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Die  Welt  der  Zukunft  hat  das  Problem  der  Unsterb-
lichkeit  gelöst.  Aber  die  Unsterblichkeit  wird  nicht
wahllos  allen  Menschen  verliehen  –  sie  muß  durch
hervorragende  Leistungen  erworben  werden.  Der
Pfad zur Unsterblichkeit ist steil. Ein falscher Schritt
kann dazu führen, daß eine schwarze Limousine vor-
fährt,  und  ein  Beauftragter  vollstreckt  das  Todesur-
teil.

Grayven  Warlock,  ein  Bürger  der  Weltmetropole

Clarges, hat das schwerste aller Verbrechen begangen
–  er  hat  einen  Menschen  getötet.  Warlock  weiß,  daß
er  der  Bestrafung  nur  entgehen  kann,  wenn  es  ihm
gelingt, wieder in die Kaste der Unsterblichen aufge-
nommen  zu  werden.  Die  Story  seiner  verzweifelten
Flucht  führt  durch  das  Labyrinth  einer  phantasti-
schen  Welt,  in  der  die  Bewohner  nach  der  Unsterb-
lichkeit streben – und blind für das höchste Ziel der
Menschheit sind: die Sterne.

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JACK VANCE

START INS

UNENDLICHE

Utopischer Roman

WILHELM HEYNE VERLAG

MÜNCHEN

Dieses E-Book ist nicht zum Verkauf bestimmt!!

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HEYNE-BUCH Nr. 3111

im Wilhelm Heyne Verlag, München

Titel der amerikanischen Originalausgabe

TO LIVE FOREVER

Deutsche Übersetzung von Wulf H. Bergner

Copyright © 1956 by Jack Vance

Printed in Germany 1968

Umschlag: Atelier Heinrichs & Bachmann, München

Gesamtherstellung: Verlagsdruckerei Freisinger Tag-

blatt,

Dr. Franz Paul Datterer o.H.G., Freising

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1

Clarges, die letzte Metropole der Welt, erstreckte sich
fünfzig Kilometer weit am Nordufer des Chant, bevor
der Fluß zur Mündung hin breiter wurde.

Clarges  war  eine  alte  Stadt;  zwei  oder  gar  drei

Jahrtausende  alte  Gebäude  und  Denkmäler  waren
hier nicht selten. Die Bürger der Stadt schätzten diese
Erinnerungen  an  die  Vergangenheit,  die  ihnen  das
Gefühl einer beruhigenden Kontinuität gaben. Da sie
aber  in  einem  abgewandelten  Wettbewerbssystem
lebten,  fühlten  sie  sich  ständig  zu  Neuerungen  ge-
drängt; Clarges bestand deshalb aus einer seltsamen
Mischung  zwischen  alt  und  neu,  und  seine  Bürger
litten unter verständlichen Gefühlskonflikten.

Die  Welt  hatte  noch  nie  eine  Stadt  gesehen,  die

großartiger  oder  schöner  als  Clarges  gewesen  wäre.
In der City erhoben sich Türme wie schlanke Turma-
linkristalle,  deren  Spitzen  die  Wolken  berührten;  zu
ihren  Füßen  lagen  Kaufhäuser,  Theater  und  Wohn-
blocks,  dann  folgten  die  Vororte  und  das  Industrie-
gebiet,  an  das  sich  ein  breiter  Streifen  unbebauten
Landes anschloß, der bis zum Horizont reichte. Über-
all herrschte Bewegung, waren menschliche Anstren-
gungen zu spüren. Eine Million Fenster blitzte in der
Sonne  auf,  unzählige  Fahrzeuge  drängten  sich  auf
den  breiten  Boulevards,  das  Summen  zahlreicher
Flugzeuge erfüllte die Luft. Männer und Frauen gin-
gen rasch durch die Straßen, schritten zielbewußt aus
und vergeudeten keine Sekunde.

Auf  dem  gegenüberliegenden  Ufer  erstreckte  sich

das  Sumpfland,  ein  unfruchtbarer  öder  Landstrich,

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dessen  einzige  Daseinsberechtigung  darin  bestand,
daß er die zweihundertfünfzig Hektar von Carnevalle
beherbergte.  Vor  diesem  düsteren  Hintergrund
blühte Carnevalle wie eine Blume auf einer Abraum-
halde;  seine  zweihundertfünfzig  Hektar  boten  Ver-
gnügungen und Abwechslung für jeden Geschmack.

In  Clarges  war  das  Leben  auf  die  Tätigkeiten  der

Menschen  beschränkt,  aber  Carnevalle  schien  selbst
zu leben. Morgens herrschte hier noch tiefes Schwei-
gen. Gegen Mittag waren vereinzelte Schritte und der
Lärm  der  Reinigungsmaschinen  zu  hören.  Nachmit-
tags  erwachte  Carnevalle  wie  ein  frisch  ausge-
schlüpfter  Schmetterling,  der  zitternd  die  Flügel  be-
wegt.  Bei  Sonnenuntergang  folgte  eine  kurze  Pause,
aber  dann  begann  die  lange  Nacht  der  ungezählten
Vergnügungen.

Pavillons glühten in allen Farben des Regenbogens;

Pagoden schienen in flüssiges Feuer gehüllt; aromati-
sche  Düfte  erfüllten  die  Nacht,  unter  deren  Sternen
sich Hunderttausende durch die Straßen und Gassen
von  Carnevalle  bewegten.  Die  Geräusche  aus  den
Vergnügungsstätten,  die  Stimmen  der  Ausrufer  und
der Klang unzähliger Musikinstrumente vermengten
sich mit erschrockenen, überraschten oder entzückten
Schreien  der  Besucher.  Die  Feiernden  drängten  sich
durch  den  Lärm  und  die  Musik;  sie  atmeten  Düfte
und Wohlgerüche aller Art; sie trugen Kostüme und
Masken;  überlieferte  Sitten  und  natürliche  Zurück-
haltung  galten  hier  nichts  und  wurden  mit  Vergnü-
gen ignoriert.

Um  Mitternacht  erreichte  der  Tumult  seinen  Hö-

hepunkt. Alle Schranken fielen, und erst gegen Mor-
gen  stolperten  die  letzten  Männer  und  Frauen  über-

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müdet und erschöpft durch die Zugänge des Röhren-
systems,  das  sie  in  ihre  Villen  und  Appartements
zwischen Balliasse und Brayertown zurückbeförderte.
Alle  fünf  Phylen  kamen  nach  Carnevalle:  Brut,  Keil,
Dritte,  Rand  und  Amaranth  –  aber  auch  die  Glarks.
Dort begegneten sie einander ohne Neid; sie suchten
Carnevalle  auf,  um  die  Mühen  und  Anstrengungen
ihres  täglichen  Lebens  zu  vergessen.  Sie  kamen,  sie
gaben hier ihr Geld aus, und sie verbrachten in dieser
Atmosphäre einen Teil ihres Lebens.

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2

Der Mann mit der Bronzemaske stand auf einem Po-
dium vor dem Haus des Lebens. Über ihm leuchteten
Unendlichkeitssymbole auf; hinter ihm hing das ver-
größerte  Abbild  einer  idealen  Lebenskarte,  auf  der
sich die hellrote Lebenslinie in einer perfekten Halb-
parabel durch die Grenzen der Phylen zog.

Der  Mann  wandte  sich  eindringlich  an  die  Vor-

übergehenden. »Freunde, welche Phyle ihr auch im-
mer erreicht habt, hört mir zu! Ist euch das Leben ei-
nen  Florin  wert?  Wollt  ihr  ewig  leben?  Kommt  ins
Haus des Lebens! Ihr werdet Didaktor Moncure und
seine  bemerkenswerten  Methoden  segnen!«  Er  betä-
tigte einen Schalter; aus den Lautsprechern am Rand
des Podiums drang ein leises Summen und Pfeifen.

»Steigung!  Steigung!  Kommt  ins  Haus  des  Lebens

und laßt eure Zukunft von Didaktor Moncure analy-
sieren! Lernt die Methoden und die richtige Technik!
Nur einen Florin für das Haus des Lebens!«

Das  Geräusch  aus  den  Lautsprechern  wurde  all-

mählich schriller und unerträglich. Der Mann mit der
Bronzemaske  hatte  eine  beruhigend  wohlklingende
Stimme;  wenn  das  Geräusch  die  Spannungen  des
täglichen Lebens imitierte, bedeuteten der Mann und
seine Stimme Sicherheit und Selbstbeherrschung.

»Jeder besitzt ein Gehirn, das sich kaum von dem

seines  Nachbarn  unterscheidet.  Warum  sind  also  ei-
nige von uns Brut, andere Keil, wieder andere Dritte,
Rand und Amaranth?«

Er beugte sich nach vorn, als habe er eine dramati-

sche Enthüllung zu machen. »Das Geheimnis des Le-

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bens ist die richtige Technik! Didaktor Moncure lehrt
diese  Technik!  Ist  die  Unendlichkeit  einen  Florin
wert? Kommt alle ins Haus des Lebens!«

Eine Anzahl Vorübergehender bezahlte den Eintritt

und  drängte  sich  durch  das  hohe  Portal.  Das  Haus
war endlich voll.

Der Mann mit der Bronzemaske stieg vom Podium.

Eine Hand berührte seinen Arm; er wandte sich ruck-
artig um. Der andere wich zurück.

»Waylock, du hast mich erschreckt! Ich bin's – Ba-

sil.«

»Das  sehe  ich«,  antwortete  Gavin  Waylock  kurz.

Basil  Thinkoup  hatte  sich  als  mystischer  Vogel  ver-
kleidet, was nicht recht zu seiner untersetzten Gestalt
paßte. Falls er Waylocks unfreundliche Art bemerkte,
übersah er sie geflissentlich.

»Ich dachte, du würdest von dir hören lassen«, fuhr

Thinkoup  fort.  »Seit  unserem  letzten  Gespräch
über...«

Waylock  schüttelte  den  Kopf.  »Danke,  für  diesen

Job bin ich nicht geeignet.«

»Aber  deine  Zukunft!«  protestierte  Basil.  »Es  ist

wirklich paradox, daß du andere Menschen anfeuerst
und selbst ein Glark* bleibst.«

Waylock zuckte mit den Schultern. »Alles zu seiner

Zeit.«

»Aber  inzwischen  verstreichen  wertvolle  Jahre,

und deine Lebenslinie verläuft flach!«

»Ich habe meine Pläne; ich bereite mich vor.«

                                                  

*  Glark:  Menschen,  die  nicht  nach  den  Regeln  des  Gleiche-

Chancen-für-alle-Systems leben – etwa 20 Prozent der erwachse-
nen Bürger von Clarges.

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»Während  andere  vorankommen!  Du  enttäuschst

mich, Gavin!«

»Wenn  du  schweigst,  verrate  ich  dir  ein  Geheim-

nis«, sagte Waylock.

Basil  Thinkoup  starrte  ihn  an.  »Bin  ich  nicht  ver-

trauenswürdig? Sieben Jahre lang habe ich...«

»Einen Monat weniger als sieben Jahre. Sobald die-

ser  Monat  zu  Ende  ist,  lasse  ich  mich  als  Brut  regi-
strieren.«

»Wunderbar! Komm, wir trinken ein Glas Wein auf

deinen Erfolg!«

»Ich kann jetzt nicht fort.«
Basil schüttelte den Kopf und schwankte dabei; er

war  offensichtlich  angeheitert.  »Du  bist  mir  ein  Rät-
sel, Gavin. Sieben Jahre lang hast du...«

»Fast sieben Jahre.«
Thinkoup blinzelte. »Sieben Jahre hin, sieben Jahre

her – du bist mir trotzdem ein Rätsel.«

»Ich  bin  durchaus  nicht  geheimnisvoll«,  wider-

sprach  Waylock.  »Du  müßtest  mich  nur  besser  ken-
nen.«

Basil  reagierte  nicht  darauf.  »Du  mußt  mich  dem-

nächst  in  der  Beruhigungsanstalt  besuchen«,  ver-
langte  er.  »Ich  wende  in  letzter  Zeit  neue  Methoden
an«, erklärte er dann flüsternd. »Wenn sie Erfolg ha-
ben,  können  sie  uns  beiden  weiterhelfen,  und  ich
hätte  endlich  eine  Möglichkeit,  einen  Teil  meiner
Schuld zu begleichen.«

Waylock lachte und antwortete: »Die geringste al-

ler Schulden, Basil.«

»Keineswegs!«  rief  Thinkoup  aus.  »Wo  wäre  ich,

wenn du mir nicht den richtigen Weg gewiesen hät-
test? Vermutlich noch an Bord der Amprodex.«

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Waylock  machte  eine  wegwerfende  Handbewe-

gung. Vor sieben Jahren waren er und Basil an Bord
des  Frachters  Amprodex  Kameraden  gewesen.  Hes-
per  Wellsey,  der  Kapitän  des  Schiffs,  war  Keil  und
hatte trotz größter Anstrengungen nie den Aufstieg in
Dritte  geschafft.  Er  war  nicht  für  die  zehn  Jahre
dankbar, die ihm Keil schenkte, sondern steigerte sich
immer mehr in seine Verbitterung hinein. Und als der
Frachter  sich  eines  Tages  wieder  Clarges  näherte,
hatte  der  Kapitän  einen  Tobsuchtsanfall  bekommen;
er hatte nach einer Feueraxt gegriffen, den Schiffsin-
genieur  erschlagen,  die  Fenster  der  Messe  zertrüm-
mert und war schließlich in den Maschinenraum ge-
klettert, um den Reaktor zu zerstören.

Waylock hatte den Kapitän aufhalten wollen, aber

beim  Anblick  der  gräßlichen  Axt  hatte  ihn  der  Mut
verlassen.  Und  dann  war  Basil  Thinkoup  vor  dem
Tobenden  aufgetaucht.  Wellsey  hatte  die  Axt  ge-
schwungen, ohne aber Basil zu treffen, der geschmei-
dig  auswich  und  dabei  ununterbrochen  auf  den  Ka-
pitän einsprach. Dann setzte die natürliche Reaktion
ein, und Wellsey brach bewußtlos zusammen.

Waylock  hatte  ihn  nachdenklich  angestarrt.  »Das

reinste  Wunder,  Basil!  Du  wärest  der  richtige  Mann
für eine Beruhigungsanstalt!«

Basil hatte die Stirn gerunzelt. »Ist das dein Ernst?«
»Selbstverständlich.«
Basil hatte seufzend den Kopf geschüttelt. »Ich bin

nicht dafür ausgebildet.«

»Du  brauchst  keine  Ausbildung,  sondern  nur  Be-

weglichkeit  und  gute  Lungen«,  hatte  Waylock  ihm
erklärt.  »Die  Verrückten  jagen  dich  herum,  bis  sie
selbst erschöpft sind. Dort kannst du es weit bringen,

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Basil Thinkoup!«

Basil  hatte  ihn  zweifelnd  angestarrt.  »Glaubst  du

wirklich?«

»An  deiner  Stelle  würde  ich  es  unbedingt  versu-

chen.«

Basil  hatte  es  versucht  und  war  schon  nach  fünf

Jahren  in  Keil  eingebrochen.  Seine  Dankbarkeit  ge-
genüber Waylock kannte keine Grenzen. Jetzt klopfte
er Gavin auf die Schulter. »Du mußt zu mir in die Be-
ruhigungsanstalt  kommen!  Immerhin  bin  ich  dort
Assistent  des  Direktors  –  uns  fällt  schon  etwas  ein,
das dir Steigung sichert. Zunächst nur einfache Auf-
gaben, aber im Laufe der Zeit bekommst du weitere
Entwicklungsmöglichkeiten.«

Waylock  lachte  spöttisch.  »Als  Sandsack  für  Ver-

rückte, Basil? Das ist nichts für mich.« Er stieg wieder
auf  sein  Podium  und  blieb  unter  den  leuchtenden
Unendlichkeitssymbolen  stehen.  Seine  Stimme  über-
tönte den Lärm der Menge. »Steigung für jeden! Di-
daktor Moncure enthüllt das Geheimnis des Lebens!
Lest seine Broschüren, nehmt seine Mittel, laßt euch
zu  Übungsstunden  eintragen!  Steigung,  Steigung,
Steigung!«

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3

Das Wort ›Steigung‹ hatte damals eine besondere Be-
deutung, denn es war der Maßstab für den Aufstieg
eines  Menschen  durch  seine  Phyle;  es  enthielt  eine
Bewertung seiner Vergangenheit und bestimmte den
Zeitpunkt seines Hinscheidens. Steigung bezeichnete
den  Winkel  der  Lebenslinie  eines  Menschen  –  eine
Funktion seiner Verdienste in Relation zu seinem Le-
bensalter.

Das System beruhte auf dem vor über dreihundert

Jahren  verabschiedeten  Gleichheitsgesetz,  das  zur
Zeit des Malthusischen Chaos entstanden war, als die
Erdbevölkerung sich jeweils innerhalb weniger Jahre
verdoppelte.  Theoretisch  war  das  dadurch  entstan-
dene  Problem  lösbar:  Geburtenkontrolle,  Erzeugung
synthetischer Nährstoffe, Urbarmachung der Wüsten
und Euthanasie für alle, die unter einem bestimmten
Standard blieben. Aber diese Theorie ließ sich nicht in
die Tat umsetzen, weil sie allzu viele Gegner aus ver-
schiedenen Lagern fand. Während das Grand-Union-
Institut  seine  Methoden  entwickelte,  die  später  das
Alter besiegen sollten, brachen die ersten Hungerun-
ruhen aus – das Jahrhundert des Malthusischen Cha-
os hatte begonnen.

Die Welt taumelte in eine unvorstellbare Katastro-

phe. Städte wurden geplündert und gebrandschatzt;
wilde  Horden  durchstreiften  das  Land.  Nur  die
Stärksten  überlebten;  bald  gab  es  mehr  Leichen  als
Lebende.  Die  Erdbevölkerung  wurde  auf  ein  Viertel
reduziert;  Rassen  und  Nationalitäten  vermischten
sich; politische Einheiten wurden bedeutungslos und

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machten Wirtschaftsräumen Platz.

Eines dieser Gebiete, die Region Clarges, hatte ver-

hältnismäßig  wenig  gelitten  –  die  Stadt  wurde  zur
Hochburg der Zivilisation. Sie riegelte notwendiger-
weise ihre Grenzen ab, aber die wilden Horden war-
fen  sich  gegen  die  Elektrobarrieren,  als  könnten  sie
das  Hindernis  durch  bloße  Willensanstrengung
überwinden. Ihre verkohlten Leichen hingen zu Tau-
senden an den Hochspannungsdrähten, und die No-
maden  begannen  zu  dieser  Zeit,  Clarges  und  seine
Bürger leidenschaftlich zu hassen.

Die  Stadt  beherbergte  das  Grand-Union-Institut,

dessen Forscher die begonnene Arbeit fortsetzten, bis
das Gerücht auftauchte, sie hätten ein Mittel zur Le-
bensverlängerung  gefunden.  Dieses  Gerücht  ent-
sprach  nicht  ganz  der  Wahrheit,  denn  die  Wissen-
schaftler  hatten  ein  Verfahren  entwickelt,  das  ein
ewiges Leben garantierte. Nach Bekanntgabe der For-
schungsergebnisse  kam  es  zu  Ausschreitungen  em-
pörter Massen, bis endlich das Gleichheitsgesetz ver-
abschiedet wurde, das Verdienste um die Öffentlich-
keit mit zusätzlichen Lebensjahren belohnte.

Fünf  Phylen,  die  Verdienststufen  entsprachen,

wurden  geschaffen:  Erste,  Zweite,  Dritte,  Vierte,
Fünfte. Erste erhielt im Volksmund die Bezeichnung
Brut;  Zweite  war  als  Keil  bekannt;  Dritte  hieß  gele-
gentlich  auch  Arrant;  Vierte  wurde  als  Rand  um-
schrieben;  und  als  die  Wissenschaftler  des  Instituts
die  Amaranth-Gesellschaft  ins  Leben  riefen,  bekam
Fünfte den Namen Amaranth.

Das  Gleichheitsgesetz  bestimmte  die  Vorausset-

zungen  für  den  Aufstieg.  Kinder  wurden  nicht  als
Angehörige  der  Phyle  ihrer  Eltern  geboren,  sondern

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konnten sich mit sechzehn Jahren als Brut registrieren
lassen,  wodurch  sie  in  Zukunft  den  Bestimmungen
des Gleichheitsgesetzes unterworfen waren. Falls sie
es  vorzogen,  sich  nicht  registrieren  zu  lassen,  lebten
sie durchschnittlich zweiundachtzig Jahre, ohne Aus-
sichten  auf  Lebensverlängerung  zu  haben  –  als
›Glarks‹ ohne besondere gesellschaftliche Stellung.

Die  Lebenserwartung  eines  Angehörigen  der  Brut

entsprach laut Gesetz der durchschnittlichen Lebens-
dauer eines Außenstehenden – etwa zweiundachtzig
Jahre.  Der  Durchbruch  zu  Keil  brachte  eine  Spezial-
behandlung,  die  den  Alterungsprozeß  aufhielt  und
weitere  zehn  Lebensjahre  bedeutete;  Dritte  verlän-
gerte  das  Leben  wieder  um  sechzehn  Jahre,  und
Amaranth brachte endlich die größte Belohnung.

Damals  hatte  die  Region  Clarges  bereits  zwanzig

Millionen  Einwohner,  während  das  erstrebenswerte
Maximum, das bald erreicht sein würde, bei fünfund-
zwanzig Millionen lag. Was sollte also mit den Ange-
hörigen  einer  Phyle  geschehen,  die  das  zulässige
Höchstalter  überschritten?  Das  Problem  ließ  sich
vermutlich  nicht  durch  Auswanderung  lösen,  denn
Clarges war überall verhaßt, und wer einen Fuß über
seine  Grenzen  setzte,  unterschrieb  praktisch  ein  To-
desurteil. Trotzdem wurde ein Auswanderungsmini-
ster  ernannt,  der  sich  mit  diesem  Problem  befassen
sollte.

Der Auswanderungsminister erschien wenig später

vor dem Prytaneon, um seinen Bericht zu erstatten.

Außer  Clarges  gab  es  auf  der  Erde  nur  noch  fünf

andere  Gebiete,  in  denen  eine  Art  Zivilisation  be-
stand:  Kypre,  Sous-Ventre,  das  Imperium  Godwan,
Singhalien  und  Nova  Roma.  Eine  Auswanderung

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dorthin  war  nur  möglich,  wenn  das  Prinzip  der  Ge-
genseitigkeit gewahrt blieb, so daß dieses Verfahren
offenbar undurchführbar war.

Selbstverständlich konnte Clarges auch seine Gren-

zen gewaltsam ausweiten, bis die Region eines Tages
die ganze Erde umfaßte. Dadurch würde das eigentli-
che  Problem  aber  nicht  gelöst,  sondern  nur  aufge-
schoben.

Das Prytaneon beriet lange und änderte schließlich

das  Gleichheitsgesetz.  Der  Auswanderungsminister
erhielt  den  Auftrag,  die  ursprüngliche  Absicht  des
Gesetzgebers  zu  verwirklichen  –  er  war  also  dafür
verantwortlich,  daß  jeder  Bürger,  der  das  zulässige
Höchstalter  seiner  Phyle  erreicht  hatte,  unauffällig
beseitigt wurde.

Das Gleichheitsgesetz trat mit dieser Ausführungs-

bestimmung in Kraft. Das System war von Anfang an
erfolgreich und brachte Clarges ein Goldenes Zeital-
ter,  in  dem  Wissenschaft,  Kunst,  Handwerk  und
Technik zu ungeahnter Blüte gelangten.

Im  Laufe  der  Jahre  wurde  das  Gleichheitsgesetz

mehrmals  abgeändert.  Das  Höchstalter  der  Angehö-
rigen einer Phyle hing jetzt von verschiedenen Fakto-
ren ab: Produktionsindex, Bevölkerung der jeweiligen
Phyle,  Anteil  der  Glarks  an  der  Gesamtbevölkerung
und anderen Variablen. Die Auswertung und Berück-
sichtigung  dieser  Daten  wurde  einem  riesigen  Elek-
tronenrechner übertragen, der die Bezeichnung ›Ak-
tuarius‹  erhielt.  Die  Maschine  gab  auf  Wunsch  auch
gedruckte  Lebenskarten  aus,  die  dem  Antragsteller
zeigten,  ob  seine  Lebenslinie  sich  der  Grenze  der
nächsthöheren Phyle oder dem vertikalen Terminator
näherte.  Sobald  die  Lebenslinie  den  Terminator  er-

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reichte,  erfüllten  der  Auswanderungsminister  und
seine Assassinen ihre gesetzliche Pflicht. Dieses Ver-
fahren  war  brutal,  aber  unparteiisch  –  und  notwen-
dig.

Das System besaß allerdings auch einige Nachteile,

denn  die  besten  Köpfe  verlegten  sich  auf  bekannte
Gebiete,  anstatt  sich  neuen  zuzuwenden,  auf  denen
vielleicht  keine  Karrierepunkte  zu  sammeln  waren.
Lebensangst  und  Enttäuschung  waren  logische  Be-
gleiterscheinungen  des  Aufstiegs  durch  die  Phylen;
die Beruhigungsanstalten füllten sich mit Menschen,
die vor der Wirklichkeit in eine Scheinwelt geflüchtet
waren.

Binnen  weniger  Generationen  war  das  Bedürfnis

nach mehr und mehr Steigung Teil des Gefühlsinhalts
der Bürger von Clarges geworden, die ihr Leben nur
auf  dieses  eine  Ziel  ausrichteten.  Freizeitbeschäfti-
gungen  verschwanden,  gesellschaftliche  Veranstal-
tungen  wurden  kaum  noch  besucht,  aber  Schulen
und  Fortbildungskurse  verzeichneten  ungeheuren
Andrang.  Dieser  Lebensstil  wäre  ohne  irgendein  Si-
cherheitsventil unmöglich gewesen, aber zum Glück
bot Carnevalle jedem die Möglichkeit, den Ernst des
Lebens  einige  Stunden  lang  zu  vergessen  und  sich
unbeschwert im Kreise Gleichgesinnte zu amüsieren.
Selbst die Amaranth kamen gelegentlich hierher, um
maskiert  und  unerkannt  an  dem  fröhlichen  Treiben
teilzunehmen,  bei  dem  es  keine  Unterschiede  zwi-
schen den Phylen gab.

Nach Carnevalle kam auch die Jacynth Martin – seit
drei Jahren Amaranth und erst vor zwei Wochen aus
der Klausur entlassen.

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Die Jacynth Martin hatte von Brut aus drei Versu-

che unternommen, in eine höhere Phyle aufzusteigen:
zuerst als Expertin für mittelalterlichen Chorgesang,
dann  als  Cellistin  und  schließlich  als  Kritikerin  für
zeitgenössische Musik. Ihre Lebenslinie war dreimal
steil  angestiegen,  um  dann  jeweils  wieder  flach  zu
verlaufen.

Mit achtundvierzig hatte sie den Entschluß gefaßt,

die  gesamte  Entwicklung  der  Musik  von  Anfang  an
zu  ihrem  Fachgebiet  zu  machen.  Ihre  Lebenslinie
stieg unaufhaltsam, und mit vierundfünfzig schaffte
sie den Durchbruch zu Keil. (Dies war nun ihr stati-
sches Alter, bis sie entweder die nächsthöhere Phyle
erreichte  oder  bis  die  schwarze  Limousine  vor  ihrer
Tür hielt.)

Sie befaßte sich ausschließlich mit zeitgenössischer

Musik und entwickelte eine interessante Theorie mu-
sikalischer  Symbolgehalte.  Diese  Arbeit  brachte  ihr
im  Alter  von  siebenundsechzig  Jahren  den  Aufstieg
in Dritte.

Die  merkwürdige  und  in  vieler  Beziehung  außer-

ordentliche  Kultur  des  Inselkönigreichs  Singhalien
hatte schon früher ihre Neugier geweckt, und sie be-
mühte sich jetzt, alle Hindernisse zu überwinden, um
dort  forschen  und  arbeiten  zu  können.  Sie  bereitete
sich sorgfältig vor, lernte die Sprache, machte sich mit
den  Sitten  des  Landes  vertraut,  verschaffte  sich  die
entsprechende Kleidung und ließ sich sogar die Haut
färben.  Unter  großen  Schwierigkeiten  gelang  es  ihr
schließlich  auch,  einen  Aircar  mit  Eigenantrieb  zu
erwerben, den sie für ihr Unternehmen benötigte, da
die  in  Clarges  üblichen  Luftfahrzeuge  mit  ausge-
strahlter Energie arbeiteten, deren Reichweite an den

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Grenzen der Region endete. Nachdem sie alle Vorbe-
reitungen abgeschlossen hatte, begann sie ihre Expe-
dition zu den Barbaren, bei denen sie sich ständig in
Lebensgefahr befinden würde.

In  Kandesta  trat  sie  als  Zauberin  auf  und  machte

sich  mit  Hilfe  einiger  wissenschaftlicher  Tricks  bald
einen guten Namen. Sie setzte ihre Studien fort, und
als der Grande des Imperiums Godwan ihr anbot, sie
dürfe  sein  Reich,  das  noch  kein  Fremder  gesehen
hatte,  unter  seinem  persönlichen  Schutz  besuchen,
nahm sie begierig an, verschob aber ihren Besuch auf
einen  späteren  Zeitpunkt,  um  nach  Clarges  zurück-
zukehren  und  dort  einige  Kompositionen  aufführen
zu  lassen,  die  das  Ergebnis  ihrer  Forschungen  in
Singhalien waren. Die öffentliche Aufführung wurde
zu einem persönlichen Triumph, der ihr im Alter von
zweiundneunzig  Jahren  den  Aufstieg  in  Rand  si-
cherte.

Nun hatte sie etwa dreißig Jahre Zeit, die Grundla-

gen für die Aufnahme in Amaranth zu legen, aber wo
andere in ihrer Lage sorgfältig geplant und gearbeitet
hätten,  faßte  sie  den  raschen  Entschluß,  die  Einla-
dung  des  Granden  anzunehmen  und  das  Imperium
Godwan zu bereisen. Viereinhalb Jahre später war sie
einem  Nervenzusammenbruch  nahe  und  kehrte  mit
letzter  Kraft  nach  Clarges  zurück.  Dort  brauchte  sie
fast zwei Jahre, um sich von dem Schock ihrer Erleb-
nisse  in  einem  Land  zu  erholen,  in  dem  Leben  und
Freiheit  des  Individuums  nichts  galten.  In  den  fol-
genden  Jahren  schrieb  und  veröffentlichte  sie  nach-
einander ihre siebenteilige Studie der Kunst des Imperi-
ums  Godwan
,  die  mit  großem  Beifall  aufgenommen
wurde.

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Mit  einhundertvier  Jahren  gelang  ihr  auf  diese

Weise der Durchbruch in die höchste Phyle; sie wur-
de eine Amaranth und hieß jetzt ›die Jacynth Martin‹,
nachdem  sie  die  Klausur  hinter  sich  gebracht  hatte,
aus  der  sie  als  neunzehnjähriges  Mädchen  hervor-
ging.  Die  neue  Jacynth  war  tatsächlich  ein  junges
Mädchen, nicht nur eine künstlich verjüngte Greisin,
besaß  aber  Persönlichkeit,  Charakterzüge  und  Erin-
nerungen der alten Jacynth Martin.

An  diesem  Abend  trug  sie  ein  Kostüm  aus  silber-

glänzenden  Schuppen,  das  ihren  schlanken  Körper
freizügig enthüllte und ihr entfernt das Aussehen ei-
nes exotischen Fisches gab. Aschblondes Haar fiel in
weichen  Wellen  auf  die  bloßen  Schultern  herab  und
umrahmte ein zartes Gesicht, dessen ausdrucksvolle
Augen verrieten, daß Die Jacynth Martin einem klas-
sischen Ideal entsprach, das einen gesunden Geist in
einem gesunden Körper forderte. Sie hatte ihren Air-
car in der Garage gelassen und war ohne Begleitung
nach Carnevalle gekommen, wo sie jetzt langsam oh-
ne  festes  Ziel  durch  die  Straßen  der  gigantischen
Amüsierstadt  ging.  Sie  ließ  sich  mit  der  Menge  trei-
ben und blieb erst vor dem Haus des Lebens stehen,
dessen  Ausrufer  ihre  Aufmerksamkeit  erregte,  weil
seine  Stimme  sie  an  den  Tonfall  des  Hohenpriesters
von Tonpengh erinnerte.

»Freunde,  was  tut  ihr  für  eure  Steigung?«  rief

Waylock.  »Kommt  ins  Haus  des  Lebens!  Didaktor
Moncure kann jedem helfen! Warum noch mit Stun-
den  geizen,  wenn  Didaktor  Moncure  euch  Jahre  ge-
ben kann? Ein Florin, sage ich, nur ein Florin! Ist das
zuviel  für  die  Ewigkeit?  Ein  lächerlicher  Florin  für
das Geheimnis des Lebens!«

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Einige Passanten waren stehengeblieben; Waylock

wies auf einen untersetzten Mann »Sie! Wann steigen
Sie in Rand auf?«

»Wahrscheinlich nie. Ich bin und bleibe Brut – als

Rollkutscher.«

»Sie sehen aber wie Dritte aus, denn dort gehören

Sie hin. Machen Sie den Versuch mit Didaktor Mon-
cures Ausbildung, dann können Sie Ihren Assassinen
in  zehn  Wochen  Lebwohl  sagen...  Sie!«  Er  wandte
sich an eine ältere Frau. »Wie steht es mit Ihren Kin-
dern?«

»Die  jungen  Teufel  sind  mir  schon  voraus«,  ant-

wortete die Frau lachend.

»Hier  erfahren  Sie,  wie  Sie  ihnen  die  Absätze  zei-

gen können! Didaktor Moncure hat bereits zweiund-
vierzig Amaranth unter seinen ehemaligen Schülern.«
Sein Blick fiel auf das Mädchen im silberglänzenden
Kostüm.  »Sie  –  die  schöne  junge  Dame!  Haben  Sie
keine Lust, Amaranth zu werden?«

Die  Jacynth  lachte.  »Danke,  das  interessiert  mich

nicht.«

Waylock  hob  verblüfft  die  Hände.  »Nein?  Und

weshalb nicht?«

»Vielleicht will ich lieber als Glark leben.«
»Dann könnte Ihr Leben hier eine Wende zum Bes-

seren  nehmen.  Ist  der  Versuch  nicht  einen  einzigen
Florin  wert?«  Als  Die  Jacynth  lächelnd  mit  den
Schultern zuckte, wandte er sich wieder an die übri-
gen  Zuhörer.  »Treten  Sie  ein,  meine  Herrschaften,
wenn Sie heute Didaktor Moncure begegnen wollen!
Beeilt euch, Freunde – die Vorstellung beginnt in we-
nigen Sekunden!«

Als das Klingelzeichen ertönte, das Didaktor Mon-

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cures Auftritt ankündigte, sprang Waylock zu Boden.
Für  heute  war  er  frei,  denn  dies  war  die  letzte  Vor-
stellung des Abends, da das Haus des Lebens in den
Morgenstunden  wegen  Besuchermangel  schloß.  Er
drängte sich durch die Menge und suchte nach einem
silbernen Kostüm. Da, dort drüben! Gavin ging dar-
auf  zu  und  stellte  sich  der  schönen  Unbekannten  in
den Weg.

Sie  schien  nicht  überrascht  zu  sein,  ihn  plötzlich

vor sich zu sehen. »Gehen die Geschäfte im Haus des
Lebens  so  schlecht,  daß  Didaktor  Moncure  seine
Schergen auf Kundensuche schicken muß?« fragte sie
mit einem Lächeln.

Waylock  schüttelte  den  Kopf.  »Von  jetzt  an  bis

morgen abend bin ich mein eigener Herr«, erklärte er
ihr.

»Aber du verkehrst doch sonst in höchsten Kreisen

–  warum  also  dieses  plötzliche  Interesse  an  einem
gewöhnlichen Glark-Mädchen?«

»Gewöhnlich  ist  nicht  gerade  der  richtige  Aus-

druck«,  widersprach  Gavin.  »Du  bist  wirklich  eine
Schönheit – ist dir das nicht klar?«

»Würde  ich  sonst  ein  so  auffälliges  Kostüm  tra-

gen?« lautete ihre Gegenfrage.

»Und du bist allein in Carnevalle?«
Die Jacynth nickte lächelnd.
»Darf ich dir meine Begleitung anbieten?«
»Selbstverständlich. Ich fürchte nur, daß du dich in

meiner Gesellschaft bald langweilen wirst.«

»Dieses  Risiko  nehme  ich  gern  auf  mich«,  versi-

cherte Waylock ihr. »In welcher Richtung sollen wir
weitergehen?«

»Ich habe keine bestimmte Vorstellung. Ich wollte

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eigentlich  vor  allem  die  Menschen  beobachten  und
die Atmosphäre dieser Stadt auf mich wirken lassen.«

»In diesem Fall muß ich also die Wahl treffen. Ich

lebe  und  arbeite  hier  in  Carnevalle,  habe  aber  trotz-
dem noch längst nicht alles gesehen.«

Die Jacynth warf ihm einen überraschten Blick zu.

»Du lebst hier – in Carnevalle?«

»Ich  habe  ein  Appartement  bei  den  Tausend  Die-

ben; dort wohnen viele, die hier arbeiten.«

Sie runzelte die Stirn. »Du bist also ein Berber?«
»O nein. Berber stehen außerhalb der Gesetze. Ich

bin ein gewöhnlicher Mann, der seine Arbeit tut – ein
Glark wie du.«

»Und das alles hängt dir nie zum Hals heraus?« Sie

wies auf das hektische Treiben unter Tausenden von
bunten Lichtern.

»Manchmal habe ich es gründlich satt«, gab er zu.
»Warum  lebst  du  dann  hier?  In  zwei  Minuten

kannst du in Clarges sein.«

Waylock  schüttelte  langsam  den  Kopf.  »Ich  fahre

nur selten nach Clarges«, murmelte er. »Dort komme
ich mir immer wie ein Fremder vor...« Er gab sich ei-
nen Ruck und deutete auf die glitzernde Fassade des
Cafés  Pamphylia.  »Was  hältst  du  von  einer  kleinen
Erfrischung?«

»Mit Vergnügen«, stimmte sie zu.
Sie fanden einen Tisch am Rand der Dachterrasse,

und  Waylock  bestellte  zweimal  Sangre  de  Dios.  Ein
Robokellner  brachte  die  Pokale  mit  der  violetten
Flüssigkeit und verschwand geräuschlos.

»Ein  wirklich  erfrischender  Drink«,  stellte  Gavin

fest. »Er vertreibt jede Müdigkeit.«

»Aber ich bin nicht müde.«

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Er seufzte. »Ich schon.«
Die Jacynth lächelte spöttisch. »Dabei hat die Nacht

eigentlich erst begonnen.«

»Keine  Angst,  ich  schlafe  nicht  am  Tisch  ein.«  Er

hob seine Maske und leerte den Pokal auf einen Zug.

Sie  beobachtete  ihn  nachdenklich.  »Du  hast  mir

nicht gesagt, wie du heißt«, sagte sie.

»Das ist hier üblich.«
»Ich möchte trotzdem deinen Namen wissen.«
»Gavin.«
»Ich heiße Jacynth.«
»Ein hübscher Name.«
»Nimm  deine  Maske  ab,  Gavin«,  verlangte  Die

Jacynth plötzlich. »Laß mich dein Gesicht sehen.«

»Gesichter in Carnevalle bleiben am besten verbor-

gen.«

»Das  ist  unfair,  Gavin.  Mein  Kostüm  verbirgt

nichts, während du...«

»Masken  regen  die  Phantasie  an«,  stellte  Waylock

fest.  »Solange  ich  meine  trage,  könnte  ich  ein  Mär-
chenprinz sein; nehme ich sie aber ab, siehst du nur
mein Alltagsgesicht.«

»Ich lege keinen Wert auf Märchenprinzen«, versi-

cherte sie ihm. »Komm, nimm die Maske ab!«

»Vielleicht später.«
»Möchtest du, daß ich dich für häßlich halte?«
»Nein, bestimmt nicht.«
»Bist du etwa häßlich?«
»Hoffentlich nicht.«
Die  Jacynth  lachte.  »Du  willst  mich  nur  neugierig

machen!«

»Keineswegs.  Ich  bin  das  Opfer  eines  inneren

Zwanges,  der  mich  dazu  drängt,  meine  kleinen  Ge-

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heimnisse zu bewahren.«

»Wie  die  alten  Tuaregs«,  murmelte  Die  Jacynth

nachdenklich.

Gavin  warf  ihr  einen  überraschten  Blick  zu.  »Für

ein  Glark-Mädchen  bist  du  sehr  gebildet«,  stellte  er
fest.

»Wir sind überhaupt ein wunderliches Paar«, sagte

Die Jacynth. »Zu welcher Phyle gehörst du?«

»Glark wie du.«
»Aha.« Sie nickte zufrieden. »Mir ist nur etwas an

dir aufgefallen.«

Waylock starrte sie an. »Was?«
»Alles zu seiner Zeit, Gavin.« Sie erhob sich. »Sol-

len wir jetzt unseren Rundgang machen?«

Waylock stand ebenfalls auf. »Wie du willst«, ant-

wortete er.

Sie  legte  ihm  eine  Hand  auf  den  Arm.  »Ich  wette,

daß du mich nicht dorthin begleiten willst, wohin ich
gehen möchte.«

Waylock lachte. »Ich folge dir überallhin.«
»Das sagst du jetzt.«
»Du brauchst mich nur auf die Probe zu stellen.«
»Gut, komm mit.« Sie ging auf den Boulevard hin-

aus.

Gavin legte einen Arm um ihre Taille und drückte

sie an sich. »Du bist ein Wunder«, flüsterte er. »Eine
herrliche  Blüte,  ein  zum  Leben  erweckter  Wunsch-
traum.«

»Ah,  Gavin«,  sagte  sie  tadelnd,  »du  bist  ein

schrecklicher Lügner!«

»Ich sage die Wahrheit«, protestierte er.
»Wahrheit? Was ist wahr?«
»Das weiß niemand.«

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Die  Jacynth  blieb  stehen.  »Wir  werden  es  bald  er-

fahren – hier steht der Tempel der Wahrheit.«

Waylock  schüttelte  den  Kopf.  »Auch  dort  gibt  es

keine  Wahrheit  –  nur  boshafte  Narren  mit  spitzen
Zungen.«

Sie griff nach seiner Hand. »Komm, Gavin, wir zei-

gen ihnen, daß wir noch boshafter sein können.«

»Warum gehen wir nicht lieber in...«
»Gavin!  Du  hast  versprochen,  mir  überallhin  zu

folgen.«

Waylock  nickte  zögernd  und  schritt  neben  ihr

durch das Tempelportal.

»Die  Nackte  Wahrheit  oder  die  Verbrämte  Wahr-

heit?« fragte der Diener am Eingang.

»Die Nackte Wahrheit!« sagte Die Jacynth.
Waylock  wollte  protestieren,  aber  Die  Jacynth

drohte ihm lächelnd mit dem Zeigefinger. »Denkst du
noch an dein Versprechen, Gavin?«

»Schön,  wenn  mir  keine  andere  Wahl  bleibt«,

murmelte Waylock vor sich hin.

»Nach links, bitte«, sagte der Diener.
»Komm, Gavin.« Sie ging durch den langen Korri-

dor  voraus.  »Stell  dir  vor,  jetzt  erfährst  du  endlich
genau, was ich von dir halte.«

»Du willst nur erreichen, daß ich meine Maske ab-

nehme«, warf Gavin ihr vor.

»Selbstverständlich.  War  das  nicht  ohnehin  deine

Absicht?  Oder  wolltest  du  mich  umarmen,  ohne  sie
zuvor abzulegen?«

Ein  anderer  Diener  empfing  sie  und  wies  ihnen

Umkleidekabinen  an.  »Sie  entkleiden  sich  hier  und
hängen  sich  diese  Nummern  um  den  Hals.  Das  Mi-
krophon  dient  dazu,  Ihre  Kommentare  festzuhalten,

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die  jeweils  mit  der  Nummer  des  oder  der  Betreffen-
den  beginnen.  Wenn  Sie  den  Tempel  verlassen,  er-
halten Sie eine Aufstellung der Bemerkungen anderer
über Ihre Person.«

Fünf Minuten später trat Die Jacynth Martin in den

großen Saal hinaus. Ihre Bekleidung bestand jetzt nur
aus der Nummer 202 an ihrem Hals und einem win-
zigen Mikrophon in ihrer rechten Hand.

Der  weitläufige  Saal  war  dick  mit  Teppichen  aus-

gelegt und angenehm temperiert. Fünfzig oder sech-
zig  nackte  Männer  und  Frauen  gingen  hier  auf  und
ab oder unterhielten sich miteinander.

Gavin Waylock erschien mit der Nummer 98 – ein

schlanker, aber trotzdem muskulöser Mann von etwa
dreißig Jahren. Sein Haar war dicht und schwarz; die
Augen hellgrau und durchdringend; das Gesicht ha-
ger, männlich und ausdrucksvoll.

Er  kam  näher  und  erwiderte  ruhig  ihren  Blick.

»Weshalb starrst du mich so an?« fragte er.

Die Jacynth wandte sich plötzlich ab. »Wir müssen

jetzt unseren Rundgang beginnen, damit die anderen
uns beurteilen können.«

»Die  Kommentare  sind  oft  nicht  gerade  schmei-

chelhaft«, stellte Waylock fest und betrachtete sie von
Kopf bis Fuß. »Du bist allerdings über jede Kritik er-
haben.«  Er  hielt  das  Mikrophon  an  den  Mund  und
sprach einige Sätze. »Meine Eindrücke sind jetzt fest-
gehalten.«

Sie  bewegten  sich  eine  Viertelstunde  lang  durch

den Saal und sprachen mit anderen, die großen Wert
darauf  zu  legen  schienen.  Dann  kehrten  sie  in  die
Umkleidekabinen zurück, zogen sich an und nahmen
an Ausgang zwei Umschläge in Empfang, auf denen

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DIE  NACKTE  WAHRHEIT  stand.  Die  Umschläge
enthielten  alle  Bemerkungen,  die  über  sie  gemacht
worden waren – im allgemeinen recht offene und un-
verschämte Kommentare.

Die Jacynth runzelte die Stirn, kicherte, wurde rot

und las schließlich amüsiert weiter.

Waylock warf einen Blick auf das Papier in seiner

Hand und zeigte kaum Interesse daran, bis er plötz-
lich den Kopf senkte und aufmerksam las:

Hier  ist  ein  Gesicht,  an  das  ich  mich  erinnere,  obwohl
ich  nicht  weiß,  wann  ich  es  zuletzt  gesehen  habe.  Eine
Stimme  in  meinem  Inneren  flüstert  mir  zu:  Der
Grayven Warlock! Aber dieses Ungeheuer wurde verur-
teilt und den Assassinen übergeben. Wer ist also dieser
Mann?

Gavin sah wieder auf. Die Jacynth beobachtete ihn. Er
faltete das Papier zusammen und steckte es langsam
ein. »Komm, wir gehen«, sagte er nur.

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4

Gavin  Waylock  hätte  sich  am  liebsten  selbst  geohr-
feigt, weil er sich so unglaublich tölpelhaft und leicht-
sinnig benommen hatte. Es war ihm sieben Jahre lang
gelungen, seine Identität geheimzuhalten, aber dann
war er dem Zauber eines schönen Gesichts erlegen –
und hatte sich in ernste Gefahr gebracht.

Die Jacynth konnte nur vermuten, was Waylock in

diesem  Augenblick  empfand.  Die  Bronzemaske  ver-
barg  sein  Gesicht,  aber  seine  Finger  zitterten,  als  er
das Papier zusammenfaltete und in die Tasche schob.

»Fühlst  du  dich  in  deiner  Eitelkeit  getroffen?«

wollte sie wissen.

Gavin  zuckte  mit  den  Schultern.  »Ich  bin  leicht

verwundbar«, antwortete er ruhig. »Machen wir eine
kleine Pause im Ultra Lazuli?«

Sie  überquerten  die  Straße  und  nahmen  zwischen

Orchideen auf der Terrasse Platz, wo sie das Treiben
der Menge beobachten konnten. Beide schwiegen und
waren in Gedanken versunken; der zuvor begonnene
Flirt schien plötzlich beendet zu sein.

»Hat dir der Tempel der Wahrheit nicht gefallen?«

fragte Die Jacynth schließlich.

»Er hat mich etwas verblüfft«, antwortete Waylock.

»Hör dir das an.« Er las den Absatz vor, der ihn so er-
schreckt hatte.

Sie hörte ohne großes Interesse zu. »Und?«
Waylock  lehnte  sich  in  seinen  Stuhl  zurück.  »Ei-

gentlich  erstaunlich,  daß  du  dich  an  Ereignisse  aus
deiner Kindheit erinnerst.«

»Ich?« fragte Die Jacynth.

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»Nur  du  hast  meine  Nummer  gekannt.  Nachdem

wir uns getrennt hatten, habe ich sie umgedreht.«

»Ich  muß  zugeben,  daß  mir  dein  Gesicht  bekannt

vorkam«, erwiderte sie.

»Dann  hast  du  mich  absichtlich  getäuscht«,  warf

Gavin ihr vor. »Du kannst kein Glark-Mädchen sein,
denn vor sieben Jahren hättest du dich noch nicht um
Skandale gekümmert. Brut scheidet aus dem gleichen
Grund aus. Folglich bist du Keil oder höher – aber in
Keil gibt es keine Mädchen mit achtzehn oder neun-
zehn Jahren.«

Die Jacynth zuckte mit den Schultern. »Du besitzt

eine blühende Phantasie.«

»Wenn  du  weder  Glark  noch  Brut  noch  Keil  noch

Dritte noch Rand bist, mußt du logischerweise Ama-
ranth  sein.  Deine  bemerkenswerte  Schönheit  ist  ein
weiterer  Beweis  für  meine  Theorie,  denn  unmodifi-
zierte  Gene  bringen  selten  solche  Perfektion  hervor.
Darf ich um deinen Namen bitten?«

»Ich bin Die Jacynth Martin.«
Waylock nickte. »Meine Schlußfolgerungen waren

richtig; deine sind es teilweise. Ich trage in der Tat die
Züge  des  Mannes,  der  früher  Der  Grayven  Warlock
war. Wir sind identisch, denn ich bin sein Relikt.«

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5

Sobald  ein  Amaranth  in  die  höchste  Phyle  aufge-
nommen  worden  war,  zog  er  sich  in  eine  strenge
Klausur  zurück.  Seinem  Körper  wurden  fünf  Zellen
entnommen, die in Nährlösungen innerhalb weniger
Wochen zu perfekten Kopien des Originals herange-
züchtet wurden, nachdem sie geringfügig verbessert
worden waren. Erhielt eine dieser idealisierten Kopi-
en später das Gedächtnis der ursprünglichen Persön-
lichkeit, war sie ein vollkommenes Abbild des Betref-
fenden: ein echtes Surrogat.

Während  der  Entwicklung  dieser  Surrogate  war

der Amaranth nie vor Unfällen sicher und lebte des-
halb in ständiger Angst. Nach Ende der Klausur hatte
er jedoch nichts mehr zu befürchten, denn falls er ei-
nen gewaltsamen Tod fand, standen fünf Kopien sei-
ner selbst bereit, die mit gleicher Energie fortsetzten,
was er begonnen hatte.

Trotz aller Vorsichtsmaßnahmen kam es aber vor,

daß  ein  Amaranth  während  seiner  Klausur  getötet
wurde. Seine unbeseelten Surrogate, die als ›Relikte‹
bezeichnet wurden, entkamen meistens auf eine oder
andere Weise und führten in der Außenwelt ein ganz
normales Leben, da sie sich nur durch ihre Unsterb-
lichkeit von gewöhnlichen Männern und Frauen un-
terschieden. Legten sie Wert auf den Aufstieg durch
die Phylen, mußten sie sich wie alle anderen registrie-
ren lassen; blieben sie dagegen Glarks, hatten sie den
Vorteil ewiger Jugend, mußten aber ständig befürch-
ten, entdeckt und den Vorschriften entsprechend als
Brut registriert zu werden.

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Gavin  Waylock  behauptete,  er  sei  ein  Relikt.  Die

Jacynth Martin war andererseits ein Surrogat mit der
Persönlichkeit und den Erinnerungen der ursprüngli-
chen Jacynth Martin, deren Leben geendet hatte, so-
bald die Kopien lebensfähig waren.

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6

»Ein  Relikt«,  wiederholte  Die  Jacynth  nachdenklich.
»Der Grayven Warlock... vor sieben Jahren... Für die-
se  kurze  Zeitspanne  scheinst  du  bemerkenswert  gut
entwickelt zu sein.«

»Ich  bin  sehr  anpassungsfähig«,  erklärte  Waylock

ihr.  »In  mancher  Beziehung  ist  das  eher  hinderlich,
denn heutzutage haben nur Spezialisten Erfolg.«

Die  Jacynth  nahm  einen  Schluck  aus  ihrem  Glas.

»Der  Grayven  Warlock  war  recht  erfolgreich.  Übri-
gens auf welchem Gebiet?«

»Journalismus. Er hat den Clarges Direction gegrün-

det.«

»Jetzt  erinnere  ich  mich  wieder.  Der  Abel  Mande-

ville vom Clarion war sein Rivale.«

»Und  sein  erbitterter  Feind.  Eines  Abends  kam  es

zu einer Auseinandersetzung, nachdem Der Grayven
ihn  um  seinen  Besuch  gebeten  hatte,  durch  den  ihr
Verhältnis geklärt werden sollte. Der Abel wurde tät-
lich; Der Grayven setzte sich zur Wehr, und Der Abel
stürzte  dreihundert  Meter  tief  aus  einem  geöffneten
Fenster.  Der  Grayven  wurde  als  Mörder  gebrand-
markt  und  den  Assassinen  ausgeliefert,  bevor  seine
Surrogate  beseelt  waren.  An  ihm  sollte  ein  Exempel
statuiert werden, weil der unglückliche Zwischenfall
sich  nicht  vertuschen  ließ.  Der  Grayven  wurde  den
Assassinen  übergeben,  obwohl  er  erst  wenige  Tage
zuvor in die höchste Phyle aufgestiegen war.«

»Der  Grayven  Warlock  hätte  seine  Klausur  nicht

frühzeitig verlassen dürfen«, stellte Die Jacynth unge-
rührt fest. »Niemand hat ihn dazu gezwungen, dieses

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Risiko einzugehen.«

»Der  Grayven  war  impulsiv  und  ungeduldig;  er

konnte und wollte sich nicht so lange verborgen hal-
ten. Und er hatte nicht mit der Rachgier seiner Feinde
gerechnet!«

Die  Jacynth  schüttelte  energisch  den  Kopf.  »Wir

alle  sind  Gesetzen  unterworfen.  Allein  die  Tatsache,
daß  sie  gelegentlich  mißachtet  werden,  macht  sie
nicht  ungerecht.  Wer  Gewalt  anwendet,  muß  damit
rechnen, gewaltsam beseitigt zu werden.«

Waylock starrte sie wortlos an. »Was hast du jetzt

vor?« fragte er schließlich.

Sie spielte mit ihrem Glas. »Dieses neue Wissen ist

mir keineswegs sympathisch. Ich fühle mich natürlich
verpflichtet, das Ungeheuer zu entlarven und...«

»Es gibt kein Ungeheuer zu entlarven!« unterbrach

Waylock sie rasch. »Der Grayven hat seine Strafe vor
sieben Jahren erhalten.«

Die Jacynth nickte. »Ja, natürlich.«
Ein rundliches Gesicht unter schwarzen Federn er-

schien  an  der  Balustrade.  »Das  ist  doch  Gavin  –  der
gute alte Gavin Waylock!«

Basil  Thinkoup  stolperte  heran  und  ließ  sich

schwer auf einen Stuhl fallen. Sein Vogelkostüm war
zerzaust, und er schien betrunken zu sein.

Waylock  erhob  sich.  »Du  entschuldigst  uns  bitte,

Basil; wir wollten eben gehen.«

»Nicht so rasch! Ich sehe dich sonst immer nur auf

deinem Podium!« Er bestellte einen Drink. »Gavin ist
mein  ältester  Freund«,  erklärte  er  mit  einem  Seiten-
blick auf Die Jacynth.

»Tatsächlich?«  fragte  sie.  »Wie  lange  kennen  Sie

ihn schon?«

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Waylock setzte sich langsam wieder.
»Vor  sieben  Jahren  haben  wir  Gavin  Waylock  aus

dem Wasser gezogen und an Bord der Amprodex ge-
holt, auf der Kapitän Hesper Wellsey das Kommando
führte.  Erinnerst  du  dich  noch  an  seinen  Tobsuchts-
anfall, Gavin?«

»Ja«, antwortete Gavin einsilbig. Er wandte sich an

Die Jacynth: »Komm, wir...«

Sie schüttelte den Kopf. »Dein Freund Basil interes-

siert  mich...  Ihr  habt  also  Gavin  Waylock  aus  dem
Wasser gezogen.«

»Er ist am Steuer seines Aircars eingeschlafen; die

Maschine stürzte ab, sobald sie den Bereich der Ener-
gieausstrahlung verlassen hatte.«

»Und  das  geschah  vor  sieben  Jahren?«  wollte  Die

Jacynth wissen.

»Richtig,  vor  ziemlich  genau  sieben  Jahren.  Gavin

kann Ihnen alles erklären; er hat ein hervorragendes
Gedächtnis.«

»Gavin erzählt mir sehr wenig von sich.«
Basil  Thinkoup  nickte.  »In  dieser  Beziehung  ist  er

recht  zurückhaltend.«  Als  Gavin  nicht  darauf  ant-
wortete,  stand  Basil  kurze  Zeit  später  auf  und  ent-
schuldigte  sich  für  einen  Augenblick.  Er  stolperte
über die Terrasse davon.

Waylock und Die Jacynth starrten einander an.
Die Jacynth sagte leise: »Vor sieben Jahren entflieht

Der  Grayven  Warlock  den  Assassinen.  Vor  sieben
Jahren  wird  Gavin  Waylock  aus  dem  Wasser  gezo-
gen. Aber das ist nicht weiter wichtig – das Ungeheu-
er ist vernichtet worden.«

Waylock beobachtete sie schweigend. Als Basil zu-

rückgekehrt war, entschuldigte er sich ebenfalls, bog

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aber außer Sichtweite in die nächste Televisorzelle ab
und  wählte  mit  zitternden  Fingern  eine  Zahlenkom-
bination.

Der  Bildschirm  leuchtete  grünlich  auf,  zeigte  je-

doch statt eines Gesichts nur einen schwarzen Kreis.

»Wer ruft an?« flüsterte eine heisere Stimme.
Waylock nahm die Hände vom Gesicht.
»Ah, Gavin Waylock.«
»Ich muß mit Carleon sprechen.«
»Er hat im Museum zu tun.«
»Verbinde mich mit ihm!«
Ein  rundes  weißes  Gesicht  erschien  auf  dem  Bild-

schirm.  Jettschwarze  Augen  betrachteten  Waylock
neugierig.

Waylock  trug  seinen  Wunsch  vor;  Carleon  lehnte

zunächst ab. »Ich muß meine Besucher führen.«

Waylock  runzelte  die  Stirn.  »Deine  Besucher  kön-

nen warten!«

Carleons  Gesichtsausdruck  veränderte  sich  nicht.

»Zweitausend Florins.«

»Tausend sind reichlich«, sagte Waylock.
»Du bist kein armer Mann, Waylock.«
»Gut, einverstanden. Zweitausend. Aber schnell!«
»Wird sofort erledigt.«
Waylock kam an den Tisch zurück und stellte fest,

daß Basil es wieder einmal verstanden hatte, das Ge-
spräch  auf  sein  Lieblingsthema  zu  bringen  –  seine
Arbeit  in  der  Beruhigungsanstalt.  Die  Jacynth  hörte
aufmerksam zu, hob dann den Kopf und betrachtete
Waylock lächelnd.

»Was nun, Gavin?« fragte sie.
»Wollen wir gehen?«
Sie  schüttelte  den  Kopf.  »Ich  bleibe  noch  etwas

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hier, Gavin. Aber du bist bestimmt müde. Geh nach
Hause  und  schlaf  dich  aus.«  Ihr  Lächeln  wurde  fast
ein  Lachen.  »Basil  Thinkoup  leistet  mir  noch  etwas
Gesellschaft. Oder ich...« Sie richtete sich auf. »Albert!
Denis!«

Zwei Männer in prächtigen Kostümen blieben ste-

hen.  »Die  Jacynth!  Welche  angenehme  Überra-
schung!«

Sie  kamen  auf  die  Terrasse;  Waylock  runzelte  die

Stirn und ballte die Fäuste.

Die Jacynth übernahm die Vorstellung. »Der Albert

Pondiferry,  Der  Denis  Lestrange  –  Basil  Thinkoup
und... Gavin Waylock.«

Der  Denis  Lestrange  war  groß  und  schlank  und

trug  sein  blondes  Haar  altmodisch  kurz;  Der  Albert
Pondiferry  war  untersetzt  und  schwarzhaarig,  mit
glitzernden  dunklen  Augen  und  scharfen  Gesichts-
zügen. Beide deuteten eine höfliche Verbeugung an.

Die  Jacynth  warf  Gavin  einen  Blick  zu  und  fuhr

fort: »Albert und Denis, wißt ihr eigentlich, daß hier
die interessantesten Leute herumlaufen?«

»Tatsächlich?« Sie betrachteten Waylock und Basil

Thinkoup ohne allzu große Neugier.

»Basil  Thinkoup  strebt  als  Psychiater  in  der  Beru-

higungsanstalt Balliasse.«

»Dann  haben  wir  sicher  gemeinsame  Bekannte«,

erklärte Der Denis lächelnd.

»Und Gavin Waylock – das erratet ihr nie!«
Waylock biß die Zähne zusammen.
»Dann versuche ich es gar nicht erst«, meinte Der

Albert.

»Oh,  ein  Versuch  kann  nicht  schaden«,  sagte  Der

Denis  und  sah  prüfend  zu  Waylock  hinüber.  »Dem

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Körperbau nach... Artist oder Akrobat.«

»Nein«, antwortete Die Jacynth. »Dreimal darfst du

raten.« Waylock holte tief Luft; dieses Frauenzimmer
war unerträglich.

»Ich bezweifle, daß Waylock dieses Rätselraten ge-

fällt«, warf Der Albert ein.

»Es  gefällt  ihm  bestimmt  nicht«,  versicherte  Die

Jacynth ihm. »Aber das Spiel erfüllt einen bestimmten
Zweck. Wenn ihr jedoch...«

In diesem Augenblick pfiff etwas so leise durch die

Luft,  daß  nur  Waylock  darauf  aufmerksam  wurde.
Die  Jacynth  zuckte  zusammen  und  griff  sich  an  die
Schulter, aber der Pfeil war so winzig und spitz, daß
sie  jetzt  nichts  mehr  spürte  und  annehmen  mußte,
der plötzliche Schmerz sei ein Insektenstich gewesen.

Basil Thinkoup legte die Hände flach auf den Tisch

und  sah  von  einem  zum  anderen.  »Mir  knurrt  der
Magen«,  stellte  er  fest.  »Hat  sonst  noch  jemand  Ap-
petit auf frische Krebse?«

Da ihn offenbar niemand begleiten wollte, stand er

nach  einer  kurzen  Pause  auf.  »Schön,  dann  gehe  ich
eben  allein  –  ich  muß  ohnehin  bald  ins  Bett.  Diese
glücklichen Amaranth, die sich keine Sorgen um den
nächsten Tag zu machen brauchen!«

Der  Albert  und  Der  Denis  wünschten  ihm  höflich

einen guten Abend; Die Jacynth schwankte leicht auf
ihrem  Stuhl.  Sie  atmete  stoßweise  und  schien  nach
Luft zu ringen.

Waylock  erhob  sich.  »Ich  begleite  dich,  Basil.  Für

mich wird es allmählich Zeit.«

Die Jacynth senkte den Kopf und schloß die Augen.

Der  Albert  und  Der  Denis  beobachteten  sie  über-
rascht.

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»Ist etwas nicht in Ordnung?« fragte Waylock.
Die Jacynth antwortete nicht.
»Vielleicht  ist  ihr  schlecht«,  meinte  Der  Albert.

»Zuviel Aufregung, zu viele Drinks.«

»Das gibt sich wieder«, sagte Der Denis unbeküm-

mert. »Laßt sie in Ruhe.«

Die Jacynth legte den Kopf auf die Arme; ihr blon-

des Haar bedeckte die Tischplatte.

»Fehlt  ihr  wirklich  nichts?«  erkundigte  Waylock

sich.

»Wir kümmern uns um sie«, versprach Der Albert.

»Lassen Sie sich nicht länger aufhalten.«

Waylock zuckte mit den Schultern. »Komm, Basil.«
Als sie das Café verließen, drehte er sich noch ein-

mal  um.  Die  Jacynth  bewegte  sich  nicht  mehr.  Der
Albert  und  Der  Denis  starrten  sie  an  und  schienen
nicht recht zu wissen, was sie tun sollten.

Waylock seufzte. »Komm, Basil, wir gehen.«

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7

Waylock  fühlte  sich  müde  und  erschöpft.  Er  verab-
schiedete  sich  vor  einem  der  Restaurants  von  Basil
Thinkoup. »Ich habe keinen Hunger; ich bin nur mü-
de.«

Basil  klopfte  ihm  auf  die  Schulter.  »Hoffentlich

denkst du über meinen Vorschlag nach, Gavin. In der
Beruhigungsanstalt  ist  immer  ein  Posten  für  dich
frei!«

Waylock ging langsam die Esplanade entlang. Über

dem  Fluß  lag  bereits  der  erste  Schimmer  des  kom-
menden  Tages,  vor  dem  Carnevalle  verblaßte.  Die
farbigen Lichter strahlten weniger hell, und die weni-
gen  Nachtschwärmer,  denen  Waylock  jetzt  noch  be-
gegnete,  waren  grau  im  Gesicht  und  hatten  Ringe
unter den Augen.

Er  hing  seinen  Gedanken  nach,  ohne  auf  die  Vor-

übergehenden  zu  achten.  Vor  sieben  Jahren  hatte  er
einen allzu heftigen Schlag geführt; Der Abel Mande-
ville war dreihundert Meter tief gefallen. Heute hatte
er einen zweiten Tod veranlaßt, weil eine Frau es sich
in den Kopf gesetzt zu haben schien, ihn zu vernich-
ten.  Er  war  also  in  zweifacher  Beziehung  ein  Unge-
heuer.

Ein  Ungeheuer.  Dieses  Wort  bezeichnete  ein  Aus-

maß  an  Verworfenheit  und  Niedertracht,  das
menschliche Vorstellungen fast überstieg. Schon das
Wort  ›Tod‹  war  der  schrecklichste  Fluch,  und  ein
Mensch, der den Tod verursachte, war das gräßlich-
ste Scheusal in Person.

Dabei hatte Waylock im Grunde genommen keinen

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Mord begangen. Der Abel Mandeville führte sein Le-
ben vor Ablauf einer Woche weiter; eine neue Jacynth
Martin würde ebenfalls nach kurzer Zeit erscheinen.
Hätten die Assassinen jedoch vor sieben Jahren ihren
Auftrag  durchführen  können,  wäre  dies  einem  kalt-
blütigen  Mord  gleichgekommen,  denn  der  Grayven
Warlock  hatte  noch  keine  beseelten  Surrogate  zur
Verfügung. Er hatte die Gelegenheit genützt und war
in seinem Aircar über die Grenzen der Region geflo-
hen. Für die Assassinen war sein Fall damit erledigt.
Wer  die  Region  verließ,  hatte  den  sicheren  Tod  vor
Augen;  die  Nomaden  veranstalteten  ein  Fest,  wenn
ihnen ein Mann aus Clarges in die Hände fiel.

Waylock hatte sich jedoch am äußersten Rand des

Energiebereichs  aufgehalten  und  hatte  Clarges
mehrmals  in  großer  Entfernung  umkreist.  Nachdem
er den Frachter Amprodex entdeckt hatte, brauchte er
nur noch eine Notlandung zu simulieren und sich an
Bord  ziehen  zu  lassen,  wo  er  sofort  anheuerte,  um
sich  die  Passage  zu  verdienen.  Von  diesem  Tag  an
existierte Gavin Waylock.

Falls  die  Assassinen  vermuteten,  er  habe  sie  ge-

täuscht,  würden  sie  jetzt  entschlossen  reagieren.
Waylock hatte sich jahrelang verborgen gehalten und
war nie ohne ein Alter-Ego, das sein wahres Gesicht
wie  eine  zweite  Haut  bedeckte,  nach  Clarges  gefah-
ren.

Er wohnte in einem bescheidenen Appartement bei

den  Tausend  Dieben,  aber  selbst  dort  zeigte  er  sich
nie  ohne  die  Bronzemaske  oder  das  Alter-Ego.  Jetzt
hatte er allen Grund zur Enttäuschung, denn in kaum
vier Wochen wäre Der Grayven Warlock laut Gesetz
tot  gewesen.  Waylock  erhielt  dadurch  die  Möglich-

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keit, unter seinem neuen Namen eine zweite Karriere
zu beginnen.

Trotzdem  war  vielleicht  noch  nicht  alles  verloren.

Er durfte hoffen, die Auswirkungen dieses Zwischen-
falls abgeschwächt zu haben. In einer oder zwei Wo-
chen würde die neue Jacynth in der Öffentlichkeit er-
scheinen, ohne irgendwie unter den Ereignissen die-
ser Nacht gelitten zu haben, und alles andere würde
nach Plan verlaufen.

Gavin  Waylock  schritt  rascher  aus,  überquerte

menschenleere Straßen und Plätze, erreichte sein Ap-
partement und versank sofort in bleischweren Schlaf.

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8

Der  letzte  Monat  verstrich  ohne  weitere  Zwischen-
fälle.  Waylock  arbeitete  wie  gewohnt  im  Haus  des
Lebens  und  fuhr  einmal  wöchentlich  nach  Clarges
hinüber,  wo  er  eine  nur  ihm  bekannte  Adresse  auf-
suchte.

Der  Monat  war  zu  Ende,  und  nun  war  es  sieben

Jahre her, daß Der Grayven Warlock die Region ver-
lassen hatte. Nach Ablauf dieser Frist wurde er auto-
matisch  für  tot  erklärt.  Gavin  Waylock  konnte  nun
auf  die  Bronzemaske  oder  sein  Alter-Ego  verzichten
und unbesorgt durch die Straßen von Clarges gehen.
Der Grayven Warlock war tot; Gavin Waylock lebte.

Er  kündigte  seine  Stellung  im  Haus  des  Lebens,

gab  das  Appartement  bei  den  Tausend  Dieben  auf
und mietete eine kleine Wohnung am Oktagon, wo er
möglichst  weit  vorn  Esterhazy-Platz  und  dem  riesi-
gen Gebäude entfernt war, das den Aktuarius beher-
bergte.

Am  nächsten  Morgen  brach  er  früh  auf,  fuhr  mit

dem  Förderband  durch  die  Allemand-Avenue,  bog
an  der  Oliphant-Straße  nach  rechts  ab  und  erreichte
so  den  Esterhazy-Platz.  Dort  ließ  er  sich  im  Café
Dalmatia nieder, bestellte einen Becher Tee und ver-
folgte das lebhafte Kommen und Gehen an der Vor-
derfront des Aktuarius, wo sich Männer und Frauen
in kleinen Kabinen nach dem Stand ihrer Karriere er-
kundigten.

Waylock konnte seine begreifliche Nervosität nicht

völlig  unterdrücken.  In  den  letzten  sieben  Jahren
hatte  er  verhältnismäßig  ruhig  und  zurückgezogen

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gelebt.  Ließ  er  sich  aber  jetzt  in  Brut  registrieren,
wurde plötzlich alles anders – von diesem Zeitpunkt
an  würde  er  die  Ängste  und  Sorgen  der  Bürger  von
Clarges am eigenen Leib erfahren.

Hier  in  der  Morgensonne  vor  dem  Café  Dalmatia

fand er diesen Gedanken wenig verlockend und ließ
sich  deshalb  viel  Zeit,  als  sei  sein  Entschluß  nicht
schon längst gefaßt. Sobald er jedoch den Tee ausge-
trunken hatte, stand er ruckartig auf, überquerte den
Platz und betrat das weitläufige Gebäude.

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9

Waylock fand sich in einer riesigen Halle wieder und
entdeckte schließlich den Informationsschalter. Einer
der Angestellten, ein blasser junger Mann mit dicken
Brillengläsern,  hob  den  Kopf  und  fragte:  »Kann  ich
Ihnen irgendwie behilflich sein, Sir?«

»Ich möchte mich in Brut registrieren lassen.«
»Aktivieren Sie bitte diesen Fragebogen.«
Waylock

 

ging

 

mit

 

dem

 

Bogen

 

an

 

die

 

nächste

 

Kodier-

maschine

 

und

 

füllte ihn mit Hilfe der Tastatur aus, die

seine

 

Angaben

 

in

 

Schreibmaschinenschrift

 

und

 

gleich-

zeitig als magnetische Informationspunkte festhielt.

Eine  Frau  in  mittleren  Jahren  näherte  sich  dem

Schalter. Sie hatte verweinte Augen und hielt ein zer-
knülltes Taschentuch in der Hand.

»Kann  ich  Ihnen  irgendwie  behilflich  sein,  Ma-

dam?«

Die Frau stieß hervor: »Es handelt sich um meinen

Mann.  Er  heißt  Egan  Fortam.  Ich  bin  drei  Tage  lang
zu einem Seminar fortgewesen; als ich heute zurück-
kam, war er verschwunden.« Sie schluchzte leise. »Ich
dachte, hier könnte mir vielleicht jemand helfen.«

Der  Angestellte  nickte  mitfühlend  und  füllte  den

Fragebogen selbst aus. »Ihr Name, Madam?«

»Gold Fortam.«
»Ihre Phyle?«
»Keil; ich bin Lehrerin.«
»Wie war noch der Name Ihres Gatten?«
»Egan Fortam.«
»Und seine Phyle?«
»Brut.«

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»Und seine Kennziffer?«
»IXD-995-AAC.«
»Ihre Adresse?«
»Wibleside, Cleobury Court 2241.«
»Einen Augenblick bitte, Mrs. Fortam.«
Er steckte die Karte in den Schlitz vor sich und be-

antwortete die Fragen eines jungen Mannes von etwa
achtzehn  Jahren,  der  sich  wie  Waylock  in  Brut  regi-
strieren lassen wollte.

Ein  Klingelzeichen  ertönte,  dann  wurde  die  Karte

wieder ausgeworfen; der Angestellte warf einen kur-
zen Blick darauf und wandte sich an die Lehrerin.

»Mrs. Fortam, Ihr Gatte ist am vergangenen Mon-

tag um acht Uhr neununddreißig von seinem Assas-
sinen besucht worden.«

»Vielen Dank«, flüsterte Mrs. Fortam und stolperte

davon.

Der  Angestellte  nahm  Waylocks  Fragebogen  auf.

»Ausgezeichnet,  Sir;  drücken  Sie  bitte  Ihren  rechten
Daumen gegen diese Folie.«

Waylock  tat  wie  geheißen,  und  der  Abdruck  ver-

schwand in einem anderen Schlitz. »Wir müssen ihn
überprüfen«,  erklärte  ihm  der  Angestellte,  »sonst
käme  ein  Schlaukopf  womöglich  auf  die  Idee,  sich
nochmals registrieren zu lassen, bevor seine Lebens-
linie den Terminator erreicht.«

Waylock nickte zustimmend. Seine Karte war ver-

mutlich  längst  aussortiert  worden...  Er  wartete.  Der
Angestellte betrachtete seine Fingernägel.

Diesmal  ertönte  ein  lauteres  Klingelzeichen,  das

den  Mann  hinter  dem  Schalter  aufschrecken  ließ.  Er
starrte Waylock an. »Duplikation!«

Waylock beherrschte sich mühsam. Der Angestellte

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nahm die Karte auf und las: »Identisch mit dem Ab-
druck des Verbrechers Grayven Warlock.« Er starrte
Waylock  erschrocken  an.  »Den  Assassinen  ausgelie-
fert am... hm... vor sieben Jahren.«

»Ich  bin  sein  Relikt«,  sagte  Waylock  heiser.  »Ich

habe sieben Jahre lang auf diese Gelegenheit gewar-
tet, mich in Brut registrieren zu lassen.«

»Oh«,  meinte  der  andere.  »Richtig,  das  hätte  ich

fast vergessen... Jedenfalls ist alles in Ordnung, weil
Ihre Abdrücke nicht denen eines Lebenden gleichen.
Wir bekommen hier nicht oft Relikte zu sehen.«

»Es gibt auch nicht allzu viele.«
»Ganz  recht.«  Er  drückte  Waylock  eine  Metallpla-

kette in die Hand. »Ihre Kennziffer ist KAE-321-JCR.
Falls  Sie  Auskunft  über  Ihre  Lebenslinie  wünschen,
brauchen Sie die Plakette nur in den Schlitz einer un-
serer Kabinen zu stecken.«

Waylock nickte. »Danke, das habe ich verstanden.«
»Gehen Sie jetzt bitte in Raum C hinüber, wo Ihre

Gehirnströme  für  unsere  Televektorabteilung  aufge-
zeichnet werden.«

In  Raum  C  erhielt  Waylock  einen  Untersuchungs-

stuhl angewiesen, bekam eine Metallkappe über den
Kopf  gestülpt  und  mußte  stillsitzen,  während  eine
Krankenschwester den Enzephalographen bediente.

Sekunden  später  nahm  ihm  die  Schwester  wieder

die Elektroden ab. »Vielen Dank, Sir. Gehen Sie bitte
durch die erste Tür rechts hinaus.«

»Ist das alles?«
»Das war alles. Sie sind jetzt in Brut registriert.«
Waylock verließ das Gebäude, überquerte den gro-

ßen  Platz  und  setzte  sich  im  Café  Dalmatia  an  den
gleichen Tisch.

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Über  dem  Haupteingang  des  Aktuarius  hing  eine

Konstruktion  aus  Eisenstäben:  der  Prangerkäfig,  auf
dessen Boden eine alte Frau hockte, die offenbar wäh-
rend  Waylocks  Abwesenheit  in  den  Käfig  gesteckt
worden war. Sie mußte versucht haben, den Aktuari-
us  irgendwie  zu  betrügen  und  büßte  jetzt  auf  her-
kömmliche Weise für ihr Vergehen.

Am  Nebentisch  sprachen  zwei  Männer  –  der  eine

groß und hager, der andere fast in Fett erstickt – über
die  Alte.  »Ein  komischer  Anblick,  was?«  sagte  der
Dicke.  »Die  alte  Schachtel  muß  versucht  haben,  den
Aktuarius hereinzulegen!«

»Das  passiert  heutzutage  öfter  als  früher«,  stellte

sein  Begleiter  fest.  »In  meiner  Jugend  war  der  Käfig
oft monatelang leer.« Er schüttelte betrübt den Kopf.
»Das  kommt  davon,  daß  Zeloten  und  Zweifler  und
alle möglichen anderen Sekten die alte Ordnung um-
stoßen wollen.«

Der  Dicke  rieb  sich  verstohlen  die  Hände.  »Die

Zeloten kommen heute nacht bestimmt hierher.«

»Früher  hätte  es  das  nicht  gegeben«,  versicherte

ihm  der  Hagere  erregt.  »Die  Leute  wurden  um  Mit-
ternacht in aller Stille freigelassen... Und jetzt machen
die  Zeloten  ein  widerliches  Schauspiel  daraus.  Die
reinsten Ungeheuer!«

Der Dicke grinste nur und wies auf die Alte. »Ge-

gen die dort drüben ist jeder Zelot harmlos. Wer den
Aktuarius betrügt, stiehlt uns das Leben.«

Sein

 

Freund

 

wandte

 

sich

 

ab.

 

»Dir

 

kann

 

sie

 

nichts

 

steh-

len. Du bist ein Glark und wirst stets einer bleiben.«

»Du auch!«
Waylock  hob  in  diesem  Augenblick  zufällig  den

Kopf  und  sah  eine  schlanke  Frauengestalt  dicht  an

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sich vorbeigehen – Die Jacynth Martin. Er wollte ihr
unwillkürlich zunicken, beherrschte sich aber gerade
noch rechtzeitig. Sie mußte ihn ebenfalls gesehen ha-
ben, wenn er ihren Gesichtsausdruck richtig deutete,
schien jedoch nicht zu wissen, wen sie vor sich hatte,
und bog um die nächste Ecke.

Gavin lehnte sich in seinen Sessel zurück und holte

tief Luft. Zum Glück hatte die neue Jacynth ihn nicht
erkannt – das war völlig ausgeschlossen. Sie war für
ihn  nur  eine  schöne  Unbekannte,  und  er  war  für  sie
eines der vielen Gesichter aus ihrer Vergangenheit.

Waylock verdrängte ihr Bild aus seinen Gedanken

und befaßte sich wieder mit seiner eigenen Zukunft.

Er dachte über Basil Thinkoups Vorschlag nach, bei

ihm in der Beruhigungsanstalt zu arbeiten. Eine we-
nig sympatische Idee, denn dort wäre er verschiede-
nen  Einflüssen  ausgesetzt,  die  sich  schwer  kompen-
sieren ließen. Also lieber ein anderes Gebiet, auf dem
es nicht allzu viel Konkurrenz gab? Waylock runzelte
nachdenklich  die  Stirn,  rief  einen  Zeitungsverkäufer
heran  und  kaufte  den  Clarion,  in  dessen  Spalten  er
Anregungen zu finden hoffte.

Er  brauchte  nicht  lange  zu  suchen.  Auffällige  Zu-

nahme  der  Selbsttransition  in  den  unteren  Phylen...
Soziologen  stehen  vor  einem  Rätsel...  Abbruch  der
Slums  in  Gosport,  um  Platz  für  eine  Stadtautobahn
mit  acht  Fahrspuren  zu  schaffen...  Einweihung  der
neuen  Trabantenstadt  Meynard...  Und  ein  Interview
mit Didaktor Talbert Falcone, dem bekannten Psych-
iater. Didaktor Falcone war

... entsetzt über die ständig wachsende Zahl der Geistes-
kranken. Zweiundneunzig Prozent aller Krankenbetten

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sind  heutzutage  mit  Patienten  dieser  Art  belegt.  Über
fünfzehn Prozent der Erwachsenen sind zu irgendeinem
Zeitpunkt  in  einer  Beruhigungsanstalt  gewesen.  Das
alles  beweist,  daß  unsere  Heilverfahren  dringend  über-
holungsbedürftig sind. Aber niemand befaßt sich damit,
weil  auf  diesem  Gebiet  kaum  Karrierepunkte  zu  sam-
meln

 

sind;

 

der

 

Anreiz

 

für unsere besten Köpfe fehlt völlig.

Waylock las den Absatz zweimal durch. Genau seine
Meinung! Er las weiter:

Der  häufigste  psychische  Defekt  ist  ohne  Zweifel  das
manisch-katakonische  Syndrom,  dessen  Ursachen  und
Wirkungen  nur  allzu  gut  bekannt  sind.  Intelligente
Männer und Frauen, die ein Leben lang hart gearbeitet
haben, müssen plötzlich feststellen, daß ihre Lebenslinie
sich trotz aller Anstrengungen dem Terminator nähert.
Dem Betroffenen wird schlagartig klar, daß dieses Ver-
hängnis sich durch nichts abwenden läßt. Folglich gibt
er  auf  und  verfällt  in  einen  mehr  oder  weniger  tiefen
Trancezustand.  Von  Zeit  zu  Zeit  erwacht  er  daraus,
verwandelt sich in ein tobendes Ungeheuer, das gewalt-
sam gebändigt werden muß, und versinkt wieder in sei-
nen Dämmerzustand.

Dies ist eine charakteristische Krankheit unserer Zeit.

Bedauerlicherweise lehrt die Erfahrung, daß die Zahl der
Kranken um so rascher zunimmt, je mehr der Aufstieg
durch die Phylen erschwert wird. Ist das nicht eine wah-
re  Tragödie?  Wir  entreißen  der  Natur  ihre  letzten  Ge-
heimnisse, durchqueren den interstellaren Raum, bauen
unsere  Türme  bis  zu  den  Wolken  und  haben  das  Alter
besiegt – aber trotzdem stehen wir noch immer hilflos an
der Schwelle des menschlichen Geistes!

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Waylock faltete die Zeitung nachdenklich zusammen
und stand dann entschlossen auf. Eine Minute später
befand  er  sich  bereits  auf  dem  Weg  zu  Basil  Thin-
koup, der ihm einen Posten in seiner Beruhigungsan-
stalt versprochen hatte. Das war ein Gebiet, das alle
Ansprüche erfüllte! Allerdings mußte er damit rech-
nen, nur als Krankenpfleger angestellt zu werden. Er
hatte  keine  Erfahrung  und  würde  sich  das  nötige
Wissen selbst aneignen müssen. Aber Basil Thinkoup
war den gleichen Weg gegangen – und jetzt bereitete
er sich schon auf den Durchbruch in Dritte vor...

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10

Am  Nachmittag  des  gleichen  Tages  betrat  Gavin
Waylock die Empfangshalle der Beruhigungsanstalt,
erkundigte  sich  nach  Basil  Thinkoup  und  wurde  in
Zimmer  303  im  dritten  Stock  geschickt.  Er  benützte
die Rolltreppe, verirrte sich zunächst und fand dann
tatsächlich Zimmer 303. An der Tür stand in großen
Buchstaben:

BASIL THINKOUP

Assistent des Direktors

Und darunter in kleinerer Schrift:

SETH CADDIGAN

Psychotherapeut

Waylock  schob  die  Tür  auf  und  trat  ein,  ohne  anzu-
klopfen.

Hinter  dem  Schreibtisch  saß  ein  jüngerer  Mann

und zeichnete farbige Kurven auf grünes Millimeter-
papier.  Das  mußte  Seth  Caddigan  sein.  Er  war  groß
und muskulös, mit hagerem Gesicht, rötlichem Haar,
kurzer Stupsnase und langer Oberlippe. Er sah unge-
duldig zu Waylock auf.

»Ich  möchte  mit  Mister  Thinkoup  sprechen«,  er-

klärte Waylock ihm.

»Basil  hat  eine  Besprechung.«  Caddigan  wandte

sich  seiner  Arbeit  zu.  »Nehmen  Sie  Platz,  er  muß
gleich kommen.«

Waylock  ging  ans  Fenster  und  starrte  auf  den  ge-

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pflegten Park hinaus. Caddigan beobachtete ihn und
fragte  plötzlich:  »Was  wollen  Sie  von  Mister  Thin-
koup?  Vielleicht  kann  ich  Ihnen  behilflich  sein.
Kommen Sie als Patient?«

Waylock lachte. »Sehe ich verrückt aus?«
Caddigan betrachtete ihn abschätzend. »›Verrückt‹

ist ein unwissenschaftlicher Ausdruck, den wir selten
gebrauchen.«

»Entschuldigung«,  sagte  Waylock.  »Sie  sind  also

Wissenschaftler?«

»Ich hoffe es jedenfalls.«
Auf  seinem  Schreibtisch  lag  ein  grauer  Zeichen-

karton  mit  roten  Strichen.  Waylock  nahm  ihn  auf.
»Und ein Künstler dazu.«

Caddigan schüttelte den Kopf. »Das hat ein Patient

gezeichnet – es gehört zur Therapie.«

»Hm«,  meinte  Waylock.  »Ich  hätte  die  Zeichnung

auch Ihnen zugetraut.«

»Warum?« fragte Caddigan.
»Oh, sie sieht so wissenschaftlich aus und...«
Caddigan runzelte die Stirn. »Dann leiden Sie unter

den gleichen Illusionen wie dieser Patient.«

Waylock grinste. »Was soll das eigentlich sein?«
»Der Patient sollte sein Gehirn zeichnen.«
Waylock war erstaunt. »Haben Sie viele Zeichnun-

gen dieser Art?«

»Sehr viele.«
»Werden sie irgendwie klassifiziert?«
Caddigan deutete auf seine Kurven. »Ich bin eben

damit beschäftigt.«

»Und

 

wenn

 

Sie alle klassifiziert haben – was dann?«

Caddigan  zögerte  unentschlossen  und  antwortete

schließlich: »Vielleicht wissen Sie, daß die Psycholo-

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gie weniger Fortschritte als andere wissenschaftliche
Bereiche gemacht hat.«

»Ich  nehme  an,  daß  sie  unter  einem  Mangel  an

erstklassigen  Männern  leidet«,  sagte  Waylock  nach-
denklich.

Caddigan  sah  zur  Tür.  »Die  größte  Schwierigkeit

ist die Unzugänglichkeit des menschlichen Nervensy-
stems, das geradezu unglaublich komplex aufgebaut
ist.  Selbstverständlich  gibt  es  Tausende  von  Verfah-
ren zur Deutung der wichtigsten Probleme, aber ich
glaube, daß meine Arbeit einige neue Wege aufzeigen
wird.«

»Das Gebiet ist also statisch?«
»Im Gegenteil, es befindet sich sogar in ständigem

Aufruhr. Aber alle Bemühungen scheitern daran, daß
das menschliche Gehirn für uns noch immer eine Ter-
ra  incognita  ist.  Unsere  Methoden  haben  sich  seit
Freud und Jung kaum gewandelt – wir behandeln auf
Verdacht.«  Er  starrte  Waylock  durchdringend  an.
»Möchten Sie Amaranth werden?«

»Sehr gern.«
»Lösen Sie eines der zwanzig Grundprobleme der

Psychologie. Dann haben Sie es geschafft.« Er beugte
sich  über  seine  Zeichnung  und  schien  das  Gespräch
für  beendet  zu  halten.  Waylock  zuckte  lächelnd  die
Schultern und ging wieder ans Fenster.

In  der  Wand  neben  ihm  öffnete  sich  eine  Tür;  er

sah ein geräumiges Arbeitszimmer, an das sich offen-
bar  der  Konferenzraum  anschloß.  Basil  Thinkoup
stand auf der Schwelle und begrüßte Waylock mit ei-
nem überraschten Lächeln. Er trug eine strenge graue
Uniform,  die  nicht  recht  zu  seinem  rundlichen  Ge-
sicht paßte.

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11

Gavin Waylock verließ die Anstalt erst gegen Abend
und bestellte sich ein Lufttaxi, um unterwegs in aller
Ruhe nachdenken zu können. Basil war sofort bereit
gewesen, ihm auf jede nur mögliche Weise zu helfen,
und hatte Waylock mehrmals versichert, er habe die
bestmögliche Wahl getroffen. »Hier gibt es Arbeit zu
tun, Gavin – Berge von Arbeit! Arbeit und Steigung!«

Caddigan  hatte  seinen  Vorgesetzten  nur  schwei-

gend angestarrt; er litt offenbar unter der Vorstellung,
Waylock könnte der erste einer langen Reihe von Di-
lettanten  sein,  deren  einzige  Qualifikation  ihre
Freundschaft mit Basil Thinkoup war.

Waylock  überlegte  sich,  daß  es  vermutlich  ange-

bracht  war,  sich  den  fachlichen  Wortschatz  dieser
Leute einigermaßen anzueignen. Aber er durfte seine
ursprüngliche  Absicht  nicht  darüber  vergessen  –  er
mußte die Sackgassen vermeiden, in die Hunderttau-
sende vor ihm hineingestolpert waren. Trotzdem kam
es  zunächst  darauf  an,  Vorgesetzte  und  Ranghöhere
günstig  zu  beeinflussen,  indem  er  mit  den  Wölfen
heulte. Steigung war wichtiger als alles andere!

Nachdem  ihn  das  Lufttaxi  vor  seinem  Apparte-

ment abgesetzt hatte, ging er zum nächsten Zeitungs-
kiosk,  der  gleichzeitig  eine  Filiale  der  Zentralbiblio-
thek war, und ließ sich den Katalog geben. Er wählte
zwei  Fachbücher  über  Psychologie  aus,  warf  einen
Florin in den Schlitz und druckte die entsprechenden
Tasten. Eine Minute später erhielt er zwei Mikrofilme
in Zellophanumschlägen.

Er  kehrte  in  sein  Appartement  zurück,  aß  eine

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Kleinigkeit,  wollte  anschließend  mit  dem  Studium
der  Bücher  beginnen  und  schlief  darüber  ein.  Als  er
aufwachte, hatte er heftige Kopfschmerzen, und seine
Armbanduhr zeigte auf halb zwölf. Er entschied sich
für  einen  nächtlichen  Spaziergang  an  der  frischen
Luft und erreichte zwanzig Minuten später das Café
Dalmatia, wo er nur mit Mühe noch einen Platz fand.

Auf der breiten Terrasse drängten sich Männer und

Frauen, die gespannt das Gebäude des Aktuarius be-
obachteten.

Waylock empfand die erwartungsvolle Atmosphä-

re instinktiv als bedrohlich. Unter den dunklen Arka-
den  des  Esterhazy-Platzes  und  in  den  Nebenstraßen
schien etwas zu lauern. Nirgendwo ein Laut oder ei-
ne Bewegung. Aber jeder wußte, daß dort die Zeloten
warteten.

Mitternacht. Im Café herrschte tiefes Schweigen.
Der  Prangerkäfig  wurde  langsam  herabgelassen,

berührte  das  Pflaster  und  zerfiel  in  sechs  Teile.  Die
alte  Frau  war  wieder  frei;  sie  hatte  ihre  Strafe  abge-
büßt.

Die  Menschen  im  Café  Dalmatia  beugten  sich  vor

und wagten kaum zu atmen.

Die Alte setzte sich langsam in Bewegung und ging

auf die Bronzestraße zu.

Ein  Stein  fiel  vor  ihr  zu  Boden.  Noch  einer  und

noch einer. Der vierte Stein traf sie an der Hüfte.

Als sie zu rennen begann, kamen weitere Steine aus

der Dunkelheit. Einer traf sie im Nacken. Sie stolperte
und fiel.

Dutzende von Steinen folgten.
Dann  kam  sie  wieder  auf  die  Füße,  rettete  sich  in

die Bronzestraße und verschwand.

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»Hmmm«, sagte jemand, »sie ist entkommen.«
Eine andere Stimme erwiderte vorwurfsvoll: »Wie

kannst du das bedauern? Du bist ebenso schlimm wie
die Zeloten!«

»Habt  ihr  gesehen,  wie  dicht  die  Steine  heute  ge-

flogen  sind?«  fragte  eine  junge  Frau  ihre  Begleiter.
»Wirklich ein Steinhagel!«

»Die  verdammten  Zeloten  werden  immer  frecher

und unverschämter«, murmelte ein alter Mann neben
Waylock.  »Nächstens  fallen  sie  noch  bei  Tageslicht
über  die  armen  Leute  im  Käfig  her.«  Er  schüttelte
sorgenvoll den Kopf. »Zeloten und Zweifler und alle
anderen... ich weiß nicht, ich weiß wirklich nicht, was
uns eines Tages erwartet.«

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12

Waylock  erschien  am  nächsten  Morgen  pünktlich  in
der Beruhigungsanstalt. Diese Tatsache fiel ihm selbst
auf,  und  er  dachte  spöttisch: Du  benimmst  dich  schon
wie die übrigen Streber – dir fehlt nur noch ein Magenge-
schwür.

Da Basil Thinkoup an diesem Vormittag anderwei-

tig  beschäftigt  war,  meldete  Waylock  sich  bei  Seth
Caddigan, der ihm einen Fragebogen zuschob. »Bitte
ausfüllen«, sagte er dabei.

Als Waylock den Fragebogen mit gerunzelter Stirn

durchlas,  erklärte  Caddigan  ihm:  »Das  ist  Ihre  Be-
werbung als Krankenpfleger.«

»Aber  ich  bin  doch  bereits  als  Krankenpfleger  an-

gestellt«, protestierte Waylock.

»Füllen Sie das Ding trotzdem aus«, empfahl Cad-

digan ihm.

Waylock  beantwortete  einige  Fragen,  machte  bei

den meisten nur einen Strich und legte Caddigan den
Fragebogen auf den Schreibtisch. »Da haben Sie mei-
nen Lebenslauf.«

Caddigan  zog  die  Augenbrauen  hoch.  »Ihr  Leben

scheint  überwiegend  aus  Schrägstrichen  zu  beste-
hen.«

»Ist das wirklich so wichtig?«
Caddigan  zuckte  mit  den  Schultern.  »Sie  werden

noch feststellen, daß unsere Bonzen streng nach Vor-
schrift arbeiten. Ihr Fragebogen wirkt vermutlich wie
ein rotes Tuch auf sie.«

»Vielleicht haben die Bonzen eine kleine Anregung

nötig.«

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Caddigan  starrte  ihn  an.  »Krankenpfleger  wirken

selten anregend, ohne es später zu bedauern.«

»Ich hoffe, daß ich nicht allzu lange Krankenpfleger

bleibe.«

Caddigan  grinste  plötzlich.  »Keine  Angst,  das  ist

ziemlich  unwahrscheinlich.«  Als  Waylock  nicht  dar-
auf reagierte, fragte er: »Sind Sie schon auf Ihre neuen
Pflichten gespannt?«

»Ich interessiere mich zumindest dafür«, erwiderte

Waylock.

»Ausgezeichnet.  Ich  muß  Ihnen  allerdings  ganz

ehrlich sagen,  daß  die  Arbeit  nicht  gerade  schön ist.
Manchmal ist sie sogar gefährlich. Wer einen Patien-
ten  verletzt,  büßt  wertvolle  Karrierepunkte  ein.  Wir
dürfen  uns  weder  Gewalttätigkeiten  noch  Gefühl-
sempfindungen  leisten  –  es  sei  denn,  wir  würden
selbst  krank.«  Caddigan  erhob  sich.  »Kommen  Sie,
ich zeige Ihnen, was ich meine...«

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13

»Das  ist  Ihr  zukünftiger  Wirkungsbereich«,  stellte
Caddigan  ironisch  fest.  Er  zeigte  auf  den  langen
Raum,  der  Waylock  irgendwie  an  ein  Museum  erin-
nerte.  Zu  beiden  Seiten  des  Mittelganges  standen
Betten  –  insgesamt  sechsunddreißig.  Durchsichtige
Plastikwände  trennten  die  Betten  voneinander,  so
daß jeder Patient eine Nische für sich allein hatte, die
an der Rückseite durch die grüngestrichene Saalwand
begrenzt  wurde.  Die  Kranken  lagen  starr  und  steif
mit ausgestreckten Armen in ihren weißen Betten; ei-
nige hatten die Augen geöffnet, andere hielten sie fest
geschlossen.  In  diesem  Saal  waren  nur  Männer  zwi-
schen Dreißig und Fünfzig untergebracht. Ihre Betten
blitzten  vor  Sauberkeit,  die  Gesichter  waren  frisch
gewaschen und rasiert.

»Sauber  und  ordentlich  und  ruhig«,  sagte  Caddi-

gan. »Das sind alles ernste Fälle; sie machen kaum ei-
ne  Bewegung.  Aber  ab  und  zu  bekommen  sie  einen
Rappel  –  sie  verfallen  ins  manische  Stadium  ihrer
Krankheit,  um  es  etwas  wissenschaftlicher  auszu-
drücken.«

»Und dann werden sie gewalttätig?«
»Das  ist  individuell  verschieden.  Manche  bleiben

selbst  dann  im  Bett  und  winden  sich  nur  lautlos  in
Krämpfen. Andere springen auf, schreiten wie Götter
durch den Saal und zerstören alles, was ihnen unter
die  Finger  kommt.  Das  heißt«,  fügte  er  mit  einem
Grinsen  hinzu,  »sie  würden  es  tun,  wenn  sie  nur
könnten. Sehen Sie diese Löcher im Boden?« Er deu-
tete auf ein halbes Dutzend Vertiefungen am Fußen-

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de  des  ersten  Bettes.  »Sobald  ein  Patient  sein  Bett
verläßt, bewirkt die damit verbundene Gewichtsver-
lagerung, daß hier Stahlstäbe aus dem Boden schnel-
len.  Der  Kranke  kann  also  nicht  hinaus  und  hat  nur
noch eine Möglichkeit, sich auszutoben – er kann die
Bettwäsche zerreißen. Wir haben nach langen Versu-
chen  eine  Stoffart  entwickelt,  die  schwer  zerreißbar
ist und gleichzeitig laute Geräusche ergibt. Der Pati-
ent tobt sich aus, und wir betreten dann seine Nische
und bringen ihn ins Bett zurück.«

»Verwenden  Sie  keine  Beruhigungsmittel?«  fragte

Waylock.

Caddigan  zuckte  mit  den  Schultern.  »Das  hängt

von  der  Heftigkeit  des  Anfalls  ab.  Ansonsten  be-
stimmen  die  Theorien  –  oder  die  Launen  –  des  ver-
antwortlichen  Psychiaters  unsere  Methoden.  Diese
Abteilung  untersteht  offiziell  Didaktor  Alphonse
Clou,  aber  Didaktor  Clou  ist  so  sehr  mit  einem  For-
schungsprojekt  beschäftigt,  daß  Basil  Thinkoup  un-
beaufsichtigt  tun  und  lassen  kann,  was  ihm  Spaß
macht. Basil hält nichts von Drogen und Spritzen. Er
hat  unkonventionelle  Ideen  und  arbeitet  nach  dem
Prinzip,  alle  bewährten  Methoden  seien  falsch  und
müßten durch das genaue Gegenteil ersetzt werden.
Wenn lange Versuchsreihen ergeben haben, daß Mas-
sage  bei  bestimmten  hysterischen  Zuständen
krampflösend wirkt, läßt Basil die Patienten entweder
in die Zwangsjacke stecken oder verschafft ihnen ge-
waltsam  Bewegung.  Basil  experimentiert  leiden-
schaftlich gern und scheint dabei nie Gewissensbisse
zu haben.«

»Hat er schon Erfolge mit seiner Methode erzielt?«

wollte Gavin wissen.

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Caddigan  zuckte  mit  den  Schultern.  »Den  Patien-

ten  geht  es  deshalb  auch  nicht  schlechter.  Einigen
scheint es sogar zu helfen... Aber Basil weiß natürlich
selbst nicht, was er eigentlich tut.«

Sie  gingen  von  einem  Bett  zum  anderen.  Überall

der  gleiche  Ausdruck  auf  den  Gesichtern  der  Kran-
ken: eine erschütternde Melancholie, eine abgrundtie-
fe  Hoffnungslosigkeit,  aus  der  es  kein  Entrinnen
mehr geben konnte.

»Schrecklich«,  murmelte  Waylock.  »Diese  Gesich-

ter... Sind sie bei Bewußtsein? Denken sie noch? Emp-
finden sie wirklich, was ihr Gesicht ausdrückt?«

»Sie leben jedenfalls. Und ihr Verstand funktioniert

weiterhin auf der untersten Ebene.«

Waylock schüttelte den Kopf.
»Hüten Sie sich vor dem Fehler, sie als menschliche

Lebewesen  zu  betrachten«,  warnte  Caddigan  ihn.
»Sobald  Sie  damit  anfangen,  sind  Sie  verloren.  Die
Patienten sind für uns nur eine Aufgabe, die wir nach
besten Kräften zu lösen versuchen, um dadurch Kar-
rierepunkte zu sammeln... Kommen Sie, ich zeige Ih-
nen jetzt, was Sie hier zu tun haben.«

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14

Waylock  fand  seine  Pflichten  geradezu  abstoßend.
Als  Krankenpfleger  mußte  er  sich  um  das  leibliche
Wohl  von  sechsunddreißig  fast  leblosen  Patienten
kümmern,  die  jederzeit  unglaublich  heftige  Tob-
suchtsanfälle  bekommen  konnten.  Zudem  hatte  er
Eintragungen  in  die  Krankenblätter  zu  machen  und
Caddigan oder Basil zu helfen, wenn sie neue Thera-
pieversuche unternahmen.

Jetzt stand er im Mittelgang und betrachtete nach-

denklich  die  sechsunddreißig  Betten,  die  seiner  Ob-
hut anvertraut waren. Sechsunddreißig Männer zwi-
schen  Dreißig  und  Fünfzig,  die  alle  eine  flache  Le-
benslinie  gemeinsam  hatten.  Ihre  Psychose  war
durchaus  nicht  geheimnisvoll  oder  gar  unerklärlich.
Sie  würden  hier  ihren  Lebensabend  verbringen,  bis
eines Tages die schwarze Limousine am Tor der An-
stalt vorfuhr, um sie abzuholen.

Waylock  ging  von  einem  Bett  zum  anderen  und

betrachtete  die  hoffnungslosen  Gesichter.  Bei  jedem
Patienten  fragte  er  sich:  Welche  Therapie  würde  ich
in seinem Fall anwenden?

Er blieb vor einem Bett stehen, in dem ein kleiner

Mann  mit  geschlossenen  Augen  lag.  Am  Kopfende
des Bettes waren Name und Phyle des Patienten an-
gegeben: Olaf Gerempsky, Keil. Darunter stand eine
Kombination  aus  Buchstaben  und  Ziffern,  die  Way-
lock nicht verstand.

Waylock  berührte  die  Hand  des  Kranken.  »Olaf«,

flüsterte  er.  »Aufwachen,  Olaf.  Du  bist  gesund.  Du
kannst nach Hause gehen, Olaf. Wach auf, du darfst

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nach Hause.«

Gerempskys  Gesichtsausdruck  veränderte  sich

nicht im geringsten. Folglich war diese Methode un-
geeignet.

»Olaf Gerempsky«, sagte Waylock lauter, »Ihre Le-

benslinie  ist  in  Dritte  durchgebrochen.  Meinen
Glückwunsch,  Olaf  Gerempsky!  Sie  sind  jetzt  in
Dritte!«

Das  Gesicht  blieb  unbeweglich,  aber  Waylock  bil-

dete sich ein, trotzdem einen schwachen Hoffnungs-
funken  hinter  geschlossenen  Augen  beobachtet  zu
haben.  »Olaf  Gerempsky,  Dritte.  Olaf  Gerempsky,
Dritte«, sagte er mit der Stimme eines Ausrufers vor
dem Haus des Lebens. »Olaf Gerempsky, Sie gehören
jetzt zu Dritte!« Aber der melancholische Hoffnungs-
funken war bereits wieder erloschen.

Waylock trat einen Schritt zurück und runzelte die

Stirn. Dann beugte er sich dicht über den Kranken.

»Leben«,  flüsterte  er.  »Leben!  Leben!  Ewiges  Le-

ben!«

Das starre Gesicht veränderte sich nicht.
»Tod«, sagte Waylock heiser. »Tod! Tod! Tod! Ewi-

ger Tod!«

Er  beobachtete  das  Gesicht.  Es  blieb  unbeweglich,

aber unter dieser Maske flammte etwas auf. Waylock
beobachtete die Veränderung aufmerksam.

Gerempsky  öffnete  plötzlich  die  Augen,  starrte

nach links und rechts und fixierte dann Waylock. Sei-
ne Augen schienen zu glühen; er zog die Lippen zu-
rück, fletschte die Zähne wie ein Hund und stieß ei-
nen  lauten  Schrei  aus.  Dann  sprang  er  plötzlich  auf
und  griff  nach  Waylocks  Kehle,  aber  Waylock  war
rechtzeitig  zurückgetreten.  Er  spürte  einen  Wider-

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stand hinter sich – die Stahlstäbe waren automatisch
aus  dem  Fußboden  geschossen  und  schnitten  ihm
jetzt den Fluchtweg ab.

Gerempsky stürzte sich auf Waylock; seine Hände

waren wie stählerne Klammern. Gavin setzte sich zur
Wehr  und  wollte  seine  Arme  nach  oben  schlagen,
aber Gerempskys Muskeln schienen aus Eisen zu be-
stehen.  Waylock  versetzte  ihm  einen  Schlag  ins  Ge-
sicht, und der Kranke taumelte rückwärts.

Waylock rüttelte an den Stäben. »Hilfe!« brüllte er.

»Hilfe!«

Gerempsky fiel wieder über ihn her. Waylock ging

zu Boden und wollte ihn abschütteln, aber der Patient
klammerte  sich  an  seinem  Rücken  fest.  Waylock  riß
sich endlich von ihm los, mußte aber seine neue Jacke
in  Gerempskys  Händen  zurücklassen.  Er  flüchtete
hinter das Bett und rief weiter um Hilfe. Gerempsky
lachte  heiser  und  schlich  auf  ihn  zu.  Waylock  kroch
unters  Bett.  Gerempsky  zerfetzte  seine  Jacke  und
bückte  sich  dann,  aber  Waylock  befand  sich  außer
Reichweite. Der Kranke setzte mit einem Sprung über
das Bett, um ihn von der anderen Seite aus zu errei-
chen, aber Waylock rollte sich nach links.

Dieses Spiel wurde einige Minuten lang fortgesetzt:

Gerempsky  sprang  über  das  Bett,  und  Waylock
wälzte  sich  jeweils  auf  die  andere  Seite.  Dann  blieb
der Kranke ruhig am Fußende des Bettes stehen und
schien darauf zu warten, daß Waylock endlich wieder
zum Vorschein kam.

Endlich  näherten  sich  Schritte.  »Hilfe!«  rief  Way-

lock nochmals. »Ich liege hier unter dem Bett!«

Vor den Gitterstäben erschienen Schuhe: Seth Cad-

digans Schuhe.

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»Dieser Verrückte will mich erwürgen!« rief Way-

lock verzweifelt. »Ich bin hier unten gefangen!«

»Immer mit der Ruhe«, antwortete Caddigan gelas-

sen. Hinter ihm ertönten weitere Schritte. Die Gitter-
stäbe  versanken  plötzlich.  Gerempsky  stieß  einen
Schrei  aus  und  setzte  sich  in  Bewegung.  Er  wurde
aufgehalten, eingehüllt und ins Bett zurückgebracht.

Waylock  kroch  darunter  hervor  und  richtete  sich

auf. Seine Knie zitterten noch immer, während er be-
obachtete,  daß  Caddigan  dem  Kranken  eine  Sprüh-
dose an den Mund hielt und auf den Knopf drückte.
Gerempsky  schloß  die  Augen  und  blieb  wie  leblos
liegen.  Caddigan  wandte  sich  ab,  nickte  Waylock
höflich zu und verschwand in Begleitung der beiden
anderen Krankenpfleger.

Waylock starrte ihm nach, ging einige Schritte hin-

ter ihm her und lehnte sich dann an die Wand, bis das
Zittern  in  seinen  Knien  aufgehört  hatte.  Als  er  sich
wieder  besser  fühlte,  folgte  er  Caddigan  in  Basils
Vorzimmer,  das  der  Psychotherapeut  als  Büro  be-
nützte.  Caddigan  saß  wieder  an  seinem  Schreibtisch
und wertete Krankenblätter aus. Waylock ließ sich in
einen Sessel fallen und holte tief Luft.

»Puh, das war scheußlich!«
Caddigan  zuckte  mit  den  Schultern.  »Sie  können

sich  noch  glücklich  schätzen,  daß  Gerempsky  ein
Schwächling ist.«

»Schwächling!  Seine  Hände  waren  wie  Eisen!  Er

muß unheimlich stark sein!«

Caddigan nickte ironisch lächelnd. »Denken Sie in

Zukunft immer daran, daß unsere Patienten in dieser
Verfassung  geradezu  übermenschliche  Kräfte  ent-
wickeln, die in keinem Verhältnis zur normalen Lei-

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stungsfähigkeit  ihrer  Muskulatur  stehen.  Olaf  Ge-
rempsky war in diesem Zustand stärker als Sie, aber
Olaf  ist  im  Grunde  genommen  ein  Schwächling.
Nehmen Sie sich vor unseren Athleten in acht: Maxi-
milian Hertzog oder Fido Vedelius. Beide hätten mit
der  Faust  durch  die  Matratze  gestoßen  und  Ihren
Kopf durch das Loch zu sich heraufgezogen. Deshalb
möchte  ich  Ihnen  dringend  empfehlen,  keine  weite-
ren  Experimente  mit  unseren  Kranken  zu  machen,
selbst wenn sie noch so friedlich wirken sollten.«

Waylock  schwieg  vernünftigerweise.  Der  Psycho-

therapeut  lehnte  sich  in  seinen  Sessel  zurück  und
legte die Finger aneinander.

»Ich habe die Aufgabe, Ihre Fortschritte zu bewer-

ten. Dabei versteht sich eigentlich von selbst, daß ich
mich  bemühe,  absolut  fair  zu  sein.  Aber  angesichts
dieses Vorfalls werden Sie es mir nicht verübeln, daß
ich  Ihre  heutigen  Leistungen  keineswegs  hoch  be-
werte.  Ich  weiß  nicht,  was  Sie  vorgehabt  haben.  Ich
will es auch gar nicht wissen.«

Waylock  wollte  etwas  sagen,  aber  Caddigan  hob

abwehrend  die  Hand.  »Vielleicht  wollen  Sie  Basil
Thinkoup nacheifern, um seine Erfolge zu imitieren.
Sollte das der Fall sein, schlage ich vor, daß Sie sorg-
fältiger  planen  oder  ansonsten  herausbekommen,
worauf sein unwahrscheinliches Glück beruht.«

Waylock beherrschte sich. »Sie haben die Situation

falsch verstanden«, wandte er ein.

»Das  hoffe  ich  allerdings«,  antwortete  Caddigan

mit  gespielter  Herzlichkeit.  »Ich  dachte  schon,  Sie
und  Basil  Thinkoup  wollten  gemeinsam  eine  Ham-
mer-und-Zangen-Therapie verwirklichen.«

»Ich  finde  Ihre  witzig  gemeinten  Bemerkungen

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ziemlich überflüssig«, stellte Waylock fest.

Basil Thinkoup war leise hereingekommen und sah

jetzt  von  einem  zum  anderen.  »Ist  Caddigan  schon
hinter  dir  her?«  fragte  er  Waylock.  »Als  ich  hier  an-
fing,  mußte  ich  ihn  Tag  für  Tag  aushalten.  Wahr-
scheinlich bin ich nur deshalb so rasch in Keil aufge-
stiegen, weil ich dort vor ihm sicher war.«

Caddigan äußerte sich nicht dazu. Basil grinste und

nickte  Waylock  zu:  »Du  hast  ein  kleines  Abenteuer
bestanden, höre ich eben.«

»Nur  eine  Bagatelle«,  versicherte  Waylock  ihm.

»Beim nächstenmal passe ich besser auf.«

»Richtig«, stimmte Basil zu. »So kannst du es noch

weit bringen.«

Seth  Caddigan  erhob  sich.  »Entschuldigen  Sie

mich, Basil aber ich muß jetzt gehen. Ich habe heute
abend noch zwei Vorlesungen.« Er nickte den beiden
zu und verließ den Raum.

Basil schüttelte mitleidig den Kopf. »Der arme Kerl

bildet sich wirklich ein, er könne den Aufstieg schaf-
fen, indem er sich mit nutzlosem Ballast vollstopft.«

»Was  kümmert  dich  das?«  fragte  Waylock.  »Jeder

kann  schließlich  nach  seiner  eigenen  Fasson  selig
werden.«

Basil  antwortete  nicht  gleich.  »Hmm,  eigentlich

hast du recht, Gavin«, gab er dann zu. »Wir sind eben
nicht alle gleich.« Er lächelte wieder. »Dein Dienst ist
für  heute  fast  zu  Ende;  am  besten  gehst  du  gleich
nach Hause. Wir haben morgen einen großen Tag vor
uns.«

»Mit  Vergnügen«,  antwortete  Waylock.  »Ich  muß

selbst noch einiges lernen.«

»Du gibst dir ernsthaft Mühe, was?«

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»Ich  erreiche  die  Spitze«,  sagte  Waylock.  »Irgend-

wie muß ich es schaffen.«

Basil runzelte die Stirn. »Nimm dich in acht, sonst

endest du wie...« Er zeigte in die Richtung des großen
Krankensaals.

»Danke, das habe ich nicht vor.«

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15

Waylock betrat sein kleines Appartement, blieb in der
Diele  stehen  und  betrachtete  mißmutig  die  ge-
schmacklosen  Möbel  in  den  drei  winzigen  Räumen.
Er  dachte  an  die  prächtige  Villa,  die  Der  Grayven
Warlock  besessen  hatte.  Im  Grunde  genommen  war
sie  noch  immer  sein  rechtmäßiges  Eigentum  –  aber
wie  sollte  er  sie  wieder  in  Besitz  nehmen,  ohne  sich
zu verraten?

Nach dem Abendessen blieb er am Tisch sitzen und

überlegte, wie oder wo er die nächsten Stunden ver-
bringen  sollte.  Öffentliche  Vergnügungsstätten  und
Carnevalle  schieden  von  Anfang  an  aus.  Er  wollte
sich  nicht  amüsieren,  sondern  ein  vernünftiges  Ge-
spräch mit anderen Menschen führen. Das Café Dal-
matia?  Nein.  Basil  Thinkoup?  Nein.  Seth  Caddigan?
Kein  ausgesprochen  geselliger  Mensch,  der  zudem
nicht allzu viel von Waylock zu halten schien – aber
warum eigentlich nicht?

Waylock gab dem Impuls nach, ging an seinen Te-

levisor  und  ließ  das  Teilnehmerverzeichnis  vor  sich
ablaufen. A... B... C... Ca... Caddigan... Seth Caddigan.
Er  löschte  die  übrigen  Namen  und  drückte  auf  den
Rufknopf.

Seth  Caddigans  Gesicht  erschien  auf  dem  Bild-

schirm. »Oh... Waylock.«

»Hallo, Caddigan. Wie waren die Vorlesungen?«
»Wie  üblich.«  Caddigan  betrachtete  ihn  mißtrau-

isch.

Waylock  improvisierte  einen  Vorwand  für  seinen

Anruf. »Sind Sie noch sehr beschäftigt? Ich dachte, Sie

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könnten mir vielleicht einen guten Rat geben.«

Caddigan lud ihn mürrisch ein, ihn in seiner Woh-

nung zu besuchen, und Waylock brach sofort auf. Der
Psychotherapeut lebte in Vauconford, einem der öst-
lichen  Vororte,  die  eher  zu  den  zweitklassigen
Wohnvierteln  gehörten.  Sein  Appartement  war
durchgehend  mit  antiken  Möbeln  ausgestattet,  und
Waylock  fand  den  Gesamteindruck  reichlich  exzen-
trisch.

Zu  seiner  großen  Überraschung  hatte  Caddigan

zudem  eine  ausgesprochen  hübsche  Frau,  die  Way-
lock  diesem  unfreundlichen  Zeitgenossen  nie  zuge-
traut hätte.

Caddigan stellte sie als Pladge vor und fügte hinzu:

»Pladge  ist  bereits  Keil,  während  ich  noch  in  Brut
stecke.  Sie  arbeitet  als  Bühnenbildnerin  und  scheint
recht erfolgreich zu sein.«

»Ah,  Sie  sind  beim  Theater«,  murmelte  Waylock.

»Das erklärt die... die...«

Pladge  Caddigan  lachte.  »Die  verrückte  Einrich-

tung? Sagen Sie ruhig, was Sie davon halten. Unsere
Freunde glauben ohnehin, wir seien übergeschnappt.
Aber wir wohnen lieber mit diesen alten Möbeln, die
wesentlich  besser  konstruiert  sind  als  das  ganze
neumodische Zeug.«

»Der  Raum  hat  eine  durchaus  persönliche  Note«,

stimmte Waylock zu.

»Richtig, das finde ich auch. Aber Sie müssen mich

jetzt entschuldigen, Mister Waylock, ich habe noch zu
arbeiten.«

Pladge verschwand im Nebenzimmer, und Caddi-

gan sah ihr stolz nach. Dann wandte er sich wieder an
Gavin, der die seltsame Tapete an der gegenüberlie-

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genden  Wand  studierte.  Sie  bestand  aus  Lebenskar-
ten,  wie  sie  der  Aktuarius  ausgab;  die  verschieden-
farbigen Linien bildeten ein faszinierendes Muster.

»Hier  sehen  Sie  unsere  Triumphe  und  Niederla-

gen«, erklärte Caddigan ihm. »Unsere Biographie, ein
Abbild  unseres  Lebens.  Manchmal  wünsche  ich  mir
fast,  ich  wäre  ein  Glark  geblieben.  Ein  kurzes,  aber
unbeschwertes und fröhliches Leben.« Seine Stimme
veränderte sich. »Schön, Sie sind also hier. Was woll-
ten Sie mich fragen?«

»Kann ich mich auf Ihre Verschwiegenheit verlas-

sen?« erkundigte Waylock sich.

Caddigan  schüttelte  den  Kopf.  »Ich  bin  nicht  ver-

schwiegen, obwohl ich in meinem Beruf bessere Aus-
sichten hätte, wenn ich es wäre.«

»Behandeln Sie mein Problem wenigstens vertrau-

lich?«

»Offen gesagt«, antwortete Caddigan, »kann ich für

gar nichts garantieren. Tut mir leid, wenn Ihnen das
unfreundlich  erscheint,  aber  ich  möchte  verhindern,
daß Sie sich Illusionen machen.«

Waylock  nickte.  Er  hatte  nichts  dagegen  einzu-

wenden, da er nie die Absicht gehabt hatte, Caddigan
um seinen Rat zu bitten. »In diesem Fall verlasse ich
mich lieber auf meine eigenen Fähigkeiten.«

»Das  ist  immer  empfehlenswert«,  stimmte  Caddi-

gan  zu.  »Ich  kann  mir  allerdings  gut  vorstellen,  mit
welchem Problem Sie zu kämpfen haben.«

»Offenbar sind Sie mir einige Schritte voraus, Cad-

digan«, sagte Waylock gelassen.

»Und so bleibt es auch in Zukunft. Wollen Sie hö-

ren, wie ich Ihr ›Problem‹ analysiert habe?«

»Bitte.«

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»Es betrifft selbstverständlich Basil Thinkoup, sonst

hätten  Sie  nicht  nach  meiner  Verschwiegenheit  ge-
fragt. Welches Problem hängt mit Basil zusammen, ist
aber nicht von ihm, sondern nur von einem Mann in
seiner  Umgebung  zu  lösen?  Sie  sind  ein  ehrgeiziger
Mann und vermutlich ziemlich rücksichtslos.«

»Heutzutage ist jeder rücksichtslos«, warf Waylock

ein, aber Caddigan reagierte nicht darauf.

»Sie müssen sich also die Frage stellen: Wie eng soll

ich  mich  an  Basil  binden?  Wird  er  aufsteigen  oder
fallen?  Sie  möchten  mit  ihm  aufsteigen,  haben  aber
keine  Lust,  gemeinsam  mit  ihm  zu  fallen.  Deshalb
wollen  Sie  hören,  wie  ich  Basils  Zukunft  beurteile.
Sobald  Sie  wissen,  was  ich  davon  halte,  machen  Sie
sich Ihre eigenen Gedanken darüber, weil Ihnen klar
ist, daß ich nicht mit Basils pragmatischen Methoden
einverstanden  bin.  Trotzdem  bin  ich  Ihrer  Meinung
nach  intelligent  und  ehrlich  genug,  um  seine  Lage
ausreichend beurteilen zu können. Habe ich recht?«

Waylock schüttelte lächelnd den Kopf.
Caddigan grinste ironisch. »Darf ich Ihnen wenig-

stens einen Becher Tee anbieten?«

»Ja,  vielen  Dank.«  Waylock  lehnte  sich  in  seinen

Sessel  zurück.  »Caddigan,  Sie  scheinen  eine  Abnei-
gung oder ein Vorurteil gegen mich gefaßt zu haben.
Darf ich mich nach dem Grund dafür erkundigen?«

»›Abneigung‹ ist nicht der richtige Ausdruck«, kor-

rigierte  Caddigan  ihn.  »›Vorurteil‹  ist  besser,  aber
trotzdem ungenau. Ich habe das Gefühl, daß Sie Ihre
Arbeit  nicht  ernst  nehmen,  daß  Sie  nur  deshalb  zu
uns gestoßen sind, weil Sie glauben, auf diesem Ge-
biet  rasch  Punkte  sammeln  zu  können.  Ich  möchte
Ihnen  jedoch  aus  eigener  Erfahrung  versichern,  daß

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Sie sich in dieser Beziehung gewaltig irren.«

»Wieso ist Basil dann so rasch aufgestiegen?«
»Glück gehabt.«
Waylock schien darüber nachzudenken.
»Hüten Sie sich davor, Basil falsch einzuschätzen«,

riet  Caddigan  ihm.  »Jetzt  ist  er  fröhlich  und  optimi-
stisch. Aber Sie hätten ihn vor einigen Monaten sehen
sollen – er war fast reif für den Krankensaal.«

»Das ist mir neu.«
»Immerhin  muß  man  ihm  zugute  halten,  daß  er

wirklich  die  Welt  verbessern  will«,  fuhr  Caddigan
fort und warf seinem Besucher einen bedeutungsvol-
len Blick zu. »Er hat neun Patienten als geheilt entlas-
sen – keine schlechte Leistung. Aber er klammert sich
an die verrückte Idee, daß viel Therapie neunhundert
Kranke heilen müßte, wenn wenig Therapie neun ge-
holfen hat. Er gleicht einem Idioten, der einen Pfeffer-
streuer  erwischt  hat  –  wenig  Pfeffer  verbessert  den
Geschmack, deshalb muß viel Pfeffer ihn noch besser
machen.«

»Sie bezweifeln also, daß Basil seinen Aufstieg fort-

setzt?«

»Nichts ist unmöglich.«
»Und wie steht es mit der neuen Therapie, von der

er gesprochen hat?«

Caddigan  zuckte  mit  den  Schultern.  »Wieder  das

System Pfefferstreuer«, antwortete er.

Pladge  Caddigan  kam  herein.  Sie  trug  jetzt  einen

bunten Sari, hatte ein Dutzend klirrende Bronzeringe
an  Handgelenken  und  Knöcheln  und  hielt  einen  Fä-
cher aus Pfauenfedern in der Hand.

»Ich dachte, du wolltest noch etwas arbeiten«, sagte

Caddigan.

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Pladge  nickte.  »Aber  dann  ist  mir  dieses  Kostüm

eingefallen, und ich wollte es euch gleich zeigen.«

»Wer  ständig  von  Idee  zu  Idee  springt,  sammelt

nirgends Karrierepunkte«, stellte Caddigan fest.

»Pah! Du und deine komischen Punkte!«
»Warte nur, bis ich zu Keil und Dritte aufgestiegen

bin – dann lachst du nicht mehr!«

Pladge schlug in gespielter Verzweiflung die Hän-

de zusammen. »Manchmal tut es mir fast leid, daß ich
Keil bin. Wer will schon Amaranth werden?«

»Ich«,  sagte  Waylock  grinsend.  Pladge  gefiel  ihm,

und er stellte amüsiert fest, daß Seth darüber wütend
war.

»Ich  auch«,  stellte  Caddigan  fest.  »Du  ebenfalls,

Pladge, wenn du gerade keinen Unsinn redest.«

»Ich  rede  keinen  Unsinn.  In  der  guten  alten  Zeit

fürchteten die Menschen ihr Lebensende...«

»Pladge«, mahnte Seth.
Sie  schüttelte  den  Kopf.  »Benimm  dich  nicht  kin-

disch,  mein  Lieber.  Alle  müssen  sterben  –  nur  die
Amaranth nicht.«

»Trotzdem ist das kein Gesprächsthema.«
»Warum  nicht?«  fragte  Pladge  und  ließ  sich  in  ei-

nen Sessel fallen. »Ich habe eine Theorie. Wollt ihr sie
hören?«

»Selbstverständlich«, sagte Waylock.
»Pladge«, warf Caddigan vorwurfsvoll ein, aber sie

ignorierte ihn.

»Meiner  Auffassung  nach  steckt  in  jedem  Men-

schen ein Auflösungstrieb. Die Beruhigungsanstalten
hätten  vielleicht  weniger  Patienten,  wenn  wir  ihn
nicht unterdrücken würden.«

»Unsinn«,  wandte  Seth  ein.  »Ich  bin  schließlich

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Psychiater.  Dieser  angebliche  Drang  hat  nichts  mit
den Erkrankungen zu tun. Unsere Patienten leiden an
übersteigerter  Lebensangst  und  schwerer  Melancho-
lie.«

»Vielleicht,  aber  sieh  dir  doch  an,  wie  die  Men-

schen sich in Carnevalle benehmen!«

Seth  nickte  Waylock  zu.  »Er  ist  Experte  für  Car-

nevalle, er hat sieben Jahre lang dort gearbeitet.«

Pladge  lächelte  begeistert.  »Das  muß  herrlich  ge-

wesen sein!«

»Es war ganz interessant«, sagte Waylock.
»Ich  habe  ein  Gerücht  gehört,  das  Carnevalle  be-

trifft«,  fuhr  Pladge  atemlos  fort.  »Vielleicht  können
Sie es bestätigen, Mister Waylock.«

»Was haben Sie gehört?«
»Nun,  die  Menschen  in  Carnevalle  stehen  doch

mehr  oder  weniger  außerhalb  der  Gesetze,  nicht
wahr?«

Waylock zuckte mit den Schultern. »Jedenfalls ge-

schehen dort Dinge, für die man in Clarges verhaftet
würde.«

»Oder über die man sich in Clarges schämen müß-

te«, murmelte Seth.

Pladge  achtete  nicht  auf  ihn.  »Aber  wie  tief  geht

diese  Gesetzlosigkeit  wirklich?  Ich  meine...  nun,  ich
habe gehört, daß es dort ein sehr exklusives Haus ge-
ben  soll,  in  dem  reiche  Besucher  für  viel  Geld  zuse-
hen können, wie junge Männer und Frauen ermordet
werden!«

»Pladge«, krächzte Seth, »was sagst du da? Bist du

völlig übergeschnappt?«

»Ich  habe  sogar  gehört«,  flüsterte  Pladge  heiser,

»daß man mit viel Geld einen Menschen kaufen und

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selbst auf beliebige Weise töten kann...«

»Pladge!« brüllte Seth. »Kein Wort mehr davon!«
»Seth, ich habe dieses Gerücht gehört und möchte

Mister Waylock fragen, ob er etwas davon weiß«, er-
widerte  Pladge  erregt.  »Falls  er  es  bestätigen  kann,
müssen wir etwas dagegen unternehmen!«

»Das Gerücht existiert natürlich«, stimmte Waylock

zu  und  dachte  an  Carleon,  Loriot  und  die  übrigen
Berber. »Aber ich kann es nicht aus eigener Erfahrung
bestätigen und habe noch nie einen getroffen, der et-
was Ähnliches erlebt hätte.«

»Alles nur Unsinn«, stellte Caddigan fest.
»Du  redest  Unsinn,  Seth«,  warf  Pladge  ihm  vor.

»Was  deinen  sogenannten  wissenschaftlichen  Er-
kenntnissen  widerspricht,  existiert  für  dich  einfach
nicht. Du schiebst alle Zweifel mit einer großartigen
Handbewegung  beiseite,  ohne  zu  erkennen,  daß
Zweifel das Salz des Lebens sind.«

Caddigan  zuckte  mit  den  Schultern  und  sah  zu

Waylock hinüber. »Pladge hat sich den Zweiflern an-
geschlossen, und ich bekomme seitdem nichts ande-
res mehr zu hören.«

»Zweifler?«
»Alles  Menschen,  die  an  irgendwelchen  Aspekten

unserer  gegenwärtigen  Ordnung  und  ihren  Zu-
kunftsaussichten  zweifeln«,  erklärte  Pladge  ihm  eif-
rig. »Wir treffen uns regelmäßig und diskutieren ge-
meinsam  über  unsere  Zweifel.  Sie  müssen  gelegent-
lich  eine  unserer  Versammlungen  besuchen,  Mister
Waylock.«

»Gern. Wo finden sie denn statt?«
»Oh, hier und dort und überall. Manchmal in Car-

nevalle im Haus der Erleuchtung.«

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»Dort sind eigentlich schon genügend andere Ver-

rückte«, murmelte Seth.

Pladge  ließ  sich  nicht  beirren.  »Dort  haben  wir

Platz und werden nicht gestört. Hoffentlich kommen
Sie bald einmal, Mister Waylock.«

Nach einer kurzen Pause erhob Waylock sich. »Ich

muß leider wieder nach Hause.«

»Sie  haben  aber  Ihr  Problem  noch  gar  nicht  er-

wähnt«, stellte Caddigan fest.

»Danke,  es  hat  sich  weitgehend  von  selbst  erle-

digt«, sagte Waylock. Er wandte sich an Pladge. »Auf
Wiedersehen und gute Nacht.«

»Gute  Nacht,  Mister  Waylock.  Kommen  Sie  bald

wieder!«

Waylock  sah  zu  Seth  hinüber.  »Mit  Vergnügen,

Mrs. Caddigan.«

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16

Als Waylock am nächsten Morgen in die Anstalt kam,
saß Caddigan bereits hinter seinem Schreibtisch. Der
Psychotherapeut

 

nahm

 

Waylocks

 

Anwesenheit

 

mit

 

ei-

nem  kurzen  Nicken  zur  Kenntnis,  und  Waylock  be-
gann

 

seinen

 

Dienst.

 

Im

 

Laufe

 

des

 

Vormittags

 

ging

 

Cad-

digan  mehrmals  durch  den  großen  Saal,  aber  Way-
lock

 

hatte

 

sorgfältig

 

gearbeitet,

 

und

 

Caddigan

 

entdeck-

te keine Mängel.

Gegen  Mittag  eilte  Basil  Thinkoup  wie  gehetzt

durch die Abteilung, sah Waylock und blieb stehen.
»Immer  fleißig,  was?«  Er  warf  einen  Blick  auf  seine
Uhr. »Komm, Gavin, wir gehen zum Essen. Ich sage
Caddigan, daß er sich inzwischen um den Saal küm-
mern soll.«

Sie aßen schweigend, aber bei Kaffee und Zigaret-

ten  beugte  Thinkoup  sich  plötzlich  nach  vorn  und
sagte  eindringlich:  »Gavin,  es  fällt  mir  nicht  leicht,
das zuzugeben – aber du bist der einzige Mensch in
der ganzen Anstalt, zu dem ich Vertrauen habe. Alle
anderen halten mich für übergeschnappt.« Er lächelte
verzerrt. »Kurz gesagt, ich brauche deine Hilfe.«

»Das  ehrt  mich«,  antwortete  Waylock.  »Aber  es

verblüfft mich auch. Du brauchst meine Hilfe?«

»Mir  bleibt  keine  andere  Wahl.  Du  weißt,  daß  ich

dich bewundere, aber ich würde mir trotzdem lieber
von  einem  Fachmann  helfen  lassen.«  Er  schüttelte
den Kopf. »Leider ist das ausgeschlossen. Meine Vor-
gesetzten bezeichnen mich herablassend als ›Empiri-
ker‹,  und  Untergebene  wie  Seth,  die  mir  Respekt
schulden,  lassen  sich  davon  anstecken  –  folglich  bin

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ich auf mich selbst angewiesen.«

»Heutzutage ist jeder auf sich selbst angewiesen.«
»Richtig«,  stimmte  Basil  zu.  »Aber  was  hältst  du

von meiner Bitte?«

»Ich bin dir jederzeit gern behilflich.«
»Ausgezeichnet!«  sagte  Basil  erleichtert.  »Es  han-

delt sich übrigens um eine neue Therapie, die ich an
Maximilian Hertzog ausprobieren will.«

Waylock erinnerte sich daran, daß Caddigan diesen

Namen erwähnt hatte.

»Einer  unserer  schwersten  Fälle«,  fuhr  Basil  fort.

»Normalerweise  liegt  er  wie  eine  Marmorstatue  im
Bett,  aber  wenn  er  seine  Zustände  bekommt,  ist  er
einfach schrecklich!«

»In welcher Beziehung soll ich dir helfen?« erkun-

digte Waylock sich vorsichtig.

Basil  sah  sich  mißtrauisch  nach  allen  Seiten  um,

bevor er antwortete. »Gavin«, flüsterte er heiser, »ich
habe die Lösung des Problems gefunden – eine wirk-
same Therapie, die achtzig Prozent unserer Kranken
heilen müßte.«

»Hmm.« Waylock runzelte die Stirn. »Ist das über-

haupt wünschenswert?«

»Wie meinst du das?«
»Sobald wir Kranke als geheilt entlassen, verschärft

sich draußen der allgemeine Konkurrenzkampf.«

Basil starrte ihn an. »Du bist also der Meinung, wir

sollten  keine  Anstrengungen  machen,  die  Patienten
zu heilen?«

»Nicht unbedingt«, antwortete Waylock. »Aber ich

vermute,  daß  die  verstärkte  Konkurrenz  dazu  führt,
daß die Psychose weiter um sich greift.«

»Vielleicht«,  murmelte  Basil  ohne  große  Begeiste-

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rung.

»Meiner  Auffassung  nach  sorgt  jeder  Entlassene

dafür, daß zwei neue Kranke in Beruhigungsanstalten
eingeliefert werden müssen.«

Basil  runzelte  die  Stirn  und  sagte  dann  energisch.

»Na, das ist jedenfalls nicht unsere Sorge. Uns steht es
nicht zu, über das Schicksal unserer Mitmenschen zu
urteilen;  diese  Funktion  erfüllt  der  Aktuarius.  Wir
können nur tun, was in unseren Kräften steht.«

Waylock  zuckte  mit  den  Schultern.  »Du  hast  ei-

gentlich recht, das Problem betrifft uns gar nicht. Un-
sere Aufgabe ist es nur, Kranke zu heilen. Das Pryta-
neon  bestimmt  die  Richtlinien  unseres  Daseins;  der
Aktuarius beurteilt unsere Leistungen; die Assassinen
sorgen  für  das  rechtzeitige  Ende  –  das  sind  ihre
Funktionen.«

»Ganz recht«, stimmte Basil zu. »Sprechen wir also

wieder von meiner neuen Therapie. Ich habe bereits
einige  Versuche  angestellt  und  gewisse  Erfolge  er-
zielt.  Aber  Maximilian  Hertzog  ist  ein  geradezu  ex-
tremer Fall. Wenn ich ihn heilen oder seinen Zustand
nur  deutlich  bessern  kann,  ist  meine  Methode  glän-
zend gerechtfertigt.« Basil lehnte sich in seinen Stuhl
zurück.

»Falls alles wie geplant klappt, müßtest du sofort in

Dritte aufsteigen«, stellte Waylock fest.

»Dritte,  vielleicht  sogar  Rand.  Meine  Therapie  ist

wirklich umwälzend!«

»Wenn sie wirkt.«
»Das will ich eben beweisen«, sagte Basil.
»Darf  ich  mich  nach  Einzelheiten  dieser  Methode

erkundigen?«

Basil  machte  eine  abwehrende  Handbewegung.

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»Darüber möchte ich jetzt noch nicht sprechen. Sie ist
im Gegensatz zu den bisher angewandten Therapien
eine  Art  Schockbehandlung.  Natürlich  besteht  dabei
die  Gefahr,  daß  Hertzogs  Zustand  sich  weiter  ver-
schlechtert.« Er runzelte die Stirn. »Sollte dieser Fall
eintreten,  bekomme  ich  natürlich  ernste  Schwierig-
keiten;  meine  Vorgesetzten  würden  behaupten,  ich
hätte  Menschen  als  Versuchskaninchen  mißbraucht.
Und dieser Vorwurf wäre sogar gerechtfertigt.« Basil
legte die Hände auf den Tisch und beugte sich nach
vorn.  »Gavin,  ich  brauche  deine  Hilfe.  Sollte  ich  Er-
folg haben, bringt dir die Verbindung mit mir weitere
Vorteile.  Aber  aus  dem  gleichen  Grund  nimmst  du
auch  ein  gewisses  Risiko  auf  dich,  wenn  du  mir
hilfst.«

»Warum?«
Basil zuckte mit den Schultern. »Außer mir ist nie-

mand von meiner Therapie begeistert.«

»Ich helfe dir«, sagte Waylock.

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17

Maximilian Hertzog lag bewegungslos auf dem gro-
ßen  Operationstisch  in  Basil  Thinkoups  Laboratori-
um; vor seinem Transport hierher war er mit Meioral
betäubt  worden,  aber  dieser  Zustand  würde  nicht
mehr allzulange anhalten. Waylock betrachtete seinen
athletischen  Körper  mißtrauisch,  aber  Basil  rieb  sich
zufrieden die Hände. »Ein prächtiges Versuchsobjekt,
das uns den Aufstieg sichern wird«, meinte er. »Und
vielleicht wird der arme Kerl dabei sogar geheilt.«

Er  schnallte  Hertzogs  Arme  und  Beine  los,  setzte

ihm einen Metallzylinder auf den muskulösen Ober-
körper und betätigte einen Schalter am Kopfende des
Operationstisches.  Über  den  Bildschirm  neben  dem
Schaltpult  huschten  Lichtpunkte;  am  unteren  Rand
erschien die Zahl 38.

»Der Puls ist noch ziemlich langsam«, stellte Basil

fest. »Aber wir brauchen nicht lange zu warten. Mei-
oral verflüchtigt sich rasch.«

»Was dann?« fragte Waylock. »Ist er bewegungslos

oder gewalttätig, wenn er aufwacht?«

»Vermutlich  bewegungslos.  Setz  dich,  Gavin,  ich

muß dir das Verfahren erklären.«

Waylock  nahm  auf  einem  Hocker  Platz;  Basil

lehnte  sich  an  das  Schaltpult.  Der  Pulszähler  auf
Hertzogs Brust zeigte inzwischen 41 an.

»Das wichtigste Symptom der Schizophrenie«, be-

gann Thinkoup, »sind Störungen oder Fehlleitungen
der  Gehirnströme.  Unsere  Patienten  leiden  an  einer
gänzlich verschiedenen Krankheit – ihr Verstand hat
Ähnlichkeit  mit  einem  ›abgewürgten‹  Motor,  der

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nicht  imstande  ist,  ein  offenbar  unüberwindliches
Hindernis zu bewältigen.«

Waylock nickte verständnisvoll. Er warf einen Blick

auf den Pulszähler, der jetzt 46 anzeigte.

»Ich  habe  die  anerkannten  Heilverfahren  kritisch

analysiert und bin zu dem Schluß gekommen, daß sie
ohne Ausnahme mehr oder weniger ungeeignet sind,
weil

 

sie

 

am Kern des Problems vorbeizielen. Keine der

bisher

 

angewendeten

 

Therapien

 

beseitigt

 

die

 

wahre

 

Ur-

sache  der  Erkrankung  –  Lebensangst,  Enttäuschung
und Melancholie. Wer unsere Patienten kurieren will,
muß entweder das Hindernis entfernen – das heißt, er
müßte

 

unsere

 

gesamte

 

Zivilisation

 

von

 

Grund

 

auf

 

än-

dern,

 

was

 

offensichtlich

 

undurchführbar

 

wäre

 

 

oder

 

er

muß den Verstand der Kranken so beeinflussen, daß
dieses  Hindernis  nicht  mehr  unüberwindbar  er-
scheint.«

»Richtig, das verstehe ich«, stimmte Waylock zu.
Basil  lächelte  ironisch.  »Alles  ganz  einfach,  nicht

wahr?

 

Aber

 

es

 

ist trotzdem erstaunlich, daß kaum eine

der bekannten Behandlungsmethoden dieses Prinzip
berücksichtigt. Wodurch sollen die Kranken von ihrer
Lebensangst  und  Melancholie  geheilt  werden?  Sug-
gestion oder Hypnose sind nicht wirkungsvoll genug;
Operationen sind zu radikal, da der Patient organisch
völlig  gesund  ist.  Elektroschockbehandlungen  müs-
sen  wirkungslos  bleiben,  denn  die  Krankheit  beruht
nicht  auf  ungenügend  funktionierenden  Stromkrei-
sen.  Drogen  sind  vielleicht  eher  angebracht,  da  sie
Nervenzentren

 

lähmen

 

oder

 

ganz ausschalten können;

das Problem besteht darin, sie selektiv zu machen.«

Waylock  beobachtete  den  Pulszähler,  der  jetzt  54

anzeigte.

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»Ich  habe  den  ersten  Hinweis  in  einer  Arbeit  ge-

funden,  die  Helmut  und  Gerard  vom  Neurochemi-
schen  Institut  veröffentlicht  haben«,  fuhr  Basil  fort.
»Damit  meine  ich  natürlich  ihre  Forschungen  auf
dem  Gebiet  der  synaptischen  Chemie,  die  sich  mit
den  Vorgängen  beschäftigt,  die  jeweils  dann  auftre-
ten, wenn ein Impuls von Nerv zu Nerv weitergelei-
tet  wird  –  der  grundlegende  Vorgang  des  Denkpro-
zesses.  In  diesem  kurzen  Zeitraum  ereignen  sich
nacheinander

 

einundzwanzig

 

verschiedene chemische

Reaktionen; sobald eine dieser Reaktionen nicht statt-
findet,

 

wird

 

der Impuls ebenfalls nicht weitergeleitet.«

»Ich kann mir vorstellen, worauf du hinauswillst«,

sagte Waylock.

»Diese  Erkenntnis  legt  den  Schluß  nahe,  daß  wir

mit  Hilfe  dieser  Methode  den  Denkvorgang  unserer
Patienten unterbrechen könnten. Wir suchen nach ei-
nem Mittel, das die Erinnerung an ein Hindernis oder
Problem auslöscht. Aber wie soll man dabei eine be-
stimmte Wahl treffen? Logischerweise am besten da-
durch,  daß  man  eine  der  Verbindungen  oder  ihren
Katalysator angreift, während der jeweilige Denkvor-
gang  abläuft.  Ich  habe  mich  für  die  Substanz  ent-
schieden,  die  Helmut  und  Gerard  als  Heptant  be-
zeichnen,  weil  dieser  Stoff  im  Verlauf  des  Denkpro-
zesses  nur  kurzzeitig  entsteht.  Das  eigentliche  Pro-
blem ist gelöst, sobald man ein Mittel zur Verfügung
hat, das Heptant bindet und so den ganzen Vorgang
unterbricht.  Didaktor  Vauxine  Tuderstell  von  der
Biochemischen Klinik hat sich in meinem Auftrag mit
diesem Problem befaßt und es auch gelöst.« Basil öff-
nete  den  Medizinschrank  und  holte  eine  orangerote
Flasche  daraus  hervor.  »Das  ist  die  Lösung  –  Anti-

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heptant.  Wasserlöslich,  ungiftig,  in  kleinsten  Dosen
wirksam.  Sobald  es  mit  dem  Blutstrom  ins  Gehirn
gelangt, hat es die gleiche Wirkung wie die Löschta-
ste  eines  Tonbandgeräts  –  es  löscht  den  Bewußt-
seinsinhalt aktiver Stromkreise, ohne dabei die passi-
ven zu beeinflussen.«

»Basil«,  sagte  Waylock  ehrlich  überzeugt,  »das

klingt wirklich genial!«

»Ein schwieriges Problem blieb allerdings noch zu

lösen«, fuhr Basil lächelnd fort. »Wir wollten vermei-
den, daß auch der Wortschatz des Patienten gelöscht
wird, was eine unausbleibliche Nebenwirkung dieser
Behandlung  zu  sein  schien.  Glücklicherweise  beein-
flußt Antiheptant den Wortschatz des Kranken nicht
im  geringsten.  Ich  kann  mir  nicht  einmal  vorstellen,
weshalb das so ist, bin aber verständlicherweise sehr
zufrieden damit.«

»Hast  du  das  Mittel  bereits  ausprobiert?«  fragte

Waylock.

»Bisher  nur  an  einem  Patienten,  dessen  Erkran-

kung kaum der Rede wert war. Maximilian Hertzog
soll die Probe aufs Exempel sein.«

»Sein  Puls  wird  allmählich  normal«,  sagte  Way-

lock. »Wenn wir uns nicht vorsehen, kann er...«

Basil  machte  eine  wegwerfende  Handbewegung.

»Kein  Grund  zur  Sorge;  wir  können  jederzeit  das
Netz  fallen  lassen.«  Er  wies  auf  das  engmaschige
Netz,  das  ausgebreitet  über  dem  Operationstisch
hing. »Wir müssen sogar erreichen, daß er einen sei-
ner Anfälle bekommt.«

Waylock  zog  die  Augenbrauen  hoch.  »Ich  dachte,

wir würden uns alle Mühe geben, diesen Zustand zu
verhindern.«

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Basil schüttelte den Kopf. »Seine Gedanken sollen

sich  ausschließlich  mit  dem  unüberwindbaren  Hin-
dernis  befassen,  das  sein  größtes  Problem  ist.  Dann
geben  wir  ihm  Antiheptant!  Das  Heptant  seines  Ge-
dankenvorgangs  wird  sofort  gebunden  und  un-
schädlich gemacht; der Stromfluß endet – und damit
verschwindet  auch  das  eingebildete  Hindernis.  Der
Patient ist wieder gesund.«

»So einfach ist das!«
»Einfach  und  elegant.«  Basil  warf  einen  Blick  auf

Hertzogs Gesicht. »Er wacht bald auf. Gavin, du be-
hältst  der.  Schalter  in  der  Hand,  mit  dem  das  Netz
ausgelöst wird, und regelst die Antiheptantzufuhr.«

»Was habe ich genau zu tun?«
»Zuerst  schließen  wir  ein  Meßgerät  an,  das  uns

zeigt,  wie  hoch  die  Antiheptantkonzentration  in
Hertzogs  Gehirn  ist.  Wir  dürfen  nicht  übertreiben,
sonst werden auch andere Gedankenprozesse unter-
brochen,  die  intakt  bleiben  sollen.«  Basil  legte  zwei
Elektroden an den Kopf des Patienten an. »Das Anti-
heptant  ist  schwach  radioaktiv,  was  die  Mengenbe-
stimmung  sehr  erleichtert.«  Er  verband  die  Drähte
mit  dem  Schaltpult,  auf  dem  mehrere  bunte  Signal-
lampen in einer Reihe angebracht waren. Jetzt leuch-
tete ein rotes Lämpchen auf. »Das ist unser Anzeige-
gerät. Du mußt dafür sorgen, daß die gelbe Lampe in
der Mitte aufleuchtet, denn das ist der Idealzustand.
Sobald  sich  die  Färbung  zu  grün  verändert,  ist  die
zulässige  Dosierung  überschritten;  wird  sie  jedoch
rötlich,  muß  mehr  Antiheptant  zugeführt  werden.
Verstanden?«

»Natürlich.«
Basil  schob  Hertzog  eine  Nadel  in  die  Vene  und

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verband  den  dünnen  Schlauch  mit  einem  Tropfbe-
hälter. »Siehst du diesen Knopf, Gavin? Sobald du ihn
drückst,  wird  ein  Milligramm  Antiheptant  in  Hert-
zogs Blut freigesetzt. Der Hebel hier löst notfalls das
Netz aus; du betätigst ihn, wenn ich es sage. Sei aber
vorsichtig,  damit  du  mich  nicht  darunter  einsperrst.
Wenn  ich  dir  ein  Zeichen  gebe,  drückst  du  kurz  auf
den Knopf. Verstanden?«

Waylock nickte wortlos.
Basil warf einen Blick auf den Bildschirm des Puls-

zählers. »Jetzt  braucht er noch eine  Spritze, dann  ist
sein ›Normalzustand‹ wieder erreicht.« Er gab Hert-
zog eine Injektion.

Der Kranke holte langsam tief Luft; sein Gesichts-

ausdruck, der eben noch fast entspannt gewesen war,
veränderte sich wieder zu einer starren Maske. Way-
lock  sah,  daß  Hertzog  die  Fäuste  ballte.  »Vorsichtig,
Basil, er wird gleich gewalttätig.«

»Ausgezeichnet«,  antwortete  Basil,  »mehr  wollen

wir gar nicht.« Er sah sich um. »Du mußt ihn ständig
im  Auge  behalten,  damit  du  das  Netz  rechtzeitig
auslösen kannst.«

»Wird gemacht«, versicherte Waylock ihm.
»Gut.« Basil beugte sich über den Patienten. »Hert-

zog. Maximilian Hertzog!«

Hertzog schien rascher zu atmen.
»Hertzog!«  rief  Basil  laut.  »Maximilian  Hertzog!

Wach auf!«

Hertzog bewegte sich.
»Hertzog.  Du  mußt  aufwachen.  Ich  habe  gute

Nachrichten für dich. Maximilian Hertzog!« Hertzogs
Lider zitterten. »Antiheptant«, wies Basil Waylock an.

Waylock  drückte  auf  den  Knopf  und  schickte  ein

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Milligramm Antiheptant in Hertzogs Adern. Das rote
Licht wurde orange und schließlich orangegelb. Basil
nickte zufrieden.

»Hertzog! Aufwachen! Gute Nachrichten!«
Die Augen des Patienten öffneten sich einen Spalt

breit.  Aus  gelb  wurde  wieder  rot.  »Antiheptant«,
sagte  Basil.  Waylock  drückte  auf  den  Knopf;  die
Lampe leuchtete gelb auf.

»Hertzog«,  flüsterte  Basil  drängend,  »du  bist  ein

Versager.  Du  kannst  nie  in  Dritte  aufsteigen  –  Anti-
heptant, Gavin –, Hertzog, du hast dir alle Mühe ge-
geben,  aber  zu  viele  Fehler  gemacht.  Daran  bist  nur
du  allein  schuld.  Du  hast  dein  Leben  vergeudet,
Hertzog.«

Der Kranke atmete schwer. Basil gab Waylock ein

Zeichen,  ihm  noch  mehr  Antiheptant  einzuflößen.
»Maximilian Hertzog«, fuhr er rasch fort, »du bist ein
jämmerlicher  Versager.  Andere  Männer  erreichen
Dritte,  aber  du  schaffst  es  nie.  Du  hast  versagt.  Du
hast  deine  Zeit  vergeudet.  Du  hast  ein  Ziel  vor  Au-
gen, das du nie erreichen wirst.«

Auf  Hertzogs  Stirn  traten  die  Adern  hervor.  Sein

Atem kam stoßweise. »Antiheptant, Gavin, Antihep-
tant.«

Waylock  drückte  auf  den  Knopf,  und  die  Lampe

leuchtete wieder gelb. Basil wandte sich nochmals an
den  Patienten.  »Hertzog  –  erinnerst  du  dich  an  die
vielen verpaßten Gelegenheiten? An die Männer, die
keineswegs  intelligenter  als  du  waren,  obwohl  sie
jetzt in Dritte oder Rand sind? Und du hast nur eine
letzte  Fahrt  in  der  schwarzen  Limousine  zu  erwar-
ten!«

Maximilian  Hertzog  setzte  sich  langsam  auf.  Er

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starrte Basil an, bewegte dann den Kopf und sah zu
Waylock hinüber.

Keiner  der  drei  Männer  sprach.  Basil  war  sprung-

bereit,  Waylock  stand  wie  erstarrt.  Das  rote  Licht
leuchtete wieder.

»Mehr Antiheptant?« fragte Waylock leise.
»Nein«,  antwortete  Basil  nervös,  »vorläufig  noch

nicht... Wir dürfen nicht allzuviel auslöschen.«

»Was wollen Sie auslöschen?« erkundigte Hertzog

sich. Er betastete seinen Kopf, spürte die Elektroden
und  betrachtete  verblüfft  seinen  Arm.  »Was  hat  das
alles zu bedeuten?«

»Bitte«,  sagte  Basil  rasch  und  machte  eine  abweh-

rende Handbewegung. »Lassen Sie bitte alles, wie es
jetzt ist, sonst können wir die Behandlung nicht fort-
setzen.«

»Behandlung?«  Hertzog  schüttelte  verblüfft  den

Kopf. »Bin ich denn krank? Ich fühle mich eigentlich
ganz wohl.« Er rieb sich die Stirn. »Mir ist es nie bes-
ser gegangen. Wissen Sie bestimmt, daß Sie den rich-
tigen  Mann  behandeln?  Ich  bin...«  Er  runzelte  die
Stirn. »Mein Name ist...«

Basil  warf  Waylock  einen  bedeutungsvollen  Blick

zu. Das Mittel hatte Hertzogs Erinnerungsvermögen
so  stark  beeinflußt,  daß  er  selbst  seinen  Namen  ver-
gessen hatte.

»Sie  heißen  Maximilian  Hertzog«,  erklärte  Basil

ihm.

»Ah.  Ja  –  richtig.«  Hertzog  sah  sich  um.  »Wo  bin

ich?«

»Sie sind im Krankenhaus«, sagte Basil beruhigend.

»Wir sorgen für Sie.«

Maximilian  Hertzog  starrte  ihn  forschend  an,  und

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Basil fuhr rasch fort: »Am besten legen Sie sich wie-
der zurück und entspannen sich. In drei oder vier Ta-
gen können wir Sie wieder entlassen.«

Hertzog sank zurück und sah mißtrauisch von Ba-

sil  zu  Waylock.  »Wo  bin  ich  eigentlich?  Was  fehlt
mir?  Ich  habe  keine  Ahnung.«  Er  starrte  das  Netz
über sich an. »Was...?« Dann las er die gestickten Sil-
berbuchstaben  auf  Waylocks  linker  Brusttasche:  Pal-
liatorium Balliasse.

»Beruhigungsanstalt  Balliasse«,  krächzte  Hertzog.

»Bin  ich  als  Verrückter  eingeliefert  worden?«  Seine
Stimme  wurde  heiser.  »Lassen  Sie  mich  hinaus,  mir
fehlt  nichts;  ich  bin  so  normal  wie  jeder  andere!«  Er
riß sich die Elektroden vom Kopf und die Nadel aus
dem Arm.

»Nein, nein«, rief Basil beschwörend. »Sie müssen

ganz ruhig bleiben, Sie dürfen sich nicht aufregen!«

Hertzog  schob  ihn  von  sich  fort  und  wollte  vom

Operationstisch springen.

Waylock  löste  das  Netz  aus;  es  fiel  schwer  nach

unten  und  hielt  Hertzog  auf  dem  Tisch  fest.  Er  be-
gann  zu  kreischen  und  hatte  schließlich  sogar
Schaum  vor  dem  Mund,  während  er  die  unnachgie-
bigen Maschen zu zerreißen versuchte.

Basil näherte sich ihm mit einer Impfpistole in der

Hand.  Sekunden  später  lag  Hertzog  bewußtlos  auf
dem Tisch.

Waylock  holte  tief  Luft.  »Puh!«  Basil  ließ  sich  auf

einen  Stuhl  fallen.  »Nun,  was  hältst  du  davon,  Ga-
vin?«

»Er  scheint  für  kurze  Zeit  vernünftig  und  an-

sprechbar  gewesen  zu  sein«,  antwortete  Waylock
vorsichtig. »Die Methode ist offenbar aussichtsreich.«

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»Aussichtsreich«,  rief  Basil.  »Gavin,  sie  ist  unver-

gleichlich!  Keines  der  anderen  Verfahren  hätte  ein
ähnlich gutes Resultat erzielt!«

Sie nahmen Hertzog das Netz ab, legten ihn auf ei-

ne  Tragbahre  und  ließen  ihn  von  zwei  Krankenpfle-
gern in den Saal für Schwerkranke zurückbringen.

»Morgen  müssen  wir  bis  zu  den  Querverbindun-

gen  vordringen«,  stellte  Basil  fest.  »Wir  dürfen  uns
nicht  auf  die  eigentliche  Ursache  seiner  Erkrankung
beschränken, sondern auch die Nebenwirkungen be-
rücksichtigen.«

Als  sie  durch  Basils  Arbeitszimmer  hinausgingen,

räumte  Seth  Caddigan  eben  seinen  Schreibtisch  auf.
»Nun, meine Herren«, fragte er neugierig, »wie geht
die Sache voran?«

Basil  zuckte  mit  den  Schultern.  »Oh,  ich  bin  recht

zufrieden.«

Caddigan  warf  ihm  einen  skeptischen  Blick  zu,

schien  etwas  sagen  zu  wollen,  schwieg  dann  aber
doch und wandte sich ab.

Basil  und  Gavin  fuhren  in  die  Stadt  zurück  und

suchten  eine  der  alten  Tavernen  auf,  wo  sie  eine
holzgetäfelte Nische für sich allein hatten. Sie tranken
Bier aus großen Steinkrügen. Waylock brachte einen
Toast  auf  Basils  neue  Heilmethode  aus,  und  Basil
antwortete  mit  einem  auf  Gavins  erfolgreiche  Zu-
kunft.

»Ich freue mich, daß du nichts mehr mit Carnevalle

zu  tun  hast«,  stellte  Basil  fest.  »Dabei  fällt  mir  übri-
gens ein – Die Jacynth Martin hat mich neulich ange-
rufen. Erst gestern abend, um es genau zu sagen.«

Waylock starrte ihn an.
»Ich  kann  mir  nicht  vorstellen,  was  sie  von  mir

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wollte«,  fuhr  Basil  fort  und  griff  nach  seinem  Bier-
krug.  »Wir  haben  drei  oder  vier  Minuten  lang  über
unbedeutende Kleinigkeiten gesprochen, dann hat sie
sich  bedankt  und  aufgelegt.  Ein  faszinierendes  We-
sen.« Basil trank seinen Krug leer und setzte ihn ge-
räuschvoll  auf  den  Tisch.  »So,  jetzt  muß  ich  nach
Hause, Gavin.«

Die  beiden  Männer  verabschiedeten  sich  vor  der

Taverne. Basil fuhr in sein bescheidenes Appartement
am  Semaphore  Hill;  Waylock  ging  nachdenklich  die
Riverside Road entlang.

Die  Jacynth  Martin  hatte  also  begonnen,  nach  der

Ursache  ihres  plötzlichen  Hinscheidens  zu  forschen.
Nun, von Basil würde sie nicht viel erfahren, und er
selbst würde sich hüten, ihr etwa zu erklären, wie es
dazu gekommen war.

Ein  Ungeheuer.  Waylock  lachte  grimmig  in  sich

hinein.  Diesen  Namen  würden  ihm  die  Bürger  von
Clarges geben.

Der heimtückische Mord, dem Die Jacynth Martin

zum Opfer gefallen war, sollte offenbar nicht bekannt
werden – das war die übliche Methode, wenn Ama-
ranth  in  die  Affäre  verwickelt  waren.  Waylock  erin-
nerte sich verbittert daran, daß ein anderer Todesfall
vor  sieben  Jahren  keineswegs  vertuscht,  sondern  im
Gegenteil unmäßig aufgebauscht worden war.

Wenige  Minuten  später  erreichte  er  sein  Apparte-

ment. Er öffnete die Tür. Die Jacynth Martin saß ruhig
auf seiner Couch.

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18

Die Jacynth erhob sich. »Sie entschuldigen hoffentlich
mein  Eindringen.  Die  Tür  war  unverschlossen,  des-
halb bin ich gleich hereingekommen.«

Waylock  wußte  bestimmt,  daß  er  die  Tür  abge-

schlossen hatte. »Ich freue mich, daß Sie gleich hier-
geblieben sind.« Er trat rasch auf sie zu, umarmte sie
und  gab  ihr  einen  Kuß.  »Ich  habe  Sie  schon  sehn-
süchtig erwartet.«

Die  Jacynth  löste  sich  aus  seiner  Umarmung  und

starrte Waylock unsicher an. Sie trug heute ein weites
weißes Kleid, das gut zu dem blonden Haar und den
dunkelblauen Augen paßte.

»Wirklich  ein  außergewöhnlicher  Anblick«,  mur-

melte Waylock. »Allein wegen Ihrer Schönheit müß-
ten Sie eine Amaranth sein.«

Er  streckte  nochmals  die  Arme  nach  ihr  aus,  aber

Die Jacynth trat zurück.

»Ich muß Sie leider enttäuschen«, sagte sie mit ei-

ner  abwehrenden  Bewegung.  »Ihr  Verhältnis  zu  der
früheren Jacynth betrifft mich nicht im geringsten. Ich
bin die neue Jacynth!«

»Die neue Jacynth? Weshalb?«
»Das muß sich noch herausstellen.« Sie betrachtete

ihn von Kopf bis Fuß. »Sie sind... Gavin Waylock?«

»Selbstverständlich.«
»Sie haben große Ähnlichkeit mit einem anderen –

mit einem Mann namens Grayven Warlock.«

»Der Grayven Warlock lebt nicht mehr. Ich bin sein

Relikt.«

Die Jacynth zog die Augenbrauen hoch. »Tatsäch-

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lich?«

»Tatsächlich. Aber ich verstehe nicht, was Sie von

mir wollen.«

»Schön, dann erkläre ich es Ihnen«, antwortete sie

rasch.  »Ich  bin  Die  Jacynth  Martin.  Vor  etwa  einem
Monat  wurde  meine  frühere  Version  in  Carnevalle
entleibt.  Anscheinend  haben  wir  einen  Teil  des
Abends  gemeinsam  verbracht.  Wir  saßen  im  Café
Pamphylia  und  trafen  dort  Basil  Thinkoup;  wenig
später  kamen  auch  Der  Albert  Pondiferry  und  Der
Denis  Lestrange  an  unseren  Tisch.  Unmittelbar  vor
meinem  Hinscheiden  entfernten  Sie  sich  mit  Basil
Thinkoup. Stimmt das alles?«

»Lassen  Sie  mich  überlegen«,  bat  Waylock.  »Sie

heißen  also  nicht  Mira  Martin  und  sind  kein  Glark-
Mädchen?«

»Ich bin Die Jacynth Martin.«
»Und Sie wurden entleibt?«
»War Ihnen das nicht klar?«
Waylock zuckte mit den Schultern. »Wir sahen, daß

Sie auf dem Tisch zusammengesunken waren. Offen-
bar war Ihnen irgend etwas nicht bekommen – Ihnen
war  vermutlich  schlecht  geworden.  Der  Albert  und
Der Denis wollten sich um Sie kümmern. Wir konn-
ten also unbesorgt gehen.« Er deutete auf die Couch.
»Nehmen Sie doch wieder Platz; ich möchte Ihnen ein
Glas Wein anbieten.«

»Nein.  Ich  bin  nur  gekommen,  um  Ihnen  einige

Fragen zu stellen.«

»Gut,  wenn  es  sein  muß.  Was  wollen  Sie  von  mir

wissen?«

Ihre  Augen  funkelten.  »Die  näheren  Umstände

meines  Hinscheidens!  Ein  Bösewicht  hat  mir  mein

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Leben geraubt. Ich muß seinen Namen erfahren und
an  ihm  Rache  nehmen.  Dieses  Verbrechen  schreit
nach Rache!«

»Verbrechen  ist  kaum  der  richtige  Ausdruck«,  er-

widerte  Waylock  gelassen.  »Sie  leben  weiterhin.  Sie
stehen vor mir und sind so schön und jugendlich wie
damals in Carnevalle.«

»Mit dem gleichen Argument würde auch ein Un-

geheuer sein Verbrechen entschuldigen wollen.«

»Sie werfen mir vor, ich sei ein Ungeheuer, ich sei

an Ihrem Hinscheiden schuld?«

»Ich  habe  Ihnen  nichts  dergleichen  vorgeworfen;

ich habe nur Ihre Denkungsart kritisiert.«

»Dann denke ich in Zukunft nie wieder«, versprach

Waylock lächelnd. »Außerdem fällt mir eben ein net-
terer  Zeitvertreib  ein.«  Er  streckte  wieder  die  Arme
nach ihr aus.

Die Jacynth trat rasch zurück und wurde vor Wut

und Verlegenheit blutrot. »Ich habe nichts mit Ihrem
Verhältnis  zu  meiner  Vorgängerin  zu  schaffen;  Sie
sind mir völlig fremd!«

»Ich  mache  gern  einen  neuen  Anfang«,  sagte

Waylock. »Kommen Sie, darf ich Ihnen ein Glas Wein
anbieten?«

»Ich will keinen Wein, sondern nur Informationen!

Ich  muß  wissen,  wie  ich  entleibt  worden  bin.«  Sie
ballte  die  Fäuste.  »Ich  muß  es  wissen  und  werde  es
erfahren! Erzählen Sie mir davon!«

Waylock  zuckte  mit  den  Schultern.  »Da  gibt  es

nicht viel zu erzählen.«

»Wir sind uns irgendwo begegnet... wo haben wir

uns getroffen? Wann? Haben Sie nicht in Carnevalle
vor dem Haus des Lebens gearbeitet?«

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»Ah, ich sehe, daß Sie sich gut mit Basil Thinkoup

unterhalten haben.«

»Ja. Vor einem Monat waren Sie noch in Carnevalle

beschäftigt.  Dann  haben  Sie  plötzlich  diesen  Beruf,
den Sie sieben Jahre lang ausgeübt hatten, von einem
Tag zum anderen aufgegeben. Sie haben sich in Brut
registrieren lassen und Ihre ganze Lebensweise geän-
dert. Warum?«

Waylock kam langsam auf sie zu. Die Jacynth wich

Schritt  für  Schritt  vor  ihm  zurück,  bis  sie  mit  dem
Rücken  an  der  Wand  stand.  Er  legte  ihr  die  Hände
auf die Schultern. »Ihre Fragen sind reichlich imper-
tinent.«

»So«, flüsterte sie. »Wie leicht Sie zu finden waren,

wie deutlich Ihnen das Schuldbewußtsein im Gesicht
geschrieben steht!«

»Sie beurteilen mich falsch«, protestierte Waylock.

»Sie sind von Anfang an der Überzeugung gewesen,
ich sei an Ihrem Ende schuld.«

Die Jacynth machte sich mit einem Ruck frei. »Ich

kann die Berührung Ihrer Hände nicht ertragen.«

»Dann ist nicht einzusehen, weshalb Sie noch län-

ger bleiben sollen.«

»Sie haben also nicht die Absicht, meine Fragen of-

fen und ehrlich zu beantworten?«

»Nein.  Solange  Ihr  Verdacht  gegen  mich  besteht,

würden Sie mir ohnehin nicht glauben.«

»Dann  müssen  Sie  eben  unter  Zwang  antworten,

dafür kann ich sorgen!« Sie drängte sich an ihm vor-
bei und erreichte die Tür; dort blieb sie kurz stehen,
warf  ihm  noch  einen  wütenden  Blick  zu  und  ging
dann. Die Tür fiel hinter ihr ins Schloß.

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19

Waylock  hörte  ihre  Schritte  im  Flur  verhallen.  Er
blieb einige Minuten lang bewegungslos stehen und
hing  seinen  Gedanken  nach.  Weshalb  hatte  Die
Jacynth es gewagt, ihn um diese Zeit ohne Begleitung
in seinem Appartement aufzusuchen obwohl sie ihn
bereits in Verdacht hatte, an ihrem Hinscheiden mit-
schuldig zu sein?

Plötzlich fiel ihm etwas ein; er sah sich suchend um

und ließ sich auf die Knie nieder. Unter der Couch lag
tatsächlich ein Sender – ein winziges Gerät, das nicht
größer  als  eine  Streichholzschachtel  war.  Irgend  je-
mand mußte das Gespräch mitgehört haben und wä-
re  vermutlich  sofort  gekommen,  wenn  Tätlichkeiten
zu befürchten waren. Das erklärte ihre unbegreifliche
Kühnheit.

Waylock  zermalmte  den  Sender  mit  dem  Absatz

und warf die Trümmer in den Müllschlucker.

Dann nahm er eine Weintraube aus der Obstschale,

ließ sich auf die Couch fallen und dachte angestrengt
nach.

Die Jacynth Martin brauchte nur eine Beschwerde-

anzeige einzureichen. Die Assassinen würden ihn in
eine  Verhörzelle  einliefern.  Drei  Tribunen  würden
beim Verhör anwesend sein, um darüber zu wachen,
daß alles mit rechten Dingen zuging – aber er konnte
nicht  verhindern,  daß  er  unter  Einfluß  der  Wahr-
heitsdroge alles aussagte, was er im Zusammenhang
mit diesem Fall wußte.

Sollte  er  sich  als  unschuldig  erweisen,  würde  Die

Jacynth Schadenersatz leisten müssen. War er jedoch

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schuldig, konnte er nicht auf Gnade oder Mitleid hof-
fen; in diesem Fall würde es bald keinen Gavin Way-
lock mehr geben.

Waylock  starrte  mißmutig  aus  dem  Fenster  in  die

Nacht  hinaus.  Seine  eigenen  Gedanken  würden  ihn
verraten; ein Verhör dieser Art brachte unweigerlich
die  Wahrheit  an  den  Tag...  Er  sprang  plötzlich  auf.
Gedankenerforschung!  Sie  sollten  ruhig  versuchen,
seine Gedanken zu erforschen! Sie würden trotzdem
keinen  Hinweis  finden!  Ihm  war  eben  eingefallen,
wie er sich davor schützen konnte.

Er  ging  erregt  auf  und  ab.  Eine  halbe  Stunde  ver-

strich,  fünfundvierzig  Minuten,  eine  Stunde.  Dann
setzte er sich an sein Tonbandgerät und diktierte zwei
längere Passagen. Er verpackte das erste Band in ei-
nem  Karton;  das  zweite  blieb  auf  dem  Gerät  und
wurde  durch  eine  kurze  schriftliche  Erklärung  er-
gänzt, die an ihn selbst gerichtet war.

Dann  stellte  er  seinen  Wecker  auf  sechs  Uhr  und

ging zu Bett.

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20

Waylock  traf  ungewöhnlich  früh  in  der  Anstalt  ein
und begegnete am Tor den Schwestern und Pflegern,
die Nachtdienst gehabt hatten.

Der  Pförtner  verlangte  seinen  Ausweis.  Waylock

zeigte  ihn  vor  und  fuhr  mit  dem  Lift  in  den  dritten
Stock hinauf.

Auf Basils Schreibtisch leuchtete ein rotes Blinklicht

auf,  das  anzeigen  sollte,  daß  eine  Nachricht  für  ihn
vorlag. Waylock drückte auf den Lautsprecherknopf
und hörte sich die Aufzeichnung an.

»Aus dem Büro des Verwaltungsdirektors Benber-

ry«,  sagte  eine  weibliche  Stimme.  »Für  Basil  Thin-
koup  persönlich.«  Dann  kam  Benberrys  heisere
Stimme. »Basil, kommen Sie bitte sofort zu einer Be-
sprechung  zu  mir.  Ich  mache  mir  ernsthaft  Sorgen.
Wir müssen gemeinsam überlegen, wie wir Ihre Ar-
beit  dem  Aufsichtsrat  gegenüber  rechtfertigen  kön-
nen. Diese planlosen und undisziplinierten Versuche
müssen endlich aufhören. Arbeiten Sie auf keinen Fall
weiter, bevor Sie mit mir gesprochen haben.«

Waylock verließ das Büro und ging ins Laboratori-

um  hinüber.  Dort  füllte  er  eine  Injektionsspritze  mit
Antiheptant. Der orangerote Plastikbehälter war fast
leer.  Aber  Basil  würde  kein  Antiheptant  mehr  brau-
chen, während Waylock dieses Mittel vielleicht auch
in Zukunft nutzbringend verwerten konnte...

Er  füllte  den  Rest  in  eine  Flasche  ab  und  goß  den

Plastikbehälter voll destilliertes Wasser. Dann ging er
in  Basils  Arbeitszimmer  zurück,  setzte  sich  an  den
Schreibtisch und legte die erste Tonbandspule ein.

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Dann  hob  er  die  Injektionsspritze  und  wollte  sich

das Mittel einspritzen, zögerte aber noch und schrieb
zuerst eine Notiz, die er auf den Schreibtisch vor sich
legte.  Jetzt  nahm  er  die  Spritze  ein  zweitesmal  zur
Hand und injizierte sich das Antiheptant.

Er wartete und konzentrierte sich auf seine Aufga-

be. An nichts denken. Jeder Gedanke, jede Idee mußte
gelöscht werden. Nichts denken. Gar nichts denken. Sein
Kopf schmerzte, als müsse er im nächsten Augenblick
zerspringen. Ich heiße Gavin Waylock...

Daran dachte er nur einmal; später wußte er nicht

mehr, wie er hieß. Auf seiner Stirn erschienen große
Schweißperlen.  Nichts,  nichts,  nichts.  Die  Tonband-
stimme begann zu sprechen. Sie beschrieb den Abend
in Carnevalle, an dem ihm Die Jacynth Martin begeg-
net war.

Das  Tonbandgerät  verstummte.  Waylock  schloß

die Augen, lehnte sich in den Sessel zurück und ent-
spannte sich völlig. Das Antiheptant verbreitete sich
durch seinen Körper. Waylock wußte nicht mehr, wo
er war und was er tat... Er setzte sich wieder auf. Der
engbeschriebene  Zettel  erregte  seine  Aufmerksam-
keit. Er beugte sich nach vorn und las:

Ich habe eben die Erinnerung an ein bestimmtes Ereig-

nis  aus  meinem  Gedächtnis  gelöscht.  Vielleicht  habe  ich
auch  andere  Tatsachen  vergessen.  Ich  heiße  Gavin  Way-
lock.  Falls  mich  jemand  danach  fragen  sollte,  bin  ich  das
Relikt des verstorbenen Grayven Warlock. Meine Adresse
lautet Phariot Way 414, Appartement 820.

Dann  folgten  andere  Informationen  ähnlicher  Art,

die mit der Warnung schlossen:

... Weitere Gedächtnislücken sind zu erwarten. Versuche

nicht  zu  erraten,  welche  Erinnerungen  gelöscht  wurden.

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Es ist möglich, daß die Assassinen dir einen Besuch abstat-
ten; vielleicht kommt es auch zu einem Verhör, in dem du
nach  dem  Hinscheiden  der  Jacynth  Martin  gefragt  wirst,
von dem du nichts weißt.

ACHTUNG: Du mußt die Aufzeichnungen der letzten

Viertelstunde löschen. Du darfst sie dir unter keinen Um-
ständen anhören, weil dadurch der Versuchserfolg zunichte
gemacht würde.

Waylock  las  die  Nachricht  zweimal  durch  und

löschte  dann  die  Aufzeichnung.  Er  hieß  also  Gavin
Waylock;  der  Name  kam  ihm  irgendwie  bekannt
vor...

Er legte die Injektionsspritze an ihren Platz zurück

und entfernte dann sorgfältig alle Spuren seines Ver-
suchs.

Seth Caddigan kam wenige Minuten später herein;

er warf Waylock einen überraschten Blick zu. »Wes-
halb sind Sie schon so früh hier?«

»Arbeitseifer«,  erklärte  Waylock  ihm.  »Gewissen-

haftigkeit.«

»Erstaunlich.«  Caddigan  ging  an  seinen  Schreib-

tisch  und  runzelte  die  Stirn.  »Anscheinend  fehlt
wirklich nichts.«

Waylock  ignorierte  ihn.  »Haben  Sie  das  letzte  Ge-

rücht  schon  gehört?«  fragte  Caddigan  wenig  später.
»Basils Stunden sind offenbar gezählt. Er soll wegen
erwiesener Unfähigkeit entlassen werden. Vermutlich
wird es Ihnen nicht viel besser gehen. An Ihrer Stelle
würde  ich  mich  nach  einem  anderen  Tätigkeitsbe-
reich umsehen.«

»Vielen  Dank  für  den  guten  Rat«,  sagte  Waylock.

»Ihre  ehrliche  Abneigung  ist  wirklich  erfrischend,
Caddigan.  Sie  ist  mir  jedenfalls  viel  lieber  als  eine

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synthetische Freundschaft.«

Caddigan  lächelte  grimmig  und  vertiefte  sich  in

seine Papiere.

Dann  erklangen  draußen  Basils  Schritte.  Er  kam

fröhlich lächelnd herein. »Guten Morgen, Seth; guten
Morgen,  Gavin!  Wieder  ein  arbeitsreicher  Tag  vor
uns! Verschiebe nie auf morgen, was du heute kannst
besorgen.  Die  Uhr  steht  nicht  still;  verschwendete
Zeit ist vergeudetes Leben!«

»Meine  Güte,  wie  fröhlich!«  murmelte  Caddigan

spöttisch.

Basil drohte ihm unbekümmert mit dem Zeigefin-

ger. »Sie werden sich noch an meinen guten Rat erin-
nern, wenn der Assassine an Ihrer Tür klopft. Komm,
Gavin, wir machen uns gleich an die Arbeit.«

Waylock folgte ihm zögernd in sein Arbeitszimmer

und starrte verlegen aus dem Fenster, während Basil
sich die Aufzeichnung anhörte. Basil stand einen Au-
genblick  wie  erstarrt,  dann  holte  er  tief  Luft.  »Pah!«
Er schaltete das Gerät aus, kam ans Fenster und sah
zu Waylock auf. »Das habe ich einfach nicht gehört.
Hast du Benberrys Anweisung gehört, Gavin?«

Waylock zögerte. Der orangerote Behälter war jetzt

nur  mit  destilliertem  Wasser  gefüllt.  »Wir  können
jetzt  nicht  einfach  aufhören«,  fuhr  Basil  fort.  »Wir
stehen dicht vor einer großen Entdeckung! Wenn wir
uns  von  Kleinigkeiten  beeinflussen  lassen,  sind  wir
verloren.«

»Vielleicht  wäre  es  doch  besser,  wenn  wir...«,  be-

gann Waylock, aber Basil unterbrach ihn sofort. »Du
mußt  tun,  was  du  für  richtig  hältst,  Gavin.  Ich  habe
jedenfalls  die  Absicht,  das  Experiment  zu  Ende  zu
führen. Wenn du mir dabei nicht helfen willst, kom-

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me ich auch allein zurecht.«

Waylock  schluckte  trocken.  Benberrys  Anweisung

kümmerte  ihn  herzlich  wenig;  aber  er  konnte  Basil
nicht erklären, wozu er das Antiheptant benützt hat-
te.

Basil stand bereits an der Gegensprechanlage und

gab Anweisung, Maximilian Hertzog in sein Labora-
torium zu bringen.

Waylock  folgte  ihm  zögernd  in  den  Nebenraum.

Eine Wasserinfektion konnte Hertzog nicht schaden;
vielleicht  wachte  er  nicht  einmal  aus  seinem  Däm-
merzustand auf. Bekam er jedoch einen Anfall – nun,
dann war schließlich noch das Netz da.

Er  machte  einen  letzten  Versuch,  das  Experiment

aufzuhalten;  aber  Basil  ließ  sich  nicht  umstimmen.
»Ich  habe  Verständnis  für  deine  Bedenken,  Gavin;
meinetwegen  kannst  du  mich  mit  ihm  allein  lassen
und inzwischen etwas anderes tun, ohne daß ich dir
deswegen  böse  wäre.  Aber  ich  muß  diesen  Versuch
zu Ende führen. Er ist wichtiger als alles andere, denn
wenn  er  glückt,  ist  endlich  bewiesen,  daß  meine
werten Kollegen mich bisher unterschätzt haben. Ich
werde sie öffentlich bloßstellen! Und Benberry – die-
ser lächerliche Affe!«

Ein Glockenton erklang, dann öffnete sich die Tür.

Zwei  Krankenwärter  brachten  Maximilian  Hertzog
auf  einer  Tragbahre  herein,  legten  den  Bewußtlosen
auf den Operationstisch und verließen das Laborato-
rium.

Basil traf seine Vorbereitungen. Waylock beobach-

tete ihn schweigend. Wenn er zugab, daß er das An-
tiheptant für seine Zwecke verwendet hatte, mußte er
einen  Grund  dafür  angeben.  Er  konnte  sich  nicht

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mehr genau daran erinnern, aber die Nachricht, die er
für sich selbst niedergeschrieben hatte, enthielt einen
Hinweis darauf.

Basil  betrachtete  sein  Schweigen  als  Zustimmung.

»Erinnerst du dich noch an deine Aufgaben?«

»Natürlich«, murmelte Waylock. Das Netz erschien

ihm plötzlich viel zu schwach und keineswegs unzer-
reißbar.  Er  öffnete  die  Tür  des  Lagerraums,  der  sich
an das Laboratorium anschloß.

»Was soll das?« wollte Basil wissen.
»Das  ist  unser  Notausgang,  falls  das  Netz  reißt«,

erklärte Waylock ihm.

»Hmmm«,  meinte  Basil.  »Heute  brauchen  wir  das

Netz bestimmt nicht. Fertig? Antiheptant!«

Waylock  drückte  auf  den  Knopf;  einige  Milli-

gramm Wasser flossen in Hertzogs Adern.

Basil  beobachtete  den  Strahlungsmesser.  »Mehr,

mehr!«  Er  runzelte  die  Stirn.  »Was  ist  mit  der  ver-
dammten Apparatur los?«

»Vielleicht ist es das falsche Mittel«, wandte Way-

lock ein. »Oder es ist schon zu alt.«

»Das  verstehe  ich  einfach  nicht.  Gestern  hat  alles

wunderbar  geklappt.«  Basil  warf  einen  kritischen
Blick auf den orangeroten Behälter. »Die gleiche Lö-
sung...  Na,  vielleicht  kommen  wir  auch  so  zurecht.«
Er beugte sich über die bewegungslose Gestalt. »Ma-
ximilian  Hertzog!  Wach  auf!  Maximilian  Hertzog!
Wach auf! Maximilian Hertzog – heute wirst du aus
der Anstalt entlassen. Wach auf!«

Hertzog  richtete  sich  so  plötzlich  auf,  daß  Basil

rückwärts taumelte und gegen Waylock prallte. Hert-
zog riß sich die Elektroden vom Kopf und die Infusi-
onsnadel aus dem Arm. Er stieß ein heiseres Knurren

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aus, sprang vom Tisch und starrte die beiden Männer
mit blutunterlaufenen Augen an.

»Das Netz!« rief Basil.
Hertzog streckte den Arm nach ihm aus; Basil wich

blitzschnell  zurück.  Waylock  warf  Hertzog  einen
Hocker vor die Beine, hielt Basils Arm fest und zerrte
ihn hinter sich her in den Lagerraum.

Hertzog stieß den Hocker beiseite und rannte hin-

ter ihnen her. Die Tür fiel vor seiner Nase ins Schloß.
Er  stemmte  sich  mit  aller  Kraft  dagegen;  Basil  und
Waylock spürten, daß die ganze Wand nachzugeben
drohte.

»Wir können nicht einfach hierbleiben«, stellte Ba-

sil fest. »Wir müssen ihn überwältigen.«

»Wie?«
»Das  weiß  ich  selbst  nicht  –  aber  wir  müssen  es

schaffen! Sonst bin ich ruiniert!«

Draußen  ertönten  leise  Schritte,  die  allmählich

schwächer  wurden,  als  schleiche  jemand  durch  das
Laboratorium.  Schließlich  verstummten  sie  völlig.
Dann  folgten  fast  gleichzeitig  ein  dumpfes  Knurren
und  ein  Schreckensschrei:  Seth  Caddigans  entsetzte
Stimme.

Waylock  schloß  die  Augen.  Der  Schrei  wurde  ein

schwaches  Wimmern,  das  plötzlich  aufhörte.  Dann
hörten  sie  ein  triumphierendes  Brüllen:  »Ich  bin
Hertzog! Der Killer Hertzog! Maximilian Hertzog!«

Basil war in die Knie gesunken. Waylock beobach-

tete  ihn  aus  dem  Augenwinkel  heraus  und  war  sich
darüber  im  klaren,  daß  er  die  Schuld  an  Caddigans
Tod trug. Er öffnete die Tür, schlich durch das Labo-
ratorium  und  blieb  auf  der  Schwelle  zu  Basils  Ar-
beitszimmer stehen.

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Seth  Caddigans  Leiche  lag  am  Fenster.  Waylock

starrte den zerschmetterten Körper erschüttert an. In
diesem  Augenblick  fühlte  er  sich  wirklich  wie  ein
Ungeheuer. Er hatte Tränen in den Augen.

Basil Thinkoup war leise hereingekommen. Er sah

Caddigan  und  schlug  die  Hände  vors  Gesicht.  Vom
Korridor her erklang ein schriller Schrei, ein heiseres
Gebrüll, eine entsetzte weibliche Stimme.

Waylock  rannte  ins  Laboratorium  zurück  und

füllte  eine  Impfpistole  mit  dem  stärksten  Betäu-
bungsmittel  in  Basils  Vorräten,  das  augenblicklich
wirken mußte. Aber die Pistole allein war nicht wirk-
samer als ein Schneebesen. Waylock griff nach einem
fast  zwei  Meter  langen  Plastikrohr,  befestigte  die
Impfpistole  mit  Klebstreifen  am  vorderen  Ende  und
band eine Schnur um den Abzug. Jetzt war er ausrei-
chend bewaffnet.

Er rannte durch das Büro, wich Basil aus und blieb

an der Tür stehen, um vorsichtig in den Flur hinaus-
zusehen.

Der  Angstschrei  einer  Frau  verriet  ihm,  wo  Hert-

zog stecken mußte. Waylock lief den Korridor entlang
und blieb vor einer zertrümmerten Tür stehen. Hert-
zog beugte sich über die Leiche eines Mannes. An der
Wand stand eine Krankenschwester mit vor Schreck
glasigen Augen. Sie schrie nochmals entsetzt auf, als
Hertzog  sich  ihr  langsam  näherte.  Der  Kranke  griff
nach  ihren  Haaren,  vergrub  die  Finger  darin  und
schüttelte ihren Kopf verspielt hin und her, als wolle
er ihn im nächsten Moment mit einem einzigen Ruck
abreißen.  Hinter  der  gläsernen  Trennungswand
drängten  sich  schreckensbleiche  Gesichter  mit  offe-
nen Mündern.

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Waylock blieb auf der Schwelle stehen und starrte

den Toten an. Vor ihm lag Didaktor Benberry.

Er  holte  tief  Luft,  trat  vor,  hielt  die  Impfpistole

dicht  an  Hertzogs  Nacken  und  betätigte  den  Abzug
mit  Hilfe  der  Schnur;  die  Ladung  drang  durch  die
Haut in die Nervenzentren des Amokläufers.

Hertzog  ließ  sein  Opfer  los  und  warf  sich  herum.

Er  griff  nach  seinem  Nacken,  starrte  Waylock  aus-
druckslos an und stürzte sich auf ihn. Gavin wich zu-
rück, wehrte den Angriff mit dem Plastikrohr ab und
wäre fast über Didaktor Benberrys Leiche gestolpert.
Zum  Glück  sackte  Hertzog  im  gleichen  Augenblick
bewußtlos zusammen, als das Betäubungsmittel end-
lich zu wirken begann.

Waylock  ließ  das  Rohr  fallen,  lehnte  sich  an  den

Türrahmen  und  wartete,  bis  die  Krankenpfleger  ka-
men. In ihrer Begleitung erschien der stellvertretende
Didaktor Sam Yudill; er blieb in der Tür stehen und
starrte die Leiche seines Vorgesetzten an.

Waylock hatte das Gefühl, der Raum drehe sich vor

seinen Augen. Die Stimmen wurden leiser, bis er nur
noch sein Herz dröhnend laut schlagen hörte.

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21

Caddigans  Leiche  war  entfernt  worden.  Basil  stand
am  Fenster  und  rang  die  Hände.  »Armer  Kerl...«  Er
drehte  sich  nach  Waylock  um.  »Was  kann  passiert
sein?  Gavin,  was  kann  eigentlich  schiefgegangen
sein?«

»Wir  müssen  irgend  etwas  übersehen  haben«,

murmelte Waylock.

Basil  starrte  ihn  forschend  an,  als  sei  plötzlich  ein

bestimmter Verdacht in ihm aufgestiegen. Aber dann
zuckte  er  nur  hoffnungslos  und  verbittert  mit  den
Schultern,  ließ  sich  ebenfalls  in  einen  Sessel  fallen
und schloß müde die Augen.

Waylock  fiel  etwas  ein.  »Ist  Caddigans  Frau  be-

nachrichtigt worden?«

»Was?« Basil schrak auf. »Yudill hat vorhin bei ihr

angerufen und ihr unser Beileid ausgesprochen.«

Sie  saßen  einige  Minuten  lang  schweigend  neben-

einander. Dann wurde Basil am Visorphon verlangt;
der Anrufer war Didaktor Sam Yudill, der vorläufig
die Leitung der Anstalt übernommen hatte.

»Thinkoup, die Untersuchungskommission ist hier;

wir wollen uns gleich an die Arbeit machen. Kommen
Sie sofort in mein Büro.«

»Selbstverständlich«,  antwortete  Basil.  »Ich  bin

gleich da.«

Der  Bildschirm  wurde  dunkel;  Basil  erhob  sich

schwerfällig.  »Die  letzte  Runde«,  murmelte  er  und
fügte  dann  mit  gespielter  Heiterkeit  hinzu:  »Du
brauchst  dir  meinetwegen  keine  Sorgen  zu  machen,
Gavin;  ich  schaffe  es  schon  irgendwie.«  Er  klopfte

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Waylock auf die Schulter und ging hinaus.

Waylock  kehrte  ins  Laboratorium  zurück,  räumte

die  zertrümmerten  Einrichtungsgegenstände  zur
Seite  und  suchte  nach  dem  orangeroten  Behälter.  Er
goß das destillierte Wasser aus und warf den Behälter
in den Müllschlucker. Dann nahm er im Vorzimmer
an Caddigans Schreibtisch Platz.

Kurze Zeit später hielt er es nicht mehr auf Caddi-

gans Stuhl aus und ging unruhig auf und ab, als kön-
ne er dadurch seine Verzweiflung mildern. Weshalb
empfand er eigentlich dieses Schuldbewußtsein? Das
Leben  in  Clarges  glich  einem  fortgesetzten  harten
Existenzkampf  –  wer  in  eine  höhere  Phyle  aufstieg,
bewirkte  damit  nur,  daß  sich  das  Leben  sämtlicher
Angehöriger der untersten Phyle um einige Sekunden
verkürzte.  Gavin  Waylock  hatte  die  Absicht,  in  die-
sem  Kampf  siegreich  zu  bleiben;  er  hielt  sich  im
Grunde genommen streng an die Wettbewerbsregeln.
Der Grayven Warlock hatte bereits die höchste Phyle
erreicht, und Gavin Waylock befand sich deshalb im
Recht,  wenn  er  alle  Möglichkeiten  ausschöpfte,  um
diese Stufe wieder zu erklimmen.

Draußen  ertönten  Schritte.  Basil  Thinkoup  betrat

mit hängenden Schultern den Raum. »Ich bin entlas-
sen«, sagte er. »Meine Arbeit im Palliatorium Ballias-
se  ist  beendet.  Dabei  habe  ich  noch  Glück  gehabt,
denn  ich  wäre  fast  den  Assassinen  übergeben  wor-
den.«

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22

Der  bedauerliche  Unglücksfall,  dem  Didaktor  Rufus
Benberry und Seth Caddigan zum Opfer gefallen wa-
ren, wurde überall in Clarges ausführlich diskutiert.
Gavin  Waylock  wurde  wegen  seines  Einfallsreich-
tums und seiner ›vorbildlichen Tapferkeit‹ allgemein
gelobt;  Basil  Thinkoup  wurde  als  ›sturer  Mechanist‹
bezeichnet, der ›die seiner Obhut anvertrauten hilflo-
sen  Patienten  als  Versuchsobjekte  mißbrauchte,  um
dadurch in eine höhere Phyle zu gelangen‹.

Als  Basil  sich  endlich  von  Gavin  Waylock  verab-

schiedete, war er ein gebrochener Mann. Seine Haare
hingen  ihm  wirr  ins  Gesicht,  in  den  Augen  standen
Tränen, die er nicht unterdrücken konnte; er war völ-
lig  verwirrt.  »Woran  kann  es  nur  gelegen  haben?«
fragte  er  immer  wieder.  »Vielleicht  hat  es  nicht  sein
sollen, Gavin. Vielleicht wollte das Große Gute Prin-
zip, daß wir an dieser Krankheit leiden, damit unser
Stolz nicht überhandnimmt.« Er lächelte schwach.

»Was hast du jetzt vor?« fragte Waylock.
»Ich  muß  mir  einen  anderen  Beruf  suchen;  Psy-

chotherapie ist anscheinend doch nicht meine Stärke.
Ich habe mich schon auf einem anderen Gebiet umge-
sehen;  wenn  ich  dort  Erfolg  habe,  kann  ich  vermut-
lich...«  Er  schüttelte  den  Kopf.  »Aber  das  muß  sich
erst herausstellen.«

»Ich  wünsche  dir  jedenfalls  alles  Gute«,  sagte

Waylock.

»Und ich dir, Gavin.«

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23

Der neue Anstaltsleiter war Didaktor Leon Gradella,
ein  Fremder  in  Balliasse,  der  aus  einer  anderen  An-
stalt  hierher  versetzt  worden  war.  Gradella  hatte  ei-
nen  schlecht  proportionierten  Körper  –  an  einem
massiven  Rumpf  saßen  spindeldürre  Arme  und  Bei-
ne.  Sein  Haupt  mit  der  silbergrauen  Löwenmähne
war eindrucksvoll; die dunklen Augen schienen jede
Kleinigkeit wahrzunehmen.

Gradella

 

gab

 

bekannt,

 

er

 

habe

 

die

 

Absicht,

 

das

 

Perso-

nal

 

umgehend

 

auf

 

seine

 

Eignung

 

zu

 

prüfen,

 

um

 

in

 

Zu-

kunft Fehlbesetzungen zu vermeiden. Keiner der Be-
troffenen

 

verließ

 

lächelnd

 

sein

 

Arbeitszimmer,

 

und

 

nie-

mand wollte über den Verlauf seines Interviews spre-
chen.

 

Am

 

zweiten

 

Tag

 

wurde

 

Gavin

 

Waylock

 

nachmit-

tags zu Gradella gerufen, der ihm wortlos einen Stuhl
anwies und seinen Personalakt in den Projektor legte.

»Gavin Waylock, Brut.« Gradella las weiter und sah

dann auf. »Sie sind noch nicht lange hier, Waylock.«

»Richtig.«
»Sie sind als Krankenpfleger angestellt.«
»Ja.«
»Weshalb  haben  Sie  Ihre  Bewerbung  nicht  voll-

ständig ausgefüllt?«

»Ich  dachte,  meine  Arbeit  würde  für  sich  selbst

sprechen.«

Gradella ließ sich nicht beeindrucken. »Von Zeit zu

Zeit  gelingt  es  Männern,  den  Aufstieg  durch  einen
frechen  Bluff  zu  schaffen.  Das  kommt  hier  bei  uns
nicht in Frage. Ihre Qualifikationen sind völlig unzu-
reichend.«

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»Ich bin anderer Meinung.«
Gradella lehnte sich in seinen Sessel zurück. »So –

aber können Sie mich überzeugen?«

»Was  ist  Psychiatrie?«  fragte  Waylock  ihn.  »Die

Lehre  von  den  Gemütskranken  und  ihrer  Heilung.
Der  Ausdruck  ›Qualifikation‹  bezieht  sich  offenbar
auf  ein  längeres  Studium  auf  diesem  Gebiet.  Die
›qualifizierten  Kräfte‹  haben  jedoch  meistens  keinen
Erfolg,  wenn  es  um  die  Heilung  unserer  Kranken
geht. Deshalb sind Ihre ›Qualifikationen‹ illusorisch.
Es dürfte nur einen Bewertungsmaßstab geben – die
nachgewiesene Fähigkeit, Psychosen zu heilen. Besit-
zen Sie selbst diese Qualifikation?«

Gradella lächelte fast jovial. »Nein, nicht nach Ihrer

Definition. Haben Sie etwa das Gefühl, wir sollten die
Rollen tauschen?«

»Warum nicht? Ich bin einverstanden.«
»Nein,  Sie  behalten  Ihren  bisherigen  Posten.  Aber

Sie werden aufmerksam beobachtet und beurteilt.«

Waylock verbeugte sich und ging.

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24

Am Abend des gleichen Tages wurde Waylock durch
den Summer an der Tür bei seinen Studien unterbro-
chen. Ein hagerer Mann in Schwarz stand im Flur.

»Sie sind Gavin Waylock, Brut?«
Waylock  betrachtete  den  formlosen  schwarzen

Umhang  des  anderen  und  erkannte  die  winzigen
goldenen  Kragenspiegel,  die  zwei  gekreuzte  Dolche
zeigten.

»Ich bin Waylock. Sie wünschen?«
»Ich bin ein Assassine. Auf Wunsch zeige ich Ihnen

gern meinen Ausweis. Ich möchte Sie bitten, mich zu
einem  kurzen  Verhör  in  die  nächste  Bezirksstelle  zu
begleiten. Sollte der gegenwärtige Zeitpunkt ungele-
gen  sein,  können  wir  gemeinsam  einen  anderen  be-
stimmen.«

»Weshalb soll ich verhört werden?«
»Wir untersuchen ein Verbrechen, dem Die Jacynth

Martin zum Opfer gefallen ist, und müssen einer An-
zeige gegen Sie nachgehen.«

»Darf ich fragen, wer die Anzeige erstattet hat?«
»Alle  Namen  werden  vertraulich  behandelt.  Ich

empfehle  Ihnen,  mich  gleich  jetzt  zu  begleiten.  Sie
können jedoch auch eine andere Zeit bestimmen.«

Waylock  erhob  sich.  »Ich  habe  nichts  zu  verber-

gen.«

»Ausgezeichnet. Mein Dienstwagen steht unten.«
Sie  fuhren  schweigend  zur  Bezirksstelle,  die  in  ei-

nem  alten  Gebäude  am  Parmenter-Platz  unterge-
bracht war. Der Assassine ließ Waylock dort in einer
kleinen Zelle zurück, wo sich eine Krankenschwester

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oder  Assistentin  seiner  annahm.  Waylock  erhielt  ei-
nen  Sessel  mit  hoher  Rückenlehne  zugewiesen  und
durfte zwischen Likör und Mineralwasser wählen.

Er  lehnte  beides  ab.  »Wo  sind  die  Tribunen?«

wollte  er  wissen.  »Sie  müssen  anwesend  sein,  wenn
meine Gedanken erforscht werden.«

»Drei Tribunen stehen zu Ihrer Verfügung, Sir. Sie

können weitere anfordern, wenn Sie es für notwendig
halten.«

»Wer sind die Tribunen?« fragte Waylock.
Sie nannte drei Namen. Waylock nickte zufrieden;

alle drei waren als aufrechte Männer bekannt.

»Bitte gedulden Sie sich noch etwas, Sir. Das letzte

Verhör ist noch nicht zu Ende.«

Fünf Minuten später öffnete sich die Tür; drei Tri-

bunen  betraten  die  Zelle,  dann  folgte  der  Inquisitor,
ein  rundlicher  Mann,  der  Waylock  fröhlich  lächelnd
begrüßte.

Der Inquisitor begann das Verhör mit der Feststel-

lung:  »Gavin  Waylock,  wir  sind  mit  der  Untersu-
chung  der  Umstände  beschäftigt,  die  dazu  geführt
haben, daß Die Jacynth Martin ein gewaltsames Ende
gefunden hat. Deshalb sollen Sie heute nach Ihrer Tä-
tigkeit  zur  Zeit  ihres  Hinscheidens  gefragt  werden.
Haben Sie dagegen Einwände zu erheben?«

Waylock überlegte. »Sie haben ›zur Zeit ihres Hin-

scheidens‹  gesagt.  Das  ist  mir  zu  vage.  Dieser  Aus-
druck  könnte  eine  Sekunde,  eine  Stunde  oder  einen
ganzen Tag bedeuten. Fragen Sie mich also, was ich
vom Zeitpunkt ihres Hinscheidens weiß; das muß für
Ihre Zwecke genügen.«

»Der Zeitpunkt steht nicht genau fest, Sir. Wir kön-

nen uns nicht festlegen.«

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»Wäre  ich  schuldig,  wüßte  ich  den  genauen  Zeit-

punkt«, erklärte Waylock ihm. »Da ich aber unschul-
dig  bin,  braucht  Sie  mein  Privatleben  nicht  zu  küm-
mern.«

»Sie  können  sich  auf  unsere  Verschwiegenheit

verlassen,  Sir«,  wandte  der  Inquisitor  lächelnd  ein.
»Wir haben einen Eid darauf geleistet. In Ihrem Pri-
vatleben  gibt  es  doch  hoffentlich  nichts  zu  verber-
gen?«

Waylock sah zu den Tribunen hinüber. »Sie haben

meine  Bedingung  gehört.  Wollen  Sie  mich  entspre-
chend schützen?«

Die  Tribunen  nickten.  »Wir  lassen  nur  Fragen  zu,

die  den  unmittelbaren  Zeitpunkt  des  Hinscheidens
betreffen«, versicherte ihm einer der Männer.

»Ausgezeichnet«,  sagte  Waylock.  »Dann  können

wir  anfangen.«  Er  setzte  sich  im  Sessel  zurecht,  be-
kam  eine  Art  Helm  aufgesetzt,  von  dem  zahlreiche
Drahte zu einem Schaltpult führten, und erhielt eine
Injektion,  die  sein  Erinnerungsvermögen  stärken
sollte.

Die anderen schwiegen. Der Inquisitor ging unru-

hig auf und ab; die Tribunen beobachteten die Szene
aufmerksam. Zwei Minuten später drückte der Inqui-
sitor einen Knopf. Waylock sah Sterne und verschie-
denfarbige  Feuerspiralen,  die  alle  auf  einen  gemein-
samen Mittelpunkt zusteuerten.

»Beobachten Sie die Lichter«, sagte der Inquisitor.

»Entspannen  Sie  sich...  mehr  brauchen  Sie  nicht  zu
tun. Entspannen Sie sich... es ist bald vorbei.«

Waylock schien eben erst das Bewußtsein verloren

zu haben, als er bereits wieder aufwachte. Der Inqui-
sitor  stand  vor  ihm  und  betrachtete  ihn  mit  gerun-

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zelter Stirn. Die Gedankenerforschung hatte offenbar
nicht zum gewünschten Ergebnis geführt. Die Tribu-
nen  lächelten  zufrieden,  als  rechneten  sie  damit,
heute  durch  unbeugsame  Gerechtigkeit  wertvolle
Karrierepunkte gesammelt zu haben. Hinter den Tri-
bunen stand Die Jacynth Martin.

Waylock  wies  anklagend  auf  sie.  »Wer  hat  diese

Frau hereingelassen? Ich werde mich über diese Un-
gerechtigkeit  beschweren!  Sie  alle  müssen  dafür  be-
straft werden!«

John  Foster,  der  Obertribun,  hob  abwehrend  die

Hand.  »Die  Anwesenheit  dieser  Frau  mag  ge-
schmacklos  sein,  ist  jedoch  nicht  durch  Gesetz  ver-
boten.«

»Weshalb  haben  Sie  mich  nicht  gleich  auf  offener

Straße verhört?« fragte Waylock aufgebracht.

»Sie  verstehen  mich  falsch.  Die  Jacynth  ist  anwe-

send, weil sie selbst zu den Assassinen gehört. Aller-
dings erst seit heute, möchte ich hinzufügen.«

Waylock starrte sie verblüfft an. Die Jacynth nickte

langsam. »Ja, ich untersuche mein eigenes Hinschei-
den«, sagte sie. »Ein Ungeheuer ist daran schuld; ich
möchte wissen, wer es war.«

Waylock  zuckte  mit  den  Schultern.  »Haben  Sie

schon Fortschritte gemacht?« fragte er dann.

»Einige – bis wir es mit Ihrem seltsam lückenhaften

Gedächtnis zu tun hatten.«

Der Inquisitor räusperte sich. »Sie haben keine be-

wußten Wahrnehmungen zu erläutern?«

»Wie könnte ich?« fragte Waylock. »Ich weiß nichts

von diesem Verbrechen.«

Der  Inquisitor  nickte.  »Das  haben  wir  festgestellt.

Ihr Gedächtnis enthält keine Hinweise auf den kriti-

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schen Zeitpunkt.«

»Weshalb fragen Sie dann?«
»Einige  Andeutungen  lassen  den  Schluß  zu,  daß

Ihr  Unterbewußtsein  verschiedene  Informationen
unterdrückt.« Der Inquisitor zuckte mit den Schultern
und wandte sich ab; die Tribunen standen auf. »Vie-
len Dank, Mister Waylock. Sie haben sich in anerken-
nenswerter Weise bemüht.«

Waylock  verbeugte  sich.  »Ich  habe  Ihnen  für  Ihre

Hilfe zu danken.«

»Wir haben nur unsere Pflicht getan, Mister Way-

lock.«

Waylock  warf  seiner  Verfolgerin  noch  einen  wü-

tenden Blick zu, verließ wortlos den Raum und ging
durch  den  langen  Korridor.  Er  hörte  rasche  Schritte
hinter  sich;  Die  Jacynth  schien  ihn  einholen  zu  wol-
len. Er blieb stehen. Sie lächelte wenig überzeugend.
»Ich muß mit Ihnen sprechen, Gavin Waylock.«

»Worüber?«
»Das wissen Sie selbst.«
»Ich kann Ihnen beim besten Willen nicht mehr er-

zählen.«

Die Jacynth biß sich auf die Unterlippe. »Aber Sie

haben mich damals begleitet! Dieser Teil des Abends
ist rätselhaft. Aber er muß einen Hinweis enthalten!«

Waylock zuckte mit den Schultern.
Sie trat dicht an ihn heran und sah ihm ernst in die

Augen. »Gavin Waylock, wollen Sie sich irgendwo in
Ruhe mit mir unterhalten?«

»Wie Sie wünschen.«

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25

Sie  fanden  einen  ruhigen  Tisch  in  einem  der  alten
Kellerlokale  der  Stadt,  dessen  Wände  mit  dunklem
Holz getäfelt waren. Überall hingen Fotografien, die
Sportler  im  früher  üblichen  Dreß  zeigten.  Ein  Ober
brachte schweigend die bestellten Getränke und ver-
schwand wortlos.

»Gavin  Waylock«,  begann  Die  Jacynth,  »schildern

Sie mir die Ereignisse jenes Abends.«

»Da gibt es nicht viel zu erzählen. Ich habe Sie an-

gesprochen; wir schienen aneinander Gefallen zu fin-
den.  Wir  besuchten  verschiedene  Häuser  und  Ver-
gnügungsstätten und saßen zuletzt im Café Pamphy-
lia. Alles weitere müssen Sie von Ihren Freunden er-
fahren haben.«

»Wo  waren  wir  vor  unserem  Besuch  im  Pamphy-

lia?«

Waylock  schilderte  die  Ereignisse,  soweit  er  sich

noch an sie erinnerte. Als er den Teil erreichte der aus
seinem  Gedächtnis  gelöscht  war,  zögerte  er  fast  un-
merklich  und  beschrieb  dann  die  Minuten  vor  dem
Augenblick,  in  dem  er  sich  gemeinsam  mit  Basil
Thinkoup verabschiedet hatte.

Die  Jacynth  protestierte.  »Hier  haben  Sie  vieles

ausgelassen – das ist ganz offensichtlich!«

Waylock runzelte die Stirn. »Ich weiß nichts davon.

Vielleicht war ich betrunken.«

»Nein«,  stellte  Die  Jacynth  fest.  »Der  Albert  und

Der  Denis  sind  sich  darüber  einig,  daß  Sie  völlig
nüchtern waren.«

Waylock  zuckte  mit  den  Schultern.  »Offenbar  ist

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nichts geschehen, was mich beeindruckt hätte.«

»Noch  etwas«,  fuhr  Die  Jacynth  fort.  »Sie  haben

nicht er wähnt, daß wir im Tempel der Wahrheit ge-
wesen sind.«

»Wirklich  nicht?  Es  muß  mir  ebenfalls  entfallen

sein.«

»Seltsam. Der Diener erinnert sich noch deutlich an

uns.«

»Wirklich seltsam«, stimmte Waylock zu.
»Interessiert Sie meine Theorie?« fragte Die Jacynth

leise.

»Selbstverständlich,  wenn  Sie  mir  davon  erzählen

wollen.«

»Ich bin der Überzeugung, daß ich irgendwann im

Verlauf des Abends – vielleicht im Tempel der Wahr-
heit  –  zu  Informationen  gelangt  bin,  die  Ihnen  ge-
fährlich erschienen. Deshalb mußte ich beseitigt wer-
den, bevor ich mein Wissen weitergeben konnte. Was
haben Sie dazu zu sagen?«

»Nichts.«
»Sie  hatten  auch  während  des  Verhörs  nichts  zu

sagen«,  warf  sie  ihm  vor.  »Eigenartigerweise  ist  Ihr
Gedächtnis nur in dieser Beziehung schlecht. Ich weiß
nicht, mit welchem Trick Sie das erreicht haben, aber
ich bin fest entschlossen, dieses Rätsel zu lösen. Und
in der Zwischenzeit werde ich dafür sorgen, daß Sie
keine Vorteile aus Ihrem Verbrechen ziehen können.«

»Was soll das heißen?«
»Das merken Sie früh genug.«
»Sie sind ein merkwürdiges Wesen«, meinte Way-

lock nachdenklich.

»Ich bin ein normaler Mensch mit starken Empfin-

dungen.«

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»Ich  habe  ebenfalls  starke  Empfindungen«,  sagte

Waylock. Die Jacynth starrte ihn an. »Wie ist das zu
verstehen?«

»Ich  wollte  nur  andeuten,  daß  eine  Auseinander-

setzung zwischen uns beiden schlimme Folgen haben
könnte.«

Die Jacynth lachte. »Sie sind verwundbarer als ich.«
»Und deshalb rücksichtsloser.«
Die Jacynth erhob sich. »Ich muß jetzt gehen. Aber

ich  bezweifle,  daß  Sie  mich  vergessen  werden.«  Sie
ging rasch die Treppe hinauf und verschwand.

Am nächsten Morgen trat Waylock zur gewohnten

Zeit seinen Dienst in der Beruhigungsanstalt an. Eine
Stunde später wurde er bereits in Didaktor Gradellas
Büro gerufen.

Gradella kam sofort zur Sache. »Ich habe mir Ihren

Fall nochmals durch den Kopf gehen lassen. Sie sind
für Ihren Posten ungeeignet und deshalb fristlos ent-
lassen.«

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26

Basil  Thinkoup  rief  Waylock  am  folgenden  Tag  in
seinem  Appartement  an.  »Ah,  Gavin!  Ich  fürchtete
schon, du seist vielleicht nicht zu Hause.«

»Kein  Grund  zur  Sorge,  Basil.  Ich  arbeite  nicht

mehr  in  der  Anstalt.  Ich  bin  fristlos  entlassen  wor-
den!«

Basil  verzog  das  Gesicht  zu  einer  weinerlichen

Grimasse. »Das tut mir aber leid, Gavin! So ein Pech!«

Waylock zuckte mit den Schultern. »Die Arbeit hat

mir nie sonderlich gut gefallen. Vielleicht bin ich auf
anderen Gebieten mehr begabt.«

Basil  seufzte.  »Ich  wollte,  ich  könnte  ebenso  opti-

mistisch sein.«

»Hast du noch keine Pläne gemacht?«
»In meiner Jugend war ich ein ziemlich guter Glas-

bläser«, antwortete Basil. »Vielleicht fange ich wieder
damit an. Ich bin noch unentschlossen.«

»Sieh  dich  vorher  gründlich  um«,  empfahl  Way-

lock ihm.

»Selbstverständlich.  Aber  ich  muß  an  meine  Stei-

gung denken, und ich bin noch weit unter Dritte.«

»Vielleicht fällt uns gemeinsam etwas ein«, schlug

Waylock vor.

Basil  machte  eine  abwehrende  Handbewegung.

»Du brauchst dir meinetwegen keine Sorgen zu ma-
chen; ich finde schon etwas... Aber im Augenblick bin
ich wirklich ratlos.«

»Schön, überlegen wir also... Du hast bewiesen, daß

die Psychiatrie neue Impulse braucht.«

Basil  schüttelte  müde  den  Kopf.  »Aber  was  habe

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ich davon gehabt?«

»Ich denke eben an den Aktuarius«, fuhr Waylock

fort. »Ist es nicht möglich, daß wir seine Funktion zu
kritiklos betrachten?«

Basil  hob  abwehrend  die  Hände.  »Gavin,  du  rüt-

telst an den Grundlagen unseres Lebens!«

»Keineswegs,  ich  denke  nur  unvoreingenommen

darüber  nach.  Der  Aktuarius  spielt  seit  dreihundert
Jahren die gleiche Rolle. Seitdem hat sich viel verän-
dert  –  aber  der  Aktuarius  rechnet  noch  immer  mit
denselben  Gleichungen,  mit  der  gleichen  Verteilung
innerhalb der Phylen, mit derselben Geburtenziffer.«

Basil runzelte die Stirn. »Welchen Wert sollte eine

Veränderung haben?«

»Du  brauchst  nur  an  unsere  Gesamtbevölkerung

zu  denken«,  antwortete  Waylock.  »Sie  ist  auf  fünf-
undzwanzig Millionen beschränkt, obwohl angesichts
der  höheren  Produktivität  mehr  Menschen  in  Rand
oder  sogar  Amaranth  aufgenommen  werden  könn-
ten. Wer diesen Nachweis erbrächte, könnte mit etli-
chen Karrierepunkten rechnen.«

Basil schien nicht überzeugt zu sein.
»Noch etwas«, fuhr Waylock fort. »Der Prangerkä-

fig.«

»Abstoßend«, murmelte Basil.
»Eine grausame Strafe, selbst bevor die Zeloten auf

der Bildfläche erschienen.«

Basil  lächelte.  »Wer  Clarges  von  den  Zeloten  be-

freit, könnte mit allgemeiner Anerkennung rechnen.«

Waylock  nickte.  »Ohne  Zweifel.  Aber  der  Mann,

der  den  Prangerkäfig  abschafft,  würde  sich  größere
Verdienste erwerben.«

Basil  schüttelte  den  Kopf.  »Davon  bin  ich  nicht

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überzeugt.  Wer  protestiert,  wenn  der  Prangerkäfig
aufgehängt wird? Niemand. Und wenn der Bestrafte
freigelassen  wird,  versammeln  sich  ehrbare  Leute,
um seine Flucht zu erleben.«

»Oder um sich unter die Zeloten zu mischen.«
Basil holte tief Luft. »Vielleicht fällt mir doch noch

etwas  ein.  Wirklich  nett  von  dir,  daß  du  dir  solche
Mühe mit mir gibst.«

»Die Diskussion hilft uns beiden.«
»Was hast du vor?« fragte Basil interessiert.
»Ich will eine Arbeit über die Zeloten schreiben: ih-

re Motive, Psychologie und Gewohnheiten: ihre Ver-
teilung  auf  die  einzelnen  Phylen  und  ihre  Gesamt-
zahl.«

»Eine schwierige Aufgabe...«, murmelte Basil.
»Aber eine Studie dieser Art würde beträchtliches

Aufsehen erregen«, antwortete Waylock lächelnd.

»Wo  willst  du  das  Material  sammeln?  Niemand

gibt  freiwillig  zu,  daß  er  Zelot  ist.  Du  müßtest  un-
endlich  viel  Geduld,  List,  Mut  und  Tapferkeit  auf-
wenden, um...«

»Vergiß  nicht,  daß  ich  sieben  Jahre  lang  bei  den

Tausend Dieben gelebt habe. Solange ich gut bezahle,
kann ich über hundert Berber verfügen.«

»Aber  das  Geld!  Das  Projekt  erfordert  Unsum-

men!«

»Das ist meine geringste Sorge.«
Basil war beeindruckt, aber keineswegs überzeugt.

»Nun, jeder muß selbst wissen, was er in Zukunft für
seine  Karriere  tun  will.  Ich  rufe  dich  gelegentlich
wieder  an  und  erkundige  mich  nach  deinen  Fort-
schritten.«

Der Bildschirm wurde dunkel. Waylock setzte sich

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an  seinen  Schreibtisch  und  verfaßte  einen  Entwurf
der geplanten Untersuchung. Die vorbereitenden Ar-
beiten  würden  etwa  ein  halbes  Jahr  dauern,  für  die
Niederschrift mußte er weitere drei Monate rechnen.
Diese Arbeit mußte ihm den Aufstieg in Keil sichern.

Er vereinbarte einen Termin mit dem größten Ver-

lag  von  Clarges  und  erschien  dort  am  gleichen
Nachmittag mit seinem Entwurf.

Das  Interview  verlief,  wie  er  gehofft  hatte.  Verret

Hoskins,  der  verantwortliche  Mann,  mit  dem  er
sprach, brachte die gleichen Einwände wie Basil vor,
und  Waylock  antwortete  mit  den  gleichen  Argu-
menten.  Hoskins  ließ  sich  überzeugen  und  war
schließlich sogar von der Idee begeistert. Der Vertrag
sollte am nächsten Morgen zur Unterschrift bereitlie-
gen.

Waylock  kehrte  in  bester  Stimmung  nach  Hause

zurück, aber die Ernüchterung folgte schon eine halbe
Stunde später: Hoskins rief ihn an. Er wirkte bedrückt
und konnte Waylock nicht in die Augen sehen.

»Offenbar  bin  ich  etwas  zu  voreilig  gewesen,  Mi-

ster  Waylock«,  sagte  er  verlegen.  »Wir  können  Ihre
Arbeit leider doch nicht übernehmen.«

»Was!« rief Waylock entgeistert aus. »Sie haben mir

doch versprochen, morgen...«

»Die  Sache  sieht  jetzt  anders  aus,  und  meine  Vor-

gesetzten sind gegen dieses Projekt.«

Waylock  schaltete  das  Visorphon  wütend  ab.  Am

nächsten  Tag  versuchte  er  es  bei  einigen  anderen
Verlagen und wurde überall mit durchsichtigen Aus-
flüchten abgewiesen.

Nach  der  Rückkehr  in  sein  Appartement  ging  er

lange unruhig auf und ab. Schließlich ließ er sich vor

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dem  Visorphon  nieder,  suchte  im  Teilnehmerver-
zeichnis  nach  einer  bestimmten  Rufnummer  und
wählte sie.

Auf  dem  Bildschirm  erschien  Die  Jacynth;  sie  zog

überrascht die Augenbrauen hoch, als sie den Anru-
fer erkannte.

Waylock kam sofort zur Sache. »Sie mischen sich in

meine Angelegenheiten ein«, warf er ihr vor.

Die Jacynth betrachtete ihn lächelnd. »Ich habe im

Augenblick  keine  Zeit,  mich  mit  Ihnen  zu  unterhal-
ten, Gavin Waylock.«

»Hören Sie sich lieber an, was ich zu sagen habe.«
»Vielleicht später einmal.«
»Auch gut. Wann?«
Sie  überlegte  und  lächelte  dann  amüsiert.  »Heute

abend bin ich im Künstlerklub. Dort können Sie mir
erzählen,  was  Sie  zu  sagen  haben.«  Sie  machte  eine
bedeutungsvolle  Pause.  »Vielleicht  habe  ich  Ihnen
ebenfalls etwas zu sagen«, fügte sie dann hinzu.

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27

Das Lufttaxi setzte Waylock auf dem Landeplatz vor
dem Künstlerklub ab, auf dem bereits zwei Dutzend
Privatmaschinen standen – glitzernde Spielzeuge, an
denen  nur  Glarks  und  Angehörige  der  höchsten
Phyle  Vergnügen  haben  konnten.  Waylock  folgte
dem  beleuchteten  Pfad  durch  die  weitläufigen  Gar-
tenanlagen und erreichte schließlich ein Marmorpor-
tal.  In  der  Eingangshalle  hing  ein  Plakat;  Waylock
blieb davor stehen und las:

HEUTE

AQUEFAKTE

von

REINHOLD BIERBURSSON

Unter  dem  Plakat  saß  eine  ältere  Dame  an  einem
Tischchen; vor ihr stand ein Schild mit der Aufschrift:
Spenden werden dankbar angenommen. Die Dame schien
sich  zu  langweilen  und  häkelte  irgend  etwas  aus
Metallfäden. Als Waylock einen Florin auf den Tisch
legte, dankte sie ihm mit einem Kopfnicken, ohne ih-
re Arbeit zu unterbrechen. Waylock öffnete die Samt-
portieren und betrat den Großen Saal.

Die  Aquefakte  des  ihm  unbekannten  Reinhold

Bierbursson,  verschlungene  Konstruktionen  aus  er-
starrtem  Wasser,  waren  an  den  Wänden  aufgebaut.
Waylock betrachtete sie flüchtig, fand sie wenig inter-
essant  und  befaßte  sich  lieber  mit  den  übrigen  Gä-
sten.

Etwa zweihundert geladene Gäste standen in klei-

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neren Gruppen beieinander oder gingen langsam an
den  ausgestellten  Kunstwerken  vorüber.  Reinhold
Bierbursson stand am Eingang – ein großer stattlicher
Mann,  der  sich  nicht  als  Ehrengast,  sondern  als  be-
mitleidenswerter  Märtyrer  zu  fühlen  schien.  Diese
Ausstellung mußte viel für ihn bedeuten – Triumph,
Rechtfertigung oder vielleicht nur finanziellen Erfolg
–, aber Bierbursson benahm sich, als sei er gegen sei-
nen  Willen  zu  dieser  Veranstaltung  geschleppt  wor-
den.  Er  sprach  nur,  wenn  er  selbst  angesprochen
wurde; aber Waylock fiel auf, daß er trotzdem höflich
und freundlich alle Fragen beantwortete.

Die  Jacynth  hielt  sich  ebenfalls  in  der  Nähe  des

Eingangs auf und sprach dort mit einer jungen Frau,
die ein atemberaubendes grünes Kleid trug. Sie selbst
hatte heute eine lose dunkelblaue Robe gewählt, de-
ren  raffinierter  Schnitt  ihren  schlanken  Körper  wir-
kungsvoll zur Geltung brachte. Als Waylock den Saal
betrat, hatte sie kurz aufgesehen, ihn jedoch offenbar
nicht erkannt oder ihn nicht erkennen wollen.

Waylock  durchquerte  langsam  den  Saal.  Die

Jacynth beobachtete weiterhin den Eingang. Ihre Be-
gleiterin,  ein  schwarzhaariges  zierliches  Wesen,  sah
in  die  gleiche  Richtung.  Waylock  kam  das  hübsche
Gesicht mit den dunklen Augen bekannt vor; er hatte
es irgendwo schon einmal gesehen.

Er  blieb  dicht  hinter  den  beiden  stehen  und  hörte

so  einen  Teil  ihres  Gesprächs  mit,  ohne  von  ihnen
beiden bemerkt zu werden.

»Glaubst  du,  daß  er  wirklich  kommt?«  fragte  Die

Jacynth nervös.

»Natürlich«,  antwortete  die  andere  beruhigend.

»Der lächerliche Kerl liegt mir zu Füßen.«

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Waylock  zog  die  Augenbrauen  hoch.  Die  beiden

warteten also auf einen andern. Er war enttäuscht.

Die Jacynth runzelte die Stirn. »Ob seine Anhäng-

lichkeit so weit geht, daß er es wirklich tut?«

»Vincent  würde  bei  den  Nomaden  Erbauungs-

schriften verteilen, wenn ich ihn darum gebeten hät-
te... Da kommt er schon.«

Waylock folgte ihrem Blick und studierte den jun-

gen

 

Mann,

 

der

 

eben

 

den

 

Saal

 

betreten

 

hatte:

 

etwa

 

drei-

ßig, gut angezogen, vermutlich Dritte, selbstbewußtes
Auftreten,  schmales  Gesicht,  sandfarbenes  Haar,
graue Augen, lange Nase und gespaltenes Kinn.

Die Jacynth wandte sich ab. »Vielleicht ist es besser,

wenn er uns nicht nebeneinander sieht.«

Ihre Begleiterin zuckte mit den Schultern. »Wie du

willst...«

Waylock  zog  sich  unauffällig  zurück,  als  Die

Jacynth in seine Nähe kam. Die dunkelhaarige junge
Frau blieb an ihrem Platz, wurde aber sofort von ei-
nem  anderen  jungen  Mann  in  ein  Gespräch  verwik-
kelt. Zwei ältere Herren unterhielten sich über eines
der  Kunstwerke,  erkannten  Die  Jacynth  neben  sich
und wollten ihre Meinung dazu hören.

Waylock  ging  weiter  durch  den  Saal.  Der  Mann

namens Vincent schien eine Rolle in dem Feldzug zu
spielen,  den  Die  Jacynth  gegen  ihn  begonnen  hatte.
Vielleicht war es angebracht, seine Bekanntschaft zu
machen.

Vincent war auf die schwarzhaarige junge Frau zu-

gegangen und hatte sich enttäuscht abgewandt, als er
sah, daß sie sich bereits mit einem anderen unterhielt.
Jetzt  hatte  er  Reinhold  Bierbursson  in  ein  Gespräch
verwickelt.

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Waylock näherte sich den beiden.
»Ich  muß  leider  zugeben«,  sagte  der  junge  Mann

eben, »daß mir Ihr Werk nicht allzu vertraut ist.«

»Nur wenige kennen es wirklich«, antwortete Bier-

bursson.

»Mich  interessiert  vor  allem  ein  technisches  Pro-

blem,  Mister  Bierbursson  –  ich  bin  selbst  Techniker.
Wie  erzeugen  Sie  diesen  verblüffenden  Formen-
reichtum, bevor das Wasser erstarrt?«

Bierbursson  lächelte.  »Für  mich  ist  das  kein  Pro-

blem, denn ich habe alle Vorteile auf meiner Seite. Ich
bin  Raumfahrer  und  arbeite  in  einer  Umgebung,  in
der es keine Schwerkraft gibt.«

»Wohin  hat  Sie  Ihr  letzter  Flug  geführt,  Mister

Bierbursson?« fragte Waylock.

»Unsere  Ziele  waren  Sirius  und  die  zehn  Hunde-

planeten.«

»Ah«, sagte Vincent. »Dann waren Sie also an Bord

der Star Endeavor!«

»Ich  bin  Meisternavigator«,  antwortete  Bierburs-

son.

Ein  untersetzter  Mann  in  mittleren  Jahren  hatte

sich ihnen angeschlossen. »Erlauben Sie, daß ich mich
vorstelle«, sagte er. »Ich heiße Jacob Nile.«

Vincent schien förmlich zu erstarren. »Ich bin Vin-

cent Rodenave«, murmelte er.

Waylock schwieg; Bierbursson betrachtete die drei

ohne großes Interesse.

»Ich habe noch nie mit einem Raumfahrer gespro-

chen«, fuhr Nile fort und wandte sich dabei an Bier-
bursson. »Darf ich Ihnen einige Fragen stellen?«

»Selbstverständlich.«
»Angeblich  gibt  es  innerhalb  unserer  Galaxis  un-

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endlich viele Planeten.«

Bierbursson nickte.
»Auch solche, die für Menschen bewohnbar sind?«
»Ja.«
»Erforschen Sie diese Planeten, wenn sich eine Ge-

legenheit dazu bietet?«

Bierbursson lächelte. »Nicht allzuoft. Ich bin nicht

mehr als der Pilot eines Lufttaxis, der sich nach den
Wünschen der Fahrgäste zu richten hat.«

»Aber  Sie  können  uns  doch  bestimmt  mehr  dar-

über erzählen!« widersprach Nile.

Bierbursson  nickte.  »Es  gibt  einen  Planeten,  von

dem ich nicht oft spreche. Er gleicht einem fruchtba-
ren Paradies – und er gehört mir, denn ich habe ihn
zuerst  betreten.  Niemand  kann  ihn  mir  streitig  ma-
chen.«

»Dann sind Sie reich«, stellte Nile fest. »Ein benei-

denswerter Mann.«

Bierbursson schüttelte den Kopf. »Ich habe diesen

Planeten nur einmal gesehen, wie man aus Zufall ein
Gesicht  in  der  Menge  entdeckt.  Ich  habe  ihn  wieder
verloren und suche ihn seitdem vergeblich.«

»Es  gibt  noch  andere  Welten«,  sagte  Nile.  »Viel-

leicht für jeden von uns, wenn wir uns nur die Mühe
machen würden, nach ihnen zu suchen.«

»Manchmal  bilde  ich  mir  ein,  ich  wäre  als  Raum-

fahrer glücklicher geworden«, sagte Waylock.

Jacob Nile lachte. »Wir Bürger von Clarges sind für

dieses Geschäft wenig geeignet. Bierbursson ist völlig
aus der Art geschlagen. Er ist ein Mann der Vergan-
genheit – oder der Zukunft.«

Bierbursson runzelte die Stirn, äußerte sich jedoch

nicht dazu.

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»Wir  leben  in  einer  Festung«,  fuhr  Nile  fort.  »Wir

errichten Barrieren gegen die Nomaden; wir bewoh-
nen  eine  Insel  inmitten  der  stürmischen  Meere  und
fühlen  uns  recht  wohl  dabei.  Steigung!  Steigung!
Steigung!  –  das  ist  der  ganze  Lebensinhalt  unserer
Mitbürger.«  Nile  machte  eine  verächtliche  Handbe-
wegung und tauchte in der Menge unter.

Rodenave entfernte sich ebenfalls; Waylock zögerte

noch und folgte ihm dann. Sie unterhielten sich ange-
regt über die ausgestellten Kunstwerke, und Waylock
beobachtete,  daß  Die  Jacynth  noch  immer  mit  den
beiden älteren Herren sprach.

»Dort  drüben  steht  Die  Jacynth  Martin«,  warf  er

wie  beiläufig  ein.  »Haben  Sie  schon  ihre  Bekannt-
schaft gemacht?«

Rodenave  starrte  ihn  forschend  an.  »Nein,  leider

nicht. Gehören Sie zu ihren Freunden?«

»Oh, ich kenne sie nur entfernt«, antwortete Way-

lock rasch.

»Ich  bin  auf  Einladung  hier«,  sagte  Rodenave

selbstbewußt.  »Die  Anastasia  de  Fancourt  hat  mich
um mein Erscheinen gebeten.«

»Wie  schön«,  murmelte  Waylock.  Jetzt  wußte  er,

weshalb ihm das Gesicht der schwarzhaarigen jungen
Frau so bekannt vorkam. Die Anastasia de Fancourt,
die berühmte Schauspielerin.

Rodenave  runzelte  die  Stirn.  »Die  Jacynth  ist  gut

mit ihr befreundet.«

Waylock lachte. »Es gibt keine Freundschaften un-

ter  den  Amaranth;  sie  sind  nicht  auf  Freunde  ange-
wiesen.«

»Sie  scheinen  ihre  Psychologie  genau  studiert  zu

haben«, stellte Rodenave fest.

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Waylock  zuckte  mit  den  Schultern  und  zeigte  auf

Reinhold Bierbursson. »Zu welcher Phyle gehört er?«

»Rand. Die Raumfahrt ist immer zuverlässig. Kein

langes Studium, keine Anstrengungen...«

»Nur sehr geringe Überlebenschancen.«
Rodenave sprach von seiner eigenen Phyle – Dritte

– und berichtete von seiner Arbeit; er war in der In-
standhaltungsabteilung  des  Aktuarius  beschäftigt.
Waylock  erkundigte  sich  nach  seinem  Aufgabenbe-
reich.

»Allgemeine  Forschung  und  Aufspüren  von  Feh-

lermöglichkeiten. Letztes Jahr habe ich an einer Ver-
einfachung des Televektor-Systems gearbeitet. Bisher
mußte ein Kodezeichen entschlüsselt und als Koordi-
nate  auf  die  große  Karte  übertragen  werden.  Jetzt
wird  die  Information  direkt  auf  einen  Filmstreifen
gedruckt, der selbst Teil der Karte ist. Dieser Verbes-
serung  verdanke  ich  übrigens  meinen  Aufstieg  in
Dritte.«

»Herzlichen Glückwunsch«, sagte Waylock. »Einer

meiner  Freunde  will  zukünftig  beim  Aktuarius  ar-
beiten; er wird sich freuen, wenn ich ihm erzähle, daß
es dort noch Aufstiegsmöglichkeiten gibt.«

Rodenave  schien  nicht  damit  einverstanden  zu

sein. »In welcher Funktion?«

»Wahrscheinlich  auf  dem  Sachgebiet  Öffentlich-

keitsarbeit.«

»Dort kann er keine Punkte sammeln«, versicherte

Rodenave ihm.

»Sind  denn  nicht  überall  Verbesserungen  mög-

lich?« fragte Waylock. »Ich habe selbst schon mit dem
Gedanken gespielt, dort zu arbeiten.«

Rodenave  starrte  ihn  verwirrt  an.  »Was  soll  diese

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Völkerwanderung zum Aktuarius? Unsere Arbeit ist
nicht  weiter  aufregend;  wir  kennen  weder  Personal-
probleme  noch  Umsatzsteigerungen  noch  Flauten  –
folglich sind auch die Aufstiegschancen sehr gering.«

»Sie  haben  es  aber  trotzdem  geschafft«,  stellte

Waylock fest.

Rodenave  schnaubte  verächtlich.  »Geschafft?«

wiederholte er.

»Was  hilft  mir  das,  wenn  die  Zeit  so  kurz  ist?  Ich

müßte  eigentlich  zu  Hause  sitzen  und  Logarithmen
lernen.«

»Logarithmen lernen?« fragte Waylock verblüfft.
»Auswendiglernen trifft eher zu. Ich will die Log-

arithmen  aller  Zahlen  bis  hundert  und  die  aller  na-
türlichen Konstanten im Gedächtnis haben.«

Waylock  lächelte  ungläubig.  »Was  ist  der  Log-

arithmus von 42?«

»Der natürliche oder der Zehner-Logarithmus? Ich

weiß beide.«

»Der Zehner-Logarithmus.«
»1,62325.«
»85?«
Rodenave schüttelte den Kopf. »Ich bin erst bei 71

angelangt.«

»Dann bitte 71.«
»1,85126.«
»Wie  können  Sie  das  behalten?«  erkundigte  Way-

lock sich.

Rodenave  machte  eine  wegwerfende  Handbewe-

gung.  »Ich  benütze  natürlich  ein  mnemotechnisches
System und verwandle jede Ziffer in einen Satzteil. 1
ist ein Eigenschaftswort; 2 ein Hauptwort, tierisch; 3
ein Hauptwort, pflanzlich; 4 ein Hauptwort, minera-

background image

lisch; 5 ein Zeitwort; 6 ein Umstandswort oder Eigen-
schaftswort, das Gefühle oder Gedanken bezeichnet;
7  eine  Farbe;  8  eine  Richtung;  9  eine  Größe;  0  eine
Verneinung.

Nach diesem Kode merke ich mir einen Satz für je-

de Zahl. Das Verfahren ist ganz einfach. ›Vorsichtiger
Bär  Gras  und  Fisch  frißt.‹  Das  bedeutet  1,62325,  der
Zehner-Logarithmus von 42, denn die Kennziffer er-
gibt sich von selbst.«

»Erstaunlich.«
Rodenave  seufzte.  »Heute  abend  wäre  ich  bis  74

oder  gar  75  gekommen.  Hätte  Die  Anastasia  mich
nicht  ausdrücklich  gebeten,  ihr...«  Er  machte  eine
Pause. »Da kommt sie ja!«

Die Anastasia kam lächelnd näher. »Guten Abend,

Vincent«, sagte sie mit klarer Stimme. Sie warf Way-
lock  einen  kurzen  Blick  zu;  Rodenave  hatte  ihn  be-
reits vergessen.

»Ich habe alles wie gewünscht besorgt, obwohl das

sehr riskant war.«

»Ausgezeichnet, Vincent!« Die Anastasia legte Ro-

denave eine Hand auf den Arm. »Besuchen Sie mich
nach der Vorstellung in meiner Garderobe.«

Rodenave  erklärte  sich  stotternd  dazu  bereit.  Die

Anastasia lächelte nochmals und verschwand wieder
in  der  Menge.  Die  beiden  Männer  sahen  ihr  bewun-
dernd nach. »Unvergleichlich«, murmelte Rodenave.

Die  Anastasia  erreichte  Die  Jacynth  und  flüsterte

ihr etwas zu, wobei sie auf Vincent Rodenave deute-
te. Die Jacynth drehte sich nach den beiden Männern
um,  aber  Waylock  wandte  sich  rasch  ab  und  zeigte
ihr nur seinen Rücken.

Vincent  Rodenave  war  diese  Bewegung  aufgefal-

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len. Er starrte Waylock neugierig an. »Sie haben mir
Ihren Namen bisher verschwiegen«, sagte er.

»Ich bin Gavin Waylock.«
Rodenaves  Unterkiefer  sackte  herab.  »Gavin...

Waylock...?« flüsterte er.

»Ja.«
Rodenave  sah  sich  verzweifelt  um.  »Dort  drüben

kommt Jacob Nile. Ich entferne mich lieber.«

»Was gefällt Ihnen an Nile nicht?« fragte Waylock.
Rodenave zog die Augenbrauen hoch. »Haben Sie

noch nie von den Zweiflern gehört?«

»Ich habe gehört, daß sie im Haus der Erleuchtung

Versammlungen abhalten.«

Rodenave  nickte.  »Niles  Unsinn  interessiert  mich

nicht. Der Kerl ist noch dazu ein Glark!«

Rodenave entfernte sich eilig. Waylock beobachtete

Die  Jacynth,  stellte  fest,  daß  sie  wie  zuvor  in  eine
Unterhaltung vertieft war, und folgte Rodenave, der
vor einem Aquefakt stand.

Rodenave sah ihn kommen und wandte sich rasch

ab.  Waylock  berührte  seine  Schulter;  der  andere
drehte sich langsam nach ihm um.

»Ich möchte mit Ihnen sprechen, Rodenave.«
»Tut  mir  leid«,  stotterte  Rodenave.  »Aber  im  Au-

genblick...«

»Vielleicht begleiten Sie mich nach draußen.«
»Ich habe kein Bedürfnis nach frischer Luft.«
»Dann  gehen  wir  in  einen  Nebenraum;  vielleicht

können  wir  die  Sache  dort  in  Ordnung  bringen.«
Waylock  nahm  Rodenaves  Arm  und  führte  ihn  hin-
aus.

»Los, her mit dem Zeug«, forderte er dann mit aus-

gestreckter Hand.

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»Was?«
»Sie  tragen  etwas  bei  sich,  das  Die  Anastasia  be-

kommen  soll.  Da  es  mich  betrifft,  möchte  ich  es  se-
hen.«

»Sie  irren  sich.«  Rodenave  wollte  gehen,  aber

Waylock  hielt  ihn  zurück,  ohne  sich  um  den  Protest
des anderen zu kümmern. Er griff in Rodenaves Jacke
und  holte  einen  Umschlag  aus  der  Innentasche;  Ro-
denave machte eine abwehrende Handbewegung, lei-
stete jedoch keinen ernsthaften Widerstand.

Waylock  riß  den  Umschlag  auf,  der  drei  Mikrofil-

me enthielt. Er nahm einen heraus und hielt ihn ans
Licht. Einzelheiten waren nicht zu erkennen, aber die
Beschriftung  war  deutlich  genug:  DER  GRAYVEN
WARLOCK.

»Aha«,  murmelte  Waylock.  »Allmählich  verstehe

ich.«  Rodenave  stand  wie  ein  ertappter  Sünder  vor
ihm.

Der zweite Filmstreifen trug die Aufschrift GAVIN

WAYLOCK, der dritte war mit DIE ANASTASIA DE
FANCOURT bezeichnet.

»Offenbar  handelt  es  sich  dabei  um  Televektorfil-

me«,  sagte  Waylock.  »Vielleicht  erzählen  Sie  mir
freundlicherweise, was...«

»Ich erzähle Ihnen gar nichts«, unterbrach Rodena-

ve ihn wütend.

Waylock  betrachtete  ihn  nachdenklich.  »Können

Sie sich die Konsequenzen einer Anzeige vorstellen?«

»Die Sache ist völlig harmlos! Ein Scherz, eine be-

langlose Gefälligkeit!«

»Harmlos?  Ein  Scherz?  Wenn  Sie  mit  meinem  Le-

ben spielen? Obwohl selbst die Assassinen keine Te-
levektoren benützen dürfen?«

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»Sie  überschätzen  die  Bedeutung  der  ganzen  An-

gelegenheit«, murmelte Rodenave betreten.

»Sie überschätzen Ihre Entfernung vom Prangerkä-

fig.«

Rodenave  streckte  die  Hand  aus.  »Geben  Sie  mir

jetzt die Filme zurück«, verlangte er.

»Sind  Sie  übergeschnappt?«  fragte  Waylock  er-

staunt.

Rodenave suchte nach einer Ausrede. »Ich habe sie

schließlich für Die Anastasia beschafft.«

»Was wollte sie damit?«
»Keine Ahnung«, murmelte Rodenave.
»Sie  wollte  die  Filme  an  Die  Jacynth  weitergeben,

glaube ich.«

Rodenave zuckte mit den Schultern. »Das kann mir

egal sein.«

»Haben Sie die Absicht, ihr noch weitere Filme zu

besorgen?« fragte Waylock leise.

Rodenave  starrte  ihn  an  und  ließ  dann  den  Kopf

sinken. »Nein.«

»Werden Sie bitte diesem Vorsatz nicht untreu.«
Rodenave  warf  einen  Blick  auf  den  Umschlag  in

Waylocks Hand. »Was haben Sie damit vor?«

»Keine

 

Angst,

 

es

 

betrifft

 

Sie

 

nicht

 

im

 

geringsten.

 

Sei-

en

 

Sie

 

froh, daß Ihre traurige Rolle damit zu Ende ist.«

Rodenave  machte  auf  dem  Absatz  kehrt  und  ver-

ließ den Raum.

Waylock sah ihm mit gerunzelter Stirn nach, war-

tete  noch  einige  Minuten  und  trat  dann  in  den  Saal
hinaus. Die Jacynth schien ihn bereits erwartet zu ha-
ben, denn sie beobachtete ihn mit einem leichten Lä-
cheln, als er den Saal durchquerte, um zu ihr zu ge-
langen.

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28

»Haldeman hat die Ruinen in der Biskaya mit eigenen
Augen gesehen«, sagte der jüngere der beiden Män-
ner, neben denen Die Jacynth stand. »Ein Mauerrest,
eine Bronzestelle, ein zerstörtes Mosaik und sogar ei-
ne unbeschädigte blaue Glasscheibe!«

Der andere klatschte begeistert in die Hände. »Das

muß wirklich aufregend gewesen sein! Wäre ich nicht
durch mein Amt an Clarges gefesselt, würde ich mich
Ihrer Expedition anschließen!«

Die  Jacynth  legte  eine  Hand  auf  Waylocks  Arm.

»Hier  ist  ein  Mann,  der  Abenteuer  liebt!  Ein  Ritter
ohne  Furcht  und  Tadel!«  Sie  stellte  ihn  ihren  Freun-
den vor. »Mister Sisdon Cam...« – ein kräftig gebauter
Mann mit sonnengebräuntem Gesicht – »... und Seine
Ehren, der Kanzler des Prytaneons, Claude Imish« –
ein  weißhaariger  älterer  Mann,  der  Waylock  mit  ei-
nem freundlichen Nicken begrüßte.

Waylock murmelte einige Höflichkeitsfloskeln; Die

Jacynth, die zu spüren schien, daß er innerlich kochte,
schwatzte  munter  weiter.  »Wir  haben  eben  von  Mi-
ster  Cams  letzter  Expedition  gesprochen.  Er  ist  Un-
terwasserarchäologe.«

Kanzler  Imish  deutete  lächelnd  auf  die  Aquefakte

an den Wänden. »Dann ist er hier gerade richtig, fin-
de ich!«

»Ist  das  nicht  erstaunlich,  Gavin  Waylock?«  fuhr

Die Jacynth fort. »Zerstörte Städte im Meer!«

»Schrecklich aufregend«, warf Kanzler Imish ein.
»Wie könnte die Stadt früher geheißen haben?« er-

kundigte Die Jacynth sich.

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Cam  schüttelte  den  Kopf.  »Wer  weiß?  Vielleicht

bringen die nächsten Tauchversuche einen brauchba-
ren Hinweis.«

»Werden  Sie  nicht  von  nomadischen  Piraten  belä-

stigt?« fragte Imish.

»Bis zu einem gewissen Grad. Aber sie sind schon

vorsichtiger geworden.«

Waylock  konnte  seine  Ungeduld  nicht  länger  be-

herrschen.  »Haben  Sie  einen  Augenblick  Zeit  für
mich?« fragte er Die Jacynth.

»Selbstverständlich.«  Sie  entschuldigte  sich  bei

Cam und Imish und entfernte sich einige Schritte von
ihnen. »Nun, Gavin Waylock, wie geht es?«

»Warum  haben  Sie  mich  heute  abend  hierher  ge-

lotst?« wollte Waylock wissen.

Sie  zog  überrascht  die  Augenbrauen  hoch.  »Woll-

ten Sie denn nicht mit mir sprechen?«

»Ich möchte Sie nur warnen. Wenn Sie sich in mei-

ne Angelegenheiten einmischen, bin ich gezwungen,
mich auch in Ihre zu mischen.«

»Das klingt fast wie eine Drohung, Gavin.«
»Nein«, sagte Waylock, »es ist nur eine letzte War-

nung, die ich an Ihrer Stelle beherzigen würde.«

Die Jacynth sah an ihm vorbei und schien kaum auf

seine Worte zu achten; er stellte fest, daß ihre Pupil-
len vor Aufregung geweitet waren. »Hier kommt ein
Mann, den Sie unbedingt begrüßen müssen«, flüsterte
sie  ihm  zu.  »Die  Anastasia  bezeichnet  ihn  als  ihren
gegenwärtigen  Liebhaber,  aber  jeder  weiß,  daß  sie
noch ein halbes Dutzend andere hat.«

Waylock drehte sich um; hinter ihm stand Der Abel

Mandeville. Die beiden Männer starrten sich an.

»Der Grayven Warlock!« rief Der Abel aus.

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»Ich heiße Gavin Waylock«, erklärte Waylock ihm

eisig höflich.

»Gavin  ist  angeblich  nur  sein  Relikt«,  fügte  Die

Jacynth hinzu.

»Nun,  es  tut  mir  leid,  wenn...«  Der  Abel  kniff  die

Augen zusammen. »Relikt? Nicht Surrogat?«

»Relikt«, sagte Waylock.
Der Abel betrachtete ihn von Kopf bis Fuß. »Mög-

lich.  Unter  Umständen  möglich.  Aber  Sie  sind  kein
Relikt.  Sie  sind  Der  Grayven,  und  die  Tatsache,  daß
Sie  Ihrer  verdienten  Strafe  entgangen  sind,  ist  eine
himmelschreiende  Ungerechtigkeit.«  Er  wandte  sich
an Die Jacynth. »Ist dieses Ungeheuer wirklich unbe-
siegbar?«

»Vielleicht«, antwortete Die Jacynth nachdenklich.
»Weshalb  geben  Sie  sich  überhaupt  mit  ihm  ab?«

wollte Der Abel wissen.

»Ich muß zugeben, daß er mich... interessiert.«
Der  Abel  machte  eine  wegwerfende  Handbewe-

gung. »Unser System hat einen entscheidenden Feh-
ler,  das  habe  ich  schon  immer  behauptet.  Wenn  die
Assassinen  ihren  Auftrag  erfüllen,  sollten  sie  ganze
Arbeit  leisten,  damit  keine  Spur  des  Verurteilten  in
Clarges zurückbleibt!«

»Abel«,  warf  Die  Jacynth  ein,  »warum  halten  wir

uns mit vergangenen Untaten auf? Gibt es nicht auch
gegenwärtig Ungerechtigkeiten, wohin man blickt?«

Der Abel schüttelte wütend den Kopf. »Ich verste-

he  einfach  nicht,  weshalb  Sie  sich  mit  diesem  min-
derwertigen Subjekt abgeben!« Er wandte sich brüsk
ab und verschwand in der Menge.

Die  Jacynth  und  Waylock  sahen  ihm  nach.  »Er  ist

heute reizbarer als gewöhnlich«, erklärte Die Jacynth

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ihm. »Die Anastasia flirtet mit anderen, und seine Ei-
fersucht plagt ihn wie ein Magengeschwür.«

»Haben  Sie  mich  für  heute  abend  eingeladen,  da-

mit  Der  Abel  mich  besichtigen  kann?«  fragte  Way-
lock.

»Erraten«, antwortete Die Jacynth lächelnd. »Ja, ich

wollte  diese  Begegnung  miterleben.  Bisher  war  mir
nicht klar, weshalb Sie damals mein Hinscheiden ver-
anlaßt haben könnten. Aber ich glaubte, endlich eine
brauchbare Spur gefunden zu haben, als mir auffiel,
daß Sie wie Der Grayven aussehen.«

»Ich heiße Gavin Waylock.«
Sie  reagierte  nicht  darauf.  »Ich  mußte  mir  Gewiß-

heit verschaffen. Die ursprüngliche Jacynth hatte kein
großes  Interesse  an  Ihnen;  sie  kannte  kaum  Einzel-
heiten der Warlock-Mandeville-Affäre.«

»Selbst  wenn  Sie  recht  hätten  –  weshalb  sollte  ich

Ihnen schaden wollen?«

»Sieben  Jahre  sind  vergangen;  Der  Grayven  War-

lock  ist  nach  den  Bestimmungen  des  Gesetzes  tot.
Wer nun behauptet, sein Relikt zu sein, kann sich un-
gefährdet  in  Clarges  bewegen.  Ich  habe  Sie  in  Car-
nevalle  wiedererkannt;  Sie  mußten  fürchten,  ich
würde Sie den Assassinen ausliefern.«

»Und – nehmen wir einmal an, Ihre phantastischen

Behauptungen  träfen  wirklich  zu  –  hätten  Sie  es  ge-
tan?«

»Selbstverständlich!  Sie  haben  ein  Verbrechen  be-

gangen, und in Carnevalle haben Sie es wiederholt.«

»Sie sind von einer fixen Idee besessen«, murmelte

Waylock.

»Halten  Sie  mich  etwa  für  dumm,  Gavin  Way-

lock?« fragte Die Jacynth.

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»Selbst wenn ich schuldig wäre – was ich nie zuge-

ben würde –, woraus konstruieren Sie dann ein Ver-
brechen?  Weder  Sie  noch  Der  Abel  hatten  mehr  als
eine kleine Unannehmlichkeit zu erdulden.«

»Ihr Verbrechen ist abstrakt und fundamental«, er-

klärte Die Jacynth leise. »Sie haben das Leben zweier
Menschen beendet.«

Waylock warf einen Blick auf den Saal und die üb-

rigen Gäste. »Hier ist kaum der richtige Ort, an dem
sich dieses Problem in Ruhe diskutieren ließe«, sagte
er langsam. »Ich möchte Sie aber darauf aufmerksam
machen,  daß  jeder  von  uns  –  die  Glarks  ausgenom-
men – dieses ›Verbrechen‹ begeht, ohne sich um die
Folgen zu kümmern.«

»Sie  erschrecken  mich!«  flüsterte  Die  Jacynth  mit

gespielter Angst. »Beschreiben Sie mein Verbrechen –
schildern Sie mir die grausigen Details!«

Waylock nickte. »Auf zweitausend normale Bürger

der vier unteren Phylen kommt ein Amaranth. Als Sie
in die Amaranth-Gesellschaft aufgenommen wurden,
erhielt  der  Aktuarius  neue  Informationen,  die  ent-
sprechend  ausgewertet  wurden.  Zweitausend
schwarze  Limousinen  setzten  sich  in  Bewegung;
zweitausend  Verzweifelte  nahmen  Abschied  von  ih-
ren  Lieben,  verließen  ihr  Haus  und  bestiegen  eine
Limousine; zweitausend...«

Die  Jacynth  machte  eine  abwehrende  Handbewe-

gung. »Das ist nicht meine Schuld; jeder strebt unter
den gleichen Voraussetzungen.«

»Und jeder frißt jeden«, fügte Waylock hinzu. »Der

Existenzkampf ist härter als jemals zuvor in der Ge-
schichte der Menschheit. Sie haben sich blenden las-
sen; Sie vertrauen auf falsche Theorien; Sie sind gera-

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dezu davon besessen – nicht nur Sie, sondern wir alle.
Hätten wir endlich den Mut, den Tatsachen ins Auge
zu  sehen,  wären  die  Beruhigungsanstalten  weniger
überfüllt.«

»Bravo«, rief Kanzler Imish aus, der sich ihnen leise

genähert hatte. »Eine unorthodoxe Ansicht, die zwar
auf falschen Voraussetzungen beruht, aber mit Bered-
samkeit und Überzeugung vorgetragen wurde!«

Waylock verbeugte sich leicht. »Ich danke Ihnen.«

Er nickte den beiden kurz zu und verschwand in ei-
nem  der  Nebenräume.  Dort  konnte  er  in  aller  Ruhe
nachdenken  und  planen,  während  Die  Anastasia  im
Großen Saal ihre Solovorstellung gab.

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29

Waylock  lehnte  sich  in  einen  Sessel  zurück.  Die
Jacynth hatte ihn hierher gelockt, um sich seine Iden-
tität bestätigen zu lassen – wenn nicht durch die Tat-
sache,  daß  Der  Abel  Mandeville  ihn  wiedererkannt
hatte,  dann  durch  einen  Vergleich  der  Televektorfil-
me, die ihr Die Anastasia von ihrem Verehrer Vincent
Rodenave hatte verschaffen lassen.

Waylock  nahm  die  Filme  aus  dem  Umschlag  und

untersuchte  sie  so  gut  wie  möglich  ohne  Projektor.
Alle  Details  der  Darstellungen  waren  verwischt,  als
seien  verschiedene  Felder  der  ursprünglichen  Karte
übereinandergelegt  worden.  Auf  jedem  Film  waren
zwei rote Kreuze zu sehen – das eine klar und deut-
lich,  das  andere  etwas  verschwommen.  Die  beiden
Filme, die Waylock betrafen, schienen völlig überein-
zustimmen. Waylock zerriß sie lächelnd.

Er  betrachtete  den  dritten  Film  nochmals  einge-

hend  und  stellte  fest,  daß  auch  hier  eine  Überlage-
rung vorgenommen worden war. Weshalb? Ein tech-
nischer  Fehler  schied  aus.  Waylock  hatte  eher  den
Eindruck, die Karten zweier Menschen seien absicht-
lich auf einem Filmstreifen dargestellt worden.

Aber  das  war  eigentlich  unmöglich;  die  Alpha-

Wellen  jedes  Gehirns  waren  unverwechselbar  und
einzigartig.

Plötzlich fiel ihm eine mögliche Lösung ein, und er

hatte  fast  gleichzeitig  eine  großartige  Idee,  die  ihm
zunächst so phantastisch erschien, daß er selbst nicht
recht daran glauben konnte...

Aber  wo  steckt  der  Fehler,  wenn  ich  diese  Filmstreifen

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richtig gedeutet habe?

Waylock  ging  erregt  auf  und  ab.  Aus  der  bloßen

Idee  wurde  innerhalb  weniger  Minuten  ein  be-
stimmter Plan, mit dessen Ausführung er demnächst
beginnen mußte.

Begeisterter Applaus rauschte auf; Stimmengewirr

wurde  laut.  Die  Vorstellung  im  Großen  Saal  war  zu
Ende.

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30

Die  Anastasia  de  Fancourt  kehrte  in  ihre  Garderobe
zurück und ließ die Tür hinter sich ins Schloß fallen.
Sie  war  erschöpft,  aber  trotzdem  mit  sich  zufrieden,
denn die Vorstellung war ein voller Erfolg gewesen.
Die  Beifallsrufe  und  der  Applaus  der  Zuschauer
klangen weiter in ihren Ohren nach...

Sie richtete sich auf. Irgend jemand befand sich in

ihrer Nähe; irgend jemand, den sie nicht kannte. Sie
warf einen Blick in den kleinen Salon, der sich an die
Garderobe anschloß. Dort saß ein Mann in einem der
Sessel und stützte den Kopf in die Hände.

Die Anastasia näherte sich ihm überrascht. »Mister

Bierbursson,  ich  freue  mich,  daß  Sie  sich  die  Mühe
gemacht haben, mich hier aufzusuchen.«

Bierbursson schüttelte den Kopf. »Nein, die Freude

liegt ganz auf meiner Seite. Eigentlich müßte ich mich
für  mein  Eindringen  entschuldigen,  aber  als  Raum-
fahrer  bildet  man  sich  gelegentlich  ein,  über  den
Konventionen zu stehen.«

Die  Anastasia  lachte.  »Ich  würde  vielleicht  zu-

stimmen,  wenn  ich  wüßte,  welche  Konvention  Sie
meinen.«

Bierbursson sah ihr unverwandt in die Augen. »Ich

bin kein Mann großer Worte«, begann er. »Meine Ge-
danken  sind  Bilder,  die  ich  nicht  recht  beschreiben
kann.  Ich  halte  Tage,  Wochen  und  Monate  Wache
und  bin  für  das  Schiff  verantwortlich,  während  die
Wissenschaftler  und  Forscher  in  ihren  Zellen  schla-
fen. Das ist meine Aufgabe.«

Die Anastasia nahm in dem Sessel neben ihm Platz.

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»Ihr Leben muß sehr einsam sein«, stellte sie fest.

»Ich habe meine Arbeit. Ich habe meine Bildhauer-

kunst.  Und  ich  habe  Musik.  Heute  abend  haben  Sie
eine Vorstellung gegeben. Ich war überrascht. Bisher
habe ich immer geglaubt, nur Musik könne so beredt
und empfindsam ausdrücken, was ich...«

»Das ist ganz natürlich. Schauspieler und Musiker

stehen einander geistig sehr nahe. Beide gebrauchen
Symbole,  die  abstrakte  Formen  der  Wirklichkeit
sind.«

Bierbursson nickte langsam. »Ja, das verstehe ich.«
Die  Anastasia  erhob  sich,  blieb  dicht  vor  ihm  ste-

hen  und  betrachtete  sein  Gesicht.  »Sie  sind  ein  selt-
samer  Mann,  ein  wundervoller  Mann.  Warum  sind
Sie zu mir gekommen?«

»Ich wollte Sie bitten, mit mir zu kommen«, erwi-

derte  Bierbursson.  »Die  Star  Enterprise,  das  neue
Raumschiff,  ist  in  wenigen  Wochen  startbereit  und
soll uns nach Acharnar bringen. Ich möchte, daß Sie
mit mir kommen und mein Leben teilen.«

Die Anastasia lächelte bedauernd. »Ich bin so zag-

haft und furchtsam wie alle anderen.«

»Das kann ich nicht glauben.«
»Es  ist  leider  wahr.«  Sie  legte  ihm  die  Hände  auf

die Schultern. »Ich darf meine Surrogate nicht verlas-
sen; unsere Empathie wäre gefährdet, und ich könnte
ihre weitere Entwicklung nicht mehr beeinflussen. Ich
dürfte sie aber auch nicht mitnehmen und sie der Ge-
fahr  völliger  Vernichtung  aussetzen.  Deshalb...«  Sie
machte  eine  bedauernde  Geste.  »Ich  bin  Gefangene
meiner eigenen Freiheit.«

Hinter  ihnen  flog  die  Tür  auf,  dann  kamen  laute

Schritte näher.

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»Eine  hübsche  Szene«,  sagte  eine  spöttische  Stim-

me.

Der  Abel  Mandeville  stand  in  der  Nähe  der  Tür

und  starrte  Die  Anastasia  wütend  an.  Er  trat  einen
Schritt auf sie zu. »Du gibst dich also mit dieser Vo-
gelscheuche ab – du umarmst ihn sogar!«

Die  Anastasia  stampfte  wütend  mit  dem  Fuß  auf.

»Abel, das geht wirklich zu weit«, zischte sie.

»Pah!  Meine  Grobheit  ist  weniger  abstoßend  als

deine Nymphomanie, das kannst du mir glauben!«

Bierbursson erhob sich langsam. »Tut mir leid, daß

ich Ihnen offenbar den Abend verdorben habe«, sagte
er traurig.

Mandeville  lachte  böse.  »Sie  überschätzen  sich,

guter  Mann.  Von  Ihnen  und  Ihresgleichen  lasse  ich
mir keinen Abend verderben!«

Eine  dritte  Männerstimme  kam  von  der  Tür  her.

»Haben  Sie  einen  Augenblick  Zeit  für  mich,  Ana-
stasia?« fragte Vincent Rodenave.

»Noch einer?« wollte Der Abel wissen.
Vincent Rodenave trat auf ihn zu. »Sie sind beleidi-

gend, Sir.«

»Das kümmert mich wenig. Was haben Sie hier zu

suchen?«

»Sie haben kein Recht, mich danach zu fragen.«
Der  Abel  kam  drohend  näher;  Vincent  Rodenave

blieb  tapfer  stehen,  obwohl  er  körperlich  deutlich
unterlegen  war.  Die  Anastasia  trat  zwischen  sie.
»Hört auf, ihr Kampfhähne! Sofort aufhören, habe ich
gesagt! Bitte geh jetzt, Abel!«

Der Abel starrte sie wütend an. »Ich soll gehen?«
»Ja.«
»Ich gehe erst, wenn die beiden gegangen sind.« Er

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deutete auf die Tür. »Dort hinaus, meine Herren, aber
schnell!«

»Geht  alle«,  rief  Die  Anastasia.  »Ich  will  keinen

mehr sehen!«

Reinhold  Bierbursson  verbeugte  sich  leicht  und

ging hinaus.

Vincent Rodenave blieb stehen. »Haben Sie später

einen Augenblick Zeit für mich? Ich muß Ihnen...«

Die  Anastasia  machte  eine  abwehrende  Handbe-

wegung.

»Nicht heute abend, Vincent. Ich brauche nach die-

ser Aufregung etwas Ruhe.«

Rodenave  zögerte  unentschlossen,  verließ  dann

aber doch den Raum.

Die  Anastasia  drehte  sich  nach  Mandeville  um.

»Bitte, Abel. Ich muß mich umziehen.«

Der  Abel  blieb  unbeweglich  stehen.  »Ich  will  mit

dir sprechen.«

»Aber ich nicht mit dir!« Die Anastasia lachte ver-

ächtlich.  »Verstehst  du  wirklich  nicht,  Abel?  Ich  bin
mit dir fertig – endgültig, völlig, unwiderruflich. Ver-
schwinde jetzt!«

Die Anastasia wandte sich brüsk ab, nahm vor dem

Garderobenspiegel  Platz,  griff  nach  einem  Watte-
bausch und begann sich abzuschminken.

Hinter  ihr  näherten  sich  schwere  Schritte;  dann

folgten ein unterdrückter Aufschrei, ein Keuchen und
ein stetes Tropfen, das wenig später aufhörte.

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31

Am  Morgen  nach  der  Ausstellung  war  Waylock
schon beim Aufstehen in gedrückter und pessimisti-
scher Stimmung. Er zog sich langsam an, verließ das
Haus und ging in Richtung Süden davon. Eine Vier-
telstunde  später  erreichte  er  den  Perlenpavillon,  der
inmitten  eines  weitläufigen  Parks  an  einem  künstli-
chen See lag. Dort nahm er auf der sonnenüberflute-
ten Terrasse Platz und bestellte ein leichtes Frühstück.

Die Sonne wärmte ihn und vertrieb seine trübselige

Laune. Die schrecklichen Ereignisse des vergangenen
Abends dienten schließlich zu seiner Rechtfertigung –
das  mußte  selbst  Die  Jacynth  zugeben.  Sollte  sie  be-
reit sein, ihn nicht länger zu verfolgen, würde er sei-
nerseits  den  Plan  aufgeben,  der  am  vergangenen
Abend  in  ihm  gereift  war.  Und  trotzdem  –  die  Idee
war eigentlich um ihrer selbst willen reizvoll.

Er  griff  in  die  Tasche  und  nahm  Rodenaves  Um-

schlag heraus, der den Filmstreifen mit der Aufschrift
DIE ANASTASIA DE FANCOURT enthielt. Vermut-
lich  war  es  nicht  allzu  schwierig,  die  überlagerten
Darstellungen  voneinander  zu  trennen.  Das  war  ein
rein technisches Problem, das mit technischen Mitteln
zu lösen sein mußte...

Er  wog  den  Umschlag  nachdenklich  in  der  Hand.

Rodenave hatte viel für Die Anastasia gewagt und ei-
ne schwere Bestrafung riskiert – jedenfalls die fristlo-
se  Entlassung,  wahrscheinlich  aber  auch  den  Pran-
gerkäfig. Er war dazu bereit gewesen, ohne auf eine
Belohnung  hoffen  zu  können.  Waylock  fragte  sich,
was er ein zweitesmal riskieren würde, wenn er eine

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Belohnung vor Augen hatte.

Waylock  beendete  sein  Frühstück,  bestellte  einen

zweiten  Becher  Tee  und  lehnte  sich  in  seinen  Sessel
zurück. Dann richtete er sich plötzlich auf und kniff
die  Augen  zusammen,  als  er  das  seltsame  Paar  am
Seeufer  stehen  sah:  ein  ernster  junger  Mann  in
Schwarz und eine hübsche rothaarige Frau in grünem
Rock  und  schwefelgelber  Bluse,  zu  der  sie  ein  Dut-
zend klirrender Armreifen trug.

Waylock  erkannte  die  junge  Frau:  Pladge  Caddi-

gan. Sie sah im gleichen Augenblick zu ihm herüber.
»Gavin Waylock!« rief sie und winkte ihm zu. Dann
nahm sie den Arm ihres Begleiters, betrat die Terrasse
und blieb vor Waylocks Tisch stehen.

»Roger  Buisly,  Gavin  Waylock«,  sagte  sie  einfach.

»Dürfen wir Ihnen Gesellschaft leisten?«

»Selbstverständlich«,  antwortete  Waylock,  Pladge

schien sich verblüffend rasch von ihrem Schock über
Caddigans Tod erholt zu haben.

Pladge  setzte  sich,  und  der  junge  Mann  folgte  ih-

rem Beispiel.

»Ich habe große Hoffnungen, Roger«, sagte Pladge,

»daß Gavin Waylock sich uns anschließt.«

»Wobei?« fragte Waylock.
»Ich  erwarte,  daß  Sie  ebenfalls  ein  Zweifler  wer-

den«, antwortete Pladge zuversichtlich. »Alle bedeu-
tenden Leute sind heutzutage Zweifler.«

»Das  freut  mich«,  erwiderte  Waylock  sarkastisch.

»Vielleicht erklären Sie mir endlich genau, was unter
einem Zweifler zu verstehen ist.«

Pladge  schüttelte  bedauernd  den  Kopf.  »Das  ist

leider  unmöglich,  denn  jeder  von  uns  würde  Ihnen
eine  andere  Definition  geben.  Wir  sind  uns  nur  im

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Prinzip  darüber  einig,  daß  die  gegenwärtigen  Zu-
stände  unerträglich  sind.  Deshalb  schließen  wir  uns
zusammen, um eine Ratsversammlung ins Leben zu
rufen.«

»Wozu?«
Pladge  starrte  ihn  überrascht  an.  »Damit  wir  end-

lich die dringend notwendigen Veränderungen unse-
res Systems durchsetzen können!«

»Welche?«
Pladge seufzte leise. »Wären wir uns darüber einig,

wäre  alles  andere  ein  Kinderspiel.  Der  augenblickli-
che Zustand ist unerträglich; wir wollen ihn ändern –
nur Roger Buisly nicht.«

Buisly lächelte ironisch. »Wir leben in einer unvoll-

kommenen  Welt.  Meiner  Überzeugung  nach  ist  das
gegenwärtige  System  die  beste  Lösung.  Es  setzt  be-
stimmte Normen fest, steckt erreichbare Ziele ab und
erfüllt die Hoffnungen der Menschheit. Zudem wäre
jede  Änderung  mit  großen  Nachteilen  für  uns  alle
verbunden.«

Pladge schnitt eine Grimasse. »Roger ist heute wie-

der unerträglich konservativ.«

Waylock sah zu dem jungen Mann hinüber. »Wes-

halb ist er dann Zweifler geworden?«

»Warum nicht?« fragte Buisly. »Ich bin ein größerer

Zweifler  als  die  anderen.  Pladges  Freunde  befassen
sich mit dem Problem: ›Wie soll unsere Zukunft aus-
sehen?‹ Ich ergänze diese Fragestellung und überlege:
›Wie soll unsere Zukunft aussehen, wenn diese Ver-
rückten ans Ruder kommen?‹«

»Er  hat  nie  konstruktive  Ideen«,  klagte  Pladge.

»Statt dessen gibt er sich alle Mühe, uns lächerlich zu
machen.«

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»Keineswegs«,  widersprach  Buisly.  »Ich  gehe  nur

von einfachen Voraussetzungen aus, die deine komi-
schen  Freunde  nicht  akzeptieren  wollen.  Meine  Er-
kenntnis  beruht  auf  drei  Tatsachen.  Erstens:  Jeder
möchte unsterblich sein. Zweitens: Wir können nicht
jedem diesen Wunsch erfüllen, weil sonst unsere Zi-
vilisation gefährdet wäre. Drittens: Da nicht alle ewig
leben  können,  müssen  wir  eine  Auswahl  nach  be-
stimmten Gesichtspunkten treffen. Und genau das tut
unser gegenwärtiges System.«

»Aber  wie  steht  es  mit  dem  Leid,  das  diese  Aus-

wahl  über  die  Menschen  bringt?«  warf  Pladge  ein.
»Wie  steht  es  mit  Kummer  und  Sorgen  und  Wirren
und  Aufregungen  und  Schrecken?  Wie  steht  es  mit
den  armen  Kerlen  in  Beruhigungsanstalten?  Fünf-
undzwanzig Prozent aller Teilnehmer!«

Buisly  zuckte  mit  den  Schultern.  »Unsere  Welt  ist

eben  unvollkommen.  Es  hat  schon  immer  Kummer
und  Sorgen  gegeben.  Wir  geben  uns  Mühe,  diesen
Zustand zu verbessern. Ich bin der Meinung, daß eine
weitere Verbesserung nicht möglich ist.«

»Roger! Ist das wirklich deine Überzeugung?«
»Ja,  solange  keiner  kommt  und  mir  das  Gegenteil

beweist.« Er wandte sich an Waylock. »Das ist wirk-
lich meine Meinung. Selbstverständlich verabscheuen
sie mich deswegen, aber ich wirke immerhin wie ein
Blitzableiter auf diese Leute.«

»Vermutlich  eine  notwendige  Funktion«,  stellte

Waylock fest. »Gestern abend habe ich einen Zweifler
getroffen. Er hieß Jacob Nile und war...«

»Jacob  Nile!«  Pladge  legte  Buisly  eine  Hand  auf

den  Arm.  »Roger,  du  mußt  ihn  gleich  anrufen;  er
wohnt  hier  in  der  Nähe  und  kommt  vielleicht  einen

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Augenblick vorbei.«

Roger Buisly war nicht dazu bereit, obwohl Pladge

sich große Mühe gab, ihn umzustimmen.

»Gut«, sagte sie schließlich, »dann rufe ich ihn eben

selbst an.«

Sie erhob sich und verschwand.
»Eine energische Person«, stellte Buisly fest.
»Offensichtlich.«
Pladge kam triumphierend zurück. »Er wollte eben

einer.  Spaziergang  machen  und  kommt  gleich  vor-
bei.«

Jacob Nile erschien wenige Minuten später. Er be-

trachtete Waylock mit gerunzelter Stirn. »Ihr Gesicht
kommt  mir  bekannt  vor.  Sind  wir  uns  schon  früher
begegnet?«

»Ja«,  antwortete  Waylock,  »gestern  abend  im

Künstlerklub.«

»Oh?« Nile runzelte die Stirn. »Vielleicht. Ich kann

mich  nicht  mehr  daran  erinnern...  Eine  schreckliche
Sache.«

»Wirklich schrecklich.«
»Was  war  schrecklich?«  fragte  Pladge  neugierig

und  ließ  sich  alles  ausführlich  erzählen.  Dann  spra-
chen  sie  wieder  von  den  Zweiflern,  und  Nile  schil-
derte eindringlich, welche Gefahren einer zur Bewe-
gungslosigkeit erstarrten Gesellschaft drohten.

»Jacob,  Sie  haben  den  Blick  für  die  Wirklichkeit

verloren«,  protestierte  Roger  Buisly.  »Wohin  sollen
wir uns bewegen, wenn wir kein Ziel haben?«

»Wir  müßten  uns  nur  auf  unsere  eigentliche  Auf-

gabe  besinnen«,  antwortete  Nile.  Er  zuckte  mit  den
Schultern.

»Aufgabe?«

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»Die  Menschheit  hat  ihren  größten  Feind  besiegt;

wir kennen das Geheimnis der Unsterblichkeit – und
müßten es allen zugänglich machen!«

Buisly  lächelte  spöttisch.  »Das  wäre  geradezu  un-

menschlich, Jacob. Stellen Sie sich vor, was geschehen
würde, wenn die Menschen plötzlich alle unsterblich
wären!«

Waylock  nickte  zustimmend.  »Clarges  müßte  sich

in alle Richtungen ausbreiten und würde schon nach
wenigen Jahrzehnten die gesamte Welt umfassen. Die
Unsterblichen würden hundert Jahre später Schulter
an Schulter stehen, so weit das feste Land reicht!«

Jacob Nile seufzte. »Ich wüßte eine andere Lösung,

wage aber nicht zu hoffen, daß andere mir auf diesem
Weg folgen würden.«

»Wollen  Sie  nicht  wenigstens  andeuten,  woraus

diese Lösung besteht?« fragte Roger Buisly.

Nile  deutete  lächelnd  zum  Himmel  hinauf.  »Dort

zwischen den Sternen liegt unsere eigentliche Aufga-
be. Das Universum erwartet uns.«

Die  anderen  schwiegen  fast  verlegen.  Jacob  Nile

beobachtete  sie  lächelnd.  »Sie  halten  mich  für  einen
Phantasten? Vielleicht haben Sie recht. Verzeihen Sie
mir, daß ich Sie mit meinen Wunschträumen belästigt
habe.«

»Nein, nein«, widersprach Pladge.
»Ihr Vorschlag könnte tatsächlich eine Lösung des

Problems  sein«,  stimmte  Buisly  ernsthaft  zu.  »Aber
nicht für uns, die wir in Clarges aufgewachsen sind.
Wir haben unsere Karrieren, unsere überlieferten Ge-
bräuche;  wir  fühlen  uns  nur  innerhalb  der  Grenzen
dieser Region sicher und...«

»Der Festungskomplex«, stellte Nile enttäuscht fest.

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Er  wies  auf  das  riesige  Gebäude  des  Aktuarius,  das
jenseits des Parks sichtbar war. »Dort drüben erhebt
sich der Festungskern – das Herz der Stadt.«

Pladge  seufzte.  »Das  erinnert  mich  daran,  daß  ich

meine Lebenslinie überprüfen lassen wollte. Ich weiß
seit zwei Wochen nicht mehr, wo ich stehe. Begleitet
mich jemand?«

Buisly erklärte sich dazu bereit; Waylock und Nile

erhoben  sich  ebenfalls,  verließen  den  Pavillon  und
gingen  ihrer  Wege.  Waylock  kaufte  eine  Zeitung,
überflog die erste Seite und blieb überrascht stehen.

Der Abel Mandeville hatte ein zweites Verbrechen

begangen  –  Selbstentleibung.  Der  Artikel  berichtete,
daß ihn die Verzweiflung über das Hinscheiden einer
›bekannten  Schauspielerin‹  zu  diesem  Schritt  getrie-
ben haben mußte. Aubrey Hervat, der Oberste Assas-
sine,  hatte  ihn  zu  einem  kurzen  Verhör  aufgesucht,
war Zeuge der Selbstentleibung geworden und hatte
sie vergeblich zu verhindern versucht.

Waylock zuckte mit den Schultern und machte sich

auf den Weg nach Hause.

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32

Am  nächsten  Morgen  fand  Waylock  sich  frühzeitig
im Personalbüro des Aktuarius ein und bewarb sich
dort um Anstellung.

Die  junge  Frau,  die  neue  Bewerber  interviewte,

machte  ihm  allerdings  wenig  Hoffnung.  »Selbstver-
ständlich ist es Ihr gutes Recht, hier eine Karriere an-
zustreben,  aber  ich  möchte  vorschlagen,  daß  Sie
nochmals darüber nachdenken. Auf jede Position, die
aussichtsreich  erscheint,  warten  bereits  zehn  oder
fünfzehn  hervorragende  Männer.  Ein  ehrgeiziger
Mann kann anderswo erfolgreicher sein.«

Waylock  ließ  sich  nicht  entmutigen.  Seine  Bewer-

bung wurde daraufhin bearbeitet, und er mußte ver-
schiedene Eignungsprüfungen ablegen. Als er wieder
in  das  Büro  zurückkam,  war  die  junge  Frau  bereits
mit der Auswertung seiner Tests beschäftigt.

Sie  sah  lächelnd  zu  ihm  auf.  »Ihr  Gesamtergebnis

liegt in Klasse A, Abschnitt D – ausgezeichnet. Aber
ich  kann  Ihnen  trotzdem  nicht  allzu  viel  bieten.  Sie
sind  nicht  als  Techniker  ausgebildet  und  kommen
deshalb weder für Konstruktion noch Entwicklung in
Frage... Vielleicht kann ich Sie in der Öffentlichkeits-
arbeit unterbringen – einer der Reiseinspektoren steht
kurz  vor  seinem...  Ausscheiden.  Ich  erkundige  mich
gleich.«

Waylock  setzte  sich  auf  eine  Bank;  die  junge  Frau

verließ den Raum.

Minuten  verstrichen  –  zehn,  zwanzig,  eine  halbe

Stunde. Waylock wartete ungeduldig. Nach weiteren
zehn Minuten kam die junge Frau zurück und nahm

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schweigend an ihrem Schreibtisch Platz.

Er stand auf und ging zu ihr hinüber. »Nun?«
»Tut mir leid, Mister Waylock, aber ich habe mich

offenbar  geirrt«,  sagte  sie,  ohne  ihm  ins  Gesicht  zu
sehen. »Die Position, von der ich vorhin gesprochen
habe, ist leider schon besetzt. Ich kann Ihnen nur eine
Lehrstelle als Wartungstechniker anbieten.«

Als  Waylock  verblüfft  die  Stirn  runzelte,  fügte  sie

rasch hinzu: »Selbstverständlich haben Sie auch dort
die Möglichkeit, sich für andere Positionen zu quali-
fizieren, die Ihnen erfolgversprechender erscheinen.«

Waylock  starrte  sie  an.  »Eine  seltsame  Entwick-

lung«,  sagte  er  schließlich.  »Mit  wem  haben  Sie  ge-
sprochen?«

»Die  Entscheidung  hängt  nicht  von  mir  ab,  Sir«,

versicherte sie ihm.

»Wer  hat  Sie  angewiesen,  mir  diese  Auskunft  zu

geben?«

Sie  wandte  sich  ab.  »Sie  müssen  mich  jetzt  ent-

schuldigen; ich habe noch zu arbeiten.«

Waylock schlug mit der Faust auf den Schreibtisch.

»Antworten Sie! Bei wem sind Sie vorhin gewesen?«

»Ich  wollte  Ihre  Bewerbung  wie  üblich  von  mei-

nem Dienststellenleiter abzeichnen lassen.«

»Und dann?«
»Er  war  der  Meinung,  Sie  seien  für  den  anderen

Posten nicht geeignet.«

»Bringen Sie mich zu Ihrem Vorgesetzten.«
»Wie  Sie  wünschen,  Sir«,  sagte  die  junge  Frau

sichtbar erleichtert.

Ihr Vorgesetzter war Cleran Tiswold, Keil, ein vier-

schrötiger  Mann  mit  rotem  Gesicht  und  spärlichem
Haarwuchs. Er kniff die Augen zusammen, als Way-

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lock sein Büro betrat.

Die Diskussion dauerte eine Viertelstunde. Tiswold

bestritt  energisch,  daß  seine  Entscheidung  von  au-
ßerhalb  beeinflußt  worden  war,  aber  seine  Stimme
klang wenig überzeugend, und er weigerte sich, einer
Gedankenerforschung  zuzustimmen,  die  Waylock
vorschlug.  Er  mußte  zugeben,  daß  Waylock  bei  den
Eignungsprüfungen  hervorragend  abgeschnitten
hatte – und daß Bewerber mit diesen Resultaten nor-
malerweise für gehobene Posten in Frage kamen. »Ich
beurteile die Ergebnisse jedoch selbst«, fügte Tiswold
hinzu,  »und  lasse  mich  dabei  von  den  Eindrücken
leiten, die ich von dem Bewerber gewonnen habe.«

»Wie  können  Sie  Eindrücke  von  mir  gewinnen,

wenn  Sie  mich  nie  zuvor  gesehen  haben?«  fragte
Waylock.

»Ich  habe  wirklich  keine  Zeit  mehr«,  antwortete

Tiswold  unwillig.  »Nehmen  Sie  die  Stelle  an  oder
nicht?«

»Ja«, sagte Waylock. »Ich nehme sie an.« Er stand

auf. »Morgen früh melde ich mich zum Dienstantritt.
Ich gehe jetzt zu den Tribunen und erstatte Anzeige
gegen  Sie.  Genießen  Sie  den  Nachmittag  –  vielleicht
ist es Ihr letzter.«

Er  kehrte  nach  Hause  zurück,  ließ  sich  auf  die

Couch  fallen  und  starrte  lange  die  Decke  an.  Wenn
Die  Jacynth  und  andere  Mitglieder  der  Amaranth-
Gesellschaft nicht aufhörten, ihn ständig und überall
zu verfolgen, würde er geeignete Gegenmaßnahmen
ergreifen müssen.

Aber  vor  allem  mußte  er  seiner  unversöhnlichen

Feindin klarmachen, welche Folgen ihre Hartnäckig-
keit haben konnte.

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Waylock  setzte  sich  an  sein  Visorphon,  um  Die

Jacynth anzurufen.

Auf dem Bildschirm erschien nur ihr Wappen; sie

meldete  sich,  ließ  aber  die  Aufnahmekamera  ausge-
schaltet.

»Gavin  Waylock!  Sie  sehen  so  wütend  aus!«  Ihre

Stimme klang spöttisch.

»Ich muß mit Ihnen sprechen.«
»Danke, ich habe kein Bedürfnis danach. Wenn Sie

sich aussprechen wollen, brauchen Sie nur zu Caspar
Jarvis zu gehen und Ihre Verbrechen zu bekennen.«

»Hören Sie, ich...« Er sprach nicht weiter, denn der

Bildschirm wurde plötzlich dunkel. Die Jacynth hatte
ihr Gerät ausgeschaltet.

Waylock  zuckte  mit  den  Schultern  und  überlegte

angestrengt. Wer würde sich für ihn einsetzen? Wer
hatte  Einfluß  auf  Die  Jacynth?  Doch  sicher  Der  Ro-
land  Zygmont,  der  Präsident  der  Amaranth-
Gesellschaft.  Er  suchte  Zygmonts  Rufnummer  aus
dem Teilnehmerverzeichnis heraus und wählte sie.

Auf dem Bildschirm erschien wieder ein Wappen,

dann  fragte  eine  Stimme:  »Wer  sind  Sie?  Was  wün-
schen Sie?«

»Hier spricht Gavin Waylock; ich rufe wegen eines

Problems an, das Die Jacynth Martin betrifft, und hof-
fe,  daß  Der  Roland  Zygmont  eine  Minute  für  mich
erübrigen kann.«

»Augenblick, bitte.«
Auf  dem  Bildschirm  erschien  jetzt  ein  Mann;  Der

Roland betrachtete Waylock forschend. »Ich sehe ein
Gesicht  aus  der  Vergangenheit«,  sagte  er  langsam.
»Der Grayven Warlock!«

»Das hat nichts mit der Angelegenheit zu tun, die

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ich  Ihnen  vortragen  muß«,  wandte  Waylock  unge-
duldig ein.

Der Roland lächelte. »Ich weiß bereits, was Sie sa-

gen wollen.«

»Dann ist es Ihre Pflicht, auf Die Jacynth einzuwir-

ken!«

Der Roland schüttelte überraschend den Kopf. »Ein

Ungeheuer hat Die Jacynth entleibt. Wir können nicht
zulassen, daß Mitglieder unserer Gesellschaft bedroht
werden; darüber müssen Sie sich im klaren sein.«

»Hat  die  Amaranth-Gesellschaft  also  offiziell  be-

schlossen, mich zu verfolgen?«

»Keineswegs.  Wir  streben  nur  nach  Gerechtigkeit.

Ich gebe Ihnen den guten Rat, sich an die Gesetze zu
halten. Alles andere schadet nur Ihrer Karriere.«

»Bestreiten  Sie  etwa,  daß  das  Verhör  meine  Un-

schuld erwiesen hat?«

»Das Verhör war eine Farce; ich habe das Protokoll

gelesen.  Sie  haben  offenbar  eine  Methode  gefunden,
mit

 

deren

 

Hilfe

 

Sie

 

Erinnerungen

 

löschen

 

können.

 

Die-

ses

 

Wissen

 

gefährdet

 

unsere

 

Gesellschaft,

 

und

 

Sie

 

müs-

sen schon aus diesem Grund abgeurteilt werden.«

Waylock brach die Verbindung ab, ließ sich wieder

auf  die  Couch  fallen  und  schlief  augenblicklich  ein,
während draußen ein schweres Gewitter niederging.
Als er aufwachte, wurde es bereits dunkel; er machte
sich  eine  Tasse  Kaffee  und  trank  sie  nachdenklich
aus. Er mußte Die Jacynth unter vier Augen sprechen
und  ihr  seine  schwierige  Lage  erläutern;  vielleicht
war  trotz  aller  Widerstände  doch  eine  friedliche
Übereinkunft möglich.

Er  zog  sich  um,  legte  einen  dunkelblauen  Abend-

anzug an und ging in die Nacht hinaus.

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33

Waylock  drückte  auf  den  Klingelknopf;  Die  Jacynth
kam selbst an die Tür ihrer Villa. Als sie den Besucher
erkannte,  runzelte  sie  die  Stirn  –  offenbar  hatte  sie
andere Gäste erwartet. »Was wollen Sie hier?«

Waylock trat einen Schritt näher. »Darf ich herein-

kommen?«

Sie zögerte eine Sekunde lang. »Gut, treten Sie ein«,

sagte sie dann und ging durch die Diele in den gro-
ßen  Wohnraum  voraus.  Dort  blieb  sie  an  der  Ter-
rassentür  stehen,  starrte  nach  draußen  und  drehte
sich plötzlich nach Waylock um. »Also – was wollen
Sie hier?«

Waylock  sah  sie  bewundernd  an,  aber  sie  lächelte

nur eisig. »Meine Gäste müssen bald eintreffen. Soll-
ten  Sie  ein  weiteres  Verbrechen  planen,  dürfen  Sie
nicht hoffen, unentdeckt fliehen zu können; anderer-
seits  ist  jetzt  kaum  der  richtige  Zeitpunkt  für  den
Flirt, den Sie Ihrem Gesichtsausdruck nach beginnen
möchten.«

»Ich  hatte  weder  das  eine  noch  das  andere  vor«,

antwortete Waylock gelassen. »Ihr Benehmen fordert
allerdings  das  eine  ebenso  heraus  wie  Ihr  Aussehen
das andere.«

Die Jacynth lachte. »Wollen Sie nicht Platz nehmen,

da  Sie  anscheinend  fest  entschlossen  sind,  heute
abend amüsant zu sein?«

Waylock ließ sich auf der niedrigen Couch am Fen-

ster nieder. »Ich wollte mit Ihnen reden... Sie ermah-
nen...  Sie  anflehen,  wenn  alle  anderen  Mittel  versa-
gen.«  Er  machte  eine  Pause,  aber  Die  Jacynth  beob-

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achtete ihn nur schweigend.

»In  den  vergangenen  Wochen  haben  Sie  mich  zu-

mindest  dreimal  ernstlich  in  meiner  Karriere  behin-
dert«, fuhr Waylock fort.

Die Jacynth schien etwas sagen zu wollen, schwieg

dann aber doch.

Waylock  sprach  eindringlich  weiter.  »Sie  haben

mich  im  Verdacht,  ein  Verbrechen  begangen  zu  ha-
ben.  Sollten  Sie  sich  irren,  tun  Sie  mir  sehr  unrecht.
Haben  Sie  jedoch  recht,  bin  ich  ein  verzweifelter
Mann, der Ihre Einmischung nicht ohne weiteres hin-
nehmen wird.«

»Ah«, flüsterte Die Jacynth. »Sie drohen mir?«
»Keineswegs. Ich möchte Ihnen nur begreiflich ma-

chen,  welche  Folgen  Ihre  Hartnäckigkeit  haben
kann.«

Die Jacynth sah nach draußen, wo eben ein Lufttaxi

auf  dem  Landeplatz  im  Garten  aufsetzte.  »Da  kom-
men meine Freunde.«

Zwei  Männer  und  eine  Frau  näherten  sich  dem

Haus.  Waylock  stand  auf,  aber  Die  Jacynth  hielt  ihn
zurück. »Bleiben Sie doch hier – wir schließen einen
zweistündigen Waffenstillstand.«

»Ich  würde  ihn  gern  auf  unbegrenzte  Dauer  ab-

schließen;  vielleicht  ließen  sich  unsere  Beziehungen
noch weiter verbessern.«

»Halt!«  rief  Die  Jacynth  lachend.  »Ungeheuer  und

Schürzenjäger zugleich! Die Opfer müssen sich wirk-
lich in jeder Beziehung vorsehen!«

Bevor Waylock antworten konnte, schlug die Glok-

ke nochmals an, und Die Jacynth ging hinaus, um ih-
re Gäste zu begrüßen.

Es  handelte  sich  um  den  Komponisten  Rory

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McClachern, Mahlon Kermanetz, der antike Musikin-
strumente reparierte und nachbaute, und ein apartes
rothaariges  Glark-Mädchen  namens  Fimfinella.  We-
nig  später  trafen  weitere  Gäste  ein,  zu  denen  auch
Kanzler  Claude  Imish  gehörte,  der  seinen  Sekretär
Rolf Aversham mitbrachte.

Nach  dem  Essen  hatte  Waylock  Gelegenheit,  sich

mit Kanzler Imish in einer Ecke des Salons zu unter-
halten, während McClachern seine letzte Kompositi-
on auf dem Klavier vortrug.

»Wir sind uns schon einmal begegnet«, begann der

Kanzler, »aber mir ist entfallen, bei welcher Gelegen-
heit das war.«

Waylock  erinnerte  ihn  an  die  Ausstellung  im

Künstlerklub.

»Ja,  natürlich«,  sagte  Imish.  »Wissen  Sie,  ich  sehe

jeden Tag so viele Leute, daß ich die Gesichter nicht
auseinanderhalten kann.«

»Das  ist  durchaus  verständlich«,  antwortete  Way-

lock.  »In  Ihrem  Amt  und  Ihrer  Stellung  haben  Sie
ständig mit anderen Leuten zu tun.«

Der Kanzler lachte. »Ich lege Grundsteine, gratulie-

re  neuen  Amaranth  und  verlese  Ansprachen  im
Prytaneon.«  Er  machte  eine  wegwerfende  Handbe-
wegung.  »Alles  nur  lächerliche  Nebenbeschäftigun-
gen.  Im  Grunde  genommen  habe  ich  weitreichende
Befugnisse, die ich allerdings nicht ausnütze.«

Waylock  stimmte  höflich  lächelnd  zu,  obwohl  er

wie  jeder  andere  genau  wußte,  daß  der  Kanzler  in-
nerhalb  von  vierundzwanzig  Stunden  durch  Be-
schluß des Prytaneons seinen Posten verlieren würde,
sobald  er  den  Versuch  machte,  diese  Befugnisse
praktisch  auszunützen.  Seine  Position  war  ein  Ana-

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chronismus,  eine  Erinnerung  an  vergangene  Zeiten,
in  denen  gelegentlich  rasche  Entscheidungen  erfor-
derlich gewesen waren.

»Sie brauchen nur in der Verfassung nachzulesen.

Der Kanzler sollte eine Art öffentliches Gewissen dar-
stellen. Es ist mein Recht – sogar meine Pflicht –, öf-
fentliche  Einrichtungen  zu  inspizieren.  Ich  berufe
Versammlungen des Prytaneons ein und vertage sie;
ich bin Oberaufseher der Assassinen.« Imish lachte in
sich hinein. »Mein Posten hat nur einen Nachteil – er
bringt keine Karrierepunkte.« Sein Blick fiel auf den
schwarzhaarigen  jungen  Mann,  der  ihn  begleitete.
»Das  ist  der  zweite  Nachteil.  Ein  Dorn  in  meinem
Fleisch.«

»Wer ist das?«
»Mein  Sekretär,  Untergebener,  Mädchen  für  alles

und  Prügelknabe.  Er  trägt  den  Titel  ›Vizekanzler‹,
und sein Job ist eine noch größere Sinekure als mei-
ner. Rolf bildet sich jedoch ein, er sei geradezu uner-
setzlich.«  Imish  zuckte  mit  den  Schultern.  »Was  tun
Sie für Ihre Karriere, Waylock?«

»Ich arbeite beim Aktuarius.«
»Ah, wirklich?« Imish schien diese Auskunft inter-

essant zu finden. »Eine faszinierende Einrichtung. Ich
muß sie gelegentlich wieder einmal besuchen.«

Das  Musikstück  war  zu  Ende;  die  Gäste  applau-

dierten  und  umringten  den  Komponisten.  McCla-
chern wehrte ihre Glückwünsche bescheiden lächelnd
ab. Dann wurden Drinks serviert.

Um  Mitternacht  verließen  die  ersten  Gäste  das

Haus.  Waylock  blieb  auf  der  Couch  am  Fenster  sit-
zen, bis er schließlich mit der Gastgeberin allein war.

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34

Die  Jacynth  nahm  neben  ihm  Platz  und  betrachtete
ihn  fragend.  »Nun?  Sie  wollten  doch  mahnen  oder
flehen – haben Sie das ganz vergessen?«

»Ich frage mich nur, ob das sinnvoll wäre.«
»Das bezweifle ich.«
»Warum sind Sie so unnachgiebig?«
Die Jacynth antwortete nicht.
»Wie  steht  es  mit  den  Zeloten?«  fragte  Waylock

nach einer kurzen Pause. »Weshalb ist der Abel Man-
deville vor Ihrem Zorn sicher? Schließlich hat er nicht
nur sich, sondern auch Die Anastasia entleibt.«

»Wenn es nach mir ginge«, erwiderte Die Jacynth,

»würde jedes Ungeheuer in jeder Phyle ausgerottet!«

»Aber  Sie  wissen  selbst,  daß  dieses  Ideal  uner-

reichbar ist. Warum verfolgen Sie also nur mich?«

Die  Jacynth  sah  ihm  in  die  Augen.  »Gavin  Way-

lock«, flüsterte sie dann, »hätten Sie mir nur in Car-
nevalle vertraut! Jetzt sind Sie mein persönliches Un-
geheuer, das ich nicht ignorieren kann.«

Waylock  nahm  ihre  Hand.  »Liebe  ist  besser  als

Haß«, sagte er leise.

»Und Leben ist besser als Nicht-Leben«, antwortete

sie trocken.

»Ich lege Wert darauf, daß Sie meine Position rich-

tig  verstehen«,  fuhr  Waylock  fort.  »Ich  kämpfe  um
mein  Leben,  und  wenn  es  um  diesen  Einsatz  geht,
kann ich keine Rücksicht mehr nehmen.«

Sie  zog  ruckartig  ihre  Hand  zurück.  »Sie  wollen

sich  also  nicht  einem  gerechten  Urteil  unterwerfen?
Sie sind ein Ungeheuer, das getötet werden muß, be-

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vor es andere infiziert!«

»Ich  führe  diesen  Kampf  nicht  freiwillig«,  gab

Waylock zu bedenken.

Die  Jacynth  schüttelte  den  Kopf.  »Ich  habe  nichts

zu entscheiden, denn ich bin nicht Ihr Richter; ich ha-
be Ihren Fall der Amaranth-Gesellschaft vorgetragen
und halte mich an ihre Beschlüsse.«

Waylock  erhob  sich.  »Sie  wollen  sich  nicht  um-

stimmen lassen?«

Die Jacynth stand ebenfalls auf. »Selbstverständlich

nicht!«

Waylock wandte sich ab. »Der Ausgang des Kamp-

fes entscheidet vielleicht nicht nur über mein Schick-
sal, sondern auch über Ihres«, sagte er noch.

Die  Jacynth  zögerte  unentschlossen.  »Gavin  Way-

lock, verlassen Sie mein Haus«, forderte sie ihn dann
auf. »Ich habe Ihnen nichts mehr zu sagen.«

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35

Am nächsten Morgen trat Waylock seinen Dienst im
Gebäude  des  Aktuarius  an.  Er  erhielt  eine  Aus-
weisplakette und wurde zu seinem Vorgesetzten ge-
führt. Techniker Ben Reeve war ein untersetzter dun-
kelhaariger Mann mit dem zufriedenen Gesichtsaus-
druck  eines  Wiederkäuers.  Er  begrüßte  Waylock
freundlich und sagte dann: »Sie müssen ziemlich weit
unten  anfangen.  Aber  Sie  haben  natürlich  nichts  an-
deres erwartet, nicht wahr?«

»Nein«, antwortete Waylock. »Ich möchte nur eine

Chance, mein Bestes zu tun.«

»Das hört man gern«, meinte Reeve zufrieden. »Sie

bekommen Ihre Chance, darauf können Sie sich ver-
lassen. Kommen Sie, ich zeige Ihnen Ihren zukünfti-
gen Arbeitsplatz.«

Er  führte  Waylock  durch  lange  Korridore,  große

Säle  voll  summender  Maschinen,  über  Treppen  und
Rampen  in  einen  abgelegenen  Teil  des  riesigen  Ge-
bäudes.  Unterwegs  wurden  sie  dreimal  von  unifor-
mierten  Posten  angehalten,  die  ihre  Ausweise  kon-
trollierten und Reeve nach seinem Ziel fragten. Diese
Vorsichtsmaßnahmen  beeindruckten  Waylock,  der
weniger wirksame Sicherheitsvorkehrungen erwartet
hatte.

»Unser  Sicherheitsdienst  schläft  nicht,  wie  Sie

selbst sehen«, erläuterte Reeve. »Bleiben Sie innerhalb
Ihrer Zone, sonst bekommen Sie Schwierigkeiten.«

Waylocks  Arbeitsplatz  befand  sich  an  der  Ausga-

beseite  eines  großen  Computers.  Reeve  blieb  stehen
und  erklärte  ihm,  was  er  zu  tun  hatte.  Er  mußte

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zwanzig  Schnelldrucker  überwachen,  jeweils  recht-
zeitig  neue  Papierrollen  einlegen  und  bei  Störungen
den  Wartungsdienst  verständigen.  Zu  Beginn  der
Schicht  mußte  er  verschiedene  Instrumente  ablesen,
die  Werte  in  eine  Kladde  eintragen  und  ein  halbes
Dutzend  Lager  schmieren,  die  nicht  an  die  Zentral-
schmierung angeschlossen waren. Das Ganze war ei-
ne Arbeit, die jeder Hilfsschüler tun konnte.

Waylock ließ sich seine Enttäuschung nicht anmer-

ken und machte sich an die Arbeit. Reeve beobachtete
ihn dabei, und Waylock glaubte ein Grinsen auf sei-
nem  Gesicht  zu  sehen.  »Ich  weiß,  daß  ich  noch  viel
lernen  muß«,  sagte  er,  »aber  mit  einiger  Übung  bin
ich der Sache bestimmt gewachsen.«

Reeve  lachte  schallend.  »Jeder  muß  einmal  anfan-

gen«,  stellte  er  fest,  »und  Sie  fangen  eben  hier  an.
Wenn Sie vorankommen wollen, empfehle ich Ihnen
unsere  Fortbildungskurse.«  Er  beobachtete  Waylock
noch einige Zeit, bevor er zufrieden nickte und in sein
Büro zurückging.

Waylock  arbeitete  ohne  große  Begeisterung  bis

zum  späten  Nachmittag  und  rief  dann  Vincent  Ro-
denave  an,  der  irgendwo  im  gleichen  Gebäude  sein
Arbeitszimmer  hatte.  Rodenave  lehnte  zunächst  ab,
als Waylock ihn bat, er möge ihm Gelegenheit zu ei-
nem kurzen Gespräch geben. »Tut mir leid, aber das
ist heute wirklich unmöglich.«

»Die Sache ist aber dringend«, versicherte Waylock

ihm.

»Ich habe keine...«
»Lassen Sie mich zu einem Interview holen.«
»Nein, das ist ausgeschlossen.«
»Erinnern  Sie  sich  noch  an  etwas,  das  Sie  für  Die

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Anastasia beschafft haben?« fragte Waylock.

Rodenave  wurde  blaß.  »Gut«,  sagte  er,  »ich  lasse

Sie holen.« Wenige Minuten später kam einer der Po-
sten  an  Waylocks  Arbeitsplatz.  »Gavin  Waylock,
Technikerlehrling?«

»Richtig.«
»Kommen Sie bitte mit.«
Der Uniformierte führte Waylock in Rodenaves Bü-

ro  und  ließ  sich  dort  bestätigen,  daß  Rodenave  die
Verantwortung für Waylocks Anwesenheit in der in-
neren Sicherheitszone übernahm.

Waylock  setzte  sich.  »Können  wir  hier  ungestört

miteinander sprechen?«

»Ja.«  Rodenave  nickte  widerwillig.  »Ich  habe  den

Raum selbst überprüft; er ist abhörsicher.«

»Und Sie nehmen unser Gespräch nicht auf?«
»Nein.«
»Ich habe nämlich die Absicht, die Wahrheit zu sa-

gen«,  erklärte  Waylock  ihm.  »Dabei  handelt  es  sich
nicht nur um die bereits erwähnten Gegenstände, die
Sie  für  Die  Anastasia  beschafft  haben,  sondern  auch
um die geplante Verwendung der...«

»Das genügt«, zischte Rodenave. Er drückte auf ei-

nen  Knopf.  »Unser  Gespräch  wird  nicht  aufgezeich-
net.«

Waylock  grinste  zufrieden.  »Vermute  ich  richtig,

daß Sie Die Anastasia weiterhin verehren?«

»Ich  bin  kein  leichtsinniger  Narr  mehr,  wenn  Sie

das  meinen«,  antwortete  Rodenave.  »Und  ich  habe
keine  Lust,  mich  von  den  Zeloten  steinigen  zu  las-
sen.«  Er  betrachtete  Waylock  nachdenklich.  »Mein
Privatleben  braucht  Sie  nicht  zu  interessieren.  Wes-
halb sind Sie also hier?«

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»Ich  will  etwas.  Sie  können  es  mir  verschaffen,

wenn ich Ihnen gebe, was Sie wollen.«

Rodenave runzelte die Stirn. »Was könnten Sie mir

schon geben?«

»Die Anastasia de Fancourt.«
»Unsinn!«
»Schön,  sagen  wir  lieber  nicht  Die  Anastasia,  son-

dern eine Anastasia – ein Surrogat ihrer selbst.«

Rodenave schüttelte den Kopf. »Niemand weiß, wo

sich  die  Zelle  befindet,  in  der  ihre  Surrogate  aufbe-
wahrt werden.«

»Doch, ich weiß es«, stellte Waylock fest.
»Aber  Ihr  Angebot  ist  wertlos.  Die  Surrogate  rea-

gieren  wie  das  Original.  Wenn  eine  mich  nicht  aus-
stehen kann, wirke ich auf die anderen ebenfalls ab-
stoßend.«

»Auch dagegen gibt es ein Mittel.«
Rodenave starrte ihn an. »Unmöglich!«
»Sie  haben  mich  noch  nicht  gefragt,  was  ich  von

Ihnen will.«

»Was denn?«
»Sie haben einen Televektorfilm herausgeschmug-

gelt. Ich will andere.«

Rodenave  lachte  verächtlich.  »Jetzt  weiß  ich,  daß

Sie  übergeschnappt  sind.  Ist  Ihnen  klar,  was  Sie  da
verlangen?  Soll  ich  Ihretwegen  meine  Karriere  aufs
Spiel setzen?«

»Sie legen also keinen Wert auf Die Anastasia?«
»Ihr Vorschlag ist unannehmbar!«
»Vergangene Woche haben Sie einen ähnlichen an-

genommen.«

Rodenave  schüttelte  energisch  den  Kopf.  »Nein.

Nein, das ist ausgeschlossen!«

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»Ich möchte Sie daran erinnern, daß Sie nicht einen,

sondern  drei  Filme  für  Die  Anastasia  beschafft  ha-
ben«, sagte Waylock gelassen. »Bisher habe ich noch
keine  Anzeige  erstattet,  aber  das  läßt  sich  nachho-
len...«

Rodenave machte eine resignierte Handbewegung.

In  der  folgenden  halben  Stunde  versuchte  er  alle
möglichen Ausflüchte, aber Waylock blieb ungerührt
und ließ sich nicht vom Thema abbringen.

»Ich  verlange  nichts  von  Ihnen,  was  Sie  nicht  be-

reits getan haben. Erfüllen Sie meinen Wunsch, dann
erhalten  Sie,  was  Sie  letzte  Woche  verloren  haben;
weigern  Sie  sich  jedoch,  müssen  Sie  die  Konsequen-
zen Ihres Diebstahls tragen.«

Rodenave lehnte sich erschöpft in seinen Sessel zu-

rück.  »Das  muß  ich  mir  noch  überlegen«,  murmelte
er.

»Dagegen ist nichts einzuwenden. Ich warte solan-

ge.«

Rodenave  schien  angestrengt  nachzudenken  und

sagte schließlich: »Mir bleibt keine andere Wahl.«

»Bis wann kann ich die Filme haben?«
»Sie  wollen  nur  Filme  von  Mitgliedern  der  Ama-

ranth-Gesellschaft?«

»Richtig.«
»Ich  muß  sie  zunächst  aussortieren  und  wiegen.

Dazu  brauche  ich  eine  Schicht.  Am  nächsten  Tag
bringe  ich  eine  Packung  Filme  mit,  die  in  Größe,
Dichte  und  Gewicht  mit  den  Originalen  überein-
stimmen.  Dann  kann  ich  die  Filmstreifen  durch  die
Ausgangskontrolle schmuggeln.«

»Heute ist Dienstag. Also Donnerstag abend?«
»Vielleicht  nicht  Donnerstag.  Ich  muß  eine  Füh-

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rung mitmachen – Kanzler Imish kommt zur Besich-
tigung.«

»Tatsächlich?«  Waylock  erinnerte  sich  an  sein  Ge-

spräch mit Imish; der Kanzler hatte anscheinend Feu-
er gefangen. »Gut, Donnerstag. Ich hole die Filme in
Ihrem Appartement ab.«

Rodenave  machte  eine  abwehrende  Handbewe-

gung. »Nein, ich bringe sie Ihnen ins Café Dalmatia.
Und dann sehe ich Sie hoffentlich nie wieder!«

Waylock  erhob  sich  lächelnd.  »Sie  brauchen  mich

noch,  wenn  es  darum  geht,  die  Belohnung  für  Ihre
Mühen in Empfang zu nehmen.«

Er  verabschiedete  sich  mit  einem  kurzen  Nicken,

verließ  Rodenaves  Büro  und  wurde  an  seinen  Ar-
beitsplatz zurückgeführt.

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36

Kanzler  Imish  stand  auf  einer  Galerie  über  dem  Ar-
chivraum des Aktuarius und betrachtete erstaunt die
riesigen  Maschinen  unter  sich.  Zu  seiner  Begleitung
gehörten  Hemet  Gaffens,  der  etwas  dickliche  stell-
vertretende  Direktor,  dessen  Assistent,  drei  weitere
höhere Beamte und Rolf Aversham, Imishs Sekretär.
Ein  schrilles  Summen  erfüllte  den  weiten  Raum,
wurde leiser, schwoll wieder an und überschritt fast
die  Hörschwelle,  während  der  Mechanismus  unauf-
hörlich  weitere  Informationen  verarbeitete,  die  das
Leben der Bürger von Clarges betrafen.

Der Kanzler schüttelte verwundert den Kopf. »Ich

habe  mir  das  alles  weniger  kompliziert  vorgestellt«,
gab er zu.

»Hier  sehen  Sie  ein  verkleinertes  Abbild  unserer

Zivilisation vor sich«, bemerkte einer der Beamten.

»Ja, Sie haben wirklich recht«, sagte Imish.
Hemet  Gaffens  wandte  sich  an  den  Kanzler.  »Sol-

len wir weitergehen, Sir?« Er blieb am Ausgang ste-
hen, weil sich dort die Grenze zwischen zwei Sicher-
heitszonen befand; die Hausassassinen ließen sich ih-
re Ausweise zeigen und kontrollierten sie.

»Sie  sind  hier  wirklich  vorsichtig«,  stellte  Imish

bewundernd fest.

»Eine notwendige Maßnahme«, antwortete Gaffens

kurz.

Sie überquerten den breiten Korridor und erreich-

ten  die  Televektor-Abteilung.  Gaffens  rief  Normand
Neff,  den  Abteilungsleiter,  und  Vincent  Rodenave,
dessen Assistenten, zu sich und stellte sie dem hohen

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Besuch vor.

»Ihr  Gesicht  ist  mir  irgendwie  bekannt«,  sagte

Imish  zu  Rodenave.  »Aber  ich  weiß  nicht  mehr,  wo
ich es gesehen habe.«

»Wir sind uns neulich im Künstlerklub begegnet«,

erwiderte Rodenave.

»Ah,  natürlich.  Sie  sind  mit  der  lieben  Anastasia

befreundet.«

»Ganz recht, Sir«, antwortete Rodenave steif.
Normand Neff hatte es eilig, an seinen Schreibtisch

zurückzukommen  und  sagte  deshalb  zu  Rodenave:
»Vielleicht  zeigen  Sie  dem  Kanzler,  wie  wir  hier  ar-
beiten.«

»Mit Vergnügen.« Rodenave runzelte nachdenklich

die Stirn. »Hmmm – am besten führe ich Ihnen unser
Televektorsystem in Betrieb vor.«

Er  führte  die  Besucher  durch  den  Saal  voller  Ma-

schinen  auf  den  kleinen  Raum  zu,  in  dem  die  Aus-
wertung  erfolgte.  An  der  Tür  wurden  sie  nochmals
kontrolliert und mußten nacheinander eine Schleuse
betreten, in der automatisch registriert wurde, was sie
in sämtlichen Taschen bei sich trugen.

»Wozu  diese  strengen  Sicherheitsvorkehrungen?«

fragte  Imish  erstaunt.  »Hier  will  doch  niemand  ein-
brechen, was?«

Gaffens lächelte. »In diesem Fall bewachen wir das

Privatleben unserer Bürger, Sir. Selbst Generaldirek-
tor Jarvis von den Assassinen erhält nur dann Infor-
mationen  aus  diesem  Raum,  wenn  der  Betreffende
seine Lebensdauer bereits überschritten hat.«

Kanzler  Imish  nickte.  »Äußerst  lobenswert!  Und

wie funktioniert das alles?«

»Rodenave kann Ihnen die Arbeitsweise an einem

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Beispiel vorführen.«

Rodenave nickte und ging neben dem Kanzler her

auf  die  Maschine  zu.  »Die  Gehirnwellen  jedes  Men-
schen  sind  so  unverwechselbar  wie  seine  Fingerab-
drücke«, erklärte er ihm dabei. »Bei der Aufnahme in
Brut werden sie registriert und hier gespeichert.«

Imish nickte. »Weiter, bitte.«
»Sobald die Maschine den Auftrag erhält, eine be-

stimmte  Person  zu  lokalisieren,  sendet  sie  von  drei
verschiedenen Punkten aus einen Dauerton auf seiner
speziellen  Frequenz.  Dieses  Zusammentreffen  mit
den  Wellen  des  Betreffenden  wird  als  momentane
Störung registriert und erscheint als Punkt auf unse-
ren  Karten  innerhalb  eines  Koordinatensystems,  das
aus den Richtfunkstrahlen zweier Sender besteht. Se-
hen Sie...« Er drückte einige Knöpfe und betätigte ei-
nen Schalter. »Das ist Ihr persönlicher Index, Sir. Der
Kreuzungspunkt dieser beiden roten Linien bezeich-
net  den  Aktuarius;  der  schwarze  Punkt  sind  Sie
selbst.«

»Verblüffend!«
Rodenave  sprach  weiter  und  beobachtete  dabei

Gaffens,  der  sich  mit  dem  Chef  vom  Dienst  unter-
hielt.  Die  Anastasia  wurde  nochmals  erwähnt;  Ro-
denave  ließ  wie  beiläufig  ihren  Streifen  auswerfen
und  betätigte  dann  den  Schalter,  der  den  Sortierme-
chanismus  in  Betrieb  setzte,  so  daß  alle  Amaranth-
Streifen  erschienen.  Die  hauchdünnen  Filmstreifen
ergaben einen kaum Zentimeter hohen Stapel.

Rodenaves Hände zitterten heftig, als er den Stapel

aus der Halterung nahm. »Diese Streifen sind natür-
lich verschwommen, weil sie...« Das kleine Paket fiel
ihm aus der Hand.

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»Rodenave,  wie  können  Sie  so  ungeschickt  sein!«

rief Gaffens wütend.

»Kommen  Sie,  wir  heben  das  Zeug  gleich  auf«,

schlug  Imish  gutmütig  vor.  Er  bückte  sich  und  griff
nach den Streifen.

»Das  ist  nicht  nötig,  Sir«,  wehrte  Rodenave  verle-

gen ab. »Wir kehren sie einfach zusammen und wer-
fen sie in den Müllschlucker.«

»Oh...« Imish richtete sich wieder auf.
»Wenn  Sie  genügend  gesehen  haben,  Sir,  können

wir weitergehen«, schlug Gaffens vor.

Die  Besucher  verschwanden  nacheinander  in  der

Schleuse.  Nur  Rolf  Aversham  blieb  noch  einen  Au-
genblick  lang  zurück.  Er  hob  neugierig  einen  Film-
streifen  auf,  hielt  ihn  ans  Licht,  kniff  die  Augen  zu-
sammen und runzelte die Stirn. Dann wandte er sich
an  Gaffens,  der  eben  die  Schleuse  betreten  wollte.
»Hallo,  Mister  Gaffens!«  rief  Aversham  hinter  ihm
her.

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37

Waylock  saß  im  Café  Dalmatia  und  langweilte  sich.
Er  hatte  das  Gefühl,  irgend  etwas  tun  zu  müssen,
wußte  aber  nicht,  was  im  Augenblick  zu  erledigen
war.  Er  konnte  nur  geduldig  warten,  bis  Rodenave
endlich auftauchte.

Vom Aktuarius her ertönte plötzlich ein gedämpf-

tes Alarmsignal, das kurze Zeit später ebenso jäh ab-
brach. Waylock hob den Kopf und sah zu dem riesi-
gen Gebäude hinüber, dessen monumentale Fassade
nicht verriet, was hinter ihr vorging.

Die Passanten blieben stehen, starrten das Gebäude

neugierig  an  und  gingen  dann  weiter;  einige  kamen
jedoch ins Café, um von dort aus den Prangerkäfig zu
beobachten.

Eine  halbe  Stunde  war  verstrichen.  Dann  klirrten

schwere  Ketten  –  der  Käfig  erschien  über  dem
Haupteingang des Aktuarius.

Waylock wollte seinen Augen zunächst nicht recht

trauen.  Hinter  den  Gitterstäben  hockte  Vincent  Ro-
denave und sah wütend zum Café Dalmatia hinüber,
wo  er  Waylock  in  einer  halben  Stunde  hätte  treffen
sollen.

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38

Mitternacht auf dem Esterhazy-Platz. Ein leichter Ne-
bel zog vom Fluß herauf und verhüllte die Gestalt des
Mannes, der bewegungslos im Prangerkäfig saß. Auf
der Terrasse des Cafés Dalmatia hatten sich Hunderte
von Neugierigen versammelt, um die Freilassung des
Gefangenen zu sehen. Und irgendwo im Schatten der
Nebenstraßen  und  Gassen  lauerten  die  Zeloten  auf
den gleichen Augenblick...

Als  der  letzte  Glockenschlag  verhallt  war,  wurde

der  Käfig  langsam  zu  Boden  gelassen;  er  zerfiel  in
sechs Teile, und Vincent Rodenave war wieder frei.

Er  blieb  lauschend  stehen.  In  den  Nebelschwaden

schien  etwas  zu  rascheln.  Er  machte  einen  Schritt
vorwärts. Ein Stein kam aus der Dunkelheit geflogen
und traf ihn an der Schulter. Gleichzeitig ertönte ein
lauter  Schrei  –  das  war  ungewöhnlich,  denn  die  Ze-
loten hatten bisher stets geschwiegen.

Rodenave schlug einen Haken und rannte auf das

Café zu. Ein wahrer Steinhagel überschüttete ihn. Er
stolperte, schien zu fallen, raffte sich wieder auf und
taumelte weiter. Dann senkte sich ein dunkler Schat-
ten  vor  ihm  herab  –  ein  unbeleuchteter  Aircar.  Die
Tür flog auf, Rodenave wurde hineingezerrt und sah
Waylock  vor  sich,  der  sofort  wieder  startete,  bevor
die  Zeloten  sich  von  ihrer  Überraschung  erholt  hat-
ten.

Rodenave  hockte  zusammengesunken  auf  seinem

Sitz,  starrte  mit  blicklosen  Augen  vor  sich  hin  und
schien vor Erschütterung nicht sprechen zu können.

Waylock parkte den Aircar und führte Rodenave in

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sein Appartement. Rodenave zögerte an der Tür, sah
sich um, zuckte mit den Schultern und ließ sich in ei-
nen  Sessel  fallen.  »Ich  bin  fertig«,  krächzte  er.  »Ent-
ehrt. Verstoßen. Entlassen. Verfemt.« Er sah zu Way-
lock auf. »Sie äußern sich gar nicht dazu. Haben Sie
die Sprache verloren?«

Waylock antwortete nicht.
»Sie haben mir das Leben gerettet«, fuhr Rodenave

fort,  »aber  Sie  haben  mir  damit  keinen  Gefallen  er-
wiesen. Wo soll ich in Zukunft Karriere machen? Ich
bleibe  ewig  in  Dritte  hängen.  Das  ist  eine  Katastro-
phe!«

»Für mich ebenfalls«, stellte Waylock fest.
»Was haben Sie darunter zu leiden?« krächzte Ro-

denave.  »Ihre  verdammten  Filmstreifen  sind  in  Si-
cherheit.«

»Was!«
»Zumindest vorläufig.«
»Warum? Was ist passiert? Wo sind die Filme?«
Rodenave grinste plötzlich. »Aha, jetzt sitze ich am

längeren Hebel.«

Waylock nickte langsam. »Aber wenn Sie Ihre Zu-

sage  erfüllen  und  mir  die  Streifen  verschaffen,  halte
ich auch mein Versprechen.«

»Ich  bin  fertig!  Was  nützen  mir  jetzt  schöne  Frau-

en?«

»Die  Anastasia  könnte  Ihren  Schmerz  vermutlich

etwas lindern«, sagte Waylock lächelnd. »Schließlich
ist noch nicht alles verloren. Sie sind begabt und in-
telligent; die ganze Welt liegt offen vor Ihnen. Es gibt
andere  Gebiete,  auf  denen  man  schneller  voran-
kommt.«

Rodenave schnaubte verächtlich.

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»Wo sind die Filmstreifen?« fragte Waylock.
Die  beiden  Männer  starrten  sich  an,  dann  senkte

Rodenave  den  Kopf.  »Unter  dem  Aufschlag  an
Kanzler Imishs rechtem Jackenärmel.«

»Was!«
»Sein Sekretär hat den Alarm ausgelöst. Er ist mit

einem unbelichteten Filmstreifen durch die Schleuse
gerannt.  Als  das  Alarmsignal  ertönte,  mußte  ich  die
Filme  loswerden;  ich  habe  Imish  am  Ärmel  zurück-
gehalten  und  die  Streifen  unter  den  Aufschlag  ge-
steckt.«

»Und dann?«
»Gaffens  brauchte  nur  einen  Blick  auf  den  leeren

Filmstreifen zu werfen, um zu erkennen, was gespielt
wurde. Er hatte mich sofort in Verdacht, ließ sich die
anderen  Streifen  zeigen  und  stellte  fest,  daß  einige
meine Fingerabdrücke trugen. Damit war alles klar –
die  Assassinen  verhafteten  mich  und  steckten  mich
nach einem kurzen Verhör in den Käfig.«

»Und Imish?«
»Ging mit den Filmstreifen seiner Wege.«
Waylock  sprang  auf.  Es  war  bereits  ein  Uhr.  Er

stellte  die  Verbindung  zur  Residenz  des  Kanzlers  in
Trianwood her.

Nach  einer  längeren  Pause  erschien  Rolf  Aver-

shams Gesicht auf dem Bildschirm. »Ja?«

»Ich muß den Kanzler sprechen.«
»Der Kanzler hat sich bereits zurückgezogen; er ist

nicht mehr zu sprechen.«

»Nur einen Augenblick!«
»Tut mir leid, Mister Waylock. Soll ich Sie für einen

Termin vormerken?«

»Gut, morgen früh um zehn.«

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Aversham  sah  auf  seinen  Terminkalender.  »Der

Kanzler ist um diese Zeit beschäftigt.«

»Dann eben früher oder später.«
Aversham runzelte die Stirn. »Vielleicht hat er um

zehn Uhr vierzig einen Augenblick für Sie Zeit.«

»Einverstanden«, sagte Waylock.
»Wollen  Sie  mir  den  Zweck  Ihres  Besuchs  mittei-

len?«

»Nein.«
»Wie  Sie  wünschen«,  sagte  Aversham.  Der  Bild-

schirm wurde dunkel.

Als Waylock sich nach Rodenave umdrehte, sah er,

daß der andere ihn neugierig anstarrte.

»Sie  haben  mir  nie  gesagt,  wofür  Sie  die  Filme

brauchen«, stellte Rodenave fest. »Was haben Sie da-
mit vor?«

Waylock  lächelte  spöttisch.  »Das  kann  ich  Ihnen

leider nicht verraten«, antwortete er, »aber Sie erfah-
ren es noch früh genug.«

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39

Kanzler  Imish  residierte  in  einer  alten  Villa,  die  in-
mitten  eines  gepflegten  Parks  auf  einem  Höhenzug
über Clarges lag. Waylock stieg um zehn Uhr dreißig
aus seinem Lufttaxi, blieb einen Augenblick am Lan-
deplatz  stehen,  um  die  herrliche  Aussicht  zu  genie-
ßen, und ging dann langsam durch den Park auf das
Hauptgebäude zu. Etwa hundert Meter vom Eingang
entfernt  stieß  er  auf  eine  Schranke,  die  den  Weg  ab-
sperrte; daneben stand ein Posten, der Waylock miß-
trauisch entgegensah. »Ja, Sir?«

Waylock  gab  seinen  Namen  an;  der  Posten  hakte

eine Liste ab und ließ ihn passieren.

Waylock  erreichte  das  Portal  und  stieg  die  Mar-

morstufen hinauf. Er brauchte nicht zu klingeln, denn
ein livrierter Diener öffnete die schwere Tür von in-
nen, und Waylock betrat die große Halle. Unter dem
großen Kronleuchter stand Rolf Aversham.

»Guten Morgen, Mister Waylock.«
Waylock  murmelte  irgend  etwas,  und  Aversham

neigte leicht den Kopf. »Ich muß Ihnen leider mittei-
len«,

 

sagte

 

er dann, »daß der Kanzler indisponiert ist.«

»Wie bedauerlich.«
»Sie  erinnern  sich  vielleicht,  daß  ich  Vizekanzler

bin. Können Sie Ihre Wünsche nicht auch mir vortra-
gen?«

»Ich weiß, daß Sie mir gern behilflich wären. Aber

ich möchte meinen Freund Imish auf jeden Fall besu-
chen.«

Aversham  zuckte  mit  den  Schultern.  »Folgen  Sie

mir bitte.«

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Er führte Waylock an die Rückwand der Halle zum

Fahrstuhl. Im ersten Stock gingen sie den Flur entlang
und  erreichten  einen  kleinen  Salon.  Aversham  warf
einen Blick auf seine Uhr, wartete genau dreißig Se-
kunden,  als  wolle  er  Waylock  damit  beeindrucken,
und klopfte dann an eine Tür.

»Herein«, sagte Imish laut.
Aversham  schob  die  Tür  auf  und  blieb  draußen

stehen. Waylock betrat das Arbeitszimmer des Kanz-
lers.  Imish  saß  an  seinem  Schreibtisch  und  blätterte
mißmutig in einem alten Buch. »Ah«, sagte Waylock,
»wie geht es Ihnen?«

»Danke, nicht besonders«, antwortete Imish.
Aversham kam ebenfalls herein und nahm am Fen-

ster Platz. Waylock ignorierte ihn.

Der  Kanzler  klappte  sein  Buch  zu,  lehnte  sich  in

den Sessel zurück und wartete darauf, daß Waylock
die  Ursache  seines  Kommens  erwähnen  würde.  Er
trug  eine  bequeme  Leinenjacke  –  ganz  entschieden
nicht die Jacke, in der die Filmstreifen steckten.

Waylock  räusperte  sich.  »Sir,  ich  komme  nicht  als

Bekannter  zu  Ihnen,  sondern  vielmehr  als  Bürger  –
als  gewöhnlicher  Mann,  dessen  Sorgen  so  gewichtig
sind,  daß  er  sich  die  Zeit  zu  diesem  Besuch  genom-
men hat, ohne zu berücksichtigen, daß seine Karriere
darunter leiden könnte.«

Imish  richtete  sich  auf  und  runzelte  unbehaglich

die Stirn. »Worum handelt es sich?«

»Um eine Angelegenheit, deren Hintergründe mir

nur  teilweise  bekannt  sind.  Trotzdem  weiß  ich,  daß
sie eine gewisse Bedrohung darstellt.«

»Was soll das heißen?«
Waylock zögerte. »Sind Ihre Untergebenen absolut

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vertrauenswürdig?« Er sah absichtlich nicht zu Aver-
sham hinüber. »Ich muß mich darauf verlassen kön-
nen, daß dieses Gespräch unter uns bleibt.«

»Das  klingt  recht  melodramatisch«,  stellte  der

Kanzler fest.

Waylock zuckte mit den Schultern. »Vielleicht ha-

ben  Sie  recht.  Ich...«  Er  lachte  verlegen.  »Am  besten
sage ich nichts mehr davon – bis ich meinen Verdacht
beweisen kann.«

»Tun Sie das«, stimmte Imish erleichtert zu.
Waylock  lehnte  sich  in  seinen  Sessel  zurück.  »Ich

bedaure  aufrichtig,  daß  Ihr  Besuch  beim  Aktuarius
ein  so  schlimmes  Ende  genommen  hat.  In  gewisser
Beziehung fühle ich mich sogar verantwortlich.«

»Weshalb?«
Waylock  beobachtete  aus  dem  Augenwinkel  her-

aus, daß Aversham sich gespannt vorbeugte.

»Nun,  schließlich  habe  ich  Ihnen  diesen  Besuch

suggeriert.«

Imish  machte  eine  wegwerfende  Handbewegung.

»Deswegen  brauchen  Sie  sich  keine  Sorgen  zu  ma-
chen,  Waylock.  Sprechen  wir  nicht  mehr  darüber  –
die Angelegenheit war schon peinlich genug.«

Waylock  lächelte  zustimmend.  »Ihre  Residenz  ist

wirklich  ein  prachtvoller  alter  Bau.  Aber  finden  Sie
ihn nicht gelegentlich etwas... nun, deprimierend?«

»Sogar  sehr.  Die  Villa  ist  mein  Amtssitz,  aber  ich

wohne nur höchst ungern hier.«

»Wie alt ist sie eigentlich?«
»Sie  muß  zwei  oder  drei  Jahrhunderte  vor  dem

Chaos errichtet worden sein.«

»Ein prächtiges Monument.«
»Ja, das kann man wohl sagen.« Der Kanzler sah zu

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Aversham hinüber. »Rolf, wollten Sie nicht die Einla-
dungen für das nächste Bankett versenden?«

Aversham  erhob  sich  widerwillig  und  verließ  zö-

gernd  den  Raum.  »Heraus  mit  der  Sprache,  Way-
lock«, forderte Imish ihn auf. »Was soll der ganze Un-
sinn?«

Waylock  sah  sich  um.  »Ist  hier  alles  gegen  Ab-

höranlagen gesichert?«

Auf Imishs Gesicht mischten sich Zweifel und Ent-

rüstung.  »Warum  sollte  sich  jemand  für  meine  Ge-
spräche  interessieren?«  Er  lächelte  sarkastisch.
»Schließlich  bin  ich  nur  der  Kanzler  –  eine  Null  mit
hochtrabenden Titeln.«

»Sie sind Vorsitzender des Prytaneons.«
»Pah!  Ich  darf  nicht  einmal  mit  den  anderen  ab-

stimmen. Würde ich den Versuch machen, meine so-
genannten  Befugnisse  auszunützen,  wäre  ich  den
letzten Tag im Amt.«

»Vermutlich. Aber...«
»Aber was?«
»Nun, das Volk scheint in letzter Zeit immer unzu-

friedener zu werden.«

»Das gibt sich wieder.«
»Haben Sie sich schon mit der Möglichkeit befaßt,

daß diese Unruhe organisiert sein könnte?«

Imish starrte ihn an. »Worauf wollen Sie hinaus?«
»Sind Ihnen die Zweifler ein Begriff?«
»Natürlich.  Eine  Ansammlung  von  Spinnern  und

Verrückten.«

»Jedenfalls  an  der  Oberfläche.  Aber  darunter  ver-

birgt sich eine bestimmte Absicht, die mit gerissenen
Methoden verfolgt wird.«

»Welche Absicht?«

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»Wer  weiß?  Ich  habe  gehört,  daß  der  Kanzlerpo-

sten ihr unmittelbares Ziel ist.«

»Lächerlich«,  wehrte  Imish  ab.  »Ich  sitze  fest  im

Sattel. Meine Amtszeit läuft erst in sechs Jahren ab.«

»Auch  wenn  es...  äh...  zu  Ihrem  Hinscheiden  kä-

me?«

»Waylock!«  Der  Kanzler  runzelte  unwillig  die

Stirn.

»Ich  wollte  nur  eine  hypothetische  Frage  stellen:

Was würde in diesem Fall geschehen?«

»Aversham ist Vizekanzler. Er...«
»Eben«, sagte Waylock.
Der Kanzler warf ihm einen überraschten Blick zu.

»Sie wollen doch nicht etwa behaupten, daß Rolf dar-
an Interesse hat, mich...«

»Ich habe nichts behauptet. Ich habe nur Tatsachen

erwähnt,  aus  denen  Sie  Ihre  Schlüsse  gezogen  ha-
ben.«

»Wie kommen Sie überhaupt darauf?« wollte Imish

wissen.

Waylock  lehnte  sich  in  seinen  Sessel  zurück.  »Ich

habe eine Karriere vor mir und weiß, daß ich sie nur
in  gesicherten  Verhältnissen  machen  kann.  Deshalb
bemühe  ich  mich,  zu  ihrer  Sicherung  beizutragen.
Selbstverständlich  wäre  ich  nicht  unglücklich,  wenn
sich dabei ein paar Karrierepunkte ergäben.«

»Aha!« Der Kanzler lächelte ironisch. »Das ist also

des Pudels Kern!«

»Die Propaganda der Zweifler stellt Sie als Symbol

luxuriösen Lebens und automatischer Karriere dar.«

»Automatische  Karriere!«  Imish  lachte  ungläubig.

»Wenn sie nur wüßten!«

»Es wäre vielleicht eine gute Idee, ihnen die Wirk-

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lichkeit vor Augen zu führen; damit wäre das Symbol
zerstört.«

»Wie  ließe  sich  das  anfangen?«  fragte  Imish  neu-

gierig.

»Die  wirksamste  Gegenpropaganda  wäre  meiner

Auffassung nach ein Visiofilm in mehreren Folgen –
eine  historische  Übersicht  in  Verbindung  mit  einer
Darstellung  Ihres  persönlichen  Werdegangs.  Das
müßte alle Zweifel ausräumen.«

»Ich kann mir nicht vorstellen, daß sich jemand da-

für  interessieren  würde.  Der  Kanzler  ist  schließlich
nur ein unbedeutender Funktionär.«

»Außer in Krisensituationen – dann muß er helfend

eingreifen.«

Imish  lächelte.  »In  Clarges  gibt  es  keine  Krisen

mehr. Wir sind bereits zu zivilisiert.«

»Die Zeiten ändern sich, und die allgemeine Unru-

he  ist  nicht  zu  verkennen.  Der  enorme  Zulauf,  den
die  Zweifler  zu  verzeichnen  haben,  ist  ein  weiterer
Beweis dafür. In dieser Atmosphäre könnte der vor-
hin  erwähnte  Visiofilm  beruhigend  und  aufklärend
wirken.  Gelingt  es  uns,  Ihr  Prestige  auf  diese  Weise
zu heben, ist uns beiden geholfen.«

Imish  runzelte  nachdenklich  die  Stirn.  »Ich  habe

nichts  gegen  einen  Visiofilm  einzuwenden,  aber  Sie
müßten...«

»Ich würde selbstverständlich darauf bestehen, daß

Sie  das  Drehbuch  nach  eigenen  Vorstellungen  redi-
gieren«, warf Waylock ein.

»Hmm,  das  könnte  jedenfalls  nicht  schaden«,

murmelte Imish vor sich hin.

»Dann mache ich mich also gleich heute an die Ar-

beit und beginne mit Notizen.«

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»Ich möchte mir die Sache nochmals überlegen, be-

vor ich eine Entscheidung treffe«, wandte Imish ein.

»Das ist Ihr gutes Recht.«
»Ich habe den Verdacht, daß Sie ziemlich übertrie-

ben  haben,  Waylock.  Besonders  der  Gedanke,  daß
Rolf... Das kann ich einfach nicht glauben.«

»Vertagen wir also die Entscheidung, bis wir mehr

darüber  wissen«,  schlug  Waylock  vor.  »Aber  inzwi-
schen  braucht  er  nichts  von  unserem  Plan  zu  erfah-
ren, nicht wahr?«

»Einverstanden.«  Imish  warf  Waylock  einen  fra-

genden  Blick  zu.  »Was  wollen  Sie  eigentlich  in  die-
sem Film darstellen?«

»Sie  werden  darin  als  aufrechter,  traditionsbe-

wußter Mann geschildert, der seine Pflicht in diesem
hohen  Amt  erfüllt  und  trotzdem  einfach  und  be-
scheiden lebt.«

Imish lachte in sich hinein. »Da haben Sie sich viel

vorgenommen...  Mein  Lebensstil  ist  schließlich  all-
gemein bekannt.«

»Interessant wäre vor allem Ihre Garderobe«, fuhr

Waylock  nachdenklich  fort.  »Die  zeremoniellen  Ko-
stüme,  Ihre  Amtstracht,  die  Roben  für  verschiedene
Anlässe.«

Imish  runzelte  verwundert  die  Stirn.  »Ich  könnte

mir eher vorstellen, daß...«

»Das  wäre  eine  gute  Einführung«,  versicherte

Waylock  ihm.  »Denken  Sie  daran,  daß  die  Tradition
im Vordergrund stehen soll.«

Imish zuckte mit  den Schultern.  »Schön,  vielleicht

haben Sie recht.«

Waylock stand auf. »Ich würde jetzt gern Ihre Gar-

derobe  besichtigen  und  einige  Notizen  für  die  erste

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Folge machen.«

»Wie Sie wünschen.« Imish streckte die Hand nach

dem  Klingelknopf  auf  seinem  Schreibtisch  aus.  »Ich
lasse Sie von Rolf führen.«

Waylock machte eine abwehrende Bewegung. »Mir

wäre  es  lieber,  wenn  ich  ohne  Mister  Aversham  ar-
beiten  könnte.  Sagen  Sie  mir  nur,  wo  die  Garderobe
liegt; ich finde mich schon zurecht.«

Imish lächelte. »Wirklich eine verrückte Idee, mei-

ne  Garderobe  zu  Propagandazwecken  auszunützen!
Na, wenn Sie meinen...« Er wollte ebenfalls aufstehen.

»Nein, nein«, wehrte Waylock ab. »Ich möchte Sie

nicht von Ihrer Arbeit abhalten. Außerdem kommen
mir die besten Ideen, wenn ich allein bin.«

Imish  setzte  sich  wieder.  »Gut,  dann  will  ich  Sie

nicht  stören.«  Er  beschrieb  Waylock  den  Weg  zur
Garderobe.

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40

Waylock ging den Korridor entlang und blieb vor der
Tür  stehen,  die  Imish  ihm  bezeichnet  hatte.  Hinter
ihm war niemand zu sehen. Er schob die Tür auf und
betrat das Ankleidezimmer.

Imishs Lebensstil war kaum bescheiden zu nennen,

wie dieser Raum nachdrücklich bestätigte. Schwarzer
Marmor an den Wänden, ein weißer Schaumteppich
auf  dem  Boden,  seidene  Vorhänge  an  den  offenen
Fenstern und Möbel aus Edelhölzern zeigten, daß der
Kanzler zu leben verstand. Waylock bewunderte die-
se Pracht einen Augenblick lang und ging dann durch
die nächste Tür in die eigentliche Garderobe.

Hier  hingen  Hunderte  von  Anzügen,  Kostümen,

Umhängen, Mänteln und Roben auf langen Gestellen;
die Wandregale enthielten ein reichhaltiges Sortiment
Schuhe, Stiefel und Sandalen in allen nur vorstellba-
ren  Farben  und  Formen.  Waylock  blieb  auf  der
Schwelle  stehen  und  suchte  die  Reihen  nach  einem
purpurroten Farbfleck ab, der die bestickte Jacke be-
zeichnete, die der Kanzler gestern getragen hatte.

Er  ging  langsam  durch  die  Reihen,  bis  er  die  ge-

suchte  Jacke  endlich  im  zweiten  Gestell  entdeckt
hatte. Er griff danach... und blieb wie erstarrt stehen.
Rolf Aversham war hinter ihm aufgetaucht und kam
jetzt langsam näher.

»Mir war Ihr reges Interesse für die Garderobe des

Kanzlers  zunächst  unerklärlich«,  sagte  er  mit  einem
spöttischen Lächeln auf den schmalen Lippen. »Aber
seitdem ich weiß, worauf Sie es abgesehen haben, ist
mir einiges klar geworden.«

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»Offenbar haben Sie meine Absicht erkannt«, sagte

Waylock.

»Ich erkenne nur, daß Sie vor der Jacke stehen, die

Kanzler Imish bei seiner Besichtigung des Aktuarius
getragen hat. Darf ich sie haben?«

»Wozu?«
»Ich bin nur neugierig.«
Waylock  griff  nach  dem  Jackenärmel  und  wollte

die  Filmstreifen  herausziehen;  er  spürte  sie  mit  den
Fingerspitzen,  erreichte  sie  aber  nicht  ganz.  Aver-
sham  trat  rasch  näher,  streckte  die  Hand  aus  und
packte  den  Jackenärmel.  Waylock  riß  daran,  aber
Aversham  hielt  eisern  fest.  Waylock  schlug  ihm  ins
Gesicht;  Aversham  trat  nach  seinem  Schienbein.
Waylock hielt den Fuß fest und zog ihn hoch; Aver-
sham  verlor  das  Gleichgewicht  und  stolperte  rück-
wärts  auf  die  offenen  Fenster  zu.  Er  klammerte  sich
an den Vorhängen fest, deren dünne Seide unter sei-
nen  Fingern  nachgab,  stieß  einen  entsetzten  Schrei
aus und stürzte aus dem Fenster im dritten Stock.

Waylock  rannte  ans  Fenster  und  beugte  sich  hin-

aus.  Rolf  Aversham  lag  bewegungslos  neben  einer
großen  steinernen  Blumenschale,  an  der  er  sich  den
Schädel eingeschlagen hatte.

Waylock wandte sich ab, griff mit zitternden Hän-

den nach der purpurroten Jacke, holte die Filmstrei-
fen unter dem Aufschlag hervor und steckte sie ein.

Minuten  später  stürzte  er  ins  Imishs  Arbeitszim-

mer.  Der  Kanzler  hob  erstaunt  den  Kopf.  »Was  ist
denn plötzlich in Sie gefahren?«

»Ich  habe  doch  recht  gehabt«,  keuchte  Waylock.

»Aversham hat mich in der Garderobe überfallen! Er
muß unser Gespräch belauscht haben!«

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»Aber...  aber...«  Imish  schob  seinen  Sessel  zurück.

»Wo steckt er jetzt?«

Waylock berichtete, was sich ereignet hatte.

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41

Kanzler Imish saß leichenblaß und zitternd an seinem
Schreibtisch  und  diktierte  einen  Bericht  für  die  Au-
ßenstelle der Assassinen in Trianwood.

»Seine  Arbeitsweise  war  in  letzter  Zeit  immer

nachlässiger  geworden.  Dann  entdeckte  ich,  daß  er
mir systematisch nachspionierte. Ich entließ ihn und
stellte meinen Freund Gavin Waylock als Sekretär an.
Er überfiel mich heute vormittag in meiner Gardero-
be.  Zum  Glück  befand  sich  Gavin  Waylock  im  glei-
chen Raum. Es kam zu einem Handgemenge, bei dem
Aversham aus dem Fenster stürzte. Alles war nur ein
Unfall – ein bedauerliches Unglück.«

Der Assassine verbeugte sich und ging. Imish kam

in  den  Nebenraum,  wo  Waylock  auf  ihn  wartete.
»Alles  erledigt«,  sagte  der  Kanzler.  Er  starrte  Way-
lock an. »Hoffentlich war das richtig.«

»Es  war  die  einzige  Erklärung«,  versicherte  Way-

lock ihm. »Jede andere Erklärung hätte einen Skandal
heraufbeschworen.«

Imish  schüttelte  den  Kopf;  er  schien  noch  immer

nicht fassen zu können, was geschehen war.

»Übrigens«, sagte Waylock, »wann soll ich meinen

Dienst antreten?«

Imish hob verblüfft den Kopf. »Wollen Sie wirklich

Rolfs Platz einnehmen?«

»Nun,  meine  bisherige  Tätigkeit  füllt  mich  nicht

aus, und ich wäre Ihnen gern nach besten Kräften be-
hilflich.«

»So machen Sie nie Karriere – wenn Sie ständig den

Beruf wechseln.«

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»Ich  bin  ganz  zufrieden  dabei«,  antwortete  Way-

lock lächelnd.

Imish  schüttelte  den  Kopf.  »Der  Sekretär  des

Kanzlers ist Sekretär einer Null – und das ist schlim-
mer als die Null selbst.«

»Ich  habe  mir  schon  lange  einen  Titel  gewünscht.

Als Ihr Sekretär werde ich automatisch Vizekanzler.
Außerdem  haben  Sie  den  Assassinen  mitgeteilt,  Sie
hätten mich als Ersatz für Aversham angestellt.«

Imish  machte  eine  wegwerfende  Handbewegung.

»Das ist kein Problem. Sie brauchen den Job nur ab-
zulehnen.«

»Ich  fürchte  aber,  daß  das  einen  schlechten  Ein-

druck  machen  würde.  Wir  müssen  die  Reaktion  der
Zweifler berücksichtigen...«

Imish  ließ  sich  in  einen  Sessel  fallen  und  warf

Waylock einen anklagenden Blick zu. »Jetzt stecke ich
wirklich in der Klemme!«

»Sie können sich darauf verlassen, daß ich alles tue,

um Sie daraus zu befreien.« Waylock erwiderte gelas-
sen seinen Blick.

»Gut,  wenn  Sie  unbedingt  wollen«,  seufzte  der

Kanzler schließlich.

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42

Ein Monat war vergangen. Der Herbst zog in Clarges
ein. Die Bäume färbten sich gelb und rot, morgens lag
dichter  Nebel  über  der  Stadt,  und  der  kalte  Wind
brachte den ersten Eishauch des kommenden Winters
mit sich.

Waylock verbrachte den Tag des großen Herbstfe-

stes  in  seinem  ehemaligen  Appartement  am  Phariot
Way,  in  dem  jetzt  Vincent  Rodenave  untergebracht
war, Rodenave war abgemagert; unter seinen Augen
lagen  tiefe  Schatten,  denn  er  arbeitete  buchstäblich
Tag und Nacht wie ein Besessener, ohne sich mehr als
drei oder vier Stunden Schlaf zu gönnen.

Als  Waylock  ihn  aufsuchte,  hatte  Rodenave  etwa

die  Hälfte  der  Televektorfilme  ausgewertet.  Hinter
seinem  Arbeitsplatz  hing  eine  große  Karte  der  Regi-
on, auf der rote Stecknadeln die Zellen bezeichneten,
in  denen  Amaranth-Surrogate  im  Tiefschlaf  auf  den
Tag warteten, an dem sie benötigt wurden. Waylock
lächelte zufrieden, während er die Karte aufmerksam
studierte.

»Dieses Stück Papier ist gefährlicher als jede Bom-

be«, sagte er zu Rodenave.

»Das ist mir durchaus klar«, antwortete Rodenave.

Er zeigte auf das Fenster. »Dort unten auf der Straße
hält  ständig  ein  Assassine  Wache.  Ich  kann  keinen
Schritt  außer  Haus  tun,  ohne  beschattet  zu  werden.
Was  wird  aus  uns,  wenn  sie  auf  die  Idee  kommen,
das Appartement zu durchsuchen?«

Waylock  runzelte  die  Stirn,  zog  die  Stecknadeln

aus der Karte und faltete das Papier zusammen, um

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es  in  die  Tasche  zu  stecken.  »Machen  Sie  wie  bisher
weiter«, wies er Rodenave an. »Wenn ich mich diese
Woche frei machen kann...«

»Wenn  Sie  sich  frei  machen  können?  Arbeiten  Sie

denn überhaupt?«

Waylock  grinste.  »Ich  arbeite  für  drei.  Aversham

hat  sich  die  Arbeit  leicht  gemacht.  Ich  mache  mich
unersetzlich.«

»Wie?«
»Ich  werte  vor  allem  Imishs  Position  auf.  Er  war

schon mit seinem Los zufrieden und erwartete seinen
Assassinen in Dritte. Jetzt hofft er, bald in Rand auf-
zusteigen. Wir lassen uns überall sehen, und er nützt
seine  Stellung  nach  Möglichkeit  publikumswirksam
aus.  In  letzter  Zeit  wirkt  er  tatsächlich  wie  eine  be-
deutende  Persönlichkeit  des  öffentlichen  Lebens.«
Waylock  schwieg  nachdenklich.  »Vielleicht  setzt  er
eines  Tages  alle  in  Erstaunen  –  er  hat  jedenfalls  das
Zeug dazu.«

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43

Waylock  kehrte  nach  Trianwood  zurück  und  suchte
sofort  den  Kanzler  in  dessen  Arbeitszimmer  auf.
Imish  lag  schlafend  auf  seiner  Couch.  Waylock  ließ
sich geräuschvoll in einen Sessel fallen.

Imish  erwachte  und  richtete  sich  blinzelnd  auf.

»Ah, Gavin. Wie läßt sich der Festtag in Clarges an?«

Waylock überlegte. »Nicht allzu gut, wenn ich ehr-

lich sein soll.«

»Warum nicht?«
»Die Atmosphäre scheint förmlich geladen zu sein.

Fließendes  Wasser  verliert  seine  Energie,  aber  wenn
sein  Fluß  gehemmt  wird,  staut  sich  der  Druck  und
wird bedrohlich.«

Imish gähnte ungeniert.
»Die  Straßen  sind  überfüllt«,  fuhr  Waylock  fort.

»Mister Jedermann ist unterwegs und streift unruhig
umher. Niemand weiß, weshalb er das tut, aber er tut
es jedenfalls.«

»Vielleicht will er sich nur Bewegung verschaffen«,

meinte  Imish  gähnend.  »Er  genießt  die  frische  Luft
und sieht sich die Stadt an.«

»Nein«,  widersprach  Waylock.  »Er  wirkt  über-

nächtigt und innerlich erregt. Er interessiert sich nicht
für die Stadt, sondern starrt seine Mitbürger an. Und
er  ist  enttäuscht,  weil  sie  seinen  Blick  mit  dem  glei-
chen fragenden Ausdruck erwidern.«

Imish runzelte die Stirn. »Sie zeichnen ein trostlo-

ses Bild von ihm.«

»Das war auch meine Absicht.«
»Unsinn!«  sagte  Imish  kurz.  »Clarges  ist  nicht

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durch solche Männer groß geworden.«

»Ich  bin  ganz  Ihrer  Meinung.  Unsere  große  Zeit

liegt Jahrhunderte zurück.«

»Wie  können  Sie  das  angesichts  unserer  vielen

Fortschritte  auf  allen  Gebieten  behaupten?«  fragte
Imish  entrüstet.  »Die  Verwaltung  funktioniert  rei-
bungslos,  die  Produktion  hat  neue  Höhepunkte  er-
reicht, jeder Bürger kann...«

»Und  die  Beruhigungsanstalten  sind  voller  als  je

zuvor«, warf Waylock ein.

»Sie  sind  heute  in  ausgesprochen  trüber  Stim-

mung«, stellte Imish fest.

»Manchmal  frage  ich  mich,  weshalb  ich  eigentlich

Karriere zu machen versuche«, sagte Waylock. »Was
nützt mir die Unsterblichkeit, wenn um mich herum
alles aus den Fugen geht?«

Imish  schien  halb  belustigt  und  halb  besorgt  zu

sein.  »Leiden  Sie  öfters  unter  sollen  pessimistischen
Anwandlungen?« erkundigte er sich.

»Ein  großer  Mann,  ein  großer  Kanzler  könnte  die

zukünftige Entwicklung bestimmen. Er könnte Clar-
ges retten.«

Imish stand auf und nahm an seinem Schreibtisch

Platz. »Ein interessanter Gedanke.« Er lächelte. »Jetzt
verstehe ich auch, worauf die Gerüchte beruhen, die
ich über Sie gehört habe.«

Waylock  zog  die  Augenbrauen  hoch.  »Gerüchte

über mich?«

»Richtig.«  Imish  machte  eine  vielsagende  Geste.

»Die Gerüchte sind in der Tat bemerkenswert.«

»Was soll das heißen?«
»Angeblich folgt Ihnen ein schwarzer Schatten; wo

Sie Ihren Fuß hinsetzen, breiten sich Unheil und Ver-

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derben aus.«

Waylock  schnaubte.  »Und  wer  bringt  diesen  Un-

sinn unter die Leute?«

»Caspar

 

Jarvis,

 

der

 

Generaldirektor

 

der

 

Assassinen.«

»Der  Generaldirektor  verbringt  seine  Zeit  damit,

Unschuldige  zu  verleumden,  während  Zeloten  und
Zweifler wie ein Richtschwert über unserer Zivilisati-
on hängen.«

Imish lächelte. »Halten Sie die Lage wirklich für so

gefährlich?«

Waylock  hatte  die  Zweifler  nur  als  gefährlich  be-

zeichnet,  um  einen  Vorwand  für  seinen  Besuch  in
Imishs Garderobe zu haben, aber nun konnte er nicht
plötzlich  von  seinen  früheren  Behauptungen  abrük-
ken und die Zweifler als harmlos darstellen.

»Die Zeloten sind Psychopathen ohne feste Organi-

sation;  die  Zweifler  sind  schwärmerische  Phanta-
sten«,  fuhr  Imish  überzeugt  fort.  »Die  wirklich  ge-
fährlichen Verbrecher sind längst nach Carnevalle ge-
flohen  und  haben  dort  bei  den  Tausend  Dieben  Zu-
flucht gefunden.«

Waylock schüttelte den Kopf. »Wir kennen sie; sie

sind dort vollkommen isoliert und deshalb unschäd-
lich. Aber die anderen halten sich überall in der Stadt
auf,  arbeiten  unermüdlich  und  sind  praktisch  nicht
zu fassen. Die Zweifler haben sich zum Beispiel eine
besonders  wirksame  Methode  ausgedacht.  Sie  sind
schon zufrieden, wenn sie jemand davon überzeugen
können, daß Clarges krank ist und unbedingt geheilt
werden  muß  –  denn  dann  haben  sie  einen  neuen
Zweifler gewonnen.«

Imish starrte ihn verblüfft an. »Aber genau das ha-

ben Sie mir doch vor fünf Minuten erzählt! Dann sind

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Sie also ein Erzzweifler!«

»Vielleicht  haben  Sie  sogar  recht«,  antwortete

Waylock lächelnd, »aber ich würde das Problem auf
weniger revolutionäre Weise zu lösen versuchen.«

Der  Kanzler  war  noch  nicht  überzeugt.  »Jeder

weiß, daß wir in einem Goldenen Zeitalter leben. Ge-
neraldirektor  Jarvis  hat  mir  erst  neulich  versichert,
unsere...«

»Jarvis  müßte  es  eigentlich  besser  wissen«,  unter-

brach Waylock ihn. »Aber auch er ist nicht unfehlbar,
deshalb wäre eine kleine Erinnerung von Ihrer Seite
vielleicht  durchaus  angebracht.  Vergessen  Sie  nicht,
daß  es  nicht  nur  Ihre  vornehmste  Aufgabe,  sondern
sogar Ihre Pflicht ist, für das Wohlergehen der Bürger
von Clarges zu sorgen.«

Imish  senkte  den  Kopf  und  schloß  nachdenklich

die  Augen.  Waylock  hörte  aufmerksam  zu,  als  der
Kanzler  endlich  wieder  aufsah  und  zu  sprechen  be-
gann.

»Gavin, Sie wissen selbst, daß ich eine Art lebender

Anachronismus  bin.  Das  Goldene  Zeitalter  benötigt
keinen  starken  Führer.  Aber  trotzdem...«  Er  machte
eine Pause und starrte nachdenklich aus dem Fenster.
»Wir  haben  ein  starkes  Sicherheitsbedürfnis  und
brauchen einen Halt in Zeiten der Gefahr.

Nur  deshalb  hat  das  Amt  des  Kanzlers  Jahrhun-

derte  überdauert.«  Er  runzelte  die  Stirn.  »In  Clarges
geschehen  seltsame  Dinge  –  aber  niemand  scheint
sich darum zu kümmern. Ich habe die Absicht, etwas
dagegen zu unternehmen... Rufen Sie den Generaldi-
rektor der Assassinen an und bitten Sie ihn, mich um
elf Uhr abends aufzusuchen.«

Waylock nickte. »Wie Sie wünschen, Sir.«

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44

Caspar  Jarvis  erschien  um  zehn  Minuten  vor  elf  in
Begleitung seiner beiden Leibwächter. Er durchquerte
die große Eingangshalle, blieb dicht vor Waylock ste-
hen  und  betrachtete  ihn  lächelnd.  »Wie  schön,  daß
wir  uns  endlich  einmal  von  Angesicht  zu  Angesicht
sehen.«

Waylock nickte wortlos.
»Hoffentlich  begegnen  wir  uns  noch  recht  oft«,

fuhr Jarvis fort. »Wo ist der Kanzler?«

»Ich führe Sie gleich zu ihm.«
Waylock  ging  in  Imishs  Arbeitszimmer  voraus;

Jarvis  folgte  ihm  und  ließ  seine  Leibwächter  an  der
Tür Posten beziehen. Imish begrüßte den Generaldi-
rektor und nickte dann Waylock zu.

»Ich brauche Sie nicht mehr, Gavin. Sie können ge-

hen.«

Nachdem Waylock sich zurückgezogen hatte, kam

Jarvis sofort zur Sache. »Ich bin ein vielbeschäftigter
Mann, Sir. Ich nehme an, daß Sie etwas Wichtiges zu
besprechen haben.«

Der Kanzler nickte. »Ganz recht. Mir ist zu Ohren

gekommen, daß...«

Jarvis hob eine Hand. »Einen Augenblick, Sir. Falls

Waylock etwas damit zu tun hat, rufen Sie ihn lieber
gleich wieder herein, denn der Kerl hat bestimmt ein
Abhörgerät versteckt und hört ohnehin jedes Wort.«

Imish  lächelte.  »Ich  kann  Ihnen  versichern,  daß

dieser Raum kein Abhörgerät enthält.«

Jarvis  sah  sich  skeptisch  um.  »Darf  ich  das  kurz

überprüfen?«

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»Selbstverständlich.«
Jarvis  holte  eine  Suchröhre  aus  der  Tasche,  ging

langsam  durch  den  Raum  und  beobachtete  den  Zei-
ger  des  Meßinstruments.  Dann  runzelte  er  die  Stirn
und wiederholte die Überprüfung.

»Tatsächlich  nicht«,  murmelte  er  verblüfft.  Er  öff-

nete die Tür, sah seine Leibwächter auf ihrem Posten
stehen  und  kam  an  den  Schreibtisch  zurück.  »Jetzt
können wir unbesorgt sprechen.«

Waylock,  der  im  Nebenraum  stand  und  ein  Ohr

gegen  das  winzige  Loch  in  der  schalldichten  Wand-
verkleidung preßte, grinste vor sich hin.

»In  gewisser  Beziehung  hat  Waylock  doch  etwas

mit dem Fall zu tun«, begann Imish. »Er hat mich auf
eine  Gefahr  aufmerksam  gemacht,  die  Ihnen  viel-
leicht entgangen ist.«

»Ich befasse mich nur mit realen Gefahren und ha-

be keine Zeit, mich mit Dingen zu befassen, die sich
noch im Entwicklungsstadium befinden.«

Imish nickte. »Aber vielleicht ist das meine Pflicht.

Ich spreche von den Zweiflern, die...«

Jarvis  machte  eine  ungeduldige  Handbewegung.

»Die Zweifler interessieren uns nicht.«

»Sie werden also nicht überwacht?«
»Nein.  Unsere  Leute  können  nicht  jeden  Verrück-

tenklub unter die Lupe nehmen, der...«

»Ich  wünsche,  daß  Sie  die  Umtriebe  der  Zweifler

sofort untersuchen lassen«, sagte Imish.

In  der  folgenden  Diskussion  ließ  Imish  sich  nicht

von  dieser  Forderung  abbringen,  bis  Jarvis  endlich
zustimmte.  »Gut,  Sie  sollen  Ihren  Willen  haben.
Heutzutage ist alles möglich; vielleicht haben wir die
Gefahr tatsächlich unterschätzt.«

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Imish  nickte  zufrieden,  und  Jarvis  fuhr  fort:  »Ich

möchte Ihnen noch einen guten Rat geben, Sir. Tren-
nen  Sie  sich  von  Waylock.  Entlassen  Sie  ihn  sofort.
Der  Mann  ist  ein  Ungeheuer.  Vermeiden  Sie  einen
Skandal,  indem  Sie  ihn  aus  Ihrer  Umgebung  entfer-
nen, bevor wir ihn abholen.«

Der  Kanzler  starrte  ihn  verwirrt  an.  »Meinen  Sie

das...  äh...  Hinscheiden  meines  vorherigen  Sekretärs
Rolf Aversham?«

»Nein.« Jarvis beobachtete sein Gegenüber mit zu-

sammengekniffenen  Augen.  Imish  senkte  den  Kopf.
»Sie haben doch selbst ausgesagt, Waylock sei völlig
unschuldig.«

»Ja«, sagte Imish laut. »Natürlich.«
»Ich  spreche  von  einem  anderen  Verbrechen:

Waylock hat vor einigen Monaten die Jacynth Martin
in Carnevalle entleiben lassen.«

»Was!«
»Wir  haben  Verbindung  zu  seinem  Helfershelfer

aufgenommen, einen Berber namens Carleon. Dieser
Mann  ist  bereit,  ausreichende  Beweise  gegen  Way-
lock zu liefern, verlangt aber eine Gegenleistung da-
für.«

»Weshalb erzählen Sie mir das alles?« fragte Imish

erstaunt.

»Weil Sie uns helfen können.«
»Wodurch?«
»Carleon  verlangt  eine  Amnestie.  Er  will  nach

Clarges  zurückkehren.  Sie  haben  das  Recht,  diese
Amnestie zu erlassen.«

Imish  schüttelte  den  Kopf.  »Meine  Rechte  stehen

nur auf dem Papier; das wissen Sie selbst.«

»Trotzdem sind sie vorhanden. Ich könnte den Fall

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auch vor das Prytaneon bringen, aber dann würde er
in der Öffentlichkeit breitgetreten.«

»Aber dieser Carleon – ist er nicht auch ein Verbre-

cher? Warum sollen wir einen Halunken begnadigen,
um einen anderen bestrafen zu können?«

Jarvis schien zu überlegen. »Waylock ist ein spezi-

eller  Fall«,  sagte  er  dann.  »Ich  habe  den  Befehl,  ihn
unter  allen  Umständen  einer  gerechten  Bestrafung
zuzuführen.«

»Legt  die  Amaranth-Gesellschaft  so  großen  Wert

darauf?«

Jarvis  nickte.  »Überlegen  Sie  selbst:  Carleon  und

Waylock befinden sich beide in Freiheit, aber sobald
wir Carleon begnadigen, liefert er uns Waylock aus.
Das ist ein klarer Gewinn.«

»Ja, das sehe ich ein... Haben Sie die Papiere mitge-

bracht?«

Jarvis legte eine Urkunde auf den Schreibtisch. »Sie

brauchen nur hier zu unterzeichnen, Sir.«

Imish las den Text langsam durch und stellte fest,

welche  Untaten  Carleon  auf  dem  Gewissen  hatte.
»Das  ist  unmöglich«,  rief  er  entrüstet  aus.  »Im  Ver-
gleich  zu  diesem  Halunken  ist  Waylock  das  reinste
Unschuldslamm!«

Jarvis nickte ungerührt. »Denken Sie aber bitte dar-

an,  Sir,  daß  wir  die  Wünsche  hochgestellter  Persön-
lichkeiten zu berücksichtigen haben.«

Imish  setzte  seine  Unterschrift  unter  das  Doku-

ment. »So, da haben Sie Ihre Begnadigung.«

Jarvis  nahm  die  Urkunde  an  sich  und  stand  auf.

»Ich danke Ihnen für Ihre Hilfe, Sir.«

»Hoffentlich  macht  mir  das  Prytaneon  keine

Schwierigkeiten«, murmelte der Kanzler.

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»Das  ist  nicht  zu  befürchten«,  versicherte  Jarvis

ihm. »Die Sache gelangt nie an die Öffentlichkeit.«

Jarvis war eben erst in sein Büro zurückgekehrt, als

das Visorphon auf seinem Schreibtisch summte. Der
Bildschirm zeigte Imishs Gesicht.

»Direktor,  ich  muß  Ihnen  mitteilen,  daß  Waylock

verschwunden ist.«

»Verschwunden? Was soll das heißen?«
»Ich kann es mir selbst nicht erklären. Er ist fortge-

gangen, ohne mir ein Wort zu sagen.« Imish runzelte
die  Stirn.  »Glauben  Sie,  daß  er  trotz  unserer  Sicher-
heitsvorkehrungen gelauscht...«

»Ich kümmere mich gleich darum«, unterbrach Jar-

vis ihn. »Vielen Dank für Ihren Anruf, Sir.«

Der  Bildschirm  wurde  dunkel.  Jarvis  überlegte

kurz, drückte dann auf den Knopf der Gegensprech-
anlage  und  sagte:  »Carleons  Begnadigung  ist  fertig,
Butler.  Setzen  Sie  sich  mit  ihm  in  Verbindung  und
vereinbaren  Sie  eine  Besprechung  –  je  früher  desto
besser.«

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45

Der  Mann  in  der  Bronzemaske  schlich  lautlos  die
Rückwand des niedrigen Gebäudes entlang, blieb vor
einer Stahltür stehen, sah sich vorsichtig um und trat
rasch über die Schwelle. Er bewegte sich drei Schritte
weiter  und  blieb  zwei  Sekunden  lang  ruhig  stehen,
bis  die  Feuerstrahlen  erloschen  waren.  Dann  verließ
er die Falle und stieg eine enge Treppe in den Keller
hinab.  In  dem  spärlich  möblierten  Vorraum  saß  ein
kleiner  Mann  mit  runzligem  Gesicht  der  Treppe  ge-
genüber an einem Tisch.

»Wo ist Carleon?« fragte der Mann mit der Maske.
Der  kleine  Mann  wies  auf  die  Tür  hinter  sich.  »In

seinem Museum.«

Der  Maskierte  öffnete  die  Tür,  ging  durch  einen

langen Korridor weiter und stieß eine zweite Tür auf.
Dahinter  lag  ein  prächtig  ausgestatteter  Raum  mit
geisterhaft grüner Beleuchtung.

Ein  dicklicher  Mann,  dessen  Gesicht  leichenhaft

blaß wirkte, sah ihm fragend entgegen. Er hielt einen
Arm hinter dem Rücken verborgen. Seine Augen glit-
zerten, als er die Bronzemaske erkannte. »Ja?«

Der Besucher nahm die Maske ab.
»Waylock!« Carleon streckte den Arm aus; er hielt

eine Pistole in der Hand. Aber Waylock kam ihm zu-
vor.  Carleon  sackte  lautlos  in  sich  zusammen.  Way-
lock lächelte verächtlich.

Er kehrte in den Vorraum zurück. Der kleine Mann

saß wie zuvor an seinem Tisch. »Ich habe Carleon er-
schossen«, sagte Waylock.

Der andere zuckte mit den Schultern.

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»Carleon wollte über den Fluß in die Stadt zurück«,

erklärte  Waylock  ihm.  »Er  war  sich  bereits  mit  den
Assassinen einig.«

Der  kleine  Mann  zeigte  keine  Überraschung.  »Ich

brauche hundert Männer, Rubel«, fuhr Waylock fort.
»Ich zahle fünfhundert Florins für eine Nacht.«

Rubel nickte langsam.
»Gefährlich?«
»Nicht übermäßig.«
»Bezahlung im voraus?«
»Die Hälfte voraus.«
»Hast du das Geld?«
»Ja,  Rubel.«  Der  Grayven  Warlock,  Herausgeber

des  Clarges  Direction,  war  reich  gewesen.  »Du  über-
nimmst die Auszahlung.«

»Wann brauchst du die Männer?«
»Ich  gebe  dir  vier  Stunden  vorher  Nachricht.  Die

Leute müssen kräftig und intelligent sein; sie dürfen
nicht  vor  Hindernissen  zurückschrecken.  Und  sie
müssen meine Befehle genau ausführen.«

»Ich bezweifle, daß es in Carnevalle hundert Män-

ner dieser Art gibt«, sagte Rubel.

»Dann  nimmst  du  eben  Frauen.  In  einigen  Fällen

sind sie sogar besser geeignet.«

Rubel nickte zustimmend.
»Noch etwas, Rubel. Die Assassinen arbeiten meist

mit dir zusammen. Du bist ihr Agent in Carnevalle.«

Rubel schüttelte lächelnd den Kopf, aber Waylock

sah darüber hinweg.

»Deshalb  kennst  du  die  kleineren  Spitzel.  Die  As-

sassinen dürfen nichts davon erfahren. Du bist dafür
verantwortlich. Ist das klar?«

»Völlig«, antwortete Rubel.

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»Gut. Ich komme später zurück und bringe dir das

Geld.«

Das  Visorphon  neben  Rubel  summte;  der  kleine

Mann beugte sich über das Gerät und hörte aufmerk-
sam  zu.  Dann  wandte  er  sich  an  Waylock.  »Die  As-
sassinen  wollen  mit  Carleon  sprechen.  Was  soll  ich
ihnen sagen, Gavin?«

Waylock lächelte grimmig. »Sag ihnen, daß Carleon

tot ist.«

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46

Diese  Nachricht  wurde  Jarvis  übermittelt,  der  mit
gewohnter  Entschlossenheit  reagierte.  »Das  Sonder-
kommando  rückt  sofort  nach  Carnevalle  aus  und
bringt diesen Gavin Waylock hierher – lebendig oder
tot!«

Zwei Stunden später liefen die ersten Berichte ein.
»Er ist wieder durch die Maschen geschlüpft.« Jar-

vis  ballte  wütend  die  Fäuste.  »Aber  wir  finden  ihn
noch!  Nur  schade,  daß  wir  ohne  Televektion  aus-
kommen  müssen...  Diese  idiotischen  Bestimmungen
binden uns die Hände!« Er schüttelte enttäuscht den
Kopf, überlegte kurz und erteilte dann in rascher Fol-
ge ein halbes Dutzend Befehle.

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47

Die Amaranth-Gesellschaft hatte sich zu ihrem zwei-
hundertneunundsiebzigsten  Konklave  versammelt.
Jedes Mitglied saß zu Hause vor einem riesigen Bild-
schirm,  der  in  zehntausend  kleine  Felder  unterteilt
war.  In  jedem  Feld  erschien  das  Gesicht  eines  Ama-
ranth und sein Stimmanzeiger – eine winzige Leuch-
te, die in verschiedenen Farbtönen aufblitzen konnte:
rot  für  heftige  Ablehnung,  orange  für  Ablehnung,
gelb für Neutralität, grün für Zustimmung oder blau
für begeisterte Zustimmung.

Im  Zentrum  des  Mosaiks  befand  sich  ein  großer

Bildschirm  für  den  jeweiligen  Sprecher  und  ein  Ta-
bulator,  der  das  Ergebnis  jeder  Abstimmung  durch
ein Farbsignal anzeigte.

Als die traditionelle Eröffnungszeremonie begann,

nahmen zweiundneunzig Prozent aller Mitglieder der
Gesellschaft  daran  teil.  Dann  ergriff  Der  Roland
Zygmont das Wort und sagte: »Ich will keine Zeit mit
Begrüßungsworten  vergeuden,  denn  wir  haben  uns
heute  versammelt,  um  ein  Problem  zu  diskutieren,
dessen Existenz wir alle bisher geflissentlich überse-
hen  haben:  die  gewaltsame  Entleibung  von  Mitglie-
dern  unserer  Gesellschaft.  Fälle  dieser  Art  hat  es
schon  immer  gegeben  –  ich  erinnere  in  diesem  Zu-
sammenhang  an  die  Tragödie,  der  Die  Anastasia  de
Fancourt und Der Abel Mandeville zum Opfer gefal-
len sind. Aber heute geht es nicht um dieses Drama,
sondern um Gavin Waylock, der Ihnen vielleicht bes-
ser  als  Der  Grayven  Warlock  bekannt  ist.  Das  Wort
hat jetzt Die Jacynth Martin, die mit den näheren Um-

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ständen des Falles am besten vertraut ist.«

Die  Jacynth  erschien  auf  dem  großen  Bildschirm.

Ihre  Augen  waren  unnatürlich  geweitet;  sie  schien
vor innerlicher Erregung zu zittern.

»Lassen  Sie  mich  zunächst  aufzählen,  für  welche

Entleibungen  Gavin  Waylock  unmittelbar  verant-
wortlich  ist:  Der  Abel  Mandeville,  Die  Jacynth  Mar-
tin,  Seth  Caddigan,  Rolf  Aversham  und  erst  gestern
der  Berber  Carleon.  Ich  habe  Gavin  studiert.  Er  hat
diese Verbrechen mit Vorbedacht begangen; er ist ein
Ungeheuer  ohne  Moralbegriffe,  das  vernichtet  wer-
den muß. Er bedroht alle und jeden von uns!«

Die  Gesichter  des  Mosaiks  gerieten  in  Bewegung.

»Wieso?« rief eine Stimme, dann nahmen andere den
Ruf auf.

»Gavin Waylock mißachtet unsere Gesetze«, erwi-

derte Die Jacynth. »Er bricht sie nach Belieben. Dieser
Erfolg  kann  ansteckend  wirken.  Andere  werden  sei-
nem Beispiel folgen, bis er ganz Clarges infiziert hat.«

Hunderte  von  Stimmen  wurden  gleichzeitig  laut,

bis Die Jacynth abwehrend die Hand hob.

»Gavin Waylock will in unsere Gesellschaft aufge-

nommen werden, das hat er selbst oft genug verkün-
det.«  Sie  machte  eine  bedeutungsvolle  Pause.  »Es
steht in unserer Macht, ihm diesen Wunsch zu erfül-
len  und  die  Gesetze  von  Clarges  zu  ignorieren.  Ich
bitte um Abstimmung.«

Das Stimmengewirr im Lautsprecher klang wie das

Rauschen einer weit entfernten Brandung. Die Felder
des Mosaiks leuchteten auf: hier und dort blau, etwas
häufiger  grün,  verschiedentlich  gelb,  überwiegend
orange  und  rot.  Der  Tabulator  zählte  die  Stimmen,
dann leuchtete sein Feld hellrot auf.

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Die  Jacynth  hob  die  Hand.  »Aber  ich  warne  Sie  –

wenn wir uns nicht ergeben, müssen wir kämpfen. Er
läßt  sich  nicht  entmutigen  oder  einschüchtern,  des-
halb muß er... vernichtet werden! Dieses Raubtier in
Menschengestalt bedroht uns alle, darum müssen wir
ihm zuvorkommen und ihn daran hindern, seine Plä-
ne  zu  verwirklichen.  Rücksichtnahme  und  Mitleid
sind  hier  fehl  am  Platze;  unser  Feind  schreckt  vor
nichts zurück, deshalb müssen wir mit gleichen Waf-
fen kämpfen!«

Sie nickte kurz, und Der Roland Zygmont erschien

wieder  auf  dem  zentralen  Bildschirm.  »Die  Jacynth
hat  einen  spezifischen  Aspekt  unseres  Problems  er-
läutert«,  begann  er  langsam.  »Dieser  Grayven  War-
lock ist ohne Zweifel ein gerissener Bursche; er ist den
Assassinen  entkommen,  hat  sich  sieben  Jahre  lang
verborgen gehalten und hat sich als Relikt in Brut re-
gistrieren lassen, um auf diese Weise eine neue Auf-
stiegsmöglichkeit zu haben.«

»Und was ist daran auszusetzen?« wandte eine lei-

se Stimme ein.

Der  Roland  ignorierte  die  Frage,  aber  Die  Jacynth

erschien  sofort  wieder  auf  dem  Bildschirm  und
suchte die Gesichter auf den zehntausend Feldern ab.
»Wer hat eben gesprochen?«

»Ich.«
»Wer sind Sie?«
»Ich bin Gavin Waylock – oder Der Grayven War-

lock,  wenn  Ihnen  das  lieber  ist.  Als  Vizekanzler  des
Prytaneons habe ich das Recht, hier zu sprechen.«

»Ich  kann  Sie  nicht  daran  hindern«,  sagte  Die

Jacynth.

Waylocks Gesicht erschien auf dem zentralen Bild-

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schirm. Zehntausend Augenpaare studierten das ern-
ste Gesicht.

»Vor sieben Jahren«, fuhr Waylock fort, »wurde ich

wegen  eines  Verbrechens,  das  ich  nicht  vorsätzlich
begangen hatte, den Assassinen übergeben. Durch ei-
nen glücklichen Zufall bin ich heute in der Lage, da-
gegen  zu  protestieren.  Ich  bitte  das  Konklave,  das
damals ergangene Urteil aufzuheben und meine Mit-
gliedschaft zu bestätigen.«

Der  Roland  Zygmont  runzelte  besorgt  die  Stirn.

»Es steht der Versammlung frei, über diesen Antrag
abzustimmen.«

Das Leuchtfeld des Tabulators glühte dunkelrot.
»Sie  haben  abgelehnt«,  stellte  Waylock  fest.  »Darf

ich fragen – ich wende mich dabei an den Vorsitzen-
den  –,  weshalb  man  mir  mein  gutes  Recht  verwei-
gert?«

»Ich  kann  nur  Vermutungen  über  die  Gründe  an-

stellen«, murmelte Der Roland. »Ihre Methoden sind
abstoßend  und  aggressiv;  Sie  haben  Unregelmäßig-
keiten,  wenn  nicht  sogar  Verbrechen  begangen.  Die
dabei  gezeigten  Charaktereigenschaften  sind  Ihrem
Aufnahmegesuch nicht eben förderlich gewesen.«

»Aber  mein  Charakter  spielt  doch  in  meinem  Fall

ebensowenig eine Rolle wie bei anderen Amaranth«,
erwiderte  Waylock  gelassen.  »Ich  bin  Der  Grayven
Warlock, und ich verlange Anerkennung.«

Die  Jacynth  erhielt  das  Wort.  »Sie  haben  sich  als

Gavin Waylock registrieren lassen, nicht wahr?«

»Richtig, aber ich...«
»Damit  ist  bereits  alles  gesagt.  Der  Grayven  War-

lock  ist  nicht  mehr  unter  uns,  und  Sie  sind  Gavin
Waylock, Brut.«

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»Ich habe mich als Relikt ausgegeben, um Schwie-

rigkeiten  zu  vermeiden.  Trotzdem  bin  ich  mit  dem
ursprünglichen  Amaranth  identisch  und  habe  des-
halb  ein  Anrecht  auf  alle  seine  Privilegien.  Der
Grayven  Warlock  und  Gavin  Waylock  sind  nur  ver-
schiedene Namen für die gleiche Person.«

Die  Jacynth  lachte.  »Der  Roland  ist  für  derartige

Probleme eher zuständig; ich muß Sie deshalb an ihn
verweisen.«

»Mister  Waylocks  Behauptung  entbehrt  jeder  rea-

len Grundlage«, stellte Der Roland fest. »Der Grayven
war nur kurze Zeit Mitglied unserer Gesellschaft und
konnte  unmöglich  über  lebensfähige  Surrogate  ver-
fügen.«

»Das ist jedoch der Fall«, wandte Waylock ein. »Sie

haben  mich  selbst  als  Warlocks  Surrogat  anerkannt;
ich stelle hiermit einen Aufnahmeantrag als der neue
Grayven Warlock.«

»Ich  darf  den  Antrag  nicht  entgegennehmen«,  er-

widerte Der Roland zögernd. »Sie sind vielleicht sein
Relikt,  aber  Der  Grayven  hat  keine  Surrogate  beses-
sen.«

»Widerspricht das nicht Ihrer Theorie über die Be-

deutung  der  Surrogate?«  fragte  Waylock.  »Ist  nicht
jedes Surrogat eine Identität Ihrer selbst?«

Die beiden Männer erschienen jetzt gleichzeitig auf

dem zentralen Bildschirm.

»Jedes  Surrogat  ist  ein  selbständiges  Lebewesen,

bis  es  die  legale  Identität  des  ursprünglichen  Ama-
ranth  erhält  und  als  diese  Persönlichkeit  in  unsere
Gesellschaft aufgenommen wird.«

Waylock runzelte die Stirn. »Die Surrogate sind al-

so selbständige Lebewesen?«

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»Ja«, antwortete Der Roland.
»Sind Sie alle der gleichen Meinung?« fragte Way-

lock die Versammlung.

Der Tabulator leuchtete blau.
»Dann begehen Sie im Grunde genommen ständig

ein  schweres  Verbrechen«,  fuhr  Waylock  nachdenk-
lich fort.

Betroffenes Schweigen folgte.
»Wie  Sie  wissen,  habe  ich  bestimmte  Pflichten  zu

erfüllen«,  sagte  Waylock.  »In  Abwesenheit  des
Kanzlers vertrete ich seine Stelle und fühle mich des-
halb berechtigt, die Amaranth-Gesellschaft eindring-
lich zu ermahnen.«

»Was soll der Unsinn?« fragte Der Roland.
»Sie  halten  Erwachsene  gefangen,  nicht  wahr?  Ich

ordne  deshalb  kraft  meines  Amtes  ihre  sofortige
Freilassung an. Weigern Sie sich, diesen Befehl auszu-
führen, müssen Sie die Konsequenzen tragen.«

Zehntausend  Stimmen  gaben  ihrer  Empörung

gleichzeitig Ausdruck. »Sie sind verrückt, Waylock«,
rief der Vorsitzende entrüstet.

Waylock lächelte gelassen. »Sie haben selbst zuge-

geben, was ich Ihnen jetzt vorwerfe. Treffen Sie also
Ihre Wahl. Die Surrogate sind entweder selbständige
Lebewesen  oder  Identitäten  des  ursprünglichen
Amaranth.«

Der  Roland  schüttelte  den  Kopf.  »Ich  verstehe

nicht, was Sie damit bezwecken, Waylock.«

»Das müßte Ihnen allmählich klar sein«, antwortete

Waylock. »Nehmen Sie mich in die Gesellschaft auf –
oder lassen Sie Ihre Surrogate frei.«

Zunächst herrschte Schweigen, dann ertönte leises

Gelächter.

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»Sie  wissen  genau,  daß  wir  unsere  Surrogate  nie

freilassen würden«, sagte Der Roland. »Ihr Vorschlag
ist einfach phantastisch!«

»Dann geben Sie also zu, daß ich ein Recht auf Mit-

gliedschaft besitze?«

Der  Tabulator  leuchtete  orange,  dann  rot.  »Nein«,

riefen Hunderte von Stimmen. »Wir lassen uns nicht
erpressen!«

»Überlegen  Sie  gut«,  mahnte  Waylock.  »Ich  bin

nicht hilflos, und ich habe nicht die Absicht, mich ein
zweitesmal von Ihnen opfern zu lassen.«

»Wie  können  Sie  das  behaupten?«  fragte  Der  Ro-

land.  »Der  Grayven  Warlock  hatte  ein  Verbrechen
begangen und ist dafür bestraft worden.«

»Aber  Sie  haben  die  Höchststrafe  ausgesprochen,

obwohl  andere  in  gleicher  Lage  völlig  straffrei  aus-
gingen. Der Abel Mandeville hat zwei Seelen ausge-
löscht – aber seine Surrogate leben ungestraft weiter.«

»Der Grayven hätte sich in acht nehmen sollen, bis

seine  Surrogate  lebensfähig  waren«,  stellte  Der  Ro-
land fest.

»Ich  lasse  mich  nicht  abweisen!«  rief  Waylock  lei-

denschaftlich. »Ich verlange mein Recht! Wenn ich es
nicht erhalte, bin ich gezwungen, es mir zu erkämp-
fen!«

»Vielleicht  ist  die  Gesellschaft  bereit,  Ihren  Fall

nochmals  zu  diskutieren«,  sagte  Der  Roland  beruhi-
gend. »Ich bezweifle allerdings, daß...«

»Nein!  Ich  lasse  mich  nicht  länger  hinhalten,  son-

dern  ergreife  jetzt  die  Initiative  –  als  Vorbeugungs-
maßnahme oder als Gegenschlag. Sie haben die Wahl
zwischen beiden Möglichkeiten.«

»Was  haben  Sie  vor?  Was  wollen  Sie  tun?  Was

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können Sie unternehmen?«

»Ich  kann  Ihre  Surrogate  befreien.«  Waylock  lä-

chelte  grimmig.  »Sie  werden  bereits  in  diesem  Au-
genblick befreit, denn ich habe Ihre Reaktion voraus-
gesehen. Die Aktion geht weiter, bis meine Forderun-
gen erfüllt – oder bis alle Surrogate befreit sind.«

Die Amaranth schwiegen betroffen.
Der  Roland  lächelte  erschrocken.  »Dieser  Mann  –

Gavin Waylock oder Der Grayven – kann seine Dro-
hung nicht verwirklichen, denn er weiß nicht, wo un-
sere Zellen liegen.«

Waylock hielt einen Zettel hoch. »Folgende Zellen

sind  bereits  leer...«  Er  las  ein  Dutzend  Namen  und
Adressen vor.

Entsetzte Aufschreie von allen Seiten. Zehntausend

Gesichter  gerieten  in  Bewegung,  als  die  Amaranth
diskutierten, ob sie bleiben oder zu ihren Zellen eilen
sollten.

»Es ist zwecklos, das Konklave jetzt zu verlassen«,

sagte Waylock. »Heute nacht werden nur vierhundert
Zellen geöffnet. Die Arbeit ist fast beendet und wird
abgeschlossen, bevor jemand eingreifen könnte. Mor-
gen  werden  wieder  vierhundert  Zellen  geöffnet,
übermorgen  ebenfalls,  bis  keine  mehr  übrig  sind.
Wollen  Sie  nun  meine  Forderungen  erfüllen  –  oder
muß ich Sie alle unglücklich machen?«

Der Roland schüttelte den Kopf. »Wir dürfen nicht

zu Gesetzesbrechern werden.«

»Das  habe  ich  nie  verlangt.  Ich  bestehe  nur  auf

meinem Recht.«

»Wir brauchen Zeit.«
»Sie müssen sich sofort entscheiden.«
»Ich kann nicht für alle Mitglieder sprechen.«

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»Dann sollen sie abstimmen.«
Der  Roland  hob  den  Kopf,  als  das  Visorphon  auf

seinem  Schreibtisch  summte.  Er  hörte  kurz  zu  und
rief entsetzt: »Es ist wahr! Sie brechen die Zellen auf
und  schicken  die  Surrogate  hilflos  in  die  Nacht  hin-
aus!«

»Lassen Sie abstimmen«, forderte Waylock.
Der Roland nickte wortlos.
Der  Tabulator  leuchtete  nacheinander  grün,  gelb,

orange, wieder grün und schließlich blau-grün.

»Sie haben gesiegt«, flüsterte Der Roland.
»Tun Sie Ihre Pflicht!«
»Ich  nehme  Sie  hiermit  in  die  Amaranth-

Gesellschaft auf«, sagte Der Roland heiser. »Ab sofort
besitzen Sie sämtliche Rechte und Pflichten.«

Waylock nickte zufrieden und hob ein Mikrophon

an die Lippen. »Operation einstellen!« Er wandte sich
an  die  zehntausend  Gesichter.  »Tut  mir  leid,  daß  ei-
nige  von  Ihnen  persönlich  betroffen  sind,  aber  ich
kann nur sagen, daß Sie selbst...«

Ein lautes Rattern unterbrach ihn. Vor zehntausend

entsetzten Zuschauern, die vor Schreck und Abscheu
wie  gelähmt  waren,  sackte  Gavin  Waylock  leblos  in
seinem Sessel zusammen.

Hinter  ihm  erschien  Die  Jacynth  Martin.  Sie  lä-

chelte  verzerrt;  ihre  Augen  waren  unnatürlich  ge-
weitet. »Wir haben von Gerechtigkeit gesprochen; sie
ist  ihm  zuteil  geworden.  Ich  habe  das  Ungeheuer
vernichtet.  Und  jetzt  sind  meine  Hände  mit  seinem
Blut befleckt. Aber ihr werdet mich nie wieder in eu-
rer Mitte sehen!«

»Warten Sie!« rief Der Roland. »Wo sind Sie jetzt?«
»In Anastasias Haus«, erwiderte Die Jacynth.

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»Bleiben Sie dort – ich komme gleich zu Ihnen.«
»Sparen  Sie  sich  lieber  die  Mühe.  Dort  finden  Sie

nur die Leiche des Ungeheuers!«

Die Jacynth Martin rannte zum Landeplatz hinaus,

bestieg  ihren  Aircar  und  startete  mit  höchster  Be-
schleunigung.  Wenige  Minuten  später  schwebte  sie
hoch über dem Fluß und warf einen letzten Blick auf
ihr  geliebtes  Clarges,  bevor  sie  den  Steuerknüppel
ruckartig nach vorn drückte.

Der  Aircar  tauchte  spritzend  ein  und  warf  hohe

Wellen  auf;  dann  schloß  sich  das  ölige  Wasser  über
der  Maschine,  und  der  Chant  floß  wieder  so  ruhig
wie zuvor.

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48

Die Stadt befand sich in einem Zustand unterdrückter
Erregung.  Die  Morgenzeitungen  berichteten  nur  am
Rande  von  den  Ereignissen  der  vergangenen  Nacht,
deren Konsequenzen noch nicht überschaubar waren;
das Volk ging seiner gewohnten Arbeit nach, ohne er-
fahren zu haben, was Gavin Waylock getan hatte.

Für  die  Mitglieder  der  Amaranth-Gesellschaft  be-

deutete  der  Name  Gavin  Waylock  erheblich  mehr,
denn  zum  Zeitpunkt  seines  Hinscheidens  war  das
grausige  Werk  bereits  vollendet.  Vierhundert  Zellen
waren  aufgebrochen  worden;  die  Surrogate  wurden
geweckt, in die Nacht hinausgeführt und dort ihrem
Schicksal  überlassen  –  insgesamt  eintausendsieben-
hundertzweiunddreißig.

Vierhundert Amaranth hatten entsetzlich darunter

zu  leiden,  denn  sie  wußten  nur  allzu  gut,  daß  ihre
Unsterblichkeit in höchster Gefahr war. Sie reagierten
mit  geradezu  psychotischer  Übertreibung,  schlossen
sich in ihren Häusern ein und wagten sich nicht mehr
ins Freie, weil sie um ihr Leben fürchteten. Wie leicht
konnte es passieren, daß ein Aircar abstürzte! Gab es
nicht täglich Hunderte von Unfällen, bei denen Men-
schen  zu  Schaden  kamen?  Las  man  nicht  oft  von
Amokläufern,  die  über  andere  Menschen  herfielen?
Wohin  man  blickte,  drohten  Gefahren,  denen  man
jetzt schutzlos ausgeliefert war!

Weitere Einzelheiten des Zwischenfalls drangen an

die  Öffentlichkeit,  die  breite  Masse  assimilierte  die
Nachrichten und begann zu reagieren. Einige waren
über  diesen  Bruch  der  Tradition  besorgt,  andere

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freuten  sich  im  stillen  darüber.  Waylock  wurde  ab-
wechselnd  als  Märtyrer  oder  Verbrecher  bezeichnet.
Nur  wenige  konnten  sich  noch  auf  ihre  Arbeit  kon-
zentrieren. Tausende vergeudeten wertvolle Zeit, um
die seltsame Affäre zu diskutieren. Wohin sollte das
alles  führen?  Tage  verstrichen,  und  Clarges  wartete
noch immer.

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49

Vincent

 

Rodenave

 

war aktiv an den Ereignissen dieser

denkwürdigen Nacht beteiligt gewesen. Er flog in ei-
nem

 

gemieteten

 

Aircar

 

nach

 

Skyhaven, fünfundvierzig

Kilometer außerhalb von Clarges, und landete neben
einer kleinen Villa inmitten eines riesigen Parks. Die
Tür  war  fest  verschlossen,  aber  er  brach  sie  auf  und
durchsuchte

 

das

 

Haus, bis er die Zelle gefunden hatte.

Dort lagen drei Surrogate in hypnotisch erzeugtem

Tiefschlaf  und  warteten  auf  den  Tag,  an  dem  Die
Anastasia  de  Fancourt  zu  neuem  Leben  erwachen
sollte. Rodenave konnte seine Ungeduld nicht länger
beherrschen,  beugte  sich  über  die  erste  Gestalt  und
berührte mit zitternden Fingern ihren bloßen Arm.

Die Anastasia vor ihm erwachte. Gleichzeitig rich-

teten  sich  auch  die  beiden  anderen  auf  und  starrten
den Eindringling erschrocken an.

»Die  Anastasia  ist  nicht  mehr«,  sagte  Rodenave.

»Wer tritt nun an ihre Stelle?«

»Ich«, sagte eine. Die drei Surrogate verwandelten

sich plötzlich in eine Person und zwei Surrogate. »Ich
bin  Die  Anastasia.«  Sie  wandte  sich  an  die  anderen.
»Ihr bleibt hier zurück, und ich gehe in die Welt hin-
aus.«

»Ihr kommt alle mit«, stellte Rodenave fest.
Die Anastasia warf ihm einen erstaunten Blick zu.

»Aber das ist nicht richtig!«

»Darüber bestimme ich«, antwortete Rodenave und

fügte rasch hinzu: »Die Anastasia hat mich seit ihrem
letzten Besuch bei euch geheiratet. Du bist jetzt meine
Frau.«

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Die neue Anastasia und ihre beiden Surrogate be-

trachteten ihn interessiert.

»Das verstehe ich nicht ganz«, sagte die neue Ana-

stasia. »Du kommst mir allerdings bekannt vor. Wie
heißt du?«

»Vincent Rodenave.«
»Ah – jetzt erkenne ich dich wieder. Wir haben von

dir  gehört.«  Sie  zuckte  lachend  mit  den  Schultern.
»Ich habe in meinem Leben schon viele Torheiten be-
gangen.  Vielleicht  habe  ich  dich  wirklich  geheiratet.
Aber ich kann es nicht recht glauben.«

»Los, kommt mit«, forderte Rodenave sie auf.
»Aber  die  beiden  anderen  müssen  hierbleiben«,

protestierte Die Anastasia. »Was wird sonst aus unse-
rer Empathie?«

»Ihr müßt alle mitkommen«, sagte Rodenave laut,

»sonst zwinge ich euch mit Gewalt dazu.«

Sie wichen vor ihm zurück. »Das ist unerhört«, flü-

sterte  die  neue  Anastasia.  »Was  ist  aus  meiner  Vor-
gängerin geworden?«

»Ein  eifersüchtiger  Liebhaber  hat  ihr  Hinscheiden

verursacht.«

»Das muß Der Abel gewesen sein.«
Rodenave  machte  eine  ungeduldige  Handbewe-

gung. »Kommt endlich, wir müssen gehen.«

»Aber  dann  gibt  es  drei  Anastasias«,  wandte  sie

ein. »Die anderen sind mit mir identisch!«

»Eine  von  euch  ist  in  Zukunft  Die  Anastasia.  Die

zweite wird meine Frau, und die dritte kann tun, was
ihr beliebt.«

Die drei Anastasias betrachteten ihn nachdenklich,

dann sagte die erste: »Wir haben nicht den Wunsch,
mit dir verheiratet zu sein. Sollte tatsächlich eine Ehe

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bestehen, wird sie wieder gelöst. Wenn es sein muß,
verlassen  wir  unsere  Zelle  –  mehr  kannst  du  nicht
von uns erwarten.«

Rodenave  wurde  blaß.  »Eine  von  euch  begleitet

mich! Entscheidet euch – welche kommt mit mir?«

»Nicht ich.« »Nicht ich.« »Nicht ich.« Dreimal der

gleiche verächtliche Tonfall.

»Aber ihr könnt doch nicht einfach die bestehende

Ehe ignorieren!«

»Selbstverständlich können wir das. Und wir haben

auch  die  Absicht,  es  zu  tun.  Du  bist  kein  Mann,  mit
dem wir verheiratet sein möchten.«

Rodenave  trat  einen  Schritt  vor  und  holte  mit  der

rechten  Hand  aus;  Die  Anastasia  zuckte  zusammen,
als der Schlag ihre Wange traf. Dann wandte er sich
ab,  rannte  zu  seinem  Aircar  und  flog  allein  nach
Clarges zurück.

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50

Die nächste Versammlung der Amaranth-Gesellschaft
hatte sich mit dem schwierigen Problem der befreiten
Surrogate zu befassen – wie sollten diese neuen Bür-
ger  in  Zukunft  klassifiziert  werden?  Jeder  der  vier-
hundert  Amaranth,  deren  Zellen  aufgebrochen  wor-
den waren, existierte jetzt in vier oder fünf Versionen,
die  alle  die  gleiche  Ausbildung,  die  gleiche  Vergan-
genheit  und  die  gleichen  Zukunftserwartungen  hat-
ten. Alle waren mit Recht der Auffassung, vollwerti-
ge Amaranth zu sein, und beanspruchten die entspre-
chenden  Privilegien;  die  Situation  war  völlig  unge-
klärt und mußte schnellstens bereinigt werden.

Der Roland leitete die erregteste Sitzung seit Beste-

hen  der  Gesellschaft,  in  der  die  einzig  mögliche  Lö-
sung  beschlossen  wurde:  die  eintausendsiebenhun-
dertzweiunddreißig Surrogate wurden als Mitglieder
mit allen Rechten und Pflichten aufgenommen. Damit
schien  das  Problem  zunächst  gelöst  zu  sein,  obwohl
einige Unzufriedene darüber klagten, daß diese Ver-
mehrung  der  Mitgliederzahl  keinesfalls  im  Interesse
der  Gesellschaft  liege.  Allerdings  konnte  zu  diesem
Zeitpunkt  noch  niemand  ahnen,  wie  nachteilig  sie
sich später tatsächlich auswirken würde...

Nach

 

dieser

 

stürmischen Sitzung kehrte Der Roland

Zygmont spät abends müde und erschöpft nach Hau-
se  zurück.  Er  freute  sich  bereits  auf  ein  heißes  Bad
und

 

zehn

 

Stunden

 

ungestörten Schlaf, die einen neuen

Menschen aus ihm machen würden. Aber die größte
Überraschung des Abends stand ihm noch bevor. In
der Diele seines Hauses wartete ein Mann auf ihn.

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Der Roland blieb wie erstarrt stehen. »Gavin Way-

lock«, flüsterte er.

Waylock  nickte  lächelnd.  »Der  Gavin  Waylock,

wenn ich bitten darf.«

»Aber... aber... Sie leben doch nicht mehr!«
Waylock  zuckte  mit  den  Schultern.  »Ich  weiß

kaum, was sich in letzter Zeit ereignet hat. Meine ein-
zige Informationsquelle waren Zeitungen.«

»Aber...«
»Weshalb  sind  Sie  so  verblüfft?«  fragte  Waylock

ungehalten.  »Haben  Sie  vergessen,  daß  ich  Der
Grayven Warlock bin?«

Der  Roland  begann  zu  verstehen.  »Sie  sind  eines

seiner Surrogate!«

»Selbstverständlich. Gavin Waylock hat sieben Jah-

re lang Zeit gehabt, völlige Empathie mit den Surro-
gaten zu erreichen.«

Der Roland ließ sich in einen Sessel fallen. »Warum

habe ich das nicht vorausgesehen?« Er schlug sich an
die Stirn. »Schrecklich! Was soll ich nur tun?«

Waylock  zog  die  Augenbrauen  hoch.  »Gibt  es  da

noch eine Frage?«

Der  Roland  seufzte.  »Nein.  Wir  wollen  nicht  wie-

der damit anfangen. Sie haben gesiegt, und ich kann
Ihnen  die  Früchte  Ihres  Sieges  nicht  vorenthalten.
Kommen Sie.« Er ging in sein Arbeitszimmer voraus,
schlug  das  Mitgliederverzeichnis  der  Amaranth-
Gesellschaft auf und trug den Namen GAVIN WAY-
LOCK ein.

Er klappte das schwere Buch wieder zu. »Das war

alles.  Sie  gehören  zu  uns.  Da  Sie  die  Behandlung
schon hinter sich haben, sind keine weiteren Forma-
litäten  erforderlich.«  Er  betrachtete  Waylock  von

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Kopf  bis  Fuß.  »Ich  bringe  es  nicht  über  mich,  Ihnen
meinen  Glückwunsch  auszusprechen,  aber  ich
möchte Ihnen ein Glas Cognac anbieten.«

»Ich nehme mit Vergnügen an.«
Die  beiden  Männer  tranken  schweigend.  Der  Ro-

land  lehnte  sich  in  seinen  Sessel  zurück.  »Sie  haben
Ihr  Ziel  erreicht«,  stellte  er  fest,  »aber  mit  welchen
Methoden...!«  Er  schüttelte  sorgenvoll  den  Kopf.
»Vierhundert  Amaranth  sind  nun  in  ihren  eigenen
Häusern Gefangene, bis die neuen Surrogate lebens-
fähig sind; einige haben vielleicht Unfälle, denen sie
erliegen – und unter diesen Umständen gibt es keine
Rettung für sie. Alles das haben Sie auf dem Gewis-
sen, Waylock!«

Waylock  zuckte  ungerührt  mit  den  Schultern.

»Daran hätten Sie vor sieben Jahren denken müssen.«

»Das steht hier nicht zur Debatte.«
»Vielleicht. Jedenfalls schmälert jeder Aufstieg die

Lebenserwartung  anderer  Menschen  in  den  unteren
Phylen. In dieser Beziehung habe ich mir wenig vor-
zuwerfen.  Meine  zwei  oder  drei  Opfer  sind  völlig
unbedeutend,  wenn  man  berücksichtigt,  daß  jedes
andere  Mitglied  der  Gesellschaft  indirekt  zweitau-
send Menschenleben auf dem Gewissen hat.«

Der Roland starrte ihn an. »Bilden Sie sich etwa ein,

Ihr Fall sei eine Ausnahme? Der Aktuarius hat Ihren
Aufstieg  bereits  registriert  und  die  Konsequenzen
daraus  gezogen.  Auch  Sie  sind  schuld  daran,  daß
zweitausend  Menschen  früher  von  den  Assassinen
aufgesucht werden!« Er zuckte hilflos mit den Schul-
tern. »Streiten wir uns nicht länger darüber; Sie sind
Mitglied  unserer  Gesellschaft,  aber  ich  muß  Ihnen
schon jetzt mitteilen, daß die Verhältnisse sich erheb-

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lich geändert haben.«

»Weshalb?«
»Die  siebzehnhundertzweiunddreißig  Surrogate

hatten  ein  Anrecht  auf  Mitgliedschaft  und  sind  des-
halb  heute  in  die  Amaranth-Gesellschaft  aufgenom-
men worden.«

Waylock hob verblüfft den Kopf. »Sie sorgen wirk-

lich  für  Ihre  Leute!  Und  wie  beeinflußt  das  die  Le-
benserwartung der unteren Phylen?«

Der  Roland  schien  antworten  zu  wollen,  runzelte

dann  die  Stirn  und  zögerte.  »Wir  können  nur  tun,
was wir für richtig halten«, sagte er langsam.

Waylock  stand  auf.  »Ich  will  nicht  länger  stören

und wünsche Ihnen eine gute Nacht.«

»Gute Nacht«, sagte Der Roland. Er begleitete sei-

nen Besucher an die Haustür.

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51

Der Roland schlief unruhig, wurde von schrecklichen
Alpträumen geplagt und wachte bei Tagesanbruch in
kaltem  Schweiß  gebadet  auf.  Von  der  Straße  her
drang  ein  seltsames  Geräusch  durch  die  geschlosse-
nen  Jalousien,  das  er  nicht  gleich  identifizieren
konnte.  Es  erinnerte  ihn  an  das  Rauschen  eines  gro-
ßen Flusses...

Er stand auf und ging ans Fenster. Auf der Straße

drängten  sich  Tausende  von  Menschen,  so  weit  das
Auge  reichte.  Sie  bewegten  sich  alle  in  Richtung
Esterhazy-Platz.

Das  Visorphon  hinter  ihm  summte;  Der  Roland

ging wie ein Schlafwandler darauf zu und tastete un-
sicher  nach  dem  Sprechknopf.  Auf  dem  Bildschirm
erschien Der Olaf Maybow, der stellvertretende Vor-
sitzende der Amaranth-Gesellschaft.

»Roland«, rief er erregt aus. »Hast du sie gesehen?

Was sollen wir tun?«

Der Roland rieb sich nachdenklich das Kinn. »Auf

der  Straße  hat  sich  eine  große  Menge  angesammelt.
Meinst du das?«

»Menge«, rief Der Olaf heiser. »Wilde Horden! Ein

Volksaufstand!«

»Aber  warum  nur?  Was  hat  das  alles  zu  bedeu-

ten?«

»Hast  du  die  Morgennachrichten  noch  nicht  gese-

hen?«

»Ich bin eben erst aufgewacht.«
»Sieh dir die Schlagzeilen an.«
Der  Roland  schaltete  den  Projektor  ein,  der  eine

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Zusammenfassung  der  letzten  Meldungen  an  die
Wand warf.

»Du lieber Himmel«, murmelte er.
»Genau!«
Der Roland schwieg betroffen.
»Was sollen wir tun?« fragte Der Olaf.
Der  Roland  überlegte.  »Hmm,  irgend  etwas  muß

wohl getan werden.«

»Den Eindruck habe ich auch.«
»Obwohl  wir  eigentlich  nicht  dafür  zuständig

sind.«

»Wir  müssen  trotzdem  etwas  unternehmen  –  wir

sind schließlich dafür verantwortlich!«

»Unsere  Zivilisation  hat  irgendwie  versagt«,  flü-

sterte Der Roland.

Der Olaf schüttelte unwillig den Kopf. »Wir haben

jetzt keine Zeit für philosophische Überlegungen! Ir-
gend  jemand  muß  die  Initiative  ergreifen,  irgend  je-
mand muß entschlossen handeln!«

»Ganz  recht«,  stimmte  Der  Roland  zu.  »Ein  guter

Kanzler könnte jetzt beweisen, was in ihm steckt.«

Der  Olaf  schnaubte  verächtlich.  »Claude  Imish?

Lächerlich!  Wir  müssen  selbst  etwas  dagegen  unter-
nehmen.«

»Aber  ich  kann  die  Berechnungen  des  Aktuarius

doch nicht umstoßen! Oder soll ich etwa die Anwei-
sung  geben,  siebzehnhundertzweiunddreißig  Ama-
ranth in Brut zu registrieren?«

Der Olaf achtete nicht auf diese rethorische Frage.

»Hörst du sie brüllen? Hör dir das an, Roland!«

Draußen ertönten plötzlich laute Schreie, in denen

sich die Erregung der Menge entlud.

»Du mußt etwas unternehmen«, drängte Der Olaf.

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Der Roland gab sich einen Ruck. »Gut, ich trete vor

sie  hin.  Vielleicht  kann  ich  sie  dazu  bewegen,  Ruhe
und Ordnung...«

»Sie reißen dich in Stücke!«
»Dann  bleibe  ich  lieber  zu  Hause.  Wahrscheinlich

legt  sich  die  ganze  Aufregung  ohnehin  von  selbst,
und  die  Leute  kehren  an  ihre  Arbeitsplätze  zurück,
um Karrierepunkte zu sammeln.«

»Auch  wenn  ihre  Karriere  inzwischen  bedeu-

tungslos geworden ist?«

Der Roland ließ sich in einen Sessel fallen. »Weder

du  noch  ich  noch  irgendein  anderer  kann  etwas  an
dieser  Situation  ändern.  Ich  spüre  es;  ich  kann  mir
vorstellen, was sich dort draußen ereignet. Die Men-
schen  sind  wie  aufgestautes  Wasser  –  der  Damm  ist
gebrochen, und das Wasser strömt aus, bis der natür-
liche Stand erreicht ist.«

»Aber was haben sie vor?«
»Wer  weiß?  Vielleicht  wäre  es  angebracht,  in  Zu-

kunft nur noch bewaffnet außer Haus zu gehen.«

»Wer  dir  zuhört,  muß  den  Eindruck  haben,  die

Bürger von Clarges seien Barbaren!«

»Wir  sind  mit  den  Barbaren  verwandt.  Ihre  und

unsere  Vorfahren  haben  jahrhundertelang  gemein-
sam  als  Wilde  gelebt,  während  die  getrennte  Ent-
wicklung erst seit Jahrhunderten stattfindet.«

Die  beiden  Männer  starrten  einander  erschrocken

an, als der Lärm der Massen wieder lauter wurde.

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52

Die Ursachen des Aufruhrs, der jetzt in den Straßen
von Clarges herrschte, waren nur aus der geschichtli-
chen Entwicklung dieser Regionen zu erklären; aber
der  unmittelbare  Anlaß  war  allgemein  bekannt:  die
Erweiterung  der  Amaranth-Gesellschaft  um  sieb-
zehnhundertzweiunddreißig  neue  Mitglieder.  Der
Aktuarius hatte diese Informationen ausgewertet und
in  nüchterne  Zahlen  umgesetzt,  von  denen  die  Le-
benserwartung jedes einzelnen Angehörigen der vier
unteren  Phylen  entscheidend  beeinflußt  wurde.
Durch  die  Aufnahme  neuer  Mitglieder  verringerte
sich die Lebensdauer der Menschen in Brut um etwas
über  fünf  Monate,  die  der  Angehörigen  höherer
Phylen entsprechend weniger.

Das  Volk  reagierte  augenblicklich  und  strömte  in

Massen  auf  die  Straßen.  Die  Arbeitsplätze  standen
leer  –  wer  wollte  noch  arbeiten,  wenn  seine  Mühen
mit  dem  Abzug  von  fünf  kostbaren  Monaten  seines
Lebens belohnt wurden? Warum nicht einfach aufge-
ben?

Hunderte konnten sich nicht den Demonstrationen

anschließen,  weil  sie  wie  erstarrt  in  ihren  Apparte-
ments lagen. Aber Tausende gingen auf die Straßen,
tauchten  im  Gedränge  unter,  wurden  formloser  Be-
standteil der Masse und bewegten sich schreiend und
lärmend in Richtung Esterhazy-Platz.

Auf  dem  weiten  Platz  hatte  sich  eine  unruhige

Menge versammelt, als der Aircar auf dem Dach des
Aktuariusgebäudes landete. Ein Mann stieg aus und
näherte  sich  vorsichtig  der  Dachkante.  Es  war  Der

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Roland  Zygmont,  Vorsitzender  der  Amaranth-
Gesellschaft. Er hob einen tragbaren Lautsprecher an
den  Mund,  aus  dem  seine  Stimme  über  den  Platz
hallte.

Die  Masse  achtete  kaum  auf  seine  Worte;  sie  rea-

gierte nur auf den Tonfall und wurde noch erregter.
Ein Ruf pflanzte sich durch die dichtgedrängten Rei-
hen fort: »Der Roland Zygmont! Der Vorsitzende der
Amaranth-Gesellschaft! Der Roland Zygmont!«

Der  Ruf  wurde  lauter,  verwandelte  sich  in  einen

wütenden  Aufschrei.  Der  Roland  hatte  sein  Podest
etwas  unglücklich  gewählt  –  die  Menge  fühlte  sich
verhöhnt,  als  sie  den  Vorsitzenden  der  Amaranth-
Gesellschaft auf dem Gebäude des Aktuarius stehen
sah.  Tausende  von  Kehlen  schrien  sich  gleichzeitig
heiser,  während  Tausende  von  ausgestreckten  Hän-
den  nach  dem  Mann  auf  dem  Dach  zu  greifen  ver-
suchten; dann setzte sich die Menge wie auf einen Be-
fehl hin plötzlich in Bewegung.

Unter  diesem  Ansturm  gaben  die  Eingangstüren

des Gebäudes nach. Fünf oder sechs Assassinen, die
sich  der  Masse  in  den  Weg  stellen  wollten,  wurden
überrannt  und  niedergetrampelt.  Die  Menschen
strömten  weiter  ins  Innere  des  Gebäudes,  überwan-
den alle Absperrungen, zertrümmerten Instrumente,
rissen mit bloßen Händen Leitungen ab und zerstör-
ten  hochempfindliche  Maschinen  mit  Stöcken  und
Steinen.  Funken  knisterten,  Rauch  wallte  auf,  Deto-
nationen  erschütterten  die  Wände.  Der  großartige
Mechanismus  starb  wie  ein  Mensch,  dessen  Gehirn
zerstört wird.

Dieser  leidenschaftliche  Ausbruch  des  Volkszorns

schien  kein  Ende  nehmen  zu  wollen.  Der  Roland

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Zygmont beobachtete die brodelnde Masse vom Dach
des Gebäudes aus und überlegte sich dabei, daß die-
ser  leidenschaftliche  Ausbruch  in  der  gesamten  Ge-
schichte der Menschheit einmalig war.

Der  Olaf  kam  heran  und  griff  nach  seinem  Arm.

»Schnell, wir müssen fliehen! Sie sind schon bis hier-
her vorgedrungen!« Die beiden Männer liefen auf den
startbereiten  Aircar  zu;  aber  sie  waren  zu  langsam
und  wurden  eingeholt.  Johlende  Horden  schleppten
sie  trotz  heftigster  Gegenwehr  an  den  Dachrand  zu-
rück,  faßten  sie  dort  an  Armen  und  Beinen,  holten
kräftig Schwung und schleuderten sie ins Leere hin-
aus.

Im Innern des Gebäudes ereignete sich eine gewal-

tige  Detonation;  eine  Flammensäule  stieg  hundert
Meter  hoch  zum  Himmel  auf.  Die  Männer  auf  dem
Dach waren von den Treppen abgeschnitten und ka-
men in Rauch und Flammen um; unter ihnen fanden
Tausende  den  Tod,  als  das  riesige  Gebäude  bis  auf
die Grundmauern niederbrannte.

Die  Menge  achtete  nicht  mehr  darauf,  sondern

hörte  gespannt  einem  Mann  zu,  der  am  Rand  des
Platzes ein improvisiertes Podium bestiegen hatte. Es
war Vincent Rodenave, der vor Erregung außer sich
zu sein schien. Sein Gesicht war hektisch gerötet, und
seine Stimme überschlug sich fast. »Gavin Waylock!«
brüllte  er  heiser.  »Das  ist  der  Mann,  der  an  diesem
Unrecht schuld ist! Gavin Waylock!«

Die  Massen  nahmen  seinen  Schrei  auf,  ohne  sich

dessen  bewußt  zu  werden.  »Gavin  Waylock!  Tötet
ihn!  Bringt  ihn  um!  Nehmt  Rache  an  Gavin  Way-
lock!«

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53

Gavin  Waylock  wurde  überall  in  Clarges  gesucht.
Sein  Appartement  lag  in  Trümmern,  nachdem  die
empörte  Menge  dort  eingedrungen  war,  und  einige
Männer,  die  ihm  entfernt  ähnlich  sahen,  wurden
mißhandelt  und  fast  gelyncht,  bis  sie  ihre  Identität
beweisen konnten.

Von irgendwoher tauchte ein Gerücht auf: Waylock

war angeblich in Elgenburg gesehen worden. Wenig
später waren die nach Süden führenden Straßen von
wütenden Horden verstopft.

Elgenburg wurde Haus für Haus durchsucht, aber

Waylock war seinen Verfolgern offenbar wieder ein-
mal entkommen.

In der Nähe lag der Raumhafen, wo die Star Enter-

prise  sich  startbereit  erhob.  Der  schlanke  Metallpfeil
ragte  hoch  über  den  menschlichen  Ameisen  auf,  die
sich  am  Rand  des  eingezäunten  Geländes  versam-
melten.

Aus  allen  Himmelsrichtungen  strömten  immer

neue Massen heran. Diesmal schienen sie weniger er-
regt als damals vor dem Aktuarius; aber diese Ruhe
war trügerisch, denn als sie Hindernisse und Absper-
rungen vor sich sahen, erwachte ihr Zorn wieder. Die
Menge klatschte begeistert und drängte näher heran,
als fünfzehn oder zwanzig Männer ein langes Eisen-
rohr als Rammbock gegen das verschlossene Tor des
Raumhafens einsetzten.

Dann  schwebte  ein  großer  Aircar  aus  Richtung

Clarges  heran  und  landete  innerhalb  der  Umzäu-
nung. Sechs Männer stiegen aus: der Großrat der Tri-

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bunen.  An  ihrer  Spitze  ging  Guy  Carskadden,  der
Obertribun.

Die  Menge  zögerte  unentschlossen,  und  der

Rammbock wurde niedergelegt.

»Dieser  Wahnsinn  muß  ein  Ende  haben«,  rief  der

Obertribun gebieterisch. »Was wollt ihr hier?«

»Waylock«,  antworteten  hundert  Stimmen  gleich-

zeitig. »Wir wollen den Verbrecher, das Ungeheuer!«

»Seid ihr Barbaren, die alles zerstören und die Ge-

setze  der  Region  mißachten?«  wollte  Carskadden
wissen.

Die  Antwort  wurde  lauter  und  trotziger  gegeben:

»Es gibt keine Region Clarges mehr!«

Carskadden  machte  eine  resignierte  Handbewe-

gung. Die Massen setzten sich in Bewegung; das Tor
gab  nach,  schwankte  unter  diesem  Ansturm  und
wurde  schließlich  aus  den  Angeln  gerissen.  Die  Tri-
bunen wichen langsam zurück, hoben die Hände und
riefen immer wieder: »Kehrt um, kehrt um!«

Der Vormarsch der Menge kam erst unter der Star

Enterprise zum Stehen, die im Licht der Nachmittags-
sonne  wie  ein  silberner  Pfeil  glänzte.  Die  Tribunen
hatten  hier  eine  Linie  gebildet,  und  Carskadden  un-
ternahm  einen  letzten  Versuch,  weitere  Ausschrei-
tungen zu verhindern. »Halt!« brüllte er. »Kehrt nach
Hause zurück und nehmt eure Arbeit wieder auf!«

Ein dumpfes Murmeln antwortete ihm. »Waylock!

Das Ungeheuer Waylock! Er hat uns Leben geraubt!«

Die  Masse  setzte  sich  wieder  in  Bewegung  und

überrannte  die  Tribunen.  Sechs  ängstliche  Männer
hasteten die Gangway hinauf und hatten nur ein Ziel
vor Augen: die offene Luftschleuse in fünfzehn Meter
Höhe über dem Boden.

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Dann erschien Reinhold Bierbursson auf der Platt-

form vor der Schleuse. Er beobachtete die Menge mit
zusammengekniffenen  Augen  und  schüttelte  mitlei-
dig den Kopf. Als die ersten Männer den Fuß auf die
Gangway setzten, hob er den Eimer in seiner Rechten
und leerte ihn mit einem Ruck aus.

Grünes  Gas  wallte  in  dichten  Schwaden  auf;  die

Menschen husteten, keuchten, schrien heiser auf und
wichen entsetzt zurück.

Bierbursson sah zum Himmel auf, wo sich eben ein

Aircar näherte, warf noch einen Blick auf die Menge
und  verschwand  im  Innern  des  Schiffs.  Der  Aircar
schwebte  an  die  Plattform  heran,  setzte  einen  Mann
ab  und  startete  wieder,  der  Mann  hielt  einen  Laut-
sprecher  an  der  Hand,  und  seine  Stimme  übertönte
das Geschrei der Massen, die das weite Vorfeld füll-
ten.

»Freunde  –  einige  von  euch  kennen  mich  bereits.

Ich  bin  Jacob  Nile.  Darf  ich  zu  euch  sprechen?  Was
ich zu sagen habe, betrifft die Zukunft von Clarges.«

Das  Geschrei  verstummte;  die  Menge  hörte  auf-

merksam zu.

»Freunde,  ihr  seid  mit  Recht  erregt  und  aufge-

bracht,  denn  ihr  habt  heute  mit  der  Vergangenheit
gebrochen, und die Zukunft liegt klar und offen vor
euch.

Ihr seid hierher gekommen, um Gavin Waylock zu

suchen, aber das ist eine Torheit.«

Wütendes  Gemurmel  aus  der  Menge,  dann  eine

laute  Stimme:  »Er  hält  sich  im  Raumschiff  verbor-
gen!«

Jacob Nile sprach ungerührt weiter. »Wer ist Gavin

Waylock?  Wie  können  wir  ihn  hassen,  wie  können

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wir uns selbst hassen? Gavin Waylock ist ein Abbild
unserer selbst! Er hat getan, was wir alle gern getan
hätten. Er hat ohne Hemmungen, ohne Rücksicht und
ohne Furcht gehandelt. Gavin Waylock ist erfolgreich
gewesen, und wir sind deshalb wütend, wir beneiden
ihn um diesen Erfolg!

Waylock ist weniger schuldig als alle anderen – als

die gesamte Region Clarges mit allen ihren Bürgern.
Wir  haben  diesen  Schandfleck  auf  dem  Antlitz  der
Erde  geduldet,  wir  haben  ein  Verbrechen  gegen  die
Menschheit begangen. Wie? Warum? Wodurch? Wir
haben  uns  selbst  starre  Grenzen  gesetzt;  wir  haben
uns  mit  der  glorreichen  Vorstellung  ewigen  Lebens
gequält, haben diese herrliche Frucht vor Augen ge-
habt und schließlich doch nur Asche gegessen.

Die  Spannung  war  auf  die  Dauer  unerträglich;

heute  ist  es  zur  Explosion  gekommen.  Sie  war  un-
vermeidbar; Waylock war nur der Katalysator. Er hat
den Lauf der Geschichte beschleunigt, und wir müs-
sen ihm dafür sogar dankbar sein.« Jacob Nile machte
eine kurze Pause und sprach dann weiter, ohne sich
um die Unmutsäußerungen aus der Menge zu küm-
mern.

»Mehr ist über Waylock nicht zu sagen: er selbst ist

unbedeutend.  Aber  er  hat  viel  für  uns  getan.  Er  hat
das System zerstört. Wir sind frei!

Welchen Gebrauch wollen wir von unserer Freiheit

machen?  Wir  können  den  Aktuarius  instand  setzen
und  die  frühere  Einteilung  der  Phylen  beibehalten;
wir  können  uns  freiwillig  wieder  in  die  Gefangen-
schaft  begeben,  unter  der  wir  bisher  geschmachtet
haben. Oder wir können eine neue Seite im Buch der
Geschichte  aufschlagen  –  wo  das  Leben  allen  Men-

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schen gehört, nicht nur einem Glücklichen von zwei-
tausend!

Wie  sollen  wir  das  verwirklichen?  Wir  haben  im-

mer  gehört,  die  Welt  sei  für  Unsterbliche  zu  klein.
Das ist richtig. Wir müssen wieder Pioniere werden,
müssen neue Gebiete erschließen! In früheren Zeiten
zogen Menschen in die Wildnis, um sich dort Lebens-
raum zu schaffen; wir müssen ihrem Beispiel folgen
und  können  dies  zur  Voraussetzung  ewigen  Lebens
machen.  Ist  das  nicht  gerecht?  Hat  nicht  jeder  An-
spruch auf Leben, der selbst für Lebensraum und Le-
bensunterhalt sorgen kann?«

»Leben«, murmelten Tausende von Stimmen, »Le-

ben! Leben!«

»Wo gibt es diesen Lebensraum, wohin sollen wir

uns  wenden,  um  ihn  zu  suchen?  Zunächst  hier  auf
der Erde – in der Wildnis und bei den Nomaden. Wir
müssen  uns  ausbreiten,  müssen  zu  den  Barbaren
vordringen; aber wir dürfen nicht als Eroberer kom-
men, sondern müssen als Missionare zu ihnen gehen.
Wir  müssen  sie  als  unsere  Brüder  und  Schwestern
akzeptieren. Und dann – wenn die Erde besiedelt ist
–, wo finden wir dann Lebensraum? Wohin sollen wir
uns wenden, wenn hier alle Möglichkeiten erschöpft
sind?« Jacob Nile drehte sich nach der Star Enterprise
um und sah zum Himmel auf. »Seitdem der Aktuari-
us zertrümmert ist, liegt der Weg zu den Sternen of-
fen vor uns. Nun kann endlich jeder unsterblich sein,
wenn  er  den  Wunsch  danach  hat.  Der  Mensch  kann
nicht ohne Fortschritt leben; jeder Stillstand bedeutet
einen Rückschlag für ihn. Heute hat er die Erde in Be-
sitz  genommen;  seine  Zukunft  liegt  in  den  Sternen.
Das gesamte Universum erwartet uns! Warum zögern

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wir  also  noch,  das  Geschenk  ewigen  Lebens  anzu-
nehmen?«  Die  Menge  seufzte  tief  auf,  als  sei  diese
Zukunftsvision zu überwältigend schön, um wahr zu
sein.

»Ihr seid das Volk von Clarges«, fuhr Nile fort, »ihr

habt zu bestimmen, welche Veränderungen eintreten
sollen. Was bestimmt ihr also?«

In  diesem  Augenblick  rief  eine  einzelne  Stimme  –

war  es  Vincent  Rodenave?  –  aus  der  ersten  Reihe:
»Aber  Gavin  Waylock!  Was  wird  aus  Gavin  Way-
lock?«

»Ah,  Waylock«,  sagte  Nile  nachdenklich.  »Er  ist

gleichzeitig  ein  großer  Verbrecher  und  ein  großer
Held.  Wäre  es  deshalb  nicht  angebracht,  ihn  gleich-
zeitig zu bestrafen und zu belohnen?« Er wies auf die
Star Enterprise, die hinter ihm aufragte. »Hier steht ein
großes Raumschiff startbereit. Könnte es einen besse-
ren  Auftrag  erhalten,  als  neue  Welten  für  die
Menschheit  zu  erschließen?  Könnte  Gavin  Waylock
seine Schuld besser sühnen als durch Erkundungsrei-
sen an Bord der Star Enterprise? Sie wären Strafe und
Belohnung zugleich.«

Ein Mann trat aus der Luftschleuse und blieb neben

Jacob  Nile  auf  der  Plattform  stehen.  Die  Menge
brüllte  wütend  auf  und  drängte  nach  vorn.  Gavin
Waylock hob eine Hand, und die Massen schwiegen
atemlos.

»Ich habe gehört, welches Urteil ihr über mich ge-

fällt  habt«,  sagte  Waylock.  Er  richtete  sich  auf.  »Ich
begrüße eure Entscheidung und nehme den Auftrag
an. Ich werde den Raum erforschen und neue Welten
für die Menschheit suchen.«

Er hob grüßend die Hand, wandte sich ab und ver-

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schwand im Innern des Raumschiffs.

Ein  Warnsignal  ertönte;  aus  dem  Heck  der  Star

Enterprise brach bläuliches Feuer hervor.

Das Raumschiff hob langsam ab. Es stieg schneller

und  immer  schneller  durch  die  Abenddämmerung
auf.

Das  blaue  Feuer  wurde  ein  heller  Stern,  leuchtete

schwächer und erlosch.


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