Heyne 3111 Jack Vance Start Ins Unendliche

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Die Welt der Zukunft hat das Problem der Unsterb-
lichkeit gelöst. Aber die Unsterblichkeit wird nicht
wahllos allen Menschen verliehen – sie muß durch
hervorragende Leistungen erworben werden. Der
Pfad zur Unsterblichkeit ist steil. Ein falscher Schritt
kann dazu führen, daß eine schwarze Limousine vor-
fährt, und ein Beauftragter vollstreckt das Todesur-
teil.

Grayven Warlock, ein Bürger der Weltmetropole

Clarges, hat das schwerste aller Verbrechen begangen
– er hat einen Menschen getötet. Warlock weiß, daß
er der Bestrafung nur entgehen kann, wenn es ihm
gelingt, wieder in die Kaste der Unsterblichen aufge-
nommen zu werden. Die Story seiner verzweifelten
Flucht führt durch das Labyrinth einer phantasti-
schen Welt, in der die Bewohner nach der Unsterb-
lichkeit streben – und blind für das höchste Ziel der
Menschheit sind: die Sterne.

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JACK VANCE

START INS

UNENDLICHE

Utopischer Roman

WILHELM HEYNE VERLAG

MÜNCHEN

Dieses E-Book ist nicht zum Verkauf bestimmt!!

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HEYNE-BUCH Nr. 3111

im Wilhelm Heyne Verlag, München

Titel der amerikanischen Originalausgabe

TO LIVE FOREVER

Deutsche Übersetzung von Wulf H. Bergner

Copyright © 1956 by Jack Vance

Printed in Germany 1968

Umschlag: Atelier Heinrichs & Bachmann, München

Gesamtherstellung: Verlagsdruckerei Freisinger Tag-

blatt,

Dr. Franz Paul Datterer o.H.G., Freising

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1

Clarges, die letzte Metropole der Welt, erstreckte sich
fünfzig Kilometer weit am Nordufer des Chant, bevor
der Fluß zur Mündung hin breiter wurde.

Clarges war eine alte Stadt; zwei oder gar drei

Jahrtausende alte Gebäude und Denkmäler waren
hier nicht selten. Die Bürger der Stadt schätzten diese
Erinnerungen an die Vergangenheit, die ihnen das
Gefühl einer beruhigenden Kontinuität gaben. Da sie
aber in einem abgewandelten Wettbewerbssystem
lebten, fühlten sie sich ständig zu Neuerungen ge-
drängt; Clarges bestand deshalb aus einer seltsamen
Mischung zwischen alt und neu, und seine Bürger
litten unter verständlichen Gefühlskonflikten.

Die Welt hatte noch nie eine Stadt gesehen, die

großartiger oder schöner als Clarges gewesen wäre.
In der City erhoben sich Türme wie schlanke Turma-
linkristalle, deren Spitzen die Wolken berührten; zu
ihren Füßen lagen Kaufhäuser, Theater und Wohn-
blocks, dann folgten die Vororte und das Industrie-
gebiet, an das sich ein breiter Streifen unbebauten
Landes anschloß, der bis zum Horizont reichte. Über-
all herrschte Bewegung, waren menschliche Anstren-
gungen zu spüren. Eine Million Fenster blitzte in der
Sonne auf, unzählige Fahrzeuge drängten sich auf
den breiten Boulevards, das Summen zahlreicher
Flugzeuge erfüllte die Luft. Männer und Frauen gin-
gen rasch durch die Straßen, schritten zielbewußt aus
und vergeudeten keine Sekunde.

Auf dem gegenüberliegenden Ufer erstreckte sich

das Sumpfland, ein unfruchtbarer öder Landstrich,

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dessen einzige Daseinsberechtigung darin bestand,
daß er die zweihundertfünfzig Hektar von Carnevalle
beherbergte. Vor diesem düsteren Hintergrund
blühte Carnevalle wie eine Blume auf einer Abraum-
halde; seine zweihundertfünfzig Hektar boten Ver-
gnügungen und Abwechslung für jeden Geschmack.

In Clarges war das Leben auf die Tätigkeiten der

Menschen beschränkt, aber Carnevalle schien selbst
zu leben. Morgens herrschte hier noch tiefes Schwei-
gen. Gegen Mittag waren vereinzelte Schritte und der
Lärm der Reinigungsmaschinen zu hören. Nachmit-
tags erwachte Carnevalle wie ein frisch ausge-
schlüpfter Schmetterling, der zitternd die Flügel be-
wegt. Bei Sonnenuntergang folgte eine kurze Pause,
aber dann begann die lange Nacht der ungezählten
Vergnügungen.

Pavillons glühten in allen Farben des Regenbogens;

Pagoden schienen in flüssiges Feuer gehüllt; aromati-
sche Düfte erfüllten die Nacht, unter deren Sternen
sich Hunderttausende durch die Straßen und Gassen
von Carnevalle bewegten. Die Geräusche aus den
Vergnügungsstätten, die Stimmen der Ausrufer und
der Klang unzähliger Musikinstrumente vermengten
sich mit erschrockenen, überraschten oder entzückten
Schreien der Besucher. Die Feiernden drängten sich
durch den Lärm und die Musik; sie atmeten Düfte
und Wohlgerüche aller Art; sie trugen Kostüme und
Masken; überlieferte Sitten und natürliche Zurück-
haltung galten hier nichts und wurden mit Vergnü-
gen ignoriert.

Um Mitternacht erreichte der Tumult seinen Hö-

hepunkt. Alle Schranken fielen, und erst gegen Mor-
gen stolperten die letzten Männer und Frauen über-

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müdet und erschöpft durch die Zugänge des Röhren-
systems, das sie in ihre Villen und Appartements
zwischen Balliasse und Brayertown zurückbeförderte.
Alle fünf Phylen kamen nach Carnevalle: Brut, Keil,
Dritte, Rand und Amaranth – aber auch die Glarks.
Dort begegneten sie einander ohne Neid; sie suchten
Carnevalle auf, um die Mühen und Anstrengungen
ihres täglichen Lebens zu vergessen. Sie kamen, sie
gaben hier ihr Geld aus, und sie verbrachten in dieser
Atmosphäre einen Teil ihres Lebens.

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2

Der Mann mit der Bronzemaske stand auf einem Po-
dium vor dem Haus des Lebens. Über ihm leuchteten
Unendlichkeitssymbole auf; hinter ihm hing das ver-
größerte Abbild einer idealen Lebenskarte, auf der
sich die hellrote Lebenslinie in einer perfekten Halb-
parabel durch die Grenzen der Phylen zog.

Der Mann wandte sich eindringlich an die Vor-

übergehenden. »Freunde, welche Phyle ihr auch im-
mer erreicht habt, hört mir zu! Ist euch das Leben ei-
nen Florin wert? Wollt ihr ewig leben? Kommt ins
Haus des Lebens! Ihr werdet Didaktor Moncure und
seine bemerkenswerten Methoden segnen!« Er betä-
tigte einen Schalter; aus den Lautsprechern am Rand
des Podiums drang ein leises Summen und Pfeifen.

»Steigung! Steigung! Kommt ins Haus des Lebens

und laßt eure Zukunft von Didaktor Moncure analy-
sieren! Lernt die Methoden und die richtige Technik!
Nur einen Florin für das Haus des Lebens!«

Das Geräusch aus den Lautsprechern wurde all-

mählich schriller und unerträglich. Der Mann mit der
Bronzemaske hatte eine beruhigend wohlklingende
Stimme; wenn das Geräusch die Spannungen des
täglichen Lebens imitierte, bedeuteten der Mann und
seine Stimme Sicherheit und Selbstbeherrschung.

»Jeder besitzt ein Gehirn, das sich kaum von dem

seines Nachbarn unterscheidet. Warum sind also ei-
nige von uns Brut, andere Keil, wieder andere Dritte,
Rand und Amaranth?«

Er beugte sich nach vorn, als habe er eine dramati-

sche Enthüllung zu machen. »Das Geheimnis des Le-

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bens ist die richtige Technik! Didaktor Moncure lehrt
diese Technik! Ist die Unendlichkeit einen Florin
wert? Kommt alle ins Haus des Lebens!«

Eine Anzahl Vorübergehender bezahlte den Eintritt

und drängte sich durch das hohe Portal. Das Haus
war endlich voll.

Der Mann mit der Bronzemaske stieg vom Podium.

Eine Hand berührte seinen Arm; er wandte sich ruck-
artig um. Der andere wich zurück.

»Waylock, du hast mich erschreckt! Ich bin's – Ba-

sil.«

»Das sehe ich«, antwortete Gavin Waylock kurz.

Basil Thinkoup hatte sich als mystischer Vogel ver-
kleidet, was nicht recht zu seiner untersetzten Gestalt
paßte. Falls er Waylocks unfreundliche Art bemerkte,
übersah er sie geflissentlich.

»Ich dachte, du würdest von dir hören lassen«, fuhr

Thinkoup fort. »Seit unserem letzten Gespräch
über...«

Waylock schüttelte den Kopf. »Danke, für diesen

Job bin ich nicht geeignet.«

»Aber deine Zukunft!« protestierte Basil. »Es ist

wirklich paradox, daß du andere Menschen anfeuerst
und selbst ein Glark* bleibst.«

Waylock zuckte mit den Schultern. »Alles zu seiner

Zeit.«

»Aber inzwischen verstreichen wertvolle Jahre,

und deine Lebenslinie verläuft flach!«

»Ich habe meine Pläne; ich bereite mich vor.«

* Glark: Menschen, die nicht nach den Regeln des Gleiche-

Chancen-für-alle-Systems leben – etwa 20 Prozent der erwachse-
nen Bürger von Clarges.

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»Während andere vorankommen! Du enttäuschst

mich, Gavin!«

»Wenn du schweigst, verrate ich dir ein Geheim-

nis«, sagte Waylock.

Basil Thinkoup starrte ihn an. »Bin ich nicht ver-

trauenswürdig? Sieben Jahre lang habe ich...«

»Einen Monat weniger als sieben Jahre. Sobald die-

ser Monat zu Ende ist, lasse ich mich als Brut regi-
strieren.«

»Wunderbar! Komm, wir trinken ein Glas Wein auf

deinen Erfolg!«

»Ich kann jetzt nicht fort.«
Basil schüttelte den Kopf und schwankte dabei; er

war offensichtlich angeheitert. »Du bist mir ein Rät-
sel, Gavin. Sieben Jahre lang hast du...«

»Fast sieben Jahre.«
Thinkoup blinzelte. »Sieben Jahre hin, sieben Jahre

her – du bist mir trotzdem ein Rätsel.«

»Ich bin durchaus nicht geheimnisvoll«, wider-

sprach Waylock. »Du müßtest mich nur besser ken-
nen.«

Basil reagierte nicht darauf. »Du mußt mich dem-

nächst in der Beruhigungsanstalt besuchen«, ver-
langte er. »Ich wende in letzter Zeit neue Methoden
an«, erklärte er dann flüsternd. »Wenn sie Erfolg ha-
ben, können sie uns beiden weiterhelfen, und ich
hätte endlich eine Möglichkeit, einen Teil meiner
Schuld zu begleichen.«

Waylock lachte und antwortete: »Die geringste al-

ler Schulden, Basil.«

»Keineswegs!« rief Thinkoup aus. »Wo wäre ich,

wenn du mir nicht den richtigen Weg gewiesen hät-
test? Vermutlich noch an Bord der Amprodex.«

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Waylock machte eine wegwerfende Handbewe-

gung. Vor sieben Jahren waren er und Basil an Bord
des Frachters Amprodex Kameraden gewesen. Hes-
per Wellsey, der Kapitän des Schiffs, war Keil und
hatte trotz größter Anstrengungen nie den Aufstieg in
Dritte geschafft. Er war nicht für die zehn Jahre
dankbar, die ihm Keil schenkte, sondern steigerte sich
immer mehr in seine Verbitterung hinein. Und als der
Frachter sich eines Tages wieder Clarges näherte,
hatte der Kapitän einen Tobsuchtsanfall bekommen;
er hatte nach einer Feueraxt gegriffen, den Schiffsin-
genieur erschlagen, die Fenster der Messe zertrüm-
mert und war schließlich in den Maschinenraum ge-
klettert, um den Reaktor zu zerstören.

Waylock hatte den Kapitän aufhalten wollen, aber

beim Anblick der gräßlichen Axt hatte ihn der Mut
verlassen. Und dann war Basil Thinkoup vor dem
Tobenden aufgetaucht. Wellsey hatte die Axt ge-
schwungen, ohne aber Basil zu treffen, der geschmei-
dig auswich und dabei ununterbrochen auf den Ka-
pitän einsprach. Dann setzte die natürliche Reaktion
ein, und Wellsey brach bewußtlos zusammen.

Waylock hatte ihn nachdenklich angestarrt. »Das

reinste Wunder, Basil! Du wärest der richtige Mann
für eine Beruhigungsanstalt!«

Basil hatte die Stirn gerunzelt. »Ist das dein Ernst?«
»Selbstverständlich.«
Basil hatte seufzend den Kopf geschüttelt. »Ich bin

nicht dafür ausgebildet.«

»Du brauchst keine Ausbildung, sondern nur Be-

weglichkeit und gute Lungen«, hatte Waylock ihm
erklärt. »Die Verrückten jagen dich herum, bis sie
selbst erschöpft sind. Dort kannst du es weit bringen,

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Basil Thinkoup!«

Basil hatte ihn zweifelnd angestarrt. »Glaubst du

wirklich?«

»An deiner Stelle würde ich es unbedingt versu-

chen.«

Basil hatte es versucht und war schon nach fünf

Jahren in Keil eingebrochen. Seine Dankbarkeit ge-
genüber Waylock kannte keine Grenzen. Jetzt klopfte
er Gavin auf die Schulter. »Du mußt zu mir in die Be-
ruhigungsanstalt kommen! Immerhin bin ich dort
Assistent des Direktors – uns fällt schon etwas ein,
das dir Steigung sichert. Zunächst nur einfache Auf-
gaben, aber im Laufe der Zeit bekommst du weitere
Entwicklungsmöglichkeiten.«

Waylock lachte spöttisch. »Als Sandsack für Ver-

rückte, Basil? Das ist nichts für mich.« Er stieg wieder
auf sein Podium und blieb unter den leuchtenden
Unendlichkeitssymbolen stehen. Seine Stimme über-
tönte den Lärm der Menge. »Steigung für jeden! Di-
daktor Moncure enthüllt das Geheimnis des Lebens!
Lest seine Broschüren, nehmt seine Mittel, laßt euch
zu Übungsstunden eintragen! Steigung, Steigung,
Steigung!«

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3

Das Wort ›Steigung‹ hatte damals eine besondere Be-
deutung, denn es war der Maßstab für den Aufstieg
eines Menschen durch seine Phyle; es enthielt eine
Bewertung seiner Vergangenheit und bestimmte den
Zeitpunkt seines Hinscheidens. Steigung bezeichnete
den Winkel der Lebenslinie eines Menschen – eine
Funktion seiner Verdienste in Relation zu seinem Le-
bensalter.

Das System beruhte auf dem vor über dreihundert

Jahren verabschiedeten Gleichheitsgesetz, das zur
Zeit des Malthusischen Chaos entstanden war, als die
Erdbevölkerung sich jeweils innerhalb weniger Jahre
verdoppelte. Theoretisch war das dadurch entstan-
dene Problem lösbar: Geburtenkontrolle, Erzeugung
synthetischer Nährstoffe, Urbarmachung der Wüsten
und Euthanasie für alle, die unter einem bestimmten
Standard blieben. Aber diese Theorie ließ sich nicht in
die Tat umsetzen, weil sie allzu viele Gegner aus ver-
schiedenen Lagern fand. Während das Grand-Union-
Institut seine Methoden entwickelte, die später das
Alter besiegen sollten, brachen die ersten Hungerun-
ruhen aus – das Jahrhundert des Malthusischen Cha-
os hatte begonnen.

Die Welt taumelte in eine unvorstellbare Katastro-

phe. Städte wurden geplündert und gebrandschatzt;
wilde Horden durchstreiften das Land. Nur die
Stärksten überlebten; bald gab es mehr Leichen als
Lebende. Die Erdbevölkerung wurde auf ein Viertel
reduziert; Rassen und Nationalitäten vermischten
sich; politische Einheiten wurden bedeutungslos und

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machten Wirtschaftsräumen Platz.

Eines dieser Gebiete, die Region Clarges, hatte ver-

hältnismäßig wenig gelitten – die Stadt wurde zur
Hochburg der Zivilisation. Sie riegelte notwendiger-
weise ihre Grenzen ab, aber die wilden Horden war-
fen sich gegen die Elektrobarrieren, als könnten sie
das Hindernis durch bloße Willensanstrengung
überwinden. Ihre verkohlten Leichen hingen zu Tau-
senden an den Hochspannungsdrähten, und die No-
maden begannen zu dieser Zeit, Clarges und seine
Bürger leidenschaftlich zu hassen.

Die Stadt beherbergte das Grand-Union-Institut,

dessen Forscher die begonnene Arbeit fortsetzten, bis
das Gerücht auftauchte, sie hätten ein Mittel zur Le-
bensverlängerung gefunden. Dieses Gerücht ent-
sprach nicht ganz der Wahrheit, denn die Wissen-
schaftler hatten ein Verfahren entwickelt, das ein
ewiges Leben garantierte. Nach Bekanntgabe der For-
schungsergebnisse kam es zu Ausschreitungen em-
pörter Massen, bis endlich das Gleichheitsgesetz ver-
abschiedet wurde, das Verdienste um die Öffentlich-
keit mit zusätzlichen Lebensjahren belohnte.

Fünf Phylen, die Verdienststufen entsprachen,

wurden geschaffen: Erste, Zweite, Dritte, Vierte,
Fünfte. Erste erhielt im Volksmund die Bezeichnung
Brut; Zweite war als Keil bekannt; Dritte hieß gele-
gentlich auch Arrant; Vierte wurde als Rand um-
schrieben; und als die Wissenschaftler des Instituts
die Amaranth-Gesellschaft ins Leben riefen, bekam
Fünfte den Namen Amaranth.

Das Gleichheitsgesetz bestimmte die Vorausset-

zungen für den Aufstieg. Kinder wurden nicht als
Angehörige der Phyle ihrer Eltern geboren, sondern

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konnten sich mit sechzehn Jahren als Brut registrieren
lassen, wodurch sie in Zukunft den Bestimmungen
des Gleichheitsgesetzes unterworfen waren. Falls sie
es vorzogen, sich nicht registrieren zu lassen, lebten
sie durchschnittlich zweiundachtzig Jahre, ohne Aus-
sichten auf Lebensverlängerung zu haben – als
›Glarks‹ ohne besondere gesellschaftliche Stellung.

Die Lebenserwartung eines Angehörigen der Brut

entsprach laut Gesetz der durchschnittlichen Lebens-
dauer eines Außenstehenden – etwa zweiundachtzig
Jahre. Der Durchbruch zu Keil brachte eine Spezial-
behandlung, die den Alterungsprozeß aufhielt und
weitere zehn Lebensjahre bedeutete; Dritte verlän-
gerte das Leben wieder um sechzehn Jahre, und
Amaranth brachte endlich die größte Belohnung.

Damals hatte die Region Clarges bereits zwanzig

Millionen Einwohner, während das erstrebenswerte
Maximum, das bald erreicht sein würde, bei fünfund-
zwanzig Millionen lag. Was sollte also mit den Ange-
hörigen einer Phyle geschehen, die das zulässige
Höchstalter überschritten? Das Problem ließ sich
vermutlich nicht durch Auswanderung lösen, denn
Clarges war überall verhaßt, und wer einen Fuß über
seine Grenzen setzte, unterschrieb praktisch ein To-
desurteil. Trotzdem wurde ein Auswanderungsmini-
ster ernannt, der sich mit diesem Problem befassen
sollte.

Der Auswanderungsminister erschien wenig später

vor dem Prytaneon, um seinen Bericht zu erstatten.

Außer Clarges gab es auf der Erde nur noch fünf

andere Gebiete, in denen eine Art Zivilisation be-
stand: Kypre, Sous-Ventre, das Imperium Godwan,
Singhalien und Nova Roma. Eine Auswanderung

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dorthin war nur möglich, wenn das Prinzip der Ge-
genseitigkeit gewahrt blieb, so daß dieses Verfahren
offenbar undurchführbar war.

Selbstverständlich konnte Clarges auch seine Gren-

zen gewaltsam ausweiten, bis die Region eines Tages
die ganze Erde umfaßte. Dadurch würde das eigentli-
che Problem aber nicht gelöst, sondern nur aufge-
schoben.

Das Prytaneon beriet lange und änderte schließlich

das Gleichheitsgesetz. Der Auswanderungsminister
erhielt den Auftrag, die ursprüngliche Absicht des
Gesetzgebers zu verwirklichen – er war also dafür
verantwortlich, daß jeder Bürger, der das zulässige
Höchstalter seiner Phyle erreicht hatte, unauffällig
beseitigt wurde.

Das Gleichheitsgesetz trat mit dieser Ausführungs-

bestimmung in Kraft. Das System war von Anfang an
erfolgreich und brachte Clarges ein Goldenes Zeital-
ter, in dem Wissenschaft, Kunst, Handwerk und
Technik zu ungeahnter Blüte gelangten.

Im Laufe der Jahre wurde das Gleichheitsgesetz

mehrmals abgeändert. Das Höchstalter der Angehö-
rigen einer Phyle hing jetzt von verschiedenen Fakto-
ren ab: Produktionsindex, Bevölkerung der jeweiligen
Phyle, Anteil der Glarks an der Gesamtbevölkerung
und anderen Variablen. Die Auswertung und Berück-
sichtigung dieser Daten wurde einem riesigen Elek-
tronenrechner übertragen, der die Bezeichnung ›Ak-
tuarius‹ erhielt. Die Maschine gab auf Wunsch auch
gedruckte Lebenskarten aus, die dem Antragsteller
zeigten, ob seine Lebenslinie sich der Grenze der
nächsthöheren Phyle oder dem vertikalen Terminator
näherte. Sobald die Lebenslinie den Terminator er-

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reichte, erfüllten der Auswanderungsminister und
seine Assassinen ihre gesetzliche Pflicht. Dieses Ver-
fahren war brutal, aber unparteiisch – und notwen-
dig.

Das System besaß allerdings auch einige Nachteile,

denn die besten Köpfe verlegten sich auf bekannte
Gebiete, anstatt sich neuen zuzuwenden, auf denen
vielleicht keine Karrierepunkte zu sammeln waren.
Lebensangst und Enttäuschung waren logische Be-
gleiterscheinungen des Aufstiegs durch die Phylen;
die Beruhigungsanstalten füllten sich mit Menschen,
die vor der Wirklichkeit in eine Scheinwelt geflüchtet
waren.

Binnen weniger Generationen war das Bedürfnis

nach mehr und mehr Steigung Teil des Gefühlsinhalts
der Bürger von Clarges geworden, die ihr Leben nur
auf dieses eine Ziel ausrichteten. Freizeitbeschäfti-
gungen verschwanden, gesellschaftliche Veranstal-
tungen wurden kaum noch besucht, aber Schulen
und Fortbildungskurse verzeichneten ungeheuren
Andrang. Dieser Lebensstil wäre ohne irgendein Si-
cherheitsventil unmöglich gewesen, aber zum Glück
bot Carnevalle jedem die Möglichkeit, den Ernst des
Lebens einige Stunden lang zu vergessen und sich
unbeschwert im Kreise Gleichgesinnte zu amüsieren.
Selbst die Amaranth kamen gelegentlich hierher, um
maskiert und unerkannt an dem fröhlichen Treiben
teilzunehmen, bei dem es keine Unterschiede zwi-
schen den Phylen gab.

Nach Carnevalle kam auch die Jacynth Martin – seit
drei Jahren Amaranth und erst vor zwei Wochen aus
der Klausur entlassen.

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Die Jacynth Martin hatte von Brut aus drei Versu-

che unternommen, in eine höhere Phyle aufzusteigen:
zuerst als Expertin für mittelalterlichen Chorgesang,
dann als Cellistin und schließlich als Kritikerin für
zeitgenössische Musik. Ihre Lebenslinie war dreimal
steil angestiegen, um dann jeweils wieder flach zu
verlaufen.

Mit achtundvierzig hatte sie den Entschluß gefaßt,

die gesamte Entwicklung der Musik von Anfang an
zu ihrem Fachgebiet zu machen. Ihre Lebenslinie
stieg unaufhaltsam, und mit vierundfünfzig schaffte
sie den Durchbruch zu Keil. (Dies war nun ihr stati-
sches Alter, bis sie entweder die nächsthöhere Phyle
erreichte oder bis die schwarze Limousine vor ihrer
Tür hielt.)

Sie befaßte sich ausschließlich mit zeitgenössischer

Musik und entwickelte eine interessante Theorie mu-
sikalischer Symbolgehalte. Diese Arbeit brachte ihr
im Alter von siebenundsechzig Jahren den Aufstieg
in Dritte.

Die merkwürdige und in vieler Beziehung außer-

ordentliche Kultur des Inselkönigreichs Singhalien
hatte schon früher ihre Neugier geweckt, und sie be-
mühte sich jetzt, alle Hindernisse zu überwinden, um
dort forschen und arbeiten zu können. Sie bereitete
sich sorgfältig vor, lernte die Sprache, machte sich mit
den Sitten des Landes vertraut, verschaffte sich die
entsprechende Kleidung und ließ sich sogar die Haut
färben. Unter großen Schwierigkeiten gelang es ihr
schließlich auch, einen Aircar mit Eigenantrieb zu
erwerben, den sie für ihr Unternehmen benötigte, da
die in Clarges üblichen Luftfahrzeuge mit ausge-
strahlter Energie arbeiteten, deren Reichweite an den

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Grenzen der Region endete. Nachdem sie alle Vorbe-
reitungen abgeschlossen hatte, begann sie ihre Expe-
dition zu den Barbaren, bei denen sie sich ständig in
Lebensgefahr befinden würde.

In Kandesta trat sie als Zauberin auf und machte

sich mit Hilfe einiger wissenschaftlicher Tricks bald
einen guten Namen. Sie setzte ihre Studien fort, und
als der Grande des Imperiums Godwan ihr anbot, sie
dürfe sein Reich, das noch kein Fremder gesehen
hatte, unter seinem persönlichen Schutz besuchen,
nahm sie begierig an, verschob aber ihren Besuch auf
einen späteren Zeitpunkt, um nach Clarges zurück-
zukehren und dort einige Kompositionen aufführen
zu lassen, die das Ergebnis ihrer Forschungen in
Singhalien waren. Die öffentliche Aufführung wurde
zu einem persönlichen Triumph, der ihr im Alter von
zweiundneunzig Jahren den Aufstieg in Rand si-
cherte.

Nun hatte sie etwa dreißig Jahre Zeit, die Grundla-

gen für die Aufnahme in Amaranth zu legen, aber wo
andere in ihrer Lage sorgfältig geplant und gearbeitet
hätten, faßte sie den raschen Entschluß, die Einla-
dung des Granden anzunehmen und das Imperium
Godwan zu bereisen. Viereinhalb Jahre später war sie
einem Nervenzusammenbruch nahe und kehrte mit
letzter Kraft nach Clarges zurück. Dort brauchte sie
fast zwei Jahre, um sich von dem Schock ihrer Erleb-
nisse in einem Land zu erholen, in dem Leben und
Freiheit des Individuums nichts galten. In den fol-
genden Jahren schrieb und veröffentlichte sie nach-
einander ihre siebenteilige Studie der Kunst des Imperi-
ums Godwan
, die mit großem Beifall aufgenommen
wurde.

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Mit einhundertvier Jahren gelang ihr auf diese

Weise der Durchbruch in die höchste Phyle; sie wur-
de eine Amaranth und hieß jetzt ›die Jacynth Martin‹,
nachdem sie die Klausur hinter sich gebracht hatte,
aus der sie als neunzehnjähriges Mädchen hervor-
ging. Die neue Jacynth war tatsächlich ein junges
Mädchen, nicht nur eine künstlich verjüngte Greisin,
besaß aber Persönlichkeit, Charakterzüge und Erin-
nerungen der alten Jacynth Martin.

An diesem Abend trug sie ein Kostüm aus silber-

glänzenden Schuppen, das ihren schlanken Körper
freizügig enthüllte und ihr entfernt das Aussehen ei-
nes exotischen Fisches gab. Aschblondes Haar fiel in
weichen Wellen auf die bloßen Schultern herab und
umrahmte ein zartes Gesicht, dessen ausdrucksvolle
Augen verrieten, daß Die Jacynth Martin einem klas-
sischen Ideal entsprach, das einen gesunden Geist in
einem gesunden Körper forderte. Sie hatte ihren Air-
car in der Garage gelassen und war ohne Begleitung
nach Carnevalle gekommen, wo sie jetzt langsam oh-
ne festes Ziel durch die Straßen der gigantischen
Amüsierstadt ging. Sie ließ sich mit der Menge trei-
ben und blieb erst vor dem Haus des Lebens stehen,
dessen Ausrufer ihre Aufmerksamkeit erregte, weil
seine Stimme sie an den Tonfall des Hohenpriesters
von Tonpengh erinnerte.

»Freunde, was tut ihr für eure Steigung?« rief

Waylock. »Kommt ins Haus des Lebens! Didaktor
Moncure kann jedem helfen! Warum noch mit Stun-
den geizen, wenn Didaktor Moncure euch Jahre ge-
ben kann? Ein Florin, sage ich, nur ein Florin! Ist das
zuviel für die Ewigkeit? Ein lächerlicher Florin für
das Geheimnis des Lebens!«

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Einige Passanten waren stehengeblieben; Waylock

wies auf einen untersetzten Mann »Sie! Wann steigen
Sie in Rand auf?«

»Wahrscheinlich nie. Ich bin und bleibe Brut – als

Rollkutscher.«

»Sie sehen aber wie Dritte aus, denn dort gehören

Sie hin. Machen Sie den Versuch mit Didaktor Mon-
cures Ausbildung, dann können Sie Ihren Assassinen
in zehn Wochen Lebwohl sagen... Sie!« Er wandte
sich an eine ältere Frau. »Wie steht es mit Ihren Kin-
dern?«

»Die jungen Teufel sind mir schon voraus«, ant-

wortete die Frau lachend.

»Hier erfahren Sie, wie Sie ihnen die Absätze zei-

gen können! Didaktor Moncure hat bereits zweiund-
vierzig Amaranth unter seinen ehemaligen Schülern.«
Sein Blick fiel auf das Mädchen im silberglänzenden
Kostüm. »Sie – die schöne junge Dame! Haben Sie
keine Lust, Amaranth zu werden?«

Die Jacynth lachte. »Danke, das interessiert mich

nicht.«

Waylock hob verblüfft die Hände. »Nein? Und

weshalb nicht?«

»Vielleicht will ich lieber als Glark leben.«
»Dann könnte Ihr Leben hier eine Wende zum Bes-

seren nehmen. Ist der Versuch nicht einen einzigen
Florin wert?« Als Die Jacynth lächelnd mit den
Schultern zuckte, wandte er sich wieder an die übri-
gen Zuhörer. »Treten Sie ein, meine Herrschaften,
wenn Sie heute Didaktor Moncure begegnen wollen!
Beeilt euch, Freunde – die Vorstellung beginnt in we-
nigen Sekunden!«

Als das Klingelzeichen ertönte, das Didaktor Mon-

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cures Auftritt ankündigte, sprang Waylock zu Boden.
Für heute war er frei, denn dies war die letzte Vor-
stellung des Abends, da das Haus des Lebens in den
Morgenstunden wegen Besuchermangel schloß. Er
drängte sich durch die Menge und suchte nach einem
silbernen Kostüm. Da, dort drüben! Gavin ging dar-
auf zu und stellte sich der schönen Unbekannten in
den Weg.

Sie schien nicht überrascht zu sein, ihn plötzlich

vor sich zu sehen. »Gehen die Geschäfte im Haus des
Lebens so schlecht, daß Didaktor Moncure seine
Schergen auf Kundensuche schicken muß?« fragte sie
mit einem Lächeln.

Waylock schüttelte den Kopf. »Von jetzt an bis

morgen abend bin ich mein eigener Herr«, erklärte er
ihr.

»Aber du verkehrst doch sonst in höchsten Kreisen

– warum also dieses plötzliche Interesse an einem
gewöhnlichen Glark-Mädchen?«

»Gewöhnlich ist nicht gerade der richtige Aus-

druck«, widersprach Gavin. »Du bist wirklich eine
Schönheit – ist dir das nicht klar?«

»Würde ich sonst ein so auffälliges Kostüm tra-

gen?« lautete ihre Gegenfrage.

»Und du bist allein in Carnevalle?«
Die Jacynth nickte lächelnd.
»Darf ich dir meine Begleitung anbieten?«
»Selbstverständlich. Ich fürchte nur, daß du dich in

meiner Gesellschaft bald langweilen wirst.«

»Dieses Risiko nehme ich gern auf mich«, versi-

cherte Waylock ihr. »In welcher Richtung sollen wir
weitergehen?«

»Ich habe keine bestimmte Vorstellung. Ich wollte

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eigentlich vor allem die Menschen beobachten und
die Atmosphäre dieser Stadt auf mich wirken lassen.«

»In diesem Fall muß ich also die Wahl treffen. Ich

lebe und arbeite hier in Carnevalle, habe aber trotz-
dem noch längst nicht alles gesehen.«

Die Jacynth warf ihm einen überraschten Blick zu.

»Du lebst hier – in Carnevalle?«

»Ich habe ein Appartement bei den Tausend Die-

ben; dort wohnen viele, die hier arbeiten.«

Sie runzelte die Stirn. »Du bist also ein Berber?«
»O nein. Berber stehen außerhalb der Gesetze. Ich

bin ein gewöhnlicher Mann, der seine Arbeit tut – ein
Glark wie du.«

»Und das alles hängt dir nie zum Hals heraus?« Sie

wies auf das hektische Treiben unter Tausenden von
bunten Lichtern.

»Manchmal habe ich es gründlich satt«, gab er zu.
»Warum lebst du dann hier? In zwei Minuten

kannst du in Clarges sein.«

Waylock schüttelte langsam den Kopf. »Ich fahre

nur selten nach Clarges«, murmelte er. »Dort komme
ich mir immer wie ein Fremder vor...« Er gab sich ei-
nen Ruck und deutete auf die glitzernde Fassade des
Cafés Pamphylia. »Was hältst du von einer kleinen
Erfrischung?«

»Mit Vergnügen«, stimmte sie zu.
Sie fanden einen Tisch am Rand der Dachterrasse,

und Waylock bestellte zweimal Sangre de Dios. Ein
Robokellner brachte die Pokale mit der violetten
Flüssigkeit und verschwand geräuschlos.

»Ein wirklich erfrischender Drink«, stellte Gavin

fest. »Er vertreibt jede Müdigkeit.«

»Aber ich bin nicht müde.«

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Er seufzte. »Ich schon.«
Die Jacynth lächelte spöttisch. »Dabei hat die Nacht

eigentlich erst begonnen.«

»Keine Angst, ich schlafe nicht am Tisch ein.« Er

hob seine Maske und leerte den Pokal auf einen Zug.

Sie beobachtete ihn nachdenklich. »Du hast mir

nicht gesagt, wie du heißt«, sagte sie.

»Das ist hier üblich.«
»Ich möchte trotzdem deinen Namen wissen.«
»Gavin.«
»Ich heiße Jacynth.«
»Ein hübscher Name.«
»Nimm deine Maske ab, Gavin«, verlangte Die

Jacynth plötzlich. »Laß mich dein Gesicht sehen.«

»Gesichter in Carnevalle bleiben am besten verbor-

gen.«

»Das ist unfair, Gavin. Mein Kostüm verbirgt

nichts, während du...«

»Masken regen die Phantasie an«, stellte Waylock

fest. »Solange ich meine trage, könnte ich ein Mär-
chenprinz sein; nehme ich sie aber ab, siehst du nur
mein Alltagsgesicht.«

»Ich lege keinen Wert auf Märchenprinzen«, versi-

cherte sie ihm. »Komm, nimm die Maske ab!«

»Vielleicht später.«
»Möchtest du, daß ich dich für häßlich halte?«
»Nein, bestimmt nicht.«
»Bist du etwa häßlich?«
»Hoffentlich nicht.«
Die Jacynth lachte. »Du willst mich nur neugierig

machen!«

»Keineswegs. Ich bin das Opfer eines inneren

Zwanges, der mich dazu drängt, meine kleinen Ge-

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heimnisse zu bewahren.«

»Wie die alten Tuaregs«, murmelte Die Jacynth

nachdenklich.

Gavin warf ihr einen überraschten Blick zu. »Für

ein Glark-Mädchen bist du sehr gebildet«, stellte er
fest.

»Wir sind überhaupt ein wunderliches Paar«, sagte

Die Jacynth. »Zu welcher Phyle gehörst du?«

»Glark wie du.«
»Aha.« Sie nickte zufrieden. »Mir ist nur etwas an

dir aufgefallen.«

Waylock starrte sie an. »Was?«
»Alles zu seiner Zeit, Gavin.« Sie erhob sich. »Sol-

len wir jetzt unseren Rundgang machen?«

Waylock stand ebenfalls auf. »Wie du willst«, ant-

wortete er.

Sie legte ihm eine Hand auf den Arm. »Ich wette,

daß du mich nicht dorthin begleiten willst, wohin ich
gehen möchte.«

Waylock lachte. »Ich folge dir überallhin.«
»Das sagst du jetzt.«
»Du brauchst mich nur auf die Probe zu stellen.«
»Gut, komm mit.« Sie ging auf den Boulevard hin-

aus.

Gavin legte einen Arm um ihre Taille und drückte

sie an sich. »Du bist ein Wunder«, flüsterte er. »Eine
herrliche Blüte, ein zum Leben erweckter Wunsch-
traum.«

»Ah, Gavin«, sagte sie tadelnd, »du bist ein

schrecklicher Lügner!«

»Ich sage die Wahrheit«, protestierte er.
»Wahrheit? Was ist wahr?«
»Das weiß niemand.«

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Die Jacynth blieb stehen. »Wir werden es bald er-

fahren – hier steht der Tempel der Wahrheit.«

Waylock schüttelte den Kopf. »Auch dort gibt es

keine Wahrheit – nur boshafte Narren mit spitzen
Zungen.«

Sie griff nach seiner Hand. »Komm, Gavin, wir zei-

gen ihnen, daß wir noch boshafter sein können.«

»Warum gehen wir nicht lieber in...«
»Gavin! Du hast versprochen, mir überallhin zu

folgen.«

Waylock nickte zögernd und schritt neben ihr

durch das Tempelportal.

»Die Nackte Wahrheit oder die Verbrämte Wahr-

heit?« fragte der Diener am Eingang.

»Die Nackte Wahrheit!« sagte Die Jacynth.
Waylock wollte protestieren, aber Die Jacynth

drohte ihm lächelnd mit dem Zeigefinger. »Denkst du
noch an dein Versprechen, Gavin?«

»Schön, wenn mir keine andere Wahl bleibt«,

murmelte Waylock vor sich hin.

»Nach links, bitte«, sagte der Diener.
»Komm, Gavin.« Sie ging durch den langen Korri-

dor voraus. »Stell dir vor, jetzt erfährst du endlich
genau, was ich von dir halte.«

»Du willst nur erreichen, daß ich meine Maske ab-

nehme«, warf Gavin ihr vor.

»Selbstverständlich. War das nicht ohnehin deine

Absicht? Oder wolltest du mich umarmen, ohne sie
zuvor abzulegen?«

Ein anderer Diener empfing sie und wies ihnen

Umkleidekabinen an. »Sie entkleiden sich hier und
hängen sich diese Nummern um den Hals. Das Mi-
krophon dient dazu, Ihre Kommentare festzuhalten,

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die jeweils mit der Nummer des oder der Betreffen-
den beginnen. Wenn Sie den Tempel verlassen, er-
halten Sie eine Aufstellung der Bemerkungen anderer
über Ihre Person.«

Fünf Minuten später trat Die Jacynth Martin in den

großen Saal hinaus. Ihre Bekleidung bestand jetzt nur
aus der Nummer 202 an ihrem Hals und einem win-
zigen Mikrophon in ihrer rechten Hand.

Der weitläufige Saal war dick mit Teppichen aus-

gelegt und angenehm temperiert. Fünfzig oder sech-
zig nackte Männer und Frauen gingen hier auf und
ab oder unterhielten sich miteinander.

Gavin Waylock erschien mit der Nummer 98 – ein

schlanker, aber trotzdem muskulöser Mann von etwa
dreißig Jahren. Sein Haar war dicht und schwarz; die
Augen hellgrau und durchdringend; das Gesicht ha-
ger, männlich und ausdrucksvoll.

Er kam näher und erwiderte ruhig ihren Blick.

»Weshalb starrst du mich so an?« fragte er.

Die Jacynth wandte sich plötzlich ab. »Wir müssen

jetzt unseren Rundgang beginnen, damit die anderen
uns beurteilen können.«

»Die Kommentare sind oft nicht gerade schmei-

chelhaft«, stellte Waylock fest und betrachtete sie von
Kopf bis Fuß. »Du bist allerdings über jede Kritik er-
haben.« Er hielt das Mikrophon an den Mund und
sprach einige Sätze. »Meine Eindrücke sind jetzt fest-
gehalten.«

Sie bewegten sich eine Viertelstunde lang durch

den Saal und sprachen mit anderen, die großen Wert
darauf zu legen schienen. Dann kehrten sie in die
Umkleidekabinen zurück, zogen sich an und nahmen
an Ausgang zwei Umschläge in Empfang, auf denen

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DIE NACKTE WAHRHEIT stand. Die Umschläge
enthielten alle Bemerkungen, die über sie gemacht
worden waren – im allgemeinen recht offene und un-
verschämte Kommentare.

Die Jacynth runzelte die Stirn, kicherte, wurde rot

und las schließlich amüsiert weiter.

Waylock warf einen Blick auf das Papier in seiner

Hand und zeigte kaum Interesse daran, bis er plötz-
lich den Kopf senkte und aufmerksam las:

Hier ist ein Gesicht, an das ich mich erinnere, obwohl
ich nicht weiß, wann ich es zuletzt gesehen habe. Eine
Stimme in meinem Inneren flüstert mir zu: Der
Grayven Warlock! Aber dieses Ungeheuer wurde verur-
teilt und den Assassinen übergeben. Wer ist also dieser
Mann?

Gavin sah wieder auf. Die Jacynth beobachtete ihn. Er
faltete das Papier zusammen und steckte es langsam
ein. »Komm, wir gehen«, sagte er nur.

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4

Gavin Waylock hätte sich am liebsten selbst geohr-
feigt, weil er sich so unglaublich tölpelhaft und leicht-
sinnig benommen hatte. Es war ihm sieben Jahre lang
gelungen, seine Identität geheimzuhalten, aber dann
war er dem Zauber eines schönen Gesichts erlegen –
und hatte sich in ernste Gefahr gebracht.

Die Jacynth konnte nur vermuten, was Waylock in

diesem Augenblick empfand. Die Bronzemaske ver-
barg sein Gesicht, aber seine Finger zitterten, als er
das Papier zusammenfaltete und in die Tasche schob.

»Fühlst du dich in deiner Eitelkeit getroffen?«

wollte sie wissen.

Gavin zuckte mit den Schultern. »Ich bin leicht

verwundbar«, antwortete er ruhig. »Machen wir eine
kleine Pause im Ultra Lazuli?«

Sie überquerten die Straße und nahmen zwischen

Orchideen auf der Terrasse Platz, wo sie das Treiben
der Menge beobachten konnten. Beide schwiegen und
waren in Gedanken versunken; der zuvor begonnene
Flirt schien plötzlich beendet zu sein.

»Hat dir der Tempel der Wahrheit nicht gefallen?«

fragte Die Jacynth schließlich.

»Er hat mich etwas verblüfft«, antwortete Waylock.

»Hör dir das an.« Er las den Absatz vor, der ihn so er-
schreckt hatte.

Sie hörte ohne großes Interesse zu. »Und?«
Waylock lehnte sich in seinen Stuhl zurück. »Ei-

gentlich erstaunlich, daß du dich an Ereignisse aus
deiner Kindheit erinnerst.«

»Ich?« fragte Die Jacynth.

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»Nur du hast meine Nummer gekannt. Nachdem

wir uns getrennt hatten, habe ich sie umgedreht.«

»Ich muß zugeben, daß mir dein Gesicht bekannt

vorkam«, erwiderte sie.

»Dann hast du mich absichtlich getäuscht«, warf

Gavin ihr vor. »Du kannst kein Glark-Mädchen sein,
denn vor sieben Jahren hättest du dich noch nicht um
Skandale gekümmert. Brut scheidet aus dem gleichen
Grund aus. Folglich bist du Keil oder höher – aber in
Keil gibt es keine Mädchen mit achtzehn oder neun-
zehn Jahren.«

Die Jacynth zuckte mit den Schultern. »Du besitzt

eine blühende Phantasie.«

»Wenn du weder Glark noch Brut noch Keil noch

Dritte noch Rand bist, mußt du logischerweise Ama-
ranth sein. Deine bemerkenswerte Schönheit ist ein
weiterer Beweis für meine Theorie, denn unmodifi-
zierte Gene bringen selten solche Perfektion hervor.
Darf ich um deinen Namen bitten?«

»Ich bin Die Jacynth Martin.«
Waylock nickte. »Meine Schlußfolgerungen waren

richtig; deine sind es teilweise. Ich trage in der Tat die
Züge des Mannes, der früher Der Grayven Warlock
war. Wir sind identisch, denn ich bin sein Relikt.«

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5

Sobald ein Amaranth in die höchste Phyle aufge-
nommen worden war, zog er sich in eine strenge
Klausur zurück. Seinem Körper wurden fünf Zellen
entnommen, die in Nährlösungen innerhalb weniger
Wochen zu perfekten Kopien des Originals herange-
züchtet wurden, nachdem sie geringfügig verbessert
worden waren. Erhielt eine dieser idealisierten Kopi-
en später das Gedächtnis der ursprünglichen Persön-
lichkeit, war sie ein vollkommenes Abbild des Betref-
fenden: ein echtes Surrogat.

Während der Entwicklung dieser Surrogate war

der Amaranth nie vor Unfällen sicher und lebte des-
halb in ständiger Angst. Nach Ende der Klausur hatte
er jedoch nichts mehr zu befürchten, denn falls er ei-
nen gewaltsamen Tod fand, standen fünf Kopien sei-
ner selbst bereit, die mit gleicher Energie fortsetzten,
was er begonnen hatte.

Trotz aller Vorsichtsmaßnahmen kam es aber vor,

daß ein Amaranth während seiner Klausur getötet
wurde. Seine unbeseelten Surrogate, die als ›Relikte‹
bezeichnet wurden, entkamen meistens auf eine oder
andere Weise und führten in der Außenwelt ein ganz
normales Leben, da sie sich nur durch ihre Unsterb-
lichkeit von gewöhnlichen Männern und Frauen un-
terschieden. Legten sie Wert auf den Aufstieg durch
die Phylen, mußten sie sich wie alle anderen registrie-
ren lassen; blieben sie dagegen Glarks, hatten sie den
Vorteil ewiger Jugend, mußten aber ständig befürch-
ten, entdeckt und den Vorschriften entsprechend als
Brut registriert zu werden.

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Gavin Waylock behauptete, er sei ein Relikt. Die

Jacynth Martin war andererseits ein Surrogat mit der
Persönlichkeit und den Erinnerungen der ursprüngli-
chen Jacynth Martin, deren Leben geendet hatte, so-
bald die Kopien lebensfähig waren.

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6

»Ein Relikt«, wiederholte Die Jacynth nachdenklich.
»Der Grayven Warlock... vor sieben Jahren... Für die-
se kurze Zeitspanne scheinst du bemerkenswert gut
entwickelt zu sein.«

»Ich bin sehr anpassungsfähig«, erklärte Waylock

ihr. »In mancher Beziehung ist das eher hinderlich,
denn heutzutage haben nur Spezialisten Erfolg.«

Die Jacynth nahm einen Schluck aus ihrem Glas.

»Der Grayven Warlock war recht erfolgreich. Übri-
gens auf welchem Gebiet?«

»Journalismus. Er hat den Clarges Direction gegrün-

det.«

»Jetzt erinnere ich mich wieder. Der Abel Mande-

ville vom Clarion war sein Rivale.«

»Und sein erbitterter Feind. Eines Abends kam es

zu einer Auseinandersetzung, nachdem Der Grayven
ihn um seinen Besuch gebeten hatte, durch den ihr
Verhältnis geklärt werden sollte. Der Abel wurde tät-
lich; Der Grayven setzte sich zur Wehr, und Der Abel
stürzte dreihundert Meter tief aus einem geöffneten
Fenster. Der Grayven wurde als Mörder gebrand-
markt und den Assassinen ausgeliefert, bevor seine
Surrogate beseelt waren. An ihm sollte ein Exempel
statuiert werden, weil der unglückliche Zwischenfall
sich nicht vertuschen ließ. Der Grayven wurde den
Assassinen übergeben, obwohl er erst wenige Tage
zuvor in die höchste Phyle aufgestiegen war.«

»Der Grayven Warlock hätte seine Klausur nicht

frühzeitig verlassen dürfen«, stellte Die Jacynth unge-
rührt fest. »Niemand hat ihn dazu gezwungen, dieses

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Risiko einzugehen.«

»Der Grayven war impulsiv und ungeduldig; er

konnte und wollte sich nicht so lange verborgen hal-
ten. Und er hatte nicht mit der Rachgier seiner Feinde
gerechnet!«

Die Jacynth schüttelte energisch den Kopf. »Wir

alle sind Gesetzen unterworfen. Allein die Tatsache,
daß sie gelegentlich mißachtet werden, macht sie
nicht ungerecht. Wer Gewalt anwendet, muß damit
rechnen, gewaltsam beseitigt zu werden.«

Waylock starrte sie wortlos an. »Was hast du jetzt

vor?« fragte er schließlich.

Sie spielte mit ihrem Glas. »Dieses neue Wissen ist

mir keineswegs sympathisch. Ich fühle mich natürlich
verpflichtet, das Ungeheuer zu entlarven und...«

»Es gibt kein Ungeheuer zu entlarven!« unterbrach

Waylock sie rasch. »Der Grayven hat seine Strafe vor
sieben Jahren erhalten.«

Die Jacynth nickte. »Ja, natürlich.«
Ein rundliches Gesicht unter schwarzen Federn er-

schien an der Balustrade. »Das ist doch Gavin – der
gute alte Gavin Waylock!«

Basil Thinkoup stolperte heran und ließ sich

schwer auf einen Stuhl fallen. Sein Vogelkostüm war
zerzaust, und er schien betrunken zu sein.

Waylock erhob sich. »Du entschuldigst uns bitte,

Basil; wir wollten eben gehen.«

»Nicht so rasch! Ich sehe dich sonst immer nur auf

deinem Podium!« Er bestellte einen Drink. »Gavin ist
mein ältester Freund«, erklärte er mit einem Seiten-
blick auf Die Jacynth.

»Tatsächlich?« fragte sie. »Wie lange kennen Sie

ihn schon?«

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Waylock setzte sich langsam wieder.
»Vor sieben Jahren haben wir Gavin Waylock aus

dem Wasser gezogen und an Bord der Amprodex ge-
holt, auf der Kapitän Hesper Wellsey das Kommando
führte. Erinnerst du dich noch an seinen Tobsuchts-
anfall, Gavin?«

»Ja«, antwortete Gavin einsilbig. Er wandte sich an

Die Jacynth: »Komm, wir...«

Sie schüttelte den Kopf. »Dein Freund Basil interes-

siert mich... Ihr habt also Gavin Waylock aus dem
Wasser gezogen.«

»Er ist am Steuer seines Aircars eingeschlafen; die

Maschine stürzte ab, sobald sie den Bereich der Ener-
gieausstrahlung verlassen hatte.«

»Und das geschah vor sieben Jahren?« wollte Die

Jacynth wissen.

»Richtig, vor ziemlich genau sieben Jahren. Gavin

kann Ihnen alles erklären; er hat ein hervorragendes
Gedächtnis.«

»Gavin erzählt mir sehr wenig von sich.«
Basil Thinkoup nickte. »In dieser Beziehung ist er

recht zurückhaltend.« Als Gavin nicht darauf ant-
wortete, stand Basil kurze Zeit später auf und ent-
schuldigte sich für einen Augenblick. Er stolperte
über die Terrasse davon.

Waylock und Die Jacynth starrten einander an.
Die Jacynth sagte leise: »Vor sieben Jahren entflieht

Der Grayven Warlock den Assassinen. Vor sieben
Jahren wird Gavin Waylock aus dem Wasser gezo-
gen. Aber das ist nicht weiter wichtig – das Ungeheu-
er ist vernichtet worden.«

Waylock beobachtete sie schweigend. Als Basil zu-

rückgekehrt war, entschuldigte er sich ebenfalls, bog

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aber außer Sichtweite in die nächste Televisorzelle ab
und wählte mit zitternden Fingern eine Zahlenkom-
bination.

Der Bildschirm leuchtete grünlich auf, zeigte je-

doch statt eines Gesichts nur einen schwarzen Kreis.

»Wer ruft an?« flüsterte eine heisere Stimme.
Waylock nahm die Hände vom Gesicht.
»Ah, Gavin Waylock.«
»Ich muß mit Carleon sprechen.«
»Er hat im Museum zu tun.«
»Verbinde mich mit ihm!«
Ein rundes weißes Gesicht erschien auf dem Bild-

schirm. Jettschwarze Augen betrachteten Waylock
neugierig.

Waylock trug seinen Wunsch vor; Carleon lehnte

zunächst ab. »Ich muß meine Besucher führen.«

Waylock runzelte die Stirn. »Deine Besucher kön-

nen warten!«

Carleons Gesichtsausdruck veränderte sich nicht.

»Zweitausend Florins.«

»Tausend sind reichlich«, sagte Waylock.
»Du bist kein armer Mann, Waylock.«
»Gut, einverstanden. Zweitausend. Aber schnell!«
»Wird sofort erledigt.«
Waylock kam an den Tisch zurück und stellte fest,

daß Basil es wieder einmal verstanden hatte, das Ge-
spräch auf sein Lieblingsthema zu bringen – seine
Arbeit in der Beruhigungsanstalt. Die Jacynth hörte
aufmerksam zu, hob dann den Kopf und betrachtete
Waylock lächelnd.

»Was nun, Gavin?« fragte sie.
»Wollen wir gehen?«
Sie schüttelte den Kopf. »Ich bleibe noch etwas

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hier, Gavin. Aber du bist bestimmt müde. Geh nach
Hause und schlaf dich aus.« Ihr Lächeln wurde fast
ein Lachen. »Basil Thinkoup leistet mir noch etwas
Gesellschaft. Oder ich...« Sie richtete sich auf. »Albert!
Denis!«

Zwei Männer in prächtigen Kostümen blieben ste-

hen. »Die Jacynth! Welche angenehme Überra-
schung!«

Sie kamen auf die Terrasse; Waylock runzelte die

Stirn und ballte die Fäuste.

Die Jacynth übernahm die Vorstellung. »Der Albert

Pondiferry, Der Denis Lestrange – Basil Thinkoup
und... Gavin Waylock.«

Der Denis Lestrange war groß und schlank und

trug sein blondes Haar altmodisch kurz; Der Albert
Pondiferry war untersetzt und schwarzhaarig, mit
glitzernden dunklen Augen und scharfen Gesichts-
zügen. Beide deuteten eine höfliche Verbeugung an.

Die Jacynth warf Gavin einen Blick zu und fuhr

fort: »Albert und Denis, wißt ihr eigentlich, daß hier
die interessantesten Leute herumlaufen?«

»Tatsächlich?« Sie betrachteten Waylock und Basil

Thinkoup ohne allzu große Neugier.

»Basil Thinkoup strebt als Psychiater in der Beru-

higungsanstalt Balliasse.«

»Dann haben wir sicher gemeinsame Bekannte«,

erklärte Der Denis lächelnd.

»Und Gavin Waylock – das erratet ihr nie!«
Waylock biß die Zähne zusammen.
»Dann versuche ich es gar nicht erst«, meinte Der

Albert.

»Oh, ein Versuch kann nicht schaden«, sagte Der

Denis und sah prüfend zu Waylock hinüber. »Dem

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Körperbau nach... Artist oder Akrobat.«

»Nein«, antwortete Die Jacynth. »Dreimal darfst du

raten.« Waylock holte tief Luft; dieses Frauenzimmer
war unerträglich.

»Ich bezweifle, daß Waylock dieses Rätselraten ge-

fällt«, warf Der Albert ein.

»Es gefällt ihm bestimmt nicht«, versicherte Die

Jacynth ihm. »Aber das Spiel erfüllt einen bestimmten
Zweck. Wenn ihr jedoch...«

In diesem Augenblick pfiff etwas so leise durch die

Luft, daß nur Waylock darauf aufmerksam wurde.
Die Jacynth zuckte zusammen und griff sich an die
Schulter, aber der Pfeil war so winzig und spitz, daß
sie jetzt nichts mehr spürte und annehmen mußte,
der plötzliche Schmerz sei ein Insektenstich gewesen.

Basil Thinkoup legte die Hände flach auf den Tisch

und sah von einem zum anderen. »Mir knurrt der
Magen«, stellte er fest. »Hat sonst noch jemand Ap-
petit auf frische Krebse?«

Da ihn offenbar niemand begleiten wollte, stand er

nach einer kurzen Pause auf. »Schön, dann gehe ich
eben allein – ich muß ohnehin bald ins Bett. Diese
glücklichen Amaranth, die sich keine Sorgen um den
nächsten Tag zu machen brauchen!«

Der Albert und Der Denis wünschten ihm höflich

einen guten Abend; Die Jacynth schwankte leicht auf
ihrem Stuhl. Sie atmete stoßweise und schien nach
Luft zu ringen.

Waylock erhob sich. »Ich begleite dich, Basil. Für

mich wird es allmählich Zeit.«

Die Jacynth senkte den Kopf und schloß die Augen.

Der Albert und Der Denis beobachteten sie über-
rascht.

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»Ist etwas nicht in Ordnung?« fragte Waylock.
Die Jacynth antwortete nicht.
»Vielleicht ist ihr schlecht«, meinte Der Albert.

»Zuviel Aufregung, zu viele Drinks.«

»Das gibt sich wieder«, sagte Der Denis unbeküm-

mert. »Laßt sie in Ruhe.«

Die Jacynth legte den Kopf auf die Arme; ihr blon-

des Haar bedeckte die Tischplatte.

»Fehlt ihr wirklich nichts?« erkundigte Waylock

sich.

»Wir kümmern uns um sie«, versprach Der Albert.

»Lassen Sie sich nicht länger aufhalten.«

Waylock zuckte mit den Schultern. »Komm, Basil.«
Als sie das Café verließen, drehte er sich noch ein-

mal um. Die Jacynth bewegte sich nicht mehr. Der
Albert und Der Denis starrten sie an und schienen
nicht recht zu wissen, was sie tun sollten.

Waylock seufzte. »Komm, Basil, wir gehen.«

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7

Waylock fühlte sich müde und erschöpft. Er verab-
schiedete sich vor einem der Restaurants von Basil
Thinkoup. »Ich habe keinen Hunger; ich bin nur mü-
de.«

Basil klopfte ihm auf die Schulter. »Hoffentlich

denkst du über meinen Vorschlag nach, Gavin. In der
Beruhigungsanstalt ist immer ein Posten für dich
frei!«

Waylock ging langsam die Esplanade entlang. Über

dem Fluß lag bereits der erste Schimmer des kom-
menden Tages, vor dem Carnevalle verblaßte. Die
farbigen Lichter strahlten weniger hell, und die weni-
gen Nachtschwärmer, denen Waylock jetzt noch be-
gegnete, waren grau im Gesicht und hatten Ringe
unter den Augen.

Er hing seinen Gedanken nach, ohne auf die Vor-

übergehenden zu achten. Vor sieben Jahren hatte er
einen allzu heftigen Schlag geführt; Der Abel Mande-
ville war dreihundert Meter tief gefallen. Heute hatte
er einen zweiten Tod veranlaßt, weil eine Frau es sich
in den Kopf gesetzt zu haben schien, ihn zu vernich-
ten. Er war also in zweifacher Beziehung ein Unge-
heuer.

Ein Ungeheuer. Dieses Wort bezeichnete ein Aus-

maß an Verworfenheit und Niedertracht, das
menschliche Vorstellungen fast überstieg. Schon das
Wort ›Tod‹ war der schrecklichste Fluch, und ein
Mensch, der den Tod verursachte, war das gräßlich-
ste Scheusal in Person.

Dabei hatte Waylock im Grunde genommen keinen

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Mord begangen. Der Abel Mandeville führte sein Le-
ben vor Ablauf einer Woche weiter; eine neue Jacynth
Martin würde ebenfalls nach kurzer Zeit erscheinen.
Hätten die Assassinen jedoch vor sieben Jahren ihren
Auftrag durchführen können, wäre dies einem kalt-
blütigen Mord gleichgekommen, denn der Grayven
Warlock hatte noch keine beseelten Surrogate zur
Verfügung. Er hatte die Gelegenheit genützt und war
in seinem Aircar über die Grenzen der Region geflo-
hen. Für die Assassinen war sein Fall damit erledigt.
Wer die Region verließ, hatte den sicheren Tod vor
Augen; die Nomaden veranstalteten ein Fest, wenn
ihnen ein Mann aus Clarges in die Hände fiel.

Waylock hatte sich jedoch am äußersten Rand des

Energiebereichs aufgehalten und hatte Clarges
mehrmals in großer Entfernung umkreist. Nachdem
er den Frachter Amprodex entdeckt hatte, brauchte er
nur noch eine Notlandung zu simulieren und sich an
Bord ziehen zu lassen, wo er sofort anheuerte, um
sich die Passage zu verdienen. Von diesem Tag an
existierte Gavin Waylock.

Falls die Assassinen vermuteten, er habe sie ge-

täuscht, würden sie jetzt entschlossen reagieren.
Waylock hatte sich jahrelang verborgen gehalten und
war nie ohne ein Alter-Ego, das sein wahres Gesicht
wie eine zweite Haut bedeckte, nach Clarges gefah-
ren.

Er wohnte in einem bescheidenen Appartement bei

den Tausend Dieben, aber selbst dort zeigte er sich
nie ohne die Bronzemaske oder das Alter-Ego. Jetzt
hatte er allen Grund zur Enttäuschung, denn in kaum
vier Wochen wäre Der Grayven Warlock laut Gesetz
tot gewesen. Waylock erhielt dadurch die Möglich-

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keit, unter seinem neuen Namen eine zweite Karriere
zu beginnen.

Trotzdem war vielleicht noch nicht alles verloren.

Er durfte hoffen, die Auswirkungen dieses Zwischen-
falls abgeschwächt zu haben. In einer oder zwei Wo-
chen würde die neue Jacynth in der Öffentlichkeit er-
scheinen, ohne irgendwie unter den Ereignissen die-
ser Nacht gelitten zu haben, und alles andere würde
nach Plan verlaufen.

Gavin Waylock schritt rascher aus, überquerte

menschenleere Straßen und Plätze, erreichte sein Ap-
partement und versank sofort in bleischweren Schlaf.

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8

Der letzte Monat verstrich ohne weitere Zwischen-
fälle. Waylock arbeitete wie gewohnt im Haus des
Lebens und fuhr einmal wöchentlich nach Clarges
hinüber, wo er eine nur ihm bekannte Adresse auf-
suchte.

Der Monat war zu Ende, und nun war es sieben

Jahre her, daß Der Grayven Warlock die Region ver-
lassen hatte. Nach Ablauf dieser Frist wurde er auto-
matisch für tot erklärt. Gavin Waylock konnte nun
auf die Bronzemaske oder sein Alter-Ego verzichten
und unbesorgt durch die Straßen von Clarges gehen.
Der Grayven Warlock war tot; Gavin Waylock lebte.

Er kündigte seine Stellung im Haus des Lebens,

gab das Appartement bei den Tausend Dieben auf
und mietete eine kleine Wohnung am Oktagon, wo er
möglichst weit vorn Esterhazy-Platz und dem riesi-
gen Gebäude entfernt war, das den Aktuarius beher-
bergte.

Am nächsten Morgen brach er früh auf, fuhr mit

dem Förderband durch die Allemand-Avenue, bog
an der Oliphant-Straße nach rechts ab und erreichte
so den Esterhazy-Platz. Dort ließ er sich im Café
Dalmatia nieder, bestellte einen Becher Tee und ver-
folgte das lebhafte Kommen und Gehen an der Vor-
derfront des Aktuarius, wo sich Männer und Frauen
in kleinen Kabinen nach dem Stand ihrer Karriere er-
kundigten.

Waylock konnte seine begreifliche Nervosität nicht

völlig unterdrücken. In den letzten sieben Jahren
hatte er verhältnismäßig ruhig und zurückgezogen

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gelebt. Ließ er sich aber jetzt in Brut registrieren,
wurde plötzlich alles anders – von diesem Zeitpunkt
an würde er die Ängste und Sorgen der Bürger von
Clarges am eigenen Leib erfahren.

Hier in der Morgensonne vor dem Café Dalmatia

fand er diesen Gedanken wenig verlockend und ließ
sich deshalb viel Zeit, als sei sein Entschluß nicht
schon längst gefaßt. Sobald er jedoch den Tee ausge-
trunken hatte, stand er ruckartig auf, überquerte den
Platz und betrat das weitläufige Gebäude.

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9

Waylock fand sich in einer riesigen Halle wieder und
entdeckte schließlich den Informationsschalter. Einer
der Angestellten, ein blasser junger Mann mit dicken
Brillengläsern, hob den Kopf und fragte: »Kann ich
Ihnen irgendwie behilflich sein, Sir?«

»Ich möchte mich in Brut registrieren lassen.«
»Aktivieren Sie bitte diesen Fragebogen.«
Waylock

ging

mit

dem

Bogen

an

die

nächste

Kodier-

maschine

und

füllte ihn mit Hilfe der Tastatur aus, die

seine

Angaben

in

Schreibmaschinenschrift

und

gleich-

zeitig als magnetische Informationspunkte festhielt.

Eine Frau in mittleren Jahren näherte sich dem

Schalter. Sie hatte verweinte Augen und hielt ein zer-
knülltes Taschentuch in der Hand.

»Kann ich Ihnen irgendwie behilflich sein, Ma-

dam?«

Die Frau stieß hervor: »Es handelt sich um meinen

Mann. Er heißt Egan Fortam. Ich bin drei Tage lang
zu einem Seminar fortgewesen; als ich heute zurück-
kam, war er verschwunden.« Sie schluchzte leise. »Ich
dachte, hier könnte mir vielleicht jemand helfen.«

Der Angestellte nickte mitfühlend und füllte den

Fragebogen selbst aus. »Ihr Name, Madam?«

»Gold Fortam.«
»Ihre Phyle?«
»Keil; ich bin Lehrerin.«
»Wie war noch der Name Ihres Gatten?«
»Egan Fortam.«
»Und seine Phyle?«
»Brut.«

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»Und seine Kennziffer?«
»IXD-995-AAC.«
»Ihre Adresse?«
»Wibleside, Cleobury Court 2241.«
»Einen Augenblick bitte, Mrs. Fortam.«
Er steckte die Karte in den Schlitz vor sich und be-

antwortete die Fragen eines jungen Mannes von etwa
achtzehn Jahren, der sich wie Waylock in Brut regi-
strieren lassen wollte.

Ein Klingelzeichen ertönte, dann wurde die Karte

wieder ausgeworfen; der Angestellte warf einen kur-
zen Blick darauf und wandte sich an die Lehrerin.

»Mrs. Fortam, Ihr Gatte ist am vergangenen Mon-

tag um acht Uhr neununddreißig von seinem Assas-
sinen besucht worden.«

»Vielen Dank«, flüsterte Mrs. Fortam und stolperte

davon.

Der Angestellte nahm Waylocks Fragebogen auf.

»Ausgezeichnet, Sir; drücken Sie bitte Ihren rechten
Daumen gegen diese Folie.«

Waylock tat wie geheißen, und der Abdruck ver-

schwand in einem anderen Schlitz. »Wir müssen ihn
überprüfen«, erklärte ihm der Angestellte, »sonst
käme ein Schlaukopf womöglich auf die Idee, sich
nochmals registrieren zu lassen, bevor seine Lebens-
linie den Terminator erreicht.«

Waylock nickte zustimmend. Seine Karte war ver-

mutlich längst aussortiert worden... Er wartete. Der
Angestellte betrachtete seine Fingernägel.

Diesmal ertönte ein lauteres Klingelzeichen, das

den Mann hinter dem Schalter aufschrecken ließ. Er
starrte Waylock an. »Duplikation!«

Waylock beherrschte sich mühsam. Der Angestellte

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nahm die Karte auf und las: »Identisch mit dem Ab-
druck des Verbrechers Grayven Warlock.« Er starrte
Waylock erschrocken an. »Den Assassinen ausgelie-
fert am... hm... vor sieben Jahren.«

»Ich bin sein Relikt«, sagte Waylock heiser. »Ich

habe sieben Jahre lang auf diese Gelegenheit gewar-
tet, mich in Brut registrieren zu lassen.«

»Oh«, meinte der andere. »Richtig, das hätte ich

fast vergessen... Jedenfalls ist alles in Ordnung, weil
Ihre Abdrücke nicht denen eines Lebenden gleichen.
Wir bekommen hier nicht oft Relikte zu sehen.«

»Es gibt auch nicht allzu viele.«
»Ganz recht.« Er drückte Waylock eine Metallpla-

kette in die Hand. »Ihre Kennziffer ist KAE-321-JCR.
Falls Sie Auskunft über Ihre Lebenslinie wünschen,
brauchen Sie die Plakette nur in den Schlitz einer un-
serer Kabinen zu stecken.«

Waylock nickte. »Danke, das habe ich verstanden.«
»Gehen Sie jetzt bitte in Raum C hinüber, wo Ihre

Gehirnströme für unsere Televektorabteilung aufge-
zeichnet werden.«

In Raum C erhielt Waylock einen Untersuchungs-

stuhl angewiesen, bekam eine Metallkappe über den
Kopf gestülpt und mußte stillsitzen, während eine
Krankenschwester den Enzephalographen bediente.

Sekunden später nahm ihm die Schwester wieder

die Elektroden ab. »Vielen Dank, Sir. Gehen Sie bitte
durch die erste Tür rechts hinaus.«

»Ist das alles?«
»Das war alles. Sie sind jetzt in Brut registriert.«
Waylock verließ das Gebäude, überquerte den gro-

ßen Platz und setzte sich im Café Dalmatia an den
gleichen Tisch.

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Über dem Haupteingang des Aktuarius hing eine

Konstruktion aus Eisenstäben: der Prangerkäfig, auf
dessen Boden eine alte Frau hockte, die offenbar wäh-
rend Waylocks Abwesenheit in den Käfig gesteckt
worden war. Sie mußte versucht haben, den Aktuari-
us irgendwie zu betrügen und büßte jetzt auf her-
kömmliche Weise für ihr Vergehen.

Am Nebentisch sprachen zwei Männer – der eine

groß und hager, der andere fast in Fett erstickt – über
die Alte. »Ein komischer Anblick, was?« sagte der
Dicke. »Die alte Schachtel muß versucht haben, den
Aktuarius hereinzulegen!«

»Das passiert heutzutage öfter als früher«, stellte

sein Begleiter fest. »In meiner Jugend war der Käfig
oft monatelang leer.« Er schüttelte betrübt den Kopf.
»Das kommt davon, daß Zeloten und Zweifler und
alle möglichen anderen Sekten die alte Ordnung um-
stoßen wollen.«

Der Dicke rieb sich verstohlen die Hände. »Die

Zeloten kommen heute nacht bestimmt hierher.«

»Früher hätte es das nicht gegeben«, versicherte

ihm der Hagere erregt. »Die Leute wurden um Mit-
ternacht in aller Stille freigelassen... Und jetzt machen
die Zeloten ein widerliches Schauspiel daraus. Die
reinsten Ungeheuer!«

Der Dicke grinste nur und wies auf die Alte. »Ge-

gen die dort drüben ist jeder Zelot harmlos. Wer den
Aktuarius betrügt, stiehlt uns das Leben.«

Sein

Freund

wandte

sich

ab.

»Dir

kann

sie

nichts

steh-

len. Du bist ein Glark und wirst stets einer bleiben.«

»Du auch!«
Waylock hob in diesem Augenblick zufällig den

Kopf und sah eine schlanke Frauengestalt dicht an

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sich vorbeigehen – Die Jacynth Martin. Er wollte ihr
unwillkürlich zunicken, beherrschte sich aber gerade
noch rechtzeitig. Sie mußte ihn ebenfalls gesehen ha-
ben, wenn er ihren Gesichtsausdruck richtig deutete,
schien jedoch nicht zu wissen, wen sie vor sich hatte,
und bog um die nächste Ecke.

Gavin lehnte sich in seinen Sessel zurück und holte

tief Luft. Zum Glück hatte die neue Jacynth ihn nicht
erkannt – das war völlig ausgeschlossen. Sie war für
ihn nur eine schöne Unbekannte, und er war für sie
eines der vielen Gesichter aus ihrer Vergangenheit.

Waylock verdrängte ihr Bild aus seinen Gedanken

und befaßte sich wieder mit seiner eigenen Zukunft.

Er dachte über Basil Thinkoups Vorschlag nach, bei

ihm in der Beruhigungsanstalt zu arbeiten. Eine we-
nig sympatische Idee, denn dort wäre er verschiede-
nen Einflüssen ausgesetzt, die sich schwer kompen-
sieren ließen. Also lieber ein anderes Gebiet, auf dem
es nicht allzu viel Konkurrenz gab? Waylock runzelte
nachdenklich die Stirn, rief einen Zeitungsverkäufer
heran und kaufte den Clarion, in dessen Spalten er
Anregungen zu finden hoffte.

Er brauchte nicht lange zu suchen. Auffällige Zu-

nahme der Selbsttransition in den unteren Phylen...
Soziologen stehen vor einem Rätsel... Abbruch der
Slums in Gosport, um Platz für eine Stadtautobahn
mit acht Fahrspuren zu schaffen... Einweihung der
neuen Trabantenstadt Meynard... Und ein Interview
mit Didaktor Talbert Falcone, dem bekannten Psych-
iater. Didaktor Falcone war

... entsetzt über die ständig wachsende Zahl der Geistes-
kranken. Zweiundneunzig Prozent aller Krankenbetten

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sind heutzutage mit Patienten dieser Art belegt. Über
fünfzehn Prozent der Erwachsenen sind zu irgendeinem
Zeitpunkt in einer Beruhigungsanstalt gewesen. Das
alles beweist, daß unsere Heilverfahren dringend über-
holungsbedürftig sind. Aber niemand befaßt sich damit,
weil auf diesem Gebiet kaum Karrierepunkte zu sam-
meln

sind;

der

Anreiz

für unsere besten Köpfe fehlt völlig.

Waylock las den Absatz zweimal durch. Genau seine
Meinung! Er las weiter:

Der häufigste psychische Defekt ist ohne Zweifel das
manisch-katakonische Syndrom, dessen Ursachen und
Wirkungen nur allzu gut bekannt sind. Intelligente
Männer und Frauen, die ein Leben lang hart gearbeitet
haben, müssen plötzlich feststellen, daß ihre Lebenslinie
sich trotz aller Anstrengungen dem Terminator nähert.
Dem Betroffenen wird schlagartig klar, daß dieses Ver-
hängnis sich durch nichts abwenden läßt. Folglich gibt
er auf und verfällt in einen mehr oder weniger tiefen
Trancezustand. Von Zeit zu Zeit erwacht er daraus,
verwandelt sich in ein tobendes Ungeheuer, das gewalt-
sam gebändigt werden muß, und versinkt wieder in sei-
nen Dämmerzustand.

Dies ist eine charakteristische Krankheit unserer Zeit.

Bedauerlicherweise lehrt die Erfahrung, daß die Zahl der
Kranken um so rascher zunimmt, je mehr der Aufstieg
durch die Phylen erschwert wird. Ist das nicht eine wah-
re Tragödie? Wir entreißen der Natur ihre letzten Ge-
heimnisse, durchqueren den interstellaren Raum, bauen
unsere Türme bis zu den Wolken und haben das Alter
besiegt – aber trotzdem stehen wir noch immer hilflos an
der Schwelle des menschlichen Geistes!

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Waylock faltete die Zeitung nachdenklich zusammen
und stand dann entschlossen auf. Eine Minute später
befand er sich bereits auf dem Weg zu Basil Thin-
koup, der ihm einen Posten in seiner Beruhigungsan-
stalt versprochen hatte. Das war ein Gebiet, das alle
Ansprüche erfüllte! Allerdings mußte er damit rech-
nen, nur als Krankenpfleger angestellt zu werden. Er
hatte keine Erfahrung und würde sich das nötige
Wissen selbst aneignen müssen. Aber Basil Thinkoup
war den gleichen Weg gegangen – und jetzt bereitete
er sich schon auf den Durchbruch in Dritte vor...

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10

Am Nachmittag des gleichen Tages betrat Gavin
Waylock die Empfangshalle der Beruhigungsanstalt,
erkundigte sich nach Basil Thinkoup und wurde in
Zimmer 303 im dritten Stock geschickt. Er benützte
die Rolltreppe, verirrte sich zunächst und fand dann
tatsächlich Zimmer 303. An der Tür stand in großen
Buchstaben:

BASIL THINKOUP

Assistent des Direktors

Und darunter in kleinerer Schrift:

SETH CADDIGAN

Psychotherapeut

Waylock schob die Tür auf und trat ein, ohne anzu-
klopfen.

Hinter dem Schreibtisch saß ein jüngerer Mann

und zeichnete farbige Kurven auf grünes Millimeter-
papier. Das mußte Seth Caddigan sein. Er war groß
und muskulös, mit hagerem Gesicht, rötlichem Haar,
kurzer Stupsnase und langer Oberlippe. Er sah unge-
duldig zu Waylock auf.

»Ich möchte mit Mister Thinkoup sprechen«, er-

klärte Waylock ihm.

»Basil hat eine Besprechung.« Caddigan wandte

sich seiner Arbeit zu. »Nehmen Sie Platz, er muß
gleich kommen.«

Waylock ging ans Fenster und starrte auf den ge-

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pflegten Park hinaus. Caddigan beobachtete ihn und
fragte plötzlich: »Was wollen Sie von Mister Thin-
koup? Vielleicht kann ich Ihnen behilflich sein.
Kommen Sie als Patient?«

Waylock lachte. »Sehe ich verrückt aus?«
Caddigan betrachtete ihn abschätzend. »›Verrückt‹

ist ein unwissenschaftlicher Ausdruck, den wir selten
gebrauchen.«

»Entschuldigung«, sagte Waylock. »Sie sind also

Wissenschaftler?«

»Ich hoffe es jedenfalls.«
Auf seinem Schreibtisch lag ein grauer Zeichen-

karton mit roten Strichen. Waylock nahm ihn auf.
»Und ein Künstler dazu.«

Caddigan schüttelte den Kopf. »Das hat ein Patient

gezeichnet – es gehört zur Therapie.«

»Hm«, meinte Waylock. »Ich hätte die Zeichnung

auch Ihnen zugetraut.«

»Warum?« fragte Caddigan.
»Oh, sie sieht so wissenschaftlich aus und...«
Caddigan runzelte die Stirn. »Dann leiden Sie unter

den gleichen Illusionen wie dieser Patient.«

Waylock grinste. »Was soll das eigentlich sein?«
»Der Patient sollte sein Gehirn zeichnen.«
Waylock war erstaunt. »Haben Sie viele Zeichnun-

gen dieser Art?«

»Sehr viele.«
»Werden sie irgendwie klassifiziert?«
Caddigan deutete auf seine Kurven. »Ich bin eben

damit beschäftigt.«

»Und

wenn

Sie alle klassifiziert haben – was dann?«

Caddigan zögerte unentschlossen und antwortete

schließlich: »Vielleicht wissen Sie, daß die Psycholo-

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gie weniger Fortschritte als andere wissenschaftliche
Bereiche gemacht hat.«

»Ich nehme an, daß sie unter einem Mangel an

erstklassigen Männern leidet«, sagte Waylock nach-
denklich.

Caddigan sah zur Tür. »Die größte Schwierigkeit

ist die Unzugänglichkeit des menschlichen Nervensy-
stems, das geradezu unglaublich komplex aufgebaut
ist. Selbstverständlich gibt es Tausende von Verfah-
ren zur Deutung der wichtigsten Probleme, aber ich
glaube, daß meine Arbeit einige neue Wege aufzeigen
wird.«

»Das Gebiet ist also statisch?«
»Im Gegenteil, es befindet sich sogar in ständigem

Aufruhr. Aber alle Bemühungen scheitern daran, daß
das menschliche Gehirn für uns noch immer eine Ter-
ra incognita ist. Unsere Methoden haben sich seit
Freud und Jung kaum gewandelt – wir behandeln auf
Verdacht.« Er starrte Waylock durchdringend an.
»Möchten Sie Amaranth werden?«

»Sehr gern.«
»Lösen Sie eines der zwanzig Grundprobleme der

Psychologie. Dann haben Sie es geschafft.« Er beugte
sich über seine Zeichnung und schien das Gespräch
für beendet zu halten. Waylock zuckte lächelnd die
Schultern und ging wieder ans Fenster.

In der Wand neben ihm öffnete sich eine Tür; er

sah ein geräumiges Arbeitszimmer, an das sich offen-
bar der Konferenzraum anschloß. Basil Thinkoup
stand auf der Schwelle und begrüßte Waylock mit ei-
nem überraschten Lächeln. Er trug eine strenge graue
Uniform, die nicht recht zu seinem rundlichen Ge-
sicht paßte.

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11

Gavin Waylock verließ die Anstalt erst gegen Abend
und bestellte sich ein Lufttaxi, um unterwegs in aller
Ruhe nachdenken zu können. Basil war sofort bereit
gewesen, ihm auf jede nur mögliche Weise zu helfen,
und hatte Waylock mehrmals versichert, er habe die
bestmögliche Wahl getroffen. »Hier gibt es Arbeit zu
tun, Gavin – Berge von Arbeit! Arbeit und Steigung!«

Caddigan hatte seinen Vorgesetzten nur schwei-

gend angestarrt; er litt offenbar unter der Vorstellung,
Waylock könnte der erste einer langen Reihe von Di-
lettanten sein, deren einzige Qualifikation ihre
Freundschaft mit Basil Thinkoup war.

Waylock überlegte sich, daß es vermutlich ange-

bracht war, sich den fachlichen Wortschatz dieser
Leute einigermaßen anzueignen. Aber er durfte seine
ursprüngliche Absicht nicht darüber vergessen – er
mußte die Sackgassen vermeiden, in die Hunderttau-
sende vor ihm hineingestolpert waren. Trotzdem kam
es zunächst darauf an, Vorgesetzte und Ranghöhere
günstig zu beeinflussen, indem er mit den Wölfen
heulte. Steigung war wichtiger als alles andere!

Nachdem ihn das Lufttaxi vor seinem Apparte-

ment abgesetzt hatte, ging er zum nächsten Zeitungs-
kiosk, der gleichzeitig eine Filiale der Zentralbiblio-
thek war, und ließ sich den Katalog geben. Er wählte
zwei Fachbücher über Psychologie aus, warf einen
Florin in den Schlitz und druckte die entsprechenden
Tasten. Eine Minute später erhielt er zwei Mikrofilme
in Zellophanumschlägen.

Er kehrte in sein Appartement zurück, aß eine

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Kleinigkeit, wollte anschließend mit dem Studium
der Bücher beginnen und schlief darüber ein. Als er
aufwachte, hatte er heftige Kopfschmerzen, und seine
Armbanduhr zeigte auf halb zwölf. Er entschied sich
für einen nächtlichen Spaziergang an der frischen
Luft und erreichte zwanzig Minuten später das Café
Dalmatia, wo er nur mit Mühe noch einen Platz fand.

Auf der breiten Terrasse drängten sich Männer und

Frauen, die gespannt das Gebäude des Aktuarius be-
obachteten.

Waylock empfand die erwartungsvolle Atmosphä-

re instinktiv als bedrohlich. Unter den dunklen Arka-
den des Esterhazy-Platzes und in den Nebenstraßen
schien etwas zu lauern. Nirgendwo ein Laut oder ei-
ne Bewegung. Aber jeder wußte, daß dort die Zeloten
warteten.

Mitternacht. Im Café herrschte tiefes Schweigen.
Der Prangerkäfig wurde langsam herabgelassen,

berührte das Pflaster und zerfiel in sechs Teile. Die
alte Frau war wieder frei; sie hatte ihre Strafe abge-
büßt.

Die Menschen im Café Dalmatia beugten sich vor

und wagten kaum zu atmen.

Die Alte setzte sich langsam in Bewegung und ging

auf die Bronzestraße zu.

Ein Stein fiel vor ihr zu Boden. Noch einer und

noch einer. Der vierte Stein traf sie an der Hüfte.

Als sie zu rennen begann, kamen weitere Steine aus

der Dunkelheit. Einer traf sie im Nacken. Sie stolperte
und fiel.

Dutzende von Steinen folgten.
Dann kam sie wieder auf die Füße, rettete sich in

die Bronzestraße und verschwand.

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»Hmmm«, sagte jemand, »sie ist entkommen.«
Eine andere Stimme erwiderte vorwurfsvoll: »Wie

kannst du das bedauern? Du bist ebenso schlimm wie
die Zeloten!«

»Habt ihr gesehen, wie dicht die Steine heute ge-

flogen sind?« fragte eine junge Frau ihre Begleiter.
»Wirklich ein Steinhagel!«

»Die verdammten Zeloten werden immer frecher

und unverschämter«, murmelte ein alter Mann neben
Waylock. »Nächstens fallen sie noch bei Tageslicht
über die armen Leute im Käfig her.« Er schüttelte
sorgenvoll den Kopf. »Zeloten und Zweifler und alle
anderen... ich weiß nicht, ich weiß wirklich nicht, was
uns eines Tages erwartet.«

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12

Waylock erschien am nächsten Morgen pünktlich in
der Beruhigungsanstalt. Diese Tatsache fiel ihm selbst
auf, und er dachte spöttisch: Du benimmst dich schon
wie die übrigen Streber – dir fehlt nur noch ein Magenge-
schwür.

Da Basil Thinkoup an diesem Vormittag anderwei-

tig beschäftigt war, meldete Waylock sich bei Seth
Caddigan, der ihm einen Fragebogen zuschob. »Bitte
ausfüllen«, sagte er dabei.

Als Waylock den Fragebogen mit gerunzelter Stirn

durchlas, erklärte Caddigan ihm: »Das ist Ihre Be-
werbung als Krankenpfleger.«

»Aber ich bin doch bereits als Krankenpfleger an-

gestellt«, protestierte Waylock.

»Füllen Sie das Ding trotzdem aus«, empfahl Cad-

digan ihm.

Waylock beantwortete einige Fragen, machte bei

den meisten nur einen Strich und legte Caddigan den
Fragebogen auf den Schreibtisch. »Da haben Sie mei-
nen Lebenslauf.«

Caddigan zog die Augenbrauen hoch. »Ihr Leben

scheint überwiegend aus Schrägstrichen zu beste-
hen.«

»Ist das wirklich so wichtig?«
Caddigan zuckte mit den Schultern. »Sie werden

noch feststellen, daß unsere Bonzen streng nach Vor-
schrift arbeiten. Ihr Fragebogen wirkt vermutlich wie
ein rotes Tuch auf sie.«

»Vielleicht haben die Bonzen eine kleine Anregung

nötig.«

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Caddigan starrte ihn an. »Krankenpfleger wirken

selten anregend, ohne es später zu bedauern.«

»Ich hoffe, daß ich nicht allzu lange Krankenpfleger

bleibe.«

Caddigan grinste plötzlich. »Keine Angst, das ist

ziemlich unwahrscheinlich.« Als Waylock nicht dar-
auf reagierte, fragte er: »Sind Sie schon auf Ihre neuen
Pflichten gespannt?«

»Ich interessiere mich zumindest dafür«, erwiderte

Waylock.

»Ausgezeichnet. Ich muß Ihnen allerdings ganz

ehrlich sagen, daß die Arbeit nicht gerade schön ist.
Manchmal ist sie sogar gefährlich. Wer einen Patien-
ten verletzt, büßt wertvolle Karrierepunkte ein. Wir
dürfen uns weder Gewalttätigkeiten noch Gefühl-
sempfindungen leisten – es sei denn, wir würden
selbst krank.« Caddigan erhob sich. »Kommen Sie,
ich zeige Ihnen, was ich meine...«

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13

»Das ist Ihr zukünftiger Wirkungsbereich«, stellte
Caddigan ironisch fest. Er zeigte auf den langen
Raum, der Waylock irgendwie an ein Museum erin-
nerte. Zu beiden Seiten des Mittelganges standen
Betten – insgesamt sechsunddreißig. Durchsichtige
Plastikwände trennten die Betten voneinander, so
daß jeder Patient eine Nische für sich allein hatte, die
an der Rückseite durch die grüngestrichene Saalwand
begrenzt wurde. Die Kranken lagen starr und steif
mit ausgestreckten Armen in ihren weißen Betten; ei-
nige hatten die Augen geöffnet, andere hielten sie fest
geschlossen. In diesem Saal waren nur Männer zwi-
schen Dreißig und Fünfzig untergebracht. Ihre Betten
blitzten vor Sauberkeit, die Gesichter waren frisch
gewaschen und rasiert.

»Sauber und ordentlich und ruhig«, sagte Caddi-

gan. »Das sind alles ernste Fälle; sie machen kaum ei-
ne Bewegung. Aber ab und zu bekommen sie einen
Rappel – sie verfallen ins manische Stadium ihrer
Krankheit, um es etwas wissenschaftlicher auszu-
drücken.«

»Und dann werden sie gewalttätig?«
»Das ist individuell verschieden. Manche bleiben

selbst dann im Bett und winden sich nur lautlos in
Krämpfen. Andere springen auf, schreiten wie Götter
durch den Saal und zerstören alles, was ihnen unter
die Finger kommt. Das heißt«, fügte er mit einem
Grinsen hinzu, »sie würden es tun, wenn sie nur
könnten. Sehen Sie diese Löcher im Boden?« Er deu-
tete auf ein halbes Dutzend Vertiefungen am Fußen-

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de des ersten Bettes. »Sobald ein Patient sein Bett
verläßt, bewirkt die damit verbundene Gewichtsver-
lagerung, daß hier Stahlstäbe aus dem Boden schnel-
len. Der Kranke kann also nicht hinaus und hat nur
noch eine Möglichkeit, sich auszutoben – er kann die
Bettwäsche zerreißen. Wir haben nach langen Versu-
chen eine Stoffart entwickelt, die schwer zerreißbar
ist und gleichzeitig laute Geräusche ergibt. Der Pati-
ent tobt sich aus, und wir betreten dann seine Nische
und bringen ihn ins Bett zurück.«

»Verwenden Sie keine Beruhigungsmittel?« fragte

Waylock.

Caddigan zuckte mit den Schultern. »Das hängt

von der Heftigkeit des Anfalls ab. Ansonsten be-
stimmen die Theorien – oder die Launen – des ver-
antwortlichen Psychiaters unsere Methoden. Diese
Abteilung untersteht offiziell Didaktor Alphonse
Clou, aber Didaktor Clou ist so sehr mit einem For-
schungsprojekt beschäftigt, daß Basil Thinkoup un-
beaufsichtigt tun und lassen kann, was ihm Spaß
macht. Basil hält nichts von Drogen und Spritzen. Er
hat unkonventionelle Ideen und arbeitet nach dem
Prinzip, alle bewährten Methoden seien falsch und
müßten durch das genaue Gegenteil ersetzt werden.
Wenn lange Versuchsreihen ergeben haben, daß Mas-
sage bei bestimmten hysterischen Zuständen
krampflösend wirkt, läßt Basil die Patienten entweder
in die Zwangsjacke stecken oder verschafft ihnen ge-
waltsam Bewegung. Basil experimentiert leiden-
schaftlich gern und scheint dabei nie Gewissensbisse
zu haben.«

»Hat er schon Erfolge mit seiner Methode erzielt?«

wollte Gavin wissen.

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Caddigan zuckte mit den Schultern. »Den Patien-

ten geht es deshalb auch nicht schlechter. Einigen
scheint es sogar zu helfen... Aber Basil weiß natürlich
selbst nicht, was er eigentlich tut.«

Sie gingen von einem Bett zum anderen. Überall

der gleiche Ausdruck auf den Gesichtern der Kran-
ken: eine erschütternde Melancholie, eine abgrundtie-
fe Hoffnungslosigkeit, aus der es kein Entrinnen
mehr geben konnte.

»Schrecklich«, murmelte Waylock. »Diese Gesich-

ter... Sind sie bei Bewußtsein? Denken sie noch? Emp-
finden sie wirklich, was ihr Gesicht ausdrückt?«

»Sie leben jedenfalls. Und ihr Verstand funktioniert

weiterhin auf der untersten Ebene.«

Waylock schüttelte den Kopf.
»Hüten Sie sich vor dem Fehler, sie als menschliche

Lebewesen zu betrachten«, warnte Caddigan ihn.
»Sobald Sie damit anfangen, sind Sie verloren. Die
Patienten sind für uns nur eine Aufgabe, die wir nach
besten Kräften zu lösen versuchen, um dadurch Kar-
rierepunkte zu sammeln... Kommen Sie, ich zeige Ih-
nen jetzt, was Sie hier zu tun haben.«

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14

Waylock fand seine Pflichten geradezu abstoßend.
Als Krankenpfleger mußte er sich um das leibliche
Wohl von sechsunddreißig fast leblosen Patienten
kümmern, die jederzeit unglaublich heftige Tob-
suchtsanfälle bekommen konnten. Zudem hatte er
Eintragungen in die Krankenblätter zu machen und
Caddigan oder Basil zu helfen, wenn sie neue Thera-
pieversuche unternahmen.

Jetzt stand er im Mittelgang und betrachtete nach-

denklich die sechsunddreißig Betten, die seiner Ob-
hut anvertraut waren. Sechsunddreißig Männer zwi-
schen Dreißig und Fünfzig, die alle eine flache Le-
benslinie gemeinsam hatten. Ihre Psychose war
durchaus nicht geheimnisvoll oder gar unerklärlich.
Sie würden hier ihren Lebensabend verbringen, bis
eines Tages die schwarze Limousine am Tor der An-
stalt vorfuhr, um sie abzuholen.

Waylock ging von einem Bett zum anderen und

betrachtete die hoffnungslosen Gesichter. Bei jedem
Patienten fragte er sich: Welche Therapie würde ich
in seinem Fall anwenden?

Er blieb vor einem Bett stehen, in dem ein kleiner

Mann mit geschlossenen Augen lag. Am Kopfende
des Bettes waren Name und Phyle des Patienten an-
gegeben: Olaf Gerempsky, Keil. Darunter stand eine
Kombination aus Buchstaben und Ziffern, die Way-
lock nicht verstand.

Waylock berührte die Hand des Kranken. »Olaf«,

flüsterte er. »Aufwachen, Olaf. Du bist gesund. Du
kannst nach Hause gehen, Olaf. Wach auf, du darfst

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nach Hause.«

Gerempskys Gesichtsausdruck veränderte sich

nicht im geringsten. Folglich war diese Methode un-
geeignet.

»Olaf Gerempsky«, sagte Waylock lauter, »Ihre Le-

benslinie ist in Dritte durchgebrochen. Meinen
Glückwunsch, Olaf Gerempsky! Sie sind jetzt in
Dritte!«

Das Gesicht blieb unbeweglich, aber Waylock bil-

dete sich ein, trotzdem einen schwachen Hoffnungs-
funken hinter geschlossenen Augen beobachtet zu
haben. »Olaf Gerempsky, Dritte. Olaf Gerempsky,
Dritte«, sagte er mit der Stimme eines Ausrufers vor
dem Haus des Lebens. »Olaf Gerempsky, Sie gehören
jetzt zu Dritte!« Aber der melancholische Hoffnungs-
funken war bereits wieder erloschen.

Waylock trat einen Schritt zurück und runzelte die

Stirn. Dann beugte er sich dicht über den Kranken.

»Leben«, flüsterte er. »Leben! Leben! Ewiges Le-

ben!«

Das starre Gesicht veränderte sich nicht.
»Tod«, sagte Waylock heiser. »Tod! Tod! Tod! Ewi-

ger Tod!«

Er beobachtete das Gesicht. Es blieb unbeweglich,

aber unter dieser Maske flammte etwas auf. Waylock
beobachtete die Veränderung aufmerksam.

Gerempsky öffnete plötzlich die Augen, starrte

nach links und rechts und fixierte dann Waylock. Sei-
ne Augen schienen zu glühen; er zog die Lippen zu-
rück, fletschte die Zähne wie ein Hund und stieß ei-
nen lauten Schrei aus. Dann sprang er plötzlich auf
und griff nach Waylocks Kehle, aber Waylock war
rechtzeitig zurückgetreten. Er spürte einen Wider-

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stand hinter sich – die Stahlstäbe waren automatisch
aus dem Fußboden geschossen und schnitten ihm
jetzt den Fluchtweg ab.

Gerempsky stürzte sich auf Waylock; seine Hände

waren wie stählerne Klammern. Gavin setzte sich zur
Wehr und wollte seine Arme nach oben schlagen,
aber Gerempskys Muskeln schienen aus Eisen zu be-
stehen. Waylock versetzte ihm einen Schlag ins Ge-
sicht, und der Kranke taumelte rückwärts.

Waylock rüttelte an den Stäben. »Hilfe!« brüllte er.

»Hilfe!«

Gerempsky fiel wieder über ihn her. Waylock ging

zu Boden und wollte ihn abschütteln, aber der Patient
klammerte sich an seinem Rücken fest. Waylock riß
sich endlich von ihm los, mußte aber seine neue Jacke
in Gerempskys Händen zurücklassen. Er flüchtete
hinter das Bett und rief weiter um Hilfe. Gerempsky
lachte heiser und schlich auf ihn zu. Waylock kroch
unters Bett. Gerempsky zerfetzte seine Jacke und
bückte sich dann, aber Waylock befand sich außer
Reichweite. Der Kranke setzte mit einem Sprung über
das Bett, um ihn von der anderen Seite aus zu errei-
chen, aber Waylock rollte sich nach links.

Dieses Spiel wurde einige Minuten lang fortgesetzt:

Gerempsky sprang über das Bett, und Waylock
wälzte sich jeweils auf die andere Seite. Dann blieb
der Kranke ruhig am Fußende des Bettes stehen und
schien darauf zu warten, daß Waylock endlich wieder
zum Vorschein kam.

Endlich näherten sich Schritte. »Hilfe!« rief Way-

lock nochmals. »Ich liege hier unter dem Bett!«

Vor den Gitterstäben erschienen Schuhe: Seth Cad-

digans Schuhe.

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»Dieser Verrückte will mich erwürgen!« rief Way-

lock verzweifelt. »Ich bin hier unten gefangen!«

»Immer mit der Ruhe«, antwortete Caddigan gelas-

sen. Hinter ihm ertönten weitere Schritte. Die Gitter-
stäbe versanken plötzlich. Gerempsky stieß einen
Schrei aus und setzte sich in Bewegung. Er wurde
aufgehalten, eingehüllt und ins Bett zurückgebracht.

Waylock kroch darunter hervor und richtete sich

auf. Seine Knie zitterten noch immer, während er be-
obachtete, daß Caddigan dem Kranken eine Sprüh-
dose an den Mund hielt und auf den Knopf drückte.
Gerempsky schloß die Augen und blieb wie leblos
liegen. Caddigan wandte sich ab, nickte Waylock
höflich zu und verschwand in Begleitung der beiden
anderen Krankenpfleger.

Waylock starrte ihm nach, ging einige Schritte hin-

ter ihm her und lehnte sich dann an die Wand, bis das
Zittern in seinen Knien aufgehört hatte. Als er sich
wieder besser fühlte, folgte er Caddigan in Basils
Vorzimmer, das der Psychotherapeut als Büro be-
nützte. Caddigan saß wieder an seinem Schreibtisch
und wertete Krankenblätter aus. Waylock ließ sich in
einen Sessel fallen und holte tief Luft.

»Puh, das war scheußlich!«
Caddigan zuckte mit den Schultern. »Sie können

sich noch glücklich schätzen, daß Gerempsky ein
Schwächling ist.«

»Schwächling! Seine Hände waren wie Eisen! Er

muß unheimlich stark sein!«

Caddigan nickte ironisch lächelnd. »Denken Sie in

Zukunft immer daran, daß unsere Patienten in dieser
Verfassung geradezu übermenschliche Kräfte ent-
wickeln, die in keinem Verhältnis zur normalen Lei-

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stungsfähigkeit ihrer Muskulatur stehen. Olaf Ge-
rempsky war in diesem Zustand stärker als Sie, aber
Olaf ist im Grunde genommen ein Schwächling.
Nehmen Sie sich vor unseren Athleten in acht: Maxi-
milian Hertzog oder Fido Vedelius. Beide hätten mit
der Faust durch die Matratze gestoßen und Ihren
Kopf durch das Loch zu sich heraufgezogen. Deshalb
möchte ich Ihnen dringend empfehlen, keine weite-
ren Experimente mit unseren Kranken zu machen,
selbst wenn sie noch so friedlich wirken sollten.«

Waylock schwieg vernünftigerweise. Der Psycho-

therapeut lehnte sich in seinen Sessel zurück und
legte die Finger aneinander.

»Ich habe die Aufgabe, Ihre Fortschritte zu bewer-

ten. Dabei versteht sich eigentlich von selbst, daß ich
mich bemühe, absolut fair zu sein. Aber angesichts
dieses Vorfalls werden Sie es mir nicht verübeln, daß
ich Ihre heutigen Leistungen keineswegs hoch be-
werte. Ich weiß nicht, was Sie vorgehabt haben. Ich
will es auch gar nicht wissen.«

Waylock wollte etwas sagen, aber Caddigan hob

abwehrend die Hand. »Vielleicht wollen Sie Basil
Thinkoup nacheifern, um seine Erfolge zu imitieren.
Sollte das der Fall sein, schlage ich vor, daß Sie sorg-
fältiger planen oder ansonsten herausbekommen,
worauf sein unwahrscheinliches Glück beruht.«

Waylock beherrschte sich. »Sie haben die Situation

falsch verstanden«, wandte er ein.

»Das hoffe ich allerdings«, antwortete Caddigan

mit gespielter Herzlichkeit. »Ich dachte schon, Sie
und Basil Thinkoup wollten gemeinsam eine Ham-
mer-und-Zangen-Therapie verwirklichen.«

»Ich finde Ihre witzig gemeinten Bemerkungen

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ziemlich überflüssig«, stellte Waylock fest.

Basil Thinkoup war leise hereingekommen und sah

jetzt von einem zum anderen. »Ist Caddigan schon
hinter dir her?« fragte er Waylock. »Als ich hier an-
fing, mußte ich ihn Tag für Tag aushalten. Wahr-
scheinlich bin ich nur deshalb so rasch in Keil aufge-
stiegen, weil ich dort vor ihm sicher war.«

Caddigan äußerte sich nicht dazu. Basil grinste und

nickte Waylock zu: »Du hast ein kleines Abenteuer
bestanden, höre ich eben.«

»Nur eine Bagatelle«, versicherte Waylock ihm.

»Beim nächstenmal passe ich besser auf.«

»Richtig«, stimmte Basil zu. »So kannst du es noch

weit bringen.«

Seth Caddigan erhob sich. »Entschuldigen Sie

mich, Basil aber ich muß jetzt gehen. Ich habe heute
abend noch zwei Vorlesungen.« Er nickte den beiden
zu und verließ den Raum.

Basil schüttelte mitleidig den Kopf. »Der arme Kerl

bildet sich wirklich ein, er könne den Aufstieg schaf-
fen, indem er sich mit nutzlosem Ballast vollstopft.«

»Was kümmert dich das?« fragte Waylock. »Jeder

kann schließlich nach seiner eigenen Fasson selig
werden.«

Basil antwortete nicht gleich. »Hmm, eigentlich

hast du recht, Gavin«, gab er dann zu. »Wir sind eben
nicht alle gleich.« Er lächelte wieder. »Dein Dienst ist
für heute fast zu Ende; am besten gehst du gleich
nach Hause. Wir haben morgen einen großen Tag vor
uns.«

»Mit Vergnügen«, antwortete Waylock. »Ich muß

selbst noch einiges lernen.«

»Du gibst dir ernsthaft Mühe, was?«

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»Ich erreiche die Spitze«, sagte Waylock. »Irgend-

wie muß ich es schaffen.«

Basil runzelte die Stirn. »Nimm dich in acht, sonst

endest du wie...« Er zeigte in die Richtung des großen
Krankensaals.

»Danke, das habe ich nicht vor.«

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15

Waylock betrat sein kleines Appartement, blieb in der
Diele stehen und betrachtete mißmutig die ge-
schmacklosen Möbel in den drei winzigen Räumen.
Er dachte an die prächtige Villa, die Der Grayven
Warlock besessen hatte. Im Grunde genommen war
sie noch immer sein rechtmäßiges Eigentum – aber
wie sollte er sie wieder in Besitz nehmen, ohne sich
zu verraten?

Nach dem Abendessen blieb er am Tisch sitzen und

überlegte, wie oder wo er die nächsten Stunden ver-
bringen sollte. Öffentliche Vergnügungsstätten und
Carnevalle schieden von Anfang an aus. Er wollte
sich nicht amüsieren, sondern ein vernünftiges Ge-
spräch mit anderen Menschen führen. Das Café Dal-
matia? Nein. Basil Thinkoup? Nein. Seth Caddigan?
Kein ausgesprochen geselliger Mensch, der zudem
nicht allzu viel von Waylock zu halten schien – aber
warum eigentlich nicht?

Waylock gab dem Impuls nach, ging an seinen Te-

levisor und ließ das Teilnehmerverzeichnis vor sich
ablaufen. A... B... C... Ca... Caddigan... Seth Caddigan.
Er löschte die übrigen Namen und drückte auf den
Rufknopf.

Seth Caddigans Gesicht erschien auf dem Bild-

schirm. »Oh... Waylock.«

»Hallo, Caddigan. Wie waren die Vorlesungen?«
»Wie üblich.« Caddigan betrachtete ihn mißtrau-

isch.

Waylock improvisierte einen Vorwand für seinen

Anruf. »Sind Sie noch sehr beschäftigt? Ich dachte, Sie

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könnten mir vielleicht einen guten Rat geben.«

Caddigan lud ihn mürrisch ein, ihn in seiner Woh-

nung zu besuchen, und Waylock brach sofort auf. Der
Psychotherapeut lebte in Vauconford, einem der öst-
lichen Vororte, die eher zu den zweitklassigen
Wohnvierteln gehörten. Sein Appartement war
durchgehend mit antiken Möbeln ausgestattet, und
Waylock fand den Gesamteindruck reichlich exzen-
trisch.

Zu seiner großen Überraschung hatte Caddigan

zudem eine ausgesprochen hübsche Frau, die Way-
lock diesem unfreundlichen Zeitgenossen nie zuge-
traut hätte.

Caddigan stellte sie als Pladge vor und fügte hinzu:

»Pladge ist bereits Keil, während ich noch in Brut
stecke. Sie arbeitet als Bühnenbildnerin und scheint
recht erfolgreich zu sein.«

»Ah, Sie sind beim Theater«, murmelte Waylock.

»Das erklärt die... die...«

Pladge Caddigan lachte. »Die verrückte Einrich-

tung? Sagen Sie ruhig, was Sie davon halten. Unsere
Freunde glauben ohnehin, wir seien übergeschnappt.
Aber wir wohnen lieber mit diesen alten Möbeln, die
wesentlich besser konstruiert sind als das ganze
neumodische Zeug.«

»Der Raum hat eine durchaus persönliche Note«,

stimmte Waylock zu.

»Richtig, das finde ich auch. Aber Sie müssen mich

jetzt entschuldigen, Mister Waylock, ich habe noch zu
arbeiten.«

Pladge verschwand im Nebenzimmer, und Caddi-

gan sah ihr stolz nach. Dann wandte er sich wieder an
Gavin, der die seltsame Tapete an der gegenüberlie-

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genden Wand studierte. Sie bestand aus Lebenskar-
ten, wie sie der Aktuarius ausgab; die verschieden-
farbigen Linien bildeten ein faszinierendes Muster.

»Hier sehen Sie unsere Triumphe und Niederla-

gen«, erklärte Caddigan ihm. »Unsere Biographie, ein
Abbild unseres Lebens. Manchmal wünsche ich mir
fast, ich wäre ein Glark geblieben. Ein kurzes, aber
unbeschwertes und fröhliches Leben.« Seine Stimme
veränderte sich. »Schön, Sie sind also hier. Was woll-
ten Sie mich fragen?«

»Kann ich mich auf Ihre Verschwiegenheit verlas-

sen?« erkundigte Waylock sich.

Caddigan schüttelte den Kopf. »Ich bin nicht ver-

schwiegen, obwohl ich in meinem Beruf bessere Aus-
sichten hätte, wenn ich es wäre.«

»Behandeln Sie mein Problem wenigstens vertrau-

lich?«

»Offen gesagt«, antwortete Caddigan, »kann ich für

gar nichts garantieren. Tut mir leid, wenn Ihnen das
unfreundlich erscheint, aber ich möchte verhindern,
daß Sie sich Illusionen machen.«

Waylock nickte. Er hatte nichts dagegen einzu-

wenden, da er nie die Absicht gehabt hatte, Caddigan
um seinen Rat zu bitten. »In diesem Fall verlasse ich
mich lieber auf meine eigenen Fähigkeiten.«

»Das ist immer empfehlenswert«, stimmte Caddi-

gan zu. »Ich kann mir allerdings gut vorstellen, mit
welchem Problem Sie zu kämpfen haben.«

»Offenbar sind Sie mir einige Schritte voraus, Cad-

digan«, sagte Waylock gelassen.

»Und so bleibt es auch in Zukunft. Wollen Sie hö-

ren, wie ich Ihr ›Problem‹ analysiert habe?«

»Bitte.«

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»Es betrifft selbstverständlich Basil Thinkoup, sonst

hätten Sie nicht nach meiner Verschwiegenheit ge-
fragt. Welches Problem hängt mit Basil zusammen, ist
aber nicht von ihm, sondern nur von einem Mann in
seiner Umgebung zu lösen? Sie sind ein ehrgeiziger
Mann und vermutlich ziemlich rücksichtslos.«

»Heutzutage ist jeder rücksichtslos«, warf Waylock

ein, aber Caddigan reagierte nicht darauf.

»Sie müssen sich also die Frage stellen: Wie eng soll

ich mich an Basil binden? Wird er aufsteigen oder
fallen? Sie möchten mit ihm aufsteigen, haben aber
keine Lust, gemeinsam mit ihm zu fallen. Deshalb
wollen Sie hören, wie ich Basils Zukunft beurteile.
Sobald Sie wissen, was ich davon halte, machen Sie
sich Ihre eigenen Gedanken darüber, weil Ihnen klar
ist, daß ich nicht mit Basils pragmatischen Methoden
einverstanden bin. Trotzdem bin ich Ihrer Meinung
nach intelligent und ehrlich genug, um seine Lage
ausreichend beurteilen zu können. Habe ich recht?«

Waylock schüttelte lächelnd den Kopf.
Caddigan grinste ironisch. »Darf ich Ihnen wenig-

stens einen Becher Tee anbieten?«

»Ja, vielen Dank.« Waylock lehnte sich in seinen

Sessel zurück. »Caddigan, Sie scheinen eine Abnei-
gung oder ein Vorurteil gegen mich gefaßt zu haben.
Darf ich mich nach dem Grund dafür erkundigen?«

»›Abneigung‹ ist nicht der richtige Ausdruck«, kor-

rigierte Caddigan ihn. »›Vorurteil‹ ist besser, aber
trotzdem ungenau. Ich habe das Gefühl, daß Sie Ihre
Arbeit nicht ernst nehmen, daß Sie nur deshalb zu
uns gestoßen sind, weil Sie glauben, auf diesem Ge-
biet rasch Punkte sammeln zu können. Ich möchte
Ihnen jedoch aus eigener Erfahrung versichern, daß

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Sie sich in dieser Beziehung gewaltig irren.«

»Wieso ist Basil dann so rasch aufgestiegen?«
»Glück gehabt.«
Waylock schien darüber nachzudenken.
»Hüten Sie sich davor, Basil falsch einzuschätzen«,

riet Caddigan ihm. »Jetzt ist er fröhlich und optimi-
stisch. Aber Sie hätten ihn vor einigen Monaten sehen
sollen – er war fast reif für den Krankensaal.«

»Das ist mir neu.«
»Immerhin muß man ihm zugute halten, daß er

wirklich die Welt verbessern will«, fuhr Caddigan
fort und warf seinem Besucher einen bedeutungsvol-
len Blick zu. »Er hat neun Patienten als geheilt entlas-
sen – keine schlechte Leistung. Aber er klammert sich
an die verrückte Idee, daß viel Therapie neunhundert
Kranke heilen müßte, wenn wenig Therapie neun ge-
holfen hat. Er gleicht einem Idioten, der einen Pfeffer-
streuer erwischt hat – wenig Pfeffer verbessert den
Geschmack, deshalb muß viel Pfeffer ihn noch besser
machen.«

»Sie bezweifeln also, daß Basil seinen Aufstieg fort-

setzt?«

»Nichts ist unmöglich.«
»Und wie steht es mit der neuen Therapie, von der

er gesprochen hat?«

Caddigan zuckte mit den Schultern. »Wieder das

System Pfefferstreuer«, antwortete er.

Pladge Caddigan kam herein. Sie trug jetzt einen

bunten Sari, hatte ein Dutzend klirrende Bronzeringe
an Handgelenken und Knöcheln und hielt einen Fä-
cher aus Pfauenfedern in der Hand.

»Ich dachte, du wolltest noch etwas arbeiten«, sagte

Caddigan.

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Pladge nickte. »Aber dann ist mir dieses Kostüm

eingefallen, und ich wollte es euch gleich zeigen.«

»Wer ständig von Idee zu Idee springt, sammelt

nirgends Karrierepunkte«, stellte Caddigan fest.

»Pah! Du und deine komischen Punkte!«
»Warte nur, bis ich zu Keil und Dritte aufgestiegen

bin – dann lachst du nicht mehr!«

Pladge schlug in gespielter Verzweiflung die Hän-

de zusammen. »Manchmal tut es mir fast leid, daß ich
Keil bin. Wer will schon Amaranth werden?«

»Ich«, sagte Waylock grinsend. Pladge gefiel ihm,

und er stellte amüsiert fest, daß Seth darüber wütend
war.

»Ich auch«, stellte Caddigan fest. »Du ebenfalls,

Pladge, wenn du gerade keinen Unsinn redest.«

»Ich rede keinen Unsinn. In der guten alten Zeit

fürchteten die Menschen ihr Lebensende...«

»Pladge«, mahnte Seth.
Sie schüttelte den Kopf. »Benimm dich nicht kin-

disch, mein Lieber. Alle müssen sterben – nur die
Amaranth nicht.«

»Trotzdem ist das kein Gesprächsthema.«
»Warum nicht?« fragte Pladge und ließ sich in ei-

nen Sessel fallen. »Ich habe eine Theorie. Wollt ihr sie
hören?«

»Selbstverständlich«, sagte Waylock.
»Pladge«, warf Caddigan vorwurfsvoll ein, aber sie

ignorierte ihn.

»Meiner Auffassung nach steckt in jedem Men-

schen ein Auflösungstrieb. Die Beruhigungsanstalten
hätten vielleicht weniger Patienten, wenn wir ihn
nicht unterdrücken würden.«

»Unsinn«, wandte Seth ein. »Ich bin schließlich

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Psychiater. Dieser angebliche Drang hat nichts mit
den Erkrankungen zu tun. Unsere Patienten leiden an
übersteigerter Lebensangst und schwerer Melancho-
lie.«

»Vielleicht, aber sieh dir doch an, wie die Men-

schen sich in Carnevalle benehmen!«

Seth nickte Waylock zu. »Er ist Experte für Car-

nevalle, er hat sieben Jahre lang dort gearbeitet.«

Pladge lächelte begeistert. »Das muß herrlich ge-

wesen sein!«

»Es war ganz interessant«, sagte Waylock.
»Ich habe ein Gerücht gehört, das Carnevalle be-

trifft«, fuhr Pladge atemlos fort. »Vielleicht können
Sie es bestätigen, Mister Waylock.«

»Was haben Sie gehört?«
»Nun, die Menschen in Carnevalle stehen doch

mehr oder weniger außerhalb der Gesetze, nicht
wahr?«

Waylock zuckte mit den Schultern. »Jedenfalls ge-

schehen dort Dinge, für die man in Clarges verhaftet
würde.«

»Oder über die man sich in Clarges schämen müß-

te«, murmelte Seth.

Pladge achtete nicht auf ihn. »Aber wie tief geht

diese Gesetzlosigkeit wirklich? Ich meine... nun, ich
habe gehört, daß es dort ein sehr exklusives Haus ge-
ben soll, in dem reiche Besucher für viel Geld zuse-
hen können, wie junge Männer und Frauen ermordet
werden!«

»Pladge«, krächzte Seth, »was sagst du da? Bist du

völlig übergeschnappt?«

»Ich habe sogar gehört«, flüsterte Pladge heiser,

»daß man mit viel Geld einen Menschen kaufen und

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selbst auf beliebige Weise töten kann...«

»Pladge!« brüllte Seth. »Kein Wort mehr davon!«
»Seth, ich habe dieses Gerücht gehört und möchte

Mister Waylock fragen, ob er etwas davon weiß«, er-
widerte Pladge erregt. »Falls er es bestätigen kann,
müssen wir etwas dagegen unternehmen!«

»Das Gerücht existiert natürlich«, stimmte Waylock

zu und dachte an Carleon, Loriot und die übrigen
Berber. »Aber ich kann es nicht aus eigener Erfahrung
bestätigen und habe noch nie einen getroffen, der et-
was Ähnliches erlebt hätte.«

»Alles nur Unsinn«, stellte Caddigan fest.
»Du redest Unsinn, Seth«, warf Pladge ihm vor.

»Was deinen sogenannten wissenschaftlichen Er-
kenntnissen widerspricht, existiert für dich einfach
nicht. Du schiebst alle Zweifel mit einer großartigen
Handbewegung beiseite, ohne zu erkennen, daß
Zweifel das Salz des Lebens sind.«

Caddigan zuckte mit den Schultern und sah zu

Waylock hinüber. »Pladge hat sich den Zweiflern an-
geschlossen, und ich bekomme seitdem nichts ande-
res mehr zu hören.«

»Zweifler?«
»Alles Menschen, die an irgendwelchen Aspekten

unserer gegenwärtigen Ordnung und ihren Zu-
kunftsaussichten zweifeln«, erklärte Pladge ihm eif-
rig. »Wir treffen uns regelmäßig und diskutieren ge-
meinsam über unsere Zweifel. Sie müssen gelegent-
lich eine unserer Versammlungen besuchen, Mister
Waylock.«

»Gern. Wo finden sie denn statt?«
»Oh, hier und dort und überall. Manchmal in Car-

nevalle im Haus der Erleuchtung.«

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»Dort sind eigentlich schon genügend andere Ver-

rückte«, murmelte Seth.

Pladge ließ sich nicht beirren. »Dort haben wir

Platz und werden nicht gestört. Hoffentlich kommen
Sie bald einmal, Mister Waylock.«

Nach einer kurzen Pause erhob Waylock sich. »Ich

muß leider wieder nach Hause.«

»Sie haben aber Ihr Problem noch gar nicht er-

wähnt«, stellte Caddigan fest.

»Danke, es hat sich weitgehend von selbst erle-

digt«, sagte Waylock. Er wandte sich an Pladge. »Auf
Wiedersehen und gute Nacht.«

»Gute Nacht, Mister Waylock. Kommen Sie bald

wieder!«

Waylock sah zu Seth hinüber. »Mit Vergnügen,

Mrs. Caddigan.«

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16

Als Waylock am nächsten Morgen in die Anstalt kam,
saß Caddigan bereits hinter seinem Schreibtisch. Der
Psychotherapeut

nahm

Waylocks

Anwesenheit

mit

ei-

nem kurzen Nicken zur Kenntnis, und Waylock be-
gann

seinen

Dienst.

Im

Laufe

des

Vormittags

ging

Cad-

digan mehrmals durch den großen Saal, aber Way-
lock

hatte

sorgfältig

gearbeitet,

und

Caddigan

entdeck-

te keine Mängel.

Gegen Mittag eilte Basil Thinkoup wie gehetzt

durch die Abteilung, sah Waylock und blieb stehen.
»Immer fleißig, was?« Er warf einen Blick auf seine
Uhr. »Komm, Gavin, wir gehen zum Essen. Ich sage
Caddigan, daß er sich inzwischen um den Saal küm-
mern soll.«

Sie aßen schweigend, aber bei Kaffee und Zigaret-

ten beugte Thinkoup sich plötzlich nach vorn und
sagte eindringlich: »Gavin, es fällt mir nicht leicht,
das zuzugeben – aber du bist der einzige Mensch in
der ganzen Anstalt, zu dem ich Vertrauen habe. Alle
anderen halten mich für übergeschnappt.« Er lächelte
verzerrt. »Kurz gesagt, ich brauche deine Hilfe.«

»Das ehrt mich«, antwortete Waylock. »Aber es

verblüfft mich auch. Du brauchst meine Hilfe?«

»Mir bleibt keine andere Wahl. Du weißt, daß ich

dich bewundere, aber ich würde mir trotzdem lieber
von einem Fachmann helfen lassen.« Er schüttelte
den Kopf. »Leider ist das ausgeschlossen. Meine Vor-
gesetzten bezeichnen mich herablassend als ›Empiri-
ker‹, und Untergebene wie Seth, die mir Respekt
schulden, lassen sich davon anstecken – folglich bin

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ich auf mich selbst angewiesen.«

»Heutzutage ist jeder auf sich selbst angewiesen.«
»Richtig«, stimmte Basil zu. »Aber was hältst du

von meiner Bitte?«

»Ich bin dir jederzeit gern behilflich.«
»Ausgezeichnet!« sagte Basil erleichtert. »Es han-

delt sich übrigens um eine neue Therapie, die ich an
Maximilian Hertzog ausprobieren will.«

Waylock erinnerte sich daran, daß Caddigan diesen

Namen erwähnt hatte.

»Einer unserer schwersten Fälle«, fuhr Basil fort.

»Normalerweise liegt er wie eine Marmorstatue im
Bett, aber wenn er seine Zustände bekommt, ist er
einfach schrecklich!«

»In welcher Beziehung soll ich dir helfen?« erkun-

digte Waylock sich vorsichtig.

Basil sah sich mißtrauisch nach allen Seiten um,

bevor er antwortete. »Gavin«, flüsterte er heiser, »ich
habe die Lösung des Problems gefunden – eine wirk-
same Therapie, die achtzig Prozent unserer Kranken
heilen müßte.«

»Hmm.« Waylock runzelte die Stirn. »Ist das über-

haupt wünschenswert?«

»Wie meinst du das?«
»Sobald wir Kranke als geheilt entlassen, verschärft

sich draußen der allgemeine Konkurrenzkampf.«

Basil starrte ihn an. »Du bist also der Meinung, wir

sollten keine Anstrengungen machen, die Patienten
zu heilen?«

»Nicht unbedingt«, antwortete Waylock. »Aber ich

vermute, daß die verstärkte Konkurrenz dazu führt,
daß die Psychose weiter um sich greift.«

»Vielleicht«, murmelte Basil ohne große Begeiste-

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rung.

»Meiner Auffassung nach sorgt jeder Entlassene

dafür, daß zwei neue Kranke in Beruhigungsanstalten
eingeliefert werden müssen.«

Basil runzelte die Stirn und sagte dann energisch.

»Na, das ist jedenfalls nicht unsere Sorge. Uns steht es
nicht zu, über das Schicksal unserer Mitmenschen zu
urteilen; diese Funktion erfüllt der Aktuarius. Wir
können nur tun, was in unseren Kräften steht.«

Waylock zuckte mit den Schultern. »Du hast ei-

gentlich recht, das Problem betrifft uns gar nicht. Un-
sere Aufgabe ist es nur, Kranke zu heilen. Das Pryta-
neon bestimmt die Richtlinien unseres Daseins; der
Aktuarius beurteilt unsere Leistungen; die Assassinen
sorgen für das rechtzeitige Ende – das sind ihre
Funktionen.«

»Ganz recht«, stimmte Basil zu. »Sprechen wir also

wieder von meiner neuen Therapie. Ich habe bereits
einige Versuche angestellt und gewisse Erfolge er-
zielt. Aber Maximilian Hertzog ist ein geradezu ex-
tremer Fall. Wenn ich ihn heilen oder seinen Zustand
nur deutlich bessern kann, ist meine Methode glän-
zend gerechtfertigt.« Basil lehnte sich in seinen Stuhl
zurück.

»Falls alles wie geplant klappt, müßtest du sofort in

Dritte aufsteigen«, stellte Waylock fest.

»Dritte, vielleicht sogar Rand. Meine Therapie ist

wirklich umwälzend!«

»Wenn sie wirkt.«
»Das will ich eben beweisen«, sagte Basil.
»Darf ich mich nach Einzelheiten dieser Methode

erkundigen?«

Basil machte eine abwehrende Handbewegung.

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»Darüber möchte ich jetzt noch nicht sprechen. Sie ist
im Gegensatz zu den bisher angewandten Therapien
eine Art Schockbehandlung. Natürlich besteht dabei
die Gefahr, daß Hertzogs Zustand sich weiter ver-
schlechtert.« Er runzelte die Stirn. »Sollte dieser Fall
eintreten, bekomme ich natürlich ernste Schwierig-
keiten; meine Vorgesetzten würden behaupten, ich
hätte Menschen als Versuchskaninchen mißbraucht.
Und dieser Vorwurf wäre sogar gerechtfertigt.« Basil
legte die Hände auf den Tisch und beugte sich nach
vorn. »Gavin, ich brauche deine Hilfe. Sollte ich Er-
folg haben, bringt dir die Verbindung mit mir weitere
Vorteile. Aber aus dem gleichen Grund nimmst du
auch ein gewisses Risiko auf dich, wenn du mir
hilfst.«

»Warum?«
Basil zuckte mit den Schultern. »Außer mir ist nie-

mand von meiner Therapie begeistert.«

»Ich helfe dir«, sagte Waylock.

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17

Maximilian Hertzog lag bewegungslos auf dem gro-
ßen Operationstisch in Basil Thinkoups Laboratori-
um; vor seinem Transport hierher war er mit Meioral
betäubt worden, aber dieser Zustand würde nicht
mehr allzulange anhalten. Waylock betrachtete seinen
athletischen Körper mißtrauisch, aber Basil rieb sich
zufrieden die Hände. »Ein prächtiges Versuchsobjekt,
das uns den Aufstieg sichern wird«, meinte er. »Und
vielleicht wird der arme Kerl dabei sogar geheilt.«

Er schnallte Hertzogs Arme und Beine los, setzte

ihm einen Metallzylinder auf den muskulösen Ober-
körper und betätigte einen Schalter am Kopfende des
Operationstisches. Über den Bildschirm neben dem
Schaltpult huschten Lichtpunkte; am unteren Rand
erschien die Zahl 38.

»Der Puls ist noch ziemlich langsam«, stellte Basil

fest. »Aber wir brauchen nicht lange zu warten. Mei-
oral verflüchtigt sich rasch.«

»Was dann?« fragte Waylock. »Ist er bewegungslos

oder gewalttätig, wenn er aufwacht?«

»Vermutlich bewegungslos. Setz dich, Gavin, ich

muß dir das Verfahren erklären.«

Waylock nahm auf einem Hocker Platz; Basil

lehnte sich an das Schaltpult. Der Pulszähler auf
Hertzogs Brust zeigte inzwischen 41 an.

»Das wichtigste Symptom der Schizophrenie«, be-

gann Thinkoup, »sind Störungen oder Fehlleitungen
der Gehirnströme. Unsere Patienten leiden an einer
gänzlich verschiedenen Krankheit – ihr Verstand hat
Ähnlichkeit mit einem ›abgewürgten‹ Motor, der

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nicht imstande ist, ein offenbar unüberwindliches
Hindernis zu bewältigen.«

Waylock nickte verständnisvoll. Er warf einen Blick

auf den Pulszähler, der jetzt 46 anzeigte.

»Ich habe die anerkannten Heilverfahren kritisch

analysiert und bin zu dem Schluß gekommen, daß sie
ohne Ausnahme mehr oder weniger ungeeignet sind,
weil

sie

am Kern des Problems vorbeizielen. Keine der

bisher

angewendeten

Therapien

beseitigt

die

wahre

Ur-

sache der Erkrankung – Lebensangst, Enttäuschung
und Melancholie. Wer unsere Patienten kurieren will,
muß entweder das Hindernis entfernen – das heißt, er
müßte

unsere

gesamte

Zivilisation

von

Grund

auf

än-

dern,

was

offensichtlich

undurchführbar

wäre

oder

er

muß den Verstand der Kranken so beeinflussen, daß
dieses Hindernis nicht mehr unüberwindbar er-
scheint.«

»Richtig, das verstehe ich«, stimmte Waylock zu.
Basil lächelte ironisch. »Alles ganz einfach, nicht

wahr?

Aber

es

ist trotzdem erstaunlich, daß kaum eine

der bekannten Behandlungsmethoden dieses Prinzip
berücksichtigt. Wodurch sollen die Kranken von ihrer
Lebensangst und Melancholie geheilt werden? Sug-
gestion oder Hypnose sind nicht wirkungsvoll genug;
Operationen sind zu radikal, da der Patient organisch
völlig gesund ist. Elektroschockbehandlungen müs-
sen wirkungslos bleiben, denn die Krankheit beruht
nicht auf ungenügend funktionierenden Stromkrei-
sen. Drogen sind vielleicht eher angebracht, da sie
Nervenzentren

lähmen

oder

ganz ausschalten können;

das Problem besteht darin, sie selektiv zu machen.«

Waylock beobachtete den Pulszähler, der jetzt 54

anzeigte.

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»Ich habe den ersten Hinweis in einer Arbeit ge-

funden, die Helmut und Gerard vom Neurochemi-
schen Institut veröffentlicht haben«, fuhr Basil fort.
»Damit meine ich natürlich ihre Forschungen auf
dem Gebiet der synaptischen Chemie, die sich mit
den Vorgängen beschäftigt, die jeweils dann auftre-
ten, wenn ein Impuls von Nerv zu Nerv weitergelei-
tet wird – der grundlegende Vorgang des Denkpro-
zesses. In diesem kurzen Zeitraum ereignen sich
nacheinander

einundzwanzig

verschiedene chemische

Reaktionen; sobald eine dieser Reaktionen nicht statt-
findet,

wird

der Impuls ebenfalls nicht weitergeleitet.«

»Ich kann mir vorstellen, worauf du hinauswillst«,

sagte Waylock.

»Diese Erkenntnis legt den Schluß nahe, daß wir

mit Hilfe dieser Methode den Denkvorgang unserer
Patienten unterbrechen könnten. Wir suchen nach ei-
nem Mittel, das die Erinnerung an ein Hindernis oder
Problem auslöscht. Aber wie soll man dabei eine be-
stimmte Wahl treffen? Logischerweise am besten da-
durch, daß man eine der Verbindungen oder ihren
Katalysator angreift, während der jeweilige Denkvor-
gang abläuft. Ich habe mich für die Substanz ent-
schieden, die Helmut und Gerard als Heptant be-
zeichnen, weil dieser Stoff im Verlauf des Denkpro-
zesses nur kurzzeitig entsteht. Das eigentliche Pro-
blem ist gelöst, sobald man ein Mittel zur Verfügung
hat, das Heptant bindet und so den ganzen Vorgang
unterbricht. Didaktor Vauxine Tuderstell von der
Biochemischen Klinik hat sich in meinem Auftrag mit
diesem Problem befaßt und es auch gelöst.« Basil öff-
nete den Medizinschrank und holte eine orangerote
Flasche daraus hervor. »Das ist die Lösung – Anti-

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heptant. Wasserlöslich, ungiftig, in kleinsten Dosen
wirksam. Sobald es mit dem Blutstrom ins Gehirn
gelangt, hat es die gleiche Wirkung wie die Löschta-
ste eines Tonbandgeräts – es löscht den Bewußt-
seinsinhalt aktiver Stromkreise, ohne dabei die passi-
ven zu beeinflussen.«

»Basil«, sagte Waylock ehrlich überzeugt, »das

klingt wirklich genial!«

»Ein schwieriges Problem blieb allerdings noch zu

lösen«, fuhr Basil lächelnd fort. »Wir wollten vermei-
den, daß auch der Wortschatz des Patienten gelöscht
wird, was eine unausbleibliche Nebenwirkung dieser
Behandlung zu sein schien. Glücklicherweise beein-
flußt Antiheptant den Wortschatz des Kranken nicht
im geringsten. Ich kann mir nicht einmal vorstellen,
weshalb das so ist, bin aber verständlicherweise sehr
zufrieden damit.«

»Hast du das Mittel bereits ausprobiert?« fragte

Waylock.

»Bisher nur an einem Patienten, dessen Erkran-

kung kaum der Rede wert war. Maximilian Hertzog
soll die Probe aufs Exempel sein.«

»Sein Puls wird allmählich normal«, sagte Way-

lock. »Wenn wir uns nicht vorsehen, kann er...«

Basil machte eine wegwerfende Handbewegung.

»Kein Grund zur Sorge; wir können jederzeit das
Netz fallen lassen.« Er wies auf das engmaschige
Netz, das ausgebreitet über dem Operationstisch
hing. »Wir müssen sogar erreichen, daß er einen sei-
ner Anfälle bekommt.«

Waylock zog die Augenbrauen hoch. »Ich dachte,

wir würden uns alle Mühe geben, diesen Zustand zu
verhindern.«

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Basil schüttelte den Kopf. »Seine Gedanken sollen

sich ausschließlich mit dem unüberwindbaren Hin-
dernis befassen, das sein größtes Problem ist. Dann
geben wir ihm Antiheptant! Das Heptant seines Ge-
dankenvorgangs wird sofort gebunden und un-
schädlich gemacht; der Stromfluß endet – und damit
verschwindet auch das eingebildete Hindernis. Der
Patient ist wieder gesund.«

»So einfach ist das!«
»Einfach und elegant.« Basil warf einen Blick auf

Hertzogs Gesicht. »Er wacht bald auf. Gavin, du be-
hältst der. Schalter in der Hand, mit dem das Netz
ausgelöst wird, und regelst die Antiheptantzufuhr.«

»Was habe ich genau zu tun?«
»Zuerst schließen wir ein Meßgerät an, das uns

zeigt, wie hoch die Antiheptantkonzentration in
Hertzogs Gehirn ist. Wir dürfen nicht übertreiben,
sonst werden auch andere Gedankenprozesse unter-
brochen, die intakt bleiben sollen.« Basil legte zwei
Elektroden an den Kopf des Patienten an. »Das Anti-
heptant ist schwach radioaktiv, was die Mengenbe-
stimmung sehr erleichtert.« Er verband die Drähte
mit dem Schaltpult, auf dem mehrere bunte Signal-
lampen in einer Reihe angebracht waren. Jetzt leuch-
tete ein rotes Lämpchen auf. »Das ist unser Anzeige-
gerät. Du mußt dafür sorgen, daß die gelbe Lampe in
der Mitte aufleuchtet, denn das ist der Idealzustand.
Sobald sich die Färbung zu grün verändert, ist die
zulässige Dosierung überschritten; wird sie jedoch
rötlich, muß mehr Antiheptant zugeführt werden.
Verstanden?«

»Natürlich.«
Basil schob Hertzog eine Nadel in die Vene und

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verband den dünnen Schlauch mit einem Tropfbe-
hälter. »Siehst du diesen Knopf, Gavin? Sobald du ihn
drückst, wird ein Milligramm Antiheptant in Hert-
zogs Blut freigesetzt. Der Hebel hier löst notfalls das
Netz aus; du betätigst ihn, wenn ich es sage. Sei aber
vorsichtig, damit du mich nicht darunter einsperrst.
Wenn ich dir ein Zeichen gebe, drückst du kurz auf
den Knopf. Verstanden?«

Waylock nickte wortlos.
Basil warf einen Blick auf den Bildschirm des Puls-

zählers. »Jetzt braucht er noch eine Spritze, dann ist
sein ›Normalzustand‹ wieder erreicht.« Er gab Hert-
zog eine Injektion.

Der Kranke holte langsam tief Luft; sein Gesichts-

ausdruck, der eben noch fast entspannt gewesen war,
veränderte sich wieder zu einer starren Maske. Way-
lock sah, daß Hertzog die Fäuste ballte. »Vorsichtig,
Basil, er wird gleich gewalttätig.«

»Ausgezeichnet«, antwortete Basil, »mehr wollen

wir gar nicht.« Er sah sich um. »Du mußt ihn ständig
im Auge behalten, damit du das Netz rechtzeitig
auslösen kannst.«

»Wird gemacht«, versicherte Waylock ihm.
»Gut.« Basil beugte sich über den Patienten. »Hert-

zog. Maximilian Hertzog!«

Hertzog schien rascher zu atmen.
»Hertzog!« rief Basil laut. »Maximilian Hertzog!

Wach auf!«

Hertzog bewegte sich.
»Hertzog. Du mußt aufwachen. Ich habe gute

Nachrichten für dich. Maximilian Hertzog!« Hertzogs
Lider zitterten. »Antiheptant«, wies Basil Waylock an.

Waylock drückte auf den Knopf und schickte ein

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Milligramm Antiheptant in Hertzogs Adern. Das rote
Licht wurde orange und schließlich orangegelb. Basil
nickte zufrieden.

»Hertzog! Aufwachen! Gute Nachrichten!«
Die Augen des Patienten öffneten sich einen Spalt

breit. Aus gelb wurde wieder rot. »Antiheptant«,
sagte Basil. Waylock drückte auf den Knopf; die
Lampe leuchtete gelb auf.

»Hertzog«, flüsterte Basil drängend, »du bist ein

Versager. Du kannst nie in Dritte aufsteigen – Anti-
heptant, Gavin –, Hertzog, du hast dir alle Mühe ge-
geben, aber zu viele Fehler gemacht. Daran bist nur
du allein schuld. Du hast dein Leben vergeudet,
Hertzog.«

Der Kranke atmete schwer. Basil gab Waylock ein

Zeichen, ihm noch mehr Antiheptant einzuflößen.
»Maximilian Hertzog«, fuhr er rasch fort, »du bist ein
jämmerlicher Versager. Andere Männer erreichen
Dritte, aber du schaffst es nie. Du hast versagt. Du
hast deine Zeit vergeudet. Du hast ein Ziel vor Au-
gen, das du nie erreichen wirst.«

Auf Hertzogs Stirn traten die Adern hervor. Sein

Atem kam stoßweise. »Antiheptant, Gavin, Antihep-
tant.«

Waylock drückte auf den Knopf, und die Lampe

leuchtete wieder gelb. Basil wandte sich nochmals an
den Patienten. »Hertzog – erinnerst du dich an die
vielen verpaßten Gelegenheiten? An die Männer, die
keineswegs intelligenter als du waren, obwohl sie
jetzt in Dritte oder Rand sind? Und du hast nur eine
letzte Fahrt in der schwarzen Limousine zu erwar-
ten!«

Maximilian Hertzog setzte sich langsam auf. Er

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starrte Basil an, bewegte dann den Kopf und sah zu
Waylock hinüber.

Keiner der drei Männer sprach. Basil war sprung-

bereit, Waylock stand wie erstarrt. Das rote Licht
leuchtete wieder.

»Mehr Antiheptant?« fragte Waylock leise.
»Nein«, antwortete Basil nervös, »vorläufig noch

nicht... Wir dürfen nicht allzuviel auslöschen.«

»Was wollen Sie auslöschen?« erkundigte Hertzog

sich. Er betastete seinen Kopf, spürte die Elektroden
und betrachtete verblüfft seinen Arm. »Was hat das
alles zu bedeuten?«

»Bitte«, sagte Basil rasch und machte eine abweh-

rende Handbewegung. »Lassen Sie bitte alles, wie es
jetzt ist, sonst können wir die Behandlung nicht fort-
setzen.«

»Behandlung?« Hertzog schüttelte verblüfft den

Kopf. »Bin ich denn krank? Ich fühle mich eigentlich
ganz wohl.« Er rieb sich die Stirn. »Mir ist es nie bes-
ser gegangen. Wissen Sie bestimmt, daß Sie den rich-
tigen Mann behandeln? Ich bin...« Er runzelte die
Stirn. »Mein Name ist...«

Basil warf Waylock einen bedeutungsvollen Blick

zu. Das Mittel hatte Hertzogs Erinnerungsvermögen
so stark beeinflußt, daß er selbst seinen Namen ver-
gessen hatte.

»Sie heißen Maximilian Hertzog«, erklärte Basil

ihm.

»Ah. Ja – richtig.« Hertzog sah sich um. »Wo bin

ich?«

»Sie sind im Krankenhaus«, sagte Basil beruhigend.

»Wir sorgen für Sie.«

Maximilian Hertzog starrte ihn forschend an, und

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Basil fuhr rasch fort: »Am besten legen Sie sich wie-
der zurück und entspannen sich. In drei oder vier Ta-
gen können wir Sie wieder entlassen.«

Hertzog sank zurück und sah mißtrauisch von Ba-

sil zu Waylock. »Wo bin ich eigentlich? Was fehlt
mir? Ich habe keine Ahnung.« Er starrte das Netz
über sich an. »Was...?« Dann las er die gestickten Sil-
berbuchstaben auf Waylocks linker Brusttasche: Pal-
liatorium Balliasse.

»Beruhigungsanstalt Balliasse«, krächzte Hertzog.

»Bin ich als Verrückter eingeliefert worden?« Seine
Stimme wurde heiser. »Lassen Sie mich hinaus, mir
fehlt nichts; ich bin so normal wie jeder andere!« Er
riß sich die Elektroden vom Kopf und die Nadel aus
dem Arm.

»Nein, nein«, rief Basil beschwörend. »Sie müssen

ganz ruhig bleiben, Sie dürfen sich nicht aufregen!«

Hertzog schob ihn von sich fort und wollte vom

Operationstisch springen.

Waylock löste das Netz aus; es fiel schwer nach

unten und hielt Hertzog auf dem Tisch fest. Er be-
gann zu kreischen und hatte schließlich sogar
Schaum vor dem Mund, während er die unnachgie-
bigen Maschen zu zerreißen versuchte.

Basil näherte sich ihm mit einer Impfpistole in der

Hand. Sekunden später lag Hertzog bewußtlos auf
dem Tisch.

Waylock holte tief Luft. »Puh!« Basil ließ sich auf

einen Stuhl fallen. »Nun, was hältst du davon, Ga-
vin?«

»Er scheint für kurze Zeit vernünftig und an-

sprechbar gewesen zu sein«, antwortete Waylock
vorsichtig. »Die Methode ist offenbar aussichtsreich.«

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»Aussichtsreich«, rief Basil. »Gavin, sie ist unver-

gleichlich! Keines der anderen Verfahren hätte ein
ähnlich gutes Resultat erzielt!«

Sie nahmen Hertzog das Netz ab, legten ihn auf ei-

ne Tragbahre und ließen ihn von zwei Krankenpfle-
gern in den Saal für Schwerkranke zurückbringen.

»Morgen müssen wir bis zu den Querverbindun-

gen vordringen«, stellte Basil fest. »Wir dürfen uns
nicht auf die eigentliche Ursache seiner Erkrankung
beschränken, sondern auch die Nebenwirkungen be-
rücksichtigen.«

Als sie durch Basils Arbeitszimmer hinausgingen,

räumte Seth Caddigan eben seinen Schreibtisch auf.
»Nun, meine Herren«, fragte er neugierig, »wie geht
die Sache voran?«

Basil zuckte mit den Schultern. »Oh, ich bin recht

zufrieden.«

Caddigan warf ihm einen skeptischen Blick zu,

schien etwas sagen zu wollen, schwieg dann aber
doch und wandte sich ab.

Basil und Gavin fuhren in die Stadt zurück und

suchten eine der alten Tavernen auf, wo sie eine
holzgetäfelte Nische für sich allein hatten. Sie tranken
Bier aus großen Steinkrügen. Waylock brachte einen
Toast auf Basils neue Heilmethode aus, und Basil
antwortete mit einem auf Gavins erfolgreiche Zu-
kunft.

»Ich freue mich, daß du nichts mehr mit Carnevalle

zu tun hast«, stellte Basil fest. »Dabei fällt mir übri-
gens ein – Die Jacynth Martin hat mich neulich ange-
rufen. Erst gestern abend, um es genau zu sagen.«

Waylock starrte ihn an.
»Ich kann mir nicht vorstellen, was sie von mir

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wollte«, fuhr Basil fort und griff nach seinem Bier-
krug. »Wir haben drei oder vier Minuten lang über
unbedeutende Kleinigkeiten gesprochen, dann hat sie
sich bedankt und aufgelegt. Ein faszinierendes We-
sen.« Basil trank seinen Krug leer und setzte ihn ge-
räuschvoll auf den Tisch. »So, jetzt muß ich nach
Hause, Gavin.«

Die beiden Männer verabschiedeten sich vor der

Taverne. Basil fuhr in sein bescheidenes Appartement
am Semaphore Hill; Waylock ging nachdenklich die
Riverside Road entlang.

Die Jacynth Martin hatte also begonnen, nach der

Ursache ihres plötzlichen Hinscheidens zu forschen.
Nun, von Basil würde sie nicht viel erfahren, und er
selbst würde sich hüten, ihr etwa zu erklären, wie es
dazu gekommen war.

Ein Ungeheuer. Waylock lachte grimmig in sich

hinein. Diesen Namen würden ihm die Bürger von
Clarges geben.

Der heimtückische Mord, dem Die Jacynth Martin

zum Opfer gefallen war, sollte offenbar nicht bekannt
werden – das war die übliche Methode, wenn Ama-
ranth in die Affäre verwickelt waren. Waylock erin-
nerte sich verbittert daran, daß ein anderer Todesfall
vor sieben Jahren keineswegs vertuscht, sondern im
Gegenteil unmäßig aufgebauscht worden war.

Wenige Minuten später erreichte er sein Apparte-

ment. Er öffnete die Tür. Die Jacynth Martin saß ruhig
auf seiner Couch.

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18

Die Jacynth erhob sich. »Sie entschuldigen hoffentlich
mein Eindringen. Die Tür war unverschlossen, des-
halb bin ich gleich hereingekommen.«

Waylock wußte bestimmt, daß er die Tür abge-

schlossen hatte. »Ich freue mich, daß Sie gleich hier-
geblieben sind.« Er trat rasch auf sie zu, umarmte sie
und gab ihr einen Kuß. »Ich habe Sie schon sehn-
süchtig erwartet.«

Die Jacynth löste sich aus seiner Umarmung und

starrte Waylock unsicher an. Sie trug heute ein weites
weißes Kleid, das gut zu dem blonden Haar und den
dunkelblauen Augen paßte.

»Wirklich ein außergewöhnlicher Anblick«, mur-

melte Waylock. »Allein wegen Ihrer Schönheit müß-
ten Sie eine Amaranth sein.«

Er streckte nochmals die Arme nach ihr aus, aber

Die Jacynth trat zurück.

»Ich muß Sie leider enttäuschen«, sagte sie mit ei-

ner abwehrenden Bewegung. »Ihr Verhältnis zu der
früheren Jacynth betrifft mich nicht im geringsten. Ich
bin die neue Jacynth!«

»Die neue Jacynth? Weshalb?«
»Das muß sich noch herausstellen.« Sie betrachtete

ihn von Kopf bis Fuß. »Sie sind... Gavin Waylock?«

»Selbstverständlich.«
»Sie haben große Ähnlichkeit mit einem anderen –

mit einem Mann namens Grayven Warlock.«

»Der Grayven Warlock lebt nicht mehr. Ich bin sein

Relikt.«

Die Jacynth zog die Augenbrauen hoch. »Tatsäch-

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lich?«

»Tatsächlich. Aber ich verstehe nicht, was Sie von

mir wollen.«

»Schön, dann erkläre ich es Ihnen«, antwortete sie

rasch. »Ich bin Die Jacynth Martin. Vor etwa einem
Monat wurde meine frühere Version in Carnevalle
entleibt. Anscheinend haben wir einen Teil des
Abends gemeinsam verbracht. Wir saßen im Café
Pamphylia und trafen dort Basil Thinkoup; wenig
später kamen auch Der Albert Pondiferry und Der
Denis Lestrange an unseren Tisch. Unmittelbar vor
meinem Hinscheiden entfernten Sie sich mit Basil
Thinkoup. Stimmt das alles?«

»Lassen Sie mich überlegen«, bat Waylock. »Sie

heißen also nicht Mira Martin und sind kein Glark-
Mädchen?«

»Ich bin Die Jacynth Martin.«
»Und Sie wurden entleibt?«
»War Ihnen das nicht klar?«
Waylock zuckte mit den Schultern. »Wir sahen, daß

Sie auf dem Tisch zusammengesunken waren. Offen-
bar war Ihnen irgend etwas nicht bekommen – Ihnen
war vermutlich schlecht geworden. Der Albert und
Der Denis wollten sich um Sie kümmern. Wir konn-
ten also unbesorgt gehen.« Er deutete auf die Couch.
»Nehmen Sie doch wieder Platz; ich möchte Ihnen ein
Glas Wein anbieten.«

»Nein. Ich bin nur gekommen, um Ihnen einige

Fragen zu stellen.«

»Gut, wenn es sein muß. Was wollen Sie von mir

wissen?«

Ihre Augen funkelten. »Die näheren Umstände

meines Hinscheidens! Ein Bösewicht hat mir mein

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Leben geraubt. Ich muß seinen Namen erfahren und
an ihm Rache nehmen. Dieses Verbrechen schreit
nach Rache!«

»Verbrechen ist kaum der richtige Ausdruck«, er-

widerte Waylock gelassen. »Sie leben weiterhin. Sie
stehen vor mir und sind so schön und jugendlich wie
damals in Carnevalle.«

»Mit dem gleichen Argument würde auch ein Un-

geheuer sein Verbrechen entschuldigen wollen.«

»Sie werfen mir vor, ich sei ein Ungeheuer, ich sei

an Ihrem Hinscheiden schuld?«

»Ich habe Ihnen nichts dergleichen vorgeworfen;

ich habe nur Ihre Denkungsart kritisiert.«

»Dann denke ich in Zukunft nie wieder«, versprach

Waylock lächelnd. »Außerdem fällt mir eben ein net-
terer Zeitvertreib ein.« Er streckte wieder die Arme
nach ihr aus.

Die Jacynth trat rasch zurück und wurde vor Wut

und Verlegenheit blutrot. »Ich habe nichts mit Ihrem
Verhältnis zu meiner Vorgängerin zu schaffen; Sie
sind mir völlig fremd!«

»Ich mache gern einen neuen Anfang«, sagte

Waylock. »Kommen Sie, darf ich Ihnen ein Glas Wein
anbieten?«

»Ich will keinen Wein, sondern nur Informationen!

Ich muß wissen, wie ich entleibt worden bin.« Sie
ballte die Fäuste. »Ich muß es wissen und werde es
erfahren! Erzählen Sie mir davon!«

Waylock zuckte mit den Schultern. »Da gibt es

nicht viel zu erzählen.«

»Wir sind uns irgendwo begegnet... wo haben wir

uns getroffen? Wann? Haben Sie nicht in Carnevalle
vor dem Haus des Lebens gearbeitet?«

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»Ah, ich sehe, daß Sie sich gut mit Basil Thinkoup

unterhalten haben.«

»Ja. Vor einem Monat waren Sie noch in Carnevalle

beschäftigt. Dann haben Sie plötzlich diesen Beruf,
den Sie sieben Jahre lang ausgeübt hatten, von einem
Tag zum anderen aufgegeben. Sie haben sich in Brut
registrieren lassen und Ihre ganze Lebensweise geän-
dert. Warum?«

Waylock kam langsam auf sie zu. Die Jacynth wich

Schritt für Schritt vor ihm zurück, bis sie mit dem
Rücken an der Wand stand. Er legte ihr die Hände
auf die Schultern. »Ihre Fragen sind reichlich imper-
tinent.«

»So«, flüsterte sie. »Wie leicht Sie zu finden waren,

wie deutlich Ihnen das Schuldbewußtsein im Gesicht
geschrieben steht!«

»Sie beurteilen mich falsch«, protestierte Waylock.

»Sie sind von Anfang an der Überzeugung gewesen,
ich sei an Ihrem Ende schuld.«

Die Jacynth machte sich mit einem Ruck frei. »Ich

kann die Berührung Ihrer Hände nicht ertragen.«

»Dann ist nicht einzusehen, weshalb Sie noch län-

ger bleiben sollen.«

»Sie haben also nicht die Absicht, meine Fragen of-

fen und ehrlich zu beantworten?«

»Nein. Solange Ihr Verdacht gegen mich besteht,

würden Sie mir ohnehin nicht glauben.«

»Dann müssen Sie eben unter Zwang antworten,

dafür kann ich sorgen!« Sie drängte sich an ihm vor-
bei und erreichte die Tür; dort blieb sie kurz stehen,
warf ihm noch einen wütenden Blick zu und ging
dann. Die Tür fiel hinter ihr ins Schloß.

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19

Waylock hörte ihre Schritte im Flur verhallen. Er
blieb einige Minuten lang bewegungslos stehen und
hing seinen Gedanken nach. Weshalb hatte Die
Jacynth es gewagt, ihn um diese Zeit ohne Begleitung
in seinem Appartement aufzusuchen obwohl sie ihn
bereits in Verdacht hatte, an ihrem Hinscheiden mit-
schuldig zu sein?

Plötzlich fiel ihm etwas ein; er sah sich suchend um

und ließ sich auf die Knie nieder. Unter der Couch lag
tatsächlich ein Sender – ein winziges Gerät, das nicht
größer als eine Streichholzschachtel war. Irgend je-
mand mußte das Gespräch mitgehört haben und wä-
re vermutlich sofort gekommen, wenn Tätlichkeiten
zu befürchten waren. Das erklärte ihre unbegreifliche
Kühnheit.

Waylock zermalmte den Sender mit dem Absatz

und warf die Trümmer in den Müllschlucker.

Dann nahm er eine Weintraube aus der Obstschale,

ließ sich auf die Couch fallen und dachte angestrengt
nach.

Die Jacynth Martin brauchte nur eine Beschwerde-

anzeige einzureichen. Die Assassinen würden ihn in
eine Verhörzelle einliefern. Drei Tribunen würden
beim Verhör anwesend sein, um darüber zu wachen,
daß alles mit rechten Dingen zuging – aber er konnte
nicht verhindern, daß er unter Einfluß der Wahr-
heitsdroge alles aussagte, was er im Zusammenhang
mit diesem Fall wußte.

Sollte er sich als unschuldig erweisen, würde Die

Jacynth Schadenersatz leisten müssen. War er jedoch

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schuldig, konnte er nicht auf Gnade oder Mitleid hof-
fen; in diesem Fall würde es bald keinen Gavin Way-
lock mehr geben.

Waylock starrte mißmutig aus dem Fenster in die

Nacht hinaus. Seine eigenen Gedanken würden ihn
verraten; ein Verhör dieser Art brachte unweigerlich
die Wahrheit an den Tag... Er sprang plötzlich auf.
Gedankenerforschung! Sie sollten ruhig versuchen,
seine Gedanken zu erforschen! Sie würden trotzdem
keinen Hinweis finden! Ihm war eben eingefallen,
wie er sich davor schützen konnte.

Er ging erregt auf und ab. Eine halbe Stunde ver-

strich, fünfundvierzig Minuten, eine Stunde. Dann
setzte er sich an sein Tonbandgerät und diktierte zwei
längere Passagen. Er verpackte das erste Band in ei-
nem Karton; das zweite blieb auf dem Gerät und
wurde durch eine kurze schriftliche Erklärung er-
gänzt, die an ihn selbst gerichtet war.

Dann stellte er seinen Wecker auf sechs Uhr und

ging zu Bett.

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20

Waylock traf ungewöhnlich früh in der Anstalt ein
und begegnete am Tor den Schwestern und Pflegern,
die Nachtdienst gehabt hatten.

Der Pförtner verlangte seinen Ausweis. Waylock

zeigte ihn vor und fuhr mit dem Lift in den dritten
Stock hinauf.

Auf Basils Schreibtisch leuchtete ein rotes Blinklicht

auf, das anzeigen sollte, daß eine Nachricht für ihn
vorlag. Waylock drückte auf den Lautsprecherknopf
und hörte sich die Aufzeichnung an.

»Aus dem Büro des Verwaltungsdirektors Benber-

ry«, sagte eine weibliche Stimme. »Für Basil Thin-
koup persönlich.« Dann kam Benberrys heisere
Stimme. »Basil, kommen Sie bitte sofort zu einer Be-
sprechung zu mir. Ich mache mir ernsthaft Sorgen.
Wir müssen gemeinsam überlegen, wie wir Ihre Ar-
beit dem Aufsichtsrat gegenüber rechtfertigen kön-
nen. Diese planlosen und undisziplinierten Versuche
müssen endlich aufhören. Arbeiten Sie auf keinen Fall
weiter, bevor Sie mit mir gesprochen haben.«

Waylock verließ das Büro und ging ins Laboratori-

um hinüber. Dort füllte er eine Injektionsspritze mit
Antiheptant. Der orangerote Plastikbehälter war fast
leer. Aber Basil würde kein Antiheptant mehr brau-
chen, während Waylock dieses Mittel vielleicht auch
in Zukunft nutzbringend verwerten konnte...

Er füllte den Rest in eine Flasche ab und goß den

Plastikbehälter voll destilliertes Wasser. Dann ging er
in Basils Arbeitszimmer zurück, setzte sich an den
Schreibtisch und legte die erste Tonbandspule ein.

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Dann hob er die Injektionsspritze und wollte sich

das Mittel einspritzen, zögerte aber noch und schrieb
zuerst eine Notiz, die er auf den Schreibtisch vor sich
legte. Jetzt nahm er die Spritze ein zweitesmal zur
Hand und injizierte sich das Antiheptant.

Er wartete und konzentrierte sich auf seine Aufga-

be. An nichts denken. Jeder Gedanke, jede Idee mußte
gelöscht werden. Nichts denken. Gar nichts denken. Sein
Kopf schmerzte, als müsse er im nächsten Augenblick
zerspringen. Ich heiße Gavin Waylock...

Daran dachte er nur einmal; später wußte er nicht

mehr, wie er hieß. Auf seiner Stirn erschienen große
Schweißperlen. Nichts, nichts, nichts. Die Tonband-
stimme begann zu sprechen. Sie beschrieb den Abend
in Carnevalle, an dem ihm Die Jacynth Martin begeg-
net war.

Das Tonbandgerät verstummte. Waylock schloß

die Augen, lehnte sich in den Sessel zurück und ent-
spannte sich völlig. Das Antiheptant verbreitete sich
durch seinen Körper. Waylock wußte nicht mehr, wo
er war und was er tat... Er setzte sich wieder auf. Der
engbeschriebene Zettel erregte seine Aufmerksam-
keit. Er beugte sich nach vorn und las:

Ich habe eben die Erinnerung an ein bestimmtes Ereig-

nis aus meinem Gedächtnis gelöscht. Vielleicht habe ich
auch andere Tatsachen vergessen. Ich heiße Gavin Way-
lock. Falls mich jemand danach fragen sollte, bin ich das
Relikt des verstorbenen Grayven Warlock. Meine Adresse
lautet Phariot Way 414, Appartement 820.

Dann folgten andere Informationen ähnlicher Art,

die mit der Warnung schlossen:

... Weitere Gedächtnislücken sind zu erwarten. Versuche

nicht zu erraten, welche Erinnerungen gelöscht wurden.

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Es ist möglich, daß die Assassinen dir einen Besuch abstat-
ten; vielleicht kommt es auch zu einem Verhör, in dem du
nach dem Hinscheiden der Jacynth Martin gefragt wirst,
von dem du nichts weißt.

ACHTUNG: Du mußt die Aufzeichnungen der letzten

Viertelstunde löschen. Du darfst sie dir unter keinen Um-
ständen anhören, weil dadurch der Versuchserfolg zunichte
gemacht würde.

Waylock las die Nachricht zweimal durch und

löschte dann die Aufzeichnung. Er hieß also Gavin
Waylock; der Name kam ihm irgendwie bekannt
vor...

Er legte die Injektionsspritze an ihren Platz zurück

und entfernte dann sorgfältig alle Spuren seines Ver-
suchs.

Seth Caddigan kam wenige Minuten später herein;

er warf Waylock einen überraschten Blick zu. »Wes-
halb sind Sie schon so früh hier?«

»Arbeitseifer«, erklärte Waylock ihm. »Gewissen-

haftigkeit.«

»Erstaunlich.« Caddigan ging an seinen Schreib-

tisch und runzelte die Stirn. »Anscheinend fehlt
wirklich nichts.«

Waylock ignorierte ihn. »Haben Sie das letzte Ge-

rücht schon gehört?« fragte Caddigan wenig später.
»Basils Stunden sind offenbar gezählt. Er soll wegen
erwiesener Unfähigkeit entlassen werden. Vermutlich
wird es Ihnen nicht viel besser gehen. An Ihrer Stelle
würde ich mich nach einem anderen Tätigkeitsbe-
reich umsehen.«

»Vielen Dank für den guten Rat«, sagte Waylock.

»Ihre ehrliche Abneigung ist wirklich erfrischend,
Caddigan. Sie ist mir jedenfalls viel lieber als eine

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synthetische Freundschaft.«

Caddigan lächelte grimmig und vertiefte sich in

seine Papiere.

Dann erklangen draußen Basils Schritte. Er kam

fröhlich lächelnd herein. »Guten Morgen, Seth; guten
Morgen, Gavin! Wieder ein arbeitsreicher Tag vor
uns! Verschiebe nie auf morgen, was du heute kannst
besorgen. Die Uhr steht nicht still; verschwendete
Zeit ist vergeudetes Leben!«

»Meine Güte, wie fröhlich!« murmelte Caddigan

spöttisch.

Basil drohte ihm unbekümmert mit dem Zeigefin-

ger. »Sie werden sich noch an meinen guten Rat erin-
nern, wenn der Assassine an Ihrer Tür klopft. Komm,
Gavin, wir machen uns gleich an die Arbeit.«

Waylock folgte ihm zögernd in sein Arbeitszimmer

und starrte verlegen aus dem Fenster, während Basil
sich die Aufzeichnung anhörte. Basil stand einen Au-
genblick wie erstarrt, dann holte er tief Luft. »Pah!«
Er schaltete das Gerät aus, kam ans Fenster und sah
zu Waylock auf. »Das habe ich einfach nicht gehört.
Hast du Benberrys Anweisung gehört, Gavin?«

Waylock zögerte. Der orangerote Behälter war jetzt

nur mit destilliertem Wasser gefüllt. »Wir können
jetzt nicht einfach aufhören«, fuhr Basil fort. »Wir
stehen dicht vor einer großen Entdeckung! Wenn wir
uns von Kleinigkeiten beeinflussen lassen, sind wir
verloren.«

»Vielleicht wäre es doch besser, wenn wir...«, be-

gann Waylock, aber Basil unterbrach ihn sofort. »Du
mußt tun, was du für richtig hältst, Gavin. Ich habe
jedenfalls die Absicht, das Experiment zu Ende zu
führen. Wenn du mir dabei nicht helfen willst, kom-

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me ich auch allein zurecht.«

Waylock schluckte trocken. Benberrys Anweisung

kümmerte ihn herzlich wenig; aber er konnte Basil
nicht erklären, wozu er das Antiheptant benützt hat-
te.

Basil stand bereits an der Gegensprechanlage und

gab Anweisung, Maximilian Hertzog in sein Labora-
torium zu bringen.

Waylock folgte ihm zögernd in den Nebenraum.

Eine Wasserinfektion konnte Hertzog nicht schaden;
vielleicht wachte er nicht einmal aus seinem Däm-
merzustand auf. Bekam er jedoch einen Anfall – nun,
dann war schließlich noch das Netz da.

Er machte einen letzten Versuch, das Experiment

aufzuhalten; aber Basil ließ sich nicht umstimmen.
»Ich habe Verständnis für deine Bedenken, Gavin;
meinetwegen kannst du mich mit ihm allein lassen
und inzwischen etwas anderes tun, ohne daß ich dir
deswegen böse wäre. Aber ich muß diesen Versuch
zu Ende führen. Er ist wichtiger als alles andere, denn
wenn er glückt, ist endlich bewiesen, daß meine
werten Kollegen mich bisher unterschätzt haben. Ich
werde sie öffentlich bloßstellen! Und Benberry – die-
ser lächerliche Affe!«

Ein Glockenton erklang, dann öffnete sich die Tür.

Zwei Krankenwärter brachten Maximilian Hertzog
auf einer Tragbahre herein, legten den Bewußtlosen
auf den Operationstisch und verließen das Laborato-
rium.

Basil traf seine Vorbereitungen. Waylock beobach-

tete ihn schweigend. Wenn er zugab, daß er das An-
tiheptant für seine Zwecke verwendet hatte, mußte er
einen Grund dafür angeben. Er konnte sich nicht

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mehr genau daran erinnern, aber die Nachricht, die er
für sich selbst niedergeschrieben hatte, enthielt einen
Hinweis darauf.

Basil betrachtete sein Schweigen als Zustimmung.

»Erinnerst du dich noch an deine Aufgaben?«

»Natürlich«, murmelte Waylock. Das Netz erschien

ihm plötzlich viel zu schwach und keineswegs unzer-
reißbar. Er öffnete die Tür des Lagerraums, der sich
an das Laboratorium anschloß.

»Was soll das?« wollte Basil wissen.
»Das ist unser Notausgang, falls das Netz reißt«,

erklärte Waylock ihm.

»Hmmm«, meinte Basil. »Heute brauchen wir das

Netz bestimmt nicht. Fertig? Antiheptant!«

Waylock drückte auf den Knopf; einige Milli-

gramm Wasser flossen in Hertzogs Adern.

Basil beobachtete den Strahlungsmesser. »Mehr,

mehr!« Er runzelte die Stirn. »Was ist mit der ver-
dammten Apparatur los?«

»Vielleicht ist es das falsche Mittel«, wandte Way-

lock ein. »Oder es ist schon zu alt.«

»Das verstehe ich einfach nicht. Gestern hat alles

wunderbar geklappt.« Basil warf einen kritischen
Blick auf den orangeroten Behälter. »Die gleiche Lö-
sung... Na, vielleicht kommen wir auch so zurecht.«
Er beugte sich über die bewegungslose Gestalt. »Ma-
ximilian Hertzog! Wach auf! Maximilian Hertzog!
Wach auf! Maximilian Hertzog – heute wirst du aus
der Anstalt entlassen. Wach auf!«

Hertzog richtete sich so plötzlich auf, daß Basil

rückwärts taumelte und gegen Waylock prallte. Hert-
zog riß sich die Elektroden vom Kopf und die Infusi-
onsnadel aus dem Arm. Er stieß ein heiseres Knurren

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aus, sprang vom Tisch und starrte die beiden Männer
mit blutunterlaufenen Augen an.

»Das Netz!« rief Basil.
Hertzog streckte den Arm nach ihm aus; Basil wich

blitzschnell zurück. Waylock warf Hertzog einen
Hocker vor die Beine, hielt Basils Arm fest und zerrte
ihn hinter sich her in den Lagerraum.

Hertzog stieß den Hocker beiseite und rannte hin-

ter ihnen her. Die Tür fiel vor seiner Nase ins Schloß.
Er stemmte sich mit aller Kraft dagegen; Basil und
Waylock spürten, daß die ganze Wand nachzugeben
drohte.

»Wir können nicht einfach hierbleiben«, stellte Ba-

sil fest. »Wir müssen ihn überwältigen.«

»Wie?«
»Das weiß ich selbst nicht – aber wir müssen es

schaffen! Sonst bin ich ruiniert!«

Draußen ertönten leise Schritte, die allmählich

schwächer wurden, als schleiche jemand durch das
Laboratorium. Schließlich verstummten sie völlig.
Dann folgten fast gleichzeitig ein dumpfes Knurren
und ein Schreckensschrei: Seth Caddigans entsetzte
Stimme.

Waylock schloß die Augen. Der Schrei wurde ein

schwaches Wimmern, das plötzlich aufhörte. Dann
hörten sie ein triumphierendes Brüllen: »Ich bin
Hertzog! Der Killer Hertzog! Maximilian Hertzog!«

Basil war in die Knie gesunken. Waylock beobach-

tete ihn aus dem Augenwinkel heraus und war sich
darüber im klaren, daß er die Schuld an Caddigans
Tod trug. Er öffnete die Tür, schlich durch das Labo-
ratorium und blieb auf der Schwelle zu Basils Ar-
beitszimmer stehen.

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Seth Caddigans Leiche lag am Fenster. Waylock

starrte den zerschmetterten Körper erschüttert an. In
diesem Augenblick fühlte er sich wirklich wie ein
Ungeheuer. Er hatte Tränen in den Augen.

Basil Thinkoup war leise hereingekommen. Er sah

Caddigan und schlug die Hände vors Gesicht. Vom
Korridor her erklang ein schriller Schrei, ein heiseres
Gebrüll, eine entsetzte weibliche Stimme.

Waylock rannte ins Laboratorium zurück und

füllte eine Impfpistole mit dem stärksten Betäu-
bungsmittel in Basils Vorräten, das augenblicklich
wirken mußte. Aber die Pistole allein war nicht wirk-
samer als ein Schneebesen. Waylock griff nach einem
fast zwei Meter langen Plastikrohr, befestigte die
Impfpistole mit Klebstreifen am vorderen Ende und
band eine Schnur um den Abzug. Jetzt war er ausrei-
chend bewaffnet.

Er rannte durch das Büro, wich Basil aus und blieb

an der Tür stehen, um vorsichtig in den Flur hinaus-
zusehen.

Der Angstschrei einer Frau verriet ihm, wo Hert-

zog stecken mußte. Waylock lief den Korridor entlang
und blieb vor einer zertrümmerten Tür stehen. Hert-
zog beugte sich über die Leiche eines Mannes. An der
Wand stand eine Krankenschwester mit vor Schreck
glasigen Augen. Sie schrie nochmals entsetzt auf, als
Hertzog sich ihr langsam näherte. Der Kranke griff
nach ihren Haaren, vergrub die Finger darin und
schüttelte ihren Kopf verspielt hin und her, als wolle
er ihn im nächsten Moment mit einem einzigen Ruck
abreißen. Hinter der gläsernen Trennungswand
drängten sich schreckensbleiche Gesichter mit offe-
nen Mündern.

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Waylock blieb auf der Schwelle stehen und starrte

den Toten an. Vor ihm lag Didaktor Benberry.

Er holte tief Luft, trat vor, hielt die Impfpistole

dicht an Hertzogs Nacken und betätigte den Abzug
mit Hilfe der Schnur; die Ladung drang durch die
Haut in die Nervenzentren des Amokläufers.

Hertzog ließ sein Opfer los und warf sich herum.

Er griff nach seinem Nacken, starrte Waylock aus-
druckslos an und stürzte sich auf ihn. Gavin wich zu-
rück, wehrte den Angriff mit dem Plastikrohr ab und
wäre fast über Didaktor Benberrys Leiche gestolpert.
Zum Glück sackte Hertzog im gleichen Augenblick
bewußtlos zusammen, als das Betäubungsmittel end-
lich zu wirken begann.

Waylock ließ das Rohr fallen, lehnte sich an den

Türrahmen und wartete, bis die Krankenpfleger ka-
men. In ihrer Begleitung erschien der stellvertretende
Didaktor Sam Yudill; er blieb in der Tür stehen und
starrte die Leiche seines Vorgesetzten an.

Waylock hatte das Gefühl, der Raum drehe sich vor

seinen Augen. Die Stimmen wurden leiser, bis er nur
noch sein Herz dröhnend laut schlagen hörte.

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21

Caddigans Leiche war entfernt worden. Basil stand
am Fenster und rang die Hände. »Armer Kerl...« Er
drehte sich nach Waylock um. »Was kann passiert
sein? Gavin, was kann eigentlich schiefgegangen
sein?«

»Wir müssen irgend etwas übersehen haben«,

murmelte Waylock.

Basil starrte ihn forschend an, als sei plötzlich ein

bestimmter Verdacht in ihm aufgestiegen. Aber dann
zuckte er nur hoffnungslos und verbittert mit den
Schultern, ließ sich ebenfalls in einen Sessel fallen
und schloß müde die Augen.

Waylock fiel etwas ein. »Ist Caddigans Frau be-

nachrichtigt worden?«

»Was?« Basil schrak auf. »Yudill hat vorhin bei ihr

angerufen und ihr unser Beileid ausgesprochen.«

Sie saßen einige Minuten lang schweigend neben-

einander. Dann wurde Basil am Visorphon verlangt;
der Anrufer war Didaktor Sam Yudill, der vorläufig
die Leitung der Anstalt übernommen hatte.

»Thinkoup, die Untersuchungskommission ist hier;

wir wollen uns gleich an die Arbeit machen. Kommen
Sie sofort in mein Büro.«

»Selbstverständlich«, antwortete Basil. »Ich bin

gleich da.«

Der Bildschirm wurde dunkel; Basil erhob sich

schwerfällig. »Die letzte Runde«, murmelte er und
fügte dann mit gespielter Heiterkeit hinzu: »Du
brauchst dir meinetwegen keine Sorgen zu machen,
Gavin; ich schaffe es schon irgendwie.« Er klopfte

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Waylock auf die Schulter und ging hinaus.

Waylock kehrte ins Laboratorium zurück, räumte

die zertrümmerten Einrichtungsgegenstände zur
Seite und suchte nach dem orangeroten Behälter. Er
goß das destillierte Wasser aus und warf den Behälter
in den Müllschlucker. Dann nahm er im Vorzimmer
an Caddigans Schreibtisch Platz.

Kurze Zeit später hielt er es nicht mehr auf Caddi-

gans Stuhl aus und ging unruhig auf und ab, als kön-
ne er dadurch seine Verzweiflung mildern. Weshalb
empfand er eigentlich dieses Schuldbewußtsein? Das
Leben in Clarges glich einem fortgesetzten harten
Existenzkampf – wer in eine höhere Phyle aufstieg,
bewirkte damit nur, daß sich das Leben sämtlicher
Angehöriger der untersten Phyle um einige Sekunden
verkürzte. Gavin Waylock hatte die Absicht, in die-
sem Kampf siegreich zu bleiben; er hielt sich im
Grunde genommen streng an die Wettbewerbsregeln.
Der Grayven Warlock hatte bereits die höchste Phyle
erreicht, und Gavin Waylock befand sich deshalb im
Recht, wenn er alle Möglichkeiten ausschöpfte, um
diese Stufe wieder zu erklimmen.

Draußen ertönten Schritte. Basil Thinkoup betrat

mit hängenden Schultern den Raum. »Ich bin entlas-
sen«, sagte er. »Meine Arbeit im Palliatorium Ballias-
se ist beendet. Dabei habe ich noch Glück gehabt,
denn ich wäre fast den Assassinen übergeben wor-
den.«

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22

Der bedauerliche Unglücksfall, dem Didaktor Rufus
Benberry und Seth Caddigan zum Opfer gefallen wa-
ren, wurde überall in Clarges ausführlich diskutiert.
Gavin Waylock wurde wegen seines Einfallsreich-
tums und seiner ›vorbildlichen Tapferkeit‹ allgemein
gelobt; Basil Thinkoup wurde als ›sturer Mechanist‹
bezeichnet, der ›die seiner Obhut anvertrauten hilflo-
sen Patienten als Versuchsobjekte mißbrauchte, um
dadurch in eine höhere Phyle zu gelangen‹.

Als Basil sich endlich von Gavin Waylock verab-

schiedete, war er ein gebrochener Mann. Seine Haare
hingen ihm wirr ins Gesicht, in den Augen standen
Tränen, die er nicht unterdrücken konnte; er war völ-
lig verwirrt. »Woran kann es nur gelegen haben?«
fragte er immer wieder. »Vielleicht hat es nicht sein
sollen, Gavin. Vielleicht wollte das Große Gute Prin-
zip, daß wir an dieser Krankheit leiden, damit unser
Stolz nicht überhandnimmt.« Er lächelte schwach.

»Was hast du jetzt vor?« fragte Waylock.
»Ich muß mir einen anderen Beruf suchen; Psy-

chotherapie ist anscheinend doch nicht meine Stärke.
Ich habe mich schon auf einem anderen Gebiet umge-
sehen; wenn ich dort Erfolg habe, kann ich vermut-
lich...« Er schüttelte den Kopf. »Aber das muß sich
erst herausstellen.«

»Ich wünsche dir jedenfalls alles Gute«, sagte

Waylock.

»Und ich dir, Gavin.«

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23

Der neue Anstaltsleiter war Didaktor Leon Gradella,
ein Fremder in Balliasse, der aus einer anderen An-
stalt hierher versetzt worden war. Gradella hatte ei-
nen schlecht proportionierten Körper – an einem
massiven Rumpf saßen spindeldürre Arme und Bei-
ne. Sein Haupt mit der silbergrauen Löwenmähne
war eindrucksvoll; die dunklen Augen schienen jede
Kleinigkeit wahrzunehmen.

Gradella

gab

bekannt,

er

habe

die

Absicht,

das

Perso-

nal

umgehend

auf

seine

Eignung

zu

prüfen,

um

in

Zu-

kunft Fehlbesetzungen zu vermeiden. Keiner der Be-
troffenen

verließ

lächelnd

sein

Arbeitszimmer,

und

nie-

mand wollte über den Verlauf seines Interviews spre-
chen.

Am

zweiten

Tag

wurde

Gavin

Waylock

nachmit-

tags zu Gradella gerufen, der ihm wortlos einen Stuhl
anwies und seinen Personalakt in den Projektor legte.

»Gavin Waylock, Brut.« Gradella las weiter und sah

dann auf. »Sie sind noch nicht lange hier, Waylock.«

»Richtig.«
»Sie sind als Krankenpfleger angestellt.«
»Ja.«
»Weshalb haben Sie Ihre Bewerbung nicht voll-

ständig ausgefüllt?«

»Ich dachte, meine Arbeit würde für sich selbst

sprechen.«

Gradella ließ sich nicht beeindrucken. »Von Zeit zu

Zeit gelingt es Männern, den Aufstieg durch einen
frechen Bluff zu schaffen. Das kommt hier bei uns
nicht in Frage. Ihre Qualifikationen sind völlig unzu-
reichend.«

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»Ich bin anderer Meinung.«
Gradella lehnte sich in seinen Sessel zurück. »So –

aber können Sie mich überzeugen?«

»Was ist Psychiatrie?« fragte Waylock ihn. »Die

Lehre von den Gemütskranken und ihrer Heilung.
Der Ausdruck ›Qualifikation‹ bezieht sich offenbar
auf ein längeres Studium auf diesem Gebiet. Die
›qualifizierten Kräfte‹ haben jedoch meistens keinen
Erfolg, wenn es um die Heilung unserer Kranken
geht. Deshalb sind Ihre ›Qualifikationen‹ illusorisch.
Es dürfte nur einen Bewertungsmaßstab geben – die
nachgewiesene Fähigkeit, Psychosen zu heilen. Besit-
zen Sie selbst diese Qualifikation?«

Gradella lächelte fast jovial. »Nein, nicht nach Ihrer

Definition. Haben Sie etwa das Gefühl, wir sollten die
Rollen tauschen?«

»Warum nicht? Ich bin einverstanden.«
»Nein, Sie behalten Ihren bisherigen Posten. Aber

Sie werden aufmerksam beobachtet und beurteilt.«

Waylock verbeugte sich und ging.

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24

Am Abend des gleichen Tages wurde Waylock durch
den Summer an der Tür bei seinen Studien unterbro-
chen. Ein hagerer Mann in Schwarz stand im Flur.

»Sie sind Gavin Waylock, Brut?«
Waylock betrachtete den formlosen schwarzen

Umhang des anderen und erkannte die winzigen
goldenen Kragenspiegel, die zwei gekreuzte Dolche
zeigten.

»Ich bin Waylock. Sie wünschen?«
»Ich bin ein Assassine. Auf Wunsch zeige ich Ihnen

gern meinen Ausweis. Ich möchte Sie bitten, mich zu
einem kurzen Verhör in die nächste Bezirksstelle zu
begleiten. Sollte der gegenwärtige Zeitpunkt ungele-
gen sein, können wir gemeinsam einen anderen be-
stimmen.«

»Weshalb soll ich verhört werden?«
»Wir untersuchen ein Verbrechen, dem Die Jacynth

Martin zum Opfer gefallen ist, und müssen einer An-
zeige gegen Sie nachgehen.«

»Darf ich fragen, wer die Anzeige erstattet hat?«
»Alle Namen werden vertraulich behandelt. Ich

empfehle Ihnen, mich gleich jetzt zu begleiten. Sie
können jedoch auch eine andere Zeit bestimmen.«

Waylock erhob sich. »Ich habe nichts zu verber-

gen.«

»Ausgezeichnet. Mein Dienstwagen steht unten.«
Sie fuhren schweigend zur Bezirksstelle, die in ei-

nem alten Gebäude am Parmenter-Platz unterge-
bracht war. Der Assassine ließ Waylock dort in einer
kleinen Zelle zurück, wo sich eine Krankenschwester

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oder Assistentin seiner annahm. Waylock erhielt ei-
nen Sessel mit hoher Rückenlehne zugewiesen und
durfte zwischen Likör und Mineralwasser wählen.

Er lehnte beides ab. »Wo sind die Tribunen?«

wollte er wissen. »Sie müssen anwesend sein, wenn
meine Gedanken erforscht werden.«

»Drei Tribunen stehen zu Ihrer Verfügung, Sir. Sie

können weitere anfordern, wenn Sie es für notwendig
halten.«

»Wer sind die Tribunen?« fragte Waylock.
Sie nannte drei Namen. Waylock nickte zufrieden;

alle drei waren als aufrechte Männer bekannt.

»Bitte gedulden Sie sich noch etwas, Sir. Das letzte

Verhör ist noch nicht zu Ende.«

Fünf Minuten später öffnete sich die Tür; drei Tri-

bunen betraten die Zelle, dann folgte der Inquisitor,
ein rundlicher Mann, der Waylock fröhlich lächelnd
begrüßte.

Der Inquisitor begann das Verhör mit der Feststel-

lung: »Gavin Waylock, wir sind mit der Untersu-
chung der Umstände beschäftigt, die dazu geführt
haben, daß Die Jacynth Martin ein gewaltsames Ende
gefunden hat. Deshalb sollen Sie heute nach Ihrer Tä-
tigkeit zur Zeit ihres Hinscheidens gefragt werden.
Haben Sie dagegen Einwände zu erheben?«

Waylock überlegte. »Sie haben ›zur Zeit ihres Hin-

scheidens‹ gesagt. Das ist mir zu vage. Dieser Aus-
druck könnte eine Sekunde, eine Stunde oder einen
ganzen Tag bedeuten. Fragen Sie mich also, was ich
vom Zeitpunkt ihres Hinscheidens weiß; das muß für
Ihre Zwecke genügen.«

»Der Zeitpunkt steht nicht genau fest, Sir. Wir kön-

nen uns nicht festlegen.«

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»Wäre ich schuldig, wüßte ich den genauen Zeit-

punkt«, erklärte Waylock ihm. »Da ich aber unschul-
dig bin, braucht Sie mein Privatleben nicht zu küm-
mern.«

»Sie können sich auf unsere Verschwiegenheit

verlassen, Sir«, wandte der Inquisitor lächelnd ein.
»Wir haben einen Eid darauf geleistet. In Ihrem Pri-
vatleben gibt es doch hoffentlich nichts zu verber-
gen?«

Waylock sah zu den Tribunen hinüber. »Sie haben

meine Bedingung gehört. Wollen Sie mich entspre-
chend schützen?«

Die Tribunen nickten. »Wir lassen nur Fragen zu,

die den unmittelbaren Zeitpunkt des Hinscheidens
betreffen«, versicherte ihm einer der Männer.

»Ausgezeichnet«, sagte Waylock. »Dann können

wir anfangen.« Er setzte sich im Sessel zurecht, be-
kam eine Art Helm aufgesetzt, von dem zahlreiche
Drahte zu einem Schaltpult führten, und erhielt eine
Injektion, die sein Erinnerungsvermögen stärken
sollte.

Die anderen schwiegen. Der Inquisitor ging unru-

hig auf und ab; die Tribunen beobachteten die Szene
aufmerksam. Zwei Minuten später drückte der Inqui-
sitor einen Knopf. Waylock sah Sterne und verschie-
denfarbige Feuerspiralen, die alle auf einen gemein-
samen Mittelpunkt zusteuerten.

»Beobachten Sie die Lichter«, sagte der Inquisitor.

»Entspannen Sie sich... mehr brauchen Sie nicht zu
tun. Entspannen Sie sich... es ist bald vorbei.«

Waylock schien eben erst das Bewußtsein verloren

zu haben, als er bereits wieder aufwachte. Der Inqui-
sitor stand vor ihm und betrachtete ihn mit gerun-

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zelter Stirn. Die Gedankenerforschung hatte offenbar
nicht zum gewünschten Ergebnis geführt. Die Tribu-
nen lächelten zufrieden, als rechneten sie damit,
heute durch unbeugsame Gerechtigkeit wertvolle
Karrierepunkte gesammelt zu haben. Hinter den Tri-
bunen stand Die Jacynth Martin.

Waylock wies anklagend auf sie. »Wer hat diese

Frau hereingelassen? Ich werde mich über diese Un-
gerechtigkeit beschweren! Sie alle müssen dafür be-
straft werden!«

John Foster, der Obertribun, hob abwehrend die

Hand. »Die Anwesenheit dieser Frau mag ge-
schmacklos sein, ist jedoch nicht durch Gesetz ver-
boten.«

»Weshalb haben Sie mich nicht gleich auf offener

Straße verhört?« fragte Waylock aufgebracht.

»Sie verstehen mich falsch. Die Jacynth ist anwe-

send, weil sie selbst zu den Assassinen gehört. Aller-
dings erst seit heute, möchte ich hinzufügen.«

Waylock starrte sie verblüfft an. Die Jacynth nickte

langsam. »Ja, ich untersuche mein eigenes Hinschei-
den«, sagte sie. »Ein Ungeheuer ist daran schuld; ich
möchte wissen, wer es war.«

Waylock zuckte mit den Schultern. »Haben Sie

schon Fortschritte gemacht?« fragte er dann.

»Einige – bis wir es mit Ihrem seltsam lückenhaften

Gedächtnis zu tun hatten.«

Der Inquisitor räusperte sich. »Sie haben keine be-

wußten Wahrnehmungen zu erläutern?«

»Wie könnte ich?« fragte Waylock. »Ich weiß nichts

von diesem Verbrechen.«

Der Inquisitor nickte. »Das haben wir festgestellt.

Ihr Gedächtnis enthält keine Hinweise auf den kriti-

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schen Zeitpunkt.«

»Weshalb fragen Sie dann?«
»Einige Andeutungen lassen den Schluß zu, daß

Ihr Unterbewußtsein verschiedene Informationen
unterdrückt.« Der Inquisitor zuckte mit den Schultern
und wandte sich ab; die Tribunen standen auf. »Vie-
len Dank, Mister Waylock. Sie haben sich in anerken-
nenswerter Weise bemüht.«

Waylock verbeugte sich. »Ich habe Ihnen für Ihre

Hilfe zu danken.«

»Wir haben nur unsere Pflicht getan, Mister Way-

lock.«

Waylock warf seiner Verfolgerin noch einen wü-

tenden Blick zu, verließ wortlos den Raum und ging
durch den langen Korridor. Er hörte rasche Schritte
hinter sich; Die Jacynth schien ihn einholen zu wol-
len. Er blieb stehen. Sie lächelte wenig überzeugend.
»Ich muß mit Ihnen sprechen, Gavin Waylock.«

»Worüber?«
»Das wissen Sie selbst.«
»Ich kann Ihnen beim besten Willen nicht mehr er-

zählen.«

Die Jacynth biß sich auf die Unterlippe. »Aber Sie

haben mich damals begleitet! Dieser Teil des Abends
ist rätselhaft. Aber er muß einen Hinweis enthalten!«

Waylock zuckte mit den Schultern.
Sie trat dicht an ihn heran und sah ihm ernst in die

Augen. »Gavin Waylock, wollen Sie sich irgendwo in
Ruhe mit mir unterhalten?«

»Wie Sie wünschen.«

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25

Sie fanden einen ruhigen Tisch in einem der alten
Kellerlokale der Stadt, dessen Wände mit dunklem
Holz getäfelt waren. Überall hingen Fotografien, die
Sportler im früher üblichen Dreß zeigten. Ein Ober
brachte schweigend die bestellten Getränke und ver-
schwand wortlos.

»Gavin Waylock«, begann Die Jacynth, »schildern

Sie mir die Ereignisse jenes Abends.«

»Da gibt es nicht viel zu erzählen. Ich habe Sie an-

gesprochen; wir schienen aneinander Gefallen zu fin-
den. Wir besuchten verschiedene Häuser und Ver-
gnügungsstätten und saßen zuletzt im Café Pamphy-
lia. Alles weitere müssen Sie von Ihren Freunden er-
fahren haben.«

»Wo waren wir vor unserem Besuch im Pamphy-

lia?«

Waylock schilderte die Ereignisse, soweit er sich

noch an sie erinnerte. Als er den Teil erreichte der aus
seinem Gedächtnis gelöscht war, zögerte er fast un-
merklich und beschrieb dann die Minuten vor dem
Augenblick, in dem er sich gemeinsam mit Basil
Thinkoup verabschiedet hatte.

Die Jacynth protestierte. »Hier haben Sie vieles

ausgelassen – das ist ganz offensichtlich!«

Waylock runzelte die Stirn. »Ich weiß nichts davon.

Vielleicht war ich betrunken.«

»Nein«, stellte Die Jacynth fest. »Der Albert und

Der Denis sind sich darüber einig, daß Sie völlig
nüchtern waren.«

Waylock zuckte mit den Schultern. »Offenbar ist

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nichts geschehen, was mich beeindruckt hätte.«

»Noch etwas«, fuhr Die Jacynth fort. »Sie haben

nicht er wähnt, daß wir im Tempel der Wahrheit ge-
wesen sind.«

»Wirklich nicht? Es muß mir ebenfalls entfallen

sein.«

»Seltsam. Der Diener erinnert sich noch deutlich an

uns.«

»Wirklich seltsam«, stimmte Waylock zu.
»Interessiert Sie meine Theorie?« fragte Die Jacynth

leise.

»Selbstverständlich, wenn Sie mir davon erzählen

wollen.«

»Ich bin der Überzeugung, daß ich irgendwann im

Verlauf des Abends – vielleicht im Tempel der Wahr-
heit – zu Informationen gelangt bin, die Ihnen ge-
fährlich erschienen. Deshalb mußte ich beseitigt wer-
den, bevor ich mein Wissen weitergeben konnte. Was
haben Sie dazu zu sagen?«

»Nichts.«
»Sie hatten auch während des Verhörs nichts zu

sagen«, warf sie ihm vor. »Eigenartigerweise ist Ihr
Gedächtnis nur in dieser Beziehung schlecht. Ich weiß
nicht, mit welchem Trick Sie das erreicht haben, aber
ich bin fest entschlossen, dieses Rätsel zu lösen. Und
in der Zwischenzeit werde ich dafür sorgen, daß Sie
keine Vorteile aus Ihrem Verbrechen ziehen können.«

»Was soll das heißen?«
»Das merken Sie früh genug.«
»Sie sind ein merkwürdiges Wesen«, meinte Way-

lock nachdenklich.

»Ich bin ein normaler Mensch mit starken Empfin-

dungen.«

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»Ich habe ebenfalls starke Empfindungen«, sagte

Waylock. Die Jacynth starrte ihn an. »Wie ist das zu
verstehen?«

»Ich wollte nur andeuten, daß eine Auseinander-

setzung zwischen uns beiden schlimme Folgen haben
könnte.«

Die Jacynth lachte. »Sie sind verwundbarer als ich.«
»Und deshalb rücksichtsloser.«
Die Jacynth erhob sich. »Ich muß jetzt gehen. Aber

ich bezweifle, daß Sie mich vergessen werden.« Sie
ging rasch die Treppe hinauf und verschwand.

Am nächsten Morgen trat Waylock zur gewohnten

Zeit seinen Dienst in der Beruhigungsanstalt an. Eine
Stunde später wurde er bereits in Didaktor Gradellas
Büro gerufen.

Gradella kam sofort zur Sache. »Ich habe mir Ihren

Fall nochmals durch den Kopf gehen lassen. Sie sind
für Ihren Posten ungeeignet und deshalb fristlos ent-
lassen.«

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26

Basil Thinkoup rief Waylock am folgenden Tag in
seinem Appartement an. »Ah, Gavin! Ich fürchtete
schon, du seist vielleicht nicht zu Hause.«

»Kein Grund zur Sorge, Basil. Ich arbeite nicht

mehr in der Anstalt. Ich bin fristlos entlassen wor-
den!«

Basil verzog das Gesicht zu einer weinerlichen

Grimasse. »Das tut mir aber leid, Gavin! So ein Pech!«

Waylock zuckte mit den Schultern. »Die Arbeit hat

mir nie sonderlich gut gefallen. Vielleicht bin ich auf
anderen Gebieten mehr begabt.«

Basil seufzte. »Ich wollte, ich könnte ebenso opti-

mistisch sein.«

»Hast du noch keine Pläne gemacht?«
»In meiner Jugend war ich ein ziemlich guter Glas-

bläser«, antwortete Basil. »Vielleicht fange ich wieder
damit an. Ich bin noch unentschlossen.«

»Sieh dich vorher gründlich um«, empfahl Way-

lock ihm.

»Selbstverständlich. Aber ich muß an meine Stei-

gung denken, und ich bin noch weit unter Dritte.«

»Vielleicht fällt uns gemeinsam etwas ein«, schlug

Waylock vor.

Basil machte eine abwehrende Handbewegung.

»Du brauchst dir meinetwegen keine Sorgen zu ma-
chen; ich finde schon etwas... Aber im Augenblick bin
ich wirklich ratlos.«

»Schön, überlegen wir also... Du hast bewiesen, daß

die Psychiatrie neue Impulse braucht.«

Basil schüttelte müde den Kopf. »Aber was habe

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ich davon gehabt?«

»Ich denke eben an den Aktuarius«, fuhr Waylock

fort. »Ist es nicht möglich, daß wir seine Funktion zu
kritiklos betrachten?«

Basil hob abwehrend die Hände. »Gavin, du rüt-

telst an den Grundlagen unseres Lebens!«

»Keineswegs, ich denke nur unvoreingenommen

darüber nach. Der Aktuarius spielt seit dreihundert
Jahren die gleiche Rolle. Seitdem hat sich viel verän-
dert – aber der Aktuarius rechnet noch immer mit
denselben Gleichungen, mit der gleichen Verteilung
innerhalb der Phylen, mit derselben Geburtenziffer.«

Basil runzelte die Stirn. »Welchen Wert sollte eine

Veränderung haben?«

»Du brauchst nur an unsere Gesamtbevölkerung

zu denken«, antwortete Waylock. »Sie ist auf fünf-
undzwanzig Millionen beschränkt, obwohl angesichts
der höheren Produktivität mehr Menschen in Rand
oder sogar Amaranth aufgenommen werden könn-
ten. Wer diesen Nachweis erbrächte, könnte mit etli-
chen Karrierepunkten rechnen.«

Basil schien nicht überzeugt zu sein.
»Noch etwas«, fuhr Waylock fort. »Der Prangerkä-

fig.«

»Abstoßend«, murmelte Basil.
»Eine grausame Strafe, selbst bevor die Zeloten auf

der Bildfläche erschienen.«

Basil lächelte. »Wer Clarges von den Zeloten be-

freit, könnte mit allgemeiner Anerkennung rechnen.«

Waylock nickte. »Ohne Zweifel. Aber der Mann,

der den Prangerkäfig abschafft, würde sich größere
Verdienste erwerben.«

Basil schüttelte den Kopf. »Davon bin ich nicht

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überzeugt. Wer protestiert, wenn der Prangerkäfig
aufgehängt wird? Niemand. Und wenn der Bestrafte
freigelassen wird, versammeln sich ehrbare Leute,
um seine Flucht zu erleben.«

»Oder um sich unter die Zeloten zu mischen.«
Basil holte tief Luft. »Vielleicht fällt mir doch noch

etwas ein. Wirklich nett von dir, daß du dir solche
Mühe mit mir gibst.«

»Die Diskussion hilft uns beiden.«
»Was hast du vor?« fragte Basil interessiert.
»Ich will eine Arbeit über die Zeloten schreiben: ih-

re Motive, Psychologie und Gewohnheiten: ihre Ver-
teilung auf die einzelnen Phylen und ihre Gesamt-
zahl.«

»Eine schwierige Aufgabe...«, murmelte Basil.
»Aber eine Studie dieser Art würde beträchtliches

Aufsehen erregen«, antwortete Waylock lächelnd.

»Wo willst du das Material sammeln? Niemand

gibt freiwillig zu, daß er Zelot ist. Du müßtest un-
endlich viel Geduld, List, Mut und Tapferkeit auf-
wenden, um...«

»Vergiß nicht, daß ich sieben Jahre lang bei den

Tausend Dieben gelebt habe. Solange ich gut bezahle,
kann ich über hundert Berber verfügen.«

»Aber das Geld! Das Projekt erfordert Unsum-

men!«

»Das ist meine geringste Sorge.«
Basil war beeindruckt, aber keineswegs überzeugt.

»Nun, jeder muß selbst wissen, was er in Zukunft für
seine Karriere tun will. Ich rufe dich gelegentlich
wieder an und erkundige mich nach deinen Fort-
schritten.«

Der Bildschirm wurde dunkel. Waylock setzte sich

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an seinen Schreibtisch und verfaßte einen Entwurf
der geplanten Untersuchung. Die vorbereitenden Ar-
beiten würden etwa ein halbes Jahr dauern, für die
Niederschrift mußte er weitere drei Monate rechnen.
Diese Arbeit mußte ihm den Aufstieg in Keil sichern.

Er vereinbarte einen Termin mit dem größten Ver-

lag von Clarges und erschien dort am gleichen
Nachmittag mit seinem Entwurf.

Das Interview verlief, wie er gehofft hatte. Verret

Hoskins, der verantwortliche Mann, mit dem er
sprach, brachte die gleichen Einwände wie Basil vor,
und Waylock antwortete mit den gleichen Argu-
menten. Hoskins ließ sich überzeugen und war
schließlich sogar von der Idee begeistert. Der Vertrag
sollte am nächsten Morgen zur Unterschrift bereitlie-
gen.

Waylock kehrte in bester Stimmung nach Hause

zurück, aber die Ernüchterung folgte schon eine halbe
Stunde später: Hoskins rief ihn an. Er wirkte bedrückt
und konnte Waylock nicht in die Augen sehen.

»Offenbar bin ich etwas zu voreilig gewesen, Mi-

ster Waylock«, sagte er verlegen. »Wir können Ihre
Arbeit leider doch nicht übernehmen.«

»Was!« rief Waylock entgeistert aus. »Sie haben mir

doch versprochen, morgen...«

»Die Sache sieht jetzt anders aus, und meine Vor-

gesetzten sind gegen dieses Projekt.«

Waylock schaltete das Visorphon wütend ab. Am

nächsten Tag versuchte er es bei einigen anderen
Verlagen und wurde überall mit durchsichtigen Aus-
flüchten abgewiesen.

Nach der Rückkehr in sein Appartement ging er

lange unruhig auf und ab. Schließlich ließ er sich vor

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dem Visorphon nieder, suchte im Teilnehmerver-
zeichnis nach einer bestimmten Rufnummer und
wählte sie.

Auf dem Bildschirm erschien Die Jacynth; sie zog

überrascht die Augenbrauen hoch, als sie den Anru-
fer erkannte.

Waylock kam sofort zur Sache. »Sie mischen sich in

meine Angelegenheiten ein«, warf er ihr vor.

Die Jacynth betrachtete ihn lächelnd. »Ich habe im

Augenblick keine Zeit, mich mit Ihnen zu unterhal-
ten, Gavin Waylock.«

»Hören Sie sich lieber an, was ich zu sagen habe.«
»Vielleicht später einmal.«
»Auch gut. Wann?«
Sie überlegte und lächelte dann amüsiert. »Heute

abend bin ich im Künstlerklub. Dort können Sie mir
erzählen, was Sie zu sagen haben.« Sie machte eine
bedeutungsvolle Pause. »Vielleicht habe ich Ihnen
ebenfalls etwas zu sagen«, fügte sie dann hinzu.

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27

Das Lufttaxi setzte Waylock auf dem Landeplatz vor
dem Künstlerklub ab, auf dem bereits zwei Dutzend
Privatmaschinen standen – glitzernde Spielzeuge, an
denen nur Glarks und Angehörige der höchsten
Phyle Vergnügen haben konnten. Waylock folgte
dem beleuchteten Pfad durch die weitläufigen Gar-
tenanlagen und erreichte schließlich ein Marmorpor-
tal. In der Eingangshalle hing ein Plakat; Waylock
blieb davor stehen und las:

HEUTE

AQUEFAKTE

von

REINHOLD BIERBURSSON

Unter dem Plakat saß eine ältere Dame an einem
Tischchen; vor ihr stand ein Schild mit der Aufschrift:
Spenden werden dankbar angenommen. Die Dame schien
sich zu langweilen und häkelte irgend etwas aus
Metallfäden. Als Waylock einen Florin auf den Tisch
legte, dankte sie ihm mit einem Kopfnicken, ohne ih-
re Arbeit zu unterbrechen. Waylock öffnete die Samt-
portieren und betrat den Großen Saal.

Die Aquefakte des ihm unbekannten Reinhold

Bierbursson, verschlungene Konstruktionen aus er-
starrtem Wasser, waren an den Wänden aufgebaut.
Waylock betrachtete sie flüchtig, fand sie wenig inter-
essant und befaßte sich lieber mit den übrigen Gä-
sten.

Etwa zweihundert geladene Gäste standen in klei-

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neren Gruppen beieinander oder gingen langsam an
den ausgestellten Kunstwerken vorüber. Reinhold
Bierbursson stand am Eingang – ein großer stattlicher
Mann, der sich nicht als Ehrengast, sondern als be-
mitleidenswerter Märtyrer zu fühlen schien. Diese
Ausstellung mußte viel für ihn bedeuten – Triumph,
Rechtfertigung oder vielleicht nur finanziellen Erfolg
–, aber Bierbursson benahm sich, als sei er gegen sei-
nen Willen zu dieser Veranstaltung geschleppt wor-
den. Er sprach nur, wenn er selbst angesprochen
wurde; aber Waylock fiel auf, daß er trotzdem höflich
und freundlich alle Fragen beantwortete.

Die Jacynth hielt sich ebenfalls in der Nähe des

Eingangs auf und sprach dort mit einer jungen Frau,
die ein atemberaubendes grünes Kleid trug. Sie selbst
hatte heute eine lose dunkelblaue Robe gewählt, de-
ren raffinierter Schnitt ihren schlanken Körper wir-
kungsvoll zur Geltung brachte. Als Waylock den Saal
betrat, hatte sie kurz aufgesehen, ihn jedoch offenbar
nicht erkannt oder ihn nicht erkennen wollen.

Waylock durchquerte langsam den Saal. Die

Jacynth beobachtete weiterhin den Eingang. Ihre Be-
gleiterin, ein schwarzhaariges zierliches Wesen, sah
in die gleiche Richtung. Waylock kam das hübsche
Gesicht mit den dunklen Augen bekannt vor; er hatte
es irgendwo schon einmal gesehen.

Er blieb dicht hinter den beiden stehen und hörte

so einen Teil ihres Gesprächs mit, ohne von ihnen
beiden bemerkt zu werden.

»Glaubst du, daß er wirklich kommt?« fragte Die

Jacynth nervös.

»Natürlich«, antwortete die andere beruhigend.

»Der lächerliche Kerl liegt mir zu Füßen.«

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Waylock zog die Augenbrauen hoch. Die beiden

warteten also auf einen andern. Er war enttäuscht.

Die Jacynth runzelte die Stirn. »Ob seine Anhäng-

lichkeit so weit geht, daß er es wirklich tut?«

»Vincent würde bei den Nomaden Erbauungs-

schriften verteilen, wenn ich ihn darum gebeten hät-
te... Da kommt er schon.«

Waylock folgte ihrem Blick und studierte den jun-

gen

Mann,

der

eben

den

Saal

betreten

hatte:

etwa

drei-

ßig, gut angezogen, vermutlich Dritte, selbstbewußtes
Auftreten, schmales Gesicht, sandfarbenes Haar,
graue Augen, lange Nase und gespaltenes Kinn.

Die Jacynth wandte sich ab. »Vielleicht ist es besser,

wenn er uns nicht nebeneinander sieht.«

Ihre Begleiterin zuckte mit den Schultern. »Wie du

willst...«

Waylock zog sich unauffällig zurück, als Die

Jacynth in seine Nähe kam. Die dunkelhaarige junge
Frau blieb an ihrem Platz, wurde aber sofort von ei-
nem anderen jungen Mann in ein Gespräch verwik-
kelt. Zwei ältere Herren unterhielten sich über eines
der Kunstwerke, erkannten Die Jacynth neben sich
und wollten ihre Meinung dazu hören.

Waylock ging weiter durch den Saal. Der Mann

namens Vincent schien eine Rolle in dem Feldzug zu
spielen, den Die Jacynth gegen ihn begonnen hatte.
Vielleicht war es angebracht, seine Bekanntschaft zu
machen.

Vincent war auf die schwarzhaarige junge Frau zu-

gegangen und hatte sich enttäuscht abgewandt, als er
sah, daß sie sich bereits mit einem anderen unterhielt.
Jetzt hatte er Reinhold Bierbursson in ein Gespräch
verwickelt.

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Waylock näherte sich den beiden.
»Ich muß leider zugeben«, sagte der junge Mann

eben, »daß mir Ihr Werk nicht allzu vertraut ist.«

»Nur wenige kennen es wirklich«, antwortete Bier-

bursson.

»Mich interessiert vor allem ein technisches Pro-

blem, Mister Bierbursson – ich bin selbst Techniker.
Wie erzeugen Sie diesen verblüffenden Formen-
reichtum, bevor das Wasser erstarrt?«

Bierbursson lächelte. »Für mich ist das kein Pro-

blem, denn ich habe alle Vorteile auf meiner Seite. Ich
bin Raumfahrer und arbeite in einer Umgebung, in
der es keine Schwerkraft gibt.«

»Wohin hat Sie Ihr letzter Flug geführt, Mister

Bierbursson?« fragte Waylock.

»Unsere Ziele waren Sirius und die zehn Hunde-

planeten.«

»Ah«, sagte Vincent. »Dann waren Sie also an Bord

der Star Endeavor!«

»Ich bin Meisternavigator«, antwortete Bierburs-

son.

Ein untersetzter Mann in mittleren Jahren hatte

sich ihnen angeschlossen. »Erlauben Sie, daß ich mich
vorstelle«, sagte er. »Ich heiße Jacob Nile.«

Vincent schien förmlich zu erstarren. »Ich bin Vin-

cent Rodenave«, murmelte er.

Waylock schwieg; Bierbursson betrachtete die drei

ohne großes Interesse.

»Ich habe noch nie mit einem Raumfahrer gespro-

chen«, fuhr Nile fort und wandte sich dabei an Bier-
bursson. »Darf ich Ihnen einige Fragen stellen?«

»Selbstverständlich.«
»Angeblich gibt es innerhalb unserer Galaxis un-

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endlich viele Planeten.«

Bierbursson nickte.
»Auch solche, die für Menschen bewohnbar sind?«
»Ja.«
»Erforschen Sie diese Planeten, wenn sich eine Ge-

legenheit dazu bietet?«

Bierbursson lächelte. »Nicht allzuoft. Ich bin nicht

mehr als der Pilot eines Lufttaxis, der sich nach den
Wünschen der Fahrgäste zu richten hat.«

»Aber Sie können uns doch bestimmt mehr dar-

über erzählen!« widersprach Nile.

Bierbursson nickte. »Es gibt einen Planeten, von

dem ich nicht oft spreche. Er gleicht einem fruchtba-
ren Paradies – und er gehört mir, denn ich habe ihn
zuerst betreten. Niemand kann ihn mir streitig ma-
chen.«

»Dann sind Sie reich«, stellte Nile fest. »Ein benei-

denswerter Mann.«

Bierbursson schüttelte den Kopf. »Ich habe diesen

Planeten nur einmal gesehen, wie man aus Zufall ein
Gesicht in der Menge entdeckt. Ich habe ihn wieder
verloren und suche ihn seitdem vergeblich.«

»Es gibt noch andere Welten«, sagte Nile. »Viel-

leicht für jeden von uns, wenn wir uns nur die Mühe
machen würden, nach ihnen zu suchen.«

»Manchmal bilde ich mir ein, ich wäre als Raum-

fahrer glücklicher geworden«, sagte Waylock.

Jacob Nile lachte. »Wir Bürger von Clarges sind für

dieses Geschäft wenig geeignet. Bierbursson ist völlig
aus der Art geschlagen. Er ist ein Mann der Vergan-
genheit – oder der Zukunft.«

Bierbursson runzelte die Stirn, äußerte sich jedoch

nicht dazu.

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»Wir leben in einer Festung«, fuhr Nile fort. »Wir

errichten Barrieren gegen die Nomaden; wir bewoh-
nen eine Insel inmitten der stürmischen Meere und
fühlen uns recht wohl dabei. Steigung! Steigung!
Steigung! – das ist der ganze Lebensinhalt unserer
Mitbürger.« Nile machte eine verächtliche Handbe-
wegung und tauchte in der Menge unter.

Rodenave entfernte sich ebenfalls; Waylock zögerte

noch und folgte ihm dann. Sie unterhielten sich ange-
regt über die ausgestellten Kunstwerke, und Waylock
beobachtete, daß Die Jacynth noch immer mit den
beiden älteren Herren sprach.

»Dort drüben steht Die Jacynth Martin«, warf er

wie beiläufig ein. »Haben Sie schon ihre Bekannt-
schaft gemacht?«

Rodenave starrte ihn forschend an. »Nein, leider

nicht. Gehören Sie zu ihren Freunden?«

»Oh, ich kenne sie nur entfernt«, antwortete Way-

lock rasch.

»Ich bin auf Einladung hier«, sagte Rodenave

selbstbewußt. »Die Anastasia de Fancourt hat mich
um mein Erscheinen gebeten.«

»Wie schön«, murmelte Waylock. Jetzt wußte er,

weshalb ihm das Gesicht der schwarzhaarigen jungen
Frau so bekannt vorkam. Die Anastasia de Fancourt,
die berühmte Schauspielerin.

Rodenave runzelte die Stirn. »Die Jacynth ist gut

mit ihr befreundet.«

Waylock lachte. »Es gibt keine Freundschaften un-

ter den Amaranth; sie sind nicht auf Freunde ange-
wiesen.«

»Sie scheinen ihre Psychologie genau studiert zu

haben«, stellte Rodenave fest.

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Waylock zuckte mit den Schultern und zeigte auf

Reinhold Bierbursson. »Zu welcher Phyle gehört er?«

»Rand. Die Raumfahrt ist immer zuverlässig. Kein

langes Studium, keine Anstrengungen...«

»Nur sehr geringe Überlebenschancen.«
Rodenave sprach von seiner eigenen Phyle – Dritte

– und berichtete von seiner Arbeit; er war in der In-
standhaltungsabteilung des Aktuarius beschäftigt.
Waylock erkundigte sich nach seinem Aufgabenbe-
reich.

»Allgemeine Forschung und Aufspüren von Feh-

lermöglichkeiten. Letztes Jahr habe ich an einer Ver-
einfachung des Televektor-Systems gearbeitet. Bisher
mußte ein Kodezeichen entschlüsselt und als Koordi-
nate auf die große Karte übertragen werden. Jetzt
wird die Information direkt auf einen Filmstreifen
gedruckt, der selbst Teil der Karte ist. Dieser Verbes-
serung verdanke ich übrigens meinen Aufstieg in
Dritte.«

»Herzlichen Glückwunsch«, sagte Waylock. »Einer

meiner Freunde will zukünftig beim Aktuarius ar-
beiten; er wird sich freuen, wenn ich ihm erzähle, daß
es dort noch Aufstiegsmöglichkeiten gibt.«

Rodenave schien nicht damit einverstanden zu

sein. »In welcher Funktion?«

»Wahrscheinlich auf dem Sachgebiet Öffentlich-

keitsarbeit.«

»Dort kann er keine Punkte sammeln«, versicherte

Rodenave ihm.

»Sind denn nicht überall Verbesserungen mög-

lich?« fragte Waylock. »Ich habe selbst schon mit dem
Gedanken gespielt, dort zu arbeiten.«

Rodenave starrte ihn verwirrt an. »Was soll diese

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Völkerwanderung zum Aktuarius? Unsere Arbeit ist
nicht weiter aufregend; wir kennen weder Personal-
probleme noch Umsatzsteigerungen noch Flauten –
folglich sind auch die Aufstiegschancen sehr gering.«

»Sie haben es aber trotzdem geschafft«, stellte

Waylock fest.

Rodenave schnaubte verächtlich. »Geschafft?«

wiederholte er.

»Was hilft mir das, wenn die Zeit so kurz ist? Ich

müßte eigentlich zu Hause sitzen und Logarithmen
lernen.«

»Logarithmen lernen?« fragte Waylock verblüfft.
»Auswendiglernen trifft eher zu. Ich will die Log-

arithmen aller Zahlen bis hundert und die aller na-
türlichen Konstanten im Gedächtnis haben.«

Waylock lächelte ungläubig. »Was ist der Log-

arithmus von 42?«

»Der natürliche oder der Zehner-Logarithmus? Ich

weiß beide.«

»Der Zehner-Logarithmus.«
»1,62325.«
»85?«
Rodenave schüttelte den Kopf. »Ich bin erst bei 71

angelangt.«

»Dann bitte 71.«
»1,85126.«
»Wie können Sie das behalten?« erkundigte Way-

lock sich.

Rodenave machte eine wegwerfende Handbewe-

gung. »Ich benütze natürlich ein mnemotechnisches
System und verwandle jede Ziffer in einen Satzteil. 1
ist ein Eigenschaftswort; 2 ein Hauptwort, tierisch; 3
ein Hauptwort, pflanzlich; 4 ein Hauptwort, minera-

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lisch; 5 ein Zeitwort; 6 ein Umstandswort oder Eigen-
schaftswort, das Gefühle oder Gedanken bezeichnet;
7 eine Farbe; 8 eine Richtung; 9 eine Größe; 0 eine
Verneinung.

Nach diesem Kode merke ich mir einen Satz für je-

de Zahl. Das Verfahren ist ganz einfach. ›Vorsichtiger
Bär Gras und Fisch frißt.‹ Das bedeutet 1,62325, der
Zehner-Logarithmus von 42, denn die Kennziffer er-
gibt sich von selbst.«

»Erstaunlich.«
Rodenave seufzte. »Heute abend wäre ich bis 74

oder gar 75 gekommen. Hätte Die Anastasia mich
nicht ausdrücklich gebeten, ihr...« Er machte eine
Pause. »Da kommt sie ja!«

Die Anastasia kam lächelnd näher. »Guten Abend,

Vincent«, sagte sie mit klarer Stimme. Sie warf Way-
lock einen kurzen Blick zu; Rodenave hatte ihn be-
reits vergessen.

»Ich habe alles wie gewünscht besorgt, obwohl das

sehr riskant war.«

»Ausgezeichnet, Vincent!« Die Anastasia legte Ro-

denave eine Hand auf den Arm. »Besuchen Sie mich
nach der Vorstellung in meiner Garderobe.«

Rodenave erklärte sich stotternd dazu bereit. Die

Anastasia lächelte nochmals und verschwand wieder
in der Menge. Die beiden Männer sahen ihr bewun-
dernd nach. »Unvergleichlich«, murmelte Rodenave.

Die Anastasia erreichte Die Jacynth und flüsterte

ihr etwas zu, wobei sie auf Vincent Rodenave deute-
te. Die Jacynth drehte sich nach den beiden Männern
um, aber Waylock wandte sich rasch ab und zeigte
ihr nur seinen Rücken.

Vincent Rodenave war diese Bewegung aufgefal-

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len. Er starrte Waylock neugierig an. »Sie haben mir
Ihren Namen bisher verschwiegen«, sagte er.

»Ich bin Gavin Waylock.«
Rodenaves Unterkiefer sackte herab. »Gavin...

Waylock...?« flüsterte er.

»Ja.«
Rodenave sah sich verzweifelt um. »Dort drüben

kommt Jacob Nile. Ich entferne mich lieber.«

»Was gefällt Ihnen an Nile nicht?« fragte Waylock.
Rodenave zog die Augenbrauen hoch. »Haben Sie

noch nie von den Zweiflern gehört?«

»Ich habe gehört, daß sie im Haus der Erleuchtung

Versammlungen abhalten.«

Rodenave nickte. »Niles Unsinn interessiert mich

nicht. Der Kerl ist noch dazu ein Glark!«

Rodenave entfernte sich eilig. Waylock beobachtete

Die Jacynth, stellte fest, daß sie wie zuvor in eine
Unterhaltung vertieft war, und folgte Rodenave, der
vor einem Aquefakt stand.

Rodenave sah ihn kommen und wandte sich rasch

ab. Waylock berührte seine Schulter; der andere
drehte sich langsam nach ihm um.

»Ich möchte mit Ihnen sprechen, Rodenave.«
»Tut mir leid«, stotterte Rodenave. »Aber im Au-

genblick...«

»Vielleicht begleiten Sie mich nach draußen.«
»Ich habe kein Bedürfnis nach frischer Luft.«
»Dann gehen wir in einen Nebenraum; vielleicht

können wir die Sache dort in Ordnung bringen.«
Waylock nahm Rodenaves Arm und führte ihn hin-
aus.

»Los, her mit dem Zeug«, forderte er dann mit aus-

gestreckter Hand.

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»Was?«
»Sie tragen etwas bei sich, das Die Anastasia be-

kommen soll. Da es mich betrifft, möchte ich es se-
hen.«

»Sie irren sich.« Rodenave wollte gehen, aber

Waylock hielt ihn zurück, ohne sich um den Protest
des anderen zu kümmern. Er griff in Rodenaves Jacke
und holte einen Umschlag aus der Innentasche; Ro-
denave machte eine abwehrende Handbewegung, lei-
stete jedoch keinen ernsthaften Widerstand.

Waylock riß den Umschlag auf, der drei Mikrofil-

me enthielt. Er nahm einen heraus und hielt ihn ans
Licht. Einzelheiten waren nicht zu erkennen, aber die
Beschriftung war deutlich genug: DER GRAYVEN
WARLOCK.

»Aha«, murmelte Waylock. »Allmählich verstehe

ich.« Rodenave stand wie ein ertappter Sünder vor
ihm.

Der zweite Filmstreifen trug die Aufschrift GAVIN

WAYLOCK, der dritte war mit DIE ANASTASIA DE
FANCOURT bezeichnet.

»Offenbar handelt es sich dabei um Televektorfil-

me«, sagte Waylock. »Vielleicht erzählen Sie mir
freundlicherweise, was...«

»Ich erzähle Ihnen gar nichts«, unterbrach Rodena-

ve ihn wütend.

Waylock betrachtete ihn nachdenklich. »Können

Sie sich die Konsequenzen einer Anzeige vorstellen?«

»Die Sache ist völlig harmlos! Ein Scherz, eine be-

langlose Gefälligkeit!«

»Harmlos? Ein Scherz? Wenn Sie mit meinem Le-

ben spielen? Obwohl selbst die Assassinen keine Te-
levektoren benützen dürfen?«

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»Sie überschätzen die Bedeutung der ganzen An-

gelegenheit«, murmelte Rodenave betreten.

»Sie überschätzen Ihre Entfernung vom Prangerkä-

fig.«

Rodenave streckte die Hand aus. »Geben Sie mir

jetzt die Filme zurück«, verlangte er.

»Sind Sie übergeschnappt?« fragte Waylock er-

staunt.

Rodenave suchte nach einer Ausrede. »Ich habe sie

schließlich für Die Anastasia beschafft.«

»Was wollte sie damit?«
»Keine Ahnung«, murmelte Rodenave.
»Sie wollte die Filme an Die Jacynth weitergeben,

glaube ich.«

Rodenave zuckte mit den Schultern. »Das kann mir

egal sein.«

»Haben Sie die Absicht, ihr noch weitere Filme zu

besorgen?« fragte Waylock leise.

Rodenave starrte ihn an und ließ dann den Kopf

sinken. »Nein.«

»Werden Sie bitte diesem Vorsatz nicht untreu.«
Rodenave warf einen Blick auf den Umschlag in

Waylocks Hand. »Was haben Sie damit vor?«

»Keine

Angst,

es

betrifft

Sie

nicht

im

geringsten.

Sei-

en

Sie

froh, daß Ihre traurige Rolle damit zu Ende ist.«

Rodenave machte auf dem Absatz kehrt und ver-

ließ den Raum.

Waylock sah ihm mit gerunzelter Stirn nach, war-

tete noch einige Minuten und trat dann in den Saal
hinaus. Die Jacynth schien ihn bereits erwartet zu ha-
ben, denn sie beobachtete ihn mit einem leichten Lä-
cheln, als er den Saal durchquerte, um zu ihr zu ge-
langen.

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28

»Haldeman hat die Ruinen in der Biskaya mit eigenen
Augen gesehen«, sagte der jüngere der beiden Män-
ner, neben denen Die Jacynth stand. »Ein Mauerrest,
eine Bronzestelle, ein zerstörtes Mosaik und sogar ei-
ne unbeschädigte blaue Glasscheibe!«

Der andere klatschte begeistert in die Hände. »Das

muß wirklich aufregend gewesen sein! Wäre ich nicht
durch mein Amt an Clarges gefesselt, würde ich mich
Ihrer Expedition anschließen!«

Die Jacynth legte eine Hand auf Waylocks Arm.

»Hier ist ein Mann, der Abenteuer liebt! Ein Ritter
ohne Furcht und Tadel!« Sie stellte ihn ihren Freun-
den vor. »Mister Sisdon Cam...« – ein kräftig gebauter
Mann mit sonnengebräuntem Gesicht – »... und Seine
Ehren, der Kanzler des Prytaneons, Claude Imish« –
ein weißhaariger älterer Mann, der Waylock mit ei-
nem freundlichen Nicken begrüßte.

Waylock murmelte einige Höflichkeitsfloskeln; Die

Jacynth, die zu spüren schien, daß er innerlich kochte,
schwatzte munter weiter. »Wir haben eben von Mi-
ster Cams letzter Expedition gesprochen. Er ist Un-
terwasserarchäologe.«

Kanzler Imish deutete lächelnd auf die Aquefakte

an den Wänden. »Dann ist er hier gerade richtig, fin-
de ich!«

»Ist das nicht erstaunlich, Gavin Waylock?« fuhr

Die Jacynth fort. »Zerstörte Städte im Meer!«

»Schrecklich aufregend«, warf Kanzler Imish ein.
»Wie könnte die Stadt früher geheißen haben?« er-

kundigte Die Jacynth sich.

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Cam schüttelte den Kopf. »Wer weiß? Vielleicht

bringen die nächsten Tauchversuche einen brauchba-
ren Hinweis.«

»Werden Sie nicht von nomadischen Piraten belä-

stigt?« fragte Imish.

»Bis zu einem gewissen Grad. Aber sie sind schon

vorsichtiger geworden.«

Waylock konnte seine Ungeduld nicht länger be-

herrschen. »Haben Sie einen Augenblick Zeit für
mich?« fragte er Die Jacynth.

»Selbstverständlich.« Sie entschuldigte sich bei

Cam und Imish und entfernte sich einige Schritte von
ihnen. »Nun, Gavin Waylock, wie geht es?«

»Warum haben Sie mich heute abend hierher ge-

lotst?« wollte Waylock wissen.

Sie zog überrascht die Augenbrauen hoch. »Woll-

ten Sie denn nicht mit mir sprechen?«

»Ich möchte Sie nur warnen. Wenn Sie sich in mei-

ne Angelegenheiten einmischen, bin ich gezwungen,
mich auch in Ihre zu mischen.«

»Das klingt fast wie eine Drohung, Gavin.«
»Nein«, sagte Waylock, »es ist nur eine letzte War-

nung, die ich an Ihrer Stelle beherzigen würde.«

Die Jacynth sah an ihm vorbei und schien kaum auf

seine Worte zu achten; er stellte fest, daß ihre Pupil-
len vor Aufregung geweitet waren. »Hier kommt ein
Mann, den Sie unbedingt begrüßen müssen«, flüsterte
sie ihm zu. »Die Anastasia bezeichnet ihn als ihren
gegenwärtigen Liebhaber, aber jeder weiß, daß sie
noch ein halbes Dutzend andere hat.«

Waylock drehte sich um; hinter ihm stand Der Abel

Mandeville. Die beiden Männer starrten sich an.

»Der Grayven Warlock!« rief Der Abel aus.

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»Ich heiße Gavin Waylock«, erklärte Waylock ihm

eisig höflich.

»Gavin ist angeblich nur sein Relikt«, fügte Die

Jacynth hinzu.

»Nun, es tut mir leid, wenn...« Der Abel kniff die

Augen zusammen. »Relikt? Nicht Surrogat?«

»Relikt«, sagte Waylock.
Der Abel betrachtete ihn von Kopf bis Fuß. »Mög-

lich. Unter Umständen möglich. Aber Sie sind kein
Relikt. Sie sind Der Grayven, und die Tatsache, daß
Sie Ihrer verdienten Strafe entgangen sind, ist eine
himmelschreiende Ungerechtigkeit.« Er wandte sich
an Die Jacynth. »Ist dieses Ungeheuer wirklich unbe-
siegbar?«

»Vielleicht«, antwortete Die Jacynth nachdenklich.
»Weshalb geben Sie sich überhaupt mit ihm ab?«

wollte Der Abel wissen.

»Ich muß zugeben, daß er mich... interessiert.«
Der Abel machte eine wegwerfende Handbewe-

gung. »Unser System hat einen entscheidenden Feh-
ler, das habe ich schon immer behauptet. Wenn die
Assassinen ihren Auftrag erfüllen, sollten sie ganze
Arbeit leisten, damit keine Spur des Verurteilten in
Clarges zurückbleibt!«

»Abel«, warf Die Jacynth ein, »warum halten wir

uns mit vergangenen Untaten auf? Gibt es nicht auch
gegenwärtig Ungerechtigkeiten, wohin man blickt?«

Der Abel schüttelte wütend den Kopf. »Ich verste-

he einfach nicht, weshalb Sie sich mit diesem min-
derwertigen Subjekt abgeben!« Er wandte sich brüsk
ab und verschwand in der Menge.

Die Jacynth und Waylock sahen ihm nach. »Er ist

heute reizbarer als gewöhnlich«, erklärte Die Jacynth

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ihm. »Die Anastasia flirtet mit anderen, und seine Ei-
fersucht plagt ihn wie ein Magengeschwür.«

»Haben Sie mich für heute abend eingeladen, da-

mit Der Abel mich besichtigen kann?« fragte Way-
lock.

»Erraten«, antwortete Die Jacynth lächelnd. »Ja, ich

wollte diese Begegnung miterleben. Bisher war mir
nicht klar, weshalb Sie damals mein Hinscheiden ver-
anlaßt haben könnten. Aber ich glaubte, endlich eine
brauchbare Spur gefunden zu haben, als mir auffiel,
daß Sie wie Der Grayven aussehen.«

»Ich heiße Gavin Waylock.«
Sie reagierte nicht darauf. »Ich mußte mir Gewiß-

heit verschaffen. Die ursprüngliche Jacynth hatte kein
großes Interesse an Ihnen; sie kannte kaum Einzel-
heiten der Warlock-Mandeville-Affäre.«

»Selbst wenn Sie recht hätten – weshalb sollte ich

Ihnen schaden wollen?«

»Sieben Jahre sind vergangen; Der Grayven War-

lock ist nach den Bestimmungen des Gesetzes tot.
Wer nun behauptet, sein Relikt zu sein, kann sich un-
gefährdet in Clarges bewegen. Ich habe Sie in Car-
nevalle wiedererkannt; Sie mußten fürchten, ich
würde Sie den Assassinen ausliefern.«

»Und – nehmen wir einmal an, Ihre phantastischen

Behauptungen träfen wirklich zu – hätten Sie es ge-
tan?«

»Selbstverständlich! Sie haben ein Verbrechen be-

gangen, und in Carnevalle haben Sie es wiederholt.«

»Sie sind von einer fixen Idee besessen«, murmelte

Waylock.

»Halten Sie mich etwa für dumm, Gavin Way-

lock?« fragte Die Jacynth.

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»Selbst wenn ich schuldig wäre – was ich nie zuge-

ben würde –, woraus konstruieren Sie dann ein Ver-
brechen? Weder Sie noch Der Abel hatten mehr als
eine kleine Unannehmlichkeit zu erdulden.«

»Ihr Verbrechen ist abstrakt und fundamental«, er-

klärte Die Jacynth leise. »Sie haben das Leben zweier
Menschen beendet.«

Waylock warf einen Blick auf den Saal und die üb-

rigen Gäste. »Hier ist kaum der richtige Ort, an dem
sich dieses Problem in Ruhe diskutieren ließe«, sagte
er langsam. »Ich möchte Sie aber darauf aufmerksam
machen, daß jeder von uns – die Glarks ausgenom-
men – dieses ›Verbrechen‹ begeht, ohne sich um die
Folgen zu kümmern.«

»Sie erschrecken mich!« flüsterte Die Jacynth mit

gespielter Angst. »Beschreiben Sie mein Verbrechen –
schildern Sie mir die grausigen Details!«

Waylock nickte. »Auf zweitausend normale Bürger

der vier unteren Phylen kommt ein Amaranth. Als Sie
in die Amaranth-Gesellschaft aufgenommen wurden,
erhielt der Aktuarius neue Informationen, die ent-
sprechend ausgewertet wurden. Zweitausend
schwarze Limousinen setzten sich in Bewegung;
zweitausend Verzweifelte nahmen Abschied von ih-
ren Lieben, verließen ihr Haus und bestiegen eine
Limousine; zweitausend...«

Die Jacynth machte eine abwehrende Handbewe-

gung. »Das ist nicht meine Schuld; jeder strebt unter
den gleichen Voraussetzungen.«

»Und jeder frißt jeden«, fügte Waylock hinzu. »Der

Existenzkampf ist härter als jemals zuvor in der Ge-
schichte der Menschheit. Sie haben sich blenden las-
sen; Sie vertrauen auf falsche Theorien; Sie sind gera-

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dezu davon besessen – nicht nur Sie, sondern wir alle.
Hätten wir endlich den Mut, den Tatsachen ins Auge
zu sehen, wären die Beruhigungsanstalten weniger
überfüllt.«

»Bravo«, rief Kanzler Imish aus, der sich ihnen leise

genähert hatte. »Eine unorthodoxe Ansicht, die zwar
auf falschen Voraussetzungen beruht, aber mit Bered-
samkeit und Überzeugung vorgetragen wurde!«

Waylock verbeugte sich leicht. »Ich danke Ihnen.«

Er nickte den beiden kurz zu und verschwand in ei-
nem der Nebenräume. Dort konnte er in aller Ruhe
nachdenken und planen, während Die Anastasia im
Großen Saal ihre Solovorstellung gab.

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29

Waylock lehnte sich in einen Sessel zurück. Die
Jacynth hatte ihn hierher gelockt, um sich seine Iden-
tität bestätigen zu lassen – wenn nicht durch die Tat-
sache, daß Der Abel Mandeville ihn wiedererkannt
hatte, dann durch einen Vergleich der Televektorfil-
me, die ihr Die Anastasia von ihrem Verehrer Vincent
Rodenave hatte verschaffen lassen.

Waylock nahm die Filme aus dem Umschlag und

untersuchte sie so gut wie möglich ohne Projektor.
Alle Details der Darstellungen waren verwischt, als
seien verschiedene Felder der ursprünglichen Karte
übereinandergelegt worden. Auf jedem Film waren
zwei rote Kreuze zu sehen – das eine klar und deut-
lich, das andere etwas verschwommen. Die beiden
Filme, die Waylock betrafen, schienen völlig überein-
zustimmen. Waylock zerriß sie lächelnd.

Er betrachtete den dritten Film nochmals einge-

hend und stellte fest, daß auch hier eine Überlage-
rung vorgenommen worden war. Weshalb? Ein tech-
nischer Fehler schied aus. Waylock hatte eher den
Eindruck, die Karten zweier Menschen seien absicht-
lich auf einem Filmstreifen dargestellt worden.

Aber das war eigentlich unmöglich; die Alpha-

Wellen jedes Gehirns waren unverwechselbar und
einzigartig.

Plötzlich fiel ihm eine mögliche Lösung ein, und er

hatte fast gleichzeitig eine großartige Idee, die ihm
zunächst so phantastisch erschien, daß er selbst nicht
recht daran glauben konnte...

Aber wo steckt der Fehler, wenn ich diese Filmstreifen

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richtig gedeutet habe?

Waylock ging erregt auf und ab. Aus der bloßen

Idee wurde innerhalb weniger Minuten ein be-
stimmter Plan, mit dessen Ausführung er demnächst
beginnen mußte.

Begeisterter Applaus rauschte auf; Stimmengewirr

wurde laut. Die Vorstellung im Großen Saal war zu
Ende.

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30

Die Anastasia de Fancourt kehrte in ihre Garderobe
zurück und ließ die Tür hinter sich ins Schloß fallen.
Sie war erschöpft, aber trotzdem mit sich zufrieden,
denn die Vorstellung war ein voller Erfolg gewesen.
Die Beifallsrufe und der Applaus der Zuschauer
klangen weiter in ihren Ohren nach...

Sie richtete sich auf. Irgend jemand befand sich in

ihrer Nähe; irgend jemand, den sie nicht kannte. Sie
warf einen Blick in den kleinen Salon, der sich an die
Garderobe anschloß. Dort saß ein Mann in einem der
Sessel und stützte den Kopf in die Hände.

Die Anastasia näherte sich ihm überrascht. »Mister

Bierbursson, ich freue mich, daß Sie sich die Mühe
gemacht haben, mich hier aufzusuchen.«

Bierbursson schüttelte den Kopf. »Nein, die Freude

liegt ganz auf meiner Seite. Eigentlich müßte ich mich
für mein Eindringen entschuldigen, aber als Raum-
fahrer bildet man sich gelegentlich ein, über den
Konventionen zu stehen.«

Die Anastasia lachte. »Ich würde vielleicht zu-

stimmen, wenn ich wüßte, welche Konvention Sie
meinen.«

Bierbursson sah ihr unverwandt in die Augen. »Ich

bin kein Mann großer Worte«, begann er. »Meine Ge-
danken sind Bilder, die ich nicht recht beschreiben
kann. Ich halte Tage, Wochen und Monate Wache
und bin für das Schiff verantwortlich, während die
Wissenschaftler und Forscher in ihren Zellen schla-
fen. Das ist meine Aufgabe.«

Die Anastasia nahm in dem Sessel neben ihm Platz.

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»Ihr Leben muß sehr einsam sein«, stellte sie fest.

»Ich habe meine Arbeit. Ich habe meine Bildhauer-

kunst. Und ich habe Musik. Heute abend haben Sie
eine Vorstellung gegeben. Ich war überrascht. Bisher
habe ich immer geglaubt, nur Musik könne so beredt
und empfindsam ausdrücken, was ich...«

»Das ist ganz natürlich. Schauspieler und Musiker

stehen einander geistig sehr nahe. Beide gebrauchen
Symbole, die abstrakte Formen der Wirklichkeit
sind.«

Bierbursson nickte langsam. »Ja, das verstehe ich.«
Die Anastasia erhob sich, blieb dicht vor ihm ste-

hen und betrachtete sein Gesicht. »Sie sind ein selt-
samer Mann, ein wundervoller Mann. Warum sind
Sie zu mir gekommen?«

»Ich wollte Sie bitten, mit mir zu kommen«, erwi-

derte Bierbursson. »Die Star Enterprise, das neue
Raumschiff, ist in wenigen Wochen startbereit und
soll uns nach Acharnar bringen. Ich möchte, daß Sie
mit mir kommen und mein Leben teilen.«

Die Anastasia lächelte bedauernd. »Ich bin so zag-

haft und furchtsam wie alle anderen.«

»Das kann ich nicht glauben.«
»Es ist leider wahr.« Sie legte ihm die Hände auf

die Schultern. »Ich darf meine Surrogate nicht verlas-
sen; unsere Empathie wäre gefährdet, und ich könnte
ihre weitere Entwicklung nicht mehr beeinflussen. Ich
dürfte sie aber auch nicht mitnehmen und sie der Ge-
fahr völliger Vernichtung aussetzen. Deshalb...« Sie
machte eine bedauernde Geste. »Ich bin Gefangene
meiner eigenen Freiheit.«

Hinter ihnen flog die Tür auf, dann kamen laute

Schritte näher.

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»Eine hübsche Szene«, sagte eine spöttische Stim-

me.

Der Abel Mandeville stand in der Nähe der Tür

und starrte Die Anastasia wütend an. Er trat einen
Schritt auf sie zu. »Du gibst dich also mit dieser Vo-
gelscheuche ab – du umarmst ihn sogar!«

Die Anastasia stampfte wütend mit dem Fuß auf.

»Abel, das geht wirklich zu weit«, zischte sie.

»Pah! Meine Grobheit ist weniger abstoßend als

deine Nymphomanie, das kannst du mir glauben!«

Bierbursson erhob sich langsam. »Tut mir leid, daß

ich Ihnen offenbar den Abend verdorben habe«, sagte
er traurig.

Mandeville lachte böse. »Sie überschätzen sich,

guter Mann. Von Ihnen und Ihresgleichen lasse ich
mir keinen Abend verderben!«

Eine dritte Männerstimme kam von der Tür her.

»Haben Sie einen Augenblick Zeit für mich, Ana-
stasia?« fragte Vincent Rodenave.

»Noch einer?« wollte Der Abel wissen.
Vincent Rodenave trat auf ihn zu. »Sie sind beleidi-

gend, Sir.«

»Das kümmert mich wenig. Was haben Sie hier zu

suchen?«

»Sie haben kein Recht, mich danach zu fragen.«
Der Abel kam drohend näher; Vincent Rodenave

blieb tapfer stehen, obwohl er körperlich deutlich
unterlegen war. Die Anastasia trat zwischen sie.
»Hört auf, ihr Kampfhähne! Sofort aufhören, habe ich
gesagt! Bitte geh jetzt, Abel!«

Der Abel starrte sie wütend an. »Ich soll gehen?«
»Ja.«
»Ich gehe erst, wenn die beiden gegangen sind.« Er

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deutete auf die Tür. »Dort hinaus, meine Herren, aber
schnell!«

»Geht alle«, rief Die Anastasia. »Ich will keinen

mehr sehen!«

Reinhold Bierbursson verbeugte sich leicht und

ging hinaus.

Vincent Rodenave blieb stehen. »Haben Sie später

einen Augenblick Zeit für mich? Ich muß Ihnen...«

Die Anastasia machte eine abwehrende Handbe-

wegung.

»Nicht heute abend, Vincent. Ich brauche nach die-

ser Aufregung etwas Ruhe.«

Rodenave zögerte unentschlossen, verließ dann

aber doch den Raum.

Die Anastasia drehte sich nach Mandeville um.

»Bitte, Abel. Ich muß mich umziehen.«

Der Abel blieb unbeweglich stehen. »Ich will mit

dir sprechen.«

»Aber ich nicht mit dir!« Die Anastasia lachte ver-

ächtlich. »Verstehst du wirklich nicht, Abel? Ich bin
mit dir fertig – endgültig, völlig, unwiderruflich. Ver-
schwinde jetzt!«

Die Anastasia wandte sich brüsk ab, nahm vor dem

Garderobenspiegel Platz, griff nach einem Watte-
bausch und begann sich abzuschminken.

Hinter ihr näherten sich schwere Schritte; dann

folgten ein unterdrückter Aufschrei, ein Keuchen und
ein stetes Tropfen, das wenig später aufhörte.

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31

Am Morgen nach der Ausstellung war Waylock
schon beim Aufstehen in gedrückter und pessimisti-
scher Stimmung. Er zog sich langsam an, verließ das
Haus und ging in Richtung Süden davon. Eine Vier-
telstunde später erreichte er den Perlenpavillon, der
inmitten eines weitläufigen Parks an einem künstli-
chen See lag. Dort nahm er auf der sonnenüberflute-
ten Terrasse Platz und bestellte ein leichtes Frühstück.

Die Sonne wärmte ihn und vertrieb seine trübselige

Laune. Die schrecklichen Ereignisse des vergangenen
Abends dienten schließlich zu seiner Rechtfertigung –
das mußte selbst Die Jacynth zugeben. Sollte sie be-
reit sein, ihn nicht länger zu verfolgen, würde er sei-
nerseits den Plan aufgeben, der am vergangenen
Abend in ihm gereift war. Und trotzdem – die Idee
war eigentlich um ihrer selbst willen reizvoll.

Er griff in die Tasche und nahm Rodenaves Um-

schlag heraus, der den Filmstreifen mit der Aufschrift
DIE ANASTASIA DE FANCOURT enthielt. Vermut-
lich war es nicht allzu schwierig, die überlagerten
Darstellungen voneinander zu trennen. Das war ein
rein technisches Problem, das mit technischen Mitteln
zu lösen sein mußte...

Er wog den Umschlag nachdenklich in der Hand.

Rodenave hatte viel für Die Anastasia gewagt und ei-
ne schwere Bestrafung riskiert – jedenfalls die fristlo-
se Entlassung, wahrscheinlich aber auch den Pran-
gerkäfig. Er war dazu bereit gewesen, ohne auf eine
Belohnung hoffen zu können. Waylock fragte sich,
was er ein zweitesmal riskieren würde, wenn er eine

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Belohnung vor Augen hatte.

Waylock beendete sein Frühstück, bestellte einen

zweiten Becher Tee und lehnte sich in seinen Sessel
zurück. Dann richtete er sich plötzlich auf und kniff
die Augen zusammen, als er das seltsame Paar am
Seeufer stehen sah: ein ernster junger Mann in
Schwarz und eine hübsche rothaarige Frau in grünem
Rock und schwefelgelber Bluse, zu der sie ein Dut-
zend klirrender Armreifen trug.

Waylock erkannte die junge Frau: Pladge Caddi-

gan. Sie sah im gleichen Augenblick zu ihm herüber.
»Gavin Waylock!« rief sie und winkte ihm zu. Dann
nahm sie den Arm ihres Begleiters, betrat die Terrasse
und blieb vor Waylocks Tisch stehen.

»Roger Buisly, Gavin Waylock«, sagte sie einfach.

»Dürfen wir Ihnen Gesellschaft leisten?«

»Selbstverständlich«, antwortete Waylock, Pladge

schien sich verblüffend rasch von ihrem Schock über
Caddigans Tod erholt zu haben.

Pladge setzte sich, und der junge Mann folgte ih-

rem Beispiel.

»Ich habe große Hoffnungen, Roger«, sagte Pladge,

»daß Gavin Waylock sich uns anschließt.«

»Wobei?« fragte Waylock.
»Ich erwarte, daß Sie ebenfalls ein Zweifler wer-

den«, antwortete Pladge zuversichtlich. »Alle bedeu-
tenden Leute sind heutzutage Zweifler.«

»Das freut mich«, erwiderte Waylock sarkastisch.

»Vielleicht erklären Sie mir endlich genau, was unter
einem Zweifler zu verstehen ist.«

Pladge schüttelte bedauernd den Kopf. »Das ist

leider unmöglich, denn jeder von uns würde Ihnen
eine andere Definition geben. Wir sind uns nur im

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Prinzip darüber einig, daß die gegenwärtigen Zu-
stände unerträglich sind. Deshalb schließen wir uns
zusammen, um eine Ratsversammlung ins Leben zu
rufen.«

»Wozu?«
Pladge starrte ihn überrascht an. »Damit wir end-

lich die dringend notwendigen Veränderungen unse-
res Systems durchsetzen können!«

»Welche?«
Pladge seufzte leise. »Wären wir uns darüber einig,

wäre alles andere ein Kinderspiel. Der augenblickli-
che Zustand ist unerträglich; wir wollen ihn ändern –
nur Roger Buisly nicht.«

Buisly lächelte ironisch. »Wir leben in einer unvoll-

kommenen Welt. Meiner Überzeugung nach ist das
gegenwärtige System die beste Lösung. Es setzt be-
stimmte Normen fest, steckt erreichbare Ziele ab und
erfüllt die Hoffnungen der Menschheit. Zudem wäre
jede Änderung mit großen Nachteilen für uns alle
verbunden.«

Pladge schnitt eine Grimasse. »Roger ist heute wie-

der unerträglich konservativ.«

Waylock sah zu dem jungen Mann hinüber. »Wes-

halb ist er dann Zweifler geworden?«

»Warum nicht?« fragte Buisly. »Ich bin ein größerer

Zweifler als die anderen. Pladges Freunde befassen
sich mit dem Problem: ›Wie soll unsere Zukunft aus-
sehen?‹ Ich ergänze diese Fragestellung und überlege:
›Wie soll unsere Zukunft aussehen, wenn diese Ver-
rückten ans Ruder kommen?‹«

»Er hat nie konstruktive Ideen«, klagte Pladge.

»Statt dessen gibt er sich alle Mühe, uns lächerlich zu
machen.«

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»Keineswegs«, widersprach Buisly. »Ich gehe nur

von einfachen Voraussetzungen aus, die deine komi-
schen Freunde nicht akzeptieren wollen. Meine Er-
kenntnis beruht auf drei Tatsachen. Erstens: Jeder
möchte unsterblich sein. Zweitens: Wir können nicht
jedem diesen Wunsch erfüllen, weil sonst unsere Zi-
vilisation gefährdet wäre. Drittens: Da nicht alle ewig
leben können, müssen wir eine Auswahl nach be-
stimmten Gesichtspunkten treffen. Und genau das tut
unser gegenwärtiges System.«

»Aber wie steht es mit dem Leid, das diese Aus-

wahl über die Menschen bringt?« warf Pladge ein.
»Wie steht es mit Kummer und Sorgen und Wirren
und Aufregungen und Schrecken? Wie steht es mit
den armen Kerlen in Beruhigungsanstalten? Fünf-
undzwanzig Prozent aller Teilnehmer!«

Buisly zuckte mit den Schultern. »Unsere Welt ist

eben unvollkommen. Es hat schon immer Kummer
und Sorgen gegeben. Wir geben uns Mühe, diesen
Zustand zu verbessern. Ich bin der Meinung, daß eine
weitere Verbesserung nicht möglich ist.«

»Roger! Ist das wirklich deine Überzeugung?«
»Ja, solange keiner kommt und mir das Gegenteil

beweist.« Er wandte sich an Waylock. »Das ist wirk-
lich meine Meinung. Selbstverständlich verabscheuen
sie mich deswegen, aber ich wirke immerhin wie ein
Blitzableiter auf diese Leute.«

»Vermutlich eine notwendige Funktion«, stellte

Waylock fest. »Gestern abend habe ich einen Zweifler
getroffen. Er hieß Jacob Nile und war...«

»Jacob Nile!« Pladge legte Buisly eine Hand auf

den Arm. »Roger, du mußt ihn gleich anrufen; er
wohnt hier in der Nähe und kommt vielleicht einen

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Augenblick vorbei.«

Roger Buisly war nicht dazu bereit, obwohl Pladge

sich große Mühe gab, ihn umzustimmen.

»Gut«, sagte sie schließlich, »dann rufe ich ihn eben

selbst an.«

Sie erhob sich und verschwand.
»Eine energische Person«, stellte Buisly fest.
»Offensichtlich.«
Pladge kam triumphierend zurück. »Er wollte eben

einer. Spaziergang machen und kommt gleich vor-
bei.«

Jacob Nile erschien wenige Minuten später. Er be-

trachtete Waylock mit gerunzelter Stirn. »Ihr Gesicht
kommt mir bekannt vor. Sind wir uns schon früher
begegnet?«

»Ja«, antwortete Waylock, »gestern abend im

Künstlerklub.«

»Oh?« Nile runzelte die Stirn. »Vielleicht. Ich kann

mich nicht mehr daran erinnern... Eine schreckliche
Sache.«

»Wirklich schrecklich.«
»Was war schrecklich?« fragte Pladge neugierig

und ließ sich alles ausführlich erzählen. Dann spra-
chen sie wieder von den Zweiflern, und Nile schil-
derte eindringlich, welche Gefahren einer zur Bewe-
gungslosigkeit erstarrten Gesellschaft drohten.

»Jacob, Sie haben den Blick für die Wirklichkeit

verloren«, protestierte Roger Buisly. »Wohin sollen
wir uns bewegen, wenn wir kein Ziel haben?«

»Wir müßten uns nur auf unsere eigentliche Auf-

gabe besinnen«, antwortete Nile. Er zuckte mit den
Schultern.

»Aufgabe?«

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»Die Menschheit hat ihren größten Feind besiegt;

wir kennen das Geheimnis der Unsterblichkeit – und
müßten es allen zugänglich machen!«

Buisly lächelte spöttisch. »Das wäre geradezu un-

menschlich, Jacob. Stellen Sie sich vor, was geschehen
würde, wenn die Menschen plötzlich alle unsterblich
wären!«

Waylock nickte zustimmend. »Clarges müßte sich

in alle Richtungen ausbreiten und würde schon nach
wenigen Jahrzehnten die gesamte Welt umfassen. Die
Unsterblichen würden hundert Jahre später Schulter
an Schulter stehen, so weit das feste Land reicht!«

Jacob Nile seufzte. »Ich wüßte eine andere Lösung,

wage aber nicht zu hoffen, daß andere mir auf diesem
Weg folgen würden.«

»Wollen Sie nicht wenigstens andeuten, woraus

diese Lösung besteht?« fragte Roger Buisly.

Nile deutete lächelnd zum Himmel hinauf. »Dort

zwischen den Sternen liegt unsere eigentliche Aufga-
be. Das Universum erwartet uns.«

Die anderen schwiegen fast verlegen. Jacob Nile

beobachtete sie lächelnd. »Sie halten mich für einen
Phantasten? Vielleicht haben Sie recht. Verzeihen Sie
mir, daß ich Sie mit meinen Wunschträumen belästigt
habe.«

»Nein, nein«, widersprach Pladge.
»Ihr Vorschlag könnte tatsächlich eine Lösung des

Problems sein«, stimmte Buisly ernsthaft zu. »Aber
nicht für uns, die wir in Clarges aufgewachsen sind.
Wir haben unsere Karrieren, unsere überlieferten Ge-
bräuche; wir fühlen uns nur innerhalb der Grenzen
dieser Region sicher und...«

»Der Festungskomplex«, stellte Nile enttäuscht fest.

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Er wies auf das riesige Gebäude des Aktuarius, das
jenseits des Parks sichtbar war. »Dort drüben erhebt
sich der Festungskern – das Herz der Stadt.«

Pladge seufzte. »Das erinnert mich daran, daß ich

meine Lebenslinie überprüfen lassen wollte. Ich weiß
seit zwei Wochen nicht mehr, wo ich stehe. Begleitet
mich jemand?«

Buisly erklärte sich dazu bereit; Waylock und Nile

erhoben sich ebenfalls, verließen den Pavillon und
gingen ihrer Wege. Waylock kaufte eine Zeitung,
überflog die erste Seite und blieb überrascht stehen.

Der Abel Mandeville hatte ein zweites Verbrechen

begangen – Selbstentleibung. Der Artikel berichtete,
daß ihn die Verzweiflung über das Hinscheiden einer
›bekannten Schauspielerin‹ zu diesem Schritt getrie-
ben haben mußte. Aubrey Hervat, der Oberste Assas-
sine, hatte ihn zu einem kurzen Verhör aufgesucht,
war Zeuge der Selbstentleibung geworden und hatte
sie vergeblich zu verhindern versucht.

Waylock zuckte mit den Schultern und machte sich

auf den Weg nach Hause.

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32

Am nächsten Morgen fand Waylock sich frühzeitig
im Personalbüro des Aktuarius ein und bewarb sich
dort um Anstellung.

Die junge Frau, die neue Bewerber interviewte,

machte ihm allerdings wenig Hoffnung. »Selbstver-
ständlich ist es Ihr gutes Recht, hier eine Karriere an-
zustreben, aber ich möchte vorschlagen, daß Sie
nochmals darüber nachdenken. Auf jede Position, die
aussichtsreich erscheint, warten bereits zehn oder
fünfzehn hervorragende Männer. Ein ehrgeiziger
Mann kann anderswo erfolgreicher sein.«

Waylock ließ sich nicht entmutigen. Seine Bewer-

bung wurde daraufhin bearbeitet, und er mußte ver-
schiedene Eignungsprüfungen ablegen. Als er wieder
in das Büro zurückkam, war die junge Frau bereits
mit der Auswertung seiner Tests beschäftigt.

Sie sah lächelnd zu ihm auf. »Ihr Gesamtergebnis

liegt in Klasse A, Abschnitt D – ausgezeichnet. Aber
ich kann Ihnen trotzdem nicht allzu viel bieten. Sie
sind nicht als Techniker ausgebildet und kommen
deshalb weder für Konstruktion noch Entwicklung in
Frage... Vielleicht kann ich Sie in der Öffentlichkeits-
arbeit unterbringen – einer der Reiseinspektoren steht
kurz vor seinem... Ausscheiden. Ich erkundige mich
gleich.«

Waylock setzte sich auf eine Bank; die junge Frau

verließ den Raum.

Minuten verstrichen – zehn, zwanzig, eine halbe

Stunde. Waylock wartete ungeduldig. Nach weiteren
zehn Minuten kam die junge Frau zurück und nahm

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schweigend an ihrem Schreibtisch Platz.

Er stand auf und ging zu ihr hinüber. »Nun?«
»Tut mir leid, Mister Waylock, aber ich habe mich

offenbar geirrt«, sagte sie, ohne ihm ins Gesicht zu
sehen. »Die Position, von der ich vorhin gesprochen
habe, ist leider schon besetzt. Ich kann Ihnen nur eine
Lehrstelle als Wartungstechniker anbieten.«

Als Waylock verblüfft die Stirn runzelte, fügte sie

rasch hinzu: »Selbstverständlich haben Sie auch dort
die Möglichkeit, sich für andere Positionen zu quali-
fizieren, die Ihnen erfolgversprechender erscheinen.«

Waylock starrte sie an. »Eine seltsame Entwick-

lung«, sagte er schließlich. »Mit wem haben Sie ge-
sprochen?«

»Die Entscheidung hängt nicht von mir ab, Sir«,

versicherte sie ihm.

»Wer hat Sie angewiesen, mir diese Auskunft zu

geben?«

Sie wandte sich ab. »Sie müssen mich jetzt ent-

schuldigen; ich habe noch zu arbeiten.«

Waylock schlug mit der Faust auf den Schreibtisch.

»Antworten Sie! Bei wem sind Sie vorhin gewesen?«

»Ich wollte Ihre Bewerbung wie üblich von mei-

nem Dienststellenleiter abzeichnen lassen.«

»Und dann?«
»Er war der Meinung, Sie seien für den anderen

Posten nicht geeignet.«

»Bringen Sie mich zu Ihrem Vorgesetzten.«
»Wie Sie wünschen, Sir«, sagte die junge Frau

sichtbar erleichtert.

Ihr Vorgesetzter war Cleran Tiswold, Keil, ein vier-

schrötiger Mann mit rotem Gesicht und spärlichem
Haarwuchs. Er kniff die Augen zusammen, als Way-

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lock sein Büro betrat.

Die Diskussion dauerte eine Viertelstunde. Tiswold

bestritt energisch, daß seine Entscheidung von au-
ßerhalb beeinflußt worden war, aber seine Stimme
klang wenig überzeugend, und er weigerte sich, einer
Gedankenerforschung zuzustimmen, die Waylock
vorschlug. Er mußte zugeben, daß Waylock bei den
Eignungsprüfungen hervorragend abgeschnitten
hatte – und daß Bewerber mit diesen Resultaten nor-
malerweise für gehobene Posten in Frage kamen. »Ich
beurteile die Ergebnisse jedoch selbst«, fügte Tiswold
hinzu, »und lasse mich dabei von den Eindrücken
leiten, die ich von dem Bewerber gewonnen habe.«

»Wie können Sie Eindrücke von mir gewinnen,

wenn Sie mich nie zuvor gesehen haben?« fragte
Waylock.

»Ich habe wirklich keine Zeit mehr«, antwortete

Tiswold unwillig. »Nehmen Sie die Stelle an oder
nicht?«

»Ja«, sagte Waylock. »Ich nehme sie an.« Er stand

auf. »Morgen früh melde ich mich zum Dienstantritt.
Ich gehe jetzt zu den Tribunen und erstatte Anzeige
gegen Sie. Genießen Sie den Nachmittag – vielleicht
ist es Ihr letzter.«

Er kehrte nach Hause zurück, ließ sich auf die

Couch fallen und starrte lange die Decke an. Wenn
Die Jacynth und andere Mitglieder der Amaranth-
Gesellschaft nicht aufhörten, ihn ständig und überall
zu verfolgen, würde er geeignete Gegenmaßnahmen
ergreifen müssen.

Aber vor allem mußte er seiner unversöhnlichen

Feindin klarmachen, welche Folgen ihre Hartnäckig-
keit haben konnte.

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Waylock setzte sich an sein Visorphon, um Die

Jacynth anzurufen.

Auf dem Bildschirm erschien nur ihr Wappen; sie

meldete sich, ließ aber die Aufnahmekamera ausge-
schaltet.

»Gavin Waylock! Sie sehen so wütend aus!« Ihre

Stimme klang spöttisch.

»Ich muß mit Ihnen sprechen.«
»Danke, ich habe kein Bedürfnis danach. Wenn Sie

sich aussprechen wollen, brauchen Sie nur zu Caspar
Jarvis zu gehen und Ihre Verbrechen zu bekennen.«

»Hören Sie, ich...« Er sprach nicht weiter, denn der

Bildschirm wurde plötzlich dunkel. Die Jacynth hatte
ihr Gerät ausgeschaltet.

Waylock zuckte mit den Schultern und überlegte

angestrengt. Wer würde sich für ihn einsetzen? Wer
hatte Einfluß auf Die Jacynth? Doch sicher Der Ro-
land Zygmont, der Präsident der Amaranth-
Gesellschaft. Er suchte Zygmonts Rufnummer aus
dem Teilnehmerverzeichnis heraus und wählte sie.

Auf dem Bildschirm erschien wieder ein Wappen,

dann fragte eine Stimme: »Wer sind Sie? Was wün-
schen Sie?«

»Hier spricht Gavin Waylock; ich rufe wegen eines

Problems an, das Die Jacynth Martin betrifft, und hof-
fe, daß Der Roland Zygmont eine Minute für mich
erübrigen kann.«

»Augenblick, bitte.«
Auf dem Bildschirm erschien jetzt ein Mann; Der

Roland betrachtete Waylock forschend. »Ich sehe ein
Gesicht aus der Vergangenheit«, sagte er langsam.
»Der Grayven Warlock!«

»Das hat nichts mit der Angelegenheit zu tun, die

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ich Ihnen vortragen muß«, wandte Waylock unge-
duldig ein.

Der Roland lächelte. »Ich weiß bereits, was Sie sa-

gen wollen.«

»Dann ist es Ihre Pflicht, auf Die Jacynth einzuwir-

ken!«

Der Roland schüttelte überraschend den Kopf. »Ein

Ungeheuer hat Die Jacynth entleibt. Wir können nicht
zulassen, daß Mitglieder unserer Gesellschaft bedroht
werden; darüber müssen Sie sich im klaren sein.«

»Hat die Amaranth-Gesellschaft also offiziell be-

schlossen, mich zu verfolgen?«

»Keineswegs. Wir streben nur nach Gerechtigkeit.

Ich gebe Ihnen den guten Rat, sich an die Gesetze zu
halten. Alles andere schadet nur Ihrer Karriere.«

»Bestreiten Sie etwa, daß das Verhör meine Un-

schuld erwiesen hat?«

»Das Verhör war eine Farce; ich habe das Protokoll

gelesen. Sie haben offenbar eine Methode gefunden,
mit

deren

Hilfe

Sie

Erinnerungen

löschen

können.

Die-

ses

Wissen

gefährdet

unsere

Gesellschaft,

und

Sie

müs-

sen schon aus diesem Grund abgeurteilt werden.«

Waylock brach die Verbindung ab, ließ sich wieder

auf die Couch fallen und schlief augenblicklich ein,
während draußen ein schweres Gewitter niederging.
Als er aufwachte, wurde es bereits dunkel; er machte
sich eine Tasse Kaffee und trank sie nachdenklich
aus. Er mußte Die Jacynth unter vier Augen sprechen
und ihr seine schwierige Lage erläutern; vielleicht
war trotz aller Widerstände doch eine friedliche
Übereinkunft möglich.

Er zog sich um, legte einen dunkelblauen Abend-

anzug an und ging in die Nacht hinaus.

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33

Waylock drückte auf den Klingelknopf; Die Jacynth
kam selbst an die Tür ihrer Villa. Als sie den Besucher
erkannte, runzelte sie die Stirn – offenbar hatte sie
andere Gäste erwartet. »Was wollen Sie hier?«

Waylock trat einen Schritt näher. »Darf ich herein-

kommen?«

Sie zögerte eine Sekunde lang. »Gut, treten Sie ein«,

sagte sie dann und ging durch die Diele in den gro-
ßen Wohnraum voraus. Dort blieb sie an der Ter-
rassentür stehen, starrte nach draußen und drehte
sich plötzlich nach Waylock um. »Also – was wollen
Sie hier?«

Waylock sah sie bewundernd an, aber sie lächelte

nur eisig. »Meine Gäste müssen bald eintreffen. Soll-
ten Sie ein weiteres Verbrechen planen, dürfen Sie
nicht hoffen, unentdeckt fliehen zu können; anderer-
seits ist jetzt kaum der richtige Zeitpunkt für den
Flirt, den Sie Ihrem Gesichtsausdruck nach beginnen
möchten.«

»Ich hatte weder das eine noch das andere vor«,

antwortete Waylock gelassen. »Ihr Benehmen fordert
allerdings das eine ebenso heraus wie Ihr Aussehen
das andere.«

Die Jacynth lachte. »Wollen Sie nicht Platz nehmen,

da Sie anscheinend fest entschlossen sind, heute
abend amüsant zu sein?«

Waylock ließ sich auf der niedrigen Couch am Fen-

ster nieder. »Ich wollte mit Ihnen reden... Sie ermah-
nen... Sie anflehen, wenn alle anderen Mittel versa-
gen.« Er machte eine Pause, aber Die Jacynth beob-

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achtete ihn nur schweigend.

»In den vergangenen Wochen haben Sie mich zu-

mindest dreimal ernstlich in meiner Karriere behin-
dert«, fuhr Waylock fort.

Die Jacynth schien etwas sagen zu wollen, schwieg

dann aber doch.

Waylock sprach eindringlich weiter. »Sie haben

mich im Verdacht, ein Verbrechen begangen zu ha-
ben. Sollten Sie sich irren, tun Sie mir sehr unrecht.
Haben Sie jedoch recht, bin ich ein verzweifelter
Mann, der Ihre Einmischung nicht ohne weiteres hin-
nehmen wird.«

»Ah«, flüsterte Die Jacynth. »Sie drohen mir?«
»Keineswegs. Ich möchte Ihnen nur begreiflich ma-

chen, welche Folgen Ihre Hartnäckigkeit haben
kann.«

Die Jacynth sah nach draußen, wo eben ein Lufttaxi

auf dem Landeplatz im Garten aufsetzte. »Da kom-
men meine Freunde.«

Zwei Männer und eine Frau näherten sich dem

Haus. Waylock stand auf, aber Die Jacynth hielt ihn
zurück. »Bleiben Sie doch hier – wir schließen einen
zweistündigen Waffenstillstand.«

»Ich würde ihn gern auf unbegrenzte Dauer ab-

schließen; vielleicht ließen sich unsere Beziehungen
noch weiter verbessern.«

»Halt!« rief Die Jacynth lachend. »Ungeheuer und

Schürzenjäger zugleich! Die Opfer müssen sich wirk-
lich in jeder Beziehung vorsehen!«

Bevor Waylock antworten konnte, schlug die Glok-

ke nochmals an, und Die Jacynth ging hinaus, um ih-
re Gäste zu begrüßen.

Es handelte sich um den Komponisten Rory

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McClachern, Mahlon Kermanetz, der antike Musikin-
strumente reparierte und nachbaute, und ein apartes
rothaariges Glark-Mädchen namens Fimfinella. We-
nig später trafen weitere Gäste ein, zu denen auch
Kanzler Claude Imish gehörte, der seinen Sekretär
Rolf Aversham mitbrachte.

Nach dem Essen hatte Waylock Gelegenheit, sich

mit Kanzler Imish in einer Ecke des Salons zu unter-
halten, während McClachern seine letzte Kompositi-
on auf dem Klavier vortrug.

»Wir sind uns schon einmal begegnet«, begann der

Kanzler, »aber mir ist entfallen, bei welcher Gelegen-
heit das war.«

Waylock erinnerte ihn an die Ausstellung im

Künstlerklub.

»Ja, natürlich«, sagte Imish. »Wissen Sie, ich sehe

jeden Tag so viele Leute, daß ich die Gesichter nicht
auseinanderhalten kann.«

»Das ist durchaus verständlich«, antwortete Way-

lock. »In Ihrem Amt und Ihrer Stellung haben Sie
ständig mit anderen Leuten zu tun.«

Der Kanzler lachte. »Ich lege Grundsteine, gratulie-

re neuen Amaranth und verlese Ansprachen im
Prytaneon.« Er machte eine wegwerfende Handbe-
wegung. »Alles nur lächerliche Nebenbeschäftigun-
gen. Im Grunde genommen habe ich weitreichende
Befugnisse, die ich allerdings nicht ausnütze.«

Waylock stimmte höflich lächelnd zu, obwohl er

wie jeder andere genau wußte, daß der Kanzler in-
nerhalb von vierundzwanzig Stunden durch Be-
schluß des Prytaneons seinen Posten verlieren würde,
sobald er den Versuch machte, diese Befugnisse
praktisch auszunützen. Seine Position war ein Ana-

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chronismus, eine Erinnerung an vergangene Zeiten,
in denen gelegentlich rasche Entscheidungen erfor-
derlich gewesen waren.

»Sie brauchen nur in der Verfassung nachzulesen.

Der Kanzler sollte eine Art öffentliches Gewissen dar-
stellen. Es ist mein Recht – sogar meine Pflicht –, öf-
fentliche Einrichtungen zu inspizieren. Ich berufe
Versammlungen des Prytaneons ein und vertage sie;
ich bin Oberaufseher der Assassinen.« Imish lachte in
sich hinein. »Mein Posten hat nur einen Nachteil – er
bringt keine Karrierepunkte.« Sein Blick fiel auf den
schwarzhaarigen jungen Mann, der ihn begleitete.
»Das ist der zweite Nachteil. Ein Dorn in meinem
Fleisch.«

»Wer ist das?«
»Mein Sekretär, Untergebener, Mädchen für alles

und Prügelknabe. Er trägt den Titel ›Vizekanzler‹,
und sein Job ist eine noch größere Sinekure als mei-
ner. Rolf bildet sich jedoch ein, er sei geradezu uner-
setzlich.« Imish zuckte mit den Schultern. »Was tun
Sie für Ihre Karriere, Waylock?«

»Ich arbeite beim Aktuarius.«
»Ah, wirklich?« Imish schien diese Auskunft inter-

essant zu finden. »Eine faszinierende Einrichtung. Ich
muß sie gelegentlich wieder einmal besuchen.«

Das Musikstück war zu Ende; die Gäste applau-

dierten und umringten den Komponisten. McCla-
chern wehrte ihre Glückwünsche bescheiden lächelnd
ab. Dann wurden Drinks serviert.

Um Mitternacht verließen die ersten Gäste das

Haus. Waylock blieb auf der Couch am Fenster sit-
zen, bis er schließlich mit der Gastgeberin allein war.

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34

Die Jacynth nahm neben ihm Platz und betrachtete
ihn fragend. »Nun? Sie wollten doch mahnen oder
flehen – haben Sie das ganz vergessen?«

»Ich frage mich nur, ob das sinnvoll wäre.«
»Das bezweifle ich.«
»Warum sind Sie so unnachgiebig?«
Die Jacynth antwortete nicht.
»Wie steht es mit den Zeloten?« fragte Waylock

nach einer kurzen Pause. »Weshalb ist der Abel Man-
deville vor Ihrem Zorn sicher? Schließlich hat er nicht
nur sich, sondern auch Die Anastasia entleibt.«

»Wenn es nach mir ginge«, erwiderte Die Jacynth,

»würde jedes Ungeheuer in jeder Phyle ausgerottet!«

»Aber Sie wissen selbst, daß dieses Ideal uner-

reichbar ist. Warum verfolgen Sie also nur mich?«

Die Jacynth sah ihm in die Augen. »Gavin Way-

lock«, flüsterte sie dann, »hätten Sie mir nur in Car-
nevalle vertraut! Jetzt sind Sie mein persönliches Un-
geheuer, das ich nicht ignorieren kann.«

Waylock nahm ihre Hand. »Liebe ist besser als

Haß«, sagte er leise.

»Und Leben ist besser als Nicht-Leben«, antwortete

sie trocken.

»Ich lege Wert darauf, daß Sie meine Position rich-

tig verstehen«, fuhr Waylock fort. »Ich kämpfe um
mein Leben, und wenn es um diesen Einsatz geht,
kann ich keine Rücksicht mehr nehmen.«

Sie zog ruckartig ihre Hand zurück. »Sie wollen

sich also nicht einem gerechten Urteil unterwerfen?
Sie sind ein Ungeheuer, das getötet werden muß, be-

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vor es andere infiziert!«

»Ich führe diesen Kampf nicht freiwillig«, gab

Waylock zu bedenken.

Die Jacynth schüttelte den Kopf. »Ich habe nichts

zu entscheiden, denn ich bin nicht Ihr Richter; ich ha-
be Ihren Fall der Amaranth-Gesellschaft vorgetragen
und halte mich an ihre Beschlüsse.«

Waylock erhob sich. »Sie wollen sich nicht um-

stimmen lassen?«

Die Jacynth stand ebenfalls auf. »Selbstverständlich

nicht!«

Waylock wandte sich ab. »Der Ausgang des Kamp-

fes entscheidet vielleicht nicht nur über mein Schick-
sal, sondern auch über Ihres«, sagte er noch.

Die Jacynth zögerte unentschlossen. »Gavin Way-

lock, verlassen Sie mein Haus«, forderte sie ihn dann
auf. »Ich habe Ihnen nichts mehr zu sagen.«

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35

Am nächsten Morgen trat Waylock seinen Dienst im
Gebäude des Aktuarius an. Er erhielt eine Aus-
weisplakette und wurde zu seinem Vorgesetzten ge-
führt. Techniker Ben Reeve war ein untersetzter dun-
kelhaariger Mann mit dem zufriedenen Gesichtsaus-
druck eines Wiederkäuers. Er begrüßte Waylock
freundlich und sagte dann: »Sie müssen ziemlich weit
unten anfangen. Aber Sie haben natürlich nichts an-
deres erwartet, nicht wahr?«

»Nein«, antwortete Waylock. »Ich möchte nur eine

Chance, mein Bestes zu tun.«

»Das hört man gern«, meinte Reeve zufrieden. »Sie

bekommen Ihre Chance, darauf können Sie sich ver-
lassen. Kommen Sie, ich zeige Ihnen Ihren zukünfti-
gen Arbeitsplatz.«

Er führte Waylock durch lange Korridore, große

Säle voll summender Maschinen, über Treppen und
Rampen in einen abgelegenen Teil des riesigen Ge-
bäudes. Unterwegs wurden sie dreimal von unifor-
mierten Posten angehalten, die ihre Ausweise kon-
trollierten und Reeve nach seinem Ziel fragten. Diese
Vorsichtsmaßnahmen beeindruckten Waylock, der
weniger wirksame Sicherheitsvorkehrungen erwartet
hatte.

»Unser Sicherheitsdienst schläft nicht, wie Sie

selbst sehen«, erläuterte Reeve. »Bleiben Sie innerhalb
Ihrer Zone, sonst bekommen Sie Schwierigkeiten.«

Waylocks Arbeitsplatz befand sich an der Ausga-

beseite eines großen Computers. Reeve blieb stehen
und erklärte ihm, was er zu tun hatte. Er mußte

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zwanzig Schnelldrucker überwachen, jeweils recht-
zeitig neue Papierrollen einlegen und bei Störungen
den Wartungsdienst verständigen. Zu Beginn der
Schicht mußte er verschiedene Instrumente ablesen,
die Werte in eine Kladde eintragen und ein halbes
Dutzend Lager schmieren, die nicht an die Zentral-
schmierung angeschlossen waren. Das Ganze war ei-
ne Arbeit, die jeder Hilfsschüler tun konnte.

Waylock ließ sich seine Enttäuschung nicht anmer-

ken und machte sich an die Arbeit. Reeve beobachtete
ihn dabei, und Waylock glaubte ein Grinsen auf sei-
nem Gesicht zu sehen. »Ich weiß, daß ich noch viel
lernen muß«, sagte er, »aber mit einiger Übung bin
ich der Sache bestimmt gewachsen.«

Reeve lachte schallend. »Jeder muß einmal anfan-

gen«, stellte er fest, »und Sie fangen eben hier an.
Wenn Sie vorankommen wollen, empfehle ich Ihnen
unsere Fortbildungskurse.« Er beobachtete Waylock
noch einige Zeit, bevor er zufrieden nickte und in sein
Büro zurückging.

Waylock arbeitete ohne große Begeisterung bis

zum späten Nachmittag und rief dann Vincent Ro-
denave an, der irgendwo im gleichen Gebäude sein
Arbeitszimmer hatte. Rodenave lehnte zunächst ab,
als Waylock ihn bat, er möge ihm Gelegenheit zu ei-
nem kurzen Gespräch geben. »Tut mir leid, aber das
ist heute wirklich unmöglich.«

»Die Sache ist aber dringend«, versicherte Waylock

ihm.

»Ich habe keine...«
»Lassen Sie mich zu einem Interview holen.«
»Nein, das ist ausgeschlossen.«
»Erinnern Sie sich noch an etwas, das Sie für Die

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Anastasia beschafft haben?« fragte Waylock.

Rodenave wurde blaß. »Gut«, sagte er, »ich lasse

Sie holen.« Wenige Minuten später kam einer der Po-
sten an Waylocks Arbeitsplatz. »Gavin Waylock,
Technikerlehrling?«

»Richtig.«
»Kommen Sie bitte mit.«
Der Uniformierte führte Waylock in Rodenaves Bü-

ro und ließ sich dort bestätigen, daß Rodenave die
Verantwortung für Waylocks Anwesenheit in der in-
neren Sicherheitszone übernahm.

Waylock setzte sich. »Können wir hier ungestört

miteinander sprechen?«

»Ja.« Rodenave nickte widerwillig. »Ich habe den

Raum selbst überprüft; er ist abhörsicher.«

»Und Sie nehmen unser Gespräch nicht auf?«
»Nein.«
»Ich habe nämlich die Absicht, die Wahrheit zu sa-

gen«, erklärte Waylock ihm. »Dabei handelt es sich
nicht nur um die bereits erwähnten Gegenstände, die
Sie für Die Anastasia beschafft haben, sondern auch
um die geplante Verwendung der...«

»Das genügt«, zischte Rodenave. Er drückte auf ei-

nen Knopf. »Unser Gespräch wird nicht aufgezeich-
net.«

Waylock grinste zufrieden. »Vermute ich richtig,

daß Sie Die Anastasia weiterhin verehren?«

»Ich bin kein leichtsinniger Narr mehr, wenn Sie

das meinen«, antwortete Rodenave. »Und ich habe
keine Lust, mich von den Zeloten steinigen zu las-
sen.« Er betrachtete Waylock nachdenklich. »Mein
Privatleben braucht Sie nicht zu interessieren. Wes-
halb sind Sie also hier?«

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»Ich will etwas. Sie können es mir verschaffen,

wenn ich Ihnen gebe, was Sie wollen.«

Rodenave runzelte die Stirn. »Was könnten Sie mir

schon geben?«

»Die Anastasia de Fancourt.«
»Unsinn!«
»Schön, sagen wir lieber nicht Die Anastasia, son-

dern eine Anastasia – ein Surrogat ihrer selbst.«

Rodenave schüttelte den Kopf. »Niemand weiß, wo

sich die Zelle befindet, in der ihre Surrogate aufbe-
wahrt werden.«

»Doch, ich weiß es«, stellte Waylock fest.
»Aber Ihr Angebot ist wertlos. Die Surrogate rea-

gieren wie das Original. Wenn eine mich nicht aus-
stehen kann, wirke ich auf die anderen ebenfalls ab-
stoßend.«

»Auch dagegen gibt es ein Mittel.«
Rodenave starrte ihn an. »Unmöglich!«
»Sie haben mich noch nicht gefragt, was ich von

Ihnen will.«

»Was denn?«
»Sie haben einen Televektorfilm herausgeschmug-

gelt. Ich will andere.«

Rodenave lachte verächtlich. »Jetzt weiß ich, daß

Sie übergeschnappt sind. Ist Ihnen klar, was Sie da
verlangen? Soll ich Ihretwegen meine Karriere aufs
Spiel setzen?«

»Sie legen also keinen Wert auf Die Anastasia?«
»Ihr Vorschlag ist unannehmbar!«
»Vergangene Woche haben Sie einen ähnlichen an-

genommen.«

Rodenave schüttelte energisch den Kopf. »Nein.

Nein, das ist ausgeschlossen!«

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»Ich möchte Sie daran erinnern, daß Sie nicht einen,

sondern drei Filme für Die Anastasia beschafft ha-
ben«, sagte Waylock gelassen. »Bisher habe ich noch
keine Anzeige erstattet, aber das läßt sich nachho-
len...«

Rodenave machte eine resignierte Handbewegung.

In der folgenden halben Stunde versuchte er alle
möglichen Ausflüchte, aber Waylock blieb ungerührt
und ließ sich nicht vom Thema abbringen.

»Ich verlange nichts von Ihnen, was Sie nicht be-

reits getan haben. Erfüllen Sie meinen Wunsch, dann
erhalten Sie, was Sie letzte Woche verloren haben;
weigern Sie sich jedoch, müssen Sie die Konsequen-
zen Ihres Diebstahls tragen.«

Rodenave lehnte sich erschöpft in seinen Sessel zu-

rück. »Das muß ich mir noch überlegen«, murmelte
er.

»Dagegen ist nichts einzuwenden. Ich warte solan-

ge.«

Rodenave schien angestrengt nachzudenken und

sagte schließlich: »Mir bleibt keine andere Wahl.«

»Bis wann kann ich die Filme haben?«
»Sie wollen nur Filme von Mitgliedern der Ama-

ranth-Gesellschaft?«

»Richtig.«
»Ich muß sie zunächst aussortieren und wiegen.

Dazu brauche ich eine Schicht. Am nächsten Tag
bringe ich eine Packung Filme mit, die in Größe,
Dichte und Gewicht mit den Originalen überein-
stimmen. Dann kann ich die Filmstreifen durch die
Ausgangskontrolle schmuggeln.«

»Heute ist Dienstag. Also Donnerstag abend?«
»Vielleicht nicht Donnerstag. Ich muß eine Füh-

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rung mitmachen – Kanzler Imish kommt zur Besich-
tigung.«

»Tatsächlich?« Waylock erinnerte sich an sein Ge-

spräch mit Imish; der Kanzler hatte anscheinend Feu-
er gefangen. »Gut, Donnerstag. Ich hole die Filme in
Ihrem Appartement ab.«

Rodenave machte eine abwehrende Handbewe-

gung. »Nein, ich bringe sie Ihnen ins Café Dalmatia.
Und dann sehe ich Sie hoffentlich nie wieder!«

Waylock erhob sich lächelnd. »Sie brauchen mich

noch, wenn es darum geht, die Belohnung für Ihre
Mühen in Empfang zu nehmen.«

Er verabschiedete sich mit einem kurzen Nicken,

verließ Rodenaves Büro und wurde an seinen Ar-
beitsplatz zurückgeführt.

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36

Kanzler Imish stand auf einer Galerie über dem Ar-
chivraum des Aktuarius und betrachtete erstaunt die
riesigen Maschinen unter sich. Zu seiner Begleitung
gehörten Hemet Gaffens, der etwas dickliche stell-
vertretende Direktor, dessen Assistent, drei weitere
höhere Beamte und Rolf Aversham, Imishs Sekretär.
Ein schrilles Summen erfüllte den weiten Raum,
wurde leiser, schwoll wieder an und überschritt fast
die Hörschwelle, während der Mechanismus unauf-
hörlich weitere Informationen verarbeitete, die das
Leben der Bürger von Clarges betrafen.

Der Kanzler schüttelte verwundert den Kopf. »Ich

habe mir das alles weniger kompliziert vorgestellt«,
gab er zu.

»Hier sehen Sie ein verkleinertes Abbild unserer

Zivilisation vor sich«, bemerkte einer der Beamten.

»Ja, Sie haben wirklich recht«, sagte Imish.
Hemet Gaffens wandte sich an den Kanzler. »Sol-

len wir weitergehen, Sir?« Er blieb am Ausgang ste-
hen, weil sich dort die Grenze zwischen zwei Sicher-
heitszonen befand; die Hausassassinen ließen sich ih-
re Ausweise zeigen und kontrollierten sie.

»Sie sind hier wirklich vorsichtig«, stellte Imish

bewundernd fest.

»Eine notwendige Maßnahme«, antwortete Gaffens

kurz.

Sie überquerten den breiten Korridor und erreich-

ten die Televektor-Abteilung. Gaffens rief Normand
Neff, den Abteilungsleiter, und Vincent Rodenave,
dessen Assistenten, zu sich und stellte sie dem hohen

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Besuch vor.

»Ihr Gesicht ist mir irgendwie bekannt«, sagte

Imish zu Rodenave. »Aber ich weiß nicht mehr, wo
ich es gesehen habe.«

»Wir sind uns neulich im Künstlerklub begegnet«,

erwiderte Rodenave.

»Ah, natürlich. Sie sind mit der lieben Anastasia

befreundet.«

»Ganz recht, Sir«, antwortete Rodenave steif.
Normand Neff hatte es eilig, an seinen Schreibtisch

zurückzukommen und sagte deshalb zu Rodenave:
»Vielleicht zeigen Sie dem Kanzler, wie wir hier ar-
beiten.«

»Mit Vergnügen.« Rodenave runzelte nachdenklich

die Stirn. »Hmmm – am besten führe ich Ihnen unser
Televektorsystem in Betrieb vor.«

Er führte die Besucher durch den Saal voller Ma-

schinen auf den kleinen Raum zu, in dem die Aus-
wertung erfolgte. An der Tür wurden sie nochmals
kontrolliert und mußten nacheinander eine Schleuse
betreten, in der automatisch registriert wurde, was sie
in sämtlichen Taschen bei sich trugen.

»Wozu diese strengen Sicherheitsvorkehrungen?«

fragte Imish erstaunt. »Hier will doch niemand ein-
brechen, was?«

Gaffens lächelte. »In diesem Fall bewachen wir das

Privatleben unserer Bürger, Sir. Selbst Generaldirek-
tor Jarvis von den Assassinen erhält nur dann Infor-
mationen aus diesem Raum, wenn der Betreffende
seine Lebensdauer bereits überschritten hat.«

Kanzler Imish nickte. »Äußerst lobenswert! Und

wie funktioniert das alles?«

»Rodenave kann Ihnen die Arbeitsweise an einem

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Beispiel vorführen.«

Rodenave nickte und ging neben dem Kanzler her

auf die Maschine zu. »Die Gehirnwellen jedes Men-
schen sind so unverwechselbar wie seine Fingerab-
drücke«, erklärte er ihm dabei. »Bei der Aufnahme in
Brut werden sie registriert und hier gespeichert.«

Imish nickte. »Weiter, bitte.«
»Sobald die Maschine den Auftrag erhält, eine be-

stimmte Person zu lokalisieren, sendet sie von drei
verschiedenen Punkten aus einen Dauerton auf seiner
speziellen Frequenz. Dieses Zusammentreffen mit
den Wellen des Betreffenden wird als momentane
Störung registriert und erscheint als Punkt auf unse-
ren Karten innerhalb eines Koordinatensystems, das
aus den Richtfunkstrahlen zweier Sender besteht. Se-
hen Sie...« Er drückte einige Knöpfe und betätigte ei-
nen Schalter. »Das ist Ihr persönlicher Index, Sir. Der
Kreuzungspunkt dieser beiden roten Linien bezeich-
net den Aktuarius; der schwarze Punkt sind Sie
selbst.«

»Verblüffend!«
Rodenave sprach weiter und beobachtete dabei

Gaffens, der sich mit dem Chef vom Dienst unter-
hielt. Die Anastasia wurde nochmals erwähnt; Ro-
denave ließ wie beiläufig ihren Streifen auswerfen
und betätigte dann den Schalter, der den Sortierme-
chanismus in Betrieb setzte, so daß alle Amaranth-
Streifen erschienen. Die hauchdünnen Filmstreifen
ergaben einen kaum Zentimeter hohen Stapel.

Rodenaves Hände zitterten heftig, als er den Stapel

aus der Halterung nahm. »Diese Streifen sind natür-
lich verschwommen, weil sie...« Das kleine Paket fiel
ihm aus der Hand.

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»Rodenave, wie können Sie so ungeschickt sein!«

rief Gaffens wütend.

»Kommen Sie, wir heben das Zeug gleich auf«,

schlug Imish gutmütig vor. Er bückte sich und griff
nach den Streifen.

»Das ist nicht nötig, Sir«, wehrte Rodenave verle-

gen ab. »Wir kehren sie einfach zusammen und wer-
fen sie in den Müllschlucker.«

»Oh...« Imish richtete sich wieder auf.
»Wenn Sie genügend gesehen haben, Sir, können

wir weitergehen«, schlug Gaffens vor.

Die Besucher verschwanden nacheinander in der

Schleuse. Nur Rolf Aversham blieb noch einen Au-
genblick lang zurück. Er hob neugierig einen Film-
streifen auf, hielt ihn ans Licht, kniff die Augen zu-
sammen und runzelte die Stirn. Dann wandte er sich
an Gaffens, der eben die Schleuse betreten wollte.
»Hallo, Mister Gaffens!« rief Aversham hinter ihm
her.

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37

Waylock saß im Café Dalmatia und langweilte sich.
Er hatte das Gefühl, irgend etwas tun zu müssen,
wußte aber nicht, was im Augenblick zu erledigen
war. Er konnte nur geduldig warten, bis Rodenave
endlich auftauchte.

Vom Aktuarius her ertönte plötzlich ein gedämpf-

tes Alarmsignal, das kurze Zeit später ebenso jäh ab-
brach. Waylock hob den Kopf und sah zu dem riesi-
gen Gebäude hinüber, dessen monumentale Fassade
nicht verriet, was hinter ihr vorging.

Die Passanten blieben stehen, starrten das Gebäude

neugierig an und gingen dann weiter; einige kamen
jedoch ins Café, um von dort aus den Prangerkäfig zu
beobachten.

Eine halbe Stunde war verstrichen. Dann klirrten

schwere Ketten – der Käfig erschien über dem
Haupteingang des Aktuarius.

Waylock wollte seinen Augen zunächst nicht recht

trauen. Hinter den Gitterstäben hockte Vincent Ro-
denave und sah wütend zum Café Dalmatia hinüber,
wo er Waylock in einer halben Stunde hätte treffen
sollen.

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38

Mitternacht auf dem Esterhazy-Platz. Ein leichter Ne-
bel zog vom Fluß herauf und verhüllte die Gestalt des
Mannes, der bewegungslos im Prangerkäfig saß. Auf
der Terrasse des Cafés Dalmatia hatten sich Hunderte
von Neugierigen versammelt, um die Freilassung des
Gefangenen zu sehen. Und irgendwo im Schatten der
Nebenstraßen und Gassen lauerten die Zeloten auf
den gleichen Augenblick...

Als der letzte Glockenschlag verhallt war, wurde

der Käfig langsam zu Boden gelassen; er zerfiel in
sechs Teile, und Vincent Rodenave war wieder frei.

Er blieb lauschend stehen. In den Nebelschwaden

schien etwas zu rascheln. Er machte einen Schritt
vorwärts. Ein Stein kam aus der Dunkelheit geflogen
und traf ihn an der Schulter. Gleichzeitig ertönte ein
lauter Schrei – das war ungewöhnlich, denn die Ze-
loten hatten bisher stets geschwiegen.

Rodenave schlug einen Haken und rannte auf das

Café zu. Ein wahrer Steinhagel überschüttete ihn. Er
stolperte, schien zu fallen, raffte sich wieder auf und
taumelte weiter. Dann senkte sich ein dunkler Schat-
ten vor ihm herab – ein unbeleuchteter Aircar. Die
Tür flog auf, Rodenave wurde hineingezerrt und sah
Waylock vor sich, der sofort wieder startete, bevor
die Zeloten sich von ihrer Überraschung erholt hat-
ten.

Rodenave hockte zusammengesunken auf seinem

Sitz, starrte mit blicklosen Augen vor sich hin und
schien vor Erschütterung nicht sprechen zu können.

Waylock parkte den Aircar und führte Rodenave in

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sein Appartement. Rodenave zögerte an der Tür, sah
sich um, zuckte mit den Schultern und ließ sich in ei-
nen Sessel fallen. »Ich bin fertig«, krächzte er. »Ent-
ehrt. Verstoßen. Entlassen. Verfemt.« Er sah zu Way-
lock auf. »Sie äußern sich gar nicht dazu. Haben Sie
die Sprache verloren?«

Waylock antwortete nicht.
»Sie haben mir das Leben gerettet«, fuhr Rodenave

fort, »aber Sie haben mir damit keinen Gefallen er-
wiesen. Wo soll ich in Zukunft Karriere machen? Ich
bleibe ewig in Dritte hängen. Das ist eine Katastro-
phe!«

»Für mich ebenfalls«, stellte Waylock fest.
»Was haben Sie darunter zu leiden?« krächzte Ro-

denave. »Ihre verdammten Filmstreifen sind in Si-
cherheit.«

»Was!«
»Zumindest vorläufig.«
»Warum? Was ist passiert? Wo sind die Filme?«
Rodenave grinste plötzlich. »Aha, jetzt sitze ich am

längeren Hebel.«

Waylock nickte langsam. »Aber wenn Sie Ihre Zu-

sage erfüllen und mir die Streifen verschaffen, halte
ich auch mein Versprechen.«

»Ich bin fertig! Was nützen mir jetzt schöne Frau-

en?«

»Die Anastasia könnte Ihren Schmerz vermutlich

etwas lindern«, sagte Waylock lächelnd. »Schließlich
ist noch nicht alles verloren. Sie sind begabt und in-
telligent; die ganze Welt liegt offen vor Ihnen. Es gibt
andere Gebiete, auf denen man schneller voran-
kommt.«

Rodenave schnaubte verächtlich.

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»Wo sind die Filmstreifen?« fragte Waylock.
Die beiden Männer starrten sich an, dann senkte

Rodenave den Kopf. »Unter dem Aufschlag an
Kanzler Imishs rechtem Jackenärmel.«

»Was!«
»Sein Sekretär hat den Alarm ausgelöst. Er ist mit

einem unbelichteten Filmstreifen durch die Schleuse
gerannt. Als das Alarmsignal ertönte, mußte ich die
Filme loswerden; ich habe Imish am Ärmel zurück-
gehalten und die Streifen unter den Aufschlag ge-
steckt.«

»Und dann?«
»Gaffens brauchte nur einen Blick auf den leeren

Filmstreifen zu werfen, um zu erkennen, was gespielt
wurde. Er hatte mich sofort in Verdacht, ließ sich die
anderen Streifen zeigen und stellte fest, daß einige
meine Fingerabdrücke trugen. Damit war alles klar –
die Assassinen verhafteten mich und steckten mich
nach einem kurzen Verhör in den Käfig.«

»Und Imish?«
»Ging mit den Filmstreifen seiner Wege.«
Waylock sprang auf. Es war bereits ein Uhr. Er

stellte die Verbindung zur Residenz des Kanzlers in
Trianwood her.

Nach einer längeren Pause erschien Rolf Aver-

shams Gesicht auf dem Bildschirm. »Ja?«

»Ich muß den Kanzler sprechen.«
»Der Kanzler hat sich bereits zurückgezogen; er ist

nicht mehr zu sprechen.«

»Nur einen Augenblick!«
»Tut mir leid, Mister Waylock. Soll ich Sie für einen

Termin vormerken?«

»Gut, morgen früh um zehn.«

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Aversham sah auf seinen Terminkalender. »Der

Kanzler ist um diese Zeit beschäftigt.«

»Dann eben früher oder später.«
Aversham runzelte die Stirn. »Vielleicht hat er um

zehn Uhr vierzig einen Augenblick für Sie Zeit.«

»Einverstanden«, sagte Waylock.
»Wollen Sie mir den Zweck Ihres Besuchs mittei-

len?«

»Nein.«
»Wie Sie wünschen«, sagte Aversham. Der Bild-

schirm wurde dunkel.

Als Waylock sich nach Rodenave umdrehte, sah er,

daß der andere ihn neugierig anstarrte.

»Sie haben mir nie gesagt, wofür Sie die Filme

brauchen«, stellte Rodenave fest. »Was haben Sie da-
mit vor?«

Waylock lächelte spöttisch. »Das kann ich Ihnen

leider nicht verraten«, antwortete er, »aber Sie erfah-
ren es noch früh genug.«

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39

Kanzler Imish residierte in einer alten Villa, die in-
mitten eines gepflegten Parks auf einem Höhenzug
über Clarges lag. Waylock stieg um zehn Uhr dreißig
aus seinem Lufttaxi, blieb einen Augenblick am Lan-
deplatz stehen, um die herrliche Aussicht zu genie-
ßen, und ging dann langsam durch den Park auf das
Hauptgebäude zu. Etwa hundert Meter vom Eingang
entfernt stieß er auf eine Schranke, die den Weg ab-
sperrte; daneben stand ein Posten, der Waylock miß-
trauisch entgegensah. »Ja, Sir?«

Waylock gab seinen Namen an; der Posten hakte

eine Liste ab und ließ ihn passieren.

Waylock erreichte das Portal und stieg die Mar-

morstufen hinauf. Er brauchte nicht zu klingeln, denn
ein livrierter Diener öffnete die schwere Tür von in-
nen, und Waylock betrat die große Halle. Unter dem
großen Kronleuchter stand Rolf Aversham.

»Guten Morgen, Mister Waylock.«
Waylock murmelte irgend etwas, und Aversham

neigte leicht den Kopf. »Ich muß Ihnen leider mittei-
len«,

sagte

er dann, »daß der Kanzler indisponiert ist.«

»Wie bedauerlich.«
»Sie erinnern sich vielleicht, daß ich Vizekanzler

bin. Können Sie Ihre Wünsche nicht auch mir vortra-
gen?«

»Ich weiß, daß Sie mir gern behilflich wären. Aber

ich möchte meinen Freund Imish auf jeden Fall besu-
chen.«

Aversham zuckte mit den Schultern. »Folgen Sie

mir bitte.«

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Er führte Waylock an die Rückwand der Halle zum

Fahrstuhl. Im ersten Stock gingen sie den Flur entlang
und erreichten einen kleinen Salon. Aversham warf
einen Blick auf seine Uhr, wartete genau dreißig Se-
kunden, als wolle er Waylock damit beeindrucken,
und klopfte dann an eine Tür.

»Herein«, sagte Imish laut.
Aversham schob die Tür auf und blieb draußen

stehen. Waylock betrat das Arbeitszimmer des Kanz-
lers. Imish saß an seinem Schreibtisch und blätterte
mißmutig in einem alten Buch. »Ah«, sagte Waylock,
»wie geht es Ihnen?«

»Danke, nicht besonders«, antwortete Imish.
Aversham kam ebenfalls herein und nahm am Fen-

ster Platz. Waylock ignorierte ihn.

Der Kanzler klappte sein Buch zu, lehnte sich in

den Sessel zurück und wartete darauf, daß Waylock
die Ursache seines Kommens erwähnen würde. Er
trug eine bequeme Leinenjacke – ganz entschieden
nicht die Jacke, in der die Filmstreifen steckten.

Waylock räusperte sich. »Sir, ich komme nicht als

Bekannter zu Ihnen, sondern vielmehr als Bürger –
als gewöhnlicher Mann, dessen Sorgen so gewichtig
sind, daß er sich die Zeit zu diesem Besuch genom-
men hat, ohne zu berücksichtigen, daß seine Karriere
darunter leiden könnte.«

Imish richtete sich auf und runzelte unbehaglich

die Stirn. »Worum handelt es sich?«

»Um eine Angelegenheit, deren Hintergründe mir

nur teilweise bekannt sind. Trotzdem weiß ich, daß
sie eine gewisse Bedrohung darstellt.«

»Was soll das heißen?«
Waylock zögerte. »Sind Ihre Untergebenen absolut

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vertrauenswürdig?« Er sah absichtlich nicht zu Aver-
sham hinüber. »Ich muß mich darauf verlassen kön-
nen, daß dieses Gespräch unter uns bleibt.«

»Das klingt recht melodramatisch«, stellte der

Kanzler fest.

Waylock zuckte mit den Schultern. »Vielleicht ha-

ben Sie recht. Ich...« Er lachte verlegen. »Am besten
sage ich nichts mehr davon – bis ich meinen Verdacht
beweisen kann.«

»Tun Sie das«, stimmte Imish erleichtert zu.
Waylock lehnte sich in seinen Sessel zurück. »Ich

bedaure aufrichtig, daß Ihr Besuch beim Aktuarius
ein so schlimmes Ende genommen hat. In gewisser
Beziehung fühle ich mich sogar verantwortlich.«

»Weshalb?«
Waylock beobachtete aus dem Augenwinkel her-

aus, daß Aversham sich gespannt vorbeugte.

»Nun, schließlich habe ich Ihnen diesen Besuch

suggeriert.«

Imish machte eine wegwerfende Handbewegung.

»Deswegen brauchen Sie sich keine Sorgen zu ma-
chen, Waylock. Sprechen wir nicht mehr darüber –
die Angelegenheit war schon peinlich genug.«

Waylock lächelte zustimmend. »Ihre Residenz ist

wirklich ein prachtvoller alter Bau. Aber finden Sie
ihn nicht gelegentlich etwas... nun, deprimierend?«

»Sogar sehr. Die Villa ist mein Amtssitz, aber ich

wohne nur höchst ungern hier.«

»Wie alt ist sie eigentlich?«
»Sie muß zwei oder drei Jahrhunderte vor dem

Chaos errichtet worden sein.«

»Ein prächtiges Monument.«
»Ja, das kann man wohl sagen.« Der Kanzler sah zu

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Aversham hinüber. »Rolf, wollten Sie nicht die Einla-
dungen für das nächste Bankett versenden?«

Aversham erhob sich widerwillig und verließ zö-

gernd den Raum. »Heraus mit der Sprache, Way-
lock«, forderte Imish ihn auf. »Was soll der ganze Un-
sinn?«

Waylock sah sich um. »Ist hier alles gegen Ab-

höranlagen gesichert?«

Auf Imishs Gesicht mischten sich Zweifel und Ent-

rüstung. »Warum sollte sich jemand für meine Ge-
spräche interessieren?« Er lächelte sarkastisch.
»Schließlich bin ich nur der Kanzler – eine Null mit
hochtrabenden Titeln.«

»Sie sind Vorsitzender des Prytaneons.«
»Pah! Ich darf nicht einmal mit den anderen ab-

stimmen. Würde ich den Versuch machen, meine so-
genannten Befugnisse auszunützen, wäre ich den
letzten Tag im Amt.«

»Vermutlich. Aber...«
»Aber was?«
»Nun, das Volk scheint in letzter Zeit immer unzu-

friedener zu werden.«

»Das gibt sich wieder.«
»Haben Sie sich schon mit der Möglichkeit befaßt,

daß diese Unruhe organisiert sein könnte?«

Imish starrte ihn an. »Worauf wollen Sie hinaus?«
»Sind Ihnen die Zweifler ein Begriff?«
»Natürlich. Eine Ansammlung von Spinnern und

Verrückten.«

»Jedenfalls an der Oberfläche. Aber darunter ver-

birgt sich eine bestimmte Absicht, die mit gerissenen
Methoden verfolgt wird.«

»Welche Absicht?«

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»Wer weiß? Ich habe gehört, daß der Kanzlerpo-

sten ihr unmittelbares Ziel ist.«

»Lächerlich«, wehrte Imish ab. »Ich sitze fest im

Sattel. Meine Amtszeit läuft erst in sechs Jahren ab.«

»Auch wenn es... äh... zu Ihrem Hinscheiden kä-

me?«

»Waylock!« Der Kanzler runzelte unwillig die

Stirn.

»Ich wollte nur eine hypothetische Frage stellen:

Was würde in diesem Fall geschehen?«

»Aversham ist Vizekanzler. Er...«
»Eben«, sagte Waylock.
Der Kanzler warf ihm einen überraschten Blick zu.

»Sie wollen doch nicht etwa behaupten, daß Rolf dar-
an Interesse hat, mich...«

»Ich habe nichts behauptet. Ich habe nur Tatsachen

erwähnt, aus denen Sie Ihre Schlüsse gezogen ha-
ben.«

»Wie kommen Sie überhaupt darauf?« wollte Imish

wissen.

Waylock lehnte sich in seinen Sessel zurück. »Ich

habe eine Karriere vor mir und weiß, daß ich sie nur
in gesicherten Verhältnissen machen kann. Deshalb
bemühe ich mich, zu ihrer Sicherung beizutragen.
Selbstverständlich wäre ich nicht unglücklich, wenn
sich dabei ein paar Karrierepunkte ergäben.«

»Aha!« Der Kanzler lächelte ironisch. »Das ist also

des Pudels Kern!«

»Die Propaganda der Zweifler stellt Sie als Symbol

luxuriösen Lebens und automatischer Karriere dar.«

»Automatische Karriere!« Imish lachte ungläubig.

»Wenn sie nur wüßten!«

»Es wäre vielleicht eine gute Idee, ihnen die Wirk-

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lichkeit vor Augen zu führen; damit wäre das Symbol
zerstört.«

»Wie ließe sich das anfangen?« fragte Imish neu-

gierig.

»Die wirksamste Gegenpropaganda wäre meiner

Auffassung nach ein Visiofilm in mehreren Folgen –
eine historische Übersicht in Verbindung mit einer
Darstellung Ihres persönlichen Werdegangs. Das
müßte alle Zweifel ausräumen.«

»Ich kann mir nicht vorstellen, daß sich jemand da-

für interessieren würde. Der Kanzler ist schließlich
nur ein unbedeutender Funktionär.«

»Außer in Krisensituationen – dann muß er helfend

eingreifen.«

Imish lächelte. »In Clarges gibt es keine Krisen

mehr. Wir sind bereits zu zivilisiert.«

»Die Zeiten ändern sich, und die allgemeine Unru-

he ist nicht zu verkennen. Der enorme Zulauf, den
die Zweifler zu verzeichnen haben, ist ein weiterer
Beweis dafür. In dieser Atmosphäre könnte der vor-
hin erwähnte Visiofilm beruhigend und aufklärend
wirken. Gelingt es uns, Ihr Prestige auf diese Weise
zu heben, ist uns beiden geholfen.«

Imish runzelte nachdenklich die Stirn. »Ich habe

nichts gegen einen Visiofilm einzuwenden, aber Sie
müßten...«

»Ich würde selbstverständlich darauf bestehen, daß

Sie das Drehbuch nach eigenen Vorstellungen redi-
gieren«, warf Waylock ein.

»Hmm, das könnte jedenfalls nicht schaden«,

murmelte Imish vor sich hin.

»Dann mache ich mich also gleich heute an die Ar-

beit und beginne mit Notizen.«

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»Ich möchte mir die Sache nochmals überlegen, be-

vor ich eine Entscheidung treffe«, wandte Imish ein.

»Das ist Ihr gutes Recht.«
»Ich habe den Verdacht, daß Sie ziemlich übertrie-

ben haben, Waylock. Besonders der Gedanke, daß
Rolf... Das kann ich einfach nicht glauben.«

»Vertagen wir also die Entscheidung, bis wir mehr

darüber wissen«, schlug Waylock vor. »Aber inzwi-
schen braucht er nichts von unserem Plan zu erfah-
ren, nicht wahr?«

»Einverstanden.« Imish warf Waylock einen fra-

genden Blick zu. »Was wollen Sie eigentlich in die-
sem Film darstellen?«

»Sie werden darin als aufrechter, traditionsbe-

wußter Mann geschildert, der seine Pflicht in diesem
hohen Amt erfüllt und trotzdem einfach und be-
scheiden lebt.«

Imish lachte in sich hinein. »Da haben Sie sich viel

vorgenommen... Mein Lebensstil ist schließlich all-
gemein bekannt.«

»Interessant wäre vor allem Ihre Garderobe«, fuhr

Waylock nachdenklich fort. »Die zeremoniellen Ko-
stüme, Ihre Amtstracht, die Roben für verschiedene
Anlässe.«

Imish runzelte verwundert die Stirn. »Ich könnte

mir eher vorstellen, daß...«

»Das wäre eine gute Einführung«, versicherte

Waylock ihm. »Denken Sie daran, daß die Tradition
im Vordergrund stehen soll.«

Imish zuckte mit den Schultern. »Schön, vielleicht

haben Sie recht.«

Waylock stand auf. »Ich würde jetzt gern Ihre Gar-

derobe besichtigen und einige Notizen für die erste

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Folge machen.«

»Wie Sie wünschen.« Imish streckte die Hand nach

dem Klingelknopf auf seinem Schreibtisch aus. »Ich
lasse Sie von Rolf führen.«

Waylock machte eine abwehrende Bewegung. »Mir

wäre es lieber, wenn ich ohne Mister Aversham ar-
beiten könnte. Sagen Sie mir nur, wo die Garderobe
liegt; ich finde mich schon zurecht.«

Imish lächelte. »Wirklich eine verrückte Idee, mei-

ne Garderobe zu Propagandazwecken auszunützen!
Na, wenn Sie meinen...« Er wollte ebenfalls aufstehen.

»Nein, nein«, wehrte Waylock ab. »Ich möchte Sie

nicht von Ihrer Arbeit abhalten. Außerdem kommen
mir die besten Ideen, wenn ich allein bin.«

Imish setzte sich wieder. »Gut, dann will ich Sie

nicht stören.« Er beschrieb Waylock den Weg zur
Garderobe.

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40

Waylock ging den Korridor entlang und blieb vor der
Tür stehen, die Imish ihm bezeichnet hatte. Hinter
ihm war niemand zu sehen. Er schob die Tür auf und
betrat das Ankleidezimmer.

Imishs Lebensstil war kaum bescheiden zu nennen,

wie dieser Raum nachdrücklich bestätigte. Schwarzer
Marmor an den Wänden, ein weißer Schaumteppich
auf dem Boden, seidene Vorhänge an den offenen
Fenstern und Möbel aus Edelhölzern zeigten, daß der
Kanzler zu leben verstand. Waylock bewunderte die-
se Pracht einen Augenblick lang und ging dann durch
die nächste Tür in die eigentliche Garderobe.

Hier hingen Hunderte von Anzügen, Kostümen,

Umhängen, Mänteln und Roben auf langen Gestellen;
die Wandregale enthielten ein reichhaltiges Sortiment
Schuhe, Stiefel und Sandalen in allen nur vorstellba-
ren Farben und Formen. Waylock blieb auf der
Schwelle stehen und suchte die Reihen nach einem
purpurroten Farbfleck ab, der die bestickte Jacke be-
zeichnete, die der Kanzler gestern getragen hatte.

Er ging langsam durch die Reihen, bis er die ge-

suchte Jacke endlich im zweiten Gestell entdeckt
hatte. Er griff danach... und blieb wie erstarrt stehen.
Rolf Aversham war hinter ihm aufgetaucht und kam
jetzt langsam näher.

»Mir war Ihr reges Interesse für die Garderobe des

Kanzlers zunächst unerklärlich«, sagte er mit einem
spöttischen Lächeln auf den schmalen Lippen. »Aber
seitdem ich weiß, worauf Sie es abgesehen haben, ist
mir einiges klar geworden.«

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»Offenbar haben Sie meine Absicht erkannt«, sagte

Waylock.

»Ich erkenne nur, daß Sie vor der Jacke stehen, die

Kanzler Imish bei seiner Besichtigung des Aktuarius
getragen hat. Darf ich sie haben?«

»Wozu?«
»Ich bin nur neugierig.«
Waylock griff nach dem Jackenärmel und wollte

die Filmstreifen herausziehen; er spürte sie mit den
Fingerspitzen, erreichte sie aber nicht ganz. Aver-
sham trat rasch näher, streckte die Hand aus und
packte den Jackenärmel. Waylock riß daran, aber
Aversham hielt eisern fest. Waylock schlug ihm ins
Gesicht; Aversham trat nach seinem Schienbein.
Waylock hielt den Fuß fest und zog ihn hoch; Aver-
sham verlor das Gleichgewicht und stolperte rück-
wärts auf die offenen Fenster zu. Er klammerte sich
an den Vorhängen fest, deren dünne Seide unter sei-
nen Fingern nachgab, stieß einen entsetzten Schrei
aus und stürzte aus dem Fenster im dritten Stock.

Waylock rannte ans Fenster und beugte sich hin-

aus. Rolf Aversham lag bewegungslos neben einer
großen steinernen Blumenschale, an der er sich den
Schädel eingeschlagen hatte.

Waylock wandte sich ab, griff mit zitternden Hän-

den nach der purpurroten Jacke, holte die Filmstrei-
fen unter dem Aufschlag hervor und steckte sie ein.

Minuten später stürzte er ins Imishs Arbeitszim-

mer. Der Kanzler hob erstaunt den Kopf. »Was ist
denn plötzlich in Sie gefahren?«

»Ich habe doch recht gehabt«, keuchte Waylock.

»Aversham hat mich in der Garderobe überfallen! Er
muß unser Gespräch belauscht haben!«

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»Aber... aber...« Imish schob seinen Sessel zurück.

»Wo steckt er jetzt?«

Waylock berichtete, was sich ereignet hatte.

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41

Kanzler Imish saß leichenblaß und zitternd an seinem
Schreibtisch und diktierte einen Bericht für die Au-
ßenstelle der Assassinen in Trianwood.

»Seine Arbeitsweise war in letzter Zeit immer

nachlässiger geworden. Dann entdeckte ich, daß er
mir systematisch nachspionierte. Ich entließ ihn und
stellte meinen Freund Gavin Waylock als Sekretär an.
Er überfiel mich heute vormittag in meiner Gardero-
be. Zum Glück befand sich Gavin Waylock im glei-
chen Raum. Es kam zu einem Handgemenge, bei dem
Aversham aus dem Fenster stürzte. Alles war nur ein
Unfall – ein bedauerliches Unglück.«

Der Assassine verbeugte sich und ging. Imish kam

in den Nebenraum, wo Waylock auf ihn wartete.
»Alles erledigt«, sagte der Kanzler. Er starrte Way-
lock an. »Hoffentlich war das richtig.«

»Es war die einzige Erklärung«, versicherte Way-

lock ihm. »Jede andere Erklärung hätte einen Skandal
heraufbeschworen.«

Imish schüttelte den Kopf; er schien noch immer

nicht fassen zu können, was geschehen war.

»Übrigens«, sagte Waylock, »wann soll ich meinen

Dienst antreten?«

Imish hob verblüfft den Kopf. »Wollen Sie wirklich

Rolfs Platz einnehmen?«

»Nun, meine bisherige Tätigkeit füllt mich nicht

aus, und ich wäre Ihnen gern nach besten Kräften be-
hilflich.«

»So machen Sie nie Karriere – wenn Sie ständig den

Beruf wechseln.«

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»Ich bin ganz zufrieden dabei«, antwortete Way-

lock lächelnd.

Imish schüttelte den Kopf. »Der Sekretär des

Kanzlers ist Sekretär einer Null – und das ist schlim-
mer als die Null selbst.«

»Ich habe mir schon lange einen Titel gewünscht.

Als Ihr Sekretär werde ich automatisch Vizekanzler.
Außerdem haben Sie den Assassinen mitgeteilt, Sie
hätten mich als Ersatz für Aversham angestellt.«

Imish machte eine wegwerfende Handbewegung.

»Das ist kein Problem. Sie brauchen den Job nur ab-
zulehnen.«

»Ich fürchte aber, daß das einen schlechten Ein-

druck machen würde. Wir müssen die Reaktion der
Zweifler berücksichtigen...«

Imish ließ sich in einen Sessel fallen und warf

Waylock einen anklagenden Blick zu. »Jetzt stecke ich
wirklich in der Klemme!«

»Sie können sich darauf verlassen, daß ich alles tue,

um Sie daraus zu befreien.« Waylock erwiderte gelas-
sen seinen Blick.

»Gut, wenn Sie unbedingt wollen«, seufzte der

Kanzler schließlich.

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42

Ein Monat war vergangen. Der Herbst zog in Clarges
ein. Die Bäume färbten sich gelb und rot, morgens lag
dichter Nebel über der Stadt, und der kalte Wind
brachte den ersten Eishauch des kommenden Winters
mit sich.

Waylock verbrachte den Tag des großen Herbstfe-

stes in seinem ehemaligen Appartement am Phariot
Way, in dem jetzt Vincent Rodenave untergebracht
war, Rodenave war abgemagert; unter seinen Augen
lagen tiefe Schatten, denn er arbeitete buchstäblich
Tag und Nacht wie ein Besessener, ohne sich mehr als
drei oder vier Stunden Schlaf zu gönnen.

Als Waylock ihn aufsuchte, hatte Rodenave etwa

die Hälfte der Televektorfilme ausgewertet. Hinter
seinem Arbeitsplatz hing eine große Karte der Regi-
on, auf der rote Stecknadeln die Zellen bezeichneten,
in denen Amaranth-Surrogate im Tiefschlaf auf den
Tag warteten, an dem sie benötigt wurden. Waylock
lächelte zufrieden, während er die Karte aufmerksam
studierte.

»Dieses Stück Papier ist gefährlicher als jede Bom-

be«, sagte er zu Rodenave.

»Das ist mir durchaus klar«, antwortete Rodenave.

Er zeigte auf das Fenster. »Dort unten auf der Straße
hält ständig ein Assassine Wache. Ich kann keinen
Schritt außer Haus tun, ohne beschattet zu werden.
Was wird aus uns, wenn sie auf die Idee kommen,
das Appartement zu durchsuchen?«

Waylock runzelte die Stirn, zog die Stecknadeln

aus der Karte und faltete das Papier zusammen, um

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es in die Tasche zu stecken. »Machen Sie wie bisher
weiter«, wies er Rodenave an. »Wenn ich mich diese
Woche frei machen kann...«

»Wenn Sie sich frei machen können? Arbeiten Sie

denn überhaupt?«

Waylock grinste. »Ich arbeite für drei. Aversham

hat sich die Arbeit leicht gemacht. Ich mache mich
unersetzlich.«

»Wie?«
»Ich werte vor allem Imishs Position auf. Er war

schon mit seinem Los zufrieden und erwartete seinen
Assassinen in Dritte. Jetzt hofft er, bald in Rand auf-
zusteigen. Wir lassen uns überall sehen, und er nützt
seine Stellung nach Möglichkeit publikumswirksam
aus. In letzter Zeit wirkt er tatsächlich wie eine be-
deutende Persönlichkeit des öffentlichen Lebens.«
Waylock schwieg nachdenklich. »Vielleicht setzt er
eines Tages alle in Erstaunen – er hat jedenfalls das
Zeug dazu.«

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43

Waylock kehrte nach Trianwood zurück und suchte
sofort den Kanzler in dessen Arbeitszimmer auf.
Imish lag schlafend auf seiner Couch. Waylock ließ
sich geräuschvoll in einen Sessel fallen.

Imish erwachte und richtete sich blinzelnd auf.

»Ah, Gavin. Wie läßt sich der Festtag in Clarges an?«

Waylock überlegte. »Nicht allzu gut, wenn ich ehr-

lich sein soll.«

»Warum nicht?«
»Die Atmosphäre scheint förmlich geladen zu sein.

Fließendes Wasser verliert seine Energie, aber wenn
sein Fluß gehemmt wird, staut sich der Druck und
wird bedrohlich.«

Imish gähnte ungeniert.
»Die Straßen sind überfüllt«, fuhr Waylock fort.

»Mister Jedermann ist unterwegs und streift unruhig
umher. Niemand weiß, weshalb er das tut, aber er tut
es jedenfalls.«

»Vielleicht will er sich nur Bewegung verschaffen«,

meinte Imish gähnend. »Er genießt die frische Luft
und sieht sich die Stadt an.«

»Nein«, widersprach Waylock. »Er wirkt über-

nächtigt und innerlich erregt. Er interessiert sich nicht
für die Stadt, sondern starrt seine Mitbürger an. Und
er ist enttäuscht, weil sie seinen Blick mit dem glei-
chen fragenden Ausdruck erwidern.«

Imish runzelte die Stirn. »Sie zeichnen ein trostlo-

ses Bild von ihm.«

»Das war auch meine Absicht.«
»Unsinn!« sagte Imish kurz. »Clarges ist nicht

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durch solche Männer groß geworden.«

»Ich bin ganz Ihrer Meinung. Unsere große Zeit

liegt Jahrhunderte zurück.«

»Wie können Sie das angesichts unserer vielen

Fortschritte auf allen Gebieten behaupten?« fragte
Imish entrüstet. »Die Verwaltung funktioniert rei-
bungslos, die Produktion hat neue Höhepunkte er-
reicht, jeder Bürger kann...«

»Und die Beruhigungsanstalten sind voller als je

zuvor«, warf Waylock ein.

»Sie sind heute in ausgesprochen trüber Stim-

mung«, stellte Imish fest.

»Manchmal frage ich mich, weshalb ich eigentlich

Karriere zu machen versuche«, sagte Waylock. »Was
nützt mir die Unsterblichkeit, wenn um mich herum
alles aus den Fugen geht?«

Imish schien halb belustigt und halb besorgt zu

sein. »Leiden Sie öfters unter sollen pessimistischen
Anwandlungen?« erkundigte er sich.

»Ein großer Mann, ein großer Kanzler könnte die

zukünftige Entwicklung bestimmen. Er könnte Clar-
ges retten.«

Imish stand auf und nahm an seinem Schreibtisch

Platz. »Ein interessanter Gedanke.« Er lächelte. »Jetzt
verstehe ich auch, worauf die Gerüchte beruhen, die
ich über Sie gehört habe.«

Waylock zog die Augenbrauen hoch. »Gerüchte

über mich?«

»Richtig.« Imish machte eine vielsagende Geste.

»Die Gerüchte sind in der Tat bemerkenswert.«

»Was soll das heißen?«
»Angeblich folgt Ihnen ein schwarzer Schatten; wo

Sie Ihren Fuß hinsetzen, breiten sich Unheil und Ver-

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derben aus.«

Waylock schnaubte. »Und wer bringt diesen Un-

sinn unter die Leute?«

»Caspar

Jarvis,

der

Generaldirektor

der

Assassinen.«

»Der Generaldirektor verbringt seine Zeit damit,

Unschuldige zu verleumden, während Zeloten und
Zweifler wie ein Richtschwert über unserer Zivilisati-
on hängen.«

Imish lächelte. »Halten Sie die Lage wirklich für so

gefährlich?«

Waylock hatte die Zweifler nur als gefährlich be-

zeichnet, um einen Vorwand für seinen Besuch in
Imishs Garderobe zu haben, aber nun konnte er nicht
plötzlich von seinen früheren Behauptungen abrük-
ken und die Zweifler als harmlos darstellen.

»Die Zeloten sind Psychopathen ohne feste Organi-

sation; die Zweifler sind schwärmerische Phanta-
sten«, fuhr Imish überzeugt fort. »Die wirklich ge-
fährlichen Verbrecher sind längst nach Carnevalle ge-
flohen und haben dort bei den Tausend Dieben Zu-
flucht gefunden.«

Waylock schüttelte den Kopf. »Wir kennen sie; sie

sind dort vollkommen isoliert und deshalb unschäd-
lich. Aber die anderen halten sich überall in der Stadt
auf, arbeiten unermüdlich und sind praktisch nicht
zu fassen. Die Zweifler haben sich zum Beispiel eine
besonders wirksame Methode ausgedacht. Sie sind
schon zufrieden, wenn sie jemand davon überzeugen
können, daß Clarges krank ist und unbedingt geheilt
werden muß – denn dann haben sie einen neuen
Zweifler gewonnen.«

Imish starrte ihn verblüfft an. »Aber genau das ha-

ben Sie mir doch vor fünf Minuten erzählt! Dann sind

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Sie also ein Erzzweifler!«

»Vielleicht haben Sie sogar recht«, antwortete

Waylock lächelnd, »aber ich würde das Problem auf
weniger revolutionäre Weise zu lösen versuchen.«

Der Kanzler war noch nicht überzeugt. »Jeder

weiß, daß wir in einem Goldenen Zeitalter leben. Ge-
neraldirektor Jarvis hat mir erst neulich versichert,
unsere...«

»Jarvis müßte es eigentlich besser wissen«, unter-

brach Waylock ihn. »Aber auch er ist nicht unfehlbar,
deshalb wäre eine kleine Erinnerung von Ihrer Seite
vielleicht durchaus angebracht. Vergessen Sie nicht,
daß es nicht nur Ihre vornehmste Aufgabe, sondern
sogar Ihre Pflicht ist, für das Wohlergehen der Bürger
von Clarges zu sorgen.«

Imish senkte den Kopf und schloß nachdenklich

die Augen. Waylock hörte aufmerksam zu, als der
Kanzler endlich wieder aufsah und zu sprechen be-
gann.

»Gavin, Sie wissen selbst, daß ich eine Art lebender

Anachronismus bin. Das Goldene Zeitalter benötigt
keinen starken Führer. Aber trotzdem...« Er machte
eine Pause und starrte nachdenklich aus dem Fenster.
»Wir haben ein starkes Sicherheitsbedürfnis und
brauchen einen Halt in Zeiten der Gefahr.

Nur deshalb hat das Amt des Kanzlers Jahrhun-

derte überdauert.« Er runzelte die Stirn. »In Clarges
geschehen seltsame Dinge – aber niemand scheint
sich darum zu kümmern. Ich habe die Absicht, etwas
dagegen zu unternehmen... Rufen Sie den Generaldi-
rektor der Assassinen an und bitten Sie ihn, mich um
elf Uhr abends aufzusuchen.«

Waylock nickte. »Wie Sie wünschen, Sir.«

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44

Caspar Jarvis erschien um zehn Minuten vor elf in
Begleitung seiner beiden Leibwächter. Er durchquerte
die große Eingangshalle, blieb dicht vor Waylock ste-
hen und betrachtete ihn lächelnd. »Wie schön, daß
wir uns endlich einmal von Angesicht zu Angesicht
sehen.«

Waylock nickte wortlos.
»Hoffentlich begegnen wir uns noch recht oft«,

fuhr Jarvis fort. »Wo ist der Kanzler?«

»Ich führe Sie gleich zu ihm.«
Waylock ging in Imishs Arbeitszimmer voraus;

Jarvis folgte ihm und ließ seine Leibwächter an der
Tür Posten beziehen. Imish begrüßte den Generaldi-
rektor und nickte dann Waylock zu.

»Ich brauche Sie nicht mehr, Gavin. Sie können ge-

hen.«

Nachdem Waylock sich zurückgezogen hatte, kam

Jarvis sofort zur Sache. »Ich bin ein vielbeschäftigter
Mann, Sir. Ich nehme an, daß Sie etwas Wichtiges zu
besprechen haben.«

Der Kanzler nickte. »Ganz recht. Mir ist zu Ohren

gekommen, daß...«

Jarvis hob eine Hand. »Einen Augenblick, Sir. Falls

Waylock etwas damit zu tun hat, rufen Sie ihn lieber
gleich wieder herein, denn der Kerl hat bestimmt ein
Abhörgerät versteckt und hört ohnehin jedes Wort.«

Imish lächelte. »Ich kann Ihnen versichern, daß

dieser Raum kein Abhörgerät enthält.«

Jarvis sah sich skeptisch um. »Darf ich das kurz

überprüfen?«

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»Selbstverständlich.«
Jarvis holte eine Suchröhre aus der Tasche, ging

langsam durch den Raum und beobachtete den Zei-
ger des Meßinstruments. Dann runzelte er die Stirn
und wiederholte die Überprüfung.

»Tatsächlich nicht«, murmelte er verblüfft. Er öff-

nete die Tür, sah seine Leibwächter auf ihrem Posten
stehen und kam an den Schreibtisch zurück. »Jetzt
können wir unbesorgt sprechen.«

Waylock, der im Nebenraum stand und ein Ohr

gegen das winzige Loch in der schalldichten Wand-
verkleidung preßte, grinste vor sich hin.

»In gewisser Beziehung hat Waylock doch etwas

mit dem Fall zu tun«, begann Imish. »Er hat mich auf
eine Gefahr aufmerksam gemacht, die Ihnen viel-
leicht entgangen ist.«

»Ich befasse mich nur mit realen Gefahren und ha-

be keine Zeit, mich mit Dingen zu befassen, die sich
noch im Entwicklungsstadium befinden.«

Imish nickte. »Aber vielleicht ist das meine Pflicht.

Ich spreche von den Zweiflern, die...«

Jarvis machte eine ungeduldige Handbewegung.

»Die Zweifler interessieren uns nicht.«

»Sie werden also nicht überwacht?«
»Nein. Unsere Leute können nicht jeden Verrück-

tenklub unter die Lupe nehmen, der...«

»Ich wünsche, daß Sie die Umtriebe der Zweifler

sofort untersuchen lassen«, sagte Imish.

In der folgenden Diskussion ließ Imish sich nicht

von dieser Forderung abbringen, bis Jarvis endlich
zustimmte. »Gut, Sie sollen Ihren Willen haben.
Heutzutage ist alles möglich; vielleicht haben wir die
Gefahr tatsächlich unterschätzt.«

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Imish nickte zufrieden, und Jarvis fuhr fort: »Ich

möchte Ihnen noch einen guten Rat geben, Sir. Tren-
nen Sie sich von Waylock. Entlassen Sie ihn sofort.
Der Mann ist ein Ungeheuer. Vermeiden Sie einen
Skandal, indem Sie ihn aus Ihrer Umgebung entfer-
nen, bevor wir ihn abholen.«

Der Kanzler starrte ihn verwirrt an. »Meinen Sie

das... äh... Hinscheiden meines vorherigen Sekretärs
Rolf Aversham?«

»Nein.« Jarvis beobachtete sein Gegenüber mit zu-

sammengekniffenen Augen. Imish senkte den Kopf.
»Sie haben doch selbst ausgesagt, Waylock sei völlig
unschuldig.«

»Ja«, sagte Imish laut. »Natürlich.«
»Ich spreche von einem anderen Verbrechen:

Waylock hat vor einigen Monaten die Jacynth Martin
in Carnevalle entleiben lassen.«

»Was!«
»Wir haben Verbindung zu seinem Helfershelfer

aufgenommen, einen Berber namens Carleon. Dieser
Mann ist bereit, ausreichende Beweise gegen Way-
lock zu liefern, verlangt aber eine Gegenleistung da-
für.«

»Weshalb erzählen Sie mir das alles?« fragte Imish

erstaunt.

»Weil Sie uns helfen können.«
»Wodurch?«
»Carleon verlangt eine Amnestie. Er will nach

Clarges zurückkehren. Sie haben das Recht, diese
Amnestie zu erlassen.«

Imish schüttelte den Kopf. »Meine Rechte stehen

nur auf dem Papier; das wissen Sie selbst.«

»Trotzdem sind sie vorhanden. Ich könnte den Fall

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auch vor das Prytaneon bringen, aber dann würde er
in der Öffentlichkeit breitgetreten.«

»Aber dieser Carleon – ist er nicht auch ein Verbre-

cher? Warum sollen wir einen Halunken begnadigen,
um einen anderen bestrafen zu können?«

Jarvis schien zu überlegen. »Waylock ist ein spezi-

eller Fall«, sagte er dann. »Ich habe den Befehl, ihn
unter allen Umständen einer gerechten Bestrafung
zuzuführen.«

»Legt die Amaranth-Gesellschaft so großen Wert

darauf?«

Jarvis nickte. Ȇberlegen Sie selbst: Carleon und

Waylock befinden sich beide in Freiheit, aber sobald
wir Carleon begnadigen, liefert er uns Waylock aus.
Das ist ein klarer Gewinn.«

»Ja, das sehe ich ein... Haben Sie die Papiere mitge-

bracht?«

Jarvis legte eine Urkunde auf den Schreibtisch. »Sie

brauchen nur hier zu unterzeichnen, Sir.«

Imish las den Text langsam durch und stellte fest,

welche Untaten Carleon auf dem Gewissen hatte.
»Das ist unmöglich«, rief er entrüstet aus. »Im Ver-
gleich zu diesem Halunken ist Waylock das reinste
Unschuldslamm!«

Jarvis nickte ungerührt. »Denken Sie aber bitte dar-

an, Sir, daß wir die Wünsche hochgestellter Persön-
lichkeiten zu berücksichtigen haben.«

Imish setzte seine Unterschrift unter das Doku-

ment. »So, da haben Sie Ihre Begnadigung.«

Jarvis nahm die Urkunde an sich und stand auf.

»Ich danke Ihnen für Ihre Hilfe, Sir.«

»Hoffentlich macht mir das Prytaneon keine

Schwierigkeiten«, murmelte der Kanzler.

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»Das ist nicht zu befürchten«, versicherte Jarvis

ihm. »Die Sache gelangt nie an die Öffentlichkeit.«

Jarvis war eben erst in sein Büro zurückgekehrt, als

das Visorphon auf seinem Schreibtisch summte. Der
Bildschirm zeigte Imishs Gesicht.

»Direktor, ich muß Ihnen mitteilen, daß Waylock

verschwunden ist.«

»Verschwunden? Was soll das heißen?«
»Ich kann es mir selbst nicht erklären. Er ist fortge-

gangen, ohne mir ein Wort zu sagen.« Imish runzelte
die Stirn. »Glauben Sie, daß er trotz unserer Sicher-
heitsvorkehrungen gelauscht...«

»Ich kümmere mich gleich darum«, unterbrach Jar-

vis ihn. »Vielen Dank für Ihren Anruf, Sir.«

Der Bildschirm wurde dunkel. Jarvis überlegte

kurz, drückte dann auf den Knopf der Gegensprech-
anlage und sagte: »Carleons Begnadigung ist fertig,
Butler. Setzen Sie sich mit ihm in Verbindung und
vereinbaren Sie eine Besprechung – je früher desto
besser.«

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45

Der Mann in der Bronzemaske schlich lautlos die
Rückwand des niedrigen Gebäudes entlang, blieb vor
einer Stahltür stehen, sah sich vorsichtig um und trat
rasch über die Schwelle. Er bewegte sich drei Schritte
weiter und blieb zwei Sekunden lang ruhig stehen,
bis die Feuerstrahlen erloschen waren. Dann verließ
er die Falle und stieg eine enge Treppe in den Keller
hinab. In dem spärlich möblierten Vorraum saß ein
kleiner Mann mit runzligem Gesicht der Treppe ge-
genüber an einem Tisch.

»Wo ist Carleon?« fragte der Mann mit der Maske.
Der kleine Mann wies auf die Tür hinter sich. »In

seinem Museum.«

Der Maskierte öffnete die Tür, ging durch einen

langen Korridor weiter und stieß eine zweite Tür auf.
Dahinter lag ein prächtig ausgestatteter Raum mit
geisterhaft grüner Beleuchtung.

Ein dicklicher Mann, dessen Gesicht leichenhaft

blaß wirkte, sah ihm fragend entgegen. Er hielt einen
Arm hinter dem Rücken verborgen. Seine Augen glit-
zerten, als er die Bronzemaske erkannte. »Ja?«

Der Besucher nahm die Maske ab.
»Waylock!« Carleon streckte den Arm aus; er hielt

eine Pistole in der Hand. Aber Waylock kam ihm zu-
vor. Carleon sackte lautlos in sich zusammen. Way-
lock lächelte verächtlich.

Er kehrte in den Vorraum zurück. Der kleine Mann

saß wie zuvor an seinem Tisch. »Ich habe Carleon er-
schossen«, sagte Waylock.

Der andere zuckte mit den Schultern.

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»Carleon wollte über den Fluß in die Stadt zurück«,

erklärte Waylock ihm. »Er war sich bereits mit den
Assassinen einig.«

Der kleine Mann zeigte keine Überraschung. »Ich

brauche hundert Männer, Rubel«, fuhr Waylock fort.
»Ich zahle fünfhundert Florins für eine Nacht.«

Rubel nickte langsam.
»Gefährlich?«
»Nicht übermäßig.«
»Bezahlung im voraus?«
»Die Hälfte voraus.«
»Hast du das Geld?«
»Ja, Rubel.« Der Grayven Warlock, Herausgeber

des Clarges Direction, war reich gewesen. »Du über-
nimmst die Auszahlung.«

»Wann brauchst du die Männer?«
»Ich gebe dir vier Stunden vorher Nachricht. Die

Leute müssen kräftig und intelligent sein; sie dürfen
nicht vor Hindernissen zurückschrecken. Und sie
müssen meine Befehle genau ausführen.«

»Ich bezweifle, daß es in Carnevalle hundert Män-

ner dieser Art gibt«, sagte Rubel.

»Dann nimmst du eben Frauen. In einigen Fällen

sind sie sogar besser geeignet.«

Rubel nickte zustimmend.
»Noch etwas, Rubel. Die Assassinen arbeiten meist

mit dir zusammen. Du bist ihr Agent in Carnevalle.«

Rubel schüttelte lächelnd den Kopf, aber Waylock

sah darüber hinweg.

»Deshalb kennst du die kleineren Spitzel. Die As-

sassinen dürfen nichts davon erfahren. Du bist dafür
verantwortlich. Ist das klar?«

»Völlig«, antwortete Rubel.

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»Gut. Ich komme später zurück und bringe dir das

Geld.«

Das Visorphon neben Rubel summte; der kleine

Mann beugte sich über das Gerät und hörte aufmerk-
sam zu. Dann wandte er sich an Waylock. »Die As-
sassinen wollen mit Carleon sprechen. Was soll ich
ihnen sagen, Gavin?«

Waylock lächelte grimmig. »Sag ihnen, daß Carleon

tot ist.«

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46

Diese Nachricht wurde Jarvis übermittelt, der mit
gewohnter Entschlossenheit reagierte. »Das Sonder-
kommando rückt sofort nach Carnevalle aus und
bringt diesen Gavin Waylock hierher – lebendig oder
tot!«

Zwei Stunden später liefen die ersten Berichte ein.
»Er ist wieder durch die Maschen geschlüpft.« Jar-

vis ballte wütend die Fäuste. »Aber wir finden ihn
noch! Nur schade, daß wir ohne Televektion aus-
kommen müssen... Diese idiotischen Bestimmungen
binden uns die Hände!« Er schüttelte enttäuscht den
Kopf, überlegte kurz und erteilte dann in rascher Fol-
ge ein halbes Dutzend Befehle.

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47

Die Amaranth-Gesellschaft hatte sich zu ihrem zwei-
hundertneunundsiebzigsten Konklave versammelt.
Jedes Mitglied saß zu Hause vor einem riesigen Bild-
schirm, der in zehntausend kleine Felder unterteilt
war. In jedem Feld erschien das Gesicht eines Ama-
ranth und sein Stimmanzeiger – eine winzige Leuch-
te, die in verschiedenen Farbtönen aufblitzen konnte:
rot für heftige Ablehnung, orange für Ablehnung,
gelb für Neutralität, grün für Zustimmung oder blau
für begeisterte Zustimmung.

Im Zentrum des Mosaiks befand sich ein großer

Bildschirm für den jeweiligen Sprecher und ein Ta-
bulator, der das Ergebnis jeder Abstimmung durch
ein Farbsignal anzeigte.

Als die traditionelle Eröffnungszeremonie begann,

nahmen zweiundneunzig Prozent aller Mitglieder der
Gesellschaft daran teil. Dann ergriff Der Roland
Zygmont das Wort und sagte: »Ich will keine Zeit mit
Begrüßungsworten vergeuden, denn wir haben uns
heute versammelt, um ein Problem zu diskutieren,
dessen Existenz wir alle bisher geflissentlich überse-
hen haben: die gewaltsame Entleibung von Mitglie-
dern unserer Gesellschaft. Fälle dieser Art hat es
schon immer gegeben – ich erinnere in diesem Zu-
sammenhang an die Tragödie, der Die Anastasia de
Fancourt und Der Abel Mandeville zum Opfer gefal-
len sind. Aber heute geht es nicht um dieses Drama,
sondern um Gavin Waylock, der Ihnen vielleicht bes-
ser als Der Grayven Warlock bekannt ist. Das Wort
hat jetzt Die Jacynth Martin, die mit den näheren Um-

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ständen des Falles am besten vertraut ist.«

Die Jacynth erschien auf dem großen Bildschirm.

Ihre Augen waren unnatürlich geweitet; sie schien
vor innerlicher Erregung zu zittern.

»Lassen Sie mich zunächst aufzählen, für welche

Entleibungen Gavin Waylock unmittelbar verant-
wortlich ist: Der Abel Mandeville, Die Jacynth Mar-
tin, Seth Caddigan, Rolf Aversham und erst gestern
der Berber Carleon. Ich habe Gavin studiert. Er hat
diese Verbrechen mit Vorbedacht begangen; er ist ein
Ungeheuer ohne Moralbegriffe, das vernichtet wer-
den muß. Er bedroht alle und jeden von uns!«

Die Gesichter des Mosaiks gerieten in Bewegung.

»Wieso?« rief eine Stimme, dann nahmen andere den
Ruf auf.

»Gavin Waylock mißachtet unsere Gesetze«, erwi-

derte Die Jacynth. »Er bricht sie nach Belieben. Dieser
Erfolg kann ansteckend wirken. Andere werden sei-
nem Beispiel folgen, bis er ganz Clarges infiziert hat.«

Hunderte von Stimmen wurden gleichzeitig laut,

bis Die Jacynth abwehrend die Hand hob.

»Gavin Waylock will in unsere Gesellschaft aufge-

nommen werden, das hat er selbst oft genug verkün-
det.« Sie machte eine bedeutungsvolle Pause. »Es
steht in unserer Macht, ihm diesen Wunsch zu erfül-
len und die Gesetze von Clarges zu ignorieren. Ich
bitte um Abstimmung.«

Das Stimmengewirr im Lautsprecher klang wie das

Rauschen einer weit entfernten Brandung. Die Felder
des Mosaiks leuchteten auf: hier und dort blau, etwas
häufiger grün, verschiedentlich gelb, überwiegend
orange und rot. Der Tabulator zählte die Stimmen,
dann leuchtete sein Feld hellrot auf.

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Die Jacynth hob die Hand. »Aber ich warne Sie –

wenn wir uns nicht ergeben, müssen wir kämpfen. Er
läßt sich nicht entmutigen oder einschüchtern, des-
halb muß er... vernichtet werden! Dieses Raubtier in
Menschengestalt bedroht uns alle, darum müssen wir
ihm zuvorkommen und ihn daran hindern, seine Plä-
ne zu verwirklichen. Rücksichtnahme und Mitleid
sind hier fehl am Platze; unser Feind schreckt vor
nichts zurück, deshalb müssen wir mit gleichen Waf-
fen kämpfen!«

Sie nickte kurz, und Der Roland Zygmont erschien

wieder auf dem zentralen Bildschirm. »Die Jacynth
hat einen spezifischen Aspekt unseres Problems er-
läutert«, begann er langsam. »Dieser Grayven War-
lock ist ohne Zweifel ein gerissener Bursche; er ist den
Assassinen entkommen, hat sich sieben Jahre lang
verborgen gehalten und hat sich als Relikt in Brut re-
gistrieren lassen, um auf diese Weise eine neue Auf-
stiegsmöglichkeit zu haben.«

»Und was ist daran auszusetzen?« wandte eine lei-

se Stimme ein.

Der Roland ignorierte die Frage, aber Die Jacynth

erschien sofort wieder auf dem Bildschirm und
suchte die Gesichter auf den zehntausend Feldern ab.
»Wer hat eben gesprochen?«

»Ich.«
»Wer sind Sie?«
»Ich bin Gavin Waylock – oder Der Grayven War-

lock, wenn Ihnen das lieber ist. Als Vizekanzler des
Prytaneons habe ich das Recht, hier zu sprechen.«

»Ich kann Sie nicht daran hindern«, sagte Die

Jacynth.

Waylocks Gesicht erschien auf dem zentralen Bild-

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schirm. Zehntausend Augenpaare studierten das ern-
ste Gesicht.

»Vor sieben Jahren«, fuhr Waylock fort, »wurde ich

wegen eines Verbrechens, das ich nicht vorsätzlich
begangen hatte, den Assassinen übergeben. Durch ei-
nen glücklichen Zufall bin ich heute in der Lage, da-
gegen zu protestieren. Ich bitte das Konklave, das
damals ergangene Urteil aufzuheben und meine Mit-
gliedschaft zu bestätigen.«

Der Roland Zygmont runzelte besorgt die Stirn.

»Es steht der Versammlung frei, über diesen Antrag
abzustimmen.«

Das Leuchtfeld des Tabulators glühte dunkelrot.
»Sie haben abgelehnt«, stellte Waylock fest. »Darf

ich fragen – ich wende mich dabei an den Vorsitzen-
den –, weshalb man mir mein gutes Recht verwei-
gert?«

»Ich kann nur Vermutungen über die Gründe an-

stellen«, murmelte Der Roland. »Ihre Methoden sind
abstoßend und aggressiv; Sie haben Unregelmäßig-
keiten, wenn nicht sogar Verbrechen begangen. Die
dabei gezeigten Charaktereigenschaften sind Ihrem
Aufnahmegesuch nicht eben förderlich gewesen.«

»Aber mein Charakter spielt doch in meinem Fall

ebensowenig eine Rolle wie bei anderen Amaranth«,
erwiderte Waylock gelassen. »Ich bin Der Grayven
Warlock, und ich verlange Anerkennung.«

Die Jacynth erhielt das Wort. »Sie haben sich als

Gavin Waylock registrieren lassen, nicht wahr?«

»Richtig, aber ich...«
»Damit ist bereits alles gesagt. Der Grayven War-

lock ist nicht mehr unter uns, und Sie sind Gavin
Waylock, Brut.«

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»Ich habe mich als Relikt ausgegeben, um Schwie-

rigkeiten zu vermeiden. Trotzdem bin ich mit dem
ursprünglichen Amaranth identisch und habe des-
halb ein Anrecht auf alle seine Privilegien. Der
Grayven Warlock und Gavin Waylock sind nur ver-
schiedene Namen für die gleiche Person.«

Die Jacynth lachte. »Der Roland ist für derartige

Probleme eher zuständig; ich muß Sie deshalb an ihn
verweisen.«

»Mister Waylocks Behauptung entbehrt jeder rea-

len Grundlage«, stellte Der Roland fest. »Der Grayven
war nur kurze Zeit Mitglied unserer Gesellschaft und
konnte unmöglich über lebensfähige Surrogate ver-
fügen.«

»Das ist jedoch der Fall«, wandte Waylock ein. »Sie

haben mich selbst als Warlocks Surrogat anerkannt;
ich stelle hiermit einen Aufnahmeantrag als der neue
Grayven Warlock.«

»Ich darf den Antrag nicht entgegennehmen«, er-

widerte Der Roland zögernd. »Sie sind vielleicht sein
Relikt, aber Der Grayven hat keine Surrogate beses-
sen.«

»Widerspricht das nicht Ihrer Theorie über die Be-

deutung der Surrogate?« fragte Waylock. »Ist nicht
jedes Surrogat eine Identität Ihrer selbst?«

Die beiden Männer erschienen jetzt gleichzeitig auf

dem zentralen Bildschirm.

»Jedes Surrogat ist ein selbständiges Lebewesen,

bis es die legale Identität des ursprünglichen Ama-
ranth erhält und als diese Persönlichkeit in unsere
Gesellschaft aufgenommen wird.«

Waylock runzelte die Stirn. »Die Surrogate sind al-

so selbständige Lebewesen?«

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»Ja«, antwortete Der Roland.
»Sind Sie alle der gleichen Meinung?« fragte Way-

lock die Versammlung.

Der Tabulator leuchtete blau.
»Dann begehen Sie im Grunde genommen ständig

ein schweres Verbrechen«, fuhr Waylock nachdenk-
lich fort.

Betroffenes Schweigen folgte.
»Wie Sie wissen, habe ich bestimmte Pflichten zu

erfüllen«, sagte Waylock. »In Abwesenheit des
Kanzlers vertrete ich seine Stelle und fühle mich des-
halb berechtigt, die Amaranth-Gesellschaft eindring-
lich zu ermahnen.«

»Was soll der Unsinn?« fragte Der Roland.
»Sie halten Erwachsene gefangen, nicht wahr? Ich

ordne deshalb kraft meines Amtes ihre sofortige
Freilassung an. Weigern Sie sich, diesen Befehl auszu-
führen, müssen Sie die Konsequenzen tragen.«

Zehntausend Stimmen gaben ihrer Empörung

gleichzeitig Ausdruck. »Sie sind verrückt, Waylock«,
rief der Vorsitzende entrüstet.

Waylock lächelte gelassen. »Sie haben selbst zuge-

geben, was ich Ihnen jetzt vorwerfe. Treffen Sie also
Ihre Wahl. Die Surrogate sind entweder selbständige
Lebewesen oder Identitäten des ursprünglichen
Amaranth.«

Der Roland schüttelte den Kopf. »Ich verstehe

nicht, was Sie damit bezwecken, Waylock.«

»Das müßte Ihnen allmählich klar sein«, antwortete

Waylock. »Nehmen Sie mich in die Gesellschaft auf –
oder lassen Sie Ihre Surrogate frei.«

Zunächst herrschte Schweigen, dann ertönte leises

Gelächter.

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»Sie wissen genau, daß wir unsere Surrogate nie

freilassen würden«, sagte Der Roland. »Ihr Vorschlag
ist einfach phantastisch!«

»Dann geben Sie also zu, daß ich ein Recht auf Mit-

gliedschaft besitze?«

Der Tabulator leuchtete orange, dann rot. »Nein«,

riefen Hunderte von Stimmen. »Wir lassen uns nicht
erpressen!«

»Überlegen Sie gut«, mahnte Waylock. »Ich bin

nicht hilflos, und ich habe nicht die Absicht, mich ein
zweitesmal von Ihnen opfern zu lassen.«

»Wie können Sie das behaupten?« fragte Der Ro-

land. »Der Grayven Warlock hatte ein Verbrechen
begangen und ist dafür bestraft worden.«

»Aber Sie haben die Höchststrafe ausgesprochen,

obwohl andere in gleicher Lage völlig straffrei aus-
gingen. Der Abel Mandeville hat zwei Seelen ausge-
löscht – aber seine Surrogate leben ungestraft weiter.«

»Der Grayven hätte sich in acht nehmen sollen, bis

seine Surrogate lebensfähig waren«, stellte Der Ro-
land fest.

»Ich lasse mich nicht abweisen!« rief Waylock lei-

denschaftlich. »Ich verlange mein Recht! Wenn ich es
nicht erhalte, bin ich gezwungen, es mir zu erkämp-
fen!«

»Vielleicht ist die Gesellschaft bereit, Ihren Fall

nochmals zu diskutieren«, sagte Der Roland beruhi-
gend. »Ich bezweifle allerdings, daß...«

»Nein! Ich lasse mich nicht länger hinhalten, son-

dern ergreife jetzt die Initiative – als Vorbeugungs-
maßnahme oder als Gegenschlag. Sie haben die Wahl
zwischen beiden Möglichkeiten.«

»Was haben Sie vor? Was wollen Sie tun? Was

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können Sie unternehmen?«

»Ich kann Ihre Surrogate befreien.« Waylock lä-

chelte grimmig. »Sie werden bereits in diesem Au-
genblick befreit, denn ich habe Ihre Reaktion voraus-
gesehen. Die Aktion geht weiter, bis meine Forderun-
gen erfüllt – oder bis alle Surrogate befreit sind.«

Die Amaranth schwiegen betroffen.
Der Roland lächelte erschrocken. »Dieser Mann –

Gavin Waylock oder Der Grayven – kann seine Dro-
hung nicht verwirklichen, denn er weiß nicht, wo un-
sere Zellen liegen.«

Waylock hielt einen Zettel hoch. »Folgende Zellen

sind bereits leer...« Er las ein Dutzend Namen und
Adressen vor.

Entsetzte Aufschreie von allen Seiten. Zehntausend

Gesichter gerieten in Bewegung, als die Amaranth
diskutierten, ob sie bleiben oder zu ihren Zellen eilen
sollten.

»Es ist zwecklos, das Konklave jetzt zu verlassen«,

sagte Waylock. »Heute nacht werden nur vierhundert
Zellen geöffnet. Die Arbeit ist fast beendet und wird
abgeschlossen, bevor jemand eingreifen könnte. Mor-
gen werden wieder vierhundert Zellen geöffnet,
übermorgen ebenfalls, bis keine mehr übrig sind.
Wollen Sie nun meine Forderungen erfüllen – oder
muß ich Sie alle unglücklich machen?«

Der Roland schüttelte den Kopf. »Wir dürfen nicht

zu Gesetzesbrechern werden.«

»Das habe ich nie verlangt. Ich bestehe nur auf

meinem Recht.«

»Wir brauchen Zeit.«
»Sie müssen sich sofort entscheiden.«
»Ich kann nicht für alle Mitglieder sprechen.«

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»Dann sollen sie abstimmen.«
Der Roland hob den Kopf, als das Visorphon auf

seinem Schreibtisch summte. Er hörte kurz zu und
rief entsetzt: »Es ist wahr! Sie brechen die Zellen auf
und schicken die Surrogate hilflos in die Nacht hin-
aus!«

»Lassen Sie abstimmen«, forderte Waylock.
Der Roland nickte wortlos.
Der Tabulator leuchtete nacheinander grün, gelb,

orange, wieder grün und schließlich blau-grün.

»Sie haben gesiegt«, flüsterte Der Roland.
»Tun Sie Ihre Pflicht!«
»Ich nehme Sie hiermit in die Amaranth-

Gesellschaft auf«, sagte Der Roland heiser. »Ab sofort
besitzen Sie sämtliche Rechte und Pflichten.«

Waylock nickte zufrieden und hob ein Mikrophon

an die Lippen. »Operation einstellen!« Er wandte sich
an die zehntausend Gesichter. »Tut mir leid, daß ei-
nige von Ihnen persönlich betroffen sind, aber ich
kann nur sagen, daß Sie selbst...«

Ein lautes Rattern unterbrach ihn. Vor zehntausend

entsetzten Zuschauern, die vor Schreck und Abscheu
wie gelähmt waren, sackte Gavin Waylock leblos in
seinem Sessel zusammen.

Hinter ihm erschien Die Jacynth Martin. Sie lä-

chelte verzerrt; ihre Augen waren unnatürlich ge-
weitet. »Wir haben von Gerechtigkeit gesprochen; sie
ist ihm zuteil geworden. Ich habe das Ungeheuer
vernichtet. Und jetzt sind meine Hände mit seinem
Blut befleckt. Aber ihr werdet mich nie wieder in eu-
rer Mitte sehen!«

»Warten Sie!« rief Der Roland. »Wo sind Sie jetzt?«
»In Anastasias Haus«, erwiderte Die Jacynth.

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»Bleiben Sie dort – ich komme gleich zu Ihnen.«
»Sparen Sie sich lieber die Mühe. Dort finden Sie

nur die Leiche des Ungeheuers!«

Die Jacynth Martin rannte zum Landeplatz hinaus,

bestieg ihren Aircar und startete mit höchster Be-
schleunigung. Wenige Minuten später schwebte sie
hoch über dem Fluß und warf einen letzten Blick auf
ihr geliebtes Clarges, bevor sie den Steuerknüppel
ruckartig nach vorn drückte.

Der Aircar tauchte spritzend ein und warf hohe

Wellen auf; dann schloß sich das ölige Wasser über
der Maschine, und der Chant floß wieder so ruhig
wie zuvor.

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48

Die Stadt befand sich in einem Zustand unterdrückter
Erregung. Die Morgenzeitungen berichteten nur am
Rande von den Ereignissen der vergangenen Nacht,
deren Konsequenzen noch nicht überschaubar waren;
das Volk ging seiner gewohnten Arbeit nach, ohne er-
fahren zu haben, was Gavin Waylock getan hatte.

Für die Mitglieder der Amaranth-Gesellschaft be-

deutete der Name Gavin Waylock erheblich mehr,
denn zum Zeitpunkt seines Hinscheidens war das
grausige Werk bereits vollendet. Vierhundert Zellen
waren aufgebrochen worden; die Surrogate wurden
geweckt, in die Nacht hinausgeführt und dort ihrem
Schicksal überlassen – insgesamt eintausendsieben-
hundertzweiunddreißig.

Vierhundert Amaranth hatten entsetzlich darunter

zu leiden, denn sie wußten nur allzu gut, daß ihre
Unsterblichkeit in höchster Gefahr war. Sie reagierten
mit geradezu psychotischer Übertreibung, schlossen
sich in ihren Häusern ein und wagten sich nicht mehr
ins Freie, weil sie um ihr Leben fürchteten. Wie leicht
konnte es passieren, daß ein Aircar abstürzte! Gab es
nicht täglich Hunderte von Unfällen, bei denen Men-
schen zu Schaden kamen? Las man nicht oft von
Amokläufern, die über andere Menschen herfielen?
Wohin man blickte, drohten Gefahren, denen man
jetzt schutzlos ausgeliefert war!

Weitere Einzelheiten des Zwischenfalls drangen an

die Öffentlichkeit, die breite Masse assimilierte die
Nachrichten und begann zu reagieren. Einige waren
über diesen Bruch der Tradition besorgt, andere

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freuten sich im stillen darüber. Waylock wurde ab-
wechselnd als Märtyrer oder Verbrecher bezeichnet.
Nur wenige konnten sich noch auf ihre Arbeit kon-
zentrieren. Tausende vergeudeten wertvolle Zeit, um
die seltsame Affäre zu diskutieren. Wohin sollte das
alles führen? Tage verstrichen, und Clarges wartete
noch immer.

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49

Vincent

Rodenave

war aktiv an den Ereignissen dieser

denkwürdigen Nacht beteiligt gewesen. Er flog in ei-
nem

gemieteten

Aircar

nach

Skyhaven, fünfundvierzig

Kilometer außerhalb von Clarges, und landete neben
einer kleinen Villa inmitten eines riesigen Parks. Die
Tür war fest verschlossen, aber er brach sie auf und
durchsuchte

das

Haus, bis er die Zelle gefunden hatte.

Dort lagen drei Surrogate in hypnotisch erzeugtem

Tiefschlaf und warteten auf den Tag, an dem Die
Anastasia de Fancourt zu neuem Leben erwachen
sollte. Rodenave konnte seine Ungeduld nicht länger
beherrschen, beugte sich über die erste Gestalt und
berührte mit zitternden Fingern ihren bloßen Arm.

Die Anastasia vor ihm erwachte. Gleichzeitig rich-

teten sich auch die beiden anderen auf und starrten
den Eindringling erschrocken an.

»Die Anastasia ist nicht mehr«, sagte Rodenave.

»Wer tritt nun an ihre Stelle?«

»Ich«, sagte eine. Die drei Surrogate verwandelten

sich plötzlich in eine Person und zwei Surrogate. »Ich
bin Die Anastasia.« Sie wandte sich an die anderen.
»Ihr bleibt hier zurück, und ich gehe in die Welt hin-
aus.«

»Ihr kommt alle mit«, stellte Rodenave fest.
Die Anastasia warf ihm einen erstaunten Blick zu.

»Aber das ist nicht richtig!«

»Darüber bestimme ich«, antwortete Rodenave und

fügte rasch hinzu: »Die Anastasia hat mich seit ihrem
letzten Besuch bei euch geheiratet. Du bist jetzt meine
Frau.«

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Die neue Anastasia und ihre beiden Surrogate be-

trachteten ihn interessiert.

»Das verstehe ich nicht ganz«, sagte die neue Ana-

stasia. »Du kommst mir allerdings bekannt vor. Wie
heißt du?«

»Vincent Rodenave.«
»Ah – jetzt erkenne ich dich wieder. Wir haben von

dir gehört.« Sie zuckte lachend mit den Schultern.
»Ich habe in meinem Leben schon viele Torheiten be-
gangen. Vielleicht habe ich dich wirklich geheiratet.
Aber ich kann es nicht recht glauben.«

»Los, kommt mit«, forderte Rodenave sie auf.
»Aber die beiden anderen müssen hierbleiben«,

protestierte Die Anastasia. »Was wird sonst aus unse-
rer Empathie?«

»Ihr müßt alle mitkommen«, sagte Rodenave laut,

»sonst zwinge ich euch mit Gewalt dazu.«

Sie wichen vor ihm zurück. »Das ist unerhört«, flü-

sterte die neue Anastasia. »Was ist aus meiner Vor-
gängerin geworden?«

»Ein eifersüchtiger Liebhaber hat ihr Hinscheiden

verursacht.«

»Das muß Der Abel gewesen sein.«
Rodenave machte eine ungeduldige Handbewe-

gung. »Kommt endlich, wir müssen gehen.«

»Aber dann gibt es drei Anastasias«, wandte sie

ein. »Die anderen sind mit mir identisch!«

»Eine von euch ist in Zukunft Die Anastasia. Die

zweite wird meine Frau, und die dritte kann tun, was
ihr beliebt.«

Die drei Anastasias betrachteten ihn nachdenklich,

dann sagte die erste: »Wir haben nicht den Wunsch,
mit dir verheiratet zu sein. Sollte tatsächlich eine Ehe

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bestehen, wird sie wieder gelöst. Wenn es sein muß,
verlassen wir unsere Zelle – mehr kannst du nicht
von uns erwarten.«

Rodenave wurde blaß. »Eine von euch begleitet

mich! Entscheidet euch – welche kommt mit mir?«

»Nicht ich.« »Nicht ich.« »Nicht ich.« Dreimal der

gleiche verächtliche Tonfall.

»Aber ihr könnt doch nicht einfach die bestehende

Ehe ignorieren!«

»Selbstverständlich können wir das. Und wir haben

auch die Absicht, es zu tun. Du bist kein Mann, mit
dem wir verheiratet sein möchten.«

Rodenave trat einen Schritt vor und holte mit der

rechten Hand aus; Die Anastasia zuckte zusammen,
als der Schlag ihre Wange traf. Dann wandte er sich
ab, rannte zu seinem Aircar und flog allein nach
Clarges zurück.

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50

Die nächste Versammlung der Amaranth-Gesellschaft
hatte sich mit dem schwierigen Problem der befreiten
Surrogate zu befassen – wie sollten diese neuen Bür-
ger in Zukunft klassifiziert werden? Jeder der vier-
hundert Amaranth, deren Zellen aufgebrochen wor-
den waren, existierte jetzt in vier oder fünf Versionen,
die alle die gleiche Ausbildung, die gleiche Vergan-
genheit und die gleichen Zukunftserwartungen hat-
ten. Alle waren mit Recht der Auffassung, vollwerti-
ge Amaranth zu sein, und beanspruchten die entspre-
chenden Privilegien; die Situation war völlig unge-
klärt und mußte schnellstens bereinigt werden.

Der Roland leitete die erregteste Sitzung seit Beste-

hen der Gesellschaft, in der die einzig mögliche Lö-
sung beschlossen wurde: die eintausendsiebenhun-
dertzweiunddreißig Surrogate wurden als Mitglieder
mit allen Rechten und Pflichten aufgenommen. Damit
schien das Problem zunächst gelöst zu sein, obwohl
einige Unzufriedene darüber klagten, daß diese Ver-
mehrung der Mitgliederzahl keinesfalls im Interesse
der Gesellschaft liege. Allerdings konnte zu diesem
Zeitpunkt noch niemand ahnen, wie nachteilig sie
sich später tatsächlich auswirken würde...

Nach

dieser

stürmischen Sitzung kehrte Der Roland

Zygmont spät abends müde und erschöpft nach Hau-
se zurück. Er freute sich bereits auf ein heißes Bad
und

zehn

Stunden

ungestörten Schlaf, die einen neuen

Menschen aus ihm machen würden. Aber die größte
Überraschung des Abends stand ihm noch bevor. In
der Diele seines Hauses wartete ein Mann auf ihn.

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Der Roland blieb wie erstarrt stehen. »Gavin Way-

lock«, flüsterte er.

Waylock nickte lächelnd. »Der Gavin Waylock,

wenn ich bitten darf.«

»Aber... aber... Sie leben doch nicht mehr!«
Waylock zuckte mit den Schultern. »Ich weiß

kaum, was sich in letzter Zeit ereignet hat. Meine ein-
zige Informationsquelle waren Zeitungen.«

»Aber...«
»Weshalb sind Sie so verblüfft?« fragte Waylock

ungehalten. »Haben Sie vergessen, daß ich Der
Grayven Warlock bin?«

Der Roland begann zu verstehen. »Sie sind eines

seiner Surrogate!«

»Selbstverständlich. Gavin Waylock hat sieben Jah-

re lang Zeit gehabt, völlige Empathie mit den Surro-
gaten zu erreichen.«

Der Roland ließ sich in einen Sessel fallen. »Warum

habe ich das nicht vorausgesehen?« Er schlug sich an
die Stirn. »Schrecklich! Was soll ich nur tun?«

Waylock zog die Augenbrauen hoch. »Gibt es da

noch eine Frage?«

Der Roland seufzte. »Nein. Wir wollen nicht wie-

der damit anfangen. Sie haben gesiegt, und ich kann
Ihnen die Früchte Ihres Sieges nicht vorenthalten.
Kommen Sie.« Er ging in sein Arbeitszimmer voraus,
schlug das Mitgliederverzeichnis der Amaranth-
Gesellschaft auf und trug den Namen GAVIN WAY-
LOCK ein.

Er klappte das schwere Buch wieder zu. »Das war

alles. Sie gehören zu uns. Da Sie die Behandlung
schon hinter sich haben, sind keine weiteren Forma-
litäten erforderlich.« Er betrachtete Waylock von

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Kopf bis Fuß. »Ich bringe es nicht über mich, Ihnen
meinen Glückwunsch auszusprechen, aber ich
möchte Ihnen ein Glas Cognac anbieten.«

»Ich nehme mit Vergnügen an.«
Die beiden Männer tranken schweigend. Der Ro-

land lehnte sich in seinen Sessel zurück. »Sie haben
Ihr Ziel erreicht«, stellte er fest, »aber mit welchen
Methoden...!« Er schüttelte sorgenvoll den Kopf.
»Vierhundert Amaranth sind nun in ihren eigenen
Häusern Gefangene, bis die neuen Surrogate lebens-
fähig sind; einige haben vielleicht Unfälle, denen sie
erliegen – und unter diesen Umständen gibt es keine
Rettung für sie. Alles das haben Sie auf dem Gewis-
sen, Waylock!«

Waylock zuckte ungerührt mit den Schultern.

»Daran hätten Sie vor sieben Jahren denken müssen.«

»Das steht hier nicht zur Debatte.«
»Vielleicht. Jedenfalls schmälert jeder Aufstieg die

Lebenserwartung anderer Menschen in den unteren
Phylen. In dieser Beziehung habe ich mir wenig vor-
zuwerfen. Meine zwei oder drei Opfer sind völlig
unbedeutend, wenn man berücksichtigt, daß jedes
andere Mitglied der Gesellschaft indirekt zweitau-
send Menschenleben auf dem Gewissen hat.«

Der Roland starrte ihn an. »Bilden Sie sich etwa ein,

Ihr Fall sei eine Ausnahme? Der Aktuarius hat Ihren
Aufstieg bereits registriert und die Konsequenzen
daraus gezogen. Auch Sie sind schuld daran, daß
zweitausend Menschen früher von den Assassinen
aufgesucht werden!« Er zuckte hilflos mit den Schul-
tern. »Streiten wir uns nicht länger darüber; Sie sind
Mitglied unserer Gesellschaft, aber ich muß Ihnen
schon jetzt mitteilen, daß die Verhältnisse sich erheb-

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lich geändert haben.«

»Weshalb?«
»Die siebzehnhundertzweiunddreißig Surrogate

hatten ein Anrecht auf Mitgliedschaft und sind des-
halb heute in die Amaranth-Gesellschaft aufgenom-
men worden.«

Waylock hob verblüfft den Kopf. »Sie sorgen wirk-

lich für Ihre Leute! Und wie beeinflußt das die Le-
benserwartung der unteren Phylen?«

Der Roland schien antworten zu wollen, runzelte

dann die Stirn und zögerte. »Wir können nur tun,
was wir für richtig halten«, sagte er langsam.

Waylock stand auf. »Ich will nicht länger stören

und wünsche Ihnen eine gute Nacht.«

»Gute Nacht«, sagte Der Roland. Er begleitete sei-

nen Besucher an die Haustür.

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51

Der Roland schlief unruhig, wurde von schrecklichen
Alpträumen geplagt und wachte bei Tagesanbruch in
kaltem Schweiß gebadet auf. Von der Straße her
drang ein seltsames Geräusch durch die geschlosse-
nen Jalousien, das er nicht gleich identifizieren
konnte. Es erinnerte ihn an das Rauschen eines gro-
ßen Flusses...

Er stand auf und ging ans Fenster. Auf der Straße

drängten sich Tausende von Menschen, so weit das
Auge reichte. Sie bewegten sich alle in Richtung
Esterhazy-Platz.

Das Visorphon hinter ihm summte; Der Roland

ging wie ein Schlafwandler darauf zu und tastete un-
sicher nach dem Sprechknopf. Auf dem Bildschirm
erschien Der Olaf Maybow, der stellvertretende Vor-
sitzende der Amaranth-Gesellschaft.

»Roland«, rief er erregt aus. »Hast du sie gesehen?

Was sollen wir tun?«

Der Roland rieb sich nachdenklich das Kinn. »Auf

der Straße hat sich eine große Menge angesammelt.
Meinst du das?«

»Menge«, rief Der Olaf heiser. »Wilde Horden! Ein

Volksaufstand!«

»Aber warum nur? Was hat das alles zu bedeu-

ten?«

»Hast du die Morgennachrichten noch nicht gese-

hen?«

»Ich bin eben erst aufgewacht.«
»Sieh dir die Schlagzeilen an.«
Der Roland schaltete den Projektor ein, der eine

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Zusammenfassung der letzten Meldungen an die
Wand warf.

»Du lieber Himmel«, murmelte er.
»Genau!«
Der Roland schwieg betroffen.
»Was sollen wir tun?« fragte Der Olaf.
Der Roland überlegte. »Hmm, irgend etwas muß

wohl getan werden.«

»Den Eindruck habe ich auch.«
»Obwohl wir eigentlich nicht dafür zuständig

sind.«

»Wir müssen trotzdem etwas unternehmen – wir

sind schließlich dafür verantwortlich!«

»Unsere Zivilisation hat irgendwie versagt«, flü-

sterte Der Roland.

Der Olaf schüttelte unwillig den Kopf. »Wir haben

jetzt keine Zeit für philosophische Überlegungen! Ir-
gend jemand muß die Initiative ergreifen, irgend je-
mand muß entschlossen handeln!«

»Ganz recht«, stimmte Der Roland zu. »Ein guter

Kanzler könnte jetzt beweisen, was in ihm steckt.«

Der Olaf schnaubte verächtlich. »Claude Imish?

Lächerlich! Wir müssen selbst etwas dagegen unter-
nehmen.«

»Aber ich kann die Berechnungen des Aktuarius

doch nicht umstoßen! Oder soll ich etwa die Anwei-
sung geben, siebzehnhundertzweiunddreißig Ama-
ranth in Brut zu registrieren?«

Der Olaf achtete nicht auf diese rethorische Frage.

»Hörst du sie brüllen? Hör dir das an, Roland!«

Draußen ertönten plötzlich laute Schreie, in denen

sich die Erregung der Menge entlud.

»Du mußt etwas unternehmen«, drängte Der Olaf.

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Der Roland gab sich einen Ruck. »Gut, ich trete vor

sie hin. Vielleicht kann ich sie dazu bewegen, Ruhe
und Ordnung...«

»Sie reißen dich in Stücke!«
»Dann bleibe ich lieber zu Hause. Wahrscheinlich

legt sich die ganze Aufregung ohnehin von selbst,
und die Leute kehren an ihre Arbeitsplätze zurück,
um Karrierepunkte zu sammeln.«

»Auch wenn ihre Karriere inzwischen bedeu-

tungslos geworden ist?«

Der Roland ließ sich in einen Sessel fallen. »Weder

du noch ich noch irgendein anderer kann etwas an
dieser Situation ändern. Ich spüre es; ich kann mir
vorstellen, was sich dort draußen ereignet. Die Men-
schen sind wie aufgestautes Wasser – der Damm ist
gebrochen, und das Wasser strömt aus, bis der natür-
liche Stand erreicht ist.«

»Aber was haben sie vor?«
»Wer weiß? Vielleicht wäre es angebracht, in Zu-

kunft nur noch bewaffnet außer Haus zu gehen.«

»Wer dir zuhört, muß den Eindruck haben, die

Bürger von Clarges seien Barbaren!«

»Wir sind mit den Barbaren verwandt. Ihre und

unsere Vorfahren haben jahrhundertelang gemein-
sam als Wilde gelebt, während die getrennte Ent-
wicklung erst seit Jahrhunderten stattfindet.«

Die beiden Männer starrten einander erschrocken

an, als der Lärm der Massen wieder lauter wurde.

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52

Die Ursachen des Aufruhrs, der jetzt in den Straßen
von Clarges herrschte, waren nur aus der geschichtli-
chen Entwicklung dieser Regionen zu erklären; aber
der unmittelbare Anlaß war allgemein bekannt: die
Erweiterung der Amaranth-Gesellschaft um sieb-
zehnhundertzweiunddreißig neue Mitglieder. Der
Aktuarius hatte diese Informationen ausgewertet und
in nüchterne Zahlen umgesetzt, von denen die Le-
benserwartung jedes einzelnen Angehörigen der vier
unteren Phylen entscheidend beeinflußt wurde.
Durch die Aufnahme neuer Mitglieder verringerte
sich die Lebensdauer der Menschen in Brut um etwas
über fünf Monate, die der Angehörigen höherer
Phylen entsprechend weniger.

Das Volk reagierte augenblicklich und strömte in

Massen auf die Straßen. Die Arbeitsplätze standen
leer – wer wollte noch arbeiten, wenn seine Mühen
mit dem Abzug von fünf kostbaren Monaten seines
Lebens belohnt wurden? Warum nicht einfach aufge-
ben?

Hunderte konnten sich nicht den Demonstrationen

anschließen, weil sie wie erstarrt in ihren Apparte-
ments lagen. Aber Tausende gingen auf die Straßen,
tauchten im Gedränge unter, wurden formloser Be-
standteil der Masse und bewegten sich schreiend und
lärmend in Richtung Esterhazy-Platz.

Auf dem weiten Platz hatte sich eine unruhige

Menge versammelt, als der Aircar auf dem Dach des
Aktuariusgebäudes landete. Ein Mann stieg aus und
näherte sich vorsichtig der Dachkante. Es war Der

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Roland Zygmont, Vorsitzender der Amaranth-
Gesellschaft. Er hob einen tragbaren Lautsprecher an
den Mund, aus dem seine Stimme über den Platz
hallte.

Die Masse achtete kaum auf seine Worte; sie rea-

gierte nur auf den Tonfall und wurde noch erregter.
Ein Ruf pflanzte sich durch die dichtgedrängten Rei-
hen fort: »Der Roland Zygmont! Der Vorsitzende der
Amaranth-Gesellschaft! Der Roland Zygmont!«

Der Ruf wurde lauter, verwandelte sich in einen

wütenden Aufschrei. Der Roland hatte sein Podest
etwas unglücklich gewählt – die Menge fühlte sich
verhöhnt, als sie den Vorsitzenden der Amaranth-
Gesellschaft auf dem Gebäude des Aktuarius stehen
sah. Tausende von Kehlen schrien sich gleichzeitig
heiser, während Tausende von ausgestreckten Hän-
den nach dem Mann auf dem Dach zu greifen ver-
suchten; dann setzte sich die Menge wie auf einen Be-
fehl hin plötzlich in Bewegung.

Unter diesem Ansturm gaben die Eingangstüren

des Gebäudes nach. Fünf oder sechs Assassinen, die
sich der Masse in den Weg stellen wollten, wurden
überrannt und niedergetrampelt. Die Menschen
strömten weiter ins Innere des Gebäudes, überwan-
den alle Absperrungen, zertrümmerten Instrumente,
rissen mit bloßen Händen Leitungen ab und zerstör-
ten hochempfindliche Maschinen mit Stöcken und
Steinen. Funken knisterten, Rauch wallte auf, Deto-
nationen erschütterten die Wände. Der großartige
Mechanismus starb wie ein Mensch, dessen Gehirn
zerstört wird.

Dieser leidenschaftliche Ausbruch des Volkszorns

schien kein Ende nehmen zu wollen. Der Roland

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Zygmont beobachtete die brodelnde Masse vom Dach
des Gebäudes aus und überlegte sich dabei, daß die-
ser leidenschaftliche Ausbruch in der gesamten Ge-
schichte der Menschheit einmalig war.

Der Olaf kam heran und griff nach seinem Arm.

»Schnell, wir müssen fliehen! Sie sind schon bis hier-
her vorgedrungen!« Die beiden Männer liefen auf den
startbereiten Aircar zu; aber sie waren zu langsam
und wurden eingeholt. Johlende Horden schleppten
sie trotz heftigster Gegenwehr an den Dachrand zu-
rück, faßten sie dort an Armen und Beinen, holten
kräftig Schwung und schleuderten sie ins Leere hin-
aus.

Im Innern des Gebäudes ereignete sich eine gewal-

tige Detonation; eine Flammensäule stieg hundert
Meter hoch zum Himmel auf. Die Männer auf dem
Dach waren von den Treppen abgeschnitten und ka-
men in Rauch und Flammen um; unter ihnen fanden
Tausende den Tod, als das riesige Gebäude bis auf
die Grundmauern niederbrannte.

Die Menge achtete nicht mehr darauf, sondern

hörte gespannt einem Mann zu, der am Rand des
Platzes ein improvisiertes Podium bestiegen hatte. Es
war Vincent Rodenave, der vor Erregung außer sich
zu sein schien. Sein Gesicht war hektisch gerötet, und
seine Stimme überschlug sich fast. »Gavin Waylock!«
brüllte er heiser. »Das ist der Mann, der an diesem
Unrecht schuld ist! Gavin Waylock!«

Die Massen nahmen seinen Schrei auf, ohne sich

dessen bewußt zu werden. »Gavin Waylock! Tötet
ihn! Bringt ihn um! Nehmt Rache an Gavin Way-
lock!«

background image

53

Gavin Waylock wurde überall in Clarges gesucht.
Sein Appartement lag in Trümmern, nachdem die
empörte Menge dort eingedrungen war, und einige
Männer, die ihm entfernt ähnlich sahen, wurden
mißhandelt und fast gelyncht, bis sie ihre Identität
beweisen konnten.

Von irgendwoher tauchte ein Gerücht auf: Waylock

war angeblich in Elgenburg gesehen worden. Wenig
später waren die nach Süden führenden Straßen von
wütenden Horden verstopft.

Elgenburg wurde Haus für Haus durchsucht, aber

Waylock war seinen Verfolgern offenbar wieder ein-
mal entkommen.

In der Nähe lag der Raumhafen, wo die Star Enter-

prise sich startbereit erhob. Der schlanke Metallpfeil
ragte hoch über den menschlichen Ameisen auf, die
sich am Rand des eingezäunten Geländes versam-
melten.

Aus allen Himmelsrichtungen strömten immer

neue Massen heran. Diesmal schienen sie weniger er-
regt als damals vor dem Aktuarius; aber diese Ruhe
war trügerisch, denn als sie Hindernisse und Absper-
rungen vor sich sahen, erwachte ihr Zorn wieder. Die
Menge klatschte begeistert und drängte näher heran,
als fünfzehn oder zwanzig Männer ein langes Eisen-
rohr als Rammbock gegen das verschlossene Tor des
Raumhafens einsetzten.

Dann schwebte ein großer Aircar aus Richtung

Clarges heran und landete innerhalb der Umzäu-
nung. Sechs Männer stiegen aus: der Großrat der Tri-

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bunen. An ihrer Spitze ging Guy Carskadden, der
Obertribun.

Die Menge zögerte unentschlossen, und der

Rammbock wurde niedergelegt.

»Dieser Wahnsinn muß ein Ende haben«, rief der

Obertribun gebieterisch. »Was wollt ihr hier?«

»Waylock«, antworteten hundert Stimmen gleich-

zeitig. »Wir wollen den Verbrecher, das Ungeheuer!«

»Seid ihr Barbaren, die alles zerstören und die Ge-

setze der Region mißachten?« wollte Carskadden
wissen.

Die Antwort wurde lauter und trotziger gegeben:

»Es gibt keine Region Clarges mehr!«

Carskadden machte eine resignierte Handbewe-

gung. Die Massen setzten sich in Bewegung; das Tor
gab nach, schwankte unter diesem Ansturm und
wurde schließlich aus den Angeln gerissen. Die Tri-
bunen wichen langsam zurück, hoben die Hände und
riefen immer wieder: »Kehrt um, kehrt um!«

Der Vormarsch der Menge kam erst unter der Star

Enterprise zum Stehen, die im Licht der Nachmittags-
sonne wie ein silberner Pfeil glänzte. Die Tribunen
hatten hier eine Linie gebildet, und Carskadden un-
ternahm einen letzten Versuch, weitere Ausschrei-
tungen zu verhindern. »Halt!« brüllte er. »Kehrt nach
Hause zurück und nehmt eure Arbeit wieder auf!«

Ein dumpfes Murmeln antwortete ihm. »Waylock!

Das Ungeheuer Waylock! Er hat uns Leben geraubt!«

Die Masse setzte sich wieder in Bewegung und

überrannte die Tribunen. Sechs ängstliche Männer
hasteten die Gangway hinauf und hatten nur ein Ziel
vor Augen: die offene Luftschleuse in fünfzehn Meter
Höhe über dem Boden.

background image

Dann erschien Reinhold Bierbursson auf der Platt-

form vor der Schleuse. Er beobachtete die Menge mit
zusammengekniffenen Augen und schüttelte mitlei-
dig den Kopf. Als die ersten Männer den Fuß auf die
Gangway setzten, hob er den Eimer in seiner Rechten
und leerte ihn mit einem Ruck aus.

Grünes Gas wallte in dichten Schwaden auf; die

Menschen husteten, keuchten, schrien heiser auf und
wichen entsetzt zurück.

Bierbursson sah zum Himmel auf, wo sich eben ein

Aircar näherte, warf noch einen Blick auf die Menge
und verschwand im Innern des Schiffs. Der Aircar
schwebte an die Plattform heran, setzte einen Mann
ab und startete wieder, der Mann hielt einen Laut-
sprecher an der Hand, und seine Stimme übertönte
das Geschrei der Massen, die das weite Vorfeld füll-
ten.

»Freunde – einige von euch kennen mich bereits.

Ich bin Jacob Nile. Darf ich zu euch sprechen? Was
ich zu sagen habe, betrifft die Zukunft von Clarges.«

Das Geschrei verstummte; die Menge hörte auf-

merksam zu.

»Freunde, ihr seid mit Recht erregt und aufge-

bracht, denn ihr habt heute mit der Vergangenheit
gebrochen, und die Zukunft liegt klar und offen vor
euch.

Ihr seid hierher gekommen, um Gavin Waylock zu

suchen, aber das ist eine Torheit.«

Wütendes Gemurmel aus der Menge, dann eine

laute Stimme: »Er hält sich im Raumschiff verbor-
gen!«

Jacob Nile sprach ungerührt weiter. »Wer ist Gavin

Waylock? Wie können wir ihn hassen, wie können

background image

wir uns selbst hassen? Gavin Waylock ist ein Abbild
unserer selbst! Er hat getan, was wir alle gern getan
hätten. Er hat ohne Hemmungen, ohne Rücksicht und
ohne Furcht gehandelt. Gavin Waylock ist erfolgreich
gewesen, und wir sind deshalb wütend, wir beneiden
ihn um diesen Erfolg!

Waylock ist weniger schuldig als alle anderen – als

die gesamte Region Clarges mit allen ihren Bürgern.
Wir haben diesen Schandfleck auf dem Antlitz der
Erde geduldet, wir haben ein Verbrechen gegen die
Menschheit begangen. Wie? Warum? Wodurch? Wir
haben uns selbst starre Grenzen gesetzt; wir haben
uns mit der glorreichen Vorstellung ewigen Lebens
gequält, haben diese herrliche Frucht vor Augen ge-
habt und schließlich doch nur Asche gegessen.

Die Spannung war auf die Dauer unerträglich;

heute ist es zur Explosion gekommen. Sie war un-
vermeidbar; Waylock war nur der Katalysator. Er hat
den Lauf der Geschichte beschleunigt, und wir müs-
sen ihm dafür sogar dankbar sein.« Jacob Nile machte
eine kurze Pause und sprach dann weiter, ohne sich
um die Unmutsäußerungen aus der Menge zu küm-
mern.

»Mehr ist über Waylock nicht zu sagen: er selbst ist

unbedeutend. Aber er hat viel für uns getan. Er hat
das System zerstört. Wir sind frei!

Welchen Gebrauch wollen wir von unserer Freiheit

machen? Wir können den Aktuarius instand setzen
und die frühere Einteilung der Phylen beibehalten;
wir können uns freiwillig wieder in die Gefangen-
schaft begeben, unter der wir bisher geschmachtet
haben. Oder wir können eine neue Seite im Buch der
Geschichte aufschlagen – wo das Leben allen Men-

background image

schen gehört, nicht nur einem Glücklichen von zwei-
tausend!

Wie sollen wir das verwirklichen? Wir haben im-

mer gehört, die Welt sei für Unsterbliche zu klein.
Das ist richtig. Wir müssen wieder Pioniere werden,
müssen neue Gebiete erschließen! In früheren Zeiten
zogen Menschen in die Wildnis, um sich dort Lebens-
raum zu schaffen; wir müssen ihrem Beispiel folgen
und können dies zur Voraussetzung ewigen Lebens
machen. Ist das nicht gerecht? Hat nicht jeder An-
spruch auf Leben, der selbst für Lebensraum und Le-
bensunterhalt sorgen kann?«

»Leben«, murmelten Tausende von Stimmen, »Le-

ben! Leben!«

»Wo gibt es diesen Lebensraum, wohin sollen wir

uns wenden, um ihn zu suchen? Zunächst hier auf
der Erde – in der Wildnis und bei den Nomaden. Wir
müssen uns ausbreiten, müssen zu den Barbaren
vordringen; aber wir dürfen nicht als Eroberer kom-
men, sondern müssen als Missionare zu ihnen gehen.
Wir müssen sie als unsere Brüder und Schwestern
akzeptieren. Und dann – wenn die Erde besiedelt ist
–, wo finden wir dann Lebensraum? Wohin sollen wir
uns wenden, wenn hier alle Möglichkeiten erschöpft
sind?« Jacob Nile drehte sich nach der Star Enterprise
um und sah zum Himmel auf. »Seitdem der Aktuari-
us zertrümmert ist, liegt der Weg zu den Sternen of-
fen vor uns. Nun kann endlich jeder unsterblich sein,
wenn er den Wunsch danach hat. Der Mensch kann
nicht ohne Fortschritt leben; jeder Stillstand bedeutet
einen Rückschlag für ihn. Heute hat er die Erde in Be-
sitz genommen; seine Zukunft liegt in den Sternen.
Das gesamte Universum erwartet uns! Warum zögern

background image

wir also noch, das Geschenk ewigen Lebens anzu-
nehmen?« Die Menge seufzte tief auf, als sei diese
Zukunftsvision zu überwältigend schön, um wahr zu
sein.

»Ihr seid das Volk von Clarges«, fuhr Nile fort, »ihr

habt zu bestimmen, welche Veränderungen eintreten
sollen. Was bestimmt ihr also?«

In diesem Augenblick rief eine einzelne Stimme –

war es Vincent Rodenave? – aus der ersten Reihe:
»Aber Gavin Waylock! Was wird aus Gavin Way-
lock?«

»Ah, Waylock«, sagte Nile nachdenklich. »Er ist

gleichzeitig ein großer Verbrecher und ein großer
Held. Wäre es deshalb nicht angebracht, ihn gleich-
zeitig zu bestrafen und zu belohnen?« Er wies auf die
Star Enterprise, die hinter ihm aufragte. »Hier steht ein
großes Raumschiff startbereit. Könnte es einen besse-
ren Auftrag erhalten, als neue Welten für die
Menschheit zu erschließen? Könnte Gavin Waylock
seine Schuld besser sühnen als durch Erkundungsrei-
sen an Bord der Star Enterprise? Sie wären Strafe und
Belohnung zugleich.«

Ein Mann trat aus der Luftschleuse und blieb neben

Jacob Nile auf der Plattform stehen. Die Menge
brüllte wütend auf und drängte nach vorn. Gavin
Waylock hob eine Hand, und die Massen schwiegen
atemlos.

»Ich habe gehört, welches Urteil ihr über mich ge-

fällt habt«, sagte Waylock. Er richtete sich auf. »Ich
begrüße eure Entscheidung und nehme den Auftrag
an. Ich werde den Raum erforschen und neue Welten
für die Menschheit suchen.«

Er hob grüßend die Hand, wandte sich ab und ver-

background image

schwand im Innern des Raumschiffs.

Ein Warnsignal ertönte; aus dem Heck der Star

Enterprise brach bläuliches Feuer hervor.

Das Raumschiff hob langsam ab. Es stieg schneller

und immer schneller durch die Abenddämmerung
auf.

Das blaue Feuer wurde ein heller Stern, leuchtete

schwächer und erlosch.


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