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Das rothaarige Luder 

von Joachim Honnef 

scanned by : horseman 

kleser: Larentia 

Version 1.0 

»Ich habe Angst«, wisperte Ingrun. 

Das blonde Köhlermädchen schmiegte sich 

schutzsuchend an Ritter Roland. Roland vermutete, daß 
Ingruns dauernde Ängste wohlberechnet waren und daß 
sie auf ein bestimmtes Ziel hinarbeitete, was  ihm recht 
angenehm war. Im Dorf hatte sie ihn gebeten, sie nach 
Hause zu begleiten. Sie habe Angst vor Räubern und 
brauche den Schutz eines Kavaliers. Weder die Knappen 
Louis und Pierre noch die Burschen im Dorfkrug, die sich 
sofort als Begleiter angeboten hatten, waren ihr der 
richtige Schutz gewesen. Zielstrebig hatte sie sich ihn  - 

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Roland  - als Begleiter angelacht, im wahrsten Sinne des 
Wortes. Sie hatte ein süßes, helles Lachen, das so gar 
nicht ängstlich klang, und auch in ihren sanften 
nußbraunen Augen war mehr Lockung als Furcht zu 
sehen gewesen.
 

 

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Flüchtig dachte Roland an seine Mission. Im Bayerischen Wald, 
vornehmlich in der Umgebung des Höllensteinsees, waren in der 
letzten Zeit viele Mädchen und junge Frauen verschwunden. Spurlos. 
Abergläubische Leute sprachen von Zauberei. Von einem 
feuerspeienden Drachen war die Rede, der die Frauen einfach 
verschlinge. Andere munkelten von einem Dämon im Berg, der sich 
des Nachts seine Opfer hole. Ritter Roland war mit seinen Knappen 
in König Artus' Auftrag unterwegs, um das Geheimnis zu lösen. 

Er legte einen Arm um Ingruns Schulter. Sie seufzte leicht auf und 

rückte noch näher an ihn heran, was Roland gefiel. 

Rolands Blick glitt über den Höllensteinsee, hinüber zu den 

bewaldeten Hängen, an denen die goldene Oktobersonne die Blätter 
färbte. Ein Sperling schwebte zwitschernd über das tiefblaue Wasser, 
auf dem einige faule Sonnenstrahlen glitzerten, die sich vom 
Blätterfärben drückten. Der Vogel war gut gelaunt, denn er kam 
gerade von einem Rendezvous mit seiner Geliebten. Er warf noch 
einen neugierigen Blick zu dem Paar, das dort eng 
aneinandergeschmiegt am Ufer des Sees im Gras saß, bevor er 
elegant abdrehte und sich sputete, nach Hause zu fliegen, wo ihn 
seine eifersüchtige Gemahlin erwartete. 

Es war ein schöner Nachmittag, und der Höllensteinsee bot eine 

Idylle des Friedens. Das war wirklich kein Ort zum Fürchten, und 
Roland sagte es Ingrun. 

Sie stimmte ihm lächelnd zu. 
»Es ist wie Zauberei. Wenn Ihr mich in Euren starken Armen 

haltet, ängstige ich mich gar nicht mehr so sehr.« Und sie barg das 
Köpfchen an seiner Wange, daß ihn ihr seidiges, duftendes Haar 
kitzelte. 

Ja, diese Ingrun war ein süßes Ding, und Roland fand, daß es eine 

gute Idee von ihr gewesen war, diese Rast im weichen Grase 
einzulegen. Da störten nicht einmal die Ameisen, die sich ringsum 
tummelten. Ein vorwitziges Ameisenmännchen kroch gerade über 
die schlanke Fessel von Ingruns linkem Bein auf Erkundung. Bevor 
sich der freche Ameisenkerl unter Ingruns langem Rock in der 

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Dunkelheit auf zarter Haut verirren konnte, strich Ritter Roland ihn 
hinunter, recht sanft und zärtlich, so daß der Ameisenvater nicht zu 
Schaden kam. Ingrun gefiel das. Sie lachte leise, und ihr praller 
Busen hob und senkte sich unter einem tiefen, erregten Atemzug. Ihr 
Blick war alles andere als ängstlich, und sie legte ihre weiche, zarte 
Hand auf Rolands Rechte, als wollte sie ihn ermuntern, an ihrem 
Bein zu verweilen. 

Sein Herz schlug schneller bei dieser Berührung, und er wartete 

ungeduldig auf die nächste  Ameise. Sie war schon im Anmarsch, 
doch Roland hütete sich, zu voreilig zu sein. Er wartete, bis sie sich 
auf Ingruns Schenkel hinaufgearbeitet hatte, dann griff er vorsichtig 
zu. 

Ingrun lachte erfreut, umschlang ihn und legte sich zurück. Sie zog 

Roland mit ins Gras, und von den Ameisen hatte sie anscheinend 
noch überhaupt nichts bemerkt. 

»O Roland«, sagte sie, »jetzt habe ich keine Angst mehr, obwohl 

mein Herz klopft, als müßte es zerspringen.« 

»Letzteres wollen wir nicht hoffen«, sagte Roland und legte  sein 

Ohr an Ingruns festen, wogenden Busen, um zu lauschen. Er glaubte 
in der Tat ein heftiges Pochen zu hören, aber vielleicht war das auch 
sein eigener Herzschlag. Ingrun legte eine Hand auf Rolands Kopf 
und lud ihn zum Verweilen ein. Zärtlich kraulte sie in seinem Haar. 

Hätte es einen Beweises für Rolands Verdacht bedurft, daß es mit 

Ingruns Ängsten nicht gar so schlimm bestellt war, so erhielt Roland 
ihn jetzt. 

»Du hast mir auf den ersten Blick gefallen«, flüsterte sie mit 

erfrischender Offenheit. »Du hast so etwas Kühnes und zugleich 
Ritterliches.« 

Nun, sie wußte nicht, daß Roland ein Ritter war, und Ingrun 

brauchte es ebensowenig zu erfahren wie die anderen Leute in dieser 
Gegend. Wer immer für das Verschwinden der Mädchen 
verantwortlich war, er konnte auf die Idee kommen, daß man 
Nachforschungen anstellte, wenn sich ein Ritter mit seinen Knappen 
in diesem einsamen Gebiet umsah. Er konnte gewarnt werden. Im 

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Gasthof hatten sie erzählt, sie wollten in den Wäldern jagen und 
Fallen stellen. So konnten sie sich in der Umgebung des 
Höllensteinsees herumtreiben, ohne Argwohn zu wecken. 

Ingrun war die Tochter einer Köhlerfamilie, und vielleicht hätte sie 

auch etwas von ihrer unkomplizierten, offenen Art verloren, wenn sie 
erfahren hätte, daß sie nicht von Rolands Stande war. 

»Und wenn ich nun ein Räuber wäre?« scherzte Roland. 
Sie verstand es als Spaß, denn sie lachte heiter und streichelte sein 

Haupt noch heftiger mit geschickter Hand. 

»Du Schlingel willst mir nur Angst machen«, sagte sie und atmete 

tief ein und aus, daß er die Knospen ihrer Brüste an seiner Wange 
spürte. Eine Weile herrschte vertrauliche Stille zwischen ihnen, und 
nur das Summen eines Insektes erfüllte die warme Luft. Dann setzte 
Ingrun das Thema fort. 

»Was gedachtest du mir denn zu rauben?« fragte sie, und es klang 

recht hoffnungsvoll, wie Roland fand. 

Nun, Roland hielt es für an der Zeit, ihr zunächst einmal einen Kuß 

zu rauben. Das war natürlich kein richtiger Raub, denn Ingruns heiße 
Lippen warteten nur zu bereit und empfingen ihn  mit großer 
Leidenschaft. 

Rolands Herz schien den gleichen wilden Takt wie Ingruns Herz 

zu schlagen, und er genoß die Glut dieser weichen, süßen Lippen. 

Für eine Weile hielt die Sonne im Blätterfärben inne und spähte 

interessiert zu den beiden Menschen hinab, die dort im weichen Gras 
am Ufer des Sees lagen. Bei dem Anblick wurde sie noch heißer, als 
sie ohnehin schon war, und sie boxte ein Wölkchen zur Seite, das 
sich vor ihr linkes Auge schieben wollte. 

Die beiden Pferde standen abseits zwischen einer Buchengruppe. 

Ingruns Stute verstand sich recht gut mit Rolands Hengst. Sie 
versuchte wiederholt seine Aufmerksamkeit zu erringen, indem sie 
ihn zärtlich beißen wollte, und sie war ein wenig beleidigt, als ihr 
Bemühen keinen Erfolg zeigte. Der Hengst war nicht so bei der 
Sache wie sein Reiter. Er hatte die Ohren gespitzt, witterte zu den 
Fichten am Berghang hin und schnaubte unwillig. 

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Roland hörte nichts von dem Schnauben. Er war damit beschäftigt, 

Ingruns letzte Ängste hinwegzuküssen, obwohl ihm sein Gefühl 
sagte, daß sie gar keine gehabt hatte. 

Ritter Roland hörte und sah nichts außer Ingrun. 
Als dann die Kerle zwischen den Baumstämmen am Berghang 

hervorsprangen, war es Roland, als erwachte er jäh aus einem 
schönen, erregenden Traum. 

Sein Kopf ruckte herum. 
Ingrun öffnete die Augen, und ihr glückliches Lächeln verschwand 

schlagartig. Statt Seufzer der Wonne stieß sie einen Schrei des 
Erschreckens aus. 

Sieben Kerle stürmten heran, als hätte der Teufel sie aus dem Wald 

geschleudert. Es waren finstere, heruntergekommene Gestalten, und 
sie waren gewiß nicht gekommen, um ihnen ein angenehmes 
Schäferstündchen zu wünschen. 

Sie schwangen Keulen und Schwerter. 
Roland reagierte schnell und kaltblütig. Er schnellte sich von 

Ingrun herunter, wirbelte von ihr fort durch das Gras, sprang auf und 
griff zum Schwert. 

Ingrun schrie auf, als einer der Kerle seine Keule warf. Roland 

duckte sich geistesgegenwärtig, und die Keule klatschte hinter ihm in 
den See und erschreckte einen Wasserfloh. 

Roland fegte den Angreifer mit einem Schwerthieb von den 

Beinen. Der Kerl, taumelte brüllend gegen einen Kumpan und riß ihn 
mit zu Boden. 

Dann war einer der wilden Gesellen heran, der mit einem Schwert 

bewaffnet war. Ungestüm griff er an. Roland parierte den wuchtigen 
Hieb und kreuzte mit dem Mann die Klinge, daß die Funken stieben. 
Der Angreifer, ein untersetzter, graubärtiger Mann mit einer 
Knollennase, stieß einen überraschten Laut aus. Die graublauen, 
tiefliegenden Augen blinzelten. Offensichtlich war er von Rolands 
Kampfkraft überrascht. 

Roland trieb den Graubart mit hartem Klingenschlag zurück, 

fintierte, und als der Kerl darauf hereinfiel, schlug Roland ihm das 

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Schwert aus der Hand. 

Ein anderer Mann stürmte mit erhobener Keule auf Roland zu. 

Roland sah die herabsausende Keule aus dem Augenwinkel und wich 
gedankenschnell aus. Doch die Keule streifte ihn noch an der 
Schulter und ratschte über das leichte Kettenhemd. Roland schlug 
aus der Drehung heraus mit dem Schwert zu. Schreiend stürzte der 
Kerl ins Gras und fiel fast auf Ingrun, die zitternd von ihm fortkroch. 

Roland empfing den nächsten keulenschwingenden Angreifer. Er 

hieb ihm mit dem Schwert auf die Finger, und der Lump ließ die 
Keule los, als hätte er sich daran die Finger verbrannt. Mit 
wutverzerrtem Gesicht zog der Mann das Messer aus der 
Lederscheide am Gurt. 

»Nicht, Winfried!« rief einer der Kerle und sprach Roland damit 

aus dem Herzen. Doch in seiner Rage hörte Winfried nicht. 

»Du Hundsfott!« brüllte er und stürmte mit vorgehaltenem Messer 

auf Roland zu, um es ihm in die Brust zu stoßen. Roland schnellte 
sich im letzten Augenblick zur Seite. Die Hand mit dem Messer stieß 
ins Leere, und der Mann konnte seinen Schwung nicht mehr ab-
fangen. Er strauchelte und fiel ins Wasser, daß es nur so spritzte. 

Roland wirbelte bereits zu dem nächsten Angreifer herum. Er 

wollte ihm das Schwert aus der Hand schlagen, doch der Haderlump 
stolperte just in diesem Moment, und Rolands Klinge traf ihn in die 
Schulter. Mit einem röchelnden Laut brach der Mann  zusammen. 
Roland riß sein Schwert zurück. Blut schimmerte auf der Klinge. 

Roland erfaßte mit einem schnellen Blick, daß nur noch ein Gegner 

mit einem Schwert bewaffnet war. Er parierte den Angriff des Kerls, 
der schwerfällig und ungeschickt kämpfte. Der  Bursche schwitzte 
und schnaufte vor Anstrengung. Roland kreuzte mit ihm die Klinge 
und trieb ihn mit wuchtigen Schlägen zurück. 

Aus dem Augenwinkel heraus sah er, daß Ingrun aufgesprungen 

war, den langen Rock raffte und zu den Pferden rannte. Sie tat genau 
das Richtige. Und wenn sie erst einmal aus der Gefahrenzone war, 
sollte es ihm schon gelingen, mit diesen Haderlumpen fertig zu 
werden. Trotz der Übermacht rechnete sich Roland gute Chancen 

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aus. Kämpfer waren diese Strolche wohl allesamt nicht. Zwei 
hockten benommen im Gras, einer lag im Wasser und schien nach 
Fischen Ausschau zu halten, und der an der Schulter verletzte Mann 
starrte mit glasigen Augen vor sich hin, als suche er einen verlorenen 
Dukaten im zertrampelten Gras. 

Roland schmetterte dem schwitzenden plumpen Kerl das Schwert 

aus der Hand und wich einem Keulenhieb aus. 

Dann erschrak er. 
Er sah, wie einer der Strolche hinter Ingrun her hetzte. 
Klar, daß der Halunke den Kampf auf diese Weise beenden wollte. 

Er wollte sich das Mädchen schnappen  und Roland zum Aufgeben 
zwingen. 

»Halt, oder dich trifft mein Schwert!« rief Roland. 
Der Kerl hörte nicht auf ihn. Nur noch fünf Schritte trennten ihn 

von Ingrun, und das Köhlermädchen stolperte gerade. Roland zögerte 
keine Sekunde mehr. Er holte mit dem  Schwert aus und schleuderte 
es wie eine Lanze. Er zielte tief und traf. Das Schwert drang dem 
Kerl ins Bein, und er schlug brüllend der Länge lang hin. 

Roland spürte eine Bewegung hinter sich und wirbelte herum. 
Doch es war zu spät. 
Die Keule sauste bereits auf ihn herab. 
Der Kerl, der in den See gefallen war! Er hatte sich die Keule eines 

Kumpans aus dem Wasser gefischt und war fast lautlos hinter Roland 
aufgetaucht. 

Ingrun schrie gellend auf. Dann krachte die Keule auf Rolands 

Schädel, und der Schlag löschte den Schrei aus. 

Roland sank ins Gras. 
Es waren doch zu viele, dachte er noch. Dann wurde es dunkel und 

still um ihn, und er dachte nichts mehr. 

Im Dorfkrug ging es hoch her. Die Knappen Louis und Pierre hatten 
einen recht kurzweiligen Nachmittag verbracht. Die Schenke bot 

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allerlei Vergnügungen. Das war ja schon die reinste Spielhölle! 

Da gab es zum Beispiel den Nagelbalken. 
Die Spielregel war recht einfach. Es galt, einen Nagel mit einem 

Hammer in den Balken einzuschlagen. Wer es mit den wenigsten 
Hieben schaffte, hatte gewonnen, und der Gegner mußte ein Getränk 
spendieren. Nun waren die bayerischen Burschen recht kräftig und 
geübt im Nageln. Doch sie gingen in der Vorfreude, es den beiden 
Fremden so richtig zu zeigen, etwas zu hastig und verkrampft zu 
Werke. 

Louis und Pierre fanden das Spielchen recht dümmlich. Amüsiert 

hämmerten sie ihren Nagel jeweils mit einem gewaltigen 
Hammerschlag ins Holz, daß der Balken erzitterte. 

So tranken die beiden eine Zeitlang gratis, und die Einheimischen 

machten sich in ihrem Ärger einen Spaß daraus, jedesmal ein anderes 
Getränk auszugeben, mal Met, mal Wein, mal Bier. Man hoffte, der 
Fremden Schlagkraft und Treffsicherheit würde nachlassen. Doch es 
war wie verhext. Die Fremden hämmerten wie die Teufel! Sicher, 
mal verbog sich ein Nagel bei Pierre, und er mußte ein zweites Mal 
zuschlagen. Louis hieb sogar einmal neben den Nagel, weil er gar 
nicht richtig hingeschaut, sondern der drallen Wirtstochter Zenzi in 
den wohlgefüllten Ausschnitt gepeilt hatte. Doch just bei solchen 
Pannen der Knappen versagten auch ihre Gegner, und so wurden 
Louis und Pierre nach der siebten gewonnenen Runde zu 
Nagelkönigen ernannt. 

Flugs versuchten die einheimischen Burschen die Scharte wieder 

auszuwetzen. Sie forderten zum nächsten Spiel heraus: 

Die Wurfscheibe. 
Eine aus Bast geflochtene Zielscheibe mit aufgemalten Ringen 

mußte mit kleinen, gefiederten Wurfpfeilen getroffen werden, 
möglichst ins Schwarze. Nun, Louis traf jedesmal, und nur Pierre 
erwischte einmal die Nasenspitze des Schiedsrichters. Der Knabe, 
der jeweils die Punkte aufschrieb, hatte sich just in dem Moment 
gespannt zur Zielscheibe hingeneigt, als Pierres Wurfpfeil schon 
unterwegs gewesen war. So ratschte der Pfeil über seine Nase. Der 

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Mann war nicht einmal besonders böse. Er schien es gewohnt zu 
sein. Seine lange spitze Nase wies eine Reihe von Schrammen auf, 
von seinem Ohrläppchen fehlte ein Stück, und auch auf der Wange 
waren mehrere Furchen zu sehen. Da fiel der neue Kratzer nicht 
sonderlich auf. 

Louis und Pierre tranken wiederum gratis, und als das Spiel ihnen 

langweilig zu werden begann  - und den Einheimischen zu teuer  - 
erklärte der verschrammte Schiedsrichter die Knappen zu 
Wurfkönigen, und man ging zum nächsten Wettkampf über. 

»Wäre doch gelacht, wenn wir euch  Zugereiste nicht packen 

könnten«, erklärte einer der Burschen recht offen. 

So holte man den Knobelbecher, und es ging ans Würfeln. Auch 

bei diesem Vernügen hatte man die Regeln im Bayerischen Wald ein 
wenig vereinfacht, damit jeder sie verstehen konnte.  Es, wurde nur 
ein Würfel geworfen. 

Mit Pierres und Louis' Glückssträhne schien es endgültig vorbei zu 

sein. Pierre würfelte eine Eins und Pierre eine Drei. Die Gegenspieler 
konnten mit einer Fünf und gar einer Sechs aufwarten. 

Die Knappen wollten bereits die Getränke bestellen, doch da 

erklärten die Gegenspieler resigniert, daß die Fremden mit dem 
Teufel im Bunde sein müßten. Denn nach ihrer traditionellen, 
regionalen Regel galt der Spieler mit der niedrigsten Zahl als Sieger. 
Ehrlich waren die Burschen, das mußte man anerkennen. 

So tranken Louis und Pierre weiterhin umsonst. Aber sie ließen 

sich nicht lumpen und bestellten eine Runde Schmalzbrot mit Salz zu 
besserem Durst. 

Louis trat dann gegen den Lokalmatador im Fingerhakeln an. Er 

gewann, und der Bursche, ein glutäugiger Holzfäller, erwies sich als 
gar schlechter Verlierer. Er beschuldigte Louis, die Regeln nicht 
eingehalten und etwas zu früh gehäkelt zu haben, und er sagte etwas, 
das wie »Sau, damische« oder so klang. Louis erkundigte sich, was 
das genau zu bedeuten habe, und der Holzfäller wurde präziser. 

Da scheuerte Louis ihm eine. 
Und so begann der nächste Teil der Gaudi. 

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In dieser Disziplin gab es im Grunde genommen gar keine Regel, 

allenfalls den Grundsatz: »Haudraufsofestdukannst«. 

Rund ein Dutzend Burschen keilten sich mit Louis und Pierre und 

taten ihr Bestes, die beiden Fremden mitsamt dem Mobiliar in Stücke 
zu zerlegen. Doch ihr Bestes war nicht gut genug. 

Louis, der ehemalige Räuberhauptmann, wirbelte die Jungs 

reihenweise durch die Luft, und auch Pierre bewies, daß die sanfte 
Zeit als Page auf Schloß Camelot lange vorbei war; als Knappe von 
Ritter Roland war er in manch hartem Kampfe wider Willen gestärkt 
worden. 

Trotz allem hätten Louis und Pierre kaum gegen die Übermacht 

bestehen können, doch die Einheimischen erwiesen sich als äußerst 
fair. Schon bald bildeten sich Parteien, und schließlich möbelte jeder 
auf jeden ein, der sich das gefallen ließ. 

Schließlich waren alle vom wilden Geraufe wieder durstig 

geworden, und so entschloß man sich, die Gaudi mit einem 
Versöhnungsschluck zu krönen. 

Alle sahen ein wenig lädiert aus, auch die beiden Knappen, doch 

man war sich darüber einig, daß es in dem kleinen Ort seit langem 
keinen so herrlichen Spaß gegeben hatte und daß  man den netten 
Fremden für diese Abwechslung vom täglichen Einerlei dankbar sein 
konnte. Louis und Pierre tranken Brüderschaft mit den Poldis und 
Tonis und wie sie alle hießen, und später, nach Mitternacht, tranken 
die Knappen dann noch in kleinerer, weiblicher Runde weiter. 

Louis hatte sich die dralle Wirtstochter Zenzi angelacht, die ihm 

sein Zimmer zeigen sollte und dann gleich dablieb, weil sie von 
Louis' Fingerhakeln so angetan war. 

Pierre fand Aufnahme in der Kammer der jungen Witwe Edwina 

Gugelhuber, die ihn den ganzen Abend schon angehimmelt hatte, 
weil er  - wie sie später in seinen Armen sagte  - so herrlich nageln 
konnte. 

So waren alle in dieser Nacht recht zufrieden, und erst am Morgen, 

als sie erwachten, fiel ihnen auf, daß sich Ritter Roland nicht mehr 
hatte blicken lassen. 

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Er hätte am Abend zurück sein müssen. 
Wo mag er abgeblieben sein? dachte Louis besorgt. 
Auch Pierre stellte sich diese Frage. Und sie erinnerten sich 

plötzlich alarmiert an ihren Auftrag. Bei all der Kurzweil hatten sie 
ganz vergessen, daß sie nicht zum Vergnügen im Bayerischen Wald 
unterwegs waren, sondern das Geheimnis der verschwundenen 
Mädchen lösen sollten. 

Ihre Sorge wuchs, als sie sich am Morgen umhörten. Roland war 

auch nicht spät in der Nacht zurückgekehrt. 

Seit dem Mittag des Vortages hatte ihn niemand mehr gesehen. 
»Er wird sich mit diesem Mädchen amüsieren«, mutmaßte Louis. 
»So lange?« staunte Pierre. 
Louis grinste. »Er ist stark und ausdauernd. Außerdem hat er nicht 

soviel Met, Wein und Bier gesoffen wie wir.« 

Pierre strich sich eine Strähne des dunkelblonden Haares aus der 

Stirn. »Aber er hat gesagt, er sei bis zum Abendessen wieder 
zurück«, gab er zu bedenken. 

Louis kraulte sich den schwarzen Bart. »Stimmt. Normalerweise 

ist auf den Ritter absolut Verlaß. Doch wenn ein Weibsbild im Spiel 
ist, noch dazu ein solch knackiges wie diese Maid, die Angst vor 
Räubern hatte ...« Er beendete den Satz mit einem vielsagenden 
Zwinkern. 

»Trotzdem«, beharrte Pierre, »ich hab' ein ungutes Gefühl.« 
»Das ist der Kater, Pierre«, brummte Louis und massierte seine 

Schläfen. »Hui, war das eine Nacht!« Aber auch er verspürte ein 
Gefühl des Unbehagens, das er nicht so recht erklären konnte. 

Am Mittag war Ritter Roland immer noch nicht zurück. 
Am Nachmittag traf dann ein aufgeregter Mann im Ort ein. Es war 

der Köhler Gotthelf Brunner, Ingruns Vater. Ingruns Stute war 
reiterlos im Morgengrauen heimgekehrt. Brunner hatte den ganzen 
Vormittag nach seiner Tochter gesucht. Auf dem Weg zum Dorf 
hatte er dann am Ufer des Höllensteinsees einen  Fetzen der Bluse 
gefunden, die Ingrun getragen hatte. Dazu hatte er die Spuren eines 
Kampfes am Ufer des Sees gesehen, Stiefelabdrücke, Hufspuren, 

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eingetrocknetes Blut. 

Ingrun war verschwunden. Und ebenso der Mann, der sie auf dem 

Heimweg begleitet hatte, wie der erschütterte Köhler im Dorfkrug 
erfuhr. Ein gewisser Roland. 

Das ganze Dorf lief zusammen. Die Knappen sahen die Angst in 

den Blicken der Menschen. 

Einer sprach aus, was die meisten dachten: 
»Der Dämon hat wieder zugeschlagen«, sagte er furchtsam und 

bekreuzigte sich. 

»Der Drache vom Höllensteinsee hat sich ein neues Opfer geholt«, 

rief der Schneider mit bleichem Gesicht. 

»Quatsch«, sagte sein Nebenmann grinsend. »Deine Alte ist doch 

auf Besuch bei ihrer Schwester in Waffenbrunn.« 

Nur wenige lachten. Die Stimmung war bedrückt. 
Und so sehr man sich mit den beiden Fremden angefreundet hatte, 

in dieser Situation wurde wieder Mißtrauen, ja sogar Feindseligkeit 
wach. 

Louis und Pierre spürten lauernde Blicke auf sich gerichtet. 
»Vielleicht hat der Freund von denen da Ingrun entführt«, sagte der 

Holzfäller, der seine Niederlage im Fingerhakeln noch nicht 
vergessen hatte. Er hob die Stimme und blickte sich beifallheischend 
um. »Vielleicht sind die drei Fremden nicht zufällig hier  aufge-
taucht...« 

Es wurde totenstill in der Schenke. 
Louis trat auf den Burschen zu und blickte ihm in die Augen. 
»Was willst du damit sagen?« fragte er ruhig und rieb sich mit der 

Linken über die geballte Rechte. 

Der Holzfäller erinnerte sich an Louis' Schlagkraft. Er zuckte mit 

den Schultern und senkte den Blick. 

»Ich finde es auch seltsam, daß Fremde herkommen, einer davon 

mit Ingrun reitet und sie anschließend verschwindet«, rief der Köhler 
und betrachtete Louis und Pierre, als seien sie besonders häßliches 
Ungeziefer. 

Louis atmete tief ein und aus, und Pierre sah, wie er auch noch die 

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Linke ballte. Die Atmosphäre war angespannt. 

»Eure Tochter hat sich dem Ri.. äh ... Roland förmlich 

aufgedrängt!« sagte Pierre zu dem Köhler. »Und bei Gott, er wird sie 
bis zum letzten Atemzug verteidigt haben.« 

»Und wo ist er?« rief der Köhler verzweifelt. »Und wo ist Ingrun, 

meine Ingrun?« Er schluchzte fast. 

Nun, diese Frage wußte niemand zu beantworten. 
»Wir müssen es herausfinden«, sagte Louis in die angespannte 

Stille. Er nickte Pierre zu. »Komm, sehen wir uns einmal die 
Kampfstätte an, von der der Mann gesprochen hat.« 

»Aber ich habe doch schon alles abgesucht l« rief der Köhler 

weinerlich. »Was erhofft ihr denn dort noch zu finden?« 

Möglicherweise zwei Leichen, dachte Louis erschauernd. Oder nur 

die von Ritter Roland. Er wird sich nicht kampflos ergeben haben. Er 
wird Ingrun bis zum letzten Atemzug verteidigt haben, wie Pierre 
gesagt hat... 

Doch der Knappe sagte nichts von seinen schlimmen 

Befürchtungen. Der Köhler war ohnehin schon einem 
Zusammenbruch nahe. 

Roland wähnte sich in der Höhle des Löwen. Er war auf einem 
rumpelnden Karren unter einer Plane aus seiner Ohnmacht erwacht. 
Sie hatten ihn an Händen und Füßen gefesselt. Den Gesprächen der 
Reiter hatte er während der langen Fahrt entnommen, daß auch das 
Mädchen in der Gewalt der Kerle war. Es waren Räuber, die ihn und 
Ingrun in ihr Versteck zu ihrem Anführer brachten. 

Roland war überzeugt davon, daß diese Entführung mit all den 

anderen Fällen der verschwundenen Mädchen in Zusammenhang 
stand. Vermutlich hatten sie es nur auf Ingrun abgesehen gehabt, ihn 
dann aber ebenfalls mitgenommen, weil er ihnen die Sache so schwer 
gemacht hatte. Zumindest zwei von ihnen waren verletzt, und  sie 
nahmen ihn wohl mit, um noch ihr Mütchen an ihm zu kühlen. Sie 

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hatten schnell verschwinden und nicht so lange warten wollen, bis er 
wieder bei Besinnung war. 

Ihrer Unterhaltung hatte Roland entnommen, daß ihr Anführer 

keineswegs ein Dämon oder Drache  war, sondern ein Räuber aus 
Fleisch und Blut. Es war also nichts dran an dem abergläubischen 
Geschwätz der Leute. 

Roland hätte eigentlich froh sein können, daß er so schnell auf die 

Bande gestoßen war, doch die Umstände waren nicht dazu angetan, 
allzu große Freude in ihm aufkommen zu lassen. Denn was nutzte es 
ihm, wenn er das Geheimnis vom Höllensteinsee gelöst hatte und 
sein Wissen mit ins Grab nehmen mußte? 

Er verdrängte den Gedanken. Noch lebte er, und vielleicht gab es 

doch noch eine Chance. 

Er dachte an Ingrun. Sie war also nicht entkommen, wie er gehofft 

hatte. Nur ihre Stute war den Räubern entwischt, wie einer der Kerle 
zu einem Kumpan gesagt hatte, der daraufhin mit rauhem Lachen 
erwidert hatte: »Macht nichts, dafür haben wir die zweibeinige Stute, 
und die gefällt mir viel, viel besser.« 

Die arme Ingrun. Im nachhinein betrachtet war ihre Angst nicht 

unbegründet gewesen. Er hatte ihr Schutz versprochen, doch er hatte 
sein Versprechen nicht einhalten können. Vorwürfe quälten ihn. 
Sicherlich, die Übermacht war zu groß gewesen, doch er hätte vorher 
wachsamer sein und nicht nur Augen und Ohren für das reizvolle 
Köhlermädchen haben sollen ... 

Der Wagen hielt. Der Hufschlag verklang. Metall klirrte und 

Sattelleder knarrte. Schritte entfernten sich. 

»Sag Erwin Bescheid«, rief einer der Kerle. »Bin gespannt, was er 

zu unserem Fang sagt.« 

Nun, gespannt war Roland auch. Noch einmal versuchte er, die 

Fesseln zu sprengen, doch seine Bemühungen waren wie zum xten 
Mal zuvor vergebens. Die Kerle hatten ihn nach allen Regeln der 
Kunst verschnürt. Natürlich hatten sie ihm auch Messer und Schwert 
abgenommen. 

Roland hörte Ingrun aufschreien, und einer der wilden Gesellen 

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lachte meckernd. Ingruns gepeinigter Schrei schnitt Roland ins Herz. 

»Ein wirklich entzückender Anblick«, sagte eine tiefe Stimme. 

»Ein rechtes Bärenweibchen. Schöne, große Augen hat sie.« 

Er lachte, und andere fielen in das dröhnende Lachen ein. 
Dann fragte die tiefe Stimme: »Wo ist der Bär?« 
»Unter der Plane«, rief jemand, und Roland wußte, daß mit dem 

Bär er gemeint war. 

Da schlug schon jemand die Plane zurück. Roland blinzelte. Das 

Licht der tiefstehenden Sonne stach ihm nach der Dunkelheit unter 
der Plane in die Augen. 

»Na los, worauf wartet ihr noch?« rief die tiefe Stimme. »Holt ihn 

runter, damit ich ihn mir genauer ansehen kann!« 

Grinsende Gesichter tauchten über Roland auf. Zwei der Räuber 

packten ihn, zerrten ihn vom Karren und warfen ihn hin wie einen 
Sack. Roland prallte ins Gras. Keine drei Schritte entfernt ragte eine 
große Gestalt vor ihm auf. Breitbeinig stand der Mann da und hatte 
die Hände in die Hüften gestemmt. Der Mann trug glänzend polierte 
Stiefel und eine Reithose. Sein graues Hemd unter der 
Wildlederjacke stand an der Brust offen und gab den Blick auf 
wuchernde schwarze Brusthaare frei. Die waren so lang, daß er fast 
Zöpfchen daraus hätte flechten können. In dem Haargestrüpp 
schimmerte ein goldenes Medaillon. 

Rolands Blick glitt höher. Der Mann mochte Anfang vierzig sein. 

Er hatte einen massigen Schädel, den er etwas  vorgebeugt hatte wie 
ein angriffslustiger Stier und der fast ohne Hals auf den breiten 
Schultern zu sitzen schien. Das pechschwarze Haar war 
offensichtlich frisch gewaschen und fiel bis auf die breiten Schultern. 
Sein Bart bestand aus breiten Koteletten, die bis über die 
Mundwinkel hinabreichten und von einem wuchtigen, glattrasierten 
Kinn geteilt wurden, Braune Augen unter buschigen, schwarzen 
Augen musterten Roland. 

Alles in allem wirkte der Mann gepflegt und nicht einmal 

unsympathisch. Doch Roland empfand in seiner Situation keinen 
Funken Sympathie. 

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Der Kerl mußte Erwin sein - der Räuberhauptmann. 
Der Mann nickte irgendwie zufrieden, und die Andeutung eines 

Lächelns spielte um seinen breiten Mund und gab seinem Gesicht 
einen fast gutmütigen Ausdruck. 

»Nehmt ihm die Fesseln ab!« sagte er und gab seinen Männern 

einen herrischen Wink. »Behandelt man so einen lieben Freund?« 

Das mußte purer Hohn sein, doch die Miene des 

Räuberhauptmannes zeigte keinerlei Spott. Sofort stürzten zwei der 
Räuber zu Roland und zerschnitten die Fesseln. 

Roland setzte sich auf und massierte die Gelenke. Dabei blickte er 

sich um. 

Er befand sich auf einer Waldlichtung. Zwischen den 

Baumstämmen am östlichen Rande der Lichtung entdeckte er einige 
Hütten. Die Pferde standen davor. Ein Dutzend Räuber bildete einen 
Halbkreis um ihn. Die Kerle, die ihn und Ingrun überfallen hatten, 
waren darunter. Zwei trugen Verbände, und einige andere sahen 
ebenfalls recht mitgenommen aus. 

Dann sah Roland Ingrun. Das Mädchen hockte ein halbes Dutzend 

Klafter entfernt am Boden und blickte stumm und hilfesuchend zu 
ihm. Sie war ebenfalls gefesselt, und ihre Bluse bestand fast nur noch 
aus dem Rückenteil und ein paar Fetzen, die kaum ihre Blößen 
bedeckten. 

Heißer Zorn stieg in Roland auf. 
»Wie heißt du, mein Freund?« sagte der Räuberhauptmann in 

freundlichem Tonfall. 

»Ich bin nicht dein Freund, du Verbrecher«, erwiderte Roland. 
Einer der Räuber sprang auf ihn zu. Es war der Graubart, den 

Roland im Schwertkampf besiegt hatte. Er holte aus, um Roland zu 
treten. 

»He, wie sprichst du mit meinem Herrn, du ...« 
Weiter kam er nicht. 
Roland hatte die Chance erkannt. Und wenn sie noch so klein war, 

in seiner Situation mußte er nach jedem Strohhalm greifen. 

Der Strohhalm war in diesem Fall das Bein des Graubartes. 

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Roland packte zu, ein schneller Ruck, und mit einem Aufschrei 

stürzte der Kerl zu Boden. Roland sprang behende auf. Er sah, wie 
sich die anderen Räuber bis auf den Anführer in Bewegung setzten, 
und  er wußte, daß er schnell sein mußte. Mit einem Satz war er bei 
dem benommenen Graubart, der wohl überlegte, ob sein Bein noch 
am Körper war oder ob Roland es ihm ausgerissen hatte. 

Rolands Hand stieß zur Lederscheide am Gürtel des Mannes. Doch 

bevor er das Messer herausziehen konnte, traf ihn eine Keule am 
Arm und ein glühendheißer Schmerz zuckte bis in seine 
Fingerspitzen. Dann waren auch schon die anderen heran. 

Roland schlug aus der Drehung heraus mit dem Ellenbogen zu und 

schickte einen der Angreifer  zu Boden. Er erkannte, daß ihm keine 
Zeit blieb, an das Messer heranzukommen, und so versuchte er, sich 
die Kerle mit den Fäusten vom Leib zu halten und vielleicht einem 
anderen die Waffe zu entreißen. 

Gleich sechs oder sieben Mann griffen gleichzeitig an. Roland 

kämpfte tollkühn. Er schnappte den aufspringenden Graubart am 
Hosengurt, riß den Mann hoch und schleuderte ihn gegen zwei 
Räuber. Beide gingen zu Boden, und der Graubart landete auf ihnen. 

Einer sprang Roland von hinten an und umklammerte ihn. Roland 

ging in die Hocke, packte die Handgelenke des Burschen und warf 
ihn über den Kopf ab. Der Kerl überschlug sich in der Luft und 
krachte keinen Schritt vor dem Räuberhauptmann ins Gras. Erwin 
trat gelassen etwas zurück und verschränkte mit einem zufriedenen 
Grinsen die Arme. 

Doch das sah Roland in der Hektik des Kampfes nicht. 
Seine Fäuste wirbelten. Er schickte einen weiteren Angreifer mit 

einem wuchtigen Hieb zu Boden, wich einem Keulenschlag aus und 
packte blitzschnell das Handgelenk des Räubers, als die Hand mit der 
Keule an ihm vorbeisauste. Er verdrehte das Handgelenk. Jaulend 
ließ der Kerl die Keule los. 

Roland wollte sich die Keule schnappen, doch da drückte ihm 

jemand eine Schwertklinge in den Rücken. 

»Gib auf, oder ich spieße dich auf wie einen Ochsenbraten!« 

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zischte ihm eine Stimme in den Nacken. 

Roland prickelte es kalt zwischen den Schulterblättern. Nun, er 

wollte nicht aufgespießt werden, schon gar nicht wie ein 
Ochsenbraten, und so verharrte er in seiner Bewegung. 

»Laß den Blödsinn, Dankwart!« rief der Räuberhauptmann mit 

dröhnender Stimme. »Und du, Winfried, bist ein Dummbeutel!« 
Finster blickte er zu dem Graubart. »Ich sollte dich auspeitschen 
lassen, weil du auf meinen lieben Freund losgegangen bist!« 

Der Graubart senkte schuldbewußt den Kopf. 
»Ich verzichte nur darauf, weil ich auf diese Weise eine Probe 

seiner Kampfkraft gesehen habe. Er ist im Kampfe fürwahr wie ein 
wilder Bär, das habt ihr mir richtig gemeldet. Aber er ist auch schnell 
und kühn. Genau der richtige Mann für mich.« 

Der Räuberhauptmann lächelte Roland wohlwollend an. 
Roland glaubte seinen Augen und Ohren nicht trauen zu können. 
Der Mann mit dem Schwert war sofort zurückgetreten. Der 

Graubart und einige andere hatten sich aufgerappelt. Sie blickten 
betreten drein, und der Graubart starrte Roland gehässig an. 

»Nun, mein Freund«, sagte der Räuberhauptmann zu Roland, 

»verzeih die ungestüme Art meiner dummen Jungs und laß uns gute 
Partner werden.« 

Roland hatte einen schlechten Geschmack im Mund und spuckte 

ins Gras. Das war auch eine Antwort auf die Worte des 
Räuberhauptmannes. 

Roland überlegte, was das alles zu bedeuten hatte. Weshalb 

benahm sich der Räuberhauptmann so seltsam und sprach von 
»Freund« und Partnerschaft? 

»Du wirst nach der Fahrt und den Kämpfen hungrig und durstig 

sein«, sagte Erwin freundlich. »Hast du irgendeinen Wunsch?« 

Roland nickte. »Laßt das Mädchen frei, gebt mir meine Waffen 

und zwei Pferde und fahrt zur Hölle!« 

Der Räuberhauptmann lachte wie über einen guten Witz. 
»Bis auf letzteres kannst du alles haben, mein Freund«, sagte er 

dann zu Rolands Überraschung. »Doch nicht sogleich. Ich dachte 

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zunächst an einen kleinen Imbiß und etwas zu trinken. Und eine 
Erklärung willst du sicher auch. Womit sollen wir anfangen?« 

»Die Reihenfolge war gar nicht so schlecht«, sagte Roland. »Doch 

bevor ich das Angebot annehme, läßt du das Mädchen frei.« Er 
nickte zu Ingrun hin. 

Der Räuberhauptmann lächelte beinahe gutgelaunt. Er gab seinen 

Männern einen Wink. 

»Nehmt seiner schönen Herzdame die Fesseln ab und bringt sie in 

Gerlindes Gemach. Sie soll Speis und Trank bekommen und sich wie 
ein Gast fühlen.« 

Dann wandte er sich wieder an Roland. »Du brauchst keine Sorge 

um sie zu haben. Es wird ihr bei uns gutgehen, und es wird ihr jeder 
mögliche Wunsch erfüllt werden, sofern du dich erkenntlich zeigst 
und einen kleinen Auftrag für mich erledigst.« 

Roland horchte auf. Was wurde da gespielt? Er konnte sich keinen 

Reim auf das seltsame Verhalten des Räuberhauptmannes machen. 

»Welchen Auftrag?« fragte er. 
»Nun, das erfährst du alles bei einem guten Becher Wein.« 
Bald darauf saß Roland in einer der Hütten dem Räuberhauptmann 

gegenüber. Er war überrascht, wie gut, fast prunkvoll, der Raum 
eingerichtet war. Er sah Gold und Silber. Es gab einen kostbaren 
Teppich auf dem Holzboden, und an den Wänden hingen gerahmte 
Bilder. Vermutlich Beute aus Raubzügen. 

Es dämmerte, und einer der Räuber zündete die Kerzen des 

silbernen Kandelabers an. 

Ein anderer Räuber brachte Roland kalten Wildschweinbraten und 

Weißwein. 

Ritter Roland ließ es sich schmecken. Seit dem Mittag des 

Vortages hatte er nichts mehr gegessen und getrunken. Zwei der 
Halunken und Erwin, der Räuberhauptmann, schauten ihm 
schweigend zu. Der Braten war in Streifen geschnitten. Sie  hatten 
ihm kein Messer gegeben, wie er erhofft hatte. 

Als Roland gegessen hatte, schickte Erwin die beiden Räuber aus 

dem Raum. Ihre Schritte verstummten gleich vor der Tür, und für 

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Roland war klar, daß sie dort Posten bezogen. 

Erwin saß ihm am anderen Ende des langen Tisches gegenüber. 

Auch er trank Wein aus einem goldenen Becher. Er wirkte entspannt 
und gelassen. Roland suchte nach einer Chance, den Kerl zu 
überrumpeln. 

Als hätte Erwin seine Gedanken erraten, sagte er mit einem 

spöttischen Grinsen: 

»Ich  habe keine Waffe bei mir, und du hast auch keine. Und selbst 

wenn es dir gelänge, mich zu überwältigen, was ich bezweifle, so 
wären sofort meine Männer zur Stelle. Und außerdem haben wir ja 
dein Liebchen. Du willst bestimmt nicht, daß der Hübschen und den 
anderen Gefangenen etwas zustößt, oder?« 

»Welche anderen Gefangenen?« erkundigte sich Roland, ohne auf 

die Frage zu antworten. 

Erwin zuckte mit den breiten Schultern. »Ein paar Bauerntölpel, 

die nicht viel taugen für meinen Plan. Meine Männer konnten in der 
Eile nicht allzu wählerisch sein. Sie mußten sich greifen, wer gerade 
in der Nähe und unauffällig aufzutreiben war. Aber jetzt haben sie ja 
mit dir den richtigen Mann geschnappt. Kommen wir zum Thema. 
Ich lasse nicht nur deine Herzdame und die anderen frei, sondern ich 
werde dich auch reich belohnen, wenn du den Auftrag zu meiner 
Zufriedenheit erledigst.« 

»Ich nehme nichts von Verbrechern«, sagte Roland trocken. 
Erwin zuckte mit keiner Wimper. »Aber, aber, wer wird denn so 

ein großzügiges Angebot ausschlagen? Ich bin bereit, dir hundert 
Dukaten zu zahlen. Da kannst du glatt dieses Köhlermädchen 
heiraten und brauchst nicht mehr als Wilddieb durch die Wälder zu 
streifen.« 

Roland hatte nicht vor, Ingrun zu heiraten. Sicherlich hatten die 

Räuber sie beobachtet und die falschen Schlüsse gezogen. Und ein 
Wilddieb war er auch nicht. Aber die Räuber mußten erfahren haben, 
daß er und die Knappen sich im Dorf als Jäger ausgegeben hatten. 
Der Überfall und die Entführung waren vermutlich kein Zufall 
gewesen ... 

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»Nun, was hältst du von meiner Großzügigkeit?« fragte der 

Räuberhauptmann in Rolands Gedanken hinein. 

Roland sagte es ihm. Und er sagte ihm auch in recht deutlichen 

Worten, was er von ihm und seinen verbrecherischen Methoden hielt. 

Erwin blieb gelassen und  grinste. »Aber, aber, wer wird denn von 

Erpressung sprechen? Außerdem hat dieses Tier, das du erwähntest, 
einen Ringelschwanz, und ich habe keinen.«  Er lachte dröhnend. 
»Nun, ich hoffe, du siehst ein, daß dir keine Wahl bleibt. Wenn du an 
deinem Leben und an deinem Liebchen hängst, wirst du meinen 
Wunsch erfüllen. Zudem wärst du ein Dummkopf, wenn du dir die 
Chance entgehen ließest, hundert Dukaten zu verdienen.« 

Er erhob sich, trat an eine Vitrine und holte etwas heraus. 
Rolands Gedanken jagten sich.  Keine Frage, daß er tun würde, was 

in seiner Macht stand, um Ingrun und die anderen Gefangenen zu 
retten. Aber zu welchem Auftrag wollte ihn dieser verdammte Erwin 
zwingen? Welche Teufelei hatte der Kerl vor? 

Der Räuberhauptmann kehrte an den Tisch zurück. Er entfaltete 

ein Papier und legte es vor Roland hin. 

»Sieh dir das an.« 
Es war eine Kohlezeichnung. Das Porträt eines Mädchens. 
Ritter Roland sah ein apartes Gesicht, das von langen gewellten 

Haaren umrahmt wurde. Große, seelenvolle Augen blickten ihn wie 
fragend an. Auf den ersten Blick konnte man sie auf vielleicht 
zwanzig schätzen, doch in ihren Augen war etwas Wissendes, 
Erfahrenes, und Roland gab ein paar Jahre hinzu. Sie lächelte leicht, 
und ihre leicht geöffneten, schwellenden Lippen verrieten 
Sinnesfreude. 

Roland bemerkte Erwins Blick, der Besitzerstolz verriet. 
»Sehr hübsch«, gab Roland zu. »Und wer ist das?« 
»Das ist Gerlinde. Ich werde sie heiraten. Doch dazu brauche ich 

deine Hilfe.« 

»Fehlt dir vielleicht ein Trauzeuge?« fragte Roland spöttisch. 

»Oder ein Pater? Ich vollziehe keine Trauungen.« 

Ein Schatten flog über das breite Gesicht des Räuberhauptmannes, 

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und ein kaltes Funkeln war jetzt in seinen Augen. Jetzt wirkte er 
schon eher wie ein Räuberhauptmann, und Roland erkannte, daß die 
fast gutmütige Art des Mannes nur Fassade war und daß dahinter ein 
stahlharter Kern verborgen war. 

»Nein«, sagte Erwin mit schwerer Stimme. »Mir fehlt kein Pater 

und kein Trauzeuge. Mir fehlt nur die Braut. Und du wirst sie mir 
wiederbeschaffen.« 

Die Suche war erfolglos gewesen. Von der Kampfstätte am Ufer des 
Höllensteinsees aus führten zwar Huf- und Fußspuren fort in die 
Wälder, doch Louis und Pierre hatten sie bald darauf im tiefen Tann 
verloren. Zudem erschwerte die hereinbrechende Dunkelheit die 
Suche. Deprimiert gaben die Knappen auf. Pierre begleitete den 
verzweifelten Köhler nach Hause. Gotthelf Brunner hatte erzählt, daß 
vor ein paar Wochen eine Kusine von Ingrun spurlos verschwunden 
sei, und  der Knappe wollte sich bei den Brunners ein Bild von ihr 
geben lassen. Vielleicht konnte er von den Verwandten des Köhlers 
weitere Einzelheiten erfahren. Vielleicht gab es einen Hinweis auf 
den Ort ihres Verschwindens. 

Louis ritt zum Dorf zurück, um sich  dort umzuhören. Der Schmied 

hatte sich eine Zeitlang an der Suche beteiligt und dabei erwähnt, daß 
er nicht an Hexerei glaube, sondern an das Werk eines Unholds. Er 
hätte sogar einen gewissen Verdacht, hatte er geheimnisvoll anklin-
gen lassen, sich dann jedoch in Schweigen gehüllt. Louis wollte dem 
Mann noch einmal auf den Zahn fühlen. 

Auf dem Weg zum Dorf sah er dann die Frau. Sie hatte offenbar 

dasselbe Ziel wie er. Sie war eine rothaarige Schönheit. Stolz saß sie 
auf einem prächtigen Schimmel. Sie blickte nur kurz zurück, als sie 
den Hufschlag hörte, maß Louis mit einem kühlen Blick und wandte 
wieder den Kopf. Ihre Bewegung hatte etwas Hochmütiges. 

Louis trieb sein Roß an ihre Seite und versammelte es, um im Trab 

neben ihr weiterzureiten. 

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»Guten Abend, schöne Frau«, sagte der Knappe galant. »Darf ich 

Euch ...?« 

»Ihr dürft zum Teufel gehen!« unterbrach sie ihn mit scharfer 

Stimme. Sie trieb ihr Pferd zum Galopp und preschte davon, als sei 
der Leibhaftige hinter ihr her. 

Verdutzt kratzte sich Louis am Bart. Irgend etwas mußte er falsch 

gemacht haben. Sie tat ja gerade, als hätte er sich ihr in unlauterer 
Absicht genähert! 

»Ich wollte Euch doch nur meinen Schutz anbieten«, rief er hinter 

ihr her. 

Dann galoppierte er ihr nach, doch ihr Vorsprung vergrößerte sich 

schnell. Ihr Schimmel war offenbar ausgeruhter als sein Roß, mit 
dem er seit Stunden unterwegs war. Er flog nur so dahin. 

Louis ärgerte sich ein wenig ob der schroffen Abfuhr, doch er 

konnte nicht umhin, den hervorragenden Reitstil der kühlen 
Rothaarigen zu bewundern. Roß und Reiter schienen eins zu sein, 
und ihr langes, rotes Haar flatterte im Reitwind wie der Schweif des 
Rosses. 

Es dunkelte, als Louis im Dorf eintraf. 
In der Schmiede brannte Licht. Zwei Männer luden etwas in eine 

Kutsche, die vor dem Tor stand. Louis ging in die Schmiede und 
sprach mit Engelbert Schulze, dem kahlköpfigen Schmied. Schulze 
war prächtig gelaunt. Er hatte ein sehr gutes Geschäft gemacht, wie 
er erzählte. Man holte gerade bestellte Schmiedearbeiten bei ihm ab 
und hatte sehr gut dafür bezahlt. 

Schulze zeigte sich gesprächig. Doch sein Verdacht schien Louis 

zu weit hergeholt zu sein. Schulzes Geselle Erlfried hatte vor ein 
paar Wochen den Krempel hingeworfen und große Reden ge-
schwungen, er werde in die Welt hinausziehen  und bald ein reicher 
Mann sein, dem die Frauen nur so nachliefen. Deshalb verdächtigte 
Schulze ihn. 

»Wie sonst will ein Taugenichts das schaffen, wenn nicht durch 

Räubereien«, sagte der Schmied. »Dieser Trinker und Weiberheld! 
Solche Kerle kennt man doch. Die wollen nicht arbeiten, sondern 

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sich einfach nehmen, wofür unsereiner hart schuften muß. Und wie 
der hinter den Weiberröcken her war! Ich gehe jede Wette ein, daß 
Erlfried der Unhold ist, der all die Mädchen verschwinden läßt. Aber 
mir glaubt ja keiner.« 

Nun, auch Louis glaubte ihm nicht sonderlich. Sein Gefühl sagte 

ihm, daß der Verdacht des Schmiedes aus reiner Antipathie gegen 
den untreuen Gesellen Erlfried geboren war. Viel konnte er damit 
nicht anfangen, zumal Erlfried nicht mehr in der Gegend gesehen 
worden war. Und wo sollte er nach ihm suchen? 

Louis stellte noch einige Fragen, und plötzlich wurde der Schmied 

verschlossen. 

»Weshalb interessierst du dich so sehr dafür?« fragte er 

mißtrauisch. »Mich dünkt, du willst mich aushorchen.« 

»Mein - Freund ist verschwunden«, erinnerte ihn Louis. 
»Damit hat Erlfried nichts zu tun«, sagte der Schmied entschieden. 

»Mit Männern hat er nichts im Sinn.« 

Louis unterdrückte ein Seufzen. Dieser Schulze ging ihm auf die 

Nerven. Louis überlegte, ob er noch die eine oder andere Frage 
stellen sollte. Doch dann kamen die beiden Männer, die er zuvor bei 
der Kutsche gesehen hatte, und wollten die restlichen Sachen 
abholen, und der Schmied war beschäftigt. So verließ Louis die 
Schmiede. 

Viel hatte er nicht herausgefunden. Genaugenommen gar nichts, 

was ihn weiterbrachte. Er hörte sich noch ein wenig im Dorf um, 
doch er hörte nur abergläubisches Gerede. Nebenbei erfuhr er noch, 
daß der Schmied ein Spinner sei. Seine Theorie von Erlfrieds 
Untaten sei an den Haaren herbeigezogen. Erlfried sei ein netter Kerl 
gewesen. Niemand könne ihm verübeln, daß  er mal im Rausche in 
das falsche Fenster eingestiegen sei. 

Louis ging bekümmert in den Dorfkrug. Die Sorge um Ritter 

Roland bedrückte ihn. Wie sollte es jetzt weitergehen? 

In der Schenke sah er dann die schöne Rothaarige wieder. Sie saß 

an einem Tisch in der Ecke und trank Rotwein. Einer der Männer, 
die Waren aus der Schmiede in die Kutsche geladen hatten, stand bei 

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ihr und redete leise mit ihr. Beide blickten bei seinem Eintreten zu 
ihm hin, der Mann irgendwie besorgt, die Frau kühl und interessiert. 
Sie sagte etwas zu dem Mann. Er verneigte sich und verließ die 
Schenke. Er streifte Louis mit einem neugierigen Blick, als er ihn 
passierte. 

Louis wollte sich schon an einem der Tische niederlassen. Da sah 

er, daß die Rothaarige ihn anlächelte. Die Veränderung verblüffte 
ihn. Zuerst die Abfuhr, und jetzt lächelte sie, und sie prostete ihm 
sogar zu, bevor sie ihr Glas an die schwellenden Lippen hob und 
trank. 

Louis blickte hinter sich, doch da war kein anderer. Das Lächeln 

hatte tatsächlich ihm gegolten. 

So  trat er zu ihr an den Tisch, verneigte sich höflich und sagte: 

»Mich dünkt, Ihr habt mich mißverstanden, als ich Euch vor dem Ort 
begegnete. Es lag mir fern, Euch zu belästigen. Ich wollte Euch nur 
meinen Schutz anbieten  - in allen Ehren, versteht sich.«  Er 
verstummte etwas unbeholfen. 

Sie musterte ihn mit interessiertem Blick und nickte leicht. »Gewiß 

führtet Ihr nichts Böses im Schilde«, sagte sie mit herber Stimme. 
»Verzeiht, daß ich Eure Begleitung ablehnte. Aber in diesen Zeiten 
kann eine Frau nicht vorsichtig genug vor den Mannsbildern sein. Ich 
hörte, daß schon wieder ein Mädchen verschwand.« 

»Und dazu der Ri...chard, mein Freund.« Fast hätte Louis sich 

verplappert und »Ritter« gesagt. 

Überrascht hoben sich ihre feingeschwungenen rotblonden 

Augenbrauen. Sie wies auf den freien Stuhl am Tisch. 

»Sagt nur! Das interessiert mich. Das müßt Ihr mir genauer 

erzählen.« 

Louis nahm Platz. Der Duft von einer Seife oder einem Parfüm 

stieg ihm in die Nase. Ein süßer, betörender Duft. 

Sie fragte Louis, wann sein Freund verschwunden sei und wo. 
Er erzählte ihr, was er wußte. Viel war es nicht. Damit es nicht zu 

dürftig klang, schmückte er das Wenige ein bißchen aus, um ihr 
Interesse wachzuhalten. Er war fasziniert von dieser Rothaarigen. 

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Das war kein Püppchen, sondern eine erfahrene Frau von herbem 
Reiz. Ihre Art hatte zwar etwas Vornehmes, doch er konnte sie sich 
eher in wilder Jagd auf einem galoppierenden Roß vorstellen als auf 
einem seidenbezogenen Sessel bei Hofe. Sie war auch nicht so blaß 
wie die meisten noblen Damen, sondern ihr Gesicht war 
bronzefarben gebräunt, als hielte sie sich viel in der Natur auf. Ihr 
Alter war schwer zu schätzen. Sie mochte Mitte zwanzig sein, 
vielleicht auch schon dreißig. Sie war groß und schlank. Kleine 
Hügel zeichneten sich unter der enganliegenden schwarzen Reitjacke 
ab. Ihr Gesicht mit den großen grünen Augen, der geraden Nase und 
den vollen Lippen hatte etwas Arrogantes, doch dieser Eindruck 
verlor sich, wenn sie lächelte. Ihr Lächeln war das einer Frau, die 
schon einiges im Leben erfahren hat und nicht mehr über jeden 
Unsinn lachen kann. 

Sie erzählte dann, daß sie beim Schmied eingekauft habe und 

gleich mit der Kutsche weiterfahren wolle. Die beiden Männer seien 
ihre Diener und Beschützer. 

Louis wunderte sich, weshalb sie ganz allein ins Dorf geritten war. 

Sie erklärte, daß sie unweit des Dorfes jemanden besucht und ihre 
Diener mit der Kutsche vorausgeschickt hatte, Zenzi, die dralle 
Wirtstochter, die letzte Nacht so begeistert von Louis' Fingerhakel-
Künsten gewesen war, kam an den Tisch. Sie bedachte die 
Rothaarige mit einem giftigen Blick, schaute Louis strahlend und 
zugleich tadelnd an und fragte ihn nach seinen Wünschen. Louis 
bestellte Rotwein. Hüftschwingend ging Zenzi davon, um den Wein 
zu holen. 

Die Rothaarige sah ihr nach und zwinkerte dann Louis zu. »Fast 

könnte man meinen, die Kleine sei eifersüchtig, weil Ihr Euch mit 
mir unterhaltet«, bemerkte sie mit einem wissenden Lächeln. 

Louis wurde ein wenig verlegen unter dem Blick ihrer grünen 

Augen. 

»Bleibt Ihr länger hier?« fragte er, um abzulenken. 
Die Rothaarige strich sich mit einer anmutigen Bewegung eine 

Haarsträhne aus der Stirn und schüttelte leicht den Kopf. »Ich sagte 

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doch schon, daß ich gleich weiter will. Eigentlich wollte ich mich 
noch ein bißchen frisch machen, doch es lohnt nicht, dafür extra ein 
Zimmer zu nehmen oder ein Bad anrichten zu lassen. So werde ich 
mich wohl am kalten See waschen müssen.« 

»Wenn Ihr erlaubt, mein Zimmer steht Euch zur Verfügung«, sagte 

Louis. Er sagte es mehr als höfliche Floskel, und er glaubte nicht, 
daß sie darauf eingehen würde. Zu seiner Überraschung nahm sie 
sein Angebot erfreut an. 

Zenzi brachte Louis den Wein. Diesmal funkelten ihre blauen 

Augen Louis zornig an. Sie stellte den Krug und das Glas recht 
unsanft ab. Sie schenkte nicht ein, sondern machte auf dem Absatz 
kehrt und ging noch hüftschwingender als zuvor davon. 

Louis goß rubinroten Wein ein und trank. Sie plauderten noch eine 

Weile über Belanglosigkeiten, dann begleitete er die Frau auf sein 
Zimmer. Dort stellte er ihre Reisetasche ab und wollte sich 
zurückziehen, wie es sich als Kavalier geziemte, der einer 
unbekannten Dame einen höflichen Dienst erweist. 

Dann stockte ihm der Atem. Er wußte gar nicht, wie es gekommen 

war. Plötzlich lag die schöne Rothaarige an seiner Brust, umarmte 
ihn und bot ihm ihre Lippen dar. 

»Worauf wartest du noch, du großer, starker Räuber«, sagte sie mit 

plötzlich dunklerer Stimme. »Sag nur, du hast nicht von Anfang an 
nur an das eine gedacht.« 

Louis war so verwirrt, daß er einen Augenblick lang überhaupt 

nichts sagen konnte. 

»Ich - ich dachte wirklich nicht ...«, stammelte er dann. 
»Sag nur, du willst mich nicht.« Sie bog den Kopf zurück, und in 

ihren

 

grünen Augen schienen Funken aufzulodern. 

»Doch, aber ....« 
Da küßte sie ihn. Nur kurz und etwas kühl, doch Louis' Herz 

begann noch heftiger zu pochen. Schnell, viel zu schnell löste sie 
sich von ihm. 

»Ich bin kein dummes Ding mehr«, sagte sie mit einem herben 

Lächeln. »Ich weiß, was die Männer wollen. Einer wie der andere.« 

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Sie trat zu ihrer Reisetasche und holte eine Flasche Rotwein 

hervor. 

»Echter französischer«, sagte sie. »Das ist was anderes als das 

Wässerchen, das in der Schenke kredenzt wird. Hol unten zwei 
Gläser. Ich mache mich derweil ein bißchen frisch.« 

Es klang, als sei sie sich ihrer Sache  - sprich Louis  - völlig sicher. 

Ja, sie schien es gewohnt zu sein, daß man ihr aufs Wort gehorchte. 

Louis nickte benommen, Teufel, welch ein Angebot von dieser 

aufregenden Frau! Sie würde bestimmt gekränkt sein, wenn er ihre 
Bitte abschlug. Nun, Louis war kein Mann, der Frauen kränkte. Er 
beeilte sich, die Gläser zu holen. Als er dann voller Vorfreude zum 
Zimmer zurückging, fiel ihm ein, daß er nicht mal ihren  Namen 
wußte. 

Er nahm sich vor, sie sogleich danach zu fragen. Doch in ihren 

Armen vergaß er das dann. Sie hatte einen Becher in ihrer 
Reisetasche gefunden und bereits Rotwein eingeschenkt. Sie reichte 
Louis den gefüllten Becher und goß sich selbst aus der  Flasche Wein 
in eines der Gläser. 

Mit einem lockenden Lächeln prostete sie Louis zu und setzte ihr 

Glas an die Lippen. 

Louis trank. Um die Hand frei zu haben, leerte er den Becher in 

einem Zug und stellte ihn ab. Er zog sie an sich und küßte sie, doch 
sie  wirkte irgendwie verändert, fast so kühl und abweisend wie bei 
der ersten Begegnung, als sie ihn zum Teufel gewünscht hatte. 

Mit einem leisen Lachen entzog sie sich ihm und stellte ihr noch 

volles Glas neben dem Bett ab. 

Sie schenkte ihm von neuem Rotwein 

ein und lobte 

überschwenglich das Bukett des Weines. Sicher, es war wohl ein 
guter Saft, aber Louis gewann fast den Eindruck, daß ihr mehr an 
diesem guten Tropfen lag als an ihm. Vielleicht war sie trotz ihres 
forschen Angebots vorhin der Typ, der dennoch erobert werden 
wollte. Louis besann sich auf das kleine Einmaleins der 
Verführungskunst, machte ihr geschickt Komplimente und zog alle 
Register, doch es half nichts  - sie blieb so seltsam kühl. Zudem 

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verspürte er auf einmal eine sonderbare Müdigkeit. Er  gähnte 
wiederholt. Ob es an dem Wein lag oder an ihrer Zurückhaltung? 

Er ging etwas forscher vor, doch sie löste sich aus seinen Armen 

und huschte vom Bett. Die Kerze auf dem Nachttisch flackerte. Das 
Licht kam Louis plötzlich seltsam trübe vor, und die Rothaarige 
wirkte wie eine dunkle, verschwommene Silhouette. Sie schritt zur 
Waschschüssel mit dem Wasserkrug. 

Louis gähnte. Diese verdammte Müdigkeit! Was wird sie von mir 

halten, wenn mir die Augen zufallen? dachte er bekümmert. 

Er streckte sich auf dem Bett aus. Er hörte das Plätschern von 

Wasser. Was war das? Ein Bach? Weshalb fiel ihm das Denken so 
schwer? Ah, sie goß Wasser aus dem Krug in die Schüssel. Richtig, 
sie wollte sich ja frisch machen ... 

Irgendwie einschläfernd war dieses Plätschern. Seine Lider wurden 

noch schwerer. 

»Wie heißt du eigentlich?« 
Er wunderte sich, daß auch seine Zunge so schwer war und daß 

ihm das Sprechen Mühe bereitete. 

»Hannelore.« 
Die Stimme schien wie aus weiter Ferne zu kommen. Wie ein 

leiser Ruf über eine weite Wiese, auf der Nebel wallte. 

Im Zimmer schien es immer dunkler zu werden. 
Ein schöner Name! wollte er sagen, doch er brachte auf einmal 

keinen Ton mehr hervor. Der Nebel vor seinen Augen wurde dichter 
und dunkler, und dann hüllte ihn von einem Augenblick zum anderen 
tiefe Finsternis ein. 

Er glaubte noch in der Ferne ein Lachen zu hören, doch dann 

verhallte es, und Totenstille umgab ihn. 

Er hörte nicht mehr, wie die rothaarige Hannelore an das Bett trat. 

Sie lächelte, doch es war ein kaltes, triumphierendes Lächeln, und 
um ihre Lippen war ein verächtlicher Zug. 

»Dummkopf«, murmelte sie. 
Sie verstaute die Flasche mit dem besonderen Rotwein in ihrer 

Reisetasche. Dann ging sie zum Fenster und öffnete es, um ihren dort 

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wartenden Dienern zu sagen, daß sie den Mann abtransportieren 
konnten. 

Ritter Roland war überrascht von der Eröffnung des 
Räuberhauptmannes. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte er immer noch 
den Verdacht gehegt, dieser Erwin sei der Kerl, der für das 
Verschwinden der Mädchen im Gebiet um den Höllensteinsee 
verantwortlich war. Jetzt sah es so aus, als sei er selbst einer der 
Betroffenen. 

»Du hast nichts mit dem Verschwinden von all den Mädchen zu 

tun?« vergewisserte er sich. 

Der Räuberhauptmann blickte verdutzt. »Was für eine blöde 

Frage?« sagte er dann mit dröhnender Stimme. »Ich bin ein 
anständiger Räuber und kein Frauenentführer.« 

Er winkte unwirsch ab, als Roland widersprechen wollte. »Deine 

Freundin haben meine Männer nur mitgenommen, damit wir ein 
Druckmittel gegen dich haben.« 

»Auch daran kann ich nichts Anständiges finden«, bemerkte 

Roland trocken. 

Erwin sagte nichts darauf. Er schritt eine Weile unruhig auf und ab, 

und sein Schatten geisterte verzerrt im Schein der Kerzen über die 
Wand. 

Roland wartete gespannt auf weitere Einzelheiten. Schließlich 

blieb Erwin vor ihm stehen. »Du wirst also Gerlinde befreien?« 

»Mal angenommen, ich wäre dazu bereit«, sagte Roland. »Wie 

stellst du dir das vor?« 

»Ich weiß, von wem sie gefangenhalten wird und wo, und ich weiß 

auch, wer all die anderen Mädchen verschwinden ließ.« 

Er grinste über Rolands verdutzte Miene, denn jetzt konnte Roland 

seine Überraschung nicht verbergen. 

»Du weißt, wer für das Verschwinden der Mädchen verantwortlich 

ist?« 

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Erwin nickte. »Ich und meine Männer, wir sind vermutlich die 

einzigen, die das wissen. Und ich habe einen todsicheren Plan, wie 
Gerlinde befreit werden kann  - möglicherweise auch die anderen 
Frauen, doch mich interessiert nur Gerlinde, und ich zahle nur für 
sie. Wenn du für die anderen den edlen Ritter spielen willst, dann ist 
das deine Sache.« 

Roland konnte noch nicht glauben, was der Mann da behauptet 

hatte. Wenn das stimmte, war das Geheimnis so gut wie gelöst und 
der Auftrag von König Artus fast schon erledigt! Roland hatte nicht 
zu hoffen gewagt, so schnell auch nur einen Anhaltspunkt zu finden. 
Und jetzt saß er einem Räuberhauptmann gegenüber, der angeblich 
über alles Bescheid wußte und von einem todsicheren Plan sprach! 

»So einfach kann die Sache nicht sein«, murmelte er. 
»Papperlapapp!« sagte Erwin. »Das Ganze ist ein Kinderspiel, 

wenn es richtig angepackt wird.« 

»Und warum erledigst du mit deinen Spießgesellen das Kinderspiel 

nicht selbst?« fragte Roland spöttisch. 

»Die Frage ist berechtigt«, gab Erwin zu. »Ich kann nichts 

unternehmen. Mir sind die Hände gebunden. Gerlinde ist in der 
Gewalt eines ehemaligen  - äh  -Freundes. Er kennt mich und jeden 
meiner Männer. Wir sind als Todfeinde geschieden, und er hat 
gedroht, jeden von uns auf der Stelle umbringen zu lassen, der ihm 
nochmal unter die Augen kommt. Und er hat ja Gerlinde gefangen. 
Wir kämen niemals in das Versteck rein, nicht in der besten 
Verkleidung. Deshalb muß ein Fremder die Sache erledigen. Deshalb 
haben meine Jungs ein paar Männer geschnappt, und schließlich 
dich. Dich kennt die Bande nicht,  und ich weiß, wie du dir Zutritt zu 
dem Versteck schaffen kannst. Dann brauchst du dir nur den 
Dreckskerl zu schnappen, ihm ein Messer an die Kehle zu setzen und 
Gerlindes Freilassung zu fordern.« 

»Das klingt so einfach, daß ich es kaum zu glauben vermag«, sagte 

Roland. 

»Es  ist  einfach. Paß auf! Du wirst als Schäfer getarnt mit zwei 

Dutzend Schafen bei Ruperts Versteck auftauchen.« 

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»Rupert ist dieser Verbrecher?« vergewisserte sich Roland. 
Der Räuberhauptmann nickte. 
»Er ißt leidenschaftlich gern Schafsfleisch. Ich weiß, daß er 

übermorgen einen Schäfer mit zwei Dutzend Tieren erwartet. Meine 
Männer haben den Schäfer gefangengenommen. Du brauchst nur in 
seine Rolle zu schlüpfen. Du ziehst seine Klamotten an, und wir 
nähen ein Messer in den Schlapphut ein.  Rupert kennt den Schäfer 
nicht. Es ist ein Verwandter des Schäfers, der ihn sonst beliefert hat. 
Du brauchst nur zu sagen, du bringst die bestellten Tiere von Botho 
Sprengler, und schon wirst du mit offenen Armen empfangen. 
Während Ruperts Leute sich um die Schafe kümmern, zauberst du 
das Messer aus dem Schlapphut und packst dir Rupert. Dann mußt 
du je nach der Situation entscheiden. Sind Ruperts Männer in der 
Nähe oder werden die Frauen zu gut bewacht, mußt du Rupert als 
Geisel nehmen und Gerlinde freipressen. Ist der Kerl allein mit dir 
und die Luft rein, dann stößt du ihm das Messer ins Herz und befreist 
Gerlinde. Du versteckst sie auf dem Wagen, mit dem du die Schafe 
gebracht hast und fährst mit ihr an den Wachen vorbei aus dem 
Talkessel, als hättest du nur die Schafe abgeliefert.« 

Dem Räuberhauptmann ging es nur um Gerlinde, doch Roland 

dachte an all die anderen Frauen und Mädchen. 

»Wie viele Zugänge gibt es zu dem Versteck?« fragte er. 
»Nur einen. Oder ihr müßtet über die Berge klettern. Aber das 

wäre zu beschwerlich und zu zeitraubend. Außerdem könnten die 
Wachen zu früh Verdacht schöpfen, wenn du mit dem Wagen nicht 
wieder zurückfährst. Oder sie könnten euch sehen, wenn ihr den 
Berg hochkraxelt.« 

Roland überlegte. Er war entschlossen, nicht nur Gerlinde zu 

befreien, sondern auch alle anderen. Nach allem, was er bisher gehört 
hatte, bestand eine Chance, das zu bewerkstelligen. Wenn er eine 
Gefangene befreien konnte, dann mußte es auch möglich sein, die 
anderen ebenfalls mitzunehmen. Er stellte einige Fragen nach der 
Stärke der Bande und den Örtlichkeiten, und seine Überzeugung 
wuchs, daß er eine gute Chance hatte. Er mußte nur Erwins Plan ein 

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wenig variieren ... 

»Weshalb hält dieser Rupert die Frauen eigentlich gefangen?« 

fragte Roland nachdenklich. »Hat er zum Beispiel deine Gerlinde 
entführt, um sie dir auszuspannen, um dich zu erpressen oder ...« 

»Nein«, unterbrach ihn der Räuberhauptmann. »Ich sagte schon, er 

ist verrückt. Total plemplem! Ein Wahnsinniger!« 

Er verschränkte die Hände hinter dem Rücken und ging wieder 

unruhig auf und ab. 

»Er läßt reihenweise Frauen entführen«, fuhr der 

Räuberhauptmann fort. »Ich könnte das ja verstehen, wenn er 
Lösegeld dafür forderte oder sie sich zum Vergnügen hielte.« 

Er blickte Roland wie um Zustimmung heischend an. Roland sagte 

nichts. Er teilte nicht das Verständnis des Räuberhauptmannes für 
Leute, die Frauen entführten, aus welchen Gründen auch immer sie 
das taten. 

»Aber er hält sie nur gefangen, einfach so, dieser Irre!« fügte 

Erwin hinzu. 

»Höchst  seltsame Kurzweil«, sagte Roland trocken. »In der Tat 

hörte ich bisher von keiner Lösegeldforderung, wenn Mädchen 
verschwanden. Könnte dieser Rupert nicht irgendeinen Grund haben, 
von dem du nichts weißt?« 

»Ja«, sagte der Räuberhauptmann mit schwerer Stimme. »Er hat 

mir einen Grund genannt, aber der war so hirnrissig, daß ich ihm gar 
nicht glaubte. Ich hielt das für einen seiner albernen Spaße, als er 
davon faselte, bevor er sich von mir trennte. Er schwafelte davon, er 
wolle die Welt von allen Hexen befreien. Er will sie in seinem 
Versteck sammeln und an einem bestimmten Tag allesamt 
verbrennen!« 

Pierre fluchte. Jetzt war nicht nur Ritter Roland verschwunden, 
sondern auch noch Louis! 

Mißmutig war der Knappe ins Dorf zurückgekehrt. Bei der 

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Köhlerfamilie hatte er nicht viel erfahren, was ihn weitergebracht 
hätte. Nur das Bild des Mädchens  - noch dazu eines wenig schönen  - 
war die Ausbeute gewesen; vielleicht ein Hinweis darauf, daß derje-
nige, der Mädchen verschwinden ließ, nicht nur auf Schönheit Wert 
legte. Das war aber auch schon alles. 

Bis in die Nacht hinein hatte Pierre auf Louis gewartet. Dann war 

seine Unruhe so groß geworden, daß es ihn nicht mehr auf dem 
Zimmer gehalten hatte. Er hatte Nachforschungen angestellt. 

Das Resultat war alarmierend gewesen. 
Zenzi, die Wirtstochter, hatte zu berichten gewußt, daß Louis mit 

einer rothaarigen Hexe angebandelt hatte! Dieser treulose Lump 
hatte sie sogar mit aufs Zimmer genommen, wie Zenzi gesagt hatte. 

»Zum Teufel mit allen Mannsbildern«, hatte Zenzi geschluchzt, 

und in ihren blauen Augen hatten Tränen geschimmert. 

Nun, Pierre fand es auch ein wenig taktlos von Louis, sich mit 

einer rothaarigen Hexe einzulassen, obwohl er doch gerade zuvor 
Bande mit der lieben Wirtstochter geknüpft hatte. Aber zum Teufel 
wünschte er Louis nicht. 

Pierre fragte weiter herum, und seine Sorge wurde immer größer. 

Die geheimnisvolle rothaarige Frau, die Zenzi wohl in der Erregung 
als Hexe bezeichnet hatte, gab ihm immer mehr Rätsel auf. Bald 
wurde klar, daß sie irgend etwas mit Louis' Verschwinden zu tun 
haben mußte. 

Von dem mürrischen, schlaftrunkenen Schmied Schulze erfuhr der 

besorgte Knappe Näheres über die Rothaarige. 

Sie sollte eine Gräfin aus Kötzting sein. Ihren Namen kannte der 

Schmied auch nicht. Er wußte nur zu berichten, daß sie bereits 
mehrmals Arbeiten bei ihm in Auftrag gegeben und stets großzügig 
bezahlt hatte. Auch diesmal hatte sie zum vereinbarten Preis noch 
etwas dazugelegt. 

»Sie muß sehr reich sein«, sagte der Schmied, und bei dem 

Gedanken an die Dukaten besserte sich seine schlechte Laune, die 
darauf zurückzuführen war, daß Pierre ihn aus dem ersten 
Schlummer gerissen hatte. 

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Nun, die Geschäfte des Schmiedes interessierten Pierre nicht 

sonderlich. Interessanter fand er, was die Gräfin in Auftrag gegeben 
hatte: Schwerter und Ausrüstung. Sie mußte eine recht wehrhafte 
Dame sein, denn sie hatte sogar einen Brustpanzer für eine Frau 
bestellt, eine Sonderausführung, die der Schmied nach genauen 
Maßangaben gefertigt hatte. 

Pierre war überrascht. 
»Daß Gräfinnen sich Brustpanzer zulegen, habe ich auch noch 

nicht gehört«, murmelte er. 

Der Schmied grinste. »Er wird nicht für sie selbst sein«, erklärte er 

und zwinkerte dem Knappen vielsagend zu. »Soviel Holz hatte sie 
nicht vor der Hütten. Das muß schon ein bemerkenswertes Weib 
sein, für das sie diese Ausrüstung fertigen ließ, nach den enormen 
Formen zu schließen.« 

Pierre konnte immer noch nicht glauben, daß sich Frauen 

Brustpanzer zulegten wie Landsknechte. 

Und Ihr habt Euch nicht über diesen sonderbaren  Auftrag 

gewundert?« fragte er. 

Schulze zuckte mit den Schultern. »Fürs Wundern werde ich nicht 

bezahlt. Wenn Ihr Euch goldene Ohren- und Hinternschützer fertigen 
lassen wolltet, so würde ich das auch erledigen. Ihr müßtet nur das 
Gold mitbringen.« 

»Und das hat diese komische Gräfin mitgebracht?« 
»Nein.« Der Schmied lachte. »Sie wollte keinen goldenen 

Busenpanzer, sondern einen ganz normalen aus dem Material, aus 
dem ich sonst Beinschienen fertige. Ich sollte nur vorne zwei Aus-
buchtungen hineinhämmern.« 

Pierre grinste genauso amüsiert wie der Schmied. 
Schulze freute sich offenbar, daß sich das so betrübte Gesicht des 

molligen Pierre etwas aufheiterte. 

»Ich empfahl ihr natürlich besseres Material und machte sie darauf 

aufmerksam, daß der Busenpanzer im Laufe der Zeit nach öfterem 
Tragen im Regen rosten konnte. Daraufhin meinte sie, im Regen 
würde er nicht benutzt.« 

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Pierre kratzte sich am Kopf, und seine Miene nahm wieder den 

bekümmerten Ausdruck an. 

»Fest steht, daß mein Freund Louis  mit dieser Frau zusammen war 

und seitdem verschwunden ist wie mein Ri ... äh ... wie Roland. Was 
hat das alles zu bedeuten?« 

Das wußte Schulze auch nicht. Er war fast doppelt so alt wie 

Pierre, und er hatte es schon aufgegeben, sich über die 
Absonderheiten der Welt zu wundern. 

»Ich würde mir mal keine Sorgen machen«, versuchte er Pierre zu 

trösten. »Vielleicht ist Euer Freund wild auf Rothaarige, und er 
begleitet sie nach Kötzting.« 

Pierre schüttelte den Kopf. »Wie ich Louis kenne, war ihm die 

Haarfarbe schon immer egal.« 

Er überlegte angestrengt. Pierre hatte versprochen, im Dorfkrug 

auf ihn zu warten. Er war genauso in Sorge um den Ritter gewesen. 
Louis war sicherlich kein Kostverächter, doch selbst wenn er ein 
Techtelmechtel mit der Rothaarigen im Sinn gehabt hätte, wäre er 
nicht so herzlos gewesen, das vor den Augen der lieben Zenzi 
einzufädeln. Und auf jeden Fall hätte er ihm eine Nachricht hinter-
lassen. 

Ratlos verabschiedete er sich von Schulze. Was sollte  er jetzt tun? 

Er konnte nur abwarten. Er redete sich ein, daß Louis vielleicht doch 
der Teufel geritten hatte und daß er über der Rothaarigen den Ritter 
und ihren Auftrag vergessen hatte. Doch sein Gefühl sagte ihm, daß 
Louis' Verschwinden einen anderen Grund haben mußte. 

Als er zum Dorfkrug zurückkehrte, erhielt sein schlimmes Gefühl 

gar schreckliche Nahrung. 

Es war nach Mitternacht, doch keiner der Wirtsleute schlief. Das 

halbe Dorf schien noch auf den Beinen zu sein. Pierre bemerkte die 
Aufregung in der Schenke, und er spürte sofort, daß etwas passiert 
sein mußte. 

Zenzi berichtete ihm. Schluchzend erzählte sie, daß jemand ihren 

Liebling, den schwarzen Kater »Caesar« vergiftet habe. 

Man hatte Caesar wie schlafend in Louis' Zimmer gefunden. Er 

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hatte offenbar am Rotwein des Gastes genascht, den der Fremde 
neben dem Bett verschüttet hatte  - »dieser verdammte fremde 
Schwarzbart«, wie einer der Einheimischen mit einem schrägen 
Blick zu dem bestürzten Pierre erklärte. 

Zunächst hatte Zenzi gedacht, der Kater schlafe nur seinen Rausch 

aus. Sie hatte ihn wie immer mit in ihre Kammer genommen, mit in 
ihr Bett, denn  Zenzi  schlief nicht gern allein, und Caesar kuschelte 
sich immer an das Bettende, wenn er zwischen der Mäusejagd und 
seinem Besuch bei den Nachbarskatzen ein Nickerchen machte. 

Dann hatte Zenzi so ein seltsames Röcheln gehört, das ihr durch 

Mark und Bein gegangen war. 

»Fast menschlich hat es geklungen«, erzählte sie. Sie hatte 

gedacht, dem Kater sei schlecht und er hätte einen Kater nach dem 
Rotweingelage. Sie hatte ihn an die frische Nachtluft befördern 
wollen. Doch Caesar hatte wie ein Sterbender geröchelt und war 
partout nicht wach zu bekommen gewesen. 

Zenzi  war in großer Sorge gewesen, denn sie hing an Caesar wie 

an einem guten Freund. So hatte sie  den Barbier geholt. Der Barbier 
war zugleich Arzt, und er behauptete, manches Mittelchen zu 
kennen, das Tote zum Leben erwecken konnte. 

Doch die Künste des Barbiers versagten. Der Kater blieb wie ein 

Verendender liegen, und sein Röcheln wurde noch grausiger. 

Der Barbier-Arzt murmelte etwas von »besoffenes Vieh« und 

»Delirium«, denn Zenzi hatte ihm gestanden, daß Caesar am Rotwein 
eines Gastes genippt hatte. 

Das weckte Zenzis Zorn. Ihr Caesar sei kein Säufer, und er habe 

nur einen kleinen Schluck zu sich genommen, um zu probieren. 

Sie führte den grinsenden Barbier in Louis' Zimmer und zeigte ihm 

die kleine, fast eingetrocknete Lache am Boden neben dem 
umgekippten Glas. Der Barbier-Arzt stellte völlig neue 
Untersuchungen an und kam zu der Diagnose: Von dem bißchen 
Rotwein konnte das Röcheln und die »Beinahe-Leichenstarre« von 
Caesar nicht herrühren. Und den inzwischen herbeigeeilten Leuten 
erklärte er mit gewichtiger Miene: 

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»Das muß Gift gewesen sein!« 
Der Zorn des aus dem Schlaf gerissenen Volkes konzentrierte sich 

auf den Fremden  - auf Louis. Das böse Wort vom »Katzenmörder« 
machte die Runde. 

Nun hing zwar Zenzi  sehr an ihrem Caesar, doch war ihr die Feier 

mit Louis unvergeßlich geblieben, und so verteidigte sie den 
Knappen, obwohl sie ihn für einen treulosen Wilddieb hielt, der sie 
mit diesem rothaarigen Biest betrogen hatte. 

Sie lastete alle Schuld der rothaarigen »Hexe« an. 
Die Aufregung wuchs, denn das Wort »Hexe« war für die 

einfachen Leute so etwas wie das rote Tuch für den Stier. Manch 
einer hatte  schon eine Hexenverbrennung mit eigenen Augen 
gesehen, einige waren sogar weit gereist, um sich solch ein 
Schauspiel nicht entgehen zu lassen, und gehört hatten selbst die 
Kinder davon. 

Und Zenzi schürte das Feuer, indem sie rief: »Sie hat meinen Louis 

verhext, meinen Caesar ermordet und sich durch das Fenster zum 
Hof davongemacht!« Anklagend wies sie zum offenstehenden 
Fenster und fügte hinzu: »Seht, sie hat sogar die Vorhänge 
mitgenommen!« 

Aufgeregt und empört redete alles durcheinander, und in dem 

allgemeinen Tumult fiel niemadem auf, daß sie »mein« Louis gesagt 
hatte. 

An Louis dachte im Augenblick keiner. Der Zorn galt jetzt allein 

der »Hexe«. 

Lautstark forderte man ihre Verbrennung. 
Die Gründe für die Leute lagen auf der Hand: 
Des armen Caesars Schicksal. 
Der verhexte Fremde. 
»Kein Wunder, daß er beim Fingerhakeln gewonnen hat«, rief der 

Holzfäller, der gegen Louis verloren hatte. »Da muß er schon verhext 
gewesen sein.« 

Außerdem hatte die Hexe rote Haare gehabt. 
Und dann auch noch die verschwundenen Vorhänge! 

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»Das setzt dem Faß die Krone auf!« rief der Wirt mit zornrotem 

Kopf und kleidete damit die Stimmung der aufgebrachten Dörfler in 
Worte. 

Hätte man die Rothaarige erwischt, wäre vermutlich noch in dieser 

Nacht ein Feuerchen entzündet worden; es fehlte nur noch ein Pastor 
und ein Offizieller, der die Sache absegnete. 

Ein ganz Eifriger bot schon an, Holzscheite zu stapeln. Doch 

irgendein Besonnener wies darauf hin, daß das ein wenig voreilig 
war, denn  die Hauptperson war ja nicht greifbar: Die Rothaarige 
hatte am späten Abend mit der Kutsche den Ort verlassen. 

Und dann gab es noch eine Information. Pierre, der mit 

wachsender Unruhe und Sorge um Louis das alles mitangehört hatte, 
erkannte als erster die schreckliche Tragweite dieser im ersten 
Moment nichtssagenden Worte. 

Die junge Witwe Gugelhuber, die gleich neben dem Dorfkrug 

wohnte, war durch den Lärm aus ihrem unruhigen Schlaf gerissen 
worden und in die Schenke geeilt. 

»Sie haben etwas in die Kutsche verladen, das wie ein großes 

langes Paket war«, sagte sie, als sich der allgemeine Lärm etwas 
legte. 

Sofort wurde es still. Pierre war alarmiert. 
»Wie groß und lang, Edwina Schatz?« fragte er. 
Die junge Witwe errötete. Sie genierte sich ein bißchen, weil Pierre 

sie anredete wie eine alte gute Bekannte. Es brauchte doch nicht 
jeder zu wissen, daß sie den Nagelkönig in der vergangenen Nacht 
näher kennengelernt hatte. 

Edwina breitete beide Arme aus. »So ungefähr, nein noch größer, 

ich meine länger. Sie trugen zu zweit daran, und es hing in der Mitte 
durch. Was es war, konnte ich in der Dunkelheit nicht genau 
erkennen, denn es war in eine Decke gehüllt.« 

»Klar haben sie was verladen«, warf einer der Umstehenden ein. 

»Sie hat doch beim Schmied eingekauft. Ich sah auch, wie ihre 
Diener vor der Schmiede etwas in die Kutsche luden.« 

»Nicht vor der Schmiede«, sagte Edwina entschieden, »sondern 

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hinter dem Gasthaus. Sie trugen es über den Hof, verstauten es in der 
Kutsche und fuhren sofort los.« 

Pierre war blaß geworden. Ihm schwante, daß dieses große, lange, 

in eine Decke gehüllte Etwas Louis gewesen war. Nach dem, was 
Pierre erfahren hatte, war Louis mit der Rothaarigen aufs Zimmer 
gegangen, er hatte etwas getrunken, was nicht mal dem Kater Caesar 
bekommen war, und dann war etwas in die Kutsche verladen 
worden, in eine Decke gehüllt ... nein, in die verschwundenen 
Vorhänge! 

Pierre kroch ein eisiger Schauer über den Rücken. 
»Der Kater!« rief er mit erstickter Stimme. »Wo ist er? Ich muß 

sehen, ob er noch lebt!« 

Alle eilten zu Caesar. Er lebte noch. Doch er röchelte wie ein 

Sterbender, zuckte wie in Krämpfen und war um nichts in der Welt 
wachzubekommen. 

Die Angst um Louis schnürte Pierre die Kehle zu. Alles in ihm 

weigerte sich, das Unfaßbare zu glauben. Erst Ritter Roland und jetzt 
Louis! Der Ritter vielleicht in todesmutigem Kampfe gestorben und 
irgendwo verscharrt. Und Louis, der gute Louis, zu einem qualvollen 
Vergiftungstod verurteilt! 

Der Knappe konnte kaum einen klaren Gedanken fassen. 
Die rothaarige Hexe! 
Die Frau, die Schwerter und einen Brustpanzer für eine Frau 

bestellte. Nur sie konnte an allem Schuld sein. Er mußte ihrer Spur 
folgen. Sofort. Wie hieß noch der Ort, zu dem sie angeblich fahren 
wollte? 

Pierre hetzte zur Schmiede. Der  Schmied war wach. Im weißen 

Nachthemd und mit einem brennenden Talglicht in der Hand öffnete 
er. Jemand war durch das Dorf gerannt und hatte etwas von einer 
Hexenverbrennung geschrien. Da war er natürlich putzmunter 
geworden. 

Schulze erschrak, als er Pierres bleiche und entsetzte Miene sah. 
»Wie hieß der Ort, zu dem diese verdammte Rothaarige fahren 

wollte?« fragte Pierre atemlos. 

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»Kötzting«, erwiderte Schulze. »Warum?« 
»Ich brauche sofort ein frisches Pferd«, sagte Pierre. »Und ein 

Ersatzpferd«, fügte er hinzu. 

»Sofort? Wollt Ihr etwa mitten in der Nacht... « 
»Ja«, sagte Pierre grimmig entschlossen, und als er die 

verständnislose Miene des Schmiedes sah, erklärte er ihm seinen 
schlimmen Verdacht. 

»Der arme Caesar«, murmelte der Schmied betrübt. »Er war  so ein 

lieber Kerl. Manchmal stolzierte er mit aufgerichtetem Schwanz in 
die Schmiede und schnurrte, als wollte er mir guten Tag sagen. 
Schlimm, daß er solch ein grausiges Ende ...« 

»Caesar! Caesar!« brüllte Pierre. »Das war nur eine Katze, 

verdammt!« 

»Mögt Ihr etwa keine Katzen?« fragte der Schmied stirnrunzelnd 

und ärgerlich, denn er war ein großer Katzenfreund. 

»Doch!« schrie Pierre. »Ich mag Katzen über alles!« 
Der Schmied wich etwas vor Pierre zurück, dessen heißer Atem 

ihm ins Gesicht schlug. 

»So regt Euch doch nicht so auf!« murmelte er. 
»Ich soll mich nicht aufregen!« tobte Pierre. »Ritter Roland ist 

weg, Louis ist weg, und vermutlich vergraben sie ihn irgendwo 
unterwegs! Und da trauert Ihr um diesen Scheißkater und ... « 

Er verstummte schlagartig, als ihm eine Hand ins Gesicht 

klatschte. Verdutzt blickte er Zenzi an. Sie und einige andere waren 
ihm zur Schmiede gefolgt, weil sie glaubten, daß er irgend etwas 
Wichtiges herausgefunden hatte. »Mein Caesar ist der beste Kater 
der Welt!« schrie Zenzi und funkelte den verblüfften Pierre zornig 
an,  »Moment mal, Moment mal.«  Der Schmied hatte große Augen 
bekommen. Er schob sich zwischen Pierre und die Wirtstochter. 
»Sagtet Ihr Ritter Roland?« 

Pierre hätte sich zu Zenzis Maulschelle noch eine hinzu verpassen 

mögen, weil ihm das in der Erregung herausgerutscht war. Seine 
Nerven waren zu angegriffen gewesen. Zu vieles Schreckliche war in 
der letzten Zeit auf ihn eingestürmt. 

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»Quatsch«, sagte er hastig. »Da habt Ihr Euch verhört. Bekomme 

ich nun zwei frische Pferde? Ich zahle gut.« 

Der Schmied musterte ihn nachdenklich. »Ich kann Euch zwei 

Pferde geben. Aber Ihr braucht nicht in der Nacht loszureiten. Die 
Gräfin kommt übermorgen wieder, um noch einen Brustpanzer 
abzuholen, der noch nicht ganz fertig war. Ihr braucht hier nur auf sie 
zu warten.« 

Pierre blickte überrascht. Doch dann schüttelte er den Kopf. »Ich 

glaube nicht, daß sie sich nochmal herwagt. Sie hat noch nicht mal 
ihren Namen verraten, wie Ihr sagtet, und vermutlich stimmt es auch 
nicht, daß sie von Kötzting stammt. Ich darf keine Zeit verlieren. 
Noch sind die Spuren frisch. Gebt mir die Pferde.« 

So geschah es dann. Bald darauf galoppierte Pierre mit einem 

Ersatzpferd an der Longe aus dem Dorf und folgte den Wagenspuren 
nach Norden. 

Viele Augenpaare blickten ihm nach. 
»Und ich wette meinen Amboß gegen einen kleinen Hammer, daß 

er von Ritter Roland gesprochen hat«, sagte der Schmied. 

»Der berühmte Ritter Roland?« fragten einige der Leute überrascht 

wie aus einem Munde. 

Schulze nickte. »Ihr Freund, wie sie ihn nannten, kam mir gleich 

irgendwie bekannt vor. Ich hab' mal eine Zeichnung von dem 
berühmten Ritter gesehen, auf der er mit dem Schwerte einen 
Drachen besiegte. Ich glaube mich an die Ähnlichkeit zu erinnern.« 

»Ich habe ein Bild von diesem kühnen Ritter!« rief Edwina 

Gugelhuber. »Aber ich vermochte keine Ähnlichkeit zu dem Freund 
von Pierre zu erkennen.« 

»Sie hatte wohl nur Augen für den Nagelkönig«, flüsterte der Wirt 

seinem Nebenmann zu, laut genug, daß alle es hören konnten. Einige 
lachten. 

Edwina wäre vor Scham am liebsten im Boden versunken. 
»Ich hole das Bild mal«, hauchte sie und eilte fluchtartig davon. 
Fünf Minuten später breitete sich die Kunde wie ein Lauffeuer in 

dem Dorf aus, das in dieser Nacht keinen Schlaf fand. 

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Der Fremde, der mit Ingrun spurlos verschwunden war, war 

niemand anders als der berühmte Ritter Roland, dessen ruhmreiche 
Taten selbst bis in den entferntesten Winkel des Bayerischen Landes 
vorgedrungen waren. 

»Welch Schande für unseren Ort, daß wir ihn nicht erkannten«, 

sagte der Wirt betrübt. 

»Und welch Schande für uns, ach, was sage ich, für den ganzen 

Bayerischen Wald, daß er hier sein Ende fand«, sagte Edwina 
Gugelhuber traurig. Sie hätte sich ohrfeigen können, daß sie Roland 
nicht erkannt hatte. 

Denn sie war eine glühende Verehrerin von ihm. 

Die Schafe blökten auf dem Wagen, als könnten sie es kaum 
erwarten, auf die Reise zu gehen. Schließlich wußten sie nicht, daß 
am Ende der Reise das Messer auf sie warten würde. 

Roland dagegen wußte, was ihn erwartete, und er fühlte sich noch 

unbehaglicher als die zusammengepferchten Schafe. 

Sie hatten den Plan bis ins kleinste Detail besprochen. Erwin war 

fest davon überzeugt, daß nichts schiefgehen konnte. 

Doch Roland hatte das Gefühl, daß auch auf ihn am Ende der Reise 

ein Messer wartete. 

Alles klang viel zu einfach. Für den Räuberhauptmann Erwin 

mochte es auch einfacher aussehen. Der dachte nur an seine 
Gerlinde. Ritter Roland dagegen war entschlossen, alle gefangenen 
Mädchen zu befreien und Rupert, diesem gefährlichen 
Wahnsinnigen, das Handwerk zu legen. 

Das hätte leichter gelingen können, wenn Roland die Zeit 

geblieben wäre, Unterstützung zu holen. Doch der Räuberhauptmann 
zwang ihn, einen bestimmten Zeitplan einzuhalten, der keinen 
Umweg und kein Warten auf Hilfe ermöglichte. Wenn Roland nicht 
bis zum Sonnenuntergang in zwei Tagen zurückkehrte und Gerlinde 
wohlbehalten ablieferte, wollte der Räuberhauptmann Ingrun und die 

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anderen Geiseln töten. Ingrun als erste, aber die Reihenfolge spielte 
dann auch keine Rolle mehr. 

Roland hatte gespürt, daß es keine leere Drohung war, denn der 

Räuberhauptmann hatte bei diesen Worten all sein freundliches 
Gehabe verloren, und Roland hatte mit Schaudern hinter die 
gutmütige Maske des Mannes geblickt. 

Erwin hatte sich als »anständiger« Räuber bezeichnet, und Roland 

war in diesem Augenblick einmal mehr klar geworden, daß es so 
etwas nicht gab. Es mochte Unterschiede in der Verkommenheit von 
Räuberanführern geben, doch anständig war mit Sicherheit keiner 
von ihnen. Erwin raubte und mordete um des Reichtums willen. Er 
hielt Rupert, seinen ehemaligen Partner, für verrückt, weil der andere 
Motive hatte. Rupert ließ Mädchen und Frauen entführen, weil er sie 
als »Hexen« verbrennen wollte. Das war schlimm genug, doch auch 
Erwin hatte Menschen entführen lassen. Aus anderen Beweggründen, 
doch das machte keinen großen Unterschied. Nein, auch er würde 
seinen Gefangenen töten, wenn nicht alles so klappte, wie er sich das 
vorstellte. Roland bezweifelte sogar, daß der Kerl sein Wort hielt, 
wenn er ihm Gerlinde tatsächlich zurückbringen konnte. Schließlich 
kannten die Gefangenen sein Versteck und konnten ihn und seine 
Räuber genau beschreiben ... 

Aber Roland hatte keine Wahl. Er mußte es versuchen. Und mit 

Gerlinde hatte er dann ein Faustpfand, mit dem er die Gefangenen 
freipressen konnte. Denn Roland wollte keineswegs sogleich mit 
Gerlinde zu Erwin zurückkehren. Er wollte sie an einem sicheren Ort 
verstekken und erst die Freilassung der Gefangenen erwirken, bevor 
er Gerlinde ablieferte ... 

Doch soweit war es noch nicht. Erst einmal mußte der Plan 

gelingen. 

Drei Tage Zeit. Anderthalb Tage Fahrt hin, anderthalb zurück. 

Etwa eine Stunde für die Befreiung der Gefangenen. Genau 
ausgerechnet. Ja, Erwin und seine Räuber hatten gute Vorarbeit 
geleistet, das mußte man ihnen lassen. Sie hatten nicht nur Ruperts 
Versteck gefunden und ausgekundschaftet. Sie hatten eine genaue 

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Skizze angefertigt, einen Zeitplan aufgestellt, und sie hatten 
herausgefunden, wann und von wem Rupert mit Schafen beliefert 
werden würde und entsprechende Vorbereitungen getroffen ... 

Roland stieg auf den Bock des einfachen Wagens und nahm die 

Zügel des Sechsergespanns auf. 

Er blickte zu den Hütten und glaubte hinter  einem der Fenster 

Ingruns Gesicht zu sehen. Er wußte, daß er für sie und die anderen 
die einzige Hoffnung war. 

Erwin, der mit einigen seiner Räuber neben dem Wagen stand, 

spuckte gegen das Vorderrad. 

»Viel Glück«, sagte er. 
Roland nickte. »Das kann ich brauchen.« 
Noch einmal versuchte er den Räuberhauptmann zu einer 

Verlängerung der Frist zu bewegen. Doch vergebens. Wiederum 
verfinsterte sich Erwins Miene, und seine Augen nahmen einen 
tückischen, verschlagenen Ausdruck an. »Kommt nicht in Frage. Ich 
weiß, daß du nur Zeit gewinnen willst, um unterwegs irgend 
jemanden zu informieren. Ich möchte nicht, daß mir nachher jemand 
auf den Pelz rückt. In zwei Tagen bist du zurück, und damit hat 
sich's. Ich werde bis zum Sonnenuntergang warten. Und mit mir 
meine Gefangenen. Und wenn du nicht kommst, tut es mir leid um 
sie.« Er machte die Geste des Halsabschneidens und grinste dabei. 

Roland hätte ihm am liebsten dieses kalte, boshafte Grinsen aus 

dem Gesicht gewischt, doch seine Miene verriet nicht, was er dachte: 
Wenn alles gut geht, dann bist du auch noch fällig! Dann werde ich 
dafür sorgen, daß du ebenfalls deine gerechte Strafe bekommst! 

»Noch eines«, sagte Erwin, und der Blick seiner braunen Augen 

war durchdringend und drohend. »Unsere Abmachung sieht vor, daß 
du mir Gerlinde wohlbehalten zurückbringst. Also halte deine Finger 
bei dir. Sie ist eine recht heißblütige schöne Frau, und sie war kein 
Kind von Traurigkeit, bevor ich sie kennenlernte und zähmte.« Er 
lachte selbstgefällig, wurde jedoch schnell wieder  ernst. »Es könnte 
sein, daß sie dir aus Dankbarkeit um den Hals fällt und dir 
wohlgesonnen ist, wenn du sie befreit hast. Aber wenn du sie auch 

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nur unschicklich ansiehst, dann werde ich dich töten. Haben wir uns 
verstanden?« 

Ein Feuer schien in den braunen Augen aufzulodern. Ja, Roland 

hatte verstanden. Erwin betrachtete Gerlinde als seinen Besitz, und er 
würde seine Drohung wahrmachen, wenn jemand diesen Besitz 
antastete. Gerlinde war offenbar seine schwache Stelle. Jedesmal, 
wenn er von ihr gesprochen hatte, war in seinen Augen ein 
fanatisches Feuer gewesen. 

»Keine Sorge«, sagte Roland spöttisch. »Ich mache mir nichts aus 

Verbrecherliebchen. Mein Wort darauf. So was packe ich nicht mal 
mit der Kneifzange an.« Diese Bemerkung hatte er sich einfach nicht 
verkneifen können. 

Er sah noch, wie sich das Gesicht des Räuberhauptmannes 

verzerrte und wie sich seine Rechte um den Dolch an seiner Hüfte 
krampfte. Dann trieb Roland das Gespann an und fuhr davon, ohne 
Erwin noch eines Blickes zu würdigen. 

Er wußte, daß ihm von Erwin und seinen Räubern keine Gefahr 

drohte. Noch nicht. 

Noch brauchten sie ihn. 

Der Mann mit dem wallenden schwarzen Gewand saß am Feuer und 
starrte in die züngelnden Flammen. Er saß leicht vornübergeneigt, 
völlig reglos, und hatte die knochigen Hände gefaltet. Von weitem 
konnte man ihn für einen Geistlichen halten, der in ein Gebet vertieft 
war. 

Doch der Mann war alles andere als ein Geistlicher, und er betete 

auch nicht. 

Es war Rupert, der »Hexer vom Höllensteinsee«, wie ihn seine 

Getreuen nannten. 

Jetzt bewegten sich die knochigen Finger, als führten sie ein 

eigenes Leben, und manchmal krampften sie sich so ineinander, daß 
die Knöchel weiß hervortraten. 

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Sein dünner, blutleerer Mund bewegte sich von Zeit zu Zeit, 

formte einen Namen, doch kein Laut kam über seine Lippen. Nur der 
Teufel und Rupert selbst kannten den Namen. 

»Elsbeth ... Elsbeth ... Elsbeth ...« 
Die Flammen des Feuers spiegelten sich in Ruperts schwarzen 

Augen, und der Feuerschein verlieh dem bleichen ausgemergelten 
Gesicht etwas Farbe. 

Elsbeth ... bald ist der Tag da ... 
Ein unheimliches, kaltes Licht glühte bei diesem Gedanken in den 

schwarzen Augen auf, und die schmalen Lippen preßten sich 
aufeinander. Noch stärker verkrampften sich die ineinander 
verschränkten Hände. 

Dies war die Stunde, in der Rupert jeden Tag Zwiesprache mit 

Elsbeth hielt. In der er in die Flammen starrte und die grauenvollen 
Bilder der Erinnerung sah ... 

Sie hatten Elsbeth als Hexe verbrannt. Vor seinen Augen. Seine 

über alles geliebte Elsbeth. Er glaubte noch ihre Schreie zu hören, 
das Prasseln des Feuers ... 

An jenem schrecklichen Tag war etwas in ihm zerbrochen. Über 

Nacht war sein Haar weiß geworden. 

Seine Elsbeth war keine  Hexe gewesen. Die anderen, das waren 

die Hexen. Sie sollten büßen für das, was man Elsbeth angetan hatte. 
Alle. 

Elsbeth ... bald ist es soweit... 
Wie in Trance blickte er auf, als er den Hufschlag und das 

Rumpeln von Wagenrädern hörte. Er blickte zu der  Felsspalte am 
westlichen Ende des Talkessels. 

Eine Kutsche passierte die Wachen. 
Hanne kehrte zurück. 
Langsam erhob sich Rupert am Feuer. Der leichte Wind spielte in 

seinem Gewand, das bis zum Boden reichte. Es hatte in der Tat mal 
einem Geistlichen gehört. Der Priester hatte Rupert bei einem 
Kirchenraub gestört und um Hilfe geschrien, damals als Rupert noch 
der Partner des Räuberhauptmanns Erwin gewesen war. Rupert hatte 

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den Priester erstochen. Doch die Schreie waren gehört worden und 
Leute waren herbeigeeilt. Mit dem Gewand verkleidet war Rupert 
die Flucht geglückt, und es war ihm noch ein anderes Mal von 
Nutzen gewesen. Seither betrachtete er es als eine Art Glücksbringer. 
Er trug es immer, wenn er Zwiesprache mit seiner Elsbeth hielt ... 

Die Kutsche hielt an. Die rothaarige Hanne stieg aus. 
In schroffem Tonfall gab sie den Dienern Anweisungen. Dann 

schritt sie behende auf Rupert zu. 

Sie blieb vor ihm stehen und umarmte ihn. Er preßte sie an sich. 

Sie küßte ihn flüchtig. 

Er schloß die Augen, und einen Moment lang verspürte er ein 

süßes Prickeln, in das sich der Schauer der schrecklichen Erinnerung 
mischte. Hanne ähnelte Elsbeth in vielem. Nicht nur äußerlich. Sie 
war Elsbeths Schwester. Sie hatte die gleichen Anschauungen und 
Ziele. Damals hatte sie geschworen, Elsbeths Pläne zu verwirklichen, 
ihr begonnenes Werk zu vollenden. 

Elsbeth war deshalb als Hexe verbrannt worden. Ein Schauer 

überlief ihn bei diesem Gedanken. 

Hanne ahnte nicht, daß er etwas anderes vorhatte. Sie glaubte, er 

erfülle ihre Wünsche, indem er die Frauen entführte und 
gefangenhielt. Nun, er wollte sie in dem Glauben lassen, bis es 
soweit war, am 11. November, an Elsbeths Todestag. Solange würde 
sie ihm gefällig sein und ihm des Nachts die Illusion verschaffen, 
Elsbeth sei noch bei ihm. 

Sie löste sich von ihm. »Frierst du wieder?« fragte sie wenig 

interessiert. 

Nein, dachte er, ich friere nicht. Seit damals ist die Kälte so in mir, 

daß ich wohl niemals mehr frieren kann. Aber er sagte es nicht. Sie 
brauchte nichts von seinen geheimen Gedanken zu wissen. 

»Ja, es ist kalt geworden«, sagte er mit brüchiger Stimme und 

blickte zum Himmel, an dem der Herbstwind dunkle Wolkenfetzen 
vor sich hertrieb. »Es wird wohl Regen geben.« 

»Hoffen wir's nicht«, sagte Hanne und strich sich eine Strähne des 

roten Haares aus dem Gesicht. »Ich habe einen Brustpanzer für 

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Hermine mitgebracht und möchte gerne, daß sie ihn ausprobiert. Der 
Schmied sagte, bei Regen könnte das Metall rosten.« 

»So haben wir alle unsere Probleme«, bemerkte Rupert mit 

unüberhörbarem Spott. 

Hannes Augenbrauen ruckten hoch. »Du klingst so mürrisch. Ist 

was passiert?« 

»Nein«, erwiderte er, »nichts ist passiert.« Und er dachte: Was 

weißt du schon, du dummes Ding. Du hast keine Ahnung, wie die 
Welt wirklich ist. Bist von deinen Spinnereien besessen. Aber damit 
wird es bald vorbei sein ... 

»Ich habe dir eine Überraschung mitgebracht«, sagte Hanne und 

wandte den Kopf zur Kutsche. »Holt ihn raus«, wies sie die Diener 
mit einem herrischen Wink an. 

Rupert blickte verwundert, als die beiden Männer eine Gestalt aus 

dem Wagen zerrten, die in Stoff gehüllt war. 

»Wer ist das?« fragte er erstaunt. 
»Louis heißt er«, erwiderte Hanne. »Ein Kerl wie jeder andere. Du 

kannst dir sicher denken, was er von mir wollte.« 

Ruperts schmale Lippen verzogen sich zu der Andeutung eines 

Grinsens. Sein Blick streifte kurz über Hannes Figur. 

»Ja, das kann ich mir denken. Und du wolltest natürlich nicht«, 

stellte er fest. 

»Natürlich nicht«, sagte sie angewidert. »Du weißt doch, was ich 

von den Männern halte  - abgesehen von dir«, fügte sie hastig hinzu 
und drängte sich an ihn. 

Rupert nickte. Ja, er wußte, was Hanne von den Männern hielt. In 

diesem Punkt war sie völlig anders als Elsbeth. Elsbeth hatte ihn 
geliebt, mit ganzem Herzen geliebt, und bei Hanne konnte er sich 
nicht vorstellen, daß sie überhaupt fähig war, irgendeinen Menschen 
zu lieben. Er gab sich keinen Illusionen hin, was diesen Punkt 
anbetraf. Auch ihm heuchelte sie nur Liebe vor, weil sie ihn und 
seine Mannen für ihre Ziele brauchte. Sie war damals die Triebfeder 
gewesen. Sie hatte Elsbeth mit ihren fanatischen Plänen angesteckt. 
Genau betrachtet war sie an Elsbeths Tod mitschuldig. Er hätte sie 

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genauso in seine Rache miteinbezogen wie all die anderen Mädchen, 
diese Hexen, die lebten, während Elsbeth tot war. 

Doch Elsbeth war ihm im Traum erschienen. 
»Hanne lebt in mir fort«, hatte sie gesagt. 
Deshalb war Hanne für ihn nicht wie die anderen. 
»Er tat, als wolle er mir seinen Schutz anbieten«, sagte Hanne und 

lachte verächtlich. 

»So ein Schmutzfink«, murmelte Rupert. 
»Ja, eben.« Hanne bemerkte nicht den Spott in seinen Worten. 

»Aber das war nicht einmal das Schlimmste. Conrad und Tasso 
hörten, daß er im Dorf herumschnüffelte. Ein Freund von ihm ist 
verschwunden, und er stellte Fragen wegen eines verschwundenen 
Mädchens!« 

Ruperts Miene verfinsterte sich und glich jetzt noch mehr einem 

Totenschädel. 

»Ich wollte kein Risiko eingehen«, fuhr Hanne fort. »Niemand darf 

uns hier finden, bevor es soweit ist. Bevor unser großer Tag kommt.« 

Er nickte. Eine Weile herrschte Schweigen zwischen ihnen. 
Beide dachten an den »großen Tag«. Und nur Rupert wußte, daß 

sie unterschiedliche Termine im Sinn hatten. 

»Deshalb lockte ich ihn auf ein Zimmer«, fuhr Hanne fort. »Sogar 

auf sein eigenes.« Sie lachte leise. »Und dann gab ich dem 
Dummsack meinen Zaubertrunk. Er war so voller Erwartung, daß er 
nicht den geringsten Verdacht schöpfte. Na, Conrad und Tasso haben 
ihn dann in die Fenstervorhänge eingewickelt und unbemerkt 
abtransportiert.« 

»Aber warum hast du ihn denn mitgebracht?« fragte Rupert 

verwundert. 

Hanne lächelte. »Ich sagte dir doch schon, daß bald unser großer 

Tag kommen wird. Die Ausbildung der Mädchen zeigt Erfolge. Die 
Ausrüstung wird immer vollständiger. Jetzt ist es an der Zeit, daß wir 
die Schlagkraft der Truppe am lebenden Objekt ausprobieren. 
Deshalb habe ich ihn mitgebracht. Die noch Unwürdigen dürfen ihr 
Können beweisen. Wenn er aufwacht, werde ich die Mädchen mit 

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Pfeil und Bogen üben lassen. Na, was hältst du davon?« 

Ihre grünen Augen funkelten fanatisch. 
Verrückt, dachte Rupert, doch er sagte es nicht. 
»Ich glaube, du versprichst dir zuviel von der ganzen Sache«, gab 

er vorsichtig zu bedenken. 

Sie zog einen Schmollmund. »Du nimmst mich mal wieder nicht 

ernst. Aber du wirst sehen, welche Fortschritte wir gemacht haben. 
Elsbeth wird stolz auf uns sein.« 

Als er nichts sagte, schmiegte sie sich an ihn und streichelte über 

sein Haar. »Es braucht eben alles seine Zeit. Eine Menge 
Aufbauarbeit ist erforderlich. Vor allem müssen die Mädchen erst 
richtig überzeugt sein, daß sie ein gutes Werk tun. Und einige von 
ihnen sind schon eifrig bei der Sache. Zum Beispiel Hermine. Sie hat 
sich am besten entwickelt. Du wirst Augen machen, wenn sie ihr 
Können demonstriert.« 

Er grinste, als er sich Hermine vorstellte. Das mußte ein recht 

lustiger Anblick werden, wenn die etwas demonstrierte. Ja, es war 
schon gut, daß er Hanne gewähren ließ. So waren auch die 
Gefangenen beschäftigt, und er und seine Mannen hatten ihren Spaß 
bis zum  11. November. Danach würde wieder der Alltag beginnen. 
Die Kasse mußte aufgefüllt werden. Hannes Spielchen waren recht 
kostspielig, aber das war ihm der Spaß wert. Es würde nicht leicht 
werden, Hanne das Spielzeug wegzunehmen. Er nahm sich vor, sie 
an diesem Tag unter einem Vorwand wegzuschicken. Wenn sie dann 
zurückkehrte, würde alles erledigt sein ... 

Er blickte zu der reglosen Gestalt, die von den Dienern aus dem 

Stoff gewickelt worden war. 

»Er hat also herumgeschnüffelt. Könnte es sein, daß er irgend 

etwas herausgefunden hat, daß er vielleicht in einem bestimmten 
Auftrag unterwegs war?« 

»Du denkst an Erwin?« fragte sie. 
Rupert schüttelte langsam den Kopf. »Woher soll der Hundsfott 

wissen, daß ich seine Geliebte in meiner Gewalt habe? Sie ist 
genauso spurlos verschwunden wie all die anderen. Erwin weiß doch 

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gar nicht, daß ich mein Quartier praktisch vor seiner Nase 
aufgeschlagen habe. Er wähnt mich weit fort im Odenwald, wie ich 
es ihm sagte, um ihn zu täuschen. Nein, ich dachte, daß er vielleicht 
von den Eltern irgendwelcher verschollenen Mädchen oder gar von 
offizieller Stelle geschickt worden sein könnte.« 

»Sollen wir das aus ihm herauskitzeln?« fragte Conrad und tippte 

auf das Messer in der Scheide am Gürtel. 

»Nein«, sagte Rupert mit einem Blick zu Hanne. »Hanne wird ihn 

schon genug kitzeln lassen. Ich weiß was Besseres. Wir sperren ihn 
zu dem Weibervolk. Wenn er aufwacht, werden sie ihn mit Fragen 
bestürmen. Da können wir belauschen, was er so erzählt.« 

Roland bemühte sich, seine Spannung zu verbergen. 

Er stand Rupert gegenüber. 
Dem Verbrecher, der Frauen entführen ließ, um sie als Hexen zu 

verbrennen, wie Erwin behauptet hatte. 

Alles war so reibungslos gegangen, wie Erwin gesagt hatte. Unweit 

des Verstecks hatten ihn einige von Ruperts Räubern entdeckt. Sie 
hatten keinerlei Verdacht geschöpft. Der Schäfer war erwartet 
worden, und Roland hatte den richtigen Namen genannt. Man hatte 
ihm eine Augenbinde angelegt und ihn in das Versteck gebracht. 

Ruperts Versteck war ideal. Auch Erwins  Räuber, die wochenlang 

gesucht hatten, waren mehr oder weniger nur durch Zufall darauf 
gestoßen. Sie hatten ein weites Gebiet systematisch durchkämmt, 
und irgendwann hatte einer der Räuber einen Reiter beobachtet, der 
in einer Höhle verschwunden und nicht wieder aufgetaucht war. 
Neugierig hatte Erwins Räuber die Höhle untersucht. Es gab nur 
diesen einen Zugang. Aber wo war der Reiter geblieben? 

Er hatte schon an Hexerei geglaubt, doch dann hatte er Hufschlag, 

Räderrasseln und Stimmen gehört. Jenseits der  hinteren Felswand. 
Schnell hatte er sich in eine schmale Felsspalte gezwängt. Dann war 
das Unglaubliche geschehen. 

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Knirschend war eine Art Tor aufgeschwungen, an der Stelle, an der 

der Räuber zuvor nichts als Fels ertastet und im Schein einer Fackel 
dann  gesehen hatte. Eine ganze Kutsche war praktisch aus dem Berg 
herausgefahren! 

Später hatte der Räuber dann des Rätsels Lösung gefunden. Das 

Tor war mit rissigem Felsgestein überzogen. Der Teufel mochte 
wissen, wie man das bewerkstelligt hatte und wie es sich öffnen und 
schließen ließ. 

Erwin hatte seinem Räuber drei Dukaten für diese Entdeckung 

bezahlt und ihm einen ganzen Topf mit kostbarem Salz geschenkt, 
den sie bei einem Raubzug erbeutet hatten. 

Der Rest war einfach gewesen. Vom östlichen Berg aus hatte 

Erwin den Talkessel beobachten lassen und bald gewußt, wo seine 
Gerlinde gefangengehalten wurde und von wem. 

Erwin hatte mit dem Gedanken gespielt, von oben her über diesen 

Berg in das Versteck einzudringen, um Gerlinde zu befreien. Doch 
das war ihm dann zu riskant gewesen. Die Gefangenen wurden Tag 
und Nacht bewacht. Diese Posten hätte man vielleicht überrumpeln 
und lautlos ausschalten können. Doch vor dem Tor, innen zwischen 
Talkessel und Höhle, waren weitere Wachen postiert. Sie konnten 
alles überblicken. Tagsüber konnten sie jeden Eindringling sehen, 
der von oben über den hohen Berg hinabstieg, und des Nachts 
würden sie jeden bemerken, der sich im Schein der Fackeln bei den 
Gebäuden bewegte. Der Talkessel würde für jeden Eindringling zu 
einer Falle werden, denn es war unmöglich, sämtliche Wachen 
gleichzeitig auszuschalten. Rupert hatte offenbar an alles gedacht. 

So war Erwin auf den anderen Plan verfallen. 
»Ich freue  mich, daß du gekommen bist wie angekündigt«, sagte 

Rupert. 

Er grinste, und wenn die weißen, wild zerzausten Haare nicht 

gewesen wären, hätte Roland geglaubt, einen grinsenden 
Totenschädel vor sich zu sehen. 

Er drehte den Schlapphut, den er ehrerbietig abgenommen hatte, in 

den Händen. Er glaubte das Messer zu spüren, das in den Hut 

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eingenäht war. Er brauchte nur den inneren Filz herauszureißen, das 
Messer hervorzuziehen und ...« 

»Schade, daß Botho Sprengler nicht selber kommen konnte«, sagte 

Rupert in Rolands Gedanken hinein. 

Roland war jäh alarmiert. Täuschte er sich, oder hatte das lauernd 

geklungen? 

»Er hat Fieber, und weil er Euch nicht zu enttäuschen wagte, 

schickte er mich, seinen Schwager Alex«, sagte Roland. 

Rupert nickte und grinste wieder. »Ich weiß, daß er Fieber hat, und 

es war gut, daß er mich nicht zu enttäuschen wagte. Ich weiß alles. 
Man hat mir sogar gemeldet, daß du, mein lieber Alex, mit den 
Schafen kommen würdest.« 

Roland entspannte sich etwas. 
Rupert gab seinen Männern einen Wink. »Bringt die Schafe in den 

Pferch. Eines soll sogleich geschlachtet werden!« 

Einige Schafe blökten auf dem Wagen. Es klang besorgt, als 

befürchteten sie, daß die Wahl auf sie fallen könnte. 

Zwei der acht Räuber, die bei Rupert und Roland standen, 

kletterten auf den Wagen. 

Der Hut mit dem eingenähten Messer schien förmlich in Rolands 

Händen zu brennen. Rupert stand nahe genug. Mit drei schnellen 
Schritten konnte Roland bei ihm sein und ihn sich schnappen. Doch 
da waren jetzt noch sechs Räuber in der Nähe ... 

»Die Schafe sind nervös«, rief Roland zu den Räubern hin. 

»Normalerweise werden sie nicht auf einem Wagen transportiert, 
doch Botho sagte, die Zeit drängt. Ihr solltet beim Abladen 
aufpassen, daß sie in ihrer Panik nicht weglaufen. Zu zweit werdet 
ihr sie kaum zusammenhalten können.« 

Er hoffte, daß Rupert noch ein paar Räuber wegschicken würde, 

am besten alle. 

Doch Rupert grinste nur. »Hier läuft keiner weg. Und nervös 

brauchen sie auch nicht zu sein.« 

Verflixt, dachte Roland, wie kann ich die Kerle von ihrem 

Anführer weglocken? 

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»Ich dachte, Ihr wollt eines gleich schlachten lassen«, sagte Roland 

mit einem gezwungenen Lächeln. »Wenn Ihr mich als Schäfer fragt, 
so muß ich sagen, daß Schafe gar nicht so dumm sind, wie 
allgemein...« 

»Stimmt«, unterbrach ihn Rupert und kicherte. »So dumm wie 

manche Leute können sie gar nicht sein. Aber noch haben sie keinen 
Grund zur Sorge. Noch ist keines von ihnen an der Reihe. Erst 
kommst du dran! Packt ihn!« 

Louis hörte leise Stimmen. Flüsternde Elfenstimmen. Sanft und 
einschmeichelnd. Er glaubte die Elfen vor sich zu sehen. Nackte 
ätherische Schönheiten, die sich zum dumpfen Tamtam einer 
Trommel verführerisch in den Hüften wiegten. Sie lächelten ihn an. 
Eine von ihnen löste sich aus der Schar der Schönen, eine große 
langbeinige Frau mit grünen Augen. Sie schwebte über eine vom Tau 
silbern glitzernde Wiese auf ihn zu, und ihre roten Haare flogen im 
Wind. 

Sie blieb dicht vor ihm stehen, und er glaubte ihren Duft zu 

riechen. 

Er wollte nach ihr greifen, doch sie zog sich lachend zurück. 
»Du bist auch nur ein Mann«, sagte sie, und ihr schönes Gesicht 

veränderte sich jäh, wurde zu einer starren, kalten Maske. 

»Klar bin ich ein Mann!« rief Louis, und er wunderte sich, daß er 

seine Stimme nicht hören konnte. 

Eine zarte Hand strich über seine Wangen, eine andere über sein 

Haar. Etwas zupfte ihn am Bart. Jemand lachte leise. 

Die Haare der schönen Rothaarigen wuchsen, breiteten sich aus  - 

und Louis erschrak. Die Frau war plötzlich von einem rotgoldenen 
Spinnennetz umgeben. Und von einem Augenblick zum anderen 
verwandelte sich die Rothaarige in eine Spinne! 

Die Spinne lächelte, doch es war ein grausames Lächeln, als 

lauerte sie auf ein Opfer. 

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Die Elfen tanzten rings um das Spinnennetz. 
»Ein prächtiges Mannsbild«, hörte Louis eine der Elfen sagen. 
Louis lächelte. Wie recht sie hatte. 
»Schade, daß er sterben muß«, sagte eine andere Elfenstimme. 
Die Spinne lachte. Schaurig hallte es in Louis' Ohren. 
Louis erschrak. Die Spinne kroch mitsamt dem Netz auf ihn zu, 

wurde größer und größer. Sie griff nach ihm. 

Abwehrend hob Louis die Hände. 
Die Elfen blickten betrübt und voller Mitleid auf ihn herab. 
Die rotbehaarte Spinne kroch näher. 
Louis fühlte sich ihr ausgeliefert, glaubte schon in ihrem Netz zu 

zappeln. Er wollte aufspringen, doch irgendeine der Elfen hielt ihn 
fest. 

Er riß die Augen weiter auf. Er war von Elfen umgeben. Die 

Spinne war weg. 

Louis atmete auf. Er brauchte einen Augenblick, bis er erkannte, 

daß es keine Elfen waren, die sich um ihn drängten. Es waren 
Mädchen aus Fleisch und Blut. 

»Wo - bin ich?« fragte er mit krächzender Stimme. 
»Er ist wach«, sagte das Mädchen, das neben ihm hockte. 
Louis setzte sich auf, blinzelte und blickte genauer hin. 
Rund zwei Dutzend Mädchen scharten sich um ihn, blonde, 

brünette, schwarzhaarige, ein rotblondes, große, kleine, schlanke, 
pralle, blutjunge und reifere. 

Es mußte ein Traum sein. Ja, er mußte noch träumen. Er schloß die 

Augen und legte sich wieder zurück. 

Das war fürwahr ein besserer Traum als der von dieser 

verdammten Spinne. 

Er hörte leises Getuschel. Eine Hand legte sich auf seine Stirn. 

Eine kühle, weiche Hand. Jemand tätschelte sanft seine Wange. 

»Wer mag es sein?« wisperte ein Mädchen dicht neben ihm. 
»Gewiß wollte er uns befreien«, sagte eine helle Stimme aus dem 

Hintergrund. 

»Ja, er sieht wie ein tapferer Recke aus«, meinte eine andere. 

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»Aber zugleich so hilflos wie ein kleiner Junge.« 

Louis öffnete wieder die Augen. 
Es war kein Traum. Die Mädchen waren tatsächlich da. 
Benommen setzte er sich auf. Allmählich ließ das Schwindelgefühl 

nach. Er sah viele besorgte Mädchengesichter, die ihn stumm 
anblickten. 

Was war geschehen? 
Sein Blick glitt von einer zur anderen. Soviel geballte Weiblichkeit 

hatte er selten um sich gehabt  - eigentlich noch nie, wenn er sich 
recht erinnerte. 

Er grinste. Einige der Mädchen lächelten. 
»Mich dünkt, ich bin in einen Harem geraten«, murmelte Louis. 

»Wer seid ihr?« 

Die Mädchen sprachen alle durcheinander, drängten sich, um näher 

an ihn heranzukommen, und die hinteren zwängten sich an den 
vorderen vorbei, um einen besseren Blick auf ihn zu erhaschen. 

Einen Augenblick lang fühlte sich Louis in einen  Hühnerstall 

voller aufgeregter Hennen versetzt. Mehr als zwei Dutzend 
Hühnchen, und er der einzige Hahn! 

Der Gedanke amüsierte ihn jedoch nicht lange. Er war wieder klar 

genug, um an den besorgten und ängstlichen Mienen der Mädchen zu 
erkennen, daß da etwas nicht stimmte. 

Das blonde Lockenköpfchen, das neben ihm kniete, verschaffte 

sich Gehör. Die anderen verstummten allmählich. 

»Wir sind Gefangene«, erklärte die Blonde. »Und du ebenfalls. 

Hanne, diese rothaarige Hexe, hat dich hergebracht ins Versteck der 
Verbrecherbande. Erinnerst du dich nicht?« 

Doch, allmählich setzte die Erinnerung ein. Die schöne Rothaarige 

auf dem weißen Roß. Erst kühl und abweisend, und dann hatte sie 
ihn geküßt, und sie hatten Rotwein getrunken und ... 

Dieses Luder! 
Sie mußte ihn betäubt haben! 
»Ja, ich erinnere mich«, murmelte Louis. »Nun seid mal still und 

laßt sie hier reden.« Er nickte auffordernd zu dem blonden 

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Lockenköpfchen an seiner Seite hin. Sie hatte himmelblaue Augen 
und alles an ihr war wohlgerundet und strotzte nur  so von 
Gesundheit. 

Das Mädchen ergriff wieder das Wort. Louis lauschte, und er 

glaubte zuerst seinen Ohren nicht trauen zu können. 

Das Geheimnis der verschwundenen Mädchen war gelöst! 
Diese Mädchen hier waren noch nicht lange in Gefangenschaft, 

aber sie wußten zu berichten, daß es andere in diesem Talkessel gab, 
die schon vor Monaten entführt worden waren. Sie zählten 
inzwischen zu den »Auserwählten«, der »Kerntruppe«, während die 
Neuen noch als »Unwürdige« bezeichnet wurden. 

Ich glaube, ich spinne! dachte Louis. 
»Auserwählte, Kerntruppe?« fragte er verwundert. »Was soll denn 

dieser Blödsinn?« 

»Es ist kein Blödsinn«, sagte die Blonde. »Es ist bitterer Ernst. Die 

rote Hexe will alle Gefangenen zu Kriegerinnen ausbilden.« 

»Warum denn das?« fragte der Knappe verdutzt. 
Die Blonde zuckte mit den Schultern. »Sie hat die fixe Idee, einen 

Kreuzzug zu unternehmen. Sie sagte, sie wolle ein Frauenheer 
aufstellen und in den Kampf gegen die Männer ziehen, um sie 
allesamt zu vernichten!« 

Ritter Roland erschrak bis ins Mark. Das Spiel war aus. 

Was hatte er falsch gemacht? 
Die Räuber sprangen auf ihn zu, hoben Keulen und Schwerter und 

zogen Messer. 

Roland blieb nur die Flucht nach vorn. Er hechtete auf Rupert zu. 

Er wußte, daß es auf jeden Sekundenbruchteil ankam. Wenn es ihm 
nicht gelang, den Kerl zu Boden zu reißen, schnell genug das Messer 
aus dem Hut zu ziehen und ihm an die Kehle zu setzen, war alles aus. 

Rupert sprang zur Seite. Er war ein wenig unbeholfen in seinem 

langen Gewand, doch Roland konnte ihn nicht so packen, wie er 

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vorgehabt hatte. Seine Linke krallte sich in das Gewand. Rupert riß 
sich los. Der Stoff zerriß. Roland stürzte zu- Boden. Rupert trat nach 
ihm und traf ihn an der rechten Schulter. Roland ließ den Stoffetzen 
los und riß den Filz aus dem Schlapphut, um an das Messer zu 
gelangen. 

Dann waren die Räuber heran. 
Roland sah eine Keule auf sich herabsausen und rollte sich über 

den Boden, auf Rupert zu. Dreck spritzte auf, als die Keule auf den 
Boden knallte. Der Räuber fluchte. 

Roland hatte das Messer heraus. Doch Rupert war schnell in 

Sicherheit gesprungen. Einer der Räuber, ein Hüne mit einem 
wuchernden blonden Bart, blockierte Roland den Weg zu dem An-
führer. Der Kerl holte mit seinem Schwert aus. 

Roland entging dem Hieb nur um Haaresbreite. 
Er wußte, daß es um sein Leben ging, und jäh wurde ihm klar, daß 

er keine Chance mehr hatte, sich Rupert zu schnappen. 

Weitere Räuber eilten herbei. Aufgeregte Rufe wurden laut. Rupert 

gab lautstark Anweisungen. Die Kerle kreisten Roland ein. 

»Tötet ihn!« schrie Rupert. 
Einer der Räuber sprang auf Roland zu, stieß mit dem Schwert 

nach ihm. Roland schnellte zur Seite. Die Klinge streifte noch sein 
Kettenhemd. Ein Keulenhieb traf ihn von hinten und schleuderte ihn 
wieder auf den Hünen mit dem Schwert zu. 

Roland sah, wie  der Bärtige sein Schwert schwang. Es blieb ihm 

keine Wahl. Er schleuderte das Messer. Er traf, bevor der Kerl 
zuschlagen konnte. Die Augen des Räubers weiteten sich vor 
Schmerz und Entsetzen. Das Schwert entglitt ihm. Er taumelte und 
krampfte die Hände um das Messer in seiner Brust. Dann stürzte er 
hintenüber. 

Roland sprang bereits auf das Schwert zu. Doch ein Keulenhieb 

warf ihn zu Boden. Er prallte mit der Stirn auf, und für einen 
Augenblick drehte sich alles um ihn. 

Das Schwert lag keinen Schritt entfernt im Dreck. Seine Hand 

zuckte darauf zu. Ein Stiefel stellte sich auf sein Handgelenk, als er 

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das Schwert erfaßte. 

Wieder traf ihn ein Hieb. Noch einmal bäumte er sich auf. Er 

erkannte, daß er gegen die Übermacht keine Chance mehr hatte, doch 
er wollte bis zum letzten Atemzug kämpfen. 

Er packte mit der freien Hand den Stiefel und zerrte ihn von 

seinem Handgelenk fort. Mit einem Aufschrei prallte der Mann 
neben ihm auf. 

»Tötet ihn!« brüllte Rupert. 
Und es sah ganz so aus, als sei es nur eine Frage von Sekunden, bis 

sie den Befehl in die Tat umsetzten. 

Roland wußte, daß ihn nur noch ein Wunder retten konnte. 
Da drang eine Stimme durch den Kampflärm. Die Stimme einer 

Frau. 

»Laßt ihn am Leben!« 
Das Wunder! dachte Roland. Eine gute Fee! 
Dann löschte ein Schlag mit einer Keule sein Bewußtsein aus. 

Als Ritter Roland zu sich kam, stand er gefesselt an einem in den 
Boden getriebenen Balken auf dem Platz vor den Hütten, die sich 
innerhalb dicker Steinmauern befanden. 

Die Mauern waren die Reste eines Klosters, wie Roland von dem 

Räuberhauptmann Erwin erfahren hatte. Das Kloster war vor langer, 
langer Zeit in diesem kleinen Talkessel errichtet worden, als es noch 
einen anderen Zugang gegeben hatte, der später bei einem Unwetter 
von einem gewaltigen Erdrutsch verschüttet worden war. Die 
Mönche hatten daraufhin das Kloster verlassen. Laut Erwin sollten 
sie zu faul gewesen sein, den Zugang wieder freizugraben. Nun, das 
mußte nicht stimmen. Auch der angeblich so perfekte Plan dieses 
verdammten Erwin hatte ja nicht gestimmt ... 

Mit bangem Herzen dachte Roland an Ingrun und auch an die 

anderen Gefangenen, die er in Erwins Lager nicht einmal zu Gesicht 
bekommen hatte. Er war ihre einzige Hoffnung. Und jetzt konnte er 

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nichts mehr für sie tun ... 

Roland preßte die Zähne aufeinander. Sein Blick glitt zu den 

Hütten. Es waren fünf solide und große Holzhütten, die aus dicken 
Baumstämmen errichtet worden waren. Von außen betrachtet wirkte 
das Lager, das von einer hohen Mauer umgeben war, wie eine 
trutzige Festung. Nur an einer Seite war die Mauer verfallen und 
abgetragen worden, und dort hatten die Wachen beim Tor am 
Zugang zum Talkessel einen guten Einblick in das Lager. 

Zwei der Räuber waren damit beschäftigt, etwa fünfzig Klafter 

entfernt vor der letzten Hütte einen Pfosten in den Boden zu 
hämmern. Sie stritten sich dabei, weil keiner den Pfosten halten 
wollte; jeder traute dem anderen zu, daß er ihm auf die Finger 
schlagen könnte. 

Von einer der Hütten trieb der Wind, der von den hohen Bergen in 

das Lager hinabfauchte, den Duft von Hammelbraten heran. 

Ein Tropfen klatschte Roland ins Gesicht. Er blickte empor. 

Dunkle Wolken ballten sich am Himmel. Es würde Regen geben. 

Roland zerrte an seinen Fesseln. Es war sinnlos. Er war so fest an 

den Balken gebunden, daß er sich kaum bewegen konnte. 

Von neuem fragte sich Roland, was er falsch gemacht haben 

könnte. Doch so sehr er sich auch den schmerzenden Kopf 
zermarterte, er konnte keine Erklärung dafür finden, weshalb Rupert 
das Spiel durchschaut hatte. 

Eine Antwort auf seine Frage bekam er fünf Minuten später. 
Rupert trat aus einer der Hütten. Und in seiner Begleitung war ein 

Mann, den Roland kannte. 

Es war einer von Erwins Räubern. Der Graubart, den er bei dem 

Überfall am Höllensteinsee mit dem Schwert besiegt und später in 
Erwins Lager überrumpelt hatte, als der Kerl ihn hatte treten wollen. 
Der Lump blickte grinsend zu Roland herüber. 

Dieser Verräter! 
Rupert klopfte ihm auf die Schulter. Der Graubart schritt davon. 

Höhnisch wünschte er Roland alles Gute. Roland beobachtete, wie 
der Räuber auf ein Pferd stieg und davonritt. Die Wachen ließen ihn 

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passieren, und das Tor schwang wieder zu. 

Rupert war derweil in einer anderen Hütte verschwunden. Jetzt 

kehrte er zurück. Sein wallendes Gewand hatte einen Riß in der 
Seite. Roland sah, daß Rupert unter dem Gewand eine graue Hose 
und Stiefel trug. Rupert hielt ein Schwert in der Rechten. 

Ein paar Schritte vor Roland blieb er stehen und grinste. So mußte 

der Satan grinsen, wenn ihm  von seinen Spionen auf Erden berichtet 
wurde, daß dort der Teufel los war. 

»Du Schaf, du dummes«, sagte er mit seiner brüchigen Stimme. 

»Hast dich wohl für besonders schlau gehalten und gedacht, Erwins 
Plan sei so mir nichts dir nichts in die Tat umzusetzen, was? Doch 
ich war vorgewarnt und brauchte dich nur noch in Empfang zu 
nehmen. Und von jetzt an werde ich über jeden von Erwins Schritten 
informiert. Einer seiner Männer will sich eine goldene Nase 
verdienen. Er kann dich übrigens nicht leiden und hat mich gebeten, 
dich Hundsfott auf der Stelle zu töten. Doch du hattest eine 
Fürsprecherin.« 

Roland glaubte wieder die Frauenstimme zu hören: »Laßt ihn am 

Leben!« 

Wer war diese Frau? 
»Inzwischen hörte ich, daß du sogar ein Ritter bist«, fuhr Rupert 

spöttisch 

fort. »Wundert mich, daß ein Ritter mit einem 

Schweinehund wie Erwin gemeinsame Sache macht. Aber sicherlich 
hat er dir eine Belohnung versprochen. Und man hört ja, daß 
euresgleichen 'ne Menge Geld braucht für Saufgelage und Orgien bei 
Hofe.« 

Nun, da hatte er etwas Falsches gehört, aber Ritter Roland sagte 

nichts und strafte ihn mit Verachtung. 

Rupert genoß offenbar das Gefühl der Macht. 
»Nun, wie fühlt sich unser tapferer Ritter?« fragte er spöttisch. 
Er fuchtelte Roland mit der Schwertspitze vor der Nase herum. 
Roland gab keine Antwort. 
Rupert lachte. »Du wirst dich bald noch mieser fühlen, du 

schafsdämlicher Ritter.« 

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Dann schlenderte er davon. 
Roland überlegte, woher Rupert wissen konnte, daß er ein Ritter 

war. Der Verräter hatte es ihm nicht sagen können, denn Erwin 
wußte nichts davon. 

Dann wurde ein Gefangener aus einer der Hütten gebracht, und 

Roland erhielt eine Antwort auf seine Frage. 

Ihm stockte der Atem, als er Louis sah. 
Der gefesselte Knappe wurde von zwei Männern, die ihm Lanzen 

in die Seiten drückten, zu dem Pfosten getrieben, der inzwischen in 
die Erde gerammt worden war. 

Dort banden sie ihn an. 
Louis' Augen weiteten sich ebenso vor Überraschung, als er 

Roland sah. Bis zu diesem Augenblick hatte er nichts von Rolands 
Anwesenheit im Versteck der Räuber gewußt. Er hatte sogar schon 
die schlimme Befürchtung gehabt, Roland niemals mehr 
wiederzusehen. 

Bevor sie sich durch Rufe verständigen konnten, tauchte eine Frau 

auf. Eine schöne, rothaarige Frau. Anmutig schritt sie auf Roland zu 
und blieb ein paar Schritte vor ihm stehen. 

Sie betrachtete ihn von oben bis unten, und ein Lächeln spielte um 

ihre schwellenden Lippen, doch ihre grünen Augen blickten seltsam 
kalt. 

»So also sieht ein Ritter aus«, sagte sie, und Roland erkannte die 

Stimme. Das war die gute Fee, der er praktisch sein Leben zu 
verdanken hatte! 

»Wir haben deinen Knappen ein wenig belauscht«, erklärte sie. »Er 

war sehr gesprächig bei den Damen.« 

Roland konnte sich auf das alles noch keinen Reim machen. Wie 

war Louis hergekommen? Er konnte doch gar nichts von dem 
Versteck gewußt haben. Wo mochte Pierre sein? Befand er sich 
ebenfalls in der Gewalt der Bande? Und wer war diese Frau? 

Fest stand, daß sie ihm in letzter Sekunde geholfen hatte. 
»Ich danke Euch«, sagte Roland. 
Sie lachte leise. »Wofür?« 

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»Nun, Ihr habt verhindert, daß man mich tötete.« 
Sie nickte. »Stimmt. Aber bilde dir nur nichts ein. Ich wollte mir 

nur nicht den Spaß verderben lassen.« 

Damit wandte sie sich um und klatschte in die Hände. 
»Auf geht's!« rief sie einigen Räubern zu. »Beeilt euch, es sieht 

aus, als würde es Regen geben.« 

Roland war noch verwirrter. Was hatte das alles zu bedeuten? Was 

hatte man mit ihnen vor? 

Winfried, der Graubart, war mit sich und der Welt zufrieden wie 
selten. Sechs Dukaten hatte ihm Rupert dafür bezahlt, daß er ihm 
Rolands Ankunft gemeldet hatte. Sechs Dukaten für einen kleinen 
Verrat. Das war mehr, als Winfried erwartet hatte. 

Im Grunde hatte er sich nur rächen wollen. Roland hatte ihn vor 

den anderen und vor allem vor Erwin lächerlich gemacht. Und als 
Erwin ihn gar vor versammelter Mannschaft als unfähig bezeichnet 
und diesen Roland als heldenhaften Kämpfer hingestellt hatte, war 
der Gedanke in ihm gekeimt, es diesem Roland heimzuzahlen. Er 
hatte gewußt, daß es nicht ganz ungefährlich war, zu Rupert zu 
reiten, doch er hatte sich gesagt, daß Rupert ihn ungeschoren lassen 
würde, wenn er ihm Erwins Plan verriet und weitere Dienste anbot. 
Die Rechnung war aufgegangen. 

Er würde sich ins Fäustchen lachen, wenn Roland nicht mehr 

zurückkehrte. Er stellte sich schon vor, wie er ganz lässig sagen 
würde: »Ich habe von Anfang an gewußt, daß diese Pfeife nichts 
taugt...« Oder so etwas in dieser Art. 

Ja, er war sehr zufrieden. Noch an diesem Nachmittag würde 

Roland sterben. Die Rache war gelungen. Und zu den sechs Dukaten 
waren weitere zu erwarten. Er brauchte Rupert nur gelegentlich von 
Erwins Plänen zu berichten. 

Vergnügt pfiff Winfried vor sich hin. 
Dann flog etwas von einem Baum herab auf ihn zu', und sein 

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Pfeifen verstummte nach einem Mißton. 

Er erschrak bis ins Mark, als ihn das wilde Tier ansprang und aus 

dem Sattel riß. Benommen krachte er zu Boden, und das Ungeheuer 
landete auf ihm. 

Als sich die Schleier vor seinen Augen etwas auflösten, erkannte 

er, daß ihn da weder ein wildes Tier noch ein Ungeheuer aus dem 
Sattel gefegt hatte, sondern ein Mensch. 

Der Mensch war Pierre. 
Der Knappe war den Spuren der Kutsche gefolgt. Die ganze Nacht 

hindurch war er geritten, und er hatte keine Mühe gehabt, die 
Radfurchen im Schein des Mondes zu erkennen. Am Tag war es 
dann noch leichter gewesen, doch dann war er an eine Weggabelung 
gelangt, und auf beiden Wegen waren Wagenspuren zu sehen 
gewesen. Er hatte auf gut Glück den Weg nach Nordwesten gewählt 
und war prompt in die falsche Richtung geritten; die Wagenspuren 
endeten auf einem Bauernhof. So hatte er die Pferde wieder einmal 
gewechselt und war querfeldein ostwärts geritten, bis er wieder auf 
die Spuren der Kutsche gestoßen war. Fast hätte er die Kutsche trotz 
des Zeitverlustes noch eingeholt. Er hörte sie schon, doch dann war 
die Kutsche auf einmal wie vom Erdboden verschluckt. 

Stundenlang suchte Pierre in weitem Umkreis, doch vergebens. 

Die Kutsche war und blieb verschwunden. 

Dann tauchten Reiter auf. Pierre versteckte sich und beobachtete. 

Die Reiter wirkten alles andere als vertrauenerweckend. Sie 
begleiteten einen Schäfer, der auf einem Wagen voller Schafe saß. 
Als sie ihn dann in einiger Entfernung passierten, sah Pierre, daß der 
Schäfer ein Tuch vor den Augen trug. 

Er erkannte Roland in der Verkleidung nicht, doch sein Verdacht 

war geweckt. Das sah ganz so aus, als entführten Räuber einen 
Schäfer. Zudem verschwanden sie auf einmal ebenso wie die 
Kutsche. 

Wiederum suchte Pierre, wiederum vergebens. 
Er ahnte, daß er einem Geheimnis auf der Spur war. Er versteckte 

die Pferde noch besser und legte sich auf die Lauer. 

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Es wurde eine harte Geduldsprobe für ihn, denn lange tat sich 

überhaupt nichts. Doch seine Ausdauer wurde belohnt. 

Ein Reiter, der Graubart, tauchte schließlich aus einem Berg auf 

wie durch Zauberei. 

Pierre nahm an, daß es einer der Männer war, die mit dem Schäfer 

verschwunden waren, als hätte sie der Erdboden verschluckt. Er ließ 
den Reiter passieren und suchte an der Stelle, an der der Mann 
aufgetaucht war. Er fand die Höhle, doch alle Suche nach einem 
zweiten Ausgang war vergebens. 

Es war wie verhext! 
Pierre gab die Suche auf. Weshalb Zeit vertrödeln? Der Reiter 

würde ihm schon erzählen,  wo er hergekommen war. So folgte Pierre 
der Fährte des Graubarts, überholte ihn und legte sich auf die Lauer. 

Die Überraschung war perfekt gelungen. 
Bevor der Graubart wußte, wie ihm geschah, lag er benommen am 

Boden, und Pierre lag auf ihm. 

Jetzt setzte der Knappe dem Mann das Messer an die Kehle. 
»G-ggnade, Gnade!« stammelte Winfried, und sein grauer Bart 

zitterte. 

»Darüber können wir reden«, sagte Pierre, »doch ich wette, daß du 

mir zuvor ein paar Fragen beantworten wirst.« 

Und diese Wette gewann Pierre. 

Roland stockte der Atem. Sie wollten Louis töten! Vor seinen 
Augen. Alles in Roland schien sich zu verkrampfen. 

Die Rothaarige war keine gute Fee. Sie war keinen Deut besser als 

der verbrecherische Rupert. Sie hatte nur dafür gesorgt, daß man ihn, 
Roland, am Leben gelassen hatte, um ihn mit diesem schrecklichen 
Schauspiel zu quälen. 

Drei Mädchen waren aus einer der Hütten geführt worden. Drei der 

Gefangenen. Er sah die Angst in ihren Augen. 

Sie schickten sich an, Louis zu töten. Sie wurden dazu gezwungen, 

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doch welchen Unterschied machte es schon für Louis, ob sie ihn 
freiwillig töteten oder unter Zwang? 

Die Rothaarige reichte einem der Mädchen Pfeil und Bogen. Dann 

gab sie einem der Räuber einen Wink. Der Kerl drückte dem 
Mädchen seine Lanze in den Rücken. 

Das Mädchen legte den Pfeil auf die Sehne. Es spannte den Bogen 

und zielte auf Louis, der keine zwei Dutzend Schritte hilflos und 
gefesselt an dem Pfosten stand. 

Furchtlos blickte Louis das Mädchen an, und Roland bewunderte 

die Tapferkeit seines Knappen im Angesicht des Todes. 

Roland zuckte zusammen, als der Pfeil von der Sehne schnellte. 

Doch dann erfüllte ihn unsagbare Erleichterung. 

Der Pfeil traf nicht. 
»Dumme Gans!« rief die Rothaarige an Ruperts Seite ärgerlich. 

»Noch einmal!« 

Sie gab den Räubern Anweisungen. Einer reichte dem Mädchen 

einen neuen Pfeil. Ein anderer hob drohend eine Reitpeitsche. 

Das Mädchen duckte sich ängstlich. Es zielte von neuem. 
Es wurde so totenstill, daß Roland das Zischen des Pfeils zu hören 

glaubte. Der Pfeil flog dicht an Louis' Schulter vorbei. 

Der Mann mit der Peitsche blickte fragend zu der Rothaarigen, und 

in Roland stieg der Verdacht auf, daß sie die eigentliche Herrin der 
Räuberbande war. Sie nickte. 

Das Mädchen schrie auf, als es von der Peitsche getroffen wurde. 
»Die nächste bitte«, sagte Rupert, und es klang recht gelangweilt. 
»Schafft sie zurück!« schrie die Frau. 
Zwei Räuber packten das schluchzende Mädchen und zerrten es 

zur Hütte zurück. 

»Mich dünkt, mit deiner Truppe ist es noch nicht weit her, meine 

liebe Hanne«, sagte Rupert beinahe genüßlich. 

Sie bedachte ihn mit einem zornigen Blick. 
»Ich lasse euch auspeitschen, wenn ihr versagt!« fuhr Hanne dann 

die beiden anderen verschüchterten Mädchen an. »Los, du da!« Sie 
wies auf ein blondgelocktes Mädchen. 

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Die Blonde trat vor. Ihr Gesicht war blaß und angespannt. Voller 

Furcht blickte sie zu dem Mann mit der Peitsche, als sie den Pfeil auf 
die Sehne legte, als sei sie fest davon überzeugt, ebenfalls nicht zu 
treffen. 

Dann gab sie sich einen Ruck, spannte den Bogen und zielte. 

Lange und genau. Dann schoß sie den Pfeil ab, stieß einen erstickten 
Schrei aus, ließ den Bogen fallen und schlug die Hände vors Gesicht. 

Auch Roland hätte fast aufgeschrien. Und Louis war 

zusammengezuckt. Der Pfeil klatschte keine Handbreit über Louis' 
Haupt in den Pfosten. 

Die Blonde weinte laut und hielt immer noch die Hände vors 

Gesicht. Offenbar war sie davon überzeugt, getroffen zu haben und 
konnte den Anblick nicht ertragen. 

Der Räuber hob die Hand mit der Peitsche, doch Hanne winkte ab. 
»Das war doch schon besser.« Sie wandte sich an das blonde 

Mädchen. »Los, noch einmal. Und jetzt hältst du etwas tiefer!« 

Das Mädchen nahm die Hände vom Gesicht und starrte zu Louis. 

Ihr Mund klaffte auf. 

»O Gott!« entfuhr es ihr dann, und es klang entsetzt. 
Beim zweiten Mal zielte das Mädchen tatsächlich tiefer. Der Pfeil 

bohrte sich vor Louis' Stiefeln in den Dreck. 

Louis lächelte und nickte dem Mädchen leicht zu. 
Hanne lächelte nicht. Sie gab dem Peitscher einen Wink. 
Als die Blonde dann fortgeführt worden war, kam das dritte 

Mädchen an die Reihe. Es war eine kleine Schlanke mit schwarzen 
Zöpfen. Sie zitterte schon, als sie den Bogen nahm. 

»Hanne, mich dünkt, mit der Peitsche machst du  ihnen nur Angst«, 

sagte Rupert. »Kein Wunder, daß sie nicht treffen.« 

»Ach was, im Training hat es vortrefflich geklappt.« 
»Da hat sie dieser Schwarzbart auch nicht angegrinst«, bemerkte 

Rupert. 

In der Tat grinste Louis die Kleine an und nickte ihr zu, als wolle 

er ihr Mut machen. 

»Hör auf zu grinsen!« rief Hanne zornig, »oder ich jage dir 

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eigenhändig einen Pfeil in den Schädel!« 

Nun, das traute Louis dieser Verbrecherin durchaus zu, und flugs 

gehorchte er. 

Er blieb auch ernst, als das Mädchen ihn bei zwei Versuchen nicht 

traf. Beide Pfeile flogen weit an ihm vorbei, einer gut zwei Klafter 
links, einer an die drei Klafter rechts. 

Hanne tobte, und die kleine Schwarzhaarige bekam die Peitsche zu 

spüren. 

Hanne wollte weitere Mädchen holen lassen, doch Rupert winkte 

ab. »Das wird mir zu langweilig«, nörgelte er und blickte zum 
Himmel. »Hattest du nicht noch was Interessanteres auf Lager, bevor 
es regnet?« 

Hanne nickte. 
»Ich werde diese dummen, unfähigen Puten üben lassen, bis sie 

schwarz werden.« Sie warf einen Blick zu Louis. »Du hast noch eine 
Gnadenfrist bis morgen.« Dann schaute sie zu Roland. »Jetzt bist du 
dran!« Sie gab einigen Räubern einen herrischen Wink. »Bindet ihn 
los.« 

Sie banden Roland vom Balken, doch die Hand- und Fußfesseln 

lösten sie ihm nicht. 

Roland fragte sich, welche Teufelei ihn erwartete. 
»Holt Hermine!« rief Hanne. 
So geschah es. 
Roland glaubte seinen Augen nicht zu trauen, Hermine war die 

unglaublichste Frau, die er je gesehen hatte. 

Sie war ein weiblicher Koloß. Sie überragte Roland um 

Haupteslänge und war fast doppelt so breit. In ihren gewaltigen 
Brustpanzer hätten ohne weiteres zwei ausgewachsene Ritter gepaßt. 
Der Brustpanzer war überhaupt das Größte. Er spannte sich wie ein 
Korsett aus Stahl um ihren enormen Oberkörper. Zwei gewaltige 
Halbkugeln mit neckischen kleinen Ausbuchtungen wölben sich 
daraus hervor und panzerten den Busen. 

Im Grunde war alles an dieser Frau in den richtigen Proportionen. 

Doch die Natur hatte sie eben mit zu gigantischen Formen bedacht. 

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Breitbeinig blieb der weibliche Koloß stehen, und die stämmigen 

Beine in Männerhose und Stiefeln schienen sich in den Boden zu 
bohren. 

Ein Schutzhelm thronte auf Hermines Kopf. Eine rothaarige Locke 

lugte darunter hervor. Hermine hatte ein pausbäckiges, rundes 
Gesicht mit himmelblauen Kulleraugen, einer erstaunlich kleinen 
Stupsnase und einem Mund, der so breit war, daß sicherlich eine 
mittlere Gartengurke quer hindurchgepaßt hätte. Sommersprossen 
bedeckten das Gesicht und ihre nackten Arme. Manch ein 
muskelbepackter Schmied wäre beim Anblick dieser Arme vor Neid 
erblaßt. Sie waren so gewaltig und wirkten so kräftig, daß man 
annehmen konnte, sie hätte in ihrer Jugend statt mit einem Ball mit 
einem Amboß gespielt. 

Sie hob die Rechte mit dem Schwert, und Roland sah gebannt das 

Spiel ihrer Armmuskeln. 

Sie warf einen Blick zu Louis und faßte dann Roland ins Auge. 

Grimmig schaute sie ihn an, und obwohl sie ein paar Dutzend 
Schritte entfernt war, hatte Roland das Gefühl, sie blicke auf ihn 
herab. 

»Der da?« fragte sie und wies mit dem Schwert auf Roland. 
Die Stimme paßte zu der Gestalt. Sie klang wie Donnergrollen 

durch den Talkessel. 

»Ja, Hermine«, rief Hanne. »Er gehört dir!« 
Hermine betrachtete Roland mitleidig. Sie trat näher. Ihr Gang war 

so anmutig wie der eines Elefanten, aber das mochte an dem 
schweren Brustpanzer liegen. Roland hätte gewettet, daß ein 
normaler Mann unter dem Gewicht in die Knie gegangen wäre. 

Ein Käfer in einem Grasbüschel unterbrach hastig das Liebesspiel 

mit seiner Käferin. Er glaubte  an ein Erdbeben, als Hermine 
heranstampfte. Flugs brachte er sich und seine Gemahlin in 
Sicherheit. 

Nun, Roland war kein Käfer, sondern ein Ritter. Er blieb stehen 

und schaute dem Erdbeben mannhaft in die Kulleraugen. 

Hermine blieb stehen und starrte ihn an. 

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Dann hieb sie das Schwert in den Boden und lachte. Ihr Lachen 

schien aus den Tiefen ihrer Massen zu kommen. Es hallte von den 
Mauern des ehemaligen Klosters wider und war vermutlich noch 
jenseits der Berge zu hören. 

Sie lachte, bis ihr Tränen in die Augen traten. Dann wischte sie sie 

fort. Ihre Hand war fast so groß, daß sie mühelos einen mittelgroßen 
Kürbis umfassen konnte. 

Sie wandte den Kopf zu Hanne und Rupert, die gespannt 

herüberblickten und von Hermines Auftritt offenbar ebenso fasziniert 
waren wie Roland und Louis - nur eben auf andere Weise. 

»Das soll ein Kampf sein?« röhrte sie. »Daß ich nicht lache!« Und 

sie schickte ein kräftiges »Ha!« hinterher. 

»Er ist sogar ein Ritter!« rief Hanne. Sie war begierig darauf, 

Rupert die Schlagkraft ihrer Truppe zu demonstrieren. Hermine war 
ihre Beste. 

Hermine winkte ab, und mit dieser Bewegung hätte sie glatt ein 

jüngeres Bäumchen fällen können. Roland glaubte einen Windhauch 
zu verspüren, der zu ihm herüberwehte ob der Luftverdrängung. 

»Papperlapapp! Ritter hin, Ritter her. Den Kümmerling mach' ich 

mit einer Hand platt. Da brauche ich kein Schwert. Nehmt ihm die 
Fesseln ab, sonst macht es mir keinen Spaß!« 

»Ich weiß nicht...« begann Hanne. 
»Laß sie doch«, zerstreute Rupert ihre Bedenken. Er amüsierte sich 

sehr und war voller Vorfreude auf das Schauspiel. Er sah Hermine 
zum ersten Mal gepanzert. Jetzt wunderte er sich nicht mehr über den 
teuren Preis. Diese Sonderanfertigung hatte ja Unmengen von Metall 
erfordert. Er brannte darauf, Hermine darin in Aktion zu sehen. 
Schnell gab er seinen Räubern Anweisungen. Ein Bogenschütze 
kletterte auf eine der Hütten. Von dort aus konnte er alles 
überblicken und eingreifen, falls der Kampf doch nicht so verlief, 
wie alle erwarteten. Männer mit Lanzen und Schwertern stellten sich 
in weitem Kreis auf, damit. Roland keinen Fluchtversuch 
unternehmen konnte, wenn er der Fesseln ledig war. Er hätte ohnehin 
nicht aus dem Talkessel entkommen können, doch Rupert hatte 

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Roland in tollkühner Aktion gesehen und wollte keinerlei Risiko ein-
gehen. 

Auch die Räuber waren gewarnt und gingen entsprechend 

vorsichtig zu Werke, als sie Ritter Roland von den Fesseln befreiten. 

Hermine gab einem der Räuber, die sich zurückzogen, ihr Schwert 

mit. Dann rieb sie ihre gewaltigen Hände aneinander und sah Roland 
an, als wolle sie Maß nehmen. 

»So, mein Jungchen«, sagte sie mit ihrer grollenden Stimme. »Bist 

du bereit?« 

Roland nickte benommen. Er glaubte immer noch zu träumen. 
Der weibliche Koloß hob die Hände, ballte sie, daß sich die 

Armmuskeln spannten und setzte sich in Bewegung. 

Roland stellte sich zum Kampf. 
Es blieb ihm nichts anderes übrig. 
Er wartete angespannt, bis die gewaltige, gepanzerte Dame heran 

war, ausholte und zuschlug. Der Hieb hätte ihn vermutlich aus den 
Stiefeln gehoben, und er wäre womöglich am Berghang gelandet, 
wenn die Faust getroffen hätte. 

Doch Roland wich gedankenschnell aus, und die Faust zischte ins 

Leere. 

Roland hatte nicht vor, abzuwarten, bis  ihn irgendwann mal die 

Faust der Riesendame traf und damit den Kampf beenden würde. Er 
war entschlossen, selbst etwas zu unternehmen, um Hermines 
Schlagkraft zu vermindern. 

Gewandt drehte er sich und packte Hermines gewaltigen Arm mit 

beiden Händen. 

Das war ein Fehler. 
Bevor Roland wußte, wie ihm geschah, hatte sich Hermine um ihre 

Achse gedreht und wollte ihn von sich schleudern. 

Roland hielt sich an dem Arm fest. Er wollte nicht durch die 

Gegend fliegen. Doch da schlug Hermine mit der freien Hand zu, 
und Roland mußte loslassen. 

Hermine war mit ihren gigantischen Massen und dem schweren 

Busenpanzer erstaunlich behende. Sie drehte sich schnell, und 

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Roland flog durch die Luft. 

Er hörte das Johlen der Räuber, Hannes begeistertes Lachen, und 

dann landete er. Er schrammte in seinem unfreiwilligen Schwung 
durch Dreck und über einen Grasstreifen. 

Er fühlte sich recht mitgenommen und kläglich. 
Hanne feuerte Hermine lautstark an. Rupert lachte vergnügt. 
Roland wünschte sie alle in den tiefsten Winkel der Hölle. Er 

spuckte Staub aus und rappelte sich auf. 

Hermine hatte die Hände in die Seiten gestemmt und blickte zu 

ihm. Roland glaubte eine Spur von Mitleid in ihren blauen 
Kulleraugen zu entdecken. Doch was nutzte das schon? 

Als er auf den Beinen war, lächelte Hermine fast gutmütig, streckte 

eine Hand aus und winkte ihm. 

»Komm, Jungchen, das war nur eine Kostprobe! Komm zu 

Herminchen!« 

Auf diese Einladung hätte Ritter Roland nur zu gern verzichtet. 
Die Räuber brüllten vor Begeisterung. Doch bei Roland wollte 

keine  Fröhlichkeit aufkommen, so lustig der Kampf auch für die 
Zuschauer aussehen mochte. Roland hätte lieber gegen einen 
feuerspeienden Drachen oder gegen sämtliche versammelten Räuber 
gekämpft als gegen diese Hermine. 

Sie erwartete ihn mit erhobenen Fäusten. 
Er fintierte, und als sie darauf hereinfiel, warf er sich gegen ihre 

Beine. Es war ihm klar, daß er bei einem Schlagabtausch keine 
Chance hatte. Es mußte ihm gelingen, sie von den Beinen zu 
bekommen. Im Kampf am Boden war sie in dem Busenpanzer 
schwerfällig und unbeholfener. 

Er prallte gegen ihre Beine und hätte jeden Mann umgerissen. 

Doch nicht Hermine. Sie stand da wie ein Fels und schwankte nicht 
einmal. 

Roland rollte sich schnell von ihr fort, bevor sie ihn packen konnte. 

Sie hätte nach ihm treten können, als er da vor ihren Füßen lag, doch 
das tat sie nicht. 

Das war ein fairer Zug von ihr, doch Roland konnte sich kaum 

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darüber freuen. Denn Hermine stampfte auf ihn zu, und ehe er 
aufspringen konnte, packte sie ihn. 

Sie hob ihn mit beiden Armen hoch und stemmte ihn über ihr 

Haupt. Beinahe mühelos sah das aus. 

Sie pumpte ihn ein paarmal auf und . ab, und dann ließ sie ihn 

fallen. 

Er prallte dumpf zu ihren Füßen auf. 
Alle außer Roland und Louis waren außer Rand und Band vor 

Begeisterung. Schließlich war es das erste Mal, daß Hermine ihre 
Kraft zeigen konnte. Keiner der Räuber hatte sich bisher als 
Trainingspartner zur Verfügung gestellt, was nur verständlich war. 

Hermine hob in Siegerpose die enormen Hände und nahm lächelnd 

die Ovationen hin. 

Roland hatte das Gefühl, sich sämtliche Knochen gebrochen zu 

haben. Er rang um Atem, während Hermine kaum Anstrengung 
anzumerken war. Ihre Pausbacken waren nur ein bißchen gerötet. 

Roland wartete nicht ab, bis Hermine ihm auf ihre Art wiederum 

hochhalf. Er umschlang mit beiden Händen Hermines 
Baumstammbeine und riß daran. 

Hermine sonnte sich offenbar noch zu sehr in dem Beifall und war 

von dieser Attacke zu überrascht, um die Balance zu halten. Mit 
einem quiekenden Laut stürzte sie, und der Boden erzitterte, als sie 
aufprallte. Vermutlich wuchs an dieser Stelle kein Gras mehr. 

Roland war jetzt von grimmiger Entschlossenheit erfüllt. Man hatte 

ihm diesen Kampf aufgezwungen, und er wollte sich nicht von dieser 
Riesendame plattmachen lassen. Er  wußte, daß er kaum noch einmal 
eine solche Chance bekommen würde. So setzte er nach. 

Doch Hermine reagierte schneller, als Roland erwartet hatte. Sie 

lag auf dem Rücken, und als Roland auf sie zusprang, breitete sie die 
Arme aus, umschlang ihn und zog ihn auf sich. 

Fast wie eine Liebende, die ihren Galan an die Brust nimmt, so sah 

es für die Zuschauer aus. 

Für Roland sah es anders aus. Diese Hermine war keine Liebende, 

und er war kein Galan. Und auf ihrem gewaltigen Busenpanzer mit 

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den vorstehenden Ausbuchtungen war es alles andere als angenehm. 
Zudem umklammerte Hermine ihn, als wollte sie ihn erdrücken. 

Roland blieb die Luft weg. 
Und auch Louis stockte der Atem. 
Denn Hermine würgte jetzt den Ritter. 
Der Knappe schluckte und starrte entsetzt. Hermine hatte die 

Hände um Rolands Hals gelegt und drehte sich jetzt mit ihm. 

Fassungslos und vor Angst wie betäubt starrte Louis hin. 
Der Knappe hatte zuvor keine Angst um sein eigenes Leben 

gehabt. Zunächst jedenfalls nicht. Er hatte gewußt, daß die Mädchen 
mit den Pfeilen absichtlich danebenschießen würden. Stunden hatten 
sie als gemeinsame Gefangene in der Hütte verbracht und Pläne 
geschmiedet. Louis vertraute jedem der Mädchen. Und alle drei 
hatten ihm verstohlen zugezwinkert, bevor sie den Pfeil auf die 
Sehne gelegt hatten. Nur die Blonde  - Gudrun hieß sie  - hatte ihn in 
ihrer Aufregung beinahe getroffen. Deshalb war sie so entsetzt 
gewesen und hatte die Hände vors Gesicht geschlagen. Louis war es 
nach Gudruns Beinahe-Treffer recht mulmig gewesen, als dann die 
nervöse kleine Schwarzhaarige an der Reihe gewesen war. Doch 
auch sie hatte ihre Sache gut gemacht, obwohl sie gewußt hatte, 
welche Strafe sie bekommen würde. 

Dann hatte Louis noch bange Augenblicke ausgestanden, denn er 

hatte damit rechnen müssen, daß Hanne selbst ihn tötete. 

Jetzt war Louis' Angst größer als die, die er zuvor ausgestanden 

hatte. Die Angst um Ritter Roland hielt ihn im Griff. 

Hermine, dieses verdammte Monsterweib, würgte den Ritter! 
Sie zwang ihn halb unter sich, nagelte ihn mit ihren gigantischen 

Schenkeln förmlich am Boden fest, und ihre Hände lagen um seinen 
Hals. 

Das mußte das Ende sein. 
Louis schloß entsetzt die Augen. Ein Schauder überlief ihn. Er 

konnte den Anblick nicht länger ertragen. 

Hanne und die Räuber dagegen starrten fasziniert. Sie glaubten 

ebenfalls an Ritter Rolands Ende. 

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Sie hatten schließlich nicht hören können, was Roland gehört hatte. 
Als Hermine ihn an ihren gepanzerten Busen gezogen hatte, als 

wollte sie ihn zerquetschen, hatte Roland ebenfalls gedacht, es sei 
aus mit ihm. Verzweiflung hatte ihn erfaßt. 

Doch dann hatte ihm Hermine mit plötzlich seltsam sanfter Stimme 

zugeflüstert: »Keine Angst, mein Lieber, ich tue dir nichts!« 

Roland hatte es zunächst kaum glauben können. Denn Hermines 

Umklammerung strafte ihre Worte Lügen. 

Dann hatte er ihr Lächeln gesehen, und zum ersten Mal war ihm 

richtig klargeworden, daß das Gesicht dieser Riesendame etwas 
Liebes hatte. 

»Wir müssen diese verdammte Bande täuschen«, hatte Hermine 

ihm zugeflüstert. »Nur so lassen sie dich und den anderen am Leben. 
Also tu, was ich dir sage und laß dich besiegen.« 

Und damit hatte sie den verdutzten Roland am Hals gepackt und 

sich mit ihm gedreht. 

Sie drückte ihn jetzt mit ihrem Schenkel zu Boden und massierte 

ihn mit wilden Bewegungen am Hals. Für die Zuschauer mußte es 
aussehen, als würgte sie ihn. 

Dabei flüsterte sie: »Bist du wirklich ein Ritter, wie Hanne sagte?« 
Roland nickte, und es sah aus, als bäumte er sich in Hermines 

Würgegriff auf. 

»Du bist mir ein prächtiges Mannsbild«, raunte Hermine und 

errötete. Nicht vor Anstrengung, wie die Zuschauer dachten. »Dich 
möchte ich mal in den Armen halten, wenn ich  nicht gepanzert bin 
und wenn uns keiner zuschaut. Nun, vielleicht haben wir noch 
Gelegenheit dazu.« 

Darauf mochte Roland gern verzichten, doch er sagte es nicht. 

Tiefe Dankbarkeit erfüllte ihn, daß Hermine ihn nicht ernsthaft 
würgte. 

»Du bist die stärkste Frau, die ich je erlebt habe«, hörte er sich 

sagen. »Du hättest mich besiegt.« 

»Ach, laß die Komplimente. Du hast dich ja gar nicht richtig 

gewehrt, weil ich eine Dame bin.« Doch in ihren Kulleraugen stand 

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ein glückliches Leuchten. Aber schnell verlor es sich, und ihre 
Augen blickten traurig. »Lieber wäre ich klein und schwach«, sagte 
sie leise. »Dann hätte ich einen Mann und brauchte nicht zur 
Belustigung der Leute auf dem Jahrmarkt aufzutreten. Aber lassen 
wir das. Du mußt jetzt den Bewußtlosen spielen! Keine Sorge, alles 
andere erledige ich mit Hanne.« 

Roland schloß die Augen. Hermine packte ihn noch einmal fester 

mit beiden Händen, riß ihn etwas hoch und schüttelte ihn. Dann ließ 
sie ihn los, und Roland spielte so sehr den Bewußtlosen, daß er 
vergaß, sich zu versteifen. So schlug er schmerzhaft mit dem 
Hinterkopf auf, und es fehlte wirklich nicht viel zur Bewußtlosigkeit. 

»Der ist hin!« röhrte Hermine triumphierend. 
Roland bewunderte Hermine. Ihre Worte zuvor und der traurige 

Ausdruck ihrer Augen hatten ihn tief bewegt. Es war ihm, als hätte er 
einen Blick in ihre Seele getan, und er hatte gespürt, wie empfindsam 
und weich und lieb diese Hermine trotz ihrer gigantischen Gestalt 
und Körperkraft war. Sie hatte von Anfang an nicht vorgehabt, ihm 
ernsthaft Schaden zuzufügen. Sie hatte perfekt geschauspielert. 

In diesem Augenblick erkannte er, daß er Hermine mochte. Ja, er 

mochte sie aus tiefstem Herzen. Es kam nicht auf das Äußerliche an, 
sondern auf den Kern eines Menschen. 

Da war diese schöne, rothaarige Hanne. Eine betörende Hülle um 

einen faulen Kern. 

Auch Hermine hatte rotes Haar. Sie , war keine Schönheit, doch ihr 

Kern war gut. Und nur das zählte ... 

Louis ahnte nichts von Rolands Gedanken. Er erschauerte, als er 

Hermines Worte hörte. Er schaute zu Rolands regloser Gestalt, und 
alles verschwamm vor seinen Augen. Es waren Tränen, die seinen 
Blick trübten. 

Der Ritter tot, erwürgt vor seinen Augen! 
Louis hatte das Gefühl, sich übergeben zu müssen. Er konnte es 

noch nicht fassen. 

»Tot?« fragte Hanne kalt und wie beiläufig, als wollte sie sich nur 

vergewissern. 

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»Quatsch«, erwiderte Hermine, und Roland spürte, wie der Boden 

unter ihm erzitterte, als sie davonstampfte. »Was hätte ich davon 
gehabt, ihn nach kurzem Kampfe umzubringen? Ich werde meine 
Technik an ihm noch weiter vervollkommnen. Schenk ihn mir als 
Übungspartner, und den da auch.« 

Sie wies zu Louis hin, der sie anstarrte wie ein Fabeltier und noch 

nicht glauben konnte, was er gehört hatte. 

»Er ist zwar auch ein bißchen mickerig für mich«, fuhr Hermine 

fort, »aber vielleicht wehrt er sich ebenfalls ein bißchen. Morgen 
werde ich mal gegen die beiden zusammen kämpfen. Laßt sie 
ausschlafen und gebt ihnen gut zu essen, damit sie mir nicht gleich 
umfallen.« 

Louis begriff, daß Ritter Roland tatsächlich lebte, und er hätte 

jubeln mögen. Der Knappe schämte sich plötzlich seiner Tränen. 
Verstohlen wischte er sie mit den gefesselten Händen fort. 

Und noch einem war ein Stein vom Herzen gefallen. 
Pierre. 
Er hatte alles mitangesehen. 

Regen prasselte auf das Dach der Hütte. Blitze zuckten über den 
dunklen Himmel und tauchten den Talkessel in gespenstisches Licht. 
Dumpf grollte der Donner in den Bergen. 

Der Teufel feierte ein wildes Fest. 
Roland hockte mit Louis in einer Kammer der Hütte. Sie waren an 

Händen und Füßen gefesselt. Nebenan spielten die Wächter Karten. 
Von Zeit zu Zeit waren Flüche oder Gelächter gedämpft durch die 
Trennwand zu hören. 

Dank Hermine hatte es eine Gnadenfrist für Roland und den 

Knappen gegeben. Noch lebten sie, und vielleicht gab es beim 
nächsten Schaukampf mit Hermine eine Chance. Roland bedauerte, 
daß man ihn und Louis nicht zu den weiblichen Gefangenen gesperrt 
hatte. Dann hätte er sich mit Hermine und den anderen absprechen 

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können. 

Roland dachte mit schwerem Herzen an Ingrun, das 

Köhlermädchen, und an die anderen Gefangenen, die Erwin in seiner 
Gewalt hatte. 

Morgen abend lief die Frist ab. 
Und er konnte nichts tun! 
Verzweifelt bäumte er sich in den Fesseln auf. Es war vergebens. 
»Ob wir morgen tatsächlich gegen dieses verdammte Monsterweib 

kämpfen müssen?« fragte Louis. 

»Sie ist kein verdammtes Monsterweib«, widersprach Roland. »Sie 

hat ein goldenes Herz. Und sie ist unsere Verbündete.« 

Er hob lauschend den Kopf. Da war außer dem monotonen 

Trommeln des Regens ein anderes Geräusch gewesen. Er blickte 
zum Fenster, und seine Augen weiteten sich. 

Da draußen stand jemand und starrte herein. Ein kaum 

wahrnehmbarer Schatten in der Dunkelheit und dem Regenschleier. 

»Ein weiterer Schaukampf ist doch nichts als ein Aufschub«, 

murmelte Louis. »Ewig kann sie damit den verdammten Rupert und 
diese Hexe nicht hinhalten. Irgendwann wird denen das zu 
langweilig, und sie bringen uns um. Ich sage dir, uns kann nur noch 
ein Wunder retten.« 

Roland hörte nicht hin. Er lauschte angespannt. Der  Schatten war 

längst verschwunden. Nur das Rauschen des Regens und entfernter 
Donner waren zu hören. 

Ob er sich getäuscht hatte? Vielleicht hatte ihm die Phantasie einen 

Streich gespielt. 

»Ein Verrückter, der Frauen als angebliche Hexen verbrennen 

will!« fuhr Louis fort, und wenn seine Hände nicht gefesselt gewesen 
wären, hätte er sich vermutlich die Haare gerauft. So klang es 
jedenfalls. »Und eine Verrückte, die Frauen zu Kriegerinnen machen 
und mit ihnen in einen Kreuzzug gegen die Männer ziehen will. Ich 
werde noch irre unter diesen Irren!« 

Roland sah angespannt zum Fenster. Da war nur Dunkelheit. 

Enttäuscht senkte er den Blick. Was hatte er erhofft? Die gefangenen 

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Mädchen wurden ebenfalls bewacht, und von außerhalb war keine 
Hilfe zu erwarten. Außer Erwin und seinen Räubern wußte ja 
niemand von dem Versteck ... 

»Das Ganze ist so verrückt, daß uns das niemand glauben wird«, 

sagte Louis. 

Roland seufzte. »Wahrscheinlich werden wir es niemandem mehr 

erzählen können, es sei denn, es gelingt uns mit Hermines Hilfe 
...»Er verstummte, und sein Kopf ruckte herum. Da war wieder eine 
Bewegung am Fenster, und im Schein eines Blitzes war für einen 
Augenblick ganz deutlich eine schwarze Silhouette zu sehen ge-
wesen. »Wenn  wir wenigstens...»begann Louis. »Still«, unterbrach 
ihn Roland. 

Jetzt bemerkte auch Louis den Schatten. 
Dann schwang das Fenster auf, und das Rauschen des Regens 

drang lauter herein. Der Wind fauchte und wirbelte Regentropfen in 
die Hütte. 

Eine Gestalt stieg durch das Fenster. 
»Roland, Louis?« wisperte der Schatten. 
Dem Ritter und dem Knappen stockte der Atem. 
Es war Pierre. 
Er trug einen Schlapphut und war völlig durchnäßt. 
»Wie kommst du her?« flüsterte Roland. 
Pierre tastete im Dunkel bereits nach den Fesseln. Während er 

Rolands Fesseln durchschnitt, berichtete er. 

»Der Verräter hat mir alles verraten«, raunte er. »Ich habe ihn gut 

verschnürt und versteckt, damit er seine Bande nicht alarmieren oder 
Rupert und seine Männer warnen kann. Ich hab' euch von  oben 
beobachtet und sah den irren Kampf gegen diese riesige Madame. 
Ich sah auch, wie sie euch hier reinbrachten. Wir wollten bis zum 
Abend warten, doch da begann das Gewitter. So kletterte ich jetzt 
schon über den Berg hinab.« 

Roland rieb sich die Gelenke. Pierre glitt bereits zu Louis, um auch 

ihn von den Fesseln zu befreien. »Welche anderen?« fragte Roland 
leise. »Vorsicht, nebenan sind Wachen.« 

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»Auch das weiß ich. Treibe mich schließlich schon einige Zeit hier 

herum. Und wie ich schon sagte, Winfried hat mir alles erzählt. Ein 
recht gesprächiger Knabe. Man muß ihn nur richtig zum Plaudern 
ermuntern.« Er lachte leise. »Nun, mir war klar, daß ich allein nichts 
unternehmen konnte. So holte ich Hilfe. Es sind zwar nur fünf Leute, 
die ich aus dem nächsten Ort aufgetrieben habe, aber das ist besser 
als gar nichts. Ich habe ihnen eine hohe Belohnung versprochen. Wir 
haben Schwerter und Messer dabei. Und bei diesem Unwetter treiben 
sich nur zwei Wachen am Tor herum.« 

Hinter der Trennwand fluchte einer der Kartenspieler, weil er 

verloren hatte. Ein Stuhl wurde gerückt, und Schritte waren zu hören. 

»Ich hole die Schwerter«, flüsterte Pierre und huschte auf 

Zehenspitzen zum Fenster. Er kletterte schnell hinaus und schloß das 
Fenster. Gerade noch rechtzeitig, denn einer der Räuber öffnete die 
Tür. Ein trüber Lichtstreifen fiel in den dunklen Raum. Der Räuber 
blickte zu den Gefangenen. Viel konnte er außerhalb des 
Lichtstreifens nicht sehen, nur die dunklen Umrisse zweier Gestalten. 
Roland und Pierre hatten sich hastig die Lederriemen über die 
Gelenke gestreift und sich hingelegt. 

»Sie pennen«, sagte der Räuber über die Schulter. »Ich lege mich 

jetzt auch was auf den Sack. Der verdammte Regen macht einen 
hundemüde. Weckt mich, wenn wir abgelöst werden.« 

Die Tür klappte zu. Schritte entfernten sich. 
Bald darauf tauchte Pierre wieder auf. Er hatte für Roland und 

Louis Messer und Schwerter mitgebracht. Dann besprachen sie ihren 
Plan. 

Rupert saß am Kamin und starrte ins Feuer. Von neuem stiegen die 
grauenvollen Bilder der Vergangenheit vor ihm auf. Der Schein der 
Flammen zuckte über seinen Totenkopfschädel. Die schwarzen 
Augen schienen zu glühen. Seine ineinanderverschränkten knochigen 
Finger bewegten sich krampfhaft. 

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Die Flammen der brennenden Buchenscheite schienen Gestalt 

anzunehmen. Die Gestalt einer Frau. 

Seine blutleeren Lippen bewegten sich, formten Worte. 
»Elsbeth ... Elsbeth ... bald ist es soweit...« 
Elsbeth blickte ihn unendlich traurig an. »Damit machst du mich 

nicht wieder lebendig«, glaubte er sie sagen zu hören. 

»Doch, es wird alles wieder gut«, wisperte er. »Ich werde dich 

rächen.« 

Sie schüttelte den Kopf, und plötzlich verschwamm ihr Gesicht vor 

seinen Augen und schien sich in den Flammen aufzulösen. 

So wie damals ... 
Ein stöhnender Laut drang über seine Lippen. 
Es war ihm, als wehte ein kalter Hauch in den Raum. Der Wind 

fauchte im Kamin. Das Holz knackte, und die Flammen schienen 
höher und höher zu schlagen. 

So wie damals ... 
Rupert starrte in das züngelnde Feuer und nahm nichts sonst um 

sich herum wahr. 

Er wußte nicht, daß er die Worte vor sich hinsprach. 
»Sie haben Elsbeth verbrannt ... meine Elsbeth. Als Hexe! Sie hatte 

absonderliche Ideen, zugegeben, doch sie war keine Hexe. Sie hatte 
schlimme Kindheitserlebnisse. Ein Mann hat ihre geliebte Mutter vor 
ihren Augen getötet. Damit ist sie nicht fertig geworden. Deshalb hat 
sie die Männer gehaßt, deshalb wollte sie sie vernichten. Sie war wie 
ein verwirrtes Kind. Nein, sie war keine Hexe. Die wahren Hexen 
leben noch, und meine Elsbeth ist tot. Doch ich werde sie 
zurückholen ... am 11., ihrem Todestag. An diesem Tag werden die 
anderen Hexen sterben. Einunddreißig Hexen. Genau so viele, wie 
damals zugesehen haben ...« 

»Du bist wahnsinnig!« sagte eine Stimme hinter ihm. 
Er hörte es nicht. 
Erst als sich etwas in seinen Rücken bohrte, erwachte er aus 

seinem tranceähnlichen Zustand. 

Er zuckte zusammen, und sein Kopf ruckte herum. 

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Roland stand hinter ihm und drückte ihm ein Schwert in den 

Rücken. 

»Mistwetter«, sagte Arthur und zog die Plane weiter über seinen 
Kopf. 

Die Plane war entschieden zu klein für zwei Mann, und der Regen 

tropfte auf Arthurs Hose und sickerte in die Stiefel. 

Prompt zog Eugen, der zweite Wachtposten, wieder an der Plane. 

Wasser, das sich in einer Falte angesammelt hatte, schwappte gegen 
Arthurs Schulter. 

Arthur und Eugen waren gute Freunde, doch im Augenblick drohte 

ihre Freundschaft unter den Wetterwidrigkeiten einen Knacks zu 
bekommen. 

»Paß auf, du Blödmann!« knurrte Arthur und riß die Plane wieder 

an sich. »Das war meine Idee. Besorg dir selbst 'nen Schirm!« 

»Woher nehmen?« fragte Eugen. 
»Dein Problem.« 
»Du warst schon immer ein egoistischer Schweinehund«, sagte 

Eugen ärgerlich. »Ich erinnere nur an die Sache in Waffenbrunn. Ich 
hab' dir mein letztes Hemd gegeben, und du wolltest nicht mal deine 
Freundin mit mir teilen.« 

»Mußt du denn immer diese alten Dinger aufwärmen«, erwiderte 

Arthur gereizt. 

»Ja, verdammt, mir ist es kalt und ich fühle mich wie eine 

Kaulquappe.« 

»Wie fühlen die sich denn?« 
»Naß«, erwiderte Eugen trocken. 
Arthur lachte. Widerwillig überließ er Arthur ein Stückchen von 

der Zeltplane und rückte etwas näher an ihn heran. 

»Du, ich hab' 'ne Idee«, sagte er nach einer Weile. 
»Laß hören.« 
»Ist doch eigentlich Blödsinn, daß wir hier vor dem Tor hocken 

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und Wache schieben. Wir könnten es uns doch einfach in der Höhle 
bequem machen.« 

»Befehl ist Befehl«, gab Eugen zu bedenken. 
»Bei diesem Wetter kontrolliert uns keiner, und es kommt auch 

bestimmt niemand«, sagte Arthur. 

In diesem Punkt irrte er. 
Sie waren nämlich schon da. 
Eugen erschrak, als wie aus dem Nichts ein Schatten vor ihm 

auftauchte und auf ihn zusprang. 

»Kein Laut, oder ...« 
Doch es war schon zu spät. Eugen konnte seinen Aufschrei nicht 

mehr unterdrücken. Zum Glück war nicht viel von dem Schrei zu 
hören, denn der Schatten schlug zu, und der Schrei verstummte im 
Ansatz. 

Arthur hatte unter der Plane nicht viel mitbekommen. Der Regen 

trommelte eine wilde Melodie. Doch als Eugen vornüber sank und 
freiwillig auf den Schutz der Plane verzichtete, spürte Arthur, daß da 
etwas nicht stimmen konnte. 

Alarmiert zog er die Plane ein wenig zur Seite und wollte durch 

den Regen spähen. 

Er sah noch eine schemenhafte Bewegung, dann glaubte er von 

Donner und Blitz getroffen zu werden. Doch es waren nicht Donner 
und Blitz, sondern es war ein Keulenhieb, der sein Bewußtsein 
auslöschte. 

Der Mann, der ihn niedergeschlagen hatte, wischte sich Regen vom 

Gesicht und stieß einen Eulenruf aus. 

Von den Hütten her antwortete ein anderer Eulenschrei. Ein 

ziemlich seltsamer. 

Eine richtige Eule, die hoch oben am Berg Schutz vor dem Regen 

gesucht hatte, blinzelte überrascht ob der seltsamen Artgenossen. 

Nun, dachte sie, da wird sich jemand erkältet haben. Kein Wunder 

bei diesem Sauwetter. Dann schloß sie wieder die Augen. Sie wollte 
für die nächtliche Jagd ausgeschlafen sein. 

Die Eule, die vom Lager her geantwortet hatte, war Louis. Er hatte 

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im Schatten einer Hüttenwand auf das Signal gewartet. 

Die Wachen am Tor waren also ausgeschaltet. Louis konnte es 

wagen, die freie Fläche zwischen den Hütten zu überqueren, ohne 
von ihnen gesehen zu werden. 

Er hastete los. 
Sein Ziel war die Hütte, in der sich Hanne aufhielt. Pierre hatte sie 

darin verschwinden sehen. 

Der Plan sah vor, daß sie zunächst die Köpfe der Bande 

schnappten  - Rupert und Hanne. Falls es dann nicht gelingen sollte, 
die anderen Räuber zu überrumpeln, hatten sie ein doppeltes 
Faustpfand. 

Alle hatten einen bestimmten Auftrag übernommen. Zwei von 

Pierres Helfern, die sich  über den östlichen Berg abgeseilt hatten, 
schalteten die beiden Wachtposten am Tor aus. Pierre und die 
restlichen sollten sich um die Bewacher der gefangenen Mädchen 
kümmern und das Quartier der Räuber im Auge behalten. Es war 
inzwischen spät, und sie hofften, daß sie die Mehrzahl der Räuber im 
Schlaf überraschen konnten. 

Roland übernahm Rupert. 
Jetzt wird er den Hundsfott schon überrascht haben, dachte Louis, 

als er vorsichtig durch das Fenster in Hannes Hütte spähte. 

Ja, Ritter Roland hatte Rupert überrascht. 

Rupert wurde stocksteif auf seinem Stuhl am Kamin. 
»Was soll das?« fragte er mit brüchiger Stimme. 
»Das fragst du noch? Das Spiel ist aus! Ein Laut von dir, und es ist 

dein letzter!« 

Das war ein Bluff. Roland wollte den Mann lebend. Er verzichtete 

auch darauf, ihn niederzuschlagen. Falls nicht alles lautlos und 
reibungslos klappte, brauchte er Rupert als Geisel. Mit dem Messer 
an der Kehle würde Rupert seinen Räubern schon die richtigen 
Befehle geben. Roland und die anderen wußten, welche Risiken ihr 

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Plan barg. Die Räuber hatten ja viele Gefangene. Sie konnten den 
Spieß umdrehen, sich Mädchen als Schutzschilde schnappen und 
freien Abzug verlangen. Roland hatte mit den Knappen überlegt, ob 
sie nicht abwarten und weitere Verstärkung holen sollten. Doch das 
dauerte zu lange, und diese Regennacht war günstig. So hatten sie 
sich entschlossen, es jetzt zu versuchen. 

»Niemals kommst du hier lebend weg«, sagte Rupert mit tonloser 

Stimme. 

»Das laß mal meine Sorge sein«, erwiderte Roland. »Denk lieber 

an dein Leben. Steh auf!« 

Rupert gehorchte. Langsam erhob er sich. Seine Haltung war 

gebeugt, und ein ächzender Laut kam über seine dünnen Lippen. Er 
wirkte wie ein gebrochener Mann. Schwer stemmte er sich mit einer 
Hand auf die Stuhllehne. Seine Finger krampften sich um die 
Stuhllehne, daß die Knöchel weiß hervortraten. 

Dann handelte er. Trotz des Schwertes an seinem Rücken. 
Und er war unglaublich schnell. 
Er wirbelte herum und schleuderte aus der Drehung heraus den 

Stuhl gegen Roland. 

Zu überraschend war die Attacke für Roland. Er konnte nicht mehr 

ausweichen. Der Stuhl krachte gegen ihn und prellte ihm das Schwert 
aus der Hand. Schmerzen stachen durch Rolands Handgelenk. Er 
taumelte zurück und kämpfte um sein Gleichgewicht. 

Rupert verlor keine Sekunde. Er wußte, daß er nicht an sein 

eigenes Schwert heran konnte, das neben seinem Lager lag. Und es 
war ihm klar, daß er Roland nicht in offenem Zweikampf gewachsen 
war. Er sah, wie Roland sich abfing und sich nach seinem Schwert 
bückte. Da raffte er einen halb brennenden Holzscheit aus dem 
Kamin. 

Roland riß das Schwert hoch. 
Rupert schleuderte den Holzscheit wie eine Keule. 
Funken sprühten und blendeten Roland. Er hatte sich noch 

geistesgegenwärtig geduckt, doch der brennende Scheit streifte ihn 
noch an der Schläfe. Funken sengten sein Haar an und brannten auf 

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seiner Haut. 

Rupert nutzte Rolands kurze Benommenheit. Er hetzte zum 

Fenster, denn Roland blockierte ihm den Weg zur Tür. 

»Alarm!« brüllte er mit sich überschlagender Stimme. »Alarm!« 
Bei diesem Schrei brach in dem Räuberlager die Hölle los, und der 

kleine Talkessel wurde zu einem Hexenkessel. 

Pierre fluchte. Er hatte sich gerade mit zwei anderen Männern an die 
Wachtposten angeschlichen, die unter dem Vordach der Hütte 
kauerten, in der ein Teil der Mädchen gefangengehalten wurde, 
Hannes »Kerntruppe«, wie sie sie nannte. Auch diese Mädchen 
wurden bewacht, ein Zeichen, daß Hanne ihnen noch nicht ganz 
vertraute. 

Dann hallte der Alarmschrei durch das Lager, und sofort griffen 

die schläfrigen Burschen zu ihren Schwertern und Lanzen. 

Es war für Pierre und seine Helfer schon zu spät, um in Deckung 

zu gehen. Die aufgeschreckten Kerle hatten sie schon bemerkt. 

»Auf sie!« brüllte einer von ihnen. 
Pierre und den beiden anderen blieb nur die Flucht nach vorn. 
Sie stellten sich zum Kampf. Hell klirrten die Schwerter, und 

Schreie gellten durch das Rauschen des Regens. 

Räuber stürmten aus ihrem Quartier. Einige waren aus dem Schlaf 

gerissen worden  und trugen nur ihr Unterzeug. Aber irgendeine 
Waffe hatten sie alle ergriffen. 

Ein wildes Durcheinander entstand. In der Dunkelheit und im 

Regen war es schwierig, Freund und Feind voneinander zu 
unterscheiden. So schlug einer der Räuber einen Kumpan hinterrücks 
mit einer Keule nieder, der gerade Pierre angreifen wollte. Röchelnd 
brach der Räuber zusammen. Pierre bedankte sich bei seinem 
unfreiwilligen Helfer, indem er ihn mit der Klinge von den Beinen 
fegte. 

Schon stellte sich der Knappe einem weiteren Gegner. 

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Pierre dachte in Sorge an Ritter Roland und Louis. Es mußte bei 

ihnen etwas schiefgegangen sein. 

Und dann geschah etwas, was niemand einkalkuliert hatte. Die Tür 

der Hütte flog auf, und Mädchen stürmten heraus. Pierre glaubte 
schon, sie wollten in Panik flüchten, doch das erwies sich als Irrtum. 
Er erkannte es, als sich ein keineswegs  zarter  Frauenarm von hinten 
um seinen Hals legte und ihn mit einem Ruck von seinem Gegner 
fortriß. 

Pierre war von diesem unerwarteten Angriff zu überrascht. Er 

stolperte zurück, rutschte auf dem schlammigen Boden aus und 
setzte sich unsanft auf den Hosenboden  - mitten in eine Regenpfütze. 
Matsch und Wasser spritzten auf. 

Im nächsten Augenblick waren zwei Mädchen über ihm, und 

Pierre hatte das Gefühl, unter die Wölfe gefallen zu sein. Sie 
kreischten schaurig, eine zog ihm ihre Fingernägel durchs Gesicht, 
und eine andere schlug höchst undamenhaft mit den Fäusten auf ihn 
ein. 

Das konnte doch nicht wahr sein! 
Er wehrte sich und brüllte: »Ihr habt den Falschen erwischt  - ich 

will euch befreien!« 

»Nieder mit den Männern!« schrie eines der Mädchen mit schriller 

Stimme, und andere nahmen den Schlachtruf auf. 

»Nieder mit den Männern! Nieder mit den Männern!« schallte es 

in Pierres Ohren; Das Chaos war perfekt. Mädchen stürzten sich auf 
Räuber und gleichermaßen auf die Männer, die als ihre Befreier 
gekommen waren. Die entfesselten Mädchen kämpften mit bloßen 
Händen und mit Keulen und Schwertern, die sie an sich gerissen 
hatten. 

Pierre schaffte sich zwei der Mädchen vom Hals. In dieser 

Situation vergaß er, wie sich ein Kavalier Damen gegenüber 
benimmt. Das waren nämlich keine Damen. Das waren Furien. 

»Nieder mit den Männern!« 
Der Schlachtruf hallte in Pierres Ohren. Dann hallte etwas anderes. 

Ein Keulenhieb traf Pierre,  und er glaubte, ein gewaltiger Gong 

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würde in seinem Schädel geschlagen. Sterne schienen vor seinen 
Augen zu zerplatzen, obwohl dunkle Wolken Mond und Sterne 
verdeckten. 

Wäre ich doch nur in Camelot geblieben! dachte Pierre noch. Dann 

sank er vornüber und nahm nichts mehr wahr. 

So entging ihm, daß inzwischen auch Mädchen gegen Mädchen 

kämpften. Auch die anderen Gefangenen, von Hanne als noch 
»Unwürdige« bezeichnet, beteiligten sich an dem Kampf. Ihre 
Bewacher waren ihren Kumpanen zu Hilfe geeilt, und der Fluchtweg 
war frei. Einige der Mädchen hetzten in Panik durch den Talkessel 
zum Tor, doch andere griffen in den Kampf ein. 

Das war Hermines Verdienst. Sie bewies im allgemeinen 

Durcheinander nicht nur ihre Kampfkraft, sondern auch gute 
Übersicht und Organisationstalent. 

Wie ein Fels in der Brandung stand sie inmitten des wilden 

Kampfgetümmels, und ihre Kommandos übertönten den Lärm. 

»Packt euch Hannes Lieblinge!« röhrte sie. »Überlaßt die 

Haderlumpen mir!« 

Mit Hannes Lieblingen waren diejenigen gemeint, die von Hanne 

schon so beeinflußt worden waren, daß sie von ihrer Wahnidee 
angesteckt worden waren. Die »Unwürdigen« kannten sie genau. Sie 
hatten sich durch besonderen Eifer hervorgetan, und Hanne hatte sie 
ihnen stolz als gutes Beispiel präsentiert. 

Sicherlich waren sie schon etwas kampfgeübter, doch die anderen 

Mädchen waren in der Überzahl. 

Und um die Räuber brauchten sie sich tatsächlich nicht zu 

kümmern. 

Hermine wirbelte sie nur so durch die Luft. 
Sie trug jetzt keinen Brustpanzer, und ihr gewaltiger Busen wogte. 
Sie packte gerade einen der Räuber, der mit einem von Pierres 

Helfern kämpfte und gerade die Keule schwang. 

Sie hob den Mann am Wams hoch, und sein Keulenhieb traf nicht. 

Dann drehte sie sich, noch behender als bei Roland, denn der 
schwere Brustpanzer behinderte sie nicht, und sie schleuderte den 

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Räuber von sich. Der Mann fand sich an der Hüttenwand wieder und 
überlegte, wie er dorthin gekommen sein mochte. 

Hermine fegte derweil den nächsten Räuber mit einem einzigen 

Fausthieb von den Beinen. Er landete ein paar Schritte entfernt auf 
zwei Mädchen, die im Schlamm miteinander rangen und sich partout 
die Haare ausreißen wollten. 

Hermine fing einen kleinen, krummbeinigen Räuber ab, der an ihr 

vorbeiflitzen wollte. Sie zog ihn hoch bis in Höhe ihres Busens, hielt 
ihn mit einer Hand und versetzte ihm mit der anderen zwei 
schallende Ohrfeigen. 

Dann ließ sie ihn achtlos fallen und hielt nach neuen Gegnern 

Ausschau. 

Roland reagierte schnell. Der Plan war gescheitert. Draußen war die 
Hölle los. Rupert durfte nicht entkommen. 

Ihrer aller Leben stand auf dem Spiel. Er rief Rupert eine Warnung 

zu. Natürlich hörte der Kerl nicht auf ihn. Da warf Roland sein 
Schwert.  - Die Klinge traf Rupert ins Bein. Er stolperte vornüber und 
prallte gegen das j Fenster, ohne es vorher öffnen zu können. 

Die Scheibe zerklirrte, und Rupert blieb halb im Fensterrahmen 

hängen. Schreiend zerrte Rupert das Schwert aus seinem Bein. 
Roland war mit drei schnellen Sätzen bei ihm und trat ihm das 
Schwert aus der Hand. Er packte Rupert am Kragen des schwarzen 
Gewandes und zerrte ihn vom Fenster fort. 

Rupert blutete an der Stirn, und seine schwarzen Augen blickten 

glasig. Hätte Roland ihn nicht festgehalten, wäre Rupert  wohl 
gestürzt. 

Von draußen drang heftiger Kampflärm herein. 
»Nieder mit den Männern!« kreischten Frauenstimmen durch das 

Klirren von Schwertern und die Schreie Getroffener. Dann erhob 
sich Hermines grollende Stimme über allen Radau. 

Und trotz seiner Anspannung mußte Roland lächeln. Denn 

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Hermine, die Gute mit dem goldenen Herzen, teilte nicht die 
Meinung der männerfeindlichen Damen. 

Roland warf sich Rupert über die Schulter. Er hoffte den Kampf 

beenden zu können, bevor jemand ernsthaft Schaden nahm. Wenn 
die Räuber sahen, daß ihr Anführer in seiner Gewalt war, würden sie 
vielleicht einsehen, daß Rupert sie nicht mehr für ihre Dienste 
bezahlen konnte und die Lust verlieren. 

Rauch drang Roland in die Augen, und Brandgeruch stieg ihm in 

die Nase. Erst jetzt bemerkte er, daß Flammen über den Boden 
züngelten. Der brennende Holzscheit war gegen den Vorhang vor 
Ruperts Lager geflogen, der dünne Stoff war in Brand geraten, und 
schnell fand das Feuer neue Nahrung. 

Nun, Rupert brauchte die Hütte nicht mehr. 
Roland wollte mit Rupert auf dem Rücken zur Tür, doch schon 

nach einem Schritt blieb er abrupt stehen. 

Hanne war in der Tür aufgetaucht. 
Als er mit Rupert beschäftigt gewesen war, hatte er sie in dem 

allgemeinen Lärm nicht gehört. 

Sie hielt eine Lanze an der Hüfte,  und ihre entschlossene Miene 

verriet, daß sie sie auch benutzen wollte. 

Der Schein des Feuers zuckte über ihr schönes Gesicht. Die grünen 

Augen glitzerten kalt. 

»Leg ihn ab, oder du bist des Todes!« sagte sie mit gefährlich 

ruhiger Stimme und ruckte mit der Lanze. 

Roland gehorchte. Doch er wollte Rupert anders ablegen, als 

Hanne verlangte. Er wollte ihr den Kerl an den Kopf werfen. 

Doch Hanne schien seine Gedanken erraten zu haben. 
Blitzschnell wich sie zur Seite aus, und Rupert stürzte neben ihr zu 

Boden. 

Immer noch hielt Hanne die Lanze, und ihre Haltung war die eines 

geübten Landsknechtes. 

Haßerfüllt starrte sie Roland an. »Wir hätten dich gleich töten 

sollen!« zischte sie. »Aber keine Sorge, das holen wir nach!« 

Diese Sorge hatte Roland in der Tat. 

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»Ruperts Mannen und meine Kriegerinnen werden dort draußen 

alles in den Griff bekommen«, fuhr Hanne überzeugt fort. »Auch 
wenn Hermine verrückt spielt. Sie wird schon zur Vernunft kommen, 
wenn ich ihr deine Leiche zu Füßen lege!« 

Sie trat noch einen Schritt  näher. Fast berührte die Spitze der 

Lanze Rolands Bauch. Er spürte schon ein häßliches Kribbeln rund 
um den Bauchnabel. 

Zeit gewinnen! dachte er. Du mußt sie ablenken ... 
»Weshalb redest du eigentlich von Kriegerinnen?« fragte er. »Das 

ganze Spiel ist doch für die Katz, wenn ihr euren Plan in die Tat 
umsetzen und all die Mädchen am 11. verbrennen wollt, ihr 
wahnsinnigen Verbrecher!« 

Hanne war so verblüfft, daß Roland vergaß, etwas zu unternehmen. 

In diesem Augenblick war sie abgelenkt, und wahrscheinlich hätte er 
sie überrumpeln können. Doch ihre Reaktion auf seine Worte 
überraschte ihn, und dann war die Chance dahin. 

»Wer faselt so was?« fragte sie völlig verdutzt. »Meine 

Kriegerinnen verbrennen? Lachhaft! Sie werden mit mir in den 
Kampf gegen die Männer ziehen, und der Sieg wird unser sein!« 

Ein fanatisches Funkeln war in ihren Augen. 
»Sag nur, du weißt nicht, daß Rupert die Mädchen als angebliche 

Hexen verbrennen will?« fragte Roland verwundert mit einem Blick 
zu dem bewußtlosen Mann. Er hatte geglaubt, die beiden hätten alles 
gemeinsam ausgeheckt. 

Hannes Gesicht verzerrte sich. »Er will sie verbrennen?« sagte sie 

fassungslos. »Meine Streitmacht verbrennen? Aber - aber warum?« 

Weil er nicht alle Tassen im Schrank hat  - genau  wie du Närrin! 

dachte Roland. Doch er sagte es nicht. Er handelte. Als Hanne auf 
Rupert starrte, wich er zur Seite, sprang vor und packte die Lanze. 
Mit einem Ruck riß er sie aus ihren Händen. 

Hanne schrie auf. 
Dann stürzte sie sich schon auf ihn, als wollte sie ihm die Augen 

auskratzen. 

Roland wollte seine Augen behalten. Er ließ die Lanze fallen und 

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packte die rasende Frau. 

Sie gebärdete sich wie eine Furie, und zunächst hatte er ein wenig 

Mühe, sie sich vom Leib zu halten. Es widerstrebte ihm, gegen sie  zu 
kämpfen, denn sie war eine Frau, trotz allem. Doch es blieb ihm 
nichts anderes übrig. Sie trat mit dem Knie nach ihm, spuckte und 
versuchte ihn gar zu beißen. Irgend etwas stach in seinen linken Arm, 
als sie sich in der Umklammerung aufbäumte, vermutlich der Ring 
mit dem Rubin, den sie trug. 

Dann bekam er sie in den Griff. Er hielt ihre Handgelenke hinter 

ihrem Rücken fest. Er zwang sie zu Boden und riß einen Streifen von 
Ruperts Gewand ab, um die Frau zu fesseln. 

Plötzlich hatte er das Gefühl, sein Arm  sei gelähmt. Er konnte 

kaum den leichten Stoffetzen anheben. Zugleich wurde ihm die Luft 
knapp, und auf einmal verschwamm Hannes Gesicht vor seinen 
Augen. Weshalb blickte sie so triumphierend? Diese grünen Augen! 
Sie schien ihn zu hypnotisieren. Dann wurde ihm schwarz vor 
Augen. Er spürte nicht mehr, wie er auf sie sank. 

Sie schob ihn von sich. 
»Dummkopf!« zischte sie. Sie blickte auf den Ring an ihrer 

Rechten und dachte flüchtig daran, daß sie das Mittel wieder 
auffüllen mußte, das durch festen Druck eines winzigen Stachels in 
der Rubinfassung ausströmte. Es war das gleiche Betäubungsmittel, 
mit dem sie den Knappen Louis hereingelegt hatte, nur eine 
wesentlich höhere Dosis. Für Notfälle. 

Es war kaum mehr als ein Tropfen, und die Betäubung würde nicht 

lange anhalten. Daran würde er nicht sterben. 

Aber an den Flammen. 
Sie züngelten bereits bis dicht an ihn heran. 
Er würde verbrennen. 
Und ebenso Rupert. 
Dieser gemeine Verräter! Erst jetzt war ihr klar, weshalb er ihre 

Pläne immer so spöttisch abgetan hatte. Ja, Roland hatte keinen 
Grund gehabt, sie anzulügen. Es paßte alles zusammen. Rupert hatte 
sein eigenes Süppchen kochen wollen. Sie hatte gedacht, er sei ihr 

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williges Werkzeug, doch er hatte sie nur in dem Glauben gewiegt, 
damit sie ihm gefällig war. Insgeheim hatte er sich sicherlich über sie 
lustig gemacht. Ja, er hatte sie nur benutzt. Vielleicht hatte er sogar 
vorgehabt, sie am 11. November ebenfalls zu töten ... 

Sie hustete, und ihre Augen tränten vom Qualm, der von dem 

brennenden Lager herübertrieb. 

Sie warf noch einen schnellen Blick zu den beiden reglosen 

Gestalten. 

»Fahrt zur Hölle!« zischte sie. Dann eilte sie zum Fenster und 

kletterte hinaus. Sie hoffte, daß ihre Getreuen den Kampf inzwischen 
gewonnen hatten. 

Doch diese Hoffnung erfüllte sich nicht. 
Entsetzt sah sie, daß der Kampf fast entschieden war. Doch für die 

anderen. 

Hermine warf gerade einen der Räuber einem fremden Mann zu, 

der ihn auffing und neben zwei anderen ablegte, die bereits gefesselt 
waren. 

Diese Verräterin! 
Sie hatte gerade Hermine für ihre entschlossenste Mitstreiterin 

gehalten. Hermine hatte sie geschickt getäuscht. 

Hanne schluckte. Tränen traten in ihre Augen, als sie erkannte, daß 

sie ihren Plan für einige Zeit vergessen konnte. Es würde viel Zeit 
und Geld und Ausdauer kosten, bis sie von neuem eine »Kerntruppe« 
für den Kreuzzug auf die Beine stellen konnte. 

Im Augenblick blieb ihr nur die Flucht. 

Roland hörte das monotone Rauschen und glaubte unter einem 
Wasserfall zu liegen. Er nahm Brandgeruch wahr und mußte husten. 
Sein Kopf schmerzte, und er fühlte sich seltsam benommen. 
Blinzelnd öffnete er die Augen. Feuerschein blendete ihn, und er 
schloß sie wieder. 

Regen prasselte ihm ins Gesicht. 

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Ein Feuer im strömenden Regen? dachte er verwundert. Was ist 

passiert? 

Er kämpfte gegen das Schwindelgefühl an und stemmte sich auf. 

Er sah sich um. Die Hütte brannte. Flammen schlugen aus dem 
Fenster und züngelten an der Tür hinauf. Es zischte, wenn Regen-
tropfen darauf prasselten. Es bestand kaum Gefahr, daß das Feuer auf 
die anderen nassen Hütten übergriff. 

Benommen sah Roland in die Runde. Schatten hasteten durch den 

Talkessel. Einige Gestalten trugen Fackeln, und jemand gab 
Kommandos. 

»Irgendwo muß die Hexe doch stecken!« rief eine Männerstimme. 

Sie klang seltsam gedämpft herüber. 

»Los, Kinder, sucht mit! Und gebt sofort Alarm, wenn ihr sie 

entdeckt!« 

Diese Stimme war Roland vertraut. Das war das Röhren von 

Hermine. 

Dann fiel sein Blick auf eine reglose Gestalt, die nur ein paar 

Schritte von ihm entfernt vor der Hütte auf dem Boden lag. 

Rupert. 
Schlagartig setzte die Erinnerung ein. 
Er rappelte sich auf. Seine Knie waren weich und zitterten, und 

alles schien sich vor  ihm zu drehen. Ihm war übel. Der Brandgestank 
war abscheulich. Er schleppte sich zu Rupert. 

Rupert war tot. 
»Er ist zu sich gekommen«, hörte Roland Hermine rufen. Mädchen 

redeten aufgeregt durcheinander. 

Ein Mann mit einer Fackel lief herbei. Es war Louis. Keuchend 

blieb er vor Roland stehen. 

»Alles in Ordnung?« fragte er. »Es geht«, sagte Roland und 

hustete. »Wer hat mich da raus geholt?« Er nickte zu der brennenden 
Hütte hin. 

»Ich«, sagte Louis mit einem Grinsen. »Dachte mir, frische Luft 

sei das Beste für dich. Als Hanne nicht in ihrer Hütte war, suchte ich 
nach ihr. Das kostete einige Zeit, und dann mußte ich mir noch gegen 

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zwei der Lumpen den Weg zur Hütte hier freikämpfen. Zum Glück 
kam ich noch rechtzeitig, um die Kartoffeln aus dem Feuer zu holen, 
bevor sie anbrannten. Ich zog auch noch Rupert heraus, doch für ihn 
war es schon zu spät.« 

Roland wollte noch eine Reihe von Fragen stellen, doch dazu kam 

er im Augenblick nicht. Er wurde von einem Dutzend Mädchen 
umringt. Im Gegensatz zu Louis hatte er erst drei der Gefangenen 
und Hermine gesehen. Blonde, Schwarzhaarige, Brünette, Schlanke 
und Mollige umgaben ihn. Sie alle redeten durcheinander, und 
Roland verstand von ihrem Geschnatter nur einen Bruchteil. 

Sie freuten sich, daß er am Leben war. 
Nun, darüber freute er sich auch. 
Sie waren froh, daß sie gerettet waren. 
Auch Roland war froh darüber. 
Fast alle Räuber waren gefangengenommen worden. Nur Hanne 

wurde noch gesucht. Doch die Jagd war in vollem Gange. 

Hermine tauchte auf. Roland sah sie hinter den Mädchen, die sie 

alle überragte. 

»Was steht ihr hier herum und haltet Maulaffen feil«, rief sie. 

»Sucht, Kinder, sucht sie. Sie darf nicht entkommen, nach allem, was 
sie uns angetan hat.« 

Roland erinnerte sich an Erwins Frist. 
»Ist eine Gerlinde unter euch?« fragte er die Mädchen und blickte 

in die Runde. 

»Ich heiße Gerlinde.« Eine junge Frau löste sich aus dem Kreis. 

Sie war schlank und langbeinig. Ihr völlig durchnäßtes Kleid klebte 
an ihrem Körper. Ihr nasses Haar hing ihr strähnig ins Gesicht. Doch 
Roland erkannte das Gesicht wieder. Es war die Frau, deren Porträt 
ihm Erwin gezeigt hatte. Die Geliebte des Räuberhauptmannes. 

»Beteiligt Euch nicht an der Suche«, sagte Roland. »Ich soll Euch 

zu Erwin bringen. Wir müssen gleich reiten.« 

»Ihr kommt in Erwins Auftrag?« fragte sie überrascht. Sie hatte 

eine wohlklingende, weiche Stimme. »Ihr seid eigens zu meiner 
Rettung gekommen?« Das nasse Kleid spannte sich noch mehr, als 

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sie tief aus- und einatmete. 

»Ja«, murmelte Roland. »Allerdings nicht nur ...»Da flog sie ihm 

förmlich entgegen, umarmte ihn und küßte ihn. Wenn er zuvor im 
kalten Regen und Wind ein wenig gefröstelt hatte, so wurde es ihm 
jetzt recht warm. Er spürte Gerlindes Lippen auf seinem Mund und 
die festen Hügel ihres Busens an seiner Brust, und sein Puls 
beschleunigte sich. Dann dachte er an Erwins Worte und wollte sich 
flugs von Gerlinde lösen. So gut sie auch zu küssen verstand, es 
konnte schlimme Folgen haben, wenn Erwin davon erfuhr. Er wollte 
sie sanft von sich schieben, doch das war nicht mehr nötig. Hermine 
hatte sich an einigen anderen Mädchen vorbeigezwängt, und sie zog 
Gerlinde zur Seite. »Er ist auch meinetwegen gekommen«, rief sie. 
Und dann packte sie Roland mit der Zärtlichkeit einer 
Elefantendame, die ihr Kleines herzt, und sie drückte Roland gegen 
ihren wogenden Busen, daß ihm die Luft wegblieb. 

Sie wollte ihn auch noch küssen, doch da schallte ein Schrei durch 

den Talkessel, und sie ließ von ihm ab. 

»Da ist sie! Da oben!« 
Roland schaute wie alle anderen zum Berg hinauf. 
Er glaubte eine Bewegung dort oben auszumachen, einen Schatten 

im Dunkel. 

»Sie entkommt!« rief eine Männerstimme. »Sie ist schon zu hoch 

oben. Reitet um den Berg herum und ...« 

Der Rest ging in einem markerschütternden Schrei unter. 
Rolands Augen weiteten sich. 
Steine kollerten, und etwas Dunkles wirbelte durch die Luft. Dann 

prallte ein Schatten am Fuße des Berges auf, und der grausige Schrei 
verstummte jäh. 

Alle starrten stumm und entsetzt zu der Stelle hin. 
Dann lief ein Mann mit einer Fackel dorthin. Er beugte sich über 

die Gestalt am Boden und richtete sich wieder auf. 

»Sie ist tot!« rief er mit schwerer Stimme. 

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»So hat sie ihre Strafe bekommen«, sagte Gerlinde am Mittag des 
nächsten Tages, und sie sprach damit aus, was die meisten gedacht 
hatten, als Hanne zu Tode gestürzt war. »Die war keinen Deut besser 
als dieser üble Rupert. Einen Kreuzzug gegen die Männer!« Sie 
lachte und tippte sich gegen die Stirn. »Dabei gibt es nichts Besseres 
für uns Frauen als ein richtiges Mannsbild.« 

Dabei bedachte sie Ritter Roland mit einem interessierten Blick, 

doch er bemerkte es nicht, denn er war in Gedanken schon bei Erwin. 

Er hoffte, daß alles mit dem Räuberhauptmann klar ging, doch er 

hatte sich nicht nur auf diese Hoffnung verlassen, sondern 
Vorbereitungen getroffen. 

Noch in der Nacht war er mit Gerlinde losgeritten. Er hatte sie 

informiert, worum es ging. 

Pierre und zwei Helfer waren mit allen anderen Mädchen und den 

gefangenen Räubern in dem Talkessel geblieben. Dort waren sie erst 
einmal in Sicherheit. Ein Reiter war unterwegs, um vom nächsten 
Ort weitere Hilfe zu holen und eine Botschaft nach Schloß Camelot 
zu schicken. Die Gefangenen würden ebenso abgeholt werden wie 
die Mädchen. 

Louis und zwei der von Pierre angeworbenen Männer hatten einen 

anderen Auftrag. Sie waren ebenfalls auf dem Weg zu Erwin. Wenn 
Erwin sein Wort nicht hielt, sollten sie als Joker eingesetzt werden. 
Die drei wählten einen anderen Weg, denn Gerlinde sollte nichts 
davon wissen. Schließlich war sie Erwins Geliebte, und selbst wenn 
sie nichts aus böser Absicht verriet, so konnte sie sich doch 
verplappern. 

Diese Gerlinde hatte überhaupt eine recht lockere Zunge. Obwohl 

Roland sich in Schweigen hüllte und seinen Gedanken nachhing, 
plauderte sie munter über die Männer und ihre bisherigen 
Erfahrungen mit ihnen. 

Eine erstaunliche Fülle pikanter Erlebnisse gab es da. Nun, Erwin 

hatte ja anklingen lassen, daß Gerlinde kein Kind von Traurigkeit 
war, und der mußte es ja wissen. 

Gerlinde merkte dann wohl, daß Roland sich nicht sonderlich für 

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ihre Affären interessierte. So wechselte sie das Thema, räkelte sich 
im Sattel und sagte in ihrer offenen Art: 

»Mir tut verdammt der Hintern weh.« 
Roland mußte lächeln. »In ein paar Stunden sind wir am Ziel«, 

tröstete er sie. 

»Können wir nicht eine kleine Pause einlegen?« 
»Wir müssen bis zum Sonnenuntergang da sein«, erwiderte 

Roland. 

»Davon wird heute gar nichts zu sehen sein«, bemerkte Gerlinde 

mit einem Blick zum Himmel. 

Der Himmel war in der Tat bleigrau bewölkt. Der kalte Wind 

fauchte durch die Waldschneise, durch die sie ritten, und wirbelte 
Blätter empor. Der Regen hatte am Vormittag aufgehört und die 
Temperatur war gesunken. 

»Außerdem sagt Erwin viel, wenn der Tag lang ist«, fuhr Gerlinde 

fort. »Der wartet auch noch einen Tag oder zwei länger. Da brauchst 
du dir gar keine Sorgen zu machen.« 

Roland teilte Gerlindes Optimismus nicht. Er war froh, daß sie so 

schnell vorangekommen waren und rechtzeitig da sein konnten. 

»Wir können ruhig ein wenig rasten«, drängte Gerlinde weiter und 

bewegte sich unruhig im Sattel. »Erwin läuft uns nicht weg. Und die 
Schnepfe, von der du erzählt hast, auch nicht. Wie heißt sie 
überhaupt?« 

»Ingrun«, sagte Roland. »Und sie ist keine Schnepfe.« 
Gerlinde lachte. »Ah  - so spricht der edle Ritter für seine Dame. 

Das ist der Unterschied zu Erwin. Der bezeichnet mich mit ganz 
anderen Wörtern als Schnepfe. Machmal habe ich ihn richtig satt.« 

Roland sagte nichts. Was ging ihn die Beziehung zwischen dem 

Räuberhauptmann und seiner Geliebten an? Wenn ihr Erwin nicht 
fein genug war, hätte sie sich nicht mit ihm einlassen sollen. 

»Manchmal spiele ich mit dem Gedanken, einfach abzuhauen«, 

sagte Gerlinde. 

Roland erschrak, bemühte sich aber, es zu verbergen. 
Das fehlte ihm noch, daß Gerlinde auf die Idee kam, nicht zu 

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Erwin zurückzukehren! Ohne sie stand das Leben der Gefangenen 
auf dem Spiel! 

Doch seine Befürchtung war unbegründet. 
»Aber wo sollte ich schon hin«, fuhr Gerlinde fort. »Man muß 

zufrieden sein, mit dem was man hat.« Sie musterte Roland von der 
Seite. »Diese Ingrun, deine Herzallerliebste, ist sicher auch 
zufrieden.« 

»Sie ist nicht meine Herzallerliebste«, sagte Roland. »Wir  - sind 

befreundet, mehr nicht.« 

Gerlinde lachte hell und bedachte ihn mit einem wissenden Blick. 

»Na, ich weiß nicht so recht. Wenn ich deine Eile sehe, habe ich so 
das Gefühl, daß du es kaum erwarten kannst. Ist sie gut im Bett?« 

Roland hatte sich fast an ihre kecke, ja fast frivole Art gewöhnt, 

doch diese Frage ging nun doch zu weit. Zumal er sie gar nicht zu 
beantworten vermochte. 

Er wollte ihr das gerade sagen, doch da trieb sie lachend ihr Roß 

zum Galopp und preschte in gestrecktem Galopp davon. 

»Bleib hier!« rief Roland. Ergab dem Braunen, den er sich ebenso 

wie Gerlindes Roß von den Räubern geliehen hatte, die Zügel frei. 

Gerlinde jagte ihr Roß querfeldein. 
Fast glaubte Roland, daß sie einen Fluchtversuch im Sinn hatte. 

Erst später erkannte er ihre wahren Absichten. 

Nach der wilden Jagd waren beide Pferde erschöpft, und Roland 

war gezwungen, Gerlindes Begehr nach einer Rast zu erfüllen. Er 
tröstete sich mit dem Gedanken, daß sie mit dem scharfen Ritt die 
Zeit fast wettgemacht hatten, die sie jetzt den Pferden Ruhe gönnen 
mußten. 

Er saß ab. Gerlinde blieb im Sattel und hielt ihm wie ein hilfloses 

Ding die Arme hin. So half er ihr aus dem Sattel. 

Er dachte an nichts Böses, als sie scheinbar erschöpft in seine 

Arme sank. Er stellte sie ab, und da schlang sie plötzlich die Arme 
noch fester um seinen Nacken, drängte sich an ihn, und er erkannte, 
daß es mit ihrer Erschöpfung nicht gar so schlimm war. 

Sie war voller Glut. 

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»Küß mich, du großer, starker Ritter!« seufzte sie, und ihr Blick 

und ihre halbgeöffneten Lippen lockten ihn. 

Er küßte sie nicht. 
»Du bist Erwins Braut«, sagte er und ärgerte sich darüber, daß 

seine Stimme ein wenig belegt klang. 

»Na und? Er braucht doch nicht zu erfahren, was wir getrieben 

haben.« 

Nun, Roland hatte nicht vor, überhaupt irgend etwas zu treiben. 
»Bestimmt denkst du nur an diese Ingrun«, sagte Gerlinde und 

musterte ihn prüfend. 

Er schüttelte den Kopf. 
Sie preßte sich verlangend an ihn und küßte ihn. So sehr er auch 

den Kopf zurückzog, er konnte es nicht verhindern. 

Gerlinde war so stürmisch, daß Roland zurückstolperte, im 

feuchten Gras ausrutschte und mitsamt Gerlinde der Länge lang 
hinstürzte. 

Sie lachte dunkel, als sie auf ihm lag, und ihr Atem ging heftig. 
»Wie oft habe ich mich während der Gefangenschaft nach einem 

Mann gesehnt«, flüsterte sie und knabberte an seinem 
Ohrläppchen.«Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie unerträglich 
Hannes Geseiber für mich war.« 

Doch, das konnte Roland sich vorstellen. 
»Ich nahm mir vor, der Heiligen Jungfrau eine Kerze zu 

spendieren, wenn sie mir einen Retter schickt. So groß war meine 
Sehnsucht. Kannst du das verstehen?« 

Nun, Ritter Roland hatte Verständnis für vieles. Er schlug den 

Damen nicht gerne Wünsche ab. Er war nicht aus Stein, und es ließ 
ihn auch nicht kalt, daß sie an seinem Ohrläppchen spielte. Aber es 
durfte nicht sein. Als er nicht so reagierte, wie sie erwartete, richtete 
sie sich halb auf ihm auf. 

»Oder gefalle ich dir nicht? Bin ich dir nicht gut genug?« 
»Doch, aber ... « 
»Ist deine Ingrun vielleicht schöner?« 
»Nein, aber ...« 

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Sie lächelte erfreut und selbstgefällig zugleich. Ihre Hände glitten 

aufreizend langsam über ihre Kurven bis zu den Hüften hinab und 
streiften sanft über seine Oberschenkel. 

»Das alles kannst du haben«, sagte sie lockend. »Da vergißt du 

glatt deine Ingrun.« 

Das  mochte vielleicht sogar stimmen. Doch er durfte Ingrun nicht 

vergessen. Sie und die anderen Gefangenen setzten ihre  ganze 
Hoffnung auf ihn. 

Aber das Entscheidende war, daß er Erwin sein Wort gegeben 

hatte. Das sagte er ihr. 

»Du Dummer«, meinte sie lächelnd. »Erwin gibt jeden Tag 

zehnmal sein Wort und hält es nicht. Seinetwegen brauchst du dir 
keine Hemmungen aufzuerlegen. Ich verrate dich bestimmt nicht. 
Ritterwort  - so ein Blödsinn! Ritter sind auch nur Menschen. Du 
sollst schon standhaft sein, aber doch  nicht auf diese Art!« Sie lachte. 
Und schon wieder lag sie ganz auf ihm und küßte ihn voller 
Verlangen. 

Ja, auch er war nur ein Mensch, und es lag ihm fern, über andere 

den Stab zu brechen. Wie sollte er einer Frau wie Gerlinde 
klarmachen, daß er seine Selbstachtung verlieren würde, wenn er 
sein Wort brach? Es half alles nichts: Er mußte deutlicher werden, 
auch wenn er sie zutiefst kränkte. 

Er schob sie von sich. 
»Du bist eine schöne Frau, Gerlinde«, sagte er. »Aber das reicht 

nicht. Deine Art gefällt mir nicht.« 

In ihren Augen blitzte es auf. 
»Laß uns in Freundschaft bleiben«, sagte er und wandte sich zu 

den Pferden. 

»Und wenn ich nicht mitreite?« stieß sie zornig hervor. 
Er verharrte und blickte ihr in die Augen. »Du weißt, was auf dem 

Spiel steht.« 

Sie zuckte mit den Schultern. »Was kümmern mich andere Leute? 

Noch kein Mann hat mich abgewiesen wie eine  - eine Bettlerin. Jetzt 
will ich dich erst recht! Du sollst erleben, was du versäumt hättest. 

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So klein wirst du werden, du hochmütiger Kerl!« 

Sie deutete mit Daumen und Zeigefinger an, wie sie sich in etwa 

Ritter Rolands zukünftige Größe vorstellte. Demnach hätte er 
bequem in eine Zahnlücke gepaßt. 

»Und ich werde lachen, wenn du dann um mehr betteln wirst«, 

fuhr sie fort, und ihre Augen schienen Funken zu  versprühen. »Ich 
reite nur mit zu Erwin, wenn du...« 

»Das ist Erpressung«, unterbrach er sie. 
»Und was kannst du dagegen tun?« fragte sie herausfordernd. 
Er sagte es ihr klar und deutlich. 
»Ich werde dir den Hintern versohlen, dich fesseln und auf das 

Pferd binden.« 

»Das würdest du nicht wagen!« 
»Und ob. So was habe ich noch keiner Dame angetan, aber wenn 

du mir keine Wahl läßt, werde ich es tun. Es geht um 
Menschenleben.« 

Da sagte sie nichts mehr. 
Schweigend setzten sie den Ritt fort. 
Sie sprach kein einziges Wort mehr mit ihm. 

Dafür sprach Erwin um so mehr. Wie aufgekratzt war er, als Roland 
ihm von Gerlindes Befreiung berichtete. Er war nicht einmal böse, 
daß Roland sie nicht gleich mitgebracht hatte, sondern erst die 
Freilassung der Gefangenen forderte. Mehrmals beteuerte er, daß 
ihm nicht im Traum eingefallen wäre, den Gefangenen auch nur ein 
Härchen zu krümmen. 

Er ließ sich ausführlich von Rupert und Hannes unrühmlichem 

Ende berichten. Die Geschichte war so ganz nach seinem 
Geschmack. In seinem Überschwang wollte er Roland zu den 
hundert Dukaten noch Schmuck geben, goldene Ringe und wertvolle 
Steine. 

»Ich nehme keine Beute von Diebes  und Raubzügen«, sagte 

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Roland und schlug ihm vor, die Dinge den rechtmäßigen Besitzern 
zurückzugeben und ein neues Leben anzufangen. 

Davon wollte der Räuberhauptmann nichts wissen, doch er lachte 

gutgelaunt. 

Die hundert Dukaten nahm Roland an. Doch er verteilte sie vor 

Erwins Augen an die Gefangenen - sozusagen als Entschädigung. 

Darüber konnte Erwin nur den Kopf schütteln. Er wußte ja nicht, 

daß Roland ein Ritter war und daß er von König Artus den Auftrag 
erhalten hatte, das Geheimnis der verschwundenen Mädchen zu 
lösen. Im Grunde hatte Erwin mit seiner Vorarbeit und seinem Plan 
dabei entscheidend geholfen  - wenn auch ohne es zu wissen. Und 
wenn er sein Wort hielt, wollte Roland beide Augen zudrücken. 

Roland ließ durchblicken, daß er nicht sogleich sein Wissen über 

Erwin und sein Versteck preisgeben werde; so hatte der 
Räuberhauptmann die Chance, aus der Gegend zu verschwinden. 

»Vielleicht fange ich tatsächlich ein neues Leben an«, sagte Erwin 

grinsend, doch Roland glaubte ihm nicht so recht. Nun, es war seine 
Entscheidung. Eine goldenere Brücke konnte Roland ihm nicht 
bauen. 

Der Räuberhauptmann hielt sein Wort. Nachdem Roland ihm 

versichert hatte, daß Gerlinde wohlbehalten war, ließ Erwin die 
männlichen Gefangenen auf der Stelle frei. Dann wies er seine 
Räuber an, im Versteck zu bleiben und nichts zu unternehmen. 

Allein ritt er mit Roland und Ingrun zu dem Wäldchen, in dem 

Roland Gerlinde gefesselt zurückgelassen hatte. 

Roland befreite Gerlinde, und Erwin schloß sie überglücklich in 

die Arme. Er war anscheinend wirklich verliebt in Gerlinde, und 
Roland fragte sich, ob Erwin nicht eine treuere Braut verdient hatte  - 
auch wenn er ein Räuberhauptmann war. 

Gerlinde gab sich jetzt ganz als die Geliebte, die immer nur 

Sehnsucht nach ihrem Erwin gehabt hatte. Ihre leidenschaftlichen 
Küsse trugen vielleicht dazu bei, daß auch Ingruns Blut in Wallung 
geriet. Sie schmiegte sich an Roland, hauchte ihm einen Kuß auf die 
Wange und flüsterte ihm zu, daß sie immer nur an ihn gedacht hatte. 

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Auch das konnte Roland verstehen. Ihm wäre es ähnlich gegangen, 

wenn er Gefangener einer Räuberbande und seine einzige Hoffnung 
Ingrun gewesen wäre. 

Erwin erfuhr von Gerlinde, daß Roland ein Ritter war. 
»Deshalb war er so edelmütig«, sagte der Räuberhauptmann 

überrascht. »Er hat sogar seine Belohnung verschenkt.« 

Er hielt Roland zum Abschied die Hand hin. 
»Mich dünkt, ihr Ritter seid tatsächlich etwas Besonderes. Hätte 

nie gedacht, mal mit einem von eurem Stande zusammenzuarbeiten. 
Grüß mir König Artus, mein Freund!« 

Er lachte dröhnend wie über einen Witz. 
»Er ist nichts Besonderes«, zischte da Gerlinde, und Erwins 

Lachen verstummte abrupt. »Er ist ein dreckiger Frauenschänder!« 

Ingruns Augen wurden groß ob dieser Anschuldigung. 
Erwins Augen wurden noch größer, und sein Mund klaffte auf. 
Er trat einen Schritt näher und starrte Roland an. 
Roland blickte ihm in die Augen, ohne mit der Wimper zu zucken. 
»Stimmt das?« fragte Erwin, und seine Stimme bebte. 
»Ich habe dir mein Wort gegeben, und ich habe es gehalten«, sagte 

Ritter Roland ruhig. 

Erwin kamen anscheinend Zweifel. Sein Kopf ruckte zu Gerlinde 

herum. »Stimmt das?« 

Gerlinde zögerte. Sie blickte zu Roland. Er sah sie nur stumm an. 

Noch konnte sie einen Rückzieher machen; er hatte nichts von ihrem 
Verhalten erwähnt. 

Doch sie konnte nicht überwinden, daß er sie verschmäht hatte. 

Voller Haß sprudelte sie hervor, was Ritter Roland angeblich alles 
mit ihr getrieben hatte. 

Da drehte Erwin durch. Er zückte  sein Schwert und brüllte: »Dafür 

bring' ich dich um, du Hundsfott!« 

Und schon stürzte er auf Roland zu. 
Ingrun schrie auf. 
Gerlindes Triumph verwandelte sich in Betroffenheit. Sie hatte 

sich wegen der Abfuhr rächen wollen, doch in ihrem Zorn hatte sie 

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wohl nicht an die Konsequenzen gedacht. 

Roland war froh, daß er sein Schwert wiederbekommen hatte. Er 

sprang zur Seite, als Erwin auf ihn zustürmte, und sein Stiefel 
schnellte hoch. Er traf Erwins Handgelenk und prellte ihm das 
Schwert aus der Hand. 

Dann zog er sein eigenes Schwert. 
Erwin verharrte erschrocken. Er stand waffenlos da, und er 

glaubte, Roland würde ihm jetzt den Garaus machen. 

Doch Ritter Roland kämpfte nicht gegen einen waffenlosen 

Gegner. 

»Ich habe die Wahrheit gesagt«, erklärte er. »Gerlinde hat gelogen. 

Wenn du mir nicht glaubst, dann nimm dein Schwert und kämpfe!« 

Erwin zögerte. Er nagte an der Unterlippe. Sein Blick glitt von 

Roland zu dem Schwert am Boden und dann zu Gerlinde. 

»Der Kampf soll entscheiden!« sagte er mit schwerer Stimme. 

Dann bückte er sich und riß das Schwert hoch. 

Ungestüm griff er an. 
Roland kreuzte mit ihm die Klinge. Das Schwerterklirren schreckte 

einen Schwarm Vögel am Waldrand auf. Hin und her wogte der 
Kampf, und Roland mußte zugeben, daß Erwin eine gute Klinge zu 
schlagen wußte. Doch seine Taktik war nicht die beste. Er kannte nur 
bedingungslosen Angriff. 

Roland ließ sich bewußt in die Defensive drängen, und Erwin 

fühlte sich immer überlegener. Das ließ ihn unvorsichtig werden. 

Er schlug wuchtig zu und glaubte Rolands Schwert zur Seite 

geschmettert zu haben. In Wirklichkeit hatte Roland die Hand mit 
dem Schwert absichtlich zur Seite gerissen. Dazu tat er erschrocken 
und zauberte einen hilflosen Ausdruck auf sein Gesicht. 

Erwin fiel darauf herein. 
Mit einem gewaltigen Satz sprang der Räuberhauptmann vor und 

wollte Roland den Todesstoß versetzen. 

Doch Roland war darauf vorbereitet gewesen. Er wich genau im 

richtigen Moment aus. Erwins Schwert stieß ins Leere, und dann 
schlug Roland zu. 

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Er schmetterte dem Räuberhauptmann das Schwert aus der Hand, 

und unter der Wucht des Hiebes strauchelte Erwin und stürzte zu 
Boden. 

Dann war Roland schon über ihm, und sein Schwert senkte sich 

auf die Brust des Mannes. 

»Nein!« schrie Gerlinde und schlug die Hände vors Gesicht. 
Todesangst flackerte in Erwins Blick, als er Rolands Schwert auf 

sich gerichtet sah. 

Doch Ritter Roland stieß nicht zu. 
»Mein Gott  - und nur weil ich gelogen habe!« stammelte Gerlinde. 

Dann sank sie ohnmächtig vornüber. 

Erwins Mund klaffte auf. Ein Augenlid zuckte. Eine Weile starrte 

er fassungslos wie ein Vater, dessen Tochter ihm gerade eröffnet hat, 
daß sie schwanger ist und nicht weiß von wem. Schließlich straffte 
sich seine Haltung. 

»Dann töte mich!« sagte er krächzend. 
Roland schüttelte den Kopf.  »Ich töte keinen Wehrlosen. Du hast 

verloren, und ich schenke dir das Leben. Ich bin kein Richter. 
Andere werden über dich und deine Missetaten Gericht halten.« 

Damit wandte er sich ab und schritt zu Ingrun. 
Sie war blaß und blickte ihm stumm entgegen. Plötzlich weiteten 

sich ihre Augen in jähem Entsetzen. 

Roland wirbelte herum. 
Erwin hatte sein Schwert an sich gerissen und holte zum Wurf aus. 
Roland reagierte instinktiv. Er hechtete vorwärts, auf Ingrun zu, 

und riß sie mit zu Boden, denn sie stand ja in der Gefahrenzone. 
Wenn das Schwert ihn verfehlte, mußte es sie treffen, wenn sie dort 
stehenblieb. 

Das Schwert flog dicht über Roland und das Mädchen hinweg. 
Und Erwin schrie auf. Dann kam ein rasselnder Laut tief aus seiner 

Kehle. 

Rolands Kopf ruckte zu Erwin herum, als er mit Ingrun auf dem 

Boden aufgeprallt war. 

Ein Pfeil ragte aus Erwins Brust. 

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Der Räuberhauptmann bäumte sich noch einmal auf. Dann sank er 

zur Seite und regte sich nicht mehr. 

»Er wollte dich hinterrücks ermorden«, rief Louis und trat hinter 

dem Stamm einer mächtigen Buche hervor. »Da blieb mir keine 
andere Wahl.« 

Zwei weitere Männer traten aus der Deckung hervor. Louis schritt 

zu Erwin und untersuchte ihn. 

Der Räuberhauptmann war tot. 
»Schnappen wir uns die anderen, die wir beobachteten, bevor wir 

Euch hierher folgten?« fragte einer der Männer, die Pierre 
angeworben hatte. 

Roland half Ingrun auf. 
»Das hat Zeit, bis der von Camelot angeforderte Trupp eintrifft«, 

sagte Roland müde. »Vielleicht sind sie so vernünftig, bis dahin zu 
verschwinden, wenn sie vom Tode ihres Anführers erfahren.« 

»Und was wird mit der Frau?« fragte der Mann. 
Roland blickte zu Gerlinde. 
Sie hatte ihm übel mitgespielt, und sie hatte indirekt eine 

Mitschuld an Erwins Tod. Trotzdem tat sie ihm irgendwie leid. Ganz 
schlecht konnte ihr Kern doch noch nicht sein, denn sie hatte im 
letzten Augenblick ihre Schuld eingestanden, und ihre Angst um 
Erwin war echt gewesen. 

Wie hatte sie unterwegs gesagt? »Aber wo soll ich denn hin? Man 

muß zufrieden sein mit dem, was man hat.« 

Jetzt hatte sie auch das noch verloren. 

Im Dorfkrug herrschten Jubel, Trubel, Heiterkeit. Wein, Met und 
Bier flossen in Strömen. 

König Artus' Männer waren eingetroffen. Sie hatten die 

gefangenen Räuber übernommen und die befreiten Mädchen zu ihren 
Familien gebracht. 

Viele Freudentränen waren vergossen worden, und selbst in den 

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entferntesten Winkel des Bayerischen Waldes war die Kunde von 
Ritter Rolands neuen Ruhmestaten gedrungen. Er selbst wies immer 
darauf hin, daß es nicht sein alleiniges Verdienst gewesen war. Viele 
andere waren daran beteiligt gewesen  - die Knappen, Hermine, die 
Männer, die Pierre angeworben hatte und die reich entlohnt wurden, 
und sogar der Räuberhauptmann Erwin hatte mitgeholfen. 

Der Schrecken war beendet. Jetzt herrschten rings um den 

Höllensteinsee wieder Ruhe und Frieden, und keine Frau brauchte zu 
befürchten, von Räubern entführt, als Hexe verbrannt oder gar in 
einen Krieg gegen die Männer geführt zu werden. 

Alle hatten sich  im Dorfkrug eingefunden, und viele mußten 

draußen im eilig errichteten Zelt feiern, weil der Platz nicht für alle 
in der Schenke ausreichte. Da waren Roland und die Knappen, einige 
der Reiter des Trupps, den König Artus geschickt hatte, und einige 
der befreiten Mädchen. Und natürlich feierte das ganze Dorf mit. 

Auch Hermine war da, und sie ging in die Geschichte des Dorfes 

ein, denn sie wurde nicht nur Nagelkönigin  - sie hätte fast den 
Balken zerschmettert  -, sondern sie wurde auch absolute Meisterin 
im Fingerhakeln. Sie zog gleich zwei der stärksten Burschen 
gleichzeitig über den Tisch und stemmte sie anschließend gegen die 
Decke der Schenke. 

Anschließend drückte sie Ritter Roland an ihren wogenden Busen 

und wirbelte ihn zum Klang der kleinen Kapelle in feurigem Tanz 
durch die Schenke, daß ihm Hören und Sehen verging. 

Louis tanzte mit der Wirtstochter Zenzi, und Pierre schwenkte 

ausgelassen die junge Witwe Edwina Gugelhuber. Sie hätte liebend 
gern auch mal mit Roland getanzt, denn sie war ja seit langem  eine 
stille Verehrerin von ihm, doch an den Ritter war kaum 
heranzukommen. Hermine fühlte sie sich nicht gewachsen, und da 
war ja auch noch Ingrun, die ihn keinen Augenblick lang aus den 
Augen ließ. So tröstete Edwina sich mit Pierre und sagte sich, daß 
der Nagelkönig nun wirklich kein schlechter Ersatz war. 

Es wurde für alle eine unvergeßliche Nacht. 
Selbst der Kater Caesar sollte noch lange an diese Feier 

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zurückdenken. 

Irgendeiner der fröhlichen Zecher hatte ihm Rotwein auf einem 

Teller eingeschenkt, diesmal bekömmlicheren, und weil er so gut 
schmeckte, trank sich Caesar einen Rausch an. 

Als sich gegen Morgen die Gesellschaft nach und nach auflöste, 

fiel ihm trotz seines benebelten Zustandes auf, daß sich die 
Menschen überwiegend paarweise zurückzogen. Er kniff ein Auge zu 
und überlegte, ob er vielleicht beschwipst alles doppelt wahrnahm. 
Nein, es stimmte. 

Der eine Mensch, dieser Ritter, verließ mit Ingrun die Schenke. Er 

wollte sie nach Hause begleiten. 

Der mollige Knappe, Pierre hieß er, wenn er richtig gehört hatte, 

verdrückte sich diskret mit Edwina Gugelhuber. 

Und der Schwarzbart, dieser Louis, stahl sich mit der drallen Zenzi 

davon. 

Und Hermine wollte sich von dem Schmied die Schmiede zeigen 

lassen. 

Später mußte Caesar betrübt feststellen, daß sein Platz in Zenzis 

Bett schon belegt war. Der schwarzbärtige Mensch war bei ihr. Zenzi 
hatte ihm nicht den Platz am Fußende des Bettes zugewiesen, wie 
ihm, Caesar. Der Kerl nahm das ganze Bett und Zenzi ein. 

Caesar war ein bißchen eifersüchtig, und er fühlte sich sehr, sehr 

einsam. Da reifte in ihm ein Entschluß. In seinem Rausche 
schwankte er zu seiner Lieblingskatze. Sie hieß Kleopatra und hatte 
ein grauweißgestreiftes, seidig glänzendes Fell. Glühendheiß 
verehrte er sie seit langem. Ganze Balladen hatte er ihr des Nachts 
miaut, sogar Melodien und Texte des berühmten Minnesängers 
Volker vom Hohentwiel, bei denen eigentlich jede Frau 
dahinschmelzen mußte, doch bei Kleopatra war alles für die Katz 
gewesen. Immer wieder hatte sie ihn fauchend abblitzen lassen, und 
er hatte den Verdacht, daß ihr Herz für einen anderen schlug. Doch 
als er bei ihr fensterlte, stellte er erfreut fest, daß sie in dieser Nacht 
ganz allein war. 

Er nahm all seinen Katermut zusammen, richtete mannhaft den 

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Schwanz auf und schnurrte ihr einen Heiratsantrag ins Ohr. 

Kleopatra war überglücklich. Doch sie zierte sich noch ein 

bißchen, wie sie es den Menschenfrauen abgeguckt hatte. Sie tadelte 
ihn ein wenig ob seiner Rotweinfahne und seines Rufes als 
Schwerenöter, vor dem keine Katzenjungfer sicher sei, doch als er 
ihr versprach, mit dem Lotterleben und der Sauferei aufzuhören, biß 
sie ihn zärtlich und schnurrte ihr Jawort. 

So kam es, daß Caesar und Kleopatra Hochzeitsnacht feierten. 

Fortan lebte Caesar abstinent, mal abgesehen von einem  kleinen 
Besuch bei einer alten Freundin und einem heimlichen Magen-
schnaps dann und wann, wenn ihn Blähungen quälten, was er darauf 
zurückführte, daß die Mäuse immer fetter wurden. 

Jedenfalls bemühte sich Caesar, Kleopatra ein guter Kater zu sein. 

So lebten sie glücklich und zufrieden, und nur gelegentlich erinnerte 
sich Caesar ein wenig wehmütig an seine wilde Junggesellenzeit. 

Dann erzählte er mit funkelnden Augen und voller Begeisterung 

von Ritter Rolands Abenteuern und vom Schrecken am 
Höllensteinsee. 

ENDE 

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Es war ein rauschendes Hochzeitsfest gewesen, von dem man 
noch lange sprechen würde. Mehr als 200 Gäste hatten Unmengen 
gegessen und getrunken. Berühmte Troubadoure hatten die 
Feiernden mit ihrem herrlichen Gesang erfreut. Auf den Burgherrn 
wartete jedoch ein Vergnügen, das alle Lustbarkeiten der Feier 
weit  in den Schatten stellte: die Hochzeitsnacht mit seiner 
angetrauten  Gemahlin. Doch bevor Helmbrecht von Falkenberg 
die traumschöne Brigitta in die Arme schließen konnte, mußte er 
sterben. 

Die blutige Gräfin 

hatte ihn getötet. Liebe Leser, besorgen Sie sich in 14 Tagen 
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