängeln mußte, um zum Wohnhaus
zu gelangen, das grau und böse dastand. Wie drohend
blickten die verschmutzten, gardinenlosen Fenster, deren
Rahmen kaum noch Farbe aufwiesen. Schief hingen die
Laden in den Angeln. Ein unheimliches Haus, an dem nur
die feste Tür in Ordnung war, deren gutgeöltes Schloß
sofort nachgab, als Frauke den großen Schlüssel
herumdrehte.
Als sie den Vorraum betraten, schlug es ihnen wie
Grabesluft entgegen, so kalt und feucht. Laut hallten ihre
Schritte auf dem Steinboden wider.
»Scheußlich!« schauerte Frauke zusammen. »Wie in einer
Gruft. Hast du Angst, Ortrun?«
»Warum denn, Frauke?« fragte sie verwundert zurück, und
Hulda brummte:
»Vor dem Dreck natürlich. Der klebt an den Scheiben so
dick, daß kein Sonnenstrahl durchbrechen kann. Und die
Möbel erst. Die erkennt man vor Staub kaum. Sind die
Flügeltüren nun schwarz oder weiß?«
»Das werden wir feststellen, wenn du sie mit Bürste und
Seife geschrubbt hast«, lachte Frauke, obwohl ihr zum
Lachen nicht zumute war. »Fassen wir uns ein Herz und
gehen wir weiter.«
Langsam durchschritten sie die drei Räume, die alle
möbliert, aber wahrscheinlich schon lange nicht mehr
benutzt worden waren. Gut, daß die Polster Schonbezüge
trugen und es stark nach Mottenpulver roch. Sonst hätten
die Schädlinge gute Beute gehabt.
Nur ein Raum sah wohnlich aus. Und zwar die Bibliothek,
wo der Professor sich wahrscheinlich ständig aufgehalten
hatte. Auch die Küche war verhältnismäßig sauber,
gleichfalls waren es Speise- und Vorratskammer. Von der
Küche führte eine Tür hinaus auf einen krautverwachsenen
Hof. Am Ende stand ein Stallgebäude, daneben ein
Schuppen. Rechts lag Brachland, das einstmals wohl ein
Gemüsegarten gewesen war.
»Na also«, brummte Hulda zufrieden. »Ist ja alles da. Hab
es mir auf den ersten Blick noch schlimmer vorgestellt.
Gehen wir nach oben.
Starrt natürlich auch vor Dreck«, stellte sie sachlich fest, als
man die geschnitzte Treppe zum Obergeschoß hinaufstieg.
»Diese Fetzen von Läufer hätten schon längst abgerissen
werden müssen. Die sind doch weiß Gott keine Zierde.«
Der Gang wies rechts Fenster, links Flügeltüren auf, die an
manchen Stellen noch weiß schimmerten. Es gab auf der
Etage zwei geräumige, zusammenhängende und zwei
kleinere, für sich abgeschlossene Zimmer.
Im zweiten Stock befand sich ein großes
Mansardenzimmer, in dem ein starker Pfeifenraucher
gehaust haben mußte. Denn es roch – oder besser stank –
nach schlechtem Knaster. Die Fensterscheiben waren von
einer nikotinbraunen Schicht überzogen. Die zweite Tür
führte zum Boden und die dritte in eine Kammer, in der
allerlei Gerumpel lag. Und mittendrin…
»Ja, ist es denn die Möglichkeit«, zerrte Hulda aus dem
Chaos ein Ölbild in schwerem Goldrahmen hervor, das
zweifellos von Künstlerhand gemalt war. Es zeigte einen
Mann mit angegrautem Haar und einem klugen,
durchgeistigten Gelehrtengesicht. Prüfend blickten die
dunklen Augen den Beschauer an.
»Das ist bestimmt mein Onkel«, sagte Frauke leise. »Und
dieses wunderbare. Bild liegt zwischen Gerumpel. Warum
denn nur?«
»Eine Frage, auf die du nie eine Antwort kriegen wirst«,
brummte Hulda. »Kommt in die Küche, wo ich versuchen
werde, einen Topf zu finden, der nicht vor Dreck starrt.
Sogar einen elektrischen Kocher habe ich gesehen.
Hoffentlich ist er nicht kaputt, so daß wir uns einen steifen
Kaffee brühen können, den wir uns redlich verdient
haben.«
»Und woher willst du die Bohnen dazu nehmen?«
erkundigte sich Frauke.
»Aus der Büchse, die im Furagekoffer steckt. Ich konnte mir
nämlich denken, daß wir hier nichts vorfinden werden. Pas
Bild nehmen wir doch mit nach unten?«
»Selbstverständlich. Das hängen wir nach Säuberung in der
Bibliothek über den Kamin.«
In der Küche entnahm Hulda ihrem Koffer drei
Kittelschürzen, von denen sie zwei den jungen Mädchen
reichte.
»Zieht sie an, damit ihr euch nicht die Kleider schmutzig
macht, wenn ihr euch setzt. Morgen nehme ich mir zuerst
die Küche vor, damit wir wenigstens einen Raum haben, in
dem wir uns unbesorgt aufhalten können.
Na, der hat bestimmt schon Altertumswert«, griff sie
mißtrauisch nach einem Wasserkessel, der auf einem
Kocher stand. »Nur gut, daß er geschlossen ist und der
Dreck nicht eindringen konnte. Wenn wir Glück haben,
gibt es sogar Wasser.«
O ja, es gab, außerdem noch Strom. Auch der Kocher war
in Ordnung, auch eine Kanne, in der man den Kaffee
brühen konnte. In dem Koffer, den Hulda auf den Tisch
stellte, befanden sich außer Tubensahne noch genügend
belegte Brote.
»Die erste Mahlzeit im eigenen Haus«, sagte Frauke
andächtig. »Ein Jammer, daß ich dem Onkel nicht zeigen
kann, wie dankbar ich ihm bin. Hätte er uns doch zu sich
gerufen, Hulda, dann hätte er nicht so kümmerlich zu
vegetieren brauchen.«
»Sicherlich wollte er es nicht anders haben«, meinte die
Getreue achselzuckend. »Gelehrte Herren sind nicht wie
andere Menschen, die haben allesamt einen Fimmel.
Großer Gott!« wich sie entsetzt zurück. »Was ist denn das
für ein Ungeheuer?«
Das Ungeheuer war ein prächtiger, besonders kräftiger
Schäferhund, der einen Maulkorb trug und leise winselte.
Hinter ihm wurde ein Mann sichtbar, lang, hager, mit
einem Gesicht wie gegerbtes Leder.
»Entschuldigen Sie, meine Damen«, sagte er verlegen. »Aber
ich konnte den Kerl beim besten Willen nicht länger
halten.«
»Wem gehört denn der Hund?« fragte Frauke.
»Dem verstorbenen Herrn Professor.«
»Also haben Sie sich des Tieres angenommen, das ist lieb
von Ihnen.«
»Na ja, was sollten wir schon machen, der arme Kerl tat uns
leid. Malheur hatten wir nicht mit ihm, er lag größtenteils
still unter der Ofenbank. Bis er Sie in diesem Haus witterte,
da gab es kein Halten.«
»Er ist wohl sehr scharf?«
»Und wie! Daher band ich ihm den Maulkorb um.
Entschuldigen Sie, ich frage nicht aus Neugierde: Sind Sie
die Erbin des Herrn Professors?«
»Die bin ich und heiße Frauke Gortz. Das ist Fräulein Selk
und das Fräulein Danz. Wir drei gedenken hier zu wohnen.
Sind Sie vielleicht unser Nachbar?«
»Jawohl, gnädiges Fräulein«, machte er einen regelrechten
Kratzfuß. »Ich bewohne mit meiner Frau ein Häuschen, das
dort in der Wiese steht.«
»So haben Sie meinen Onkel gekannt?«
»Direkt gekannt nicht, nur manchmal im Park gesehen. Er
war nämlich ein Sonderling, der keinen Menschen um sich
duldete. Außer seinem treuen Diener Jan, der auch seinen
Herrn versorgte, so gut es ihm in seinem Alter möglich war.
Er war ja schon an die Neunzig, als er starb.«
»Waren Sie mit ihm befreundet?«
»Je nun, das ist zuviel gesagt. In den ersten Jahren ließ er
mich überhaupt nicht an sich ran. Doch als er so klapprig
wurde, daß er nicht mehr ins Dorf gehen konnte, um die
notwendigen Einkäufe zu machen, hat er mich damit
beauftragt. Aber ins Haus durfte ich nie. Er hat mich stets
an der Tür abgefertigt.«
»Wann starb er?«
»Vier Tage vorher als der Herr Professor. Ganz heimlich
wurde Jan begraben, weil sein Herr die Menschen fürchtete.
Einen Tag später, ich grub gerade in meinem Garten die
Gemüsebeete um, kam der Herr Professor an den Parkzaun
und rief mich zu sich. Ihm wäre schlecht, sagte er – und
sackte dann vor meinen Augen zusammen. Ich zwängte
mich durch ein Loch im Zaun, hob den Herrn hoch – er
war ja nur so ’ne Handvoll – trug ihn ins Haus und legte
ihn auf das nächste Sofa. Sofort rief ich den Arzt an, aber
der konnte dem armen Professor auch nicht mehr helfen,
obwohl er ihm eine Kampferspritze gab. Die putschte ihn
nur soweit auf, um sagen zu können, daß in der Bibliothek
auf dem Schreibtisch ein versiegelter Umschlag liegt. Das
Geld darin wäre zu seinem Begräbnis. Den versiegelten
Brief in der Schublade sollte der Herr Gemeindevorsteher
abschicken, an die drauf stehende Adresse. Dann sagte der
Herr Professor noch, daß man ihn in aller Stille neben Jan
begraben solle. Dem einzigen Menschen, der ihn nie im
Stich gelassen hat.
Na ja – und dann schlief der Herr Professor friedlich ein. Er
wurde von dem Arzt und dem Gemeindevorsteher so
begraben, wie er es wünschte, und bevor andere es gewahr
wurden. Nun schläft er Seite an Seite mit seinem treuen
Jan.
Weinen Sie man nicht, meine Damen«, tröstete er
unbeholfen. »Dem Herrn Professor ist jetzt bestimmt so
wohl, wie nie im Leben. Er starb gern, weil er mit Gott und
aller Welt zerfallen war. Hm – ja – und was wird nun aus
dem Hund?«
»Den behalten wir natürlich«, wischte Frauke die
purzelnden Tränen fort. »Das heißt, wenn er Ihnen nicht
nachläuft.«
»I wo, das wird er schon nicht tun. Er kam ja nur mit mir,
weil ich der einzige Mensch bin, der ihm bekannt war. Wo
jetzt Menschen im Haus sind, wird er bestimmt
hierbleiben.«
»Aber nicht vor morgen, Herr…«
»Michel heiße ich, gnädiges Fräulein. Bloß Michel allein.«
»Na schön, denn auch so. Also wir werden den Hund erst
ab morgen behalten können, weil wir im Hotel
übernachten müssen.«
»Uijeh – «, kratzte der Mann sich den borstigen Schädel.
»Den werde ich wohl nicht mehr bändigen können. Sehen
Sie doch, gnädiges Fräulein, er hat sich vor Ihre Füße gelegt
und schaut Sie so aufmerksam und treu an. Den bekommt
keiner mehr von Ihnen fort.«
»Ja, was machen wir denn da?« fragte Frauke ratlos. »Hier
übernachten können wir nicht, wo alles so verschmutzt
ist.«
»Ein Zimmer können wir schon herrichten«, brummte
Hulda. »Das schaffen wir noch bis zum Dunkelwerden.
Allerdings müßten wir alles da haben wie Lappen, Bürsten
und Seife.«
»Das wird Ihnen meine Frau gern leihen«, beeilte Michel
sich zu versichern. »Sie ist eine Seele von Mensch und
immer hilfsbereit. Soll ich sie holen?«
»Ja«, dehnte Frauke. »Aber versuchen Sie mal erst, den
Hund mit sich zu locken.«
:
Allein, als Michel ihn ans Halsband fassen wollte, knurrte
er und ^drängte sich an Frauke, sie wie bittend anwinselnd.
Als sie ihn streichelte, versuchte er, durch den Maulkorb
hindurch ihre Hand zu lecken.
»Laßt das Tier in Ruhe!« brummte Hulda. »Ziehen Sie ab,
Michel, und holen Sie Ihre Frau!«
»War das nicht leichtsinnig, Hulda?« fragte Frauke,
nachdem der Mann gegangen war. »Wir kennen die
Menschen doch nicht. Wenn sie nun Böses im Schilde
führen?«
»Dann würde der da ihnen schon an die Gurgel springen«,
zeigte sie auf den Hund, der aufmerksam zuhörte, als
verstände er jedes Wort. »Komm mal her, mein Guter. Uns
magst du doch leiden, nicht wahr?«
Wie zur Bestätigung legte das Tier ihr die dicke Pfote auf
den Schoß, und Hulda lachte, was ja nun nicht oft geschah.
»So habe ich mir das doch gleich gedacht. Jetzt geh zu dem
Frauchen da, das gehört nämlich auch zu uns.«
»Ja, komm!« lockte Ortrun ihn, der gehorsam folgte.
»Was bist du doch bloß für ein Prachtkerl. Der Maulkorb
ist dir doch sicher unbequem, du Armer.«
Und schon zerrte er leise jaulend an der lästigen Fessel. Sah
dabei die drei Frauchen so erwartungsvoll an, bis Hulda
ihm kurzentschlossen das lästige Ding abstreifte. Er
schüttelte sich, blaffte freudig auf und streckte sich dann
mit einem tiefen Seufzer zu Fraukes Füßen. Rasch hielt sie
ihm eine Brotschnitte hin, die er mit Behagen verspeiste
und nach mehr schielte.
»Hör mal, mein Freund, das da ist unser Abendbrot«,
zupfte sie lachend sein Ohr. »Wenn du das verspeist,
müssen wir hungrig bleiben.«
In dem Moment klopfte es an die Außentür. Als Hulda sie
öffnete, stand da der lange Michel und lachte über das
ganze lederne Gesicht. Auch ein Handwagen stand da,
beladen mit Holz, einem großen Topf, Eimer, Lappen,
Schrubber, Besen, Seifenpulver und daneben schmunzelte
etwas Druggeliches, dem die Gemütlichkeit sozusagen aus
allen Nähten lugte. Die Backen waren rot und prall wie
Äpfelchen, die dunklen Augen schauten verschmitzt in die
Welt. Das gleichfalls dunkle Haar war kurz geschnitten und
lag dem Kopf fest an. Vierzig Jahre zählte sie, somit sieben
weniger als ihr Mann.
»Das ist Bertchen, meine Frau«, stellte er stolz vor. »Sie
kann arbeiten für zwei.«
»Wuuff!« machte der Hund wie zur Bestätigung, und
Michel sah ihn dumm an.
»Du hast den Maulkorb ab? Na, das ist ja allerhand. Hat er
die Damen denn nicht gebissen?«
»O nein, er ist ein Kavalier«, lachte Ortrun fröhlich, dabei
den Hals des Tieres furchtlos umschlingend. »Wie heißt er
überhaupt?«
»Ajax«, gab die personifizierte Gemütlichkeit Antwort.
Nahm eine gefüllte Emailleschüssel vom Wagen, stellte sie
vor den Hund, der sich sofort mit Appetit darüber
hermachte.
»Siehst du, Michel, jetzt frißt er endlich«, lachte sie ihr
langes Ehegespons strahlend an. »Und nun wollen wir uns
an die Arbeit machen, damit die Damen eine einigermaßen
gute Schlafstelle bekommen.«
So ging es los mit vereinten Kräften. Michel machte Feuer
im Herd, stellte den großen Topf mit Wasser auf und riß
dann mal erst den zerfetzten Läufer von der Treppe, damit
man sich bei dem Auf und Ab in den Löchern nicht verfing.
Hinterher nahm er die Diele in Angriff, Bertchen die Küche,
die drei andern Weiblichkeiten die beiden
zusammenhängenden Zimmer im ersten Stock.
»Hoffentlich sind da nicht die Motten drin«, wiegte Hulda
bedenklich den Kopf, als sie die Betten auf die
weitgeöffneten Fenster legte. »Die kriegen wir dann nicht
mehr raus und können den Plunder wegwerfen. Geh mir
mal aus dem Weg, Ortrun. Was willst du überhaupt hier?«
»Helfen.«
»Du Porzellanpüppchen? Daß ich nicht lache!«
»Lach ruhig, aber laß mich arbeiten. Das habe ich nämlich
im Töchterheim gelernt.«
»Dann zeig, was du kannst«, gab sie gutmütig nach und
klopfte auf die Betten ein, daß die Staubwolken nur so
wirbelten. Decken und Wände wurden gefegt, Möbel und
Türen abgeseift, der Fußboden geschrubbt, die Fenster
geputzt, so daß in gar nicht langer Zeit beide Räume
blitzblank waren. Hinterher kam der Flur dran, die Treppe,
und dann war von den fünf hurtigen, fleißigen Menschen
das Gröbste geschafft. In der Küche traf man zusammen,
wo man sich jetzt dank Bertchens Scheuerwut unbesorgt
hinsetzen konnte, um ein wenig zu verschnaufen.
»Na, das ging aber mal flott«, grinste Michel, behaglich sein
Pfeifchen stopfend. »Hätte nicht gedacht, daß die Damen
so zupacken könnten.«
»Der Not gehorchend«, lachte Frauke, dabei den Hund
streichelnd, der sich zutraulich an ihr Knie schmiegte.
»Soweit wäre nun alles klar, bis auf Bettwäsche. Zwar habe
ich in dem einen Schrank eine ganze Menge davon
entdeckt, aber die muß vor Gebrauch erst gewaschen
werden. Was macht man da, Hulda?«
»Ins Dorf gehen und einkaufen. Das schaffst du noch
bequem vor Ladenschluß.«
»Jawohl, Herr Feldwebel«, stand Frauke stramm. »Wenn ich
nur wüßte, wo ich die einschlägigen Geschäfte finden
kann.«
»Ich komme mit«, erbot sich Bertchen eifrig. »Ich zeige
Ihnen, wo man am günstigsten einkauft, gnädiges
Fräulein.«
»Das ist lieb von Ihnen, Frau…«
»Bertchen, bitte. Ich bin überall daran gewöhnt.«
»Danke, Bertchen. Machen wir uns also auf den Weg.«
»Ich hol nur rasch meinen Mäntel.«
Weg war sie, und das Ehegespons sah ihr schmunzelnd
nach.
»Ist wie auf Draht, mein Bertchen. Immer flink, dabei
immer vergnügt. Was bin ich froh, so eine Frau zu haben,
die mitverdienen hilft.
Sie hat nämlich eine Aufwartestelle«, erzählte er zutraulich
weiter. »Und auch ich arbeite noch, so gut ich kann. Denn
von der Rente allein könnten wir nicht einmal recht und
schlecht leben.«
»Sind Sie für eine Rente nicht noch zu jung?« forschte
Hulda, und er nickte bedächtig.
»Bin ich, noch nicht mal fünfzig. Aber ich hatte als
Waldarbeiter einen Unfall, nach dem ich nicht mehr so
ganz einsatzfähig bin, wie man so sagt. Da zahlt nun die
Unfallversicherung mir monatlich hundertzwanzig Mark.
Haben Sie noch gar nicht gemerkt, daß ich lahme?«
»Allerdings. Was ist mit dem Bein passiert?«
»Ein fallender Baum hat es böse gequetscht. Ich lag fast ein
Jahr im Krankenhaus, wo man das Bein durchaus
amputieren wollte. Aber dagegen sträubte ich mich mit
aller Kraft. Na ja, und dann wurde es auch so besser. Ganz
gut wird es ja nie werden, aber ich kann doch wenigstens
auf zwei eigenen Beinen gehen.«
»Da haben Sie wohl oft Schmerzen, Sie Armer?« fragte
Frauke mitleidig.
»Och, ab und zu so’n bißchen schon. Aber das läßt sich
ertragen. Da bist du ja, Bertchen, und ganz außer Puste.«
»Es pressiert ja auch. Können wir aufbrechen, gnädiges
Fräulein?«
»Sofort«, schlüpfte Frauke in den Mantel und griff nach der
Handtasche, in der Geld steckte, mit dem sie sich reichlich
versehen hatte. Ajax stand neben ihr und blaffte freudig
auf.
»Was, du willst doch nicht etwa mit?«
»Wauwau!« machte er lustig, wobei sein Schwanz heftig
wedelte.
»Der geht Ihnen nicht mehr von der Pelle«, schmunzelte
Michel. »Streifen Sie ihm den Maulkorb über und nehmen
Sie ihn mit. Weglaufen tut er bestimmt nicht.«
»Na, denn komm schon!« versah Frauke ihn mit der
ledernen Sperre, was er sich geduldig gefallen ließ. »Und
was willst du, Ortrun?«
»Nimmst du auch mich mit, Frauke?«
»Aber gern, mein Liebchen.«
So zogen sie denn frohgemut von dannen. Bertchen schob
eine Karre vor sich her, die rundherum mit einem
Drahtgeflecht und Gummireifen versehen war.
»Praktisch«, meinte Frauke. »So eine Karre müssen wir uns
auch anschaffen, damit wir die Einkäufe nicht zu schleppen
brauchen.«
Nach zwanzig Minuten war der Marktplatz erreicht, auf
dem sich die Hauptgeschäfte des Dorfes befanden.
»Gehen Sie man da hinein, gnädiges Fräulein«, zeigte
Bertchen auf einen Laden, in dessen Schaufenster
Weißwaren ausgelegt waren. »Da werden Sie gut bedient.
Ich warte hier auf Sie.«
»Danke, Bertchen. Und was ist mit dir, Ajax?«
Der saß neben der Karre, als wollte er sagen: Geh du nur,
ich halte hier Wacht. Er rührte sich auch tatsächlich nicht,
als die beiden Mädchen davongingen und einige Male
zurückkamen, um ihren Einkauf im Karren unterzubringen.
An Wäsche kaufte Frauke nur soviel, wie vorläufig benötigt
wurde. Ferner kaufte sie allerlei Wirtschaftsartikel,
Lebensmittel, bis die Karre voll und das Portemonnaie,
erheblich leerer war.
Als sie in der »Grünen Gans« die Zimmer abbestellte, war
das dem Wirt aber auch gar nicht recht. Erst als Frauke
trotzdem die Rechnung beglich, wurde er wieder devot und
dienerte den »gnädigen Damen« nach. Dann trat er rasch
ans Fenster und schaute hinter der Gardine stehend auf den
Marktplatz. Und als er das bekannte Bertchen, den
bekannten Hund und die vollgepackte Karre entdeckte, da
wußte er Bescheid.
Olala! Das waren wohl die Erben des vertrottelten
Professors, der sich um niemand und nichts gekümmert
hatte und wohl gerade deshalb den Dorfbewohnern so
interessant gewesen war. Wollten diese vornehmen jungen
Damen etwa in dem verkommenen Eulennest hausen?
Diese Neuigkeit mußte er gleich mal seiner Frau und später
den hiesigen Gästen erzählen.
Indes gingen die Einkäufer die Straße entlang und erregten
ziemliches Aufsehen. Man sah ihnen verstohlen nach,
tuschelte hinter ihnen her und hatte für den Abend
interessanten Gesprächsstoff.
Aus der Tür eines kleinen Hauses trat der große blonde
Mann, der den beiden jungen Mädchen heute bereits zum
dritten Mal begegnete. Doch auch jetzt achteten sie nicht
auf ihn. Sahen nur verwundert auf, als er grüßend den Hut
zog. Der Gruß galt allerdings Bertchen, die strahlend
dankte und dann, als man außer Hörweite war, wichtig
erklärte:
»Das war der Herr Dr. Gunter, der beste Tierarzt weit und
breit. Ein feiner Mann, so anständig und so human. Ihm ist
vor drei Jahren die Frau mit einem andern durchgegangen.
Aber da sie nichts wert war, kann er froh sein, daß er sie auf
eine so leichte Art los wurde. Natürlich ließ der Herr
Doktor sich sofort schneiden und wohnt nun in dem
Häuschen der Witwe Ließ, die ihn auch verpflegt. Seine
Praxis hat er allerdings auf dem Markt, eingerichtet mit
allen Schikanen. Na was, kann er sich ja auch leisten. Er
verdient viel und ist außerdem noch von Hause aus
vermögend. Sein Vater war hier Pfarrer und heiratete eine
wohlhabende Gutsbesitzerstochter.
Aber schauen Sie mal die Dame an, die uns
entgegenkommt. Das ist die größte Klatschtante aus dem
ganzen Dorf, und jetzt fallen ihr vor Neugierde fast die
Augen aus dem Kopf. Ich will mich nicht wundern, wenn
sie stehenbleibt und mich anspricht.«
Und schon geschah es. Süß flötete das dürre Wesen, das
man mit einem buntbemalten Kleiderständer vergleichen
konnte:
»Oh, das liebe Bertchen. Und so einen reichen Einkauf.
Haben Sie etwa geerbt?«
»Jawohl«, nickte Bertchen freundlich, dabei die Karre
vorwärtsschiebend, was das bejahrte Fräulein ein wütendes
Gesicht machen ließ, und Bertchen lachte schadenfroh.
»Die alte Schraube platzt heute noch vor Neugierde. Mein
Michel kann sie bis in den Tod nicht ausstehen. Er sagt, sie
hat nicht nur Haare auf den Zähnen, sondern ganze
Zöpfe.«
Vergnügt lachte sie mit den beiden andern und man zog
weiter fürbaß, bis man vor der Küchentür abstoppte. Die
beiden, die zu Hause geblieben waren, hatten weiter
segensreich gewirkt. Hatten den Schmutz aus Speise- und
Frühstückszimmer entfernt.
»Das sieht ja hier schon ganz manierlich aus«, sah Frauke
sich mit frohen Augen um. »Wenn das in dem Tempo
weitergeht, haben wir das Haus bald sauber.«
»Wir wollen’s wünschen und Gott geb’s«, brummte Hulda.
»Raus ist mal erst der gröbste Dreck. Was hast du alles
eingekauft?«
»Komm und sieh es dir an! Draußen steht die Karre.«
Nachdem Hulda alles in Augenschein genommen hatte,
sagte sie mahnend:
»Jetzt laß es vorläufig genug sein, Herzchen. Was wir fürs
erste brauchen, haben wir nun. Hauptsächlich anständige
Töpfe, Eimer, Lappen und Seifenmaterial. Morgen sehen
wir mal in den Schränken nach, was wir an Brauchbarem
finden. Fehlendes kann immer noch angeschafft werden.«
»Ganz meine Meinung«, nahm Frauke dem Hund den
Maulkorb ab und hielt ihm einen Kalbsknochen hin, über
den er sich sofort hermachte. Es krachte nur so, und Michel
meinte trocken:
»Zwischen dessen Zähne möchte ich nicht geraten. Wie ist
es, meine Damen, wollen wir für heute Schluß machen?«
»Für heute?« fragte Frauke dagegen.
»Wollen Sie uns denn morgen wieder helfen?«
»So oft und so lange Sie wollen, gnädiges Fräulein. Schwer
arbeiten kann ich wohl nicht mehr, aber in Haus und
Garten schaffe ich es spielend.«
»Ist gut, Michel«, erwiderte Frauke rasch entschlossen. »Sie
arbeiten hier, und ich zahle Ihnen Stundenlohn.«
»Nu ne«, wehrte er ab. »Daraus wird nichts. Ich bin doch
kein Halsabschneider. Über die Bezahlung können wir
immer noch sprechen.«
»So haben Sie Dank«, reichte sie ihm die Hand, die er
behutsam in seine derbe Faust nahm. »Wir werden uns
bestimmt gut vertragen. Trinken Sie gern einen Schnaps?«
»Und wie! Am liebsten einen Weißen.«
»Als ob ich das nicht gewußt habe«, zog sie aus der Karre
eine Rasche und drückte sie dem überraschten Mann in
den Arm. »Die habe ich extra für Sie gekauft, trinken Sie sie
auf unser Wohl. Und Sie, Bertchen, leckern doch gern,
nicht wahr?«
Ehe die Frau antworten konnte, hielt sie unter einem Arm
eine süße Schachtel, unter dem andern ein Fleischpaket,
und in der Hand knisterte ein Zwanzigmarkschein, was für
sparsame Menschen viel Geld bedeutete. Mit dieser noblen
Geste hatte Frauke ein Ehepaar gewonnen, das ihr fortan
mit rührender Treue anhing.
»Kleine Ursache, große Wirkung«, schmunzelte Hulda,
nachdem die beiden zu Tränen gerührt abgezogen waren.
»Dir machen die paar Mark nicht viel aus, aber denen da
helfen sie gut. Bist gar nicht so dumm, wie du aussiehst.«
»Danke für das Kompliment«, lachte Frauke. »Halt hier
keine langen Reden, sondern sieh zu, daß wir Abendbrot
kriegen. Gern hätte ich Speckeier, geht das?«
»Da du alles dafür Erforderliche mitgebracht hast, dürften
sich keine Schwierigkeiten ergeben. Sogar an eine
Stielpfanne hast du gedacht; denn die hier vorhandene ist
Bruch, wie die Töpfe auch. Morgen fliegt der ganze alte
Krempel ’raus.
Komisch«, fuhr sie nachdenklich fort, Holz auf das
brennende Feuer legend. »In der Küche ist alles so armselig
wie bei den Ärmsten einer, und in den Zimmern liegen
Werte achtlos herum. Sieh dir morgen an, was alles in dem
Mordsding von Büfett steckt. Da wirst du Augen auf
Stielchen bekommen, wie ich sie bereits bekam. Schweres
altes Silber liegt da und ich möchte fast wetten, daß der
Herr Professor mit einem Blechlöffel gegessen hat. Wo
willst du denn hin?«
»Mir die Sachen ansehen.«
»Das würde ich dir nicht raten. Bedenke, daß du Licht
machen mußt, und daß die Fenster weder Gardinen noch
Laden haben.«
»Hast recht, Huldchen, verschiebe ich es auf morgen. Ich
bin sowieso zum Umfallen müde, und wir müssen ja noch
die Betten beziehen.«
»Das werden wir auch noch schaffen«, tat Hulda Speck in
die Pfanne, die sie vorher ausgebrüht hatte. Lieblicher Duft
durchzog die Küche, in den sich der des frischen Kaffees
mischte. Mit bestem Appetit aß man, wusch rasch das
Geschirr ab, verschloß sorgfältig die Türen und begab sich
nach oben, wo man zuerst mit Laken, dem entdeckten
Vorrat entnommen, die Fenster verhängte. Flink bezog man
die Betten, während Ajax auf dem dicken Vorleger
herumscharrte, der ihm wohl von jeher als Nachtlager
gedient hatte, jedoch nicht an der richtigen Stelle lag. Erst
als Frauchen ihn an ihr Bett trug, streckte das Tier sich
zufrieden und sah aufmerksam zu, wie die lieben Frauchen
die Kleider abwarfen, in die Nachthemden schlüpften und
sich dann niederlegten. Frauke im Bett, Ortrun auf den
Diwan, und im Nebenzimmer nahm Hulda das zweite Bett
ein. Die Matratzen waren gut, die Zudecke wohl schwer,
aber wenn man so richtig müde ist, merkt man es kaum.
Man wünschte sich eine gute Nacht, knipste das Licht aus,
legte sich auf die Seite und schlief fast augenblicklich ein.
Am nächsten Morgen wurde Frauke durch ein
ungewohntes Geräusch aus tiefem Schlaf; gerissen.
Schlaftrunken setzte sie sich auf, mußte sich erst besinnen,
wo sie sich befand, dann erblickte sie den Hund, der auf
dem Vorleger lag und knurrte. Nun war sie hellwach und
sagte lachend:
»Ja, Ajax, wer ärgert dich denn schon am frühen Morgen.
Ist doch wirklich unerhört.«
»Finde ich auch«, kam es vom Diwan her, wo Ortrun sich
hochrappelte und herzhaft gähnte. »Schönen guten
Morgen, Frauke. Hab ich herrlich geschlafen! Du auch?«
»Kann man wohl sagen. Du meine Güte, es ist ja schon
nach neun Uhr«, stellte sie mit einem Blick auf den Wecker
fest. »So lange geschlafen habe ich schon seit Jahren nicht
mehr.«
»Ich schon gar nicht!«, sank Ortrun in das Kissen zurück
und rekelte sich wohlig. »Im Töchterheim gab es kein
Pardon. Da mußte man um sieben Uhr aus den Federn, ob
man ausgeschlafen hatte oder nicht.
Guten Morgen, mein Süßer«, schüttelte sie lachend Ajax’
Pfote, die sich auf ihren Arm gelegt hatte. »Was meinst du
wohl, wie glücklich ich bin, hier zu sein. Bei dir, Frauke,
Hulda, Bertchen, Michel – überhaupt in diesem herrlichen
Haus. Und jetzt geh ich Huldchen wecken.«
Mit einem Satz war sie aus dem weichen Pfühl, lief auf
bloßen Füßen zum Nebenzimmer und rief von dort
verblüfft:
»Das Bett ist leer!«
»Nach neun Uhr kein Wunder bei einem so rührigen
Menschen«, war Frauke gar nicht erstaunt. »Der kribbelt es
doch förmlich in den Fingern, hier alles unter Seifenwasser
zu setzen und abzuschrubben.«
»Mir auch«, lachte Ortrun, nahm den Hund beim Hals,
wirbelte mit ihm herum und ließ sich auf Fraukes Deckbett
sinken.
»Ja, sag mal, Kleine, was ist plötzlich in dich gefahren?«
fragte Frauke kopfschüttelnd. »Gestern tatest du kaum den
Mund auf, wandeltest wie ein sittsam Mägdlein umher,
und heute wirbelst du wie ein Kobold herum.«
»Das ist ein elementarer Durchbruch der durch Strenge
jahrelang unterdrückten Freude, mein Kind«, hob sie
belehrend den Zeigefinger, drückte blitzschnell einen Kuß
auf Fraukes Nase, dann auf die des Hundes, schwang sich
auf einen Stuhl und stand nun da im Nachtgewand aus
längst entschwundenen Zeiten. Wie ein Talar umbauschte
es das grazile Persönchen, welches das Laken vom Fenster
zog, pathetisch die Arme hob und verkündete:
»Es werde Licht – und es ward Licht. Nun kommt von
Morgen bis Abend der zweite Tag.«
»Was predigst du denn da?« fragte die eintretende Hulda.
»Bist du etwa unter die Prediger gegangen?«
Verblüfft hielt sie inne, als Ortrun vom Stuhl sprang, sie
um die Taille faßte und mit ihr davonwalzte. Frauke lachte,
und Ajax blaffte freudig.
»Gott in deine Hände!« ließ die endlich befreite Hulda sich
echauffiert auf den nächsten Stuhl sinken und sah
kopfschüttelnd in das strahlende Mädchengesicht. »Was ist
bloß mit dem Kind passiert? Ist es etwa über Nacht närrisch
geworden?«
»Bin ich, Huldchen, bin ich. Und zwar vor Freude, bei euch
sein zu dürfen. Denn hier bin ich Mensch unter Menschen
und keine Schablone unter Schablonen. Ach, wie ist das
Leben doch so schön!«
Gerührt über so viel Freude wischte Huldchen sich
verstohlen eine Träne fort und brummte:
»Jetzt macht, daß ihr endlich in die Kleider kommt, ihr
Schlafmützen. Das Kaffeewasser sprudelt sich sonst noch
tot.«
»Bist du denn schon so lange auf, Huldchen?«
»Seit sechs Uhr, du Irrwisch. Steh nicht mit nackten
Füßchen auf dem kalten Parkett. Sonst wirst du womöglich
noch krank und wir haben das Malheur.«
»Es muß herrlich sein, von dir gepflegt zu werden.«
»Schafskopf. Hinunter mit dir unter die Dusche, damit du
dir dein Tollköpfchen abkühlst.«
»Gibt es denn hier eine Dusche?«
»Jawohl, die gibt’s. Habe ein Badezimmer entdeckt, das
noch nicht einmal vor Dreck starrte. An sich scheint der
Herr Professor ein reinlicher Mensch gewesen zu sein, bloß
sein Diener war ein Ferkel. Komm, ich zeige dir das Bad.
Handtücher habe ich hingehängt, nur das Dings nimm mit,
das sich Kulturbeutel nennt. Aber wehe* wenn da Tusche
drin ist. Komm auch du mit, Ajax. Kriegst in der Küche
warme Milch.«
Einträchtig trollten sie ab ins Nebenzimmer, wo Hulda das
junge Mädchen durch eine schmale Tür ins Bad schob, das
in grünen Kacheln und Chrom nur so blitzte.
»Da staunst du, Herzchen, wie?« schmunzelte Huldchen.
»Demnach scheint dieses das Schlafgemach des Herrn
Professors gewesen zu sein, weil das Bad daneben liegt. So,
jetzt rubbel dich ab.«
Was Ortrun mit Vergnügen tat. Zehn Minuten später
erschien sie wieder bei Frauke, rührend anzuschauen in
dem Hemdchen, das alles andere als elegant war.
»Das Etuichen stammt wohl noch von deiner Großmutter«,
lachte Frauke, und nonchalant wurde erklärt:
»Das verstehst du nicht, mein Kind.
Elitetöchterheimswäsche. In dem Genre war die ganze
Kleidung. Was ich gestern trug, hat Tante Agnes mir
besorgt, und für Ergänzung sollst du sorgen, hat sie gesagt.
Tu’s also!«
»Worauf du dich verlassen kannst«, sprang sie trällernd aus
dem Bett. »In Samt und Seide will ich dich kleiden, dem
ganzen Dörfchen hier zur Freude.«
»Dörfchen? O weh! Laß diese Bezeichnung nur nicht den
Herrn Gemeindevorsteher hören. Der würde den
Zeigefinger heben und dementieren: Dörfchen, Gnädigste?
Aber, aber, wir sind ein aufstrebender Badeort, in dem Ihr
Besitz ein Schandfleck ist.«
»Schau mal an, wie genau du beobachtet hast. Und gestern
machtest du den Eindruck, als könntest du nicht bis drei
zählen!«
»Elitetöchterheimserziehung, meine Liebe.«
Lachend verschwand Frauke im Bad und als sie später
angekleidet in der Küche erschien, ließen Hulda und
Ortrun sich das Frühstück bereits gut munden. Mollig
warm war es in dem jetzt blitzblanken Raum, im Herd
prasselten lustig die Scheite.
»Ist das gemütlich hier«, ließ Frauke sich frohgemut am
Tisch nieder und zeigte dann verblüfft auf das kostbare
Porzellan.
»Wo hast du denn das noble Gedeck nebst Silber her,
Huldchen?«
»Nicht geklaut, mein Herzchen, sondern entdeckt. Was
meinst du wohl, was für Fundgruben es hier gibt. Du hast
eine Erbschaft angetreten, deren Ausmaß man jetzt
überhaupt noch nicht übersehen kann.«
»Und das von einem Onkel zweiten Grades, der für mich
von jeher nur Legende war.«
»Hast du ihn denn nie gesehen?« fragte Ortrun erstaunt.
»Nein. Denn seine und meine Familie waren entzweit. Es
ging um eine Hinterlassenschaft, bei der mein Großvater
übervorteilt wurde. Das hat mein Vater, nun seinem Vetter
nachgetragen, zumal der reich war und er arm. Er sprach
nie von ihm. Was ich also weiss, habe ich von meiner
Mutter. Hulda ist es auch bekannt.«
»Und ich darf es nicht wissen?« fragte Ortrun.
»Gewiß, Kleines. Also: Der Professor, der sich viel auf
Reisen befand, bewahrte sein Junggesellentum solange, bis
er einer Schönen in das raffiniert gestellte Netz geriet, und
ihr gewissermaßen mit Haut und Haaren verfiel. Er war
schon Anfang Fünfzig, als er heiratete. Seine Frau trug er
auf Händen und vergötterte das Töchterlein, das sich bald
einstellte.
Na ja, es ging auch alles gut, bis der Mann zu kränkeln
begann und sich daher nicht mehr in der Weltgeschichte
herumtreiben konnte. Also ersteigerte er diesen Besitz,
wurde seßhaft – und schon nach einem halben Jahr ging
ihm seine lebensgierige Frau mit einem andern durch, weil
sie es in dieser Einöde, dazu noch mit einem kränkelnden
Mann, nicht länger aushalten konnte. Kurze Zeit darauf
ging ihm auch die abgöttisch geliebte Tochter mit einem
Zirkusreiter durch – und soll sich bald darauf bei einem
waghalsigen Ritt das Genick gebrochen haben.
Soweit die Tatsachen. Alles andere muß man sich
zusammenreimen, und zwar so: Bis ins tiefste Mark
getroffen, verbittert und vergrämt, verkroch sich der Mann
hier wie ein weidwundes Tier. Verbiß sich in seinen
Büchern und wollte nichts mehr von den Menschen
wissen. Sonst hätte er wahrscheinlich eine Wirtschafterin
ins Haus genommen und nicht allein mit dem alten Diener
gehaust, der schon viel zu klapprig war, um seinen Herrn
gut zu versorgen und außerdem noch das ganze Haus in
Ordnung zu halten. Als er starb, verlor der einsame Mann
auch noch den letzten Menschen, an dem er sehr hing –
und das brach ihm vollends das Herz. Es gelang ihm gerade
noch, Michel herbeizurufen, dann ging er so ruhig dahin,
wie er in den letzten Jahren gelebt hatte.«
»Aber vorher schlug ihm doch noch das Gewissen«,
bemerkte Hulda trocken. »Deshalb setzte er als Erbin die
Enkelin des Mannes ein, den sein Großvater begaunerte.
Pas nennt man ausgleichende Gerechtigkeit. Ist es
überhaupt amtlich, daß seine Tochter tot ist?«
»Ja. Das war im Testament ausdrücklich erwähnt.
Außerdem berichteten vor ungefähr drei Jahren die
Tageszeitungen in Großaufmachung von dem tragischen
Tod der einzigen Tochter des in Fachkreisen berühmten
Professors Eduard Gortz.«
»Ist doch bloß gut«, brummte Hulda. »Denn soweit ich
dich kenne, hättest du bei einem etwaigen Auftauchen der
Zirkusmamsell das Erbe ihres schmählich im Stich
gelassenen Vaters ohne weiteres an sie abgetreten. Gott sei
Dank, daß seine geschiedene Frau, die wahrscheinlich noch
lebt, keinen Anspruch darauf hat.«
»Die laß ja nicht wagen, hierher zu kommen!« empörte
Ortrun sich. »Die lassen wir von Ajax auffressen. Denn was
anderes hat die Kan…«
»Ei, besinn dich auf deine Elitebildung«, stoppte Frauke
lachend ab – und da lief das Gesichtchen rot an.
»Ist doch wahr«, murmelte sie. »Ich könnte weinen, wenn
ich an das trostlose Leben des armen Professors denke.«
Und dabei purzelten ihr bereits die hellen Tränen über die
Wangen, die sie hastig abwischte. Fuhr dann erschrocken
zusammen, als draußen etwas krachend und splitternd
niederbrach.
»Was ist denn das?« fragte die gleichfalls erschreckte
Frauke.
»Ein gefällter Baum«, gab Hulda Auskunft. »Schon seit
sechs Uhr ist Michel dabei, Licht in die düstere
Angelegenheit da draußen zu bringen. Damit riß er mich
nämlich aus dem Schlaf. Und ich wundere mich, daß nicht
auch ihr von dem Spektakel aufgewacht seid.«
»Dafür sorgte Ajax mit seinem Knurren«, streichelte sie
zärtlich den Kopf des Rüden, der bei Nennung seines
Namens zu ihr trat und sie aufmerksam ansah. »Bist du
auch sicher, daß Michel nicht zu viele Bäume umlegen
wird?«
»Ganz sicher. Der Mann versteht was davon, laß ihn also
gewähren. Außerdem geben die wuchernden Bäume gutes
Brennholz und Stubben für Kamine und Herd.«
»Wird Michel sich bei der schweren Arbeit nicht
überanstrengen?«
»Ach woher. Als Holzfäller ist er daran gewöhnt. Wir
können von Glück sagen, ihn zu haben, er ist für uns
Goldes wert.
Übrigens habe ich wegen der Bezahlung angetippt. Mehr
als hundert Mark monatlich nimmt er nicht. Er sagt, daß er
bei den Gelegenheitsarbeiten weniger verdient. Dabei muß
er noch scharf auf Posten sein, während er sich hier die
Arbeit geruhsam und nach eigenem Ermessen einrichten
kann.
Außerdem bat ich ihn, uns zur Instandsetzung des Hauses
Handwerker zu empfehlen, worauf er grinsend erklärte,
daß die hier so übrig wären wie der Dreck zu Pfingsten.
Was die können, kann er auch. Dabei schneller und
sorgfältiger.«
»Ob er da den Mund nicht zu voll nimmt?«
»Danach sieht er mir nicht aus. Na, warten wir ab. Werden
wir leben, werden wir sehen.«
Und sie lebten, und sie sahen – nämlich daß der lange
Michel einfach ein Genie war. Denn es gab kaum etwas,
das er nicht konnte.
Nachdem er wuchernde Bäume gefällt und die Stubben
gerodet hatte, legte er um das Haus herum Rasen und
Blumenbeete an, wozu Mitte März ja noch Zeit war. Den
brachliegenden Gemüse- und Obstgarten brachte er wieder
in Schwung, wie er sich ausdrückte, wobei alle fleißig
mithalfen. Auch Bertchen, die ihre Aufwartestelle zwar
behielt, aber trotzdem noch Zeit genug hatte, um in Haus
und Garten kräftig zuzupacken. Für Verpflegung brauchte
sie vorläufig nicht zu sorgen. Das tat Hulda so gut und
reichlich, daß Michel behauptete, bereits einen
Schmerbauch zu kriegen. Und als der Garten seiner Ansicht
nach wie eine Putzstube aussah, nahm er die
nächstdringende Arbeit in Angriff.
»Das Haus muß verputzt werden, solange das schöne
Wetter noch anhält«, erklärte er kurz und bündig. »Wenn
erst der April mit seinem Regen kommt, ist es zu spät.«
Also wurde das Haus verputzt, wozu er allerdings zwei
Facharbeiter hinzuzog. Er selbst jedoch war mit dabei,
nicht viel Worte machend, sondern fest zu packend.
Als dann die Mauern in blendendem Weiß erstrahlten,
wurden die Helfer entlohnt. Am Dach war nichts
auszubessern, das war erstaunlicherweise tadellos in
Ordnung. Fensterrahmen und -laden strich Michel, wobei
ihn Hulda mit fast fachmännischem Geschick unterstützte.
Das leuchtende Grün zu dem schneeigen Weiß machte sich
prächtig. Grün waren auch die Blumenkästen, die sich vor
den oberen Flurfenstern hinzogen. Wenn erst die
gepflanzten Geranien, Petunien und Hängenelken darin
blühten, gab das ein lustigbuntes Bild.
Zuletzt kam die Haustür dran, die wie das Dach ohne
Schaden war. Dazu aus bestem Eichenholz, mit dicken,
geschliffenen Scheiben, die natürlich verschmutzt waren.
Doch nachdem Hulda sie bearbeitet hatte, funkelten sie
wie doll, nach ihrem Ausspruch, und Michel ließ es sich
nicht nehmen, das Holz zu beizen, bis auch das »wie doll«
glänzte.
»Na, das ist ja nun von außen hui, aber noch immer von
innen pfui«, stellte Huldchen fest, als das Haus in hellem
Glanz erstrahlte. »Das muß bis Ostern anders werden.«
Und es wurde anders. Zehn geschickte Hände regten sich
fleißig. Tapezierten, polierten, lackierten, und als die
Osterglocken läuteten, war aus dem Schandfleck des Dorfes
das schmuckste Haus geworden, über dessen Tür in großen
goldenen Lettern stand: Haus im grünen Grund.
Diese Auferstehung hatten die Dorfbewohner mit
brennendem Interesse verfolgt. So viele Menschen waren
wohl noch nie an dem Anwesen vorübergegangen wie jetzt.
Da stand jetzt kein Zaun mehr mit abgebröckeltem Sockel,
verwaschenen Staketen und rostigem Tor, hier war
verputzt, lackiert und bronziert worden. Auch was jetzt
hinter dem schmucken Zaun lag, wie gern hätte man es aus
der Nähe in Augenschein genommen. Aber hinter dieser
Pforte befand sich ein verschlossenes Paradies – und der
Erzengel davor war Ajax, der rassige Schäferhund. Zwar
hielt er kein flammendes Schwert, aber er zeigte ein
furchterregendes Gebiß.
Das alles wurde bestaunt, erörtert und beklatscht. An den
Stammtischen, auf den Kaffeekränzchen und in den
Geschäften. Das Haus im grünen Grund war ein Begriff
geworden.
Was den Bewohnern übrigens höchst gleichgültig war. Sich
um andere zu kümmern, dazu hatten sie von jeher keine
Lust, und dann hatte ihnen in den vergangenen Wochen
wahrlich die Zeit dazu gefehlt. Da hatten sie sich keine
Ruhe gegönnt. „Hatten geschuftet vom frühen Morgen bis
zum späten Abend.
Doch jetzt kam ihrer Arbeit Lohn. Jetzt konnten sie sich
andern erfreuen, was sie rundum mit Ausdauer und Fleiß
geschaffen hatten.
Den langen Michel schmiß es fast um, als Frauke ihm,
nachdem hier alles so herrlich vollendet, mit reizendem
Grübchenlächeln ein Bündel Scheine in die Hand schob,
die zusammen eine vierstellige Zahl ausmachten. Direkt
entsetzt starrte er auf diesen Segen.
»Gnädiges Fräulein, so was ist doch unerhört.«
»Nicht unerhört, lieber Michel«, sagte sie herzlich. »Ihre
Hilfe ist uns so viel wert, daß wir sie eigentlich gar nicht
bezahlen können. Bedenken Sie, wenn wir Handwerker im
Hause gehabt hätten. Ach was, ziehen Sie ab!«
Das tat er denn auch und hatte dann zu Hause den
Freudenausbruch seines Bertchens zu überstehen.
Und am Ostersonnabend, der fast sommerliche Wärme
brachte, saßen die fleißigen Arbeiter treu vereint auf der
Terrasse beim Nachmittagskaffee. Saßen in Gartensesseln,
die sie selbst lackiert hatten und schauten mit frohen
Augen hinaus in den kleinen Park. Es waren noch Bäume
genug da, die Michels Axt verschont hatte; denn sie hatte
nur das erfaßt, was schmarotzte und verdüsterte. Auf den
frischangelegten Rasenflächen, die schon erstaunlich grün
waren, blühte Krokus lustigbunt. Auch auf den Beeten
zeigten sich Frühlingsblumen. Die Birken umwallte ein
grüner Schleier, die Magnolien sahen aus, als hätte man
zartrosa Watte darüber gestreut. Nichts Düsteres gab es
mehr, alles war hell, licht und froh.
Stolzgeschwellt sah Michel auf sein Werk. Hatte sich zur
Feier des Tages fein gemacht, wie sein Bertchen auch. So
gehörte sich das, wenn man von der“ Herrschaft eingeladen
war.
Plötzlich horchten alle auf. Glockentöne wehten zur
Terrasse hin und zwar von dorther, wo sich das prächtige
Schloß erhob. Fünf Augenpaare waren jetzt darauf gerichtet
und sahen voller atemloser Spannung zu, wie auf dem
hohen Hauptturm die Fahne auf Halbmast gehißt wurde.
»Die Baronin ist tot«, sagte Bertchen leise. »Gott hab sie
selig.«
Ihr Ehegespons jedoch murmelte etwas, das die Frau
entsetzt die Augen aufreißen ließ:
»Gott sei Dank, jetzt ist der arme Kerl endlich von seinem
Kreuz erlöst!«
»Michel, schämst du dich gar nicht, so frevelhaft
daherzureden?!«
»Was heißt hier frevelhaft«, knurrte er. »War nun die
Baronin ein Kreuz für ihren Mann oder nicht?«
»Das schon«, mußte sie kleinlaut beigeben. »Aber nun ist
sie tot. Und den Toten soll man Gutes nachsagen.«
»Selbstverständlich. Auch wenn sie in ihrem nichtsnutzigen
Leben die Menschen gepeinigt haben bis aufs Blut.«
»Michel!«
»Naja, ich bin schon still«, sah er verlegen in drei
Augenpaare, die verständnislos an seinem Gesicht hingen.
»Nichts für übel, meine Damen, aber bei allem, was man
da hörte, konnte sich einem schon das Herz krümmen vor
Jammer. Denn so ein leibhaftiger Teufel…«
»Halt den Mund, Michel, laß mich reden, ich werde
bestimmt nicht so ausfallend wie du! Außerdem kenne ich
die Verhältnisse im Schloß nicht nur vom Hören, sondern
auch vom Sehen, weil ich öfter mal zur Aushilfe dort war
und so manches mit angesehen habe. Also, meine Damen,
das war so:
Der junge Baron heiratete ein reiches Mädchen, weil er
Geld für seinen großen Besitz brauchte. Doch gleich nach
der Hochzeit stellte sich heraus, daß ihn sein
Schwiegervater geblufft hatte. Der war nämlich pleite,
segelte ins Ausland ab. Nun hatte der arme, betrogene
Mann eine Frau am Hals.«
»Aha!«
»Du sollst mich nicht unterbrechen, Michel, das rutschte
mir nur so raus! Sage ich so: Er hatte nun eine Frau, die
nicht Geld mitbrachte, sondern viel Geld verlangte, da sie
an ein verschwenderisches Leben gewöhnt war. Eigentlich
hätte der Herr Baron sich gleich scheiden lassen müssen,
von wegen Vorspiegelung falscher Tatsachen und so. Und
vielleicht hätte er es auch getan, wenn seine Frau nicht bei
ihrer verrückten Autoraserei verunglückt wäre. Dabei
verletzte sie sich das Rückgrat so arg, daß es keine Hilfe
mehr gab. Und da sie schon von Natur so ein…«
»Teufel«, half Michel freundlich aus.
»Wenn du jetzt nicht den Mund hältst, bekommst du von
mir keinen Schnaps!«
»Damit kannst du mich nicht einschüchtern«, grinste er sie
an. »Ich bekomme schon einen – oder gar mehrere.«
Da mußte das liebe, gute Bertchen lachen, fuhr dann aber
ernstwerdend in ihrer Erzählung fort:
»Da die Baronin schon von Natur aus ein unruhiger Geist
war, machte das Siechtum sie zur…«
»Kanaille!«
»Na schön, das will ich gelten lassen, sie war wirklich eine.
Sie tyrannisierte nämlich das ganze Haus, am meisten aber
ihren Mann und seine blutjunge Schwester. Aber sie sollen
ihr Kreuz geduldig getragen haben, wovon der Heiland sie
heute, vor seinem Auferstehungstag, erlöste.«
»Amen!« schloß der unverbesserliche Michel, was die
andern lachen machte, ob sie wollten oder nicht. Was ging
sie schließlich die Tragödie anderer Leute an? Wenn sie
darüber weinen wollten, würden sie wohl kaum die Tränen
stillen können, weil es ja auf der Welt der Tragödien so
viele gibt. Und jeder muß damit fertig werden, ob so oder
so.
»Jetzt trinken wir einen Schnaps«, ordnete Hulda an, was
allgemeine Begeisterung fand. Und da es ja heißt: Vor dem
Schnaps einen Schnaps, nach dem Schnaps noch ’nen
Schnaps, mußte man sich daran halten. Wenigstens tat es
das Ehepaar. Und als es später schied, Bertchen mit einem
Korb am Arm, in dem sich Festtägliches befand,
schwankten sie Hand in Hand beseligt über die Wiese
ihrem Häuschen zu, in dem Liebe, Friede und Eintracht ihr
Zepter schwangen.
Die Zurückbleibenden sahen belustigt dem schwankenden
Paar nach, bis es im Haus verschwunden war.
»Die sind jetzt wohlverwahrt und aufgehoben«, lachte
Frauke. »Das heißt, so arg war es mit Bertchen nicht, die
konnte noch gut Balance halten. Aber schaut mal dort
hinauf. Ist das nicht ein Mensch, der von dem Schloß her
die Anhöhe hinabläuft?«
»Scheint mir auch so«, kniff Hulda die Augen zusammen,
um besser sehen zu können. »Sieht wie ein junges
Mädchen aus, das auf Michels Haus zuhält. Da steht
übrigens Bertchen und winkt.«
Gespannt verfolgten sie den Vorgang weiter. Jetzt machte
die Laufende vor Bertchen halt, die zuerst auf sie einsprach,
sie dann bei der Hand nahm und über die Wiese auf das
grüne Haus zukam. Einige Minuten später standen sie vor
den drei erstaunten Menschen auf der Terrasse.
»Verzeihen Sie bitte, meine Damen«, sagte Bertchen
verlegen. »Ich wollte mal fragen, ob Sie das Baroneßchen,
das in ihrer Angst und Not zu uns flüchtete – ich meine,
wir sind doch kein Umgang –, außerdem ist es bei uns so
beengt.«
Hilflos sah sie Frauke an, die lächelnd sagte:
»Sie meinen, daß wir uns der jungen Dame annehmen
sollen, nicht wahr?«
»So ist es, gnädiges Fräulein«, atmete Bertchen auf. »Hier ist
das Baroneßchen doch unter Menschen, die zu ihm passen.
Mein Gott, so’n junges Blut muß ja Angst kriegen, wo oben
eine Leiche liegt und wo keiner jetzt Zeit hat, sich um es zu
kümmern.«
»Ist schon gut, Bertchen«, winkte Frauke ab, mitleidig auf
das junge Menschenkind schauend, das mit
dickverweintem Gesichtchen ängstlich dastand.
»Wollen Sie bei uns bleiben, Baronesse?« fragte sie
freundlich.
»Wenn ich darf und nicht störe, dann gerne.«
»Sie stören uns nicht. Weiß der Herr Baron denn, daß Sie
das Schloß verlassen haben?«
»Nein«, entgegnete das Backfischchen schüchtern. »Mein
Bruder hat jetzt keine Zeit, sich um mich zu kümmern. Das
hat überhaupt keiner. Und ich bin doch so allein, ich habe
so große Angst! Meine Schwägerin hat vorher doch so
entsetzlich geschrien – o mein Gott!«
»Nun, nun«, beschwichtigte Frauke, das nun wieder
weinende, an allen Gliedern zitternde Mädchen liebevoll
umfassend. »Setzen Sie sich zuerst einmal. So, und nun
werde ich dem Herrn Baron telefonisch Bescheid sagen, wo
sein Schwesterchen sich befindet. Wie ist die Rufnummer?«
»Dreimal zwei, gnädiges Fräulein.«
»Nun, das ›gnädige‹ wollen wir lassen. Ich bin Frauke
Gortz, das ist Fräulein Hulda Selk und das Fräulein Ortrun
Danz. Ich telefoniere jetzt und gebe dann Bescheid, was ich
ausgerichtet habe.«
In der jetzt so schmucken Diele ging sie zum Telefon,
wählte die Nummer und hörte gleich darauf eine
Männerstimme:
»Hier Schloß Swidbörn.«
»Herr Baron persönlich?«
»Nein. Es spricht der Diener Niklas.«
»Danke. Könnte ich den Herrn Baron sprechen?«
»Dann müßte ich um den Namen bitten, und worum es
geht.«
»Es geht um die Baronesse, die sich augenblicklich in
meinem Haus befindet – im Haus im grünen Grund.«
»Die Baronesse – o mein Gott!« kam es gepreßt vom
andern Ende. »Bitte, sich einen Moment zu gedulden,
gnädiges Fräulein. Ich sage dem Herrn Baron sofort
Bescheid.«
Einige Minuten später sprach dann eine sonore, herrische
Stimme:
»Swidbörn. Wie mir mein Diener sagte, befindet sich meine
Schwester in Ihrem Hause, gnädiges Fräulein?«
»Ganz recht, Herr Baron.«
»Aber wie kommt die Kleine ausgerechnet zu Ihnen, Sie
sind ihr doch ganz fremd.«
»Sie lief in ihrer Angst und Not zu Bertchen und Michel,
falls die beiden Ihnen ein Begriff sind.«
»Doch, natürlich. Aber so bekannt sind sie meiner
Schwester nun auch wieder nicht, als daß diese bei ihnen
Schutz suchen könnte. Da gibt es doch hier die
Gutsbeamtenfamilien, die ihr viel vertrauter sind. Also
muß die Kleine in ihrer Verstörtheit das Köpfchen verloren
haben. Und wie kam sie zu Ihnen, gnädiges Fräulein?«
»Bertchen brachte sie mir und meinen Lieben, weil sie in
ihrer unbeholfenen Art mit dem verstörten Dinglein nichts
anzufangen wußte.«
»Eine ziemliche Zumutung, fremde Menschen zu
belästigen.«
»Bertchen ist mir nicht fremd.«
»Aber meine Schwester ist es.«
»Das wohl. Doch wenn ein Mensch Hilfe braucht, muß
man sie ihm angedeihen lassen, ob er da fremd ist oder
nicht. Oder würden Sie einem solchen Menschen Ihre Hilfe
verweigern, Herr Baron?«
»Natürlich nicht.«
»Also! Nun kurz die Rede: Vertrauen Sie mir Ihr
Schwesterchen solange an, bis man in Ihrem Hause soweit
ist, daß man sich um das verängstigte Kind wieder
kümmern kann.«
»Darf ich Ihr hochherziges Angebot auch wirklich
annehmen, gnädiges Fräulein?«
»Von Hochherzigkeit kann keine Rede sein, Herr Baron. Es
ist weiter nichts als Menschenpflicht.«
»Das möchte ich bezweifeln, aber…«
»Kein Aber, Herr Baron.«
»Dann danke ich Ihnen, gnädiges Fräulein. Ich kann mich
in den nächsten Tagen um das arme Kind so gar nicht
kümmern und meine Getreuen auch nicht.«
»Eben deshalb ist es bei uns gut aufgehoben. Übrigens,
mein Beileid, Herr Baron.«
»Danke, gnädiges Fräulein. Ich werde mir erlauben, wenn
hier alles vorüber ist, Ihnen meinen persönlichen Dank
abzustatten.«
»Das freut mich. Ist nun alles klar?«
»Ja. Und nochmals besten Dank!« Damit war das Gespräch
beendet, und Frauke ging zurück auf die Terrasse, wo der
junge Gast ängstlich fragte: »War mein Bruder sehr böse?«
»Nein, Baronesse, nur verwundert.«
»Hat er mir erlaubt, hierzubleiben?«
»Ja. Und zwar für die nächsten Tage.«
»Na sehen Sie, Baroneßchen«, fuhr Bertchen unbeholfen
über das Köpfchen mit den langen blonden Zöpfen. »Es
sind gute Menschen, bei denen Sie sich befinden, sehr gute
Menschen. Kann ich nun gehen? Sonst trinkt mein Michel
womöglich die Flasche leer, die ich im Korb fand.«
»Dann aber schnell«, lachte Frauke, worauf Bertchen sich
schleunigst in Bewegung setzte. Wie ein Wiesel lief sie
durch den grünen Grund und verschwand in dem kleinen
Haus.
»So, nun wollen wir uns mal um unseren Gast kümmern«,
sagte Frauke fröhlich. »Aber, aber, doch nicht ein so
unglückliches Gesichtchen, Baronesse!«
»Bitte, wollen Sie mich nicht Oda nennen und die andern
auch?« fragte die Kleine schüchtern.
»Wenn Sie es wünschen, dann gern.
Sie gehen doch sicher noch zur Schule, nicht wahr?«
»Nein.«
»Dann unterrichtet Sie eine Hauslehrerin?«
»Auch nicht. Meine Schulzeit ist seit Ostern beendet.«
»Wie kommt denn das?« fragte Hulda verwundert. »Sie sind
doch höchstens vierzehn Jahre.«
»Aber nein«, lachte es schon zaghaft in den großen blauen
Augen auf. »Es machen die Zöpfe, daß man mich für jünger
hält, ab ich bin. Aber mein Bruder liebt sie so sehr und
wünscht, daß ich sie bis achtzehn Jahre trage. Jetzt bin ich
sechzehn vor einigen Tagen geworden. Und da ich in der
Schule die mittlere Reife erlangt hatte, durfte ich abgehen.«
»Taten Sie es gern?«
»O ja, sehr gern!«
»Das kam aus tiefstem Herzensgrund«, schmunzelte Hulda.
»Ich werde mich jetzt um das Abendessen kümmern. Nein,
Ortrun, bleib du hier, Frauke kann mir helfen. Damit die
Kleine schneller ihre Scheu verliert«, setzte sie in der Küche
erklärend hinzu. »Dich scheint sie mehr als Respektsperson
zu betrachten, während sie Ortrun als ihresgleichen
ansieht.
Na ja, hätte mir auch nicht träumen lassen, daß wir so bald
schon einen Gast bekommen würden – und einen so
feinen noch dazu. Nur gut, daß im Haus alles in Ordnung
ist. Wo wird die Kleine schlafen? Allein würde sie sich
wahrscheinlich graulen, so verängstigt wie sie ist.«
»Das nehme ich auch an. Stellen wir den Diwan aus
meinem in Ortruns Zimmer, dann sind die beiden jungen
Mädchen unter sich.« .
»Ach so, du hältst dich mit deinen dreiundzwanzig Jahren
wohl für steinalt? Essen wir auf der Terrasse?«
»Dafür dürfte die Abendluft zu kalt sein.«
»Dann deck im Zimmer, ich reich dir alles zu.«
Sie öffnete die Durchreiche, die in die Wand zum
Speisezimmer eingelassen war und bei der Holztäfelung
nicht auffiel. Darunter stand ein Schränkchen, in dem sich
das tägliche Porzellan, das Silber und die Tischwäsche
befand.
»Nun tummle dich, mein Herzchen, und vergiß nicht,
kleine Teller hinzustellen.«
»Wozu das?«
»Wirst schon sehen.«
»Hulda, es scheint, als ob du etwas Extraes hättest.«
»Und wenn es so wäre?«
»Dann ist es gegen die Verabredung. Wir haben abgemacht,
nur eine kalte Platte auf den Tisch zu bringen, damit du
nicht noch am Ostersonnabend dich abzumühen brauchst.
Was ist es?«
»Ragout fin.«
»Na, du Heimtückerin! Ich werde dich bei den Ohren
nehmen!«
»Laß das, ohne sie wäre ich nicht halb so hübsch.«
Lachend ging Frauke ins Eßzimmer und deckte den Tisch
mit dem kostbaren Porzellan, das sie wie vieles andere hier
in den Schränken vorgefunden hatte. Auch Silber und
Tischwäsche, die verschmutzt an alle möglichen Stellen
hineingestopft worden war. Mit allen anderen Sachen war
es genauso. Nichts befand sich da, wo es hingehörte. Doch
nun lag alles gewaschen und geordnet in Schränken und
Schüben. Es war so viel, daß Frauke mit Wäsche aller Art
versorgt war auf lange Zeit.
Die verschmutzten Mahagonimöbel hatte man solange
poliert, bis sie glänzten, die Beschläge geputzt. Die Polster
und Teppiche, zum Teil echte Perser, geklopft, entfleckt
und mit Salmiak aufgefrischt. Kurz und gut, man hatte alles
so lange bearbeitet, bis es in neuem Glanz erstrahlte.
Selbst bei den Gardinen und Vorhängen, die durchweg
gekauft werden mußten, hatte man den Dekorateur
gespart, indem man sie selbst anbrachte. Jetzt besaß Frauke
Gortz, die herumgestoßene Verwandte der Familie Zerkel,
ein weit schöneres, größeres und feudaler möbliertes Haus
als diese es hatte. Und während diese Schulden hatten bis
über beide Ohren, nannte sie ein ganz nettes Bankkonto
ihr eigen. Und das Schicksal nannte es ausgleichende
Gerechtigkeit.
Als die beiden Mädchen bei Tisch erschienen, hatten sie
sich bereits angefreundet. Die kleine Baronesse war wohl
noch zurückhaltend, aber lange nicht mehr so sehr wie zu
Anfang. Und als sie später zwei Glas Bowle getrunken
hatte, war aller Kummer vergessen. Sie wurde richtig
zutraulich. Beteuerte immer wieder, wie froh sie doch wäre,
hier zu sein.
Auch daß sie es nicht fassen könnte, was man aus der
Räuberhöhle gemacht hätte.
»Von innen habe ich das Haus nie gesehen, wie ja
überhaupt niemand Zutritt hatte«, erzählte sie in ihrer
reizenden Art. »Aber schon von außen kam es mir so
unheimlich vor, so unsagbar trostlos und traurig.
Sie müssen nämlich wissen, daß wir vom Schloß aus
beobachten können, was im Tal vor sich geht«, verriet sie
eifrig. »Nur hier hatten wir keinen Einblick, weil alles zu
verwachsen war. Unsere Barbe nannte es das
Gespensterhaus, in dem es nicht geheuer wäre. So richtig
gruseln konnte man sich.«
»Darf man wissen, wer die Barbe ist?« fragte Frauke, die
genauso wie Hulda und Ortrun amüsiert dem kindlichen
Geplauder lauschte.
»Natürlich dürfen Sie das wissen. Barbe ist unsere gute
Barbe, die als Kindermädchen meines Bruders zu uns kam.
Als Winrich sie nicht mehr brauchte, wurde sie
Beschließerin und heiratete der Einfachheit halber den
Diener Niklas.«
»Der Einfachheit halber ist gut«, lachte Frauke, und
vergnügt tat die allerliebste Kleine mit.
»Na ja, lieb haben sie sich außerdem auch noch«, bekannte
sie treuherzig. »Und ich habe sie auch lieb, weil sie so gut
und so treu sind und mich vergöttern, wie mein Bruder es
nennt.«
»Und Ihr Bruder tut das nicht?« forschte Frauke vorsichtig,
und da lachte Baroneßchen spitzbübisch.
»Doch, aber er will das nicht zugeben. Und als er heiratete,
durfte er es wegen seiner Frau nicht zeigen. Aber an die will
ich jetzt nicht denken, ich will fröhlich sein.«
»Recht so«, bekräftigte Hulda schmunzelnd. »Noch ein Glas
Bowle gefällig?«
»Wenn ich darf, bitte! Mein großer Bruder sagt,
Ausnahmen soll man gelten lassen. Und ich höre immer
darauf, was er sagt, weil er vierzehn Jahre älter ist und alles
besser wissen muß.
Überhaupt mein Bruder«, fing sie jetzt an zu schwärmen,
nachdem sie einen langen Zug getan hatte. »Ist das ein
feiner Kerl! Ich bin schrecklich stolz auf ihn. Er schilt nie
mit mir, auch wenn ich es verdient habe. Dann sieht er
mich nur kopfschüttelnd an: Oda, wie kann man nur. Ich
will doch stolz auf dich sein, mein Schwesterchen. Na ja –
dann schäm’ ich mich – und alles ist wieder gut.«
»Haben Sie denn keine Eltern mehr?« fragte Frauke wie
beiläufig.
»Nein, sie sind schon lange tot. Mir ist doch so komisch im
Kopf, wie kommt das nur?«
»Ja, wie mag das wohl kommen«, wiederholte Hulda
trocken. Und dann leise zu Frauke und Ortrun: »Nehmt sie
untern Arm und bringt sie zu Bett.«
So zog man denn mit dem beschwipsten Personellen ab.
Durch die Diele, die Treppe hinauf, die jetzt ein neuer
Läufer deckte, hinein in Ortruns Zimmer, dessen
Einrichtung sie aus ihrer Tasche bezahlte. Zwar war das
Frauke nicht recht, aber das Mädchen bettelte so lange, bis
sie nachgab.
Es war ein allerliebstes Jungmädchenzimmer mit
zartgrünen Schleiflackmöbeln, bunten Seidenpolstern,
dickem Teppich, duftigen Gardinen und niedlichem
Kleinkram. Ehe Oda sich so recht versah, lag sie auf dem
Diwan und gähnte herzhaft. Legte sich auf die Seite und
wechselte augenblicklich hinüber ins Traumland.
»Die ist versorgt«, lachte Frauke unterdrückt. »Mach es
genauso, Herzchen, kriech ungewaschen und ungeplättet in
dein nobles Bett. Die nötige Bettschwere haben wir alle;
denn die Bowle hatte es in sich. Schlaf gut, mein Kleines!«
»Du auch, Fraukelein. Wie glücklich bin ich doch, daß es
dich und Hulda gibt.«
Stürmisch wurde sie umhals und geküßt. Gleichfalls Hulda,
die leise eingetreten war.
»Dich hat es auch ganz nett erwischt«, schmunzelte sie.
»Husch bloß ins Körbchen, damit du nicht noch die
schlafende Baronesse überfällst. In deinem seligen Dusel ist
dir das schon zuzutrauen.«
»Soll ich’s tun?« blitzte der Übermut sie an.
»Laß bloß das Kind in Frieden. Das hat den Schlaf weiß
Gott nötig. Schlaft euch gut aus, gute Nacht!«
Sie ging in ihr Zimmer, das sie sich behaglich eingerichtet
hatte, ebenso, wie Frauke das ihre, das neben dem Ortruns
lag. Auch hier war alles hell und licht. Angefangen von den
schimmernden Rosenholzmöbeln, dem hellen, flauschigen
Teppich, den duftigen Gardinen bis zur seidenglänzenden
Daunendecke. Zu allem hatte das Geld gelangt, es war
sogar noch ganz nett etwas übriggeblieben.
Außerdem hatte sie ihre Rente und das sehr reichliche
Pensionsgeld Ortruns. Damit ließ sich gut auskommen.
Auch am nächsten Tag zeigte der April sich gnädig. Wenn
die Luft auch kühl war, aber es schien die Sonne. Frauke
und Hulda, die zeitig aufgestanden waren, um im Park die
Eier zu verstecken, waren gerade fertig, als sie an der
Küchentür den Mann entdeckten, den Ajax verbellte.
Frauke rief ihn zu sich, befahl ihm, bei Fuß zu bleiben und
trat auf den Fremden zu, der eine schlichte Livree trug.
»Guten Morgen!« grüßte er höflich. »Ich bin der Diener
Niklas vom Schloß und bringe der Baronesse ein
Köfferchen mit Kleidern und einen Karton von meiner
Frau, der Barbe. Diese Blumen soll ich den Damen vom
Herrn Baron überreichen und Dank sagen für die
freundliche Aufnahme, die Baronesse hier gefunden hat.«
Frauke nahm ihm die Blumen ab, während Hulda nach
Koffer und Karton griff.
»Sagen Sie dem Herrn Baron, wir lassen für die Blumen
danken. Er braucht sich um die Baronesse keine Sorgen zu
machen, sie ist bei uns bestens aufgehoben. Wann ist die
Beisetzung?«
»Übermorgen um fünfzehn Uhr, gnädiges Fräulein. Der
Herr Baron sagt telefonisch Bescheid, wenn die Baronesse
im Schloß erscheinen soll. Ich empfehle mich den
Damen.«
Würdig schritt er davon und Hulda brummte, während sie
mit Frauke in die Küche ging:
»Ziemlich hochnäsig, der Herr Diener. Na ja, wie der Herr,
so das Gescherr!«
»Wie kannst du nur so reden, Hulda. Du kennst den Baron
ja gar nicht. Und die Baronesse ist doch weiß Gott nicht
hochnäsig.«
»Wird sich schon auf ihr blaues Blut besinnen, wenn sie die
Kinderschuhe abgestreift hat. Sieh nach, was im
Seidenpapier für Blumen sind.«
Als die freilagen, tippte sie der Reihe nach auf die Blüten.
»Wunderbar abgestuft. Für das ältere gnädige Fräulein
Orchideen, für das jüngere gnädige Fräulein Lilien, für die
Küchenfee Osterglocken.«
Vergnügt fiel sie in das hellklingende Lachen Fraukes ein,
die Koffer nebst Karton ergriff und zu den beiden Mädchen
ging, die in ihren Betten lagen und sich unterhielten.
»Frohe Ostern!« riefen sie der Eintretenden entgegen, die
zu Oda trat und die beiden Sachen aufs Bett legte.
»Das hat der Diener Niklas für Sie abgegeben.«
»Niklas?« schnellte die Kleine wie ein Gummiball hoch.
»Haben sie im Schloß doch an mich gedacht. Was mag da
drin sein?«
»Sehen Sie nach, dann werden Sie es wissen.«
»O bitte!« bettelten die Blauaugen zu ihr hoch. »Nennen
Sie mich doch du, als Ostergeschenk. Von Ortrun habe ich
es bereits erhalten.«
»Na schön, dann aber nur auf Gegenseitigkeit.«
»Aber dann sind Sie – dann bist du - gar keine
Respektsperson mehr für mich.«
»Darauf lege ich auch gar keinen Wert.«
Interessiert sah sie zu, wie Oda den Koffer öffnete, in dem
außer Nachtzeug und Unterwäsche ein schwarzweißes
Wollkleidchen, schwarze Strümpfe und schwarze
Wildlederschuhe lagen. Fragend sah das Mädchen zu
Frauke hoch, die leise sagte:
»Du hast Trauer, Oda.«
»Richtig«, senkte sie verlegen das blonde Köpfchen. »Wie
lange muß ich die einhalten?«
»Das wird dein Bruder bestimmen.«
»Na ja, was sein muß, das muß nun mal sein«, sagte sie
kläglich, klappte den Deckel zu und griff nach dem Karton,
öffnete ihn. Und schon strahlten ihre Augen wieder.
»Oh, ist das mal hübsch bunt. Das hat sicher meine liebe
Barbe mir geschickt; denn mein Bruder hat für so etwas
jetzt bestimmt keinen Sinn.
Oder doch?« zerrte sie aufgeregt ein großes Osterei aus dem
Glitzerkram hervor, in dessen Schleife ein Kärtchen steckte.
Rasch überflog sie die markige Schrift und sagte eifrig:
»Alles, was da so hübsch glitzert, ist von meinem Bruder.
Paßt mal auf, was er schreibt! Einen herzlichen Ostergruß,
mein kleiner Zeisig. Verlerne nur das Zwitschern nicht, das
dein großer Bruder immer nötig haben wird. Die gefärbten
Eier schickt dir Barbe, die froh ist, ihren Liebling so gut
aufgehoben zu wissen. Übermorgen auf Wiedersehen! -
Winrich.«
Nun wurde alles einzeln aus der Schachtel genommen,
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beäugt, bestaunt. Dann begann sie den reichen Segen
durch vier zu teilen, was Frauke ahnungsvoll fragen ließ:
»Was soll das geben?«
»Geteilte Freude, ist doppelte Freude. In diesem Fall sogar
vierfache Freude.«
»Und du meinst, daß wir es annehmen werden?«
»Warum denn nicht? Ich nehme von euch ja noch viel
mehr an!«
»Darüber werden wir unten debattieren. Jetzt macht, daß
ihr euch anzieht, damit wir frühstücken können.«
Sie ging, und eine halbe Stunde später erschienen die
beiden Mädchen. Odas Kleid war recht niedlich, nur die
schwarzen Strümpfe störten. Ortrun, die sich eigens zum
Osterfest ein entzückendes Kleidchen gekauft hatte, trug es
nicht, sondern einen dunkelblauen Rock mit einer weißen
Seidenbluse. Frauke und Hulda warfen sich einen
verständnisvollen Blick zu, sie war eben taktvoll, ihre
geliebte Kleine.
Nach dem Frühstück begann das Eiersuchen, wobei Oda
immer wieder hellauf jauchzte. Sie blieb auch lustig und
fidel, bis der Bruder Dienstag um die Mittagszeit anrief und
die Schwester ins Schloß beorderte. Da zog sie wie ein
begossenes Pudelchen ab, und mitleidig sahen die anderen
ihr nach.
Obwohl die Baronin Swidbörn keine Sympathie besessen,
hatte man sich zu ihrer Beisetzung zahlreich eingefunden.
Man tat es ja auch wegen des Barons, der sich wiederum
großer Beliebtheit erfreute. Und es gab unter den vielen
Menschen nicht einen, der nicht das dachte, was Michel
aussprach: Gott sei Dank, jetzt ist der arme Kerl endlich
von seinem Kreuz erlöst.
Während der Trauerfeierlichkeiten griff Baronesse Oda
nach der Hand des Bruders, der das zitternde Händchen
warm umschloß. Das sensible Kind ängstigte sich unsagbar
vor der düsteren Schwere. Am liebsten hätte es das
Gesichtchen in den Ärmel des Bruders gedrückt, um das
alles nicht mit ansehen zu müssen. Nicht die Kerzen am
Katafalk, nicht die vielen Kränze und nicht die vielen
Menschen, die alle so düster und unheimlich wirkten.
Zwischen der Orgelmusik glaubte sie die entsetzlichen
Schreie zu hören, welche die Schwägerin kurz vor ihrem
Tod ausgestoßen hatte. Sie gellten ihr immer noch in den
Ohren, als der schreiende Mund schon längst verstummt
war. Halb wahnsinnig vor Angst war sie schließlich
davongerannt, egal, wohin, nur möglichst weit von dem
Schloß fort, das so Schreckliches in sich barg.
Und jetzt war es wieder da. Todblaß, mit angstgeweiteten
Augen, stand das blutjunge Mädchen da. Rührend wirkend
in dem düsteren Trauergewand, über das die lichtblonden
Zöpfe fielen. Sie weinte nicht, sie zitterte nur am ganzen
Körper wie Espenlaub.
Auch als alles vorüber war und man langsam dem Schloß
zuschritt, wollte sie die Bruderhand nicht loslassen. Diese
gute Hand, die so viel Ruhe und Zuversicht ausströmte und
die dann von vielen andern Händen geschüttelt wurde, als
man vor dem Schloß stand.
Keiner machte Miene, dazubleiben, alle gingen sie still
davon. Bis auf den einen, der den düsteren Gestalten
nachsah und brummte:
»Taktvoll von den Leuten, nicht noch großartig einen
Leichenschmaus zu verlangen. Danke Gott, Winrich, daß
du all das Scheußliche hinter dir hast. Jetzt kannst du
armer Kerl endlich aufatmen. Und nun kommt, damit ich
endlich meinen Kognak kriege. Mir ist bei dem
Zeremoniell mit allem Drum und Dran ganz schwiemelig
um den Magen geworden.«
Sie stiegen die Freitreppe hinauf, durchquerten die riesige
Halle, wo ihnen Niklas die Mäntel abnahm und betraten
ein kleines Gemach, dessen Einrichtung eigentlich nur aus
Polstern und Teppichen bestand. Auf dem niederen Tisch
zwischen der Sesselgruppe am Kamin summte die
Kaffeemaschine, auf einer Platte lockten gute Happen und
auf der beweglichen Bar standen vorzügliche Tropfen und
Tabakwaren. Im Kamin prasselten die Scheite, deren
lodernde Flammen mollige Wärme verströmten.
Mit einem Grunzer des Wohlbehagens ließ sich der Freund
des Hausherrn in das weiche Polster sinken. Er bekam den
ersehnten Kognak, den er hinunterkippte.
»Ah, das tut gut. Gib mir gleich noch einen, Winrich, damit
ich das hubberige Gefühl los werde. Regnen mußte es
natürlich auch noch. Na ja, bei so was mußte die Sonne
sich wohl verkriechen.«
Nachdem man sich an den guten Happen und dem nicht
minder guten Kaffee gelabt hatte, griffen die beiden Herren
zur Pfeife, und Baroneßchen machte sich eifrig über das
süße Gebäck her.
»Na, Fips, jetzt geht’s wieder, was?« besah sich der Freund
des Hauses schmunzelnd das reizende Persönchen.
»Standst in all der Düsternis so verängstigt da, wie ein
verprügelter kleiner Hund.«
»Uwe, daß du es doch nicht lassen kannst, die Menschen
mit Tieren zu vergleichen!« entrüstete sie sich, und er
lachte.
»Dafür bin ich ja Viehdoktor, kleine Dame. Bei denen fängt
der Mensch erst beim Tier an. Wie mir Winrich erzählte,
bist du am Ostersonnabend ausgerückt und hast dich in
dem Räubernest häuslich niedergelassen. Wie kamst du
eigentlich dazu, fremde Menschen zu belästigen?«
Als er es wußte, sagte er kopfschüttelnd:
»Mädchen, du machst vielleicht Sachen. War es dir denn
gar nicht peinlich, wildfremde Menschen einfach zu
überfallen?«
»Schade, daß Hulda nicht da ist, die würde dir die passende
Antwort geben.«
»Ist Hulda die Dienerin der beiden jungen Damen?«
»Dienerin? Laß das ja nicht Frauke hören. Hulda ist das,
was Barbe bei uns ist. Sie wird geliebt und verehrt, auch
von Ortrun. Es sind alles liebe Menschen, die ich nicht
angreifen lasse.«
»Wer sagt dir denn, daß ich es will, Baroneßchen?«
»Das tust du bei allen Frauen, weil du ein Frauen Verächter
bist.«
»Schau mal an, was das Küken nicht schon alles weiß, das
noch die Eierschalen hinter den Öhrchen trägt.«
»Erlaube mal, ich bin sechzehn Jahre.«
»Respektables Alter. Nun sei mal nicht so grantig und
erzählte uns von deinen neuen Freunden!«
»Pöh, du kennst sie ja gar nicht.«
»Früher als du.«
»Waaas?«
»Jetzt staunst du denn doch, nicht wahr?«
»Allerdings. Rasch, erzähle!«
Also erzählte er von der Begegnung im Bahnwagen, im
Hotel, auf der Straße, wo die beiden jungen Damen in
Begleitung des dorfbekannten Bertchens und des nicht
minder dorfbekannten Hundes ihren Einkauf im Karren
stolz nach Hause fuhren.
»Bis dahin hatte ich sie für frühe Feriengäste gehalten«,
führte er weiter aus. »Doch als ich den Hund sah, da kam
mir die Ahnung, daß es sich bei den jungen Damen nur
um die Erbinnen des Professors handeln konnte. Kein
gutes Erbe, das die Schwestern da angetreten haben.«
»Sie sind nicht Schwestern«, stellte Oda richtig. »Die Erbin
ist Frauke allein. Sie nimmt sich Ortruns an, weil diese
keine Eltern hat. Die Mutter bekam Herzschlag, als sie sehr
erhitzt kopfüber ins eiskalte Wasser sprang und da der
Vater sich viel auf Reisen befand, löste er den Hausstand
auf und gab seine einzige Tochter in das Elitetöchterheim,
wo sie nach dem bestandenen Abitur entlassen wurde. Da
nun indes auch ihr Vater gestorben war, kam sie in das
Haus ihres Onkels und Vormunds, der sie nicht behalten
konnte oder wollte. So nahm sich denn Frauke ihrer an.
Das ist alles, was ich von Ortrun weiß. Höchstens noch,
daß sie mit Nachnamen Danz heißt.«
»Danz?« horchte der Tierarzt auf. »Und er ist tot?«
»Ja. Wie mir Ortrun erzählte, wurde er in den Tropen von
einem heimtückischen Fieber dahingerafft.«
»Dann kann es sich nur um den Mediziner Danz handeln,
der sich um die ärztliche Wissenschaft sehr verdient
gemacht hat. Sein Tod wurde äußerst bedauert und in den
Tageszeitungen groß herausgebracht. Jetzt entsinne ich
mich, daß auch der tragische Tod seiner Frau, einer
fanatischen Sportlerin, erwähnt wurde. Gleichfalls seine
Tochter, die sich in einem erstrangigen Institut befand.«
»Arme Ortrun«, sagte Oda mit schwankendem Stimmchen,
und Uwe sah sie erstaunt an.
»Arm? Na, erlaube mal. Der muß ihr Vater einen gehörigen
Batzen hinterlassen haben! Denn er galt allgemein für
klotzig reich.«
»So meine ich das doch nicht«, winkte Baroneßchen
ungeduldig ab. »Mit arm meinte ich, daß sie nicht viel von
ihren Eltern gehabt hat, da die Mutter eine fanatische
Sportlerin war und der Vater sich viel auf Reisen befand.
Außerdem mußte sie mit vierzehn Jahren in ein strenges
Internat.
Wieviel besser geht es dagegen mir, obwohl auch ich ein
Waisenkind bin«, sprang sie spontan auf, hockte sich auf
die Lehne des Sessels, in dem ihr Bruder saß und schmiegte
ihr Blondköpfchen an sein gleichfalls blondes Haar. »Ich
habe doch einen Bruder, der so lieb für mich sorgt.«
»Ist ja schon gut«, streichelte er zärtlich die weiche Wange.
»Ich bin genauso froh, dich zu haben, mein kleiner Zeisig.
Du hast mir in der schweren Zeit sehr geholfen.«
»Wirklich, Winrich? Das macht mich aber stolz. Ich bin
doch nur ein dummes Ding.«
»Hört, hört!« schmunzelte der Tierarzt, der das
Backfischchen doch gar zu gern neckte. »Da möchte ich fast
den abgegriffenen Ausspruch von der Selbsterkenntnis
anwenden.«
»Wenn dir nichts anderes einfällt, dann bitte sehr«, tat sie
nonchalant ab. »Ich würde Winrich raten, sich einen
andern Intimus anzuschaffen, da sein jetziger schon
ziemlich abgegriffen ist.«
Da mußte selbst der ernste Bruder lachen, der bisher dem
Gespräch sowie dem Geplänkel schweigend gefolgt war.
Jetzt nahm er das Schwesterlein bei den rosigen Öhrchen.
»Mir scheint, Kleine, wir werden keck.«
»Uwe gegenüber auch angebracht. Ich muß mich doch
meiner Haut wehren. Hulda sagt, man soll sich nie zuviel
gefallen lassen, dann machen die Menschen mit einem,
was sie wollen.«
»Diese Hulda scheint eine bemerkenswerte Persönlichkeit
zu sein«, bemerkte der Bruder lächelnd, und die Schwester
nickte eifrig.
»Ist sie auch. Alles, was sie sagt, hat Hand und Fuß.«
»Aha, Barbes Spezial^usdruck.«
»Apropos Barbe! Ich muß ihr gleich von meinen
Freundinnen ausführlich erzählen.«
Sie wippte ab, und Uwe sah forschend zu dem Freund
hinüber, dessen Gesicht so hart und blaß war. Von der
Nase bis zu den Mundwinkeln zogen sich tiefe Falten, die
den Mann älter erscheinen ließen, als seine dreißig Jahre
bedingten.
Diese Falten hatte der Baron nicht gehabt, als er vor acht
Monaten heiratete. Und zwar die Tochter eines reichen
Mannes, die ihm zu dem Geld verhelfen sollte, das er für
seinen großen Besitz brauchte, um den es nicht gut stand.
Daran war der Vater schuld, der nach dem Tode seiner Frau
ein flottes Leben begann, zu dem er natürlich sehr viel
Geld brauchte. Ohne Gewissensbisse zog er es aus dem
ihm gehörenden Besitz, den er damit in ernstliche Gefahr
brachte. Zum Glück erlag er nach drei Jahren eines
ausschweifenden Lebens einem Herzschlag, sonst hätte
dieser einst so glänzend dastehende Feudalsitz bald
versteigert werden müssen. Jetzt jedoch konnte der Sohn
und Erbe ihn bei sparsamer Wirtschaftsführung noch
halten. Und als er ein reiches Mädchen kennenlernte, das
ihm nebenbei noch ganz gut gefiel, konnte man es ihm
nicht verdenken, daß er es heiratete. In erster Linie wegen
der Herrschaft Grünehöh, an der er mit zäher Liebe hing.
Um die wieder hochzubringen, darin gipfelte sein Ehrgeiz.
Aber ach, die Rechnung ging nicht auf.
Denn gleich nach der Hochzeit stellte sich heraus, daß sein
Schwiegervater ein betrügerischer Bankrotteur war, dessen
Gerissenheit es gelang, die Tochter noch an den Mann zu
bringen, bevor er ins Ausland floh.
Aber schon bald darauf sollte die rächende Hand der
Nemesis ihn erreichen. Nach einem wüsten Gelage, torkelte
der sinnlos Betrunkene in einen Abwässerkanal, wo er
elendiglich ertrank. Ein schmählicher Tod – aber ein
verdienter.
Diese Nachricht erreichte das junge Paar auf der
Hochzeitsreise^ die natürlich sofort abgebrochen wurde.
Auf schnellstem Wege eilten sie zur Unglücksstätte, und in
aller Stille wurde der Ertrunkene begraben.
Und Baron von Swidbörn hatte eine Frau, die zwar keinen
Heller besaß, dafür jedoch die höchsten Ansprüche stellte,
wie sie es gewohnt war. Doch diesen konnte der Gatte
nicht gerecht werden, weil ihm das Geld dazu fehlte. Es
kam zu den widerlichsten Szenen, die den vornehmen
Mann derart abstießen, daß er entschlossen war, nach
achtwöchiger Ehe die Scheidung einzureichen.
Allein das Schicksal wollte es anders – die Baronin
verunglückte gerade an dem Tag, als der Gatte einen
Anwalt aufsuchen wollte. Man hatte ihr allgemein
prophezeit, daß sie sich kurz über lang bei der verrückten
Autoraserei den Hals brechen würde. Nun, der sture
Nacken blieb ganz. Dafür war jedoch das Rückgrat so
schwer verletzt, daß es keine Hilfe gab. Sie war dazu
verurteilt, langsam aber sicher dahinzusiechen. Zwar tat der
Gatte seine Pflicht, indem er mehrere Kapazitäten
konsultierte, doch alle bedauerten, daß da nichts mehr zu
machen wäre.
Natürlich benahm diese unbeherrschte, launenhafte Frau
sich fortan wie eine Furie. Es gab auch nicht einen
Menschen im Schloß, der Mitleid mit ihr hatte, obwohl sie
alle nicht herzlos waren. Doch sobald sie sich bei der
Kranken blicken ließen, wurden sie gehetzt und
beschimpft. Die Pflegerinnen hielten es immer nur wenige
Wochen bei ihr aus, bis dann eine kam, der die Furie nicht
gewachsen war. Zwei Jahrzehnte Pflege hatten der
Schwester zu einem sturen Gleichmut verholfen, der durch
nichts zu erschüttern war. Sie hatte so etwas wie einen
Tierbändigerblick, mit dem sie ihren unverschämten, oft
sogar gemeinen Pflegling in Schach hielt.
Und dabei war Schwester Meta im Grunde genommen ein
gutherziger Mensch und eine vorzügliche, gewissenhafte
Pflegerin. Sie konnte ganz genau unterscheiden, ob die ihr
anvertrauten Kranken vor Schmerzen unleidlich waren
oder vor Boshaftigkeit, mit der sieche Menschen, bis auf
wenige Ausnahmen, die Gesunden zu schikanieren pflegen.
Aber da die Baronin von Natur aus boshaft war, trieb sie es
jetzt besonders arg.
Hauptsächlich dem Gatten und der jungen Schwägerin
gegenüber, die sich zu einem täglichen Krankenbesuch
einstellten. Schweigend ließen sie sich beschimpfen,
verhöhnen und Oda sogar ohrfeigen, als sie einmal in die
Nähe der Furie geriet.
Doch das sollte der letzte Angriff gewesen sein. Denn bald
darauf erstreckte sich die rasch vorwärtsschreitende
Lähmung auf die Arme, dann auf das Gesicht, so daß die
Kranke nur noch lallen und unartikulierte Schreie
ausstoßen konnte, die kurz vor ihrem Tode so entsetzlich
und gellend waren, daß die blutjunge Baronesse, die neben
ihrem Bruder am Sterbebett stand, geschüttelt von Grauen
in den Park lief, noch lange die furchtbaren Schreie im
Ohr. Als sie dann wenig später die auf Halbmast gehißte
Fahne bemerkte, packte sie eine so panische Angst, daß sie
eine Weile gehetzt durch den sehr großen Park lief, bis sie
an einem Ausblick die friedliche Landschaft unter sich
liegen sah. Da hetzte sie weiter, irgendwohin, nur
möglichst weit vom Schloß entfernt, in dem das Grauen
wohnte. Und hätten sich da nicht warmherzige Menschen
gefunden, die sich liebevoll ihrer annahmen, dann hätte
sich das sensible junge Menschenkind nicht sobald von
seinem Schock erholt, hätte am Ende gar einen Knacks
gekriegt fürs ganze Leben. So jedoch war ihr im
entscheidenden Augenblick Hilfe geworden, die man mit
Segen bezeichnen konnte.
Das alles schoß dem Tierarzt durch den Sinn, dem als guter
Freund des Barons die Verhältnisse im Schloß genau
bekannt waren.
Die beiden Männer waren schon als Kinder unzertrennlich
gewesen. Denn der Vater Uwe Gunders hatte als Pfarrer im
Dorf amtiert, dessen Pfarrei unter dem Patronat des Baron
von Swidbörn stand. Da nun Gunder seinem Sohn in den
ersten Schuljahren Unterricht erteilte, bat ihn der Freiherr,
es auch bei seinem Sohn zu tun, da die Knaben gleichaltrig
waren.
Später kamen sie dann mit dem erforderlichen Wissen
bestens ausgerüstet auf ein Gymnasium, wo sie das Abitur
glänzend bestanden und danach studierten. Uwe wurde
nicht Pfarrer, wie sein Vater es gern gesehen hätte, sondern
Tierarzt, und Winrich absolvierte die landwirtschaftliche
Hochschule. Dann kehrten die beiden Intimusse, die sich
auch während der Studienzeit nie getrennt hatten, in die
Heimat zurück, wo Winrich das Erbe seiner Väter
verwaltete und Uwe nach der Approbation im Dorf die
freiwerdende Tierarztpraxis übernahm. So blieben die
Freunde nach wie vor unzertrennlich bis auf den heutigen
Tag.
»Siehst miserabel aus«, brummte Uwe in die Stille hinein.
»Pack deine Koffer, reise ab und laß mal für eine Weile den
lieben Gott einen guten Mann sein.«
»Aber nur, wenn du mitkommst«, entgegnete der Baron
gelassen, was den andern hochgehen ließ.
»Ich, mitkommen? Ja, Menschenskind, wie denkst du dir
das eigentlich? Ich kann doch unmöglich meine kranken
Viecher so schnöde im Stich lassen.«
»Siehst du. Ich kann nämlich auch unmöglich das alles hier
im Stich lassen. Zumal noch im Frühjahr, wo für den
Landwirt die stramme Arbeit beginnt. Du weißt ganz
genau, wie scharf ich auf Posten sein muß.«
»Da hast du auch wieder recht. Hm, ja, was ich noch sagen
wollte – also Winrich, wenn du Geldschwierigkeiten hast,
so will ich dir gern heraushelfen. Ich verdiene viel mehr, als
ich bei meinem jetzt so bescheidenen Leben ausgeben
kann. Außerdem waren meine Eltern nicht ganz mittellos,
da mein Muttchen ein stattliches Heiratsgut mit in die Ehe
bekam. Als sie ihre lieben Augen schloß, konnte sie ihrem
Einzigen nett was hinterlassen. Wenn du also Geld
brauchen solltest, es trifft keinen Armen.«
»Danke«, entgegnete der Freund einfach. »Ohne weiteres
nehme ich deine Hilfe an, wenn es erforderlich sein sollte.
Ich hoffe jedoch, daß ich auch ohne sie auskommen werde.
Ich konnte in diesem Quartal glatt meinen Verpflichtungen
gerecht werden, obgleich Olas Krankheit mir sehr teuer zu
stehen kam.«
»Sei froh, daß du sie los bist«, knurrte der sonst so
warmherzige Uwe. »Oder geht dir ihr Tod etwa nahe?«
»Ich würde heucheln, wollte ich diese Frage bejahen. Ich
hätte mich jedoch lieber von einer gesunden Frau durch
Scheidung getrennt. Dazu wäre ihr Tod wirklich nicht nötig
gewesen.«
»Den sie selbst verschuldet hat«, blieb der Freund
ungerührt. »Soviel ich weiß, hast du sie oft genug vor der
verrückten Autoraserei gewarnt.«
»Daher brauche ich mir jetzt keinen Vorwurf zu machen.
Ihr Schicksal hat sich erfüllt, dagegen ist der Mensch
machtlos. Wer weiß, was es für uns noch alles in
Bereitschaft hält.«
»Ja, das kann man nie wissen. Aber ich meine, daß wir
beide durch unsere miserablen Ehen schon manches
abgebüßt haben, da dürfte das liebe Geschick uns nicht
mehr ganz so ungnädig sein. Nun gehab dich wohl, die
Pflicht ruft. Mach’s gut, mein alter Kampf- und
Streitgenosse. Bleib sitzen, brauchst mir nicht das Geleit zu
geben. Ich bin ja hier zu Hause.«
Als er im Wagen Platz genommen hatte, kam Barbe durch
die Anlagen, die das Schloß von dem riesigen
Wirtschaftshof trennten. Ein zierliches Persönchen mit
glattem Scheitel und freundlichem Gesicht. Eigentlich sah
sie harmlos aus, aber es war nicht ratsam, die
Harmlosigkeit durch ein Vergehen auf die Probe zu stellen.
Der bekam ihr strenges Regiment, das sie im Schloß führte,
empfindlich zu spüren. Wer seine Pflicht tat, der hatte es
gut. Wer sie vernachlässigte, hatte keine Nachsicht zu
erwarten.
Als sie den Tierarzt bemerkte, strahlte sie über das ganze
Gesicht und ging eilig auf das Auto zu. Natürlich zählte sie
ihn ganz zur Familie, der schon als Knabe im Schloß ein-
und ausgegangen war.
»Jetzt ist endlich alles überstanden, Barbe«, sagte er leise.
»War’s in der letzten Zeit sehr arg?«
»Es war immer arg«, verschwand das Lachen und machte
einem verbissenen Ausdruck Platz. »Wie der Teufel den
Herrn Baron und das Baroneßchen gepeinigt hat, das war
nicht mehr menschenmöglich. Jetzt ist sie tot, und wir
haben endlich Ruhe vor ihr. Sie werden doch oft nach
meinem Herrn sehen, Herr Doktor?«
»Ehrensache, Barbe. Wo steckt übrigens Oda?«
»Sie ist nach unten gelaufen, wo man sich so liebreich ihrer
annahm, als sich keiner um sie hier kümmern konnte. Mag
das Kind da fröhlich sein; denn bei uns gibt es vorläufig
noch nichts zu lachen. Und ich weiß nicht, ob es das hier
überhaupt noch jemals geben wird.«
»Dafür laß nur den lieben Gott und den Uwe sorgen«, sagte
er zuversichtlich, nickte ihr herzlich zu und fuhr ab. Den
breiten Kiesweg entlang, durch das breite, schmiedeeiserne
Tor, durch die Allee auf die Asphaltchaussee. Dort bog er
rechts ab, fuhr eine kurze Strecke geradeaus und nahm
dann vorsichtig die Kurve, die wieder rechtsab auf eine
gutgehaltene Kiesstraße führte. Ein großes Schild machte
darauf aufmerksam, daß es ein Privatweg wäre, der nur von
Anliegern benutzt werden durfte. Er führte zum Ausgang
des Dorfes und man ersparte auf ihm mindestens vier
Kilometer.
Das Schloß war auf einem Plateau erbaut. Die Vorderfront
lag zur ebenen Erde und war durch Anlagen von dem
Gutshof getrennt, die Rückfront von einem herrlichen Park
umschlossen. Wo er endete, begann sich der Boden
allmählich zu senken bis hinab ins Tal. Der Abhang war
mit üppigem Grün bewachsen, durch das sich ein Pfad
schlängelte.
Es war ein prächtiger Bau, das Stammschloß der
Reichsbarone von Swidbörn, fest gefügt, wie für die
Ewigkeit erbaut. Der es tat, war der reichste Mann weit und
breit gewesen. Konnte es sich daher leisten, das teuerste
Material zu wählen und den berühmtesten Baumeister
seiner Zeit zu beschäftigen, ebenso den besten Architekten.
Die beiden Männer gaben ihr Bestes her, schufen innen wie
außen Prunk und Glanz. Den Park legte der beste
Gartenexperte an, also kein Wunder, daß hie wie da ein
Meisterwerk entstand, das Jahrhunderte ehern überdauerte.
Auch die Nachfahren waren reich gewesen, hatten gut
gelebt, ohne dabei zu verschwenden. Damit hatten erst die
beiden vorletzten Swidbörn begonnen, was der Enkel und
Sohn jetzt büßen mußte.
Selbst bei der Heirat, durch die er den gefährdeten Besitz zu
sanieren gedachte. Statt dessen hatte er ihn immer mehr
belasten müssen. Also hatte wieder einmal der Volksmund
recht, der da sagt: Blinder, tu die Augen auf, Heirat ist kein
Pferdekauf.
Geschickt lenkte der Tierarzt seinen schmucken Wagen von
dem Privatweg in die Dorfstraße und fuhr langsam an dem
vom Herrn Gemeindevorsteher verächtlich bezeichneten
Haus vorbei, das jetzt ein gepflegter Vorgarten von der
Straße trennte. Gunder war in den vergangenen Wochen
hier nicht vorbeigekommen. War, wenn er ins Schloß
wollte, die andere Straße gefahren, weil er immer dort in
der Nähe zu tun hatte. Nun staunte er nicht wenig, was aus
dem düsteren, verwahrlosten Anwesen geworden war. Es
sah direkt einladend aus. Schien dem Beschauer zu winken:
Komm, tritt ein, bei mir wohnt der Frohsinn und das
Lachen.
Und das stimmte, es wurde hier viel und herzlich gelacht.
Warum auch nicht? Sie hatten ja nichts auszustehen, die
hier wohnten. Hatten ein schönes Zuhause, ¦ ein gutes
Auskommen, waren gesund und harmonierten prächtig
miteinander. Aus der scheuen, verschlossenen Ortrun Danz
war ein frischfröhliches Menschenkind geworden, das sich
ein schöneres Leben gar nicht denken konnte.
Daher traf es sie wie ein grausamer Schlag, als an einem
Sonntagvormittag das Ehepaar Danz mit Tochter nebst
Schwiegersohn erschien, um Ortrun abzuholen. Todblaß,
mit schreckgeweiteten Augen stand das Mädchen da. Wich
wie entsetzt vor dem Onkel zurück, der es mit väterlicher
Umarmung begrüßen wollte. Das nahm Ajax übel, der das
liebe Frauchen bedroht glaubte und knurrend sein
gefährliches Gebiß zeigte. Hulda nahm ihn beim
Halsband, zog ihn in die Küche, und Ortrun lief einfach
davon.
»Ja, was hat sie denn?« fragte Danz ärgerlich. »Warum läuft
sie denn vor uns davon? Das ist doch keine Art für einen
wohlerzogenen Menschen.«
»Kommen Sie bitte erst einmal weiter«, sagte Frauke,
welcher der Auftritt peinlich war. »Dann werde ich Ihnen
das sonderbare Benehmen Ortruns erklären.«
Sie führte die Gäste in den Salon, wo man in den
brokatüberzogenen Sesseln Platz nahm, steif und reserviert,
bis auf den Arzt. Eine mittelgroße, stämmige Erscheinung,
mit einem offenen, gutmütigen Gesicht. Als Frauke fragte,
ob sie eine Erfrischung anbieten dürfte, sagte er frei heraus:
»Einen Schnaps, gnädiges Fräulein, den ich als Fahrer nicht
trinken durfte bei dem kleinen Imbiß, den wir unterwegs
einnahmen. So bin ich denn satt aber durstig.«
»Den Durst können Sie gleich stillen, Herr Doktor«,
entfernte sie sich, und Frau Danz sagte ärgerlich:
»Wenn ich gewußt hätte, daß Ortrun uns so empfangen
würde, wäre ich gar nicht mitgekommen.«
»Ich auch nicht«, bekräftigte die Tochter, ein hübsches,
etwas molliges Persönchen. »Am liebsten möchte ich gleich
wieder aufbrechen.«
»Na, nun mal langsam«, sagte der Gatte pomadig. »Warten
wir erst mal ab, bis die charmante junge Dame uns die
Ungezogenheit des kleinen Mädchens erklärt hat.«
Was Frauke denn auch tat, nachdem sie die Gäste mit einer
Erfrischung versorgt hatte. Sie gab sich gewissermaßen
einen Ruck und sprach dann freiweg:
»Ich kann mir denken, wie befremdet Sie über Ortruns
Betragen sind. Aber als sie hörte, daß sie mit Ihnen
kommen sollte, ließ das sie kopfscheu werden.«
»Ja, warum denn in aller Welt«, entgegnete der Notar
ungehalten. »Es war doch ausgemacht, daß Ortrun nur so
lange hier bleiben sollte, bis die Gefahr mit dem Zerkel
vorüber war. Und die ist jetzt vorüber. Er hat sich vor ein
paar Tagen verlobt, nachdem er von Ortrun nichts zu
erwarten hatte. Das habe ich ihm ausdrücklich
klargemacht, als er bei mir erschien, um bei mir um das
Mädchen anzuhalten. Ich habe ihn ganz nett abgeblitzt.
Weiß Ortrun übrigens, warum ich sie Ihnen damals
mitgab, Fräulein Frauke?«
»Ja, Herr Doktor, ich habe es ihr kürzlich erzählt.«
»Und was sagte sie darauf?«
»Daß sie dem Zerkel dankbar wäre. Denn ohne ihn wäre
sie nicht hierher gekommen, wo sie sich glücklich fühlt.
Darum war sie so verstört, als Sie plötzlich erschienen, um
sie abzuholen.«
»Ach so ist das«, brummte der Notar besänftigt. »Und was
machen wir nun?«
»Sie hierlassen«, bemerkte der Schwiegersohn trocken.
»Damit ersparst du dir Ärger und Verdruß.«
»Wie soll ich das verstehen?«
»Ganz einfach, Papa. Wenn du die Kleine zwingen würdest,
in dein Haus zurückzukehren, würde sie dir wohl folgen,
aber sehnsüchtig auf den Tag warten, wo sie mündig wird.
In gleicher Stunde liefe sie dir dann davon an den Ort ihrer
Sehnsucht. Habe ich recht, gnädiges Fräulein?«
»Und wie, Herr Doktor.«
»Na also. Ich kann das kleine Mädchen verstehen, daß es
sich hier so wohl fühlt, ich täte es auch.«
Da mußte man lachen, prostete sich zu, und schon wurde
es gemütlich. Frau Danz und ihre Tochter, die viel auf
Äußerlichkeiten gaben, ließen immer wieder ihre Blicke
verstohlen umherschweifen. Durch den Salon mit den
kostbaren Möbeln und dem Stutzflügel in Weiß und Gold,
durch die weit geöffnete Flügeltür, die einen Teil des
Speisezimmers freigab, während man durch die
gegenüberliegende Tür in die Bibliothek schauen konnte.
Doch während die beiden Damen das alles schweigend in
sich aufnahmen, sprach der Notar das aus, was sie dachten:
»Ich muß schon sagen, Fräulein Frauke, daß ich mir Ihr
geerbtes Haus denn doch anders vorstellte. Das ist ja wie
ein Schmuckkästchen.«
»Jetzt, Herr Doktor. Aber als wir herkamen…«
Und sie erzählte, wie sie alles vorgefunden hatten. Wie sie
sich keine Mühe verdrießen ließen, aus dem »Schandfleck«
das schmuckste Anwesen des Dorfes zu machen. Immer
wieder hob sie Michel lobend hervor, ohne den alles wohl
nicht so gut gegangen wäre. Sie sprach auch über den
Professor, seinen Diener, und höchst interessiert hörten die
andern zu. Dann fragte der Notar:
»Und bei alledem hat Ortrun mitgeholfen?«
»O ja. Man kann schon sagen, daß sie mit Leib und Seele
dabei war. Daher hängt sie ja auch an allem hier so sehr,
’fühlt sich hier glücklich und geborgen. Wenn sie fort
müßte, ich glaube, ihr würde vor Jammer das Herz
brechen.«
»Das will ich ja nun nicht«, zog der Notar unbehaglich die
Schultern hoch. »Also mag sie weiter hier bleiben. Wer
weiß, wozu das gut ist.«
Frauke erschien in der Küche, wo Ortrun saß und ihr aus
dickverweinten Augen entgegensah. Hulda hantierte am
Herd, und die Töpfe bekamen ihren Grimm zu spüren.
Jetzt ließ sie davon ab, legte die Hände in die Hüften und
legte los:
»Das sage ich dir, Frauke. Wenn du zuläßt, daß sie unser
Kind mit sich schleifen, dann sind wir geschiedene Leute.«
»Ist dir nun wohler?«
»Schäm dich mal, über etwas zu lachen, worüber sich
andere die Augen aus dem Kopf weinen. Das Kind bleibt
hier!«
»Aber ja doch, Huldchen, da brauchst du doch nicht so zu
schreien. Ortrun bleibt hier, und zwar mit Genehmigung
ihres Vormunds.«
»Ist das auch wirklich wahr?«
»Wahr und wahrhaftig. Dr. Danz hat nämlich eingesehen,
daß Ortrun hier schon mit allem viel zu fest verwachsen ist,
als daß man sie losreißen könnte. Das würde nur
Herzwunden geben und zu nichts weiter als zu
gegenseitiger Erbitterung führen.«
»Dann ist ja alles in Ordnung«, wandte Hulda sich wieder
ihren Töpfen zu, in denen es brodelte und brutzelte.
»Kannst deine Gäste zum Mittag einladen, es ist genug von
allem da.«
»Kann ich auch beruhigt sein, daß du nicht Arsenik in die
Speisen mischst?« fragte Frauke lachend.
»Jetzt nicht mehr, jetzt ist die Gefahr vorüber.« Sprach’s
und hantierte hurtig weiter, während Frauke sich Ortrun
zuwandte und weich über das wunderschöne Haar strich,
das wie Bernstein gleißte und naturgewellt zwanglos über
den Nacken fiel. Eine Zierde, die fast einmalig war.
»Du Dummes«, sagte Frauke zärtlich. »Wie kann man nur
so das Köpfchen verlieren. Komm mit und entschuldige
dich bei den Verwandten wegen deiner Ungezogenheit.
Denn ungezogen war es, einfach davonzulaufen.«
»Darf ich auch wirklich hierbleiben, liebe Frauke?«
»Du darfst, mein Herzchen.«
»So will ich mich gern entschuldigen.«
Wenig später stand sie dann vor dem Vormund und sagte
verlegen:
»Verzeihung, Onkel Rudolf, daß ich so ungezogen war.«
»Schon gut«, winkte er kurz ab. »Ich weiß ja jetzt, warum es
geschah. Wenn du durchaus willst, dann bleib hier.«
»Danke!« strahlte es jetzt in den verweinten Augen auf, wie
Sonnenschein durch eine Nebelschicht. »Jetzt bin ich
wieder froh. Darf ich auch ein Glas Wein haben, Frauke,
damit ich meine Verwandten in unserm lieben Haus
willkommenheißen kann?«
»Da sehen Sie, meine Herrschaften, daß unser Kind, wie
Hulda es nennt, auch höflich sein kann«, lachte Frauke.
»Komm her, mein Schatz, proste mit mir zusammen auf
unsere lieben Gäste.«
Die Gläser gaben guten Klang, und der Friede ward
geschlossen. Nun konnte der Arzt auch auf das zu sprechen
kommen, was ihm am Herzen lag.
»Sagen Sie mal, gnädiges Fräulein, ist Ihnen hier im Dorf
ein Tierarzt Dr. Gunder bekannt?«
»Direkt bekannt nicht«, gab Frauke Antwort. »Ich bin ihm
einmal auf der Dorfstraße begegnet und die Frau unseres
Faktotums, die sich in meiner Begleitung befand, hat so
allerlei von dem Herrn erzählt. Aber offengestanden ging es
in ein Ohr ’rein durchs andere ’raus.
Tatsache jedoch ist, daß er im Dorf eine gutgehende Praxis
hat.«
»Danke, gnädiges Fräulein, diese Antwort allein ist schon
wertvoll für mich. Gunder ist nämlich mein Vetter zweiten
Grades, mit dem ich öfter einmal zusammenkam, als
unsere beiderseitigen Eltern noch lebten. Dann jedoch
haben wir jahrelang nichts mehr voneinander gehört. Er
sprach schon immer davon, in seinem Heimatdorf, an dem
er sehr hängt, eine Praxis zu gründen, was er dann auch
wahrmachte. Übrigens muß sein bester Freund, ein Baron
von Swidböm, in Ihrer Nähe wohnen, gnädiges Fräulein.«
»Das ist mein Bruder«, kam es von der Tür her, wo Oda
stand, entzückend anzuschauen in dem lichtblauen
Kleidchen und den langen blonden Zöpfen. Die blauen
Augen hingen überrascht an den Gästen des Hauses.
»Ich hatte keine Ahnung, daß ihr Besuch habt«, sagte sie
zögernd. »Da möchte ich nicht stören.«
»Seit wann bist du denn so ängstlich«, neckte Frauke. »Tritt
nur tapfer näher und laß dich bekannt machen mit Ortruns
Verwandten.«
Nachdem es geschehen war, nahm Oda in der Runde Platz
und sagte artig zu dem Arzt:
»Verzeihung, Herr Doktor, darf ich wissen, warum Sie
vorhin meinen Bruder erwähnten?«
»Gewiß, Baronesse. Es geschah im Zusammenhang mit
dem Tierarzt Dr. Gunder.«
»Mit Uwe?« riß sie nun überrascht ihre ohnehin schon
großen Augen auf. »Kennen Sie ihn denn?«
»Er ist ein Vetter von mir, den ich gern sprechen möchte.«
»Das kann ich vermitteln«, wurde die Kleine nun eifrig. »Er
befindet sich gerade bei uns. Soll ich ihm telefonisch
Bescheid sagen, Herr Doktor?«
»Das wäre lieb, Baronesse. Mag er einen Ort bestimmen,
wo wir uns treffen können.«
»Aber nicht vor dem Essen«, schaltete Frauke sich ein und
ließ den Protest der Gäste nicht gelten.
»Aber meine Herrschaften, wer soll das alles wohl essen,
was Hulda mit Eifer vorbereitet?«
»Wenn es so ist, dann ja«, schmunzelte der Arzt. »Dann
werden Sie mich aber vor zwei Uhr nicht los, gnädiges
Fräulein. Ich bin es nämlich gewohnt, nach dem Essen in
Beschaulichkeit meinen Mokka zu trinken.«
»Sollen Sie auch hier haben. Was soll die Baronesse nun
Dr: Gunder bestellen?«
»Daß ich ihn um zwei Uhr in einem Lokal, das er
bestimmt, sprechen möchte.« .
Und dann wurden sie Ohrenzeuge eines Gesprächs, das sie
durchweg schmunzeln ließ. In der Diele telefonierte Oda
und zwar so lebhaft, daß man im Salon jedes Wort
verstand.
»Ach, du bist es, Niklas. Beordere möglichst schnell Dr.
Gunder an den Apparat.«
Einige Minuten Stille und dann ein entrüstetes Stimmchen:
»Du, werde hier gefälligst nicht frech!
Es gibt Wichtigeres, als dir eine Liebeserklärung zu machen.
Lach nicht, hör lieber gut zu! Dr. Folbe, ist dir das ein
Begriff, ja? Das ist gut; da brauche ich nicht erst lange
Vorreden zu halten. Der Herr Doktor ist hier und möchte
dich sprechen. Wo er ist? Bei Frauke natürlich, wo denn
sonst? Gib einen Ort an, wo ihr euch treffen könnt. Aber
doch nicht mit Frauke, mit Herrn Dr. Folbe. Die ›Grüne
Gans‹, ja, die ist anständig, da kannst du mit ihm
hingehen. Also Uwe, wenn du jetzt noch immer so albern
lachst, dann… Ach, ich weiß auch nicht. Aber nicht vor
zwei Uhr, hörst du? Herr Dr. Folbe muß erst noch
mittagessen. Jawohl, hier. Weil Frauke die ›Grüne Gans‹…
Du, jetzt wird es mir aber zu bunt, jetzt mach ich Schluß!«
Damit legte sie den Hörer unsanft ab und ging in den
Salon zurück, wo man sich vor Lachen schüttelte.
»Ja, was ist denn hier los?« fragte Baroneßchen
kopfschüttelnd. »Was gibt’s denn hier so unbändig zu
lachen?«
»Über dein Telefongespräch«, wischte Frauke sich die
Augen. »Nett von dir, mich als grüne Gans zu bezeichnen.«
»Dich? Na hör mal, Frauke…«
»Ist ja schon gut, mein Firlefänzchen. Hoffentlich ist Herr
Dr. Gunder aus deiner Bestellung klug geworden.«
»Nun, ich habe mich doch wohl klar genug ausgedrückt.
Horch mal, Ortrun, ich glaube, Hulda morst.«
Sie lauschten dem Klopfzeichen, das sich dreimal
wiederholte, worauf Ortrun ins Speisezimmer eilte, wo sie
in einem andern Rhythmus an die Durchreiche pochte,
während Oda die Flügeltür schloß.
»Ja, ja, die Mädchen sind von Hulda gut gedrillt«, lachte
Frauke. »Was sie da morste, bedeutet: Tischdecken – und
was Ortrun zurückmorste: Verstanden.«
»Dabei macht die Baronesse immer mit?« fragte Frau Danz
ungläubig.
»Gern sogar. Sie weilt oft bei uns, weil sie hier alles findet,
was so ein junges Menschenkind braucht: Frohsinn und
Lachen. Denn oben im Schloß…«
Sie schilderte die Verhältnisse dort und auch, wie Oda ins
grüne Haus kam.
»Dann hat Baron Swidbörn in seiner Ehe genauso ein
Fiasko erlitten wie sein Intimus Uwe Gunder«, sagte der
Arzt. »Nur daß letzterer wahrscheinlich nicht lange fackelte,
sondern seinen ›Reinfall‹ zum roten Kuckuck jagte,
während ersterer ihn am Hals behalten mußte, bis der Tod
Einsehen mit ihm hatte. Klingt für Damenohren herzlos,
nicht wahr? Aber Papa und ich, die mit solchen Kanaillen
zu tun haben, wissen ein Liedchen von ihnen zu singen.«
»Kann man wohl sagen«, bestätigte der Notar. »Es gongt,
Fräulein Frauke. Wollen Sie uns nun wirklich…?«
»Um nein zu sagen, dafür ist es zu spät«, ließ sie ihre
Grübchen spielen. »Ich versichere Ihnen, daß wir alle satt
werden.«
Und wie satt sie wurden, denn das Mahl war gut und
reichlich. Den Mokka trank man in der Bibliothek, die von
dem Kaminfeuer wohlig durchwärmt wurde. Auf dem Sims
tickte klingend eine alte Uhr. Darüber hing ein Porträt in
schwerem Goldrahmen, das sofort die Blicke auf sich zog.
»Das ist Professor Gortz«, erklärte Frauke leise. »Mein
Wohltäter. Diese Bezeichnung verdient er zu Recht. Denn
alles, was ich jetzt bin und habe, geschah durch ihn. Wir
fanden dieses wundervolle Bild in einer Kammer, verstaubt
und verschmutzt. Es hat Mühe gemacht, es aufzufrischen.
Aber seinem Bild einen Ehrenplatz zu geben, sowie sein
und seines treuen Dieners Grab zu pflegen, ist ja leider
alles, was ich tun kann. Außerdem noch Grabmäler setzen
lassen.
Übrigens fällt mir jetzt wieder ein, worum ich Sie befragen
wollte, Herr Dr. Danz. Doch zuerst bitte ich, es sich
bequem zu machen.«
Das tat man in den tiefen, weichen Sesseln am Kamin. Und
während die beiden Mädchen die Mokkatäßchen füllten,
trat Frauke an den wuchtigen Schreibtisch, der dieselbe
Schnitzerei aufwies wie der große Schrank. Zwei Wände
deckten hohe Regale, die mit Büchern aller Art vollgestopft
waren. Der helle Teppich, die duftigen Gardinen und einige
bunte Bilder sorgten dafür, daß dieses Gemach mit den
dunklen Möbeln nicht zu düster wirkte.
Das Schreiben, das Frauke der Schreibtischschublade
entnahm, reichte sie dem Notar.
»Wollen Sie bitte das da mal lesen, Herr Doktor.«
Als er es getan hatte, sagte er sachlich:
»Den Brief überlassen Sie am besten zur Beantwortung mir,
Fräulein Frauke. Denn was dieses Fräulein Jadwiga von
Schlösser von Ihnen so höflich erbittet, ist wohl
menschlich verständlich, jedoch gesetzlich unzulässig. Als
sie der Gattin des Professors fünftausend Mark lieh, die sie
nie zurückbekam, ging den Herrn das nichts mehr an, da er
bereits geschieden war. Daß sie das Geld, welches er ihr
schroff abschlug, nun von seiner Erbin haben möchte,
zeugt entweder von Naivität oder Unverfrorenheit. Nun,
ich werde diese peinliche Angelegenheit für Sie schon in
Ordnung bringen, Fräulein Frauke.«
»Danke, Herr Doktor, da fällt mir wirklich ein Stein vom
Herzen.«
Das Schrillen des Fernsprechers ließ sie innehalten. Hulda,
die sich gerade in der Diele befand, nahm das Gespräch
entgegen und erschien gleich darauf in der Bibliothek.
»Herr Dr. Gunder läßt Herrn Dr. Folbe sagen, daß er in der
›Grünen Gans‹ auf ihn wartet. Er möchte viel Zeit und viel
Durst mitbringen.«
»Danke, Fräulein Hulda«, nickte der Arzt ihr zu und erhob
sich von seinem behaglichen Sitz, »Bitte mich zu
entschuldigen, ich bin bald wieder da.«
»Hoffentlich«, entgegnete der Schwiegervater skeptisch. »Tu
es ja nicht, was der, Viehdoktor von dir verlangte. Denn du
hast keine Zeit, und Durst darfst du nicht haben. Wir
wollen nämlich, wie vereinbart, heute nach Hause fahren.«
»Worauf du dich verlassen kannst, verehrter
Schwiegerpapa. Also denn auf bald!«
Dr. Folbe schien ein Mann von Wort zu sein. Denn zwei
Stunden später kam er zurück und fand noch Anschluß am
gemütlichen Kaffeeplausch. Dankend nahm er die Tasse
aus Fraukes Hand und sagte vergnügt:
»Ein Segen, daß es für den Autolenker wenigstens etwas
Trinkbares gibt, das ihm schmeckt. Zwar meinte Uwe, daß
ein Kognak nicht schaden könnte, aber ich habe ihn mir
lieber verkniffen.«
»Wie war die Begegnung mit deinem Vetter?« erkundigte
sich der Schwiegervater. »Hat sie dich enttäuscht, was ja oft
der Fall ist, wenn man sich nach Jahren wiedersieht, in
denen der Mensch sich zu verändern pflegt?«
»Uwe aber nicht. Er ist der liebe, nette Kerl geblieben. Wie
eine Frau einem so herzensguten Mann davonlaufen kann,
ist einfach ein Rätsel.«
»Hat ihn das sehr verbittert und womöglich zum
Frauenverächter gemacht?«
»Zwei Fragen in einem Satz, Papachen. Unrentabel für
einen Anwalt, der ’ sich jeden Satz einzeln bezahlen läßt.«
»Sei bloß still, du Schlingel. Die Herren Ärzte sind nämlich
auch nicht so ohne.«
»Na schön, streiten wir uns nicht«, meinte er friedfertig.
»Komme ich zur Beantwortung deiner ersten Frage: Nein,
Uwe ist gar nicht verbittert. Er betrachtet diese Ehe als
Episode, die nicht bis ans Herz reichte. Zum
Frauenverächter ist er auch nicht geworden. Er erklärte in
seiner vergnügten Art: Wenn ein paar Äppel faul sind,
braucht es nicht gleich der ganze Äppelkahn zu sein.«
»Bravo«, schmunzelte Danz. »So ist er nicht abgeneigt, eine
zweite Ehe einzugehen?«
»Nein. Er wird jedoch, wie er sagte, bei der zweiten Wahl
nicht blind verliebt die Augen zukneifen, sondern sie weit
aufreißen. Wird das Trommelfell nicht verkleben, sondern
wachsam die Ohren spitzen.«
»Scheint ein prachtvoller Mensch zu sein«, meinte Frau
Danz. »Schade, daß ich ihn nicht auch kennengelernt
habe.«
»Das wirst du schon noch, Muttchen. Wir haben nämlich
vereinbart, uns nicht wieder aus den Augen zu verlieren. Er
mußte mir versprechen, jedesmal bei uns einzukehren,
wenn er in der Stadt zu tun hat, was gar nicht mal selten
der Fall ist. Er hat zur Zeit keine eigene Wohnung. Hat
nach der Scheidung sein Haus in Bausch und Bogen
verkauft und nur die Sachen behalten, die ihm von seinem
Elternhause’ lieb und wert sind. Den andern Kram, wie er
sich ausdrückte, mochte er nicht mehr sehen, weil er ihn an
seine ›Selige‹ erinnerte. Jetzt wohnt er in dem kleinen Haus
einer Witwe, wo er zwei Zimmer mit den ihm lieben
Sachen möbliert hat. Seine Praxis befindet sich auf dem
Marktplatz, also im Zentrum des Dorfes.«
»Geht die Praxis gut?«
»Ja, Papa, sehr gut sogar, Uwe hat so viel zu tun, daß es
ihm leid tat, als der Tierarzt, der sich im Dorf als zweiter
niederließ, schon nach wenigen Monaten seine Praxis
aufgab, weil er so gut wie nichts zu tun hatte. Die Leute aus
dem Dorf und des weitverzweigten Kreises wollten keinen
für ihre erkrankten Tiere haben als ›Pfarrsch Jung‹ wie er
allgemein genannt wird. Die Alten haben ihn aufwachsen
sehen, die Gleichaltrigen sind mit ihm großgeworden, und
die Jüngeren hören sein Loblied singen. Die
Landbevölkerung ist eben konservativer als die
Stadtbevölkerung. Diese lieben die Abwechslung, die
andern hängen am Althergebrachten.
Und nun, meine Lieben, so gemütlich es hier auch ist, wir
müssen dennoch aufbrechen, damit wir nicht zu spät nach
Hause kommen. Außerdem wird die Dame des Hauses froh
sein, die Invasion loszuwerden.«
»Meinen Sie?« ließ Frauke ihre Grübchen sehen, die der
Arzt reizend fand. Überhaupt die ganze charmante
Persönlichkeit. Da wird ihr schmuckes Heim nicht lange
unbemannt bleiben. Denn die Herren der Schöpfung
haben ja Augen im Kopf und ein Herz unter der Weste. Mit
herzlichem Dank schieden die Gäste, und die
Zurückbleibenden winkten dem abfahrenden Auto nach.
»Schade, daß sie fort sind«, seufzte Oda. »Ich habe mich in
den Arzt verliebt.«
»Mädchen, du bist wohl nicht recht gescheit!« war Frauke
denn doch verblüfft über das freimütige Geständnis. »Der
Mann ist verheiratet, und du trägst noch die Eierschalen
hinter den Öhrchen.«
»Na wennschon«, winkte die Kleine nonchalant ab und
zitierte pathetisch: »Ist denn Liebe ein Verbrechen, darf
man denn nicht zärtlich sein? Wenn ich nur wüßte, was
Liebe ist.«
»O du Kindskopf!« lachte Frauke hell heraus. »Pas weiß ich
ja noch nicht einmal, obwohl ich sieben Jahre älter bin als
du.«
Und damit sprach sie die Wahrheit. Noch war ihr Herz
unberührt geblieben von der vielgepriesenen Liebe. Von
dem Himmelhochjauchzend, zu Tode betrübt. Aber locker
saß Amors Pfeil. Verschmitzt lachte der listige Bursche in
sich hinein.
Warte nur, balde….
Am Sonntag darauf erschien Baron von Swidbörn in
Begleitung Odas im grünen Haus, um sich für die herzliche
Gastfreundschaft zu bedanken, die man seiner Schwester
angedeihen ließ. Er wirkte direkt einschüchternd, als er so
dastand, sehr ernst, sehr vornehm. Man hatte den
Eindruck, als ob der hartgeschnittene, herrische Mund sich
zu keinem freundlichen Lächeln verziehen könnte,
höchstens zu einem verächtlichen, sarkastischen, als ob die
sehr hellen blauen Augen nie lachend aufblitzen könnten.
Ein blendend aussehender Mann, aber einer, dem man
gern aus dem Wege ging. Nur Oda tat das nicht. Sie zog
den distinguierten Herrn von der Schwelle fort in das
Zimmer hinein und sagte lachend:
»Mir scheint fast so, als ob du Angst hättest, Win.«
»Wahrscheinlich, du Frechdachs«, schwang die Stimme
jetzt wie eine dunkeltönende Glocke, die aber auch anders
klingen konnte, hart wie klirrendes Metall. Wen die traf,
dem war bestimmt nicht wohl in seiner Haut.
»Das ist mein Bruder Winrich«, sagte Oda stolz. »Und das
sind Frauke und Ortrun.«
»Darfst du die jungen Damen denn so vorstellen?« fragte er
mahnend, und da lief das Gesichtchen rot an.
»Verzeihung. Also, dann so: Baron von Swidbörn –
Fräulein Gortz – Fräulein Danz. Und das ist Ajax, der
Schäferhund. Gibst du dem Herrchen eine Gutentagpfote?
Tatsächlich, er gibt. Darauf kannst du dir etwas einbilden,
Winrich.«
»Bist du nun endlich fertig, du kleine Plaudertasche? Ja? So
kann ich denn endlich die Damen begrüßen. Gnädiges
Fräulein, wie ist es nur möglich, daß Sie diese kleine
Plappermühle so viel um sich haben können. Fällt sie
Ihnen denn nicht auf die Nerven?«
»Keineswegs, Herr Baron«, entgegnete Frauke lachend.
»Unsere Mühlen sind auch ganz nett in Betrieb. Wollen Sie
nicht Platz nehmen?«
»Wenn ich darf, gern.«
Odas Zünglein war heute ganz besonders flink. Es regte
sich hurtig, plapperte und schwatzte, und als der Bruder
endlich zu Wort kommen konnte, bedankte er sich für die
herzliche Aufnahme, die seine Schwester in diesem Hause
fand. Sprach jedoch auch die Befürchtung aus, daß ihre
täglichen Besuche auf die Dauer lästig fallen könnten.
»Das wird nie geschehen, Herr Baron«, beruhigte Frauke
ihn. »Wir mögen Oda gern, betrachten sie als zu uns
gehörig.«
»Na also«, triumphierte die Kleine.
»Das habe ich dir doch immer wieder gesagt, aber du willst
nie auf mich hören. Und dabei bin ich für meine Jahre viel
zu verständig, sagt Barbe. Findest du das nicht auch,
Frauke?«
»Aber natürlich. Denn alles, was Barbe sagt, hat Hand und
Fuß«, entgegnete sie ernsthaft, während ihre Augen lachten
und die Grübchen schelmten. Überhaupt ihre ganze Art
hatte etwas ungemein Gewinnendes, Herzliches, was den
Besucher sofort für sie einnahm. Jetzt konnte er auch
verstehen, daß seine Schwester an ihr hing. Daß es sie
hinzog aus der prunkhaften Kälte des Schlosses in die
Traulichkeit dieses Hauses, das eine Seele hatte, wie man so
sagt. Und diese Seele konnten ihm nur die Bewohner
geben.
Aus diesem Gedankengang heraus sagte der Mann mit
leichtem Lächeln:
»Es ist kaum zu fassen, was Sie aus diesem Gespensterhaus,
wie unsere Barbe es bezeichnete, gemacht haben, gnädiges
Fräulein. Jedesmal, wenn ich hier vorüberkam, um ins Dorf
zu gelangen, empfand ich ein Gruseln, zumal die
Bewohner in mysteriöser Abgeschiedenheit lebten. Das
heißt, als der Professor das Anwesen erwarb, machte es
nicht den düsteren Eindruck. Da brachten zwei
lebenslustige Menschen, Mutter und Tochter, Lachen und
Frohsinn hinein. Als das entschwand, nahm es mit sich das
Herz des Mannes.«
»Bitte nicht«, schwankte ein Stimmchen dazwischen.
»Sonst muß ich weinen. Und das tu ich doch so ungern.«
»Das tut wohl keiner gern, du Schäfchen«, streichelte er
leicht über das gesenkte Blondköpfchen. »Gehen wir, ich
habe meinen Besuch schon über Gebühr ausgedehnt.
Nochmals Dank, gnädiges Fräulein, daß Sie sich so lieb
Odas annehmen. Ich kann Sie leider nicht um Ihren
Besuch bitten, da mein Haus ohne Repräsentantin ist.
Daher kann ich mich für die Gastfreundschaft, die Sie
meiner Schwester so großherzig gewähren, nicht
revanchieren.«
»Das ist auch nicht erforderlich, Herr Baron. Es muß ja
nicht immer alles gleich auf ›Abgeben‹ gedacht sein. Ich
betone nochmals, daß Oda uns lieb ist, nicht wahr, mein
Mädchen?«
»Und wie, Frauke! Wir lieben uns alle hier auf
Gegenseitigkeit.«
Zufrieden, daß die beiden Mädchen über sie lachten und
sogar der Bruder leicht schmunzelte, ging sie mit ihm
davon. Bald darauf wurden sie auf dem Wiesenpfad
sichtbar, der in allmählicher Steigung zum Schloß
emporführte. Von der Terrasse aus sahen Frauke und
Ortrun, zu denen sich auch Hulda gesellt hatte, den
Geschwistern nach, die Hand in Hand gingen, wie zwei
Menschen, die sich hilfesuchend aneinanderklammern.
Hulda wischte sich die Augen und brummte:
»So ein armer Kerl. Bis in die tiefste Seele hinein kann er
einen erbarmen. Der hat zuviel mitmachen müssen mit
dem elendiglichen Weib. Ein Jammer, daß es gerade immer
die besten Männer sind, die an so was geraten.«
»Wie weißt du denn, daß er einer von den besten ist?«
fragte Frauke. »Du hast ihn heute doch zum ersten Mal und
dabei nur flüchtig gesehen. Das genügt nun wahrlich nicht,
die Wesensart eines Menschen zu erkennen.«
»Brauch ich gar nicht, ich verlaß mich da auf meinen
Instinkt. Und der sagt mir, daß der Baron ein guter,
vornehmer Mensch ist.«
Das letzte kam schon von der Tür her, durch die Hulda
eiligst entschwand, damit nicht der Sonntagsbraten
anbrannte, der gar lieblich in der Pfanne brutzelte. Frauke
deckte den Tisch, und Ortrun hielt immer noch den Blick
auf den Pfad gerichtet, bis die Geschwister im Park
verschwunden waren. Doch immer noch sah Ortrun vor
sich das stolze, von Trauer überschattete Männerantlitz,
hörte immer noch die dunkeltönende Stimme. Also ein
Zeichen, daß der Mann sie fasziniert, einen
unauslöschlichen Eindruck hinterlassen hatte.
Was gewiß kein Wunder war. Denn Männer seiner Art
faszinierten selbst die anspruchsvollsten Frauen,
geschweige denn ein zwanzigjähriges Mädchen, das in der
Abgeschiedenheit eines Töchterheims herangewachsen war.
Wo es außer dem alten Gärtner und dem gleichfalls nicht
mehr jungen Faktotum keinen Mann gab.
Wohl hatte das Heim ein eigenes Kino, wo die Filme eigens
für die behüteten Mädchen zurechtgeschnitten wurden. Zu
der Tanzstunde der Siebzehnjährigen und den
anschließenden Tanzabenden wurden nur gleichaltrige
Jünglinge geladen. Somit hatte ein Mädchen wie Ortrun
Danz, das bereits mit vierzehn Jahren ins Internat
gekommen war, keine Gelegenheit gehabt, einen so
außergewöhnlichen Mann wie Baron Swidbörn
kennenzulernen.
Jedenfalls bot das Heim ein sicheres Unterkommen für
heranwachsende Mädchen, die entweder elternlos waren
oder deren Eltern sich um ihre Töchter nicht kümmern
konnten, ihnen aber eine tadellose Erziehung angedeihen
lassen wollten. Denn tadellos erzogen wurden die
Mädchen; sie lernten alles, was für ihr späteres Leben von
Wert war. Sie erhielten eine sorgfältige Schulausbildung bis
zum Abitur, wurden in allen wirtschaftlichen Dingen
unterwiesen, bekamen Musik- sowie Tanzunterricht, wer
Lust hatte, konnte reiten lernen, mit achtzehn Jahren den
Führerschein machen – nur allein ausgehen durfte man
nicht, da wurden die Zöglinge immer von einer Lehrerin
begleitet. Wem das nicht paßte, der mußte das Institut
verlassen, was natürlich auch vorkam. Doch im
allgemeinen fügten die Mädchen sich den Gesetzen, was
ihnen später zustatten kam. Denn Zögling des
Elitetöchterheims gewesen zu sein, war ein Freibrief, der
ihnen überall die Türen öffnete.
Also hatte Dr. Danz schon gewußt, wohin er die Tochter
nach dem Tod seiner Frau gab, zumal er sich als Forscher
nicht um sein Kind kümmern konnte. Wenn es jedoch mit
neunzehn Jahren dem Heim entwachsen sein würde, dann
wollte er es auf seinen Reisen mitnehmen, soweit diese
ungefährlich waren.
Allein, das sollte der Mann nicht mehr erleben. Viel zu früh
ereilte ihn der Tod, und er mußte sein einziges Kind
zurücklassen, das von Glück sagen konnte, ein so trauliches
Zuhause zu finden. Sonst wäre es um das arme reiche
Mädchen traurig bestellt gewesen.
»Die Finken schlagen, der Lenz ist da und keiner kann
sagen, wie es geschah. Er ist gekommen so über Nacht«,
klang es jubelnd aus dem Salon des grünen Hauses, wo
Ortrun vor dem weißen Stutzflügel saß und den Lenz
besang, der wirklich gekommen war so über Nacht. Denn
gestern abend noch hatte es geregnet und gestürmt, und
morgens war er da, der Götterknabe Mai, der nun sein
rosenumwundenes Zepter schwang. Die Vögel jubilierten,
die Bäume prangten in ihrem jungen Grün, die Rasen
leuchteten, und die Blumen verströmten ihren süßen Duft.
Der einstige Schandfleck des Dorfes war jetzt ein kleines
Paradies, das Ajax treu bewachte und der lange Michel
ebenso treu umsorgte. Unermüdlich werkte er herum, mit
fast unnachahmlichem Geschick. Er hatte es tatsächlich
fertiggekriegt, aus dem Schuppen einen erstklassigen
Geflügelstall zu zimmern. Nun krähte, gackerte,
schnatterte, piepste es auf dem Hof an allen Ecken und
Enden.
Im Gemüsegarten gedieh alles prächtig, der Park war
sorgfältig gepflegt. Und wenn die drei Weiblichkeiten auch
überall herzhaft zupackten, so war das doch alles nur
»Nuschtwerk«, wie Hulda es bezeichnete. Der Arbeitsheld
war und blieb Michel, in nimmermüder Kraft.
Jetzt bastelte er auf dem Hof an einem Drahtgestell für die
Küken herum und pfiff dabei stillvergnügt die Melodie vor
sich hin, die durch die geöffneten Fenster zu ihm drang. Er
traf dabei wohl nicht immer den richtigen Ton, aber das
machte ihm gar nichts aus.
Schade, daß das Konzert im Haus so plötzlich abbrach, war
doch zu schön gewesen. Das fand wohl auch Frauke, aber
sie mußte die Sängerin stören, weil sie ein Schreiben durch
den Notar Dr. Danz erhalten hatte, das sie wenig später
Hulda und Ortrun vorlas:
Sehr geehrter Herr Dr. Danz!
Ihr Schreiben hat mich beschämt. Denn Sie nehmen
bestimmt an, daß ich eine Erpresserin bin. Das stimmt aber
nicht. Ich habe nur in Unkenntnis gehandelt, als ich
Fräulein Gortz den Brief schrieb. Ich glaubte mich im
Recht, als ich die fünftausend Mark von ihr erbat, die ich
vor Jahren der Frau des Professors leihweise überließ. Daß
sie damals bereits von ihrem Mann geschieden war,
verschwieg sie mir.
Haben Sie bitte die Güte, Herr Doktor, Fräulein Gortz zu
schreiben und sie in meinem Namen um Entschuldigung
zu bitten. Ich persönlich wage es nach dem beschämenden
Brief nicht mehr.
Falls Sie noch ein Anliegen an mich haben sollten, lassen
Sie es mich sofort wissen, damit Ihr Schreiben mich noch
erreicht. Denn das Stift, in dem ich seit sechs Jahren lebe,
wird aufgelöst, da es nicht mehr tragbar ist. Die meisten
Damen werden auf andere Stifte verteilt. Doch zu den
Glücklichen gehöre ich nicht, für mich ist nirgends Platz.
Hochachtungsvoll Jadwiga von Schlössen
»Für mich ist nirgends Platz«, murmelte Frauke, als sie den
Brief sinken ließ. »Wie unsagbar traurig.«
»Ein Skandal ist das«, knurrte Hulda böse. »Einfach das
Stift schließen und die armen Stiftsdamen auf die Straße
setzen. Und das läßt unser Herrgott zu. Also müssen
Menschen barmherziger sein.«
»Und sie werden es sein«, entschied Frauke spontan. »Platz
haben wir genug, und zum Sattessen für eine Person wird
es auch noch reichen. Was sagt ihr dazu?«
»Mich brauchst du erst gar nicht zu fragen«, wischte Hulda
hastig ein Tränchen fort, und Ortrun nickte eifrig.
»Bitte, Frauke, laß die Dame herkommen. Du mußt dann
eben mehr Pensionsgeld von mir nehmen. Und wenn das
nicht reicht, muß Onkel Rudolf mehr Geld für meinen
Unterhalt bewilligen.«
»Halt ein!« stoppte Frauke den Eifer. »Fräulein von
Schlössen wird doch nicht so ein Vielfraß sein, daß wir sie
nicht sattkriegen können. Deinen Vormund laß mal ganz
aus dem Spiel. Ich glaube, er hat mich ohnehin im
Verdacht, daß ich dir dein Fellchen über die Ohren ziehe.«
»Ist ja gar nicht wahr. Er findet es im Gegenteil zu wenig,
was du mir abnimmst.«
»Also hat er dich doch darum befragt.«
»Das hat er nicht. Ich habe davon angefangen, als du mit
den beiden Damen nach oben gingst, um ihnen dort die
Räume zu zeigen. Da erzählte ich Onkel Rudolf von
meinem Zimmer, dessen Einrichtung ich gekauft habe, was
dir gar nicht recht war. Ferner erzählte ich, daß du zur
Instandsetzung deines Besitzes kein Geld von mir nahmst,
obwohl ich es dir immer wieder anbot. Ich klagte ihm
auch, daß bei dem mäßigen Pensionspreis von dem
Monatswechsel immer soviel übrig bleibt und ich gar nicht
weiß, was ich mit dem Geld anfangen soll. Da lachte er
und meinte, was für Sorgen wir reichen Mädchen doch
hätten. Und nun schreibe gleich an Fräulein von Schlössen,
daß sie hier ein Zuhause finden kann.«
»Na, nun mal langsam,“ mein Herzchen. So leichtsinnig
wollen wir wiederum auch nicht sein. Wollen uns zuerst
das Stiftsfräulein einmal ansehen, ob man mit ihr
überhaupt auskommen kann. Also werde ich ihr schreiben,
daß sie, wenn sie Lust hätte, uns besuchen möchte. Dann
werden wir ja sehen, wie sie darauf reagiert. Zeigt sie uns
die kalte Schulter, auch gut. Wir jedenfalls haben dann
einem einsamen Menschen gegenüber unsere Pflicht und
Schuldigkeit getan.«
Es war einige Tage später, als Frauke durch die Haustür
gehen wollte – und dann wie erstarrt zwischen Tür und
Angel verharrte; denn vor ihr stand die Dame aus dem D-
Zug. Sehr vornehm, sehr altmodisch, mit Pincenez,
vorsintflutlichem Hut, konservativer Reisetasche und
schüchternem Lächeln, das um irgend etwas um
Verzeihung zu bitten schien. Dann die unsichere Frage:
»Wohnt hier ein Fräulein Frauke Gortz?«
»Das bin ich.«
»Und ich bin Jadwiga von Schlössen.«
Na, da schlag einer lang hin! wäre Frauke beinahe die
beliebte Redewendung Michels entfahren. Doch der
hilflose, bittende Blick der Besucherin gab dem gewandten
Mädchen rasch die Fassung wieder.
»Seien Sie mir herzlich willkommen«, entgegnete sie
liebenswürdig. »Wir sind uns nicht mehr ganz fremd, nicht
wahr?«
»Nein, wir sahen uns damals im Zug… Mein Gott, der
Hund, er wird mir doch nichts tun?« wich sie entsetzt vor
Ajax zurück, der plötzlich aufgetaucht war und sie kritisch
musterte.
»I bewahre«, beruhigte Frauke. »Du wirst doch wohl nicht
liebe Gäste anfallen, du Schlingel!«
»Wauwau!« machte er lustig. Das beruhigte die ängstliche
Dame, die Frauke nun in die Diele führte und ihr dort
Tasche, Mantel nebst Hut abnahm. Auf der Terrasse bat sie
den Gast, Platz zu nehmen, der ängstlich fragte:
»Ich komme Ihnen doch nicht ungelegen, Fräulein Gortz?«
»Durchaus nicht, Fräulein von Schlössen. Ich habe Sie doch
eingeladen.«
»Wofür ich Ihnen von ganzem Herzen danke. Ich hätte
sonst gar nicht gewußt, wohin ich sollte. Ich bin ja so
allein.«
»Jetzt nicht mehr«, versicherte Frauke, die dieses arme,
verschüchterte Wesen in tiefster Seele erbarmte.
»Entschuldigen Sie mich bitte einen Augenblick.«
»Nehmen Sie auch den Hund mit?«
»Wenn er Sie geniert, selbstverständlich. Komm, Ajax!«
Willig folgte er ihr zur Küche, wo Hulda und Ortrun mit
der Vorbereitung des Abendessens beschäftigt waren. Eine
hielt eine Schüssel mit geschlagenen Eiern in der Hand, die
andere eine Kanne mit Milch, was Frauke bei der
Nachricht, die sie übermitteln wollte, denn doch zu
gefährlich schien. Daher sagte sie leise:
»Stellt mal die Sachen auf den Tisch, damit sie euch nicht
vor Überraschung aus den Händen fallen. So, nun will ich
euch schnell was sagen, dann muß ich wieder zu unserm
Gast zurück. Und dieser Gast heißt Jadwiga von Schlössen.«
»Na, das ist mal eine Überraschung!«
»Aber noch nicht die größte, Hulda. Besinnst du dich auf
die altmodische Dame im D-Zug? Die ist mit unserm Gast
identisch.«
»Gott in deine Hände!« sagte Hulda verblüfft. »Ist doch
bloß gut, daß du mich vorher warntest. Ich hätte bestimmt
die Schüssel fallen lassen.«
»Und ich den Topf«, lachte Ortrun. »Frauke, was werden
wir bloß mit dem komischen Kruckchen anfangen?«
»Nett zu ihr sein, sie ist ja so arg verschüchtert. Ich muß
jetzt gehen. Vergiß nicht, ein Gedeck mehr aufzulegen,
Ortrun.«
Sie eilte zu Jadwiga zurück, nahm Platz und sagte munter:
»So, nun stehe ich Ihnen zur Verfügung, Fräulein von
Schlössen. Gefällt es Ihnen hier?«
»Sehr. Es ist hier alles so harmonisch, so friedlich, so wie in
Sonne getaucht.«
»Jetzt ja«, nickte Frauke und erzählte dann, wie düster und
unwirtlich es vorher gewesen war. Sie hatte ihren Bericht
gerade beendet, als Ortrun erschien und von Jadwiga
überrascht gemustert wurde.
»Dieser jungen Dame bin ich doch auch im Zug damals
begegnet.«
»Sie gehört ja auch zu mir«, erklärte Frauke und übernahm
die Vorstellung. Dann ging man ins Speisezimmer, wo
bereits das Abendessen stand. Rührei mit Schinken,
Aufschnitt, Butter, Käse, Brot und Milch.
»Nun greifen Sie tüchtig zu, Fräulein von Schlössen«,
forderte Frauke auf, nachdem man am Tisch Platz
genommen hatte. »Wir sind Landbewohner, die nicht
nippen, sondern essen, bis sie satt sind. Wenn Sie Milch
nicht mögen, können Sie auch ein anderes Getränk
bekommen.«
»Nein, danke, ich trinke Milch gern. Dann möchte ich
Ihnen keine Umstände machen und Ihnen damit zur Last
fallen. Ich will auch nicht lange bleiben.«
»Darüber sprechen wir später«, winkte Frauke ab und
bemerkte dann mit Genugtuung, wie gut es dem Gast
schmeckte. Warum, das sollten die beiden Mädchen
erfahren, als man später in der Bibliothek bei einem Glas
Wein saß.
»Sie werden sich über meinen Appetit gewundert haben«,
sagte Jadwiga verlegen. »Aber ich hatte seit dem Frühstück
nichts mehr gegessen. Bin dann in der Stadt
herumgelaufen, um ein möbliertes Zimmer zu finden. Aber
erstens sind sie rar und dann für meine Verhältnisse zu
teuer. Ich kam nun her, um Sie zu fragen, ob Sie vielleicht
jemand im Dorf wüßten, bei dem ich unterkommen
könnte.«
»Da werden Sie gewiß sehr enttäuscht sein, daß wir Ihnen
keine Auskunft geben können«, bedauerte Frauke. »Wir
sind auch erst von Mitte März hier und so gar nicht mit den
Verhältnissen im Dorf vertraut. Nun so viel wissen wir, daß
vom Frühsommer bis Herbst Feriengäste herkommen, die
zum Teil Privatquartier beziehen müssen, weil die Hotels
und Gasthäuser überfüllt sind. Also werden die möblierten
Zimmer nicht nur knapp, sondern auch sehr teuer sein,
wenigstens während der Saison.«
»Dann weiß ich nicht, was ich machen soll«, sagte Jadwiga
niedergeschlagen. »Aus dem Stift, das sechs Jahre mein
Zuhause war, mußte ich fort, weil es aufgelöst wurde. Und
irgendwo muß ich doch bleiben.«
»Natürlich müssen Sie das«, sagte Frauke herzlich. »Und
zwar bei uns. Wir haben noch ein Zimmer frei, das wir
Ihnen gern zur Verfügung stellen. Wenn es Ihnen zusagt,
können Sie so lange darin wohnen, bis Sie eine andere
Unterkunft gefunden haben.«
»Wenn es mir zusagt«, murmelte Jadwiga. »Mir sagt jedes
Zimmer zu, auch wenn es noch so primitiv wäre.
Wochenlang suche ich schon danach, bin deshalb in
Städten und Dörfern gewesen, doch mich wollte keiner
haben. Und nun komme ich hierher und finde Menschen.
Daß es überhaupt solche gibt, das läßt mich wieder an
einen Herrgott glauben.«
Es war so er schütternd gesagt, daß den beiden Mädeln die
Tränen in die Augen stiegen. Sie sahen nicht mehr die
altmodische Kleidung, nicht mehr das lächerliche
Pincenez, sahen nur einen bitter einsamen, vom Leben
schlecht behandelten und vom Glück vergessenen
Menschen. Frauke mußte erst einige Male schlucken, bevor
sie sprechen konnte:
»Dann seien Sie uns als Hausgenossin herzlich
willkommen, Fräulein von Schlössen. Ah, da kommt ja die
liebe Hulda, die Dritte in unserm Bunde. Sie ist hier Haus-
und Hofmeister, dem sich alle beugen müssen.«
»Was auch ganz in Ordnung ist«, brummte Huldchen,
herzhaft die Hand drückend, die sich ihr zur Begrüßung
entgegenstreckte. Die Obersttochter wußte sofort, wie sie
diese robuste Person einzustufen hatte. Daß sie eine der
treuen Dienerinnen war, die langsam zur Legende werden.
»Fräulein von Schlössen wird bei uns wohnen«, erklärte
Frauke. »Wir müssen das blaue Zimmer in Ordnung
bringen.«
»Ist schon längst geschehen, mein Herzchen. Gelüftet,
abgestaubt, das Bett überzogen. Dürfte ich um Ihren Koffer
bitten, gnädiges Fräulein?«
»Ich habe keinen mit«, gestand Jadwiga verlegen. »Nur
Nachtzeug, das sich in der Tasche befindet, die ich in der
Diele abstellte. Ich konnte ja nicht ahnen, daß man mich
hier nicht nur so lieb aufnehmen, sondern sogar
hierbehalten würde. Nur Toilettensachen steckte ich ein,
weil ich im Dorf zu übernachten gedachte.«
»Und wo befindet sich Ihr großes Gepäck?« fragte Frauke.
»Ich habe es in dem Gasthaus untergestellt, das in der Nähe
des Stiftes liegt. Es ist ja nicht viel. Drei Koffer bergen
meine ganze Habe.«
»Die wir schon herkriegen werden«, brummte Hulda. »Gute
Nacht, ich gehe jetzt zu Bett.«
Als sie gegangen war, fragte Jadwiga:
»Wohl eine Getreue Ihrer Familie, nicht wahr, Fräulein
Gortz?«
»Ja. Als ich zwei Jahre alt war, kam sie in unser Haus und
hat sich auch nach dem Tode meiner Eltern nicht von mir
getrennt. Trotz ihrer brummigen Art ist Hulda eine Seele
von Mensch, dazu von unerschütterlicher Treue. Ich hätte
nicht gewußt, und wüßte auch heute noch nicht, was ich
ohne sie anfangen sollte.
Sie hat natürlich auch ihre Eigenheiten, die man ihr
nachsehen muß. Ich möchte zum Beispiel gern, daß sie mit
uns zusammen die Mahlzeiten einnimmt, weil sie doch
ohnehin ganz zur Familie zählt. Aber dazu ist sie nicht zu
bewegen. Sie sagt, in der Küchenschürze kann sie nicht an
den Tisch kommen und sich ein paarmal am Tag
umzukleiden, dazu hat sie keine Zeit und keine Lust –
basta! Und nun werde ich Ihnen Ihr Zimmer zeigen; denn
Sie scheinen recht müde zu sein.«
»Das bin ich«, gab Jadwiga unumwunden zu. »Ich habe in
den letzten Nächten, aus Angst, was aus mir werden soll,
kaum geschlafen. Dann bin ich heute stundenlang in der
Stadt auf Zimmersuche gewesen. Ich glaube, ich werde
nach wochenlangem Hangen und Bangen zum erstenmal
wieder richtig schlafen können.«
»Ist doch unerhört, ein Stift aufzulösen, bevor die Damen
nicht restlos anderweitig untergebracht sind«, empörte
Frauke sich. »Und bei der Überweisung in andere Stifte
werden die maßgebenden Persönlichkeiten auch nicht
gerecht verfahren sein, habe ich recht, Fräulein von
Schlössen?«
»Ja, die Oberin, Gräfin Warl, sorgte mal erst für die Damen
vom titulierten Adel.«
»Aha!« warf Frauke erbost ein. »Und wieviel Damen waren
nicht tituliert?«
»Außer mir noch zwei.«
»Und die wurden einfach auf die Straße gesetzt mit der
Begründung, daß leider in den in Frage kommenden Stiften
momentan alle Plätze belegt wären. Doch sobald einer frei
wäre, würde man selbstverständlich dafür sorgen, daß die
liebe… und weiterer Phrasen mehr. War das nicht so,
Fräulein von Schlössen?«
»Genauso«, entgegnete Jadwiga verblüfft. »Woher wissen
Sie das denn, Fräulein Gortz?«
»Wissen nicht, ich kann es mir nur denken. Und was wurde
aus den anderen beiden ›nichttitulierten‹ Damen?«
»Die konnten bei Verwandten unterkommen. Nur ich habe
keine, wenigstens nicht solche, die mich aufnehmen
würden. Ich stehe ganz allein im Leben.«
»Hm. Und in welches Stift hat sich die gnädigste Frau
Oberin begeben?«
»Vorläufig in keins. Sie will abwarten, bis wieder eine
Oberinstelle frei wird.«
»Na, hoffentlich leben diese Damen, die ja nicht durchweg
– na ja – sein werden, über hundert Jahre. Und wo will
denn die Allergnädigste auf den Tod einer Oberin warten?«
»Zuerst unterzieht sie sich einer Kur und wird sich
anschließend zu einem Neffen begeben«, erwiderte
Jadwiga, eingeschüchtert durch Fraukes beißende
Bemerkungen. »Und zwar zu einem Baron Swidbörn.«
»Waaas?« wurde Frauke jetzt hellhörig. »Gehört dem Baron
etwa die Herrschaft Grünehöh?«
»Ja.«
»Na, da schlag einer lang hin«, gebrauchte Frauke nun doch
Michels Spezialausdruck, und Ortrun, die bisher dem
Gespräch schweigend gefolgt war, fuhr auf.
»Frauke, das müssen wir Oda erzählen«, sagte sie aufgeregt,
wozu die andere bekräftigend nickte.
»Worauf du dich verlassen kannst. Wissen Sie eigentlich,
wo Grünehöh liegt, Fräulein von Schlössen?«
»Nein. Doch wie die Oberin sagte, soll es ein sehr großer,
feudaler Besitz sein.«
»Ist es auch. Sie können von der Terrasse aus das Schloß
sehen.«
»Das ist mir bereits aufgefallen, als ich vor dem Abendessen
auf der Terrasse saß«, war es nun an Jadwiga, aufgeregt zu
sein. »Und das gehört dem Baron von Swidbörn, einem der
feudalsten Adligen im Land.«
»Ganz recht. Sie können, wenn die gnädigste Oberin dort
weilt, gegenseitig Winkewinke machen. Und nun hören Sie
mal zu, Fräulein von Schlössen…«
Sie erzählte, wie sie zuerst die Baronesse und später deren
Bruder kennenlernte, und Jadwiga faltete die Hände wie
zum Gebet.
»Ist das nun Zufall oder Vorsehen?«
»Es ist letzteres, Fräulein von Schlössen. Doch darüber
wollen wir jetzt nicht diskutieren, wir wollen schlafen
gehen. Morgen ist auch ein Tag.«
In dem Zimmer, das sie kurz darauf betraten, war die
Einrichtung wohl zusammengewürfelt, gab jedem dem
Raum Behaglichkeit. Das breite Holzbett war weiß, der
Schrank braun, die Kommode mahagoni, der zierliche
Schreibtisch mit dem Aufsatz hell Birke, der Teppich rot,
die Tapete blau, die Bilder bunt, die Gardinen duftig zart.
Das alles zusammen war wohl nicht stilvoll, aber lustig. Es
schien zu sagen: Komm, tritt ein, bei mir bist du geborgen.
»Ich glaube, das Zimmer hat Seele«, stellte Jadwiga fest,
und Frauke lachte.
»Es ist wohl eine bunte Seele, aber besser als eine
schwarze.«
»Wie soll ich Ihnen nur danken.«
»Gar nicht. Sie sollen sich hier wohl fühlen. Sollen mit
dem Gefühl zur Ruhe gehen, daß Sie nicht mehr allein
sind. Gute Nacht!«
Als man am nächsten Morgen auf der Terrasse beim
Frühstück saß, sprang Oda die Stufen hinauf. Doch dann
blieb sie wie festgewachsen stehen und starrte mit offenem
Mäulchen auf Jadwiga, die wie eine Gouvernante anmutete,
die mit ihren Zöglingen das Frühstück einnimmt. Es hätte
nur noch der erhobene Zeigefinger gefehlt.
»Nun komm schon weiter!« ermunterte Frauke, ein
amüsiertes Lächeln unterdrückend. »Begrüße unsere neue
Hausgenossin. Das ist die Baronesse von Swidbörn«, stellte
sie vor, als diese neben ihr stand. »Und das ist Fräulein von
Schlössen.«
Und sieh da, Baroneßchen machte einen artigen Knicks
und setzte sich dann an Ortruns Seite. Viele Fragen
brannten ihr auf der Zunge, die sie natürlich nicht stellte.
Erst als Jadwiga nach oben ging, platzte die Kleine heraus:
»Ja, sagt mal, seit wann braucht ihr denn eine
Gouvernante?«
»Pst!« legte Frauke warnend den Finger auf den Mund. »Die
Tür steht offen.«
»Ich bin doch so neugierig.«
»Dann komm mit nach der Küche, wo wir das Geschirr
spülen müssen, weil Hulda schwer beschäftigt ist. Sie
streicht Gartenstühle, die sie in der Laube aufgestöbert hat.
Deckt den Tisch ab, ich gehe schon vor.«
Fünf Minuten später bekam dann Oda etwas zu hören, das
ihr weiches Herzchen arg bedrängte. Doch als sie von der
hochfahrenden Oberin hörte, da blitzten ihre Augen vor
Empörung.
»Und die will zu uns kommen? Das laß sie ja nicht wagen!
Einen Menschen zurücksetzen, weil er nicht tituliert ist, das
hat mein Bruder gern – und ich auch. Übrigens hatte ich
gar keine Ahnung, daß wir so eine Nebelkrähe…«
»Oda!«
»Ist doch wahr«, brummte sie mit rotem Köpfchen.
»Trotzdem will ich mich benehmen. Also ich hatte keine
Ahnung, daß wir eine Gräfin… Wie heißt sie?«
»Warl.«
»Aha, so hieß auch meine Mutter. Somit komme ich der
Sache schon näher. Das wird wohl so eine Verwandtschaft
xten Grades sein, die Winden mir
auseinanderposementieren muß. Die Fragen brennen mir
förmlich auf der Zunge. Gehabt euch wohl, ich bin bald,
wieder da.«
Sie wirbelte ab, durch den grünen Grund, die grüne
Anhöhe hinauf, durch den Park, auf die Terrasse, wo sie
erst einmal Uwe Gunder herzhaft auf die Füße trat, der sich
nächst dem Freund im Liegestuhl einer Ruhepause hingab.
»Hoppla, meine Piedestale! Mädchen, ich hab die doch
nicht in der Lotterie gewonnen.«
»Dann streck sie nicht vor, damit man darüber stolpern
muß. Laß mich jetzt in Ruhe, ich muß Winrich ganz was
Wichtiges erzählen.«
Und dann plätscherte das Zünglein wie ein Wasserfall. Das
Stimmchen schwankte, hob sich, empörte sich, bis alles
gesagt war. Dann sah sie den Brüder vorwurfsvoll an, der
schmunzelnd fragte:
»Sag mal. Kleine, hast du das alles etwa auswendig
gelernt?«
»Du bist abscheulich! Aber das sage ich dir, wenn du diese
– na ja –, wenn du die aufnimmst, dann laufe ich davon!«
»Wohin?«
»Ins grüne Haus natürlich.«
»Wo du gleich die Gouvernante findest, die dir manchmal
noch fehlt«, sagte Uwe pomadig. »Denn wie ich deiner
plätschernden Rede entnehmen konnte, sind die jungen
Damen ihrer neuen Hausgenossin bereits im Abteil des Ü-
Zuges begegnet, in dem auch ich mich befand. Somit kann
es sich nur um die Dame mit dem lächerlichen Pincenez
handeln.«
»Das stimmt, Fräulein von Schlössen trägt eins. Und das
paßt zu ihr. Wie sind wir mit der Gräfin Warl verwandt,
Winrich? Ist sie tatsächlich unsere Tante?«
»Zweiten Grades. Eine Base von Mutter, mit der sie nur zu
den Familientagen zusammentraf, vor denen ich mich bis
auf einen drücken konnte.«
»War die Oberin auch dabei?«
»Ja, eine stattliche Dame in einem hochgeschlossenen
schwarzen Kleid, mit Johanniterkreuz, hochmütigem
Gesicht und dunklem Scheitel. Sie mißfiel mir gründlich,
was bei den andern auch der Fall zu sein schien; denn sie
gingen in großem Bogen um sie herum. Ich kann mir
vorstellen, daß sie keine angenehme Oberin gewesen ist.«
»Und die will ausgerechnet zu uns kommen«, sagte Oda
aufgebracht. »Warum bloß? Die hat doch bestimmt noch
andere Verwandte, die ihr dem Grad nach näher stehen als
wir. Hat sie dich übrigens schon darum gebeten, daß du sie
aufnehmen sollst?«
»Mein liebes Kind, die Oberin Gräfin Warl bittet nicht, die
läßt sich herab. Wir müssen es uns als Ehre anrechnen,
wenn sie geruht, ihr Domizil bei uns aufzuschlagen.«
»Ach du lieber Gott! Hat sie etwa schon geruht, ihr
Erscheinen kundzutun?«
»Sie hat. Gestern erhielt ich einen Brief von ihr, der mich
vor die vollendete Tatsache stellt, daß die gnädige Frau
Tante in absehbarer Zeit hier einzutreffen gedenkt.«
»Warum hast du mir von dem Brief nichts gesagt?«
»Weil ich es vergaß.«
»Was wirst du antworten?«
»Nichts, da ich die Anschrift nicht weiß.«
»Dann kommt sie also her?«
»Wahrscheinlich.«
»Dabei kannst du so ruhig sein?«
»Warum nicht? Aufregen kann ich mich immer noch, wenn
es etwas zum Aufregen gibt.«
»Dafür werde ich schon sorgen!« funkelte sie ihn an, der
wie die personifizierte Gelassenheit im Liegestuhl ruhte.
»Ich benehme mich der Oberin gegenüber rüpelhaft. Und
dann werde ich doch mal sehen, ob mein Herr Bruder,
dem schlechterzogene Menschen ein Greul sind, sich über
seine ungezogene Schwester nicht aufregen wird.«
»Das glaube ich nicht«, meinte Uwe pomadig, »Der Herr
Baron von Swidbörn bleibt auch dann noch gelassen, wenn
er die ungezogene Baronesse von Swidbörn übers Knie legt.
Vielleicht überläßt er das sogar mit Nonchalance seinem
guten Freund. Und wo der hinhaut, da wächst bestimmt
kein Gras.«
»Scheusal!«
»Danke. Ist dir jetzt wohler?«
»Nein, ich fühle mich unverstanden.«
»Herrje, schon so früh?«
Da mußte sie lachen, und der Friede war wieder hergestellt.
Sie zog an den Liegestuhl ein Sitzkissen, kauerte sich
darauf, legte das Blondköpfchen auf des, Bruders Arm und
sagte leise:
»Ich habe Angst.«
»Etwa vor der Oberin?«
»Ja. Sie wird sich hier einnisten und alle beherrschen
wollen.«
»Wollen vielleicht, aber erst können«, umfaßte er das
Schwesterlein und zog es dicht zu sich heran. »Habe ich
mich schon jemals von einem Menschen beherrschen
lassen?«
»Nein, nicht einmal von deiner herrschsüchtigen Frau. Da
nahmst du wohl auf ihre Krankheit Rücksicht, aber
beherrschen ließest du dich dennoch nicht.«
»Siehst du. Ich werde der impertinenten Dame gegenüber
schon den richtigen Ton finden. Übrigens hat sie sich
eingehend nach dem Dorothea-Stift erkundigt. Sie hätte
gehört, daß die Oberin dort recht leidend wäre. Merkst du
was, Schwesterlein?«
»Und wie!« wurde Oda jetzt mobil. Sie setzte sich auf und
blinzelte den Bruder an.
»Daher weht der Wind. Sie reflektiert auf den Posten, den
du als Patronatsherr zu vergeben hast. Da muß man schon
mit Hulda sagen: Die ist nicht dumm auch nicht nuscht.
Denn das Dorothea-Stift ist eine fette Pfründe.«
Was auch stimmte. Das Stift war seinerzeit von einem der
reichsten Männer Preußens, dem Reichsbaron Desider von
Swidbörn gegründet worden. Es besaß ein festgefügtes,
gutmöbliertes Haus, ein stattliches Vermögen und eine
Landwirtschaft, welche die zwei Dutzend Damen nebst
Personal reichlich versorgen konnte. Die meisten der
Insassinnen waren so gestellt, daß sie einen guten
Pensionspreis zahlen und damit die Minderbemittelten
durchschleusen konnten, so daß nie der Etat überschritten
wurde, sondern im Gegenteil man noch sparen konnte.
Die Schutzherren waren von jeher die Barone von
Swidbörn gewesen, die wie kleine Könige auf ihrem
herrlichen Besitz regierten. Der Stammsitz war Grünehöh,
und alles was einen »grünen« Namen hatte, gehörte dazu.
Grüneberg, Grünetal, Grüneau, Grünewald und
Grüneheide. Grünegrund hatte ein Vorfahre einst an die
Gemeinde verkauft, wo dann so nach und nach das Dorf
Grünergrund entstand.
Die Stelle der Oberin war jetzt von einer Gräfin Attbach
besetzt, einer geborenen Baronesse von Swidbörn. Als ihr
Gatte, ein hoher Militär, starb, betraute ihr Bruder sie mit
der Stiftsstelle, die damals gerade frei war. Winrich und
Oda hingen sehr an dieser Tante, die sie oft besuchten, da
das Stift in der Nähe lag. .
Nun war die Oberin im Winter ernstlich krank gewesen,
hatte sich jedoch wieder prächtig erholt. Also standen die
Chancen schlecht für die Gräfin Warl. Denn erstens konnte
die jetzt sechzigjährige Oberin noch gut zwei Jahrzehnte
leben und dann hätte der Patronatsherr nach einem so
wertvollen Menschen nie einen so minderwertigen wie die
Gräfin Warl als Oberin gewählt.
Jadwiga von Schössen war emsig dabei, die Blumen zu
gießen, die in den grünen Kästen auf der Balustrade der
Terrasse so üppig blühten. Zwischendurch rankten
Kletterrosen, die dick voll Knospen waren, von denen hie
und da bereits eine aufsprang. Wenn sie alle richtig
blühten, würde hier eine wahre Rosenpracht das Auge
entzücken.
Ajax hatte sich auf den Fliesenboden gestreckt und sah
aufmerksam zu, was das Frauchen da machte, dem er
schon längst Daseinsberechtigung hier zubilligte.
Jadwiga war glücklich. Wie im Paradies fühlte sie sich, nach
dem trostlosen Dasein vergangener Jahre. Hier durfte sie
ein Mensch unter Menschen sein, kein geducktes,
bespötteltes Wesen. Hier wurde sie als vollwertiges
Familienmitglied betrachtet. War die Tante Jadwiga, sogar
für die Baronesse.
Man hätte sie auch bestimmt behalten, wenn sie ganz
mittellos gewesen wäre. Doch sie bekam eine monatliche
Rente von zweihundert Mark, von denen Frauke ihr nur die
Hälfte abnahm, die andere mußte sie behalten. Viel Geld
für einen Menschen, der bisher mit einem Taschengeld von
dreißig Mark hatte auskommen müssen.
Jadwiga durfte auch in der Wirtschaft leichte Arbeiten
verrichten, die ihr das Gefühl gaben, doch wenigstens zu
etwas nütze zu sein. Sie hatte sich in den beiden Wochen,
die sie hier weilte, gut herausgemacht. Sie war voller
geworden, das vergrämte Gesicht hatte sich gestrafft, die
Augen hatten den scheuen Blick verloren. Sie konnte sogar
schon lachen, was sie lange nicht mehr getan hatte, weil es
für sie nichts zu lachen gab.
Eben erschien Ortrun, entzückend anzuschauen in dem
schicken Frühjahrskleidchen. Die Augen strahlten, als
spiegelte sich darin die Sonne, das wunderbare Haar gleißte
wie das Gold des Meeres. Ein junges Menschenkind von
bezaubernder, jungfrischer Schönheit.
Aber auch Frauke war reizend, die soeben sichtbar wurde.
Nicht ganz so grazil wie Ortrun, aber immerhin schlank.
Das Haar wie reife Kastanien und wunderbar gepflegt, die
Augen opalisierten wie Perlmutt.
Und dann die allerliebsten Grübchen, die redeten eine gar
eindringliche Sprache.
Wenn die beiden Mädchen durch das Dorf gingen, wie
jetzt, so richtig leichtbeschwingt und unbeschwert, gab es
wohl keinen Mann, der ihnen nicht nachschmunzelte. Das
tat nun der Gemeindevorsteher, der mit dem
Domänenpächter Scholt in der »Grünen Gans« am Fenster
saß und auf den Marktplatz schaute.
»Sehen Sie sich das mal an!« zeigte er mit einer
Kopfbewegung nach draußen, wo zwei junge Mädchen
sichtbar wurden. »Donner noch eins, da kann es einem
heiß ums Herz werden. Es blühen zwei köstliche Blumen
im Garten vom grünen Land. Der berauschende Duft dürfte
so mancher Herrlichkeit in die Nase steigen.«
»Da sollen sie nur zusehen, daß sie nicht eins auf die Nase
kriegen«, bemerkte Schölt trocken. Ein Mann von kerniger
Gestalt, frischem, vollem Gesicht und leichtergrautem,
kurzgeschnittenem Haar. Also ein ähnlicher Typ wie der
Gemeindevorsteher. »Es sind schon zwei
Prachtmarjellchen, aber tabu für die Mannsleut. Wie ich
nämlich hörte, soll das Haus im grünen Grund eine
Festung sein, die nicht so leicht zu stürmen sein dürfte. Vor
den Toren dräut Ajax’ Raubtiergebiß, Huldas Kochlöffel,
Bertchens Besen, Michels Forke und der erhobene
Zeigefinger der Stiftsdame.
Olala, da naht ja auch unser aller Stolz hoch zu Roß nebst
Schwesterlein. Wem winkt es da so lebhaft zu? Natürlich
den jungen Damen, die lachend zurückwinden. Sie sollen
ja miteinander ein Herz und eine Seele sein.«
»Sollen sie«, nickte der Gemeindevorsteher. »Doch etwas
Genaues weiß man nicht.
Die Damen leben sehr zurückgezogen, und ihr Faktotum
ist nebst seinem Bertchen verschwiegen wie ein
Trappistenmönch, wenn es ums grüne Haus geht. Mir ist
alles, was damit zusammenhängt, äußerst interessant.«
Menschlich verständlich. Denn Menschen in exquisiter
Stellung sind nun mal interessant, werden scharf
beobachtet, bekrittelt und beklatscht. Und je
zurückgezogener solche Menschen leben. Um so größer ist
die Neugierde.
Nun, diese ließ die vier Menschen kalt, die sich soeben
begrüßten. Allerdings nur durch Zuwinken, weil die Reiter
es eilig hatten. Oda rief den beiden Mädchen noch zu, daß
die Oberin eingetroffen wäre, dann tänzelten die Pferde
vorüber, um hinterher in einen munteren Tab
überzugehen.
»Eigentlich sonderbar, daß wir die Geschwister heute zum
ersten Mal im Sattel sehen«, sagte Frauke. »Daß der Baron
reitet, ist ja selbstverständlich, doch daß es auch Oda tut,
ist mir neu. Sie hat es doch nie erwähnt.«
»Weil sie es des Erwärmens nicht für wert findet«, zuckte
Ortrun die Achsel. »Denn bei den Landfräulein ist das
Reiten so selbstverständlich wie bei den Landherren. Sie
haben schon als Kind ihr Pony und später ein Damenpferd.
Das weiß ich von den Mädchen, die ins Töchterheim
kamen. Dort konnten sie das Reiten fortsetzen, da das
Institut einen eigenen Reitstall unterhielt. Sie mußten sich
allerdings mit einem abgegrenzten Gelände begnügen,
dazu noch unter Aufsicht einer Reitlehrerin. Mir als
Anfängerin machte das nichts aus, doch die Perfekten
maulten oft über die Freiheitsberaubung, wie sie es
nannten. Warum siehst du mich so erstaunt an?«
»Weil ich zum ersten Mal höre, daß *auch du eine Reiterin
bist. Bei dir erfährt man überhaupt nur durch Zufall, was
du kannst. Daß du ausgezeichnet Klavier und Geige spielst,
dazu auch noch singst, erfuhr ich unlängst durch Zufall,
daß du den Führerschein hast, gestern und daß du reitest,
heute.«
»Aber Fraukelein, das ist doch alles so unwichtig. Viel
wichtiger ist, daß ich in Haus und Gärten helfen kann. Was
ist denn schon ein Reiter ohne Pferd und ein Autofahrer
ohne Auto. Ich hatte vor beiden Angst, als ich mit der Lehre
begann. Aber mein Vater hatte gewünscht, daß ich alles
mitzunehmen hätte, was das exklusive Heim nur bieten
konnte.
Daran hielt sich die Oberin nun streng, und gegen die gab
es kein Auflehnen, nur ein Gehorchen.«
Mittlerweile hatten die das grüne Haus erreicht, wo im
Vorgarten Ajax ihnen auf drei Beinen entgegenhumpelte.
»Was hast du denn?« fragte Frauke bestürzt, worauf das Tier
ihr leise winselnd die Pfote entgegenstreckte, von der Blut
tropfte. Als die Mädchen näher hinsahen, bemerkten sie
den Glasscherben, der zwischen den Zehen hervorragte.
»Das sieht ja böse aus«, sagte Frauke erschrocken. »Der
Scherben muß ’raus, das steht nun mal fest. Und da ich
mich nicht heranwage, muß der Tierarzt her. Hol rasch eine
Binde, Ortrun, damit wir einen Notverband anlegen
können.«
Als das geschehen war, nahmen die Mädchen den Hund
beim Halsband und führten ihn auf die Terrasse, wo
Jadwiga beim Anblick der blutdurchtränkten Binde
aufschrie und damit nicht nur Hulda, sondern auch Michel
herbeilockte, die nun betroffen auf das winselnde Tier
schauten.
»Er hat sich einen Scherben in die Pfote getreten«, erklärte
Ortrun, während Frauke zum Fernsprecher eilte, um den
Tierarzt anzurufen. Nachdem sie im Verzeichnis die
Nummer gefunden hatte, wählte sie und hörte gleich
darauf eine dunkle Stimme:
»Dr. Gunder.«
»Herr Doktor, kommen Sie bitte sofort zu unserm Hund«,
sprach Frauke aufgeregt in die Muschel. »Er hat sich eine
Scherbe in den Fuß getreten, die ich nicht entfernen kann.
Werden Sie kommen?«
»Wenn ich wüßte wohin, dann gern.«
»Zum Haus im grünen Grund natürlich«, sagte sie
ungeduldig, und er lachte.
»Das muß einem Dummen doch gesagt werden. Es gibt ja
schließlich eine ganze Menge Hunde im Dorf und in der
Umgebung.«
»Entschuldigen Sie bitte, ich bin so aufgeregt.«
»Wer?«
»Frauke.«
»Danke, jetzt weiß ich Bescheid. Eine Frauke ist hier
einmalig. In zehn Minuten bin ich da.«
Als Dr. Gunder die Terrasse betrat, konnte er nur mit Mühe
ein Schmunzeln unterdrücken bei dem malerischen Bild,
das sich ihm bot. Frauke saß auf einem Fußkissen und hielt
im Schoß den Kopf des Hundes, der sich eng an sie
geschmiegt hatte. An seiner Seite kauerte Ortrun, Hulda
und Michel hockten auf der obersten Treppenstufe, und
mittendrin saß Jadwiga im Gartensessel, mit verstörtem
Blick und wackelndem Pincenez. Ein lebendes Bild, wie es
malerischer nicht gestellt werden konnte. In das auch kaum
Bewegung kam, als der Arzt sich vorstellte und dann die
ihm von Frauke Vorgestellten mit einer Verbeugung
begrüßte. Man konnte hier den Spruch anwenden: Aller
Augen warten auf dich, Herr, denn fünf Augenpaare waren
in ängstlicher Erwartung auf ihn gerichtet.
»Dann wollen wir uns doch mal die kranke Pfote ansehen«,
trat er furchtlos auf den Hund zu, was Frauke hastig
abwehrte.
»Bitte nicht, Herr Doktor. Ajax ist sehr scharf, er wird Sie
beißen.«
»Er denkt gar nicht daran«, ließ der Mann sich seelenruhig
auf die Knie nieder und fuhr liebkosend über den Kopf des
prächtigen Rüden, was dieser sich nicht nur gefallen ließ,
sondern sogar mit einem zärtlichen Handlecken belohnte.
»Na also, du kluger Hund. Du weißt ganz genau, daß ich
dir helfen will«, sprach die Männerstimme beruhigend auf
den Hund ein. Sie hatte etwas ungemein Tröstendes, klang
tief und weich wie ein Ton in Moll. Mit behutsamen
Händen tat er die Binde ab, besah sich die Pfote und
meinte zuversichtlich:
»Halb so schlimm, das werden wir gleich haben.«
Dann kramte er in der Medikamententasche herum, zog
einen Wattebausch hervor, träufelte Äther darauf und
reichte den Bausch Frauke hin.
»Den drücken Sie Ajax auf die Nase, gnädiges Fräulein, das
wird ihn leicht einschläfern. Außerdem werde ich noch die
Pfote unempfindlich machen. Ich sehe gar nicht ein,
warum man den Tieren nicht Schmerzen ersparen soll,
soweit es möglich ist. Sie sind ja schließlich auch ein
Mensch«, setzte er mit dem warmen Lachen hinzu, das
diesen Mann so liebenswert machte.
Und schon zog der listige Amor, der schon längst auf der
Lauer lag, den Bogen straff. Und um ein so lange behütetes
Herz war es geschehen.
Vorläufig merkte es jedoch davon noch nichts. Vorläufig
war es noch mit Sorge erfüllt um Ajax, den treuen
Kameraden. Die Hand zitterte, welche die Watte auf die
Hundenase drückte, bis der Arzt Einhalt gebot:
»Genug, gnädiges Fräulein, werfen Sie den Bausch weit
fort.«
Und dann war alles so einfach. Das Glasstück wurde
geschickt entfernt, die Wunde desinfiziert, der Verband
angelegt, und schon begann der Hund sich zu regen.
»Na also«, nickte sein Helfer zufrieden. »Die kleine
Betäubung hat gerade gereicht, die Augen sind wieder klar,
die Rute setzt sich in Bewegung, der erste Krankenbesuch
naht auch bereits, mehr kann man doch nun wirklich nicht
verlangen.«
Da war der »Krankenbesuch« auch schon herangewirbelt.
Nahm mit Vehemenz die Treppe, um dann verdutzt vor
Hulda und Michel zu verharren. Bevor jedoch Oda ihrem
Erstaunen darüber noch Ausdruck geben konnte, hatte sie
auf der Terrasse erspäht, worüber sie noch mehr staunen
mußte. Frauke auf dem Fußkissen, der Hund mit der
verbundenen Pfote, daneben die kauernde Ortrun, die steif
dasitzende Jadwiga mit dem hilflosen Blick – und einen
Mann, der nicht hierher gehörte.
»Ja, Uwe, was machst du denn hier?« fragte die Kleine,
nachdem sie sich von ihrer Überraschung erholt hatte, und
er zwinkerte ihr vergnügt zu.
»Baroneßchen, hast du aber eine lange Leitung. Sieh dir
Ajax an und bedenke, daß ich Tierarzt bin.«
Da hatte Oda endlich begriffen. Sie zwängte sich an Hulda
und Michel vorbei und stand vor dem Hund, ihn angstvoll
betrachtend.
»Was hat er denn? Etwa ein Bein gebrochen?«
»Nein«, gab der Arzt Auskunft. »Er trat sich in die Pfote eine
Scherbe, die ich entfernte.«
»Na so was.« Baroneßchen schüttelte den Kopf. »Da bin ich
mal einen Tag nicht hier, und schon passieren die tollsten
Sachen. Macht bloß nicht so betrübte Gesichter. Das habt
ihr nicht nötig, wenn Uwe da ist. Komm, setz dich hin!
Dann hörst du gleich mit, was ich zu berichten habe. Er
darf das doch, Frauke, nicht wahr?«
»Selbstverständlich«, beeilte sie sich zu versichern. »Doch
zuerst wird sich der Herr Doktor die Hände waschen.«
»Besten Dank, gnädiges Fräulein, das ist nun wirklich
notwendig.«
Frauke führte ihn zum Waschraum und als er zurückkehrte,
nahm er dankend den ihm gebotenen Platz. Als er aus der
indes herbeigeholten Bar seine Wahl treffen sollte, erklärte
er kategorisch:
»Aber nur, wenn die Damen mithalten, auf daß die blassen
Wänglein Farbe kriegen.«
»Meine auch?« fragte Oda erwartungsvoll, und er besah
sich schmunzelnd das reizende Persönchen.
»Zwar glühen deine Wänglein rosenrot, aber mitgefangen,
mitgehangen.«
Die fünf Menschen – Hulda und Michel hatten sich bereits
entfernt – trafen nun ihre Wahl und prosteten sich zu.
Den Mann empfand man gar nicht als fremd. Man hatte
das Gefühl, als kennte man sich schon lange.
Bevor man mit einer Unterhaltung beginnen konnte,
platzte Oda mit ihrer Neuigkeit heraus:
»Die Oberin ist da, gestern gegen Abend eingetroffen. Na,
das ist vielleicht eine…«
»Ei, Oda!«
»Ja, was hast du denn, Uwe?« legte sie das Köpfchen schief
und blinzelte ihn erstaunt an. »Ich darf doch wohl sagen,
daß die Frau Oberin eine – hm, ja – hoheitsvolle Dame ist,
in deren werten Adern schon mehr dunkellila Blut sehr
vornehm fließt. Ihr Morgen- und Abendgebet beginnt
bestimmt mit den Worten des Pharisäers: Lieber Gott, ich
danke dir, daß ich nicht so bin wie andere. Und damit hat
sie sogar recht.«
Vergnügt fiel sie in das Lachen der andern ein und ließ
dann ihrem Zünglein weiter freien Lauf:
»Nachdem sie von der Feudalität ringsum Kenntnis
genommen und befriedigt festgestellt hatte, daß es der
richtige Rahmen für ihre hochnoble Person wäre,
beanstandete sie meine Zöpfe. Meinte, daß sie keine Frisur
für eine junge Dame von Stand wären. Beim Abendessen
mißbilligte sie meinen glänzenden Appetit und saß dann
hinterher wie eine drohende Düsternis da in ihrem
hochgeschlossenen Kleid, auf dessen Schwärze das
Johanniterkreuz bösartig funkelte.
Mich ließ sie gottlob in Ruhe, doch der ›liebe Junge‹ mußte
mit anhören, was die Dame alles zu beanstanden hätte.
Aber das beeindruckte ihn absolut nicht. In seiner uns so
gut bekannten Gelassenheit saß er da, rauchte mit Genuß
seine Pfeife und warf ab und zu gelangweilt etwas
dazwischen wie: So – sieh doch mal an – tatsächlich –
kann ich gar nicht finden. Als er sich eine Stunde später
erhob, wollte sie ihn mit der Bemerkung zurückhalten, daß
es für sie noch viel zu früh wäre, zu Bett zu gehen, sie
könne ohnehin so schlecht schlafen. Was er höflich
bedauerte, dabei jedoch hinzufügte, daß für ihn stets die
Nacht zu kurz wäre, da er frühmorgens aus den Federn
müßte und dann einen anstrengenden Arbeitstag vor sich
hätte. Ein freundliches: Gute Nacht, schlaf wohl, dann
zwinkerte er mir zu, und wir zogen vergnügt von dannen.«
»Und was tat die Frau Oberin?« erkundigte sich Uwe, der
wie alle andern dem anschaulichen Bericht amüsiert gefolgt
war.
»Die soll, wie Barbe mir erzählte, Sturm geklingelt haben,
worauf dann Niklas bei ihr erschien, den sie ganz
unvornehm anfauchte mit der Frage, ob es denn hier
üblich wäre, einfach loszugehen und die Gäste sitzen zu
lassen. Wahrscheinlich müßte man allen hier Manieren
und Räson beibringen. Dann rauschte sie zornentbrannt ab
und verfügte sich in ihr Appartement, welches in diesem
Fall aus einem Zimmer besteht, das nicht zu den besten
gehört.
Das bekam am nächsten Vormittag Barbe zu hören, als sie
durch ein Sturmzeichen zu der ungnädigen Gnädigen
befohlen wurde, von der sie wissen wollte, ob hier allen
Gästen nur ein Zimmer zur Verfügung gestellt würde, was
Barbe bejahte. Darauf verlangte die Frau Oberin ihr
Frühstück ans Bett, worauf diese Kreatur von Dienerin sich
erdreistete, den Wunsch abzuschlagen. Leider könnte man
das hier nicht machen, da die wenige Dienerschaft mit
Arbeit überlastet wäre. Nun tobte die Frau Oberin los, sie
würde sich beim Herrn Baron über die Unbotmäßigkeit
seiner Dienerin beschweren, was diese Dienerin mit
stoischem Gleichmut hinnahm. Sie sagte noch, daß das
Frühstück bis zehn Uhr bereit stehe und machte dann die
Tür von draußen zu.«
»Das ist ja köstlich«, lachte Uwe. »Hat dann etwa die Frau
Oberin ihre schlechte Laune an dir ausgelassen?«
»Ich war ja gar nicht da«, lachte Oda schadenfroh. »Ich war
mit Winrich zur Försterei geritten, wo ich mir aus dem
Wurf junger Dackel den schönsten aussuchen durfte. Doch
jetzt muß ich eilen, damit ich zum Mittagessen nicht zu
spät komme. Du weißt ja, daß Winrich Unpünktlichkeit
verhaßt ist. Also dann adieuchen, ich kehr bald wieder.«
Sie wirbelte ab, und der Tierarzt sah die Damen der Reihe
nach an, die betretene Gesichter machten.
»Was Sie denken, das weiß ich«, lächelte er. »Nämlich, daß
mein Freund Winrich ein unmanierlicher Mensch und ein
miserabler Gastgeber wäre. Dem ist aber nicht so. Ich
kenne im Gegenteil nicht viele Männer, die über so
tadellose Umgangsformen verfügen und so ritterlich sind
wie er. Doch dieser anmaßenden Oberin gegenüber muß er
schon zu rigorosen Maßnahmen greifen, sonst ist er bald
nicht mehr Herr in seinem Haus. Wahrscheinlich gedenkt
sie sich da einzunisten.«
»Das stimmt«, nickte Jadwiga so eifrig, daß ihr Pincenez
wackelte. »Das hat sie im Stift ausdrücklich betont. Auch
daß sie den frauenlosen Haushalt straff am Zügel nehmen
wird.«
»Eine despotische Dame«, bemerkte Uwe. »Da haben Sie
und Ihre Stiftsschwestern wohl sehr unter der Despotie zu
leiden gehabt, gnädiges Fräulein?«
»O ja. Das heißt, die ersten vier Jahre ihrer fünfjährigen
Herrschaft war es immerhin noch erträglich. Da gab es den
Patronatsherrn, der die Oberin scharf in ihre Schranken
wies, wenn Beschwerden bei ihm einliefen. Doch als er
starb und das Stift bald darauf zur Auflösung kam, wurde
es arg, zumal man der Oberin die Auflösung überließ.
Diejenigen, die sie zu umschmeicheln verstanden, hatten es
gut. Doch die, die es nicht konnten, für die wurde es ein
bitterböses Jahr, hauptsächlich für mich«, schloß sie leise,
und der Arzt sagte grimmig:
»Das soll sie büßen. Mein Freund wird schon dafür sorgen,
daß diese Menschenschinderin keinen Oberinposten mehr
kriegt, überhaupt in keinem Stift mehr unterkommt. Er ist
nämlich der Präses der Verbindung und hat daher eine
Menge zu sagen. Im Schloß wird ihres Bleibens auch nicht
lange sein, bei den andern Verwandten hat sie sich durch
ihr hochfahrendes Wesen wahrscheinlich schon längst
unbeliebt gemacht, also wird sie alleinstehen und von ihrer
Rente leben müssen, mit der sie bestimmt keine großen
Sprünge machen kann, wie man so sagt. Und nun dürfen
Sie mich hinauswerfen, meine Damen. Ich habe hier nichts
mehr zu suchen, da mein Patient mobil ist. Morgen sehe
ich wieder nach ihm. Bis dahin: Auf Wiedersehen.«
Oda hatte es gerade noch geschafft. Allerdings mit Barbes
Hilfe, die ihr beim Umkleiden half und die Zöpfe frisch
flocht. Denn unordentliche Menschen waren dem
Schloßherrn, der selbst auf tadellose Kleidung hielt, ein
Greuel, schon ganz und gar bei Tisch. Und was er verlangte,
dem hatte man sich unterzuordnen, da gab es selbst für das
zärtlich geliebte Schwesterchen kein Pardon.
Also betrat Oda wie frischgewaschen und geplättet das
Speisezimmer. Nachdem auch die andern beiden sich
eingefunden hatten, nahm man am Tisch Platz, und Niklas
servierte die Suppe, über die sich die Baronesse mit Appetit
hermachte, während die Gräfin sie ablehnte.
»Suppe macht dick«, erklärte sie. »Du solltest auch darauf
verzichten, Oda.«
»Warum denn? Bin ich etwa zu dick?«
»Noch nicht. Aber wenn du immer weiter so darauflos ißt,
wirst du deine zierliche Figur bald einbüßen. Und dann
solltest du deine Zöpfe abschneiden lassen.«
»Mitnichten«, warf der Bruder ein. »Odas prächtige Zöpfe
sind mein ganzer Stolz. Und über ihren Appetit freu ich
mich. Ein Zeichen, daß sie gesund ist.«
»Wo warst du überhaupt heute den ganzen Vormittag,
Oda?« wechselte die Dame rasch das Thema, und artig gab
die Kleine Auskunft:
»Ich ritt morgens mit Winrich zur Försterei, wo ich mir
einen Dackel aussuchen durfte, anschließend ging ich dann
ins grüne Haus. Zu meiner Überraschung fand ich Uwe
dort«, richtete sie jetzt das Wort an den Bruder. »Ajax hatte
sich eine Scherbe in die Pfote getreten, die Uwe entfernte.«
»Alles gutgegangen?«
»Das kannst du dir doch denken, wenn Uwe etwas in die
Hand nimmt, daß es gut wird.«
»Wer ist denn dieser Uwe?« wollte die Gräfin wissen.
»Mein bester Freund.«
»Aristokrat und Landwirt?«
»Nein, ein bürgerlicher Tierarzt.«
»Und wer ist Ajax?«
»Ein Schäferhund.«
»Und wer wohnt in dem grünen Haus?«
»Zwei junge Damen nebst einer langjährigen Angestellten.
Außerdem befindet sich seit ungefähr drei Wochen dort
eine Hausgenossin, die dir gut bekannt ist, weil sie sich mit
dir in demselben Stift befand.«
»Was, etwa die Schlössen?«
»Jawohl, die Schlössen«, wiederholte er mit
unverkennbarer Ironie, was die Frau Oberin noch nervöser
werden ließ, als sie es ohnehin schon war. »Die
bedauernswerte Dame wußte nämlich nicht, wohin,
nachdem das Stift aufgelöst wurde, und da hat die
Besitzerin des Hauses im grünen Grund sich liebreich ihrer
angenommen.«
»Da kann diese was erleben!« lachte die Gräfin auf, es
klang wie das Krächzen einer bösen Krähe. Ihr gelbliches
Gesicht wurde weiß vor unterdrückter Wut, die Stimme war
kehlig, die nun sprach:
»Die Schlössen ist ein ganz minderwertiger Mensch. Du
tätest gut, Winrich, dafür zu sorgen, daß sie das Haus
verläßt.«
»Ich?« fragte der Mann so erstaunt, als hätte er nicht recht
gehört. »Wie käme ich denn dazu, einen fremden
Menschen aus einem fremden Haus zu weisen. Da würde
die Eigentümerin wohl von ihrem Hausrecht Gebrauch
machen.
Und dann gestatte, daß ich dich korrigiere. Fräulein von
Schlössen ist kein minderwertiger Mensch, sondern ein
feiner, vornehmer. Ist eine liebe Tante nicht nur für die
beiden jungen Damen, sondern auch für Oda.«
»Aber Winrich, als Beschützer deiner Schwester darfst du
das doch nicht zulassen«, zeichneten sich zwei kreisrunde,
rote Recke auf den leicht hervorstehenden Backenknochen
der erregten Dame. »Du mußt das junge Kind doch von
jedem schlechten Einfluß bewahren.«
»Das laß nur meine Sorge sein. Wie kommt es übrigens,
daß man bei den andern Damen, die das Stift verlassen
mußten, vorher für Unterkunft gesorgt hatte, nur allein für
Fräulein von Schlössen nicht? Ich muß mich deswegen
doch mal an den Verband wenden, dessen Präses ich bin,
wie du wohl Weißt. Ich fürchte, daß man bei der Auflösung
des Stifts nicht korrekt vorgegangen ist. Jedenfalls werde ich
die Sache gründlich untersuchen lassen. Gesegnete
Mahlzeit.«
Damit hob er die Tafel auf, eine frostige Verbeugung, dann
ging er mit Oda davon, die sich in seinen Arm gehängt
hatte. In der Halle fiel sie ihm um den Hals und küßte ihn
stürmisch.
»Winrich, was bist du doch bloß für ein feiner Kerl! Hast
du gesehen, wie grün ihr Gesicht wurde, als du sagtest, du
würdest die Sache gründlich untersuchen lassen? Wie Angst
in ihren Augen aufsprangt und ihre Hände flatterten? Das
alles muß ich denen im grünen Haus mal gleich erzählen.«
Weg war sie, und der Bruder sah ihr lächelnd nach. Kleiner
lieber Sonnenstrahl, dachte er zärtlich, du erhellst meine
einsamen, düsteren Tage.
Aber auch derjenige, der soeben hereingelacht kam, war so
ein richtiger Sorgenbrecher.
»Na, unsere Oda war nicht wenig in Fahrt«, schmunzelte er.
»Das Mäulchen sprudelte förmlich über, bei all dem so
schrecklich Wichtigen, was es zu erzählen gab. So richtig
klug bin ich daraus nicht geworden, da mußt du schon
ergänzend eingreifen.«
Er unterbrach sich und machte eine Verbeugung zu der
Gestalt hin, die durch die hohe Flügeltür in die Halle trat.
Wie eine Kassandra wirkend in dem düsteren Gewand,
dem auffallend bleichen Gesicht, den flackernden Augen
und dem verkniffenen Mund. Bevor die beiden Herren sich
noch regen konnten, war die Gestalt wie ein Schemen
verschwunden. Man sah noch den Zipfel ihres Gewandes
auf der Treppe, dann war der Spuk vorbei, und der Baron
zog den wie erstarrten Freund in sein Arbeitszimmer. Dort
fragte er, ob ein Schnaps genehm wäre.
»Her damit!« schüttelte Gunder sich wie ein nasser Hund.
»Den kann ich gebrauchen nach dem Schreck. Gott in
deine Hände! Mann, da hast du dir aber mal eine prima
Ahnfrau zugelegt. Die schwarze Frau von Grünehöh –
klingt apart. Gib mir noch einen Schnaps – so, jetzt wird
mir langsam wohler.«
Sie sahen sich an wie zwei lustige Verschwörer und
nahmen dann in den tiefen Sesseln am Kamin Platz. Es war
ein hohes, weites Gemach mit schweren dunklen Möbeln,
dem der rote, sehr kostbare Smyrna eine lebhafte Note gab.
Der mächtige, reichgeschnitzte Schreibtisch war mit
Kontobüchern und Papieren gedeckt, ein Zeichen, daß an
ihm ernsthaft gearbeitet wurde.
Nachdem die Herren ihre Pfeifen gestopft und angesteckt
hatten, gab Swidbörn die Ergänzung zu dem, was dem
Freund bei der sprudelnden Erzählung Odas entgangen
war, und dieser sagte pomadig:
»Schmeiß sie ’raus, das ist der einzige Rat, den ich dir geben
kann. Aber da du dafür zu vornehm bist, überlaß es mir,
ich erledige es mit Vehemenz. Die Frau ist ja von einer
bodenlosen Gemeinheit. Nicht genug, daß sie das
bedauernwerte Fräulein von Schlössen im Stift geknechtet
und es hinterher ihrem Schicksal überlassen hat, versucht
sie jetzt auch noch gegen es zu intrigieren und gute,
warmherzige Menschen anzugreifen.
Laß sie das ja nicht in meiner Gegenwart tun, dann hat’s
aber gebumst. Denn wenn ich empört bin, dann bin ich
nicht fein.«
»Hm«, schmunzelte der Freund. »Die aus dem Haus im
grünen Grund scheinen dir ja sehr ans Herz gewachsen zu
sein. Wer am meisten?«
»Die Frauke«, gab er unumwunden zu. »Sie hat so
entzückende Grübchen, wenn sie lacht. Man könnte diese
immerzu küssen.«
»Dann sieh zu, daß dir bald das Recht dazu gegeben wird«,
riet Winrich, und der andere seufzte.
»So einfach ist das nicht. Man muß die Mädchen im
grünen Haus mit einem andern Maßstab messen als die
meisten. Sie sind wie ein Kräutlein Rührmichnichtan.«
»Also Mimosen«, bemerkte der Freund trocken. »Dann
wirst du Draufgänger wohl dein Herz in beide Hände
nehmen und deine Frauke erst umwerben müssen. Denn
wie eine reife Frucht fällt dir das zurückhaltende Mädchen
bestimmt nicht zu.«
»Würde ich mir auch ernstlich verbitten«, brummte Uwe.
»So reife Früchte werden bald matschig, das haben wir
beide ja erfahren müssen.«
»Kann man wohl sagen. Eigentlich bist du zu beneiden,
daß du als gebranntes Kind nicht das Feuer scheust.«
»Ein Zeichen, daß die Flamme nicht gebrannt, sondern nur
so ein bißchen gesengt hat. Aber ich habe ja auch nicht das
ausgestanden, was du armer Kerl hast ausstehen müssen.«
»Was aber nur auf die Nerven ging und nicht aufs Herz.«
»Na, Gott sei Dank! Wohl selten hinterläßt ein
Verstorbener so wenig oder gar keine Spuren wie deine
Selige. Nichts, aber auch gar nichts erinnert hier mehr an
sie. Versunken und vergessen, mehr hat die Megäre ja auch
nicht verdient.
Aber wenden wir uns wieder erfreulicheren Dingen zu. Wie
gefällt dir die Frauke?«
»Gut. Ihre Grübchen sind wirklich bezaubernd.«
»Aber küssen möchtest du sie nicht?«
»Nein. Soweit geht mein Wohlgefallen nun auch wieder
nicht.«
»Gut so, wenn auch unbegreiflich. Denn ein Mädchen wie
Frauke muß doch jeden Mann betören.«
»Er ist verliebt, laßt ihn gewähren«, lachte Winrich, und
Uwe sah ihn entrüstet an.
»Lach nicht, die Sache ist mir verflixt ernst. Mit Verliebtheit
hat das nichts zu tun. Und nun enteile ich, damit du mir
nicht noch immer tiefer den Dolch deines Spottes ins
blutende Herz stoßest.«
Lachend sahen sie sich in die Augen und trennten sich mit
warmem Händedruck. Ein Freund des andern gewiß, in
unwandelbarer, ofterprobter Treue.
Am nächsten Vormittag fand sich der Tierarzt ein, um nach
seinem maladen Patienten zu sehen, der ihn freundlich
begrüßte. Gutwillig ließ er sich den Verband abnehmen
und die Wunde pinseln, die sich fast schon geschlossen
hatte. Natürlich standen alle herum, einschließlich Oda.
Selbst Bertchen hatte sich eingefunden. Und alle strahlten,
als der Arzt die Wunde für so gut wie geheilt erklärte. Was
dem guten, sonst so fürsorglichen Tierarzt gar nicht recht
war. Aber wenn er nicht mehr benötigt wurde, dann hatte
er keinen Grund mehr, hierher zu kommen, was sein
liebeheißes Herz betrübte. Wenn jedoch das Schicksal zwei
Menschen füreinander bestimmt hat, dann sorgt es auch
dafür, daß diese zueinander finden können. Und dazu
gehört, daß sie sich begegnen, je öfter, je besser.
Als der Arzt nun den letzten Besuch bei seinem
vierbeinigen Patienten gemacht hatte und so von Herzen
traurig das Haus verließ, in dem es ihm doch so gut gefiel,
stand am Gartentor eine Frau, die ihn aufgeregt empfing.
»Herr Doktor, ist bloß gut, daß ich Sie hier antreffe. Schon
zweimal rief ich in der Praxis an. Kommen Sie schnell,
unsere Kuh ist krank!«
»Wo wohnen Sie denn?« fragte er, dabei nach der Haustür
schielend, in der Frauke stand.
»Schräg gegenüber, jenseits des Baches«, zeigte sie auf ein
unweites Gehöft. »Wenn wir den Pfad durch den
Wiesengrund nehmen, kürzen wir uns den Weg erheblich
ab. Den Wagen können Sie doch hier stehen lassen, nicht
wahr?«
» Selbstverständlich«, entgegnete Frauke, die jetzt am
Gartentor stand. »Gehen Sie nur, Herr Doktor, auf Ihren
Wagen passen wir schon auf.«
»Herzlichen Dank, gnädiges Fräulein. Ich melde mich dann
wieder zur Stelle.«
Was eine Stunde später der Fall war. Und da man gerade
den Nachmittagskaffee trank, mußte Frauke ihn
höflichkeitshalber dazu einladen, versteht sich. Dankend
nahm er die Tasse aus der Hand, die er am liebsten
festgehalten und an die Lippen gedrückt hätte, was
natürlich nicht anging. Schon gar nicht in Jadwigas und
Ortruns Gegenwart. Ergo unterdrückte er sein heiß’
Verlangen und benahm sich so artig, wie es einem
guterzogenen jungen Mann geziemt.
»Was fehlt denn der Kuh?« erkundigte sich Frauke, ihm den
Teller zuschiebend, auf dem Napfkuchenstücke lagen,
reichlich mit Mandeln und Rosinen gespickt. Genauso, wie
seine Mutter ihn gebacken hatte, und Grübchen hatte sie
auch gehabt. Was Wunder, wenn des Mannes Herz heiß
und immer heißer wurde, daß ihn die Traulichkeit, die ihn
an sein Elternhaus erinnerte, immer fester umspann.
»Herr Doktor, träumen Sie?« klang ein lustiges Lachen auf.
»Ich habe gefragt, was der Kuh fehlt.«
»Entschuldigen Sie, gnädiges Fräulein«, lachte nun auch er,
wenn auch verlegen. »Ich habe wirklich geträumt, bin jetzt
aber wieder beieinander. Die Kuh, ja, die muß etwas
eingefressen haben. Zum Glück hatte der Bauer ein
Gegenmittel zur Hand, das seine Wirkung tat. Hoffentlich
ist die Sache damit behoben.«
Sie war aber nicht behoben. Denn kurz nachdem der Arzt
in seiner Praxis den letzten Vierbeiner abgefertigt hatte, rief
der Bauer ihn telefonisch zu der kranken Kuh. Und was der
noch sagte, klang wie Musik in den Ohren des Verliebten.
»Herr Doktor, Sie müssen aber wieder den Weg durch den
Wiesengrund nehmen. Denn die Straße, die zu uns führt,
ist stellenweise aufgerissen. Da kommen Sie mit dem
Wagen nur langsam voran, und Eile tut not.«
So konnte es kommen, daß der bekannte Wagen wieder
vor dem Haus im grünen Grund hielt, wo Hulda im
Vorgarten die Blumen goß.
»Nanu, Herr Doktor, schon wieder hier?« dehnte sie
befremdet, wurde jedoch wieder freundlich, als der Mann
ihr das Warum auseinandersetzte.
»Das ist ja was anderes. Dann gehen Sie man mit Gott für
das arme Vieh und vergessen Sie nicht, uns Bericht zu
erstatten.«
»Mit dem größten Vergnügen«, lachte er sie so strahlend an,
daß sie stutzig wurde. Und als sie dann Frauke heiß erröten
sah, als sie ihr von der Begegnung erzählte, da wußte sie
Bescheid.
Sieh mal einer die Frauke an, schmunzelte sie in sich
hinein. Da muß ich schon sagen: Die ist nicht dumm und
nicht nuscht. Denn einen besseren Mann als den
Viehdoktor könnte sie ja gar nicht kriegen – und er keine
bessere Frau.
Aber was wird dann aus Jadwiga und Ortrun? grübelte sie
weiter, als sie das Abendessen zubereitete. Daß sie
hierbleiben, damit wird Gunder wohl nicht einverstanden
sein. Arme Weibsen! Es wird ihnen bitter ankommen,
wenn sie von hier fort müssen, wo sie so glücklich sind.
Und das waren sie wirklich. Das Hans im grünen Grund
war für sie der Himmel auf Erden. Ortrun prangte nur so in
ihrer Jugend Maienblüte, aber auch Jadwiga war förmlich
aufgeblüht.
Seit gestern hatte sich sogar ihr Äußeres verändert. Bei einer
ungeschickten Bewegung war ihr das ohnehin wackelige
Pincenez entglitten und auf dem Steinboden der Terrasse
zerschellt. Hilflos stand sie da, dem Weinen nahe. Doch
schon wurde sie von Ortrun umfaßt und lachend getröstet:
»Mach dir nichts draus, Wigaleinchen. Das Dings hatte
sowieso schon Altertumswert, und so richtig sehen
konntest du damit längst nicht mehr. Spazieren wir also
zum Optiker, wo du dir eine Brille verpassen läßt. Oder
magst du das nicht?«
»Das schon. Aber ohne Glas bin ich sehr unsicher, wie soll
ich da wohl zum Optiker hinkommen?«
»Das ist allerdings schwierig. Ein Gefährt steht uns leider
nicht zur Verfügung, höchstens Michels Handkarre. Nun
lachst du, das ist lieb. Laß mich mal angestrengt überlegen.
Halt, ich hab’s!« drückte sie der verblüfften Dame einen
Kuß auf die Nase und wirbelte ab zum Telefon, wählte die
Nummer, worauf es denn zu folgendem Gespräch kam:
»Ach, Sie sind es, Herr Baron?«
»Ja, warum denn nicht? Was enttäuscht Sie daran so sehr?
Mit wem habe ich überhaupt…«
»Mit Ortrun Danz.«
»Ah, denn mal schönen guten Tag, gnädiges Fräulein. Wen
wollen Sie sprechen?«
»Oda.«
»Die ist leider nicht da. Reitet mit dem Oberinspektor über
Land.«
»Wie schade! Sie sollte mir nämlich helfen. Ich brauche ein
Auto – das heißt, ich nicht, sondern Fräulein von
Schlössen, und nun kann sie nicht – und nun weiß ich
nicht… Entschuldigen Sie, Herr Baron.«
»Halt, gnädiges Fräulein, nicht auflegen!« hinderte die
lachende Männerstimme sie daran, das Gespräch zu
beenden. »Ich glaube nämlich, aus Ihrem kläglichen
Gestammel dennoch klug geworden zu sein. Sie wollten
Oda bitten, im Auto zu Ihnen zu kommen, stimmt’s?«
»Ja.«
»Aber sie hat doch noch gar nicht den Führerschein mit
ihren sechzehn Jahren.«
»Das weiß ich. Doch ich hoffte, daß sie in Begleitung des
Chauffeurs. Oder habe ich da zuviel verlangt?«
»Keineswegs, gnädiges Fräulein. Diese Gefälligkeit hätte
Oda Ihnen mit Freuden erwiesen. Wozu benötigen Sie
denn einen Wagen?«
»Um ins Dorf zum Optiker zu fahren, Fräulein von
Schlössen hat ihr Augenglas zerschlagen und ist nun
hilflos, kann so gut wie nichts sehen.«
»Danke, das genügt mir. Ich bin so schnell wie möglich zur
Stelle.«
»Bitte nicht!« rief Ortrun in die Muschel. Doch zu spät,
drüben war bereits abgehängt.
Bestürzt legte sie die Handflächen gegen die heißen
Wangen und ging zur Terrasse zurück, wo sich mittlerweile
Frauke eingefunden hatte, der Jadwiga soeben von ihrem
Malheur erzählte. Und als sie von Ortrun hörte, was diese
sich geleistet hatte, sagte sie vorwurfsvoll:
»Mädchen, wie konntest du nur den Mann bemühen. Er ist
uns doch so gut wie fremd.«
»Ich wollte das ja gar nicht«, bekannte Ortrun kläglich. »Ich
wollte Oda an den Apparat haben, um sie zu bitten, den
Chauffeur mit dem Wagen herzuschicken. Daß der Baron
an dem Fernsprecher sein würde, damit habe ich nicht
gerechnet. Außerdem ist Oda nicht zu Hause. Sie ist mit
dem Oberinspektor über Land geritten. Da habe ich mit
meinem spontanen Anruf ja was Schönes angerichtet.«
»Nun, so schlimm ist es auch wieder nicht«, beschwichtigte
Frauke. »Der Herr Baron hat sich ja erboten,
herzukommen, tut es somit nicht gezwungenermaßen.
Halt, Tante Jadwiga, wo willst du hin?!«
»Mantel, Hut und Handtasche holen.«
»So ein Leichtsinn! Als ob wir das nicht könnten.«
»Aber ich möchte doch keinen bemühen.«
»Sieht dir nämlich ähnlich. Bleib du ja in deinem Sessel, so
unsicher wie du ohne Augenglas bist. Hol die Sachen,
Ortrun, und halt auch du dich bereit, damit der Herr Baron
nicht noch warten muß. Denn wie wir von Oda wissen, ist
ihm Unpünktlichkeit verhaßt.«
Also beeilte man sich und war gerade bereit, als Swidbörn
erschien. Nun er Jadwiga, die er ja zum ersten Mal
erblickte, dastehen sah, mit dem ängstlichen, wie um
Verzeihung bittenden Blick, wurde es ihm erst so recht
bewußt, wie unerhört diese hilflose Stiftsdame von der
despotischen Oberin schikaniert worden war. Und wenn er
diese Dame bisher nicht geschätzt hatte, so stieg jetzt in
ihm Verachtung zu ihr auf. Mit einem warmen Blick, den
man diesen hellblitzenden Augen kaum zugetraut hätte,
verneigte er sich vor Jadwiga.
»Da bin ich, gnädiges Fräulein. Verfügen Sie über mich.«
»Bitte, Herr Baron, ich bin nicht daran gewöhnt, daß man
meinetwegen Umstände macht.«
»Dann wird es dazu aber Zeit, will ich meinen. Wie ich
hörte, wollen Sie mit Fräulein von Schlössen zum
Optiker?« wandte er sich jetzt Ortrun zu.
»Ganz recht, Herr Baron. Das heißt, wenn er ohne
vorherige ärztliche Untersuchung eine Brille zupassen
kann.«
»Ohne weiteres. Er ist nicht nur Optiker, sondern auch
Augenarzt.«
»Na, siehst du, Tante Jadwiga> da kommst du in
fachmännische Behandlung. Stütze dich fest auf meinen
Arm, dann kann dir nichts passieren!«
Auch Frauke hielt ihr den Arm hin. So treulich geführt,
gelangte Jadwiga zum Auto, wo man sie im Fond verstaute,
während Ortrun neben dem Führersitz Platz nahm.
Warum sie dabei Herzklopfen hatte, wußte sie selbst nicht.
Scheu huschte ihr Blick zu dem Mann hin, der ihr so
hoheitsvoll vorkam, so herrisch und unnahbar. Das stolze
Antlitz erschien ihr wie aus Erz gegossen, die Augen
verglich sie mit blitzenden Kieseln. Die nervigen Hände,
die das Steuerrad hielten, ließen wohl nicht mehr los, was
sie einmal gepackt hatten. An der Linken glänzte der
schwergoldene Wappenring, der Ringfinger der Rechten
war leer.
Ortrun hätte keine Ahnung, daß 4er Mann sie beobachtete.
Konnte sich daher das Lächeln nicht erklären, das plötzlich
seinen hartgeschnittenen Mund umzuckte. Nur gut, daß sie
keine Gedanken lesen konnte.
Als Jadwiga neu bebrillt zum Auto ging, tat sie das so
sicher, wie schon lange nicht mehr.
»Herzchen, ich kann ja jetzt erst so richtig sehen«, sagte sie
beglückt zu Ortrun, als man vor dem Wagen stand, in dem
der Baron bereits wartend saß, nachdem er einige
Besorgungen gemacht hatte: »Und das danke ich dir, du
liebes, gutes Kind.«
»Nichts da, Tante Jadwiga«, lachte das Mädchen. »Der Dank
gebührt deinem Pincenez, das Mitleid mit dir hatte, als es
am Fliesenboden sein bejahrtes Leben aushauchte. Wenn
du durch die altersschwachen Gläser so schlecht sehen
konntest, warum hast du dich so lange damit
herumgequält?«
»Weil ich dachte, es muß so sein. Außerdem trenne ich
mich so schwer von meinen Sachen.«
»Bis sie sich selbst in Wohlgefallen auflösen«, bemerkte
Ortrun trocken. Als sie nach Hause fuhren, sagte Jadwiga
aufgeregt:
»Nun habe ich doch tatsächlich vergessen, die Brille samt
der Untersuchung zu bezahlen – oder doch?«
»Doch, Tante Jadwiga«, bemühte Ortrun sich, harmlos zu
tun. »Hast du denn vergessen, daß du mir dein
Portemonnaie zur Begleichung der Rechnung übergabst?«
»Ja, jetzt besinne ich mich wieder. Hat denn das Geld auch
gereicht?«
»O ja. Es ist sogar noch was übriggeblieben. Die Quittung
findest du im Geldtäschchen.«
Das stimmte. Nur daß der Betrag auf den Belegen erheblich
reduziert war. Der Arzt hatte sofort geschaltet, als Ortrun
ihn bat, der weltfremden Dame ein X für ein U zu machen.
Aber bei dem Mann an ihrer Seite gelang ihr das nicht.
Errötend senkte sie den Kopf unter seinem forschenden
Blick. Mußte jedoch lachen, als er die Melodie aus
Lortzings »Zar und Zimmermann« vor sich hin pfiff: Ja, ich
bin klug und weise, und mich betrügt man nicht.
Damit endete die Fahrt. Der Wagen hielt und ihm entstieg
eine Jadwiga mit strahlendem Gesicht.
»Frauke, Hulda, Michel, Ajax, ich kann wunderbar sehen«,
verkündete sie glückselig denen, die herbeigeeilt waren –
und alle freuten sich mit ihr. Selbst der Hund blaffte
freudig auf und brachte den Schwanz in stürmische
Bewegung.
Dem Baron wurde es warm ums Herz. Nur ungern schlug
er Fraukes Aufforderung ab, näherzutreten. Doch er mußte
zu einer wichtigen Unterredung, und Pflicht ist nun einmal
Pflicht. Er bat jedoch ein andermal vorsprechen zu dürfen,
was ihm gern gestattet wurde.
Einige Tage später hatte Jadwiga Geburtstag, den die beiden
Mädchen dazu benutzten, ihr eine kleine, aber gediegene
Aussteuer zu schenken. Fassungslos stand das
Geburtstagskind vor dem reichen Gabentisch, auf dem
Kleidungsstücke lagen, die aus der altmodischen Dame
eine vornehme Erscheinung machten, die den Tierarzt, der
um den Geburtstag wußte, und mit einem Strauß
Frühlingsblumen anrückte, überraschte.
»Oha, hier kann man wirklich sagen, daß Kleider Leute
machen«, raunte er Frauke zu, die so allerliebste Grübchen
zeigte, daß er rasch von ihr wegtrat und dem
Geburtstagskind mit vielen guten Wünschen den Strauß
überreichte. Daß er zum Kaffee blieb, war jetzt schon
selbstverständlich.
Man konnte den Kaffee gerade noch trinken, da kam im
wahrsten Sinne des Wortes ein Blitz aus heiterem Himmel.
Es gelang gerade noch, sich und die Sachen in Sicherheit zu
bringen, da tobte auch schon ein heftiges Gewitter los, das
so plötzlich abzog, wie es gekommen war. Das heißt, der
Himmel blieb wolkenverhangen, und der Platzregen war in
sachten Regen übergegangen, der die lange durstende
Natur wunderbar erquickte.
Man hatte sich im Salon niedergelassen, weil da der
Stutzflügel stand, an den Ortrun heran mußte, ob sie
wollte oder nicht.
»Warum gerade ich«, brummte sie. »Es sind ja noch vier
andere da.«
»Meinen Sie mich auch damit?« fragte Uwe schmunzelnd.
»Dann muß ich Ihnen sagen, gnädiges Fräulein, daß ein
Klavier für mich ein Dreschkasten ist. Und wenn ich meine
Stimme erschallen lasse, rasen bestimmte Bertchen und
Michel herbei, weil sie annehmen, daß ich jämmerlich
nach Hilfe schreie.«
Da mußte Ortrun mit den andern lachen und bequemte
sich endlich zum Spiel. Placierte sich, während Frauke die
Kerzen in dem Leuchter anzündete, der auf dem Flügel
stand. Man suchte sich bequeme Plätze, bis auf Oda. Die
kauerte sich auf ein Fußkissen und legte das Gesichtchen
auf das Seitenende des Instruments. Die langen Zöpfe
berührten den Boden, in den Augen spiegelte sich der
Schein der Kerzen, genauso wie in denen Ortruns, die das
aufgestellte Notenbuch zuklappte und dann leise zu
präludieren begann. Allmählich wurden die Töne sicherer,
reihten sich wie Perlen aneinander – und dann erklang
Mozarts »Romanze« so zart und süß, daß sie die Zuhörer in
ihren Bann zog.
Auch den Mann, der in der Tür stand. Als Frauke ihn
bemerkte, winkte er ab, trat leise näher, legte der
überraschten Jadwiga einen Strauß erlesener Blüten in den
Schoß und setzte sich in den Sessel, den Frauke ihm mit
einer Handbewegung zuwies.
Sein Blick hing an der Spielerin, deren feines Gesicht ihm
im Profil zugekehrt war. Über das leichtgeneigte Köpfchen
huschte der Schein der Kerzen, ließ das einzigschöne
Gelock aufsprühen in metallischem Glanz. Tändelnd
huschten die zarten Finger über die Tasten, ihnen Töne
entlockend, die aus einer Äolsharfe zu kommen schienen.
Dann ging des Mannes Blick zu der Schwester hin, die
regungslos in ihrer hockenden Stellung verharrte und wie
entrückt den süßen Tönen lauschte.
Und draußen zog die Dämmerung herauf, legte ihre Flügel
sachte über die vom Regen erquickte Natur. Der
berauschende Duft der blühenden Blumen und Sträucher
strömte durch die geöffneten Fenster in das Gemach, wo
jetzt eine süße, verhaltene Stimme von Lenz und Liebe
sang, von Glückseligkeit und roten Rosen. Die Herzen der
lauschenden Menschen öffneten sich weit.
Lenzesgebot – o süße Not!
Vier junge Herzen mußten sich in dieser einmaligen Stunde
diesem Gebot beugen.
Als Spiel und Gesang verklang, war es zuerst einmal still.
Oda erhob sich, trat zu Ortrun und drückte ihre Lippen auf
die weiche Wange, dann ein abgrundtiefer Seufzer:
»War das schön. Ich wünschte, ich könnte so spielen und
singen wie du.«
Das wünschte auch der Bruder – und noch mehr. Daß
seine kindliche Schwester so werden möchte wie dieses
bezaubernde Menschenkind. Es war das größte
Kompliment, das er zu vergeben hatte. Schade, daß er es
nicht aussprechen durfte.
Auch nicht über die Veränderung, die sozusagen über
Nacht mit Jadwiga vor sich gegangen war. Und das hatten
sie zuwege gebracht, die beiden Mädchen aus dem Haus im
grünen Grund.
Und was sagte sein Freund Uwe dazu? Der mußte sein Herz
krampfhaft festhalten, damit es ihm nicht durchging. Aber
bald würde es das tun – und dann?
Es waren dieselben Gedanken, wie Hulda sie hegte. Was
wurde dann aus dem alten und dem jungen Fräulein, die
hier ein so trautes Zuhause fanden? Wohl würde Uwe,
soweit Winrich ihn kannte, die’ beiden sozusagen
mitheiraten, aber es konnte dann nicht mehr so sein, wie es
jetzt war.
Denn jetzt gehörte ihnen die reizende Frauke ungeteilt.
Doch mit dem Moment, wo Uwe Rechte an sie haben
durfte, würde ihr Herz so ausgefüllt sein, daß die andern
sich nur mit kläglichen Resten begnügen mußten.
Arme Ortrun, dachte er traurig. Arme Jadwiga.
Als hätte er sie gerufen, trat diese nun auf ihn zu.
»Ich möchte mich für die herrlichen Blumen bedanken,
Herr Baron. Ach, ich bin ja so glücklich, so liebe Menschen
und ein so wunderschönes Zuhause gefunden zu haben.«
Das gab dem Mann einen Stich ins Herz. Tief neigte er sich
über die feine Hand und sagte herzlich:
»Alles nur denkbar Gute wünsche ich Ihnen für das neue
Lebensjahr, gnädiges Fräulein.«
»Danke, Herr Baron. Hier kann es mir gar nicht anders a^ls
gutgehen.«
In dem Moment schlug der Gong an, worauf der Gast sich
verabschieden wollte, was Frauke unterband.
»Daraus wird nichts, Herr Baron. Kommen Sie nur, es gibt
was Gutes!«
»Wovon ich überzeugt bin, gnädiges Fräulein. Aber…«
»Kein Aber! Sie bleiben und damit holla!«
Da blieb er und fühlte sich äußerst wohl in dem
gemütlichen Kreis. Wenn er dabei an sein Zuhause dachte,
tat ihm das Herz weh. Ein Glück, daß Oda hierher flüchten
konnte, wenn ihr in dem kalten, öden Schloß traurig
zumute war. Hier fand sie alles, was ein junges
Menschenkind brauchte, Lachen, Frohsinn und offene
Herzen.
Nach dem Abendessen, das wirklich delikat war, ging man
hinüber in die Bibliothek, wo im Kamin ein helles Feuer
loderte.
»Hulda machte es, während wir aßen«, erklärte Frauke.
»Nach dem Regen hat es sich draußen erheblich abgekühlt,
und ohne Feuer wäre es hier direkt kalt. Bitte, meine
Herrschaften, sich zwanglos zu gruppieren. Für einen guten
Trunk werden unsere beiden Jüngsten sorgen.«
»Sekt?« fragte Oda erwartungsvoll.
»Jawohl. Geht nur zu Hui da, da steht alles bereit.«
Vergnügt trollten sie ab und als sie wiederkamen, schob
Ortrun den Servierwagen vor sich her, auf dem außer
Gläsern ein Kühler stand, aus dem zwei Hälse verlockend
ragten. Zwei weitere Flaschen trug Oda, die Uwe natürlich
wieder necken mußte.
»Wirst du die auch schaffen, Fips?«
»Diese Bezeichnung verbitte ich mir!«
»Herrje, verzeih, du bist ja eine junge Dame von Stand.«
»Und du ein junger Mann von Unverstand!«
Somit hatte sie die Lacher auf ihrer Seite. Zufrieden setzte
sie sich neben Ortrun, Uwe ließ den Pfropfen knallen,
füllte die Gläser, dann trank man auf das Wohl des
Geburtstagskindes. Daß Uwe die reizende Frauke dabei so
eigen ansah und sie unter dem Blick heiß errötete,
bemerkte nur Winrich. Die andern waren zu sehr mit dem
prickelnden Getränk beschäftigt, das wie ein heißer Strom
durch die Adern floß.
»Na, du hast vielleicht einen Zug«, lachte Ortrun das
Baroneßchen an. »Dein Glas ist ja leer.«
»Ach was, man muß die Gelegenheit wahrnehmen. Wer
weiß, wann ich mich mal wieder einmal so köstlich laben
kann.«
»Und wenn du einen kleinen Schwips kriegst?«
»Dann ist der Fips blau.«
»Ei, Uwe, ärger mich nicht. Ich hab einen schlechten
Rausch. Sag doch selbst, Ortrun, ist das nicht ein gräßlicher
Mensch?«
»Nein, ich finde ihn sehr nett.«
»Herzlichen Dank, gnädiges Fräulein!« hob er ihr lachend
das Glas entgegen. »Dafür eröffne ich beim Schützenfest
mit Ihnen den Tanz.«
»Schützenfest?« fragte Oda mit blanken Augen. »Wann ist
es denn?«
»Sonntag.«
»O wie schön! Wir gehen doch hin, Winrich?«
»Als Ehrenmitglied wird mir wohl nichts anderes
übrigbleiben – trotz der Trauer.«
»Ach was, Trauer.«
»Oda!«
»Verzeih!« senkte sie verlegen das Köpfchen. »So darf ich
gar nicht tanzen?«
»Doch, das darfst du.«
»Da freu ich mich aber«, strahlte sie schon wieder. »Ihr
kommt doch auch zu dem Fest?«
»Ehrensache«, antwortete Uwe. »Grün sind die Schützen
und grün sind die Damen.
Ich meine doch das Haus!« schrie er in das ausbrechende
Gelächter hinein. »Wie kann man mich nur so
mißverstehen.«
»Na?« zweifelte Ortrun mit schiefgelegtem Köpfchen. Sie
sah dabei so entzückend aus, daß Oda sie ganz verdutzt
ansah.
»Hör mal, du bist vielleicht hübsch. Wenn das so
weitergeht, was soll das bloß noch werden.«
»Erst einmal eine Schützenprinzeß«, schmunzelte Uwe.
»Nicht wahr, gnädiges Fräulein, das wäre doch was.«
»Ich weiß ja gar nicht, was das ist.«
»Sie werden ausgelost.«
»Wie abscheulich!« unterbrach sie ihn empört. »Ich bin
doch keine Schachtel, keine Wurst, keine Gans. Ja, warum
lacht ihr denn so unbändig? So was kommt doch immer
zur Verlosung.«
»Goldige, wenn du wüßtest, wie reizend du bist in deinem
Zorn«, wischte Frauke sich die Lachtränen aus den Augen,
und Ortrun brummte:
»Schützenprinzeß, so ein Unsinn. Unter ähnlichem habe
ich schon im Töchterheim genug zu leiden gehabt. Mich
hatte man immer am Bändel, wenn etwas vorgeführt oder
vorgetragen wurde. Und bei der Tanzstunde war ich
diejenige, der man am meisten auf die Füße trat.«
Da mußte man wieder über sie lachen, und Uwe raunte
Frauke zu:
»Sie ist wirklich eine Goldige, die Kleine.«
»Das ist sie«, flüsterte Frauke zurück. »Dabei wird sie
schöner mit jedem Tag.«
»Nun, Sie können sich wahrlich auch nicht beklagen«,
umfaßte er sie mit einem bewundernden Blick. »Wie mir
ein Bekannter erzählte, soll der Gemeindevorsteher einmal
gesagt haben: Es blühen zwei köstliche Blumen im Garten
vom grünen Grund.«
»Bitte, Herr Doktor!«
»Na ja, ich bin schon still«, seufzte er, und da wandte sie
sich hastig ab, Jadwiga zu.
»Ist’s schön so?« fragte sie leise.
»Ach Kind, fast zu schön um wahr zu sein. Gott segne das
Haus im grünen Grund!«
Als Baron Swidbörn und seine Schwester kurz nach zehn
Uhr die Halle des Schlosses betraten, lachte ihnen Barbe
vergnügt entgegen, und auch Niklas schmunzelte in sich
hinein.
»Sie ist weg«, platzte erstere schon heraus, bevor die
Angekommenen noch eine Frage stellen konnten, setzte
dann jedoch schuldbewußt hinzu: »Ich meine die Frau
Gräfin Warl.«
»War die denn hier?«
»Sehr wohl, Herr Baron«, sprach nun der Diener, nachdem
er seiner Ehehälfte einen verweisenden Blick zugeworfen
hatte. »Die Frau Gräfin erschien in einem Mietauto, das
draußen wartete, bis die Frau Gräfin gepackt hatte und
wieder abfuhr. Mit Verlaub zu sagen, ging das alles Hals
über Kopf.«
»Da schlag einer lang hin«, verfiel Baroneßchen verblüfft in
Michels Redewendung, und der Bruder fragte:
»Hat die Frau Gräfin denn nicht gesagt, warum dieser
überstürzte Aufbruch sein mußte?«
»Nein, Herr Baron.«
»Merkwürdig.«
Damit war für ihn die Sache vorläufig abgetan, aber nicht
so für das neugierige Schwesterlein. Das fragte Barbe, die
ihm beim Auskleiden half, so richtig aus, wollte alles ganz
genau wissen, was nun doch wirklich interessant war.
Nachdem die Frau Gräfin hier einige Tage verweilte, wie
eine gekränkte Königin, begab sie sich auf eine kurze Reise,
wie sie dem Gastgeber gnädig erklärte. Hatte ihn um ein
Gefährt »ersucht«, das sie zur Bahn brachte. Dann erschien
sie hier ganz unerwartet in einem Mietauto, packte Hals
über Kopf und fuhr ab? Wenn das nicht interessant war!
»Rasch, erzähle, Barbe!« und die erzählte:
»Es war so gegen neun Uhr, als die Frau Gräfin hier
plötzlich auftauchte, schwarz und düster wie ein Gespenst.
Sie jagte damit sogar Niklas einen Schreck ein, was ja nun
nicht oft vorkommt. Nachdem uns die Dame einen
vernichtenden Blick zugeworfen hatte, rauschte sie nach
oben und rumorte dort herum, bis ein Sturmklingeln uns
zu der Gnädigsten beorderte.
Tragt das Gepäck ins Auto!« herrschte sie uns an, rauschte
davon und fuhr dann ab.
»Wann war das?«
»Kurz bevor Sie eintrafen, Baroneßchen.«
»Na so was. Was mag die hur in die Flucht gejagt haben?«
Das sollte man am nächsten Tag erfahren. Die Geschwister
saßen gerade beim Frühstück, das sie am Sonntag länger
auszudehnen pflegten, weil er ein Ruhetag für den rastlos
arbeitenden Mann war, als ein Anruf aus dem Dorothea-
Stift kam. Die Oberin war am Apparat, die den Neffen, der
das Gespräch entgegennahm, munter begrüßte:
»Guten Morgen, mein Junge! Das Leben noch frisch?«
»Meins schon, Tante Herma, und deins?«
»Ich bin kreuzfidel. Hast du Zeit?«
»Für dich immer.«
»Hört man gern. Komm her und bring das Firlefänzchen
mit! Ich habe schon so richtige Sehnsucht nach euch. Doch
vorher die Frage: Ist die Gräfin Warl im Haus? Wenn ja,
dann schmeiß sie raus!«
»Aber Tante Herma«, lachte er herzlich und erzählte dann,
was sich gestern in seiner und Odas Abwesenheit hier
zugetragen hatte, worauf die kurzangebundene Dame
befriedigt sagte:
»Das ist gut, da bleibt dir noblem Kerl eine
Unannehmlichkeit erspart.«
»Tante Herma, ich bin ein einziges Fragezeichen.«
»Komm her, dann biege ich dich wieder gerade!«
Lachend wurde abgehängt und zehn Minuten später fuhren
die Geschwister dem Dorothea-Stift zu, das zwölf
Kilometer entfernt lag und daher bald erreicht war. Das
Gebäude glich einem Gutshaus, zumal die Vorderfront
dem Hof zu lag mit seinem ländlichen Betrieb, während
die Rückfront zum Park zeigte.
Es war auch tatsächlich ein kleines Gut, das zur Herrschaft
Grünehöh gehörte. Es hatte jedoch eine eigene Verwaltung,
die fest in den Händen eines kernigen Inspektors lag. Die
Einnahmen flossen in die Stiftskasse und waren nicht
unbeträchtlich.
Als das Auto hielt, sah man hinter den Fenstern lachende
Gesichter, die dem beliebten Geschwisterpaar herzlich
zunickten. Es ließ sich jedoch niemand unten sehen, da die
Damen wußten, daß der Besuch der Oberin galt, die ihn
dann auch in Empfang nahm. Eine Dame, die man mit
vornehm bezeichnen konnte. Die zierliche Gestalt wirkte
direkt mädchenhaft, das Gesicht zeigte unverkennbar die
geborene Swidbörn, gleichfalls 4ie leichtangegrauten
blonden Haare und die blauen Augen. Daß sie eine
Blutsverwandte der Geschwister war, sah man auf den
ersten Blick.
Eine charmante Dame, die Gräfin Attbach, klug, geistreich,
gewandt und mit Sinn für Humor, weil sie selbst welchen
besaß. Eine Oberin, wie sie sein soll. Liebenswürdig,
gerecht, nachsichtig da, wo es angebracht war,
unnachsichtig bis zur Härte, wenn es um Übeltäter ging.
Sie wurde von ihrer Schar, wie sie die Stiftsdamen nannte,
sehr verehrt.
»Da seid ihr ja«, begrüßte sie die Geschwister herzlich.
»Siehst noch vergrämt aus, Junge, aber das wird sich schon
geben, nun du dein Kreuz los bist. Und was ist mir dir,
Firlefänzchen? Was ist nun mehr gewachsen bei dir, das
Figürchen oder die Zöpfe?«
»Beides«, lachte Oda, die Dame stürmisch umhalsend.
»Wie schön, dich wiederzusehen nach dieser schrecklich
langen Trennung.«
»Ja, mein Herzchen, zuerst die Krankheit, hinterher die Kur
im Badeort, das macht schon etliche Wochen aus. Kommt
weiter!«
Es war ein vornehmes Gemach, das sie aufnahm. Jeder
Gegenstand darin war gediegen und wertvoll. Man nahm
Platz und Oda wurde ein Teller zugeschobert, dessen Inhalt
ihr Leckermäulchen entzückte. Doch jetzt griff die Kleine
noch nicht zu, jetzt hingen ihre Augen fragend an dem
feinen Antlitz der Tante, die ihr dann auch den Gefallen
tat, mit ihrem Bericht zu beginnen.
»Also erst einmal vorweg, daß die Gräfin Warl hier im Stift
war. Da staunt ihr, was?«
Oda tat’s, doch der Bruder sagte lächelnd:
»So ungefähr habe ich mir das gedacht. Denn der Brief, den
sie mir schrieb, bevor sie bei uns erschien, ließ
durchblicken, daß sie sich dem Wahn hingab, hier Oberin
zu werden. Deshalb war sie hier, um die Lage zu peilen.«
»Junge, ich staune über deine Kombinationsgabe. Sie war
tatsächlich deshalb hier. Kam die ›liebe, gute Freundin‹
besuchen, um sich nach ihrem Wohlergehen zu
erkundigen.«
»Wer ist denn die liebe gute Freundin?«
»Baronesse Saiten.«
»Ausgerechnet dieser feine, vornehme Mensch?«
»Jawohl, ausgerechnet. Der gegenüber hat sie durchblicken
lassen, daß du dich mit dem Gedanken trägst, mich meiner
Gebrechlichkeit wegen hier abzusetzen und sie mit dem
Posten der Oberin zu betrauen, was mir natürlich
brühwarm hinterbracht wurde. Damit hätte diese Person ja
eigentlich rechnen müssen, aber dafür ist sie wohl zu
dumm.«
»Das ist sie«, bekräftigte Winrich. »Sonst hätte sie
unmöglich so bornierte Behauptungen aufstellen können,
nachdem ich ihr deutlich zu verstehen gab, daß man bei
der Auflösung des Anna-Stifts wohl nicht korrekt
vorgegangen sein könnte und ich die Sache untersuchen
lassen werde.«
»Aha! Nun, das erzähle ich später. Also meine gute Saiten
war zutiefst empört. Sie bat mich inständig, sie doch von
dieser üblen Intrigantin zu befreien, mit der sie vor Jahren
mal auf einer Gesellschaft zusammentraf. Eine Anmaßung
von der Person, sie nicht nur Freundin zu nennen, sondern
sie gar noch im Stift aufzusuchen und sie in einer infamen
Art zu blamieren.
Nun, so tauchte ich denn auf. Man sagt mir nach, daß
meine Worte zuzeiten schneiden können wie spitze Messer,
was ich dir übrigens vererbt zu haben scheine, mein Sohn.
Und die Worte schnitten so sehr, daß sie dieser üblen
Person sozusagen die bösartige Zunge abschnitten. Ich rief
sofort Grünehöh an, um dir diese skandalöse
Angelegenheit zu unterbreiten, doch du warst mit Oda im
Haus im grünen Grund, wie mir Niklas sagte, und ehe wir
uns so recht versahen, war die Warl verschwunden. Machte
sich deine Abwesenheit zunutze, um klammheimlich zu
verschwinden, weil sie auch noch dein Strafgericht
fürchtete.
Übrigens habe ich ihr absichtlich in Anwesenheit meiner
Schar den Standpunkt klargemacht. Sie sollte so blamiert
werden, daß man mit Fingern auf sie zeigt. Kein Stift darf
diese gemeingefährliche Person mehr aufnehmen, dafür
müssen wir sorgen, mein Junge.«
»Und dabei weißt du noch nicht einmal, wie
gemeingefährlich sie ist«, sagte der Neffe und erzählte dann
von Fräulein von Schlössen, von dem grünen Haus, in dem
die Ausgestoßene so liebevolle Aufnahme fand. Und als er
von den Menschen dort zu sprechen begann, unterbrach
ihn das Schwesterlein, weil es das Zünglein nun wirklich
nicht länger zügeln konnte. Alles bis ins kleinste bekam die
gute Tante Herma zu hören, die sich dann auch einen Vers
darauf machte, über das Ausgesprochene und das
Unausgesprochene. Um das zu ergründen, sagte sie
lachend:
»Nach deiner Begeisterung zu schließen, muß es ja ein ganz
phänomenales Haus sein, das Haus im grünen Grund. Das
muß ich mir unbedingt einmal ansehen und werde mich
daher nächstens auf dem Schloß meiner Ahnen einfinden.«
»Wirklich, Tante Herma? Da freu ich mich aber. Du bleibst
doch lange?«
»Ich weiß zwar nicht, was du unter lange verstehst, aber ein
Weilchen kann es schon sein, da ich in der Baronesse
Saiten jetzt eine gute Vertretung gefunden habe, wie sie
während meiner Krankheit und anschließenden
Erholungszeit unter Beweis stellte. Und nun kommt, damit
ich euch meiner Schar offerieren kann, die schon
sehnsüchtig darauf wartet, ihre Lieblinge begrüßen zu
können.«
Hell und klar stieg der Sonntag herauf, der das mit
Ungeduld erwartete Schützenfest bringen sollte; denn das
Schützenfest ist in einem Dorf das größte und beliebteste
Fest des Jahres. Alles, was nur zwei gesunde Beine hat,
findet sich auf dem weiten Gelände ein, auf dem das
schmucke Schützenhaus steht. Auf dem etwas abseits
liegenden großen Platz sind Buden aufgestellt, Karussells
und so weiter. Man kann im Schützenhaus tanzen, im Zelt
oder auf der Tanzfläche unter freiem Himmel. Überall
spielen Kapellen, und auf dem Platz dudelt Karussellmusik.
Die Damen glänzen in schicken Kleidern, die Herren in
feschen Anzügen und die Mitglieder der Schützengilde in
der schmucken Uniform. Es wird scharf darauf geachtet,
wer von den Honoratioren da ist. Wer nicht da ist, dem
wird das sehr übelgenommen.
Am Vormittag sind die von der Gilde, bis auf neugierige
Zuschauer, unter sich. Da wird nach der Scheibe
geschossen, der Schützenkönig wird gewählt, der sich
wiederum seine Königin erkürt, die mit der Krone
geschmückt und mit Ketten behängt wird, wobei der
»königliche Gemahl« auch nicht zu kurz kommt. Dann
werden beide becourt, beehrt und dürfen ihr Portemonnaie
weit aufmachen.
Daß das höchste Ehrenmitglied der Gilde trotz seiner
Trauer zugegeben war, wurde ihm hoch angerechnet.
Schneidig sah er aus, in der schmucken Uniform,
gleichfalls sein Intimus, der Tierarzt. Beide beliebte und
hochgeachtete Persönlichkeiten, gewissermaßen die Elite
des Dorfes.
Um zwei Uhr ging dann der Rummel erst richtig los. Da
konnte man wohl sagen: Strömt herbei, ihr Völkerscharen.
Arm und reich, jung und alt, dick und dünn, alles war
reichlich vertreten, darunter auch Feriengäste. Alle waren
sie frohgemut und leichtbeschwingt.
Und über allem lachte die. Sonne; denn es war ja noch
immer Mai, der erst nach dem Pfingstfest am nächsten
Sonntag Abschied nehmen würde.
Der Clou vom Ganzen waren entschieden die Damen aus
dem Haus im grünen Grund, nebst dem bei allen Hiesigen
beliebten Baroneßchen. Auch Hulda war mit, die in ihrem
»Staat« ganz stattlich aussah. Als sie auftauchten, wurden
sie von einem Schützen an den Honoratiorentisch geführt,
wo der Baron die Vorstellung übernahm. Namen
schwirrten, Herren dienerten, Hände fanden sich zu festem
Druck. Danach konnte man sich zwanglos placieren.
Ortrun warf der ihr gegenübersitzenden Frauke einen
lachenden Blick zu, zeigte mit einer Kopfbewegung nach
rechts und nach links – und schon war die andere im Bilde.
Da saßen sie alle, die damals mit ihnen das Abteil besetzt
hatten, bis auf die Dame mit ihren ungezogenen Kindern.
Die etwa am Tisch ertragen zu müssen, von dem Kelch
blieben sie verschont.
Doch die andern waren alle da. Hulda, Frauke, Ortrun, die
Dame mit dem Pincenez, die jetzt allerdings kaum noch
wiederzuerkennen war, der strenge Herr, der cholerische
Herr und der große blonde, benamst mit Uwe Gunder.
Selbst die Dicke aus der Kleinbahn fehlte nicht, die wie die
personifizierte Gemütlichkeit an der Seite ihres Gatten saß,
des Domänenpächters Schölt. Vertraulich nickte sie den
beiden jungen Mädchen und Hulda zu, die an der Seite des
Barons saß. An der anderen Seite hatte sie Frauke, die von
dem Tierarzt beehrt wurde. Wie könnte es auch anders sein.
Ihnen gegenüber saß Ortrun, von Oda und Jadwiga
eingerahmt. Diese konnte man mit distinguiert
bezeichnen, erste mit allerliebst. Ein hellblaues Kleid mit
rosaroten Knöspchen am Ausschnitt, umbauschte das
Figürchen. Die blonden Zöpfe glänzten, die blauen Augen
strahlten.
Und Ortrun? Für die gab es nur eine Bezeichnung:
Bezaubernd. Hatte das Mädchen einzigschönes Haar und
ein Paar Augen im Kopf, olala! Ihr Kleid war weiß, ohne
jede Verzierung, aber es hatte es in sich. Eng die Taille, weit
der Rock. Eine Bernsteinkette, eine Armbanduhr und ein
Ring – das war der Schmuck des reichsten Mädchens auf
dem weiten Platz.
Und Frauke? Die war für den verliebten Uwe die Schönste
von allen. Bitte sehr! Hatte etwa noch jemand so
allerliebste Grübchen, so dichtbewimperte grüngraue
Augen, so wunderbar gepflegtes, kastanienbraunes Haar,
eine so ranke Figur und ein so schickes, hellgrünes Kleid?
Na also!
Und diese Schönste wurde nun vorwurfsvoll gefragt:
»Wollen wir hier festwachsen, gnädiges Fräulein?«
»Nein, ich will mich amüsieren.«
»Na wunderbar. Fangen wir gleich damit an.«
Worauf sie sich erhoben und davongingen. Die
ungeduldige Oda zog Ortrun mit sich fort, so daß die
älteren Herrschaften allein zurückblieben. Darunter
allerdings auch der Baron, der sich wegen der Trauer
zurückhalten mußte, obwohl es gar nichts für ihn zu
betrauern gab. Aber er mußte doch mal in seiner
exklusiven Stellung den Menschen mit gutem Beispiel
vorangehen, das wurde direkt von ihm verlangt.
Langweilig wurde es ihm trotzdem nicht, dafür sorgte
schon Frau Schölt mit ihrem trockenen Humor. Außerdem
fand sich immer jemand, der sich an des Mannes Seite
setzte und sich mit ihm unterhielt.
Die beiden jungen Mädchen jedoch nahmen alles mit, was
der Rummelplatz bot, bis selbst die unersättliche Oda
genug hatte. Auf Umwegen schlichen sie an den Tisch
zurück, weil der Tanz bereits in vollem Gange war und sie
unterwegs nicht abgefangen werden wollten. Dafür waren
sie zu hungrig und zu durstig.
Und schon fanden sie, zu den Ihren zurückgekehrt, ein
Tischleindeckdich vor. Wie schmeckte das Bier, der
Kartoffelsalat doch herrlich. Dazu noch Würstchen, das
dem Baroneßchen fast in der Kehle stecken blieb, als ein
Tusch die Menschen zusammenströmen ließ.
»Du meine Güte!« schluckte sie ein großes Stück herunter.
»Ortrun, komm bloß schnell von hier fort, damit sie dich
nicht sehen. Die Prinzessinwahl beginnt.«
Eiligst huschten sie ab, und Frau Schölt sagte lachend:
»Da hilft Fräulein Danz kein Verdrücken, sie wird trotzdem
die meisten Stimmen kriegen. Sonst müßten unsere
Mannsleut’ keine Augen im Kopf und kein Herz im Leibe
haben. Allerdings würden sie zwischen Fräulein Danz und
dem Baroneßchen schwanken, wenn dieses nicht zu jung
wäre. Also wird erstere daran glauben müssen.«
»Arme Ortrun«, lachte Jadwiga, die heute so fröhlich und
leichtbeschwingt war, wie kaum jemals zuvor. Sie erzählte,
was das Mädchen gesagt hatte, worauf die gute Dicke sich
die Lachtränen aus den Augen wischte.
»Sie hat sogar recht. Denn so was kommt auf einem
ländlichen Fest immer zur Verlosung.«
Sie horchte nun gleich den andern auf das, was ein Herr
durch das Megaphon sprach. Die Mädchen zwischen
achtzehn und zweiundzwanzig wurden aufgefordert, sich
auf der Tanzfläche einzufinden, damit die Herren aus dem
Komitee der Gilde sie genau in Augenschein nehmen und
danach ihre Stimmen zur Prinzessinwahl abgeben
konnten. Die Damen, die hier als Feriengäste weilten,
wären von der Wahl ausgeschlossen.
Und dann präsentierten sich die Mädchen. Jede fest davon
überzeugt, daß sie die Auserkorene sein würde.
Uwe, der sich mit seiner Schönsten am Tisch eingefunden
hatte, weil er für sie nichts zu befürchten brauchte, zeigte
mit unterdrücktem Lachen auf den Damenflor.
»O Schreck, laß nach! Was sich da aber auch alles schön
findet. Selbst Agneschen mit dem Mopsgesicht und den
Dackelbeinen.«
»Werden Sie wohl still sein, Sie Spötter!« verwies Frauke
ihn streng. »Sie sind heute unerhört frech. Ich bin Ihnen
böse.«
Sie wandte sich ab, doch schon hörte sie an ihrem Ohr eine
raunende Stimme: »Liebchen, sei nicht gleich so böse, hast
du solch ein hitzig Blut? Mußt dir’s Zürnen abgewöhnen,
ist nicht für die Ehe gut.«
Ach, wie wurde das Fraukchen da verlegen. Sie wagte nicht,
den hinter ihr stehenden Mann anzusehen und war froh
über die Ablenkung, die sich bot. Die Herren vom Komitee
defilierten an dem Damenflor vorbei, nahmen sie scharf
aufs Korn, zückten dann Zettel nebst Stift und schrieben
einen Namen darauf. Sie wurden dann in den Schlitz eines
geschlossenen Kastens gesteckt, den ein Herr dann feierlich
aufschloß, die Zettel las und dann lachend verkündete:
»Zehn Zettel und ein Name. Damit ist die Wahl einstimmig
getroffen. Hoch lebe unsere Schützenprinzessin Ortrun
Danz!«
Das gab nun einen fröhlichen Tumult. Aber wo war die
Prinzessin überhaupt? Nirgends zu sehen, so scharf man
auch Ausschau hielt. Und schon setzte ein Sprechchor ein:
»Prinzessin Ortrun Danz – Prinzessin Ortrun Danz.«
Dabei wurde in die Hände geklatscht. Die Menschen auf
dem Festplatz schienen außer Rand und Band zu sein.
Und die neugebackene Prinzessin? Die stand mit Oda
hinter einer Bude und machte ein bitterböses Gesicht.
»Man soll mich in Ruhe lassen!«
»Ortrun, sei vernünftig«, sagte Oda eindringlich. »Du mußt
hin, sonst beleidigst du die ganze Gilde. Wird so schlimm
nicht werden, ist ja alles nur ein neckisches Spiel.«
»Prinzessin Ortrun Danz – Prinzessin Ortrun Danz.«
Da warf diese den Kopf zurück und ging sicheren Schrittes
dem Platz zu, wo ihr Erscheinen Jubel auslöste. Man
drückte ihr die Krone auf das gleißende Köpfchen, legte ihr
das Band mit den Farben der Gilde um, dann gab man sie
frei für die Kameras.
Und Prinzeßchen lächelte, lächelte bezaubernd, obwohl sie
am liebsten geweint hätte. Doch der Mann, der langsam
auf sie zutrat und ihr mit einer Verbeugung den Arm bot,
strömte so viel Tröstliches aus, daß sie sofort ruhig wurde.
Es war Baron Swidbörn, das Ehrenmitglied, das schon seit
Jahren jede neuerwählte Schützenprinzessin zur Polonäse
führen mußte, voran als erstes Paar. Der Schützenkönig mit
seiner Königin kam hier an zweiter Stelle. So war es
Vorschrift, und so wurde es getan.
»Bitte die Herrschaften zur Polonäse anzutreten!« schallte
die Stimme durchs Megaphon. »Jeder Herr darf seine Dame
nach Belieben wählen.«
Was man mit Vergnügen tat. Und daß Uwe Gunder seine
Schönste wählte, war wohl so sicher, wie das Amen in der
Kirche.
»Unsere Goldige«, sagte Frauke mitleidig, »Die fühlt sich
bestimmt nicht wohl in ihrer Haut. Aber ihre tadellose
Haltung ist bewundernswert.«
»Kunststück, als früherer Zögling des Elitetöchterheims«,
entgegnete er achselzuckend. »Da werden die Mädchen
streng auf Selbstbeherrschung gedrillt. Aha, jetzt geht’s los.«
Langsam setzte sich der unendlich lange Zug in Bewegung,
vorweg die Schützenkapelle, dahinter die Schützenprinzeß
mit ihrem schneidigen Prinzen. Die Blechmusik
schmetterte, die Menschen sangen. Jubelnd stieg der alte
und doch immer wieder neue Jägermarsch in die
Dämmerung, die magische Beleuchtung durchgeisterte.
Ich schieß den Hirsch im wilden Forst, im tiefen Tal das
Reh. War es da vielleicht ein Wunder, daß dieses Fest so
großen Anklang fand? Wo alles durchweht war von
Fröhlichkeit und Leichtbeschwingtheit. Wo es nichts
Schwüles, nichts Verstecktes gab. Wo man sich freuen
konnte, so recht von Herzen freuen.
»Nun, gnädiges Fräulein, immer noch ängstlich?« fragte
Winrich von Swidbörn das Prinzeßchen, das an seiner Seite
so leichtfüßig dahinschritt und nun das bezaubernde
Köpfchen schüttelte.
»Nein, Herr Baron. Wenn Sie dabei sind, habe ich keine
Angst.«
Fast hätte der Mann den Schritt verhalten, so sehr
überraschte ihn dieses Bekenntnis, das von ihr wohl
harmlos hingesagt, für ihn jedoch von schwerwiegender
Bedeutung war. Ein Glücksgefühl durchflutete sein Herz,
wie er es noch nie empfunden. Als hätte er solange nur
dahingedämmert und wäre jetzt erst zum Leben erwacht.
Jetzt erst begriff er so ganz und gar das Lied des Walther
von der Vogelweide. Wer gab dir, Minne, die Gewalt, daß
du so allgewaltig bist? Du zwingest beide, jung und alt,
dagegen gibt es keine List. Nein, die gab es nicht. Diese
eine Bemerkung, die vielleicht nur so dahingesagt war,
hatte genügt, den Wall, mit dem sein Herz sich
umpanzerte, leicht und mühelos einzureißen. Nun lag sein
Herz da, kahl und bloß. War schutzlos zwei strahlenden
Augen ausgeliefert und einem goldigen Lachen. Als dann
die Polonäse beendet war, blieben die Paare zum
anschließenden Walzer zusammen. Und da die Tanzfläche
viel zu klein war, tanzte man da, wo man Platz fand.
Wie ein Elflein schwebte Ortrun dahin. Strahlte ihren
Partner an, wie sie auch den nächsten und übernächsten
anstrahlte.
Da wandte der Mann sich brüsk ab. Wie hatte er auch nur
einen Herzschlag daran glauben können, daß das
strahlende Lachen, der strahlende Blick ihm’ allein galt.
Und wie hatte er sich durch eine einzige Bemerkung, von
der er jetzt wußte, daß sie nur so dahingesagt war, aus dem
Gleichgewicht bringen lassen können. Nun, das sollte ihm
nicht noch einmal passieren. Von jetzt an würde er auf der
Hut sein.
»Tanzen möcht ich, jauchzen möcht ich, in die Welt es
schrei’n, mein ist die schönste der Frauen, mein, nur
mein«, sang Uwe Gunder jämmerlich falsch die Worte des
Walzers mit, seine Schönste dabei immer fester umfassend,
bis diese es sich ernstlich verbat, ihr die Luft abzuschnüren.
Doch er lachte sie freundlich an und beteuerte, er müßte es
tun, sollte ihm nicht das übervolle Herz bersten.
»Dann denken Sie gefälligst auch an anderer Leute Herz
und quetschen Sie es nicht ab.«
»Ei, denken Sie daran, was ich Ihnen vorhin sagte.«
»Unmöglich, mir alles zu merken, was Sie heute an Unsinn
zusammengeredet haben.«
»Es war kein Unsinn, was ich Ihnen mit den Worten
Uhlands zu verstehen gab.«
»Ich bin ein einziges Fragezeichen.«
»Hm. Dann will ich die letzten Sätze wiederholen: Mußt
dir’s Zürnen abgewöhnen, ist nicht für die Ehe gut.«
»Wer will denn eine Ehe eingehen?«
»Ich.«
»Mit wem?«
»Mit dir. Ich liebe dich nämlich, meine süße Frauke, und
zwar mehr, als für uns beide gut ist.«
»Ach du lieber Gott, soll das etwa ein Heiratsantrag sein?«
»Na, was denn sonst? Sag bloß schnell ja, ich halte das
Hangen und Bangen nicht mehr länger aus. Wer weiß,
wann sich wieder Gelegenheit geboten hätte, dir die Frage
zu stellen, die mir schon längst auf der Zunge brennt. Ergo
mußte ich die jetzige Gelegenheit beherzt beim Schopf
fassen. Ja, Frauke?«
»Ja«, entgegnete sie einfach, und da drückte er sie mit
einem befreiten Lachen an das närrische Herz.
Indes saß der Baron bei Jadwiga und Hulda, die immer
wieder ein Gähnen unterdrückten. Es war ja auch bald
Mitternacht, und der Bettzipfel winkte. Bis Hulda einmal
den Mund ganz weit aufsperrte, da sagte der Mann
lächelnd:
»Das war herzhaft, Fräulein Hulda. Nun die Musik gerade
schweigt, werde ich Oda holen, und dann fahren wir nach
Hause.«
»Und Ortrun?« fragte Jadwiga ängstlich.
»Die wollen wir nicht stören. Mag sie die Ehrungen, die
man ihr als Schützenprinzessin entgegenbringt, auskosten
bis zur Neige.«
»Sie haben recht, Herr Baron«, brummte Hulda. »Die sonst
so vernünftigen Menschen gebärden sich heute wie Narren.
Daß Ortrun diesen Unsinn so eifrig mitmacht, damit
enttäuscht sie mich. Jetzt ist’s aber genug, jetzt muß ein
vernünftiger Mensch zwischen die Narretei.«
Sprach’s, erhob sich und ging gewichtigen Schrittes davon.
Schon wenige Minuten später kehrte sie zurück, Ortrun
und Oda im Schlepptau.
»Mault nicht, wir fahren nach Hause und damit basta. Ihr
Grünzeug habt genug getanzt, die Sohlen eurer Schuhe
müssen ja schon durch seih. Leg den Schnickschnack da ab,
Ortrun. Ich werde ihn dem Herrn bringen, der ihn dir
anlegte. Dort steht er gerade.«
Resolut, wie Hulda nun einmal war, legte sie wenig später
dem verdutzten Herrn die Insignien der Schützenprinzessin
in den Arm. Ehe der noch etwas sagen konnte, war sie
schon davon und kehrte zum Tisch zurück, wo sie Frauke
und Uwe vorfand.
»Ach sieh mal an, ihr laßt euch auch einmal blicken.«
»Brumm nicht, Huldchen!« drückte sie ihr einen Kuß auf
die Wange, worauf sie mißtrauisch gemustert wurde.
»Naja«, sagte Hulda trocken. »Muß ja auch so was geben.
Ich fahre mit Fräulein von Schlössen und Oda nach Hause.
Der Herr Baron wird so freundlich sein, uns in seinem
Wagen mitzunehmen.«
»Den wollen wir erst gar nicht bemühen«, tat der Herr
Doktor großartig.
»Wir haben alle in meinem Wagen Platz.«
So fuhr man denn ab. Voran der Baron mit seiner
Schwester, hinterher der Tierarzt mit seinen vier Weibsen,
wie er sie schmunzelnd bei sich nannte. Als der Wagen
hielt, stiegen die drei, die im Fond saßen, rasch aus,
während die vorn sich damit Zeit ließen.
»Kommt schleunigst ins Haus«, sagte Hulda. »Damit ihr
euch nicht erkältet. Gute Nacht, Herr Doktor, schlafen Sie
so gut, wie Sie können!«
Die andern beiden riefen ihm auch einen Gutenachtgruß
zu, dann eilten sie ins Haus, und Uwe schmunzelte.
»Ich glaube, unsere Hulda weiß Bescheid. Komm her, mein
Schatz, auf daß ich meinen Hunger stille!«
Es schien schon ein Mordshunger zu sein; denn es dauerte
lange, bis er sich an den weichen Lippen satt geküßt hatte,
wobei die Grübchen nicht vernachlässigt wurden, versteht
sich. Dann ließ er endlich von seinem »Opfer« ab und sagte
zufrieden:
»Nach dem langen Schmachten hat das gutgetan. Darf ich
morgen – oder besser heute – mit dir frühstücken?«
»Bitte sehr!«
»Es darf aber nicht zu spät sein; denn um elf beginnt meine
Sprechstunde.«
»Hm. Wie spät haben wir es, kurz nach zwölf. Sieben
Stunden Schlaf oder auch keinen, also kannst du um acht
Uhr erscheinen.«
»Tiefgefühlten Dank! Schlaf gut, träum von mir, meine
Schönste, und um acht auf Wiedersehen!«
Noch ein Kuß, dann stieg Frauke aus, winkte dem
abfahrenden Wagen nach und ging dann ins Haus, wo
Hulda in der Diele stand und ihr entgegenschmunzelte.
»Also denn meinen herzlichen Glückwunsch! Daß du
glücklich bist, sagen mir deine strählenden Augen.«
»Ich bin es auch, Hulda. Bist du mit meiner Wahl
zufrieden?«
»Sehr! Dein Uwe ist ein guter Mensch.«
»Da freu ich mich aber. Wo sind Tante Jadwiga und
Ortrun?«
»Nach oben gegangen. Fräulein von Schlössen war so
müde, daß sie sich kaum noch auf den Beinen halten
konnte, und Ortrun war richtig erschöpft. Sie haben ein
Trara mit ihr gemacht, daß es schon lächerlich wirkte.
Hoffentlich sind der Kleinen die Ovationen nicht in den
Kopf gestiegen.«
»Das glaube ich nicht. Sie hatte nur Freude am Tanz, was
bei ihren zwanzig Jahren natürlich ist. Laß sie die Jahre nur
ausnutzen, die sie noch ledig ist. Hoffentlich heiratet sie
nicht zu früh.«
»Meinst du? Na ja. Jetzt geh zu Bett und träum von deinem
Uwe! Wann gedenkt er hier mit Blumenstrauß und so
anzurücken?«
»Um acht Uhr zum Frühstück.«
»Dann aber mal hurtig! Die Nacht ist bald alle.«
Zwanzig Minuten später lagen die vom Haus im grünen
Grund in festem Schlaf. Wovon träumten sie? Die Braut
natürlich von Liebe, Glück und roten Rosen. Hulda durfte
aus vielen Töpfen aus dem Vollen schöpfen, was nicht nur
ein Traum bleiben würde. Denn der spätere Hausherr hatte
außer einer gutgehenden Praxis auch noch Vermögen,
Frauke erhielt weiter ihre Rente, also konnte man
unbesorgt aus dem Vollen schöpfen.
Jadwiga hingegen hatte keinen schönen Traum. Vor ihr
stand die Gräfin Warl, stemmte die Hände in die Hüften
und lachte höhnisch aus vollem Halse. Das
Johanniterkreuz bewegte sich gleich dem Pendel einer Uhr,
dabei überlaut tickend: Wie gewonnen, so zerronnen – wie
gewonnen, so zerronnen. Das peinigte die arme Jadwiga so
sehr, daß sie sich aus dem Schlaf schrie.
Und Ortrun? Die sah etwas Dunkles auf sich zukommen.
Daraus fuhr eine“ Faust, die ihr die Prinzessinkrone vom
Kopf riß und die Zacken in das zuckende Herz drückte. Das
tat so weh, ganz erbärmlich weh. Als Ortrun aus diesem
bösen Traum erwachte, war ihr Gesicht von Tränen naß.
Pünktlich um acht Uhr betrat der Tierarzt das gemütliche
Frühstückszimmer, wo auf dem Tisch ein gutes Frühstück
seiner wartete. Doch zuerst kam der Gutenmorgenkuß,
dann der Strauß mit dreiundzwanzig roten Rosen, für jedes
Lebensjahr eine und dann der Ring mit einem herrlichen
Smaragd.
»Es ist der Ring meiner Mutter«, sagte er leise. »Werde in
deiner Ehe so glücklich, wie sie es in der ihren gewesen ist.«
»Und ich werde bestrebt sein, so zu werden wie deine
Mutter«, entgegnete sie einfach. »Und dein Ring?«
»Ist der meines Vaters, dem auch ich nachzueifern bestrebt
bin. Wie ich an den beiden Gedecken sehe, werden wir
beide allein frühstücken?«
»Ja.«
»Das ist lieb von dir, meine Schönste. Denn so gern ich
Tante Jadwiga und Ortrun auch habe, in dieser Stunde
möchte ich mit dir allein sein.«
Sie ließen sich das Frühstück gut munden und griffen dann
zur Morgenzigarette. Während Uwe Zukunftspläne spann,
blieb Frauke merkwürdig still, was ihn endlich stutzig
werden ließ.
»Was hast du denn, Liebste?« fragte er besorgt. »Ist dir nicht
wohl?«
»Doch«, entgegnete sie hastig, den Zigarettenrest in den
Ascher drückend. »Ich sorge mich nur… Ach, es ist so
schwer, darüber zu sprechen.«
»Aber Frauke, mir kannst du doch alles sagen. Ich bin jetzt
noch dazu da, um dir beizustehen. Nun?«
»Uwe, es ist wegen Tante Jadwiga und Ortrun, die so sehr
an diesem Haus hängen. Wenn ich nun heirate…«
»Bleiben sie selbstverständlich hier.«
»Aber das kann ich dir doch nicht zumuten.«
»Warum denn nicht?«
»Weil sie noch nicht einmal mit mir verwandt sind. Da
kannst du sie doch nicht sozusagen mitheiraten.«
»Doch, ich tu’s«, lachte er vergnügt. »Sollst mal sehen, wie
gut wir uns alle vertragen werden. Außerdem wird Ortrun
nicht lange ledig bleiben. Hast du denn gestern nicht
gemerkt, wie entzückt die Herren von ihr waren.«
»Das schon. Hauptsächlich der Sohn des Oberförsters
scheint sich ernstlich in sie verliebt zu haben.«
»Und andere werden es auch noch tun. Wir müssen nur
aufpassen, daß dieses reiche Mädchen nicht womöglich
einem Mitgiftjäger in die Hände fällt. Aber wegbringen tun
wir sie nicht, wenn so eine Gefahr naht, wie es der Dr.
Danz tat. Ja, ja, mein Mädchen, ich weiß genau Bescheid.
Und zwar durch meinen Vetter Folbe, der mich bei seinem
letzten Besuch genauestens über die beiden Schönen im
grünen Haus orientierte. So einer wie der Zerkel – den ich
übrigens bis in den Tod nicht leiden kann und seine liebe
Familie auch nicht, weil sie dich so schikanierten –, so
einer soll sich mal unserer Goldigen zu nähern wägen,
dann kriegt er es mit mir zu tun, und das wäre nicht
ratsam. Ich vertrete jetzt Bruder stelle an Ortrun und werde
sie wie ein Bruder schützen.
Und Tante Jadwiga? Ich müßte ja ein Herz aus Stein haben,
wenn ich dem lieben alten Fräulein das Zuhause nehmen
wollte, das sie nun endlich gefunden hat. Und daß Hulda
bleibt, das bedarf überhaupt keiner Erwähnung. Bist du
jetzt beruhigt, du Dummchen?«
>:
»Ich bin glücklich.«
»Dann beweise es.« Worauf sie ihm um den Hals fiel, was
er sich nur zu gern gefallen ließ. Und als Uwe durch das
geöffnete Fenster Michels Organ vernahm, sagte er
schmunzelnd:
»Der gehört ja auch zum alten Bestand, also wird auch er
übernommen. Bertchen muß ihre Stelle aufgeben und nur
für uns arbeiten. Denn ein Mann im Haus macht viel zu
schaffen, und Hulda soll sich nicht überanstrengen. Warum
siehst du mich denn so ängstlich an?«
»Werden wir es auch schaffen, drei Angestellte
einschließlich Verpflegung zu bezahlen?«
»Liebchen, was hast du bloß für viele Sorgen. Aber auch die
kann ich zerstreuen, indem ich dir sage, daß wir es sogar
glänzend schaffen können. Erstens verdiene ich gut, dann
bin ich vermögend. Es reicht für alle, verlaß dich drauf.«
»Ich bin aber auch nicht ganz arm«, bekannte sie stolz. »Ich
bekomme eine monatliche Rente von vierhundert Mark.«
»Und dieses Haus vergißt du ganz?«
»Richtig. Und das ist schön, Uwe, nicht wahr?«
»Es ist ein richtiges, trauliches Zuhause. Doch jetzt muß ich
dich verlassen, so leid es mir tut, aber ich möchte meine
Arbeit nicht vernachlässigen. Eigentlich dumm von dir,
einen Arzt zu heiraten, der so viel unterwegs sein muß. Du
wirst es noch so manches Mal verwünschen. Sind deine
Papiere in Ordnung?«
»Gewiß. Aber was willst du denn damit?«
»Das Aufgebot bestellen.«
»So bald schon?«
»Bald nennst du das? Ich betrachte die drei Wochen als
halbe Ewigkeit. Also ’runter unter die Haube, mein
Herzchen, da gibt es kein Pardon.«
»Will ich ja auch gar nicht«, lachte sie ihn so lieblich an,
daß er unbedingt die reizenden Grübchen küssen mußte.
Dann einen Blick auf die Uhr.
»Jetzt wird’s aber Zeit. Bis wir uns wiedersehen, wird es
wohl so gegen Abend werden. Ich habe einige schwierige
Fälle, die ich nicht vernachlässigen darf. Es ist dir doch
recht, daß ich Winrich und Oda abends zu einer kleinen
Verlobungsfeier einlade?«
»Natürlich ist mir das recht. Und wenn nicht, würde mir
das auch nichts nützen, bei dir nicht.«
»Ach, du Süße!«
Noch ein Kuß, dann riß er sich los, und Frauke ging in die
Küche, wo Hulda einen angebrannten Topf energisch
bearbeitete.
»Huldchen, das wirst du bald nicht mehr nötig haben.«
»Was denn?« fragte sie verdutzt. »Töpfe scheuern, die ich
durch Nachlässigkeit anbrennen ließ?«
Worauf denn Frauke erzählte, was ihr Verlobter
beschlossen hatte.
»Na meinetwegen«, akzeptierte Hulda gnädig. »So ein
Mannsbild bringt wirklich viel Arbeit ins Haus. Übrigens
suchte ich Fräulein von Schlössen in ihrem Zimmer auf,
um ihr ein Einsteckkämmchen zu bringen, das sie in der
Diele verlor. Dabei habe ich ihr gleich deine Verlobung
mitgeteilt.«
»Wie nahm sie diese auf?«
»Sie freute sich.«
»Und Ortrun?«
»Weiß ich nicht. Die schlief noch fest, als ich in ihr Zimmer
schaute. Hast du mit dem Herrn Doktor darüber
gesprochen, was nach deiner Verheiratung aus den beiden
werden soll?«
»Habe ich.«
»Na und?«
»Die bleiben hier.«
»Das freut mich. Du könntest Gemüse aus dem Garten
holen. Das ist zwar Ortruns Arbeit, aber bis sie erscheint,
wird es zu spät. Laß das Kind sich ruhig ausschlafen.«
Allein Ortrun schlief nicht mehr, sie war sogar hellwach.
Und zwar über die Neuigkeit, die Jadwiga ihr überbrachte.
»Ich wollte dir das nur rasch mitteilen«, strich die Tante
über das gesenkte Köpfchen. »Ich weiß, wie dir zumute ist,
mein Kind. Aber laß dir nichts anmerken. Sonst denkt
Frauke womöglich noch, daß wir ihr aus egoistischen
Gründen ihr Glück nicht gönnen.«
»Um Gottes willen«, sah Ortrun sie erschrocken an. »So
schlecht bin ich nicht.«
»Das bist du wirklich nicht, mein Herzchen. Zieh dich
rasch an. Ich warte solange, damit Hulda nicht für jeden
einzeln das Frühstück bereiten muß, wozu es ohnehin
schon reichlich spät ist.«
Trotzdem fanden sie das Frühstück vor, als sie unten
erschienen. Und nun konnten die beiden beweisen, welch
beherrschte Menschen sie waren. Denn der Glückwunsch
für die Braut fiel so freudig aus, daß diese aufatmete.
»Zwischen uns bleibt es so, wie es ist«, beeilte sie sich zu
versichern. »Uwe hat es ausdrücklich gewünscht. Ach, was
bin ich doch bloß glücklich, einen so guten Mann zu
bekommen.«
»Darüber kannst du auch glücklich sein«, sagte Jadwiga,
gerührt über soviel glückselige Freude. »Aber auch er kann
froh sein, ein so liebes Menschenkind als Frau zu
bekommen.«
»Zumal er bei der ersten gründlich ’reingefallen ist«,
brummte Hulda, die eben eintrat. »Da wird er so eine wie
unsere Frauke doppelt zu schätzen wissen. Jetzt frühstückt
man tüchtig. Mittag gibt’s heute später als sonst.«
»Und abends feiern wir fröhlich Verlobung«, lachte die
Braut selig. »Uwe wird den Baron und Oda dazu einladen.
Die werden vielleicht Augen machen.«
»Oder auch nicht«, schmunzelte Hulda. »Wenigstens der
Baron nicht. Dieser kluge Mann hat schon längst gemerkt,
was mit euch verliebten Leutchen los ist.«
»Stimmt«, kam es von der Tür her, wo Oda stand, atemlos
vom schnellen Lauf. Und dann wurde erst einmal Frauke
liebevoll gewürgt, bis sie sich energisch freimachte.
»Mädchen, laß mich leben! Du bist ja ganz aus Rand und
Band!«
»Ich habe aber auch eine Mordsfreude. Winrich freut sich
auch. Er sagt, da hätte der liebe Gott doch mal ein
passendes Paar zusammengeführt. Er kommt erst heute
abend, aber ich hielt es nicht so lange aus. Aber was hat der
Ajax denn da, einen Strauß am Halsband? Von wem mag
der wohl sein?«
Das erfuhr man, als Frauke vom Hundehalsband den
Strauß löste, in dem ein Kärtchen baumelte. Laut las sie
vor, was darauf in ungelenker Schrift geschrieben stand:
Gottes reichsten Segen wünschen dem verehrten Brautpaar
– Michel und Bertchen.
»Die wissen es also auch schon«, staunte Frauke. »Von wem
wohl?«
»Von mir«, brummte Hulda: »Die beiden treuen Menschen
haben doch wohl das Recht, eher von der Verlobung zu
erfahren, bevor sie die Spatzen vom Dach lärmen. Geh
nach draußen, Frauke, und trink mit dem Michel einen
Schnaps!«
Nur daß es nicht bei einem Schnaps blieb, wenigstens bei
Michel nicht. Und als er später durch den grünen Grund
seinem kleinen Haus zuschwankte, sang er aus voller
Kehle: Nur einmal blüht im Jahr der Mai, nur einmal im
Leben die Liebe.
Die Verlobungsfeier verlief voll Harmonie und
Fröhlichkeit. Uwe hatte die richtigen Worte für Jadwiga
und Ortrun gefunden. Sie waren nun davon überzeugt, daß
sie dem späteren Hausherrn nicht im Wege sein würden.
Und als er sich beim Sekt mit ihnen verbrüderte, zog er
gleich den Freund in diese Verbrüderung mit ein. Doch
während dieser sich mit einem Handkuß zufrieden gab,
nahm Uwe sich den obligaten Kuß. Er war von einem so
strahlenden Übermut, daß man kaum aus dem Lachen
herauskam.
Beim Abschied lud Winrich die vergnügte Gesellschaft zum
Pfingstsonntag nach Schloß Swidbörn ein, was mit Freuden
angenommen wurde. Hulda hatte sogar von Barbe
schriftlich eine Extraeinladung bekommen, die sie wohl
ehrte, aber brummen ließ:
»Alles recht schön und recht nett, aber wenn alle fortgehen,
was wird dann aus Ajax? Das arme Tier winselt sich ja
zuschanden, wenn es allein hier zurückbleiben muß.«
»Den nehmen wir mit«, entschied Uwe, doch Huldchen
hatte Bedenken.
»Und was werden die Hunde im Schloß dazu sagen?«
»Die werden ihren Gast ehren, wie es sich für vornehme
Schloßhunde gehört.«
»Da soll der arme Hund wohl hinter dem Auto herlaufen,
was?«
»Aber nicht doch, Huldchen, der fährt mit.«
»Ach so, da soll ich das niedliche Tierchen wohl auf den
Schoß nehmen«, entrüstete sie sich und als der
Heiterkeitsausbruch sich gelegt hatte, kam der Baron, dem
das Geplänkel Spaß gemacht hatte, der bedrängten Seele zu
Hilfe.
»Fräulein Hulda, da ich unter Larven die einzig fühlende
Brust bin, schicke ich extra für Sie und den Hund den
kleinen Wagen mit Chauffeur. Wäre das was?«
»Und wie das was wäre, Herr Baron«, besah sie sich ihn so
zärtlich, daß die andern Mühe hatten, ernst zu bleiben.
»Sie sind der einzige Mensch hier, den die Verlobung nicht
närrisch gemacht hat. Sie sind überhaupt ein Mann, wie er
im Buch steht.«
Sprach’s, zog ab und man lachte verhalten hinter ihr her.
»Schau mal an, Huldchen hat ihr Herz entdeckt«,
schmunzelte Uwe. »Liebes altes Mädchen, du bist nicht
dumm, auch nicht nuscht. Denn der Herr Baron von
Swidbörn ist ein Mann…«
»Der dir gleich deine Frauke abspenstig machen wird, wenn
du nicht aufhörst, du Spötter.«
»Herrje, nein, da bin ich schon lieber still.«
»Nur gut, daß es jetzt etwas gibt, womit man dich kleinlaut
machen kann«, lachte der Freund. »Also, meine
Herrschaften, am Pfingstsonntag auf frohes Wiedersehen
bei mir zu Haus!«
Und es wurde ein fröhliches Wiedersehen. Dafür hatte
schon Hulda bei der Abfahrt mit ihren Sperenzchen
gesorgt. Bis sie und der Hund in dem kleinen Wagen
verfrachtet waren, lachte man Tränen.
Man hätte es am liebsten wieder getan, als man mit ansah,
wie würdig Barbe, ihren Gast vor dem Schloß empfing und
wie gnädig dieser es sich gefallen ließ. Aber man mußte
schon ernst bleiben, um die beiden treuen Menschen nicht
zu kränken.
Auch die Hunde wußten, was sich gehörte. Zwar bellte der
kleine Dackel den Hundegast an, doch es war ein freudiges
Begrüßungsbeilen, während der prächtige Spaniel sich
seiner Würde bewußt blieb, wie Ajax es auch tat.
Es wurde überhaupt ein Tag ohne jeden Mißklang. Wohl
hatten die drei weiblichen Gäste viel erwartet, doch nun sie
das Schloß sahen in seinem Glanz, waren sie denn doch
überrascht. Und dann der Park mit seinen herrlichen
Anlagen, überhaupt das ganze Drum und Dran, da war das
Haus im grünen Grund ein Nichts dagegen – und doch war
es den Bewohnern lieber. Was da anheimelte, bedrückte
hier. Und als man das liebe Haus wieder betrat, dehnte
Frauke die Arme weit.
»Tohuus is doch tohuus!«
Und zwei anderen Menschen tat dabei das Herz bitter weh.
Nun waren die Neuvermählten fort, hinaus in die weite
Welt. In einem neuen, teuren Wagen, den der Herr Doktor
eigens für die Hochzeitsreise angeschafft hatte.
Zwar hatte Gunder seinen Vetter Folbe nebst Gattin zur
Hochzeit eingeladen, doch leider mußte der Arzt absagen,
weil eine Scharlachepidemie ihn unabkömmlich machte,
selbst für einen Tag. So waren als Gäste nur die Geschwister
Swidbörn zugegen, die man eigentlich als Gäste gar nicht
mehr bezeichnen konnte. Nachdem die jungen Gatten
abgefahren waren, brachen auch sie auf. Und nun saßen
ein junges und ein altes Fräulein oben im Zimmer, die
Augen voll Tränen, das Herz voll Weh. Und als Jadwiga
aufschluchzte, umfaßte Ortrun die bebenden Schultern.
»Weine nicht, Tante Jadwiga, ich verlaß dich nicht. Wir
gehen zuerst einmal eine Zeitlang auf Reisen und schaffen
uns dann in einer Stadt ein kleines Heim, das du betreust,
während ich mich zur Kunstgewerblerin vorbereite. Etwas
werde ich ja unternehmen müssen. Denn um müßig meine
Tage zu verbringen, dafür bin ich noch zu jung.«
»Wird dein Vormund dich auch mir anvertrauen?« fragte
Jadwiga zaghaft, und Ortrun lachte bitter auf.
»Er hat ja keine Bedenken gehabt, mich einem
dreiundzwanzigjährigen Mädchen anzuvertrauen. Der ist
froh, mich überhaupt irgendwo unterbringen zu können.
Außerdem werde ich in zehn Monaten mündig.
Und nun wollen wir die vier Wochen, die uns hier zu
bleiben noch vergönnt sind, nicht mit Trübsal vergeuden,
sondern sie aus vollem Herzen genießen.«
Was sie denn auch taten. Das heißt, sie weilten mehr im
Schloß als in dem grünen Haus. Denn Oda schien ohne sie
nicht mehr leben zu können. Ließ keinen Tag vergehen,
ohne sie ins Schloß zu holen, in das nun zwei fröhliche
junge Menschenkinder Leben brachten. Die weiten Räume
waren erfüllt von Lachen. Der kostbare Flügel, schon lange
nicht mehr benutzt, klang nun oft unter zwei zarten
Händen. Eine süße Stimme sang fröhliche Lieder und
entzückte alle, die es hörten.
Wie Kletten hingen die beiden Mädchen zusammen,
unternahmen alles gemeinsam, und immer war Jadwiga
dabei. Nur bei den Ritten blieb sie zurück, was sie auch
gern tat. Dann gab sie sich einer besinnlichen Stunde hin,
in der sie gar nicht merkte, wie alles ringsum von ihrem
Herzen Besitz ergriff – mehr noch als im grünen Haus.
Es war nicht einfach gewesen, Ortrun in den Sattel zu
bekommen. Nicht etwa, weil sie sich darin nicht sicher
fühlte, sondern weil dann immer der Mann dabei war, in
dessen Nähe sie stets so unsicher wurde. Wo ihr Herz so
seltsam klopfte, in harten, schmerzhaften Schlägen.
Lenzesgebot, o süße Not!
Nun war auch die junge Ortrun davon erfaßt. Und als sie
sich dessen bewußt wurde, gab es bitteres Herzeleid. Jetzt
mußte sie ja noch viel mehr aufgeben, wenn der Abschied
kam.
Doch jetzt nicht daran denken. All das Schöne,
Beglückende und auch Bittersüße auskosten bis zur Neige.
Jetzt noch in die Sonne sehen, die die bald dunkle Nacht
verscheuchen würde.
Wenn nur nicht diese köstlichen Tage so dahinrasen
wollten. Aber kaum, daß einer begann, war er auch schon
zu Ende. Und je weniger Tage es wurden, je mehr Tränen
wurden es, die ein verzweifeltes junges Menschenkind
nachts in die Kissen weinte.
Und wie gern hätte der Mann die Tränen getrocknet, der
genauso um den Abschied bangte, wie Ortrun es tat. Der
genauso hätte die Tage festhalten mögen, die so
unerbittlich enteilten. Er hätte nie geglaubt, daß ein
Mensch dazu imstande wäre, so viel Sonne in Herz und
Haus zu bringen, wie dieses Mädchen mit den
sonnenhellen Haaren es tat und den strahlenden
Blauaugen, der süßen Stimme und dem goldigen Lachen.
Wenn das alles für ihn versank, das konnte er doch
nimmermehr ertragen. Gab es denn für ihn kein Erbarmen?
Doch, das gab es. Denn als Ortrun an einem Vormittag die
Schloßterrasse betrat, saß da eine Dame, die sie so scharf
musterte, als müßte sie ihre Seele ergründen. Doch dann
huschte über das vornehme Antlitz ein heller Schein.
»Also das ist Fräulein Danz«, sagte die Dame langsam, dem
jungen Mädchen die Hand reichend, über die es sich artig
neigte. »Ich habe Ihren Vater gekannt, mein Kind, und
habe den klugen Mann bewundert. Schade, daß er so früh
dahingehen mußte, er hätte der Wissenschaft noch viel
Wertvolles geben können. Und nun wollen Sie gewiß
wissen, wer ich bin.«
»Ich kann es mir denken«, entgegnete Ortrun mit einem so
reizenden Lächeln, daß es der Dame warm ums Herz
wurde. »Sie sind Gräfin Attbach, die Oberin des Dorothea-
Stifts.«
»Das bin ich tatsächlich«, lachte die Dame so frisch und
froh, daß Ortrun sie spontan in ihr Herz schloß. »Woher
haben Sie denn meinen Steckbrief?«
»Von mir«, gestand Oda. »Ich habe ihr erzählt, wie lieb und
gut du bist. Aber wo ist denn Tante Jadwiga?«
»Zu Hause geblieben«, gab Ortrun Antwort. »Wir erhielten
eine Karte, auf der Frauke und Uwe ihre Ankunft für
Sonntag avisieren. Da gibt es für Hulda noch manches zu
tun, wobei Tante Jadwiga ihr zur Hand geht.«
»Sie fühlen sich im grünen Haus sicher sehr wohl«, begann
die Gräfin zu sondieren, das Mädchen dabei scharf im
Auge behaltend, das nun den flimmernden Kopf senkte
und leise sagte:
»Ja, Frau Gräfin. Es war mir ein liebes Zuhause.«
»W a r, Fräulein Danz? Wie soll ich das verstehen?«
»Daß ich, wo nun Frauke verheiratet ist…«
»Übrig bin«, warf die Gräfin trocken ein. »Denn wo zwei
sich genug sind, ist übrig der dritte, das ist wohl traurig,
aber wahr. Darf ich wissen, was Sie zu tun gedenken, wenn
Sie das grüne Haus verlassen haben? Ich frage nicht aus
Neugierde, mein Kind.«
»Ich, ja, ich gehe zuerst einmal eine Zeitlang mit Tante
Jadwiga auf Reisen, dann lassen wir uns in, einer Stadt
nieder, wo ich mich zur Kunstgewerblerin vorbereiten
kann.«
»Wird Ihr Vormund damit einverstanden sein?«
»Ich glaube schon. Denn er hat…«
Erschrocken hielt sie inne, als Oda ihren Hals
umklammerte und bitterlich schluchzte:
»Du darfst nicht fort, Ortrun, du darfst nicht fort. Was soll
ich wohl – anfangen – ohne – dich?«
»Na, nun mal langsam«, sagte die Gräfin ruhig. »Erwürge ja
deine liebe Ortrun nicht, damit ich ihr sagen kann, was für
ein törichtes Köpfchen sie hat. Zuerst mal vorweg, daß ich
ziemlich genau über Sie Bescheid weiß, Fräulein Danz.
Daher ist mir auch bekannt, warum Ihr Vormund Sie
Fräulein Gortz anvertraute. Aber Fräulein von Schlössen
wird er Sie nicht anvertrauen, da diese so weltfremd ist,
daß sie selbst noch einen Beschützer braucht.«
»Ja, was soll denn aus uns werden«, sagte das Mädchen
verzweifelt. »Mich würde mein Vormund wohl zur Not
aufnehmen, aber Tante Jadwiga doch nicht.«
»Die kann Aufnahme im Dorothea-Stift finden.«
Da sprang Ortrun gepeinigt auf.
»Bitte mich zu entschuldigen, Frau Gräfin.«
Weg war sie, und Herma sagte hastig:
»Geh ihr nach, Oda! Gib acht, daß sie keine Dummheiten
macht. In der Verfassung scheint sie mir nämlich zu sein.«
Als die Kleine fort war, sprach die Tante den Neffen an, der
an der Balustrade stand und ihr den Rücken zudrehte.
»Ein schöner Rücken soll wohl auch entzücken, mein
Sohn, aber dein Gesicht ist mir bedeutend sympathischer.«
Da drehte er sich langsam um. Und als sie seine Augen sah,
in denen der Schmerz brannte, sagte sie trocken:
»Wäre ja auch unnatürlich, wenn du dich in das
bezaubernde Geschöpf nicht verliebt hättest.«
»Tante Herma – bitte!«
»Ach was, Junge, versuch mir doch nichts vorzumachen,
das gelingt dir bei mir doch nicht. Willst du müßig
zusehen, wenn dieses schöne und dazu noch reiche
Mädchen das grüne Haus verläßt und auf Reisen geht –
dazu noch mit einer so weit- und menschenunkundigen
Ehrendame wie Fräulein von Schlössen? Die Kleine kommt
nicht weit, verlaß dich darauf. Dafür sind die Mitgiftjäger
zu schwer auf Posten.«
»Und was wäre ich, wenn ich um sie freite?« lachte er bitter
auf. »Ich kann mich gerade so knapp auf meinem Besitz
halten. Und wenn ich mich da um eine reiche Erbin
bewerbe, dann werden sich schon Menschen finden, die ihr
beibringen, daß ich nicht sie begehre, sondern ihr vieles
Geld.«
»Hm. Sag mal. Winrich, weißt du eigentlich, wieviel Geld
ich habe?«
»Nein. Das interessiert mich auch nicht«, brummte er
verdrießlich, und sie lachte. ¦ .
»Ich an deiner Stelle würde es doch tun. Ich liege schon
längst auf der Lauer, um einzugreifen, wenn Grünehöh
ernstlich gefährdet ist. Denn ich bin ja selbst eine Swidbörn
und habe Interesse daran, daß unser Jahrhunderte alter
Besitz nicht in fremde Hände kommt. Aber offen gesagt
wollte ich mein Geld nicht in ein Danaidenfaß werfen.
Und ich hätte es getan, solange dein nichtswürdiger Vater
und deine nicht minder nichtswürdige Frau noch lebten.
Damit hätte ich ja nur ihre Geldgier unterstützt. Sofern die
nur Geld witterten, waren sie hinterher, wie die Katze nach
dem Baldrian. Aber wenn der Mensch nichts hat, kann er
auch nichts geben. Und du konntest es auch nicht, dir
selbst zu Nutz und Frommen. Denn das Geld, das ich dir
jetzt geben werde, kommt nicht einer liederlichen Frau
zugute, sondern deinem Besitz. Also kannst du ruhig um
das reiche Mädchen freien, dessen Geld du gar nicht
brauchst. Noch etwas?«
»Sie liebt mich nicht.«
»Auch das noch. Junge, so ein Kerl wie du und
Minderwertigkeitskomplexe! Laß dich doch nicht
auslachen. Nimm sie bei den Öhrchen, gib ihr einen Kuß,
dann sollst du mal sehen, wie ihre übrigens
wunderschönen Augen strahlen.«
Weiter konnte sie nicht sprechen, da die beiden Mädchen
zurückkamen. Ortrun niedergeschlagen und sehr blaß, Oda
mit dickverweinten Augen.
»Ortrun läßt sich auf nichts ein«, schluchzte sie verzweifelt.
»Sie will fort, bevor Frauke und Uwe noch zurück sind. Hilf
mir doch, Tante Herma!«
»Tu ich, mein Herzchen, tu ich. Kommen Sie mal her, Sie
kleine Sünderin, die so viel herzblutenden Jammer
heraufbeschwört. Schämen tun Sie sich wohl gar nicht,
wie?«
»Warum sollte ich das denn, Frau Gräfin?«
»Weil Sie Ihre Freundin Frauke, die so viel Gutes an Ihnen
tat, so bitter kränken wollen, indem Sie sie verlassen, sogar
noch heimlich.«
»Es muß doch sein.«
»Es muß nicht sein, Sie Närrchen. Wollen Sie mir einen
Gefallen tun?«
»Wenn ich kann, gern.«
»Dann gehen Sie in den kleinen Salon, wo ich meine Brille
vergaß. Denn ohne die kann ich Ihnen nicht die Leviten
lesen, wie man so sagt.«
Arglos fiel Ortrun auf die List herein, ging davon, und
Herma raunte dem Neffen zu:
»Geh ihr nach, zieh die Weste glatt und tu forsch. Wehe,
wenn du mich enttäuschst!«
So folgte er denn dem Mädchen in den Salon, schloß leise
die Tür und sah schweigend zu, wie es nach der Brille
suchte. Natürlich ohne Erfolg; denn die Gräfin besaß gar
keine Brille. Sie konnte auch ohne sie recht gut lesen.
»Nun, findest du die Brille nicht?« fragte er lachend, was sie
herumfahren ließ.
»Toi, toi, toi! Ich hatte ja gar keine Ahnung, daß du hier
bist. Such du mal bitte nach der Brille, ich jedenfalls kann
sie nicht finden.«
»Ich bestimmt auch nicht, weil Tante Hermas Brille gar
nicht existiert.«
»3% aber was soll denn das bedeuten. Das hat doch keinen
Sinn.«
»Und wie das Sinn hat. Es hängt mit einer Frage
zusammen, die ich an dich stellen möchte.«
»Jetzt versteh ich überhaupt nichts mehr.«
»Darf ich jetzt meine Frage stellen?«
»Bitte, aber kurz und präzise.«
»Sollst du haben, mein Kind. Willst du meine Frau
werden?«
»Ach du lieber Gott«, ließ sie sich in den nächsten Sessel
fallen und sah ihn mit einer so süßen Hilflosigkeit an, die
ihm mehr sagte, als viele Worte es vermocht hätten. Und
da fackelte er auch nicht länger, sondern tat das, wozu sein
Herz ihn drängte.
»Na also«, lachte die Gräfin dem glückseligen Paar
entgegen. »Hab ich mir doch gleich gedacht. Nun,
Firlefänzchen, begrüße deine Schwägerin, aber würg sie in
deinem Freudentaumel nicht ab.«
Schmunzelnd wartete sie dann, bis sie an die Reihe kam.
Sah gerührt in die glückseligen Augen, küßte das weiche
Gesichtchen und sagte leise:
»Sei gesegnet, du süßes Kind. Du hast unserm Winrich das
Glück gebracht, nach dem er hungerte und darbte.«
»Danke, Tante Herma«, schmiegte Ortrun sich an die gütige
Frau. »Ich mußte dich liebhaben, vom ersten Augenblick
an.«
»Hm, so was hört man gern. Da sieht man doch wieder,
wie gut es manchmal ist, einer spontanen Eingebung zu
folgen. Eigentlich wollte ich erst nächste Woche hier
erscheinen, aber eine innere Unruhe drängte mich, es heute
schon zu tun. Und kam gerade noch zur Zeit, um einem
schüchternen jungen Mann das Rückgrat zu steifen. Weißt
du denn, mein Kind, mit welchen Komplexen er sich
herumschlug, nein? Dann will ich es dir sagen. Er fürchtete,
für einen Mitgiftjäger gehalten zu werden, wenn er um dich
kleinen Krösus freite. Hättest du ihm das zugetraut?«
»Nein, Tante Herma.«
»Das wollte ich nur wissen. Er braucht dein Geld auch gar
nicht, weil er das von mir bekommt, was er für seinen
Besitz benötigt. Und nun schick das Auto zum grünen
Haus, Winrich, damit es Fräulein von Schlössen und die
famose Hulda nach oben holt.
Ja, sieh mich nur so erstaunt an, mein Kind, ich weiß über
deine Verhältnisse genau Bescheid. Weiß, woher du
stammst, weiß, daß du ein Zögling des Elitetöchterheims
bist, was allein schon ein Freibrief für dich ist, weiß
überhaupt alles, was eine mißtrauische alte Frau wissen
muß, um den Neffen, den sie wie einen Sohn liebt, nicht
zum zweiten Mal bei der Wahl seiner Gattin ins Unglück
laufen zu lassen. Und nun schaut mich nicht so verblüfft
an, ihr drei Liebsten, die ich habe, sondern kommt her und
gebt mir einen Kuß.«
»Ich freue mich, Fräulein von Schlössen, Sie nun auch
persönlich kennenzulernen«, sagte Gräfin Herma
liebenswürdig, nachdem ihr Neffe die beiden Damen
miteinander bekannt gemacht hatte. »Gehört habe ich
nämlich schon viel von Ihnen. Warum ist denn das
Prachtstück Hulda nicht mitgekommen?«
»Weil sie keine Zeit hat, Frau Gräfin«, entgegnete Jadwiga
mit der Schüchternheit, die sie Fremden gegenüber immer
noch hatte. »Das junge Paar kommt Sonntag nach Hause,
und da stellt nun Hulda mit Bertchen gewissermaßen das
Haus auf den Kopf. Als ich abfuhr, waren sie eben dabei,
die Zimmer umzuräumen, wobei Michel ihnen hilft. So
war ich denn ganz froh, als mich der Wagen nach oben
holte.«
»Und weißt du auch, warum das geschieht, Tante Jadwiga?«
»Nein, mein Herzchen – oder doch. Winrich hat so frohe
Augen. Habt ihr euch etwa – verlobt?«
»Ganz recht.«
»Also hat der liebe Gott doch mein Gebet erhört. Was bin
ich doch bloß glücklich, daß ihr euch endlich gefunden
habt.«
Dabei liefen ihr die hellen Tränen über die Wangen. Ortrun
trat zu ihr und legte ihr blühendes Gesicht an das schon
leicht welkende.
»Du Liebe, Gute. Nun habe ich doch mein Wort gebrochen.
Wir beide gehen nun nicht auf Reisen.«
»Aber Kind, das macht doch nichts. Die Hauptsache, daß
du glücklich bist und daß du Winrich glücklich machst. Es
hat mir so weh getan, als er an der Verlobungsfeier von
Frauke und Uwe so traurig dasaß. Ich hätte weinen
mögen.«
Und diesem grundguten Menschen hat so eine Kreatur wie
die Warl das Leben zur Hölle gemacht, dachte Herma böse.
Na warte nur, das sollst du schon noch büßen, dafür werde
ich sorgen. Mit einer Herzlichkeit, die diese Frau so
liebenswert machte, wandte sie sich Jadwiga zu.
»Und was soll nun aus Ihnen werden, Fräulein von
Schlössen? Hätten Sie Lust, ins Dorothea-Stift zu
kommen?«
»Aber Frau Gräfin, das wäre doch eine Ehre für mich. Denn
das Dorothea-Stift ist dafür bekannt, bei der Auswahl der
Damen sehr wählerisch zu sein.«
»Nun, ich wüßte nicht, warum Sie der Wahl nicht
standhalten sollten.«
»Und ich wüßte nicht, warum Tante Jadwiga in ein Stift
sollte, wo sie uns hier so notwendig ist«, sagte Winrich
gelassen. »Wenn hier erst wieder die Geselligkeit beginnt,
wovor ich mich nicht mehr lange drücken kann, müßten
wir eine Dame ins Haus nehmen, da Ortrun noch zu jung
ist, um den Klimbim allein schaffen zu können. Und
warum da in die Ferne schweifen, wenn das Gute so nah
liegt? Nicht wahr, Tante Jadwiga, du bleibst bei uns, wo du
so notwendig bist?«
»Wenn das so ist, Winrich, dann bin ich glücklich.«
»Na also«, schmunzelte Gräfin Herma, die so richtig stolz
auf den Neffen war, der in einer so vornehmen Art einen
mit Minderwertigkeitskomplexen behafteten Menschen
von seiner Notwendigkeit überzeugte. Ortrun jedoch
schmiegte sich an den Verlobten und sagte leise:
»Ich danke dir.«
Und das Firlefänzchen? Das war einfach selig. Würgte die
gute Tante Jadwiga ein bißchen und strahlte sie an.
»Hach, wird das hier ein Leben werden; alle bleiben wir
zusammen, die wir uns liebhaben. Tante Herma bleibt
selbstverständlich auch hier.«
»Na nun mal langsam«, dämpfte diese den frohen Eifen.
»So selbstverständlich ist das nun auch wieder nicht. Was
würde wohl meine Schar sagen, wenn ich sie so schnöde
im Stich ließe.«
»Das ist nun auch wieder wahr«, senkte die Kleine
beschämt das Köpfchen. »Aber ich hätte doch alle so gern
beisammen, die ich liebhabe. Aber jetzt bleibst du doch
wenigstens noch eine Weile hier, ja?«
»Nun, wollen mal sehen. Wann heiratest du, Winrich?«
»Am liebsten gleich auf der Stelle«, entgegnete er seufzend.
»Aber das Trauerjahr…«
»Rede jetzt keinen Unsinn«, unterbrach die Tante ihn kurz.
»Wenn man einem Menschen wie Ola nachtrauern wollte,
das wäre Heuchelei. Also wann heiratest du?«
»In drei Wochen.«
»Das ist doch ein Wort. Wen wirst du einladen?«
»Die aus dem grünen Haus kommen sowieso
uneingeladen«, entgegnete er lachend. »Und sonst möchte
ich keinen haben. Höchstens noch Ortruns Vormund mit
seiner Familie. Die werden wir wohl schlecht übergehen
können, nicht wahr, mein Herz?«
»Och, großen Wert lege ich darauf nicht«, gestand Ortrun
aufrichtig. »Die sind mir genauso fremd, wie andere
Menschen auch. Die werden Augen machen, wenn ich mit
Winrich anrücke, darauf freue ich mich schon.«
»Und wenn der Vormund mit deiner Wahl nicht
einverstanden ist?« fragte Tante Herma leichthin, und da
fuhr das Mädchen entrüstet auf.
»Was, mit Winrich nicht einverstanden sein, mit dem
vornehmsten, liebsten und besten Menschen? Na, das
wäre!«
»Mädchen, wenn du wüßtest, wie entzückend du in deinem
Zorn bist«, lachte die Gräfin. »Aber du hast recht, alles das
ist dein Winrich. Wenn ich euch einen Rat geben darf, fahrt
morgen zu Dr. Danz und holt euch seinen vormundlichen
Segen.«
Was dann auch geschah. Und der Herr Vormund hatte ganz
und gar nichts an der Wahl seines Mündels auszusetzen, er
war im Gegenteil stolz darauf. Und als er dann dessen
Vermögensverhältnisse darlegte, sagte das reiche Mädchen
verblüfft:
»Das ist aber mal viel Geld. Winrich, willst du es haben?«
Da mußten die beiden Herren denn doch lachen.
»Na, Sie bekommen vielleicht eine Frau, Herr Baron. Gut,
daß die leichtsinnige Kleine in die Hände eines
Ehrenmannes fällt.«
»Na also«, lachte Ortrun vergnügt, als sie Arm in Arm mit
dem Verlobten die Straße der großen Stadt entlangging, wo
turbulentes Leben herrschte.
»Das hätten wir auch geschafft. Und nun schnell nach
Hause, der Trubel hier fällt mir auf die Nerven.«
Wogegen der Mann nichts einzuwenden hatte. Am liebsten
hätte er das zauberhafte Geschöpf im Trubel der Straße an
das heißschlagende Herz genommen und sich an den
jungfrischen Lippen satt geküßt. Doch da es ja nicht gut
anging, bezähmte er sein heiß’ Verlangen und benutzte
außerhalb der Stadt einen Seitenweg dazu, wo er seine
Liebste nach Herzenslust abküßte.
»Mädchen, was bist du doch nur für ein goldiges
Geschöpf«, sah er in die Augen hinein, die ihn anstrahlten,
wie zwei Sonnen. »Hast du überhaupt eine Ahnung, wie
unaussprechlich glücklich ich bin?«
Und das stimmte. Wohl selten hatte die Liebe einen Mann
so arg gepackt, wie diesen ernsten, schwerblütigen
Menschen.
Wer gab dir, Minne, die Gewalt, daß du so allgewaltig bist.
Zu dem Empfang der Hochzeitsreisenden hatte man sich
vollzählig im grünen Haus eingefunden. Auch Gräfin
Attbach, die Uwe von ihren Besuchen auf Schloß Swidböm
kannte und die er sehr verehrte. Demnach fiel auch die
Begrüßung aus, die er der Dame zollte, und Frauke war von
ihr entzückt.
Nachdem der Begrüßungssturm sich gelegt hatte, tat Uwe
das, was ihm sein Herz gebot. Er zog seine Schönste in die
Arme, küßte den lachenden Mund – und sah dann verdutzt
auf den Freund, der bei Ortrun dasselbe tat.
»Ja, sag mal, was fällt dir ein, unsere Goldige…«
»Hat sich für euch ausgegoldigt, mein Lieber«, sagte
Winrich gelassen. »Die Benennung bleibt fortan nur mir
überlassen. Ich sehe gar nicht ein, daß, wenn du eine
Schönste hast, ich keine Goldige haben soll.«
Erst ein Stutzen, und dann ein befreites Lachen.
»Winrich, hast du dich nun endlich aufgerafft? Nun, dir
gebe ich unsere -Pardon, Goldige ist ja jetzt tabu – gebe ich
unsere Ortrun gern.«
»Verbindlichsten Dank. Und was sagt die liebe Frauke
dazu?«
»Ich habe eine Mordsfreude. Schon allein deshalb, daß ich
die Verantwortung für dieses gefährlich schöne, gefährlich
reiche Mädchen los bin, und daß es nun so gut bei dir
aufgehoben ist, Winrich. Na, das ist vielleicht ein
glückhaftes Nachhausekommen!«
Nachdem auch dieser Freudensturm sich gelegt hatte,
nahm man des Regenwetters wegen in der Bibliothek Platz,
wo das Bild des Professors hing, dem zwei junge Paare ihr
Glück verdankten. Denn hätte er Frauke nicht das Haus
vermacht…
Doch daran dachte man jetzt noch nicht. Jetzt gab; es noch
vieles zu fragen und vieles zu beantworten. Die erste Frage
stellte Uwe:
»Winrich, du wirst doch nicht so töricht sein und mit der
Hochzeit warten, bis das obligate Trauerjahr vorüber ist?«
»Nein, so töricht bin ich nicht. Unsere Hochzeit findet in
knapp drei Wochen statt, das Aufgebot ist bereits bestellt.«
»Bravo. Wieviel Gäste?«
»Da ihr ja keine mehr seid, nur Dr. Danz und seine Fasane.
Standesamt, ein stillem Zusammengeben in der
Schloßkapelle, ein opulentes Mahl und anschließend eine
Hochzeitsreise von zwei Wochen. Länger kann ich von der
Landwirtschaft nicht fort, wo jetzt ja Hochbetrieb ist.«
»Damit ihr es wißt, Tante Jadwiga bleibt nicht bei euch,
sondern kommt zu uns«, blähte Oda sich förmlich auf. »Ihr
habt an Hulda, Bertchen und Michel genüg.«
»Herzlichen Dank, daß du uns die wenigstens noch
gnädigst überläßt«, lachte Uwe gleich den andern. »Wie
großspurig du jetzt sein kannst, Baroneßchen. Denkst du
noch daran, wie du ins grüne Haus flüchtetest?«
»Ach, laß doch«, winkte sie ab. »Verdirb mir nicht die frohe
Stimmung.«
»Hast recht«, bekräftigte Frauke.
»Wenden wir uns erfreulicheren Dingen zu. So wie ich
Hulda kenne, hat sie Sekt kaltgestellt. Wie nahm sie
übrigens eure Verlobung auf?«
»Brummig«, lachte Ortrun. »Sie meinte, daß der liebe Gott,
der zwei Menschen in seiner besten Laune erschuf, auch
füreinander bestimmte.«
»Ganz Hulda«, lachte Frauke und sorgte dafür, daß der Sekt
bald in den Gläsern perlte. Wie auf Verabredung schweiften
die Blicke aller zu dem Bild über dem Kamin hin. Frauke
hielt ihm das Glas entgegen und sagte leise:
»Lieber Onkel, dein Erbe hat Glück und Segen gebracht.
Wäre es nicht gewesen, hätten die Menschen niemals
zusammengefunden, die jetzt so glücklich sind. Hab Dank
für das Haus im grünen Grund!«
-ENDE-