Angel Bd05 Jeff Mariotte Der Preis der Unsterblichkeit

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Angel : Jäger der Finsternis. - Köln : vgs

(ProSieben-Edition)

Der Preis der Unsterblichkeit / Jeff Mariotte. Aus dem Amerikan. von

Antje Görnig. - 2001

ISBN 3-8025-2841-7










Das Buch »Angel – Jäger der Finsternis.

Der Preis der Unsterblichkeit« entstand nach der gleichnamigen

Fernsehserie (Orig.: Angel) von Joss Whedon und David Greenwalt,

ausgestrahlt bei ProSieben.

© des ProSieben-Titel-Logos mit freundlicher

Genehmigung der ProSieben Televisions GmbH

Erstveröffentlichung bei Pocket Books, New York 2000. Titel der amerikanischen

Originalausgabe: Angel. Close to the Ground.

und © 2000 by Twentieth Century Fox Film Corporation.

All Rights Reserved.

© der deutschsprachigen Ausgabe:

Egmont vgs Verlagsgesellschaft, Köln 2001

Alle Rechte vorbehalten.

Produktion: Wolfgang Arntz

Umschlaggestaltung: Sens, Köln

Titelfoto: © Twentieth Century Fox Film Corporation 2000

Satz: Kalle Giese, Overath

Druck: Clausen & Bosse, Leck

Printed in Germany

ISBN 3-8025-2841-7

Besuchen Sie unsere Homepage im WWW:

www.vgs.de


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Prolog

Irland - vor vier Wochen


Die Insel erhob sich aus dem Meer wie ein riesiges Untier, das seinen
Kopf aus der Brandung streckt. Von Anbeginn der Zeit schlugen die
Wellen gegen die kahlen Felsen der Insel vor der Westküste Irlands und
hatten sie blank und glatt gescheuert. Das Innere der Insel war von
dichtem, saftigem Gras überzogen und nur vereinzelt ragten ver-
kümmerte, gebeugte Bäume hervor – eine andere Vegetation ließen die
heftigen Stürme und der dichte Nebel nicht zu.

Noch nie hatte ein Besucher seinen Fuß auf die Insel gesetzt mit

Ausnahme der geflügelten Wesen, aber auch sie wurden schnell wieder
vertrieben – wenn nicht von den Elementen, dann von dem unguten
Gefühl, das der Insel anhaftete wie der allgegenwärtige Nebel. Der
heilige Patrick hatte, wie es die Legende überliefert, Irland von den
Schlangen befreit, aber auf dieser Insel brauchte man einen solchen
Mann nicht: Kein natürliches Wesen, das fähig war, die Insel zu
verlassen, harrte dort länger als eine Nacht aus.

Der Sage nach hatten keltische Krieger einst versucht, die Insel zu

erobern, denn aufgrund ihrer Lage am Ende der Blacksod Bay war sie
von strategischer Bedeutung, wenn man von Westen her in Irland
einfallen wollte. Als die Eindringlinge über die felsigen Klippen
geklettert waren, fanden sie im Innern der Insel eine merkwürdige
Ansammlung großer Steine vor, die so windschief dastanden, als kippten
sie jeden Moment um. In deren Mitte entdeckten die Kelten einen großen
flachen Stein, auf dem der abgeschlagene Kopf eines alten Mannes lag.
Als sie näher kamen, klappten die Augen auf und starrten sie an. Dann
rief der Kopf einen jeden Krieger bei seinem Namen.

Als der Morgen graute, waren sie alle tot, und auf jedem der riesigen,

schiefen Steine thronte ein Schädel. Seither war die Insel sich selbst
überlassen.

Sie bekam nicht einmal einen Namen.
Und als eines Tages ein Schloss auf der Insel gebaut wurde, sah

niemand, wie die Mauern in die Höhe wuchsen oder das Dach gedeckt
wurde. Für den Bau wurde das graue Gestein der Insel verwendet, und so

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war das Schloss aus der Ferne – und näher kam der Insel niemand – nicht
von den Felsen zu unterscheiden, die es umgaben.

Das Schloss gehörte Mordractus.


Mordractus saß auf einem Stuhl aus massiven Geweihstangen mit
Polstern aus Hirschleder und sah zu, wie P'wrll eine Kassette in den
Videorekorder schob. Der Raum war groß und dunkel; lediglich die
kleinen elektrischen Wandleuchter, die hoch oben an den kalten Stein-
wänden angebracht waren, und der Fernsehbildschirm erhellten die
Kulisse.

»Die Aufnahme is' nich' sonderlich gut«, sagte P'wrll mit rauer

Stimme, die klang, als riebe man zwei Steine aneinander. Mordractus
fand seinen Akzent, eine Mischung aus Irisch und Feensprache, höchst
bizarr. Und merkwürdig anzusehen war er auch mit seinem gebeugten
und verbogenen Körper, der kalkweißen Haut, den schmalen schwarzen
Lippen und den tief liegenden roten Augen. Auf seinem fleckigen
Schädel wuchs büschelweise langes weißes Haar, das fast bis zum Boden
reichte. Seine Anne und Beine wirkten wie Äste von unterschiedlichen
Bäumen. Es war wirklich ein Segen, dass er über die Kunst der Tarnung
verfügte, die es ihm ermöglichte, sich unter die Menschen zu begeben.

»Ham' wir alles in der Nacht gedreht«, fuhr P'wrll fort, »und meistens

aus großer Entfernung. Konnten uns ja wohl schlecht zu erkennen geben
und mussten alles aus'm Versteck heraus filmen.«

Mordractus winkte ungeduldig ab. Kobolde und Elfenwesen waren im

Allgemeinen nicht sehr geschickt im Umgang mit modernen Geräten,
und er hatte schon überlegt, selbst loszuziehen oder wenigstens einen
seiner menschlichen Günstlinge damit zu beauftragen, das Gerät zu
handhaben. »Deine Entschuldigungen interessieren mich nicht«, sagte er.
»Zeig es mir einfach!«

P'wrll fummelte ungeschickt an der Fernbedienung herum, und als

seine langen, knorrigen Finger endlich den richtigen Knopf gefunden
hatten, wurde der Bildschirm blau. »Ich glaub, jetz' hab ich's!«,
verkündete er. Und schon flimmerte der Bildschirm, färbte sich schwarz,
und dann war eine breite Straße in einer Stadt zu erkennen, bei Nacht,
erleuchtet von Laternen.

»Da hat's mir nich' gefallen«, sagte P'wrll. »Zu viele Wesen.« Damit

meinte er die Menschen.

Mordractus sah lange auf den Bildschirm. Die Straße war und blieb

leer. »Das ist ja hochinteressant«, bemerkte er. Leider war es ihm noch
nicht gelungen herauszufinden, ob Kobolde überhaupt Sinn für seinen
Sarkasmus hatten. »Habt ihr das Material zusammengeschnitten?«

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»Wir ham' gedacht, du willst das so schnell wie möglich sehen«,

erklärte P'wrll. Das war eine weitere Eigenart der Kobolde: Immer
sprachen sie von sich in der Wir-Form, als wollten sie auf diese Weise
die mögliche Schuld an allem, was schief gehen konnte, abschwächen.
Sie waren schelmisch, manchmal sogar boshaft, und versuchten mit allen
Mitteln, sich vor jeglicher Verantwortung zu drücken. Eine Eigenschaft,
die sie mit den Menschen gemein hatten.

Mordractus umgab sich mit beiden Sorten. Die Menschen waren

zweifelsohne nützlich, aber für manche Jobs war ein Kobold oder ein
Troll einfach besser geeignet.

Zuweilen musste Mordractus darüber lachen, wie groß die Faszination

der modernen Welt für Märchen- und Mythengestalten war. Die
Menschen hielten sie doch tatsächlich für unschuldige magische
Kreaturen, die fröhlich durch Wald und Flur flatterten!

Dabei würde ein Kobold einem Menschen lieber den Kopf abreißen

und ihn zum Dinner verspeisen, als auf der Blüte einer Seerose posieren!
Das war bei den Menschen wohl in Vergessenheit geraten – das und so
vieles mehr, was Zauberei und alte Bräuche betraf.

Mordractus aber hatte es nicht vergessen. Er hatte all das erlebt, und

das nun schon seit drei Jahrhunderten.

Und genau darin bestand, wie ihm bewusst war, ein Teil des Problems.
Ein fähiger Zauberer konnte sein Leben auf Jahre hinaus verlängern.

Aber kein Magier hatte je so lange gelebt wie Mordractus, nicht einmal
die Großen aus vergangenen Zeiten – weder Merlin, noch Gilles de Rais,
noch Agrippa. Mordractus hatte die Werke der Großen studiert, hatte von
allen gelernt und sie schließlich allesamt an Wissen und Fertigkeit
übertroffen.

Aber trotz all seiner Erfolge ermüdete er allmählich. Er hatte alles

versucht, um sich zu verjüngen, seine Kräfte wiederherzustellen und die
Auswirkungen des Alterns abzuwehren. Jedoch verfehlten nun die
Zaubersprüche und Rituale, die in der Vergangenheit wunderbar funktio-
niert hatten, zunehmend die Wirkung. Außerdem war da noch das große
Beschwörungsritual, das seine Lebenskraft heftiger angriff als alle
Rituale, die er je durchgeführt hatte.

Mordractus würde bald sterben, und er schien nichts dagegen tun zu

können.

Aber er gab nicht auf. Er schickte seine Gefolgsleute in alle

Richtungen aus, um nach etwas zu suchen, was ihm möglicherweise
entgangen sein könnte – irgendein Zeichen, ein Hinweis auf eine
neuartige Behandlungsmethode, eine unerprobte Technik. Die meisten

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kamen mit leeren Händen zurück. Sie konnten ihm nichts bringen, was er
nicht schon selbst versucht hatte.

Aber da war P'wrll mit Currie und Hitch zurückgekommen, den beiden

Menschen – und sie hatten diese Kassette mitgebracht, die, wie sie
behaupteten, Überraschendes und möglicherweise Hilfreiches enthüllen
sollte. Sie waren nach Amerika gereist, genauer gesagt nach Los
Angeles. Und dort hatten sie angeblich höchst Erstaunliches gefunden.

Auf dem Bildschirm trat ein Mann aus einem Hauseingang auf den

Gehsteig. An der Bordsteinkante sah er sich nach links und rechts um,
als wolle er kontrollieren, ob ihn jemand beobachtete, öffnete dann die
Tür des vor ihm stehenden Wagens und stieg ein. Er war groß, jung und
gut aussehend, hatte dunkles kurzes Haar und ernste Augen, die
geradewegs in die Kamera zu starren schienen. Er trug einen schwarzen
Ledermantel über dunkler Kleidung.

»Das is' er«, sagte P'wrll. »Das is' er, wie er ins Auto steigt.«
»Faszinierend«, bemerkte Mordractus trocken. »Ein Mann steigt ins

Auto. Kaum zu glauben!«

»Da kommt doch noch mehr!«, protestierte P'wrll. »Wart's ab!«
Die Aufzeichnung brach an dieser Stelle ab. Nach einem kurzen

Flimmern erschien eine andere Straße, irgendwo in der Stadt. Derselbe
Mann erschien auf dem Bildschirm. Diesmal war er näher an der
Kamera, schien sie aber immer noch nicht zu bemerken. Seine Aufmerk-
samkeit wurde offenbar von etwas anderem in Anspruch genommen.

Und Mordractus sah zu, wie sich der junge Mann verwandelte.
Seine Stirn schwoll an und trat hervor, fast wie ein Panzer. Die Augen

verengten sich. Die Zähne wurden länger, und die Lippen verzogen sich
zu einer Grimasse.

Das war definitiv ein Vampir!
Die Kamera schwenkte und folgte ihm, als er an ihr vorüberging.
Zwei Männer, die eine Frau gegen eine Mauer drängten, kamen ins

Bild. Mordractus dachte nach. Ob der Vampir sie sich als Opfer
ausgesucht hatte und die beiden Männer dazwischengegangen waren?
Andererseits konnte man die Männer nicht gut erkennen – vielleicht
waren es auch Vampire. Ob sie gemeinsam auf der Jagd waren? Eher
ungewöhnlich, aber es hatte schon merkwürdigere Dinge gegeben.

Der junge Mann ... der junge Vampir – korrigierte sich Mordractus –

ging auf die Männer los. Seine Fäuste wirbelten durch die Luft, er holte
zu einem kräftigen Tritt aus, und einen Augenblick später rannten die
Männer so schnell sie konnten davon. Der Vampir ließ sie laufen.

Dann drehte er sich zu der Frau um. Mordractus erwartete, dass er sich

sogleich über sie hermachen würde, aber das tat er nicht. In dem

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gedämpften Licht war zu erkennen, dass sein Gesicht tatsächlich wieder
menschliche Züge angenommen hatte. Der Vampir sah die junge Frau
besorgt an, während er ihr auf die Beine half. Er hob die
heruntergefallene Tasche auf, reichte sie ihr und begleitete sie dann zu
einem Auto in der Nähe.

Sie winkte ihm, als sie davonfuhr.
»Ist das ein Vampir oder ein Pfadfinder?«, fragte Mordractus.
»Das isses ja eben!«, entgegnete P'wrll. »Wie man hört, isser 'n

Vampir, aber er tut Gutes. Der saugt keine Leute aus. Und er hat 'ne
Seele.«

»Eine Seele?«, fragte Mordractus ungläubig.
»Das sagt man über ihn«, erklärte P'wrll. »Er is' unsterblich, aber er hat

'ne Seele.«

»Tatsächlich«, murmelte Mordractus, und seine Gedanken begannen

angesichts der Tragweite dieser Entdeckung fieberhaft zu rasen.

»Wir ham' noch mehr Material.«
»Lass das Band laufen«, wies ihn Mordractus an. »Habt ihr zufällig

seinen Namen?«

»Er wird Angel genannt.«
Angel.
Angelus? War das möglich?
»Lass den Hubschrauber warm laufen! Und mach ein paar Flüge klar«,

befahl Mordractus. Er verfolgte aufmerksam das Geschehen auf dem
Bildschirm und spürte, wie er von einer ganz neuen Zuversicht
durchströmt wurde.

»Auf nach Kalifornien!«















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Los Angeles – heute






»Das kann ich ja wohl auch«, sagte Cordelia Chase. Sie kam aus Angels
Wohnung im Kellergeschoss ins Büro und wedelte aufgeregt mit einem
Hochglanzmagazin. Angel drehte sich vom Fernseher zu ihr um.
Offenbar wollte sie ihm etwas auf den Klatschseiten zeigen - Dutzende
kleine Fotos der gesellschaftlichen Elite von Los Angeles schlugen ihm
entgegen.

»Kann ich wirklich!«, fuhr sie fort. »Ich meine, welche

Voraussetzungen muss man erfüllen? Schön sein? Sieh mich an!«

Das tat Angel. Sogar ungestylt, in Tank-Top und bequemen

Sporthosen, sah Cordelia definitiv gut aus. Angel fand, sie hatte in der
kurzen Zeit seit dem High-School-Abschluss in Sunnydale und dem
Umzug nach L.A. mehr zu sich gefunden und war mit jeder Woche reifer
und schöner geworden.

»Und vermutlich muss man noch die Fähigkeit besitzen, stundenlang

über nichts Besonderes reden zu können. Aber hört mal, wenn beim
High-School-Abschluss auch das Beherrschen von belangloser
Konversation in die Benotung eingeflossen wäre, hätte das
Damoklesschwert der Mindestpunktzahl wohl nie über meinem Kopf
geschwebt! Und ich meine das wirklich positiv – es ist bei weitem in-
teressanter, sich über unwichtige Dinge zu unterhalten, als tiefsinnige
Gespräche zu führen. Stimmt doch, oder?«

»Die Nachrichten sind dran, Cordy«, bemerkte Doyle ein wenig

schroffer als üblich. Was Angel wiederum ahnen ließ, wie sehr ihn das
Geschehen auf der Mattscheibe gefangen nahm. Doyle schien ganz
vergessen zu haben, dass er immer noch darauf hoffte, irgendwann ein-
mal ein Date mit Cordelia zu bekommen. Und er ließ für Angels
Geschmack seinen irischen Akzent manchmal stärker heraushängen als
nötig – als könne er mit seiner irischen Seite die dämonische überdecken.
Cordelia wusste noch nicht, dass Doyle ein halber Dämon war, und
Doyle betete, sie möge es nie erfahren.

»Seht ihr, genau das meine ich! Hat es je etwas gebracht, sich die

Nachrichten anzusehen? Ich rede hier schließlich von viel mehr als nur
von der Entscheidung, Karriere zu machen: Wenn man sich einen
reichen Mann angelt, betrifft das vielmehr die Entscheidung über den

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gesamten Lebensstil – mit dem Zusatzbonus, dass man dann gar keine
Karriere mehr machen muss.«

»Im Augenblick«, widersprach Doyle, »bringen mir die Nachrichten

Folgendes: Ich habe auf die Padres gewettet und warte gerade darauf zu
erfahren, wie Tony Gwynn das Ding wieder mal für mich geschaukelt
hat. Ist zwar eigentlich 'ne sichere Kiste, aber ich will mich nur kurz
selbst davon überzeugen.«

»Könnt ihr beide mal still sein?«, beschwerte sich Angel. »Ich will das

hören!« Cordelia und Doyle verstummten.

»... gestern Nacht ein weiterer Banküberfall ereignet«, sagte die blonde

Sprecherin der Lokalnachrichten. »Er führte zu dem Tod dreier
unschuldiger Passanten, die sich in den frühen Morgenstunden auf der
Straße aufhielten, als die schwer bewaffneten Räuber die Bank verließen.
Ein Zeuge berichtete, die Räuber seien durch die Vordertür
herausgekommen und dabei auf Ford Gilmore und Tomm Coker und
eine weitere, noch nicht identifizierte Person gestoßen. Diese hätten
zwischen Bankeingang und Fluchtauto im Weg gestanden, sodass die
mutmaßlichen Bankräuber beim Verlassen des Gebäudes das Feuer auf
die Passanten eröffneten. Alle drei waren auf der Stelle tot...«

»Hör sich das einer an!«, meinte Doyle. »Mutmaßliche Bankräuber!

Als wäre es nicht ziemlich eindeutig, dass es sich um Bankräuber
handelt, wenn sie mit gestohlenem Geld aus der Bank kommen und
Leute erschießen.«

»Kate hat mir von diesen Typen erzählt«, sagte Angel. »Sie

verschaffen sich durch einen Tunnel Zugang zur Bank, füllen nachts ihre
Taschen mit Geld aus dem Tresor und gelangen ganz einfach durch die
Vordertür zu ihren Autos, die vor der Bank auf sie warten. Kate hat
schon länger befürchtet, dass das Ganze eines Tages eskalieren und es
Verletzte geben könnte.«

»Das ist ja dann wohl geschehen«, bemerkte Cordelia. »Hat unsere

clevere Polizistin denn schon eine Spur?«

»Offenbar ja, aber sie wollte mir nicht verraten, was für eine.«
»Wahrscheinlich will sie nicht, dass du wieder Batman spielst«,

bemerkte Doyle.

»So was in der Richtung.«
»Hey, da fällt mir doch was ein, Mann! Diese Typen, die dich vor ein

paar Wochen angegriffen haben! Also, ich hab mich mal ein bisschen auf
der Straße umgehört, aber leider scheint niemand was zu wissen.«

»Danke, dass du es versucht hast«, entgegnete Angel. »Aber so groß

war die Sache nun auch wieder nicht.«

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Er war noch spät in der Nacht unterwegs gewesen – was für einen

Vampir allemal besser war, als früh unterwegs zu sein –, als plötzlich
nicht weit von seinem Büro vier Schlägertypen aus einem Auto gestiegen
waren. Das Auto hatte zunächst am Gehsteig angehalten und die
Beifahrertür war aufgegangen – weil jemand aussteigen wollte, wie
Angel angenommen hatte. Was auch sonst hätte der Grund sein sollen?

Bis der Typ auf dem Beifahrersitz ihn ansprach. »Hey, Kumpel«, sagte

er, als Angel vorbeikam. Angel sah ihn an. Der Mann trug, wie er selbst,
von Kopf bis Fuß Schwarz – schwarze Jeans, einen dunklen
langärmeligen Mantel und eine tief in die Stirn gezogene Dodgers-
Kappe.

»Hey«, entgegnete Angel und ging einfach weiter.
Dann klappten die beiden hinteren Türen auf und zwei Typen in

ähnlichem Outfit kletterten vom Rücksitz. Sie hatten Waffen dabei: der
eine einen schwarzen Schlagstock, wie die Polizei ihn verwendet, und
der andere einen Baseballschläger. Angel drehte sich wieder zu dem auf
dem Beifahrersitz um und sah ein Messer in seiner Hand aufblitzen.

»Was gibt's?«, fragte Angel.
Keiner der Typen sagte etwas. Wortlos umzingelten sie Angel auf dem

Gehsteig. Er hörte, wie eine weitere Autotür aufklappte. Der Fahrer,
vermutete er, ohne den Blick von den drei Typen abzuwenden.

»Ich glaube, ihr habt den Falschen!«, sagte er.
Immer noch keine Reaktion.
Einer der Kerle holte mit dem Baseballschläger aus, aber da dieser

keine große Bedrohung darstellte, ignorierte ihn Angel. Da schwang der
Schlagstock auf ihn zu, rasch und hart. Angel duckte sich blitzschnell,
um dem Schlag auszuweichen, und spürte, wie der Stock über ihn
hinwegpfiff.

Dann stürzte sich der Messermann auf ihn. Angel packte ihn beim

Handgelenk, nahm seinen Arm in die Zange und brach ihn in
Sekundenschnelle.

Es gab ein knackendes Geräusch, und der Typ schrie auf. Das Messer

fiel klappernd zu Boden.

Und der Baseballschläger donnerte Angel von hinten in die Nieren.
Angel ließ den Mann mit dem gebrochenen Arm los und drehte sich zu

dem Kerl mit dem Schläger um.

»Ihr könnt immer noch aus der Sache aussteigen, ohne was

abzukriegen«, bot Angel an.

»Ich glaube, damit haben wir kein Problem«, sagte der vierte Mann,

der Fahrer. Nun konnte Angel ihn sehen. Er war groß, mindestens
einsneunzig, und wog bestimmt seine hundertdreißig Kilo. Sein

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schwarzes T-Shirt spannte über dem dicken Bauch, der über die
Gürtelschnalle hing. Schwere Motorradstiefel ragten unter seiner Jeans
hervor. Er hatte langes dunkles, grau meliertes Haar und einen buschigen
Bart.

In seiner Pranke hielt er einen Vorschlaghammer.
Er kam näher. Obwohl Angel ihn für den gefährlichsten im Bunde

hielt, konnte er die anderen drei nicht aus den Augen lassen. Immerhin
waren ein Baseballschläger und ein Schlagstock im Spiel. Am besten
setzte er der ganzen Sache ein schnelles Ende.

Als der Stock erneut gegen ihn erhoben wurde, fing er ihn mit der

Hand ab. Er griff fest zu und zog ihn mit einem Ruck zu sich heran. Der
Angreifer taumelte auf ihn zu, und Angel verpasste ihm einen Tritt in
den Brustkasten. Der Typ ging keuchend zu Boden. In einem Zug
wirbelte Angel herum und duckte sich rasch, als der zweite Angreifer
den Baseballschläger schwang. Er sprang in die Höhe und rammte dem
Kerl den Schlagstock in die Kehle. Der Mann ließ den Schläger fallen,
griff sich an den Hals und stürzte zu Boden.

Nun war nur noch der Große mit dem Hammer übrig. Er grinste Angel

schief an, als sähe er mit Vorfreude dem Duell entgegen.

Angel stand halb geduckt da, den Schlagstock immer noch fest im

Griff. Er sah dem Typen mit dem Hammer aufmerksam in die Augen
und lauerte auf das kleinste Anzeichen für den bevorstehenden Angriff.

Aber der Kerl überraschte Angel. »Okay«, sagte er. »Du hast

gewonnen.« Die anderen stiegen wieder in das Auto, und der
schwergewichtige Typ ging zur Fahrertür, wobei er Angel die ganze Zeit
im Auge behielt. Dann stieg er rasch ein, und sie fuhren davon.

Angel hatte sich erst gar nicht bemüht, sie zu verfolgen. Es waren ja

doch nur ein paar Straßenräuber gewesen, die ihn fälschlicherweise für
leichte Beute gehalten hatten. Sie waren Menschen, so viel war sicher.
Und daher musste man sich auch keine großen Sorgen machen. Angel
hatte den Zwischenfall schon fast vergessen, und es berührte ihn
irgendwie, dass Doyle sich nun plötzlich daran erinnerte.

Manchmal machte Doyle den Eindruck, er interessiere sich

ausschließlich für sich selbst – aber dann überraschte er einen doch so
manches Mal mit unerwartetem Tiefgang.

Seit Angel von Sunnydale weggegangen war – weg von Buffy –, hatte

sich Doyle für ihn als große Hilfe erwiesen. Cordelia sonderbarerweise
ebenfalls, indem sie ihn dazu getrieben hatte, seinem Bestreben, den
Hoffnungslosen zu helfen, den richtigen Rahmen zu geben – in Form
eines Detektivbüros, das tatsächlich ab und zu auch Geld einbrachte.

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Angel war nun schon seit langer Zeit ein Vampir. Seit ungefähr

hundert Jahren hatte er zudem, als Folge eines Zigeunerfluchs, eine
Seele. Und damit auch ein Gewissen – was wiederum zwangsläufig
massive Schuldgefühle nach sich zog, wenn man wie Angel zu seinen
Vampirzeiten derart viele Leben ausgelöscht hatte. Mittlerweile ernährte
er sich jedoch nicht mehr von Menschen, sondern beschränkte sich auf
Schweineblut vom Metzger.

Aber einfach nur damit aufzuhören, Menschen zu töten, war ihm nicht

genug. Er hatte für viele Tote zu büßen. Er würde bis in alle Ewigkeit
leben, was sehr gut war, denn genauso lange würde er vermutlich auch
brauchen, um all das Elend wieder gutzumachen, das er verursacht hatte.
Genau genommen versuchte er im Augenblick immer noch
gutzumachen, was er alles angestellt hatte, bevor er überhaupt zum
Vampir geworden war.

Er hatte erst Buffy kennen lernen müssen, um das zu verstehen. Sie

hatte ihm begreiflich gemacht, dass man sich entscheiden musste – für
das Gute oder dagegen. Und dass man für das Gute kämpfen musste.

Unglücklicherweise gab es im Leben Entscheidungen, die weitaus

schwieriger waren. Die Entscheidung zum Beispiel, Buffy zu verlassen
und nach Los Angeles zu gehen. Aber dieser Schritt war einfach
notwendig gewesen, und nun gab er sich alle Mühe, nicht
zurückzublicken.

Seine Wohnung war jedenfalls gar nicht schlecht. Er hatte sogar

Zugang zum unterirdischen Kanalisationssystem, was für seine Ausflüge
bei Tag von großem Nutzen war. Das Büro war ihm mit der Wohnung
zusammen angeboten worden, und Angel hatte es nicht ungenutzt lassen
wollen. Und so war ihm die Idee, ein Detektivbüro aufzumachen,
schließlich ganz vernünftig vorgekommen.

»Banküberfälle, Morde und allgemeine Schlechtigkeit – das ist doch

alles, worum es in den Nachrichten geht«, sagte Cordelia und sank neben
Doyle in Angels dunkelblaue Couch. »Und wenn schon so viele
grauenhafte Dinge in Los Angeles geschehen, dann würde mich mal
interessieren, warum wir nicht davon profitieren! Ich meine, warum läuft
das Geschäft in letzter Zeit so lau? Man sollte doch meinen, ein paar von
diesen Leuten, die in Schwierigkeiten stecken, kämen auf die Idee, bei
Angel Investigations Hilfe zu suchen, oder?« Sie sah Doyle scharf von
der Seite an. Der drehte sich sofort zu ihr um, als er ihren Blick spürte.

»Vielleicht liegt es ja an dir!«, schimpfte Cordelia weiter. »Vielleicht

ist dein Visionsradar ausgefallen oder so. Hast du ihn in letzter Zeit mal
generalüberholt?«

»Ich brauche ihn nicht...«

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»Du bist ja schließlich für Visionen von Leuten zuständig, die Hilfe

brauchen! Ich muss sagen, viel ist dabei in letzter Zeit nicht
herausgekommen!«, unterbrach ihn Cordy.

»Die zuständigen Mächte erklären meinesgleichen nicht so genau, wie

das alles funktioniert«, verteidigte sich Doyle. »Ich weiß nur, dass ich sie
kriege, wenn ich sie kriege – und wenn ich sie nicht kriege, kriege ich
auch nicht diese fürchterlichen Kopfschmerzen, und das ist mir ehrlich
gesagt ziemlich recht.«

»Nun, dann sollten wir mal darüber nachdenken, ob wir nicht ein paar

Plakatwände mieten sollten oder die ein oder andere Werbefläche an den
Bushaltestellen. Denn wenn wir uns bei unserem Geschäft auf deine
Visionen verlassen und du hast gar keine, dann sind wir in Schwie-
rigkeiten.«

»Vielleicht wird das ja meine nächste Vision«, meinte Doyle. »Angel

Investigations in der Finanzkrise! Aber warum machst du dir überhaupt
Sorgen, Cordy? Du wirst schon bald am Arm irgendeines
neunzigjährigen Discountladen-Milliardärs hängen und ihn vom
Pflegeheim zur Eröffnung einer neuen Filiale in Wichita Falls beglei-
ten.«

»Igitt!«, entgegnete Cordelia. »Alte Säcke! Daran hatte ich allerdings

nicht gedacht. Ich werde ja wohl einen jungen, gut aussehenden,
erfolgreichen und wohlhabenden Mann finden können.«

»Ich glaube, die jungen, gut aussehenden, erfolgreichen und

wohlhabenden brauchen aber nur selten eine junge schöne Tussi zum
Angeben an ihrer Seite, die nur aufs Geld aus ist«, bemerkte Angel.

»Da könntest du Recht haben«, räumte Cordelia ein und unterdrückte

ein Gähnen. »Vielleicht hat mein Plan ja ein paar Schwachstellen. Ich
muss noch mal drüber nachdenken.« Schwungvoll knallte sie die
Zeitschrift auf den Tisch. »Aber heute ist es zu spät zum Nachdenken.
Erinnert mich bitte morgen noch einmal daran, ja?«

»Ruhe!«, mahnte Doyle. »Jetzt kommt Sport!«
»Ich weiß auch nicht, warum ich so müde bin«, fuhr Cordelia

ungerührt fort. »So spät ist es doch noch gar nicht! Wisst ihr noch, wie
ich früher die ganze Nacht durchmachen konnte und am nächsten Tag in
der Schule trotzdem gut aussah? – Also, du natürlich nicht, Doyle, wir
kannten uns da ja noch nicht. Und ich vermute, für einen Vampir ist
lange Aufbleiben nichts besonders Beeindruckendes. Ach, ist auch
egal...«

»Gor...«
»Bin ja schon still!«

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»...verloren die Padres«, verkündete der Moderator gerade, »zwanzig

zu sieben gegen Kansas City...«

»Tut mir Leid, Doyle«, sagte Cordelia.
»Ist doch wurscht«, entgegnete Doyle. Aber erwirkte völlig

niedergeschlagen. »Falls das Telefon klingelt, ich bin nicht da, okay?«

»Du hast jemandem die Büronummer gegeben?«, fragte Angel

verwundert.

»Hey, das sind nicht die Typen, von denen ich zu Hause angerufen

werden möchte – wenn du verstehst, was ich meine.«

»Ich verstehe«, sagte Angel nur. Manchmal war ihm Doyle wirklich

eine große Hilfe. Aber es gab auch Momente, in denen er sich fragte,
warum er sich überhaupt mit ihm abgab.

Nachdem der Sportteil beendet war, folgte ein Überblick mit

Nachrichten aus aller Welt. Herzschmerz, Gier, Gefahr und Gewalt
waren natürlich nicht auf das Stadtgebiet von Los Angeles beschränkt –
und Angel wünschte, er könnte mehr tun, an mehreren Orten gleichzeitig
sein. Aber dann erinnerte er sich daran, dass er auch nur ein Vampir war
und schließlich schon tat, was er konnte.

Mehr war eben manchmal nicht drin.






















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2



Das Beverly Mortuary lag am Pico Boulevard, eigentlich schon nicht
mehr richtig in Beverly Hills, aber auch nicht allzu weit außerhalb. Das
Bestattungshaus war in der Branche wohl bekannt und wurde von Profis
geführt, denen der Ruf vorauseilte, menschlich, mitfühlend und diskret
zu arbeiten. Es gab zwar auch weniger teure Bestatter, aber wenn man
nicht auf den Pfennig achten musste, konnte man kaum ein besseres
Unternehmen finden als das von Mister Moy und Mister Carani. Die
Herren, beide schlank, weißhaarig und von würdevoller Erscheinung,
waren liebevoll um ihre Kunden bemüht – auch um diejenigen unter
ihnen, die nach dem Trauergottesdienst zur Tür hinausgingen und nicht
getragen werden mussten.

An diesem Tag fand eine sehr private Bestattungsfeier statt. Im

engsten Familienkreis, und der war nicht besonders groß. Die Feier
wurde im Grünen Raum abgehalten, dem kleinsten und intimsten, der zur
Verfügung stand. Alles war in Grün gehalten – die Tapeten mit dem
subtilen Blumenmuster, der Teppich, die Kissen auf den vier Bänkchen.
Aber selbst die persönliche Atmosphäre dieses kleinen Raumes konnte
nicht darüber hinwegtäuschen, dass es nur eine Hand voll Trauergäste
gab.

Normalerweise lockerten die Farben der Blumen und Kränze die grüne

Grundstimmung etwas auf. Diesmal nicht. Nur einen einzigen Strauß gab
es, den die Mutter der Toten mitgebracht hatte und der nun in einer Vase
auf dem Tisch am Kopfende des Sarges stand.

Während der kurzen Zeremonie war Mister Carani, der alles diskret

aus dem Hintergrund überwachte, aufgefallen, dass der Vater irgendwie
nicht bei der Sache zu sein schien. Sein Kummer war echt, davon war
Mister Carani überzeugt. Aber der Mann sah sich immer wieder in dem
kleinen Raum um, als müsse er sich in Erinnerung rufen, wo er
überhaupt war. Dabei drehte er fast unaufhörlich etwas zwischen seinen
Fingern. Als Mister Carani kurz einen Blick darauf erhaschen konnte,
sah er nur etwas rechteckiges Weißes. Eine Visitenkarte möglicherweise.
Die des Beverly Mortuary konnte es nicht sein; da fehlte die
geschmackvolle Goldkante.

Aber trotzdem: eine Visitenkarte.

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»Ihr Cappuccino, Mister Willits«, sagte Amber. Sie stellte die Tasse auf
seinem riesigen Schreibtisch ab. »Extra stark und extra heiß.«

»Danke«, murmelte er, ohne Amber richtig anzusehen. Sie war als

Assistentin der Geschäftsführung eingestellt worden. Für Jack Willits
bedeutete das, sie holte Kaffee, wenn man es ihr sagte, und erledigte
auch alle anderen kleinen Aufgaben, die im Laufe eines Arbeitstages so
anfielen. Er behandelte sie nicht mit genügend Respekt, hatte ihm seine
Frau bereits vorgeworfen, also versuchte er, immer daran zu denken,
auch »bitte« und »danke« zu sagen. Aber eigentlich tat seine Sekretärin,
wie er fand, doch nur das, wofür sie bezahlt wurde.

»Kann ich sonst noch etwas für Sie tun?«, fragte sie freundlich.
»Ich brauche eine Kopie von diesem Drehbuch«, sagte er. »Sie wissen

schon, das von dieser Mrs. Hart. Wie heißt es noch gleich?«

»Auf den Flügeln des Windes?«
»Genau! Und dann geben Sie mir Peter Delano.«
»Das Drehbuch liegt schon hier in Ihrem Eingangskorb bereit«,

entgegnete Amber. »Und Mister Delano gebe ich Ihnen sofort.«

Sie verließ sein Büro und setzte sich an ihren Computer. Nachdem sie

eine Taste gedrückt hatte, verschwand der Bildschirmschoner und sie
suchte sich Peter Delanos Nummer aus ihrer Datenbank. Sie wählte die
Nummer, und Roxanne, Peters Assistentin, hob ab.

»Hallo, Rox«, sagte Amber. »Jack will mit Peter sprechen.«
»Ist er in der Leitung?«, fragte Roxanne.
»Noch nicht. Gib mir zuerst Peter!«
»Ich glaube, diesmal muss ich Jack durchstellen«, widersprach

Roxanne. »Pete war letztes Mal schon als erster in der Leitung!«

»Mag schon sein, aber hör mal, Rox – Jack leitet immerhin ein

Studio.«

»Und Pete ist der Chef von IFM.« Internationally Famous

Management. Der Name war zwar nicht gerade genial, die Agentur
jedoch einflussreich. Und wenn man berücksichtigte, wie viel böses Blut
und interne Machtkämpfe es in den letzten Jahren zwischen den alten,
etablierten Agenturen gegeben hatte, war IFM vielleicht sogar das
bedeutendste Unternehmen der gesamten Branche.

»Ich weiß, aber...«
»Nein, Jack muss in der Leitung warten!«
»Das wird ihm nicht schmecken. Vielleicht will er dann gar nicht mit

ihm sprechen.«

»Er wird!«
Jack Willits besaß die Macht, Schauspielern, Produzenten, Regisseuren

und Autoren Arbeit geben zu können. Er war befugt, für jeden Film bis

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zu einer Summe von sechzig Millionen Dollar grünes Licht zu geben,
wenn er wollte, ohne sich mit dem multinationalen Konzern, dem eigent-
lichen Herrn über Monument Pictures, abzusprechen.

Aber Peter Delano hatte genau die Schauspieler und Regisseure unter

Vertrag, die Jack dringend benötigte, wenn er einen Volltreffer landen
wollte.

Und Jack wollte einen Volltreffer landen, das wusste Amber. Ihm

stand das Wasser bis zum Hals.

Sie wählte seinen Apparat an. »Mister Willits, bitte warten Sie kurz!

Sie werden zu Mister Delano durchgestellt«, sagte sie.

Und Jack wartete.


Das Filmgelände von Monument Pictures lag in Burbank, unterhalb der
Universal-Studios, aber nicht so weit den Berg hinunter wie Warner
Bros. Das einige Quadratkilometer umfassende Terrain war rundherum
von Mauern umgeben; der Zugang war lediglich durch sieben bewachte
Tore möglich. Hinter diesen Toren verbargen sich riesige Bühnen und
Kulissenaufbauten, ein großer Parkplatz, Produktionsbüros, eine Mühle,
Andenkenläden, ein Kiosk sowie etliche Büros, Lagerhallen und sonstige
Räumlichkeiten, die für eine richtige Traumfabrik vonnöten waren.

Über der ganzen Anlage thronte hoch oben im Turm des Gleason-

Gebäudes das Büro von Jack Willits. Jack mochte sein Büro. Es war
groß und geräumig. Auf dem hellen Holzdielenboden lagen orientalische
Teppiche. Die dicken Mauern aus Lehmziegeln waren weiß getüncht und
leuchteten in der Sonne, die durch die drei Meter hohen Glastüren seines
privaten Balkons schien. Massive Kanthölzer waren im gleichen Abstand
an den Wänden angebracht wie die Trägerbalken unter der hohen Decke.

Jacks Schreibtisch war eigentlich ein riesiger, flacher Tisch aus

gebeiztem Holz, an dem bequem zwölf Leute Platz fanden, gequetscht
sogar sechzehn. Sein Laptop hatte darauf einen festen Platz. Daneben
stapelten sich Drehbücher und andere Schriftstücke, aber es blieb immer
noch genug Platz, um jederzeit Papiere oder Landkarten oder Verträge
ausbreiten zu können. Jack saß auf einem hochmodernen ergonomischen
Schreibtischstuhl aus butterweichem schwarzem Leder. Auf der einen
Seite des Raumes stand eine bequeme Couch mit einem niedrigen
Holztisch und drei mächtigen Sesseln. Auf der anderen bedeckten
Bücherregale die ganze Wand. In einer Ecke stand eine erstklassige
Stereo- und Videoanlage mit einem Plasmabildschirm.

In diesem Büro verbrachte Jack den Großteil seines Tages, weshalb es

komfortabel sein musste. Und das war es auch.

Er wollte es nicht verlieren.

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Aber im Augenblick war die Gefahr sehr groß.
»Jack?«
»Peter.«
»Wie steht's?«
»Immer dasselbe, und bei dir?«
»Es ging mir nie besser, mein Freund.«
»Das freut mich zu hören.« Eigentlich wünschte Jack seinem »Freund«

die Pest an den Hals. Allerdings nicht, solange er ihm noch von Nutzen
sein konnte.

»Letzte Zeit mal mit Geffen gesprochen?«, fragte Peter beiläufig.
»Vergangene Woche beim Tennis. Er hat gewonnen.«
»Beim Golf gewinnt er auch immer.«
Jack kicherte.
»Also«, sagte Peter. »Du wolltest mich sprechen.«
»Ich hab nur gedacht, ist schon 'ne Weile her, Pete, seit wir

voneinander gehört haben. Wollte nur mal Hallo sagen.«

»Klar, nett von dir!«
»Und was hat du im Moment so am Laufen?«
Eine kleine Pause. »Du weißt ja, wie das ist. Warren ist in der Prä-,

Julia in der Postproduktion. Kevin ist irgendwo zum Drehen unterwegs.
Hast du eine Ahnung, wie teuer es ist, so'n paar Pferde zu füttern? Und
Jimmy sucht nach einem großen Projekt, das nichts mit Schiffen oder
Wasser zu tun hat.«

»Kann man ihm nicht verdenken.«
»Und was läuft bei dir? Gibt's irgendwas, das wir zusammen machen

können?«

»Würde ich sehr gern. Ich habe ein paar hervorragende Drehbücher

hier. Vor meiner Tür scharren zwar schon die Anwärter mit den Hufen,
aber wenn du jemand Interessantes im Angebot hast, kann ich vielleicht
etwas für dich tun.«

Es war immer dasselbe Spiel. Wenn Jack den Eindruck erweckte,

dringend auf einen renommierten Regisseur oder einen Schauspieler mit
einem großem Namen angewiesen zu sein, dann würde er ihn nie
bekommen. Wenn er jedoch niemanden brauchte, fielen die Bewerber
regelrecht über ihn her.

Aber im Augenblick hatte Jack Hilfe bitter nötig. Monument Pictures

ging das Geld aus. Das Studio hatte in den letzten Jahren keinen
wirklichen Blockbuster, keinen bedeutenden Kassenknüller
hervorgebracht. Das hieß jedoch keineswegs, dass man nicht aktiv war:
Zwei Jahre zuvor erworbene Filme befanden sich noch im Produk-
tionsstadium. Im Vorjahr hatte das Studio vierzig Filme in die Kinos

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gebracht; siebenunddreißig sollten es in diesem Jahr werden. Natürlich
würden sie mit mindestens zwanzig davon Verluste machen. Bei den
anderen bekamen sie wahrscheinlich gerade mal ihr Geld wieder heraus.
Filme mit Aussichten auf realen Gewinn gab es nur ein oder zwei.

Jack benötigte dringend einen richtigen Hit. Die Hintermänner des

Konzerns hatten ihm sehr deutlich zu verstehen gegeben, er müsse sich
nach einem neuen Job umsehen, wenn er nicht innerhalb von zwölf
Monaten einen Volltreffer landete. Zwölf Monate waren in der Filmbran-
che nicht viel Zeit, und Jack war klar, dass er seine Brötchengeber mit
keinem der Streifen, die derzeit in Arbeit waren, zufrieden stellen
konnte. Deshalb musste er dringend etwas auf die Beine stellen. Er
brauchte einen Star, der in der Lage war, einem Film ein Gesicht zu
geben, und er brauchte ein Drehbuch, das den Stein überhaupt erst ins
Rollen brachte.

Beides konnte Peter Delano liefern.
Aber einfach danach fragen durfte Jack nicht.
»Dann schick mir doch mal was«, sagte Peter. »Ich werfe gern einen

Blick hinein. Ich suche noch nach einem Drehbuch, für das Rob die
Regie übernehmen kann.«

»Da habe ich genau das Richtige! Du hast es morgen auf dem

Schreibtisch«, versprach Jack.

»Ich freue mich schon drauf!«, entgegnete Peter.
»Und was macht Blake im Moment?«, fragte Jack. Blake Alten hatte

absolut das Format, einen Film tragen zu können, und zwar bis zum
Ende. Immerhin war er der größte Actionstar der Welt. Sein Name auf
dem Filmplakat war die Garantie für mindestens hundert Millionen
Umsatz an den Kinokassen. Und er gehörte zu den Schauspielern, nach
denen Jack nicht einfach so fragen konnte.

»Er ist gerade dabei, sich etwas auszusuchen«, sagte Peter. »Du weißt

ja, er hat immer einen Stapel großartiger Drehbücher auf dem Tisch.
Eine Entscheidung steht demnächst an. Warum, hast du was für ihn?«

»Ich seh mal nach und schick's dir«, sagte Jack. »Wir telefonieren

dann, ja?«

»Tun wir«, bestätigte Peter und legte als Erster auf.
Aber immerhin hatte er den Anruf entgegengenommen, worüber Jack

sehr froh war. Es gab ein ungeschriebenes Gesetz in Hollywood, und er
war mittlerweile nicht mehr allzu weit davon entfernt, persönlich damit
in Konflikt zu geraten. Wenn man dreimal bei jemandem anrief und
derjenige sich nicht zurückmeldete, konnte man ihn nur noch als Idioten
beschimpfen. Rief man allerdings zum vierten Mal an, machte man sich
selbst zum Depp.

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Das Ganze war ein einziger Balanceakt.
Ohne Netz und doppelten Boden.
Und abstürzen wollte Jack Willits auf keinen Fall.


Los Angeles war eine erstaunliche Stadt.

Mordractus hatte Irland seit über hundert Jahren nicht mehr verlassen

und war mit der übrigen Welt lediglich mit Hilfe von Fernsehen,
Zeitungen, Filmen und dem Internet in Kontakt geblieben. Nun aber fuhr
er tatsächlich am Steuer eines gemieteten Rolls-Royce mit offenem Ver-
deck über die breiten Boulevards; erfreute sich der Palmen, die wie
Hände an langen dünnen Armen in den Himmel griffen; fuhr am
Hollywood-Schild in den Bergen über der Stadt vorbei, an dem runden
Capitol Records-Hochhaus, das aussah wie ein Plattenstapel, und all den
berühmten Namen wie Sunset, Santa Monica, Doheny und Vine ... Es
war eine bemerkenswerte Erfahrung, wie er fand, und er bedauerte, eine
solche Reise nicht schon viel eher unternommen zu haben.

Obwohl er kaum sein Schloss verließ, hielt er sich für ziemlich

modern. Während er früher einmal Seidenroben getragen hatte, zog er es
mittlerweile vor, in dicken Pullovern und Jeans in seinem zugigen
Schloss zu residieren. Er bezog seine Kleidung über diverse
Versandhäuser, wobei seine Größe seit hundertfünfzig Jahren dieselbe
geblieben war.

Nach Los Angeles hatte er die dicken Pullover jedoch nicht

mitgenommen. Stattdessen trug er ein Baumwoll-Poloshirt, dunkle
Leinenhosen, ein leichtes Jackett aus weißer Rohseide und Leinenschuhe
ohne Strümpfe. Sein langes weißes Haar hatte er zu einem
Pferdeschwanz zurückgebunden. Seinem Aussehen nach würde man ihn
auf ungefähr sechzig schätzen, was er als sehr ärgerlich empfand, denn
bevor er mit dem Beschwörungsritual begonnen hatte, war er, was das
äußere Erscheinungsbild anging, gerade mal knackige fünfunddreißig
gewesen. Einzig seine Augen schienen nicht zu altern, die, wie einmal
jemand gesagt hatte, so blau waren wie der Himmel.

Aber dieses Kompliment hatte seinem Opfer nicht einmal für eine

Sekunde das Leben verlängert.

Die Sonne in seinem Gesicht fühlte sich toll an.
»Das hätte ich schon Vorjahren tun sollen!«, sagte Mordractus zu

David Currie, mit dem er den Beverly Drive entlangschlenderte. Currie
war einer der Menschen, die P'wrll bei seiner ersten Reise nach L.A.
begleitet hatten. Sein Partner Andrew Hitch wartete im Wagen. P'wrll
war mit dem restlichen Personal, das er von seiner Insel mitgebracht
hatte, in dem gemieteten Haus in den Bergen von Hollywood geblieben.

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Seit sie vor drei Wochen in der Stadt angekommen waren, hatte
Mordractus es sich zur Gewohnheit werden lassen, nachmittags die
Gegend zu erkunden. Am Vortag war Brentwood dran gewesen, am Tag
davor die Third Street Promenade in Santa Monica. Und nun Beverly
Hills.

»Es ist herrlich, nicht wahr?«, meinte Currie. Er war Engländer, kein

Ire, aber loyal und einfallsreich, weshalb Mordractus ihn bei sich
behalten hatte. Außerdem war sein widerspenstiges Haar so rot und seine
Wangen so rosig, dass er fast als Ire durchgehen konnte. Normalerweise
vertraute Mordractus den Engländern nicht und neigte – wenn sie ihm in
die Finger gerieten – eher dazu, sie zu töten, statt sie einzustellen.

Aber die Engländer waren ohnehin die längste Zeit ein Problem

gewesen, dachte er. Und nicht nur die Engländer. Was sollte eigentlich
das ganze Gerede von wegen, gebt Irland den Iren zurück? Sie konnten
es Mordractus auch einfach direkt übereignen.

Aber dazu war später noch genug Zeit. Heute wollte er nur den

Sonnenschein genießen und den Anblick hübscher Mädchen –
Schauspielerinnen und Möchtegern-Stars, wie er vermutete. Alle waren
gut gekleidet, schienen wohlhabend und ungebunden zu sein.

In Irland war alles anders gewesen. Zumindest in all den Jahren, die er

in Gesellschaft der Menschen verbracht hatte, bevor er sich in die
Abgeschiedenheit seiner Insel zurückgezogen hatte, um mit mächtigeren
Wesen zu verkehren.

Ein Paar Schuhe in einem Schaufenster erregte seine Aufmerksamkeit.

Das feine Leder glänzte, und sie sahen aus, als wären sie höchst bequem.

»Gehen wir mal kurz da rein«, sagte Mordractus zu Currie. »Will mal

diese Schuhe anprobieren.«

»Von mir aus«, willigte Currie ein.
Sie betraten den Laden, in dem es angenehm kühl war; klimatisiert wie

scheinbar ganz Los Angeles. Bis auf einen Verkäufer, der mit einem
Handy am Ohr hinter der breiten Theke stand, war der Laden
menschenleer. Mordractus sah sich eine Weile die Schuhe in den
Regalen an – alle sehr teuer und offenbar von hoher Qualität – und
entdeckte dann die gleichen, die er im Schaufenster gesehen hatte. Er
nahm sie aus dem Regal und winkte dem Verkäufer. Als dieser jedoch
keine Anstalten machte, das Gespräch zu beenden, rief Mordractus laut:
»Entschuldigen Sie bitte!«

Der junge Mann, Anfang zwanzig vielleicht, in einem gut sitzenden

Anzug mit eng geschnittenem Bein und einem Jackett mit vier Knöpfen
betrachtete ihn durch die gelben Gläser seiner Sonnenbrille und zeigte
auf das Handy.

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»Ja, ja, ich weiß. Sie telefonieren, junger Mann!«, sagte Mordractus.

»Aber ich stehe hier im Laden, habe viel Geld in der Tasche und möchte
gern diese Schuhe in meiner Größe anprobieren.«

Der Verkäufer seufzte hörbar. »Kundschaft«, sagte er ins Telefon.

»Also, jedenfalls hat Gus

am Samstagabend noch gesagt, er will sie nie

wieder sehen, und bereits am Sonntag stand er bei ihr vor der Tür, mit
Blumen und Pralinen und so ...«

»Entschuldigen Sie!«, versuchte Mordractus es erneut.
Diesmal drehte sich der Verkäufer um und wandte ihm den Rücken zu.

»Und sie hat ihm die Tür aufgemacht, kannst du das glauben? Und ihn
mit offenen Armen empfangen. Aber dann, am Sonntagabend ...«

Mordractus stellte die Schuhe wieder ins Regal.
»Gehen wir!«, sagte er.
Als Currie die Tür öffnete, rief ihnen der Verkäufer hinterher:

»Schönen Tag!«

»Ebenso!«, antwortete Mordractus ruhig. »Es wird nämlich dein letzter

sein.«

Auf dem Gehsteig vor dem Laden blieb er stehen. Die

Spätsommersonne traf ihn mit voller Wucht, aber er spürte sie nicht. Er
schloss die Augen und konzentrierte sich. Dann murmelte er etwas, das
nicht einmal Currie, der direkt neben ihm stand, verstehen konnte.
Während er sprach, malte er mit dem rechten Zeigefinger irgendwelche
Zeichen in die Luft.

Und im nächsten Augenblick war auch schon alles vorüber.
Schweißperlen standen auf seiner Stirn, und er wischte sie mit

zitternder Hand fort. Das war sehr anstrengend gewesen – anstrengender,
als er erwartet hatte. Offenbar ließ seine Kraft immer mehr nach. Er
musste sich mit seinem Vorhaben beeilen.

Im Laden war der Verkäufer immer noch in sein Telefonat vertieft.
Zunächst bemerkte er die Kopfschmerzen kaum, die sich hinter seinen
Augen auszubreiten begannen.

Bei Ladenschluss sollte es bereits eine ausgewachsene Migräne sein.
Und spätestens gegen Mitternacht würde er tot sein.


Als sie langsam zum Wagen zurückgingen, stützte sich Mordractus auf
Curries Arm und kicherte leise in sich hinein.

Vielleicht hatte er ja Zeit, am nächsten Tag noch einmal

wiederzukommen, um zu testen, ob der neue Verkäufer bereit sein
würde, ihm die richtige Größe herauszusuchen.

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3






Spät am selben Abend sah Mordractus Angel zum ersten Mal mit
eigenen Augen.

Seine Günstlinge hatten seine Adresse ausfindig gemacht. Angel

Investigations. Mordractus musste sich das Lachen verkneifen. Wenn es
sich tatsächlich um den guten alten Angelus handelte, dachte er, sollten
seine Klienten lieber ihre Ringe zählen, nachdem sie ihm zum
Vertragsabschluss die Hand geschüttelt hatten.

Mordractus saß auf der Rückbank eines gemieteten Vans mit getönten

Scheiben. Hitch und Currie waren mit ihm zu einer Baustelle gefahren,
damit der Wagen schmutzig genug aussah, um in Angels Straße nicht
aufzufallen. Nun parkte er auf der anderen Straßenseite in Höhe der Tür,
durch die Angel und seine Freunde das Haus betreten hatten.

Es gab auch eine Hintertür, die vom Parkplatz aus zugänglich war, auf

dem der Vampir seinen schwarzen Kabrio abgestellt hatte. Und es
musste, wie Hitch erklärte, noch einen weiteren Eingang geben, denn
manchmal schien Angel zu kommen und zu gehen, ohne eine der beiden
Türen zu benutzen. Aber wie sehr sie sich auch bemühten, einen
weiteren Zugang zum Haus hatten sie nicht finden können.

Mittlerweile war es schon eine ganze Weile dunkel. Nach dem Besuch

des Schuhgeschäfts hatte sich Mordractus in sein Quartier in den Bergen
von Hollywood fahren lassen, wo er mehrere Stunden tief und fest
geschlafen hatte. Angel käme tagsüber nicht aus dem Haus, hatte ihm

Hitch versichert. Natürlich, das wusste Mordractus auch selbst! Es

wäre glatter Selbstmord für einen Vampir! Besonders an einem Ort wie
Los Angeles. Zu Hause in Irland war dies vielleicht für kurze Zeit
machbar, denn das Sonnenlicht wurde dort oft von Nebel verdeckt. Ob es
in Kalifornien überhaupt Nebel gab, davon würde sich Mordractus erst
noch mit eigenen Augen überzeugen müssen.

Nun warteten sie bereits seit fünf Stunden vor Angels Büro. Es war

schon nach zwei Uhr morgens. Mordractus hatte ganz steife Beine vom
Sitzen bekommen. Wozu war ein Vampir gut, der nicht nach draußen
ging?, fragte er sich. Hatte er denn keinen Hunger?

»Er kommt einfach nicht raus«, sagte Hitch, als könne er Gedanken

lesen, was natürlich unmöglich war. Mordractus achtete strengstens
darauf, niemanden mit derlei Fähigkeiten einzustellen.

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»Dann holen wir ihn eben!«, entgegnete er nach reiflicher Überlegung.

Er schloss die Augen und vollzog zum zweiten Mal an diesem Tag das
Beschwörungsritual.

Nach einer Weile öffnete er die Augen wieder und beobachtete das

Fenster von Angels Büro. Neben diesem erschien plötzlich so etwas wie
eine Wolke aus grünlichem Rauch. Sie schwebte ans Fenster, und es
ertönte ein leises klopfendes Geräusch, das Mordractus in dem
geschlossenen Van nur mit Mühe wahrnehmen konnte. Als das Klopfen
erstarb, verschwand auch die Wolke.

Mordractus ließ sich erschöpft in den Sitz sinken.
Wenig später wurde das Rollo vor Angels Bürofenster auseinander

geschoben, und ein Gesicht erschien am Fenster. Jemand schaute heraus,
ein Mann mit schwarzem Haar. Er sah die Straße hinauf und hinunter, als
halte er nach jemandem Ausschau, der geklopft haben könnte. Er sagte
etwas, das Mordractus nicht verstehen konnte.

Aber dieser Mann war nicht Angel!
Er trat vom Fenster zurück, und das Rollo wurde von einem anderen

Mann zur Seite geschoben. Dieser war größer als der erste, schlank und
kräftig. Als er das Fenster geöffnet hatte, streckte er den Kopf heraus.
Auch er sah nach links und rechts.

»Er ist es wirklich!«, flüsterte Mordractus. »Angelus! Schon ewig

lange keinen Fuß mehr auf Heimatboden gesetzt, nicht wahr, mein
Junge?«

Angelus!, dachte er. Die Geißel Europas! Hier in den Vereinigten

Staaten, nach all den Jahren, und dazu noch mit Seele.

Höchst erstaunlich!


Angel sah aus dem Fenster. Auf der Straße war niemand. Ein paar Autos
parkten am Straßenrand, aber es gab nichts Ungewöhnliches zu sehen.
Doyle war nach dem merkwürdigen Klopfen ans Fenster getreten, hatte
aber auch niemanden entdeckt und sich kopfschüttelnd wieder
hingesetzt.

Da nahm Angel plötzlich einen Geruch wahr und zog schnuppernd

Luft durch die Nase.

Ein schwacher Hauch von Ozon hing in der Luft, wie nach einem

Blitz.

Oder so, als wären magische Kräfte am Werk gewesen.
Angel lehnte sich noch ein Stück weiter aus dem Fenster, als plötzlich

hinter ihm ein Grauen erregender Schrei ertönte.

Er drehte sich ruckartig um und schloss rasch das Fenster.

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27

Doyle lag auf dem Boden und hielt sich mit beiden Händen den Kopf.

Er krümmte sich vor Schmerz.

Cordelia starrte ihn mit großen Augen an. Sie hatte die ganze Zeit

Karten mit ihm gespielt, obwohl sie im Geiste eigentlich schon längst
unterwegs nach Hause war. Aber nun hatten sie schon seit Stunden
»noch eine letzte Runde« ausgegeben.

Und jetzt hatte Doyle eine Vision!
»Wurde aber auch Zeit«, bemerkte Cordelia.
Doyle stöhnte. »Ein bisschen mehr Mitgefühl bitte, Cordy«, sagte er.

»Du hast ja keine Ahnung ...«

»Dann tut dir eben dein kleiner Kopf weh«, sagte sie. »Wenn es am

Ende einen Scheck dafür gibt, ist es die Sache ja wohl wert, findest du
nicht? Aber ist auch egal. Was du denkst, spielt sowieso keine Rolle. Du
bist ja in dieser Angelegenheit kein unparteiischer Beobachter.«

»Jetzt halt mal die Luft an, Cordy«, sagte Angel und beobachtete, wie

Doyle sich auf dem Boden wälzte. »Es sieht aus, als täte es wirklich
furchtbar weh.«

Cordelia seufzte. »Sieht so aus.«
Mit einem letzten Stöhnen nahm Doyle die Hände von seinen

Schläfen.

»Ohhh«, stieß er hervor. »Diesmal war es aber wirklich schlimm.« Er

setzte sich auf und Angel half ihm auf die Beine.

»Was war es?«, fragte er.
»Ein Mädchen«, sagte Doyle. »Sehr hübsch, sehr jung.«
»Oh, und du musstest nicht mal das Haus verlassen, um ihr

hinterherzuspionieren«, meinte Cordelia. »Hast du ein Glück!«

»Cordy!«, rief Angel warnend.
Cordelia fuhr sich mit den Fingern über den Mund, als verschließe sie

ihn mit einem Reißverschluss.

»Sie ist in Schwierigkeiten, Angel«, fuhr Doyle fort. »Was es genau

ist, weiß ich natürlich nicht.«

»Hast du einen Namen bekommen? Einen Ort?«
»Sie ist in einem Club. Es gab laute Musik, Tanzmusik. Es war

schrecklich – alles war pink und an den Wänden ist so was wie Zucker.
Sogar die Lampen sehen aus wie überdimensionale Zuckerwürfel.«

»Sugar Town!«, rief Cordelia. »Das ist im Moment der heißeste Club

in der Stadt. So heiß, dass sogar ich schon da war. Nächsten Monat wird
er schon wieder total out sein – weiß dieses Mädchen eigentlich, was es
tut? Sie geht in einen Laden, der auf dem absteigenden Ast ist! Kein
Wunder, dass sie in Schwierigkeiten steckt!«

»Wo ist das?«, fragte Angel.

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»In Hollywood«, entgegnete Cordelia. »In einer der Seitenstraßen vom

Sunset Boulevard.«

»Ich werde es finden«, sagte Angel. Er schenkte Doyle ein Glas

Wasser aus dem großen Spender an der Wand ein. »Was ist mit dem
Mädchen, Doyle? Was kannst du mir über sie erzählen?«

»Sie ist jung, wie ich schon sagte«, erklärte Doyle mit aschfahlem

Gesicht. Er nahm erst einen kleinen Schluck Wasser, dann einen großen.
»Danke! Sie ist sechzehn oder vielleicht siebzehn. Rotes Haar,
hochgesteckt. Sie trägt die Frisur und das Make-up einer Erwachsenen,
aber darunter verbirgt sich das Gesicht eines Kindes. Sie hat ein' grünes
Kleid an, glaube ich, vielleicht in einem dunklen Waldgrün. Helle Haut,
blaue Augen. Ein wunderschönes. Mädchen!«

»Ich werde sie finden«, sagte Angel.


Der Verkehr in Los Angels war unkalkulierbar, egal ob tagsüber oder
nachts, aber gerade war zum Glück nicht viel los und Angel schaffte den
Weg nach Hollywood in zwanzig Minuten. Auf dem Sunset Boulevard
fuhren natürlich viele Autos – das war immer so. Und Parkplätze waren
Mangelware. Aber Angel fand das Sugar Town in einer kleinen
Seitenstraße ein paar Blocks den Berg hinauf. Er stellte den Wagen
vorschriftswidrig in einer Gasse ab, stürmte im Eiltempo in den Club
und warf dem Türsteher im Vorbeilaufen einen Geldschein zu.

Doyle hatte Recht gehabt: Der Laden war schrecklich. Er sah aus, als

wäre er in den 60er Jahren von demselben Typen ausgestattet worden,
der auch Barbie's Traumhaus entworfen hatte. Angel hatte noch nie so
viele unterschiedliche Pinktöne gesehen, besonders nicht gleichzeitig an
einem Ort. Die einzige Erholung für das Auge -Erholung im weitesten
Sinne – boten die diversen Orange- und Rottöne, in denen die Polster der
Sitzecken gehalten waren. Zum Glück war das Licht schummrig – sonst
hätte es Angel dort sicherlich überhaupt nicht ausgehalten.

Aber die Lampen sahen, wie Doyle beschrieben hatte, tatsächlich wie

Zuckerwürfel aus. Angel schüttelte den Kopf, aber das Bild ließ sich
nicht verscheuchen.

Es herrschte Hochbetrieb, und das um halb drei in der Nacht. Cordy

hatte Recht gehabt, hier ging es heiß her. Die Leute drängten sich dicht
an dicht auf der Tanzfläche, andere saßen an Tischen mit Drinks vor
sich, die so farbenfroh waren wie die Dekoration – ohne Alkohol zu
dieser Tageszeit, denn nach zwei Uhr wurden keine alkoholischen
Getränke mehr ausgeschenkt. Viele der Gläser zierten bunte Schirmchen.
Die Besucher waren überwiegend junge Trendoide, deren dunkle
Kleidung in lebhaftem Kontrast zu den leuchtenden Farben des Interieurs

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stand. Viele Spitzbärte, viele kahl rasierte Schädel, viele Brillen mit brei-
ten Fassungen. Angel konnte kein junges Mädchen entdecken, auf das
Doyles Beschreibung zutraf, aber es war auch unmöglich, den ganzen
Club zu überblicken. Mit einem Stoßseufzer drängte sich Angel weiter
vorwärts.

Die wummernde Techno-Musik hämmerte auf ihn ein, und die Farben

und Lichter attackierten seine Augen. Aber trotz allem schob er sich
durch die Menge und sah in jedes Gesicht, besonders wenn er irgendwo
rotes Haar entdeckte. Bei fast jedem Schritt rempelte er jemanden an und
sagte öfter »Entschuldigung« als in den vergangenen vier Monaten
zusammen. Er drehte zwei Runden durch den Club.

Sie war einfach nicht da. Doyle hatte vielleicht etwas übersehen. Oder

sie war da, und Angel übersah sie.

Er drehte sich zur Tür um.
Und entdeckte sie.
Wie Doyle gesagt hatte, trug sie ihr leuchtend rotes Haar zu einem

Knoten aufgesteckt und ein enges Kleid aus glänzendem dunkelgrünem
Stoff. Sie war unterwegs zum Ausgang. Zwei Männer hielten sie links
und rechts an den Armen; fest genug, um ihr wehzutun und sie zum Mit-
kommen zu bewegen.

»Hey!«, rief Angel. Er rannte auf die Tür zu. Aber es gab viel zu viele

Leute um ihn herum - er musste sich durch sie hindurchschlängeln,
wobei er diesmal auf Entschuldigungen verzichtete. Er stieß jemandes
Glas um und wurde obszön beschimpft.

Aber das kümmerte ihn nicht. Das Mädchen war nun draußen und

damit aus seinem Blickfeld verschwunden. Wenn vor der Tür ein Auto
auf sie gewartet hatte, war sie jetzt fort.

Und Angel hatte nichts für sie tun können.
Bei seiner Ankunft war der Club auch schon gut besucht gewesen, aber

mittlerweile war er wirklich rappelvoll, und bei jedem Schritt stand
Angel jemandem im Weg.

Wäre sie ihm erst gar nicht unter die Augen gekommen! Dann hätte er

sich einreden können, dass sie Doyles Vision irgendwie falsch
interpretiert hatten – dass hier und heute gar kein Mädchen in Not war.
Aber da sie sich wirklich im Club aufgehalten hatte – ganz zu schweigen
von den beiden riesigen Bodybuildern, die sie rausgeführt hatten –,
musste er davon ausgehen, dass Doyles Vision wie gewöhnlich sehr
präzise gewesen war.

Er musste sie finden!
Endlich hatte er das Gedränge hinter sich und schob sich auf den

Ausgang zu. Draußen angekommen, wirkte die Straße nach dem brutalen

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Lärm im Club gespenstig ruhig. Nichts bewegte sich. Lediglich das leise
Brummen der Autos, die zwei Blocks weiter über den Sunset Boulevard
fuhren, war zu hören.

Angel blieb regungslos stehen. Statt womöglich in die falsche

Richtung zu laufen, konzentrierte er sich und lauschte.

Plötzlich hörte er etwas. Stimmen! Aber er konnte nicht ausmachen,

woher sie kamen. Da niemand auf der Straße zu sehen war, mussten sie
aus einer der Seitenstraßen oder von dem Parkplatz herüberschallen, der
sich an der nächsten Kreuzung auf der gegenüberliegenden Straßenseite
befand. Dort stand als einzige Lichtquelle ein großes beleuchtetes Schild
mit der Aufschrift »PARKEN 5.00 $«.

»... uns egal, ob wir dir gefallen oder nicht. Wir haben einen Job zu

erledigen, und es nützt gar nichts, wenn du uns abhaust«, sagte eine
Männerstimme.

»Du gefällst uns auch nicht so besonders, um die Wahrheit zu sagen«,

sagte eine zweite Stimme. Sie war ebenfalls männlich.

»Das ist mir ganz egal!«, sagte eine dritte. Sie war jung und weiblich.

Bockig. Das musste die Rothaarige sein, dachte Angel. Sie klang wie ein
verängstigtes Kind.

Er sprintete auf die Stimmen zu.
»... Zeit, dass dir jemand mal eine Lektion erteilt...«, sagte die erste

Stimme.

Angel kam auf den voll belegten Parkplatz. Die Autos standen auf

nummerierten Plätzen. Auf der anderen Seite hob sich ein großer
schwarzer Jeep Cherokee aus der Menge ab, und dahinter bewegte sich
etwas. Durch die getönten Scheiben konnte Angel nicht viel mehr als
eine verschwommene Gestalt erkennen. Dann hörte er etwas, das
verdammt nach einer Ohrfeige klang.

»Hey!«, rief das Mädchen. »Mein Dad wird euch ...«
»Wir werden sowieso gefeuert«, meinte einer der Männer verächtlich.
Angel tauchte neben dem Jeep auf. »Und das verdient ihr auch!«, sagte

er.

Beide Männer wirbelten völlig verdattert herum. »Wer...?«
Einer von ihnen hatte gerade wieder zu einem Schlag ausholen wollen.

Die junge Frau lehnte an dem Cherokee, Blut rann aus ihrem Mund, und
ihre Wange rötete sich bereits von dem Schlag. Hoffentlich war es
wirklich nur eine Ohrfeige gewesen!, dachte Angel. Diese Typen waren
Ende zwanzig und sehr stark, sie hingegen war höchstens siebzehn oder
achtzehn. Wie Doyle gesagt hatte, sah sie aus wie ein Kind, das sich mit
teuren Klamotten, Frisur und Make-up verkleidet hatte. Aber das alles

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konnte nicht über ihr jugendliches Gesicht und die Angst in ihren Augen
hinwegtäuschen.

»Was ist hier los?«, fragte Angel.
»Diese Typen schlagen mich«, sagte das Mädchen schnell. »Eigentlich

sollen sie mich bewachen, aber stattdessen verprügeln sie mich.«

»Nur ein leichter Klaps«, widersprach der eine von ihnen. Er trug ein

schwarzes langärmliges Seidenhemd, Jeans und teure Laufschuhe an den
Füßen. Sein Kopf war kahl rasiert. Sein Partner war von ähnlichem
Kaliber. Allerdings trug er ein buntes Hawaii-Hemd, und sein Haar war
länger, glatt und surferblond.

Der Zweite hob beschwichtigend die Hände und sagte zu Angel: »Kein

Problem, Kumpel. Wir sind für die Kleine zuständig, wir bringen sie
nach Hause. Das ist unser Job.«

»Glaub' ich nicht, Kumpel«, entgegnete Angel.
»Bitte lass mich nicht mit denen allein!«, schluchzte das Mädchen.
»Mann!«, protestierte der Erste, »du weißt ja gar nicht, was hier Sache

ist. Die Kleine macht uns das Leben zur Hölle. Wir waren in einem
Laden sechs Blocks entfernt von hier, und sie hat gesagt, sie geht zur
Toilette. Wir hatten Glück, dass der Türsteher sie gesehen hat, wie sie
nach draußen abgehauen ist. Er hat es uns gesteckt.«

»Und dann seid ihr hinter ihr her! Habt wohl gedacht, ihr könntet sie

ein bisschen prügeln«, sagte Angel. »Die Tatsache, dass sie nur ein
kleines Mädchen ist, ihr aber professionelle Muskelmänner seid, spielt
wohl keine Rolle?«

»Tatsache ist, Kumpel, es geht dich nichts an«, zischte der Surfer.

»Wenn du dich einmischst, wirst du es bereuen.«

Angel wusste, was jetzt kam. Es hatte einen Moment gegeben, in dem

alles noch ohne Gewalt zu regeln gewesen wäre. Dieser Moment war
allerdings vergangen, und nun gab es nur noch einen möglichen Ausgang
für die Geschichte. Angel erkannte es in den Augen seines Gegenübers,
die sich zu Schlitzen verengt hatten, und an seiner geduckten,
angespannten Haltung. »Damit könntest du ganz richtig liegen«, sagte
Angel. »Ich habe schon viele verrückte Sachen gemacht. Wahrscheinlich
immer noch nicht genug.«

Zumindest hatte einer von den beiden ein minderjähriges Mädchen

geschlagen. Angel wusste, dass ihm das die Sache erleichtern würde.

Er überließ es dem Surfer, den ersten Schritt zu machen. Der Typ kam

rasch auf ihn zu und verpasste ihm mehrere kurze heftige Faustschläge in
den Magen. Angel steckte sie ein und versuchte abzuschätzen, wie stark
sein Gegner war und was er draufhatte.

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Er war stark und gut. Seine Hiebe trafen nicht auf Angels

Rippenknochen, sondern direkt in seinen Solarplexus. Jeden sterblichen
Mann hätte das sofort aus den Schuhen gehauen.

Nachdem er ein paar Schläge abbekommen hatte, fing Angel die Faust

des Gegners mit der Hand ab und zog den Typen ganz dicht zu sich
heran. Überrascht von Angels Kraft, riss der Surfer die Augen weit auf.
Angel drückte immer fester zu, bis er spürte, wie in der Hand des Geg-
ners kleine Knöchel brachen.

»Kommt ihr nie mehr zu nah!«, flüsterte Angel ihm zu. »Wenn doch,

werde ich davon erfahren. Und dann werdet ihr es bereuen.«

Er ließ den Surferkumpel los, der sofort zurückwich, den Kopf

schüttelte und seine Hand schützend vor dem Körper barg. Vor Schmerz
hatte er Tränen in den Augen. Angel verspürte zwar leichte
Schuldgefühle, weil er es so weit hatte kommen lassen, aber die
Maßnahme schien zu greifen. Der Surfer hatte den Kampf angefangen,
und sein Partner schien nicht gewillt zu sein, da weiterzumachen, wo er
aufgehört hatte.

»Kum ... Kumpel!« Der Surfer stotterte leicht. »Er hat mir meine

verdammte Hand gebrochen, Kumpel.«

Der Freund des Surfers wich vor Angel zurück. »Du willst sie, Mann?

Dann nimm sie!«, sagte er. »Sie gehört dir allein. Aber der Jeep ist
meiner.«

»Stimmt das?«, fragte Angel das Mädchen.
Sie nickte und wischte sich die Tränen von den Wangen.
»Dann verschwindet damit!«, befahl Angel. »Und kommt mir nicht

noch mal unter die Augen!«

Die beiden Männer stiegen hastig ein. Der Kahle kletterte hinters

Lenkrad, startete und fuhr den Wagen vom Parkplatz. Das Letzte, was
Angel von ihnen sah, waren die Rücklichter, als sie auf den Sunset
Boulevard einbogen.

»Alles in Ordnung?«, fragte Angel.
Die Kleine schniefte. »Glaube schon.« Ihre Augen füllten sich erneut

mit Tränen, und sie schreckte voller Panik auf, als weiter unten auf der
Straße ein Automotor aufheulte. »Bitte lass mich nicht hier allein!«, bat
sie und griff nach Angels Arm. »Vielleicht kommen die ja zurück!«

»Keine Sorge«, versicherte er ihr. »Willst du mir nicht sagen, um was

es eigentlich geht?«

In dem schwachen Licht des Parkplatz-Schildes sah sie sehr jung aus.

Sie hatte die Augen weit aufgerissen, und ihre runden Wangen glänzten
vor Tränen. Doyle hatte sie als hübsch beschrieben, zu Recht. In ein paar
Jahren, lautete Angels Prognose, würde sie der absolute Knaller sein.

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Und da sie sich in Los Angeles befanden, würde sie auch viel

Geschick darin entwickeln, mit Hilfe ihres Aussehens das zu bekommen,
was sie wollte.

»Dave hat die Wahrheit gesagt, das sind meine Aufpasser. Daddy

nennt sie Bodyguards, aber ich finde, sie sind eher Anstandswächter oder
Babysitter. Ich bin gar nicht wirklich in Gefahr – Daddy will einfach nur
sichergehen, dass ich nichts tue, was ihm nicht passt.«

»Wie alt bist du?«
»Einundzwanzig«, antwortete sie. Offenbar hatte sie sich nun wieder

ein wenig entspannt und ihre Angst in den Griff bekommen.

Genug jedenfalls, um lügen zu können.
Angel sah sie einfach nur an. Ja, klar, dachte er, und ich bin erst

einhundertzehn!

»Ich habe einen Personalausweis.«
»Ganz bestimmt hast du einen. Und der ist mit Sicherheit eine

großartige Fälschung.«

»Neunzehn«, räumte sie ein. Angel sah sie durchdringend an. »Na ja,

fast achtzehn. Im November.«

»Also bist du jetzt siebzehn. Und es ist fast drei Uhr morgens. Dein

Vater scheint dir ja ziemlich viel zu erlauben.«

»Er weiß, dass ich an einem Samstagabend auf gar keinen Fall zu

Hause bleibe. Aber er hofft, mir jeden Spaß zu verderben, indem er diese
Wachhunde hinter mir herhetzt.«

»Das kann ich ihm nicht verdenken.«
»Ach, toll! Und ich dachte schon, du wärst auf meiner Seite!«
»Ich stehe auf niemandes Seite«, erklärte Angel. »Ich finde nur,

erwachsene Männer sollten keine jungen Mädchen schlagen.«

»Nun, da sind wir uns ja wenigstens in einem Punkt einig«, sagte sie.

Im Verlauf des Gesprächs schien sie immer selbstbewusster zu werden -
sie wirkte nun viel älter, als sie in Wirklichkeit war, vielleicht sogar
älter, als sie erscheinen wollte. »Die waren sauer, weil ich dafür sorge,
dass sie sich ihr Geld wirklich verdienen müssen«, fuhr sie fort. »Und
vermutlich hatten sie Angst, gefeuert zu werden, wenn ich ihnen
entwische und Daddy es herausfindet. Sie hatten nichts mehr zu
verlieren, als sie ihre Aggressionen an mir auslassen wollten.«

»Jetzt sind wir sie ja los. Und ich sollte dich wohl besser nach Hause

bringen. Um diese Zeit darfst du hier allein gar nicht mehr rumlaufen,
nicht in deinem Alter. Wie heißt du eigentlich?«

»Karinna«, antwortete sie. Sie lächelte höflich und streckte Angel wie

ein Kind, das gerade erst gelernt hat, sich zu benehmen, eine kleine, zarte
Hand entgegen. Angel schüttelte sie. »Karinna Willits.«

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»Freut mich, dich kennen zu lernen, Karinna Willits. Ich bin Angel.«
»Angel«, wiederholte sie. »Wie passend.«
»Gehen wir!«, sagte Angel. »Wenn mein Wagen nicht abgeschleppt

wurde, steht er noch in der Seitenstraße da hinten.«

»Ohhh«, machte Karinna. »Was führst du doch für ein gefährliches

Leben!«


































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4






»Wie ist er denn so, dein Vater?«

Sie saßen in Angels Auto und fuhren Richtung Bel Air. Das Verdeck

war heruntergeklappt, und die kühle Nachtluft fegte über sie hinweg. In
dem Bemühen, so weit wie möglich von Angel abzurücken und sich so
gut es ging vor dem Wind zu schützen, schmiegte sich Karinna an die
Beifahrertür.

»Ich weiß nicht, er ist einfach ein Vater. Er stellt gern Regeln auf und

setzt gerne Grenzen. Bis Mitternacht zu Hause sein, keine Jungs mit
Piercings, und die Schule darf nicht öfter als zweimal im Jahr zu Hause
anrufen, solche Sachen.«

»Bis Mitternacht zu Hause?«, wiederholte Angel. »Heute aber nicht.«
»Nun ja, dieses Gesetz ist schon vor langer Zeit auf der Strecke

geblieben.«

»Aber das mit den gepiercten Jungs scheint doch eine gute Sache zu

sein. Wenigstens im Moment.«

»Früher gehörten auch Tattoos dazu, bis Mum ihn überredet hat, sich

selbst eins machen zu lassen.«

»Dein Vater hat ein Tattoo?«
Karinna lächelte. »Es ist cool, eine Rose mit dornigem Stiel. Eine von

den Dornen sieht so aus, als steche sie in seinen Arm, und an dieser
Stelle ist ein Blutstropfen. Er hat das Tattoo auf dem Bizeps. Ich will ihn
schon die ganze Zeit dazu überreden, sich die Augenbraue piercen zu
lassen, aber er will nicht mal darüber reden.«

»Ich muss sagen, ich bin überrascht«, sagte Angel. »Klingt doch, als

wäre er ganz okay.«

»Ist er wohl auch. Wie ich sagte, für einen Vater jedenfalls. Aber der

Vater meiner Freundin Jasmine ist ganz anders. Den nennen wir alle
Albert, und wir dürfen bei ihm im Keller rumhängen und Videos gucken
– was wir wollen, weißt du? Er und Shyla, also Jasmines Stiefmutter,
sind echt cool. Traumeltern, wie sie sich jeder von uns wünscht.«

»Ich weiß, ich höre mich sehr alt an, wenn ich das jetzt sage«, fing

Angel an, »aber trotzdem habe ich Recht. Wenn du erwachsen bist, wirst
du merken, dass wohl doch diejenigen Eltern die besten sind, denen du
so wichtig bist, dass sie eben Grenzen setzen und dir zu verstehen geben,
welche Erwartungen sie in dich setzen.«

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»Du hast wirklich Recht.«
»Habe ich?«
»Du klingst alt. Bist du das auch?«
Angel musste grinsen. »Du würdest es nicht glauben, wenn ich es dir

sage.«

Er bremste ab, um in die bewachte Einfahrt von Bel Air einzubiegen,

einer der wohlhabendsten Gemeinden in einer der wohlhabendsten
Gegenden in einem der wohlhabendsten Länder der Welt. Es gab
wahrscheinlich mehr Geld innerhalb der Mauern von Bel Air als in der
Hälfte der Länder dieses Planeten zusammen, vermutete Angel. Er hatte
noch nie Gelegenheit gehabt, hinter diese Mauern zu blicken, die diese
Enklave der Privilegierten umgaben, und er erwartete Probleme mit dem
Wachposten.

Aber der Uniformierte trat nur aus seinem kleinen Wachhäuschen,

lächelte Karinna an, salutierte und sagte: »Morgen, Ms. Willits!«

Als wäre es nicht schon fast vier Uhr morgens und sie keine

Siebzehnjährige, die im Wagen eines Fremden vorfährt! Wer war dieses
Mädchen?, fragte sich Angel.

»Hallo, George«, antwortete Karinna. Als Angel mit einen leichten

Kopfnicken vorbeifuhr, sagte Karinna: »Das ist George.«

»Das habe ich bereits aus der Situation geschlossen«, sagte Angel.

»Das tun wir Privatdetektive so. Wir kriegen einen Hinweis, und aus
dem ziehen wir Rückschlüsse und finden Antworten auf die wirklich
schwierigen Rätsel wie dieses hier gerade.«

»Du bist so'n richtiger Klugscheißer, nicht wahr?«, meinte Karinna.
Angel blickte nachdenklich drein – oder versuchte es wenigstens.

»Nein, ich glaube, so hat mich noch nie jemand bezeichnet.«

Sie lachte zum ersten Mal, und Angel gefiel der Klang ihrer Stimme.

Nun war sie endlich sie selbst. Als hätte sie in diesem Augenblick
vergessen, dass sie eigentlich älter wirken wollte.

Hinter dem Tor dirigierte Karinna Angel eine breite Allee hinauf, die

sich zwischen imposanten Gebäuden hindurchschlängelte, die
größtenteils durch Bäume und riesige Rasenflächen von der Straße
abgeschirmt waren und gelegentlich auch von Mauern und Zäunen
umgeben wurden. Als fühlten sich die Bewohner durch die allgemeinen
Sicherheitsvorkehrungen nicht ausreichend geschützt.

»Was machen deine Eltern?«, fragte Angel.
»Mom hat keine richtige Arbeit in dem Sinne, aber sie sitzt in den

Vorständen von achtzehn Wohltätigkeitsverbänden. Dad ist der Chef von
Monument.«

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»Monument?« Angel ging im Geiste alle möglichen Firmen durch, die

dieses Wort im Namen trugen.

»Monument Pictures! Das Filmstudio!«
Angel war beeindruckt. »Ach so!«
»Immerhin besser als Privatdetektiv.«
»Ach, ich weiß nicht«, meinte Angel.
»Lebst du denn auch an so einem schönen Ort?«
Angel betrachtete die riesigen Villen – beziehungsweise das, was er

von ihnen von der Straße aus erkennen konnte. Er dachte an seine
Wohnung in einem Viertel von L.A., das die meisten Leute nach
Sonnenuntergang nicht einmal betreten wollten. In Sunnydale hatte er in
einem Herrenhaus gelebt, aber es war nicht unbedingt besser gewesen als
die Wohnung in der City. Alles hatte eben seine schlechten, aber auch
seine guten Seiten. »In jüngster Zeit nicht«, antwortete er auf Karinnas
Frage.

»Das hab ich mir gedacht. Und was ist das eigentlich für ein Auto?«
Angel warf einen Blick auf die breite Motorhaube seines 1968er

Plymouth Belvedere GTX. »Das ist ein Klassiker«, entgegnete er.
»Jedenfalls ist Geld nicht alles.«

»Jetzt klingst du schon wieder sehr alt«, bemerkte Karinna. »Und

übrigens: Sag so etwas nicht in Gegenwart meines Vaters. Er lässt dich
sofort in eine Anstalt einweisen.«

»Er mag Geld, hm?«
»Wenn du ihn fragst, was er in seinem Leben liebt, wird er dir mich,

meine Mutter, Filme und Geld aufzählen. Aber frag ihn lieber nicht nach
der Reihenfolge!« Sie dachte kurz nach. »Nein, ich nehme das zurück.
Filmemachen steht ganz oben auf der Liste. Die restlichen drei Plätze
können wir ausknobeln.«

Gemäß ihrer Anweisung steuerte Angel den Wagen auf ein

verschlossenes Tor zu. Karinna beugte sich vor und reckte sich an Angel
vorbei aus dem Fahrerfenster, um ein paar Zahlen in die Schalttafel
einzutippen. Dabei schob sie sich unangenehm eng an Angel heran. Ihm
stieg sogar der verblassende Hauch ihres Parfüms in die Nase, das sie
aufgelegt hatte, bevor sie zu ihrer Hollywood-Expedition aufgebrochen
war. Es war das Parfüm einer erwachsenen Frau, nicht eines flippigen
Teenagers. Angel fand den Duft an ihr sehr irritierend.

Allerdings musste er einräumen, dass auch sein eigenes Äußeres nicht

seinem wahren Alter entsprach. Und wer im Glashaus saß ...

Als Karinna den Code eingegeben hatte, öffnete sich das Tor langsam,

und Angel fuhr eine von Bäumen gesäumte Auffahrt hinauf. Sie war so

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breit wie die meisten Straßen in Los Angeles, aber viel glatter
asphaltiert.

»Glaubst du, er ist wütend?«, fragte Angel und sah Karinna an. »Wenn

du so spät nach Hause kommst – und dann noch ohne deine
Bodyguards?«

»Deshalb habe ich dich ja mitgebracht«, entgegnete Karinna. »Wenn

ich allein nach Hause kommen würde, wäre der Teufel los. Aber wenn
du dabei bist, wird er nicht ausflippen. Besonders, wenn ich ihm
haarklein berichte, wie du mir das Leben gerettet hast und vielleicht
sogar meine Unschuld.«

»Ich verstehe.« Angel richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf die

Straße, die in einem Bogen aus den Bäumen heraus in einen riesigen Hof
führte. Endlose Rasenflächen dehnten sich bis zu einem Haus aus, das
man wohl treffender als Palast bezeichnete. Es wurde majestätisch von
Scheinwerfern angestrahlt, die in den Bäumen und Büschen verborgen
waren. Hohe Lichtbögen erreichten auch noch die letzten Zinnen auf
dem Dach.

Das Anwesen war im spanischen Stil gehalten. Seine Mauern waren

schneeweiß, und die Dächer trugen rote Schindel. Die charakteristischen
Holzbalken, die, wie Angel sich erinnerte, vigas genannt wurden, traten
ein wenig unterhalb der Dachkante aus den Mauern. Noch nie hatte er in
diesem Land ein so großes Haus gesehen. Es konnte sich durchaus mit
vielen Schlössern messen, die er in Irland und ganz Europa kennen
gelernt hatte. Drei, vier Stockwerke hoch und von der Grundfläche her
mindestens doppelt so groß wie ein Fußballplatz. Hier und da
durchbrachen Türmchen und Kuppeln wie architektonische
Nachbesserungen die Dachlinie.

»Nett«, sagte Angel. Reich konnte man Karinnas Vater wohl nicht

mehr nennen. Stinkreich? Entsetzlich reich? Unanständig reich? Warum
hatten nur alle diese Umschreibungen von »wohlhabend« so einen
negativen Beigeschmack?, fragte er sich. Die Antwort auf seine Frage
gab er sich selbst: Weil Wörterbücher von armen Menschen geschrieben
wurden.

»Das ist unser Zuhause.«
»Nur für euch drei?«
»Und das Personal natürlich«, ergänzte Karinna.
»Natürlich.«
Angel hielt den Wagen vor dem Haupteingang an. Fünf Stufen führten

zu einem Flügelportal aus Holz, das gut viereinhalb Meter hoch war. Es
sah wirklich alt aus, als hätte es schon in den Jugendjahren Kaliforniens

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an dieser Stelle gestanden, auf einer alten Ranch – und wäre einfach dort
geblieben, bis jemand ein neueres Haus drum herum gebaut hätte.

»Kann ich den Wagen hier stehen lassen?«
»Perfekt!«, entgegnete Karinna. »Du musst aber noch mit rein ...«
»Das habe ich ja versprochen.«
Sie wartete, bis er auf die Beifahrerseite kam, die Tür öffnete und ihr

seine Hand entgegenstreckte, um ihr beim Aussteigen zu helfen. Gute
Manieren oder einfach nur aufgesetzt?, war hier die Frage. Wollte sie
Angel vielleicht darauf aufmerksam machen, dass sie reich und
obendrein ein weibliches Wesen war?

Das war ihm jedoch auch ohne Hilfestellung klar.
Karinna hüpfte die Stufen hinauf, als wäre sie gerade erst von einem

erholsamen Mittagsschläfchen aufgestanden. Angel folgte ihr
gemesseneren Schrittes. Als er oben ankam, hatte sie bereits die Tür
geöffnet und die geflieste Eingangshalle betreten.

Im Innern, in einer Nische in der dicken weißen Mauer, brannte eine

große Duftkerze. Eine Tür ging von der Halle ab, deren Sturz mit dicken
Holzbalken eingefasst war. Eine breite geflieste Treppe mit einem
schmiedeeisernen Geländer führte nach oben.

Niemand war da, um sie zu begrüßen.
Wahrscheinlich auch besser so!, fand Angel. Er verspürte den Wunsch

nach einem raschen Rückzug. Aber er wusste nicht, ob er mit Karinna
wirklich schon fertig war, denn eigentlich war die Bedrohung durch ein
paar Testosteron-Problemfälle kaum genug Grund für Doyles Vision.
Andererseits ging die Sonne bald auf, und er wollte nicht in Bel Air
gefangen sein, wenn es so weit war.

Er blieb an der Tür stehen und wartete auf die Erlaubnis, über die

Schwelle treten zu dürfen. Karinna drehte in der Eingangshalle eine
kleine Runde, als wolle sie sich vergewissern, dass wirklich niemand da
war.

»Sieht so aus, als wären alle im Bett«, sagte Angel. »Dann kann ich...«
»Oh nein!«, protestierte Karinna. »Komm rein! Ich hole meinen Vater.

Er will bestimmt meinen Retter kennen lernen. Höchste Zeit, die
Heldenrüstung aufzupolieren, Angel!«

Angel winkte ab und versuchte sie davon abzubringen. »Sieh mal,

wenn es ein Problem ist, will ich wirklich nicht...«

Aber Karinna kam zur Tür zurück, nahm ihn bei der Hand und zog ihn

ins Haus.

»Warte einfach hier!«
Bevor er noch etwas sagen konnte, war sie durch die zweite Tür

verschwunden, und Angel blieb allein zurück. Kein Laut drang aus dem

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Haus zu ihm hinunter. Dafür sind ein Meter dicke Wände eben gut,
dachte er. Die alte Bauweise hatte durchaus ihren Charme. Er hatte nie in
einem so feudalen Haus gelebt, damals in Irland, aber er war in einigen
Schlössern mit ähnlicher Bauweise zu Gast gewesen. Alles ganz solide
und dick, gebaut für die Ewigkeit.

Als er allmählich anfing, sich zu fragen, ob sie ihn vergessen habe und

zu Bett gegangen sei, ging plötzlich die Tür auf, und Karinna kam
zurück. Hinter ihr war ein Mann, der ihr Vater sein musste. Er hatte
genauso rotes Haar wie sie, jedoch war es hier und da schon ergraut.
Sein Gesicht war sehr zerknittert, und er hatte Krähenfüße um die
Augen. So sahen Leute aus, die sich viel in der Sonne aufhielten! Trotz
der vorgerückten Stunde trug er Tenniskleidung und einen gelben
Pullover über dem weißen Poloshirt.

»Dad, das ist Angel«, sagte Karinna. »Angel, mein Vater Jack

Willits.«

»Ist mir ein Vergnügen«, sagte Angel. »Ich hoffe, wir haben Sie nicht

gestört.«

»Gar nicht junger Mann, gar nicht«, entgegnete Jack Willits. Mit

einem strahlenden Lächeln streckte er seine Hand aus und drückte fest
zu, als Angel einschlug. »Dem Tüchtigen schlägt keine Stunde, nicht
wahr?«

Jack machte den Eindruck, als erwarte er tatsächlich eine Antwort.
»Vermutlich nicht«, sagte Angel schließlich.
»So ist es. Ich hab noch Drehbücher gelesen im Arbeitszimmer.

Mögen Sie Zigarren, Angel? Das Arbeitszimmer ist mir als einziger
Raum geblieben, in dem ich sie rauchen darf, aber ich kann bestimmt ein
paar hinausschmuggeln, wenn Sie mögen.«

»Nein, das ist wirklich nicht nötig, aber vielen Dank für das Angebot!«
»Ihnen gebührt der Dank, Angel. Karinna sagte, Sie waren heute

Abend ihr Retter in der Not.

Angel zuckte mit den Schultern. Er wollte die ganze Nummer mit dem

Helden in der glänzenden Rüstung etwas herunterspielen. »Ich denke,
Ihre Bodyguards waren ein wenig frustriert und wollten das an ihr
auslassen«, erklärte er. »Weiteren Schaden haben sie aber meines
Wissens nicht angerichtet.«

»Karinnas Schilderung zufolge wohl nicht. Sie sagte, Sie haben einen

der beiden krankenhausreif geschlagen. Er hatte es verdient, wenn Sie
mich fragen! Ich habe die zwei schließlich eingestellt, damit sie auf das
Mädchen aufpassen und es beschützen, und nicht, damit sie es grob
behandeln und tätlich angreifen. Die können froh sein, wenn ich sie nicht
anzeige!«

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»Ich habe nur getan, was jeder andere in der Situation getan hätte«,

erklärte Angel.

»Aber es war eben in der Situation kein anderer da. Ich bin verdammt

froh, dass Sie da waren, Angel! Sie waren genau zur richtigen Zeit am
richtigen Ort, nicht wahr?«

»Ja, das stimmt wohl«, sagte Angel. »War gerade unterwegs zu

meinem Wagen.«

»Karinna sagte, Sie sind Privatdetektiv«, sagte Jack. »Stimmt das?«
»Ja. Wenigstens steht es auf meiner Visitenkarte!« Angel griff in die

Tasche und suchte – und fand genau eine. Die Ecken waren schon
umgeknickt, und auf der Rückseite stand in Doyles Schrift eine
Telefonnummer. Zögernd reichte er sie Jack Willits.

»Sorry«, sagte er. »Cordy, meine Assistentin, fragt mich immer, ob ich

auch genug Karten dabeihabe. Aber nun habe ich nur noch diese eine.«

»Angel Investigations«, las Jack. »Darf ich die behalten?«
»Ja, natürlich«, entgegnete Angel.
»Man kann nie wissen, wann man einen guten Schnüffler braucht«,

sagte Jack. »Sie arbeiten nicht zufällig auch als Bodyguard?«

»Bisher nicht, nein.«
»War nur 'ne Frage. Wir haben ja jetzt eine Stelle zu vergeben, wie Sie

wissen. Ich fürchte nur, Karinna ist kein leichter Fall. Und es ist
schwierig, Wachpersonal zu finden, das gut arbeitet und loyal ist. Es gibt
heutzutage keine Arbeitsmoral mehr, wissen Sie?«

»Ich verstehe, was Sie meinen, Mister Willits. Ich bin selbst auch eher

ein altmodischer Typ.«

»Das strahlen Sie auch aus, Angel. Das gefällt mir. Es ist ein Zeichen

für Charakter.«

»Danke«, sagte Angel. Er sah zur Tür. »Es hat mich wirklich gefreut,

Sie kennen zu lernen, Mister Willits. Sie haben ein sehr schönes Haus.
Und Karinna scheint ein sehr nettes Mädchen zu sein. Aber es ist schon
spät, und ich muss nun wirklich los.«

»Sicher, verstehe«, entgegnete Jack. Er nahm Angels Hand erneut in

seinen Schraubzwingengriff. »Ich danke Ihnen, dass Sie mir Karinna
unbeschadet nach Hause gebracht haben. Wenn ihr jemals etwas
zustoßen würde ...« Er hielt inne, als suchte er nach den richtigen
Worten, aber er fand sie offenbar nicht. »Ich weiß auch nicht«, fügte er
hinzu.

»Ja, danke, Angel!«, sagte Karinna. »Du weißt ja, wo du mich findest,

falls du je Lust auf eine Tour durch die Clubs hast!«

»Schön artig sein, Karinna!«, entgegnete Angel. Er öffnete die Tür und

blickte in den Himmel. Immer noch dunkel. Aber nicht mehr sehr lange.

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Schon bald kletterte die Sonne über den Horizont, und Angel musste
schnell nach Hause, bevor es so weit war.

»Gute Nacht, Karinna – Mister Willits!«, rief er. Er trat hinaus auf die

kurze Treppe. In der Eingangshalle hielt Jack Willits immer noch seine
Visitenkarte in den Händen und wendete sie hin und her, als stünde
darauf irgendeine geheime Botschaft, die er noch nicht entschlüsselt
hatte. Sein Blick jedoch ruhte auf seiner Tochter. Schweigend standen
die beiden da, als Angel die Tür hinter sich ins Schloss zog.

Er fragte sich, und das nicht zum ersten Mal, was für eine Familie das

wohl war, deren Tochter spät nachts noch von Bodyguards eskortiert
unterwegs war. Lebten so alle Reichen in Los Angeles? Wenn ja, was
war daran so toll?

Angel hatte keine Kinder und würde nie welche haben können. Aber

wenn, dann wollte er lieber arm sein und viel Zeit mit ihnen verbringen
als so reich, dass er andere dafür bezahlen musste, damit sie das an
seiner Stelle taten.

Er ging die Stufen hinunter und stieg in seinen Plymouth. In einem

Bogen führte der Weg wieder auf die Allee zurück, und er fuhr bis zum
Tor des Anwesens, das sich automatisch öffnete, als er näher kam. Er
dachte an Karinna, wie sie neben ihm im Wagen gesessen und im kalten
Wind so jung und verletzlich ausgesehen hatte. Wie das schöne rote Haar
ihr Gesicht umspielte und sich in Kinnhöhe ein paar Löckchen
kringelten. Wie sie die Knie unters Kinn gezogen und ihre Arme fest
darum geschlungen hatte. Plötzlich wurde ihm klar, dass sie ihn an
jemanden erinnerte.

Jemanden aus seiner Vergangenheit.
Aber das waren Jahrhunderte, und es gelang ihm nicht, das richtige

Bild aus den Winkeln seiner Erinnerung hervorzukramen. Er konnte
nicht einordnen, wer es war. Dieses Unvermögen frustrierte ihn zutiefst.

Fünfundzwanzig Minuten später hielt er vor dem Gebäude an, in dem

sich seine Wohnung befand. Der Himmel wurde bereits heller – die
ersten Sonnenstrahlen kündigten sich an. Rasch ging Angel ins Haus.

Und in einer erst kürzlich angemieteten Wohnung auf der anderen
Straßenseite bewegte sich der Vorhang im Fenster eines abgedunkelten
Zimmers. Es roch nach altem Kaffee, Pizzaresten und verbranntem
Popcorn. Die Person, die durch das Fenster gesehen hatte, schlurfte über
den schmutzigen Boden an einen Holztisch, schaltete eine kleine
Taschenlampe ein und machte eine Notiz in einem Spiralblock. Angel
war pünktlich bei Tagesanbruch nach Hause gekommen.

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5






Angel war leicht überrascht, Doyle und Cordelia im Büro vorzufinden.
Auf der blauen Couch hatte sich Cordy unter einer Decke
zusammengerollt, die sie offenbar von Angels Bett genommen hatte.
Doyle döste mit offenem Mund auf einem der Gästesessel. Ihm war der
Kopf in den Nacken gekippt. Der Fernseher lief noch; zu sehen war eine
Gymnastiksendung für Anfänger. Blecherne Stimmen riefen
Anweisungen und forderten die Sofakartoffeln, die von zu Hause aus
zusahen, zum Mitmachen auf.

Als die Tür ins Schloss fiel, öffnete Cordelia ein Auge und beehrte

Angel mit einem Lächeln – mit so viel Lächeln, wie ihr um diese Uhrzeit
möglich war. Denn als Morgenmenschen konnte man sie nun wirklich
nicht bezeichnen.

»Alles in Ordnung?«, fragte sie.
»Ich denke schon«, entgegnete Angel.
Nun rührte sich auch Doyle und rieb sich die Augen.
»Hey«, sagte er. »Hast du sie gefunden?«
»Hab ich.«
»Und?«
»Du hattest Recht. Ein hübsches Mädchen.«
»Wusste ich doch! Was hatte sie denn für ein Problem?« »Ihre

Bodyguards wollten ihren Frust mit Fäusten an ihr auslassen.«

»An einem Mädchen?«, fragte Doyle.
»Ich habe sie davon überzeugt, andere Wege zu gehen.«
»Reden wir also von einer Belohnung, einer Zulage oder einer

längerfristigen Beschäftigung?«, unterbrach Cordelia. Sie streckte die
Beine aus, setzte sich auf und zog die Decke bis ans Kinn.

»Nichts von alledem«, entgegnete Angel.
»Nichts? Warum?«
Angel zuckte mit den Schultern. »Ist halt nicht dazu gekommen.«
»Wie konnte es nicht dazu kommen? Hat sie kein Geld?«
»Ihre Familie hat Geld. Besser gesagt, ihr Vater. Vielleicht kennst du

ihn: Jack Willits.«

»Jack Willits? Der Chef von Monument Pictures? Der Typ, der nun

schon seit fünf Jahren die Liste der zehn einflussreichsten Leute in
Hollywood anführt? Noch nie von ihm gehört!«, rief Cordelia aufgeregt.

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»Ich bin beeindruckt«, sagte Doyle. »Ich schenke ja dem

Renngeschehen mehr Aufmerksamkeit als dem Fernsehen. Wenn er also
kein Jockey ist oder nicht ein Rennpferd hat, das nach ihm benannt ist,
kenne ich ihn wohl kaum.«

»Das ist Wahnsinn, Angel!«, ereiferte sich Cordelia. »Du hast

tatsächlich Jack Willits kennen gelernt?«

»Nur kurz. Als ich Karinna geholfen habe, war sie allein – seine

Tochter, wie du dich vielleicht erinnerst. Die in Schwierigkeiten steckte.
Und als ich sie nach Hause gebracht habe, hat sie mich ihm vorgestellt.«

»Du warst bei Jack Willits zu Hause? Wie war das?«
»Kurz eben. Aber ein nettes Haus. Ziemlich groß.«
»Weißt du, was das bedeutet?«, fragte Cordelia.
»Dass er ein erfolgreicher Typ mit einem schlechten Auge für

Bodyguards ist?«

Cordelia verdrehte die Augen. »Das könnte meine Fahrkarte zum

Erfolg sein!«, rief sie, warf die Decke ab und sprang auf. »Nein, mein
Durchbruch! Du freundest dich mit Jack Willits an, und dann stellst du
mich ihm vor. Er wird mein Potential erkennen – denn dafür hat er ein
Auge, wie ich gehört habe.« Sie ging auf Angel zu und warf die Arme
um seinen Hals, um ihn ganz fest zu umarmen. »Angel, ich danke dir!«

Angel und Doyle sahen sich hinter ihrem Rücken an. Doyle zuckte mit

den Schultern, und Angel zog eine Augenbraue hoch. Sie war ungefähr
der einzige Körperteil, der ihm gerade nicht von Cordy zerquetscht
wurde.

»Gern geschehen«, sagte er.
Endlich ließ sie ihn los und ging beschwingt zur Couch zurück. Auf

ihrem Gesicht lag ein verträumtes Lächeln.

»Weißt du«, meinte Doyle, »ich an deiner Stelle wäre mir der Sache

nicht so sicher.«

»Was soll das heißen?«, fragte Cordelia. Sie wirkte leicht irritiert. »Ist

doch perfekt!«, meinte sie und sah Angel ernst an. »Denk dran, Angel,
auch du hast Rechnungen zu begleichen. Miete, Strom, Kreditkarten,
Telefon, Versicherungen, Benzin und so weiter. Ich kenne mich damit
aus – meine habe ich nämlich gerade erst alle auf meinem Kaffeetisch
gestapelt, damit ich nicht unbeabsichtigt irgendwo auf eine stoße und
Depressionen kriege.«

»Was ich sagen wollte«, schaltete sich Doyle ein, »ist Folgendes:

Vielleicht ist das alles eben gar nicht so perfekt, wie wir gerne glauben
möchten. Natürlich wäre es super und toll, wenn es dir gelänge, mit Hilfe
von diesem Willits ein großer Star zu werden, Cordy! Aber was, wenn
die Probleme des Mädchens ein bisschen komplizierter sind und über das

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hinausgehen, was Angel heute Nacht tun musste? Ich weiß ja auch nicht
genau, was die Visionen bedeuten. Vielleicht haben die Bodyguards sie
wirklich nur als Sandsack missbrauchen wollen, aber es könnte auch
etwas viel Schlimmeres dahinter stecken. Ich denke, du solltest nicht
allzu sehr in Euphorie verfallen, bevor wir die ganze Geschichte
kennen.«

Cordy dachte einen Moment nach. »Vielleicht hast du Recht«, räumte

sie schließlich ein. »Am besten stellen wir erst mal ein paar
Nachforschungen über die Willits an.«

»Gar keine schlechte Idee!«, entgegnete Doyle lakonisch.
»Ich fange mit Jack und Monument Pictures an«, fuhr sie fort. »Ihr

kümmert euch um ... ich weiß auch nicht... um die anderen eben.«

»Erwischt!«, meinte Doyle. »Ist ja rührend, wie sehr du um das

eigentliche Opfer besorgt bist.«

»Selbstverständlich mache ich mir Sorgen«, beteuerte Cordelia. »Ich

drücke es nur anders aus als du.«

»Da hast du Recht«, sagte Doyle. »Lass mich nur noch ein paar

Minuten schlafen, und dann steige ich sofort mit ein.«

Er schloss die Augen, und schon kurz darauf schnarchte er friedlich.

Angel fand, eine Portion Schlaf könne ihm auch nicht schaden, und
verzog sich nach unten in seine Wohnung.

Mordractus schritt auf dem knarrenden Holzdielenboden seines
angemieteten Hauses in den Bergen hin und her. Vom
Wohnzimmerbalkon aus konnte er durch eine enge Kluft zwischen zwei
vorgelagerten Hügeln die braune Wolke erkennen, die fast jeden Tag
über Los Angeles hing, und bei Nacht das Funkeln der Lichter der City.
Aber so weit draußen vor der Stadt war der Himmel strahlend blau, und
eine sanfte Brise strich durch die Vorhänge. Das Haus war ein wenig
zugig, aber das erinnerte Mordractus an zu Hause und machte ihm nichts
aus.

Er wanderte unruhig umher, weil er Angst hatte. Angst, bald sterben zu

müssen.

Und warum musste er sterben? Wegen der Beschwörung, eines

komplizierten Rituals, das er begonnen hatte. Ein Ritual, für das er
Monate brauchte und das ihm die Lebenskräfte raubte und ihn noch
umbringen würde, bevor er es überhaupt zu Ende führen konnte.

Und dann würden unangenehme Zeiten anbrechen, das wusste er.
Schließlich ließ er sich erschöpft in einen breiten Korbstuhl mit

geblümten Kissen fallen, der vor dem Fenster stand.

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46

Das Haus war in den zwanziger Jahren von Arthur Pennington gebaut

worden, einem Zauberer, der sich in Hollywood-Kreisen bewegte und
einmal Mordractus' Schüler gewesen war. Es war alles vorhanden, was
ein anständiger Magier brauchte - geheime Durchgänge und Falltüren
und ein großes Kellergeschoss mit Schieferboden.

Aber als Pennington in den Fünfzigern gestorben war, hatten andere

Eigentümer das Haus übernommen, die an seinen besonderen
Eigenschaften nicht sonderlich interessiert waren. Sie hatten aus dem
Ritualraum im Untergeschoss eine so genannte »Kellerbar« gemacht, mit
einer Theke, Spielautomaten und einer Stereoanlage.

Der nächste Besitzer, der das Haus in den Siebzigern übernahm,

gehörte eher zu den flippigen Hollywood-Typen, die am Wochenende
Orgien feierten und sich mit vielen Vorhängen aus Perlenschnüren und
weichen Stoffen in Erdtönen einrichteten.

Nun war das Haus nur spärlich möbliert. Mordractus hatte die

Immobilienagentur ›überzeugt‹, die Vormieter zur Räumung zu zwingen
und ihn ohne Vertragsabschluss einziehen zu lassen. Die Leute hatten
fast alles mitgenommen, was ihnen gehörte, und nur ein paar
ausrangierte Stücke zurückgelassen. Genau das hatten alle anderen
vorherigen Bewohner auch getan.

Das Haus war der reinste Alp träum für jeden Innenausstatter.
Aber das kümmerte Mordractus nicht. Er war nur ein wenig beleidigt

angesichts der Schmach, auf einem Blumenkissen in einem Korbstuhl
sitzen zu müssen, der wahrscheinlich in den Siebzigern von einem
Nebendarsteller in orangefarbenem Hemd, Wollweste und Schlaghosen
gekauft worden war, der eine Halskette mit Medaillon trug und einen
dicken Oberlippenschnurrbart.

Mordractus hätte zwar am Zustand der Einrichtung etwas ändern

können, aber dafür wollte er keine Energie verschwenden. Er hob den
Kopf und rief mit schwacher, quakender Stimme: »P'wrll! Wasser!«

Der verwachsene Kobold kam in den Raum geschlurft. »Normal oder

Sprudel?«, krächzte er.

In Kalifornien angekommen, hatte sich Mordractus sofort für

Mineralwasser mit Kohlensäure begeistert, das er Sprudel nannte, weil er
sich keinen der Markennamen merken konnte. Und das Personal richtete
sich natürlich ganz nach ihm.

»Sprudel«, sagte er.
»Kommt sofort!« P'wrll ließ Mordractus allein am Fenster zurück.
Er starrte hinaus ins Leere, ohne zu sehen, was wirklich vor ihm lag.

Seine Gedanken kreisten um Balor.

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47

Einer alten keltischen Sage nach wurde Irland, lange bevor die

Menschen sich dort ansiedelten, von den Fomorianern bewohnt, einem
Volk von Riesen. Wann immer jemand kam, schlugen ihn die
Fomorianer in die Flucht. Menschenwelle um Menschenwelle, die
versuchte, Fuß auf der grünen Insel zu fassen, wurde von den wilden
Riesen zurückgetrieben.

Und der König der Fomorianer - der keltisch-irische Gott des Todes –

hieß Balor mit dem Bösen Auge.

Wann immer es eng für die Fomorianer wurde, brauchten sie nur Balor

hervorzuzaubern, ihre ultimative Waffe. Er war riesig und hatte nur ein
Auge in der Mitte der Stirn, das ebenfalls riesengroß war – so groß und
schwer, dass er auf Hilfe angewiesen war, wenn er sein Augenlid hoch-
klappen wollte. War dieses Auge aber einmal offen, zerstörte es alles,
was Balor erblickte, und so hielt er es normalerweise geschlossen, um
keine Massenvernichtung zu verursachen. Im Kampf wurde es dann
geöffnet und erwies sich als eine Waffe, mit der man rechnen musste.

Es gab nur eine Sache, vor der Balor sich fürchtete: Ein Prophet hatte

ihn einmal gewarnt, er würde eines Tages von seinem eigenen Enkel
erschlagen. Um dieser Prophezeiung vorzubeugen, hielt Balor sein
einziges Kind, eine Tochter, permanent hinter Schloss und Riegel. Aber
trotz dieser Vorsichtsmaßnahme war es einem danaaischen Lord mit
Hilfe von Druidenmagie gelungen, Balors Tochter zu schwängern. Sie
bekam Drillinge, und Balor ordnete an, sie im Meer zu ertränken. Aber
einer der drei, ein kleiner Junge, wurde im Danaaischen Reich an den
Strand gespült. Dieses Baby bekam den Namen Lugh.

Jahre später versammelte Lugh die Danaaer gegen die Fomorianer. In

einer blutigen Schlacht bei Moytirra griff er seinen eigenen Großvater
Balor an. Balor, der mit seinem bösen Auge schon große Verluste über
die danaaischen Streitkräfte gebracht hatte, nahm die Herausforderung
an und ließ sich das Auge öffnen. Aber als das Lid hochgeklappt wurde,
landete Lugh mit einem Stein aus seiner Schleuder einen Volltreffer. Das
Auge trat auf Balors Hinterkopf wieder aus und vernichtete einen ganzen
Trupp Fomorianer, der hinter ihm versammelt war.

Balor ging ein in die Zwischenwelt, die hinter der für Menschen

sichtbaren Welt verborgene Parallelwelt. Als die Galen, die Vorfahren
der heutigen Iren, die Insel übernahmen, wurden die Danaaer mit dem
Auftrag ins Elfenreich verjagt, die Zwischenwelt zu regieren. Unter
danaaischer Herrschaft hielt Balor also nun sein Auge geschlossen, und
es begann sogar im Laufe der Jahrtausende zu heilen.

Mordractus hatte vor, Balor aus der Zwischenwelt zurückzuholen.

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48

Sollte ihm das gelingen, war der Riese seinem höchstpersönlichen

Kommando unterworfen. Und sein böses Auge stand dann einzig und
allein Mordractus als vernichtende Waffe zur Verfügung. Er hatte vor,
ihn als gefährlichen Trumpf im Ärmel zu benutzen: Gebt mir, was ich
will, sonst öffne ich sein Auge! Das war ein viel effektiveres
Erpressungsinstrument als beispielsweise Nuklearwaffen und hatte den
zusätzlichen Effekt, den Glauben der modernen Welt in seinen
Grundfesten zu erschüttern. Heute hielt man nichts mehr von Legenden;
für die Menschen waren es nur Geschichten, die dumme Leute erzählten,
um sich die Welt zu erklären.

Aber an den Legenden war viel mehr dran, das wusste Mordractus. Die

Geschichten entsprachen der Wahrheit. Erst später machte man sie zu
Fantastereien - mit dem Erfolg, dass die Menschen fortan im Dunkeln
tappten. Je weniger die Leute von der alten Zeit wussten, umso mehr
Macht konzentrierte sich in den Händen derer, die sich damit
auskannten. Mordractus hatte sich seinen Glauben über Hunderte von
Jahren bewahrt.

Aber dennoch war es an der Zeit für Veränderungen. Nachdem er

Jahrhunderte im Dunkeln gelebt hatte, war er nun bereit, eine sehr
öffentliche Person zu werden. Er wollte seine Forderungen bekannt
machen und beweisen, dass er die Macht besaß, diesen Forderungen
auch Nachdruck zu verleihen, denn er konnte Balor jederzeit von der
Leine lassen. Und wenn er erst einmal den König unter Kontrolle hatte,
konnte er notfalls auch noch eine ganze Armee Fomorianer herbeiholen.
Nach all den Jahren der namenlosen Existenz, in denen er Rituale
geschaffen hatte, von denen nur er wusste, wollte er sich zu einer ernst
zu nehmenden politischen und wirtschaftlichen Macht mausern.

Mordractus hielt sich für den mächtigsten Zauberer, der je gelebt hatte.

Und wenn seine Pläne verwirklicht waren, sollte die Geschichte
beweisen, dass er es tatsächlich war. Die Welt sollte bei der bloßen
Erwähnung seines Namens erzittern!

Um sein Ziel zu erreichen, musste er lediglich dafür sorgen, die

Sonnenwende im Herbst noch zu erleben.

Die Heraufbeschwörung Balors aus der Zwischenwelt war keine

leichte Aufgabe. Dazu waren Jahrzehnte der Forschung nötig gewesen,
Jahre der Vorbereitung – und er hatte überhaupt erst einmal auf die Idee
kommen müssen. Bei seinen Nachforschungen fand er heraus, dass er
das Ritual nur vollenden konnte, wenn Mond und Sterne zur
Sonnenwende in einer bestimmten Konstellation am Himmel standen –
in einer Konstellation, die nur einmal etwa alle fünfhundert Jahre auftrat.

Und in diesem Jahr war es so weit.

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Nachdem er dies berechnet hatte, wurde ihm klar, wie rasch er handeln

musste. Er begann sofort mit den Ritualen, die über einen Zeitraum von
mehreren Monaten vollzogen werden mussten. Eigentlich waren Jahre
dazu nötig, aber dann hätte er die Deadline verpasst und noch ein wei-
teres halbes Jahrtausend warten müssen. Mordractus war zwar geduldig,
aber so geduldig nun auch wieder nicht.

Also praktizierte er die Heraufbeschwörung im Eiltempo und führte in

wöchentlicher Folge Teile davon durch, für die eigentlich Monate nötig
gewesen wären. Aber es würde funktionieren, da war er sicher. Der
vorgegebene Zeitplan diente im Großen und Ganzen dem Schutz der
Gesundheit des Zauberers. Dieses Ritual der Totenbeschwörung laugte
den, der es vollzog, ziemlich aus. Und daher sollten zwischen den
einzelnen Bestandteilen eigentlich lange Phasen der Erholung liegen.

Als Mordractus klar wurde, dass er das Ritual vielleicht nicht zu Ende

würde durchführen können, war es zu spät. Einmal begonnen, konnte er
es nicht mehr stoppen. Denn wenn die einzelnen Bestandteile des Rituals
nicht innerhalb der vorgeschriebenen Zeitspanne aufeinander folgten,
würde er selbst durch den Vorhang gezogen, den er geöffnet hatte. Er
würde ins Jenseits gezerrt, wo Balor und die anderen Fomorianer auf ihn
warten und sehr wütend sein würden, weil er das Versprechen, sie in die
sichtbare Welt zurückzuholen, nicht gehalten hatte.

Das wollte er keine Ewigkeit lang erleben! Er musste das Ritual

einfach vollenden. Bis zur Sonnenwende blieb ihm nur noch ein knapper
Monat.

Und er war sicher, das Ende des Monats nicht mehr zu erleben. Nicht

ohne Hilfe. Er war zu schwach geworden, zu gebrechlich. Der Zauber,
der ihn so lange am Leben gehalten hatte, war verblichen, verbraucht
durch die Anstrengungen des Rituals zur Heraufbeschwörung Balors.

Hätte er nur Balor und die Fomorianer schon unter Kontrolle! Dann

hätte er sich beruhigt wieder der Aufgabe widmen können, seine eigene
Langlebigkeit – oder Unsterblichkeit – mit all dem Wohlstand und der
Macht über die unbedeutenden Menschen zu sichern, die er schon lange
verdient hatte.

»Nein!«, dachte Mordractus. Er wollte nicht sterben. Und es gab eine

Möglichkeit, das zu verhindern. Er wusste auch, welche.

Als P'wrll mit dem Mineralwasser zurückkehrte, nahm Mordractus das

Glas mit zitternder Hand entgegen und trank gierig. Er schluckte und sah
den Kobold an. »Wo sind sie?«, fragte er. »Bring sie zu mir, alle!«

P'wrll nickte. »Schon unterwegs«, entgegnete er.

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Als der Kobold verschwunden war, beugte sich Mordractus vor, um

das Glas auf dem Boden abzustellen. Sein Kopf sank ihm auf die Brust
und er gestattete sich, eine Weile in dieser Haltung zu dösen.

Ein paar Minuten später sah er wieder auf. Alle seine Günstlinge

waren um ihn versammelt, menschliche und andere. Da waren Currie
und Hitch, Needham und Blaine, McCourt und Mclver, Leary und
O'Neil; dazwischen verschiedene Kobolde, Schweinemenschen und
Trolle. Insgesamt zwanzig an der Zahl. Und sie alle waren nicht in der
Lage gewesen, eine einfache Aufgabe zu lösen.

Mordractus sah sie an, sah jedem einzelnen in die Augen. Langsam

setzte er sich auf, um stärker und robuster zu wirken, als er sich
eigentlich fühlte.

»Wir alle wissen, warum wir hier sind, nicht wahr? Hier in

Kalifornien!«

Zustimmendes Gemurmel.
»Warum habt ihr es dann noch nicht erledigt? Ihr seid doch so viele!«
McIver ergriff das Wort: »Wir arbeiten nach dem Plan, den Sie uns

gegeben ham'. Braucht aber 'n bisschen Zeit bis es klappt, wie Sie selbst
gesagt ham'.«

»Habe ich das gesagt?«, entgegnete Mordractus. »Da hatte ich wohl

noch etwas mehr Geduld.«

»Jetzt ist der Stein schon im Rollen«, sagte McIver. »Dann können wir

es auch zu Ende fuhren.«

»Können wir«, wiederholte Mordractus. »Euch ist wohl hoffentlich

klar, dass es sich hierum einen Notfall handelt, oder?«

»Aye«, entgegnete McIver. »Ist klar.«
»Und was ist mit euch anderen? Spricht McIver für euch alle?«
Wieder zustimmendes Gemurmel aus der Menge, sowohl in

menschlicher als auch in Feensprache.

»Das ist interessant, das ist gut«, sagte Mordractus. »McIver, wer hat

dich eigentlich dazu berufen, für dieses Pack zu sprechen?«

»Niemand, Herr«, entgegnete McIver. »Ich hab nur gesagt, was ich

denke, und die anderen sind wohl auch der Meinung.«

»Du sagst, was du denkst. Wolltest mal die Initiative ergreifen, was?«
»Ja, Herr.«
Mordractus sah McIver scharf an. Während er den rotgesichtigen

Mann förmlich mit seinem Blick aufsaugte, zeichnete er mit seinen
knochigen Fingern wirre Muster in die Luft.

»Nein, Herr...«, setzte McIver an, aber ihm blieben die Worte in der

Kehle stecken, und er griff sich röchelnd an den Hals. Seine Augen, aus
denen nackte Panik sprach, quollen aus den Höhlen.

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Alle sahen schweigend zu, wie er zu Boden stürzte. Er zuckte noch ein

paar Mal und blieb dann regungslos liegen.

»Ich will Ergebnisse«, erklärte Mordractus seinen Vasallen. »Keine

Entschuldigungen! Keine Interpretationen. Ergebnisse! Habt ihr das jetzt
alle verstanden?«

Zum dritten Mal ertönte zustimmendes Gemurmel.
»Gut«, sagte Mordractus. Mit einer abschätzigen Geste scheuchte er

sie fort. »Dann lasst mich jetzt allein. Und seht zu, dass es klappt!«

Als sie fast zur Tür hinaus waren, fügte er mit sanfterer Stimme hinzu:

»Wir haben keine Zeit zu verlieren.«






























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6






Jack Willits kam Türen knallend in die Detektei gefegt.

Es war kurz nach Mittag. Angel saß mit hochgelegten Beinen an dem

vorderen Schreibtisch und las in einer der Zeitschriften, die Cordy ihm
herausgesucht hatte. Es war eine alte Ausgabe des Hollywood Reporter
mit einem Artikel über Jack, die aus Cordelias persönlicher Sammlung
stammte. Zusätzliches Material besorgte sie ihm gerade in der
Bibliothek. Auch Doyle war unterwegs - auf der Flucht vor Gläubigern
oder um über die Willits Nachforschungen anzustellen oder vielleicht
auch beides.

»Angel, mein Lieber!«, rief Jack.
Angel schwang die Beine vom Schreibtisch und stand auf. Er wunderte

sich, dass es den Studioleiter tatsächlich in dieses schäbige Viertel
verschlagen hatte. Er ergriff Jacks ausgestreckte Hand und schüttelte sie.
»Mister Willits!«

»Bitte nennen Sie mich Jack!«
»Okay«, entgegnete Angel. »Jack. Was führt Sie hierher?«
»Ich möchte mit Ihnen reden, Angel. Ohne Karinna, verstehen Sie?

Von Mann zu Mann.«

»Gut, okay. Über was?«
»Über Karinna. Und Sie.«
Angel fing an, sich Sorgen zu machen. »Über uns?«
»Ich bin ein ziemlich wohlhabender Mann, Angel. Ich weiß sehr wohl

zu schätzen, wie sich alles für mich entwickelt hat, verstehen Sie mich
nicht falsch! Aber es fordert seinen Tribut. Ich bin eine Zielscheibe, und
das gilt auch für meine Familie. Wir sind alle Zielscheiben.«

»Das tut mir Leid.«
»Danke! Der langen Rede kurzer Sinn, Angel: Tatsache ist, dass wir

als Zielscheiben Bodyguards brauchen – und das gilt besonders für
Karinna, da sie gern ausgeht. Bodyguards, denen ich vertrauen kann.
Karinna hat mir alles erzählt, was letzte Nacht geschehen ist, und ich
schwöre Ihnen, ich hätte nie für möglich gehalten, dass sich diese Typen
derart aufführen könnten. Sonst hätte ich sie ja wohl nicht angeheuert.
Das müssen Sie mir glauben!«

Willits schien wirklich in höchstem Maße bekümmert angesichts des

Vorfalls. Er presste die Lippen fest aufeinander und blinzelte mit den

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Augenlidern, als versuche er, einen Gefühlsausbruch zurückzuhalten.

»Ich glaube Ihnen«, sagte Angel schließlich.
»Das freut mich.«
»Aber was soll ich ...?«
»Dazu komme ich jetzt, Angel. Ich möchte, dass Sie sich um die

Sicherheit meiner Tochter kümmern. Um Karinna. Ich möchte, dass Sie
sie beschützen – vor jeder nur möglichen Bedrohung.«

Angel dachte eine Weile nach. »Ich weiß nicht, ob ich dazu in der

Lage bin«, sagte er gedehnt. »Sie ist eine sehr... aktive junge Frau. Ich
glaube, sie braucht ein ganzes Wachbataillon, und ich arbeite
überwiegend allein.«

»Damit will er sagen«, setzte Cordelia an, die in diesem Augenblick

mit einem Stapel Zeitschriften im Arm zur Tür hereinkam, »dass er
allein unser Team von Detektiven leitet.« Sie legte die Zeitschriften auf
Angels Schreibtisch und drehte sich mit ausgestreckter Hand zu Jack um.
»Meine Rolle ist eher die einer Galionsfigur denn die eines wirklichen
Partners, da mich andere Projekte sehr in Anspruch nehmen. Cordelia
Chase, Mister Willits. Es ist mir wirklich eine Ehre, Sie kennen zu
lernen!«

»Angenehm, Ms. Chase. Sie sind Angels Partnerin in diesem

Unternehmen?«

»Wie ich schon sagte, eher eine stille Teilhaberin. Ich habe ihm ... ein

wenig den Rücken gestärkt, als er das Büro aufgemacht hat.«

»Ich verstehe.«
»Aber genug davon«, fuhr Cordelia fort. »Reden wir doch von Ihnen!

Ich wette, die vierzehn Jahre an der Spitze von Monument Pictures sind
für Sie wie im Fluge vergangen, nicht wahr?«

»Ja, also ...«
»Besonders die Jahre, als sie noch die größten Kassenschlager der

ganzen Branche feierten. Wann war das noch? Siebenundachtzig,
neunundachtzig und zweiundneunzig? Sie haben aus Monument wirklich
einen kreativen Springbrunnen gemacht, Mister Willits. Oder darf ich
Jack sagen?«

»Sicher Jack ist in Ordnung. Sie scheinen ja einiges über die

Filmindustrie zu wissen, besonders über Monument Pictures.«

»Das ist meine Welt!«, entgegnete Cordelia. »Ich esse Film, atme Film

und wenn ich schlafe, träume ich davon.«

»Jack hat mir gerade einen Job angeboten, Cordelia«, unterbrach sie

Angel. »Als Bodyguard für seine Tochter.«

»Sehr schön«, sagte Cordelia. »und du wolltest gerade mit ihm einen

Preis dafür aushandeln. Wobei du bedenken solltest, dass du einigen

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Detektiven Überstunden wirst zahlen müssen, damit wir eine Rund-um-
die-Uhr-Bewachung gewährleisten können.«

»Ich glaube, du überschätzt unsere Möglichkeifen, Cordy.«
Cordelia sah Angel eindringlich an. »Nein, das tue ich nicht. Ich ziehe

nur alle Umstände in Betracht. Wer das zu bewachende Objekt ist, und
wer ihr Vater ist und ... ähm ... wer ihr Vater ist...«

»Ich hätte Sie gern auf unserer Seite, Angel«, sagte Jack.
»Ich bekomme allmählich das Gefühl, das hätte jeder gern.«
»Du merkst auch alles!«, frotzelte Cordelia.
»Ich bin bereit, Ihnen fünfhundert Dollar pro Tag anzubieten.«
Angel fing an zu protestieren. »Ich glaube nicht...«
»Dann siebenhundertfünfzig«, bot Jack an. »Aber keinen Cent mehr!«
Angel dachte darüber nach. Er hatte seine Vorbehalte gegen Karinna

Willits – auf sie aufzupassen konnte schwieriger sein, als es auf den
ersten Blick schien. Aber immerhin hatte Doyle diese Vision gehabt.
Wenn Karinna wirklich eine Seele in Not war, wenn sie ein größeres
Problem hatte als die Bodyguards, die sie verprügeln wollten, dann
durfte er ihr nicht den Rücken kehren. Und als Angestellter der Familie
konnte er sich jederzeit in ihrer Nähe aufhalten, ohne Verdacht zu
erregen.

»Wie ich sagte, Mister Willits, äh Jack, ich habe zur Zeit kein ganzes

Team zur Verfügung. Ich schlage vor, Sie beauftragen Ihnen bekanntes
Wachpersonal damit, sie tagsüber zu begleiten – zur Schule und zurück
oder wohin auch immer. Abends übernehme ich dann und bleibe bei ihr,
bis sie sicher wieder zu Hause ist. Wenn Ihnen dieser Vorschlag
entgegenkommt, wäre ich einverstanden.«

»Einverstanden!«, sagte Jack. Er reichte Angel erneut die Hand und

Angel schüttelte sie ein zweites Mal. Als er losließ, hatte auch Cordelia
ihre Hand wieder ausgestreckt. Jack ergriff sie.

»Wie ich schon sagte«, begann Cordelia. »Filmindustrie! Monument

Pictures! Da könnte ich wirklich einen Beitrag leisten, und zwar einen,
von dem wir beide profitieren. Ich denke, Angel sitzt jetzt fest genug im
Sattel und braucht keine tägliche Beratung mehr. Wenn Sie also einen
Platz für mich haben, kann ich meinen Zeitplan sicherlich ein wenig
umorganisieren.«

Jack lachte. »Sie suchen einen Job, nicht wahr? Okay, Ms. Chase, Sie

haben mich überzeugt.«

Angel konnte förmlich sehen, wie Cordelias Herz einen Hüpfer

machte. Ihr Lächeln wurde so breit, dass er befürchtete, ihr Kopf klappe
gleich in zwei Hälften auseinander.

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Jack schrieb etwas auf die Rückseite seiner Visitenkarte und reichte sie

ihr. »Kommen Sie morgen in dieses Büro«, sagte er. »Sagen wir um
neun. Man wird Sie erwarten und Ihnen alles erklären.«

»Vielen Dank, Jack«, gurrte Cordelia. »Sie werden es nicht bedauern,

das verspreche ich Ihnen!«

»Das werde ich gewiss nicht, Miss Chase«, entgegnete er und machte

eine leichte Verbeugung. »Wir sehen uns dann morgen. Bei Monument.«

Kate Lockley stand vor der großen Wandtafel im Konferenzraum der
Polizeiwache. An den Wänden hingen Landkarten, Tabellen,
Zeichnungen und Fotos – von verschiedenen Geldinstituten, von
Tunneln und herausgebrochenen Eingangstüren. Auf der weißen Tafel
standen in Kates ordentlicher Schrift die Namen und Adressen von
sieben Banken im gesamten Stadtgebiet. Unter der Überschrift
»California Savings, Robinson Boulevard« waren drei Namen in Rot
aufgelistet: F. Gilmore,T. Coker, J. Doe .J. stand für Jane, die
minderjährige Jugendliche.

»Das ist alles, was wir bisher haben«, sagte Kate zu ihrer

Sondereinheit, bestehend aus einem Dutzend Polizeibeamten. Einige
trugen Uniformen, andere waren Detectives in Zivil. »Es ist nicht viel.
Die Bande gräbt einen Tunnel und dringt nachts in die Bank ein, wenn
sie geschlossen ist. Nach Meinung unserer Experten brauchen sie vier bis
sechs Nächte, um den Tunnel zu graben. Das stimmt auch mit den
zeitlichen Intervallen überein, die zwischen den Überfällen liegen.«

Einer der Uniformierten hob die Hand. »Detective Lockley?«
»Ja, Ybarra?«
»Haben wir bereits ein wiederkehrendes Muster für die Orte, an denen

die Tunnel anfangen?«

»Gute Frage«, entgegnete Kate. »Bislang leider nicht. Im Falle der

California Savings hatten sie eine Garage auf der anderen Seite des
Blocks gemietet und dort angefangen zu graben. Bei der First Western
war es ein Kellerapartment auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Die
einzige Ähnlichkeit ist, dass die Orte immer isoliert liegen. Natürlich,
damit sie niemand bemerkt.«

Nach einer kurzen Pause fuhr sie fort: »Jedenfalls schaufeln sie vier

bis sechs Nächte. Sie graben sich bis zu den Kellermauern vor, in der
Regel zum Haupttresor der Bank oder den angrenzenden Raum. Das
lässt uns vermuten, dass sie Zugang zu internen Informationen haben –
wer weiß schließlich schon, wo in all diesen unterschiedlichen Banken
jeweils der Tresor steht?

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Wenn es dann so weit ist, brechen sie durch die Mauer in die Bank. Sie

gelangen in den Tresor – manchmal buddeln sie sich sogar direkt hinein,
manchmal sprengen sie die Tür mit ein bisschen C-4. Das ist eine
weitere Frage: Wo bekommen Sie den Plastiksprengstoff her, und woher
haben sie das Fachwissen für die ganze Aktion? Behalten Sie das bei
Ihrer Arbeit im Hinterkopf! Jedenfalls gehen sie rein und füllen ihre
großen Taschen mit Geld. Aber statt sie durch das ausgefuchste
Tunnelsystem zu schleppen, verlassen sie die Bank durch die Vordertür
und springen in ein wartendes Auto. Zu diesem Zeitpunkt brauchen sie
sich um den Alarm keine Sorgen zu machen – sie fahren einfach davon.

Und in einem solchen Moment waren unsere drei Opfer auf der Straße.

Mister Gilmore, Mister Coker und unsere bisher nicht identifizierte
Minderjährige waren offenbar noch spät unterwegs. Sie hielten sich vor
dem Eingang der Bank auf, als die Bande herausgerannt kam. Das
bestätigen die Videoaufzeichnungen vom Eingangsbereich. Die Männer
stürmten durch die Tür, und einer von ihnen entdeckte die Zeugen und
eröffnete das Feuer aus einem Maschinengewehr. Er feuerte auf jedes
Opfer eine Salve ab, und dann sprangen alle in das wartende Fahrzeug
und fuhren davon.

Diese Morde waren meines Erachtens absolut unnötig. Wir haben es

mit sehr vorsichtigen Leuten zu tun. Sie tragen jedes Mal Ledermasken
und Handschuhe. Sie haben Maschinengewehre dabei, obwohl sie nicht
unbedingt damit rechnen, gesehen oder gehört zu werden. Sie haben sich
ein sehr ausgeklügeltes System ...«

In dem Moment ging die Tür auf, und ein Mann kam hereinstolziert.

Er trug einen teuren blauen Anzug, ein weißes Hemd und dazu eine
gestreifte Krawatte. Sein schwarzes, kurz geschnittenes Haar war
ordentlich gekämmt und seine weißen Zähne sehr ebenmäßig.

Kate zuckte innerlich zusammen. Glenn Newberry. Er war vom FBI –

auch wenn sie ihm noch nie zuvor begegnet wäre, hätte sie das auf
Anhieb erraten. Aber sie kannte ihn, und daher hatte sie bereits ihre
vorgefasste Meinung – was seinen Job betraf und seinen Charakter. Oder
besser: seinen mangelnden Charakter.

»Danke, dass Sie die Truppen zusammengetrommelt haben,

Detective«, sagte er. Er kam nach vorn und stieß Kate unauffällig zur
Seite. Aber sie behauptete ihren Platz.

»Wir sprachen gerade über...«
»Ja, dann wollen wir mal darüber reden, wie wir weiter vorgehen«,

unterbrach er sie einfach. »Ich möchte, dass die Uniformierten sich noch
mal die Umgebung der Garage vorknöpfen, wo der Tunnel zu der
California Savings beginnt. Und ich ...«

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»Entschuldigen Sie, Special Agent Newberry. Das hier ist eine LAPD-

Operation. Als Beobachter sind Sie herzlich willkommen, aber Sie sind
nicht in der Position, meiner Sondereinheit Vorgehensweisen oder
Aufgaben zu diktieren.«

Newberry sah sie mit seinen grünen Augen durchdringend an.

»Würden Sie bitte kurz mit mir rauskommen, Detective Lockley?«,
fragte er.

»Selbstverständlich.«
Sie verließen den Raum. Im Korridor trat Newberry bedrohlich dicht

an sie heran und überschritt damit eindeutig die Grenze.

»Hier geht es um Banken, Lockley«, sagte er, »und die sind bei der

Bundesversicherungsgesellschaft versichert. Vielleicht haben Sie davon
schon gehört: Bankraub ist ein Verbrechen gegen den Staat, und somit
stehe ich dieser Sondereinheit vor.«

Was für ein aufgeblasener Mickerling! Kate biss die Zähne zusammen

und erinnerte sich daran, dass man mit Diplomatie bei diesen Typen viel
mehr erreichte, als wenn man versuchte, sich gegen sie durchzusetzen.

»Es sind Menschen zu Tode gekommen, Special Agent Newberry.

Bürger der Stadt Los Angeles. Das fällt in meine Verantwortung, und
deshalb untersteht diese Mannschaft mir. Sie können Bankräuber jagen,
wenn Sie wollen. Ich mache Jagd auf ein paar Killer!«

»Ich werde mit Ihrem Captain sprechen, Lockley, und dann werden

wir ja sehen!«

»Sprechen Sie, so viel sie wollen, Newberry. Hier bin ich mir meines

Zuständigkeitsbereichs absolut sicher.«

»Ihre Zuständigkeit ist eine Sache, Lockley. Die Verhaftung ist etwas

ganz anderes. Und wenn ich diesen Ganoven die Handschellen anlege,
werden Sie von der Seitenlinie aus zusehen.«

»Handschellen?«, fragte Kate. »Haben Sie denn schon etwas

gefunden?«

Newberry grinste.
Was für ein blöder selbstgerechter Widerling er nur war!
»Wenn Sie etwas gegen die Jungs in der Hand haben, müssen Sie mir

es sagen«, forderte sie. »Ich leite schließlich eine Sondereinheit. Und da
draußen laufen ein paar Killer rum, die wir schnell hinter Schloss und
Riegel bringen müssen.«

»Wenn ich irgendetwas hätte, von dem ich denke, dass es Ihnen hilft,

würde ich es sagen«, meinte Newberry. »Das täten Sie im umgekehrten
Fall ja auch, nicht wahr?«

»Natürlich. Mir ist es ganz egal, wer die Verhaftung durchführt! Ich

will diese Bande nur in sicherer Verwahrung wissen.« Was glatt gelogen

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war – natürlich wollte sie den Ganoven am liebsten selbst die
Handschellen anlegen. Und sie wollte, dass Special Agent Newberry
wieder zurück nach Quantico ging und lernte, sich zu benehmen.

Ihr Dad war ein Cop gewesen, und sie selbst war lange genug dabei,

um zu wissen, dass die Bankräuber am schnellsten zur Strecke zu
bringen waren, wenn Polizei und FBI zusammenarbeiteten. Aber sie
konnte sich nicht dazu durchringen, den Fall aus der Hand zu geben. Und
mit diesem Ekelpaket Newberry etwas zu teilen war ihr zutiefst zuwider.

»Nun, das ist gut zu wissen, Detective«, sagte Newberry. »Ich freue

mich sehr, das zu hören.«

Die ganze Situation gab Kate das Gefühl, egoistisch und gierig zu sein.

Das gefiel ihr nicht. Sie mochte dieses Bild von sich selbst nicht, verzerrt
wie in einem Spiegelkabinett: jemand, der aussah wie sie, aber reichlich
entstellt.

Das Problem war nur, was sie sah, war wirklich sie selbst.
»Ich verlasse mich auf Sie, Special Agent Newberry«, sagte sie. Und

drehte damit gleichsam das Messer, das in ihrem Herzen steckte, noch
mal um. »Wenn Sie etwas herausbekommen, wissen Sie ja, wo Sie mich
finden, nicht wahr?«

»Ich werde Sie finden«, versprach er und marschierte den Korridor

hinunter.

Kate ging zurück in den Konferenzraum. Die versammelten Officer

sahen sie fragend an. »Okay«, sagte sie. »Wo waren wir, bevor wir so
unhöflich unterbrochen wurden?«

Die Runde brach in lautes Lachen aus, was Kate sichtlich genoss.
»Dies hier ist eine Sondereinheit des Los Angeles Police

Department!«, fuhr sie fort. Donnernder Applaus. Sie ließ ihn
ausklingen. »Und das wird sie auch bleiben. Wir sollten mit dem FBI
kooperieren, wann immer möglich. Unser Ziel ist es schließlich, diese
Typen zu schnappen, und es spielt keine Rolle, wer sie schnappt, solange
sie nur eingebuchtet werden.«

»Das ist die richtige Devise!«, rief jemand.
»Denken Sie daran, dass die Kerle von Bankräubern zu Mördern

avanciert sind«, fuhr Kate fort. »Wir müssen damit rechnen, dass sie
bewaffnet und damit sehr gefährlich sind. Also, dann werden wir
folgendermaßen weitermachen ...«

Dreißig Minuten später war sie allein im Raum. Sie hatte die Mitglieder
der Sondereinheit auf diverse Ermittlungsgänge geschickt. Langsam ging
sie auf und ab und betrachtete die Zeichnungen, Karten und Fotos.

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Immer wieder schaute sie auf die Namen, die sie an die Tafel
geschrieben hatte.

An der einen Wand hing ein großer Stadtplan von Los Angeles. Die

überfallenen Banken waren mit roten Pins markiert. Kate starrte auf die
Karte und ließ ihren Blick verschwimmen, um endlich ein Muster
erkennen zu können, wo es vielleicht gar keins gab.

Genau das war das Problem. Wer auch immer diese Kerle waren – und

sie benutzte das Wort mit Absicht, denn die Videoaufzeichnungen hatten
gezeigt, dass es alles Männer waren –, sie besaßen die Intelligenz, ihre
Angriffspunkte wahllos über die Stadt zu verstreuen.

Sie wussten wohl, dass Serientäter in der Regel gefasst wurden, weil

ihre Verbrechen allmählich vorhersehbar wurden. Sie verübten die
Überfälle jedes Mal auf dieselbe Art, aber die Tatorte wiesen absolut
keine Gemeinsamkeiten auf – abgesehen von der Tatsache, dass es sich
um Banken handelte. Es machte den Beamten keine gute Laune, sehr
wohl zu wissen, dass irgendwo ein Tunnel gegraben wurde, aber nicht
den kleinsten Hinweis darauf zu haben, wo sich dieses ›irgendwo‹
befinden mochte.

Und die Gangster hatten mit bemerkenswerter Geschicklichkeit

sämtliche Spuren verwischt. Es gab keine Fingerabdrücke, keine DNS.
Beim Graben der Tunnel hatten sie Handschuhe getragen und billiges
Werkzeug verwendet, das man in jedem Heimwerkerladen kaufen
konnte. Und davon gab es Dutzende in der Gegend. Die zurückgelasse-
nen kaputten Werkzeuge lieferten keine Informationen. Kate hatte
dennoch zwei Officer damit beauftragt, alle Heimwerker- und
Eisenwarengeschäfte abzuklappern – nur für alle Fälle. Schließlich
schienen die Typen eine Menge Schaufeln und Spitzhacken zu
verbrauchen. Aber von dieser Recherche versprach sich Kate nur wenig
Erfolg.

Es würde ihnen nur gelingen, diese Bande zu schnappen, wenn sie

einen Fehler machte. Und bisher hatten die Kerle erst einen gemacht.

Sie hatten drei Menschen getötet.
Das war ein Fehler gewesen, denn nun war Kate Lockley hinter ihnen

her. Als einfache Bankräuber hätten sie Kate nur am Rande interessiert.
Sie hätte sich glücklich geschätzt, den Leuten vom FBI den Fall zu
überlassen.

Aber da es sich nun um Mörder handelte, war Kate im Spiel.
Im Alter von sieben Jahren hatte sie sich sehnlichst eine Barbie-Puppe

gewünscht. Sie hatte gejammert, gebettelt, gefleht und gequengelt, bis
ihr Vater schließlich nachgegeben hatte. Sie sei hartnäckig wie eine
Bulldogge, hatte er gesagt. Einige Wochen lang hatte er sie so genannt.

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Aber der Spitzname war nicht hängen geblieben und später durch andere
ersetzt worden.

Die Hartnäckigkeit jedoch war ihr geblieben. Nur so konnte sie

erfolgreich sein. Sollten die anderen sie ruhig als stur bezeichnen!

Kate wollte diese Verbrecher haben, und sie würde sie bekommen.
So einfach war das.



































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7






Das Dinner war für acht Uhr angesetzt.

Und Jack Willits wollte das Büro nur verlassen, wenn Angel ihm

versprach, zu kommen. Als er endlich ging, befürchtete Angel, Cordy
schwebe angesichts Jacks Angebot, ihr einen Job bei Monument Pictures
zu verschaffen, hoch über dem Erdboden und er müsse sie von der Zim-
merdecke pflücken.

Aber in Wirklichkeit war sie viel ruhiger, als er erwartet hatte – so

ruhig, dass er erst nach einigen Minuten begriff, wie groß ihre Angst vor
der Herausforderung war. Er versuchte ein paar Mal, das Thema
anzuschneiden, aber da sie sehr zögernd reagierte, brauchte sie
vermutlich noch einige Zeit, um die Sache zu verarbeiten.

Zum Dinner wählte er zu einem schlichten schwarzen Anzug eines

seiner wenigen weißen Hemden und eine schwarze italienische
Seidenkrawatte. Als er sich umgezogen hatte und aus dem Schlafzimmer
kam, applaudierte Cordelia.

»Weißt du denn, was du mit welcher Gabel essen musst?«, fragte sie.

»Denn manchmal gibt es bei so einem hochgesellschaftlichen Dinner an
die acht verschiedene Bestecke. Und es wird richtiges Essen geben, ist
dir das klar? Menschen kauen – und das gehört ja nicht zu deinen
bevorzugten Methoden der Nahrungsaufnahme.«

»Ich schaff das schon, Cordy.«
»Ich könnte es nicht ertragen, wenn du dich lächerlich machst«, fuhr

sie fort. Während sie sprach, umkreiste sie ihn und prüfte kritisch von
allen Seiten, ob noch irgendetwas fehl am Platze war. »Schließlich ist
das der große Durchbruch für Angel Investigations. Und für mich ver-
mutlich auch, aber selbstverständlich denke ich immer zuerst an die
anderen. Immer!«

»Natürlich.«
»Achte also einfach darauf, was du sagst und dass du das Dinner

überstehst. Und trink nicht zu viel! Aber stimmt ja, wenn du mit
irgendeinem Getränk zu Übertreibungen neigst, dann höchstens mit Blut
– und dann wäre die Party auf der Stelle vorbei.«

»Höchstwahrscheinlich. Aber ich verspreche dir, mich nicht gehen zu

lassen.«

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»Du solltest vielleicht am besten gar nichts sagen. Glaubst du, du hältst

es durch, den ganzen Abend nur zu lächeln und zu nicken?«

»Cordelia, ich bin älter als dieses Land. Ich habe schon mit echten

Adeligen gespeist. Ich denke, ich kann mich benehmen.«

»Nun, der Meinung bin ich eigentlich auch, aber man kann ja nie

vorsichtig genug sein.«

»Es sind doch nur ein paar Leute, Cordy.«
»Nein, sind es nicht. Es sind reiche Leute. Das ist eine ganz andere

Spezies. Mit gelegentlicher Fremdbestäubung.«

»Ich werde dich nicht blamieren.«
»Oh, um mich mache ich mir keine Sorgen«, entgegnete sie und strich

wohl zum zehnten Mal seinen Kragen glatt. »Ich hab schon mal zu den
Reichen gehört, wenn du dich erinnerst. Wir kennen uns mit solchen
Dingen aus. Aber manchmal bringen uns diejenigen in Verlegenheit, die
unterhalb von uns angesiedelt sind.«

Sie warf ihm ein Lächeln zu, das ihn fast – aber nicht vollständig –

davon überzeugte, dass sie nur einen Witz gemacht hatte.

Schließlich verließ er seine Wohnung und fuhr nach Bel Air. Er wurde

von dem Wachposten durchgewunken und stellte ein paar Minuten vor
acht in der parkähnlichen Einfahrt der Willits den Wagen ab. Um viertel
nach acht saßen sie bereits im Esszimmer. Der Tisch war mit edlem
Porzellan und Kristallgläsern eingedeckt, und das Dinner wurde von
ausgesprochen geschultem skandinavischem Personal serviert.

Jacks Frau Marjorie stieß erst dazu, als sie sich an den Tisch setzten.

Es war Angels erste Begegnung mit ihr, und als er zur Begrüßung ihre
Hand ergriff, hatte er das Gefühl, einen kleinen Vogel in den Fingern zu
halten, der gegen die Käfiggitter flattert. Mrs. Willits war sehr schlank,
und durch ihre milchweiße Haut schimmerten die Knöchel und blaue
Venen. Im Vergleich zu ihr wirkte Angel regelrecht braun gebrannt. Als
sie Platz nahmen, beobachtete er, wie sie sich nervös durchs Haar fuhr,
über die Lippen, übers Kinn. Sie sah zerbrechlicher aus als Kristallglas –
als falle sie bei einem lauten Geräusch zu einem zitternden Häufchen
zusammen. Automatisch sprach Angel ganz leise mit ihr.

Aber Karinna schien solche Befürchtungen nicht zu haben.
»Das ist der Mann, den Daddy als neuen Aufpasser engagieren will«,

erklärte sie ihrer Mutter. »Er hat den Kerlen tüchtig ...«

»Karinna!«, warnte Jack.
»Sorry, er hat Harvey gestern Abend die Leviten gelesen. Du hättest

sehen sollen, wie er getürmt ist. Als Angel sich ihn vorgeknöpft hat,
dachte ich schon, er würde anfangen zu weinen wie ein kleines
Mädchen.«

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Angel lächelte Marjorie an. »Sie übertreibt«, sagte er.
»Das tut sie gelegentlich«, entgegnete Marjorie. Ihr Gesicht verzog

sich, als versuche sie zu lachen, aber darin hatte sie augenscheinlich
nicht viel Übung.

»Das dachte ich mir.«
»Ich will doch sehr hoffen, dass körperliche Gewalt nicht ständig auf

Ihrer Tagesordnung steht, Angel«, sagte Jack. »Aber ich bin sehr froh,
dass Sie in der Lage sind, ausgebildeten Bodyguards ›die Leviten zu
lesen‹, falls es nötig ist.«

»Ich bin immer bemüht, Gewalt zu vermeiden«, versicherte ihm

Angel. »Falls es nicht anders geht, werde ich mich aber vorher
vergewissern, ob die Leute nicht auf Ihrer Gehaltsliste stehen, bevor ich
anfange, auf sie einzuschlagen.«

Jack und Karinna brüllten vor Lachen. Marjorie gab ein leises kehliges

Geräusch von sich, das einem Winseln ähnlicher war als einem
Heiterkeitsausbruch. Angel fragte sich die ganze Zeit, was für eine
Geschichte sie wohl zu erzählen hatte – so fehl am Platze kam sie ihm in
dieser Familie vor.

Während des Essens pickte Angel mit der Gabel auf seinem Teller

herum und gab sich alle Mühe, so auszusehen, als schmecke es ihm.
Aber er spürte, wie er immer mehr in Karinnas Bann gezogen wurde. Er
beobachtete sie dabei, wie sie mit ihrem Vater lachte, wie sie ihre Augen
konzentriert zusammenkniff, als sie ihr Filet durchschnitt oder versuchte,
eine Bohne mit der Gabel aufzuspießen. Sein Blick ruhte nicht auf ihr,
weil sie so hübsch war, sondern weil sie ihn mehr denn je an jemanden
erinnerte. Und obwohl er immer noch nicht darauf gekommen war, an
wen, drang die Erinnerung doch allmählich aus den Tiefen seines
Bewusstseins an die Oberfläche.

Karinna sah auf, als habe sie ein entferntes Geräusch' gehört, und

strich sich mit der linken Hand eine lose Locke ihres kupferfarbenen
Haars aus dem Gesicht, und da wusste er es plötzlich.

Nun erinnerte er sich ganz deutlich.


Er hatte nie ihren Namen erfahren oder überhaupt irgendetwas über sie.
Sie hatte im Jahre 1898 in Tirgu Bals gelebt, einer kleinen Stadt in
Rumänien. Angel war mit Darla dort gewesen, seiner großen Liebe, der
schönen blonden Vampirin, die ihn zum Vampir gemacht hatte. Damals
hatten sie bei Heinrich Joseph Nest gelebt, dem Meister, waren durch die
Wälder gezogen und hatten ihren Durst gestillt, wann immer es sie
danach verlangte. Das amerikanische Jahrhundert hatte noch nicht
begonnen. Für Kunst und Wissenschaft war Europa immer noch der

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Mittelpunkt, und für die Vampirkultur galt in dieser Hinsicht dasselbe
wie für alle anderen Kulturen. Im folgenden Jahrhundert sollte der
Meister in die Vereinigten Staaten ziehen, wohin sich dann auch das
Augenmerk der Welt richtete. Dort beging der Meister den Fehler, nach
Sunnydale zu ziehen, wo ihn Buffy Summers tötete.

Aber zu diesem Zeitpunkt hielt er sich noch in Rumänien auf, das von

vielen als Heimat der Vampire angesehen wird. Angelus und Darla und
viele andere hatten dort mit dem Meister gelebt. Die Jagdmöglichkeiten
waren hervorragend gewesen.

Angelus hatte die Frau eines Nachts gesehen, wie sie eine gepflasterte

Straße entlangeilte. Sie trug einen Korb in der einen Hand, hielt ihre
Röcke mit der anderen gerafft und blickte alle paar Schritte hastig über
ihre Schulter. Vielleicht hatte sie jemand davor gewarnt, so spät im
Dunkeln noch unterwegs zu sein, aber sie hatte eine Besorgung zu
machen und es doch riskiert. Und nun bereute sie es.

Angelus gefiel ihr anmutiger Hals und auch die Art und Weise, wie

sich ihr Körper unter dem Umhang abzeichnete. Aber er hatte sich
gerade erst gelabt, kurz bevor er sie gesehen hatte – das Blut tropfte noch
von seinem Kinn. Er wischte es mit dem Daumen ab und leckte ihn
sauber, während er das Mädchen beobachtete. Wäre er doch nur ein
wenig hungriger gewesen ...

Aber er war es nicht, und so ließ er sie ziehen.
Und am nächsten Abend änderte sich sein Leben für allezeit. Darla

brachte ihm eine wunderschöne junge Zigeunerin. Er war sofort von ihr
bezaubert, und als er sie tötete – als er sie schließlich nahm –, war es wie
niemals zuvor.

Aber man hatte ihn dabei beobachtet, und er wurde von den

Stammesältesten des Mädchens verflucht. Aufgrund des Fluchs bekam er
seine Seele wieder. Mit ihr jedoch ging eine unermessliche Last der
Schuld für all die Verbrechen einher, die er als Vampir begangen hatte –
und eine weitere Portion, die nicht eben gering war, für seine grobe
Lebensart vor der Verwandlung. Und da beschloss Angel, die Untaten
der Vergangenheit wieder gutzumachen, indem er anderen half.

Als er das nächste Mal in Tirgu Bals war und die hübsche rothaarige

Frau wieder sah, verspürte er ein kurzes Aufkeimen von Freude, weil er
sie zuvor nicht umgebracht hatte. Sie verschloss gerade nach einem
langen Arbeitstag die Tür der Bäckerei. Der Duft von frisch gebackenem
Brot wehte durch die Straße, als sie herauskam. Angelus beobachtete sie
von einem Eingang aus auf der gegenüberliegenden Straßenseite und
erkannte an ihren hängenden Schultern und ihrem Gesicht, wie müde sie
war. Aber ihre Ausstrahlung faszinierte ihn. Denn als sie so in der

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Abenddämmerung nach Hause ging, bemerkte er ihren federnden Gang
und die stolze Haltung, die darauf hindeuteten, dass hier eine starke Frau
ihren Weg durch eine harte Welt machte. Angelus beobachtete sie –
voller Freude darüber, dass sie immer noch lebte und dass es so etwas
Schönes auf der Welt gab. Und diese Schönheit' hatte er nicht zerstört.

Aber während er ihr nachschaute, bemerkte er eine weitere Gestalt, die

ebenfalls ein Auge auf die junge Frau geworfen hatte und sogar hinter ihr
herschlich. Als sie an dem verdunkelten Eingang vorbeikam, in dem
Angelus sich versteckte, erkannte er, wer es war: Tirbol, ein weiterer
Gefolgsmann des Meisters. Tirbol war damals schon seit zweihundert
Jahren als Vampir unterwegs gewesen; er war mächtig und genoss
großen Respekt.

Angelus wusste sofort, dass Tirbol sich an ihr laben wollte. Nur ein

paar Tage waren vergangen, seit er durch den Fluch seine Seele
wiedererlangt hatte und all die Schuld verspürte. Die Vorstellung, dass er
seine Sünden vielleicht wieder gutmachen konnte, hatte sich noch nicht
in ihm gefestigt. Aber er erkannte zu diesem Zeitpunkt bereits, dass er
nicht einfach dastehen und zusehen konnte, wie Tirbol das Schönste
zerstörte, was er in jüngster Zeit gesehen hatte.

Er lief los.
Aber Tirbol war schneller und erreichte die Frau vor ihm. Sie war in

eine enge Gasse eingebogen, und Angelus sah, wie Tirbol ebenfalls um
die Ecke bog. Einen Augenblick später hallte ein schriller Schrei durch
die Dunkelheit. Angelus strengte sich an, noch schneller zu laufen. Er
musste sich regelrecht in Erinnerung rufen, dass er, obwohl er nun seine
Seele wiederhatte, immer noch ein Vampir war und damit in Vollbesitz
all seiner Stärken und seiner enormen Schnelligkeit.

Er rannte um die Ecke und erblickte die beiden. Tirbol hielt die

verängstigte Frau in den Armen und beugte seinen Kopf über ihren
entblößten Hals.

»Halt!«, rief Angelus.
Tirbol sah auf. Ein dünnes Lächeln spielte um seine Lippen.
»Angelus!«, sagte er. »Wir haben uns ja schon lange nicht mehr

gesehen.«

»Ich hatte zu tun«, sagte Angelus und gab sich Mühe, nicht die

Beherrschung zu verlieren. Das war alles noch Neuland für ihn, und
Tirbol zu sehen, wie er seine Zähne in den Hals der jungen Frau schlagen
wollte, drehte ihm den Magen um.

»Zu beschäftigt für die Familie?«
»Ich habe keine Familie«, entgegnete Angelus.

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Tirbol wies mit einem Kopfnicken auf sein Opfer. »Hast du Hunger?«,

fragte er. »Ich kann teilen.«

»Lass sie in Ruhe!«
Tirbol lachte. »Wohl kaum«, sagte er. »Sie gehört mir.«
»Dann musst du mich zuerst töten«, sagte Angelus und ging auf ihn zu.
»Wie du willst.« Tirbol schleuderte die Frau gegen eine Mauer, wo sie

schluchzend und erstarrt vor Angst zu Boden sank. »Du bleibst da!«,
befahl er ihr. »Ich kümmere mich sofort um dich.« Dann drehte er sich
zu Angelus um.

Angelus machte den ersten Schritt und griff Tirbol mit ausgestreckten

Armen an. Doch der packte ihn sofort beim Handgelenk und schleuderte
ihn mit einem Schulterwurf auf die Straße. Bevor Angelus sich
aufrappeln konnte, war Tirbol schon über ihm und verpasste ihm eine
Serie von Tritten.

Angelus versuchte, das neue und ungewohnte Schmerzgefühl zu

verdrängen, und erhob sich. Er stürzte sich erneut auf Tirbol und bekam
diesmal den rechten Arm des älteren Vampirs zu fassen. Stück für Stück
verlagerte er seinen Griff nach oben und umklammerte schließlich
Tirbols Hals. Tirbol boxte und schlug nach ihm, aber Angelus ignorierte
die Schmerzen. Er wollte Tirbol das Genick brechen und ihn dann mit
dem nächstbesten Stück Holz pfählen.

Er spürte, wie sich Tirbols Kopf in seinen Händen drehte, und ihm

wurde plötzlich klar, dass es gelingen würde. Er würde einen der
mächtigsten Vampire besiegen, denen er je begegnet war, und damit
einer wunderschönen jungen Frau das Leben retten. Es war nur eine
kleine Sache, das wusste er, aber es war ein Schritt in die richtige
Richtung. Ein Schritt auf dem Weg, den er für den Rest seines Lebens
einschlagen wollte.

Und dann traf ihn Tirbol mit seinen Klauen plötzlich ins Auge. Der

Schmerz war unbeschreiblich, und Angelus lockerte seinen Griff. Tirbol
drängte ihn rückwärts gegen eine Mauer, drehte sich um und verpasste
ihm einen Fausthieb gegen das Kinn. Angelus' Kopf flog ruckartig nach
hinten, und er ging zu Boden. Tirbol trat ihm dutzende Male gegen Kopf
und Rippen.

Angelus wurde schwarz vor Augen, er krümmte sich vor Schmerz. Als

er wieder zu sich kam, sah er, wie Tirbol sich über seine Beute beugte.
Die Frau hatte aufgehört zu schreien. Das Blut, mit dem Tirbols Kinn
verschmiert war, tropfte aus den zwei kleinen Wunden in ihrem
milchweißen Hals.

Der ältere Vampir ließ den leblosen Körper fallen, salutierte kurz in

Angelus' Richtung und verschwand in der Nacht.

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Er hatte versucht, sie zu retten, aber er hatte versagt. Sein erster

Rettungsversuch war das reinste Desaster. Angelus schleppte sich zu der
Toten, sah sie an und fühlte nach ihrem Puls: Es war zu spät!

Er hatte ihr nicht helfen können, aber in diesem Augenblick beschloss

er, seine restliche Zeit auf Erden dazu zu nutzen, den Planeten von
Vampiren zu befreien, von solchen Kreaturen, die sich an Schwächeren
vergingen. Er wollte in Not geratenen Menschen helfen.

Und er würde nicht noch einmal versagen.


»Angel?«, fragte Jack Willits.

Aber Angel wusste nicht, wo von Jack gesprochen hatte, so sehr war er

in seine Erinnerungen vertieft gewesen. Und vermutlich hatte er eine
ganze Weile Jacks jugendliche Tochter angestarrt. Karinna sah ihn
fragend an.

»Tut mir Leid«, entschuldigte sich Angel. »Ich habe ... nachgedacht.«
»Ich fragte gerade, ob Sie vielleicht heute Abend schon anfangen

wollen«, sagte Jack. »Mit Karinna, meine ich.«

»Sicher«, antwortete Angel rasch. »Darauf war ich eingestellt.«
»Gut. Das ist sehr gut. Dann sollten wir ein paar Grundregeln

besprechen.«

»Au, jetzt kommt das Beste«, sagte Karinna. »Jetzt reden wir über

mich, als wäre ich gar nicht anwesend.«

»Sie geht gerne tanzen«, sagte Jack, die Bemerkung seiner Tochter

ignorierend. »Aber ich will nicht, dass sie in Läden geht, wo es Alkohol
gibt, ob mit gefälschtem Ausweis oder ohne.«

»Ich verstehe.«
»An den Wochenenden muss sie um drei Uhr morgens zu Hause sein.

Wenn am nächsten Tag Schule ist, will ich sie um elf hier haben.«

»Daddiiiiii«, winselte Karinna.
»Zwölf, und keine Minute später!«
»Zwölf Uhr, wenn Schule ist. Verstanden!«
»Keine Zigaretten, keine Drogen, keine unbeaufsichtigten

Techtelmechtel mit Jungen.«

»Klingt ganz vernünftig«, sagte Angel. Er befürchtete allerdings

allmählich, als Babysitter und nicht als Bodyguard eingestellt worden zu
sein. Und sollte das Mädchen nicht in der Lage sein, über einige der
angesprochenen Punkte selbst zu entscheiden? Nicht, dass Angel etwas
für die Dinge übrig hatte, von denen Jack sie fernhalten wollte – er war
nur der Ansicht, es handele sich hier eher um Grundsätze, die man
bereits in ganz jungen Jahren eingeimpft bekommen sollte, und nicht um

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Aktivitäten, von denen man seine Tochter mit Hilfe von Personal
abhalten musste.

Nicht zum ersten Mal beschlich Angel das Gefühl, dass die Willits als

Familie einiges zu wünschen übrig ließen. Sein persönlicher
Erfahrungsschatz in Sachen Familie war mikroskopisch klein – die
eigene hatte er gleich zu Anfang seiner Vampirkarriere getötet. Aber
über die Jahrhunderte war er vielen anderen Familien begegnet, und sie
hatten alle weitaus besser zusammengepasst als diejenige, die er nun vor
sich hatte. Die drei verhielten sich fast wie Fremde: Jack leierte seine
Regeln wie auswendig gelernt herunter, als hätte er sie in Karinnas
siebzehnjährigem Leben bereits hundert anderen Bodyguards vorgebetet.
Karinna ignorierte sämtliche Punkte auf der Liste und war unter allen
Umständen entschlossen zu tun, was sie tun wollte. Und Marjorie blickte
mit niedergeschlagenen Augen auf ihren Teller und schnitt immer
kleinere Stückchen zurecht, die sie sich in den Mund schob und wie bei
einem Ritual eine bestimmte Zeit lang kaute, bevor sie schluckte.

Angel glaubte nicht, dass es das Blut war, das Menschen als Familie

zusammenhielt. Das hatte er bei Buffy, Giles, Willow und Xander
gesehen; er hatte selbst sogar eine Weile zu dem Clan gehört. Aber was
es auch sein mochte – bei den Willits fehlte es definitiv.

Sollte es bei ihnen durch etwas anderes ersetzt worden sein, wusste er

nicht, durch was. Vielleicht durch eine Art gegenseitiges Misstrauen.

»Gibt es eine akute Gefahr, der Karinna Ihrer Meinung nach ausgesetzt

ist?«, fragte Angel. »Hat es jemand auf Sie abgesehen? Werden Sie von
jemandem bedroht?«

»Nein, da fällt mir wirklich niemand ein«, sagte Jack. »Natürlich,

wenn man in dieser Stadt eine solche Position bekleidet, kann man nie
vorsichtig genug sein. Für eine gewisse Geldmenge würde fast jeder
Ganove alles tun. Und unser Name steht jeden Tag in der Zeitung ... Es
gibt da draußen eine Menge verrückte Leute und ein paar ganz
Hoffnungslose dazu. Ich könnte nicht mehr weiterleben, wenn meinem
Baby etwas geschieht.«

Angel erinnerte sich daran, dass Jack bereits an dem Morgen, als er

Karinna nach Hause gebracht hatte, etwas Ähnliches gesagt hatte. Es
klang fast einstudiert, ein wenig dick aufgetragen.

»Keine Sorge«, entgegnete er und versuchte, Jack beruhigend

zuzulächeln. »Ich werde nicht zulassen, dass ihr etwas passiert.«

»Ich vertraue Ihnen, Angel«, sagte Jack. »Und ich würde nur ungern in

meinem Vertrauen enttäuscht.«

Bevor Angel etwas sagen konnte, schob Marjorie Willits ihren Stuhl

zurück. Sie blickte vom Tisch weg, als sähe sie einer nur für sie

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sichtbaren Erscheinung hinterher. Als sie sich umdrehte, um das Zimmer
zu verlassen, hatte Angel den Eindruck, auf ihren Wangen glänzten
Tränen.

»Entschuldigen Sie bitte!«, sagte sie. »Es tut mir Leid.«
Und schon eilte sie zur Tür hinaus. Als sie weg war, sagte Jack: »Sie

müssen Marjorie verzeihen. Es geht ihr in letzter Zeit nicht sehr gut.«

»Kein Problem«, sagte Angel. »Ich hoffe, ihr geht es bald besser.«
»Das wird es sicherlich«, versicherte ihm Jack.
»Angel, können wir dann los?«, fragte Karinna. »Im Hi-Gloss gibt's

heute Abend einen neuen DJ. Da will ich unbedingt hin!«

Angel nickte. »Sicher, von mir aus kann's losgehen«, sagte er. »Ist das

in Ordnung, Jack?«

»Solange Sie den Job machen, Angel, bin ich mit allem

einverstanden.«

»Ist Consuela noch da, Dad?«, fragte Karinna.
»Ich glaube schon.«
»Gut.« Karinna stand auf und verließ das Esszimmer. Angel sah Jack

fragend an.

»Consuela macht ihr die Haare und das Make-up«, erklärte ihm Jack.

»Sie hat Jahrzehnte bei Monument gearbeitet, und nun gehört sie zum
Hauspersonal. Ich kümmere mich nämlich um meine Leute. Da kann mir
niemand etwas anderes nachsagen.«

»Gewiss nicht.«
»Karinna wird bestimmt zwanzig, dreißig Minuten brauchen«, sagte

Jack. »Ich muss leider noch ein bisschen Papierkram in meinem Büro
erledigen. Aber Sie können gerne hier warten – oder drüben in der
Eingangshalle oder auch im Salon. Fühlen Sie sich wie zu Hause!«

»Ich komme schon klar«, sagte Angel. »Gehen Sie ruhig, Jack!«
Mr. Willits reichte ihm die Hand. »Ich bin sehr froh, dass Sie den Job

übernommen haben, Angel. Jetzt fühle ich mich schon viel besser.«

»Ich werde Sie nicht enttäuschen«, entgegnete Angel. Für einen

Augenblick war ihm, als verspreche er das nicht Jack Willits – sondern
einer rothaarigen jungen Frau, deren Namen er nie erfahren hatte und die
vor über hundert Jahren in einem weit entfernten Land gestorben war.






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8






Angel lehnte den angebotenen Kaffee dankend ab und ging hinaus, um
auf Karinna zu warten, während das Personal den Tisch abräumte.

Früher einmal hatte sein Zuhause ein Dach aus Gras und einen Boden

aus Erde gehabt. Und auch heute noch lebte er in einem zwielichtigen
Viertel. Aber es gefiel ihm dort. Wie Cordy immer sagte, wurde der
Mangel an Komfort und Stil im Haus durch Feuchtigkeit und fehlende
Wohnqualität ausgeglichen ... Die Wohnung verfügte über einen Zugang
zum Kanalisationssystem, und das war wichtig, wenn man tagsüber nicht
vor die Tür konnte, ohne einer Spontanverbrennung zum Opfer zu fallen.
Abgesehen davon führte er nun ein richtiges Geschäft. Es fand zwar
nicht besonders viel Laufkundschaft zu ihm, aber es gab doch einige
wenige Leute, die wussten, wo sie ihn finden konnten, wenn sie Hilfe
brauchten.

Er hoffte jedenfalls, der Job als Bodyguard werde ihn nicht zu lange in

Anspruch nehmen. Es gab noch viele andere Menschen in Los Angeles,
die seine Hilfe brauchten. Doyle würde ja nicht einfach damit aufhören,
von den Mächten der Ewigkeit Visionen zu empfangen, nur weil Angel
gerade beschäftigt war.

Nach einer Weile – und zwar nach fünfundvierzig Minuten und nicht

den von Jack veranschlagten zwanzig oder dreißig – hörte Angel oben
eine Tür ins Schloss fallen und Schritte auf der Treppe. Er ging in die
Eingangshalle und sah Karinna herunterkommen. Sie hatte das Tank-Top
und die Hose, die sie zum Dinner getragen hatte, gegen ein komplett
anderes Outfit eingetauscht: einen Lederrock, der sich eng an ihre Hüften
und Schenkel schmiegte, schwarze Strümpfe mit Spinnennetz-Muster,
ein schwarzes Lederbustier und ein Lederhalsband. Sie trug hohe Schuhe
mit Pfennigabsätzen und hatte ein wenig Mühe mit dem Gleichgewicht,
als sie die Stufen herunterschritt. Ihr Haar war zu einer perfekten Frisur
hochgesteckt; keine Strähne tanzte aus der Reihe. Und das Make-up sah
ebenfalls großartig aus. Ihr Parfüm erreichte Angel, bevor sie vor ihm
stand.

Er befürchtete bereits angesichts ihrer Aufmachung, sie wolle mit ihm

einen der zahlreichen Fetisch-Clubs in der Stadt aufsuchen. In diesen
Läden wimmelte es immer vor Möchtegern-Vampiren, und die gingen
Angel ziemlich auf die Nerven. Aber da fiel ihm ein, dass Karinna von

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einem neuen DJ im Hi-Gloss gesprochen hatte. Diesen Club hatte Cordy
bereits einmal erwähnt; er war offenbar sehr angesagt und befand sich in
einem alten Warenlager in einem Viertel nicht weit von der Innenstadt.

»Du siehst toll aus!«, sagte Angel, als Karinna auf ihn zukam, und

geleitete sie aus dem Haus. Als er die Beifahrertür für sie öffnete, sah
Karinna ihn mit einem merkwürdigen Grinsen an. »Bist du eigentlich
Amerikaner, Angel?«, fragte sie.

»Warum?«
»Ach, nichts. Ich finde nur, Angel ist irgendwie ein komischer Name.«
»Meine Familie stammt aus Irland«, erklärte er. Das schien zu

genügen.

Er stieg auf der Fahrerseite in den Wagen, ließ den Motor an und fuhr

die lange Einfahrt hinunter. »Also, zum Hi-Gloss?«

»Jawohl!«
»Bin ich angemessen gekleidet?«
»Du bist prima angezogen für jemanden, der zum Dinner bei dem

berühmten Chef eines berühmten Filmstudios eingeladen ist«, antwortete
Karinna. »Für das Hi-Gloss ... wird es eben genügen müssen.«

Die Musik war ohrenbetäubend, wie Angel befürchtet hatte, und der

stampfende Rhythmus schien immer gleich zu bleiben. Angel konnte
nicht erkennen, wann ein Titel endete und der nächste begann, und es
wollte ihm nicht in den Kopf, womit der DJ überhaupt so viel Geld ver-
diente, von Ruhm und Ehre mal ganz abgesehen.

Aber schließlich beschwerten sich die Leute schon, seit es überhaupt

Familien gab, über die Musik, die von der jeweiligen Folgegeneration
gehört wurde. Angel selbst konnte sich noch an die Zeit vor dem
Rock'n'Roll erinnern, vor dem Jazz, vor der Big-Band-Musik – an die
Zeit, als es noch gar keine Plattenindustrie gab. Er sah Mode und Trends
eher aus der Langzeitperspektive. Er hatte schon vor langer Zeit
begriffen, dass es gar keinen Sinn machte, über Trends zu klagen. Sie
kamen und gingen, und auf den einen folgte der nächste. Angel hatte
aufgehört, irgendeine Musik-, Kunst- oder Literaturform als seine
höchstpersönliche anzusehen und nahm sie einfach als das, was sie
waren.

Aber wie philosophisch er die Sache auch betrachtete, es änderte

nichts an der Tatsache, dass der Technobeat ihm in den Ohren wehtat.

Karinna war sofort auf die Tanzfläche enteilt, nachdem sie zur Tür

hereingekommen waren. Ein Türsteher mit Pferdeschwanz hatte sie
hereingewinkt. Er wusste wahrscheinlich, wer Karinna war, oder hatte
erkannt, dass der Clubbesitzer eine so attraktive junge Frau gern auf der
Tanzfläche sah. Sie ließ sich mit keinem der Tänzer näher ein, sondern

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tanzte mit vielen verschiedenen Männern und Frauen. Manchmal konnte
Angel nicht einmal beurteilen, ob sie überhaupt mit jemandem tanzte. Er
stand an der Bar und hielt den Blick auf die Tanzfläche gerichtet. Er
bestellte sich, damit er nicht so allein dastand, einen alkoholfreien Drink,
ließ ihn aber unberührt hinter sich auf der Bar stehen.

Verschwitzt kehrte Karinna schließlich zu ihm zurück. »Ist es nicht

super, Angel?«, brüllte sie. »Amüsierst du dich?«

Angel fand, er habe sich in der Hölle schon besser amüsiert,

entgegnete aber: »Klar, ist echt super! Wollen wir dann wieder nach
Hause?«

»Soll wohl ein Scherz sein! Ich werde gerade erst richtig warm.«
»Oh, gut.«
»Dieser DJ geht voll ab, findest du nicht?«
»Doch, doch, das tut er.«
»Willst du mit mir tanzen?«
»Ich arbeite, Karinna. Ich kann nicht tanzen!«
Sie blickte ihn schmollend an. »Du Spielverderber!«, rief sie. »Wie

langweilig!«

»Du hast es erkannt.«
Karinna drehte sich um und stieß fast mit einem gut aussehenden

jungen Typen zusammen, der zwei hohe Gläser mit einem sprudelnden
Getränk in den Händen hatte. Sie taxierte ihn in Sekundenschnelle und
legte ihm die Hand auf die Schulter.

»Ach, das tut mir aber Leid«, sagte sie. »Hast du etwas verschüttet?«
»Ich glaube nicht«, entgegnete er.
»Na, da bin ich ja froh. Ich hätte besser aufpassen sollen.«
»Ist schon in Ordnung.«
Sie zeigte auf die Gläser in seinen Händen. »Ist das für jemand

Bestimmtes? Bist du mit einem Freund hier?«

Er ließ rasch seinen Blick durch die Menge schweifen, als wolle er

überprüfen, ob sein »Freund« ihn beobachtete. Zufrieden sah er Karinna
wieder an. »Ja, ein Freund. Ein Kumpel sozusagen.«

»Ein Kumpel«, wiederholte Karinna.
»Stimmt genau.«
»Meinst du, dein Kumpel hat was dagegen, wenn wir zusammen

tanzen? Dann kann ich mich dafür entschuldigen, dass ich dich fast
umgerannt habe.«

Wieder ein rascher Blick nach links und rechts. Angel war klar, dass

der Typ sich nicht erwischen lassen wollte. Aber mit Karinna tanzen
wollte er unbedingt.

»Ich bin sicher, dass es ... ihm ... nichts ausmacht.«

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Karinna nahm ihm beide Gläser aus den Händen. »Hier«, sagte sie,

drehte sich zu Angel um und reichte ihm die Getränke. »Halt mal!«

Angel nahm sie, schnupperte daran und stellte sie auf einem Tisch ab.

Fruchtig, aber ohne Alkohol. Gut so! Aber als persönlicher Diener oder
Kellner war er schließlich nicht angestellt. Wenn etwas geschah, musste
er die Hände frei haben.

Karinna zuckte mit den Schultern, nahm ihre neue Bekanntschaft bei

der Hand und führte sie auf die Tanzfläche.

Vielleicht bin ich ja altmodisch, dachte Angel, aber ich finde, wenn ein

Typ mit einem Mädchen in den Club kommt, sollte er ihn auch mit
demselben Mädchen wieder verlassen – und er sollte sich den Abend
über sogar ein wenig um seine Begleiterin kümmern.

Nach ein paar Minuten kam eine junge Frau vorbei. Sie sah sich um,

als würde sie nach jemandem Ausschau halten. Es war schwierig, auf der
Tanzfläche etwas zu erkennen – es gab nur indirektes blaues Licht, das
von einer Reihe Spiegel reflektiert wurde, die unter der Decke montiert
waren. Ab und zu zuckte lediglich ein Spot durch die ekstatische Menge.
Da alle gleichermaßen jung und schick waren, fiel auch niemand
besonders auf. Sogar Karinnas Outfit war bei vielen Mädchen mehr oder
weniger Standard.

Als die junge Frau die beiden Drinks auf dem Tisch entdeckte, um die

sich bereits kleine Wasserkränze gebildet hatten, lächelte sie und sah
sich nach demjenigen um, den sie zur Bar geschickt hatte. Als ihr Blick
auf Angel fiel, zuckte er leicht mit den Schultern und nickte mit dem
Kopf in Richtung Tanzfläche.

Dort hing Karinna wie eine Klette an dem jungen Mann und schmiegte

sich an ihn, als wären sie schon ewig ein Paar. Als die junge Frau die
beiden erspähte, machte sie ein bestürztes Gesicht. Angel fühlte sich sehr
unwohl in seiner Haut: Sie war tatsächlich der »Kumpel«, sie wusste nun
Bescheid, und er hatte sie auch noch auf die Tanzenden hingewiesen.

Sie schnappte sich eins der Gläser und sah Angel wieder an. Damit sie

ihn trotz der lauten Musik verstehen konnte, beugte er sich zu ihr vor.
»Besser, es jetzt rauszufinden als später, nicht wahr?«, sagte er.

»Wahrscheinlich«, antwortete sie. »Und du, bist du besetzt?«
»Bin ich.«
»Schade!« Sie zuckte mit den Schultern und verschwand in der

Menge. Angel war sicher, sie würde, noch bevor die Nacht zu Ende ging,
einen anderen finden, der sie tröstete.

Aber ihm war Karinnas Rolle in der ganzen Geschichte unangenehm.

Ihr Verhalten schien ihrem Alter nicht angemessen. Er hatte nicht vor,
die Ansichten des l8.Jahrhunderts in das 21. zu übertragen, aber im

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Prinzip war er der Meinung, die Menschen sollten im Umgang miteinan-
der Rücksicht walten lassen.

Aber so war es besser für die junge Frau, redete er sich zu. Und er

hoffte, sie traf beim nächsten Mal eine bessere Wahl. Einen Augenblick
lang hatte er das Gefühl, sie tue ihm Leid, aber dann wurde ihm bewusst,
dass ihn ein ganz anderer Schmerz quälte. Sie war auf der Suche nach
jemandem, mit dem sie eine wie auch immer geartete Beziehung
aufbauen konnte. Das hatte er hinter sich. Er hatte versucht, eine
Beziehung aufzubauen, und es war vorbei. Und für ihn würde es das kein
zweites Mal geben. Es durfte nicht sein, sonst verlor er seine Seele
erneut.

Er unterschied sich von all den Leuten im Club, als gäbe es eine

unsichtbare Mauer zwischen ihm und ihnen. Er gehörte nicht dazu, und
das würde sich nie ändern.

Angel beschlich das Gefühl, der Typ, der seine Freundin versetzt hatte,

würde mit seiner Entscheidung nicht glücklich werden. Karinna hatte
schon mit Dutzenden Kerlen genauso leidenschaftlich getanzt und – da
war sich Angel sicher – bei jedem von ihnen die Hoffnung geschürt, sie
ginge später mit ihm nach Hause.

Aber er hatte Jacks Regeln noch deutlich im Ohr: keine

unbeaufsichtigten Techtelmechtel mit Jungs. Und in diesem Augenblick
bemerkte er, dass er Karinna aus den Augen verloren hatte. Nur eine
Sekunde hatte er nicht hingesehen, und genau die hatte sie genutzt.

»Kein Wunder, dass kein Bodyguard lange bei den Willits bleibt«,

dachte er grimmig. »Ich bin der Nächste, der gefeuert wird.«

Er bahnte sich einen Weg zur Tanzfläche und erinnerte sich an das

erste Mal, als er Karinna im Sugar Town gesucht hatte. Wenigstens tat
dieser Club hier, wie dunkel und bedrückend er auch war, nicht so sehr
in den Augen weh wie diese Monstrosität in Pink. Aber es war schwer,
jemanden in der zuckenden Menge auf der Tanzfläche wiederzufinden,
selbst wenn man so geschärfte Sinne hatte wie Angel.

Er stellte sich auf die Zehenspitzen, um über die Köpfe hinwegschauen

zu können. Irgendwo musste doch' ein Blick auf ihr hochgestecktes rotes
Haar zu erhaschen sein! Aber Angel hatte kein Glück. Er ging ans andere
Ende der Tanzfläche und spähte zurück in die Menge. Nichts. Er hielt die
Nase in die Luft, um vielleicht einen Hauch ihres Parfüms aufschnappen
zu können, aber es waren zu viele Düfte vermischt, und er konnte ihren
nicht herausfiltern.

»Wenn sie den Club verlassen hat«, dachte er, »werde ich ... ich weiß

auch nicht was. Aber es wird ihr nicht gefallen.«

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Dann kamen ihm die Spiegel unter der Decke wieder in den Sinn. Sie

befanden sich in sehr großer Höhe und boten einen Blick aus der
Vogelperspektive auf den Raum. Angel sah nach oben, konnte Karinna
aber nicht entdecken. Dann blickte er in die Spiegel an den Wänden, die
das blaue Licht reflektierten und den Club größer erscheinen ließen, als
er eigentlich war. Angel arbeitete sich im Kreis durch den ganzen Raum
und beobachtete in den Spiegeln die Tanzfläche. Auf diese Weise
gewann er einen Überblick über den ganzen Club, und wenn Karinna
noch dort war, würde er sie auch finden.

Unterwegs checkte er auch die Tür zu den Toiletten und den Ausgang,

nur für den Fall, dass sie dort irgendwo auftauchte.

Aber er kehrte zu seinem Ausgangspunkt zurück, ohne Karinna

erwischt zu haben. In keinem der Spiegel hatte er sie entdeckt, und sie
war zu keiner der Türen hinausgegangen. Sie war einfach verschwunden.

Er beschloss, es draußen zu versuchen. Vielleicht war sie noch nicht

weit gekommen. Noch ein letzter Blick in den Spiegel...

»Suchst du jemanden?«
Er drehte sich um, und da stand sie direkt vor ihm.
»Wo warst du?«, fragte er.
»Auf der Tanzfläche«, entgegnete sie. »Was hast du denn gedacht?«
»Ich weiß nicht, ich konnte dich nirgends finden.«
»Das verstehe ich wirklich nicht, Angel. Ich war genau da vorn, die

ganze Zeit!«

»Ich möchte nicht, dass du dich noch einmal aus meinem Blickfeld

bewegst«, sagte Angel und bemerkte, dass er wie ein besorgter Vater
klang. »Ich dachte, du wärst...«

»Du brauchst dich gar nicht so aufzuregen, Angel«, sagte Karinna mit

einem ironischen Grinsen. »Du musst lockerer werden. Hast du
eigentlich schon mal 'ne Freundin gehabt?«

Angel ignorierte diese Frage. »Los komm!«, sagte er und fasste sie am

Arm. »Wir fahren jetzt nach Hause.«

»Aber Angel...«
»Ab nach Hause!«
Sie seufzte. Und Angel fühlte sich in diesem Augenblick nun wirklich

wie ein Vater. Sein Alter spürte er auch ganz deutlich.

Jedes einzelne Jahrhundert.





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9






Es gibt Tage im Leben, dachte Cordelia Chase und räkelte sich
genüsslich in ihrem Bett, da stimmt einfach alles! Die Götter lächeln auf
einen herab, die Sterne stehen in der richtigen Konstellation, und alles ist
im Lot - was auch immer das eigentlich bedeuten soll! An solchen Tagen
liegt die Zukunft vor einem wie eine Landkarte mit den Orten
Zufriedenheit, Ruhe und Glück darauf. Zu Ruhm und Wohlstand ist es
nicht mehr weit, und man freut sich schon drauf, all denen, die immer an
einem gezweifelt haben, ein fröhliches »Hab ich doch gesagt« zuzurufen.

Schwungvoll warf sie die Decke zur Seite und schwang die Beine aus

dem Bett.

Heute war ein solcher Tag.
Und es war ein großartiges Gefühl!
Da draußen wartete Monument Pictures auf sie. Eine neue Karriere,

ein neues Leben. Starrummel. Die Verehrung von Millionen Fans.
Cordelia konnte es nicht abwarten!

Sie sprang unter die Dusche und sang die ganze Zeit. Sie putzte sich

die Zähne, föhnte ihr Haar und durchforstete ihren Kleiderschrank nach
dem richtigen Outfit. Phantom-Dennis nahm ein paar Kleider für sie
heraus und hängte sie im Raum auf, aber keines erschien passend für
ihren Auftritt.

Zwölf Kleider später beschloss sie, dass es gar nicht so sehr auf das

ankam, was sie jetzt anzog, da sie ja sowieso in der Garderobe für die
Rolle eingekleidet werden würde, die sie spielen sollte. Sie konnte mit
einem schmutzigen Sweatshirt erscheinen, und es wäre den Filmleuten
egal.

Also wählte Cordelia schließlich ein einfaches rotes Kleid mit

geschnürtem Rückenteil und rote Pumps. Ein wenig Make-up, noch mal
mit der Bürste durch die Haare. Wohl zum tausendsten Mal an diesem
Morgen blickte sie prüfend in den Spiegel.

Die Vollkommenheit in Person! Cordelia verließ die Wohnung mit

einem Lächeln auf den Lippen.

Aber als sie vor dem Tor zum Studiogelände stand, bekam sie es mit

der Angst zu tun.

Plötzlich befürchtete sie, der Wachposten würde sie gleich wieder

wegschicken. Sie auslachen. Sie als Hochstaplerin festnehmen lassen.

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Ihre Knie wurden weich wie Butter, und sie schaffte es kaum, zu dem

Wachhäuschen zu gehen.

Der Wachmann, ein drahtiger Schwarzer in makelloser blauer

Uniform, lächelte sie freundlich an. »Guten Morgen«, sagte er.

»Ja«, sagte Cordelia. »Morgen, meine ich. Und gut auch. Der Morgen

ist so gut, besser könnte er gar nicht sein, nicht wahr?« Sie sah in den
blauen Himmel. »Ich meine, ist doch alles da, oder? Sonne, Himmel,
Vogelgezwitscher... Bestimmt singen sie irgendwo, auch wenn der
Verkehrslärm hier vielleicht ein wenig laut ist.«

»Kann ich etwas für Sie tun, Madam?«, fragte der Mann.
Cordelia war sich sicher, dass jetzt der Moment kam, in dem er sie

wegschickte und ihr in ihren blöden – aber wohlgeformten – Hintern trat.

»Nun, ich weiß nicht«, sagte sie. »Ich sollte auf einer Liste stehen oder

so, aber ich denke, ich stehe vielleicht nicht drauf, also ...«

»Wie ist denn Ihr Name?« Er holte ein Clipboard hervor, auf das ein

paar Blätter geheftet waren. »Wollen wir doch mal nachsehen!«

»Nachsehen ist immer gut, nicht wahr?«
»Ihr Name, Madam?«
Steh drauf!, dachte Cordelia. Steh drauf! Steh drauf! Steh drauf! Wenn

ihr Name nicht auf der Liste stand – und davon war sie zu diesem
Zeitpunkt felsenfest überzeugt - wusste sie wirklich nicht, wie sie Angel
und Doyle oder sonst jemandem für den Rest ihrer miserablen Existenz
auf Erden noch einmal in die Augen sehen sollte.

»Chase. Cordelia Chase.« Ihre Stimme klang ganz dünn und weit weg.
»Oh, natürlich, Ms. Chase«, sagte der Wachmann und strahlte sie an.

»Willkommen bei Monument! Wir haben Sie bereits erwartet.«

Cordelia vergewisserte sich mit einem Blick über die Schulter, ob

hinter ihr nicht vielleicht noch eine Ms. Chase stand. Aber sie war das
einzige weibliche Wesen im gesamten Fußgängerbereich. Für Autos gab
es ein anderes Tor, an dem ein weiterer Wachmann stand, aber da
Cordelia nicht erwartet hatte, dass es einen Parkplatz auf dem Gelände
gab, war sie zu Fuß gekommen.

»Mich?«
»Ja, Sie. Hier steht es. Cordelia Chase sagten Sie, nicht wahr?«
»Das stimmt. Ich meine, das bin ich, glaube ich.«
»Nun, dann treten Sie ein! Wissen Sie, wohin Sie müssen?«
Cordelia hatte keine Ahnung.
»Ähm, ich glaube schon, aber vielleicht könnten Sie es mir noch mal

erklären.«

Der Wachmann nickte. »Kein Problem«, meinte er. Er zeigte auf eine

Straße zwischen zwei riesigen Bühnenaufbauten. »Sehen Sie diesen Weg

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da? Biegen Sie rechts ab und an der ersten Ecke nach links. Dabei
kommen sie an weiteren Kulissen und der Mühle vorbei. Dann gelangen
Sie zu den Bürogebäuden. Sie müssen in das zweite. Es ist das
Fairbanks-Gebäude. Sie gehen da rein, dann auf die zweite Etage,
Zimmer 213. Alles klar?«

»Ich glaube, das schaffe ich.«
»Sehr gut, sehr gut. Einen schönen Tag noch, Ms. Chase. Wir sehen

uns!«

Das gefiel Cordelia. Ihr gefiel an der Szene so ziemlich alles: wie der

Verkehr auf der Straße vorbeirauschte, wie die Autos vor dem Tor
warteten, wie sich die Leute fröhlich grüßten. Nun konnte sie auch den
Morgengesang der Vögel hören. Sie war auf dem Filmgelände! Sie
wurde erwartet. Man brauchte sie hier.

Das Leben war schön!
Cordelia ging zwischen riesigen Bühnenanlagen durch, deren Wände

sich hoch neben ihr auftürmten; wie Hochhäuser ohne Fenster. Bei
einigen standen die breiten Türen offen, und sie spähte hinein. Wie
Lagerhallen sahen sie aus, allerdings solche, in denen man einen Dino-
saurier unterbringen konnte. Cordelia fühlte sich an einen
Flugzeughangar erinnert – für Zeppeline, versteht sich.

Das Gefühl, allein über das Filmgelände zu spazieren – ohne einen

Fremdenführer, der eine Horde Touristen begleitete –, war
bemerkenswert. Es war, als gehöre sie einfach dorthin. Sie war schon zu
Vorsprechproben bei Casting-Agenturen gewesen und hatte ein paar
Werbespots in kleinen, engen Studios in der Stadt gedreht. Auf diesem
Filmgelände ließ einen jedoch schon die gigantische Größe all der
Bühnen spüren, wie groß das war, was man tat. Filme drehen!
Hollywood!

Alle, die ihr entgegenkamen, wirkten so fröhlich. Es war nicht einmal

neun Uhr, und die Leute waren schon bei der Arbeit; schwatzten und
lachten, während sie sich an ihr Tagewerk machten.

Aber warum auch nicht? Sie arbeiteten schließlich beim Film – in der

Traumfabrik. Da konnte man ja nur fröhlich sein.

Und nun gehörte Cordelia Chase selbst dazu. Kurz ergriff sie das

Verlangen, sofort der Scooby-Gang von ihrem Erfolg zu berichten, aber
dann verwarf sie diese Idee wieder. Es sollte eine Überraschung für die
Freunde in Sunnydale werden, ihren Namen auf einem Filmplakat zu
entdecken! Oder auf der Titelseite von People. Sie hatten lautstark
Zweifel an Cordelias Hollywood-Plänen geäußert, und nun würden sie
zurücknehmen müssen, was sie gesagt hatten.

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Wie würde wohl ihr erster Film sein, fragte sich Cordelia. Abenteuer

und Action? Vielleicht eine romantische Komödie? Eine Rolle an der
Seite von Richard Gere oder Tom Cruise womöglich?

Cordelia sah nun die Bürogebäude vor sich, genau wie der Wachmann

ihr erklärt hatte. Sie waren dreistöckig, in mediterranem Stil gebaut und
trugen Schindeldächer. Das Zweite war das Fairbanks-Gebäude, und dort
hatte sie ihren Neun-Uhr-Termin. Als sie darauf zuging, spürte sie kaum
noch den Boden unter den Füßen.

Sie betrat eine riesige Empfangshalle, in der eine große Tafel hing, auf

der alle Büros ausgewiesen waren, die sich in dem Gebäude befanden –
überwiegend Produktionsbüros von berühmten Schauspielern und
Regisseuren. Mit wem würde sie arbeiten? Cordelia konnte es kaum
abwarten, mit dem Fahrstuhl die zweite Etage zu erreichen.

Als sie ausstieg, kam sie in einen ruhigen, mit Teppich ausgelegten

Korridor. Die Nummer 213 stand an der vierten Tür auf der linken Seite.
Außer der vergoldeten Zahl gab es kein weiteres Schild. Cordelia blieb
zögernd stehen. Sie wusste nicht, ob sie klopfen oder einfach hinein-
gehen sollte. Kurzerhand beschloss sie, ohne Klopfen einzutreten, drehte
den Knauf, machte die Tür schwungvoll auf und betrat den Raum.

Als Erstes sah sie eine hüfthohe Theke. Dahinter arbeiteten zwei

Angestellte, ein Mann und eine Frau, an Computern.

Der Mann sah Cordelia an.
»Kann ich Ihnen helfen?«, fragte er freundlich.
»Ich hoffe, ich bin hier richtig«, sagte Cordelia. »Das ist doch Zimmer

213 im Fairbanks-Gebäude?«

»Ja, das stimmt. Haben Sie einen Termin?«
»Ja, mein Name ist Cordelia Chase.«
Der Mann sah einen Stapel Aktenmappen durch. »Okay, da haben wir

Sie ja schon.« Er erhob sich, kam zur Theke und reichte Cordelia die
Hand. »Willkommen bei Monument Pictures, Ms. Chase! Ich bin sicher,
Sie werden hier eine schöne Zeit verbringen.«

Cordelia war enttäuscht. Das Büro sah nicht gerade aus wie das eines

berühmten Stars. Oder nach irgendetwas, das sie interessiert hätte. »Für
was bin ich denn vorgesehen?«, fragte sie.

Der Mann sah wieder in die Aktenmappe. »Hier steht, Sie sind als

neue Begleiterin der Besichtigungsrundfahrten eingeteilt. Das ist ein
hervorragender Job! Damit habe ich auch mal angefangen, und sehen
Sie, wo ich heute bin!«

Super!, dachte Cordelia. Vielleicht schaffe ich es ja auch eines Tages

bis in die Personalabteilung!

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»Hey«, sagte Doyle. »Dein Boss kommt in der Hollywood-Presse vor.«

Angel sah von seinem Schreibtisch auf, wo er immer noch mit den

Zeitschriften aus der Bibliothek beschäftigt war. Nach seinem Abend mit
Karinna hatte er fast den ganzen Tag geschlafen. Schließlich musste er
am Abend wieder mit ihr auf die Piste. »Seit wann liest du denn solche
Zeitungen?«

»Cordy hat mich dazu gebracht. Man lernt dabei viele interessante

Dinge. Hier zum Beispiel: Chix Flix verkauft Nix Tix. So etwas erfährst
du garantiert nicht aus der New York Times

»Was gibt es denn Neues über Jack Willits?«
»Weißt du, was für Schwierigkeiten er hat?«
»Abgesehen davon, dass Karinna seine Tochter ist, meinst du?

Nein!«

»Hier steht, Monument Pictures war vom Konkurs bedroht. Es sah

wohl schon so aus, als sollten Köpfe rollen. Dann wäre Jacks Kopf der
Erste gewesen, aber nun hat er die Situation wohl doch noch einmal
gerettet. Er hat nämlich Blake Alten für einen Film verpflichten können,
der dieses Jahr noch gedreht wird.«

»Blake Alten ist dieser Schauspieler, der...« Angel grübelte. Er hatte

den Namen schon einmal gehört.

»Das ist der, der jeden Film rausreißt, egal, wie schlecht das Drehbuch

ist. Der größte Actionstar der Welt, wie man sagt. Er verdient bei jedem
Film im Schnitt fünfundzwanzig Millionen, aber für diesen will er nur
neun kassieren, weil ihm das Drehbuch so gut gefällt. Allein damit sorgt
er dafür, dass Monument Pictures wieder schwarze Zahlen schreibt.
Scheint ja geradezu Jack Willits Glückstag zu sein!«

»Wenn man außer Acht lässt, dass er diese schreckliche Karinna als

Tochter hat.«

»Ja, wenn man das außer Acht lässt.«
»Also ist es Monument im Laufe eines einzigen Tages gelungen, sich

vom Pleitegänger zum zugkräftigsten Studio in der Branche zu mausern.
Und Jack hat die Situation gerettet – wie auch seinen eigenen Kopf. Ich
glaube, er ist heute wirklich ein glücklicher Mann.«

Die Eingangstür ging auf. »Wie schön, dass wenigstens irgendjemand

glücklich ist!«, schimpfte Cordelia. »Aber wenn ich den Namen
Monument Pictures heute noch einmal höre, fange ich an zu schreien!«

Angel und Doyle sahen sie erstaunt an. Angel war überrascht, wie viel

Frust und Wut sich in Cordelias Gesicht widerspiegelte. »Nicht so gut
gelaufen, der erste Tag?«, fragte er.

»Du hast ja keine Ahnung!«, entgegnete sie empört. »Dein Freund

Jack Willits hat mich gelinkt.«

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»Gelinkt? Wie denn?«
»Du hast doch gehört, wie er gesagt hat, ich würde ein Star? Oder

zumindest Schauspielerin?«

Angel überlegte kurz. »Eigentlich nicht. Ich erinnere mich daran, dass

er dir einen Job angeboten hat. Aber weitere Details wurden meines
Erachtens nicht besprochen.«

»Du meinst, ich habe mir das nur eingebildet? Na ja, vielleicht war es

so. Aber trotzdem hab ich doch nicht im Traum daran gedacht, dass er
mir einen Job als Touriführerin auf dem Filmgelände anbietet!«

»Touriführerin?«, wiederholte Doyle und unterdrückte mühsam ein

Lachen. »Du? Dazu muss man doch allzeit gut gelaunt sein und lächelnd
die Fragen unausstehlicher Touristen beantworten können!«

»Das findest du wohl witzig, Doyle?«, bemerkte Cordelia. Unbewusst

ballte sie die Hände zu Fäusten.

Doyle hob beschwichtigend die Hände. »Nein, nein, das finde ich

überhaupt nicht, Cordy!«

»Ich musste heute vier Touren leiten«, erzählte sie. »Meine Füße tun

tierisch weh. Ich dachte, ich ersticke an den Abgasen von diesem
Bimmelbähnchen. Riecht mal! Ich stinke immer noch danach!« Doyle
beugte sich zu ihr und schnüffelte, aber Cordelia schob ihn genervt zur
Seite und fuhr mit ihrer Tirade fort. »Zuerst musste ich eine ewig lange
Schulung mit einem sterbenslangweiligen Video über mich ergehen
lassen. Ich hatte Angst, mir schläft das Hirn ein. Dann musste ich Leuten
aus siebzehn Ländern und zwanzig unterschiedlichen Bundesstaaten das
Haus von My Hero und das Fort von Wagons West zeigen und die Leute
mit vierzig verschiedenen Kameras davor fotografieren. Habt ihr
eigentlich eine Ahnung, wie schwierig es ist, die vielen verschiedenen
Dialekte und Akzente zu verstehen?«

»Potzblitz, davon hatte ich ja keine Ahnung!«, entgegnete Doyle und

klang in diesem Augenblick wieder wie ein waschechter Ire.

»Mir dir rede ich doch gar nicht«, gab Cordelia patzig zurück.
»Hey, ich bin doch gar nicht der, der dich ... na ja, der dir eigentlich

eine bezahlte Arbeit beschafft hat. Das ist doch gar nicht so schlecht.
Und du bist gerade rechtzeitig eingestiegen, wenn du jetzt in den Genuss
von Vorkaufsrechten kommst.«

»Ja, ja, Blake Alten, bla bla bla, hab ich heute schon hundertmal

gehört.«

»Vielleicht lernst du ihn ja kennen«, meinte Angel.
»Das ist der einzige Hoffnungsschimmer, der mich am Leben hält«,

entgegnete Cordelia. »Solange ich auf dem Filmgelände bin, ist es mir

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immerhin möglich, Regisseure und Produzenten kennen zu lernen, die
richtige Arbeit für mich haben.«

»So ist's richtig!«, bemerkte Doyle. »Das nenne ich mal 'ne positive

Einstellung!«

»Dafür bin ich ja bekannt«, entgegnete Cordelia unglücklich.
»Ich glaube, die Willits machen uns noch alle verrückt«, sagte Angel,

um das Thema zu wechseln. »Ich musste mich gestern mit Karinna
abplagen. Hast du schon vom Hi-Gloss gehört?«

»Ob ich davon gehört habe? Ich bin schon zweimal abgewiesen

worden. Und sie ist reingekommen? Und du auch?«

»Ich bin auch nur reingekommen, weil ich mit ihr da war. Vielleicht

weiß der Türsteher ja schon, dass sie mit jedem Kerl in dem Laden tanzt
und so tut, als ginge sie gleich mit ihm nach Hause.«

»Na ja, sicherlich. So amüsiert man sich nun mal eben!«
»So läuft das heutzutage?«
»Du warst wahrscheinlich in letzter Zeit kein Teeny-Mädchen, Angel.

Wahrscheinlich nie, wenn ich es recht bedenke. Aber so läuft es
heutzutage nun einmal. Man kann nie wissen, wer letztendlich der
Richtige ist, also testet man am besten alle durch, bis man ihn findet!«

»So ... kann man das vermutlich auch sehen«, sagte Angel.
»Das musst du sogar so sehen, wenn du wissen willst, wie die Welt aus

ihrer Perspektive aussieht.«

»Vielleicht war ich zu streng mit ihr«, überlegte Angel. »Aber ihr

Verhalten erschien mir so unehrlich. Oder wenigstens unaufrichtig.«

»Und dann ist sie dir auch noch entwischt«, fügte Doyle hinzu.
»Sie ist dir entwischt?«
»Nur eine Minute«, sagte Angel.
Cordelia schnaubte verächtlich. »Und so was nennt sich Bodyguard!«
»Ich hab sie doch lebendig nach Hause gebracht, oder etwa nicht?«,

fuhr Angel auf.

Cordelia sah ihn lange an, wie er da hinter seinem Schreibtisch saß.

»Sind wir vielleicht heute ein bisschen empfindlich?«, fragte sie. »Was
ist los mit dir, Angel? Ich habe den Eindruck, du gehst diesen Fall ein
wenig zu emotional an.«

Angel schüttelte den Kopf. »Das stimmt nicht«, widersprach er. »Sie

ist doch noch ein Kind.«

»Ganz ruhig, mein Lieber!«, beschwichtigte ihn Cordy. »Emotional

habe ich gesagt, nicht verliebt!«

»Aber vielleicht hat Cordy gar nicht so Unrecht«, sagte Doyle.
»Nicht du auch noch!«, ereiferte sich Angel.

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»Ich weiß es ja nicht, aber vielleicht nimmst du dir diese Sache doch

ein wenig zu sehr zu Herzen«, versuchte ihn Doyle zu beruhigen.

Angel dachte über die junge Frau in Rumänien nach, die Karinna so

ähnlich war und die er nicht hatte retten können.

»Wäre das so schlimm?«, fragte er.
»Das könnte es werden, mehr sag ich ja gar nicht«, lenkte Doyle ein.

»Du weißt ja, was passiert, wenn ein Engel zu dicht über dem Boden
fliegt.«

Kate Lockley hatte schon vor langer Zeit gelernt, dass es bei ihrer Arbeit
als Detective darauf ankam, die richtigen Leute zu kennen und die
richtigen Fragen zu stellen. Leider nur waren, wenn es um die
Verbrecherjagd ging, die »richtigen Leute« oftmals nicht die, mit denen
sie sich abgeben würde, wenn sie die Wahl hätte.

Und die Viertel, in denen man nach ihnen suchen musste, waren auch

nicht gerade erlesen.

Der Anrufer, der ihr nur unter dem Namen Chuey bekannt war, hatte

ihr als Treffpunkt eine Straßenecke vor einem Spirituosenladen
vorgeschlagen. Er betätigte sich seit einigen Jahren als Informant,
nachdem das Verfahren wegen eines kleineren Einbruchsdelikts gegen
ihn eingestellt worden war. Damit hatte man ihn dazu gebracht, einen
Hehler zu verraten, der im großen Stil gestohlene Waren verschob.
Chuey rief sie nicht oft an, und er hasste es, wenn sie auf ihn zukam.
Aber wenn er ihr etwas erzählte, erwies es sich in der Mehrzahl der Fälle
als wertvoll. Also nahm sie sich einen jungen Detective namens Weston
zur Seite - hauptsächlich, damit er ihren Wagen bewachte, wenn sie nicht
in der Nähe war – und fuhr mit ihm ins Zentrum von Los Angeles. Sie
parkte zwischen einem Leihhaus und einer Bar, die um sechs Uhr
morgens bereits ihre Pforten öffnete und ab sieben von schweren
Trinkern aufgesucht wurde. Nun war es acht Uhr abends, und Kate
wusste, dass es um diese Zeit in dem Laden sehr ruhig zuging; leises
Gläserklappern, Gespräche im Flüsterton und Verzweiflung.

Sie wies Weston an, im Wagen zu warten. »Er hat was gegen

Fremde«, erklärte sie. »Ich werde bald zurück sein.«

Weston nickte. Er hatte sich einen Pappbecher Kaffee mitgebracht und

nahm genüsslich einen Schluck, als Kate ihn verließ.

Chuey telefonierte gerade an dem Münzfernsprecher, der draußen vor

dem Spirituosenladen an der Wand hing. Chuey war klein, gerade mal
einssechzig, aber das reinste Energiebündel. Während er telefonierte,
klopfte er sich mit der einen Hand ans Hosenbein, während er mit der
anderen an seiner Baseball-Kappe fummelte. Er wippte rhythmisch mit

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dem Fuß, und sein Kopf drehte sich ruckartig hierhin und dorthin,
während er das Geschehen auf der Straße im Auge behielt. Als er Kate
kommen sah, gab er ihr mit den Augen ein Zeichen. Sie blieb stehen, und
nach einer Weile hängte er den Hörer in die Gabel. Während er auf sie
zukam, fing er schon an zu reden. Ohne stehen zu bleiben, ging er an ihr
vorbei, und Kate schloss sich ihm rasch an.

»Gehen wir ein Stück«, sagte er.
»Wohin denn?«
»Nur um den Block. Länger brauchen wir nicht.«
Er hatte ein gehöriges Tempo drauf, weshalb Kate große Schritte

machen musste, um mit ihm mitzuhalten. »Was hast du für mich,
Chuey? Ich habe ziemlich viel zu tun.«

»Ich weiß, ich weiß. Die Bankräuber! Darüber will ich ja reden.«
»Du hast etwas über diese Tunnelratten? Spuck's aus, Chuey. Das ist

übles Pack.«

»Ich weiß, Mann, müssen Sie mir nicht sagen.«
»Was hast du also?«
Irgendetwas kam Kate an der Sache komisch vor. Chuey war nur ein

kleiner Ganove. Die Bankräuber jedoch waren Schwerverbrecher. Sie
benutzten hochentwickelte Waffen, sie planten ihre Verbrechen
sorgfältig, sie stahlen große Mengen leicht zu verteilendes Bargeld und
keine Hifi-Geräte und billigen Schmuck wie Chuey. Diese Leute
bewegten sich in ganz anderen Kreisen, und Kate konnte sich nicht
vorstellen, wie Chuey mit ihnen in Kontakt gekommen sein sollte.

Aber sie wollte ihm zuhören. Das taten Cops nun mal. So löste man

Verbrechen.

»Ich will aber wegen der Sache keinen Stress kriegen oder so, klar?«
»Habe ich dich je belegen, Chuey?«, fragte Kate, um keine direkte

Zusage machen zu müssen.

»Okay, so viel also: Ich kenne da so einen Typen, und der war in

einem gewissen Lokal. In einem Nachtlokal, aber nicht so eins, das in
den Gelben Seiten steht, verstehen Sie?«

»Ein privater Club, beim Kartenspiel, so etwas in die Richtung?« Kate

machte einen großen Schritt über einen Mann, der an eine Mauer gelehnt
schlief. Auf seinen Beinen hatte er eine dünne Decke ausgebreitet, und
neben ihm stand eine Flasche in brauner Papiertüte. Sie musste ein
zweites Mal hinsehen, um sich zu vergewissern, dass er noch atmete.

»Ja, so was in die Richtung, ist schon dicht dran«, antwortete Chuey.

»Der Typ hat also da mit Leuten geredet, und dann hat ein anderer von
so 'ner Tanks teile erzählt, wissen Sie, die dichtgemacht worden war oder

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so. Er ist immer da hingegangen, um sich ein wenig aufzuwärmen, Sie
wissen schon, bisschen Wein trinken, bisschen schlafen.«

»Okay«, sagte Kate und versuchte, seinen Gedankengängen zu folgen.

»Eine still gelegte Tankstelle, die er manchmal als Quartier benutzte.«

»Ja, stimmt. Erst vor ein paar Nächten wollte der Typ wohl wieder mal

dahin gehen. Er hat sich ein bisschen Kohle besorgt und sich 'ne Flasche
gekauft, die er mitnehmen wollte. Und als er versuchte, durch die Bretter
zu schlüpfen, mit denen die Hintertür vernagelt ist, hat ihm ein Typ 'ne
Knarre ins Gesicht gehalten und ihm gesagt, er soll verschwinden.«

»Eine Knarre?«
»Das hat der Typ erzählt. Er hat es so mit der Angst zu tun gekriegt,

dass er die Flasche fallen gelassen hat und weggelaufen ist.«

»Und was hat das alles mit meinen Bankräubern zu tun, Chuey?«
Chuey blieb stehen und sah Kate ins Gesicht. Ausnahmsweise stand er

ganz still da. Aus einem der Fenster im zweiten Stock hörte Kate das
Geplänkel einer TV-Spielshow. Da oben wollte jemand Millionär
werden, indem er vor den Augen der ganzen Welt leichte Fragen
beantwortete – und unten auf der Straße versuchte Chuey, sich irgendwie
durchzuschlagen.

»Dieser Typ hat erzählt, er hätte, als der andere Typ, also der mit der

Knarre, seinen Kopf aus den Brettern gesteckt hat, kurz reinsehen
können. Da war Licht drin, 'ne Laterne oder so was, wissen Sie? Und in
dem Licht der Laterne hat er einen ganzen Haufen Schaufeln gesehen.«

»Schaufeln, Chuey? Ganz sicher?«
»Wenn Sie dabei gewesen wären, als sich ... mein Freund mit dem

Typen unterhalten hat, wüssten sie, dass er ganz nüchtern war, als er das
gesehen hat. Und wenn er schon was getrunken hätte, wäre er von der
Knarre wieder total nüchtern geworden, Mann. Wenn er also sagt, da
waren Schaufeln, dann glaube ich ihm.«

»Okay, Chuey. Ich glaube ihm auch. Wo ist denn diese Tankstelle?«
»Das ist so 'ne Sache, Mann«, entgegnete Chuey. »Das hat er nicht

genau gesagt.«

»Hat er nicht? Was nützt es mir dann?«
»Ich glaube, er hat mit Straßenschildern nicht so viel am Hut,

verstehen Sie?«, meinte Chuey. Ohne Vorwarnung setzte er sich wieder
in Bewegung, und Kate eilte ihm hinterher. »Der hat kein Auto, der fährt
nirgends hin.«

»Wo treibt er sich denn normalerweise rum?«
»Sein Revier geht im Norden nicht über die Zehn hinaus«, sagte

Chuey. Die Zehn war eine der großen Autobahnen von Los Angeles in

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Ost-West-Richtung. »Ich würde mich mal in der Ecke zwischen Avalon,
Vernon und Slauson Avenue umsehen, okay?«

»Das werde ich tun, Chuey. Danke!«
»Hey, diese Banktypen, die sind übles Pack, richtig?«
»Ja, Chuey, das sind sie.«
»Also muss doch so ein Hinweis ein bisschen was wert sein, oder?

Nicht für mich, sondern für meinen Freund natürlich!«

Sie zog zwei Zwanziger aus der Tasche, die sie schon für diesen

Moment bereitgehalten hatte, und drückte sie ihm in die wartende Hand.

»Die Stadt Los Angeles dankt dir«, sagte sie.
»Stets zu Diensten«, sagte Chuey grinsend. »Adios, Mann!«
Er überquerte flugs die Straße und verschwand um die nächste Ecke.

Kate ging zurück zu der Straßenkreuzung mit dem Spirituosenladen und
von dort zu ihrem Wagen. Die Bar war immer noch da. Eine
Leuchtreklame in Form eines Bierglases zuckte in der Nacht, aber
ansonsten gab es kein Lebenszeichen. Kate stieg in den Wagen, nickte
Weston zu und fuhr los.























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Tony Chen war in seinem Laden emsig damit beschäftigt, die Flaschen
mit einem Straußenfedern-Mopp abzustauben. Der Laden hieß ganz
einfach Chen's und befand sich in einer kleinen Nebenstraße von der
North Main am Rande des Chinatown-Viertels von Los Angeles. Einen
Block weiter floss ein Rinnsal durch einen Betonkanal, der sich Los
Angeles River nannte.

Der Laden gehörte Tonys Familie, seit seine Großeltern von Europa

herübergekommen waren. Seine Eltern hatten ihn ihr ganzes Leben lang
betrieben, und nun war Tony selbst an der Reihe. Nur wenn man wusste,
was es für ein Geschäft war und wo es sich befand, war man bei der
Suche danach erfolgreich, denn Tony machte weder in den Gelben
Seiten noch auf den Reklametafeln an den Bushaltestellen Werbung.
Schließlich waren viele Dinge, die er im Angebot hatte, in den
Vereinigten Staaten illegal - Pulver von Rhinozeros-Hörnern, Tigerkral-
len und dergleichen. Auch verkaufte Tony Raritäten, die nicht das waren,
als was sie ausgewiesen wurden: Die Drachenzähne zum Beispiel ließ er
sich von einer Alligatorfarm in der Nähe von New Iberia in Louisiana
per Schiff anliefern.

Chen's war ein Laden für magische Artikel, aber er vertrieb keine

Kartentricks und Illusionen. Wenn Tony philosophisch drauf war, sah er
sich gern als Verkäufer von Träumen. War er eher nüchterner Stimmung,
betrachtete er seine Tätigkeit als Handel mit Macht.

Er wollte gerade den Staubmopp hinter der Theke wegräumen, als die

Tür mit einem Glockenläuten aufging. Er drehte sich um und legte den
Mopp auf der Theke ab. Ein Mann betrat den Laden, groß und
weißhaarig; ein Europäer mit Hunderten von Fältchen im Gesicht. Aus
stechenden blauen Augen sah er Tony an.

»Kann ich Ihnen helfen?«, fragte Tony.
»Ich brauche Wimpern von einem zweiköpfigen Mutterschaf«, sagte

der Mann. Sein Tonfall deutete in keinster Weise darauf hin, wie
ungewöhnlich dieser Wunsch war.

»Eine interessante Kuriosität«, entgegnete Tony.
»Was Sie interessant finden, ist mir vollkommen egal. Haben Sie das

oder nicht?«, fragte der Mann.

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»Könnte sein«, meinte Tony. »Lassen Sie mich nachsehen!« Er drehte

sich zu dem Regal hinter der Theke um, in dem Unmengen von kleinen
Gefäßen standen. Währenddessen ließ er seine Gedanken auf den
Fremden zuwandern. Er hatte im Laufe der Zeit den ein oder anderen
Trick gelernt und wollte sich genauer ansehen, was dieser Mann im Kopf
hatte. Mutterschaf-Wimpern waren schließlich etwas ganz Besonderes.

Die Gedanken anderer zu lesen, wenigstens auf der oberflächlichsten

Ebene, war nicht besonders schwierig für jemanden, der ein bisschen
darin geübt war. Die Menschen speicherten in der Regel ihre wichtigsten
Gedanken ganz vorn in ihrem Bewusstsein, und die meisten hatten außer
diesen wichtigsten Gedanken nicht viel im Kopf. Sie wollten Geld,
materielle Werte, Frauen, Ruhm und Macht.

Aber dieser Mann war anders. Er schien die Vorgänge in seinem

Gehirn unter Kontrolle zu haben. Tony musste eine Weile herumstochern
– ein Prozess, den er als regelrechtes Bohren visualisierte, wie beim
Zahnarzt. Als er gerade seine Hand um ein Fläschchen mit Wimpern von
zweiköpfigen Mutterschafen legte, schoss ihm jedoch plötzlich und
glasklar mit einem stechenden Schmerz hinter den Augen ein auffälliges
Bild durch den Kopf.

»Balor«, murmelte er, bevor er sich richtig besann, und stellte das

Fläschchen auf die Theke.

»Steckst du deine Nase immer in fremde Angelegenheiten?«, fragte

der Mann.

»Nein, ich ...«, setzte Tony an. Aber es war zu spät. Der Mann trat

blitzartig vor und packte Tony mit seinen knochigen Fingern am Arm.

»Also gut«, sagte der Mann wütend. »Dann kannst du ja ruhig noch ein

bisschen genauer hingucken!« Tony fühlte sich von seinem stechenden
Blick förmlich aufgespießt und versuchte sofort, eine mentale Barriere
zu errichten, aber die Gedanken des Mannes durchstießen sie wie einen
dünnen Gazevorhang.

Und dann war er plötzlich nicht mehr in seinem Laden, sondern auf

einem windgepeitschten Felsplateau. Nicht weit von ihm lehnte Balor
mit geschlossenem Auge an einem großen Stein. Obwohl Tony ihn noch
nie zuvor gesehen hatte, nicht einmal als Abbildung irgendwo, und er
sich eher mit der asiatischen Tradition auskannte als mit keltischer
Magie, wusste er sofort, wen er vor sich hatte. Vermutlich, weil ihm
dieser Kunde das Bild in den Kopf gepflanzt hatte.

Aber auch wenn es sich nur um die Projektion eines mentalen Bildes

handelte, konnte es großen Schaden anrichten. Tony musste sich wehren,
und zwar schnell.

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Er schloss die Augen und beschwor selbst ein Dutzend Riesen herauf,

große Krieger mit Langbogen. Sie legten die Pfeile an, hoben die Bogen
auf Schulterhöhe und zogen die Schnüre zurück. In dieser Haltung
warteten sie ab. Ein leichtes Zucken oder Blinzeln von Balor, und er
würde aufgespießt werden.

Tony starrte Balor halb verängstigt und halb fasziniert an. Der Gott

war so groß wie ein dreistöckiges Gebäude. Er hatte eine wilde
flammendrote Mähne und einen dicken Bart ums Kinn. Seine Arme, so
dick wie Baumstämme, waren vor dem riesigen Bauch verschränkt. Und
seine gigantischen Beine hatte er im Schlaf weit von sich gestreckt.

Mitten auf der Stirn trug er das Lid, das sein Auge bedeckte. Es war so

groß wie der Gong, der bei Tonys Großmutter im China-Restaurant
stand.

Plötzlich stieß Balor ein Schnauben aus, das wie Donnergrollen klang.
Die Muskeln der Bogenschützen spannten sich.
Der Gott erwachte, als spüre er die Gefahr. Das Augenlid klappte auf,

und Balor entblößte sein schreckliches Auge.

Die Bogenschützen ließen die Pfeile fliegen.
Balor ruckte mit dem Kopf von rechts nach links und ließ seinen Blick

schweifen.

Wo immer er hinsah, brachen die Pfeile mitten im Flug in Flammen

aus. Bevor sie Balor erreichten, waren sie längst verschmort. Harmlose
Rauchwölkchen prallten von ihm ab.

Dann erhob er seinen massigen Körper und stemmte die Hände in die

Hüften. Er öffnete das Maul zu einem wilden Gebrüll und konzentrierte
sich auf Tonys Krieger.

Einer nach dem anderen ging in Flammen auf und verschwand.
Dann erblickte Tony eine kleine Gestalt auf den Felsen. Das war er

selbst!

Das kleine mentale Bildchen von Tony versuchte wegzulaufen und

sich hinter den Felsbrocken zu verstecken. Aber Balor schnüffelte nur,
spürte seinen Geruch auf und stampfte los. Die schweren Beinen ließen
mit jedem Schritt den Boden erzittern.

Der kleine Tony drückte sich zitternd mit dem Rücken gegen den

Felsen. Da tauchte Balors Gesicht über ihm auf. Sein Mund verzog sich
zu so etwas Ähnlichem wie einem Grinsen. Das rotgeäderte Auge rollte
in seiner Höhle und nahm Tony ins Visier. Tony schrie auf...

Im Laden klappte Tony zusammen und stürzte hinter der Theke zu

Boden. Mordractus sah ihn an. Der Asiate atmete zwar noch, aber er
sollte nie wieder aus diesem Koma erwachen. Denn in seinem
Unterbewusstsein würde er bis in alle Ewigkeit an dieser Stelle verharren

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und darauf warten, dass ihn Balors mächtiger Blick traf – bis zu dem
Tag, an dem er starb.

Mordractus nahm das Fläschchen mit den Mutterschaf-Wimpern,

verließ den Laden und ging zu dem Wagen, in dem Currie auf ihn
wartete. Er wäre durchaus bereit gewesen, für die Ware zu bezahlen,
aber so war es doch um einiges sauberer abgelaufen.

Im Hause der Willits lief die abendliche Frisier- und Schmink-Prozedur
ähnlich ab wie am Vorabend. Karinna ging nach oben, wo Consuela sie
erwartete und sie hinter verschlossenen Türen über eine halbe Stunde
lang herrichtete. Als sie wieder herauskam, war sie eine andere Frau;
erwachsener, eleganter, schöner. Schwer hing ihr Parfüm in der Luft.

Nach außen mochte sie reifer wirken, aber Angel vermochte in

Karinnas Fall nicht zu beurteilen, inwieweit das Äußere mit dem Inneren
übereinstimmte und ob überhaupt. Ihr Äußeres mochte sorgfältig
durchdacht, kunstvoll arrangiert und perfektioniert sein. Aber im Innern
war sie eine verwöhnte Göre, die daran gewöhnt war, dass alles nach
ihrer Nase ging; ein kleines reiches Mädchen, das sich rücksichtslos
gegenüber ihren Eltern und dem Personal verhielt und nur auf Schäkern
und Flirten aus war.

An diesem Abend trug sie eine hüftenge schwarze Hose mit weitem

Bein und ein kurzes, mehr als bauchfreies Top, das nur knapp über ihren
Busen reichte. Ihr Haar trug sie zur Abwechslung offen. Angel fand, so
wirkte sie jünger. Näher an ihrem wirklichen Alter.

Als sie in den GTX eingestiegen waren und zu einem Club auf dem

Sunset Boulevard fuhren, boxte Karinna Angel spaßhaft auf die Schulter.
»Wolltest du mir nicht von deiner Freundin erzählen?«, fragte sie.

»Wollte ich nicht.«
»Aber du hast eine, oder? Ich meine, musst du ja wohl. Sieh dich doch

mal an! Falls du nicht...«

»Nein, bin ich nicht«, versicherte ihr Angel. »Und nein, ich habe keine

Freundin. Nicht im Moment jedenfalls.«

»Was ist denn passiert?«, wollte Karinna wissen. »Eine tragische

Liebesgeschichte?«

»Was passiert ist, geht dich gar nichts an, Karinna«, entgegnete er.

»Wenn ich darüber reden will, werde ich es tun. Aber warte nicht
darauf!«

»Was für ein geheimnisvoller Mann!«, rief sie. »Du lässt die Leute

gern im Unklaren, nicht wahr?«

»Vielleicht spreche ich auch einfach nur nicht jedes Fitzelchen aus, das

mir durch den Kopf geht.«

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»Aua! Ziemlich schief gewickelt heute, wie? Was ist denn los?«
»Wenn ich darüber reden wollte«, sagte Angel, »würde ich es tun.«
»Tut mir Leid«, meinte Karinna. Aus den Augenwinkeln nahm Angel

wahr, wie sie sich schmollend gegen die Tür lehnte und die Arme
verschränkte. Da das Verdeck geschlossen war, musste sie nicht vor dem
Fahrtwind in Deckung gehen. Er hatte wohl ihre Gefühle verletzt.

Was ist nur mit mir los?, fragte er sich. Es bestand überhaupt keine

Notwendigkeit, sie so anzufahren. Er wusste, die Antwort auf seine
Frage hatte damit zu tun, was Doyle und Cordy zuvor gesagt hatten.
Vielleicht nahm er diesen Auftrag wirklich zu persönlich. Vielleicht war
ihm Karinna irgendwie unter die Haut gegangen. Ob es an der Ähnlich-
keit mit der jungen Frau in Rumänien lag? Als er zurückdachte, erinnerte
er sich immer noch sehr genau an den kräftigen Hefeduft des Brotes, der
aus der Bäckerei geweht war, und den stechenden kupfernen Geruch
ihres Blutes, nachdem Tirbol sie getötet hatte.

Und was hatte Doyle ihn noch gefragt? Was mit einem Engel geschah,

der zu dicht über dem Boden flog? Darauf fiel Angel nur eine Antwort
ein, die Sinn machte.

Der Engel stürzte ab!
Angel schüttelte den Kopf. Solche Überlegungen halfen ihm nicht

weiter. Er musste sich konzentrieren und herausfinden, welcher
Bedrohung Karinna ausgeliefert war und wie er damit umzugehen hatte.
Irgendjemand war hinter ihr her. Angesichts von Doyles Vision und
Jacks Sorge war er sich dessen ganz sicher, auch wenn er bislang eher
den Babysitter gespielt hatte. Er musste einfach dahinter kommen, wer
und warum. Dann konnte er die Gefahr bekämpfen und Karinna und Jack
wieder ihren Millionen überlassen, um anschließend weiterzuziehen.

In seinem Belvedere GTX gab es keinen Rückspiegel – eigentlich kein

Problem für Angel, denn Spiegel und Vampire waren nun einmal nicht
die besten Freunde. In diesem Augenblick hätte er allerdings gut einen
gebrauchen können. Er hatte nämlich das unbestimmte Gefühl, dass sie
verfolgt wurden, seit sie Bel Air verlassen hatten. Aber leider konnte er
sich diesen Verdacht nur anhand des Scheinwerferlichts bestätigen, das
von hinten in den Wagen fiel, oder wenn er sich den Hals verrenkte, um
über die Schulter zu blicken.

Zu sehen waren allerdings nur zwei runde Scheinwerfer. Damit konnte

Angel nicht viel anfangen. Er beschloss, einen Umweg durch ein paar
Seitenstraßen zu fahren und ein paar Ausweichmanöver zu probieren.
Wenn wirklich jemand hinter ihnen her war, würde er dann seine Karten
aufdecken müssen.

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Angel bog überraschend vom Sunset Boulevard nach rechts ab, fuhr

zwei Blocks weiter und bog wieder nach rechts ab. Dann fuhr er einen
Block zurück und an der nächsten Kreuzung wieder links.

»Hey, was machst du da?«, fragte ihn Karinna. »Das ist nicht der

richtige Weg zum Wet Sprocket!«

»Warte doch mal ab!«, sagte er und vollführte eine Kehrtwende auf die

Gegenfahrbahn. Nun fuhren sie auf dem Orange Grove Richtung
Norden. Angel bog erneut links auf die Fountain Avenue ab, und sie
schössen gerade noch bei Gelb über die Kreuzung Fairfax Boulevard.
Niemand kam ihnen hinterher. Angel seufzte erleichtert und fuhr wieder
zurück auf den Sunset Boulevard.

»Ich wollte nur sichergehen«, sagte er. »Das tun Bodyguards in der

Regel.«

»Ich dachte, Bodyguards sind alle Schläger«, meinte Karinna.
»Vielleicht schon, aber...«
In dieser Sekunde kam aus dem Nichts ein Auto ohne Licht auf sie

zugerast und rammte sie frontal. Es gab ein explosionsartiges Geräusch.
Der Plymouth schleuderte zur Seite, hob vorn von der Straße ab und kam
um neunzig Grad versetzt wieder zum Stehen.

Der Motor war ausgegangen, und Angel griff nach dem Schlüssel, um

ihn wieder anzulassen, als er einen Van entdeckte, der aus einer
Seitenstraße kam. Fünf Männer sprangen heraus, und vier weitere
kletterten aus dem Auto, mit dem sie zusammengestoßen waren, einem
großen Lincoln. Die Männer waren alle schwarz angezogen, und Angel
erkannte Ketten, Messer und sogar ein paar Pistolen.

Dies war kein normaler Verkehrsunfall.
»Karinna, hör zu!«, zischte er. »Ich werde diese Kerle in Schach

halten, und du wirst fahren wie eine Wahnsinnige. Wenn sie noch mehr
Fahrzeuge hier hätten, wären die schon längst da. Also gibt es nur diese
beiden. Ich halte sie davon ab, hinter dir herzujagen, aber du musst sofort
nach Hause und dort auf mich warten. Das ist der einzige Ort, an dem ich
dich in Sicherheit weiß.«

»Angel... ich hab A-Angst«, sagte Karinna mit zittriger Stimme.
»Ich weiß. Aber mir wird nichts passieren und dir auch nicht, wenn du

nur schnell von hier verschwindest. Sobald ich ausgestiegen bin, rutschst
du hinters Steuer und fährst los. Ich komme später vorbei und schaue
nach dir, okay?«

»Okay«, willigte sie ein.
Angel klappte seine Tür auf und sprang aus dem Wagen. Glasscherben

von dem Lincoln waren über die ganze Straße verstreut. Der GTX hatte
die Sache bemerkenswert gut überstanden, wie Angel erfreut feststellte.

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Detroiter Qualitätsarbeit aus einer Zeit, als man noch Autos für die
Ewigkeit baute!

Neun Männer bewegten sich nun über die Straße aus allen Richtungen

auf ihn zu. Sie redeten nicht; es gab nur ein paar einsilbige Befehle, aber
keine Gespräche, kein Lachen, keine Spötteleien. Sie machten einen
professionellen Eindruck, als hätten sie einen Job zu erledigen. Das
machte die Sache zugleich einfacher und schwieriger für Angel.
Schwieriger, weil sie bestimmt gut waren.

Und einfacher, weil es keine Unschuldigen traf. Es bereitete ihm keine

Probleme, Leuten Schaden zuzufügen, die anderen aus beruflichen
Gründen Schaden zufügten.

»Wir sind nicht deinetwegen hier«, sagte einer von ihnen. Er war groß,

hatte kalte graue Augen und schwarzes, mit Gel zurückgekämmtes Haar.
»Du kannst abhauen. Mit deinem Auto. Das Mädchen nehmen wir.«

»Auf keinen Fall«, entgegnete Angel.
»Hab ich nicht anders erwartet«, sagte der Typ. »Aber anbieten wollte

ich es dir wenigstens.«

»Weiß ich zu schätzen.«
»Tötet ihn!«, befahl der Typ gelassen.
Einer von ihnen, ein kurz gewachsener, dunkelhäutiger Mann mit

Glatze und Spitzbart, hob mit massiger Hand seine Pistole. Angel hörte,
wie er spannte, und machte sich an die Arbeit.

Während sein vampirisches Äußeres zum Vorschein trat, sprang er in

die Luft, vollführte zwei Salti und landete direkt hinter dem gedrungenen
Mann, der sich zu ihm umdrehte und versuchte, auf ihn zu zielen. Aber
Angel war ihm schon zu nah und schlug dem Widersacher mit der Faust
gegen sein spitzbärtiges Kinn. Er spürte, wie Knochen zersplitterten.
Gleichzeitig schlug er mit dem anderen Arm heftig gegen das Gelenk der
Pistolenhand des Mannes. Er grunzte, und die Pistole fiel klappernd auf
die Straße. Angel beförderte sie mit einem gezielten Tritt unter ein
parkendes Auto.

Es war noch eine weitere Waffe im Spiel – Angel konnte die Munition

riechen, das Öl. Er sprang wieder auf, drehte sich in der Luft um die
eigene Achse und entdeckte sie. Ein großer Mann mit der Statur eines
Basketballers hielt eine Achtunddreißiger im Anschlag. In der riesigen
Pranke des Mannes wirkte sie ziemlich klein.

Die Messer und Ketten durfte Angel keinesfalls auf die leichte

Schulter nehmen, aber mit den Pistolen konnten immerhin unschuldige
Passanten verletzt werden, sogar, wenn sie einen Block entfernt waren.
Und Karinna hatte den Schauplatz noch nicht verlassen. In den
Sekunden, seit er aus dem GTX gestiegen war, hatte sie zwar den kräf-

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tigen Motor gestartet, war aber noch nicht losgefahren. Es gab keinen
Zweifel: Angel musste die Pistolen zuerst angehen, auch wenn sie ihn
persönlich nicht verletzen konnten.

Aber der Mann mit der Achtunddreißiger feuerte los, bevor Angel ihn

erreichte. Also versuchte er es mit der Kettenreaktionsmethode: Er
schnappte sich den nächstbesten Typen, einen übergewichtigen
Rabauken mit einer Fahrradkette in der Hand, und hob ihn hoch über
seinen Kopf. Er schleuderte ihn gegen den Nächsten, der wiederum in
den Dritten stolperte. Dieser rempelte nun den Pistolenmann an, der die
Arme ausstrecken musste, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. In
diesem Augenblick hechtete Angel über die Körper der Gestürzten hin-
weg und tauchte mit dem Kopf voran in den Solarplexus seines Gegners.
»Ufff«, machte der Typ und ging in die Knie.

Plötzlich hörte Angel Polizeisirenen in der Ferne. Die Angreifer jedoch

schienen von der näher kommenden Polizei gar keine Notiz zu nehmen.
Sie hatten Angel und seinen Wagen mit Karinna darin umzingelt und
schienen entschlossen zu beenden, was sie angefangen hatten.

Angel hatte nur ein Ziel: das Mädchen in Sicherheit zu bringen. Ein

schwarzer Kerl, so groß und stämmig wie ein Panzer, rüttelte an einer
der verschlossenen Türen des GTX. Angel sprang neben ihn und hieb
ihm die Faust in die Nieren.

Der Kerl sah ihn grinsend an.
Angel verpasste ihm einen weiteren Schlag, dann eine Links-rechts-

links-Kombination.

Diesmal zuckte der Kerl.
»Bist du ein Mensch?«, fragte Angel. Er konnte nichts Dämonisches

riechen.

»Soviel ich weiß«, entgegnete der Kerl. Er holte aus und revanchierte

sich mit einem Faustschlag von der Kraft einer Ramme. Angel ging zu
Boden und rappelte sich mühsam auf. Einen Sterblichen hätte dieser
Schlag glatt getötet.

»Golds Fitness-Studio?«, fragte Angel.
»San Quentin«, entgegnete der andere. Er umkreiste Angel langsam.

Auch Angel drehte sich in kleinen Schritten um die eigene Achse, wobei
er darauf achtete, immer festen Stand zu haben.

»Hat sich bezahlt gemacht.«
»Danke.«
»Und der Rest von den Typen? Sind einfach nur so mitgekommen?«
»Sozusagen«, sagte der Mann.
»Aber du bist eigentlich der Chef.«
»Und was bist du für einer?«, fragte der Typ. »Schöne Zähne!«

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Angel dachte an Karinna, die bei laufendem Motor im Wagen saß.

Leise antwortete er: »Ein Vampir«, in der Hoffnung, seinen Gegner
damit ein wenig aus dem Konzept zu bringen. Immer weiter drehte er
sich und sah dem Mann dabei fest in die Augen, um erkennen zu können,
wann er den ersten Schritt machen wollte. Allerdings durfte er sich nicht
von den Händen des Mannes ablenken lassen, die sich die ganze Zeit zu
Fäusten ballten und wieder öffneten. Seine Arme waren so dick wie drei
Baumstämme zusammen.

»Is' ja nicht wahr!«
»Ist wahr!«
»Wow, das ist aber abgefahren, Mann! Deshalb hast du auch so 'ne

Stirn und so?«

»Deshalb.«
»Dann könnte ich dich also mit einem Holzpflock erledigen? Oder mit

einem Kreuz vielleicht?«

»Alles nur Gerede«, sagte Angel. Warum sollte er dem Typen so etwas

verraten?

»Aber du trinkst Blut, oder?« Er umkreiste ihn immer noch.
Angel lächelte. »Auf jeden Fall. Ich bin sogar im Augenblick ein

wenig durstig.«

Da bewegte sich der Typ. Angel hatte es eine halbe Sekunde bevor er

losstürzte in seinen Augen erkannt. Er trat nach links, um ihn ins Leere
laufen zu lassen, wodurch der Kerl aus dem Gleichgewicht geriet. Als er
an ihm vorbeistolperte, hob Angel seinen rechten Arm und rammte dem
Mann den Ellbogen in den Hinterkopf. Er sank zu Boden, und Angel
packte ihn bei den Schultern, um ihm mit hochgezogenem Knie einen
donnernden Kinnhaken zu verpassen.

Der Typ stolperte ein paar Schritte rückwärts. Diesmal hatten Angels

Schläge Wirkung gezeigt. Sein Gegner stand zwar noch, aber ihm
zitterten die Knie, und er schien in seiner Stabilität geschwächt. Blut trat
aus seinen Mundwinkeln.

Und dennoch kam er wieder auf Angel zu.
Diesmal trafen seine Fäuste genau in Angels Solarplexus. Er hämmerte

auf ihn ein und landete Schlag auf Schlag, obwohl der Vampir versuchte,
ihn mit beiden Händen abzublocken. Der Mann war sehr schnell.

Endlich bekam Angel die wirbelnden Fäuste seines Gegners zu

packen. Als er ihn dichter zu sich herangezogen hatte, stieß er dem Mann
ruckartig die Stirn ins Gesicht. Er spürte Knorpel brechen. Der Mann
stolperte rückwärts; Blut strömte ihm aus der Nase. Angel setzte ihm
sogleich nach. Er landete ein paar Schläge gegen das Kinn und dann
einen linken Haken auf die Schläfe.

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Der Typ schloss die Augen, und seine Beine gaben nach. Als er zu

Boden stürzte, befürchtete Angel, es gebe ein Erdbeben.

Mit einem Seitenblick vergewisserte er sich, dass Karinna immer noch

im Wagen saß. Sie hatte die Augen weit aufgerissen und hielt das
Lenkrad umklammert. Angel schlug auf die Motorhaube. »Fahr endlich
los!«, schrie er. »Hau schon ab!«

Sie blinzelte ein paar Mal, als erwache sie gerade aus einem Traum,

und drehte den Schlüssel im Zündschloss. Weil der Motor aber schon
lief, ertönte nur ein schleifendes Geräusch. Als sie den Rückwärtsgang
einlegte und aufs Gas trat, ruckte der Wagen und fuhr dem Mann, der
sich von hinten hatte nähern wollen, in die Beine. Er stürzte zu Boden,
und der Wagen röhrte die Fountain Avenue hoch.

Und Angel brachte seine Arbeit zu Ende.




























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Da Karinna entkommen war und der Stärkste der Truppe besiegt, verließ
die Männer offenbar der Kampfgeist. Sie wichen vor Angel zurück,
manche liefen bereits zu den Wagen. Drei von ihnen näherten sich ihm
jedoch mit blitzenden Messern, aber sie waren keine große Herausforde-
rung für ihn.

Einmal wurde er tatsächlich von einer Klinge in der Seite getroffen

und zuckte leicht zusammen, aber die Wunde würde fast augenblicklich
wieder heilen. Er verpasste dem Messermann einen Schlag mit dem
Handrücken über den Mund und schaltete ihn damit aus. Dann packte er
den Zweiten beim Handgelenk und drehte es, bis er ihm den Arm
ausgekugelt hatte. Das Messer fiel zu Boden. Der Dritte war schon halb
auf der Flucht, als Angel ihn mit einem gezielten Tritt in das
Schaufenster einer Schneiderei beförderte. Glasscherben regneten auf
den Gehsteig, und eine Alarmsirene fing an zu heulen.

Da rannten die Männer blitzartig zu den beiden Fahrzeugen.
»Wollt ihr etwa schon gehen?«, rief Angel ihnen hinterher. »Ich bin

doch gerade erst richtig warm geworden.«

Zwei von ihnen griffen dem stämmigen schwarzen Mann unter die

Arme und halfen ihm in den Van. Einer der Typen sah Angel an. »Wir
sind fertig«, sagte er. »Jetzt bist du allein.«

Was sollte das nun wieder heißen?, fragte sich Angel. Es war ja nicht

so, als hätten sie ihm einen Gefallen damit getan, ihn zu überfallen.

Oder doch?
Er wusste sich einfach keinen Reim darauf zu machen. An der

nächsten Ecke blieb erstehen und sah zu, wie sie in die Autos stiegen und
davonbrausten. Mit hoher Geschwindigkeit rasten sie genau in
entgegengesetzter Richtung davon wie zuvor Karinna. Die Sirenen
waren nun schon viel näher. Bald würde die Polizei eintreffen, aber
Angel sah keinen Vorteil darin, seine Angreifer dazu zu bewegen, auf
die Beamten zu warten. Er konnte sie natürlich wegen Körperverletzung
anzeigen, aber Jack Willits würde nicht wollen, dass der Name seiner
Tochter mit so einer Sache in Zusammenhang gebracht wurde, und
Angel selbst war immer bemüht, seine Aktivitäten so gut es ging im
Verborgenen zu halten.

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An der Ecke bog er auf den Fairfax Boulevard ab und ging Richtung

Süden; weg von den näher kommenden aufblitzenden rot-blauen
Lichtern. Unterdessen verwandelte er sich wieder, und seine
menschlichen Züge traten zum Vorschein.

Um was war es bei der ganzen Sache überhaupt gegangen? Angel

fand, die Aktion hatte geplant gewirkt, vorsätzlich. Man hatte sie
verfolgt, man hatte sie gerammt. Irgendjemand wollte Karinna haben.
Aber wozu? Um Lösegeld zu erpressen? Genug Geld hatte ihre Familie
ja, und jeder in Los Angeles wusste das.

Oder wollte jemand Karinna umbringen? Und wenn ja, warum nur?

Was konnte eine Siebzehnjährige schon groß angestellt haben, damit
jemand einen Profikiller auf sie ansetzte?

Nein, da schien die Entführungsgeschichte schon wahrscheinlicher.

Oder etwas anderes, auf das Angel noch nicht gekommen war. Ein
Racheakt vielleicht. Aber wenn jemand Karinna töten wollte, konnte er
es ganz einfach aus einem vorbeifahrenden Wagen tun und den Ply-
mouth mit dem Maschinengewehr durchlöchern. Messer und Ketten
waren keine tödliche Waffen, jedenfalls nicht für ernst zu nehmende
Gegenspieler. Damit konnte man lediglich jemanden verletzen.

Es war also klar: Sie wollten sie nicht tot, sondern höchstens verletzt.
Angel musste sich schnellstens ein Taxi besorgen und zurück nach Bel

Air. Er konnte nicht davon ausgehen, dass Karinna in den Mauern dieser
sicherheitsbedürftigen Gemeinde oder in ihrem Haus mit Alarmanlage
überhaupt ausreichend geschützt war. Und er wollte lieber persönlich
dafür Sorge tragen, dass sie die Nacht überlebte.

Aber er hatte sich, während er über den Angriff und seine möglichen

Gründe nachdachte, immer weiter von den großen Straßen entfernt. Als
er aufsah, bemerkte er, dass er sich verlaufen hatte: Er war in irgendeiner
dunklen, ruhigen Straße mit geschlossenen Geschäften und Apartments
darüber.

Er blieb an einer Ecke stehen und suchte nach den Straßenschildern,

als plötzlich ein Fahrzeug neben ihm auftauchte. Es war ein großer
schwarzer Ford Excursion mit getönten Fenstern.

Nicht schon wieder!, dachte Angel. Er hatte sich von dem letzten

Kampf, der ihn viel Kraft gekostet hatte, noch nicht erholt, und die
Frage, warum bewaffnete Männer hinter Karinna her waren, beschäftigte
ihn viel zu sehr. Als sich die Türen öffneten und vier Leute ausstiegen –
eigentlich waren es keine ›Leute‹, dessen war Angel sich ziemlich sicher
– musste er sich zwingen, ihnen seine Aufmerksamkeit zu widmen.

Und da erkannte er, dass sie wirklich nicht normal waren.

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Denn es waren Dämonen. Vier an der Zahl. Sie sahen stark und fies

aus – und gefährlich. Ihr typischer Erdgeruch stach ihm in die Nase.

Frisch vom Friedhof, dachte er.
Einer war über zwei Meter groß und hatte lange kräftige Arme mit

riesigen Händen. Die fünf hornartigen Knochenfortsätze auf den
Handrücken sahen scharf wie Rasiermesser aus. Die Haut des Dämonen
war himmelblau, und sein langes wirres Haar hatte die Farbe von
Sommerweizen.

Der Zweite war kleiner, knapp einen Meter fünfzig vielleicht - und

genauso breit. Er sah aus wie ein Schaumstoffball auf stämmigen
Beinen. Weiße Haarbüschel wuchsen überall auf seinem Körper. Er war
eine durch und durch komische Figur – bis auf die spitzen Zähne, die in
vier Reihen in seinem riesigen Maul aufblitzten.

Der Nächste war so ausgemergelt wie ein uralter Mann, rappeldürr mit

trüben gelben Augen, die tief in seinem Schädel ruhten, und einem
mürrischen Gesichtsausdruck. Er trug einen hohen Hut, eine altmodische
Anzugjacke und ausgebeulte Hosen. Der Stab mit einem Haken an der
Spitze, den er mit seinen langen dünnen Fingern hielt, war genauso groß
wie er selbst. Dieser Dämon bewegte sich überhaupt nicht, und Angel
musste eine Weile hinsehen, um festzustellen, dass er tatsächlich lebte.
Einzig seine langen Finger zappelten unabhängig vom Rest seines
Körpers auf dem Stab hin und her wie Spinnenbeine.

Der Letzte im Bunde wirkte weiblich, aber Angel wusste, das dies

genauso wahrscheinlich oder unwahrscheinlich war wie die Annahme,
die anderen drei seien Männer. Man konnte es einfach bei Dämonen
nicht genau sagen – ihre Form folgte der Funktion. Der augenscheinlich
weibliche Dämon sah im Grunde genauso aus wie all die schönen
Menschen von Los Angeles. Unter anderen Umständen hätte Angel das
Wesen wohl für ein junges Starlet gehalten. Das gepflegte Haar war lang
und so schwarz wie die schwärzeste Nacht. In dem blassen Gesicht
leuchteten Augen von einem verblüffenden Kobaltblau, und purpurrote
Lippen verzogen sich zu einem vollmundigen Lächeln. Sie trug eine
Tunika aus einem durchscheinenden goldenen Stoff, unter dem Angel
einen Körper erkennen konnte, der jedes Playmate zum Weinen gebracht
hätte. Sie war eine der schönsten Frauen, die er je gesehen hatte.

Die Illusion hielt, bis ihre Haut anfing, sich zu kräuseln und

anzuschwellen. Schockiert und fasziniert zugleich beobachtete er, wie
sich irgendetwas unter ihrer Haut bewegte. Angel brauchte eine ganze
Weile, bis ihm klar wurde, was er da überhaupt sah, aber glauben konnte
er es immer noch nicht. Er hatte bereits davon gehört: Es war ein

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Maelabog-Dämon, da war er ziemlich sicher. Allerdings hatte er so
etwas immer für einen Mythos gehalten.

Aber nun war er überzeugt. Ihr Skelett – sein Skelett, korrigierte er

sich – drehte sich ganz langsam unter der Haut. Das diente der
Abschreckung, und der Trick war, wie Angel zugeben musste, effektiv.

Da er den Maelabog identifiziert hatte, wusste er nun auch, was für

einer der mit dem Stab war. Ein Dämon namens Mister Crook nämlich,
Held vieler Geschichten, die irische Bauern in den vergangenen
Jahrhunderten ihren Kindern erzählt hatten, um ihnen Angst einzujagen.

Wenn diese beiden gälischer Herkunft waren, dann waren es die

anderen wohl auch. Leider war Angel damals in Irland noch nicht so gut
mit der Welt der Dämonen bekannt gewesen wie heute. Er hatte den
Geschichten nicht genügend Aufmerksamkeit beigemessen, den Ge-
schichten von den Elfen, ihrem König Sidhe und der Zwischenwelt.

Aber über eines war er sich absolut im Klaren: Die Dämonen waren

gewiss nicht unterwegs, um liebe Verwandte zu besuchen.

»Hört mal, es war wirklich ein langer Abend«, sagte er zu ihnen. »Ich

habe keine Lust auf das, was ihr euch ausgedacht habt.«

Mister Crook neigte langsam den Kopf. Seine Augen bewegten sich

unabhängig voneinander, und mit einem von beiden sah er Angel nun an.
»Dein Name ist Angelus«, sagte er mit einer Stimme, die wie eine
knarrende Tür klang, die seit hundert Jahren niemand geöffnet hatte.

»War ich mal.«
»Du wirst mitkommen«, sagte Mister Crook.
»Euch liegt vermutlich nicht viel an Konversation«, sagte Angel.

»Aber es gibt gewisse Regeln, wisst ihr? Geben und Nehmen. Ich sage
etwas, dann sagt ihr etwas, das sich auf das bezieht, was ich gesagt habe.
Wenn ihr mich einfach ignoriert, bekomme ich das Gefühl, ihr wüsstet
nicht zu schätzen, was ich zu sagen habe. Und das ist nicht gerade sehr
höflich.«

»Du wirst mitkommen«, wiederholte Mister Crook.
Angel machte eine wegwerfende Handbewegung. »Okay, jetzt werde

ich allmählich ärgerlich«, sagte er. »Am besten, ich gehe, bevor ich
wirklich wütend werde.«

Der kleine Dicke klapperte mit den Zähnen wie ein wahnsinnig

gewordener Kastagnetten-Spieler. Der Große schlurfte ein paar Schritte
auf Angel zu. Sogar der Maelabog hörte auf, sich zu drehen und kehrte
fast zu seinem ursprünglichen Zustand zurück, wodurch ein merkwürdi-
ger Vorsprung auf der linken Gesichtshälfte und ein Loch auf der
Rechten entstand. Das Becken war auch ein wenig aus dem Lot geraten,
und es war so gar nichts Schönes mehr an dem Wesen.

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»Du wirst...«, setzte Mister Crook erneut an.
»Ich weiß«, fiel ihm Angel ins Wort. »Und danke für die Einladung.

Wirklich sehr freundlich! Aber ich muss leider absagen.«

Als der große Blauhäutige ihn angriff, wusste Angel, dass sie ihn nicht

einfach so gehen lassen würden. Man brachte keine vier gälischen
Dämonen zusammen und setzte sie auf jemanden an, nur um ihn dann
davonlaufen zu lassen. Angel konnte sich glücklich schätzen, dass er
noch aufrecht stand – wenn sie gewollt hätten, hätten sie ihn schließlich
gleich zu Anfang töten können.

Angel verwandelte sich wieder in einen Vampir und wich dem Langen

aus, lief aber direkt in den Stab von Mister Crook, der ihm mit
unerwarteter Härte und Schnelligkeit entgegenschlug und ihn an der
Schläfe traf. Er sah einen hellen Blitz, bevor die Welt um ihn
verschwamm.

Als er sich bemühte, das Gleichgewicht wiederzuerlangen, verpasste

ihm der Blaue einen Rückhandschlag. Die Hörner rissen Angel die Haut
auf, und er schrie vor Schmerz. Dennoch gelang es ihm, den Dämon am
Arm zu ziehen und ihn aus dem Gleichgewicht zu bringen. Als dieser auf
den Bürgersteig stürzte, trat ihm Angel noch zweimal gegen den
Schädel.

Da traf ihn erneut der Stab, diesmal am Hals. Angel würgte und

stolperte und erhielt einen weiteren Schlag in die Magengrube.

Er ging in die Knie. Als er sich schüttelte, um wieder einen klaren

Kopf zu bekommen, blickte er gerade noch rechtzeitig auf, um zu
erkennen, wie der kugelförmige Dämon auf ihn zukam. Sein runder
Körper war erstaunlich fest – wie ein Medizinball. Er konnte zwar mit
seinen Armen kaum um sich greifen, so dick war er, aber Angel wurde
allein durch die Wucht des Aufpralls zu Boden geworfen.

Als er sich wieder aufrappeln wollte, war der Maelabog zur Stelle. Er

hielt etwas Glitzerndes in der Hand. Sein Skelett war nun wieder in
Normalposition, und Angel hatte einmal mehr das Gefühl, berauschender
Schönheit ausgesetzt zu sein. Er betrachtete sie – ihn! – aus
verschwommenen Augen und erkannte dann, dass er ein Seil dabei hatte.

Genauer gesagt, eine Art Lasso. Der Maelabog wirbelte es kurz durch

die Luft und fing Angel damit ein. Er brauchte nur einmal fest daran zu
ziehen, und sofort waren Angels Arme eng an seinen Körper gefesselt.

Es war kein besonders dickes Seil. Angel ging davon aus, dass er es

schnell zerreißen konnte und spannte seinen Körper an.

Das Seil hielt.
Er versuchte, es mit den Händen zu erreichen, aber er konnte seine

Arme keinen Zentimeter bewegen. Sie waren viel fester geschnürt, als es

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mit einem Seil überhaupt möglich gewesen wäre. Angel nahm den
Hauch eines merkwürdigen Geruchs wahr, der in der Luft lag. Es roch
nach Ozon und irgendwie nach Kupfer, ähnlich wie bei Blut.

Es war der Geruch von Magie.
Er war durch einen Zauberspruch gefesselt.
Angel gab den Versuch auf, sich zu befreien, denn es war zwecklos.
Seine Gegner waren vier Dämonen aus dem gälischen Sagenreich,

bewaffnet mit einem Zauberlasso. Und sie hatten Angel in einem
unachtsamen Moment erwischt. Als er mehr um Karinna besorgt
gewesen war als um seine eigene Sicherheit. Als er sich, müde von
einem schweren Kampf, Gedanken um das Mädchen gemacht hatte.

Jemand war mit größter Sorgfalt darangegangen, ihn einzufangen.
Bestimmt würde er schon bald erfahren, wer und warum.
So oder so.



























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»Herzlich willkommen, Angelus!«, sagte eine Stimme.

Angel schlug die Augen auf.
Bevor er in den Jeep verfrachtet worden war, hatte man ihn offenbar

mit einer Art Zauberspruch eingeschläfert. Wie viel Zeit inzwischen
vergangen war, wusste er nicht, und weil es nirgends ein Fenster gab,
konnte er nicht einmal erkennen, ob es Tag war oder Nacht.

»Nenn mich Angel!«
Als er sich umsah, musste er feststellen, dass es in dem Raum

praktisch so gut wie nichts zu sehen gab. Er befand sich in einem großen
höhlenartigen Kellergewölbe mit Wänden aus grobem, grauem Gestein.
Die Decke schien sich in sehr großer Höhe zu befinden – weit über dem
Licht, das von den Fackeln geworfen wurde, die in eisernen, in
regelmäßigen Abständen angebrachten Wandleuchtern steckten.

Außer den Fackeln entdeckte Angel an der Wand gegenüber eine Art

Holzvitrine. Hinter der Öffnung in der Felsenwand gleich daneben führte
eine Treppe nach oben.

Und genau da wollte Angel hin. Allerdings stand er in diesem

Augenblick an einer Steinwand, und seine Arme, die er zu beiden Seiten
in Kopfhöhe ausgestreckt hielt, hingen in eisernen Handfesseln. Angel
nahm an, dass auch die Ketten mit einem Zauberspruch belegt waren, da
es ihm nicht gelang, sich von ihnen zu befreien.

Etwa fünf Meter vor ihm stand ein Mann.
»Alte Gewohnheiten kann man nur schwer ablegen«, sagte er.
Angel sah ihn sich genau an: Der ganz in Weiß gekleidete Mann – in

Hanfsandalen und Hemd und Hose aus schlichter Baumwolle – schien
Mitte siebzig zu sein und sah alt und runzlig aus. Das feine weiße Haar
wies bereits einige lichte Stellen auf, die rosafarben schimmerten und
den Eindruck erweckten, als wäre seine Kopfhaut irgendwie jünger als
der Rest von ihm. In seinen blauen Augen blitzte ein koboldhaftes
Funkeln, jedoch das Lächeln, das ihnen innewohnte, erreichte seinen
strengen, zusammengekniffenen Mund nicht mehr.

»Ich kenne dich nicht«, entgegnete Angel.
»Ich dich auch nicht«, antwortete der Mann. »Aber ich habe dich

schon gesehen und im Laufe der Jahre immer wieder von dir gehört.«

»Dann bist du im Vorteil.«

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Der Mann trat ein paar Schritte vor. »Entschuldige bitte«, sagte er

höflich. »Mein Name ist Mordractus. Ich stamme wie du aus Irland.«

Dieser Name war Angel nicht unbekannt – das jedoch wollte er seinem

Gegenüber nicht verraten. »Du klingst aber nicht besonders irisch.«

»Du ja auch nicht. Das ist wohl der Preis, den man für ein wurzelloses

Leben zu zahlen hat. In meinen jüngeren Jahren bin ich ausgiebig gereist
und habe erst in letzter Zeit wieder in der Nähe unserer Heimat gelebt,
allerdings recht zurückgezogen, wie ich zugeben muss. Sollte ich also
irgendeinen Akzent haben, dann stammt er, fürchte ich, aus dem
Fernseher.«

»Wie auch immer«, meinte Angel. Er hatte keine Lust, sich die

Geschichten dieses Typen anzuhören. »Verrätst du mir vielleicht, warum
ich hier gefangen gehalten werde?«

»Von außen würdest du das Haus vielleicht erkennen«, sagte der

Mann, als hätte er Angels Frage gar nicht mitbekommen.

»Das bezweifle ich. Stadtrundfahrten und Hausbesichtigungen

interessieren mich eigentlich nicht besonders.«

»Es gehörte einem Mann namens Pennington. Arthur Pennington.

Auch ›Der große Pennington‹ genannt.«

Das kam Angel bekannt vor, aber ihm fiel nicht ein woher. Er hätte mit

den Schultern gezuckt, wenn er nicht gerade angekettet gewesen wäre.

Wie lange wollte der Typ ihn eigentlich gefangen halten?
Und was hatte er wohl danach mit ihm vor?
»Pennington ... Der Name sagt mir gar nichts«, meinte Angel.
»Er war vor vielen Jahren einmal mein Schüler gewesen. In den

zwanziger, dreißiger Jahren – des zwanzigsten Jahrhunderts
wohlgemerkt«, ergänzte er kichernd. »Wenn man in unserem Alter ist,
muss man schon dazusagen, von welchem Jahrhundert man spricht! Er
war ein sehr berühmter Magier hier in Hollywood und hätte leicht einer
der größten werden können; er hatte das Format eines Crowley, wirklich.
Aber er wollte lieber bekannt werden und sich bewundern lassen – wie
ein Zirkusaffe, nicht wie ein großer Magier. Er spielte in Kinofilmen mit,
in denen seine ›Magie‹ lediglich auf Kameratricks beruhte, und im
Fernsehen konnte man ihn auch bewundern. Vielleicht hast du ihn mal in
der Ed Sullivan Show oder einer ähnlichen Sendung gesehen.«

»Ja, vielleicht.«
»Was für eine Verschwendung! Und nun ist er bedauerlicherweise

tot.«

»Und du nicht.«
»Genauso ist es«, entgegnete Mordractus, drehte sich um und

marschierte auf den Ausgang zu. »Mit den Fertigkeiten, die er bei mir

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gelernt hat, hätte er sein Leben fast ins Unendliche verlängern können.
Wie ich es getan habe. Aber er hat seine Gabe verschleudert, seine Jahre
vergeudet, und als er am Ende seines Lebens seine Fähigkeiten wieder
anwenden wollte, nachdem er diesen Kellerraum direkt unter seinem
Haus in Hollywood gebaut hatte, war es bereits zu spät. Eine Gabe wie
die unsere muss man nutzen. Bei Fremdsprachen ist es ähnlich. Wenn
man sie nicht ständig praktiziert, verkümmert das Wissen wie ein
Muskel, den man nicht trainiert.«

»Faszinierend«, bemerkte Angel. »Und wann willst du meine Frage

beantworten?«

»Dazu komme ich noch«, entgegnete Mordractus. Er blieb stehen und

sah Angel über die Schulter an. »Geduld, junger Angelus! Wir haben
noch sehr viel Zeit.«

»Bevor was geschieht?«, fragte Angel.
Mordractus ging, ohne eine Antwort zu geben, bis ans andere Ende des

Gewölbes, verschwand jedoch nicht, wie Angel vermutet hatte, durch
den Ausgang, sondern öffnete die Holzvitrine und holte einen kleinen
Eimer hervor, aus dem ein Holzgriff ragte. Er schloss den Schrank
wieder und drehte sich zu Angel um.

»Ich bin nun schon über fünfhundert Jahre alt«, erklärte Mordractus.

»Ich habe mein Leben genossen. Und ich bin nicht bereit, es
aufzugeben.«

»Dabei siehst du keinen Tag älter aus als dreihundert-fünfzig«, meinte

Angel. »Wo liegt denn das Problem?«

Der Magier ging in die Mitte des Raumes, blieb stehen und drehte den

Kopf in alle Richtungen, als müsse er sich orientieren. Als er sicher war,
wirklich genau in der Mitte zu stehen, kniete er sich auf den Boden. »Ich
muss sterben«, sagte er nur.

Er zog einen Pinsel aus dem Eimer, an dessen Borsten etwas Weißes

klebte, das zähflüssiger war als Farbe. Angel konnte nicht richtig
erkennen, was es war. Mordractus schien seine Unsicherheit zu spüren.

»Das ist Kleister«, sagte er. »Aus der Asche von verbrannten

Mördern«, fügte er hinzu.

»Wie reizend!«
Mordractus begann, um sich herum einen Kreis von etwa einem Meter

Durchmesser auf den grauen Fußboden zu malen.

»Ich muss sterben«, sagte er wieder. »Aber ich bin noch nicht bereit

dazu. Mit meinen Zaubersprüchen kann ich mein Leben leider nicht
mehr verlängern. Und zu allem Unglück habe ich etwas ins Rollen
gebracht, das mich viel Kraft kostet. Es laugt mich regelrecht aus. Sollte

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ich jedoch sterben, bevor ich diese Angelegenheit beenden kann,
erwarten mich äußerste Unannehmlichkeiten.«

»Tut mir Leid zu hören«, sagte Angel. »Wie heißt noch das

wunderschöne alte Sprichwort? – ›Erst wägen, dann wagen‹ oder so
ähnlich.«

»Ich habe mich im letzten Jahr überall nach einer Alternative

umgesehen. Nach etwas, das mir mein Leben verlängern kann. Meine
Leute haben auf der Suche danach die ganze Welt bereist.«

»Ich weiß die Lösung«, entgegnete Angel. »Wenn du mich losmachst,

beiße ich dich.«

Mordractus war fast mit seinem Kreis fertig und vereinigte sorgfältig

das Ende mit dem Anfang. »Nein, so nicht«, sagte er. »Vampire haben
keine Seele. Ich will nicht ohne Seele leben.«

»Warum nicht?«
»Die Seele ist viel mehr als nur ein Gewissen. Obwohl du es den

Geschichten nach, die ich gehört habe, offenbar so siehst. Die Seele
macht das Wesen selbst aus, sie ist das eigentliche Ich. Ohne sie wäre
man jemand ganz anderes – nein, etwas ganz anderes. Es macht doch
keinen Sinn, mich am Leben zu erhalten, wenn ich ohne Seele doch gar
nicht mehr ich selbst bin? Und es gibt auch einige praktische
Überlegungen. Ich bin ein Magier, weißt du.« Er fuchtelte mit dem
Pinsel herum, als wolle er es beweisen. Dann bückte er sich wieder und
fing an, außerhalb des Kreises eine lange gerade Linie zu ziehen. »Ich
beschäftige mich mit komplizierter Magie«, fuhr er fort. »Du würdest es
wahrscheinlich schwarze Magie nennen, womit ich allerdings nicht
einverstanden bin.

Für diese Art Magie braucht der Magier jedenfalls eine Seele. Ich

beschwöre Dämonen aus der tiefsten Hölle und aus der Zwischenwelt
herbei. Die Seele des Magiers hat die Funktion eines
Namensschildchens, verstehst du? So erkennen die Kreaturen, wer sie
geholt hat. Sie gehorchen, weil sie die Seele erkennen können. Ohne sie
hätte eine solche Prozedur verheerende Auswirkungen.«

»Du bist also auf deine Seele angewiesen«, sagte Angel. »Was habe

ich dann damit zu tun?«

»Stell dich nicht so dumm, Angel! Das steht dir nicht. Du bist ein

Vampir, das weiß ich. Du bist unsterblich. Und dennoch hast du eine
Seele.«

»Und wenn das tatsächlich so wäre?«
»Es macht dich zu etwas Einzigartigem, wenigstens meiner Erfahrung

nach. Ich musste dich mit eigenen Augen sehen.«

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»Und da bin ich! An die Wand gepinnt wie ein Schmetterling. Ich

muss schon sagen, ich hab's schon angenehmer gehabt.«

»Ja, dafür entschuldige ich mich«, sagte Mordractus. »Du verfügst

über große Kräfte, und ich muss einfach sichergehen, das s du nicht zu
einem Problem für mich wirst.«

»Und wenn ich dir mein Ehrenwort gebe?«
»Ich glaube nicht, dass ich dir unter den gegebenen Umständen

vertrauen kann.«

»Was sind denn die gegebenen Umstände?«
»Was dich so einzigartig macht, ist genau das, was ich brauche«, sagte

Mordractus. Er war am vorgegebenen Endpunkt seiner Linie
angekommen und zog die Linie in einem spitzen Winkel zu dem Kreis
zurück. »Du bist unsterblich, und du hast eine Seele. Und das ist genau
die Kombination, auf die ich aus bin. Und deshalb werde ich die Essenz
deines Wesens, das, was dich unsterblich macht, auf mich übertragen.«

»Und wie, wenn ich fragen darf, willst du das anstellen?«
»Es ist ein kompliziertes Ritual, aber nicht unmöglich«, erklärte

Mordractus. »Ich werde einen Dämon heraufbeschwören – Orias heißt
er, wenn du es genau wissen willst –, und er wird deine Lebenskraft auf
mich übertragen.«

»Und ich bin dann wieder sterblich?«, wollte Angel wissen.
»Du bist dann leider tot«, entgegnete Mordractus. »Die Seele wohnt

unserem Glauben nach im Kopf. Also muss dir Orias als Erstes den Kopf
abreißen, um deine Lebenskraft auf mich übertragen zu können. Er wird
aus deinem Gehirn einen speziellen Trunk bereiten, den er mir zu trinken
gibt. Während ich dann unsterblich werde, wirst du leider den ersten Teil
des Rituals nicht überleben.«

»Ich bin erfreut zu hören, dass ich helfen kann«, sagte Angel

sarkastisch. »Vermutlich habe ich selbst in der Angelegenheit nichts zu
sagen.«

»Ich habe nicht erwartet, dass du freiwillig mitmachst«, erklärte

Mordractus. »Sonst hätte ich dich einfach gefragt, statt mich damit
abzumühen, dir eine Falle zu stellen. Ich musste dich beobachten, jeden
Schritt von dir aufzeichnen und dich Tag und Nacht im Auge behalten.
Und auf den richtigen Augenblick warten.«

»Nun, es freut mich, dass es dich wenigstens Mühe gekostet hat. Noch

besser hätte es mir gepasst, wenn es dir gar nicht erst der Mühe wert
gewesen wäre und du zu Hause geblieben wärst. Dann bist du wohl
derjenige, der hinter dem Angriff auf Karinna steckt. Wozu? Um mich
mürbe zu machen? Um mich zu schwächen?«

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»Die ganze Karinna-Geschichte diente nur dazu, dich anzulocken«,

erklärte Mordractus. Er war am Ende einer weiteren Linie angekommen
und setzte neu an. Jetzt konnte man erkennen, was es werden sollte: Er
zeichnete einen fünfzackigen Stern, in dessen Mitte der Kreis lag, der
von jeder der Linien gestreift, nicht jedoch durchkreuzt wurde. »Du
solltest vollständig auf das Mädchen konzentriert sein und gar nicht mehr
dazu kommen, an deine eigene Sicherheit zu denken. Der erste Angriff
auf dich war ja schon vor Wochen.«

Angel erinnerte sich an den Zwischenfall. Die vier Typen, die damals

aus dem Nichts aufgetaucht waren, hatte er leicht in die Flucht schlagen
können.

»Stimmt.«
»Das war ein jämmerlicher Versuch. Es ist mir schon peinlich,

zugeben zu müssen, dass die Kerle überhaupt für mich gearbeitet haben.
Nach diesem Vorfall befürchtete ich, du würdest besonders auf der Hut
sein. Also musste ich dich ablenken und dafür sorgen, dass du die
Probleme einer anderen Person über deine eigenen stelltest. Es musste
jemand sein, über den du dir so richtig den Kopf zerbrechen solltest. Ich
habe Karinna Willits ausgewählt, denn ich wusste, sie würde dich an
jemanden erinnern. An eine junge Frau nämlich, die du vor langer Zeit
einmal vergeblich versucht hast zu retten. Ich hoffte, du würdest
besonders um ihre Sicherheit bemüht sein. Und es scheint ja auch
funktioniert zu haben.«

Das Mädchen in Rumänien! Wie konnte er davon wissen? Angel hatte

das Erlebnis ja selbst vergessen gehabt – bis zu dem Moment, in dem ihn
Karinnas Anblick daran erinnert hatte. Er fragte Mordractus danach.

»Sorgfältige Recherche«, erklärte der Magier. »Als ich erst einmal

wusste, wer du bist, war es nicht besonders schwierig, dein Leben ein
wenig zu rekonstruieren und Leute zu finden, die dich von früher
kennen. In den alten Zeiten warst du ziemlich bekannt, und man erinnert
sich bis heute an dich. Ich habe ein paar von deinen Freunden aufgespürt
und auch Leute, die nicht gerade zu deinen Freunden zählen. Tirbol lässt
dich übrigens grüßen.«

»Er lebt?«
»Und es geht ihm offenbar ganz gut. All diese ... Unruhen in

Osteuropa. Man kommt dort offensichtlich leicht an Opfer, ohne dass
jemand Fragen stellt, wenn irgendwo noch eine Leiche mehr auftaucht.
Tirbol lebt wie die sprichwörtliche Made im Speck.«

»Erinnere mich daran, ihn mal zu besuchen.«
»Das würde ich ja, Angelus, aber ich muss dir leider mitteilen, dass du

den nächsten Sonnenaufgang nicht mehr erleben wirst.«

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»Wie spät ist es denn jetzt?«, fragte Angel.
»Kann ich dir ja ruhig verraten«, sagte Mordractus. Er erhob sich von

seiner Malerei. Sein Gemälde war nun offenbarfertig, ein Pentagramm
mit einem Kreis in der Mitte. Die Vorbereitung eines schwarzmagischen
Beschwörungsrituals, wie Angel erkannte. »Du hast die ganze Nacht ge-
schlafen. Wahrscheinlich ist es jetzt ungefähr zehn Uhr morgens, aber
ganz genau kann ich das nicht sagen. Hier unten darf ich, wenn ich die
Kreise vorbereite, keine Uhr tragen – gar nichts, was maschinell
hergestellt ist.« Er zeigte an sich herunter. »Das ist alles mit der Hand
genäht, von drei jungfräulichen Schwestern.«

»Rollen sie dir auch die Zigarren?«
»Leider zählt Humor nicht zu meinen Stärken, Angelus. Selbst wenn

du wirklich witzig wärest, fiele es mir nicht auf.«

»Ich dachte, du hast einen Fernseher. Kriegst du keine Sitcoms?

Seinfeld zum Beispiel? Oder Friends

»Bestimmt kriege ich die, aber ich sehe sie mir nicht an. – Jedenfalls

ist jetzt, wie ich bereits sagte, Morgen. Die Zeremonie findet heute
Abend statt. Und ehe die Nacht vergeht, bist du ein toter Körper und ich
werde unsterblich sein. Ich würde mich ja bei dir für dieses Geschenk
bedanken, aber du gibst es mir ja nicht freiwillig, oder?«

»Da hast du Recht.«
»Ist aber auch egal. Ich habe mir immer genommen, was ich brauchte -

dessen darf ich mich in der Tat rühmen.«

»Darauf wette ich.«
Mordractus fing an, einen weiteren Kreis zu malen, einen größeren,

um das ganze Pentagramm herum. Er hatte einen Durchmesser von
ungefähr vier Metern. »Ich werde noch eine Weile mit Zeichnen
beschäftigt sein«, sagte er und griff sich in den Rücken. »Ganz schön an-
strengend in meinem Alter, die viele Bückerei. Danach werde ich etwas
Zeit brauchen, um mich selbst vorzubereiten und mich für das Ritual zu
reinigen. Du wirst den Tag hier verbringen, und wenn es so weit ist,
werde ich dich auf die entsprechende Position im Kreis stellen lassen.«

»Es ist nicht nötig, dass du mir das alles so genau erklärst«, sagte

Angel.

»Aber ich tue es gern. Du sollst wissen, dass dein Opfer nicht

vergebens ist. Du hilfst mir, eine große Aufgabe zu vollenden. Wenn ich
mit dir fertig bin, sind meine Jugend und meine Kraft wiederhergestellt,
und wenn die Sonnenwende kommt, werde ich in der Lage sein, das zu
beenden, was ich vor vielen Monaten begonnen habe. Endlich werde ich
Balor aus der Zwischenwelt holen können.«

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»Balor?«, fragte Angel. Diesen Namen kannte er. Balor, der Totengott

und alte König der Fomorianer. Wenn es diesem Zauberer wirklich
gelang, Balor auf die Erde zurückzuholen, würde sich eine Katastrophe
ereignen, die alles übertraf, was der Planet je erlebt hatte.

»Du kennst ihn?«
»Hab schon mal von ihm gehört. Ich weiß, wer er sein soll, der

Legende nach.«

»Er ist nicht nur eine Legende«, sagte Mordractus. »Wie in allen

Legenden gibt es auch in diesem Fall einen wahren Kern. Balor existiert,
und er wird auf die Erde zurückkommen. Wenn er hier ist, wird er mir
gehören. Er wird meinem Befehl unterstehen.«

»Bist du dir da so sicher? Wenn die Geschichten auch nur annähernd

wahr sind ...«

»Sie sind wahr!«, fuhr Mordractus auf.
Sobald er den großen Kreis beendet hatte, fing er in dessen Innerem

einen neuen an, in einem Abstand von knapp fünfzig Zentimetern. Er
arbeitete ruhig und sehr konzentriert und sah nur gelegentlich auf,
während er sich mit Angel unterhielt. Angel fühlte sich an einen Bau-
arbeiter erinnert, der sachlich und nüchtern ein Haus nach dem anderen
hochzieht.

»Sein böses Auge, das Massenvernichtungen verursacht; seine enorme

Größe; seine Übellaunigkeit – all das ist wahr. Balor wird an meiner
Seite stehen und meine Macht für alle Zeiten sichern.«

»Klingt ja so, als hättest du das alles genau geplant«, sagte Angel.
»Ich habe viel darüber nachgedacht, das kannst du mir glauben.«
»Dann hast du bestimmt nichts dagegen, wenn ich meine Meinung

dazu äußere?«

»Deine Meinung ist völlig bedeutungslos, Angelus. Ich habe jede

Eventualität bedacht. Aber nichtsdestotrotz bin ich neugierig, also leg
los!« Erbe endete den inneren Kreis und fing an, bestimmte Teile des
Pentagramms mit Namen zu beschriften. Zwischen die Worte in
englischer und hebräischer Sprache verstreute er wie zufällig – was es
aber bestimmt nicht war – Tierkreissymbole und andere Zeichen, die
Angel nicht kannte.

»Ich denke, du bist völlig verrückt«, sagte Angel. »Dir fehlen ein paar

Klötze im Baukasten. Du hast 'nen Sprung in der Schüssel. Oder ein paar
Schrauben locker. Selbst wenn du doppelt so schlau wärst, wie du bist,
wärst du ein absoluter Schwachkopf.«

»Nutzlose Verbalinjurien, Angelus? Du überraschst mich!«
»Ich würde meinen Gefühlen gern körperlich Ausdruck verleihen, aber

du hast mich ja hier festgenagelt.« Angel rasselte mit den Ketten. »Das

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sind doch bestimmt Zauberfesseln, oder?«

»In der Tat«, sagte Mordractus. Seine letzten Pinselstriche bestanden

darin, zwei kleine Halbkreise neben dem Pentagramm zu zeichnen. Sie
blieben unvollendet. »Und die behältst du auch bis heute Abend. Also
mach es dir gemütlich. Du wirst erst von den Fesseln befreit, wenn ich
dazu bereit bin.«

Er warf Angel einen letzten Blick zu, trug Eimer und Pinsel wieder zu

dem Schrank und räumte sie weg. Ohne ein weiteres Wort verließ er das
Gewölbe und stapfte die Treppe hoch.

In der Stille versuchte Angel erneut, seine Fesseln zu sprengen. Aber

es ging nicht. Er konnte sie nicht einmal lockern.

Er saß wirklich fest.





























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13






Doyle sah auf seine Uhr. Dann warf er einen Blick auf die Zeitangabe
auf Angels Computermonitor. – Angels Computer? Gehörte er nicht viel
eher Cordy? Sie war doch diejenige gewesen, die in die Stadt gegangen
und mit einer ganzen Wagenladung Bürozubehör wiedergekommen war,
als sie endlich kapiert hatte, dass Angel ein eigenes Büro aufmachen
wollte. Und das ganze Zeug stand nun auf »ihrem« Schreibtisch im
vorderen Büro.

Unabhängig davon, wem das Gerät nun gehörte, stimmten jedenfalls

beide Zeitmesser darin überein, dass es nun elf Uhr dreißig morgens war
– und Angel war noch nicht nach Hause gekommen. Doyle machte sich
Sorgen.

»Ich meine«, sagte er zu sich selbst, »es gibt ja immer noch die

Möglichkeit, dass er mal 'ne Frau kennen gelernt und mit ihr 'ne
angenehme Nacht verbracht hat und sich nun nicht losreißen kann.«

Andererseits ... Hier war von Angel die Rede. Und daher war diese

Möglichkeit nicht besonders wahrscheinlich. Der Vampir war eher von
der nachdenklichen als von der schnellen Truppe. Die Frauen fanden ihn
offenbar ganz attraktiv, aber das ging offenbar einfach so an ihm vorbei.

Wo konnte er nur stecken? Draußen schien die Sonne hell vom

Himmel. Angel wanderte um diese Uhrzeit gewiss nicht mehr durch die
Straßen – er wäre schon längst knusprig durchgebraten. Doyle hoffte nur,
dass er wenigstens in irgendeinem dunklen Kellerloch saß.

Alle möglichen schrecklichen Bilder stiegen in ihm auf, während er

darüber nachdachte: Angel, wie er in Flammen aufging, nachdem ihn die
über Kalifornien aufgehende Sonne erwischt hatte. Angel, wie er mit
dem Holzpflock gepfählt wurde und zu Staub zerfiel... Dass er einmal
auf diese Art und Weise umkommen würde, hatten Doyle und Cordy
schon immer befürchtet – und auch, dass sie ihn vielleicht selbst einmal
auf diese Weise vernichten mussten, falls er je seine Seele verlor und
wieder böse wurde.

Vielleicht war genau das eingetreten: Er war wiederböse geworden

und konnte sich entweder nicht an den Heimweg erinnern oder hatte
Angst davor zurückzukommen; Angst davor, dass seine besten Freunde
ihn würden töten müssen.

Oder Angst davor, dass er die beiden umbringen könnte.

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113

Beides war gleichermaßen schrecklich.
Doyle griff zum Telefon, rief die Auskunft an und fragte nach der

Nummer der Monument-Studios. Als er die Zentrale am Apparat hatte,
ließ er sich ins Besucherzentrum durchstellen. Nach einer Minute,
während der er gezwungen war, sich in der Warteschleife irgendeinen
nervigen Soft-Pop anzuhören, erklang eine Frauenstimme.

»Monument Tours«, sagte sie. »Kann ich etwas für Sie tun?«
»Ja«, entgegnete Doyle. »Ich muss mit Cordelia Chase sprechen.«
»Es tut mir Leid, Ms. Chase arbeitet gerade. Ist das ein privater

Anruf?«

»Privat?«, fragte Doyle. »Natürlich nicht. Es ist ein ... Notfall. Ein

arbeitstechnischer Notfall. Höchst arbeitstechnisch.«

»Dann sind Sie auf dem Gelände? Geben Sie mir Ihre Durchwahl! Ich

werde Ms. Chase ausrufen lassen.«

»Lassen Sie nur«, sagte Doyle. »Ich werde sie selbst suchen.« Er legte

auf.

Das hatte nicht weitergeholfen.
Aber irgendetwas musste er tun. Dieses Herumsitzen, ohne zu wissen...

Er hielt es einfach nicht länger aus. Doyle verdankte Angel sehr viel –
Francis Doyle hieß er mit vollständigem Namen, aber das war ein
Staatsgeheimnis und als solches strenger geschützt als die Pläne einer
Nuklearwaffe oder das Rezept von Coca-Cola. Angel und Cordy hatten
seinen Namen allerdings herausgefunden, als sie erfahren hatten, dass er
einmal verheiratet gewesen war. Er war Angel von den zuständigen
Mächten zugeteilt worden – wenn man es so nennen konnte –, um ihm
dabei zu helfen, sich von seinem einsamen Leben in der Dunkelheit zu
verabschieden und tatsächlich wieder Menschen kennen zu lernen und
sich unter sie zu mischen, statt sie einfach nur zu retten und Punkte zu
sammeln. Aber in der Zwischenzeit hatte Angel bereits viel für ihn
getan. Er hatte Doyle dazu gebracht, bislang ungeahnte Mutreserven zu
mobilisieren, und ihm zu der Erkenntnis verholfen, dass auch er auf
dieser Welt nicht wertlos war. Und er hatte ihn Cordelia vorgestellt, die
einfach alles besaß, was ein Mann – in Doyles Fall nur ein halber, ein
Dämon-Mann sozusagen – sich nur von einer Frau wünschen konnte.
Abgesehen von ihrer abgrundtiefen Abneigung gegen alles Dämonische.

Doyle schuldete Angel zweifelsohne eine Menge. Und es würde ihm

gewiss nicht gelingen, sich bei ihm zu revanchieren, wenn er weiter am
Schreibtisch hocken blieb.

Cordelia lenkte die Touristen-Bimmelbahn durch eine enge Passage
zwischen zwei hoch aufragenden Bühnenaufbauten hindurch. Das

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Gefährt bestand aus zwei Wagen, und Cordelia musste darauf achtgeben,
dass in den Kurven auch der zweite hinterherkam. An ihrem ersten Tag
am Steuer hatte sie die Erfahrung gemacht, dass der zweite Wagen in der
Kurve hängen blieb, wenn man zu scharf abbog, und infolgedessen jede
Menge Besucher das Eintrittsgeld zurückforderte. Und weil Cordelia die
Bahn immerzu nach links oder rechts gelenkt hatte, je nachdem, wo es
etwas zu sehen gab – um dann wieder hart gegensteuern zu müssen,
wenn eine Mauer oder ein anderes Fahrzeug auftauchte, war einigen
Gästen schlecht geworden. Cordy war kurz davor, Komplexe zu
bekommen!

Während sie das Fahrzeug lenkte, musste sie natürlich ihre Sprüche

loslassen und den Gästen erklären, was es gerade zu sehen gab und von
welcher Bedeutung es für die Geschichte von Monument Pictures war.
Dabei durfte sie nicht vergessen, ständig Hinweise auf aktuelle Monu-
ment-Filme einzubauen. Nicht gerade einfach, wenn man wie Cordelia
der Meinung war, dass Monument derzeit nichts als Flops zu bieten
hatte.

»Zu Ihrer Rechten«, sagte sie nun schon zum siebten Mal in dieser

Woche, »sehen Sie Bühne siebzehn. Hier wurden viele große Filme
gedreht. Erinnern Sie sich noch an Hill Seventeen, den Klassiker unter
den Kriegsfilmen? Der Berg war in Wirklichkeit nichts weiter als ein
Haufen Dreck, den man in einer Ecke der Bühne aufgetürmt hatte.
Stellen Sie sich vor, Sie müssten die ganze Schweinerei nach den
Dreharbeiten wieder wegmachen!«

Das Gelächter der Gäste wirkte genauso einstudiert wie ihr Text. Das

Witzchen war auswendig gelernt und kam ebenso wenig aus dem
Stegreif wie die meisten »Brüller«, die sie an den Mann bringen musste.

Aber sie befand sich immerhin auf dem Filmgelände. Daran musste

sich Cordelia mehrmals am Tag erinnern, um sich nicht aus lauter Frust
vor besagtes Bimmelbähnchen zu werfen.

Das dringende Verlangen, den Job hinzuschmeißen, überkam sie fast

so häufig wie das Bedürfnis, sich selbst zu zerfleischen. Denn man
konnte Cordelia vielleicht so manches nachsagen, nicht aber, dass sie
leicht aufgab. Das hatte sie schon damals nicht getan, als sie mit der
Scooby-Gang gegen alle möglichen toten Wesen gekämpft hatte, und
ebenso wenig als Anführerin der Cheerleader, wenn es darum ging, ein
Team zu bejubeln, für das der Sieg eine völlig fremdartige Vorstellung
war. Und auch diesmal würde sie auf gar keinen Fall aufgeben.

»Sogar der Straßenzug aus dem Film Fridays with Dad wurde

vollständig auf dieser Bühne nachgebaut, die nicht nur die größte auf
unserem Gelände ist, sondern zudem die viertgrößte in ganz Hollywood.

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Man musste die Kulissen hier aufbauen, weil die Straße auf der Bühne,
die wir vorhin gesehen haben, gerade für den Gangsterfilm Election Day
benutzt wurde, der ebenfalls 1958 gedreht wurde.«

»Fräulein!«, rief einer der Gäste von hinten.
Na super, schon wieder eine dieser merkwürdigen Fragen! Die

Touristen fragten ständig nach Filmen, von denen Cordelia noch nie
gehört hatte oder an die sie sich nicht erinnern konnte. Wer interessierte
sich schon für Filme, die gedreht worden waren, lange bevor
irgendjemand, den sie kannte, gelebt hatte? Leider aber wurde Cordelia
von Olivia Mulroy begleitet, ihrer Ausbilderin und Chefin. Da sich
Cordelia wegen ihrer ausgefallenen Kurventechnik in einer Art
Bewährungsphase befand, achtete Olivia nun auf alle möglichen
Schnitzer. Cordelia musste sich von ihrer besten Seite zeigen.

»Ja, Sir?«, fragte sie.
»Wurde Camp Kidsworth nicht auch auf einer dieser großen Bühnen

gedreht?«, fragte der Mann. Cordelia sah ihn im Rückspiegel. Er trug
eine blaue Baseballkappe mit einem Tankstellenlogo darauf und hatte
einen Riesenzinken im Gesicht.

Wen interessierte es schon, wo dieses Fiasko gedreht worden war?

Jeder Jungschauspieler, der es nicht geschafft hatte, mit einer
Fernsehserie berühmt zu werden, hatte mitgespielt, und der Film war
trotz allem ein Flop gewesen.

Aber das konnte Cordelia in diesem Augenblick wohl schlecht sagen.

Sie hatte allerdings auch keinen blassen Schimmer, wie die richtige
Antwort lautete. Fragend sah sie Olivia an. Die Frau sah aus wie ein
Geier. Ihre lange, gebogene Nase ragte über einen schmallippigen,
verbitterten Mund hinaus. Mit aufmerksamem, stechendem Blick schien
sie Cordelia die ganze Zeit im Auge zu haben – wie ein Aasgeier, der auf
die nächste Leiche lauert. Ihr strähniges schwarzes Haar wurde am
Hinterkopf von einem Gummi zusammengehalten.

»Bühne fünfzehn«, flüsterte Olivia ihr zu.
»Camp Kidsworth«, sagte Cordelia mit einem Kichern, »was für ein

großartiger Film! Er wurde natürlich auf Bühne fünfzehn gedreht, die
sich auf der linken Seite hinter uns befindet.«

Langsam steuerte sie die Bahn nach rechts. Die Führung war fast

vorüber – noch ein paar Bühnen, dann über die Hauptstraße zurück auf
den Parkplatz vor dem Besucherzentrum. Sie hatten alles besichtigt, was
es zu besichtigen gab, und nun mussten die Besucher nur noch ein paar
Minuten unterhalten werden, bevor sie endlich wieder in ihre Autos
stiegen und sich auf den Heimweg machten. Und bis die nächste Gruppe
anrückte, gehörte das Gelände für kurze Zeit ausschließlich denjenigen,

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die einen triftigen Grund hatten, sich dort aufzuhalten – und einen
Monument Pictures-Ausweis, der ihnen die Berechtigung dazu gab.

Cordelia träumte von den wenigen kurzen Pausen zwischen den

Führungen, als sie spürte, wie sich Olivias Krallen in ihren Arm bohrten.

»Au!«, sagte sie.
»Blake Alten«, zischte ihr Olivia ins Ohr.
»Was ist mit ihm?«, fragte Cordelia.
»Da ist er!«
Cordelia blickte nach vorn, und da ging tatsächlich Blake Alten, der

größte Actionstar der Welt! Er hatte in drei der zehn größten
Kassenschlager aller Zeiten gespielt. Aber in den Staaten berühmt zu
sein, bedeutete noch lange nicht, dass man auch in Japan, Indien, Frank-
reich oder sonst wo auf der Welt erfolgreich war. Blake Alten jedoch
hatte es geschafft. Und er überquerte gerade zwanzig Meter vor
Cordelias Bahn die Straße.

»Er ist der Beste!«, flüsterte Olivia ihr zu. »Er hat immer ein paar

Minuten Zeit, um mit den Fans zu sprechen, sich fotografieren zu lassen
und was auch immer. Fahren Sie schnell hin! Damit verschaffen Sie
diesen Leuten hier ein unvergessliches Erlebnis!«

»Okay«, entgegnete Cordelia nur. Sie trat auf das Gaspedal und die

Bahn rumpelte mit Höchstgeschwindigkeit los – satte fünfzehn
Kilometer in der Stunde.

»Aber fahren Sie ihn nicht an!«, warnte Olivia.
»Danke für den Tipp!«, sagte Cordelia und verkündete dann durchs

Mikrofon: »Meine Damen und Herren, wir haben noch eine
Überraschung für Sie bereit. Unsere Rundfahrt ist fast zu Ende, aber wir
haben heute einen ganz besonderen Gast auf dem Gelände, den Sie be-
stimmt alle kennen. Vielleicht haben Sie die Nachricht schon gehört:
Blake Alten wird seinen nächsten Film bei Monument Pictures drehen.
Und schauen Sie: Da vorn ist Mister Alten! Wir werden sehen, ob er
einen Moment Zeit für uns hat. Er ist für sein Entgegenkommen
gegenüber seinen zahlreichen Fans bekannt.«

Den Touristen hinter ihr verschlug es die Sprache. Und dann ging ein

Geflüster und Raunen durch die Bahn, und Fragen wurden laut, die
Cordelia allesamt geflissentlich überhörte. Sie konzentrierte sich darauf,
das langsame Gefährt zu steuern und nach rechts abzubiegen, um dem
Schauspieler zu folgen. Er schien gar nicht mitzubekommen, dass sich
ihm die Bahn von hinten näherte. Cordelia fuhr vorsichtig zu ihm heran.

»Mister Alten!«, rief sie, als sie auf einer Höhe mit ihm war. »Hier

sind ein paar Fans von Ihnen und ... Mister Alten?«

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Er ging einfach weiter und hatte den Blick in weite Ferne gerichtet. Er

nahm sie überhaupt nicht wahr. War das wirklich der echte Blake Alten?
Er kam Cordelia eher wie ein Blake-Alten-Roboter vor. »Mister Alten?«,
versuchte sie es erneut. »Blake?«

Keine Antwort. Er ging einfach weiter.
»Geben Sie's auf!«, sagte Olivia leise.
Cordelia trat auf die Bremse. »Mister Alten hat sehr viel um die

Ohren«, sagte sie zu den Gästen. »Dann lassen wir ihn wohl besser
seiner Wege gehen, ohne ihn zu stören.«

Als er weitergegangen war, bog Cordelia wieder nach links ab. Bis

zum Besucherzentrum war es nicht mehr weit; sie musste nur noch die
nächste Straße überqueren und wenden. Blake Alten hatte sie nur eine
Minute gekostet. Und eine gehörige Portion Peinlichkeit.

Zwanzig Minuten später, nach einer kurzen Pause, ging Cordelia los, um
ihre nächste Gruppe abzuholen. Die Besucher wurden, nachdem sie sich
ein Ticket gekauft hatten, in einen Vorführraum gebracht, wo sie einen
kurzen Film über die Geschichte von Monument Pictures mit vielen
Ausschnitten aus den Filmklassikern des Studios zu sehen bekamen.
Dann wurden sie von der jeweiligen Betreuerin abgeholt und bekamen
die Grundregeln für die Rundfahrt erklärt.

Cordelia schlüpfte in den Vorführraum, während der Film noch lief.

Als der letzte Filmausschnitt vorbei war und ein großes ENDE auf dem
Bildschirm erschien, trat sie nach vorn ans Podium. Die letzten
Filmsekunden flimmerten über ihr Gesicht und sie lächelte strahlend, bis
das Licht im Raum wieder anging.

»Willkommen bei Monument Pictures!«, rief sie mit all der

Überschwänglichkeit des Cheerleaders, der sie einmal gewesen war.
»Wir freuen uns sehr, Sie hier begrüßen zu dürfen!«

Glatt gelogen!
»Mein Name ist Cordelia Chase, und ich werde Sie heute begleiten«,

fuhr sie fort. »Für die nächsten zwei Stunden werde ich Ihnen einen
echten Blick hinter die Kulissen von Hollywood verschaffen: von den
Bühnen und Aufnahmestudios über die Labors für Spezialeffekte und
unser Studio-Museum bis hin zum Andenkenladen.«

Während ihres gut einstudierten Vertrags ließ Cordy ihren Blick über

die Menge schweifen. Wieder eine große Gruppe von fünfunddreißig
Leuten aus aller Herren Länder. Eine Familie aus Japan, eine aus dem
Nahen Osten, zahlreiche amerikanische natürlich und ein paar Leute, die
allein saßen und ...

Doyle?

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Er war es! Da saß er in der dritten Reihe dicht am Gang und gab sich

krampfhaft Mühe, unverdächtig zu wirken. Dass ihm nicht wohl in seiner
Haut war, konnte man ihm ansehen. Hinter ihm stand ein etwa
fünfjähriger Junge, der ihm ein Plastikflugzeug um die Ohren sausen
ließ. Das mochte zwar sein Unbehagen erklären, nicht aber den Grund
für seine Anwesenheit auf dem Studiogelände.

Er stellte Blickkontakt zu ihr her und deutete mit dem Kopf unauffällig

Richtung Ausgang. Cordelia antwortete mit einem leichten
Kopfschütteln. Sie konnte jetzt unmöglich mit ihm reden, denn hinten im
Raum stand Olivia und lauerte wieder wie ein Aasgeier auf Verdurstende
in der Wüste. Cordelia war heute bereits einmal zur Schnecke gemacht
worden. Wegen eines privaten Anrufs. Nun dämmerte ihr, dass es sich
bei dem Anrufer wohl um Doyle gehandelt haben musste. Und als er sie
nicht erreichen konnte, war er den weiten Weg hinaus zum Studio-
gelände gekommen und hatte die dreißig Dollar für eine Rundfahrt
geblecht.

Dann musste es wirklich dringend sein! Doyle hatte in seinem ganzen

Leben bestimmt noch nie dreißig Dollar für etwas ausgegeben, das nichts
mit Schiedsrichtern zu tun hatte.

Seine Anwesenheit brachte Cordy aus dem gut einstudierten Konzept.

»Nur ein ... ein paar, ähm, Grundregeln, bevor ich Sie ... ich meine,
bevor wir zu unserer Rundfahrt aufbrechen«, stotterte sie. »Erstens:
keine Fotos, ähm, es sei denn, ich gebe Ihnen ausdrücklich die Erlaubnis
dazu. Denken Sie daran: Dies ist ein echtes Filmstudio, und vielleicht
bekommen Sie einige Dinge mit, von denen wir nicht wollen, dass sie
morgen im Internet auftauchen oder so. Und bitte unterhalten Sie sich die
ganze Zeit über nur leise. Dann bekomme ich mit, wenn Sie Fragen
haben, und wir wollen ja auch, dass mich jeder verstehen kann. Arme,
Beine und Köpfe sollten sie während der Fahrt nicht hinausstrecken.
Ebenso ist das Aufstehen strengstens untersagt. Sie müssen unbedingt
die ganze Zeit auf Ihrem Platz sitzen bleiben!« Sie sah Doyle wieder an.
Er zuckte leicht mit den Schultern. »Wenn wir dann alle bereit sind,
folgen Sie mir bitte!«

Cordelia marschierte zum Ausgang. Olivia hielt den Gästen die Tür

auf und kam dann hinterher. Also wollte sie wieder mitfahren. Cordelia
führte die Gruppe zur Bahn und blickte dann und wann über die Schulter
nach hinten, um Doyle im Auge zu behalten. Aber er hing hinter ein paar
Leuten fest und landete schließlich in dem zweiten Wagen.

Sie spürte, wie er sie ansah, als sie die Bahn startete. Sie hätte am

liebsten angehalten und ihn zur Seite genommen. Doch damit würde der
Aasgeier sich gnadenlos auf sie stürzen. Wäre ihre Aufpasserin nicht

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mitgekommen, hätte sie mit Doyle gesprochen, sobald das Besucher-
zentrum außer Sichtweite war.

So aber blieb ihr nichts anderes übrig, als das Programm abzuspulen.

Sie zeigte ihrer Gruppe Bühne neun, wo die Sitcom Danny 's Kitchen
gedreht wurde. Die Besucher spazierten über das Set, setzten sich
probehalber auf die Stühle im Restaurant und nahmen die Salzstreuer
und Ketchupflaschen unter die Lupe, die als Requisiten auf den Tischen
standen. Von dort aus eine schnelle Runde durch das Schnittstudio, wo
tatsächlich ein paar Leute an einem neuen mittelklassigen Polizeifilm
arbeiteten. Jedes Mal, wenn sie irgendwo anhielten, kam Doyle näher an
Cordy heran, aber jedesmal rückte auch Olivia näher, als hätte sie Blut
geleckt. Cordy wehrte Doyle jedes Mal ab; einmal fragte sie ihn sogar
laut, ob er eine Frage habe. Er brummelte etwas und verschwand wieder
in der Menge.

Nach dem Besuch des Schnittstudios steuerte Cordelia die Bahn zu den

großen Kulissenanlagen weiter hinten auf dem Gelände. Sie fuhren über
die New York Street und die Chicago Street, umrundeten den großen
Platz und bogen dann nach links in den so genannten Dschungel ab –
eine bunte Ansammlung von unechten und echten Bäumen und ein paar
großen unechten Felsbrocken, über die ein Wasserfall in einen Teich
herunterstürzte, wenn man den Absperrhahn aufdrehte. Hinter dem
Dschungel war eine Westernstadt, ein Straßenzug aus Holzkulissen, der
in den Fünfzigern gebaut worden war und gelegentlich immer noch
Verwendung fand. Cordelia hielt die Bahn auf der staubigen Straße an
und erklärte ihren Gästen, dass sie nun fünf Minuten in der Westernstadt
umherlaufen durften, um Fotos zu machen.

Cordelia sah, wie Doyle aus der grellen Sonne in den dunklen Eingang

eines Gemischtwarenladens trat. Sie gab Olivia ein wenig Zeit, um sich
von einem Besucher in ein detailliertes Gespräch über die beiden Roy
Rogers-Filme verwickeln zu lassen, die dort gedreht worden waren, und
folgte Doyle durch die Tür.

Er drehte sich um, als er sie kommen hörte.
»Was willst du hier?«, fragte sie. »Hast du eine Ahnung, wie leicht ich

meinen Job verlieren kann? Ich weiß, es ist kein toller Job. Aber es ist
viel erniedrigender, einen Job zu verlieren, der weit unterhalb der
eigenen Talente liegt, als einen, der einen total überfordert.«

»Angel ist verschwunden«, sagte Doyle nur.
»Wenn du also denkst... Was?«
»Er ist heute Morgen nicht nach Hause gekommen.«
»Dann ... ist er vielleicht bei jemandem?«
»Dir ist klar, von wem wir gerade sprechen?«

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»Ja, stimmt. Tut mir Leid. Hast du versucht, ihn auf seinem Handy zu

erreichen?«

»Natürlich. Aber es ist abgeschaltet.«
»Hast du es bei den Willits zu Hause probiert? Er hat uns doch die

Nummer dagelassen.«

»Habe ich. Ich habe mit Karinna gesprochen. Sie ist gestern Abend

allein nach Hause gefahren. Mit Angels Auto, das eine dicke Beule hat.
Jemand hat sie wohl gerammt. Angel wurde zuletzt gesichtet, wie er
gegen ein Dutzend Typen kämpfte, während Karinna mit dem Kabrio
entkam. Er hatte ihr versprochen, danach zu ihr nach Hause zu kommen,
aber dort ist er nie aufgetaucht.«

»Oh«, machte Cordelia. Allmählich dämmerte ihr, was das bedeuten

konnte. »Oh.«

»Ich weiß nicht mal, wo ich mit dem Suchen anfangen soll, aber ich

habe ein ganz schlechtes Gefühl.«

»Ich auch, Doyle«, pflichtete ihm Cordelia bei. »Aber ich kann jetzt

gerade gar nichts tun. Diese Frau da, Olivia, sie bewacht mich mit
Argusaugen. Ich bin ungefähr so dicht davor« – sie zeigte es ihm mit
Daumen und Zeigefinger –»diesen Job zu verlieren. Nur weil die
Touristen mal ein bisschen in der Bahn durchgeschüttelt wurden und
einige gemault haben, ihnen sei schlecht, halten die einen hier gleich für
'ne Niete. Es tut mir also wirklich 'Leid für Angel, ich meine, ich habe
Angst um ihn, verstehst du? Aber ich glaube nicht, dass ich da helfen
kann. Kannst du nicht einfach eine Vision kriegen und ihn finden?«

»Du weißt doch, dass es so nicht funktioniert, Cordy.«
»Ich weiß, ich weiß. Aber mal im Ernst, was nützt schon dieses ganze

Theater mit den Visionen, wenn du es nicht ab und zu mal zu deinem
eigenen Vorteil verwenden kannst. Ich glaube, die Mächte der Ewigkeit
haben die Sache nicht ganz zu Ende gedacht.«

»Ich werde es ihnen sagen, wenn sie mich das nächste Mal nach

meiner Meinung fragen.«

»Wann haben sie das denn zuletzt getan?«
»Noch nie.«
»Oh.«
»Du willst also sagen, dir ist dein Job wichtiger als Angel.«
»Nein! Ich meine, ich will sagen ... Ja, das will ich glaube ich sagen.

Aber ich meine es nicht so, wie es sich anhört.«

Da musste Cordelia daran denken, was Angel schon alles für sie getan

hatte, seit sie den großen Schritt von dem kleinen Sunnydale, wo sie
jeden kannte, ins riesige Los Angeles gewagt hatte, wo sie
zugegebenermaßen nur ein kleiner Fisch in einem riesengroßen Meer

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war. In diesem Augenblick erkannte sie, dass es im Leben viel mehr gab,
als einem Haufen Touristen mit geringem Konzentrationsvermögen
Filmschauplätze vorzuführen. Touristen, die heute das Studiogelände
besichtigten und morgen Disneyland und in dem Glauben wieder nach
Hause fuhren, sie hätten Kalifornien gesehen. »Was ich meine, ist... Na,
ist auch egal, was ich meine. Eigentlich ist mir der Job ganz unwichtig.
Gehen wir!«

»Gehen?«, fragte Doyle.
»Denkst du, so eine heikle Angelegenheit überlasse ich dir allein?

Wenn Angel verschwunden ist, müssen wir ihn finden. Und dabei wirst
du meine Hilfe wohl brauchen können.«

»Also gut«, sagte Doyle. »Dann gehen wir!«
Sie traten wieder hinaus ins grelle Sonnenlicht. Die Touristen

spazierten immer noch um die Westernhäuser und fotografierten sich
gegenseitig vor dem Saloon oder machten Aufnahmen durch die
Gitterfenster des Gefängnisses. Cordelia kletterte auf den Fahrersitz der
Bahn und ließ den Motor an. Doyle setzte sich auf die Bank hinter ihr.

»Ein toller Zeitpunkt, mir das alles zu erzählen«, meinte Cordelia.

»Wir sind nämlich so weit es nur geht vom Ausgang entfernt.«

»Hey, ich kann schließlich nichts dafür, dass wir uns nicht früher

unterhalten haben«, beschwerte sich Doyle.

Cordelia steuerte die Bahn die Westernstraße hinunter in Richtung

Dschungel und Zivilisation. Von hinten konnte sie Olivia schreien hören.
Einige Touristen liefen hinter der Bahn her.

»Wo fahren Sie hin?«, fragte einer schnaufend. »Wir müssen doch

noch zurück!«

»Sie werden viel mehr sehen, wenn Sie zu Fuß gehen«, erklärte ihm

Cordelia. »Das ist ein Notfall.«

»Sie sind gefeuert, Chase!«, rief Olivia.
»Sie können mich nicht feuern – ich habe soeben gekündigt!«,

entgegnete Cordelia.

Und nach wenigen Minuten war das Geschrei nicht mehr zu hören.
Als sie mit der Bahn am Besucherzentrum ankamen, war bereits die

Security alarmiert. Wahrscheinlich hatte Olivia ihr Handy dabei oder war
in eines der Büros gelaufen, die sich hinter dem Dschungel befanden.
Cordelia und Doyle wurden von sechs stämmigen, finster
dreinblickenden Officern in kurzärmeligen blauen Uniformhemden und
gestreiften Hosen mit Pistolengürtel erwartet.

Hinter den Wachmännern stand Don Davis, der Chef des

Besucherzentrums - ebenfalls mit unfreundlicher Miene. Der Rest der

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Abteilung stand an den Fenstern des Büros und beobachtete von dort die
Show.

Cordelia hielt die Bahn an. »Ich weiß, ich weiß«, sagte sie. »Wir gehen

schon.«

»Das tun Sie ganz gewiss«, sagte Don. »Wir haben nämlich hier bei

Monument Pictures nichts für Vergnügungsfahrten übrig!«

Cordelia zog eine Grimasse. »Ich kann Ihnen versichern, Vergnügen

war dabei nicht im Spiel«, sagte sie. »Aber ich habe gekündigt, bevor
Olivia mich gefeuert hat; ungefähr dreißig Sekunden vorher. Ich habe
nämlich Wichtigeres mit meinem Leben vor, als Tölpel zu unterhalten,
die das Filmgelände besichtigen.«

So viel zum Thema Aufgeben. Aber flexibel zu sein, sich an

wechselnde Verhältnisse anpassen zu können war immerhin auch eine
positive Eigenschaft. Aufgeben war nicht immer das Schlechteste.

»Sie können von Glück reden, dass ich Sie nicht wegen Entwendung

fremden Eigentums anzeige, Ms. Chase!«, wetterte Don. »Sie können
gehen. Und Sie werden das Gelände von Monument Pictures nie wieder
betreten dürfen, nie wieder!«

Cordelia sah Doyle an und grinste. »Ach«, sagte sie, »es geht doch

wirklich nichts über das Showgeschäft!«




















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In einschlägigen Kreisen wusste niemand etwas.

Doyle konnte es kaum glauben. Trotz allem Gerede von

Schweigegelöbnis und Diebesehre waren Kriminelle das geschwätzigste
Völkchen auf Erden. Sie prahlten mit allem, so geringfügig es auch sein
mochte. Die meisten waren ganz einfach zu dumm, ihre Klappe zu
halten, und verspürten das Bedürfnis, selbst den belanglosesten
Gedanken ihrer Umwelt mitteilen zu müssen.

Und doch war nirgends etwas über Angel zu hören.
Was auch immer seinem Freund zugestoßen sein mochte, mit der

Verbrecherwelt hatte es offenbar nichts zu tun. Und genau deshalb
bekam es Doyle noch mehr mit der Angst zu tun. Mit einer Bande
Gauner war Angel bislang noch immer spielend fertig geworden.

Wenn es also nicht die kriminelle Unterwelt war, die Angel etwas

angetan hatte, dann musste es die andere Unterwelt sein. Die, aus der die
Dämonen kamen. Aber Angel hatte genug drauf, um auch mit dieser
Sorte klarzukommen. Wenn es also ein Problem gab, mit dem selbst
Angel nicht zurande kam - was konnte Doyle dann schon ausrichten?

Er stand an der Kreuzung von Hollywood und Highland Boulevard.

Tagsüber hatte sich eine sengende Hitze entwickelt, und der Gehsteig
strahlte die Wärme noch am Abend aus. Trotzdem herrschte jede Menge
Betrieb-Touristen in kurzen Hosen; Obdachlose, die den Großteil ihrer
Habe am Leib trugen und den Rest in Tüten mit sich schleppten;
Strichmädchen, Punks, Gangster. Sie alle strömten über die Kreuzung.
Aber Doyle kannte sich gut genug auf der Straße aus und wusste, wie
man sich unauffällig unters Volk mischte. Er machte einen Bogen um die
anständigen Leute und pickte sich die heraus, die etwas wissen konnten
und vielleicht bereit waren, es auszuspucken.

Er bekam jedoch nicht den geringsten brauchbaren Hinweis und hoffte,

Cordy hatte im Büro mehr Erfolg.

Leider war das nicht so.

Cordelia hatte sich einverstanden erklärt, im Büro zu warten, während

Doyle auf Jagd ging. Es bestand ja noch die geringe Chance, dass Angel
anrief. Allerdings ging es ihr total auf die Nerven, nur herumzusitzen
und auf das stumme Telefon zu lauschen. Vor ein paar Minuten war ihr

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eingefallen, Detective Lockley anzurufen, mit der Angel so etwas
Ähnliches wie eine Arbeitsbeziehung aufgebaut hatte.

Aber wieder: ohne Erfolg.
»Tut mir Leid«, sagte der Officer, der an den Apparat gekommen war,

»aber Detective Lockley ist außer Haus. Möchten Sie ihr eine Nachricht
hinterlassen?«

Cordelia zögerte. Was sollte sie ihm schon sagen? Sie konnte Kate ja

schlecht ausrichten lassen, sie mache sich Sorgen um ihren Freund
Angel, weil der bei Morgengrauen noch nicht zu Hause aufgetaucht war.
Genauso wenig konnte sie den Officer fragen, ob die Regelung, dass
man offiziell erst nach achtundvierzig Stunden als vermisst galt, auch bei
Vampiren Anwendung fand.

»Nein, danke«, sagte sie zu der Stimme am anderen Ende der Leitung.

»Dann versuche ich es später noch einmal.« Sie hängte ein, hob den
Hörer erneut ab und wählte eine andere Nummer. Eine Sache war ihr den
ganzen Nachmittag nicht aus dem Kopf gegangen.

Bei den Dreharbeiten zu einem Werbespot hatte sie den Kameramann

Mike Dailey kennen gelernt. Er hatte sie schon ein paarmal um ein Date
gebeten, aber sie war nicht darauf eingegangen, weil sie Werbespots ja
schon gedreht hatte. Wenn er bei einer Serie gearbeitet hätte oder beim
Film – vielleicht. Aber er schien über alles Bescheid zu wissen, was in
der Stadt passierte. Er war ebenso gut informiert wie die Presse und
obendrein eine viel bessere Quelle für Cordelia, denn er würde auch mit
ihr reden.

Beim dritten Klingeln nahm er den Hörer ab, und nachdem Cordy eilig

die einleitenden Höflichkeitsfloskeln hinter sich gebracht hatte, kam sie
direkt zur Sache. »Ich habe heute Blake Alten auf dem Monument-
Gelände gesehen«, sagte sie. »Hat der eigentlich ein Drogenproblem
oder was? Der ist nämlich praktisch geschlafwandelt. Ich hätte ihn fast...
Er wäre fast von einer dieser Bahnen überfahren worden. Und er hat es
nicht mal bemerkt.«

»Alten ist in den letzten Wochen immer seltsamer geworden«, meinte

Dailey. »Das wird jedenfalls erzählt. Man hat ihn nicht oft in der
Öffentlichkeit gesehen. Vor ein paar Tagen wurde er beim Dinner bei
Morton's gesichtet, aber er war allein. Natürlich wollen die Leute ihn
nach dem Deal mit Monument befragen, aber er weist sie alle ab. Mir ist
nicht zu Ohren gekommen, dass er übermäßig trinkt oder so, er schien
nur irgendwie abwesend, wenig mitteilsam. Jemand meinte, er hätte
vielleicht 'ne Erkältung oder so.«

»Danach sah es aber nicht aus. Er machte eher einen unterbelichteten

Eindruck.«

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»Na, so ist das nun mal in der Filmbranche, Cordy. Geistige Größe

verlangt ja niemand von ihm; gutes Aussehen reicht.«

»Er sieht wirklich gut aus«, bestätigte Cordy.
»Du könntest seine Freundin fragen, Sherrie Dupree«, fuhr Dailey fort.

»Allerdings ist sie allem Anschein nach inzwischen seine Ex-Freundin.
Man munkelt, er hätte seit Tagen nicht mit ihr gesprochen. Und darüber
ist sie gar nicht glücklich.«

Als würde Sherrie Dupree mit ihr reden! Cordelia machte ein paar

vage Versprechungen, bald einmal mit Dailey auszugehen, und legte auf.

Sie fand es interessant, dass auch anderen Altens merkwürdiges

Verhalten aufgefallen war, wusste sich aber keinen Reim darauf zu
machen. Und was ihre Aufgabe anging, Angel ausfindig zu machen,
stand sie auch nicht besser da als vorher. Sie hoffte, Doyle hatte mehr
Erfolg.

Kate Lockley saß am Steuer ihres Wagens. Neben ihr hockte Special
Agent Glenn Newberry unruhig auf dem Beifahrersitz. Er hatte fahren
wollen, aber sie hatte darauf bestanden, ihren eigenen Wagen zu
nehmen, und an dessen Steuer ließ sie, wie sie ihm sagte, keinen FBI-
Agenten. Und auch sonst niemanden. Sie konnte manchmal recht Besitz
ergreifend sein, zum Beispiel was ihr Auto anging.

Und ihre Fälle. Sie ließ sich von Newberry begleiten, denn auf diese

Weise hatte sie ihn wenigstens im Auge. So erfuhr sie, was er erfuhr,
auch wenn der Preis, den sie dafür zahlen musste, darin bestand, dass er
ebenfalls wusste, was sie wusste. Aber sie hatte kein Problem damit,
Informationen weiterzugeben, wenn man sie selbst nur nicht im Dunkeln
ließ.

Kate hielt einen Block von der Kreuzung von Avalon und Slauson

Avenue entfernt, wo sie eine verlassene Tankstelle entdeckt hatte, auf die
Chueys Beschreibung passte.

Seine Geschichte war alles in allem plausibel. Unter einer Tanks teile

befanden sich in der Regel große unterirdische Tanks, in denen das
Benzin gelagert wurde. Wenn der Betrieb zumachte, wurden die Tanks
geleert, bevor man das Gebäude abriss, um einen neuen Geschäftskom-
plex zu errichten, was in L.A. im Allgemeinen begrüßt wurde. So ein
unterirdischer Tank war der perfekte Ausgangspunkt für einen Tunnel
und konnte einer Räuberbande zum entscheidenden Vorsprung
verhelfen. Außerdem bot er den idealen Ort zum Abladen der Erde, die
aus dem Tunnel geschaufelt wurde.

Es war derart heiß, dass Kate nicht einmal an Schaufeln denken

mochte. Morgens war es noch kühl gewesen, aber bis zum Nachmittag

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war die Quecksilbersäule weit über fünfunddreißig Grad geklettert. Nun,
da die Sonne schon lange untergegangen war, kühlte es endlich ein
wenig ab – um halb elf abends. Eine schwache Brise wehte durch die
seltsam ruhige Straße. Kate wischte sich den Schweiß von der Stirn und
beobachtete die Tankstelle auf der anderen Straßenseite.

Sie sah Newberry von der Seite an. Er machte den Eindruck, als würde

ihm die Hitze nichts anhaben. Die haben Eis in den Adern, dachte sie.
»Eine wesentliche Voraussetzung, um beim FBI zu landen.«

»Das ist es also?«, fragte er.
»Das ist die Tankstelle, von der mir mein Informant erzählt hat. Ob an

der Geschichte was dran ist, weiß ich noch nicht. Aber um das
herauszufinden, sind wir ja hergekommen.«

»Von hier aus wollen wir das aber nicht tun?«
»Das hatte ich nicht vor, nein.«
Sie warteten, bis ein alter hellgrüner Ford Fairlane an ihnen

vorbeigeholpert war, und überquerten dann eilig die recht breite Straße,
denn sie legten wenig Wert darauf, von einem Späher entdeckt zu
werden, der vielleicht irgendwo postiert war.

Aber um die Tankstelle herum rührte sich nichts, so weit sie feststellen

konnten. Das Grundstück war von einem hohen Maschendrahtzaun
umgeben, und bereits von der Straße aus konnte man erkennen, dass das
Vorhängeschloss am Tor aufgebrochen war und das Tor einige Zenti-
meter offen stand. Kate vergewisserte sich mit einem Seitenblick auf
Special Agent Newberry, dass auch er es bemerkt hatte. Er nickte ihr zu.
Automatisch wanderte ihre Hand zu der Waffe. Newberry zog seine aus
dem kleinen Gürtelhalfter und wies mit dem Kopf auf das Tor.

Wortlos schob Kate es so weit auf, dass sie hindurchschlüpfen konnte.

Newberry musste es noch ein bisschen weiter öffnen, bis auch er
hindurchpasste. Er kam hinter Kate her und ging dann seitlich von ihr,
damit sie zwei Zielscheiben abgaben, falls jemand von drinnen auf sie
schoss. Nun hatte auch Kate ihre Waffe gezogen.

Vor ihnen lag der mit Brettern verbarrikadierte Eingang, von dem

Chuey berichtet hatte. Die Bretter waren offensichtlich eingetreten
worden.

Dahinter hatte, wie Kate sich erinnerte, ein Mann mit Pistole gelauert,

als Chueys Freund – wahrscheinlich war es Chuey selbst gewesen, aber
das hatte sie dem Informanten gegenüber nicht durchblicken lassen –
sich in die Tankstelle hatte schleichen wollen. Kate machte sich keine
Illusionen darüber, was geschah, wenn man sie als Cops dort entdeckte.

Newberry ließ ihr, ganz Gentleman, den Vortritt.

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Aus der Nähe erkannte sie, dass eine Sperrholzplatte von etwa

einsfünfzig Breite einfach über die anderen Bretter gelegt war. Das war
also der Eingang. Die Ganoven mussten die Platte zur Seite schieben, um
hinein- oder herauszugelangen, und sie dann wieder über die Öffnung
legen. In der Platte steckten ein paar kurze Nägel, mit denen sie wohl an
den Brettern befestigt wurde, wenn die Bankräuber einmal länger
wegblieben. Aber nun waren die Nägel nicht eingeschlagen und die
Platte lehnte locker an dem Verschlag.

Newberry stand neben Kate und hielt seine Waffe auf den Eingang

gerichtet. Kate griff mit der linken Hand nach der Sperrholzplatte – in
der rechten hielt sie die Waffe – und schob sie ein wenig zur Seite.
Drinnen war es dunkel. Sie zog die Platte weiter fort, damit etwas Licht
von der Straßenlampe in die Öffnung fiel. Von drinnen kam kein
Geräusch, keine Bewegung. Sie klappte die Platte ganz zur Seite.

Nun fiel ein einzelner Lichtstrahl von der Decke bis zum Boden des

Innenraums. Kate atmete hörbar aus, denn vor Anspannung hatte sie
unbewusst die Luft angehalten. Das alte Tankstellenhäuschen schien leer
zu sein. Sie ließ die Sperrholzplatte fallen und zog eine Taschenlampe
hervor.

Auch Newberry ließ den Lichtstrahl seiner Lampe durch den Raum

gleiten. Er blieb an einer Schaufel mit einem zerbrochenen Stiel hängen.

»Sieht aus, als hätten wir es tatsächlich gefunden«, sagte Newberry.
»Könnte sein«, stimmte ihm Kate zu und ging langsam auf die

Fahrzeuggrube zu, in der früher einmal die Mechaniker gestanden hatten,
um an der Unterseite der Autos Reparaturen durchzuführen. Sie leuchtete
hinein.

Und fand den Anfang des Tunnels.
»Hier ist es!«, sagte sie ruhig und starrte in den finsteren Schlund. »Sie

haben sich von dieser Fahrzeuggrube aus in den Lagertank gegraben und
dann weiter bis in irgendeine Bank.«

»Nur hier im Viertel gibt es nicht gerade viele Banken«, bemerkte

Newberry.

»Auch arme Leute dürfen Bankkonten haben, und einige von ihnen

haben auch tatsächlich eins«, sagte Kate, obwohl sie wusste, dass nun
nicht der richtige Zeitpunkt für eine soziologische Diskussion mit dem
FBI-Agenten war. »Ich gehe raus und suche nach einer Bank in der
Nähe. Sie bleiben hier und behalten den Tunnelausgang im Auge. Ich
rufe Verstärkung, sobald ich die Bank gefunden habe. Die Kollegen
kommen dann sofort.«

»Suchen Sie die Bank!«, entgegnete Newberry. »Aber die Verstärkung

fordere ich selbst an. Wir wollen ja nicht vergessen, dass es sich hier um

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eine FBI-Aktion handelt.«

Kate hatte bereits eine Antwort auf Lager, klappte den Mund aber

wieder zu. Wozu streiten? Den Leuten vom FBI musste klar sein, dass
sie diese Bande unmöglich auf den Straßen von Los Angeles stellen
konnten, ohne auch das LAPD mit einzubeziehen.

»Bis später dann«, sagte sie nur. Sie ließ Newberry allein in der

Tankstelle zurück, ging wieder auf die Straße und sah sich in alle
Richtungen nach einem Gebäude um, das nicht wie ein abgewracktes
Wohnhaus, ein leer stehendes Gebäude oder ein Supermarkt aussah.

»Verstärkung?«, überlegte Special Agent Newberry. »Für so einen
läppischen Einsatz?« Ein richtiger Agent musste dazu in der Lage sein,
allein ein paar Punks zur Strecke zu bringen; alles andere war unwürdig.
Also kletterte er in die Fahrzeuggrube und betrat den Tunnel.

Los Angeles war eine Stadt der Gegensätze, und nirgendwo trat dies
offensichtlicher zu Tage als in dem großen Gefalle zwischen unsagbarem
Reichtum und herzerweichender Armut, wofür diese Stadt ein
Paradebeispiel war.

In einem der ärmsten Viertel überhaupt stand ein Backsteinhaus, das

an den Seiten und im oberen Teil weiß gestrichen war. Nur unter den
großen vergitterten Fenstern war das Mauerwerk in seinem
ursprünglichen Zustand belassen worden. Das Neonschild mit dem
»geöffnet«-Hinweis leuchtete zwar, aber das Etablissement wirkte alles
andere als einladend. Auf einem anderen Schild weiter oben im Fenster
stand etwas auf Koreanisch und darunter LOTUS SPA –
KOREANISCHES MINERALBAD.

Danach hatte Doyle gesucht.
Auf der Straße war man richtig, wenn man sich Informationen über die

Vorhaben der kriminellen Elemente von Los Angeles beschaffen wollte.
Aber was die Dämonen anging – die hatten ihre eigenen Stammlokale,
und das Lotus Spa war eines davon. Im Warteraum hielt sich niemand
auf; nur ein junger Koreaner stand hinter der billigen Sperrholz-Theke.

Soon – so hieß der Typ – begrüßte Doyle auf Koreanisch, der natürlich

kein Wort verstand. Soon bequemte sich nie, englisch zu sprechen - falls
er es überhaupt je gelernt hatte. Doyle beschloss, es mit Ano-Movic zu
versuchen. Diese Sprache einer Dämonenspezies, die sich der
menschlichen Kultur in höchstem Maße angepasst hatte, war einer Art
Brücke zwischen den beiden Welten geworden. Doyle glaubte sich zu
erinnern, dass Soon in der Vergangenheit bereits einmal auf Ano-Movic
reagiert hatte.

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»Hallo Soon«, sagte er. »Ich suche Angel. Hast du heute schon was

von ihm gehört? Ist vielleicht irgendetwas Merkwürdiges vorgefallen?«

Soon antwortete mit einem koreanischen Schnellfeuer. Wieder

verstand Doyle kein Wort, aber er wusste sehr wohl, was sein Gegenüber
wollte. Er unterdrückte ein Stöhnen und griff in die Tasche, um eine
Zwanzigdollarnote herauszuholen. Er strich sie glatt und legte sie auf die
Theke.

»Hast du was gehört?«, fragte er wieder.
»Über Angel?«, antwortete Soon in fließendem Ano-Movic und

steckte den Geldschein ein. »Kein Wort.«

»Über etwas anderes denn?«
»Vielleicht habe ich gehört, worüber ein paar Typen geredet haben,

während sie im Dampfbad waren«, sagte Soon.

»Worüber haben sie denn geredet?«, fragte Doyle. Allmählich verlor

er die Geduld. Wütend schrie er Soon an: »Verdammt, Angel ist den
ganzen Tag noch nicht aufgetaucht! Er hat dir nie etwas getan. Wenn du
also was weißt, will ich es sofort hören.«

Soon hob abwehrend die Hände. »Droh mir nicht! Wenn du willst,

dass man dir hilft, muss das anders laufen.«

»Erspar mir dein philosophisches Gesülze«, knurrte Doyle und zog

einen weiteren Geldschein aus der Tasche. »Das ist alles, was ich habe.
Jetzt bin ich pleite, also mehr gibt es nicht aus mir rauszuquetschen.« Er
knallte den Schein auf die Theke.

Auch der verschwand in Soons Hand. »Ein paar ganz sensible Typen«,

sagte er. »Die waren vielleicht angespannt. Einer von ihnen beschwerte
sich darüber, dass starke mystische Schwingungen von den Bergen nach
hier unten dringen. Hat ihn total nervös gemacht. Er sagte, er fühle sich
wie im Zahnarztstuhl nach zwölf Stunden Bohren. Und es schien nicht
nachzulassen, sondern immer stärker zu werden.«

»Das ist ja schön und gut, aber was hat das mit Angel zu tun?«
»Das weiß ich auch nicht. Du hast mich gefragt, ob ich etwas

Außergewöhnliches gehört habe. Du kennst ja den Laden – vieles, was
die meisten Leute für außergewöhnlich halten würden, geht hier ein und
aus. Aber was ich dir erzählt habe, ist das Einzige, was heute irgendwie
merkwürdig war.«

»Was für Berge? Was verursacht denn deiner Meinung nach diese

Schwingungen?«

»Es geht wohl um die Hollywood Hills«, sagte der Typ. »Ich habe

gehört, da oben sollen merkwürdige Dinge vor sich gegangen sein, lange
bevor ich geboren wurde. Irgendso'n berühmter Zauberer hat da oben
gelebt und hat seine Kunst ausgeübt. Aber in den letzten paar Jahr-

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zehnten war der Berg nicht gerade eine Brutstätte magischer Aktivität.
Zu viele Neureiche, Broker und Schauspielergören haben sich dort
angesiedelt. Die Tradition wird nicht mehr geachtet.«

»Weißt du noch den Namen des Zauberers?«, fragte Doyle.
Soon dachte eine Weile nach, aber Doyle war sicher, dass er nur auf

mehr Schmiergeld aus war. Leider, leider war die Quelle versiegt. Doyle
wollte sich schon umdrehen und gehen, da schlug sich Soon ein paarmal
mit der Hand vor die Stirn. »Es ist da drin, aber es will nicht raus«, sagte
er. »Pembroke, Pemberton, so was in die Richtung.«

»Ich werde es nachschlagen«, sagte Doyle. »Danke für deine Hilfe,

Soon!«

»Wir sind uns nie begegnet«, entgegnete Soon und ließ ein

koreanisches Stakkato folgen. Doyle schlüpfte durch die vergitterte Tür.

Und rannte einem Dämon namens Koffliss direkt in die Arme.
»Doyle, alter Kumpel!«, sagte Koffliss, als er erkannte, mit wem er da

zusammengestoßen war. Er war über zwei Meter groß, so breit wie ein
Schrank und so muskulös wie ein Gewichtheber. Drei kleine lila Hörner
wuchsen auf seiner orangefarbenen Stirn, und der kahle Hinterkopf und
der Stiernacken waren mit Flecken im selben Farbton übersät. Er
entblößte seine Zähne zu einem unechten Grinsen. »Hab schon nach dir
gesucht!«

»Ich auch nach dir«, bluffte Doyle. Das hatte ihm gerade noch gefehlt!

Warum konnte er das Wetten auch nicht bleiben lassen? »In der ganzen
Stadt. Ich dachte, du hättest gesagt, du kämest in diese Sportbar auf dem
Sunset Boulevard, und da habe ich auch den ganzen Abend gewartet.«

»Nun, jetzt bin ich ja da«, sagte Koffliss.
»Das bist du«, pflichtete ihm Doyle bei. »Verflixte Geschichte. Gerade

hatte ich deine Kohle noch – ist keine zehn Minuten her. Du hattest
natürlich völlig Recht mit diesen Padres, ich werde nie wieder auf sie
setzen. Aber ich war auf der Suche nach Informationen, nach wirklich
wichtigen Informationen, weißt du. Und dieser Typ da drin hat mir auch
noch den letzten Cent aus den Rippen geleiert. Ich bin also im Moment
finanziell ein wenig strapaziert. Ich werde, ähm, ein bisschen was flüssig
machen und wieder zu dir kommen, wenn ich die Taschen voll habe. Wo
bist du denn in ... sagen wir, drei Stunden?«

»Ich glaube, ich bleibe lieber dicht an dir dran«, erklärte Koffliss und

packte Doyle fest am Arm. »Ich muss doch auf meine Investition
aufpassen, nicht wahr?«

»Das wäre wirklich toll«, sagte Doyle. »Aber bei diesen Leuten, die

ich wegen der Kohle treffen muss, handelt es sich um Menschen. Da

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fällst du einfach zu sehr auf, wenn du verstehst, was ich meine. Sie
könnten Panik kriegen, und was haben wir dann davon?«

»Ja, aber...«
»Hör mal, du hast doch einen Beeper, Kumpel? Ich piepe ich dich

einfach an, sobald ich die Kohle habe, und wir treffen uns irgendwo. Wie
findest du das?«

Koffliss dachte einen Augenblick über diesen Vorschlag nach. »Hast

du was zu schreiben?«

Doyle klopfte seine Taschen ab. »Gerade nicht. Aber sag mir einfach

die Nummer! Ich habe ein hervorragendes Zahlengedächtnis.«

Koffliss sagte eine Nummer auf, aber Doyle hörte nicht einmal zu.
»Ich will dich nicht aufhalten«, sagte er zu dem großen orangefarbenen

Dämon. »Geh schnell rein und lass dich mal tüchtig abrubbeln. Ich
melde mich dann bei dir.«

»Besser is' das«, warnte ihn Koffliss.
»Du kannst dich auf mich verlassen, Kumpel«, versprach Doyle und

war bereits um den nächsten Block verschwunden, als Koffliss das Lotus
Spa betrat.

Manche Dämonen sind einfach zu blöd, dachte er, während er sich

davonmachte. So was gehört in einer zivilisierten Gesellschaft doch glatt
verboten!

»Der große Pennington«, las Cordelia vom Computermonitor ab.

»Das muss er sein!«, meinte Doyle. Er saß auf einem der

Besucherstühle und sah Cordy bei der Internet-Recherche zu.

»Arthur Pennington eroberte Hollywood im Jahre 1939 im Sturm und

verschaffte sich mit einer geheimnisumwitterten Lebensgeschichte eine
Eintrittskarte für die Häuser der Reichen und Berühmten«, las sie vor.
»Über seine Vergangenheit kursieren diverse Gerüchte. Manche sagen,
er sei als Zauberer auf Bühnen in Kansas City aufgetreten, andere
wiederum, er sei vornehmlich auf Kinderpartys der High Society von
Philadelphia in Erscheinung getreten, bevor er Mitte der zwanziger Jahre
nach Hollywood kam. Pennington selbst hat nie etwas über sein früheres
Leben preisgegeben. Er zog es offenbar vor, die Gerüchteküche brodeln
zu lassen und sich mit dem Hauch des Geheimnisvollen zu umgeben.
Hartnäckig halten sich Gerüchte, denen zufolge er ausgiebig durch
Europa gereist sein soll, wo er auch studierte – und das zu einer Zeit, in
der er angeblich in den Vereinigten Staaten unterwegs war, um sich
einen Namen als Taschenspieler mittleren Formats zu machen. Aber wie
auch immer die Hintergründe waren, in Hollywood wurde er zum großen
Superstar. Er trat in mehreren großen Filmen auf, darunter die Big

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Broadcast-Reihe, bevor ihm eine eigene Samstagnachmittagserie
angeboten wurde.« Cordy sah Doyle mit großen Augen an. »Das ist er!
Der Rest des Artikels handelt nur noch von den Filmen, in denen er
gespielt hat, seiner Fernsehshow in den Fünfzigern, und dann ist er auch
schon gestorben.«

»Steht da auch, wo er gewohnt hat?«, fragte Doyle.
»Nein, hier nicht.«
»Kannst du nicht einfach andere Seiten anklicken? Dafür ist doch das

Internet angeblich so gut!«

»Ich dachte wiederum, es sei gut dafür, dass jeder dieselben schlechten

Witze kennt«, sagte Cordelia. »Und ich kenne eine Seite mit guten
Hautpflegetipps. Wenn wir Willow hier hätten ... Die hat viel Ahnung
von diesem ganzen Internet-Kram.«

»Ich weiß nicht, wer Willow ist«, sagte Doyle. »Aber auf jeden Fall ist

sie nicht hier und wir haben keine Zeit, sie zu holen. Such weiter! Wir
müssen herausfinden, wo dieser Pennington steckt. Wenn er wieder ins
Leben zurückgekehrt ist, wäre das eine mögliche Erklärung für Angels
Verschwinden.«

»Ich suche ja schon!«, entgegnete Cordelia gereizt. »Halt mal die Luft

an! Ich meine, ich habe zwar an der High-School einen Computerkurs
gemacht, aber ich hatte ja auch noch was anderes zu tun. Oder hältst du
mich etwa für einen von diesen unvermittelbaren Strebern?«

Doyle wandte sich ab, damit Cordy das Lächeln nicht sah, das sich

unweigerlich auf seinem Gesicht ausbreitete. »Nein«, sagte er sanft.
»Das tue ich nicht.«















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15




Angel war endlich eingeschlafen.

Dazu hatte er eine ganze Weile gebraucht. An den Armen aufgehängt

zu sein, war einem erholsamen Schlaf nicht gerade zuträglich. Die
Schmerzen waren entsetzlich - in den Armen, den Schultern, im Rücken
und in den Beinen. Aber er hatte seinen Geist wandern lassen und
endlich einen Ort erreicht, an dem es keine Schmerzen gab und seine
Gedanken frei flossen. Bilder durchströmten ihn und eilten in einem
tosenden Fluss an seinem inneren Auge vorbei. Doyle und Cordelia und
Kate Lockley, seine besten Freunde in Los Angeles; und die Stadt der
Engel selbst, wie sie sich über Berge und Täler erstreckte. In der Nacht
wurde der Himmel von den Lichtern der Stadt erhellt, und wenn man
von einer Anhöhe auf sie hinabblickte, von einer Seitenstraße des
Mulholland Drive zum Beispiel oder vom Coldwater-Canon, sah es aus,
als sei der Himmel auf die Erde gefallen: funkelnde Sterne, so weit das
Auge reichte.

Dann verblasste L.A., und Sunnydale tauchte aus Angels Erinnerung

auf. Die Stadt war viel kleiner, ihre Bewohner jedoch umso kostbarer.
Vor seinem geistigem Auge erschien das schöne Gesicht von Buffy
Summers, der Jägerin und einzigen Frau, die er je wahrhaft geliebt hatte.
Ihre Stimme erklang, aber er konnte die Worte nicht verstehen. Dann
war sie verschwunden, und ihre Freunde tauchten auf, die Scooby-Gang:
Willow, Xander, Giles und der Werwolf Oz.

Und Angels Geist segelte weiter, als wäre er losgelöst von jeder

Realität. Freund und Feind vermischten sich zu einem verschwommenen
mentalen Bild. Spike und Dru, Darla, Heinrich Josef Nest, Angels Vater,
seine Mutter und seine Schwester. Die Landschaftsbilder wechselten von
der Küste Südkaliforniens über die Skyline von Manhatten und den
dunklen, unheimlichen Wäldern Osteuropas bis hin zu den grünen
Hügeln Irlands.

Ein Geräusch rief Angel zurück in die Wirklichkeit -und die

Schmerzen traten wieder auf den Plan.

Mordractus war zurückgekehrt.
Er sah sehr alt aus.
Wieder war er in ein knielanges Hemd und Hosen aus weißem

Rohleinen gekleidet. Aber er musste sich umgezogen haben, falls er

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nicht in der Zwischenzeit mit lilafarbener Tinte allerlei bizarre Symbole
auf den Stoff gezeichnet hatte. Diesmal trug er auch Slipper aus weichem
weißen Leder und eine Kappe aus demselben Material. Ein paar
Strähnen seines feinen weißen Haars lugten darunter hervor.

Tiefe Falten und Krähenfüße hatten sich in sein Gesicht gegraben, und

sogar die blauen Augen wirkten nun irgendwie trübe, halb versunken
hinter Hautfalten. Leberflecken bedeckten seine Hände und die
knochigen Gelenke. Er machte den Eindruck, als sei er in den letzten
Stunden um das Doppelte gealtert. Angel wusste zwar nicht genau, wie
viele Stunden vergangen waren, aber Jahrzehnte waren es mit Sicherheit
nicht gewesen.

Den Lärm, von dem Angel geweckt worden war, hatte Mordractus

verursacht. Er schleifte einen Holztisch durch den Raum. Der alte
Magier zog ihn an einen bestimmten Punkt in der Nähe der Kreise, die er
zuvor gemalt hatte. Er trat zurück, betrachtete den Tisch und überprüfte
sorgfältig seine Position im Raum. Er verschob ihn noch einmal ein paar
Zentimeter nach links, trat erneut zurück und schob ihn dann noch
einmal eine Idee nach vorn.

Als er endlich zufrieden schien, ergriff Angel das Wort.
»Ich finde, am Fenster würde er sich besser machen«, sagte er. »Aber

Pardon, hier gibt es ja gar keins!«

Mordractus runzelte die Stirn. »Mach nur Witze, solange du noch

kannst«, sagte er. »Bald ist Mitternacht, Angelus, und du weißt, was das
bedeutet.«

»Jetzt hast du mir aber Angst gemacht«, entgegnete Angel. »Siehst du,

wie ich zittere? Aber sieh nur, du bist doch derjenige, der hier zittert, und
zwar vor Alter. Bist du sicher, dass du noch lange genug lebst?«

»Mach dir um mich keine Sorgen, Angelus!«, meinte Mordractus. »Es

ist deine eigene Haut, um die du fürchten musst.«

»Immer mache ich mir Sorgen um andere«, sagte Angel. »So bin ich

eben. Was passiert denn mit dir, wenn du Balor nicht rechtzeitig
durchkriegst?«

»Sagen wir mal so: Falls ich selbst im Jenseits landen sollte, wären

dort viele, die sich schon auf mich freuen würden. Und das sind nicht
gerade Freunde von mir.«

Während er zu seinem Holzschrank ging, vermied er es sorgsam, auf

seine Zeichnungen auf dem Boden zu treten. Erholte einige Dinge
hervor, die in schwarzen Stoff eingeschlagen waren, und trug sie zu dem
Holztisch, wo er sie vorsichtig eins nach dem anderen auspackte und in
einer Reihe auf einem purpurroten Seidentuch aufstellte, das er auf dem
Tisch ausgebreitet hatte. Unterdessen murmelte er Worte, die Angel

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nicht verstehen konnte. Der Intonation nach schienen es Gebete in
irgendeiner uralten Sprache zu sein. Als Mordractus damit fertig war,
legte er die schwarzen Tücher zusammen und räumte sie in den Schrank.

Angel war in seinem langen Leben schon vielen Aspekten des

Übernatürlichen begegnet, und obwohl seine Kenntnisse von Ritualen
der schwarzen Magie nur auf Hörensagen beruhten, erkannte er die
Gegenstände, die so sorgfältig auf dem Tisch arrangiert worden waren.

Ein langer Holzstock, ordentlich geschmirgelt, poliert und geölt: der

Stab. Ein Messer, scharf und glänzend, mit einem Griff aus gemeißeltem
schwarzem Stein: der Dolch. Ein mundgeblasener Glaspokal: der Kelch.

Mordractus kehrte zu dem Tisch zurück, der augenscheinlich die

Funktion eines Altars erfüllen sollte, und brachte zwei dicke Kerzen aus
einer rosagrauen Substanz mit. Sie sahen alles andere als sauber aus, und
Angel wollte gar nicht wissen, welchen Geruch sie verbreiteten, wenn sie
erst einmal brannten. Mordractus stellte sie links und rechts auf seinen
Altar und ging erneut zu dem Schrank.

»Hör mal, Kerzen gibt's bei Wal-Mart zu Schleuderpreisen!«,

bemerkte Angel. »Da kriegst du für'n Apfel und 'n Ei Ersatz für diese
alten Dinger.«

Mordractus kümmerte sich nicht um ihn. Er fuhr mit seinen

Vorbereitungen fort und konzentrierte sich ganz auf das, was er tat. Bei
derartigen Ritualen war Konzentration mit das Wichtigste überhaupt, das
wusste Angel. Sie war sogar zum größten Teil entscheidend für den
erfolgreichen Ausgang des Rituals. Was man mit »Magie« bezeichnete,
war oftmals nichts anderes als die mentale Energie des Magiers, die so
stark konzentriert war, dass er das beabsichtigte Resultat einfach durch
schiere Willenskraft herbeiführen konnte.

Mordractus, der nun unaufhörlich vor sich hin redete, holte eine

feuerfeste Schüssel und einen Tonkrug herbei. Er stellte die Schüssel in
die Nähe seines fünfzackigen Sterns und schüttete aus dem Krug etwas
hinein, das aussah wie eine Kräutermischung. Dann stellte er den Krug
wieder in den Schrank und holte mehrere lange Zündhölzer heraus. Er
strich eines der Hölzer über den Boden und warf es in die Schüssel. Eine
Stichflamme loderte auf, die alsbald zu einem knisternden Flämmchen
zusammenfiel. Als die Kräuter qualmend verbrannten, drang ein stechen-
der Geruch durch den Raum. In dieser Schüssel sollte wohl sein Gehirn
püriert werden, vermutete Angel. Mordractus nahm noch ein Streichholz,
riss es an der Tischkante entlang und zündete beide Kerzen damit an. Sie
spuckten und fingen Feuer und warfen ein flackerndes Licht in den
Raum.

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Schließlich holte Mordractus drei kleine Bücher aus den Tiefen des

Schranks. Sie waren in hellbraunes Leder gebunden und sahen sehr, sehr
alt aus. Als er sie zu dem Altar trug, blickte er Angel zum ersten Mal
wieder an, seit er mit den Vorbereitungen begonnen hatte.

»Du glaubst, dir bleibt noch Zeit zum Lesen?«, neckte ihn Angel.
»Ich habe noch nie den Dämon Orias herbeigerufen«, entgegnete

Mordractus. »Die Beschwörungsformeln sind anders als bei den
Ritualen, mit denen ich Kontakt zu Balor aufgenommen habe. Ich muss
einige Passagen aus meinen Zauberbüchern lesen, denn ich kann nicht
alles auswendig. Unter normalen Umständen hätte ich die Zeit gehabt,
alles zu lernen, aber wie wir beide wissen, ist Zeit das Einzige, was mir
fehlt.«

»Und was ist mit dem gesunden Menschenverstand?«, fragte Angel.
»Du bist wohl kaum in der Position, dir darüber ein Urteil zu erlauben,

mein junger Freund.«

»Da bin ich mir nicht so sicher! Meines Erachtens lässt du dich in

einem letzten verzweifelten Versuch, dich selbst zu retten, mit Mächten
ein, die du nicht gut genug kennst. Aber in der Regel setzt man aufs
falsche Pferd, wenn man aus Angst handelt.«

»Das hier ist kein Glücksspiel, Angelus«, entgegnete Mordractus.

»Auf dieses Ereignis habe ich mich mein Leben lang vorbereitet. Ich
weiß, was ich tue.«

»Das würde mich freuen, denn es ist ja schließlich mein Gehirn, aus

dem du Suppe machen willst. Aber ich habe da so meine Zweifel.«

Mordractus winkte mit seiner knöchernen Hand ab. »Du versuchst nur,

mich zu verunsichern. Aber das wird dir nicht gelingen. Ich bin fast so
weit; wir können bald anfangen. Also sieh dir die Welt ein letztes Mal
an, Vampir! Genieße es, solange du kannst.« Er schritt die Wände mit
einem großen Kerzenlöscher ab und erstickte damit die Fackeln an den
Wänden.

Danach legte er auch dieses Utensil wieder zurück in den Schrank.

Nun wurde der Raum nur noch von den Flämmchen in der Schüssel und
den beiden nach Fett riechenden Kerzen auf dem Altar erhellt.

Mordractus schlurfte emsig hierhin und dorthin. Es klang, als hätte er

Schmirgelpapier unter den Füßen. Er ging zu dem Altar und steckte sich
den Dolch an den Gürtel. Dann kam er zu Angel herüber und richtete
seinen verhangenen Blick auf ihn.

Wenn ich nur diese Fesseln brechen könnte!, dachte Angel. Aber er

wusste, er hatte keine Chance. Die Magie des alten Zauberers verfehlte
ihre Wirkung nicht; das hatte bereits das Seil bewiesen, mit dem Angel

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gefangen worden war, und nicht minder die Fesseln, die immer noch fest
um seine Handgelenke saßen.

»Bist du bereit, Angelus?«, fragte Mordractus.
»Was, wenn ich nein sage?«
»Ganz egal! Ich habe nur aus reiner Höflichkeit gefragt. Weißt du, ich

trage dir nichts nach. Du hast es mir zwar in jüngster Vergangenheit
nicht gerade leicht gemacht, aber das lag ja nur an deinem Bestreben,
lebendig zu bleiben ...«

»Ich bin nicht lebendig!«, unterbrach ihn Angel.
»Dann eben untot. Wie auch immer du es nennen willst, es ist ein

Wunsch, den ich respektieren muss. Aber dies hier ist ganz einfach eine
Frage der Notwendigkeit. Du hast etwas, das ich brauche, und ich werde
es mir nehmen.«

»Keine persönliche Sache.«
»Ganz genau.«
»Du bist verrückt!«
»Kein Anlass für Beleidigungen, Angelus! Ich habe es dir doch schon

gesagt: Deine verbalen Hiebe treffen mich nicht.«

»Man kann es ja mal versuchen.«
»Mag sein.« Mordractus hob seine Hände mit den langen knochigen

Fingern und zeigte auf Angel. Sofort fielen die Ketten von seinen
Armen, und er versuchte, seine Gliedmaßen wieder unter Kontrolle zu
bekommen. Aber es gelang ihm nicht. Auch ohne die Fesseln waren
seine Arme nutzlos.

Mordractus schritt rückwärts und machte weiter seine bizarren

Handbewegungen. Angel wurde von unsichtbaren Händen bis in die
Mitte des Raumes über den Boden geschleift. Bis zu dem Pentagramm.
Seine Beine reagierten ebenso wenig wie seine Arme. Aus Mordractus'
Bann gab es kein Entrinnen.

Ein schreckliches Gefühl für Angel. Kontrolle war ihm wichtig. Sie

war eigentlich alles, was er hatte. Denn ohne Kontrolle war er nur der
verbrecherische Vampir Angelus, der ständig auf der Suche nach neuen
Opfern war, denen er das Blut aussaugen konnte. Mit seiner Seele jedoch
hatte er auch die Kontrolle über sich selbst zurückgewonnen; die
Fähigkeit, selbst Entscheidungen zu treffen und aus freien Stücken für
das Gute Partei zu ergreifen.

Und nun hatte er keine Kontrolle über die Situation.
Mordractus schob ihn mit magischer Kraft in einen der

unvollständigen Kreise auf dem Boden. Dann zog er seinen Dolch aus
dem Gürtel, bückte sich und vollendete den Kreis, indem er das fehlende
Stück mit dem Messer in den Boden kratzte.

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»Ich würde dir wärmstens empfehlen, in dem Kreis stehen zu bleiben«,

sagte Mordractus. »Vielleicht bist du der Ansicht, du hättest nichts zu
verlieren, weil du dieses Beschwörungsritual sowieso nicht überlebst.
Aber ich versichere dir, es gibt in diesem Universum weitaus schlimmere
Dinge als den Tod, und jeder, der den Kreis verlässt, setzt sich von nun
an dem Risiko aus, ihnen zum Opfer zu fallen. Verstanden?«

»Ich habe es vernommen«, entgegnete Angel.
»Gut.« Mordractus ging zu seinem eigenen Halbkreis, neben dem er

den Altar aufgebaut hatte. Er nahm den Kelch, den Stab und seine
Zauberbücher, legte alles in die Mitte und schloss den Kreis mit der
Dolchklinge, wie er es zuvor bei Angel getan hatte.

Er wandte sich in Richtung des Pentagramms und fing an, mit lauter

Stimme zu sprechen.

»Ich rufe dich an und beschwöre dich, oh Orias! Gestärkt durch die

Macht der Höchsten Majestäten befehle ich dir im Namen von
Baramelamensis, Baldachiensis, Paumachie, Aplolresedes und der
mächtigen Fürsten Genio und Liachide, den Würdenträgern des Tarteani-
schen Hofes, der obersten Fürsten des Hofes von Apologia in der
neunten Region. Ich rufe dich herbei im Namen von Lucifuge Rofocale,
Satanachia, Agalaiarept, Fleurety, Sargatanas und Nebiros. Erscheine
und zeige dich hier vor diesem Kreis in gefälliger, menschlicher Form
ohne Verunstaltung oder Greuel. Wo auch immer du bist, komm herbei
und gib verständige Antworten auf meine Fragen. Komm herbei, werde
sichtbar, sei mir wohlgesonnen und manifestiere das, was ich wünsche.
Ich befehle dir, Orias, erhebe dich! Erhebe dich! Erhebe dich!«

Angel hatte keine Ahnung, ob Mordractus wusste, was er tat, aber er

sprach mit großer Autorität, und seine Stimme dröhnte laut durch den
höhlenartigen Raum. Angel wusste genug über die Welt – und über die
Dinge, die von den meisten verleugnet wurden –, um Mordractus nicht
als Schwindler abzuschreiben, bevor er ihn nicht in Aktion gesehen
hatte. Aber kein Dämon erschien auf der Bildfläche, und Angel
entspannte sich ein wenig. Vielleicht war der alte Zauberer schon zu
schwach. Er schnaufte ganz schön und versuchte, für eine zweite Runde
Luft zu schöpfen.

Angesichts des ausbleibenden Erfolgs wuchs Angels Zuversicht. Er

war fest entschlossen, sich aus dieser Situation zu befreien. Allmählich
sehnte er sich danach, zur Abwechslung mal einen Tag in seinem
eigenen Bett zu verbringen.

Und dann hörte er es, aus weiter Ferne, aber dennoch deutlich. Eine

Glocke, deren Klang so rein war, dass sie unmöglich irdischen

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Ursprungs sein konnte. Wieder läutete es, näher diesmal. Und noch
einmal. Angel merkte, wie sich ihm die Nackenhaare aufstellten.

Das Läuten erstarb, als plötzlich ein kalter Wind durch den Raum

fegte. Es wurde eiskalt. Die Kerzen zuckten und verloschen. Das einzige
Licht im Raum kam nun aus der Schüssel, und dieses Feuer brannte nur
schwach.

Mordractus war wieder zu Kräften gekommen und fing von Neuem an.

Diesmal nahm er eines der kleinen, ledergebundenen Bücher zur Hand
und las daraus vor.

»Ich rufe und beschwöre dich, oh Geist Orias! Ich befehle dir, zu

erscheinen und dich hier vor diesem Kreis zu zeigen, ohne Verunstaltung
oder Arglist! Im Namen von Hagios, dem Hof von Adonai, von Jetros,
Athenoros, Paracletus; im Namen der drei geheimen Namen Agla, On
und Tetragrammaton; im Namen des Jüngsten Tages; im Namen
Primeatums. Gib getreu Antwort auf alle meine Fragen, und erfülle all
meine Wünsche, soweit es in deiner Macht steht. Komme also in
friedlicher Absicht, werde unverzüglich sichtbar und manifestiere, was
ich wünsche; sprich mit klarer und hörbarer Stimme, damit ich dich
verstehen kann!«

Die Raumtemperatur sank immer weiter. Angel begann zu zittern.

Erneut läutete eine Glocke, durchdringender und tiefer diesmal. Als aus
dem Läuten ein ohrenbetäubendes Gongen wurde, fühlte sich Angel, als
stünde er direkt unter der Freiheitsglocke.

Und in der Mitte des Kreises in dem Pentagramm erschien ein

Leuchten. Es hatte keine Gestalt, keine Form, keine Substanz.

»Zeige dich!«, befahl Mordractus. »Wenn du nicht gehorchst,

verfluche ich dich und entziehe dir deine Macht! Ich werde dich in die
Tiefen der bodenlosen Hölle verbannen, wo du bis zum Jüngsten Gericht
schmoren wirst!«

Das formlose Leuchten fing an, Gestalt anzunehmen, allerdings eine,

die Angel noch nie gesehen hatte. Sie wuchs über die Grenzen des
kleinen Innenkreises hinaus, wurde aber offensichtlich von diesem
gefangen gehalten. Angel beobachtete, wie die Gestalt immer klarere
Formen annahm. Es war, als stelle jemand ein unsichtbares Objektiv
scharf.

Vor ihnen stand nun ein Löwe auf dem Rücken eines mächtigen

schwarzen Hengstes. Der Löwe hatte einen Schlangenschwanz und in
der rechten Pfote, die eher nach Mensch als nach Raubtier aussah, hielt
er zwei riesige, zischende Schlangen. Irgendwie wusste Angel beim
Anblick dieses Wesens, dass keines seiner Bestandteile dem wahren
Gesicht des Dämons entsprach, den Mordractus hatte heraufbeschwören

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wollen. Das Wesen schien zwar durch das Maul des Löwen zu sprechen,
aber der Löwe war genauso wenig Orias, wie es die Schlangen waren.

»Warum hast du mich hergerufen?«, fragte die Kreatur.
»Ich möchte, dass du eine Transformation für mich durchführst«,

entgegnete Mordractus. Er hielt immer noch das Zauberbuch in der Hand
und blätterte darin, während er sprach.

Er versuchte, Zeit zu schinden, wie Angel bemerkte. Offenbar hatte er

nicht erwartet, dass Orias so schnell kommen oder so positiv reagieren
würde. Und nun musste er schnell die richtigen Sätze finden, um über
ihn zu gebieten.

In diesem Augenblick bemerkte Angel, dass er sich wieder bewegen

konnte. Mordractus hatte ihn nicht halten können, weil er seine ganze
Konzentration auf den Dämonen gerichtet hatte.

Angel konnte sich wieder bewegen – aber er durfte den Kreis nicht

verlassen.

Oder vielleicht doch?
Mordractus hatte ihn davor gewarnt. Jeder, der den Kreis verließ,

riskierte damit ewige Höllenqualen oder so etwas. Aber Angel war ja
nicht jedermann. Er war schließlich selbst ein Dämon.

Also ergriff er die Gelegenheit beim Schopf.





















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In Los Angeles gab es solche Banken und solche.

Im Zentrum, in Santa Monica oder Beverly Hills gab es erhabene

milliardenschwere Bankinstitute. Zweigstellen landesweiter
Bankennetze. Bei vielen der dort getätigten Geschäfte wurden große
Geldmengen bewegt – verkaufen, kaufen, handeln, investieren. Alles nur
auf dem Papier – oder besser gesagt: per Computer. Keine echten
Papiere wechselten mehr den Besitzer; es gab nur noch Informationen,
die von einem Konto zum nächsten wanderten. Ihr Gegenwert bestand
lediglich in anderen Informationen, die man dafür kaufen konnte.

Als Kate Lockley auf dem dunklen Gehsteig vor der Western

Standard-Sparkasse stand, dachte sie an diese Art von Geldgeschäfte,
getätigt von Bankern, die Tausend-Dollar-Anzüge und Sechshundert-
Dollar-Schuhe trugen und Brieftaschen von Gucci oder Marc Cross
hatten, genau wie die Kunden, die bei ihnen ein- und ausgingen.
Manchmal verabredeten sie sich am Ende des Arbeitstages zum Tennis
oder auf einen Drink.

Die Kunden der Western Standard konnten mit Informationen nichts

anfangen. Sie mussten mit ihrem Geld Lebensmittel kaufen. Die Leute,
die hier zu tun hatten, reichten Gehalts- und Sozialhilfeschecks ein oder
ließen sie sich gleich bar auszahlen. Eine Bank war in diesem Viertel
eine Einrichtung, die Geld an diejenigen ausgab, die es brauchten –
vorausgesetzt, es gelang ihnen, ihre Konten im Plus zu halten.

Die Western Standard wickelte zwar keine Milliardengeschäfte ab,

aber über ihre Schalter flössen täglich große Mengen Bargeld.

Und sie war nur einen Block von der Tankstelle entfernt, auf der

Achtundfünfzigsten, nicht weit von der Kreuzung von Avalon und
Slauson Avenue, eingequetscht zwischen einer Reinigung und einem
Billigschmuck-Laden.

Kate spürte es ganz deutlich: Diese Bank war das nächste Ziel der

Bande.

Sie sah auf ihre Uhr. Es war kurz nach Mitternacht. Die Straße lag da

wie ausgestorben. Niemand lief hier so spät noch herum, außer solchen
Leuten, denen hier um diese Zeit sowieso niemand mehr begegnen
wollte. Und obwohl sie ein Cop war und ihre Hand auf der Waffe ruhte,
war sogar sie ein wenig nervös.

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Okay, ziemlich nervös. Aber das hatte mehr mit der Tatsache zu tun,

dass sie vor einer Bank stand, deren Tresore vielleicht in diesem
Augenblick von einer Bande Bankräuber mit Maschinengewehren
geplündert wurden.

Möglicherweise waren sie aber auch erst auf der Hälfte der Strecke

und buddelten sich gerade unter der Straße durch, und träumten von
kalten Getränken und warmen Betten. Dass Kate ihr Ziel gefunden hatte,
musste nicht unbedingt bedeuten, dass sie auch schon dort angelangt
waren.

Kate atmete tief durch. Wahrscheinlich regte sie sich ganz umsonst

auf. Diesmal würden sie den Ganoven das Handwerk legen. Sie musste
nur Verstärkung anfordern. Man würde die Bank öffnen und in den
Tresorräumen darauf warten, dass die Bande durch die Wand brach. Die
Räuber würden dann vor lauter Überraschung die Schaufeln fallen lassen
und aufgeben.

So würde die ganze Aktion ablaufen – im Traum. Denn so einfach war

die Polizeiarbeit nun einmal nicht. Das stand auch nicht in der
Arbeitsplatzbeschreibung.

Apropos Verstärkung, dachte Kate. Wo bleiben die Leute denn?
Es waren schon fünfzehn Minuten vergangen, seit sie von der

Tankstelle aufgebrochen war. Newberry hatte doch gleich anrufen
wollen! Aber bislang hatte weder ihr Funkgerät gepiept, noch hatte sie
eine Sirene gehört. Und kein Polizeiauto war weit und breit zu sehen -
oder eine dieser amerikanischen Schaukeln, mit denen der FBI sich
einbildete, nicht aufzufallen.

Kate stand allein auf der dunklen Straße in einem verruchten Viertel,

und in der Bank steckte wahrscheinlich eine Bande Killer. Sie wollte
wenigstens eine Scharfschützeneinheit haben, allerwenigstens. Und sie
wollte Cops mit Pistolen sehen, Cops mit kugelsicheren Westen, Cops
mit Blaulicht! Und Straßensperren und gelbe Absperrbänder. Oder
Angel.

Angel? Warum kam gerade er ihr in den Sinn?
Er war bestimmt irgendwo in der Stadt unterwegs. Nachts zu arbeiten

schien ihm irgendwie zu liegen. Wahrscheinlich erledigte er gerade
wieder einen wohltätigen Job für einen Kunden, der ihn für seine Dienste
nicht bezahlen konnte. Und selbst wenn er aus Böswilligkeit nicht zahlte,
ließ Angel ihn wahrscheinlich trotzdem davonkommen.

Angel war ein tougher Typ, davon hatte sich Kate schon persönlich

überzeugen können. Aber er ließ sich von seinen Kunden auf der Nase
herumtanzen. Fast, als täte er seine Arbeit nicht des Geldes wegen,
sondern aus einem anderen, undefinierbaren Grund.

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Aber Privatdetektive hatten für ihre Arbeit doch gar kein anderes

Motiv als Geld!

Cops schon. Cops glaubten an schwammige Ideale wie Gerechtigkeit,

den Schutz Unschuldiger und die Bekämpfung von Verbrechen.
Vermutlich gab es bei der Polizei auch ein paar krumme Gestalten,
überlegte Kate. Aber wenn jemand wirklich hinter dem Geld her war,
dann stand er doch meistens auf der anderen Seite.

Oder er war eben Privatdetektiv. In einer Stadt wie Los Angeles hatte

ein privater Ermittler für sein Leben ausgesorgt, wenn er sich im Auftrag
von ein paar Filmstars darum kümmerte, deren kleine Fehler und
Indiskretionen aus den Zeitungen zu halten. Für jeden Philip Marlowe
oder Sam Spade in der Stadt gab es auch einen Typen mit einer Lizenz
und einer Knarre auf irgendjemandes Gehaltsliste, der sich mit einer
Tätigkeit, für die eigentlich die Presseabteilung zuständig war, eine
goldene Nase verdiente.

Aber soweit Kate sehen konnte, passte Angel in keine dieser

Kategorien.

Sie schüttelte den Kopf. Jetzt war wirklich nicht der richtige Zeitpunkt,

sich von derlei Gedanken ablenken zu lassen. Sie musste sich verhalten
wie bei einem Überwachungseinsatz. So als könnte aus den verdunkelten
Fenstern der Bank jeden Moment gefeuert werden.

Und immer noch war keine Verstärkung in Sicht! Kate zog ihr Handy

aus der Tasche und drückte eine Taste.

»Detective Lockley«, sagte sie zu dem Beamten in der Wachzentrale.

»Ich stehe vor der Western Standard-Sparkasse in der
Achtundfünfzigsten Straße, Hausnummer 378. Ich habe Grund zu der
Annahme, dass unsere Bankräuber sich unterirdisch Zugang zu dieser
Bank verschaffen, und ich brauche sofort Verstärkung.«

»Ich kümmere mich darum, Detective«, versprach der Mann in der

Zentrale.

Vielleicht sollte sie Special Agent Newberry ein paar Gehirnzellen

spenden! Kate fragte sich allmählich, ob er überhaupt die FBI-
Verstärkung angefordert hatte. Ihr gefiel die Vorstellung nicht, dass er
allein am Ende des Tunnels wartete. Falls die Bankräuber diesen
Ausgang wählten, waren sie bestimmt reichlich nervös und angespannt
und würden Newberry auf der Stelle erschießen – diesen Mann konnte
schon ein Fünfjähriger aus hundert Metern Entfernung als FBI-Mann
identifizieren.

Angel trat aus dem Kreis.

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Und Orias drehte sich zu ihm um. Sein Schlangenschwanz peitschte

durch die Luft und die Schlangen in seiner Pfote zischten und
schnappten. Der Dämon öffnete sein Löwenmaul und spuckte Feuer in
Angels Richtung.

Angel duckte sich, sprang zur Seite und rollte auf dem Boden ab. Die

Flammen hinterließen einen schwarzen Fleck auf dem Steinboden, aber
sie hatten ihn nicht erwischt.

»Du gehörst mir!«, brüllte der Dämon.
»Noch nicht!«, entgegnete Angel. Er war wieder auf den Beinen und

rannte so weit in den Raum, dass er Mordractus, der in seinem Kreis
vermutlich immer noch sicher war, zwischen sich und den
feuerspuckenden Dämon brachte.

Den Kreis zu verlassen, war, wie Mordractus behauptet hatte,

schlimmer als Selbstmord. Aber drin zu bleiben, war der ebenso sichere
Selbstmord, fand Angel, denn dieses Monster sollte ihm den Kopf
abreißen und Suppe aus seinem Gehirn machen. Er hatte also nichts zu
verlieren.

»Wenn ich dich freilasse und dir diesen da zum Geschenk mache«, rief

Mordractus dem Dämon zu, »dann musst du hinterher auch wieder in
deinen Kreis zurückkehren!«

»Einverstanden«, brüllte Orias.
»Du glaubst wirklich, du könntest einen Dämon beim Wort nehmen,

Mordractus?«, fragte Angel. »Wenn du ihn aus dem Kreis lässt,
verwüstet er unter Umständen die ganze Stadt. Wie willst du ihn dann
jemals wieder einfangen?«

Auf Mordractus' Gesicht machte sich Unsicherheit breit. Der Magier

dachte eine Weile nach und traf eine Entscheidung.

»Ergreif ihn!«, rief er. Wieder hatte Angel nichts zu verlieren. Wenn

der Dämon ihn nicht erwischte, war Mordractus auf jeden Fall am Ende.

Der Dämon drängte aus dem Kreis, als die unsichtbaren Fesseln von

ihm abfielen. Kein Zweifel, auf dem Gesicht des Pferdes lag ein Grinsen.

In diesem Moment verwandelte Angel sich in einen Vampir. Wie ein

Mensch auszusehen war ja gut und schön, aber als Vampir war er stärker
und schneller. Und er wusste, er würde alle Kraft brauchen, die er nur
aufbringen konnte.

Am liebsten wäre er geflohen und über die Treppe nach oben

verschwunden. Aber wenn er das tat, würde das Vieh ihm folgen und mit
Sicherheit das auslösen, wovor er Mordractus gewarnt hatte: ein Blutbad
ungeahnten Ausmaßes über L.A. bringen. Es mochte zwar nicht so
schlimm werden wie das Gemetzel, das Balor veranstalten würde, wenn

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es Mordractus gelang, ihn wieder auf die Erde zu holen - aber schön
würde es gewiss nicht.

Also blieb Angel, wo er war, und ließ den Dämon auf sich zukommen.
Der machte plötzlich einen Satz nach vorn, und die Schlangenköpfe

zischten und schnappten nach Angel, der sofort in die Luft sprang und
einen Salto über den Dämon hinweg machte. Dieser wirbelte herum und
kam näher. Angel ging auf ihn los und verpasste dem Hengst zwei Tritte
ins Maul. Der Löwe brüllte und spuckte erneut Feuer.

Angel kämpfte weiter. Er wich den Flammen aus, griff an und

versuchte, jeden der miteinander verwachsenen Körper zu treffen: das
Pferd, den Löwen und die Schlangen, die es alle drei wiederum auf ihn
abgesehen hatten.

Bislang blieb er zwar von größeren Treffern verschont, aber er schien

auch nichts gegen die Bestie ausrichten zu können. Er wusste nicht, ob
sie zu schlagen war. Schließlich handelte es sich um keinen der
Dämonen, mit denen er es sonst zu tun hatte. Diese hatten lange vor den
Menschen die Erde besiedelt und lebten, obschon mittlerweile stark
dezimiert, immer noch in den Tiefen unter dem Lebensraum der
Sterblichen, was ihnen in Expertenkreisen die Bezeichnung
»Unterirdische« eingebracht hatte.

Aber Orias kam von einem ganz anderen Ort. Manche nannten ihn

Zwischenwelt, manche ewiges Fegefeuer, und es gab auch noch andere
Namen dafür.

Angel war bereits dort gewesen.
Und er legte auf eine neuerliche Reise keinen Wert. Er konnte sehr gut

nachvollziehen, warum diese Kreatur nicht scharf darauf war, dorthin
zurückzukehren, nachdem sie einmal auf der Erde war.

Während er mit dem Dämon kämpfte, entwickelte Angel einen Plan.

Die drei Körper seines Gegners waren, wie er angenommen hatte, zu
einem einzigen Wesen vereint. Die Pfote des Löwen ließ die Schlangen
niemals los und der Löwe hielt den Hengst fest zwischen seinen Knien.
Wenn er die drei Körper voneinander trennen konnte, war der Dämon
vielleicht besiegbar.

Und ihn zu besiegen, war von entscheidender Bedeutung. Er war stark,

ein erbitterter Gegner. Aber er war nichts im Vergleich zu Balor. Wenn
es Mordractus tatsächlich gelang, den Totengott heraufzubeschwören,
spielte es keine Rolle mehr, dass Angel dafür sterben musste. Alle, die
ihm am Herzen lagen, waren dann ohnehin von Mordractus' Gnade
abhängig.

Das Pferd wieherte und trat kräftig mit seinen Hinterbeinen nach

Angel aus. Es zischte über seinem Kopf, als ihn die Hufe knapp

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verfehlten. Er duckte sich und hechtete unter das Pferd, das sich auf die
Hinterbeine stellte und versuchte, auf ihm herumzutrampeln. Aber Angel
gelang es, den Hufen auszuweichen.

Und er griff nach einer der Schlangen. Als er sie fest gepackt hatte,

zog er an ihr und sprang zur Seite.

Der Löwe ließ nicht los. Er riss die Schlange einfach zurück und zog

Angel damit dicht zu sich heran, um mit der freien Pfote nach ihm zu
greifen.

Er riss sein Maul weit auf, und Angel spürte seinen heißen, übel

riechenden Atem im Gesicht.

Das, dachte er, war ein großer Fehler!


Die Hitze des Tages war endlich vergangen.

So war es immer in Südkalifornien. Die Sonne brannte zwar tagsüber

heiß auf die Stadt hernieder, aber nachts wurde die Wärme wieder an die
Atmosphäre abgegeben. Der Pazifik sorgte dafür, dass das Klima mäßig
blieb, nicht zu heiß und nicht zu kalt. Und in der Nacht, wenn die Sonne
untergegangen war und die Erde die gespeicherte Hitze freigab, fiel die
Quecksilbersäule rasch nach unten. Manchmal war es um zehn Uhr
abends noch kochendheiß, aber um Mitternacht brauchte man bereits
eine Jacke.

Kate hatte keine Jacke dabei. Sie stand nun schon seit zwanzig

Minuten vor der Bank und spürte die nächtliche Abkühlung Grad für
Grad. Sie schlang die Arme um den Oberkörper und marschierte stramm
die Straße auf und ab und versuchte, sich warm zu halten. Dabei mied sie
das Licht der Straßenlaternen, die in großen Abständen aufgestellt
waren. Die nächste, die funktionierte, stand drüben an der Kreuzung.
Vermutlich hatten die Bankräuber keinen Späher auf der Straße postiert,
aber sicher konnte man nie sein, und sie wollte, wenn eben möglich,
unentdeckt bleiben.

Die Verstärkung war unterwegs, und sobald die Kollegen eintrafen,

konnte sie den Bankdirektor anrufen, um sich von ihm die Tür öffnen zu
lassen. Noch eine Stunde, dann war der Fall erledigt und sie konnte sich
zu Hause ins Bett legen.

Plötzlich glaubte sie, ein Licht in einem der Bankfenster gesehen zu

haben. Nur ein kurzes Aufflackern. Oder vielleicht doch nicht? War es
die Reflexion eines vorbeifahrenden Autos gewesen, oder die Lichter
eines Flugzeugs am Nachthimmel oder einfach nur ein Produkt ihrer
Fantasie?

Von ihrem Standpunkt aus konnte sie es nicht überprüfen. Kate blickte

die Straße auf und ab und nahm ihre Umgebung mit den sorgsam

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geschulten Augen einer Polizistin unter die Lupe. Im Geiste teilte sie die
Straße in Abschnitte ein und checkte sie der Reihe nach durch. Niemand
beobachtete sie. Alle parkenden Autos waren leer.

Sie überquerte die Straße.
An der Fassade der Sparkasse konnte man unschwer erkennen, dass sie

aus zwei alten Häuserfronten zusammengefügt war. Es gab nur einen
Eingang, aber man sah, wo sich der zweite befunden hatte, der durch
eine Glaswand ersetzt worden war. Die Fenster waren wegen der starken
Sonneneinstrahlung getönt. Um hineinsehen zu können, ging Kate mit
dem Gesicht ganz dicht an das Glas heran und schirmte ihre Augen mit
der Hand ab.

In der Ferne hörte sie Sirenen. Ihre Verstärkung, endlich! Sie seufzte

erleichtert.

Und da sah sie wieder das Licht.
Es kam definitiv von drinnen. Jemand war in der Bank, und dafür

konnte es nur einen Grund geben. Kate griff nach ihrer Waffe und hielt
den Blick auf die Stelle gerichtet, wo das Licht aufgeflackert war. Sie
durfte es unter keinen Umständen aus den Augen verlieren.

Hinter ihr bog mit quietschenden Reifen ein Auto um die Ecke. Die

Kollegen vom LAPD! Kate zog ihre Waffe aus dem Halfter, trat von der
Banktür zurück und machte sich bereit.

Eine Wagentür ging auf, eine Waffe wurde entsichert.
»Fallen lassen, Officer!«, hörte sie jemanden sagen.
Aua!


Der Löwe beschnüffelte Angel.

Mit zusammengekniffenen Augen sah er ihn an.
»Du bist kein Mensch«, meinte er. »Du hast den Gestank der Hölle an

dir.«

»Sehr scharfsinnig«, lobte Angel. Mit der freien Hand zeigte er auf

seine Stirn und die Fangzähne. »Kein Mensch!«

Der Löwe ließ ihn los. »Was ist das denn hier für ein Beschiss?«
Angel strich sich die Kleidung glatt. »Na, na! Wo sind denn all die

hehren Worte geblieben?«, fragte er.

»Der ganze Zauber ist doch nur wegen dieses Clowns da«, sagte der

Löwe und zeigte auf Mordractus. »Er arbeitet immer noch mit Texten,
die hunderte Jahre alt sind. Er meint, er muss diese Sprache sprechen,
damit es funktioniert.«

»Glaub ihm nicht!«, warnte Mordractus Angel. »Orias ist der geborene

Lügner. Er kann in dein Bewusstsein sehen und weiß, was du hören

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willst. Er spricht mit tausend Zungen, aber alles, was er sagt, ist gelogen,
falls man ihn nicht zwingt, die Wahrheit zu sagen.«

Angel drehte sich zu dem Zauberer um. »Aber du willst nur mein

Bestes, nicht wahr?«

»Wenigstens bin ich ein Mensch«, sagte Mordractus. Er sah nun noch

älter aus. Die Anstrengungen der Zeremonie hatten ihn Jahre gekostet.

»Als wäre das von Bedeutung!«, meinte Angel. »Was ist denn nun

Sache? Kann er nur Menschen erledigen?«

»Ich kann erledigen, wen ich will«, sagte Orias. »Wobei ich Menschen

bevorzuge.«

»Dich kann er nicht mit zurücknehmen, auch wenn er das gern

würde«, erklärte Mordractus. »Er erscheint auf Befehl, um eine
besondere Aufgabe zu erfüllen. Aber eigentlich hätte er gern jemanden
zum Spielen, um sich im Jenseits die Langeweile zu vertreiben. Offenbar
taugst du nicht dazu.«

»Vielleicht, weil ich schon dort war und zurückgekehrt bin«, schlug

Angel vor.

»Mag sein«, pflichtete ihm Mordractus bei.
»Wenn ich dich wollte, Angel, wärest du mein«, bekräftigte Orias.
»Das bezweifle ich«, sagte Angel. »Aber schau'n wir mal...« Er beugte

sich vor und riss Mordractus das Zauberbuch aus den zittrigen Händen.

»Nein!«, schrie der Magier. »Ich muss ...«
Er wollte sich das Buch zurückholen, aber Angel wich zur Seite, und

Mordractus verlor das Gleichgewicht. Mit dem linken Fuß trat er aus
dem gemalten Kreis heraus.

Da ging Orias zum Angriff über. Mit Hufgetrappel und wildem

Brüllen stürzte sich der Dämon auf den alten Magier, und der Löwe
packte ihn mit der freien Pfote am Arm.

»Endlich!«, schrie er triumphierend.
»Neeeiiin!«, wimmerte Mordractus. »Angelus, hilf mir! In Gottes

Namen!«

»Ich glaube, mit dem hast du es dir verscherzt!«, sagte Angel.
Der Dämon schleppte Mordractus in seinen Kreis. Die ganze Zeit

bettelte und flehte der Magier und bat Angel, ihn zu retten.

Angel blätterte in dem Zauberbuch. »Ich suche ja schon, Mordractus.

Wirklich! Ich finde nur nicht die richtige Stelle.«

Aus dem Nichts – oder vielleicht von überall – fegte plötzlich ein

starker Wind durch den Raum und wirbelte die Seiten des alten Buches
durcheinander. Das Leuchten von Orias wurde schwächer, bis es
schließlich ganz erlosch und der Raum fast in völlige Dunkelheit

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getaucht war. Nur das schwache Glühen der Kohlen in der Schüssel
spendete Licht. Der Wind erstarb schlagartig.

In weiter Ferne hörte Angel dreimal eine Glocke schlagen.
Dann war alles still.
Er ging an den Schrank und rumorte im Dunkeln darin herum, bis er

Mordractus' Streichhölzer fand. Damit zündete er ein paar Kerzen an und
mit einer von ihnen die Fackeln an der Wand.

Im Licht der Fackeln studierte er das Zauberbuch. Es war auf Latein

geschrieben, aber er erinnerte sich noch genug, um den Text
einigermaßen zu verstehen. Endlich fand er den Spruch, mit dem er diese
Beschwörung beenden und die Öffnung versiegeln konnte, um zu verhin-
dern, dass Orias noch einmal zurückkehrte.

Er las die Beschwörung laut vor und vollführte den Bann so gut er

konnte.

Als er damit fertig war, rannte er zur Treppe. Er hatte es ziemlich eilig,

nach Hause zu kommen.
























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Angel hatte die Hälfte der finsteren Treppe hinter sich gebracht, als am
oberen Ende eine Tür aufging und ein Lichtstrahl in den Schacht fiel.
Einen Augenblick später erschien eine Gestalt in der Öffnung.

»Alles in Ordnung, Boss?«, fragte sie.
»Absolut«, entgegnete Angel.
»Du bist ja gar nicht... Hey!«, rief der Typ.
»Stimmt«, sagte Angel. »Bin ich nicht.«
Der Typ kam die Treppe herunter. Angel lief ihm in geduckter Haltung

entgegen und rammte ihm die Schulter in die Eingeweide. Mit einem
»Uff!« klappte er zusammen. Angel richtete sich auf und schickte ihn
mit einem Schulterwurf die Treppe hinunter. Schreiend polterte er über
die Stufen nach unten.

Großartig!, dachte Angel. Er wusste nicht, wie viele da oben warteten -

aber die anderen wussten nun, dass er kommen würde.

Er blieb in der Tür stehen und spähte um die Ecke in eine große

Küche, die bis hin zu den Bodenfliesen ganz in Avocadogrün gehalten
war. Zu seiner Rechten befand sich eine offene Speisekammer. Niemand
war zu sehen. Am anderen Ende der Küche führte eine Tür nach draußen
in die Dunkelheit.

Nach links ging ein kurzer Flur ab. Und von dort näherten sich

aufgeregte Stimmen.

Angel entschied sich für rechts und flitzte über den gefliesten Boden

an der Kücheninsel vorbei, auf der sich Zeitungen und anderer Kram
häuften, und in deren Spüle sich das schmutzige Geschirr stapelte. Die
Tür nach draußen war verschlossen, allerdings nur mit dem Knauf-
schloss. Angel drückte auf den Knopf in der Mitte, drehte den Knauf,
zog die Tür auf und rannte hinaus. Die Nachtluft roch nach Pinien und
Holzfeuer.

»Da läuft er!«, hörte er eine Stimme aus dem Haus. Man hatte ihn

entdeckt. Blitzschnell nahm Angel Kurs auf die Bäume.

Vermutlich würde er es mit ihnen aufnehmen können. Er war schon

öfter mit mehreren Angreifern gleichzeitig fertig geworden – abgesehen
von den vier Dämonen, die ihn schließlich in ihre Gewalt gebracht
hatten. Und wären sie nicht mit dem Zauberseil bewaffnet gewesen, hätte
er gute Chancen gegen sie gehabt.

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Möglicherweise hatten sie das Seil immer noch dabei. Und andere

Waffen. Angel musste herauszufinden versuchen, mit wie vielen
Gegnern er es zu tun hatte und wie sie ausgerüstet waren. Oder sollte er
einfach fliehen und die ganze Sache auf sich beruhen lassen? Nun, da
Mordractus weg war, standen die Chancen nicht schlecht, dass ihm der
Rest der Truppe nichts mehr anhaben konnte.

Loyalität reichte selten über den Tod hinaus.
Angel war gerade unter den Bäumen angekommen, als die Küchentür

aufflog. Zwei Männer blieben im Türrahmen stehen und spähten hinaus.
Nach einer Weile gingen sie wieder nach drinnen.

Angel hoffte, sie gaben auf. Vielleicht hatte schon jemand bemerkt,

dass Mordractus verschwunden war; dass sie nun ohne Arbeitgeber
dastanden.

Aber nein, solange sie keine Leiche fanden, blieben sie bestimmt

misstrauisch. Sie vermuteten Mordractus bestimmt noch irgendwo auf
dem Gelände und gingen davon aus, dass Angel wusste, wo er zu finden
war.

Nun, in diesem Punkt hatten sie jedenfalls Recht. Sie brauchten nur in

der Hölle nach demjenigen zu suchen, der vor Qual am lautesten schrie.

Angel wurde klar, dass er die Sache nicht beenden konnte, indem er

sich einfach aus dem Staub machte. Seine Widersacher wussten, wo er
wohnte. Sie hatten ihn schon einmal aufgespürt und konnten es jederzeit
wieder tun. Oder sie würden sich an Cordy oder Doyle vergreifen. Angel
hatte keine andere Wahl, als zu bleiben und Mordractus' Horde ein für
alle Mal klarzumachen, dass ihr Boss der Vergangenheit angehörte.

Er musste eine Möglichkeit finden, mit ihnen zu reden.
Als er gerade aus dem Schutz der Bäume heraustreten wollte, ging die

Küchentür erneut auf. Grelle Lichtstrahlen aus großen Scheinwerfern
durchbohrten die dunkle Nacht, und einer davon streifte ihn. Jemand
schrie auf, und dann ertönten Schüsse.

Kugeln schlugen zischend in den Baum direkt vor Angel ein. Sofort

hechtete er zu Boden und rollte hinter einen Busch.

Die Lichtstrahlen wanderten über den Boden. Weitere Stimmen

erklangen aus dem Haus. Nun, da sie Angel entdeckt hatten, würden sie
die Gegend nach ihm absuchen. Und sie würden ihn finden. Die Pistolen
stellten dabei das geringste Problem dar – die Kugeln waren zwar
schmerzhaft, töteten ihn aber nicht. Allerdings hatten die Kerle nicht nur
Pistolen dabei.

Angel erhob sich langsam und rannte im Zickzackkurs tiefer in den

Wald hinein. Das Mondlicht fiel durch die Pinienzweige. Aufgrund
seines langen Lebens in der Finsternis verfügte Angel über eine

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ausgezeichnete Nachtsicht, aber im Wald war es so dunkel, dass selbst er
nur schwer vorwärts kam, und geräuschlos schon gar nicht. Immer mehr
Kugeln pfiffen durch die Luft.

»Tun Sie das nicht!«, rief Kate. Sie drehte sich nicht um – schließlich
waren irgendwo in der Bank noch bewaffnete Räuber. Und sie hatte
immer noch ihre Pistole in der Hand, mit der sie ins Fenster zielte.

Die Tür der Bank öffnete sich. Ein dunkel gekleideter großer Mann mit

Spitzbart kam heraus und hielt ihr eine MAC-10 unter die Nase.
Allerdings sah er sie nicht an, sondern an ihr vorbei – vermutlich zu
demjenigen, der aus dem Auto gestiegen war und ihr eine Waffe in den
Rücken hielt.

»Los, leg sie um, Mann!«, sagte der Mann.
»Keine Zeit!«, entgegnete der Kerl hinter ihr. »Hör doch!«
Kate wusste, was er meinte, bevor es der Spitzbärtige kapiert hatte.

Sirenen! Sie waren jetzt schon sehr nah – weniger als einen Block
entfernt. Binnen Sekunden würde es auf der Straße vor Polizeiautos nur
so wimmeln.

»Hauen wir ab!«, rief er.
»Wir können hier nicht weg«, sagte der Kerl hinter ihr. »Sie kommen

von allen Seiten. Aber wenn wir eine Geisel hätten – einen Cop ...«

Der Typ mit dem Spitzbart grinste. Er nickte. »Gute Idee!«, sagte er

und winkte Kate mit der Waffe in die Bank. »Kommen Sie rein, Officer!
Geben Sie mir Ihre Pistole! Sie werden ein Weilchen bei uns bleiben.«

Das Schlimmste, was ein Cop tun konnte, war, seine Waffe abzugeben.

Das war Kate bewusst. Nicht minder schlimm war es, sich als Geisel
nehmen zu lassen. Die Methode, sich als Cop gegen zivile Geiseln
austauschen zu lassen, hatte sich nur selten als erfolgreich bewiesen.

Aber die Heldin spielen zu wollen brachte genauso wenig ein. Es hatte

gar keinen Sinn, mit einer MAC-10 vor der Nase und einer unbekannten
Waffe im Rücken irgendeinen Trick zu versuchen. Dann wäre sie im
nächsten Augenblick nichts weiter als eine tote Heldin.

Als Geisel jedoch blieb sie am Leben.
Kate reichte dem Ganoven ihre Waffe.
Das verstieß gegen alle Regeln, die man ihr beigebracht hatte. Falls sie

überlebte, würde ihr Vater – selbst ein Cop – ihr dazu wohl noch ein paar
Takte sagen. Ihr Magen verkrampfte sich. Als der Spitzbärtige die
Pistole entgegennahm, fühlte sich Kate, als hätte sie gerade ihre Seele
entblößt; als wäre sie total nackt.

Der Kerl lächelte nur und steckte sich die Waffe in den Hosenbund

seiner schwarzen Jeans.

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Als Kate neben ihm die Bank betrat, stieß er ihr die MAC-10 in die

Rippen. »Machen Sie keine Dummheiten!«

»Keine Sorge!«, entgegnete Kate.
Der Typ aus dem Auto folgte ihnen. Kate warf einen Blick über ihre

Schulter und sah ihn zum ersten Mal, als er die Tür hinter ihnen schloss.
Sie konnte gerade noch einen Blick auf die Blaulichter erhaschen, die auf
die Bank zurasten. Der Kerl war kleiner als der Spitzbärtige und hatte
das lange dunkle Haar im Nacken zu einem Pferdeschwanz gebunden.
Auch er trug dunkle Kleidung, die allerdings sehr schmutzig war.
Bestimmt gehörte er zur Tunneltruppe. Der andere hatte vermutlich
zuvor ebenfalls gebuddelt, aber bestimmt Gelegenheit gehabt, sich
abzustauben, während er nun schon wer weiß wie lange den Tresor
ausräumte.

»Wie können wir denen mitteilen, dass wir sie haben?«, fragte er.
Der Spitzbärtige überlegte kurz, dann grinste er wieder-ein fieses

Grinsen, das Kate immer widerwärtiger fand. »Haben Sie ein Funkgerät
dabei?«, fragte er.

»Ja«, antwortete sie.
»Sagen Sie denen, wo Sie sind. Wenn die reinkommen, sind Sie tot. So

einfach ist das.«

Einfach, dachte Kate. Für ihn vielleicht.


Das Haus des Magiers war auf einem Berg gebaut, von dem aus man
ganz Hollywood überblicken konnte. In der unmittelbaren Nachbarschaft
gab es viel Land – die Häuser hier oben waren größer und teurer und
standen weiter auseinander als unten in der Ebene. Angel flitzte von
Baum zu Baum und versuchte, immer in Deckung vor den Kerlen mit
den Pistolen und den Scheinwerfern zu bleiben. Sein Weg führte ihn den
Hang hinunter, und erst als er die Lichter der Stadt nicht mehr sehen
konnte, wurde ihm klar, dass er in einen Seitencanon geraten war. Er
hatte die hohen Pinien hinter sich gelassen und war nun von Eichen mit
weit ausgebreiteten Ästen geschützt. Hohes Gras schlang sich um seine
Beine.

Er konnte die Verfolger nicht mehr hören. Aber das musste nicht

zwangsläufig heißen, dass sie ihm nicht mehr irgendwo auflauerten.
Angel hatte durchaus etwas für Optimismus übrig, aber wenn sein Leben
auf dem Spiel stand, war eine gesunde Portion Vorsicht angebracht. Die
Kerle waren vermutlich immer noch hinter ihm her; sie verhielten sich
nur vorsichtiger.

Was sie allerdings noch gefährlicher machte.

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Angel hielt sich weiter unterhalb des Abhangs, damit er von oben nicht

gesehen werden konnte, und schlich vorsichtig in Richtung des Hauses
auf den Berg. Mit ein wenig Glück gelang es ihm vielleicht, hinter dem
Großteil der Verfolger wieder aufzutauchen, die von dem Haus in
Richtung Wald liefen. Es war recht nützlich gewesen, für kurze Zeit
unterzutauchen, aber langfristig gewann er nichts, wenn er sich
versteckte.

Als er glaubte, ungefähr unterhalb des Hauses zu sein, begann er, den

Canon hochzuklettern. Er hangelte sich Stück für Stück an der steilen
Wand hoch, suchte an den Ästen kleinerer Bäume und Grasbüschel Halt,
bis er endlich den Kopf über den Rand strecken konnte.

Im hellen Mondlicht war er deutlich zu sehen.
Die Männer entdeckten ihn sofort und richteten die Waffen auf ihn.
Angel lächelte sie an. »Wir müssen reden«, sagte er.
Ohne lange Vorrede feuerte einer der Männer. Aber statt eines

Schusses hallte das Zurren einer Armbrust durch die Nacht. Ein
Holzpflock bohrte sich in Angels Brust.

Er stürzte ab.
Am Fuß der Canonwand landete er in einem Nest aus hartem

scharfkantigem Gras. Äste und Steine stachen durch seine Kleidung.
Alles tat ihm weh.

Aber das bedeutete immerhin, dass er lebte – oder wenigstens immer

noch untot war. Der Holzpflock hatte sein Herz verfehlt. Er ergriff ihn
und zog ihn aus seiner Brust. Die Schmerzen waren furchtbar.

Angel wünschte sich regelrecht einen kleinen Ohnmachtsanfall herbei,

aber diesen Luxus konnte er sich in diesem Augenblick nicht leisten. Der
Typ mit der Armbrust stand immer noch oben am Rand des Canons und
wusste, dass sich seine Beute irgendwo in der Tiefe befand – und verletzt
war.

Angels Plan war offenbar fehlgeschlagen.
Und er hatte keine Zeit, sich einen neuen auszudenken.
Er hörte, wie seine Widersacher oben am Hang Stellung bezogen. Er

machte ein paar Vorwärtsrollen über das scharfkantige Gras und hechtete
unter ein paar überhängende Eichenzweige. Das ging natürlich nicht
geräuschlos vonstatten. Bestimmt war er schon entdeckt worden. Der
nächste Bolzen würde sein Ziel möglicherweise nicht mehr verfehlen.

Angel dachte fieberhaft nach und wog ab, welche Möglichkeiten ihm

blieben. Keine davon war besonders vielversprechend.

»Wenn es keine wirklich gute Möglichkeit gibt«, dachte er, »dann

muss man eben den direkten Weg wählen!«

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Mit aller Kraft sprang er ab und katapultierte sich in die Krone der

Eiche. Der Baum schaukelte heftig und das Knacken der Äste zog einen
Hagel aus Kugeln und Bolzen nach sich. Pfeifend schössen sie durch das
dichte Laub.

Angel kletterte weiter. An der Spitze des Baumes angekommen,

federte er einmal auf einem stabilen Ast wie auf einem Sprungbrett und
sprang ab.

Er machte einen Salto über die Köpfe der Männer hinweg, die

weiterhin auf ihn schössen und landete hinter ihnen. Sobald er festen
Boden unter den Füßen hatte, trat er nach dem erstbesten Gegner und
erwischte den kleineren der drei im Rücken. Der stolperte auf den
Abgrund zu und klammerte sich Halt suchend an einen Kumpanen.
Schreiend verschwanden sie beide in dem Canon.

»Ich weiß, wie denen zumute ist«, bemerkte Angel.
Der dritte Mann, der mit der Armbrust bewaffnet war, stand immer

noch. Er richtete die Waffe auf Angel.

»Deine Zeit ist abgelaufen, Vampir!«
»Hör mal zu!«, sagte Angel. »Euer Boss ist nicht mehr in dieser Welt.

Es gibt keinen Grund für diesen Kampf.« Aber während er sprach,
bewegte er sich im Halbkreis um seinen Widersacher. Der Mann behielt
ihn im Visier und drehte den Oberkörper, solange es ging, aber
schließlich musste er doch einen Schritt nach rechts machen, um Angel
nicht aus den Augen zu verlieren.

Genau in diesem Augenblick griff Angel an und hechtete dicht über

dem Boden auf ihn zu. Ein Holzpflock pfiff über seinen Kopf hinweg
und segelte in den dunklen Canon.

Angel bekam den Kerl an den Beinen zu fassen und riss ihn zu Boden.

Derart mit seinem Gegner verknäuelt, wurde Angel von einem
Stiefelabsatz an der Augenbraue getroffen, was ihm eine Platzwunde
einbrachte. Er packte den Fuß und drehte ihn so heftig er konnte, bis sein
Gegner schmerzerfüllt aufschrie. Angel warf sich auf ihn und wollte
gerade zu einem Kinnhaken ausholen, als der Holzpflock, mit dem der
Mann nach ihm stieß, in seinem rechten Trizeps landete.

Angel rollte zur Seite und riss ihn mit der linken Hand wieder heraus.
Sein Widersacher kam auf die Beine und wich rasch ein paar Schritte

zurück, um sich aus Angels unmittelbarer Reichweite zu entfernen. Er
schob einen weiteren Pflock in die Armbrust und zielte damit auf Angels
Herz.

Als er plötzlich eine Hand auf seiner Schulter spürte, zuckte er

zusammen. Fast hätte er laut aufgeschrien.

»Wir übernehmen die Sache jetzt«, sagte Mister Crook nur.

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Der Kerl mit der Armbrust nickte und verschwand. Und Angel stand

den vier Dämonen gegenüber, die er kürzlich erst kennengelernt hatte.

Ein reizendes Quartett: Der hagere Mister Crook mit seinem langen

Stab, der Ball mit seinen stämmigen Armen und Beinen und den
unzähligen Zähnen, der große, mächtige Blauhäutige mit den
scharfkantigen Knochenfortsätzen auf den Handrücken und der
Maelabog, dessen Skelett wieder unter seiner hübschen Außenhülle
rotierte.

»Ihr schon wieder!«, rief Angel.
»Und du«, entgegnete Mister Crook.
»Habt ihr euer Zauberseil dabei?«
»Werden wir es brauchen?«, fragte Mister Crook mit seiner

Reibeisenstimme. Er schien der ernannte Wortführer der Gruppe zu sein.

»Das letzte Mal habt ihr mich nur mit Hilfe des Seils besiegen

können.«

»Letztes Mal warst du müde und abgelenkt. Und jetzt bist du doppelt

so müde und verletzt dazu – vermutlich viel schwerer, als du zugeben
willst.«

»Ich habe mich tatsächlich schon besser gefühlt«, räumte Angel ein.
»Und sicherlich auch schon schlimmer. Aber wir können dafür sorgen,

dass du dich nie wieder schlecht fühlen wirst. Wir können deinen
Schmerzen sogleich ein Ende bereiten.«

»Das weiß ich zu schätzen«, sagte Angel. »Aber ich lehne dankend

ab.«

»Nicht so eilig! Bedenke unser Angebot!«
»Weißt du, Mister Crook, ich kann eigentlich nicht glauben, dass ihr

wirklich hinter mir her seid. Ich denke, du verfolgst eher deine eigenen
Pläne.«

»Du musst lernen zu vertrauen.«
»Das wird mir immer wieder gesagt. Ich arbeite daran -muss mal ein

Selbsterfahrungsseminar oder so was in der Art besuchen.«

Je länger er die Dämonen am Reden hielt – Mister Crook jedenfalls –,

desto besser fühlte er sich. Wunden, die nicht tödlich waren, heilten bei
Angel sehr schnell. Der Typ mit der Armbrust war zwar dicht dran
gewesen, aber bislang war Angel immer noch nicht zu Staub zerfallen.

Und dabei sollte es auch bleiben.
»Ihr wisst, dass Mordractus nicht mehr hier ist, oder?«, fragte er. »Er

wurde von dem Dämon, den er heraufbeschwor, in die Zwischenwelt
entführt.«

»Wir haben etwas gespürt«, entgegnete Mister Crook heiser. »Es hat

Maelabog reichlich aus der Bahn geworfen. Eine Leere, sagte sie, in

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ihrer Seele. Sie mochte diesen Menschen recht gern.«

»Sie sieht auch ganz geknickt aus«, bemerkte Angel.
»Du machst dich über sie lustig«, sagte Mister Crook. »Du bist doch

selbst ein Dämon! Und hast deinesgleichen den Krieg erklärt. Du musst
ja voller Selbsthass sein!«

»Ich sehe mich nicht als Dämon«, erklärte Angel. »Ich war mal ein

Mensch. Ich habe einen Fehler gemacht und wurde zum Vampir. Das ist
nun mein Körper. Aber mein Körper ist nicht meine Bestimmung. Meine
Wurzeln sind in der menschlichen Welt und für diese Welt habe ich mich
auch entschieden.«

»Eine oberflächliche Betrachtungsweise«, urteilte Mister Crook.

»Mordractus ließ dich überwachen. Wir haben die Bänder gesehen und
seine Aufzeichnungen. Du scheinst dich in keiner der beiden Welten
richtig wohl zu fühlen.«

»Ich kann nicht glauben, dass ich hier stehe und mit euch

philosophiere«, sagte Angel. »Können wir nicht einfach kämpfen oder
so?«

»Genau so eine simple Antwort haben wir von dir erwartet!«
»So etwas in der Art hört man doch immer wieder von Leuten, denen

die Argumente ausgegangen sind.«

Mister Crook seufzte; es klang wie das Knarren eines alten

Eisengatters im Wind. »Wie du willst«, sagte er und zeigte mit seinem
Stab auf Angel.

Der blaue und der runde Dämon griffen gleichzeitig von zwei Seiten

an.

Angel trat nach dem dicken Ball und vermied sorgsam die nadelspitzen

Zähne. Der große Blaue kam weit ausholend näher und traf Angel mit
den Fortsätzen auf seinem Handrücken an der rechten Wange, die sofort
aufplatzte. Angel schlug den Arm seines Gegners zur Seite und landete
einen linken Haken in seine Eingeweide. Er klappte zusammen.

Angel ließ von ihm ab und erwischte den dicken Kugeldämon, dessen

Zähne nach ihm schnappten und geiferten, an seinem kurzen, nutzlosen
Arm. Ruckartig zog er daran und brachte den Dämon damit aus dem
Gleichgewicht. Angel zog noch einmal und der Dämon fing tatsächlich
an zu rollen. Rasch machte Angel einen großen Satz über ihn hinweg,
landete hinter ihm und stieß ihn mit einem kräftigen Tritt seinem blauen
Partner in den Weg.

Einen Augenblick lang sah es so aus, als könnte der blauhäutige

Dämon den Aufprall abfangen, aber die Wucht des rollenden Dämons
war doch zu groß, und sie stürzten beide über den Rand des Canons in

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die Tiefe. Einen Augenblick später war auch schon zu hören, wie sie mit
lautem Getöse durch die Äste der Bäume krachten.

Angel hoffte, sie zerquetschten beim Aufschlagen noch ein paar der

menschlichen Soldaten dort unten.

Aber schon wandte er seine Aufmerksamkeit wieder Mister Crook und

dem Maelabog zu. Sie waren immer noch da und immer noch
bedrohlich, aber er konnte sich nicht die ganze Nacht mit ihnen aufhalten
– es waren ja noch mehr Leute da draußen, zweifelsohne auch noch mehr
Armbrustschützen. Schließlich wussten sie, dass es sich bei ihrer Beute
um einen Vampir handelte.

Mister Crook aber sah Angel nicht einmal an. Er stand neben dem

Maelabog, dessen Haut ihr Aussehen bedrohlich veränderte, und legte
den Kopf schräg, als lausche er. Angel konnte jedoch nur das schwache
Geräusch hören, das die sich drehenden Knochen verursachten – und
hoffte, der Anblick verfolgte ihn nicht in seinen Träumen, wenn diese
lange Nacht endlich zu Ende sein sollte.

Schließlich hob Mister Crook den Kopf. »Sie sagt, du hast Recht«,

erklärte Mister Crook. »Mordractus ist weg. Er ist in der Zwischenwelt.«

»Sie steht mit ihm in Kontakt?«, fragte Angel erstaunt. »Gute

Fernverbindung!«

»Schon wieder machst du dich lustig. Sie steht mit der Zwischenwelt

in Kontakt, wie du es ausdrückst, nicht mit Mordractus selbst. Er ist
nicht in der Lage zu kommunizieren.«

»Wohl kaum.«
»Unser Kampf ist beendet«, verkündete Mister Crook. »Wir haben

nichts mehr mit dir zu schaffen.«

»Und die Tatsache, dass ich zwei von euch vom Berg gestoßen habe,

spielt nun keine Rolle mehr?«

»Wir waren hier, um einen Job für Mordractus zu erledigen«, sagte

Mister Crook. »Aber Mordractus benötigt unsere Dienste nicht länger.«

»Leih-Dämonen, was? Und da jetzt die Prämien ausbleiben,

interessiert euch die Sache nicht mehr.«

»Das ist deine Interpretation.«
»Und was ist mit den menschlichen Soldaten von Mordractus?«
»Für die können wir nicht sprechen«, entgegnete Mister Crook. »Aber

wir werden sie über das Schicksal ihres Arbeitgebers informieren.«

»Ich hoffe, sie sehen die Sache genauso wie ihr.«
»Sie waren bezahlte Angestellte.«
»Das habe ich vermutet«, sagte Angel. »Mordractus war zwar

verrückt, aber er hat wenigstens an etwas geglaubt. Der Rest von euch
war nur hinter dem Geld her.« Er rieb sich die Wunde am Arm, die noch

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nicht ganz verheilt war. »Das ist noch widerwärtiger als sein Versuch,
mein Hirn zu kochen.«

»Darüber werden wir nicht mir dir streiten«, sagte Mister Crook.
»Unsere Ansichten differieren.«
»Dann müssen wir uns wohl unterschiedliche Meinungen zugestehen«,

sagte Angel. »Kein Problem für mich.«

Er drehte sich um und lief auf die Vorderseite des Hauses zu. Dort

musste es eine Einfahrt geben, und vielleicht stand dort auch ein Auto,
das er sich ausleihen konnte. Den Dämonen den Rücken zu kehren
machte ihn nervös, aber er wollte sie beim Wort nehmen. Sie waren
letztendlich nur angeheuert gewesen, nichts weiter.

Er war gerade in der Einfahrt angekommen, als ein Auto auf ihn

zugerast kam. Wie angewurzelt blieb er im Scheinwerferlicht stehen.

Hoffentlich wartete kein neuerlicher Kampf auf ihn! Angel war am

Ende seiner Kräfte. Aber er musste nehmen, was kam.

Das Auto bremste, hielt neben ihm an, und die Beifahrertür ging auf.

Angel machte sich auf alles gefasst.

»Das steht dir aber richtig gut!«, rief Cordelia und kletterte aus dem

Fahrzeug. »Geschmückt mit Ästen, Blättern und Zweigen – ein echter
Naturbursche. Wenigstens im Augenblick. Und die Platzwunden in
deinem Gesicht geben dem Ganzen eine dramatische Note, finde ich.
Das hast du wirklich hübsch arrangiert.«

Doyle stieg auf der Fahrerseite aus.
»Du hattest tatsächlich Recht, Cordy«, sagte er. »Angel benötigt

offensichtlich unsere Hilfe. Er ist ja regelrecht von Feinden umzingelt!«

»Ihr Witzbolde!«, meinte Angel seufzend. »Das hat mir gerade noch

gefehlt!« Er öffnete die hintere Wagentür und verzog sich auf die
Rückbank. »Kann einer von euch das Ding fahren?«, fragte er. »Ich muss
dringend ein bisschen schlafen.«

Cordelia kletterte wieder auf den Beifahrersitz. Sie klappte die

Sonnenblende herunter, nahm den dort befestigten Spiegel ab und reichte
ihn Angel nach hinten. »Sieh es dir doch mal... ach, warte«, sagte sie.
»Ist ja auch egal. Du musst es mir einfach glauben. Du siehst absolut
lächerlich aus.«

Cordy hatte die Lage natürlich wieder einmal voll erfasst. Bei ihr war

eben alles eine Frage des Aussehens. Angel musste unwillkürlich
grinsen.

Doyle wendete den Wagen und als sie die Einfahrt hinunterfuhren,

brüllten sie alle drei vor Lachen.

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18




Nachdem Doyle auf eine asphaltierte Straße abgebogen war, ließen sie
rasch das Haus hinter sich, das Mordractus gemietet hatte.

Angel streckte sich auf der Rückbank aus und schloss die Augen.
»Willst du uns nicht erzählen, um was es eigentlich ging?«, fragte

Doyle. »Wir haben uns Sorgen um dich gemacht, ehrlich!«

»Das weiß ich zu schätzen, Doyle«, entgegnete Angel.
»Ich habe sogar meinen Job hingeschmissen, um dich zu suchen«,

ergänzte Cordelia.

»Auch das weiß ich zu schätzen, Cordy.«
»Ist auch besser so. Denn ich glaube, das letzte Mal, dass du mir einen

Gehaltsscheck für meine Arbeit bei Angel Investigations gegeben hast,
ist schon sehr lange her – es ist, genau genommen, noch nie
vorgekommen!«

»Ich werde dir etwas von dem Geld geben, das ich von Jack Willits

bekomme.«

»Arbeitest du noch für ihn?«
Angel dachte nach. »Das hängt wohl davon ab, ob Karinna noch lebt.«
»Ich habe nichts Gegenteiliges in den Nachrichten gehört«, sagte

Cordelia.

»Du guckst doch gar keine Nachrichten«, bemerkte Doyle.
»Ich bitte dich! Das hätte doch in der Zeitung gestanden. Und die

Leute auf dem Filmgelände hätten davon gesprochen.«

»Eins zu null für dich!«, meinte Doyle.
»Fahr mich nach Bel Air, Doyle!«, sagte Angel plötzlich. »Mein Auto

steht bei den Willits und ich möchte nach Karinna sehen. Und schalte
doch mal das Radio ein! Mal hören, ob es was Neues in den Nachrichten
gibt.«

»Was denn zum Beispiel?«, fragte Cordelia. »Du siehst doch aus, als

hättest du den Kampf gewonnen. Bestimmt nur knapp, aber immerhin
stehst du noch. Zumindest standest du noch, als wir dich gefunden
haben.«

»Ich glaube, ich habe gewonnen«, bestätigte Angel. »Mordractus ist

weg.«

»Mord ... wer?«

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»Stimmt ja, davon hast du keine Ahnung! Mordractus war ein

alternder irischer Magier, der aus meinem Gehirn Suppe machen wollte,
um einen alten einäugigen Totengott heraufzubeschwören.«

»Hör mal, Angel, wenn du es uns nicht erzählen willst, sag es lieber

gleich!« Cordelia war empört. »Du musst dir keine lächerlichen
Geschichten ausdenken.«

»Sorry«, sagte Angel. »Ich behalte es wohl lieber für mich.«
Doyle fummelte an dem Radioknopf und fand endlich einen

Nachrichtensender. »... der Markt schloss heute mit neunzig Punkten
Gewinn«, berichtete der Sprecher. »Weitere Börsennachrichten nach
einer kurzen Unterbrechung. Wir schalten erst noch einmal in die
Innenstadt zu meinem Kollegen, der direkt vor der Western Standard
steht.«

»Ach, ich hätte doch zu gern gewusst, wie meine Aktien stehen - wenn

ich welche hätte«, meinte Cordelia.

»Ruhe!«, zischte Angel.
»Tut mir Leid.«
»... Bankräuber halten nun schon seit fast zwei Stunden Police

Detective Kate Lockley als Geisel fest. Sie haben Forderungen gestellt,
die das Polizeipräsidium nicht öffentlich bekannt geben will. Der
Pressesprecher teilte lediglich mit, man verhandele über die Forderungen
und es würde alles Menschenmögliche getan, um die Sicherheit von
Detective Lockley zu gewährleisten.«

»Kate?« Angel schreckte auf.
»Das hat er gerade gesagt«, bestätigte Doyle.
»Ab in die Innenstadt!«, sagte Angel. »Schnell! Vergiss Bel Air!«
»Angel, ich wette, da wimmelt es nur so von Bullen«, sagte Doyle.

»Scharfschützen, Unterhändler und so weiter. Du wirst dort gar nichts
ausrichten können.«

»Fahr einfach, Doyle!«
»Jawoll, Boss!«, entgegnete Doyle. Alle drei lauschten schweigend der

Reportage.

Kate Lockley war Angels Vertraute im Los Angeles Police

Department – was nicht notwendigerweise viel zu besagen hatte, denn
Cops und Privatdetektive waren in der Realität nicht halb so oft
miteinander befreundet wie es im Fernsehen dargestellt wurde. Aber
Kate war immer ehrlich zu ihm gewesen. Sie hatte natürlich keine
Ahnung, dass Angel ein Vampir war, und er hoffte, dabei würde es auch
bleiben. Die Menschen neigten dazu, relativ ablehnend auf diese
spezielle Information zu reagieren.

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Aber er mochte Kate und hatte Achtung vor ihren Fähigkeiten, und er

wollte, dass auch sie ihn mochte. Deshalb würde er auch alles
Erdenkliche tun, um die Vampirgeschichte unter Verschluss zu halten.

Und nun war sie als Geisel in der Gewalt von Killern. Angel wusste

nicht, wie es dazu hatte kommen können. Aber eins wusste er genau: Sie
war in großer Gefahr. Die Bankräuber wussten nun darüber Bescheid,
dass ihre Geisel ein Cop war – schließlich war im Radio ganz offen
davon die Rede gewesen. Das konnte nur Gefahr bedeuten. Er musste ihr
einfach helfen.

Doyle bog auf den Hollywood Freeway ab, um auf eine weiter südlich

verlaufende Autobahn zu gelangen, die 110. So spät in der Nacht lief der
Verkehr bemerkenswert glatt und sie kamen sehr schnell vorwärts.

Bis kurz vor dem Santa Monica Freeway.
Dort offenbarte das Autobahnsystem von Los Angeles sein wahres,

hässliches Gesicht. Tatsache war einfach, dass es nicht mal nachts ein
paar Sekunden gab, in denen gar kein Verkehr herrschte. Jederzeit
konnte aus allen möglichen Gründen – oder auch völlig grundlos – ein
Stau entstehen.

Doyle sah die Bremsleuchten vor sich und verlangsamte das Tempo.

Einen Augenblick später kamen die Bremslichter zum Stehen. Doyle
hielt ebenfalls an.

»Oh nein!«, sagte Angel ungeduldig.
»Das ist so 'ne Sache«, meinte Doyle. »Das ewige Geheimnis des

Straßenverkehrs.«

»Gibt es noch einen anderen Weg? Über die Hauptstraßen?«
»Den hätte es gegeben, wenn wir an der letzten Ausfahrt rausgefahren

wären«, sagte Doyle. »Aber das haben wir nicht getan, und bis zur
nächsten ist es noch sehr weit.«

»Was ist eigentlich los in dieser Stadt?«, fragte Angel. »Wo wollen

alle diese Leute nur mitten in der Nacht hin?«

»Du hältst dich wohl für die einzige Nachteule hier?«, meinte

Cordelia. »L.A. lebt doch gar nicht richtig, bevor die Sonne untergeht.«

»Ich dachte, das wäre New York.«
»New York ist die Stadt, die niemals schläft«, erklärte Cordelia. »Aber

Los Angeles ist die Stadt, die den ganzen Tag über am Strand oder am
Pool döst. Hier wird tagsüber geschlafen. Wie für dich gemacht, Angel!«

Ein großer Truck kam holpernd rechts von ihnen zum Stehen und vor

ihnen stieß ein alter Ford Thunderbird giftige Rauchwolken in die Luft.
Links kreischte ohrenbetäubend das Radio eines Pickups, während der
Fahrer, ein weißer Jugendlicher mit Dreadlocks, der nicht älter als

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siebzehn sein konnte, auf seinem Sitz hopste und mit den Fingern gegen
das Lenkrad trommelte.

Angel sah sich frustriert um.
»Tut mir Leid, Mann«, sagte Doyle. »Da ist nix mehr zu machen. Wir

sitzen fest.«

»Ihr sitzt fest«, entgegnete Angel und öffnete die Tür. »Ich nicht!«
»Angel!«, rief Cordelia. »Wohin willst du?«
»Wir sehen uns dann im Büro!«, sagte Angel.
»Glaubst du, du schaffst es zu Fuß schneller?«, rief Doyle ihm

hinterher. Dann blickte er auf die unendliche Autoschlange vor sich. »Na
ja, die Wette gewinnt er vermutlich.«

Sie waren zu fünft. Zu sechst, wenn man den Fahrer mitrechnete.

Und den musste Kate wohl dazurechnen, denn auch er hatte eine

Waffe in der Hand gehabt.

Also sechs. Nur Männer, allesamt Kaukasier zwischen

schätzungsweise fünfundzwanzig und fünfunddreißig. Sie trugen
Arbeitskleidung -Jeans, Sweatshirts, Arbeitsstiefel, alles in dunklen
Farben. Die Männer machten alle einen recht durchtrainierten und
gesunden Eindruck – das kam vermutlich vom Schaufeln. Davon bekam
man einen kräftigen Oberkörper.

Sie hatten Kate in ein Büro tief im Inneren des Bankgebäudes

gebracht. Zwei von ihnen waren bei ihr geblieben – der Spitzbärtige und
ein junger Typ mit stechenden blauen Augen und lockigem blondem
Haar. Ein typischer Surfer, wie Kate fand. Er hatte einen kräftigen
Unterkiefer und einen breiten freundlichen Mund. Unter anderen
Umständen hätte sie ihn für gut aussehend gehalten.

Aber in dieser Situation konnte sie leider nicht über die Beretta

hinwegsehen, die er in der Hand hielt. Seine Knöchel hoben sich weiß
gegen den stahlblauen Griff ab, und er zitterte leicht. Wahrscheinlich
hatte er nicht im Traum damit gerechnet, jetzt in der Bank festzusitzen –
mit dem halben LAPD draußen vor der Tür.

Die meisten Bankräuber begingen den Fehler, es für unwahrscheinlich

zu halten, dass man sie eines Tages schnappte. Aber die meisten wurden
geschnappt. Bankraub war ein hochkarätiges Verbechen und es gab
immer etliche Leute, die etwas gesehen hatten und später als Zeugen
aussagen konnten. Kate versuchte, sich zu beruhigen. Diese Typen
würden nicht mehr lange frei herumlaufen, was auch immer in dieser
Nacht noch geschehen würde.

Natürlich war es besser, wenn es ihr gelang, die Ganoven persönlich

hinter Schloss und Riegel zu bringen. Das würde auch ihrem Dad sehr

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gefallen – er war gerade in den Ruhestand getreten und sähe es sehr gern,
wenn seine Tochter eine erfolgreiche Karriere machte; nun, da er die
eigene hinter sich hatte. Wenn sie jetzt starb, nahm der Arbeitstag ein
nicht ganz optimales Ende.

Aber es lag nicht mehr in ihrer Hand, das wusste Kate. Sie hatte ihre

Waffe einem zum Äußersten entschlossenen Verbrecher ausgehändigt.
Die Kollegen hatten das Gebäude umstellt und die Ganoven waren drin –
mit ihr. Sie bekamen es bestimmt mit der Angst zu tun, denn sie waren
umzingelt. Mittlerweile hatten sie sich in drei Gruppen aufgeteilt: Zwei
von ihnen waren im vorderen Teil der Bank und beobachteten, ob die
Polizei nicht dichter an das Gebäude heranrückte. Zwei waren zurück in
den Tunnel gegangen, um mögliche Eindringlinge aus dieser Richtung
abzuwehren. Und zwei waren bei Kate geblieben. Ihr Job war es, sie zu
töten, wenn einer der anderen den Befehl dazu gab.

Kate stellte sich vor, wie es mittlerweile vor der Bank aussehen

musste. Sie war oft genug selbst dabei gewesen. Für das ungeschulte
Auge wirkte so ein Einsatz wie das absolute Chaos. Überall waren
Polizeiautos; sie standen kreuz und quer auf der Straße und auch auf den
Gehsteigen, manche im rechten Winkel zueinander. Die meisten hatten
Blaulicht und Scheinwerfer eingeschaltet, zumindest die Fahrzeuge, die
direkt vor der Bank standen. Mittlerweile hatte man auch Flutlichter auf
Metallständern aufgestellt, die von Generatoren mit Strom versorgt
wurden, und auch sie waren auf das Bankgebäude gerichtet. Hinter
diversen Autos, Briefkästen, Sitzbänken, in Eingängen und Fenstern –
hinter allem, was eine gewisse Deckung bot – lagen die Männer und
Frauen des LAPD mit ihren Waffen auf der Lauer. Manche trugen
kugelsichere Westen; eine erdrückende, gut zehn Kilo schwere Montur,
die in heißen Sommernächten einer Ein-Mann-Sauna gleichkam. In
dieser Nacht war es zum Glück so kühl geworden, dass die Beamten sich
nicht die Seele aus dem Leib schwitzen würden. Bequem war ihre
Schutzkleidung deshalb noch lange nicht.

Aber sie hielt die Kugeln ab, und darauf kam es ja an.
Im Hintergrund stand irgendwo ein Wohnmobil. Darin waren Telefon

und Funk, ein Computer und ein oder zwei Beamte untergebracht, die für
die Verhandlungen mit den Geiselnehmern zuständig waren. Kate
vermutete, dass es zwei waren, denn da sie involviert war, hatte das
Polizeipräsidium von L.A. bestimmt einen von den eigenen Leuten vor
Ort haben wollen. Und da es sich um einen Bankraub handelte, der
wiederum in den Verantwortungsbereich des Staates fiel, war der
Unterhändler des FBI bestimmt auch dabei.

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Vor wenigen Augenblicken hatte der Spitzbärtige jedenfalls einem der

beiden eine ganze Litanei von Obszönitäten ins Ohr geschrien und dann
den Telefonhörer auf die Gabel geknallt. Er saß auf dem Drehstuhl hinter
einem Schreibtisch, auf den er mit der flachen Hand eindrosch.

»Mehr Zeit!«, brüllte er. »Sie wollen mehr Zeit!«
»Dabei wollen wir doch nur zwei Autos«, sagte der Surfer. Er lehnte

an der Wand in der Nähe der Tür und hielt Ausschau, ob sich seine
Kumpel von irgendwoher meldeten. Kate saß auf einem unbequemen
Besucherstuhl mit kerzengerader Rückenlehne.

»War das Riddle oder Hopgood?«, fragte Kate.
»Wovon reden Sie?«, fragte der mit dem Spitzbart.
»Der Typ am Telefon«, meinte Kate. »Riddle ist unser Mann vom

LAPD. Hopgood ist der FBI-Mann in Los Angeles. Er ist gut. Er macht
das schon seit den späten Siebzigern. Ich habe nur ein bisschen mehr für
Riddle übrig, wissen Sie. Eigene Mannschaft.«

»Ich glaube, es war Hopgood«, sagte der Spitzbärtige, nun ein wenig

ruhiger. »Hat gesagt, er war' ein alter Mann.«

»Dann ist es Hopgood. Der geduldigste Mensch, der je auf Erden

gelebt hat, glaube ich.« Sie war froh, das Gespräch in diese Richtung
gelenkt zu haben. Zu den Aufgaben des Unterhändlers gehörte es, den
Geiselnehmern begreiflich zu machen, dass sie Menschen in ihrer
Gewalt hatten und keine bloße Handelsware. Kate konnte nur beten, es
möge ihm gelingen. Und sie wollte umgekehrt ihren Teil dazu beitragen,
dass die Ganoven auch den Unterhändler als Menschen wahrnahmen.

»Warum brauchen die so viel Zeit, um ein paar blöde Autos zu

besorgen?«, fragte der Surfer.

»Denken Sie doch mal nach!«, sagte Kate. »Sie haben nach Autos

gefragt, die nicht auffallen, richtig? Da können die Ihnen ja schlecht
Polizeiautos geben, und das ist alles, was sie da draußen zu Verfügung
haben. Sie können Ihnen auch nicht Ihren alten Wagen zurückgeben –
der ist vermutlich schon längst abgeschleppt und auseinander genommen
worden und wird nach Fingerabdrücken untersucht. Also müssen die
Kollegen irgendwelche minderwertigen Autos organisieren, die kein
großer Verlust sind, wenn sie früher oder später darauf schießen müssen.
Und von der Straße oder vom Abschlepp-Parkplatz können sie sich ja
schlecht welche holen – da würde sich gewiss der ein oder andere Bürger
beschweren. Also dauert es doch eine ganze Weile, bis man Ihnen die
Fahrzeuge zur Verfügung stellen kann. Warum haben Sie eigentlich
nicht nur eins gefordert?«

»Wir wollen uns trennen, falls wir verfolgt werden«, erklärte der

Surfer.

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»Falls? Aber selbstverständlich werden Sie verfolgt!«
»Besser nicht!«, sagte der Spitzbärtige stirnrunzelnd. »Wir haben

denen gesagt, wir wollen freie Straßen und keine Verfolgung.«

»Sehen Sie es doch einmal aus der Perspektive der Polizei«, sagte

Kate. »Sie werden wegen Mordes gesucht, und nun haben Sie auch noch
einen Cop gekidnappt. Glauben Sie, unter diesen Umständen kann man
Sie einfach laufen lassen?«

»Wenn nicht, gibt es bald ein weiteres Polizistenbegräbnis«,

entgegnete der Spitzbärtige. »Spielt man eigentlich immer noch auf
diesem ... wie heißt das? – Dudelsack, auf Bullenbeerdigungen?«

»Bei meiner schon«, sagte Kate. »Allerdings kriegen Sie, wenn Sie

mich töten, bei Ihrer eigenen wohl keine Musik.«

Angel lief über den Seitenstreifen der Autobahn. Das war der Geruch
von Los Angeles, dieser Gestank der Auspuffgase, den einige Hundert
wartende Autos in die Luft pusteten: verderbt, schmutzig, giftig, aber
voller Hoffnung: Der Verkehr würde sich bestimmt bald auflockern und
Bewegung ins Spiel bringen, und schon bald konnte jeder wieder
losrasen in seine Zukunft in der goldenen Stadt am Meer.

Zunächst bemerkten nur einige wenige Leute die dunkle Gestalt, die

sich rasch durch die Nacht fortbewegte. Aber dann wurde Angel einen
Sekundenbruchteil lang vom Scheinwerferlicht eines Wagens erfasst, der
mitten im Spurwechsel hatte anhalten müssen, und jemand rief ihm
etwas hinterher.

Als er weiterlief – und sich sehnlichst die nächste Ausfahrt

herbeiwünschte – bemerkten immer mehr Menschen seinen Lauf, und
der vereinzelte Ruf schwoll an zu einem einzigen Jubelgeschrei der
Leute, die in ihren Autos saßen oder sich draußen die Beine vertraten,
und der Jubel eilte ihm wie eine Woge voraus. Die Insassen der Wagen
weiter vorn fingen tatsächlich schon an, nach ihm Ausschau zu halten.

Bis er die Ausfahrt erreichte, klangen die Anfeuerungsrufe wie ein

einziges Gebrüll. Worte konnte man nicht verstehen; wahrscheinlich
hatte das Geschrei auch gar nichts zu bedeuten. Die Menschen wollten
lediglich ihrer Begeisterung darüber Ausdruck verleihen, dass einer es
nicht länger hingenommen hatte, im Stau festzustecken. Diese Leute
würden ihre Autos jedoch nie verlassen. Sie wussten, dass das, was auch
immer die Fahrbahn versperrt hatte, früher oder später aus dem Weg
geräumt sein würde. Und dann konnten sie weiterfahren. Aber dieser
Kerl, dieser Typ in dem langen schwarzen Mantel, von dem sie ihren
Freunden und Familien erzählen würden, der hatte sich nicht damit
abgefunden. Der war gelaufen.

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Und er lief noch weiter und lief und lief.
Nun konnte Angel sehen, was den Stau verursacht hatte: ein

umgekippter Möbelwagen. Er hatte sich überschlagen und war quer zur
Fahrbahn liegengeblieben. Der gesamte Inhalt – all die Besitztümer
irgendeiner vom Unglück verfolgten Familie – war über die Autobahn
verstreut. Die Fahrer des Möbelwagens, andere Verkehrsteilnehmer und
auch Polizeibeamte, versuchten mit vereinten Kräften, alles
einzusammeln. Sie hatten bereits angefangen, auf dem Seitenstreifen
eine Wohnzimmerecke mit einem großen Sessel, einer Stehleuchte und
einem Kaffeetisch einzurichten. Aber alle unterbrachen ihre Tätigkeit,
als sie das Gebrüll der Autofahrer hörten, und blickten Angel entgegen.
Als er vorbeilief, fielen auch sie in die Anfeuerungsrufe ein und
klatschten und applaudierten, als handele es sich um einen großen
Marathonlauf.

Dann erreichte Angel die Ausfahrt kurz hinter der Unfallstelle. Die

Straße war vollkommen leer und dunkel, und Angel ließ die Rufe seines
Publikums hinter sich. Innerhalb weniger Augenblicke, nachdem er die
Hauptstraße unter der Autobahn erreicht hatte, hörte er nur noch ganz
normalen Verkehrslärm.

Er rannte weiter.


»Glauben Sie wirklich, die lassen uns nicht entkommen?«, fragte der
Surfer.

»Natürlich nicht«, entgegnete Kate.
»Halt die Klappe!«, fuhr der Spitzbärtige auf. »Das muss sie doch

sagen, Mann. Bist du eigentlich blöd oder was?«

»Ich bin nicht blöd«, sagte der Surfer. »Ich war schließlich auf der

Schule. Ich hab'nen ordentlichen Abschluss.«

»Ja, in Begriffsstutzigkeit«, entgegnete der Spitzbärtige. »Sprich

einfach nicht mit der Lady, okay?«

»Aber du hast...«
»Ich bin derjenige, der mit dem Unterhändler redet, oder? Ich bin der,

der dafür sorgt, dass wir bekommen, was wir wollen, damit wir
verschwinden können. Wenn ich also mit ihr sprechen will, dann kann
ich das selbst tun.«

»Ja, sicher«, lenkte der Surfer ein. »Wie auch immer.«
»Sie müssen ja nicht auf mich hören«, drängte Kate. »Fragen Sie

Hopgood! Fragen Sie ihn, wie Ihre Chancen da draußen stehen. Die
Hälfte der Cops von L.A. wartet nur auf eine gute Ausrede, um auf Sie
schießen zu können. Sie haben nur noch eine Chance, wenn Sie mit erho-
benen Händen mit mir zusammen rausgehen. Wenn Sie unbewaffnet

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168

rausgehen und sich ergeben, beruhigen Sie nicht nur die Cops. Auch der
Richter wird milder gestimmt sein. Richter sind nämlich ansonsten
knallhart, was Polizistenmörder angeht.«

»Sie haben es eben selbst gesagt, Cop«, meinte der Spitzbärtige. »Wir

werden ja schon wegen Mordes gesucht. Was haben wir da noch zu
verlieren?«

»Gibt es Beweise?«, fragte sie. »Haben Sie Fingerabdrücke auf den

Leichen oder auf der Munition hinterlassen? Benutzen Sie noch
dieselben Waffen?«

Panik machte sich im Gesicht des Surfers breit.
»Oh, nein!«, sagte Kate und war plötzlich sehr bestürzt, wie

ahnungslos diese Leute wirklich waren. »Sie benutzen immer noch
dieselben Waffen, mit denen Sie bereits jemanden erschossen haben?
Was haben Sie sich nur dabei gedacht!«

»Hey, Moment mal!«, fuhr der Spitzbärtige auf. »Ich mische mich ja

auch nicht in Ihr Geschäft ein!«

»Aber ich habe mehr Ahnung von meinem Geschäft als Sie von

Ihrem«, entgegnete Kate. »Eine Waffe, mit der man jemanden getötet
hat, muss man sofort verschwinden lassen. Kommen Sie, das liegt ja
wohl auf der Hand!«

»Halten Sie einfach den Mund«, raunzte der Spitzbärtige sie an. »Ich

will keinen Ton mehr von Ihnen hören, verstanden?«

»Verstanden«, meinte Kate. »Aber wirklich ...«
»Mund halten!«
Kate hielt den Mund. Sie ließ die beiden eine Weile im Saft ihrer

eigenen Dummheit schmoren. Schon bald klingelte das Telefon wieder
und Hopgood würde die Ganoven bearbeiten. Mit seiner Hilfe erlebte sie
vielleicht doch noch den nächsten Morgen!

Das war eine verlockende Aussicht.
Aber dann drangen plötzlich Geräusche von Aufruhr in das Büro und

setzten ihrer Träumerei ein abruptes Ende. Rufe ertönten und dann gab
es einen Knall, der nur eines bedeuten konnte: Ein Schuss war gefallen.
Es gab einen Schrei und dann wurde jemand durch den Flur geschleppt.

»Was ist los?«, rief der Surfer in den Korridor.
»Ist schon in Ordnung!«, antwortete einer seiner Kollegen. »Wir haben

nur 'ne neue Geisel!«

Eine neue Geisel? Wer konnte das sein?, fragte sich Kate.
Das Telefon auf dem Schreibtisch klingelte.
»Das wird Hopgood sein«, meinte sie. »Er will bestimmt wissen, was

das für ein Schuss war. Und ob es mir gut geht.«

»Hopgood kann warten«, sagte der Spitzbärtige.

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»Aber nicht zu lange«, sagte Kate. »Wenn er glaubt, ich sei tot, hält

die Polizei nichts mehr davon ab, die Bank zu stürmen.«

Der Ganove nahm knurrend den Hörer ab. »Ihr geht es gut!«, bellte er.

Dann streckte er Kate den Hörer hin und befahl: »Sagen Sie's ihm!«

»Alles klar!«, rief Kate. »Ein Schuss wurde abgefeuert, aber ich weiß

nicht, auf wen. Mir geht es gut!«

Der Spitzbärtige nahm den Hörer zurück. »Haben Sie das

verstanden?«, fragte er. »Gut. Ich habe nämlich zu tun.« Er knallte den
Hörer wieder auf die Gabel.

Aus dem Flur tauchte ein weiterer Bankräuber auf. Er war stämmig

und hatte eine dicke runde Nase in der Mitte eines dicken runden
Gesichts und einen merkwürdig schmalen Mund. Er zog jemanden am
Arm hinter sich her und schubste diesen Jemand durch die Tür.

»Hab' euch ein Geschenk mitgebracht«, sagte er. »Aus dem Tunnel.«
Kate schnappte nach Luft.
Es war Glenn Newberry.

























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19






Es war nicht schwer zu erraten, wo die Party stattfand.

So viele Menschen waren in diesem Viertel um eine solche Uhrzeit

bestimmt schon lange nicht mehr auf der Straße gewesen - vermutlich
noch nie, dachte Angel. Es war ein großes Straßenfest, abgesehen davon,
dass sich die Einwohner seltsamerweise nur mit Schlafanzügen, Jacken
oder Morgenmänteln bekleidet auf der Straße tummelten; viele trugen
kein Hemd oder hatten sich nur hastig Jeans und T-Shirt übergezogen.
Allein die Polizisten – etliche Dutzend, vielleicht hundert, schätzte An-
gel, waren gekleidet, wie es dem festlichen Anlass gebührte. Sie trugen
Uniformen, manche kugelsichere Westen, manche Helme, und auch ein
paar Scharfschützen waren dabei.

Überall Scheinwerfer. Überall Autos. Die Presse war natürlich auch

schon da und wurde vor der Bank von einer Phalanx von Gesetzeshütern
zurückgedrängt. Hubschrauber kreisten in der Luft und ihre Rotorblätter
lieferten den Soundtrack zu der chaotischen Kulisse.

Angel bewegte sich wie ein Schatten durch die Menge und schlüpfte

unbemerkt durch die Kette der Polizisten. Er sah sich nach jemandem
um, den er kannte, und entdeckte schließlich Trevor Lockley, Kates
Vater. Angel hatte Kate zu seiner Abschiedsparty begleitet, um ihr einen
Gefallen zu tun und ihn dort kennen gelernt. Lautlos trat er hinter ihn.

»Hallo, Mister Lockley«, sagte er.
Trevor drehte sich um, blinzelte irritiert, erkannte dann aber sein

Gegenüber.

»Angel«, sagte er. »Kate ist da drin!«
»Weiß ich schon. Wie läuft die Sache?«
»Sie halten mich auf dem Laufenden«, sagte Trevor angespannt. »Ein

Unterhändler redet gerade mit den Gangstern. Er ist vom FBI, nicht von
uns. Das FBI und das LAPD ist hier. Die Bank ist umstellt, aber wir
können nicht rein, ohne Kates Leben zu gefährden. Vor ein paar Minuten
gab es einen Schuss zu hören, aber niemand weiß, wer geschossen hat
oder warum. Der Unterhändler hat danach mit Kate gesprochen und es
ging ihr gut, also hat sie die Kugel jedenfalls nicht abbekommen.«

»Da bin ich aber froh.«
»Ich mache mir ziemliche Sorgen, das kann ich Ihnen sagen!«

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»Ich weiß.« Angel legte Kates Vater eine Hand auf die Schulter. »Aber

sie ist eine toughe Lady.«

»Das ist sie«, pflichtet ihm Trevor bei. »Dazu habe ich sie erzogen.«
»In der Tat. Weiß man schon, von wo sie den Tunnel gegraben

haben?«

»Von einer verlassenen Tankstelle hier um die Ecke«, sagte Trevor.

»Das FBI hat sie schon umzingelt, aber sie können nicht rein. Die
Gangster überwachen den Tunnel bestimmt genauso wie den Eingang
der Bank. Wenn nur jemand hinein könnte und ...« Er sah sich um.

Angel war verschwunden.


Die Erdschichten unter Los Angeles waren mit allen möglichen Tunneln
unterhöhlt. Es gab Abwasserkanäle, Schächte für Stromleitungen,
Überreste eines alten U-Bahn-Netzes und die Anfänge eines neuen ...
Tausende Meilen unterirdischer Durchgänge und kein Mensch kannte sie
alle.

Angel kannte immerhin mehr als die meisten. Nachdem er sich

orientiert hatte, wurde ihm klar, dass die Bankräuber nur einen halb so
langen Tunnel hätten graben müssen, wenn sie sich mit dem
Kanalsystem im Viertel ausgekannt hätten.

Der Gullydeckel, den er als Einstieg brauchte, befand sich genau vor

der Bank.

Aber dort waren auch etwa zweihundert Polizisten versammelt. Also

ging Angel um die nächste Ecke, die Straße hinunter und um eine
weitere Ecke. Nun musste er unterirdisch einen Block mehr zurücklegen,
aber diese Zeit konnte er leicht wieder aufholen. Und hier war niemand;
die ganze Aktion fand auf der nächsten Straße statt.

Er hob den Kanaldeckel hoch und kletterte die Eisensprossen hinunter,

die in den Schacht einbetoniert waren, und schob den Deckel über sich
wieder an seinen Platz. Im Dunkeln stieg er weiter hinab in die Tiefe.

Denn das waren Abwasserkanäle nun einmal: dunkel. Die meisten

Leute brauchten, wenn sie es überhaupt mit den Gerüchen, den Ratten
und den gelegentlichen unterirdischen Bewohnern aufnehmen wollten,
immer noch eine Taschenlampe.

So etwas hatte Angel nicht nötig. Die Dunkelheit machte ihm schon

seit langem nichts mehr aus.

Als er am Ende der Leiter angekommen war, setzte er seine Füße auf

festen Boden – mehr oder weniger fest jedenfalls, denn er war mit einer
schleimigen Schicht von Moos und Pilzen, oder was auch immer
bedeckt. In Momenten wie diesen wünschte sich Angel, er hätte seinen

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Geruchsinn verloren, als er zum Vampir geworden war. Er blieb einen
Augenblick stehen und lauschte.

Alles war ruhig. Er wählte eine Abzweigung nach rechts, duckte sich

und begann seine Wanderung.

Special Agent Glenn Newberry saß auf dem Boden neben Kates Stuhl
und lehnte sich an die Wand. Seine Jacke war an der Schulter mit Blut
verschmiert; ein dunkler Fleck, der sich rasch ausbreitete.

»Sind Sie okay?«, fragte ihn Kate.
»Nein«, entgegnete er. »Hab' was abbekommen. Fühle mich ein

bisschen benommen.«

»Der Mann braucht einen Arzt!«, rief sie.
Der Spitzbärtige starrte sie an. Darin war er sehr gut. »Er bekommt

einen Arzt, wenn wir unsere verdammten Autos bekommen.«

»Was machen Sie überhaupt hier?«, fragte Kate Newberry. »Ich

dachte, Sie rufen Verstärkung und warten an der Tankstelle.«

Er beobachtete bedrückt die Gangster. »Hab' ich aber nicht«, sagte er.
»Nicht angerufen oder nicht gewartet?«
»Beides. Ich bin in den Tunnel gegangen. Ich wusste ja nicht, dass Sie

in der Zwischenzeit geschnappt worden sind, also dachte ich, ich könnte
die Kerle hinterrücks überfallen. Aber ich wurde bereits erwartet.«

»Dann gibt es jetzt zwei Geiseln. Zwei Köpfe sind besser als einer,

vermute ich.«

Special Agent Newberry lächelte nicht.
»Könnt ihr zwei Turteltauben mal den Mund halten?«, meinte der

Spitzbärtige. »Ich will kein Polizistengeschwätz mehr hören!«

»Sorry«, meinte Kate. »Ich bin sicher, die Gespräche von Bankräubern

sind anregender. Und die Geschichten vom Tunnelgraben erst!«

»Sie würden sich wundern«, entgegnete der Gangster.
»Mit Sicherheit.«


Als Angel die nächste Kreuzung erreichte, hörte er Stimmen. Er erstarrte
und drückte sich dann leise an die feuchte Wand des Abwasserkanals. In
diesem Rohr konnte er aufrecht stehen. Er hielt sich dicht an der Seite,
um nicht durch die braune Brühe waten zu müssen.

Zwei Männer sprachen im Flüsterton miteinander.
»... noch eine Stunde vielleicht«, sagte der eine. »Nicht länger.«
»Ich war mal bei einer in Kansas City, die hat vierzehn Stunden

gedauert«, entgegnete der andere. »Drei Geiseln wurden getötet, zwei
kamen mit dem Leben davon.«

Das klang nach FBI. Wenn die Angel entdeckten, war alles aus.

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Er schlich auf die Kreuzung zu und riskierte einen Blick um die Ecke.

Zwei Männer in blauen Windjacken mit großen weißen Buchstaben auf
dem Rücken: FBI. Sie hatten Waffen dabei und tragbare Scheinwerfer.

Und sie waren Angel im Weg.
Es sah allerdings nicht so aus, als wollten sie ihre Stellung so bald

aufgeben.

Also machte er wieder kehrt. Erneut musste er sich von seinem

eigentlichen Ziel entfernen. Er würde weiter vorn in den Kanal
einsteigen müssen. Das kostete ihn noch einmal fünfzehn Minuten.

Er wollte versuchen, es in zehn zu schaffen.
Jede Minute zählte.


»Der eine mit dem Spitzbart«, flüsterte Kate, »arbeitet oder arbeitete für
eine Hausmeisteragentur, die ihre Leute in der ganzen Stadt beschäftigt.
Er hat bestimmt schon die Hälfte der Banken von Los Angeles gesehen.«

»Ist das eine seriöse Agentur?«, fragte Newberry.
»Sicher. Aber trotzdem kann sie ab und zu auch mal ein faules Ei

einstellen. Vielleicht hatte der Kerl vorher noch keine Vorstrafen und ist
erst auf diese Idee gekommen, nachdem er so viel Zeit in Banken
verbracht hat. Vielleicht...«

»Schsch«, brachte sie Newberry zum Schweigen. Der Spitzbärtige war

wieder am Telefon.

»Das ist richtig«, bellte er. »Eine weitere Geisel. Ein FBI-Agent

namens Newberry. Er ist verwundet, aber es geht ihm gut.« Er drehte
sich zu Newberry um und hielt ihm den Hörer hin. »Sagen Sie Hopgood,
dass Sie in Ordnung sind.«

»Ich bin angeschossen!«, rief Newberry. »Ich lebe, aber ich verliere

Blut.«

»Er ist okay«, behauptete der Spitzbärtige. »Noch jedenfalls. Aber wir

sind das Warten allmählich leid, kann ich Ihnen sagen!« Er lauschte eine
Weile. »Nein, das ist nicht in Ordnung! Das dauert alles schon viel zu
lange! Wir haben jetzt zwei Geiseln und eine davon ist vom FBI. Ich sag
Ihnen mal was, Hoppy Hopgood: Entweder stehen innerhalb von zehn
Minuten die Autos vor der Tür und die Cops sind von der Straße oder
wir bringen Ihnen eine Geisel raus. Im Leichensack!«

Bösartig kichernd hängte er ein.
»Wollt ihr beiden schon mal Streichhölzer ziehen oder so?«, fragte er,


Angel hatte schon die Abwasserkanäle der ganzen Welt gesehen. So
berühmte wie die von Paris und New York – obwohl er dort nie einen
der legendären Alligatoren angetroffen hatte – und weniger berühmte

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und richtiggehend ekelhafte wie die in Rom, Prag oder New Orleans. In
Los Angeles waren sie guter Durchschnitt – außer den vielen
Zugangsmöglichkeiten sprach nicht viel für sie, aber sie waren weniger
übel als manch andere.

Als Angel sicher war, dass ihn die FBI-Männer nicht mehr hören

konnten, fing er an zu laufen. Es war gefährlich, sich so schnell in der
Finsternis zu bewegen. Trotz seiner guten Augen konnte sich ein
abgebrochenes Rohr oder eine simple lockere Aufhängung als enormes
Hindernis erweisen, wenn er mit dem Kopf dagegen prallte. Und er war
definitiv im Augenblick nicht auf der Höhe – die Ereignisse der
vergangenen Tage hatten ihn weitgehend erschöpft. Jeder Muskel
schmerzte, darunter einige, von deren Existenz er bislang nichts gewusst
hatte.

Aber er durfte keine Zeit verlieren, denn es hatte schon zu viele

Verzögerungen gegeben.

Diesmal stieg er etwa fünfzig Meter hinter der Kreuzung mit den FBI-

Agenten in den Hauptkanal. Wenn sie mit ihren Scheinwerfern in den
Schacht leuchteten, entdeckten sie ihn vermutlich. Er musste einfach
darauf bauen, dass sie zu beschäftigt mit dem Austausch ihres
Erfahrungsschatzes waren.

Er hielt sich so dicht an der Kanalwand wie möglich und hoffte das

Beste.

Fünfzig Meter vor ihm lag eine weitere Kreuzung, diesmal mit vier

Abzweigungen. Angel wollte nach rechts, um zu der Stelle zu gelangen,
von der aus sich die Bankräuber hinuntergegraben hatten. Mit Hilfe von
gutem Kartenmaterial hätten sie sich etwa siebzig Meter Tunnel ersparen
können – und ausgerüstet mit Spitzhacken und Schaufeln die Arbeit
einer guten Woche, vermutete er. Angel war überrascht, dass es noch
nicht zu einem Einsturz gekommen war, wenigstens nicht zu einem, der
genug Schaden angerichtet hatte, um in den Nachrichten erwähnt zu
werden.

Aber für Intelligenz waren die Ganoven vermutlich nicht zuständig –

sonst hätten sie ordentliche Jobs gehabt und sich nicht durch die
Hintertür ins Bankwesen schleichen müssen. Das war eben das Problem
bei Kriminellen – allen Comics und Schundromanen zum Trotz waren
sie nur selten von der schlauen Truppe.

Angel näherte sich vorsichtig der Kreuzung. Die Ganoven hatten

bestimmt irgendwo im Tunnel Wachen postiert. Sie mussten ja damit
rechnen, dass die Polizei eine Einheit hinunterschickte, um ihnen diesen
Weg abzuschneiden. Und die Polizei ging wiederum davon aus, dass die

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Ganoven solche Vermutungen hatten, und schickte die Einheit erst gar
nicht los.

Stattdessen stellte man wie das FBI ein paar Beamte im Kanalsystem

ab, um alle möglichen Ausgänge zu blockieren.

Mit Ausnahme der Umleitung, die Angel genommen hatte.
An der Kreuzung blieb er stehen und lauschte aufmerksam. Irgendwo

tropfte Wasser, und ganz schwach vernahm er die Geräusche der Straßen
über ihm.

Und er hörte jemanden atmen.
Er wagte einen Seitenblick nach rechts.
Da standen sie, am Ende dieses Kanalabschnitts. Zwei Männer mit

Automatikgewehren, keine FBI-Leute. Sie waren clever: sie hatten in
dem Kanal Position bezogen und nicht in dem Tunnel, den sie gegraben
hatten. Falls jemand von der Tankstelle aus den Tunnel entlangging,
waren diese Typen im Vorteil, denn sie konnten sich unverhofft auf den
Eindringling stürzen.

Nun allerdings näherte sich ihnen jemand von hinten aus dem Kanal

selbst. Jemand, den sie hier ganz gewiss nicht erwarteten.

Angel musste noch zwanzig Meter hinter sich bringen, ohne ein

Geräusch zu verursachen. Es war still dort unten, so still, dass Angel
einen der Männer atmen hören konnte. Er durfte keinen Mucks von sich
geben, sonst drehten sich die Männer um und feuerten los. Er selbst
würde das wohl überleben.

Kate jedoch wahrscheinlich nicht.
Angel hatte keine andere Wahl. Rumsitzen und hoffen, das Kate

überlebte, war keine geeignete Maßnahme. Er musste handeln, und das
bedeutete, die beiden Männer so schnell und leise wie möglich aus dem
Weg zu räumen. Ein Schuss oder ein Schrei, und der ganze Plan ging
nach hinten los.

Offenbar hatte er Männer vor sich, die für Geld töteten – sie hatten es

ja schon unter Beweis gestellt. Tiefer konnte man nicht sinken. Angel
hatte kein Problem damit, sie hart ranzunehmen.

Er bewegte sich langsam vorwärts.
Rasch und leise brachte er die zwanzig Meter hinter sich, wobei er sich

von dem Wasser fernhielt und vorsichtig über den trockenen Beton
schlich. Die Männer hörten nichts. Sie beobachteten mit den Waffen im
Anschlag den Tunnel, als Angel plötzlich hinter ihnen auftauchte. Er war
nur noch knapp zwei Meter von ihnen entfernt.

Als er seine Hände ausbreitete, fühlte er sich ein bisschen wie eine

Figur aus Three Stooges.

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Und als er sie wieder zusammenführte, hatte er den einen rechts, den

anderen links am Ohr gepackt und schmetterte die Schädel mit einem
lauten Krachen gegeneinander, als versuche er, Kokosnüsse zu knacken.

Die beiden sackten bewusstlos zusammen. Angel fing ihre Waffen auf,

bevor sie zu Boden fallen konnten – das Geklapper hätte noch weit durch
den Tunnel gehallt – und legte sie vorsichtig in die Brühe, die zu seinen
Füßen floss. Wenn die Typen wieder zu sich kamen, würden sie große
Schwierigkeiten haben, die Gewehre wiederzufinden, und noch größere,
sie auch zu benutzen – falls sie überhaupt noch funktionierten.

Er wischte sich die Hände an der Jacke eines der Ganoven ab und ging

weiter.

Der Tunnel führte von der Tankstelle bis in diesen Abschnitt der

Kanalisation. Fünfzehn Meter davon hatten die Bankräuber genutzt und
dann allerdings wieder für das letzte kurze Stück bis zur Bank einen
neuen Tunnel angesetzt. Angel betrat nun diesen zweiten Tunnel und
schüttelte einmal mehr den Kopfüber diese Ganoven, die lieber tagelang
gebuddelt hatten, statt einmal gründlich das Kanalisationssystem zu
checken. Er spähte in den Tunnel und sah in ein paar Metern Entfernung
den Durchbruch zur Bank.

Dahinter war Licht.
Im Tunnel selbst regte sich nichts. Die beiden Männer, die Angel

ausgeschaltet hatte, waren offenbar die einzigen Wachen auf dieser Seite
gewesen. Wahrscheinlich lauerte auch sonst keiner mehr auf dem Weg
zu dem Ort, an dem Kate festgehalten wurde.

Wahrscheinlich, wahrscheinlich, wahrscheinlich.
Angel lauschte eine ganze Weile und schlich dann vorsichtig auf den

Durchbruch zu.

Dort blieb er stehen und lauschte erneut. Mit dem Loch in der Mauer

hatten sich die Ganoven Zugang zu einem Korridor im Keller der Bank
verschafft, in dem sich alte, staubige Aktenschränke befanden. Weit und
breit war kein Lebenszeichen zu hören. Kein Geräusch. Angel zwängte
sich durch das Loch.

Nun war er in der Bank.
Schwach drangen aus der Ferne Stimmen zu ihm. Angel ging darauf zu

und die Stimmen wurden immer deutlicher. Er gelangte an eine Treppe
und sah Licht am oberen Ende.

Dort musste Kate sein.
Und noch mehr bewaffnete Männer. Wie viele, konnte er nicht mit

Sicherheit sagen.

Angel schlich leise die Treppe hoch.

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Oben kam er in einen weiteren kurzen Flur. Rechts gab es eine

Abzweigung zur Haupthalle der Bank, wo sich die Kassenschalter für die
Kunden befanden.

Links ging es in die Büroräume.
Von dort kamen die Stimmen. Sie waren leise, und Angel konnte

immer noch nicht richtig verstehen. Aber das war nebensächlich; er war
schließlich nicht zum Spionieren hierher gekommen.

Angel musste an eine Redewendung denken, die ihm bei Doyle in

einer Sportsendung aufgefallen war. »Er kam ins Spiel«, sagten die
Reporter immer, oder: »Die Mannschaft kommt ins Spiel.« Angel hatte
daraufhin genervt bemerkt: »Dazu sind sie ja wohl auch angereist,
oder?«

Er dürfe nicht immer alles so wörtlich nehmen, war Doyles Antwort

gewesen.

Ins Spiel kommen wollte Angel in diesem Augenblick jedenfalls nicht.
Er war zum Arbeiten gekommen.
Eine Tür stand offen, und Licht fiel in den Korridor. Von dort kamen

die leisen Stimmen.

Jetzt sprach eine zweite Person und Angel erkannte Kates Stimme.

Also lebte sie noch! Und er hatte sie gefunden.

Nun musste er sie nur noch befreien, ohne ihr Leben zu gefährden.
Er wollte gerade zu der Tür gehen, als ein Telefon klingelte.


Der Spitzbärtige ging an den Apparat.

»Ja?«, rief er in den Hörer. Dann lauschte er. »Also gut. Das ist schon

besser. Wir werden das überprüfen. Ich kann Ihnen nur empfehlen, uns
nicht zum Narren zu halten!«

Er zeigte auf Kate und Glenn Newberry.
»Nimm sie mit!«, sagte er zu dem Surfer. »Hoppy hat gesagt, die

Autos stehen draußen und die Cops haben sich zurückgezogen.«

Der Surfer half Newberry auf die Beine. Der Agent schwankte

bedenklich und Kate erhob sich und stützte ihn. Ihnen voran verließ der
Spitzbärtige den Büroraum.

Angel drückte sich gleich hinter der Tür im Treppenhaus an die Wand.

Als das Telefon klingelte, war es vorn in der Bank dunkel geworden.
Zuerst hatte er angenommen, die Räuber hätten das Licht abgedreht, aber
dann wurde ihm klar, dass die Polizei die auf die Bank gerichteten
Scheinwerfer ausgeschaltet haben musste. Offenbar war man auf die
Forderung der Bankräuber eingegangen.

Von seinem Posten aus konnte Angel kaum etwas von dem Flur sehen,

nur ein kleiner Ausschnitt durch den Türspalt gab ihm Aufschluss

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darüber, was dort vor sich ging. Aber der reichte aus, um beobachten zu
können, wie Kate vorbeigeführt wurde – mit dem Lauf einer MAC-10
am Kopf. Eine Bewegung, ein Laut von Angel und sie war tot.

Das durfte er nicht riskieren. Er musste sich zurückhalten. Zwei

bewaffnete Männer und zwei Geiseln kamen vorüber. Der Typ neben
Kate trug einen Anzug und sah für Angel aus wie ein FBI-Mann.

Sie gingen in die Schalterhalle.
»Wie sieht's draußen aus?«, hörte er einen der Männer fragen.
»Alle Cops sind außer Sichtweite«, antwortete jemand. »Sie haben die

Scheinwerfer ausgemacht. Natürlich sind sie noch irgendwo da draußen,
aber sie haben sich so weit zurückgezogen, dass man sie nicht mehr
sehen kann. Sie haben zwei Autos vor der Bank abgestellt. Die Motoren
laufen und die Türen stehen auf.«

»Cool. Das waren unsere Forderungen!«
»Was ist mit den Geiseln?«
»Um die werden wir uns kümmern, wenn wir in Sicherheit sind.«
Angel wusste, was das bedeutete: Gesetzeshüter überlebten eine solche

Geiselnahme in der Regel nicht, damit sie keine Hinweise geben und
letzten Endes auch nicht in einem Prozess aussagen konnten. Wenn die
Ganoven sich in Sicherheit wähnten, waren Kate und der andere Typ tot.

Angel verließ das Treppenhaus und schlich sich so weit vor, bis er

einen Blick in die dunkle Schalterhalle werfen konnte.

Es gab vier Bankräuber, alle bewaffnet. Sie schauten gerade durch die

großen Fenster zur Straße nach draußen. Wahrscheinlich hielten sie nach
den Polizisten Ausschau, die sich zurückgezogen hatten.

Direkt vor dem Haupteingang standen zwei unauffällige Autos. Angel

durfte nicht zulassen, dass die Ganoven Kate und den Agenten
mitnahmen, denn dann würde er sie nicht mehr lebendig wiedersehen.

Der Spitzbärtige packte den Surfer am Arm. »Hol die Jungs aus dem

Tunnel«, sagte er. »Wir müssen uns beeilen, wenn wir verschwinden
wollen!«

Der Surfer nickte und wollte die Schalterhalle gerade wieder verlassen,

da spürte Angel, wie er sich verwandelte und sein vampirisches Wesen
von ihm Besitz ergriff. Er war bereit zum Angriff.

Er nahm zwei Schritte Anlauf und sprang ab. Mit zwei Überschlägen

landete er zwischen Kate und einem der Gangster.

»Überraschung!«, rieferund verpasste dem Kerl einen ordentlichen

Kinnhaken. Es knackte laut und der Typ schloss die Augen. Schnell
setzte Angel einen Schlag in die Magengrube nach, und schon klappte
der Kerl zusammen.

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Angel drehte sich zu dem nächsten Räuber um, der bereits seine Waffe

auf ihn richtete. Er schlug den Gewehrlauf zur Seite, packte den Kerl am
Kragen und riss seinen Kopf nach vorn, um ihm das Knie ins Gesicht zu
rammen. Das waren schon mal zwei.

Kate hatte sich inzwischen auf den dritten Bankräuber gestürzt und

ihm die Waffe aus der Hand getreten. Nun umkreisten sie sich lauernd.
Der FBI-Agent und der vierte Kriminelle rangen keuchend und mit
zusammengebissenen Zähnen um die MAC-10.

Als Angel wieder zu Kate hinübersah, versuchte ihr Gegner gerade, ihr

die Hände um den Hals zu legen. Kate wich jedoch aus und schlug ihm
mit der flachen Hand vor die Nase. Er strauchelte und ging zu Boden.

Der vierte Kerl, der immer noch mit dem FBI-Mann kämpfte, musste

mittlerweile bemerkt haben, dass er sich nun deutlich in der Minderzahl
befand. Er hörte zwar nicht auf und wollte sich nicht geschlagen geben,
aber aus seinem Gesicht sprach pure Panik.

Plötzlich nahm Angel aus den Augenwinkeln in dem großen getönten

Fenster eine Bewegung wahr.

Hinter Kate, wo Angel ihn ohne die Spiegelung in der Scheibe nicht

hätte sehen können, drehte sich der Typ, den er zuerst ausgeschaltet
hatte, auf den Bauch und zielte mit seiner Pistole auf Kate.

Sein Zeigefinger legte sich um den Abzug.
Angel hechtete los und stieß Kate zur Seite. Pistolenkugeln zischten

durch die Luft und schlugen an der Stelle in die Wand ein, wo Kate
gerade noch gestanden hatte. Angel war in weniger als einer Sekunde bei
dem Kerl, trat ihm die Pistole aus der Hand und zog ihn auf die Beine.

Er stieß ihm heftig mit seiner vorgewölbten Stirn gegen den Kopf. Als

er spürte, wie der Kerl zusammensackte, ließ er los.

Bevor er sich umdrehte, nahm er wieder menschliche Gestalt an und

hoffte, dass Kate nichts Ungewöhnliches aufgefallen war.

Der FBI-Mann hatte seinem Widersacher bereits Handschellen

angelegt. Rasch fesselte Kate den Bewusstlosen die Handgelenke mit
Kabeln. Dann kam sie lächelnd auf Angel zu.

»Ich schätze, ich bin dir zu großem Dank verpflichtet«, sagte sie und

sah ihn mit einem merkwürdigen Gesichtsausdruck an.

»Gern geschehen«, antwortete Angel. Nach einer Weile fragte er: »Ist

was?«

Sie fasste an seine Stirn. »Nein, nein«, sagte sie. »Ich hab' gedacht... da

hat wohl das Licht getäuscht. Alles in Ordnung?«

»Mir geht es gut«, entgegnete er. Und um das Thema zu wechseln,

fügte er hinzu: »Gut, dass der Typ sich in der Fensterscheibe gespiegelt
hat. Er...«

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Plötzlich traf ihn die Erleuchtung wie ein Blitz und er dachte an die

Situation, als Karinna ihm entwischt war.

»Ich muss gehen«, sagte er rasch. »Ich bin froh, dass dir nichts passiert

ist. Bitte geh jetzt raus und zieh die Truppen ab, damit ich von hier
verschwinden kann.«

Kate verließ die Bank durch den Haupteingang. Sie hob die Hände

über den Kopf und zeigte ihre Marke.

Und sobald er sich nach draußen wagen konnte, verschwand Angel in

der Nacht.































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20






In Los Angeles ein Taxi zu bekommen, war praktisch ein Ding der
Unmöglichkeit. Völlig ausgeschlossen war es allerdings in einem nicht
besonders wohlhabenden Viertel mitten in der Nacht.

Angel musste vier Blocks bis zum Figueroa Boulevard laufen, bis er

endlich eins entdeckte. Er winkte es heran, stieg hinten ein und nannte
dem Fahrer seine Adresse.

Während das Taxi durch die Nacht fuhr, dachte er an Spiegelung in der

Scheibe und an die Spiegel im Hi-Gloss. Er hatte den ganzen Club
durchgecheckt und dabei ständig in die Spiegel unter der Decke gestarrt,
um auf die Tanzfläche blicken zu können. Und er hatte immer noch
hineingeschaut, als Karinna plötzlich neben ihn getreten war und ihn am
Arm gefasst hatte. Er hätte merken sollen, dass etwas nicht stimmte, aber
weil er so erleichtert über ihr Auftauchen gewesen war, hatte er es nicht
gleich begriffen.

Er versuchte, sich noch einmal ganz genau an jene Nacht zu erinnern.

Es war nicht so gewesen, als hätte er niemanden im Spiegel gesehen.
Wenn Karinna überhaupt kein Spiegelbild gehabt hätte, wäre ihm das
gewiss nicht entgangen. Also musste er jemanden oder etwas gesehen
haben. Es hatte einfach nur nicht wie Karinna ausgesehen.

Die Einzelteile dieses Puzzles hatten sich bei seinem kurzen Gespräch

mit Kate in der Bank schlagartig zusammengefügt. Karinna schminkte
oder frisierte sich nie selbst. Sie benutzte ein schweres Parfüm – viel
schwerer als es bei den Mädchen in ihrem Alter üblich war.

Selbstverständlich war sie kein Vampir; das hätte Angel gespürt. Was

sie war, musste er allerdings noch herausfinden.

Ein Mensch war sie jedenfalls nicht.
Wenn man noch die plötzliche glückliche Wende bei Monument

Pictures dazunahm, kam man zu dem Schluss, dass bei den Willits
definitiv etwas nicht in Ordnung war.

Als das Taxi vor der Tür hielt, bezahlte Angel und sprang die Treppe

hinauf. Er platzte ins Büro und überraschte Cordelia und Doyle, die
gemeinsam vor Doyles kleinem Fernseher hingen.

»Ich brauche Hilfe«, sagte er.

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»Du ... Du bist zurück«, meinte Cordelia. »Da freuen wir uns aber!«
»Ich mich auch.«
»Wir haben gerade Kate in der Glotze gesehen«, sagte Doyle. »Sie sah

ganz in Ordnung aus. Nein, gut! Sie sah gut aus! Aber die Berichte
waren irgendwie bruchstückhaft«, fuhr Doyle fort. »Voller lückenhafter
Details, könnte man sagen. Du ...?«

»Ich«, entgegnete Angel, »ich habe gerade keine Zeit. Hört mal zu ...«


Fünfundvierzig Minuten später setzte Doyle Angel vor dem Anwesen
der Willits ab und fuhr wieder davon. In Angels Manteltasche steckte ein
Buch, das Doyle ihm geliehen hatte. Große Wut stieg in ihm auf,
während er über den Zaun sprang und die Einfahrt hinauf bis zur Haustür
lief.

Er klopfte dreimal. Als nicht sofort jemand öffnete, trat er die Tür mit

einem gezielten Tritt unterhalb des Knaufs ein. Holz splitterte, Metall
knirschte.

Die Tür klappte auf.
Da Angel zuvor schon hereingebeten worden war, gab es kein

Problem. Er betrat das Haus.

»Jack Willits!«, rief er.
Einen Moment lang herrschte Schweigen, dann ertönte ein Schlurfen

von irgendwo. Nach ein paar Minuten trat Jack Willits aus der Tür, aus
der er auch bei ihrer ersten Begegnung gekommen war.

»Schlafen Sie denn nie?«, fragte Angel.
»Angel!« Jack ignorierte die Frage und lächelte Angel strahlend an.

»Mein Junge! Bin ich froh, Sie zu sehen. Wenn Karinna das hört! Wir
haben uns Sorgen um Sie gemacht, das muss ich schon ...«

»Sparen Sie sich das!«, unterbrach ihn Angel.
»Kommen Sie!«, meinte Jack. »Ich sitze gerade bei einem Brandy im

Arbeitszimmer. Kommen Sie mit!«

»Ich möchte Ihren Brandy nicht.«
»Aber es gibt doch bestimmt etwas, das Sie haben möchten.« Willits

sah zu der zerstörten Tür. »Was für ein Auftritt!«

»Wir müssen reden«, sagte Angel.
»Dann reden wir.« Willits ging zu seinem Arbeitszimmer vor und

Angel folgte ihm.

Als sie eingetreten waren, ging Jack Willits zu seinem mit

Schnitzereien verzierten antiken Schreibtisch. Darauf lagen, neben einer
grünen Glaslampe, eine lederne Schreibunterlage, ein Haufen
Schreibutensilien und zahllose Zeitungen. Der Raum war groß, so groß
wie Angels ganze Wohnung. Ein Feuer knisterte in dem fast

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183

mannshohen Kamin. Auf dem Sims glänzten drei Oscars. Jack bot ihm
einen Stuhl an, aber Angel wollte sich nicht setzen.

»Sie haben mir eine Falle gestellt«, sagte er. »Im Auftrag von

Mordractus. Und Sie haben ihre eigene Tochter als Köder verwendet.«

»Nein!«, protestierte Willits.
»Stimmt, sie ist nicht Ihre Tochter. Oder war es nicht. Es sah nur

danach aus. Was ist mit der echten Karinna geschehen?«

Jack Willits Gesicht verzog sich, als breche in diesem Augenblick

seine Welt zusammen, zerfalle vor seinen Augen zu Staub, als ob er
versuchte, mit den Händen nach dem Staub zu greifen und ihn
aufzuhalten, glitt er ihm doch durch die Finger.

»Ich ...« Er setzte sich hinter seinen Schreibtisch und legte den Kopf in

die Hände. »Ich weiß nicht, was ich sagen soll.«

»Wie wäre es mit der Wahrheit? Oder wissen Sie gar nicht mehr, was

das ist?«

»Es ist komplizierter, als Sie sich vorstellen können, Angel.«
»Versuchen Sie's ruhig! Ich bin ziemlich intelligent.«
»Ich glaube ...«
»Ich sagte, ich bin intelligent - nicht geduldig!«
Willits hielt nur mit Mühe ein Schluchzen zurück. »Er kam an ihrem

Todestag zu mir.«

»Mordractus?«
»Ja, so heißt er. Mordractus.«
»An ihrem Todestag. Da hätte ich jetzt gern ein paar Details, Willits!«
»Ja, ja, ja, an ihrem Todestag!«
»Wie ist sie gestorben?«
»Sie wurde erschossen. Sie zog wie immer durch die Clubs. Sie war

ihren Bodyguards entwischt und hatte sich ein paar Leuten
angeschlossen, älteren Leuten, Erwachsenen, die es besser hätten wissen
sollen. Sie waren auf der Suche nach einer Party. Eine Freundin von
Karinna, die nicht mit ihnen gegangen war, hat mir das alles erzählt. Die
Gruppe verließ jedenfalls den Club, um zu dieser Party zu gehen, und da
sind sie wohl in die Gegend geraten, wo neulich nachts der Banküberfall
stattfand – Sie wissen doch, diese Bande, die schon in der ganzen Stadt
Banken überfallen hat?«

»Davon habe ich gehört.«
»Jedenfalls stürmten die Bankräuber aus der Bank und Karinna war da

mit diesen anderen Leuten. Die Ganoven haben sie erschossen, sie alle
getötet! Ich bin ein wichtiger Mann in dieser Stadt, das verstehen Sie
doch, nicht wahr?« Er blickte Angel mit sorgenvollen rot unterlaufenen
Augen an, als wäre es sehr wichtig, dass Angel seinen Status begriff.

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184

Aber der sah Jack nur abwartend an, bis er fortfuhr.
»Als die Polizei herausfand, wer sie war, rief man mich an. Sie war

noch minderjährig, also wurde ihr Name der Presse nicht mitgeteilt. Aber
ich wollte nicht, dass er in den Protokollen auftaucht. Meine Position bei
Monument war zu diesem Zeitpunkt reichlich wackelig, wissen Sie?
Damals, meine ich. Vor Mordractus. Das Letzte, was ich gebrauchen
konnte, waren negative Schlagzeilen.

Ich weiß nicht, wie er überhaupt davon erfahren hat, aber er kam direkt

zu mir, noch in der Polizeiwache. Ich war gerade im Leichenschauhaus
gewesen, um sie zu identifizieren. Man ließ mich eine Weile allein und
ich drehte mich um, und da stand er. Er war so tröstend, so ruhig. Er
nahm mich mit in ein leeres Büro und fing an zu reden. Er sagte mir,
dass niemand von ihrem Tod erfahren müsse. Dass er dafür sorgen
könne, dass ihr Name nicht in den Polizeiakten auftaucht. Dass er es vor
der Presse verbergen könne.

Damit wäre ich schon zufrieden gewesen, aber er redete weiter. Er

könne Monument Pictures retten, behauptete er. Er wollte dafür sorgen,
dass ich meinen Job behielt. Ihn nicht nur behielt, sondern sogar noch
ausbauen könne. Angel, mein ganzes Leben lang wollte ich nichts
anderes als Filme machen. Ich wollte gar keine leitende Position, aber
wenn man in dieser Stadt ein paar Treffer landet, dann geschieht das
eben. Man wird die Treppe immer weiter hinaufgeschoben, bis es nicht
mehr höher geht, weil man ganz oben angekommen ist. Und wenn man
ganz oben ist, wird man zur Zielscheibe. Es mangelt ja nicht an Leuten,
die darauf warten, dass man einen Fehler begeht, damit sie einen stürzen
können. Ich wollte nicht gestürzt werden, aber ich war kurz davor.«

Angel stand schweigend da und sah zu, wie Jack Willits weiter

schwafelte. Es schien ihn nicht einmal mehr zu interessieren, ob Angel
überhaupt noch im Raum war. Eine Schleuse war geöffnet worden, und
die Wörter fluteten nur so heraus; ein Redefluss, der sich nicht länger
zurückhalten ließ.

»Mordractus versprach mir, dass ich nicht abstürzen werde. Ich sollte

nur an der Vertuschung von Karinnas Tod mitarbeiten – und das wollte
ich natürlich, das war ja der Köder – und dann wollte er dafür sorgen,
dass sich bei Monument Pictures alles zum Guten wendet. Und es hat
funktioniert, Angel! Vor ein paar Tagen war ich Vergangenheit und wie
tot. Nun bin ich wieder an der Spitze. Ich habe Blake Alten. Niemand
kann mir mehr was! Alles, was Mordractus versprach, hat er auch
gehalten.«

»Und ein Teil der Geschichte war, mich mit Karinna als Köder in eine

Falle zu locken.«

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»Ich wusste doch nicht, wer Sie sind, Angel. Ich hatte keine Ahnung.

Irgendein Typ, den Mordractus gern schnappen wollte. Er hat mir nichts
weiter darüber erzählt, lediglich, dass Sie auf Karinna ansprechen
würden, also musste ich mitspielen. Ich versprach ihm, Sie einzustellen.
Das müssen Sie verstehen, Angel! Für mich stand einfach alles auf dem
Spiel. Alles!«

»Ihrer Meinung nach.«
»Nun, so ist das Leben, nicht wahr? Die menschliche Natur. Wir sind

egoistische Tiere, Angel. Nur am eigenen Wohl interessiert. Wir tun, was
wir tun müssen, um unsere Interessen zu fördern.«

»Sie tun, was Sie tun müssen, um ihre Taschen zu füllen, Jack. Sehen

Sie sich doch um! Sie könnten von dem Geld leben, das der Verkauf
dieses Hauses einbrächte – ein Dutzend Familien könnte davon leben.
Und Sie haben bestimmt noch andere Besitztümer. Sie brauchen gar
nicht mehr, als Sie schon haben.«

»Es geht ja nicht nur um Geld, Angel. Es geht ums Filme machen,

verstehen Sie das denn nicht? Ich will nicht damit aufhören.«

»Wann haben Sie denn zum letzten Mal einen Film gemacht, Jack?

Wie ich höre, machen Sie doch nur noch die Verträge.«

»Das gehört dazu, Angel. Wenn Sie glauben, es geht nur darum, wer

vor der Kamera steht, leben Sie in der Vergangenheit. Es geht vielmehr
darum zu entscheiden, wer vor und wer hinter der Kamera steht. Das
sind die Entscheidungen, auf die es ankommt.«

»Und das Endresultat ist das Klingeln in den Kinokassen, nicht wahr?

Und nicht das, was auf der Leinwand zu sehen ist.«

Jack sah Angel wieder an. Er erhob sich von seinem Stuhl, ging an den

Safe in der Wand und stellte die Kombination ein.

»Sie halten mich für Abschaum, Angel. Das spüre ich. Ich kann es

sogar bis zu einem gewissen Grade nachvollziehen. Vielleicht sind Sie
altmodisch. Sie verstehen das nicht, das ist in Ordnung. Aber
Entertainment ist ein knallhartes Geschäft. Ein großes Geschäft. Wenn
man es aus den Augen verliert, nur kurz den Blick vom Ball abwendet,
ist man weg vom Fenster. Dann sinkt man noch unter die Gummifüße
der Kinosessel. Haben Sie eine Vorstellung, von wie viel Geld wir hier
reden, Angel? Glauben Sie, ich rede von ein paar Millionen?

Milliarden, Angel. Ein Megafilm. Verkaufszahlen. International.

Lizenzen. Video. Fernsehen. Ein Filmhit kann dem Studio Milliarden
einbringen. Das passiert nicht oft, aber ich habe es dreimal geschafft.
Und ich bin dicht davor, es noch einmal zu schaffen. Es gibt nicht viele
Leute in der Branche, die das von sich sagen können. Deshalb bin ich

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Jack Willits, Angel. Deshalb bin ich auf diesem Planeten. Ich mache
Filme.«

»Haben Sie mal gemacht«, entgegnete Angel knapp.
Willits öffnete den Safe. Angel sah viele Bündel Geldscheine darin

liegen.

»Wir können das Problem aus der Welt schaffen, Angel«, entgegnete

Jack. »Jeder hat seinen Preis. Auch Sie. Wie hoch er auch ist – ich zahle.
Und dann können Sie gehen und vergessen, dass das alles hier je
geschehen ist.«

Er warf Angel ein Bündel Geldscheine zu. Angel fing es instinktiv auf

und starrte es an. Es waren Hunderter. Tausend Stück davon. Jack warf
ihm lässig einen weiteren Packen zu.

»Sagen Sie, wann ich aufhören soll, Angel«, rief er.
Angel stand neben dem Kamin. Er ließ das erste Bündel auf die

brennenden Scheite fallen, dann das nächste.

»Machen Sie nur weiter!«, meinte er.
Willits warf ihm zwei weitere Bündel zu. Sie folgten den ersten in den

Kamin. Diesmal bekam Jack mit, was Angel tat.

»Hey, was ...? Sind Sie verrückt? Das ist Geld!«
»Ich weiß«, entgegnete Angel ruhig. »Es brennt nicht sehr gut. Man

muss ihm schon ein paar Minuten geben.«

Willits kam mit Panik in den Augen auf ihn zu. »Aus dem Weg!«,

befahl er.

»Nur, wenn Sie mich eigenhändig aus dem Weg schieben«, sagte

Angel.

»Das können Sie doch nicht tun! Es gehört mir!«
»Sie haben es mir gerade gegeben«, erinnerte ihn Angel. »Dann gehört

es jetzt mir.«

»Nicht, wenn Sie es verbrennen!«
»Das geht Sie nichts mehr an!«
Jack starrte ihn ungläubig an. »Gut«, sagte er und klammerte sich an

den rettenden Strohhalm. »Aber ich habe es Ihnen nicht umsonst
gegeben. Dann müssen Sie jetzt auch die Sache vergessen. Und
verschwinden.«

»Das kann ich nicht«, sagte Angel. »Sie haben mich doch mit

hineingezogen. Jetzt bin ich mitten drin.«

»Aber das ist doch jetzt vorbei«, beschwor ihn Jack. »Sie sind immer

noch am Leben. »Das bedeutet wohl, dass Sie Mordractus irgendwie
besiegt haben. Also ist es Vergangenheit.«

»Nicht für mich.«
»Angel, was wollen Sie von mir?«

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»Ich will, dass Sie begreifen, was Sie getan haben, Jack. Sie war Ihre

Tochter. Sie haben Ihre eigene tote Tochter verkauft, um Ihren Job zu
behalten. Erkennen Sie denn nicht, wie krank das ist?«

»Sie war doch tot!«, schrie Jack. Tränen traten ihm in die Augen;

Tränen der Wut, der Trauer und der Frustration. Er trommelte mit den
Fäusten gegen Angels Brust. »Sie war doch schon tot! Was hat es mich
gekostet? Nichts!«

»Es hat Sie alles gekostet, Jack«, sagte Angel ruhig. »Alles.«
»Wie meinen Sie das? Wovon reden Sie?«
»Sie wollen, dass ich verschwinde und vergesse, was geschehen ist.

Das kann ich nicht.«

»Aber es gibt doch nichts mehr, was Sie ... Was können Sie denn ...«
»Mordractus ist weg, Jack. Sie haben keinen Schutz mehr. Und keine

Hilfe.«

Angel sah in die Flammen. Das Geld fing endlich an zu brennen. Aber

im Safe musste noch mehr sein, also sah er nach. Ein paar Bündel und
ein paar Umschläge waren noch da. Wahrscheinlich irgendwelche
Dokumente; Versicherungspolicen, dachte Angel.

Aber da war noch etwas. Ein kleines Stück Pappe. Angel drehte es um.

Seine Visitenkarte!

Aber Angel hatte ihm eine mit Eselsohren gegeben, auf deren

Rückseite eine Telefonnummer notiert war. Dieses Exemplar war jedoch
makellos.

»Ein Souvenir?«, fragte Angel.
»Ich hatte sie ganz vergessen«, sagte Jack unter Tränen. »Er hat sie mir

gegeben. Falls Sie nicht auf den Köder reagieren. Warum er überhaupt
so überzeugt davon war, dass Sie Karinna zu Hilfe kommen, hat er mir
nie erklärt. Aber er gab mir die Karte, damit ich Sie anrufen konnte, falls
Sie nicht auftauchen. Aber in jedem Fall sollten Sie Karinna treffen und
einwilligen, ihr zu helfen – und er war sicher, Sie würden ihr helfen.«

»Und damit so beschäftigt sein, dass ich unachtsam wurde und

Mordractus mich schnappen konnte.« Angel trat an Jacks Schreibtisch,
auf dem ein altmodisches Karteikästchen stand. Er blätterte durch die
Kärtchen mit A, fand das mit Blake Altens Koordinaten und steckte es
ein. Jack war so außer sich und seine Augen blind vor Tränen, dass er es
gar nicht zu bemerken schien.

»Das war der Plan.«
»Der Plan hat funktioniert. Der erste Teil jedenfalls. Mordractus war

clever. Aber er hat mich unterschätzt. Genau wie Sie.«

»Sieht so aus«, meinte Jack.
»Das wird Ihnen nicht noch einmal passieren.«

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Jack ließ sich wieder in seinen Stuhl fallen und verbarg das Gesicht in

den Händen. Sein Körper wurde von heftigem Schluchzen geschüttelt.
Während Angel ihn beobachtete, spürte er, wie seine Wut langsam
verrauchte.

Sie wurde durch etwas anderes ersetzt, das er kaum benennen konnte.
Ekel kam der Sache am nächsten.
»Eigentlich bin ich hergekommen, um Sie zu verprügeln«, sagte

Angel. »Ich habe noch nie in meinem Leben einen solchen Drang
verspürt, jemanden Gewalt anzutun. Darauf bin ich nicht stolz, aber so
ist es nun einmal. Ich wollte Ihnen kräftig mit der Faust ins Gesicht
schlagen. Aber nun kann ich es nicht Jack. Denn Sie sind die Mühe nicht
wert.«

»Hassen Sie mich ruhig, Angel. Spucken Sie mich an! Bemitleiden Sie

mich! Aber... tun Sie nichts, das meiner Karriere schadet. Gehen Sie
nicht zu Monument Pictures! Sie sind mächtiger als wir alle.«

»Sie kommen zu spät«, sagte Angel. »Ihre Werte sind einfach zu

pervers. Wer auch immer Karinna ist, sie sagte mir, das Filmgeschäft
rangiere bei Ihnen noch vor der Familie.

Ich habe ihr nicht geglaubt, aber nun erkenne ich, dass sie Recht hatte.

Sie sind ja voller Gier, Jack! Gierige Menschen nehmen alles an, was
man ihnen schuldet. Und ich bin Ihnen wirklich etwas schuldig, Jack.«

»Vergessen Sie es, Angel«, schniefte Jack. »Vergessen Sie einfach,

was ...«

»Nein, das tue ich nicht, Jack. Ich kann es nicht. Und ich werde es

nicht.«

»Angel ...«Jack schluchzte. »Also gut. Tun Sie, was Sie tun müssen.«
Angel drehte sich um und verließ das Arbeitszimmer. Hinter ihm

wiederholte Jack Willits immer wieder diesen einen Satz. »Tun Sie, was
Sie tun müssen«, sagte er. »Tun Sie, was Sie tun müssen.«

Und Angel tat es.











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189

21




Er fand sie oben, in ihrem Zimmer. Als er die Tür öffnete, sah er sie. Sie
saß auf ihrem Bett und lächelte ihn an.

Es war kein fröhliches Lächeln. Es war ein Lächeln voller kalter,

berechnender Bösartigkeit.

Angel begann zu zittern. Er war machtlos dagegen.
»Ich habe gerochen, dass du kommst, Vampir«, sagte sie mit einer

Stimme, die so kalt war wie ihr Lächeln. »Hab

'

dich schon von unten

gerochen. Hast dich noch ein bisschen mit Jackie unterhalten, nicht
wahr?«

»Soll ich dich immer noch Karinna nennen?«, fragte Angel ruhig.

»Oder möchtest du mir deinen wahren Namen verraten?«

»Wenn du ihn nicht kennst, werde ich ihn dir auch nicht sagen.«
»Sicher, warum solltest du es mir auch leicht machen?«
»Du meinst also, du kennst jetzt die ganze Geschichte?«
»Ich denke schon.«
»Und was willst du jetzt unternehmen?«
»Dich fortjagen.«
Sie setzte sich in ihren Kissen auf. Sie sah immer noch aus wie

Karinna, wie ein Teenager, trotz des schrecklichen Grinsens. Die
Einrichtung des Zimmers entsprach jedoch nicht dem Geschmack eines
Teenagers, sondern eher dem eines kleinen Mädchens. Eines reichen
kleinen Mädchens. Das Himmelbett war von stattlicher Größe, viel grö-
ßer als für Karinna nötig. Die Bettwäsche, die Vorhänge und der Teppich
waren alle pink, mit weißem Rand. Möbel und Wände waren weiß - das
Bett, der Kleiderschrank, die Frisierkommode mit dem Stuhl davor und
dem beleuchteten Spiegel.

»Du weißt nicht einmal, was ich bin, Vampir!«
»Ich habe eine Vermutung. Du bist eine Feengestalt, die ihre Form

verändern kann. In der keltischen Mythologie recht bekannt. Und damit
hat sich Mordractus doch gern umgeben, oder? Mit Kreaturen aus
keltischen Mythen und Legenden? Wesen, von deren Existenz die
meisten Menschen nicht einmal ahnen. An die sie nicht glauben. Aber er
hat lange genug in Irland gelebt, um zu wissen, dass an der Insel mehr
dran ist, als es auf den ersten Blick scheint.«

»Da hast du Recht!«

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190

»Also hat er dich aus dem Feenreich geholt. Und dir Karinna gezeigt.

Die tote Karinna. Du hast ihre Gestalt angenommen und mich in eine
Falle gelockt. Aber du darfst dich nicht vor einen Spiegel stellen, denn
Spiegel kann man nicht täuschen. Sie enthüllen das wahre Ich. Das war
dein Fehler – ich bin selbst ein wenig sensibel in Bezug auf Spiegel.«

»Ich habe ihm angeboten, dich einfach zu töten. Habe ihn angefleht, es

tun zu dürfen. Aber er wollte dich lebendig. Er war überzeugt, du hättest
dich in eine Art Weltverbessererverwandelt und würdest gern der armen
Karinna zu Hilfe eilen. Und wenn er dich einmal abgelenkt hatte, so
dachte er, könne er dich lebendig fangen. Offenbar ein fataler Fehler
seinerseits.«

»Ich weiß nicht, ob fatal das richtige Wort ist«, meinte Angel. »Aber

die Konsequenzen sind sehr lang anhaltend. Ewig, sozusagen.«

Karinna zuckte mit den Schultern. »Fehler passieren eben manchmal.

Dann muss man sie hinterher einfach wieder ausbügeln.«

»Was soll das denn bedeuten?«
Karinna sprang plötzlich aus dem Bett und bog die Finger zu Krallen.

Angel hatte kaum Zeit, abwehrend die Hände zu heben, da kratzte sie mit
den Fingernägeln über seine bereits verletzte Wange und riss die Haut
auf.

Angel schubste sie zurück. Sie stieß gegen das Bett und kam wieder

auf ihn zu.

Nun sahen ihre Hände nicht mehr aus wie die von Karinna. Die Finger

waren knotig, die Nägel lang und scharf.

»Jetzt bekennst du wohl endlich Farbe?«, fragte Angel.
Sie knurrte und schlug nach ihm. Als er sie abwehrte, griff sie wieder

an und er warf sie noch einmal zurück.

Mit den Beinen eines jungen Mädchens kletterte sie aufs Bett und ging

in Lauerstellung. Dann stieß sie sich ab und griff ihn mit den verdrehten
Klauen eines Dämons an. Kräftige Kiefer schnappten nach seinem Hals.
Ihr Haar war weiß und zottelig, ihr Fleisch fleckig und faltig. Jede
Ähnlichkeit mit Karinna war nun verschwunden. Sie zeigte ihr wahres
Gesicht. Das Gesicht, das Angel in jener Nacht in dem Club im Spiegel
gesehen hatte, für den Millionsten Bruchteil einer Sekunde.

Er packte sie an den Handgelenken und hielt sie auf Armeslänge von

sich weg. Ihre Stärke war enorm. Und Angel war sehr müde. Es musste
schon Tage her seit, seit er sich zum letzten Mal ausgeruht hatte, und
zwar, bevor er durch Mordractus in Gefangenschaft geraten war.

Der Dämon mit den vielen Gesichtern wand sich in seinem Griff und

schnappte mit scharfen Zähnen nach ihm. Angel nahm seine ganze Kraft

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zusammen und schleuderte ihn wieder aufs Bett. Er federte einmal und
stürzte sich dann wieder auf ihn.

Angel trat diesem Angriff mit geballter Faust entgegen und verpasste

dem Dämon einen Kinnhaken. Er strauchelte und Angel legte einen Tritt
in den Solarplexus nach.

Der Dämon fiel hintenüber und schnappte nach Luft. Schnell holte sich

Angel den antiken weißen Stuhl von der Frisierkommode, hob ihn über
den Kopf und schlug damit auf den Dämon ein.

»Ich bin froh, dass du dein wahres Gesicht gezeigt hast«, sagte er zu

der bewusstlosen Gestalt. »Es wäre mir schwer gefallen, Karinna zu
schlagen. Aber dich zu verprügeln, bereitet mit keine Probleme.«

In der plötzlichen Stille zog Angel das Buch aus seiner Tasche und

schlug die Seite auf, die Doyle markiert hatte. »Es ist ein simpler
Bannspruch«, hatte er ihm erklärt. »Ohne Schnickschnack, großes Getue
oder besondere Ausrüstung. Wenn es stimmt, was du mir erzählt hast,
kannst du sie nicht gleich auf der Stelle töten. Du wirst erst den Bann
sprechen müssen.«

Der erste Abschnitt des Textes war auf Latein, das Angel als kleiner

Junge gelernt hatte.

Als er den Text rezitierte, wurde das Licht im Raum schwächer und

der Dämon mit den vielen Gesichtern bewegte sich unruhig auf dem
Boden.

Angel blätterte um. Der nächste Abschnitt war auf Englisch, jedenfalls

einer alten Version davon, und er las den Text laut aus dem Buch vor.
Dabei kam er sich ein bisschen wie ein Zauberer vor.

»Verschwinde, du schäbige Bestie aus der Tiefe!«, las er. »Du bist an

diesem Ort nicht länger willkommen und wirst verbannt! Hinfort mit dir!
Kehre nun zurück in das Reich, aus dem man dich einberufen hat, ohne
Widerspruch oder Gegenwehr, ohne Gewalt und ohne Verzug!«

Der Dämon zuckte mit den Beinen. Angel sah von dem Buch auf und

bemerkte, wie sich seine Augen öffneten. Starr blickte er ihn an.

»Glaubst du, so einfach kannst du mich loswerden?«
»Du wirst dich noch wundern!«, entgegnete Angel und las wieder aus

seinem Buch.

»Oh, du niederträchtiges und ungehorsames Wesen! Da du nicht den

Worten gehorcht hast, die ich sprach, werde ich dich exkommunizieren,
dich in die Hölle verbannen, aus der es keine Wiederkehr gibt. Du wirst
im unauslöschlichem Feuer schmoren. Ich werde dich vernichten und
deinen Namen für allezeit auslöschen, wenn du nicht augenblicklich
gehorchst!«

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»Unheimlich Erfolg versprechend!«, bemerkte der Dämon. Aber er

zitterte und bebte, und seine Haut schien noch blasser zu werden, fast
durchscheinend. Offenbar zeigte der Bannspruch nun doch Wirkung.

Erst jetzt fiel Angel auf, wie kalt und düster es im Raum geworden

war. Neben Karinnas Bett leuchtete jedoch plötzlich eine formlose
Masse auf, die vor seinen Augen Gestalt annahm.

Karinnas Gestalt. Nicht aus Fleisch und Blut, denn Angel konnte durch

sie hindurch sehen, aber unverkennbar war es Karinna. Sie stand nicht
wirklich auf dem Boden, sondern schwebte ein wenig in der Luft. Und
der Dämon auf dem Bett starrte sie mit hasserfülltem Blick an.

»Ist das noch so ein Trick?«, fragte Angel.
Das Abbild von Karinna bewegte sich nicht, der Mund blieb

geschlossen, aber ihre Stimme ertönte glockenhell.

»Das ist kein Trick, Angel. Ich bin es, Karinna!«
»Die echte?«
»Ja! Jedenfalls das, was von mir auf dieser Welt übrig geblieben ist.«
»Aber wie ...?«
»Der Dämon hatte meine Gestalt angenommen, noch bevor mein

Körper kalt war und beerdigt wurde«, erklärte Karinnas Geist. Angel
kam es merkwürdig vor, mit einem toten Mädchen zu sprechen, dessen
Stimme aus dem Nichts zu kommen schien und ihn doch vollständig
umgab. Aber eigentlich war Angel mit allen Formen der Fremdartigkeit
bestens vertraut. Er versuchte, es als ganz normal anzusehen.

»Und alle, die mich kannten, haben meinen Tod verleugnet. Mein

eigener Vater...« Ihre Stimme stockte. Auch über den Tod hinaus
schmerzte sie, was geschehen war. »Ich wurde anonym beerdigt, aber
mein Körper – die Gestalt meines Körpers, meine Hülle – wandelte
immer noch auf Erden. Ich konnte keine Ruhe finden.«

»Hör nicht auf sie!«, knurrte der Dämon mit den vielen Gesichtern.

»Sie ist eine Lügnerin. Das kann ich dir nach den paar Tagen, die ich in
ihr gewohnt habe, versichern. Scheußlich!«

»Sei still!«, sagte Angel. »Erzähl weiter, Karinna!«
»Der Dämon kennt mein wahres Wesen nicht«, sagte Karinna. »Er

kennt meine Gestalt, das ist alles. Er hat keine Ahnung, wie sehr es
schmerzt, tot zu sein, aber keine Ruhe zu finden und die Reise nicht
beenden zu können.«

Jetzt fiel bei Angel der Groschen. Nun verstand er auch das letzte

Detail, das bislang noch keinen Sinn ergeben hatte. Warum hätte Doyle
eine Vision haben sollen, durch die Angel in eine Falle gelockt wurde?

»Also hat Doyle in seiner Vision eigentlich dich gesehen, die echte

Karinna. Du warst diejenige, die sich in Schwierigkeiten befand, und ich

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sollte deiner Seele helfen. Doyle hat dein Gesicht gesehen, aber die
Vision war nicht deutlich genug und er hat nicht erkannt, dass es dich
zweimal gibt.«

»Ja, ich brauchte Hilfe«, sagte Karinna fast flehend. »Ich brauche

immer noch Hilfe! Solange der Dämon hier ist, kann ich nicht gehen.
Durch den Bannspruch hast du mir erlaubt, noch einmal zurückzukehren.
Aber solange der Dämon nicht völlig verschwunden ist, kann ich meine
Reise nicht fortsetzen.«

»Weißt du, was der Dämon getan hat, Karinna? Und was dein Vater

getan hat?«

»Ja, es beschämt mich zutiefst. Aber an dem Ort, an den ich gehe, gibt

es keine Scham, keine Verletzung und auch nicht den Schmerz des
Verrats. Bitte hilf mir, dorthin zu gelangen, Angel! Zwischen den Welten
zu stehen tut sehr weh. Ich kann es nicht mehr aushaken.«

»Ignoriere sie, Angel!«, sagte der Dämon. »Sie ist tot, was kann sie dir

schon bieten!

»Was kannst du mir denn bieten?« Angel betastete vorsichtig seine

Wange, die der Dämon mit den Krallen aufgerissen hatte. »Du bist nicht
gerade ein Anwärter auf den ersten Preis in Sachen Kongenialität.«

»Ich kann dir alles geben, was du willst, Angel. Mit meinen

Fähigkeiten, mit meinem Talent schaffen wir alles. Wir könnten die Welt
beherrschen!«

»So gierig bin ich gar nicht«, konterte Angel. »Das ist mir zu viel

Verantwortung. Mir reicht schon das bisschen, das ich jetzt zu tragen
habe.« Er sah den Geist von Karinna an, der über dem Bett schwebte.
»Mir tut es so Leid für dich, Karinna. Entschuldige, dass ich nicht mehr
für dich tun kann.«

»Sorge einfach dafür, dass ich weiterziehen darf, Angel«, sagte sie.

»Das ist alles, worum ich dich bitte. Hilf mir!«

Angel nickte und erhob das Buch. Der nächste Teil der

Beschwörungsformel war wieder auf Latein. Er las ihn laut vor.

Der Dämon mit den vielen Gesichtern begann plötzlich zu heulen.
Seine Gestalt wurde noch undeutlicher und schemenhafter als zuvor.

Er krümmte sich vor Schmerz. Durch ihn hindurch konnte Angel ans
Bettende sehen. Der Geist von Karinna, der daneben schwebte, schien
nun ein bisschen mehr an Substanz zu gewinnen.

Angel las weiter.
Das Heulen des Dämons verwandelte sich in ein einziges qualvolles

Klagen, das Angel in den Ohren wehtat. Es klang, als sprächen daraus
alle Schmerzen der Welt.

Dann hörte es abrupt auf.

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Der Dämon war verschwunden.
Angel klappte das Buch zu.
Karinna, die nun ganz normal aussah, setzte sich aufs Bett.
»Du bist noch hier?«
»Nicht wirklich. Nicht, um zu bleiben«, sagte sie.
»Warum dann?«
»Ich wollte mich noch bei dir bedanken.«
Sie erhob sich. Angel fand, sie war viel hübscher als das, was der

Dämon von ihr gezeigt hatte. Sie hatte etwas Besonderes an sich. Ihr
innerstes Wesen spiegelte sich in ihrem Äußeren und das machte sie
noch liebenswerter. Das hatte der Dämon nicht nachahmen können.

Mit dem roten Haar, das sich um ihr Gesicht kräuselte, den

leuchtenden Augen und den roten Lippen, die sich zu einem
schüchternen Lächeln verzogen, sah sie mehr denn je aus wie die junge
Frau, die Angel damals in Tirgu Bals gesehen hatte. Ihr hatte er nicht
helfen können, aber diesmal war es gut ausgegangen.

Karinna kam auf ihn zu und legte ihm die Arme um den Hals. Sie

umarmte ihn fest und mädchenhaft zugleich.

»Danke, Angel«, sagte sie. »Für alles!«
»Gern ... gern geschehen«, stotterte Angel. »Karinna.«
Sie ließ ihn los, trat zwei Schritte zurück und warf ihm ein Lächeln zu,

das den ganzen Raum erhellte.

Und dann war auch sie verschwunden.


Angel war gerade auf dem Weg zur Eingangstür, als er sie sah. Marjorie
Willits wirkte immer noch sehr zerbrechlich, als könne schon ein lautes
Geräusch sie zersplittern lassen. Sie spähte aus der Tür zum
Arbeitszimmer ihres Mannes.

»Angel?«, fragte sie zögernd.
»Ja, Mrs. Willits?«
»Es ist vorbei, oder?«
»Es ist alles vorbei, ja. Ich weiß nicht, wie viel Sie wissen ...«
»Ich weiß genug. Zu viel. Karinna ...«
»Karinna hat nun Frieden gefunden, Mrs. Willits.«
»Dafür danke ich Ihnen.«
»Keine Ursache. Mir wurde bereits gedankt.«
»Trotzdem.«
»Wissen Sie, was Ihr Mann getan hat?«
»Ja, ich weiß es.«
»Und Sie sind immer noch hier?«
Sie nickte ernst und sah auf ihre kleinen Hände hinab.

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»Ich wüsste nicht, wohin ich gehen sollte.«
»Dafür gibt es Leute«, sagte Angel. »Beratungsstellen. Soziale

Einrichtungen. Sie haben doch Geld. Sie könnten sich dabei helfen
lassen, Ihr Leben neu zu ordnen.«

»Wahrscheinlich brauche ich Hilfe.«
»Wer nicht?«
»Aber was ich am meisten brauche, ist Kraft. Jack braucht Kraft und

ich muss sie ihm geben.«

»Sie wollen bei ihm bleiben?«
»Er hat sonst niemanden.«
»Ich bin nicht sicher, ob er das verdient hat...«
»Was er verdient hat, spielt keine Rolle, Angel. Er mag kein guter

Mann sein und nicht besonders stark oder tapfer. Aber was immer er
getan hat – er ist mein Ehemann. Also bin ich verantwortlich für ihn. Ich
bin es ihm schuldig.«

»Sie sind ein besserer Mensch als ich, Mrs. Willits. Ich wäre schon vor

langer Zeit gegangen.«

»Ich glaube, das hat nichts mit gut oder böse zu tun, Angel. Man tut,

was man tun muss. Alle tun das. Ob es nun richtig ist oder falsch.«

»Etwas sehr Ähnliches hat Jack auch zu mir gesagt.«
»Das überrascht mich nicht.« Sie blickte über ihre Schulter, als tauche

ihr Mann jeden Moment hinter ihr auf. »Ich glaube, Sie haben ihn
gebrochen, Angel. Ich weiß nicht, ob er sich je erholen wird. Aber ich
werfe es Ihnen nicht vor. Ich sage nur, was ich denke. Er wird meine
Hilfe brauchen und ich werde für ihn da sein.«

»Sie sind stärker als Sie aussehen.«
Sie bedachte ihn mit einem Lächeln, in dem Angel ihre Tochter

wiedererkannte. Es machte ihn froh zu sehen, dass doch noch etwas von
Karinna auf dieser Welt überdauerte.

»Wer ist das nicht?«
»Das stimmt«, entgegnete er. »Wer ist das nicht.«
Er ging auf die Haustür zu. Dort blieb er stehen und wies mit der Hand

auf den Schaden, den er angerichtet hatte. »Das tut mir Leid«, sagte er.
»Das mit der Tür. Sie war mir... im Weg.«

»Ich verstehe, Angel.«
»Sie werden sie bestimmt reparieren wollen.«
»Vielleicht. Vielleicht verkaufen wir das Haus auch. Wir werden

sehen.«

»Es war mir ein Vergnügen, Sie kennen zu lernen, Mrs. Willits. Und

Ihre Tochter.«

»Es war mir ebenfalls ein Vergnügen, Angel.«

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196

Sie zog sich wieder in das Arbeitszimmer zu ihrem Mann zurück, und

Angel verließ das Haus. Sein verbeulter GTX stand in der Einfahrt; die
Schlüssel steckten im Schloss.

Er stieg ein, ließ den Motor an und verließ Bel Air. Eigentlich wollte

er nach Hause, aber unterwegs kam ihm eine Idee. Er sah auf die Uhr.
Noch eine Stunde bis zur Morgendämmerung. Genug Zeit für einen
Zwischenstopp. Bis zu der Adresse, die auf dem Kärtchen aus Jacks
Karteikasten stand, war es nicht sehr weit.
































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197

Epilog






Angel schlief fast den ganzen Tag und ruhte sich auch in der folgenden
Nacht noch aus. Am Morgen danach saß er um zehn Uhr mit Doyle im
vorderen Büro. Sie sprachen über alles Mögliche - außer Karinna Willits,
ihren Vater und die Schwierigkeiten, in die sie Angel gebracht hatten -
als Cordelia mit einem Packen Hollywood-Presse im Arm zur Tür
hereinkam.

»Überall steht was über deinen Boss drin«, verkündete sie. »Und

nichts Gutes. Wenigstens nicht für ihn.«

»Er ist nicht mehr mein Boss«, korrigierte sie Angel.
»Ist doch auch egal! Du weißt, wen ich meine, oder? Jack Willits.«
»Er steht in der Zeitung, hm?«
»Es ist die Rede vom heftigsten Karrierecrash in der Geschichte

Hollywoods«, sagte Cordelia. »Natürlich lauten die Schlagzeilen in der
Fachpresse ›Filmboss erleidet Schiffbruch‹ und so ähnlich.«

»Was ist mit ihm passiert?«, fragte Doyle.
»Was wohl?«, entgegnete Cordelia. »Er wurde gefeuert.«
»Das ging aber schnell«, sagte Angel.
»Hey, diese multinationalen Konzerne riechen Blut, sobald es im

Wasser ist«, sagte Cordelia. »Und dann müssen sie sicher gehen, dass es
sich nicht um ihr eigenes handelt. Als ich zum Beispiel bei Monument
gearbeitet habe ...«

»Für zwanzig Minuten meinst du?«, unterbrach sie Doyle. »Hat man

dir etwa seinen Job angeboten?«

»Ha ha«, machte Cordelia. »Das ist jetzt nicht die richtige Zeit für

deinen Sarkasmus!«

»Wann denn?«
»Wenn er aus meinem Mund kommt!«
»Erzähl weiter, Cordy«, meinte Angel. »Er wurde gefeuert – und was

steht da sonst noch?«

Cordelia sah Doyle an und wandte sich bedächtig ab. »Weißt du, die

meisten von diesen großen Hollywood-Machern haben einmalige
Verträge mit eingebautem Rettungsfallschirm. Auch wenn sie einen Flop
produzieren und fertig gemacht werden, gehen sie immer noch mit
Millionen Dollar in der Tasche nach Hause. Willits hatte so etwas
natürlich auch, aber sie wollen ihm das Geld nicht geben. Der Konzern,

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198

dem das Studio gehört, sagt, es gäbe Beweise dafür, dass er das Studio
betrogen hat. Angeblich gibt es sogar Hinweise auf Unterschlagung,
obwohl das natürlich nicht so direkt gesagt wurde, denn das würde ja
auch auf den Konzern ein schlechtes Licht werfen.«

»Unterschlagung?«, fragte Doyle.
»Ihr kennt doch die Geschichte, dass Blake Alten einen Film mit

Monument machen wollte, für ganz wenig Geld? Alten behauptet, davon
sei nie die Rede gewesen. Er habe zu keinem Zeitpunkt einem solchen
Vertrag zugestimmt, und wenn doch, dann habe er wohl unter Hypnose
gestanden, denn er würde so einen Vertrag unter keinen Umständen
abschließen. Besonders nicht mit Monument Pictures. Denn vor Jack
Willits hat er nach eigenen Angaben keinen Funken Respekt.«

»Aua«, bemerkte Doyle.
»Alten behauptete also, der Vertrag sei eine Erfindung von Jack. Und

der Konzern steht auf Altens Seite. Man hat wohl schon Jacks Papiere
kontrolliert und tatsächlich festgestellt, dass es keinen Vertrag gibt.
Keinen Vertrag, keinen Brief, kein Indiz dafür, dass es je Verhandlungen
gegeben hat. Der Konzern ist nun der Ansicht jack habe die Geschichte
mit Blake Alten einfach nur in die Welt gesetzt, um seinen Job nicht zu
verlieren. Man unterstellt ihm, er habe sein Image noch einmal richtig
aufpolieren wollen, um dann seine Anteile von Monument Pictures
gewinnbringend verkaufen zu können. Das SEC, was auch immer das ist,
überprüft jetzt diese Anschuldigungen.«

»Das ist eine Börsenkommission«, erklärte Angel.
»Sie sorgt im Bereich des Aktienmarktes für die Einhaltung der

Gesetze«, fügte Doyle hinzu. »Deshalb halte ich persönlich mich auch
von der Börse fern. Viel zu viele Vorschriften!«

»Wenn du die Aktien bei deinem Buchmacher kaufen könntest,

würdest du aber mitmachen«, sagte Angel. »Du fürchtest ja nur das
gesetzlich erlaubte Glücksspiel!«

»Harte Worte, mein Freund«, bemerkte Doyle. »Ich bin zutiefst

getroffen.«

»Haben wir eigentlich gerade nicht von mir geredet?«, fragte Cordelia

genervt. »Oder mir wenigstens zugehört?«

»Also gibt es noch mehr zu erzählen?«, meinte Angel.
»Die Geschichte ist ganz schön kompliziert«, entgegnete Cordelia.

»Ich konnte das alles nicht auf einmal lesen. Ich hatte Angst, rote,
blutunterlaufene Augen davon zu bekommen. Vorsichtshalber habe ich
mir Tropfen reingetan. Wie sehen sie aus?«

»Nicht mehr rot«, sagte Angel. »Und sonst?«

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199

»Der Konzern hat Jack Willits nicht nur gefeuert. Man überlegt auch,

ob man ihn verklagen soll. Vertrauensbruch, Vertragsbruch,
Börsenmanipulation und so weiter und so fort. Letztendlich läuft es
darauf hinaus, dass er nicht nur den Job los ist, sondern auch noch einen
großen Haufen Sch ... am Hals hat.«

»Das bringt es wohl auf den Punkt«, meinte Doyle.
»Danke.« Cordelia lächelte und machte eine kleine Verbeugung.
»Ich frage mich, ob Blake Alten wirklich unter Hypnose stand«, fuhr

sie fort. »Das würde erklären, warum er nicht auf mich reagiert hat. An
diesem Tag saß mein Haar ganz wunderbar, also ...«

»Das wird's wohl gewesen sein«, witzelte Doyle.»Du hast Recht, deine

Frisur war sagenhaft.«

»Weiß man schon, wer den Job von Willits übernimmt?«, fragte Angel

in dem Versuch, zum Thema zurückzukommen.

Cordelia blätterte ein paar Seiten weiter und fuhr mit dem Finger eine

Textspalte hinunter.

»Sie suchen noch jemanden; es gibt einige Kandidaten zur Auswahl,

steht hier. In der Zwischenzeit werden die Geschäfte von der
Anwaltskanzlei Wolfram und Hart geführt.«

»Na, großartig!«, sagte Angel. »Das verleiht dem Begriff Hollywood-

Haie doch eine ganz neue Bedeutung.«

»Ich wusste gar nicht, dass es diesen Begriff gibt«, bemerkte Doyle.
»Ich frage mich, was Blake Alten wohl von mir gehalten hätte, wenn

er nicht in Trance gewesen wäre«, sagte Cordelia. »Vielleicht hätte er
gewollt, dass ich in seinem nächsten Film an seiner Seite spiele.«

»Ganz zweifelsfrei!«
»Glaubst du? Was meinst du, was für ein Typ er ist?«
»Macht einen ganz netten Eindruck«, meinte Angel. »Sein Haus

auch.«

»Denn ich könnte es bestimmt arrangieren, ihm noch einmal zu

begegnen, wenn ihr wirklich glaubt, ich würde ihm gefallen. Ich meine,
was kann einem an mir nicht gefallen? Seht mich an!«

»Ich sehe dich an«, versicherte ihr Doyle grinsend.
»Dich habe ich doch gar nicht gemeint! Ich meinte dieses ganz

allgemeine ›Seht mich an!‹«

»Aber die Allgemeinheit ist gerade nicht hier, Cordy. Also habe ich

dich stellvertretend für sie angesehen.«

»Oh. Also dann, okay. Danke.«
Angel erhob sich von der Couch. Das konnte jetzt noch gut eine

Stunde so weitergehen und die beiden würden kein Ohr dafür haben, was
er zu erzählen hatte.

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200

»Wusstest du, dass die Gage für die weibliche Hauptrolle in einem

Film mit Blake Alten fünf oder sechs Millionen Dollar betragen kann?«,
fragte Cordelia.

»Das wusste ich nicht.«
»Es ist wahr! Sogar für eine relativ unbekannte Schauspielerin wie

Julie Williams in Trouble Happy. Blake hat sie in einer Suppenwerbung
gesehen und schon steckt sie einen Scheck mit einer siebenstelligen Zahl
drauf ein. Weißt du, was ich alles mit fünf Millionen anstellen könnte?«

Angel zog die Tür zu seinem Büro hinter sich zu und ließ sie ins

Schloss fallen.

Doyle und Cordelia sahen sich verwundert an. Doyle zuckte mit den

Schultern.

»Was ist denn mit dem los?«, fragte Cordelia.
»Vielleicht 'n harten Tag gehabt.«
»Einen harten Tag? Ich meine, sicher, er arbeitet hart. Dämonen

verprügeln laugt einen bestimmt aus. Aber wann sind ihm denn zum
letzten Mal fünf Millionen Dollar durch die Lappen gegangen, weil ein
Filmstar unter Hypnose stand? Ich hätte das Geld verdammt gut gebrau-
chen können. Wirklich, manche Leute müssten sich dringend mal
überlegen, auf was es im Leben wirklich ankommt.«

»Ich bin ganz Ohr, Cordy«, bemerkte Doyle. »Ich höre dir gut zu.«
Cordelia ließ sich durch ihn nicht vom Träumen abhalten. »Jedenfalls,

mit fünf Millionen Dollar in der Tasch ...«


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