Charmed 25 Die Söhne Satans Marc Hillefeld

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Charmed 25

Zauberhafte Schwestern

Die Söhne Satans

Roman von Marc Hillefeld

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Klappentext:

Ärger im Hause Halliwell: Paige befreit unbeabsichtigt einen

niederträchtigen Flaschengeist, der den drei Schwestern fortan nichts

als Unglück bringt. Phoebe lernt derweil die Mitglieder einer

aufstrebenden Boygroup, die Nature Sons, kennen und macht

daraufhin eine wundersame Veränderung durch: Der zurückliegende

Stress mit dem Ex-Dämon Cole, ihre Pflichten als weiße Hexe und

Teil der Zauberhaften – all dies scheint von einem zum anderen Tage
vergessen. Paige und Piper sind in großer Sorge, denn es scheint, als

ob die Musik der Nature Sons nicht nur einen schlechten Einfluss auf

Phoebe hat, sondern dass die vier jungen Musiker auch noch Teil

einer mysteriösen dämonischen Verschwörung sind, die es um jeden

Preis aufzuhalten gilt.

Dieses eBook ist nicht zum Verkauf

bestimmt.

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Bibliographische Information Der Deutschen Bibliothek

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der

Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind

im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

Das Buch »Charmed – Zauberhafte Schwestern. Die Söhne Satans«

von Marc Hillefeld entstand auf der Basis der gleichnamigen

Fernsehserie von Spelling Television, ausgestrahlt bei ProSieben.

© des ProSieben-Titel-Logos mit freundlicher Genehmigung der

ProSieben Television GmbH

® und © 2003 Spelling Television Inc. All Rights Reserved.

1. Auflage 2003

© der deutschsprachigen Ausgabe:

Egmont vgs Verlagsgesellschaft mbH

Alle Rechte vorbehalten.

Lektorat: Christina Deniz

Produktion: Wolfgang Arntz

Umschlaggestaltung: Sens, Köln

Titelfoto: © Spelling Television Inc. 2003

Satz: Kalle Giese, Overath

Druck: Clausen & Bosse, Leck

Printed in Germany

ISBN 3-8025-3213-9

Besuchen Sie unsere Homepage im WWW:

http://www.vgs.de

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Prolog

P

AIGE HALLIWELL ÖFFNETE den Deckel der alten Holztruhe

und holte tief Luft.

Nicht unbedingt eine gute Idee, auf dem Dachboden zu knien und

in einer Kiste herumzustöbern, die seit Jahren unbeachtet in der Ecke
steht, dachte sie. Sie hustete und wedelte mit der Hand vor ihrem
Gesicht herum, um den aufgewirbelten Staub zu vertreiben.

Wie so oft war sie auch an diesem Samstagvormittag auf den

Dachboden des Halliwell-Hauses geschlichen, um sich hier in Ruhe
umzusehen. Nicht dass sie damit etwas Verbotenes tat, ganz im
Gegenteil. Piper und Phoebe hatten sie längst als Schwester und neues
Mitglied der Zauberhaften akzeptiert – und hätten es sicher begrüßt,
dass Paige sich freiwillig mit den Geheimnissen der Weißen Magie
vertraut machte.

Aber die junge Frau fühlte sich einfach wohler, wenn sie nicht

ständig die wachsamen Blicke ihrer Schwestern im Rücken spürte. Es
war noch gar nicht so lange her, dass sie von ihrer magischen
Familientradition erfahren hatte. Und manchmal war ihr immer noch
nicht ganz klar, was es überhaupt bedeutete, eine Hexe zu sein.

Bis zu diesem denkwürdigen Tag hatte sie ein ganz normales

Leben geführt – na ja, mehr oder weniger normal – und plötzlich hatte
es geheißen: »Hör zu, Paige, du bist eine weiße Hexe, und deine
Aufgabe ist es von nun an, gegen Dämonen zu kämpfen und
Unschuldige zu retten – besten Dank auch für die Mühe.«

Niemand hatte sie gefragt, ob sie so ein Leben überhaupt wollte

und ob sie überhaupt dazu bereit war, diese Verantwortung zu
übernehmen.

Paige seufzte und blickte in die alte Holztruhe. Soweit sie wusste,

wurden darin alte Zaubermaterialien aufbewahrt, und das offenbar
schon seit Generationen. Tatsächlich war der Kasten mit einer
vergilbten Zeitung ausgeschlagen, deren Titelseite in großen Lettern
die erste Atlantik-Überquerung per Zeppelin verkündete.

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Paige wusste nicht genau, was sie in dieser Kiste zu finden hoffte,

aber vielleicht würde sie auf ein paar Erinnerungsstücke stoßen, die
ihr dabei halfen, das Familienerbe der Halliwells besser zu verstehen.

Und vielleicht – Paige grinste in sich hinein – lagerten hier ja auch

ein paar alte Liebesbriefe ihrer Schwestern. Nicht dass sie so etwas
überhaupt lesen wollte, aber andererseits …

Die junge Hexe warf einen letzten schuldbewussten Blick auf die

halb geöffnete Dachbodentür, dann begann sie, in der Truhe
herumzuwühlen.

Was sie fand, war allerdings wenig spektakulär: Einige halb

abgebrannte Kerzen. Eine trübe Kristallkugel. Einen rostigen Dolch
mit einem schlangenförmigen Griff. Ein paar Beutel, die mit einem
Pulver gefüllt waren, von dem Paige gar nicht wissen wollte, aus was
es bestand. Und schließlich noch ein paar Kreidestücke und schwarze
Samttücher. Paige schüttelte enttäuscht den Kopf. Selbst auf einem
Flohmarkt hätte man für dieses wertlose Zeug höchstens ein paar
Cents bekommen. Wenn in dieser Kiste das Erbe der Halliwells
schlummerte, dann sollte sie sich besser schnell einen gut aussehenden
Millionär angeln.

Die junge Hexe wollte den Deckel der Truhe schon wieder

zuklappen, als sie aus den Augenwinkeln ein merkwürdiges Funkeln
bemerkte.

Neugierig beugte sich Paige noch einmal vor. Unter den schwarzen

Samttüchern lag noch etwas: Eine elegant geformte kleine Glasflasche
mit einem länglichen, verzierten Hals und einem uralten Korken.
Doch faszinierend daran war weniger die ungewöhnliche, irgendwie
orientalisch anmutende Form des Flakons als sein Inhalt.

Vorsichtig nahm Paige das Fläschchen aus der Truhe. Seltsam.

Obwohl es auf dem Dachboden relativ kühl war, fühlte sich das Glas
in ihrer Hand seltsam warm an. Und was hatte dieses merkwürdige
Glimmen zu bedeuten, das von dem Flakon ausging? Neugierig hob
Paige das Fläschchen höher und betrachtete es im Licht der
einfallenden Sonnenstrahlen. War das matte Leuchten vielleicht nur
eine Reflexion des kunstvoll geschliffenen Glases?

Nein, selbst wenn sie den Flakon mit der anderen Hand gegen das

Licht abschirmte, hielt das Leuchten an. Und mehr noch: Das
Farbenspiel schien intensiver geworden zu sein, seit Paige ihn an sich

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genommen hatte. So als ob irgendetwas darin zum Leben erweckt
worden wäre. Und wenn man genau hinsah, konnte man im Inneren
eine Art wabernden Nebel oder Dunst erkennen …

»Paige, bist du da oben?« Pipers Stimme hallte durch die

Dachbodentür.

Paige war so in den Anblick des Flakons versunken gewesen, dass

sie erschrocken zusammenzuckte. Die kleine Flasche glitt ihr aus der
Hand und schien fast im Zeitlupentempo zu Boden zu fallen.
Trotzdem konnte Paige nur hilflos mit ansehen, wie der Flakon auf
den Holzdielen aufschlug und in tausend Stücke zerbrach.

Im selben Augenblick hörte Paige die Schritte ihrer Schwester auf

der Treppe. Beschämt blickte sie auf und sah deshalb nicht, wie etwas,
das aussah wie eine Hand voll flüssiges Licht, aus dem
Scherbenhaufen hervorschoss, ein paar Mal herumwirbelte und
schließlich in einer Fußbodenritze verschwand.

Der ganze unbemerkte Spuk hatte nur ein paar Sekundenbruchteile

gedauert. Übrig blieben nur die Scherben des zerborstenen Flakons.

Im nächsten Augenblick steckte Piper schon den Kopf durch die

Dachbodentür.

»Alles okay, Paige? Was machst du denn hier oben?«, fragte sie

und sah ihre jüngere Halbschwester forschend an. Trotz des
freundlichen Gesichtes, das sie dabei machte, konnte Paige ganz
deutlich einen gewissen Argwohn in Pipers Blick erkennen.

Paige sprang auf die Füße und setzte ihr unschuldigstes Lächeln

auf. Zumindest hoffte sie, dass ihr Lächeln unschuldig wirkte.
Gleichzeitig schob sie mit dem Fuß die Scherben des zerbrochenen
Flakons unauffällig hinter einen Pappkarton.

Sie hatte keine Lust, sich das Wochenende durch eine Standpauke

ihrer Schwester verderben zu lassen. Schließlich hatte sie nichts weiter
getan, als eine kleine, dumme Glasflasche fallen zu lassen, für die sich
ohnehin kein Mensch mehr interessierte. Andernfalls hätte das Ding ja
nicht in dieser alten Holztruhe vor sich hin geschimmelt.

»Äh, ich hab hier oben nur ein paar … alte Kerzen gesucht!«, sagte

Paige schnell. Eine bessere Ausrede war ihr auf die Schnelle nicht
eingefallen.

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Mit einer hastigen Bewegung holte sie die halb abgebrannten

Kerzen aus der Truhe und hielt sie in die Höhe. »Du weißt ja, diese
ganzen Stromausfälle in letzter Zeit – da sollte man immer ein paar
Kerzen griffbereit haben …«

Schweigend hob Piper die linke Augenbraue.

Ich hasse es, wenn sie das tut, dachte Paige. Denn dieses

Mienenspiel bedeutete viel zu oft nichts anderes als »Ich-glaube-dir­
kein-Wort-kleine-Schwester«. Sie schluckte.

Doch da zuckte Piper nur mit den Achseln und hielt Paige die Tür

auf. »Es liegen zwar genug frische Kerzen im Küchenschrank, aber
vielleicht fällt der nächste Stromausfall ja mit einer langen Polarnacht
zusammen, und dann werden wir gewiss sehr glücklich sein, ein paar
Extra-Kerzen zur Hand zu haben.«

Sehr witzig, dachte Paige, aber gleichzeitig war sie froh, dass Piper

auf ihre kleine Flunkerei hereingefallen zu sein schien. Beruhigt folgte
sie ihrer Halbschwester hinab in den Flur.

»Ich probiere gerade ein neues Mousse-Rezept für das P3 aus«,

berichtete Piper auf dem Weg nach unten, »und ich brauche dringend
eine freiwillige Versuchsperson. Wie wär's mit einer kleinen
Kalorienbombe am frühen Vormittag?«

»Da es für einen guten Zweck ist, bin ich dabei«, lachte Paige.

Erleichtert warf sie noch einmal einen Blick auf die Dachbodentür.

Nein, dieser blöde Flakon war es wirklich nicht wert, sich dafür

den Samstagvormittag zu verderben. Und außerdem, wie heißt es doch
so schön: Scherben bringen Glück …

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1

»

K

ANN ICH IHNEN HELFEN, Miss?«

Phoebe Halliwell fuhr erschrocken herum und warf dabei mit den

Plastiktüten, die sie unter dem Arm trug, fast ein Display mit
Modeschmuck um.

Eine Sekunde lang fühlte sie sich ertappt. Dabei hatte sie nichts

weiter getan, als sich in dieser exklusiven Boutique im Herzen San
Franciscos ein wenig umzusehen. Diese heftige Reaktion beim
Anblick eines plötzlich auftauchenden Verkäufers war vermutlich ein
alter Reflex aus der Zeit, in der sie noch eine Karriere als
ungeschickteste Ladendiebin der Welt angestrebt hatte. Das war,
bevor sie zu ihrer Bestimmung als Hexe gefunden und ziellos in den
Tag gelebt hatte. Aber das war lange her.

Phoebe räusperte sich und schenkte dem Verkäufer ein

entwaffnendes Lächeln. Was ihr nicht besonders schwer fiel, da der
junge Mann mit dem gut sitzenden Anzug und den blondierten Haaren
im modischen Struwel-Look ein besonders gelungenes Exemplar
seiner Gattung war.

»Äh, nein, danke. Ich schau mich nur ein wenig um.« Fast

entschuldigend hob Phoebe die Plastiktüten in die Höhe, die sie in
beiden Händen hielt. »Außerdem fürchte ich, dass ich mein Budget für
diesen Tag schon hoffnungslos überzogen habe. Oder wenn ich's recht
überlege – mein Budget für den Rest des Monats.«

Der Verkäufer nickte verständnisvoll und machte Anstalten, sich

dezent zurückzuziehen. »Kein Problem«, sagte er, »sehen Sie sich
ruhig um. Niemand drängt Sie hier zu irgendetwas. Aber wenn ich mir
die Bemerkung erlauben darf, Miss …« – seine Stimme nahm einen
fast verschwörerischen Tonfall an – »… diese Ohrringe würden
hervorragend zu Ihren Augen passen.«

Alter Schmeichler, dachte Phoebe, und wahrscheinlich bist du am

Umsatz beteiligt. Aber so leicht wickelst du mich nicht ein,
Freundchen …

Zehn Minuten später war Phoebe Halliwell um zwei

bernsteinfarbene Ohrringe reicher und zwanzig Dollar ärmer. Fast

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grimmig stapfte sie in Richtung der nächsten Cable-Car-Haltestelle,
um diesen Ort der Versuchung so schnell wie möglich hinter sich zu
lassen.

Eigentlich war sie nur in die Stadt gegangen, um ihre Gedanken ein

wenig von Cole, ihrem halbdämonischen Schwarm, abzulenken. Aber
wie so oft war aus einem harmlosen Schaufensterbummel ein
Shopping-Amoklauf geworden. Ein paar neue Schuhe hier, eine
Seidenbluse im Knitter-Look dort, und wie wär's mit diesem schicken
leichten Sommerpullover … Phoebe konnte sich lebhaft vorstellen,
wie Piper die Hände über dem Kopf zusammenschlagen würde. Dabei
waren das doch alles echte Schnäppchen gewesen!

Phoebe überlegte sich im Geiste schon diverse Ausreden für ihre –

zugegeben – unvernünftigen Neuerwerbungen, als ihre Schritte sie
fast automatisch vor das Schaufenster von Star Recorzz führten, einem
der angesagtesten Plattenläden der Stadt.

Sie seufzte. Wem wollte sie eigentlich etwas vormachen? Ein

samstäglicher Shopping-Bummel ohne einen Abstecher ins Star
Recorzz
war einfach undenkbar.

»Dann bringen wir's mal hinter uns«, murmelte sie und betrat

lächelnd den Laden. Sofort wurde der Straßenlärm vom neusten Hit
von Nickelback übertönt, der aus den Deckenlautsprechern tönte.

Phoebe musste grinsen. Die Hintergrundmusik im Star Recorzz

wurde stets vom jeweiligen Dienst habenden Verkäufer ausgewählt,
und der junge Mann mit dem Pferdeschwanz, der heute hinter der
Theke stand, favorisierte offensichtlich die etwas härtere musikalische
Gangart. Amüsiert beobachtete sie, wie er fast widerwillig eine CD
von Jennifer Lopez eintütete und sie einem jungen Mädchen in die
Hand drückte.

Seufzend wandte sich Phoebe dem Wühltisch mit den

herabgesetzten CDs zu. Für eine brandneue Scheibe zum regulären
Preis würde ihr Budget auf keinen Fall mehr reichen. Und so arbeitete
sie sich durch die Nice-Price-Angebote, die in keinerlei erkennbarer
Ordnung auf dem Verkaufstisch lagen. Neben vielen Eintagsfliegen
aus der Popbranche entdeckte sie einige alte CDs von Sting, Bruce
Springsteen, Prince
und Love Spit Love, doch entweder besaß sie
diese Alben bereits, oder sie trafen nicht ihren musikalischen
Geschmack.

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Fast erleichtert darüber, kein Geld ausgeben zu müssen, wollte

Phoebe den Laden schon wieder verlassen, als ihr ein kleines, eher
unspektakuläres Display ins Auge fiel. Es war ein kleiner
Pappaufsteller mit den aufgedruckten Ganzkörperfotos von vier gut
aussehenden jungen Männern. Von vier außergewöhnlich gut
aussehenden jungen Männern, um genau zu sein. Neugierig trat sie
näher und las den Bandnamen unter dem Foto: Nature Sons.

Seltsam, dachte Phoebe, von diesen Jungs habe ich ja noch nie

etwas gehört. Offensichtlich schien es sich um eine neue Boygroup zu
handeln, die angetreten war, den Backstreet Boys und N'Sync
Konkurrenz zu machen. Und zumindest was das Aussehen anbetraf,
konnten die Nature Sons es durchaus mit ihren Vorbildern aufnehmen.
Das Quartett lächelte den Betrachter mit einer gekonnten Mischung
aus Unschuld und Verschmitztheit an, die es einem gleich
sympathisch machte. Sicher, die weit aufgeknöpften Hemden, unter
denen sich muskulöse Brustkörbe abzeichneten, trugen nicht
unwesentlich zu dieser Wirkung bei …

Unwillkürlich stieß Phoebe einen leisen anerkennenden Pfiff aus.

Die Nature Sons wirkten wie eine Kreuzung aus den Backstreet Boys
und Gun's and Roses: attraktive, romantisch veranlagte junge Männer,
denen man darüber hinaus durchaus eine dunkle, geheimnisvolle Seite
zutraute.

Phoebes gute Laune verdunkelte sich mit einem Schlag.

Romantisch und düster zugleich – das war auch eine treffende
Beschreibung für Cole, sofern es überhaupt eine gab. Bekanntlich war
sie ja in die Stadt gegangen, um sich für ein paar Stunden von ihrem
Ex-Geliebten abzulenken – doch schon der Anblick eines simplen
Pappaufstellers reichte, um alle Gedanken wieder um ihn kreisen zu
lassen. So viel zur therapeutischen Wirkung von Frustkäufen, dachte
Phoebe. Sie machte Anstalten, sich umzudrehen und den Laden zu
verlassen, als jemand an sie herantrat.

»Gefallen Ihnen die Jungs, Miss?«

Phoebe wandte den Kopf und erblickte neben sich einen leicht

untersetzten Mann. Er trug einen billigen Anzug aus Kunstfasern, der
an den Ellenbogen schon speckig glänzte. Immerhin harmonierte seine
Kleidung dadurch mit den fettigen Haarsträhnen, die – wenig
erfolgreich – eine fortschreitende Glatze verbergen sollten.

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Der Fremde blickte sie aus dunklen Augen an, wobei ein leicht

anzügliches Lächeln seine weichen Lippen umspielte.

»Wie bitte?«, fragte Phoebe erstaunt. Wenn das eine Anmache sein

sollte, dann brauchte dieser Typ dringend ein paar Nachhilfestunden
in der nächsten Flirtschule.

Der Mann machte eine entschuldigende Geste. »Oh, tut mir Leid,

wenn ich Sie hier einfach so anspreche, Miss, aber ich hab bemerkt,
wie Sie sich das Display der Nature Sons angeschaut haben. Mein
Name ist Markel, ich bin der Manager der Band.«

Der Fremde, Markel, blickte Phoebe an, als erwartete er Beifall für

diese Bekanntmachung. Als dieser ausblieb, zog er eine Visitenkarte
aus der Tasche seines Jacketts und reichte sie Phoebe. Mit spitzen
Fingern nahm diese die Karte entgegen und bemühte sich, dabei nicht
auf den schwarz behaarten Handrücken des Mannes zu starren. Eine
simple Geste der Höflichkeit, obwohl sie keine Ahnung hatte, was sie
mit der Geschäftskarte anfangen sollte.

»Phoebe Halliwell. Freut mich, Sie kennen zu lernen, Mister

Markel«, sagte Phoebe. »Aber ich muss zugeben, dass ich von den, äh
…«, sie blickte auf das Display, »… von den Nature Sons noch nie
gehört habe.«

Markel nickte milde lächelnd. »Das kann ich mir vorstellen, Miss

Halliwell, aber das wird sich schon bald ändern. Die Jungs sind noch
neu in der Branche. Aber schon bald werden sie eine ganz große
Nummer werden und die Backstreet Boys aussehen lassen wie einen
Knabenchor.«

Der Manager deutete auf einen kleinen Stapel CDs, der neben dem

Pappaufsteller auslag. »Das ist das erste Album der Nature Sons,
vertrieben durch meinen eigenen kleinen Musikverlag. Es ist gerade
erst veröffentlicht worden, deshalb bin ich auch auf einer kleinen
Promotiontour durch die Plattenläden der Bay Area. Arbeit an der
Basis, Sie verstehen? Große landesweite Werbekampagnen kann ich
mir leider nicht leisten. Noch nicht.«

Phoebe nickte höflich und machte dann eine entschuldigende Geste

Richtung Ausgang. Irgendwie fühlte sie sich in der Nähe des Mannes
nicht wohl. Und das lag nicht nur an dem billigen Rasierwasser, in
dem er offensichtlich gebadet zu haben schien. »Dann wünsche ich
Ihnen viel Erfolg, Mister Markel, aber ich muss jetzt leider weiter …«

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Markel lächelte nachsichtig. »Ich verstehe, Miss. Aber vielleicht

haben Sie ja Lust, zuvor noch schnell bei unserem Gewinnspiel
mitzumachen?«

Der Manager zog einen kleinen, bedruckten Zettel aus der Tasche

und reichte ihn Phoebe. »Füllen Sie einfach dieses Teilnahmeformular
aus, und Sie können ein Gratis-Ticket zum nächsten Konzert der
Nature Sons hier in San Francisco gewinnen.«

Phoebe seufzte unmerklich. Wahrscheinlich war der Typ nur auf

Werbeadressen aus, um sie an diverse Firmen weiterzuverkaufen.
Andererseits wollte sie so schnell wie möglich von diesem
schleimigen Gesellen wegkommen. Also nahm sie den Stift, den
Markel ihr entgegenhielt und schrieb Namen und Adresse in die dafür
vorgesehenen Felder. Was soll's, auf ein paar Reklamesendungen
mehr oder weniger kommt es auch nicht mehr an, dachte sie.

Markel strahlte und ließ den ausgefüllten Teilnahmecoupon in

seiner Jackentasche verschwinden. »Vielen Dank, Miss Halliwell. Sie
werden es nicht bereuen. Einen schönen Tag noch!«

Phoebe war froh, dass Markel ihr zum Abschied nicht die Hand

reichte. »Den wünsche ich Ihnen auch. Und viel Erfolg mit Ihrer
Band.«

Mit ihren Einkaufstaschen unter dem Arm verließ Phoebe den

Plattenladen. Eine Minute später hatte sie die Begegnung mit Markel
schon wieder vergessen.

Im Star Recorzz sortierte der Verkäufer mit dem Pferdeschwanz

unterdessen lustlos ein paar neue CDs in das Regal ein, neben dem
Markel stand und auf Kundenfang ging.

»Ich will ja nichts sagen, Mann«, bemerkte er in Richtung des

Managers, »aber ist das nicht 'ne verdammt stressige Art, 'ne CD zu
promoten? Ich meine, wenn man dafür jeden potenziellen Käufer
persönlich anquatschen muss …«

Markel grinste und sah den jungen Mann aus

zusammengekniffenen Augen an. Jede Spur von Freundlichkeit war
aus seinem Gesicht gewichen. Unwillkürlich machte der Verkäufer
einen Schritt zurück.

»Tja, Junge«, grinste Markel, »du weißt ja, wie der Teufel arbeitet:

Er holt sich eine Seele nach der anderen …«

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2

D

ER DÄMON TAUCHTE aus dem Nichts auf.

Piper, Phoebe und Paige saßen gemütlich am Küchentisch beim

Abendessen, als er plötzlich und ohne Vorwarnung aus dem Boden zu
schießen schien.

Und zwar im wahrsten Sinne des Wortes.

Piper war die Erste, die den Eindringling bemerkte. Sie hatte

gerade nach einer Scheibe Brot greifen wollen, als sie aus den
Augenwinkeln eine Bewegung im angrenzenden Flur bemerkte. Wie
ein zartes Pflänzchen brach dort etwas durch die Ritzen des
Parkettbodens und wuchs innerhalb weniger Augenblicke zu einer
Furcht erregenden Gestalt heran.

Der Dämon war mindestens zwei Meter groß. Sein gesamter

Körper war mit einer Art Borke überzogen. Knorrige, lange Arme
endeten in Krallen, die mit scharfen Holzspitzen bewehrt waren. Aber
das Schlimmste war das mit Rinde überzogene Gesicht: An den
Stellen, an denen eigentlich die Augen sein sollten, prangten nur zwei
tiefe, dunkle Astlöcher.

Trotzdem schien der Dämon mit ihnen hervorragend sehen zu

können. Nachdem er sich kurz orientiert und die drei Schwestern am
Küchentisch erblickt hatte, stapfte er mit einem trockenen Knurren aus
der hölzernen Kehle auf sie zu.

Zu diesem Zeitpunkt hätte Piper den Eindringling möglicherweise

noch leicht überwältigen können, wenn sie ihn einfach eingefroren
hätte – aber der Anblick eines Baumdämons im Flur des Halliwell-
Hauses war einfach zu bizarr. Einen Moment lang traute sie ihren
Augen nicht, und diese Schrecksekunde reichte dem Eindringling, um
unbehelligt in die Küche zu stampfen.

Mittlerweile hatten auch Phoebe und Paige das hölzerne Monstrum

bemerkt. Und genau wie ihre ältere Schwester rissen auch sie nur
ungläubig die Augen auf.

Da löste sich Piper aus ihrer Erstarrung. »In Deckung!«, rief sie,

sprang vom Stuhl auf und stieß die immer noch reglose Paige zur
Seite. Die beiden Schwestern prallten hart auf dem Küchenboden auf.

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Im selben Augenblick ließ der Dämon seinen rechten Holzarm auf den
Tisch niedersausen. Mit einem ohrenbetäubenden Krachen zerbarst
die Platte in tausend Stücke. Holzsplitter und die Überreste des
Abendessens flogen durch die Küche. Der Dämon bewegte sich trotz
seiner massigen Erscheinung blitzschnell und verfügte offenbar über
immense Kräfte.

Aus den Augenwinkeln konnte Piper sehen, wie sich Phoebe

ebenfalls in Sicherheit brachte. Unwillkürlich hatte die Schwester ihre
Levitationskraft eingesetzt, um sich rückwärts aus der Gefahrenzone
zu katapultieren.

Piper atmete auf. Es war die richtige Entscheidung gewesen, Paige

zu Boden zu stoßen und darauf zu hoffen, dass Phoebe sich selbst
retten würde. Immerhin war es nicht das erste Mal, dass ein Dämon in
das Haus der Zauberhaften eindrang, um die Schwestern zu töten.

»W-Was ist das für ein Ding?!«, stammelte Paige, während sie

hastig ein Stück rückwärts kroch.

Ohne den Dämon aus den Augen zu lassen, rappelte sich Piper auf.

»Irgend so ein hergelaufener Waldschrat, der sich einen Namen
machen will, indem er die Zauberhaften tötet, nehme ich an.«

»Das kann er sich aber von der Rinde putzen«, knurrte Phoebe.

»Schaut euch mal an, was er mit meiner neuen Bluse gemacht hat!«
Außer sich vor Wut deutete sie auf einen großen Honigfleck, der von
ihrer Schulter tropfte. »Das krieg ich doch nie wieder raus! Na warte,
Holzkopf!«

Sprach's und setzte zu einem gekonnten Sprung an. Einen

Sekundenbruchteil später segelte sie durch die Luft, während der
Absatz ihres rechten Stiefels auf den Kopf des Dämons zuschoss.

»Phoebe, vorsichtig!«, rief Piper. Dieser Dämon, so absurd er auch

aussah, war nicht zu unterschätzen. Doch es war schon zu spät, und
von nun an überschlugen sich die Ereignisse.

Während Phoebe noch durch die Küche flog, wirbelte der

Baumdämon herum. Mit einem zahnlosen Grinsen richtete er seinen
knorrigen Arm auf die Angreiferin. Im selben Augenblick ertönte ein
trockenes Knirschen, und der Arm begann zu wachsen wie ein Ast im
Zeitraffer-Tempo. Phoebe blieb keine Zeit mehr auszuweichen. Mitten
im Sprung packte der Dämon sie an der Kehle und rammte sie mit

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dem immer noch wachsenden Arm gegen die gegenüberliegende
Küchenwand.

Phoebe riss die Augen auf und versuchte röchelnd, nach Luft zu

schnappen, während der Dämon ihre Kehle immer weiter zudrückte.

Ohne zu zögern hob Piper den Arm, um den Dämon einzufrieren.

Doch sie hatte die Rechnung ohne ihren Angreifer gemacht. Wider
Erwarten fuhr das Monster erneut herum und traf Piper mit voller
Wucht am Kopf.

Es war, als wäre sie ungebremst gegen einen Baumstamm gerannt.

Sterne blitzten vor ihren Augen auf, und dann wurde ihr plötzlich
schwarz vor Augen. Während Piper zusammenbrach und gegen eine
drohende Ohnmacht ankämpfte, rutschte Phoebe ächzend zu Boden
und schnappte verzweifelt nach Luft.

»Vorsicht!« Paiges Stimme schien von weither zu kommen.

Benommen blickte Piper auf und sah wie durch einen Nebelschleier,
dass der Holzdämon ein Bein hob, um es auf sie hinabsausen zu
lassen.

Mit letzter Kraft rollte sich die junge Frau zur Seite. Ein paar

Zentimeter neben ihrem Kopf rammte sich das baumstammdicke Bein
des Angreifers in den Boden. Das Parkett zersplitterte, und da, wo
gerade noch Pipers Kopf gelegen hatte, klaffte jetzt ein kleiner Krater
im Fußboden.

Piper seufzte, verdrehte die Augen, und dann verlor sie endgültig

das Bewusstsein.

Die Furchen im Gesicht des Baummonsters verschoben sich zu

einem höhnischen Grinsen. »Ihr seid also die berühmten
Zauberhaften?«, grollte es heiser aus seiner Kehle. »Pah, ich habe
schon gegen Zauberlehrlinge gekämpft, die stärker waren als ihr!«

»Freu dich nicht zu früh! Wir werden dich zu Kleinholz

verarbeiten!«, fauchte Paige und ging in Verteidigungsposition. Dabei
wünschte sie sich, wirklich so zuversichtlich zu sein, wie sie tat.
Irgendwie schien dieser Kampf nicht gut zu laufen. Es war, als hätte
der Dämon sie alle drei auf dem falschen Fuß erwischt. Was war nur
los mit ihnen?

Paige wusste, sie musste sich irgendetwas einfallen lassen, sonst

sah es finster aus. Während sie und der Dämon sich lauernd

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umkreisten, kam Phoebe von hinten heran und schlug dem Angreifer
eine Eisenpfanne gegen den hölzernen Hinterkopf. Es gab ein
dumpfes Geräusch, mehr nicht.

Wütend schoss der knorrige Arm des Dämons vor und packte

Paige am Kragen ihrer Bluse. Sie spürte die unangenehme, raue
Oberfläche der Rinde an ihrem Kinn.

»Vielleicht solltest du es mal mit Feuchtigkeitscreme versuchen«,

keuchte sie, »das wirkt Wunder bei trockener Haut …«

Das Baummonster blickte sie aus seinen leeren Augenhöhlen an.

Eine Welle der Übelkeit schwappte über Paige zusammen, als sie sah,
dass fleischige, bleiche Maden darin wimmelten.

»Mann, in dir ist echt der Wurm drin«, würgte sie hervor.

»Du wartest gefälligst, bis du an der Reihe bist«, grunzte der

Dämon. »Andererseits, wenn wir schon mal dabei sind …«

Mit einem tiefen Grollen hob der Dämon seine zweite Pranke und

wollte sie auf das Gesicht der jungen Hexe pressen, als Paige sich mit
einem Aufschrei wegteleportierte. Die Luft um sie herum glomm
bläulich auf, und dann fuhr die Pranke des Dämons auch schon ins
Leere.

Inzwischen hatte sich Phoebe mit einem der Holzbeine des

demolierten Küchentischs bewaffnet. Den behelfsmäßigen Knüppel
schwingend wollte sie gerade auf den Dämon zustürmen, als Paige
wieder materialisierte.

Unglücklicherweise genau vor Phoebe.

»Hey! Vorsicht!«, rief Paige und riss schützend die Hände vor den

Kopf.

Phoebe konnte es zwar gerade noch verhindern, ihre eigene

Schwester niederzuknüppeln, rempelte sie jedoch mit voller Wucht an.

Der Zusammenstoß brachte die Schwestern lange genug aus dem

Gleichgewicht, um es dem Dämon zu ermöglichen, zu einem
mächtigen Schlag auszuholen.

Sekundenbruchteile später wirbelten Phoebe und Paige wie

Stoffpuppen durch die Küche bis ins Wohnzimmer.

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Zum Glück prallten sie gegen das alte Sofa, das den Stoß

einigermaßen abfederte. Dennoch würden sie ein paar ordentliche
blaue Flecken als Erinnerung an diesen Kampf davontragen.

Vorausgesetzt, sie würden diesen Kampf überhaupt überleben.

»Au!«, stöhnte Paige und rieb sich den Oberarm, der durch den

Rundumschlag des Dämons in Mitleidenschaft gezogen worden war.
»So behandelt man keine Dame, Holzkopf! Hat man dir das auf der
Baumschule nicht beigebracht?!«

Der Dämon antworte nur mit einem Knurren und stapfte schweren

Schrittes auf die beiden Hexen zu. Unter jedem seiner Schritte
vibrierte der Holzfußboden.

Phoebe sah, wie Paige sich konzentrierte. Im selben Augenblick

begann ein schwerer Schürhaken, der vor einer Sekunde noch friedlich
vor dem Wohnzimmerkamin gelegen hatte, zu vibrieren.

Ganz offensichtlich setzte Paige ihre telekinetischen Kräfte gegen

den Holzdämon ein.

Wenn das mal gut geht, dachte Phoebe und beobachtete, wie sich

der Schürhaken in die Luft erhob. Dann begann er um die eigene
Achse zu rotieren wie ein Bumerang.

Paige kniff die Augen zusammen und gab dem Objekt einen

letzten, telekinetischen Stoß. Mit einem fast bösartigen Zischen raste
es auf den Dämon zu.

Doch die Schwestern hatten erneut Pech. Durch das Zischen des

durch die Luft segelnden Hakens alarmiert, machte das Baummonster
einen Ausfallschritt zur Seite. Holzsplitter flogen umher, als der
Schürhaken den Dämon an der Schulter streifte und dann an ihm
vorbeiwirbelte.

Der Eindringling heulte vor Schmerz auf. Doch Paiges Angriff

hatte ihn nicht wirklich verletzt, sondern nur noch wütender gemacht.

Und nicht nur das – Paige hatte so viel Wucht in den

telekinetischen Angriff gelegt, dass das eiserne Geschoss von der
gegenüberliegenden Wand abprallte und jetzt auf die drei Schwestern
zuraste.

»Paige, runter!«, rief Phoebe entsetzt auf. Die beiden Hexen

sprangen kreischend in Deckung. Fast im selben Augenblick spürte

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Paige den Luftzug des Schürhakens, der nur Zentimeter über ihrem
Kopf hinwegraste.

Als die junge Hexe wieder aufblickte, sah sie gerade noch, wie das

verirrte Geschoss eine alte Porzellanvase – ein Erbstück ihrer
Großmutter – zerschmetterte. Ausgerechnet.

Der Dämon lachte auf. »Nett von euch, dass ihr versucht, euch

gegenseitig umzubringen. Aber damit nehmt ihr mir ja den ganzen
Spaß!«

Mit diesen Worten hob er seine Arme und richtete die

Fingerspitzen auf Phoebe und Paige. Efeuartige Ranken schossen
daraus hervor, und bevor die beiden reagieren konnten, schlangen sich
die magischen Triebe um ihre Hälse und schnürten ihnen die Kehle
zu.

In diesem Moment wankte Piper benommen ins Wohnzimmer und

riss erschrocken die Augen auf.

»Ich könnte euch auch sofort das Genick brechen«, höhnte das

hölzerne Monster, »aber ich glaube, ich lasse euch noch ein wenig
zappeln.«

»Und um dich kümmere ich mich danach«, fügte er mit einem

Seitenblick auf Piper hinzu.

Entsetzt blickte Piper auf ihre Schwestern, die ebenso verzweifelt

wie vergeblich versuchten, die Schlingpflanzen von ihren Hälsen zu
reißen. Schon liefen ihre Gesichter blau an.

Krampfhaft versuchte Piper, sich zu konzentrieren und ihre Kräfte

zu aktivieren, doch der Schlag gegen den Kopf hatte sie offensichtlich
so sehr geschwächt, dass sie sich kaum sammeln, geschweige denn
zaubern konnte. Verzweifelt ließ sie den Arm wieder sinken.

Ich muss mir schnell was einfallen lassen, um dem Dämon die

Suppe zu versalzen, dachte sie, sonst ist es um Paige und Phoebe
geschehen! Moment mal, »die Suppe versalzen!« – das könnte es sein!

In Windeseile trat Piper den Rückzug in die Küche an. Während

das Keuchen ihrer Schwestern aus dem Wohnzimmer immer
verzweifelter klang, riss sie einen Küchenschrank auf. Als
professionelle Köchin hielt sie in der Küche stets Ordnung, was ihr

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jetzt zugute kam. Sie musste die große Pappschachtel nicht lange
suchen.

Es gibt zwei Dinge, dachte Piper, die kein Baum auf dieser Welt

verträgt: Feuer … und eine ordentliche Portion Salz. Um den
Baumdämon abzufackeln, brauchte sie allerdings schon einen
Flammenwerfer. Da war die andere Alternative schon einfacher zu
bewerkstelligen. Mit zittrigen Händen riss sie die Salzschachtel aus
dem Regal und stellte erleichtert fest, dass sie noch fast voll war.

Umgehend stürmte sie ins Wohnzimmer zurück.

Phoebe und Paige waren einer Ohnmacht inzwischen sehr nah, und

der Baumdämon schien es zu genießen, die beiden Hexen qualvoll
langsam zu erdrosseln.

»Hey, Holzkopf!«, rief Piper.

Knurrend drehte ihr der Dämon seine scheußliche Fratze zu.

Da holte Piper aus und schleuderte dem Monstrum die

Pappschachtel mit dem Salz entgegen. Mit einem dumpfen Geräusch
zerplatzte die Packung auf dem Gesicht der Höllenkreatur, und eine
Wolke von Salzkristallen ergoss sich über seine borkige Haut. Eine
Sekunde lang schien die Zeit still zu stehen. Dann überstürzten sich
die Ereignisse zum zweiten Mal.

Mit einem markerschütternden Schrei bäumte sich das Ungetüm

auf und ließ Phoebe und Paige los. Die tödlichen Triebe schossen
zurück in die Klauen des Dämons, während dieser versuchte, sich das
Salz aus dem Gesicht zu wischen. Ein böser Fehler, denn damit rieb er
sich die winzigen Kristalle nur noch tiefer in die Furchen seiner
schorfigen Haut. Und Pipers Plan schien zu funktionieren: Das Salz
trocknete die Rinde des Dämons augenblicklich aus. Schon begannen
einzelne Krusten aus seinem Gesicht herauszubrechen.

»Verdammte Hexe!«, heulte der Baumdämon, »Was hast du

getan?!« Vor Schmerz und Wut außer sich, begann er, blind um sich
zu schlagen. Aber diesmal schafften es die Hexen mit Leichtigkeit,
seinen blinden Hieben auszuweichen. Die Wohnzimmereinrichtung
der Halliwells hatte dabei leider nicht so viel Glück. Ein Esstisch und
zwei Stühle zerbarsten unter den Schlägen des hölzernen Ungetüms.

»Kommt hier rüber«, rief Piper ihren Schwestern zu, die, endlich

vom Griff des Monsters befreit, panisch Luft in ihre Lungen sogen.

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»Wir müssen diesen wild gewordenen Setzling kaltstellen, bevor er
noch das ganze Haus zerlegt!«

Keuchend liefen Paige und Phoebe zu ihrer Schwester.

»Paige, kannst du ihn noch weiter von uns wegstoßen?«, schrie

Piper, um das Krachen der zu Bruch gehenden Möbel zu übertönen.

»Mit dem größten Vergnügen!«, rief Paige und versetzte dem

Dämon einen wütenden Stoß, der ihn in die andere Ecke des Zimmers
katapultierte.

Das muss reichen, dachte Piper, die hoffte, dass der Angreifer nun

weit genug entfernt war, um ihre eigenen Kräfte anwenden zu können.
Und dass sie dabei nicht erneut scheiterte …

Kleine Rauchwolken drangen aus der Rinde des Dämons, als er

sich aufrappelte und mit einem Wutschrei auf die drei Schwestern
zustürmte.

Mit klopfendem Herzen schloss Piper die Augen und konzentrierte

sich erneut. Sie musste sich nur vorstellen, wie der heranstürmende
Holzdämon explodierte und …

Einen Sekundenbruchteil später donnerte ein ohrenbetäubender

Knall durch das alte Halliwell-Haus. Noch während der Dämon
vorwärts preschte, zerbarst er in tausend Teile. Messerscharfe
Holzsplitter wurden durch den Raum geschleudert. Piper, Phoebe und
Paige konnten sich gerade noch wegducken, um den tödlichen
Geschossen zu entgehen.

Dann herrschte auf einmal Stille im Wohnzimmer.

Piper wischte sich ein paar verschmorte Sägespäne von der Bluse.

»Kein Kunstdünger mehr für dich«, zischte sie den verkohlten
Überresten des Holzdämons zu.

»Meine Güte, das war knapp«, keuchte Phoebe und rieb sich den

Hals, an dem immer noch Würgemale zu sehen waren. »Danke,
Piper.«

»Ja, das mit dem Salz war 'ne prima Idee, Schwesterherz«,

pflichtete Paige bei. »Aber ich wäre dir wirklich dankbar, wenn du
deine Geistesblitze demnächst ein wenig früher haben könntest …«

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Aber Piper hörte schon gar nicht mehr hin. Ihr ging etwas ganz

anderes durch den Kopf: Der zurückliegende Kampf war in vielerlei
Hinsicht nicht so verlaufen, wie man es von den Zauberhaften hätte
erwarten können.

Irgendetwas stimmte hier nicht …

Beklommen blickte sie ihre Schwestern an. »Paige, Phoebe«, sagte

sie ernst, »wir müssen reden …«

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3

S

EUFZEND KLAUBTE PIPER die letzten Reste des

Küchentisches zusammen und stopfte sie in eine große blaue Mülltüte,
die Phoebe ihr aufhielt.

Sie mochte gar nicht daran denken, was die Reparatur

beziehungsweise der Neukauf der im Kampf zertrümmerten Möbel
kosten würde. Und das zu einem Zeitpunkt, wo die Geschäfte im P3
ohnehin nicht besonders gut liefen. Im Augenblick schien wirklich
alles schief zu gehen, und genau darüber wollte sie mit ihren
Schwestern reden.

»Wenigstens hat dieser ungehobelte Klotz die Kaffeemaschine

intakt gelassen«, sagte Paige und reichte Piper eine Tasse mit
dampfendem Kaffee.

Piper nahm sie dankbar entgegen und blickte ihre beiden

Schwestern ernst an. »Der Kampf hätte uns nicht so schwer fallen
dürfen«, sagte sie schließlich. »Zugegeben, dieser Holzkopf war ein
ziemlich starker Dämon, aber wir sind schon mit ganz anderen
Kalibern fertig geworden … und zwar ohne dass dabei die halbe
Einrichtung zu Bruch gegangen wäre.«

Piper warf einen Blick in das benachbarte Wohnzimmer, das

immer noch aussah, als hätte dort eine Bombe eingeschlagen. »Ich
hatte irgendwie den Eindruck, als wären wir … ich weiß nicht, wie
ich's sagen soll … vom Pech verfolgt gewesen. Die Frage klingt
vielleicht seltsam, aber sind euch in letzter Zeit vielleicht ähnliche
Missgeschicke passiert?«

Paige und Phoebe blickten ihre ältere Schwester skeptisch an. Aber

so ganz abwegig schien Pipers Frage nicht zu sein.

Nach ein paar Sekunden des Nachdenkens nickte Paige. »Nun ja«,

begann sie, »ich bin zwar noch nie ein Glückspilz gewesen, aber jetzt,
wo du es sagst … irgendwie scheine ich zurzeit tatsächlich eine kleine
Pechsträhne zu haben.

Gestern, im Büro des Sozialdienstes, wollte ich zum Beispiel ein

wichtiges Dokument per Fax verschicken – und das Original wurde
dabei vom Gerät zu Konfetti verarbeitet. Ich habe Stunden gebraucht,

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um vom zuständigen Amt eine Zweitausfertigung zu bekommen. Ihr
könnt euch vorstellen, wie sauer mein Boss war. Dabei konnte ich
doch gar nichts dafür. Und vorgestern hatte ich ja diese Reifenpanne,
erinnert ihr euch? Im strömenden Regen musste ich zwei Stunden lang
auf den Abschleppdienst warten.«

Paige starrte auf die Fingerspitzen ihrer rechten Hand. »Und beim

Kampf gegen dieses Holzmonster hab ich mir auch noch einen
Fingernagel abgebrochen«, fügte sie vorwurfsvoll hinzu.

Phoebe strich sich nachdenklich eine Strähne aus der Stirn. »Mit so

einer Tragödie kann ich zwar nicht mithalten, aber ich hab in den
letzten Tagen zwei Knöllchen fürs Falschparken bekommen. Und
dann hab ich in der Redaktion eine E-Mail geöffnet, die mit einem
Computervirus infiziert war. Wie es aussieht, muss ich den
entstandenen Schaden aus eigener Tasche bezahlen, weil ich nicht
aufgepasst habe …«

Piper runzelte besorgt die Stirn. Auch sie selbst hatte in den letzten

paar Tagen mehr als nur ein wenig Pech gehabt. Ein Ventil an der
Zapfanlage im P3 war geplatzt, und die Reparatur würde eine
ordentliche Stange Geld kosten. Und dann war ihnen im Club eine
ganze Ladung Shrimps wegen eines Defekts der Kühlanlage
verdorben …

Diese Vorfälle konnten natürlich reiner Zufall sein, aber in Piper

nagte das unangenehme Gefühl, dass hier irgendetwas nicht mit
rechten Dingen zuging. Und wenn sie in den letzten Jahren ihrer
Hexenkarriere etwas gelernt hatte, dann, ihren Gefühlen zu trauen.

Piper hob den Kopf. »Leo!«, sagte sie nur.

Sekunden später begann die Luft zu flimmern. In einer Aura aus

blauem Licht materialisierte Leo, Pipers Ehemann und seines
Zeichens ein Wächter des Lichts.

»Hi, Schatz«, rief Leo und strahlte seine Frau an. Doch als er das

Schlachtfeld erblickte, das einst das Wohnzimmer der Halliwells
gewesen war, verfinsterte sich seine Miene. »W-Was in aller Welt ist
denn hier passiert?«, fragte er entgeistert.

Piper winkte ab. »Nur der übliche dämonische Hausbesuch zur

Abendstunde. Doch um ehrlich zu sein, mir bereitet etwas ganz

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anderes Sorge: Weißt du vielleicht von einem Fluch oder einem Bann,
der seinen Opfern … nun ja … Unglück bringt?«

Leo riss den Blick von der zertrümmerten Wohnzimmereinrichtung

los und blickte seine Frau ernst an. »Mmh, ich glaube nicht, dass so
eine Art von Bann existiert. Ihr wisst ja wahrscheinlich besser als ich,
dass so ein Fluch immer sehr eindimensional funktioniert. Du kannst
damit einen Mann zu einem Frosch machen …«

»Ach, das geht wirklich?«, rief Paige begeistert dazwischen.

»Könnt ihr mir beibringen, wie das geht?«

»… aber jemandem Unglück zu bringen, ist viel zu kompliziert«,

fuhr Leo fort. »Dazu müsste man mehr Faktoren berücksichtigen, als
man in einem einzelnen Fluch unterbringen kann. Es sei denn …« Er
erstarrte.

»Was? Was ist los, Leo?«, fragte Piper. Diese Reaktion ihres

Mannes gefiel ihr ganz und gar nicht.

Der Wächter des Lichts sah die drei Schwestern eindringlich an.

»Hat eine von euch in letzter Zeit etwas zerbrochen? Ein Glasgefäß
vielleicht?«

»Nicht, dass ich wüsste«, sagte Piper.

»Nö«, sagte Phoebe.

»Ähm … also …«, stotterte Paige.

»Paige!«, riefen Piper und Phoebe gleichzeitig aus.

Die jüngste der drei Hexen schien förmlich in sich

zusammenzusacken. »Na ja«, presste sie hervor, »ich war neulich auf
dem Dachboden und hab ein bisschen in dieser alten Kiste
herumgewühlt. Und dabei ist mir diese komische Flasche
heruntergefallen. Ich hab mir nicht viel dabei gedacht, und …«

»Komische Flasche?«, wiederholte Leo und schüttelte den Kopf.

»Folgt mir auf den Dachboden!«, rief er, bevor er in einer Lichtwolke
verschwand.

»Was hast du nur wieder angestellt, Paige?«, fragte Piper in einem

vorwurfsvollen Ton. Dann lief sie in den Flur, um ihrem Ehemann auf
den Dachboden zu folgen.

Paige seufzte.

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Ein paar Sekunden später hatten die Zauberhaften den Speicher

erreicht.

Leo wartete bereits auf sie. »Paige, wo ist diese Flasche, die du

zerbrochen hast?«, fragte er ruhig.

»Ja, das würde ich auch gern wissen«, sagte Piper. Ihre Stimme

klang weitaus unduldsamer als die ihres Mannes.

Paige schluckte und schob den Pappkarton zur Seite, hinter dem sie

die Scherben des Flakons außer Sicht geschafft hatte.

»Du hast sie vor mir versteckt?«, fragte Piper fassungslos.

Paige zuckte hilflos mit den Schultern. »Na ja, ich hatte Angst,

dass du mir eine Gardinenpredigt hältst, weil ich diese dumme kleine
Flasche zerbrochen habe. Was ist denn schon dabei?«

Es war Leo, der Paiges Frage beantwortete. Der Wächter des Lichts

kniete neben den Scherben nieder, begutachtete sie sorgfältig und
setzte die größten Fragmente provisorisch wieder zusammen. »Das
Design ist eindeutig. Paige, du hast versehentlich einen Blimp
freigesetzt.«

»Einen was?«, fragten Piper, Phoebe und Paige gleichzeitig.

Leo stand wieder auf und verzog das Gesicht. »Einen so genannten

Blimp. Eigentlich heißen die kleinen Kerlchen ganz anders, aber ihr
wahrer Name ist für sterbliche Zungen absolut unaussprechlich. Ihr
wisst doch, was ein ›Imp‹ ist, oder?«

Phoebe kratzte sich am Hinterkopf. »Das ist doch das englische

Wort für ›Flaschenteufel‹, richtig?«

»Genau.« Leo nickte. »Und ein Blimp ist eine besondere Art dieser

Klein-Dämonen. Oder besser gesagt, eine Unart.«

»Willst du damit sagen, solche Flaschenteufel gibt es wirklich,

Leo?«, fragte Paige. »So wie in ›Aladin und die Wunderlampe‹?«

Leo seufzte. »Nicht ganz. Im Gegensatz zu den Imps aus dem

Märchen erfüllen die Blimps ihren Besitzern keine Wünsche –
sondern sie bringen nichts als Unglück. Daher auch der Name
›Blimps‹, ein Akronym für Bad-Luck-Imps. Ich nahm allerdings an,
dass kaum noch Exemplare von ihnen existieren. Eure Großmutter

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muss einen dieser kleinen Quälgeister überwältigt und in diesem
Flakon gefangen gehalten haben – zumindest bis du kamst, Paige.«

Die erbosten Blicke ihrer Schwestern richteten sich auf Paige. Die

junge Hexe schluckte hart. »Hey, seht mich nicht so an. Es war keine
Absicht, okay?«

»Darüber reden wir später«, sagte Piper kopfschüttelnd. Dann

wandte sie sich wieder an ihren Mann. »Was sollen wir denn jetzt
machen, Leo?«

Doch der Wächter des Lichts zuckte nur mit den Achseln. »Ich

würde mal im Buch der Schatten nachsehen. Ich bin sicher, ihr findet
darin irgendeinen Gegenzauber. Und bis dahin … würde ich an eurer
Stelle verdammt vorsichtig sein und keine gefährlichen Aktionen
erwägen. Diese Blimps sind verdammt kreativ, wenn es darum geht,
Ungemach zu bereiten.«

Leo hob die Hand, um sich von den Schwestern zu verabschieden.

Doch bevor er sich in einem Strudel aus Licht auflösen konnte,
machte Piper einen Schritt nach vorne und packte ihren Ehemann an
der Schulter.

»Hey, nicht so schnell! Wo willst du denn hin? Wie wäre es, wenn

du uns hilfst, diesen Blimp loszuwerden?«

Aber Leo schüttelte nur den Kopf. »Tut mir Leid, Piper. Ich bin ein

Wächter des Lichts. Meine Aufgabe ist es, zu helfen und zu heilen.
Und diesen Job kann ich nur schlecht erfüllen, wenn das Pech auch an
mir klebt. Bis ihr diesen Flaschengeist wieder eingefangen habt, muss
ich euch daher aus dem Weg gehen – bevor er auch Macht über mich
erlangt.«

Leo lächelte seine Frau liebevoll an. »Aber keine Sorge. Ich

behalte euch im Auge, Piper.« Mit diesen Worten verschwand er in
einer blauen Lichtwolke.

»Na, großartig«, zischte Piper und ging hinüber zum Buch der

Schatten, das wie immer auf einem Podest in der Mitte des Raumes
ruhte.

»Ich hoffe für dich, dass wir im Buch der Schatten einen

Gegenzauber finden, Paige. Andernfalls wird dir dieser Blimp gar
nicht so viel Ärger bereiten können, wie ich dir dann machen werde,
Schwesterherz.«

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4

Z

U ALLER ERLEICHTERUNG erwies sich das Buch der

Schatten – wie fast immer – als große Hilfe.

Kaum hatte Phoebe den Folianten aufgeschlagen, fand sie auch

schon den Eintrag, den sie suchte.

Auf irgendeine magische Art und Weise, die sie selbst nicht so

ganz verstanden, konnte dieses alte Buch seinen Inhalt selbständig
verändern und den Zauberhaften so mit einem Hinweis oder einem
Spruch bei ihrem jeweiligen Problem helfen.

Auf einer vergilbten Doppelseite fand sich die Abbildung eines

kleinen Flakons, der mit einer Art waberndem, flüssigem Licht gefüllt
war.

»Hört euch das an«, sagte Phoebe und begann, den in

altertümlichen Lettern geschriebenen Text zu entziffern. »›Der
Mxyzptlk‹ … Leo hat Recht, diesen Namen kann wirklich kein
Mensch aussprechen … Der Blimp also, ›lebt traditionell in gläsernen
Behältnissen und kann mit dem richtigen Spruch auch in ein solches
gebannt werden. Er gehört zur Klasse der niederen Dämonen und hat
die Fähigkeit, Pech zu bringen. Wer den Blimp freisetzt, wird
automatisch zu seinem Besitzer – und damit zu seinem ewigen Opfer.
Der Blimp ist ein dämonischer Parasit und ernährt sich von den
negativen Emotionen, die frei werden, wenn seine Opfer auf ihre
Pechsträhne reagieren.‹«

»Na, großartig«, knurrte Piper. »Steht da auch drin, wie man dieses

kleine Monster vernichtet?«

Phoebe überflog die nachfolgenden Zeilen im Buch. »Hier steht

nur der Spruch, mit dem man ihn in einer Flasche festsetzen kann.
›Ein Blimp verliert erst die Macht über seine Opfer, wenn ein anderes
Individuum freiwillig zu seinem neuen Besitzer wird.‹«

»So dumm ist doch keiner«, heulte Piper auf. »Heißt das, wir

haben diesen kleinen Quälgeist jetzt für den Rest unseres Lebens am
Haken?«

Phoebe las weiter. »›Wenn man den Blimp findet – was nicht eben

leicht ist, da er nur aus einer Art flüssigem Licht besteht, kann man

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ihn in seinem gläsernen Aufenthaltsort bannen und ihn damit
wenigstens vorübergehend seiner Macht berauben.‹«

»Na, das ist doch schon mal was«, sagte Piper. »Das heißt also, wir

müssen jedes Glasgefäß im Haus daraufhin überprüfen, ob sich ein
kleiner Flaschenteufel darin befindet.«

Piper nahm Bleistift und Papier von einer kleinen Ablage und

notierte sich den Zauberspruch, mit dem der Blimp – wenn auch nur
vorübergehend – gebannt werden konnte.

Dann deutete sie auf die Dachbodentür.

»Auf geht's, Mädels.«

Eine gute Stunde später wirkte das Haus der Halliwells mehr denn

je wie ein Schlachtfeld.

Phoebe und Paige stiegen vorsichtig über die Trümmer des

zurückliegenden Kampfes und inspizierten behutsam jedes Glasgefäß,
das sie fanden.

Argwöhnisch spähten sie in sämtliche Blumenvasen, Karaffen und

Trinkgläser.

Piper öffnete unterdessen alle Küchenschränke und kontrollierte

jedes Gewürzglas und jede gläserne Vorratsdose. Vergeblich. In den
Behältnissen war genau das, was darin sein sollte: Gewürze, Kräuter
und Backzutaten. Aber keine Spur von einem quirligen, kleinen
Kobold aus flüssigem Licht.

Schließlich trafen sich die drei Zauberhaften in der Küche wieder.

Phoebe schenkte ihnen eine Tasse Kaffee ein, nicht ohne vorher einen
kritischen Blick in die Glaskanne geworfen zu haben.

»Wir haben überall gesucht«, sagte Paige und seufzte. »Vielleicht

hat dieser kleine Quälgeist Halliwell-Manor schon längst verlassen.«

Phoebe schüttelte den Kopf. »Dem Buch der Schatten zufolge

muss sich der Blimp immer in der Nähe seiner Besitzer aufhalten. Er
muss also noch irgendwo im Haus sein.«

»Aber wo?« Paige stieß wütend die Luft aus. »Wir haben doch jede

Flasche und jedes Glasgefäß zwei Mal umgedreht.«

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»Dann werden wir eben noch einmal suchen und jede Flasche drei

Mal umdrehen«, sagte Piper. »Wir müssen diesen verdammten Dämon
finden und unschädlich machen.«

Sie blickte ihre Schwestern ernst an. »Ihr habt doch selbst erlebt,

was im Gefecht gegen den Baumdämon passiert ist. Für einen
normalen Menschen ist so eine Pechsträhne einfach nur ärgerlich, aber
im Kampf gegen die Mächte der Finsternis kann sie lebensbedrohlich
sein. Und wie ich unsere dämonischen Widersacher kenne, wird der
nächste Angriff nicht lange auf sich warten lassen.«

Piper wollte sich schon wieder an die Arbeit machen, als ihr etwas

einfiel. Aus der Gesäßtasche ihrer Jeans zog sie ein halbes Dutzend
Briefumschläge hervor. Sie sah sie kurz durch und reichte dann einen
davon an Phoebe weiter.

»Hier, Süße, der ist an dich adressiert. Ich hab den ganzen Packen

vorhin hinter der Kommode im Flur gefunden. Die Briefe sind schon
vor ein paar Tagen angekommen und müssen wohl hinter die
Kommode gerutscht sein.«

Neugierig nahm Phoebe den Brief entgegen. Als Adressant prangte

ein großer, gestempelter Schriftzug auf der Rückseite des Umschlags:
»Markel Music«.

Einen Moment lang starrte Phoebe verständnislos auf den

Absender. Wo hatte sie diesen Namen schon einmal gehört?
Natürlich! »Markel« war der Name dieses schmierigen Musik-
Managers aus dem Plattenladen gewesen. Wahrscheinlich schickte er
ihr nun Werbematerial zu seiner neuen, ach so tollen Boygroup.

Mit gedämpfter Erwartung riss Phoebe den Briefumschlag auf.

Zum Vorschein kam eine kleine Eintrittskarte und ein kurzes
Begleitschreiben.

Herzlichen Glückwunsch!

Sie sind der/die stolze Gewinner(in) einer Freikarte für das
Konzert der neuen Supergruppe NATURE SONS. Die beiliegende
Eintrittskarte gilt gleichzeitig als Backstage-Pass. Bei Verlangen
bitte vorzeigen.

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»Und? Was Wichtiges?«, fragte Paige. »Der Liebesbrief eines

heimlichen Verehrers vielleicht?«

Phoebe schüttelte nur den Kopf und wollte die Eintrittskarte schon

beiseite legen, als ihr Blick auf das aufgedruckte Veranstaltungsdatum
fiel. Das Konzert fand heute statt, genauer gesagt in einer guten
Stunde! Was nicht verwunderlich war, denn der Brief hatte ja einige
Tage unbemerkt unter der Kommode gelegen.

Wortlos blickte die junge Hexe auf das Trümmerfeld, das einst ihr

Wohnzimmer gewesen war. In der Küche hatte Piper bereits damit
angefangen, alle Regale zum zweiten Mal nach dem Unterschlupf des
Blimps zu durchforsten.

Phoebe fand, dass das nach einer verdammt langen Nacht aussah –

und das, obwohl sie an diesem Chaos doch völlig unschuldig war!
Insofern bot das Ticket eine elegante Möglichkeit, sich zu verdrücken.

Sie kämpfte noch eine Sekunde lang mit ihrem schlechten

Gewissen, dann sagte sie grinsend: »Piper, Paige – es tut mir echt
Leid, aber ihr müsst wohl ohne mich weitersuchen. Ich hab hier eine
Karte für ein Konzert, das ich mir unbedingt ansehen möchte.«

Das war zwar glatt gelogen, denn sie interessierte sich nicht die

Bohne für eine wahrscheinlich zweitklassige Boyband. Aber so eine
Veranstaltung war immer noch besser, als den Abend mit
Aufräumarbeiten und der Suche nach einem lästigen Flaschendämon
zu verbringen.

»Wirklich?«, fragte Paige interessiert. »Wer spielt denn?«

»Oh, die äh …«, Phoebe warf einen schnellen Blick auf das Ticket,

»… die Nature Sons!«

»Nie gehört«, murmelte Paige und schüttelte den Kopf.

»Na ja, die Jungs sind auch noch ganz neu im Geschäft. Aber wenn

sie mal so berühmt werden sollten wie die Backstreet Boys, kann ich
sagen, dass ich eines ihrer ersten Konzerte gesehen habe.«

»Das ist natürlich ein Argument«, stimmte Paige zu. »Nimmst du

mich mit?«

Phoebe räusperte sich. »Tut mir Leid, Paige, die Karte gilt nur für

eine Person …«

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»… und außerdem wirst du mir gefälligst bei der Suche nach dem

Blimp helfen, Paige!«, rief Piper gereizt dazwischen. »Immerhin hast
du uns diesen Schlamassel eingebrockt.«

»Ooch, wie gemein«, schmollte Paige, aber Pipers Blick duldete

keinen Widerspruch.

»Ist es denn okay, wenn ich gehe?«, fragte Phoebe und lächelte

ihre ältere Schwester zaghaft an.

Piper stellte ein halb volles Marmeladenglas zurück in den

Kühlschrank und zuckte die Schultern. »Ich denke schon. Paige und
ich können genauso gut allein weitersuchen. Wäre doch schade, wenn
du die Karte verfallen ließest. Aber sei vorsichtig – du weißt ja, dass
wir derzeit nicht gerade auf einer Welle des Glücks reiten.«

Phoebe nickte. »Ich lasse das Auto am besten stehen und nehme

den Bus. Da kann nicht viel passieren.«

Mit diesen Worten lief Phoebe die Treppe zu ihrem Zimmer

hinauf. Wenn sie es noch rechtzeitig zum Konzertbeginn schaffen
wollte, musste sie sich schnell umziehen. Zum Glück hielt der Bus
nicht weit vom Haus der Halliwells entfernt.

Sie öffnete ihren Kleiderschrank und wählte eine luftige Bluse aus,

dazu eine Jeans. Das musste reichen. Dann schlüpfte sie in ihre
Lieblingslederjacke und stürmte wieder hinunter ins Erdgeschoss.

Piper und Paige waren noch immer dabei, jede Ecke des Hauses

nach dem Blimp abzusuchen.

»Ich bin dann mal weg!«, rief Phoebe und öffnete die Haustür.

Piper blickte nur kurz auf. »Okay. Viel Spaß. Und pass auf dich

auf!«

»Geht klar!«, rief Phoebe und trat ins Freie.

Sekunden später fiel die Eingangstür hinter ihr ins Schloss.

In der Küche des Halliwell-Hauses unterbrach Piper wenig später

wie vom Donner gerührt ihre Suche und runzelte die Stirn. »Mhm …«

»Hast du was gefunden?«, fragte Paige.

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Piper schüttelte nachdenklich den Kopf. »Nein, ich wundere mich

nur gerade über etwas«, murmelte sie.

Paige blickte ihre Schwester erwartungsvoll an. »Und das wäre?«

»Nun ja … wenn die Zauberhaften momentan vom Pech verfolgt

werden – wie kann Phoebe dann bei einem Preisausschreiben
gewinnen?«

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5

Z

UM GLÜCK MUSSTE PHOEBE nicht lange auf den Bus

warten, denn die Nächte in San Francisco waren um diese Jahreszeit
noch frisch.

Sie hatte gerade noch Zeit, auf dem Fahrplan die richtige Linie

herauszusuchen, als der Bus auch schon schnaufend vor ihr hielt.

Seltsam, dachte Phoebe beim Einsteigen und blickte noch einmal

auf ihre Eintrittskarte, das Konzert findet in der Mondial-Halle am
Rande des Industriegebietes statt.

Sie war zwar noch nie dort gewesen, aber soweit sie wusste, war

das Mondial eine alte Lagerhalle, in der normalerweise nur Punk- und
Independent-Konzerte unbekannter Bands stattfanden. Wahrscheinlich
war dieser Markel so abgebrannt, dass er für seine Nature Sons keinen
besseren Auftrittsort buchen konnte.

»Lass mich raten«, sagte eine Stimme neben ihr, »du fährst auch zu

dem Konzert.«

Phoebe blickte überrascht auf. Sie hatte sich einfach auf den

nächstbesten freien Platz gesetzt, ohne auf ihre Sitznachbarin zu
achten. Das Mädchen, es war vielleicht ein paar Jahre jünger als
Phoebe, trug eine Fransenfrisur mit blond und pink gefärbten
Strähnen. Ein wenig im Kontrast zu dem leicht punkigen Hairstyling
stand das sanfte, freundliche Gesicht, aus dem es Phoebe
erwartungsvoll anlächelte.

»Ja, stimmt«, nickte Phoebe und lächelte der jungen Frau zu. »Ich

kenne die Band eigentlich gar nicht, aber ich hab bei einem
Preisausschreiben diese Eintrittskarte gewonnen.«

Fast entschuldigend zog sie das Ticket aus der Hosentasche. Das

Lächeln ihrer Sitznachbarin wurde noch breiter.

»Na, das ist ja ein Zufall – ich auch!« Grinsend hielt das Mädchen

sein Ticket hoch, das bis auf die Seriennummer identisch mit Phoebes
war. »Ich heiße übrigens Melissa.«

»Freut mich, Melissa. Ich bin Phoebe. Wo hast du denn dein Ticket

gewonnen?«

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»Ach, ich hab einen Coupon im San Francisco Magazine

ausgefüllt – und ein paar Tage später hatte ich schon die Karte in der
Post.«

Phoebe runzelte die Stirn. »Tja, ich wünschte, es wäre so leicht, im

Lotto zu gewinnen wie bei diesem Nature-Sons-Preisausschreiben. Ich
bin ja mal gespannt, was uns da erwartet.«

Wie aufs Stichwort setzte sich der Bus rumpelnd in Bewegung.

Die Fahrt zum Industriegebiet dauerte fast eine halbe Stunde, aber

zum Glück erwies sich Melissa als angenehme Gesprächspartnerin.

Nach ein paar Minuten hatte Phoebe auch ihr schlechtes Gewissen

vergessen. Natürlich war es nicht ganz fair, ihre Schwestern bei der
Fahndung nach diesem Blimp allein zu lassen, aber zum Ausgleich
würde sie morgen eben doppelt so lange suchen. Doch wahrscheinlich
war die ganze Sache bereits erledigt, wenn sie heute Abend nach
Hause kam …

An jeder Haltestelle stiegen neue Fahrgäste zu, und zu dieser

fortgeschrittenen Stunde waren es fast nur junge Leute, die
offensichtlich alle zum Konzert der Nature Sons wollten.

Und wie Phoebe zudem mitbekam, schienen sie fast alle Freikarten

für das Konzert gewonnen zu haben.

Wahrscheinlich ist der ganze Auftritt ohnehin nur eine

Werbekampagne, um die Band bekannt zu machen, dachte sie. Sie
hoffte nur, dass die Jungs wenigstens halbwegs singen und performen
konnten.

Doch selbst das schlechteste Konzert war immer noch besser, als

den Abend mit der Suche nach einem Blimp zu verbringen.

Fahl leuchtete der Mond über dem schäbigen Industriegebiet, als

der Bus sein Ziel endlich erreichte.

Zusammen mit einem guten Dutzend weiterer Konzertbesucher

betrat Phoebe den Vorplatz des Mondial. Tatsächlich war die
Vergangenheit dieses Ortes nicht zu übersehen. Die Konzerthalle war
ein ehemaliges Warenlager, dessen Putz bereits zu großen Teilen
abgebröckelt war. Selbst im blassen Mondlicht konnte man die
nackten Ziegelsteine des alten Gemäuers gut erkennen. Der Boden des

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Vorplatzes bestand aus festgestampfter Erde, und zum Glück hatte es
heute nicht geregnet, sonst wären die Konzertbesucher knöcheltief im
Schlamm versunken.

»Brrr, was für eine heruntergekommene Bude.« Melissa verzog

verdrießlich das Gesicht.

Phoebe lächelte aufmunternd. »Stimmt, aber andererseits hat das

Ganze auch seinen Reiz. Das ist doch mal was anderes als diese
geleckten Chrom- und Glas-Hallen, in denen solche Konzerte sonst
immer stattfinden. Das hier ist irgendwie … authentisch.«

Wenig überzeugt zuckte Melissa die Schultern. »Wenn du meinst«,

sagte sie. »Lass uns reingehen, ich finde es hier draußen ziemlich
kalt.«

Phoebe nickte und blickte sich um. Auch die anderen

Neuankömmlinge begannen bereits, sich in der kleinen Schlange vor
dem Eingang einzureihen.

Aber etwas hier war seltsam.

Dies war nicht das erste Konzert, das Phoebe besuchte, und

normalerweise sah man stets ein paar Journalisten, die, zumeist recht
wichtigtuerisch, mit Kameras und Notizblöcken anrückten, um eine
Konzertkritik für die lokalen Stadtmagazine und Zeitungen zu
schreiben. Doch soweit Phoebe sah, stand hier weit und breit kein
einziger Reporter herum.

Wahrscheinlich ist die Band einfach zu unbedeutend, als dass sich

irgendein Magazin dafür interessiert, dachte Phoebe und stellte sich
mit Melissa vor dem Einlass an. Der Andrang hielt sich in Grenzen,
und so ging es zügig voran.

Ein junger Mann in einer schäbigen Lederjacke stand am Eingang

zur Halle, warf einen kurzen Blick auf die Eintrittskarten und winkte
die Besucher dann mit einer gelangweilten Geste hinein. Als Phoebe
ihr Gratis-Ticket aus der Tasche zog und bereithielt, registrierte sie
aus den Augenwinkeln heraus eine Bewegung.

Ihr Kopf ruckte herum.

Links von der Halle standen ein paar große, metallene

Warenbehälter, die scheinbar seit Urzeiten dort vor sich hin rosteten.

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Nichts ungewöhnliches, aber Phoebe war sich sicher, einen Schatten
gesehen zu haben, der über die Container hinweggehuscht war.

Einen großen Schatten.

»Alles in Ordnung?«, fragte Melissa, die Phoebes Stirnrunzeln

bemerkt hatte.

Phoebe nickte geistesabwesend. Wahrscheinlich war es nur der

Schatten einer Katze gewesen, der durch das Mondlicht unnatürlich in
die Länge gezogen worden war. Und doch setzte sich ein mulmiges
Gefühl in ihrer Magengrube fest. Als eine der Zauberhaften war sie es
gewöhnt, ständig mit einer Attacke von übernatürlichen Wesen zu
rechnen. Und es war immer besser, ungewöhnlichen Beobachtungen
auf den Grund zu gehen, solange man noch die Zeit dazu hatte.

»Melissa, entschuldige mich bitte für einen Augenblick«, sagte

Phoebe. »Ich muss mal eben, äh, für kleine Mädchen.«

Das Mädchen blickte die junge Hexe erstaunt an. »Aber ich bin

sicher, dass es da drin auch Toiletten gibt«, erwiderte sie. »Ich weiß
nicht, so etwas ist doch Vorschrift für Veranstaltungshallen, oder?«

»Sicher«, erwiderte Phoebe grinsend, »aber so wie dieser Bau

schon von draußen aussieht, möchte ich die Toilettenräume gar nicht
erst sehen. Ich bin gleich wieder da.«

Sie winkte Melissa kurz zu und ging mit schnellen Schritten auf

die Container zu. Noch während sie die mindestens zwei Meter hohen
Metallkisten vorsichtig umrundete, tastete sie die Brusttasche ihrer
Lederjacke ab. Zum Glück hatte sie ihr Handy eingesteckt. Sollte
dieser Schatten zu etwas anderem gehören als zu einer streunenden
Katze, konnte sie immer noch ihre Schwestern anrufen und sie um
Hilfe bitten.

Phoebe war jetzt außer Sichtweite der Warteschlange. Hinter den

rostigen Containern erstreckte sich ein weiterer Hof, auf dem ein
Lastwagen metallisch im Mondlicht glänzte. Ansonsten war der Platz
verlassen.

Muss mich wohl getäuscht haben, dachte Phoebe und wollte schon

wieder umkehren, als ein Geräusch hinter dem LKW an ihr Ohr drang.
Es klang, als sei irgendjemand oder irgendetwas gegen eine Blechdose
gestoßen.

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Die junge Hexe ging sofort in Abwehrposition.

»Ist da jemand?«, rief sie in die Dunkelheit.

Keine Antwort. Warum auch? Wenn sich dort in der Dunkelheit

wirklich jemand vor ihr versteckte, dann würde dieser ihr sicherlich
nicht aus reiner Höflichkeit antworten.

Vorsichtig schlich sie auf den Laster zu. Nach ein paar Schritten

kam ihr eine Idee: Sie bückte sich und hob einen kleinen Kiesel auf.
Dann schleuderte sie den Stein links von dem Lastwagen über den
Hof, während sie sich dem Fahrzeug von rechts näherte. Wenn
tatsächlich jemand hinter dem Wagen lauerte und auf diesen alten
Trick hereinfiel, dann würde er dem Geräusch des aufschlagenden
Steins zufolge schließen, dass Phoebe von links kam. Mit etwas Glück
hätte sie das Überraschungsmoment auf ihrer Seite, wenn sie dagegen
plötzlich aus der anderen Richtung auftauchte.

Mit einem gedämpften Klackern schlug der Kiesel auf dem Boden

auf. Phoebe beschleunigte ihre Schritte.

Behutsam umrundete sie den LKW.

Nichts.

Das Einzige, was Phoebe sah, war ein kleiner, leerer Farbeimer,

der auf dem Boden lag. Wer auch immer hier gewesen war, er musste
im Dunkeln gegen den Blecheimer gestoßen sein und das Geräusch
verursacht haben, das Phoebe gehört hatte. Die junge Hexe biss sich
auf die Unterlippe. Und wer auch immer hier gewesen war, er konnte
noch nicht weit sein!

Phoebe schlich an der Längsseite des Lastwagens vorbei und

spähte in die Dunkelheit. Der Platz lag im Schein des Mondlichtes und
bot außer dem abgestellten LKW keinerlei Deckung.

Es gab keinen Ort, an dem man sich hier hätte verstecken können –

es sei denn …

Sie blickte nach oben.

… es sei denn, jemand versteckte sich auf dem Lastwagen. So

nahe, wie sie jetzt beim LKW stand, konnte sie keinen Blick auf die
Oberseite der Abdeckplane werfen. Ohne den Laster aus den Augen
zu lassen, trat Phoebe Schritt für Schritt zurück.

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Wenn irgendjemand auf dem Dach des Fahrzeugs lauerte, dann

würde sie ihn jeden Augenblick sehen müssen.

In diesem Moment glaubte Phoebe, ein leises Knurren zu hören.

Sie erstarrte.

Und tatsächlich! Lautlos und geschmeidig huschte eine Gestalt

über das Dach des Lastwagens und sprang auf der anderen Seite
herunter.

Als Phoebe hörte, wie jenseits des Lasters der Kies knirschte,

stürmte sie los. Mit ein paar schnellen Schritten hatte sie das Gefährt
umrundet.

Im gleichen Augenblick huschte ein großer Schatten über den

Platz, weg von Phoebe und dem LKW.

Die junge Hexe keuchte überrascht auf und stürmte hinterher. Sie

konnte nicht genau erkennen, was sie verfolgte, aber was immer es
war, es war überraschend schnell. Geschmeidig wie ein wildes Tier
huschte der Schatten auf einen Stapel von Müllsäcken zu, die an der
Rückseite der Konzerthalle standen, und verschwand dahinter.

Sekunden später erreichte auch Phoebe die Stelle. Von dem

Schatten war nichts mehr zu sehen, dafür entdeckte sie etwas anderes:
Eine kleine Tür führte ins Innere der Halle. Wahrscheinlich der
Notausgang. Was immer Phoebe verfolgt hatte, es war ganz
offensichtlich durch diesen Eingang verschwunden.

Vorsichtig stieß Phoebe die Tür auf. Ein scharfer, moschusartiger

Geruch lag in der Luft.

Vor ihr erstreckte sich ein schmaler Gang, an dessen Wänden ein

paar Plakate vergangener Konzerte hingen. Es dauerte ein paar
Sekunden, bis Phoebe sich an das Licht gewöhnt hatte. Mit
zusammengekniffenen Augen schlich sie vorwärts. Plötzlich hörte sie
hinter sich Schritte!

Sie wirbelte herum und hob die Arme zur Verteidigung.

Ihr gegenüber stand ein kleiner, untersetzter Mann und funkelte sie

böse an.

Phoebe erkannte ihn sofort wieder. Es war Markel, der Manager

der Nature Sons.

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»Hast du dich verlaufen, Kleine?«, knurrte er.

Phoebe ließ die Fäuste wieder sinken. Markel war zwar alles

andere als sympathisch, aber sicherlich keine dämonische Bedrohung.
Und er schien sie nicht wiederzuerkennen.

»Ich, äh, hab nur nach der Toilette gesucht«, sagte Phoebe schnell

und versuchte, ein unschuldiges Gesicht zu machen. Vielleicht hätte
sie, was das anging, Unterricht bei Paige nehmen sollen, denn Markel
blickte sie an, als glaube er ihr kein Wort.

Dann deutete er mit abfälliger Geste den Gang hinunter. »Die

Waschräume sind da vorn. Neben dem Haupteingang. Wo du auch
sein solltest!«

Phoebe schluckte und folgte der Richtung, in die Markel gezeigt

hatte.

»Tut mir Leid«, murmelte sie, »hab mich wohl verlaufen.«

Damit war ihre Suche nach dem geheimnisvollen Schatten wohl

vorerst beendet. Markel blieb zurück, und Phoebe konnte förmlich
spüren, wie er jeden ihrer Schritte misstrauisch beobachtete. Sie hatte
das Ende des Ganges fast erreicht, als aus einer Seitentür eine junge
Frau trat. Sie war unwesentlich älter als Phoebe und hatte ihr blondes
Haar zu einem schlaffen Pferdeschwanz zusammengebunden. Aus
blassblauen Augen blickte sie Phoebe überrascht an.

»Kann ich Ihnen helfen?«, fragte die junge Frau mit einem

schüchternen Lächeln und wagte es dabei kaum, Phoebe in die Augen
zu sehen.

»Äh, nein, ich bin nur auf dem Weg zur …« Doch Phoebe kam

nicht dazu, den Satz zu beenden.

»Vikki!«, brüllte Markel plötzlich aus dem Hintergrund. »Wo zum

Teufel haben Sie gesteckt? Ich bezahle Sie nicht als meine
Assistentin, damit Sie sich während der Arbeit das Näschen pudern –
während Hinz und Kunz hier durch den Backstage-Bereich
schleichen!«

Die beiden Frauen blickten Markel an. Die Assistentin voller

Schuldbewusstsein, Phoebe voller Abneigung.

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Wenn ich die Assistentin dieses Ekels wäre, dachte Phoebe, würde

ich mich nicht so anschnauzen lassen. Aber das ist schließlich nicht
mein Problem.

»Bin schon so gut wie weg«, sagte sie und machte eine

besänftigende Handbewegung. Dann ging sie den Flur weiter hinunter,
in Richtung Haupteingang. Bevor sie die schäbige Eingangshalle
erreichte, hörte sie noch, wie Markel seiner Assistentin weitere
Vorwürfe machte. Die Antworten der jungen Frau klangen, als ob sie
den Tränen nahe wäre.

Was für ein Mistkerl, dachte Phoebe. Von der schleimigen

Freundlichkeit, die Markel noch im Plattenladen an den Tag gelegt
hatte, war nichts mehr zu spüren.

Kopfschüttelnd blickte Phoebe durch die Eingangshalle. Die

meisten Gäste waren bereits in den eigentlichen Konzertsaal
gegangen. Nur ein paar Nachzügler standen noch in der Halle und
kauften an einem Erfrischungsstand ein paar – wahrscheinlich maßlos
überteuerte – Softdrinks. Unter ihnen war auch Melissa.

Sie winkte Phoebe lächelnd zu. »Da bist du ja!«, rief sie. »Ich hab

extra auch dich gewartet! Möchtest du auch 'ne Cola?«

Phoebe schüttelte den Kopf. »Nein, danke. Lass uns lieber

reingehen. Ich glaube, die wollen anfangen!«

Tatsächlich stand der junge Mann, der vorhin die Karten

kontrolliert hatte, schon ungeduldig an der Tür zum Konzertsaal.

Schnellen Schrittes huschten Phoebe und Melissa durch die Tür.

Der Konzertsaal war eine nüchterne, kleine Halle, an deren Kopfende
eine einfache Bühne aufgebaut war. Der Raum war mit gerade einmal
50 oder 60 Besuchern gefüllt, die mehr oder weniger erwartungsvoll
nach vorn blickten. Noch standen ein Mikrofonständer und das
Schlagzeug verwaist auf dem Podest.

Dann wurde die Hallentür geschlossen, das Licht verlosch, und im

Schein eines Scheinwerfers betraten vier junge Männer die Bühne.

Höflicher Beifall setzte ein.

Das Konzert begann.

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6

P

AIGE KREISCHTE ENTSETZT AUF. »Piper! Hilfe! Tu doch

etwas!«

Piper Halliwell trat kopfschüttelnd neben ihre Halbschwester, die

wie hypnotisiert auf eine kleine Spinne starrte, die an einem Faden vor
ihrem Gesicht baumelte.

»Nun stell dich doch nicht so an, Paige. Die wird dich schon nicht

fressen.« Manchmal verstand Piper wirklich nicht, was in Paige
vorging. Vor ein paar Stunden hatte sie noch tapfer gegen einen
Furcht erregenden Baumdämon gekämpft, und jetzt ängstigte sie sich
vor so einem kleinen Krabbeltier.

Piper nahm ein leeres Marmeladenglas aus einem der Kellerregale

und stülpte es vorsichtig über die Spinne. Sie würde das Tier später im
Freien aussetzen.

Paige atmete auf. »Danke, Piper. Ich hab nun mal einfach Angst

vor Insekten und anderem Getier mit acht Beinen.«

»Spinnen sind keine Insekten«, erwiderte Piper und verschloss das

Glas mit einem Deckel.

Vor einer knappen Stunde waren die beiden Schwestern in den

Keller gegangen, um hier die Suche nach dem Blimp fortzusetzen.
Aber so sehr sie sich auch bemühten, von dem kleinen Quälgeist war
nicht die geringste Spur zu finden.

Paige schien Pipers Gedanken zu lesen. »Lass uns für heute

Schluss machen, Piper. Wir haben jetzt den ganzen Keller
umgekrempelt. Ich bin müde, und hier unten wird mir langsam kalt.
Können wir nicht morgen weitersuchen, bitte?«

Piper seufzte. Auch sie begann langsam, in dem alten

Kellergewölbe zu frösteln. Und vielleicht war es wirklich besser, die
Fahndung nach dem Blimp bei Tageslicht fortzusetzen. Nachdem die
Suche hier ergebnislos verlaufen war, könnten sie sich morgen den
ersten Stock des Hauses vornehmen.

»Von mir aus«, sagte Piper schulterzuckend, »machen wir

Feierabend für heute. Wie wäre es mit einem heißen Kakao?«

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Paige strahlte und klatschte in die Hände wie ein kleines Kind.

»Großartige Idee! Das wäre jetzt genau das Richtige!«

Fröstelnd stiegen die beiden jungen Frauen die Kellertreppe hinauf.

Piper legte einen kleinen Zwischenstopp vor der Haustür ein, um die
Spinne wieder in die Freiheit zu entlassen, dann ging sie in die Küche
und goss etwas Milch in einen Kochtopf.

Wenige Minuten später erfüllte der Duft von frisch gekochtem

Kakao das Halliwell-Haus.

Da der Küchentisch beim Kampf gegen den Baumdämon zu Bruch

gegangen war, setzten sich Paige und Piper kurzerhand auf die
Anrichte neben der Spüle.

Paige wärmte ihre Finger an der warmen Kakaotasse. Obwohl das

Erdgeschoss des Hauses immer noch mit Trümmern übersät war, hatte
die ganze Situation etwas Vertrautes und Herzliches.

»Weißt du, Piper«, sagte Paige, »ich finde dieses Leben schon ganz

schön verrückt. Zuerst kämpfen wir in dieser Küche gegen einen
verrückt gewordenen Waldschrat, und ein paar Stunden später sitzen
wir in derselben Küche und schlürfen Kakao. Ganz so wie … ich weiß
nicht … normale Menschen eben.«

Piper atmete tief durch und blickte ihre Halbschwester ernst an.

»Wir sind ganz normale Menschen, Paige. Normale Menschen mit
einer besonderen Gabe und einer besonderen Verantwortung. Wir
dürfen beides nicht vernachlässigen – unsere Aufgaben als Hexen und
unser Leben als Menschen mit all den kleinen Freuden und Sorgen des
Alltags. Nur so können wir das überhaupt durchstehen. Und nur so
geraten wir nicht in die Gefahr, zu vergessen, für wen wir das alles tun
– für die anderen, ganz normalen Menschen, die sich gegen
schwarzmagische Bedrohungen nicht zur Wehr setzen können.«

Paige nickte. Es kam nur selten vor, dass sie sich so offen mit Piper

unterhalten konnte. Meistens hatte sie das Gefühl, ihre ältere
Halbschwester würde sie fortwährend überwachen und nur darauf
warten, dass sie einen Fehler machte. Wie bei dieser dummen
Geschichte mit dem Blimp.

»Manchmal frage ich mich«, seufzte Paige, »ob das alles nicht zu

viel für mich ist. Ich weiß nicht, wie ihr es schafft, euer Privatleben
und euer Hexendasein unter einen Hut zu bringen. Und dann baue ich

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auch noch so einen Bockmist und setze diesen Blimp frei. Als ob wir
nicht schon genug Probleme hätten.«

Piper nickte verständnisvoll. »Glaub mir, Paige, Phoebe und ich

hatten früher ganz ähnliche Probleme. Und als Prue dann … starb,
dachte ich auch, ich wäre am Ende. Aber zum Glück habe ich Leo, der
mir immer wieder Kraft gibt … und euch.«

Paige lächelte. »Wow. Wenn wir in einer TV-Show wären,

müssten wir uns jetzt wohl in die Arme fallen. Aber im Ernst: Es tut
mir echt furchtbar Leid, dass ich diesen Blimp freigesetzt habe,
Piper.«

Piper winkte ab. »Schon gut, es war ja keine Absicht. Diesen

kleinen Mistkerl machen wir schon ausfindig, und dann werden wir
auch einen Weg finden, um ihn unschädlich zu machen.«

Pipers zuversichtliches Lächeln verfinsterte sich. »Aber eins macht

mir etwas Sorgen. Normalerweise, so hat mir Leo erzählt, sind Blimps
relativ harmlos und treiben ihre unglücklichen Besitzer nur zur
Weißglut …«

»… um sich dann von deren negativer Energie zu nähren,

richtig?«, fragte Paige.

Piper nickte. »Stimmt genau. Aber auf der anderen Seite sind

Blimps auch Dämonen – und wir sind die Zauberhaften. Wenn es
diesem Flaschenteufel mit seiner Macht gelingt, uns zu töten, wäre er
mit einem Schlag einer der prominentesten Dämonen des gesamten
Höllenreiches. Wir sollten also bei allem, was wir tun, sehr vorsichtig
sein. Vielleicht ist der Geltungsdrang dieses Blimps größer als sein
Hunger.«

»Na, großartig«, seufzte Paige und nahm einen ersten Schluck aus

der Kakaotasse. Im nächsten Augenblick verzog sie angewidert das
Gesicht und spuckte den Kakao in die Spüle.

»Was ist denn los?«, fragte Piper erstaunt.

»Pfui Teufel!«, würgte Paige. »Die Milch ist sauer!«

Argwöhnisch schnüffelte Piper an ihrer Tasse. Tatsächlich. Das

süße Aroma des Kakaos hatte den Geruch der verdorbenen Milch
weitgehend überlagert.

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Dabei hatte sie die Milch heute erst gekauft. Die magische

Pechsträhne hielt also an …

Schweigend schüttete Paige den Inhalt ihrer Tasse in die Spüle und

fragte sich, was der Blimp noch für Überraschungen parat hielt.

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7

E

S WAR UNGLAUBLICH!

Phoebe hatte jedes Gefühl für die Zeit verloren. Nachdem die

Nature Sons die Bühne betreten hatten, fürchtete Phoebe schon, den
Abend völlig verschwendet zu haben.

Die vier Jungs in der klassischen Besetzung Gitarre, Schlagzeug,

Bass und Gesang waren zwar ein überaus angenehmer Anblick, aber
ihre Musik war zunächst doch eher mittelmäßig gewesen.

Das Konzert hatte mit einer rockigen Cover-Version der Nummer

»How deep is your love« begonnen, aber der Funke wollte nicht so
recht überspringen. Das Stück wurde ebenso wie die nachfolgenden
Songs mit höflichem Applaus bedacht, und Phoebe hatte bemerkt,
dass viele Konzertbesucher schon bald Richtung Ausgang schielten.
Fast schon hatte sie sich gewünscht, ihren Schwestern doch bei der
Suche nach dem Blimp geholfen zu haben, als etwas Seltsames
passierte.

Eben noch hatte Phoebe erwogen, zum Getränkestand zu gehen,

um eine Cola zu kaufen, als sie plötzlich feststellte, dass sie ihren
Blick gar nicht mehr von der Bühne abwenden konnte. Und mehr
noch: Unbemerkt schien sich der Rhythmus des aktuellen Stücks mit
dem Titel »Do what you want« – »Tu, was du willst« – in ihr
Unterbewusstsein geschlichen zu haben.

Unter anderen Umständen hätte ein solcher Songtitel die

Alarmglocken im Kopf der jungen Hexe ausgelöst. Schließlich
handelte es sich hierbei um eine leichte Abwandlung des Wahlspruchs
von Aleister Crowley, eines berüchtigten Okkultisten des 20.
Jahrhunderts. Aber Phoebe fühlte sich von den Klängen der Musik
wie in Watte gepackt.

Unwillkürlich wiegte sie sich im Takt mit. Es war, als würde der

Song all ihre Sinne ausfüllen und alle anderen Gedanken verdrängen.
Ihre Schwestern, der Blimp, der seltsame Schatten vor der
Konzerthalle, all das spielte plötzlich keine Rolle mehr. Phoebe war
wie hypnotisiert – und es gefiel ihr.

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»Die Jungs sind echt klasse, was?«, rief Melissa, die neben Phoebe

vor der Bühne stand. Ihre pink getönte Haarsträhne hüpfte im
Rhythmus von Melissas Tanzbewegungen auf und ab.

Fast widerwillig wandte ihr Phoebe den Kopf zu. Sie wollte nicht

eine einzige Sekunde der Performance verpassen. »Ja, der absolute
Wahnsinn!«, stieß sie hervor und sah dann wieder zur Bühne hin.

Vor ein paar Minuten hätte sich Phoebe für so eine

überschwängliche Bemerkung noch selbst auf die Zunge gebissen –
schließlich war sie ja kein Teenager mehr – aber ihr fehlten einfach
die passenden Worte für dieses Erlebnis. Außerdem wollte sie auch
nicht groß darüber reden, sondern es einfach nur genießen.

Gerade setzte der Gitarrist zu einem Solo an. Die anderen

Bandmitglieder traten ein Stück zurück, um ihren Kollegen ins
Rampenlicht treten zu lassen.

»Gib's ihnen, Josh!«, rief der Sänger der Nature Sons, und Josh

legte los. Zuerst strich er nur sanft über die Saiten seiner E-Gitarre,
dann ließ er sie fast ekstatisch aufheulen. Phoebe fragte sich noch, wie
der Musiker es schaffte, seinem Instrument diese Töne zu entlocken,
die gleichermaßen wild und einfühlsam klangen. Dann erlag sie
vollends dem Zauber der Musik.

Josh ließ sich auf die Knie fallen und konzentrierte sich mit

geschlossenen Augen auf sein Spiel. Eine schweißnasse Strähne
seines schwarzen, halblangen Haares fiel ihm in die Stirn. Dann warf
er den Kopf zurück und öffnete die Augen.

Phoebe erstarrte.

Einen kurzen, unendlichen Augenblick lang hatte sie das Gefühl,

Josh würde nur sie, sie allein, anblicken. Natürlich war das Unsinn,
denn unter der Menge der verzückt tanzenden Fans konnte der
Gitarrist unmöglich eine einzelne Person ins Auge fassen.

Doch Phoebe wollte einfach daran glauben.

Schließlich beendete Josh sein Solo, und die anderen

Bandmitglieder stimmten wieder in den Song ein. Und obwohl Phoebe
das niemals für möglich gehalten hätte, wurde die Wirkung der Musik
noch intensiver. Es war fast, als würden die Akkorde der Band als
greifbare, wohlige Wellen durch den Saal wabern. Sie schloss die

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Augen und ließ sich in die Schlussharmonien des Stückes
hineingleiten.

»Tu, was du willst« – ja, vielleicht war es endlich an der Zeit,

damit anzufangen.

Von seinem Standpunkt hinter der Bühne aus konnte Markel nur

die Rücken der einzelnen Bandmitglieder sehen. Aber das reichte ihm.
Alles was ihn interessierte, waren die ekstatisch zur Musik der Nature
Sons
tanzenden Fans vor der Bühne.

Markel schloss kurz die Augen, um diesen Augenblick des

Triumphes auszukosten. Lange, viel zu lange war er als kleiner
Tourmanager mit drittklassigen Bands durch schäbige Clubs getingelt,
aber das war jetzt vorbei. Mit diesen Jungs würde sich alles ändern.
Die Nature Sons würden ihn ans Ziel seiner Wünsche bringen. Aller
seiner Wünsche.

Markel öffnete die Augen und bellte im gleichen Augenblick seine

Assistentin an, die schweigend und mit eingezogenem Kopf neben
ihm stand.

»Stehen Sie nicht hier herum wie ein Ölgötze, Vikki. Bringen Sie

mir ein Glas Wasser … und die Abendkasse!«

Die blasse Assistentin zuckte zusammen und verschwand dann mit

einem fast geflüsterten »Sofort, Mister Markel«, das in den Klängen
der Musik einfach unterging.

Eine Sekunde später hatte Markel die junge Frau, die durch eine

Seitentür davonhuschte, schon wieder vergessen. Der Bandmanager
atmete tief durch. Er konnte die Energie der Begeisterung, die von
dem Publikum ausging, körperlich fühlen. Und er genoss jedes
Quäntchen davon, saugte es gierig in sich auf wie ein ausgetrockneter
Schwamm.

Nein, dachte er lächelnd, nichts und niemand wird mich jetzt mehr

aufhalten können.

Er wusste, sein Plan trug endlich Früchte.

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8

»

H

AST DU ETWAS GEFUNDEN?«, fragte Piper und blickte

ihre Halbschwester erwartungsvoll an.

Aber Paige schüttelte nur frustriert den Kopf. Die beiden Hexen

waren in aller Frühe aufgestanden, um noch vor der Arbeit das Haus
weiter nach dem neuen Unterschlupf des Blimps zu durchsuchen.

Inzwischen ging es bereits auf neun Uhr zu. Die warme

Morgensonne fiel durch die Buntglasfenster des alten Halliwell-
Hauses und brachte die Farben zum Strahlen. Trotz der idyllischen
Stimmung wurde die Zeit langsam knapp.

Nachdem die Suche im Erdgeschoss erfolglos geblieben war,

hatten sich die beiden Schwestern ihre eigenen Schlafzimmer im
ersten Stock vorgenommen.

Paige hatte jeden Gegenstand, der sich auch nur halbwegs als

Glasgefäß – und damit als Wohnort des Flaschenteufels –
qualifizierte, sorgsam unter die Lupe genommen. Gut, sie hatte dabei
einen Lippenstift in der Farbe des letzten Sommers unter dem Bett
wieder gefunden, war hinter dem Schrank auf einen Spitzen-BH
gestoßen, den sie schon seit langer Zeit suchte, und hatte in der
hintersten Ecke ihrer Schreibtischkommode ein paar vergilbte Zettel
mit der Aufschrift »Dringend erledigen« entdeckt, aber was den Blimp
anging: »Nichts. Niente. Nada. Zilch. Zero. Tut mir Leid, Piper«,
sagte Paige mit einem Schulterzucken. »Entweder dieser kleine
Mistkerl ist ein Meister des Versteckspielens oder er hat das Haus
längst verlassen.«

Piper runzelte die Stirn. »Das wäre einfach eine zu glückliche

Wendung der Dinge«, entgegnete sie, »was wiederum mit dem Fluch
des Blimps nicht zu vereinbaren ist. Nein, Paige, ich fürchte, der
kleine Quälgeist lauert hier noch irgendwo und heckt neue Streiche
aus.«

Eine neuerliche Welle des Schuldgefühls durchlief Paige.

Schließlich war sie es gewesen, die den Blimp – wenn auch
unabsichtlich – freigesetzt hatte. Sie seufzte.

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»Gibt es denn gar nichts, was wir tun können, um die Suche zu

beschleunigen? Irgendein magisches GPS zum Aufspüren von Klein-
Dämonen oder so?«

»Nein«, antwortete Piper mit der Andeutung eines Lächelns, »ich

fürchte nicht. Ich hab gestern Abend noch lange im Buch der Schatten
geblättert, aber zum Thema ›Blimp‹ nichts Wesentliches mehr
gefunden. Außer einer Kleinigkeit, die uns vielleicht den Hals retten
könnte …«

»Ach ja?« Paige sah interessiert auf. »Und die wäre?«

Piper bedeutete Paige, ihr den Flur entlang zu folgen. »Na ja, ich

habe euch ja schon erklärt, dass sich der Blimp von den negativen
Emotionen seiner Opfer ernährt. In gewisser Weise lebt er von der
Energie, die durch die Tobsuchtsanfälle seiner Opfer freigesetzt wird.
Du kennst das ja: An manchen Tagen geht alles schief und man
möchte am liebsten irgendjemandem an den Hals springen, um ihn für
all das Pech verantwortlich zu machen – nur dass es keinen
Schuldigen gibt.«

»Jedenfalls keinen, von dem man weiß«, nickte Paige.

»Stimmt. Wer kommt schon darauf, dass ein kleiner Flaschenteufel

hinter all dem Stress steckt. Wie dem auch sei, der Blimp wird durch
diese negative Energie nur noch mächtiger und kann dann noch mehr
Unheil anrichten.«

Paige biss sich nachdenklich auf die Lippe. »Verstehe«, murmelte

sie, »das Ganze ist also eine Art Teufelskreis, im wahrsten Sinne des
Wortes.«

»Genau«, nickte Piper. »Allmählich bekommst du den Durchblick

für diese Art von schwarzer Magie, Paige.«

»Danke«, entgegnete Paige nicht ohne Stolz. Schließlich kam es

nicht allzu oft vor, dass sie von ihrer großen Schwester gelobt wurde.
Zugegeben, sie gab ihr auch nur selten einen Anlass dafür.

»Warte mal«, fuhr Paige dann fort, »wenn ich das richtig sehe, gibt

es demnach nur einen Weg, den Blimp im Zaum zu halten – man
ignoriert einfach das Pech, das einem widerfährt, stimmt's?«

»Soweit einem das möglich ist. Leider liegt es nicht gerade in der

menschlichen Natur, sich nicht über die kleinen Missgeschicke des

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Alltags aufzuregen. Aber im Prinzip hast du völlig Recht. Wenn wir
die Streiche des Flaschenteufels einfach so gut wie möglich
ignorieren, können wir ihn halbwegs in Schach halten.« Piper lächelte.
»Mit Phoebe habe ich das ganz ähnlich gemacht, als wir noch Kinder
waren …«

Paige musste grinsen. Sie hatte erst spät von der Existenz ihrer

Halbschwestern erfahren und konnte sich die beiden kaum als kleine
Mädchen vorstellen. Besonders bei Piper fiel ihr das schwer; die
älteste der überlebenden Halliwell-Schwestern wirkte auf sie immer so
… erwachsen. Mit Phoebe dagegen kam sie meist viel besser zurecht.

»Wo wir gerade von Phoebe sprechen«, sagte Paige, »wo steckt sie

eigentlich? Ich hab sie gestern gar nicht nach Hause kommen hören.«

Piper und Paige hatten inzwischen die Treppe zum Erdgeschoss

erreicht und standen nun vor Phoebes Zimmertür.

Piper zuckte mit den Achseln. »Jetzt, wo du es sagst – ich auch

nicht. Es muss wohl gestern Abend ziemlich spät geworden sein. Ich
wecke sie mal lieber auf. Soweit ich weiß, hat sie ab heute Mittag
Dienst in ihrer Redaktion.«

Paige nickte. Phoebe hatte vor ein paar Monaten als Redakteurin

bei einem Magazin angefangen und betreute dort eine
Beratungskolumne für alle Lebensfragen. Schon seltsam, dachte Paige
und musste an ihren eigenen Job beim Sozialdienst denken. Es schien
in der Natur der Halliwells zu liegen, sich um das Wohl anderer
Menschen zu kümmern – sowohl in ihren Alltagsberufen als auch bei
ihrem »Zweitjob« als weiße Hexen.

Piper wollte gerade die Hand heben, um gegen Phoebes Tür zu

klopfen, als das Getöse losbrach. Es war ein wahrer akustischer
Orkan, der da urplötzlich aus dem Zimmer der Schwester über sie
hereinbrach. Instinktiv zuckten Piper und Paige zurück und blickten
sich erschrocken an. Dann trat Piper entschlossen nach vorn, riss
Phoebes Zimmertür auf und stürmte hinein.

Innerlich schon die neuerliche Attacke eines Dämons befürchtend,

stürzte Paige hinterher. Sie war auf alles gefasst, als sie über Pipers
Schulter in Phoebes Zimmer blickte – nur nicht auf den Anblick, der
sich ihr tatsächlich bot: Mit zerzausten Haaren stand Phoebe auf ihrem
Bett und hopste im pulsierenden Rhythmus des alles übertönenden

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Lärms darauf herum. Ihre beiden Schwestern schien sie noch gar nicht
bemerkt zu haben.

Paige brauchte ein paar Augenblicke, um den Lärm als das zu

identifizieren, was er eigentlich war: völlig übersteuerte Musik aus
Phoebes alter Stereoanlage. Die Boxen, die auf einer Kommode neben
dem Bett aufgestellt waren, vibrierten im Takt der Bässe, so als
würden sie vor Überanstrengung zittern.

Paige sah, wie Piper den Mund öffnete, um etwas zu sagen. Doch

ihre Worte gingen im Dröhnen der Musik unter. Die Szene entbehrte
nicht einer gewissen Komik, aber der Ausdruck auf Pipers Gesicht
war alles andere als amüsiert.

Jetzt hatte auch Phoebe ihre Schwestern bemerkt. Sie hielt mitten

in der Bewegung inne, zuckte hilflos die Achseln und deutete dann
kopfschüttelnd auf ihre Ohren.

Vergeblich versuchte Piper erneut, gegen das Getöse anzubrüllen.

Dann stapfte sie mit verärgerter Miene zur Stereoanlage und schaltete
sie kurzerhand ab.

Eine Sekunde lang war die plötzliche Stille genau so

ohrenbetäubend wie der Lärm zuvor.

Dann brach ein Gewitter ganz anderer Art los. »Hey, was soll

das?«, brüllte Phoebe ihre Schwestern an. »Warum platzt ihr hier
einfach rein? Seid ihr verrückt geworden?!«

»Letzteres könnte ich dich fragen«, entgegnete Piper, nachdem sie

einen kurzen Moment der Überraschung überwunden hatte. »Phoebe,
es ist nicht einmal neun Uhr morgens, und es hört sich an, als ob du in
deinem Zimmer ein Heavymetal-Konzert veranstalten würdest!«

»Nur dass ich keine Metal-Band kenne, die so schlechte Musik

macht wie das Geschrammel, das ich hier gerade gehört habe«,
bemerkte Paige. »Was für eine drittklassige Schüler-Combo war denn
das, um Himmels willen?«

Phoebe funkelte ihre Halbschwester böse an und deutete auf das

weite T-Shirt, in das sie gehüllt war. Auf ihm prangte ein übergroßer
Fotodruck einer Boy-Band, bestehend aus vier jungen Männern. Vier
gut aussehende junge Männer, wie Paige eingestehen musste. Das
äußere Erscheinungsbild der Gruppe war definitiv ansprechender als
ihre Musik.

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Phoebe schien das anders zu sehen. »Das war keine Schüler-Band,

das waren die Nature Sons«, rief sie empört. »Und wenn euch die
Musik nicht gefällt – na, es zwingt euch ja niemand, hier
hereinzustürmen.«

Piper schüttelte den Kopf. Ganz offensichtlich war es ihr darum

getan, die Ruhe zu bewahren. »Phoebe, wir hätten diesen Krach auch
gehört, wenn wir auf der anderen Straßenseite gestanden hätten. Und
du kannst dir natürlich anhören, was du willst … aber vielleicht
versuchst du es mal mit Zimmerlautstärke.«

Paige warf einen Blick auf ihre Armbanduhr und hielt dann

demonstrativ ihr Handgelenk in die Höhe. »Außerdem ist es gleich
neun. Ich muss langsam los. Neben der Dämonenjagd muss ich
nämlich gelegentlich auch mal Geld verdienen, wisst ihr?«

Piper nickte. »Stimmt, ich muss auch ins P3. Und wie ist es mit

dir, Phoebe? Hast du heute nicht Dienst in der Redaktion?«

Piper und Phoebe blickten ihre Schwester erwartungsvoll an. Doch

Phoebe zuckte nur mit den Achseln. »Eigentlich schon. Aber ich fühle
mich heute nicht so gut. Ich werde mich krank melden. Die werden in
der Redaktion auch mal einen Tag ohne ihre Kummerkasten-Tante
vom Dienst auskommen.«

Seltsam, wunderte sich Paige, normalerweise spricht Phoebe nie so

abschätzig von ihrem Job. Wie war das noch gleich mit dem »Es liegt
den Halliwells im Blut, anderen zu helfen«?

Andererseits sah Phoebe wirklich ein wenig blass aus. Kein

Wunder, wenn man sich bis spät in die Nacht auf drittklassigen
Konzerten herumtreibt, dachte Paige. Aber sie würde den Teufel tun
und diesen Gedanken laut aussprechen. Das Letzte, was sie jetzt
brauchte, war ein Streit unter Schwestern – besonders, da es
mittlerweile schon deutlich nach neun Uhr war.

»Vielleicht legst du dich einfach noch ein wenig hin, Phoebe«,

sagte Paige und deutete mit einer Kopfbewegung auf das zerrüttele
Bett. »Ich für meinen Teil muss jetzt dringend zur Arbeit.«

»Gute Idee«, stimmte Phoebe zu und ließ sich auf die Matratze

plumpsen. Sie hatte nicht gelogen und fühlte sich tatsächlich etwas
matt. Aber gleichzeitig fühlte sie sich von einem inneren Wohlgefühl
durchflutet. Es war dasselbe Gefühl, das sie gestern Nacht schon auf

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dem Rückweg vom Konzert begleitet hatte. Und soweit sie sich an den
Gesichtsausdruck ihrer Zufallsbekanntschaft Melissa erinnerte, war es
ihr ebenso ergangen. Tatsächlich fühlte sie sich so wohl wie schon
lange nicht mehr, obwohl sie gleichzeitig sterbensmüde war.

Piper seufzte. »Na schön, dann lass uns losfahren, Paige, ich hab

heute noch 'ne Menge zu tun.« Sie und Paige wandten sich zum
Gehen.

Auf der Schwelle drehte Piper sich noch einmal um. »Und

Phoebe«, sagte sie nur halb im Scherz, »wenn du es wieder mit
Musik-Therapie versuchst, dann bitte in Zimmerlautstärke, okay?«

Phoebe setzte ein breites Lächeln auf. »Geht klar, Schwesterherz.

Mach dir keine Sorgen um dich.«

Piper zögerte einen Augenblick, dann nickte sie ihrer jüngeren

Schwester zu und schloss die Zimmertür hinter sich.

Phoebe wartete, bis sich die Autos von Piper und Paige vom Haus

entfernt hatten. Dann griff sie nach der Fernbedienung der
Stereoanlage und drückte die »Play«-Taste. Einen Herzschlag später
dröhnte wieder die Musik der Nature Sons durch das Haus.

»›Tu, was du willst‹«, dröhnte es aus den Boxen, und die Stimme

des Nature-Sons-Sängers verschmolz dabei mit den verträumten
Akkorden und den einfühlsamen Gitarrenriffs des Stücks.

Phoebe wunderte sich ein wenig, dass Piper und Paige die

Schönheit dieser Musik nicht erkannten. Normalerweise wich der
Musikgeschmack der drei Schwestern nicht sonderlich voneinander
ab. Dann zuckte sie nur mit den Schultern. Sie würde jetzt in der
Redaktion anrufen, um sich mit belegter Stimme krank zu melden,
und dann würde sie den so gewonnenen, freien Tag nutzen. Sollten
sich ihre Schwestern doch zur Abwechslung einmal allein um die
Rettung der Welt kümmern.

Von draußen schien die Sonne durchs Fenster und sie, Phoebe

Halliwell, würde endlich einmal tun können, was sie wollte.

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9

D

ER WIND WEHTE VOM MEER herüber und brachte den

Geruch von Salz mit sich. Ein paar knorrige Bäume stemmten sich
trotzig gegen die Brise, gekrümmt vom jahrzehntelangen Kampf
gegen die Elemente und die Jahreszeiten.

Selbst an einem sonnigen Vormittag wie heute war die Luft am

Breakers Point empfindlich kühl. Die Trostlosigkeit hatte sich wie
eine Dunstglocke über das gesamte Kliff gelegt. Vielleicht war das der
Grund, warum sich nur wenig Menschen auf diese karge Landzunge
verirrten, die mit ihren scharfkantigen Klippen in den Ozean ragte.
Und doch hatte irgendjemand vor vielen Generationen ein Haus auf
diesem unwirtlichen Stück Erde errichtet. Durch Wind und Regen war
das alte Anwesen so stark verwittert, dass es sich kaum noch von
seiner Umgebung abhob. Es wirkte, als hätte die Natur selbst es dort
entstehen lassen.

Viele Jahre lang hatte das alte Haus leer gestanden und selbst bei

den Bewohnern dieser Küstenregion war es – wie auch sein Erbauer –
fast in Vergessenheit geraten. Nur die Ältesten erzählten manchmal
noch von unwirklichen Lichtern, die man nachts dort aufblitzen sah.
Wie bei jedem leer stehenden, alten Gebäude rankten sich auch um
das Haus vom Breakers Point unheimliche Legenden und
Gruselgeschichten.

Doch das war die Vergangenheit. Fast unbemerkt von den

Bewohnern der benachbarten Ortschaften war wieder Leben in das
alte Gemäuer zurückgekehrt. In einer Nacht-und-Nebel-Aktion hatte
ein Trupp von Bauarbeitern einen Stacheldrahtzaun um das
Grundstück gezogen. Dann hatte man das marode Dach notdürftig
repariert und die durch Wind und Vandalismus zerstörten Fenster
ausgetauscht. Noch immer ragte das alte Anwesen grau und düster in
den Himmel, aber zumindest bot es seinen neuen Bewohnern nun
wieder Schutz vor dem rauen Küstenklima.

Lediglich ein kleines Schildchen neben dem Eingangstor zum

Grundstück verriet, wer dem Haus wieder Leben eingehaucht hatte.

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MARKEL ENTERTAINMENT stand darauf – und darunter

ZUTRITT VERBOTEN. Offensichtlich legte der neue Eigentümer des
Anwesens wenig Wert auf Besucher.

Hätte ein unerwünschter Gast das Verbot ignoriert, um ins Innere

des Hauses vorzudringen, so wäre er vermutlich erstaunt darüber
gewesen, wie viele Zimmer das alte Gemäuer beherbergte. Die
meisten der Räume waren noch nicht renoviert, geschweige denn
eingerichtet worden. Sämtliche Tapeten hingen in Fetzen von den
Wänden, und in den Ecken unter der Decke hatte sich Schimmel breit
gemacht.

Nur einige wenige ausgewählte Räume im ersten Stock boten

bereits ein anderes Bild. Hier waren die Wände frisch gestrichen und
auf dem sauber abgezogenen Parkett standen schlichte, aber
geschmackvolle Möbel, die offensichtlich aus diversen
Haushaltsauflösungen stammten. Wer immer hier für die Einrichtung
verantwortlich gewesen war, hatte einen schmalen Geldbeutel durch
einen guten Geschmack wettgemacht.

Die einzige Ausnahme bildete das Büro am Ende des Ganges.

Dieser Raum, es war der größte mit Blick über das Cliff, war mit
Chrom- und Glasmöbeln ausgestattet worden, die ebenso kalt und
ungemütlich wirkten wie das Panorama jenseits des Fensters. Hinter
einem breiten Schreibtisch mit Glasfläche erhob sich ein lederner
Chefsessel wie ein schwarzer Thron. Offensichtlich erfüllte die
Einrichtung dieses Geschäftszimmers nur einen einzigen Zweck – sie
sollte etwaige Besucher einschüchtern und ihrem Besitzer das Gefühl
von Macht und Überlegenheit verleihen.

Doch zu dieser frühen Stunde war der moderne Thronsaal noch

verwaist. Keine Menschenseele war weit und breit zu sehen – und
doch war das Haus nicht verlassen.

Zwei gedämpfte Stimmen drangen aus einem Kellergewölbe in die

oberen Stockwerke.

Hier, tief unter dem Anwesen, waren Begriffe wie Tag und Nacht

nur bedeutungslose Worte. Seit Jahrhunderten hatte kein Lichtstrahl
mehr die verwitterten Steinwände beleuchtet. Umso unheimlicher
wirkten die seltsamen, fremdartigen Symbole, die an den Wänden
prangten. Die komplexen Reliefs wirkten wie Zeichen aus einer

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anderen Welt. Und ohne dass ein Lichtschein sie erhellte, schienen sie
ganz von selbst zu erglühen.

Doch am Furcht erregendsten war ein blasser Lichtwirbel, der in

einer kleinen Bodensenke in der Mitte des Gewölbes um sich selbst
rotierte. Er war ständig in Bewegung und schien unerklärlicherweise
flach und dreidimensional zugleich zu sein. Es war wie ein
pulsierendes Portal in eine andere Welt, dessen Anblick nicht für
menschliche Augen bestimmt war.

Und es war auch nichts Menschliches an der Gestalt, die nun an

den Rand des Portals huschte, geschmeidig wie ein schattenhaftes
Raubtier. Der modrige Geruch des Schimmels vermischte sich mit
einem scharfen, animalischen Gestank.

»Meister?«, fragte das Wesen mit knurrender, tiefer Stimme und

trat noch näher an den Wirbel heran. »Seid Ihr da?«

»Natürlich«, erwiderte eine Stimme, die aus dem blassen

Farbwirbel des Portals zu kommen schien. »Wo sollte ich auch sonst
sein, du Narr? Seit Jahrtausenden bin ich in dieser verfluchten
Zwischenwelt gefangen!«

Das schattenhafte Wesen senkte demütig den Kopf. »Verzeiht,

Meister. Wie dumm von mir. Aber Ihr werdet wieder auf Erden
wandeln. Die Saat ist gesät und trägt bereits Früchte. Schon bald
werde ich genug Lebensenergie gesammelt haben, um Euch aus
Eurem Gefängnis zu befreien. Tag für Tag gewinne ich mehr
Anhänger, die Euch dienen und die Euch ihre Kraft geben – ohne dass
sie es auch nur ahnen.«

Ein hohles Lachen echote durch das Gewölbe. Für Sekunden

wurde der Farbwirbel im Boden intensiver, und im fahlen Licht
glänzte das schwarzblaue Fell des Schattenwesens kurz auf.

»Sehr gut, mein treuer Diener«, sagte die Stimme. »Es war der

Wille der alten Götter, dass du mich hier gefunden hast. Ja, ich fühle
es – bald schon werde ich wieder rechtmäßig über die Welt
herrschen!«

Das Lachen aus dem Portal schwoll an und erfüllte schließlich das

ganze Gewölbe. Dann fiel auch die Schattenkreatur mit einem
heiseren Knurren in das Gelächter ein.

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Draußen, vor dem Anwesen, erhob sich ein Schwarm schwarzer

Krähen aus einem Baum in die Lüfte. Krächzend stoben sie in alle
Richtungen davon. Es war, als wollten sie so viel Abstand wie
möglich zwischen sich und das Haus an der Klippe bringen …

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10

E

S WAR ZUM VERRÜCKTWERDEN.

Nachdem Paige das Halliwell-Haus verlassen hatte, um mit ihrem

kleinen, schwarzen – und immer noch nicht abbezahlten – New Beetle
zur Arbeit zu fahren, war sie prompt in einen Stau geraten.

Natürlich waren Verkehrsbehinderungen zur morgendlichen

Rushhour auch in San Francisco nichts Besonderes, aber dies hier
schien die Mutter aller Staus zu sein. Im Schritttempo quälte sich die
Blechlawine durch die Innenstadt. Nichts ging mehr.

Paige empfand das nervtötende Gehupe einiger

Verkehrsteilnehmer in dieser Situation als wenig hilfreich, ja, es
verstärkte nur das allgemeine Gefühl der Wut und Machtlosigkeit.

Sie seufzte und nahm noch einen Bissen von dem Sandwich, das

sie sich daheim in aller Eile geschmiert hatte. Beim Kauen blickte sie
erneut zur Uhr. Es war bereits kurz nach zehn!

Die kleinen Digitalziffern auf dem Armaturenbrett schienen im

Zeitraffertempo zu wechseln. Fast wirkten sie auf Paige wie der
umgekehrte Countdown zum größten Donnerwetter ihrer beruflichen
Karriere.

Mister Cowan, ihr Vorgesetzter im Sozialdienst, hatte sie bereits

mehrere Male wegen ihres chronischen Zuspätkommens verwarnt,
und Paige hatte stets Besserung gelobt.

Das ist einfach unfair, dachte sie und trommelte nervös mit den

Fingerspitzen auf das Lenkrad. Sie gab sich wirklich alle Mühe dieser
Welt, aber ihre Aufgaben als Hexe und als Mitarbeiterin des
Sozialdienstes wuchsen ihr manchmal einfach über den Kopf. Und für
diesen Stau konnte sie ja nun schließlich auch nichts.

Obwohl … vielleicht stimmte das gar nicht. Ein unangenehmer

Verdacht beschlich die junge Hexe. Sie fingerte am Sendersuchlauf
des Autoradios herum, bis sie eine Station mit Verkehrsnachrichten
fand.

»… kommt es heute im gesamten Stadtgebiet zu größeren

Verkehrbehinderungen und Staus. Grund dafür ist nach

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Polizeiangaben ein Ausfall im Computersystem des zentralen
Verkehrsleitsystems«, ertönte die Stimme eines gut gelaunten
Moderators, der offensichtlich nicht inmitten einer Blechlawine
festsaß. »Und nun zur Aufheiterung aller Stauopfer da draußen – ›I'm
walking on sunshine‹ von …«

Mit einem ärgerlichen Knurren stellte Paige das Radio wieder aus.

Sie hatte es doch geahnt – ein rätselhafter Computerausfall im
Verkehrsleitsystem … das klang verdammt nach dem Werk dieses
verfluchten Blimps. Sie kochte innerlich vor Wut. Wenn sie den
kleinen Quälgeist zu packen bekam, dann …

»Halt!«, rief sie sich selbst zur Raison, als sie sich an Pipers Worte

erinnerte. Wenn sie sich über den Blimp und seine Streiche ärgerte,
würde sie ihn nur noch mächtiger machen. Die junge Hexe versuchte,
ruhig durchzuatmen und zählte dabei langsam bis zehn. So leicht
würde sie es dieser kleinen Kröte nicht machen.

Paige war gerade bei sieben angekommen, als sie

zusammenzuckte. Jemand klopfte an die Fensterscheibe der Fahrertür.
Paige blickte auf.

Ein gut aussehender Mann in Polizeiuniform lächelte sie von

draußen an. Ein paar Strähnen seines blonden Haares lugten vorwitzig
unter der schwarzen Polizeimütze hervor. Mit seinen strahlend weißen
Zähnen wirkte der junge Uniformierte wie eine Werbefigur für »San
Francisco's Finest«, die Polizeitruppe der Stadt. Der Polizist bedeutete
Paige, das Fenster zu öffnen. Sie kam dieser Aufforderung nur allzu
gern nach. Der Junge war der erste Lichtblick dieses vermurksten
Tages. Sie betätigte den Knopf des automatischen Fensterhebers, und
die Scheibe öffnete sich mit einem sanften Surren.

»Guten Morgen, Officer«, surrte Paige mindestens genau so sanft

und lächelte den jungen Mann an. »Stimmt etwas nicht? Bin ich etwa
… zu schnell gefahren?« Sie kicherte.

Der Polizist tippte sich zum Gruß mit dem Zeigefinger an seine

Dienstmütze. Wow, dachte Paige, was ist es nur, das Männer in
Uniform so sexy macht?

»Guten Morgen, Miss. Nein, das ganz sicher nicht. Ich, äh, hab nur

gesehen, dass sie einen ziemlich angespannten Eindruck gemacht
haben. Kann ich Ihnen vielleicht irgendwie helfen?«

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Paige zuckte mit den Schultern. Ihr Lächeln wurde noch ein wenig

breiter, als sie mit einer Kopfbewegung auf das Dienstmotorrad
deutete, das der Beamte am Rand des Staus abgestellt hatte.

»Na ja, für den Anfang könnten Sie mich mit Ihrem Motorrad zur

Arbeit fahren.«

Nun war es an dem Polizisten, mit den Schultern zu zucken. »Tut

mir Leid, Miss, ich fürchte, das wäre gegen die Vorschriften. Aber
vielleicht kann ich Ihnen hier etwas Gesellschaft leisten. Bis der Stau
sich wieder aufgelöst hat, kann ich hier sowieso nicht viel machen.
Vielleicht kann ich Sie ja …«

Das Lächeln des blonden Polizisten fror plötzlich ein. Dann zogen

sich seine Mundwinkel wie im Zeitlupentempo nach oben.

Paige runzelte die Stirn. »Officer? Ist irgendetwas?«, fragte sie

besorgt.

Der Polizist gab ein glucksendes Geräusch von sich – wie jemand,

der mit äußerster Anstrengung ein Kichern unterdrückt. Dann
räusperte er sich. »Ähm, nein, alles in Ordnung. Mir ist nur gerade
eingefallen, dass ich mich dringend, äh … in der Zentrale melden
muss. Einen schönen Tag noch, Miss.«

Mit diesen Worten wandte er sich um und entfernte sich mit

schnellen Schritten von Paiges Wagen, ohne sich noch einmal
umzudrehen.

Paige blickte ihm fassungslos nach. Was war denn plötzlich in den

gefahren? Eine Sekunde zuvor hatte sie doch noch so nett mit ihm
geflirtet, und dann …

Ratlos sah Paige in den Innenspiegel. Und erstarrte.

Ein tiefgrüner Salatrest steckte gut sichtbar zwischen ihren beiden

Schneidezähnen! Paige lief knallrot an und blickte dann hasserfüllt auf
das Sandwich, das zur Hälfte in Alu-Folie eingewickelt neben ihr lag.

Das war wirklich der Alptraum einer jeden Frau – ein Flirt mit

einem hübschen, fremden Mann … und dann ein hässlicher Essensrest
zwischen den Zähnen! Alles Make-up dieser Welt konnte so ein
Fiasko nicht wieder ausgleichen.

Vor Scham versank Paige fast in ihrem Sitz. Durch das geöffnete

Fenster hörte sie das Motorrad des jungen Polizisten davonbrausen.

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Wahrscheinlich erzählte er gerade seinen Kollegen über Funk von
seiner Begegnung mit Paige, der Frau mit dem umwerfendsten
Lächeln der Welt, wäre da nicht … So ein Pech aber auch!

Paige spürte, wie die Wut in ihr hochstieg. Sie wusste, dies alles

verdankte sie nur diesem miesen, kleinen Blimp. Es hatte keinen Sinn
mehr, den Ärger zu unterdrücken.

Sie ballte die Hände zu Fäusten und malte sich aus, was sie diesem

Wicht antun würde, wenn sie ihn erst einmal in die Finger bekam.

Piper Halliwell lenkte ihren Wagen auf den Parkplatz hinter dem

P3.

Sie hatte im Verkehrsfunk von dem Stau in der Innenstadt

erfahren, aber der Club lag weit genug außerhalb, sodass sie das
Verkehrchaos weiträumig umfahren hatte.

Glück gehabt, dachte sie und steuerte ihren Einstellplatz an. Im

nächsten Moment stutzte sie. Mitten in ihrer reservierten Parklücke
stand ein weißer Wagen, der dort ganz sicher nichts zu suchen hatte.
Was umso verwunderlicher war, da das Lokal noch längst nicht
geöffnet hatte.

Irgendetwas störte Piper an dem fremden Auto, und sie brauchte

ein paar Sekunden, um dahinter zu kommen, was es war. Der Wagen
war makellos sauber, und der schlichte weiße Lack schimmerte in der
Sonne. Der Fabrikatname, der bei den meisten Wagen am Heck
angebracht war, fehlte – genau wie jede Art von Aufkleber an der
Heckscheibe oder ein persönlicher Gegenstand auf der Hutablage.

So sah eigentlich nur der Dienstwagen einer Behörde aus.

Piper parkte neben dem fremden Fahrzeug und stieg mit einem

mulmigen Gefühl in der Magengegend aus.

Sie war nicht sonderlich überrascht, als sie feststellte, dass ein

hagerer Mann mittleren Alters bereits am Hintereingang des P3 auf sie
wartete. Unter dem rechten Arm trug er eine hässliche Kunstleder-
Aktentasche, die in dieser Hinsicht zumindest perfekt mit dem
geschmacklosen Anzug harmonierte.

Der Mann blickte Piper mit einem Stirnrunzeln entgegen und sah

dann demonstrativ auf seine Armbanduhr. »Misses Halliwell, nehme

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ich an?«, fragte er mit fast vorwurfsvoller Stimme. »Mein Name ist
Benson. Ich warte schon seit einer halben Stunde auf Sie.«

Piper betrachtete den Mann mit hochgezogenen Augenbrauen.

»Das tut mir Leid, Mister Benson, was kann ich für Sie tun?« Sie
überlegte, ob sie den Kerl von irgendwoher kannte. Wenn ja, dann
hatte sie es bereits wieder vergessen. Kein Wunder eigentlich, denn
der Typ war in etwa genauso Aufsehen erregend wie sein Auto.

Statt einer Antwort zog der Mann – Mister Benson – eine kleine

Brieftasche aus seinem Anzug und klappte sie auf. Zum Vorschein
kam eine offiziell aussehende Ausweiskarte. »Ich komme von der
IRS«, sagte er schließlich und betonte dabei jeden einzelnen dieser
drei Buchstaben, als ob er eine Beschwörungsformel aufsagen würde.

Tatsächlich verfehlte diese Mitteilung ihre Wirkung nicht. Es war

so, als ob man auf der Straße von einem Polizisten angesprochen wird
– selbst, wenn man absolut nichts verbrochen hat, meldet sich von
irgendwoher die Stimme des schlechten Gewissens.

»IRS?«, wiederholte Piper erstaunt und war sich bewusst darüber,

wie dumm sie dabei aussehen musste. »Die Steuerbehörde? Aber …
ich hab doch gar nichts … ich meine, gibt es irgendwelche Probleme,
Mister Benson?«

Der Prüfer grinste ein selbstgefälliges Lächeln. Pipers Reaktion

war für ihn anscheinend nichts Ungewöhnliches. Im Gegenteil, er
schien die Wirkung der drei magischen Buchstaben auf seine
Mitmenschen regelrecht zu genießen.

»Probleme?«, beendete er ihren Satz. »Nein, Misses Halliwell.

Zumindest keine, von denen ich jetzt bereits wüsste. Wir überprüfen
nur stichprobenhaft einige Lokale in San Francisco, die nach dem
Losverfahren ausgewählt werden. Eine reine Routine-Steuerprüfung,
nichts weiter.«

Nach dem Losverfahren ausgewählt?, dachte Piper und biss die

Zähne zusammen. Dann hatte das Ganze nichts mit »Routine« zu tun.
Der unangemeldete Besuch des Steuerprüfers war eindeutig das Werk
des Blimps.

Piper versuchte, ihren eigenen Ratschlag zu beherzigen und sich

nicht darüber aufzuregen. Das würde diesem heimtückischen, kleinen
Gnom nur noch mehr Macht verleihen.

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Benson bemerkte, wie Piper ihre Hände zu Fäusten ballte. Er hob

eine Augenbraue und blickte sein Gegenüber an, wie ein Lehrer, der
eine Problemschülerin beim Abschreiben erwischt hatte.

»Alles in Ordnung, Misses? Gibt es vielleicht etwas, das Sie mir

sagen möchten?«

Piper schüttelte eilig den Kopf. Soweit sie wusste, hatte sie ihre

Steuern immer korrekt bezahlt. Sie hatte also nichts zu befürchten.

Hoffte sie jedenfalls.

Andererseits war es kein Geheimnis, dass ein Steuerprüfer immer

etwas fand, was zu beanstanden war – schließlich war das sein Job.

»Nein, Mister Benson, alles in Ordnung«, sagte die junge Hexe

und fummelte den Schlüssel zum Hintereingang aus ihrer
Hosentasche. »Bringen wir's hinter uns, ich hab heute viel zu tun.«

Der Beamte lächelte nur. »Oh, ich auch, Misses Halliwell, ich

auch. Die Steuerprüfung bei einem Lokal nimmt erfahrungsgemäß
viel Zeit in Anspruch.«

Piper schluckte, als sie den Schlüssel ins Schloss steckte. »Du

meine Güte«, sagte sie und drückte die Tür auf, um den Steuerprüfer
hineinzulassen. »Was glauben Sie denn, wie lange Sie brauchen
werden?«

Benson schlüpfte voller Vorfreude an Piper vorbei und betrat das

P3.

»Nun, Sie sollten sich bis heute Nachmittag nicht allzu viel

vornehmen. Schließlich brauche ich bei der Überprüfung Ihrer
Buchhaltungsunterlagen unter Umständen Ihre Hilfe. Falls es …
Unklarheiten gibt, Sie verstehen?«

Du meinst, falls du mir irgendwas anhängen kannst, du kleiner

Steuerdämon, dachte Piper und lächelte freundlich. »In diesem Fall
stehe ich Ihnen selbstverständlich zur Verfügung, Mister Benson.
Obwohl ich nicht glaube, dass …«

Piper und der Steuerprüfer erstarrten und blickten eine Sekunde

lang in den Hauptraum des P3, der noch dunkel und verlassen vor
ihnen lag.

Der Steuerbeamte rümpfte die Nase.

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»Was ist denn das für ein infernalischer Geruch?«, keuchte er.

Gute Frage, dachte Piper und verzog das Gesicht. Das P3 war von

einem üblen, fauligen Gestank erfüllt.

Das Ganze roch irgendwie … fischig.

»O nein!«, rief Piper und rannte los. Dicht gefolgt von Benson

hastete sie durch den Hauptraum und auf die Küche zu. Sie ahnte
Furchtbares. Erst gestern war eine neue Ladung tiefgefrorener Fisch
und Meeresfrüchte eingetroffen.

Das konnte doch nicht …

Piper stieß die Schwingtür zur Küche auf und huschte hinein. Der

Gestank, der ihr hier entgegenschlug, war wirklich atemberaubend.
Sie hielt sich die Nase zu und stürmte weiter, durch die penibel
geputzte Küche hindurch in den Lagerraum, der dahinter lag.

Hier war der Fäulnisgeruch fast mit den Händen greifbar. Entsetzt

blickte Piper auf die große Kühltruhe in der Ecke des Raumes. Von
außen wirkte sie ganz normal, aber Piper sah gleich, dass hier etwas
nicht stimmte. Normalerweise hätte an der Frontseite ein grünes
Kontrolllämpchen leuchten müssen. Außerdem gab die große, weiße
Truhe, die Piper noch von ihrem Vorgänger übernommen hatte,
gewöhnlich ein beruhigendes, tiefes Summen von sich.

Jetzt schwieg die Gefriertruhe wie ein Sarg.

Piper ersparte es sich, den Deckel zu öffnen und ins Innere zu

sehen. Sie konnte sich nur zu gut vorstellen, was sie darin finden
würde. Stattdessen ging sie an die gegenüberliegende Wand und
öffnete den kleinen Sicherungskasten. Eine der Keramiksicherungen
war mit einer schwarzen Rußschicht überzogen.

Durchgebrannt!, dachte Piper resigniert. Dabei hatte sie die

Elektrik erst letzte Woche überprüft. So viel Pech konnte man doch
gar nicht haben. Da konnte nur einer dahinter stecken – der Blimp.

Piper stieß ein paar lautlose Flüche aus, als sie hinter sich ein

Piepsen hörte. Erstaunt blickte sie sich um. Mister Benson, der
Steuerprüfer, hielt sich mit einer Hand die Nase zu, während er mit
der anderen sein Handy bediente. Dann hielt er sich das kleine
Mobiltelefon ans Ohr.

»Wenn rufen Sie denn da an?«, fragte Piper argwöhnisch.

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Der Steuerbeamte maß sie mit einem abfälligen Blick. Mit

zugehaltener Nase klang seine Stimme beinahe komisch. Aber nur
beinahe. »Einen Kollegen von mir, Misses Halliwell«, erwiderte er.
»Im Gesundheitsamt.«

Piper seufzte und verdrehte die Augen.

Was für ein Tag.

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11

»

W

AS FÜR EIN TAG«, SEUFZTE PAIGE und blickte vom

Buch der Schatten auf, als Piper den Dachboden betrat. »Ich glaube,
das waren die schlimmsten acht Stunden, die ich je im Büro verbracht
habe. Du glaubst nicht, was …«

Paige stutzte, als sie ihre Schwester ansah, die mit hängenden

Schultern und dunklen Rändern unter den Augen vor ihr stand.

Aber am schlimmsten war der Geruch, der sich wie eine schlechte

Aura um sie herum verbreitete.

»Piper«, rief Paige und fächerte sich mit der Handfläche frische

Luft zu. »Du stinkst ja erbärmlich. Was ist denn mit dir passiert?«

Piper winkte erschöpft ab. »Nun ja, ich musste mich heute den

ganzen Tag mit einem übereifrigen Steuerprüfer und seinem Kollegen
vom Gesundheitsamt herumprügeln.«

Sie erzählte ihrer Halbschwester die Geschichte von der

Steuerprüfung und der Kühltruhe. Zum Glück hatte Mister Benson nur
ein paar Kleinigkeiten in ihren Abrechnungen entdeckt, und auch das
Gesundheitsamt hatte sie mit einer Geldbuße davonkommen lassen.
Trotzdem hatte Piper die ganze Ladung des verdorbenen Fisches
selbst entsorgen müssen.

»Was ich jetzt brauche, ist ein laaaaaanges Bad, nicht zuletzt, um

den Gestank wieder loszuwerden«, schloss Piper ihren Bericht.

Paige nickte und entschied, Piper nichts von ihrem Tag zu

erzählen. Das Erlebnis mit dem Polizisten war auch bei ihr nur der
Beginn einer extremen Pechsträhne gewesen. Nachdem sie gegen 11
Uhr frustriert im Büro eingetroffen war, hatte sie eine Standpauke von
Mister Cowan über sich ergehen lassen müssen, die sich gewaschen
hatte. Dann hatte sie einige wichtige Unterlagen nicht wiederfinden
können, und am Nachmittag hatte ihr zu allem Überfluss der Bürobote
einen Becher Kaffee über ihre neuen Wildlederstiefel geschüttet. Und
wie zum krönenden Abschluss hatte sie nach Büroschluss noch einen
Strafzettel wegen Falschparkens an ihrer Windschutzscheibe
vorgefunden. Diesem verdammten Blimp musste schleunigst das

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Handwerk gelegt werden, so viel stand fest. Aber genau deshalb war
sie ja hier oben.

»Was machst du eigentlich hier auf dem Dachboden?«, fragte Piper

in diesem Augenblick, als hätte sie die Gedanken ihrer Schwester
erraten.

Paige deutete auf das Podest vor sich. »Dieser kleine

Flaschenteufel treibt mich langsam in den Wahnsinn. Ich dachte,
vielleicht finde ich im Buch der Schatten doch noch ein paar
Informationen, die uns dabei helfen könnten, ihn aufzuspüren.«

Piper trat einen Schritt näher, und Paige musste sich bemühen,

nicht zu würgen. Piper roch wirklich extrem nach Fisch – und nicht
gerade nach dem frischesten.

»Irgendwie ist es komisch«, fuhr Paige fort und deutete auf die

vergilbten Seiten des uralten Folianten. »Ich blättere hier nun schon
seit einer Stunde herum und habe absolut nichts über
Flaschendämonen gefunden. Aber dafür stoße ich immer wieder auf
so etwas hier. Sieh mal.«

Piper blickte über Paiges Schulter auf das Buch der Schatten. Auf

der Seite, die Paige gerade spontan aufgeschlagen hatte, prangte die
seltsame Zeichnung einer gegen den Uhrzeigersinn verlaufenden
Spirale.

»Was ist das?«, fragte Piper. Sie hatte dieses offensichtlich

magische Symbol noch nie zuvor gesehen.

Paige zuckte mit den Schultern. »Ich habe keine Ahnung. Aber so

oft ich auch umblättere, ich stoße immer wieder auf Einträge, die
irgendetwas mit diesem Text hier zu tun haben.«

Frustriert strich Paige mit dem Zeigefinger über die Überschrift der

Seite. Die Lettern waren ziemlich verblichen, und es war nicht
einfach, sie im dämmrigen Licht des Speichers zu entziffern. Der
magische Eintrag musste schon sehr alt sein.

»Zeig mal«, sagte Piper und zündete eine auf dem Pult stehende

Kerze an, um besser lesen zu können. Ein warmes, flackerndes Licht
erfüllte den Dachboden.

»Habt Acht vor der Zweiten Ankunft des Uralten«, las Piper.
»Denn er will seine Kraft von Neuem entfalten.

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Gebannt vor Äonen ist die Macht ungebrochen.
Die Schmach des Kerkers wird er nie verzeihen,
das Opfer eines Unschuldigen wird ihn befreien,
um die Welt für alle Zeit zu unterjochen.«

Paige spürte, wie ein Frösteln über ihren Rücken rieselte. »Klingt

nach einem ziemlich unsympathischen Zeitgenossen«, sagte sie, und
ihre Stimme wurde unwillkürlich zu einem Flüstern. »Aber was hat
das zu bedeuten? Und was hat das mit dem Blimp zu tun?«

Piper blickte ihre jüngere Halbschwester an und atmete

geräuschvoll aus. »Ich hab keine Ahnung, Paige«, antwortete sie.
»Wahrscheinlich gar nichts. Aber wenn das Buch der Schatten dir
immer wieder diese Seite zeigt, dann wird es seine Gründe dafür
haben.«

Paige knurrte frustriert. »Vielleicht bin ich auch nur zu dumm, mit

dem Buch richtig umzugehen. Ich meine, ich habe immer noch keine
Ahnung, wie das Teil eigentlich funktioniert.«

»So ganz habe ich das auch nie begriffen«, entgegnete Piper und

legte Paige eine Hand auf die Schulter. »Aber das Buch ist fast so
etwas wie ein lebendes Wesen. Vielleicht will es dir irgendetwas
sagen. Für mich klingt das Ganze zumindest wie eine Warnung.«

»Sicher«, nickte Paige, »aber was hat es mit diesem ›Uralten‹ auf

sich? Und was für ein Unschuldiger soll geopfert werden?«

Piper zuckte die Schultern. »Ich bin sicher, dass du das

herausfinden wirst, Paige.«

Sie zögerte eine Sekunde und blickte ihrer Halbschwester dann fest

in die Augen. »Weißt du, als du vor ein paar Monaten aufgetaucht
bist, gab es Momente, in denen ich dich für einen hoffnungslosen Fall
gehalten habe. Ich fürchtete damals, dass du nie genug Disziplin
aufbringen würdest, um eine Hexe zu werden. Aber ich habe mich
getäuscht. Du bist jetzt ein fester Teil der Macht der Drei. Du wirst
das Rätsel lösen. Vertraue deinen Instinkten, Paige.«

Paige musste grinsen. »Danke, Piper. Jetzt fehlen dir nur noch ein

paar rosa Puschel und ein Pappschild mit der Aufschrift ›Go, Paige,
go!‹«

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»Nicht wirklich«, lachte Piper. »Ich war nämlich nie der

Cheerleader-Typ. Aber jetzt brauche ich dringend ein Bad.
Entschuldige mich bitte.«

»Sicher«, antwortete Paige und blickte ihrer Halbschwester nach,

wie sie durch die Dachbodentür zur Treppe nach unten ging.

Das war so ungefähr das Netteste, was Piper je zu ihr gesagt hatte.

Trotz ihrer momentanen magischen Pechsträhne und der rätselhaften
Warnung wurde Paige von einem wohligen Gefühl durchströmt.

Sie fühlte sich toll bei dem Gedanken, eine Hexe zu sein und die

Chance zu haben, etwas Gutes zu tun.

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12

P

HOEBE LAG AUF DEM BETT in ihrem Zimmer und hörte die

Schritte ihrer beiden Schwestern auf dem Dachboden über sich. Sie
konnte sich bildlich vorstellen, wie Piper und Paige mal wieder um
das Buch der Schatten herumstanden und versuchten, dem alten
Schinken seine Geheimnisse zu entlocken.

Phoebe vermochte gar nicht in Worte zu fassen, wie sehr ihr dieses

Hexen-Pfadfindertum auf die Nerven ging: Den ganzen Tag
verbrachten die drei Frauen damit, gegen irgendwelche widerlichen
Dämonen zu kämpfen und die Welt zu retten. Aber wer hatte sie
überhaupt darum gebeten? Und sie, Phoebe Halliwell, hatte sich für
diese Art von Leben bestimmt nicht freiwillig gemeldet.

Phoebe runzelte die Stirn. Eine Sekunde lang war sie über sich

selbst verwundert. Bis vor ein paar Tagen hatte sie ihre Berufung als
Hexe mit keinem Gedanken in Frage gestellt. Und nun …

Was war nur los mit ihr?

Es war, als ob neuerdings irgendetwas an ihrer Seele nagte und ein

bohrendes Gefühl der Unzufriedenheit zurückließ. Eine Sehnsucht, die
ihr Ziel erst noch finden musste.

Ohne vom Bett aufzustehen, griff Phoebe nach der Fernbedienung

ihrer Stereoanlage und drückte die »Play«-Taste.

Sofort erfüllte die Musik der Nature Sons den Raum, diesmal

jedoch auf Zimmerlautstärke. Wieder so ein Kompromiss, den sie
Piper zuliebe eingegangen war.

Ihr ganzes Leben wurde nur von Vorschriften, Regeln und

Pflichten bestimmt. Hatte sie das nicht letztendlich auch ihre Liebe zu
Cole gekostet? Sie selbst hätte gut damit leben können, dass ihr Ex-
Liebhaber ein Halbdämon war, der ständig im Clinch mit seiner
dunklen Seite lag. Aber ihre Schwestern waren von Anfang an gegen
diese Beziehung gewesen. Und wieder einmal hatte sich Phoebe dem
Druck von Piper – und damals noch Prue – gebeugt.

Aber damit war jetzt Schluss.

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Phoebe hob den Kopf und blickte auf das Poster der Nature Sons,

das seit kurzem ihre Zimmerwand zierte.

Es war ein stimmungsvolles Schwarzweiß-Foto der Band, auf dem

die Musiker an einem Strand standen und mit verträumten Augen in
die Kamera lächelten. Alle vier trugen weit aufgeknöpfte weiße
Hemden, die im Wind ebenso flatterten, wie ihre zerzausten Haare.

Ein wunderschönes Poster, fand Phoebe, und es war gar nicht

einfach gewesen, es zu bekommen. Die Band war ziemlich
zurückhaltend, was ihre Promotion anging. Außer ein paar
unverkäuflichen Papp-Aufstellern und Werbeplakaten in ein paar
ausgewählten Plattenläden waren keinerlei Fan-Artikel im Handel
erhältlich.

Eine halbe Stunde lang hatte Phoebe auf den Verkäufer im Star

Recorzz einreden müssen, bis er ihr völlig genervt das Poster
überlassen hatte. Diese Zurückhaltung hinsichtlich der Vermarktung
war eigentlich seltsam, fand Phoebe, denn Markel, der Manager der
Band, schien nicht gerade jemand zu sein, der etwas gegen Kommerz
einzuwenden hatte. Selbst in den einschlägigen Musik-

und

Szenemagazinen war kein Wort über die Nature Sons zu finden. Und
Phoebe musste es schließlich wissen, denn nach dem Konzert hatte sie
an den Kiosken jede Musikzeitschrift von vorne bis hinten
durchgeblättert.

Aber vielleicht lag die Werbestrategie der Band ja gerade darin,

sich voll und ganz auf die Mund-zu-Mund-Propaganda zu verlassen.

Phoebe blickte noch einmal auf das Poster und seufzte. Josh, der

Gitarrist, schien sie direkt anzulächeln. Jedenfalls hatte sie das Gefühl,
dass er – wie schon bei dem Konzert – nur Augen für sie hatte.
Natürlich wusste Phoebe, dass das ein alberner Wunschtraum war –
aber andererseits … sie als Hexe musste doch wissen, dass Magie und
Schicksal absolut real waren. Vielleicht waren sie und Josh ja
tatsächlich dazu bestimmt, einander kennen zu lernen.

Phoebe runzelte die Stirn. Falls das so sein sollte, dann würde sie

das sicherlich nicht herausfinden, indem sie hier auf ihrem Bett lag
und träumte.

Sie holte tief Luft und fasste einen Entschluss.

Sie würde die Band suchen und Josh kennen lernen.

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Und niemand würde sie davon abhalten können.

Mit Schwung rollte sich Phoebe herum und sprang mit einem Satz

vom Bett, als ihr plötzlich schwarz vor Augen wurde. Stöhnend
torkelte sie einen Schritt zurück und suchte Halt am Bettpfosten.

Seit Tagen schon fühlte sie sich unendlich schlapp, und während

sie auf dem Bett gelegen hatte, war ihr gar nicht aufgefallen, wie
schwach sie mittlerweile war.

Phoebe schloss die Augen und atmete ruhig ein und aus. Sie hatte

das Gefühl, seit Tagen nicht mehr geschlafen zu haben – dabei hatte
sie seit dem Konzert fast nichts anderes getan.

Doch trotz ihrer körperlichen Schwäche war sie erfüllt von

Tatendrang.

Das war ein gutes Zeichen.

Mit weichen Knien ging sie zu ihrer Kommode und riss die

Schubladen auf.

Dann begann sie zu packen.

Paige gab auf.

Seit einer halben Stunde blätterte sie nun schon im Buch der

Schatten. Die Kerze, die Piper angezündet hatte, war schon fast
abgebrannt. Im flackernden Licht der Flamme schienen die
Buchstaben auf dem alten Pergamentpapier ein Eigenleben zu führen.

Paige hätte schwören können, dass die alten Lettern – immer wenn

sie gerade nicht hinsah – verschwammen und sich veränderten. Fast
so, als ob das Buch der Schatten sich wieder einmal neu schreiben
würde. Doch wahrscheinlich spielten ihre erschöpften Augen ihr nur
einen Streich. Und so oder so hatte sie keine brauchbaren Hinweise
mehr gefunden. Wenn das Buch noch Informationen über den Blimp
oder den mysteriösen »Uralten« beinhaltete, dann behielt es dieses
Wissen erfolgreich für sich.

Das Einzige, auf das Paige immer wieder gestoßen war, waren

weitere Warnungen vor dieser ominösen Bedrohung – und Bilder von
magischen Spiralen, die sich gegen den Uhrzeigersinn zu drehen

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schienen. Doch über das, was sie bedeuteten, schwieg das Buch der
Schatten
sich aus.

»Wenn ich noch länger auf diese dämlichen Spiralen starre«,

murmelte Paige, »werde ich davon noch ganz kirre.«

Seufzend klappte die junge Hexe das Buch zu und rieb sich die

müden Augen.

Schluss für heute. Was sie jetzt brauchte, war die Magie eines

anständigen schwarzen Kaffees. Und vielleicht würde sie dann auch
ein schönes Schaumbad nehmen, vorausgesetzt, Piper würde das
Badezimmer heute noch einmal verlassen.

Paige pustete den Kerzenstummel aus, ließ das Buch der Schatten

auf seinem Sockel zurück und schloss die Dachbodentür hinter sich.

Sie hatte gerade den Flur des zweiten Stockwerkes erreicht, als

sich die Tür zu Phoebes Zimmer öffnete.

Phoebe trat heraus, nicht unbedingt erfreut darüber, ihre

Halbschwester zu sehen. Sie trug eine abgewetzte Lederjacke und
hatte sich die Augen schwarz geschminkt. Der dunkle Lidschatten
bildete einen starken Kontrast zu Phoebes Haut, die blass und farblos
wirkte.

Dann fiel Paiges Blick auf die Lederjacke. »Phoebe, willst du noch

weg?«, fragte sie erstaunt.

»Natürlich will ich noch weg«, murmelte Phoebe misslaunig und

schloss die Tür hinter sich. »Oder glaubst du, ich hab die Jacke
angezogen, weil ich auf dem Weg zum Wohnzimmer so schnell
friere?«

Paige schluckte. Phoebe konnte zwar manchmal ziemlich

schnippisch sein, aber so aggressiv hatte Paige sie selten erlebt.
»Schon gut«, entgegnete sie und hob abwehrend die Hände. »Ich frage
ja nur. Aber wohin willst du denn? Ich meine, hast du mal in den
Spiegel geschaut? Du bist ganz blass um die Nase. Wenn du mich
fragst, gehörst du ins Bett.«

Phoebe machte einen wütenden Schritt auf ihre Halbschwester zu.

»Warum müssen mir eigentlich immer alle Leute vorschreiben, was
ich tun soll? Von Piper bin ich das ja schon gewöhnt, und jetzt fängt

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meine kleine Schwester auch noch damit an. Mir reicht's jetzt
wirklich. Ich tue, was ich will, verstanden?«

»Ich … ich hab es doch nur gut gemeint«, stammelte Paige. Sie

verstand die Welt nicht mehr. Was war nur in Phoebe gefahren?

In diesem Augenblick öffnete sich die Badezimmertür, und Piper

steckte ihren Kopf durch den Türspalt. Sie trug nur einen Bademantel
und hatte sich ein Handtuch um die nassen Haare gewickelt. »Was ist
denn hier los?«

»Ich gehe«, antwortete Phoebe.

»Sie geht«, echote Paige mit einem Schulterzucken.

Piper blickte fragend zwischen beiden Schwestern hin und her. Mit

ihrem behelfsmäßigen Turban hätte sie unter anderen Umständen
dabei beinahe komisch ausgesehen.

»Wohin geht sie denn?«, fragte Piper schließlich mit einem

Stirnrunzeln.

»Das würde ich auch gern wissen«, erwiderte Paige.

Beide Schwestern blickten auf Phoebe, die nur die Augen

verdrehte. »Wenn ihr es genau wissen wollt – ich versuche die Nature
Sons
zu finden!«

Paige traute ihren Ohren nicht. Phoebe wollte einer

dahergelaufenen, mittelmäßigen Pop-Band nachreisen? »Bist du nicht
etwas zu alt, um eine zweite Karriere als Groupie zu starten?«

»Das überlasst ihr am besten mal mir, okay?«

Piper legte die Stirn in Falten. Auch sie verstand offensichtlich

nicht, was mit ihrer jüngeren Schwester vorging. »Phoebe, du kannst
tun und lassen, was du willst, aber meinst du, der Zeitpunkt ist günstig
gewählt? Ich meine, wir haben diesen Blimp immer noch nicht
gefunden, und Paige hat vom Buch der Schatten eine mysteriöse
Warnung erhalten. Ein Unschuldiger ist in Gefahr und …«

Phoebe lachte bitter auf. »Das ist alles, was ihr im Kopf habt,

stimmt's? Gegen irgendwelche Dämonen kämpfen und Unschuldige
beschützen. Wer sind wir denn? Die Hexen-Polizei?

Nein, danke! Die Suppe, die Paige uns mit dem Flaschenteufel

eingebrockt hat, soll Paige gefälligst allein auslöffeln. Und auf eure so

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genannten ›Unschuldigen‹ kann auch mal jemand anderes aufpassen.
Ich hab auch noch ein Privatleben, wisst ihr?«

Piper blickte ihre jüngere Schwester ernst an. »Phoebe, hast du

vergessen, dass wir nur durch die Macht der Drei wirklich stark sind?
Wir brauchen uns gegenseitig, wenn wir gegen die Mächte der
Finsternis eine Chance haben wollen.«

Aber Phoebe schüttelte nur den Kopf. »Was ich jetzt vor allem

brauche, ist etwas Zeit für mich.« Mit diesen Worten drehte sie sich
auf dem Absatz um und ging die Treppe zum Flur hinunter.

»Und keine Sorge«, rief sie über ihre Schulter hinweg, »ich bin ja

nicht weit weg. Die Nature Sons müssen irgendwo hier in der Stadt
sein.«

Der Knall der zugeworfenen Haustür wirkte wie der Schlussakkord

des kleinen Streites, der aus scheinbar heiterem Himmel über das
Halliwell-Haus hereingebrochen war.

Ratlos blieben Piper und Paige im Flur zurück. Ein paar Sekunden

waren beide Frauen sprachlos. Keine von ihnen konnte sich vorstellen,
was mit Phoebe geschehen war.

»Du tropfst«, sagte Paige schließlich zu Piper.

»Leo!«, rief Piper.

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13

E

INE HALBE STUNDE SPÄTER steuerte Phoebe ihren

klapprigen Pick-up durch die Straßen San Franciscos.

Es war inzwischen dunkel geworden, und ab und zu konnte sie

zwischen den Häusern die beleuchtete Golden Gate Bridge in der
Ferne erkennen.

Das in der Dunkelheit schimmernde Wahrzeichen der Stadt kam

ihr wie ein Symbol für die Brücke vor, die sie überschreiten musste,
um ein neues Leben zu beginnen. Eine Sekunde lang spürte sie den
Anflug eines schlechten Gewissens. Was war nur in sie gefahren,
Piper und Paige so im Stich zu lassen? Ihre beiden Schwestern zählten
auf sie und hatten sich bisher immer auf sie verlassen können.

Aber dann ertönte, wie von weit her, das Echo des Nature-Sons-

Songs in ihrem Kopf. »›Tu, was du willst‹«, hieß es da, und Phoebe
wusste, was sie zu tun hatte. Sie musste die Band kennen lernen, und
vor allem ein ganz bestimmtes Mitglied: Josh, den Gitarristen.

Das Bild des so sanft lächelnden jungen Mannes verdrängte alle

anderen Gedanken in ihrem Kopf. Selbst die Erinnerung an Cole, die
noch Monate nach der Trennung rund um die Uhr in ihrem Kopf
herumgespukt hatte, schien plötzlich weit weg zu sein.

Phoebe seufzte und steuerte den Wagen um eine Kurve. Vor ihr

erstreckte sich der Tenderloin-Bezirk, ein berühmt-berüchtigtes
Amüsierviertel der Stadt. Für viele war dieser anrüchige Ort der
reinste Sündenpfuhl, dabei existierte in Tenderloin unter anderem eine
erstklassige Musikszene. Die vielen kleinen Clubs boten eine ideale
Auftrittsmöglichkeit für junge, aufstrebende Bands, die sich hier erste
Sporen verdienen konnten.

Gut möglich, dachte Phoebe, dass auch die Nature Sons mal hier

angefangen hatten. Das war auch der Grund gewesen, warum Phoebe
ihren Wagen – wenn auch eher unbewusst – hierher gesteuert hatte.
Vielleicht, so ihre vage Hoffnung, zog es ja das ein oder andere
Mitglied zurück an den Ort, an dem alles angefangen hatte.

Phoebe hielt an einer roten Ampel und schüttelte den Kopf. Die

Straßen waren voll mit Nachtschwärmern, die hier auf der Suche nach

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Vergnügungen waren – von welcher Art auch immer. Selbst wenn
sich Josh hier aufhielt, würde sie ihn in diesem Getümmel einfach
übersehen. Obwohl sie immer noch von dem Gedanken erfüllt war,
das Richtige zu tun, wunderte sich ein Teil von Phoebes Verstand
darüber, wie irrational sie plötzlich handelte.

Die Ampel wechselte auf Grün. Phoebe ließ die Kupplung

kommen und wollte gerade weiterfahren, als ihr Auto mit einem
erstickten Blubbern stehen blieb. Der Fahrer eines Sportwagens hinter
ihr hupte wütend auf und zog dann mit quietschenden Reifen an
Phoebe vorbei.

Hektisch drehte die junge Hexe den Zündschlüssel. Der alte Pick-

up reagierte mit einem protestierenden Spotzen. Dann machte er einen
kleinen Satz nach vorn und blieb abermals stehen. Nervös blickte
Phoebe aus dem Fenster. Eine Gruppe finsterer Gestalten hatte den
Vorfall bemerkt und näherte sich ihrem Wagen. An ihren Gesichtern
war nicht abzulesen, ob sie Phoebe helfen oder die Gelegenheit
ausnutzen wollten, sie auszurauben.

Phoebe hatte keine Lust, das herauszufinden und drehte den

Zündschlüssel noch einmal herum. Die Gestalten waren jetzt nur noch
wenige Schritte von ihr entfernt.

»Komm schon, du Mistding«, rief sie. Dann versuchte sie sich zu

sammeln und ließ die Kupplung ganz langsam kommen. Mit einem
kleinen Ruck setzte sich der Wagen in Bewegung. Phoebe gab
vorsichtig Gas.

Einer der Männer aus der Gruppe, seinem Gehabe nach wohl der

Anführer seiner kleinen Gang, schlug wütend mit der Hand aufs
Autodach, als Phoebe an ihm vorbeirollte. Der Knall ließ sie
zusammenzucken, und eine Sekunde lang glaubte sie, ein Messer in
der anderen Hand des Mannes aufblitzen zu sehen.

Dann drückte sie das Gaspedal bis zum Anschlag durch und schoss

über die Kreuzung.

Sie wollte gerade erleichtert aufseufzen, als plötzlich ein lautes

Hupen von der Seite her ertönte. Sie wandte den Kopf und blickte
geradewegs in die grellen Scheinwerfer eines Wagens, der von rechts
auf sie zu schoss.

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In der ganzen Aufregung hatte sie gar nicht mehr darauf geachtet,

dass ihre Ampel längst wieder auf Rot zurückgesprungen sein musste.

Aber es war zu spät, um noch zu bremsen. Phoebe schloss die

Augen, klammerte sich mit den Händen ans Lenkrad und wartete auf
den Aufprall.

Doch dazu kam es nicht. Mit einem lang gezogenen Hupen zog der

Wagen nur wenige Zentimeter vor Phoebes Stoßstange vorbei.

Als sie die Augen wieder öffnete, sah sie nur noch, wie der andere

Fahrer aus dem Fenster heraus wütend die Faust ballte und
davonbrauste.

»Meine Güte, Phoebe«, schalt sie sich selbst, »das war haarscharf.«

Mit zitternden Händen steuerte sie ihren Pick-up weiter durch das
nächtliche Vergnügungsviertel.

Sie war natürlich dankbar, dass sie dieser Rockerbande und dem

Zusammenstoß entgangen war, aber gleichzeitig wunderte sie sich
auch darüber. Immerhin waren die drei Schwestern doch immer noch
mit dem Pech-Fluch des Blimps belegt. Wie konnte sie dann so viel
Glück auf einmal haben?

Es sei denn … – einen Augenblick lang machte sich ein flaues

Gefühl in Phoebes Magengegend breit – es sei denn, dieser kleine
Flaschenteufel hatte noch etwas viel Gemeineres mit ihr vor und
wollte sich den Spaß durch einen kleinen Verkehrsunfall nicht
verderben lassen.

Phoebe dachte kurz darüber nach, dann verwarf sie diesen

Gedanken wieder. Vielleicht hatten Piper und Paige die Macht dieses
kleinen Quälgeistes einfach überschätzt.

Eines jedoch stand fest: Es brachte gar nichts, hier weiter in der

Gegend herumzufahren und auf gut Glück nach der Band zu suchen.
In den einschlägigen Musikmagazinen hatte sie nichts über die Nature
Sons
gefunden, also musste sie sich etwas anderes einfallen lassen.

Dann hatte sie eine Idee. Auch wenn die Band nichts von

Pressearbeit hielt, musste doch irgendetwas über den Manager der
Gruppe, Mister Markel, in Erfahrung zu bringen sein. Und verfügte
nicht das Magazin, für das Phoebe ihre Kolumnen schrieb, über eine
eigene Musikredaktion? Nun ja, streng genommen bestand diese
Redaktion nur aus Steve, einem netten, etwas weltfremden Musik­

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Freak, der das gesamte Ressort allein betreute. Aber Phoebe wusste,
dass Steve in seinem Redaktionscomputer eine gewaltige Datenbank
pflegte, in der alle möglichen Informationen über Bands und
Plattenfirmen gespeichert waren.

Sie erinnerte sich auch daran, dass gelegentlich Kollegen von den

wirklich großen Musik-Magazinen in der Redaktion anriefen, um
Steve um Informationen zu bitten.

Phoebe blickte auf ihre Armbanduhr. Es war kurz nach zehn. In der

Redaktion würde jetzt kein Mensch mehr sein.

Umso besser. Denn offiziell war sie noch immer krank

geschrieben, und so würde sie niemandem erklären müssen, was sie zu
dieser späten Stunde noch in der Redaktion zu suchen hatte.

Phoebe drückte aufs Gaspedal und bog an der nächsten

Seitenstraße ab. Zum Glück war das Redaktionsgebäude nur ein paar
Blocks entfernt. Die weitere Fahrt verlief ohne Zwischenfälle, und sie
hatte Recht behalten: Die Fenster der Redaktion waren allesamt
dunkel.

Phoebe stellte den Wagen auf einem der reservierten Parkplätze ab

und ging auf den Eingang des Gebäudes zu.

Dann setzte sie ihr unschuldigstes Lächeln auf, als sie an dem alten

Nachtwächter vorbeischritt, der im Eingangsbereich des Hochhauses
hinter einem Pult saß.

»Miss Halliwell«, rief der alte Mann erstaunt und blickte von

seiner Zeitung auf, »was machen Sie denn noch hier?«

Phoebes Grinsen wurde noch etwas breiter. »Oh, ich, äh, hab in der

Redaktion etwas Wichtiges liegen lassen. Ein paar Notizen, die ich zu
Hause bearbeiten wollte.«

Phoebe hoffte, dass der alte Mann diese kleine Notlüge schlucken

würde, schließlich konnte er als Nachtwächter ja nicht wissen, dass
Phoebe sich krank gemeldet hatte.

Doch der alte Mann blickte Phoebe skeptisch an. Phoebe schluckte.

Dann machte sich ein väterliches Lächeln auf dem Gesicht des

Nachtportiers breit. »Na, dann gehen Sie mal hoch«, sagte er
freundlich. »Aber wenn Sie mich fragen, sollten Sie nicht mehr so viel
arbeiten. Sie sehen ja ganz blass aus.«

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Seltsam, dachte Phoebe, warum sagt mir eigentlich alle Welt, dass

ich krank aussehe?

Doch dann drückte der alte Mann einen Knopf an seinem Pult, der

die Aufzugtür freigab, und Phoebe vergaß diesen Gedanken wieder.

Mit einem freundlichen »Dankeschön« huschte sie an dem

Nachtwächter vorbei in den Aufzug. Sekunden später stand sie in der
Redaktionsetage. Die rangniederen Journalisten mussten sich ein
Großraumbüro teilen, das jetzt schweigend vor ihr lag. Zu dieser
späten Stunde wirkte der Raum ganz anders als tagsüber, wenn hier
ein aufgeregtes Durcheinander und hektisches Stimmengewirr
herrschten.

Mit einem Anflug von schlechtem Gewissen schlich Phoebe zu

Steves Schreibtisch und schaltete dessen Computer ein.

Mit einem kleinen Fanfarenstoß erwachte das Betriebssystem zum

Leben. Phoebe hatte diese kurze Tonfolge schon unzählige Male aus
ihrem eigenen Rechner vernommen, doch jetzt zuckte sie
unwillkürlich zusammen. In der Stille des Büros wirkte die gefällige
Melodie wie ein Alarmsignal. Instinktiv blickte sie sich nach allen
Seiten um, bevor sie sich dem Desktop auf dem Monitor widmete.

Ein stilisierter Mund streckte ihr eine gewaltige Zunge entgegen –

natürlich hatte Steve das Wahrzeichen der »Rolling Stones« als
Bildschirmhintergrund gewählt. Das passte zu ihm.

Im Dateiverzeichnis suchte Phoebe nach einem Ordner mit der

Bezeichnung »Datenbanken«, öffnete ihn und klickte dann auf das
Programm-Icon, das einen stilisierten Aktenschrank darstellte.

Doch statt der erwarteten Datenbank erschien ein mausgraues

Eingabefeld auf dem Bildschirm. »Mist«, zischte Phoebe, »hätte ich
mir ja denken können – ein Passwortschutz!«

Aber sie war schon zu weit gekommen, um jetzt einfach

aufzugeben. Auf gut Glück gab sie ein paar vermeintlich nahe
liegende Begriffe wie »Steve«, »Sesam öffne dich« und »Rosebud«
ein, doch die brachten sie nicht weiter. Sie dachte scharf nach. Es
erschien ihr nicht abwegig, dass ein Musikfreak wie Steve den Namen
einer Band oder eines Musikers als Codewort ausgewählt hatte. Doch
welchen?

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Die Eingabe »Rolling Stones« endete mit einer Fehlermeldung.

Das wäre auch zu einfach gewesen …

»Bruce Springsteen« – Zugriff verweigert.

»Oasis« – Fehlanzeige.

»Shakira« – Falsch.

Phoebe zermarterte sich das Hirn. Ganz so leicht würde Steve es

einem unberechtigten Benutzer sicherlich nicht machen. Sie
versuchte, sich daran zu erinnern, über welche Bands Steve
gesprochen hatte, als sie sich in den Kaffeepausen über Musik
unterhalten hatten.

Natürlich – erst neulich hatten sie sich am Kopiergerät über ihre

meistgehassten Bands ausgetauscht. Dabei hatten sie sich spielerisch
gestritten, weil Steve den Musiker Eminem für eine selbstverliebte
Heulsuse hielt, während sie, Phoebe, die ungeschminkte Art des
Rappers eigentlich ganz ansprechend fand.

»Was soll's«, murmelte Phoebe. Sie tippte den Namen des

Künstlers in das Eingabefeld und drückte die »Return«-Taste. Im
selben Augenblick verschwand das Popup-Fenster, und auf dem
Bildschirm erschien eine scheinbar endlose Datenbankliste mit
Bandnamen, Plattenfirmen und Adressen.

»Bingo!«, triumphierte Phoebe. Steve hatte als Passwort den

Namen des Musikers gewählt, den er am meisten verachtete. Clever,
dachte sie, aber nicht clever genug für Phoebe, die Hexen-Spionin.

Gespannt gab Phoebe den Namen »Markel« in die Suchmaske ein.

Kaum einen Herzschlag später öffnete sich der Datensatz zu »Markel
Entertainment«. Zu diesem Eintrag fanden sich gleich zwei Adressen
sowie eine Liste der Bands, die Markel offensichtlich vor den Nature
Sons
betreut hatte. Die Liste war kurz, und Phoebe hatte noch keinen
der Namen gehört. Markel schien bislang kein glückliches Händchen
fürs Geschäft bewiesen zu haben.

Doch mit den Nature Sons hatte er einen wahren Volltreffer

gelandet, wie Phoebe fand. Sie überflog die beiden Adressen. Die eine
kannte sie: Sie gehörte zu einem schäbigen Wolkenkratzer am Rande
der Stadt. Soweit Phoebe wusste, wurde dort billiger Geschäftsraum
vermietet. Wahrscheinlich hatte Markel dort ein kleines, schäbiges

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Büro. Kaum anzunehmen, dass sie die Nature Sons dort antreffen
würde.

Die andere Adresse war da schon vielversprechender. Sie riss einen

Zettel von einem Notizblock und notierte hektisch die Anschrift: 001
Breakers Point.

Seltsame Adresse für einen Produzenten, dachte Phoebe. Aber sie

würde später noch Zeit haben, die Straße auf einem Stadtplan zu
suchen.

Plötzlich flammte das Deckenlicht über ihrem Kopf auf.

Mit einem erschrockenen Keuchen fuhr Phoebe herum. Hastig ließ

sie den Notizzettel in ihrer Hosentasche verschwinden.

In der Tür stand der alte Nachtwächter, die Hand am Lichtschalter.

Er blickte Phoebe fragend an.

»Alles in Ordnung, Miss Halliwell? Sie haben so lange gebraucht,

da hab ich mir Sorgen gemacht«, sagte er in einem ehrlich besorgten
Tonfall. »Sie wollten doch nur eine Notiz holen, oder?«

Phoebe hoffte, dass sie nicht rot anlief. »Äh, sicher«, stotterte sie

und deutete auf Steves Schreibtisch. »Ich hab den Zettel in meinem
üblichen Chaos nicht auf Anhieb gefunden.«

Es tat ihr Leid, den netten alten Mann anzulügen, aber er konnte ja

nicht wissen, dass dies in Wahrheit Steves Schreibtisch war. Und zum
Glück herrschte am Arbeitsplatz des Musikredakteurs tatsächlich ein
heilloses Durcheinander.

Der Nachtwächter lächelte verständnisvoll. »Na, da hab ich schon

Schlimmeres gesehen. Kommen Sie, ich begleite Sie nach unten.«

Phoebe nickte und schaltete den Computer wieder aus. Dann

huschte sie aus dem Büro und ging mit dem alten Mann auf die
geöffnete Aufzugtür zu.

Sie atmete erleichtert auf.

Der Nachtwächter blickte sie freundlich an, während der Fahrstuhl

wieder ins Erdgeschoss fuhr.

»Sagen Sie«, fragte Phoebe, »besitzen Sie zufällig einen

Stadtplan?«

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14

P

IPER, PAIGE UND LEO saßen im Wohnzimmer des Halliwell-

Hauses.

Warmes Licht durchflutete den Raum und drei Tassen Kaffee

standen dampfend auf dem kleinen Tisch in der Mitte.

Es hätte ein wirklich gemütlicher Abend sein können, aber die

Gesichter der drei wirkten alles andere als entspannt.

Leo blickte sich nervös um. »Und ihr habt diesen Blimp immer

noch nicht gefunden?«, fragte er in die Runde.

Piper nahm einen Schluck Kaffee und schüttelte dann den Kopf.

»Nein, leider nicht. Wir haben das ganze Haus auf den Kopf gestellt
und jedes Glasbehältnis drei Mal umgedreht. Keine Spur.«

»Wir haben sogar alle Glühbirnen untersucht, aber dieser kleine

Teufel ist einfach nirgends zu finden. Vielleicht ist er doch schon über
alle Berge«, ergänzte Paige hoffnungsvoll.

Leo schüttelte den Kopf. »Nein, das glaube ich nicht. Diese Blimps

sind anhänglich wie … na ja, wie Pech eben. Wisst ihr, eigentlich
dürfte ich gar nicht hier sein.«

Piper winkte müde ab. »Schon gut, Leo, wir wissen Bescheid. Als

Wächter des Lichts kannst du es dir nicht leisten, vom Unglück
verfolgt zu werden. Aber wir brauchen deine Hilfe.«

»Wegen Phoebe?«, fragte Leo. Die beiden Schwestern hatten ihm

bereits von Phoebes seltsamen Stimmungsumschwüngen erzählt.

»Ja«, sagte Piper. »Ich verstehe einfach nicht, was mit ihr los ist.

Seit sie auf diesem Konzert der Nature Sons war, ist sie wie besessen
von dieser Band.«

Leo blickte nachdenklich auf die Dampfwolke, die von seiner

Kaffeetasse aufstieg. »Und genau das könnte es sein«, sagte er dann
ernst.

Piper runzelte die Stirn und blickte ihren Ehemann fragend an.

Dann verstand sie, was er meinte und wurde blass. »Willst du damit
sagen … es könnte schwarze Magie mit im Spiel sein?«

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Leo hob die Schultern. »Durchaus denkbar. Das Ganze könnte der

heimtückische Angriff eines Dämons sein. Oder Phoebe ist rein
zufällig in die Fänge einer schwarzmagischen Verschwörung
geraten.«

»Du meinst, sie hat möglicherweise einfach nur … Pech gehabt?«

Leo nickte. »Das würde doch passen, oder?«

»Moment mal«, rief Paige dazwischen und hob die Hände. »Ich

kann euch nicht mehr ganz folgen. Ihr meint, es gibt wirklich
Dämonen oder andere Finsterlinge, die mit Rockmusik arbeiten? Ich
dachte immer, Marilyn Manson wäre das Gruseligste, was je eine
Bühne betreten hat. Na ja, vielleicht nur noch getoppt von Ozzy
Osbourne.«

Leo machte ein Gesicht, als hätte er diese Namen noch nie gehört.

Und vermutlich traf das auch zu; als Wächter des Lichts kam er
wahrscheinlich nur selten mit den derzeitigen Ikonen der Pop-Branche
in Berührung.

»Es ist gar nicht so ungewöhnlich, dass sich schwarzmagische

Geschöpfe die Musik zu Nutze machen, um Menschen in ihre Gewalt
zu bekommen«, erklärte er dann. »Denk doch nur einmal an Odysseus
und die Sirenen. Oder an die Loreley. In beiden Fällen wurden die
Opfer zunächst in den Bann lieblicher Klänge gezogen und dann in
den Untergang gerissen.«

»Moment mal«, warf Paige ein, »das sind doch nur Legenden und

Märchen. Oder?«

»Nicht ganz«, antwortete Leo. »Ich hab die Loreley sogar einmal

getroffen. Ein wirklich hübsches Mädchen mit …«

»Hey!«, rief Piper. »Könnten wir vielleicht wieder zur Sache

kommen?«

Leo räusperte sich. »Entschuldige, Schatz«, sagte er kleinlaut.

Piper gab ein leises Knurren von sich und nahm dann noch einen

Schluck aus ihrer Kaffeetasse. »Mal angenommen, Phoebe ist
tatsächlich in die Netze einer magischen Verschwörung geraten – was
können wir dagegen tun?«

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»Ihr müsst vor allem erst einmal herausfinden, mit wem ihr es zu

tun habt und was für Ziele er verfolgt. Dann könnt ihr euch geeignete
Gegenmaßnahmen überlegen.«

Piper seufzte. »Was gar nicht so einfach sein dürfte – solange

Phoebe nicht dazu bereit ist, ihren Teil zur Macht der Drei
beizutragen.«

»Da beißt sich die Katze in den Schwanz«, nickte Paige.

Leo stand auf und gab Piper einen Kuss auf die Stirn. »Ich muss

jetzt wieder los. Ich kann es nicht riskieren, zu lange hier zu bleiben.
Ihr wisst ja, ich …«

Piper nickte frustriert. »Ja, schon klar. Du kannst es als Wächter

des Lichts nicht riskieren, eine magische Pechsträhne zu haben. Geh
ruhig.«

Leo schenkte seiner Frau ein zuversichtliches Lächeln. »Ich bin

sicher, ihr werdet eine Lösung finden.« Mit diesen Worten löste er
sich in einer Wolke aus blauem Licht auf.

Die beiden Hexen waren wieder allein.

»Blimps, Musik-Magie, Sirenen – das wird mir alles langsam ein

bisschen zu viel. Ich werde in die Küche gehen und mir einen
Milchshake machen. Ich muss über so viel nachdenken, dass ich allein
dadurch die Kalorien locker wieder verbrenne. Möchtest du auch
einen?«

»Nein, danke.« Piper schüttelte den Kopf.

Paige ging in die Küche, und kurz darauf hörte man das laute

Rattern des Standmixers.

Unschlüssig, was sie nun tun sollte, blickte Piper ein paar

Sekunden lang ins Leere. Dann griff sie nach der TV-Fernbedienung.
Sie hatte in der Programmzeitung gelesen, dass heute eine
Dokumentation über die besten Restaurants der Welt gesendet wurde.
Ein wenig in die Glotze zu schauen würde vielleicht ganz entspannend
sein.

Sie schaltete den Fernseher ein. Auf dem Bildschirm war ein gut

gelaunter französischer Küchenchef zu sehen, der frisches Gemüse in
einer riesigen Pfanne schwenkte. Dann verschwamm das Bild. Der

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Koch war plötzlich dreimal zu sehen, und jedes seiner
halbdurchsichtigen Phantombilder erschien in einer anderen Farbe.

Wieder nahm Piper die Fernbedienung zur Hand und wechselte

den Sender. Eine Moderatorin von CNN verlas soeben die neusten
Nachrichten. Auch sie war nur verschwommen und gleich mehrmals
zu sehen. Dasselbe Phänomen zeigte sich auch auf allen anderen
Sendern, durch die Piper sich durchzappte.

Auch das noch, dachte sie, der Fernseher scheint auch im Eimer zu

sein. Dieser Blimp lässt aber auch wirklich nichts aus …

Da ertönte aus der Küche ein Schrei, der selbst das penetrante

Rattern des Mixers übertönte.

Erschrocken sprang Piper auf. »Paige, alles in Ordnung?«

Das Geräusch der Küchenmaschine verstummte.

»Alles okay«, rief Paige keuchend, »mir ist nur gerade der Deckel

des Mixers abgesprungen. Ah, wer hat eigentlich diese Woche
Küchenputzdienst?«

Stöhnend ließ Piper sich wieder in den Sessel fallen. Sie versuchte,

tief Luft zu holen und sich nicht aufzuregen.

Es wurde wirklich höchste Zeit, diesem verdammten Blimp den

Garaus zu machen.

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15

Ü

BER DEM ALTEN ANWESEN AM Breakers Point leuchtete

der Vollmond wie ein trübes Auge am Nachthimmel.

Wie eh und je ragte das düstere Haus über dem Cliff auf, aber an

diesem Abend wirkte es nicht mehr ganz so ausgestorben. Warmes
Licht fiel durch einige der Fenster, und der Wind, der auch jetzt über
die Ebene fegte, erfasste die leisen Klänge einer Gitarre und trug sie
hinaus in die Dunkelheit, wo sie ungehört verhallten.

In dem Gewölbe unter dem Haus indes war es totenstill.

Lautlos schlich ein dunkler Schatten auf den fahl glimmenden

Lichtwirbel in der Mitte des Raumes zu.

»Ihr habt mich gerufen, Meister?«, knurrte das Wesen mit

ergebener Stimme.

Einen Augenblick lang schien es, als erwache in dem Lichtwirbel

eine entsetzlich entstellte Gestalt zum Leben. Dann ertönte eine
dunkle Stimme, die von überall und nirgends zu kommen schien. »Ich
spüre etwas … jemand nähert sich diesem Ort.«

Die Schattengestalt knurrte überrascht auf. »Das ist nicht möglich.

Niemand weiß, dass wir hier sind. Vielleicht ein Landstreicher … oder
jemand, der sich verirrt hat, Meister.«

»Nein, wer immer es ist, seine Schritte sind planvoll. Er hat uns

gesucht und gefunden.«

Das Fell der Schattengestalt sträubte sich, wodurch die Kreatur

noch größer erschien. »Dann muss es ein Fan der Band sein – einer
Eurer ahnungslosen Jünger. Er muss irgendwie von unserem
Unterschlupf erfahren haben. Wahrscheinlich ein Groupie, das sich in
einen der Jungs verliebt hat. Wir wussten, dass Eure Magie diese
Nebenwirkung haben kann.«

Die Stimme aus dem Lichtwirbel schwoll drohend an. »Ich weiß

nicht, was ein ›Groupie‹ ist, aber diese Person ist kein gewöhnlicher
Mensch. Es ist eine weiße Hexe. Sie gehört zur selben Brut, die mich
vor Äonen in diesen Kerker verbannt hat.«

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»Dann wird sie für das, was ihre Vorfahren Euch angetan haben,

büßen, Meister. Überlasst sie mir.«

Mit diesen Worten entfernte sich das Wesen von dem Mahlstrom.

Im unheiligen Schein des Portals blitzten für einen

Sekundenbruchteil die gelben Augen eines Raubtieres auf.

Wie zwei Lichtlanzen bohrten sich die Scheinwerfer von Phoebes

Pick-up in die Nacht.

Als Stadtmensch war sie überrascht, wie dunkel es hier draußen

war. Die letzte Straßenlaterne hatte sie vor mehr als fünf Meilen hinter
sich gelassen. Nur der Mond leuchtete fahl vom Himmel und spendete
einen Hauch von Licht.

Was für eine gottverlassene Gegend, dachte Phoebe, während sie

das Lenkrad krampfhaft umklammert hielt. Die Straße verdiente
diesen Namen kaum und war nicht mehr als eine Schotterpiste.

Warum um alles in der Welt eröffnete irgendjemand hier draußen

das Büro eines Musikverlages? Phoebe fielen nur zwei Gründe dafür
ein – geringe Mieten und Abgeschiedenheit.

Allerdings war ein ruhiges Landleben nicht unbedingt das, was

man mit einer Pop-Gruppe verband.

Phoebe fragte sich zum wiederholten Male, ob die Adresse in

Steves Datenbank womöglich falsch gewesen war. In diesem Fall
hätte sie die halbe Nacht ganz umsonst auf einer Ruckelpiste
zugebracht und nichts erreicht.

Andererseits hatte sie tief in ihrem Inneren das Gefühl, auf dem

richtigen Weg zu sein. Der Schotterweg beschrieb eine Kurve, und
Phoebe lenkte ihren Wagen vorsichtig auf ein Plateau, das bis jetzt
von einem kleinen Hügel verborgen gewesen war.

Mitten auf der Ebene stand ein altes Haus, von dem sie im

Mondlicht nur die Umrisse erkennen konnte.

Und es brannte Licht hinter den Fenstern! Instinktiv wusste

Phoebe, dass sie am Ziel war.

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Jetzt hieß es, vorsichtig vorzugehen. Schließlich konnte sie

schlecht an der Tür klingeln und sich wie selbstverständlich danach
erkundigen, ob Josh zu Hause war.

Mit einigem Abstand zum Haus brachte sie ihren Wagen zum

Stehen, stieg aus und ging zu Fuß auf das alte Gemäuer zu. Ein kalter,
salziger Wind zerzauste ihr Haar, und Phoebe fröstelte. Seit Tagen
schon war sie sehr kälteempfindlich, was wahrscheinlich mit ihrer
chronischen Müdigkeit zusammenhing. Trotzdem fühlte sie sich voller
Tatendrang.

Mit schnellen Schritten näherte sie sich dem Haus. Wären im

zweiten Stock nicht ein paar Fenster erleuchtet gewesen, hätte das alte
Gebäude auch als verlassene Ruine durchgehen können.

Dagegen sprach allerdings der Drahtzaun, vor dem Phoebe jetzt

stand. Im schwachen Mondlicht schimmerten die Maschen des
Stahldrahtes wie neu. Der Zaun war offensichtlich erst vor kurzem
aufgestellt worden, wahrscheinlich um unliebsame Besucher draußen
zu halten. Unliebsame Besucher wie sie …

Ein paar Schritte links von ihr befand sich ein Tor, an dem ein

kleines Schild mit der Aufschrift »Markel Entertainment« angebracht
war.

Und das war alles.

Keine Klingel, keine Sprechanlage, nichts. Wahrscheinlich konnte

das massive Tor nur von innen geöffnet werden. Wer auch immer hier
residierte, er schien keinen besonderen Wert auf Besuch zu legen.

Aber so leicht ließ Phoebe sich nicht abschrecken. Wozu war sie

schließlich eine Hexe?

Mit leisen Schritten entfernte sie sich wieder von dem Tor und

blickte auf das eingezäunte Gelände. Ein paar windschiefe Bäume
warfen im Mondlicht ihre bizarren Schatten, ansonsten schien sich
kein Mensch hier draußen aufzuhalten. Nur aus dem Inneren des
Hauses klangen ein paar gedämpfte Gitarren-Akkorde zu ihr herüber.
Phoebes Pulsschlag beschleunigte sich augenblicklich.

»Mal sehen, ob ich es noch drauf habe«, murmelte sie und ging zu

einem Baum, der auf der anderen Seite des Zaunes stand. Ein dicker,
knorriger Ast ragte über die Stacheldrahtkrone der Umzäunung auf
ihre Seite herüber.

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Sie war zwar nicht in Bestform, aber sie fand, so ein Zaun sollte

kein wirkliches Hindernis für sie darstellen – auch wenn er sie um
eine Kopflänge überragte und der Stacheldraht in der Tat ziemlich
gemein aussah.

Phoebe schloss die Augen und konzentrierte sich. Dann

katapultierte sie sich mit Hilfe ihrer Levitationskraft in die Höhe.
Unter normalen Umständen hätte sie den gesamten Zaun mit einem
einzigen Satz überwinden können, aber angesichts ihres geschwächten
Zustands war sie schon froh, den Ast über sich zu fassen zu
bekommen.

Ächzend zog sich Phoebe mit einem Klimmzug in die Höhe und

schwang ihr linkes Bein auf den dicken Ast. Er begann, bedenklich zu
knirschen, aber er musste Phoebes Gewicht ja nur für kurze Zeit
standhalten.

Vorsichtig und auf allen Vieren krabbelte Phoebe den Ast entlang.

Wenige Zentimeter unter ihr blitzen die Spitzen des
Stacheldrahtzaunes auf wie messerscharfe Zähne. Nur nicht nach
unten sehen, dachte Phoebe, als ein reißendes Geräusch sie
zusammenzucken ließ. Sie erstarrte und blickte wider besseres Wissen
hinab. Der Aufschlag ihrer Lederjacke hatte sich im Stacheldraht
verfangen und war aufgeschlitzt worden.

Phoebe schluckte und zwang sich dazu, langsam weiter zu

krabbeln.

Einige endlose Sekunden später hatte sie den Zaun überwunden.

Vorsichtig begann sie mit dem Abstieg. Nachdem sie wieder festen
Boden unter den Füßen hatte, atmete sie erleichtert auf. Kalter
Schweiß stand ihr auf der Stirn.

Nein, sie war definitiv nicht in Bestform.

Phoebe wischte sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht und blickte

auf das Haus, das nun noch etwa zwanzig Meter entfernt war. Sie
würde erst einmal vorsichtig die Lage sondieren und dann überlegen,
wie sie weiter vorgehen sollte. Immerhin hatte sie sich durch ihr
unbefugtes Eindringen strafbar gemacht. Allerdings diente die ganze
Aktion ja einem guten Zweck – sie würde so womöglich Josh, den
Gitarristen der Band, kennen lernen.

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Vorsichtig näherte sie sich dem Haus. Mit jedem Schritt waren die

sanften Gitarrenakkorde besser zu hören. Wie hypnotisiert folgte die
junge Hexe den Klängen, die ihr der Wind zutrug. Die Musik schien
jede Faser ihres Körpers in Vibration zu versetzen – und so bemerkte
sie zunächst nicht, dass sich einer der Schatten in ihrer Nähe bewegte.

Erst als ihr ein scharfer Raubtiergeruch in die Nase stieg, erstarrte

Phoebe. Sie brauchte einen Augenblick, um zu begreifen, dass nicht
der Schatten sich bewegte, sondern irgendjemand in dem Schatten.
Oder irgendetwas.

»Ist da jemand?«, fragte Phoebe leise.

Ein leises, bedrohliches Knurren war die einzige Antwort.

Phoebe zuckte zusammen, als sie glaubte, im Mondlicht ein

gelbliches Augenpaar aufblitzen zu sehen. Die Augen eines
Raubtieres.

Voller Panik rannte Phoebe los. Als weiße Hexe und Meisterin der

Kampfkünste war sie es eigentlich nicht gewöhnt, vor einem
Angreifer zu fliehen. Aber sie fühlte sich heute einfach zu schwach,
um es auf einen Kampf ankommen zu lassen – erst recht, wenn sie
ihren Gegner nicht einmal sehen konnte.

Noch während sie rannte, schätze Phoebe die Entfernung zum

Zaun ab. Doch sie war bereits zu weit von der Absperrung entfernt,
und außerdem würde sie in der Falle sitzen, falls sie es nicht mehr
schaffen sollte, über sie hinweg zu springen.

Das Haus war die einzige Alternative. Hinter sich vernahm sie

gedämpfte, gleichmäßige Tritte. Es war das Geräusch von Tierpfoten,
die geschmeidig über den Boden huschten. Und sie waren schon sehr
nah. Obwohl sie selbst schwer atmete, konnte Phoebe ein tiefes
Knurren hören, das von Sekunde zu Sekunde näher zu kommen
schien.

Wie in einem Albtraum schien das rettende Haus nur im

Zeitlupentempo näher zu kommen. Das Grollen hinter ihr schwoll
triumphierend an.

Ihre letzten Kräfte mobilisierend, zwang sich Phoebe noch

schneller zu laufen. Das Wesen hinter ihr fauchte. Das Signal eines
wilden Raubtieres, das zum alles entscheidenden Sprung ansetzt.
Instinktiv mobilisierte Phoebe ihre Hexenkraft, erhob sich über den

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Boden und schaffte es, in der Luft einen Salto zu schlagen. Unter
normalen Umständen war eine solche Kapriole für sie eine leichte
Übung, doch jetzt kostete sie diese Rettungsaktion ihre letzten
Energiereserven.

Noch während sie durch die Luft wirbelte, hörte Phoebe, wie das

Schattenwesen hinter ihr wütend aufheulte. Offenbar hatte es seine
ganze Kraft in seinen eigenen Sprung gesteckt, der jetzt ins Leere
ging. Phoebe hörte, wie ihr Verfolger über den Boden strauchelte. Das
war ihre Chance, denn durch ihre verzweifelte Aktion hatte sie jetzt
ein paar Meter neuen Vorsprung gewonnen.

Phoebe ignorierte den Schmerz in ihren Knöcheln, als sie selbst

wieder unsanft aufsetzte und spurtete weiter. Die alte Holztür des
Anwesens war jetzt zum Greifen nah. Die Bestie heulte wütend auf,
als Phoebe mit der Schulter voran auf die Tür zustürmte.

Phoebe hoffte inständig, dass sie unverschlossen war – und dass sie

nach innen aufging. Mit gebrochenen Knochen würde sie sonst doch
noch eine leichte Beute des Schattenwesens werden.

Der Aufprall war hart, aber Phoebe spürte erleichtert, wie die Tür

nachgab und aufsprang. Sie stolperte ein paar Schritte ins Haus hinein,
wirbelte herum und schlug die Haustür hastig zu. Zu ihrer großen
Freude entdeckte sie einen schweren Stahlriegel und schob ihn vor.

Einen Herzschlag später erschütterte ein dumpfer Schlag das Holz.

Die Bestie hatte sich ebenfalls von außen gegen die Tür geworfen, die
unter dem enormen Aufprall schier aus den Angeln zu brechen drohte.

Phoebe hielt den Atem an. Das Herz schlug ihr bis zum Hals.

Aber wer immer dieses Haus errichtet hatte, schien auf Qualität

bedacht gewesen zu sein. Die Tür hielt.

Ein kaum hörbares Grollen drang durch die Holzritzen. Phoebe

schluckte, als sie hörte, wie das Wesen vor der Tür am Boden
schnüffelte und ihre Witterung aufnahm. Als ob es sich ihren Geruch
für später merken wollte …

Dann wurde es plötzlich sehr still.

Phoebe hörte nur noch das Keuchen ihres eigenen Atems. Ihr Herz

schlug wie verrückt. Vielleicht war es doch keine so gute Idee
gewesen, hierher zu kommen. Aber jetzt war es für Reue zu spät.

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Keine zehn Pferde würden sie jetzt noch dazu bringen, dieses Haus
wieder zu verlassen. Jedenfalls nicht, solange diese Kreatur da
draußen lauerte.

Phoebe war sich sicher, dass es dasselbe Wesen war, das sie schon

vor dem Nature-Sons-Konzert gesehen hatte. Obwohl von ›sehen‹
kaum die Rede sein konnte; beide Male hatte sie nicht viel mehr als
einen unwirklichen Schatten erkennen können.

Sie blickte sich um und machte ein paar vorsichtige Schritte

vorwärts. Der Flur des Erdgeschosses zog sich über mindestens zehn
Meter in die Länge. Von außen hatte das Haus wesentlich kleiner
gewirkt, fand Phoebe.

Auch schien dieser Markel noch nicht mit der Renovierung

begonnen zu haben. Die altmodische Tapete hing in Fetzen herab, und
bleiche Rechtecke markierten noch immer die Stellen, an denen
offensichtlich einst Bilder gehangen hatten.

Phoebe fröstelte, als sie den Gang hinunterschlich. Die hellen

Flächen an den Wänden wirkten wie tote Augen, durch die sie sich
angestarrt fühlte.

Unsinn, beruhigte sie sich, aber das Gefühl, beobachtet zu werden,

blieb. Sie lauschte in das dämmrige Haus hinein. Die wunderschönen
Gitarrenklänge waren verstummt.

Phoebe hielt den Atem an und hatte Angst, ihr laut klopfendes

Herz könnte alle Bewohner des Hauses zusammentrommeln.

»Halt!«, rief da plötzlich eine Stimme.

Phoebe fuhr zusammen. Einen Augenblick lang wagte sie nicht,

sich umzudrehen und blieb wie erstarrt stehen.

»Was hast du hier zu suchen?«

Langsam wandte sich die junge Hexe um.

In einer der Türen, die links und rechts des Flures abgingen, stand

ein Mann. Es war Markel, der Manager der Nature Sons.

Phoebe erkannte ihn gleich wieder, immerhin war dies schon ihr

drittes Zusammentreffen. Doch irgendetwas war anders an dem
untersetzten Mann, der jetzt vor ihr stand und sie wütend anfunkelte.
Markel war noch immer keine Schönheit, aber er sah jetzt – auch

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wenn das natürlich unmöglich war – jünger aus als bei ihrer letzten
Begegnung. Seine Haut wirkte frischer und hatte eine gesunde Farbe.
Auch das Doppelkinn schien sich zurückgebildet zu haben, dafür
hatten sich die Haare auf seinem Kopf auf wundersame Weise
vermehrt.

An Markels Tonfall hatte sich allerdings nichts geändert. »Dich

kenne ich doch!«, rief er. »Hast du nicht schon bei dem Konzert
neulich herumgeschnüffelt? Was soll das? Das hier ist Privatbesitz.«

Unwillkürlich wich Phoebe einen Schritt zurück. Der Mann war ihr

schon immer unsympathisch gewesen, aber jetzt flößte er ihr
regelrecht Angst ein. Sie hätte es nicht in Worte fassen können, aber
von dem Kerl ging irgendeine garstige Aura aus.

»Ich … es tut mir Leid«, stammelte Phoebe. »Ich wollte nur die

Band treffen und, äh, das Tor war auf – deshalb bin ich einfach
hineingegangen.«

Phoebe kreuzte ihre Finger hinter dem Rücken und hoffte, das

Markel ihr diese Lüge abkaufte.

Der Plattenmanager blickte sie skeptisch an. »Ich könnte dich von

der Polizei festnehmen lassen, weißt du das?«, fragte er drohend.

Phoebe hob eine Augenbraue. Diese Drohung nahm sie ihm nicht

ab. Jemand, der solchen Wert darauf legte, ungestört zu bleiben,
würde bestimmt nicht so schnell die Polizei rufen. Und dann war da ja
noch dieses unheimliche Wesen, das um das Haus herumstrich. Ob
Markel davon wusste?

Als ob der Manager ihre Gedanken erraten hatte, senkte er den

Kopf und funkelte die Hexe drohend an. Für eine Sekunde wirkten
seine Augen selbst wie die eines Raubtieres. Dann ertönte ein böses
Knurren.

»Ich glaube dir kein Wort, Schätzchen«, sagte Markel. »Außerdem

hast du Glück, dass du nicht mit meinem kleinen Aufpasser
aneinander geraten bist …«

Hast du eine Ahnung, dachte Phoebe noch, und dann wurde das

Knurren plötzlich lauter. Phoebe ging instinktiv in Kampfstellung, als
das Geräusch von Pfoten auf dem Parkettboden ertönte.

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Eine Sekunde später huschte ein pelziges Wesen auf den Flur und

direkt an Markels Seite.

Zu Tode erschrocken zuckte Phoebe zusammen.

Nur wenige Meter vor ihr stand ein riesiger deutscher Schäferhund,

der sie mit gesträubtem Fell und gefletschten Zähnen anknurrte.

»Das ist Horst«, sagte Markel, und für einen Augenblick wurde

seine Stimme selbst zu einem Knurren. »Mein neuster Mitarbeiter. Ich
hab ihn extra gekauft, um Groupies wie dich abzuschrecken. Aber ihr
Verrückten lasst euch ja offensichtlich von gar nichts abhalten.«

Mit uns ›Verrückten‹ verdienst du dein Geld, du Arsch, dachte

Phoebe wütend, ohne den Furcht einflößenden Wachhund aus den
Augen zu lassen.

War dieser Hund etwa das Wesen, das sie bei dem Konzert

gesehen hatte und von dem sie gerade durch den Garten gejagt worden
war? Das war immerhin möglich, denn sie hatte die Kreatur nie richtig
sehen können. Allerdings hatte sie den Eindruck gehabt, dass ihr
Verfolger viel größer war – und sich auf zwei Beinen bewegte. Aber
das mochte eine Täuschung gewesen sein.

Wie auch immer – im Augenblick war Horst auch als gewöhnlicher

Schäferhund bedrohlich genug. Vorsichtshalber machte Phoebe einen
Schritt zurück.

Der Hund ging in Angriffstellung.

Markel schien dieses Schauspiel zu genießen. Erst in dem Moment,

als der Hund losspringen wollte, rief er ihn zurück. »Horst! Sitz!«

Augenblicklich gehorchte das Tier. Mit einem leisen Winseln

setzte es sich neben seinem Herren zu Boden.

»Braver Hund«, flüsterte Markel. Dann blickte er wieder zu

Phoebe. »Und nun zu dir …«

Phoebe ballte die Hände. Sie fühlte sich zwar immer noch

schwach, aber mit Markel und seinem Köter würde sie schon fertig
werden. Hoffte sie jedenfalls.

»Ich warne Sie, Markel. Meine Schwestern wissen, dass ich hier

bin«, log sie. »Rufen Sie meinetwegen die Polizei, aber …«

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»Oh, das wird nicht nötig sein«, grinste der Plattenmanager. Dann

blickte er durch den Flur hinauf zum ersten Stock.

»Vikki!«, rief er und seine Stimme klang dabei so, als würde er

erneut einen Hund kommandieren. »Wo stecken Sie denn schon
wieder? Bewegen Sie Ihren Hintern hierher.«

Ein paar Sekunden lang passierte gar nichts. Dann hörte man, wie

sich im ersten Stock eine Tür öffnete, und gleich darauf lugte Vikki,
die blonde, blasse Assistentin Markels, über das Treppengeländer. Als
sie Phoebe sah, riss sie erstaunt die Augen auf. »Mister Markel?
Haben Sie gerufen?«

»Und ob ich gerufen habe, verdammt noch mal. Kommen Sie

gefälligst runter und werfen Sie diese Göre hinaus. Aber tragen Sie
Sorge dafür, dass sie das Gelände auch wirklich verlässt. Sonst
können Sie gleich mit ihr gehen.«

Erschrocken hastete Vikki die Treppe herunter. Sie sah abgehetzt

aus; eine verschwitzte Haarsträhne hing ihr ins Gesicht.

Wahrscheinlich hetzt Markel sie den ganzen Tag in der Gegend

herum, dachte Phoebe. Wie kann man sich nur so
herumkommandieren lassen?, fragte sie sich. Die arme Frau.

Phoebe hob beschwichtigend die Hände und blickte Markel böse

an. »Nun machen Sie mal keinen Aufstand. Ich gehe ja schon.«

Dann wandte sie sich Vikki zu. »Schon gut. Ich finde allein

heraus.«

Vikki schluckte. Ihre Blicke wanderten von Phoebe zu Markel und

seinem Schäferhund, der die ganze Szene mit wölfischem Interesse
betrachtete. Wahrscheinlich wartete er immer noch auf seine große
Chance, endlich kraftvoll zubeißen zu können.

»N-Nein«, stotterte die Assistentin fast tonlos. »Ich bringe Sie bis

zum Tor.« Es klang indes so, als würde sie Phoebe damit einen
Gefallen tun wollen. Vorsichtig schlich Vikki an dem knurrenden
Schäferhund vorbei und hielt Phoebe die Haustür auf.

Seufzend setzte sich Phoebe in Bewegung. Die ganze Mühe war

umsonst gewesen. Ihr wehte bereits die kühle Nachtbrise um die Nase,
als hinter ihr eine neue Stimme ertönte. Sie klang weich und
melodisch und ließ Phoebes Herz schneller schlagen. Ohne sich

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umdrehen zu müssen, wusste sie instinktiv, wem sie gehörte. Dennoch
riskierte sie einen Blick über die Schulter.

Josh, der Gitarrist der Nature Sons, stand auf dem Treppenabsatz

zum zweiten Stock und sah zu ihnen hinab.

»Was ist denn hier los?«, fragte er und blickte beinahe streng

zwischen Markel, Vikki und dem Schäferhund hin und her. Dann fiel
sein Blick auf Phoebe.

Hier, im dämmrigen Licht des Hausflurs, sah der junge Mann noch

besser aus als im grellen Licht der Bühnenscheinwerfer. Seine blauen
Augen bildeten einen faszinierenden Kontrast zu den schwarzen
Haaren und schienen im Halbschatten wie Smaragde zu leuchten. Sein
Blick traf sich mit dem von Phoebe. Halb überrascht, halb amüsiert
zog der Musiker eine Augenbraue hoch.

»Na so was, haben wir Besuch?«, fragte Josh. Rasch trat Markel

vor Phoebe, um Josh die Sicht auf sie zu nehmen. Ein vergeblicher
Versuch, denn sie war immerhin ein paar Zentimeter größer als der
Plattenmanager.

»Das ist nur ein durchgeknalltes Groupie, Josh«, rief Markel die

Treppe hinauf. »Und wir haben sie gerade höflich aufgefordert, zu
gehen.«

Höflich ist gut, dachte Phoebe. Es hätte nicht viel gefehlt, und

dieser dämliche Köter hätte mich in Stücke gerissen – wenn es
wirklich der Hund gewesen ist, der mich da draußen verfolgt hat.

Mit langsamen Schritten kam Josh die Treppe hinunter, ohne

Phoebe aus den Augen zu lassen. Und die junge Hexe konnte nicht
behaupten, dass ihr das missfiel.

»Sie wollen sie wieder wegschicken?«, fragte Josh kopfschüttelnd.

»Mitten in der Nacht? Die nächste asphaltierte Straße ist meilenweit
entfernt, und hier draußen wohnt doch sonst keine Menschenseele.«

»Das hat sie auch nicht gestört, als sie hergekommen ist«, knurrte

Markel.

Josh hatte inzwischen das Erdgeschoss erreicht und ging auf

Phoebe zu, ohne sich von Markels giftigem Blick beeindrucken zu
lassen. Aus den Augenwinkeln bekam Phoebe noch mit, wie der
Schäferhund mit eingezogenem Schwanz vor dem Gitarristen

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zurückwich. Dann versank sie in den blauen Augen des jungen
Mannes und vergaß alles andere um sich herum.

»Ich bin Josh«, sagte er lächelnd und reichte Phoebe die Hand.

Als Phoebe sie schüttelte, glaubte sie förmlich zu spüren, wie es

zwischen ihnen knisterte. »Ich bin … mein Name ist Phoebe«, brachte
sie mühsam hervor.

Mensch, reiß dich zusammen, dachte sie im gleichen Augenblick.

Sie war in fremde Computer eingedrungen, bei Nacht und Nebel
durch die Wildnis gefahren, wäre fast von einem verrückten
Schäferhund zerrissen worden – nur um diesen Mann kennen zu
lernen. Und nun stand sie stotternd vor ihm wie ein verliebtes
Schulmädchen. Was sollte Josh nur von ihr denken?

Sie räusperte sich. »Ich meine, mein Name ist Phoebe Halliwell.

Ich bin, äh, Musikredakteurin und wollte eine Story über eure Band
schreiben.«

Auf eine Notlüge mehr oder weniger kam es jetzt auch nicht mehr

an. Und Josh würde mit Sicherheit mehr Respekt vor einer Reporterin
haben als vor einem dahergelaufenen Groupie. Und wer weiß?
Vielleicht konnte sie ja tatsächlich das Angenehme mit dem
Nützlichen verbinden und so zu einer Geschichte über die
geheimnisvollen Nature Sons kommen.

»Musikredakteurin?«, grunzte Markel abfällig. »Das ist ja ganz

was Neues. Sieh zu, dass du Land gewinnst, Kleine.«

»Kommt nicht in Frage.« Josh schüttelte entschieden den Kopf.

Dann holte er zu einer weiten Geste aus. »Das alte Gemäuer ist doch
nun wirklich groß genug. Ich sehe keinen Grund, warum Phoebe nicht
bei uns übernachten sollte.«

Phoebe strahlte den Gitarristen an.

Markel riss ungläubig die Augen auf. »Ich höre wohl nicht recht.

Ich habe dieses Haus doch nicht für ein Vermögen gekauft, um ein
Hotel für Tramps daraus zu machen. Die Kleine verschwindet, aber
sofort!«

»Ach, seien Sie doch nicht so hartherzig!«, sagte Josh. »Wir

könnten Phoebe ein paar unserer neuen Songs vorspielen. Sie ist dann
sozusagen unser Testpublikum. Und außerdem … wie würde es wohl

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wirken, wenn der Manager der Nature Sons eine junge
Musikredakteurin mitten in der Wildnis aussetzt? Ich glaube kaum,
dass Phoebes Artikel über unsere Band unter diesen Umständen
besonders positiv ausfallen würde.«

Mit einem verhaltenen Räuspern wagte es nun auch Vikki, sich

einzumischen. »Josh hat womöglich Recht, Mister Markel. Eine gute
Presse wäre das für uns nicht.«

»Ganz sicher nicht«, stimmte Phoebe trocken zu. Die Notlüge mit

der Musikredakteurin erwies sich als hilfreicher, als sie geahnt hätte.

Phoebe, Josh und Vikki blickten Markel erwartungsvoll an.

Eine Sekunde lang schien es, als wollte der Manager explodieren.

Dann besann er sich eines Besseren. »Meinetwegen«, zischte er, »das
Mädel kann heute Nacht hier bleiben. Aber Sie übernehmen die
Verantwortung!«

Er deutete mit dem Zeigefinger auf seine Assistentin, die in sich

zusammenzuschrumpfen schien, bevor sie eifrig nickte.

Grunzend fuhr Markel auf dem Absatz herum und verschwand in

einem der Räume. Horst folgte ihm auf dem Fuße.

Für einige Sekunden standen Phoebe, Vikki und Josh schweigend

im Flur.

»Willkommen in unserem bescheidenen Heim«, sagte der Musiker

schließlich lächelnd und nahm Phoebe bei der Hand. »Komm mit, ich
stelle dich den anderen vor.«

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16

W

IE EINE SCHLAFWANDLERIN war Phoebe dem Gitarristen

durch das alte Haus gefolgt. Das alte Anwesen musste über Dutzende
von Räumen verfügen, von denen die meisten noch leer und
unrestauriert waren.

Josh quittierte den Zustand der Räume mit einem Schulterzucken.

»Sorry, aber die meisten Zimmer sehen noch furchtbar aus. Markel hat
das Haus billig erstanden, als Hauptquartier für seine neue Firma.
Aber solange wir noch nicht den großen Durchbruch geschafft haben,
ist kein Geld für die Renovierung aller Räume da.«

Phoebe zuckte mit den Schultern. Sie hatte ohnehin nur Augen für

Josh und achtete kaum auf die heruntergekommenen Räume mit den
schimmeligen Tapeten. Für sie war das Anwesen ein Palast, solange
sie nur an der Seite des Gitarristen sein konnte.

Josh öffnete eine Tür im ersten Stock des Hauses. Eine Treppe

führte von dort hinunter in den Keller.

»Aber an einem Raum wurde nicht gespart. Komm mit, das dürfte

dich interessieren.« Der junge Mann bedeutete Phoebe, ihm zu folgen.

Sie kannte ihn zwar erst seit ein paar Minuten, aber sie vertraute

ihm schon jetzt voll und ganz.

Die Treppe führte zu einem kleinen Kellergang, der in einer dicken

Stahltür endete. Über dem Rahmen war ein beleuchtbares Warnschild
mit der Aufschrift »Achtung! Bei Rotlicht Aufnahme!« angebracht.

»Euer Studio?«, fragte Phoebe fasziniert. »Ihr nehmt eure Songs

selbst auf?«

»Yep«, sagte Josh. »So kann uns niemand reinreden. Wir schreiben

unsere Songs selbst und nehmen sie auch selbst auf. Volle
künstlerische Kontrolle, verstehst du?«

Phoebe nickte, als Josh die schwere Tür öffnete. Sofort drang ein

melodiöser Sound in den Kellergang. Sie folgte dem Gitarristen in den
Aufnahmeraum.

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In dem schallisolierten Raum saßen drei junge Männer, und

Phoebe erkannte sie sofort wieder. Schließlich hatte sie einige Poster
der Nature Sons in ihrem Zimmer hängen.

»Das sind Mike, unser Lead-Sänger, Todd, der Bassist und Huey,

unser Mann an der Schießbude. Sorry, ich meine natürlich unser
Schlagzeuger«, stellte Josh die Bandkollegen vor.

Phoebe lächelte die drei liebenswürdig an. In punkto Aussehen

konnten sie es allesamt mit Josh aufnehmen, auch wenn die blauen
Augen des Gitarristen unschlagbar waren.

Dann deutete Josh auf Phoebe. »Jungs, diese bezaubernde junge

Dame ist Phoebe Halliwell, eine Musik-Journalistin. Sie hat uns hier
in der Walachei aufgespürt, um einen Artikel über uns zu schreiben.«

Einen Augenblick lang herrschte peinliches Schweigen. Mike,

Todd und Huey sahen Josh mit einem undefinierbaren Blick an.

Dann brach Huey, der Schlagzeuger, das Eis. Seine blonden Haare

waren zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden und seine grünen
Augen blitzen fröhlich auf, als er die junge Besucherin anlächelte.

»Respekt, Phoebe«, lachte er. »Da du uns in unserer Einsiedelei

aufgespürt hast, musst du wirklich eine gewiefte Journalistin sein.«

»Tja, man tut, was man kann«, erwiderte Phoebe und versuchte,

nicht zu erröten. So war das eben mit Notlügen – wenn man erst
einmal damit angefangen hatte, musste man das Ganze bis zum
bitteren Ende durchziehen.

»Kompliment«, stimmte Todd zu und auch Mike, der Sänger

bedachte Phoebe mit einem anerkennenden Lächeln. Dann bedeutete
er ihr, auf einem der Hocker Platz zu nehmen.

»Wenn du dir solche Mühe gegeben hast, dann soll sich das doch

auch lohnen, oder? Was meint ihr Jungs – spielen wir Phoebe unseren
neuen Song vor?«

Ein einhelliges Nicken war die Antwort. Auch Phoebes Schwarm

ließ sich auf einem der freien Hocker nieder. Dann griffen Josh, Mike
und Huey nach ihren Instrumenten.

»Wir haben ihn erst heute komponiert und können dir leider nur

eine ›Unplugged‹-Version vorspielen«, sagte Huey und klemmte sich

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eine kleine Bongo zwischen seine Beine. »Aber so ist es auch viel
persönlicher.«

»Wow, das ist … ich bin echt gespannt«, stotterte Phoebe. Sie

wusste vor Aufregung wirklich nicht, was sie sagen sollte. Sie würde
der erste Mensch auf der Welt sein, der den neuen Song der Nature
Sons
hören würde. Obwohl sie die Jungs gerade erst kennen gelernt
hatte, fühlte sie sich bereits wie unter Freunden.

Josh rückte seinen Hocker noch näher an Phoebe heran, und

begann dann, den Takt anzuzählen, indem er mit dem Daumen sanft
auf das Holz seiner Akustikgitarre klopfte. Dann glitten seine Finger
über die Saiten und entlockten ihnen sodann die schönste Melodie, die
Phoebe jemals gehört hatte.

Innerhalb von Sekunden vergaß sie alles um sich herum. Wie

hypnotisiert lauschte sie den Klängen, die ihr gesamtes Universum
auszufüllen schienen. Sie fühlte sich glücklich und unbeschwert, wie
schon lange nicht mehr.

Tief unter ihr, im Gewölbe des Anwesens, trat eine dunkle Gestalt

an den Rand des schimmernden Portals und senkte ehrfürchtig den
Kopf.

»Hast du dich um diese Hexe gekümmert?«, fragte die Stimme von

überall und nirgends.

»Ja, Meister«, antwortet die Schattenkreatur. »Sie ist mir zwar vor

dem Haus entkommen, aber jetzt hat sie sich uns freiwillig
ausgeliefert, auch wenn sie es noch nicht ahnt.«

Ein triumphierendes Lachen dröhnte durch das Gewölbe und hallte

hinauf in die Gänge des alten Landhauses.

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17

P

IPER UND PAIGE STANDEN auf dem Dachboden des

Halliwell-Hauses und blickten mit müden Augen auf das Buch der
Schatten.
Es war bereits spät, und der Speicher wurde nur noch von
ein paar flackernden Kerzen erleuchtet.

Paige schüttelte frustriert den Kopf. »Was dieses Buch definitiv

braucht«, seufzte sie, »ist ein Inhaltsverzeichnis. Es wird dringend
Zeit für eine Neuauflage.«

»Das würde nichts bringen«, entgegnete Piper. »Das Buch der

Schatten ergänzt sich bekanntlich laufend selbst. Im Prinzip ist das
gesamte magische Wissen dieser Welt darin gespeichert. Ein
Inhaltsverzeichnis davon würde selbst ein paar Bücher füllen. Aber
immerhin haben wir ja etwas gefunden.«

Piper nahm einen Zettel zur Hand, auf dem sie sich bereits den

ganzen Abend lang Notizen gemacht hatten. In kleiner, akribischer
Handschrift hatte sie darauf alles notiert, was sie im Buch der Schatten
über Musik-Magie gefunden hatten. Neben den bekannten
Geschichten über die Loreley und die Sirenen berichtete das Buch
auch über andere Dämonen und Hexer, die sich im Laufe der
Jahrhunderte die Welt der Klänge zunutze gemacht hatten, um
Menschen zu manipulieren. Von magischen Musikinstrumenten –
vorzugsweise Teufelsgeigen – war darin die Rede gewesen, von
tödlichen Schlafliedern und von einer vorchristlichen Dämonin, die
ihre Opfer mit einem furchtbaren Schrei zu Stein erstarren ließ.

Die Schwestern hatten außerdem etwas darüber gelernt, wie das

Schwirrholz der australischen Ureinwohner einen Durchgang zur
Traumzeit öffnete, wie man mit Glocken böse Geister vertrieb oder im
Gegenzug mit einer bestimmten Flötenmelodie dienstbare Geister
anlockte.

Dies alles war hochinteressant gewesen, doch den beiden brummte

ob der vielen Informationen schon der Kopf. Zudem erklärte nichts
davon Phoebes Verhalten der letzten Tage.

»Ich geb's auf«, sagte Paige. Sie ließ die Schultern sinken und

drehte sich zu Piper um. Dabei stieß sie gegen eine Kerze, die neben
dem Buch der Schatten auf dem Podest stand.

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»Pass auf!«, rief Piper noch, aber es war bereits zu spät. Die Kerze

kippte um und stürzte genau auf einen Papierblock, der ebenfalls auf
dem Pult lag. Flüssiges Wachs spritzte umher, und einen
Sekundenbruchteil später loderte das Papier in einer Stichflamme auf.

Geistesgegenwärtig riss Piper das Buch der Schatten vom Pult,

bevor auch das Familienerbstück ein Raub der Flammen zu werden
drohte. Normalerweise verfügte das Buch über eine Art Selbstschutz,
aber Piper wollte es nicht darauf ankommen lassen. Doch ihre
Rettungsaktion hatte zur Folge, dass sie dabei das ganze Pult umstieß.

Mit weit aufgerissenen Augen konnten die Schwestern nur hilflos

mit ansehen, wie das Podest umstürzte. Durch den Luftzug loderte das
Feuer umso heftiger auf, und eine der Stichflammen sprang auf den
Vorhang über, mit dem Piper das Dachfenster verhangen hatte. Eine
routinemäßige Vorsichtsmaßnahme, schließlich ging es die Nachbarn
nichts an, was die Halliwells fast jeden Abend bei Kerzenschein auf
dem Dachboden trieben.

»O nein! Der Vorhang«, rief Paige entsetzt auf, als der Stoff Feuer

fing. Ein Schwall heiße Luft schlug den beiden entgegen.

Eine Sekunde war auch Piper wie gelähmt, dann drückte sie Paige

das Buch der Schatten in die Hand, machte einen Satz nach vorn und
riss kurzerhand die Gardinenstange von der Halterung über dem
Fenster.

Der brennende Vorhang fiel zu Boden, und die Flammen wollten

schon auf dem Holzboden nach neuer Nahrung suchen. Aber Piper
war schneller und begann hastig damit, das Feuer auszutreten.

Zum Glück war sie direkt nach der Arbeit auf den Dachboden

gegangen und trug noch ihre Straßenschuhe. Mit ihren flauschigen
Bunny-Pantoffeln hätte sie gegen die lodernden Flammen keine
Chance gehabt. Aber ihre Leder-Stiefeletten boten dem Feuer kaum
einen Angriffspunkt, und nach ein paar bangen Sekunden hatte Piper
das Feuer gelöscht.

»Alles in Ordnung?«, fragte Paige besorgt und drückte sich das

Buch der Schatten gegen die Brust, als wollte sie es beschützen wie
ein kleines Kind.

Piper nickte schnaufend. Das Feuer war gelöscht, aber ihre

nagelneuen Stiefeletten waren ruiniert. Hässliche Brandflecken zogen

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sich über das polierte Leder. Doch was waren schon ein paar verkohlte
Stiefel gegen ein abgebranntes Haus? Und viel hätte dazu nicht
gefehlt, denn das Halliwell-Herrenhaus war noch im vorletzten
Jahrhundert erbaut worden – und das zum größten Teil aus Holz.

»Nichts passiert«, sagte Piper. »Das ist noch mal gut gegangen.«

Paige machte ein betretenes Gesicht und blickte zu Boden. »Das

war meine Schuld«, sagte sie leise, »ich Tollpatsch hab die Kerze
umgestoßen.«

Aber Piper schüttelte nur den Kopf. »Nein, Paige, mach dir keine

Vorwürfe. Hauptsache, dem Buch der Schatten ist nichts passiert. Es
war einfach nur Pech – und du weißt ja, wem wir das zu verdanken
haben.«

»Du hast Recht«, knurrte Paige und ballte die Fäuste. »Wenn ich

diesen kleinen Teufel in die Finger kriege …«

Paige hob beschwichtigend die Hände. »Reg dich nicht auf, Paige.

Das macht den Blimp nur stärker.«

»Das sagt sich so leicht«, murmelte Paige und versuchte, sich zu

beruhigen. Was gar nicht so einfach war – immerhin war der
Flaschengeist daran schuld, dass sie beinahe obdachlos geworden
wären.

»Lass uns für heute Schluss machen«, sagte Piper und lächelte ihre

Schwester an. »Morgen ist auch noch ein Tag.«

Paige nickte dankbar und half Piper dabei, das Podest wieder

aufzustellen. Es hatte durch den Vorfall nur wenig Schaden
genommen: Ein kleiner Brandfleck prangte auf der Ablagefläche, und
an einer der Ecken war durch den Sturz ein wenig Holz abgesplittert.

Die beiden Schwestern löschten sorgfältig die letzten Kerzen und

stiegen hinab in ihre Zimmer.

Kaum eine halbe Stunde später lagen Paige und Piper erschöpft in

ihren Betten und schliefen.

Und sie träumten von einem kleinen, triumphierend grinsenden

Kobold, der durch das Haus hüpfte und neue Streiche ausheckte.

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Phoebe erwachte stöhnend und hatte das unwirkliche Gefühl, aus

einem tiefen Traum in einen neuen Traum hinüberzugleiten.

Im ersten Augenblick waren nur Dunkelheit und Stille um sie

herum. Erschrocken richtete sich die junge Hexe auf ihrer Schlafstatt
auf.

Sie brauchte ein paar Sekunden, um sich daran zu erinnern, wo sie

war: in dem alten Anwesen an der Küste, dem Bandhauptquartier der
Nature Sons.

Langsam kehrten die Erinnerungen an die vergangenen Stunden

zurück. Sie hatte noch lange mit der Band im Probenraum gesessen
und den neusten Stücken der Jungs gelauscht. Zunächst war sie noch
sehr aufgeregt gewesen, der Band – und vor allem Josh – so nahe zu
sein. Doch dann verschwammen ihre Erinnerungen. Phoebe konnte
sich noch mühsam daran erinnern, wie die Musik sie immer mehr in
ihren Bann gezogen hatte. Es war, als hätten sich die Klänge wie ein
warmer, schützender Mantel um sie gelegt. Und danach – nichts mehr.

O nein, dachte Phoebe und spürte, wie sie in der Dunkelheit

errötete. Wie peinlich. So wie es aussah, musste sie mitten in der
Session eingeschlafen sein. Nun dachten die Jungs womöglich, dass
sie die Musik der Nature Sons todlangweilig fand. Dabei war genau
das Gegenteil der Fall.

Phoebe strich sich das zerzauste Haar aus der Stirn und blinzelte in

die Dunkelheit. Langsam konnte sie einige Konturen erkennen. Sie
war allein in einem Raum und lag auf einem alten, aber weichen Sofa,
eingehüllt in eine kuschelige Wolldecke. Wahrscheinlich hatte Josh
persönlich sie hierher getragen und zugedeckt. Wie süß von ihm.

Phoebe schluckte. Ihre Kehle fühlte sich wie ausgedörrt an. Sie

musste unbedingt ein Glas Wasser trinken. Sie schlug die Wolldecke
beiseite und stellte ihre Füße auf den Boden. Keine weltbewegende
Aktion, aber Phoebe fühlte sich, als hätte sie damit Schwerstarbeit
geleistet. Mühsam stand sie auf – und strauchelte. Schwindel überkam
sie, und einen Augenblick lang wurde ihr schwarz vor Augen, was den
Raum in noch größere Dunkelheit tauchte. Sie stöhnte auf und stützte
sich an der Sofalehne ab. Wahrscheinlich war sie einfach zu hastig
aufgestanden …

Phoebe machte ein paar vorsichtige Schritte und fragte sich, wie

spät es wohl war. Sie hatte jegliches Zeitgefühl verloren. Stockend

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ging sie auf ein dunkles Rechteck zu, das sich ein wenig von der
helleren Wand abhob. Das musste die Tür sein. Der Weg dahin schien
eine Ewigkeit zu dauern.

Meine Güte, dachte Phoebe, ich muss dringend was für meine

Kondition tun. Tatsächlich hatte sie sich schon lange nicht mehr so
schlapp gefühlt. Endlich erreichte sie die Tür und zog sie vorsichtig
auf.

Vor ihr lag ein langer, dunkler Flur. Sie tastete nach einem

Lichtschalter. Vergeblich. Schwer atmend setzte sich die junge Hexe
in Bewegung. Irgendwo am Ende des Ganges, so hoffte sie
wenigstens, musste die Küche zu finden sein. Phoebe stützte sich an
der Wand ab und torkelte den Gang hinunter wie eine Betrunkene. Sie
hatte keine Ahnung, wie lange sie schon unterwegs war, als ein paar
gedämpfte Gesprächsfetzen an ihr Ohr drangen.

Phoebe brauchte ein paar Sekunden, um zu erkennen, dass es sich

um die Stimmen der Bandmitglieder handelte. Sie würde Joshs
Stimme überall wiedererkennen. Und trotzdem klang sie jetzt
irgendwie anders, härter. Und dann war da noch ein anderes Geräusch,
das Phoebe nicht zuordnen konnte. Ein leises knurrendes … Grollen?

Wie dem auch sei, Josh und die anderen konnten ihr sicherlich

sagen, wo die Küche war. Sie befürchtete, jeden Moment zu
verdursten, wenn sie nicht bald etwas zu trinken bekam.

Also änderte sie ihre Richtung und ging auf die Stimmen zu.

»Josh?«, wollte sie in die Dunkelheit hineinrufen, aber aus ihrer

trockenen Kehle drang nur ein heiseres Krächzen. Phoebe räusperte
sich und torkelte weiter. Die Stimmen kamen aus einer Tür am
anderen Ende des Flurs.

Doch je weiter Phoebe darauf zuging, desto mehr schien sich die

Tür von ihr zu entfernen. Für einen Moment fragte sich die junge
Hexe, ob sie immer noch träumte. Ihre plötzliche Schwäche, das
dunkle, fremde Haus – all dies war so irreal und fremd.

Nach einer Zeit, die ihr wie eine neuerliche Ewigkeit vorkam, hatte

Phoebe ihr Ziel endlich erreicht. Ein kühler Lufthauch wehte ihr
entgegen, als sie die Klinke packte und die Tür aufzog.

Dahinter lag eine schmale Steintreppe, die in die Tiefe führte. Ein

seltsames, waberndes Licht drang zu Phoebe herauf, zusammen mit

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den gedämpften Stimmen der Band. Es klang, als diskutierten sie
angeregt miteinander.

Vorsichtig stieg Phoebe die Treppe hinab. Erneut überkam sie ein

Schwindelgefühl, und da war es alles andere als hilfreich, dass sich
die Treppe spiralförmig in die Tiefe wand. Die ganze Welt schien sich
um sie zu drehen; immer wieder musste sie sich an der kalten
Steinwand abstützen, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren.
Gleichwohl wurden die Stimmen mit jedem Schritt lauter.

Tiefer und tiefer führte die Wendeltreppe abwärts. Phoebe wähnte

sich schon mehrere Meter unter der Erde und das Gefühl, lebendig
begraben zu sein, schnürte ihr zusätzlich die Kehle zu.

Doch es war zu spät, um noch umzukehren. Benommen erreichte

sie endlich die unterste Stufe. Vor ihr erstreckte sich ein Gang, der vor
langer Zeit in den Fels gehauen worden sein musste. Steinbögen
erstreckten sich bis zu einem Durchgang am anderen Ende. Ein
merkwürdiges Licht ergoss sich von dort aus in den Gang.

Phoebe rieb sich die Augen. Die Stimmen der Bandmitglieder

waren jetzt laut und deutlich zu verstehen, verstärkt durch ein
hallendes Echo. Die Jungs mussten sich in einem ziemlich großen
Raum befinden.

»Wie lange sollen wir uns eigentlich noch in diesem Rattenloch

verkriechen?«, fragte jemand. Es war Mike, der Sänger der Band.
Noch immer klang seine Stimme melodisch, aber gleichzeitig
schwang auch ein aggressiver, bedrohlicher Tonfall mit. Phoebe
runzelte die Stirn und tastete sich langsam vorwärts.

»Wir könnten längst Superstars sein«, fuhr Mike fort, »und die

ganz große Kohle machen. Von den Horden von Groupies ganz zu
schweigen.« Zwei andere Stimmen – sie gehörten Todd, dem
Bassisten und Huey, dem Drummer – murmelten Zustimmung,
verstummten jedoch sofort wieder, als ein drohendes Knurren ertönte.

»Ihr werdet euch gefälligst an den Plan halten, verstanden? Ihr habt

meine Geduld bereits arg strapaziert, indem ihr diese kleine Hexe hier
aufgenommen habt.«

Das Knurren wurde zu einem abfälligen Grollen. »Typisch. Ein

paar schöne Augen und nette Kurven, und ihr Idioten vergesst alles,
was ich euch eingeschärft habe! Wir arbeiten im Verborgenen, bis ich

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genug Energie gesammelt habe, um ihn zu befreien!« Das Knurren
war nun so tief, dass Phoebe es nicht nur hörte, sondern auch in der
Magengrube spüren konnte. »Der Meister hat euch alles gegeben, er
kann euch auch alles wieder nehmen. Ihr seid seine Sklaven. Eure Zeit
wird kommen, wenn ihr ihm dient! So wie ich ihm diene! Vergesst das
niemals!«

Betretenes Schweigen war die Reaktion. Und dann glaubte Phoebe,

noch eine weitere Stimme zu hören, ein leises, böses Lachen, das von
überall und nirgends zu kommen schien.

Bestürzt ließ sich die junge Hexe gegen die Steinwand sinken. Sie

verstand die Welt nicht mehr. Von was für einem Plan sprachen die
Bandmitglieder? Mit wem redeten sie da? Und über wen? Und noch
etwas stimmte hier nicht. Sie hatte die Stimmen von drei
Bandmitgliedern erkannt. Aber wo war …

Plötzlich sah Phoebe aus den Augenwinkeln heraus einen Schatten

auf sich zukommen. Sie wirbelte herum und ging trotz ihrer
Benommenheit sofort in Abwehrposition. Das jahrelange
Kampfsporttraining war ihr in Fleisch und Blut übergegangen.
Trotzdem war ihre Erschöpfung einfach zu groß, und die plötzliche
Drehung brachte sie aus dem Gleichgewicht. Bevor sie auf dem
Boden aufzuschlagen drohte, griffen zwei starke Arme nach ihr und
rissen sie wieder in die Höhe.

»Josh!«, rief Phoebe aus. »Was ist hier los? Was macht ihr hier

unten?«

Einen Herzschlag lang sah Josh die junge Hexe durchdringend an.

Dann machte sich ein charmantes, jungenhaftes Grinsen auf seinem
Gesicht breit. »Dasselbe könnte ich dich fragen, Phoebe. Warum
schleichst du zu so später Stunde hier im Keller herum?«

»Ich … ich wollte etwas trinken und hab von unten Stimmen

gehört. Was treibt ihr hier mitten in der Nacht?«

Josh grinste noch etwas breiter und legte einen Arm um Phoebes

Schulter. Unwillkürlich genoss sie die Wärme, die von dieser
Berührung ausging. Erst jetzt fiel ihr auf, wie kalt es hier unten war.

»Wir halten hier nur eine Strategie-Besprechung ab, weißt du?«,

antwortete Josh und sah Phoebe dabei tief in die Augen. »Heutzutage
ist das leider so – die Musik ist nur die halbe Miete. Genauso wichtig

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ist es, dich auf dem Markt zu platzieren und deine eigene Strategie zu
verfolgen. Mir geht das auch auf die Nerven, aber …« Josh zuckte die
Schultern. Dann nahm er Phoebe vorsichtig bei der Hand und führte
sie die Treppe hinauf. »Du bist ganz blass um die Nase, Phoebe«,
sagte er. »Ich bringe dich am besten wieder zurück ins Bett. Du siehst
aus, als könntest du noch eine Mütze voll Schlaf gebrauchen.«

Phoebe runzelte die Stirn. Dies alles war so unwirklich, und zudem

waren ihre Fragen noch längst nicht beantwortet. Aber sie fühlte sich
einfach zu schwach, um Josh noch weiter zu löchern. Außerdem fühlte
sie auf eine Art und Weise, die sie nicht erklären konnte, dass von
diesem Jungen keine Gefahr ausging – auch, wenn er offensichtlich
irgendetwas vor ihr verheimlichte.

Vertraue deinen Instinkten, hatte ihre verstorbene Schwester Prue

einmal zu ihr gesagt, und Phoebe beschloss, diesen Rat zu befolgen.
Zumindest für heute Nacht.

Fünf Minuten später lag sie wieder auf dem Sofa, ein Glas Wasser

neben sich. Josh beugte sich zu ihr hinab und gab ihr einen zarten
Kuss auf die Stirn. »Gute Nacht, Phoebe«, flüsterte er.

»Gute Nacht, Josh«, murmelte Phoebe und war fast im selben

Augenblick wieder eingeschlafen.

Während Phoebe in dem alten Anwesen am Breakers Point den

Schlaf der Gerechten schlief und von bizarren Alpträumen
heimgesucht wurde, trat Josh tief unten im Gewölbe vor seine
Bandkollegen. Und vor das schattenhafte Wesen, das sich vor ihm
aufgebaut hatte.

»Hat die Hexe etwas herausgefunden?«, grollte die Kreatur.

Instinktiv trat Josh einen Schritt zurück. Mike, Todd und Huey

blickten ihren Bandkollegen forschend an. Josh zögerte einen
Moment, dann erwiderte er trotzig: »Nein. Die Kleine ahnt nichts.
Und morgen früh wird ihr das bisschen, das sie mitbekommen hat,
vorkommen wie ein böser Traum. Dafür hat unsere Musik gesorgt.«

Das Schattenwesen knurrte unzufrieden. »Mir wäre es lieber, die

kleine Hexe ein für alle Mal aus der Welt zu räumen. Aber ihr
Verschwinden könnte Fragen aufwerfen und die Polizei auf den Plan

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rufen. Ich will nicht, dass die Nature Sons in die Schlagzeilen geraten.
Schon gar nicht wegen des Verschwindens eines Fans.«

Die Kreatur strich ungeduldig durch das düstere Gewölbe. Im

fahlen Schein des wabernden Lichtkreisels im Boden schimmerte ihr
Fell immer wieder kurz auf. »Ab jetzt haltet ihr euch an genau das,
was abgemacht war, verstanden? Die Zweite Wiederkehr des Meisters
steht kurz bevor. Nichts und niemand wird uns jetzt mehr aufhalten!«

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18

D

IE SONNE WAR GERADE ÜBER dem Halliwell-Haus

aufgegangen, als Piper vom Geruch frischen Kaffees geweckt wurde.
Was nicht gerade häufig vorkam, denn normalerweise war sie
diejenige, die als Erste auf den Beinen war und Frühstück für ihre
Schwestern machte.

Angenehm überrascht streifte sich Piper einen Morgenmantel über,

schlüpfte in ihre Bunny-Pantoffeln und öffnete ihre Zimmertür.

Typische Küchengeräusche drangen in den ersten Stock hinauf: das

Klappern von Topf und Pfanne, das Klirren von Besteck auf
Porzellan. Piper musste grinsen. Sie hatte schon viel Zeit ihres Lebens
in Küchen zugebracht und wusste, dass nur jemand, der wenig
Erfahrung im Kochen hatte, solch unkoordinierte Geräusche
verursachte.

Einen guten Koch, so hatte sie während ihrer Ausbildung gelernt,

hört man bei der Arbeit kaum. Paige musste offensichtlich noch
einiges lernen …

»Guten Morgen, Schwesterherz«, rief Piper, als sie die Küche

betrat. Paige rührte gerade eine undefinierbare Masse in einem Topf
zusammen und blickte überrascht auf. »Oh, hallo, du bist schon
wach?«

Piper deutete auf die Kanne in der Kaffeemaschine, die sich

langsam mit frischem Kaffee füllte. »Die Magie des Kaffees hat mich
geweckt. Aber sag mal, was machst du da? Magischen Zement?«,
fragte sie und blickte auf den Topf in Paiges Händen. Ihre
Halbschwester versuchte gerade mit großer Mühe, den Rührbesen
durch die zähe Masse zu bewegen, die darin vor sich hin brodelte.

»Nö«, lachte Paige, »das sollte eigentlich Pfannkuchenteig werden.

Ich habe wohl zu viel Mehl genommen.«

»Und die Rühreier hast du darüber wohl ganz vergessen«, sagte

Piper und deutete mit einem Kopfnicken auf die Pfanne, die auf dem
Gasherd stand. Unter scharfem Brutzeln stiegen bereits die ersten
dunklen Qualmwolken über dem Ofen auf.

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»O nein!«, rief Paige. Kurzerhand setzte sie ihre Hexenkräfte ein

und hob die Pfanne mit der Macht ihrer Gedanken von der
Gasflamme. Wie von Geisterhand landete das Ding auf der Spüle.
Piper grinste und griff nach einem Holzspatel, um zu retten was von
den Rühreiern noch zu retten war.

»Ich habe mir wohl ein bisschen viel vorgenommen«, sagte Paige

und zuckte bedauernd mit den Schultern.

»Halb so wild.« Mit einer geschickten Bewegung ließ Piper den

Spatel in die Pfanne gleiten. Glücklicherweise waren die Rühreier nur
am Rand ein wenig angebrannt. Piper stach den unversehrten Teil
vorsichtig ab und gab ihn auf einen Teller. »Aber sag mal, was machst
du hier eigentlich so früh?« Sie blickte auf die große Küchenuhr über
der Tür. »Es ist doch noch nicht mal acht Uhr. Sonst schläfst du um
diese Zeit noch tief und fest.«

Paige seufzte und füllte Pipers Tasse mit Kaffee. »Ach, ich konnte

nicht mehr schlafen«, antwortet sie schließlich. »Mir ging einfach zu
viel durch den Kopf. Ich mache mir immer noch Vorwürfe wegen
dieses Blimps.«

Piper nickte. Mittlerweile hatten sie selbst die Garage des Hauses

auf den Kopf gestellt und nicht nur die Glühbirnen im Haus, sondern
auch die Scheinwerfer ihrer Autos auseinandergebaut und sorgfältig
überprüft. Ohne jeden Erfolg.

»Diese seltsame Warnung im Buch der Schatten macht mir auch zu

schaffen«, fuhr Paige fort. »Ich habe das Gefühl, dass es mir etwas
sagen will, aber ich komme einfach nicht dahinter, was es ist. Und vor
allem mache ich mir natürlich Sorgen um Phoebe. Also dachte ich
mir: Wenn ich ohnehin nicht schlafen kann, mache ich mich eben
irgendwie nützlich und bereite ein üppiges Frühstück zu. Aber
scheinbar …« Paige deutete auf den kümmerlichen Rest der Rühreier,
»… bin ich nicht mal dazu in der Lage.«

Piper klopfte ihrer Halbschwester aufmunternd auf die Schulter.

»Mach dir keine Sorgen, Paige. Wir sind schon mit ganz anderen
Dingen fertig geworden.« Um ihre Worte zu unterstreichen und Paige
etwas aufzuheitern, stach Piper mit einer Gabel in das kleine Häuflein
angebrannten Rühreis und schob sich etwas davon in den Mund.
»Mmpf, fehlt vielleicht noch etwas Salz«, murmelte sie kauend und
musste sich bemühen, nicht in Paiges Lachen einzufallen.

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Das Gekicher der beiden Schwestern wurde von einem dröhnenden

Röhren unterbrochen. Piper und Paige blickten sich erschrocken an.

»Haben sie eine der Landebahnen des Flughafens in unseren

Vorgarten verlegt?«, fragte Paige.

Piper schüttelte den Kopf, legte die Gabel zurück auf den Tisch

und stand auf. »Das klang eher wie ein Motorrad«, sagte sie. Mit
schnellen Schritten durchquerten die beiden den Flur und öffneten die
Haustür.

An der Einfahrt zum Halliwell-Haus stand eine klassische, auf

Hochglanz polierte Harley Davidson. Aber die beiden Schwestern
hatten eigentlich nur Augen für die junge Frau, die in diesem
Augenblick vom Sozius der Maschine abstieg.

»Das ist doch Phoebe!«, rief Paige. Sie musste ihre Stimme

erheben, um das Knattern des Motors zu übertönen. Wahrscheinlich
standen jetzt schon sämtliche Nachbarn an den Fenstern und empörten
sich über den Lärm, der mal wieder vom Halliwell-Haus ausging.

Erschrocken beobachteten Paige und Piper, wie Phoebe plötzlich

einknickte und das Gleichgewicht verlor. Instinktiv hob Paige ihre
Hände, um die Schwester mit einem telekinetischen Stupser wieder
aufzurichten, aber der Mann auf dem Fahrersitz war schneller. Rasch
packte er sie mit einer Hand am Arm und zog sie an sich. Soweit Piper
und Paige das aus dieser Entfernung erkennen konnten, schien Phoebe
nichts dagegen zu haben. Der junge Mann ließ seinen Arm um
Phoebes Schulter gleiten und zog sie noch ein Stück näher zu sich.

»Wer zum Teufel ist dieser Kerl?«, fragte Piper.

Paige runzelte die Stirn. »Ich glaube, das ist einer dieser Nature

Sons«, antwortete sie. »Ich kenne ihn von einem der Poster, die
neuerdings in Phoebes Zimmer hängen.«

Fassungslos beobachten die beiden Schwestern, wie der Mann

Phoebe anlächelte und den Kopf vorbeugte. »Na, der geht aber ran.
Nicht übel«, staunte Paige. Piper blickte die Schwester tadelnd an.
»Paige! Jetzt fang du nicht auch noch an!«.

»Sorry«, murmelte Paige.

Phoebe flüsterte ihrem Begleiter inzwischen etwas ins Ohr und

drückte ihm dann einen Schmatzer auf die Stirn. Vermutlich war das

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nicht gerade das, was der junge Mann erwartet hatte, aber wenn es so
war, dann ließ er sich nichts anmerken. Er grinste und ließ den Motor
seiner Maschine aufheulen. Spätestens jetzt dürfte auch der letzte
Nachbar aus seinem Bett gefallen sein, dachte Piper.

Kies spritzte auf, als das Motorrad davon schoss. Phoebe winkte

dem jungen Mann noch einmal zu, dann drehte sie sich um und ging
auf den Eingang des Hauses zu. Sie war noch blasser als am Vortag
und ihre Schritte waren sehr unsicher.

Als Phoebe aufblickte, sah sie Piper und Paige auf der Türschwelle

stehen. Die beiden hatten ihre Arme vor der Brust verschränkt und
blickten der Schwester argwöhnisch entgegen.

Phoebes Miene verfinsterte sich augenblicklich. »Hallo«, sagte sie

nur, »jetzt erzählt mir nicht, ihr zwei habt die ganze Nacht vorm Haus
gestanden und auf mich gewartet.«

Ohne auf eine Antwort zu warten, drängelte sich Phoebe an ihren

Schwestern vorbei in den Hausflur.

»Phoebe, warte mal«, setzte Piper an. Sie wollte sich nun wirklich

nicht als große Schwester aufspielen, aber Phoebe sah einfach
furchtbar aus. Ihr normalerweise sonnengebräunter Teint war
Geschichte und hatte leichenblasser Haut Platz gemacht. Zudem hatte
sie dunkle Ringe unter den Augen und sah aus, als hätte sie nächtelang
nicht geschlafen.

Doch Phoebe ging einfach wortlos die Treppe zu ihrem Zimmer

hinauf, ohne sich umzudrehen. Dabei hielt sie sich am Geländer fest
und atmete so schwer, als würde sie eine Steilwand erklimmen.

»Phoebe, du siehst schrecklich aus!«, begann Piper erneut.

»Na, besten Dank für das Kompliment«, antworte Phoebe mit

tonloser Stimme.

»Nein, was ich meine ist, du siehst krank aus, Phoebe. Der Typ

gerade – das war doch ein Mitglied der Nature Sons, oder? Und
überhaupt, wo ist denn dein Auto?«

Phoebe atmete tief durch und blieb stehen. Langsam drehte sie sich

zu ihren Schwestern um. »Ich hab euch doch gesagt, dass ich losziehe,
um die Band zu suchen. Nun, ich habe sie gefunden, und die Jungs
haben mich netterweise in ihrem Band-Hauptquartier übernachten

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lassen! Und Josh hat mich mit dem Motorrad nach Hause gefahren,
damit ich nicht zur Hauptverkehrszeit durch die verstopfte Stadt
fahren muss. Was dagegen?«

»Band-Hauptquartier?«, wiederholte Paige. »Das klingt ja, als

hättest du die Nacht in der Bathöhle verbracht. Haben die zufällig
auch einen Butler, der Alfred heißt?«

Phoebe gab nur ein knurrendes Geräusch von sich. »Das wird mir

jetzt zu blöd«, murmelte sie und stieg weiter die Stufen hinauf.

Piper startete einen letzten Versuch, um ihre Schwester zur

Vernunft zu bringen. Sich in den Gitarristen einer Pop-Gruppe zu
verknallen, war eine Sache – aber sich damit möglicherweise einer
magischen Verschwörung auszuliefern, eine andere. »Warte doch mal,
Phoebe«, rief sie. »Bei dieser Band geht es möglicherweise nicht mit
rechten Dingen zu. Es könnte sein, dass da irgendwas im Busch ist –
etwas Schwarzmagisches. Es wäre besser, wenn du …«

Phoebe hatte inzwischen den Absatz des ersten Stocks erreicht und

fuhr wütend herum. Ihre Wangen waren rot angelaufen und schienen
in dem ansonsten blassen Gesicht regelrecht aufzulodern.

»Wenn ich was? Mich von Josh fern halte? Nur, weil er euch nicht

passt? So wie Cole damals, was?«

Piper hob beschwichtigend die Hände. »Nein, Phoebe, darum geht

es nicht. Dieser Josh ist vielleicht ein netter Kerl, aber es könnte sein,
dass er oder seine Kollegen in irgendetwas … verwickelt sind. Es
könnte gefährlich werden, wenn du dich Hals über Kopf in
irgendwelche Abenteuer stürzt.«

Phoebe stand wie versteinert da und ballte die Fäuste, bis die

Knöchel weiß hervortraten. »Das lasst mal meine Sorge sein, okay?
Ich weiß sehr wohl, was gut für mich ist. Wisst ihr was? Ich glaube,
ihr zwei Super-Hexen seid nur eifersüchtig, weil ich versuche, mein
Leben nach meinen Regeln zu gestalten – und nicht allein nach dem
Ehrenkodex der Macht der Drei. Ihr habt mir schon einmal
dazwischengefunkt, und das hat mich meine Beziehung zu Cole
gekostet. Noch einmal werde ich das nicht zulassen!«

Mit diesen Worten stapfte Phoebe in ihr Zimmer und warf die Tür

hinter sich zu.

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Der Knall verhallte im Haus, während Piper und Paige sich fragend

ansahen. »Keine Ahnung, was mit ihr los ist«, sagte Paige. Die
Ratlosigkeit stand ihr ins Gesicht geschrieben. »Aber normal ist das
nicht. Was sollen wir jetzt tun?«

Piper biss sich auf die Unterlippe und überlegte. Dann ging sie ins

Wohnzimmer und griff entschlossen nach dem schnurlosen Telefon.

»Wen rufst du denn an?«, fragte Paige, die ihr gefolgt war.

»Die Auskunft. Ich glaube, es wird Zeit, sich den Kerl

vorzuknöpfen, der für diesen ganzen Schlamassel verantwortlich zu
sein scheint.«

In ihrem Zimmer ließ sich Phoebe auf ihr Bett fallen und blickte

wehmütig auf das Plakat der Nature Sons an der gegenüberliegenden
Wand.

Warum konnten Piper und Paige sie nicht einfach in Ruhe lassen

und akzeptieren, dass sie jemanden kennen gelernt hatte, der etwas in
ihrer Seele berührte? Kaum gab es einen neuen Mann in ihrem Leben,
witterten die beiden – und besonders Piper – gleich eine
schwarzmagische Verschwörung. War es denn so undenkbar, dass
sich ein ganz normaler Junge in sie verliebte? Selbst, wenn es ein
aufstrebender Popstar war?

Sie schloss die Augen. Erst jetzt merkte sie, wie erschöpft sie

eigentlich war. Sofort wurden ihre Glieder schwer und ihre Gedanken
träge. Obwohl die Sonne durchs Fenster schien, fühlte sich Phoebe,
als ob es mitten in der Nacht wäre. Kurz bevor sie einschlief, blitzten
ein paar düstere Gedanken in ihrem Unterbewusstsein auf: ein
seltsamer Keller, die Stimmen der Bandmitglieder in der Dunkelheit
und ein seltsam waberndes Licht …

Phoebe stöhnte leise auf, dann entspannten sich ihre Gesichtszüge

wieder.

Nur ein Traum, dachte sie und glitt in den Schlaf hinüber.

Nur ein böser Traum.

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19

D

IE SONNE STAND BEREITS HOCH am Himmel, als Piper

das schäbige Gebäude am Stadtrand erreichte, in dem angeblich auch
»Markel Entertainment« seine Büros hatte.

Zum Glück gab es in dieser wenig angesagten Gegend keine

größeren Parkplatz-Probleme, und Piper steuerte mit ihrem Wagen
eine Parklücke auf der gegenüberliegenden Straßenseite an.

Noch beim Aussteigen blickte sie an dem schmucklosen Gebäude

hoch. Vor dem Hintergrund des strahlend blauen Himmels wirkte es
nur noch grauer und deprimierender. Wie um das trostlose Bild
komplett zu machen, erfasste der Wind eine zerrissene Plastiktüte und
wirbelte sie entlang der Hausfassade in die Höhe.

Nicht gerade die Art von Gebäude, in der man das Management

einer kommenden Pop-Sensation vermutet, dachte Piper, während sie
die Straße überquerte. Andererseits waren die Nature Sons bislang
noch eine ganz kleine Nummer, und Markel schien vor seinem
Engagement für diese Band nicht gerade vom Erfolg verwöhnt
worden zu sein.

Eine Tafel am Eingang führte die Namen der Firmen auf, die in

diesem Gebäude residierten. Piper hatte noch keinen einzigen davon
gehört. Das Seltsame war, dass der Name von »Markel
Entertainment« fehlte. Dabei hatte Piper die Angestellte von der
Telefonauskunft zehn Minuten lang gelöchert, um endlich die
Nummer von Markels Büro zu bekommen. Als sie es endlich
geschafft hatte, hatte sich dort eine schüchterne Frau gemeldet, die
sich als Markels Assistentin vorgestellt hatte. Piper hatte dann noch
einmal fast zehn Minuten gebraucht, um von ihr – einer gewissen
Vikki – die Adresse von Markels Stadtbüro zu erfahren und einen
Termin zu vereinbaren.

Piper ließ ihren Blick noch einmal über die Namenstafel

schweifen. Nein, »Markel Entertainment« war hier tatsächlich nicht
aufgeführt. Hatte diese Vikki ihr etwa eine falsche Adresse gegeben?

Die junge Hexe runzelte die Stirn, als sie eine freie Stelle an der

Tafel bemerkte, an der offensichtlich ein Schild fehlte. Die Ränder der
Schraublöcher waren noch nicht korrodiert, also musste das Schild

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erst kürzlich entfernt worden sein. Dem Aufbau der Namenstafel
zufolge musste sich das betreffende Büro im elften Stock befunden
haben, gleich neben einer Künstlervermittlung und einem Kleinverlag,
von dem Piper ebenfalls noch nie gehört hatte.

»Was soll's«, murmelte sie, »probieren wir's einfach aus.«

Sie trat auf die Glaseingangstür zu, die klemmte und sich daher nur

mit einigem Kraftaufwand öffnen ließ. Das Rezeptionspult, an dem
Piper auf ihrem Weg zum Fahrstuhl vorbeikam, war verwaist. Auch
ansonsten schien sich kein Mensch im Eingangsbereich aufzuhalten.
Dies war mit Sicherheit das schäbigste Bürogebäude, das Piper jemals
betreten hatte.

Sie drückte den Knopf neben der Fahrstuhltür, die sich daraufhin

quietschend zur Seite schob. Misstrauisch blickte Piper in die Kabine.
Ein abgestandener Geruch schlug ihr entgegen. Der Spiegel am
Kopfende war an einer Ecke abgesplittert und zu allem Überfluss mit
einem Graffiti verschandelt worden.

Piper zögerte eine Sekunde, dann wandte sie sich wieder ab. Dieser

Fahrstuhl wäre schon unter normalen Umständen wenig Vertrauen
erweckend gewesen. Aber als jemand, der von einer magischen
Pechsträhne verfolgt wurde, sollte sie lieber kein Risiko eingehen. Sie
verspürte wenig Lust, mit diesem Lift irgendwo zwischen den
Stockwerken hängen zu bleiben … oder gar Schlimmeres.

Kopfschüttelnd durchquerte Piper die Halle und erreichte eine Tür

aus Milchglas, die ins Treppenhaus führte. »Jeder Gang macht
schlank«, murmelte sie und begann mit dem Aufstieg.

Nach sieben Stockwerken war Piper völlig außer Atem und

wünschte, Paige wäre bei ihr, um sie ein paar Stockwerke nach oben
zu orben. Seufzend ruhte sie sich ein paar Sekunden aus und setzte
dann ihren Weg fort.

Fünf schweißtreibende Minuten später hatte Piper den elften Stock

erreicht. Ein schmaler, mit einem Kunststoffteppich ausgelegter Flur
führte an drei schäbigen Bürotüren vorbei. An der mittleren prangte
ein heller Fleck. Offensichtlich war auch hier vor kurzem das
Firmenschild entfernt worden. Nichtsdestotrotz waren aus dem
Inneren des Büros Geräusche zu hören.

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Piper räusperte sich und klopfte an die Tür. Sie wusste zwar nicht,

inwieweit dieser Markel in irgendwelche schwarzmagischen
Geschichten verwickelt war, aber die junge Hexe war auf alles gefasst.
Sobald ihr irgendetwas nicht koscher vorkommen würde, würde sie
nicht zögern, einen potenziellen Gegner in der Zeit einzufrieren.

Durch die Milchglasscheibe sah Piper, wie sich jemand der Tür

näherte. Ein paar Sekunden später wurde sie geöffnet, und eine blasse
junge Frau blickte durch den Türspalt. Sie war weder hübsch noch
hässlich, sondern besaß eines dieser Allerweltsgesichter, die man
sofort wieder vergisst. Ihre hellblonden Haare waren zu einem
traurigen Pferdeschwanz zusammengebunden.

Mit nervösem Blinzeln blickte die Frau Piper an. »Kann ich etwas

für Sie tun?«, fragte sie.

Piper erkannte die Stimme vom Telefon wieder. Das musste Vikki

sein, Markels Assistentin.

»Ja, mein Name ist Piper Halliwell. Ich bin die Managerin des P3.

Wir hatten heute Morgen miteinander telefoniert.«

Der Anflug eines Lächelns huschte über Vikkis Gesicht. »Aber

natürlich, Misses Halliwell. Treten Sie näher. Und bitte entschuldigen
Sie die Unordnung. Wir ziehen gerade um.«

Mit einer müden Geste deutete Vikki auf ein paar Umzugskartons

und Berge voller Aktenordner, die sich entlang der Wände auftürmten.

»Tatsächlich?«, fragte Piper. »Wohin denn?«

Vikki holte gerade Luft, um Pipers Frage zu beantworten, als sich

am anderen Ende des Raums eine Tür öffnete. Ein mittelgroßer Mann
mit kalten Augen trat heraus. »Vikki! Haben Sie nichts anderes zu tun,
als herumzuquatschen? Ich glaube nicht, dass ich Sie dafür bezahle.«
Mit der Zigarette, die zwischen seinen Fingern qualmte, deutete er auf
die Umzugskartons. »Die Dinger packen sich nicht von selbst. Und bis
heute Abend müssen wir hier raus sein!«

Vikki zuckte zusammen. »Natürlich, Mister Markel. Ich mache

mich gleich wieder an die Arbeit. Das hier ist Misses Halliwell. Sie
hatte heute Morgen einen Termin ausgemacht.«

Piper runzelte die Stirn. Als Managerin eines Lokals hatte sie

selbst eine Menge Mitarbeiter, aber das war keine Art mit seinen

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Angestellten umzugehen. Dieser Markel war ihr schon jetzt zutiefst
unsympathisch.

Dieser Eindruck schien jedoch nicht auf Gegenseitigkeit zu

beruhen. Markel hob die Augenbrauen und strich sich über sein volles,
dunkles Haar. Dabei wanderten seine Blicke unverhohlen über den
Körper seiner Besucherin, und Piper konnte förmlich spüren, wie er
sie in Gedanken auszog.

»Misses Halliwell, ja?« Markel nickte anerkennend. »Kommen Sie

doch bitte in mein Büro. Dann können wir uns unterhalten.«

Mit übertriebener Höflichkeit hielt der Manager seine Bürotür auf,

und Piper war es unangenehm, sich so nah an diesem Schmierlappen
vorbeidrücken zu müssen. Wenn er mich auch nur ansatzweise
berührt, dachte sie, friere ich ihn ein und verpasse ihm eine –
Hexenregeln hin oder her.

Aber Markel schien zu spüren, was gut für ihn war und behielt

seine Hände bei sich. Dafür bemerkte Piper aus den Augenwinkeln,
wie er seiner Assistentin einen drohenden Blick zuwarf, bevor er die
Tür schloss.

Piper sah sich um. Das Büro war zum größten Teil bereits

ausgeräumt, aber auch im Normalzustand war es sicherlich alles
andere als gemütlich gewesen. Ein billiger Schreibtisch, ein
Chefsessel aus Kunstleder und ein ziemlich niedriger Besucherstuhl,
der noch relativ unbenutzt aussah. Das ließ auf zwei Dinge schließen:
Markel hatte in diesem Büro nur selten Geschäftskunden empfangen.
Und wenn, dann sah er offensichtlich gern auf sie herab.

Grinsend, als hätte er Pipers Gedanken gelesen, deutete Markel auf

den Besucherstuhl. Dann nahm er selbst in dem Chefsessel hinter dem
leergeräumten Schreibtisch Platz.

»Tut mir Leid, dass es hier nicht mehr besonders anheimelnd ist«,

sagte Markel und drückte seine Zigarette in einer leeren CD-Hülle
aus. »Aber wie meine Assistentin Ihnen ja bereits gesagt hat, ziehen
wir gerade um – in, äh, repräsentativere Räume. Ich hab eine neue,
sehr viel versprechende Band unter Vertrag genommen und
expandiere für die Zukunft, wie man so sagt.«

»Genau deswegen bin ich zu Ihnen gekommen, Mister Markel«,

sagte Piper rasch. Sie fühlte sich auf dem unbequemen Besucherstuhl

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sehr unwohl und wollte die ganze Sache so schnell wie möglich hinter
sich bringen. Außerdem hatte sie ein ungutes Gefühl, seit sie das Büro
betreten hatte. Eine unbestimmbare, aber deutliche Atmosphäre von
Täuschung und Verrat lag in der Luft.

»Wie ich gehört habe«, fuhr sie fort, »vertreten Sie diese neue

Boygroup, die Nature Sons, richtig?«

Markel, der bisher betont lässig in seinem Sessel gethront hatte,

richtete sich unwillkürlich auf. Mit wachsamem Blick beugte er sich
vor. »In der Tat, das ist richtig. Darf ich fragen, woher Sie davon
wissen? Ich meine, ich habe für die Band bisher noch nicht die große
Werbetrommel gerührt, weshalb sie bislang eher ein Geheimtipp unter
Insidern ist.«

Nun beugte sich auch Piper vor und erwiderte Markels Blick. »Tja,

tatsächlich ist meine Schwester einer dieser ›Insider‹. Sie hat vor ein
paar Tagen ein Freiticket für ein Konzert der Band gewonnen und
seitdem ist sie geradezu … besessen von ihren Schützlingen.«

»Das kann ich mir vorstellen«, murmelte Markel grinsend.

Piper und der Plattenmanager blickten sich einen Augenblick lang

schweigend in die Augen, wie zwei Raubtiere, die einander taxieren
und darauf lauern, dass der andere einen Fehler macht.

»Wie dem auch sei«, brach Piper die entstandene Stille, »meine

Schwester hat mir von der Band vorgeschwärmt und mir
vorgeschlagen, ihnen eine Auftrittsmöglichkeit im P3 zu geben. Ich
bin die Managerin des Clubs.« Mit der rechten Hand zog Piper eine
Visitenkarte aus der Tasche ihres Sommermantels, während sie mit
der linken die Finger kreuzte. Phoebe hatte natürlich nichts
dergleichen gesagt, aber diese kleine Notlüge diente schließlich einem
höheren Zweck.

Markel nahm die Karte entgegen und betrachtete sie eingehend.

»Piper Halliwell – natürlich. Als meine Assistentin Sie bei mir
anmeldete, kam mir Ihr Nachname gleich bekannt vor. Wissen Sie, ich
hatte bereits mehrfach das Vergnügen, Ihre Schwester kennen zu
lernen.«

Markel und die Hexe tauschten ein falsches Lächeln.

Ich weiß, dass du weißt, dass ich mehr weiß, dachte Piper.

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Der Plattenmanager machte ein bedauerndes Gesicht und schob die

Karte wieder über den Tisch zurück. »Danke für das Angebot, aber
ich fürchte, die Nature Sons stehen für einen Auftritt in Ihrem Lokal
derzeit nicht zur Verfügung. Ich möchte die Jungs zu diesem frühen
Zeitpunkt ihrer Karriere noch nicht verheizen, Sie verstehen?«

Piper schüttelte den Kopf. »Aber davon kann doch keine Rede

sein. Das P3 ist bekannt dafür, jungen Musikern eine Chance zu
geben. Es würde ein nettes, kleines Konzert werden, vor einem sehr
interessierten Publikum.«

Markel holte tief Luft und lehnte sich in seinen Sessel zurück.

Dann strich er sich nachdenklich über das schlecht rasierte Kinn. Piper
konnte nicht anders, als den dunkel behaarten Handrücken des
Mannes anzustarren. »Warum nicht«, rief Markel schließlich und
klatschte in die Hände. »Das könnte sehr interessant werden. Ich
denke, morgen Abend könnten die Nature Sons zu einer kleinen …
Jamsession in Ihrem Club auftreten.«

Piper stutzte. »Morgen Abend schon? Ich weiß nicht, ob die Zeit

für die nötigen Vorbereitungen bis dahin ausreicht.«

Markel winkte ab. »Ach was, die Jungs sind wirklich talentiert. Die

brauchen nicht mehr als ihre Instrumente und eine Soundanlage. Ihre
Musik wird für sich sprechen, glauben Sie mir.«

Piper dachte kurz nach. Das ging alles etwas schneller, als sie

erwartet hatte. Andererseits – je eher sie und Paige herausfanden, was
es mit den Nature Sons auf sich hatte, desto besser. »Einverstanden«,
sagte sie und stand auf.

Markel reichte ihr über den Schreibtisch hinweg seine behaarte

Rechte. Piper erschauderte.

»Klären Sie alles Weitere doch bitte mit Vikki«, sagte der

Manager. »Sie ist meine Assistentin und kümmert sich um das
Geschäftliche. Ach, und da wäre noch etwas«, setzte Markel hinzu, als
Piper schon fast zur Tür hinaus war. »Ich möchte die Band durch reine
Mund-zu-Mund-Propaganda bekannt machen. Berichterstattung in der
Presse ist schön und gut, aber oft schaden solche Artikel in diesem
Stadium mehr als sie nutzen. Ich wäre Ihnen also dankbar, wenn Sie
auf irgendwelche Vorankündigungen verzichten würden, Misses
Halliwell. Außerdem wird Vikki in den Vertrag mit Ihnen eine

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Klausel aufnehmen, nach der Journalisten keinen Zutritt zu dem
Konzert haben dürfen.«

Piper runzelte die Stirn. Das war allerdings sehr ungewöhnlich.

Normalerweise waren junge Bands und ihre Manager geradezu
begierig auf Presseberichterstattung. Markel verhielt sich tatsächlich
wie jemand, der etwas zu verbergen hatte. Und sie würde
herausfinden, was es war.

»Nun, wenn Sie es wünschen, Mister Markel, dann werden wir das

selbstverständlich so handhaben. Guten Tag.«

»Bis morgen Abend, Miss Halliwell«, erwiderte Markel mit einem

Lächeln. »Ich freue mich schon darauf.«

Piper trat in den Vorraum und zog die Tür hinter sich zu. Sie war

froh, nicht mehr länger in einem Raum mit Markel sein zu müssen.
Die gespielte Freundlichkeit dieses Mannes hatte etwas
Beängstigendes.

Vikki kniete neben einem Pappkarton am Boden und erhob sich,

als Piper auf sie zutrat. Nachdem sie der Assistentin von ihrer
Vereinbarung mit Markel erzählt hatte, öffnete die junge Frau einen
der auf dem Boden stehenden Aktenordner und zog einen
Standardvertrag heraus.

»Ich werde nur noch schnell die vereinbarte Klausel hinzufügen,

Misses Halliwell«, sagte sie. Es klang aus ihrem Mund fast
entschuldigend.

Piper nickte. Sie folgte Vikki zum leer geräumten Schreibtisch und

nutzte die Gelegenheit, die Assistentin unter vier Augen zu befragen.
»Sagen Sie, Vikki«, begann sie beiläufig, »arbeiten Sie eigentlich
schon lange für Mister Markel?«

Die Assistentin blickte unsicher auf. »Ich … nein, seit ein paar

Monaten erst«, stotterte sie. »Seit …« Sie blickte nervös zur Bürotür
von Markel und verstummte.

»Seit …?«, hakte Piper vorsichtig nach, aber Vikki senkte den

Blick und wandte sich wieder dem Vertrag zu.

»Vikki, gibt es etwas, das Sie mir vielleicht sagen möchten?«,

fragte Piper sanft. Die junge Frau schien vor irgendetwas Angst zu
haben, und Piper wollte wissen, was es war – nicht nur, um das Spiel

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zu durchschauen, das Markel offensichtlich trieb, sondern auch, um
ihr zu helfen.

Doch Vikki schluckte nur und reichte Piper den handschriftlich

ergänzten Vertrag. »Ich möchte lieber nicht darüber reden«, sagte sie
und lächelte ihr Gegenüber fast flehentlich an.

»Ich verstehe«, sagte Piper. So würde sie nie etwas

herausbekommen. Sie zog eine weitere Visitenkarte aus ihrer Tasche
und schrieb ihre Privatnummer auf die Rückseite. »Wenn Sie trotzdem
mal jemanden zum Reden brauchen, Vikki, dann rufen Sie mich
einfach an, okay?« Sie lächelte der jungen Frau aufmunternd zu.

Vikki nahm die Karte entgegen, ohne Piper dabei in die Augen zu

sehen. »Danke«, sagte sie tonlos und führte die Besucherin zum
Ausgang.

»Wir sehen uns dann beim Konzert, oder?«, fragte Piper.

Vikki nickte. »Ja, sicher«, sagte sie leise, bevor sie die Tür wieder

schloss.

Piper holte tief Luft, durchquerte den Flur, öffnete die Tür zum

Treppenhaus und blieb einen Moment lang ratlos stehen.

Sehr viel schlauer als zuvor war sie jetzt auch nicht. Doch

zumindest war ihr nun klar, dass in Markels Konzertagentur
irgendetwas nicht mit rechten Dingen zuging.

Und vielleicht hatte Paige mit ihren Recherchen ja mehr Erfolg …

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20

A

LS MISTER COWAN AUS seinem Büro trat, traute er seinen

Augen nicht.

Paige Matthews saß an ihrem Computer und arbeitete.

Der Leiter des Sozialdienstes blickte verwirrt auf die Uhr an der

Wand des Großraumbüros und dann – zur Sicherheit – noch einmal
auf seine eigene Armbanduhr.

Tatsächlich – es war 12 Uhr 30 mittags. Das Büro, in dem

normalerweise ein gutes Dutzend Mitarbeiter Anträge prüfte, Gelder
verwaltete und Akten sortierte, war verwaist. Alle Angestellten waren
in der Mittagspause und saßen in diesem Augenblick wohl entweder
in der Cafeteria der Behörde oder nutzen den sonnigen Tag, um ihr
Lunch im nahe gelegenen Park einzunehmen.

Alle, bis auf Paige Matthews. Ausgerechnet.

Mister Cowan schätze Paige durchaus, aber sie war sicherlich die

Letzte, die freiwillig ihre Mittagspause opferte, um die Aktenberge
auf ihrem Schreibtisch aufzuarbeiten. Mit einem fassungslosen
Grinsen ging der Amtsleiter zu Paiges Schreibtisch herüber.

»Alles in Ordnung bei Ihnen?«, fragte er. »Wollen Sie denn heute

nicht in die Mittagspause gehen?«

Paige war so auf den Monitor ihres Computers konzentriert

gewesen, dass sie ihren Chef gar nicht bemerkt hatte.

»Mister Cowan«, rief sie fast erschrocken. »Nein, äh, ich hab noch

'ne Menge zu tun und wollte endlich mal etwas Arbeit wegschaufeln.«
Sie nahm einen Heftordner vom Stapel und hielt ihn kurz hoch. »Hier,
der äh, Conolly-Antrag zum Beispiel ist schon längst überfällig.
Irgendwann muss ich mich ja mal darum kümmern.«

Mister Cowan runzelte die Stirn und nickte. Die Verwunderung

stand ihm ins Gesicht geschrieben. »Sicher, Paige. Das ist eine
vorbildliche Einstellung. Tja, dann will ich Sie mal nicht länger
stören. Ich habe meiner Frau versprochen, dass ich in der
Mittagspause ein paar Besorgungen für sie mache. Könnten Sie wenn
Sie ohnehin schon hier sind – ein Ohr auf mein Telefon haben?«

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Paige nickte beflissen. »Sicher, Mister Cowan, mache ich doch

gern. Dann viel Erfolg beim Einkaufen.«

»Danke«, murmelte der Amtsleiter, der Paiges Gesinnungswandel

offensichtlich immer noch nicht fassen konnte. Als er das Büro
verließ, kratzte er sich nachdenklich am Hinterkopf.

Als die Luft wieder rein war, legte Paige die Akte zurück und

seufzte erleichtert auf. Dann zog sie eine CD-Hülle unter einem
Antragsformular hervor und las die klein gedruckten Namen auf der
Rückseite.

Paige und Piper hatten nach Phoebes Heimkehr noch einen kleinen

Kriegsrat abgehalten. Dass irgendetwas mit dieser Band nicht
stimmte, war ihnen mittlerweile klar. Um der Sache auf den Grund zu
gehen, hatten sie vereinbart, getrennt vorzugehen. Piper wollte den
Manager der Band unter die Lupe nehmen, und Paige sollte
versuchen, etwas über die Mitglieder der Gruppe herauszufinden.

Deshalb hatte sie sich in Phoebes Zimmer geschlichen, als diese

tief und fest schlief, um sich ihre Nature-Sons-CD auszuleihen.
Natürlich hätte sie ihre Halbschwester auch danach fragen können,
aber so, wie es zurzeit um Phoebe stand, hätte sie bestimmt nach dem
Grund gefragt.

Und wie Paige gehofft hatte, waren die Namen der Musiker auf der

Rückseite des Covers abgedruckt. Im Telefonbuch waren sie
erwartungsgemäß zwar nicht zu finden gewesen – kein vernünftiger
Popmusiker veröffentlichte einfach so seine Privatadresse –, aber
Paige hatte schließlich noch ganz andere Möglichkeiten.

Es hatte schon seine Vorteile, beim Sozialdienst zu arbeiten. Per

Internet konnte sie sich – fast legal und bequem von ihrem
Arbeitsplatz aus – in den Zentralcomputer der staatlichen
Sozialversicherungsbehörde einloggen. Und eins war sicher: Egal, ob
er in eine schwarzmagische Verschwörung verwickelt war oder nicht
– in den USA lief kein Mensch ohne eine gültige
Sozialversicherungsnummer herum.

Paige tippte den Namen des letzten Bandmitglieds in die

Suchmaske auf dem Monitor ein. Sekunden später war der Bildschirm
gefüllt mit allen möglichen Daten über Huey Bergson, den Drummer
der Band.

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Geboren in San Francisco, keine Vorstrafen, ein paar übliche

Kinderkrankheiten und eine angeborene Sehschwäche. Ansonsten
wusste die staatliche Datenbank nichts Besonderes über Mister
Bergson zu berichten. Doch dann fiel Paige etwas auf: Huey Bergson
hatte – ebenso wie seine Bandkollegen – das Trinity College in San
Francisco besucht. Den Daten auf dem Bildschirm zufolge, waren alle
vier Musiker der Nature Sons Klassenkameraden gewesen. Vor nicht
allzu langer Zeit.

Paige dachte einen Moment lang nach, dann kappte sie die

Internetverbindung und stand auf. Wenn man etwas über einen
Menschen herausfinden wollte, dann war es – ihrer Erfahrung nach –
immer sehr hilfreich, an seiner alten Schule Erkundigungen
einzuholen. Und genau das würde sie jetzt tun.

Sie blickte auf ihre Armbanduhr. Das Trinity College lag nicht

allzu weit entfernt vom South-Bay-Sozialdienst, und wenn sie sich
beeilte, konnte sie wieder zurück sein, ohne ihre Mittagspause über
Gebühr überzogen zu haben.

Sie schnappte sich ihre leichte Sommerjacke, warf Phoebes CD in

ihre Handtasche und stürmte ins Freie.

Und damit direkt in die Arme von Mister Cowan. »Ich hab meine

Brieftasche vergessen«, sagte er. Dann fiel sein Blick auf Paiges
Mantel und die Handtasche. »Wo wollen Sie denn hin?«, fragte er mit
einem Stirnrunzeln.

Ȁh, ich hab mich entschlossen, doch noch meine Mittagspause zu

nehmen«, erwiderte Paige ein wenig verlegen. »Ich hoffe, es ist okay,
wenn ich sie ein bisschen überziehe?«

Mister Cowan seufzte. »Hätte mich auch gewundert«, antwortete er

nur und nickte. »Gehen Sie nur.«

»Danke!«, rief Paige, als das Klackern ihrer Absätze schon über

den Asphalt des Parkplatzes hallte. »Ich beeile mich.«

Mister Cowan schüttelte den Kopf. Manche Dinge waren einfach

zu schön, um wahr zu sein.

Die Fahrt zum City College dauerte tatsächlich nur ein paar

Minuten.

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Der Einfachheit halber hatte Paige ihren New Beetle auf dem

Lehrerparkplatz abgestellt. Wahrscheinlich würde der Blimp wieder
dafür sorgen, dass sie dafür von der Campus-Polizei einen Strafzettel
kassierte, aber das war jetzt ihr geringstes Problem.

Mit schnellen Schritten eilte sie auf das Hauptgebäude der Schule

zu und stieß die gläserne Fronttür auf. Einen Augenblick lang blieb sie
stehen und atmete tief ein. Genau wie Krankenhäusern schien auch
allen Schulen dieser Welt derselbe typische Geruch gemein: Eine
Mischung aus billigem Putzmittel, Tafelkreide und dem
undefinierbaren Aroma, das die Schüler selbst verströmten – ein
Odeur aus jugendlichem Enthusiasmus und pubertärem Angstschweiß,
wie Paige vermutete.

Eine argwöhnische Stimme ließ Paige herumfahren. »Kann ich

Ihnen helfen, Miss?«, fragte eine ältere Dame, deren graues Haar zu
einem Dutt zusammengesteckt war.

Paige unterdrückte ein Grinsen. Auch diese Frau kam ihr vor wie

der Prototyp für sämtliche altgediente Lehrerinnen dieser Welt. »Dies
hier ist Schulgelände, wissen Sie. Für eine Schülerin sehen Sie mir ein
wenig zu alt aus und für ein Elternteil ein wenig zu jung.«

Paige setzte ihr unschuldigstes Lächeln auf. »Ja, tut mir Leid, dass

ich einfach so hier hereinplatze. Ich, äh, bin vor ein paar Jahren selbst
aufs Trinity gegangen und war jetzt zufällig mal wieder in der Nähe«,
log sie. »Und da überkam mich plötzlich so ein Nostalgie-Flash, und
dachte mir, ich könnte meinem alten College mal wieder einen Besuch
abstatten.«

»Verstehe«, murmelte die alte Dame und musterte Paige von Kopf

bis Fuß. Offensichtlich kam sie daraufhin zu dem Schluss, dass die
Frau vor ihr weder eine Verrückte war noch ein Arsenal an
Handfeuerwaffen in ihrer kleinen Handtasche versteckt hielt. Der
Anflug eines Lächelns machte sich auf dem Gesicht der Lehrerin
breit. »Na, dann sehen Sie sich ruhig etwas um. Natürlich ist gerade
Unterricht, und Sie können daher nicht in die Klassenräume hinein.«

Paige winkte ab. »Ach, schon gut. Die hab ich ja lange genug von

innen gesehen, nicht wahr? Ich spaziere nur etwas herum, dann bin ich
wieder verschwunden.«

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»Natürlich«, nickte die Lehrerin. »Und denken Sie daran, dass

unser College einen Förderverein ehemaliger Schüler unterhält. Auch
die kleinste Spende ist herzlich willkommen.«

»Ja, sicher«, antwortete Paige etwas verlegen und wandte sich

dann um. Sie hatte die Eingangshalle bereits halb durchquert, als sie
noch einmal stehen blieb. »Sagen Sie«, fragte Paige kleinlaut, »wo
war denn noch mal die Bibliothek?«

Sofort kehrte das Misstrauen zurück in den Blick der alten

Lehrerin. »Dort, wo sie immer schon war«, antwortete sie, »den Gang
hinunter und dann links die Treppe hoch. Mir scheint, Sie hätten die
Bibliothek zu Ihrer Zeit vielleicht einmal öfter aufsuchen sollen, dann
würden Sie es wissen, Miss.«

Paige fühlte sich unter dem tadelnden Blick der Lehrerin wieder

wie ein Schulmädchen. Dann bedankte sie sich für die Auskunft, und
ging den Gang hinunter, froh darüber, dass diese alte Spinatwachtel
nicht wirklich eine ihrer Lehrerinnen gewesen war.

Kaum eine Minute später betrat sie die Bibliothek der Schule. Um

diese Zeit war Paige der einzige Mensch hier. Auch die Bibliothek
hatte einen ganz besonderen Geruch; das Aroma von vergilbten Seiten
und verstaubtem Wissen lag in der Luft. Insgeheim musste Paige der
alten Dame Recht geben: Sie hatte als Schülerin tatsächlich nie viel
Zeit in der Schulbücherei verbracht. Genutzt hätte es wahrscheinlich
ohnehin nicht viel, denn kein Lehrbuch der Welt hätte sie wohl auf
ihre spätere Berufung als Hexe vorbereiten können. Das einzige Buch,
das in dieser Hinsicht in Frage kam, war das Buch der Schatten auf
dem Dachboden des Halliwell-Hauses.

Paige passierte die Regale, in denen die Bücher nach Themen

geordnet standen, ohne diese groß zu beachten. Geografie, Biologie,
Mathematik – das alles interessierte sie momentan nicht. Sie suchte
nach etwas anderem.

In einem Regal ganz in der Ecke des großen Raumes wurde sie

schließlich fündig: Ganz zuoberst entdeckte sie eine Reihe mit
farbenfrohen Alben, auf deren Rücken jeweils eine goldene Jahreszahl
prangte.

Die Jahrbücher des Trinity Colleges.

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Paige blickte sich noch einmal um, um sich zu vergewissern, auch

wirklich allein zu sein. Dann konzentrierte sie sich kurz, und ein Buch
mit weinrotem Einband schwebte direkt in ihre Hände. Es war der
Almanach des Abschlussjahrgangs von Josh, Mike, Todd und Huey,
der vier Mitglieder der Nature Sons.

Aufgeregt schlug Paige das Buch auf. Wie alle Jahrbücher wurde

es mit einem Begrüßungstext des Rektors eröffnet, dann folgten
diverse, zumeist bemüht witzige Artikel der Klassenstreber, Tabellen
mit den Ergebnissen der Sportmannschaften und so weiter.

Paige blätterte schneller. Der interessante Teil musste sich

erfahrungsgemäß im letzten Drittel des Buches befinden. »Na also«,
murmelte die junge Hexe, als sie ein paar Doppelseiten aufschlug, auf
denen die Fotos aller Klassenmitglieder abgebildet waren. Wenn die
Informationen aus dem Computer der Sozialversicherungsbehörde
stimmten, dann mussten auch die vier Nature Sons hier verewigt
worden sein. Und da zu jedem Foto ein kurzer Lebenslauf gehörte,
hoffte sie, auf diese Weise etwas über die Bandmitglieder
herausfinden zu können.

Doch erst ganz am Ende der Doppelseiten wurde Paige fündig.

Etwas abgesetzt von den übrigen Fotos waren die Gesichter von vier
Jungs zu sehen. Darüber prangte eine Überschrift, die Paige zunächst
nicht verstand: Die Söhne Satans.

»Die Söhne Satans?! Was soll denn das bedeuten?«, murmelte

Paige.

Dann erst fiel ihr Blick auf die vier Fotos, und Paige konnte kaum

glauben, was sie da sah.

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21

»

H

IER SCHAU DIR DAS AN!«, rief Paige und zog das

Jahrbuch des Trinity Colleges aus ihrer Handtasche. »Das ist einfach
der Hammer!«

»Paige!«, rief Piper erschrocken aus, »du hast dieses Buch doch

nicht etwa geklaut?«

»Na ja, sagen wir, ich hab's mir kurzfristig ausgeliehen. Aber jetzt

schau doch endlich mal rein!«

Mit einem vorwurfsvollen Stirnrunzeln nahm Piper das Buch

entgegen. Dann setzte sie sich auf das Sofa im Wohnzimmer des
Halliwell-Hauses und schlug das Jahrbuch auf.

»Ich hab einen Knick in die Seite gemacht, auf die es ankommt«,

ergänzte Paige aufgeregt.

Auch das noch, dachte Piper und blätterte zu der entsprechenden

Seite. Auf einer Hochglanz-Doppelseite lächelte ihr ein gutes Dutzend
ehemaliger Absolventen des Trinity Colleges entgegen. Soweit Piper
das auf den ersten Blick sehen konnte, waren es ganz gewöhnliche
Passfotos, wie man sie in jedem Jahrbuch der Welt findet.

»Ja, und?«, fragte sie mit einem Schulterzucken. Sie war den

ganzen Tag auf den Beinen gewesen und hatte jetzt wirklich keine
Lust auf Ratespielchen.

Paige schnaufte ungeduldig. »Schau dir die letzten vier Fotos an«,

sagte sie und ließ sich neben ihrer Schwester auf dem Sofa nieder.

»›Die Söhne Satans‹«, las Piper die Überschrift. »Was soll denn

das bedeuten? Und wer sind diese Kerle?« Ratlos blickte sie auf die
Porträts von vier jungen Männern, die ihr unbeholfen entgegen
grinsten. Zwei von ihnen trugen dicke Hornbrillen, alle waren hager
wie Bohnenstangen und mit Akne sowie brav gescheitelten Frisuren
für die Ewigkeit im Bild festgehalten worden. Die typischen ›Nerds‹ –
Klassenstreber, wie es sie in jedem Jahrgang gab. Wahrscheinlich
waren die vier allesamt Physik-Asse gewesen und vermochten ganze
Kapitel aus dem »Herrn der Ringe« herunterzuleiern.

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»Schau mal auf die Namen«, sagte Paige nur und grinste

triumphierend.

Paige hatte immer noch keine Ahnung, auf was ihre Halbschwester

eigentlich hinauswollte. »Huey, Todd, Josh …«

Die junge Hexe stockte und blickte Paige mit großen Augen an.

»Moment mal«, sagte sie fassungslos, »Josh? Du willst doch nicht
behaupten, dass dieses verpickelte Bübchen hier derselbe Typ ist, in
den sich unsere Phoebe verguckt hat? Das ist der Gitarrist der Nature
Sons?«

Paige nickte nur. »Er ist es. Und die anderen drei Streber auf dieser

Seite sind seine heutigen Bandkollegen. Das verleiht der Geschichte
vom hässlichen Entlein eine völlig neue Dimension, oder?«

»Allerdings.« Piper nickte. »Wie … wie alt sind denn diese

Fotos?«

»Nicht mal ein Jahr.«

Piper schüttelte ungläubig den Kopf. »Das kann doch gar nicht

sein. Ich habe diesen Josh doch selbst gesehen, als er Phoebe nach
Hause gebracht hat. Er ist zwar nicht mein Typ, aber er sah irgendwie
älter und um ein Vielfaches besser aus als dieser verhuschte
Klassenprimus hier auf dem Foto.«

Paige nickte. »Allerdings. Und selbst, wenn der Kleine sein letztes

Taschengeld in Typberatung und Bodybuilding gesteckt hätte – ich
glaube kaum, dass ein Jahr reichen würde, um sich so
herauszumachen.«

»Sehe ich auch so«, nickte Piper. Mehr und mehr verhärtete sich

der Verdacht, dass mit dieser Band irgendetwas nicht stimmte. Sie
wandte sich wieder dem Buch zu und las den kurzen Text, der die
Fotos kommentierte. Er war nicht besonders schmeichelhaft für die
vier Jungs.

»Und schließlich verabschieden wir uns auch noch von unseren
vier Teufelskerlen: Josh, Todd, Huey und Mike – was wäre unser
Jahrgang ohne die höllischen Takte der ›Söhne Satans‹ gewesen.
Wenn sie nicht gerade im Dreck lagen, um mit der Archäologie-
Klasse alte Indianer-Gräber auszuheben, erfreuten sie uns mit den

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Klängen ihrer Hobby-Band. Ihre Musik hätte selbst den Teufel
ausgetrieben und war deshalb der ideale Rausschmeißer jeder
Klassenparty. Weiter so, Jungs!«

»Unglaublich«, murmelte Piper. »Die vier haben also schon auf der

Schule eine Band gegründet …«

»… und offensichtlich keine besonders gute«, bemerkte Paige.

»Söhne Satans – das klingt schwer nach einer dieser hohlen
Heavymetal-Bands …«

»… mit der sie sich wahrscheinlich bei ihren Klassenkameraden

Respekt verschaffen wollten. Offensichtlich vergebens.«

Piper klappte das Jahrbuch wieder zu und dachte nach. Sie kannte

Jungs wie Josh, Todd, Huey und Mike aus ihrer eigenen Schulzeit –
unauffällige Zeitgenossen mit stets guten Zensuren, die selten den
Anschluss an die anderen schafften und von diesen ständig schikaniert
wurden. Wie also hatten es die vier geschafft, in so kurzer Zeit zu
echten, von Fans umschwärmten Popstars zu werden? Ohne Magie
war das wohl kaum möglich gewesen – und Piper war sich ziemlich
sicher, dass dabei keine weiße Magie im Spiel war.

Paige schien das genauso zu sehen. »Was sollen wir denn jetzt

machen?«, fragte sie und blickte ihre Schwester erwartungsvoll an.
»Hast du irgendeine Idee?«

Piper schüttelte den Kopf. »Bis jetzt noch nicht. Wichtig ist, dass

wir Phoebe davon überzeugen, Abstand zu diesem Josh zu halten, bis
wir wissen, was …«

»Das könnte euch so passen!« Der scharfe Klang von Phoebes

Stimme hallte aus dem Flur ins Wohnzimmer. Totenbleich, aber mit
geröteten Wangen stand die mittlere Halliwell-Schwester auf der
Türschwelle wie eine Rachegöttin und funkelte ihre Schwestern böse
an.

Paige und Piper waren so in das Jahrbuch vertieft gewesen, dass sie

gar nicht bemerkt hatten, dass ihre Schwester zwischenzeitlich nach
Hause gekommen war.

»Ihr könnt's einfach nicht lassen, was?«, fauchte Phoebe. »Warum

überlasst ihr es nicht einfach mir, mit wem ich mich treffe? Kaum hab

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ich einen netten Jungen kennen gelernt, wittert ihr gleich eine
schwarzmagische Verschwörung!«

Piper stand auf und ging mit dem Almanach in der Hand ein paar

Schritte auf ihre Schwester zu. »Phoebe, du verstehst das falsch. Wirf
bitte mal einen Blick in dieses Jahrbuch. Mit deinem Josh stimmt was
nicht.«

»O doch«, entgegnete Phoebe patzig, »mit ihm stimmt alles. Ist

euch schon mal der Gedanke gekommen, dass mit euch vielleicht was
nicht stimmt? Entschuldige bitte, Piper, wenn mein Freund
praktischerweise kein Wächter des Lichts ist«, fauchte sie und wandte
sich dann Paige zu, die noch immer schweigend auf dem Sofa saß.
»Und verzeih bitte, Paige, dass es da einen Jungen gibt, der sich für
mich interessiert, auch wenn du kaum mehr wissen dürftest, wie das
ist!«

Paige riss empört die Augen auf. »O Phoebe, das ist gemein!«

»Nein, ihr seid gemein!«, rief Phoebe. »Gemein und von Eifersucht

zerfressen!« Mit diesen Worten schlug sie Piper das Jahrbuch aus der
Hand. Es prallte an die gegenüberliegende Wand und blieb schließlich
hinter einem alten Polstersessel liegen.

»Phoebe!«, rief Piper mehr erschrocken als empört.

Doch Phoebe ignorierte sie und holte ihr Handy aus der Tasche.

»Wen rufst du da an?«, fragte Paige beinahe kleinlaut.

»Josh«, knurrte Phoebe nur. »Ich werde ihn fragen, ob er mich

abholt. Es ist vielleicht gut, wenn wir uns etwas aus dem Weg gehen –
bis ihr wieder zur Vernunft gekommen seid. Ich warte dann draußen
auf ihn. Macht's gut.« Sprach's, drehte sich auf dem Absatz um, riss
die Eingangstür auf und verließ das Haus.

Mit offenem Mund starrten Piper und Paige ihr nach. »Bis wir

wieder zur Vernunft gekommen sind?«, wiederholte Paige
fassungslos, »das Verdrehen von Tatsachen ist doch normalerweise
mein Spezialgebiet.«

»So hat das alles keinen Sinn«, murmelte Piper. »Phoebe ist von

ihrem Josh und diesen Nature Sons offensichtlich wie besessen – im
wahrsten Sinne des Wortes. Wir können ihr nur helfen, indem wir

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aufklären, was die Band und dieser Markel tatsächlich im Schilde
führen.«

Paige nickte. »Meinst du, bei dem Konzert morgen im P3 findest

du etwas heraus?«

»Warten wir's ab«, antwortete Piper, doch sie hatte kein gutes

Gefühl mehr bei der Sache.

Immer noch geschockt von Phoebes Wutanfall verließen Piper und

Paige das Wohnzimmer, um sich in der Küche einen Tee zu kochen.

Das Jahrbuch des Trinity Colleges hatten sie in der ganzen

Aufregung völlig vergessen.

Unbeachtet lag es noch immer hinter dem Sessel, hinter dem es so

unsanft gelandet war. Der Aufprall hatte das Buch auf einer anderen
Doppelseite aufgeschlagen, und hätte Piper nur einen Blick
daraufgeworfen, hätte sie eine der abgebildeten Personen bestimmt
wieder erkannt.

Unter der Rubrik »Aushilfslehrer« lächelte schüchtern eine nichts

sagende, blonde Frau in die Kamera.

Victoria ›Vikki Derheiden war in der Bildlegende zu lesen –

Aushilfslehrerin im Fachbereich Alte Geschichte und Archäologie.

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22

»

W

AS MACHST DU DENN HIER UNTEN?«, fragte Paige und

kam zögernd die Kellertreppe hinunter. »Und was zum Teufel ist mit
deinen Haaren passiert?«

Piper strich sich eine verfilzte, feuchte Strähne aus der Stirn, ließ

den Schraubenzieher sinken und blickte ihre Halbschwester frustriert
an.

»Ich versuche, den Boiler zu reparieren. Ich war gerade beim

Duschen, als plötzlich kein warmes Wasser mehr kam.«

»Das erklärt zumindest die Shampoo-Reste in deinen Haaren«,

bemerkte Paige.

Voller Erwartung legte Piper den Schalter des Gasboilers um. Sie

hätten das alte Stück längst austauschen sollen. Früher oder später
hatte es ja mal den Geist aufgeben müssen, auch wenn sie sich sicher
war, dass in diesem Fall dieser verfluchte Blimp dahinter steckte.

Im Sichtfenster des Heißwasserspeichers loderte eine kleine

Gasflamme auf, und die gesamte Anlage begann zu brausen und zu
rumpeln. Instinktiv trat Piper einen Schritt zurück. Doch es passierte –
wider Erwarten – nichts.

Aber dann erstarb mit einem fast menschlichen Seufzer die

Zündflamme, und der Boiler verstummte wieder. Frustriert schlug
Piper den Schraubenzieher gegen die Blechhülle der Anlage.
»Langsam treibt mich dieser verdammte Flaschengeist zur
Weißglut!«, fluchte sie.

»Piper, bitte. Du hast doch selbst gesagt, dass wir uns über das

Kerlchen nicht aufregen dürfen, um ihn nicht noch mächtiger …«

»Du hast ja Recht«, schnitt ihr Piper das Wort ab. »Doch langsam

hat die Zermürbungsstrategie dieses kleinen Quälgeistes Erfolg. Und
dass wir jetzt schon einen Tag lang nichts mehr von Phoebe gehört
haben, stimmt mich auch nicht gerade gelassener«, fügte sie hinzu.

Sie legte den Schraubenzieher beiseite und machte ein paar

Schritte auf ihre Schwester zu. Dann riss sie erschrocken die Augen
auf. »Meine Güte, Paige! Du siehst ja aus wie ein Schluck Wasser!«

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»Oh, vielen Dank auch für das Kompliment.« Paige holte tief Luft

und klammerte sich am Gelände der Kellertreppe fest. Im Licht der
matten Deckenlampe schien ihr Gesicht tatsächlich grünlich zu
schimmern.

»Ich war heute in der Mittagspause mit ein paar Kollegen im Park.

Wir haben uns an einem Stand Softeis gekauft, und ich hab wohl eine
nicht mehr ganz so frische Portion erwischt. So schlecht war mir
schon lange nicht mehr.«

»Du Ärmste«, sagte Piper voller Mitleid und schüttelte den Kopf.

»Da sagst du was. Ich weiß gar nicht, wie ich den Rest des

Arbeitstages überstanden habe. Ich hatte solche Angst, dass Mister
Cowan mich rausschmeißt, wenn ich mich auch noch krank melde,
nachdem ich doch gestern schon die Mittagspause überzogen hatte.
Der einzige Vorteil ist, dass ich mich viel zu elend fühle, um mich
noch über den Blimp aufregen zu können.«

Piper legte einen Arm um die Schulter ihrer Halbschwester und

half ihr die Stufen herauf. Sie spürte, wie Paige leicht zitterte,
wahrscheinlich ein Anfall von Schüttelfrost in Folge der leichten
Lebensmittelvergiftung. »Komm erst mal mit in die Küche«, sagte sie
aufmunternd, »ich kenne da ein prima Rezept für einen Kräutertee
gegen Magenverstimmungen. Es muss nicht immer Magie sein,
manchmal helfen auch die guten, alten Hausmittel. Und dann stecken
wir dich ins Bett.«

Paige nickte dankbar. Doch dann blickte sie Piper erstaunt an. »Sag

mal, heute ist doch das Nature-Sons-Konzert im P3. Musst du nicht
langsam los, wenn du den Auftritt unserer allseits beliebten
Nachwuchsband nicht verpassen willst?«

Mit der freien Hand schlug Piper sich vor die Stirn. Natürlich. Sie

war eigentlich nur rasch nach Hause gefahren, um sich etwas frisch zu
machen. Denn ob nun schwarze Magie im Spiel war oder nicht, sie
war immer noch die Managerin des P3 und nach außen hin war der
Auftritt der Nature Sons ein ganz normales Überraschungskonzert für
zahlende Gäste. Und als Geschäftsführerin eines Lokals musste sie
natürlich auch etwas hermachen und gewisse repräsentative Pflichten
erfüllen.

Piper seufzte. Der Blimp hatte ihr, was das anging, wieder einmal

einen sauberen Strich durch die Rechnung gemacht. »Du hast Recht,

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Paige. Ich wollte mich vorher nur schnell etwas zurecht machen, als
der verdammte Boiler versagte. Und schau mal, wie ich jetzt
aussehe.«

Paige – selbst käsebleich – warf einen Blick auf ihre

Halbschwester. Die notdürftig mit kaltem Wasser gewaschenen Haare
hingen zottelig herunter, an den Ohren klebten noch Shampoo-Reste,
und die erfolglosen Reparaturarbeiten am Boiler hatten Rußflecken
auf ihren Wangen hinterlassen. Nein, wie die Geschäftsführerin eines
der angesagtesten Clubs der Stadt sah Piper wahrlich nicht aus.

»Na ja, du wirst vielleicht mit etwas mehr Haarspray als

gewöhnlich arbeiten müssen«, sagte Paige diplomatisch. Schließlich
wollte sie ihre Halbschwester nicht noch mehr frustrieren.

Die beiden waren im Flur des Hauses angekommen, und Piper

blickte in den großen Garderobenspiegel an der Wand.

»Vielleicht sollte ich mir einfach eine Papiertüte über den Kopf

ziehen«, seufzte sie und schob Paige in die Küche.

Eine gute halbe Stunde später, nachdem Piper ihre Halbschwester

mit Tee und einer warmen Decke versorgt hatte, steuerte sie ihr Auto
schon wieder zurück in Richtung P3.

Ohne die Straße zu lange aus den Augen zu lassen, streckte sich

die junge Hexe in ihrem Sitz und warf einen raschen Blick in den
Rückspiegel. Eine Extraladung Haarspray und etwas zusätzliches
Make-up hatten tatsächlich Wunder gewirkt. So konnte sie sich wieder
sehen lassen.

Sie hatte ein ungutes Gefühl, sich ohne die Unterstützung ihrer

Schwestern auf Tuchfühlung mit den Nature Sons und Markel
einzulassen. Aber Phoebe interessierte sich im Augenblick wenig für
ihre Hexenpflichten. Und Paige wäre in ihrem angeschlagenen
Zustand wahrscheinlich eher nur ein Klotz am Bein, falls es zu einer –
wie auch immer gearteten – Konfrontation kommen sollte.

Sich selbst Mut zusprechend fuhr Piper auf den Parkplatz des P3

und erlebte die erste Überraschung des Abends.

Gemäß dem Vertrag, den sie mit Markel geschlossen hatte, waren

die Nature Sons nicht offiziell angekündigt gewesen. In den üblichen
Aushängen und auf der Homepage des P3 war nur von einem
»Überraschungskonzert« die Rede gewesen.

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Trotzdem schien Markels Konzept der Mund-zu-Mund-

Propaganda aufgegangen zu sein. Während Piper mit den üblichen
Besucherzahlen für diesen Abend gerechnet hatte, war der Parkplatz
des Lokals bereits gerammelt voll. Auffallend viele Mädchen zerrten
ihre weniger begeistert ausschauenden männlichen Begleiter Richtung
Eingang. Vereinzelt zogen auch Gruppen von jungen Frauen mit
erwartungsvollen Gesichtern über den Parkplatz.

Piper steuerte ihren Wagen in eine der letzten freien Parklücken

und stieg aus.

Über eine mickrige Abendkasse würde sie sich heute Abend

sicherlich nicht beklagen können. Unter anderen Umständen hätte sie
sich über diesen unerwarteten Andrang sicher gefreut. Doch heute
Abend ging Piper mit mehr als gemischten Gefühlen auf den
schäbigen Kleinbus zu, der soeben am Hintereingang des P3 zum
Stehen kam. Das mussten die Nature Sons sein.

Ein Raunen ging durch die Menge, als sich die seitliche Schiebetür

öffnete und Mike, der Sänger der Band, vorsichtig den Kopf
herausstreckte.

Da die Nature Sons wahrlich nicht die erst Band waren, die im P3

auftrat, wussten Pipers Angestellte, was nun zu tun war. Kaum hatte
sich die Tür des Busses geöffnet, wurde auch schon die Hintertür des
Clubs von innen entriegelt. Mit schnellen Schritten schlüpften Mike,
Todd und Huey aus dem Bus und huschten in das Lokal, bevor ihnen
aufdringliche Fans zu nahe kommen konnten.

Piper beschleunigte ihre Schritte, auch sie wollte die Gelegenheit

nutzen, um zusammen mit der Band durch den Hintereingang zu
schlüpfen, bevor die Tür wieder verriegelt wurde.

Sie hatte den Bus gerade erreicht, als eine weitere Gestalt ausstieg.

Es war Markel, gefolgt von Vikki, die ihm wie immer mit gesenktem
Kopf an den Hacken klebte.

»Ah, Misses Halliwell«, grinste Markel, als er Piper bemerkte.

»Ich bin froh, dass ich doch noch auf Ihr Angebot eingegangen bin.
Wenn ich mir die vielen Besucher hier ansehe«, fuhr er fort und
blickte über den Parkplatz, »dann bin ich sicher, dass dies ein äußerst
… lohnender Abend werden wird.«

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Piper setzte ein höfliches Lächeln auf. »Freut mich, dass Sie

zufrieden sind, Mister Markel. Ich bin auch schon sehr gespannt auf
Ihre Band. Man hört ja wahre Wunderdinge über die Nature Sons.«

Markel hob eine Augenbraue und blickte Piper prüfend an. Wie

jemand, der abschätzen will, wie viel sein Gegenüber denn nun
wirklich weiß. Dann kehrte das wölfische Grinsen in sein Gesicht
zurück. »Oh, ich bin sicher, unser treuester Fan wird Ihnen diese
Gerüchte bestätigen können.«

Pipers Blick folgte Markels Handbewegung, die in den Bus

hineindeutete. Aus der Seitentür trat Josh, der Gitarrist – Hand in
Hand mit Phoebe.

Erschrocken blickte Piper ihre Schwester an. Sofern das überhaupt

möglich war, kam ihr Phoebe noch blasser vor als am Vortag. Es
schien einen Augenblick zu dauern, bis sie Piper überhaupt erkannte.

»Phoebe!«, rief diese. »Wir haben uns Sorgen um dich gemacht!

Alles in Ordnung mit dir?«

»Mir ging's nie besser«, gab Phoebe trotzig zurück. »Es tut gut,

jemanden an seiner Seite zu haben, der sich wirklich um einen
kümmert – und der nicht nur um das … Familienerbe besorgt ist.«
Phoebe schenkte Josh einen schmachtenden Blick. Dieser lächelte
sanft und nickte. »Natürlich, Phoebe. Aber jetzt lass uns reingehen.
Wir wollen unsere Fans nicht warten lasen. Ich bin sicher, das ist auch
in Ihrem Interesse, Misses Halliwell«, fügte er mit einem Blick auf
Piper hinzu.

Piper nickte. »Selbstverständlich.« Dann ließ sie Phoebe und Josh

durch den Hintereingang schlüpfen, bevor sie den beiden als Letzte
folgte.

»Ach, eins noch, Misses Halliwell«, sagte Markel, der im Gang zur

Garderobe auf die Nachzügler gewartet hatte, »Sie haben sich doch an
die Klausel gehalten, nach der keine Presse zu diesem Konzert
zugelassen ist, oder?«

»Natürlich«, erwiderte Piper gereizt. Allmählich hatte sie das

ungute Gefühl, dass Markel hier, in ihrem eigenen Lokal, die Regeln
bestimmte.

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23

S

TEVE GIBBSON RUTSCHTE NERVÖS auf dem Fahrersitz

seines Kleinwagens herum und überprüfte noch einmal seine
Ausrüstung. Er kam sich selbst ein wenig albern vor, ein regelrechtes
Großeinsatzequipment zusammengestellt zu haben, aber dies würde
auch keine gewöhnliche Reportage werden.

Befriedigt schloss er den Reißverschluss des schmalen

Handwerkergürtels an seiner Taille. Eine Kamera mit einem hoch
empfindlichen Film befand sich darin sowie ein Ersatzfilm, ein kleiner
Digitalrekorder und ein Stück Draht.

Steve, der Musikjournalist aus Phoebes Redaktion, holte noch

einmal tief Luft und öffnete die Autotür. In dieser Stadt lief
musiktechnisch nichts, das seiner Aufmerksamkeit entging. Und so
war es kein Wunder, dass die Mund-zu-Mund-Propaganda für das
Nature-Sons-Konzert auch bis zu ihm durchgedrungen war. Und
damit auch das ebenso ungewöhnliche wie unverständliche
Presseverbot für den heutigen Abend.

Seit Wochen schon hatte Steve immer wieder Gerüchte über diese

neue Boyband aus der Bay Area gehört, die angeblich kurz vor dem
großen Durchbruch stand. Und Steve kannte natürlich auch Markel,
den Manager der Band, der sich bisher eigentlich nur durch eine Reihe
von Flops einen Namen gemacht hatte. Immerhin, seine neue Strategie
der Geheimhaltung schien zu funktionieren und, wie es aussah, schien
das Publikum auf diesen Trick hereinzufallen.

Aber Markel hatte nicht mit Steve Gibbson gerechnet.

Persönlich hatte Steve zwar nicht viel übrig für die Schmuse- und

Tralala-Musik der diversen Boybands, aber es sah tatsächlich so aus,
als wären die Nature Sons in die Straße des Erfolgs eingebogen. Und
bis jetzt war noch nie ein Artikel über sie veröffentlich worden.

Das würde er ändern. Sollten diese Jungs tatsächlich bald zur

Kultband aufsteigen, würde er der Erste sein, der über sie berichtet
hatte.

Als Steve ausstieg, schlug ihm die kühle Abendluft entgegen, und

für einen Moment lang wurde ihm schwindelig vor Aufregung. Er

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musste an den jungen Musikreporter Jon Landau denken, der selbst
aus San Francisco stammte und vor vielen Jahren als einer der ersten
seiner Zunft über ein junges Musiktalent namens Bruce Springsteen
geschrieben hatte.

»Ich habe die Zukunft des Rock 'n' Roll gesehen«, hatte Landau

nach einem Konzert geschrieben, »und ihr Name lautet Bruce
Springsteen«.
Mit diesem tausendfach zitierten Satz war der Journalist
in der Musikszene fast ebenso berühmt geworden wie Springsteen
selbst. Und heute arbeitete Landau als Produzent mit dem »Boss«
persönlich zusammen.

Es mochte zwar sein, dass die Nature Sons nie an die Popularität

eines Bruce Springsteen heranreichen würden, aber der erste
Exklusiv-Bericht über eines ihrer Konzerte würde mit Sicherheit
Aufsehen erregen. Selbst der Rolling Stone, das berühmteste
Musikmagazin der Welt, würde ihm, Steve Gibbson, den Artikel aus
den Händen reißen.

Aber dazu musste er ihn erst einmal haben.

Sein erster, nahe liegender Versuch, an diesem Abend in das P3 zu

gelangen – nämlich ganz normal durch den Haupteingang, war einfach
dadurch gescheitert, dass der Türsteher ihn natürlich kannte.

Steve hatte schon oft über Konzerte im P3 geschrieben und war

normalerweise ein gern gesehener Gast. Doch heute hatte der
Türsteher nur wortlos auf das »Heute keine Presse«-Schild an der Tür
gedeutet und ihn wieder fortgeschickt. Aber so leicht gab ein Steve
Gibbson nicht auf, keine Chance.

Wie zur Bestätigung ließ Steve seine Hand noch einmal zu dem

Werkzeuggürtel gleiten, den er unter einem weiten Karohemd
verborgen hatte. Auf dem Parkplatz hinter dem P3 herrschte eine
Menge Trubel und so war es für ihn ein Leichtes, zunächst in die
Menge einzutauchen und schließlich im Schatten eines Müllcontainers
an der Rückseite des Gebäudes zu verschwinden.

Die Wände des P3 waren zwar gut isoliert, aber Steve konnte

hören, wie im Inneren des Clubs die ersten Eröffnungsakkorde
gespielt wurden. Das Konzert begann.

Zeit für ihn, sich auch an die Arbeit zu machen.

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Nervös saß Piper Halliwell in ihrem Büro im P3, von dem aus sie

einen guten Blick auf die Bühne hatte.

Die Nature Sons hatten mit ihrem Konzert begonnen.

Mike, der Sänger der Band, hauchte einen Song in eines dieser

Kopfhörermikrofone, die seit Britney Spears' Siegeszug offenbar
unverzichtbar für junge Bands geworden waren. Piper fragte sich, wie
lächerlich wohl Elvis gewirkt hätte, wenn er mit so einem Ding über
die Bühne gewirbelt wäre. Der Gedanke daran zauberte trotz ihrer
angespannten Stimmung ein kleines Lächeln auf ihr Gesicht.

Ansonsten konnte sie der Musik der Nature Sons nicht allzu viel

abgewinnen. Für sie klang das Ganze auch nicht besser als all die
anderen gefälligen Pop-Melodien, die man tagein, tagaus und rund um
die Uhr im Radio hörte. Nicht gerade unerträglich, aber auch alles
andere als mitreißend. Umso bemerkenswerter, als die Jungs ja mal als
Metal-Band angefangen hatten, um ihre Klassenkameraden zu
beeindrucken.

Von ihrem Platz hinter dem Schreibtisch aus konnte Piper sehen,

wie sich viele der zunächst gespannten Gäste schon wieder von der
Bühne abwandten. Andere saßen bereits wieder an ihren Tischen und
versuchten, sich über die Musik hinweg zu unterhalten.

Die Nature Sons schien das allerdings nicht zu stören. Unbeirrt

bearbeiteten die vier Jungs ihre Instrumente mit einem Enthusiasmus,
als würden sie in der Fillmore-Halle und vor dem aufmerksamsten
Publikum der Welt spielen.

Tatsächlich musste Piper zugeben, dass die vier ihr Handwerk

durchaus verstanden. Fast zärtlich strichen die Hände von Josh über
die Saiten seiner Gitarre. Huey, der Drummer, war selbstvergessen in
seinen eigenen Rhythmus versunken. Und die dumpfen Töne von
Todds elektrischem Bass hatten fast eine hypnotische Wirkung. Und
über all dies legte sich die Stimme des Sängers, die sich perfekt in
Melodie und Rhythmus einzufügen schien.

Obwohl die Musik durch die Bürowände nur gedämpft an Pipers

Ohren drang, wirkte sie wie ein Gewand aus Tönen, das sie sanft
umschmeichelte – schier überirdische Klänge, die direkt in ihre
Gedanken zu gleiten schienen. Piper spürte, wie ihr Herzschlag sich
verlangsamte und sich an den Rhythmus der Bassgitarre anzupassen

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schien, so als suche ihr Körper den völligen Einklang mit dieser …
himmlischen Musik.

Piper verstand sich selbst nicht mehr. Wie hatte sie diese Klänge

nur als mittelmäßige Teeniemusik bezeichnen können? Was da an ihre
Ohren, was da durch sie hindurchdrang, war das Schönste, was sie je
gehört hatte. Und sie wünschte sich, dieses Gefühl der perfekten
Harmonie würde sie nie wieder …

[Nein, Piper!]

verlassen. Sie wollte, dass die Musik niemals mehr endete und

[Stopp!], rief eine innere Stimme. Sie klang harsch und

unharmonisch im Vergleich zu dieser Sphärenmusik. Einen
Augenblick lang fühlte sich Piper, als wäre sie zweigeteilt. Es dauerte
ein paar Sekunden, bis sie erkannte, dass diese andere Stimme ihr
selbst gehörte. Und die Versuchung war groß, sie einfach zu
ignorieren.

[Reiß dich zusammen, Piper!], rief die Stimme und diesmal war sie

so laut, dass die junge Hexe sie nicht mehr überhören konnte.

Diese Musik war dazu angetan, sie völlig in ihren Bann zu ziehen,

und das durfte sie nicht zulassen! Was immer hier vorging, es war
schwarze Magie mit im Spiel. Es kostete Piper eine unmenschliche
Willenskraft, um die Arme zu heben und die Hände gegen die Ohren
zu pressen.

Die Musik drang jetzt nur noch sehr leise zu ihr durch. Sie fühlte

sich von den Klängen immer noch wie beschwipst, aber wenigstens
konnte sie wieder halbwegs klare Gedanken fassen.

Dem Publikum vor der Bühne erging es da schon anders. Entsetzt

sah Piper, wie die Gäste selbstvergessen vor der Bühne tanzten und
sich im Takt der Musik wiegten. Einige weibliche Besucher hatten
sich direkt an den Bühnenrand gedrängt und reckten den Mitgliedern
der Nature Sons ihre Arme entgegen. Ohne es von ihrer Position aus
sehen zu können, war sich Piper sicher, dass sie Tränen der
Begeisterung in den Augen hatten.

Die vier Jungs auf der Bühne schien dies alles indes nicht

sonderlich zu beeindrucken. Ohne ihre ekstatischen Fans überhaupt zu
beachten, spielten sie weiter, und Piper konnte sehen, wie Mike, der

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Sänger, und Todd, der Bassist, sich mit einem zufriedenen Lächeln
zunickten. Die Reaktion ihrer Zuschauer schien sie nicht im
Geringsten zu überraschen.

Piper wusste nicht, wie lange sie sich der Wirkung der Musik noch

entziehen konnte. Selbst in ihrer gedämpften Form begannen die Töne
schon wieder, ihren Verstand auszufüllen. Die Realität schien zu
verschwimmen, und sie spürte das unbändige Verlangen, die Hände
von den Ohren zu nehmen und sich ganz der Musik hinzugeben.

Sie presste die Hände noch fester gegen den Kopf und stieß mit der

Schulter die Bürotür auf. Augenblicklich schwoll die Lautstärke dieser
teuflisch-schönen Klänge an.

Denk an Phoebe!, beschwor sich Piper. Wenn auch du dieser

Musik verfällst, wirst du ihr nicht mehr helfen können!

Die Sorge um Phoebe gab ihr die Kraft, die sie brauchte, um sich

an den verzückten Fans vorbeizudrängen und die Hintertür des P3 zu
erreichen. Für eine Sekunde musste sie die Hände von den Ohren
nehmen, um die Stahltür zu entriegeln. Doch schon dieser kurze
Augenblick reichte aus, und die Musik durchflutete erneut ihr
gesamtes Ich. Nichts auf dieser Welt schien verlockender, als sich ihr
einfach hinzugeben und …

»Nein!«, rief Piper aus voller Brust, stieß die Tür auf, schlüpfte

hindurch und schlug sie wieder hinter sich zu.

Durch die schwere Stahltür war von der Musik dahinter nur noch

das dumpfe Wummern der Bassgitarre zu hören. Immer noch lockend,
aber ohne hypnotische Macht.

Die kühle Nachtluft tat ein Übriges, um den Bann der teuflischen

Musik von ihr zu nehmen. Fast körperlich erschöpft lehnte sich Piper
gegen die Tür und atmete tief ein.

Das war knapp, aber ich hab's geschafft, dachte die Hexe voller

Erleichterung.

Bis sie den scharfen Raubtiergeruch wahrnahm.

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24

Ä

CHZEND BALANCIERTE STEVE GIBBSON auf zwei

übereinander gestapelten Mülltonnen und streckte sich nach dem
Toilettenfenster.

Ein zufällig vorbeikommender Passant hätte ihn vielleicht für einen

perversen Spanner gehalten, aber Steve hatte keineswegs die Absicht,
neugierige Blicke durch das kleine gekippte Fenster mit der
Milchglasscheibe zu werfen, er wollte es öffnen.

Was gar nicht so leicht war.

Fluchend wischte sich der Musikredakteur mit einer Hand den

Schweiß von der Stirn, während er mit der anderen erneut versuchte,
eine kleine Drahtschlinge um den inneren Fenstergriff zu stülpen. Im
Fernsehen sah so etwas immer kinderleicht aus, aber Steve musste
feststellen, dass die Realität es einem nur selten so einfach machte.

Durch das halb geöffnete Fenster konnte er das Wummern der

Bassgitarre hören. Der Rhythmus hatte etwas Einschmeichelndes,
Anziehendes, und Steve startete einen neuen Versuch. Er musste doch
nur dieses verdammte Fenster öffnen und hindurchsteigen, um durch
die Waschräume in den Konzertsaal zu gelangen. Aber wenn er das
nicht bald bewerkstelligte, war das Konzert vorbei, und er würde mit
leeren Händen dastehen.

Steve stellte sich noch einmal auf die Zehenspitzen, ignorierte das

bedrohliche Wackeln der Mülltonnen unter sich und angelte mit der
improvisierten Drahtschlaufe erneut nach dem Fenstergriff. Endlich
spürte er einen Widerstand. Die Schlinge hatte sich am Griff
festgehakt.

»Yeah, Baby!«, rief Steve aus und begann vorsichtig, den Draht in

seine Richtung zu ziehen. Es gab ein schnappendes Geräusch, und das
Fenster schwang auf.

Da hörte Steve ein Grollen hinter sich.

Einen Augenblick lang glaubte er, es sei nur eine Einbildung

gewesen – bis ihm der scharfe Raubtiergeruch in die Nase stieg. Der
Draht rutschte ihm aus den Fingern, als der Musikredakteur sich
langsam umdrehte. Eher ungläubig als ängstlich stellte er fest, dass im

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Schatten des Gebäudes eine massige Silhouette lauerte, keine fünf
Meter von ihm entfernt.

Die Furcht kam erst, als inmitten dieses Schattens zwei gelbe

Pupillen aufblitzen.

»W-Wer bist du?«, stammelte Steve. »G-Geh weg!«

Instinktiv wollte der Reporter einen Schritt zurück machen und

vergaß dabei, dass er immer noch auf zwei aufeinander gestapelten
Mülltonnen stand. Der oberste der beiden Behälter rutschte unter
seinen Füßen weg, und im nächsten Augenblick stürzte Steve hinab.
Der fatale Rückschritt indes ließ ihn nach hinten kippen, und bevor
Steve einen klaren Gedanken fassen konnte, prallte er mit dem
Hinterkopf an die Betonwand der Gebäuderückseite.

Ein Lichtblitz explodierte vor seinen Augen. Er spürte noch, wie

sein Körper relativ weich auf ein paar Müllsäcken landete, und dann
wurde es Nacht um ihn herum.

Als Piper ein schepperndes Geräusch hörte, spurtete sie ohne

nachzudenken los.

Möglicherweise waren nur ein paar streunende Katzen die

Ursache, die in den Mülltonnen des P3 nach Nahrung wühlten. Aber
Katzen verbreiteten normalerweise nicht diesen beißenden
Raubtiergeruch.

Nach der unheimlichen Wirkung dieser teuflischen Musik war die

junge Hexe beinahe dankbar für etwas Action. Was immer sich dort
im Dunkeln herumtrieb – Piper spürte, wie das Adrenalin durch ihren
Körper strömte und die letzten Reste der hypnotischen Klänge aus
ihrem Verstand spülte.

Doch als sie um die Ecke des Clubs bog, wünschte sie sich fast in

den Konzertsaal zurück.

Der Anblick war furchtbar, auch wenn ihr die Details im

Halbdunkeln glücklicherweise erspart blieben. Eine schattenhafte,
mindestens zwei Meter große und zweibeinige Kreatur beugte sich
über eine dunkle Masse, die Piper zunächst für einen Lumpensack
hielt. Erst als im schwachen Schein des Mondes eine dunkle

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Flüssigkeit aufblitze, erkannte Piper zu ihrem Entsetzen, dass dort ein
Mensch auf den Müllsäcken lag.

Und die Schattenkreatur hob etwas, das aussah wie eine Kralle, um

sie noch einmal auf ihr wehrloses Opfer hinabsausen zu lassen.

»Nein!«, schrie Piper. Instinktiv stürmte sie vorwärts und richtete

ihre Hände auf die Kreatur, um sie in der Zeit einfrieren zu lassen.

Im selben Augenblick prallte sie mit dem Schienbein gegen eine

der umgestürzten Mülltonnen, die sie im Dunkeln nicht gesehen hatte.
Noch im Fallen schaffte es Piper, einen Fluch auf diesen
gottverdammten Blimp auszustoßen. Dass diese Mülltonne ihr im
Weg gelegen hatten, war sicherlich alles andere als ein Zufall
gewesen.

Sie keuchte, als sie der Länge nach auf dem Asphalt aufschlug und

die Luft explosionsartig aus ihren Lungen entwich. Ohne Zögern
rappelte Piper sich wieder auf.

Das Schattenwesen hatte von seinem Opfer abgelassen und

funkelte die Hexe aus gelben Raubtieraugen an. Dann stieß es ein
wütendes Grollen aus.

Pipers Hände schossen vor, um ihren Angreifer erstarren zu lassen.

Doch die Bestie war alles andere als dumm – und unglaublich

schnell. Bevor Piper irgendetwas unternehmen konnte, war das Wesen
mit einem gewaltigen Satz in den Schatten verschwunden.

Einen Augenblick lang stand Piper unentschlossen auf dem Platz

hinter dem Gebäude. Diese Kreatur – was immer sie auch sein mochte
– war zu gefährlich, als dass sie frei herumlaufen durfte. Andererseits
gab es einen Verletzten, der dringend ihre Hilfe benötigte.

Ein leises Stöhnen aus Richtung der Müllsäcke nahm Piper die

Entscheidung ab. Die Rettung eines Menschenlebens war jetzt das
Wichtigste. Sie hoffte nur, dass sie nicht zu spät kam.

Mit ein paar schnellen Schritten war Piper bei dem Verletzten und

beugte sich über ihn. Es war ein Mann, und er schien bewusstlos zu
sein.

»Oh, nein!«, keuchte Piper, als sie Steve Gibbson, den

Musikredakteur und Arbeitskollegen von Phoebe, erkannte. Er war ein
häufiger Gast bei Konzerten im P3 gewesen, und man musste kein

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Sherlock Holmes sein, um zu erraten, was er hier unter dem
Toilettenfenster, gewollt hatte.

»Steve, du Idiot«, murmelte Piper. Dann fiel ihr Blick auf die

schweren Wunden des Mannes. Für einen Moment konnte sie nicht
anders und musste die Augen schließen. Es sah wirklich schlimm aus.

Reiß dich zusammen, Piper, ermahnte sie sich zum zweiten Mal an

diesem Abend. Wenn sie Steve noch retten wollte, kam es jetzt auf
jede Sekunde an. Und sie musste planvoll vorgehen.

Piper biss sich auf die Unterlippe und konzentrierte sich. Dann ließ

sie Steve in der Zeit erstarren. Das war die einzige Möglichkeit, um
die Blutung des Mannes so lange zu stoppen, bis professionelle Hilfe
da war.

»Leo!«, rief Piper in die Nacht hinein.

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25

E

INE SEKUNDE SPÄTER BEGANN die Luft bläulich zu

schimmern. In einer Wolke aus Zeit und Raum materialisierte der
Wächter des Lichts.

»Mein Gott«, rief Leo, als sein Blick von Piper auf den Verletzten

fiel, »was ist denn hier passiert?«

Piper winkte ab. »Erkläre ich dir später. Kannst du ihm bitte

helfen?«

Leo runzelte die Stirn und sah sich den jungen Mann näher an.

»Das ist eine wirklich üble Verletzung, aber ja – ich kann ihn retten.
Aber dazu musst du erst den Erstarrungszauber von ihm nehmen.«

Piper nickte und machte sich bereit. Jetzt kam es auf Teamwork an.

Ohne den Bann würde Steve wahrscheinlich nur noch wenige
Sekunden überleben.

Leo kniete sich neben Steve auf den Boden und hob seine

Handfläche über die klaffende Wunde. »Okay«, sagte der Wächter des
Lichts,
»auf Drei!«

Die beiden zählten gemeinsam. »Eins … zwei … drei!«

Mit einer knappen Geste hob Piper den Erstarrungsbann auf.

Steves Körper zuckte zusammen, doch schon im gleichen Moment
begann Leos Hand bläulich zu glühen. Dann sprang ein Lichtbogen
von ihm auf die Wunde des Reporters über. Immer noch bewusstlos,
gab Steve ein leises Stöhnen von sich. Im Schein des unwirklichen
Leuchtens konnte Piper sehen, wie Leo alles aufbot, um diesen Mann
zu retten, den er nie zuvor gesehen hatte. Selbst in diesem
angespannten Zustand erschienen ihr Leos Züge wunderschön, und sie
wusste einmal mehr, warum sie diesen Mann so liebte.

Dann flackerten die Wundränder an Steves Brust bläulich auf und

begannen sich zu schließen. Zunächst langsam, dann immer schneller.
Nach ein paar Augenblicken war nicht einmal mehr eine Narbe durch
den zerfetzten Hemdstoff zu sehen.

»Geschafft«, stöhnte Leo. Schweißtropfen hatten sich auf seiner

Stirn gebildet. Als Wächter des Lichts verfügte er zwar über

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fantastische Heilkräfte, aber es musste unglaublich anstrengend sein,
einen Menschen zu retten, der schon auf der Schwelle zum Tod stand.

»Ich liebe dich, Leo«, lächelte Piper und gab ihrem überraschten

Ehemann einen Kuss.

»Wow«, murmelte Leo, als Pipers Lippen sich wieder von den

seinen gelöst hatten. Der anstrengende Heilzauber und Pipers Kuss
hatten ihm den Atem verschlagen. Fast verlegen deutete er auf die
kleine Platzwunde an Steves Hinterkopf.

»Ah, lass mich diesen Kratzer da auch noch eben heilen, dann ist

der Mann wieder wie neu.«

Piper überlegte einen Moment, dann schüttelte sie den Kopf.

»Nein, besser nicht. Er soll ruhig ein kleines Andenken an sein
Abenteuer behalten. Ein wenig Kopfweh wird ihn nicht umbringen,
sondern wird ihm eine Lehre sein. Immerhin wollte er sich in mein
Lokal einschleichen. Außerdem wird er so denken, er wäre einfach
nur ausgerutscht und durch den Aufprall bewusstlos geworden. Alles
andere wird ihm wie ein böser Traum vorkommen.«

Wie zur Bestätigung stöhnte Steve in seiner Bewusstlosigkeit

abermals leise auf. In spätestens ein paar Minuten würde er wieder zu
sich kommen und sich an nicht viel erinnern.

»Guter Plan«, nickte Leo. »Aber was war hier eigentlich los?«

Piper wollte Leo gerade von dem unheimlichen Konzert der Nature

Sons und dem Angriff der Schattenbestie erzählen, als sie nicht weit
entfernt Schritte hörten.

Es waren Besucher des Clubs, die über den Parkplatz zu ihren

Autos gingen. Offensichtlich war das Konzert der Nature Sons vorbei.

»Ich erzähle dir alles später, okay?«, meinte Piper und machte eine

entschuldigende Geste. »Ich muss erst herausfinden, was genau bei
diesem Gig eigentlich vor sich gegangen ist.«

Leo nickte. »In Ordnung. Aber halte mich auf dem Laufenden«,

sagte der Wächter des Lichts und löste sich in einer schimmernden
Wolke auf.

Piper warf noch einen letzten Blick auf den ohnmächtigen Steve.

Die Augenlider des Reporters zuckten bereits. Schon bald würde er
wieder zu sich kommen. Sie konnte ihn getrost hier zurücklassen.

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Im Laufschritt umrundete Piper das Gebäude bis zum

Haupteingang des P3. Ein paar Dutzend Besucher, die offensichtlich
nur wegen des Konzerts gekommen waren, schlenderten ihr entgegen.

Wenig verwundert registrierte Piper, dass sie alle ein glückseliges

Lächeln auf ihren Gesichtern trugen. Als ob ihr Verstand noch immer
von der Musik, die sie soeben gehört hatten, erfüllt wäre. Gleichzeitig
waren alle Konzertgäste auffallend blass und wirkten irgendwie
kraftlos. Ein paar männliche Besucher mussten ihre Freundinnen auf
dem Weg zu den Autos sogar abstützen.

Als ob man ihnen die Energie aus den Körpern gesaugt hat, dachte

Piper. Ein schlechtes Gewissen überkam sie. Piper war sich sicher,
dass sich die Konzertbesucher schnell wieder erholen würden, aber
gleichzeitig fühlte sie sich an deren Zustand nicht ganz unschuldig.
Umso entschlossener war sie daher, der ganzen Sache auf den Grund
zu gehen.

Zielstrebig bahnte sie sich ihren Weg durch den Strom der

Konzertbesucher ins Innere des Clubs. Der Hauptraum des P3 hatte
sich deutlich gelichtet; nur ein paar Gäste saßen noch matt an ihren
Tischen. Vor ihnen standen Drinks, die sie kaum angerührt hatten.

Die Bühne des Lokals war bereits geräumt worden, von den Nature

Sons war keine Spur mehr zu sehen.

Piper huschte durch eine Seitentür und lief den Flur zum

Hintereingang des Lokals hinab. Die Tür zum Hof stand offen, und
Piper konnte sehen, wie Mike und Todd gerade ihre Instrumente in
den Kleinbus wuchteten. Scheinbar hatten sie es eilig, den
Veranstaltungsort wieder zu verlassen – offenbar hatten sie
bekommen, was sie wollten.

Piper trat ins Freie und runzelte die Stirn, als sie Phoebe im Fond

des Minibusses sitzen sah. Kreidebleich lehnte sie an Josh, der zärtlich
seinen Arm um sie gelegt hatte. Als sich ihre und Pipers Blicke trafen,
senkte Phoebe verlegen den Kopf.

Piper wollte gerade etwas zu ihr sagen, als sich plötzlich eine

Gestalt aus den Schatten löste. Sie fuhr herum und blickte geradewegs
in das grobschlächtige Gesicht von Markel. Der Bandmanager strahlte
die Hexe an, und sein Blick schien geradezu vor Energie zu pulsieren.
Sein Körper wirkte irgendwie gestrafft und bewegte sich mit geradezu
jugendlicher Geschmeidigkeit. Und wenn man genau hinsah, konnte

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man sogar sehen, wie sich die Nackenhärchen des Mannes aufgestellt
hatten, als wären sie elektrisiert.

»Misses Halliwell«, lachte Markel. »Ich muss sagen, dass war ein

ganz fantastisches Konzert. Und mein Kompliment für das Publikum
des P3. Ihre Gäste haben wirklich alles gegeben.«

Piper ballte die Fäuste. Was immer Markel auch für ein Spiel

spielte, sie hatte die Nase voll davon. »Was zum Teufel war da
drinnen los, Markel?«, fragte sie, ohne sich zu bemühen, die
Aggression in ihrer Stimme zu verbergen.

Aber der Musikmanager ließ sich gar nicht darauf ein. »Was los

war? Na, ganz einfach: Mit dem Auftritt in Ihrem Lokal haben Sie
mich meinem Ziel ein gewaltiges Stück näher gebracht. Und dafür
möchte ich Ihnen danken, Misses Halliwell.«

Markel schnippte mit den Fingern. »Vikki! Geben Sie mir eine der

CDs! Wird's bald!«

»Sofort, Mister Markel!«, ertönte eine Stimme aus dem Bandbus.

Ein paar Sekunden später trat Vikki ins Freie und übergab Markel eine
CD, die der Manager gleich an Piper weitergab.

»Nehmen Sie, das ist unser neues Promo-Album. Es wird Ihnen

gefallen!«

Wortlos nahm Piper die CD entgegen. Ein psychedelisch

anmutendes Muster prangte auf der Hülle, aber Piper achtete gar nicht
darauf. Stattdessen sah sie Markel drohend in die Augen, doch der
Manager hielt ihrem Blick ungerührt stand.

»Ich warne Sie, Markel«, knurrte Piper. »Wenn meiner Schwester

irgendetwas passiert, werden Sie es bereuen.«

Markel grinste nur. »Keine Sorge, Misses, Ihre kleine Schwester ist

in den allerbesten Händen. Ich bin sicher, ihr ging es noch nie so gut.«
Mit diesen Worten stieg der Manager in den Bus und zog die
Schiebetür hinter sich zu.

Wie betäubt verharrte Piper an Ort und Stelle, als der Bus losfuhr

und schließlich den Parkplatz verließ.

An ihr nagte das unheilvolle Gefühl, dass ihnen langsam die Zeit

davonlief und dass bei der ganzen Sache viel mehr auf dem Spiel
stand als das Wohlergehen ihrer Schwester.

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26

D

ER MOND STAND HOCH AM HIMMEL, als die

Schattenkreatur vor ihren Meister trat.

Ihr Fell sträubte sich, doch diesmal nicht aus Angriffslust, sondern

vor Erregung. Das Flackern in der Mitte des Raumes war stärker
geworden, und eine fast greifbare Spannung lag in der Luft.

Ehrfürchtig verbeugte sich das Wesen, als die Stimme von überall

und nirgends durch das Gewölbe hallte. »Nun, mein Diener, hast du
bekommen, was wir wollten?«

»Ja, Herr!«, knurrte das Schattenwesen. »Die Energie, die wir

diesen Narren abgezapft haben, reicht aus, um Euch zu befreien und
Eure zweite Wiederkehr einzuläuten. Noch heute Nacht kann es
passieren, wenn Ihr es wünscht!«

Ein triumphierendes Lachen hallte durch die Dunkelheit. »Wenn

ich es wünsche? Seit Äonen wünsche ich mir nichts anderes. Und ich
hatte viel Zeit, darüber nachzudenken, was ich mit dieser Welt
machen werde, wenn ich erst wieder auf ihr wandle.«

Dann wurde die Stimme selbst zu einem Knurren. »Bereite das

Opfer vor. Die Stunde meines Triumphes ist gekommen!«

Als Piper durch die Haustür des alten Halliwell-Anwesens trat,

brannte im Wohnzimmer noch Licht.

»Piper, bist du das?«, rief Paige. Ihre Stimme klang schon wieder

etwas kraftvoller als noch vor ein paar Stunden. »Wie war das
Konzert? Hast du etwas herausgefunden?«

Piper legte grollend ihre Jacke ab und ging ins Wohnzimmer. Paige

saß im Pyjama vor dem Fernseher, dessen Bild immer noch gestört
war. Doch ihre Halbschwester schien das nicht groß zu stören. Mit
grimmigem Gesicht warf Piper die neue CD der Nature Sons auf den
Tisch.

»Geht es dir wieder besser?«, fragte sie.

Paige hob ihre Tasse mit Tee in die Höhe und lächelte ihre

Halbschwester durch den aufsteigenden Dampf hindurch an. »Ja,

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danke der Nachfrage. Dein Gebräu hat wahre Wunder gewirkt. Ich
habe mir gleich noch eine Tasse davon gemacht. Aber jetzt erzähl
doch mal!«

Wütend berichtete Piper von dem Konzert der Nature Sons, der

unheimlichen Wirkung der Musik und der Begegnung mit der
geheimnisvollen Schattenbestie.

»Wenn ich nur durchschauen würde, was da eigentlich läuft. Und

am meisten ärgert mich dieser Schleimbeutel Markel«, schloss Piper.
»Der Typ ist fast geplatzt vor Selbstbewusstsein und Energie, als er
mir diese alberne CD in die Hand gedrückt hat.«

Paige nickte und blickte kurz auf die CD, die auf dem Couchtisch

lag.

Irgendetwas in ihrem Kopf machte Klick.

»Paige? Ist irgendetwas?«, fragte Piper, als sie den abwesenden

Blick ihrer Halbschwester bemerkte.

Wie hypnotisiert starrte Paige auf die CD-Hülle. Auf dem Cover

war der typische Schriftzug der Nature Sons zu sehen, darunter
prangte die künstlerische Abbildung einer Spirale, die gegen den
Uhrzeigersinn rotierte.

Irgendwo hab ich dieses Symbol schon einmal gesehen, dachte

Paige. In einem ganz anderem Zusammenhang …

»… im Buch der Schatten!«, rief sie plötzlich und sprang so heftig

auf, dass ihre Schwester vor Schreck zusammenzuckte.

»Paige, was ist los?«, rief Piper erschrocken. »Was ist denn in dich

gefahren?«

»Der Blitz der Erkenntnis, gewissermaßen«, rief Paige. Ihre Augen

leuchteten. »Piper, diese Spirale auf dem Cover der CD. Ich hab sie
schon einmal gesehen! Wir beide haben sie schon einmal gesehen …
im Buch der Schatten! Erinnerst du dich denn nicht mehr an diese
Abbildung unter dieser seltsamen Warnung vor dem Uralten!«

Piper runzelte die Stirn. Natürlich. »Du hast Recht, Paige. Was

stand gleich in der Warnung: ›Habt Acht vor der zweiten Ankunft des
Uralten‹, oder so, richtig? Und dass er freigesetzt wird, wenn das Blut
eines Unschuldigen für ihn vergossen wird. Meinst du etwa … dass

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die Nature Sons und Markel irgendetwas mit diesem … Uralten zu tun
haben?«

Paige nickte und deutete auf das CD-Cover. »Es sieht ganz danach

aus, oder? Ich meine, dass kann doch kein Zufall sein!«

»Aber selbst, wenn da ein Zusammenhang besteht«, murmelte

Piper und strich sich über den Hinterkopf, »was führt Markel im
Schilde? Und was hat es mit diesem Uralten denn nun auf sich?«

Mit einem siegessicheren Lächeln verließ Paige das Wohnzimmer

und bedeutete ihrer Halbschwester, ihr zu folgen. »Komm mit! Ich
mag vielleicht eine blutige Anfängerin sein, was den Umgang mit dem
Buch der Schatten betrifft, aber es gibt noch eine weitere unfehlbare
Wissensquelle, mit der ich mich zufällig bestens auskenne!«

Wenige Minuten später saß Paige vor dem kleinen Laptop in ihrem

Zimmer, und Piper schaute fasziniert dabei zu, wie sie eine
Internetverbindung aufbaute und eine Suchmaschine aufrief.

Dann tippte sie ein Reihe von Schlüsselbegriffen in das

Eingabefeld: »Spirale«, »Uhrzeigersinn«, »Magie«.

»Das ist natürlich nur ein Schuss ins Blaue, aber meistens bringt

einen das schon weiter«, erklärte Paige.

Einen Mausklick und ein paar Sekunden später spuckte die

Suchmaschine eine ganze Auswahl von Internetseiten aus, auf denen
eine Kombination dieser Begriffe vorkam.

Bereits die erste Seite erwies sich als Volltreffer. Auf einer

Homepage über die Geschichte der Magie wurden die beiden Hexen
fündig.

Die Abbildung einer linksherum verlaufenden Spirale flammte auf

dem Bildschirm auf, gefolgt von einer Erklärung dieses Symbols.
»Hör dir das an«, sagte Paige und las die Zeilen laut vor:

»Die linksherum, gegen den Uhrzeigersinn verlaufende Spirale gilt
seit Urzeiten als Symbol des Bösen. Schon die Anasazi, ein
geheimnisumwitterter nordamerikanischer Indianerstamm,
benutzen diese Spirale als Warn- und Bannzeichen gegen das Böse.
Siehe auch ›Nat Shur‹ …«

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Piper spürte, wie sie erbleichte und krallte sich an der Lehne des

Stuhls fest, auf dem Paige saß.

»Na, das ist doch schon mal was«, sagte Paige befriedigt. »Hey,

Piper, was ist denn?«

Kraftlos deutete Piper nur auf die letzte Zeile auf dem Bildschirm.

»Dieser Name, Paige! Schau doch mal genau hin!«

Paige runzelte die Stirn und zuckte mit den Schultern. »Nat Shur?

Na, und? Ich weiß jetzt nicht, was du …« Sie riss die Augen auf.
Allmählich dämmerte ihr, was ihre Halbschwester meinte. »Nat Shur
– o mein Gott, das spricht sich ja aus wie das englische ›Nature‹ …«

»Wie in ›Nature Sons‹, ganz genau!«, sagte Piper mit heiserer

Stimme.

»Verdammt«, murmelte Paige und aktivierte mit einem Mausklick

den Hyperlink, der zu weiteren Informationen über diesen rätselhaften
Namen führte. Die paar Sekunden, die die neue Seite brauchte, um
sich aufzubauen, kamen den beiden Schwestern wie eine Ewigkeit
vor. Als die Seite endlich geladen war, las Paige vor:

»Nat Shur – einer alten Anasazi-Legende nach ein Mitglied der
›Uralten‹, einer Familie von vorzeitlichen Naturdämonen, die zur
Zeit der ersten Menschen mit diesen um die Vorherrschaft über die
Erde rangen. Der Überlieferung nach schlug Nat Shur seine Opfer
mit magischen Klängen in seinen Bann, um ihnen so ihre
Lebensenergie zu rauben.

Alte Mythen der Anasazi erzählen von einem epischen Kampf, in
dem die mächtigsten Zauberer ihrer Zeit Nat Shur endlich besiegen
und in eine andere Dimension verbannen konnten.«

Paige und Piper brauchten ein paar Sekunden, um diese

Informationen zu verarbeiten. »Weißt du, was das bedeutet?«, fragte
Piper schließlich tonlos.

Paige scheute sich fast davor, die Frage zu beantworten. »Dass die

Nature Sons in Wirklichkeit ›Nat Shur Sons‹ sind – die ›Söhne Nat
Shurs‹?«

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»Es sieht fast so aus. Mit diesen Informationen ergibt auch die

Warnung im Buch der Schatten einen Sinn – Nat Shur plant seine
zweite Wiederkehr auf unsere Existenzebene. Und er hat die Band auf
irgendeine Weise für seine Zwecke eingespannt.«

»Und die wären?«

Piper überlegte einen Augenblick. Ja, allmählich fügte sich

tatsächlich eins zum anderen. »Das Publikum der Nature Sons reagiert
auf deren Musik stets gleich: Erst wird es in ihren Bann geschlagen,
und hernach sehen die Zuhörer aus wie ausgelaugt.«

»Du meinst, die Band entzieht ihnen Lebensenergie, um sie Nat

Shur zukommen zu lassen?«

»Ich fürchte ja«, murmelte Piper. »Wahrscheinlich braucht er eine

gewisse Menge an Energie, um die Dimensionsgrenze in unsere Welt
überwinden zu können. Und dann fehlt nur noch ein kleiner,
schwarzmagischer Kickstart – wie die Opferung eines Unschuldigen –
um ihn zu befreien.«

»Und wie passt dieser Markel in den Plan hinein?«

Piper zuckte mit den Achseln. »Es wäre nun wirklich nicht das

erste Mal, dass ein mächtiger Dämon einen von Ehrgeiz zerfressenen
Menschen als Handlanger für seine Zwecke gewinnt. Wahrscheinlich
hat Nat Shur seinem menschlichen Diener Gott weiß was versprochen,
wenn er ihn aus seinem Gefängnis befreit.«

Paige nickte. Sie hatte als Hexe zwar noch nicht allzu viel

Erfahrung sammeln können, aber dieses Muster schien sich immer
wieder zu wiederholen. Und meist ging ein solcher Handel für die
leichtgläubigen Sterblichen nicht gut aus. Das Wort eines Dämons war
eben nicht besonders viel wert.

Aber es gab da noch etwas ganz anderes, das ihr Sorgen machte.

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27

P

AIGE SCHLOSS DEN OBERSTEN KNOPF ihrer Bluse und

trat in die Küche.

Nach ihrer erfolgreichen Internet-Recherche hatte sie sich wieder

angezogen und zum Aufbruch vorbereitet. Zum Glück hatte sie sich
von der Blimp-Attacke auf ihren Magen wieder halbwegs erholt.

Piper saß mit ihrer Lesebrille und voll konzentriert über den

Küchentisch gebeugt, auf dem eine Karte von San Francisco
ausgebreitet lag. In ihrer rechten Hand schwang ein kleines, silbernes
Pendel. Paige, die die Konzentration ihrer Halbschwester nicht stören
wollte, schlich auf Zehenspitzen näher.

»Schon gut, Paige, ich bin hier schon fertig«, sagte Piper und

blickte auf. Das Pendel in ihrer Hand schwang wie verrückt hin und
her. Es war ein ungewöhnlicher Anblick, Piper beim Orten eines
Dämons zu sehen, denn normalerweise war das Phoebes Part. Aber
die mittlere Halliwell-Schwester war nun einmal nicht hier – im
Gegenteil: Die Wahrscheinlichkeit war sehr groß, dass sie sich gerade
in unmittelbarer Nähe des Gesuchten befand, den Paige gerade mit
Hilfe des Pendels aufgespürt hatte.

»Hast du herausgefunden, wo dieser Nat Shur sich aufhält?«, fragte

Paige.

»Es war nicht ganz leicht, denn er befindet sich ja noch nicht in

unserer Dimension«, antwortete Piper und legte das Pendel beiseite.
»Aber er muss bereits sehr präsent sein und daher kurz vor dem
Durchbruch stehen. Nur deshalb konnte ich ihn aufspüren.«

»Ich liebe es, wenn die gute Nachricht gleichzeitig die schlechte

Nachricht ist«, bemerkte Paige ironisch. »Und wo steckt der Kerl?«

Paige deutete auf einen Punkt, der am äußersten Rand der Karte

lag. »Ganz in der Nähe der Küste, an einem Ort namens Breakers
Point. Ich schlage vor, dass wir erst einmal mit dem Auto hinfahren
und uns dann näher heranrobben, um die Lage zu sondieren.«

Doch Paige wirkte irgendwie unentschlossen. »Genau das macht

mir Sorgen«, sagte sie schließlich leise. »Wie sollen wir gegen diesen
Dämon ankommen? Der Legende nach haben es doch die mächtigsten

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Zauberer ihrer Zeit nur mit Ach und Krach geschafft, ihn aus unserer
Dimension zu vertreiben. Wie sollen wir es dann schaffen – zumal wir
ohne Phoebe ja nicht einmal über die Macht der Drei verfügen?«

Piper nickte. »Und außerdem haben wir immer noch den Blimp am

Hals, der wahrscheinlich nur darauf lauert, uns wieder ins Unglück zu
stürzen. Machen wir uns nichts vor – es wird nicht leicht werden.
Aber wir haben keine andere Wahl. Ich denke, unsere einzige Chance
besteht darin, die Opferung des Unschuldigen zu verhindern – damit
Nat Shur gar nicht erst aus seinem Gefängnis entweichen kann. Dann
haben wir ein paar Äonen Ruhe vor ihm.«

»Klingt nach einem Plan«, antwortete Paige, auch wenn sie nur

wenig überzeugt klang. »Was meinst du, hat Markel die Rolle des
Unschuldigen für Phoebe vorgesehen?«

Piper schüttelte den Kopf. »Nein, das glaube ich nicht. Ich tippe

eher auf diese Vikki. Ich habe gesehen, welche Angst sie vor Markel
hat. Ich vermute, dass sie ihm irgendwie auf die Schliche gekommen
ist und er sie jetzt bedroht. Phoebe ist dagegen wohl nur zufällig in
diese Geschichte geraten. Sie hat eben … Pech gehabt.«

»Verdammter Blimp!«, stießen Paige und Piper gleichzeitig

hervor. Auch wenn Phoebe höchstwahrscheinlich nicht für die
Opferrolle vorgesehen war, würde Nat Shur nach seiner Befreiung
sicherlich nicht besonders gut auf weiße Hexen in seiner Nähe zu
sprechen sein.

Piper klopfte ihrer Halbschwester aufmunternd auf die Schulter. Es

wurde Zeit, aufzubrechen und ihr Bestes zu versuchen. Manchmal
konnte Paige schon verstehen, warum Phoebe die Nase voll davon
hatte, ständig das eigene Leben zu riskieren, um die Welt zu retten.

»Hey, der Fernseher ist ja noch an«, sagte Piper, als sie auf dem

Weg zur Haustür am Wohnzimmer vorbeikamen.

»Oh, den hab ich vorhin ganz vergessen«, entschuldigte sich Paige.

Piper starrte nachdenklich auf den Bildschirm. In mehreren

Phantombildern lieferten sich die Akteure irgendeiner Krimi-Serie
gerade eine wilde Verfolgungsjagd. Im Grunde nichts Besonderes …

»Könnte es sein, dass …«, murmelte Piper plötzlich und runzelte

die Stirn. Dann machte sich ein grimmiges Lächeln auf ihrem Gesicht

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breit. »Paige, geh bitte noch mal in die Küche und hol mir ein leeres
Marmeladenglas aus dem Schrank.«

Paige blickte ihre Halbschwester verständnislos an, tat dann aber

das, was sie ihr gesagt hatte. Als sie mit einem leeren Glas mit
Schraubverschluss zurückkam, stand Piper vor dem Fernseher und zog
einen Zettel aus der Tasche ihrer Jeans.

»Was zum Teufel willst du denn damit?«, fragte Paige und reichte

Piper das Glas.

»Nun ja«, antwortete Piper. »Wir haben doch jedes gläserne

Behältnis im Haus untersucht, um diesen verdammten Flaschenteufel
zu finden, richtig?«

Paige nickte. »Ja, und?«

»Nun, wir haben ein Glasgefäß vergessen. Und dabei war es die

ganze Zeit vor unseren Augen«, antwortete Piper und deutete auf den
Fernseher.

Paige verstand nur Bahnhof.

»Die Bildröhre des Fernsehers, Paige! Im Grunde ist das nichts

weiter als eine versiegelte Glasröhre – der ideale Unterschlupf also für
einen Flaschenteufel! Und wie du dich vielleicht erinnerst, ist der
Fernsehempfang gestört, seit du den Blimp versehentlich freigesetzt
hast!«

»Du meinst, weil sich dieser kleine Mistkerl da drin eingenistet

hat?«

»Das werden wir gleich herausfinden«, sagte Piper. Zum Glück

hatte sie sich die Formel zur Beschwörung eines Blimps aus dem
Buch der Schatten notiert.

Piper hielt den Zettel hoch, und die beiden Schwestern begannen

mit der Rezitation. Wenn ihre Vermutung richtig war, dann würden
für die Beschwörung eines so niederen Dämons auch zwei Hexen
ausreichen.

»Dämon, der du nur Unglück bringst
uns Pech und Kümmernis aufzwingst
mit diesem Bann soll es gelingen

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dich in dieses Glas zu zwingen!«

Eine Sekunde lang passierte gar nichts.

Dann ertönte aus dem Fernseher ein ohrenbetäubendes, hohes

Kreischen. Das Bild begann, wie verrückt zu flimmern, bis es nur
noch aus einen bunten Farbenchaos bestand. Dann verdichteten sich
die Farben zu einem Wirbel, der die Oberfläche des Bildschirms
durchdrang.

Die beiden Schwestern machten einen erschrockenen Schritt

zurück, und Piper hielt dabei das aufgeschraubte Marmeladenglas am
ausgestreckten Arm in Richtung Fernseher.

Eine Lichtschliere, die für einen winzigen Augenblick tatsächlich

die Form eines kleinen Teufelchens annahm, zischte durch die Luft,
als ob sie von dem Marmeladenglas magisch angezogen würde. Und
genau das war ja auch der Fall.

Kaum war der Lichtwirbel im Glas, stülpte Piper mit einer

schnellen Bewegung den Deckel darüber und schraubte ihn zu. »Hab
ich dich!«, rief sie triumphierend auf.

Fasziniert beobachteten Piper und Paige, wie der nun wieder

formlose Klein-Dämon hilflos im Marmeladenglas herumwaberte.

»Was machen wir jetzt mit ihm?«, fragte Paige.

Piper zuckte die Achseln. »Keine Ahnung. Seine Macht über uns

ist erst gebrochen, wenn wir einen Dummen finden, der ihn freiwillig
in seinen Besitz übernimmt.«

Sie streckte das Glas in die Innentasche ihrer Lederjacke und griff

nach den Autoschlüsseln.

»Aber darum kümmern wir uns später. Jetzt müssen wir uns erst

einmal diesen Nat Shur vornehmen, bevor er Phoebe etwas antut. Und
dem Rest der Welt.«

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28

S

ANFTE MUSIK UMSCHMEICHELTE PHOEBE, als sie die

Augen aufschlug.

Sie brauchte ein paar Sekunden, um sich zu orientieren, dann

wusste sie wieder, wo sie war. Nach dem Konzert, nach dem
wunderbaren Konzert im P3, war sie mit Josh und der Band zurück in
das alte Anwesen am Meer gefahren.

Seltsamerweise konnte sie sich an das Konzert selbst nur noch

bruchstückhaft erinnern. Sie hatte zusammen mit Markel hinter der
Bühne gestanden – und dabei versucht, diesem Kerl nicht zu nahe zu
kommen, wenigstens daran konnte sie sich noch erinnern – und den
Auftritt genossen.

Es war unglaublich, welche Wirkung die Musik der Nature Sons

jedes Mal wieder auf sie hatte. Den Fans vor der Bühne und selbst
Markel war es nicht anders ergangen. Phoebe erinnerte sich dunkel
daran, dass der Manager die Verzückung der Fans geradezu
aufgesogen hatte und dabei förmlich aufgeblüht war.

Alles, was danach kam, war nur noch sehr verschwommen. Sie

glaubte sich an Pipers besorgtes Gesicht zu erinnern und das
höhnische Lachen Markels auf der Rückfahrt. Danach hatte Josh sie
mit auf sein Zimmer genommen, wo sie wohl eingeschlafen war.

Das Nickerchen hatte ihr gut getan, und sie fühlte sich schon

wieder ein wenig frischer.

In einer Mischung aus Neugierde und Belustigung blickte sie sich

um. Sie lag auf einem Plüschsofa, das aus den Siebzigerjahren zu
stammen schien. Der niedrige Chromtisch in der Mitte des Raumes
dagegen war eher aus den Achtzigern, und die anderen Möbel ließen
sich keiner Epoche und erst recht keinem Stil zuordnen. Trotzdem
schien alles auf geschickte Weise miteinander zu harmonieren.

»Schau dich bloß nicht genauer um«, sagte eine Stimme hinter ihr.

Es war Josh, der mit zwei Gläsern und einer Flasche Rotwein in den
Händen das Zimmer betrat. »Markel hat dieses Haus für einen
Spottpreis gekauft, aber trotzdem war für die Einrichtung kein Geld

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mehr übrig. Dieses ganze Zeug stammt aus Gebrauchtwarenläden und
vom Sperrmüll.«

Phoebe schüttelte lächelnd den Kopf. »Nein, nein, im Gegenteil,

ich hab gerade festgestellt, wie gut hier alles zusammenpasst. An dir
ist ein Innenarchitekt verloren gegangen.«

Josh lachte und winkte ab, nachdem er die Gläser auf dem Tisch

abgestellt hatte. »Ich fürchte, dieses Kompliment muss ich an Vikki
weitergeben. Sie hat sich um die Einrichtung gekümmert. Überhaupt
ist sie eine Frau mit vielen ungewöhnlichen Talenten.«

»Wirklich?«, fragte Phoebe, als Josh sich neben sie auf das Sofa

setzte. Die alten Federn quietschten. »Auf mich wirkt sie sehr
unsicher, ja fast verängstigt. Besonders, wenn Markel in der Nähe ist.«

Josh setzte den Korkenzieher an. »Du magst Markel nicht

besonders, was? Na ja, zugegeben, er kann ein ziemlicher
Kotzbrocken sein. Aber wir haben ihm viel zu verdanken. Viel mehr,
als du vielleicht ahnst.«

»Wie meinst du das?«, fragte Phoebe neugierig. Obwohl sie sich zu

Josh hingezogen fühlte, war ihr doch klar, dass sie im Grunde fast gar
nichts über ihn wusste.

Mit einem dumpfen Plopp entkorkte Josh die Weinflasche. »Lass

uns jetzt nicht über Markel und Vikki reden«, sagte er und füllte die
beiden Gläser. Dann reichte er Phoebe eines davon.

Die beiden stießen miteinander an.

»Auf uns«, flüsterte Josh.

Phoebe spürte das volle Aroma des Weins auf ihrer Zunge und

blickte Josh tief in die Augen. Sie wollte ihn wirklich näher kennen
lernen.

Der junge Mann schien Phoebes Gedanken erraten zu haben und

beugte sich näher zu ihr.

Doch bevor es zum lang ersehnten Kuss kommen konnte, stand

Phoebe plötzlich auf. Sie wollte die Dinge nicht überstürzen, und
fand, es gehörte außerdem dazu, den anderen ein wenig hinzuhalten

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Noch etwas wackelig auf den Beinen ging Phoebe in dem kleinen

Zimmer umher und streifte mit dem Zeigefinger über die Bücher in
dem Regal neben ihr. Während sie neugierig die Titel auf den
Buchrücken las – größtenteils waren es Romane und Sachbücher über
Musiklegenden – bemerkte sie nicht, wie Joshs Blick sich verfinsterte.
Offenbar empfand er Phoebes Zurückhaltung als Akt der Ablehnung.

Am Ende des Regals stieß Phoebe auf etwas Interessantes. Ein paar

alte, handbeschriebene Musikkassetten. Sie schmunzelte. Seit dem
Siegeszug der CDs waren Audiokassetten fast schon eine Seltenheit
geworden. Wenn Josh sie hier aufbewahrte, musste er darauf Stücke
aufgenommen haben, die ihm einiges bedeuteten.

Die Söhne Satans stand mit sauberer Handschrift auf allen Hüllen.

»Söhne Satans?«, fragte Phoebe verwundert. »Was soll denn das

sein? Ist das eine Band?«

Die Sprungfedern des Sofas quietschten protestierend auf, als Josh

aufsprang und mit ein paar schnellen Schritten auf Phoebe zukam. Mit
einem gequälten Lächeln im Gesicht wollte er ihr die Kassette, die sie
aus dem Regal genommen hatte, wieder aus der Hand nehmen. Doch
Phoebe war schneller und zog sich ein Stück zurück. »Nun sag schon.
Was hat es damit auf sich?«

»Ach, weißt du …«, druckste der Gitarrist herum, »das waren

unsere ersten musikalischen Gehversuche. Eine Metal-Band, die wir –
also Mike, Todd Huey und ich – noch auf dem College gegründet
haben. Wirklich nichts Besonderes.«

Phoebe konnte sich das Lachen nicht verkneifen. »Eine

Heavymetal-Band? Ihr? Das muss ich mir anhören!«

Von ehrlichem Interesse getrieben machte Phoebe ein paar Schritte

auf die Stereoanlage zu, um die Kassette einzulegen.

Doch sie verharrte mitten in der Bewegung, als sie Joshs Stimme

hörte, die ungewöhnlich hart klang. »Ich weiß gar nicht, was daran so
lustig sein soll!«

Phoebe hob abwehrend die Hände. »Hey, keine Sorge, ich mache

mich nicht lustig. Mich würde nur interessieren, was ihr gemacht habt,
bevor ihr die Nature Sons gegründet habt.«

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Josh schüttelte wütend den Kopf. »Warum? Damit du dich darüber

totlachen kannst? Die Söhne Satans – die Teufelskerle aus der ersten
Reihe? Die Rocker mit der Hornbrille? Ist es das?«

Phoebe starrte den Gitarristen sprachlos an. Was zum Teufel

meinte er damit? Und warum reagierte er plötzlich so gereizt? War es
denn so ungewöhnlich, wenn man etwas über die Vergangenheit eines
Menschen erfahren wollte, zu dem man sich hingezogen fühlte?
»Josh, hör mal, ich …«

»Vielleicht hab ich mich in dir getäuscht. Wahrscheinlich bist du

doch nur genauso wie die anderen. Vikki hatte Recht, ihr werdet nie
aufhören, auf uns herumzuhacken, wenn wir uns nicht wehren! Aber
ich hab eine Neuigkeit für euch: Ich werde mich nie wieder wie ein
Fußabtreter behandeln lassen. Weder von dir noch von sonst wem!«

Phoebe legte die Kassette auf den Tisch und blickte den jungen

Mann stirnrunzelnd an. »Moment mal, Josh, ich kann dir nicht mehr
ganz folgen. Ich wollte einfach nur mehr über dich erfahren – aber
vielleicht habe ich soeben mehr erfahren, als mir lieb ist. Weißt du,
ich habe gerade eine Beziehung mit einem Mann hinter mir gelassen,
unter dessen hübscher Oberfläche Hass und Wut brodelten … das
brauche ich nicht noch einmal.« Sie machte eine kleine Pause.
»Vielleicht sollte ich jetzt gehen. Weißt du, ich würde dich gern
Wiedersehen, Josh, aber ich glaube, wir sollten es langsamer angehen
lassen.« Traurig schüttelte sie den Kopf und machte ein paar Schritte
auf die Tür zu.

Doch Josh war schneller. Zu Phoebes Verwunderung stellte er sich

ihr in den Weg und versperrte ihr die Tür. »Nein, ich möchte nicht,
dass du gehst. Ich will nicht, dass du gehst!«

Phoebe kniff die Augen zusammen. Sie hatte keine Ahnung, was

plötzlich in Josh gefahren war – oder was unter seiner charmanten
Oberfläche tatsächlich lauerte – aber indem er ihr die Tür versperrte,
hatte er eindeutig eine Grenze überschritten.

Und das würde sie nicht tolerieren.

»Josh, geh mir aus dem Weg«, sagte sie ruhig, aber bestimmt.

»Nein, du bleibst, denn …«

Josh kam nicht dazu, den Satz zu beenden, denn Phoebe ließ ihren

Handballen auf das Kinn des jungen Mannes sausen. Durch ihr

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jahrelanges Kampftraining wusste sie, wie man einen Mann außer
Gefecht setzte, auch wenn man ihn nicht ernsthaft verletzen wollte.

Josh riss überrascht die Augen auf und sackte dann bewusstlos am

Türrahmen hinab zu Boden. Bedauernd seufzte Phoebe auf. Schade,
dass es so weit hatte kommen müssen. Sie schob Josh ein wenig
beiseite, um die Tür öffnen zu können und trat dann hinaus in den
Hausflur.

Das Anwesen war dunkel und still. Vorsichtig tastete sich Phoebe

an der Wand entlang. Mit einem Schlag kehrten die Erinnerungen
wieder: Das düstere Haus, die emotionslosen Stimmen der
Bandmitglieder und das schattenhafte Wesen, das ihr aufgelauert und
sie durch die Dunkelheit gejagt hatte. Vielleicht war das alles doch
kein Alptraum gewesen …

Irgendetwas ging hier definitiv nicht mit rechten Dingen zu. Sie

kam sich wie eine Idiotin vor, weil sie nicht auf ihre Schwestern
gehört hatte.

Phoebe schlich weiter durch den dunklen Gang.

Ein paar Meter hinter ihr huschte ein Schemen durch die

Dunkelheit, in dem zwei gelbe Raubtieraugen aufblitzten.

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29

D

ER GANG NAHM KEIN ENDE.

Wahrscheinlich war es nur eine Sinnestäuschung durch die

Dunkelheit, aber der Flur vor ihr schien sich immer weiter in die
Länge zu ziehen, wie um Phoebe vom Erreichen der Tür abzuhalten.
Und dann hatte sie ein Déjà-vu, das äußerst unangenehme Gefühl, dies
alles schon einmal erlebt zu haben.

Das ist doch Unsinn, tadelte sie sich insgeheim und schlich weiter.

Ungeachtet dessen hatte sie keine Ahnung, wie sie ohne Auto nach
Hause kommen sollte, falls sie es überhaupt schaffte, hier
herauszufinden …

Das Geräusch von Schritten hinter ihrem Rücken ließ Phoebe

erstarren. Sie ballte die Fäuste.

Egal, ob sich Josh, Markel oder das Schattenwesen an sie

heranschlichen – sie würde ihnen einen Kampf liefern, der sich
gewaschen hatte. Phoebe fühlte sich zwar immer noch sehr schwach,
aber das würde sie nicht daran hindern, sich mit allem zu wehren, was
sie drauf hatte.

Die Schritte kamen näher. Blitzschnell wirbelte Phoebe herum.

Gleichzeitig holte sie mit dem rechten Bein zu einem Powerkick aus.

Als sie schließlich sah, mit wem sie es zu tun hatte, war es zu spät,

um die Attacke noch zu stoppen.

Glücklicherweise war auch Piper kampferprobt und schaffte es im

letzten Augenblick, sich unter dem Tritt wegzuducken.

»Piper!«, rief Phoebe erstaunt aus. »Und Paige! Was macht ihr

denn hier?«

Paige winkte ihrer Halbschwester grinsend zu, während Piper

wieder auf die Füße sprang. »Wir sind hier, um dich zu retten, du
Dummkopf, was denkst du denn?«, sagte Piper.

»Und den Rest der Welt gleich mit dazu«, ergänzte Paige.

»Den Rest der Welt? Wie meint ihr das? Zugegeben, irgendwas ist

hier mächtig faul – aber übertreibt ihr jetzt nicht ein bisschen?«

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»Ich fürchte nicht«, erwiderte Piper und schüttelte den Kopf.

»Aber das ist eine lange Geschichte.«

Sie sah sich um und versuchte, in der Dunkelheit etwas zu

erkennen. »Wir haben uns mit Hilfe von Paige einfach auf gut Glück
hier rein georbt. Vielleicht hätten wir eine Taschenlampe mitbringen
sollen … Sag mal, Phoebe, hast du hier zufällig einen rachedurstigen
Urdämon gesehen? Das würde die Sache vielleicht vereinfachen.«

»Irgendwie sprechen heute alle in Rätseln«, erwiderte Phoebe.

»Könntet ihr mir nicht einfach mal sagen, um was es überhaupt geht?«

Erneut blickte sich Piper nervös um. »Okay, auf eine Kurzfassung

gebracht: Deine geliebten Nature Sons sind in Wirklichkeit die
Anhänger von Nat Shur, einem Urdämon. Und in dieser Funktion
saugen sie ihren Fans die Lebensenergie ab.«

»Und Markel ist die rechte Hand des Dämons«, ergänzte Paige.

»Zusammen wollen sie Nat Shur befreien und dann wahrscheinlich
die Könige von Amerika werden oder so etwas in der Art.«

»Ach du liebe Güte!«, keuchte Phoebe. »Gibt es eigentlich keine

normalen Männer mehr?«

»In diesem Geschäft nicht, Schätzchen«, entgegnete Piper

humorlos. »Aber jetzt müssen wir erst einmal verhindern, dass dem
Dämon ein Unschuldiger geopfert wird und er sich aus seinem
Dimensionsgefängnis befreit.«

Phoebe runzelte die Stirn. »Ein Unschuldiger? Und wer soll das

sein?«

In diesem Moment flammte das Licht über ihren Köpfen auf. Die

drei Schwestern fuhren erschrocken zusammen und blinzelten.

Sie brauchten ein paar Sekunden, um die Gestalt zu erkennen, die

völlig aufgelöst die Kellertreppe heraufgerannt kam.

Es war Vikki, Markels Assistentin.

Sie stutzte einen Augenblick, als sie Piper und Paige sah. Aber es

schien ihr völlig egal zu sein, wie die beiden in das Haus gelangt
waren. Die blassblonden Haare klebten an ihrer schweißnassen Stirn,
und sie sah aus, als hätte sie den Leibhaftigen persönlich gesehen.

»Vikki! Was ist denn mit Ihnen passiert?«, fragte Phoebe besorgt.

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»Ich … im Keller … einfach furchtbar«, stammelte Vikki nur.

Phoebe ging zu ihr und legte ihr beruhigend eine Hand auf die

Schulter. Die junge Frau zitterte am ganzen Leib. »Ganz ruhig, Vikki.
Sagen Sie mir einfach, was Sie gesehen haben.«

Die junge Frau schluckte und rang sichtbar nach Worten. »Markel

… ich wusste, dass er hier im Haus irgendetwas verbirgt … ich habe
es gerade entdeckt … im Keller! Irgendetwas ist da … in diesem
Lichtwirbel! Ich hab so etwas noch nie gesehen!«

Die drei Schwestern blickten sich an. »Nat Shur!«, riefen sie wie

aus einem Munde und blickten sich viel sagend an.

»Vikki«, fragte Phoebe vorsichtig, »könnten Sie uns zu diesem

Lichtwirbel führen? Wir können mit solchen Dingen umgehen,
vertrauen Sie mir!«

Die Assistentin blickte Phoebe mit großen Augen an. Schließlich

nickte sie zögernd.

Jeder Schritt, den Vikki zurück in Richtung der Kreatur machte,

schien sie eine ungeheure Überwindung zu kosten. Sie führte die drei
Zauberhaften in den Keller, vorbei an dem schallisolierten kleinen
Aufnahmestudio. Doch eine gegen den Uhrzeigersinn verlaufende
Wendeltreppe führte von dort aus noch tiefer hinab in die Eingeweide
des alten Hauses. Phoebe erkannte die Treppe wieder; sie war schon
einmal hier gewesen, in ihrem »Traum«.

»Meine Güte«, murmelte Paige, als die vier Frauen durch einen

Gang schritten, der in die Felsen gehauen war. Sie deutete auf die
rätselhaften Zeichen, die in die Wand geritzt worden waren. »Diese
Reliefs müssen ja uralt sein.«

Piper nickte. »Wahrscheinlich handelt es sich um alte

Abwehrzeichen, die von unseren magischen Vorfahren hier
angebracht wurden, um Nat Shur zu bannen.«

»Tja, viel scheinen die ja nicht gebracht zu haben«, bemerkte Paige

trocken. Dann verstummte sie.

Der Gang endete in einer Tür aus Stein mit einem massiven

Eisenring, die über und über mit magischen Runen bedeckt war. Vikki
wich zitternd davor zurück und folgte den drei Hexen nur zögerlich,
als Piper die Pforte öffnete.

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Dahinter tat sich ein riesiges Gewölbe auf. Ein paar verwitterte

Steinsäulen schienen seit Urzeiten die Felsmassen über ihnen
abzustützen. Doch am beeindruckendsten war die rechteckige
Einlassung in der Mitte des Raums.

Ein Lichtstrudel, der halb im Boden und halb in einer anderen Welt

zu existieren schien, verbreitete ein unheimliches und unheiliges
Licht. Und irgendetwas schien darin um Form zu ringen.

»Was zum Teufel ist das?«, fragte Paige fasziniert und erschrocken

gleichermaßen.

»Ich vermute, das ist das magische Portal, hinter dem Nat Shur

gefangen ist. Ganz nah an unserer Existenzebene und doch Welten
davon entfernt«, antwortete Piper.

»Wenn es nach mir geht, kann er gar nicht weit genug weg sein«,

flüsterte Phoebe. »Was sollen wir denn jetzt tun?«

Piper dachte kurz nach. »Solange Markel nicht zum Zug kommt,

kann auch Nat Shur nicht aus seinem Gefängnis heraus. Wenn wir den
Handlanger des Dämons auf unserer Ebene ausschalten, bleibt sein
Herr hilflos gefangen.«

Die Frauen verließen das Gewölbe. Alle vier schienen erleichtert,

den unheimlichen Raum hinter dem Steintor wieder hinter sich
gelassen zu haben. Allein in der Nähe des Portals zu sein, hatte ihnen
körperliches Unwohlsein bereitet.

»Und nun?«, fragte Paige und kratzte sich unschlüssig am Kopf.

»Und nun suchen wir Markel«, erwiderte Piper. Es würde ihr ein

Vergnügen sein, sich diesen Mistkerl vorzuknöpfen.

»Das wird nicht nötig sein!«, donnerte plötzlich eine Stimme vor

ihnen.

Am anderen Ende des Ganges stand Markel. Doch er wartete dort

nicht allein. Er war in Begleitung seines Schäferhundes und der vier
grimmig dreinblickenden Nature Sons.

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30

»

M

ISSES HALLIWELL«, HÖHNTE MARKEL und grinste

Piper frech an. »Was für ein unerwartetes Vergnügen, Sie hier wieder
zu treffen. Darf ich fragen, was Sie hier in meinem Haus zu suchen
haben? Ich kann mich nicht erinnern, Sie eingeladen zu haben.
Genauso wenig, wie Ihre kleine Schwester und die andere junge
Dame.«

Piper funkelte Markel wütend an. Allmählich ging ihr dieser Kerl

mächtig auf die Nerven. »Sie wissen ganz genau, was wir hier wollen!
Und Sie müssen wahnsinnig sein, sich mit so einem Dämon
einzulassen!«

Markel verzog verständnislos das Gesicht. »Ich hab keine Ahnung,

wovon Sie da reden, Schätzchen, aber wir haben ja genug Zeit, das
herauszufinden.«

»Jungs«, raunte er dann den vier Bandmitgliedern zu, »schnappt

euch die Eindringlinge!«

»Aber gern!«, rief Todd, der Bassist, und stürmte zusammen mit

Mike und Huey vor. Nur Josh, dessen Kinn mittlerweile rötlich
angeschwollen war, blickte unentschlossen auf Phoebe und bewegte
sich nicht von der Stelle.

»Schluss jetzt mit dem Theater!«, knurrte Piper und machte eine

weit ausholende Armbewegung. Im selben Augenblick erstarrten die
Angreifer samt Markel und knurrendem Schäferhund mitten in der
Bewegung.

Das war einfach gewesen. Jetzt hatten sie genug Zeit, um sich zu

überlegen, wie sie weiter vorgehen sollten.

»Gut gemacht«, nickte Phoebe, die sich schützend vor Vikki

gestellt hatte. »Und was machen wir jetzt mit Markel?«

»Gute Frage«, antwortete Piper mit einem Schulterzucken.

Die drei Schwestern blickten ratlos auf ihre Gegner, die ihnen jetzt

hilflos ausgeliefert waren.

»Tötet ihn!«, grollte da plötzlich eine Stimme, die ihnen bekannt

und doch erschreckend fremd vorkam.

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Piper, Phoebe und Paige fuhren herum. Fassungslos blickten sie

auf Vikki. Oder besser auf das Ding, das einst Vikki gewesen war.
Statt einer schüchternen jungen Frau stand plötzlich eine furchtbare
Kreatur hinter ihnen, eine Mischung aus Mensch und Panther.

Das Fell der Kreatur war so dunkel, dass es hier im Dämmerlicht

tatsächlich fast so wirkte, als stände eine Schattenkreatur vor ihnen.
Das Panther-Wesen öffnete sein Maul zu einem teuflischen Grinsen.
Scharfe Reißzähne blitzen auf, und die gelblichen Augen funkelten
voller Hass.

»Vikki?«, keuchte Piper fassungslos. »Sind Sie das?«

Der Werpanther stieß ein knurrendes Lachen aus. »Nein, die Vikki,

die ihr kennt, ist längst tot. Sie hat ihr wertloses Leben dem
zukünftigen Herrn der Welt geopfert – Nat Shur! Und jetzt ist seine
Stunde gekommen!«

Bevor eine der Hexen reagieren konnte, packte die Kreatur Phoebe,

die ihr am nächsten stand, am Hals und riss sie in die Höhe wie eine
Lumpenpumpe.

Dann wirbelte die Bestie herum und verschwand mitsamt ihrer

Beute im Gewölbe hinter der Steintür.

»Verdammt!«, fluchte Piper und ließ den Arm sinken. Sie hatte

vergeblich versucht, die Kreatur einzufrieren, aber das Vikki-Ding
war einfach zu schnell gewesen.

»Ich … ich verstehe gar nichts mehr«, stammelte Paige. »Was ist

denn mit Vikki los? Was war das für ein Ding?«

»Ich habe keine Ahnung«, stieß Piper hervor. »Aber jetzt müssen

wir Phoebe helfen!«

Die beiden Hexen stürmten zurück in das Gewölbe. Solange wir

über unsere Kräfte verfügen, dachte Piper, sollte es nicht allzu schwer
sein, dieses Monster zu vernichten, auch wenn es noch so schnell und
stark ist.

Doch sie hatten sich getäuscht. Das Vikki-Ding war nicht nur

schnell, sondern auch clever.

Als Piper und Paige in die Gruft stürmten, stand das Schattenwesen

bereits am Rande des magischen wirbelnden Strudels und hielt die
zappelnde Phoebe direkt über das magische Portal.

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»Wage es nicht, deine Kräfte gegen mich anzuwenden, Hexe!«,

knurrte das Monster in Pipers Richtung. »Egal, was du versuchst,
meine Reflexe sind schneller. Und das magische Portal ist von dieser
Seite aus durchlässig … wenn ich deine geliebte Schwester fallen
lasse, schmort sie den Rest der Ewigkeit in der Dämonenhölle!«

»Piper!«, krächzte Phoebe hilflos. »Die meint es ernst!«

Piper, die ihre Arme schon gehoben hatte, um die magische

Notbremse zu ziehen, kalkulierte ihre Chancen. Wenn sie bei ihrem
Erstarrungszauber auch nur einen winzigen Augenblick zu langsam
war, würde Phoebe ein furchtbares Schicksal erwarten.

Und dasselbe würde erst recht passieren, wenn sie diese

hinterhältige Kreatur einfach in ihre Bestandteile zerlegen würde. Im
selben Augenblick würde ihre Schwester in das Dimensionstor
stürzen.

»Also gut«, knurrte Piper. »Was willst du?!«

»Ich will, dass ihr Markel tötet! Und damit meinen Meister

befreit!«

Piper und Paige blickten sich verständnislos an. »Wir sollen

Markel töten?«, wiederholte Paige lahm. »Warum denn das? Ich
dachte, dieser Schleimer wäre der Handlanger des Dämons.«

Die Vikki-Kreatur lachte auf. »Markel? Nein, wenn Nat Shur's Zeit

der zweiten Wiederkehr anbricht, werde allein ich seine Statthalterin
auf Erden sein. Markel war von Anfang an nur ein ahnungsloses
Werkzeug!«

Piper hob eine Augenbraue und blickte den Werpanther einen

Moment lang ratlos an. Phoebe zappelte noch immer am
ausgestreckten Arm der Kreatur; ihre Füße baumelten nur wenige
Zentimeter über dem Lichtwirbel. Zu ihrem Erschrecken sah Piper,
wie sich kleine Lichtschlieren aus dem Wirbel lösten und gierig nach
ihrer Schwester züngelten.

Sie musste Zeit gewinnen, um sich einen Plan zu überlegen »Ein

… Werkzeug?«, fragte sie daher, »wie meinst du das? Was zum
Teufel geht hier eigentlich vor – und wie bist du an diesen Nat Shur
geraten?«

»Das würde ich auch gerne wissen«, pflichtete Paige bei.

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Die Panther-Kreatur lachte erneut auf. In ihrer neuen Gestalt schien

Vikki alles andere als schüchtern zu sein. Im Gegenteil, in
prahlerischem Tonfall begann sie nun zu erzählen:

»Es war Schicksal. Oder Bestimmung. Ihr kennt mich nur als Vikki

– die harmlose schüchterne Vikki, von niemandem beachtet, von
niemandem ernst genommen. Dabei hatte ich eine große Karriere als
Archäologin vor mir. Ich hatte mir die Finger blutig gegraben, um
nachzuweisen, dass die Anasazi ihre Siedlungen von Neu Mexiko bis
zur Bay Area ausgedehnt hatten – aber niemand hörte auf mich,
niemand interessierte sich dafür. Vikki – die alte Vikki – war einfach
zu unscheinbar, als dass man ihr so eine Entdeckung zutraute.«

»Und was hat das alles mit dem hier zu tun?«, fragte Paige

kopfschüttelnd und deutete auf den Mahlstrom in der Mitte des
Gewölbes.

»Es hat alles damit zu tun«, antwortete das Ding. »Nachdem die

Fachwelt meine Entdeckungen ignorierte, war ich gezwungen, mir
meinen Lebensunterhalt als Aushilfslehrerin am College zu verdienen.
Als Aushilfslehrerin für Archäologie. Dabei hätte ich Bücher
schreiben sollen!«

»Wäre mir auch lieber gewesen«, krächzte Phoebe und blickte mit

Grauen auf die Lichtschlieren, die um ihre Füße wirbelten. Und dann
konnte sie in dem Wirbel tatsächlich so etwas wie eine Gestalt
erkennen. Es war offensichtlich: Irgendetwas lauerte auf der anderen
Seite des Portals und war begierig darauf, endlich durchzubrechen.

»Doch ich führte meine Forschungen weiter – bis ich entdeckte,

dass dieses Haus auf einem magischen Platz der Anasazi errichtet
worden war. Vor Urzeiten hatten ihre Zauberer hier einen mächtigen
Naturdämon gebannt. Hier in dieser Gruft.«

»Nat Shur«, sagte Piper.

»So ist es«, grollte der Werpanther. »Ich öffnete also die Gruft, und

Nat Shur sprach zu mir. Er versprach mir, dass ich an seiner Seite
herrschen würde, wenn ich ihm zu seiner zweiten Wiederkehr
verhelfe.«

»Ich hoffe, du weißt, was das Wort eines Dämons wert ist«,

schnaubte Piper verächtlich. »Er wird dich nur benutzen, so wie du
Markel benutzt hast.«

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»Versuch nicht, mich mit Psychospielchen zu verwirren, Hexe. Ja,

Markel war nur eine ahnungslose Schachfigur. Um Nat Shur zu
befreien, brauchte ich eine große Menge an Lebensenergie, die mit
einem einzigen, gewaltigen Impuls freigesetzt werden muss. Also
machte ich mich daran, diese Energie zu sammeln. Und dann erinnerte
ich mich an ein paar Schüler, die ich auf dem College unterrichtete.
Geschmähte und missachtete junge Menschen, so wie ich einer war.
Es war nicht schwer, sie für meine Pläne zu gewinnen. Und
praktischerweise hatten diese vier Jungs gerade eine Band gegründet.«

»Die Söhne Satans«, hauchte Paige.

»Ein lächerlicher Name, nicht wahr?« Die Kreatur schüttelte sich

schier aus vor Lachen. »Aber irgendwie passend. Ein weiterer Wink
des Schicksals. Ich überzeugte sie, die Nature Sons zu gründen. Nicht
einmal das Dimensionstor kann Nat Shurs Magie ganz unterdrücken
und mit ihrer Hilfe machten wir aus einem Versager-Quartett vier
umschwärmte, gut aussehende Popstars. Die Jungs bekamen endlich
die Aufmerksamkeit, die sie sich immer gewünscht hatten – und dafür
lieferten sie mir die Lebensenergie ihrer Fans.«

Vorsichtig näherte sich Piper dem Werpanther. Verdammt, sie

brauchte irgendeinen Plan! Irgendwie musste sie die Kreatur weiter
hinhalten. »Und wozu brauchtest du Markel? Lediglich als Manager
der Band?«

Die Bestie schüttelte den Kopf. »Nicht nur. Markel erfüllt noch

einen ganz andern Zweck. Ich habe doch gesagt, die gesammelte
Lebensenergie muss mit einem einzigen Schlag freigesetzt werden,
um Nat Shur zu befreien.«

Piper riss die Augen auf. Natürlich! Jetzt begriff sie das Ganze:

Markel hatte nach jedem Auftritt der Band jünger und frischer
ausgesehen. So, als ob er die Energie der Fans in sich aufgesogen
hätte. In Wirklichkeit aber war sie dem ahnungslosen Mann
eingespeist worden wie bei einer …

»… wie bei einer Batterie!«, sagte Piper kopfschüttelnd. »Ihr habt

die Lebensenergie in Markel gespeichert, um ihn dann …«

»… um ihn dann zu opfern und die Energie mit einem Schlag

freizusetzen. Der magische Impuls wird Nat Shur aus seinem
Gefängnis herausreißen!«, kicherte das Schattenwesen.

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»Moment mal«, rief Paige und hob die Hände. »Das heißt, dass

Markel in Wirklichkeit das eigentliche Opfer der Verschwörung ist?
Dieser Schleimbeutel ist der Unschuldige, dem wir helfen müssen?«

Piper nickte. »Willkommen in der Realität, Paige. Den

Unschuldigen zu retten, heißt nicht immer, den netten Kerl zu retten.«

»Schluss mit dem Geschwätz«, fauchte die Kreatur. »Ihr werdet

niemanden retten! Im Gegenteil: Da ihr Markel und die Jungs schon
eingefroren habt – würdet ihr bitte so nett sein und euer Werk
vollenden?«

»Warum sollten wir das tun?«, fragte Paige. »Damit die Energie

freigesetzt wird, und dein alter Tattergreis von einem Dämon endlich
Auslauf kriegt?«

»Wenn ihr es nicht tut, wird eure Schwester auf ewig in der

Dämonenhölle leiden – so einfach ist das!« Die Züge des Vikki-
Wesens verzerrten sich zu einer zähnefletschenden Grimasse.

Piper ballte die Fäuste. Bei diesem Spiel konnten sie nur verlieren.

Natürlich kam es nicht in Frage, Markel – einen Unschuldigen – zu
töten und damit Nat Shur zu befreien. Und wenn sie sich weigerten,
würde Phoebe in der Dämonenhölle landen.

»Piper!«, rief Paige plötzlich, »es wird Zeit für unsere

Geheimwaffe!«

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31

»

W

AS ZUM TEUFEL MEINST DU, PAIGE?«, flüsterte Piper.

»Von welcher Geheimwaffe redest du da?« Sie hatte nicht die
geringste Ahnung, was ihre Halbschwester meinte.

Paige deutete mit einer Kopfbewegung auf die Brusttasche von

Pipers Lederjacke.

»Na, die Geheimwaffe eben«, raunte sie. »Du weißt schon, das

Zauberelixier, das wir nach der Anleitung im Buch der Schatten
zusammengebraut haben, um Nat Shur zu vernichten!«

Piper verstand die Welt nicht mehr. Hatte Paige jetzt völlig den

Verstand verloren? »Paige, wir haben kein …«

»… keine Skrupel, diese Waffe gegen dich und deinen Meister

anzuwenden, du Zottelmonster!«, sagte Paige in Richtung der
Schattenkreatur. »Pech gehabt!«

Piper spürte, wie Paige ihr den Ellbogen in die Seite stieß. Und

dann begriff sie.

»Was redet ihr da, Hexen?«, grollte der Werpanther. »Ein

Zauberelixier? Gebt es mir! Sofort! Oder sie stirbt.« Die gelben
Augen der Kreatur verengten sich zu Schlitzen. Um ihrer Forderung
Nachdruck zu verleihen, presste sie ihre Krallen noch fester um
Phoebes Hals. Die mittlere Halliwell-Schwester keuchte verzweifelt
auf.

»Na, großartig, Paige. Soeben hast du unsere letzte Trumpfkarte

aus der Hand gegeben!«, schimpfte Piper laut. In Wirklichkeit hätte
sie Paige umarmen können.

Langsam holte Piper das zugeschraubte Marmeladenglas aus der

Innentasche ihrer Lederjacke. Ein wabernder Lichtnebel tobte darin.

Der Blimp.

Das Vikki-Ding fixierte das Behältnis misstrauisch. Aus der

Entfernung sah der wirbelnde Flaschendämon tatsächlich wie eine von
Magie beseelte Substanz aus.

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»Ich weiß nicht, was das ist«, knurrte das Monster, »aber wenn es

eine Waffe ist, will ich sie haben! Stellt das Ding auf den Boden –
aber langsam!«

Im Krallengriff der Bestie schnappte Phoebe immer verzweifelter

nach Luft. Piper biss die Zähne zusammen und stellte das
Marmeladenglas vorsichtig auf den Steinboden. Das Glas fühlte sich
fast heiß an. Sie spürte, wie der Flaschenteufel darin tobte. Der Blimp
ahnte, was nun passieren würde – und es schien ihm nicht zu gefallen.

»Du willst dieses Glas und seinen Inhalt wirklich haben?«, fragte

Piper lauernd.

»Ja, das will ich!« Das Vikki-Ding grollte triumphierend.

»Schön«, antwortete Piper schulterzuckend. »Dann gehört es jetzt

dir!«

Die beiden Schwestern blickten sich an, und Piper schenkte Paige

ein unmerkliches, anerkennendes Kopfnicken.

Nach den Gesetzen der Magie war der Blimp, jener Unglück

bringende Flaschengeist, nun in den Besitz von Vikki übergegangen.
Von diesem Augenblick an hatte er keine Macht mehr über die
Zauberhaften und konnte fortan nur noch seiner neuen Herrin Pech
bringen.

Gleichzeitig hatte der Blimp damit jede Chance verloren, die

Zauberhaften zu töten und damit in der dämonischen Rangordnung
aufzusteigen.

Das Marmeladenglas auf dem Boden vibrierte, als der Blimp

begann, vor Wut zu toben.

Im gleichen Augenblick hallte eine Stimme von überall und

nirgends durch das Gewölbe: »Du verdammte Närrin!«

Die Panther-Kreatur riss erschrocken die Augen auf. »Herr!? Was

–« Doch sie kam nicht mehr dazu, den Satz zu beenden. Außer sich
vor Wut gab der Blimp bereits alles, um seiner neuen Besitzerin zu
schaden.

Während die Vikki-Kreatur noch verstört zwischen dem

Lichtstrudel und dem Glas hin und her blickte, bröckelte unter ihr ein
Stück der alten Steinplatte weg, auf der sie stand. Die Chance, dass so

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etwas gerade jetzt passierte, stand eins zu tausend – aber ein
Flaschenteufel scherte sich nun mal einen Dreck um Statistiken.

Einen Augenblick lang drohte das Monster, das noch immer die

röchelnde Phoebe am ausgestreckten Arm hielt, zu straucheln und in
den Lichtwirbel zu seinen Füßen zu stürzen.

Zum Glück reagierte Paige schneller und versetzte dem Vikki-Ding

einen telekinetischen Stoß, der es nach hinten katapultierte.

Mit einem wütenden Aufschrei torkelte das Wesen zurück. Dabei

lockerte es den Griff um Phoebes Kehle. Diese nutzte die Gelegenheit
und verpasste der Kreatur einen kräftigen Tritt in die Seite. Phoebe
glaubte befriedigt zu spüren, wie unter dem dichten Fell ein paar
Rippen brachen.

Das Vikki-Ding jaulte auf, mehr vor Zorn als vor Schmerz, und

ließ ihre Peinigerin los. Phoebe landete auf dem Boden, rappelte sich
auf und rang gierig nach Atem; selbst die abgestandene Luft in dem
Gewölbe kam ihr vor wie eine Frühlingsbrise. Aus den Augenwinkeln
sah sie, wie die Panther-Kreatur sich wieder auf sie stürzen wollte.

»Phoebe! Pass auf!«, rief Piper, aber die Warnung war unnötig.

Selbst in ihrem angeschlagenen Zustand waren Phoebes
Kampfinstinkte immer noch geschult genug, um sich unter der
heranrasenden Pranke hinwegzuducken. Sie spürte, wie die
messerscharfen Krallen um Haaresbreite über ihrem Kopf die Luft
zerschnitten.

Und erneut wurde das Vikki-Ding vom übernatürlichen Pech

verfolgt. Blind vor Wut konnte es seinen eigenen Tatzenhieb nicht
mehr rechtzeitig stoppen. Der pelzige Arm prallte mit voller Wucht
gegen eine der Steinsäulen, die das uralte Gewölbe abstützten. Mit
einem ohrenbetäubenden Knall zerbarst die Stele unter dem
gewaltigen Aufprall. Kalkstaub rieselte herab, und erste
Gesteinsbrocken stürzten zu Boden.

Ein Bruchstück von der Größe eines Fußballs fiel auf den Kopf der

Panther-Kreatur – Schädelknochen knirschten. Einen normalen
Menschen hätte dergleichen wahrscheinlich auf der Stelle getötet, aber
das Vikki-Ding war zäh. Mit blutüberströmter Fratze und rasend vor
Schmerz und Wut ließ es seine Krallen erneut durch die Luft sausen.

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Piper machte sich bereit, das Monster explodieren zu lassen, doch

diesmal war ihre jüngere Schwester schneller.

»Das hast du dir selbst zuzuschreiben!«, zischte Phoebe, rotierte

einmal um die eigene Achse und versetzte der Kreatur einen
Powerkick in den Magen.

Das angeschlagene Vikki-Ding fauchte auf. In seiner

hassverzerrten Grimasse war keine Spur von Menschlichkeit mehr zu
erkennen. Der Tritt katapultierte die Kreatur ein gutes Stück zurück.
Sie ruderte verzweifelt mit den Armen, um das Gleichgewicht wieder
zu erlangen – aber vergebens.

Mit einem lang gezogenen Schrei stürzte die Bestie in das

pulsierende Dimensionstor. Die Farben des Wirbels leuchteten für
einen Sekundenbruchteil strahlend hell auf. Dann war Vikki – oder
was immer sie zuletzt gewesen war – verschwunden.

Für alle Ewigkeit.

Paige und Piper liefen zu Phoebe, und die drei Schwestern fielen

sich erleichtert in die Arme.

»Phoebe, geht es dir gut?«, fragte Piper den Tränen nahe.

Phoebe nickte. »Danke, mir ist nichts passiert«, krächzte sie und

rieb sich den Hals. »Hört mal, es tut mir so Leid. Ich hab mich
benommen wie der letzte Mensch, oder?«

»Schon gut«, antwortete Piper. »Du standest unter dem Bann

dieser teuflischen Musik. Und du hast in der letzten Zeit eine Menge
mitgemacht.«

Paige tippte ihrer älteren Halbschwester auf die Schulter. Dann

deutete sie mit dem Zeigefinger nach oben. »Ähm, könnten wir die
glückliche Familienzusammenführung vielleicht auf später
verschieben? Uns fällt hier nämlich gerade die Decke auf den Kopf!«

Sechs Augenpaare blickten hinauf zur Decke des Gewölbes. Der

Einsturz der Säule hatte die gesamte Statik beeinträchtigt. Krachend
taten sich immer neue Risse in der Kuppel auf, und immer mehr
Gesteinsbrocken begannen herauszubrechen.

»Nichts wie raus hier«, rief Piper, und die drei Hexen hasteten auf

den Ausgang zu.

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Auf halben Weg blieb Paige noch einmal stehen. Rasch bückte sie

sich nach dem Marmeladenglas mit dem tobenden Blimp und
schleuderte es in den wabernden Mahlstrom. »Ab zu Frauchen!«, rief
sie befriedigt.

Dann schlüpften die drei Hexen durch die Steintür in den

Kellergang hinaus. Keuchend schloss Piper die Höllenpforte – gerade
rechtzeitig.

Kurz darauf erbebte der Boden unter ihnen, und ein

ohrenbetäubendes Grollen hallte durch den schmalen Gang, als
Tonnen von Geröll über das Gewölbe jenseits der Pforte
hereinbrachen.

»Soviel zum Thema Nat Shur!«, rief Piper über den Krach hinweg

und hob grinsend den Daumen.

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Epilog

»

U

ND WAS MACHEN WIR JETZT MIT DENEN?«, fragte

Paige und deutete auf Markel, den Schäferhund und die vier Nature
Sons,
die immer noch wie bizarre Statuen im Gang herumstanden,
mitten in der Bewegung erstarrt.

Zum Glück hatte sich der Gang selbst als so stabil erwiesen, dass

er vom Einsturz des Gewölbes nicht in Mitleidenschaft gezogen
worden war.

»Gute Frage«, antwortete Piper etwas ratlos. »Die vier Bürschchen

haben sich zwar auf eine schwarzmagische Verschwörung
eingelassen, aber Dämonen sind sie deshalb noch lange nicht.«

Phoebe trat an die Seite ihrer älteren Schwester. Sie blickte auf

Josh, der immer noch in unschlüssiger Haltung neben Markel stand.
»Kannst du den Bann von den Jungs nehmen, ohne dass auch Markel
wieder aktiv wird? Ich würde gerne ein paar Takte mit ihnen reden.«

Piper nickte. »Sicher. Ich muss mich nur etwas konzentrieren.« Sie

hob eine Hand und legte die Stirn in Falten. Eine Sekunde später
erwachten Mike, Todd, Huey und Josh aus ihrer Erstarrung. Mit
Ausnahme von Josh verloren sie – überrascht von dem plötzlichen
Schwung – allesamt das Gleichgewicht.

»Was zum …?!«, fluchte Todd, der Bassist, als er unsanft auf dem

Boden aufschlug und die drei Hexen erblickte.

Dann bäumte sich sein Körper auf, und auch die anderen drei

Mitglieder der Nature Sons zuckten unkontrolliert hin und her. Und
dann geschah etwas Seltsames.

Fassungslos mussten die drei jungen Frauen mit ansehen, wie sich

die drei Jungs veränderten. Die starken Schultern wurden schmaler,
die durchtrainierten Muskeln schrumpften, und auch die eleganten
hohen Backenknochen in Josh's Gesicht schmolzen dahin wie Butter
in der Sonne.

Mit dem Ende von Nat Shur war auch sein Zauber erloschen, der

aus den vier unscheinbaren Stubenhockern begehrenswerte Popstars
gemacht hatte.

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»O nein!«, stöhnte Huey und fuhr sich verzweifelt durch sein

neues, altes Gesicht. »Wir sind wieder … wir!«

Schweigend blickte Phoebe zu dem jungen Mann, in den sie sich

fast verliebt hätte. Kein Zweifel, der magere Jüngling mit der blassen
Haut, der jetzt vor ihr stand, war der wahre Josh.

»Phoebe«, stammelte dieser und blickte betroffen zu Boden, »es …

es tut mir Leid. Ich wollte dich vorhin nicht bedrohen. Es war nur …
ich dachte, du würdest dich über mich lustig machen. Und das tat
weh.«

»Ich weiß«, nickte Phoebe und legte eine Hand auf die schmale

Schulter des Jungen. »Ich weiß, wie sich so was anfühlt – und was das
Gefühl, abgelehnt zu werden, mit einem machen kann. Bei Vikki war
es dasselbe. Die Angst, nicht gemocht zu werden, macht einen
empfänglich für die Versprechungen der schwarzen Magie.«

Josh nickte traurig. »Vikki ist tot, oder?«

»Ja«, erwiderte Phoebe. »Aber sie starb schon vor langer Zeit – als

sie ihre Seele für Nat Shur aufgab.«

»Wir hätten uns nie auf diese Sache einlassen dürfen«, presste Josh

hervor. »Das war ein Fehler. Und es tut mir Leid.« Tränen
schimmerten in seinen Augen, die immer noch hinreißend blau waren.
Eigentlich, so musste Phoebe zugeben, sah er auch in seiner
natürlichen Gestalt gar nicht so übel aus. Ein paar Wochen im Fitness-
Studio und ein bisschen Sonne … wer weiß?

»Ich hoffe, ihr habt aus diesem Fehler gelernt«, sagte Piper. »Es

hat keinen Sinn, sich selbst zu verstellen, nur um von anderen
gemocht zu werden. Am Ende betrügt ihr nur die anderen – und euch
selbst.«

Auch die anderen drei Jungs der Band starrten beschämt zu Boden.

In ihren schicken Klamotten, die jetzt drei Nummern zu groß waren
und an ihnen schlackerten, boten sie wirklich ein Bild des Elends.

Piper, Phoebe und Paige steckten die Köpfe zusammen.

»Ich glaube, die vier haben ihre Lektion gelernt, oder?«, fragte

Paige.

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Piper nickte. »Das denke ich auch. Wir können sie beruhigt gehen

lassen. Ich bin mir sicher, dass sie von nun an die Finger von der
schwarzen Magie lassen.«

»Aber da gibt es noch einen«, sagte Phoebe und deutete über ihre

Schulter auf Markel, der mitsamt seinem Schäferhund noch wie
versteinert im Gang stand.

»Ja, ich fürchte, irgendwann muss ich den auch wieder zum Leben

erwecken.« Piper schnaubte verächtlich und hob die Hände. Im selben
Augenblick riss Markel die Augen auf. Sein Blick fiel auf seine vier
Schützlinge, die jetzt wie ein Häuflein Elend vor ihm standen.

»Was zum Teufel ist denn jetzt los?!«, rief der Manager. Horst, der

treue Schäferhund, zog winselnd den Schwanz ein. »Mike, Todd,
Huey … Und Josh. Wie seht ihr eigentlich aus?!«

»Ich … wir müssen Ihnen eine Menge erklären, Mister Markel«,

stotterte Josh. Die anderen nickten betroffen.

»Allerdings!«, keifte Markel. »Vor allem müsst ihr mir erklären,

wie ich euch so noch promoten soll. Ihr seht ja aus wie die letzten
Vogelscheuchen! So verkaufe ich doch keine einzige Platte mehr!«

Phoebe schüttelte ungläubig den Kopf. »Interessiert es Sie denn gar

nicht, was hier passiert ist?«

»Nicht wirklich.« Markel winkte ab. »Ich hab doch schon die

ganze Zeit geahnt, dass die Jungs in irgendeinen okkulten Hokuspokus
verwickelt waren. Was schert es mich – solange der Rubel rollt. Und
glaubt mir«, fügte der Mann in einem verschwörerischen Tonfall
hinzu, »in meiner Branche hab ich schon ganz andere Dinger erlebt!«

Die Zauberhaften blickten sich verblüfft an. Markel war wirklich

eine Nummer für sich.

»Wartet mal«, rief der Plattenmanager. »Als Boygroup kriege ich

euch so nicht mehr unter – aber ihr habt doch mal als Metal-Band
angefangen, oder?«

Josh nickte. »Ja, und?«

»Und? Heavymetal ist wieder schwer im Kommen! Wir müssen

nur ein bisschen umdisponieren. Ihr braucht coolere Klamotten, ein
paar Tattoos und Piercings, dramatisches Make-up … Und natürlich

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andere Frisuren. Vielleicht eine Haarverlängerung. Oder gleich
Perücken!«

Josh riss die Augen auf. »Perücken?«, wiederholte er fassungslos.

»Das ist doch nicht Ihr Ernst, oder?!«

Piper, Paige und Phoebe kicherten.

»Strafe muss sein«, lachte Paige, als die Zauberhaften mit Markel

und den ehemaligen Nature Sons nach oben gingen.

Durch die Fenster des alten Anwesens fielen die ersten Strahlen der

Morgensonne. »Eins habe ich zumindest gelernt«, schmunzelte Paige,
als sie mit ihren Schwestern ins Freie trat. »Das Musikbusiness ist
noch verrückter als das Hexengeschäft.«


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