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Charmed 25 

Zauberhafte Schwestern 

Die Söhne Satans 

Roman von Marc Hillefeld 

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Klappentext: 

Ärger im Hause Halliwell: Paige befreit unbeabsichtigt einen 

niederträchtigen Flaschengeist, der den drei Schwestern fortan nichts 

als Unglück bringt. Phoebe lernt derweil die Mitglieder einer 

aufstrebenden Boygroup, die Nature Sons, kennen und macht 

daraufhin eine wundersame Veränderung durch: Der zurückliegende 

Stress mit dem Ex-Dämon Cole, ihre Pflichten als weiße Hexe und 

Teil der Zauberhaften – all dies scheint von einem zum anderen Tage 
vergessen. Paige und Piper sind in großer Sorge, denn es scheint, als 

ob die Musik der Nature Sons nicht nur einen schlechten Einfluss auf 

Phoebe hat, sondern dass die vier jungen Musiker auch noch Teil 

einer mysteriösen dämonischen Verschwörung sind, die es um jeden 

Preis aufzuhalten gilt. 

Dieses eBook ist nicht zum Verkauf 

bestimmt. 

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Bibliographische Information Der Deutschen Bibliothek  

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der 

Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind 

im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. 

Das Buch »Charmed – Zauberhafte Schwestern. Die Söhne Satans« 

von Marc Hillefeld entstand auf der Basis der gleichnamigen 

Fernsehserie von Spelling Television, ausgestrahlt bei ProSieben. 

© des ProSieben-Titel-Logos mit freundlicher Genehmigung der 

ProSieben Television GmbH 

® und © 2003 Spelling Television Inc. All Rights Reserved. 

1. Auflage 2003 

© der deutschsprachigen Ausgabe: 

Egmont vgs Verlagsgesellschaft mbH 

Alle Rechte vorbehalten. 

Lektorat: Christina Deniz 

Produktion: Wolfgang Arntz 

Umschlaggestaltung: Sens, Köln 

Titelfoto: © Spelling Television Inc. 2003 

Satz: Kalle Giese, Overath 

Druck: Clausen & Bosse, Leck 

Printed in Germany

ISBN 3-8025-3213-9 

Besuchen Sie unsere Homepage im WWW: 

http://www.vgs.de 

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Prolog 

P

AIGE HALLIWELL ÖFFNETE den Deckel der alten Holztruhe 

und holte tief Luft. 

Nicht unbedingt eine gute Idee, auf dem Dachboden zu knien und 

in einer Kiste herumzustöbern, die seit Jahren unbeachtet in der Ecke 
steht, dachte sie. Sie hustete und wedelte mit der Hand vor ihrem 
Gesicht herum, um den aufgewirbelten Staub zu vertreiben. 

Wie so oft war sie auch an diesem Samstagvormittag auf den 

Dachboden des Halliwell-Hauses geschlichen, um sich hier in Ruhe 
umzusehen. Nicht dass sie damit etwas Verbotenes tat, ganz im 
Gegenteil. Piper und Phoebe hatten sie längst als Schwester und neues 
Mitglied der Zauberhaften  akzeptiert – und hätten es sicher begrüßt, 
dass Paige sich freiwillig mit den Geheimnissen der Weißen Magie 
vertraut machte. 

Aber die junge Frau fühlte sich einfach wohler, wenn sie nicht 

ständig die wachsamen Blicke ihrer Schwestern im Rücken spürte. Es 
war noch gar nicht so lange her, dass sie von ihrer magischen 
Familientradition erfahren hatte. Und manchmal war ihr immer noch 
nicht ganz klar, was es überhaupt bedeutete, eine Hexe zu sein. 

Bis zu diesem denkwürdigen Tag hatte sie ein ganz normales 

Leben geführt – na ja, mehr oder weniger normal – und plötzlich hatte 
es geheißen: »Hör zu, Paige, du bist eine weiße Hexe, und deine 
Aufgabe ist es von nun an, gegen Dämonen zu kämpfen und 
Unschuldige zu retten – besten Dank auch für die Mühe.« 

Niemand hatte sie gefragt, ob sie so ein Leben überhaupt wollte 

und ob sie überhaupt dazu bereit war, diese Verantwortung zu 
übernehmen. 

Paige seufzte und blickte in die alte Holztruhe. Soweit sie wusste, 

wurden darin alte Zaubermaterialien aufbewahrt, und das offenbar 
schon seit Generationen. Tatsächlich war der Kasten mit einer 
vergilbten Zeitung ausgeschlagen, deren Titelseite in großen Lettern
die erste Atlantik-Überquerung per Zeppelin verkündete. 

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Paige wusste nicht genau, was sie in dieser Kiste zu finden hoffte, 

aber vielleicht würde sie auf ein paar Erinnerungsstücke stoßen, die 
ihr dabei halfen, das Familienerbe der Halliwells besser zu verstehen. 

Und vielleicht – Paige grinste in sich hinein – lagerten hier ja auch 

ein paar alte Liebesbriefe ihrer Schwestern. Nicht dass sie so etwas 
überhaupt lesen wollte, aber andererseits … 

Die junge Hexe warf einen letzten schuldbewussten Blick auf die 

halb geöffnete Dachbodentür, dann begann sie, in der Truhe 
herumzuwühlen. 

Was sie fand, war allerdings wenig spektakulär: Einige halb 

abgebrannte Kerzen. Eine trübe Kristallkugel. Einen rostigen Dolch 
mit einem schlangenförmigen Griff. Ein paar Beutel, die mit einem 
Pulver gefüllt waren, von dem Paige gar nicht wissen wollte, aus was 
es bestand. Und schließlich noch ein paar Kreidestücke und schwarze 
Samttücher. Paige schüttelte enttäuscht den Kopf. Selbst auf einem 
Flohmarkt hätte man für dieses wertlose Zeug höchstens ein paar 
Cents bekommen. Wenn in dieser Kiste das Erbe der Halliwells 
schlummerte, dann sollte sie sich besser schnell einen gut aussehenden 
Millionär angeln. 

Die junge Hexe wollte den Deckel der Truhe schon wieder 

zuklappen, als sie aus den Augenwinkeln ein merkwürdiges Funkeln 
bemerkte. 

Neugierig beugte sich Paige noch einmal vor. Unter den schwarzen 

Samttüchern lag noch etwas: Eine elegant geformte kleine Glasflasche 
mit einem länglichen, verzierten Hals und einem uralten Korken. 
Doch faszinierend daran war weniger die ungewöhnliche, irgendwie 
orientalisch anmutende Form des Flakons als sein Inhalt. 

Vorsichtig nahm Paige das Fläschchen aus der Truhe. Seltsam. 

Obwohl es auf dem Dachboden relativ kühl war, fühlte sich das Glas 
in ihrer Hand seltsam warm an. Und was hatte dieses merkwürdige 
Glimmen zu bedeuten, das von dem Flakon ausging? Neugierig hob 
Paige das Fläschchen höher und betrachtete es im Licht der 
einfallenden Sonnenstrahlen. War das matte Leuchten vielleicht nur 
eine Reflexion des kunstvoll geschliffenen Glases? 

Nein, selbst wenn sie den Flakon mit der anderen Hand gegen das 

Licht abschirmte, hielt das Leuchten an. Und mehr noch: Das 
Farbenspiel schien intensiver geworden zu sein, seit Paige ihn an sich 

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genommen hatte. So als ob irgendetwas darin zum Leben erweckt 
worden wäre. Und wenn man genau hinsah, konnte man im Inneren 
eine Art wabernden Nebel oder Dunst erkennen … 

»Paige, bist du da oben?« Pipers Stimme hallte durch die 

Dachbodentür. 

Paige war so in den Anblick des Flakons versunken gewesen, dass 

sie erschrocken zusammenzuckte. Die kleine Flasche glitt ihr aus der 
Hand und schien fast im Zeitlupentempo zu Boden zu fallen. 
Trotzdem konnte Paige nur hilflos mit ansehen, wie der Flakon auf 
den Holzdielen aufschlug und in tausend Stücke zerbrach. 

Im selben Augenblick hörte Paige die Schritte ihrer Schwester auf 

der Treppe. Beschämt blickte sie auf und sah deshalb nicht, wie etwas, 
das aussah wie eine Hand voll flüssiges Licht, aus dem 
Scherbenhaufen hervorschoss, ein paar Mal herumwirbelte und 
schließlich in einer Fußbodenritze verschwand. 

Der ganze unbemerkte Spuk hatte nur ein paar Sekundenbruchteile 

gedauert. Übrig blieben nur die Scherben des zerborstenen Flakons. 

Im nächsten Augenblick steckte Piper schon den Kopf durch die 

Dachbodentür. 

»Alles okay, Paige? Was machst du denn hier oben?«, fragte sie 

und sah ihre jüngere Halbschwester forschend an. Trotz des 
freundlichen Gesichtes, das sie dabei machte, konnte Paige ganz 
deutlich einen gewissen Argwohn in Pipers Blick erkennen. 

Paige sprang auf die Füße und setzte ihr unschuldigstes Lächeln 

auf. Zumindest hoffte sie, dass ihr Lächeln unschuldig wirkte. 
Gleichzeitig schob sie mit dem Fuß die Scherben des zerbrochenen 
Flakons unauffällig hinter einen Pappkarton. 

Sie hatte keine Lust, sich das Wochenende durch eine Standpauke 

ihrer Schwester verderben zu lassen. Schließlich hatte sie nichts weiter 
getan, als eine kleine, dumme Glasflasche fallen zu lassen, für die sich 
ohnehin kein Mensch mehr interessierte. Andernfalls hätte das Ding ja 
nicht in dieser alten Holztruhe vor sich hin geschimmelt. 

»Äh, ich hab hier oben nur ein paar … alte Kerzen gesucht!«, sagte 

Paige schnell. Eine bessere Ausrede war ihr auf die Schnelle nicht 
eingefallen. 

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Mit einer hastigen Bewegung holte sie die halb abgebrannten 

Kerzen aus der Truhe und hielt sie in die Höhe. »Du weißt ja, diese 
ganzen Stromausfälle in letzter Zeit – da sollte man immer ein paar 
Kerzen griffbereit haben …« 

Schweigend hob Piper die linke Augenbraue. 

Ich hasse es, wenn sie das tut, dachte Paige. Denn dieses 

Mienenspiel bedeutete viel zu oft nichts anderes als »Ich-glaube-dir­
kein-Wort-kleine-Schwester«. Sie schluckte. 

Doch da zuckte Piper nur mit den Achseln und hielt Paige die Tür 

auf. »Es liegen zwar genug frische Kerzen im Küchenschrank, aber 
vielleicht fällt der nächste Stromausfall ja mit einer langen Polarnacht 
zusammen, und dann werden wir gewiss sehr glücklich sein, ein paar 
Extra-Kerzen zur Hand zu haben.« 

Sehr witzig, dachte Paige, aber gleichzeitig war sie froh, dass Piper 

auf ihre kleine Flunkerei hereingefallen zu sein schien. Beruhigt folgte 
sie ihrer Halbschwester hinab in den Flur. 

»Ich probiere gerade ein neues Mousse-Rezept für das P3  aus«, 

berichtete Piper auf dem Weg nach unten, »und ich brauche dringend 
eine freiwillige Versuchsperson. Wie wär's mit einer kleinen 
Kalorienbombe am frühen Vormittag?« 

»Da es für einen guten Zweck ist, bin ich dabei«, lachte Paige. 

Erleichtert warf sie noch einmal einen Blick auf die Dachbodentür. 

Nein, dieser blöde Flakon war es wirklich nicht wert, sich dafür 

den Samstagvormittag zu verderben. Und außerdem, wie heißt es doch 
so schön: Scherben bringen Glück … 

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»

K

ANN ICH IHNEN HELFEN, Miss?« 

Phoebe Halliwell fuhr erschrocken herum und warf dabei mit den 

Plastiktüten, die sie unter dem Arm trug, fast ein Display mit 
Modeschmuck um. 

Eine Sekunde lang fühlte sie sich ertappt. Dabei hatte sie nichts 

weiter getan, als sich in dieser exklusiven Boutique im Herzen San 
Franciscos ein wenig umzusehen. Diese heftige Reaktion beim 
Anblick eines plötzlich auftauchenden Verkäufers war vermutlich ein 
alter Reflex aus der Zeit, in der sie noch eine Karriere als 
ungeschickteste Ladendiebin der Welt angestrebt hatte. Das war, 
bevor sie zu ihrer Bestimmung als Hexe gefunden und ziellos in den 
Tag gelebt hatte. Aber das war lange her. 

Phoebe räusperte sich und schenkte dem Verkäufer ein 

entwaffnendes Lächeln. Was ihr nicht besonders schwer fiel, da der 
junge Mann mit dem gut sitzenden Anzug und den blondierten Haaren 
im modischen Struwel-Look ein besonders gelungenes Exemplar 
seiner Gattung war. 

»Äh, nein, danke. Ich schau mich nur ein wenig um.« Fast 

entschuldigend hob Phoebe die Plastiktüten in die Höhe, die sie in 
beiden Händen hielt. »Außerdem fürchte ich, dass ich mein Budget für 
diesen Tag schon hoffnungslos überzogen habe. Oder wenn ich's recht 
überlege – mein Budget für den Rest des Monats.« 

Der Verkäufer nickte verständnisvoll und machte Anstalten, sich 

dezent zurückzuziehen. »Kein Problem«, sagte er, »sehen Sie sich 
ruhig um. Niemand drängt Sie hier zu irgendetwas. Aber wenn ich mir 
die Bemerkung erlauben darf, Miss …« – seine Stimme nahm einen 
fast verschwörerischen Tonfall an – »… diese Ohrringe würden 
hervorragend zu Ihren Augen passen.« 

Alter Schmeichler, dachte Phoebe, und wahrscheinlich bist du am 

Umsatz beteiligt. Aber so leicht wickelst du mich nicht ein, 
Freundchen … 

Zehn Minuten später war Phoebe Halliwell um zwei 

bernsteinfarbene Ohrringe reicher und zwanzig Dollar ärmer. Fast 

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grimmig stapfte sie in Richtung der nächsten Cable-Car-Haltestelle, 
um diesen Ort der Versuchung so schnell wie möglich hinter sich zu 
lassen. 

Eigentlich war sie nur in die Stadt gegangen, um ihre Gedanken ein 

wenig von Cole, ihrem halbdämonischen Schwarm, abzulenken. Aber 
wie so oft war aus einem harmlosen Schaufensterbummel ein 
Shopping-Amoklauf geworden. Ein paar neue Schuhe hier, eine 
Seidenbluse im Knitter-Look dort, und wie wär's mit diesem schicken 
leichten Sommerpullover … Phoebe konnte sich lebhaft vorstellen, 
wie Piper die Hände über dem Kopf zusammenschlagen würde. Dabei 
waren das doch alles echte Schnäppchen gewesen! 

Phoebe überlegte sich im Geiste schon diverse Ausreden für ihre – 

zugegeben – unvernünftigen Neuerwerbungen, als ihre Schritte sie 
fast automatisch vor das Schaufenster von Star Recorzz führten, einem 
der angesagtesten Plattenläden der Stadt. 

Sie seufzte. Wem wollte sie eigentlich etwas vormachen? Ein 

samstäglicher Shopping-Bummel ohne einen Abstecher ins Star 
Recorzz 
war einfach undenkbar. 

»Dann bringen wir's mal hinter uns«, murmelte sie und betrat 

lächelnd den Laden. Sofort wurde der Straßenlärm vom neusten Hit 
von Nickelback übertönt, der aus den Deckenlautsprechern tönte. 

Phoebe musste grinsen. Die Hintergrundmusik im Star Recorzz 

wurde stets vom jeweiligen Dienst habenden Verkäufer ausgewählt, 
und der junge Mann mit dem Pferdeschwanz, der heute hinter der 
Theke stand, favorisierte offensichtlich die etwas härtere musikalische 
Gangart. Amüsiert beobachtete sie, wie er fast widerwillig eine CD 
von  Jennifer Lopez eintütete und sie einem jungen Mädchen in die 
Hand drückte. 

Seufzend wandte sich Phoebe dem Wühltisch mit den 

herabgesetzten CDs zu. Für eine brandneue Scheibe zum regulären 
Preis würde ihr Budget auf keinen Fall mehr reichen. Und so arbeitete 
sie sich durch die Nice-Price-Angebote, die in keinerlei erkennbarer 
Ordnung auf dem Verkaufstisch lagen. Neben vielen Eintagsfliegen 
aus der Popbranche entdeckte sie einige alte CDs von Sting, Bruce 
Springsteen, Prince 
und  Love Spit Love, doch entweder besaß sie 
diese Alben bereits, oder sie trafen nicht ihren musikalischen 
Geschmack. 

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Fast erleichtert darüber, kein Geld ausgeben zu müssen, wollte 

Phoebe den Laden schon wieder verlassen, als ihr ein kleines, eher 
unspektakuläres Display ins Auge fiel. Es war ein kleiner 
Pappaufsteller mit den aufgedruckten Ganzkörperfotos von vier gut 
aussehenden jungen Männern. Von vier außergewöhnlich  gut 
aussehenden jungen Männern, um genau zu sein. Neugierig trat sie 
näher und las den Bandnamen unter dem Foto: Nature Sons. 

Seltsam, dachte Phoebe, von diesen Jungs habe ich ja noch nie 

etwas gehört. Offensichtlich schien es sich um eine neue Boygroup zu 
handeln, die angetreten war, den Backstreet Boys und  N'Sync 
Konkurrenz zu machen. Und zumindest was das Aussehen anbetraf, 
konnten die Nature Sons es durchaus mit ihren Vorbildern aufnehmen. 
Das Quartett lächelte den Betrachter mit einer gekonnten Mischung 
aus Unschuld und Verschmitztheit an, die es einem gleich 
sympathisch machte. Sicher, die weit aufgeknöpften Hemden, unter 
denen sich muskulöse Brustkörbe abzeichneten, trugen nicht 
unwesentlich zu dieser Wirkung bei … 

Unwillkürlich stieß Phoebe einen leisen anerkennenden Pfiff aus. 

Die Nature Sons wirkten wie eine Kreuzung aus den Backstreet Boys 
und Gun's and Roses: attraktive, romantisch veranlagte junge Männer, 
denen man darüber hinaus durchaus eine dunkle, geheimnisvolle Seite 
zutraute. 

Phoebes gute Laune verdunkelte sich mit einem Schlag. 

Romantisch und düster zugleich – das war auch eine treffende 
Beschreibung für Cole, sofern es überhaupt eine gab. Bekanntlich war 
sie ja in die Stadt gegangen, um sich für ein paar Stunden von ihrem 
Ex-Geliebten abzulenken – doch schon der Anblick eines simplen 
Pappaufstellers reichte, um alle Gedanken wieder um ihn kreisen zu 
lassen. So viel zur therapeutischen Wirkung von Frustkäufen, dachte 
Phoebe. Sie machte Anstalten, sich umzudrehen und den Laden zu 
verlassen, als jemand an sie herantrat. 

»Gefallen Ihnen die Jungs, Miss?« 

Phoebe wandte den Kopf und erblickte neben sich einen leicht 

untersetzten Mann. Er trug einen billigen Anzug aus Kunstfasern, der 
an den Ellenbogen schon speckig glänzte. Immerhin harmonierte seine 
Kleidung dadurch mit den fettigen Haarsträhnen, die – wenig 
erfolgreich – eine fortschreitende Glatze verbergen sollten. 

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Der Fremde blickte sie aus dunklen Augen an, wobei ein leicht 

anzügliches Lächeln seine weichen Lippen umspielte. 

»Wie bitte?«, fragte Phoebe erstaunt. Wenn das eine Anmache sein 

sollte, dann brauchte dieser Typ dringend ein paar Nachhilfestunden 
in der nächsten Flirtschule. 

Der Mann machte eine entschuldigende Geste. »Oh, tut mir Leid, 

wenn ich Sie hier einfach so anspreche, Miss, aber ich hab bemerkt, 
wie Sie sich das Display der Nature Sons angeschaut haben. Mein 
Name ist Markel, ich bin der Manager der Band.« 

Der Fremde, Markel, blickte Phoebe an, als erwartete er Beifall für 

diese Bekanntmachung. Als dieser ausblieb, zog er eine Visitenkarte 
aus der Tasche seines Jacketts und reichte sie Phoebe. Mit spitzen 
Fingern nahm diese die Karte entgegen und bemühte sich, dabei nicht 
auf den schwarz behaarten Handrücken des Mannes zu starren. Eine 
simple Geste der Höflichkeit, obwohl sie keine Ahnung hatte, was sie 
mit der Geschäftskarte anfangen sollte. 

»Phoebe Halliwell. Freut mich, Sie kennen zu lernen, Mister 

Markel«, sagte Phoebe. »Aber ich muss zugeben, dass ich von den, äh 
…«, sie blickte auf das Display, »… von den Nature Sons noch nie 
gehört habe.« 

Markel nickte milde lächelnd. »Das kann ich mir vorstellen, Miss 

Halliwell, aber das wird sich schon bald ändern. Die Jungs sind noch 
neu in der Branche. Aber schon bald werden sie eine ganz große 
Nummer werden und die Backstreet Boys aussehen lassen wie einen 
Knabenchor.« 

Der Manager deutete auf einen kleinen Stapel CDs, der neben dem 

Pappaufsteller auslag. »Das ist das erste Album der Nature Sons, 
vertrieben durch meinen eigenen kleinen Musikverlag. Es ist gerade 
erst veröffentlicht worden, deshalb bin ich auch auf einer kleinen 
Promotiontour durch die Plattenläden der Bay Area. Arbeit an der 
Basis, Sie verstehen? Große landesweite Werbekampagnen kann ich 
mir leider nicht leisten. Noch nicht.« 

Phoebe nickte höflich und machte dann eine entschuldigende Geste 

Richtung Ausgang. Irgendwie fühlte sie sich in der Nähe des Mannes 
nicht wohl. Und das lag nicht nur an dem billigen Rasierwasser, in 
dem er offensichtlich gebadet zu haben schien. »Dann wünsche ich 
Ihnen viel Erfolg, Mister Markel, aber ich muss jetzt leider weiter …« 

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Markel lächelte nachsichtig. »Ich verstehe, Miss. Aber vielleicht 

haben Sie ja Lust, zuvor noch schnell bei unserem Gewinnspiel 
mitzumachen?« 

Der Manager zog einen kleinen, bedruckten Zettel aus der Tasche 

und reichte ihn Phoebe. »Füllen Sie einfach dieses Teilnahmeformular 
aus, und Sie können ein Gratis-Ticket zum nächsten Konzert der 
Nature Sons hier in San Francisco gewinnen.« 

Phoebe seufzte unmerklich. Wahrscheinlich war der Typ nur auf 

Werbeadressen aus, um sie an diverse Firmen weiterzuverkaufen. 
Andererseits wollte sie so schnell wie möglich von diesem 
schleimigen Gesellen wegkommen. Also nahm sie den Stift, den 
Markel ihr entgegenhielt und schrieb Namen und Adresse in die dafür 
vorgesehenen Felder. Was soll's, auf ein paar Reklamesendungen 
mehr oder weniger kommt es auch nicht mehr an, dachte sie. 

Markel strahlte und ließ den ausgefüllten Teilnahmecoupon in 

seiner Jackentasche verschwinden. »Vielen Dank, Miss Halliwell. Sie 
werden es nicht bereuen. Einen schönen Tag noch!« 

Phoebe war froh, dass Markel ihr zum Abschied nicht die Hand 

reichte. »Den wünsche ich Ihnen auch. Und viel Erfolg mit Ihrer 
Band.« 

Mit ihren Einkaufstaschen unter dem Arm verließ Phoebe den 

Plattenladen. Eine Minute später hatte sie die Begegnung mit Markel 
schon wieder vergessen. 

Im  Star Recorzz sortierte der Verkäufer mit dem Pferdeschwanz 

unterdessen lustlos ein paar neue CDs in das Regal ein, neben dem 
Markel stand und auf Kundenfang ging. 

»Ich will ja nichts sagen, Mann«, bemerkte er in Richtung des 

Managers, »aber ist das nicht 'ne verdammt stressige Art, 'ne CD zu 
promoten? Ich meine, wenn man dafür jeden potenziellen Käufer 
persönlich anquatschen muss …« 

Markel grinste und sah den jungen Mann aus 

zusammengekniffenen Augen an. Jede Spur von Freundlichkeit war 
aus seinem Gesicht gewichen. Unwillkürlich machte der Verkäufer 
einen Schritt zurück. 

»Tja, Junge«, grinste Markel, »du weißt ja, wie der Teufel arbeitet: 

Er holt sich eine Seele nach der anderen …« 

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D

ER DÄMON TAUCHTE aus dem Nichts auf. 

Piper, Phoebe und Paige saßen gemütlich am Küchentisch beim 

Abendessen, als er plötzlich und ohne Vorwarnung aus dem Boden zu 
schießen schien. 

Und zwar im wahrsten Sinne des Wortes. 

Piper war die Erste, die den Eindringling bemerkte. Sie hatte 

gerade nach einer Scheibe Brot greifen wollen, als sie aus den 
Augenwinkeln eine Bewegung im angrenzenden Flur bemerkte. Wie 
ein zartes Pflänzchen brach dort etwas durch die Ritzen des 
Parkettbodens und wuchs innerhalb weniger Augenblicke zu einer 
Furcht erregenden Gestalt heran. 

Der Dämon war mindestens zwei Meter groß. Sein gesamter 

Körper war mit einer Art Borke überzogen. Knorrige, lange Arme 
endeten in Krallen, die mit scharfen Holzspitzen bewehrt waren. Aber 
das Schlimmste war das mit Rinde überzogene Gesicht: An den 
Stellen, an denen eigentlich die Augen sein sollten, prangten nur zwei 
tiefe, dunkle Astlöcher. 

Trotzdem schien der Dämon mit ihnen hervorragend sehen zu 

können. Nachdem er sich kurz orientiert und die drei Schwestern am 
Küchentisch erblickt hatte, stapfte er mit einem trockenen Knurren aus 
der hölzernen Kehle auf sie zu. 

Zu diesem Zeitpunkt hätte Piper den Eindringling möglicherweise 

noch leicht überwältigen können, wenn sie ihn einfach eingefroren 
hätte – aber der Anblick eines Baumdämons im Flur des Halliwell-
Hauses war einfach zu bizarr. Einen Moment lang traute sie ihren 
Augen nicht, und diese Schrecksekunde reichte dem Eindringling, um 
unbehelligt in die Küche zu stampfen. 

Mittlerweile hatten auch Phoebe und Paige das hölzerne Monstrum 

bemerkt. Und genau wie ihre ältere Schwester rissen auch sie nur 
ungläubig die Augen auf. 

Da löste sich Piper aus ihrer Erstarrung. »In Deckung!«, rief sie, 

sprang vom Stuhl auf und stieß die immer noch reglose Paige zur 
Seite. Die beiden Schwestern prallten hart auf dem Küchenboden auf. 

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Im selben Augenblick ließ der Dämon seinen rechten Holzarm auf den 
Tisch niedersausen. Mit einem ohrenbetäubenden Krachen zerbarst 
die Platte in tausend Stücke. Holzsplitter und die Überreste des 
Abendessens flogen durch die Küche. Der Dämon bewegte sich trotz 
seiner massigen Erscheinung blitzschnell und verfügte offenbar über 
immense Kräfte. 

Aus den Augenwinkeln konnte Piper sehen, wie sich Phoebe 

ebenfalls in Sicherheit brachte. Unwillkürlich hatte die Schwester ihre 
Levitationskraft eingesetzt, um sich rückwärts aus der Gefahrenzone 
zu katapultieren. 

Piper atmete auf. Es war die richtige Entscheidung gewesen, Paige 

zu Boden zu stoßen und darauf zu hoffen, dass Phoebe sich selbst 
retten würde. Immerhin war es nicht das erste Mal, dass ein Dämon in 
das Haus der Zauberhaften eindrang, um die Schwestern zu töten. 

»W-Was ist das für ein Ding?!«, stammelte Paige, während sie 

hastig ein Stück rückwärts kroch. 

Ohne den Dämon aus den Augen zu lassen, rappelte sich Piper auf. 

»Irgend so ein hergelaufener Waldschrat, der sich einen Namen 
machen will, indem er die Zauberhaften tötet, nehme ich an.« 

»Das kann er sich aber von der Rinde putzen«, knurrte Phoebe. 

»Schaut euch mal an, was er mit meiner neuen Bluse gemacht hat!« 
Außer sich vor Wut deutete sie auf einen großen Honigfleck, der von 
ihrer Schulter tropfte. »Das krieg ich doch nie wieder raus! Na warte, 
Holzkopf!« 

Sprach's und setzte zu einem gekonnten Sprung an. Einen 

Sekundenbruchteil später segelte sie durch die Luft, während der 
Absatz ihres rechten Stiefels auf den Kopf des Dämons zuschoss. 

»Phoebe, vorsichtig!«, rief Piper. Dieser Dämon, so absurd er auch 

aussah, war nicht zu unterschätzen. Doch es war schon zu spät, und 
von nun an überschlugen sich die Ereignisse. 

Während Phoebe noch durch die Küche flog, wirbelte der 

Baumdämon herum. Mit einem zahnlosen Grinsen richtete er seinen 
knorrigen Arm auf die Angreiferin. Im selben Augenblick ertönte ein 
trockenes Knirschen, und der Arm begann zu wachsen wie ein Ast im 
Zeitraffer-Tempo. Phoebe blieb keine Zeit mehr auszuweichen. Mitten 
im Sprung packte der Dämon sie an der Kehle und rammte sie mit 

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dem immer noch wachsenden Arm gegen die gegenüberliegende 
Küchenwand. 

Phoebe riss die Augen auf und versuchte röchelnd, nach Luft zu 

schnappen, während der Dämon ihre Kehle immer weiter zudrückte. 

Ohne zu zögern hob Piper den Arm, um den Dämon einzufrieren. 

Doch sie hatte die Rechnung ohne ihren Angreifer gemacht. Wider 
Erwarten fuhr das Monster erneut herum und traf Piper mit voller 
Wucht am Kopf. 

Es war, als wäre sie ungebremst gegen einen Baumstamm gerannt. 

Sterne blitzten vor ihren Augen auf, und dann wurde ihr plötzlich 
schwarz vor Augen. Während Piper zusammenbrach und gegen eine 
drohende Ohnmacht ankämpfte, rutschte Phoebe ächzend zu Boden 
und schnappte verzweifelt nach Luft. 

»Vorsicht!« Paiges Stimme schien von weither zu kommen. 

Benommen blickte Piper auf und sah wie durch einen Nebelschleier, 
dass der Holzdämon ein Bein hob, um es auf sie hinabsausen zu 
lassen. 

Mit letzter Kraft rollte sich die junge Frau zur Seite. Ein paar 

Zentimeter neben ihrem Kopf rammte sich das baumstammdicke Bein 
des Angreifers in den Boden. Das Parkett zersplitterte, und da, wo 
gerade noch Pipers Kopf gelegen hatte, klaffte jetzt ein kleiner Krater 
im Fußboden. 

Piper seufzte, verdrehte die Augen, und dann verlor sie endgültig 

das Bewusstsein. 

Die Furchen im Gesicht des Baummonsters verschoben sich zu 

einem höhnischen Grinsen. »Ihr seid also die berühmten 
Zauberhaften?«,  grollte es heiser aus seiner Kehle. »Pah, ich habe 
schon gegen Zauberlehrlinge gekämpft, die stärker waren als ihr!« 

»Freu dich nicht zu früh! Wir werden dich zu Kleinholz 

verarbeiten!«, fauchte Paige und ging in Verteidigungsposition. Dabei 
wünschte sie sich, wirklich so zuversichtlich zu sein, wie sie tat. 
Irgendwie schien dieser Kampf nicht gut zu laufen. Es war, als hätte 
der Dämon sie alle drei auf dem falschen Fuß erwischt. Was war nur 
los mit ihnen? 

Paige wusste, sie musste sich irgendetwas einfallen lassen, sonst 

sah es finster aus. Während sie und der Dämon sich lauernd 

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umkreisten, kam Phoebe von hinten heran und schlug dem Angreifer 
eine Eisenpfanne gegen den hölzernen Hinterkopf. Es gab ein 
dumpfes Geräusch, mehr nicht. 

Wütend schoss der knorrige Arm des Dämons vor und packte 

Paige am Kragen ihrer Bluse. Sie spürte die unangenehme, raue 
Oberfläche der Rinde an ihrem Kinn. 

»Vielleicht solltest du es mal mit Feuchtigkeitscreme versuchen«, 

keuchte sie, »das wirkt Wunder bei trockener Haut …« 

Das Baummonster blickte sie aus seinen leeren Augenhöhlen an.

Eine Welle der Übelkeit schwappte über Paige zusammen, als sie sah, 
dass fleischige, bleiche Maden darin wimmelten. 

»Mann, in dir ist echt der Wurm drin«, würgte sie hervor. 

»Du wartest gefälligst, bis du an der Reihe bist«, grunzte der 

Dämon. »Andererseits, wenn wir schon mal dabei sind …« 

Mit einem tiefen Grollen hob der Dämon seine zweite Pranke und 

wollte sie auf das Gesicht der jungen Hexe pressen, als Paige sich mit 
einem Aufschrei wegteleportierte. Die Luft um sie herum glomm 
bläulich auf, und dann fuhr die Pranke des Dämons auch schon ins 
Leere. 

Inzwischen hatte sich Phoebe mit einem der Holzbeine des 

demolierten Küchentischs bewaffnet. Den behelfsmäßigen Knüppel 
schwingend wollte sie gerade auf den Dämon zustürmen, als Paige 
wieder materialisierte. 

Unglücklicherweise genau vor Phoebe. 

»Hey! Vorsicht!«, rief Paige und riss schützend die Hände vor den 

Kopf. 

Phoebe konnte es zwar gerade noch verhindern, ihre eigene 

Schwester niederzuknüppeln, rempelte sie jedoch mit voller Wucht an. 

Der Zusammenstoß brachte die Schwestern lange genug aus dem 

Gleichgewicht, um es dem Dämon zu ermöglichen, zu einem 
mächtigen Schlag auszuholen. 

Sekundenbruchteile später wirbelten Phoebe und Paige wie 

Stoffpuppen durch die Küche bis ins Wohnzimmer. 

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Zum Glück prallten sie gegen das alte Sofa, das den Stoß 

einigermaßen abfederte. Dennoch würden sie ein paar ordentliche 
blaue Flecken als Erinnerung an diesen Kampf davontragen. 

Vorausgesetzt, sie würden diesen Kampf überhaupt überleben. 

»Au!«, stöhnte Paige und rieb sich den Oberarm, der durch den 

Rundumschlag des Dämons in Mitleidenschaft gezogen worden war. 
»So behandelt man keine Dame, Holzkopf! Hat man dir das auf der 
Baumschule nicht beigebracht?!« 

Der Dämon antworte nur mit einem Knurren und stapfte schweren 

Schrittes auf die beiden Hexen zu. Unter jedem seiner Schritte 
vibrierte der Holzfußboden. 

Phoebe sah, wie Paige sich konzentrierte. Im selben Augenblick 

begann ein schwerer Schürhaken, der vor einer Sekunde noch friedlich 
vor dem Wohnzimmerkamin gelegen hatte, zu vibrieren. 

Ganz offensichtlich setzte Paige ihre telekinetischen Kräfte gegen 

den Holzdämon ein. 

Wenn das mal gut geht, dachte Phoebe und beobachtete, wie sich 

der Schürhaken in die Luft erhob. Dann begann er um die eigene 
Achse zu rotieren wie ein Bumerang. 

Paige kniff die Augen zusammen und gab dem Objekt einen 

letzten, telekinetischen Stoß. Mit einem fast bösartigen Zischen raste 
es auf den Dämon zu. 

Doch die Schwestern hatten erneut Pech. Durch das Zischen des 

durch die Luft segelnden Hakens alarmiert, machte das Baummonster 
einen Ausfallschritt zur Seite. Holzsplitter flogen umher, als der 
Schürhaken den Dämon an der Schulter streifte und dann an ihm 
vorbeiwirbelte. 

Der Eindringling heulte vor Schmerz auf. Doch Paiges Angriff 

hatte ihn nicht wirklich verletzt, sondern nur noch wütender gemacht. 

Und nicht nur das – Paige hatte so viel Wucht in den 

telekinetischen Angriff gelegt, dass das eiserne Geschoss von der 
gegenüberliegenden Wand abprallte und jetzt auf die drei Schwestern 
zuraste. 

»Paige, runter!«, rief Phoebe entsetzt auf. Die beiden Hexen 

sprangen kreischend in Deckung. Fast im selben Augenblick spürte 

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Paige den Luftzug des Schürhakens, der nur Zentimeter über ihrem 
Kopf hinwegraste. 

Als die junge Hexe wieder aufblickte, sah sie gerade noch, wie das 

verirrte Geschoss eine alte Porzellanvase – ein Erbstück ihrer 
Großmutter – zerschmetterte. Ausgerechnet. 

Der Dämon lachte auf. »Nett von euch, dass ihr versucht, euch 

gegenseitig umzubringen. Aber damit nehmt ihr mir ja den ganzen 
Spaß!« 

Mit diesen Worten hob er seine Arme und richtete die 

Fingerspitzen auf Phoebe und Paige. Efeuartige Ranken schossen 
daraus hervor, und bevor die beiden reagieren konnten, schlangen sich 
die magischen Triebe um ihre Hälse und schnürten ihnen die Kehle 
zu. 

In diesem Moment wankte Piper benommen ins Wohnzimmer und 

riss erschrocken die Augen auf. 

»Ich könnte euch auch sofort das Genick brechen«, höhnte das 

hölzerne Monster, »aber ich glaube, ich lasse euch noch ein wenig 
zappeln.« 

»Und um dich kümmere ich mich danach«, fügte er mit einem 

Seitenblick auf Piper hinzu. 

Entsetzt blickte Piper auf ihre Schwestern, die ebenso verzweifelt 

wie vergeblich versuchten, die Schlingpflanzen von ihren Hälsen zu 
reißen. Schon liefen ihre Gesichter blau an. 

Krampfhaft versuchte Piper, sich zu konzentrieren und ihre Kräfte 

zu aktivieren, doch der Schlag gegen den Kopf hatte sie offensichtlich 
so sehr geschwächt, dass sie sich kaum sammeln, geschweige denn 
zaubern konnte. Verzweifelt ließ sie den Arm wieder sinken. 

Ich muss mir schnell was einfallen lassen, um dem Dämon die 

Suppe zu versalzen, dachte sie, sonst ist es um Paige und Phoebe 
geschehen! Moment mal, »die Suppe versalzen!« – das könnte es sein! 

In Windeseile trat Piper den Rückzug in die Küche an. Während 

das Keuchen ihrer Schwestern aus dem Wohnzimmer immer 
verzweifelter klang, riss sie einen Küchenschrank auf. Als 
professionelle Köchin hielt sie in der Küche stets Ordnung, was ihr 

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jetzt zugute kam. Sie musste die große Pappschachtel nicht lange 
suchen. 

Es gibt zwei Dinge, dachte Piper, die kein Baum auf dieser Welt 

verträgt: Feuer … und eine ordentliche Portion Salz.  Um den 
Baumdämon abzufackeln, brauchte sie allerdings schon einen 
Flammenwerfer. Da war die andere Alternative schon einfacher zu 
bewerkstelligen. Mit zittrigen Händen riss sie die Salzschachtel aus 
dem Regal und stellte erleichtert fest, dass sie noch fast voll war. 

Umgehend stürmte sie ins Wohnzimmer zurück. 

Phoebe und Paige waren einer Ohnmacht inzwischen sehr nah, und 

der Baumdämon schien es zu genießen, die beiden Hexen qualvoll 
langsam zu erdrosseln. 

»Hey, Holzkopf!«, rief Piper. 

Knurrend drehte ihr der Dämon seine scheußliche Fratze zu. 

Da holte Piper aus und schleuderte dem Monstrum die 

Pappschachtel mit dem Salz entgegen. Mit einem dumpfen Geräusch 
zerplatzte die Packung auf dem Gesicht der Höllenkreatur, und eine 
Wolke von Salzkristallen ergoss sich über seine borkige Haut. Eine 
Sekunde lang schien die Zeit still zu stehen. Dann überstürzten sich 
die Ereignisse zum zweiten Mal. 

Mit einem markerschütternden Schrei bäumte sich das Ungetüm 

auf und ließ Phoebe und Paige los. Die tödlichen Triebe schossen 
zurück in die Klauen des Dämons, während dieser versuchte, sich das 
Salz aus dem Gesicht zu wischen. Ein böser Fehler, denn damit rieb er 
sich die winzigen Kristalle nur noch tiefer in die Furchen seiner 
schorfigen Haut. Und Pipers Plan schien zu funktionieren: Das Salz 
trocknete die Rinde des Dämons augenblicklich aus. Schon begannen 
einzelne Krusten aus seinem Gesicht herauszubrechen. 

»Verdammte Hexe!«, heulte der Baumdämon, »Was hast du 

getan?!« Vor Schmerz und Wut außer sich, begann er, blind um sich 
zu schlagen. Aber diesmal schafften es die Hexen mit Leichtigkeit, 
seinen blinden Hieben auszuweichen. Die Wohnzimmereinrichtung 
der Halliwells hatte dabei leider nicht so viel Glück. Ein Esstisch und 
zwei Stühle zerbarsten unter den Schlägen des hölzernen Ungetüms. 

»Kommt hier rüber«, rief Piper ihren Schwestern zu, die, endlich 

vom Griff des Monsters befreit, panisch Luft in ihre Lungen sogen. 

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»Wir müssen diesen wild gewordenen Setzling kaltstellen, bevor er 
noch das ganze Haus zerlegt!« 

Keuchend liefen Paige und Phoebe zu ihrer Schwester. 

»Paige, kannst du ihn noch weiter von uns wegstoßen?«, schrie 

Piper, um das Krachen der zu Bruch gehenden Möbel zu übertönen. 

»Mit dem größten Vergnügen!«, rief Paige und versetzte dem 

Dämon einen wütenden Stoß, der ihn in die andere Ecke des Zimmers 
katapultierte. 

Das muss reichen, dachte Piper, die hoffte, dass der Angreifer nun 

weit genug entfernt war, um ihre eigenen Kräfte anwenden zu können. 
Und dass sie dabei nicht erneut scheiterte … 

Kleine Rauchwolken drangen aus der Rinde des Dämons, als er 

sich aufrappelte und mit einem Wutschrei auf die drei Schwestern 
zustürmte. 

Mit klopfendem Herzen schloss Piper die Augen und konzentrierte 

sich erneut. Sie musste sich nur vorstellen, wie der heranstürmende 
Holzdämon explodierte und … 

Einen Sekundenbruchteil später donnerte ein ohrenbetäubender 

Knall durch das alte Halliwell-Haus. Noch während der Dämon 
vorwärts preschte, zerbarst er in tausend Teile. Messerscharfe 
Holzsplitter wurden durch den Raum geschleudert. Piper, Phoebe und 
Paige konnten sich gerade noch wegducken, um den tödlichen 
Geschossen zu entgehen. 

Dann herrschte auf einmal Stille im Wohnzimmer. 

Piper wischte sich ein paar verschmorte Sägespäne von der Bluse. 

»Kein Kunstdünger mehr für dich«, zischte sie den verkohlten 
Überresten des Holzdämons zu. 

»Meine Güte, das war knapp«, keuchte Phoebe und rieb sich den 

Hals, an dem immer noch Würgemale zu sehen waren. »Danke, 
Piper.« 

»Ja, das mit dem Salz war 'ne prima Idee, Schwesterherz«, 

pflichtete Paige bei. »Aber ich wäre dir wirklich dankbar, wenn du 
deine Geistesblitze demnächst ein wenig früher haben könntest …« 

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Aber Piper hörte schon gar nicht mehr hin. Ihr ging etwas ganz 

anderes durch den Kopf: Der zurückliegende Kampf war in vielerlei 
Hinsicht nicht so verlaufen, wie man es von den Zauberhaften  hätte 
erwarten können. 

Irgendetwas stimmte hier nicht … 

Beklommen blickte sie ihre Schwestern an. »Paige, Phoebe«, sagte 

sie ernst, »wir müssen reden …« 

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S

EUFZEND KLAUBTE PIPER die letzten Reste des 

Küchentisches zusammen und stopfte sie in eine große blaue Mülltüte, 
die Phoebe ihr aufhielt. 

Sie mochte gar nicht daran denken, was die Reparatur 

beziehungsweise der Neukauf der im Kampf zertrümmerten Möbel 
kosten würde. Und das zu einem Zeitpunkt, wo die Geschäfte im P3 
ohnehin nicht besonders gut liefen. Im Augenblick schien wirklich 
alles schief zu gehen, und genau darüber wollte sie mit ihren 
Schwestern reden. 

»Wenigstens hat dieser ungehobelte Klotz die Kaffeemaschine 

intakt gelassen«, sagte Paige und reichte Piper eine Tasse mit 
dampfendem Kaffee. 

Piper nahm sie dankbar entgegen und blickte ihre beiden 

Schwestern ernst an. »Der Kampf hätte uns nicht so schwer fallen 
dürfen«, sagte sie schließlich. »Zugegeben, dieser Holzkopf war ein 
ziemlich starker Dämon, aber wir sind schon mit ganz anderen 
Kalibern fertig geworden … und zwar ohne dass dabei die halbe 
Einrichtung zu Bruch gegangen wäre.« 

Piper warf einen Blick in das benachbarte Wohnzimmer, das 

immer noch aussah, als hätte dort eine Bombe eingeschlagen. »Ich 
hatte irgendwie den Eindruck, als wären wir … ich weiß nicht, wie 
ich's sagen soll … vom Pech verfolgt gewesen. Die Frage klingt 
vielleicht seltsam, aber sind euch in letzter Zeit vielleicht ähnliche 
Missgeschicke passiert?« 

Paige und Phoebe blickten ihre ältere Schwester skeptisch an. Aber 

so ganz abwegig schien Pipers Frage nicht zu sein. 

Nach ein paar Sekunden des Nachdenkens nickte Paige. »Nun ja«, 

begann sie, »ich bin zwar noch nie ein Glückspilz gewesen, aber jetzt, 
wo du es sagst … irgendwie scheine ich zurzeit tatsächlich eine kleine 
Pechsträhne zu haben. 

Gestern, im Büro des Sozialdienstes, wollte ich zum Beispiel ein 

wichtiges Dokument per Fax verschicken – und das Original wurde 
dabei vom Gerät zu Konfetti verarbeitet. Ich habe Stunden gebraucht, 

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um vom zuständigen Amt eine Zweitausfertigung zu bekommen. Ihr 
könnt euch vorstellen, wie sauer mein Boss war. Dabei konnte ich 
doch gar nichts dafür. Und vorgestern hatte ich ja diese Reifenpanne, 
erinnert ihr euch? Im strömenden Regen musste ich zwei Stunden lang 
auf den Abschleppdienst warten.« 

Paige starrte auf die Fingerspitzen ihrer rechten Hand. »Und beim 

Kampf gegen dieses Holzmonster hab ich mir auch noch einen 
Fingernagel abgebrochen«, fügte sie vorwurfsvoll hinzu. 

Phoebe strich sich nachdenklich eine Strähne aus der Stirn. »Mit so 

einer Tragödie kann ich zwar nicht mithalten, aber ich hab in den 
letzten Tagen zwei Knöllchen fürs Falschparken bekommen. Und 
dann hab ich in der Redaktion eine E-Mail geöffnet, die mit einem 
Computervirus infiziert war. Wie es aussieht, muss ich den 
entstandenen Schaden aus eigener Tasche bezahlen, weil ich nicht 
aufgepasst habe …« 

Piper runzelte besorgt die Stirn. Auch sie selbst hatte in den letzten 

paar Tagen mehr als nur ein wenig Pech gehabt. Ein Ventil an der 
Zapfanlage im P3 war geplatzt, und die Reparatur würde eine 
ordentliche Stange Geld kosten. Und dann war ihnen im Club eine 
ganze Ladung Shrimps wegen eines Defekts der Kühlanlage 
verdorben … 

Diese Vorfälle konnten natürlich reiner Zufall sein, aber in Piper 

nagte das unangenehme Gefühl, dass hier irgendetwas nicht mit 
rechten Dingen zuging. Und wenn sie in den letzten Jahren ihrer 
Hexenkarriere etwas gelernt hatte, dann, ihren Gefühlen zu trauen. 

Piper hob den Kopf. »Leo!«, sagte sie nur. 

Sekunden später begann die Luft zu flimmern. In einer Aura aus 

blauem Licht materialisierte Leo, Pipers Ehemann und seines 
Zeichens ein Wächter des Lichts. 

»Hi, Schatz«, rief Leo und strahlte seine Frau an. Doch als er das 

Schlachtfeld erblickte, das einst das Wohnzimmer der Halliwells 
gewesen war, verfinsterte sich seine Miene. »W-Was in aller Welt ist 
denn hier passiert?«, fragte er entgeistert. 

Piper winkte ab. »Nur der übliche dämonische Hausbesuch zur 

Abendstunde. Doch um ehrlich zu sein, mir bereitet etwas ganz 

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anderes Sorge: Weißt du vielleicht von einem Fluch oder einem Bann, 
der seinen Opfern … nun ja … Unglück bringt?« 

Leo riss den Blick von der zertrümmerten Wohnzimmereinrichtung 

los und blickte seine Frau ernst an. »Mmh, ich glaube nicht, dass so 
eine Art von Bann existiert. Ihr wisst ja wahrscheinlich besser als ich, 
dass so ein Fluch immer sehr eindimensional funktioniert. Du kannst 
damit einen Mann zu einem Frosch machen …« 

»Ach, das geht wirklich?«, rief Paige begeistert dazwischen. 

»Könnt ihr mir beibringen, wie das geht?« 

»… aber jemandem Unglück zu bringen, ist viel zu kompliziert«, 

fuhr Leo fort. »Dazu müsste man mehr Faktoren berücksichtigen, als 
man in einem einzelnen Fluch unterbringen kann. Es sei denn …« Er 
erstarrte. 

»Was? Was ist los, Leo?«, fragte Piper. Diese Reaktion ihres 

Mannes gefiel ihr ganz und gar nicht. 

Der  Wächter des Lichts sah die drei Schwestern eindringlich an. 

»Hat eine von euch in letzter Zeit etwas zerbrochen? Ein Glasgefäß 
vielleicht?« 

»Nicht, dass ich wüsste«, sagte Piper. 

»Nö«, sagte Phoebe. 

»Ähm … also …«, stotterte Paige. 

»Paige!«, riefen Piper und Phoebe gleichzeitig aus. 

Die jüngste der drei Hexen schien förmlich in sich 

zusammenzusacken. »Na ja«, presste sie hervor, »ich war neulich auf 
dem Dachboden und hab ein bisschen in dieser alten Kiste 
herumgewühlt. Und dabei ist mir diese komische Flasche 
heruntergefallen. Ich hab mir nicht viel dabei gedacht, und …« 

»Komische Flasche?«, wiederholte Leo und schüttelte den Kopf. 

»Folgt mir auf den Dachboden!«, rief er, bevor er in einer Lichtwolke 
verschwand. 

»Was hast du nur wieder angestellt, Paige?«, fragte Piper in einem 

vorwurfsvollen Ton. Dann lief sie in den Flur, um ihrem Ehemann auf 
den Dachboden zu folgen. 

Paige seufzte. 

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Ein paar Sekunden später hatten die Zauberhaften  den Speicher 

erreicht. 

Leo wartete bereits auf sie. »Paige, wo ist diese Flasche, die du 

zerbrochen hast?«, fragte er ruhig. 

»Ja, das würde ich auch gern wissen«, sagte Piper. Ihre Stimme 

klang weitaus unduldsamer als die ihres Mannes. 

Paige schluckte und schob den Pappkarton zur Seite, hinter dem sie 

die Scherben des Flakons außer Sicht geschafft hatte. 

»Du hast sie vor mir versteckt?«, fragte Piper fassungslos. 

Paige zuckte hilflos mit den Schultern. »Na ja, ich hatte Angst, 

dass du mir eine Gardinenpredigt hältst, weil ich diese dumme kleine 
Flasche zerbrochen habe. Was ist denn schon dabei?« 

Es war Leo, der Paiges Frage beantwortete. Der Wächter des Lichts 

kniete neben den Scherben nieder, begutachtete sie sorgfältig und 
setzte die größten Fragmente provisorisch wieder zusammen. »Das 
Design ist eindeutig. Paige, du hast versehentlich einen Blimp 
freigesetzt.« 

»Einen was?«, fragten Piper, Phoebe und Paige gleichzeitig. 

Leo stand wieder auf und verzog das Gesicht. »Einen so genannten 

Blimp.  Eigentlich heißen die kleinen Kerlchen ganz anders, aber ihr 
wahrer Name ist für sterbliche Zungen absolut unaussprechlich. Ihr 
wisst doch, was ein ›Imp‹ ist, oder?« 

Phoebe kratzte sich am Hinterkopf. »Das ist doch das englische 

Wort für ›Flaschenteufel‹, richtig?« 

»Genau.« Leo nickte. »Und ein Blimp ist eine besondere Art dieser 

Klein-Dämonen. Oder besser gesagt, eine Unart.« 

»Willst du damit sagen, solche Flaschenteufel gibt es wirklich, 

Leo?«, fragte Paige. »So wie in ›Aladin und die Wunderlampe‹?« 

Leo seufzte. »Nicht ganz. Im Gegensatz zu den Imps aus dem 

Märchen erfüllen die Blimps ihren Besitzern keine Wünsche – 
sondern sie bringen nichts als Unglück. Daher auch der Name 
›Blimps‹, ein Akronym für Bad-Luck-Imps. Ich nahm allerdings an, 
dass kaum noch Exemplare von ihnen existieren. Eure Großmutter 

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muss einen dieser kleinen Quälgeister überwältigt und in diesem 
Flakon gefangen gehalten haben – zumindest bis du kamst, Paige.« 

Die erbosten Blicke ihrer Schwestern richteten sich auf Paige. Die 

junge Hexe schluckte hart. »Hey, seht mich nicht so an. Es war keine 
Absicht, okay?« 

»Darüber reden wir später«, sagte Piper kopfschüttelnd. Dann 

wandte sie sich wieder an ihren Mann. »Was sollen wir denn jetzt 
machen, Leo?« 

Doch der Wächter des Lichts zuckte nur mit den Achseln. »Ich 

würde mal im Buch der Schatten nachsehen. Ich bin sicher, ihr findet 
darin irgendeinen Gegenzauber. Und bis dahin … würde ich an eurer 
Stelle verdammt vorsichtig sein und keine gefährlichen Aktionen 
erwägen. Diese Blimps sind verdammt kreativ, wenn es darum geht, 
Ungemach zu bereiten.« 

Leo hob die Hand, um sich von den Schwestern zu verabschieden. 

Doch bevor er sich in einem Strudel aus Licht auflösen konnte, 
machte Piper einen Schritt nach vorne und packte ihren Ehemann an 
der Schulter. 

»Hey, nicht so schnell! Wo willst du denn hin? Wie wäre es, wenn 

du uns hilfst, diesen Blimp loszuwerden?« 

Aber Leo schüttelte nur den Kopf. »Tut mir Leid, Piper. Ich bin ein 

Wächter des Lichts. Meine Aufgabe ist es, zu helfen und zu heilen. 
Und diesen Job kann ich nur schlecht erfüllen, wenn das Pech auch an 
mir klebt. Bis ihr diesen Flaschengeist wieder eingefangen habt, muss 
ich euch daher aus dem Weg gehen – bevor er auch Macht über mich 
erlangt.« 

Leo lächelte seine Frau liebevoll an. »Aber keine Sorge. Ich 

behalte euch im Auge, Piper.« Mit diesen Worten verschwand er in 
einer blauen Lichtwolke. 

»Na, großartig«, zischte Piper und ging hinüber zum Buch der 

Schatten,  das wie immer auf einem Podest in der Mitte des Raumes 
ruhte. 

»Ich hoffe für dich, dass wir im Buch der Schatten einen 

Gegenzauber finden, Paige. Andernfalls wird dir dieser Blimp gar
nicht so viel Ärger bereiten können, wie ich dir dann machen werde, 
Schwesterherz.« 

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Z

U ALLER ERLEICHTERUNG erwies sich das Buch der 

Schatten – wie fast immer – als große Hilfe. 

Kaum hatte Phoebe den Folianten aufgeschlagen, fand sie auch 

schon den Eintrag, den sie suchte. 

Auf irgendeine magische Art und Weise, die sie selbst nicht so 

ganz verstanden, konnte dieses alte Buch seinen Inhalt selbständig 
verändern und den Zauberhaften  so mit einem Hinweis oder einem 
Spruch bei ihrem jeweiligen Problem helfen. 

Auf einer vergilbten Doppelseite fand sich die Abbildung eines 

kleinen Flakons, der mit einer Art waberndem, flüssigem Licht gefüllt 
war. 

»Hört euch das an«, sagte Phoebe und begann, den in 

altertümlichen Lettern geschriebenen Text zu entziffern. »›Der 
Mxyzptlk‹ … Leo hat Recht, diesen Namen kann wirklich kein 
Mensch aussprechen … Der Blimp also, ›lebt traditionell in gläsernen 
Behältnissen und kann mit dem richtigen Spruch auch in ein solches 
gebannt werden. Er gehört zur Klasse der niederen Dämonen und hat 
die Fähigkeit, Pech zu bringen. Wer den Blimp freisetzt, wird 
automatisch zu seinem Besitzer – und damit zu seinem ewigen Opfer. 
Der Blimp ist ein dämonischer Parasit und ernährt sich von den 
negativen Emotionen, die frei werden, wenn seine Opfer auf ihre 
Pechsträhne reagieren.‹« 

»Na, großartig«, knurrte Piper. »Steht da auch drin, wie man dieses 

kleine Monster vernichtet?« 

Phoebe überflog die nachfolgenden Zeilen im Buch. »Hier steht 

nur der Spruch, mit dem man ihn in einer Flasche festsetzen kann. 
›Ein Blimp verliert erst die Macht über seine Opfer, wenn ein anderes 
Individuum freiwillig zu seinem neuen Besitzer wird.‹« 

»So dumm ist doch keiner«, heulte Piper auf. »Heißt das, wir 

haben diesen kleinen Quälgeist jetzt für den Rest unseres Lebens am 
Haken?« 

Phoebe las weiter. »›Wenn man den Blimp findet – was nicht eben 

leicht ist, da er nur aus einer Art flüssigem Licht besteht, kann man 

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ihn in seinem gläsernen Aufenthaltsort bannen und ihn damit 
wenigstens vorübergehend seiner Macht berauben.‹« 

»Na, das ist doch schon mal was«, sagte Piper. »Das heißt also, wir 

müssen jedes Glasgefäß im Haus daraufhin überprüfen, ob sich ein 
kleiner Flaschenteufel darin befindet.« 

Piper nahm Bleistift und Papier von einer kleinen Ablage und 

notierte sich den Zauberspruch, mit dem der Blimp – wenn auch nur 
vorübergehend – gebannt werden konnte. 

Dann deutete sie auf die Dachbodentür. 

»Auf geht's, Mädels.« 

Eine gute Stunde später wirkte das Haus der Halliwells mehr denn 

je wie ein Schlachtfeld. 

Phoebe und Paige stiegen vorsichtig über die Trümmer des 

zurückliegenden Kampfes und inspizierten behutsam jedes Glasgefäß, 
das sie fanden. 

Argwöhnisch spähten sie in sämtliche Blumenvasen, Karaffen und 

Trinkgläser. 

Piper öffnete unterdessen alle Küchenschränke und kontrollierte 

jedes Gewürzglas und jede gläserne Vorratsdose. Vergeblich. In den 
Behältnissen war genau das, was darin sein sollte: Gewürze, Kräuter 
und Backzutaten. Aber keine Spur von einem quirligen, kleinen 
Kobold aus flüssigem Licht. 

Schließlich trafen sich die drei Zauberhaften in der Küche wieder. 

Phoebe schenkte ihnen eine Tasse Kaffee ein, nicht ohne vorher einen 
kritischen Blick in die Glaskanne geworfen zu haben. 

»Wir haben überall gesucht«, sagte Paige und seufzte. »Vielleicht 

hat dieser kleine Quälgeist Halliwell-Manor schon längst verlassen.« 

Phoebe schüttelte den Kopf. »Dem Buch der Schatten zufolge 

muss sich der Blimp immer in der Nähe seiner Besitzer aufhalten. Er 
muss also noch irgendwo im Haus sein.« 

»Aber wo?« Paige stieß wütend die Luft aus. »Wir haben doch jede 

Flasche und jedes Glasgefäß zwei Mal umgedreht.« 

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»Dann werden wir eben noch einmal suchen und jede Flasche drei 

Mal umdrehen«, sagte Piper. »Wir müssen diesen verdammten Dämon 
finden und unschädlich machen.« 

Sie blickte ihre Schwestern ernst an. »Ihr habt doch selbst erlebt, 

was im Gefecht gegen den Baumdämon passiert ist. Für einen 
normalen Menschen ist so eine Pechsträhne einfach nur ärgerlich, aber 
im Kampf gegen die Mächte der Finsternis kann sie lebensbedrohlich 
sein. Und wie ich unsere dämonischen Widersacher kenne, wird der 
nächste Angriff nicht lange auf sich warten lassen.« 

Piper wollte sich schon wieder an die Arbeit machen, als ihr etwas 

einfiel. Aus der Gesäßtasche ihrer Jeans zog sie ein halbes Dutzend 
Briefumschläge hervor. Sie sah sie kurz durch und reichte dann einen 
davon an Phoebe weiter. 

»Hier, Süße, der ist an dich adressiert. Ich hab den ganzen Packen 

vorhin hinter der Kommode im Flur gefunden. Die Briefe sind schon 
vor ein paar Tagen angekommen und müssen wohl hinter die 
Kommode gerutscht sein.« 

Neugierig nahm Phoebe den Brief entgegen. Als Adressant prangte 

ein großer, gestempelter Schriftzug auf der Rückseite des Umschlags: 
»Markel Music«. 

Einen Moment lang starrte Phoebe verständnislos auf den 

Absender. Wo hatte sie diesen Namen schon einmal gehört? 
Natürlich! »Markel« war der Name dieses schmierigen Musik-
Managers aus dem Plattenladen gewesen. Wahrscheinlich schickte er 
ihr nun Werbematerial zu seiner neuen, ach so tollen Boygroup. 

Mit gedämpfter Erwartung riss Phoebe den Briefumschlag auf. 

Zum Vorschein kam eine kleine Eintrittskarte und ein kurzes 
Begleitschreiben. 

Herzlichen Glückwunsch! 

Sie sind der/die stolze Gewinner(in) einer Freikarte für das 
Konzert der neuen Supergruppe NATURE SONS. Die beiliegende 
Eintrittskarte gilt gleichzeitig als Backstage-Pass. Bei Verlangen 
bitte vorzeigen. 

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»Und? Was Wichtiges?«, fragte Paige. »Der Liebesbrief eines 

heimlichen Verehrers vielleicht?« 

Phoebe schüttelte nur den Kopf und wollte die Eintrittskarte schon 

beiseite legen, als ihr Blick auf das aufgedruckte Veranstaltungsdatum 
fiel. Das Konzert fand heute  statt, genauer gesagt in einer guten 
Stunde! Was nicht verwunderlich war, denn der Brief hatte ja einige 
Tage unbemerkt unter der Kommode gelegen. 

Wortlos blickte die junge Hexe auf das Trümmerfeld, das einst ihr 

Wohnzimmer gewesen war. In der Küche hatte Piper bereits damit 
angefangen, alle Regale zum zweiten Mal nach dem Unterschlupf des 
Blimps zu durchforsten. 

Phoebe fand, dass das nach einer verdammt langen Nacht aussah – 

und das, obwohl sie an diesem Chaos doch völlig unschuldig war! 
Insofern bot das Ticket eine elegante Möglichkeit, sich zu verdrücken. 

Sie kämpfte noch eine Sekunde lang mit ihrem schlechten 

Gewissen, dann sagte sie grinsend: »Piper, Paige – es tut mir echt 
Leid, aber ihr müsst wohl ohne mich weitersuchen. Ich hab hier eine 
Karte für ein Konzert, das ich mir unbedingt ansehen möchte.« 

Das war zwar glatt gelogen, denn sie interessierte sich nicht die 

Bohne für eine wahrscheinlich zweitklassige Boyband. Aber so eine 
Veranstaltung war immer noch besser, als den Abend mit 
Aufräumarbeiten und der Suche nach einem lästigen Flaschendämon 
zu verbringen. 

»Wirklich?«, fragte Paige interessiert. »Wer spielt denn?« 

»Oh, die äh …«, Phoebe warf einen schnellen Blick auf das Ticket, 

»… die Nature Sons!« 

»Nie gehört«, murmelte Paige und schüttelte den Kopf. 

»Na ja, die Jungs sind auch noch ganz neu im Geschäft. Aber wenn 

sie mal so berühmt werden sollten wie die Backstreet Boys, kann ich 
sagen, dass ich eines ihrer ersten Konzerte gesehen habe.« 

»Das ist natürlich ein Argument«, stimmte Paige zu. »Nimmst du 

mich mit?« 

Phoebe räusperte sich. »Tut mir Leid, Paige, die Karte gilt nur für 

eine Person …« 

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»… und außerdem wirst du mir gefälligst bei der Suche nach dem 

Blimp helfen, Paige!«, rief Piper gereizt dazwischen. »Immerhin hast 
du uns diesen Schlamassel eingebrockt.« 

»Ooch, wie gemein«, schmollte Paige, aber Pipers Blick duldete 

keinen Widerspruch. 

»Ist es denn okay, wenn ich gehe?«, fragte Phoebe und lächelte 

ihre ältere Schwester zaghaft an. 

Piper stellte ein halb volles Marmeladenglas zurück in den 

Kühlschrank und zuckte die Schultern. »Ich denke schon. Paige und 
ich können genauso gut allein weitersuchen. Wäre doch schade, wenn 
du die Karte verfallen ließest. Aber sei vorsichtig – du weißt ja, dass 
wir derzeit nicht gerade auf einer Welle des Glücks reiten.« 

Phoebe nickte. »Ich lasse das Auto am besten stehen und nehme 

den Bus. Da kann nicht viel passieren.« 

Mit diesen Worten lief Phoebe die Treppe zu ihrem Zimmer 

hinauf. Wenn sie es noch rechtzeitig zum Konzertbeginn schaffen 
wollte, musste sie sich schnell umziehen. Zum Glück hielt der Bus 
nicht weit vom Haus der Halliwells entfernt. 

Sie öffnete ihren Kleiderschrank und wählte eine luftige Bluse aus, 

dazu eine Jeans. Das musste reichen. Dann schlüpfte sie in ihre 
Lieblingslederjacke und stürmte wieder hinunter ins Erdgeschoss. 

Piper und Paige waren noch immer dabei, jede Ecke des Hauses 

nach dem Blimp abzusuchen. 

»Ich bin dann mal weg!«, rief Phoebe und öffnete die Haustür. 

Piper blickte nur kurz auf. »Okay. Viel Spaß. Und pass auf dich 

auf!« 

»Geht klar!«, rief Phoebe und trat ins Freie. 

Sekunden später fiel die Eingangstür hinter ihr ins Schloss. 

In der Küche des Halliwell-Hauses unterbrach Piper wenig später 

wie vom Donner gerührt ihre Suche und runzelte die Stirn. »Mhm …« 

»Hast du was gefunden?«, fragte Paige. 

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Piper schüttelte nachdenklich den Kopf. »Nein, ich wundere mich 

nur gerade über etwas«, murmelte sie. 

Paige blickte ihre Schwester erwartungsvoll an. »Und das wäre?« 

»Nun ja … wenn die Zauberhaften  momentan vom Pech verfolgt 

werden – wie kann Phoebe dann bei einem Preisausschreiben 
gewinnen?« 

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Z

UM GLÜCK MUSSTE PHOEBE nicht lange auf den Bus 

warten, denn die Nächte in San Francisco waren um diese Jahreszeit 
noch frisch. 

Sie hatte gerade noch Zeit, auf dem Fahrplan die richtige Linie 

herauszusuchen, als der Bus auch schon schnaufend vor ihr hielt. 

Seltsam, dachte Phoebe beim Einsteigen und blickte noch einmal 

auf ihre Eintrittskarte, das Konzert findet in der Mondial-Halle am 
Rande des Industriegebietes statt. 

Sie war zwar noch nie dort gewesen, aber soweit sie wusste, war 

das Mondial eine alte Lagerhalle, in der normalerweise nur Punk- und 
Independent-Konzerte unbekannter Bands stattfanden. Wahrscheinlich 
war dieser Markel so abgebrannt, dass er für seine Nature Sons keinen 
besseren Auftrittsort buchen konnte. 

»Lass mich raten«, sagte eine Stimme neben ihr, »du fährst auch zu 

dem Konzert.« 

Phoebe blickte überrascht auf. Sie hatte sich einfach auf den 

nächstbesten freien Platz gesetzt, ohne auf ihre Sitznachbarin zu 
achten. Das Mädchen, es war vielleicht ein paar Jahre jünger als 
Phoebe, trug eine Fransenfrisur mit blond und pink gefärbten 
Strähnen. Ein wenig im Kontrast zu dem leicht punkigen Hairstyling 
stand das sanfte, freundliche Gesicht, aus dem es Phoebe 
erwartungsvoll anlächelte. 

»Ja, stimmt«, nickte Phoebe und lächelte der jungen Frau zu. »Ich 

kenne die Band eigentlich gar nicht, aber ich hab bei einem 
Preisausschreiben diese Eintrittskarte gewonnen.« 

Fast entschuldigend zog sie das Ticket aus der Hosentasche. Das 

Lächeln ihrer Sitznachbarin wurde noch breiter. 

»Na, das ist ja ein Zufall – ich auch!« Grinsend hielt das Mädchen 

sein Ticket hoch, das bis auf die Seriennummer identisch mit Phoebes 
war. »Ich heiße übrigens Melissa.« 

»Freut mich, Melissa. Ich bin Phoebe. Wo hast du denn dein Ticket 

gewonnen?« 

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»Ach, ich hab einen Coupon im San Francisco Magazine 

ausgefüllt – und ein paar Tage später hatte ich schon die Karte in der 
Post.« 

Phoebe runzelte die Stirn. »Tja, ich wünschte, es wäre so leicht, im 

Lotto zu gewinnen wie bei diesem Nature-Sons-Preisausschreiben. Ich 
bin ja mal gespannt, was uns da erwartet.« 

Wie aufs Stichwort setzte sich der Bus rumpelnd in Bewegung. 

Die Fahrt zum Industriegebiet dauerte fast eine halbe Stunde, aber 

zum Glück erwies sich Melissa als angenehme Gesprächspartnerin. 

Nach ein paar Minuten hatte Phoebe auch ihr schlechtes Gewissen 

vergessen. Natürlich war es nicht ganz fair, ihre Schwestern bei der 
Fahndung nach diesem Blimp allein zu lassen, aber zum Ausgleich 
würde sie morgen eben doppelt so lange suchen. Doch wahrscheinlich 
war die ganze Sache bereits erledigt, wenn sie heute Abend nach 
Hause kam … 

An jeder Haltestelle stiegen neue Fahrgäste zu, und zu dieser 

fortgeschrittenen Stunde waren es fast nur junge Leute, die 
offensichtlich alle zum Konzert der Nature Sons wollten. 

Und wie Phoebe zudem mitbekam, schienen sie fast alle Freikarten 

für das Konzert gewonnen zu haben. 

Wahrscheinlich ist der ganze Auftritt ohnehin nur eine 

Werbekampagne, um die Band bekannt zu machen, dachte sie. Sie 
hoffte nur, dass die Jungs wenigstens halbwegs singen und performen 
konnten. 

Doch selbst das schlechteste Konzert war immer noch besser, als 

den Abend mit der Suche nach einem Blimp zu verbringen. 

Fahl leuchtete der Mond über dem schäbigen Industriegebiet, als 

der Bus sein Ziel endlich erreichte. 

Zusammen mit einem guten Dutzend weiterer Konzertbesucher 

betrat Phoebe den Vorplatz des Mondial.  Tatsächlich war die 
Vergangenheit dieses Ortes nicht zu übersehen. Die Konzerthalle war 
ein ehemaliges Warenlager, dessen Putz bereits zu großen Teilen 
abgebröckelt war. Selbst im blassen Mondlicht konnte man die 
nackten Ziegelsteine des alten Gemäuers gut erkennen. Der Boden des 

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Vorplatzes bestand aus festgestampfter Erde, und zum Glück hatte es 
heute nicht geregnet, sonst wären die Konzertbesucher knöcheltief im 
Schlamm versunken. 

»Brrr, was für eine heruntergekommene Bude.« Melissa verzog 

verdrießlich das Gesicht. 

Phoebe lächelte aufmunternd. »Stimmt, aber andererseits hat das 

Ganze auch seinen Reiz. Das ist doch mal was anderes als diese 
geleckten Chrom- und Glas-Hallen, in denen solche Konzerte sonst 
immer stattfinden. Das hier ist irgendwie … authentisch.« 

Wenig überzeugt zuckte Melissa die Schultern. »Wenn du meinst«, 

sagte sie. »Lass uns reingehen, ich finde es hier draußen ziemlich 
kalt.« 

Phoebe nickte und blickte sich um. Auch die anderen 

Neuankömmlinge begannen bereits, sich in der kleinen Schlange vor 
dem Eingang einzureihen. 

Aber etwas hier war seltsam. 

Dies war nicht das erste Konzert, das Phoebe besuchte, und 

normalerweise sah man stets ein paar Journalisten, die, zumeist recht 
wichtigtuerisch, mit Kameras und Notizblöcken anrückten, um eine 
Konzertkritik für die lokalen Stadtmagazine und Zeitungen zu 
schreiben. Doch soweit Phoebe sah, stand hier weit und breit kein 
einziger Reporter herum. 

Wahrscheinlich ist die Band einfach zu unbedeutend, als dass sich 

irgendein Magazin dafür interessiert, dachte Phoebe und stellte sich 
mit Melissa vor dem Einlass an. Der Andrang hielt sich in Grenzen, 
und so ging es zügig voran. 

Ein junger Mann in einer schäbigen Lederjacke stand am Eingang 

zur Halle, warf einen kurzen Blick auf die Eintrittskarten und winkte 
die Besucher dann mit einer gelangweilten Geste hinein. Als Phoebe 
ihr Gratis-Ticket aus der Tasche zog und bereithielt, registrierte sie 
aus den Augenwinkeln heraus eine Bewegung. 

Ihr Kopf ruckte herum. 

Links von der Halle standen ein paar große, metallene 

Warenbehälter, die scheinbar seit Urzeiten dort vor sich hin rosteten. 

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Nichts ungewöhnliches, aber Phoebe war sich sicher, einen Schatten 
gesehen zu haben, der über die Container hinweggehuscht war. 

Einen großen Schatten. 

»Alles in Ordnung?«, fragte Melissa, die Phoebes Stirnrunzeln 

bemerkt hatte. 

Phoebe nickte geistesabwesend. Wahrscheinlich war es nur der 

Schatten einer Katze gewesen, der durch das Mondlicht unnatürlich in 
die Länge gezogen worden war. Und doch setzte sich ein mulmiges 
Gefühl in ihrer Magengrube fest. Als eine der Zauberhaften war sie es 
gewöhnt, ständig mit einer Attacke von übernatürlichen Wesen zu 
rechnen. Und es war immer besser, ungewöhnlichen Beobachtungen 
auf den Grund zu gehen, solange man noch die Zeit dazu hatte. 

»Melissa, entschuldige mich bitte für einen Augenblick«, sagte 

Phoebe. »Ich muss mal eben, äh, für kleine Mädchen.« 

Das Mädchen blickte die junge Hexe erstaunt an. »Aber ich bin 

sicher, dass es da drin auch Toiletten gibt«, erwiderte sie. »Ich weiß 
nicht, so etwas ist doch Vorschrift für Veranstaltungshallen, oder?« 

»Sicher«, erwiderte Phoebe grinsend, »aber so wie dieser Bau 

schon von draußen aussieht, möchte ich die Toilettenräume gar nicht 
erst sehen. Ich bin gleich wieder da.« 

Sie winkte Melissa kurz zu und ging mit schnellen Schritten auf 

die Container zu. Noch während sie die mindestens zwei Meter hohen 
Metallkisten vorsichtig umrundete, tastete sie die Brusttasche ihrer 
Lederjacke ab. Zum Glück hatte sie ihr Handy eingesteckt. Sollte 
dieser Schatten zu etwas anderem gehören als zu einer streunenden 
Katze, konnte sie immer noch ihre Schwestern anrufen und sie um 
Hilfe bitten. 

Phoebe war jetzt außer Sichtweite der Warteschlange. Hinter den 

rostigen Containern erstreckte sich ein weiterer Hof, auf dem ein 
Lastwagen metallisch im Mondlicht glänzte. Ansonsten war der Platz 
verlassen. 

Muss mich wohl getäuscht haben, dachte Phoebe und wollte schon 

wieder umkehren, als ein Geräusch hinter dem LKW an ihr Ohr drang. 
Es klang, als sei irgendjemand oder irgendetwas gegen eine Blechdose 
gestoßen. 

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Die junge Hexe ging sofort in Abwehrposition. 

»Ist da jemand?«, rief sie in die Dunkelheit. 

Keine Antwort. Warum auch? Wenn sich dort in der Dunkelheit 

wirklich jemand vor ihr versteckte, dann würde dieser ihr sicherlich 
nicht aus reiner Höflichkeit antworten. 

Vorsichtig schlich sie auf den Laster zu. Nach ein paar Schritten 

kam ihr eine Idee: Sie bückte sich und hob einen kleinen Kiesel auf. 
Dann schleuderte sie den Stein links von dem Lastwagen über den 
Hof, während sie sich dem Fahrzeug von rechts näherte. Wenn 
tatsächlich jemand hinter dem Wagen lauerte und auf diesen alten 
Trick hereinfiel, dann würde er dem Geräusch des aufschlagenden 
Steins zufolge schließen, dass Phoebe von links kam. Mit etwas Glück 
hätte sie das Überraschungsmoment auf ihrer Seite, wenn sie dagegen 
plötzlich aus der anderen Richtung auftauchte. 

Mit einem gedämpften Klackern schlug der Kiesel auf dem Boden 

auf. Phoebe beschleunigte ihre Schritte. 

Behutsam umrundete sie den LKW. 

Nichts. 

Das Einzige, was Phoebe sah, war ein kleiner, leerer Farbeimer, 

der auf dem Boden lag. Wer auch immer hier gewesen war, er musste 
im Dunkeln gegen den Blecheimer gestoßen sein und das Geräusch 
verursacht haben, das Phoebe gehört hatte. Die junge Hexe biss sich 
auf die Unterlippe. Und wer auch immer hier gewesen war, er konnte 
noch nicht weit sein! 

Phoebe schlich an der Längsseite des Lastwagens vorbei und 

spähte in die Dunkelheit. Der Platz lag im Schein des Mondlichtes und 
bot außer dem abgestellten LKW keinerlei Deckung. 

Es gab keinen Ort, an dem man sich hier hätte verstecken können – 

es sei denn … 

Sie blickte nach oben. 

… es sei denn, jemand versteckte sich auf dem Lastwagen. So 

nahe, wie sie jetzt beim LKW stand, konnte sie keinen Blick auf die 
Oberseite der Abdeckplane werfen. Ohne den Laster aus den Augen 
zu lassen, trat Phoebe Schritt für Schritt zurück. 

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Wenn irgendjemand auf dem Dach des Fahrzeugs lauerte, dann 

würde sie ihn jeden Augenblick sehen müssen. 

In diesem Moment glaubte Phoebe, ein leises Knurren zu hören. 

Sie erstarrte. 

Und tatsächlich! Lautlos und geschmeidig huschte eine Gestalt 

über das Dach des Lastwagens und sprang auf der anderen Seite 
herunter. 

Als Phoebe hörte, wie jenseits des Lasters der Kies knirschte, 

stürmte sie los. Mit ein paar schnellen Schritten hatte sie das Gefährt 
umrundet. 

Im gleichen Augenblick huschte ein großer Schatten über den 

Platz, weg von Phoebe und dem LKW. 

Die junge Hexe keuchte überrascht auf und stürmte hinterher. Sie 

konnte nicht genau erkennen, was sie verfolgte, aber was immer es 
war, es war überraschend schnell. Geschmeidig wie ein wildes Tier 
huschte der Schatten auf einen Stapel von Müllsäcken zu, die an der 
Rückseite der Konzerthalle standen, und verschwand dahinter. 

Sekunden später erreichte auch Phoebe die Stelle. Von dem 

Schatten war nichts mehr zu sehen, dafür entdeckte sie etwas anderes: 
Eine kleine Tür führte ins Innere der Halle. Wahrscheinlich der 
Notausgang. Was immer Phoebe verfolgt hatte, es war ganz 
offensichtlich durch diesen Eingang verschwunden. 

Vorsichtig stieß Phoebe die Tür auf. Ein scharfer, moschusartiger 

Geruch lag in der Luft. 

Vor ihr erstreckte sich ein schmaler Gang, an dessen Wänden ein 

paar Plakate vergangener Konzerte hingen. Es dauerte ein paar 
Sekunden, bis Phoebe sich an das Licht gewöhnt hatte. Mit 
zusammengekniffenen Augen schlich sie vorwärts. Plötzlich hörte sie 
hinter sich Schritte! 

Sie wirbelte herum und hob die Arme zur Verteidigung. 

Ihr gegenüber stand ein kleiner, untersetzter Mann und funkelte sie 

böse an. 

Phoebe erkannte ihn sofort wieder. Es war Markel, der Manager 

der Nature Sons. 

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»Hast du dich verlaufen, Kleine?«, knurrte er. 

Phoebe ließ die Fäuste wieder sinken. Markel war zwar alles 

andere als sympathisch, aber sicherlich keine dämonische Bedrohung. 
Und er schien sie nicht wiederzuerkennen. 

»Ich, äh, hab nur nach der Toilette gesucht«, sagte Phoebe schnell 

und versuchte, ein unschuldiges Gesicht zu machen. Vielleicht hätte 
sie, was das anging, Unterricht bei Paige nehmen sollen, denn Markel 
blickte sie an, als glaube er ihr kein Wort. 

Dann deutete er mit abfälliger Geste den Gang hinunter. »Die 

Waschräume sind da vorn. Neben dem Haupteingang. Wo du  auch 
sein solltest!« 

Phoebe schluckte und folgte der Richtung, in die Markel gezeigt 

hatte. 

»Tut mir Leid«, murmelte sie, »hab mich wohl verlaufen.« 

Damit war ihre Suche nach dem geheimnisvollen  Schatten wohl 

vorerst beendet. Markel blieb zurück, und Phoebe konnte förmlich 
spüren, wie er jeden ihrer Schritte misstrauisch beobachtete. Sie hatte 
das Ende des Ganges fast erreicht, als aus einer Seitentür eine junge 
Frau trat. Sie war unwesentlich älter als Phoebe und hatte ihr blondes 
Haar zu einem schlaffen Pferdeschwanz zusammengebunden. Aus 
blassblauen Augen blickte sie Phoebe überrascht an. 

»Kann ich Ihnen helfen?«, fragte die junge Frau mit einem 

schüchternen Lächeln und wagte es dabei kaum, Phoebe in die Augen 
zu sehen. 

»Äh, nein, ich bin nur auf dem Weg zur …« Doch Phoebe kam 

nicht dazu, den Satz zu beenden. 

»Vikki!«, brüllte Markel plötzlich aus dem Hintergrund. »Wo zum 

Teufel haben Sie gesteckt? Ich bezahle Sie nicht als meine 
Assistentin, damit Sie sich während der Arbeit das Näschen pudern – 
während Hinz und Kunz hier durch den Backstage-Bereich 
schleichen!« 

Die beiden Frauen blickten Markel an. Die Assistentin voller 

Schuldbewusstsein, Phoebe voller Abneigung. 

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Wenn ich die Assistentin dieses Ekels wäre, dachte Phoebe, würde 

ich mich nicht so anschnauzen lassen. Aber das ist schließlich nicht 
mein Problem. 

»Bin schon so gut wie weg«, sagte sie und machte eine 

besänftigende Handbewegung. Dann ging sie den Flur weiter hinunter, 
in Richtung Haupteingang. Bevor sie die schäbige Eingangshalle 
erreichte, hörte sie noch, wie Markel seiner Assistentin weitere 
Vorwürfe machte. Die Antworten der jungen Frau klangen, als ob sie 
den Tränen nahe wäre. 

Was für ein Mistkerl, dachte Phoebe. Von der schleimigen 

Freundlichkeit, die Markel noch im Plattenladen an den Tag gelegt 
hatte, war nichts mehr zu spüren. 

Kopfschüttelnd blickte Phoebe durch die Eingangshalle. Die 

meisten Gäste waren bereits in den eigentlichen Konzertsaal 
gegangen. Nur ein paar Nachzügler standen noch in der Halle und 
kauften an einem Erfrischungsstand ein paar – wahrscheinlich maßlos 
überteuerte – Softdrinks. Unter ihnen war auch Melissa. 

Sie winkte Phoebe lächelnd zu. »Da bist du ja!«, rief sie. »Ich hab 

extra auch dich gewartet! Möchtest du auch 'ne Cola?« 

Phoebe schüttelte den Kopf. »Nein, danke. Lass uns lieber 

reingehen. Ich glaube, die wollen anfangen!« 

Tatsächlich stand der junge Mann, der vorhin die Karten 

kontrolliert hatte, schon ungeduldig an der Tür zum Konzertsaal. 

Schnellen Schrittes huschten Phoebe und Melissa durch die Tür. 

Der Konzertsaal war eine nüchterne, kleine Halle, an deren Kopfende 
eine einfache Bühne aufgebaut war. Der Raum war mit gerade einmal 
50 oder 60 Besuchern gefüllt, die mehr oder weniger erwartungsvoll 
nach vorn blickten. Noch standen ein Mikrofonständer und das 
Schlagzeug verwaist auf dem Podest. 

Dann wurde die Hallentür geschlossen, das Licht verlosch, und im 

Schein eines Scheinwerfers betraten vier junge Männer die Bühne. 

Höflicher Beifall setzte ein. 

Das Konzert begann. 

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P

AIGE KREISCHTE ENTSETZT AUF. »Piper! Hilfe! Tu doch 

etwas!« 

Piper Halliwell trat kopfschüttelnd neben ihre Halbschwester, die 

wie hypnotisiert auf eine kleine Spinne starrte, die an einem Faden vor 
ihrem Gesicht baumelte. 

»Nun stell dich doch nicht so an, Paige. Die wird dich schon nicht 

fressen.« Manchmal verstand Piper wirklich nicht, was in Paige 
vorging. Vor ein paar Stunden hatte sie noch tapfer gegen einen 
Furcht erregenden Baumdämon gekämpft, und jetzt ängstigte sie sich 
vor so einem kleinen Krabbeltier. 

Piper nahm ein leeres Marmeladenglas aus einem der Kellerregale 

und stülpte es vorsichtig über die Spinne. Sie würde das Tier später im 
Freien aussetzen. 

Paige atmete auf. »Danke, Piper. Ich hab nun mal einfach Angst 

vor Insekten und anderem Getier mit acht Beinen.« 

»Spinnen sind keine Insekten«, erwiderte Piper und verschloss das 

Glas mit einem Deckel. 

Vor einer knappen Stunde waren die beiden Schwestern in den 

Keller gegangen, um hier die Suche nach dem Blimp fortzusetzen. 
Aber so sehr sie sich auch bemühten, von dem kleinen Quälgeist war 
nicht die geringste Spur zu finden. 

Paige schien Pipers Gedanken zu lesen. »Lass uns für heute 

Schluss machen, Piper. Wir haben jetzt den ganzen Keller 
umgekrempelt. Ich bin müde, und hier unten wird mir langsam kalt. 
Können wir nicht morgen weitersuchen, bitte?« 

Piper seufzte. Auch sie begann langsam, in dem alten 

Kellergewölbe zu frösteln. Und vielleicht war es wirklich besser, die 
Fahndung nach dem Blimp bei Tageslicht fortzusetzen. Nachdem die 
Suche hier ergebnislos verlaufen war, könnten sie sich morgen den 
ersten Stock des Hauses vornehmen. 

»Von mir aus«, sagte Piper schulterzuckend, »machen wir 

Feierabend für heute. Wie wäre es mit einem heißen Kakao?« 

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Paige strahlte und klatschte in die Hände wie ein kleines Kind. 

»Großartige Idee! Das wäre jetzt genau das Richtige!« 

Fröstelnd stiegen die beiden jungen Frauen die Kellertreppe hinauf. 

Piper legte einen kleinen Zwischenstopp vor der Haustür ein, um die 
Spinne wieder in die Freiheit zu entlassen, dann ging sie in die Küche 
und goss etwas Milch in einen Kochtopf. 

Wenige Minuten später erfüllte der Duft von frisch gekochtem 

Kakao das Halliwell-Haus. 

Da der Küchentisch beim Kampf gegen den Baumdämon zu Bruch 

gegangen war, setzten sich Paige und Piper kurzerhand auf die 
Anrichte neben der Spüle. 

Paige wärmte ihre Finger an der warmen Kakaotasse. Obwohl das 

Erdgeschoss des Hauses immer noch mit Trümmern übersät war, hatte 
die ganze Situation etwas Vertrautes und Herzliches. 

»Weißt du, Piper«, sagte Paige, »ich finde dieses Leben schon ganz 

schön verrückt. Zuerst kämpfen wir in dieser Küche gegen einen 
verrückt gewordenen Waldschrat, und ein paar Stunden später sitzen 
wir in derselben Küche und schlürfen Kakao. Ganz so wie … ich weiß 
nicht … normale Menschen eben.« 

Piper atmete tief durch und blickte ihre Halbschwester ernst an. 

»Wir  sind  ganz normale Menschen, Paige. Normale Menschen mit 
einer besonderen Gabe und einer besonderen Verantwortung. Wir 
dürfen beides nicht vernachlässigen – unsere Aufgaben als Hexen und 
unser Leben als Menschen mit all den kleinen Freuden und Sorgen des 
Alltags. Nur so können wir das überhaupt durchstehen. Und nur so 
geraten wir nicht in die Gefahr, zu vergessen, für wen wir das alles tun 
– für die anderen, ganz normalen Menschen, die sich gegen 
schwarzmagische Bedrohungen nicht zur Wehr setzen können.« 

Paige nickte. Es kam nur selten vor, dass sie sich so offen mit Piper 

unterhalten konnte. Meistens hatte sie das Gefühl, ihre ältere 
Halbschwester würde sie fortwährend überwachen und nur darauf 
warten, dass sie einen Fehler machte. Wie bei dieser dummen 
Geschichte mit dem Blimp. 

»Manchmal frage ich mich«, seufzte Paige, »ob das alles nicht zu 

viel für mich ist. Ich weiß nicht, wie ihr es schafft, euer Privatleben 
und euer Hexendasein unter einen Hut zu bringen. Und dann baue ich 

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auch noch so einen Bockmist und setze diesen Blimp frei. Als ob wir 
nicht schon genug Probleme hätten.« 

Piper nickte verständnisvoll. »Glaub mir, Paige, Phoebe und ich 

hatten früher ganz ähnliche Probleme. Und als Prue dann … starb, 
dachte ich auch, ich wäre am Ende. Aber zum Glück habe ich Leo, der 
mir immer wieder Kraft gibt … und euch.« 

Paige lächelte. »Wow. Wenn wir in einer TV-Show wären, 

müssten wir uns jetzt wohl in die Arme fallen. Aber im Ernst: Es tut 
mir echt furchtbar Leid, dass ich diesen Blimp freigesetzt habe, 
Piper.« 

Piper winkte ab. »Schon gut, es war ja keine Absicht. Diesen 

kleinen Mistkerl machen wir schon ausfindig, und dann werden wir 
auch einen Weg finden, um ihn unschädlich zu machen.« 

Pipers zuversichtliches Lächeln verfinsterte sich. »Aber eins macht 

mir etwas Sorgen. Normalerweise, so hat mir Leo erzählt, sind Blimps 
relativ harmlos und treiben ihre unglücklichen Besitzer nur zur 
Weißglut …« 

»… um sich dann von deren negativer Energie zu nähren, 

richtig?«, fragte Paige. 

Piper nickte. »Stimmt genau. Aber auf der anderen Seite sind 

Blimps auch Dämonen – und wir sind die Zauberhaften.  Wenn es 
diesem Flaschenteufel mit seiner Macht gelingt, uns zu töten, wäre er 
mit einem Schlag einer der prominentesten Dämonen des gesamten 
Höllenreiches. Wir sollten also bei allem, was wir tun, sehr vorsichtig 
sein. Vielleicht ist der Geltungsdrang dieses Blimps größer als sein 
Hunger.« 

»Na, großartig«, seufzte Paige und nahm einen ersten Schluck aus 

der Kakaotasse. Im nächsten Augenblick verzog sie angewidert das 
Gesicht und spuckte den Kakao in die Spüle. 

»Was ist denn los?«, fragte Piper erstaunt. 

»Pfui Teufel!«, würgte Paige. »Die Milch ist sauer!« 

Argwöhnisch schnüffelte Piper an ihrer Tasse. Tatsächlich. Das 

süße Aroma des Kakaos hatte den Geruch der verdorbenen Milch 
weitgehend überlagert. 

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Dabei hatte sie die Milch heute erst gekauft. Die magische 

Pechsträhne hielt also an … 

Schweigend schüttete Paige den Inhalt ihrer Tasse in die Spüle und 

fragte sich, was der Blimp noch für Überraschungen parat hielt. 

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E

S WAR UNGLAUBLICH! 

Phoebe hatte jedes Gefühl für die Zeit verloren. Nachdem die 

Nature Sons die Bühne betreten hatten, fürchtete Phoebe schon, den 
Abend völlig verschwendet zu haben. 

Die vier Jungs in der klassischen Besetzung Gitarre, Schlagzeug, 

Bass und Gesang waren zwar ein überaus angenehmer Anblick, aber 
ihre Musik war zunächst doch eher mittelmäßig gewesen. 

Das Konzert hatte mit einer rockigen Cover-Version der Nummer 

»How deep is your love« begonnen, aber der Funke wollte nicht so 
recht überspringen. Das Stück wurde ebenso wie die nachfolgenden 
Songs mit höflichem Applaus bedacht, und Phoebe hatte bemerkt, 
dass viele Konzertbesucher schon bald Richtung Ausgang schielten. 
Fast schon hatte sie sich gewünscht, ihren Schwestern doch bei der 
Suche nach dem Blimp geholfen zu haben, als etwas Seltsames 
passierte. 

Eben noch hatte Phoebe erwogen, zum Getränkestand zu gehen, 

um eine Cola zu kaufen, als sie plötzlich feststellte, dass sie ihren 
Blick gar nicht mehr von der Bühne abwenden konnte. Und mehr 
noch: Unbemerkt schien sich der Rhythmus des aktuellen Stücks mit 
dem Titel »Do what you want« – »Tu, was du willst« – in ihr 
Unterbewusstsein geschlichen zu haben. 

Unter anderen Umständen hätte ein solcher Songtitel die 

Alarmglocken im Kopf der jungen Hexe ausgelöst. Schließlich 
handelte es sich hierbei um eine leichte Abwandlung des Wahlspruchs 
von Aleister Crowley, eines berüchtigten Okkultisten des 20. 
Jahrhunderts. Aber Phoebe fühlte sich von den Klängen der Musik 
wie in Watte gepackt. 

Unwillkürlich wiegte sie sich im Takt mit. Es war, als würde der 

Song all ihre Sinne ausfüllen und alle anderen Gedanken verdrängen. 
Ihre Schwestern, der Blimp, der seltsame Schatten vor der 
Konzerthalle, all das spielte plötzlich keine Rolle mehr. Phoebe war 
wie hypnotisiert – und es gefiel ihr. 

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»Die Jungs sind echt klasse, was?«, rief Melissa, die neben Phoebe 

vor der Bühne stand. Ihre pink getönte Haarsträhne hüpfte im 
Rhythmus von Melissas Tanzbewegungen auf und ab. 

Fast widerwillig wandte ihr Phoebe den Kopf zu. Sie wollte nicht 

eine einzige Sekunde der Performance verpassen. »Ja, der absolute 
Wahnsinn!«, stieß sie hervor und sah dann wieder zur Bühne hin. 

Vor ein paar Minuten hätte sich Phoebe für so eine 

überschwängliche Bemerkung noch selbst auf die Zunge gebissen – 
schließlich war sie ja kein Teenager mehr – aber ihr fehlten einfach 
die passenden Worte für dieses Erlebnis. Außerdem wollte sie auch 
nicht groß darüber reden, sondern es einfach nur genießen. 

Gerade setzte der Gitarrist zu einem Solo an. Die anderen 

Bandmitglieder traten ein Stück zurück, um ihren Kollegen ins 
Rampenlicht treten zu lassen. 

»Gib's ihnen, Josh!«, rief der Sänger der Nature Sons, und Josh 

legte los. Zuerst strich er nur sanft über die Saiten seiner E-Gitarre, 
dann ließ er sie fast ekstatisch aufheulen. Phoebe fragte sich noch, wie 
der Musiker es schaffte, seinem Instrument diese Töne zu entlocken, 
die gleichermaßen wild und einfühlsam klangen. Dann erlag sie 
vollends dem Zauber der Musik. 

Josh ließ sich auf die Knie fallen und konzentrierte sich mit 

geschlossenen Augen auf sein Spiel. Eine schweißnasse Strähne 
seines schwarzen, halblangen Haares fiel ihm in die Stirn. Dann warf 
er den Kopf zurück und öffnete die Augen. 

Phoebe erstarrte. 

Einen kurzen, unendlichen Augenblick lang hatte sie das Gefühl, 

Josh würde nur sie, sie allein, anblicken. Natürlich war das Unsinn, 
denn unter der Menge der verzückt tanzenden Fans konnte der 
Gitarrist unmöglich eine einzelne Person ins Auge fassen. 

Doch Phoebe wollte einfach daran glauben. 

Schließlich beendete Josh sein Solo, und die anderen 

Bandmitglieder stimmten wieder in den Song ein. Und obwohl Phoebe 
das niemals für möglich gehalten hätte, wurde die Wirkung der Musik 
noch intensiver. Es war fast, als würden die Akkorde der Band als 
greifbare, wohlige Wellen durch den Saal wabern. Sie schloss die 

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Augen und ließ sich in die Schlussharmonien des Stückes 
hineingleiten. 

»Tu, was du willst« – ja, vielleicht war es endlich an der Zeit, 

damit anzufangen. 

Von seinem Standpunkt hinter der Bühne aus konnte Markel nur 

die Rücken der einzelnen Bandmitglieder sehen. Aber das reichte ihm. 
Alles was ihn interessierte, waren die ekstatisch zur Musik der Nature 
Sons 
tanzenden Fans vor der Bühne. 

Markel schloss kurz die Augen, um diesen Augenblick des 

Triumphes auszukosten. Lange, viel zu lange war er als kleiner 
Tourmanager mit drittklassigen Bands durch schäbige Clubs getingelt, 
aber das war jetzt vorbei. Mit diesen Jungs würde sich alles ändern. 
Die  Nature Sons würden ihn ans Ziel seiner Wünsche bringen. Aller 
seiner Wünsche. 

Markel öffnete die Augen und bellte im gleichen Augenblick seine 

Assistentin an, die schweigend und mit eingezogenem Kopf neben 
ihm stand. 

»Stehen Sie nicht hier herum wie ein Ölgötze, Vikki. Bringen Sie 

mir ein Glas Wasser … und die Abendkasse!« 

Die blasse Assistentin zuckte zusammen und verschwand dann mit 

einem fast geflüsterten »Sofort, Mister Markel«, das in den Klängen 
der Musik einfach unterging. 

Eine Sekunde später hatte Markel die junge Frau, die durch eine 

Seitentür davonhuschte, schon wieder vergessen. Der Bandmanager 
atmete tief durch. Er konnte die Energie der Begeisterung, die von 
dem Publikum ausging, körperlich fühlen. Und er genoss jedes 
Quäntchen davon, saugte es gierig in sich auf wie ein ausgetrockneter 
Schwamm. 

Nein, dachte er lächelnd, nichts und niemand wird mich jetzt mehr 

aufhalten können. 

Er wusste, sein Plan trug endlich Früchte. 

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»

H

AST DU ETWAS GEFUNDEN?«, fragte Piper und blickte 

ihre Halbschwester erwartungsvoll an. 

Aber Paige schüttelte nur frustriert den Kopf. Die beiden Hexen 

waren in aller Frühe aufgestanden, um noch vor der Arbeit das Haus 
weiter nach dem neuen Unterschlupf des Blimps zu durchsuchen. 

Inzwischen ging es bereits auf neun Uhr zu. Die warme 

Morgensonne fiel durch die Buntglasfenster des alten Halliwell-
Hauses und brachte die Farben zum Strahlen. Trotz der idyllischen 
Stimmung wurde die Zeit langsam knapp. 

Nachdem die Suche im Erdgeschoss erfolglos geblieben war, 

hatten sich die beiden Schwestern ihre eigenen Schlafzimmer im 
ersten Stock vorgenommen. 

Paige hatte jeden Gegenstand, der sich auch nur halbwegs als 

Glasgefäß – und damit als Wohnort des Flaschenteufels – 
qualifizierte, sorgsam unter die Lupe genommen. Gut, sie hatte dabei 
einen Lippenstift in der Farbe des letzten Sommers unter dem Bett 
wieder gefunden, war hinter dem Schrank auf einen Spitzen-BH 
gestoßen, den sie schon seit langer Zeit suchte, und hatte in der 
hintersten Ecke ihrer Schreibtischkommode ein paar vergilbte Zettel 
mit der Aufschrift »Dringend erledigen« entdeckt, aber was den Blimp 
anging: »Nichts. Niente. Nada. Zilch. Zero. Tut mir Leid, Piper«, 
sagte Paige mit einem Schulterzucken. »Entweder dieser kleine 
Mistkerl ist ein Meister des Versteckspielens oder er hat das Haus 
längst verlassen.« 

Piper runzelte die Stirn. »Das wäre einfach eine zu glückliche 

Wendung der Dinge«, entgegnete sie, »was wiederum mit dem Fluch 
des Blimps nicht zu vereinbaren ist. Nein, Paige, ich fürchte, der 
kleine Quälgeist lauert hier noch irgendwo und heckt neue Streiche 
aus.« 

Eine neuerliche Welle des Schuldgefühls durchlief Paige. 

Schließlich war sie es gewesen, die den Blimp – wenn auch 
unabsichtlich – freigesetzt hatte. Sie seufzte. 

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»Gibt es denn gar nichts, was wir tun können, um die Suche zu 

beschleunigen? Irgendein magisches GPS zum Aufspüren von Klein-
Dämonen oder so?« 

»Nein«, antwortete Piper mit der Andeutung eines Lächelns, »ich 

fürchte nicht. Ich hab gestern Abend noch lange im Buch der Schatten 
geblättert, aber zum Thema ›Blimp‹ nichts Wesentliches mehr 
gefunden. Außer einer Kleinigkeit, die uns vielleicht den Hals retten 
könnte …« 

»Ach ja?« Paige sah interessiert auf. »Und die wäre?« 

Piper bedeutete Paige, ihr den Flur entlang zu folgen. »Na ja, ich 

habe euch ja schon erklärt, dass sich der Blimp von den negativen 
Emotionen seiner Opfer ernährt. In gewisser Weise lebt er von der 
Energie, die durch die Tobsuchtsanfälle seiner Opfer freigesetzt wird. 
Du kennst das ja: An manchen Tagen geht alles schief und man 
möchte am liebsten irgendjemandem an den Hals springen, um ihn für 
all das Pech verantwortlich zu machen – nur dass es keinen 
Schuldigen gibt.« 

»Jedenfalls keinen, von dem man weiß«, nickte Paige. 

»Stimmt. Wer kommt schon darauf, dass ein kleiner Flaschenteufel 

hinter all dem Stress steckt. Wie dem auch sei, der Blimp wird durch 
diese negative Energie nur noch mächtiger und kann dann noch mehr 
Unheil anrichten.« 

Paige biss sich nachdenklich auf die Lippe. »Verstehe«, murmelte 

sie, »das Ganze ist also eine Art Teufelskreis, im wahrsten Sinne des 
Wortes.« 

»Genau«, nickte Piper. »Allmählich bekommst du den Durchblick 

für diese Art von schwarzer Magie, Paige.« 

»Danke«, entgegnete Paige nicht ohne Stolz. Schließlich kam es 

nicht allzu oft vor, dass sie von ihrer großen Schwester gelobt wurde. 
Zugegeben, sie gab ihr auch nur selten einen Anlass dafür. 

»Warte mal«, fuhr Paige dann fort, »wenn ich das richtig sehe, gibt 

es demnach nur einen Weg, den Blimp im Zaum zu halten – man 
ignoriert einfach das Pech, das einem widerfährt, stimmt's?« 

»Soweit einem das möglich ist. Leider liegt es nicht gerade in der 

menschlichen Natur, sich nicht  über die kleinen Missgeschicke des 

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Alltags aufzuregen. Aber im Prinzip hast du völlig Recht. Wenn wir 
die Streiche des Flaschenteufels einfach so gut wie möglich 
ignorieren, können wir ihn halbwegs in Schach halten.« Piper lächelte. 
»Mit Phoebe habe ich das ganz ähnlich gemacht, als wir noch Kinder 
waren …« 

Paige musste grinsen. Sie hatte erst spät von der Existenz ihrer 

Halbschwestern erfahren und konnte sich die beiden kaum als kleine 
Mädchen vorstellen. Besonders bei Piper fiel ihr das schwer; die 
älteste der überlebenden Halliwell-Schwestern wirkte auf sie immer so 
… erwachsen. Mit Phoebe dagegen kam sie meist viel besser zurecht. 

»Wo wir gerade von Phoebe sprechen«, sagte Paige, »wo steckt sie 

eigentlich? Ich hab sie gestern gar nicht nach Hause kommen hören.« 

Piper und Paige hatten inzwischen die Treppe zum Erdgeschoss 

erreicht und standen nun vor Phoebes Zimmertür. 

Piper zuckte mit den Achseln. »Jetzt, wo du es sagst – ich auch 

nicht. Es muss wohl gestern Abend ziemlich spät geworden sein. Ich 
wecke sie mal lieber auf. Soweit ich weiß, hat sie ab heute Mittag 
Dienst in ihrer Redaktion.« 

Paige nickte. Phoebe hatte vor ein paar Monaten als Redakteurin 

bei einem Magazin angefangen und betreute dort eine 
Beratungskolumne für alle Lebensfragen. Schon seltsam, dachte Paige 
und musste an ihren eigenen Job beim Sozialdienst denken. Es schien 
in der Natur der Halliwells zu liegen, sich um das Wohl anderer 
Menschen zu kümmern – sowohl in ihren Alltagsberufen als auch bei 
ihrem »Zweitjob« als weiße Hexen. 

Piper wollte gerade die Hand heben, um gegen Phoebes Tür zu 

klopfen, als das Getöse losbrach. Es war ein wahrer akustischer 
Orkan, der da urplötzlich aus dem Zimmer der Schwester über sie 
hereinbrach. Instinktiv zuckten Piper und Paige zurück und blickten 
sich erschrocken an. Dann trat Piper entschlossen nach vorn, riss 
Phoebes Zimmertür auf und stürmte hinein. 

Innerlich schon die neuerliche Attacke eines Dämons befürchtend, 

stürzte Paige hinterher. Sie war auf alles gefasst, als sie über Pipers 
Schulter in Phoebes Zimmer blickte – nur nicht auf den Anblick, der 
sich ihr tatsächlich bot: Mit zerzausten Haaren stand Phoebe auf ihrem 
Bett und hopste im pulsierenden Rhythmus des alles übertönenden 

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Lärms darauf herum. Ihre beiden Schwestern schien sie noch gar nicht 
bemerkt zu haben. 

Paige brauchte ein paar Augenblicke, um den Lärm als das zu 

identifizieren, was er eigentlich war: völlig übersteuerte Musik aus 
Phoebes alter Stereoanlage. Die Boxen, die auf einer Kommode neben 
dem Bett aufgestellt waren, vibrierten im Takt der Bässe, so als 
würden sie vor Überanstrengung zittern. 

Paige sah, wie Piper den Mund öffnete, um etwas zu sagen. Doch 

ihre Worte gingen im Dröhnen der Musik unter. Die Szene entbehrte 
nicht einer gewissen Komik, aber der Ausdruck auf Pipers Gesicht 
war alles andere als amüsiert. 

Jetzt hatte auch Phoebe ihre Schwestern bemerkt. Sie hielt mitten 

in der Bewegung inne, zuckte hilflos die Achseln und deutete dann 
kopfschüttelnd auf ihre Ohren. 

Vergeblich versuchte Piper erneut, gegen das Getöse anzubrüllen. 

Dann stapfte sie mit verärgerter Miene zur Stereoanlage und schaltete 
sie kurzerhand ab. 

Eine Sekunde lang war die plötzliche Stille genau so 

ohrenbetäubend wie der Lärm zuvor. 

Dann brach ein Gewitter ganz anderer Art los. »Hey, was soll 

das?«, brüllte Phoebe ihre Schwestern an. »Warum platzt ihr hier 
einfach rein? Seid ihr verrückt geworden?!« 

»Letzteres könnte ich dich fragen«, entgegnete Piper, nachdem sie 

einen kurzen Moment der Überraschung überwunden hatte. »Phoebe, 
es ist nicht einmal neun Uhr morgens, und es hört sich an, als ob du in 
deinem Zimmer ein Heavymetal-Konzert veranstalten würdest!« 

»Nur dass ich keine Metal-Band kenne, die so schlechte Musik 

macht wie das Geschrammel, das ich hier gerade gehört habe«, 
bemerkte Paige. »Was für eine drittklassige Schüler-Combo war denn 
das, um Himmels willen?« 

Phoebe funkelte ihre Halbschwester böse an und deutete auf das 

weite T-Shirt, in das sie gehüllt war. Auf ihm prangte ein übergroßer 
Fotodruck einer Boy-Band, bestehend aus vier jungen Männern. Vier 
gut aussehende junge Männer, wie Paige eingestehen musste. Das 
äußere Erscheinungsbild der Gruppe war definitiv ansprechender als 
ihre Musik. 

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Phoebe schien das anders zu sehen. »Das war keine Schüler-Band, 

das waren die Nature Sons«, rief sie empört. »Und wenn euch die 
Musik nicht gefällt – na, es zwingt euch ja niemand, hier 
hereinzustürmen.« 

Piper schüttelte den Kopf. Ganz offensichtlich war es ihr darum 

getan, die Ruhe zu bewahren. »Phoebe, wir hätten diesen Krach auch 
gehört, wenn wir auf der anderen Straßenseite gestanden hätten. Und 
du kannst dir natürlich anhören, was du willst … aber vielleicht 
versuchst du es mal mit Zimmerlautstärke.« 

Paige warf einen Blick auf ihre Armbanduhr und hielt dann 

demonstrativ ihr Handgelenk in die Höhe. »Außerdem ist es gleich 
neun. Ich muss langsam los. Neben der Dämonenjagd muss ich 
nämlich gelegentlich auch mal Geld verdienen, wisst ihr?« 

Piper nickte. »Stimmt, ich muss auch ins P3. Und wie ist es mit 

dir, Phoebe? Hast du heute nicht Dienst in der Redaktion?« 

Piper und Phoebe blickten ihre Schwester erwartungsvoll an. Doch 

Phoebe zuckte nur mit den Achseln. »Eigentlich schon. Aber ich fühle 
mich heute nicht so gut. Ich werde mich krank melden. Die werden in 
der Redaktion auch mal einen Tag ohne ihre Kummerkasten-Tante 
vom Dienst auskommen.« 

Seltsam, wunderte sich Paige, normalerweise spricht Phoebe nie so 

abschätzig von ihrem Job. Wie war das noch gleich mit dem »Es liegt 
den Halliwells im Blut, anderen zu helfen«? 

Andererseits sah Phoebe wirklich ein wenig blass aus. Kein 

Wunder, wenn man sich bis spät in die Nacht auf drittklassigen 
Konzerten herumtreibt, dachte Paige. Aber sie würde den Teufel tun 
und diesen Gedanken laut aussprechen. Das Letzte, was sie jetzt 
brauchte, war ein Streit unter Schwestern – besonders, da es 
mittlerweile schon deutlich nach neun Uhr war. 

»Vielleicht legst du dich einfach noch ein wenig hin, Phoebe«, 

sagte Paige und deutete mit einer Kopfbewegung auf das zerrüttele 
Bett. »Ich für meinen Teil muss jetzt dringend zur Arbeit.« 

»Gute Idee«, stimmte Phoebe zu und ließ sich auf die Matratze 

plumpsen. Sie hatte nicht gelogen und fühlte sich tatsächlich etwas 
matt. Aber gleichzeitig fühlte sie sich von einem inneren Wohlgefühl 
durchflutet. Es war dasselbe Gefühl, das sie gestern Nacht schon auf 

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dem Rückweg vom Konzert begleitet hatte. Und soweit sie sich an den 
Gesichtsausdruck ihrer Zufallsbekanntschaft Melissa erinnerte, war es 
ihr ebenso ergangen. Tatsächlich fühlte sie sich so wohl wie schon 
lange nicht mehr, obwohl sie gleichzeitig sterbensmüde war. 

Piper seufzte. »Na schön, dann lass uns losfahren, Paige, ich hab 

heute noch 'ne Menge zu tun.« Sie und Paige wandten sich zum 
Gehen. 

Auf der Schwelle drehte Piper sich noch einmal um. »Und 

Phoebe«, sagte sie nur halb im Scherz, »wenn du es wieder mit 
Musik-Therapie versuchst, dann bitte in Zimmerlautstärke, okay?« 

Phoebe setzte ein breites Lächeln auf. »Geht klar, Schwesterherz. 

Mach dir keine Sorgen um dich.« 

Piper zögerte einen Augenblick, dann nickte sie ihrer jüngeren 

Schwester zu und schloss die Zimmertür hinter sich. 

Phoebe wartete, bis sich die Autos von Piper und Paige vom Haus 

entfernt hatten. Dann griff sie nach der Fernbedienung der 
Stereoanlage und drückte die »Play«-Taste. Einen Herzschlag später 
dröhnte wieder die Musik der Nature Sons durch das Haus. 

»›Tu, was du willst‹«, dröhnte es aus den Boxen, und die Stimme 

des  Nature-Sons-Sängers  verschmolz dabei mit den verträumten 
Akkorden und den einfühlsamen Gitarrenriffs des Stücks. 

Phoebe wunderte sich ein wenig, dass Piper und Paige die 

Schönheit dieser Musik nicht erkannten. Normalerweise wich der 
Musikgeschmack der drei Schwestern nicht sonderlich voneinander 
ab. Dann zuckte sie nur mit den Schultern. Sie würde jetzt in der 
Redaktion anrufen, um sich mit belegter Stimme krank zu melden, 
und dann würde sie den so gewonnenen, freien Tag nutzen. Sollten 
sich ihre Schwestern doch zur Abwechslung einmal allein um die 
Rettung der Welt kümmern. 

Von draußen schien die Sonne durchs Fenster und sie, Phoebe 

Halliwell, würde endlich einmal tun können, was sie wollte. 

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D

ER WIND WEHTE VOM MEER herüber und brachte den 

Geruch von Salz mit sich. Ein paar knorrige Bäume stemmten sich 
trotzig gegen die Brise, gekrümmt vom jahrzehntelangen Kampf 
gegen die Elemente und die Jahreszeiten. 

Selbst an einem sonnigen Vormittag wie heute war die Luft am 

Breakers Point empfindlich kühl. Die Trostlosigkeit hatte sich wie 
eine Dunstglocke über das gesamte Kliff gelegt. Vielleicht war das der 
Grund, warum sich nur wenig Menschen auf diese karge Landzunge 
verirrten, die mit ihren scharfkantigen Klippen in den Ozean ragte. 
Und doch hatte irgendjemand vor vielen Generationen ein Haus auf 
diesem unwirtlichen Stück Erde errichtet. Durch Wind und Regen war 
das alte Anwesen so stark verwittert, dass es sich kaum noch von 
seiner Umgebung abhob. Es wirkte, als hätte die Natur selbst es dort 
entstehen lassen. 

Viele Jahre lang hatte das alte Haus leer gestanden und selbst bei 

den Bewohnern dieser Küstenregion war es – wie auch sein Erbauer –
fast in Vergessenheit geraten. Nur die Ältesten erzählten manchmal 
noch von unwirklichen Lichtern, die man nachts dort aufblitzen sah. 
Wie bei jedem leer stehenden, alten Gebäude rankten sich auch um 
das Haus vom Breakers Point unheimliche Legenden und 
Gruselgeschichten. 

Doch das war die Vergangenheit. Fast unbemerkt von den 

Bewohnern der benachbarten Ortschaften war wieder Leben in das 
alte Gemäuer zurückgekehrt. In einer Nacht-und-Nebel-Aktion hatte 
ein Trupp von Bauarbeitern einen Stacheldrahtzaun um das 
Grundstück gezogen. Dann hatte man das marode Dach notdürftig 
repariert und die durch Wind und Vandalismus zerstörten Fenster 
ausgetauscht. Noch immer ragte das alte Anwesen grau und düster in 
den Himmel, aber zumindest bot es seinen neuen Bewohnern nun 
wieder Schutz vor dem rauen Küstenklima. 

Lediglich ein kleines Schildchen neben dem Eingangstor zum 

Grundstück verriet, wer dem Haus wieder Leben eingehaucht hatte. 

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MARKEL ENTERTAINMENT stand darauf – und darunter 

ZUTRITT VERBOTEN. Offensichtlich legte der neue Eigentümer des 
Anwesens wenig Wert auf Besucher. 

Hätte ein unerwünschter Gast das Verbot ignoriert, um ins Innere 

des Hauses vorzudringen, so wäre er vermutlich erstaunt darüber 
gewesen, wie viele Zimmer das alte Gemäuer beherbergte. Die 
meisten der Räume waren noch nicht renoviert, geschweige denn 
eingerichtet worden. Sämtliche Tapeten hingen in Fetzen von den 
Wänden, und in den Ecken unter der Decke hatte sich Schimmel breit 
gemacht. 

Nur einige wenige ausgewählte Räume im ersten Stock boten 

bereits ein anderes Bild. Hier waren die Wände frisch gestrichen und 
auf dem sauber abgezogenen Parkett standen schlichte, aber 
geschmackvolle Möbel, die offensichtlich aus diversen 
Haushaltsauflösungen stammten. Wer immer hier für die Einrichtung 
verantwortlich gewesen war, hatte einen schmalen Geldbeutel durch 
einen guten Geschmack wettgemacht. 

Die einzige Ausnahme bildete das Büro am Ende des Ganges. 

Dieser Raum, es war der größte mit Blick über das Cliff, war mit 
Chrom- und Glasmöbeln ausgestattet worden, die ebenso kalt und 
ungemütlich wirkten wie das Panorama jenseits des Fensters. Hinter 
einem breiten Schreibtisch mit Glasfläche erhob sich ein lederner 
Chefsessel wie ein schwarzer Thron. Offensichtlich erfüllte die 
Einrichtung dieses Geschäftszimmers nur einen einzigen Zweck – sie 
sollte etwaige Besucher einschüchtern und ihrem Besitzer das Gefühl 
von Macht und Überlegenheit verleihen. 

Doch zu dieser frühen Stunde war der moderne Thronsaal noch 

verwaist. Keine Menschenseele war weit und breit zu sehen – und 
doch war das Haus nicht verlassen. 

Zwei gedämpfte Stimmen drangen aus einem Kellergewölbe in die 

oberen Stockwerke. 

Hier, tief unter dem Anwesen, waren Begriffe wie Tag und Nacht 

nur bedeutungslose Worte. Seit Jahrhunderten hatte kein Lichtstrahl 
mehr die verwitterten Steinwände beleuchtet. Umso unheimlicher 
wirkten die seltsamen, fremdartigen Symbole, die an den Wänden 
prangten. Die komplexen Reliefs wirkten wie Zeichen aus einer 

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anderen Welt. Und ohne dass ein Lichtschein sie erhellte, schienen sie 
ganz von selbst zu erglühen. 

Doch am Furcht erregendsten war ein blasser Lichtwirbel, der in 

einer kleinen Bodensenke in der Mitte des Gewölbes um sich selbst 
rotierte. Er war ständig in Bewegung und schien unerklärlicherweise 
flach und dreidimensional zugleich zu sein. Es war wie ein 
pulsierendes Portal in eine andere Welt, dessen Anblick nicht für 
menschliche Augen bestimmt war. 

Und es war auch nichts Menschliches an der Gestalt, die nun an 

den Rand des Portals huschte, geschmeidig wie ein schattenhaftes 
Raubtier. Der modrige Geruch des Schimmels vermischte sich mit 
einem scharfen, animalischen Gestank. 

»Meister?«, fragte das Wesen mit knurrender, tiefer Stimme und 

trat noch näher an den Wirbel heran. »Seid Ihr da?« 

»Natürlich«, erwiderte eine Stimme, die aus dem blassen 

Farbwirbel des Portals zu kommen schien. »Wo sollte ich auch sonst 
sein, du Narr? Seit Jahrtausenden bin ich in dieser verfluchten 
Zwischenwelt gefangen!« 

Das schattenhafte Wesen senkte demütig den Kopf. »Verzeiht, 

Meister. Wie dumm von mir. Aber Ihr werdet wieder auf Erden 
wandeln. Die Saat ist gesät und trägt bereits Früchte. Schon bald 
werde ich genug Lebensenergie gesammelt haben, um Euch aus 
Eurem Gefängnis zu befreien. Tag für Tag gewinne ich mehr 
Anhänger, die Euch dienen und die Euch ihre Kraft geben – ohne dass 
sie es auch nur ahnen.« 

Ein hohles Lachen echote durch das Gewölbe. Für Sekunden 

wurde der Farbwirbel im Boden intensiver, und im fahlen Licht 
glänzte das schwarzblaue Fell des Schattenwesens kurz auf. 

»Sehr gut, mein treuer Diener«, sagte die Stimme. »Es war der 

Wille der alten Götter, dass du mich hier gefunden hast. Ja, ich fühle 
es – bald schon werde ich wieder rechtmäßig über die Welt 
herrschen!« 

Das Lachen aus dem Portal schwoll an und erfüllte schließlich das 

ganze Gewölbe. Dann fiel auch die Schattenkreatur mit einem 
heiseren Knurren in das Gelächter ein. 

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Draußen, vor dem Anwesen, erhob sich ein Schwarm schwarzer 

Krähen aus einem Baum in die Lüfte. Krächzend stoben sie in alle 
Richtungen davon. Es war, als wollten sie so viel Abstand wie 
möglich zwischen sich und das Haus an der Klippe bringen … 

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10 

E

S WAR ZUM VERRÜCKTWERDEN. 

Nachdem Paige das Halliwell-Haus verlassen hatte, um mit ihrem 

kleinen, schwarzen – und immer noch nicht abbezahlten – New Beetle 
zur Arbeit zu fahren, war sie prompt in einen Stau geraten. 

Natürlich waren Verkehrsbehinderungen zur morgendlichen 

Rushhour auch in San Francisco nichts Besonderes, aber dies hier 
schien die Mutter aller Staus zu sein. Im Schritttempo quälte sich die 
Blechlawine durch die Innenstadt. Nichts ging mehr. 

Paige empfand das nervtötende Gehupe einiger 

Verkehrsteilnehmer in dieser Situation als wenig hilfreich, ja, es 
verstärkte nur das allgemeine Gefühl der Wut und Machtlosigkeit. 

Sie seufzte und nahm noch einen Bissen von dem Sandwich, das 

sie sich daheim in aller Eile geschmiert hatte. Beim Kauen blickte sie 
erneut zur Uhr. Es war bereits kurz nach zehn! 

Die kleinen Digitalziffern auf dem Armaturenbrett schienen im 

Zeitraffertempo zu wechseln. Fast wirkten sie auf Paige wie der 
umgekehrte Countdown zum größten Donnerwetter ihrer beruflichen 
Karriere. 

Mister Cowan, ihr Vorgesetzter im Sozialdienst, hatte sie bereits 

mehrere Male wegen ihres chronischen Zuspätkommens verwarnt, 
und Paige hatte stets Besserung gelobt. 

Das ist einfach unfair, dachte sie und trommelte nervös mit den 

Fingerspitzen auf das Lenkrad. Sie gab sich wirklich alle Mühe dieser 
Welt, aber ihre Aufgaben als Hexe und als Mitarbeiterin des 
Sozialdienstes wuchsen ihr manchmal einfach über den Kopf. Und für 
diesen Stau konnte sie ja nun schließlich auch nichts. 

Obwohl … vielleicht stimmte das gar nicht. Ein unangenehmer 

Verdacht beschlich die junge Hexe. Sie fingerte am Sendersuchlauf 
des Autoradios herum, bis sie eine Station mit Verkehrsnachrichten 
fand. 

»… kommt es heute im gesamten Stadtgebiet zu größeren 

Verkehrbehinderungen und Staus. Grund dafür ist nach 

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Polizeiangaben ein Ausfall im Computersystem des zentralen 
Verkehrsleitsystems«, ertönte die Stimme eines gut gelaunten 
Moderators, der offensichtlich nicht inmitten einer Blechlawine 
festsaß. »Und nun zur Aufheiterung aller Stauopfer da draußen – ›I'm 
walking on sunshine‹ von …« 

Mit einem ärgerlichen Knurren stellte Paige das Radio wieder aus. 

Sie hatte es doch geahnt – ein rätselhafter Computerausfall im 
Verkehrsleitsystem … das klang verdammt nach dem Werk dieses 
verfluchten Blimps. Sie kochte innerlich vor Wut. Wenn sie den 
kleinen Quälgeist zu packen bekam, dann … 

»Halt!«, rief sie sich selbst zur Raison, als sie sich an Pipers Worte 

erinnerte. Wenn sie sich über den Blimp und seine Streiche ärgerte, 
würde sie ihn nur noch mächtiger machen. Die junge Hexe versuchte, 
ruhig durchzuatmen und zählte dabei langsam bis zehn. So leicht 
würde sie es dieser kleinen Kröte nicht machen. 

Paige war gerade bei sieben angekommen, als sie 

zusammenzuckte. Jemand klopfte an die Fensterscheibe der Fahrertür. 
Paige blickte auf. 

Ein gut aussehender Mann in Polizeiuniform lächelte sie von 

draußen an. Ein paar Strähnen seines blonden Haares lugten vorwitzig 
unter der schwarzen Polizeimütze hervor. Mit seinen strahlend weißen 
Zähnen wirkte der junge Uniformierte wie eine Werbefigur für »San 
Francisco's Finest«, die Polizeitruppe der Stadt. Der Polizist bedeutete 
Paige, das Fenster zu öffnen. Sie kam dieser Aufforderung nur allzu 
gern nach. Der Junge war der erste Lichtblick dieses vermurksten 
Tages. Sie betätigte den Knopf des automatischen Fensterhebers, und 
die Scheibe öffnete sich mit einem sanften Surren. 

»Guten Morgen, Officer«, surrte Paige mindestens genau so sanft 

und lächelte den jungen Mann an. »Stimmt etwas nicht? Bin ich etwa 
… zu schnell gefahren?« Sie kicherte. 

Der Polizist tippte sich zum Gruß mit dem Zeigefinger an seine 

Dienstmütze. Wow, dachte Paige, was ist es nur, das Männer in 
Uniform so sexy macht? 

»Guten Morgen, Miss. Nein, das ganz sicher nicht. Ich, äh, hab nur 

gesehen, dass sie einen ziemlich angespannten Eindruck gemacht 
haben. Kann ich Ihnen vielleicht irgendwie helfen?« 

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Paige zuckte mit den Schultern. Ihr Lächeln wurde noch ein wenig 

breiter, als sie mit einer Kopfbewegung auf das Dienstmotorrad 
deutete, das der Beamte am Rand des Staus abgestellt hatte. 

»Na ja, für den Anfang könnten Sie mich mit Ihrem Motorrad zur 

Arbeit fahren.« 

Nun war es an dem Polizisten, mit den Schultern zu zucken. »Tut 

mir Leid, Miss, ich fürchte, das wäre gegen die Vorschriften. Aber 
vielleicht kann ich Ihnen hier etwas Gesellschaft leisten. Bis der Stau 
sich wieder aufgelöst hat, kann ich hier sowieso nicht viel machen. 
Vielleicht kann ich Sie ja …« 

Das Lächeln des blonden Polizisten fror plötzlich ein. Dann zogen 

sich seine Mundwinkel wie im Zeitlupentempo nach oben. 

Paige runzelte die Stirn. »Officer? Ist irgendetwas?«, fragte sie 

besorgt. 

Der Polizist gab ein glucksendes Geräusch von sich – wie jemand, 

der mit äußerster Anstrengung ein Kichern unterdrückt. Dann 
räusperte er sich. »Ähm, nein, alles in Ordnung. Mir ist nur gerade 
eingefallen, dass ich mich dringend, äh … in der Zentrale melden 
muss. Einen schönen Tag noch, Miss.« 

Mit diesen Worten wandte er sich um und entfernte sich mit 

schnellen Schritten von Paiges Wagen, ohne sich noch einmal 
umzudrehen. 

Paige blickte ihm fassungslos nach. Was war denn plötzlich in den 

gefahren? Eine Sekunde zuvor hatte sie doch noch so nett mit ihm 
geflirtet, und dann … 

Ratlos sah Paige in den Innenspiegel. Und erstarrte. 

Ein tiefgrüner Salatrest steckte gut sichtbar zwischen ihren beiden 

Schneidezähnen! Paige lief knallrot an und blickte dann hasserfüllt auf 
das Sandwich, das zur Hälfte in Alu-Folie eingewickelt neben ihr lag. 

Das war wirklich der Alptraum einer jeden Frau – ein Flirt mit 

einem hübschen, fremden Mann … und dann ein hässlicher Essensrest 
zwischen den Zähnen! Alles Make-up dieser Welt konnte so ein 
Fiasko nicht wieder ausgleichen. 

Vor Scham versank Paige fast in ihrem Sitz. Durch das geöffnete 

Fenster hörte sie das Motorrad des jungen Polizisten davonbrausen. 

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Wahrscheinlich erzählte er gerade seinen Kollegen über Funk von 
seiner Begegnung mit Paige, der Frau mit dem umwerfendsten 
Lächeln der Welt, wäre da nicht … So ein Pech aber auch! 

Paige spürte, wie die Wut in ihr hochstieg. Sie wusste, dies alles 

verdankte sie nur diesem miesen, kleinen Blimp. Es hatte keinen Sinn
mehr, den Ärger zu unterdrücken. 

Sie ballte die Hände zu Fäusten und malte sich aus, was sie diesem 

Wicht antun würde, wenn sie ihn erst einmal in die Finger bekam. 

Piper Halliwell lenkte ihren Wagen auf den Parkplatz hinter dem 

P3. 

Sie hatte im Verkehrsfunk von dem Stau in der Innenstadt 

erfahren, aber der Club lag weit genug außerhalb, sodass sie das 
Verkehrchaos weiträumig umfahren hatte. 

Glück gehabt, dachte sie und steuerte ihren Einstellplatz an. Im 

nächsten Moment stutzte sie. Mitten in ihrer reservierten Parklücke 
stand ein weißer Wagen, der dort ganz sicher nichts zu suchen hatte. 
Was umso verwunderlicher war, da das Lokal noch längst nicht 
geöffnet hatte. 

Irgendetwas störte Piper an dem fremden Auto, und sie brauchte 

ein paar Sekunden, um dahinter zu kommen, was es war. Der Wagen 
war makellos sauber, und der schlichte weiße Lack schimmerte in der 
Sonne. Der Fabrikatname, der bei den meisten Wagen am Heck 
angebracht war, fehlte – genau wie jede Art von Aufkleber an der 
Heckscheibe oder ein persönlicher Gegenstand auf der Hutablage. 

So sah eigentlich nur der Dienstwagen einer Behörde aus. 

Piper parkte neben dem fremden Fahrzeug und stieg mit einem 

mulmigen Gefühl in der Magengegend aus. 

Sie war nicht sonderlich überrascht, als sie feststellte, dass ein 

hagerer Mann mittleren Alters bereits am Hintereingang des P3 auf sie 
wartete. Unter dem rechten Arm trug er eine hässliche Kunstleder-
Aktentasche, die in dieser Hinsicht zumindest perfekt mit dem 
geschmacklosen Anzug harmonierte. 

Der Mann blickte Piper mit einem Stirnrunzeln entgegen und sah 

dann demonstrativ auf seine Armbanduhr. »Misses Halliwell, nehme 

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ich an?«, fragte er mit fast vorwurfsvoller Stimme. »Mein Name ist 
Benson. Ich warte schon seit einer halben Stunde auf Sie.« 

Piper betrachtete den Mann mit hochgezogenen Augenbrauen. 

»Das tut mir Leid, Mister Benson, was kann ich für Sie tun?« Sie 
überlegte, ob sie den Kerl von irgendwoher kannte. Wenn ja, dann 
hatte sie es bereits wieder vergessen. Kein Wunder eigentlich, denn 
der Typ war in etwa genauso Aufsehen erregend wie sein Auto. 

Statt einer Antwort zog der Mann – Mister Benson – eine kleine 

Brieftasche aus seinem Anzug und klappte sie auf. Zum Vorschein 
kam eine offiziell aussehende Ausweiskarte. »Ich komme von der 
IRS«, sagte er schließlich und betonte dabei jeden einzelnen dieser 
drei Buchstaben, als ob er eine Beschwörungsformel aufsagen würde. 

Tatsächlich verfehlte diese Mitteilung ihre Wirkung nicht. Es war 

so, als ob man auf der Straße von einem Polizisten angesprochen wird 
– selbst, wenn man absolut nichts verbrochen hat, meldet sich von 
irgendwoher die Stimme des schlechten Gewissens. 

»IRS?«, wiederholte Piper erstaunt und war sich bewusst darüber, 

wie dumm sie dabei aussehen musste. »Die Steuerbehörde? Aber … 
ich hab doch gar nichts … ich meine, gibt es irgendwelche Probleme, 
Mister Benson?« 

Der Prüfer grinste ein selbstgefälliges Lächeln. Pipers Reaktion 

war für ihn anscheinend nichts Ungewöhnliches. Im Gegenteil, er 
schien die Wirkung der drei magischen Buchstaben auf seine 
Mitmenschen regelrecht zu genießen. 

»Probleme?«, beendete er ihren Satz. »Nein, Misses Halliwell. 

Zumindest keine, von denen ich jetzt bereits wüsste. Wir überprüfen 
nur stichprobenhaft einige Lokale in San Francisco, die nach dem 
Losverfahren ausgewählt werden. Eine reine Routine-Steuerprüfung, 
nichts weiter.« 

Nach dem Losverfahren ausgewählt?, dachte Piper und biss die 

Zähne zusammen. Dann hatte das Ganze nichts mit »Routine« zu tun. 
Der unangemeldete Besuch des Steuerprüfers war eindeutig das Werk 
des Blimps. 

Piper versuchte, ihren eigenen Ratschlag zu beherzigen und sich 

nicht darüber aufzuregen. Das würde diesem heimtückischen, kleinen 
Gnom nur noch mehr Macht verleihen. 

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Benson bemerkte, wie Piper ihre Hände zu Fäusten ballte. Er hob 

eine Augenbraue und blickte sein Gegenüber an, wie ein Lehrer, der 
eine Problemschülerin beim Abschreiben erwischt hatte. 

»Alles in Ordnung, Misses? Gibt es vielleicht etwas, das Sie mir 

sagen möchten?« 

Piper schüttelte eilig den Kopf. Soweit sie wusste, hatte sie ihre 

Steuern immer korrekt bezahlt. Sie hatte also nichts zu befürchten. 

Hoffte sie jedenfalls. 

Andererseits war es kein Geheimnis, dass ein Steuerprüfer immer 

etwas fand, was zu beanstanden war – schließlich war das sein Job. 

»Nein, Mister Benson, alles in Ordnung«, sagte die junge Hexe 

und fummelte den Schlüssel zum Hintereingang aus ihrer 
Hosentasche. »Bringen wir's hinter uns, ich hab heute viel zu tun.« 

Der Beamte lächelte nur. »Oh, ich auch, Misses Halliwell, ich 

auch. Die Steuerprüfung bei einem Lokal nimmt erfahrungsgemäß 
viel Zeit in Anspruch.« 

Piper schluckte, als sie den Schlüssel ins Schloss steckte. »Du 

meine Güte«, sagte sie und drückte die Tür auf, um den Steuerprüfer 
hineinzulassen. »Was glauben Sie denn, wie lange Sie brauchen 
werden?« 

Benson schlüpfte voller Vorfreude an Piper vorbei und betrat das 

P3. 

»Nun, Sie sollten sich bis heute Nachmittag nicht allzu viel 

vornehmen. Schließlich brauche ich bei der Überprüfung Ihrer 
Buchhaltungsunterlagen unter Umständen Ihre Hilfe. Falls es … 
Unklarheiten gibt, Sie verstehen?« 

Du meinst, falls du mir irgendwas anhängen kannst, du kleiner 

Steuerdämon, dachte Piper und lächelte freundlich. »In diesem Fall 
stehe ich Ihnen selbstverständlich zur Verfügung, Mister Benson. 
Obwohl ich nicht glaube, dass …« 

Piper und der Steuerprüfer erstarrten und blickten eine Sekunde 

lang in den Hauptraum des P3,  der noch dunkel und verlassen vor 
ihnen lag. 

Der Steuerbeamte rümpfte die Nase. 

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»Was ist denn das für ein infernalischer Geruch?«, keuchte er. 

Gute Frage, dachte Piper und verzog das Gesicht. Das P3 war von 

einem üblen, fauligen Gestank erfüllt. 

Das Ganze roch irgendwie … fischig. 

»O nein!«, rief Piper und rannte los. Dicht gefolgt von Benson 

hastete sie durch den Hauptraum und auf die Küche zu. Sie ahnte 
Furchtbares. Erst gestern war eine neue Ladung tiefgefrorener Fisch 
und Meeresfrüchte eingetroffen. 

Das konnte doch nicht … 

Piper stieß die Schwingtür zur Küche auf und huschte hinein. Der 

Gestank, der ihr hier entgegenschlug, war wirklich atemberaubend. 
Sie hielt sich die Nase zu und stürmte weiter, durch die penibel 
geputzte Küche hindurch in den Lagerraum, der dahinter lag. 

Hier war der Fäulnisgeruch fast mit den Händen greifbar. Entsetzt 

blickte Piper auf die große Kühltruhe in der Ecke des Raumes. Von 
außen wirkte sie ganz normal, aber Piper sah gleich, dass hier etwas 
nicht stimmte. Normalerweise hätte an der Frontseite ein grünes 
Kontrolllämpchen leuchten müssen. Außerdem gab die große, weiße 
Truhe, die Piper noch von ihrem Vorgänger übernommen hatte, 
gewöhnlich ein beruhigendes, tiefes Summen von sich. 

Jetzt schwieg die Gefriertruhe wie ein Sarg. 

Piper ersparte es sich, den Deckel zu öffnen und ins Innere zu 

sehen. Sie konnte sich nur zu gut vorstellen, was sie darin finden 
würde. Stattdessen ging sie an die gegenüberliegende Wand und 
öffnete den kleinen Sicherungskasten. Eine der Keramiksicherungen 
war mit einer schwarzen Rußschicht überzogen. 

Durchgebrannt!, dachte Piper resigniert. Dabei hatte sie die 

Elektrik erst letzte Woche überprüft. So viel Pech konnte man doch 
gar nicht haben. Da konnte nur einer dahinter stecken – der Blimp. 

Piper stieß ein paar lautlose Flüche aus, als sie hinter sich ein 

Piepsen hörte. Erstaunt blickte sie sich um. Mister Benson, der 
Steuerprüfer, hielt sich mit einer Hand die Nase zu, während er mit 
der anderen sein Handy bediente. Dann hielt er sich das kleine 
Mobiltelefon ans Ohr. 

»Wenn rufen Sie denn da an?«, fragte Piper argwöhnisch. 

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Der Steuerbeamte maß sie mit einem abfälligen Blick. Mit 

zugehaltener Nase klang seine Stimme beinahe komisch. Aber nur 
beinahe. »Einen Kollegen von mir, Misses Halliwell«, erwiderte er. 
»Im Gesundheitsamt.« 

Piper seufzte und verdrehte die Augen. 

Was für ein Tag. 

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11

»

W

AS FÜR EIN TAG«, SEUFZTE PAIGE und blickte vom 

Buch der Schatten auf, als Piper den Dachboden betrat. »Ich glaube, 
das waren die schlimmsten acht Stunden, die ich je im Büro verbracht 
habe. Du glaubst nicht, was …« 

Paige stutzte, als sie ihre Schwester ansah, die mit hängenden 

Schultern und dunklen Rändern unter den Augen vor ihr stand. 

Aber am schlimmsten war der Geruch, der sich wie eine schlechte 

Aura um sie herum verbreitete. 

»Piper«, rief Paige und fächerte sich mit der Handfläche frische 

Luft zu. »Du stinkst ja erbärmlich. Was ist denn mit dir passiert?« 

Piper winkte erschöpft ab. »Nun ja, ich musste mich heute den 

ganzen Tag mit einem übereifrigen Steuerprüfer und seinem Kollegen 
vom Gesundheitsamt herumprügeln.« 

Sie erzählte ihrer Halbschwester die Geschichte von der 

Steuerprüfung und der Kühltruhe. Zum Glück hatte Mister Benson nur 
ein paar Kleinigkeiten in ihren Abrechnungen entdeckt, und auch das 
Gesundheitsamt hatte sie mit einer Geldbuße davonkommen lassen. 
Trotzdem hatte Piper die ganze Ladung des verdorbenen Fisches 
selbst entsorgen müssen. 

»Was ich jetzt brauche, ist ein laaaaaanges Bad, nicht zuletzt, um 

den Gestank wieder loszuwerden«, schloss Piper ihren Bericht. 

Paige nickte und entschied, Piper nichts von ihrem Tag zu 

erzählen. Das Erlebnis mit dem Polizisten war auch bei ihr nur der 
Beginn einer extremen Pechsträhne gewesen. Nachdem sie gegen 11 
Uhr frustriert im Büro eingetroffen war, hatte sie eine Standpauke von 
Mister Cowan über sich ergehen lassen müssen, die sich gewaschen 
hatte. Dann hatte sie einige wichtige Unterlagen nicht wiederfinden 
können, und am Nachmittag hatte ihr zu allem Überfluss der Bürobote 
einen Becher Kaffee über ihre neuen Wildlederstiefel geschüttet. Und 
wie zum krönenden Abschluss hatte sie nach Büroschluss noch einen 
Strafzettel wegen Falschparkens an ihrer Windschutzscheibe 
vorgefunden. Diesem verdammten Blimp musste schleunigst das 

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Handwerk gelegt werden, so viel stand fest. Aber genau deshalb war 
sie ja hier oben. 

»Was machst du eigentlich hier auf dem Dachboden?«, fragte Piper 

in diesem Augenblick, als hätte sie die Gedanken ihrer Schwester 
erraten. 

Paige deutete auf das Podest vor sich. »Dieser kleine 

Flaschenteufel treibt mich langsam in den Wahnsinn. Ich dachte, 
vielleicht finde ich im Buch der Schatten doch noch ein paar 
Informationen, die uns dabei helfen könnten, ihn aufzuspüren.« 

Piper trat einen Schritt näher, und Paige musste sich bemühen, 

nicht zu würgen. Piper roch wirklich extrem nach Fisch – und nicht 
gerade nach dem frischesten. 

»Irgendwie ist es komisch«, fuhr Paige fort und deutete auf die 

vergilbten Seiten des uralten Folianten. »Ich blättere hier nun schon 
seit einer Stunde herum und habe absolut nichts über 
Flaschendämonen gefunden. Aber dafür stoße ich immer wieder auf 
so etwas hier. Sieh mal.« 

Piper blickte über Paiges Schulter auf das Buch der Schatten. Auf 

der Seite, die Paige gerade spontan aufgeschlagen hatte, prangte die 
seltsame Zeichnung einer gegen den Uhrzeigersinn verlaufenden 
Spirale. 

»Was ist das?«, fragte Piper. Sie hatte dieses offensichtlich 

magische Symbol noch nie zuvor gesehen. 

Paige zuckte mit den Schultern. »Ich habe keine Ahnung. Aber so 

oft ich auch umblättere, ich stoße immer wieder auf Einträge, die 
irgendetwas mit diesem Text hier zu tun haben.« 

Frustriert strich Paige mit dem Zeigefinger über die Überschrift der 

Seite. Die Lettern waren ziemlich verblichen, und es war nicht 
einfach, sie im dämmrigen Licht des Speichers zu entziffern. Der 
magische Eintrag musste schon sehr alt sein. 

»Zeig mal«, sagte Piper und zündete eine auf dem Pult stehende 

Kerze an, um besser lesen zu können. Ein warmes, flackerndes Licht 
erfüllte den Dachboden. 

»Habt Acht vor der Zweiten Ankunft des Uralten«, las Piper. 
»Denn er will seine Kraft von Neuem entfalten. 

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Gebannt vor Äonen ist die Macht ungebrochen. 
Die Schmach des Kerkers wird er nie verzeihen, 
das Opfer eines Unschuldigen wird ihn befreien, 
um die Welt für alle Zeit zu unterjochen.« 

Paige spürte, wie ein Frösteln über ihren Rücken rieselte. »Klingt 

nach einem ziemlich unsympathischen Zeitgenossen«, sagte sie, und 
ihre Stimme wurde unwillkürlich zu einem Flüstern. »Aber was hat 
das zu bedeuten? Und was hat das mit dem Blimp zu tun?« 

Piper blickte ihre jüngere Halbschwester an und atmete 

geräuschvoll aus. »Ich hab keine Ahnung, Paige«, antwortete sie. 
»Wahrscheinlich gar nichts. Aber wenn das Buch der Schatten dir 
immer wieder diese Seite zeigt, dann wird es seine Gründe dafür 
haben.« 

Paige knurrte frustriert. »Vielleicht bin ich auch nur zu dumm, mit 

dem Buch richtig umzugehen. Ich meine, ich habe immer noch keine 
Ahnung, wie das Teil eigentlich funktioniert.« 

»So ganz habe ich das auch nie begriffen«, entgegnete Piper und 

legte Paige eine Hand auf die Schulter. »Aber das Buch ist fast so 
etwas wie ein lebendes Wesen. Vielleicht will es dir irgendetwas 
sagen. Für mich klingt das Ganze zumindest wie eine Warnung.« 

»Sicher«, nickte Paige, »aber was hat es mit diesem ›Uralten‹ auf 

sich? Und was für ein Unschuldiger soll geopfert werden?« 

Piper zuckte die Schultern. »Ich bin sicher, dass du das 

herausfinden wirst, Paige.« 

Sie zögerte eine Sekunde und blickte ihrer Halbschwester dann fest 

in die Augen. »Weißt du, als du vor ein paar Monaten aufgetaucht 
bist, gab es Momente, in denen ich dich für einen hoffnungslosen Fall 
gehalten habe. Ich fürchtete damals, dass du nie genug Disziplin 
aufbringen würdest, um eine Hexe zu werden. Aber ich habe mich 
getäuscht. Du bist jetzt ein fester Teil der Macht der Drei. Du wirst 
das Rätsel lösen. Vertraue deinen Instinkten, Paige.« 

Paige musste grinsen. »Danke, Piper. Jetzt fehlen dir nur noch ein 

paar rosa Puschel und ein Pappschild mit der Aufschrift ›Go, Paige, 
go!‹« 

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»Nicht wirklich«, lachte Piper. »Ich war nämlich nie der 

Cheerleader-Typ. Aber jetzt brauche ich dringend ein Bad. 
Entschuldige mich bitte.« 

»Sicher«, antwortete Paige und blickte ihrer Halbschwester nach, 

wie sie durch die Dachbodentür zur Treppe nach unten ging. 

Das war so ungefähr das Netteste, was Piper je zu ihr gesagt hatte. 

Trotz ihrer momentanen magischen Pechsträhne und der rätselhaften 
Warnung wurde Paige von einem wohligen Gefühl durchströmt. 

Sie fühlte sich toll bei dem Gedanken, eine Hexe zu sein und die 

Chance zu haben, etwas Gutes zu tun. 

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12 

P

HOEBE LAG AUF DEM BETT in ihrem Zimmer und hörte die 

Schritte ihrer beiden Schwestern auf dem Dachboden über sich. Sie 
konnte sich bildlich vorstellen, wie Piper und Paige mal wieder um 
das  Buch der Schatten herumstanden und versuchten, dem alten 
Schinken seine Geheimnisse zu entlocken. 

Phoebe vermochte gar nicht in Worte zu fassen, wie sehr ihr dieses 

Hexen-Pfadfindertum auf die Nerven ging: Den ganzen Tag 
verbrachten die drei Frauen damit, gegen irgendwelche widerlichen 
Dämonen zu kämpfen und die Welt zu retten. Aber wer hatte sie 
überhaupt darum gebeten? Und sie, Phoebe Halliwell, hatte sich für 
diese Art von Leben bestimmt nicht freiwillig gemeldet. 

Phoebe runzelte die Stirn. Eine Sekunde lang war sie über sich 

selbst verwundert. Bis vor ein paar Tagen hatte sie ihre Berufung als 
Hexe mit keinem Gedanken in Frage gestellt. Und nun … 

Was war nur los mit ihr? 

Es war, als ob neuerdings irgendetwas an ihrer Seele nagte und ein 

bohrendes Gefühl der Unzufriedenheit zurückließ. Eine Sehnsucht, die 
ihr Ziel erst noch finden musste. 

Ohne vom Bett aufzustehen, griff Phoebe nach der Fernbedienung 

ihrer Stereoanlage und drückte die »Play«-Taste. 

Sofort erfüllte die Musik der Nature Sons den Raum, diesmal 

jedoch auf Zimmerlautstärke. Wieder so ein Kompromiss, den sie 
Piper zuliebe eingegangen war. 

Ihr ganzes Leben wurde nur von Vorschriften, Regeln und 

Pflichten bestimmt. Hatte sie das nicht letztendlich auch ihre Liebe zu 
Cole gekostet? Sie selbst hätte gut damit leben können, dass ihr Ex-
Liebhaber ein Halbdämon war, der ständig im Clinch mit seiner 
dunklen Seite lag. Aber ihre Schwestern waren von Anfang an gegen 
diese Beziehung gewesen. Und wieder einmal hatte sich Phoebe dem 
Druck von Piper – und damals noch Prue – gebeugt. 

Aber damit war jetzt Schluss. 

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Phoebe hob den Kopf und blickte auf das Poster der Nature Sons, 

das seit kurzem ihre Zimmerwand zierte. 

Es war ein stimmungsvolles Schwarzweiß-Foto der Band, auf dem 

die Musiker an einem Strand standen und mit verträumten Augen in 
die Kamera lächelten. Alle vier trugen weit aufgeknöpfte weiße 
Hemden, die im Wind ebenso flatterten, wie ihre zerzausten Haare. 

Ein wunderschönes Poster, fand Phoebe, und es war gar nicht 

einfach gewesen, es zu bekommen. Die Band war ziemlich 
zurückhaltend, was ihre Promotion anging. Außer ein paar 
unverkäuflichen Papp-Aufstellern und Werbeplakaten in ein paar 
ausgewählten Plattenläden waren keinerlei Fan-Artikel im Handel 
erhältlich. 

Eine halbe Stunde lang hatte Phoebe auf den Verkäufer im Star 

Recorzz  einreden müssen, bis er ihr völlig genervt das Poster 
überlassen hatte. Diese Zurückhaltung hinsichtlich der Vermarktung 
war eigentlich seltsam, fand Phoebe, denn Markel, der Manager der 
Band, schien nicht gerade jemand zu sein, der etwas gegen Kommerz 
einzuwenden hatte. Selbst in den einschlägigen Musik-

und 

Szenemagazinen war kein Wort über die Nature Sons zu finden. Und 
Phoebe musste es schließlich wissen, denn nach dem Konzert hatte sie 
an den Kiosken jede Musikzeitschrift von vorne bis hinten 
durchgeblättert. 

Aber vielleicht lag die Werbestrategie der Band ja gerade darin, 

sich voll und ganz auf die Mund-zu-Mund-Propaganda zu verlassen. 

Phoebe blickte noch einmal auf das Poster und seufzte. Josh, der 

Gitarrist, schien sie direkt anzulächeln. Jedenfalls hatte sie das Gefühl, 
dass er – wie schon bei dem Konzert – nur Augen für sie hatte. 
Natürlich wusste Phoebe, dass das ein alberner Wunschtraum war – 
aber andererseits … sie als Hexe musste doch wissen, dass Magie und 
Schicksal absolut real waren. Vielleicht waren sie und Josh ja 
tatsächlich dazu bestimmt, einander kennen zu lernen. 

Phoebe runzelte die Stirn. Falls das so sein sollte, dann würde sie 

das sicherlich nicht herausfinden, indem sie hier auf ihrem Bett lag 
und träumte. 

Sie holte tief Luft und fasste einen Entschluss. 

Sie würde die Band suchen und Josh kennen lernen. 

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Und niemand würde sie davon abhalten können. 

Mit Schwung rollte sich Phoebe herum und sprang mit einem Satz 

vom Bett, als ihr plötzlich schwarz vor Augen wurde. Stöhnend 
torkelte sie einen Schritt zurück und suchte Halt am Bettpfosten. 

Seit Tagen schon fühlte sie sich unendlich schlapp, und während 

sie auf dem Bett gelegen hatte, war ihr gar nicht aufgefallen, wie 
schwach sie mittlerweile war. 

Phoebe schloss die Augen und atmete ruhig ein und aus. Sie hatte 

das Gefühl, seit Tagen nicht mehr geschlafen zu haben – dabei hatte 
sie seit dem Konzert fast nichts anderes getan. 

Doch trotz ihrer körperlichen Schwäche war sie erfüllt von 

Tatendrang. 

Das war ein gutes Zeichen. 

Mit weichen Knien ging sie zu ihrer Kommode und riss die 

Schubladen auf. 

Dann begann sie zu packen. 

Paige gab auf. 

Seit einer halben Stunde blätterte sie nun schon im Buch der 

Schatten.  Die Kerze, die Piper angezündet hatte, war schon fast 
abgebrannt. Im flackernden Licht der Flamme schienen die 
Buchstaben auf dem alten Pergamentpapier ein Eigenleben zu führen. 

Paige hätte schwören können, dass die alten Lettern – immer wenn 

sie gerade nicht hinsah – verschwammen und sich veränderten. Fast 
so, als ob das Buch der Schatten sich wieder einmal neu schreiben 
würde. Doch wahrscheinlich spielten ihre erschöpften Augen ihr nur 
einen Streich. Und so oder so hatte sie keine brauchbaren Hinweise 
mehr gefunden. Wenn das Buch noch Informationen über den Blimp 
oder den mysteriösen »Uralten« beinhaltete, dann behielt es dieses 
Wissen erfolgreich für sich. 

Das Einzige, auf das Paige immer wieder gestoßen war, waren 

weitere Warnungen vor dieser ominösen Bedrohung – und Bilder von 
magischen Spiralen, die sich gegen den Uhrzeigersinn zu drehen 

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schienen. Doch über das, was sie bedeuteten, schwieg das Buch der 
Schatten 
sich aus. 

»Wenn ich noch länger auf diese dämlichen Spiralen starre«, 

murmelte Paige, »werde ich davon noch ganz kirre.« 

Seufzend klappte die junge Hexe das Buch zu und rieb sich die 

müden Augen. 

Schluss für heute. Was sie jetzt brauchte, war die Magie eines 

anständigen schwarzen Kaffees. Und vielleicht würde sie dann auch 
ein schönes Schaumbad nehmen, vorausgesetzt, Piper würde das 
Badezimmer heute noch einmal verlassen. 

Paige pustete den Kerzenstummel aus, ließ das Buch der Schatten 

auf seinem Sockel zurück und schloss die Dachbodentür hinter sich. 

Sie hatte gerade den Flur des zweiten Stockwerkes erreicht, als 

sich die Tür zu Phoebes Zimmer öffnete. 

Phoebe trat heraus, nicht unbedingt erfreut darüber, ihre 

Halbschwester zu sehen. Sie trug eine abgewetzte Lederjacke und 
hatte sich die Augen schwarz geschminkt. Der dunkle Lidschatten 
bildete einen starken Kontrast zu Phoebes Haut, die blass und farblos 
wirkte. 

Dann fiel Paiges Blick auf die Lederjacke. »Phoebe, willst du noch 

weg?«, fragte sie erstaunt. 

»Natürlich will ich noch weg«, murmelte Phoebe misslaunig und 

schloss die Tür hinter sich. »Oder glaubst du, ich hab die Jacke 
angezogen, weil ich auf dem Weg zum Wohnzimmer so schnell 
friere?« 

Paige schluckte. Phoebe konnte zwar manchmal ziemlich 

schnippisch sein, aber so aggressiv hatte Paige sie selten erlebt. 
»Schon gut«, entgegnete sie und hob abwehrend die Hände. »Ich frage 
ja nur. Aber wohin willst du denn? Ich meine, hast du mal in den 
Spiegel geschaut? Du bist ganz blass um die Nase. Wenn du mich 
fragst, gehörst du ins Bett.« 

Phoebe machte einen wütenden Schritt auf ihre Halbschwester zu. 

»Warum müssen mir eigentlich immer alle Leute vorschreiben, was 
ich tun soll? Von Piper bin ich das ja schon gewöhnt, und jetzt fängt 

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meine kleine Schwester auch noch damit an. Mir reicht's jetzt 
wirklich. Ich tue, was ich will, verstanden?« 

»Ich … ich hab es doch nur gut gemeint«, stammelte Paige. Sie 

verstand die Welt nicht mehr. Was war nur in Phoebe gefahren? 

In diesem Augenblick öffnete sich die Badezimmertür, und Piper 

steckte ihren Kopf durch den Türspalt. Sie trug nur einen Bademantel 
und hatte sich ein Handtuch um die nassen Haare gewickelt. »Was ist 
denn hier los?« 

»Ich gehe«, antwortete Phoebe. 

»Sie geht«, echote Paige mit einem Schulterzucken. 

Piper blickte fragend zwischen beiden Schwestern hin und her. Mit 

ihrem behelfsmäßigen Turban hätte sie unter anderen Umständen 
dabei beinahe komisch ausgesehen. 

»Wohin geht sie denn?«, fragte Piper schließlich mit einem 

Stirnrunzeln. 

»Das würde ich auch gern wissen«, erwiderte Paige. 

Beide Schwestern blickten auf Phoebe, die nur die Augen 

verdrehte. »Wenn ihr es genau wissen wollt – ich versuche die Nature 
Sons 
zu finden!« 

Paige traute ihren Ohren nicht. Phoebe wollte einer 

dahergelaufenen, mittelmäßigen Pop-Band nachreisen? »Bist du nicht 
etwas zu alt, um eine zweite Karriere als Groupie zu starten?« 

»Das überlasst ihr am besten mal mir, okay?« 

Piper legte die Stirn in Falten. Auch sie verstand offensichtlich 

nicht, was mit ihrer jüngeren Schwester vorging. »Phoebe, du kannst 
tun und lassen, was du willst, aber meinst du, der Zeitpunkt ist günstig 
gewählt? Ich meine, wir haben diesen Blimp immer noch nicht 
gefunden, und Paige hat vom Buch der Schatten eine mysteriöse 
Warnung erhalten. Ein Unschuldiger ist in Gefahr und …« 

Phoebe lachte bitter auf. »Das ist alles, was ihr im Kopf habt, 

stimmt's? Gegen irgendwelche Dämonen kämpfen und Unschuldige 
beschützen. Wer sind wir denn? Die Hexen-Polizei? 

Nein, danke! Die Suppe, die Paige uns mit dem Flaschenteufel 

eingebrockt hat, soll Paige gefälligst allein auslöffeln. Und auf eure so 

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genannten ›Unschuldigen‹ kann auch mal jemand anderes aufpassen. 
Ich hab auch noch ein Privatleben, wisst ihr?« 

Piper blickte ihre jüngere Schwester ernst an. »Phoebe, hast du 

vergessen, dass wir nur durch die Macht der Drei wirklich stark sind? 
Wir brauchen uns gegenseitig, wenn wir gegen die Mächte der 
Finsternis eine Chance haben wollen.« 

Aber Phoebe schüttelte nur den Kopf. »Was ich jetzt vor allem 

brauche, ist etwas Zeit für mich.« Mit diesen Worten drehte sie sich 
auf dem Absatz um und ging die Treppe zum Flur hinunter. 

»Und keine Sorge«, rief sie über ihre Schulter hinweg, »ich bin ja 

nicht weit weg. Die Nature Sons müssen irgendwo hier in der Stadt 
sein.« 

Der Knall der zugeworfenen Haustür wirkte wie der Schlussakkord 

des kleinen Streites, der aus scheinbar heiterem Himmel über das 
Halliwell-Haus hereingebrochen war. 

Ratlos blieben Piper und Paige im Flur zurück. Ein paar Sekunden 

waren beide Frauen sprachlos. Keine von ihnen konnte sich vorstellen, 
was mit Phoebe geschehen war. 

»Du tropfst«, sagte Paige schließlich zu Piper. 

»Leo!«, rief Piper. 

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13 

E

INE HALBE STUNDE SPÄTER steuerte Phoebe ihren 

klapprigen Pick-up durch die Straßen San Franciscos. 

Es war inzwischen dunkel geworden, und ab und zu konnte sie 

zwischen den Häusern die beleuchtete Golden Gate Bridge in der 
Ferne erkennen. 

Das in der Dunkelheit schimmernde Wahrzeichen der Stadt kam 

ihr wie ein Symbol für die Brücke vor, die sie überschreiten musste, 
um ein neues Leben zu beginnen. Eine Sekunde lang spürte sie den 
Anflug eines schlechten Gewissens. Was war nur in sie gefahren, 
Piper und Paige so im Stich zu lassen? Ihre beiden Schwestern zählten 
auf sie und hatten sich bisher immer auf sie verlassen können. 

Aber dann ertönte, wie von weit her, das Echo des Nature-Sons-

Songs in ihrem Kopf. »›Tu, was du willst‹«, hieß es da, und Phoebe 
wusste, was sie zu tun hatte. Sie musste die Band kennen lernen, und 
vor allem ein ganz bestimmtes Mitglied: Josh, den Gitarristen. 

Das Bild des so sanft lächelnden jungen Mannes verdrängte alle 

anderen Gedanken in ihrem Kopf. Selbst die Erinnerung an Cole, die 
noch Monate nach der Trennung rund um die Uhr in ihrem Kopf 
herumgespukt hatte, schien plötzlich weit weg zu sein. 

Phoebe seufzte und steuerte den Wagen um eine Kurve. Vor ihr 

erstreckte sich der Tenderloin-Bezirk, ein berühmt-berüchtigtes 
Amüsierviertel der Stadt. Für viele war dieser anrüchige Ort der 
reinste Sündenpfuhl, dabei existierte in Tenderloin unter anderem eine 
erstklassige Musikszene. Die vielen kleinen Clubs boten eine ideale 
Auftrittsmöglichkeit für junge, aufstrebende Bands, die sich hier erste 
Sporen verdienen konnten. 

Gut möglich, dachte Phoebe, dass auch die Nature Sons mal hier 

angefangen hatten. Das war auch der Grund gewesen, warum Phoebe 
ihren Wagen – wenn auch eher unbewusst – hierher gesteuert hatte. 
Vielleicht, so ihre vage Hoffnung, zog es ja das ein oder andere 
Mitglied zurück an den Ort, an dem alles angefangen hatte. 

Phoebe hielt an einer roten Ampel und schüttelte den Kopf. Die 

Straßen waren voll mit Nachtschwärmern, die hier auf der Suche nach 

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Vergnügungen waren – von welcher Art auch immer. Selbst wenn 
sich Josh hier aufhielt, würde sie ihn in diesem Getümmel einfach 
übersehen. Obwohl sie immer noch von dem Gedanken erfüllt war, 
das Richtige zu tun, wunderte sich ein Teil von Phoebes Verstand 
darüber, wie irrational sie plötzlich handelte. 

Die Ampel wechselte auf Grün. Phoebe ließ die Kupplung 

kommen und wollte gerade weiterfahren, als ihr Auto mit einem 
erstickten Blubbern stehen blieb. Der Fahrer eines Sportwagens hinter 
ihr hupte wütend auf und zog dann mit quietschenden Reifen an 
Phoebe vorbei. 

Hektisch drehte die junge Hexe den Zündschlüssel. Der alte Pick-

up reagierte mit einem protestierenden Spotzen. Dann machte er einen 
kleinen Satz nach vorn und blieb abermals stehen. Nervös blickte 
Phoebe aus dem Fenster. Eine Gruppe finsterer Gestalten hatte den 
Vorfall bemerkt und näherte sich ihrem Wagen. An ihren Gesichtern 
war nicht abzulesen, ob sie Phoebe helfen oder die Gelegenheit 
ausnutzen wollten, sie auszurauben. 

Phoebe hatte keine Lust, das herauszufinden und drehte den 

Zündschlüssel noch einmal herum. Die Gestalten waren jetzt nur noch 
wenige Schritte von ihr entfernt. 

»Komm schon, du Mistding«, rief sie. Dann versuchte sie sich zu 

sammeln und ließ die Kupplung ganz langsam kommen. Mit einem 
kleinen Ruck setzte sich der Wagen in Bewegung. Phoebe gab 
vorsichtig Gas. 

Einer der Männer aus der Gruppe, seinem Gehabe nach wohl der 

Anführer seiner kleinen Gang, schlug wütend mit der Hand aufs 
Autodach, als Phoebe an ihm vorbeirollte. Der Knall ließ sie 
zusammenzucken, und eine Sekunde lang glaubte sie, ein Messer in 
der anderen Hand des Mannes aufblitzen zu sehen. 

Dann drückte sie das Gaspedal bis zum Anschlag durch und schoss 

über die Kreuzung. 

Sie wollte gerade erleichtert aufseufzen, als plötzlich ein lautes 

Hupen von der Seite her ertönte. Sie wandte den Kopf und blickte 
geradewegs in die grellen Scheinwerfer eines Wagens, der von rechts 
auf sie zu schoss. 

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In der ganzen Aufregung hatte sie gar nicht mehr darauf geachtet, 

dass ihre Ampel längst wieder auf Rot zurückgesprungen sein musste. 

Aber es war zu spät, um noch zu bremsen. Phoebe schloss die 

Augen, klammerte sich mit den Händen ans Lenkrad und wartete auf 
den Aufprall. 

Doch dazu kam es nicht. Mit einem lang gezogenen Hupen zog der 

Wagen nur wenige Zentimeter vor Phoebes Stoßstange vorbei. 

Als sie die Augen wieder öffnete, sah sie nur noch, wie der andere 

Fahrer aus dem Fenster heraus wütend die Faust ballte und 
davonbrauste. 

»Meine Güte, Phoebe«, schalt sie sich selbst, »das war haarscharf.« 

Mit zitternden Händen steuerte sie ihren Pick-up weiter durch das 
nächtliche Vergnügungsviertel. 

Sie war natürlich dankbar, dass sie dieser Rockerbande und dem 

Zusammenstoß entgangen war, aber gleichzeitig wunderte sie sich 
auch darüber. Immerhin waren die drei Schwestern doch immer noch 
mit dem Pech-Fluch des Blimps belegt. Wie konnte sie dann so viel 
Glück auf einmal haben? 

Es sei denn … – einen Augenblick lang machte sich ein flaues 

Gefühl in Phoebes Magengegend breit – es sei denn, dieser kleine 
Flaschenteufel hatte noch etwas viel Gemeineres mit ihr vor und 
wollte sich den Spaß durch einen kleinen Verkehrsunfall nicht 
verderben lassen. 

Phoebe dachte kurz darüber nach, dann verwarf sie diesen 

Gedanken wieder. Vielleicht hatten Piper und Paige die Macht dieses 
kleinen Quälgeistes einfach überschätzt. 

Eines jedoch stand fest: Es brachte gar nichts, hier weiter in der 

Gegend herumzufahren und auf gut Glück nach der Band zu suchen. 
In den einschlägigen Musikmagazinen hatte sie nichts über die Nature 
Sons 
gefunden, also musste sie sich etwas anderes einfallen lassen. 

Dann hatte sie eine Idee. Auch wenn die Band nichts von 

Pressearbeit hielt, musste doch irgendetwas über den Manager der 
Gruppe, Mister Markel, in Erfahrung zu bringen sein. Und verfügte 
nicht das Magazin, für das Phoebe ihre Kolumnen schrieb, über eine 
eigene Musikredaktion? Nun ja, streng genommen bestand diese 
Redaktion nur aus Steve, einem netten, etwas weltfremden Musik­

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Freak, der das gesamte Ressort allein betreute. Aber Phoebe wusste, 
dass Steve in seinem Redaktionscomputer eine gewaltige Datenbank 
pflegte, in der alle möglichen Informationen über Bands und 
Plattenfirmen gespeichert waren. 

Sie erinnerte sich auch daran, dass gelegentlich Kollegen von den 

wirklich großen Musik-Magazinen in der Redaktion anriefen, um 
Steve um Informationen zu bitten. 

Phoebe blickte auf ihre Armbanduhr. Es war kurz nach zehn. In der 

Redaktion würde jetzt kein Mensch mehr sein. 

Umso besser. Denn offiziell war sie noch immer krank 

geschrieben, und so würde sie niemandem erklären müssen, was sie zu 
dieser späten Stunde noch in der Redaktion zu suchen hatte. 

Phoebe drückte aufs Gaspedal und bog an der nächsten 

Seitenstraße ab. Zum Glück war das Redaktionsgebäude nur ein paar 
Blocks entfernt. Die weitere Fahrt verlief ohne Zwischenfälle, und sie 
hatte Recht behalten: Die Fenster der Redaktion waren allesamt 
dunkel. 

Phoebe stellte den Wagen auf einem der reservierten Parkplätze ab 

und ging auf den Eingang des Gebäudes zu. 

Dann setzte sie ihr unschuldigstes Lächeln auf, als sie an dem alten 

Nachtwächter vorbeischritt, der im Eingangsbereich des Hochhauses 
hinter einem Pult saß. 

»Miss Halliwell«, rief der alte Mann erstaunt und blickte von 

seiner Zeitung auf, »was machen Sie denn noch hier?« 

Phoebes Grinsen wurde noch etwas breiter. »Oh, ich, äh, hab in der 

Redaktion etwas Wichtiges liegen lassen. Ein paar Notizen, die ich zu 
Hause bearbeiten wollte.« 

Phoebe hoffte, dass der alte Mann diese kleine Notlüge schlucken 

würde, schließlich konnte er als Nachtwächter ja nicht wissen, dass 
Phoebe sich krank gemeldet hatte. 

Doch der alte Mann blickte Phoebe skeptisch an. Phoebe schluckte. 

Dann machte sich ein väterliches Lächeln auf dem Gesicht des 

Nachtportiers breit. »Na, dann gehen Sie mal hoch«, sagte er 
freundlich. »Aber wenn Sie mich fragen, sollten Sie nicht mehr so viel 
arbeiten. Sie sehen ja ganz blass aus.« 

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Seltsam, dachte Phoebe, warum sagt mir eigentlich alle Welt, dass 

ich krank aussehe? 

Doch dann drückte der alte Mann einen Knopf an seinem Pult, der 

die Aufzugtür freigab, und Phoebe vergaß diesen Gedanken wieder. 

Mit einem freundlichen »Dankeschön« huschte sie an dem 

Nachtwächter vorbei in den Aufzug. Sekunden später stand sie in der 
Redaktionsetage. Die rangniederen Journalisten mussten sich ein 
Großraumbüro teilen, das jetzt schweigend vor ihr lag. Zu dieser 
späten Stunde wirkte der Raum ganz anders als tagsüber, wenn hier 
ein aufgeregtes Durcheinander und hektisches Stimmengewirr 
herrschten. 

Mit einem Anflug von schlechtem Gewissen schlich Phoebe zu 

Steves Schreibtisch und schaltete dessen Computer ein. 

Mit einem kleinen Fanfarenstoß erwachte das Betriebssystem zum 

Leben. Phoebe hatte diese kurze Tonfolge schon unzählige Male aus 
ihrem eigenen Rechner vernommen, doch jetzt zuckte sie 
unwillkürlich zusammen. In der Stille des Büros wirkte die gefällige 
Melodie wie ein Alarmsignal. Instinktiv blickte sie sich nach allen 
Seiten um, bevor sie sich dem Desktop auf dem Monitor widmete. 

Ein stilisierter Mund streckte ihr eine gewaltige Zunge entgegen – 

natürlich hatte Steve das Wahrzeichen der »Rolling Stones« als 
Bildschirmhintergrund gewählt. Das passte zu ihm. 

Im Dateiverzeichnis suchte Phoebe nach einem Ordner mit der 

Bezeichnung »Datenbanken«, öffnete ihn und klickte dann auf das 
Programm-Icon, das einen stilisierten Aktenschrank darstellte. 

Doch statt der erwarteten Datenbank erschien ein mausgraues 

Eingabefeld auf dem Bildschirm. »Mist«, zischte Phoebe, »hätte ich 
mir ja denken können – ein Passwortschutz!« 

Aber sie war schon zu weit gekommen, um jetzt einfach 

aufzugeben. Auf gut Glück gab sie ein paar vermeintlich nahe 
liegende Begriffe wie »Steve«, »Sesam öffne dich« und »Rosebud« 
ein, doch die brachten sie nicht weiter. Sie dachte scharf nach. Es 
erschien ihr nicht abwegig, dass ein Musikfreak wie Steve den Namen 
einer Band oder eines Musikers als Codewort ausgewählt hatte. Doch 
welchen? 

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Die Eingabe »Rolling Stones« endete mit einer Fehlermeldung. 

Das wäre auch zu einfach gewesen … 

»Bruce Springsteen« – Zugriff verweigert. 

»Oasis« – Fehlanzeige. 

»Shakira« – Falsch. 

Phoebe zermarterte sich das Hirn. Ganz so leicht würde Steve es 

einem unberechtigten Benutzer sicherlich nicht machen. Sie 
versuchte, sich daran zu erinnern, über welche Bands Steve 
gesprochen hatte, als sie sich in den Kaffeepausen über Musik 
unterhalten hatten. 

Natürlich – erst neulich hatten sie sich am Kopiergerät über ihre 

meistgehassten Bands ausgetauscht. Dabei hatten sie sich spielerisch 
gestritten, weil Steve den Musiker Eminem für eine selbstverliebte 
Heulsuse hielt, während sie, Phoebe, die ungeschminkte Art des 
Rappers eigentlich ganz ansprechend fand. 

»Was soll's«, murmelte Phoebe. Sie tippte den Namen des 

Künstlers in das Eingabefeld und drückte die »Return«-Taste. Im 
selben Augenblick verschwand das Popup-Fenster, und auf dem 
Bildschirm erschien eine scheinbar endlose Datenbankliste mit 
Bandnamen, Plattenfirmen und Adressen. 

»Bingo!«, triumphierte Phoebe. Steve hatte als Passwort den 

Namen des Musikers gewählt, den er am meisten verachtete. Clever, 
dachte sie, aber nicht clever genug für Phoebe, die Hexen-Spionin. 

Gespannt gab Phoebe den Namen »Markel« in die Suchmaske ein. 

Kaum einen Herzschlag später öffnete sich der Datensatz zu »Markel 
Entertainment«. Zu diesem Eintrag fanden sich gleich zwei Adressen 
sowie eine Liste der Bands, die Markel offensichtlich vor den Nature 
Sons 
betreut hatte. Die Liste war kurz, und Phoebe hatte noch keinen 
der Namen gehört. Markel schien bislang kein glückliches Händchen 
fürs Geschäft bewiesen zu haben. 

Doch mit den Nature Sons hatte er einen wahren Volltreffer 

gelandet, wie Phoebe fand. Sie überflog die beiden Adressen. Die eine 
kannte sie: Sie gehörte zu einem schäbigen Wolkenkratzer am Rande 
der Stadt. Soweit Phoebe wusste, wurde dort billiger Geschäftsraum 
vermietet. Wahrscheinlich hatte Markel dort ein kleines, schäbiges 

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Büro. Kaum anzunehmen, dass sie die Nature Sons dort antreffen 
würde. 

Die andere Adresse war da schon vielversprechender. Sie riss einen 

Zettel von einem Notizblock und notierte hektisch die Anschrift: 001 
Breakers Point. 

Seltsame Adresse für einen Produzenten, dachte Phoebe. Aber sie 

würde später noch Zeit haben, die Straße auf einem Stadtplan zu 
suchen. 

Plötzlich flammte das Deckenlicht über ihrem Kopf auf. 

Mit einem erschrockenen Keuchen fuhr Phoebe herum. Hastig ließ 

sie den Notizzettel in ihrer Hosentasche verschwinden. 

In der Tür stand der alte Nachtwächter, die Hand am Lichtschalter. 

Er blickte Phoebe fragend an. 

»Alles in Ordnung, Miss Halliwell? Sie haben so lange gebraucht, 

da hab ich mir Sorgen gemacht«, sagte er in einem ehrlich besorgten 
Tonfall. »Sie wollten doch nur eine Notiz holen, oder?« 

Phoebe hoffte, dass sie nicht rot anlief. »Äh, sicher«, stotterte sie 

und deutete auf Steves Schreibtisch. »Ich hab den Zettel in meinem 
üblichen Chaos nicht auf Anhieb gefunden.« 

Es tat ihr Leid, den netten alten Mann anzulügen, aber er konnte ja 

nicht wissen, dass dies in Wahrheit Steves Schreibtisch war. Und zum 
Glück herrschte am Arbeitsplatz des Musikredakteurs tatsächlich ein 
heilloses Durcheinander. 

Der Nachtwächter lächelte verständnisvoll. »Na, da hab ich schon 

Schlimmeres gesehen. Kommen Sie, ich begleite Sie nach unten.« 

Phoebe nickte und schaltete den Computer wieder aus. Dann 

huschte sie aus dem Büro und ging mit dem alten Mann auf die 
geöffnete Aufzugtür zu. 

Sie atmete erleichtert auf. 

Der Nachtwächter blickte sie freundlich an, während der Fahrstuhl 

wieder ins Erdgeschoss fuhr. 

»Sagen Sie«, fragte Phoebe, »besitzen Sie zufällig einen 

Stadtplan?« 

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14 

P

IPER, PAIGE UND LEO saßen im Wohnzimmer des Halliwell-

Hauses. 

Warmes Licht durchflutete den Raum und drei Tassen Kaffee 

standen dampfend auf dem kleinen Tisch in der Mitte. 

Es hätte ein wirklich gemütlicher Abend sein können, aber die 

Gesichter der drei wirkten alles andere als entspannt. 

Leo blickte sich nervös um. »Und ihr habt diesen Blimp immer 

noch nicht gefunden?«, fragte er in die Runde. 

Piper nahm einen Schluck Kaffee und schüttelte dann den Kopf. 

»Nein, leider nicht. Wir haben das ganze Haus auf den Kopf gestellt 
und jedes Glasbehältnis drei Mal umgedreht. Keine Spur.« 

»Wir haben sogar alle Glühbirnen untersucht, aber dieser kleine 

Teufel ist einfach nirgends zu finden. Vielleicht ist er doch schon über 
alle Berge«, ergänzte Paige hoffnungsvoll. 

Leo schüttelte den Kopf. »Nein, das glaube ich nicht. Diese Blimps 

sind anhänglich wie … na ja, wie Pech eben. Wisst ihr, eigentlich 
dürfte ich gar nicht hier sein.« 

Piper winkte müde ab. »Schon gut, Leo, wir wissen Bescheid. Als 

Wächter des Lichts kannst du es dir nicht leisten, vom Unglück 
verfolgt zu werden. Aber wir brauchen deine Hilfe.« 

»Wegen Phoebe?«, fragte Leo. Die beiden Schwestern hatten ihm 

bereits von Phoebes seltsamen Stimmungsumschwüngen erzählt. 

»Ja«, sagte Piper. »Ich verstehe einfach nicht, was mit ihr los ist. 

Seit sie auf diesem Konzert der Nature Sons war, ist sie wie besessen 
von dieser Band.« 

Leo blickte nachdenklich auf die Dampfwolke, die von seiner 

Kaffeetasse aufstieg. »Und genau das könnte es sein«, sagte er dann 
ernst. 

Piper runzelte die Stirn und blickte ihren Ehemann fragend an. 

Dann verstand sie, was er meinte und wurde blass. »Willst du damit 
sagen … es könnte schwarze Magie mit im Spiel sein?« 

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Leo hob die Schultern. »Durchaus denkbar. Das Ganze könnte der 

heimtückische Angriff eines Dämons sein. Oder Phoebe ist rein 
zufällig in die Fänge einer schwarzmagischen Verschwörung 
geraten.« 

»Du meinst, sie hat möglicherweise einfach nur … Pech gehabt?« 

Leo nickte. »Das würde doch passen, oder?« 

»Moment mal«, rief Paige dazwischen und hob die Hände. »Ich 

kann euch nicht mehr ganz folgen. Ihr meint, es gibt wirklich 
Dämonen oder andere Finsterlinge, die mit Rockmusik arbeiten? Ich 
dachte immer, Marilyn Manson wäre das Gruseligste, was je eine 
Bühne betreten hat. Na ja, vielleicht nur noch getoppt von Ozzy 
Osbourne.« 

Leo machte ein Gesicht, als hätte er diese Namen noch nie gehört. 

Und vermutlich traf das auch zu; als Wächter des Lichts kam er 
wahrscheinlich nur selten mit den derzeitigen Ikonen der Pop-Branche 
in Berührung. 

»Es ist gar nicht so ungewöhnlich, dass sich schwarzmagische 

Geschöpfe die Musik zu Nutze machen, um Menschen in ihre Gewalt 
zu bekommen«, erklärte er dann. »Denk doch nur einmal an Odysseus 
und die Sirenen. Oder an die Loreley. In beiden Fällen wurden die 
Opfer zunächst in den Bann lieblicher Klänge gezogen und dann in 
den Untergang gerissen.« 

»Moment mal«, warf Paige ein, »das sind doch nur Legenden und 

Märchen. Oder?« 

»Nicht ganz«, antwortete Leo. »Ich hab die Loreley sogar einmal 

getroffen. Ein wirklich hübsches Mädchen mit …« 

»Hey!«, rief Piper. »Könnten wir vielleicht wieder zur Sache 

kommen?« 

Leo räusperte sich. »Entschuldige, Schatz«, sagte er kleinlaut. 

Piper gab ein leises Knurren von sich und nahm dann noch einen 

Schluck aus ihrer Kaffeetasse. »Mal angenommen, Phoebe ist 
tatsächlich in die Netze einer magischen Verschwörung geraten – was 
können wir dagegen tun?« 

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»Ihr müsst vor allem erst einmal herausfinden, mit wem ihr es zu 

tun habt und was für Ziele er verfolgt. Dann könnt ihr euch geeignete 
Gegenmaßnahmen überlegen.« 

Piper seufzte. »Was gar nicht so einfach sein dürfte – solange 

Phoebe nicht dazu bereit ist, ihren Teil zur Macht der Drei 
beizutragen.« 

»Da beißt sich die Katze in den Schwanz«, nickte Paige. 

Leo stand auf und gab Piper einen Kuss auf die Stirn. »Ich muss 

jetzt wieder los. Ich kann es nicht riskieren, zu lange hier zu bleiben. 
Ihr wisst ja, ich …« 

Piper nickte frustriert. »Ja, schon klar. Du kannst es als Wächter 

des Lichts nicht riskieren, eine magische Pechsträhne zu haben. Geh 
ruhig.« 

Leo schenkte seiner Frau ein zuversichtliches Lächeln. »Ich bin 

sicher, ihr werdet eine Lösung finden.« Mit diesen Worten löste er 
sich in einer Wolke aus blauem Licht auf. 

Die beiden Hexen waren wieder allein. 

»Blimps, Musik-Magie, Sirenen – das wird mir alles langsam ein 

bisschen zu viel. Ich werde in die Küche gehen und mir einen 
Milchshake machen. Ich muss über so viel nachdenken, dass ich allein 
dadurch die Kalorien locker wieder verbrenne. Möchtest du auch 
einen?« 

»Nein, danke.« Piper schüttelte den Kopf. 

Paige ging in die Küche, und kurz darauf hörte man das laute 

Rattern des Standmixers. 

Unschlüssig, was sie nun tun sollte, blickte Piper ein paar 

Sekunden lang ins Leere. Dann griff sie nach der TV-Fernbedienung. 
Sie hatte in der Programmzeitung gelesen, dass heute eine 
Dokumentation über die besten Restaurants der Welt gesendet wurde. 
Ein wenig in die Glotze zu schauen würde vielleicht ganz entspannend 
sein. 

Sie schaltete den Fernseher ein. Auf dem Bildschirm war ein gut 

gelaunter französischer Küchenchef zu sehen, der frisches Gemüse in 
einer riesigen Pfanne schwenkte. Dann verschwamm das Bild. Der 

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Koch war plötzlich dreimal zu sehen, und jedes seiner 
halbdurchsichtigen Phantombilder erschien in einer anderen Farbe. 

Wieder nahm Piper die Fernbedienung zur Hand und wechselte 

den Sender. Eine Moderatorin von CNN verlas soeben die neusten 
Nachrichten. Auch sie war nur verschwommen und gleich mehrmals 
zu sehen. Dasselbe Phänomen zeigte sich auch auf allen anderen 
Sendern, durch die Piper sich durchzappte. 

Auch das noch, dachte sie, der Fernseher scheint auch im Eimer zu 

sein. Dieser Blimp lässt aber auch wirklich nichts aus … 

Da ertönte aus der Küche ein Schrei, der selbst das penetrante 

Rattern des Mixers übertönte. 

Erschrocken sprang Piper auf. »Paige, alles in Ordnung?« 

Das Geräusch der Küchenmaschine verstummte. 

»Alles okay«, rief Paige keuchend, »mir ist nur gerade der Deckel 

des Mixers abgesprungen. Ah, wer hat eigentlich diese Woche 
Küchenputzdienst?« 

Stöhnend ließ Piper sich wieder in den Sessel fallen. Sie versuchte, 

tief Luft zu holen und sich nicht aufzuregen. 

Es wurde wirklich höchste Zeit, diesem verdammten Blimp den 

Garaus zu machen. 

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15 

Ü

BER DEM ALTEN ANWESEN AM Breakers Point leuchtete 

der Vollmond wie ein trübes Auge am Nachthimmel. 

Wie eh und je ragte das düstere Haus über dem Cliff auf, aber an 

diesem Abend wirkte es nicht mehr ganz so ausgestorben. Warmes 
Licht fiel durch einige der Fenster, und der Wind, der auch jetzt über 
die Ebene fegte, erfasste die leisen Klänge einer Gitarre und trug sie 
hinaus in die Dunkelheit, wo sie ungehört verhallten. 

In dem Gewölbe unter dem Haus indes war es totenstill. 

Lautlos schlich ein dunkler Schatten auf den fahl glimmenden 

Lichtwirbel in der Mitte des Raumes zu. 

»Ihr habt mich gerufen, Meister?«, knurrte das Wesen mit 

ergebener Stimme. 

Einen Augenblick lang schien es, als erwache in dem Lichtwirbel 

eine entsetzlich entstellte Gestalt zum Leben. Dann ertönte eine 
dunkle Stimme, die von überall und nirgends zu kommen schien. »Ich 
spüre etwas … jemand nähert sich diesem Ort.« 

Die Schattengestalt knurrte überrascht auf. »Das ist nicht möglich. 

Niemand weiß, dass wir hier sind. Vielleicht ein Landstreicher … oder 
jemand, der sich verirrt hat, Meister.« 

»Nein, wer immer es ist, seine Schritte sind planvoll. Er hat uns 

gesucht und gefunden.« 

Das Fell der Schattengestalt sträubte sich, wodurch die Kreatur 

noch größer erschien. »Dann muss es ein Fan der Band sein – einer 
Eurer ahnungslosen Jünger. Er muss irgendwie von unserem 
Unterschlupf erfahren haben. Wahrscheinlich ein Groupie, das sich in 
einen der Jungs verliebt hat. Wir wussten, dass Eure Magie diese 
Nebenwirkung haben kann.« 

Die Stimme aus dem Lichtwirbel schwoll drohend an. »Ich weiß 

nicht, was ein ›Groupie‹ ist, aber diese Person ist kein gewöhnlicher 
Mensch. Es ist eine weiße Hexe. Sie gehört zur selben Brut, die mich
vor Äonen in diesen Kerker verbannt hat.« 

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»Dann wird sie für das, was ihre Vorfahren Euch angetan haben,

büßen, Meister. Überlasst sie mir.« 

Mit diesen Worten entfernte sich das Wesen von dem Mahlstrom. 

Im unheiligen Schein des Portals blitzten für einen 

Sekundenbruchteil die gelben Augen eines Raubtieres auf. 

Wie zwei Lichtlanzen bohrten sich die Scheinwerfer von Phoebes 

Pick-up in die Nacht. 

Als Stadtmensch war sie überrascht, wie dunkel es hier draußen 

war. Die letzte Straßenlaterne hatte sie vor mehr als fünf Meilen hinter 
sich gelassen. Nur der Mond leuchtete fahl vom Himmel und spendete 
einen Hauch von Licht. 

Was für eine gottverlassene Gegend, dachte Phoebe, während sie 

das Lenkrad krampfhaft umklammert hielt. Die Straße verdiente 
diesen Namen kaum und war nicht mehr als eine Schotterpiste. 

Warum um alles in der Welt eröffnete irgendjemand hier draußen 

das Büro eines Musikverlages? Phoebe fielen nur zwei Gründe dafür 
ein – geringe Mieten und Abgeschiedenheit. 

Allerdings war ein ruhiges Landleben nicht unbedingt das, was 

man mit einer Pop-Gruppe verband. 

Phoebe fragte sich zum wiederholten Male, ob die Adresse in 

Steves Datenbank womöglich falsch gewesen war. In diesem Fall 
hätte sie die halbe Nacht ganz umsonst auf einer Ruckelpiste 
zugebracht und nichts erreicht. 

Andererseits hatte sie tief in ihrem Inneren das Gefühl, auf dem 

richtigen Weg zu sein. Der Schotterweg beschrieb eine Kurve, und 
Phoebe lenkte ihren Wagen vorsichtig auf ein Plateau, das bis jetzt 
von einem kleinen Hügel verborgen gewesen war. 

Mitten auf der Ebene stand ein altes Haus, von dem sie im 

Mondlicht nur die Umrisse erkennen konnte. 

Und es brannte Licht hinter den Fenstern! Instinktiv wusste 

Phoebe, dass sie am Ziel war. 

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Jetzt hieß es, vorsichtig vorzugehen. Schließlich konnte sie 

schlecht an der Tür klingeln und sich wie selbstverständlich danach 
erkundigen, ob Josh zu Hause war. 

Mit einigem Abstand zum Haus brachte sie ihren Wagen zum 

Stehen, stieg aus und ging zu Fuß auf das alte Gemäuer zu. Ein kalter, 
salziger Wind zerzauste ihr Haar, und Phoebe fröstelte. Seit Tagen 
schon war sie sehr kälteempfindlich, was wahrscheinlich mit ihrer 
chronischen Müdigkeit zusammenhing. Trotzdem fühlte sie sich voller 
Tatendrang. 

Mit schnellen Schritten näherte sie sich dem Haus. Wären im 

zweiten Stock nicht ein paar Fenster erleuchtet gewesen, hätte das alte 
Gebäude auch als verlassene Ruine durchgehen können. 

Dagegen sprach allerdings der Drahtzaun, vor dem Phoebe jetzt 

stand. Im schwachen Mondlicht schimmerten die Maschen des 
Stahldrahtes wie neu. Der Zaun war offensichtlich erst vor kurzem 
aufgestellt worden, wahrscheinlich um unliebsame Besucher draußen 
zu halten. Unliebsame Besucher wie sie … 

Ein paar Schritte links von ihr befand sich ein Tor, an dem ein 

kleines Schild mit der Aufschrift »Markel Entertainment« angebracht 
war. 

Und das war alles. 

Keine Klingel, keine Sprechanlage, nichts. Wahrscheinlich konnte 

das massive Tor nur von innen geöffnet werden. Wer auch immer hier 
residierte, er schien keinen besonderen Wert auf Besuch zu legen. 

Aber so leicht ließ Phoebe sich nicht abschrecken. Wozu war sie 

schließlich eine Hexe? 

Mit leisen Schritten entfernte sie sich wieder von dem Tor und 

blickte auf das eingezäunte Gelände. Ein paar windschiefe Bäume 
warfen im Mondlicht ihre bizarren Schatten, ansonsten schien sich 
kein Mensch hier draußen aufzuhalten. Nur aus dem Inneren des 
Hauses klangen ein paar gedämpfte Gitarren-Akkorde zu ihr herüber. 
Phoebes Pulsschlag beschleunigte sich augenblicklich. 

»Mal sehen, ob ich es noch drauf habe«, murmelte sie und ging zu 

einem Baum, der auf der anderen Seite des Zaunes stand. Ein dicker, 
knorriger Ast ragte über die Stacheldrahtkrone der Umzäunung auf 
ihre Seite herüber. 

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Sie war zwar nicht in Bestform, aber sie fand, so ein Zaun sollte 

kein wirkliches Hindernis für sie darstellen – auch wenn er sie um 
eine Kopflänge überragte und der Stacheldraht in der Tat ziemlich 
gemein aussah. 

Phoebe schloss die Augen und konzentrierte sich. Dann 

katapultierte sie sich mit Hilfe ihrer Levitationskraft in die Höhe. 
Unter normalen Umständen hätte sie den gesamten Zaun mit einem 
einzigen Satz überwinden können, aber angesichts ihres geschwächten 
Zustands war sie schon froh, den Ast über sich zu fassen zu 
bekommen. 

Ächzend zog sich Phoebe mit einem Klimmzug in die Höhe und 

schwang ihr linkes Bein auf den dicken Ast. Er begann, bedenklich zu 
knirschen, aber er musste Phoebes Gewicht ja nur für kurze Zeit 
standhalten. 

Vorsichtig und auf allen Vieren krabbelte Phoebe den Ast entlang. 

Wenige Zentimeter unter ihr blitzen die Spitzen des 
Stacheldrahtzaunes auf wie messerscharfe Zähne. Nur nicht nach 
unten sehen, dachte Phoebe, als ein reißendes Geräusch sie 
zusammenzucken ließ. Sie erstarrte und blickte wider besseres Wissen 
hinab. Der Aufschlag ihrer Lederjacke hatte sich im Stacheldraht 
verfangen und war aufgeschlitzt worden. 

Phoebe schluckte und zwang sich dazu, langsam weiter zu 

krabbeln. 

Einige endlose Sekunden später hatte sie den Zaun überwunden. 

Vorsichtig begann sie mit dem Abstieg. Nachdem sie wieder festen 
Boden unter den Füßen hatte, atmete sie erleichtert auf. Kalter 
Schweiß stand ihr auf der Stirn. 

Nein, sie war definitiv nicht in Bestform. 

Phoebe wischte sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht und blickte 

auf das Haus, das nun noch etwa zwanzig Meter entfernt war. Sie 
würde erst einmal vorsichtig die Lage sondieren und dann überlegen, 
wie sie weiter vorgehen sollte. Immerhin hatte sie sich durch ihr 
unbefugtes Eindringen strafbar gemacht. Allerdings diente die ganze 
Aktion ja einem guten Zweck – sie würde so womöglich Josh, den 
Gitarristen der Band, kennen lernen. 

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Vorsichtig näherte sie sich dem Haus. Mit jedem Schritt waren die 

sanften Gitarrenakkorde besser zu hören. Wie hypnotisiert folgte die 
junge Hexe den Klängen, die ihr der Wind zutrug. Die Musik schien 
jede Faser ihres Körpers in Vibration zu versetzen – und so bemerkte 
sie zunächst nicht, dass sich einer der Schatten in ihrer Nähe bewegte. 

Erst als ihr ein scharfer Raubtiergeruch in die Nase stieg, erstarrte 

Phoebe. Sie brauchte einen Augenblick, um zu begreifen, dass nicht 
der Schatten sich bewegte, sondern irgendjemand in  dem Schatten. 
Oder irgendetwas. 

»Ist da jemand?«, fragte Phoebe leise. 

Ein leises, bedrohliches Knurren war die einzige Antwort. 

Phoebe zuckte zusammen, als sie glaubte, im Mondlicht ein 

gelbliches Augenpaar aufblitzen zu sehen. Die Augen eines 
Raubtieres. 

Voller Panik rannte Phoebe los. Als weiße Hexe und Meisterin der 

Kampfkünste war sie es eigentlich nicht gewöhnt, vor einem 
Angreifer zu fliehen. Aber sie fühlte sich heute einfach zu schwach, 
um es auf einen Kampf ankommen zu lassen – erst recht, wenn sie 
ihren Gegner nicht einmal sehen konnte. 

Noch während sie rannte, schätze Phoebe die Entfernung zum 

Zaun ab. Doch sie war bereits zu weit von der Absperrung entfernt, 
und außerdem würde sie in der Falle sitzen, falls sie es nicht mehr 
schaffen sollte, über sie hinweg zu springen. 

Das Haus war die einzige Alternative. Hinter sich vernahm sie 

gedämpfte, gleichmäßige Tritte. Es war das Geräusch von Tierpfoten, 
die geschmeidig über den Boden huschten. Und sie waren schon sehr 
nah. Obwohl sie selbst schwer atmete, konnte Phoebe ein tiefes 
Knurren hören, das von Sekunde zu Sekunde näher zu kommen 
schien. 

Wie in einem Albtraum schien das rettende Haus nur im 

Zeitlupentempo näher zu kommen. Das Grollen hinter ihr schwoll 
triumphierend an. 

Ihre letzten Kräfte mobilisierend, zwang sich Phoebe noch 

schneller zu laufen. Das Wesen hinter ihr fauchte. Das Signal eines 
wilden Raubtieres, das zum alles entscheidenden Sprung ansetzt. 
Instinktiv mobilisierte Phoebe ihre Hexenkraft, erhob sich über den 

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Boden und schaffte es, in der Luft einen Salto zu schlagen. Unter 
normalen Umständen war eine solche Kapriole für sie eine leichte
Übung, doch jetzt kostete sie diese Rettungsaktion ihre letzten 
Energiereserven. 

Noch während sie durch die Luft wirbelte, hörte Phoebe, wie das 

Schattenwesen hinter ihr wütend aufheulte. Offenbar hatte es seine 
ganze Kraft in seinen eigenen Sprung gesteckt, der jetzt ins Leere 
ging. Phoebe hörte, wie ihr Verfolger über den Boden strauchelte. Das 
war ihre Chance, denn durch ihre verzweifelte Aktion hatte sie jetzt 
ein paar Meter neuen Vorsprung gewonnen. 

Phoebe ignorierte den Schmerz in ihren Knöcheln, als sie selbst 

wieder unsanft aufsetzte und spurtete weiter. Die alte Holztür des 
Anwesens war jetzt zum Greifen nah. Die Bestie heulte wütend auf, 
als Phoebe mit der Schulter voran auf die Tür zustürmte. 

Phoebe hoffte inständig, dass sie unverschlossen war – und dass sie 

nach innen aufging. Mit gebrochenen Knochen würde sie sonst doch 
noch eine leichte Beute des Schattenwesens werden. 

Der Aufprall war hart, aber Phoebe spürte erleichtert, wie die Tür 

nachgab und aufsprang. Sie stolperte ein paar Schritte ins Haus hinein, 
wirbelte herum und schlug die Haustür hastig zu. Zu ihrer großen 
Freude entdeckte sie einen schweren Stahlriegel und schob ihn vor. 

Einen Herzschlag später erschütterte ein dumpfer Schlag das Holz. 

Die Bestie hatte sich ebenfalls von außen gegen die Tür geworfen, die 
unter dem enormen Aufprall schier aus den Angeln zu brechen drohte. 

Phoebe hielt den Atem an. Das Herz schlug ihr bis zum Hals. 

Aber wer immer dieses Haus errichtet hatte, schien auf Qualität 

bedacht gewesen zu sein. Die Tür hielt. 

Ein kaum hörbares Grollen drang durch die Holzritzen. Phoebe 

schluckte, als sie hörte, wie das Wesen vor der Tür am Boden 
schnüffelte und ihre Witterung aufnahm. Als ob es sich ihren Geruch 
für später merken wollte … 

Dann wurde es plötzlich sehr still. 

Phoebe hörte nur noch das Keuchen ihres eigenen Atems. Ihr Herz 

schlug wie verrückt. Vielleicht war es doch keine so gute Idee 
gewesen, hierher zu kommen. Aber jetzt war es für Reue zu spät. 

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Keine zehn Pferde würden sie jetzt noch dazu bringen, dieses Haus 
wieder zu verlassen. Jedenfalls nicht, solange diese Kreatur da 
draußen lauerte. 

Phoebe war sich sicher, dass es dasselbe Wesen war, das sie schon 

vor dem Nature-Sons-Konzert gesehen hatte. Obwohl von ›sehen‹ 
kaum die Rede sein konnte; beide Male hatte sie nicht viel mehr als 
einen unwirklichen Schatten erkennen können. 

Sie blickte sich um und machte ein paar vorsichtige Schritte 

vorwärts. Der Flur des Erdgeschosses zog sich über mindestens zehn 
Meter in die Länge. Von außen hatte das Haus wesentlich kleiner 
gewirkt, fand Phoebe. 

Auch schien dieser Markel noch nicht mit der Renovierung 

begonnen zu haben. Die altmodische Tapete hing in Fetzen herab, und 
bleiche Rechtecke markierten noch immer die Stellen, an denen 
offensichtlich einst Bilder gehangen hatten. 

Phoebe fröstelte, als sie den Gang hinunterschlich. Die hellen 

Flächen an den Wänden wirkten wie tote Augen, durch die sie sich 
angestarrt fühlte. 

Unsinn, beruhigte sie sich, aber das Gefühl, beobachtet zu werden, 

blieb. Sie lauschte in das dämmrige Haus hinein. Die wunderschönen 
Gitarrenklänge waren verstummt. 

Phoebe hielt den Atem an und hatte Angst, ihr laut klopfendes 

Herz könnte alle Bewohner des Hauses zusammentrommeln. 

»Halt!«, rief da plötzlich eine Stimme. 

Phoebe fuhr zusammen. Einen Augenblick lang wagte sie nicht, 

sich umzudrehen und blieb wie erstarrt stehen. 

»Was hast du hier zu suchen?« 

Langsam wandte sich die junge Hexe um. 

In einer der Türen, die links und rechts des Flures abgingen, stand 

ein Mann. Es war Markel, der Manager der Nature Sons. 

Phoebe erkannte ihn gleich wieder, immerhin war dies schon ihr 

drittes Zusammentreffen. Doch irgendetwas war anders an dem 
untersetzten Mann, der jetzt vor ihr stand und sie wütend anfunkelte. 
Markel war noch immer keine Schönheit, aber er sah jetzt – auch 

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wenn das natürlich unmöglich war – jünger aus als bei ihrer letzten 
Begegnung. Seine Haut wirkte frischer und hatte eine gesunde Farbe. 
Auch das Doppelkinn schien sich zurückgebildet zu haben, dafür 
hatten sich die Haare auf seinem Kopf auf wundersame Weise 
vermehrt. 

An Markels Tonfall hatte sich allerdings nichts geändert. »Dich 

kenne ich doch!«, rief er. »Hast du nicht schon bei dem Konzert 
neulich herumgeschnüffelt? Was soll das? Das hier ist Privatbesitz.« 

Unwillkürlich wich Phoebe einen Schritt zurück. Der Mann war ihr 

schon immer unsympathisch gewesen, aber jetzt flößte er ihr 
regelrecht Angst ein. Sie hätte es nicht in Worte fassen können, aber 
von dem Kerl ging irgendeine garstige Aura aus. 

»Ich … es tut mir Leid«, stammelte Phoebe. »Ich wollte nur die 

Band treffen und, äh, das Tor war auf – deshalb bin ich einfach 
hineingegangen.« 

Phoebe kreuzte ihre Finger hinter dem Rücken und hoffte, das 

Markel ihr diese Lüge abkaufte. 

Der Plattenmanager blickte sie skeptisch an. »Ich könnte dich von 

der Polizei festnehmen lassen, weißt du das?«, fragte er drohend. 

Phoebe hob eine Augenbraue. Diese Drohung nahm sie ihm nicht 

ab. Jemand, der solchen Wert darauf legte, ungestört zu bleiben, 
würde bestimmt nicht so schnell die Polizei rufen. Und dann war da ja 
noch dieses unheimliche Wesen, das um das Haus herumstrich. Ob 
Markel davon wusste? 

Als ob der Manager ihre Gedanken erraten hatte, senkte er den 

Kopf und funkelte die Hexe drohend an. Für eine Sekunde wirkten 
seine Augen selbst wie die eines Raubtieres. Dann ertönte ein böses 
Knurren. 

»Ich glaube dir kein Wort, Schätzchen«, sagte Markel. »Außerdem 

hast du Glück, dass du nicht mit meinem kleinen Aufpasser 
aneinander geraten bist …« 

Hast du eine Ahnung, dachte Phoebe noch, und dann wurde das 

Knurren plötzlich lauter. Phoebe ging instinktiv in Kampfstellung, als 
das Geräusch von Pfoten auf dem Parkettboden ertönte. 

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Eine Sekunde später huschte ein pelziges Wesen auf den Flur und 

direkt an Markels Seite. 

Zu Tode erschrocken zuckte Phoebe zusammen. 

Nur wenige Meter vor ihr stand ein riesiger deutscher Schäferhund, 

der sie mit gesträubtem Fell und gefletschten Zähnen anknurrte. 

»Das ist Horst«, sagte Markel, und für einen Augenblick wurde 

seine Stimme selbst zu einem Knurren. »Mein neuster Mitarbeiter. Ich 
hab ihn extra gekauft, um Groupies wie dich abzuschrecken. Aber ihr 
Verrückten lasst euch ja offensichtlich von gar nichts abhalten.« 

Mit uns ›Verrückten‹ verdienst du dein Geld, du Arsch, dachte 

Phoebe wütend, ohne den Furcht einflößenden Wachhund aus den 
Augen zu lassen. 

War dieser Hund etwa das Wesen, das sie bei dem Konzert 

gesehen hatte und von dem sie gerade durch den Garten gejagt worden 
war? Das war immerhin möglich, denn sie hatte die Kreatur nie richtig 
sehen können. Allerdings hatte sie den Eindruck gehabt, dass ihr 
Verfolger viel größer war – und sich auf zwei  Beinen bewegte. Aber 
das mochte eine Täuschung gewesen sein. 

Wie auch immer – im Augenblick war Horst auch als gewöhnlicher 

Schäferhund bedrohlich genug. Vorsichtshalber machte Phoebe einen 
Schritt zurück. 

Der Hund ging in Angriffstellung. 

Markel schien dieses Schauspiel zu genießen. Erst in dem Moment, 

als der Hund losspringen wollte, rief er ihn zurück. »Horst! Sitz!« 

Augenblicklich gehorchte das Tier. Mit einem leisen Winseln 

setzte es sich neben seinem Herren zu Boden. 

»Braver Hund«, flüsterte Markel. Dann blickte er wieder zu 

Phoebe. »Und nun zu dir …« 

Phoebe ballte die Hände. Sie fühlte sich zwar immer noch 

schwach, aber mit Markel und seinem Köter würde sie schon fertig 
werden. Hoffte sie jedenfalls. 

»Ich warne Sie, Markel. Meine Schwestern wissen, dass ich hier 

bin«, log sie. »Rufen Sie meinetwegen die Polizei, aber …« 

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»Oh, das wird nicht nötig sein«, grinste der Plattenmanager. Dann 

blickte er durch den Flur hinauf zum ersten Stock. 

»Vikki!«, rief er und seine Stimme klang dabei so, als würde er 

erneut einen Hund kommandieren. »Wo stecken Sie denn schon 
wieder? Bewegen Sie Ihren Hintern hierher.« 

Ein paar Sekunden lang passierte gar nichts. Dann hörte man, wie 

sich im ersten Stock eine Tür öffnete, und gleich darauf lugte Vikki, 
die blonde, blasse Assistentin Markels, über das Treppengeländer. Als 
sie Phoebe sah, riss sie erstaunt die Augen auf. »Mister Markel? 
Haben Sie gerufen?« 

»Und ob ich gerufen habe, verdammt noch mal. Kommen Sie 

gefälligst runter und werfen Sie diese Göre hinaus. Aber tragen Sie 
Sorge dafür, dass sie das Gelände auch wirklich verlässt. Sonst 
können Sie gleich mit ihr gehen.« 

Erschrocken hastete Vikki die Treppe herunter. Sie sah abgehetzt 

aus; eine verschwitzte Haarsträhne hing ihr ins Gesicht. 

Wahrscheinlich hetzt Markel sie den ganzen Tag in der Gegend 

herum, dachte Phoebe. Wie kann man sich nur so 
herumkommandieren lassen?, fragte sie sich. Die arme Frau. 

Phoebe hob beschwichtigend die Hände und blickte Markel böse 

an. »Nun machen Sie mal keinen Aufstand. Ich gehe ja schon.« 

Dann wandte sie sich Vikki zu. »Schon gut. Ich finde allein 

heraus.« 

Vikki schluckte. Ihre Blicke wanderten von Phoebe zu Markel und 

seinem Schäferhund, der die ganze Szene mit wölfischem Interesse 
betrachtete. Wahrscheinlich wartete er immer noch auf seine große 
Chance, endlich kraftvoll zubeißen zu können. 

»N-Nein«, stotterte die Assistentin fast tonlos. »Ich bringe Sie bis 

zum Tor.« Es klang indes so, als würde sie Phoebe damit einen 
Gefallen tun wollen. Vorsichtig schlich Vikki an dem knurrenden 
Schäferhund vorbei und hielt Phoebe die Haustür auf. 

Seufzend setzte sich Phoebe in Bewegung. Die ganze Mühe war 

umsonst gewesen. Ihr wehte bereits die kühle Nachtbrise um die Nase, 
als hinter ihr eine neue Stimme ertönte. Sie klang weich und 
melodisch und ließ Phoebes Herz schneller schlagen. Ohne sich 

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umdrehen zu müssen, wusste sie instinktiv, wem sie gehörte. Dennoch 
riskierte sie einen Blick über die Schulter. 

Josh, der Gitarrist der Nature Sons, stand auf dem Treppenabsatz 

zum zweiten Stock und sah zu ihnen hinab. 

»Was ist denn hier los?«, fragte er und blickte beinahe streng 

zwischen Markel, Vikki und dem Schäferhund hin und her. Dann fiel 
sein Blick auf Phoebe. 

Hier, im dämmrigen Licht des Hausflurs, sah der junge Mann noch 

besser aus als im grellen Licht der Bühnenscheinwerfer. Seine blauen 
Augen bildeten einen faszinierenden Kontrast zu den schwarzen 
Haaren und schienen im Halbschatten wie Smaragde zu leuchten. Sein 
Blick traf sich mit dem von Phoebe. Halb überrascht, halb amüsiert 
zog der Musiker eine Augenbraue hoch. 

»Na so was, haben wir Besuch?«, fragte Josh. Rasch trat Markel 

vor Phoebe, um Josh die Sicht auf sie zu nehmen. Ein vergeblicher 
Versuch, denn sie war immerhin ein paar Zentimeter größer als der 
Plattenmanager. 

»Das ist nur ein durchgeknalltes Groupie, Josh«, rief Markel die 

Treppe hinauf. »Und wir haben sie gerade höflich aufgefordert, zu 
gehen.« 

Höflich ist gut, dachte Phoebe. Es hätte nicht viel gefehlt, und 

dieser dämliche Köter hätte mich in Stücke gerissen – wenn es 
wirklich der Hund gewesen ist, der mich da draußen verfolgt hat. 

Mit langsamen Schritten kam Josh die Treppe hinunter, ohne 

Phoebe aus den Augen zu lassen. Und die junge Hexe konnte nicht 
behaupten, dass ihr das missfiel. 

»Sie wollen sie wieder wegschicken?«, fragte Josh kopfschüttelnd. 

»Mitten in der Nacht? Die nächste asphaltierte Straße ist meilenweit 
entfernt, und hier draußen wohnt doch sonst keine Menschenseele.« 

»Das hat sie auch nicht gestört, als sie hergekommen ist«, knurrte 

Markel. 

Josh hatte inzwischen das Erdgeschoss erreicht und ging auf 

Phoebe zu, ohne sich von Markels giftigem Blick beeindrucken zu 
lassen. Aus den Augenwinkeln bekam Phoebe noch mit, wie der 
Schäferhund mit eingezogenem Schwanz vor dem Gitarristen 

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zurückwich. Dann versank sie in den blauen Augen des jungen 
Mannes und vergaß alles andere um sich herum. 

»Ich bin Josh«, sagte er lächelnd und reichte Phoebe die Hand. 

Als Phoebe sie schüttelte, glaubte sie förmlich zu spüren, wie es 

zwischen ihnen knisterte. »Ich bin … mein Name ist Phoebe«, brachte 
sie mühsam hervor. 

Mensch, reiß dich zusammen, dachte sie im gleichen Augenblick. 

Sie war in fremde Computer eingedrungen, bei Nacht und Nebel 
durch die Wildnis gefahren, wäre fast von einem verrückten 
Schäferhund zerrissen worden – nur um diesen Mann kennen zu 
lernen. Und nun stand sie stotternd vor ihm wie ein verliebtes 
Schulmädchen. Was sollte Josh nur von ihr denken? 

Sie räusperte sich. »Ich meine, mein Name ist Phoebe Halliwell. 

Ich bin, äh, Musikredakteurin und wollte eine Story über eure Band 
schreiben.« 

Auf eine Notlüge mehr oder weniger kam es jetzt auch nicht mehr 

an. Und Josh würde mit Sicherheit mehr Respekt vor einer Reporterin 
haben als vor einem dahergelaufenen Groupie. Und wer weiß? 
Vielleicht konnte sie ja tatsächlich das Angenehme mit dem 
Nützlichen verbinden und so zu einer Geschichte über die 
geheimnisvollen Nature Sons kommen. 

»Musikredakteurin?«, grunzte Markel abfällig. »Das ist ja ganz 

was Neues. Sieh zu, dass du Land gewinnst, Kleine.« 

»Kommt nicht in Frage.« Josh schüttelte entschieden den Kopf. 

Dann holte er zu einer weiten Geste aus. »Das alte Gemäuer ist doch 
nun wirklich groß genug. Ich sehe keinen Grund, warum Phoebe nicht 
bei uns übernachten sollte.« 

Phoebe strahlte den Gitarristen an. 

Markel riss ungläubig die Augen auf. »Ich höre wohl nicht recht. 

Ich habe dieses Haus doch nicht für ein Vermögen gekauft, um ein 
Hotel für Tramps daraus zu machen. Die Kleine verschwindet, aber 
sofort!« 

»Ach, seien Sie doch nicht so hartherzig!«, sagte Josh. »Wir 

könnten Phoebe ein paar unserer neuen Songs vorspielen. Sie ist dann 
sozusagen unser Testpublikum. Und außerdem … wie würde es wohl 

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wirken, wenn der Manager der Nature Sons eine junge 
Musikredakteurin mitten in der Wildnis aussetzt? Ich glaube kaum, 
dass Phoebes Artikel über unsere Band unter diesen Umständen 
besonders positiv ausfallen würde.« 

Mit einem verhaltenen Räuspern wagte es nun auch Vikki, sich 

einzumischen. »Josh hat womöglich Recht, Mister Markel. Eine gute 
Presse wäre das für uns nicht.« 

»Ganz sicher nicht«, stimmte Phoebe trocken zu. Die Notlüge mit 

der Musikredakteurin erwies sich als hilfreicher, als sie geahnt hätte. 

Phoebe, Josh und Vikki blickten Markel erwartungsvoll an. 

Eine Sekunde lang schien es, als wollte der Manager explodieren. 

Dann besann er sich eines Besseren. »Meinetwegen«, zischte er, »das 
Mädel kann heute Nacht hier bleiben. Aber Sie übernehmen die 
Verantwortung!« 

Er deutete mit dem Zeigefinger auf seine Assistentin, die in sich 

zusammenzuschrumpfen schien, bevor sie eifrig nickte. 

Grunzend fuhr Markel auf dem Absatz herum und verschwand in 

einem der Räume. Horst folgte ihm auf dem Fuße. 

Für einige Sekunden standen Phoebe, Vikki und Josh schweigend 

im Flur. 

»Willkommen in unserem bescheidenen Heim«, sagte der Musiker 

schließlich lächelnd und nahm Phoebe bei der Hand. »Komm mit, ich 
stelle dich den anderen vor.« 

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16 

W

IE EINE SCHLAFWANDLERIN war Phoebe dem Gitarristen 

durch das alte Haus gefolgt. Das alte Anwesen musste über Dutzende 
von Räumen verfügen, von denen die meisten noch leer und 
unrestauriert waren. 

Josh quittierte den Zustand der Räume mit einem Schulterzucken. 

»Sorry, aber die meisten Zimmer sehen noch furchtbar aus. Markel hat 
das Haus billig erstanden, als Hauptquartier für seine neue Firma. 
Aber solange wir noch nicht den großen Durchbruch geschafft haben, 
ist kein Geld für die Renovierung aller Räume da.« 

Phoebe zuckte mit den Schultern. Sie hatte ohnehin nur Augen für 

Josh und achtete kaum auf die heruntergekommenen Räume mit den 
schimmeligen Tapeten. Für sie war das Anwesen ein Palast, solange 
sie nur an der Seite des Gitarristen sein konnte. 

Josh öffnete eine Tür im ersten Stock des Hauses. Eine Treppe 

führte von dort hinunter in den Keller. 

»Aber an einem Raum wurde nicht gespart. Komm mit, das dürfte 

dich interessieren.« Der junge Mann bedeutete Phoebe, ihm zu folgen. 

Sie kannte ihn zwar erst seit ein paar Minuten, aber sie vertraute 

ihm schon jetzt voll und ganz. 

Die Treppe führte zu einem kleinen Kellergang, der in einer dicken

Stahltür endete. Über dem Rahmen war ein beleuchtbares Warnschild 
mit der Aufschrift »Achtung! Bei Rotlicht Aufnahme!« angebracht. 

»Euer Studio?«, fragte Phoebe fasziniert. »Ihr nehmt eure Songs 

selbst auf?« 

»Yep«, sagte Josh. »So kann uns niemand reinreden. Wir schreiben 

unsere Songs selbst und nehmen sie auch selbst auf. Volle 
künstlerische Kontrolle, verstehst du?« 

Phoebe nickte, als Josh die schwere Tür öffnete. Sofort drang ein 

melodiöser Sound in den Kellergang. Sie folgte dem Gitarristen in den 
Aufnahmeraum. 

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In dem schallisolierten Raum saßen drei junge Männer, und 

Phoebe erkannte sie sofort wieder. Schließlich hatte sie einige Poster 
der Nature Sons in ihrem Zimmer hängen. 

»Das sind Mike, unser Lead-Sänger, Todd, der Bassist und Huey, 

unser Mann an der Schießbude. Sorry, ich meine natürlich unser 
Schlagzeuger«, stellte Josh die Bandkollegen vor. 

Phoebe lächelte die drei liebenswürdig an. In punkto Aussehen 

konnten sie es allesamt mit Josh aufnehmen, auch wenn die blauen 
Augen des Gitarristen unschlagbar waren. 

Dann deutete Josh auf Phoebe. »Jungs, diese bezaubernde junge 

Dame ist Phoebe Halliwell, eine Musik-Journalistin. Sie hat uns hier 
in der Walachei aufgespürt, um einen Artikel über uns zu schreiben.« 

Einen Augenblick lang herrschte peinliches Schweigen. Mike, 

Todd und Huey sahen Josh mit einem undefinierbaren Blick an. 

Dann brach Huey, der Schlagzeuger, das Eis. Seine blonden Haare 

waren zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden und seine grünen 
Augen blitzen fröhlich auf, als er die junge Besucherin anlächelte. 

»Respekt, Phoebe«, lachte er. »Da du uns in unserer Einsiedelei 

aufgespürt hast, musst du wirklich eine gewiefte Journalistin sein.« 

»Tja, man tut, was man kann«, erwiderte Phoebe und versuchte, 

nicht zu erröten. So war das eben mit Notlügen – wenn man erst 
einmal damit angefangen hatte, musste man das Ganze bis zum 
bitteren Ende durchziehen. 

»Kompliment«, stimmte Todd zu und auch Mike, der Sänger 

bedachte Phoebe mit einem anerkennenden Lächeln. Dann bedeutete 
er ihr, auf einem der Hocker Platz zu nehmen. 

»Wenn du dir solche Mühe gegeben hast, dann soll sich das doch 

auch lohnen, oder? Was meint ihr Jungs – spielen wir Phoebe unseren 
neuen Song vor?« 

Ein einhelliges Nicken war die Antwort. Auch Phoebes Schwarm 

ließ sich auf einem der freien Hocker nieder. Dann griffen Josh, Mike 
und Huey nach ihren Instrumenten. 

»Wir haben ihn erst heute komponiert und können dir leider nur 

eine ›Unplugged‹-Version vorspielen«, sagte Huey und klemmte sich 

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eine kleine Bongo zwischen seine Beine. »Aber so ist es auch viel 
persönlicher.« 

»Wow, das ist … ich bin echt gespannt«, stotterte Phoebe. Sie 

wusste vor Aufregung wirklich nicht, was sie sagen sollte. Sie würde 
der erste Mensch auf der Welt sein, der den neuen Song der Nature 
Sons  
hören würde. Obwohl sie die Jungs gerade erst kennen gelernt 
hatte, fühlte sie sich bereits wie unter Freunden. 

Josh rückte seinen Hocker noch näher an Phoebe heran, und 

begann dann, den Takt anzuzählen, indem er mit dem Daumen sanft 
auf das Holz seiner Akustikgitarre klopfte. Dann glitten seine Finger 
über die Saiten und entlockten ihnen sodann die schönste Melodie, die 
Phoebe jemals gehört hatte. 

Innerhalb von Sekunden vergaß sie alles um sich herum. Wie 

hypnotisiert lauschte sie den Klängen, die ihr gesamtes Universum 
auszufüllen schienen. Sie fühlte sich glücklich und unbeschwert, wie 
schon lange nicht mehr. 

Tief unter ihr, im Gewölbe des Anwesens, trat eine dunkle Gestalt 

an den Rand des schimmernden Portals und senkte ehrfürchtig den 
Kopf. 

»Hast du dich um diese Hexe gekümmert?«, fragte die Stimme von 

überall und nirgends. 

»Ja, Meister«, antwortet die Schattenkreatur. »Sie ist mir zwar vor 

dem Haus entkommen, aber jetzt hat sie sich uns freiwillig 
ausgeliefert, auch wenn sie es noch nicht ahnt.« 

Ein triumphierendes Lachen dröhnte durch das Gewölbe und hallte 

hinauf in die Gänge des alten Landhauses. 

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17 

P

IPER UND PAIGE STANDEN auf dem Dachboden des 

Halliwell-Hauses und blickten mit müden Augen auf das Buch der 
Schatten.  
Es war bereits spät, und der Speicher wurde nur noch von 
ein paar flackernden Kerzen erleuchtet. 

Paige schüttelte frustriert den Kopf. »Was dieses Buch definitiv 

braucht«, seufzte sie, »ist ein Inhaltsverzeichnis. Es wird dringend 
Zeit für eine Neuauflage.« 

»Das würde nichts bringen«, entgegnete Piper. »Das Buch der 

Schatten  ergänzt sich bekanntlich laufend selbst. Im Prinzip ist das 
gesamte magische Wissen dieser Welt darin gespeichert. Ein 
Inhaltsverzeichnis davon würde selbst ein paar Bücher füllen. Aber 
immerhin haben wir ja etwas gefunden.« 

Piper nahm einen Zettel zur Hand, auf dem sie sich bereits den 

ganzen Abend lang Notizen gemacht hatten. In kleiner, akribischer 
Handschrift hatte sie darauf alles notiert, was sie im Buch der Schatten 
über Musik-Magie gefunden hatten. Neben den bekannten 
Geschichten über die Loreley und die Sirenen berichtete das Buch 
auch über andere Dämonen und Hexer, die sich im Laufe der 
Jahrhunderte die Welt der Klänge zunutze gemacht hatten, um 
Menschen zu manipulieren. Von magischen Musikinstrumenten – 
vorzugsweise Teufelsgeigen – war darin die Rede gewesen, von 
tödlichen Schlafliedern und von einer vorchristlichen Dämonin, die 
ihre Opfer mit einem furchtbaren Schrei zu Stein erstarren ließ. 

Die Schwestern hatten außerdem etwas darüber gelernt, wie das 

Schwirrholz der australischen Ureinwohner einen Durchgang zur 
Traumzeit öffnete, wie man mit Glocken böse Geister vertrieb oder im 
Gegenzug mit einer bestimmten Flötenmelodie dienstbare Geister 
anlockte. 

Dies alles war hochinteressant gewesen, doch den beiden brummte 

ob der vielen Informationen schon der Kopf. Zudem erklärte nichts 
davon Phoebes Verhalten der letzten Tage. 

»Ich geb's auf«, sagte Paige. Sie ließ die Schultern sinken und 

drehte sich zu Piper um. Dabei stieß sie gegen eine Kerze, die neben 
dem Buch der Schatten auf dem Podest stand. 

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»Pass auf!«, rief Piper noch, aber es war bereits zu spät. Die Kerze 

kippte um und stürzte genau auf einen Papierblock, der ebenfalls auf 
dem Pult lag. Flüssiges Wachs spritzte umher, und einen 
Sekundenbruchteil später loderte das Papier in einer Stichflamme auf. 

Geistesgegenwärtig riss Piper das Buch der Schatten vom Pult, 

bevor auch das Familienerbstück ein Raub der Flammen zu werden 
drohte. Normalerweise verfügte das Buch über eine Art Selbstschutz, 
aber Piper wollte es nicht darauf ankommen lassen. Doch ihre 
Rettungsaktion hatte zur Folge, dass sie dabei das ganze Pult umstieß. 

Mit weit aufgerissenen Augen konnten die Schwestern nur hilflos 

mit ansehen, wie das Podest umstürzte. Durch den Luftzug loderte das 
Feuer umso heftiger auf, und eine der Stichflammen sprang auf den 
Vorhang über, mit dem Piper das Dachfenster verhangen hatte. Eine 
routinemäßige Vorsichtsmaßnahme, schließlich ging es die Nachbarn 
nichts an, was die Halliwells fast jeden Abend bei Kerzenschein auf 
dem Dachboden trieben. 

»O nein! Der Vorhang«, rief Paige entsetzt auf, als der Stoff Feuer 

fing. Ein Schwall heiße Luft schlug den beiden entgegen. 

Eine Sekunde war auch Piper wie gelähmt, dann drückte sie Paige 

das Buch der Schatten in die Hand, machte einen Satz nach vorn und 
riss kurzerhand die Gardinenstange von der Halterung über dem 
Fenster. 

Der brennende Vorhang fiel zu Boden, und die Flammen wollten 

schon auf dem Holzboden nach neuer Nahrung suchen. Aber Piper 
war schneller und begann hastig damit, das Feuer auszutreten. 

Zum Glück war sie direkt nach der Arbeit auf den Dachboden 

gegangen und trug noch ihre Straßenschuhe. Mit ihren flauschigen 
Bunny-Pantoffeln hätte sie gegen die lodernden Flammen keine 
Chance gehabt. Aber ihre Leder-Stiefeletten boten dem Feuer kaum 
einen Angriffspunkt, und nach ein paar bangen Sekunden hatte Piper 
das Feuer gelöscht. 

»Alles in Ordnung?«, fragte Paige besorgt und drückte sich das 

Buch der Schatten gegen die Brust, als wollte sie es beschützen wie 
ein kleines Kind. 

Piper nickte schnaufend. Das Feuer war gelöscht, aber ihre 

nagelneuen Stiefeletten waren ruiniert. Hässliche Brandflecken zogen 

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sich über das polierte Leder. Doch was waren schon ein paar verkohlte 
Stiefel gegen ein abgebranntes Haus? Und viel hätte dazu nicht 
gefehlt, denn das Halliwell-Herrenhaus war noch im vorletzten 
Jahrhundert erbaut worden – und das zum größten Teil aus Holz. 

»Nichts passiert«, sagte Piper. »Das ist noch mal gut gegangen.« 

Paige machte ein betretenes Gesicht und blickte zu Boden. »Das 

war meine Schuld«, sagte sie leise, »ich Tollpatsch hab die Kerze 
umgestoßen.« 

Aber Piper schüttelte nur den Kopf. »Nein, Paige, mach dir keine 

Vorwürfe. Hauptsache, dem Buch der Schatten ist nichts passiert. Es 
war einfach nur Pech – und du weißt ja, wem wir das zu verdanken 
haben.« 

»Du hast Recht«, knurrte Paige und ballte die Fäuste. »Wenn ich 

diesen kleinen Teufel in die Finger kriege …« 

Paige hob beschwichtigend die Hände. »Reg dich nicht auf, Paige. 

Das macht den Blimp nur stärker.« 

»Das sagt sich so leicht«, murmelte Paige und versuchte, sich zu 

beruhigen. Was gar nicht so einfach war – immerhin war der 
Flaschengeist daran schuld, dass sie beinahe obdachlos geworden 
wären. 

»Lass uns für heute Schluss machen«, sagte Piper und lächelte ihre 

Schwester an. »Morgen ist auch noch ein Tag.« 

Paige nickte dankbar und half Piper dabei, das Podest wieder 

aufzustellen. Es hatte durch den Vorfall nur wenig Schaden 
genommen: Ein kleiner Brandfleck prangte auf der Ablagefläche, und 
an einer der Ecken war durch den Sturz ein wenig Holz abgesplittert. 

Die beiden Schwestern löschten sorgfältig die letzten Kerzen und 

stiegen hinab in ihre Zimmer. 

Kaum eine halbe Stunde später lagen Paige und Piper erschöpft in 

ihren Betten und schliefen. 

Und sie träumten von einem kleinen, triumphierend grinsenden 

Kobold, der durch das Haus hüpfte und neue Streiche ausheckte. 

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Phoebe erwachte stöhnend und hatte das unwirkliche Gefühl, aus 

einem tiefen Traum in einen neuen Traum hinüberzugleiten. 

Im ersten Augenblick waren nur Dunkelheit und Stille um sie 

herum. Erschrocken richtete sich die junge Hexe auf ihrer Schlafstatt 
auf. 

Sie brauchte ein paar Sekunden, um sich daran zu erinnern, wo sie 

war: in dem alten Anwesen an der Küste, dem Bandhauptquartier der 
Nature Sons. 

Langsam kehrten die Erinnerungen an die vergangenen Stunden 

zurück. Sie hatte noch lange mit der Band im Probenraum gesessen 
und den neusten Stücken der Jungs gelauscht. Zunächst war sie noch 
sehr aufgeregt gewesen, der Band – und vor allem Josh – so nahe zu 
sein. Doch dann verschwammen ihre Erinnerungen. Phoebe konnte 
sich noch mühsam daran erinnern, wie die Musik sie immer mehr in 
ihren Bann gezogen hatte. Es war, als hätten sich die Klänge wie ein 
warmer, schützender Mantel um sie gelegt. Und danach – nichts mehr. 

O nein, dachte Phoebe und spürte, wie sie in der Dunkelheit 

errötete. Wie peinlich. So wie es aussah, musste sie mitten in der 
Session eingeschlafen sein. Nun dachten die Jungs womöglich, dass 
sie die Musik der Nature Sons todlangweilig fand. Dabei war genau 
das Gegenteil der Fall. 

Phoebe strich sich das zerzauste Haar aus der Stirn und blinzelte in 

die Dunkelheit. Langsam konnte sie einige Konturen erkennen. Sie 
war allein in einem Raum und lag auf einem alten, aber weichen Sofa, 
eingehüllt in eine kuschelige Wolldecke. Wahrscheinlich hatte Josh 
persönlich sie hierher getragen und zugedeckt. Wie süß von ihm. 

Phoebe schluckte. Ihre Kehle fühlte sich wie ausgedörrt an. Sie 

musste unbedingt ein Glas Wasser trinken. Sie schlug die Wolldecke 
beiseite und stellte ihre Füße auf den Boden. Keine weltbewegende 
Aktion, aber Phoebe fühlte sich, als hätte sie damit Schwerstarbeit 
geleistet. Mühsam stand sie auf – und strauchelte. Schwindel überkam 
sie, und einen Augenblick lang wurde ihr schwarz vor Augen, was den 
Raum in noch größere Dunkelheit tauchte. Sie stöhnte auf und stützte 
sich an der Sofalehne ab. Wahrscheinlich war sie einfach zu hastig 
aufgestanden … 

Phoebe machte ein paar vorsichtige Schritte und fragte sich, wie 

spät es wohl war. Sie hatte jegliches Zeitgefühl verloren. Stockend 

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ging sie auf ein dunkles Rechteck zu, das sich ein wenig von der 
helleren Wand abhob. Das musste die Tür sein. Der Weg dahin schien 
eine Ewigkeit zu dauern. 

Meine Güte, dachte Phoebe, ich muss dringend was für meine 

Kondition tun. Tatsächlich hatte sie sich schon lange nicht mehr so 
schlapp gefühlt. Endlich erreichte sie die Tür und zog sie vorsichtig 
auf. 

Vor ihr lag ein langer, dunkler Flur. Sie tastete nach einem 

Lichtschalter. Vergeblich. Schwer atmend setzte sich die junge Hexe 
in Bewegung. Irgendwo am Ende des Ganges, so hoffte sie 
wenigstens, musste die Küche zu finden sein. Phoebe stützte sich an 
der Wand ab und torkelte den Gang hinunter wie eine Betrunkene. Sie 
hatte keine Ahnung, wie lange sie schon unterwegs war, als ein paar 
gedämpfte Gesprächsfetzen an ihr Ohr drangen. 

Phoebe brauchte ein paar Sekunden, um zu erkennen, dass es sich 

um die Stimmen der Bandmitglieder handelte. Sie würde Joshs 
Stimme überall wiedererkennen. Und trotzdem klang sie jetzt 
irgendwie anders, härter. Und dann war da noch ein anderes Geräusch, 
das Phoebe nicht zuordnen konnte. Ein leises knurrendes … Grollen? 

Wie dem auch sei, Josh und die anderen konnten ihr sicherlich 

sagen, wo die Küche war. Sie befürchtete, jeden Moment zu 
verdursten, wenn sie nicht bald etwas zu trinken bekam. 

Also änderte sie ihre Richtung und ging auf die Stimmen zu. 

»Josh?«, wollte sie in die Dunkelheit hineinrufen, aber aus ihrer 

trockenen Kehle drang nur ein heiseres Krächzen. Phoebe räusperte 
sich und torkelte weiter. Die Stimmen kamen aus einer Tür am 
anderen Ende des Flurs. 

Doch je weiter Phoebe darauf zuging, desto mehr schien sich die 

Tür von ihr zu entfernen. Für einen Moment fragte sich die junge 
Hexe, ob sie immer noch träumte. Ihre plötzliche Schwäche, das 
dunkle, fremde Haus – all dies war so irreal und fremd. 

Nach einer Zeit, die ihr wie eine neuerliche Ewigkeit vorkam, hatte 

Phoebe ihr Ziel endlich erreicht. Ein kühler Lufthauch wehte ihr 
entgegen, als sie die Klinke packte und die Tür aufzog. 

Dahinter lag eine schmale Steintreppe, die in die Tiefe führte. Ein 

seltsames, waberndes Licht drang zu Phoebe herauf, zusammen mit 

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den gedämpften Stimmen der Band. Es klang, als diskutierten sie 
angeregt miteinander. 

Vorsichtig stieg Phoebe die Treppe hinab. Erneut überkam sie ein 

Schwindelgefühl, und da war es alles andere als hilfreich, dass sich 
die Treppe spiralförmig in die Tiefe wand. Die ganze Welt schien sich 
um sie zu drehen; immer wieder musste sie sich an der kalten 
Steinwand abstützen, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. 
Gleichwohl wurden die Stimmen mit jedem Schritt lauter. 

Tiefer und tiefer führte die Wendeltreppe abwärts. Phoebe wähnte 

sich schon mehrere Meter unter der Erde und das Gefühl, lebendig 
begraben zu sein, schnürte ihr zusätzlich die Kehle zu. 

Doch es war zu spät, um noch umzukehren. Benommen erreichte 

sie endlich die unterste Stufe. Vor ihr erstreckte sich ein Gang, der vor 
langer Zeit in den Fels gehauen worden sein musste. Steinbögen 
erstreckten sich bis zu einem Durchgang am anderen Ende. Ein 
merkwürdiges Licht ergoss sich von dort aus in den Gang. 

Phoebe rieb sich die Augen. Die Stimmen der Bandmitglieder 

waren jetzt laut und deutlich zu verstehen, verstärkt durch ein 
hallendes Echo. Die Jungs mussten sich in einem ziemlich großen 
Raum befinden. 

»Wie lange sollen wir uns eigentlich noch in diesem Rattenloch 

verkriechen?«, fragte jemand. Es war Mike, der Sänger der Band. 
Noch immer klang seine Stimme melodisch, aber gleichzeitig 
schwang auch ein aggressiver, bedrohlicher Tonfall mit. Phoebe 
runzelte die Stirn und tastete sich langsam vorwärts. 

»Wir könnten längst Superstars sein«, fuhr Mike fort, »und die 

ganz große Kohle machen. Von den Horden von Groupies ganz zu 
schweigen.« Zwei andere Stimmen – sie gehörten Todd, dem 
Bassisten und Huey, dem Drummer – murmelten Zustimmung, 
verstummten jedoch sofort wieder, als ein drohendes Knurren ertönte. 

»Ihr werdet euch gefälligst an den Plan halten, verstanden? Ihr habt 

meine Geduld bereits arg strapaziert, indem ihr diese kleine Hexe hier 
aufgenommen habt.« 

Das Knurren wurde zu einem abfälligen Grollen. »Typisch. Ein 

paar schöne Augen und nette Kurven, und ihr Idioten vergesst alles, 
was ich euch eingeschärft habe! Wir arbeiten im Verborgenen, bis ich 

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genug Energie gesammelt habe, um ihn  zu befreien!« Das Knurren 
war nun so tief, dass Phoebe es nicht nur hörte, sondern auch in der 
Magengrube spüren konnte. »Der Meister hat euch alles gegeben, er 
kann euch auch alles wieder nehmen. Ihr seid seine Sklaven. Eure Zeit 
wird kommen, wenn ihr ihm dient! So wie ich ihm diene! Vergesst das 
niemals!« 

Betretenes Schweigen war die Reaktion. Und dann glaubte Phoebe, 

noch eine weitere Stimme zu hören, ein leises, böses Lachen, das von 
überall und nirgends zu kommen schien. 

Bestürzt ließ sich die junge Hexe gegen die Steinwand sinken. Sie 

verstand die Welt nicht mehr. Von was für einem Plan sprachen die 
Bandmitglieder? Mit wem redeten sie da? Und über  wen? Und noch 
etwas stimmte hier nicht. Sie hatte die Stimmen von drei 
Bandmitgliedern erkannt. Aber wo war … 

Plötzlich sah Phoebe aus den Augenwinkeln heraus einen Schatten 

auf sich zukommen. Sie wirbelte herum und ging trotz ihrer 
Benommenheit sofort in Abwehrposition. Das jahrelange 
Kampfsporttraining war ihr in Fleisch und Blut übergegangen. 
Trotzdem war ihre Erschöpfung einfach zu groß, und die plötzliche 
Drehung brachte sie aus dem Gleichgewicht. Bevor sie auf dem 
Boden aufzuschlagen drohte, griffen zwei starke Arme nach ihr und 
rissen sie wieder in die Höhe. 

»Josh!«, rief Phoebe aus. »Was ist hier los? Was macht ihr hier 

unten?« 

Einen Herzschlag lang sah Josh die junge Hexe durchdringend an. 

Dann machte sich ein charmantes, jungenhaftes Grinsen auf seinem 
Gesicht breit. »Dasselbe könnte ich dich fragen, Phoebe. Warum 
schleichst du zu so später Stunde hier im Keller herum?« 

»Ich … ich wollte etwas trinken und hab von unten Stimmen 

gehört. Was treibt ihr hier mitten in der Nacht?« 

Josh grinste noch etwas breiter und legte einen Arm um Phoebes 

Schulter. Unwillkürlich genoss sie die Wärme, die von dieser 
Berührung ausging. Erst jetzt fiel ihr auf, wie kalt es hier unten war. 

»Wir halten hier nur eine Strategie-Besprechung ab, weißt du?«, 

antwortete Josh und sah Phoebe dabei tief in die Augen. »Heutzutage 
ist das leider so – die Musik ist nur die halbe Miete. Genauso wichtig 

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ist es, dich auf dem Markt zu platzieren und deine eigene Strategie zu 
verfolgen. Mir geht das auch auf die Nerven, aber …« Josh zuckte die 
Schultern. Dann nahm er Phoebe vorsichtig bei der Hand und führte 
sie die Treppe hinauf. »Du bist ganz blass um die Nase, Phoebe«, 
sagte er. »Ich bringe dich am besten wieder zurück ins Bett. Du siehst 
aus, als könntest du noch eine Mütze voll Schlaf gebrauchen.« 

Phoebe runzelte die Stirn. Dies alles war so unwirklich, und zudem 

waren ihre Fragen noch längst nicht beantwortet. Aber sie fühlte sich 
einfach zu schwach, um Josh noch weiter zu löchern. Außerdem fühlte 
sie auf eine Art und Weise, die sie nicht erklären konnte, dass von 
diesem Jungen keine Gefahr ausging – auch, wenn er offensichtlich 
irgendetwas vor ihr verheimlichte. 

Vertraue deinen Instinkten, hatte ihre verstorbene Schwester Prue 

einmal zu ihr gesagt, und Phoebe beschloss, diesen Rat zu befolgen. 
Zumindest für heute Nacht. 

Fünf Minuten später lag sie wieder auf dem Sofa, ein Glas Wasser 

neben sich. Josh beugte sich zu ihr hinab und gab ihr einen zarten 
Kuss auf die Stirn. »Gute Nacht, Phoebe«, flüsterte er. 

»Gute Nacht, Josh«, murmelte Phoebe und war fast im selben 

Augenblick wieder eingeschlafen. 

Während Phoebe in dem alten Anwesen am Breakers Point den 

Schlaf der Gerechten schlief und von bizarren Alpträumen 
heimgesucht wurde, trat Josh tief unten im Gewölbe vor seine 
Bandkollegen. Und vor das schattenhafte Wesen, das sich vor ihm 
aufgebaut hatte. 

»Hat die Hexe etwas herausgefunden?«, grollte die Kreatur. 

Instinktiv trat Josh einen Schritt zurück. Mike, Todd und Huey 

blickten ihren Bandkollegen forschend an. Josh zögerte einen 
Moment, dann erwiderte er trotzig: »Nein. Die Kleine ahnt nichts. 
Und morgen früh wird ihr das bisschen, das sie mitbekommen hat, 
vorkommen wie ein böser Traum. Dafür hat unsere Musik gesorgt.« 

Das Schattenwesen knurrte unzufrieden. »Mir wäre es lieber, die 

kleine Hexe ein für alle Mal aus der Welt zu räumen. Aber ihr 
Verschwinden könnte Fragen aufwerfen und die Polizei auf den Plan 

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rufen. Ich will nicht, dass die Nature Sons in die Schlagzeilen geraten. 
Schon gar nicht wegen des Verschwindens eines Fans.« 

Die Kreatur strich ungeduldig durch das düstere Gewölbe. Im 

fahlen Schein des wabernden Lichtkreisels im Boden schimmerte ihr 
Fell immer wieder kurz auf. »Ab jetzt haltet ihr euch an genau das, 
was abgemacht war, verstanden? Die Zweite Wiederkehr des Meisters 
steht kurz bevor. Nichts und niemand wird uns jetzt mehr aufhalten!« 

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18 

D

IE SONNE WAR GERADE ÜBER dem Halliwell-Haus 

aufgegangen, als Piper vom Geruch frischen Kaffees geweckt wurde. 
Was nicht gerade häufig vorkam, denn normalerweise war sie 
diejenige, die als Erste auf den Beinen war und Frühstück für ihre 
Schwestern machte. 

Angenehm überrascht streifte sich Piper einen Morgenmantel über, 

schlüpfte in ihre Bunny-Pantoffeln und öffnete ihre Zimmertür. 

Typische Küchengeräusche drangen in den ersten Stock hinauf: das 

Klappern von Topf und Pfanne, das Klirren von Besteck auf 
Porzellan. Piper musste grinsen. Sie hatte schon viel Zeit ihres Lebens 
in Küchen zugebracht und wusste, dass nur jemand, der wenig 
Erfahrung im Kochen hatte, solch unkoordinierte Geräusche 
verursachte. 

Einen guten Koch, so hatte sie während ihrer Ausbildung gelernt, 

hört man bei der Arbeit kaum. Paige musste offensichtlich noch 
einiges lernen … 

»Guten Morgen, Schwesterherz«, rief Piper, als sie die Küche 

betrat. Paige rührte gerade eine undefinierbare Masse in einem Topf 
zusammen und blickte überrascht auf. »Oh, hallo, du bist schon 
wach?« 

Piper deutete auf die Kanne in der Kaffeemaschine, die sich 

langsam mit frischem Kaffee füllte. »Die Magie des Kaffees hat mich 
geweckt. Aber sag mal, was machst du da? Magischen Zement?«, 
fragte sie und blickte auf den Topf in Paiges Händen. Ihre 
Halbschwester versuchte gerade mit großer Mühe, den Rührbesen 
durch die zähe Masse zu bewegen, die darin vor sich hin brodelte. 

»Nö«, lachte Paige, »das sollte eigentlich Pfannkuchenteig werden. 

Ich habe wohl zu viel Mehl genommen.« 

»Und die Rühreier hast du darüber wohl ganz vergessen«, sagte 

Piper und deutete mit einem Kopfnicken auf die Pfanne, die auf dem 
Gasherd stand. Unter scharfem Brutzeln stiegen bereits die ersten 
dunklen Qualmwolken über dem Ofen auf. 

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»O nein!«, rief Paige. Kurzerhand setzte sie ihre Hexenkräfte ein 

und hob die Pfanne mit der Macht ihrer Gedanken von der 
Gasflamme. Wie von Geisterhand landete das Ding auf der Spüle. 
Piper grinste und griff nach einem Holzspatel, um zu retten was von 
den Rühreiern noch zu retten war. 

»Ich habe mir wohl ein bisschen viel vorgenommen«, sagte Paige 

und zuckte bedauernd mit den Schultern. 

»Halb so wild.« Mit einer geschickten Bewegung ließ Piper den 

Spatel in die Pfanne gleiten. Glücklicherweise waren die Rühreier nur 
am Rand ein wenig angebrannt. Piper stach den unversehrten Teil 
vorsichtig ab und gab ihn auf einen Teller. »Aber sag mal, was machst 
du hier eigentlich so früh?« Sie blickte auf die große Küchenuhr über 
der Tür. »Es ist doch noch nicht mal acht Uhr. Sonst schläfst du um 
diese Zeit noch tief und fest.« 

Paige seufzte und füllte Pipers Tasse mit Kaffee. »Ach, ich konnte 

nicht mehr schlafen«, antwortet sie schließlich. »Mir ging einfach zu 
viel durch den Kopf. Ich mache mir immer noch Vorwürfe wegen 
dieses Blimps.« 

Piper nickte. Mittlerweile hatten sie selbst die Garage des Hauses 

auf den Kopf gestellt und nicht nur die Glühbirnen im Haus, sondern 
auch die Scheinwerfer ihrer Autos auseinandergebaut und sorgfältig 
überprüft. Ohne jeden Erfolg. 

»Diese seltsame Warnung im Buch der Schatten macht mir auch zu 

schaffen«, fuhr Paige fort. »Ich habe das Gefühl, dass es mir etwas 
sagen will, aber ich komme einfach nicht dahinter, was es ist. Und vor 
allem mache ich mir natürlich Sorgen um Phoebe. Also dachte ich 
mir: Wenn ich ohnehin nicht schlafen kann, mache ich mich eben 
irgendwie nützlich und bereite ein üppiges Frühstück zu. Aber 
scheinbar …« Paige deutete auf den kümmerlichen Rest der Rühreier, 
»… bin ich nicht mal dazu in der Lage.« 

Piper klopfte ihrer Halbschwester aufmunternd auf die Schulter. 

»Mach dir keine Sorgen, Paige. Wir sind schon mit ganz anderen 
Dingen fertig geworden.« Um ihre Worte zu unterstreichen und Paige 
etwas aufzuheitern, stach Piper mit einer Gabel in das kleine Häuflein 
angebrannten Rühreis und schob sich etwas davon in den Mund. 
»Mmpf, fehlt vielleicht noch etwas Salz«, murmelte sie kauend und 
musste sich bemühen, nicht in Paiges Lachen einzufallen. 

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Das Gekicher der beiden Schwestern wurde von einem dröhnenden 

Röhren unterbrochen. Piper und Paige blickten sich erschrocken an. 

»Haben sie eine der Landebahnen des Flughafens in unseren 

Vorgarten verlegt?«, fragte Paige. 

Piper schüttelte den Kopf, legte die Gabel zurück auf den Tisch 

und stand auf. »Das klang eher wie ein Motorrad«, sagte sie. Mit 
schnellen Schritten durchquerten die beiden den Flur und öffneten die 
Haustür. 

An der Einfahrt zum Halliwell-Haus stand eine klassische, auf 

Hochglanz polierte Harley Davidson. Aber die beiden Schwestern 
hatten eigentlich nur Augen für die junge Frau, die in diesem 
Augenblick vom Sozius der Maschine abstieg. 

»Das ist doch Phoebe!«, rief Paige. Sie musste ihre Stimme 

erheben, um das Knattern des Motors zu übertönen. Wahrscheinlich 
standen jetzt schon sämtliche Nachbarn an den Fenstern und empörten 
sich über den Lärm, der mal wieder vom Halliwell-Haus ausging. 

Erschrocken beobachteten Paige und Piper, wie Phoebe plötzlich 

einknickte und das Gleichgewicht verlor. Instinktiv hob Paige ihre 
Hände, um die Schwester mit einem telekinetischen Stupser wieder 
aufzurichten, aber der Mann auf dem Fahrersitz war schneller. Rasch 
packte er sie mit einer Hand am Arm und zog sie an sich. Soweit Piper 
und Paige das aus dieser Entfernung erkennen konnten, schien Phoebe 
nichts dagegen zu haben. Der junge Mann ließ seinen Arm um 
Phoebes Schulter gleiten und zog sie noch ein Stück näher zu sich. 

»Wer zum Teufel ist dieser Kerl?«, fragte Piper. 

Paige runzelte die Stirn. »Ich glaube, das ist einer dieser Nature 

Sons«,  antwortete sie. »Ich kenne ihn von einem der Poster, die 
neuerdings in Phoebes Zimmer hängen.« 

Fassungslos beobachten die beiden Schwestern, wie der Mann 

Phoebe anlächelte und den Kopf vorbeugte. »Na, der geht aber ran. 
Nicht übel«, staunte Paige. Piper blickte die Schwester tadelnd an. 
»Paige! Jetzt fang du nicht auch noch an!«. 

»Sorry«, murmelte Paige. 

Phoebe flüsterte ihrem Begleiter inzwischen etwas ins Ohr und 

drückte ihm dann einen Schmatzer auf die Stirn. Vermutlich war das 

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nicht gerade das, was der junge Mann erwartet hatte, aber wenn es so 
war, dann ließ er sich nichts anmerken. Er grinste und ließ den Motor 
seiner Maschine aufheulen. Spätestens jetzt dürfte auch der letzte 
Nachbar aus seinem Bett gefallen sein, dachte Piper. 

Kies spritzte auf, als das Motorrad davon schoss. Phoebe winkte 

dem jungen Mann noch einmal zu, dann drehte sie sich um und ging 
auf den Eingang des Hauses zu. Sie war noch blasser als am Vortag 
und ihre Schritte waren sehr unsicher. 

Als Phoebe aufblickte, sah sie Piper und Paige auf der Türschwelle 

stehen. Die beiden hatten ihre Arme vor der Brust verschränkt und 
blickten der Schwester argwöhnisch entgegen. 

Phoebes Miene verfinsterte sich augenblicklich. »Hallo«, sagte sie 

nur, »jetzt erzählt mir nicht, ihr zwei habt die ganze Nacht vorm Haus 
gestanden und auf mich gewartet.« 

Ohne auf eine Antwort zu warten, drängelte sich Phoebe an ihren 

Schwestern vorbei in den Hausflur. 

»Phoebe, warte mal«, setzte Piper an. Sie wollte sich nun wirklich 

nicht als große Schwester aufspielen, aber Phoebe sah einfach 
furchtbar aus. Ihr normalerweise sonnengebräunter Teint war 
Geschichte und hatte leichenblasser Haut Platz gemacht. Zudem hatte 
sie dunkle Ringe unter den Augen und sah aus, als hätte sie nächtelang 
nicht geschlafen. 

Doch Phoebe ging einfach wortlos die Treppe zu ihrem Zimmer 

hinauf, ohne sich umzudrehen. Dabei hielt sie sich am Geländer fest 
und atmete so schwer, als würde sie eine Steilwand erklimmen. 

»Phoebe, du siehst schrecklich aus!«, begann Piper erneut. 

»Na, besten Dank für das Kompliment«, antworte Phoebe mit 

tonloser Stimme. 

»Nein, was ich meine ist, du siehst krank aus, Phoebe. Der Typ 

gerade – das war doch ein Mitglied der Nature Sons, oder? Und 
überhaupt, wo ist denn dein Auto?« 

Phoebe atmete tief durch und blieb stehen. Langsam drehte sie sich 

zu ihren Schwestern um. »Ich hab euch doch gesagt, dass ich losziehe, 
um die Band zu suchen. Nun, ich habe sie gefunden, und die Jungs 
haben mich netterweise in ihrem Band-Hauptquartier übernachten 

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lassen! Und Josh hat mich mit dem Motorrad nach Hause gefahren, 
damit ich nicht zur Hauptverkehrszeit durch die verstopfte Stadt 
fahren muss. Was dagegen?« 

»Band-Hauptquartier?«, wiederholte Paige. »Das klingt ja, als 

hättest du die Nacht in der Bathöhle verbracht. Haben die zufällig 
auch einen Butler, der Alfred heißt?« 

Phoebe gab nur ein knurrendes Geräusch von sich. »Das wird mir 

jetzt zu blöd«, murmelte sie und stieg weiter die Stufen hinauf. 

Piper startete einen letzten Versuch, um ihre Schwester zur 

Vernunft zu bringen. Sich in den Gitarristen einer Pop-Gruppe zu 
verknallen, war eine Sache – aber sich damit möglicherweise einer 
magischen Verschwörung auszuliefern, eine andere. »Warte doch mal, 
Phoebe«, rief sie. »Bei dieser Band geht es möglicherweise nicht mit 
rechten Dingen zu. Es könnte sein, dass da irgendwas im Busch ist – 
etwas Schwarzmagisches. Es wäre besser, wenn du …« 

Phoebe hatte inzwischen den Absatz des ersten Stocks erreicht und 

fuhr wütend herum. Ihre Wangen waren rot angelaufen und schienen 
in dem ansonsten blassen Gesicht regelrecht aufzulodern. 

»Wenn ich was? Mich von Josh fern halte? Nur, weil er euch nicht 

passt? So wie Cole damals, was?« 

Piper hob beschwichtigend die Hände. »Nein, Phoebe, darum geht 

es nicht. Dieser Josh ist vielleicht ein netter Kerl, aber es könnte sein, 
dass er oder seine Kollegen in irgendetwas … verwickelt sind. Es 
könnte gefährlich werden, wenn du dich Hals über Kopf in 
irgendwelche Abenteuer stürzt.« 

Phoebe stand wie versteinert da und ballte die Fäuste, bis die 

Knöchel weiß hervortraten. »Das lasst mal meine Sorge sein, okay? 
Ich weiß sehr wohl, was gut für mich ist. Wisst ihr was? Ich glaube, 
ihr zwei Super-Hexen seid nur eifersüchtig, weil ich versuche, mein 
Leben nach meinen Regeln zu gestalten – und nicht allein nach dem 
Ehrenkodex der Macht der Drei. Ihr habt mir schon einmal 
dazwischengefunkt, und das hat mich meine Beziehung zu Cole 
gekostet. Noch einmal werde ich das nicht zulassen!« 

Mit diesen Worten stapfte Phoebe in ihr Zimmer und warf die Tür 

hinter sich zu. 

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Der Knall verhallte im Haus, während Piper und Paige sich fragend 

ansahen. »Keine Ahnung, was mit ihr los ist«, sagte Paige. Die 
Ratlosigkeit stand ihr ins Gesicht geschrieben. »Aber normal ist das 
nicht. Was sollen wir jetzt tun?« 

Piper biss sich auf die Unterlippe und überlegte. Dann ging sie ins 

Wohnzimmer und griff entschlossen nach dem schnurlosen Telefon. 

»Wen rufst du denn an?«, fragte Paige, die ihr gefolgt war. 

»Die Auskunft. Ich glaube, es wird Zeit, sich den Kerl 

vorzuknöpfen, der für diesen ganzen Schlamassel verantwortlich zu 
sein scheint.« 

In ihrem Zimmer ließ sich Phoebe auf ihr Bett fallen und blickte 

wehmütig auf das Plakat der Nature Sons an der gegenüberliegenden 
Wand. 

Warum konnten Piper und Paige sie nicht einfach in Ruhe lassen 

und akzeptieren, dass sie jemanden kennen gelernt hatte, der etwas in 
ihrer Seele berührte? Kaum gab es einen neuen Mann in ihrem Leben, 
witterten die beiden – und besonders Piper – gleich eine 
schwarzmagische Verschwörung. War es denn so undenkbar, dass 
sich ein ganz normaler Junge in sie verliebte? Selbst, wenn es ein 
aufstrebender Popstar war? 

Sie schloss die Augen. Erst jetzt merkte sie, wie erschöpft sie 

eigentlich war. Sofort wurden ihre Glieder schwer und ihre Gedanken 
träge. Obwohl die Sonne durchs Fenster schien, fühlte sich Phoebe, 
als ob es mitten in der Nacht wäre. Kurz bevor sie einschlief, blitzten 
ein paar düstere Gedanken in ihrem Unterbewusstsein auf: ein 
seltsamer Keller, die Stimmen der Bandmitglieder in der Dunkelheit 
und ein seltsam waberndes Licht … 

Phoebe stöhnte leise auf, dann entspannten sich ihre Gesichtszüge 

wieder. 

Nur ein Traum, dachte sie und glitt in den Schlaf hinüber. 

Nur ein böser Traum. 

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19 

D

IE SONNE STAND BEREITS HOCH am Himmel, als Piper 

das schäbige Gebäude am Stadtrand erreichte, in dem angeblich auch 
»Markel Entertainment« seine Büros hatte. 

Zum Glück gab es in dieser wenig angesagten Gegend keine 

größeren Parkplatz-Probleme, und Piper steuerte mit ihrem Wagen 
eine Parklücke auf der gegenüberliegenden Straßenseite an. 

Noch beim Aussteigen blickte sie an dem schmucklosen Gebäude 

hoch. Vor dem Hintergrund des strahlend blauen Himmels wirkte es 
nur noch grauer und deprimierender. Wie um das trostlose Bild 
komplett zu machen, erfasste der Wind eine zerrissene Plastiktüte und 
wirbelte sie entlang der Hausfassade in die Höhe. 

Nicht gerade die Art von Gebäude, in der man das Management 

einer kommenden Pop-Sensation vermutet, dachte Piper, während sie 
die Straße überquerte. Andererseits waren die Nature Sons bislang 
noch eine ganz kleine Nummer, und Markel schien vor seinem 
Engagement für diese Band nicht gerade vom Erfolg verwöhnt 
worden zu sein. 

Eine Tafel am Eingang führte die Namen der Firmen auf, die in 

diesem Gebäude residierten. Piper hatte noch keinen einzigen davon 
gehört. Das Seltsame war, dass der Name von »Markel 
Entertainment« fehlte. Dabei hatte Piper die Angestellte von der 
Telefonauskunft zehn Minuten lang gelöchert, um endlich die 
Nummer von Markels Büro zu bekommen. Als sie es endlich 
geschafft hatte, hatte sich dort eine schüchterne Frau gemeldet, die 
sich als Markels Assistentin vorgestellt hatte. Piper hatte dann noch 
einmal fast zehn Minuten gebraucht, um von ihr – einer gewissen 
Vikki – die Adresse von Markels Stadtbüro zu erfahren und einen 
Termin zu vereinbaren. 

Piper ließ ihren Blick noch einmal über die Namenstafel 

schweifen. Nein, »Markel Entertainment« war hier tatsächlich nicht 
aufgeführt. Hatte diese Vikki ihr etwa eine falsche Adresse gegeben? 

Die junge Hexe runzelte die Stirn, als sie eine freie Stelle an der 

Tafel bemerkte, an der offensichtlich ein Schild fehlte. Die Ränder der 
Schraublöcher waren noch nicht korrodiert, also musste das Schild 

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erst kürzlich entfernt worden sein. Dem Aufbau der Namenstafel 
zufolge musste sich das betreffende Büro im elften Stock befunden 
haben, gleich neben einer Künstlervermittlung und einem Kleinverlag, 
von dem Piper ebenfalls noch nie gehört hatte. 

»Was soll's«, murmelte sie, »probieren wir's einfach aus.« 

Sie trat auf die Glaseingangstür zu, die klemmte und sich daher nur 

mit einigem Kraftaufwand öffnen ließ. Das Rezeptionspult, an dem 
Piper auf ihrem Weg zum Fahrstuhl vorbeikam, war verwaist. Auch 
ansonsten schien sich kein Mensch im Eingangsbereich aufzuhalten. 
Dies war mit Sicherheit das schäbigste Bürogebäude, das Piper jemals 
betreten hatte. 

Sie drückte den Knopf neben der Fahrstuhltür, die sich daraufhin 

quietschend zur Seite schob. Misstrauisch blickte Piper in die Kabine. 
Ein abgestandener Geruch schlug ihr entgegen. Der Spiegel am 
Kopfende war an einer Ecke abgesplittert und zu allem Überfluss mit 
einem Graffiti verschandelt worden. 

Piper zögerte eine Sekunde, dann wandte sie sich wieder ab. Dieser 

Fahrstuhl wäre schon unter normalen Umständen wenig Vertrauen 
erweckend gewesen. Aber als jemand, der von einer magischen 
Pechsträhne verfolgt wurde, sollte sie lieber kein Risiko eingehen. Sie 
verspürte wenig Lust, mit diesem Lift irgendwo zwischen den 
Stockwerken hängen zu bleiben … oder gar Schlimmeres. 

Kopfschüttelnd durchquerte Piper die Halle und erreichte eine Tür 

aus Milchglas, die ins Treppenhaus führte. »Jeder Gang macht 
schlank«, murmelte sie und begann mit dem Aufstieg. 

Nach sieben Stockwerken war Piper völlig außer Atem und 

wünschte, Paige wäre bei ihr, um sie ein paar Stockwerke nach oben 
zu orben. Seufzend ruhte sie sich ein paar Sekunden aus und setzte 
dann ihren Weg fort. 

Fünf schweißtreibende Minuten später hatte Piper den elften Stock 

erreicht. Ein schmaler, mit einem Kunststoffteppich ausgelegter Flur 
führte an drei schäbigen Bürotüren vorbei. An der mittleren prangte 
ein heller Fleck. Offensichtlich war auch hier vor kurzem das 
Firmenschild entfernt worden. Nichtsdestotrotz waren aus dem 
Inneren des Büros Geräusche zu hören. 

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Piper räusperte sich und klopfte an die Tür. Sie wusste zwar nicht, 

inwieweit dieser Markel in irgendwelche schwarzmagischen 
Geschichten verwickelt war, aber die junge Hexe war auf alles gefasst. 
Sobald ihr irgendetwas nicht koscher vorkommen würde, würde sie 
nicht zögern, einen potenziellen Gegner in der Zeit einzufrieren. 

Durch die Milchglasscheibe sah Piper, wie sich jemand der Tür 

näherte. Ein paar Sekunden später wurde sie geöffnet, und eine blasse 
junge Frau blickte durch den Türspalt. Sie war weder hübsch noch 
hässlich, sondern besaß eines dieser Allerweltsgesichter, die man 
sofort wieder vergisst. Ihre hellblonden Haare waren zu einem 
traurigen Pferdeschwanz zusammengebunden. 

Mit nervösem Blinzeln blickte die Frau Piper an. »Kann ich etwas 

für Sie tun?«, fragte sie. 

Piper erkannte die Stimme vom Telefon wieder. Das musste Vikki 

sein, Markels Assistentin. 

»Ja, mein Name ist Piper Halliwell. Ich bin die Managerin des P3

Wir hatten heute Morgen miteinander telefoniert.« 

Der Anflug eines Lächelns huschte über Vikkis Gesicht. »Aber 

natürlich, Misses Halliwell. Treten Sie näher. Und bitte entschuldigen 
Sie die Unordnung. Wir ziehen gerade um.« 

Mit einer müden Geste deutete Vikki auf ein paar Umzugskartons 

und Berge voller Aktenordner, die sich entlang der Wände auftürmten. 

»Tatsächlich?«, fragte Piper. »Wohin denn?« 

Vikki holte gerade Luft, um Pipers Frage zu beantworten, als sich 

am anderen Ende des Raums eine Tür öffnete. Ein mittelgroßer Mann 
mit kalten Augen trat heraus. »Vikki! Haben Sie nichts anderes zu tun, 
als herumzuquatschen? Ich glaube nicht, dass ich Sie dafür bezahle.« 
Mit der Zigarette, die zwischen seinen Fingern qualmte, deutete er auf 
die Umzugskartons. »Die Dinger packen sich nicht von selbst. Und bis 
heute Abend müssen wir hier raus sein!« 

Vikki zuckte zusammen. »Natürlich, Mister Markel. Ich mache 

mich gleich wieder an die Arbeit. Das hier ist Misses Halliwell. Sie 
hatte heute Morgen einen Termin ausgemacht.« 

Piper runzelte die Stirn. Als Managerin eines Lokals hatte sie 

selbst eine Menge Mitarbeiter, aber das war keine Art mit seinen 

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Angestellten umzugehen. Dieser Markel war ihr schon jetzt zutiefst 
unsympathisch. 

Dieser Eindruck schien jedoch nicht auf Gegenseitigkeit zu 

beruhen. Markel hob die Augenbrauen und strich sich über sein volles, 
dunkles Haar. Dabei wanderten seine Blicke unverhohlen über den 
Körper seiner Besucherin, und Piper konnte förmlich spüren, wie er 
sie in Gedanken auszog. 

»Misses Halliwell, ja?« Markel nickte anerkennend. »Kommen Sie 

doch bitte in mein Büro. Dann können wir uns unterhalten.« 

Mit übertriebener Höflichkeit hielt der Manager seine Bürotür auf, 

und Piper war es unangenehm, sich so nah an diesem Schmierlappen 
vorbeidrücken zu müssen. Wenn er mich auch nur ansatzweise 
berührt, dachte sie, friere ich ihn ein und verpasse ihm eine – 
Hexenregeln hin oder her. 

Aber Markel schien zu spüren, was gut für ihn war und behielt 

seine Hände bei sich. Dafür bemerkte Piper aus den Augenwinkeln, 
wie er seiner Assistentin einen drohenden Blick zuwarf, bevor er die 
Tür schloss. 

Piper sah sich um. Das Büro war zum größten Teil bereits 

ausgeräumt, aber auch im Normalzustand war es sicherlich alles 
andere als gemütlich gewesen. Ein billiger Schreibtisch, ein 
Chefsessel aus Kunstleder und ein ziemlich niedriger Besucherstuhl, 
der noch relativ unbenutzt aussah. Das ließ auf zwei Dinge schließen: 
Markel hatte in diesem Büro nur selten Geschäftskunden empfangen. 
Und wenn, dann sah er offensichtlich gern auf sie herab. 

Grinsend, als hätte er Pipers Gedanken gelesen, deutete Markel auf 

den Besucherstuhl. Dann nahm er selbst in dem Chefsessel hinter dem 
leergeräumten Schreibtisch Platz. 

»Tut mir Leid, dass es hier nicht mehr besonders anheimelnd ist«, 

sagte Markel und drückte seine Zigarette in einer leeren CD-Hülle 
aus. »Aber wie meine Assistentin Ihnen ja bereits gesagt hat, ziehen 
wir gerade um – in, äh, repräsentativere Räume. Ich hab eine neue, 
sehr viel versprechende Band unter Vertrag genommen und 
expandiere für die Zukunft, wie man so sagt.« 

»Genau deswegen bin ich zu Ihnen gekommen, Mister Markel«, 

sagte Piper rasch. Sie fühlte sich auf dem unbequemen Besucherstuhl 

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sehr unwohl und wollte die ganze Sache so schnell wie möglich hinter 
sich bringen. Außerdem hatte sie ein ungutes Gefühl, seit sie das Büro 
betreten hatte. Eine unbestimmbare, aber deutliche Atmosphäre von 
Täuschung und Verrat lag in der Luft. 

»Wie ich gehört habe«, fuhr sie fort, »vertreten Sie diese neue 

Boygroup, die Nature Sons, richtig?« 

Markel, der bisher betont lässig in seinem Sessel gethront hatte, 

richtete sich unwillkürlich auf. Mit wachsamem Blick beugte er sich 
vor. »In der Tat, das ist richtig. Darf ich fragen, woher Sie davon 
wissen? Ich meine, ich habe für die Band bisher noch nicht die große 
Werbetrommel gerührt, weshalb sie bislang eher ein Geheimtipp unter 
Insidern ist.« 

Nun beugte sich auch Piper vor und erwiderte Markels Blick. »Tja, 

tatsächlich ist meine Schwester einer dieser ›Insider‹. Sie hat vor ein 
paar Tagen ein Freiticket für ein Konzert der Band gewonnen und 
seitdem ist sie geradezu … besessen von ihren Schützlingen.« 

»Das kann ich mir vorstellen«, murmelte Markel grinsend. 

Piper und der Plattenmanager blickten sich einen Augenblick lang 

schweigend in die Augen, wie zwei Raubtiere, die einander taxieren 
und darauf lauern, dass der andere einen Fehler macht. 

»Wie dem auch sei«, brach Piper die entstandene Stille, »meine 

Schwester hat mir von der Band vorgeschwärmt und mir 
vorgeschlagen, ihnen eine Auftrittsmöglichkeit im P3  zu geben. Ich 
bin die Managerin des Clubs.« Mit der rechten Hand zog Piper eine 
Visitenkarte aus der Tasche ihres Sommermantels, während sie mit 
der linken die Finger kreuzte. Phoebe hatte natürlich nichts 
dergleichen gesagt, aber diese kleine Notlüge diente schließlich einem 
höheren Zweck. 

Markel nahm die Karte entgegen und betrachtete sie eingehend. 

»Piper Halliwell – natürlich. Als meine Assistentin Sie bei mir 
anmeldete, kam mir Ihr Nachname gleich bekannt vor. Wissen Sie, ich 
hatte bereits mehrfach das Vergnügen, Ihre Schwester kennen zu 
lernen.« 

Markel und die Hexe tauschten ein falsches Lächeln. 

Ich weiß, dass du weißt, dass ich mehr weiß, dachte Piper. 

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Der Plattenmanager machte ein bedauerndes Gesicht und schob die 

Karte wieder über den Tisch zurück. »Danke für das Angebot, aber 
ich fürchte, die Nature Sons stehen für einen Auftritt in Ihrem Lokal 
derzeit nicht zur Verfügung. Ich möchte die Jungs zu diesem frühen 
Zeitpunkt ihrer Karriere noch nicht verheizen, Sie verstehen?« 

Piper schüttelte den Kopf. »Aber davon kann doch keine Rede 

sein. Das P3  ist bekannt dafür, jungen Musikern eine Chance zu 
geben. Es würde ein nettes, kleines Konzert werden, vor einem sehr 
interessierten Publikum.« 

Markel holte tief Luft und lehnte sich in seinen Sessel zurück. 

Dann strich er sich nachdenklich über das schlecht rasierte Kinn. Piper 
konnte nicht anders, als den dunkel behaarten Handrücken des 
Mannes anzustarren. »Warum nicht«, rief Markel schließlich und 
klatschte in die Hände. »Das könnte sehr interessant werden. Ich 
denke, morgen Abend könnten die Nature Sons zu einer kleinen … 
Jamsession in Ihrem Club auftreten.« 

Piper stutzte. »Morgen Abend schon? Ich weiß nicht, ob die Zeit 

für die nötigen Vorbereitungen bis dahin ausreicht.« 

Markel winkte ab. »Ach was, die Jungs sind wirklich talentiert. Die 

brauchen nicht mehr als ihre Instrumente und eine Soundanlage. Ihre 
Musik wird für sich sprechen, glauben Sie mir.« 

Piper dachte kurz nach. Das ging alles etwas schneller, als sie 

erwartet hatte. Andererseits – je eher sie und Paige herausfanden, was 
es mit den Nature Sons auf sich hatte, desto besser. »Einverstanden«, 
sagte sie und stand auf. 

Markel reichte ihr über den Schreibtisch hinweg seine behaarte 

Rechte. Piper erschauderte. 

»Klären Sie alles Weitere doch bitte mit Vikki«, sagte der 

Manager. »Sie ist meine Assistentin und kümmert sich um das 
Geschäftliche. Ach, und da wäre noch etwas«, setzte Markel hinzu, als 
Piper schon fast zur Tür hinaus war. »Ich möchte die Band durch reine 
Mund-zu-Mund-Propaganda bekannt machen. Berichterstattung in der 
Presse ist schön und gut, aber oft schaden solche Artikel in diesem 
Stadium mehr als sie nutzen. Ich wäre Ihnen also dankbar, wenn Sie 
auf irgendwelche Vorankündigungen verzichten würden, Misses 
Halliwell. Außerdem wird Vikki in den Vertrag mit Ihnen eine 

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Klausel aufnehmen, nach der Journalisten keinen Zutritt zu dem 
Konzert haben dürfen.« 

Piper runzelte die Stirn. Das war allerdings sehr ungewöhnlich. 

Normalerweise waren junge Bands und ihre Manager geradezu 
begierig auf Presseberichterstattung. Markel verhielt sich tatsächlich 
wie jemand, der etwas zu verbergen hatte. Und sie würde 
herausfinden, was es war. 

»Nun, wenn Sie es wünschen, Mister Markel, dann werden wir das 

selbstverständlich so handhaben. Guten Tag.« 

»Bis morgen Abend, Miss Halliwell«, erwiderte Markel mit einem 

Lächeln. »Ich freue mich schon darauf.« 

Piper trat in den Vorraum und zog die Tür hinter sich zu. Sie war 

froh, nicht mehr länger in einem Raum mit Markel sein zu müssen. 
Die gespielte Freundlichkeit dieses Mannes hatte etwas 
Beängstigendes. 

Vikki kniete neben einem Pappkarton am Boden und erhob sich, 

als Piper auf sie zutrat. Nachdem sie der Assistentin von ihrer 
Vereinbarung mit Markel erzählt hatte, öffnete die junge Frau einen 
der auf dem Boden stehenden Aktenordner und zog einen 
Standardvertrag heraus. 

»Ich werde nur noch schnell die vereinbarte Klausel hinzufügen, 

Misses Halliwell«, sagte sie. Es klang aus ihrem Mund fast 
entschuldigend. 

Piper nickte. Sie folgte Vikki zum leer geräumten Schreibtisch und 

nutzte die Gelegenheit, die Assistentin unter vier Augen zu befragen. 
»Sagen Sie, Vikki«, begann sie beiläufig, »arbeiten Sie eigentlich 
schon lange für Mister Markel?« 

Die Assistentin blickte unsicher auf. »Ich … nein, seit ein paar 

Monaten erst«, stotterte sie. »Seit …« Sie blickte nervös zur Bürotür 
von Markel und verstummte. 

»Seit …?«, hakte Piper vorsichtig nach, aber Vikki senkte den 

Blick und wandte sich wieder dem Vertrag zu. 

»Vikki, gibt es etwas, das Sie mir vielleicht sagen möchten?«, 

fragte Piper sanft. Die junge Frau schien vor irgendetwas Angst zu 
haben, und Piper wollte wissen, was es war – nicht nur, um das Spiel 

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zu durchschauen, das Markel offensichtlich trieb, sondern auch, um 
ihr zu helfen. 

Doch Vikki schluckte nur und reichte Piper den handschriftlich 

ergänzten Vertrag. »Ich möchte lieber nicht darüber reden«, sagte sie 
und lächelte ihr Gegenüber fast flehentlich an. 

»Ich verstehe«, sagte Piper. So würde sie nie etwas 

herausbekommen. Sie zog eine weitere Visitenkarte aus ihrer Tasche 
und schrieb ihre Privatnummer auf die Rückseite. »Wenn Sie trotzdem 
mal jemanden zum Reden brauchen, Vikki, dann rufen Sie mich 
einfach an, okay?« Sie lächelte der jungen Frau aufmunternd zu. 

Vikki nahm die Karte entgegen, ohne Piper dabei in die Augen zu 

sehen. »Danke«, sagte sie tonlos und führte die Besucherin zum 
Ausgang. 

»Wir sehen uns dann beim Konzert, oder?«, fragte Piper. 

Vikki nickte. »Ja, sicher«, sagte sie leise, bevor sie die Tür wieder 

schloss. 

Piper holte tief Luft, durchquerte den Flur, öffnete die Tür zum 

Treppenhaus und blieb einen Moment lang ratlos stehen. 

Sehr viel schlauer als zuvor war sie jetzt auch nicht. Doch 

zumindest war ihr nun klar, dass in Markels Konzertagentur 
irgendetwas nicht mit rechten Dingen zuging. 

Und vielleicht hatte Paige mit ihren Recherchen ja mehr Erfolg … 

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20 

A

LS MISTER COWAN AUS seinem Büro trat, traute er seinen 

Augen nicht. 

Paige Matthews saß an ihrem Computer und arbeitete. 

Der Leiter des Sozialdienstes blickte verwirrt auf die Uhr an der 

Wand des Großraumbüros und dann – zur Sicherheit – noch einmal 
auf seine eigene Armbanduhr. 

Tatsächlich – es war 12 Uhr 30 mittags. Das Büro, in dem 

normalerweise ein gutes Dutzend Mitarbeiter Anträge prüfte, Gelder 
verwaltete und Akten sortierte, war verwaist. Alle Angestellten waren 
in der Mittagspause und saßen in diesem Augenblick wohl entweder 
in der Cafeteria der Behörde oder nutzen den sonnigen Tag, um ihr 
Lunch im nahe gelegenen Park einzunehmen. 

Alle, bis auf Paige Matthews. Ausgerechnet. 

Mister Cowan schätze Paige durchaus, aber sie war sicherlich die 

Letzte, die freiwillig ihre Mittagspause opferte, um die Aktenberge 
auf ihrem Schreibtisch aufzuarbeiten. Mit einem fassungslosen 
Grinsen ging der Amtsleiter zu Paiges Schreibtisch herüber. 

»Alles in Ordnung bei Ihnen?«, fragte er. »Wollen Sie denn heute 

nicht in die Mittagspause gehen?« 

Paige war so auf den Monitor ihres Computers konzentriert 

gewesen, dass sie ihren Chef gar nicht bemerkt hatte. 

»Mister Cowan«, rief sie fast erschrocken. »Nein, äh, ich hab noch 

'ne Menge zu tun und wollte endlich mal etwas Arbeit wegschaufeln.« 
Sie nahm einen Heftordner vom Stapel und hielt ihn kurz hoch. »Hier, 
der äh, Conolly-Antrag zum Beispiel ist schon längst überfällig. 
Irgendwann muss ich mich ja mal darum kümmern.« 

Mister Cowan runzelte die Stirn und nickte. Die Verwunderung 

stand ihm ins Gesicht geschrieben. »Sicher, Paige. Das ist eine 
vorbildliche Einstellung. Tja, dann will ich Sie mal nicht länger 
stören. Ich habe meiner Frau versprochen, dass ich in der 
Mittagspause ein paar Besorgungen für sie mache. Könnten Sie wenn 
Sie ohnehin schon hier sind – ein Ohr auf mein Telefon haben?« 

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Paige nickte beflissen. »Sicher, Mister Cowan, mache ich doch 

gern. Dann viel Erfolg beim Einkaufen.« 

»Danke«, murmelte der Amtsleiter, der Paiges Gesinnungswandel 

offensichtlich immer noch nicht fassen konnte. Als er das Büro 
verließ, kratzte er sich nachdenklich am Hinterkopf. 

Als die Luft wieder rein war, legte Paige die Akte zurück und 

seufzte erleichtert auf. Dann zog sie eine CD-Hülle unter einem 
Antragsformular hervor und las die klein gedruckten Namen auf der 
Rückseite. 

Paige und Piper hatten nach Phoebes Heimkehr noch einen kleinen 

Kriegsrat abgehalten. Dass irgendetwas mit dieser Band nicht 
stimmte, war ihnen mittlerweile klar. Um der Sache auf den Grund zu 
gehen, hatten sie vereinbart, getrennt vorzugehen. Piper wollte den 
Manager der Band unter die Lupe nehmen, und Paige sollte 
versuchen, etwas über die Mitglieder der Gruppe herauszufinden. 

Deshalb hatte sie sich in Phoebes Zimmer geschlichen, als diese 

tief und fest schlief, um sich ihre Nature-Sons-CD auszuleihen. 
Natürlich hätte sie ihre Halbschwester auch danach fragen können, 
aber so, wie es zurzeit um Phoebe stand, hätte sie bestimmt nach dem 
Grund gefragt. 

Und wie Paige gehofft hatte, waren die Namen der Musiker auf der 

Rückseite des Covers abgedruckt. Im Telefonbuch waren sie 
erwartungsgemäß zwar nicht zu finden gewesen – kein vernünftiger 
Popmusiker veröffentlichte einfach so seine Privatadresse –, aber 
Paige hatte schließlich noch ganz andere Möglichkeiten. 

Es hatte schon seine Vorteile, beim Sozialdienst zu arbeiten. Per 

Internet konnte sie sich – fast legal und bequem von ihrem 
Arbeitsplatz aus – in den Zentralcomputer der staatlichen 
Sozialversicherungsbehörde einloggen. Und eins war sicher: Egal, ob 
er in eine schwarzmagische Verschwörung verwickelt war oder nicht 
– in den USA lief kein Mensch ohne eine gültige 
Sozialversicherungsnummer herum. 

Paige tippte den Namen des letzten Bandmitglieds in die 

Suchmaske auf dem Monitor ein. Sekunden später war der Bildschirm 
gefüllt mit allen möglichen Daten über Huey Bergson, den Drummer 
der Band. 

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Geboren in San Francisco, keine Vorstrafen, ein paar übliche 

Kinderkrankheiten und eine angeborene Sehschwäche. Ansonsten 
wusste die staatliche Datenbank nichts Besonderes über Mister 
Bergson zu berichten. Doch dann fiel Paige etwas auf: Huey Bergson 
hatte – ebenso wie seine Bandkollegen – das Trinity College in San 
Francisco besucht. Den Daten auf dem Bildschirm zufolge, waren alle 
vier Musiker der Nature Sons Klassenkameraden gewesen. Vor nicht 
allzu langer Zeit. 

Paige dachte einen Moment lang nach, dann kappte sie die 

Internetverbindung und stand auf. Wenn man etwas über einen 
Menschen herausfinden wollte, dann war es – ihrer Erfahrung nach – 
immer sehr hilfreich, an seiner alten Schule Erkundigungen 
einzuholen. Und genau das würde sie jetzt tun. 

Sie blickte auf ihre Armbanduhr. Das Trinity College lag nicht 

allzu weit entfernt vom South-Bay-Sozialdienst,  und wenn sie sich 
beeilte, konnte sie wieder zurück sein, ohne ihre Mittagspause über 
Gebühr überzogen zu haben. 

Sie schnappte sich ihre leichte Sommerjacke, warf Phoebes CD in 

ihre Handtasche und stürmte ins Freie. 

Und damit direkt in die Arme von Mister Cowan. »Ich hab meine 

Brieftasche vergessen«, sagte er. Dann fiel sein Blick auf Paiges 
Mantel und die Handtasche. »Wo wollen Sie denn hin?«, fragte er mit 
einem Stirnrunzeln. 

»Äh, ich hab mich entschlossen, doch noch meine Mittagspause zu 

nehmen«, erwiderte Paige ein wenig verlegen. »Ich hoffe, es ist okay, 
wenn ich sie ein bisschen überziehe?« 

Mister Cowan seufzte. »Hätte mich auch gewundert«, antwortete er 

nur und nickte. »Gehen Sie nur.« 

»Danke!«, rief Paige, als das Klackern ihrer Absätze schon über 

den Asphalt des Parkplatzes hallte. »Ich beeile mich.« 

Mister Cowan schüttelte den Kopf. Manche Dinge waren einfach 

zu schön, um wahr zu sein. 

Die Fahrt zum City College dauerte tatsächlich nur ein paar 

Minuten. 

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Der Einfachheit halber hatte Paige ihren New Beetle auf dem 

Lehrerparkplatz abgestellt. Wahrscheinlich würde der Blimp wieder 
dafür sorgen, dass sie dafür von der Campus-Polizei einen Strafzettel 
kassierte, aber das war jetzt ihr geringstes Problem. 

Mit schnellen Schritten eilte sie auf das Hauptgebäude der Schule 

zu und stieß die gläserne Fronttür auf. Einen Augenblick lang blieb sie 
stehen und atmete tief ein. Genau wie Krankenhäusern schien auch 
allen Schulen dieser Welt derselbe typische Geruch gemein: Eine 
Mischung aus billigem Putzmittel, Tafelkreide und dem 
undefinierbaren Aroma, das die Schüler selbst verströmten – ein 
Odeur aus jugendlichem Enthusiasmus und pubertärem Angstschweiß, 
wie Paige vermutete. 

Eine argwöhnische Stimme ließ Paige herumfahren. »Kann ich 

Ihnen helfen, Miss?«, fragte eine ältere Dame, deren graues Haar zu 
einem Dutt zusammengesteckt war. 

Paige unterdrückte ein Grinsen. Auch diese Frau kam ihr vor wie 

der Prototyp für sämtliche altgediente Lehrerinnen dieser Welt. »Dies 
hier ist Schulgelände, wissen Sie. Für eine Schülerin sehen Sie mir ein 
wenig zu alt aus und für ein Elternteil ein wenig zu jung.« 

Paige setzte ihr unschuldigstes Lächeln auf. »Ja, tut mir Leid, dass 

ich einfach so hier hereinplatze. Ich, äh, bin vor ein paar Jahren selbst 
aufs Trinity gegangen und war jetzt zufällig mal wieder in der Nähe«, 
log sie. »Und da überkam mich plötzlich so ein Nostalgie-Flash, und 
dachte mir, ich könnte meinem alten College mal wieder einen Besuch 
abstatten.« 

»Verstehe«, murmelte die alte Dame und musterte Paige von Kopf 

bis Fuß. Offensichtlich kam sie daraufhin zu dem Schluss, dass die 
Frau vor ihr weder eine Verrückte war noch ein Arsenal an 
Handfeuerwaffen in ihrer kleinen Handtasche versteckt hielt. Der 
Anflug eines Lächelns machte sich auf dem Gesicht der Lehrerin 
breit. »Na, dann sehen Sie sich ruhig etwas um. Natürlich ist gerade 
Unterricht, und Sie können daher nicht in die Klassenräume hinein.« 

Paige winkte ab. »Ach, schon gut. Die hab ich ja lange genug von 

innen gesehen, nicht wahr? Ich spaziere nur etwas herum, dann bin ich 
wieder verschwunden.« 

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»Natürlich«, nickte die Lehrerin. »Und denken Sie daran, dass 

unser College einen Förderverein ehemaliger Schüler unterhält. Auch 
die kleinste Spende ist herzlich willkommen.« 

»Ja, sicher«, antwortete Paige etwas verlegen und wandte sich 

dann um. Sie hatte die Eingangshalle bereits halb durchquert, als sie 
noch einmal stehen blieb. »Sagen Sie«, fragte Paige kleinlaut, »wo 
war denn noch mal die Bibliothek?« 

Sofort kehrte das Misstrauen zurück in den Blick der alten 

Lehrerin. »Dort, wo sie immer schon war«, antwortete sie, »den Gang 
hinunter und dann links die Treppe hoch. Mir scheint, Sie hätten die 
Bibliothek zu Ihrer Zeit vielleicht einmal öfter aufsuchen sollen, dann 
würden Sie es wissen, Miss.« 

Paige fühlte sich unter dem tadelnden Blick der Lehrerin wieder 

wie ein Schulmädchen. Dann bedankte sie sich für die Auskunft, und 
ging den Gang hinunter, froh darüber, dass diese alte Spinatwachtel 
nicht wirklich eine ihrer Lehrerinnen gewesen war. 

Kaum eine Minute später betrat sie die Bibliothek der Schule. Um 

diese Zeit war Paige der einzige Mensch hier. Auch die Bibliothek 
hatte einen ganz besonderen Geruch; das Aroma von vergilbten Seiten 
und verstaubtem Wissen lag in der Luft. Insgeheim musste Paige der 
alten Dame Recht geben: Sie hatte als Schülerin tatsächlich nie viel 
Zeit in der Schulbücherei verbracht. Genutzt hätte es wahrscheinlich 
ohnehin nicht viel, denn kein Lehrbuch der Welt hätte sie wohl auf 
ihre spätere Berufung als Hexe vorbereiten können. Das einzige Buch, 
das in dieser Hinsicht in Frage kam, war das Buch der Schatten auf 
dem Dachboden des Halliwell-Hauses. 

Paige passierte die Regale, in denen die Bücher nach Themen 

geordnet standen, ohne diese groß zu beachten. Geografie, Biologie, 
Mathematik – das alles interessierte sie momentan nicht. Sie suchte 
nach etwas anderem. 

In einem Regal ganz in der Ecke des großen Raumes wurde sie 

schließlich fündig: Ganz zuoberst entdeckte sie eine Reihe mit 
farbenfrohen Alben, auf deren Rücken jeweils eine goldene Jahreszahl 
prangte. 

Die Jahrbücher des Trinity Colleges. 

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Paige blickte sich noch einmal um, um sich zu vergewissern, auch 

wirklich allein zu sein. Dann konzentrierte sie sich kurz, und ein Buch 
mit weinrotem Einband schwebte direkt in ihre Hände. Es war der 
Almanach des Abschlussjahrgangs von Josh, Mike, Todd und Huey, 
der vier Mitglieder der Nature Sons. 

Aufgeregt schlug Paige das Buch auf. Wie alle Jahrbücher wurde 

es mit einem Begrüßungstext des Rektors eröffnet, dann folgten 
diverse, zumeist bemüht witzige Artikel der Klassenstreber, Tabellen 
mit den Ergebnissen der Sportmannschaften und so weiter. 

Paige blätterte schneller. Der interessante Teil musste sich 

erfahrungsgemäß im letzten Drittel des Buches befinden. »Na also«, 
murmelte die junge Hexe, als sie ein paar Doppelseiten aufschlug, auf 
denen die Fotos aller Klassenmitglieder abgebildet waren. Wenn die 
Informationen aus dem Computer der Sozialversicherungsbehörde 
stimmten, dann mussten auch die vier Nature Sons hier verewigt 
worden sein. Und da zu jedem Foto ein kurzer Lebenslauf gehörte, 
hoffte sie, auf diese Weise etwas über die Bandmitglieder 
herausfinden zu können. 

Doch erst ganz am Ende der Doppelseiten wurde Paige fündig. 

Etwas abgesetzt von den übrigen Fotos waren die Gesichter von vier 
Jungs zu sehen. Darüber prangte eine Überschrift, die Paige zunächst 
nicht verstand: Die Söhne Satans. 

»Die Söhne Satans?! Was soll denn das bedeuten?«, murmelte 

Paige. 

Dann erst fiel ihr Blick auf die vier Fotos, und Paige konnte kaum 

glauben, was sie da sah. 

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21 

»

H

IER SCHAU DIR DAS AN!«, rief Paige und zog das 

Jahrbuch des Trinity Colleges aus ihrer Handtasche. »Das ist einfach 
der Hammer!« 

»Paige!«, rief Piper erschrocken aus, »du hast dieses Buch doch 

nicht etwa geklaut?« 

»Na ja, sagen wir, ich hab's mir kurzfristig ausgeliehen. Aber jetzt 

schau doch endlich mal rein!« 

Mit einem vorwurfsvollen Stirnrunzeln nahm Piper das Buch 

entgegen. Dann setzte sie sich auf das Sofa im Wohnzimmer des 
Halliwell-Hauses und schlug das Jahrbuch auf. 

»Ich hab einen Knick in die Seite gemacht, auf die es ankommt«, 

ergänzte Paige aufgeregt. 

Auch das noch, dachte Piper und blätterte zu der entsprechenden 

Seite. Auf einer Hochglanz-Doppelseite lächelte ihr ein gutes Dutzend 
ehemaliger Absolventen des Trinity Colleges entgegen. Soweit Piper 
das auf den ersten Blick sehen konnte, waren es ganz gewöhnliche 
Passfotos, wie man sie in jedem Jahrbuch der Welt findet. 

»Ja, und?«, fragte sie mit einem Schulterzucken. Sie war den 

ganzen Tag auf den Beinen gewesen und hatte jetzt wirklich keine 
Lust auf Ratespielchen. 

Paige schnaufte ungeduldig. »Schau dir die letzten vier Fotos an«, 

sagte sie und ließ sich neben ihrer Schwester auf dem Sofa nieder. 

»›Die Söhne Satans‹«, las Piper die Überschrift. »Was soll denn 

das bedeuten? Und wer sind diese Kerle?« Ratlos blickte sie auf die 
Porträts von vier jungen Männern, die ihr unbeholfen entgegen 
grinsten. Zwei von ihnen trugen dicke Hornbrillen, alle waren hager 
wie Bohnenstangen und mit Akne sowie brav gescheitelten Frisuren 
für die Ewigkeit im Bild festgehalten worden. Die typischen ›Nerds‹ – 
Klassenstreber, wie es sie in jedem Jahrgang gab. Wahrscheinlich 
waren die vier allesamt Physik-Asse gewesen und vermochten ganze 
Kapitel aus dem »Herrn der Ringe« herunterzuleiern. 

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»Schau mal auf die Namen«, sagte Paige nur und grinste 

triumphierend. 

Paige hatte immer noch keine Ahnung, auf was ihre Halbschwester 

eigentlich hinauswollte. »Huey, Todd, Josh …« 

Die junge Hexe stockte und blickte Paige mit großen Augen an. 

»Moment mal«, sagte sie fassungslos, »Josh? Du willst doch nicht 
behaupten, dass dieses verpickelte Bübchen hier derselbe Typ ist, in 
den sich unsere Phoebe verguckt hat? Das ist der Gitarrist der Nature 
Sons?« 

Paige nickte nur. »Er ist es. Und die anderen drei Streber auf dieser 

Seite sind seine heutigen Bandkollegen. Das verleiht der Geschichte 
vom hässlichen Entlein eine völlig neue Dimension, oder?« 

»Allerdings.« Piper nickte. »Wie … wie alt sind denn diese 

Fotos?« 

»Nicht mal ein Jahr.« 

Piper schüttelte ungläubig den Kopf. »Das kann doch gar nicht 

sein. Ich habe diesen Josh doch selbst gesehen, als er Phoebe nach 
Hause gebracht hat. Er ist zwar nicht mein Typ, aber er sah irgendwie 
älter und um ein Vielfaches besser aus als dieser verhuschte 
Klassenprimus hier auf dem Foto.« 

Paige nickte. »Allerdings. Und selbst, wenn der Kleine sein letztes 

Taschengeld in Typberatung und Bodybuilding gesteckt hätte – ich 
glaube kaum, dass ein Jahr reichen würde, um sich so 
herauszumachen.« 

»Sehe ich auch so«, nickte Piper. Mehr und mehr verhärtete sich 

der Verdacht, dass mit dieser Band irgendetwas nicht stimmte. Sie 
wandte sich wieder dem Buch zu und las den kurzen Text, der die 
Fotos kommentierte. Er war nicht besonders schmeichelhaft für die 
vier Jungs. 

»Und schließlich verabschieden wir uns auch noch von unseren 
vier Teufelskerlen: Josh, Todd, Huey und Mike – was wäre unser 
Jahrgang ohne die höllischen Takte der ›Söhne Satans‹ gewesen. 
Wenn sie nicht gerade im Dreck lagen, um mit der Archäologie-
Klasse alte Indianer-Gräber auszuheben, erfreuten sie uns mit den 

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Klängen ihrer Hobby-Band. Ihre Musik hätte selbst den Teufel 
ausgetrieben und war deshalb der ideale Rausschmeißer jeder 
Klassenparty. Weiter so, Jungs!« 

»Unglaublich«, murmelte Piper. »Die vier haben also schon auf der 

Schule eine Band gegründet …« 

»… und offensichtlich keine besonders gute«, bemerkte Paige. 

»Söhne Satans – das klingt schwer nach einer dieser hohlen 
Heavymetal-Bands …« 

»… mit der sie sich wahrscheinlich bei ihren Klassenkameraden 

Respekt verschaffen wollten. Offensichtlich vergebens.« 

Piper klappte das Jahrbuch wieder zu und dachte nach. Sie kannte 

Jungs wie Josh, Todd, Huey und Mike aus ihrer eigenen Schulzeit – 
unauffällige Zeitgenossen mit stets guten Zensuren, die selten den 
Anschluss an die anderen schafften und von diesen ständig schikaniert 
wurden. Wie also hatten es die vier geschafft, in so kurzer Zeit zu 
echten, von Fans umschwärmten Popstars zu werden? Ohne Magie 
war das wohl kaum möglich gewesen – und Piper war sich ziemlich 
sicher, dass dabei keine weiße Magie im Spiel war. 

Paige schien das genauso zu sehen. »Was sollen wir denn jetzt 

machen?«, fragte sie und blickte ihre Schwester erwartungsvoll an. 
»Hast du irgendeine Idee?« 

Piper schüttelte den Kopf. »Bis jetzt noch nicht. Wichtig ist, dass 

wir Phoebe davon überzeugen, Abstand zu diesem Josh zu halten, bis 
wir wissen, was …« 

»Das könnte euch so passen!« Der scharfe Klang von Phoebes 

Stimme hallte aus dem Flur ins Wohnzimmer. Totenbleich, aber mit 
geröteten Wangen stand die mittlere Halliwell-Schwester auf der 
Türschwelle wie eine Rachegöttin und funkelte ihre Schwestern böse 
an. 

Paige und Piper waren so in das Jahrbuch vertieft gewesen, dass sie 

gar nicht bemerkt hatten, dass ihre Schwester zwischenzeitlich nach 
Hause gekommen war. 

»Ihr könnt's einfach nicht lassen, was?«, fauchte Phoebe. »Warum 

überlasst ihr es nicht einfach mir, mit wem ich mich treffe? Kaum hab 

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ich einen netten Jungen kennen gelernt, wittert ihr gleich eine 
schwarzmagische Verschwörung!« 

Piper stand auf und ging mit dem Almanach in der Hand ein paar 

Schritte auf ihre Schwester zu. »Phoebe, du verstehst das falsch. Wirf 
bitte mal einen Blick in dieses Jahrbuch. Mit deinem Josh stimmt was 
nicht.« 

»O doch«, entgegnete Phoebe patzig, »mit ihm stimmt alles. Ist 

euch schon mal der Gedanke gekommen, dass mit euch vielleicht was 
nicht stimmt? Entschuldige bitte, Piper, wenn mein Freund 
praktischerweise kein Wächter des Lichts ist«, fauchte sie und wandte 
sich dann Paige zu, die noch immer schweigend auf dem Sofa saß. 
»Und verzeih bitte, Paige, dass es da einen Jungen gibt, der sich für 
mich interessiert, auch wenn du kaum mehr wissen dürftest, wie das 
ist!« 

Paige riss empört die Augen auf. »O Phoebe, das ist gemein!« 

»Nein, ihr seid gemein!«, rief Phoebe. »Gemein und von Eifersucht 

zerfressen!« Mit diesen Worten schlug sie Piper das Jahrbuch aus der 
Hand. Es prallte an die gegenüberliegende Wand und blieb schließlich 
hinter einem alten Polstersessel liegen. 

»Phoebe!«, rief Piper mehr erschrocken als empört. 

Doch Phoebe ignorierte sie und holte ihr Handy aus der Tasche. 

»Wen rufst du da an?«, fragte Paige beinahe kleinlaut. 

»Josh«, knurrte Phoebe nur. »Ich werde ihn fragen, ob er mich 

abholt. Es ist vielleicht gut, wenn wir uns etwas aus dem Weg gehen – 
bis ihr wieder zur Vernunft gekommen seid. Ich warte dann draußen 
auf ihn. Macht's gut.« Sprach's, drehte sich auf dem Absatz um, riss 
die Eingangstür auf und verließ das Haus. 

Mit offenem Mund starrten Piper und Paige ihr nach. »Bis wir 

wieder zur Vernunft gekommen sind?«, wiederholte Paige 
fassungslos, »das Verdrehen von Tatsachen ist doch normalerweise 
mein Spezialgebiet.« 

»So hat das alles keinen Sinn«, murmelte Piper. »Phoebe ist von 

ihrem Josh und diesen Nature Sons offensichtlich wie besessen – im 
wahrsten Sinne des Wortes. Wir können ihr nur helfen, indem wir 

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aufklären, was die Band und dieser Markel tatsächlich im Schilde 
führen.« 

Paige nickte. »Meinst du, bei dem Konzert morgen im P3  findest 

du etwas heraus?« 

»Warten wir's ab«, antwortete Piper, doch sie hatte kein gutes 

Gefühl mehr bei der Sache. 

Immer noch geschockt von Phoebes Wutanfall verließen Piper und 

Paige das Wohnzimmer, um sich in der Küche einen Tee zu kochen. 

Das Jahrbuch des Trinity Colleges hatten sie in der ganzen 

Aufregung völlig vergessen. 

Unbeachtet lag es noch immer hinter dem Sessel, hinter dem es so 

unsanft gelandet war. Der Aufprall hatte das Buch auf einer anderen 
Doppelseite aufgeschlagen, und hätte Piper nur einen Blick 
daraufgeworfen, hätte sie eine der abgebildeten Personen bestimmt 
wieder erkannt. 

Unter der Rubrik »Aushilfslehrer« lächelte schüchtern eine nichts 

sagende, blonde Frau in die Kamera. 

Victoria ›Vikki Derheiden war in der Bildlegende zu lesen – 

Aushilfslehrerin im Fachbereich Alte Geschichte und Archäologie. 

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22 

»

W

AS MACHST DU DENN HIER UNTEN?«, fragte Paige und 

kam zögernd die Kellertreppe hinunter. »Und was zum Teufel ist mit 
deinen Haaren passiert?« 

Piper strich sich eine verfilzte, feuchte Strähne aus der Stirn, ließ 

den Schraubenzieher sinken und blickte ihre Halbschwester frustriert 
an. 

»Ich versuche, den Boiler zu reparieren. Ich war gerade beim 

Duschen, als plötzlich kein warmes Wasser mehr kam.« 

»Das erklärt zumindest die Shampoo-Reste in deinen Haaren«, 

bemerkte Paige. 

Voller Erwartung legte Piper den Schalter des Gasboilers um. Sie 

hätten das alte Stück längst austauschen sollen. Früher oder später 
hatte es ja mal den Geist aufgeben müssen, auch wenn sie sich sicher 
war, dass in diesem Fall dieser verfluchte Blimp dahinter steckte. 

Im Sichtfenster des Heißwasserspeichers loderte eine kleine 

Gasflamme auf, und die gesamte Anlage begann zu brausen und zu 
rumpeln. Instinktiv trat Piper einen Schritt zurück. Doch es passierte – 
wider Erwarten – nichts. 

Aber dann erstarb mit einem fast menschlichen Seufzer die 

Zündflamme, und der Boiler verstummte wieder. Frustriert schlug 
Piper den Schraubenzieher gegen die Blechhülle der Anlage. 
»Langsam treibt mich dieser verdammte Flaschengeist zur 
Weißglut!«, fluchte sie. 

»Piper, bitte. Du hast doch selbst gesagt, dass wir uns über das 

Kerlchen nicht aufregen dürfen, um ihn nicht noch mächtiger …« 

»Du hast ja Recht«, schnitt ihr Piper das Wort ab. »Doch langsam 

hat die Zermürbungsstrategie dieses kleinen Quälgeistes Erfolg. Und 
dass wir jetzt schon einen Tag lang nichts mehr von Phoebe gehört 
haben, stimmt mich auch nicht gerade gelassener«, fügte sie hinzu. 

Sie legte den Schraubenzieher beiseite und machte ein paar 

Schritte auf ihre Schwester zu. Dann riss sie erschrocken die Augen 
auf. »Meine Güte, Paige! Du siehst ja aus wie ein Schluck Wasser!« 

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»Oh, vielen Dank auch für das Kompliment.« Paige holte tief Luft 

und klammerte sich am Gelände der Kellertreppe fest. Im Licht der 
matten Deckenlampe schien ihr Gesicht tatsächlich grünlich zu 
schimmern. 

»Ich war heute in der Mittagspause mit ein paar Kollegen im Park. 

Wir haben uns an einem Stand Softeis gekauft, und ich hab wohl eine 
nicht mehr ganz so frische Portion erwischt. So schlecht war mir 
schon lange nicht mehr.« 

»Du Ärmste«, sagte Piper voller Mitleid und schüttelte den Kopf. 

»Da sagst du was. Ich weiß gar nicht, wie ich den Rest des 

Arbeitstages überstanden habe. Ich hatte solche Angst, dass Mister 
Cowan mich rausschmeißt, wenn ich mich auch noch krank melde, 
nachdem ich doch gestern schon die Mittagspause überzogen hatte. 
Der einzige Vorteil ist, dass ich mich viel zu elend fühle, um mich 
noch über den Blimp aufregen zu können.« 

Piper legte einen Arm um die Schulter ihrer Halbschwester und 

half ihr die Stufen herauf. Sie spürte, wie Paige leicht zitterte, 
wahrscheinlich ein Anfall von Schüttelfrost in Folge der leichten 
Lebensmittelvergiftung. »Komm erst mal mit in die Küche«, sagte sie 
aufmunternd, »ich kenne da ein prima Rezept für einen Kräutertee 
gegen Magenverstimmungen. Es muss nicht immer Magie sein, 
manchmal helfen auch die guten, alten Hausmittel. Und dann stecken 
wir dich ins Bett.« 

Paige nickte dankbar. Doch dann blickte sie Piper erstaunt an. »Sag 

mal, heute ist doch das Nature-Sons-Konzert im P3. Musst du nicht 
langsam los, wenn du den Auftritt unserer allseits beliebten 
Nachwuchsband nicht verpassen willst?« 

Mit der freien Hand schlug Piper sich vor die Stirn. Natürlich. Sie 

war eigentlich nur rasch nach Hause gefahren, um sich etwas frisch zu 
machen. Denn ob nun schwarze Magie im Spiel war oder nicht, sie 
war immer noch die Managerin des P3  und nach außen hin war der 
Auftritt der Nature Sons ein ganz normales Überraschungskonzert für 
zahlende Gäste. Und als Geschäftsführerin eines Lokals musste sie 
natürlich auch etwas hermachen und gewisse repräsentative Pflichten 
erfüllen. 

Piper seufzte. Der Blimp hatte ihr, was das anging, wieder einmal 

einen sauberen Strich durch die Rechnung gemacht. »Du hast Recht, 

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Paige. Ich wollte mich vorher nur schnell etwas zurecht machen, als 
der verdammte Boiler versagte. Und schau mal, wie ich jetzt 
aussehe.« 

Paige – selbst käsebleich – warf einen Blick auf ihre 

Halbschwester. Die notdürftig mit kaltem Wasser gewaschenen Haare 
hingen zottelig herunter, an den Ohren klebten noch Shampoo-Reste, 
und die erfolglosen Reparaturarbeiten am Boiler hatten Rußflecken 
auf ihren Wangen hinterlassen. Nein, wie die Geschäftsführerin eines 
der angesagtesten Clubs der Stadt sah Piper wahrlich nicht aus. 

»Na ja, du wirst vielleicht mit etwas mehr Haarspray als 

gewöhnlich arbeiten müssen«, sagte Paige diplomatisch. Schließlich 
wollte sie ihre Halbschwester nicht noch mehr frustrieren. 

Die beiden waren im Flur des Hauses angekommen, und Piper 

blickte in den großen Garderobenspiegel an der Wand. 

»Vielleicht sollte ich mir einfach eine Papiertüte über den Kopf 

ziehen«, seufzte sie und schob Paige in die Küche. 

Eine gute halbe Stunde später, nachdem Piper ihre Halbschwester 

mit Tee und einer warmen Decke versorgt hatte, steuerte sie ihr Auto 
schon wieder zurück in Richtung P3. 

Ohne die Straße zu lange aus den Augen zu lassen, streckte sich 

die junge Hexe in ihrem Sitz und warf einen raschen Blick in den 
Rückspiegel. Eine Extraladung Haarspray und etwas zusätzliches 
Make-up hatten tatsächlich Wunder gewirkt. So konnte sie sich wieder 
sehen lassen. 

Sie hatte ein ungutes Gefühl, sich ohne die Unterstützung ihrer 

Schwestern auf Tuchfühlung mit den Nature Sons und Markel 
einzulassen. Aber Phoebe interessierte sich im Augenblick wenig für 
ihre Hexenpflichten. Und Paige wäre in ihrem angeschlagenen 
Zustand wahrscheinlich eher nur ein Klotz am Bein, falls es zu einer – 
wie auch immer gearteten – Konfrontation kommen sollte. 

Sich selbst Mut zusprechend fuhr Piper auf den Parkplatz des P3 

und erlebte die erste Überraschung des Abends. 

Gemäß dem Vertrag, den sie mit Markel geschlossen hatte, waren 

die Nature Sons nicht offiziell angekündigt gewesen. In den üblichen 
Aushängen und auf der Homepage des P3  war nur von einem 
»Überraschungskonzert« die Rede gewesen. 

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Trotzdem schien Markels Konzept der Mund-zu-Mund-

Propaganda aufgegangen zu sein. Während Piper mit den üblichen 
Besucherzahlen für diesen Abend gerechnet hatte, war der Parkplatz 
des Lokals bereits gerammelt voll. Auffallend viele Mädchen zerrten 
ihre weniger begeistert ausschauenden männlichen Begleiter Richtung 
Eingang. Vereinzelt zogen auch Gruppen von jungen Frauen mit 
erwartungsvollen Gesichtern über den Parkplatz. 

Piper steuerte ihren Wagen in eine der letzten freien Parklücken 

und stieg aus. 

Über eine mickrige Abendkasse würde sie sich heute Abend 

sicherlich nicht beklagen können. Unter anderen Umständen hätte sie 
sich über diesen unerwarteten Andrang sicher gefreut. Doch heute 
Abend ging Piper mit mehr als gemischten Gefühlen auf den 
schäbigen Kleinbus zu, der soeben am Hintereingang des P3 zum 
Stehen kam. Das mussten die Nature Sons sein. 

Ein Raunen ging durch die Menge, als sich die seitliche Schiebetür 

öffnete und Mike, der Sänger der Band, vorsichtig den Kopf 
herausstreckte. 

Da die Nature Sons wahrlich nicht die erst Band waren, die im P3 

auftrat, wussten Pipers Angestellte, was nun zu tun war. Kaum hatte 
sich die Tür des Busses geöffnet, wurde auch schon die Hintertür des 
Clubs von innen entriegelt. Mit schnellen Schritten schlüpften Mike, 
Todd und Huey aus dem Bus und huschten in das Lokal, bevor ihnen 
aufdringliche Fans zu nahe kommen konnten. 

Piper beschleunigte ihre Schritte, auch sie wollte die Gelegenheit 

nutzen, um zusammen mit der Band durch den Hintereingang zu 
schlüpfen, bevor die Tür wieder verriegelt wurde. 

Sie hatte den Bus gerade erreicht, als eine weitere Gestalt ausstieg. 

Es war Markel, gefolgt von Vikki, die ihm wie immer mit gesenktem 
Kopf an den Hacken klebte. 

»Ah, Misses Halliwell«, grinste Markel, als er Piper bemerkte. 

»Ich bin froh, dass ich doch noch auf Ihr Angebot eingegangen bin. 
Wenn ich mir die vielen Besucher hier ansehe«, fuhr er fort und 
blickte über den Parkplatz, »dann bin ich sicher, dass dies ein äußerst 
… lohnender Abend werden wird.« 

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Piper setzte ein höfliches Lächeln auf. »Freut mich, dass Sie 

zufrieden sind, Mister Markel. Ich bin auch schon sehr gespannt auf 
Ihre Band. Man hört ja wahre Wunderdinge über die Nature Sons.« 

Markel hob eine Augenbraue und blickte Piper prüfend an. Wie 

jemand, der abschätzen will, wie viel sein Gegenüber denn nun 
wirklich weiß. Dann kehrte das wölfische Grinsen in sein Gesicht 
zurück. »Oh, ich bin sicher, unser treuester Fan wird Ihnen diese 
Gerüchte bestätigen können.« 

Pipers Blick folgte Markels Handbewegung, die in den Bus 

hineindeutete. Aus der Seitentür trat Josh, der Gitarrist – Hand in 
Hand mit Phoebe. 

Erschrocken blickte Piper ihre Schwester an. Sofern das überhaupt 

möglich war, kam ihr Phoebe noch blasser vor als am Vortag. Es 
schien einen Augenblick zu dauern, bis sie Piper überhaupt erkannte. 

»Phoebe!«, rief diese. »Wir haben uns Sorgen um dich gemacht! 

Alles in Ordnung mit dir?« 

»Mir ging's nie besser«, gab Phoebe trotzig zurück. »Es tut gut, 

jemanden an seiner Seite zu haben, der sich wirklich um einen 
kümmert – und der nicht nur um das … Familienerbe besorgt ist.« 
Phoebe schenkte Josh einen schmachtenden Blick. Dieser lächelte 
sanft und nickte. »Natürlich, Phoebe. Aber jetzt lass uns reingehen. 
Wir wollen unsere Fans nicht warten lasen. Ich bin sicher, das ist auch 
in Ihrem Interesse, Misses Halliwell«, fügte er mit einem Blick auf 
Piper hinzu. 

Piper nickte. »Selbstverständlich.« Dann ließ sie Phoebe und Josh 

durch den Hintereingang schlüpfen, bevor sie den beiden als Letzte 
folgte. 

»Ach, eins noch, Misses Halliwell«, sagte Markel, der im Gang zur 

Garderobe auf die Nachzügler gewartet hatte, »Sie haben sich doch an 
die Klausel gehalten, nach der keine Presse zu diesem Konzert 
zugelassen ist, oder?« 

»Natürlich«, erwiderte Piper gereizt. Allmählich hatte sie das 

ungute Gefühl, dass Markel hier, in ihrem eigenen Lokal, die Regeln 
bestimmte. 

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23 

S

TEVE GIBBSON RUTSCHTE NERVÖS auf dem Fahrersitz 

seines Kleinwagens herum und überprüfte noch einmal seine 
Ausrüstung. Er kam sich selbst ein wenig albern vor, ein regelrechtes 
Großeinsatzequipment zusammengestellt zu haben, aber dies würde 
auch keine gewöhnliche Reportage werden. 

Befriedigt schloss er den Reißverschluss des schmalen 

Handwerkergürtels an seiner Taille. Eine Kamera mit einem hoch 
empfindlichen Film befand sich darin sowie ein Ersatzfilm, ein kleiner 
Digitalrekorder und ein Stück Draht. 

Steve, der Musikjournalist aus Phoebes Redaktion, holte noch 

einmal tief Luft und öffnete die Autotür. In dieser Stadt lief 
musiktechnisch nichts, das seiner Aufmerksamkeit entging. Und so 
war es kein Wunder, dass die Mund-zu-Mund-Propaganda für das 
Nature-Sons-Konzert auch bis zu ihm durchgedrungen war. Und 
damit auch das ebenso ungewöhnliche wie unverständliche 
Presseverbot für den heutigen Abend. 

Seit Wochen schon hatte Steve immer wieder Gerüchte über diese 

neue Boyband aus der Bay Area gehört, die angeblich kurz vor dem 
großen Durchbruch stand. Und Steve kannte natürlich auch Markel, 
den Manager der Band, der sich bisher eigentlich nur durch eine Reihe 
von Flops einen Namen gemacht hatte. Immerhin, seine neue Strategie 
der Geheimhaltung schien zu funktionieren und, wie es aussah, schien 
das Publikum auf diesen Trick hereinzufallen. 

Aber Markel hatte nicht mit Steve Gibbson gerechnet. 

Persönlich hatte Steve zwar nicht viel übrig für die Schmuse- und 

Tralala-Musik der diversen Boybands, aber es sah tatsächlich so aus, 
als wären die Nature Sons in die Straße des Erfolgs eingebogen. Und 
bis jetzt war noch nie ein Artikel über sie veröffentlich worden. 

Das würde er ändern. Sollten diese Jungs tatsächlich bald zur 

Kultband aufsteigen, würde er der Erste sein, der über sie berichtet 
hatte. 

Als Steve ausstieg, schlug ihm die kühle Abendluft entgegen, und 

für einen Moment lang wurde ihm schwindelig vor Aufregung. Er 

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musste an den jungen Musikreporter Jon Landau denken, der selbst 
aus San Francisco stammte und vor vielen Jahren als einer der ersten 
seiner Zunft über ein junges Musiktalent namens Bruce Springsteen 
geschrieben hatte. 

»Ich habe die Zukunft des Rock 'n' Roll gesehen«, hatte Landau 

nach einem Konzert geschrieben, »und ihr Name lautet Bruce 
Springsteen«. 
Mit diesem tausendfach zitierten Satz war der Journalist 
in der Musikszene fast ebenso berühmt geworden wie Springsteen 
selbst. Und heute arbeitete Landau als Produzent mit dem »Boss« 
persönlich zusammen. 

Es mochte zwar sein, dass die Nature Sons nie an die Popularität 

eines Bruce Springsteen heranreichen würden, aber der erste 
Exklusiv-Bericht über eines ihrer Konzerte würde mit Sicherheit 
Aufsehen erregen. Selbst der Rolling Stone, das berühmteste 
Musikmagazin der Welt, würde ihm, Steve Gibbson, den Artikel aus 
den Händen reißen. 

Aber dazu musste er ihn erst einmal haben. 

Sein erster, nahe liegender Versuch, an diesem Abend in das P3 zu 

gelangen – nämlich ganz normal durch den Haupteingang, war einfach 
dadurch gescheitert, dass der Türsteher ihn natürlich kannte. 

Steve hatte schon oft über Konzerte im P3  geschrieben und war 

normalerweise ein gern gesehener Gast. Doch heute hatte der 
Türsteher nur wortlos auf das »Heute keine Presse«-Schild an der Tür 
gedeutet und ihn wieder fortgeschickt. Aber so leicht gab ein Steve 
Gibbson nicht auf, keine Chance. 

Wie zur Bestätigung ließ Steve seine Hand noch einmal zu dem 

Werkzeuggürtel gleiten, den er unter einem weiten Karohemd 
verborgen hatte. Auf dem Parkplatz hinter dem P3  herrschte eine 
Menge Trubel und so war es für ihn ein Leichtes, zunächst in die 
Menge einzutauchen und schließlich im Schatten eines Müllcontainers 
an der Rückseite des Gebäudes zu verschwinden. 

Die Wände des P3  waren zwar gut isoliert, aber Steve konnte 

hören, wie im Inneren des Clubs die ersten Eröffnungsakkorde 
gespielt wurden. Das Konzert begann. 

Zeit für ihn, sich auch an die Arbeit zu machen. 

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Nervös saß Piper Halliwell in ihrem Büro im P3, von dem aus sie 

einen guten Blick auf die Bühne hatte. 

Die Nature Sons hatten mit ihrem Konzert begonnen. 

Mike, der Sänger der Band, hauchte einen Song in eines dieser 

Kopfhörermikrofone, die seit Britney Spears' Siegeszug offenbar 
unverzichtbar für junge Bands geworden waren. Piper fragte sich, wie 
lächerlich wohl Elvis gewirkt hätte, wenn er mit so einem Ding über 
die Bühne gewirbelt wäre. Der Gedanke daran zauberte trotz ihrer 
angespannten Stimmung ein kleines Lächeln auf ihr Gesicht. 

Ansonsten konnte sie der Musik der Nature Sons nicht allzu viel 

abgewinnen. Für sie klang das Ganze auch nicht besser als all die 
anderen gefälligen Pop-Melodien, die man tagein, tagaus und rund um 
die Uhr im Radio hörte. Nicht gerade unerträglich, aber auch alles 
andere als mitreißend. Umso bemerkenswerter, als die Jungs ja mal als 
Metal-Band angefangen hatten, um ihre Klassenkameraden zu 
beeindrucken. 

Von ihrem Platz hinter dem Schreibtisch aus konnte Piper sehen, 

wie sich viele der zunächst gespannten Gäste schon wieder von der 
Bühne abwandten. Andere saßen bereits wieder an ihren Tischen und 
versuchten, sich über die Musik hinweg zu unterhalten. 

Die  Nature Sons schien das allerdings nicht zu stören. Unbeirrt 

bearbeiteten die vier Jungs ihre Instrumente mit einem Enthusiasmus, 
als würden sie in der Fillmore-Halle  und vor dem aufmerksamsten 
Publikum der Welt spielen. 

Tatsächlich musste Piper zugeben, dass die vier ihr Handwerk 

durchaus verstanden. Fast zärtlich strichen die Hände von Josh über 
die Saiten seiner Gitarre. Huey, der Drummer, war selbstvergessen in 
seinen eigenen Rhythmus versunken. Und die dumpfen Töne von 
Todds elektrischem Bass hatten fast eine hypnotische Wirkung. Und 
über all dies legte sich die Stimme des Sängers, die sich perfekt in 
Melodie und Rhythmus einzufügen schien. 

Obwohl die Musik durch die Bürowände nur gedämpft an Pipers 

Ohren drang, wirkte sie wie ein Gewand aus Tönen, das sie sanft 
umschmeichelte – schier überirdische Klänge, die direkt in ihre 
Gedanken zu gleiten schienen. Piper spürte, wie ihr Herzschlag sich 
verlangsamte und sich an den Rhythmus der Bassgitarre anzupassen 

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schien, so als suche ihr Körper den völligen Einklang mit dieser … 
himmlischen Musik. 

Piper verstand sich selbst nicht mehr. Wie hatte sie diese Klänge 

nur als mittelmäßige Teeniemusik bezeichnen können? Was da an ihre 
Ohren, was da durch sie hindurchdrang, war das Schönste, was sie je 
gehört hatte. Und sie wünschte sich, dieses Gefühl der perfekten 
Harmonie würde sie nie wieder … 

[Nein, Piper!] 

…  verlassen. Sie wollte, dass die Musik niemals mehr endete und 

… 

[Stopp!],  rief eine innere Stimme. Sie klang harsch und 

unharmonisch im Vergleich zu dieser Sphärenmusik. Einen 
Augenblick lang fühlte sich Piper, als wäre sie zweigeteilt. Es dauerte 
ein paar Sekunden, bis sie erkannte, dass diese andere Stimme ihr 
selbst gehörte. Und die Versuchung war groß, sie einfach zu 
ignorieren. 

[Reiß dich zusammen, Piper!], rief die Stimme und diesmal war sie 

so laut, dass die junge Hexe sie nicht mehr überhören konnte. 

Diese Musik war dazu angetan, sie völlig in ihren Bann zu ziehen, 

und das durfte sie nicht zulassen! Was immer hier vorging, es war 
schwarze Magie mit im Spiel. Es kostete Piper eine unmenschliche 
Willenskraft, um die Arme zu heben und die Hände gegen die Ohren 
zu pressen. 

Die Musik drang jetzt nur noch sehr leise zu ihr durch. Sie fühlte 

sich von den Klängen immer noch wie beschwipst, aber wenigstens 
konnte sie wieder halbwegs klare Gedanken fassen. 

Dem Publikum vor der Bühne erging es da schon anders. Entsetzt 

sah Piper, wie die Gäste selbstvergessen vor der Bühne tanzten und 
sich im Takt der Musik wiegten. Einige weibliche Besucher hatten 
sich direkt an den Bühnenrand gedrängt und reckten den Mitgliedern 
der Nature Sons ihre Arme entgegen. Ohne es von ihrer Position aus 
sehen zu können, war sich Piper sicher, dass sie Tränen der 
Begeisterung in den Augen hatten. 

Die vier Jungs auf der Bühne schien dies alles indes nicht 

sonderlich zu beeindrucken. Ohne ihre ekstatischen Fans überhaupt zu 
beachten, spielten sie weiter, und Piper konnte sehen, wie Mike, der 

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Sänger, und Todd, der Bassist, sich mit einem zufriedenen Lächeln 
zunickten. Die Reaktion ihrer Zuschauer schien sie nicht im 
Geringsten zu überraschen. 

Piper wusste nicht, wie lange sie sich der Wirkung der Musik noch 

entziehen konnte. Selbst in ihrer gedämpften Form begannen die Töne 
schon wieder, ihren Verstand auszufüllen. Die Realität schien zu 
verschwimmen, und sie spürte das unbändige Verlangen, die Hände 
von den Ohren zu nehmen und sich ganz der Musik hinzugeben. 

Sie presste die Hände noch fester gegen den Kopf und stieß mit der 

Schulter die Bürotür auf. Augenblicklich schwoll die Lautstärke dieser 
teuflisch-schönen Klänge an. 

Denk an Phoebe!, beschwor sich Piper. Wenn auch du dieser 

Musik verfällst, wirst du ihr nicht mehr helfen können! 

Die Sorge um Phoebe gab ihr die Kraft, die sie brauchte, um sich 

an den verzückten Fans vorbeizudrängen und die Hintertür des P3 zu 
erreichen. Für eine Sekunde musste sie die Hände von den Ohren 
nehmen, um die Stahltür zu entriegeln. Doch schon dieser kurze 
Augenblick reichte aus, und die Musik durchflutete erneut ihr 
gesamtes Ich. Nichts auf dieser Welt schien verlockender, als sich ihr 
einfach hinzugeben und … 

»Nein!«, rief Piper aus voller Brust, stieß die Tür auf, schlüpfte 

hindurch und schlug sie wieder hinter sich zu. 

Durch die schwere Stahltür war von der Musik dahinter nur noch 

das dumpfe Wummern der Bassgitarre zu hören. Immer noch lockend, 
aber ohne hypnotische Macht. 

Die kühle Nachtluft tat ein Übriges, um den Bann der teuflischen 

Musik von ihr zu nehmen. Fast körperlich erschöpft lehnte sich Piper 
gegen die Tür und atmete tief ein. 

Das war knapp, aber ich hab's geschafft, dachte die Hexe voller 

Erleichterung. 

Bis sie den scharfen Raubtiergeruch wahrnahm. 

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24 

Ä

CHZEND BALANCIERTE STEVE GIBBSON auf zwei 

übereinander gestapelten Mülltonnen und streckte sich nach dem 
Toilettenfenster. 

Ein zufällig vorbeikommender Passant hätte ihn vielleicht für einen 

perversen Spanner gehalten, aber Steve hatte keineswegs die Absicht, 
neugierige Blicke durch das kleine gekippte Fenster mit der 
Milchglasscheibe zu werfen, er wollte es öffnen. 

Was gar nicht so leicht war. 

Fluchend wischte sich der Musikredakteur mit einer Hand den 

Schweiß von der Stirn, während er mit der anderen erneut versuchte, 
eine kleine Drahtschlinge um den inneren Fenstergriff zu stülpen. Im 
Fernsehen sah so etwas immer kinderleicht aus, aber Steve musste 
feststellen, dass die Realität es einem nur selten so einfach machte. 

Durch das halb geöffnete Fenster konnte er das Wummern der 

Bassgitarre hören. Der Rhythmus hatte etwas Einschmeichelndes, 
Anziehendes, und Steve startete einen neuen Versuch. Er musste doch 
nur dieses verdammte Fenster öffnen und hindurchsteigen, um durch 
die Waschräume in den Konzertsaal zu gelangen. Aber wenn er das 
nicht bald bewerkstelligte, war das Konzert vorbei, und er würde mit 
leeren Händen dastehen. 

Steve stellte sich noch einmal auf die Zehenspitzen, ignorierte das 

bedrohliche Wackeln der Mülltonnen unter sich und angelte mit der 
improvisierten Drahtschlaufe erneut nach dem Fenstergriff. Endlich 
spürte er einen Widerstand. Die Schlinge hatte sich am Griff 
festgehakt. 

»Yeah, Baby!«, rief Steve aus und begann vorsichtig, den Draht in 

seine Richtung zu ziehen. Es gab ein schnappendes Geräusch, und das 
Fenster schwang auf. 

Da hörte Steve ein Grollen hinter sich. 

Einen Augenblick lang glaubte er, es sei nur eine Einbildung 

gewesen – bis ihm der scharfe Raubtiergeruch in die Nase stieg. Der 
Draht rutschte ihm aus den Fingern, als der Musikredakteur sich 
langsam umdrehte. Eher ungläubig als ängstlich stellte er fest, dass im 

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Schatten des Gebäudes eine massige Silhouette lauerte, keine fünf 
Meter von ihm entfernt. 

Die Furcht kam erst, als inmitten dieses Schattens zwei gelbe 

Pupillen aufblitzen. 

»W-Wer bist du?«, stammelte Steve. »G-Geh weg!« 

Instinktiv wollte der Reporter einen Schritt zurück machen und 

vergaß dabei, dass er immer noch auf zwei aufeinander gestapelten 
Mülltonnen stand. Der oberste der beiden Behälter rutschte unter 
seinen Füßen weg, und im nächsten Augenblick stürzte Steve hinab. 
Der fatale Rückschritt indes ließ ihn nach hinten kippen, und bevor 
Steve einen klaren Gedanken fassen konnte, prallte er mit dem 
Hinterkopf an die Betonwand der Gebäuderückseite. 

Ein Lichtblitz explodierte vor seinen Augen. Er spürte noch, wie 

sein Körper relativ weich auf ein paar Müllsäcken landete, und dann 
wurde es Nacht um ihn herum. 

Als Piper ein schepperndes Geräusch hörte, spurtete sie ohne 

nachzudenken los. 

Möglicherweise waren nur ein paar streunende Katzen die 

Ursache, die in den Mülltonnen des P3 nach Nahrung wühlten. Aber 
Katzen verbreiteten normalerweise nicht diesen beißenden 
Raubtiergeruch. 

Nach der unheimlichen Wirkung dieser teuflischen Musik war die 

junge Hexe beinahe dankbar für etwas Action. Was immer sich dort 
im Dunkeln herumtrieb – Piper spürte, wie das Adrenalin durch ihren 
Körper strömte und die letzten Reste der hypnotischen Klänge aus 
ihrem Verstand spülte. 

Doch als sie um die Ecke des Clubs bog, wünschte sie sich fast in 

den Konzertsaal zurück. 

Der Anblick war furchtbar, auch wenn ihr die Details im 

Halbdunkeln glücklicherweise erspart blieben. Eine schattenhafte, 
mindestens zwei Meter große und zweibeinige Kreatur beugte sich 
über eine dunkle Masse, die Piper zunächst für einen Lumpensack 
hielt. Erst als im schwachen Schein des Mondes eine dunkle 

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Flüssigkeit aufblitze, erkannte Piper zu ihrem Entsetzen, dass dort ein 
Mensch auf den Müllsäcken lag. 

Und die Schattenkreatur hob etwas, das aussah wie eine Kralle, um 

sie noch einmal auf ihr wehrloses Opfer hinabsausen zu lassen. 

»Nein!«, schrie Piper. Instinktiv stürmte sie vorwärts und richtete 

ihre Hände auf die Kreatur, um sie in der Zeit einfrieren zu lassen. 

Im selben Augenblick prallte sie mit dem Schienbein gegen eine 

der umgestürzten Mülltonnen, die sie im Dunkeln nicht gesehen hatte. 
Noch im Fallen schaffte es Piper, einen Fluch auf diesen 
gottverdammten Blimp auszustoßen. Dass diese Mülltonne ihr im 
Weg gelegen hatten, war sicherlich alles andere als ein Zufall 
gewesen. 

Sie keuchte, als sie der Länge nach auf dem Asphalt aufschlug und 

die Luft explosionsartig aus ihren Lungen entwich. Ohne Zögern 
rappelte Piper sich wieder auf. 

Das Schattenwesen hatte von seinem Opfer abgelassen und 

funkelte die Hexe aus gelben Raubtieraugen an. Dann stieß es ein 
wütendes Grollen aus. 

Pipers Hände schossen vor, um ihren Angreifer erstarren zu lassen. 

Doch die Bestie war alles andere als dumm – und unglaublich 

schnell. Bevor Piper irgendetwas unternehmen konnte, war das Wesen 
mit einem gewaltigen Satz in den Schatten verschwunden. 

Einen Augenblick lang stand Piper unentschlossen auf dem Platz 

hinter dem Gebäude. Diese Kreatur – was immer sie auch sein mochte 
– war zu gefährlich, als dass sie frei herumlaufen durfte. Andererseits 
gab es einen Verletzten, der dringend ihre Hilfe benötigte. 

Ein leises Stöhnen aus Richtung der Müllsäcke nahm Piper die 

Entscheidung ab. Die Rettung eines Menschenlebens war jetzt das 
Wichtigste. Sie hoffte nur, dass sie nicht zu spät kam. 

Mit ein paar schnellen Schritten war Piper bei dem Verletzten und 

beugte sich über ihn. Es war ein Mann, und er schien bewusstlos zu 
sein. 

»Oh, nein!«, keuchte Piper, als sie Steve Gibbson, den 

Musikredakteur und Arbeitskollegen von Phoebe, erkannte. Er war ein 
häufiger Gast bei Konzerten im P3  gewesen, und man musste kein 

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Sherlock Holmes sein, um zu erraten, was er hier unter dem 
Toilettenfenster, gewollt hatte. 

»Steve, du Idiot«, murmelte Piper. Dann fiel ihr Blick auf die 

schweren Wunden des Mannes. Für einen Moment konnte sie nicht 
anders und musste die Augen schließen. Es sah wirklich schlimm aus. 

Reiß dich zusammen, Piper, ermahnte sie sich zum zweiten Mal an 

diesem Abend. Wenn sie Steve noch retten wollte, kam es jetzt auf 
jede Sekunde an. Und sie musste planvoll vorgehen. 

Piper biss sich auf die Unterlippe und konzentrierte sich. Dann ließ 

sie Steve in der Zeit erstarren. Das war die einzige Möglichkeit, um 
die Blutung des Mannes so lange zu stoppen, bis professionelle Hilfe 
da war. 

»Leo!«, rief Piper in die Nacht hinein. 

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25 

E

INE SEKUNDE SPÄTER BEGANN die Luft bläulich zu 

schimmern. In einer Wolke aus Zeit und Raum materialisierte der 
Wächter des Lichts. 

»Mein Gott«, rief Leo, als sein Blick von Piper auf den Verletzten 

fiel, »was ist denn hier passiert?« 

Piper winkte ab. »Erkläre ich dir später. Kannst du ihm bitte 

helfen?« 

Leo runzelte die Stirn und sah sich den jungen Mann näher an. 

»Das ist eine wirklich üble Verletzung, aber ja – ich kann ihn retten. 
Aber dazu musst du erst den Erstarrungszauber von ihm nehmen.« 

Piper nickte und machte sich bereit. Jetzt kam es auf Teamwork an. 

Ohne den Bann würde Steve wahrscheinlich nur noch wenige 
Sekunden überleben. 

Leo kniete sich neben Steve auf den Boden und hob seine 

Handfläche über die klaffende Wunde. »Okay«, sagte der Wächter des 
Lichts, 
»auf Drei!« 

Die beiden zählten gemeinsam. »Eins … zwei … drei!« 

Mit einer knappen Geste hob Piper den Erstarrungsbann auf. 

Steves Körper zuckte zusammen, doch schon im gleichen Moment 
begann Leos Hand bläulich zu glühen. Dann sprang ein Lichtbogen 
von ihm auf die Wunde des Reporters über. Immer noch bewusstlos, 
gab Steve ein leises Stöhnen von sich. Im Schein des unwirklichen 
Leuchtens konnte Piper sehen, wie Leo alles aufbot, um diesen Mann 
zu retten, den er nie zuvor gesehen hatte. Selbst in diesem 
angespannten Zustand erschienen ihr Leos Züge wunderschön, und sie 
wusste einmal mehr, warum sie diesen Mann so liebte. 

Dann flackerten die Wundränder an Steves Brust bläulich auf und 

begannen sich zu schließen. Zunächst langsam, dann immer schneller. 
Nach ein paar Augenblicken war nicht einmal mehr eine Narbe durch 
den zerfetzten Hemdstoff zu sehen. 

»Geschafft«, stöhnte Leo. Schweißtropfen hatten sich auf seiner 

Stirn gebildet. Als Wächter des Lichts verfügte er zwar über 

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fantastische Heilkräfte, aber es musste unglaublich anstrengend sein, 
einen Menschen zu retten, der schon auf der Schwelle zum Tod stand. 

»Ich liebe dich, Leo«, lächelte Piper und gab ihrem überraschten 

Ehemann einen Kuss. 

»Wow«, murmelte Leo, als Pipers Lippen sich wieder von den 

seinen gelöst hatten. Der anstrengende Heilzauber und Pipers Kuss 
hatten ihm den Atem verschlagen. Fast verlegen deutete er auf die 
kleine Platzwunde an Steves Hinterkopf. 

»Ah, lass mich diesen Kratzer da auch noch eben heilen, dann ist 

der Mann wieder wie neu.« 

Piper überlegte einen Moment, dann schüttelte sie den Kopf. 

»Nein, besser nicht. Er soll ruhig ein kleines Andenken an sein 
Abenteuer behalten. Ein wenig Kopfweh wird ihn nicht umbringen, 
sondern wird ihm eine Lehre sein. Immerhin wollte er sich in mein 
Lokal einschleichen. Außerdem wird er so denken, er wäre einfach 
nur ausgerutscht und durch den Aufprall bewusstlos geworden. Alles 
andere wird ihm wie ein böser Traum vorkommen.« 

Wie zur Bestätigung stöhnte Steve in seiner Bewusstlosigkeit 

abermals leise auf. In spätestens ein paar Minuten würde er wieder zu 
sich kommen und sich an nicht viel erinnern. 

»Guter Plan«, nickte Leo. »Aber was war hier eigentlich los?« 

Piper wollte Leo gerade von dem unheimlichen Konzert der Nature 

Sons  und dem Angriff der Schattenbestie erzählen, als sie nicht weit 
entfernt Schritte hörten. 

Es waren Besucher des Clubs, die über den Parkplatz zu ihren 

Autos gingen. Offensichtlich war das Konzert der Nature Sons vorbei. 

»Ich erzähle dir alles später, okay?«, meinte Piper und machte eine 

entschuldigende Geste. »Ich muss erst herausfinden, was genau bei 
diesem Gig eigentlich vor sich gegangen ist.« 

Leo nickte. »In Ordnung. Aber halte mich auf dem Laufenden«, 

sagte der Wächter des Lichts und löste sich in einer schimmernden 
Wolke auf. 

Piper warf noch einen letzten Blick auf den ohnmächtigen Steve. 

Die Augenlider des Reporters zuckten bereits. Schon bald würde er 
wieder zu sich kommen. Sie konnte ihn getrost hier zurücklassen. 

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Im Laufschritt umrundete Piper das Gebäude bis zum 

Haupteingang des P3.  Ein paar Dutzend Besucher, die offensichtlich 
nur wegen des Konzerts gekommen waren, schlenderten ihr entgegen. 

Wenig verwundert registrierte Piper, dass sie alle ein glückseliges 

Lächeln auf ihren Gesichtern trugen. Als ob ihr Verstand noch immer 
von der Musik, die sie soeben gehört hatten, erfüllt wäre. Gleichzeitig 
waren alle Konzertgäste auffallend blass und wirkten irgendwie 
kraftlos. Ein paar männliche Besucher mussten ihre Freundinnen auf 
dem Weg zu den Autos sogar abstützen. 

Als ob man ihnen die Energie aus den Körpern gesaugt hat, dachte 

Piper. Ein schlechtes Gewissen überkam sie. Piper war sich sicher, 
dass sich die Konzertbesucher schnell wieder erholen würden, aber 
gleichzeitig fühlte sie sich an deren Zustand nicht ganz unschuldig. 
Umso entschlossener war sie daher, der ganzen Sache auf den Grund 
zu gehen. 

Zielstrebig bahnte sie sich ihren Weg durch den Strom der 

Konzertbesucher ins Innere des Clubs. Der Hauptraum des P3  hatte 
sich deutlich gelichtet; nur ein paar Gäste saßen noch matt an ihren 
Tischen. Vor ihnen standen Drinks, die sie kaum angerührt hatten. 

Die Bühne des Lokals war bereits geräumt worden, von den Nature 

Sons war keine Spur mehr zu sehen. 

Piper huschte durch eine Seitentür und lief den Flur zum 

Hintereingang des Lokals hinab. Die Tür zum Hof stand offen, und 
Piper konnte sehen, wie Mike und Todd gerade ihre Instrumente in 
den Kleinbus wuchteten. Scheinbar hatten sie es eilig, den 
Veranstaltungsort wieder zu verlassen – offenbar hatten sie 
bekommen, was sie wollten. 

Piper trat ins Freie und runzelte die Stirn, als sie Phoebe im Fond 

des Minibusses sitzen sah. Kreidebleich lehnte sie an Josh, der zärtlich 
seinen Arm um sie gelegt hatte. Als sich ihre und Pipers Blicke trafen, 
senkte Phoebe verlegen den Kopf. 

Piper wollte gerade etwas zu ihr sagen, als sich plötzlich eine 

Gestalt aus den Schatten löste. Sie fuhr herum und blickte geradewegs 
in das grobschlächtige Gesicht von Markel. Der Bandmanager strahlte 
die Hexe an, und sein Blick schien geradezu vor Energie zu pulsieren. 
Sein Körper wirkte irgendwie gestrafft und bewegte sich mit geradezu 
jugendlicher Geschmeidigkeit. Und wenn man genau hinsah, konnte 

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man sogar sehen, wie sich die Nackenhärchen des Mannes aufgestellt 
hatten, als wären sie elektrisiert. 

»Misses Halliwell«, lachte Markel. »Ich muss sagen, dass war ein 

ganz fantastisches Konzert. Und mein Kompliment für das Publikum 
des P3. Ihre Gäste haben wirklich alles gegeben.« 

Piper ballte die Fäuste. Was immer Markel auch für ein Spiel 

spielte, sie hatte die Nase voll davon. »Was zum Teufel war da 
drinnen los, Markel?«, fragte sie, ohne sich zu bemühen, die 
Aggression in ihrer Stimme zu verbergen. 

Aber der Musikmanager ließ sich gar nicht darauf ein. »Was los 

war? Na, ganz einfach: Mit dem Auftritt in Ihrem Lokal haben Sie 
mich meinem Ziel ein gewaltiges Stück näher gebracht. Und dafür 
möchte ich Ihnen danken, Misses Halliwell.« 

Markel schnippte mit den Fingern. »Vikki! Geben Sie mir eine der 

CDs! Wird's bald!« 

»Sofort, Mister Markel!«, ertönte eine Stimme aus dem Bandbus. 

Ein paar Sekunden später trat Vikki ins Freie und übergab Markel eine 
CD, die der Manager gleich an Piper weitergab. 

»Nehmen Sie, das ist unser neues Promo-Album. Es wird Ihnen 

gefallen!« 

Wortlos nahm Piper die CD entgegen. Ein psychedelisch 

anmutendes Muster prangte auf der Hülle, aber Piper achtete gar nicht 
darauf. Stattdessen sah sie Markel drohend in die Augen, doch der 
Manager hielt ihrem Blick ungerührt stand. 

»Ich warne Sie, Markel«, knurrte Piper. »Wenn meiner Schwester 

irgendetwas passiert, werden Sie es bereuen.« 

Markel grinste nur. »Keine Sorge, Misses, Ihre kleine Schwester ist 

in den allerbesten Händen. Ich bin sicher, ihr ging es noch nie so gut.« 
Mit diesen Worten stieg der Manager in den Bus und zog die 
Schiebetür hinter sich zu. 

Wie betäubt verharrte Piper an Ort und Stelle, als der Bus losfuhr 

und schließlich den Parkplatz verließ. 

An ihr nagte das unheilvolle Gefühl, dass ihnen langsam die Zeit 

davonlief und dass bei der ganzen Sache viel mehr auf dem Spiel 
stand als das Wohlergehen ihrer Schwester. 

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26 

D

ER MOND STAND HOCH AM HIMMEL, als die 

Schattenkreatur vor ihren Meister trat. 

Ihr Fell sträubte sich, doch diesmal nicht aus Angriffslust, sondern 

vor Erregung. Das Flackern in der Mitte des Raumes war stärker 
geworden, und eine fast greifbare Spannung lag in der Luft. 

Ehrfürchtig verbeugte sich das Wesen, als die Stimme von überall 

und nirgends durch das Gewölbe hallte. »Nun, mein Diener, hast du 
bekommen, was wir wollten?« 

»Ja, Herr!«, knurrte das Schattenwesen. »Die Energie, die wir 

diesen Narren abgezapft haben, reicht aus, um Euch zu befreien und 
Eure zweite Wiederkehr einzuläuten. Noch heute Nacht kann es 
passieren, wenn Ihr es wünscht!« 

Ein triumphierendes Lachen hallte durch die Dunkelheit. »Wenn 

ich es wünsche? Seit Äonen wünsche ich mir nichts anderes. Und ich 
hatte viel Zeit, darüber nachzudenken, was ich mit dieser Welt 
machen werde, wenn ich erst wieder auf ihr wandle.« 

Dann wurde die Stimme selbst zu einem Knurren. »Bereite das 

Opfer vor. Die Stunde meines Triumphes ist gekommen!« 

Als Piper durch die Haustür des alten Halliwell-Anwesens trat, 

brannte im Wohnzimmer noch Licht. 

»Piper, bist du das?«, rief Paige. Ihre Stimme klang schon wieder 

etwas kraftvoller als noch vor ein paar Stunden. »Wie war das 
Konzert? Hast du etwas herausgefunden?« 

Piper legte grollend ihre Jacke ab und ging ins Wohnzimmer. Paige 

saß im Pyjama vor dem Fernseher, dessen Bild immer noch gestört 
war. Doch ihre Halbschwester schien das nicht groß zu stören. Mit 
grimmigem Gesicht warf Piper die neue CD der Nature Sons auf den 
Tisch. 

»Geht es dir wieder besser?«, fragte sie. 

Paige hob ihre Tasse mit Tee in die Höhe und lächelte ihre 

Halbschwester durch den aufsteigenden Dampf hindurch an. »Ja, 

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danke der Nachfrage. Dein Gebräu hat wahre Wunder gewirkt. Ich 
habe mir gleich noch eine Tasse davon gemacht. Aber jetzt erzähl 
doch mal!« 

Wütend berichtete Piper von dem Konzert der Nature Sons, der 

unheimlichen Wirkung der Musik und der Begegnung mit der 
geheimnisvollen Schattenbestie. 

»Wenn ich nur durchschauen würde, was da eigentlich läuft. Und 

am meisten ärgert mich dieser Schleimbeutel Markel«, schloss Piper. 
»Der Typ ist fast geplatzt vor Selbstbewusstsein und Energie, als er 
mir diese alberne CD in die Hand gedrückt hat.« 

Paige nickte und blickte kurz auf die CD, die auf dem Couchtisch 

lag. 

Irgendetwas in ihrem Kopf machte Klick. 

»Paige? Ist irgendetwas?«, fragte Piper, als sie den abwesenden 

Blick ihrer Halbschwester bemerkte. 

Wie hypnotisiert starrte Paige auf die CD-Hülle. Auf dem Cover 

war der typische Schriftzug der Nature Sons zu sehen, darunter 
prangte die künstlerische Abbildung einer Spirale, die gegen den 
Uhrzeigersinn rotierte. 

Irgendwo hab ich dieses Symbol schon einmal gesehen, dachte 

Paige. In einem ganz anderem Zusammenhang … 

»… im Buch der Schatten!«, rief sie plötzlich und sprang so heftig 

auf, dass ihre Schwester vor Schreck zusammenzuckte. 

»Paige, was ist los?«, rief Piper erschrocken. »Was ist denn in dich 

gefahren?« 

»Der Blitz der Erkenntnis, gewissermaßen«, rief Paige. Ihre Augen 

leuchteten. »Piper, diese Spirale auf dem Cover der CD. Ich hab sie 
schon einmal gesehen! Wir beide haben sie schon einmal gesehen … 
im  Buch der Schatten! Erinnerst du dich denn nicht mehr an diese 
Abbildung unter dieser seltsamen Warnung vor dem Uralten!« 

Piper runzelte die Stirn. Natürlich. »Du hast Recht, Paige. Was 

stand gleich in der Warnung: ›Habt Acht vor der zweiten Ankunft des 
Uralten‹, oder so, richtig? Und dass er freigesetzt wird, wenn das Blut 
eines Unschuldigen für ihn vergossen wird. Meinst du etwa … dass 

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die Nature Sons und Markel irgendetwas mit diesem … Uralten zu tun 
haben?« 

Paige nickte und deutete auf das CD-Cover. »Es sieht ganz danach 

aus, oder? Ich meine, dass kann doch kein Zufall sein!« 

»Aber selbst, wenn da ein Zusammenhang besteht«, murmelte 

Piper und strich sich über den Hinterkopf, »was führt Markel im 
Schilde? Und was hat es mit diesem Uralten denn nun auf sich?« 

Mit einem siegessicheren Lächeln verließ Paige das Wohnzimmer 

und bedeutete ihrer Halbschwester, ihr zu folgen. »Komm mit! Ich 
mag vielleicht eine blutige Anfängerin sein, was den Umgang mit dem 
Buch der Schatten betrifft, aber es gibt noch eine weitere unfehlbare 
Wissensquelle, mit der ich mich zufällig bestens auskenne!« 

Wenige Minuten später saß Paige vor dem kleinen Laptop in ihrem 

Zimmer, und Piper schaute fasziniert dabei zu, wie sie eine 
Internetverbindung aufbaute und eine Suchmaschine aufrief. 

Dann tippte sie ein Reihe von Schlüsselbegriffen in das 

Eingabefeld: »Spirale«, »Uhrzeigersinn«, »Magie«. 

»Das ist natürlich nur ein Schuss ins Blaue, aber meistens bringt 

einen das schon weiter«, erklärte Paige. 

Einen Mausklick und ein paar Sekunden später spuckte die 

Suchmaschine eine ganze Auswahl von Internetseiten aus, auf denen 
eine Kombination dieser Begriffe vorkam. 

Bereits die erste Seite erwies sich als Volltreffer. Auf einer 

Homepage über die Geschichte der Magie wurden die beiden Hexen 
fündig. 

Die Abbildung einer linksherum verlaufenden Spirale flammte auf 

dem Bildschirm auf, gefolgt von einer Erklärung dieses Symbols. 
»Hör dir das an«, sagte Paige und las die Zeilen laut vor: 

»Die linksherum, gegen den Uhrzeigersinn verlaufende Spirale gilt 
seit Urzeiten als Symbol des Bösen. Schon die Anasazi, ein 
geheimnisumwitterter nordamerikanischer Indianerstamm, 
benutzen diese Spirale als Warn- und Bannzeichen gegen das Böse. 
Siehe auch ›Nat Shur‹ …« 

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Piper spürte, wie sie erbleichte und krallte sich an der Lehne des 

Stuhls fest, auf dem Paige saß. 

»Na, das ist doch schon mal was«, sagte Paige befriedigt. »Hey, 

Piper, was ist denn?« 

Kraftlos deutete Piper nur auf die letzte Zeile auf dem Bildschirm. 

»Dieser Name, Paige! Schau doch mal genau hin!« 

Paige runzelte die Stirn und zuckte mit den Schultern. »Nat Shur? 

Na, und? Ich weiß jetzt nicht, was du …« Sie riss die Augen auf. 
Allmählich dämmerte ihr, was ihre Halbschwester meinte. »Nat Shur 
– o mein Gott, das spricht sich ja aus wie das englische ›Nature‹ …« 

»Wie in ›Nature Sons‹, ganz genau!«, sagte Piper mit heiserer 

Stimme. 

»Verdammt«, murmelte Paige und aktivierte mit einem Mausklick 

den Hyperlink, der zu weiteren Informationen über diesen rätselhaften 
Namen führte. Die paar Sekunden, die die neue Seite brauchte, um 
sich aufzubauen, kamen den beiden Schwestern wie eine Ewigkeit 
vor. Als die Seite endlich geladen war, las Paige vor: 

»Nat Shur – einer alten Anasazi-Legende nach ein Mitglied der 
›Uralten‹, einer Familie von vorzeitlichen Naturdämonen, die zur 
Zeit der ersten Menschen mit diesen um die Vorherrschaft über die 
Erde rangen. Der Überlieferung nach schlug Nat Shur seine Opfer 
mit magischen Klängen in seinen Bann, um ihnen so ihre 
Lebensenergie zu rauben. 

Alte Mythen der Anasazi erzählen von einem epischen Kampf, in 
dem die mächtigsten Zauberer ihrer Zeit Nat Shur endlich besiegen 
und in eine andere Dimension verbannen konnten.« 

Paige und Piper brauchten ein paar Sekunden, um diese 

Informationen zu verarbeiten. »Weißt du, was das bedeutet?«, fragte 
Piper schließlich tonlos. 

Paige scheute sich fast davor, die Frage zu beantworten. »Dass die 

Nature Sons in Wirklichkeit ›Nat Shur Sons‹ sind – die ›Söhne Nat 
Shurs‹?« 

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»Es sieht fast so aus. Mit diesen Informationen ergibt auch die 

Warnung im Buch der Schatten einen Sinn – Nat Shur plant seine 
zweite Wiederkehr auf unsere Existenzebene. Und er hat die Band auf 
irgendeine Weise für seine Zwecke eingespannt.« 

»Und die wären?« 

Piper überlegte einen Augenblick. Ja, allmählich fügte sich 

tatsächlich eins zum anderen. »Das Publikum der Nature Sons reagiert 
auf deren Musik stets gleich: Erst wird es in ihren Bann geschlagen, 
und hernach sehen die Zuhörer aus wie ausgelaugt.« 

»Du meinst, die Band entzieht ihnen Lebensenergie, um sie Nat 

Shur zukommen zu lassen?« 

»Ich fürchte ja«, murmelte Piper. »Wahrscheinlich braucht er eine 

gewisse Menge an Energie, um die Dimensionsgrenze in unsere Welt 
überwinden zu können. Und dann fehlt nur noch ein kleiner, 
schwarzmagischer Kickstart – wie die Opferung eines Unschuldigen – 
um ihn zu befreien.« 

»Und wie passt dieser Markel in den Plan hinein?« 

Piper zuckte mit den Achseln. »Es wäre nun wirklich nicht das 

erste Mal, dass ein mächtiger Dämon einen von Ehrgeiz zerfressenen 
Menschen als Handlanger für seine Zwecke gewinnt. Wahrscheinlich 
hat Nat Shur seinem menschlichen Diener Gott weiß was versprochen, 
wenn er ihn aus seinem Gefängnis befreit.« 

Paige nickte. Sie hatte als Hexe zwar noch nicht allzu viel 

Erfahrung sammeln können, aber dieses Muster schien sich immer 
wieder zu wiederholen. Und meist ging ein solcher Handel für die 
leichtgläubigen Sterblichen nicht gut aus. Das Wort eines Dämons war 
eben nicht besonders viel wert. 

Aber es gab da noch etwas ganz anderes, das ihr Sorgen machte. 

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27 

P

AIGE SCHLOSS DEN OBERSTEN KNOPF ihrer Bluse und 

trat in die Küche. 

Nach ihrer erfolgreichen Internet-Recherche hatte sie sich wieder 

angezogen und zum Aufbruch vorbereitet. Zum Glück hatte sie sich 
von der Blimp-Attacke auf ihren Magen wieder halbwegs erholt. 

Piper saß mit ihrer Lesebrille und voll konzentriert über den 

Küchentisch gebeugt, auf dem eine Karte von San Francisco 
ausgebreitet lag. In ihrer rechten Hand schwang ein kleines, silbernes 
Pendel. Paige, die die Konzentration ihrer Halbschwester nicht stören 
wollte, schlich auf Zehenspitzen näher. 

»Schon gut, Paige, ich bin hier schon fertig«, sagte Piper und 

blickte auf. Das Pendel in ihrer Hand schwang wie verrückt hin und 
her. Es war ein ungewöhnlicher Anblick, Piper beim Orten eines 
Dämons zu sehen, denn normalerweise war das Phoebes Part. Aber 
die mittlere Halliwell-Schwester war nun einmal nicht hier – im 
Gegenteil: Die Wahrscheinlichkeit war sehr groß, dass sie sich gerade 
in unmittelbarer Nähe des Gesuchten befand, den Paige gerade mit 
Hilfe des Pendels aufgespürt hatte. 

»Hast du herausgefunden, wo dieser Nat Shur sich aufhält?«, fragte 

Paige. 

»Es war nicht ganz leicht, denn er befindet sich ja noch nicht in 

unserer Dimension«, antwortete Piper und legte das Pendel beiseite. 
»Aber er muss bereits sehr präsent sein und daher kurz vor dem 
Durchbruch stehen. Nur deshalb konnte ich ihn aufspüren.« 

»Ich liebe es, wenn die gute Nachricht gleichzeitig die schlechte 

Nachricht ist«, bemerkte Paige ironisch. »Und wo steckt der Kerl?« 

Paige deutete auf einen Punkt, der am äußersten Rand der Karte 

lag. »Ganz in der Nähe der Küste, an einem Ort namens Breakers 
Point. Ich schlage vor, dass wir erst einmal mit dem Auto hinfahren 
und uns dann näher heranrobben, um die Lage zu sondieren.« 

Doch Paige wirkte irgendwie unentschlossen. »Genau das macht 

mir Sorgen«, sagte sie schließlich leise. »Wie sollen wir gegen diesen 
Dämon ankommen? Der Legende nach haben es doch die mächtigsten 

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Zauberer ihrer Zeit nur mit Ach und Krach geschafft, ihn aus unserer 
Dimension zu vertreiben. Wie sollen wir es dann schaffen – zumal wir 
ohne Phoebe ja nicht einmal über die Macht der Drei verfügen?« 

Piper nickte. »Und außerdem haben wir immer noch den Blimp am 

Hals, der wahrscheinlich nur darauf lauert, uns wieder ins Unglück zu 
stürzen. Machen wir uns nichts vor – es wird nicht leicht werden. 
Aber wir haben keine andere Wahl. Ich denke, unsere einzige Chance 
besteht darin, die Opferung des Unschuldigen zu verhindern – damit 
Nat Shur gar nicht erst aus seinem Gefängnis entweichen kann. Dann
haben wir ein paar Äonen Ruhe vor ihm.« 

»Klingt nach einem Plan«, antwortete Paige, auch wenn sie nur 

wenig überzeugt klang. »Was meinst du, hat Markel die Rolle des 
Unschuldigen für Phoebe vorgesehen?« 

Piper schüttelte den Kopf. »Nein, das glaube ich nicht. Ich tippe 

eher auf diese Vikki. Ich habe gesehen, welche Angst sie vor Markel 
hat. Ich vermute, dass sie ihm irgendwie auf die Schliche gekommen 
ist und er sie jetzt bedroht. Phoebe ist dagegen wohl nur zufällig in 
diese Geschichte geraten. Sie hat eben … Pech gehabt.« 

»Verdammter Blimp!«, stießen Paige und Piper gleichzeitig 

hervor. Auch wenn Phoebe höchstwahrscheinlich nicht für die 
Opferrolle vorgesehen war, würde Nat Shur nach seiner Befreiung 
sicherlich nicht besonders gut auf weiße Hexen in seiner Nähe zu 
sprechen sein. 

Piper klopfte ihrer Halbschwester aufmunternd auf die Schulter. Es 

wurde Zeit, aufzubrechen und ihr Bestes zu versuchen. Manchmal 
konnte Paige schon verstehen, warum Phoebe die Nase voll davon 
hatte, ständig das eigene Leben zu riskieren, um die Welt zu retten. 

»Hey, der Fernseher ist ja noch an«, sagte Piper, als sie auf dem 

Weg zur Haustür am Wohnzimmer vorbeikamen. 

»Oh, den hab ich vorhin ganz vergessen«, entschuldigte sich Paige. 

Piper starrte nachdenklich auf den Bildschirm. In mehreren 

Phantombildern lieferten sich die Akteure irgendeiner Krimi-Serie 
gerade eine wilde Verfolgungsjagd. Im Grunde nichts Besonderes … 

»Könnte es sein, dass …«, murmelte Piper plötzlich und runzelte 

die Stirn. Dann machte sich ein grimmiges Lächeln auf ihrem Gesicht 

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breit. »Paige, geh bitte noch mal in die Küche und hol mir ein leeres 
Marmeladenglas aus dem Schrank.« 

Paige blickte ihre Halbschwester verständnislos an, tat dann aber 

das, was sie ihr gesagt hatte. Als sie mit einem leeren Glas mit 
Schraubverschluss zurückkam, stand Piper vor dem Fernseher und zog 
einen Zettel aus der Tasche ihrer Jeans. 

»Was zum Teufel willst du denn damit?«, fragte Paige und reichte 

Piper das Glas. 

»Nun ja«, antwortete Piper. »Wir haben doch jedes gläserne 

Behältnis im Haus untersucht, um diesen verdammten Flaschenteufel 
zu finden, richtig?« 

Paige nickte. »Ja, und?« 

»Nun, wir haben ein Glasgefäß vergessen. Und dabei war es die 

ganze Zeit vor unseren Augen«, antwortete Piper und deutete auf den 
Fernseher. 

Paige verstand nur Bahnhof. 

»Die Bildröhre des Fernsehers, Paige! Im Grunde ist das nichts 

weiter als eine versiegelte Glasröhre – der ideale Unterschlupf also für 
einen Flaschenteufel! Und wie du dich vielleicht erinnerst, ist der 
Fernsehempfang gestört, seit du den Blimp versehentlich freigesetzt 
hast!« 

»Du meinst, weil sich dieser kleine Mistkerl da drin eingenistet 

hat?« 

»Das werden wir gleich herausfinden«, sagte Piper. Zum Glück 

hatte sie sich die Formel zur Beschwörung eines Blimps aus dem 
Buch der Schatten notiert. 

Piper hielt den Zettel hoch, und die beiden Schwestern begannen 

mit der Rezitation. Wenn ihre Vermutung richtig war, dann würden 
für die Beschwörung eines so niederen Dämons auch zwei Hexen 
ausreichen. 

»Dämon, der du nur Unglück bringst 
 uns Pech und Kümmernis aufzwingst 
 mit diesem Bann soll es gelingen 

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 dich in dieses Glas zu zwingen!« 

Eine Sekunde lang passierte gar nichts. 

Dann ertönte aus dem Fernseher ein ohrenbetäubendes, hohes 

Kreischen. Das Bild begann, wie verrückt zu flimmern, bis es nur 
noch aus einen bunten Farbenchaos bestand. Dann verdichteten sich 
die Farben zu einem Wirbel, der die Oberfläche des Bildschirms 
durchdrang. 

Die beiden Schwestern machten einen erschrockenen Schritt 

zurück, und Piper hielt dabei das aufgeschraubte Marmeladenglas am 
ausgestreckten Arm in Richtung Fernseher. 

Eine Lichtschliere, die für einen winzigen Augenblick tatsächlich 

die Form eines kleinen Teufelchens annahm, zischte durch die Luft, 
als ob sie von dem Marmeladenglas magisch angezogen würde. Und 
genau das war ja auch der Fall. 

Kaum war der Lichtwirbel im Glas, stülpte Piper mit einer 

schnellen Bewegung den Deckel darüber und schraubte ihn zu. »Hab 
ich dich!«, rief sie triumphierend auf. 

Fasziniert beobachteten Piper und Paige, wie der nun wieder 

formlose Klein-Dämon hilflos im Marmeladenglas herumwaberte. 

»Was machen wir jetzt mit ihm?«, fragte Paige. 

Piper zuckte die Achseln. »Keine Ahnung. Seine Macht über uns 

ist erst gebrochen, wenn wir einen Dummen finden, der ihn freiwillig 
in seinen Besitz übernimmt.« 

Sie streckte das Glas in die Innentasche ihrer Lederjacke und griff 

nach den Autoschlüsseln. 

»Aber darum kümmern wir uns später. Jetzt müssen wir uns erst 

einmal diesen Nat Shur vornehmen, bevor er Phoebe etwas antut. Und 
dem Rest der Welt.« 

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28 

S

ANFTE MUSIK UMSCHMEICHELTE PHOEBE, als sie die 

Augen aufschlug. 

Sie brauchte ein paar Sekunden, um sich zu orientieren, dann 

wusste sie wieder, wo sie war. Nach dem Konzert, nach dem 
wunderbaren Konzert im P3, war sie mit Josh und der Band zurück in 
das alte Anwesen am Meer gefahren. 

Seltsamerweise konnte sie sich an das Konzert selbst nur noch 

bruchstückhaft erinnern. Sie hatte zusammen mit Markel hinter der 
Bühne gestanden – und dabei versucht, diesem Kerl nicht zu nahe zu 
kommen, wenigstens daran  konnte sie sich noch erinnern – und den 
Auftritt genossen. 

Es war unglaublich, welche Wirkung die Musik der Nature Sons 

jedes Mal wieder auf sie hatte. Den Fans vor der Bühne und selbst 
Markel war es nicht anders ergangen. Phoebe erinnerte sich dunkel 
daran, dass der Manager die Verzückung der Fans geradezu 
aufgesogen hatte und dabei förmlich aufgeblüht war. 

Alles, was danach kam, war nur noch sehr verschwommen. Sie 

glaubte sich an Pipers besorgtes Gesicht zu erinnern und das 
höhnische Lachen Markels auf der Rückfahrt. Danach hatte Josh sie 
mit auf sein Zimmer genommen, wo sie wohl eingeschlafen war. 

Das Nickerchen hatte ihr gut getan, und sie fühlte sich schon 

wieder ein wenig frischer. 

In einer Mischung aus Neugierde und Belustigung blickte sie sich 

um. Sie lag auf einem Plüschsofa, das aus den Siebzigerjahren zu 
stammen schien. Der niedrige Chromtisch in der Mitte des Raumes 
dagegen war eher aus den Achtzigern, und die anderen Möbel ließen 
sich keiner Epoche und erst recht keinem Stil zuordnen. Trotzdem 
schien alles auf geschickte Weise miteinander zu harmonieren. 

»Schau dich bloß nicht genauer um«, sagte eine Stimme hinter ihr. 

Es war Josh, der mit zwei Gläsern und einer Flasche Rotwein in den 
Händen das Zimmer betrat. »Markel hat dieses Haus für einen 
Spottpreis gekauft, aber trotzdem war für die Einrichtung kein Geld 

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mehr übrig. Dieses ganze Zeug stammt aus Gebrauchtwarenläden und 
vom Sperrmüll.« 

Phoebe schüttelte lächelnd den Kopf. »Nein, nein, im Gegenteil, 

ich hab gerade festgestellt, wie gut hier alles zusammenpasst. An dir 
ist ein Innenarchitekt verloren gegangen.« 

Josh lachte und winkte ab, nachdem er die Gläser auf dem Tisch 

abgestellt hatte. »Ich fürchte, dieses Kompliment muss ich an Vikki
weitergeben. Sie hat sich um die Einrichtung gekümmert. Überhaupt 
ist sie eine Frau mit vielen ungewöhnlichen Talenten.« 

»Wirklich?«, fragte Phoebe, als Josh sich neben sie auf das Sofa 

setzte. Die alten Federn quietschten. »Auf mich wirkt sie sehr 
unsicher, ja fast verängstigt. Besonders, wenn Markel in der Nähe ist.« 

Josh setzte den Korkenzieher an. »Du magst Markel nicht 

besonders, was? Na ja, zugegeben, er kann ein ziemlicher 
Kotzbrocken sein. Aber wir haben ihm viel zu verdanken. Viel mehr, 
als du vielleicht ahnst.« 

»Wie meinst du das?«, fragte Phoebe neugierig. Obwohl sie sich zu 

Josh hingezogen fühlte, war ihr doch klar, dass sie im Grunde fast gar 
nichts über ihn wusste. 

Mit einem dumpfen Plopp  entkorkte Josh die Weinflasche. »Lass 

uns jetzt nicht über Markel und Vikki reden«, sagte er und füllte die 
beiden Gläser. Dann reichte er Phoebe eines davon. 

Die beiden stießen miteinander an. 

»Auf uns«, flüsterte Josh. 

Phoebe spürte das volle Aroma des Weins auf ihrer Zunge und 

blickte Josh tief in die Augen. Sie wollte ihn wirklich näher kennen 
lernen. 

Der junge Mann schien Phoebes Gedanken erraten zu haben und 

beugte sich näher zu ihr. 

Doch bevor es zum lang ersehnten Kuss kommen konnte, stand 

Phoebe plötzlich auf. Sie wollte die Dinge nicht überstürzen, und 
fand, es gehörte außerdem dazu, den anderen ein wenig hinzuhalten 
… 

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Noch etwas wackelig auf den Beinen ging Phoebe in dem kleinen 

Zimmer umher und streifte mit dem Zeigefinger über die Bücher in 
dem Regal neben ihr. Während sie neugierig die Titel auf den 
Buchrücken las – größtenteils waren es Romane und Sachbücher über 
Musiklegenden – bemerkte sie nicht, wie Joshs Blick sich verfinsterte. 
Offenbar empfand er Phoebes Zurückhaltung als Akt der Ablehnung. 

Am Ende des Regals stieß Phoebe auf etwas Interessantes. Ein paar 

alte, handbeschriebene Musikkassetten. Sie schmunzelte. Seit dem 
Siegeszug der CDs waren Audiokassetten fast schon eine Seltenheit 
geworden. Wenn Josh sie hier aufbewahrte, musste er darauf Stücke 
aufgenommen haben, die ihm einiges bedeuteten. 

Die Söhne Satans stand mit sauberer Handschrift auf allen Hüllen. 

»Söhne Satans?«, fragte Phoebe verwundert. »Was soll denn das 

sein? Ist das eine Band?« 

Die Sprungfedern des Sofas quietschten protestierend auf, als Josh 

aufsprang und mit ein paar schnellen Schritten auf Phoebe zukam. Mit 
einem gequälten Lächeln im Gesicht wollte er ihr die Kassette, die sie 
aus dem Regal genommen hatte, wieder aus der Hand nehmen. Doch 
Phoebe war schneller und zog sich ein Stück zurück. »Nun sag schon. 
Was hat es damit auf sich?« 

»Ach, weißt du …«, druckste der Gitarrist herum, »das waren 

unsere ersten musikalischen Gehversuche. Eine Metal-Band, die wir – 
also Mike, Todd Huey und ich – noch auf dem College gegründet 
haben. Wirklich nichts Besonderes.« 

Phoebe konnte sich das Lachen nicht verkneifen. »Eine 

Heavymetal-Band? Ihr? Das muss ich mir anhören!« 

Von ehrlichem Interesse getrieben machte Phoebe ein paar Schritte 

auf die Stereoanlage zu, um die Kassette einzulegen. 

Doch sie verharrte mitten in der Bewegung, als sie Joshs Stimme 

hörte, die ungewöhnlich hart klang. »Ich weiß gar nicht, was daran so 
lustig sein soll!« 

Phoebe hob abwehrend die Hände. »Hey, keine Sorge, ich mache 

mich nicht lustig. Mich würde nur interessieren, was ihr gemacht habt, 
bevor ihr die Nature Sons gegründet habt.« 

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Josh schüttelte wütend den Kopf. »Warum? Damit du dich darüber 

totlachen kannst? Die Söhne Satans – die Teufelskerle aus der ersten 
Reihe? Die Rocker mit der Hornbrille? Ist es das?« 

Phoebe starrte den Gitarristen sprachlos an. Was zum Teufel 

meinte er damit? Und warum reagierte er plötzlich so gereizt? War es 
denn so ungewöhnlich, wenn man etwas über die Vergangenheit eines 
Menschen erfahren wollte, zu dem man sich hingezogen fühlte? 
»Josh, hör mal, ich …« 

»Vielleicht hab ich mich in dir getäuscht. Wahrscheinlich bist du 

doch nur genauso wie die anderen. Vikki hatte Recht, ihr werdet nie 
aufhören, auf uns herumzuhacken, wenn wir uns nicht wehren! Aber 
ich hab eine Neuigkeit für euch: Ich werde mich nie wieder wie ein 
Fußabtreter behandeln lassen. Weder von dir noch von sonst wem!« 

Phoebe legte die Kassette auf den Tisch und blickte den jungen 

Mann stirnrunzelnd an. »Moment mal, Josh, ich kann dir nicht mehr 
ganz folgen. Ich wollte einfach nur mehr über dich erfahren – aber 
vielleicht habe ich soeben mehr erfahren, als mir lieb ist. Weißt du, 
ich habe gerade eine Beziehung mit einem Mann hinter mir gelassen, 
unter dessen hübscher Oberfläche Hass und Wut brodelten … das 
brauche ich nicht noch einmal.« Sie machte eine kleine Pause. 
»Vielleicht sollte ich jetzt gehen. Weißt du, ich würde dich gern 
Wiedersehen, Josh, aber ich glaube, wir sollten es langsamer angehen 
lassen.« Traurig schüttelte sie den Kopf und machte ein paar Schritte 
auf die Tür zu. 

Doch Josh war schneller. Zu Phoebes Verwunderung stellte er sich 

ihr in den Weg und versperrte ihr die Tür. »Nein, ich möchte nicht, 
dass du gehst. Ich will nicht, dass du gehst!« 

Phoebe kniff die Augen zusammen. Sie hatte keine Ahnung, was 

plötzlich in Josh gefahren war – oder was unter seiner charmanten 
Oberfläche tatsächlich lauerte – aber indem er ihr die Tür versperrte, 
hatte er eindeutig eine Grenze überschritten. 

Und das würde sie nicht tolerieren. 

»Josh, geh mir aus dem Weg«, sagte sie ruhig, aber bestimmt. 

»Nein, du bleibst, denn …« 

Josh kam nicht dazu, den Satz zu beenden, denn Phoebe ließ ihren 

Handballen auf das Kinn des jungen Mannes sausen. Durch ihr 

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jahrelanges Kampftraining wusste sie, wie man einen Mann außer 
Gefecht setzte, auch wenn man ihn nicht ernsthaft verletzen wollte. 

Josh riss überrascht die Augen auf und sackte dann bewusstlos am 

Türrahmen hinab zu Boden. Bedauernd seufzte Phoebe auf. Schade, 
dass es so weit hatte kommen müssen. Sie schob Josh ein wenig 
beiseite, um die Tür öffnen zu können und trat dann hinaus in den 
Hausflur. 

Das Anwesen war dunkel und still. Vorsichtig tastete sich Phoebe 

an der Wand entlang. Mit einem Schlag kehrten die Erinnerungen 
wieder: Das düstere Haus, die emotionslosen Stimmen der 
Bandmitglieder und das schattenhafte Wesen, das ihr aufgelauert und 
sie durch die Dunkelheit gejagt hatte. Vielleicht war das alles doch 
kein Alptraum gewesen … 

Irgendetwas ging hier definitiv nicht mit rechten Dingen zu. Sie 

kam sich wie eine Idiotin vor, weil sie nicht auf ihre Schwestern 
gehört hatte. 

Phoebe schlich weiter durch den dunklen Gang. 

Ein paar Meter hinter ihr huschte ein Schemen durch die 

Dunkelheit, in dem zwei gelbe Raubtieraugen aufblitzten. 

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29 

D

ER GANG NAHM KEIN ENDE. 

Wahrscheinlich war es nur eine Sinnestäuschung durch die 

Dunkelheit, aber der Flur vor ihr schien sich immer weiter in die 
Länge zu ziehen, wie um Phoebe vom Erreichen der Tür abzuhalten. 
Und dann hatte sie ein Déjà-vu, das äußerst unangenehme Gefühl, dies 
alles schon einmal erlebt zu haben. 

Das ist doch Unsinn, tadelte sie sich insgeheim und schlich weiter. 

Ungeachtet dessen hatte sie keine Ahnung, wie sie ohne Auto nach 
Hause kommen sollte, falls sie es überhaupt schaffte, hier 
herauszufinden … 

Das Geräusch von Schritten hinter ihrem Rücken ließ Phoebe 

erstarren. Sie ballte die Fäuste. 

Egal, ob sich Josh, Markel oder das Schattenwesen an sie 

heranschlichen – sie würde ihnen einen Kampf liefern, der sich 
gewaschen hatte. Phoebe fühlte sich zwar immer noch sehr schwach, 
aber das würde sie nicht daran hindern, sich mit allem zu wehren, was 
sie drauf hatte. 

Die Schritte kamen näher. Blitzschnell wirbelte Phoebe herum. 

Gleichzeitig holte sie mit dem rechten Bein zu einem Powerkick aus. 

Als sie schließlich sah, mit wem sie es zu tun hatte, war es zu spät, 

um die Attacke noch zu stoppen. 

Glücklicherweise war auch Piper kampferprobt und schaffte es im 

letzten Augenblick, sich unter dem Tritt wegzuducken. 

»Piper!«, rief Phoebe erstaunt aus. »Und Paige! Was macht ihr 

denn hier?« 

Paige winkte ihrer Halbschwester grinsend zu, während Piper 

wieder auf die Füße sprang. »Wir sind hier, um dich zu retten, du 
Dummkopf, was denkst du denn?«, sagte Piper. 

»Und den Rest der Welt gleich mit dazu«, ergänzte Paige. 

»Den Rest der Welt? Wie meint ihr das? Zugegeben, irgendwas ist 

hier mächtig faul – aber übertreibt ihr jetzt nicht ein bisschen?« 

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»Ich fürchte nicht«, erwiderte Piper und schüttelte den Kopf. 

»Aber das ist eine lange Geschichte.« 

Sie sah sich um und versuchte, in der Dunkelheit etwas zu 

erkennen. »Wir haben uns mit Hilfe von Paige einfach auf gut Glück 
hier rein georbt. Vielleicht hätten wir eine Taschenlampe mitbringen 
sollen … Sag mal, Phoebe, hast du hier zufällig einen rachedurstigen 
Urdämon gesehen? Das würde die Sache vielleicht vereinfachen.« 

»Irgendwie sprechen heute alle in Rätseln«, erwiderte Phoebe. 

»Könntet ihr mir nicht einfach mal sagen, um was es überhaupt geht?« 

Erneut blickte sich Piper nervös um. »Okay, auf eine Kurzfassung 

gebracht: Deine geliebten Nature Sons sind in Wirklichkeit die 
Anhänger von Nat Shur, einem Urdämon. Und in dieser Funktion 
saugen sie ihren Fans die Lebensenergie ab.« 

»Und Markel ist die rechte Hand des Dämons«, ergänzte Paige. 

»Zusammen wollen sie Nat Shur befreien und dann wahrscheinlich 
die Könige von Amerika werden oder so etwas in der Art.« 

»Ach du liebe Güte!«, keuchte Phoebe. »Gibt es eigentlich keine 

normalen Männer mehr?« 

»In diesem Geschäft nicht, Schätzchen«, entgegnete Piper 

humorlos. »Aber jetzt müssen wir erst einmal verhindern, dass dem 
Dämon ein Unschuldiger geopfert wird und er sich aus seinem 
Dimensionsgefängnis befreit.« 

Phoebe runzelte die Stirn. »Ein Unschuldiger? Und wer soll das 

sein?« 

In diesem Moment flammte das Licht über ihren Köpfen auf. Die 

drei Schwestern fuhren erschrocken zusammen und blinzelten. 

Sie brauchten ein paar Sekunden, um die Gestalt zu erkennen, die 

völlig aufgelöst die Kellertreppe heraufgerannt kam. 

Es war Vikki, Markels Assistentin. 

Sie stutzte einen Augenblick, als sie Piper und Paige sah. Aber es 

schien ihr völlig egal zu sein, wie die beiden in das Haus gelangt 
waren. Die blassblonden Haare klebten an ihrer schweißnassen Stirn, 
und sie sah aus, als hätte sie den Leibhaftigen persönlich gesehen. 

»Vikki! Was ist denn mit Ihnen passiert?«, fragte Phoebe besorgt. 

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»Ich … im Keller … einfach furchtbar«, stammelte Vikki nur. 

Phoebe ging zu ihr und legte ihr beruhigend eine Hand auf die 

Schulter. Die junge Frau zitterte am ganzen Leib. »Ganz ruhig, Vikki. 
Sagen Sie mir einfach, was Sie gesehen haben.« 

Die junge Frau schluckte und rang sichtbar nach Worten. »Markel 

… ich wusste, dass er hier im Haus irgendetwas verbirgt … ich habe 
es gerade entdeckt … im Keller! Irgendetwas ist da … in diesem 
Lichtwirbel! Ich hab so etwas noch nie gesehen!« 

Die drei Schwestern blickten sich an. »Nat Shur!«, riefen sie wie 

aus einem Munde und blickten sich viel sagend an. 

»Vikki«, fragte Phoebe vorsichtig, »könnten Sie uns zu diesem 

Lichtwirbel führen? Wir können mit solchen Dingen umgehen, 
vertrauen Sie mir!« 

Die Assistentin blickte Phoebe mit großen Augen an. Schließlich 

nickte sie zögernd. 

Jeder Schritt, den Vikki zurück in Richtung der Kreatur machte,

schien sie eine ungeheure Überwindung zu kosten. Sie führte die drei 
Zauberhaften  in den Keller, vorbei an dem schallisolierten kleinen 
Aufnahmestudio. Doch eine gegen den Uhrzeigersinn verlaufende 
Wendeltreppe führte von dort aus noch tiefer hinab in die Eingeweide 
des alten Hauses. Phoebe erkannte die Treppe wieder; sie war schon 
einmal hier gewesen, in ihrem »Traum«. 

»Meine Güte«, murmelte Paige, als die vier Frauen durch einen 

Gang schritten, der in die Felsen gehauen war. Sie deutete auf die 
rätselhaften Zeichen, die in die Wand geritzt worden waren. »Diese 
Reliefs müssen ja uralt sein.« 

Piper nickte. »Wahrscheinlich handelt es sich um alte 

Abwehrzeichen, die von unseren magischen Vorfahren hier 
angebracht wurden, um Nat Shur zu bannen.« 

»Tja, viel scheinen die ja nicht gebracht zu haben«, bemerkte Paige 

trocken. Dann verstummte sie. 

Der Gang endete in einer Tür aus Stein mit einem massiven 

Eisenring, die über und über mit magischen Runen bedeckt war. Vikki 
wich zitternd davor zurück und folgte den drei Hexen nur zögerlich, 
als Piper die Pforte öffnete. 

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Dahinter tat sich ein riesiges Gewölbe auf. Ein paar verwitterte 

Steinsäulen schienen seit Urzeiten die Felsmassen über ihnen 
abzustützen. Doch am beeindruckendsten war die rechteckige 
Einlassung in der Mitte des Raums. 

Ein Lichtstrudel, der halb im Boden und halb in einer anderen Welt 

zu existieren schien, verbreitete ein unheimliches und unheiliges 
Licht. Und irgendetwas schien darin um Form zu ringen. 

»Was zum Teufel ist das?«, fragte Paige fasziniert und erschrocken 

gleichermaßen. 

»Ich vermute, das ist das magische Portal, hinter dem Nat Shur 

gefangen ist. Ganz nah an unserer Existenzebene und doch Welten 
davon entfernt«, antwortete Piper. 

»Wenn es nach mir geht, kann er gar nicht weit genug weg sein«, 

flüsterte Phoebe. »Was sollen wir denn jetzt tun?« 

Piper dachte kurz nach. »Solange Markel nicht zum Zug kommt, 

kann auch Nat Shur nicht aus seinem Gefängnis heraus. Wenn wir den 
Handlanger des Dämons auf unserer Ebene ausschalten, bleibt sein 
Herr hilflos gefangen.« 

Die Frauen verließen das Gewölbe. Alle vier schienen erleichtert, 

den unheimlichen Raum hinter dem Steintor wieder hinter sich 
gelassen zu haben. Allein in der Nähe des Portals zu sein, hatte ihnen 
körperliches Unwohlsein bereitet. 

»Und nun?«, fragte Paige und kratzte sich unschlüssig am Kopf. 

»Und nun suchen wir Markel«, erwiderte Piper. Es würde ihr ein 

Vergnügen sein, sich diesen Mistkerl vorzuknöpfen. 

»Das wird nicht nötig sein!«, donnerte plötzlich eine Stimme vor 

ihnen. 

Am anderen Ende des Ganges stand Markel. Doch er wartete dort 

nicht allein. Er war in Begleitung seines Schäferhundes und der vier 
grimmig dreinblickenden Nature Sons. 

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30 

»

M

ISSES HALLIWELL«, HÖHNTE MARKEL und grinste 

Piper frech an. »Was für ein unerwartetes Vergnügen, Sie hier wieder 
zu treffen. Darf ich fragen, was Sie hier in meinem Haus zu suchen 
haben? Ich kann mich nicht erinnern, Sie eingeladen zu haben. 
Genauso wenig, wie Ihre kleine Schwester und die andere junge 
Dame.« 

Piper funkelte Markel wütend an. Allmählich ging ihr dieser Kerl 

mächtig auf die Nerven. »Sie wissen ganz genau, was wir hier wollen! 
Und Sie müssen wahnsinnig sein, sich mit so einem Dämon 
einzulassen!« 

Markel verzog verständnislos das Gesicht. »Ich hab keine Ahnung, 

wovon Sie da reden, Schätzchen, aber wir haben ja genug Zeit, das 
herauszufinden.« 

»Jungs«, raunte er dann den vier Bandmitgliedern zu, »schnappt 

euch die Eindringlinge!« 

»Aber gern!«, rief Todd, der Bassist, und stürmte zusammen mit 

Mike und Huey vor. Nur Josh, dessen Kinn mittlerweile rötlich 
angeschwollen war, blickte unentschlossen auf Phoebe und bewegte 
sich nicht von der Stelle. 

»Schluss jetzt mit dem Theater!«, knurrte Piper und machte eine 

weit ausholende Armbewegung. Im selben Augenblick erstarrten die 
Angreifer samt Markel und knurrendem Schäferhund mitten in der 
Bewegung. 

Das war einfach gewesen. Jetzt hatten sie genug Zeit, um sich zu 

überlegen, wie sie weiter vorgehen sollten. 

»Gut gemacht«, nickte Phoebe, die sich schützend vor Vikki 

gestellt hatte. »Und was machen wir jetzt mit Markel?« 

»Gute Frage«, antwortete Piper mit einem Schulterzucken. 

Die drei Schwestern blickten ratlos auf ihre Gegner, die ihnen jetzt 

hilflos ausgeliefert waren. 

»Tötet ihn!«, grollte da plötzlich eine Stimme, die ihnen bekannt 

und doch erschreckend fremd vorkam. 

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Piper, Phoebe und Paige fuhren herum. Fassungslos blickten sie 

auf Vikki. Oder besser auf das Ding, das einst Vikki gewesen war. 
Statt einer schüchternen jungen Frau stand plötzlich eine furchtbare 
Kreatur hinter ihnen, eine Mischung aus Mensch und Panther. 

Das Fell der Kreatur war so dunkel, dass es hier im Dämmerlicht 

tatsächlich fast so wirkte, als stände eine Schattenkreatur vor ihnen. 
Das Panther-Wesen öffnete sein Maul zu einem teuflischen Grinsen. 
Scharfe Reißzähne blitzen auf, und die gelblichen Augen funkelten 
voller Hass. 

»Vikki?«, keuchte Piper fassungslos. »Sind Sie das?« 

Der Werpanther stieß ein knurrendes Lachen aus. »Nein, die Vikki, 

die ihr kennt, ist längst tot. Sie hat ihr wertloses Leben dem 
zukünftigen Herrn der Welt geopfert – Nat Shur! Und jetzt ist seine 
Stunde gekommen!« 

Bevor eine der Hexen reagieren konnte, packte die Kreatur Phoebe, 

die ihr am nächsten stand, am Hals und riss sie in die Höhe wie eine 
Lumpenpumpe. 

Dann wirbelte die Bestie herum und verschwand mitsamt ihrer 

Beute im Gewölbe hinter der Steintür. 

»Verdammt!«, fluchte Piper und ließ den Arm sinken. Sie hatte 

vergeblich versucht, die Kreatur einzufrieren, aber das Vikki-Ding 
war einfach zu schnell gewesen. 

»Ich … ich verstehe gar nichts mehr«, stammelte Paige. »Was ist 

denn mit Vikki los? Was war das für ein Ding?« 

»Ich habe keine Ahnung«, stieß Piper hervor. »Aber jetzt müssen 

wir Phoebe helfen!« 

Die beiden Hexen stürmten zurück in das Gewölbe. Solange wir 

über unsere Kräfte verfügen, dachte Piper, sollte es nicht allzu schwer 
sein, dieses Monster zu vernichten, auch wenn es noch so schnell und 
stark ist. 

Doch sie hatten sich getäuscht. Das Vikki-Ding war nicht nur 

schnell, sondern auch clever. 

Als Piper und Paige in die Gruft stürmten, stand das Schattenwesen 

bereits am Rande des magischen wirbelnden Strudels und hielt die 
zappelnde Phoebe direkt über das magische Portal. 

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»Wage es nicht, deine Kräfte gegen mich anzuwenden, Hexe!«, 

knurrte das Monster in Pipers Richtung. »Egal, was du versuchst, 
meine Reflexe sind schneller. Und das magische Portal ist von dieser 
Seite aus durchlässig … wenn ich deine geliebte Schwester fallen 
lasse, schmort sie den Rest der Ewigkeit in der Dämonenhölle!« 

»Piper!«, krächzte Phoebe hilflos. »Die meint es ernst!« 

Piper, die ihre Arme schon gehoben hatte, um die magische 

Notbremse zu ziehen, kalkulierte ihre Chancen. Wenn sie bei ihrem 
Erstarrungszauber auch nur einen winzigen Augenblick zu langsam 
war, würde Phoebe ein furchtbares Schicksal erwarten. 

Und dasselbe würde erst recht passieren, wenn sie diese 

hinterhältige Kreatur einfach in ihre Bestandteile zerlegen würde. Im 
selben Augenblick würde ihre Schwester in das Dimensionstor 
stürzen. 

»Also gut«, knurrte Piper. »Was willst du?!« 

»Ich will, dass ihr Markel tötet! Und damit meinen Meister 

befreit!« 

Piper und Paige blickten sich verständnislos an. »Wir sollen 

Markel töten?«, wiederholte Paige lahm. »Warum denn das? Ich 
dachte, dieser Schleimer wäre der Handlanger des Dämons.« 

Die Vikki-Kreatur lachte auf. »Markel? Nein, wenn Nat Shur's Zeit 

der zweiten Wiederkehr anbricht, werde allein ich seine Statthalterin 
auf Erden sein. Markel war von Anfang an nur ein ahnungsloses 
Werkzeug!« 

Piper hob eine Augenbraue und blickte den Werpanther einen 

Moment lang ratlos an. Phoebe zappelte noch immer am 
ausgestreckten Arm der Kreatur; ihre Füße baumelten nur wenige 
Zentimeter über dem Lichtwirbel. Zu ihrem Erschrecken sah Piper, 
wie sich kleine Lichtschlieren aus dem Wirbel lösten und gierig nach 
ihrer Schwester züngelten. 

Sie musste Zeit gewinnen, um sich einen Plan zu überlegen »Ein 

… Werkzeug?«, fragte sie daher, »wie meinst du das? Was zum 
Teufel geht hier eigentlich vor – und wie bist du an diesen Nat Shur 
geraten?« 

»Das würde ich auch gerne wissen«, pflichtete Paige bei. 

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Die Panther-Kreatur lachte erneut auf. In ihrer neuen Gestalt schien 

Vikki alles andere als schüchtern zu sein. Im Gegenteil, in 
prahlerischem Tonfall begann sie nun zu erzählen: 

»Es war Schicksal. Oder Bestimmung. Ihr kennt mich nur als Vikki 

– die harmlose schüchterne Vikki, von niemandem beachtet, von 
niemandem ernst genommen. Dabei hatte ich eine große Karriere als 
Archäologin vor mir. Ich hatte mir die Finger blutig gegraben, um 
nachzuweisen, dass die Anasazi ihre Siedlungen von Neu Mexiko bis 
zur Bay Area ausgedehnt hatten – aber niemand hörte auf mich, 
niemand interessierte sich dafür. Vikki – die alte Vikki – war einfach 
zu unscheinbar, als dass man ihr so eine Entdeckung zutraute.« 

»Und was hat das alles mit dem hier zu tun?«, fragte Paige 

kopfschüttelnd und deutete auf den Mahlstrom in der Mitte des 
Gewölbes. 

»Es hat alles  damit zu tun«, antwortete das Ding. »Nachdem die 

Fachwelt meine Entdeckungen ignorierte, war ich gezwungen, mir 
meinen Lebensunterhalt als Aushilfslehrerin am College zu verdienen. 
Als Aushilfslehrerin für Archäologie. Dabei hätte ich Bücher 
schreiben sollen!« 

»Wäre mir auch lieber gewesen«, krächzte Phoebe und blickte mit 

Grauen auf die Lichtschlieren, die um ihre Füße wirbelten. Und dann 
konnte sie in dem Wirbel tatsächlich so etwas wie eine Gestalt 
erkennen. Es war offensichtlich: Irgendetwas lauerte auf der anderen 
Seite des Portals und war begierig darauf, endlich durchzubrechen. 

»Doch ich führte meine Forschungen weiter – bis ich entdeckte, 

dass dieses Haus auf einem magischen Platz der Anasazi errichtet 
worden war. Vor Urzeiten hatten ihre Zauberer hier einen mächtigen 
Naturdämon gebannt. Hier in dieser Gruft.« 

»Nat Shur«, sagte Piper. 

»So ist es«, grollte der Werpanther. »Ich öffnete also die Gruft, und 

Nat Shur sprach zu mir. Er versprach mir, dass ich an seiner Seite 
herrschen würde, wenn ich ihm zu seiner zweiten Wiederkehr 
verhelfe.« 

»Ich hoffe, du weißt, was das Wort eines Dämons wert ist«, 

schnaubte Piper verächtlich. »Er wird dich nur benutzen, so wie du 
Markel benutzt hast.« 

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»Versuch nicht, mich mit Psychospielchen zu verwirren, Hexe. Ja, 

Markel war nur eine ahnungslose Schachfigur. Um Nat Shur zu 
befreien, brauchte ich eine große Menge an Lebensenergie, die mit 
einem einzigen, gewaltigen Impuls freigesetzt werden muss. Also 
machte ich mich daran, diese Energie zu sammeln. Und dann erinnerte 
ich mich an ein paar Schüler, die ich auf dem College unterrichtete. 
Geschmähte und missachtete junge Menschen, so wie ich einer war. 
Es war nicht schwer, sie für meine Pläne zu gewinnen. Und 
praktischerweise hatten diese vier Jungs gerade eine Band gegründet.« 

»Die Söhne Satans«, hauchte Paige. 

»Ein lächerlicher Name, nicht wahr?« Die Kreatur schüttelte sich 

schier aus vor Lachen. »Aber irgendwie passend. Ein weiterer Wink 
des Schicksals. Ich überzeugte sie, die Nature Sons zu gründen. Nicht 
einmal das Dimensionstor kann Nat Shurs Magie ganz unterdrücken 
und mit ihrer Hilfe machten wir aus einem Versager-Quartett vier 
umschwärmte, gut aussehende Popstars. Die Jungs bekamen endlich 
die Aufmerksamkeit, die sie sich immer gewünscht hatten – und dafür 
lieferten sie mir die Lebensenergie ihrer Fans.« 

Vorsichtig näherte sich Piper dem Werpanther. Verdammt, sie 

brauchte irgendeinen Plan! Irgendwie musste sie die Kreatur weiter 
hinhalten. »Und wozu brauchtest du Markel? Lediglich als Manager 
der Band?« 

Die Bestie schüttelte den Kopf. »Nicht nur. Markel erfüllt noch 

einen ganz andern Zweck. Ich habe doch gesagt, die gesammelte 
Lebensenergie muss mit einem einzigen Schlag freigesetzt werden, 
um Nat Shur zu befreien.« 

Piper riss die Augen auf. Natürlich! Jetzt begriff sie das Ganze: 

Markel hatte nach jedem Auftritt der Band jünger und frischer 
ausgesehen. So, als ob er die Energie der Fans in sich aufgesogen 
hätte. In Wirklichkeit aber war sie dem ahnungslosen Mann 
eingespeist worden wie bei einer … 

»… wie bei einer Batterie!«, sagte Piper kopfschüttelnd. »Ihr habt 

die Lebensenergie in Markel gespeichert, um ihn dann …« 

»… um ihn dann zu opfern und die Energie mit einem Schlag 

freizusetzen. Der magische Impuls wird Nat Shur aus seinem 
Gefängnis herausreißen!«, kicherte das Schattenwesen. 

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»Moment mal«, rief Paige und hob die Hände. »Das heißt, dass 

Markel in Wirklichkeit das eigentliche Opfer der Verschwörung ist? 
Dieser Schleimbeutel ist der Unschuldige, dem wir helfen müssen?« 

Piper nickte. »Willkommen in der Realität, Paige. Den 

Unschuldigen zu retten, heißt nicht immer, den netten Kerl zu retten.« 

»Schluss mit dem Geschwätz«, fauchte die Kreatur. »Ihr werdet 

niemanden retten! Im Gegenteil: Da ihr Markel und die Jungs schon 
eingefroren habt – würdet ihr bitte so nett sein und euer Werk 
vollenden?« 

»Warum sollten wir das tun?«, fragte Paige. »Damit die Energie 

freigesetzt wird, und dein alter Tattergreis von einem Dämon endlich 
Auslauf kriegt?« 

»Wenn ihr es nicht tut, wird eure Schwester auf ewig in der 

Dämonenhölle leiden – so einfach ist das!« Die Züge des Vikki-
Wesens verzerrten sich zu einer zähnefletschenden Grimasse. 

Piper ballte die Fäuste. Bei diesem Spiel konnten sie nur verlieren. 

Natürlich kam es nicht in Frage, Markel – einen Unschuldigen – zu 
töten und damit Nat Shur zu befreien. Und wenn sie sich weigerten, 
würde Phoebe in der Dämonenhölle landen. 

»Piper!«, rief Paige plötzlich, »es wird Zeit für unsere 

Geheimwaffe!« 

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31 

»

W

AS ZUM TEUFEL MEINST DU, PAIGE?«, flüsterte Piper. 

»Von welcher Geheimwaffe redest du da?« Sie hatte nicht die 
geringste Ahnung, was ihre Halbschwester meinte. 

Paige deutete mit einer Kopfbewegung auf die Brusttasche von 

Pipers Lederjacke. 

»Na, die Geheimwaffe eben«, raunte sie. »Du weißt schon, das 

Zauberelixier, das wir nach der Anleitung im Buch der Schatten 
zusammengebraut haben, um Nat Shur zu vernichten!« 

Piper verstand die Welt nicht mehr. Hatte Paige jetzt völlig den 

Verstand verloren? »Paige, wir haben kein …« 

»… keine Skrupel, diese Waffe gegen dich und deinen Meister 

anzuwenden, du Zottelmonster!«, sagte Paige in Richtung der 
Schattenkreatur. »Pech gehabt!« 

Piper spürte, wie Paige ihr den Ellbogen in die Seite stieß. Und 

dann begriff sie. 

»Was redet ihr da, Hexen?«, grollte der Werpanther. »Ein 

Zauberelixier? Gebt es mir! Sofort! Oder sie stirbt.« Die gelben 
Augen der Kreatur verengten sich zu Schlitzen. Um ihrer Forderung 
Nachdruck zu verleihen, presste sie ihre Krallen noch fester um 
Phoebes Hals. Die mittlere Halliwell-Schwester keuchte verzweifelt 
auf. 

»Na, großartig, Paige. Soeben hast du unsere letzte Trumpfkarte 

aus der Hand gegeben!«, schimpfte Piper laut. In Wirklichkeit hätte 
sie Paige umarmen können. 

Langsam holte Piper das zugeschraubte Marmeladenglas aus der 

Innentasche ihrer Lederjacke. Ein wabernder Lichtnebel tobte darin. 

Der Blimp. 

Das Vikki-Ding fixierte das Behältnis misstrauisch. Aus der 

Entfernung sah der wirbelnde Flaschendämon tatsächlich wie eine von 
Magie beseelte Substanz aus. 

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»Ich weiß nicht, was das ist«, knurrte das Monster, »aber wenn es 

eine Waffe ist, will ich sie haben! Stellt das Ding auf den Boden – 
aber langsam!« 

Im Krallengriff der Bestie schnappte Phoebe immer verzweifelter 

nach Luft. Piper biss die Zähne zusammen und stellte das 
Marmeladenglas vorsichtig auf den Steinboden. Das Glas fühlte sich 
fast heiß an. Sie spürte, wie der Flaschenteufel darin tobte. Der Blimp 
ahnte, was nun passieren würde – und es schien ihm nicht zu gefallen. 

»Du willst dieses Glas und seinen Inhalt wirklich haben?«, fragte 

Piper lauernd. 

»Ja, das will ich!« Das Vikki-Ding grollte triumphierend. 

»Schön«, antwortete Piper schulterzuckend. »Dann gehört es jetzt 

dir!« 

Die beiden Schwestern blickten sich an, und Piper schenkte Paige 

ein unmerkliches, anerkennendes Kopfnicken. 

Nach den Gesetzen der Magie war der Blimp, jener Unglück 

bringende Flaschengeist, nun in den Besitz von Vikki übergegangen. 
Von diesem Augenblick an hatte er keine Macht mehr über die 
Zauberhaften  und konnte fortan nur noch seiner neuen Herrin Pech 
bringen. 

Gleichzeitig hatte der Blimp damit jede Chance verloren, die 

Zauberhaften  zu töten und damit in der dämonischen Rangordnung 
aufzusteigen. 

Das Marmeladenglas auf dem Boden vibrierte, als der Blimp 

begann, vor Wut zu toben. 

Im gleichen Augenblick hallte eine Stimme von überall und 

nirgends durch das Gewölbe: »Du verdammte Närrin!« 

Die Panther-Kreatur riss erschrocken die Augen auf. »Herr!? Was 

–« Doch sie kam nicht mehr dazu, den Satz zu beenden. Außer sich 
vor Wut gab der Blimp bereits alles, um seiner neuen Besitzerin zu 
schaden. 

Während die Vikki-Kreatur noch verstört zwischen dem 

Lichtstrudel und dem Glas hin und her blickte, bröckelte unter ihr ein 
Stück der alten Steinplatte weg, auf der sie stand. Die Chance, dass so 

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etwas gerade jetzt passierte, stand eins zu tausend – aber ein 
Flaschenteufel scherte sich nun mal einen Dreck um Statistiken. 

Einen Augenblick lang drohte das Monster, das noch immer die 

röchelnde Phoebe am ausgestreckten Arm hielt, zu straucheln und in 
den Lichtwirbel zu seinen Füßen zu stürzen. 

Zum Glück reagierte Paige schneller und versetzte dem Vikki-Ding 

einen telekinetischen Stoß, der es nach hinten katapultierte. 

Mit einem wütenden Aufschrei torkelte das Wesen zurück. Dabei 

lockerte es den Griff um Phoebes Kehle. Diese nutzte die Gelegenheit 
und verpasste der Kreatur einen kräftigen Tritt in die Seite. Phoebe 
glaubte befriedigt zu spüren, wie unter dem dichten Fell ein paar 
Rippen brachen. 

Das Vikki-Ding jaulte auf, mehr vor Zorn als vor Schmerz, und 

ließ ihre Peinigerin los. Phoebe landete auf dem Boden, rappelte sich 
auf und rang gierig nach Atem; selbst die abgestandene Luft in dem 
Gewölbe kam ihr vor wie eine Frühlingsbrise. Aus den Augenwinkeln 
sah sie, wie die Panther-Kreatur sich wieder auf sie stürzen wollte. 

»Phoebe! Pass auf!«, rief Piper, aber die Warnung war unnötig. 

Selbst in ihrem angeschlagenen Zustand waren Phoebes 
Kampfinstinkte immer noch geschult genug, um sich unter der 
heranrasenden Pranke hinwegzuducken. Sie spürte, wie die 
messerscharfen Krallen um Haaresbreite über ihrem Kopf die Luft 
zerschnitten. 

Und erneut wurde das Vikki-Ding vom übernatürlichen Pech 

verfolgt. Blind vor Wut konnte es seinen eigenen Tatzenhieb nicht 
mehr rechtzeitig stoppen. Der pelzige Arm prallte mit voller Wucht 
gegen eine der Steinsäulen, die das uralte Gewölbe abstützten. Mit 
einem ohrenbetäubenden Knall zerbarst die Stele unter dem 
gewaltigen Aufprall. Kalkstaub rieselte herab, und erste 
Gesteinsbrocken stürzten zu Boden. 

Ein Bruchstück von der Größe eines Fußballs fiel auf den Kopf der 

Panther-Kreatur – Schädelknochen knirschten. Einen normalen 
Menschen hätte dergleichen wahrscheinlich auf der Stelle getötet, aber 
das Vikki-Ding war zäh. Mit blutüberströmter Fratze und rasend vor 
Schmerz und Wut ließ es seine Krallen erneut durch die Luft sausen. 

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Piper machte sich bereit, das Monster explodieren zu lassen, doch 

diesmal war ihre jüngere Schwester schneller. 

»Das hast du dir selbst zuzuschreiben!«, zischte Phoebe, rotierte 

einmal um die eigene Achse und versetzte der Kreatur einen 
Powerkick in den Magen. 

Das angeschlagene Vikki-Ding fauchte auf. In seiner 

hassverzerrten Grimasse war keine Spur von Menschlichkeit mehr zu 
erkennen. Der Tritt katapultierte die Kreatur ein gutes Stück zurück. 
Sie ruderte verzweifelt mit den Armen, um das Gleichgewicht wieder 
zu erlangen – aber vergebens. 

Mit einem lang gezogenen Schrei stürzte die Bestie in das 

pulsierende Dimensionstor. Die Farben des Wirbels leuchteten für 
einen Sekundenbruchteil strahlend hell auf. Dann war Vikki – oder 
was immer sie zuletzt gewesen war – verschwunden. 

Für alle Ewigkeit. 

Paige und Piper liefen zu Phoebe, und die drei Schwestern fielen 

sich erleichtert in die Arme. 

»Phoebe, geht es dir gut?«, fragte Piper den Tränen nahe. 

Phoebe nickte. »Danke, mir ist nichts passiert«, krächzte sie und 

rieb sich den Hals. »Hört mal, es tut mir so Leid. Ich hab mich 
benommen wie der letzte Mensch, oder?« 

»Schon gut«, antwortete Piper. »Du standest unter dem Bann 

dieser teuflischen Musik. Und du hast in der letzten Zeit eine Menge 
mitgemacht.« 

Paige tippte ihrer älteren Halbschwester auf die Schulter. Dann 

deutete sie mit dem Zeigefinger nach oben. »Ähm, könnten wir die 
glückliche Familienzusammenführung vielleicht auf später 
verschieben? Uns fällt hier nämlich gerade die Decke auf den Kopf!« 

Sechs Augenpaare blickten hinauf zur Decke des Gewölbes. Der 

Einsturz der Säule hatte die gesamte Statik beeinträchtigt. Krachend 
taten sich immer neue Risse in der Kuppel auf, und immer mehr 
Gesteinsbrocken begannen herauszubrechen. 

»Nichts wie raus hier«, rief Piper, und die drei Hexen hasteten auf 

den Ausgang zu. 

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Auf halben Weg blieb Paige noch einmal stehen. Rasch bückte sie 

sich nach dem Marmeladenglas mit dem tobenden Blimp und 
schleuderte es in den wabernden Mahlstrom. »Ab zu Frauchen!«, rief 
sie befriedigt. 

Dann schlüpften die drei Hexen durch die Steintür in den 

Kellergang hinaus. Keuchend schloss Piper die Höllenpforte – gerade 
rechtzeitig. 

Kurz darauf erbebte der Boden unter ihnen, und ein 

ohrenbetäubendes Grollen hallte durch den schmalen Gang, als 
Tonnen von Geröll über das Gewölbe jenseits der Pforte 
hereinbrachen. 

»Soviel zum Thema Nat Shur!«, rief Piper über den Krach hinweg 

und hob grinsend den Daumen. 

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Epilog 

»

U

ND WAS MACHEN WIR JETZT MIT DENEN?«, fragte 

Paige und deutete auf Markel, den Schäferhund und die vier Nature 
Sons,  
die immer noch wie bizarre Statuen im Gang herumstanden, 
mitten in der Bewegung erstarrt. 

Zum Glück hatte sich der Gang selbst als so stabil erwiesen, dass 

er vom Einsturz des Gewölbes nicht in Mitleidenschaft gezogen 
worden war. 

»Gute Frage«, antwortete Piper etwas ratlos. »Die vier Bürschchen 

haben sich zwar auf eine schwarzmagische Verschwörung 
eingelassen, aber Dämonen sind sie deshalb noch lange nicht.« 

Phoebe trat an die Seite ihrer älteren Schwester. Sie blickte auf 

Josh, der immer noch in unschlüssiger Haltung neben Markel stand. 
»Kannst du den Bann von den Jungs nehmen, ohne dass auch Markel 
wieder aktiv wird? Ich würde gerne ein paar Takte mit ihnen reden.« 

Piper nickte. »Sicher. Ich muss mich nur etwas konzentrieren.« Sie 

hob eine Hand und legte die Stirn in Falten. Eine Sekunde später 
erwachten Mike, Todd, Huey und Josh aus ihrer Erstarrung. Mit 
Ausnahme von Josh verloren sie – überrascht von dem plötzlichen 
Schwung – allesamt das Gleichgewicht. 

»Was zum …?!«, fluchte Todd, der Bassist, als er unsanft auf dem 

Boden aufschlug und die drei Hexen erblickte. 

Dann bäumte sich sein Körper auf, und auch die anderen drei 

Mitglieder der Nature Sons zuckten unkontrolliert hin und her. Und 
dann geschah etwas Seltsames. 

Fassungslos mussten die drei jungen Frauen mit ansehen, wie sich 

die drei Jungs veränderten. Die starken Schultern wurden schmaler, 
die durchtrainierten Muskeln schrumpften, und auch die eleganten 
hohen Backenknochen in Josh's Gesicht schmolzen dahin wie Butter 
in der Sonne. 

Mit dem Ende von Nat Shur war auch sein Zauber erloschen, der 

aus den vier unscheinbaren Stubenhockern begehrenswerte Popstars 
gemacht hatte. 

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»O nein!«, stöhnte Huey und fuhr sich verzweifelt durch sein 

neues, altes Gesicht. »Wir sind wieder … wir!« 

Schweigend blickte Phoebe zu dem jungen Mann, in den sie sich 

fast verliebt hätte. Kein Zweifel, der magere Jüngling mit der blassen 
Haut, der jetzt vor ihr stand, war der wahre Josh. 

»Phoebe«, stammelte dieser und blickte betroffen zu Boden, »es … 

es tut mir Leid. Ich wollte dich vorhin nicht bedrohen. Es war nur … 
ich dachte, du würdest dich über mich lustig machen. Und das tat 
weh.« 

»Ich weiß«, nickte Phoebe und legte eine Hand auf die schmale 

Schulter des Jungen. »Ich weiß, wie sich so was anfühlt – und was das 
Gefühl, abgelehnt zu werden, mit einem machen kann. Bei Vikki war 
es dasselbe. Die Angst, nicht gemocht zu werden, macht einen 
empfänglich für die Versprechungen der schwarzen Magie.« 

Josh nickte traurig. »Vikki ist tot, oder?« 

»Ja«, erwiderte Phoebe. »Aber sie starb schon vor langer Zeit – als 

sie ihre Seele für Nat Shur aufgab.« 

»Wir hätten uns nie auf diese Sache einlassen dürfen«, presste Josh 

hervor. »Das war ein Fehler. Und es tut mir Leid.« Tränen 
schimmerten in seinen Augen, die immer noch hinreißend blau waren. 
Eigentlich, so musste Phoebe zugeben, sah er auch in seiner 
natürlichen Gestalt gar nicht so übel aus. Ein paar Wochen im Fitness-
Studio und ein bisschen Sonne … wer weiß? 

»Ich hoffe, ihr habt aus diesem Fehler gelernt«, sagte Piper. »Es 

hat keinen Sinn, sich selbst zu verstellen, nur um von anderen 
gemocht zu werden. Am Ende betrügt ihr nur die anderen – und euch 
selbst.« 

Auch die anderen drei Jungs der Band starrten beschämt zu Boden. 

In ihren schicken Klamotten, die jetzt drei Nummern zu groß waren 
und an ihnen schlackerten, boten sie wirklich ein Bild des Elends. 

Piper, Phoebe und Paige steckten die Köpfe zusammen. 

»Ich glaube, die vier haben ihre Lektion gelernt, oder?«, fragte 

Paige. 

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Piper nickte. »Das denke ich auch. Wir können sie beruhigt gehen 

lassen. Ich bin mir sicher, dass sie von nun an die Finger von der 
schwarzen Magie lassen.« 

»Aber da gibt es noch einen«, sagte Phoebe und deutete über ihre 

Schulter auf Markel, der mitsamt seinem Schäferhund noch wie 
versteinert im Gang stand. 

»Ja, ich fürchte, irgendwann muss ich den auch wieder zum Leben 

erwecken.« Piper schnaubte verächtlich und hob die Hände. Im selben 
Augenblick riss Markel die Augen auf. Sein Blick fiel auf seine vier 
Schützlinge, die jetzt wie ein Häuflein Elend vor ihm standen. 

»Was zum Teufel ist denn jetzt los?!«, rief der Manager. Horst, der 

treue Schäferhund, zog winselnd den Schwanz ein. »Mike, Todd, 
Huey … Und Josh. Wie seht ihr eigentlich aus?!« 

»Ich … wir müssen Ihnen eine Menge erklären, Mister Markel«, 

stotterte Josh. Die anderen nickten betroffen. 

»Allerdings!«, keifte Markel. »Vor allem müsst ihr mir erklären, 

wie ich euch so noch promoten soll. Ihr seht ja aus wie die letzten 
Vogelscheuchen! So verkaufe ich doch keine einzige Platte mehr!« 

Phoebe schüttelte ungläubig den Kopf. »Interessiert es Sie denn gar 

nicht, was hier passiert ist?« 

»Nicht wirklich.« Markel winkte ab. »Ich hab doch schon die 

ganze Zeit geahnt, dass die Jungs in irgendeinen okkulten Hokuspokus 
verwickelt waren. Was schert es mich – solange der Rubel rollt. Und 
glaubt mir«, fügte der Mann in einem verschwörerischen Tonfall 
hinzu, »in meiner Branche hab ich schon ganz andere Dinger erlebt!« 

Die  Zauberhaften  blickten sich verblüfft an. Markel war wirklich 

eine Nummer für sich. 

»Wartet mal«, rief der Plattenmanager. »Als Boygroup kriege ich 

euch so nicht mehr unter – aber ihr habt doch mal als Metal-Band 
angefangen, oder?« 

Josh nickte. »Ja, und?« 

»Und? Heavymetal ist wieder schwer im Kommen! Wir müssen 

nur ein bisschen umdisponieren. Ihr braucht coolere Klamotten, ein 
paar Tattoos und Piercings, dramatisches Make-up … Und natürlich 

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andere Frisuren. Vielleicht eine Haarverlängerung. Oder gleich 
Perücken!« 

Josh riss die Augen auf. »Perücken?«, wiederholte er fassungslos. 

»Das ist doch nicht Ihr Ernst, oder?!« 

Piper, Paige und Phoebe kicherten. 

»Strafe muss sein«, lachte Paige, als die Zauberhaften mit Markel 

und den ehemaligen Nature Sons nach oben gingen. 

Durch die Fenster des alten Anwesens fielen die ersten Strahlen der 

Morgensonne. »Eins habe ich zumindest gelernt«, schmunzelte Paige, 
als sie mit ihren Schwestern ins Freie trat. »Das Musikbusiness ist 
noch verrückter als das Hexengeschäft.« 


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