Universiteit Gent
Academiejaar 2007 – 2008
"Ich will Zeugnis ablegen, und exaktes Zeugnis"
Historischer und persönlicher Wert von Victor Klemperers
Tagebüchern 1933 - 1945
Promotor: Prof. Dr. B. Biebuyck Verhandeling voorgelegd aan de
Faculteit Letteren en Wijsbegeerte
voor het behalen van de graad van
Master in de Taal- en Letterkunde:
Duits-Engels
door
Lieselot Claeys
2
3
Vorwort
Diese Arbeit konnte nicht ohne Hilfe erstellt werden. Ich möchte denn auch gerne allen
Beteiligten herzlich danken.
Zunächst danke ich Prof. Dr. Biebuyck für die Betreuung vorliegender Magisterarbeit.
Mit seiner Beratung und weitgehenden Kenntnissen im literaturwissenschaftlichen
Bereich hat er viel zu dieser Arbeit beigetragen. Auch alle Lehrenden und Mitarbeiter
des deutschen Fachbereiches der Universität Gent verdienen ein Wort des Dankes, denn
sie haben uns während des Studiums für die Literaturwissenschaft begeistert und uns
ihre Kenntnisse in diesem Bereich beigebracht.
Daneben möchte ich auch vom ganzen Herzen meinen KommilitonInnen danken.
Besonders Hanne, Sien, Hannelore, Elisa, Anouk, Anne Sophie und Julie sind mir in
den vergangenen vier Jahren, sowohl beim Studium als in der Freizeit, immer eine
große Hilfe gewesen. Ihre Freundschaft und ihr Enthusiasmus waren bei der Erstellung
dieser Arbeit ebenfalls eine Erleichterung.
Letztens bedanke ich mich bei Will Westall und bei meiner Familie, die mir während
des Studiums und während des Schreibens dieser Arbeit immer wieder Mut gemacht
haben.
4
5
Inhalt
1.1.1 - Subjektivität und Objektivität ...................................................................... 13
1.1.2 - Innerlichkeit und Öffentlichkeit .................................................................. 17
1.1.3 - Struktur und Sprache ................................................................................... 22
1.2.1 - Deutsche und jüdische Identität ................................................................... 34
1.2.2 - Klemperers Individualität ............................................................................ 43
1.2.3 - Heimatlosigkeit ............................................................................................ 52
2.1.1 - Die Stimmen aus der vertrauten Umgebung ............................................... 56
2.1.2 - Die deutsche vox populi ............................................................................... 61
2.1.3 - Die deutschen voces populi ......................................................................... 71
2.2 - Die vox populi als Beitrag zur historiographischen Debatte .............................. 75
2.2.1 - Hitlers willige Vollstrecker? ........................................................................ 75
2.2.2 - Haben sie es gewusst? ................................................................................. 79
6
7
0. Einleitung
Die Tagebücher des Philologen Victor Klemperer gelten als wichtiges Dokument der
Nazijahre und des Holocaust. Sie stellen das Leben unter dem nationalsozialistischen
Regime aus der Perspektive des Opfers dar und gönnen dem Leser nicht nur einen Blick
in das Alltagsleben Klemperers, sondern bieten anhand linguistischer Betrachtungen
auch Einsichten in die Wirkung der nationalsozialistischen Propaganda und in den
Verlauf der großen historischen Ereignisse jener Epoche.
Zunächst folgt eine kurze Biographie, die auf der biographischen Einleitung der
Tagebücher basiert. Victor Klemperer wurde am 9. Oktober 1881 in Landsberg/Warthe
aus jüdischer Familie geboren. Der Vater, Cousin des berühmten Komponisten Otto
Klemperer, war Rabbiner. 1890 siedelte die Familie nach Berlin über, wo der Vater
Prediger einer Reformgemeinde wurde. Trotz seiner jüdischen Herkunft ließ er seine
Söhne evangelisch taufen. Auch Victor wurde im Alter von 22 getauft und bekehrte sich
zum Protestantismus, nicht sosehr aus religiösen Gründen, sondern vor allem aus
wirtschaftlichen Gründen. Die Söhne der Familie Klemperer waren nämlich alle
entschlossen Karriere zu machen, und als Jude stieß man schon damals wirtschaftlich
auf Schwierigkeiten. Victor Klemperers berufliche Entwicklung vollzog sich anfangs
problematisch. Nach dem Besuch verschiedener Gymnasien fing er eine gescheiterte
Kaufmannslehre an. 1902 bis 1905 stürzte er sich auf eine akademische Ausbildung und
studierte Philosophie, Romanistik und Germanistik in München, Genf, Paris und Berlin.
In Berlin lebte er danach als Journalist und Schriftsteller. Auf seine Stelle als freier
Publizist wurde aber von der Familie herabgesehen, und 1912 nahm er sein Studium in
München wieder auf. Das wissenschaftliche Studium und der akademische Aufstieg
sollten aber mit dem Einbruch des ersten Weltkrieges abgestellt werden. Klemperer
meldete sich als Kriegsfreiwilliger und verbrachte einige Jahre an der deutschen Front.
Nach dem Krieg erhielt er schließlich ein Lehramt für Romanistik an der technischen
Hochschule in Dresden. Unter seinen veröffentlichten Studien befinden sich unter
anderem Die moderne französische Prosa 1870-1920 (1923), Geschichte der
französischen Literatur im 19. und 20. Jahrhundert (1925-1931) und Pierre Corneille
(1933).
8
In den dreißiger Jahren nahm das Leben Klemperers mit der Machtübernahme der
Nationalsozialisten eine dramatische Wende. Wegen der jüdischen Herkunft wurde
Klemperer in Deutschland plötzlich zu einer Persona non grata. Nach dem Versiegen
aller Publikationsmöglichkeiten und dem Ausschluss aus der Prüfungskommission,
wurde er 1935 aufgrund der Nürnberger Gesetze aus seinem Amt entlassen. Zwei Jahre
später traf ihn auch das Verbot der Bibliotheknutzung. Da ihm deswegen das
wissenschaftliche Arbeiten unmöglich gemacht wurde, begann er mit der Niederschrift
seiner Lebensgeschichte Curriculum Vitae und intensivierte die Einträge in das
Tagebuch. In den Tagebüchern erfährt man, wie Klemperer mehr und mehr ins Abseits
gedrängt wurde. 1940 wurde er mit seiner Deutschen "arischen" Frau, Eva Schlemmer,
aus der Wohnung ausgetrieben und verpflichtet in ein Dresdener Judenhaus
überzusiedeln. Trotz der ständigen Gefahr der Evakuierung und Drohung vonseiten der
Gestapo, zusammen mit den Mangelerscheinungen, die Klemperer erleiden musste,
überlebte er den Krieg. Die Mischehe mit einer "arischen" Frau und die Vernichtung
Dresdens am 13. Februar 1945 retteten ihn während des nationalsozialistischen Regimes
vor "Evakuierung" ins Konzentrationslager. Klemperer floh mit seiner Frau nach
Sachsen und Bayern, wo sie im Juni 1945 durch das Einmarschieren der Amerikaner
gerettet wurden.
Nach dem Krieg kehrten sie nach Dresden zurück. Im selben Jahr wurde
Klemperer zum Professor an der Technischen Universität Dresdens ernannt und fing
seine Sprachanalyse des Dritten Reiches LTI (Lingua Tertii Imperii) an, die 1947
erschien. In der Nachkriegszeit tritt er "trotz erheblicher Skrupel" in die KPD ein. ("Sie
allein drängt wirklich auf radikale Ausschaltung der Nazis. Aber sie setzt neue
Unfreiheit an die Stelle der alten!"). Von 1947 bis 1960 lehrte er an den Universitäten
Greifswald, Halle und Berlin. In diesen Jahren legte Klemperer in seinen Tagebüchern
weiter Rechenschaft ab, und zwar über die russische Besetzung, die Zweiteilung
Deutschlands und das weitere Leben in der DDR. Victor Klemperer starb 1960 in
Berlin. Aus dem Nachlass wurden Curriculum Vitae. Erinnerungen eines Philologen
(1989) und die Tagebücher Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten, Tagebücher 1933-
1945 (1995), Und so ist alles schwankend, Tagebücher 1945 (1996), Leben sammeln,
nicht fragen wozu und warum, Tagebücher 1918-1932 (1996), und So sitze ich denn
zwischen allen Stühlen, Tagebücher 1945-1959 (1999), veröffentlicht. 1995 bekam er
9
posthum den Geschwister-Scholl-Preis der Stadt München für Werke von geistiger
Unabhängigkeit, Freiheit, Mut und Verantwortungsbewusstsein.
Die Tagebücher gelten als wichtiges zeithistorisches Dokument, in dem das
Naziregime in allen Einzelheiten unter die Lupe genommen wird. In der Forschung ist
ihnen aber bisher nur wenig Aufmerksamkeit gewidmet worden. Die Forschung hat sich
besonders auf Klemperers Analyse der Sprache des Dritten Reiches, LTI: Die
unbewältigte Sprache - Aus dem Notizbuch eines Philologen, fokussiert. Jedoch wurden
die Tagebücher nach der Veröffentlichung 1995 im deutschsprachigen Raum zum
Erfolg, und auch im englischsprachigen Raum fanden sie nach ihrer Übersetzung in das
Englische großen Beifall. Die bedeutendsten Quellen, die ich für vorliegende Studie
benutzten konnte, entstammen denn auch hauptsächlich der deutsch-amerikanischen
Forschung, in der man meistens den historischen Aspekt der Tagebücher untersucht hat.
Obwohl ich das historische Element auch in Acht nehmen werde, ist es eher meine
Absicht, generell zu untersuchen, worauf sich der Wert der Tagebücher nun spezifisch
bezieht? Aufgrund einiger allgemeiner Feststellungen aus der Forschung nach der
Gattung des Tagebuchs können verschiedene Funktionen des Tagebuchs aufgedeckt
werden. Im Folgenden werde ich von den allgemeinen Merkmalen des Tagebuchs aus
die Funktionen der Tagebücher Klemperers abzuleiten versuchen. Da es sich um ein
außergewöhnliches Zeugnis aus der Perspektive des Opfers handelt, wird der historische
Kontext des nationalsozialistischen Zeitalters in Acht genommen und auch untersucht.
Erstens wird das Zeugnis als historisches Dokument betrachtet und kann nach der
Wahrhaftigkeit und Authentizität der Tagebücher gefragt werden. Welche objektiven
und subjektiven Elemente sind sowohl im Produktions- als im Rezeptionsprozess
festzustellen? Wie wirkt die Dialektik zwischen Innerlichkeit und Öffentlichkeit in den
Tagebüchern? Letztens wird auch die Bedeutsamkeit der Struktur und der Sprache
untersucht. Können traumatische Erlebnisse mit Sprache authentisch wiedergegeben
werden, und welche strukturellen und sprachlichen Einheiten eignen sich zur
Darstellung der Geschichte? Besonders der Ästhetisierung, die an manchen Stellen in
den Tagebüchern Klemperers vorkommt, wird Aufmerksamkeit gewidmet. Diese
Fragen versuche ich im Folgenden sowohl anhand des Textmaterials in den
Tagebüchern selber als anhand verschiedener Theorien im Bereich der Erinnerung und
Sprache zu lösen. Zweitens können die Tagebücher in dem Sinne als persönliches
10
Dokument bestimmt werden, dass sie für Klemperer als Halt in seinem erschütterten
Leben gelten können. Klemperer zog seine eigene Identität auf zwei Ebenen in Zweifel.
Sowohl seine deutsche als seine jüdische Identität waren ihm unklar geworden. Was
bedeuteten die deutsche Angehörigkeit und die jüdische Kultur und Tradition für
Klemperer in einer ihm feindlichen Epoche? Wie definiert er seine eigenen Ansichten
auf Nationalität und Religion, und wie können wir sie als Leser interpretieren?
Andererseits war auch seine Individualität einer Änderung unterlegen. Durch die
allmähliche Ausgrenzung aus der Gesellschaft wurde der Akademiker zu einem
Proletarierdasein gezwungen. Welche Wirkung hatte dieser Wandel auf Klemperers
Existenz als Wissenschaftler und als Mensch? Im Tagebuch evaluiert Klemperer von
Tag zu Tag sowohl die Ereignisse auf historischer als auch auf persönlicher Ebene.
Diese wechselnden Einsichten baut er anhand mehrerer Stimmen auf. Er zieht nicht nur
die eigene innere Perspektive, sondern auch äußere Perspektiven anderer Personen in
Betracht. Vor allem der Stimme seiner Frau wird in den Tagebüchern viel Beachtung
geschenkt. Im zweiten Kapitel wird denn auch die Mehrstimmigkeit, die in den
Tagebüchern vorhanden ist, besprochen. Welche Stimmen sind vertreten, und wie
werden sie dargestellt? Wann tauchen sie in den Tagebüchern auf, und welchen Einfluss
haben sie auf die Gedanken Klemperers? Aus den einzelnen Stimmen hat Klemperer
versucht, eine entscheidende Stimme abzuleiten, die die Stimmung in Deutschland
vorstellen soll. Dabei soll man sich natürlich fragen, ob eine einzelne Stimmung gar
vorhanden war, und aus welchen Gründen sie eventuell zustande gekommen ist. Die
Bedeutsamkeit der Propaganda ist beispielsweise ein bestimmender Faktor in dieser
Untersuchung. Im letzten Schritt wird der Frage nachgegangen, ob die Suche nach einer
entscheidenden Stimme und nach einer Stimmung einen Beitrag zur historiographischen
Debatte der vergangenen Jahrzehnte geleistet hat.
Kurzum, wie entwickelten sich die persönlichen Tagebücher zu einem der
bedeutendsten historischen Geschichtswerke der Nazizeit?
11
1. Funktionen des Tagebuchs
Wenn man sich mit der Gattung des Tagebuches beschäftigt, werfen sich
unmittelbar einige Fragen auf. An wen ist das Tagebuch adressiert? Welche sind die
primäre Funktionen? Welche Merkmale hat das Tagebuch? Ist ein Tagebuch
authentisch und wahrhaft? Wie zeigt sich der Geltungsanspruch? Diese Fragen sind für
die Analyse der Tagebücher von Victor Klemperer von größter Bedeutung, denn die
Antworten decken die Dialektik von Persönlichem und Historischem in den
Tagebüchern auf. Diese Dialektik kann als ein der wichtigsten Merkmale gelobt
worden, weil sie den Blick in das alltäglichen Leben unter dem nationalsozialistischen
Regime ermöglicht.
Erstens kann man nach der Zielrichtung des Schreibens in einem Tagebuch
fragen. Meike Heinrich-Korpys spricht in Tagebuch und Fiktionalität von einer
Selbstrezeptivität. Der Tagesbuchschreiber soll die eigenen Erlebnisse des Tages für
den eigenen Gebrauch festlegen. So werden Autor und Leser im selben Subjekt
festgehalten und erhält das Tagebuch einen monologischen Charakter. In dem Monolog
entwirft der Text ein Leserkonzept, das mit dem Tagebuchschreiber übereinstimmt.
1
Die Möglichkeit besteht, dass Klemperer das Tagebuch als Halt für das eigene Leben
geführt hat. Laut Omer Bartov schrieb Klemperer das Tagebuch, um die eigene
Existenz und Identität festzuhalten, in einer Welt, die sich gegen ihn gewandt hatte und
alle seiner Überzeugungen bedrohte.
2
Das Tagebuch sei dann zum Instrument
geworden, das eigene Leben zu strukturieren. In diesem Sinne können die Tagebücher
der Nazijahre als persönliches und privates Dokument betrachtet werden und erweist
sich die Selbstbehauptung als erste wichtige Funktion. Die These der monologischen
Kommunikation gründet auf der fehlenden Veröffentlichungsabsicht. Es ist aber Unklar,
ob Klemperer nicht die Absicht hatte, die Tagebücher zu veröffentlichen. Er hat schon
im Alter von 16 damit angefangen, seine Erlebnisse täglich in das Tagebuch
einzutragen, und hat es bis seinen Tod im Jahre 1960 weitergeführt. Außerdem sind die
Tagebücher der Nazi-Jahre erst 35 Jahre nach dem Tode publiziert worden. In Im
Herzen der Finsternis weist Hannes Heer darauf hin, dass die späte Veröffentlichung
1
Meike Heinrich-Korpys: Tagebuch und Fiktionalität. Signalstrukturen des literarischen Tagebuchs am
Beispiel der Tagebücher vom Max Frisch. St-Ingbert: Röhrig Universität 2003, S. 84.
2
Omer Bartov: "The last German". In: New Republic 219 (1998), S. 35.
12
auch einige Vorteile, die dem historischen Wert der Tagebücher noch verstärkt haben,
gehabt hat. Sie waren beispielsweise nie der Zensur unterlegen, weil sie erst nach der
Wiedervereinigung Deutschlands in die Öffentlichkeit gebracht wurden.
3
Da die
Tagebücher aber ediert worden sind, gibt es trotzdem einige Informations- und
Komplexitätsreduktionen. Arno Dusini setzt den Editionsprozess mit "einer Geschichte
von Zensur, Unterschlagung, und Durchstreichung, von Korrektur, Zurechtrückung und
Überschreibung" gleich.
4
So wurden in den Tagebüchern Klemperers viele
Wiederholungen ausgelassen, die für das Verständnis der psychologischen Disposition
oder der wiederholten Obsessionen nützlich gewesen sein könnten. Trotz der
verspäteten Veröffentlichung der Tagebücher der Nazijahre gibt es aber auch
verschiedene Hinweise darauf, dass Klemperer die Veröffentlichung im Sinne hatte.
Wenn das der Fall war, kann man von einer dialogischen statt monologischen
Kommunikationssituation in den Tagebüchern ausgehen. Schon der Titel Ich will
Zeugnis ablegen bis zum Letzten verweist auf den Willen Klemperers als Chronist
seiner Zeit aufzutreten. Der Titel basiert auf zwei Einträgen im Jahre 1942. Am 27. Mai
notierte Klemperer: "Aber ich schreibe weiter. Das ist mein Heldentum. Ich will
Zeugnis ablegen, und exaktes Zeugnis!"
5
, und am 11. Juni lesen wir: "das Tagebuch
werde ich weiter wagen. Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten".
6
Der Wille, Zeugnis
abzulegen, entwickelt sich zu einem psychologischen Leitmotiv in den Tagebüchern.
Klemperer wird durch den Willen, zu registrieren, getrieben und weist einen obsessiven
Bedarf auf, die eigene Situation aufzuzeichnen.
7
Das Motiv der Zeugenschaft zeigt, dass
Klemperer die Tagebücher als Zeugnis für die Nachkommen gemeint hat. Er wollte den
Nachkommen die Wahrheit über das grausame nationalsozialistische Regime
weitergeben, sodass die Katastrophe nicht vergessen würde. In den Tagebüchern kommt
deutlich zum Ausdruck, dass Klemperer immer an das Ende des nationalsozialistischen
Regimes und an ein Leben nach Hitler geglaubt hat, nur das Wann und Wie und das
eigene Überleben blieben ihm unklar. So heißt es am 15. Februar 1934: "Die Hoffnung,
3
Hannes Heer: Im Herzen der Finsternis. Victor Klemperer als Chronist der NS – Zeit. Berlin: Aufbau
1997, S. 17.
4
Arno Dusini: Tagebuch. Möglichkeiten einer Gattung. München: Wilhem Fink 2005, S. 49.
5
Victor Klemperer: Ich will Zeugnis ablegen bis zum Letzten. Tagebücher 1933-1945. Band 5. Hg. von
Walter Nowojski. Berlin: Aufbau 1999, S. 99.
6
Klemperer: Ich will Zeugnis ablegen. Band 5, S. 124.
7
Katie Trumpener: "Diary of a Tightrope Walker.Victor Klemperer and his Posterity." In:
Modernism/Modernity 7 (2000), S. 490.
13
daß dieser Zustand der maßlosen Tyrannei und Lüge doch einmal zusammenbrechen
muß, hört niemals auf"
8
, und auch fünf Jahre später ist die Hoffnung noch nicht ganz
verschwunden, denn am 24. Dezember 1939 lesen wir: "Und jetzt ist die Entscheidung
im Gange und muß gegen Hitler fallen. Bleibt für uns nur noch die Frage des Wann".
9
In beiden Einträgen wird hervorgehoben, dass das Regime zusammenbrechen muß. An
einen dauerhaften Sieg des Nationalsozialismus glaubte Klemperer offensichtlich nicht.
Daraus kann man neben der Selbstbehauptung eine zweite wichtige Funktion der
Tagebücher schließen, die Zeugenschaft. So gibt es zwei mögliche Lesarten, die
einander nicht ausschließen, sondern sich ergänzen. Die Grenzen zwischen dem
Persönlichen und dem Historischen/Dokumentarischen sind nicht festzustellen, sondern
überschneiden sich ständig. Bevor ich näher auf die Dialektik zwischen beiden Lesarten
eingehe, werde ich zunächst die beiden Funktionen an sich untersuchen.
1.1 - Zeugenschaft
Wenn
man
die
Tagebücher
als
Zeugnis
des
Lebens
unter
dem
nationalsozialistischen Regime liest, kann man die Frage nach der Authentizität nicht
auslassen. Darf man der Tagebuchschreiber trauen, oder soll man die Wahrhaftigkeit in
Frage stellen? Das Schreiben eines Tagebuches steht in Zusammenhang mit Prozessen
der Subjektivität und Objektivität, mit Betrachtungen der Innerlichkeit und
Öffentlichkeit und mit einer Strukturierung der Geschehnisse. Bevor ich mich mit die
Perspektive und Struktur beschäftigen werde, werde ich zunächst untersuchen, ob die in
den Tagebüchern vertretene Subjektivität und Objektivität, die Glaubwürdigkeit und
Wahrhaftigkeit gefährden.
1.1.1 - Subjektivität und Objektivität
In Tagebuch und Fiktionalität behauptet Heinrich-Korpys, dass der Gattung des
Tagebuches, die eine autobiographische Zweckform voraussetzt, von den Lesern ein
Geltungsanspruch zugeschrieben wird. Der Leser erwartet, dass die aufgezeichneten
Ereignisse und Erlebnisse wahrhaftig sind. Dieser Geltungsanspruch "garantiert dem
Leser, daß das Dargestellte die wahrhaftige Lebensgeschichte eines historischen
8
Klemperer: Ich will Zeugnis ablegen. Band 1, S. 84.
9
Klemperer: Ich will Zeugnis ablegen. Band 3, S. 181.
14
Individuums spiegelt."
10
Trotzdem ist eine objektive Fassung des eigenen Lebens aber
unmöglich. Erstens wird die Objektivität durch die Selektion des Tagebuchschreibers
verhindert. Aus der Menge an Eindrücken eines Tages selektiert der Autor nur einige
Ereignisse, Gedanken oder Gefühle. Der Selektionsprozess gefährdet die Objektivität in
der Auswahl der darzustellenden Ereignisse. Auch laut Martin Stern ist eine der
Entscheidungen, die der Schreiber nehmen muss, die Auswahl. Er weist darauf hin, dass
"das Gedächtnis dem Schreiber nur ein stark vorselektioniertes Sortiment von
Erinnerungen zur Verfügung stellt".
11
Abhängig von der Art der Quellen, die ihm zur
Verfügung stehen, ist er mehr oder weniger auf "die unverlässliche Instanz seines
Gedächtnis angewiesen".
12
So ist es wahrscheinlich, dass unangenehme, negative oder
peinvolle Geschehnisse öfters ausgelassen werden. Eine andere Entscheidung ist nach
Stern die Akzentuierung. Einige Ereignisse werden ausführlich, andere nur beschränkt
dargestellt. Hierüber entscheidet aber nicht nur das Gedächtnis, sonder auch die Sicht
des Schreibers zum Zeitpunkt der Aufzeichnung.
13
Diese Entscheidungen sind beide von
einem subjektiven Charakter gekennzeichnet, denn das Ausgelassene könnte für den
Leser ebenso von großer Bedeutung sein. Zweitens ist ein Grad der Subjektivität im
autobiographischen Schreiben durch die subjektive Wahrnehmung nicht wegzudenken:
alles Dargestellte hat seinen Ursprung in der Wahrnehmung, Reflexion oder dem
Erleben des Tagebuch-Ich. Da das Tagebuch keine anderen Perspektivträger
kennt, spiegelt sich hier nur der begrenzte Horizont des Schreibenden.
14
Die Grundlage des Tagebuchs ist an sich schon subjektiv. Trotz der Subjektivität gibt es
aber auch verschiedene Merkmale der Faktizität und Historizität. Das Kriterium der
Verifizierbarkeit ist wenigstens in dem Tagebuch vorhanden. So sind einige Geschehen,
die Orts- und Zeitangaben, sowie die erwähnten Personen an der Wirklichkeit
nachprüfbar. Die Nachprüfbarkeit von Ort, Zeit und Personen zeigt sich in der engen
Bindung an die Gegenwart. Der Anspruch der Verifizität steht aber nicht im Gegensatz
zu der erwähnten Subjektivität der Tagebuchaufzeichnungen, weil sie die
Nachprüfbarkeit der Daten und Fakten nicht in Frage stellt, sondern in der Interpretation
10
Heinrich-Korpys: Tagebuch und Fiktionalität, S. 89.
11
Martin Stern: "Die sieben A der Autobiographie". In: Das erdichtete Ich - eine echte Erfindung :
Studien zu autobiographischer Literatur von Schriftstellerinnen. Hg. von Heidy Margrit Müller. Aarau:
Sauerländer 1998, S. 13.
12
Stern: "Die sieben A der Autobiographie", S. 14
.
13
Stern: "Die sieben A der Autobiographie", S. 15
.
14
Heinrich-Korpys: Tagebuch und Fiktionalität, S. 85.
15
der Ereignisse gründet.
15
Wird aber auch die Wahrhaftigkeit und Authentizität im
Prozess der subjektiven Interpretation und Selektion bedroht? Der Unterschied besteht
vor allem in der Perspektive. Während die subjektiven Merkmale sich besonders im
Rahmen der Produktion betrachten lassen, gründet sich die Objektivität eher auf der
Interpretation eines Geschehens im Rezeptionsprozess.
Obwohl Klemperer in den Tagebüchern vor allem von persönlichen und
alltäglichen Erlebnissen berichtet, werden sie durch eine große Sachlichkeit
gekennzeichnet. Zunächst soll vielleicht bemerkt worden, dass die Tagebücher von
Klemperer auch als Sammlung von Daten gemeint worden ist. Nachdem Klemperer die
Schreibmaschine entnommen worden war, trug er die Daten für seine
wissenschaftlichen Arbeiten in das Tagebuch ein. Die Notizen zum Sprachgebrauch der
Nazis hat Klemperer beispielsweise nach dem Kriege ausgearbeitet und sind unter dem
Titel LTI (Lingua Tertii Empirii) veröffentlicht worden. Das Tagebuch fungierte
außerdem auch als Rohfassung des Curriculum Vitae. Klemperer hatte nämlich im
Sinne, anhand der Tagebuchaufzeichnungen eine Autobiographie zu schreiben, die er
nach dem Verbot der Bibliotheknutzung in 1937 schon angefangen hatte.
Klemperer hatte nicht die Absicht, einen historischen Überblick des Regimes
darzustellen, sondern wollte von den normalen Ereignissen im Alltag der Tyrannei
Zeugnis ablegen. Am 8. April 1944 notierte er:
Es kommt nicht auf die großen Sachen an, sondern auf den Alltag der Tyrannei,
der vergessen wird. Tausend Mückenstiche sind schlimmer als ein Schlag auf den
Kopf. Ich beobachte, notiere die Mückenstiche.
16
Klemperer wollte sich nur um das Kleine, das Selbstbeobachtete bemühen und
"überlässt die große Linien der Historie".
17
Er ging davon aus, dass die großen Linien
der politischen Lage aus anderen Quellen, wie Zeitungen, aufgedeckt werden sollten.
Deswegen hat er sich nur auf das Kleine, Selbstbeobachtete und selbst Erlebte
beschränkt. Trotz dieser Einschränkung auf den Alltag und trotz der Trostlosigkeit der
eigenen Situation, gelingt es Klemperer die Erlebnisse und Gedanken aus einer
gewissen Distanz zu erzählen. Die schiere Faktizität in den Tagebüchern wird unter
15
Heinrich-Korpys: Tagebuch und Fiktionalität, S. 93.
16
Klemperer: Ich will Zeugnis ablegen. Band 7, S. 41.
17
Klemperer: Ich will Zeugnis ablegen. Band 3, S. 156.
16
anderen von Hannes Heer hervorgehoben
18
, und verleiht dem Ganzen einen höheren
Grad der Authentizität. So weist Klemperers Schreibstil nie eine Neigung zum
Melodramatischen auf. Er wollte keine interessante, leidenschaftliche Geschichte
erzählen, sondern als Chronist die Lage möglichst objektiv schildern. Hans Reiss
kommentiert Klemperers Schreiben wie folgt:
Klemperer writes remarkably well. He avoids clichés and undue sentimentality,
his observation is sharp, his characterisation of people economical but acute, his
portraits memorable and his description impressive. His sharpness of vision, his
single-mindedness and pertinacity in recording his experiences endow his writing
with authenticity.
19
Reiss behauptet also, dass dem Tagebuch durch den objektiven Stil ein authentischer
Charakter zugeschrieben werden kann. Die Umschreibungen Klemperers enthalten
tatsächlich nur wenige Spuren der Sentimentalität. Auch wenn Klemperer aber bewusst
das Melodramatische abgelegt hat, gibt es jedoch eine gewisse Tragik, die aus den
Tagebüchern spricht. Auch Reiss weist darauf hin, dass sich Klemperers
Leidensgeschichte als Tragödie lesen lässt.
20
Die Tragik ist aber vor allem in dem Inhalt,
und nicht sosehr in der Form nachzuvollziehen. Die Leser werden zu Zeugen einer
tragischen Geschichte. Das Tragische liegt aber besonders darin, dass der Leser das
Ende der Geschichte schon kennt. Der Leser weiß, im Gegensatz zu Klemperer, wie
sich der zweite Weltkrieg und der Holocaust entwickeln. Obwohl Klemperer sich der
Grausamkeiten und der Verbrechen der Nationalsozialisten völlig bewusst zu sein
schien, gab er sich noch immer oft der Hoffnung hin, dass das Regime sich nicht halten
wurde. Wenn man liest: "Es kann nicht lange mehr dauern."
21
, soll das dem Leser
hoffnungsvoll erscheinen. Wenn man aber das Datum des Eintrags nachschlägt und
feststellt, dass die Aussage vom 13. Juni 1934 datiert, kann man sich das Gefühl der
Tragik nicht loswerden. Reiss fügt noch hinzu, dass auch das Ende der Tagebücher der
Nazijahre Züge einer Tragödie aufweist. Klemperer wurde von dem Bombenangriff auf
Dresden gerettet. Die Rettung wurde durch die Bomben der Alliierten, als Deus ex
Machina, im Februar 1945 ermöglicht.
22
Nach dem Angriff waren nämlich die
18
Heer: Im Herzen der Finsternis, S. 17.
19
Hans Reiss: "Victor Klemperer. Reflections on his Third Reich Diaries". In: German Life and Letters
51 (1998), S. 67.
20
Reiss: "Victor Klemperer. Reflections on his Third Reich Diaries", S. 67.
21
Klemperer: Ich will Zeugnis ablegen. Band 1, S. 109.
22
Reiss: "Victor Klemperer. Reflections on his Third Reich Diaries", S. 67.
17
Dokumente der Gestapo vernichtet und entkam Klemperer der Deportation in ein
Konzentrationslager. Der Judenstern wurde von seiner Frau entfernt, und sie flohen
nach Sachsen und Bayern, wo sie das Kriegsende erlebten. Da die Tragik aber von dem
Vorwissen des Lesers abhängig ist, tut sie der Zuverlässigkeit und Authentizität der
Tagebücher keinen Abbruch.
Die Tagebücher enthalten also sowohl subjektive als auch objektive Züge.
Obwohl die Grundlage des Tagebuches als subjektiv betrachtet werden kann, können
die Faktizität und Distanz in Klemperers Beobachtungen uns trotzdem von der
Wahrhaftigkeit der Darstellung überzeugen.
1.1.2 – Innerlichkeit und Öffentlichkeit
Die Tagebücher Klemperers werden auch durch den Fokus auf Innerlichkeit und
Öffentlichkeit gekennzeichnet. Sie beschäftigen sich sowohl mit dem Persönlichen als
auch mit dem Historischen. Wie schon erwähnt, hat Klemperer sich vor allem auf die
Erlebnisse des Alltags fokussiert. Die Anekdoten schienen ihm am Wichtigsten zu sein,
um einen Blick ins Leben in Nazi-Deutschland zu werfen. Es versteht sich von selbst,
dass das Alltagserlebnis stark von politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen
Umständen geprägt ist. In "Die Stimmen des Archivs, Alltag und Identität in Victor
Klemperers Tagebüchern des Dritten Reiches" behauptet Arvi Sepp, dass sich in den
Tagebüchern eine Mikro-Geschichte und eine Makro-Geschichte unterscheiden lassen.
23
Die Mikro-Geschichte umfasst die persönlichen, alltäglichen Erlebnisse Klemperers,
während die Makro-Geschichte von dem allgemeinen politisch-historischen Kontext
handelt. Es ist evident, dass der Alltag von dem nationalsozialistischen Regime
durchdrängt war. Die Ideologie hat das Leben und die Überzeugungen Klemperers
erschüttert. Der Nationalsozialismus hat alle Bereiche der Gesellschaft beeinflusst und
Klemperer nicht nur das Amt und das Haus, sondern auch fast das Leben gekostet.
Besonders die Mangelerscheinungen als Folge des Krieges und der Judenverfolgung
haben ihn am meisten geschmerzt. Anhand der Tagebucheinträge, der anekdotischen
Geschichten und der angeblich belanglosen Details wird dem Leser ein Blick auf die
23
Arvi Sepp: "Die Stimmen des Archivs. Alltag und Identität in Victors Klemperers Tagebüchern des
Dritten Reiches". In: Germanistische Mitteilungen. Zeitschrift für Deutsche Sprache, Literatur und
Kultur. 6 (2006), S. 22.
18
brenzliche Lage, in der Klemperer sich befand, gegönnt. So berichtete er am 19. Mai
1942:
Ich schleppte mit schweren Schlundschmerzen 30 Pfund Kartoffeln von unserem
Wagenhändler am Wasaplatz her. Als dort der Mann meine Karte schon in der
Hand hatte, trat von hinten ein junges Weibsbild, blondgefärbt, mit gefährlich
borniertem Gesicht, heran, etwa die Frau eines Kramhandlers: »Ich war eher hier
– der Jude soll warten.« Jentzsch bediente sie gehorsam, und der Jude wartete.
Jetzt ist es gegen sieben Uhr, und die nächsten zwei Stunden wartet der Jude
wieder auf die (meist am Abend stattfindende) Haussuchung.
24
In dieser kleinen Anekdote wird Klemperer dem Antisemitismus des Alltags ausgesetzt.
Auf der Straße wird er von einer gewöhnlichen deutschen Frau erniedrigt. Sie ist
offensichtlich von der nationalsozialistischen Ideologie beeinflusst und zögert nicht ihre
antisemitischen Ideen in der Öffentlichkeit zu äußern. Die Wiedergabe ihrer Aussage
zwischen Anführungszeichen in direkter Rede verleiht ihrer Autorität noch größeren
Nachdruck. Auch der Kramhändler, mit dem Klemperer angeblich bekannt war
(unserem Wagenhändler), gehorcht der Frau unmittelbar, obgleich er die Karte
Klemperers schon in der Hand hatte. Das bedeutet aber nicht ohnehin, dass der Händler
mit dem Nationalsozialismus und dem Antisemitismus sympathisierte. Es ist eher
wahrscheinlich, dass er befürchtete, dass die Frau ihn angeben würde, wenn er ihr nicht
gehorchte. Klemperer fügt sich in sein Schicksal und wartet. Er ist sich der Gefahr (mit
gefährlich borniertem Gesicht) bewusst. Diese Stelle ist hoch ironisch. So verbindet er
das Adjektiv 'borniert', mit dem Substantiv 'Gesicht', was gewissermaßen fremd
anmutet. Die Borniertheit einer Person bezieht sich normalerweise auf den Geist, und
zeigt sich nicht im Gesicht. Aus ihren Worten, die Klemperer nach der Umschreibung
wiedergibt, kann man aber schließen, dass die Frau tatsächlich borniert ist. Die Gefahr
wird hier von Klemperer physiognomisiert, und so zu etwas real Bedrohendes und
Fassbares umgestaltet. Er übernimmt auch ironisch die Worte der Frau, die ihn als 'der
Jude' umschreibt. Diese ironische Aussage Klemperers bezieht sich auf die allgemeine
Tendenz des "Auf-einen-Nenner-Bringens", die Klemperer, wie wir noch sehen werden,
an verschiedenen Stellen beschreibt. Im Nationalsozialismus wurde das Individuum
bedroht und durch das Kollektiv ersetzt. Aus dieser Stelle gehen also die weit
verbreiteten Erniedrigungen hervor, denen 'der Jude' ausgesetzt war. Ebenso ironisch
erwähnt Klemperer in einem Atem die möglich bevorstehende Haussuchung am Abend.
24
Klemperer: Ich will Zeugnis ablegen. Band 5, S. 90.
19
Die Haussuchungen bedeuteten für ihn eine der größten Gefahrenquellen. Wenn man
während einer Razzia die Manuskripte oder die Tagebuchnotizen entdeckt hätte, hätte
es ihm höchst wahrscheinlich den Kopf gekostet. Nicht nur sein Schicksal, sondern das
Schicksal von vielen wäre in diesem Fall besiegelt gewesen. Klemperer ist oft davor
gewarnt worden, in seinen Aufzeichnungen keine Namen zu nennen. Er hat aber immer
betont, dass er Namen nennen müsse, wenn er überzeugendes Zeugnis ablegen wollte.
In einem Eintrag am 27. September 1944 heißt es:
Meine Tagebücher und Aufzeichnungen! Ich sage mir wieder und wieder: Sie
kosten nicht nur mein Leben, wenn sie entdeckt werden, sondern auch Evas und
das mehrerer anderer, die ich mit Namen genannt habe, nennen mußte, wenn ich
dokumentarischen Wert erreichen wollte. Bin ich dazu gerechtigt, womöglich
verpflichtet, oder ist es verbrecherische Eitelkeit?
25
Trotz des Bewusstseins, dass er beim Schreiben nicht nur sich selbst, sondern auch die
Frau und viele Andere gefährdete, blieb Klemperer entschlossen Zeugnis abzulegen 'bis
zum letzten'. Eva brachte die Manuskripte nach Pirna, wo sie bei der befreundeten
Ärztin Annemarie Köhler versteckt und schließlich auch gerettet wurden. Viel wichtiger
an dieser Stelle ist aber die selbstreflexive Frage, ob er dazu gerechtigt oder verpflichtet
war. Nur selten hat Klemperer seine Mission, als Chronist der Nazizeit aufzutreten, in
Frage gestellt. An dieser Stelle zieht er den Nutzen und den Sinn des Schreibens aber in
Zweifel, weil er nicht mehr an das Fertigwerden der Arbeit glaubt: "Wenn es fertig
wird, und wenn es Erfolg hat, und wenn ich »in meinem Werk fortlebe« - welchen Sinn
hat das alles »an und für mich«?"
26
Der Zweifel wird aber gleich wieder
zurückgenommen in den folgenden Sätzen, indem er sie auf Folgendes gründet: "All
dies [...] schreib ich ja nur auf, weil ich kein leeres Blatt fortschicken will" und weiter
"weil ich ja doch nichts Besseres mit meiner Zeit anzufangen vermag".
27
Einerseits
nimmt Klemperer hier den eigenen Zweifel zurück, andererseits untergräbt er auch das
eigene Schreiben. Die Bedeutsamkeit des Tagesbuches wird komplett in Frage gestellt.
Angeblich nur aufgrund der Wirtschaftlichkeit und der Langeweile hat er diese
Gedanken zu Papier gebracht. Das Schreiben wird deshalb trivialisiert, aber auch
materialisiert, weil er kein 'leeres Blatt fortschicken will'. Klemperer weist manchmal
25
Klemperer: Ich will Zeugnis ablegen. Band 7, S. 133.
26
Klemperer: Ich will Zeugnis ablegen. Band 7, S. 133.
27
Klemperer: Ich will Zeugnis ablegen. Band 7, S. 133.
20
auf die Schreibarbeiten als seine "Papiersoldaten" hin, die leitmotivisch in den
Tagebüchern auftauchen, zum Beispiel am 17. März 1943:
»Papiersoldaten« stehen am Anfang und am Ende meines Lebens. Das 18ième,
das Curriculum, die LTI – sie werden immer Papiersoldaten bleiben und genauso
verschwinden wie die wirklichen Papiersoldaten meiner Kinderzeit.
28
Er vergleicht seine Aufzeichnungen mit den Papiersoldaten, die er in seiner Kindheit
gemacht hat. Genauso wie die Soldaten seiner Kinderzeit, werden Klemperers Meinung
nach auch seine "armen Papiersoldaten des Dritten Reichs"
29
verschwinden und das
Regime nicht überleben. Obwohl er das Fertigwerden seiner Schreibarbeiten anhand der
leitmotivischen "Papiersoldaten" manchmal in Frage gestellt hat, ist er seiner Mission
als Chronist aber immer treu geblieben.
Trotz der ständigen Hinweise auf die Bedeutsamkeit des Alltags enthalten die
Tagebücher auch Informationen über die Makro-Geschichte. Die Einträge, die sich auf
die politisch-historische Lage beziehen, beruhen meistens auf Lageberichten, Zeitungen,
Rundfunksendungen oder Gerüchten. So stellt er beispielsweise am 2. Juni 1942 eine
Liste der Judenverordnungen zusammen. Zu der Liste fügt er noch bitter-ironisch hinzu:
Ich glaube diese 31 Punkte sind alles. Sie sind aber zusammen gar nichts gegen
die ständige Gefahr der Haussuchung, der Mißhandlung, des Gefängnisses,
Konzentrationslagers und gewaltsamen Todes.
30
Die Liste gibt dem Leser eine Idee, wie sehr die Juden unter der Judenverfolgung im
nationalsozialistischen Regime gelitten haben. Vor allem der Judenstern hat ihn
persönlich sehr gekränkt.
31
Außerdem sind die Anordnungen auch nachprüfbar und
spricht die Liste für die Authentizität der Tagebücher, weil einer solchen Liste das
Kriterium der Verifizierbarkeit unterlegen ist. Auch die kritische Haltung der Lage, den
Nachrichten, der Volksstimmung und sich selbst gegenüber trägt zum Geltungsanspruch
bei. Er ist sich immer völlig der Lügen in den Heeresberichten, als Teil der Propaganda,
bewusst. In einem Eintrag vom 19. April 1940 äußert er einige kritische Fragen,
nachdem er sich einen Heeresbericht im Rundfunk angehört hat.
28
Klemperer: Ich will Zeugnis ablegen. Band 6, S. 46-47.
29
Klemperer: Ich will Zeugnis ablegen. Band 7, S. 59.
30
Klemperer: Ich will Zeugnis ablegen. Band 5, S. 108.
31
Klemperer: Ich will Zeugnis ablegen. Band 5, S. 117.
"Und alle Welt mustert meinen Stern. Tortur – Ich kann mir hundertmal vornehmen, nicht darauf zu
achten, es bleibt doch Tortur. Auch weiß ich von keinem Vorübergehenden, Vorüberfahrenden, ob er
nicht zur Gestapo gehört, ob er mich nicht beschimpfen, anspucken, verhaften wird."
21
Der Heeresbericht weiß immer von vernichteten englischen Kreuzern und nie von
eigenen Verlusten zu erzählen. Drei Kreuzer an einem Tag: das ist enorm; aber
wenn die deutschen Bomber so absolut unwiderstehlich sind, wieso hält überhaupt
noch eine Flotte Narvik blockiert, wie konnten englische Truppen nach Norwegen
gelangen, wieso gibt es noch ein unversehrtes Schiff in Scapa Flow??? Ich kann
gar nicht genug Fragezeichen tippen.
32
Klemperer kann dem deutschen Bericht nicht glauben, denn es gibt zu viele
Widersprüche, die die Wahrheit in Zweifel ziehen. Die Aussage 'Ich kann gar nicht
genug Fragezeichen tippen' bringt die kritische Haltung wörtlich zum Ausdruck.
Außerdem kann man diesen Satz wiederum als Materialisierung des Schreibens
betrachten. Die Kritik an den Bericht wird, genauso wie der Sinn des Schreiben bevor,
in der Darstellung materialisiert, und so zu etwas Reales und Fassbares umgeformt. In
den Tagebüchern kann man ständig solche Stellen finden, in denen Klemperer die
Wahrhaftigkeit von Berichten und Gerüchten durch Fragezeichen anzweifelt.
Besonders der Ausdruck "Wieso?" wird sehr oft zwischen Klammern nach einer
Aussage verwendet. In seiner Suche nach der wahren Lage Deutschlands stieß er immer
wieder auf Gegensätze und Widersprüche und herrschte völlige Ungewissheit.
Neben solchen Interjektionen, gibt es in den Tagebüchern noch andere strukturelle
und sprachliche Merkmale, an denen die Authentizität geprüft werden kann. Die
Abwechslung von Innerlichkeit mit Öffentlichkeit (Mikro-Geschichte mit Makro-
Geschichte) führt schon dazu, dass man an die Wahrhaftigkeit der Darstellung in den
Tagebüchern zu glauben vermag, weil sie dem Leser ein Gesamtbild präsentieren. In
diesem Abschnitt wurde die Innerlichkeit mit den Details des Alltags gleichgesetzt,
während die Öffentlichkeit sich auf die historische Lage bezog. Diese Zweiteilung kann
man aber auch auf die innere Perspektive und die äußere Perspektive anwenden, auf
denen im zweiten Kapitel weiter eingegangen wird. Im Folgenden wird aber zunächst
eine Untersuchung von der Bedeutsamkeit der Struktur und Sprache und von ihrem
Einfluss auf die Funktion der Zeugenschaft unternommen.
32
Klemperer: Ich will Zeugnis ablegen. Band 4, S. 13.
22
1.1.3 - Struktur und Sprache
Im vorigen Abschnitt habe ich den dialektischen Charakter von Innerlichkeit und
Öffentlichkeit, der als Merkmal der Gattung des Tagebuchs betrachtet werden kann,
dargestellt. Das wichtigste Merkmal ist aber die enge Bindung an den Tag, die große
Folgen für die Struktur innehat. Meike Heinrich-Korpys deutet auf die Bedeutsamkeit
dieser Bindung an die erlebte Gegenwart hin. Da der zeitliche Abstand zwischen
Erlebnis und Aufzeichnung so gering ist, wird das Erlebte "spontan und unmittelbar
festgehalten und unterliegt noch kaum einer retrospektiven Bearbeitung".
33
Da der
Tagebuchschreiber von Tag zu Tag die Erlebnisse einträgt, reflektiert ein einzelner
Eintrag nur den Standpunkt dieses Tages.
Natürlich hindert ihn das nicht, diesen engen Zeitraum zu verlassen. [...]Aber
indem er es tut, kann er nur vom Standpunkt des Tages ausgehen; am Folgenden
Tag glaubt er sich vielleicht schon geirrt zu haben und kommt beim Nachdenken
über dasselbe Thema zu ganz anderen Ergebnissen. Er ist also nicht in den Daten
selbst, die er notiert, wohl aber in der Interpretation dieser Daten an den Tag, oder
besser: an den Augenblick gefesselt.
34
Die Einsichten und Interpretation eines Geschehens können im Tagebuch also von Tag
zu Tag modifiziert werden, weil das Tagebuch an die chronologische Zeitstruktur des
Alltags gebunden ist. Dieser Tatsache war sich auch Klemperer bewusst:
Ich notiere bisweilen ein Stichwort, aber am nächsten Tag erscheint es unwichtig,
in Tatsache und Stimmung überholt. Aber die wechselnden Details des Alltags
sind doch gerade das Wichtigste.
35
In diesem Eintrag vom 10. Dezember 1940 betont Klemperer nochmals die Wichtigkeit
des Alltags. Jeden Tag bringt neue Erlebnisse und Einsichten mit sich, und gerade diese
will er in seinem Tagebuch festhalten. Sowohl die rasch ändernden Umstände
(Tatsache) als auch ihrer Wirkung auf die Bevölkerung (Stimmung) sind am nächsten
Tag schon ganz anders (überholt). Dadurch, dass er sich der immer wieder ändernden
Einsichten bewusst ist, kann man sich fragen, ob Klemperer in diesem Bewusstsein
versucht hat, eine gewisse Kohärenz zwischen den einzelnen Teilen zu stiften. Heinrich-
Korpys behauptet, dass es sich im Tagebuch um geschlossene Mikrotexte handelt, die
33
Heinrich-Korpys: Tagebuch und Fiktionalität, S. 86.
34
Heinrich-Korpys: Tagebuch und Fiktionalität, S. 87.
35
Klemperer: Ich will Zeugnis ablegen. Band 4, S. 61.
23
zusammenhangslos hintereinander gestellt sind.
36
Auch Arno Dusini hebt hervor, das
der Tag als "relativ autonome und insofern über einen eigenen Spielraum verfügende
Texteinheit" fungiert.
37
Beide Forscher beschäftigen sich aber mit der Struktur des
Tagebuchs aus dem Standpunkt der Produktion. Wenn man die Struktur der Tagebücher
Klemperers aber aus dem Standpunkt der Rezeption betrachtet, stellt man fest, dass die
einzelnen Abschnitte zwar von Zeit- und/oder Ortsangaben voneinander abgesetzt sind,
sie bleiben jedoch nicht bloß fragmentarisch. Die Tagebücher weisen eine Kontinuität
und Kohärenz auf, da dieselbe Themen konsistent in den Einträgen wiederkehren, sowie
die Judenverfolgung, die Volksstimmung, das Schreiben, die Mangelerscheinungen,
usw. Die wechselnden Stimmungen und Einsichten tun dabei der Kohärenz keinen
Abbruch, tragen aber, wie Klemperer auch selber hervorhebt, zur authentischen
Wiedergabe des Alltagserlebens bei, weil die Abfolge einzelner Mikrotexte sich so zu
einer Gesamtstruktur entwickelt.
In Bezug auf die Sprache haben wir schon festgestellt, dass Klemperer in den
Tagebüchern angeblich objektiv und faktisch berichtet. Soll man aber deswegen ohne
weiteres den Einträgen trauen, oder ist einige Vorsicht geboten? In der neueren
literaturwissenschaftlichen Forschung hat besonders W.G. Sebald sich mit dieser Frage
auseinandergesetzt. In Luftkrieg und Literatur behauptet er, dass die meisten
Zeugenberichte unzuverlässig sind. Die Überlebenden verlieren nach einer Katastrophe
nicht selten ihre Erinnerungsfähigkeit, sodass sie das Erlebnis nicht wahrheitsgetreu
aufzeichnen oder weitererzählen können. Sebald kommt zu dieser These, nachdem er
festgestellt hat, dass die Zeugen meistens auf stereotype Sprachformeln, die die Realität
der Katastrophe verdecken, zurückgreifen. So weist er darauf hin, dass sich bei
Zeugenberichten von Luftangriffen Sprachformeln, wie 'es brannte lichterloh', 'die Hölle
war los', oder 'das furchtbare Schicksal der deutschen Städte' immer wiederholen.
38
Solche Aussagen scheinen ihm dann auch vorgeprägt und "eine Wiederholung des
Immergleichen" zu sein.
39
Da sie auch oft zu dem Bereich der abstrakten, symbolischen
oder metaphysischen Sprache gehören, kann Sebald der Authentizität der
Zeugenberichte nicht trauen. Auch in Klemperers Tagebüchern ist die Beschreibung
36
Heinrich-Korpys: Tagebuch und Fiktionalität. S. 88.
37
Dusini: Tagebuch. Möglichkeiten einer Gattung, S. 108.
38
W.G. Sebald: Luftkrieg und Literatur. München: Hanser 1999, S. 33.
39
Sebald: Luftkrieg und Literatur, S. 93.
24
eines Luftangriffes vorhanden. Er hat den Bombenangriff auf Dresden in Februar 1945
erlebt und überlebt und in dem Tagebuch davon berichtet. Der Bericht ist eine Woche
nach der Katastrophe aufgezeichnet worden, nachdem Klemperer und seine Frau aus
Dresden geflohen und in Sicherheit geraten waren. Die Zeitspanne zwischen dem
Erleben und der Aufzeichnung hat es Klemperer erlaubt, sich retrospektive Gedanken
zu machen und die Katastrophe zu interpretieren. Deshalb konnte er dem üblichen
Tagebuchstil auch einigermaßen verlassen. So weist der Anfang des Berichts einige
Vorausdeutungen auf, die in der Gattung des Tagebuches normalerweise durch die enge
Bindung an den Alltag unmöglich sind.
Da kam Vollalarm. »Wenn sie doch alles zerschmissen!« sagte erbittert Frau
Stühler, die den ganzen Tag herumgejagt war, und offenbar vergeblich, um ihren
Jungen freizubekommen. – Wäre es nun bei diesem ersten Angriff geblieben, er
hätte sich mir als der bisher schrecklichste eingeprägt, während er sich jetzt, von
der späteren Katastrophe überlagert, schon zu allgemeinem Umriß verwischt.
40
Tags vor der Katastrophe hatte Klemperer den zu deportierenden Juden in Dresden den
Brief der "Evakuierung" übergeben müssen. Fast alle übrig gebliebenen Juden sollten
evakuiert werden, sowie Frau Stühlers Sohn. Ihr Ausruf »Wenn sie doch alles
zerschmissen!« wurde tragischerweise einige Minuten später Wirklichkeit. Die Tragik
der Lage wird durch die Wiedergabe des Ausrufs in direkter Rede noch verstärkt. Auch
die darauf folgende Vorausdeutung Klemperers bereitet den Leser auf die Furchtbarkeit
der Katastrophe vor und prägt sich dem Leser unauslöschlich ein. In der Beschreibung
des zweiten Alarms hat eine vorausdeutende Interjektion die gleiche Wirkung auf den
Leser: "Wir standen auf, Frau Stühler rief an unserer Tür »Alarm«, Eva klopfte bei Frau
Cohn an – von beiden haben wir nichts mehr gehört – und eilten hinunter."
41
Das
Einschiebsel 'von beiden haben wir nichts mehr gehört' hat, wie gesagt, an dieser Stelle
eine vorausdeutende Funktion. Der Leser bekommt, genauso wie bei der vorigen
Vorausdeutung, das Gefühl, im Folgenden zum Zeugen eines unfassbaren
Geschehnisses zu werden. Beim Berichten des Bombenangriffs, reißt Klemperer den
Leser Schritt für Schritt in die Katastrophe ein. In der Beschreibung der brennenden
Stadt verwendet er einige Sprachformeln, die auch Sebald erwähnt hat. Ausdrücke wie,
"es brannte lichterloh", "glühte dunkelrot"
42
, oder "brannte silberblendend"
43
können
40
Klemperer: Ich will Zeugnis ablegen. Band 8, S. 31.
41
Klemperer: Ich will Zeugnis ablegen. Band 8, S. 32.
42
Klemperer: Ich will Zeugnis ablegen. Band 8, S. 35.
25
tatsächlich auf eine Art Ästhetisierung in der Darstellung der Vernichtung hindeuten. So
verwendet Klemperer auch ständig die Formel "es war taghell". In diesem Sinne hat
Sebald also Recht. Solche Ausdrücke bringen aber auch die absolute Zerstörung
Dresdens zum Ausdruck. Die Wiederholung dieser Ausdrücke in der Beschreibung
weckt den Eindruck der aufrichtigen Angst und tiefster Erschütterung. In den
Tagebüchern wollte Klemperer zeigen, wie die Vorgänge "auf den gehetzten, ständig
vom Tode bedrohten Menschen wirkten", denn die öffentlichen Vorgänge selber
"könnte man später die Zeitungen entnehmen",
44
und zur Wiedergabe der Eindrücke
eignen sich die Sprachformeln allerdings. Bei der Darstellung der Dresdner Vernichtung
im Tagebuch lässt Klemperer sich mal nicht von den objektiven Beobachtungen, sogar
Studien, wie an anderen Stellen des Tagebuches, leiten, sondern wird er von den
eigenen Ängsten, Gefühlen und Instinkten geführt. Im Gegensatz zur Sebalds
Behauptung, schadet der Gebrauch der Sprachformel der Authentizität des Berichtes
meiner Meinung nach nicht. Außerdem soll man in Acht nehmen, dass solche
Sprachformeln Teil einer sprachlichen Kultur sind. Wenn man, wie Klemperer,
Erinnerungen weitergeben will, greift man auf die Struktur einer Geschichte zurück.
Harald Welzer hebt hervor, dass "schon die Geschichten, deren Elemente ausgeborgt
werden, [...] Teil eines sozialen, kulturellen und historischen intertextuellen Gewebes"
sind
45
, und "indem man das Gedächtnis bzw. die Erinnerung für eine diskursive
Leistung hält, schlägt man auch vor, 'ein Gedächtnis' zu haben hieße, an einer
kulturellen Tradition teilzuhaben".
46
Das bedeutet also, dass die Sprachformeln als Teil
einer Kultur logischerweise beim Erzählen einer (traumatischen) Geschichte
wiederkehren, und demzufolge als "Wiederholung des Immergleichen"
47
erscheinen. Als
Beweis der Unwahrhaftigkeit gelten sie dann nicht. Klemperer selber bedauerte es aber
im Rückblick, dass er sich während des Bombenangriffs, im Gegensatz zu seiner Frau,
so wenige Gedanken gemacht und so wenig beobachtet hat.
43
Klemperer: Ich will Zeugnis ablegen. Band 8, S. 36.
44
Victor Klemperer: Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1942-1945. Hg. von Walter
Nowojski. Berlin: Aufbau 1995, S. 866.
45
Harald Welzer: Das kommunikative Gedächtnis. Eine Theorie der Erinnerung. München: Beck 2005,
S. 201.
46
Welzer: Das kommunikative Gedächtnis, S. 186.
47
Sebald: Luftkrieg und Literatur, S. 93.
26
Ich dachte gar nichts, es tauchten nur Fetzen auf. Eva – warum sorge ich mich
nicht ständig um sie – warum kann ich nichts im Einzelnen beobachten, sondern
sehe nur immer das Bühnenfeuer zur Rechten und Linken, die brennenden Balken
und Fetzen und Dachsparren in und über den steinernen Mauern? [...] Aber die
meiste Zeit stand ich wie im Halbschlaf und wartete auf die Dämmerung.
48
Die Fragen, die Klemperer sich hier stellt, und seine Reaktionen während des
Bombenangriffs sind natürlich völlig normal. Das Bild der zerstörten Stadt war für ihn
ein harter Schlag. Er war so von der brennenden Stadt, von dem Sturmwind und der
ganzen Lage beeindruckt, dass er nicht gedacht, sondern gehandelt hat. Der Trieb zum
Überleben kam an erster Stelle. Nur wenn er selbst in Sicherheit geraten war, kamen
ihm allmählich Gedanken und fragte er sich, was mit Eva wäre. Später verweist er auf
diese Gedanken als Gewissensstiche, weil er sich zu wenig um Eva gekümmert zu
haben glaubte. Es stellt sich aber heraus, dass die Gewissensstiche umsonst waren, denn
"Eva hat sich viel besser gehalten als ich, viel ruhiger beobachtet und sich selber
dirigiert."
49
In einem Vergleich behauptet er: "Der Unterschied: Sie handelte und
beobachtete, ich folgte meinem Instinkt, anderen Leuten und sah gar nichts."
50
Diese
Aussage kommt der angeblichen Authentizität des Ganzen offensichtlich nicht zugute.
Wie kann er eine wahrhafte Beschreibung der Katastrophe geben, wenn er selber
behauptet, dass er gar nichts gesehen hat? Deshalb kann man sich fragen, ob Klemperer
wirklich die Zeit 'im Halbschlaf' verbracht hat, ohne etwas beobachten zu können. Nur
wenn man diese Aussage Klemperers glaubt, wäre es möglich, dass er die Lücken in
den Erinnerungen mit Erfindungen eingefüllt hat.
In Bezug auf Sebalds These soll auch auf die Ästhetisierung des Geschehens
hingewiesen werden. Wie schon erwähnt, gehört die Umschreibung der Dresdner
Vernichtung nicht zu dem üblichen Tagebuchstil Klemperers. Wenn Klemperer nach
dem Angriff das Judenhaus, seine damalige Wohnung, aufsucht, schreibt er:
Die Zeughausstraße 3 war ein einziger Geröllhaufen, von der Zeughausstraße 1
stand, der Stadt zugekehrt, ein Vordernpfeiler mit einem Stückchen Mauer
galgenartig daran hängend. Das ragte gespenstisch und gefährlich und verstärkte
nur das Bild der absoluten Zerstörung.
51
48
Klemperer: Ich will Zeugnis ablegen. Band 8, S. 35.
49
Klemperer: Ich will Zeugnis ablegen. Band 8, S. 36.
50
Klemperer: Ich will Zeugnis ablegen. Band 8, S. 36.
51
Klemperer: Ich will Zeugnis ablegen. Band 8, S. 36.
27
Solche Umschreibungen stimmen nicht mit dem überwiegend faktischen, objektiven
Stil in den Tagebüchern überein. Es gibt zwar die Ortsangaben, aber die Darstellung der
Ruine und die Verwendung der Adverbien 'galgenartig' und 'gespenstisch' muten eher
als Ästhetisierung an, als dass sie zu dem berichtenden, objektiven Stil eines Zeugnisses
gehören. Auch die darauf folgenden Einträge in Bezug auf die Flucht durch Sachsen
und Bayern, die sehr idyllisch dargestellt wird, zeigen mehrere Züge eines eher
literarischen Stils.
Weiter findet noch eine andere Art von Ästhetisierung an anderen Stellen der
Tagebücher statt. So kommen einige Sprichwörter und Redensarten wiederholt wieder.
Hans Reiss verweist nach solchen Redensarten als Klischees und behauptet, dass
Klemperer sie wo möglich zu vermeiden versucht hat.
52
Trotzdem findet man sie ständig
in den Tagebüchern wieder, und kann man sich vielleicht eher mit der These von
Wolfgang Mieder einigen. Er hebt hervor, dass Klemperer "at times consciously uses
language clichés in actual series to enhance the stylistic value of his report".
53
Klemperer spielt in den Tagebüchern in verschiedenen Kontexten mit Sprichwörtern
und Redensarten herum. Das Herumspielen mit Wörtern und Ausdrücken führen zu
bestimmten Interpretationsmöglichkeiten und Effekten. Besonders im Bereich der
Politik wird dieses Spiel sichtbar. Am 2. Oktober 1938 notierte Klemperer:
Mir geht ein Ausdruck durch den Kopf, den man seit ein paar Jahren andauernd
hört: »Man weiß nicht, was gespielt wird.« Politik ist mehr als jemals das
Geheimspiel weniger Leute geworden, die über Millionen Menschen entscheiden
und behaupten, das Volk zu verkörpern. Grammatikalisierte Verzweiflung,
unbewußte Verzweiflung. Aber aus Bernardin de Saint-Pierre zitiere ich: »Wenn
die Regierung korrupt ist, so ist das korrumpierte Volk daran Schuld«.
54
Von dem Ausdruck "Man weiß nicht, was gespielt wird" aus macht Klemperer sich
Gedanken über die politische Lage. Die Verzweiflung des Volkes kommt
grammatikalisch zum Ausdruck. Laut Mieder erlauben solche Ausdrücke Klemperer "to
vent his anger about the steadily deteriorating situation".
55
Sie fungieren also als Ventil
für seine Frustrationen. Interessant an dieser Stelle ist auch, dass Klemperer nicht an
eine unbewusste Verzweiflung glaubt, und deshalb schon 1938 die kollektive Schuld
52
Reiss: "Victor Klemperer. Reflections on his Third Reich Diaries", S. 67.
53
Wolfgang Mieder: "In Lingua Veritas: Proverbial Rhetoric in Victor Klemperer’s Diaries of the Nazi
Years (1933-1945)". In: Western Folklore 59 (2000), S. 6.
54
Klemperer: Ich will Zeugnis ablegen. Band 3, S. 103.
55
Mieder: "In Lingua Veritas", S. 10.
28
der Deutschen zu anerkennen scheint. Dieses Thema wird aber im letzten Kapitel noch
weiter behandelt. Neben solchen Ausdrücken auf der politischen Ebene gibt es auch
viele Anspielungen auf Sprichwörter, um die eigene grausame, beharrliche Situation in
Worte zu fassen. Mieder deutet darauf hin, dass Klemperer dafür verschiedene
somatische Ausdrücke verwendet.
56
So benutzt Klemperer beispielsweise ständig
Ausdrücke, die auf den Kopf verweisen, sowie "den Kopf riskieren", "den Kopf kosten"
und "um den Kopf handeln". Solche Hinweise deuten natürlich direkt auf die
lebensbedrohende Lage Klemperers hin. Am 1. Juli 1942 berichtete er im Tagebuch:
"Eva ist mit immer mehr Gängen abgehetzt. – Für Frau Pick riskiert sie buchstäblich
ihren Kopf, nein, unsere Köpfe. (»Für deine Manuskripte auch«, erwidert sie auf
Vorhaltung.)"
57
Laut Mieder verstärkt das Hinzufügen von 'buchstäblich' die Tatsache,
dass der Ausdruck "den Kopf riskieren" nicht nur ein Klischee ist.
58
Die Gefahr für Eva
war tatsächlich und wörtlich so groß, dass es zu ihrem und Klemperers Tod führen
könnte. Das Wort 'buchstäblich' kommt nicht nur in diesem Eintrag vor. In den
Tagebüchern wird es andauernd verwendet, als ob Klemperer unterstreichen wollte,
dass er die Schrecklichkeit der Lage auf keinen Fall übertrieben, sondern wahrhaft
dargestellt hat. Außerdem kann es der Tatsache Nachdruck verleihen, dass die
metaphorische Bedeutung von Kopf hier verloren geht. Es geht um eine wirkliche
Gefahr, die permanent anwesend und tödlich ist. Das gilt auch für die Verwendung des
Ausdrucks "den Kopf kosten", wie in einem Eintrag aus dem Jahr 1944:
Von Stern und Frau Stühler hörte ich die neuesten Zeitwitze. Der Unterschied
zwischen Japan und dem Volkssturm: Japan das Land des Lachens; der
Volkssturm das Lächeln des Landes. - »Als Heß ging, das war häßlich; ginge Ley,
das wäre leidlich; ginge Himmler, es wäre himmlisch.« - Es ist wohl nicht ohne
Wert, solche Witze für LTI zu notieren: denn wer wagt, so etwas aufzuschreiben?
Es kann ja den Kopf kosten.
59
Auch an dieser Stelle soll man den Ausdruck eher wörtlich als figürlich interpretieren.
Ebenso deutet Klemperer selber auf den Wert der Zeitwitze hin. Die Bedeutsamkeit der
Witze besteht darin, dass sie meistens indirekt Kritik an das Regime enthalten.
60
Sein
linguistisches Interesse hat ihn dazu angetrieben, trotz der Gefahr die Witze in das
56
Mieder: "In Lingua Veritas", S. 20.
57
Klemperer: Ich will Zeugnis ablegen. Band 5, S. 150.
58
Mieder: "In Lingua Veritas", S. 21.
59
Klemperer: Ich will Zeugnis ablegen. Band 7, S. 171.
60
Mieder: "In Lingua Veritas", S. 14.
29
Tagebuch aufzunehmen, weil sie eine wichtige Quelle für seine psycholinguistische
Analyse der Sprache unter dem Naziregime waren. Eine positivere Bedeutung hat der
Ausdruck "Kopf hoch". Klemperer begegnete auf der Straße mehrmals Leuten, die ihm
Mut zusprachen, nachdem sie seinen Judenstern bemerkt hatten. Am 16. April 1943
berichtete Klemperer von solcher Begegnung:
Darauf er: »Diese verfluchten Schweine – was sie mit den Leuten machen – in
Polen – ich hab’ auch eine Wut auf sie. Kopf hoch, das bleibt nicht ... noch einen
Winter können sie in Rußland nicht aushalten – Kopf hoch, es kommt anders ...«
61
Aufs Neue behauptet Mieder, dass die Redewendung nicht als "mere popular cliché"
betrachtet werden soll.
62
Sie bringt die Solidarität mit den Juden zum Ausdruck und
zeigt uns das Mitleid mit Juden vonseiten einigen Deutschen. Solche Solidarität soll auf
Klemperer Eindruck gemacht haben. Die Redewendung scheint ihm dabei zu helfen,
mit der eigenen Lage umzugehen. Obwohl man von einem Literaturwissenschaftler eher
abstrakte Erklärungen erwarten würde, versucht Klemperer mit den Sprichwörtern und
Redensarten, die leitmotivisch in die Tagebücher auftauchen, die Lage und das eigene
Schicksal anhand populärer Ausdrücke darzustellen und zu erklären.
63
Die absichtliche
Verwendung solcher Ausdrücke verleiht Klemperers Zeugnis noch mehr Nachdruck
und gefährdet die Glaubwürdigkeit auf keinen Fall. Von der Sprache ging Klemperers
Meinung nach eine starke Kraft aus. Die Sprache fungiert laut Klemperer als Spiegel
der Geschehnisse. Ein Eintrag vom 31. März 1942 kommentiert die Propaganda der
Nationalsozialisten und hebt Klemperers Meinung zu Sprache stark hervor.
Die Sprache bringt es an den Tag. Bisweilen will jemand durch Sprechen die
Wahrheit verbergen. Aber die Sprache lügt nicht. Bisweilen will jemand die
Wahrheit aussprechen. Aber die Sprache ist wahrer als er. Gegen die Wahrheit der
Sprache gibt es kein Mittel.
64
Die umgestaltete Redewendung "die Sprache bringt es an den Tag"
65
und die
wiederholte
Verbindung
von
Sprache
mit
Wahrheit
zeigen
Klemperers
61
Klemperer: Ich will Zeugnis ablegen. Band 6, S. 54.
62
Mieder: "In Lingua Veritas", S. 23.
63
Mieder: "In Lingua Veritas", S. 25.
64
Klemperer: Ich will Zeugnis ablegen. Band 5, S. 58.
65
Mieder: "In Lingua Veritas", S. 7.
"Klemperer's phrase is a variation of the Grimm fairy tale title 'The Clear Sun Brings It to Light" (i.e.,
Truth will out) (cf. Kamenetsky 1984, Mieder 1996). It should be added that Klemperer possibly was
familiar with the ballad-style fairy tale version "The Sun Brings It to Light" ("Die Sonne bringt es an den
Tag") by Adalbert von Chamisso (1831), where the proverb is repeated at the end of each of the 14
stanzas as a leitmotif of warning (Mieder 1979:39-41 and 79-81)"
30
unerschütterlichen Glauben an die Sprache, die seiner Meinung nach nur die Wahrheit
aussagen kann. Verschiedene anderen Forscher, sowie Hayden White und Dori Laub,
die sich mit Zeugnissen traumatischer Erlebnisse auseinandergesetzt haben, haben
einige interessante Thesen in Bezug auf Erlebnis und Sprache ausgearbeitet, die für die
Suche nach der Authentizität der Tagebücher wichtig sein können.
Erstens kann man bemerken, dass das Verhältnis zwischen Erinnerung und der
Form ihrer Sprache nie eins zu eins ist. Sobald man über etwas eine Aussage macht,
werden die Erinnerung und damit die Realität verformt. Mit der Verwendung der
Sprache wird das Geschehen interpretiert und ändert sich die Realität der Erinnerung.
Da man ein Erlebnis mit Sprache nie genau ausdrücken kann, kann ein Zeugnis oder ein
Bericht eines traumatischen Ereignisses nie eine exakte Wiedergabe des Geschehens
sein. Aus diesem Grund führt die Umsetzung von Erinnerung in Sprache nicht
unbedingt zu unglaubwürdigen Zeugnissen und Berichten. In Zeugen der Zerstörung
hebt Volker Haage hervor, dass die einzelnen Schicksale so deprimierend, die Masse
der Toten so erdrückend waren, dass davon Zeugnis abzulegen für Zeugen und
Schriftsteller eine fast unmögliche Aufgabe war.
66
Die Ästhetisierung, die in vielen
Berichten auftritt, ist dann nur ein Schritt in dem Versuch, die grausame Wirklichkeit in
Worte zu fassen. Dass man dabei immer wieder dieselben Sprachformeln verwendet tut
der Zuverlässigkeit der aufgezeichneten Erlebnisse nicht unbedingt Abbruch.
Eva Zeller behauptet in Bezug auf dieses Problem, dass es nicht klar sei, was
zuverlässig aus dem Gedächtnis abrufbar ist.
67
Die Unvollkommenheit der Erinnerung
ist schon oft bedauert worden. Man soll aber nicht nur in Acht nehmen, was das
Gedächtnis freigibt, sondern auch was es verdrängt. Im Tagebuch ist dabei aber die
geringe Zeitspanne zwischen Erlebnis und Aufzeichnung nicht zu vernachlässigen. In
den Tagebüchern Klemperers kann man beispielsweise feststellen, dass die Erinnerung
noch sehr lebendig ist. Außerdem beschränkt sich das Tagebuch auf Reflexionen und
Fakten aus dem eigenen Leben, ohne Fiktives hinzuzufügen. Bei der Autobiographie ist
das erzählende Ich eine Kunstfigur; der Tagebuchschreiber kann aber nicht als eine bloß
fiktive Figur betrachtet werden. Die Lücken im Gedächtnis werden nicht von Fiktion
66
Volker Haage: Zeugen der Zerstörung. Die Literaten und der Luftkrieg. Frankfurt am Main: Fischer
2003, S. 128.
67
Eva Zeller: Die Autobiographie. Selbsterkenntnis – Selbstentblößung. Stuttgart: Franz Steiner 1995, S.
7.
31
aufgefüllt. Klemperer selber hat sich nach dem Kriegsende auch für das Problem der
Erinnerung und der Wahrheit interessiert. Er fragt sich:
Wieweit wird nur der Mantel nach dem Wind gedreht, wieweit darf man trauen?
Jetzt ist jeder hier immer Feind der Partei gewesen. Aber wenn sie es wirklich
immer gewesen wären ...
68
Klemperer ist sich natürlich dessen bewusst, dass es sich hier nicht um die Wahrheit
handelt. Die Verwendung des Sprichwortes "den Mantel nach dem Wind drehen" kann
als Zeichen dafür betrachtet werden, dass Klemperer weiß, dass viele Deutschen, die es
nach dem Kriegsende verneinten, mit dem Nationalsozialismus sympathisiert oder sogar
aktiv an der Naziterror teilgenommen haben. Die Frage bleibt dann, wieweit die Leute
selbst geglaubt haben, dass sie dem nationalsozialistischen Regime immer feindlich
gewesen sind. Am 25. Mai 1945 sagt eine Frau in einem Gespräch mit Klemperer:
»Was ist eigentlich >Gestapo<, ich habe das nie gehört. Ich habe mich nie um
Politik gekümmert, ich weiß nichts von den Judenverfolgungen....« etc. Ist dieses
Nichtwissen wahr oder erst jetzt eingetreten? [...] Was an diesem Nichtwissen ist
Wahrheit?
69
Es ist Klemperer unklar, ob es überhaupt möglich ist, dass eine deutsche "arische" Frau
nichts von den Grausamkeiten der Gestapo und den Judenverfolgungen gewusst hat.
Über dieses "wir haben es nicht gewusst" hat es schon viele Debatten gegeben. Den
Beitrag der Tagebücher zu dieser Debatte werde ich aber im letzten Kapitel weiter
erklären. Wichtiger an dieser Stelle ist, dass Klemperer zwischen wahr oder 'erst jetzt
eingetreten' unterscheidet. Er kreiert sozusagen eine Stufe zwischen wahr und unwahr
und scheint so der Meinung zu sein, dass ihr Wissen und Gedächtnis sich nach dem
Zusammenbrechen des Regimes allmählich verwischt habe.
Zeller deutet noch darauf hin, dass beiden Lebensberichten, sowohl Tagebuch als
auch Autobiographie, trotz der Unvollkommenheit der Erinnerung als historische
Quellen immer wertvoll sind. Auch wenn die Fakten nicht immer der Realität
entsprechen, vermitteln sie jedoch die Atmosphäre eines Zeitabschnittes.
70
In der
Amerikanischen Forschung hat Hayden White sich mit der Geschichtsschreibung
auseinandergesetzt. In Metahistory hebt er hervor, dass es in Zeugnissen, als sprachliche
Wiedergabe der Vergangenheit, nicht um die historischen Fakten dreht, sondern um die
68
Klemperer: Ich will Zeugnis ablegen. Band 8, S. 131.
69
Klemperer: Ich will Zeugnis ablegen. Band 8, S. 167.
70
Zeller: Die Autobiographie. Selbsterkennung - Selbstentblößung, S. 8.
32
verschiedenen Interpretationen der Vergangenheit. Laut White, kann man in der
Geschichte nie die Wahrheit finden. Nicht die Vergangenheit und die Geschichte an
sich sind seiner Meinung nach am Wichtigsten, sondern die Juxtaposition der
verschiedenen Ansichten von einem Geschehen.
71
Diesen Standpunkt vertritt auch der
amerikanische Psychoanalytiker Dori Laub in "Truth and Testimony: The Process and
the Struggle".
72
Laub betont die Bedeutsamkeit der Zeugnisse, weil die Erfahrung den
Fakten zu bevorzugen ist. In einem Zeugnis ist dann, wie es für die Zeugen fühlte,
wichtiger, als wie es wirklich war. Aus diesem Grund kann man auch die Tagebücher
Klemperers als historische Quelle Ernst nehmen. Die Beobachtungen und das Zeugnis
werden von Laub aber wiederum problematisiert, weil er behauptet, dass dem Holocaust
"a collapse of witnessing"unterliegen ist:
73
History was taking place with no witness: it was also the very circumstance of
being inside the event that made unthinkable the very notion that a witness could
exist. [...] The historical imperative to bear witness could essentially not be met
during the actual occurrence.
74
Laub definiert an dieser Stelle die Unfähigkeit, ein Geschehnis im Moment des
Geschehens vollkommen zu bezeugen. In diesem Sinne fehlt es dem Holocaust an
Zeugen. Die Nationalsozialisten haben versucht, alle Beweise zu verwischen, wenn
ihnen die Niederlage klar wurde. Und den Opfern fehlte eine Übersicht des Geschehens,
weil sie mitten drin waren. In verschiedenen Einträgen der Tagebücher weist auch
Klemperer auf die Unfähigkeit, Geschichte zu schreiben, wenn man Teil der Geschichte
ist, hin. Am 31. Januar 1938 notierte er:
Wie kommt Geschichte zustande? [...] Was weiß ich von selbst erlebter
Geschichte? Ich war im Kriege, ich habe die Revolution und das dritte Reich aus
allernächster Nähe erlebt – que sais-je? Und wer weiß mehr?
75
Dieses "que sais-je?" findet man in den Tagebüchern als eines der Leitmotive wieder.
Die Unsicherheit und das Unwissen werden immer wieder betont. Gerade die Hinweise
auf das Unwissen über die Lage geben dem Tagebuch einen authentischen Charakter.
So heißt es am 19. März 1942: "Que sais-je? Von der Vergangenheit weiß ich nichts,
71
Hayden White: Metahistory. The historical Imagination in Nineteenth-Century Europe.
Baltimore/London: John Hopkins University Press 1973, S. 274-277.
72
Dori Laub : "Truth and Testimony. The Process and the Struggle." In: Trauma: Explorations in
Memory. Hg. von Cathy Caruth. Baltimore: John Hopkins University Press 2004.
73
Laub: "Truth and Testimony", S. 6.
74
Laub: "Truth and Testimony", S. 7.
75
Klemperer: Ich will Zeugnis ablegen. Band 3, S. 72.
33
weil ich nicht dabeigewesen bin; und von der Gegenwart weiß ich nichts, weil ich
dabeigewesen bin".
76
Genauso wie Dori Laub geht Klemperer davon aus, dass man von
der selbst erlebten Geschichte nichts wissen kann, weil man keinen Abstand von der
Gegenwart nehmen kann. Man kann das Ganze nicht durchschauen, denn man ist von
der Unwissenheit der Gegenwart begrenzt. So sagt Klemperer 1938: "Was ist wirklich,
was geschieht? So erlebt man Geschichte. Wir wissen vom Heute noch weniger als vom
Gestern und nicht mehr als vom Morgen".
77
Auch wenn Klemperer sich von der großen
Geschichte kein Bild machen kann, kommt das Erlebnis des Alltags stark zum
Ausdruck. Er weiß nichts vom Heute, denn ihm fehlt der Überblick. Er kommt nicht
dazu, die erlebte Geschichte hinreichend zu interpretieren. Trotzdem kommt in den
Tagebüchern durch die Anekdoten und Alltagserlebnisse die erlebte Geschichte
zustande. So beruht die Authentizität auf der "Perspektivisierung des Erlebten".
78
Wir können also schließen, dass die erste Funktion der Tagebücher, die
Zeugenschaft, erfüllt ist. Sowohl die Objektivität oder Faktizität, als auch der Dialog
von Persönlichem mit Historischem und die Struktur und Sprache weisen auf ein
authentisches, zuverlässiges Zeugnis hin, in dem dem Leser ein Blick in das alltägliche
Leben in Nazi Deutschland geboten wird. Im folgenden Abschnitt wird die zweite
Funktion, die Selbstbehauptung, unter die Lupe genommen.
2.1 - Selbstbehauptung
Unter dem nationalsozialistischen Regime wurde Klemperers Identität erschüttert.
Er wurde aufgrund seiner jüdischen Herkunft völlig aus dem öffentlichen Leben
ausgeklammert, während er selber immer an das Deutschsein festgehalten hat. 1912
konvertierte er zum Protestantismus und im ersten Weltkrieg kämpfte er als deutscher
Freiwilliger. Den Willen, Deutscher zu sein, teilte er mit seinen Brüdern, die ihm
sowohl finanziell, als auch beruflich unterstützt haben.
79
Es versteht sich aber, dass sein
Hang zur deutschen Nationalität sich unter dem neuen antisemitischen Regime kaum
halten konnte. Obwohl Klemperer nie eine Affinität mit der jüdischen Kultur gehabt
76
Klemperer: Ich will Zeugnis ablegen. Band 5, S. 49.
77
Klemperer: Ich will Zeugnis ablegen. Band 4, S. 100.
78
Elrud Ibsch: Die Shoah erzählt: Zeugnis und Experiment in der Literatur. Tübingen: Max Niemayer
2004, S. 13.
79
Reiss: "Victor Klemperer. Reflections on his Third Reich Diaries", S. 82.
34
hatte, wurde er von den Nazis jedoch als Jude betrachtet, und ihrer antisemitischen
Politik unterworfen. In diesem Sinne kann man Klemperers Identität, die
problematisiert wird, genauer als politische Ideologie und Gruppenzugehörigkeit
definieren. Eine zweite Möglichkeit besteht darin, die Identität als Individualität zu
betrachten. In den Tagebüchern wird Klemperers Individualität an verschiedenen
Stellen stark hervorgehoben. Aus den Einträgen lernt man Klemperer sowohl von
Selbstcharakterisierungen als von Fremdcharakterisierungen kennen. Er kommentiert
ständig die eigenen Gedanken und das eigene Verhalten (Selbstcharakterisierung) und
aus den Dialogen kommt ebenfalls zum Ausdruck, wie Personen aus Klemperers
Umgebung ihn ansahen (Fremdcharakterisierung). Im selben Abschnitt ist es auch
sinnvoll die Darstellung seiner Frau, Eva Schlemmer, und ihr Verhältnis zu Klemperer
zu untersuchen. Eva war für Klemperer nicht nur als Gattin wichtig, sondern auch als
"Arierin" dafür verantwortlich, dass Klemperer bessere Chancen, die Judenverfolgung
zu überleben, hatte. Wegen der "Mischehe" war auch sie den Judenanordnungen, den
Erniedrigungen und Beschimpfungen der Gestapo unterlegen, und wurde auch ihre
Freiheit drastisch eingeschränkt. Wie die Einschränkung der Freiheit und die
allmähliche Isolation einerseits, und die Ortslosigkeit und die Landschaft andererseits
Klemperers Leben beeinflusst haben, wird dann im letzten Abschnitt dieses Kapitels
untersucht. Generell wird untersucht, ob die Tagebücher als Ersatz für die erschütterte
Identität gelten können, und ob das Schreiben für Klemperer wirklich eine
therapeutische Funktion der Selbstbehauptung hatte.
1.2.1 – Deutsche und jüdische Identität
In diesem Abschnitt wird erstens die problematische Beziehung von Klemperer
mit der deutschen und jüdischen Zugehörigkeit behandelt. Der Begriff "deutsch" wird in
seinem allgemeinen Sinn als Zeichen der Nationalität verwendet und "jüdisch" wird
ebenfalls als allgemeiner Ausdruck der Kultur gebraucht. Was es für Klemperer
bedeutete Deutscher oder Jude zu sein, wird im Laufe der Auslegung denn noch
erläutert. Wie schon erwähnt, hat Klemperer immer eine große Anhänglichkeit an
Deutschland gezeigt. Trotz ihrer jüdischen Herkunft, war die Familie völlig in
Deutschland integriert und assimiliert. Erst wenn der Antisemitismus in der
nationalsozialistischen Ideologie an zentraler Stelle kam und so seinen Höhepunkt in
35
Deutschland erreichte, wurde die jüdische Blutverwandtschaft Klemperers auf einmal
bezeichnend für sein weiteres Leben. Die rassistische Diskriminierung war für
Klemperer dann auch ein harter Schlag, besonders weil er sich vorher nie wirklich an
dem jüdischen Schicksal beteiligt hatte. Arvi Sepp behauptet, dass er sich unter diesen
Umständen nicht länger an der deutschen Identität festhalten konnte.
80
Klemperers
Überzeugungen in Bezug auf deutsche und jüdische Angehörigkeit sind aber nicht so
einfach einzuordnen. So weist Omer Bartov darauf hin, dass Klemperers Schicksal an
sich tragisch und ironisch zu betrachten ist, denn
for just as Klemperer was defined by the regime, and increasingly by his
surroundings, as an undesirable foreign element to be isolated, marginalized and
finally done away with, he clung to his notion of true Germanness with ever more
desperate tenacity.
81
Bartovs Behauptung ist eine ziemlich starke Äußerung. Trotzdem gibt sie das
Wesentliche von Klemperers Schicksal wieder. Klemperer wurde tatsächlich von den
Nazis als Jude definiert, während er seine Anhänglichkeit an seiner deutschen Identität
weiterhin betont hat. Die Erschütterung der Identität, die demzufolge zustande kam,
kann man beispielsweise in einem Eintrag vom 5. Oktober 1935 nachvollziehen, in dem
er sich Folgendes fragt: "Wohin gehöre ich? Zum »jüdischen Volk«, dekretiert Hitler.
Und ich empfinde das von Isakowitz’ anerkannte jüdische Volk als Komödie und bin
nichts als Deutscher oder deutscher Europäer."
82
Man kann deutlich sehen, dass die
jüdische Angehörigkeit für Klemperer nur wenig Bedeutung hatte. Isakowitz gehörte zu
den orthodoxen Juden, mit denen Klemperer nichts gemeinsam hatte oder haben wollte.
Trotzdem musste er sich durch die Umstände schließlich dem jüdischen Volk annähern.
Die Meinung Klemperers, die offensichtlich die Hitlers entgegengesetzt war, wird auch
noch dadurch hervorgehoben, dass das ich kursiv gedruckt worden ist. Auffallend ist
auch, dass Klemperer hier zwischen 'Deutscher' und 'deutscher Europäer' unterscheidet.
Der Unterschied kann darauf hinweisen, dass Klemperer schon 1935 seine
nationalistischen Auffassungen allmählich durch eine kosmopolitische Idee ersetzt hat.
Trotzdem ist es Klemperer nicht gelungen, der Glaube an das grundsätzliche
Deutschsein zu verlieren.
83
Besonders am Anfang der nationalsozialistischen Herrschaft
80
Sepp: "Die Stimmen des Archivs", S. 34.
81
Bartov: "The last German", S. 37.
82
Klemperer: Ich will Zeugnis ablegen. Band 2, S. 50.
83
Bartov: "The last German", S. 37.
36
hat er die deutsche Identität immer verteidigt und geschützt. So heißt es am 17. Juli
1935 in einem Gespräch mit einem befreundeten Juden:
Von irgend jemandem in Jerusalem sagte Kaufmann: er fühle sich wohl und sei
doch vordem »so assimiliert gewesen, wie Sie es waren, Herr Professor«. Ich
antwortete: »Waren? Ich bin für immer Deutscher, deutscher 'Nationalist'«. - »Das
würden die Nazis nicht zugeben«. - »Die Nazis sind undeutsch«.
84
An dieser Stelle werden verschiedenen Sachen angesprochen. Erstens erzählt Kaufmann
ihm von jemandem, der von Deutschland nach Jerusalem umgesiedelt ist. Während des
nationalsozialistischen Regimes sind viele Juden Deutschland entflohen. So sind
Klemperers Geschwister alle schon 1933-1935 aus Deutschland ausgewandert. Auch
fast alle Freunde und Kollegen Klemperers, die jüdische Verwandtschaft hatten, haben
schon am Anfang des Regimes Deutschland verlassen. Klemperer selber hat aber nie
ernste Schritte zur Auswanderung unternommen. Den Englischunterricht, den er für
eine eventuelle Auswanderung in die Vereinigten Staaten aufgenommen hatte, hat er
beispielsweise nie ernsthaft durchgesetzt. Ende 1937 schrieb er: "Ich werde nicht
fortkommen, und es ist auch sicher gegen Evas innersten Willen, hier herauszugehen
[...] Wir graben uns hier ein und gehen hier zugrunde".
85
Sowohl Victor als Eva
Klemperer war es also widerlich, die Heimat zu verlassen. Erst wenn es Klemperer als
Jude schon verboten war, sich außerhalb Deutschlands zu begeben, und also alle
Auswanderungsmöglichkeiten zerschmissen waren, hat Klemperer an Emigration als
einzige Überlebenschance geglaubt. Trotzdem konnte er sich wegen seinem deutschen
Angehörigkeitsgefühl nicht entscheiden, das Vaterland zu verlassen, denn er glaubte
sich 'für immer Deutscher', sogar 'deutscher Nationalist'. Sein Nationalismus wurde
aber, wie gesagt, allmählich durch eine eher kosmopolitische Auffassung ersetzt. Jedoch
scheint diese Aussage mit Arvi Sepps Behauptung, dass Klemperer sich nicht mehr an
dem Deutschtum festhalten konnte
86
, im Kontrast zu stehen. Beide Meinungen schließen
einander aber nicht aus, insofern der Begriff 'Deutsch' von Klemperer und Sepp dem
Anschein nach anders definiert wird. Sepp geht davon aus, dass das "Deutschtum" auch
die nationalsozialistische Ideologie umfasst, während Klemperer die Nazis als
undeutsch bezeichnet. Jedoch wird die Aussage Klemperers gleich wieder
zurückgenommen. Schon am nächsten Tag ist die ganze Lage ihm wieder übel und stellt
84
Klemperer: Ich will Zeugnis ablegen. Band 2, S, 40.
85
Klemperer: Ich will Zeugnis ablegen. Band 3, S. 64.
86
Sepp: " Die Stimmen des Archivs", S. 34.
37
er fest: "Meine Prinzipien über das Deutschtum und die verschiedenen Nationalitäten
sind ins Wackeln geraten, wie die Zähne eines alten Mannes".
87
Diese Aussage über das
"Deutschtum", die dem vorigen völlig widerspricht, kann als Beweis dafür gelten, dass
Klemperer sich seinen Überzeugungen und seiner deutschen Angehörigkeit nicht länger
sicher sein kann, obwohl er sich an manchen Stellen noch immer fanatisch als
Deutscher definiert. So scheinen auch die vielen Judenanordnungen, die die Juden aus
dem alltäglichen Leben auszuklammern versuchten, Klemperers Ansicht auf das
"Deutschtum" kaum geändert zu haben. Gleich nachdem er gesetzlich den Namen
Victor 'Israel' Klemperer annehmen musste, notierte er am 9. Oktober 1938: "Wie es
auch politisch kommen mag, ich bin innerlich endgültig verändert. Mein Deutschtum
wird mir niemand nehmen, aber mein Nationalismus und Patriotismus ist hin für
immer".
88
Genauso wie er 3 Jahre vorher behauptete 'für immer' deutscher Nationalist zu
sein, hebt er hier hervor, dass sein Nationalismus 'für immer' hin ist. An seinem
"Deutschtum" hält er aber noch immer fast. Diese Überzeugung kommt am besten in
einem Eintrag vom 11. Mai 1942 zum Ausdruck:
Den schwersten Kampf um mein Deutschtum kämpfe ich jetzt. Ich muß daran
festhalten: Ich bin deutsch, die andern sind undeutsch; ich muß daran festhalten:
Der Geist entscheidet, nicht das Blut. Ich muß daran festhalten: Komödie wäre
von meiner Seite der Zionismus – die Taufe ist nicht Komödie gewesen.
89
Auf den ersten Blick wird an dieser Stelle seine Anhänglichkeit an Deutschland und an
das "Deutschtum" noch mal explizit betont. Die Unsicherheit kann Klemperer in diesem
Eintrag aber nicht verstecken. Er wiederholt beispielsweise die Aussage 'Ich muß daran
festhalten' dreimal, als ob er sich selbst davon überzeugen will. Die drei Sätze weisen
auch eine gleiche Struktur auf. Nach dem Doppelpunkt gibt es eine positive Aussage,
der direkt von einem negativen Teil (undeutsch, nicht das Blut, nicht Komödie) gefolgt
wird. Und so bekommt diese Stelle die Form einer Aufzählung. Es scheint, als ob
Klemperer für sich selber die Gründe, aus denen er an seinem "Deutschtum" festhalten
soll, aufzählt. Das Gefühl der Unsicherheit und des Zweifels kann der Leser an dieser
Stelle nicht loswerden. In der Triasstruktur kommen auch drei wichtige Merkmale von
Klemperers Überzeugungen und seine Einsichte in die deutsche und jüdische
Angehörigkeit zum Ausdruck.
87
Klemperer: Ich will Zeugnis ablegen. Band 2, S. 41.
88
Klemperer: Ich will Zeugnis ablegen. Band 3, S. 106.
89
Klemperer: Ich will Zeugnis ablegen. Band 5, S. 84.
38
Erstens gibt es eine Verweisung auf die Art des deutschen Antisemitismus, und
zwar in dem Hinweis auf den Geist und das Blut. Klemperer schrieb: 'Der Geist
entscheidet, nicht das Blut'. Der deutsche Antisemitismus beruht aber völlig auf der
Blutverwandtschaft. So deutet auch Lawrence Birken darauf hin, dass der deutsche
Antisemitismus dadurch als einzigartig betrachtet werden kann, dass er "racial rather
than religious, and thus irrevocable"
90
war. Laut Birken trennte diese Betonung der
Rasse und nicht der Religion den nationalsozialistischen Antisemitismus von früheren
Formen des Judenhasses. Besonders die Unwiderruflichkeit der Blutverwandtschaft hat
die Rassentheorie, die die Nazis in den Mittelpunkt gestellt haben, viel Kraft verliehen.
91
Außerdem sind auch viele nicht praktizierenden Juden durch die Betonung des Blutes
dem deutschen Antisemitismus zum Opfer gefallen. Deshalb betont Klemperer die
Rolle des Geistes auf religiöser Ebene.
Zweitens spielt Klemperer hier auch auf den Zionismus an. Der Zionismus kannte
am Anfang des Naziregimes einen großen Aufschwung, weil die bedrohten Juden einem
neuen judenfreundlichen Staat als Heimat anzugehören suchten. Klemperer sagte aber
in seinem Eintrag, dass der Zionismus von seiner Seite Komödie gewesen wäre. Der
Zionismus hat Klemperer immer widerstanden, und sogar mit einer Form des
Faschismus gleichgesetzt.
Denn in Zion ist der Arier gerade das, was hier der Jude. Par nobile fratrum! Mir
sind die Zionisten, die an den jüdischen Staat von anno 70 p. C. (Zerstörung
Jerusalems durch Titus) anknüpfen, genauso ekelhaft wie die Nazis. In ihrer
Blutschnüffelei, ihrem »alten Kulturkreis«, ihrem teils geheuchelten, teils
bornierten
Zurückschrauben
der
Welt
gleichen
sie
durchaus
den
Nationalsozialisten. [ ...] Das ist das Phantastische an den Nationalsozialisten, daß
sie gleichzeitig mit Sowjetrußland und mit Zion in Ideengemeinschaft leben.
92
Die Ansicht Klemperers über den Zionismus ist eine Auffällige. Er spürt denselben
Fanatismus unter den Zionisten, als unter den Nazis, und charakterisiert sie als
grundsätzlich ähnlich, da sie 'in Ideengemeinschaft leben'. Beide Ideologien versuchen,
Klemperers Meinung nach, die Zeit und die Welt zurückzuschrauben und einen 'alten
90
Lawrence Birken: "Prussianism, Nazism and Romanticism in Victor Klemperers Thought". In: German
Quarterly 72 (1999), S. 33-34.
91
Klemperer: Ich will Zeugnis ablegen. Band 1, S. 25.
Bereits 1933 war Klemperer sich von der Bedeutsamkeit der Judensache in dem Nationalsozialismus
bewusst: "Das Schicksal der Hitlerbewegung liegt fraglos in der Judensache. Ich begreife nicht warum sie
diesen Programmpunkt so zentral gestellt haben. An ihm gehen sie zugrunde. Wir aber wahrscheinlich
mit ihnen"
92
Klemperer: Ich will Zeugnis ablegen. Band 1, S. 111-112.
39
Kulturkreis' wieder aufleben zu lassen. Er wollte denn auch nichts mit den zionistischen
Juden gemein haben.
93
Die heftigen Angriffe auf den Zionismus können aber auch auf
die Tragik der eigenen Lage hindeuten. Da Klemperer an der jüdischen Kultur nie Teil
gehabt hat und nur durch die antisemitischen Umstände in die jüdische Gemeinschaft
getreten ist, können seine extremen Ansichten als Reaktion gegen diesen Zwang
aufgefasst werden. So setzt er den Zionismus der eigenen Taufe entgegen, wenn es in
dem Eintrag heißt, dass die Taufe nicht Komödie gewesen sei.
94
Wenn Klemperer im
Alter von 22 getauft wurden, bekehrte er sich zum Protestantismus. Er hat sich aber nie
als praktizierend Gläubiger am Protestantismus beteiligt. Die Taufe bedeutete für ihn
eher eine Bekehrung zum "Deutschtum", da er wohl an der protestantischen
Preußischen Staat geglaubt hat. So gesteht auch Lawrence Birken, dass Klemperer sich
in seiner Jugend zum Protestantismus bekehrt hat, weil er sich mit der von Preußen
überherrschten deutschen Reich von Bismarck und Wilhelm II identifizierte.
95
Die
Affinität, die er mit dem "alten Regime" fühlte, erklärt auch teilweise Klemperers
deutsches Angehörigkeitsgefühl. Für ihn lag die Grundlage der deutschen Identität in
der Aufklärung und dem Preußischen Staat, der als Klemperers ideales Deutschland
betrachtet werden kann.
96
Der aufklärerische Glaube an die Rationalität und an das
Individuum waren für Klemperer Züge des echten "Deutschtums".
Die
nationalsozialistische Ideologie, die seiner Meinung nach auf romantischen Ideen wie
Grenzlosigkeit basierte, konnte er denn auch nicht für deutsch halten, denn sie gründete
sich auf der Ausschaltung des Geistes und auf dem revolutionären Massengedanken.
97
So lässt sich auch gewissermaßen erklären, weshalb Klemperer im Eintrag vom
11. Mai 1942 die Aussage 'Ich bin Deutsch, die anderen sind undeutsch' machte.
98
Mit
den Anderen meinte Klemperer wahrscheinlich die deutsche Bevölkerung, besonders
diejenige mit nationalsozialistischer Gesinnung. Omer Bartov behauptet, dass
Klemperer sich allmählich den letzten echten Deutschen gedacht hat.
99
Wie schon bei
der Erläuterung von Klemperers Sicht auf den Begriff "deutsch" zur Sprache kam, hielt
Klemperer das nationalsozialistische Regime für undeutsch:
93
Reiss: "Victor Klemperer. Reflections on his Third Reich Diaries", S. 83.
94
Klemperer: Ich will Zeugnis ablegen. Band 5, S. 84.
95
Birken: "Prussianism, Nazism and Romanticism in Victor Klemperers Thought", S. 36.
96
Birken: "Prussianism, Nazism and Romanticism in Victor Klemperers Thought", S. 36-38.
97
Birken: "Prussianism, Nazism and Romanticism in Victor Klemperers Thought", S. 40-41.
98
Klemperer: Ich will Zeugnis ablegen. Band 5, S. 84.
99
Bartov: "The last German", S. 41.
40
In Deutschland sei diese Form nirgends in der Geschichte zu finden, sie sei
absolut undeutsch und deshalb ohne eine irgendwie endgültige Dauer. [...] Aber
sie sei im Augenblick mit deutscher Gründlichkeit organisiert und deshalb in
absehbarer Zeit kaum zu beseitigen.
100
Das Regime wird also als undeutsch betrachtet, weil es in Deutschland in dieser Form
im Laufe der Geschichte nie zuvor vorgekommen ist. Er hielt also noch immer an seiner
Identifikation mit dem deutschen, preußischen Staat fest. Obwohl der Erfolg des
nationalsozialistischen Regimes dem deutschen Grundzug der Gründlichkeit
zugeschrieben wird, war Klemperer trotzdem davon überzeugt, dass der
Nationalsozialismus in Wesen undeutsch war und sich deshalb nicht bewähren wurde.
Wenn er außerdem festgestellt hat, dass die deutsche Bevölkerung die
nationalsozialistische Ideologie ohne weiteres hinnahm, wurde das Gefühl, das er selber
die deutsche Seele aufrechterhalten musste, noch verstärkt. Bartov hebt hervor, dass die
Anderen undeutsch waren, weil sie sich von dem Nationalsozialismus beeinflussen
ließen. Die Juden sollen aber, sowie Klemperer, gegen den Einfluss der Propaganda
immun gewesen sein. Bartov schließt Folgendes:
This is what Klemperer comes to tell Germany today: that the Jews were also
Germans, perhaps the best Germans, maybe even the last Germans, for they were
the ones who were not Nazis.
101
Er behauptet, dass die Juden an sich deutscher waren als die Nationalsozialisten. Dazu
soll aber bemerkt werden, dass er die Juden als Kollektivum nicht verallgemeinern soll.
Viele Juden waren zwar, wie Klemperer, in die deutsche Gesellschaft integriert und
assimiliert. Manche haben aber auch immer an der jüdischen Identität und Religion
festgehalten. Andererseits soll er auch die Bezeichnung der Deutschen als Kollektivum
vermeiden. Bartov geht in seiner These davon aus, dass alle Deutschen sich an dem
Nationalsozialismus beteiligt haben. Durch die vorsichtige Formulierung ('perhaps' und
'maybe') deutet er aber schon selber darauf hin, dass Vorsichtigkeit geboten ist. An
solcher Verallgemeinerung hat Klemperer sich in einem Eintrag über die Judenfrage
aber ebenfalls schuldig gemacht:
100
Klemperer: Ich will Zeugnis ablegen. Band 1, S. 41.
101
Bartov: "The last German", S. 42.
41
Es gibt keine deutsche oder westeuropäische Judenfrage. Wer sie anerkannt,
übernimmt oder bestätigt nur die falsche These der NSDAP und stellt sich in ihren
Dienst. Bis 1933 und mindestens ein volles Jahrhundert hindurch sind die
deutschen Juden durchaus Deutsche gewesen und sonst gar nichts. [...] Die
deutschen Juden waren ein Teil des deutschen Volkes. [...] Sie füllten ihren Platz
innerhalb des deutschen Lebens aus, dem Ganzen keineswegs zur Last. [...] Sie
waren und bleiben (auch wenn sie jetzt nicht mehr bleiben wollen) Deutsche, in
der Mehrzahl deutsche Intellektuelle und Gebildete.
102
Die Judenfrage war also laut Klemperer eine Erfindung der Nazis. Alle Juden innerhalb
Westeuropa sollen assimiliert und in die Gesellschaft integriert gewesen sein. Obgleich
Klemperer in seiner Meinung zu den Zionisten deutlich hervorhebt, dass es auch unter
den Juden viele Unterschiede gibt, werden sie hier als Kollektivum dargestellt, um seine
These zu bestätigen, dass die Juden ebenfalls eine deutsche Identität hatten. Während er
an dieser Stelle deutlich hervorhebt, dass die Juden Deutschlands immer deutsch und
Teil des deutschen Volkes gewesen sind, hat er aber allmählich in Zweifel gezogen, ob
der Nationalsozialismus wirklich so undeutsch war als er an erster Stelle gedacht hat.
Denn fast jedermann innerhalb Deutschlands schien von der Propaganda mitgezerrt zu
werden und an Hitler, wie an einen Gott, zu glauben. Am 17. August 1937 notierte er
im Tagebuch:
Es bestätigt mir den Anspruch der NSDAP, die wahre Meinung des deutschen
Volkes auszudrücken. Und immer mehr glaube ich, daß Hitler wirklich die
deutsche Volksseele verkörpert, daß er wirklich »Deutschland« bedeutet, und daß
er sich deshalb halten und zu Recht halten wird. [...] mein innerliches
Zugehörigkeitsgefühl ist hin.
103
Wenn Klemperer auf der Straße ein Bild sieht, auf dem es "Für Juden verboten. Wie
schön, daß wir jetzt wieder unter uns sind!" heißt, fällt ihm ein Vorfall aus seiner
Schülerzeit ein. Am Versöhnungstag nahmen die Juden nicht am Unterricht teil. Den
nächsten Tag hatten die Schulkameraden lachend erzählt, wie der Lehrer in der Klasse
gesagt hat: "Heut sind wir unter uns".
104
Diese Erinnerung veranlasst Klemperer dazu,
den Antisemitismus trotzdem für deutsch zu halten, weil er schon in seiner Schülerzeit
vorhanden war. Deshalb verliert er auch das innere Zugehörigkeitsgefühl zu den
Deutschen.
102
Klemperer: Ich will Zeugnis ablegen. Band 3, S. 132-133.
103
Klemperer: Ich will Zeugnis ablegen. Band 3, S. 49.
104
Klemperer: Ich will Zeugnis ablegen. Band 3, S. 48.
42
Es gibt also keine eindeutige Antwort auf die Frage, wie Klemperer zu seiner
deutschen Identität stand. Seine Überzeugungen muten durchaus widersprüchlich an. Es
versteht sich, dass es ihm immer schwieriger wurde, an dem deutschen Nationalismus
festzuhalten. Der deutschen Angehörigkeit gegenüber schwankte er bis zum Ende. Auch
was er unter dem "Deutschtum" verstand, änderte sich ständig. In der rasch ändernden
Lage und unter den schweren Umständen ist es aber verständlich, dass Klemperer seine
Überzeugungen ständig anpassen musste. Die vielen Definitionen und Erklärungen in
Bezug auf das "Deutschtum" können auch ein Hinweis darauf sein, dass Klemperer im
Tagebuch in den eigenen Ideen Ordnung zu schaffen versuchte und das Schreiben auch
zu diesem Zweck bis zum Ende weitergeführt hat. Das Aufzeichnen als
Strukturierungsmittel wird von Klemperer selber 1940 betont: "An diesen Notizen
mitten im Chaos und öden Herumstehen habe ich ein klein bißchen Kraft
zurückgewonnen".
105
Eine richtige Antwort oder endgültige Lösung für die erschütterten
Auffassungen hat er aber dem Anschein nach nicht gefunden.
Klemperers Verhältnis zum "Judentum" lässt sich etwas einfacher aus den
Tagebüchern herauslesen. Wie schon erwähnt war der Zionismus ihm verhasst. Auch zu
den orthodoxen Juden hatte er nie Affinität gehabt. Besonders am Anfang des
nationalsozialistischen Regimes war ihm das Verhalten mancher Juden widerlich.
Besonders mit der Emigranten-Mentalität und dem Pessimismus der Juden konnte er
sich nicht einigen. Allmählich führte das gemeinsame leidenschaftliche Schicksal ihn
aber zu einer Sympathisierung mit dem Judentum. Am 16. April 1941 schrieb er:
Früher hätte ich gesagt: Ich urteile nicht als Jude. [...] Jetzt: Doch, ich urteile als
Jude, weil ich als solcher von der jüdischen Sache im Hitlertum besonders berührt
bin, und weil sie in der gesamten Struktur, im ganzen Wesen des
Nationalsozialismus zentral steht und für alles andere mitcharakteristisch ist.
106
Hier kommt deutlich zum Ausdruck, dass er in die jüdische Sache hineingezwungen
worden ist. Allmählich werden die Solidarität und der Kontakt mit den Leidensgenossen
aber notwendig, weil die Juden für Nachrichten, Lebensmittel, usw. aufeinander
angewiesen waren. Die gemeinsame "Gefangenschaft" zieht ihn in die jüdische
Gemeinschaft hinein, so dass er sich der jüdischen Kultur nicht länger den Rücken
zuwenden kann. Das Verhältnis zum "Judentum" ist Klemperer aber gar nicht so
105
Klemperer: Ich will Zeugnis ablegen. Band 4, S. 27.
106
Klemperer: Ich will Zeugnis ablegen. Band 4, S. 84.
43
wichtig, nur über das "Deutschtum" zerbricht er sich den Kopf. In dem Kampf um das
"Deutschtum" lernen wir Klemperer als verzweifelter Humanist kennen, der schließlich
trotz des Zwangs noch immer schwierig von seinen Überzeugungen Abstand gewinnen
kann.
1.2.2 – Klemperers Individualität
Die Verzweiflung gibt es aber nicht nur auf der Ebene der Gruppenzugehörigkeit,
sondern auch auf der Ebene der Persönlichkeit. Klemperers Identität wurde, wie schon
erwähnt, von dem nationalsozialistischen Regime erschüttert. Wegen der neuen Gesetze
kann Klemperer sein Leben nicht ohne Anpassungen fortsetzen. Klemperer ist in den
Tagebüchern immerfort selbstreflexiv und selbstkritisch. Er kommentiert ständig das
eigene Verhalten und die eigenen Meinungen, was dem Leser erlaubt, sich ein Bild von
Klemperers Persönlichkeit zu formen. Neben dieser Selbstcharakterisierung kommt
auch in den wiedergegebenen Dialogen mit Eva und anderen Leuten ein Bild von
Klemperers Verhalten zum Ausdruck. Man soll aber bei solcher äußeren
Charakterisierung darauf achten, dass in den Tagebüchern schließlich alles durch die
Augen Klemperers gesehen wird und deswegen einigermaßen gefiltert dargestellt wird.
Da das Bild, das wir von Klemperer bekommen, auf den ersten Blick aber ziemlich
negativ anmutet, kann man sich, wie wir sehen werden, die Wahrhaftigkeit trotzdem
teilweise trauen. Welche sind nun aber die Züge, die Klemperer aufweist, und wie
ändern diese sich während des ihm feindlichen Regimes?
Auf den ersten Blick kommt Klemperer ziemlich schwach vor. Er beschwert sich
ständig über Herzbeschwerden, Augenbeschwerden, Depression, usw. Auch die
Geldsorgen und der Mangel an Lebensmittel wurden ihm zu viel. Wegen der Lage, in
der er sich befand, scheinen diese Klagen und Todesgedanken aber völlig normal und
verständlich zu sein. Aus seinem Verhalten zu anderen Leuten und den Gedanken, die
er sich über den Leidensgenossen macht, spricht aber eine gewisse Arroganz, die der
angeblichen Schwäche gegenübersteht. Die Arroganz zeigt sich sowohl in der Art und
Weise, wie Klemperer über andere Leuten dachte, als auch in seinem Festklammern an
den eigenen Idealen. Sie hängt aber ohne Zweifel an erster Stelle damit zusammen, dass
er als Mitglied der akademischen Elite immer ziemlich geschätzt worden war. Wenn er
aufgrund seiner jüdischen Herkunft keine Publikationsmöglichkeiten mehr sah und
44
1935 aus dem Amt entlassen wurde, wurde das hohe Ansehen stark lädiert. Am 16. Juli
1936 notierte er im Tagebuch: "Wir waren angesehene Leute. Was sind wir jetzt? Und
was werden wir in zwei Monaten sein?"
107
Die Unsicherheit, die Entlassung und das
Scheitern der Publikation erschütterte sowohl seine akademische Existenz, als auch
seine Hoffnung. Am selben Tag heißt es weiter noch: "Ich habe den Glauben an Sinn
und Wert meiner Tätigkeit verloren. Frage wie oben: Was war ich, was bin ich?"
108
Mit
dem Verlust der akademischen Stelle verlor er nicht nur das Ansehen, sondern auch sein
Einkommen, und geriet Klemperer in Geldnot. Allmählich wurde er zu einer
proletarischen Existenz gezwungen, die Klemperer nicht hinnehmen wollte.
109
1936
sagte er hierzu: "Wir sind eigentlich völlig proletarisiert, wesentlich proletarisierter als
Gusti – aber wir fühlen uns nicht als Proletarier und bewahren uns die Freiheit des
Denkens".
110
Auch wenn er völlig proletarisiert war und den ganzen Tag den Haushalt
führen musste, hat er sich geistig immer von "wirklichen" Proletariern distanziert, da
ihm 'die Freiheit des Denkens' geblieben war. Aus solchen Stellen geht die Stärke
Klemperers Identität hervor. Besonders die geistige Kraft und Tätigkeit trennte ihn von
den Proletariern. In den Tagebüchern beschimpft Klemperer an vielen Stellen die
Proletarier um ihre Primitivität, Dummheit und ihr Massenverhalten, die Klemperers
Meinung nach die Hitlerei mit ermöglicht haben. So hat er seine Arbeit fortgesetzt und
die französische Literaturgeschichte des 18. Jahrhunderts und nach dem Verbot der
Bibliotheknutzung das Curriculum angefangen, von denen er an manchen Stellen
behauptete, sie seien das Beste, das er je geschrieben hat. Das Bejubeln der eigenen
Arbeit kann dabei als Bestätigung des eigenes Ichs betrachtet werden. Katie Trumpener
behauptet Folgendes hierzu: "the act of writing is itself a crucial act of self-affirmation.
Such writing takes on further dignity from the Nazis’ refusal to allow it, let alone to
recognize, publish, or honor it".
111
Das Schreiben selber bestätigt die Bedeutsamkeit von
Klemperer als Wissenschaftler. Außerdem bekommt die Arbeit gerade dadurch noch
mehr Würdigkeit, dass sie höchst wahrscheinlich nie publiziert werden wurde. Dies ist
denn auch einer der Gründe, aus denen Klemperer immer weitergeschrieben hat,
107
Klemperer: Ich will Zeugnis ablegen. Band 2, S. 111.
108
Klemperer: Ich will Zeugnis ablegen. Band 2, S. 111.
109
Klemperer: Ich will Zeugnis ablegen. Band 3, S. 15.
"Wir sind so proletarisiert und eingeengt, daß ich mir oft wünsche, nicht mehr aufzuwachen."
110
Klemperer: Ich will Zeugnis ablegen. Band 2, S. 117.
111
Trumpener: "Diary of a Tightrope Walker", S. 491.
45
obwohl er sich dessen bewusst war, dass der Publikationschance minimal war. Die
Erkenntnis, dass seine Arbeit wahrscheinlich nie publiziert oder überleben würde,
drückt er in den Tagebüchern leitmotivisch durch vanitas vanitatum aus. Nachdem ein
Verlag aus rein buchhändlerischen Gründen, die auch für anderen Verleger gelten
mussten, Klemperers Voltaireband abgelehnt hatte, notierte er 1936:
Vanitas vanitatum hin und her, es ist doch ein Stück meines Lebenswerkes, das
um seine Wirkung und eigentliche Existenz gebracht ist, und ich komme mir nun
erst recht wie lebendig begraben vor.
112
Das Scheitern der Publikationsmöglichkeiten gab ihn das Gefühl, lebendig begraben zu
sein. Obwohl er selber noch immer am Leben war, war seine Arbeit, sein Lebenswerk,
nun tot. Klemperer formuliert mit einer Variation auf dem Ausdruck "jemanden ums
Leben bringen" die Stärke des Eindrucks. Sein Lebenswerk ist 'um seine Wirkung und
Existenz gebracht', da es nie publiziert werden wurde. Trotzdem hat Klemperer die
Schreibarbeit nie aufgegeben. Obwohl er immer weiter Tagebuch geführt und
geschrieben hat, hatte ihn 1944 das Gefühl der Bedeutungslosigkeit des Schreibens
noch nicht verlassen. Im Gegenteil:
Die Arbeit von reichlichen zehn Jahren ist umsonst: das 18ième, das Curriculum,
die LTI – nichts wird fertig, nichts wird erscheinen. Vanitatum vanitas, aber doch
sehr bitter. [...] Ich will aber, um einen Halt zu haben, genauso weiterarbeiten wie
bisher. Vielleicht geschieht ein Wunder.
113
Das vanitas vanitatum taucht auch an dieser Stelle auf. Interessant ist aber vor allem der
Grund, der Klemperer für das weiterarbeiten gibt. Er gesteht selber, dass er schreibt, um
einen Halt zu haben. Die Funktion der Selbstbehauptung im Schreibprozess wird hier
also bereits angesprochen. Beim Schreiben und Arbeiten konnte er aus dem alltäglichen
Elend herauskommen und die eigenen geistigen Fähigkeiten und daher das Ansehen,
das er verdiente, bekräftigen. Die wissenschaftliche Arbeit kommt aber allmählich zu
einem Ende, wenn ihm zuerst die Schreibmaschine entnommen wurde, und besonders
wenn er 1943 Zwangsarbeit leisten musste. Die physische Erschöpfung, Geistlosigkeit
und Einförmigkeit des Schippens von Schnee, des Verpackens von Tee, des Schneidens
und Faltens von Kartonage, ließen ihm keine Zeit zum Arbeiten an das Curriculum
Vitae und füllten ihn mit einer geistigen Leere. Die geistige Leere hat Klemperer gerade
am meisten gefürchtet. Die Angst vor der Leere kommt am Besten in der Darstellung
112
Klemperer: Ich will Zeugnis ablegen. Band 2, S. 121.
113
Klemperer: Ich will Zeugnis ablegen. Band 7, S. 50.
46
der Gefängniszeit zum Ausdruck. Während seiner Polizeistrafe fiel die Leere der 'Zelle
89' ihm sehr schwer: "ich durfte nicht nachgeben, ich mußte die Leere aus mir heraus
füllen, sonst ... nein, es gab kein sonst".
114
Erst wenn Klemperer von einem
Wachtmeister ein Bleistift und ein Blatt Papier bekommen hatte, gelang es Klemperer,
das Gefühl der Leere zu überwinden. Er brauchte der Bleistift gar nicht anzuwenden,
denn "das bloße Plänemachen, das bloße Bewußsein seines Besitzes füllte mich aus".
115
Aufs Neue rettet das Schreiben, zwar nur die Symbole des Schreibens (Bleistift und
Papier), ihn von dem geistlichen Tod. Dieselbe geistige Leere empfand Klemperer also
bei der Zwangsarbeit. Katie Trumpener deutet aber darauf hin, dass die Zwangsarbeit
ihm auch einen großen Vorteil gebracht hatte, weil er nicht länger jeden Tag im Hause
und hinter dem Schreibtisch verbringen konnte. Sie zwang ihm dazu, die häusliche
Enge und die klaustrophobische Promiskuität des Ghettos zu verlassen, was für
Klemperer eine geistige und physische Aufklärung bedeutete.
116
In der Fabrik musste er
sich unter der Arbeitsklasse mischen und er erfuhr dort, dass ganz viele deutsche
Proletarier mit Juden sympathisierten. Er lernte eine andere Seite der Volksstimmung
kennen, die, wie Klemperer auch einsehen musste, nicht nur durch Primitivität,
Dummheit und blinden Glauben an das Regime gekennzeichnet wurde. Obwohl die
Zwangsarbeit also einigermaßen als Bereicherung für seine Beobachtungen betrachtet
werden kann, wurde sie Klemperer jedoch widerlich. Die Erfahrung wurde schließlich
nur noch durch Abstumpfung gekennzeichnet, denn Klemperer war "dieses
Proletarierdasein längst (seit mindestens drei, vier Jahren) Selbstverständlichkeit".
117
Klemperers Urteil über die deutschen Proletarier kann bereits als hart umschrieben
werden. Seine Meinung zu den akademischen Kollegen und den Intellektuellen war
noch viel unnachgiebiger, denn Klemperer war der Meinung, dass sie, im Gegensatz zu
der proletarischen Bevölkerung, besser gewusst haben sollten.
118
Sie sollten sich der
Grausamkeiten des Regimes mindestens bewusst gewesen sein und die Hitlerei
bestritten haben. Besonders ihr Verhalten Klemperer gegenüber nach 1933 war
schamlos. Fast alle Kollegen haben ihn seit dann "wie eine Pestleiche" vermieden.
Auch
für die jährliche Konferenz der Neuphilologen hat ihn 1935 keiner mehr eingeladen. So
114
Klemperer: Ich will Zeugnis ablegen. Band 4, S. 116.
115
Klemperer: Ich will Zeugnis ablegen. Band 4, S. 133.
116
Trumpener: "Diary of a Tightrope Walker", S. 492-493.
117
Klemperer: Ich will Zeugnis ablegen. Band 6, S. 140.
118
Daniel Johnson: "What Victor Klemperer saw". In: Commentary 109 (2000), S. 49.
47
ist es verständlich, wie auch Reiss hervorhebt, dass die akademische Elite Klemperer
bald verhasst war.
119
In einem Eintrag vom 16. August 1938 lesen wir Folgendes:
Wenn es einmal anders käme und das Schicksal der Besiegten läge in meiner
Hand, so ließe ich alles Volk laufen und sogar etliche von den Führern, die es
vielleicht doch ehrlich gemeint haben könnten und nicht wußten, was sie taten.
Aber die Intellektuellen ließ ich alle aufhängen, und die Professoren einen Meter
höher als die andern; sie müßten an den Laternen hängen bleiben, solange es sich
irgend mit der Hygiene vertrüge.
120
An dieser Stelle wird Klemperers Ansicht auf das Volk und die Intellektuellen noch mal
betont. Dem Volk wirft er nichts vor, denn sie wussten aus Dummheit und
Massenverhalten nicht besser, da sie sich von der nationalsozialistischen Propaganda
irreführen ließen. Auffallend ist, dass er angeblich daran glaubte, dass auch einige
Führer nicht gewusst hätten, was sie taten, obwohl das Adverb 'vielleicht' Zweifel
suggeriert. Klemperer verhielt sich auch den Freunden gegenüber gewissermaßen
arrogant. So äußert er sich in den Tagebüchern sehr negativ über Dr. Annemarie Köhler,
die während des ganzen Krieges die Tagebücher für ihn versteckt hat. Und auch den
Freunden, die er mit Namen in den Tagebüchern nennt, liegt er nie Verantwortung ab.
Die Gefährdung seiner Freunde war weniger wichtig als sein Wunsch,
dokumentarischen Wert zu erreichen.
Mit der Arroganz hängt auch den Egoismus, den Klemperer von Eva
zugeschrieben wurde, zusammen. Wenn im Februar 1941 der Wagen abgeschleppt
werden musste, weil es Juden verboten war, über einen Wagen zu verfügen, kommt es
zu einem Zusammenstoß zwischen dem Ehepaar:
Ihre alte Klage: daß ich nicht auf sie gehört und zu spät gebaut, daß ich ihr
»zerquälte Jahre« bereitet, daß ich nicht beizeiten das Haus auf ihren Namen
gesichert. Es kränkt mich ungemein, so angeschuldigt zu sein. Und doch wohl mit
halbem Recht. [...] Ich habe immer geglaubt, ihr Interesse über das meine zu
stellen und das Menschenmögliche für sie zu tun. Sie scheint anderer Meinung.
[...] Ich sage mir jetzt oft: Wozu noch all diese Kränkung um Vergangenes? Man
ist so dicht am Ende.
121
Bereits durch die Angabe, dass es sich um eine 'alte Klage' handelt, kommt zum
Ausdruck, dass sein Egoismus nicht nur dem Elend unter dem nationalsozialistischen
Regime entstammte. Eva warf Victor vor, dass er nicht auf sie gehört und in Allem zu
119
Reiss: "Victor Klemperer. Reflections on his Third Reich Diaries", S. 80.
120
Reiss: "Victor Klemperer. Reflections on his Third Reich Diaries", S. 80.
121
Klemperer: Ich will Zeugnis ablegen. Band 4, S. 73.
48
spät gehandelt habe. Klemperer gesteht, dass sie 'mit halbem' Recht hatte. Er glaubt der
Anklage also nur teilweise. Mit dem Vorwurf des Egoismus kann er sich angeblich
nicht vereinigen, da er sagt, dass er für Eva immer das Beste getan hat. Die
Fremdcharakterisierung und Selbstcharakterisierung unterscheiden sich also in diesem
Fall. Der Zusammenstoß wird schließlich von Klemperer heruntergespielt, weil er
darauf hinweist, dass die Zukunft so unsicher ist, dass man sich nicht um die
Vergangenheit kümmern soll. Da er die Todesgedanken durch die konstante Bedrohung,
die Herzbeschwerden und das Alter nicht mehr loswerden konnte, wurde Klemperer
ständig von einem Gefühl der Erleichterung um das eigene Leben überherrscht, das er
durchaus als "Hurra ich lebe" formuliert. Die Erleichterung war immer von einer
Gefühllosigkeit begleitet, wenn jemand aus Klemperers Umgebung evakuiert oder
ermordet wurde. Auch die viele Selbstmorde, zu denen die Juden getrieben wurden,
ließen ihn angeblich kalt.
122
In einem Eintrag vom 14. November 1944 notierte
Klemperer:
Mir fiel an mir wieder die entsetzliche herzlose Kälte auf. Nichts als der Bezug
auf mich - »Hurra, ich lebe!« und »Wann trifft es mich?« - und das Stoffsammeln
für mein Buch.
123
Die Herzenskälte hatte natürlich damit zu tun, dass Klemperer allmählich nur noch
Abstumpfung zu den grausamen Verbrechen der Nazis empfinden konnte. Jede
unerwartete Judenanordndung, Haussuchung, Beschimpfung, das immer größere Elend
wurden alle schließlich zu einer Selbstverständlichkeit in seinem Leben als Jude im
nationalsozialistischen Zeitalter. Da er sich in Bezug auf die Todesfälle dem eigenen
Egoismus bewusst war und auch explizit darauf hingedeutet ('Nichts als der Bezug auf
mich'), schien Klemperer dieses Gefühl zu bedauern. Da Klemperer immer
selbstreflexiv und selbstkritisch auftritt, ließ 'die entsetzliche herzlose Kälte' ihm
offensichtlich nicht kalt, was seine angebliche Gefühllosigkeit gewissermaßen
relativiert. Auch die immer wieder wiederholte Aussage 'Was wird aus mir?' und 'Wann
122
Klemperer: Ich will Zeugnis ablegen. Band 5, S. 255.
"Ich bringe in meine Herzensstumpfheit kein Gefühl auf. Nur immer: »Es fallen so viele rings um mich
und ich lebe noch. Vielleicht ist es mir doch vergönnt, zu überleben und Zeugnis abzulegen«."
123
Klemperer: Ich will Zeugnis ablegen. Band 7, S. 149.
49
trifft es mich?' betonen die eigene Todesangst einerseits
124
und den Trieb zum Überleben
andererseits. Besonders wenn Eva im Oktober 1943 mit einer Erkrankung kämpfte, hat
Klemperer den eigenen Egoismus verflucht. Er gesteht, dass er sich, während Eva im
Krankenhaus war, immer wieder die eigene Deportation ausgemalt hat.
125
Die
"Mischehe" mit einer "arischen" Frau war nämlich das einzige, das ihn bis dann vor
Evakuierung geschützt hatte. Trotz des Egoismus, den Klemperer aufweist, haben ihn
die Erniedrigungen jedoch auch mit Scham erfüllt. So musste er aus Armut die
zurückgelassene Kleidung von Deportierten tragen und hat er vor Hunger manchmal
Essen der Mitbewohner im Judenhaus gestohlen. Dazu notierte er am 26. Juni 1942:
Heute hätte mich Kätchen um ein Haar dabei überrascht, wie ich ihr Brot stahl
und Zucker stehlen wollte. Was wäre daraus entstanden? Es ist wirklich der
nackte Hunger, der mich zu diesen Mundräubereien treibt. (Mit denen ich
Kätchen wirklich nicht schade. Sie ißt wenig, ist gut versehen durch die Mutter,
läßt vieles verkommen.) Ich empfinde es als grauenhafte Erniedrigung, daß ich
diese Diebereien ausführe.
126
An dieser Stelle fällt auf, dass er trotz des Gefühls der Erniedrigung jedoch vor Hunger
dazu getrieben wird, seine Mitbewohnerin zu bestehlen. Wichtiger ist aber, dass er den
Diebstahl im Tagebuch zu rechtfertigen versucht. Wenn auch zwischen Klammern, hebt
er hervor, dass die Mitbewohnerin von dem Diebstahl keinen Schaden erleiden würde.
Es scheint, als ob er im Tagebuch das schlechte Gewissen betäuben wollte. In diesem
Sinne kann noch mal darauf hingedeutet werden, dass das Tagebuch als strukturierendes
Mittel fungiert. In dem Tagebuch kann er das Verhalten und die Gedanken über die
Erlebnisse des Alltagslebens strukturieren. Das Aufzeichnen schafft Ordnung im Chaos
und gibt den Erlebnissen und dem eigenen Verhalten einen Sinn, weil er davon Zeugnis
ablegen kann. Das Aufzeichnen and das Tagebuch an sich bleiben bis zum Ende für
Klemperer eine Tat der Selbstbehauptung und ein Halt, an dem er sich kräftig festhält.
Einen anderen Halt bietet ihm seine Frau, Eva. Trotz Klemperers Egoismus und
Fatalismus kommt in den Tagebüchern auch das Vertrauen in und die Bewunderung für
Eva zum Ausdruck. Unter anderem Omer Bartov weist darauf hin, dass "their intense
devotion to each other sustained them through long years of abuse and humiliation,
124
Klemperer: Ich will Zeugnis ablegen. Band 6, S. 79.
"Dieses Gefühl, die nackte Todesangst vor dem Erwürgtwerden im Dunkeln, das muß ich im Curriculum
festhalten; das ist auch das Besondere dieses letzten Jahres: Man rechnet nicht mehr mit Gefängnis oder
mit Prügeln, sonder glattweg bei allem und jedem mit dem Tod."
125
Klemperer: Ich will Zeugnis ablegen. Band 6, S. 147.
126
Klemperer: Ich will Zeugnis ablegen. Band 5, S. 147.
50
social isolation and material deprivation".
127
Evas Charakterisierung in den Tagebüchern
ist über die Jahre hinweg einem radikalen Wandel unterworfen. Deswegen ist es auch
sinnvoll näher auf die Charakterisierung und die Rolle von Eva im Leben ihres
Ehemannes einzugehen.
Eva Schlemmer-Klemperer war eine begabte Pianistin. Durch eine schwache
Gesundheit ist ihr aber nie der Erfolg, den sie verdiente, zugekommen. Eva litt unter
sowohl physische als auch mentale Krankheiten. Jahrelang hat sie sehr unter einer
Depression gelitten, die noch schlimmer wurde, wenn 1928 auch noch ihren Fuß in
einem Unglück schwer verletzt wurde.
128
So wird Eva am Anfang der Tagebücher auch
vorgestellt. Sie wird von Klemperer als kränklich, schwach, manchmal depressiv
dargestellt und die meisten frühen Einträge über Eva handeln von ihrer schwachen
Gesundheit. Das Festklammern an dem Haus in Dölzschen und an der Katze 'Muschel'
verstärken das Bild von Eva als schwach und geisteskrank noch. So heißt es 1933 in
einem Eintrag: "Ohne Bau schleppe ich Eva sicher nicht mehr lange durchs Leben."
129
Der Bau des Hauses in Dölzschen war aus finanziellen Gründen erschwert worden. Eva
klammerte sich aber so an dem Bau des Hauses fest, dass er für Eva laut Klemperer
lebensnotwendig war. In solchen Einträgen zeigt Klemperer sich als sorgsamer
Ehemann. So las er beispielsweise auch viel für Eva vor, wenn sie das Bett nicht
verlassen konnte. Auffallend ist ebenfalls, dass Klemperer in den ersten zwei Jahren des
nationalsozialistischen Regimes Evas politische Meinungen kaum hervorhebt. Dies alles
ändert sich ab 1935. Von diesem Zeitpunkt an werden Evas Meinungen immer stärker
betont und scheint Klemperer die Frau mehr und mehr zu bewundern. Die physischen
und mentalen Beschwerden werden nur noch sporadisch angesprochen, zum Beispiel
wenn die von Eva so geliebte Katze einschläfern musste. 1935 änderte sich die Lage mit
den Nürnberger Gesetzen denn auch dramatisch. Die Nationalsozialisten haben mit den
Gesetzen versucht, die Mischehen aufzulösen. Für Klemperer stand eine Trennung von
der "arischen" Frau mit einem Todesurteil gleich. Eva hat aber unter dem Druck, sich
von dem jüdischen Ehemann zu trennen, standgehalten und eine Trennung nie erwogen.
Klemperer hat es mindestens nie vermutet, denn er hat hierauf in dem Tagebuch nie
127
Bartov: "The last German", S. 36.
128
Reiss: "Victor Klemperer. Reflections on his Third Reich Diaries", S. 73.
129
Klemperer: Ich will Zeugnis ablegen. Band 1, S. 46.
51
angespielt.
130
Wenn immer strengere Judenanordnungen in Kraft gesetzt wurden, blieb
Eva nichts übrig als das Einkaufen usw. auf sich zu nehmen. Nachdem das Tragen des
Judensternes verpflichtet worden war, wollte Klemperer nicht länger tagsüber draußen
sein und nur noch "im Schutz der Dunkelheit ein bißchen Luft schöpfen."
131
Deswegen
sollte Eva alle Einkäufe übernehmen, was für eine Frau mit einer schwachen
Gesundheit eine erschöpfende Aufgabe war, besonders weil es allen Geschäften an
Essenswaren fehlte. So entwickelt Eva sich von einer fast behinderten Frau zu einer
Heldin. Die unzählbaren Leistungen, die sie nicht nur für den jüdischen Ehemann,
sondern auch für andere befreundete Juden gemacht hat, sind außerordentlich. Dabei
soll man nicht vergessen, dass auch sie, als "arische" Ehefrau eines Juden, die
Entbehrungen, Beschimpfungen, Schläge und Drohungen der Gestapo erleiden
musste.
132
Außerdem hat Eva auch die Manuskripte des Tagebuches jedes Mal zu Dr.
Köhler gebracht und dadurch ihre Rettung gesichert, was Evas Heldenstatus bestätigt.
Besonders am Ende des Krieges scheint es, als ob Eva in schweren Zeiten die stärkere
ist. Wenn Eva und Victor Klemperer nach dem Bombenangriff auf Dresden die Flucht
durch Sachsen und Bayern unternommen haben, war es sie, die kräftig die
Entscheidungen genommen und Fluchtpläne gemacht hat. So können wir am 2. April
1945 Folgendes lesen:
Da wir aber, einmal entdeckt, auf alle Fälle verloren sind, so kommt es auf ein
bißchen mehr oder weniger Urkundenfälschung (meint Eva, und ich stimme ihr
bei, und sie hat den entscheidenden Federzug vorher geübt) nicht mehr an.
133
Eva entscheidete, dass sie für ihre Sicherheit den Namen besser in Kleinpeter ändern
konnten. An dieser Stelle hebt Klemperer hervor, dass Eva diejenige war, die bei der
Flucht das Denken und die Entscheidungen von ihm übernahm. Einige Zeilen später
notierte Klemperer auch Folgendes:
Ich bin mir bewußt, daß die Durchführung des von Eva gefundenen Planes von
Eva abhängt; sie muß überall die Handelnde und Sprechende sein, meine
Geistesgegenwart oder Ruhe oder Tapferkeit reicht nicht aus, allein wäre ich
bestimmt verloren. Ich bin mir durchaus bewußt, wie sehr sie ihr Leben aufs Spiel
setzt, um meines zu retten.
134
130
Julia M. Klein: "Klemperer’s List" In: Nation 59 (2000), S. 44.
131
Klemperer: Ich will Zeugnis ablegen. Band 4, S. 165.
132
Reiss: "Victor Klemperer. Reflections on his Third Reich Diaries", S. 78.
133
Klemperer: Ich will Zeugnis ablegen. Band 8, S. 84.
134
Klemperer: Ich will Zeugnis ablegen. Band 8, S. 84.
52
Die Kraft von Eva, die an dieser Stelle hervorgehoben wird, steht im großen Kontrast
mit dem Bild, das wir am Anfang der Tagebücher der Nazijahre von Eva bekommen.
Von der kränklichen, depressiven Frau, die Klemperer ständig um Versorgung und
Erleichterung bat, ist nicht mehr die Rede. Die Bewunderung Klemperers für Evas Mut
und Unerschütterlichkeit am Ende des Krieges kennt offensichtlich keine Grenzen. Das
(Über-)Leben hat Klemperer anscheinend Eva zu verdanken.
1.2.3 – Heimatlosigkeit
Genauso wie Eva sich an dem Haus in Dölzschen und dem dazugehörende Garten
festklammerte, hat auch Klemperer sich in den grausamen Jahren des
Nationalsozialismus einen Halt gesucht. Anfangs hat er vor allem eine Weise gesucht,
um aus dem bedrückenden Alltag auszubrechen. Die Freiheit war für Klemperer und
Eva lebensnotwendig, und die allmählichen Freiheitsbeschränkungen waren für die
beiden denn auch sehr belastend. Um aus dem Alltag herauszukommen, entschloss
Klemperer sich nach der Entlassung, den Führerschein zu machen, und ein Auto zu
kaufen, was ihm bei großer Anstrengung letztendlich auch gelungen ist. Die
Spazierfahrten mit dem Wagen bedeuteten, abgesehen von den zahlreichen Pannen und
Reparaturen, die einzigen und letzten Momente der Freiheit. So heißt es im August
1937, nachdem Klemperer etwas Geld, das stärkere Bezinausgaben ermöglichte,
bekommen hatte: "und so rollen wir eben aus der Hitze und dem Küchendienst und der
Misere trübster Gedanken wieder und wieder heraus, solange eben der Vorrat reicht".
135
In der Beschreibung der Fahrten stehen die Landschaften und Orte oft an zentraler
Stelle. Das Gefühl der Freiheit weit weg von zuhause und aus dem Elend heraus wurde
aber von den Nazis mit dem Entzug des Führerscheins 1938 zerschlagen. Im
Jahresrésumé 1938 zählt er die gemachten Fahrten auf "und so viele kleine Fahrten und
die Freiheit der Besorgungen. – Und dann von Zeit zu Zeit das Kino, das
Auswärtsessen. Es war doch ein Stückchen Freiheit und Leben."
136
In den nächsten
Jahren des Krieges wurde ihm die Freiheit immer mehr entnommen. So beschwerte sich
Klemperer zunächst über die Isolation und die Einsamkeit, in denen er sich nach der
Auswanderung vieler Freunde und Bekannten befand. Wenn Eva und er aber ins
135
Klemperer: Ich will Zeugnis ablegen. Band 3, S. 46.
136
Klemperer: Ich will Zeugnis ablegen. Band 3, S. 125.
53
Judenhaus einziehen mussten, hat sich ironischerweise die Einsamkeit in das Gefühl der
Klaustrophobie umgewandelt. Alles Private wurde ihnen im Ghetto-Leben der
Dresdener Judenhäuser entnommen. Erst wenn Dresden von dem Bombenangriff der
Alliierten vernichtet wurde, konnten sie dem Dresdener Ghetto entfliehen und
gewannen sie teilweise ihre Freiheit zurück. Eva riss ihrem Mann den Judenstern und
damit auch die jüdische Identität auf, nach dem sie die Wanderung anfingen. Julia Klein
hebt hervor, dass die Beschreibung der Wanderung und des Kriegsendes besonders
pikaresk anmutet.
137
Es ist auch tatsächlich so, dass Eva und Victor Klemperer auf ihrem
langen Fußweg verschiedene Male in Bahnhöfen übernachten und um Essen betteln
mussten. Die Probleme des Hungers und der Obdachlosigkeit waren zwar noch nicht
überwunden, aber um die Drohung der Gestapo und Evakuierung mussten sie sich nicht
länger kümmern. Schließlich erlebten sie in dem Dorf Unternbernbach das Kriegsende
mit dem Einmarschieren der amerikanischen Truppen. Sie entschlossen sich, nach
Dresden zurückzukehren und wurden dort freundschaftlich von einem Freund
empfangen.
Dies war die Wendung zum Märchen. Frau Glaser empfing uns mit Tränen und
Küssen, sie hatte uns für tot gehalten. Er, Glaser, war etwas klapprig und
apathisch. Wir wurden gespeist, wir konnten uns ausruhen. Am späteren
Nachmittag stiegen wir nach Dölzschen hinauf.
138
Trotz der märchenhaften Darstellung der Rückkehr, bedeutete die Vernichtung von
Dresden für Klemperer aber auch einen harten Schlag, weil er dadurch völlig heimatlos
wurde. Bereits Jahre zuvor hatte Klemperer das Zugehörigkeitsgefühl zu Deutschland
verloren. In seinen Überzeugungen fühlte er sich schon längst heimatlos. Schon 1938
berichtete er im Tagebuch:
Wie tief wurzelt Hitlers Gesinnung im deutschen Volk, wie gut war seine
Arierdoktrin vorbereitet, wie unsäglich habe ich mich mein Leben lang betrogen,
wenn ich mich zu Deutschland gehörig glaubte, und wie vollkommen heimatlos
bin ich.
139
Das Gefühl der Heimatlosigkeit spiegelt die erschütterte Identität Klemperers wider.
Ebenso wie der Führerschein ihm einige Freiheit geboten hatte, so waren auch das
Schreiben und das Tagebuch für Klemperer wichtige Mittel in der Flucht aus dem
137
Klein: "Klemperer’s List", S. 46.
138
Klemperer: Ich will Zeugnis ablegen. Band 8, S. 200.
139
Klemperer: Ich will Zeugnis ablegen. Band 3, S. 77.
54
alltäglichen Elend. So kann das Tagebuch als neue Heimat betrachtet werden. Es erlaubt
ihm, im Schreibprozess der Angst und den Grausamkeiten zu entkommen. In ihrem
Artikel "Jüdisches Gedächtnis und Literatur" weisen Bannasch und Hammer darauf hin,
dass die Tora für die Juden nach der Austreibung aus dem Vaterland, Israel, zum
portativen Vaterland wurde. Die Identität gründete nicht mehr auf einer territorialen
Heimat, sondern auf einer Textlichen.
140
Im Fall Klemperers könnte man sagen, dass die
Tagebücher und die Schreibarbeit selber zu der Konstruktion einer neuen Heimat und
einer neuen Identität beigetragen haben.
Als Fazit kann man also behaupten, dass Klemperer das Tagebuch nicht nur als
historisches Dokument ('Zeugnis ablegen'), sondern auch als Mittel der
Selbstbehauptung geschrieben hat. In LTI umschrieb er die Funktion des Tagebuches
selber wie folgt:
Mein Tagebuch war in diesen Jahren immer wieder meine Balancierstange, ohne
die ich hundertmal abgestürzt wäre. In den Stunden des Ekels und der
Hoffnungslosigkeit, in der endlosen Öde mechanischster Fabrikarbeit, an
Kranken- und Sterbebetten, an Gräbern, in eigener Bedrängnis, in Momenten
äußerster Schmach, bei physisch versagendem Herzen – immer half mir diese
Forderung an mich selber: beobachte, studiere, präge dir ein, was geschieht –
morgen sieht es schon anders aus, morgen fühlst du es schon anders; halte fest,
wie es eben jetzt sich kundgibt und wirkt.
141
Das Tagebuch war also das Einzige, was ihm den Tag hindurch geholfen hat. Das
Beobachten und Studieren verschafften Klemperer die Selbstbestätigung und die
Sicherheit, die er brauchte, sich immer wieder motivieren zu können. Das Tagebuch
sollte jedes Detail umfassen, denn 'morgen sieht es schon anders aus, morgen fühlst du
es schon anders'. Diese Aussage suggeriert, dass die eigene Einsichte auf die Umstände
und auf sich selbst (du!) von Tag zu Tag wechselten. Sowohl die Lage als auch die
eigene Identität wurden so jeden Tag von Klemperer evaluiert. Es war ihm wichtig, die
Wirkung und Stimmung jedes Momentes festzuhalten. Besonders die immer
wechselnde Stimmung des deutschen Volkes hat ihn sehr interessiert. Im Folgenden
wird die Bedeutsamkeit der voces populi und die Realisierung der Mehrstimmigkeit in
den Tagebüchern untersucht.
140
Bettina Bannasch & Almuth Hammer: "Jüdisches Gedächtnis und Literatur." In: Gedächtniskonzepte
der Literaturwissenschaft. Theoretische Grundlegung und Anwendungsperspektiven. Hg. v. Astrid Erll
und Ansgar Nünning. Berlin/New York: de Gruyter 2005, S. 277.
141
Victor Klemperer: LTI. Die unbewältigte Sprache. Aus dem Notizbuch eines Philologen. München:
Deutscher Taschenbuch Verlag 1969, S. 17.
55
2. Mehrstimmigkeit
In der Besprechung der zwei wichtigsten Tagebuchfunktionen kam schon zur
Sprache, dass in den Tagebüchern eine Wechselwirkung zwischen Innerlichkeit und
Öffentlichkeit vorhanden ist. An erster Stelle bezog diese sich auf das Persönliche und
das Historische. In folgendem Abschnitt beruht sie auf den inneren und äußeren
Perspektiven, die die Tagebücher aufweisen. Nicht nur die Stimme und Perspektive
Klemperers ist in den Tagebüchern vertreten, sondern auch die vieler Anderen. Die
äußere Perspektive bezieht sich auf die Meinungen von sowohl Personen aus
Klemperers direkter Umgebung, als auch von für ihn Unbekannten. Zusammen bringen
sie die Mischstimmung, die während des Naziregimes in Deutschland herrschte, zum
Ausdruck. Dadurch, dass Klemperer die vielen Meinungen im Tagebuch aufgezeichnet
hat, wird dem Leser eine nuancierte Sicht auf die herrschende Volksstimmung, auf die
Klemperer als vox populi verweist, geboten. Die Darstellung der vox populi kann
außerdem auch als wichtiger Beitrag zur historiographischen Debatte der
Nachkriegszeit betrachtet werden. Dies wird am Ende des Kapitels ausführlich
besprochen. Zunächst werde ich aber die verschiedenen Stimmen in den Tagebüchern
untersuchen.
2.1 – Die Stimmung und Stimmen im Tagebuch:
Vox Populi oder Voces Populi
Die verschiedenen Stimmen, die im Tagebuch vorhanden sind, beziehen sich auf
die inneren und äußeren Perspektiven, von denen aus dem Leser Auskünfte erteilt
werden. Die innere Perspektive verweist auf Klemperers eigene Meinungen und seine
eigene Sicht auf die Erlebnisse, während die äußere in die Stimmen und Überzeugungen
anderer Personen zerfällt. Dabei soll man aber in Acht nehmen, dass ein Tagebuch
vorliegt. Deswegen sind beide Perspektiven von Klemperer aufgezeichnet worden und
konnten von ihm zu jeder Zeit modifiziert werden. Weiter wird auch im vorliegenden
Abschnitt besprochen, wie die einzelnen Stimmen sich zu einer Stimmung entfalten, die
Klemperer als die vox populi bezeichnet. Zunächst wird aber auf die Wechselwirkung
zwischen inneren und äußeren Perspektiven und auf die Art und Weise, wie sie im
Tagebuch dargestellt worden sind, näher eingegangen.
56
2.1.1 – Die Stimmen aus der vertrauten Umgebung
Die Perspektive, die neben der inneren von Klemperer am meisten an die Reihe
kommt, ist ohne Zweifel die Stimme Evas. Während der Besprechung von Evas Rolle
und Charakter ist schon erwähnt worden, dass Eva im Laufe der Tagebücher eine tief
greifende Veränderung erfahren hat. Während Klemperer anfangs ihre physisch und
psychologisch schwierige Lage betont hat, treten am Ende der Tagebücher besonders
ihre Stärke und die Willenskraft in den Vordergrund. Auffallend ist aber, dass die
Meinungen Evas in Bezug auf die Kriegslage fast nie direkt wiedergegeben werden.
Meistens sind ihre Gedanken in indirekter Rede dargestellt. Ein Beispiel unter vielen
notierte Klemperer am 11. Februar 1945, nachdem er schärfste Militärkontrolle von
Soldaten und SA festgestellt hatte, weil russische Fallschirmer in deutschen Uniformen
gelandet und sich versteckt halten würden:
Wiederum: Was könnten einzelne Fallschirmer hier ausrichten? Und, das sagt
Eva, wozu die Kontrolle? Gute Pässe hätten diese Fallschirmer sicherlich. Freilich
sagt Eva auch: Wozu das Schanzen? Es halte ja doch nicht auf.
142
Evas Meinung wird an dieser Stelle also betont. Jedoch wird sie in indirekter Rede
dargestellt. Die ständige indirekte Wiedergabe Evas Reden mutet vor allem fremd an,
weil die Gespräche Klemperers mit anderen Personen öfters in direkter Rede in den
Tagebüchern erscheinen. Das lässt sich vielleicht so erklären, dass Klemperer in den
meisten Fällen Evas Meinungen zu teilen scheint. Während er mit den Anderen nur
selten einverstanden ist, einigt er sich meistens mit Evas Feststellungen, und tragen ihre
Gedanken zu Klemperers eigener Ansicht bei. Auch deutet Klemperer darauf hin, wenn
Eva etwas Wichtiges gehört hat oder ihm auf etwas Bezeichnendes aufmerksam
gemacht hat.
Eva hört im Restaurant, wie ein Herr zwei Frauen die Liste der »Ausgestoßenen«
vorlas. [...]
LTI. 1) Eva machte mich auf »Aktion« aufmerksam. Ich glaube, ich habe das nie
notiert, obwohl es doch eines der allerältesten Schlagworte ist. Jede performance,
von allem Anfang an, gegen Rotfront, gegen Juden, gegen Parteien etc. ist
Aktion.
143
142
Klemperer: Ich will Zeugnis ablegen. Band 8, S. 26.
143
Klemperer: Ich will Zeugnis ablegen. Band 7, S. 95-96.
57
Da Eva als "Arierin" noch im Restaurant essen darf, und die meisten Einkäufe machen
soll, ist sie viel mehr als Klemperer im Stande, Gerüchte, Berichte und Gespräche
anderer Leute aufzufangen. Aus der Textstelle geht hervor, dass Eva ihm denn auch bei
seiner Aufzeichnungen von der Sprache des Dritten Reiches, LTI, behilflich gewesen
ist. In diesem Sinne kann man behaupten, dass Eva Klemperers Ansichten in positivem
Sinne beeinflusst, denn sie macht ihn auf Merkwürdiges und Auffälliges aufmerksam.
Die äußere Stimme Evas trägt zur Entwicklung der inneren Stimme Klemperers bei.
Feststellungen und Überzeugungen anderer Personen steuerten Klemperers eigene
Einsichten ebenfalls, aber eher in negativem Sinne. Wenn Klemperer in den
Tagebüchern die damalige Lage kommentierte, stellte sich in den meisten Fällen heraus,
dass er sich nicht mit diesen Stimmen einigte. Wie wir im Folgenden sehen werden,
konstruierte er auch anhand dieser Stimmen seine eigenen Gedanken und
Anschauungen.
Da Klemperer während der NS-Vorherrschaft mehr und mehr isoliert wurde,
stand er am meisten mit anderen Juden in Kontakt. Auch war er vor allem auf die Juden
angewiesen, um Auskünfte über die Lage zu bekommen. Besonders am Friedhof, auf
dem zwei Freunde Klemperers arbeiteten, und im Judenhaus konnte er in Gesprächen
mit verschiedenen Juden die Meinungen sammeln. Die Gespräche handelten natürlich
ins Besondere von der politischen Lage. Obwohl er die einzelnen Meinungen
aufzeichnete, verallgemeinerte er sie und teilte sie in optimistische und pessimistische
Stimmen auf. Seiner Meinung nach herrschte unter den Juden nur eine Stimmung, die
nicht mit seinen eigenen Überzeugungen übereinstimmte. So kommt es an
verschiedenen Stellen vor, dass Klemperer zunächst die allgemeine Stimme der Juden
dargestellt hat, und gleich danach die eigene Meinung davon abhebt. Schon am 9.
Oktober 1933 erwähnt er ein spezifisch jüdisches Verhalten:
Besonders widerlich ist uns das Verhalten mancher Juden. Sie fangen an, sich
innerlich zu fügen und den neuen Ghettozustand atavistisch als einen
hinzunehmenden gesetzlichen Zustand anzusehen.
144
Ihr Verhalten ist ihm widerlich und er kann nicht verstehen, dass manche Juden sich
ohne Widerstand ihrem Schicksal ergeben. Die allgemeine Stimmung begründet
Klemperer, indem er die verschiedenen Stimmen gleich danach aufzählt.
144
Klemperer: Ich will Zeugnis ablegen. Band 1, S. 58.
58
Gerstle, der Direktor des lukrativen Feigenkaffees, nebenbei Schwager des
ausgewanderten Jule Sebba, sagt, Hitler sei ein Genie, und wenn nur erst der
Außenboykott Deutschlands aufhöre, werde man leben können; Blumenfeld
meint, man dürfe »sich nicht von Wunschträumen nähren« und »müsse sich auf
den Boden der Tatsachen stellen«; Vater Kaufmann – sein Sohn in Palästina! –
spricht ähnlich, und seine Frau, die ewige Gans, hat sich an die Schlagwörter der
Presse und des Rundfunks gewöhnt und papageit von dem »überwundenen
System«, dessen Unhaltbarkeit sich nun einmal erwiesen hätte. [...] Frau
Rosenberg erzählt, wie ihr als Anwalt matt gesetzter Sohn Erwerb sucht und das
Auswandern erwägt – und die alten Kaufmanns söhnen sich mit dem gegebenen
Zustand aus!
145
Die einzelnen Stimmen, die in diesem Eintrag vertreten sind, sind im Allgemeinen
indirekt wiedergegeben. Das Unverständnis Klemperers diesen Meinungen gegenüber
kommt aber doch deutlich zum Ausdruck. Beispielsweise durch die Verwendung des
Ausrufezeichens tritt Klemperers Empören in den Vordergrund. Die Stellen, die in
Anführungszeichen gestellt worden sind, drücken nicht wirklich eine direkte Rede aus,
denn der Konjunktiv wird auch innerhalb der Anführungszeichen 'müsse' noch
verwendet. Die Aussagen Blumenfelds scheinen von den Juden oft verwendete
Ausdrücke zu sein, was ihre Stellung erklären könnte. Bei dem 'überwundenen System'
wird durch die Anführungszeichen klar, dass es sich um aus der Presse und aus dem
Rundfunk übernommene Wörter handelt. Außerdem lässt die Aussage 'die ewige Gans'
in Bezug auf Frau Kaufmann Klemperers Gefühl der Widrigkeit nicht bezweifeln. Der
nächste und letzte Schritt in Klemperers Strategie der Stimmendarstellung ist dann die
eigene Schlussfolgerung des Gesagten.
Ein Hundsfott, wer nicht jede Stunde des Tages auf Empörung hofft! Evas
Erbitterung ist noch größer als meine. Der Nationalsozialismus, sagt sie, genauer:
das Verhalten der Juden zu ihm, mache sie antisemitisch.
146
Klemperers Antwort auf die jüdischen Stimmen ist hart. Er hofft noch immer auf den
Aufstand und das Zusammenbrechen des Regimes. Auch Eva sind die jüdischen
Auffassungen widerlich, sie machen sie, wie sie selber sagt, antisemitisch. Die
Meinungen der jüdischen Gemeinschaft finden also sowohl bei Eva als bei Victor
Klemperer keinen Beifall. Auch ein Jahr später, im Jahre 1934, verwendet er noch
immer die gleiche Strategie und kontrastiert die eigene Meinung mit dem Pessimismus
der Juden.
145
Klemperer: Ich will Zeugnis ablegen. Band 1, S. 58.
146
Klemperer: Ich will Zeugnis ablegen. Band 1, S. 58.
59
Meinungen auszutauschen, hat jeder Verlangen, weil aus Zeitungen gar nichts
mehr entnommen werden kann. Am widerlichsten ist mir der spezifisch jüdische
Pessimismus mit seiner angenehmen Gefaßtheit. Ghettogesinnung, neu erwacht.
Man tritt uns, das ist nun einmal so. Wenn wir nur unsere Geschäfte machen
können und kein Pogrom kommt. Besser Hitler als ein Schlimmerer. Neulich ein
Abend bei Frau Schaps war schlimm in dieser Richtung. Und Blumenfelds fühlen
sich hier in ihrem Element, denken ebenso. -
147
An dieser Stelle bildet anfangs 'jeder', der Meinungen auszutauschen verlangt, einen
Kontrast zu dem 'spezifisch jüdischen Pessimismus'. Die jüdische Gemeinschaft grenzt
sich dem Anschein nach von den anderen Meinungen ab und gräbt sich in den
Pessimismus ein. Die Lage werden sie doch nicht ändern können, sie können also nur
noch hoffen, dass kein Pogrom kommt. Besonders die Tatsache, die Klemperer hier
auch hervorhebt, dass Hitler angeblich noch nicht so schlimm sei, deutet darauf hin,
dass die Juden sich zu diesem Zeitpunkt völlig in ihrem Schicksal gefügt haben. Ihr
Schicksal hat sich aber nachher auf grausame Weise verschlimmert. Ihre Meinungen
haben sich denn auch allmählich geändert. Der Pessimismus der Juden hat sich nach
immer strenger werdenden Maßnahmen und Verordnungen in eine Art Optimismus
umgewandelt. Sie haben immer mehr an das Zusammenbrechen des Regimes geglaubt
und gedacht, es könne doch nicht noch schlimmer werden. 1941 berichtete Klemperer:
"Jahre hindurch war ich zuversichtlich und die Judenheit um mich schwarz-
pessimistisch. Jetzt ist es genau umgekehrt".
148
Und in einem Eintrag von einigen Tagen
später heißt es: "In der Judenheit herrscht überall größter Optimismus, während ich
früher, als alle verzweifelten, zuversichtlich war".
149
Auch wenn der Meinung der
"Judenheit" einem Wandel unterlag, hat Klemperer sich noch immer von ihren
Überzeugungen abgehoben. Obwohl der Optimismus aus verschiedenen Quellen kam,
konnte Klemperer den Quellen keinen Glauben schenken.
Der jüdische Optimismus sickert aus hundert Quellen. Kreidl sen.: »Mein Bruder
schreibt aus Prag […] »Deutschland siegt an allen Fronten für Europa.« Frau Voß:
Herr Kussi war aus Holland hier und erzählte Frau Aronade, die Deutschen seien
vor Petersburg gestoppt, ihre Verluste … usw. usw.
150
Die vorliegende Beschreibung Klemperers der Begründung des Optimismus vonseiten
den Juden mutet sehr ironisch an. Die Unzuverlässigkeit der Quellen wird dadurch
147
Klemperer: Ich will Zeugnis ablegen. Band 1, S. 171.
148
Klemperer: Ich will Zeugnis ablegen. Band 4, S. 149.
149
Klemperer: Ich will Zeugnis ablegen. Band 4, S. 154.
150
Klemperer: Ich will Zeugnis ablegen. Band 4, S. 154.
60
hervorgehoben, dass Klemperer zum Beispiel den Bericht von Frau Voß gehört hat, die
es von Frau Aronade erfahren hat, die sich aber ihrerseits auf Herrn Kussi verlassen hat.
Auch das Hinzufügen des 'usw. usw.' weist darauf hin, dass Klemperer die Quellen
nicht traute. Andererseits soll auch bemerkt werden, dass es zu diesem Zeitpunkt keine
anderen Quellen als Gerüchte gegeben hat, und davon war Klemperer sich auch
bewusst. So schrieb er: "Eigentümlichkeit des Judenhauses, wie jeder die
Volksstimmung erfassen möchte und von der letztgehörten Äußerung des Friseurs oder
Schlächters etc. abhängig ist. (ich auch!)"
151
Genauso wie die Mitbewohner des
Judenhauses und die ganze jüdische Gemeinschaft, war Klemperer von unzuverlässigen
Berichten abhängig. Besonders die Hinweise auf den Friseur und den Schlachter heben
die Unzuverlässigkeit der Nachrichte hervor, weil sie normalerweise als Drehscheiben
für Klatschgeschichten betrachtet werden können. Zu diesem Zeitpunkt waren solche
Quellen aber die einzigen, auf die man sich verlassen konnte. Merkenswert ist auch,
dass Klemperer noch immer dieselbe Strategie verwendete, um die eigene Meinung im
Tagebuch aufzuzeichnen. Nachdem er seine eigenen Auffassungen mit den Meinungen
der Juden kontrastiert hatte, stellte er die einzelnen Stimmen der Juden und ihre Quellen
dar. Je schlimmer die Judenhetze aber wurde, desto schwieriger konnte Klemperer an
dem Gefühl der Widrigkeit der jüdischen Meinung gegenüber festhalten. So bekommen
wir in den Einträgen aus dem Jahr 1943 ein ganz anderes Bild, wenn Klemperer das
Folgende notierte:
Überall die gleiche Stimmung: verzweifelte Bitterkeit, Angst um das eigene
Leben, flakkernde Hoffnung und – vor allem - »ich lebe noch, ich lebe noch, ich
lebe noch!« (in der wechselnden Betonung).
152
Während Klemperer jahrelang die Stimmung der Juden nicht teilen gekonnt hat, stellt er
1943 fest, dass er sie nicht länger bestreiten kann. Es hat sich herausgestellt, dass sobald
der Überlebungstrieb in den Vordergrund tritt, alle sich nur noch damit beschäftigen
könnten. Die Abwechslung zwischen Bitterkeit, Angst und Hoffnung, auf die
Klemperer an dieser Stelle hindeutet, hat jeder gefühlt. Noch deutlicher formulierte
Klemperer die geteilten Gefühle am 29. März 1943: "Ich bin fortgesetzt sehr abgespannt
– Herzbeschwerden, ständige Müdigkeit – und sehr deprimiert. Die Depression teile ich
151
Klemperer: Ich will Zeugnis ablegen. Band 4, S. 38.
152
Klemperer: Ich will Zeugnis ablegen. Band 6, S. 41.
61
mit der ganzen Judenheit".
153
Obwohl Klemperer behauptet, dass er seine Depression
mit der ganzen Judenheit teilt, wird an dieser Stelle und in den gesamten Tagebüchern
jedoch vor allem die eigene Depression betont. Von den eigenen Gefühlen und
Gedanken ausgehend, hat er die allgemeine Stimmung zu skizzieren versucht.
Klemperer war zwar an die Stimmen anderer Personen interessiert, das eigene Ich
scheint aber immer an erster Stelle zu stehen. Das Interesse an die Meinung der
jüdischen Gemeinschaft diente also zur Konstruktion der eigenen Gedanken und, wie
wir im Folgenden sehen werden, zum Aufbau seiner wissenschaftlichen Untersuchung
nach der Volksstimmung.
Aus der Besprechung geht hervor, dass Klemperer aus den verschiedenen
Stimmen eine allgemeine Stimmung abzuleiten versuchte. Obwohl die einzelnen
Stimmen für ihn von großer Bedeutung waren, war es seiner Meinung nach die
Stimmung, die eine Änderung in Gang setzen konnte. Beim Aufzeichnen der Stimmen
hat er leitmotivisch den Begriff vox populi verwendet, d.h. die Stimme des Volkes.
Wolfgang Mieder weist darauf hin, dass der Begriff von dem lateinischen Sprichwort
"Vox populi, Vox Dei" stammt, was 'die Stimme des Volkes ist die Stimme Gottes'
bedeutet.
154
Das Sprichwort verweist im Kontext der Tagebücher darauf, dass Hitler sich
selbst als Gottesfigur aufgeworfen hat und behauptet, die Meinung des Volkes zu
vertreten. Bei der Entwicklung des Zusammenhangs zwischen Hitler und der vox populi
hat die Propaganda eine immense Rolle gespielt, auf die im Folgenden noch
zurückgekommen wird.
2.1.2 - Die deutsche vox populi
Klemperer unterscheidet in den Tagebüchern zwischen den vox populi der Juden
und der allgemeinen vox populi. Wie schon besprochen, hat er die Meinung der Juden
verallgemeinert und sie aufgrund der einzelnen Stimmen auf eine allgemeine
Stimmung, entweder Optimismus oder Pessimismus, zurückgeführt. Die allgemeine
Volksstimmung ist etwas schwieriger herauszufinden. Aus den einzelnen deutschen
Stimmen schließt Klemperer anfangs, dass das deutsche Volk tatsächlich den
Nationalsozialismus Hitlers repräsentiert. In diesem Sinne gäbe es auch beim deutschen
153
Klemperer: Ich will Zeugnis ablegen. Band 6, S. 48.
154
Mieder: "In Lingua Veritas", S. 17.
62
Volk nur eine einzelne Stimmung. Besonders am Anfang des Krieges scheint das Volk
völlig von der nationalsozialistischen Doktrin begeistert zu sein. Es wurde Klemperer
schnell klar, dass die stärkste Waffe der Nazis innerhalb Deutschland die Sprache war.
Schon 1934 wies er darauf hin, wie Presse und Rundfunk die lügnerische
nationalsozialistische Propaganda verbreiteten, als er notierte "Wahrheit spricht für sich
– aber Lüge spricht durch Presse und Rundfunk".
155
Die Wahrheit und Lüge werden in
dieser Aussage zum Subjekt des Sprechens, was zuerst fremd anmutet. Sowohl die
Wahrheit als auch die Lüge 'sprechen' und decken die Intention der Nazis auf. Dieser
Eintrag erinnert an eine andere Aussage Klemperers: "Gegen die Wahrheit der Sprache
gibt es kein Mittel".
156
Die Sprache kann Klemperers Meinung nach nur die Wahrheit
aussagen. Die Lügen der Nazi-Propaganda werden direkt als solche anerkannt. Jedoch
haben die nationalsozialistischen Ideen sich durch die zielbewusste Propaganda
allmählich in das Bewusstsein der Deutschen eingegraben. In LTI behauptet Klemperer,
dass man die Sprache trotzdem nicht als bewusstes Propagandamittel eingesetzt hat.
Nicht die Einzelreden Hitlers oder anderer Naziprominenten, ihre Ausführungen zu
diesem und jenem Gegenstand oder ihr Hass gegen Juden und Bolschewisten waren am
Einflussreichsten, denn Vieles konnte die Masse davon nicht verstehen. Auch der
Einfluss der Plakate, Artikel und Flugblätter war laut Klemperer begrenzt. Die immer
wiederholten Einzelwörter, Redewendungen und Satzformen dagegen drangen in das
Unterbewusstsein der Masse hinein.
157
In den Tagebüchern stellt sich aber heraus, dass
die Sprache der Propaganda trotzdem bewusst angewendet wurde, und dass auch die
Plakate, Artikel und Flugblätter besonders einflussreich gewesen sein müssen. Als
Hauptmerkmal des nazistischen Sprachgebrauchs sah Klemperer die Wiederholung. So
weist auch Bartov darauf hin, dass
Klemperer demonstrated how Nazism penetrated the minds of Germans through
single words, through the manner of speech and through the construction of
sentences, until even the opponents and the victims of the regime subconsciously
adopted its modes of expression.
158
Durch Wiederholung wurde die Sprache der Nazis in das Unterbewusstsein der Masse
aufgenommen. Im vorigen Kapitel ist schon erwähnt worden, dass Klemperer die
155
Klemperer: Ich will Zeugnis ablegen. Band 1, S. 87.
156
Klemperer: Ich will Zeugnis ablegen. Band 5, S. 58.
157
Klemperer: LTI, S. 22-23.
158
Bartov: "The last German", S. 36.
63
Dummheit und Primitivität der Masse hervorgehoben hat. Auf dieser Dummheit
basierte die Propagandastrategie der Nazis. Laut Bartov hatten auch die Gegner und
Opfer des Regimes sich die Sprachformeln der Nazis angeeignet. Mit dieser These war
Klemperer einverstanden. In folgender Textstelle wird deutlich, wie die Einzelwörter
der Nazis in das Unterbewusstsein der Bevölkerung eingedrungen sind.
Frau Hirschel sagte, sie sei gleich ihrem Mann liberal jüdisch (nicht orthodox)
und fanatisch deutsch. Ich klärte sie über das Wort fanatisch auf. »Fanatisch
deutsch« ein contradictio in adjecto, »Fanatisch« ein Lieblingswort Hitlers. Sie:
»Ich meine leidenschaftlich, ich werde fanatisch nicht mehr gebrauchen«.
159
Frau Hirschel betont an dieser Stelle, dass ihre jüdische Identität für sie der deutschen
unterlegen ist. Die Tatsache, dass sie dafür ein Lieblingswort Hitlers 'fanatisch'
anwendet, dieses Wort aber unmittelbar zurücknimmt, wenn sie über seine Bedeutung
von Klemperer aufgeklärt wird, wirkt hier hoch ironisch. Klemperer deutet 'fanatisch
deutsch' als contradictio in adjecto, was einen Widerspruch impliziert. Fanatisch und
deutsch sind für ihn offensichtlich unvereinbar. Klemperer war sich auch davon
bewusst, dass sogar er selber nicht für die Sprache der Nazis immun war. Am 2. August
1944 notierte er hierzu:
Krise ist das aktuelle Beschönigungswort für »Niederlage« - absolut sicher. Und
da diese eiserne Stirn und dies einhämmernde Wiederholen selbst mich
beeinflußt, wie sollte es die Masse des Volkes unbeeinflußt lassen?
160
Aus dieser Textstelle geht also hervor, dass auch Klemperer, der die Sprache des Dritten
Reiches untersuchte, sich von den ständigen Wiederholungen in der Propaganda
beeinflussen ließ. Deswegen war er auch davon überzeugt, dass sie auf die Masse
bestimmt eine große Wirkung hatte. Die Wirkung des nationalsozialistischen
Sprachgebrauchs kommentierte er auch 1944 anhand des folgenden Beispiels.
Die Wirkung der Propaganda: Frau Belka fragt mich schon wiederholt: »Haben
Sie eine deutsche Frau?« - »Hat Jacobi eine deutsche Frau?« Usw. Mich
erschüttert das mehr als das Fremdwort »arisch«. Es zeigt, wie sehr die »totale
Abschnürung« der Juden im Volksbewußtsein geglückt ist.
161
Klemperer stellt im Gespräch mit Frau Belka fest, dass sie die Begriffe "deutsch" und
"arisch" miteinander verwechselt und beide zur Ausgrenzung von den Juden verwendet.
Wiederum hat Klemperer also einsehen müssen, dass die Propaganda wirklich in das
159
Klemperer: Ich will Zeugnis ablegen. Band 5, S. 209.
160
Klemperer: Ich will Zeugnis ablegen. Band 7, S. 93.
161
Klemperer: Ich will Zeugnis ablegen. Band 7, S. 49.
64
Bewusstsein des Volkes aufgenommen war und die allgemeine Volksstimmung
überherrschte. In diesem Sinne kann man auch auf die "corruption of the German
language"
162
hinweisen. Die Nazis sollen mittels der Propaganda die deutsche Sprache
korrumpiert haben. Als Opfer konnte Klemperer offensichtlich diese Meinung teilen.
Obwohl er die Sprache des Dritten Reiches als Korruption der deutschen Sprache
empfunden hat, hat er aber immer verweigert, seine Studien in einer anderen Sprache
publizieren zu lassen. Obgleich er als Professor für Romanische Sprachen das
Französisch beherrschte, er imstande war, seine Studien auf Französisch zu schreiben,
und er wegen des Versagens der Publikationsmöglichkeiten auf Deutsch nichts
publizieren durfte, hatte Klemperer auf Deutsch weiterschreiben wollen. In einem Brief
schrieb er im Februar 1934 Folgendes.
Französisch zu publizieren passe für Herrn von Wartburg, nicht für mich, er sei
aus der dreisprachigen Schweiz und könne ihren Hotelstil dreisprachig anwenden,
als unpersönlicher Gelehrter und dürrer Mensch; ich müsse deutsch ausdrücken,
was ich deutsch fühle.
163
Seine Begründung umschreibt er anhand eines Gegensatzes von sich selbst zu einem
schweizerischen Autor. Der Gegensatz wird durch die Kursivschreibung (er und ich)
betont. Klemperer behauptet an dieser Stelle, dass Herr von Wartburg den
schweizerischen Stil dreisprachig anwenden kann, weil er aus der Schweiz selber
kommt, und weil er 'als unpersönlicher Gelehrter und dürrer Mensch' schreibt.
Klemperer könnte diesen Stil nicht verwenden, denn er wollte mit Sprache ausdrücken,
was er fühlte. Die Unpersönlichkeit des Stils von Herrn von Wartburg wird also in einen
Kontrast mit dem Gefühl Klemperers gesetzt. Außerdem scheint es aus diesem Gefühl
für Klemperer nur möglich zu sein, sich auf Deutsch auszudrücken. Obwohl die
deutsche Sprache von den Nazis korrumpiert wurde und sich so zu der Sprache der
Täter entwickelte, hielt Klemperer noch immer an der eigenen Muttersprache fest. Die
Sprache des Dritten Reiches hat ihn dann auch von Anfang bis Ende ungemein
interessiert. Seine Sicht auf die Propaganda hat er am Ende des Krieges wie folgt
zusammengefasst: "In der Kriegsführung mögen sich die Nationalsozialisten verrechnet
haben, in der Propaganda bestimmt nicht".
164
162
Bartov: "The last German", S. 36.
163
Klemperer: Ich will Zeugnis ablegen. Band 1, S. 91.
164
Klemperer: Ich will Zeugnis ablegen. Band 7, S. 36.
65
Die Propaganda scheint sich hauptsächlich auf drei Themen konzentriert zu
haben, die unsere Aufmerksamkeit verdienen. Erstens gibt es natürlich den
Antisemitismus, den die Nazis von Anfang an ins Zentrum gestellt haben. Der
Antisemitismus wurde vor allem mit Slogans aufgebaut. Mieder deutet darauf hin, dass
solche Slogans meistens auf sprichwörtlichen Strukturen basierten.
165
Diese weit
verbreiteten Strukturen sind schon im Unterbewusstsein des Volkes vorhanden und
werden deswegen auch besser beibehalten. Schon am 25. April 1933 hat Klemperer
solch einen Slogan in das Tagebuch notiert:
Anschlag am Studentenhaus (ähnlich an allen Universitäten): »Wenn der Jude
deutsch schreibt, lügt er«, er darf nur noch hebräisch schreiben. Jüdische Bücher
in deutscher Sprache müssen als »Übersetzungen« gekennzeichnet werden.
166
Dieses Beispiel zeigt schon, wie die Juden allmählich aus der Gesellschaft ausgegrenzt,
von den Deutschen abgegrenzt und von den Nazis angegriffen wurden. Weitere
Beispiele, die Klemperer notiert hat, sind: "Die Juden sind unser Unglück", "Wer den
Juden kennt, kennt den Teufel"
167
, "Wer mit dem Juden kämpft, ringt mit dem Teufel"
168
oder "An allem nur der Jude Schuld".
169
Auch die Anschrift "Juden unerwünscht", die
sich später zu "für Juden verboten" änderte, gehört zu den antisemitischen Inschriften,
die man überall auf Anschlagtafeln lesen konnte.
170
Solche kurze Slogans mit
sprichwörtlichen Strukturen wurden außerdem ständig wiederholt. Es versteht sich, dass
sie denn auch allmählich in das Bewusstsein des Volkes eingetreten sind und den schon
vorhandenen Antisemitismus aufs Äußerste gesteigert haben. Nach zwölf Jahren von
antisemitischer Propaganda sah Klemperer 1945 ein, wie tief sie in das Gedächtnis des
Volks eingeprägt waren. In einem Gespräch am 21. März 1945, kurz vor dem
Kriegsende, erstaunte Klemperer sich nochmals über die riesige Resonanz des
antisemitischen Gedankens beim deutschen Volk:
165
Mieder: "In Lingua Veritas", S. 16.
166
Klemperer: Ich will Zeugnis ablegen. Band 1, S. 24.
167
Klemperer: Ich will Zeugnis ablegen. Band 2, S. 22.
168
Klemperer: Ich will Zeugnis ablegen. Band 2, S. 131.
169
Klemperer: Ich will Zeugnis ablegen. Band 6, S. 87.
170
Klemperer: Ich will Zeugnis ablegen. Band 4, S. 92.
66
Amüsant das letzte Wort des Mädels. Sie sehe das alles ein, sie glaube an das
Recht aller Völker, die Überheblichkeit und Verrohung in Deutschland sei ihr
zuwider. - »nur die Juden hasse ich, da bin ich doch wohl ein bißchen beeinflußt«.
Ich hätte sie gern gefragt, wie viele Juden sie kenne, unterdrückte es aber und
lächelte bloß. Und merkte mir selber an, wie viel demagogische Berechtigung der
Nationalsozialismus hatte, als er den Antisemitismus ins Zentrum stellte.
171
Nachdem Klemperer mit dem Mädchen über dem Wesen der Propaganda und dem
"Auf-einen-Nenner-Bringen" der Völker gesprochen hatte, schien sie sich mit
Klemperers Meinung völlig einig zu sein. Ihre eigene Familie war nicht von deutscher
Herkunft und war von den Deutschen unterdrückt worden. Daher war sie damit
einverstanden, dass man die Leute eines Volkes nicht auf einen Nenner bringen soll.
Auch glaubte sie daran, dass jedes Volk über elementare Rechte verfügen soll.
Trotzdem hasste sie die Juden und war sich der Tatsache bewusst, dass dieser Hass der
Propaganda zuzuschreiben war. Sie hatte sich deutlich ein Urteil über die Juden nach
dem Modell der Zeit gebildet und vertrat so in Zusammenhang mit dem Antisemitismus
die allgemein deutsche Volksstimmung.
Das zweite große Thema in der nationalsozialistischen Propaganda, dem in den
Tagebüchern viel Aufmerksamkeit geschenkt wird, ist der Status Hitlers. Im Zeitalter
des Nationalsozialismus wurde Hitler ein göttlicher Status zugeschrieben. Er wurde in
vollkommen evangelischer Sprache als Retter Deutschlands und Erlöser des deutschen
Volkes gefeiert.
172
Die Behauptung, dass die vox Dei wirklich auf die Stimme Hitlers
zurückzuführen sei, wird dadurch auch begründet. Ob diese vox Dei mit der deutschen
vox populi übereinstimmte, ist dann noch die Frage. Der Bedeutsamkeit der Sprache in
diesem Prozess waren sich auch die Nazis bewusst. Im September 1934 kommentiert
Klemperer eine Rede Goebbels über Propaganda, in der es hieß: "Wir müssen die
Sprache sprechen, die das Volk versteht. Wer zum Volk reden will, muß, wie Martin
Luther sagt, »dem Volk aufs Maul schauen«".
173
Sowie Luther die Bibel für jeden
Menschen aus allen Schichten zugänglich machen wollte, haben auch die Nazis
versucht, ihre Doktrin nicht nur für jeden Menschen zugänglich zu machen, sondern
auch jeden Menschen aufzudringen. Von der Vergöttlichung Hitlers aus berücksichtigte
man eine "aktive Massenbeeinflussung", wie Klemperer es im Tagebuch wiedergab,
171
Klemperer: Ich will Zeugnis ablegen. Band 8, S. 74.
172
Klemperer: Ich will Zeugnis ablegen. Band 1, S. 23; S. 67.
173
Klemperer: Ich will Zeugnis ablegen. Band 1, S. 143.
67
denn "die Unterführer betonen wieder: »Adolph Hitler ist Deutschland.«"
174
Die
Tatsache, dass so viele Deutsche an Hitler als Vertreter der deutschen Seele glaubten,
war auch Klemperer nicht entgangen. So war er immer mehr davon überzeugt, dass "die
Hitlerei vielleicht doch tiefer und fester im Volke wurzelt und der deutschen Natur
entspricht, als ich wahrhaben möchte".
175
In einem Eintrag vom 17. August 1937 ging er
noch weiter, wenn er notierte:
Und immer mehr glaube ich, daß Hitler wirklich die deutsche Volksseele
verkörpert, daß er wirklich »Deutschland« bedeutet und daß er sich deshalb halten
und zu Recht halten wird.
176
Aus dieser Textstelle geht hervor, dass die Stimme Hitlers allmählich die Stimme des
Volkes geworden ist. Anfangs hatte Klemperer noch an das eigene "Deutschtum"
geglaubt. Dem nationalsozialistischen Deutschland Hitlers wollte er aber nicht
angehören. Jedoch musste er sich damit abfinden, dass Hitler die wahre Meinung des
deutschen Volkes adäquat auszudrücken schien. In diesem Sinne wurde die vox Dei
tatsächlich zur vox populi. Der Status Hitlers als Gottesfigur im Nationalsozialismus
zeigte sich bis zum Ende des Krieges. Der allgemeine Glaube an Hitler ging Klemperer
fast über den Verstand. Am 4. Mai 1945 notierte Klemperer ein Gespräch mit einem
jungen deutschen Soldaten, der gerade im Rundfunk gehört hatte, dass Berlin kapituliert
hatte, und Hitler tot war.
Der Student erklärte: »Wer mir so etwas noch vor vier Wochen gesagt hätte, den
hätt’ich niedergeschossen – aber jetzt glaub’ich nichts mehr …« Man habe zu viel
gewollt, man habe übertrieben, man habe Grausamkeiten verübt, wie man in
Polen und Rußland mit den Menschen umgegangen sei, unmenschlich! »Aber der
Führer habe davon wohl nichts gewußt«, der Führer sei schuldlos, man sage ja,
Himmler habe regiert. (Immer noch der Glaube an Hitler, es ist fraglos ein
religiöser Einfluß von ihm ausgegangen.)
177
An erster Stelle profiliert der Student sich noch immer als Soldat, denn Defätismus
würde er mit dem Tod bestrafen. Er fügt aber direkt hinzu, dass er an diesem Zeitpunk
an nichts mehr glaubt. Es ist denn auch merkwürdig, dass er eingesteht, an die Unschuld
Hitlers zu glauben. Obwohl ihm die verübten Grausamkeiten bekannt sind, werden sie
auf die anderen Naziprominenten, in diesem Fall Himmler, zurückgeführt. Klemperer
174
Klemperer: Ich will Zeugnis ablegen. Band 1, S. 143.
175
Klemperer: Ich will Zeugnis ablegen. Band 3, S. 43.
176
Klemperer: Ich will Zeugnis ablegen. Band 3, S. 49.
177
Klemperer: Ich will Zeugnis ablegen. Band 8, S. 136.
68
schreibt diesen unerschütterlichen Glauben dem religiösen Einfluss, der von Hitler
ausgegangen ist, zu. Hans Reiss ist auch dieser Meinung:
If Hitler had not been able to arouse this religious belief, if he had not appeared as
the saviour of all Germans, he would not have succeeded in gaining power and
keeping it.
178
Reiss geht von der Behauptung aus, dass Hitler sich als Retter des Volkes, sogar als
religiöse Ikone profiliert hat, und bestätigt damit die Feststellung Klemperers. Das
blinde Vertrauen in den Führer und in seine Unschuld sprechen auch dafür, dass Hitler
sich einen göttlichen Status angemessen hat. 1941 hieß es in einem Eintrag:
Charakteristisches Wort: Wir brauchen nicht zu wissen, was der Führer tun will,
wir glauben an ihn. Immer und überall: Der Nationalsozialismus will nicht
wissen, nicht denken, nur glauben.
179
Solchen blinden Glauben findet man hauptsächlich im religiösen Bereich. In der
Religion brauchen die Gläubigen den Plan Gottes auch nicht zu kennen. Genau dasselbe
hat Klemperer beim Nationalsozialismus festgestellt. Besonders das Ausschalten des
Denkens hat er bei den Angehörigen des Nationalsozialismus immer hervorgehoben,
denn "man will nicht studieren lassen, der Geist, das Wissen sind die Feinde".
180
Es war
für die Nazis natürlich wichtig, dass der Intellekt der Bevölkerung ausgeschaltet wurde.
Sonst würde die Propaganda wahrscheinlich sein Ziel verfehlt haben, weil dann das
Volk die von den Nazis verbreiteten Lügen leicht durchschaut hätte.
Das bringt uns zum dritten und letzten Thema der Propaganda: die
Heeresberichten. Der Inkonsistenz der Berichte konnte Klemperer nicht entgehen:
Ein besonderes Charakteristikum der LTI ist die schamlose Kurzbeinigkeit ihrer
Lügen. Immerfort geht man kaltschnäuzig von Behauptungen ab, die man tags
zuvor gemacht hat.
181
Klemperer variiert in diesem Eintrag das Sprichwort "Lügen haben kurze Beinen", was
bedeutet, dass Lügen schnell aufgedeckt werden und es sich deshalb nicht lohnt, zu
lügen.
182
Was die Nazis tags zuvor behaupteten, wurde schon am nächsten Tag
zurückgenommen oder widerlegt. Als Beispiel der Kurzbeinigkeit der Lügen nennt er:
178
Reiss: "Victor Klemperer. Reflections on his Third Reich Diaries", S. 85.
179
Klemperer: Ich will Zeugnis ablegen. Band 4, S. 86.
180
Klemperer: Ich will Zeugnis ablegen. Band 1, S. 105.
181
Klemperer: Ich will Zeugnis ablegen. Band 7, S. 118.
182
Mieder: "In Lingua Veritas", S. 11.
69
»Sie können nicht landen. – Sie kommen nicht über den Atlantikwall hinaus. – Sie
brechen nicht durch ...« Und jetzt: »Das war alles vorausgesehen und ist bei ihrer
Übermacht erstaunlich spät eingetreten. Sie können uns aber nicht zur
Entscheidungsschlacht zwingen, ehe wir nicht im dafür vorgesehenen Raum
stehen, wir setzen uns mit genialer Tüchtigkeit ab ...«
183
Solche Inkonsistenzen in der Berichterstattung dienten natürlich dazu, die
bevorstehende Niederlage zu verhüllen. Doch hat das Volk den Zweck der Propaganda
offensichtlich nicht eingesehen, denn es schien sich, so Klemperer, der Lügen in den
Medien unbewusst zu sein. Die Variation auf das Sprichwort "Lügen haben kurze
Beinen" traf also nicht auf das Volk zu und kann wiederum als ironisches Spiel
betrachtet werden. Es soll aber auch bemerkt werden, dass während des Krieges so viele
Gerüchte im Umlauf waren, dass es unmöglich war, objektive und wahrheitsgetreue
Berichte herauszufinden. So wird in den Tagebüchern die Quelle von angeblich
objektiven Aufzeichnungen nicht genannt, oder stellt sich heraus, dass die Quellen
unzuverlässig sind. 1943 notierte Klemperer beispielsweise in Bezug auf die
Evakuierungen der Dresdener Juden: "Genaue Ziffern: Evakuiert wurden 290 Juden,
hier in Dresden befinden sich im Ganzen nun noch reichliche 300, von denen 130
Sternträger sind".
184
Klemperer teilt hier also genaue Zahlen der Evakuierungen mit.
Wie er zu diesen Zahlen gekommen ist, wird aber im Tagebuch nicht angesprochen. Die
Quelle könnte die Gemeinde sein, in der er am selben Tag noch gewesen war. Darüber
kann man sich aber nicht sicher sein. Klemperer kommentierte ein Jahr später selber
Zahlen, die er aufgefangen hatte. In Zusammenhang mit der Anzahl der Toten nach
einem Bombenangriff können wir Folgendes lesen:
Aber alles »soll« und »scheint«: Die bestimmtesten Angaben widersprechen sich,
jeder weiß es genau und einwandfrei, der eine hängt Nullen an, der andere streicht
sie ab. [...] Der Heeresbericht nennt mehrere angegriffene Städte, Dresden nicht.
Was uns geschah ist offenbar Bagatelle, kommt täglich in x Orten vor, die auch
nicht genannt werden.
185
Der Heeresbericht hat einen Bombenangriff auf Dresden nicht erwähnt, was darauf
hindeuten kann, dass die Angriffe auf deutsche Städte von den Nazis für das deutsche
Volk verheimlicht wurden. Deshalb musste die Bevölkerung sich auf unzuverlässige
Gerüchte stützen, die sich laut Klemperer alle widersprachen. Obwohl jeder behauptete,
183
Klemperer: Ich will Zeugnis ablegen. Band 7. S. 118.
184
Klemperer: Ich will Zeugnis ablegen. Band 6, S. 42.
185
Klemperer: Ich will Zeugnis ablegen. Band 7, S. 139.
70
die Anzahl genau zu wissen, wird an dieser Stelle klar, dass sich genaue Zahlen nicht
herausfinden ließen. Der Hinweis auf die Redewendungen mit 'sollen' und 'scheinen'
verleihen der Unsicherheit und Ungewissheit der Lage noch mehr Kraft. Im Tagebuch
hat Klemperer die unglaubwürdigen Berichte und Gerüchte aus seiner nächsten
Umgebung auch auf diese Art und Weise niedergeschrieben. Ein Beispiel kann man in
einem Eintrag vom 28. April 1942 lesen, in dem er von den Haussuchungen spricht.
Von Tag zu Tag warte ich auf die Haussuchung bei uns. Am stärksten ist die
Beklemmung immer abends zwischen sieben und neun. Wohl zu Unrecht, denn
die Rollkommandos sollen zu jeder Tageszeit erscheinen. Sie sollen alles rauben:
auch Essen, das auf Marken gekauft, Schreibpapier, Bücher, Portomarken,
Ledermappen. Sie sollen die Magermilch austrinken usw.
186
Seine eigenen Gedanken bilden einen Kontrast mit den Gerüchten, die in diesem
Eintrag mit 'sollen' angedeutet werden. Sowohl das Verb 'sollen' als auch die Angabe
'usw.' am Ende des Zitats verraten, dass man solche Behauptungen nicht ohne weiteres
glauben darf. Das Volk war sich also über nichts im Klaren, denn einerseits
verheimlichten die Nazis Informationen in den Heeresberichten, und andererseits waren
viele zirkulierende Gerüchte nicht wahrheitsgetreu. Da aber der Heeresbericht als
glaubwürdigste Quelle für Informationen betrachtet wurde, hat sich das Volk auf ihn
verlassen und so die deutsche nationalsozialistische vox populi vertreten.
Die Propaganda hat in der Untersuchung nach der Volksstimmung eine auffällige
Rolle gespielt. Die drei großen Themen, die in diesem Abschnitt besprochen wurden,
sind alle mittels der Sprache in das Gedächtnis des Volkes eingedrungen. Deshalb war
die nationalsozialistische Doktrin beim Volk auch weit verbreitet. Die Propaganda hat
dazu geführt, dass das Volk sich allmählich eine einzige nationalsozialistische Stimme
angeeignet zu haben schien, die als allgemeine Stimmung des deutschen Volkes
betrachtet werden kann. So stellte sich heraus, dass es eine einzige vox populi gab, die
mit der 'Vox Dei', der Stimme Hitlers, übereinstimmte. Die verschiedenen Gerüchte, die
die Wahrheit nicht ans Licht brachten, verraten aber, dass nicht bloß eine einzelne
Stimmung unter dem deutschen Volk vorhanden war.
186
Klemperer: Ich will Zeugnis ablegen. Band 5, S. 75.
71
2.1.3 – Die deutschen voces populi
Im Laufe des Krieges musste Klemperer feststellen, dass mehrere Stimmungen
herrschten und dass die vox populi eigentlich in voces populi eingeteilt werden konnte.
Mieder hebt hervor, dass "Klemperer wrestles with a correct view of the popular
voice"
187
und belegt es unter anderem anhand folgender Stelle: "Das unlösbarste und
dabei entscheidende Rätsel ist die Stimmung im Volk. Was glaubt es?"
188
An dieser
Stelle scheint er noch an eine einzelne Stimmung zu glauben. Auch deutet er darauf hin,
dass die Frage nach der Stimmung des Volkes unauslösbar und entscheidend ist. Darauf
wird später noch einzugehen sein. Einige Zeilen nach dieser Stelle im Tagebuch ist
Klemperer aber nicht mehr von der Existenz einer einzelnen Stimmung überzeugt.
Gerüchte und Stimmungen wechseln von Tag zu Tag, von Person zu Person. Wen
sehe, wen höre ich? Natcheff, den Krämer Berger, den Zigarrenhändler in der
Chemnitzer Straße, der Freimaurer ist, die Aufwartefrau, deren zwanzigjähriger
Sohn im Westen steht und eben Urlaub hat, die Kohlenträger. Vox populi zerfällt
in zahllose voces populi.
189
Klemperer deutet darauf hin, dass sowohl die Gerüchte als auch die Stimmungen von
Tag zu Tag und von Person zu Person wechseln. Die Verwendung der Mehrzahlform
(Stimmungen) zeigt schon, dass er nicht länger von nur einer herrschenden Stimmung
ausgeht. Aufgrund der immer wechselnden Stimmen, die Klemperer hört und in dieser
Textstelle als Beweis dargestellt sind, kommt er zu der Behauptung, dass die vox populi
in voces populi zerfällt. So schrieb er auch noch am selben Tag in Bezug auf den
Antisemitismus: "Ich frage mich oft, wo der wilde Antisemitismus steckt. Für meinen
Teil begegne ich viel Sympathie, man hilft mir aus, aber natürlich angstvoll."
190
Damit
bestätigt er die eigene Behauptung, dass es mehrere voces populi gibt. Obwohl er eher
in dem Tagebuch von antisemitischen Beschimpfungen berichtet hat, hebt er an dieser
Stelle die Sympathie für Juden vonseiten manchen Deutschen hervor. Die unter dem
Volk herrschenden Meinungen waren also tatsächlich sehr variiert. Dadurch wird
bestätigt, dass Klemperer Recht hatte, als er die Meinungen von Tag zu Tag, und von
Person zu Person veränderlich bezeichnete. Von solchen widersprüchlichen Reaktionen
Klemperer gegenüber gibt es in der Besprechung der historiographischen Debatte im
187
Mieder: "In Lingua Veritas", S. 18.
188
Klemperer: Ich will Zeugnis ablegen. Band 4, S. 8.
189
Klemperer: Ich will Zeugnis ablegen. Band 4, S. 9.
190
Klemperer: Ich will Zeugnis ablegen. Band 4, S. 9.
72
nächsten Kapitel noch weitere Beispiele. Mit den verschiedenen Stimmungen, die in
den Tagebüchern in den Vordergrund treten, hängt auch die Mischstimmung gegen
Ende des Krieges zusammen. Man kann dauernd die Spannung zwischen Todesnähe
und Erlösungsnähe spüren, denn einerseits hat es am Ende des Krieges die immer
stärker drohende Deportierung und die zahlreichen Bombenangriffen gegen deutsche
Städte gegeben, andererseits ist die Hoffnung auf das Ende mit dem Herankommen der
alliierten Truppen gesteigert. Klemperer hat es im Januar 1945 wie folgt ausgedrückt:
"Todesnähe und Erlösungsglaube: die Russen vor Krakau, die anglo-amerikanischen
Bomber über uns, die Gestapo hinter uns".
191
Obwohl neben der Gestapo auch die
Russen und Angloamerikaner eine Bedrohung bildeten, konnten sie für Klemperer auch
die Erlösung sein. Über Beide Armeen waren viele Gerüchte im Umlauf:
Er hatte aus 'absolut zuverlässiger Quelle' gehört, wie katastrophal die Lage im
Osten sei: »Hoffentlich kommen die Engländer den Russen zuvor, so daß wir
englische statt russische Besatzung bekommen.«
192
Aus dieser Stelle geht hervor, dass die Angst und Erleichterung wirklich auf Engste
miteinander verbunden waren. Alle schienen zwar auf Befreiung zu warten, machten
aber einen großen Unterschied zwischen englischer und russischer Besatzung. Die
Russen wurden als barbarisches Volk betrachtet, und die Deutschen hatten denn auch
große Angst vor der Roten Armee. Es gab unzählbare Gerüchte, dass die Russen ganze
Dörfer ausrotteten, die Frauen vergewaltigten usw. Deswegen hoffte man stark auf
angloamerikanischer Besatzung. Dem Bericht gegenüber schien Klemperer aber kritisch
zu sein. Die Zuverlässigkeit der Quelle wird durch die Anführungszeichen deutlich in
Frage gestellt. Die Furcht vor den Russen steigerte sich aber noch, und projizierte sich
letztlich auch auf die Angloamerikaner. Man darf nicht vergessen, dass Deutschland
schließlich den Krieg verloren und sich an dem Tod von Millionen Menschen schuldig
gemacht hat. Jeder ahnte, dass man Deutschland bestrafen wurde, was die Angst aufs
Äußerste verstärkt hat. Viele gräuliche Gerüchte waren im Umlauf. Behauptet wurde,
dass die Befreiungsarmeen sich rächen wollen, alle Häuser plünderten und jeden
Widerstand auf ihrem Weg zerschlugen. In einem Lagebericht am 30. März 1945 hörte
Klemperer:
191
Klemperer: Ich will Zeugnis ablegen. Band 8, S. 13.
192
Klemperer: Ich will Zeugnis ablegen. Band 8, S. 13.
73
»Denn nicht nur die Bolschewisten wollen uns ausrotten, sondern die Anglo-
Amerikaner wollen es auch, hinter beiden steht der jüdischen Vernichtungswille«
[...] greuliche Exempla amerikanischer Tyrannei und Mordgier; Aussprüche wie:
Es müßten täglich 5000 Deutsche Hungers sterben, etc. etc. in infinitum.
193
Die deutsche Kriegspropaganda macht das Volk ständig auf die Mordgier beider
Befreiungsarmeen aufmerksam. Auffallend ist aber, dass der Vernichtungswille auf die
Juden zurückgeführt wird. Letztendlich sollen die Juden für die Niederlage
verantwortlich sein. Aufs Neue deutet das Hinzufügen von 'etc. etc. in infinitum' darauf
hin, dass Klemperer diesen Aussagen kritisch gegenüber stand. Es kann aber auch auf
die Verzweiflung und Unsicherheit Klemperers anspielen. Obwohl der Krieg kurz vor
seinem Ende stand, wusste niemand, was passierte, oder was aus Deutschland werden
würde. Klemperer hat es wie folgt ausgedruckt: "Wir sind zu oft enttäuscht worden, die
hören doch nicht auf!".
194
Die Mischstimmung, die am Ende des Krieges herrschte,
entwickelt sich also zu einer Spannung zwischen Todesnähe und Erlösungsnähe.
Je mehr verschiedenen Stimmungen Klemperer entgegnete, desto weniger glaubte
er an eine allgemeine Stimmung. Schon 1939 notierte er das Folgende:
Niemand, weder innen noch außen, kann die wahre Stimmung des großen Volkes
ermessen – wahrscheinlich, nein sicher gibt es keine allgemeine wahre Stimmung,
sondern immer nur Stimmungen mehrerer Gruppen – eine dominiert, und die
Masse ist stumpf oder steht unter wechselnden Suggestionen –
195
Es stellt sich also heraus, dass wirklich Niemand sich von der "wahren Stimmung" des
Volkes ein Bild machen konnte. Klemperer betont aber, dass die "wahre Stimmung"
sich nicht herausfinden lässt, weil es diese nicht gibt. Besonders die Selbstkorrektur
'wahrscheinlich, nein sicher' deutet darauf hin. Stattdessen geht er davon aus, dass
mehrere Stimmen verschiedenerer Gruppen vorhanden sind, von deren eine Stimme
dominant ist. Diese Feststellung führt zur Suche Klemperers nach der entscheidenden
Stimme, die schon vorher mal erwähnt wurde. Mieder verweist in Zusammenhang mit
dieser Suche auf eine Stelle in Klemperers LTI, die Folgendes ausdrückt:
However, there is no vox populi, only voces populi; and it only can be determined
after the fact which of these different voices is the true one, that is to say, which
of them determines the course of events.
196
193
Klemperer: Ich will Zeugnis ablegen. Band 8, S. 81-82.
194
Klemperer: Ich will Zeugnis ablegen. Band 8, S; 10.
195
Klemperer: Ich will Zeugnis ablegen. Band 3, S. 135.
196
Mieder: "In Lingua Veritas", S. 18.
74
Die Stimmung, nach der Klemperer auf der Suche war, ist die Kriegsstimmung, die
imstande sein könnte, die Lage zu ändern. Die Frage nach der Volksstimmung taucht
denn auch leitmotivisch in den Tagebüchern auf.
197
Einige Beispiele datieren vom Jahre
1941: "Immer wieder die Frage: Was ist die Volksstimmung, wer kann sie
begründen?"
198
, "Was ist die Volksstimmung? Immer meine alte Frage."
199
Seine Sicht
modifiziert sich auch, wenn er sich das Zusammenspiel der Stimmen mehr und mehr
bewusst wurde, wie wir in einem Eintrag aus dem Jahr 1943 lesen können. "Die Orgel
der Volksstimmen. Welche Stimme dominiert und bringt die Entscheidung?"
200
Obwohl
er die Antwort auf solche Fragen krampfhaft gesucht hat, hat er schließen müssen, dass
eine entscheidende Stimmung herauszufinden zu letzt unmöglich war.
In seiner Untersuchung der deutschen vox populi hat Klemperer also einige
ambivalente Feststellungen gemacht. Einerseits hat er an eine einzige Volksstimmung,
die von der nationalsozialistischen Propaganda gesteuert wurde, geglaubt. Andererseits
ging er von einer Mehrzahl von verschiedenen Stimmungen aus, aus denen er eine
entscheidende, dominierende Stimmung abzuleiten versucht hat. Schließlich hatte er
sich aber damit abfinden müssen, dass die Stimmungen von Person zu Person und von
Tag zu Tag wechselten. Der Reichtum an abweichende Meinungen ist aber für die Leser
hochinteressant, besonders weil er uns mit einigen Einsichten in der historiographischen
Debatte, die im nächsten Kapitel untersucht werden, bietet.
197
Mieder: "In Lingua Veritas", S. 19.
198
Klemperer: Ich will Zeugnis ablegen. Band 4, S. 90.
199
Klemperer: Ich will Zeugnis ablegen. Band 4, S. 96.
200
Klemperer: Ich will Zeugnis ablegen. Band 7, S. 108.
75
2.2 - Die vox populi als Beitrag zur historiographischen Debatte
Die Suche Klemperers nach der entscheidenden Stimmung hat Wesentliches zur
historiographischen Debatte, die sich besonders mit der Frage nach der kollektiven
Schuld des deutschen Volkes auseinandersetzt, beigetragen. Die Debatte hat gerade
nach dem Kriegsende angefangen, kannte in den sechziger Jahren einen ersten
Höhepunkt mit der Fischer-Kontroverse
201
, führte dann über den Historikstreit der
achtziger Jahre zu der Goldhagen-Kontroverse und ist heute noch immer nicht gelöst
worden. Klemperer wirft in seinen Aufzeichnungen ein neues Licht auf die
Kontroversen der vergangenen Jahrzehnte.
2.2.1 – Hitlers willige Vollstrecker?
Besonders Hitler’s Willing Executioners: Ordinary Germans and the Holocaust
von Daniel Jonah Goldhagen, das 1996 erschien, hat viel Staub aufgewirbelt. In seinem
Werk behauptet Goldhagen, dass es zur NS-Zeit in Deutschland eine allgemeine
antisemitische Einstellung gab, die direkt zum Holocaust geführt hat.
202
So wurden alle
Deutschen zu Hitlers willigen Vollstreckern und wurde der deutschen Bevölkerung eine
Kollektivschuld unterstellt. In Klemperers Tagebüchern wird diese Unterstellung aber
an manchen Stellen widerlegt. Auch Trumpener deutet darauf hin, dass die These
Goldhagens über den weit verbreiteten Antisemitismus durch einige Passagen in den
Tagebüchern in Frage gestellt worden kann.
203
Klemperer hat verschiedene Erlebnisse in
das Tagebuch aufgezeichnet, in denen sympathische Akte des Widerstands gegen den
Antisemitismus der Nazis deutlich hervorgehoben werden. Einige dieser anekdotischen
Erlebnisse handeln um persönliche Gesten der Sympathie oder des Mitleids, wie in
folgenden Einträgen vom 11. Februar 1935 bzw. 19. Juli 1943:
201
Jürgen Peter: Der Historikerstreit und die Suche nach einer nationalen Identität der achtziger Jahre.
Frankfurt am Main: Peter Lang 1995, S. 11.
Die Fischer-Kontroverse Anfang sechziger Jahre ging von dem deutschen Historiker Fritz Fischer und
seiner Veröffentlichung von Der Griff nach der Weltmacht aus. Fischer vertrat die These, dass die
imperialistischen Weltmachtbestrebungen des Deutschen Reiches den Ersten Weltkrieg zugrunde lagen.
Die Untersuchung nach den Kriegsursachen führte zur Kriegsschuldfrage, die zum ersten Mal auf eine
Kollektivschuld des deutschen Reiches hindeutete.
202
Wolfgang Wipperman: Wessen Schuld? Vom Historikerstreit zur Goldhagen-Kontroverse. Berlin:
Elefanten Press 1997, S. 7.
203
Trumpener: "Diary of a Tightrope Walker", S. 489.
76
Auf dem Postplatz spricht mich ein Herr an: »Erkennen Sie mich nicht? Dr.
Kleinstück, Rektor des Vitzthum-Gymnasiums. Ich ging schon neulich an Ihnen
vorbei, Sie sahen mich und sahen weg. Ich fürchtete, Sie sähen weg, weil Sie
meinten, ich würde Sie nicht grüßen. Deshalb rede ich Sie heute an. Wie geht es
Ihnen?« - Sein Verhalten rührte mich, ich gab Auskunft [...]
204
Als ich Sonntag nachmittag vom Friedhof kam, ging im Parkweg der Lothrunger
Straße ein alter Herr – weißer Spitzbart, etwa siebzig, pensionierter höherer
Beamter – quer über den Weg auf mich zu, reichte mir die Hand, sagt mit einer
gewissen Feierlichkeit: »Ich habe ihren Stern gesehen und begrüße Sie, ich
verurteile diese Verfemung einer Rasse, und viele andere tun es ebenso.« Ich:
»Sehr freundlich – aber Sie dürfen nicht mit mir reden, es kann mich das Leben
kosten und Sie ins Gefängnis bringen.« - Ja, aber er habe mir das sagen wollen
und müssen.
205
Solche Begegnungen auf der Straße mit Leuten, die ihn Mut zusprachen oder Sympathie
zeigten, kommen mehrmals in den Tagebüchern vor. Auf den Gruß, der als Zeichen der
Höflichkeit gelten kann, wird in den Tagebüchern öfters hingewiesen, denn daraus
konnte Klemperer oft die Gesinnung der Leute schließen. So haben einige seiner
ehemaligen Kollegen ihm nach seiner Entlassung nicht mehr grüßen, oder nur noch mit
dem 'Heil Hitler'-Gruß anreden wollen. Jedoch haben, wie aus diesen Textstellen
hervorgeht, sowohl Bekannte, wie der Rektor, als Klemperer unbekannte Leute durch
den Gruß ihr Mitleid und Unterstützung bezeigt. Besonders die Tatsache, dass beide
Männer trotz der Gefahr die Mühe gemacht haben, ihn auf der Straße in aller
Öffentlichkeit anzusprechen, hat Klemperer sehr gerührt. Solche Einträge zeigen uns
vor allem, dass nicht alle Deutschen von der nationalsozialistischen Ideologie begeistert
waren, und sollen für Klemperer immer wieder eine große Unterstützung gewesen sein.
Dasselbe gilt für die verschiedenen Ladeninhaber, die ihm manchmal etwas
Zusätzliches zugeschoben haben. Außerdem weist Wipperman darauf hin, dass
Goldhagen von "der antisemitischen Einstellung der Angehörigen der Polizeibataillone
auf die antisemitische Einstellung des gesamten deutschen Volkes" schließt, weil "diese
Polizisten und Mörder »ganz gewöhnliche Deutsche« gewesen seien, die aus allen
Schichten der Bevölkerung gekommen seien".
206
Dieses Argument leitet er aus der
Kultur und Geschichte der Deutschen ab. Schon die Behauptung, der Antisemitismus
sei ein Symptom der Kultur und Geschichte Deutschlands, ist zweifelhaft. In den
204
Klemperer: Ich will Zeugnis ablegen. Band 2, S. 76.
205
Klemperer: Ich will Zeugnis ablegen. Band 6, S. 108.
206
Wipperman: Wessen Schuld?, S. 7.
77
Tagebüchern kommt zudem deutlich zum Ausdruck, dass auch bei der Polizei und der
Gestapo nicht jeder aus "eliminatorischen" antisemitischen Gefühlen gehandelt hat.
Nach einer Haussuchung soll eine Mitbewohnerin des Judenhauses sich am nächsten
Tag allein ("wer dich begleitet, fliegt ins KZ"!)
207
auf der Gestapo melden.
Frau Pick erzählte uns das, als wir danach bei ihr unten waren. Sie setzte etwas
Merkwürdiges hinzu. Drei Kerle hatten sie gepeinigt; ein vierter, einen
Augenblick allein mit ihr, habe ihr aufs freundlichste zugeflüstert: »Lassen Sie
sich gut raten, gehen Sie morgen früh nicht hin.« (Wir hörten neulich einen
ähnlichen Fall von Kätchen: eine Arbeitskameradin kam nach Haus, der
Chauffeur eines Gestapoautos vor der Haustür rief sie an: »Fräuleinchen, gehen
Sie noch eine Weile spazieren – die sind oben!« Selbst unter diesen Leuten also
»Verräter«.)
208
Anfangs wird die Eigenartigkeit des Vorfalls betont, weil Klemperer kommentiert, dass
sie an ihrer Erzählung der Haussuchung 'etwas Merkwürdiges' hinzufügte. Ein Mann
der Polizei hat Frau Pick 'aufs freundlichste' geraten, sich nicht bei der Gestapo zu
melden, angeblich weil das zu ihrem Tod führen würde. Besonders der Gebrauch des
Superlativs 'aufs freundlichste' betont die Seltsamkeit der Aussage. Gerade danach wird
die Eigenartigkeit des Geschehens aber zurückgenommen, weil Klemperer zwischen
Klammern einen ähnlichen Fall einer Warnung vonseiten eines Angehörigen der
Gestapo hinzusetzt. Aus beiden Fällen schließt Klemperer dann, dass es auch bei der
Gestapo 'Verräter' gab. Durch die Anführungszeichen wird der Begriff von Klemperer
an dieser Stelle offensichtlich positiv gewertet, besonders nach der vorangehenden
negativen Aussage über die Gestapo: 'selbst unter diesen Leuten'. Es versteht sich, dass
solche Gesten vonseiten der Gestapo Klemperer wirklich Mut gemacht und Hoffnung
gegeben haben. Diesen Zeichen des Philosemitismus gegenüber stehen aber die vielen
Beschimpfungen, Bespuckungen und Erniedrigungen, die Klemperer nicht nur von der
Gestapo, sondern auch von gewöhnlichen Deutschen erleiden musste. So wird er oft
von Kindern auf der Straße beschimpft. Am 17. Januar 1943 notierte Klemperer,
nachdem er an einer Schule vorbeigegangen war:
und dann mache ich immer die gleiche Erfahrung: Die größeren Jungen gehen
anständig an mir vorüber, die kleinen dagegen lachen, rufen mir »Jude« nach und
ähnliches. In die Kleinen ist es hineingetrichtert worden – bei den größeren wirkt
es schon nicht mehr.
209
207
Klemperer: Ich will Zeugnis ablegen. Band 5, S. 121.
208
Klemperer: Ich will Zeugnis ablegen. Band 5, S. 122.
209
Klemperer: Ich will Zeugnis ablegen. Band 6, S. 15.
78
Obwohl Klemperer sich in den vorangehenden Jahren öfters in den Tagebüchern über
die Beschimpfungen der Jugendlichen beschwert hatte, stellte er 1943 fest, dass sich an
diesem Zeitpunkt besonders noch die kleinen Kinder an ihnen beteiligten. Klemperer
hat natürlich Recht, dass es darauf zurückzuführen ist, dass der Judenhass 'in die
Kleinen hineingetrichtert' worden ist, denn sie sind in dem Hass und Antisemitismus des
Dritten Reiches erzogen und gebildet.
210
Auch der Einfluss der Propaganda soll dabei
nicht vergessen worden. Die Erniedrigungen, die Klemperer erleiden musste,
beschränkten sich aber nicht nur auf Beschimpfungen der Kinder. Ungefähr ein Jahr
nach dem vorigen Eintrag, berichtete Klemperer:
Voces populi: Auf dem Weg zu Katz, ein älterer Mann im Vorbeigehen: »Judas!«.
[... ] Ich pendle als einziger Sternträger vor einer besetzten Bank auf und ab. Ich
höre einen Arbeiter sprechen: »Eine Spritze soll man ihnen geben. Dann wären sie
weg!« Meint er mich? Die Besternten? Ein paar Minuten später wird der Mann
aufgerufen. Ich setze mich auf seinen Platz. Eine ältere Frau neben mir, flüsternd:
»Das war gemeene! Vielleicht geht es ihm mal so, wie er’s Ihnen wünscht. Man
kann nicht wissen. Gott wird richten!«
211
Die Mehrstimmigkeit der vox populi wird hier noch mal hervorgehoben. Zunächst wird
Klemperer mit dem Antisemitismus konfrontiert. Von einem Mann auf der Straße wird
er 'Judas' genannt und gleich danach wird er dem Hass eines Arbeiters ausgesetzt. Er ist
sich nicht sicher, ob der Arbeiter meinte, dass man alle Juden 'eine Spritze geben soll'.
Klemperer scheint aber trotzdem an eine Verallgemeinerung zu glauben, denn er hat die
Pronomina nicht großgeschrieben, was darauf hindeutet, dass es sich hier um eine
Mehrzahl handelt. Auch im Gespräch nachher mit der älteren Frau, die die Aussage des
Arbeiters gehört hat, besteht darüber keinen Zweifel mehr. Sie war offensichtlich nicht
mit der Meinung des Arbeiters einverstanden und versuchte Klemperer sogar Mut
zuzusprechen, indem sie auf die Gerechtigkeit Gottes verweist. Die gegensätzlichen
Äußerungen dieser beiden Personen begründen die Ansicht von Trumpener, dass
like the rest of the Jewish community, Klemperer constantly weighed and counted
positive against negative encounters, trying to decide which represented the
majority view, which were the real Germany, and which way the tide was
turning.
212
210
Trumpener: "Diary of a Tightrope Walker", S. 490.
211
Klemperer: Ich will Zeugnis ablegen. Band 7, S. 23-24.
212
Trumpener: "Diary of a Tightrope Walker", S. 490.
79
Genauso wie Klemperer, kommt auch der Leser zur Konklusion, dass es die
entscheidende Stimme in Deutschland nicht gab. Was er schon schließen kann, ist, dass
ohne Zweifel nicht alle Deutschen mit den Nazis sympathisierten und also nicht alle zu
den 'willigen Vollstreckern' Hitlers gehörten.
2.2.2 – Haben sie es gewusst?
Ein weiterer Beitrag zu der historiographischen Debatte leisten die Tagebücher in
Bezug auf die so genannte 'wir haben es nicht gewusst'-These. Sie geben uns einige
mögliche Lösungen auf die Frage, was die Deutschen von dem Holocaust gewusst
haben oder gewusst haben konnten. Drei Standpunkte können aus den Tagebüchern
abgeleitet werden, die eine einzige Antwort schließlich aber nicht aufweisen.
Erstens kann man behaupten, dass es unmöglich sei, dass die Deutschen nichts
von den Grausamkeiten den Juden gegenüber und von den Konzentrationslagern
gewusst haben. Aus dem einfachen Grund, dass Klemperer an verschiedenen Stellen
Buchenwald und Auschwitz erwähnt hat, kann man schließen, dass Konzentrationslager
der deutschen Bevölkerung bekannt waren. Bereits Ende 1938 berichtete Klemperer:
Die angstvollen Andeutungen und bruchstückhaften Erzählungen aus Buchenwald
– Schweigepflicht, und: ein zweites Mal kommt man von dort nicht zurück, es
sterben eh schon zehn bis zwanzig Leute täglich – sind gräulich.
213
Einige Jahre später werden die Nachrichten über die Konzentrationslager noch
grausamer. Wie auch Mieder hervorhebt, erwähnt Klemperer Auschwitz am 16 März
1942 zum ersten Mal in den Tagebüchern
214
, und zwar "als furchtbarstes KZ [...]
Bergwerksarbeit, Tod nach wenigen Tagen".
215
Auch die Tötungen und Massenmörder
schienen Klemperer bekannt zu sein. So hat er auf Auschwitz als ein "schnell
arbeitendes Schlachthaus"
216
verwiesen, und am 27. Februar 1943 schrieb er wie folgt:
Gerade ist jetzt nicht mehr anzunehmen, daß irgendwelche Juden lebend aus
Polen zurückkehren. Man wird sie vor der Räumung töten. Übrigens wird längst
erzählt, daß viele Evakuierte nicht einmal erst lebend in Polen ankommen. Sie
würden im Viehwagen während der Fahrt vergast, und der Waggon halte dann auf
der Strecke an vorbereitetem Massengrab.
217
213
Klemperer: Ich will Zeugnis ablegen. Band 3, S. 119.
214
Mieder: "In Lingua Veritas", S. 17.
215
Klemperer: Ich will Zeugnis ablegen. Band 5, S. 47.
216
Klemperer: Ich will Zeugnis ablegen. Band 5, S. 259.
217
Klemperer: Ich will Zeugnis ablegen. Band 6, S. 37.
80
Obwohl es sich meistens um Gerüchte handelt und man die Quelle der Gerüchte nicht
immer kennt, kann man nicht verneinen, dass Geschichten über den Grausamkeiten der
Nazis in den Konzentrationslagern deutlich im Umlauf waren. Eine Quelle, die
Klemperer in den Tagebüchern in Bezug auf die Totenzahl in den Konzentrationslagern
benutzt, sind die Todesanzeichen und die Briefe, die aus den Konzentrationslagern an
die Familie geschickt wurden. Als Grund des Todes wurde in solchen Briefen meistens
Herzschwäche oder »bei Fluchtversuch erschossen« angegeben. Solchen Begründungen
glaubte Klemperer aber auf keinen Fall.
Ernst Kreidl ist »bei einem Fluchtversuch erschossen« worden, um 14.55 Uhr,
also am hellen Tage. Eva sah oben bei Elsa Kreidl das vorgedruckte Formular mit
Maschinenschrift
ausgefüllt.
»Einäscherung
im
Krematorium
Weimar-
Buchenwald«, die Urne steht zur Verfügung. Schamloser kann man nicht lügen.
Der Mann hat an die absolut unmögliche Flucht bestimmt mit keinem Hauch
gedacht. 63 Jahre, geschwächt, Anstaltskleidung, ohne Geld ... Und am hellen
Tage ... Unverhüllter Mord. Einer von Abertausenden.
218
Ernst Kreidl war ein Mitbewohner Klemperers und war in das Lager Weimar-
Buchenwald deportiert worden. Wenn er an dieser Stelle von dem Tod Kreidls
berichtet, scheint die Begründung 'auf der Flucht erschossen' ihm völlig unmöglich zu
sein. Da er darauf hindeutet, dass Eva das Formular mit eigenen Augen gesehen hat,
wird die Authentizität und Wahrhaftigkeit des Dokumentes hervorgehoben. Das
Dokument selber steht aber Klemperers Meinung nach in schroffen Kontrast mit der
Wahrheit, denn die Todesursache ist gelinde ausgedrückt unglaubwürdig. Laut
Klemperer wäre es unmöglich, dass Kreidl einen Fluchtversuch unternommen hat, denn
Kreidl sei alt, schwach und ohne Geld gewesen, und würde nie einen Fluchtversuch am
hellen Tag unternehmen. Außerdem hat Klemperer in seiner Umgebung schon so oft
diese Todesursache von Juden, die 'bei einem Fluchtversuch erschossen' worden sind,
gehört, dass er diese Formel später auf bitter-ironischer Weise verwendet hat, wenn er
von ermordeten Bekannten in das Tagebuch Zeugnis ablegt. Klemperer betont denn
auch, dass der Mord an Kreidl 'unverhüllt' und 'einer der Abertausenden' ist. Obwohl die
Nazis den Mord durch die Begründung zu verhüllen versuchten, konnte niemand wegen
der Vielzahl der Fälle dem Fluchtversuch noch Glauben schenken. So müssen
Klemperer und Eva am 31. Dezember 1942 in bitterster Stimmung Folgendes
feststellen: "Alle, mit denen wir voriges Silvester zusammen waren, sind ausgelöscht
218
Klemperer: Ich will Zeugnis ablegen. Band 5, S. 97.
81
durch Mord, Selbstmord und Evakuierung".
219
Alle diese Einträge lassen vermuten, dass
die Deutschen völlig sicher von dem Holocaust im Bilde sein konnten und auch waren.
Jedoch ist Vorsichtigkeit geboten, was uns zu dem zweiten Standpunkt führt.
Aus den Tagebüchern kommt hervor, dass Klemperer und die jüdische
Gemeinschaft von den Untaten der Nazis den Juden gegenüber Kenntnisse hatten.
Daraus kann man aber noch nicht ableiten, dass die ganze deutsche Bevölkerung davon
gewusst hat. So kamen alle Nachrichten und Gerüchte, die Klemperer in das Tagebuch
aufzeichnete, von jüdischen Quellen. Die Kenntnisse scheinen nur innerhalb der
jüdischen Gemeinschaft verbreitet gewesen zu sein. Auch Trumpener hebt hervor, dass
die einzigen zur Verfügung stehenden Quellen Nachrichten von Juden selber oder von
den illegalen ausländischen Rundfunksendungen stammten. Obwohl die Juden in
geringem Maße mit der deutschen Bevölkerung in Kontakt standen, haben sie ihre
Kenntnisse über die Untaten der Nazis nicht mit ihr geteilt.
220
Ein erster Grund für
dieses Schweigen könnte sein, dass die Juden dachten, dass man sie doch nicht glauben
wurde. Außerdem wussten sie natürlich nicht wem sie trauen konnten, und die Angst
vor Anzeige aufgrund des Defätismus oder der Verhetzung war groß, denn eine Anzeige
wurde allerdings zu eines Judens Tod leiten. Zudem verweist Klemperer in den
Tagebüchern an verschiedenen Stellen auf die Unwissenheit der 'Arier', die ihm selber
unerklärlich ist. So heißt es am 29 Mai 1942: "Es herrsche überall tiefe Unzufriedenheit,
und dem Volk seien die Grausamkeiten in judaeos kaum bekannt".
221
Und einen Tag
später schrieb er auch noch: "die andern können sich einfach nicht in unsere Lage
versetzen, sie haben keine Ahnung, was alles uns genommen, verboten, vorgeschrieben
ist".
222
Solche Feststellungen ließen Klemperer vermuten, dass die Nazis die
Judenmaßnahmen für die Bevölkerung verheimlichten
223
, was als sehr plausible
Erklärung gelten kann. Die Verheimlichung vonseiten der Nazis wird 1943 in einem
Eintrag deutlich wiedergegeben:
Eigentümlich und mir unerklärlich, wie in den Regierungsmaßnahmen der
öffentliche Terror der Abschreckung und die geheime Grausamkeit Hand in Hand
gehen. Gegen die Juden wird maßlos gehetzt – aber die schlimmsten Maßnahmen
gegen sie werden vor den Ariern verheimlicht. Selbst nahestehende Leute kennen
219
Klemperer: Ich will Zeugnis ablegen. Band 5, S. 301.
220
Trumpener: "Diary of a Tightrope Walker", S. 490.
221
Klemperer: Ich will Zeugnis ablegen. Band 5, S. 102.
222
Klemperer: Ich will Zeugnis ablegen. Band 5, S. 103.
223
Klein: "Klemperer’s List", S. 46.
82
weder die kleinen Schikanen noch die grausigen Morde. Annemarie weiß nicht,
daß wir kein Möbel verkaufen dürfen, daß alles beschlagnahmt ist [...]. Der
Bürgermeister in Dölzschen wußte nicht, daß ich an die Stadtgrenzen gebunden
und ohne Fahrtberechtigung bin. Frau Eger sagte neulich: »Das ist das
Schrecklichste für mich, daß die Leute immer sagen: 'Etwas muß doch Ihr Mann
gemacht haben, man tötet doch niemanden ohne Grund!'« (Ich kenne etwas noch
Schrecklicheres, daß nämlich in solchem Fall auch Juden sagen: »Etwas wird er
sicher getan haben, den Stern verdeckt oder nach acht auf der Straße gewesen«.)
224
Klemperer ist es unbegreiflich, dass die "Arier" und sogar die nahe stehenden Leute
sowohl die kleineren Maßnahmen als auch die grausamen Mordfälle nicht kannten.
225
In
Bezug auf die Morde haben sie gar nicht geglaubt, dass die Nazis ohne Grund jemanden
ermorden wurden. Deswegen sprachen die Juden wahrscheinlich auch nicht mit ihnen
darüber, denn sie wurden den Zeugnissen doch keinen Glauben schenken.
226
Als noch
schrecklicher gilt für Klemperer die Tatsache, dass sogar die Juden selber, die über die
furchtbaren Mordfälle im Bilde waren, die Tötungen begründet zu sein glaubten.
Obwohl im Vorigen zum Ausdruck kam, dass die Verheimlichung vonseiten der
Nazis und die Isolation der jüdischen Gemeinschaft die Unwissenheit der deutschen
Bevölkerung begründen kann, soll man aber auch in Acht nehmen, dass auch die
Deutschen Zugang zu Quellen wie dem ausländischen Rundfunk haben mussten. Julia
Klein schließt denn auch, dass "those who wanted to know, did",
227
was als dritter
Standpunkt gelten kann. Dann ist es aber noch die Frage, wie viele Leute die
Grausamkeiten den Juden gegenüber anerkennen wollten. Die meisten Deutschen
schienen dem Schicksal der Juden gleichgültig zu sein. Das Volk kümmerte sich dem
Anschein nach nicht wirklich um die Judenverfolgung oder das Schicksal der Juden
unter dem Naziregime. Klemperer notierte dazu am Silvester 1939: "Die Pogrome im
November 38 haben, glaube ich, weniger Eindruck auf das Volk gemacht als der
Abstrich der Tafel Schokolade zu Weihnachten".
228
Dieser Vergleich mutet auf den
ersten Blick ein wenig fremd an. Er bringt aber die Haltung des Volkes der
Judenverfolgung gegenüber gut zum Ausdruck. Bei den Pogromen im November 1938
224
Klemperer: Ich will Zeugnis ablegen. Band 6, S. 26.
225
Klemperer: Ich will Zeugnis ablegen. Band 5, S. 211.
"Es geht wohl allen schlecht; aber wie schlecht es den Juden geht, wissen selbst die nicht, die mit ihnen in
Konnex sind und sympathisieren."
226
Klemperer: Ich will Zeugnis ablegen. Band 8, S. 70.
"Ich sagte Scherner die Gefahr in der ich schwebe; er war erst ungläubig, er fragte ganz verwundert, ob
denn die Nazis »solche Bestien« wären."
227
Klein: "Klemperer’s List", S.46.
228
Klemperer: Ich will Zeugnis ablegen. Band 3, S. 184.
83
wurden viele Juden verhaftet oder in das Lager Weimar-Buchenwald verschleppt oder
im Westen Deutschlands als Sträflinge und Geiseln verwendet.
229
Klemperer behauptet
aber, dass die Pogrome auf das Volk nur wenig Eindruck gemacht hätten. Einerseits
bekräftigt diese Aussage, dass das Volk über die Verfolgung im Bilde war, andererseits
wird darauf hingedeutet, dass es sich nicht sehr um die Juden gekümmert hat. Besonders
die Behauptung Klemperers, dass das Volk den 'Abstrich der Tafel Schokolade' als
schlimmer empfunden hat, betont die Gleichgültigkeit der Deutschen. Die Reaktion des
Volkes kann man aber gewissermaßen verstehen, wenn man in Acht nimmt, dass die
Judenverfolgung die Deutschen selber nicht wirklich anbelangt hat. Der Abstrich
verschiedener Mangelwaren, sowie die Tafel Schokolade, hat aber das ganze Volk
betroffen. So hebt Omer Bartov hervor, dass "none of us is immune to the temptation of
ignoring the fate of a minority as long as their own lot is not threatened".
230
Man darf
aber nicht vergessen, dass, obwohl viele Deutschen den Juden den Rücken gekehrt
haben, nicht jeder sie fallen gelassen hat. Außerdem haben vielen die Judenverfolgung
nicht anerkennen wollen, nicht nur aus Überzeugung, sondern auch aus Angst und
Selbstbehauptung. Wie schon anfangs erwähnt, führt die Analyse der "wir haben es
nicht gewusst"-Haltung vieler Deutscher nicht zu einer einzigen Antwort. Die drei
verschiedenen Standpunkte, die in den Tagebüchern vorhanden sind, lüften nur einen
Zipfel des Schleiers.
Hiermit zusammenhängend, werfen die Tagebücher einen Blick auf die Leugnung
der Schuld vonseiten des deutschen Volkes unmittelbar nach dem Kriegsende. Dieses
Subjekt wurde schon in Bezug auf Erinnerung und Wahrheit und im Kapitel der
Mehrstimmigkeit behandelt und wird hier denn auch nur kurz noch mal angesprochen.
Es stellte sich heraus, dass schon kurz vor dem Kriegsende im April 1945 viele
Deutsche ihre Angehörigkeit zu der nationalsozialistischen Partei leugneten. Plötzlich
behauptete jeder immer Feind der Partei gewesen zu sein. So notierte Klemperer am 5.
Mai 1945: "So will aber auch niemand Nazi gewesen sein von denen, die es fraglos
gewesen sind. – Wo ist die Wahrheit, wie läßt sie sich auch nur annähernd finden?"
231
Die Frage nach der wirklichen Gesinnung der Leute bleibt final ungelöst. Klemperer
scheint sich davon bewusst zu sein, dass eine Lösung des Problems nie gefunden
229
Klemperer: Ich will Zeugnis ablegen. Band 3, S. 113.
230
Bartov: "The last German", S. 36.
231
Klemperer: Ich will Zeugnis ablegen. Band 8, S. 138.
84
worden wurde, denn er sah keinen Weg, in dem sich die Wahrheit 'auch nur annähernd'
finden lassen würde. Dasselbe gilt für das angebliche Nichtwissen und führt uns zurück
zu der 'wir haben es nicht gewusst'-These. So fragt Klemperer sich, ob es möglich sei,
dass eine deutsche Frau nie von der Gestapo gehört, oder von den Judenverfolgungen
nichts gewusst hat.
232
Fast jeder, dem Klemperer begegnet, behauptet von alledem nichts
gewusst zu haben. Und so ist die Frage, die Klemperer sich am 25. Mai 1945 stellte,
noch immer gültig: "Was an diesem Nichtwissen ist Wahrheit?"
233
Zum Schluss stellt es
sich also heraus, dass die Tagebücher einige interessante Beiträge zu der Debatte der
Nachkriegszeit leisten. Einige einzige Antwort gibt es aber bisher noch immer nicht.
Trotz der vielen Dokumente, die über die Judenverfolgungen vorhanden sein, bleibt es
unmöglich herauszufinden, wer was wann gewusst hat. Diese Wahrheit hat sich noch
immer nicht finden lassen.
232
Klemperer: Ich will Zeugnis ablegen. Band 8, S. 167.
233
Klemperer: Ich will Zeugnis ablegen. Band 8, S. 167.
85
3. Schlussfolgerungen
Wir können also schließen, dass die Tagebücher Klemperers sowohl auf
historischer als auf persönlicher Ebene von allergrößter Bedeutung sind. Aufgrund der
Forschung nach der Gattung des Tagebuches hat sich herausgestellt, dass das Tagebuch
eine monologische Kommunikationssituation einerseits und eine dialogische Struktur
andererseits aufweist. Daraus haben wir die zwei wichtigsten Funktionen von
Klemperers Tagebüchern abgeleitet. Wenn man von einer dialogischen Kommunikation
zwischen Tagebuchschreiber und Leser ausgeht, tritt die Funktion der Zeugenschaft in
den Vordergrund, weil Klemperer seine täglichen Aufzeichnungen dann wirklich als
Zeugenbericht für die Nachkommen gemeint hat. Die Authentizität des Dokumentes als
Zeugenbericht ist untersucht worden und schließlich positiv bewertet. Wir haben
festgestellt, dass die Grundlage des Tagebuches im Produktionsprozess an sich
subjektiv ist, denn sie basiert auf subjektiven Wahrnehmungen und ist außerdem der
Selektion und der Interpretation der Geschehnisse unterlegen. Trotzdem sind die
Tagebücher im Rezeptionsprozess durch Objektivität und Faktizität gekennzeichnet.
Die Distanz, die beim Erzählen entsteht, und die Verifizierbarkeit verschiedener
Einträge sind ebenfalls als objektive Elemente anerkannt worden. Auch die Dialektik
zwischen Innerlichkeit und Öffentlichkeit tragen zur Authentizität der Tagebücher bei.
Die Darstellung kleinerer Anekdoten des selbst erlebten Alltags gönnt dem Leser einen
Blick in das Leben unter dem nationalsozialistischen Regime aus der Perspektive des
Opfers. Der Alltag wurde aber von den größeren historischen Ereignissen diktiert. Den
Berichten, die der Protagonist über solche Ereignisse vernahm, stand er sehr kritisch
gegenüber, weil die Nazis mit der Propaganda die Wahrheit zu verstecken versuchten.
Da die Sprache aber jede Lüge aufdeckt und immer "die Wahrheit spricht", schien
Klemperer für die Wirkung der Propaganda immun zu sein. Die Untersuchung der
Sprache in den Tagebüchern selber hat ebenfalls die Wahrhaftigkeit bestätigt. Obwohl
die Tagebücher durch eine sachliche, distanzierte Sprache gekennzeichnet werden,
kommen an manchen Stellen Ästhetisierungszüge vor. Sie weisen beispielsweise
Sprachformeln auf, und auch die Wortspiele und Variationen auf Sprichwörter und
Redensarten können als Ästhetisierung der Geschehnisse betrachtet werden. Solche
Ästhetisierungen sollen aber nicht unbedingt als Beweis für die Unwahrhaftigkeit des
Erzählten gelten. Klemperer hat sie eher dazu angewendet, seine Erlebnisse und
86
Erklärungen nicht abstrakt, sondern in einer alltäglichen, populären Sprache
darzustellen. Aus den Theorien ging hervor, dass das Verhältnis zwischen Erinnerung
und Sprache nie eins zu eins ist. Die Sprache und Ausdrücke sind immer Teil einer
kulturellen Tradition. Wenn man etwas zur Sprache bringen will, greift man
automatisch auf Ausdrücke aus der eigenen kulturellen Tradition zurück. Außerdem
sind die Interpretation und die Erfahrung, die in einem Zeugnis wiedergeben wird,
wichtiger als die geschichtliche Authentizität. Die Vermittlung der Atmosphäre steht an
zentraler Stelle. Klemperer wollte als Geschichtsschreiber seiner Zeit auftreten, wurde
aber darüber hinaus auch Chronist der Katastrophe, schrecklicher Schicksale und
alltäglicher Tragödien.
Wenn wir von einer monologischen Kommunikationssituation ausgehen und
Produzent und Rezipient im selben Subjekt festgehalten sind, wird die Funktion der
Selbstbehauptung hervorgehoben. Die Identität Klemperers wird durch eine Zwiespalt
gekennzeichnet. Sein problematisches Verhältnis zur deutschen Angehörigkeit und zur
jüdischen Herkunft und Tradition ist dabei entscheidend. In den Tagebüchern definiert
und redefiniert er seine Auffassungen über "Deutschtum" und "Judentum" immer und
immer wieder. In diesem Sinne dienen das Tagebuch und das Schreiben als Mittel, um
seine Gedanken zu strukturieren und Ordnung im Chaos zu schaffen. Auch wenn
Identität eher als Individualität definiert wird, sind wir auf einige Probleme gestoßen.
Besonders die Ausgrenzung aus dem akademischen Leben und das gezwungene
Proletarierdasein haben seine Identität erschüttert. Das Tagebuch wurde dann dazu
angewendet, seine geistige Überheblichkeit zu bewahren und die geistige Leere
aufzufüllen. Außerdem boten seine Aufzeichnungen ihm Einsicht in das eigene
Verhalten.
Letztens
kam
zum
Ausdruck,
dass
durch
das
plötzliche
Heimatlosigkeitsgefühl das Tagebuch zur Flucht aus dem alltäglichen Elend diente. Das
Tagebuch wurde zum neuen "portativen Vaterland". Kurzum: das Schreiben und das
Tagebuch waren die "Balancierstange", an der Klemperer sich während des
nationalsozialistischen Zeitalters festgeklammert hat.
Sowohl auf persönlicher als auch auf historischer Ebene hat Klemperer von Tag
zu Tag Zeugnis abgelegt. Wie die Form des Tagebuchs diktiert, wurden seine Gedanken
und Auffassungen auf diesen Ebenen täglich modifiziert. Wir haben darauf
hingewiesen, dass Klemperer seine Ansichten jeden Tag evaluierte und sie anhand
87
innerer und äußerer Perspektiven konstruierte. So kommt eine Mehrstimmigkeit in den
Tagebüchern zustande. Verschiedene Stimmen kommen im Tagebuch an die Reihe.
Nach der Stimme Evas wurden die Stimmen der jüdischen Gemeinschaft dargestellt, die
Klemperer verallgemeinert in Optimismus und Pessimismus aufgeteilt hat. Er hat sich
außerdem lange Zeit dieser vox populi gegenübergestellt. Die Stimmen der Deutschen
waren am schwierigsten herauszulesen. Einerseits könnte man von einer allgemeinen
vox populi ausgehen, die mittels der Propaganda auf der Dummheit und Naivität der
Masse basierte. Besonders der Antisemitismus, die Vergöttlichung Hitlers und die
lügnerischen Heeresberichte in der Propaganda fanden einen starken Widerhall.
Trotzdem mussten wir feststellen, dass es auch unter dem deutschen Volk
widersprüchliche Meinungen und Verhalten gab. Die Mischstimmung am Ende des
Krieges ließ ebenso vermuten, dass die vox populi in voces populi zerfiel. Jedoch hat
Klemperer aus den widersprüchlichen Stimmen eine allgemeine entscheidende
Stimmung abzuleiten versucht. Er hat aber schließen müssen, dass eine einzige
Stimmung sich nicht herausfinden ließ. Seine Suche war aber nicht umsonst, denn die
Tagebücher haben schließlich einige interessante Beiträge zur historiographischen
Debatte der vergangenen Jahrzehnte geleistet. So entwickelten sich die persönlichen
Tagebücher Klemperers zu Geschichtswerken von höchst historischem Wert.
88
4. Bibliographie
Primärliteratur
Klemperer, Victor
1999 Ich will Zeugnis ablegen bis zum Letzten. Tagebücher 1933-1945. Band
1-8. Hg. von Walter Nowojski. Berlin: Aufbau.
Klemperer, Victor
1995 Ich will Zeugnis ablegen bis zum Letzten. Tagebücher 1942-1945. Hg.
von Walter Nowojski. Berlin: Aufbau.
Klemperer, Victor
1969 LTI. Die unbewältigte Sprache. Aus dem Notizbuch eines Philologen.
München: Deutscher Taschenbuch Verlag.
Sekundärliteratur
Bachtin, Michail
1986 Untersuchungen zur Poetik und Theorie des Romans. Hg. von Edward
Kowalski et al. Berlin/Weimar: Aufbau.
Bannasch, Bettina & Hammer, Almuth
2005 "Jüdisches Gedächtnis und Literatur" Gedächtniskonzepte der
Literaturwissenschaft. Theoretische Grundlegung und
Anwendungsperspektiven. Hg. v. Astrid Erll u. Ansgar Nünning.
Berlin/New York: de Gruyter, S. 277-295.
Bartov, Omer
1998 "The last German". In: New Republic 219, 34-45.
Birken, Lawrence
1999 "Prussianism, Nazism and Romanticism in Victor Klemperers Thought".
In: German Quarterly 72, S. 33-43.
Dusini, Arno
2005 Tagebuch. Möglichkeiten einer Gattung. München: Wilhem Fink.
Haage, Volker
2003 Zeugen der Zerstörung. Die Literaten und der Luftkrieg. Frankfurt am
Main: Fischer.
Heer, Hannes
1997 Im Herzen der Finsternis. Victor Klemperer als Chronist der NS – Zeit.
Berlin: Aufbau.
Ibsch, Elrud
89
2004 Die Shoah erzählt: Zeugnis und Experiment in der Literatur. Tübingen:
Max Niemayer.
Jäckel, Eberhard
1996 Das Deutsche Jahrhundert. Eine historische Bilanz. Stuttgart: Deutsche
Verlagsanstalt.
Johnson, Daniel
2000 "What Victor Klemperer saw". In: Commentary 109, S. 44-51.
Klein, Julia
2000 "Klemperer’s List" In: Nation 59, S. 1-32.
Laub, Dori
2003 "Truth and Testimony. The Process and the Struggle." In: Trauma:
Explorations in Memory. Hg. von Cathy Caruth. Baltimore: John
Hopkins University Press. S. 61-75.
Heinrich-Korpys, Meike
2003 Tagebuch und Fiktionalität. Signalstrukturen des literarischen
Tagebuchs am Beispiel der Tagebücher vom Max Frisch. St-Ingbert:
Röhrig Universitätsverlag.
Mieder, Wolfgang
2000 "In Lingua Veritas: Proverbial Rhetoric in Victor Klemperer’s Diaries of
the Nazi Years (1933-1945)". In: Western Folklore 59, S. 1-31.
Peter, Jürgen
1995 Der Historikerstsreit und die Suche nach einer nationalen Identität der
achtziger Jahre. Frankfurt am Main: Peter Lang.
Reiss, Hans
1998 "Victor Klemperer. Reflections on his Third Reich Diaries". In:
German Life and Letters 51, S. 65-93.
Sebald, W.G.
1999 Luftkrieg und Literatur. München: Hanser.
Sepp, Arvi
2006 "Die Stimmen des Archivs. Alltag und Identität in Victors Klemperers
Tagebüchern des Dritten Reiches". In: Germanistische Mitteilungen.
Zeitschrift für Deutsche Sprache, Literatur und Kultur 6, S. 21-37.
Stern, Martin
90
1998 "Die sieben A der Autobiographie". In: Das erdichtete Ich - eine echte
Erfindung : Studien zu autobiographischer Literatur von
Schriftstellerinnen. Hg. von Heidy Margrit Müller. Aarau: Sauerländer,
S. 13-20.
Trumpener, Katie
2000 "Diary of a Tightrope Walker. Victor Klemperer and his Posterity." In:
Modernism/Modernity 7, S. 487-507.
Welzer, Harald
2005 Das kommunikative Gedächtnis. Eine Theorie der Erinnerung. München:
Beck.
White, Hayden
1973 Metahistory. The Historical Imagination in Nineteenth-Century Europe.
Baltimore/London: John Hopkins University Press.
Wipperman, Wolfgang
1997 Wessen Schuld? Vom Historikerstreit zur Goldhagen-Kontroverse.
Berlin: Elefanen Press.
Zeller, Eva
2000 Die Autobiographie. Selbsterkenntnis – Selbstentblößung. Stuttgart:
Franz Steiner.