Historischer und persönlicher Wert von Victor Klemperers Tagebüchern 1933 1945

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Universiteit Gent

Academiejaar 2007 – 2008














"Ich will Zeugnis ablegen, und exaktes Zeugnis"

Historischer und persönlicher Wert von Victor Klemperers

Tagebüchern 1933 - 1945











Promotor: Prof. Dr. B. Biebuyck Verhandeling voorgelegd aan de
Faculteit Letteren en Wijsbegeerte

voor het behalen van de graad van

Master in de Taal- en Letterkunde:

Duits-Engels

door

Lieselot Claeys

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Vorwort

Diese Arbeit konnte nicht ohne Hilfe erstellt werden. Ich möchte denn auch gerne allen

Beteiligten herzlich danken.

Zunächst danke ich Prof. Dr. Biebuyck für die Betreuung vorliegender Magisterarbeit.

Mit seiner Beratung und weitgehenden Kenntnissen im literaturwissenschaftlichen

Bereich hat er viel zu dieser Arbeit beigetragen. Auch alle Lehrenden und Mitarbeiter

des deutschen Fachbereiches der Universität Gent verdienen ein Wort des Dankes, denn

sie haben uns während des Studiums für die Literaturwissenschaft begeistert und uns

ihre Kenntnisse in diesem Bereich beigebracht.

Daneben möchte ich auch vom ganzen Herzen meinen KommilitonInnen danken.

Besonders Hanne, Sien, Hannelore, Elisa, Anouk, Anne Sophie und Julie sind mir in

den vergangenen vier Jahren, sowohl beim Studium als in der Freizeit, immer eine

große Hilfe gewesen. Ihre Freundschaft und ihr Enthusiasmus waren bei der Erstellung

dieser Arbeit ebenfalls eine Erleichterung.

Letztens bedanke ich mich bei Will Westall und bei meiner Familie, die mir während

des Studiums und während des Schreibens dieser Arbeit immer wieder Mut gemacht

haben.

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5

Inhalt


0.

Einleitung .................................................................................................................. 7


1.

Funktionen des Tagebuchs ...................................................................................... 11

1.1 - Zeugenschaft ....................................................................................................... 13

1.1.1 - Subjektivität und Objektivität ...................................................................... 13
1.1.2 - Innerlichkeit und Öffentlichkeit .................................................................. 17
1.1.3 - Struktur und Sprache ................................................................................... 22

2.1 - Selbstbehauptung ................................................................................................ 33

1.2.1 - Deutsche und jüdische Identität ................................................................... 34
1.2.2 - Klemperers Individualität ............................................................................ 43
1.2.3 - Heimatlosigkeit ............................................................................................ 52


2.

Mehrstimmigkeit ..................................................................................................... 55

2.1 - Die Stimmung und Stimmen im Tagebuch: ....................................................... 55

Vox Populi oder Voces Populi

2.1.1 - Die Stimmen aus der vertrauten Umgebung ............................................... 56
2.1.2 - Die deutsche vox populi ............................................................................... 61
2.1.3 - Die deutschen voces populi ......................................................................... 71

2.2 - Die vox populi als Beitrag zur historiographischen Debatte .............................. 75

2.2.1 - Hitlers willige Vollstrecker? ........................................................................ 75
2.2.2 - Haben sie es gewusst? ................................................................................. 79


3.

Schlussfolgerungen ................................................................................................. 85


4.

Bibliographie .......................................................................................................... 88











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7

0. Einleitung


Die Tagebücher des Philologen Victor Klemperer gelten als wichtiges Dokument der

Nazijahre und des Holocaust. Sie stellen das Leben unter dem nationalsozialistischen

Regime aus der Perspektive des Opfers dar und gönnen dem Leser nicht nur einen Blick

in das Alltagsleben Klemperers, sondern bieten anhand linguistischer Betrachtungen

auch Einsichten in die Wirkung der nationalsozialistischen Propaganda und in den

Verlauf der großen historischen Ereignisse jener Epoche.

Zunächst folgt eine kurze Biographie, die auf der biographischen Einleitung der

Tagebücher basiert. Victor Klemperer wurde am 9. Oktober 1881 in Landsberg/Warthe

aus jüdischer Familie geboren. Der Vater, Cousin des berühmten Komponisten Otto

Klemperer, war Rabbiner. 1890 siedelte die Familie nach Berlin über, wo der Vater

Prediger einer Reformgemeinde wurde. Trotz seiner jüdischen Herkunft ließ er seine

Söhne evangelisch taufen. Auch Victor wurde im Alter von 22 getauft und bekehrte sich

zum Protestantismus, nicht sosehr aus religiösen Gründen, sondern vor allem aus

wirtschaftlichen Gründen. Die Söhne der Familie Klemperer waren nämlich alle

entschlossen Karriere zu machen, und als Jude stieß man schon damals wirtschaftlich

auf Schwierigkeiten. Victor Klemperers berufliche Entwicklung vollzog sich anfangs

problematisch. Nach dem Besuch verschiedener Gymnasien fing er eine gescheiterte

Kaufmannslehre an. 1902 bis 1905 stürzte er sich auf eine akademische Ausbildung und

studierte Philosophie, Romanistik und Germanistik in München, Genf, Paris und Berlin.

In Berlin lebte er danach als Journalist und Schriftsteller. Auf seine Stelle als freier

Publizist wurde aber von der Familie herabgesehen, und 1912 nahm er sein Studium in

München wieder auf. Das wissenschaftliche Studium und der akademische Aufstieg

sollten aber mit dem Einbruch des ersten Weltkrieges abgestellt werden. Klemperer

meldete sich als Kriegsfreiwilliger und verbrachte einige Jahre an der deutschen Front.

Nach dem Krieg erhielt er schließlich ein Lehramt für Romanistik an der technischen

Hochschule in Dresden. Unter seinen veröffentlichten Studien befinden sich unter

anderem Die moderne französische Prosa 1870-1920 (1923), Geschichte der

französischen Literatur im 19. und 20. Jahrhundert (1925-1931) und Pierre Corneille

(1933).

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In den dreißiger Jahren nahm das Leben Klemperers mit der Machtübernahme der

Nationalsozialisten eine dramatische Wende. Wegen der jüdischen Herkunft wurde

Klemperer in Deutschland plötzlich zu einer Persona non grata. Nach dem Versiegen

aller Publikationsmöglichkeiten und dem Ausschluss aus der Prüfungskommission,

wurde er 1935 aufgrund der Nürnberger Gesetze aus seinem Amt entlassen. Zwei Jahre

später traf ihn auch das Verbot der Bibliotheknutzung. Da ihm deswegen das

wissenschaftliche Arbeiten unmöglich gemacht wurde, begann er mit der Niederschrift

seiner Lebensgeschichte Curriculum Vitae und intensivierte die Einträge in das

Tagebuch. In den Tagebüchern erfährt man, wie Klemperer mehr und mehr ins Abseits

gedrängt wurde. 1940 wurde er mit seiner Deutschen "arischen" Frau, Eva Schlemmer,

aus der Wohnung ausgetrieben und verpflichtet in ein Dresdener Judenhaus

überzusiedeln. Trotz der ständigen Gefahr der Evakuierung und Drohung vonseiten der

Gestapo, zusammen mit den Mangelerscheinungen, die Klemperer erleiden musste,

überlebte er den Krieg. Die Mischehe mit einer "arischen" Frau und die Vernichtung

Dresdens am 13. Februar 1945 retteten ihn während des nationalsozialistischen Regimes

vor "Evakuierung" ins Konzentrationslager. Klemperer floh mit seiner Frau nach

Sachsen und Bayern, wo sie im Juni 1945 durch das Einmarschieren der Amerikaner

gerettet wurden.

Nach dem Krieg kehrten sie nach Dresden zurück. Im selben Jahr wurde

Klemperer zum Professor an der Technischen Universität Dresdens ernannt und fing

seine Sprachanalyse des Dritten Reiches LTI (Lingua Tertii Imperii) an, die 1947

erschien. In der Nachkriegszeit tritt er "trotz erheblicher Skrupel" in die KPD ein. ("Sie

allein drängt wirklich auf radikale Ausschaltung der Nazis. Aber sie setzt neue

Unfreiheit an die Stelle der alten!"). Von 1947 bis 1960 lehrte er an den Universitäten

Greifswald, Halle und Berlin. In diesen Jahren legte Klemperer in seinen Tagebüchern

weiter Rechenschaft ab, und zwar über die russische Besetzung, die Zweiteilung

Deutschlands und das weitere Leben in der DDR. Victor Klemperer starb 1960 in

Berlin. Aus dem Nachlass wurden Curriculum Vitae. Erinnerungen eines Philologen

(1989) und die Tagebücher Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten, Tagebücher 1933-

1945 (1995), Und so ist alles schwankend, Tagebücher 1945 (1996), Leben sammeln,

nicht fragen wozu und warum, Tagebücher 1918-1932 (1996), und So sitze ich denn

zwischen allen Stühlen, Tagebücher 1945-1959 (1999), veröffentlicht. 1995 bekam er

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posthum den Geschwister-Scholl-Preis der Stadt München für Werke von geistiger

Unabhängigkeit, Freiheit, Mut und Verantwortungsbewusstsein.

Die Tagebücher gelten als wichtiges zeithistorisches Dokument, in dem das

Naziregime in allen Einzelheiten unter die Lupe genommen wird. In der Forschung ist

ihnen aber bisher nur wenig Aufmerksamkeit gewidmet worden. Die Forschung hat sich

besonders auf Klemperers Analyse der Sprache des Dritten Reiches, LTI: Die

unbewältigte Sprache - Aus dem Notizbuch eines Philologen, fokussiert. Jedoch wurden

die Tagebücher nach der Veröffentlichung 1995 im deutschsprachigen Raum zum

Erfolg, und auch im englischsprachigen Raum fanden sie nach ihrer Übersetzung in das

Englische großen Beifall. Die bedeutendsten Quellen, die ich für vorliegende Studie

benutzten konnte, entstammen denn auch hauptsächlich der deutsch-amerikanischen

Forschung, in der man meistens den historischen Aspekt der Tagebücher untersucht hat.

Obwohl ich das historische Element auch in Acht nehmen werde, ist es eher meine

Absicht, generell zu untersuchen, worauf sich der Wert der Tagebücher nun spezifisch

bezieht? Aufgrund einiger allgemeiner Feststellungen aus der Forschung nach der

Gattung des Tagebuchs können verschiedene Funktionen des Tagebuchs aufgedeckt

werden. Im Folgenden werde ich von den allgemeinen Merkmalen des Tagebuchs aus

die Funktionen der Tagebücher Klemperers abzuleiten versuchen. Da es sich um ein

außergewöhnliches Zeugnis aus der Perspektive des Opfers handelt, wird der historische

Kontext des nationalsozialistischen Zeitalters in Acht genommen und auch untersucht.

Erstens wird das Zeugnis als historisches Dokument betrachtet und kann nach der

Wahrhaftigkeit und Authentizität der Tagebücher gefragt werden. Welche objektiven

und subjektiven Elemente sind sowohl im Produktions- als im Rezeptionsprozess

festzustellen? Wie wirkt die Dialektik zwischen Innerlichkeit und Öffentlichkeit in den

Tagebüchern? Letztens wird auch die Bedeutsamkeit der Struktur und der Sprache

untersucht. Können traumatische Erlebnisse mit Sprache authentisch wiedergegeben

werden, und welche strukturellen und sprachlichen Einheiten eignen sich zur

Darstellung der Geschichte? Besonders der Ästhetisierung, die an manchen Stellen in

den Tagebüchern Klemperers vorkommt, wird Aufmerksamkeit gewidmet. Diese

Fragen versuche ich im Folgenden sowohl anhand des Textmaterials in den

Tagebüchern selber als anhand verschiedener Theorien im Bereich der Erinnerung und

Sprache zu lösen. Zweitens können die Tagebücher in dem Sinne als persönliches

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Dokument bestimmt werden, dass sie für Klemperer als Halt in seinem erschütterten

Leben gelten können. Klemperer zog seine eigene Identität auf zwei Ebenen in Zweifel.

Sowohl seine deutsche als seine jüdische Identität waren ihm unklar geworden. Was

bedeuteten die deutsche Angehörigkeit und die jüdische Kultur und Tradition für

Klemperer in einer ihm feindlichen Epoche? Wie definiert er seine eigenen Ansichten

auf Nationalität und Religion, und wie können wir sie als Leser interpretieren?

Andererseits war auch seine Individualität einer Änderung unterlegen. Durch die

allmähliche Ausgrenzung aus der Gesellschaft wurde der Akademiker zu einem

Proletarierdasein gezwungen. Welche Wirkung hatte dieser Wandel auf Klemperers

Existenz als Wissenschaftler und als Mensch? Im Tagebuch evaluiert Klemperer von

Tag zu Tag sowohl die Ereignisse auf historischer als auch auf persönlicher Ebene.

Diese wechselnden Einsichten baut er anhand mehrerer Stimmen auf. Er zieht nicht nur

die eigene innere Perspektive, sondern auch äußere Perspektiven anderer Personen in

Betracht. Vor allem der Stimme seiner Frau wird in den Tagebüchern viel Beachtung

geschenkt. Im zweiten Kapitel wird denn auch die Mehrstimmigkeit, die in den

Tagebüchern vorhanden ist, besprochen. Welche Stimmen sind vertreten, und wie

werden sie dargestellt? Wann tauchen sie in den Tagebüchern auf, und welchen Einfluss

haben sie auf die Gedanken Klemperers? Aus den einzelnen Stimmen hat Klemperer

versucht, eine entscheidende Stimme abzuleiten, die die Stimmung in Deutschland

vorstellen soll. Dabei soll man sich natürlich fragen, ob eine einzelne Stimmung gar

vorhanden war, und aus welchen Gründen sie eventuell zustande gekommen ist. Die

Bedeutsamkeit der Propaganda ist beispielsweise ein bestimmender Faktor in dieser

Untersuchung. Im letzten Schritt wird der Frage nachgegangen, ob die Suche nach einer

entscheidenden Stimme und nach einer Stimmung einen Beitrag zur historiographischen

Debatte der vergangenen Jahrzehnte geleistet hat.

Kurzum, wie entwickelten sich die persönlichen Tagebücher zu einem der

bedeutendsten historischen Geschichtswerke der Nazizeit?

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11

1. Funktionen des Tagebuchs

Wenn man sich mit der Gattung des Tagebuches beschäftigt, werfen sich

unmittelbar einige Fragen auf. An wen ist das Tagebuch adressiert? Welche sind die

primäre Funktionen? Welche Merkmale hat das Tagebuch? Ist ein Tagebuch

authentisch und wahrhaft? Wie zeigt sich der Geltungsanspruch? Diese Fragen sind für

die Analyse der Tagebücher von Victor Klemperer von größter Bedeutung, denn die

Antworten decken die Dialektik von Persönlichem und Historischem in den

Tagebüchern auf. Diese Dialektik kann als ein der wichtigsten Merkmale gelobt

worden, weil sie den Blick in das alltäglichen Leben unter dem nationalsozialistischen

Regime ermöglicht.

Erstens kann man nach der Zielrichtung des Schreibens in einem Tagebuch

fragen. Meike Heinrich-Korpys spricht in Tagebuch und Fiktionalität von einer

Selbstrezeptivität. Der Tagesbuchschreiber soll die eigenen Erlebnisse des Tages für

den eigenen Gebrauch festlegen. So werden Autor und Leser im selben Subjekt

festgehalten und erhält das Tagebuch einen monologischen Charakter. In dem Monolog

entwirft der Text ein Leserkonzept, das mit dem Tagebuchschreiber übereinstimmt.

1

Die Möglichkeit besteht, dass Klemperer das Tagebuch als Halt für das eigene Leben

geführt hat. Laut Omer Bartov schrieb Klemperer das Tagebuch, um die eigene

Existenz und Identität festzuhalten, in einer Welt, die sich gegen ihn gewandt hatte und

alle seiner Überzeugungen bedrohte.

2

Das Tagebuch sei dann zum Instrument

geworden, das eigene Leben zu strukturieren. In diesem Sinne können die Tagebücher

der Nazijahre als persönliches und privates Dokument betrachtet werden und erweist

sich die Selbstbehauptung als erste wichtige Funktion. Die These der monologischen

Kommunikation gründet auf der fehlenden Veröffentlichungsabsicht. Es ist aber Unklar,

ob Klemperer nicht die Absicht hatte, die Tagebücher zu veröffentlichen. Er hat schon

im Alter von 16 damit angefangen, seine Erlebnisse täglich in das Tagebuch

einzutragen, und hat es bis seinen Tod im Jahre 1960 weitergeführt. Außerdem sind die

Tagebücher der Nazi-Jahre erst 35 Jahre nach dem Tode publiziert worden. In Im

Herzen der Finsternis weist Hannes Heer darauf hin, dass die späte Veröffentlichung

1

Meike Heinrich-Korpys: Tagebuch und Fiktionalität. Signalstrukturen des literarischen Tagebuchs am

Beispiel der Tagebücher vom Max Frisch. St-Ingbert: Röhrig Universität 2003, S. 84.

2

Omer Bartov: "The last German". In: New Republic 219 (1998), S. 35.

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12

auch einige Vorteile, die dem historischen Wert der Tagebücher noch verstärkt haben,

gehabt hat. Sie waren beispielsweise nie der Zensur unterlegen, weil sie erst nach der

Wiedervereinigung Deutschlands in die Öffentlichkeit gebracht wurden.

3

Da die

Tagebücher aber ediert worden sind, gibt es trotzdem einige Informations- und

Komplexitätsreduktionen. Arno Dusini setzt den Editionsprozess mit "einer Geschichte

von Zensur, Unterschlagung, und Durchstreichung, von Korrektur, Zurechtrückung und

Überschreibung" gleich.

4

So wurden in den Tagebüchern Klemperers viele

Wiederholungen ausgelassen, die für das Verständnis der psychologischen Disposition

oder der wiederholten Obsessionen nützlich gewesen sein könnten. Trotz der

verspäteten Veröffentlichung der Tagebücher der Nazijahre gibt es aber auch

verschiedene Hinweise darauf, dass Klemperer die Veröffentlichung im Sinne hatte.

Wenn das der Fall war, kann man von einer dialogischen statt monologischen

Kommunikationssituation in den Tagebüchern ausgehen. Schon der Titel Ich will

Zeugnis ablegen bis zum Letzten verweist auf den Willen Klemperers als Chronist

seiner Zeit aufzutreten. Der Titel basiert auf zwei Einträgen im Jahre 1942. Am 27. Mai

notierte Klemperer: "Aber ich schreibe weiter. Das ist mein Heldentum. Ich will

Zeugnis ablegen, und exaktes Zeugnis!"

5

, und am 11. Juni lesen wir: "das Tagebuch

werde ich weiter wagen. Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten".

6

Der Wille, Zeugnis

abzulegen, entwickelt sich zu einem psychologischen Leitmotiv in den Tagebüchern.

Klemperer wird durch den Willen, zu registrieren, getrieben und weist einen obsessiven

Bedarf auf, die eigene Situation aufzuzeichnen.

7

Das Motiv der Zeugenschaft zeigt, dass

Klemperer die Tagebücher als Zeugnis für die Nachkommen gemeint hat. Er wollte den

Nachkommen die Wahrheit über das grausame nationalsozialistische Regime

weitergeben, sodass die Katastrophe nicht vergessen würde. In den Tagebüchern kommt

deutlich zum Ausdruck, dass Klemperer immer an das Ende des nationalsozialistischen

Regimes und an ein Leben nach Hitler geglaubt hat, nur das Wann und Wie und das

eigene Überleben blieben ihm unklar. So heißt es am 15. Februar 1934: "Die Hoffnung,

3

Hannes Heer: Im Herzen der Finsternis. Victor Klemperer als Chronist der NS – Zeit. Berlin: Aufbau

1997, S. 17.

4

Arno Dusini: Tagebuch. Möglichkeiten einer Gattung. München: Wilhem Fink 2005, S. 49.

5

Victor Klemperer: Ich will Zeugnis ablegen bis zum Letzten. Tagebücher 1933-1945. Band 5. Hg. von

Walter Nowojski. Berlin: Aufbau 1999, S. 99.

6

Klemperer: Ich will Zeugnis ablegen. Band 5, S. 124.

7

Katie Trumpener: "Diary of a Tightrope Walker.Victor Klemperer and his Posterity." In:

Modernism/Modernity 7 (2000), S. 490.

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13

daß dieser Zustand der maßlosen Tyrannei und Lüge doch einmal zusammenbrechen

muß, hört niemals auf"

8

, und auch fünf Jahre später ist die Hoffnung noch nicht ganz

verschwunden, denn am 24. Dezember 1939 lesen wir: "Und jetzt ist die Entscheidung

im Gange und muß gegen Hitler fallen. Bleibt für uns nur noch die Frage des Wann".

9

In beiden Einträgen wird hervorgehoben, dass das Regime zusammenbrechen muß. An

einen dauerhaften Sieg des Nationalsozialismus glaubte Klemperer offensichtlich nicht.

Daraus kann man neben der Selbstbehauptung eine zweite wichtige Funktion der

Tagebücher schließen, die Zeugenschaft. So gibt es zwei mögliche Lesarten, die

einander nicht ausschließen, sondern sich ergänzen. Die Grenzen zwischen dem

Persönlichen und dem Historischen/Dokumentarischen sind nicht festzustellen, sondern

überschneiden sich ständig. Bevor ich näher auf die Dialektik zwischen beiden Lesarten

eingehe, werde ich zunächst die beiden Funktionen an sich untersuchen.

1.1 - Zeugenschaft

Wenn

man

die

Tagebücher

als

Zeugnis

des

Lebens

unter

dem

nationalsozialistischen Regime liest, kann man die Frage nach der Authentizität nicht

auslassen. Darf man der Tagebuchschreiber trauen, oder soll man die Wahrhaftigkeit in

Frage stellen? Das Schreiben eines Tagebuches steht in Zusammenhang mit Prozessen

der Subjektivität und Objektivität, mit Betrachtungen der Innerlichkeit und

Öffentlichkeit und mit einer Strukturierung der Geschehnisse. Bevor ich mich mit die

Perspektive und Struktur beschäftigen werde, werde ich zunächst untersuchen, ob die in

den Tagebüchern vertretene Subjektivität und Objektivität, die Glaubwürdigkeit und

Wahrhaftigkeit gefährden.

1.1.1 - Subjektivität und Objektivität

In Tagebuch und Fiktionalität behauptet Heinrich-Korpys, dass der Gattung des

Tagebuches, die eine autobiographische Zweckform voraussetzt, von den Lesern ein

Geltungsanspruch zugeschrieben wird. Der Leser erwartet, dass die aufgezeichneten

Ereignisse und Erlebnisse wahrhaftig sind. Dieser Geltungsanspruch "garantiert dem

Leser, daß das Dargestellte die wahrhaftige Lebensgeschichte eines historischen

8

Klemperer: Ich will Zeugnis ablegen. Band 1, S. 84.

9

Klemperer: Ich will Zeugnis ablegen. Band 3, S. 181.

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14

Individuums spiegelt."

10

Trotzdem ist eine objektive Fassung des eigenen Lebens aber

unmöglich. Erstens wird die Objektivität durch die Selektion des Tagebuchschreibers

verhindert. Aus der Menge an Eindrücken eines Tages selektiert der Autor nur einige

Ereignisse, Gedanken oder Gefühle. Der Selektionsprozess gefährdet die Objektivität in

der Auswahl der darzustellenden Ereignisse. Auch laut Martin Stern ist eine der

Entscheidungen, die der Schreiber nehmen muss, die Auswahl. Er weist darauf hin, dass

"das Gedächtnis dem Schreiber nur ein stark vorselektioniertes Sortiment von

Erinnerungen zur Verfügung stellt".

11

Abhängig von der Art der Quellen, die ihm zur

Verfügung stehen, ist er mehr oder weniger auf "die unverlässliche Instanz seines

Gedächtnis angewiesen".

12

So ist es wahrscheinlich, dass unangenehme, negative oder

peinvolle Geschehnisse öfters ausgelassen werden. Eine andere Entscheidung ist nach

Stern die Akzentuierung. Einige Ereignisse werden ausführlich, andere nur beschränkt

dargestellt. Hierüber entscheidet aber nicht nur das Gedächtnis, sonder auch die Sicht

des Schreibers zum Zeitpunkt der Aufzeichnung.

13

Diese Entscheidungen sind beide von

einem subjektiven Charakter gekennzeichnet, denn das Ausgelassene könnte für den

Leser ebenso von großer Bedeutung sein. Zweitens ist ein Grad der Subjektivität im

autobiographischen Schreiben durch die subjektive Wahrnehmung nicht wegzudenken:

alles Dargestellte hat seinen Ursprung in der Wahrnehmung, Reflexion oder dem
Erleben des Tagebuch-Ich. Da das Tagebuch keine anderen Perspektivträger
kennt, spiegelt sich hier nur der begrenzte Horizont des Schreibenden.

14

Die Grundlage des Tagebuchs ist an sich schon subjektiv. Trotz der Subjektivität gibt es

aber auch verschiedene Merkmale der Faktizität und Historizität. Das Kriterium der

Verifizierbarkeit ist wenigstens in dem Tagebuch vorhanden. So sind einige Geschehen,

die Orts- und Zeitangaben, sowie die erwähnten Personen an der Wirklichkeit

nachprüfbar. Die Nachprüfbarkeit von Ort, Zeit und Personen zeigt sich in der engen

Bindung an die Gegenwart. Der Anspruch der Verifizität steht aber nicht im Gegensatz

zu der erwähnten Subjektivität der Tagebuchaufzeichnungen, weil sie die

Nachprüfbarkeit der Daten und Fakten nicht in Frage stellt, sondern in der Interpretation

10

Heinrich-Korpys: Tagebuch und Fiktionalität, S. 89.

11

Martin Stern: "Die sieben A der Autobiographie". In: Das erdichtete Ich - eine echte Erfindung :

Studien zu autobiographischer Literatur von Schriftstellerinnen. Hg. von Heidy Margrit Müller. Aarau:
Sauerländer 1998, S. 13.

12

Stern: "Die sieben A der Autobiographie", S. 14

.

13

Stern: "Die sieben A der Autobiographie", S. 15

.

14

Heinrich-Korpys: Tagebuch und Fiktionalität, S. 85.

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15

der Ereignisse gründet.

15

Wird aber auch die Wahrhaftigkeit und Authentizität im

Prozess der subjektiven Interpretation und Selektion bedroht? Der Unterschied besteht

vor allem in der Perspektive. Während die subjektiven Merkmale sich besonders im

Rahmen der Produktion betrachten lassen, gründet sich die Objektivität eher auf der

Interpretation eines Geschehens im Rezeptionsprozess.

Obwohl Klemperer in den Tagebüchern vor allem von persönlichen und

alltäglichen Erlebnissen berichtet, werden sie durch eine große Sachlichkeit

gekennzeichnet. Zunächst soll vielleicht bemerkt worden, dass die Tagebücher von

Klemperer auch als Sammlung von Daten gemeint worden ist. Nachdem Klemperer die

Schreibmaschine entnommen worden war, trug er die Daten für seine

wissenschaftlichen Arbeiten in das Tagebuch ein. Die Notizen zum Sprachgebrauch der

Nazis hat Klemperer beispielsweise nach dem Kriege ausgearbeitet und sind unter dem

Titel LTI (Lingua Tertii Empirii) veröffentlicht worden. Das Tagebuch fungierte

außerdem auch als Rohfassung des Curriculum Vitae. Klemperer hatte nämlich im

Sinne, anhand der Tagebuchaufzeichnungen eine Autobiographie zu schreiben, die er

nach dem Verbot der Bibliotheknutzung in 1937 schon angefangen hatte.

Klemperer hatte nicht die Absicht, einen historischen Überblick des Regimes

darzustellen, sondern wollte von den normalen Ereignissen im Alltag der Tyrannei

Zeugnis ablegen. Am 8. April 1944 notierte er:

Es kommt nicht auf die großen Sachen an, sondern auf den Alltag der Tyrannei,
der vergessen wird. Tausend Mückenstiche sind schlimmer als ein Schlag auf den
Kopf. Ich beobachte, notiere die Mückenstiche.

16

Klemperer wollte sich nur um das Kleine, das Selbstbeobachtete bemühen und

"überlässt die große Linien der Historie".

17

Er ging davon aus, dass die großen Linien

der politischen Lage aus anderen Quellen, wie Zeitungen, aufgedeckt werden sollten.

Deswegen hat er sich nur auf das Kleine, Selbstbeobachtete und selbst Erlebte

beschränkt. Trotz dieser Einschränkung auf den Alltag und trotz der Trostlosigkeit der

eigenen Situation, gelingt es Klemperer die Erlebnisse und Gedanken aus einer

gewissen Distanz zu erzählen. Die schiere Faktizität in den Tagebüchern wird unter

15

Heinrich-Korpys: Tagebuch und Fiktionalität, S. 93.

16

Klemperer: Ich will Zeugnis ablegen. Band 7, S. 41.

17

Klemperer: Ich will Zeugnis ablegen. Band 3, S. 156.

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16

anderen von Hannes Heer hervorgehoben

18

, und verleiht dem Ganzen einen höheren

Grad der Authentizität. So weist Klemperers Schreibstil nie eine Neigung zum

Melodramatischen auf. Er wollte keine interessante, leidenschaftliche Geschichte

erzählen, sondern als Chronist die Lage möglichst objektiv schildern. Hans Reiss

kommentiert Klemperers Schreiben wie folgt:

Klemperer writes remarkably well. He avoids clichés and undue sentimentality,
his observation is sharp, his characterisation of people economical but acute, his
portraits memorable and his description impressive. His sharpness of vision, his
single-mindedness and pertinacity in recording his experiences endow his writing
with authenticity.

19

Reiss behauptet also, dass dem Tagebuch durch den objektiven Stil ein authentischer

Charakter zugeschrieben werden kann. Die Umschreibungen Klemperers enthalten

tatsächlich nur wenige Spuren der Sentimentalität. Auch wenn Klemperer aber bewusst

das Melodramatische abgelegt hat, gibt es jedoch eine gewisse Tragik, die aus den

Tagebüchern spricht. Auch Reiss weist darauf hin, dass sich Klemperers

Leidensgeschichte als Tragödie lesen lässt.

20

Die Tragik ist aber vor allem in dem Inhalt,

und nicht sosehr in der Form nachzuvollziehen. Die Leser werden zu Zeugen einer

tragischen Geschichte. Das Tragische liegt aber besonders darin, dass der Leser das

Ende der Geschichte schon kennt. Der Leser weiß, im Gegensatz zu Klemperer, wie

sich der zweite Weltkrieg und der Holocaust entwickeln. Obwohl Klemperer sich der

Grausamkeiten und der Verbrechen der Nationalsozialisten völlig bewusst zu sein

schien, gab er sich noch immer oft der Hoffnung hin, dass das Regime sich nicht halten

wurde. Wenn man liest: "Es kann nicht lange mehr dauern."

21

, soll das dem Leser

hoffnungsvoll erscheinen. Wenn man aber das Datum des Eintrags nachschlägt und

feststellt, dass die Aussage vom 13. Juni 1934 datiert, kann man sich das Gefühl der

Tragik nicht loswerden. Reiss fügt noch hinzu, dass auch das Ende der Tagebücher der

Nazijahre Züge einer Tragödie aufweist. Klemperer wurde von dem Bombenangriff auf

Dresden gerettet. Die Rettung wurde durch die Bomben der Alliierten, als Deus ex

Machina, im Februar 1945 ermöglicht.

22

Nach dem Angriff waren nämlich die

18

Heer: Im Herzen der Finsternis, S. 17.

19

Hans Reiss: "Victor Klemperer. Reflections on his Third Reich Diaries". In: German Life and Letters

51 (1998), S. 67.

20

Reiss: "Victor Klemperer. Reflections on his Third Reich Diaries", S. 67.

21

Klemperer: Ich will Zeugnis ablegen. Band 1, S. 109.

22

Reiss: "Victor Klemperer. Reflections on his Third Reich Diaries", S. 67.

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17

Dokumente der Gestapo vernichtet und entkam Klemperer der Deportation in ein

Konzentrationslager. Der Judenstern wurde von seiner Frau entfernt, und sie flohen

nach Sachsen und Bayern, wo sie das Kriegsende erlebten. Da die Tragik aber von dem

Vorwissen des Lesers abhängig ist, tut sie der Zuverlässigkeit und Authentizität der

Tagebücher keinen Abbruch.

Die Tagebücher enthalten also sowohl subjektive als auch objektive Züge.

Obwohl die Grundlage des Tagebuches als subjektiv betrachtet werden kann, können

die Faktizität und Distanz in Klemperers Beobachtungen uns trotzdem von der

Wahrhaftigkeit der Darstellung überzeugen.

1.1.2 – Innerlichkeit und Öffentlichkeit

Die Tagebücher Klemperers werden auch durch den Fokus auf Innerlichkeit und

Öffentlichkeit gekennzeichnet. Sie beschäftigen sich sowohl mit dem Persönlichen als

auch mit dem Historischen. Wie schon erwähnt, hat Klemperer sich vor allem auf die

Erlebnisse des Alltags fokussiert. Die Anekdoten schienen ihm am Wichtigsten zu sein,

um einen Blick ins Leben in Nazi-Deutschland zu werfen. Es versteht sich von selbst,

dass das Alltagserlebnis stark von politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen

Umständen geprägt ist. In "Die Stimmen des Archivs, Alltag und Identität in Victor

Klemperers Tagebüchern des Dritten Reiches" behauptet Arvi Sepp, dass sich in den

Tagebüchern eine Mikro-Geschichte und eine Makro-Geschichte unterscheiden lassen.

23

Die Mikro-Geschichte umfasst die persönlichen, alltäglichen Erlebnisse Klemperers,

während die Makro-Geschichte von dem allgemeinen politisch-historischen Kontext

handelt. Es ist evident, dass der Alltag von dem nationalsozialistischen Regime

durchdrängt war. Die Ideologie hat das Leben und die Überzeugungen Klemperers

erschüttert. Der Nationalsozialismus hat alle Bereiche der Gesellschaft beeinflusst und

Klemperer nicht nur das Amt und das Haus, sondern auch fast das Leben gekostet.

Besonders die Mangelerscheinungen als Folge des Krieges und der Judenverfolgung

haben ihn am meisten geschmerzt. Anhand der Tagebucheinträge, der anekdotischen

Geschichten und der angeblich belanglosen Details wird dem Leser ein Blick auf die

23

Arvi Sepp: "Die Stimmen des Archivs. Alltag und Identität in Victors Klemperers Tagebüchern des

Dritten Reiches". In: Germanistische Mitteilungen. Zeitschrift für Deutsche Sprache, Literatur und
Kultur.
6 (2006), S. 22.

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18

brenzliche Lage, in der Klemperer sich befand, gegönnt. So berichtete er am 19. Mai

1942:

Ich schleppte mit schweren Schlundschmerzen 30 Pfund Kartoffeln von unserem
Wagenhändler am Wasaplatz her. Als dort der Mann meine Karte schon in der
Hand hatte, trat von hinten ein junges Weibsbild, blondgefärbt, mit gefährlich
borniertem Gesicht, heran, etwa die Frau eines Kramhandlers: »Ich war eher hier
– der Jude soll warten.« Jentzsch bediente sie gehorsam, und der Jude wartete.
Jetzt ist es gegen sieben Uhr, und die nächsten zwei Stunden wartet der Jude
wieder auf die (meist am Abend stattfindende) Haussuchung.

24

In dieser kleinen Anekdote wird Klemperer dem Antisemitismus des Alltags ausgesetzt.

Auf der Straße wird er von einer gewöhnlichen deutschen Frau erniedrigt. Sie ist

offensichtlich von der nationalsozialistischen Ideologie beeinflusst und zögert nicht ihre

antisemitischen Ideen in der Öffentlichkeit zu äußern. Die Wiedergabe ihrer Aussage

zwischen Anführungszeichen in direkter Rede verleiht ihrer Autorität noch größeren

Nachdruck. Auch der Kramhändler, mit dem Klemperer angeblich bekannt war

(unserem Wagenhändler), gehorcht der Frau unmittelbar, obgleich er die Karte

Klemperers schon in der Hand hatte. Das bedeutet aber nicht ohnehin, dass der Händler

mit dem Nationalsozialismus und dem Antisemitismus sympathisierte. Es ist eher

wahrscheinlich, dass er befürchtete, dass die Frau ihn angeben würde, wenn er ihr nicht

gehorchte. Klemperer fügt sich in sein Schicksal und wartet. Er ist sich der Gefahr (mit

gefährlich borniertem Gesicht) bewusst. Diese Stelle ist hoch ironisch. So verbindet er

das Adjektiv 'borniert', mit dem Substantiv 'Gesicht', was gewissermaßen fremd

anmutet. Die Borniertheit einer Person bezieht sich normalerweise auf den Geist, und

zeigt sich nicht im Gesicht. Aus ihren Worten, die Klemperer nach der Umschreibung

wiedergibt, kann man aber schließen, dass die Frau tatsächlich borniert ist. Die Gefahr

wird hier von Klemperer physiognomisiert, und so zu etwas real Bedrohendes und

Fassbares umgestaltet. Er übernimmt auch ironisch die Worte der Frau, die ihn als 'der

Jude' umschreibt. Diese ironische Aussage Klemperers bezieht sich auf die allgemeine

Tendenz des "Auf-einen-Nenner-Bringens", die Klemperer, wie wir noch sehen werden,

an verschiedenen Stellen beschreibt. Im Nationalsozialismus wurde das Individuum

bedroht und durch das Kollektiv ersetzt. Aus dieser Stelle gehen also die weit

verbreiteten Erniedrigungen hervor, denen 'der Jude' ausgesetzt war. Ebenso ironisch

erwähnt Klemperer in einem Atem die möglich bevorstehende Haussuchung am Abend.

24

Klemperer: Ich will Zeugnis ablegen. Band 5, S. 90.

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19

Die Haussuchungen bedeuteten für ihn eine der größten Gefahrenquellen. Wenn man

während einer Razzia die Manuskripte oder die Tagebuchnotizen entdeckt hätte, hätte

es ihm höchst wahrscheinlich den Kopf gekostet. Nicht nur sein Schicksal, sondern das

Schicksal von vielen wäre in diesem Fall besiegelt gewesen. Klemperer ist oft davor

gewarnt worden, in seinen Aufzeichnungen keine Namen zu nennen. Er hat aber immer

betont, dass er Namen nennen müsse, wenn er überzeugendes Zeugnis ablegen wollte.

In einem Eintrag am 27. September 1944 heißt es:

Meine Tagebücher und Aufzeichnungen! Ich sage mir wieder und wieder: Sie
kosten nicht nur mein Leben, wenn sie entdeckt werden, sondern auch Evas und
das mehrerer anderer, die ich mit Namen genannt habe, nennen mußte, wenn ich
dokumentarischen Wert erreichen wollte. Bin ich dazu gerechtigt, womöglich
verpflichtet, oder ist es verbrecherische Eitelkeit?

25

Trotz des Bewusstseins, dass er beim Schreiben nicht nur sich selbst, sondern auch die

Frau und viele Andere gefährdete, blieb Klemperer entschlossen Zeugnis abzulegen 'bis

zum letzten'. Eva brachte die Manuskripte nach Pirna, wo sie bei der befreundeten

Ärztin Annemarie Köhler versteckt und schließlich auch gerettet wurden. Viel wichtiger

an dieser Stelle ist aber die selbstreflexive Frage, ob er dazu gerechtigt oder verpflichtet

war. Nur selten hat Klemperer seine Mission, als Chronist der Nazizeit aufzutreten, in

Frage gestellt. An dieser Stelle zieht er den Nutzen und den Sinn des Schreibens aber in

Zweifel, weil er nicht mehr an das Fertigwerden der Arbeit glaubt: "Wenn es fertig

wird, und wenn es Erfolg hat, und wenn ich »in meinem Werk fortlebe« - welchen Sinn

hat das alles »an und für mich«?"

26

Der Zweifel wird aber gleich wieder

zurückgenommen in den folgenden Sätzen, indem er sie auf Folgendes gründet: "All

dies [...] schreib ich ja nur auf, weil ich kein leeres Blatt fortschicken will" und weiter

"weil ich ja doch nichts Besseres mit meiner Zeit anzufangen vermag".

27

Einerseits

nimmt Klemperer hier den eigenen Zweifel zurück, andererseits untergräbt er auch das

eigene Schreiben. Die Bedeutsamkeit des Tagesbuches wird komplett in Frage gestellt.

Angeblich nur aufgrund der Wirtschaftlichkeit und der Langeweile hat er diese

Gedanken zu Papier gebracht. Das Schreiben wird deshalb trivialisiert, aber auch

materialisiert, weil er kein 'leeres Blatt fortschicken will'. Klemperer weist manchmal

25

Klemperer: Ich will Zeugnis ablegen. Band 7, S. 133.

26

Klemperer: Ich will Zeugnis ablegen. Band 7, S. 133.

27

Klemperer: Ich will Zeugnis ablegen. Band 7, S. 133.

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20

auf die Schreibarbeiten als seine "Papiersoldaten" hin, die leitmotivisch in den

Tagebüchern auftauchen, zum Beispiel am 17. März 1943:

»Papiersoldaten« stehen am Anfang und am Ende meines Lebens. Das 18ième,
das Curriculum, die LTI – sie werden immer Papiersoldaten bleiben und genauso
verschwinden wie die wirklichen Papiersoldaten meiner Kinderzeit.

28

Er vergleicht seine Aufzeichnungen mit den Papiersoldaten, die er in seiner Kindheit

gemacht hat. Genauso wie die Soldaten seiner Kinderzeit, werden Klemperers Meinung

nach auch seine "armen Papiersoldaten des Dritten Reichs"

29

verschwinden und das

Regime nicht überleben. Obwohl er das Fertigwerden seiner Schreibarbeiten anhand der

leitmotivischen "Papiersoldaten" manchmal in Frage gestellt hat, ist er seiner Mission

als Chronist aber immer treu geblieben.

Trotz der ständigen Hinweise auf die Bedeutsamkeit des Alltags enthalten die

Tagebücher auch Informationen über die Makro-Geschichte. Die Einträge, die sich auf

die politisch-historische Lage beziehen, beruhen meistens auf Lageberichten, Zeitungen,

Rundfunksendungen oder Gerüchten. So stellt er beispielsweise am 2. Juni 1942 eine

Liste der Judenverordnungen zusammen. Zu der Liste fügt er noch bitter-ironisch hinzu:

Ich glaube diese 31 Punkte sind alles. Sie sind aber zusammen gar nichts gegen
die ständige Gefahr der Haussuchung, der Mißhandlung, des Gefängnisses,
Konzentrationslagers und gewaltsamen Todes.

30

Die Liste gibt dem Leser eine Idee, wie sehr die Juden unter der Judenverfolgung im

nationalsozialistischen Regime gelitten haben. Vor allem der Judenstern hat ihn

persönlich sehr gekränkt.

31

Außerdem sind die Anordnungen auch nachprüfbar und

spricht die Liste für die Authentizität der Tagebücher, weil einer solchen Liste das

Kriterium der Verifizierbarkeit unterlegen ist. Auch die kritische Haltung der Lage, den

Nachrichten, der Volksstimmung und sich selbst gegenüber trägt zum Geltungsanspruch

bei. Er ist sich immer völlig der Lügen in den Heeresberichten, als Teil der Propaganda,

bewusst. In einem Eintrag vom 19. April 1940 äußert er einige kritische Fragen,

nachdem er sich einen Heeresbericht im Rundfunk angehört hat.

28

Klemperer: Ich will Zeugnis ablegen. Band 6, S. 46-47.

29

Klemperer: Ich will Zeugnis ablegen. Band 7, S. 59.

30

Klemperer: Ich will Zeugnis ablegen. Band 5, S. 108.

31

Klemperer: Ich will Zeugnis ablegen. Band 5, S. 117.

"Und alle Welt mustert meinen Stern. Tortur – Ich kann mir hundertmal vornehmen, nicht darauf zu
achten, es bleibt doch Tortur. Auch weiß ich von keinem Vorübergehenden, Vorüberfahrenden, ob er
nicht zur Gestapo gehört, ob er mich nicht beschimpfen, anspucken, verhaften wird."

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21

Der Heeresbericht weiß immer von vernichteten englischen Kreuzern und nie von
eigenen Verlusten zu erzählen. Drei Kreuzer an einem Tag: das ist enorm; aber
wenn die deutschen Bomber so absolut unwiderstehlich sind, wieso hält überhaupt
noch eine Flotte Narvik blockiert, wie konnten englische Truppen nach Norwegen
gelangen, wieso gibt es noch ein unversehrtes Schiff in Scapa Flow??? Ich kann
gar nicht genug Fragezeichen tippen.

32

Klemperer kann dem deutschen Bericht nicht glauben, denn es gibt zu viele

Widersprüche, die die Wahrheit in Zweifel ziehen. Die Aussage 'Ich kann gar nicht

genug Fragezeichen tippen' bringt die kritische Haltung wörtlich zum Ausdruck.

Außerdem kann man diesen Satz wiederum als Materialisierung des Schreibens

betrachten. Die Kritik an den Bericht wird, genauso wie der Sinn des Schreiben bevor,

in der Darstellung materialisiert, und so zu etwas Reales und Fassbares umgeformt. In

den Tagebüchern kann man ständig solche Stellen finden, in denen Klemperer die

Wahrhaftigkeit von Berichten und Gerüchten durch Fragezeichen anzweifelt.

Besonders der Ausdruck "Wieso?" wird sehr oft zwischen Klammern nach einer

Aussage verwendet. In seiner Suche nach der wahren Lage Deutschlands stieß er immer

wieder auf Gegensätze und Widersprüche und herrschte völlige Ungewissheit.

Neben solchen Interjektionen, gibt es in den Tagebüchern noch andere strukturelle

und sprachliche Merkmale, an denen die Authentizität geprüft werden kann. Die

Abwechslung von Innerlichkeit mit Öffentlichkeit (Mikro-Geschichte mit Makro-

Geschichte) führt schon dazu, dass man an die Wahrhaftigkeit der Darstellung in den

Tagebüchern zu glauben vermag, weil sie dem Leser ein Gesamtbild präsentieren. In

diesem Abschnitt wurde die Innerlichkeit mit den Details des Alltags gleichgesetzt,

während die Öffentlichkeit sich auf die historische Lage bezog. Diese Zweiteilung kann

man aber auch auf die innere Perspektive und die äußere Perspektive anwenden, auf

denen im zweiten Kapitel weiter eingegangen wird. Im Folgenden wird aber zunächst

eine Untersuchung von der Bedeutsamkeit der Struktur und Sprache und von ihrem

Einfluss auf die Funktion der Zeugenschaft unternommen.

32

Klemperer: Ich will Zeugnis ablegen. Band 4, S. 13.

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22

1.1.3 - Struktur und Sprache

Im vorigen Abschnitt habe ich den dialektischen Charakter von Innerlichkeit und

Öffentlichkeit, der als Merkmal der Gattung des Tagebuchs betrachtet werden kann,

dargestellt. Das wichtigste Merkmal ist aber die enge Bindung an den Tag, die große

Folgen für die Struktur innehat. Meike Heinrich-Korpys deutet auf die Bedeutsamkeit

dieser Bindung an die erlebte Gegenwart hin. Da der zeitliche Abstand zwischen

Erlebnis und Aufzeichnung so gering ist, wird das Erlebte "spontan und unmittelbar

festgehalten und unterliegt noch kaum einer retrospektiven Bearbeitung".

33

Da der

Tagebuchschreiber von Tag zu Tag die Erlebnisse einträgt, reflektiert ein einzelner

Eintrag nur den Standpunkt dieses Tages.

Natürlich hindert ihn das nicht, diesen engen Zeitraum zu verlassen. [...]Aber
indem er es tut, kann er nur vom Standpunkt des Tages ausgehen; am Folgenden
Tag glaubt er sich vielleicht schon geirrt zu haben und kommt beim Nachdenken
über dasselbe Thema zu ganz anderen Ergebnissen. Er ist also nicht in den Daten
selbst, die er notiert, wohl aber in der Interpretation dieser Daten an den Tag, oder
besser: an den Augenblick gefesselt.

34

Die Einsichten und Interpretation eines Geschehens können im Tagebuch also von Tag

zu Tag modifiziert werden, weil das Tagebuch an die chronologische Zeitstruktur des

Alltags gebunden ist. Dieser Tatsache war sich auch Klemperer bewusst:

Ich notiere bisweilen ein Stichwort, aber am nächsten Tag erscheint es unwichtig,
in Tatsache und Stimmung überholt. Aber die wechselnden Details des Alltags
sind doch gerade das Wichtigste.

35

In diesem Eintrag vom 10. Dezember 1940 betont Klemperer nochmals die Wichtigkeit

des Alltags. Jeden Tag bringt neue Erlebnisse und Einsichten mit sich, und gerade diese

will er in seinem Tagebuch festhalten. Sowohl die rasch ändernden Umstände

(Tatsache) als auch ihrer Wirkung auf die Bevölkerung (Stimmung) sind am nächsten

Tag schon ganz anders (überholt). Dadurch, dass er sich der immer wieder ändernden

Einsichten bewusst ist, kann man sich fragen, ob Klemperer in diesem Bewusstsein

versucht hat, eine gewisse Kohärenz zwischen den einzelnen Teilen zu stiften. Heinrich-

Korpys behauptet, dass es sich im Tagebuch um geschlossene Mikrotexte handelt, die

33

Heinrich-Korpys: Tagebuch und Fiktionalität, S. 86.

34

Heinrich-Korpys: Tagebuch und Fiktionalität, S. 87.

35

Klemperer: Ich will Zeugnis ablegen. Band 4, S. 61.

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23

zusammenhangslos hintereinander gestellt sind.

36

Auch Arno Dusini hebt hervor, das

der Tag als "relativ autonome und insofern über einen eigenen Spielraum verfügende

Texteinheit" fungiert.

37

Beide Forscher beschäftigen sich aber mit der Struktur des

Tagebuchs aus dem Standpunkt der Produktion. Wenn man die Struktur der Tagebücher

Klemperers aber aus dem Standpunkt der Rezeption betrachtet, stellt man fest, dass die

einzelnen Abschnitte zwar von Zeit- und/oder Ortsangaben voneinander abgesetzt sind,

sie bleiben jedoch nicht bloß fragmentarisch. Die Tagebücher weisen eine Kontinuität

und Kohärenz auf, da dieselbe Themen konsistent in den Einträgen wiederkehren, sowie

die Judenverfolgung, die Volksstimmung, das Schreiben, die Mangelerscheinungen,

usw. Die wechselnden Stimmungen und Einsichten tun dabei der Kohärenz keinen

Abbruch, tragen aber, wie Klemperer auch selber hervorhebt, zur authentischen

Wiedergabe des Alltagserlebens bei, weil die Abfolge einzelner Mikrotexte sich so zu

einer Gesamtstruktur entwickelt.

In Bezug auf die Sprache haben wir schon festgestellt, dass Klemperer in den

Tagebüchern angeblich objektiv und faktisch berichtet. Soll man aber deswegen ohne

weiteres den Einträgen trauen, oder ist einige Vorsicht geboten? In der neueren

literaturwissenschaftlichen Forschung hat besonders W.G. Sebald sich mit dieser Frage

auseinandergesetzt. In Luftkrieg und Literatur behauptet er, dass die meisten

Zeugenberichte unzuverlässig sind. Die Überlebenden verlieren nach einer Katastrophe

nicht selten ihre Erinnerungsfähigkeit, sodass sie das Erlebnis nicht wahrheitsgetreu

aufzeichnen oder weitererzählen können. Sebald kommt zu dieser These, nachdem er

festgestellt hat, dass die Zeugen meistens auf stereotype Sprachformeln, die die Realität

der Katastrophe verdecken, zurückgreifen. So weist er darauf hin, dass sich bei

Zeugenberichten von Luftangriffen Sprachformeln, wie 'es brannte lichterloh', 'die Hölle

war los', oder 'das furchtbare Schicksal der deutschen Städte' immer wiederholen.

38

Solche Aussagen scheinen ihm dann auch vorgeprägt und "eine Wiederholung des

Immergleichen" zu sein.

39

Da sie auch oft zu dem Bereich der abstrakten, symbolischen

oder metaphysischen Sprache gehören, kann Sebald der Authentizität der

Zeugenberichte nicht trauen. Auch in Klemperers Tagebüchern ist die Beschreibung

36

Heinrich-Korpys: Tagebuch und Fiktionalität. S. 88.

37

Dusini: Tagebuch. Möglichkeiten einer Gattung, S. 108.

38

W.G. Sebald: Luftkrieg und Literatur. München: Hanser 1999, S. 33.

39

Sebald: Luftkrieg und Literatur, S. 93.

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24

eines Luftangriffes vorhanden. Er hat den Bombenangriff auf Dresden in Februar 1945

erlebt und überlebt und in dem Tagebuch davon berichtet. Der Bericht ist eine Woche

nach der Katastrophe aufgezeichnet worden, nachdem Klemperer und seine Frau aus

Dresden geflohen und in Sicherheit geraten waren. Die Zeitspanne zwischen dem

Erleben und der Aufzeichnung hat es Klemperer erlaubt, sich retrospektive Gedanken

zu machen und die Katastrophe zu interpretieren. Deshalb konnte er dem üblichen

Tagebuchstil auch einigermaßen verlassen. So weist der Anfang des Berichts einige

Vorausdeutungen auf, die in der Gattung des Tagebuches normalerweise durch die enge

Bindung an den Alltag unmöglich sind.

Da kam Vollalarm. »Wenn sie doch alles zerschmissen!« sagte erbittert Frau
Stühler, die den ganzen Tag herumgejagt war, und offenbar vergeblich, um ihren
Jungen freizubekommen. – Wäre es nun bei diesem ersten Angriff geblieben, er
hätte sich mir als der bisher schrecklichste eingeprägt, während er sich jetzt, von
der späteren Katastrophe überlagert, schon zu allgemeinem Umriß verwischt.

40

Tags vor der Katastrophe hatte Klemperer den zu deportierenden Juden in Dresden den

Brief der "Evakuierung" übergeben müssen. Fast alle übrig gebliebenen Juden sollten

evakuiert werden, sowie Frau Stühlers Sohn. Ihr Ausruf »Wenn sie doch alles

zerschmissen!« wurde tragischerweise einige Minuten später Wirklichkeit. Die Tragik

der Lage wird durch die Wiedergabe des Ausrufs in direkter Rede noch verstärkt. Auch

die darauf folgende Vorausdeutung Klemperers bereitet den Leser auf die Furchtbarkeit

der Katastrophe vor und prägt sich dem Leser unauslöschlich ein. In der Beschreibung

des zweiten Alarms hat eine vorausdeutende Interjektion die gleiche Wirkung auf den

Leser: "Wir standen auf, Frau Stühler rief an unserer Tür »Alarm«, Eva klopfte bei Frau

Cohn an – von beiden haben wir nichts mehr gehört – und eilten hinunter."

41

Das

Einschiebsel 'von beiden haben wir nichts mehr gehört' hat, wie gesagt, an dieser Stelle

eine vorausdeutende Funktion. Der Leser bekommt, genauso wie bei der vorigen

Vorausdeutung, das Gefühl, im Folgenden zum Zeugen eines unfassbaren

Geschehnisses zu werden. Beim Berichten des Bombenangriffs, reißt Klemperer den

Leser Schritt für Schritt in die Katastrophe ein. In der Beschreibung der brennenden

Stadt verwendet er einige Sprachformeln, die auch Sebald erwähnt hat. Ausdrücke wie,

"es brannte lichterloh", "glühte dunkelrot"

42

, oder "brannte silberblendend"

43

können

40

Klemperer: Ich will Zeugnis ablegen. Band 8, S. 31.

41

Klemperer: Ich will Zeugnis ablegen. Band 8, S. 32.

42

Klemperer: Ich will Zeugnis ablegen. Band 8, S. 35.

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25

tatsächlich auf eine Art Ästhetisierung in der Darstellung der Vernichtung hindeuten. So

verwendet Klemperer auch ständig die Formel "es war taghell". In diesem Sinne hat

Sebald also Recht. Solche Ausdrücke bringen aber auch die absolute Zerstörung

Dresdens zum Ausdruck. Die Wiederholung dieser Ausdrücke in der Beschreibung

weckt den Eindruck der aufrichtigen Angst und tiefster Erschütterung. In den

Tagebüchern wollte Klemperer zeigen, wie die Vorgänge "auf den gehetzten, ständig

vom Tode bedrohten Menschen wirkten", denn die öffentlichen Vorgänge selber

"könnte man später die Zeitungen entnehmen",

44

und zur Wiedergabe der Eindrücke

eignen sich die Sprachformeln allerdings. Bei der Darstellung der Dresdner Vernichtung

im Tagebuch lässt Klemperer sich mal nicht von den objektiven Beobachtungen, sogar

Studien, wie an anderen Stellen des Tagebuches, leiten, sondern wird er von den

eigenen Ängsten, Gefühlen und Instinkten geführt. Im Gegensatz zur Sebalds

Behauptung, schadet der Gebrauch der Sprachformel der Authentizität des Berichtes

meiner Meinung nach nicht. Außerdem soll man in Acht nehmen, dass solche

Sprachformeln Teil einer sprachlichen Kultur sind. Wenn man, wie Klemperer,

Erinnerungen weitergeben will, greift man auf die Struktur einer Geschichte zurück.

Harald Welzer hebt hervor, dass "schon die Geschichten, deren Elemente ausgeborgt

werden, [...] Teil eines sozialen, kulturellen und historischen intertextuellen Gewebes"

sind

45

, und "indem man das Gedächtnis bzw. die Erinnerung für eine diskursive

Leistung hält, schlägt man auch vor, 'ein Gedächtnis' zu haben hieße, an einer

kulturellen Tradition teilzuhaben".

46

Das bedeutet also, dass die Sprachformeln als Teil

einer Kultur logischerweise beim Erzählen einer (traumatischen) Geschichte

wiederkehren, und demzufolge als "Wiederholung des Immergleichen"

47

erscheinen. Als

Beweis der Unwahrhaftigkeit gelten sie dann nicht. Klemperer selber bedauerte es aber

im Rückblick, dass er sich während des Bombenangriffs, im Gegensatz zu seiner Frau,

so wenige Gedanken gemacht und so wenig beobachtet hat.

43

Klemperer: Ich will Zeugnis ablegen. Band 8, S. 36.

44

Victor Klemperer: Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1942-1945. Hg. von Walter

Nowojski. Berlin: Aufbau 1995, S. 866.

45

Harald Welzer: Das kommunikative Gedächtnis. Eine Theorie der Erinnerung. München: Beck 2005,

S. 201.

46

Welzer: Das kommunikative Gedächtnis, S. 186.

47

Sebald: Luftkrieg und Literatur, S. 93.

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26

Ich dachte gar nichts, es tauchten nur Fetzen auf. Eva – warum sorge ich mich
nicht ständig um sie – warum kann ich nichts im Einzelnen beobachten, sondern
sehe nur immer das Bühnenfeuer zur Rechten und Linken, die brennenden Balken
und Fetzen und Dachsparren in und über den steinernen Mauern? [...] Aber die
meiste Zeit stand ich wie im Halbschlaf und wartete auf die Dämmerung.

48

Die Fragen, die Klemperer sich hier stellt, und seine Reaktionen während des

Bombenangriffs sind natürlich völlig normal. Das Bild der zerstörten Stadt war für ihn

ein harter Schlag. Er war so von der brennenden Stadt, von dem Sturmwind und der

ganzen Lage beeindruckt, dass er nicht gedacht, sondern gehandelt hat. Der Trieb zum

Überleben kam an erster Stelle. Nur wenn er selbst in Sicherheit geraten war, kamen

ihm allmählich Gedanken und fragte er sich, was mit Eva wäre. Später verweist er auf

diese Gedanken als Gewissensstiche, weil er sich zu wenig um Eva gekümmert zu

haben glaubte. Es stellt sich aber heraus, dass die Gewissensstiche umsonst waren, denn

"Eva hat sich viel besser gehalten als ich, viel ruhiger beobachtet und sich selber

dirigiert."

49

In einem Vergleich behauptet er: "Der Unterschied: Sie handelte und

beobachtete, ich folgte meinem Instinkt, anderen Leuten und sah gar nichts."

50

Diese

Aussage kommt der angeblichen Authentizität des Ganzen offensichtlich nicht zugute.

Wie kann er eine wahrhafte Beschreibung der Katastrophe geben, wenn er selber

behauptet, dass er gar nichts gesehen hat? Deshalb kann man sich fragen, ob Klemperer

wirklich die Zeit 'im Halbschlaf' verbracht hat, ohne etwas beobachten zu können. Nur

wenn man diese Aussage Klemperers glaubt, wäre es möglich, dass er die Lücken in

den Erinnerungen mit Erfindungen eingefüllt hat.

In Bezug auf Sebalds These soll auch auf die Ästhetisierung des Geschehens

hingewiesen werden. Wie schon erwähnt, gehört die Umschreibung der Dresdner

Vernichtung nicht zu dem üblichen Tagebuchstil Klemperers. Wenn Klemperer nach

dem Angriff das Judenhaus, seine damalige Wohnung, aufsucht, schreibt er:

Die Zeughausstraße 3 war ein einziger Geröllhaufen, von der Zeughausstraße 1
stand, der Stadt zugekehrt, ein Vordernpfeiler mit einem Stückchen Mauer
galgenartig daran hängend. Das ragte gespenstisch und gefährlich und verstärkte
nur das Bild der absoluten Zerstörung.

51

48

Klemperer: Ich will Zeugnis ablegen. Band 8, S. 35.

49

Klemperer: Ich will Zeugnis ablegen. Band 8, S. 36.

50

Klemperer: Ich will Zeugnis ablegen. Band 8, S. 36.

51

Klemperer: Ich will Zeugnis ablegen. Band 8, S. 36.

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27

Solche Umschreibungen stimmen nicht mit dem überwiegend faktischen, objektiven

Stil in den Tagebüchern überein. Es gibt zwar die Ortsangaben, aber die Darstellung der

Ruine und die Verwendung der Adverbien 'galgenartig' und 'gespenstisch' muten eher

als Ästhetisierung an, als dass sie zu dem berichtenden, objektiven Stil eines Zeugnisses

gehören. Auch die darauf folgenden Einträge in Bezug auf die Flucht durch Sachsen

und Bayern, die sehr idyllisch dargestellt wird, zeigen mehrere Züge eines eher

literarischen Stils.

Weiter findet noch eine andere Art von Ästhetisierung an anderen Stellen der

Tagebücher statt. So kommen einige Sprichwörter und Redensarten wiederholt wieder.

Hans Reiss verweist nach solchen Redensarten als Klischees und behauptet, dass

Klemperer sie wo möglich zu vermeiden versucht hat.

52

Trotzdem findet man sie ständig

in den Tagebüchern wieder, und kann man sich vielleicht eher mit der These von

Wolfgang Mieder einigen. Er hebt hervor, dass Klemperer "at times consciously uses

language clichés in actual series to enhance the stylistic value of his report".

53

Klemperer spielt in den Tagebüchern in verschiedenen Kontexten mit Sprichwörtern

und Redensarten herum. Das Herumspielen mit Wörtern und Ausdrücken führen zu

bestimmten Interpretationsmöglichkeiten und Effekten. Besonders im Bereich der

Politik wird dieses Spiel sichtbar. Am 2. Oktober 1938 notierte Klemperer:

Mir geht ein Ausdruck durch den Kopf, den man seit ein paar Jahren andauernd
hört: »Man weiß nicht, was gespielt wird.« Politik ist mehr als jemals das
Geheimspiel weniger Leute geworden, die über Millionen Menschen entscheiden
und behaupten, das Volk zu verkörpern. Grammatikalisierte Verzweiflung,
unbewußte Verzweiflung. Aber aus Bernardin de Saint-Pierre zitiere ich: »Wenn
die Regierung korrupt ist, so ist das korrumpierte Volk daran Schuld«.

54

Von dem Ausdruck "Man weiß nicht, was gespielt wird" aus macht Klemperer sich

Gedanken über die politische Lage. Die Verzweiflung des Volkes kommt

grammatikalisch zum Ausdruck. Laut Mieder erlauben solche Ausdrücke Klemperer "to

vent his anger about the steadily deteriorating situation".

55

Sie fungieren also als Ventil

für seine Frustrationen. Interessant an dieser Stelle ist auch, dass Klemperer nicht an

eine unbewusste Verzweiflung glaubt, und deshalb schon 1938 die kollektive Schuld

52

Reiss: "Victor Klemperer. Reflections on his Third Reich Diaries", S. 67.

53

Wolfgang Mieder: "In Lingua Veritas: Proverbial Rhetoric in Victor Klemperer’s Diaries of the Nazi

Years (1933-1945)". In: Western Folklore 59 (2000), S. 6.

54

Klemperer: Ich will Zeugnis ablegen. Band 3, S. 103.

55

Mieder: "In Lingua Veritas", S. 10.

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28

der Deutschen zu anerkennen scheint. Dieses Thema wird aber im letzten Kapitel noch

weiter behandelt. Neben solchen Ausdrücken auf der politischen Ebene gibt es auch

viele Anspielungen auf Sprichwörter, um die eigene grausame, beharrliche Situation in

Worte zu fassen. Mieder deutet darauf hin, dass Klemperer dafür verschiedene

somatische Ausdrücke verwendet.

56

So benutzt Klemperer beispielsweise ständig

Ausdrücke, die auf den Kopf verweisen, sowie "den Kopf riskieren", "den Kopf kosten"

und "um den Kopf handeln". Solche Hinweise deuten natürlich direkt auf die

lebensbedrohende Lage Klemperers hin. Am 1. Juli 1942 berichtete er im Tagebuch:

"Eva ist mit immer mehr Gängen abgehetzt. – Für Frau Pick riskiert sie buchstäblich

ihren Kopf, nein, unsere Köpfe. (»Für deine Manuskripte auch«, erwidert sie auf

Vorhaltung.)"

57

Laut Mieder verstärkt das Hinzufügen von 'buchstäblich' die Tatsache,

dass der Ausdruck "den Kopf riskieren" nicht nur ein Klischee ist.

58

Die Gefahr für Eva

war tatsächlich und wörtlich so groß, dass es zu ihrem und Klemperers Tod führen

könnte. Das Wort 'buchstäblich' kommt nicht nur in diesem Eintrag vor. In den

Tagebüchern wird es andauernd verwendet, als ob Klemperer unterstreichen wollte,

dass er die Schrecklichkeit der Lage auf keinen Fall übertrieben, sondern wahrhaft

dargestellt hat. Außerdem kann es der Tatsache Nachdruck verleihen, dass die

metaphorische Bedeutung von Kopf hier verloren geht. Es geht um eine wirkliche

Gefahr, die permanent anwesend und tödlich ist. Das gilt auch für die Verwendung des

Ausdrucks "den Kopf kosten", wie in einem Eintrag aus dem Jahr 1944:

Von Stern und Frau Stühler hörte ich die neuesten Zeitwitze. Der Unterschied
zwischen Japan und dem Volkssturm: Japan das Land des Lachens; der
Volkssturm das Lächeln des Landes. - »Als Heß ging, das war häßlich; ginge Ley,
das wäre leidlich; ginge Himmler, es wäre himmlisch.« - Es ist wohl nicht ohne
Wert, solche Witze für LTI zu notieren: denn wer wagt, so etwas aufzuschreiben?
Es kann ja den Kopf kosten.

59

Auch an dieser Stelle soll man den Ausdruck eher wörtlich als figürlich interpretieren.

Ebenso deutet Klemperer selber auf den Wert der Zeitwitze hin. Die Bedeutsamkeit der

Witze besteht darin, dass sie meistens indirekt Kritik an das Regime enthalten.

60

Sein

linguistisches Interesse hat ihn dazu angetrieben, trotz der Gefahr die Witze in das

56

Mieder: "In Lingua Veritas", S. 20.

57

Klemperer: Ich will Zeugnis ablegen. Band 5, S. 150.

58

Mieder: "In Lingua Veritas", S. 21.

59

Klemperer: Ich will Zeugnis ablegen. Band 7, S. 171.

60

Mieder: "In Lingua Veritas", S. 14.

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29

Tagebuch aufzunehmen, weil sie eine wichtige Quelle für seine psycholinguistische

Analyse der Sprache unter dem Naziregime waren. Eine positivere Bedeutung hat der

Ausdruck "Kopf hoch". Klemperer begegnete auf der Straße mehrmals Leuten, die ihm

Mut zusprachen, nachdem sie seinen Judenstern bemerkt hatten. Am 16. April 1943

berichtete Klemperer von solcher Begegnung:

Darauf er: »Diese verfluchten Schweine – was sie mit den Leuten machen – in
Polen – ich hab’ auch eine Wut auf sie. Kopf hoch, das bleibt nicht ... noch einen
Winter können sie in Rußland nicht aushalten – Kopf hoch, es kommt anders ...«

61

Aufs Neue behauptet Mieder, dass die Redewendung nicht als "mere popular cliché"

betrachtet werden soll.

62

Sie bringt die Solidarität mit den Juden zum Ausdruck und

zeigt uns das Mitleid mit Juden vonseiten einigen Deutschen. Solche Solidarität soll auf

Klemperer Eindruck gemacht haben. Die Redewendung scheint ihm dabei zu helfen,

mit der eigenen Lage umzugehen. Obwohl man von einem Literaturwissenschaftler eher

abstrakte Erklärungen erwarten würde, versucht Klemperer mit den Sprichwörtern und

Redensarten, die leitmotivisch in die Tagebücher auftauchen, die Lage und das eigene

Schicksal anhand populärer Ausdrücke darzustellen und zu erklären.

63

Die absichtliche

Verwendung solcher Ausdrücke verleiht Klemperers Zeugnis noch mehr Nachdruck

und gefährdet die Glaubwürdigkeit auf keinen Fall. Von der Sprache ging Klemperers

Meinung nach eine starke Kraft aus. Die Sprache fungiert laut Klemperer als Spiegel

der Geschehnisse. Ein Eintrag vom 31. März 1942 kommentiert die Propaganda der

Nationalsozialisten und hebt Klemperers Meinung zu Sprache stark hervor.

Die Sprache bringt es an den Tag. Bisweilen will jemand durch Sprechen die
Wahrheit verbergen. Aber die Sprache lügt nicht. Bisweilen will jemand die
Wahrheit aussprechen. Aber die Sprache ist wahrer als er. Gegen die Wahrheit der
Sprache gibt es kein Mittel.

64

Die umgestaltete Redewendung "die Sprache bringt es an den Tag"

65

und die

wiederholte

Verbindung

von

Sprache

mit

Wahrheit

zeigen

Klemperers

61

Klemperer: Ich will Zeugnis ablegen. Band 6, S. 54.

62

Mieder: "In Lingua Veritas", S. 23.

63

Mieder: "In Lingua Veritas", S. 25.

64

Klemperer: Ich will Zeugnis ablegen. Band 5, S. 58.

65

Mieder: "In Lingua Veritas", S. 7.

"Klemperer's phrase is a variation of the Grimm fairy tale title 'The Clear Sun Brings It to Light" (i.e.,
Truth will out) (cf. Kamenetsky 1984, Mieder 1996). It should be added that Klemperer possibly was
familiar with the ballad-style fairy tale version "The Sun Brings It to Light" ("Die Sonne bringt es an den
Tag") by Adalbert von Chamisso (1831), where the proverb is repeated at the end of each of the 14
stanzas as a leitmotif of warning (Mieder 1979:39-41 and 79-81)"

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30

unerschütterlichen Glauben an die Sprache, die seiner Meinung nach nur die Wahrheit

aussagen kann. Verschiedene anderen Forscher, sowie Hayden White und Dori Laub,

die sich mit Zeugnissen traumatischer Erlebnisse auseinandergesetzt haben, haben

einige interessante Thesen in Bezug auf Erlebnis und Sprache ausgearbeitet, die für die

Suche nach der Authentizität der Tagebücher wichtig sein können.

Erstens kann man bemerken, dass das Verhältnis zwischen Erinnerung und der

Form ihrer Sprache nie eins zu eins ist. Sobald man über etwas eine Aussage macht,

werden die Erinnerung und damit die Realität verformt. Mit der Verwendung der

Sprache wird das Geschehen interpretiert und ändert sich die Realität der Erinnerung.

Da man ein Erlebnis mit Sprache nie genau ausdrücken kann, kann ein Zeugnis oder ein

Bericht eines traumatischen Ereignisses nie eine exakte Wiedergabe des Geschehens

sein. Aus diesem Grund führt die Umsetzung von Erinnerung in Sprache nicht

unbedingt zu unglaubwürdigen Zeugnissen und Berichten. In Zeugen der Zerstörung

hebt Volker Haage hervor, dass die einzelnen Schicksale so deprimierend, die Masse

der Toten so erdrückend waren, dass davon Zeugnis abzulegen für Zeugen und

Schriftsteller eine fast unmögliche Aufgabe war.

66

Die Ästhetisierung, die in vielen

Berichten auftritt, ist dann nur ein Schritt in dem Versuch, die grausame Wirklichkeit in

Worte zu fassen. Dass man dabei immer wieder dieselben Sprachformeln verwendet tut

der Zuverlässigkeit der aufgezeichneten Erlebnisse nicht unbedingt Abbruch.

Eva Zeller behauptet in Bezug auf dieses Problem, dass es nicht klar sei, was

zuverlässig aus dem Gedächtnis abrufbar ist.

67

Die Unvollkommenheit der Erinnerung

ist schon oft bedauert worden. Man soll aber nicht nur in Acht nehmen, was das

Gedächtnis freigibt, sondern auch was es verdrängt. Im Tagebuch ist dabei aber die

geringe Zeitspanne zwischen Erlebnis und Aufzeichnung nicht zu vernachlässigen. In

den Tagebüchern Klemperers kann man beispielsweise feststellen, dass die Erinnerung

noch sehr lebendig ist. Außerdem beschränkt sich das Tagebuch auf Reflexionen und

Fakten aus dem eigenen Leben, ohne Fiktives hinzuzufügen. Bei der Autobiographie ist

das erzählende Ich eine Kunstfigur; der Tagebuchschreiber kann aber nicht als eine bloß

fiktive Figur betrachtet werden. Die Lücken im Gedächtnis werden nicht von Fiktion

66

Volker Haage: Zeugen der Zerstörung. Die Literaten und der Luftkrieg. Frankfurt am Main: Fischer

2003, S. 128.

67

Eva Zeller: Die Autobiographie. Selbsterkenntnis – Selbstentblößung. Stuttgart: Franz Steiner 1995, S.

7.

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31

aufgefüllt. Klemperer selber hat sich nach dem Kriegsende auch für das Problem der

Erinnerung und der Wahrheit interessiert. Er fragt sich:

Wieweit wird nur der Mantel nach dem Wind gedreht, wieweit darf man trauen?
Jetzt ist jeder hier immer Feind der Partei gewesen. Aber wenn sie es wirklich
immer gewesen wären ...

68

Klemperer ist sich natürlich dessen bewusst, dass es sich hier nicht um die Wahrheit

handelt. Die Verwendung des Sprichwortes "den Mantel nach dem Wind drehen" kann

als Zeichen dafür betrachtet werden, dass Klemperer weiß, dass viele Deutschen, die es

nach dem Kriegsende verneinten, mit dem Nationalsozialismus sympathisiert oder sogar

aktiv an der Naziterror teilgenommen haben. Die Frage bleibt dann, wieweit die Leute

selbst geglaubt haben, dass sie dem nationalsozialistischen Regime immer feindlich

gewesen sind. Am 25. Mai 1945 sagt eine Frau in einem Gespräch mit Klemperer:

»Was ist eigentlich >Gestapo<, ich habe das nie gehört. Ich habe mich nie um
Politik gekümmert, ich weiß nichts von den Judenverfolgungen....« etc. Ist dieses
Nichtwissen wahr oder erst jetzt eingetreten? [...] Was an diesem Nichtwissen ist
Wahrheit?

69

Es ist Klemperer unklar, ob es überhaupt möglich ist, dass eine deutsche "arische" Frau

nichts von den Grausamkeiten der Gestapo und den Judenverfolgungen gewusst hat.

Über dieses "wir haben es nicht gewusst" hat es schon viele Debatten gegeben. Den

Beitrag der Tagebücher zu dieser Debatte werde ich aber im letzten Kapitel weiter

erklären. Wichtiger an dieser Stelle ist, dass Klemperer zwischen wahr oder 'erst jetzt

eingetreten' unterscheidet. Er kreiert sozusagen eine Stufe zwischen wahr und unwahr

und scheint so der Meinung zu sein, dass ihr Wissen und Gedächtnis sich nach dem

Zusammenbrechen des Regimes allmählich verwischt habe.

Zeller deutet noch darauf hin, dass beiden Lebensberichten, sowohl Tagebuch als

auch Autobiographie, trotz der Unvollkommenheit der Erinnerung als historische

Quellen immer wertvoll sind. Auch wenn die Fakten nicht immer der Realität

entsprechen, vermitteln sie jedoch die Atmosphäre eines Zeitabschnittes.

70

In der

Amerikanischen Forschung hat Hayden White sich mit der Geschichtsschreibung

auseinandergesetzt. In Metahistory hebt er hervor, dass es in Zeugnissen, als sprachliche

Wiedergabe der Vergangenheit, nicht um die historischen Fakten dreht, sondern um die

68

Klemperer: Ich will Zeugnis ablegen. Band 8, S. 131.

69

Klemperer: Ich will Zeugnis ablegen. Band 8, S. 167.

70

Zeller: Die Autobiographie. Selbsterkennung - Selbstentblößung, S. 8.

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32

verschiedenen Interpretationen der Vergangenheit. Laut White, kann man in der

Geschichte nie die Wahrheit finden. Nicht die Vergangenheit und die Geschichte an

sich sind seiner Meinung nach am Wichtigsten, sondern die Juxtaposition der

verschiedenen Ansichten von einem Geschehen.

71

Diesen Standpunkt vertritt auch der

amerikanische Psychoanalytiker Dori Laub in "Truth and Testimony: The Process and

the Struggle".

72

Laub betont die Bedeutsamkeit der Zeugnisse, weil die Erfahrung den

Fakten zu bevorzugen ist. In einem Zeugnis ist dann, wie es für die Zeugen fühlte,

wichtiger, als wie es wirklich war. Aus diesem Grund kann man auch die Tagebücher

Klemperers als historische Quelle Ernst nehmen. Die Beobachtungen und das Zeugnis

werden von Laub aber wiederum problematisiert, weil er behauptet, dass dem Holocaust

"a collapse of witnessing"unterliegen ist:

73

History was taking place with no witness: it was also the very circumstance of
being inside the event that made unthinkable the very notion that a witness could
exist. [...] The historical imperative to bear witness could essentially not be met
during the actual occurrence
.

74

Laub definiert an dieser Stelle die Unfähigkeit, ein Geschehnis im Moment des

Geschehens vollkommen zu bezeugen. In diesem Sinne fehlt es dem Holocaust an

Zeugen. Die Nationalsozialisten haben versucht, alle Beweise zu verwischen, wenn

ihnen die Niederlage klar wurde. Und den Opfern fehlte eine Übersicht des Geschehens,

weil sie mitten drin waren. In verschiedenen Einträgen der Tagebücher weist auch

Klemperer auf die Unfähigkeit, Geschichte zu schreiben, wenn man Teil der Geschichte

ist, hin. Am 31. Januar 1938 notierte er:

Wie kommt Geschichte zustande? [...] Was weiß ich von selbst erlebter
Geschichte? Ich war im Kriege, ich habe die Revolution und das dritte Reich aus
allernächster Nähe erlebt – que sais-je? Und wer weiß mehr?

75

Dieses "que sais-je?" findet man in den Tagebüchern als eines der Leitmotive wieder.

Die Unsicherheit und das Unwissen werden immer wieder betont. Gerade die Hinweise

auf das Unwissen über die Lage geben dem Tagebuch einen authentischen Charakter.

So heißt es am 19. März 1942: "Que sais-je? Von der Vergangenheit weiß ich nichts,

71

Hayden White: Metahistory. The historical Imagination in Nineteenth-Century Europe.

Baltimore/London: John Hopkins University Press 1973, S. 274-277.

72

Dori Laub : "Truth and Testimony. The Process and the Struggle." In: Trauma: Explorations in

Memory. Hg. von Cathy Caruth. Baltimore: John Hopkins University Press 2004.

73

Laub: "Truth and Testimony", S. 6.

74

Laub: "Truth and Testimony", S. 7.

75

Klemperer: Ich will Zeugnis ablegen. Band 3, S. 72.

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33

weil ich nicht dabeigewesen bin; und von der Gegenwart weiß ich nichts, weil ich

dabeigewesen bin".

76

Genauso wie Dori Laub geht Klemperer davon aus, dass man von

der selbst erlebten Geschichte nichts wissen kann, weil man keinen Abstand von der

Gegenwart nehmen kann. Man kann das Ganze nicht durchschauen, denn man ist von

der Unwissenheit der Gegenwart begrenzt. So sagt Klemperer 1938: "Was ist wirklich,

was geschieht? So erlebt man Geschichte. Wir wissen vom Heute noch weniger als vom

Gestern und nicht mehr als vom Morgen".

77

Auch wenn Klemperer sich von der großen

Geschichte kein Bild machen kann, kommt das Erlebnis des Alltags stark zum

Ausdruck. Er weiß nichts vom Heute, denn ihm fehlt der Überblick. Er kommt nicht

dazu, die erlebte Geschichte hinreichend zu interpretieren. Trotzdem kommt in den

Tagebüchern durch die Anekdoten und Alltagserlebnisse die erlebte Geschichte

zustande. So beruht die Authentizität auf der "Perspektivisierung des Erlebten".

78

Wir können also schließen, dass die erste Funktion der Tagebücher, die

Zeugenschaft, erfüllt ist. Sowohl die Objektivität oder Faktizität, als auch der Dialog

von Persönlichem mit Historischem und die Struktur und Sprache weisen auf ein

authentisches, zuverlässiges Zeugnis hin, in dem dem Leser ein Blick in das alltägliche

Leben in Nazi Deutschland geboten wird. Im folgenden Abschnitt wird die zweite

Funktion, die Selbstbehauptung, unter die Lupe genommen.

2.1 - Selbstbehauptung

Unter dem nationalsozialistischen Regime wurde Klemperers Identität erschüttert.

Er wurde aufgrund seiner jüdischen Herkunft völlig aus dem öffentlichen Leben

ausgeklammert, während er selber immer an das Deutschsein festgehalten hat. 1912

konvertierte er zum Protestantismus und im ersten Weltkrieg kämpfte er als deutscher

Freiwilliger. Den Willen, Deutscher zu sein, teilte er mit seinen Brüdern, die ihm

sowohl finanziell, als auch beruflich unterstützt haben.

79

Es versteht sich aber, dass sein

Hang zur deutschen Nationalität sich unter dem neuen antisemitischen Regime kaum

halten konnte. Obwohl Klemperer nie eine Affinität mit der jüdischen Kultur gehabt

76

Klemperer: Ich will Zeugnis ablegen. Band 5, S. 49.

77

Klemperer: Ich will Zeugnis ablegen. Band 4, S. 100.

78

Elrud Ibsch: Die Shoah erzählt: Zeugnis und Experiment in der Literatur. Tübingen: Max Niemayer

2004, S. 13.

79

Reiss: "Victor Klemperer. Reflections on his Third Reich Diaries", S. 82.

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34

hatte, wurde er von den Nazis jedoch als Jude betrachtet, und ihrer antisemitischen

Politik unterworfen. In diesem Sinne kann man Klemperers Identität, die

problematisiert wird, genauer als politische Ideologie und Gruppenzugehörigkeit

definieren. Eine zweite Möglichkeit besteht darin, die Identität als Individualität zu

betrachten. In den Tagebüchern wird Klemperers Individualität an verschiedenen

Stellen stark hervorgehoben. Aus den Einträgen lernt man Klemperer sowohl von

Selbstcharakterisierungen als von Fremdcharakterisierungen kennen. Er kommentiert

ständig die eigenen Gedanken und das eigene Verhalten (Selbstcharakterisierung) und

aus den Dialogen kommt ebenfalls zum Ausdruck, wie Personen aus Klemperers

Umgebung ihn ansahen (Fremdcharakterisierung). Im selben Abschnitt ist es auch

sinnvoll die Darstellung seiner Frau, Eva Schlemmer, und ihr Verhältnis zu Klemperer

zu untersuchen. Eva war für Klemperer nicht nur als Gattin wichtig, sondern auch als

"Arierin" dafür verantwortlich, dass Klemperer bessere Chancen, die Judenverfolgung

zu überleben, hatte. Wegen der "Mischehe" war auch sie den Judenanordnungen, den

Erniedrigungen und Beschimpfungen der Gestapo unterlegen, und wurde auch ihre

Freiheit drastisch eingeschränkt. Wie die Einschränkung der Freiheit und die

allmähliche Isolation einerseits, und die Ortslosigkeit und die Landschaft andererseits

Klemperers Leben beeinflusst haben, wird dann im letzten Abschnitt dieses Kapitels

untersucht. Generell wird untersucht, ob die Tagebücher als Ersatz für die erschütterte

Identität gelten können, und ob das Schreiben für Klemperer wirklich eine

therapeutische Funktion der Selbstbehauptung hatte.

1.2.1 – Deutsche und jüdische Identität

In diesem Abschnitt wird erstens die problematische Beziehung von Klemperer

mit der deutschen und jüdischen Zugehörigkeit behandelt. Der Begriff "deutsch" wird in

seinem allgemeinen Sinn als Zeichen der Nationalität verwendet und "jüdisch" wird

ebenfalls als allgemeiner Ausdruck der Kultur gebraucht. Was es für Klemperer

bedeutete Deutscher oder Jude zu sein, wird im Laufe der Auslegung denn noch

erläutert. Wie schon erwähnt, hat Klemperer immer eine große Anhänglichkeit an

Deutschland gezeigt. Trotz ihrer jüdischen Herkunft, war die Familie völlig in

Deutschland integriert und assimiliert. Erst wenn der Antisemitismus in der

nationalsozialistischen Ideologie an zentraler Stelle kam und so seinen Höhepunkt in

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35

Deutschland erreichte, wurde die jüdische Blutverwandtschaft Klemperers auf einmal

bezeichnend für sein weiteres Leben. Die rassistische Diskriminierung war für

Klemperer dann auch ein harter Schlag, besonders weil er sich vorher nie wirklich an

dem jüdischen Schicksal beteiligt hatte. Arvi Sepp behauptet, dass er sich unter diesen

Umständen nicht länger an der deutschen Identität festhalten konnte.

80

Klemperers

Überzeugungen in Bezug auf deutsche und jüdische Angehörigkeit sind aber nicht so

einfach einzuordnen. So weist Omer Bartov darauf hin, dass Klemperers Schicksal an

sich tragisch und ironisch zu betrachten ist, denn

for just as Klemperer was defined by the regime, and increasingly by his
surroundings, as an undesirable foreign element to be isolated, marginalized and
finally done away with, he clung to his notion of true Germanness with ever more
desperate tenacity.

81

Bartovs Behauptung ist eine ziemlich starke Äußerung. Trotzdem gibt sie das

Wesentliche von Klemperers Schicksal wieder. Klemperer wurde tatsächlich von den

Nazis als Jude definiert, während er seine Anhänglichkeit an seiner deutschen Identität

weiterhin betont hat. Die Erschütterung der Identität, die demzufolge zustande kam,

kann man beispielsweise in einem Eintrag vom 5. Oktober 1935 nachvollziehen, in dem

er sich Folgendes fragt: "Wohin gehöre ich? Zum »jüdischen Volk«, dekretiert Hitler.

Und ich empfinde das von Isakowitz’ anerkannte jüdische Volk als Komödie und bin

nichts als Deutscher oder deutscher Europäer."

82

Man kann deutlich sehen, dass die

jüdische Angehörigkeit für Klemperer nur wenig Bedeutung hatte. Isakowitz gehörte zu

den orthodoxen Juden, mit denen Klemperer nichts gemeinsam hatte oder haben wollte.

Trotzdem musste er sich durch die Umstände schließlich dem jüdischen Volk annähern.

Die Meinung Klemperers, die offensichtlich die Hitlers entgegengesetzt war, wird auch

noch dadurch hervorgehoben, dass das ich kursiv gedruckt worden ist. Auffallend ist

auch, dass Klemperer hier zwischen 'Deutscher' und 'deutscher Europäer' unterscheidet.

Der Unterschied kann darauf hinweisen, dass Klemperer schon 1935 seine

nationalistischen Auffassungen allmählich durch eine kosmopolitische Idee ersetzt hat.

Trotzdem ist es Klemperer nicht gelungen, der Glaube an das grundsätzliche

Deutschsein zu verlieren.

83

Besonders am Anfang der nationalsozialistischen Herrschaft

80

Sepp: "Die Stimmen des Archivs", S. 34.

81

Bartov: "The last German", S. 37.

82

Klemperer: Ich will Zeugnis ablegen. Band 2, S. 50.

83

Bartov: "The last German", S. 37.

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36

hat er die deutsche Identität immer verteidigt und geschützt. So heißt es am 17. Juli

1935 in einem Gespräch mit einem befreundeten Juden:

Von irgend jemandem in Jerusalem sagte Kaufmann: er fühle sich wohl und sei
doch vordem »so assimiliert gewesen, wie Sie es waren, Herr Professor«. Ich
antwortete: »Waren? Ich bin für immer Deutscher, deutscher 'Nationalist'«. - »Das
würden die Nazis nicht zugeben«. - »Die Nazis sind undeutsch«.

84

An dieser Stelle werden verschiedenen Sachen angesprochen. Erstens erzählt Kaufmann

ihm von jemandem, der von Deutschland nach Jerusalem umgesiedelt ist. Während des

nationalsozialistischen Regimes sind viele Juden Deutschland entflohen. So sind

Klemperers Geschwister alle schon 1933-1935 aus Deutschland ausgewandert. Auch

fast alle Freunde und Kollegen Klemperers, die jüdische Verwandtschaft hatten, haben

schon am Anfang des Regimes Deutschland verlassen. Klemperer selber hat aber nie

ernste Schritte zur Auswanderung unternommen. Den Englischunterricht, den er für

eine eventuelle Auswanderung in die Vereinigten Staaten aufgenommen hatte, hat er

beispielsweise nie ernsthaft durchgesetzt. Ende 1937 schrieb er: "Ich werde nicht

fortkommen, und es ist auch sicher gegen Evas innersten Willen, hier herauszugehen

[...] Wir graben uns hier ein und gehen hier zugrunde".

85

Sowohl Victor als Eva

Klemperer war es also widerlich, die Heimat zu verlassen. Erst wenn es Klemperer als

Jude schon verboten war, sich außerhalb Deutschlands zu begeben, und also alle

Auswanderungsmöglichkeiten zerschmissen waren, hat Klemperer an Emigration als

einzige Überlebenschance geglaubt. Trotzdem konnte er sich wegen seinem deutschen

Angehörigkeitsgefühl nicht entscheiden, das Vaterland zu verlassen, denn er glaubte

sich 'für immer Deutscher', sogar 'deutscher Nationalist'. Sein Nationalismus wurde

aber, wie gesagt, allmählich durch eine eher kosmopolitische Auffassung ersetzt. Jedoch

scheint diese Aussage mit Arvi Sepps Behauptung, dass Klemperer sich nicht mehr an

dem Deutschtum festhalten konnte

86

, im Kontrast zu stehen. Beide Meinungen schließen

einander aber nicht aus, insofern der Begriff 'Deutsch' von Klemperer und Sepp dem

Anschein nach anders definiert wird. Sepp geht davon aus, dass das "Deutschtum" auch

die nationalsozialistische Ideologie umfasst, während Klemperer die Nazis als

undeutsch bezeichnet. Jedoch wird die Aussage Klemperers gleich wieder

zurückgenommen. Schon am nächsten Tag ist die ganze Lage ihm wieder übel und stellt

84

Klemperer: Ich will Zeugnis ablegen. Band 2, S, 40.

85

Klemperer: Ich will Zeugnis ablegen. Band 3, S. 64.

86

Sepp: " Die Stimmen des Archivs", S. 34.

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37

er fest: "Meine Prinzipien über das Deutschtum und die verschiedenen Nationalitäten

sind ins Wackeln geraten, wie die Zähne eines alten Mannes".

87

Diese Aussage über das

"Deutschtum", die dem vorigen völlig widerspricht, kann als Beweis dafür gelten, dass

Klemperer sich seinen Überzeugungen und seiner deutschen Angehörigkeit nicht länger

sicher sein kann, obwohl er sich an manchen Stellen noch immer fanatisch als

Deutscher definiert. So scheinen auch die vielen Judenanordnungen, die die Juden aus

dem alltäglichen Leben auszuklammern versuchten, Klemperers Ansicht auf das

"Deutschtum" kaum geändert zu haben. Gleich nachdem er gesetzlich den Namen

Victor 'Israel' Klemperer annehmen musste, notierte er am 9. Oktober 1938: "Wie es

auch politisch kommen mag, ich bin innerlich endgültig verändert. Mein Deutschtum

wird mir niemand nehmen, aber mein Nationalismus und Patriotismus ist hin für

immer".

88

Genauso wie er 3 Jahre vorher behauptete 'für immer' deutscher Nationalist zu

sein, hebt er hier hervor, dass sein Nationalismus 'für immer' hin ist. An seinem

"Deutschtum" hält er aber noch immer fast. Diese Überzeugung kommt am besten in

einem Eintrag vom 11. Mai 1942 zum Ausdruck:

Den schwersten Kampf um mein Deutschtum kämpfe ich jetzt. Ich muß daran
festhalten: Ich bin deutsch, die andern sind undeutsch; ich muß daran festhalten:
Der Geist entscheidet, nicht das Blut. Ich muß daran festhalten: Komödie wäre
von meiner Seite der Zionismus – die Taufe ist nicht Komödie gewesen.

89

Auf den ersten Blick wird an dieser Stelle seine Anhänglichkeit an Deutschland und an

das "Deutschtum" noch mal explizit betont. Die Unsicherheit kann Klemperer in diesem

Eintrag aber nicht verstecken. Er wiederholt beispielsweise die Aussage 'Ich muß daran

festhalten' dreimal, als ob er sich selbst davon überzeugen will. Die drei Sätze weisen

auch eine gleiche Struktur auf. Nach dem Doppelpunkt gibt es eine positive Aussage,

der direkt von einem negativen Teil (undeutsch, nicht das Blut, nicht Komödie) gefolgt

wird. Und so bekommt diese Stelle die Form einer Aufzählung. Es scheint, als ob

Klemperer für sich selber die Gründe, aus denen er an seinem "Deutschtum" festhalten

soll, aufzählt. Das Gefühl der Unsicherheit und des Zweifels kann der Leser an dieser

Stelle nicht loswerden. In der Triasstruktur kommen auch drei wichtige Merkmale von

Klemperers Überzeugungen und seine Einsichte in die deutsche und jüdische

Angehörigkeit zum Ausdruck.

87

Klemperer: Ich will Zeugnis ablegen. Band 2, S. 41.

88

Klemperer: Ich will Zeugnis ablegen. Band 3, S. 106.

89

Klemperer: Ich will Zeugnis ablegen. Band 5, S. 84.

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38

Erstens gibt es eine Verweisung auf die Art des deutschen Antisemitismus, und

zwar in dem Hinweis auf den Geist und das Blut. Klemperer schrieb: 'Der Geist

entscheidet, nicht das Blut'. Der deutsche Antisemitismus beruht aber völlig auf der

Blutverwandtschaft. So deutet auch Lawrence Birken darauf hin, dass der deutsche

Antisemitismus dadurch als einzigartig betrachtet werden kann, dass er "racial rather

than religious, and thus irrevocable"

90

war. Laut Birken trennte diese Betonung der

Rasse und nicht der Religion den nationalsozialistischen Antisemitismus von früheren

Formen des Judenhasses. Besonders die Unwiderruflichkeit der Blutverwandtschaft hat

die Rassentheorie, die die Nazis in den Mittelpunkt gestellt haben, viel Kraft verliehen.

91

Außerdem sind auch viele nicht praktizierenden Juden durch die Betonung des Blutes

dem deutschen Antisemitismus zum Opfer gefallen. Deshalb betont Klemperer die

Rolle des Geistes auf religiöser Ebene.

Zweitens spielt Klemperer hier auch auf den Zionismus an. Der Zionismus kannte

am Anfang des Naziregimes einen großen Aufschwung, weil die bedrohten Juden einem

neuen judenfreundlichen Staat als Heimat anzugehören suchten. Klemperer sagte aber

in seinem Eintrag, dass der Zionismus von seiner Seite Komödie gewesen wäre. Der

Zionismus hat Klemperer immer widerstanden, und sogar mit einer Form des

Faschismus gleichgesetzt.

Denn in Zion ist der Arier gerade das, was hier der Jude. Par nobile fratrum! Mir
sind die Zionisten, die an den jüdischen Staat von anno 70 p. C. (Zerstörung
Jerusalems durch Titus) anknüpfen, genauso ekelhaft wie die Nazis. In ihrer
Blutschnüffelei, ihrem »alten Kulturkreis«, ihrem teils geheuchelten, teils
bornierten

Zurückschrauben

der

Welt

gleichen

sie

durchaus

den

Nationalsozialisten. [ ...] Das ist das Phantastische an den Nationalsozialisten, daß
sie gleichzeitig mit Sowjetrußland und mit Zion in Ideengemeinschaft leben.

92

Die Ansicht Klemperers über den Zionismus ist eine Auffällige. Er spürt denselben

Fanatismus unter den Zionisten, als unter den Nazis, und charakterisiert sie als

grundsätzlich ähnlich, da sie 'in Ideengemeinschaft leben'. Beide Ideologien versuchen,

Klemperers Meinung nach, die Zeit und die Welt zurückzuschrauben und einen 'alten

90

Lawrence Birken: "Prussianism, Nazism and Romanticism in Victor Klemperers Thought". In: German

Quarterly 72 (1999), S. 33-34.

91

Klemperer: Ich will Zeugnis ablegen. Band 1, S. 25.

Bereits 1933 war Klemperer sich von der Bedeutsamkeit der Judensache in dem Nationalsozialismus
bewusst: "Das Schicksal der Hitlerbewegung liegt fraglos in der Judensache. Ich begreife nicht warum sie
diesen Programmpunkt so zentral gestellt haben. An ihm gehen sie zugrunde. Wir aber wahrscheinlich
mit ihnen"

92

Klemperer: Ich will Zeugnis ablegen. Band 1, S. 111-112.

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39

Kulturkreis' wieder aufleben zu lassen. Er wollte denn auch nichts mit den zionistischen

Juden gemein haben.

93

Die heftigen Angriffe auf den Zionismus können aber auch auf

die Tragik der eigenen Lage hindeuten. Da Klemperer an der jüdischen Kultur nie Teil

gehabt hat und nur durch die antisemitischen Umstände in die jüdische Gemeinschaft

getreten ist, können seine extremen Ansichten als Reaktion gegen diesen Zwang

aufgefasst werden. So setzt er den Zionismus der eigenen Taufe entgegen, wenn es in

dem Eintrag heißt, dass die Taufe nicht Komödie gewesen sei.

94

Wenn Klemperer im

Alter von 22 getauft wurden, bekehrte er sich zum Protestantismus. Er hat sich aber nie

als praktizierend Gläubiger am Protestantismus beteiligt. Die Taufe bedeutete für ihn

eher eine Bekehrung zum "Deutschtum", da er wohl an der protestantischen

Preußischen Staat geglaubt hat. So gesteht auch Lawrence Birken, dass Klemperer sich

in seiner Jugend zum Protestantismus bekehrt hat, weil er sich mit der von Preußen

überherrschten deutschen Reich von Bismarck und Wilhelm II identifizierte.

95

Die

Affinität, die er mit dem "alten Regime" fühlte, erklärt auch teilweise Klemperers

deutsches Angehörigkeitsgefühl. Für ihn lag die Grundlage der deutschen Identität in

der Aufklärung und dem Preußischen Staat, der als Klemperers ideales Deutschland

betrachtet werden kann.

96

Der aufklärerische Glaube an die Rationalität und an das

Individuum waren für Klemperer Züge des echten "Deutschtums".

Die

nationalsozialistische Ideologie, die seiner Meinung nach auf romantischen Ideen wie

Grenzlosigkeit basierte, konnte er denn auch nicht für deutsch halten, denn sie gründete

sich auf der Ausschaltung des Geistes und auf dem revolutionären Massengedanken.

97

So lässt sich auch gewissermaßen erklären, weshalb Klemperer im Eintrag vom

11. Mai 1942 die Aussage 'Ich bin Deutsch, die anderen sind undeutsch' machte.

98

Mit

den Anderen meinte Klemperer wahrscheinlich die deutsche Bevölkerung, besonders

diejenige mit nationalsozialistischer Gesinnung. Omer Bartov behauptet, dass

Klemperer sich allmählich den letzten echten Deutschen gedacht hat.

99

Wie schon bei

der Erläuterung von Klemperers Sicht auf den Begriff "deutsch" zur Sprache kam, hielt

Klemperer das nationalsozialistische Regime für undeutsch:

93

Reiss: "Victor Klemperer. Reflections on his Third Reich Diaries", S. 83.

94

Klemperer: Ich will Zeugnis ablegen. Band 5, S. 84.

95

Birken: "Prussianism, Nazism and Romanticism in Victor Klemperers Thought", S. 36.

96

Birken: "Prussianism, Nazism and Romanticism in Victor Klemperers Thought", S. 36-38.

97

Birken: "Prussianism, Nazism and Romanticism in Victor Klemperers Thought", S. 40-41.

98

Klemperer: Ich will Zeugnis ablegen. Band 5, S. 84.

99

Bartov: "The last German", S. 41.

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40

In Deutschland sei diese Form nirgends in der Geschichte zu finden, sie sei
absolut undeutsch und deshalb ohne eine irgendwie endgültige Dauer. [...] Aber
sie sei im Augenblick mit deutscher Gründlichkeit organisiert und deshalb in
absehbarer Zeit kaum zu beseitigen.

100

Das Regime wird also als undeutsch betrachtet, weil es in Deutschland in dieser Form

im Laufe der Geschichte nie zuvor vorgekommen ist. Er hielt also noch immer an seiner

Identifikation mit dem deutschen, preußischen Staat fest. Obwohl der Erfolg des

nationalsozialistischen Regimes dem deutschen Grundzug der Gründlichkeit

zugeschrieben wird, war Klemperer trotzdem davon überzeugt, dass der

Nationalsozialismus in Wesen undeutsch war und sich deshalb nicht bewähren wurde.

Wenn er außerdem festgestellt hat, dass die deutsche Bevölkerung die

nationalsozialistische Ideologie ohne weiteres hinnahm, wurde das Gefühl, das er selber

die deutsche Seele aufrechterhalten musste, noch verstärkt. Bartov hebt hervor, dass die

Anderen undeutsch waren, weil sie sich von dem Nationalsozialismus beeinflussen

ließen. Die Juden sollen aber, sowie Klemperer, gegen den Einfluss der Propaganda

immun gewesen sein. Bartov schließt Folgendes:

This is what Klemperer comes to tell Germany today: that the Jews were also
Germans, perhaps the best Germans, maybe even the last Germans, for they were
the ones who were not Nazis.

101

Er behauptet, dass die Juden an sich deutscher waren als die Nationalsozialisten. Dazu

soll aber bemerkt werden, dass er die Juden als Kollektivum nicht verallgemeinern soll.

Viele Juden waren zwar, wie Klemperer, in die deutsche Gesellschaft integriert und

assimiliert. Manche haben aber auch immer an der jüdischen Identität und Religion

festgehalten. Andererseits soll er auch die Bezeichnung der Deutschen als Kollektivum

vermeiden. Bartov geht in seiner These davon aus, dass alle Deutschen sich an dem

Nationalsozialismus beteiligt haben. Durch die vorsichtige Formulierung ('perhaps' und

'maybe') deutet er aber schon selber darauf hin, dass Vorsichtigkeit geboten ist. An

solcher Verallgemeinerung hat Klemperer sich in einem Eintrag über die Judenfrage

aber ebenfalls schuldig gemacht:

100

Klemperer: Ich will Zeugnis ablegen. Band 1, S. 41.

101

Bartov: "The last German", S. 42.

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41

Es gibt keine deutsche oder westeuropäische Judenfrage. Wer sie anerkannt,
übernimmt oder bestätigt nur die falsche These der NSDAP und stellt sich in ihren
Dienst. Bis 1933 und mindestens ein volles Jahrhundert hindurch sind die
deutschen Juden durchaus Deutsche gewesen und sonst gar nichts. [...] Die
deutschen Juden waren ein Teil des deutschen Volkes. [...] Sie füllten ihren Platz
innerhalb des deutschen Lebens aus, dem Ganzen keineswegs zur Last. [...] Sie
waren und bleiben (auch wenn sie jetzt nicht mehr bleiben wollen) Deutsche, in
der Mehrzahl deutsche Intellektuelle und Gebildete.

102

Die Judenfrage war also laut Klemperer eine Erfindung der Nazis. Alle Juden innerhalb

Westeuropa sollen assimiliert und in die Gesellschaft integriert gewesen sein. Obgleich

Klemperer in seiner Meinung zu den Zionisten deutlich hervorhebt, dass es auch unter

den Juden viele Unterschiede gibt, werden sie hier als Kollektivum dargestellt, um seine

These zu bestätigen, dass die Juden ebenfalls eine deutsche Identität hatten. Während er

an dieser Stelle deutlich hervorhebt, dass die Juden Deutschlands immer deutsch und

Teil des deutschen Volkes gewesen sind, hat er aber allmählich in Zweifel gezogen, ob

der Nationalsozialismus wirklich so undeutsch war als er an erster Stelle gedacht hat.

Denn fast jedermann innerhalb Deutschlands schien von der Propaganda mitgezerrt zu

werden und an Hitler, wie an einen Gott, zu glauben. Am 17. August 1937 notierte er

im Tagebuch:

Es bestätigt mir den Anspruch der NSDAP, die wahre Meinung des deutschen
Volkes auszudrücken. Und immer mehr glaube ich, daß Hitler wirklich die
deutsche Volksseele verkörpert, daß er wirklich »Deutschland« bedeutet, und daß
er sich deshalb halten und zu Recht halten wird. [...] mein innerliches
Zugehörigkeitsgefühl ist hin.

103

Wenn Klemperer auf der Straße ein Bild sieht, auf dem es "Für Juden verboten. Wie

schön, daß wir jetzt wieder unter uns sind!" heißt, fällt ihm ein Vorfall aus seiner

Schülerzeit ein. Am Versöhnungstag nahmen die Juden nicht am Unterricht teil. Den

nächsten Tag hatten die Schulkameraden lachend erzählt, wie der Lehrer in der Klasse

gesagt hat: "Heut sind wir unter uns".

104

Diese Erinnerung veranlasst Klemperer dazu,

den Antisemitismus trotzdem für deutsch zu halten, weil er schon in seiner Schülerzeit

vorhanden war. Deshalb verliert er auch das innere Zugehörigkeitsgefühl zu den

Deutschen.

102

Klemperer: Ich will Zeugnis ablegen. Band 3, S. 132-133.

103

Klemperer: Ich will Zeugnis ablegen. Band 3, S. 49.

104

Klemperer: Ich will Zeugnis ablegen. Band 3, S. 48.

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42

Es gibt also keine eindeutige Antwort auf die Frage, wie Klemperer zu seiner

deutschen Identität stand. Seine Überzeugungen muten durchaus widersprüchlich an. Es

versteht sich, dass es ihm immer schwieriger wurde, an dem deutschen Nationalismus

festzuhalten. Der deutschen Angehörigkeit gegenüber schwankte er bis zum Ende. Auch

was er unter dem "Deutschtum" verstand, änderte sich ständig. In der rasch ändernden

Lage und unter den schweren Umständen ist es aber verständlich, dass Klemperer seine

Überzeugungen ständig anpassen musste. Die vielen Definitionen und Erklärungen in

Bezug auf das "Deutschtum" können auch ein Hinweis darauf sein, dass Klemperer im

Tagebuch in den eigenen Ideen Ordnung zu schaffen versuchte und das Schreiben auch

zu diesem Zweck bis zum Ende weitergeführt hat. Das Aufzeichnen als

Strukturierungsmittel wird von Klemperer selber 1940 betont: "An diesen Notizen

mitten im Chaos und öden Herumstehen habe ich ein klein bißchen Kraft

zurückgewonnen".

105

Eine richtige Antwort oder endgültige Lösung für die erschütterten

Auffassungen hat er aber dem Anschein nach nicht gefunden.

Klemperers Verhältnis zum "Judentum" lässt sich etwas einfacher aus den

Tagebüchern herauslesen. Wie schon erwähnt war der Zionismus ihm verhasst. Auch zu

den orthodoxen Juden hatte er nie Affinität gehabt. Besonders am Anfang des

nationalsozialistischen Regimes war ihm das Verhalten mancher Juden widerlich.

Besonders mit der Emigranten-Mentalität und dem Pessimismus der Juden konnte er

sich nicht einigen. Allmählich führte das gemeinsame leidenschaftliche Schicksal ihn

aber zu einer Sympathisierung mit dem Judentum. Am 16. April 1941 schrieb er:

Früher hätte ich gesagt: Ich urteile nicht als Jude. [...] Jetzt: Doch, ich urteile als
Jude, weil ich als solcher von der jüdischen Sache im Hitlertum besonders berührt
bin, und weil sie in der gesamten Struktur, im ganzen Wesen des
Nationalsozialismus zentral steht und für alles andere mitcharakteristisch ist.

106

Hier kommt deutlich zum Ausdruck, dass er in die jüdische Sache hineingezwungen

worden ist. Allmählich werden die Solidarität und der Kontakt mit den Leidensgenossen

aber notwendig, weil die Juden für Nachrichten, Lebensmittel, usw. aufeinander

angewiesen waren. Die gemeinsame "Gefangenschaft" zieht ihn in die jüdische

Gemeinschaft hinein, so dass er sich der jüdischen Kultur nicht länger den Rücken

zuwenden kann. Das Verhältnis zum "Judentum" ist Klemperer aber gar nicht so

105

Klemperer: Ich will Zeugnis ablegen. Band 4, S. 27.

106

Klemperer: Ich will Zeugnis ablegen. Band 4, S. 84.

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43

wichtig, nur über das "Deutschtum" zerbricht er sich den Kopf. In dem Kampf um das

"Deutschtum" lernen wir Klemperer als verzweifelter Humanist kennen, der schließlich

trotz des Zwangs noch immer schwierig von seinen Überzeugungen Abstand gewinnen

kann.

1.2.2 – Klemperers Individualität

Die Verzweiflung gibt es aber nicht nur auf der Ebene der Gruppenzugehörigkeit,

sondern auch auf der Ebene der Persönlichkeit. Klemperers Identität wurde, wie schon

erwähnt, von dem nationalsozialistischen Regime erschüttert. Wegen der neuen Gesetze

kann Klemperer sein Leben nicht ohne Anpassungen fortsetzen. Klemperer ist in den

Tagebüchern immerfort selbstreflexiv und selbstkritisch. Er kommentiert ständig das

eigene Verhalten und die eigenen Meinungen, was dem Leser erlaubt, sich ein Bild von

Klemperers Persönlichkeit zu formen. Neben dieser Selbstcharakterisierung kommt

auch in den wiedergegebenen Dialogen mit Eva und anderen Leuten ein Bild von

Klemperers Verhalten zum Ausdruck. Man soll aber bei solcher äußeren

Charakterisierung darauf achten, dass in den Tagebüchern schließlich alles durch die

Augen Klemperers gesehen wird und deswegen einigermaßen gefiltert dargestellt wird.

Da das Bild, das wir von Klemperer bekommen, auf den ersten Blick aber ziemlich

negativ anmutet, kann man sich, wie wir sehen werden, die Wahrhaftigkeit trotzdem

teilweise trauen. Welche sind nun aber die Züge, die Klemperer aufweist, und wie

ändern diese sich während des ihm feindlichen Regimes?

Auf den ersten Blick kommt Klemperer ziemlich schwach vor. Er beschwert sich

ständig über Herzbeschwerden, Augenbeschwerden, Depression, usw. Auch die

Geldsorgen und der Mangel an Lebensmittel wurden ihm zu viel. Wegen der Lage, in

der er sich befand, scheinen diese Klagen und Todesgedanken aber völlig normal und

verständlich zu sein. Aus seinem Verhalten zu anderen Leuten und den Gedanken, die

er sich über den Leidensgenossen macht, spricht aber eine gewisse Arroganz, die der

angeblichen Schwäche gegenübersteht. Die Arroganz zeigt sich sowohl in der Art und

Weise, wie Klemperer über andere Leuten dachte, als auch in seinem Festklammern an

den eigenen Idealen. Sie hängt aber ohne Zweifel an erster Stelle damit zusammen, dass

er als Mitglied der akademischen Elite immer ziemlich geschätzt worden war. Wenn er

aufgrund seiner jüdischen Herkunft keine Publikationsmöglichkeiten mehr sah und

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44

1935 aus dem Amt entlassen wurde, wurde das hohe Ansehen stark lädiert. Am 16. Juli

1936 notierte er im Tagebuch: "Wir waren angesehene Leute. Was sind wir jetzt? Und

was werden wir in zwei Monaten sein?"

107

Die Unsicherheit, die Entlassung und das

Scheitern der Publikation erschütterte sowohl seine akademische Existenz, als auch

seine Hoffnung. Am selben Tag heißt es weiter noch: "Ich habe den Glauben an Sinn

und Wert meiner Tätigkeit verloren. Frage wie oben: Was war ich, was bin ich?"

108

Mit

dem Verlust der akademischen Stelle verlor er nicht nur das Ansehen, sondern auch sein

Einkommen, und geriet Klemperer in Geldnot. Allmählich wurde er zu einer

proletarischen Existenz gezwungen, die Klemperer nicht hinnehmen wollte.

109

1936

sagte er hierzu: "Wir sind eigentlich völlig proletarisiert, wesentlich proletarisierter als

Gusti – aber wir fühlen uns nicht als Proletarier und bewahren uns die Freiheit des

Denkens".

110

Auch wenn er völlig proletarisiert war und den ganzen Tag den Haushalt

führen musste, hat er sich geistig immer von "wirklichen" Proletariern distanziert, da

ihm 'die Freiheit des Denkens' geblieben war. Aus solchen Stellen geht die Stärke

Klemperers Identität hervor. Besonders die geistige Kraft und Tätigkeit trennte ihn von

den Proletariern. In den Tagebüchern beschimpft Klemperer an vielen Stellen die

Proletarier um ihre Primitivität, Dummheit und ihr Massenverhalten, die Klemperers

Meinung nach die Hitlerei mit ermöglicht haben. So hat er seine Arbeit fortgesetzt und

die französische Literaturgeschichte des 18. Jahrhunderts und nach dem Verbot der

Bibliotheknutzung das Curriculum angefangen, von denen er an manchen Stellen

behauptete, sie seien das Beste, das er je geschrieben hat. Das Bejubeln der eigenen

Arbeit kann dabei als Bestätigung des eigenes Ichs betrachtet werden. Katie Trumpener

behauptet Folgendes hierzu: "the act of writing is itself a crucial act of self-affirmation.

Such writing takes on further dignity from the Nazis’ refusal to allow it, let alone to

recognize, publish, or honor it".

111

Das Schreiben selber bestätigt die Bedeutsamkeit von

Klemperer als Wissenschaftler. Außerdem bekommt die Arbeit gerade dadurch noch

mehr Würdigkeit, dass sie höchst wahrscheinlich nie publiziert werden wurde. Dies ist

denn auch einer der Gründe, aus denen Klemperer immer weitergeschrieben hat,

107

Klemperer: Ich will Zeugnis ablegen. Band 2, S. 111.

108

Klemperer: Ich will Zeugnis ablegen. Band 2, S. 111.

109

Klemperer: Ich will Zeugnis ablegen. Band 3, S. 15.

"Wir sind so proletarisiert und eingeengt, daß ich mir oft wünsche, nicht mehr aufzuwachen."

110

Klemperer: Ich will Zeugnis ablegen. Band 2, S. 117.

111

Trumpener: "Diary of a Tightrope Walker", S. 491.

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45

obwohl er sich dessen bewusst war, dass der Publikationschance minimal war. Die

Erkenntnis, dass seine Arbeit wahrscheinlich nie publiziert oder überleben würde,

drückt er in den Tagebüchern leitmotivisch durch vanitas vanitatum aus. Nachdem ein

Verlag aus rein buchhändlerischen Gründen, die auch für anderen Verleger gelten

mussten, Klemperers Voltaireband abgelehnt hatte, notierte er 1936:

Vanitas vanitatum hin und her, es ist doch ein Stück meines Lebenswerkes, das
um seine Wirkung und eigentliche Existenz gebracht ist, und ich komme mir nun
erst recht wie lebendig begraben vor.

112

Das Scheitern der Publikationsmöglichkeiten gab ihn das Gefühl, lebendig begraben zu

sein. Obwohl er selber noch immer am Leben war, war seine Arbeit, sein Lebenswerk,

nun tot. Klemperer formuliert mit einer Variation auf dem Ausdruck "jemanden ums

Leben bringen" die Stärke des Eindrucks. Sein Lebenswerk ist 'um seine Wirkung und

Existenz gebracht', da es nie publiziert werden wurde. Trotzdem hat Klemperer die

Schreibarbeit nie aufgegeben. Obwohl er immer weiter Tagebuch geführt und

geschrieben hat, hatte ihn 1944 das Gefühl der Bedeutungslosigkeit des Schreibens

noch nicht verlassen. Im Gegenteil:

Die Arbeit von reichlichen zehn Jahren ist umsonst: das 18ième, das Curriculum,
die LTI – nichts wird fertig, nichts wird erscheinen. Vanitatum vanitas, aber doch
sehr bitter. [...] Ich will aber, um einen Halt zu haben, genauso weiterarbeiten wie
bisher. Vielleicht geschieht ein Wunder.

113

Das vanitas vanitatum taucht auch an dieser Stelle auf. Interessant ist aber vor allem der

Grund, der Klemperer für das weiterarbeiten gibt. Er gesteht selber, dass er schreibt, um

einen Halt zu haben. Die Funktion der Selbstbehauptung im Schreibprozess wird hier

also bereits angesprochen. Beim Schreiben und Arbeiten konnte er aus dem alltäglichen

Elend herauskommen und die eigenen geistigen Fähigkeiten und daher das Ansehen,

das er verdiente, bekräftigen. Die wissenschaftliche Arbeit kommt aber allmählich zu

einem Ende, wenn ihm zuerst die Schreibmaschine entnommen wurde, und besonders

wenn er 1943 Zwangsarbeit leisten musste. Die physische Erschöpfung, Geistlosigkeit

und Einförmigkeit des Schippens von Schnee, des Verpackens von Tee, des Schneidens

und Faltens von Kartonage, ließen ihm keine Zeit zum Arbeiten an das Curriculum

Vitae und füllten ihn mit einer geistigen Leere. Die geistige Leere hat Klemperer gerade

am meisten gefürchtet. Die Angst vor der Leere kommt am Besten in der Darstellung

112

Klemperer: Ich will Zeugnis ablegen. Band 2, S. 121.

113

Klemperer: Ich will Zeugnis ablegen. Band 7, S. 50.

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46

der Gefängniszeit zum Ausdruck. Während seiner Polizeistrafe fiel die Leere der 'Zelle

89' ihm sehr schwer: "ich durfte nicht nachgeben, ich mußte die Leere aus mir heraus

füllen, sonst ... nein, es gab kein sonst".

114

Erst wenn Klemperer von einem

Wachtmeister ein Bleistift und ein Blatt Papier bekommen hatte, gelang es Klemperer,

das Gefühl der Leere zu überwinden. Er brauchte der Bleistift gar nicht anzuwenden,

denn "das bloße Plänemachen, das bloße Bewußsein seines Besitzes füllte mich aus".

115

Aufs Neue rettet das Schreiben, zwar nur die Symbole des Schreibens (Bleistift und

Papier), ihn von dem geistlichen Tod. Dieselbe geistige Leere empfand Klemperer also

bei der Zwangsarbeit. Katie Trumpener deutet aber darauf hin, dass die Zwangsarbeit

ihm auch einen großen Vorteil gebracht hatte, weil er nicht länger jeden Tag im Hause

und hinter dem Schreibtisch verbringen konnte. Sie zwang ihm dazu, die häusliche

Enge und die klaustrophobische Promiskuität des Ghettos zu verlassen, was für

Klemperer eine geistige und physische Aufklärung bedeutete.

116

In der Fabrik musste er

sich unter der Arbeitsklasse mischen und er erfuhr dort, dass ganz viele deutsche

Proletarier mit Juden sympathisierten. Er lernte eine andere Seite der Volksstimmung

kennen, die, wie Klemperer auch einsehen musste, nicht nur durch Primitivität,

Dummheit und blinden Glauben an das Regime gekennzeichnet wurde. Obwohl die

Zwangsarbeit also einigermaßen als Bereicherung für seine Beobachtungen betrachtet

werden kann, wurde sie Klemperer jedoch widerlich. Die Erfahrung wurde schließlich

nur noch durch Abstumpfung gekennzeichnet, denn Klemperer war "dieses

Proletarierdasein längst (seit mindestens drei, vier Jahren) Selbstverständlichkeit".

117

Klemperers Urteil über die deutschen Proletarier kann bereits als hart umschrieben

werden. Seine Meinung zu den akademischen Kollegen und den Intellektuellen war

noch viel unnachgiebiger, denn Klemperer war der Meinung, dass sie, im Gegensatz zu

der proletarischen Bevölkerung, besser gewusst haben sollten.

118

Sie sollten sich der

Grausamkeiten des Regimes mindestens bewusst gewesen sein und die Hitlerei

bestritten haben. Besonders ihr Verhalten Klemperer gegenüber nach 1933 war

schamlos. Fast alle Kollegen haben ihn seit dann "wie eine Pestleiche" vermieden.

Auch

für die jährliche Konferenz der Neuphilologen hat ihn 1935 keiner mehr eingeladen. So

114

Klemperer: Ich will Zeugnis ablegen. Band 4, S. 116.

115

Klemperer: Ich will Zeugnis ablegen. Band 4, S. 133.

116

Trumpener: "Diary of a Tightrope Walker", S. 492-493.

117

Klemperer: Ich will Zeugnis ablegen. Band 6, S. 140.

118

Daniel Johnson: "What Victor Klemperer saw". In: Commentary 109 (2000), S. 49.

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47

ist es verständlich, wie auch Reiss hervorhebt, dass die akademische Elite Klemperer

bald verhasst war.

119

In einem Eintrag vom 16. August 1938 lesen wir Folgendes:

Wenn es einmal anders käme und das Schicksal der Besiegten läge in meiner
Hand, so ließe ich alles Volk laufen und sogar etliche von den Führern, die es
vielleicht doch ehrlich gemeint haben könnten und nicht wußten, was sie taten.
Aber die Intellektuellen ließ ich alle aufhängen, und die Professoren einen Meter
höher als die andern; sie müßten an den Laternen hängen bleiben, solange es sich
irgend mit der Hygiene vertrüge.

120

An dieser Stelle wird Klemperers Ansicht auf das Volk und die Intellektuellen noch mal

betont. Dem Volk wirft er nichts vor, denn sie wussten aus Dummheit und

Massenverhalten nicht besser, da sie sich von der nationalsozialistischen Propaganda

irreführen ließen. Auffallend ist, dass er angeblich daran glaubte, dass auch einige

Führer nicht gewusst hätten, was sie taten, obwohl das Adverb 'vielleicht' Zweifel

suggeriert. Klemperer verhielt sich auch den Freunden gegenüber gewissermaßen

arrogant. So äußert er sich in den Tagebüchern sehr negativ über Dr. Annemarie Köhler,

die während des ganzen Krieges die Tagebücher für ihn versteckt hat. Und auch den

Freunden, die er mit Namen in den Tagebüchern nennt, liegt er nie Verantwortung ab.

Die Gefährdung seiner Freunde war weniger wichtig als sein Wunsch,

dokumentarischen Wert zu erreichen.

Mit der Arroganz hängt auch den Egoismus, den Klemperer von Eva

zugeschrieben wurde, zusammen. Wenn im Februar 1941 der Wagen abgeschleppt

werden musste, weil es Juden verboten war, über einen Wagen zu verfügen, kommt es

zu einem Zusammenstoß zwischen dem Ehepaar:

Ihre alte Klage: daß ich nicht auf sie gehört und zu spät gebaut, daß ich ihr
»zerquälte Jahre« bereitet, daß ich nicht beizeiten das Haus auf ihren Namen
gesichert. Es kränkt mich ungemein, so angeschuldigt zu sein. Und doch wohl mit
halbem Recht. [...] Ich habe immer geglaubt, ihr Interesse über das meine zu
stellen und das Menschenmögliche für sie zu tun. Sie scheint anderer Meinung.
[...] Ich sage mir jetzt oft: Wozu noch all diese Kränkung um Vergangenes? Man
ist so dicht am Ende.

121

Bereits durch die Angabe, dass es sich um eine 'alte Klage' handelt, kommt zum

Ausdruck, dass sein Egoismus nicht nur dem Elend unter dem nationalsozialistischen

Regime entstammte. Eva warf Victor vor, dass er nicht auf sie gehört und in Allem zu

119

Reiss: "Victor Klemperer. Reflections on his Third Reich Diaries", S. 80.

120

Reiss: "Victor Klemperer. Reflections on his Third Reich Diaries", S. 80.

121

Klemperer: Ich will Zeugnis ablegen. Band 4, S. 73.

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48

spät gehandelt habe. Klemperer gesteht, dass sie 'mit halbem' Recht hatte. Er glaubt der

Anklage also nur teilweise. Mit dem Vorwurf des Egoismus kann er sich angeblich

nicht vereinigen, da er sagt, dass er für Eva immer das Beste getan hat. Die

Fremdcharakterisierung und Selbstcharakterisierung unterscheiden sich also in diesem

Fall. Der Zusammenstoß wird schließlich von Klemperer heruntergespielt, weil er

darauf hinweist, dass die Zukunft so unsicher ist, dass man sich nicht um die

Vergangenheit kümmern soll. Da er die Todesgedanken durch die konstante Bedrohung,

die Herzbeschwerden und das Alter nicht mehr loswerden konnte, wurde Klemperer

ständig von einem Gefühl der Erleichterung um das eigene Leben überherrscht, das er

durchaus als "Hurra ich lebe" formuliert. Die Erleichterung war immer von einer

Gefühllosigkeit begleitet, wenn jemand aus Klemperers Umgebung evakuiert oder

ermordet wurde. Auch die viele Selbstmorde, zu denen die Juden getrieben wurden,

ließen ihn angeblich kalt.

122

In einem Eintrag vom 14. November 1944 notierte

Klemperer:

Mir fiel an mir wieder die entsetzliche herzlose Kälte auf. Nichts als der Bezug
auf mich - »Hurra, ich lebe!« und »Wann trifft es mich?« - und das Stoffsammeln
für mein Buch.

123

Die Herzenskälte hatte natürlich damit zu tun, dass Klemperer allmählich nur noch

Abstumpfung zu den grausamen Verbrechen der Nazis empfinden konnte. Jede

unerwartete Judenanordndung, Haussuchung, Beschimpfung, das immer größere Elend

wurden alle schließlich zu einer Selbstverständlichkeit in seinem Leben als Jude im

nationalsozialistischen Zeitalter. Da er sich in Bezug auf die Todesfälle dem eigenen

Egoismus bewusst war und auch explizit darauf hingedeutet ('Nichts als der Bezug auf

mich'), schien Klemperer dieses Gefühl zu bedauern. Da Klemperer immer

selbstreflexiv und selbstkritisch auftritt, ließ 'die entsetzliche herzlose Kälte' ihm

offensichtlich nicht kalt, was seine angebliche Gefühllosigkeit gewissermaßen

relativiert. Auch die immer wieder wiederholte Aussage 'Was wird aus mir?' und 'Wann

122

Klemperer: Ich will Zeugnis ablegen. Band 5, S. 255.

"Ich bringe in meine Herzensstumpfheit kein Gefühl auf. Nur immer: »Es fallen so viele rings um mich
und ich lebe noch. Vielleicht ist es mir doch vergönnt, zu überleben und Zeugnis abzulegen«."

123

Klemperer: Ich will Zeugnis ablegen. Band 7, S. 149.



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49

trifft es mich?' betonen die eigene Todesangst einerseits

124

und den Trieb zum Überleben

andererseits. Besonders wenn Eva im Oktober 1943 mit einer Erkrankung kämpfte, hat

Klemperer den eigenen Egoismus verflucht. Er gesteht, dass er sich, während Eva im

Krankenhaus war, immer wieder die eigene Deportation ausgemalt hat.

125

Die

"Mischehe" mit einer "arischen" Frau war nämlich das einzige, das ihn bis dann vor

Evakuierung geschützt hatte. Trotz des Egoismus, den Klemperer aufweist, haben ihn

die Erniedrigungen jedoch auch mit Scham erfüllt. So musste er aus Armut die

zurückgelassene Kleidung von Deportierten tragen und hat er vor Hunger manchmal

Essen der Mitbewohner im Judenhaus gestohlen. Dazu notierte er am 26. Juni 1942:

Heute hätte mich Kätchen um ein Haar dabei überrascht, wie ich ihr Brot stahl
und Zucker stehlen wollte. Was wäre daraus entstanden? Es ist wirklich der
nackte Hunger, der mich zu diesen Mundräubereien treibt. (Mit denen ich
Kätchen wirklich nicht schade. Sie ißt wenig, ist gut versehen durch die Mutter,
läßt vieles verkommen.) Ich empfinde es als grauenhafte Erniedrigung, daß ich
diese Diebereien ausführe.

126

An dieser Stelle fällt auf, dass er trotz des Gefühls der Erniedrigung jedoch vor Hunger

dazu getrieben wird, seine Mitbewohnerin zu bestehlen. Wichtiger ist aber, dass er den

Diebstahl im Tagebuch zu rechtfertigen versucht. Wenn auch zwischen Klammern, hebt

er hervor, dass die Mitbewohnerin von dem Diebstahl keinen Schaden erleiden würde.

Es scheint, als ob er im Tagebuch das schlechte Gewissen betäuben wollte. In diesem

Sinne kann noch mal darauf hingedeutet werden, dass das Tagebuch als strukturierendes

Mittel fungiert. In dem Tagebuch kann er das Verhalten und die Gedanken über die

Erlebnisse des Alltagslebens strukturieren. Das Aufzeichnen schafft Ordnung im Chaos

und gibt den Erlebnissen und dem eigenen Verhalten einen Sinn, weil er davon Zeugnis

ablegen kann. Das Aufzeichnen and das Tagebuch an sich bleiben bis zum Ende für

Klemperer eine Tat der Selbstbehauptung und ein Halt, an dem er sich kräftig festhält.

Einen anderen Halt bietet ihm seine Frau, Eva. Trotz Klemperers Egoismus und

Fatalismus kommt in den Tagebüchern auch das Vertrauen in und die Bewunderung für

Eva zum Ausdruck. Unter anderem Omer Bartov weist darauf hin, dass "their intense

devotion to each other sustained them through long years of abuse and humiliation,

124

Klemperer: Ich will Zeugnis ablegen. Band 6, S. 79.

"Dieses Gefühl, die nackte Todesangst vor dem Erwürgtwerden im Dunkeln, das muß ich im Curriculum
festhalten; das ist auch das Besondere dieses letzten Jahres: Man rechnet nicht mehr mit Gefängnis oder
mit Prügeln, sonder glattweg bei allem und jedem mit dem Tod."

125

Klemperer: Ich will Zeugnis ablegen. Band 6, S. 147.

126

Klemperer: Ich will Zeugnis ablegen. Band 5, S. 147.

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50

social isolation and material deprivation".

127

Evas Charakterisierung in den Tagebüchern

ist über die Jahre hinweg einem radikalen Wandel unterworfen. Deswegen ist es auch

sinnvoll näher auf die Charakterisierung und die Rolle von Eva im Leben ihres

Ehemannes einzugehen.

Eva Schlemmer-Klemperer war eine begabte Pianistin. Durch eine schwache

Gesundheit ist ihr aber nie der Erfolg, den sie verdiente, zugekommen. Eva litt unter

sowohl physische als auch mentale Krankheiten. Jahrelang hat sie sehr unter einer

Depression gelitten, die noch schlimmer wurde, wenn 1928 auch noch ihren Fuß in

einem Unglück schwer verletzt wurde.

128

So wird Eva am Anfang der Tagebücher auch

vorgestellt. Sie wird von Klemperer als kränklich, schwach, manchmal depressiv

dargestellt und die meisten frühen Einträge über Eva handeln von ihrer schwachen

Gesundheit. Das Festklammern an dem Haus in Dölzschen und an der Katze 'Muschel'

verstärken das Bild von Eva als schwach und geisteskrank noch. So heißt es 1933 in

einem Eintrag: "Ohne Bau schleppe ich Eva sicher nicht mehr lange durchs Leben."

129

Der Bau des Hauses in Dölzschen war aus finanziellen Gründen erschwert worden. Eva

klammerte sich aber so an dem Bau des Hauses fest, dass er für Eva laut Klemperer

lebensnotwendig war. In solchen Einträgen zeigt Klemperer sich als sorgsamer

Ehemann. So las er beispielsweise auch viel für Eva vor, wenn sie das Bett nicht

verlassen konnte. Auffallend ist ebenfalls, dass Klemperer in den ersten zwei Jahren des

nationalsozialistischen Regimes Evas politische Meinungen kaum hervorhebt. Dies alles

ändert sich ab 1935. Von diesem Zeitpunkt an werden Evas Meinungen immer stärker

betont und scheint Klemperer die Frau mehr und mehr zu bewundern. Die physischen

und mentalen Beschwerden werden nur noch sporadisch angesprochen, zum Beispiel

wenn die von Eva so geliebte Katze einschläfern musste. 1935 änderte sich die Lage mit

den Nürnberger Gesetzen denn auch dramatisch. Die Nationalsozialisten haben mit den

Gesetzen versucht, die Mischehen aufzulösen. Für Klemperer stand eine Trennung von

der "arischen" Frau mit einem Todesurteil gleich. Eva hat aber unter dem Druck, sich

von dem jüdischen Ehemann zu trennen, standgehalten und eine Trennung nie erwogen.

Klemperer hat es mindestens nie vermutet, denn er hat hierauf in dem Tagebuch nie

127

Bartov: "The last German", S. 36.

128

Reiss: "Victor Klemperer. Reflections on his Third Reich Diaries", S. 73.

129

Klemperer: Ich will Zeugnis ablegen. Band 1, S. 46.

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51

angespielt.

130

Wenn immer strengere Judenanordnungen in Kraft gesetzt wurden, blieb

Eva nichts übrig als das Einkaufen usw. auf sich zu nehmen. Nachdem das Tragen des

Judensternes verpflichtet worden war, wollte Klemperer nicht länger tagsüber draußen

sein und nur noch "im Schutz der Dunkelheit ein bißchen Luft schöpfen."

131

Deswegen

sollte Eva alle Einkäufe übernehmen, was für eine Frau mit einer schwachen

Gesundheit eine erschöpfende Aufgabe war, besonders weil es allen Geschäften an

Essenswaren fehlte. So entwickelt Eva sich von einer fast behinderten Frau zu einer

Heldin. Die unzählbaren Leistungen, die sie nicht nur für den jüdischen Ehemann,

sondern auch für andere befreundete Juden gemacht hat, sind außerordentlich. Dabei

soll man nicht vergessen, dass auch sie, als "arische" Ehefrau eines Juden, die

Entbehrungen, Beschimpfungen, Schläge und Drohungen der Gestapo erleiden

musste.

132

Außerdem hat Eva auch die Manuskripte des Tagebuches jedes Mal zu Dr.

Köhler gebracht und dadurch ihre Rettung gesichert, was Evas Heldenstatus bestätigt.

Besonders am Ende des Krieges scheint es, als ob Eva in schweren Zeiten die stärkere

ist. Wenn Eva und Victor Klemperer nach dem Bombenangriff auf Dresden die Flucht

durch Sachsen und Bayern unternommen haben, war es sie, die kräftig die

Entscheidungen genommen und Fluchtpläne gemacht hat. So können wir am 2. April

1945 Folgendes lesen:

Da wir aber, einmal entdeckt, auf alle Fälle verloren sind, so kommt es auf ein
bißchen mehr oder weniger Urkundenfälschung (meint Eva, und ich stimme ihr
bei, und sie hat den entscheidenden Federzug vorher geübt) nicht mehr an.

133

Eva entscheidete, dass sie für ihre Sicherheit den Namen besser in Kleinpeter ändern

konnten. An dieser Stelle hebt Klemperer hervor, dass Eva diejenige war, die bei der

Flucht das Denken und die Entscheidungen von ihm übernahm. Einige Zeilen später

notierte Klemperer auch Folgendes:

Ich bin mir bewußt, daß die Durchführung des von Eva gefundenen Planes von
Eva abhängt; sie muß überall die Handelnde und Sprechende sein, meine
Geistesgegenwart oder Ruhe oder Tapferkeit reicht nicht aus, allein wäre ich
bestimmt verloren. Ich bin mir durchaus bewußt, wie sehr sie ihr Leben aufs Spiel
setzt, um meines zu retten.

134

130

Julia M. Klein: "Klemperer’s List" In: Nation 59 (2000), S. 44.

131

Klemperer: Ich will Zeugnis ablegen. Band 4, S. 165.

132

Reiss: "Victor Klemperer. Reflections on his Third Reich Diaries", S. 78.

133

Klemperer: Ich will Zeugnis ablegen. Band 8, S. 84.

134

Klemperer: Ich will Zeugnis ablegen. Band 8, S. 84.

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52

Die Kraft von Eva, die an dieser Stelle hervorgehoben wird, steht im großen Kontrast

mit dem Bild, das wir am Anfang der Tagebücher der Nazijahre von Eva bekommen.

Von der kränklichen, depressiven Frau, die Klemperer ständig um Versorgung und

Erleichterung bat, ist nicht mehr die Rede. Die Bewunderung Klemperers für Evas Mut

und Unerschütterlichkeit am Ende des Krieges kennt offensichtlich keine Grenzen. Das

(Über-)Leben hat Klemperer anscheinend Eva zu verdanken.

1.2.3 – Heimatlosigkeit

Genauso wie Eva sich an dem Haus in Dölzschen und dem dazugehörende Garten

festklammerte, hat auch Klemperer sich in den grausamen Jahren des

Nationalsozialismus einen Halt gesucht. Anfangs hat er vor allem eine Weise gesucht,

um aus dem bedrückenden Alltag auszubrechen. Die Freiheit war für Klemperer und

Eva lebensnotwendig, und die allmählichen Freiheitsbeschränkungen waren für die

beiden denn auch sehr belastend. Um aus dem Alltag herauszukommen, entschloss

Klemperer sich nach der Entlassung, den Führerschein zu machen, und ein Auto zu

kaufen, was ihm bei großer Anstrengung letztendlich auch gelungen ist. Die

Spazierfahrten mit dem Wagen bedeuteten, abgesehen von den zahlreichen Pannen und

Reparaturen, die einzigen und letzten Momente der Freiheit. So heißt es im August

1937, nachdem Klemperer etwas Geld, das stärkere Bezinausgaben ermöglichte,

bekommen hatte: "und so rollen wir eben aus der Hitze und dem Küchendienst und der

Misere trübster Gedanken wieder und wieder heraus, solange eben der Vorrat reicht".

135

In der Beschreibung der Fahrten stehen die Landschaften und Orte oft an zentraler

Stelle. Das Gefühl der Freiheit weit weg von zuhause und aus dem Elend heraus wurde

aber von den Nazis mit dem Entzug des Führerscheins 1938 zerschlagen. Im

Jahresrésumé 1938 zählt er die gemachten Fahrten auf "und so viele kleine Fahrten und

die Freiheit der Besorgungen. – Und dann von Zeit zu Zeit das Kino, das

Auswärtsessen. Es war doch ein Stückchen Freiheit und Leben."

136

In den nächsten

Jahren des Krieges wurde ihm die Freiheit immer mehr entnommen. So beschwerte sich

Klemperer zunächst über die Isolation und die Einsamkeit, in denen er sich nach der

Auswanderung vieler Freunde und Bekannten befand. Wenn Eva und er aber ins

135

Klemperer: Ich will Zeugnis ablegen. Band 3, S. 46.

136

Klemperer: Ich will Zeugnis ablegen. Band 3, S. 125.

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53

Judenhaus einziehen mussten, hat sich ironischerweise die Einsamkeit in das Gefühl der

Klaustrophobie umgewandelt. Alles Private wurde ihnen im Ghetto-Leben der

Dresdener Judenhäuser entnommen. Erst wenn Dresden von dem Bombenangriff der

Alliierten vernichtet wurde, konnten sie dem Dresdener Ghetto entfliehen und

gewannen sie teilweise ihre Freiheit zurück. Eva riss ihrem Mann den Judenstern und

damit auch die jüdische Identität auf, nach dem sie die Wanderung anfingen. Julia Klein

hebt hervor, dass die Beschreibung der Wanderung und des Kriegsendes besonders

pikaresk anmutet.

137

Es ist auch tatsächlich so, dass Eva und Victor Klemperer auf ihrem

langen Fußweg verschiedene Male in Bahnhöfen übernachten und um Essen betteln

mussten. Die Probleme des Hungers und der Obdachlosigkeit waren zwar noch nicht

überwunden, aber um die Drohung der Gestapo und Evakuierung mussten sie sich nicht

länger kümmern. Schließlich erlebten sie in dem Dorf Unternbernbach das Kriegsende

mit dem Einmarschieren der amerikanischen Truppen. Sie entschlossen sich, nach

Dresden zurückzukehren und wurden dort freundschaftlich von einem Freund

empfangen.

Dies war die Wendung zum Märchen. Frau Glaser empfing uns mit Tränen und
Küssen, sie hatte uns für tot gehalten. Er, Glaser, war etwas klapprig und
apathisch. Wir wurden gespeist, wir konnten uns ausruhen. Am späteren
Nachmittag stiegen wir nach Dölzschen hinauf.

138

Trotz der märchenhaften Darstellung der Rückkehr, bedeutete die Vernichtung von

Dresden für Klemperer aber auch einen harten Schlag, weil er dadurch völlig heimatlos

wurde. Bereits Jahre zuvor hatte Klemperer das Zugehörigkeitsgefühl zu Deutschland

verloren. In seinen Überzeugungen fühlte er sich schon längst heimatlos. Schon 1938

berichtete er im Tagebuch:

Wie tief wurzelt Hitlers Gesinnung im deutschen Volk, wie gut war seine
Arierdoktrin vorbereitet, wie unsäglich habe ich mich mein Leben lang betrogen,
wenn ich mich zu Deutschland gehörig glaubte, und wie vollkommen heimatlos
bin ich.

139

Das Gefühl der Heimatlosigkeit spiegelt die erschütterte Identität Klemperers wider.

Ebenso wie der Führerschein ihm einige Freiheit geboten hatte, so waren auch das

Schreiben und das Tagebuch für Klemperer wichtige Mittel in der Flucht aus dem

137

Klein: "Klemperer’s List", S. 46.

138

Klemperer: Ich will Zeugnis ablegen. Band 8, S. 200.

139

Klemperer: Ich will Zeugnis ablegen. Band 3, S. 77.

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54

alltäglichen Elend. So kann das Tagebuch als neue Heimat betrachtet werden. Es erlaubt

ihm, im Schreibprozess der Angst und den Grausamkeiten zu entkommen. In ihrem

Artikel "Jüdisches Gedächtnis und Literatur" weisen Bannasch und Hammer darauf hin,

dass die Tora für die Juden nach der Austreibung aus dem Vaterland, Israel, zum

portativen Vaterland wurde. Die Identität gründete nicht mehr auf einer territorialen

Heimat, sondern auf einer Textlichen.

140

Im Fall Klemperers könnte man sagen, dass die

Tagebücher und die Schreibarbeit selber zu der Konstruktion einer neuen Heimat und

einer neuen Identität beigetragen haben.

Als Fazit kann man also behaupten, dass Klemperer das Tagebuch nicht nur als

historisches Dokument ('Zeugnis ablegen'), sondern auch als Mittel der

Selbstbehauptung geschrieben hat. In LTI umschrieb er die Funktion des Tagebuches

selber wie folgt:

Mein Tagebuch war in diesen Jahren immer wieder meine Balancierstange, ohne
die ich hundertmal abgestürzt wäre. In den Stunden des Ekels und der
Hoffnungslosigkeit, in der endlosen Öde mechanischster Fabrikarbeit, an
Kranken- und Sterbebetten, an Gräbern, in eigener Bedrängnis, in Momenten
äußerster Schmach, bei physisch versagendem Herzen – immer half mir diese
Forderung an mich selber: beobachte, studiere, präge dir ein, was geschieht –
morgen sieht es schon anders aus, morgen fühlst du es schon anders; halte fest,
wie es eben jetzt sich kundgibt und wirkt.

141

Das Tagebuch war also das Einzige, was ihm den Tag hindurch geholfen hat. Das

Beobachten und Studieren verschafften Klemperer die Selbstbestätigung und die

Sicherheit, die er brauchte, sich immer wieder motivieren zu können. Das Tagebuch

sollte jedes Detail umfassen, denn 'morgen sieht es schon anders aus, morgen fühlst du

es schon anders'. Diese Aussage suggeriert, dass die eigene Einsichte auf die Umstände

und auf sich selbst (du!) von Tag zu Tag wechselten. Sowohl die Lage als auch die

eigene Identität wurden so jeden Tag von Klemperer evaluiert. Es war ihm wichtig, die

Wirkung und Stimmung jedes Momentes festzuhalten. Besonders die immer

wechselnde Stimmung des deutschen Volkes hat ihn sehr interessiert. Im Folgenden

wird die Bedeutsamkeit der voces populi und die Realisierung der Mehrstimmigkeit in

den Tagebüchern untersucht.

140

Bettina Bannasch & Almuth Hammer: "Jüdisches Gedächtnis und Literatur." In: Gedächtniskonzepte

der Literaturwissenschaft. Theoretische Grundlegung und Anwendungsperspektiven. Hg. v. Astrid Erll
und Ansgar Nünning. Berlin/New York: de Gruyter 2005, S. 277.

141

Victor Klemperer: LTI. Die unbewältigte Sprache. Aus dem Notizbuch eines Philologen. München:

Deutscher Taschenbuch Verlag 1969, S. 17.

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55

2. Mehrstimmigkeit

In der Besprechung der zwei wichtigsten Tagebuchfunktionen kam schon zur

Sprache, dass in den Tagebüchern eine Wechselwirkung zwischen Innerlichkeit und

Öffentlichkeit vorhanden ist. An erster Stelle bezog diese sich auf das Persönliche und

das Historische. In folgendem Abschnitt beruht sie auf den inneren und äußeren

Perspektiven, die die Tagebücher aufweisen. Nicht nur die Stimme und Perspektive

Klemperers ist in den Tagebüchern vertreten, sondern auch die vieler Anderen. Die

äußere Perspektive bezieht sich auf die Meinungen von sowohl Personen aus

Klemperers direkter Umgebung, als auch von für ihn Unbekannten. Zusammen bringen

sie die Mischstimmung, die während des Naziregimes in Deutschland herrschte, zum

Ausdruck. Dadurch, dass Klemperer die vielen Meinungen im Tagebuch aufgezeichnet

hat, wird dem Leser eine nuancierte Sicht auf die herrschende Volksstimmung, auf die

Klemperer als vox populi verweist, geboten. Die Darstellung der vox populi kann

außerdem auch als wichtiger Beitrag zur historiographischen Debatte der

Nachkriegszeit betrachtet werden. Dies wird am Ende des Kapitels ausführlich

besprochen. Zunächst werde ich aber die verschiedenen Stimmen in den Tagebüchern

untersuchen.

2.1 – Die Stimmung und Stimmen im Tagebuch:

Vox Populi oder Voces Populi

Die verschiedenen Stimmen, die im Tagebuch vorhanden sind, beziehen sich auf

die inneren und äußeren Perspektiven, von denen aus dem Leser Auskünfte erteilt

werden. Die innere Perspektive verweist auf Klemperers eigene Meinungen und seine

eigene Sicht auf die Erlebnisse, während die äußere in die Stimmen und Überzeugungen

anderer Personen zerfällt. Dabei soll man aber in Acht nehmen, dass ein Tagebuch

vorliegt. Deswegen sind beide Perspektiven von Klemperer aufgezeichnet worden und

konnten von ihm zu jeder Zeit modifiziert werden. Weiter wird auch im vorliegenden

Abschnitt besprochen, wie die einzelnen Stimmen sich zu einer Stimmung entfalten, die

Klemperer als die vox populi bezeichnet. Zunächst wird aber auf die Wechselwirkung

zwischen inneren und äußeren Perspektiven und auf die Art und Weise, wie sie im

Tagebuch dargestellt worden sind, näher eingegangen.

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56

2.1.1 – Die Stimmen aus der vertrauten Umgebung

Die Perspektive, die neben der inneren von Klemperer am meisten an die Reihe

kommt, ist ohne Zweifel die Stimme Evas. Während der Besprechung von Evas Rolle

und Charakter ist schon erwähnt worden, dass Eva im Laufe der Tagebücher eine tief

greifende Veränderung erfahren hat. Während Klemperer anfangs ihre physisch und

psychologisch schwierige Lage betont hat, treten am Ende der Tagebücher besonders

ihre Stärke und die Willenskraft in den Vordergrund. Auffallend ist aber, dass die

Meinungen Evas in Bezug auf die Kriegslage fast nie direkt wiedergegeben werden.

Meistens sind ihre Gedanken in indirekter Rede dargestellt. Ein Beispiel unter vielen

notierte Klemperer am 11. Februar 1945, nachdem er schärfste Militärkontrolle von

Soldaten und SA festgestellt hatte, weil russische Fallschirmer in deutschen Uniformen

gelandet und sich versteckt halten würden:

Wiederum: Was könnten einzelne Fallschirmer hier ausrichten? Und, das sagt
Eva, wozu die Kontrolle? Gute Pässe hätten diese Fallschirmer sicherlich. Freilich
sagt Eva auch: Wozu das Schanzen? Es halte ja doch nicht auf.

142

Evas Meinung wird an dieser Stelle also betont. Jedoch wird sie in indirekter Rede

dargestellt. Die ständige indirekte Wiedergabe Evas Reden mutet vor allem fremd an,

weil die Gespräche Klemperers mit anderen Personen öfters in direkter Rede in den

Tagebüchern erscheinen. Das lässt sich vielleicht so erklären, dass Klemperer in den

meisten Fällen Evas Meinungen zu teilen scheint. Während er mit den Anderen nur

selten einverstanden ist, einigt er sich meistens mit Evas Feststellungen, und tragen ihre

Gedanken zu Klemperers eigener Ansicht bei. Auch deutet Klemperer darauf hin, wenn

Eva etwas Wichtiges gehört hat oder ihm auf etwas Bezeichnendes aufmerksam

gemacht hat.

Eva hört im Restaurant, wie ein Herr zwei Frauen die Liste der »Ausgestoßenen«
vorlas. [...]
LTI. 1) Eva machte mich auf »Aktion« aufmerksam. Ich glaube, ich habe das nie
notiert, obwohl es doch eines der allerältesten Schlagworte ist. Jede performance,
von allem Anfang an, gegen Rotfront, gegen Juden, gegen Parteien etc. ist
Aktion.

143

142

Klemperer: Ich will Zeugnis ablegen. Band 8, S. 26.

143

Klemperer: Ich will Zeugnis ablegen. Band 7, S. 95-96.

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57

Da Eva als "Arierin" noch im Restaurant essen darf, und die meisten Einkäufe machen

soll, ist sie viel mehr als Klemperer im Stande, Gerüchte, Berichte und Gespräche

anderer Leute aufzufangen. Aus der Textstelle geht hervor, dass Eva ihm denn auch bei

seiner Aufzeichnungen von der Sprache des Dritten Reiches, LTI, behilflich gewesen

ist. In diesem Sinne kann man behaupten, dass Eva Klemperers Ansichten in positivem

Sinne beeinflusst, denn sie macht ihn auf Merkwürdiges und Auffälliges aufmerksam.

Die äußere Stimme Evas trägt zur Entwicklung der inneren Stimme Klemperers bei.

Feststellungen und Überzeugungen anderer Personen steuerten Klemperers eigene

Einsichten ebenfalls, aber eher in negativem Sinne. Wenn Klemperer in den

Tagebüchern die damalige Lage kommentierte, stellte sich in den meisten Fällen heraus,

dass er sich nicht mit diesen Stimmen einigte. Wie wir im Folgenden sehen werden,

konstruierte er auch anhand dieser Stimmen seine eigenen Gedanken und

Anschauungen.

Da Klemperer während der NS-Vorherrschaft mehr und mehr isoliert wurde,

stand er am meisten mit anderen Juden in Kontakt. Auch war er vor allem auf die Juden

angewiesen, um Auskünfte über die Lage zu bekommen. Besonders am Friedhof, auf

dem zwei Freunde Klemperers arbeiteten, und im Judenhaus konnte er in Gesprächen

mit verschiedenen Juden die Meinungen sammeln. Die Gespräche handelten natürlich

ins Besondere von der politischen Lage. Obwohl er die einzelnen Meinungen

aufzeichnete, verallgemeinerte er sie und teilte sie in optimistische und pessimistische

Stimmen auf. Seiner Meinung nach herrschte unter den Juden nur eine Stimmung, die

nicht mit seinen eigenen Überzeugungen übereinstimmte. So kommt es an

verschiedenen Stellen vor, dass Klemperer zunächst die allgemeine Stimme der Juden

dargestellt hat, und gleich danach die eigene Meinung davon abhebt. Schon am 9.

Oktober 1933 erwähnt er ein spezifisch jüdisches Verhalten:

Besonders widerlich ist uns das Verhalten mancher Juden. Sie fangen an, sich
innerlich zu fügen und den neuen Ghettozustand atavistisch als einen
hinzunehmenden gesetzlichen Zustand anzusehen.

144

Ihr Verhalten ist ihm widerlich und er kann nicht verstehen, dass manche Juden sich

ohne Widerstand ihrem Schicksal ergeben. Die allgemeine Stimmung begründet

Klemperer, indem er die verschiedenen Stimmen gleich danach aufzählt.

144

Klemperer: Ich will Zeugnis ablegen. Band 1, S. 58.

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58

Gerstle, der Direktor des lukrativen Feigenkaffees, nebenbei Schwager des
ausgewanderten Jule Sebba, sagt, Hitler sei ein Genie, und wenn nur erst der
Außenboykott Deutschlands aufhöre, werde man leben können; Blumenfeld
meint, man dürfe »sich nicht von Wunschträumen nähren« und »müsse sich auf
den Boden der Tatsachen stellen«; Vater Kaufmann – sein Sohn in Palästina! –
spricht ähnlich, und seine Frau, die ewige Gans, hat sich an die Schlagwörter der
Presse und des Rundfunks gewöhnt und papageit von dem »überwundenen
System«, dessen Unhaltbarkeit sich nun einmal erwiesen hätte. [...] Frau
Rosenberg erzählt, wie ihr als Anwalt matt gesetzter Sohn Erwerb sucht und das
Auswandern erwägt – und die alten Kaufmanns söhnen sich mit dem gegebenen
Zustand aus!

145

Die einzelnen Stimmen, die in diesem Eintrag vertreten sind, sind im Allgemeinen

indirekt wiedergegeben. Das Unverständnis Klemperers diesen Meinungen gegenüber

kommt aber doch deutlich zum Ausdruck. Beispielsweise durch die Verwendung des

Ausrufezeichens tritt Klemperers Empören in den Vordergrund. Die Stellen, die in

Anführungszeichen gestellt worden sind, drücken nicht wirklich eine direkte Rede aus,

denn der Konjunktiv wird auch innerhalb der Anführungszeichen 'müsse' noch

verwendet. Die Aussagen Blumenfelds scheinen von den Juden oft verwendete

Ausdrücke zu sein, was ihre Stellung erklären könnte. Bei dem 'überwundenen System'

wird durch die Anführungszeichen klar, dass es sich um aus der Presse und aus dem

Rundfunk übernommene Wörter handelt. Außerdem lässt die Aussage 'die ewige Gans'

in Bezug auf Frau Kaufmann Klemperers Gefühl der Widrigkeit nicht bezweifeln. Der

nächste und letzte Schritt in Klemperers Strategie der Stimmendarstellung ist dann die

eigene Schlussfolgerung des Gesagten.

Ein Hundsfott, wer nicht jede Stunde des Tages auf Empörung hofft! Evas
Erbitterung ist noch größer als meine. Der Nationalsozialismus, sagt sie, genauer:
das Verhalten der Juden zu ihm, mache sie antisemitisch.

146

Klemperers Antwort auf die jüdischen Stimmen ist hart. Er hofft noch immer auf den

Aufstand und das Zusammenbrechen des Regimes. Auch Eva sind die jüdischen

Auffassungen widerlich, sie machen sie, wie sie selber sagt, antisemitisch. Die

Meinungen der jüdischen Gemeinschaft finden also sowohl bei Eva als bei Victor

Klemperer keinen Beifall. Auch ein Jahr später, im Jahre 1934, verwendet er noch

immer die gleiche Strategie und kontrastiert die eigene Meinung mit dem Pessimismus

der Juden.

145

Klemperer: Ich will Zeugnis ablegen. Band 1, S. 58.

146

Klemperer: Ich will Zeugnis ablegen. Band 1, S. 58.

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59

Meinungen auszutauschen, hat jeder Verlangen, weil aus Zeitungen gar nichts
mehr entnommen werden kann. Am widerlichsten ist mir der spezifisch jüdische
Pessimismus mit seiner angenehmen Gefaßtheit. Ghettogesinnung, neu erwacht.
Man tritt uns, das ist nun einmal so. Wenn wir nur unsere Geschäfte machen
können und kein Pogrom kommt. Besser Hitler als ein Schlimmerer. Neulich ein
Abend bei Frau Schaps war schlimm in dieser Richtung. Und Blumenfelds fühlen
sich hier in ihrem Element, denken ebenso. -

147

An dieser Stelle bildet anfangs 'jeder', der Meinungen auszutauschen verlangt, einen

Kontrast zu dem 'spezifisch jüdischen Pessimismus'. Die jüdische Gemeinschaft grenzt

sich dem Anschein nach von den anderen Meinungen ab und gräbt sich in den

Pessimismus ein. Die Lage werden sie doch nicht ändern können, sie können also nur

noch hoffen, dass kein Pogrom kommt. Besonders die Tatsache, die Klemperer hier

auch hervorhebt, dass Hitler angeblich noch nicht so schlimm sei, deutet darauf hin,

dass die Juden sich zu diesem Zeitpunkt völlig in ihrem Schicksal gefügt haben. Ihr

Schicksal hat sich aber nachher auf grausame Weise verschlimmert. Ihre Meinungen

haben sich denn auch allmählich geändert. Der Pessimismus der Juden hat sich nach

immer strenger werdenden Maßnahmen und Verordnungen in eine Art Optimismus

umgewandelt. Sie haben immer mehr an das Zusammenbrechen des Regimes geglaubt

und gedacht, es könne doch nicht noch schlimmer werden. 1941 berichtete Klemperer:

"Jahre hindurch war ich zuversichtlich und die Judenheit um mich schwarz-

pessimistisch. Jetzt ist es genau umgekehrt".

148

Und in einem Eintrag von einigen Tagen

später heißt es: "In der Judenheit herrscht überall größter Optimismus, während ich

früher, als alle verzweifelten, zuversichtlich war".

149

Auch wenn der Meinung der

"Judenheit" einem Wandel unterlag, hat Klemperer sich noch immer von ihren

Überzeugungen abgehoben. Obwohl der Optimismus aus verschiedenen Quellen kam,

konnte Klemperer den Quellen keinen Glauben schenken.

Der jüdische Optimismus sickert aus hundert Quellen. Kreidl sen.: »Mein Bruder
schreibt aus Prag […] »Deutschland siegt an allen Fronten für Europa.« Frau Voß:
Herr Kussi war aus Holland hier und erzählte Frau Aronade, die Deutschen seien
vor Petersburg gestoppt, ihre Verluste … usw. usw.

150

Die vorliegende Beschreibung Klemperers der Begründung des Optimismus vonseiten

den Juden mutet sehr ironisch an. Die Unzuverlässigkeit der Quellen wird dadurch

147

Klemperer: Ich will Zeugnis ablegen. Band 1, S. 171.

148

Klemperer: Ich will Zeugnis ablegen. Band 4, S. 149.

149

Klemperer: Ich will Zeugnis ablegen. Band 4, S. 154.

150

Klemperer: Ich will Zeugnis ablegen. Band 4, S. 154.

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60

hervorgehoben, dass Klemperer zum Beispiel den Bericht von Frau Voß gehört hat, die

es von Frau Aronade erfahren hat, die sich aber ihrerseits auf Herrn Kussi verlassen hat.

Auch das Hinzufügen des 'usw. usw.' weist darauf hin, dass Klemperer die Quellen

nicht traute. Andererseits soll auch bemerkt werden, dass es zu diesem Zeitpunkt keine

anderen Quellen als Gerüchte gegeben hat, und davon war Klemperer sich auch

bewusst. So schrieb er: "Eigentümlichkeit des Judenhauses, wie jeder die

Volksstimmung erfassen möchte und von der letztgehörten Äußerung des Friseurs oder

Schlächters etc. abhängig ist. (ich auch!)"

151

Genauso wie die Mitbewohner des

Judenhauses und die ganze jüdische Gemeinschaft, war Klemperer von unzuverlässigen

Berichten abhängig. Besonders die Hinweise auf den Friseur und den Schlachter heben

die Unzuverlässigkeit der Nachrichte hervor, weil sie normalerweise als Drehscheiben

für Klatschgeschichten betrachtet werden können. Zu diesem Zeitpunkt waren solche

Quellen aber die einzigen, auf die man sich verlassen konnte. Merkenswert ist auch,

dass Klemperer noch immer dieselbe Strategie verwendete, um die eigene Meinung im

Tagebuch aufzuzeichnen. Nachdem er seine eigenen Auffassungen mit den Meinungen

der Juden kontrastiert hatte, stellte er die einzelnen Stimmen der Juden und ihre Quellen

dar. Je schlimmer die Judenhetze aber wurde, desto schwieriger konnte Klemperer an

dem Gefühl der Widrigkeit der jüdischen Meinung gegenüber festhalten. So bekommen

wir in den Einträgen aus dem Jahr 1943 ein ganz anderes Bild, wenn Klemperer das

Folgende notierte:

Überall die gleiche Stimmung: verzweifelte Bitterkeit, Angst um das eigene
Leben, flakkernde Hoffnung und – vor allem - »ich lebe noch, ich lebe noch, ich
lebe noch!« (in der wechselnden Betonung).

152

Während Klemperer jahrelang die Stimmung der Juden nicht teilen gekonnt hat, stellt er

1943 fest, dass er sie nicht länger bestreiten kann. Es hat sich herausgestellt, dass sobald

der Überlebungstrieb in den Vordergrund tritt, alle sich nur noch damit beschäftigen

könnten. Die Abwechslung zwischen Bitterkeit, Angst und Hoffnung, auf die

Klemperer an dieser Stelle hindeutet, hat jeder gefühlt. Noch deutlicher formulierte

Klemperer die geteilten Gefühle am 29. März 1943: "Ich bin fortgesetzt sehr abgespannt

– Herzbeschwerden, ständige Müdigkeit – und sehr deprimiert. Die Depression teile ich

151

Klemperer: Ich will Zeugnis ablegen. Band 4, S. 38.

152

Klemperer: Ich will Zeugnis ablegen. Band 6, S. 41.

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61

mit der ganzen Judenheit".

153

Obwohl Klemperer behauptet, dass er seine Depression

mit der ganzen Judenheit teilt, wird an dieser Stelle und in den gesamten Tagebüchern

jedoch vor allem die eigene Depression betont. Von den eigenen Gefühlen und

Gedanken ausgehend, hat er die allgemeine Stimmung zu skizzieren versucht.

Klemperer war zwar an die Stimmen anderer Personen interessiert, das eigene Ich

scheint aber immer an erster Stelle zu stehen. Das Interesse an die Meinung der

jüdischen Gemeinschaft diente also zur Konstruktion der eigenen Gedanken und, wie

wir im Folgenden sehen werden, zum Aufbau seiner wissenschaftlichen Untersuchung

nach der Volksstimmung.

Aus der Besprechung geht hervor, dass Klemperer aus den verschiedenen

Stimmen eine allgemeine Stimmung abzuleiten versuchte. Obwohl die einzelnen

Stimmen für ihn von großer Bedeutung waren, war es seiner Meinung nach die

Stimmung, die eine Änderung in Gang setzen konnte. Beim Aufzeichnen der Stimmen

hat er leitmotivisch den Begriff vox populi verwendet, d.h. die Stimme des Volkes.

Wolfgang Mieder weist darauf hin, dass der Begriff von dem lateinischen Sprichwort

"Vox populi, Vox Dei" stammt, was 'die Stimme des Volkes ist die Stimme Gottes'

bedeutet.

154

Das Sprichwort verweist im Kontext der Tagebücher darauf, dass Hitler sich

selbst als Gottesfigur aufgeworfen hat und behauptet, die Meinung des Volkes zu

vertreten. Bei der Entwicklung des Zusammenhangs zwischen Hitler und der vox populi

hat die Propaganda eine immense Rolle gespielt, auf die im Folgenden noch

zurückgekommen wird.

2.1.2 - Die deutsche vox populi

Klemperer unterscheidet in den Tagebüchern zwischen den vox populi der Juden

und der allgemeinen vox populi. Wie schon besprochen, hat er die Meinung der Juden

verallgemeinert und sie aufgrund der einzelnen Stimmen auf eine allgemeine

Stimmung, entweder Optimismus oder Pessimismus, zurückgeführt. Die allgemeine

Volksstimmung ist etwas schwieriger herauszufinden. Aus den einzelnen deutschen

Stimmen schließt Klemperer anfangs, dass das deutsche Volk tatsächlich den

Nationalsozialismus Hitlers repräsentiert. In diesem Sinne gäbe es auch beim deutschen

153

Klemperer: Ich will Zeugnis ablegen. Band 6, S. 48.

154

Mieder: "In Lingua Veritas", S. 17.

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62

Volk nur eine einzelne Stimmung. Besonders am Anfang des Krieges scheint das Volk

völlig von der nationalsozialistischen Doktrin begeistert zu sein. Es wurde Klemperer

schnell klar, dass die stärkste Waffe der Nazis innerhalb Deutschland die Sprache war.

Schon 1934 wies er darauf hin, wie Presse und Rundfunk die lügnerische

nationalsozialistische Propaganda verbreiteten, als er notierte "Wahrheit spricht für sich

– aber Lüge spricht durch Presse und Rundfunk".

155

Die Wahrheit und Lüge werden in

dieser Aussage zum Subjekt des Sprechens, was zuerst fremd anmutet. Sowohl die

Wahrheit als auch die Lüge 'sprechen' und decken die Intention der Nazis auf. Dieser

Eintrag erinnert an eine andere Aussage Klemperers: "Gegen die Wahrheit der Sprache

gibt es kein Mittel".

156

Die Sprache kann Klemperers Meinung nach nur die Wahrheit

aussagen. Die Lügen der Nazi-Propaganda werden direkt als solche anerkannt. Jedoch

haben die nationalsozialistischen Ideen sich durch die zielbewusste Propaganda

allmählich in das Bewusstsein der Deutschen eingegraben. In LTI behauptet Klemperer,

dass man die Sprache trotzdem nicht als bewusstes Propagandamittel eingesetzt hat.

Nicht die Einzelreden Hitlers oder anderer Naziprominenten, ihre Ausführungen zu

diesem und jenem Gegenstand oder ihr Hass gegen Juden und Bolschewisten waren am

Einflussreichsten, denn Vieles konnte die Masse davon nicht verstehen. Auch der

Einfluss der Plakate, Artikel und Flugblätter war laut Klemperer begrenzt. Die immer

wiederholten Einzelwörter, Redewendungen und Satzformen dagegen drangen in das

Unterbewusstsein der Masse hinein.

157

In den Tagebüchern stellt sich aber heraus, dass

die Sprache der Propaganda trotzdem bewusst angewendet wurde, und dass auch die

Plakate, Artikel und Flugblätter besonders einflussreich gewesen sein müssen. Als

Hauptmerkmal des nazistischen Sprachgebrauchs sah Klemperer die Wiederholung. So

weist auch Bartov darauf hin, dass

Klemperer demonstrated how Nazism penetrated the minds of Germans through
single words, through the manner of speech and through the construction of
sentences, until even the opponents and the victims of the regime subconsciously
adopted its modes of expression.

158

Durch Wiederholung wurde die Sprache der Nazis in das Unterbewusstsein der Masse

aufgenommen. Im vorigen Kapitel ist schon erwähnt worden, dass Klemperer die

155

Klemperer: Ich will Zeugnis ablegen. Band 1, S. 87.

156

Klemperer: Ich will Zeugnis ablegen. Band 5, S. 58.

157

Klemperer: LTI, S. 22-23.

158

Bartov: "The last German", S. 36.

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63

Dummheit und Primitivität der Masse hervorgehoben hat. Auf dieser Dummheit

basierte die Propagandastrategie der Nazis. Laut Bartov hatten auch die Gegner und

Opfer des Regimes sich die Sprachformeln der Nazis angeeignet. Mit dieser These war

Klemperer einverstanden. In folgender Textstelle wird deutlich, wie die Einzelwörter

der Nazis in das Unterbewusstsein der Bevölkerung eingedrungen sind.

Frau Hirschel sagte, sie sei gleich ihrem Mann liberal jüdisch (nicht orthodox)
und fanatisch deutsch. Ich klärte sie über das Wort fanatisch auf. »Fanatisch
deutsch« ein contradictio in adjecto, »Fanatisch« ein Lieblingswort Hitlers. Sie:
»Ich meine leidenschaftlich, ich werde fanatisch nicht mehr gebrauchen«.

159

Frau Hirschel betont an dieser Stelle, dass ihre jüdische Identität für sie der deutschen

unterlegen ist. Die Tatsache, dass sie dafür ein Lieblingswort Hitlers 'fanatisch'

anwendet, dieses Wort aber unmittelbar zurücknimmt, wenn sie über seine Bedeutung

von Klemperer aufgeklärt wird, wirkt hier hoch ironisch. Klemperer deutet 'fanatisch

deutsch' als contradictio in adjecto, was einen Widerspruch impliziert. Fanatisch und

deutsch sind für ihn offensichtlich unvereinbar. Klemperer war sich auch davon

bewusst, dass sogar er selber nicht für die Sprache der Nazis immun war. Am 2. August

1944 notierte er hierzu:

Krise ist das aktuelle Beschönigungswort für »Niederlage« - absolut sicher. Und
da diese eiserne Stirn und dies einhämmernde Wiederholen selbst mich
beeinflußt, wie sollte es die Masse des Volkes unbeeinflußt lassen?

160

Aus dieser Textstelle geht also hervor, dass auch Klemperer, der die Sprache des Dritten

Reiches untersuchte, sich von den ständigen Wiederholungen in der Propaganda

beeinflussen ließ. Deswegen war er auch davon überzeugt, dass sie auf die Masse

bestimmt eine große Wirkung hatte. Die Wirkung des nationalsozialistischen

Sprachgebrauchs kommentierte er auch 1944 anhand des folgenden Beispiels.

Die Wirkung der Propaganda: Frau Belka fragt mich schon wiederholt: »Haben
Sie eine deutsche Frau?« - »Hat Jacobi eine deutsche Frau?« Usw. Mich
erschüttert das mehr als das Fremdwort »arisch«. Es zeigt, wie sehr die »totale
Abschnürung« der Juden im Volksbewußtsein geglückt ist.

161

Klemperer stellt im Gespräch mit Frau Belka fest, dass sie die Begriffe "deutsch" und

"arisch" miteinander verwechselt und beide zur Ausgrenzung von den Juden verwendet.

Wiederum hat Klemperer also einsehen müssen, dass die Propaganda wirklich in das

159

Klemperer: Ich will Zeugnis ablegen. Band 5, S. 209.

160

Klemperer: Ich will Zeugnis ablegen. Band 7, S. 93.

161

Klemperer: Ich will Zeugnis ablegen. Band 7, S. 49.

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64

Bewusstsein des Volkes aufgenommen war und die allgemeine Volksstimmung

überherrschte. In diesem Sinne kann man auch auf die "corruption of the German

language"

162

hinweisen. Die Nazis sollen mittels der Propaganda die deutsche Sprache

korrumpiert haben. Als Opfer konnte Klemperer offensichtlich diese Meinung teilen.

Obwohl er die Sprache des Dritten Reiches als Korruption der deutschen Sprache

empfunden hat, hat er aber immer verweigert, seine Studien in einer anderen Sprache

publizieren zu lassen. Obgleich er als Professor für Romanische Sprachen das

Französisch beherrschte, er imstande war, seine Studien auf Französisch zu schreiben,

und er wegen des Versagens der Publikationsmöglichkeiten auf Deutsch nichts

publizieren durfte, hatte Klemperer auf Deutsch weiterschreiben wollen. In einem Brief

schrieb er im Februar 1934 Folgendes.

Französisch zu publizieren passe für Herrn von Wartburg, nicht für mich, er sei
aus der dreisprachigen Schweiz und könne ihren Hotelstil dreisprachig anwenden,
als unpersönlicher Gelehrter und dürrer Mensch; ich müsse deutsch ausdrücken,
was ich deutsch fühle.

163

Seine Begründung umschreibt er anhand eines Gegensatzes von sich selbst zu einem

schweizerischen Autor. Der Gegensatz wird durch die Kursivschreibung (er und ich)

betont. Klemperer behauptet an dieser Stelle, dass Herr von Wartburg den

schweizerischen Stil dreisprachig anwenden kann, weil er aus der Schweiz selber

kommt, und weil er 'als unpersönlicher Gelehrter und dürrer Mensch' schreibt.

Klemperer könnte diesen Stil nicht verwenden, denn er wollte mit Sprache ausdrücken,

was er fühlte. Die Unpersönlichkeit des Stils von Herrn von Wartburg wird also in einen

Kontrast mit dem Gefühl Klemperers gesetzt. Außerdem scheint es aus diesem Gefühl

für Klemperer nur möglich zu sein, sich auf Deutsch auszudrücken. Obwohl die

deutsche Sprache von den Nazis korrumpiert wurde und sich so zu der Sprache der

Täter entwickelte, hielt Klemperer noch immer an der eigenen Muttersprache fest. Die

Sprache des Dritten Reiches hat ihn dann auch von Anfang bis Ende ungemein

interessiert. Seine Sicht auf die Propaganda hat er am Ende des Krieges wie folgt

zusammengefasst: "In der Kriegsführung mögen sich die Nationalsozialisten verrechnet

haben, in der Propaganda bestimmt nicht".

164

162

Bartov: "The last German", S. 36.

163

Klemperer: Ich will Zeugnis ablegen. Band 1, S. 91.

164

Klemperer: Ich will Zeugnis ablegen. Band 7, S. 36.

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65

Die Propaganda scheint sich hauptsächlich auf drei Themen konzentriert zu

haben, die unsere Aufmerksamkeit verdienen. Erstens gibt es natürlich den

Antisemitismus, den die Nazis von Anfang an ins Zentrum gestellt haben. Der

Antisemitismus wurde vor allem mit Slogans aufgebaut. Mieder deutet darauf hin, dass

solche Slogans meistens auf sprichwörtlichen Strukturen basierten.

165

Diese weit

verbreiteten Strukturen sind schon im Unterbewusstsein des Volkes vorhanden und

werden deswegen auch besser beibehalten. Schon am 25. April 1933 hat Klemperer

solch einen Slogan in das Tagebuch notiert:

Anschlag am Studentenhaus (ähnlich an allen Universitäten): »Wenn der Jude
deutsch schreibt, lügt er«, er darf nur noch hebräisch schreiben. Jüdische Bücher
in deutscher Sprache müssen als »Übersetzungen« gekennzeichnet werden.

166

Dieses Beispiel zeigt schon, wie die Juden allmählich aus der Gesellschaft ausgegrenzt,

von den Deutschen abgegrenzt und von den Nazis angegriffen wurden. Weitere

Beispiele, die Klemperer notiert hat, sind: "Die Juden sind unser Unglück", "Wer den

Juden kennt, kennt den Teufel"

167

, "Wer mit dem Juden kämpft, ringt mit dem Teufel"

168

oder "An allem nur der Jude Schuld".

169

Auch die Anschrift "Juden unerwünscht", die

sich später zu "für Juden verboten" änderte, gehört zu den antisemitischen Inschriften,

die man überall auf Anschlagtafeln lesen konnte.

170

Solche kurze Slogans mit

sprichwörtlichen Strukturen wurden außerdem ständig wiederholt. Es versteht sich, dass

sie denn auch allmählich in das Bewusstsein des Volkes eingetreten sind und den schon

vorhandenen Antisemitismus aufs Äußerste gesteigert haben. Nach zwölf Jahren von

antisemitischer Propaganda sah Klemperer 1945 ein, wie tief sie in das Gedächtnis des

Volks eingeprägt waren. In einem Gespräch am 21. März 1945, kurz vor dem

Kriegsende, erstaunte Klemperer sich nochmals über die riesige Resonanz des

antisemitischen Gedankens beim deutschen Volk:

165

Mieder: "In Lingua Veritas", S. 16.

166

Klemperer: Ich will Zeugnis ablegen. Band 1, S. 24.

167

Klemperer: Ich will Zeugnis ablegen. Band 2, S. 22.

168

Klemperer: Ich will Zeugnis ablegen. Band 2, S. 131.

169

Klemperer: Ich will Zeugnis ablegen. Band 6, S. 87.

170

Klemperer: Ich will Zeugnis ablegen. Band 4, S. 92.

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66

Amüsant das letzte Wort des Mädels. Sie sehe das alles ein, sie glaube an das
Recht aller Völker, die Überheblichkeit und Verrohung in Deutschland sei ihr
zuwider. - »nur die Juden hasse ich, da bin ich doch wohl ein bißchen beeinflußt«.
Ich hätte sie gern gefragt, wie viele Juden sie kenne, unterdrückte es aber und
lächelte bloß. Und merkte mir selber an, wie viel demagogische Berechtigung der
Nationalsozialismus hatte, als er den Antisemitismus ins Zentrum stellte.

171

Nachdem Klemperer mit dem Mädchen über dem Wesen der Propaganda und dem

"Auf-einen-Nenner-Bringen" der Völker gesprochen hatte, schien sie sich mit

Klemperers Meinung völlig einig zu sein. Ihre eigene Familie war nicht von deutscher

Herkunft und war von den Deutschen unterdrückt worden. Daher war sie damit

einverstanden, dass man die Leute eines Volkes nicht auf einen Nenner bringen soll.

Auch glaubte sie daran, dass jedes Volk über elementare Rechte verfügen soll.

Trotzdem hasste sie die Juden und war sich der Tatsache bewusst, dass dieser Hass der

Propaganda zuzuschreiben war. Sie hatte sich deutlich ein Urteil über die Juden nach

dem Modell der Zeit gebildet und vertrat so in Zusammenhang mit dem Antisemitismus

die allgemein deutsche Volksstimmung.

Das zweite große Thema in der nationalsozialistischen Propaganda, dem in den

Tagebüchern viel Aufmerksamkeit geschenkt wird, ist der Status Hitlers. Im Zeitalter

des Nationalsozialismus wurde Hitler ein göttlicher Status zugeschrieben. Er wurde in

vollkommen evangelischer Sprache als Retter Deutschlands und Erlöser des deutschen

Volkes gefeiert.

172

Die Behauptung, dass die vox Dei wirklich auf die Stimme Hitlers

zurückzuführen sei, wird dadurch auch begründet. Ob diese vox Dei mit der deutschen

vox populi übereinstimmte, ist dann noch die Frage. Der Bedeutsamkeit der Sprache in

diesem Prozess waren sich auch die Nazis bewusst. Im September 1934 kommentiert

Klemperer eine Rede Goebbels über Propaganda, in der es hieß: "Wir müssen die

Sprache sprechen, die das Volk versteht. Wer zum Volk reden will, muß, wie Martin

Luther sagt, »dem Volk aufs Maul schauen«".

173

Sowie Luther die Bibel für jeden

Menschen aus allen Schichten zugänglich machen wollte, haben auch die Nazis

versucht, ihre Doktrin nicht nur für jeden Menschen zugänglich zu machen, sondern

auch jeden Menschen aufzudringen. Von der Vergöttlichung Hitlers aus berücksichtigte

man eine "aktive Massenbeeinflussung", wie Klemperer es im Tagebuch wiedergab,

171

Klemperer: Ich will Zeugnis ablegen. Band 8, S. 74.

172

Klemperer: Ich will Zeugnis ablegen. Band 1, S. 23; S. 67.

173

Klemperer: Ich will Zeugnis ablegen. Band 1, S. 143.

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67

denn "die Unterführer betonen wieder: »Adolph Hitler ist Deutschland.«"

174

Die

Tatsache, dass so viele Deutsche an Hitler als Vertreter der deutschen Seele glaubten,

war auch Klemperer nicht entgangen. So war er immer mehr davon überzeugt, dass "die

Hitlerei vielleicht doch tiefer und fester im Volke wurzelt und der deutschen Natur

entspricht, als ich wahrhaben möchte".

175

In einem Eintrag vom 17. August 1937 ging er

noch weiter, wenn er notierte:

Und immer mehr glaube ich, daß Hitler wirklich die deutsche Volksseele
verkörpert, daß er wirklich »Deutschland« bedeutet und daß er sich deshalb halten
und zu Recht halten wird.

176

Aus dieser Textstelle geht hervor, dass die Stimme Hitlers allmählich die Stimme des

Volkes geworden ist. Anfangs hatte Klemperer noch an das eigene "Deutschtum"

geglaubt. Dem nationalsozialistischen Deutschland Hitlers wollte er aber nicht

angehören. Jedoch musste er sich damit abfinden, dass Hitler die wahre Meinung des

deutschen Volkes adäquat auszudrücken schien. In diesem Sinne wurde die vox Dei

tatsächlich zur vox populi. Der Status Hitlers als Gottesfigur im Nationalsozialismus

zeigte sich bis zum Ende des Krieges. Der allgemeine Glaube an Hitler ging Klemperer

fast über den Verstand. Am 4. Mai 1945 notierte Klemperer ein Gespräch mit einem

jungen deutschen Soldaten, der gerade im Rundfunk gehört hatte, dass Berlin kapituliert

hatte, und Hitler tot war.

Der Student erklärte: »Wer mir so etwas noch vor vier Wochen gesagt hätte, den
hätt’ich niedergeschossen – aber jetzt glaub’ich nichts mehr …« Man habe zu viel
gewollt, man habe übertrieben, man habe Grausamkeiten verübt, wie man in
Polen und Rußland mit den Menschen umgegangen sei, unmenschlich! »Aber der
Führer habe davon wohl nichts gewußt«, der Führer sei schuldlos, man sage ja,
Himmler habe regiert. (Immer noch der Glaube an Hitler, es ist fraglos ein
religiöser Einfluß von ihm ausgegangen.)

177

An erster Stelle profiliert der Student sich noch immer als Soldat, denn Defätismus

würde er mit dem Tod bestrafen. Er fügt aber direkt hinzu, dass er an diesem Zeitpunk

an nichts mehr glaubt. Es ist denn auch merkwürdig, dass er eingesteht, an die Unschuld

Hitlers zu glauben. Obwohl ihm die verübten Grausamkeiten bekannt sind, werden sie

auf die anderen Naziprominenten, in diesem Fall Himmler, zurückgeführt. Klemperer

174

Klemperer: Ich will Zeugnis ablegen. Band 1, S. 143.

175

Klemperer: Ich will Zeugnis ablegen. Band 3, S. 43.

176

Klemperer: Ich will Zeugnis ablegen. Band 3, S. 49.

177

Klemperer: Ich will Zeugnis ablegen. Band 8, S. 136.

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68

schreibt diesen unerschütterlichen Glauben dem religiösen Einfluss, der von Hitler

ausgegangen ist, zu. Hans Reiss ist auch dieser Meinung:

If Hitler had not been able to arouse this religious belief, if he had not appeared as
the saviour of all Germans, he would not have succeeded in gaining power and
keeping it.

178

Reiss geht von der Behauptung aus, dass Hitler sich als Retter des Volkes, sogar als

religiöse Ikone profiliert hat, und bestätigt damit die Feststellung Klemperers. Das

blinde Vertrauen in den Führer und in seine Unschuld sprechen auch dafür, dass Hitler

sich einen göttlichen Status angemessen hat. 1941 hieß es in einem Eintrag:

Charakteristisches Wort: Wir brauchen nicht zu wissen, was der Führer tun will,
wir glauben an ihn. Immer und überall: Der Nationalsozialismus will nicht
wissen, nicht denken, nur glauben.

179

Solchen blinden Glauben findet man hauptsächlich im religiösen Bereich. In der

Religion brauchen die Gläubigen den Plan Gottes auch nicht zu kennen. Genau dasselbe

hat Klemperer beim Nationalsozialismus festgestellt. Besonders das Ausschalten des

Denkens hat er bei den Angehörigen des Nationalsozialismus immer hervorgehoben,

denn "man will nicht studieren lassen, der Geist, das Wissen sind die Feinde".

180

Es war

für die Nazis natürlich wichtig, dass der Intellekt der Bevölkerung ausgeschaltet wurde.

Sonst würde die Propaganda wahrscheinlich sein Ziel verfehlt haben, weil dann das

Volk die von den Nazis verbreiteten Lügen leicht durchschaut hätte.

Das bringt uns zum dritten und letzten Thema der Propaganda: die

Heeresberichten. Der Inkonsistenz der Berichte konnte Klemperer nicht entgehen:

Ein besonderes Charakteristikum der LTI ist die schamlose Kurzbeinigkeit ihrer
Lügen. Immerfort geht man kaltschnäuzig von Behauptungen ab, die man tags
zuvor gemacht hat.

181

Klemperer variiert in diesem Eintrag das Sprichwort "Lügen haben kurze Beinen", was

bedeutet, dass Lügen schnell aufgedeckt werden und es sich deshalb nicht lohnt, zu

lügen.

182

Was die Nazis tags zuvor behaupteten, wurde schon am nächsten Tag

zurückgenommen oder widerlegt. Als Beispiel der Kurzbeinigkeit der Lügen nennt er:

178

Reiss: "Victor Klemperer. Reflections on his Third Reich Diaries", S. 85.

179

Klemperer: Ich will Zeugnis ablegen. Band 4, S. 86.

180

Klemperer: Ich will Zeugnis ablegen. Band 1, S. 105.

181

Klemperer: Ich will Zeugnis ablegen. Band 7, S. 118.

182

Mieder: "In Lingua Veritas", S. 11.

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69

»Sie können nicht landen. – Sie kommen nicht über den Atlantikwall hinaus. – Sie
brechen nicht durch ...« Und jetzt: »Das war alles vorausgesehen und ist bei ihrer
Übermacht erstaunlich spät eingetreten. Sie können uns aber nicht zur
Entscheidungsschlacht zwingen, ehe wir nicht im dafür vorgesehenen Raum
stehen, wir setzen uns mit genialer Tüchtigkeit ab ...«

183

Solche Inkonsistenzen in der Berichterstattung dienten natürlich dazu, die

bevorstehende Niederlage zu verhüllen. Doch hat das Volk den Zweck der Propaganda

offensichtlich nicht eingesehen, denn es schien sich, so Klemperer, der Lügen in den

Medien unbewusst zu sein. Die Variation auf das Sprichwort "Lügen haben kurze

Beinen" traf also nicht auf das Volk zu und kann wiederum als ironisches Spiel

betrachtet werden. Es soll aber auch bemerkt werden, dass während des Krieges so viele

Gerüchte im Umlauf waren, dass es unmöglich war, objektive und wahrheitsgetreue

Berichte herauszufinden. So wird in den Tagebüchern die Quelle von angeblich

objektiven Aufzeichnungen nicht genannt, oder stellt sich heraus, dass die Quellen

unzuverlässig sind. 1943 notierte Klemperer beispielsweise in Bezug auf die

Evakuierungen der Dresdener Juden: "Genaue Ziffern: Evakuiert wurden 290 Juden,

hier in Dresden befinden sich im Ganzen nun noch reichliche 300, von denen 130

Sternträger sind".

184

Klemperer teilt hier also genaue Zahlen der Evakuierungen mit.

Wie er zu diesen Zahlen gekommen ist, wird aber im Tagebuch nicht angesprochen. Die

Quelle könnte die Gemeinde sein, in der er am selben Tag noch gewesen war. Darüber

kann man sich aber nicht sicher sein. Klemperer kommentierte ein Jahr später selber

Zahlen, die er aufgefangen hatte. In Zusammenhang mit der Anzahl der Toten nach

einem Bombenangriff können wir Folgendes lesen:

Aber alles »soll« und »scheint«: Die bestimmtesten Angaben widersprechen sich,
jeder weiß es genau und einwandfrei, der eine hängt Nullen an, der andere streicht
sie ab. [...] Der Heeresbericht nennt mehrere angegriffene Städte, Dresden nicht.
Was uns geschah ist offenbar Bagatelle, kommt täglich in x Orten vor, die auch
nicht genannt werden.

185

Der Heeresbericht hat einen Bombenangriff auf Dresden nicht erwähnt, was darauf

hindeuten kann, dass die Angriffe auf deutsche Städte von den Nazis für das deutsche

Volk verheimlicht wurden. Deshalb musste die Bevölkerung sich auf unzuverlässige

Gerüchte stützen, die sich laut Klemperer alle widersprachen. Obwohl jeder behauptete,

183

Klemperer: Ich will Zeugnis ablegen. Band 7. S. 118.

184

Klemperer: Ich will Zeugnis ablegen. Band 6, S. 42.

185

Klemperer: Ich will Zeugnis ablegen. Band 7, S. 139.

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70

die Anzahl genau zu wissen, wird an dieser Stelle klar, dass sich genaue Zahlen nicht

herausfinden ließen. Der Hinweis auf die Redewendungen mit 'sollen' und 'scheinen'

verleihen der Unsicherheit und Ungewissheit der Lage noch mehr Kraft. Im Tagebuch

hat Klemperer die unglaubwürdigen Berichte und Gerüchte aus seiner nächsten

Umgebung auch auf diese Art und Weise niedergeschrieben. Ein Beispiel kann man in

einem Eintrag vom 28. April 1942 lesen, in dem er von den Haussuchungen spricht.

Von Tag zu Tag warte ich auf die Haussuchung bei uns. Am stärksten ist die
Beklemmung immer abends zwischen sieben und neun. Wohl zu Unrecht, denn
die Rollkommandos sollen zu jeder Tageszeit erscheinen. Sie sollen alles rauben:
auch Essen, das auf Marken gekauft, Schreibpapier, Bücher, Portomarken,
Ledermappen. Sie sollen die Magermilch austrinken usw.

186

Seine eigenen Gedanken bilden einen Kontrast mit den Gerüchten, die in diesem

Eintrag mit 'sollen' angedeutet werden. Sowohl das Verb 'sollen' als auch die Angabe

'usw.' am Ende des Zitats verraten, dass man solche Behauptungen nicht ohne weiteres

glauben darf. Das Volk war sich also über nichts im Klaren, denn einerseits

verheimlichten die Nazis Informationen in den Heeresberichten, und andererseits waren

viele zirkulierende Gerüchte nicht wahrheitsgetreu. Da aber der Heeresbericht als

glaubwürdigste Quelle für Informationen betrachtet wurde, hat sich das Volk auf ihn

verlassen und so die deutsche nationalsozialistische vox populi vertreten.

Die Propaganda hat in der Untersuchung nach der Volksstimmung eine auffällige

Rolle gespielt. Die drei großen Themen, die in diesem Abschnitt besprochen wurden,

sind alle mittels der Sprache in das Gedächtnis des Volkes eingedrungen. Deshalb war

die nationalsozialistische Doktrin beim Volk auch weit verbreitet. Die Propaganda hat

dazu geführt, dass das Volk sich allmählich eine einzige nationalsozialistische Stimme

angeeignet zu haben schien, die als allgemeine Stimmung des deutschen Volkes

betrachtet werden kann. So stellte sich heraus, dass es eine einzige vox populi gab, die

mit der 'Vox Dei', der Stimme Hitlers, übereinstimmte. Die verschiedenen Gerüchte, die

die Wahrheit nicht ans Licht brachten, verraten aber, dass nicht bloß eine einzelne

Stimmung unter dem deutschen Volk vorhanden war.

186

Klemperer: Ich will Zeugnis ablegen. Band 5, S. 75.

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71

2.1.3 – Die deutschen voces populi

Im Laufe des Krieges musste Klemperer feststellen, dass mehrere Stimmungen

herrschten und dass die vox populi eigentlich in voces populi eingeteilt werden konnte.

Mieder hebt hervor, dass "Klemperer wrestles with a correct view of the popular

voice"

187

und belegt es unter anderem anhand folgender Stelle: "Das unlösbarste und

dabei entscheidende Rätsel ist die Stimmung im Volk. Was glaubt es?"

188

An dieser

Stelle scheint er noch an eine einzelne Stimmung zu glauben. Auch deutet er darauf hin,

dass die Frage nach der Stimmung des Volkes unauslösbar und entscheidend ist. Darauf

wird später noch einzugehen sein. Einige Zeilen nach dieser Stelle im Tagebuch ist

Klemperer aber nicht mehr von der Existenz einer einzelnen Stimmung überzeugt.

Gerüchte und Stimmungen wechseln von Tag zu Tag, von Person zu Person. Wen
sehe, wen höre ich? Natcheff, den Krämer Berger, den Zigarrenhändler in der
Chemnitzer Straße, der Freimaurer ist, die Aufwartefrau, deren zwanzigjähriger
Sohn im Westen steht und eben Urlaub hat, die Kohlenträger. Vox populi zerfällt
in zahllose voces populi.

189

Klemperer deutet darauf hin, dass sowohl die Gerüchte als auch die Stimmungen von

Tag zu Tag und von Person zu Person wechseln. Die Verwendung der Mehrzahlform

(Stimmungen) zeigt schon, dass er nicht länger von nur einer herrschenden Stimmung

ausgeht. Aufgrund der immer wechselnden Stimmen, die Klemperer hört und in dieser

Textstelle als Beweis dargestellt sind, kommt er zu der Behauptung, dass die vox populi

in voces populi zerfällt. So schrieb er auch noch am selben Tag in Bezug auf den

Antisemitismus: "Ich frage mich oft, wo der wilde Antisemitismus steckt. Für meinen

Teil begegne ich viel Sympathie, man hilft mir aus, aber natürlich angstvoll."

190

Damit

bestätigt er die eigene Behauptung, dass es mehrere voces populi gibt. Obwohl er eher

in dem Tagebuch von antisemitischen Beschimpfungen berichtet hat, hebt er an dieser

Stelle die Sympathie für Juden vonseiten manchen Deutschen hervor. Die unter dem

Volk herrschenden Meinungen waren also tatsächlich sehr variiert. Dadurch wird

bestätigt, dass Klemperer Recht hatte, als er die Meinungen von Tag zu Tag, und von

Person zu Person veränderlich bezeichnete. Von solchen widersprüchlichen Reaktionen

Klemperer gegenüber gibt es in der Besprechung der historiographischen Debatte im

187

Mieder: "In Lingua Veritas", S. 18.

188

Klemperer: Ich will Zeugnis ablegen. Band 4, S. 8.

189

Klemperer: Ich will Zeugnis ablegen. Band 4, S. 9.

190

Klemperer: Ich will Zeugnis ablegen. Band 4, S. 9.

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72

nächsten Kapitel noch weitere Beispiele. Mit den verschiedenen Stimmungen, die in

den Tagebüchern in den Vordergrund treten, hängt auch die Mischstimmung gegen

Ende des Krieges zusammen. Man kann dauernd die Spannung zwischen Todesnähe

und Erlösungsnähe spüren, denn einerseits hat es am Ende des Krieges die immer

stärker drohende Deportierung und die zahlreichen Bombenangriffen gegen deutsche

Städte gegeben, andererseits ist die Hoffnung auf das Ende mit dem Herankommen der

alliierten Truppen gesteigert. Klemperer hat es im Januar 1945 wie folgt ausgedrückt:

"Todesnähe und Erlösungsglaube: die Russen vor Krakau, die anglo-amerikanischen

Bomber über uns, die Gestapo hinter uns".

191

Obwohl neben der Gestapo auch die

Russen und Angloamerikaner eine Bedrohung bildeten, konnten sie für Klemperer auch

die Erlösung sein. Über Beide Armeen waren viele Gerüchte im Umlauf:

Er hatte aus 'absolut zuverlässiger Quelle' gehört, wie katastrophal die Lage im
Osten sei: »Hoffentlich kommen die Engländer den Russen zuvor, so daß wir
englische statt russische Besatzung bekommen.«

192

Aus dieser Stelle geht hervor, dass die Angst und Erleichterung wirklich auf Engste

miteinander verbunden waren. Alle schienen zwar auf Befreiung zu warten, machten

aber einen großen Unterschied zwischen englischer und russischer Besatzung. Die

Russen wurden als barbarisches Volk betrachtet, und die Deutschen hatten denn auch

große Angst vor der Roten Armee. Es gab unzählbare Gerüchte, dass die Russen ganze

Dörfer ausrotteten, die Frauen vergewaltigten usw. Deswegen hoffte man stark auf

angloamerikanischer Besatzung. Dem Bericht gegenüber schien Klemperer aber kritisch

zu sein. Die Zuverlässigkeit der Quelle wird durch die Anführungszeichen deutlich in

Frage gestellt. Die Furcht vor den Russen steigerte sich aber noch, und projizierte sich

letztlich auch auf die Angloamerikaner. Man darf nicht vergessen, dass Deutschland

schließlich den Krieg verloren und sich an dem Tod von Millionen Menschen schuldig

gemacht hat. Jeder ahnte, dass man Deutschland bestrafen wurde, was die Angst aufs

Äußerste verstärkt hat. Viele gräuliche Gerüchte waren im Umlauf. Behauptet wurde,

dass die Befreiungsarmeen sich rächen wollen, alle Häuser plünderten und jeden

Widerstand auf ihrem Weg zerschlugen. In einem Lagebericht am 30. März 1945 hörte

Klemperer:

191

Klemperer: Ich will Zeugnis ablegen. Band 8, S. 13.

192

Klemperer: Ich will Zeugnis ablegen. Band 8, S. 13.

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73

»Denn nicht nur die Bolschewisten wollen uns ausrotten, sondern die Anglo-
Amerikaner wollen es auch, hinter beiden steht der jüdischen Vernichtungswille«
[...] greuliche Exempla amerikanischer Tyrannei und Mordgier; Aussprüche wie:
Es müßten täglich 5000 Deutsche Hungers sterben, etc. etc. in infinitum.

193

Die deutsche Kriegspropaganda macht das Volk ständig auf die Mordgier beider

Befreiungsarmeen aufmerksam. Auffallend ist aber, dass der Vernichtungswille auf die

Juden zurückgeführt wird. Letztendlich sollen die Juden für die Niederlage

verantwortlich sein. Aufs Neue deutet das Hinzufügen von 'etc. etc. in infinitum' darauf

hin, dass Klemperer diesen Aussagen kritisch gegenüber stand. Es kann aber auch auf

die Verzweiflung und Unsicherheit Klemperers anspielen. Obwohl der Krieg kurz vor

seinem Ende stand, wusste niemand, was passierte, oder was aus Deutschland werden

würde. Klemperer hat es wie folgt ausgedruckt: "Wir sind zu oft enttäuscht worden, die

hören doch nicht auf!".

194

Die Mischstimmung, die am Ende des Krieges herrschte,

entwickelt sich also zu einer Spannung zwischen Todesnähe und Erlösungsnähe.

Je mehr verschiedenen Stimmungen Klemperer entgegnete, desto weniger glaubte

er an eine allgemeine Stimmung. Schon 1939 notierte er das Folgende:

Niemand, weder innen noch außen, kann die wahre Stimmung des großen Volkes
ermessen – wahrscheinlich, nein sicher gibt es keine allgemeine wahre Stimmung,
sondern immer nur Stimmungen mehrerer Gruppen – eine dominiert, und die
Masse ist stumpf oder steht unter wechselnden Suggestionen –

195

Es stellt sich also heraus, dass wirklich Niemand sich von der "wahren Stimmung" des

Volkes ein Bild machen konnte. Klemperer betont aber, dass die "wahre Stimmung"

sich nicht herausfinden lässt, weil es diese nicht gibt. Besonders die Selbstkorrektur

'wahrscheinlich, nein sicher' deutet darauf hin. Stattdessen geht er davon aus, dass

mehrere Stimmen verschiedenerer Gruppen vorhanden sind, von deren eine Stimme

dominant ist. Diese Feststellung führt zur Suche Klemperers nach der entscheidenden

Stimme, die schon vorher mal erwähnt wurde. Mieder verweist in Zusammenhang mit

dieser Suche auf eine Stelle in Klemperers LTI, die Folgendes ausdrückt:

However, there is no vox populi, only voces populi; and it only can be determined
after the fact which of these different voices is the true one, that is to say, which
of them determines the course of events.

196

193

Klemperer: Ich will Zeugnis ablegen. Band 8, S. 81-82.

194

Klemperer: Ich will Zeugnis ablegen. Band 8, S; 10.

195

Klemperer: Ich will Zeugnis ablegen. Band 3, S. 135.

196

Mieder: "In Lingua Veritas", S. 18.

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74

Die Stimmung, nach der Klemperer auf der Suche war, ist die Kriegsstimmung, die

imstande sein könnte, die Lage zu ändern. Die Frage nach der Volksstimmung taucht

denn auch leitmotivisch in den Tagebüchern auf.

197

Einige Beispiele datieren vom Jahre

1941: "Immer wieder die Frage: Was ist die Volksstimmung, wer kann sie

begründen?"

198

, "Was ist die Volksstimmung? Immer meine alte Frage."

199

Seine Sicht

modifiziert sich auch, wenn er sich das Zusammenspiel der Stimmen mehr und mehr

bewusst wurde, wie wir in einem Eintrag aus dem Jahr 1943 lesen können. "Die Orgel

der Volksstimmen. Welche Stimme dominiert und bringt die Entscheidung?"

200

Obwohl

er die Antwort auf solche Fragen krampfhaft gesucht hat, hat er schließen müssen, dass

eine entscheidende Stimmung herauszufinden zu letzt unmöglich war.

In seiner Untersuchung der deutschen vox populi hat Klemperer also einige

ambivalente Feststellungen gemacht. Einerseits hat er an eine einzige Volksstimmung,

die von der nationalsozialistischen Propaganda gesteuert wurde, geglaubt. Andererseits

ging er von einer Mehrzahl von verschiedenen Stimmungen aus, aus denen er eine

entscheidende, dominierende Stimmung abzuleiten versucht hat. Schließlich hatte er

sich aber damit abfinden müssen, dass die Stimmungen von Person zu Person und von

Tag zu Tag wechselten. Der Reichtum an abweichende Meinungen ist aber für die Leser

hochinteressant, besonders weil er uns mit einigen Einsichten in der historiographischen

Debatte, die im nächsten Kapitel untersucht werden, bietet.

197

Mieder: "In Lingua Veritas", S. 19.

198

Klemperer: Ich will Zeugnis ablegen. Band 4, S. 90.

199

Klemperer: Ich will Zeugnis ablegen. Band 4, S. 96.

200

Klemperer: Ich will Zeugnis ablegen. Band 7, S. 108.

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75

2.2 - Die vox populi als Beitrag zur historiographischen Debatte

Die Suche Klemperers nach der entscheidenden Stimmung hat Wesentliches zur

historiographischen Debatte, die sich besonders mit der Frage nach der kollektiven

Schuld des deutschen Volkes auseinandersetzt, beigetragen. Die Debatte hat gerade

nach dem Kriegsende angefangen, kannte in den sechziger Jahren einen ersten

Höhepunkt mit der Fischer-Kontroverse

201

, führte dann über den Historikstreit der

achtziger Jahre zu der Goldhagen-Kontroverse und ist heute noch immer nicht gelöst

worden. Klemperer wirft in seinen Aufzeichnungen ein neues Licht auf die

Kontroversen der vergangenen Jahrzehnte.

2.2.1 – Hitlers willige Vollstrecker?

Besonders Hitler’s Willing Executioners: Ordinary Germans and the Holocaust

von Daniel Jonah Goldhagen, das 1996 erschien, hat viel Staub aufgewirbelt. In seinem

Werk behauptet Goldhagen, dass es zur NS-Zeit in Deutschland eine allgemeine

antisemitische Einstellung gab, die direkt zum Holocaust geführt hat.

202

So wurden alle

Deutschen zu Hitlers willigen Vollstreckern und wurde der deutschen Bevölkerung eine

Kollektivschuld unterstellt. In Klemperers Tagebüchern wird diese Unterstellung aber

an manchen Stellen widerlegt. Auch Trumpener deutet darauf hin, dass die These

Goldhagens über den weit verbreiteten Antisemitismus durch einige Passagen in den

Tagebüchern in Frage gestellt worden kann.

203

Klemperer hat verschiedene Erlebnisse in

das Tagebuch aufgezeichnet, in denen sympathische Akte des Widerstands gegen den

Antisemitismus der Nazis deutlich hervorgehoben werden. Einige dieser anekdotischen

Erlebnisse handeln um persönliche Gesten der Sympathie oder des Mitleids, wie in

folgenden Einträgen vom 11. Februar 1935 bzw. 19. Juli 1943:

201

Jürgen Peter: Der Historikerstreit und die Suche nach einer nationalen Identität der achtziger Jahre.

Frankfurt am Main: Peter Lang 1995, S. 11.
Die Fischer-Kontroverse Anfang sechziger Jahre ging von dem deutschen Historiker Fritz Fischer und
seiner Veröffentlichung von Der Griff nach der Weltmacht aus. Fischer vertrat die These, dass die
imperialistischen Weltmachtbestrebungen des Deutschen Reiches den Ersten Weltkrieg zugrunde lagen.
Die Untersuchung nach den Kriegsursachen führte zur Kriegsschuldfrage, die zum ersten Mal auf eine
Kollektivschuld des deutschen Reiches hindeutete.

202

Wolfgang Wipperman: Wessen Schuld? Vom Historikerstreit zur Goldhagen-Kontroverse. Berlin:

Elefanten Press 1997, S. 7.

203

Trumpener: "Diary of a Tightrope Walker", S. 489.

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76

Auf dem Postplatz spricht mich ein Herr an: »Erkennen Sie mich nicht? Dr.
Kleinstück, Rektor des Vitzthum-Gymnasiums. Ich ging schon neulich an Ihnen
vorbei, Sie sahen mich und sahen weg. Ich fürchtete, Sie sähen weg, weil Sie
meinten, ich würde Sie nicht grüßen. Deshalb rede ich Sie heute an. Wie geht es
Ihnen?« - Sein Verhalten rührte mich, ich gab Auskunft [...]

204


Als ich Sonntag nachmittag vom Friedhof kam, ging im Parkweg der Lothrunger
Straße ein alter Herr – weißer Spitzbart, etwa siebzig, pensionierter höherer
Beamter – quer über den Weg auf mich zu, reichte mir die Hand, sagt mit einer
gewissen Feierlichkeit: »Ich habe ihren Stern gesehen und begrüße Sie, ich
verurteile diese Verfemung einer Rasse, und viele andere tun es ebenso.« Ich:
»Sehr freundlich – aber Sie dürfen nicht mit mir reden, es kann mich das Leben
kosten und Sie ins Gefängnis bringen.« - Ja, aber er habe mir das sagen wollen
und müssen.

205

Solche Begegnungen auf der Straße mit Leuten, die ihn Mut zusprachen oder Sympathie

zeigten, kommen mehrmals in den Tagebüchern vor. Auf den Gruß, der als Zeichen der

Höflichkeit gelten kann, wird in den Tagebüchern öfters hingewiesen, denn daraus

konnte Klemperer oft die Gesinnung der Leute schließen. So haben einige seiner

ehemaligen Kollegen ihm nach seiner Entlassung nicht mehr grüßen, oder nur noch mit

dem 'Heil Hitler'-Gruß anreden wollen. Jedoch haben, wie aus diesen Textstellen

hervorgeht, sowohl Bekannte, wie der Rektor, als Klemperer unbekannte Leute durch

den Gruß ihr Mitleid und Unterstützung bezeigt. Besonders die Tatsache, dass beide

Männer trotz der Gefahr die Mühe gemacht haben, ihn auf der Straße in aller

Öffentlichkeit anzusprechen, hat Klemperer sehr gerührt. Solche Einträge zeigen uns

vor allem, dass nicht alle Deutschen von der nationalsozialistischen Ideologie begeistert

waren, und sollen für Klemperer immer wieder eine große Unterstützung gewesen sein.

Dasselbe gilt für die verschiedenen Ladeninhaber, die ihm manchmal etwas

Zusätzliches zugeschoben haben. Außerdem weist Wipperman darauf hin, dass

Goldhagen von "der antisemitischen Einstellung der Angehörigen der Polizeibataillone

auf die antisemitische Einstellung des gesamten deutschen Volkes" schließt, weil "diese

Polizisten und Mörder »ganz gewöhnliche Deutsche« gewesen seien, die aus allen

Schichten der Bevölkerung gekommen seien".

206

Dieses Argument leitet er aus der

Kultur und Geschichte der Deutschen ab. Schon die Behauptung, der Antisemitismus

sei ein Symptom der Kultur und Geschichte Deutschlands, ist zweifelhaft. In den

204

Klemperer: Ich will Zeugnis ablegen. Band 2, S. 76.

205

Klemperer: Ich will Zeugnis ablegen. Band 6, S. 108.

206

Wipperman: Wessen Schuld?, S. 7.

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77

Tagebüchern kommt zudem deutlich zum Ausdruck, dass auch bei der Polizei und der

Gestapo nicht jeder aus "eliminatorischen" antisemitischen Gefühlen gehandelt hat.

Nach einer Haussuchung soll eine Mitbewohnerin des Judenhauses sich am nächsten

Tag allein ("wer dich begleitet, fliegt ins KZ"!)

207

auf der Gestapo melden.

Frau Pick erzählte uns das, als wir danach bei ihr unten waren. Sie setzte etwas
Merkwürdiges hinzu. Drei Kerle hatten sie gepeinigt; ein vierter, einen
Augenblick allein mit ihr, habe ihr aufs freundlichste zugeflüstert: »Lassen Sie
sich gut raten, gehen Sie morgen früh nicht hin.« (Wir hörten neulich einen
ähnlichen Fall von Kätchen: eine Arbeitskameradin kam nach Haus, der
Chauffeur eines Gestapoautos vor der Haustür rief sie an: »Fräuleinchen, gehen
Sie noch eine Weile spazieren – die sind oben!« Selbst unter diesen Leuten also
»Verräter«.)

208

Anfangs wird die Eigenartigkeit des Vorfalls betont, weil Klemperer kommentiert, dass

sie an ihrer Erzählung der Haussuchung 'etwas Merkwürdiges' hinzufügte. Ein Mann

der Polizei hat Frau Pick 'aufs freundlichste' geraten, sich nicht bei der Gestapo zu

melden, angeblich weil das zu ihrem Tod führen würde. Besonders der Gebrauch des

Superlativs 'aufs freundlichste' betont die Seltsamkeit der Aussage. Gerade danach wird

die Eigenartigkeit des Geschehens aber zurückgenommen, weil Klemperer zwischen

Klammern einen ähnlichen Fall einer Warnung vonseiten eines Angehörigen der

Gestapo hinzusetzt. Aus beiden Fällen schließt Klemperer dann, dass es auch bei der

Gestapo 'Verräter' gab. Durch die Anführungszeichen wird der Begriff von Klemperer

an dieser Stelle offensichtlich positiv gewertet, besonders nach der vorangehenden

negativen Aussage über die Gestapo: 'selbst unter diesen Leuten'. Es versteht sich, dass

solche Gesten vonseiten der Gestapo Klemperer wirklich Mut gemacht und Hoffnung

gegeben haben. Diesen Zeichen des Philosemitismus gegenüber stehen aber die vielen

Beschimpfungen, Bespuckungen und Erniedrigungen, die Klemperer nicht nur von der

Gestapo, sondern auch von gewöhnlichen Deutschen erleiden musste. So wird er oft

von Kindern auf der Straße beschimpft. Am 17. Januar 1943 notierte Klemperer,

nachdem er an einer Schule vorbeigegangen war:

und dann mache ich immer die gleiche Erfahrung: Die größeren Jungen gehen
anständig an mir vorüber, die kleinen dagegen lachen, rufen mir »Jude« nach und
ähnliches. In die Kleinen ist es hineingetrichtert worden – bei den größeren wirkt
es schon nicht mehr.

209

207

Klemperer: Ich will Zeugnis ablegen. Band 5, S. 121.

208

Klemperer: Ich will Zeugnis ablegen. Band 5, S. 122.

209

Klemperer: Ich will Zeugnis ablegen. Band 6, S. 15.

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78

Obwohl Klemperer sich in den vorangehenden Jahren öfters in den Tagebüchern über

die Beschimpfungen der Jugendlichen beschwert hatte, stellte er 1943 fest, dass sich an

diesem Zeitpunkt besonders noch die kleinen Kinder an ihnen beteiligten. Klemperer

hat natürlich Recht, dass es darauf zurückzuführen ist, dass der Judenhass 'in die

Kleinen hineingetrichtert' worden ist, denn sie sind in dem Hass und Antisemitismus des

Dritten Reiches erzogen und gebildet.

210

Auch der Einfluss der Propaganda soll dabei

nicht vergessen worden. Die Erniedrigungen, die Klemperer erleiden musste,

beschränkten sich aber nicht nur auf Beschimpfungen der Kinder. Ungefähr ein Jahr

nach dem vorigen Eintrag, berichtete Klemperer:

Voces populi: Auf dem Weg zu Katz, ein älterer Mann im Vorbeigehen: »Judas!«.
[... ] Ich pendle als einziger Sternträger vor einer besetzten Bank auf und ab. Ich
höre einen Arbeiter sprechen: »Eine Spritze soll man ihnen geben. Dann wären sie
weg!« Meint er mich? Die Besternten? Ein paar Minuten später wird der Mann
aufgerufen. Ich setze mich auf seinen Platz. Eine ältere Frau neben mir, flüsternd:
»Das war gemeene! Vielleicht geht es ihm mal so, wie er’s Ihnen wünscht. Man
kann nicht wissen. Gott wird richten!«

211

Die Mehrstimmigkeit der vox populi wird hier noch mal hervorgehoben. Zunächst wird

Klemperer mit dem Antisemitismus konfrontiert. Von einem Mann auf der Straße wird

er 'Judas' genannt und gleich danach wird er dem Hass eines Arbeiters ausgesetzt. Er ist

sich nicht sicher, ob der Arbeiter meinte, dass man alle Juden 'eine Spritze geben soll'.

Klemperer scheint aber trotzdem an eine Verallgemeinerung zu glauben, denn er hat die

Pronomina nicht großgeschrieben, was darauf hindeutet, dass es sich hier um eine

Mehrzahl handelt. Auch im Gespräch nachher mit der älteren Frau, die die Aussage des

Arbeiters gehört hat, besteht darüber keinen Zweifel mehr. Sie war offensichtlich nicht

mit der Meinung des Arbeiters einverstanden und versuchte Klemperer sogar Mut

zuzusprechen, indem sie auf die Gerechtigkeit Gottes verweist. Die gegensätzlichen

Äußerungen dieser beiden Personen begründen die Ansicht von Trumpener, dass

like the rest of the Jewish community, Klemperer constantly weighed and counted
positive against negative encounters, trying to decide which represented the
majority view, which were the real Germany, and which way the tide was
turning.

212

210

Trumpener: "Diary of a Tightrope Walker", S. 490.

211

Klemperer: Ich will Zeugnis ablegen. Band 7, S. 23-24.

212

Trumpener: "Diary of a Tightrope Walker", S. 490.

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79

Genauso wie Klemperer, kommt auch der Leser zur Konklusion, dass es die

entscheidende Stimme in Deutschland nicht gab. Was er schon schließen kann, ist, dass

ohne Zweifel nicht alle Deutschen mit den Nazis sympathisierten und also nicht alle zu

den 'willigen Vollstreckern' Hitlers gehörten.

2.2.2 – Haben sie es gewusst?

Ein weiterer Beitrag zu der historiographischen Debatte leisten die Tagebücher in

Bezug auf die so genannte 'wir haben es nicht gewusst'-These. Sie geben uns einige

mögliche Lösungen auf die Frage, was die Deutschen von dem Holocaust gewusst

haben oder gewusst haben konnten. Drei Standpunkte können aus den Tagebüchern

abgeleitet werden, die eine einzige Antwort schließlich aber nicht aufweisen.

Erstens kann man behaupten, dass es unmöglich sei, dass die Deutschen nichts

von den Grausamkeiten den Juden gegenüber und von den Konzentrationslagern

gewusst haben. Aus dem einfachen Grund, dass Klemperer an verschiedenen Stellen

Buchenwald und Auschwitz erwähnt hat, kann man schließen, dass Konzentrationslager

der deutschen Bevölkerung bekannt waren. Bereits Ende 1938 berichtete Klemperer:

Die angstvollen Andeutungen und bruchstückhaften Erzählungen aus Buchenwald
– Schweigepflicht, und: ein zweites Mal kommt man von dort nicht zurück, es
sterben eh schon zehn bis zwanzig Leute täglich – sind gräulich.

213

Einige Jahre später werden die Nachrichten über die Konzentrationslager noch

grausamer. Wie auch Mieder hervorhebt, erwähnt Klemperer Auschwitz am 16 März

1942 zum ersten Mal in den Tagebüchern

214

, und zwar "als furchtbarstes KZ [...]

Bergwerksarbeit, Tod nach wenigen Tagen".

215

Auch die Tötungen und Massenmörder

schienen Klemperer bekannt zu sein. So hat er auf Auschwitz als ein "schnell

arbeitendes Schlachthaus"

216

verwiesen, und am 27. Februar 1943 schrieb er wie folgt:

Gerade ist jetzt nicht mehr anzunehmen, daß irgendwelche Juden lebend aus
Polen zurückkehren. Man wird sie vor der Räumung töten. Übrigens wird längst
erzählt, daß viele Evakuierte nicht einmal erst lebend in Polen ankommen. Sie
würden im Viehwagen während der Fahrt vergast, und der Waggon halte dann auf
der Strecke an vorbereitetem Massengrab.

217

213

Klemperer: Ich will Zeugnis ablegen. Band 3, S. 119.

214

Mieder: "In Lingua Veritas", S. 17.

215

Klemperer: Ich will Zeugnis ablegen. Band 5, S. 47.

216

Klemperer: Ich will Zeugnis ablegen. Band 5, S. 259.

217

Klemperer: Ich will Zeugnis ablegen. Band 6, S. 37.

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80

Obwohl es sich meistens um Gerüchte handelt und man die Quelle der Gerüchte nicht

immer kennt, kann man nicht verneinen, dass Geschichten über den Grausamkeiten der

Nazis in den Konzentrationslagern deutlich im Umlauf waren. Eine Quelle, die

Klemperer in den Tagebüchern in Bezug auf die Totenzahl in den Konzentrationslagern

benutzt, sind die Todesanzeichen und die Briefe, die aus den Konzentrationslagern an

die Familie geschickt wurden. Als Grund des Todes wurde in solchen Briefen meistens

Herzschwäche oder »bei Fluchtversuch erschossen« angegeben. Solchen Begründungen

glaubte Klemperer aber auf keinen Fall.

Ernst Kreidl ist »bei einem Fluchtversuch erschossen« worden, um 14.55 Uhr,
also am hellen Tage. Eva sah oben bei Elsa Kreidl das vorgedruckte Formular mit
Maschinenschrift

ausgefüllt.

»Einäscherung

im

Krematorium

Weimar-

Buchenwald«, die Urne steht zur Verfügung. Schamloser kann man nicht lügen.
Der Mann hat an die absolut unmögliche Flucht bestimmt mit keinem Hauch
gedacht. 63 Jahre, geschwächt, Anstaltskleidung, ohne Geld ... Und am hellen
Tage ... Unverhüllter Mord. Einer von Abertausenden.

218

Ernst Kreidl war ein Mitbewohner Klemperers und war in das Lager Weimar-

Buchenwald deportiert worden. Wenn er an dieser Stelle von dem Tod Kreidls

berichtet, scheint die Begründung 'auf der Flucht erschossen' ihm völlig unmöglich zu

sein. Da er darauf hindeutet, dass Eva das Formular mit eigenen Augen gesehen hat,

wird die Authentizität und Wahrhaftigkeit des Dokumentes hervorgehoben. Das

Dokument selber steht aber Klemperers Meinung nach in schroffen Kontrast mit der

Wahrheit, denn die Todesursache ist gelinde ausgedrückt unglaubwürdig. Laut

Klemperer wäre es unmöglich, dass Kreidl einen Fluchtversuch unternommen hat, denn

Kreidl sei alt, schwach und ohne Geld gewesen, und würde nie einen Fluchtversuch am

hellen Tag unternehmen. Außerdem hat Klemperer in seiner Umgebung schon so oft

diese Todesursache von Juden, die 'bei einem Fluchtversuch erschossen' worden sind,

gehört, dass er diese Formel später auf bitter-ironischer Weise verwendet hat, wenn er

von ermordeten Bekannten in das Tagebuch Zeugnis ablegt. Klemperer betont denn

auch, dass der Mord an Kreidl 'unverhüllt' und 'einer der Abertausenden' ist. Obwohl die

Nazis den Mord durch die Begründung zu verhüllen versuchten, konnte niemand wegen

der Vielzahl der Fälle dem Fluchtversuch noch Glauben schenken. So müssen

Klemperer und Eva am 31. Dezember 1942 in bitterster Stimmung Folgendes

feststellen: "Alle, mit denen wir voriges Silvester zusammen waren, sind ausgelöscht

218

Klemperer: Ich will Zeugnis ablegen. Band 5, S. 97.

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81

durch Mord, Selbstmord und Evakuierung".

219

Alle diese Einträge lassen vermuten, dass

die Deutschen völlig sicher von dem Holocaust im Bilde sein konnten und auch waren.

Jedoch ist Vorsichtigkeit geboten, was uns zu dem zweiten Standpunkt führt.

Aus den Tagebüchern kommt hervor, dass Klemperer und die jüdische

Gemeinschaft von den Untaten der Nazis den Juden gegenüber Kenntnisse hatten.

Daraus kann man aber noch nicht ableiten, dass die ganze deutsche Bevölkerung davon

gewusst hat. So kamen alle Nachrichten und Gerüchte, die Klemperer in das Tagebuch

aufzeichnete, von jüdischen Quellen. Die Kenntnisse scheinen nur innerhalb der

jüdischen Gemeinschaft verbreitet gewesen zu sein. Auch Trumpener hebt hervor, dass

die einzigen zur Verfügung stehenden Quellen Nachrichten von Juden selber oder von

den illegalen ausländischen Rundfunksendungen stammten. Obwohl die Juden in

geringem Maße mit der deutschen Bevölkerung in Kontakt standen, haben sie ihre

Kenntnisse über die Untaten der Nazis nicht mit ihr geteilt.

220

Ein erster Grund für

dieses Schweigen könnte sein, dass die Juden dachten, dass man sie doch nicht glauben

wurde. Außerdem wussten sie natürlich nicht wem sie trauen konnten, und die Angst

vor Anzeige aufgrund des Defätismus oder der Verhetzung war groß, denn eine Anzeige

wurde allerdings zu eines Judens Tod leiten. Zudem verweist Klemperer in den

Tagebüchern an verschiedenen Stellen auf die Unwissenheit der 'Arier', die ihm selber

unerklärlich ist. So heißt es am 29 Mai 1942: "Es herrsche überall tiefe Unzufriedenheit,

und dem Volk seien die Grausamkeiten in judaeos kaum bekannt".

221

Und einen Tag

später schrieb er auch noch: "die andern können sich einfach nicht in unsere Lage

versetzen, sie haben keine Ahnung, was alles uns genommen, verboten, vorgeschrieben

ist".

222

Solche Feststellungen ließen Klemperer vermuten, dass die Nazis die

Judenmaßnahmen für die Bevölkerung verheimlichten

223

, was als sehr plausible

Erklärung gelten kann. Die Verheimlichung vonseiten der Nazis wird 1943 in einem

Eintrag deutlich wiedergegeben:

Eigentümlich und mir unerklärlich, wie in den Regierungsmaßnahmen der
öffentliche Terror der Abschreckung und die geheime Grausamkeit Hand in Hand
gehen. Gegen die Juden wird maßlos gehetzt – aber die schlimmsten Maßnahmen
gegen sie werden vor den Ariern verheimlicht. Selbst nahestehende Leute kennen

219

Klemperer: Ich will Zeugnis ablegen. Band 5, S. 301.

220

Trumpener: "Diary of a Tightrope Walker", S. 490.

221

Klemperer: Ich will Zeugnis ablegen. Band 5, S. 102.

222

Klemperer: Ich will Zeugnis ablegen. Band 5, S. 103.

223

Klein: "Klemperer’s List", S. 46.

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82

weder die kleinen Schikanen noch die grausigen Morde. Annemarie weiß nicht,
daß wir kein Möbel verkaufen dürfen, daß alles beschlagnahmt ist [...]. Der
Bürgermeister in Dölzschen wußte nicht, daß ich an die Stadtgrenzen gebunden
und ohne Fahrtberechtigung bin. Frau Eger sagte neulich: »Das ist das
Schrecklichste für mich, daß die Leute immer sagen: 'Etwas muß doch Ihr Mann
gemacht haben, man tötet doch niemanden ohne Grund!'« (Ich kenne etwas noch
Schrecklicheres, daß nämlich in solchem Fall auch Juden sagen: »Etwas wird er
sicher getan haben, den Stern verdeckt oder nach acht auf der Straße gewesen«.)

224

Klemperer ist es unbegreiflich, dass die "Arier" und sogar die nahe stehenden Leute

sowohl die kleineren Maßnahmen als auch die grausamen Mordfälle nicht kannten.

225

In

Bezug auf die Morde haben sie gar nicht geglaubt, dass die Nazis ohne Grund jemanden

ermorden wurden. Deswegen sprachen die Juden wahrscheinlich auch nicht mit ihnen

darüber, denn sie wurden den Zeugnissen doch keinen Glauben schenken.

226

Als noch

schrecklicher gilt für Klemperer die Tatsache, dass sogar die Juden selber, die über die

furchtbaren Mordfälle im Bilde waren, die Tötungen begründet zu sein glaubten.

Obwohl im Vorigen zum Ausdruck kam, dass die Verheimlichung vonseiten der

Nazis und die Isolation der jüdischen Gemeinschaft die Unwissenheit der deutschen

Bevölkerung begründen kann, soll man aber auch in Acht nehmen, dass auch die

Deutschen Zugang zu Quellen wie dem ausländischen Rundfunk haben mussten. Julia

Klein schließt denn auch, dass "those who wanted to know, did",

227

was als dritter

Standpunkt gelten kann. Dann ist es aber noch die Frage, wie viele Leute die

Grausamkeiten den Juden gegenüber anerkennen wollten. Die meisten Deutschen

schienen dem Schicksal der Juden gleichgültig zu sein. Das Volk kümmerte sich dem

Anschein nach nicht wirklich um die Judenverfolgung oder das Schicksal der Juden

unter dem Naziregime. Klemperer notierte dazu am Silvester 1939: "Die Pogrome im

November 38 haben, glaube ich, weniger Eindruck auf das Volk gemacht als der

Abstrich der Tafel Schokolade zu Weihnachten".

228

Dieser Vergleich mutet auf den

ersten Blick ein wenig fremd an. Er bringt aber die Haltung des Volkes der

Judenverfolgung gegenüber gut zum Ausdruck. Bei den Pogromen im November 1938

224

Klemperer: Ich will Zeugnis ablegen. Band 6, S. 26.

225

Klemperer: Ich will Zeugnis ablegen. Band 5, S. 211.

"Es geht wohl allen schlecht; aber wie schlecht es den Juden geht, wissen selbst die nicht, die mit ihnen in
Konnex sind und sympathisieren."

226

Klemperer: Ich will Zeugnis ablegen. Band 8, S. 70.

"Ich sagte Scherner die Gefahr in der ich schwebe; er war erst ungläubig, er fragte ganz verwundert, ob
denn die Nazis »solche Bestien« wären."

227

Klein: "Klemperer’s List", S.46.

228

Klemperer: Ich will Zeugnis ablegen. Band 3, S. 184.

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83

wurden viele Juden verhaftet oder in das Lager Weimar-Buchenwald verschleppt oder

im Westen Deutschlands als Sträflinge und Geiseln verwendet.

229

Klemperer behauptet

aber, dass die Pogrome auf das Volk nur wenig Eindruck gemacht hätten. Einerseits

bekräftigt diese Aussage, dass das Volk über die Verfolgung im Bilde war, andererseits

wird darauf hingedeutet, dass es sich nicht sehr um die Juden gekümmert hat. Besonders

die Behauptung Klemperers, dass das Volk den 'Abstrich der Tafel Schokolade' als

schlimmer empfunden hat, betont die Gleichgültigkeit der Deutschen. Die Reaktion des

Volkes kann man aber gewissermaßen verstehen, wenn man in Acht nimmt, dass die

Judenverfolgung die Deutschen selber nicht wirklich anbelangt hat. Der Abstrich

verschiedener Mangelwaren, sowie die Tafel Schokolade, hat aber das ganze Volk

betroffen. So hebt Omer Bartov hervor, dass "none of us is immune to the temptation of

ignoring the fate of a minority as long as their own lot is not threatened".

230

Man darf

aber nicht vergessen, dass, obwohl viele Deutschen den Juden den Rücken gekehrt

haben, nicht jeder sie fallen gelassen hat. Außerdem haben vielen die Judenverfolgung

nicht anerkennen wollen, nicht nur aus Überzeugung, sondern auch aus Angst und

Selbstbehauptung. Wie schon anfangs erwähnt, führt die Analyse der "wir haben es

nicht gewusst"-Haltung vieler Deutscher nicht zu einer einzigen Antwort. Die drei

verschiedenen Standpunkte, die in den Tagebüchern vorhanden sind, lüften nur einen

Zipfel des Schleiers.

Hiermit zusammenhängend, werfen die Tagebücher einen Blick auf die Leugnung

der Schuld vonseiten des deutschen Volkes unmittelbar nach dem Kriegsende. Dieses

Subjekt wurde schon in Bezug auf Erinnerung und Wahrheit und im Kapitel der

Mehrstimmigkeit behandelt und wird hier denn auch nur kurz noch mal angesprochen.

Es stellte sich heraus, dass schon kurz vor dem Kriegsende im April 1945 viele

Deutsche ihre Angehörigkeit zu der nationalsozialistischen Partei leugneten. Plötzlich

behauptete jeder immer Feind der Partei gewesen zu sein. So notierte Klemperer am 5.

Mai 1945: "So will aber auch niemand Nazi gewesen sein von denen, die es fraglos

gewesen sind. – Wo ist die Wahrheit, wie läßt sie sich auch nur annähernd finden?"

231

Die Frage nach der wirklichen Gesinnung der Leute bleibt final ungelöst. Klemperer

scheint sich davon bewusst zu sein, dass eine Lösung des Problems nie gefunden

229

Klemperer: Ich will Zeugnis ablegen. Band 3, S. 113.

230

Bartov: "The last German", S. 36.

231

Klemperer: Ich will Zeugnis ablegen. Band 8, S. 138.

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84

worden wurde, denn er sah keinen Weg, in dem sich die Wahrheit 'auch nur annähernd'

finden lassen würde. Dasselbe gilt für das angebliche Nichtwissen und führt uns zurück

zu der 'wir haben es nicht gewusst'-These. So fragt Klemperer sich, ob es möglich sei,

dass eine deutsche Frau nie von der Gestapo gehört, oder von den Judenverfolgungen

nichts gewusst hat.

232

Fast jeder, dem Klemperer begegnet, behauptet von alledem nichts

gewusst zu haben. Und so ist die Frage, die Klemperer sich am 25. Mai 1945 stellte,

noch immer gültig: "Was an diesem Nichtwissen ist Wahrheit?"

233

Zum Schluss stellt es

sich also heraus, dass die Tagebücher einige interessante Beiträge zu der Debatte der

Nachkriegszeit leisten. Einige einzige Antwort gibt es aber bisher noch immer nicht.

Trotz der vielen Dokumente, die über die Judenverfolgungen vorhanden sein, bleibt es

unmöglich herauszufinden, wer was wann gewusst hat. Diese Wahrheit hat sich noch

immer nicht finden lassen.

232

Klemperer: Ich will Zeugnis ablegen. Band 8, S. 167.

233

Klemperer: Ich will Zeugnis ablegen. Band 8, S. 167.

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85

3. Schlussfolgerungen

Wir können also schließen, dass die Tagebücher Klemperers sowohl auf

historischer als auf persönlicher Ebene von allergrößter Bedeutung sind. Aufgrund der

Forschung nach der Gattung des Tagebuches hat sich herausgestellt, dass das Tagebuch

eine monologische Kommunikationssituation einerseits und eine dialogische Struktur

andererseits aufweist. Daraus haben wir die zwei wichtigsten Funktionen von

Klemperers Tagebüchern abgeleitet. Wenn man von einer dialogischen Kommunikation

zwischen Tagebuchschreiber und Leser ausgeht, tritt die Funktion der Zeugenschaft in

den Vordergrund, weil Klemperer seine täglichen Aufzeichnungen dann wirklich als

Zeugenbericht für die Nachkommen gemeint hat. Die Authentizität des Dokumentes als

Zeugenbericht ist untersucht worden und schließlich positiv bewertet. Wir haben

festgestellt, dass die Grundlage des Tagebuches im Produktionsprozess an sich

subjektiv ist, denn sie basiert auf subjektiven Wahrnehmungen und ist außerdem der

Selektion und der Interpretation der Geschehnisse unterlegen. Trotzdem sind die

Tagebücher im Rezeptionsprozess durch Objektivität und Faktizität gekennzeichnet.

Die Distanz, die beim Erzählen entsteht, und die Verifizierbarkeit verschiedener

Einträge sind ebenfalls als objektive Elemente anerkannt worden. Auch die Dialektik

zwischen Innerlichkeit und Öffentlichkeit tragen zur Authentizität der Tagebücher bei.

Die Darstellung kleinerer Anekdoten des selbst erlebten Alltags gönnt dem Leser einen

Blick in das Leben unter dem nationalsozialistischen Regime aus der Perspektive des

Opfers. Der Alltag wurde aber von den größeren historischen Ereignissen diktiert. Den

Berichten, die der Protagonist über solche Ereignisse vernahm, stand er sehr kritisch

gegenüber, weil die Nazis mit der Propaganda die Wahrheit zu verstecken versuchten.

Da die Sprache aber jede Lüge aufdeckt und immer "die Wahrheit spricht", schien

Klemperer für die Wirkung der Propaganda immun zu sein. Die Untersuchung der

Sprache in den Tagebüchern selber hat ebenfalls die Wahrhaftigkeit bestätigt. Obwohl

die Tagebücher durch eine sachliche, distanzierte Sprache gekennzeichnet werden,

kommen an manchen Stellen Ästhetisierungszüge vor. Sie weisen beispielsweise

Sprachformeln auf, und auch die Wortspiele und Variationen auf Sprichwörter und

Redensarten können als Ästhetisierung der Geschehnisse betrachtet werden. Solche

Ästhetisierungen sollen aber nicht unbedingt als Beweis für die Unwahrhaftigkeit des

Erzählten gelten. Klemperer hat sie eher dazu angewendet, seine Erlebnisse und

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86

Erklärungen nicht abstrakt, sondern in einer alltäglichen, populären Sprache

darzustellen. Aus den Theorien ging hervor, dass das Verhältnis zwischen Erinnerung

und Sprache nie eins zu eins ist. Die Sprache und Ausdrücke sind immer Teil einer

kulturellen Tradition. Wenn man etwas zur Sprache bringen will, greift man

automatisch auf Ausdrücke aus der eigenen kulturellen Tradition zurück. Außerdem

sind die Interpretation und die Erfahrung, die in einem Zeugnis wiedergeben wird,

wichtiger als die geschichtliche Authentizität. Die Vermittlung der Atmosphäre steht an

zentraler Stelle. Klemperer wollte als Geschichtsschreiber seiner Zeit auftreten, wurde

aber darüber hinaus auch Chronist der Katastrophe, schrecklicher Schicksale und

alltäglicher Tragödien.

Wenn wir von einer monologischen Kommunikationssituation ausgehen und

Produzent und Rezipient im selben Subjekt festgehalten sind, wird die Funktion der

Selbstbehauptung hervorgehoben. Die Identität Klemperers wird durch eine Zwiespalt

gekennzeichnet. Sein problematisches Verhältnis zur deutschen Angehörigkeit und zur

jüdischen Herkunft und Tradition ist dabei entscheidend. In den Tagebüchern definiert

und redefiniert er seine Auffassungen über "Deutschtum" und "Judentum" immer und

immer wieder. In diesem Sinne dienen das Tagebuch und das Schreiben als Mittel, um

seine Gedanken zu strukturieren und Ordnung im Chaos zu schaffen. Auch wenn

Identität eher als Individualität definiert wird, sind wir auf einige Probleme gestoßen.

Besonders die Ausgrenzung aus dem akademischen Leben und das gezwungene

Proletarierdasein haben seine Identität erschüttert. Das Tagebuch wurde dann dazu

angewendet, seine geistige Überheblichkeit zu bewahren und die geistige Leere

aufzufüllen. Außerdem boten seine Aufzeichnungen ihm Einsicht in das eigene

Verhalten.

Letztens

kam

zum

Ausdruck,

dass

durch

das

plötzliche

Heimatlosigkeitsgefühl das Tagebuch zur Flucht aus dem alltäglichen Elend diente. Das

Tagebuch wurde zum neuen "portativen Vaterland". Kurzum: das Schreiben und das

Tagebuch waren die "Balancierstange", an der Klemperer sich während des

nationalsozialistischen Zeitalters festgeklammert hat.

Sowohl auf persönlicher als auch auf historischer Ebene hat Klemperer von Tag

zu Tag Zeugnis abgelegt. Wie die Form des Tagebuchs diktiert, wurden seine Gedanken

und Auffassungen auf diesen Ebenen täglich modifiziert. Wir haben darauf

hingewiesen, dass Klemperer seine Ansichten jeden Tag evaluierte und sie anhand

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87

innerer und äußerer Perspektiven konstruierte. So kommt eine Mehrstimmigkeit in den

Tagebüchern zustande. Verschiedene Stimmen kommen im Tagebuch an die Reihe.

Nach der Stimme Evas wurden die Stimmen der jüdischen Gemeinschaft dargestellt, die

Klemperer verallgemeinert in Optimismus und Pessimismus aufgeteilt hat. Er hat sich

außerdem lange Zeit dieser vox populi gegenübergestellt. Die Stimmen der Deutschen

waren am schwierigsten herauszulesen. Einerseits könnte man von einer allgemeinen

vox populi ausgehen, die mittels der Propaganda auf der Dummheit und Naivität der

Masse basierte. Besonders der Antisemitismus, die Vergöttlichung Hitlers und die

lügnerischen Heeresberichte in der Propaganda fanden einen starken Widerhall.

Trotzdem mussten wir feststellen, dass es auch unter dem deutschen Volk

widersprüchliche Meinungen und Verhalten gab. Die Mischstimmung am Ende des

Krieges ließ ebenso vermuten, dass die vox populi in voces populi zerfiel. Jedoch hat

Klemperer aus den widersprüchlichen Stimmen eine allgemeine entscheidende

Stimmung abzuleiten versucht. Er hat aber schließen müssen, dass eine einzige

Stimmung sich nicht herausfinden ließ. Seine Suche war aber nicht umsonst, denn die

Tagebücher haben schließlich einige interessante Beiträge zur historiographischen

Debatte der vergangenen Jahrzehnte geleistet. So entwickelten sich die persönlichen

Tagebücher Klemperers zu Geschichtswerken von höchst historischem Wert.

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1998 "Die sieben A der Autobiographie". In: Das erdichtete Ich - eine echte

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1973 Metahistory. The Historical Imagination in Nineteenth-Century Europe.

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1997 Wessen Schuld? Vom Historikerstreit zur Goldhagen-Kontroverse.

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