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Weit  draußen,  nahe  dem  Rande  der  Galaxis,  liegt  der
Sternhaufen  Alastor,  ein  Wirbel  von  dreißigtausend  le-
bendigen  Sonnen.  Er  ist  von  unregelmäßiger  Form  und
hat einen Durchmesser von zwanzig bis dreißig Lichtjah-
ren. Die Umgebung ist dunkel, der Weltraum leer bis auf
wenige Einsiedlersterne. Von außen sieht Alastor wie ein
funkelndes  Lichtergewebe  aus,  mit  breiten  Sternenbän-
dern,  flammenden  Zusammenballungen,  glitzernden
Knoten.  Staubwolken  ziehen  sich  wie  Schatten  darüber,
und  die  Sterne  darin  glimmen  rötlich  oder  stumpfgelb
wie  rauchiger  Bernstein.  Unsichtbar  schweben  dunkle
Sterne  durch  Millionen  von  Bruchstücken  aus  Eisen,
Schlacke und Eis: das sind die »Starments«, tote Sonnen,
die  den  berüchtigten  »Starmentern«  als  Schlupfwinkel
dienen.

Verstreut über den Sternhaufen finden sich etwa drei-

tausend  besiedelte  Planeten  mit  einer  menschlichen  Be-
völkerung  von  insgesamt  vielleicht  fünf  Billionen.  Die
Welten sind vielfältig, ihre Bewohner sind es ebenso, ob-
wohl  sie  eine  gemeinsame  Sprache  haben  und  alle  sich
der Oberherrschaft des Connat in Lusz auf der Welt Nu-
menes beugen.

Auf Trullion, einer dieser exotischen Welten, einem Pla-
neten,  der  fast  ganz  von  Wasser  bedeckt  und  nur  in
Äquatornähe  von  einem  schmalen  Kontinent  umspannt
und  zahllosen  Inseln  bekränzt  ist,  lebt  Glinnes  Hulden
mit  seiner  Mutter  und  seinen  Brüdern.  Er  verteidigt  die
kleine  fruchtbare  Insel,  die  er  sein  eigen  nennt,  gegen
Neider, Sektierer und Gesindel, und er verteidigt sein Le-
ben  und  das  seiner  Angehörigen  und  Freunde,  wenn
nachts  die  halbintelligenten  Merlinge  aus  dem  Wasser
steigen, um unachtsame Menschen in die dunklen Tiefen
des Meeres zu ziehen.

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Vom gleichen Autor erschienen außerdem
als Heyne-Taschenbücher

Start ins Unendliche · Band 3111
Jäger im Weltall · Band 3139
Die Mordmaschine · Band 3141
Der Dämonenprinz · Band 3143
Emphyrio · Band 3261
Der Mann ohne Gesicht · Band 3448
Der Kampf um Durdane · Band 3463
Die Asutra · Band 3480

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JACK VANCE

TRULLION:

ALASTOR 2262

Fantasy-Roman

Deutsche Erstveröffentlichung

WILHELM HEYNE VERLAG

MÜNCHEN

Dieses E-Book ist nicht zum Verkauf bestimmt!!

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HEYNE-BUCH Nr. 3563

im Wilhelm Heyne Verlag, München

Titel der amerikanischen Originalausgabe

TRULLION: ALASTOR 2262

Deutsche Übersetzung von Yoma Cap

Redaktion: Wolfgang Jeschke

Copyright © 1973 by Jack Vance

Copyright © 1977 der deutschen Übersetzung

by Wilhelm Heyne Verlag, München

Printed in Germany 1977

Umschlag: Johann Peter Reuter, Gummersbach-Strombach

Umschlaggestaltung: Atelier Heinrichs, München

Gesamtherstellung: Mohndruck Reinhard Mohn OHG,

Gütersloh

ISBN 3-453-30457-8

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Weit draußen, nahe dem Rande der Galaxis, liegt der
Sternhaufen  Alastor,  ein  Wirbel  von  dreißigtausend
lebendigen Sonnen. Er ist von unregelmäßiger Form
und hat einen Durchmesser von zwanzig bis dreißig
Lichtjahren. Die Umgebung ist dunkel, der Weltraum
leer bis auf wenige Einsiedlersterne. Von außen sieht
Alastor  wie  ein  funkelndes  Lichtergewebe  aus,  mit
breiten  Sternenbändern,  flammenden  Zusammen-
ballungen,  glitzernden  Knoten.  Staubwolken  ziehen
sich  wie  Schatten  darüber,  und  die  Sterne  darin
glimmen rötlich oder stumpfgelb wie rauchiger Bern-
stein. Unsichtbar schweben dunkle Sterne durch Mil-
lionen von Bruchstücken aus Eisen, Schlacke und Eis:
das sind die ›Starments‹, tote Sonnen.

Verstreut  über  den  Sternhaufen  finden  sich  etwa

dreitausend  besiedelte  Planeten  mit  einer  menschli-
chen  Bevölkerung  von  insgesamt  vielleicht  fünf  Bil-
lionen. Die Welten sind vielfältig, ihre Bewohner sind
es  ebenso,  obwohl  sie  eine  gemeinsame  Sprache  ha-
ben  und  alle  sich  der  Oberherrschaft  des  Connat  in
Lusz auf der Welt Numenes beugen.

Der augenblickliche Connat heißt Oman Ursht, der

sechzehnte in der Linie der Iditen, und ist ein Mann
von  alltäglichem  Aussehen  und  unauffälligem  Auf-
treten. Auf Porträts und bei offiziellen Anlässen trägt
er  eine  strenge  schwarze  Uniform  mit  schwerem
Helm, um den Eindruck unnachgiebiger Autorität zu
erwecken. Nur so kennen ihn die Menschen von Ala-
stor. Privat ist Oman Ursht ein ruhiger und besonne-
ner  Mann,  der  lieber  etwas  zu  wenig  als  zu  viel  re-
giert.  Er  ist  es  gewohnt,  jede  seiner  Handlungen  ge-
nau zu überdenken, denn er weiß recht gut, daß alles,
was er tut, jede Geste, jedes Wort, jede unwillkürliche

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Betonung,  eine  Lawine  unvorhersehbarer  Folgen
auslösen könnte. Aus diesem Grund bemüht er sich,
streng, nüchtern und sachlich zu wirken.

Dem  flüchtigen  Beobachter  erscheint  der  Alastor-

Sternhaufen  als  eine  friedliche,  ja  beschauliche  An-
sammlung von Welten. Der Connat weiß, daß es an-
ders  ist.  Er  weiß,  daß  überall,  wo  Menschen  nach
Vorteilen streben, nur ein labiles Gleichgewicht herr-
schen kann; wird kein Ausgleich für diese Kräfte ge-
schaffen, entstehen Spannungen im sozialen Gewebe,
so daß es manchmal zerreißt. Der Connat sieht seine
Funktion  darin,  solche  sozialen  Spannungen  zu  er-
kennen und zu beheben. Manchmal verbessert er die
Zustände, manchmal setzt er Ablenkungstaktiken ein.
Wird  eine  harte  Vorgangsweise  unvermeidlich,  so
schickt er seine Streitmacht aus, den Whelm, der Po-
lizei und Militär in einem ist. Oman Ursht scheut da-
vor  zurück,  einem  Insekt  etwas  zuleide  zu  tun;  der
Connat  kann  aber  auch  ohne  Gewissensbisse  den
Untergang einer Million Menschen befehlen. In vielen
Fällen  allerdings  enthält  er  sich  jeder  Einmischung,
da er der Ansicht ist, jeder Zustand schaffe selbst ei-
nen Gegen-Zustand, und er danach trachtet, nicht ei-
nen dritten, komplizierenden Faktor herbeizuführen.
Im Zweifel tue – gar nichts: eine der Lieblingsmaximen
des Connat.

Nach alter Tradition durchwandert er inkognito die

Welten von Alastor. Hin und wieder, etwa um einem
Unrecht abzuhelfen, gibt er sich als mächtiger Beam-
ter zu erkennen; oft belohnt er Güte und Selbstlosig-
keit.  Immer  wieder  fasziniert  ihn  das  Alltagsleben
seiner Untertanen aufs neue, und Gespräche wie die
folgenden hört er sich stets interessiert an:

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ALTER  MANN  (zu  einem  trägen  Burschen):  Wenn

jeder  hätte,  was  er  sich  wünscht,  wer  würde
dann noch arbeiten? Niemand.

BURSCHE:  Ich  nicht,  darauf  kannst  du  dich  verlas-

sen.

ALTER MANN: Und du wärst der erste, der empört

aufschreit, denn nur die Arbeit hält alles in Ord-
nung. Aber jetzt mach weiter; spuck in die Hän-
de. Ich kann Trägheit nicht leiden.

BURSCHE  (knurrend):  Wenn  ich  der  Connat  wäre,

wurde  ich  dafür  sorgen,  daß  jedem  seine  Wün-
sche erfüllt werden. Keine Schufterei mehr! Frei-
er  Eintritt  bei  den  Hussade-Spielen!  Eine  tolle
Raumjacht!  Jeden  Tag  neue  Kleider!  Diener,  die
einem das herrlichste Essen servieren!

ALTER MANN: Der Connat müßte ein Zauberer sein,

um dich und die Diener zufriedenzustellen. Die
würden nämlich nichts lieber tun, als dir zu ge-
ben, was du verdienst – täglich mindestens einen
Arschtritt. Und jetzt geh wieder an die Arbeit.

Oder:

JUNGER MANN: Geh niemals in die Nähe von Lusz,

ich flehe dich an! Der Connat würde dich für sich
beanspruchen!

MÄDCHEN (schelmisch): Was würdest du dann tun?
JUNGER  MANN:  Ich  würde  ein  Rebell!  Ich  würde

der  glorreichste  Starmenter

1

  sein,  der  je  die

Himmel  unsicher  gemacht  hat!  Und  endlich
würde  ich  die  Macht  von  Alastor  erringen,

                                                  

1

 

Siehe Glossar am Schluß des Bandes.

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Whelm,  Connat  und  alles  andere  überwinden
und dich zurückerobern.

MÄDCHEN:  Du  bist  mutig,  aber  der  Connat  würde

doch nie jemand so Gewöhnlichen wie mich er-
wählen;  dienen  ihm  in  Lusz  doch  schon  die
schönsten Frauen von Alastor.

JUNGER  MANN:  Welch  herrliches  Leben  er  führen

muß! Connat zu sein – das wäre mein Traum!

MÄDCHEN stößt einen ärgerlichen Seufzer aus und

wird unnahbar.

JUNGER  MANN  ist  verwirrt.  Oman  Ursht  entfernt

sich.

Lusz,  der  Palast  des  Connat,  ist  wirklich  ein  bemer-
kenswertes Bauwerk. Auf fünf gewaltigen Säulen ru-
hend,  erhebt  es  sich  dreitausend  Meter  über  das
Meer.  Zahllose  Besucher  durchstreifen  die  unteren
Regionen; von allen Welten Alastors kommen sie und
von noch ferneren Gegenden – aus den Dunkelzonen,
dem  Primarchat,  dem  Erdischen  Sektor,  dem  Rubri-
mar-Haufen  und  aus  den  vielen  anderen  Teilen  der
Galaxis, die der Mensch für sich erobert und erschlos-
sen hat.

Über den öffentlichen Räumen und Wandelgängen

befinden sich Regierungsbüros, Zeremoniensäle, und
darüber die Privatgemächer des Connat. Sie berühren
die Wolken und ragen oftmals sogar darüber hinaus.
Wenn  das  Sonnenlicht  auf  seinen  schimmernden
Mauern  spielt,  ist  Lusz,  der  Palast  des  Connat,  ein
über alle Maßen prächtiger Anblick und wird oft zu
den erhabensten Werken der Menschheit gezählt.

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KAPITEL 1

Raum 2262 im Ring der Welten gehört Trullion, dem
einzigen  Planeten  einer  kleinen,  weißen  Sonne,  die
nur  ein  Lichtfunken  in  einer  breiten  Sternspirale  am
Rande des Haufens ist. Trullion ist eine kleine Welt,
die  zum  Großteil  aus  Wasser  besteht  und  nur  einen
schmalen  Kontinent,  Merlank

2

,  in  Äquatornähe  be-

sitzt.  Dicke  Wolkenbänke  treiben  vom  Meer  herein
und fangen sich in den Zentralbergen; Hunderte von
Flüssen  bringen  das  Wasser  durch  breite  Täler  ins
Meer  zurück,  fruchtbare  Täler,  in  denen  Obst  und
Getreide so reichlich gedeihen, daß sie kaum Markt-
wert haben.

Die ersten Siedler auf Trullion brachten Arbeitsei-

fer  und  Sparsamkeit  mit,  Lebensgewohnheiten,  die
ihnen in ihrer früheren, harten Umwelt zustatten ge-
kommen  waren;  das  erste  Zeitalter  der  Trill-
Geschichte  wies  Dutzende  Kriege  auf,  tausende
Abenteuer,  das  Entstehen  eines  Erbadels  und  ein
Nachlassen der anfänglichen Betriebsamkeit. Die Trill
fragten  sich  –  wozu  arbeiten,  wozu  Waffen  tragen
und  sich  plagen,  wenn  ein  Leben  voller  Feste,  mit
Singen,  Feiern  und  Muße  ebenso  möglich  ist?  Nach
drei Generationen bestand das alte Trullion nur mehr
in  der  Erinnerung.  Die  meisten  Trill  arbeiteten  jetzt
nur  noch,  soweit  die  Umstände  sie  dazu  zwangen:
um ein Fest vorzubereiten, ihrer Vorliebe für Hussade
zu frönen, um einen Pulsor für ihr Boot zu verdienen
oder einen Topf für die Küche oder ein Stück Stoff für

                                                  

2

 

Siehe Glossar

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den  Paray,  das  leichte  Hüfttuch,  das  von  Männern
wie Frauen getragen wurde. Wenn es sich ergab, ar-
beiteten  sie  auch  auf  den  fruchtbaren  Feldern,  fisch-
ten im Meer, angelten in den Flüssen, ernteten wilde
Früchte – und wenn einem Trill danach war, schürfte
er  wohl  auch  in  den  Bergen  nach  Smaragden  und
Opalen oder sammelte Cauch

3

. Er arbeitete vielleicht

eine Stunde am Tag, manchmal auch zwei oder drei;
viel  mehr  Zeit  verbrachte  der  durchschnittliche  Trill
aber  damit,  auf  der  Veranda  seines  gemütlich  ver-
wahrlosten  Hauses  zu  dösen.  Er  hegte  eine  Abnei-
gung  gegen  die  meisten  technischen  Einrichtungen,
weil  er  sie  kalt,  verwirrend  und  –  wichtiger  –  teuer
fand, wiewohl er sich – mit einem gewissen Mißtrau-
en  zwar  –  des  Telefons  bediente,  um  seine  gesell-
schaftlichen Unternehmungen praktischer ordnen zu
können; einen Pulsormotor für sein Boot hielt er da-
gegen für selbstverständlich.

Wie  in  den  meisten  ländlichen  Kulturen  kannte

auch  jeder  Trill  seinen  genauen  Platz  in  der  Gesell-
schaftsordnung.  Ganz  oben,  fast  als  Klasse  für  sich,
war die Aristokratie; die unterste Schicht bildeten die
nomadischen  Trevanyi  eine  ebenso  in  sich  geschlos-
sene Klasse. Die meisten Trill lehnten neuartige oder
exotische  Ideen  ab.  Obwohl  sie  üblicherweise  ruhig
und  friedfertig  waren,  konnten  sie  bei  entsprechen-
dem Anlaß in jähzorniges Wüten verfallen, und auch
sonst zeigte ihre Kultur einige fast barbarische Züge –
insbesondere das makabre Ritual der Prutanschyr.

Die  Regierung  von  Trullion  beschränkte  sich  auf

wesentliche  Verwaltungseinrichtungen,  für  die  die

                                                  

3

 

Siehe Glossar

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meisten  Trill  herzlich  wenig  Interesse  aufbrachten.
Merlank  war  in  zwanzig  Präfekturen  aufgeteilt,  die
ihre eigenen Behörden hatten und von einer kleinen
Zahl Beamten verwaltet wurden, die eine Stufe höher
standen als die gewöhnlichen Trill, aber immer noch
beträchtlich tiefer als die Aristokraten.

Der Handel mit anderen Planeten des Sternhaufens

war unerheblich, und auf ganz Trullion gab es auch
nur  vier  Raumhäfen:  Port  Maheul  an  der  Südküste,
und Vayamenda im Osten.

Hundert  Meilen  östlich  von  Port  Maheul  lag  die

Markstadt  Welgen,  berühmt  für  ihr  prächtiges  Hus-
sade-Stadion. Hinter Welgen begannen die Fens, ein
Landstrich  von  außergewöhnlicher  Schönheit.  Tau-
sende Wasserstraßen teilten das Festland in unzählige
Inseln und Inselchen, einige davon so klein, daß ge-
rade die Hütte eines Fischers darauf Platz fand, und
ein Baum, an dem er sein Boot festmachen konnte.

Wohin  man  auch  kam,  ein  prächtiger  Ausblick

nach dem anderen erfreute das Auge: graugrüne Me-
nas, silbrig-rote Pomanderbäume, schwarze Jerdinen
säumten  die  Wasserwege  und  verliehen  jeder  Insel
ihre  charakteristische  Silhouette.  Draußen  auf  ihren
verfallenen Veranden saßen die Landleute, Krüge mit
selbstgekeltertem Wein bei der Hand. Manche musi-
zierten  –  mit  Ziehharmonikas,  kleinen,  rundbäuchi-
gen  Gitarren  oder  Maultrommeln,  deren  munteres
Trillern  und  Pfeifen  weit  übers  Wasser  schallte.  Das
Licht  in  den  Fens  war  niemals  grell,  sondern  immer
weich  und  gedämpft,  und  es  schimmerte  in  zarten,
kaum wahrnehmbaren Farbtönen, als spiegelte es das
Glitzern  des  Wasser  wider.  Den  Morgen  über  ver-
hüllte sanfter Nebel die Ferne; die Sonnenuntergänge

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waren zauberische Schauspiele in Apfelgrün und La-
vendel.  Die  verschiedensten  Boote  glitten  über  die
Wasserwege,  manchmal  kam  eine  Segeljacht  eines
Aristokraten  vorbei,  oder  die  Fähre,  die  Welgen  mit
den Dörfern der Fens verband.

Mitten  in  den  Fens,  ein  paar  Meilen  vom  Dorf

Saurkash  entfernt,  lag  die  Insel  Rabendary,  auf  der
Jut Hulden mit seiner Frau Marucha und seinen drei
Söhnen lebte. Rabendary war vielleicht vierzig Hek-
tar groß, wovon gut ein Hektar waldbestanden war,
mit Menas, Schwarzholzbäumen, Semprissimas, Ker-
zennußbäumen.  Nach  Süden  hin  breitete  sich  die
weite  Ambal-Bucht  aus.  Das  Farwan-Gewässer
säumte Rabendary im Westen, die Gilweg-Straße im
Osten,  und  entlang  seiner  Nordküste  strömte  der
breite, ruhige Saur-Fluß. Auf der Westspitze der Insel
stand  das  etwas  verfallene  alte  Haus  der  Huldens
zwischen  zwei  mächtigen  Mimosenbäumen.  An  den
Verandapfosten  rankte  sich  Rosalia-Rebe  hoch  und
hing über das Dach herunter, ein duftiger schattiger
Vorhang für alle, die in den alten Flechtstühlen aus-
ruhten. Nach Süden hin hatte man einen wundervol-
len  Ausblick  über  die  Ambal-Bucht  und  die  Insel
Ambal, ein Idyll von über hundert Ar, mit einer An-
zahl herrlicher Pomanderbäume, deren Laubwerk ein
rotsilbernes  Muster  vor  dem  Hintergrund  der  matt-
grünen  Menas  bildete,  und  drei  riesige  Fanzaneel-
bäumen, die ihre großen, zottigen Blattwedel hoch in
die  Luft  reckten.  Durch  die  Bäume  schimmerte  das
weiße Mauerwerk des Landhauses, in dem Lord Am-
bal vor langer Zeit seine diversen Geliebten unterge-
bracht hatte. Der Besitz gehörte jetzt Jut Hulden, aber
er hatte nicht die geringste Absicht, in das Schlößchen

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zu übersiedeln; seine Freunde hätten ihn für verrückt
gehalten.

In  seiner  Jugend  hatte  Jut  Hulden  mit  den  Saur-

kash-Schlangen  Hussade  gespielt.  Marucha  war  die
Sheirl

4

 der Welgen-Wölfe gewesen; so hatten sie sich

kennengelernt,  hatten  geheiratet  und  drei  Söhne  in
die Welt gesetzt, Shira und die Zwillinge Glinnes und
Glay, und eine Tochter, Sharue, die von den Merlin-
gen

5

 geraubt worden war.

                                                  

4

 

Siehe Glossar

5

 

Siehe Glossar

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KAPITEL 2

Glinnes  Hulden  kam  brüllend  und  strampelnd  zur
Welt; Glay folgte ihm eine Stunde später in mißtraui-
schem  Schweigen.  Vom  ersten  Tag  ihres  Lebens  an
unterschieden sich die beiden – in Aussehen, Tempe-
rament, in allen Lebensumständen. Glinnes war, wie
Jut  und  Shira,  freundlich,  vertrauensvoll  und  heiter;
er wuchs zu einem hübschen Burschen mit gesunder
Haut  heran,  mit  sandfarbenen  Haaren  und  einem
breiten, lebensfrohen Mund. Glinnes genoß alle Ver-
gnügungen  der  Fens  voll  und  ganz:  Feste,  Liebes-
abenteuer,  die  Sternenschau

6

,  Segeln,  Hussade,

nächtliche Merlingjagden, einfaches Nichtstun.

Glay  hatte  anfangs  nicht  die  robuste  Gesundheit

seines  Bruders;  die  ersten  sechs  Lebensjahre  war  er
kränklich, unruhig und still. Dann besserte sich sein
Zustand, und bald überholte er Glinnes im Wachsen
und  blieb  auch  weiterhin  der  größere  von  beiden.
Sein  Haar  war  schwarz,  seine  Züge  angespannt,
scharf geschnitten, seine Augen blickten eindringlich.
Glinnes akzeptierte Ereignisse und Ideen mit heiterer
Unvoreingenommenheit,  Glay  dagegen  blieb  abwei-
send und in sich gekehrt. Glinnes zeigte eine natürli-
che Begabung für Hussade; Glay weigerte sich, auch
nur ein Spielfeld zu betreten. Obwohl Jut ein gerech-
ter  Vater  war,  fiel  es  ihm  schwer,  seine  Vorliebe  für
Glinnes nicht zu zeigen. Marucha, die selbst groß und
dunkelhaarig war und zu romantischen Träumereien
neigte,  bevorzugte  Glay,  in  dem  sie  künstlerische

                                                  

6

 

Siehe Glossar

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Anlagen  zu  entdecken  glaubte.  Sie  versuchte,  Glay
für  Musik  zu  interessieren,  und  erklärte  ihm,  wie  er
durch Musik seine Gefühle ausdrücken und anderen
verständlich machen könne. Glay konnte sich jedoch
nicht  dafür  begeistern  und  brachte  auf  ihrer  Gitarre
nur einige gleichgültige Mißtöne hervor.

Glay war auch sich selbst ein Rätsel. Selbstanalyse

führte  zu  nichts;  er  fand  sich  ebenso  unverständlich
wie  der  Rest  der  Familie.  In  seiner  Jugend  brachten
ihm  sein  ernsthaftes  Benehmen  und  seine  recht
hochmütige  Verschlossenheit  den  Spitznamen  ›Lord
Glay‹ ein; dazu paßte wohl auch, daß Glay das einzi-
ge Mitglied der Familie war, das in das Herrschafts-
haus  auf  der  Insel  Ambal  übersiedeln  wollte.  Selbst
Marucha  hatte  den  Gedanken  als  närrischen,  wenn
auch amüsanten Tagtraum fallenlassen.

Glays einziger Vertrauter war Akadie der Mentor,

der in einem bemerkenswerten Haus auf der Sarpas-
sante-Insel  lebte,  ein  paar  Meilen  nördlich  von  Ra-
bendary. Akadie, ein dünner, langarmiger Mann von
seltsam  zusammengewürfeltem  Aussehen  –  er  hatte
eine große Nase, schüttere, tabakbraune Locken, gla-
sige  Augen  und  einen  schmalen  Mund,  um  den  im-
mer ein Lächeln zu zucken schien – war wie Glay in
gewisser  Weise  ein  Außenseiter.  Im  Gegensatz  zu
Glay aber schlug er Kapital aus seinen Eigenschaften
und zählte Aristokraten zu seinen Klienten.

Akadies  Beruf  umfaßte  die  Aufgaben  eines  Epi-

grammverfassers,  Dichters,  Kalligraphen,  Weisen,
Schiedsrichter  in  Geschmacksfragen,  professionellen
Gastes (es galt als höchster Luxus, Akadie zur Zierde
einer  gesellschaftlichen  Veranstaltung  anzuheuern),
sowie  eines  Heiratsvermittlers,  Rechtsberaters,  Tra-

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ditionsbewahrers  und  Verbreiters  von  Skandalge-
schichten.

Akadies  ungewöhnliches  Gesicht,  seine  sanfte

Stimme  und  geschliffene  Sprache  verliehen  dem
Tratsch nur zusätzliche Würze. Jut mißbrauchte Aka-
die und wollte nichts mit ihm zu tun haben, zum Be-
dauern  von  Marucha,  die  nie  ihre  gesellschaftlichen
Ambitionen aufgegeben hatte und im Innersten ihres
Herzens überzeugt war, unter ihrem Stand geheiratet
zu  haben.  Hussade-Sheirls  heirateten  schließlich  oft
Lords!

Akadie hatte auch andere Welten gesehen. Abends,

während einer Sternenschau, pflegte er die Sterne zu
suchen, die er besucht hatte, und beschrieb dann die
Pracht ihrer Welten und die sonderbaren Bräuche ih-
rer Bewohner. Jut Hulden hatte für Reisen nichts üb-
rig;  sein  einziges  Interesse  an  anderen  Welten  be-
schränkte

 

sich

 

auf

 

die

 

Güte

 

ihrer

 

Hussade-Mannschaf-

ten und die Heimat der Alastor-Champions.

Als  Glinnes  sechzehn  war,  sah  er  ein  Starmenter-

Schiff. Es stieß über der Ambal-Bucht aus dem Him-
mel  herunter  und  schoß  mit  unglaublicher  Ge-
schwindigkeit  in  Richtung  Welgen.  Das  Radio
brachte  eine  Live-Übertragung  des  Überfalls.  Die
Starmenter  landeten  auf  dem  Hauptplatz  und
stürmten aus ihrem Schiff, um Banken, Edelsteinlager
und  Cauch-Depots  auszurauben,  wobei  Cauch  das
wertvollste aller Produkte von Trullion war. Sie nah-
men auch eine Anzahl wichtiger Persönlichkeiten ge-
fangen,  um  sie  gegen  Lösegeld  einzutauschen.  Der
Überfall war gut organisiert und rasch vorbei; binnen
zehn  Minuten  hatten  die  Starmenter  Beute  und  Ge-
fangene in ihr Schiff gebracht. Zu ihrem Pech lief ge-

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rade ein Kreuzer des Whelm Port Maheul an, als über
Funk Alarm gegeben wurde. Das Kriegsschiff brauch-
te nur den Kurs zu ändern und statt dessen in Welgen
zu  landen.  Glinnes  rannte  auf  die  Veranda  hinaus,
um  das  Whelm-Schiff  niedergehen  zu  sehen  –  ein
mächtiges, in Beige, Scharlach und Schwarz gehalte-
nes  Raumschiff.  Wie  ein  Adler  schoß  es  auf  Welgen
herunter und verschwand aus Glinnes' Sicht. Der Ra-
diosprecher rief aufgeregt: »... sie steigen auf, aber da
ist  schon  das  Whelm-Schiff!  Bei  den  Neun  Glorien,
das Whelm-Schiff ist da! Die Starmenter können nicht
in den Whisk

*

 übergehen; sie würden durch die Rei-

bung verglühen! Sie müssen kämpfen!«

Der Reporter konnte seine Aufregung kaum mehr

bezähmen:  »Das  Whelm-Schiff  greift  an;  der
Starmenter ist nicht mehr manövrierfähig! Hurrah! Er
fällt  auf  den  Platz  zurück!  Nein,  nein!  Schrecklich!
Furchtbar!  Auf  den  Markt  ist  das  Schiff  gestürzt!
Hunderte  von  Menschen  zerschmettert!  Achtung!
Alle Ambulanzen, alle Ärzte und Sanitäter nach Wel-
gen! Notstand! Bis hierher höre ich die entsetzlichen
Schreie... Das Starmenterschiff ist zerborsten, aber es
kämpft noch... ein blauer Strahl... wieder einer... Das
Whelm-Schiff  feuert  zurück.  Jetzt  rührt  sich  nichts
mehr bei den Starmentern. Ihr Schiff ist zerstört.« Der
Ansager  schwieg  einen  Moment  lang,  dann  über-
mannte  ihn  wieder  die  Aufregung.  »Welch  ein  An-
blick!  Die  Menschen  brüllen  vor  Zorn;  sie  umringen
die  Starmenter,  zerren  sie  heraus...«  Er  begann  zu
stammeln,  unterbrach  sich  und  sprach  dann  ruhiger
weiter.  »Die  Gendarmen  haben  eingegriffen.  Sie

                                                  

*

 

Interstellarantrieb

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drängen die Menge zurück, und die Starmenter sind
in  Haft,  aber  sie  wehren  sich  verzweifelt.  Wie  sie
zappeln und um sich treten! Der Prutanschyr erwar-
tet sie! Sie würden die Rache der Menge vorziehen...!
Wie furchtbar sie der armen Stadt Welgen mitgespielt
haben...«

Jut und Shira arbeiteten im äußeren Obstgarten, wo

sie  den  Apfelbäumen  Edelreiser  aufpfropften.  Glin-
nes rannte hinüber, um ihnen die Neuigkeiten zu be-
richten.  »...  und  zum  Schluß  wurden  die  Starmenter
gefangengenommen und fortgebracht!«

»Ihr Pech«, sagte Jut schroff und fuhr in seiner Ar-

beit fort. Für einen Trill war er ein ungewöhnlich ver-
schlossener und schweigsamer Mann – Wesenszüge,
die  sich  nach  dem  Tod  Sharues  durch  die  Merlinge
noch vertieft hatten.

Shira  sagte:  »Na,  dann  werden  sie  wohl  den  Pru-

tanschyr  abstauben.  Vielleicht  sollten  wir  die  Nach-
richten anhören.«

Jut grunzte nur. »Eine Folterung ist wie die andere.

Das  Feuer  sengt,  die  Räder  brechen,  das  Seil  zerrt.
Manchen Leuten gefällt das. Ich unterhalte mich bes-
ser bei Hussade.«

Shira  blinzelte  Glinnes  zu.  »Ein  Spiel  ist  wie  das

andere. Die Stürmer springen, das Wasser spritzt, die
Sheirl verliert ihr Gewand, und die Bäuche hübscher
Mädels sind alle gleich.«

»Hier spricht die Stimme der Erfahrung«, bemerkte

Glinnes,  und  Shira,  der  berüchtigste  Schürzenjäger
des Distrikts, brach in Gelächter aus.

Shira  sah  sich  mit  seiner  Mutter  Marucha  tatsäch-

lich die grausamen Hinrichtungen an, während Glin-
nes und Glay von Jut zu Hause behalten wurden.

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Shira  und  Marucha  kehrten  mit  der  Abendfähre

zurück. Marucha war müde und ging gleich ins Bett;
Shira  jedoch  kam  zu  Jut,  Glinnes  und  Glay  auf  die
Veranda heraus und berichtete ihnen, was er gesehen
hatte. »Dreiunddreißig  hatten  sie  gefangen,  und  alle
waren  in  Käfigen  auf  dem  Platz  zur  Schau  gestellt.
Die  ganzen  Vorbereitungen  mußten  sie  mitansehen.
Eine  hartgesottene  Schar,  das  muß  ich  sagen  –  ihre
Rasse  konnte  ich  nicht  feststellen.  Einige  mögen
Echaliten  gewesen  sein,  andere  Satagonen,  und  ein
weißhäutiger  Kerl  soll  ein  echter  Blaweg  gewesen
sein.  Arme  Hunde,  wenn  man  sich's  recht  überlegt.
Sie  waren  nackt  und  in  den  Farben  der  Schande  an-
gemalt:  Köpfe  grün,  ein  Bein  blau,  das  andere  rot.
Alle verschnitten natürlich. Ja, der Prutanschyr ist ein
entsetzlicher Ort! Und dann die Musik! Süß wie Blü-
tenduft  und  doch  fremd  und  schrill,  daß  einem  die
Töne an den Nerven zerrten... Naja, jedenfalls war ein
großer Kessel mit siedendem Öl vorbereitet worden,
und ein kleiner Fahrkran stand dabei. Die Musik be-
gann – acht Trevanyi mit ihren Hörnern und Fiedeln.
Wie kann nur ein so ernstes Volk so liebliche Musik
machen? Bis in die Knochen kalt wird einem bei die-
sen  süßen  Tönen,  die  Eingeweide  verkrampfen  sich,
und man glaubt, den Geschmack von Blut im Mund
zu  spüren!  Gendarmeriechef  Filidice  war  anwesend,
aber  die  Hinrichtung  nahm  der  Oberverwalter  Ge-
rence  vor.  Die  Starmenter  wurden  einer  nach  dem
anderen  auf  Haken  gehängt,  aufgehoben  und  lang-
sam in das Öl getaucht; dann wurden sie auf ein gro-
ßes  Gerüst  gebunden.  Ich  weiß  nicht,  was  entsetzli-
cher  war,  ihr  Geheul  oder  die  wunderbare,  traurige
Musik. Die Menschen fielen auf die Knie; manche be-

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kamen Weinkrämpfe – ich weiß nicht, ob aus Furcht
oder  Freude.  Ich  weiß  überhaupt  nicht,  was  ich  da-
von  halten  soll...  Jedenfalls,  nach  ungefähr  zwei
Stunden waren sie endlich alle tot.«

»Hmmm«, meinte Jut Hulden. »Eins zumindest ist

sicher – es werden sobald nicht wieder welche kom-
men.«

Glinnes hatte erschrocken und fasziniert zugehört.

»Das  ist  eine  furchtbare  Strafe,  selbst  für  einen
Starmenter.«

»Das  ist  es  tatsächlich«,  sagte  Jut.  »Kannst  du  dir

den Grund dafür nicht denken?«

Glinnes schluckte hart und konnte sich unter meh-

reren Theorien nicht entscheiden.

Jut fragte: »Würdest du jetzt noch Starmenter wer-

den wollen und ein solches Ende riskieren?«

»Niemals«, erklärte Glinnes aus tiefstem Herzen.
Jut wandte sich an den grübelnd dasitzenden Glay.

»Und du?«

»Ich hatte sowieso nie vor, zum Räuber und Mör-

der zu werden.«

Jut  lachte  rauh.  »Nun,  wenigstens  einer  von  euch

beiden ist bekehrt worden.«

Glinnes sagte: »Ich würde nicht Musik hören wol-

len, die zu einer Folterung gespielt wird.«

»Und  weshalb  nicht?«  erkundigte  sich  Shira.  »Bei

der  Hussade,  wenn  die  Sheirl  entehrt  wird,  ist  die
Musik süß und wild. Musik gibt dem Ereignis Würze,
wie Salz dem Essen.«

Glay  raffte  sich  zu  der  Bemerkung  auf:  »Akadie

behauptet, daß jeder Mensch eine Katharsis braucht,
selbst wenn sie die Form eines Alptraumes hat.«

»Das mag sein«, sagte Jut. »Ich brauche keine Alp-

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träume; ich werde zeit meines Lebens einen vor Au-
gen  haben.«  Jut  meinte,  wie  alle  wußten,  den  Raub
von  Sharue.  Seit  damals  waren  seine  nächtlichen
Merlingsjagden fast zur Besessenheit geworden.

»Also,  wenn  ihr  zwei  Burschen  nicht  Starmenter

werden  wollt,  was  dann?«  fragte  Shira.  »Ich  nehme
an,  daß  ihr  keinen  Wert  darauf  legt,  zu  Hause  zu
bleiben.«

»Ich bin für Hussade«, sagte Glinnes. »Am Fischen

oder Cauch-Sammeln liegt mir nichts.« Er dachte an
das  beige-schwarz-scharlachfarbene  Schiff,  das  sich
mutig  auf  die  Starmenter  gestürzt  hatte.  »Oder  ich
trete  in  den  Whelm  ein  und  führe  ein  Abenteuerle-
ben.«

»Über  den  Whelm  kann  ich  nichts  sagen«,  meinte

Jut  bedächtig,  »aber  wenn  du  dich  für  Hussade  ent-
scheidest,  kann  ich  dir  ein  oder  zwei  nützliche  Rat-
schläge geben. Lauf jeden Tag fünf Meilen, um deine
Ausdauer  zu  stärken.  Spring  über  die  Trainingsgrä-
ben,  bis  du  selbst  mit  einer  Binde  um  die  Augen  si-
cher landen könntest. Laß die Mädchen in Ruhe, oder
es  werden  in  der  Präfektur  bald  keine  Jungfrauen
mehr übrig sein, die eure Sheirl sein könnten.«

»Also das riskiere ich«, sagte Glinnes.
Jut  spähte  unter  seinen  schwarzen  Augenbrauen

hervor  zu  Glay  hin.  »Und  was  ist  mit  dir?  Wirst  du
daheim bleiben?«

Glay zuckte die Achseln. »Wenn es möglich wäre,

würde ich reisen und die Welten Alastors kennenler-
nen.«

Jut  hob  die  buschigen  Brauen.  »Wie  willst  du  rei-

sen, wenn du kein Geld hast?«

»Laut Akadie gibt es die verschiedensten Möglich-

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keiten. Er hat zweiundzwanzig Welten besucht, sich
von einem Raumhafen zum anderen gearbeitet.«

»Hmmm.  Das  mag  sein.  Aber  nimm  dir  nur  nicht

Akadie zum Vorbild. Seine Reisen haben ihm nichts
eingebracht als nutzloses Wissen.«

Glay überlegte kurz. »Wenn das stimmt«, sagte er,

»und  das  muß  es  ja,  da  du  es  behauptest,  dann  hat
Akadie  seine  Menschenkenntnis  und  Weisheit  hier
auf  Trullion  erworben,  was  ihm  noch  mehr  anzu-
rechnen wäre.«

Jut,  der  eine  ehrliche  Niederlage  nie  übelnahm,

schlug Glay auf die Schulter. »In dir hat er einen treu-
en Freund.«

»Ich bin Akadie dankbar«, sagte Glay. »Er hat mir

viele Dinge klargemacht.«

Shira,  dessen  Gedanken  meist  lüsterne  Wege  gin-

gen,  stieß  Glay  verschmitzt  in  die  Rippen.  »Begleite
Glinnes  auf  seinen  heimlichen  Ausflügen,  dann
brauchst du Akadies Erklärungen nicht mehr.«

»Ich habe nicht von solchen Dingen gesprochen.«
»Wovon denn dann?«
»Wozu sollte ich das erklären? Ihr würdet mich nur

verspotten, und das ist so sinnlos.«

»Kein Spott!« erklärte Shira. »Wir werden dich ru-

hig anhören! Rede nur.«

»Also gut. Es ist mir eigentlich gleichgültig, ob ihr

spottet  oder  nicht.  Lange  schon  empfinde  ich  eine
Leere, spüre, daß mir irgend etwas fehlt. Ich brauche
eine  Last,  gegen  die  ich  meine  Schulter  stemmen
kann; ich brauche eine Herausforderung, der ich mich
stellen und die ich überwinden kann.«

»Beherzte  Worte«,  meinte  Shira  zweifelnd.

»Aber...«

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»Aber  warum  sollte  ich  mir  überhaupt  die  Mühe

machen?  Weil  ich  nur  einmal  lebe,  nur  einmal  auf
dieser  Welt  existiere.  Ich  möchte  meine  Spur  hinter-
lassen, irgendwo, irgendwie. Der Gedanke läßt mich
einfach  nicht  zur  Ruhe  kommen!  Das  Universum  ist
mein Widersacher; es fordert mich heraus, etwas Be-
merkenswertes  zu  tun,  so  daß  die  Menschen  sich
immer  an  mich  erinnern!  Warum  sollte  der  Name
›Glay Hulden‹ nicht so weithin bekannt werden wie
›Paro‹  und  ›Slabar  Velche‹

7

?  Ich  werde  es  soweit

bringen;  es  ist  das  mindeste,  was  ich  mir  schuldig
bin!«

Jut  bemerkte  düster:  »Dann  solltest  du  am  besten

entweder  ein  großer  Hussadespieler  oder  ein  be-
rühmter Starmenter werden.«

»Ich habe mich vielleicht übertrieben ausgedrückt«,

sagte Glay. »In Wahrheit suche ich weder Ruhm noch
einen gefährlichen Ruf. Es liegt mir nichts daran, daß
auch  nur  ein  einziger  Mensch  mich  bestaunt.  Ich
möchte einfach nur die Chance haben, mein Bestes zu
tun.«

Eine  Weile  herrschte  Schweigen  auf  der  Veranda.

Vom  Schiff  drang  das  Summen  nächtlicher  Insekten
herüber, und das Wasser schlug leise platschend ge-
gen den Bootssteg. Vielleicht war ein Merling an die
Oberfläche gekommen, um nach interessanten Lauten
zu horchen.

Jut  sagte  schwerfällig:  »Dein  Ehrgeiz  spricht  für

dich. Und doch frage ich mich, wie die Welt aussähe,
wenn  alle  Menschen  solch  heftiges  Streben  zeigten.
Wo gäbe es noch Ruhe und Frieden?«

                                                  

7

 

Siehe Glossar

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»Das ist wirklich ein schwieriges Problem«, stellte

Glinnes fest. »Ich habe mir darüber wirklich noch nie
Gedanken gemacht. Glay, du erstaunst mich. Du bist
einzigartig!«

Glay  grunzte  abweisend.  »Dessen  bin  ich  mir  gar

nicht so sicher. Es muß viele, sehr viele Menschen ge-
ben, die verzweifelt nach Selbsterfüllung streben.«

»Vielleicht  ist  das  ein  Grund,  warum  einer

Starmenter wird«, vermutete Glinnes. »Man langweilt
sich zu Hause, bei der Hussade leistet man nicht viel,
mit den Mädchen hat man keinen Erfolg – also macht
man aus purer rachsüchtiger Enttäuschung in seinem
schwarzen Schiff den Weltraum unsicher!«

»Diese Theorie hat etwas für sich«, meinte Jut Hul-

den. »Aber Rachsucht ist eine zweischneidige Sache,
wie dreiunddreißig Leute heute feststellen mußten.«

»Etwas  verstehe  ich  dabei  nicht«,  sagte  Glinnes.

»Der  Connat  weiß  von  ihren  Verbrechen.  Warum
schickt  er  nicht  den  Whelm  aus  und  läßt  sie  ein  für
allemal ausrotten?«

Shira  lachte  nachsichtig.  »Glaubst  du  denn,  der

Whelm  unternimmt  nichts?  Seine  Schiffe  sind  dau-
ernd unterwegs. Aber für jede bewohnte Welt gibt es
hundert  unbewohnte,  gar  nicht  zu  reden  von  den
Monden,  Asteroiden,  Starments  und  sonstigen  toten
Brocken.  Es  gibt  unzählige  Schlupfwinkel  im  Welt-
raum. Der Whelm tut sein möglichstes.«

Glinnes wandte sich an Glay. »Da hast du's: tritt in

den Whelm ein und sieh dir die Welten des Sternhau-
fens an. Laß dich fürs Reisen bezahlen!«

»Das wäre ein Gedanke«, sagte Glay.

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KAPITEL 3

Schließlich  war  es  dann  Glinnes,  der  nach  Port  Ma-
heul fuhr und sich in den Whelm aufnehmen ließ. Er
war damals gerade siebzehn geworden. Glay trat we-
der in den Whelm ein, noch spielte er Hussade oder
wurde  ein  Starmenter.  Kurz  nachdem  Glinnes  zum
Whelm  ging,  verließ  auch  Glay  sein  Zuhause.  Er
durchwanderte  Merlank  kreuz  und  quer,  arbeitete
hin  und  wieder,  um  ein  paar  Ozols  zu  verdienen,
lebte  aber  auch  oft  nur  von  dem,  was  das  Land  bot.
Mehrmals versuchte er es mit den Tricks, die Akadie
ihm  empfohlen  hatte,  um  zu  anderen  Welten  zu
kommen,  aber  aus  dem  einen  oder  anderen  Grund
hatte  er  nie  Erfolg,  und  er  brachte  auch  nie  genug
Geld  zusammen,  um  sich  eine  Passage  leisten  zu
können.

Eine Weile zog er mit einer Truppe Trevanyi

8

 um-

her,  da  ihn  die  strengen  Lebensregeln  dieser  Men-
schen,  die  sich  so  sehr  von  der  Leichtfertigkeit  der
meisten Trills unterschieden, irgendwie anzogen.

Nach acht Wanderjahren kehrte er auf die Insel Ra-

bendary  heim,  wo  sich  eigentlich  nichts  geändert
hatte,  außer  daß  Shira  sich  schließlich  vom  aktiven
Hussadespiel  zurückgezogen  hatte.  Jut  unternahm
immer  noch  seine  nächtlichen  Rachefeldzüge  gegen
die  Merlinge;  Marucha  hoffte  immer  noch,  vom
Landadel  der  Umgebung  gesellschaftlich  anerkannt
zu werden, obwohl diese Kreise nicht die geringsten
Absichten in dieser Richtung zu erkennen gaben. Jut,

                                                  

8

 

Siehe Glossar

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der  sich  auf  Maruchas  Wunsch  jetzt  Squire  Hulden
von Rabendary nannte, weigerte sich nach wie vor, in
den  Herrensitz  von  Ambal  zu  übersiedeln,  weil  die-
ser – so schön seine Proportionen, so grandios seine
Räume  und  getäfelten  Decken  auch  sein  mochten  –
keine gemütliche Veranda mit Blick übers Wasser be-
saß.

Die Familie erhielt regelmäßig Nachricht von Glin-

nes,  der  sich  im  Whelm  recht  gut  hielt.  Im  Ausbil-
dungslager hatte er sich eine Empfehlung für den Of-
fizierslehrgang  verdient,  nach  dessen  Abschluß  er
dem  taktischen  Korps  der  Hunderteinundneunzig-
sten Schwadron zugeteilt wurde und das Kommando
über das Landeboot Nr. 191–539 und seine zwanzig-
köpfige Besatzung erhielt.

Nun  hatte  Glinnes  eine  vorteilhafte  Karriere  mit

den verschiedensten Ruhestandsvergünstigungen vor
sich. Trotzdem war er nicht recht zufrieden. Er hatte
sich das Leben in der Streitkraft romantischer, aben-
teuerlicher vorgestellt; er hatte davon geträumt, den
Sternhaufen  in  einem  Patrouillenboot  zu  durchstrei-
fen, die Schlupfwinkel von Starmentern aufzuspüren
und  dann  auf  fernen,  malerischen  Welten  ein  paar
Tage Landurlaub verbringen zu können. Kurzum, in
seiner  Vorstellung  hatte  alles  viel  aufregender  und
gefährlicher ausgesehen als die perfekt durchorgani-
sierte  Routine,  in  die  er  geraten  war.  Um  sich  die
Eintönigkeit zu erleichtern, spielte er Hussade; seine
Mannschaft  rangierte  bei  den  Flottenwettkämpfen
immer  ziemlich  weit  vorne  und  gewann  zwei  Mei-
sterschaften.

Glinnes  suchte  schließlich  um  Versetzung  auf  ein

Patrouillenboot  an,  was  jedoch  abgelehnt  wurde.

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Darauf ging er zum Schwadronskommandanten, der
sich  Glinnes'  Beschwerde  mit  gelassener  Gleichgül-
tigkeit  anhörte.  »Die  Versetzung  wurde  aus  gutem
Grund abgelehnt.«

»Aus  welchem  Grund?«  wollte  Glinnes  wissen.

»Ich  bin  doch  gewiß  nicht  unersetzlich  für  den  Be-
stand der Schwadron?«

»Durchaus nicht. Wir wünschen jedoch nicht, eine

glatt funktionierende Organisation durcheinanderzu-
bringen.«  Er  rückte  einige  Papiere  auf  seinem
Schreibtisch zurecht und lehnte sich dann in seinem
Stuhl zurück. »Unter uns – es heißt, daß wir bald ein
größeres Unternehmen starten.«

»Wirklich? Und gegen wen?«
»Was das betrifft, so kann ich auch nur raten. Ha-

ben Sie schon einmal von den Tamarcho gehört?«

»Ja,  natürlich.  Ich  habe  in  einer  Zeitschrift  etwas

über sie gelesen: ein Kult fanatischer Krieger auf einer
Welt, deren Namen mir im Augenblick nicht einfällt.
Anscheinend  morden  und  zerstören  sie  aus  reinem
Vernichtungswillen, oder so ähnlich.«

»Nun,  dann  wissen  Sie  soviel  wie  ich«,  sagte  der

Kommandant, »außer, daß die Welt Rhamnotis heißt,
und daß die Tamarcho bereits einen ganzen Distrikt
dem Erdboden gleichgemacht haben. Ich nehme des-
halb  an,  daß  wir  als  nächstes  auf  Rhamnotis  einge-
setzt werden.«

»Das wäre eine Erklärung«, meinte Glinnes. »Und

was  wissen  wir  über  Rhamnotis?  Eine  finstere  Wü-
stenwelt oder so?«

»Ganz  im  Gegenteil.«  Der  Kommandant  schwang

auf  seinem  Sessel  herum  und  drückte  einige  Schalt-
knöpfe;  ein  Bildschirm  leuchtete  auf,  und  eine  Stim-

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me  sagte:  »Alastor  965,  Rhamnotis.  Die  physischen
Daten...« Der Sprecher las eine Reihe von Zahlen her-
unter, die die Masse, Größe, Schwerkraft, atmosphä-
rischen und klimatischen Bedingungen des Planeten
angaben,  während  auf  dem  Schirm  eine  Merkator-
Projektion  seiner  Oberfläche  gezeigt  wurde.  Der
Kommandant berührte wieder eine Taste, so daß die
historischen  und  anthropologischen  Angaben  über-
sprungen wurden, und ließ die sogenannten inoffizi-
ellen  Informationen  ablaufen:  »Rhamnotis  ist  eine
Welt, auf der jede Handlung, jeder Gegenstand, jede
Institution  zur  Gesundheit  und  zum  Wohlbefinden
ihrer  Bewohner  beitragen.  Die  ursprünglichen  Sied-
ler, die von der Welt Triskelion kamen, beschlossen,
nie  wieder  solche  häßlichen  und  lebensfeindlichen
Umstände zu dulden, wie sie sie hinter sich gelassen
hatten, und schlossen zu diesem Zweck einen feierli-
chen Vertrag, der jetzt das wichtigste Dokument auf
Rhamnotis  darstellt  und  Gegenstand  fast  kultischer
Verehrung geworden ist.

Heute  sind  die  üblichen  Nachteile  und  Mißstände

einer Zivilisation – Zwist, Schmutz, Müll, Verstädte-
rung – nahezu aus dem Gedächtnis der Bevölkerung
verschwunden. Rhamnotis ist gegenwärtig eine Welt,
die sich ausgezeichneter Verwaltung erfreut, und auf
der das Beste schon zur Norm geworden ist. Soziale
Mißstände sind unbekannt; Armut ist nicht mehr als
ein  exotisches  Wort.  Die  Arbeitswoche  hat  zehn
Stunden,  und  jedes  Mitglied  der  Bevölkerung  leistet
seinen Teil; seine überschüssige Energie widmet der
Rhamnoter Karnevalsumzügen und Märchenspielen,
die Touristen von den entferntesten Welten anziehen.
Die  Küche  ist  zu  den  besten  des  Sternhaufens  zu

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zählen. Strände, Wälder, Seen und Berge bieten eine
unvergleichliche  Erholungslandschaft.  Hussade  ist
ein  Publikumssport,  obwohl  die  einheimischen
Mannschaften in den Alastor-Ausscheidungen nie be-
sonders hervorgetreten sind.«

Der  Kommandant  drückte  auf  eine  weitere  Taste;

der Sprecher sagte: »In den letzten Jahren hat ein Kult
namens Tamarcho von sich reden gemacht. Die Prin-
zipien  der  Tamarcho  sind  unklar  und  scheinen  von
Person  zu  Person  verschieden  zu  sein.  Ganz  allge-
mein  befassen  sich  die  Tamarchisten  mit  sinnloser
Gewalt,  Zerstörung  und  Verschmutzung.  Sie  haben
hunderte  Hektar  unberührten  Waldes  verbrannt;  sie
verschmutzen Seen, Reservoirs und Brunnen mit Ka-
davern,  Müll  und  Rohöl;  sie  haben  Wildtränken  in
Naturparks  vergiftet  und  Giftköder  für  Vögel  und
Haustiere ausgelegt. Sie werfen Exkremente in festli-
che Menschenmengen und urinieren von Türmen auf
die  Leute  unten.  Sie  verehren  das  Abstoßende  und
nennen sich auch selbst die ›Häßlichen‹.«

Der Kommandant schaltete den Bildschirm ab. »So

steht  die  Sache  also.  Die  Tamarchisten  haben  ein
Stück  Land  besetzt  und  wollen  nicht  abziehen;  an-
scheinend haben die Rhamnoter den Whelm zu Hilfe
gerufen. Trotzdem, Genaueres wissen wir noch nicht;
wir  könnten  ebensogut  auf  die  Breakneck-Insel  ge-
schickt  werden,  um  die  Prostituierten  zu  vertrei-
ben...«

Die übliche Strategie des Whelm, die sich in zehntau-
senden  Unternehmungen  bewährt  hatte,  bestand
darin, mit einer so übermächtigen Streitmacht anzu-
rücken,  daß  der  Gegner  von  vornherein  einge-

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schüchtert  war  und  die  sichere  Niederlage  vor  sich
sah.  In  den  meisten  Fällen  verflüchtigte  sich  jeder
Widerstand, so daß es gar nicht erst zu Kampfhand-
lungen kam. Um den Verrückten König Zag von der
Grauen Welt, Alastor 1740, zu unterwerfen, postierte
der  Whelm  tausend  Tyrant-Schlachtschiffe  über  der
Schwarzen Metropole, die fast die Sonne verdunkel-
ten.  Schwadronen  von  Vavarangi-  und  Stinger-
Booten  schwebten  darunter  in  konzentrischen  Mu-
stern, und in noch geringerer Höhe schossen Kampf-
boote  hin  und  her  wie  Hornissen.  Am  fünften  Tag
landete  eine  schwerbewaffnete  Streitmacht  von
zwanzig Millionen Mann und stellte König Zags ent-
setzte  Miliz  kalt,  die  schon  lange  vorher  jeden  Ge-
danken an Widerstand aufgegeben hatte.

Mit  derselben  Taktik  hoffte  man  das  Problem  der

Tamarchisten  möglichst  rasch  zu  bereinigen.  Vier
Flottillen  von  Tyrant-Schiffen  und  Zerstörern  tauch-
ten blitzartig aus vier verschiedenen Richtungen über
den Silbernen Bergen auf, wo die Häßlichen sich ein-
genistet  hatten.  Bodenbeobachter  meldeten  keinerlei
nennenswerte Reaktion der Tamarchisten.

Die  Tyrant-Schlachtschiffe  sanken  tiefer  herunter,

und die ganze Nacht lang war der Himmel von dem
Netz ihrer bösartig knisternden, blauen Feuerstrahlen
überzogen.  Als  der  Morgen  anbrach,  hatten  die  Ta-
marchisten ihre Lager abgebrochen und waren nicht
mehr  zu  sehen.  Die  Bodenbeobachter  meldeten,  daß
sie sich in die Wälder zurückgezogen hätten.

Monitorkapseln  überflogen  das  Gebiet,  und  dröh-

nende Lautsprecherstimmen befahlen den Häßlichen,
Gruppen  zu  bilden,  in  einen  nahegelegenen  Kurort
zu marschieren und sich dort zu ergeben. Die einzige

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Antwort  war,  daß  einige  Heckenschützen  das  Feuer
auf die Kapseln eröffneten.

Mit bedrohlicher Unaufhaltsamkeit gingen die Ty-

rants tiefer. Die Monitorkapseln gaben ein neues Ul-
timatum  bekannt:  Ergebt  euch,  oder  wir  greifen  an.
Die Tamarchisten reagierten nicht darauf.

Sechzehn  gepanzerte  Himmelsforts  landeten  auf

einer  Bergwiese,  um  die  Umgebung  für  eine  Trup-
penlandung  abzusichern.  Sie  zogen  nicht  nur  das
Feuer  von  kleineren  Waffen  auf  sich,  sondern  auch
die  Energiestöße  von  etlichen  veralteten  blauen
Strahlern.  Um  nicht  eine  unbekannte  Anzahl  von
Verrückten einfach niedermachen zu müssen, stiegen
die Himmelforts wieder auf.

Der  Kommandeur  des  Unternehmens  war  mehr

verblüfft als wütend und beschloß, die Silbernen Ber-
ge durch Fußtruppen abzuriegeln, um die Häßlichen
auszuhungern.

Zweitausendzweihundert  Landeboote,  darunter

Nr. 191–539 unter dem Kommando von Glinnes Hul-
den, kamen herunter und schlossen die Tamarchisten
in  ihren  gebirgigen  Schlupfwinkeln  ein.  Wo  es  das
Gelände erlaubte, stießen die Truppen vorsichtig die
Täler  aufwärts  vor,  nachdem  Kampfboote  vorausge-
flogen waren, um etwaige Heckenschützen zu erledi-
gen.  Es  gab  einige  Verluste,  deshalb  zog  der  Kom-
mandeur seine Leute aus allen Beschußzonen wieder
zurück,  da  die  Tamarcho  schließlich  keine  unmittel-
bare Gefahr darstellten.

Die  Belagerung  dauerte  einen  Monat.  Beobachter

meldeten,  daß  den  Tamarchisten  der  Proviant  aus-
ging,  daß  sie  Rinde,  Insekten,  Blätter  oder  was  sie
sonst finden konnten, aßen.

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Der  Kommandeur  ließ  nochmals  Monitorkapseln

über das Gebiet ausschwärmen und eine ordentliche
Kapitulation  verlangen.  Die  Tamarchisten  antworte-
ten  mit  einer  Reihe  von  Ausbruchversuchen,  die  je-
doch zurückgeschlagen wurden und ihnen beträchtli-
che Verluste zufügten.

Der  Kommandeur  schickte  nun  noch  einmal  die

Monitoren  aus  und  drohte  mit  dem  Einsatz  von
Schmerzgas, falls die Kapitulation nicht binnen sechs
Stunden  erfolgte.  Die  gestellte  Frist  lief  ergebnislos
aus.  Vavarangi-Boote  schossen  herunter  und  bom-
bardierten  die  Schlupfwinkel  mit  Schmerzgas-
Kanistern.  Würgend,  zuckend  und  zusammenge-
krümmt  wälzten  sich  die  Tamarchisten  aus  ihren
Verstecken. Der Kommandeur ließ einen ›Truppenre-
gen‹  von  hunderttausend  Mann  niedergehen,  und
nach einigen kurzen, heftigen Schußwechseln war die
Gegend  gesäubert.  Die  gefangenen  Tamarchisten
zählten  weniger  als  zweitausend  Personen  beiderlei
Geschlechts. Glinnes stellte erstaunt fest, daß manche
kaum mehr als Kinder waren und wenige älter als er.
Sie hatten keine Munition mehr, keine Energieversor-
gung, keine Lebensmittel und medizinischen Vorräte.
Sie  schnitten  Grimassen  und  spuckten  die  Whelm-
Soldaten an – ›Häßliche‹ waren sie wirklich. Glinnes
Erstaunen wuchs. Was hatte diese jungen Leute dazu
bewegt, für eine so offensichtlich verlorene Sache so
fanatisch  zu  kämpfen?  Was  hatte  sie  überhaupt  erst
dazu gebracht, ›Häßliche‹ zu werden? Warum hatten
sie  soviel  Schönes  zerstört  und  beschmutzt,  ruiniert
und vergiftet?

Glinnes versuchte, einen Gefangenen auszufragen,

doch der gab vor, seinen Dialekt nicht zu verstehen.

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Kurz  darauf  erhielt  Glinnes  Befehl,  mit  seinem  Boot
wieder zu starten.

Glinnes  kehrte  zum  Stützpunkt  zurück.  Als  er  seine
angesammelte  Post  abholte,  fand  er  einen  Brief  von
Shira, der traurige Nachricht enthielt. Jut Hulden war
einmal  zu  oft  Merlinge  jagen  gegangen  und  war  in
eine schlau angelegte Falle geraten. Bevor Shira ihm
zu  Hilfe  kommen  konnte,  war  Jut  ins  Farwan-
Gewässer gezerrt worden.

Die Nachricht rief in Glinnes eine seltsame Bestür-

zung hervor. Er konnte sich kaum vorstellen, daß es
in  den  umwandelbaren,  zeitlosen  Fens  Veränderun-
gen gab, so einschneidende noch dazu.

Shira  war  jetzt  Squire  von  Rabendary.  Glinnes

fragte  sich,  welche  weiteren  Veränderungen  die  Zu-
kunft bringen mochte. Vermutlich keine – Shira hatte
für Neuerungen nicht viel übrig. Er würde eine Frau
heimbringen  und  eine  Familie  gründen;  das  zumin-
dest  stand  ziemlich  fest  –  früher  oder  später  kam  es
dazu. Glinnes überlegte, wer wohl den untersetzten,
kahl werdenden Shira mit den roten Backen und der
plumpen  Nase  heiraten  würde.  Selbst  als  Hussade-
spieler hatte Shira es schwer gehabt, die Mädchen in
schattige Eckchen zu locken, denn während Shira sich
selbst  für  einen  netten,  einfachen  Kerl  hielt,  fanden
die anderen ihn derb, lüstern und wichtigtuerisch.

Glinnes begann immer öfter an seine Kindheit zu-

rückzudenken.  Er  erinnerte  sich  an  die  dunstigen
Morgen, die festlichen Abende, die Sternenschau. Er
erinnerte  sich  an  gute  Freunde  und  ihre  verrückten
Gewohnheiten;  er  dachte  an  den  Rabendary-Wald  –
die  dunklen  Menas,  die  emporragten  über  die  rötli-

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chen  Pomanderbäume,  die  silbriggrünen  Birken,  die
dunkelgrünen Stachelnußbäume. Er erinnerte sich an
den  Schimmer,  der  über  dem  Wasser  hing  und  die
Umrisse  ferner  Küsten  verwischte;  er  dachte  an  das
heruntergekommene  alte  Heim  seiner  Familie  und
merkte schließlich, daß er fürchterlich Heimweh hat-
te.

Zwei  Monate  später,  nach  vollen  zehn  Jahren  in

Whelm,  quittierte  er  den  Dienst  und  kehrte  nach
Trullion zurück.

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KAPITEL 4

Glinnes hatte durch einen Brief seine Ankunft ange-
kündigt,  aber  als  er  in  Port  Maheul  in  der  Präfektur
Staveny  an  Land  ging,  war  niemand  von  seiner  Fa-
milie  da,  um  ihn  willkommen  zu  heißen,  was  er
ziemlich seltsam fand.

Er  brachte  sein  Gepäck  auf  die  Fähre  und  suchte

sich einen Platz auf dem Oberdeck, um die vorbeizie-
hende  Landschaft  zu  beobachten.  Wie  ungebunden
und fröhlich die Menschen in ihren Parays aussahen,
scharlachfarbene,  blaue  und  ockergelbe  bewegte
Flecken!  Glinnes  fühlte  sich  in  seiner  halbmilitäri-
schen Kleidung – schwarzer Jacke und beigefarbenen
Hosen,  die  in  schwarze  Stiefel  gesteckt  waren  –  be-
engt und unzufrieden. Hoffentlich würde er das Zeug
nie wieder anziehen müssen!

Endlich  legte  das  Fährboot  am  Landesteg  in  Wel-

gen an. Ein verführerischer Duft streifte Glinnes' Na-
se, und er folgte ihm zu einem nahegelegenen Fisch-
bratstand,  wo  er  sich  eine  Portion  gedämpfte  Schilf-
früchte  und  ein  Stück  gegrillten  Aal  kaufte.  Schon
beim Anlandgehen hatte er Ausschau nach Shira oder
Glay oder Marucha gehalten, aber er erwartete nicht
mehr,  sie  tatsächlich  hier  zu  finden.  Eine  Gruppe
Fremdweltler  erregte  seine  Aufmerksamkeit:  drei
junge Männer, die uniformähnlich gekleidet waren –
ordentliche  graue  Overalls  mit  einem  Gürtel,  hoch-
glanzgewichste  schwarze  Schuhe  –  und  drei  junge
Frauen,  die  ziemlich  streng  wirkende  Kleider  aus
grobem  weißen  Stoff  trugen.  Männer  wie  Frauen
hatten sehr kurz geschnittenes Haar, was recht apart

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wirkte,  und  trugen  kleine  Plaketten  an  der  linken
Schulter.  Sie  kamen  dicht  an  Glinnes  vorbei,  und  er
erkannte, daß es gar keine Fremdweltler waren, son-
dern Trills... Zöglinge eines spartanischen Internats?
Angehörige  eines  religiösen  Ordens?  Beides  war
möglich,  denn  sie  hatten  Bücher  und  Handrechner
bei sich und schienen in eine ernsthafte Unterhaltung
vertieft  zu  sein.  Glinnes  musterte  die  Mädchen  ge-
nauer. Irgend etwas, überlegte er, machte sie seltsam
unattraktiv,  aber  er  kam  nicht  gleich  darauf,  was  es
war. Das durchschnittliche Trillmädchen zog an, was
gerade  bei  der  Hand  war,  ohne  sich  sonderlich  Ge-
danken darüber zu machen, ob es zerknittert oder fa-
denscheinig oder schmutzig war, und schmückte sich
dann mit Blumen. Diese Mädchen aber wirkten nicht
nur  sauber  und  ordentlich,  sondern  richtiggehend
penibel. Zu sauber, zu ordentlich... Glinnes zuckte die
Achseln und kehrte auf die Fähre zurück.

Das Boot tuckerte weiter ins Herz der Fens hinein,

Wasserstraßen entlang, in denen der dumpfe Geruch
stehender  Gewässer,  verrottender  Schilfstengel  und
nasser  Moorerde  Glinnes  heimatlich  um  die  Nase
strich. Hin und wieder machte sich auch die Andeu-
tung  eines  stechenden  Gestanks  bemerkbar,  der  die
Nähe  eines  Merlings  verriet.  Vorne  tauchte  nun  die
Ripil-Bucht  auf,  und  eine  Ansammlung  von  Hütten,
Saurkash,  wurde  sichtbar.  Das  war  für  Glinnes  die
Endstation;  von  hier  bog  die  Fähre  nach  Norden  zu
den  Dörfern  auf  der  Großen  Ratteninsel  ab.  Glinnes
brachte  seine  Koffer  auf  den  Landesteg  und  schaute
sich im Dorf um.

Das  auffallendste  Merkmal  war  das  Hussade-Feld

mit  der  alten,  verwitterten  Zuschauertribüne,  einst

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das Heimstadion der Saurkash-Schlangen. Gleich da-
neben  lag  der  Magische  Fisch,  die  gemütlichste  der
drei Kneipen von Saurkash. Er ging am Pier entlang
zu der Bude, wo zehn Jahre zuvor Milo Harrad Boote
vermietet und einen Wassertaxidienst betrieben hatte.

Harrad war nicht zu sehen. Ein junger Mann, den

Glinnes  nicht  kannte,  hielt  im  Schatten  ein  Nicker-
chen.

»Guten  Tag,  mein  Freund«,  sagte  Glinnes,  worauf

der junge Mann aufwachte und sich mit einem Blick
milden  Vorwurfs  Glinnes  zuwandte.  »Können  Sie
mich zur Rabendary-Insel bringen?«

»Wann  immer  Sie  wollen.«  Der  junge  Mann  mu-

sterte Glinnes von oben bis unten und erhob sich trä-
ge. »Sie müssen Glinnes Hulden sein, wenn ich mich
nicht irre.«

»Stimmt. Aber ich erinnere mich nicht an Sie.«
»Wie könnten Sie auch? Ich bin der Neffe des alten

Harrad  von  Voulash.  Die  Leute  nennen  mich  hier
Jung Harrad, und ich vermute, diesen Namen werde
ich  für  den  Rest  meines  Lebens  behalten.  Ich  weiß
noch recht gut, wie Sie für die Schlangen spielten.«

»Das ist etliche Zeit her. Sie müssen ein gutes Ge-

dächtnis haben!«

»So  gut  auch  wieder  nicht.  Die  Huldens  hatten

immer etwas für Hussade übrig. Der alte Harrad hat
sehr oft von Jut erzählt, dem besten Stürmer, den es
in Saurkash je zu sehen gab – das behauptete der alte
Milo wenigstens. Shira war wohl ein ganz guter Ver-
teidiger,  aber  langsam  beim  Springen.  Ich  glaube
nicht,  daß  ich  je  einen  guten  Überschwung  von  ihm
gesehen habe.«

»Eine  recht  zutreffende  Beurteilung.«  Glinnes

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blickte die Wasserstraße entlang. »Ich hatte eigentlich
erwartet, daß er oder mein Bruder Glay mich hier ab-
holt. Aber vermutlich hatten sie Besseres zu tun.«

Jung  Harrad  warf  ihm  einen  zögernden  Blick  zu,

zuckte  dann  die  Achseln  und  holte  eines  seiner
schlanken,  grünweißen  Boote  an  den  Steg.  Glinnes
lud sein Gepäck ein, und sie fuhren los, die Mellish-
Straße nach Osten.

Nach einer Weile räusperte sich Jung Harrad. »Sie

dachten also, daß Shira Sie abholen würde?«

»Ja, eigentlich schon.«
»Dann haben Sie also das von Shira nicht gehört?«
»Was ist ihm denn zugestoßen?«
»Er ist verschwunden.«
»Verschwunden?«  Glinnes  schaute  sich  mit  offe-

nem Mund um. »Wohin?«

»Das  weiß  keiner.  Höchstwahrscheinlich  in  die

Speisekammer  der  Merlinge.  Die  meisten  Leute,  die
verschwinden, landen ja dort.«

»Wenn sie nicht auf Besuch bei Freunden sind.«

*

»Zwei  Monate  lang?  Shira  war  ein  berüchtigter

Bock,  hab  ich  gehört,  aber  ein  Cauch-Trip  von  zwei
Monaten wäre wohl sehr ungewöhnlich.«

Glinnes  gab  einen  niedergeschlagenen  Knurrlaut

von  sich  und  wandte  sich  ab,  da  ihm  jede  Lust  zur
Unterhaltung  vergangen  war.  Jut  fort,  Shira  fort  –
seine  Heimkehr  würde  ziemlich  trübselig  werden.
Die Landschaft, die immer vertrauter wurde, immer
mehr Erinnerungen weckte, verstärkte jetzt nur noch
seine  Bedrückung.  Rechts  und  links  glitten  Inseln

                                                  

*

 

Auf  Besuch  bei  Freunden:  ein  Euphemismus  für  cauch-trunkene
Liebende, die sich in der Wildnis herumtreiben.

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vorüber,  die  er  gut  kannte:  die  Jurzy-Insel,  wo  die
Jurzy-Blitze,  seine  erste  Mannschaft,  immer  trainiert
hatten;  Calceon-Eiland,  wo  die  süße  Loel  Issam  sich
für seine heißesten Liebesbeteuerungen taub gezeigt
hatte...

Später war sie Sheirl der Gaspar-Triptanen gewor-

den und hatte dann, nach ihrer Entehrung, Lord Clois
von  Graven  Table  geheiratet,  einem  Hochland  im
Norden der Fens... Erinnerungen wirbelten in seinen
Gedanken auf, und er fragte sich, warum er die Fens
jemals verlassen hatte. Die zehn Jahre im Whelm er-
schienen ihm jetzt nur mehr wie ein Traum.

Das  Boot  glitt  hinaus  in  die  See-Bucht.  Im  Süden,

rund eine Meile entfernt, lag die Nahe Insel, dahinter,
etwas  breiter  und  höher,  die  Mittelinsel,  und  noch
weiter dahinter die Ferne Insel, drei durch den Was-
serdunst  zunehmend  stärker  verwischte  Silhouetten
hintereinander,  deren  letzte,  die  Ferne  Insel,  sich
kaum mehr vom blassen südlichen Horizont abhob.

Das  Boot  bog  nun  in  das  schmale  Athenry-

Gewässer  ein,  einen  ruhigen  Wasserweg,  über  dem
Stillbeerenbäume  zu  einem  Tunneldach  zusammen-
wuchsen.  Der  Geruch  von  Merlingen  lag  spürbar
über den dunklen Buchten, und Harrad und Glinnes
hielten  beide  Ausschau  nach  einem  verdächtigen
Kräuseln  der  Oberfläche.  Aus  Gründen,  die  ihnen
selbst wohl am besten bekannt waren, hielten sich die
Merlinge  gern  im  Athenry-Gewässer  auf  –  vielleicht
wegen der Stillbeeren, die für Menschen giftig waren,
vielleicht  wegen  des  Schattens,  oder  vielleicht  be-
hagte ihnen das Aroma der Stillbeerwurzeln im Was-
ser.  Die  Wasserfläche  blieb  jedoch  glatt  und  ruhig;
wenn Merlinge in der Nähe waren, blieben sie in ih-

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ren Höhlen. Das Boot erreichte nun die Mündung zur
Fleharish-Bucht.  Auf  den  Fünf  Inseln  im  Süden  be-
fand  sich  der  alte  Herrensitz  von  Thammas  Lord
Gensifer. Nicht weit davon entfernt schoß ein Segel-
boot auf Tragflächen quer über die Bucht; Lord Gen-
sifer selbst saß an der Ruderpinne: ein jovialer, rund-
gesichtiger  Mann,  der  zehn  Jahre  älter  als  Glinnes
war, breite Schultern und eine stämmige Brust, doch
ziemlich  dünne  Beine  besaß.  Er  machte  eine  ge-
schickte Wende, brauste heran, bis er sich neben Har-
rads  Boot  befand,  und  ließ  das  Segel  in  den  Wind
drehen.  Das  Boot  tauchte  die  Tragflügel  ein  und
schaukelte flach auf dem Wasser. »Also das ist doch
bestimmt der junge Glinnes Hulden, zurück von sei-
nen  Sternenfahrten!«  rief  Lord  Gensifer.  »Willkom-
men daheim in den Fens!«

Glinnes  und  Harrad  standen  beide  auf  und  grüß-

ten,  wie  es  einem  Lord  von  Gensifers  Stellung  ge-
bührte.

»Danke«,  sagte  Glinnes.  »Ich  bin  wirklich  froh,

wieder daheim zu sein.«

»Es geht doch nichts über die Fens! Nun, und was

haben Sie für Pläne für zu Hause?«

Die  Frage  verwirrte  Glinnes.  »Pläne?  Nichts  Be-

stimmtes eigentlich... Sollte ich Pläne haben?«

»Ich dächte schon. Schließlich sind Sie jetzt Squire

von Rabendary.«

Glinnes blinzelte über das Wasser in Richtung der

Insel  Rabendary.  »Das  bin  ich  wohl,  wenn  Shira
wirklich  tot  ist.  Ich  bin  um  eine  Stunde  älter  als
Glay.«

»Ist nur begrüßenswert, wenn Sie meine Meinung

hören wollen... A – hm. Na, Sie werden schon selbst

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noch sehen.« Lord Gensifer holte die Schot ein. »Wie
steht's mit Hussade? Was halten Sie von dem neuen
Verein?  Wir  hätten  natürlich  gern  einen  Hulden  in
der Mannschaft.«

»Ich weiß noch nichts davon, Lord Gensifer. All die

Veränderungen  daheim  haben  mich  noch  gar  nicht
zur Besinnung kommen lassen.«

»Nun,  kommt  Zeit,  kommt  Rat.«  Lord  Gensifer

luvte an; der Bootsrumpf schnellte vorwärts, hob sich
auf  die  Tragflächen  und  zischte  atemberaubend
schnell über die Fleharish-Bucht davon.

»Das  ist  ein  Sport«,  bemerkte  Jung  Harrad  voll

Neid. »Er hat sich das Ding von Illucante liefern las-
sen,  von  der  Inter-Welt.  Man  denke  bloß,  wieviele
Ozols ihn das gekostet haben muß!«

»Kommt  mir  ziemlich  gefährlich  vor«,  sagte  Glin-

nes. »Wenn er kentert, ist er mit den Merlingen hier
draußen alleine.«

»Lord  Gensifer  ist  eben  ein  tollkühner  Bursche«,

sagte  Harrad.  »Übrigens  heißt  es,  daß  das  Boot
durchaus  sicher  ist.  Es  kann  vor  allem  nicht  sinken,
auch  wenn  es  mal  umschlägt.  Er  könnte  auf  dem
Rumpf sitzen bleiben, bis ihn jemand auffischt.«

Sie  querten  die  Fleharish-Bucht  und  bogen  in  das

Ilfisch-Gewässer ein, an dessen linkem Ufer das Prä-
fektur-Freiland lag – eine zweihundert Hektar große
Insel, die allen Wanderern und Fremden offenstand,
den Trevanyi, Wrye, oder Leuten, die ›auf Besuch bei
Freunden‹  waren.  Nun  fuhr  das  Boot  in  die  Ambal-
Bucht  ein,  und  gleich  darauf  tauchte  vor  ihnen  der
vertraute  Umriß  der  Insel  Rabendary  auf:  Daheim!
Glinnes  mußte  blinzeln,  weil  ihm  jetzt  doch  die  Au-
gen  feucht  wurden.  Eine  traurige  Heimkehr  war  es

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schon.  Die  Insel  Ambal  war  noch  schöner  als  in  der
Erinnerung.  Als  er  zu  dem  alten  Herrenhaus  hin-
überblickte,  glaubte  Glinnes,  dünnen  Rauch  aus  ei-
nem der Kamine aufsteigen zu sehen. Ein verrückter
Gedanke kam ihm, der jedoch Lord Gensifers seltsa-
me  Bemerkung  erklären  würde.  War  Glay  ins  Her-
renhaus übergesiedelt? Lord Gensifer würde ein sol-
ches Verhalten lächerlich und verurteilenswert finden
– ein vulgärer Versuch, Höherstehende nachzuäffen.

Das Boot legte am Steg von Rabendary an; Glinnes

hievte sein Gepäck heraus und bezahlte Jung Harrad.
Betroffen starrte er zum Haus hinüber. War es immer
so stark verfallen gewesen? Hatte das Unkraut immer
so dicht gestanden? Ein gewisses Maß an Verwahrlo-
sung schätzten die Trills als gemütlich, aber das alte
Haus war über diesen Zustand längst hinaus. Als er
die  Stufen  zur  Veranda  hinaufstieg,  knarrten  und
ächzten sie unter seinem Gewicht.

Ein  paar  Flecken  Farbe  erregten  seine  Aufmerk-

samkeit,  drüben  auf  der  Wiese  nahe  am  Waldrand.
Glinnes  blinzelte  und  spähte  scharf  hinüber.  Drei
Zelte:  rot,  schwarz,  dumpf  orangefarben.  Trevanyi-
Zelte.  Glinnes  schüttelte  verärgert  den  Kopf.  Er  war
anscheinend  nicht  zu  früh  heimgekehrt.  »Hallo,  im
Haus da! Ist niemand hier?«

Die schlanke, hochgewachsene Gestalt seiner Mut-

ter erschien in der Türöffnung. Sie starrte ihn ungläu-
big  an,  lief  dann  ein  paar  Schritte  auf  ihn  zu.  »Glin-
nes! Wie seltsam, dich wieder hier zu sehen!«

Glinnes umarmte und küßte sie, ohne sich über ih-

re  Bemerkung  zu  wundern.  »Ja,  ich  bin  wieder  da-
heim,  und  mir  kommt's  auch  seltsam  vor.  Wo  ist
denn Glay?«

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»Er  ist  mit  einigen  Kameraden  unterwegs.  Aber

wie  gut  du  aussiehst!  Du  bist  zu  einem  prächtigen
Mann herangewachsen!«

»Und du hast dich nicht um ein Haar verändert; du

bist immer noch meine bildschöne Mutter.«

»Ach  Glinnes,  du  Schmeichler,  ich  fühle  mich  alt

wie  die  Berge  und  sehe  bestimmt  auch  so  aus...  Ich
nehme  an,  du  hast  die  traurige  Nachricht  bekom-
men?«

»Wegen  Shira?  Ja.  Es  betrübt  mich  schrecklich.

Weiß denn keiner, was wirklich passiert ist?«

»Man  weiß  überhaupt  nichts«,  sagte  Marucha

ziemlich  steif.  »Aber  setz  dich  doch,  Glinnes;  zieh
diese hübschen Stiefel aus und laß deine Füße ausru-
hen. Möchtest du einen Becher Apfelwein?«

»Sehr  gerne,  und  etwas  zu  essen,  was  gerade  bei

der Hand ist. Ich bin halb verhungert.«

Marucha  brachte  Wein,  Brot,  ein  kaltes  Hack-

fleischgericht, Obst und Meerpudding. Sie setzte sich
und schaute ihm beim Essen zu. »Es freut mich, dich
wiederzusehen. Was für Pläne hast du nun?«

Glinnes  fand,  daß  ihre  Stimme  einen  kaum  wahr-

nehmbaren,  kühlen  Unterton  hatte.  Aber  Marucha
war  eigentlich  nie  besonders  herzlich  gewesen.  Er
antwortete: »Ich habe überhaupt keine Pläne; ich ha-
be von Shiras Schicksal erst von Jung Harrad gehört.
Er hat also nie geheiratet?«

Marucha  preßte  mißbilligend  die  Lippen  zusam-

men. »Er konnte sich nie recht entschließen... Er hatte
natürlich da und dort Freundinnen.«

Wieder fühlte Glinnes, daß manches unausgespro-

chen blieb, Dinge, über die seine Mutter anscheinend
nicht  zu  sprechen  wünschte.  Eine  leichte  Verstim-

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mung begann sich in ihm bemerkbar zu machen, aber
er  unterdrückte  sie  sofort.  Es  war  nicht  gut,  einen
neuen  Lebensabschnitt  mit  Groll  im  Herzen  zu  be-
ginnen.

Marucha  fragte  ihn  unvermittelt  in  munterem,  et-

was sprödem Ton:

»Aber wo ist deine Uniform? Ich hätte dich so gern

als Offizier des Whelm gesehen.«

»Ich  habe  den  Dienst  quittiert.  Ich  will  jetzt  zu

Hause bleiben.«

»Oh.«  Maruchas  Stimme  war  tonlos.  »Natürlich

freuen  wir  uns,  dich  wieder  daheim  zu  haben,  aber
hältst du es für klug, deine Karriere aufzugeben?«

»Ich  habe  sie  schon  aufgegeben.«  Trotz  seiner  gu-

ten  Vorsätze  war  Glinnes'  Stimme  jetzt  ein  wenig
schärfer geworden.

»Ich  werde  hier  nötiger  gebraucht  als  im  Whelm.

Unser altes Heim verfällt ja völlig. Unternimmt Glay
denn überhaupt nichts dagegen?«

»Er war so beschäftigt mit... nun, mit seinen Ange-

legenheiten. In gewisser Weise ist er jetzt eine wichti-
ge Persönlichkeit geworden.«

»Das sollte ihn nicht davon abhalten, die Stufen zu

reparieren. Sie faulen einem ja unter den Füßen weg...
Oder – ich habe auf Ambal Rauch bemerkt. Lebt Glay
jetzt am Ende drüben?«

»Nein. Wir haben die Ambal-Insel verkauft, an ei-

nen von Glays Freunden.«

Glinnes  fuhr  betroffen  auf.  »Ihr  habt  die  Ambal-

Insel verkauft? Aus welchem Grund nur...« Er suchte
sich zu fassen. »Shira hat die Insel verkauft?«

»Nein«, sagte Marucha kühl. »Glay und ich haben

beschlossen, uns davon zu trennen.«

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»Aber...« Glinnes unterbrach sich und wählte seine

Worte mit Bedacht. »Ich habe bestimmt nicht die Ab-
sicht,  mich  von  der  Ambal-Insel  zu  trennen  –  oder
von sonst einem Teil unseres Landes.«

»Leider  ist  der  Verkauf  nun  schon  durchgeführt

worden. Wir nahmen an, daß du deine Laufbahn im
Whelm  verfolgen  und  nicht  so  bald  heimkommen
würdest.  Natürlich  hätten  wir  deine  Einstellung  be-
rücksichtigt, hätten wir davon gewußt.«

Glinnes bemühte sich, höflich zu bleiben. »Ich bin

entschieden dafür, daß wir den Vertrag annullieren.

*

Wir wollen doch Ambal nicht verlieren.«

»Aber  mein  lieber  Glinnes,  wir  haben  es  bereits

aufgegeben.«

»Nicht,  wenn  wir  das  Geld  zurückgeben.  Wo  ist

es?«

»Danach wirst du Glay fragen müssen.«
Glinnes dachte an den sardonischen Glay von vor

zehn  Jahren,  der  nie  Interesse  für  die  Angelegenheit
von Rabendary gezeigt hatte. Daß Glay nun auf ein-
mal  solche  schwerwiegenden  Entscheidungen  traf,
erschien Glinnes unverständlich und seinem Vater Jut
gegenüber  pietätlos,  denn  dieser  hatte  jeden  Qua-
dratmeter seines Bodens geliebt.

Glinnes  fragte:  »Wieviel  habt  ihr  für  Ambal  be-

kommen?«

»Zwölftausend Ozols.«
Mit  vor  Ärger  heiserer  Stimme  rief  Glinnes:  »Das

ist  verschenkt!  Ein  so  herrliches  Fleckchen  wie  die

                                                  

*

 

Nach  Trill-Gesetz  gilt  der  Kaufvertrag  für  ein  Grundstück  ein
Jahr lang nur provisorisch, und beide Parteien können ihn wider-
rufen.

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Ambal-Insel, und das Herrenhaus ist überdies in gu-
tem  Zustand!  Irgend  jemand  hat  hier  den  Verstand
verloren!«

Maruchas  schwarze  Augen  blitzten.  »Du  hast  gar

kein Recht, dich zu beschweren. Du warst nicht hier,
als wir dich brauchten, also gehört es sich nicht, daß
du jetzt zu nörgeln anfängst.«

»Ich  werde  mehr  tun  als  nörgeln;  ich  werde  den

Vertrag annullieren. Wenn Shira tot ist, bin ich Squire
von  Rabendary,  und  niemand  sonst  ist  berechtigt,
Grund zu verkaufen.«

»Aber wir wissen nicht, ob Shira tot ist«, stellte Ma-

rucha mit freundlicher Überlegenheit fest. »Er könnte
nur auf Besuch bei Freunden sein.«

Glinnes fragte höflich: »Kennst du jemand von die-

sen ›Freunden‹?«

Marucha  hob  verächtlich  die  Schultern.  »Kaum.

Aber  du  weißt  ja,  wie  Shira  immer  war.  Er  hat  sich
nicht verändert.«

»Nach  zwei  Monaten  sollte  er  von  seinem  Besuch

wohl zurück sein.«

»Wir hoffen natürlich, daß er noch lebt. Tatsächlich

können wir ihn erst nach vier Jahren für tot ansehen,
wie es das Gesetz bestimmt.«

»Aber dann ist der Vertrag längst gültig geworden!

Warum  sollten  wir  irgendeinen  Teil  unseres  Landes
hergeben?«

»Wir  haben  das  Geld  gebraucht.  Ist  das  nicht

Grund genug?«

»Ihr habt Geld wofür gebraucht?«
»Diese Frage mußt du Glay stellen.«
»Das werde ich tun. Wo ist er?«
»Ich  weiß  es  wirklich  nicht.  Vermutlich  wird  er

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bald heimkommen.«

»Etwas  anderes:  sind  das  Trevanyi-Zelte  drüben

beim Wald?«

Marucha nickte. Mittlerweile versuchte keiner von

beiden  mehr,  sich  um  Freundlichkeit  zu  bemühen.
»Bitte  kritisiere  nicht  mich  oder  Glay.  Shira  hat  sie
herkommen lassen, und sie haben auch keinen Scha-
den angerichtet.«

»Vielleicht  nicht,  aber  das  wird  schon  noch  kom-

men. Du weißt recht gut, wie es uns das letztemal mit
Trevanyi  erging.  Sie  haben  das  Küchenbesteck  ge-
stohlen.«

»Die Drossets sind nicht so«, sagte Marucha. »Für

Trevanyi scheinen sie ganz anständig zu sein. Gewiß
sind sie so ehrlich, wie sie es sich leisten können.«

Glinnes  hob  erbittert  die  Hände.  »Es  hat  keinen

Sinn, sich zu streiten. Aber wegen Ambal möchte ich
noch  etwas  sagen.  Shira  hätte  bestimmt  nie  gewollt,
daß  die  Insel  verkauft  wird.  Wenn  er  noch  lebt,  so
habt ihr ohne seine Zustimmung gehandelt. Ist er tot,
dann  habt  ihr  ohne  meine  verkauft,  und  ich  bestehe
darauf, daß wir den Vertrag annullieren.«

Marucha  hob  kühl  die  zarten,  weißen  Schultern.

»Das  ist  eine  Angelegenheit,  die  du  mit  Glay  regeln
mußt.  Ich  möchte  wirklich  nichts  damit  zu  schaffen
haben.«

»Wer hat die Insel Ambal gekauft?«
»Ein Mann namens Lute Casagave, ein ruhiger und

vornehmer Mensch. Ich glaube, er ist ein Fremdwelt-
ler; für einen Trill ist er viel zu weltgewandt.«

Glinnes beendete seine Mahlzeit und ging dann zu

seinem Gepäck. »Ich habe ein paar Kleinigkeiten mit-
gebracht.« Er reichte seiner Mutter ein Päckchen; sie

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nahm es wortlos. »Mach es auf«, sagte Glinnes. »Es ist
für dich.«

Sie löste die Schnur und zog ein Stück purpurnen

Stoff  aus  der  Umhüllung,  der  mit  grünen,  silbernen
und goldenen Stickereien, phantastischen Vögeln, ge-
schmückt war. »Wie herrlich!« Sie seufzte tief. »Also
Glinnes, das ist ein wundervolles Geschenk!«

»Das ist nicht alles«, sagte Glinnes. Er holte weitere

Päckchen hervor, die Marucha begeistert öffnete. Im
Gegensatz zu den meisten Trills fand sie Gefallen am
Besitz schöner Dinge.

»Das sind Sternkristalle«, sagte Glinnes. »Sie haben

keinen  anderen  Namen,  soviel  ich  weiß;  sie  werden
genauso, mit Facetten und allem, im Staub toter Ster-
ne gefunden. Nichts kann sie ritzen, nicht einmal ein
Diamant,  und  sie  haben  sonderbare  optische  Eigen-
schaften.«

»Oh, wie schwer sie sind!«
»Das hier ist eine antike Vase, keiner weiß, wie alt

sie wirklich ist. Die Schrift auf dem Boden soll erdisch
sein.«

»Sie ist bezaubernd!«
»Nun,  dies  hier  ist  nichts  Besonderes,  es  hat  mir

einfach gefallen – ein Nußknacker in Form eines Urt-
land-Gabelkäfers. Ehrlich gestanden, ich hab's bei ei-
nem Trödler gefunden.«

»Aber wirklich hübsch. Zum Nüsseknacken, sagst

du?«

»Ja. Man legt die Nuß zwischen diese Klauen und

drückt den Gabelschwanz zusammen... Die hier wa-
ren  für  Glay  und  Shira  gedacht  –  Messer  aus  Pro-
teum. Die Schneide besteht aus einer einzelnen Mole-
külkette – absolut unzerstörbar. Man kann damit auf

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Stahl  herumhacken,  trotzdem  werden  sie  nie
stumpf.«

»Glay  wird  sich  freuen«,  sagte  Marucha  etwas

kühler als zuvor. »Und Shira gewiß ebenfalls.«

Glinnes  schnaubte  voll  Skepsis,  was  Marucha  ge-

flissentlich überhörte. »Vielen Dank für die Geschen-
ke. Ich finde sie alle sehr schön.« Sie blickte durch die
offene  Tür  über  die  Veranda  zum  Bootssteg  hinaus.
»Jetzt ist Glay gekommen.«

Glinnes trat auf die Veranda hinaus. Glay, der eben

den  Pfad  von  der  Anlegestelle  heraufkam,  blieb  ste-
hen,  zeigte  aber  sonst  keinerlei  Überraschung.
Schließlich  ging  er  langsam  weiter.  Glinnes  sprang
die  Stufen  hinunter,  und  die  Brüder  umarmten  ein-
ander.

Glay  trug,  wie  Glinnes  auffiel,  nicht  den  üblichen

Paray  der  Trill,  sondern  graue  Hosen  und  eine
dunkle Jacke.

»Willkommen zu Hause«, sagte Glay. »Ich traf Jung

Harrad; er sagte mir, daß du hier bist.«

»Ich bin froh, wieder daheim zu sein«, sagte Glin-

nes.  »Nur  du  und  Marucha,  das  muß  ziemlich  trüb-
selig gewesen sein. Jetzt, wo ich wieder da bin, hoffe
ich,  daß  unser  Heim  wieder  wie  früher  werden
kann.«

Glay nickte gleichgültig. »Ja. Das Leben war ziem-

lich ruhig hier. Und alle Dinge ändern sich, gewiß –
wie ich hoffe, zum Besseren.«

Glinnes  war  nicht  ganz  klar,  was  Glay  eigentlich

meinte. »Wir müssen über vieles sprechen. Aber vor
allem – ich bin froh, dich wiederzusehen. Du schaust
so  erstaunlich  weise  und  abgeklärt  aus  –  irgendwie,
wie soll ich sagen, selbstsicher.«

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Glay  lachte.  »Wenn  ich  zurückdenke,  wird  mir

klar,  daß  ich  immer  zuviel  gegrübelt  habe,  immer
versucht habe, zuviele unlösbare Probleme zu bewäl-
tigen.  Das  habe  ich  aufgegeben.  Ich  habe  sozusagen
den gordischen Knoten zerschnitten.«

»Wie das?«
Glay machte eine wegwerfende Geste. »Es wäre zu

umständlich,  auf  das  alles  jetzt  einzugehen...  Du
siehst gut aus. Der Dienst im Whelm hat dir anschei-
nend getaugt. Wann mußt du wieder zurück?«

»Zum Whelm? Gar nicht. Das ist ein abgeschlosse-

nes Kapitel, vor allem, da ich jetzt Squire von Raben-
dary bin, wie es scheint.«

»Ja«,  sagte  Glay  tonlos.  »Du  bist  mir  eine  Stunde

voraus.«

»Komm  doch  rein«,  sagte  Glinnes.  »Ich  habe  dir

etwas mitgebracht. Für Shira auch. Glaubst du, daß er
tot ist?«

Glay

 

nickte

 

düster.

 

»Es

 

gibt

 

keine

 

andere

 

Erklärung.«

»Das meine ich auch. Mutter glaubt, daß er ›auf Be-

such‹ ist.«

»Zwei Monate lang? Wohl kaum.«
Die beiden traten ins Haus, und Glinnes holte das

Messer

 

hervor,

 

das

 

er

 

im

 

Bazar

 

des Technischen Labors

von

 

Boreal

 

City

 

auf

 

Maranian

 

erstanden

 

hatte.

 

»Paß mit

der Schneide auf. Wenn du sie nur berührst, hast du
dich

 

schon

 

geschnitten.

 

Aber

 

man kann damit auch ein

Stahlseil

 

durchhacken, ohne daß sie beschädigt wird.«

Glay nahm das Messer vorsichtig in die Hand und

blinzelte die unsichtbare Schneide entlang. »Es macht
mir Angst.«

»Ja,  es  ist  schon  ein  bißchen  unheimlich.  Jetzt,  wo

Shira tot ist, werde ich das zweite selbst behalten.«

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Marucha  sagte  kühl  quer  durch  den  Raum:  »Wir

wissen nicht, ob Shira tot ist.«

Weder Glay noch Glinnes erwiderten etwas darauf.

Glay legte sein Messer auf den Kaminsims aus rauch-
geschwärztem alten Kaban-Holz. Glinnes setzte sich.
»Wir  sollten  lieber  wegen  der  Ambal-Insel  reinen
Tisch machen.«

Glay lehnte sich an die Wand und musterte Glinnes

mit düsterem Blick. »Darüber gibt es nichts zu sagen.
Ich habe die Insel an Lute Casagave verkauft.«

»Dieser  Verkauf  war  nicht  nur  unklug,  sondern

auch ungesetzlich. Ich habe die Absicht, den Vertrag
zu annullieren.«

»Tatsächlich – und wie willst du das anfangen?«
»Wir werden das Geld zurückgeben und Casagave

ersuchen,  das  Land  zu  verlassen.  Die  Sache  ist  ganz
einfach.«

»Wenn du zwölftausend Ozols hast.«
»Ich habe sie nicht – aber du.«
Glay schüttelte langsam den Kopf. »Nicht mehr.«
»Wo ist das Geld?«
»Ich habe es jemandem gegeben.«
»Wem?«
»Einem  Mann  namens  Junius  Farfan.  Ich  gab  es

ihm,  er  nahm  es  an  –  ich  kann  es  nicht  wieder  zu-
rückverlangen.«

»Ich glaube, wir sollten Junius Farfan aufsuchen –

jetzt gleich.«

Glay  schüttelte  den  Kopf.  »Mißgönne  mir  doch

nicht  dieses  Geld.  Du  hast  deinen  Teil  bekommen  –
du  bist  Squire  von  Rabendary.  Laß  mich  Ambal  als
meinen Anteil haben.«

»Es  geht  überhaupt  nicht  um  Anteile,  oder  wem

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was gehört«, sagte Glinnes mühsam beherrscht. »Ra-
bendary gehört uns beiden. Es ist unsere Heimat.«

»So kann man die Sache gewiß auch sehen«, sagte

Glay. »Aber ich war nun einmal anderer Ansicht. Wie
ich dir schon gesagt habe, vieles hat sich geändert.«

Glinnes  lehnte  sich  in  seinem  Stuhl  zurück,

sprachlos vor Entrüstung.

»Laß es doch auf sich beruhen«, sagte Glay müde.

»Ich  habe  mir  Ambal  genommen;  du  hast  dafür  Ra-
bendary. Das ist schließlich nur gerecht. Ich werde so-
fort ausziehen und dir deinen Besitz überlassen.«

Glinnes  versuchte  herauszuschreien,  daß  er  das

nicht wollte, aber die Worte blieben ihm in der Kehle
stecken. Er konnte nur sagen: »Wie du willst. Ich hof-
fe nur, du wirst es dir noch anders überlegen.«

Glays einzige Antwort war ein geheimnisvolles Lä-

cheln, das für Glinnes überhaupt keine Antwort war.
»Etwas  anderes«,  sagte  Glinnes.  »Was  ist  mit  diesen
Trevanyi da drüben?«

»Es sind Leute, mit denen ich eine Zeitlang unter-

wegs  war  –  die  Drossets.  Hast  du  etwas  gegen  ihr
Hiersein einzuwenden?«

»Sie  sind  deine  Freunde.  Wenn  du  schon  darauf

bestehst,  dich  anderswo  niederzulassen,  warum
nimmst du dann nicht deine Freunde mit?«

»Ich  weiß  noch  nicht,  wohin  ich  gehen  werde«,

sagte Glay. »Wenn du sie loswerden willst, dann sag
ihnen  doch  einfach,  daß  sie  gehen  sollen.  Du  bist
Squire von Rabendary, nicht ich.«

»Er ist nicht Squire, bevor wir über Shiras Schicksal

Gewißheit haben!« warf Marucha ein.

»Shira ist tot«, sagte Glay.
»Trotzdem  hat  Glinnes  einfach  kein  Recht,  heim-

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zukommen und sofort Schwierigkeiten zu machen. Er
ist wirklich genauso ein Dickkopf wie Shira und sein
Vater.«

»Ich  mache  keine  Schwierigkeiten.  Ihr  macht  sie«,

sagte Glinnes. »Ich muß jetzt von irgendwo zwölftau-
send Ozols auftreiben, um die Ambal-Insel zu retten,
und  eine  Bande  Trevanyi  verjagen,  bevor  sie  ihren
ganzen  Stamm  herholen.  Es  ist  ein  Glück,  daß  ich
jetzt heimgekommen bin, wo wir überhaupt noch ein
Heim haben.«

Glay schenkte sich mit steinerner Miene Apfelwein

in einen Becher. Die ganze Angelegenheit schien ihn
nur zu langweilen...

Von draußen jenseits der Wiese kam ein ächzendes,

knirschendes  Geräusch,  gefolgt  von  einem  gewalti-
gen  Krachen.  Glinnes  ging  auf  die  Veranda  nachse-
hen.  Er  kam  rasch  zu  Glay  zurück.  »Deine  Freunde
haben  eben  einen  unserer  ältesten  Borkennußbäume
gefällt.«

»Einen von deinen Bäumen«, sagte Glay mit feinem

Lächeln.

»Du wirst sie nicht fortschicken?«
»Sie würden nicht auf mich hören. Ich stehe in ih-

rer Schuld.«

»Haben sie auch Namen?«
»Der  Häuptling  ist  Vang  Drosset.  Sein  Weib  heißt

Tingo.  Die  Söhne  heißen  Ashmor  und  Harving.  Die
Tochter heißt Duissane. Die Alte heißt Immifalda.«

Glinnes  ging  zu  seinem  Gepäck  und  holte  seine

Dienstpistole heraus, die er in die Tasche schob. Glay
sah  es  und  verzog  sardonisch  den  Mund,  murmelte
dann  Marucha  einige  Worte  zu,  während  Glinnes
wütend hinausmarschierte.

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Das sanfte Licht des Nachmittages ließ alles in der

Nähe  mit  ungewöhnlicher  Farbkraft  leuchten,  wäh-
rend  es  die  Ferne  in  einen  schimmernden  Schleier
hüllte. Glinnes war erfüllt von einem Widerstreit der
verschiedensten  Gefühle:  Kummer,  Sehnsucht  nach
den goldenen Zeiten von früher, Bitterkeit, Zorn auf
Glay,  den  er  nicht  zu  unterdrücken  vermochte,  ob-
wohl er es versuchte.

Er näherte sich dem Lager, und sechs Augenpaare

beobachteten  jeden  seiner  Schritte,  schätzten  ihn
aufmerksam ab. Das Lager war nicht besonders sau-
ber, allerdings auch nicht zu sehr verschmutzt; Glin-
nes  hatte  schon  weit  Ärgeres  gesehen.  Zwei  Feuer
brannten.  An  dem  einen  hockte  ein  Bursche  und
drehte einen Spieß voll fetter junger Waldhühner. Ein
Kessel über dem anderen Feuer verströmte einen ste-
chenden  Kräutergeruch:  die  Drossets  bereiteten  of-
fenbar eine Portion Trevanyi-Bier zu, das nach länge-
rem  Genuß  die  Augäpfel  auffallend  goldgelb  färbte.
Die  Frau,  die  in  der  Brühe  rührte,  hatte  strenge,
scharfgeschnittene  Züge.  Ihr  Haar  war  grellrot  ge-
färbt und hing ihr in zwei Zöpfen über den Rücken.
Glinnes  machte  einen  Bogen,  um  dem  säuerlichen
Gestank auszuweichen.

Von dem umgestürzten Baum kam jetzt ein Mann

heran,  der  die  abgefallenen  Borkennüsse  gesammelt
hatte. Zwei ungeschlachte junge Männer schlenderten
hinterher.  Alle  drei  trugen  schwarze  Hosen,  die  in
weiche  schwarze  Stiefel  gestopft  waren,  weite  Hem-
den aus gelblicher Seide, bunte Halstücher – das typi-
sche Trevanyi-Kostüm. Vang Drosset hatte einen fla-
chen,  schwarzen  Hut  ins  Genick  geschoben,  so  daß
sein hellbraunes, dichtgelocktes Haar sichtbar wurde.

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Seine  Haut  hatte  die  Farbe  von  trockenem  Biskuit,
und seine Augen glommen gelb, als würden sie von
innen  erleuchtet.  Alles  in  allem  ein  eindrucksvoller
Typ, mit dem bestimmt nicht gut Kirschen essen war,
dachte Glinnes. Er sagte: »Du bist Vang Drosset? Ich
bin Glinnes Hulden, Squire von Rabendary. Ich muß
dich ersuchen, dein Lager hier abzubrechen.«

Vang Drosset winkte seinen Söhnen, zwei Korbses-

sel zu bringen. »Oh. Setzt Euch und nehmt eine Erfri-
schung  an«,  sagte  Vang  Drosset.  »Dann  wollen  wir
über unser Weggehen reden.«

Glinnes lächelte und schüttelte den Kopf. »Ich ste-

he  lieber.«  Wenn  er  sich  setzte  und  ihren  Tee  trank,
verpflichtete  er  sich  ihnen,  und  sie  konnten  eine
Gunst  von  ihm  fordern.  Er  blickte  an  Vang  Drosset
vorbei zu dem Jungen, der den Bratspieß drehte, und
stellte  fest,  daß  es  gar  kein  Junge  war,  sondern  ein
schlankes,  hübsches  Mädchen  von  siebzehn  oder
achtzehn  Jahren.  Vang  Drosset  rief  ihr  über  die
Schulter  ein  Wort  zu;  das  Mädchen  stand  auf  und
ging in das schmutzigrote Zelt. Bevor es verschwand,
warf  es  einen  Blick  über  die  Achsel  zurück.  Glinnes
sah  ein  zartes  Gesicht  mit  von  Natur  aus  goldenen
Augen und rotgoldene Locken, die ihm wirr über die
Ohren und in den Nacken hingen.

Vang Drosset grinste, daß seine prächtigen weißen

Zähne aufblitzten. »Was nun das Abbrechen unseres
Lagers angeht, so ersuche ich Euch um die Erlaubnis,
bleiben zu können. Wir machen ja keinen Schaden.«

»Da  bin  ich  nicht  so  sicher.  Trevanyi  sind  unge-

mütliche  Nachbarn.  Wild  und  Geflügel  verschwin-
den, und unsere Sachen auch.«

»Wir haben weder Wild noch Geflügel gestohlen«,

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sagte Vang Drosset sanft.

»Ihr  habt  einen  prächtigen  Baum  vernichtet,  nur

um leichter an die Nüsse zu kommen.«

»Der Wald ist voller Bäume. Wir brauchten Feuer-

holz. Die Sache ist doch belanglos.«

»Für  euch  vielleicht.  Weißt  du,  daß  ich  als  Junge

auf diesem Baum gespielt habe? Schau! Dort habe ich
mein Zeichen eingeschnitten! In dieser Astgabel habe
ich mir ein Baumhaus gebaut, in dem ich manchmal
auch übernachtete. Ich habe diesen Baum geliebt!«

Vang  Drosset  verzog  das  Gesicht  bei  dem  Gedan-

ken, ein Mann könne einen Baum lieben. Seine beiden
Söhne  lachten  verächtlich,  wandten  sich  ab  und  be-
gannen,  Messerwerfen  zu  üben.  Glinnes  ließ  sich
nicht  beirren.  »Und  wieso  Brennholz?  Der  Wald  ist
voll von dürrem Holz. Ihr braucht es nur zu holen.«

»Ein weiter Weg für Leute mit müdem Rücken.«
Glinnes wies auf den Bratspieß. »Diese Vögel – die

sind  noch  nicht  ausgewachsen,  keiner  hat  eine  Brut
aufgezogen. Wir jagen nur die dreijährigen Vögel, die
ihr zweifellos alle schon aufgefressen habt, und ver-
mutlich die zweijährigen auch schon. Wenn ihr jetzt
noch über die Jährlinge herfallt, wird es hier bald kei-
ne Waldhühner mehr geben. Und dort, in dem Korb –
die Bodenfrüchte. Ihr habt die ganzen Pflanzen aus-
gerissen,  mitsamt  der  Wurzel;  ihr  habt  unsere  zu-
künftige  Ernte  zerstört!  Du  sagst,  ihr  macht  keinen
Schaden? Ihr verwüstet das Land – der Schaden wird
in zehn Jahren noch zu spüren sein! Packt eure Zelte
zusammen, beladet eure Wagen

*

 und verschwindet.«

                                                  

*

 

Die  Wagen  der  Trevanyi  sind  breite  schwere  Boote  mit  Rädern,
Land- und Wasserfahrzeuge gleichzeitig.

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»Das  ist  keine  freundliche  Sprache,  Squire  Hul-

den«, sagte Vang tonlos.

»Wie  soll  man  jemanden  freundlich  vom  eigenen

Grund  und  Boden  weisen?«  fragte  Glinnes.  »Das  ist
nicht gut möglich. Du verlangst zu viel.«

Vang  Drosset  wandte  sich  mit  einem  ärgerlichen

Zischlaut ab und starrte über die Wiese. Ashmor und
Harving  beschäftigten  sich  gerade  mit  einem  er-
staunlichen  Trevanyi-Kunststück,  das  Glinnes  noch
nie zuvor gesehen hatte. Sie standen etwa zehn Meter
voneinander entfernt, und jeder schleuderte abwech-
selnd  ein  Messer  nach  dem  Kopf  des  anderen.  Der,
auf den gezielt wurde, riß seinen eigenen Dolch hoch
und fing damit irgendwie die heranwirbelnde Waffe
auf, so daß sie wegprallte.

»Trevanyi  hat  man  besser  zum  Freund  als  zum

Feind«, sagte Vang Drosset leise.

»Du kennst vielleicht das Sprichwort: ›Östlich von

Zanzamar

9

  leben  die  freundlichen  Trevanyi‹«,  erwi-

derte Glinnes.

Vang  Drosset  bekam  einen  Unterton  von  falscher

Unterwürfigkeit.  »Aber  wir  sind  nicht  so  schlimm,
wie  man  uns  nachsagt!  Wir  tragen  zu  den  Freuden
von  Rabendary  bei!  Wir  werden  bei  Euren  Festen
Musik  machen;  wir  sind  in  allen  Messertänzen  be-
wandert...«

Er  schnippte  mit  den  Fingern,  und  seine  beiden

Söhne  begannen  zuckend  im  Kreis  zu  springen  und
ließen ihre Messer blitzend hochwirbeln.

Zufall, Scherz oder Mordabsicht – plötzlich sauste

ein Messer auf Glinnes' Kopf zu. Vang Drosset schrie

                                                  

9

 

Siehe Glossar

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auf, was genauso ein Ausdruck von Freude wie eine
Warnung  sein  konnte.  Glinnes  hatte  jedoch  etwas
derartiges  erwartet.  Er  duckte  sich,  und  das  Messer
fuhr  ein  Stück  hinter  ihm  in  den  Boden.  Glinnes  riß
seine Waffe heraus; die Mündung spie blaues Feuer,
und das eine Ende des Bratspießes flammte auf. Die
brutzelnden Vögel plumpsten in die Glut.

Das Mädchen Duissane kam aus dem Zelt gestürzt,

und das Feuer in seinen Augen war nicht weniger ge-
fährlich  als  der  Strahl  der  Waffe.  Sie  griff  nach  dem
Spieß und verbrannte sich die Hand; endlich gelang
es ihr, die Vögel mit einem Stock aus der Glut zu sto-
ßen. Sie fluchte und schimpfte dabei, ohne auch nur
Atem  zu  schöpfen:  »Du  abscheulicher  Urush

10

,  jetzt

hast du unser Essen ruiniert! Haare sollen dir auf der
Zunge wachsen! Du mit deinem abstoßenden Wanst
voller  Hundegedärme,  scher  dich  weg,  bevor  wir
dich Fanscher heißen, du hinterhältiger Spießbürger!
Wir kennen dich, keine Sorge! Du bist ein schlimme-
rer  Spageen

11

 als dein Bock von Bruder; übel wie er

war sonst nicht so bald einer...«

Vang Drosset hob die geballte Faust. Das Mädchen

verstummte und begann wütend die Asche von den
Vögeln  zu  kratzen.  Vang  Drosset  wandte  sich  zu
Glinnes zurück, ein ungutes Lächeln um den Mund.
»Das  war  nicht  sehr  freundlich«,  sagte  er.  »Haben
Euch die Messerspiele nicht gefallen?«

»Nicht besonders«, sagte Glinnes. Er zog sein eige-

nes, neues Messer und hob den Trevanyi-Dolch auf.
Er schnitt ein Stück von der Klinge weg, als schälte er

                                                  

10

 

Siehe Glossar

11

 

Siehe Glossar

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einen  Zweig.  Die  Drossets  schauten  gebannt  zu.
Glinnes  steckte  sein  Messer  weg  und  sagte:  »Das
Freiland  liegt  nur  eine  Meile  entfernt  am  Ilfisch-
Gewässer. Dort könnt ihr lagern, ohne jemandem zu
schaden.«

»Wir waren vorher auf dem Freiland«, schrie Duis-

sane. »Der Spageen Shira hat uns eingeladen; genügt
dir das nicht?«

Glinnes konnte sich nicht vorstellen, was die Ursa-

che  für  Shiras  Großzügigkeit  gewesen  sein  mochte.
»Ich dachte, es war Glay, der mit euch gezogen ist.«

Vang  Drosset  gab  dem  Mädchen  wieder  einen

Wink. Duissane wandte sich ab und brachte die Vö-
gel zu einem wackeligen Tisch.

»Morgen brechen wir auf«, sagte Vang Drosset mit

singender,  schicksalsschwerer  Stimme.  »Forlostwen-
na

12

 ist über uns gekommen; so sind wir bereit zum

Weiterziehen.«

»Ihr  könnt  Glay  begleiten«,  sagte  Glinnes.  »For-

lostwenna ist auch über ihn gekommen.«

Vang  Drosset  spuckte  auf  die  Erde.  »Fanscherade

ist über ihm, das ist es. Er ist jetzt zu gut für uns.«

»Und zu gut für dich«, murmelte Harving.
Fanscherade?  Das  Wort  war  ihm  unbekannt,  aber

er  würde  die  Drossets  um  keine  Erläuterung  bitten.
Er grüßte kühl und wandte sich um. Als er über die
Wiese ging, bohrten sich sechs Paar Augen in seinen
Rücken. Er war froh, als er außer Sichtweite eines ge-
schleuderten Messers war.

                                                  

12

 

Siehe Glossar

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KAPITEL 5

Avness nannte man jene blaßdämmrige Stunde kurz
vor Sonnenuntergang – eine trübsinnige, stille Tages-
zeit, in der alle Farben verblaßten und die Landschaft
seltsam  dimensionslos  wurde,  dunstige  Silhouetten,
die sich ohne räumliche Tiefe hintereinander reihten.
Avness  war  die  Morgendämmerung,  eine  Zeit,  die
dem Gemüt der Trill wenig behagte. Die Trill hatten
keine Ader für melancholische Besinnlichkeit.

Als  Glinnes  ins  Haus  zurückkam,  war  es  leer:  so-

wohl  Glay  wie  Marucha  waren  fortgegangen.  Glin-
nes' Stimmung verdüsterte sich noch um einige Gra-
de.  Er  ging  auf  die  Veranda  hinaus  und  blickte  zu
den  Zelten  der  Drossets  hinüber,  schon  halb  ent-
schlossen,  sie  zu  einem  Abschiedsfest  herüberzuho-
len – eigentlich vor allem Duissane, die zweifelsohne
ein  faszinierendes  Geschöpf  war,  trotz  hitzigem  Ge-
müt und übler Laune. Glinnes versuchte sich vorzu-
stellen,  wie  sie  wohl  aussehen  mochte,  wenn  sie
freundlich  gestimmt  war...  Duissane  würde  jedem
Fest  Glanz  verleihen...  Absurder  Einfall.  Vang  Dros-
set  würde  ihm  beim  geringsten  Verdacht  das  Herz
herausschneiden.

Glinnes kehrte ins Haus zurück und schenkte sich

frischen Wein ein. Er öffnete die Speisekammer und
musterte den spärlichen Inhalt. Welch ein Kontrast zu
der  Üppigkeit  vergangener,  glücklicherer  Zeit!  –  Er
vernahm  das  Plätschern  und  Rauschen  eines  durchs
Wasser  schneidenden  Bugs.  Glinnes  trat  auf  die  Ve-
randa  und  sah  dem  herangleitenden  Boot  entgegen.
Nicht Marucha war es, wie er erwartet hatte, sondern

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ein  hagerer,  langarmiger  Mann  mit  schmalen  Schul-
tern und spitzen Ellbogen, der einen Anzug aus dun-
kelbraunem und blauem Samt des Schnittes trug, wie
ihn  der  Adel  bevorzugte.  Schütteres,  braunes  Haar
hing ihm fast bis auf die Schultern; seine Miene war
sanft  und  freundlich,  aber  seine  Augen  und  ein  ge-
wisser Zug um seinen Mund verrieten einen Hang zu
koboldhafter Bosheit. Glinnes erkannte Janno Akadie,
den  Mentor,  den  er  als  wortgewandten,  witzigen,
manchmal  sarkastischen  oder  auch  ätzend  spötti-
schen  Partylöwen  in  Erinnerung  hatte,  einen  Mann,
der  nie  um  ein  Epigramm,  eine  Anspielung  oder  ei-
nen tiefgründigen Spott verlegen war. Akadie beein-
druckte  viele,  doch  Jut  Hulden  hatte  sich  in  seiner
Gegenwart nie recht wohlgefühlt.

Glinnes ging zum Bootssteg hinunter, fing die An-

legeleine  auf  und  machte  sie  am  Poller  fest.  Akadie
sprang geschickt an Land und begrüßte Glinnes über-
schwenglich.  »Ich  habe  vernommen,  daß  du  wieder
hier bist, und konnte es einfach nicht erwarten, dich
aufzusuchen.  Es  ist  eine  Freude,  dich  wieder  unter
uns zu haben!«

Glinnes gab die notwendigen höflichen Antworten,

und Akadie nickte mit etwas ungewohnter Herzlich-
keit. »Ja, ja, es hat viele Veränderungen gegeben seit
deiner  Abreise  –  und  ich  nehme  an,  daß  nicht  alle
nach deinem Geschmack sein dürften.«

»Ich  bin  mir  noch  nicht  ganz  klar  darüber«,  sagte

Glinnes vorsichtig, aber Akadie ging darüber hinweg
und blickte zu dem dunklen Haus hinauf. »Deine lie-
be Mutter ist nicht daheim?«

»Ich  weiß  nicht,  wo  sie  ist,  aber  komm  doch  mit

herauf und trink einen Becher Wein mit mir.«

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Akadie nickte zustimmend. Die beiden wanderten

vom Bootssteg zum Haus hinauf. Akadie warf einen
Blick zum Waldrand, wo das Lagerfeuer der Drossets
als  flackernder,  orangeroter  Schein  zu  sehen  war.
»Die Trevanyi sind noch hier, wie ich feststelle.«

»Sie brechen morgen auf.«
Akadie  nickte  weise.  »Das  Mädchen  ist  bezau-

bernd,  aber  ein  bißchen  unheimlich  –  es  kommt  ei-
nem  vor,  als  habe  ihr  das  Schicksal  eine  besondere
Rolle zugedacht. Ich frage mich, wem sie zum Schick-
sal werden wird.«

Glinnes zog die Brauen hoch; es war ihm nicht ein-

gefallen,  Duissane  in  diesem  geheimnisvollen  Licht
zu betrachten, aber Akadies Bemerkung berührte ihn
doch  seltsam.  »Da  hast  du  recht,  sie  ist  ein  bemer-
kenswertes Mädchen.«

Akadie  machte  es  sich  in  einem  der  alten  Flecht-

stühle  auf  der  Veranda  gemütlich.  Glinnes  brachte
Wein,  Käse  und  Nüsse  heraus,  und  eine  Weile  be-
trachteten die beiden Männer schweigend das Schau-
spiel  des  Sonnenuntergangs  mit  seinen  blassen,  ver-
wischten Farben.

»Ich nehme an, du hast Urlaub bekommen?« sagte

Akadie schließlich.

»Nein.  Ich  habe  den  Whelm  endgültig  verlassen.

Ich  bin  ja  jetzt  anscheinend  Squire  von  Rabendary  –
falls  Shira  nicht  wieder  auftaucht,  was  niemand  für
wahrscheinlich hält.«

»Zwei Monate lassen allerdings das Schlimmste be-

fürchten«, bemerkte Akadie etwas salbungsvoll.

»Was, glaubst du, ist ihm zugestoßen?«
Akadie  nippte  an  seinem  Wein.  »Ich  weiß  nicht

mehr als du, trotz meines Rufes.«

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»Offen  gesagt,  mir  ist  die  Situation  unverständ-

lich«,  sagte  Glinnes.  »Warum  hat  Glay  Ambal  ver-
kauft? Ich verstehe es einfach nicht; er gibt mir weder
eine Erklärung noch das Geld zurück, so daß ich den
Vertrag annullieren könnte. Ich hätte mir nie gedacht,
daß  ich  daheim  auf  so  viele  Schwierigkeiten  stoße.
Was hältst denn du von der Angelegenheit?«

Akadie  stellte  bedächtig  seinen  Becher  auf  den

Tisch  zurück.  »Wünschst  du  mich  beruflich  zu  kon-
sultieren?  Du  verschwendest  höchstwahrscheinlich
dein  Geld,  denn  offengestanden,  ich  sehe  keinen
Ausweg aus deinen Schwierigkeiten.«

Glinnes  seufzte  geduldig.  Das  war  wieder  der

Akadie,  bei  dem  er  nie  recht  wußte,  wie  er  ihn  be-
handeln  sollte.  Er  sagte:  »Wenn  du  mir  von  Nutzen
bist,  honoriere  ich  das  natürlich.«  Mit  einiger  Ge-
nugtuung bemerkte er, daß Akadie leicht verdrießlich
den Mund spitzte.

Akadie  überlegte.  »Hmmm.  Natürlich  kann  ich

mich  nicht  für  beiläufige  Gerüchte  bezahlen  lassen.
Ich  muß  dir  nützen,  wie  du  es  ausgedrückt  hast.
Manchmal  ist  die  Trennungslinie  zwischen  einem
freundschaftlichen Gefallen und professioneller Hilfe
sehr  schwer  zu  ziehen.  Ich  schlage  vor,  daß  wir  uns
auf das eine oder andere einigen.«

»Du  kannst  es  als  Konsultation  ansehen«,  sagte

Glinnes,  »denn  es  sieht  so  aus,  als  ob  ich  wirklich
handfesten Rat brauchte.«

»Sehr gut. Worüber willst du mich um Rat fragen?«
»Über  die  allgemeine  Lage.  Ich  möchte  mir  über

die Situation klarwerden, denn ich tappe im Dunkeln.
Zunächst  –  die  Insel  Ambal,  die  zu  verkaufen  Glay
keinerlei Recht hatte.«

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»Dabei gibt es kein Problem. Gib das Geld zurück

und annulliere den Vertrag.«

»Glay will mir das Geld nicht geben, und ich habe

natürlich  nicht  zwölftausend  Ozols  an  eigenen  Mit-
teln.«

»Eine  schwierige  Situation«,  mußte  Akadie  zuge-

ben. »Shira hat sich natürlich geweigert zu verkaufen.
Der  Handel  wurde  erst  nach  seinem  Verschwinden
abgeschlossen.«

»Hmmm. Worauf willst du hinaus?«
»Auf  gar  nichts.  Ich  gebe  dir  Tatsachen  bekannt,

aus denen du deine Schlüsse ziehen magst, wie es dir
beliebt.«

»Wer ist Lute Casagave?«
»Ich  weiß  es  nicht.  Dem  Anschein  nach  ist  er  ein

kultivierter  Mann  mit  gesetzten  Gewohnheiten,  der
sich für Genealogie interessiert. Er stellte einen Über-
blick über den hiesigen Adel zusammen, behauptet er
jedenfalls. Selbstverständlich können seine Motive ei-
ne ganz andere Grundlage haben als nur das Interes-
se  eines  Amateurs.  Vielleicht  versucht  er,  einen  An-
spruch  auf  einen  der  hiesigen  Titel  geltend  zu  ma-
chen? Wenn dem so ist, dann haben wir recht interes-
sante Ereignisse vor uns...

Hmmm.
Was weiß ich noch über den geheimnisvollen Lute

Casagave?

Er  behauptet,  ein  Bole  von  Ellent  zu  sein.  Alastor

485, wie dir gewiß bekannt ist. In dieser Hinsicht ha-
be ich meine Zweifel.«

»Wieso?«
»Ich  bin  ein  aufmerksamer  Beobachter,  wie  du

weißt.  Nach  einem  kleinen  Essen  in  seinem  Herren-

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haus zog ich meine Bibliothek zu Rate. Ich stellte fest,
daß sonderbarerweise ein sehr großer Prozentsatz der
Bolen  Linkshänder  sind.  Casagave  ist  Rechtshänder.
Die meisten Bolen sind tief religiös; ihr Ort der Ver-
dammnis ist der Schwarze Ozean um den Südpol von
Ellent;  gräßliche  Meereswesen  bewachen  die  Seelen
der Verdammten. Auf Ellent bedeutet es, sich in den
Einfluß des Bösen zu begeben, wenn man irgend et-
was aus dem Meer ißt. Kein Bole ißt Fisch. Und doch
hat  Lute  Casavage  in  aller  Gemütsruhe  ein  Seespin-
nenragout  verspeist,  und  danach  einen  prächtigen,
gegrillten  Entenfisch,  der  ihm  nicht  weniger  ge-
schmeckt hat als mir.

Ist  Lute  Casagave  ein  Bole?«  Akadie  breitete  die

Hände aus. »Ich weiß es nicht.«

»Aber  warum  sollte  er  eine  falsche  Herkunft  vor-

täuschen? Außer...«

»Genau. Trotzdem kann es eine ganz harmlose Er-

klärung  dafür  geben.  Vielleicht  ist  er  ein  Bole,  der
sich angepaßt hat. Übermäßiges Mißtrauen ist genau-
so von Nachteil wie Naivität.«

»Zweifellos.  Nun,  aber  das  ist  nebensächlich.  Ich

kann ihm so oder so sein Geld nicht geben, weil Glay
es nicht herausrückt. Weißt du, wo es hin ist?«

»Das  weiß  ich.«  Akadie  warf  Glinnes  einen  schrä-

gen  Blick  zu.  »Ich  muß  dich  darauf  hinweisen,  daß
dies  eine  Information  der  Klasse  Zwei  ist,  und  ich
mein Honorar danach berechnen muß.«

»Geht  in  Ordnung«,  sagte  Glinnes.  »Wenn  es  mir

übertrieben scheint, kannst du es ja nochmals berech-
nen. Wo ist das Geld?«

»Glay  gab  es  einem  Mann  namens  Junius  Farfan,

der in Welgen lebt.«

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Glinnes runzelte die Stirn und starrte auf die Am-

bal-Bucht hinaus. »Diesen Namen habe ich schon ge-
hört.«

»Sehr wahrscheinlich. Er ist der Leiter der hiesigen

Fanscher.«

»Oh? Und warum sollte Glay ihm Geld geben? Ist

Glay auch ein Fanscher?«

»Wenn  er's  noch  nicht  ist,  so  fehlt  jedenfalls  nicht

mehr  viel.  Bis  jetzt  hat  er  allerdings  noch  nicht  ihre
sonderbaren Bräuche angenommen.«

Plötzlich  fiel  Glinnes  etwas  ein.  »Diese  trübsinni-

gen grauen Kleider? Das kurzgeschorene Haar?«

»Das sind nur äußere Symbole. Die Bewegung hat

natürlich  ziemlich  erbitterte  Reaktionen  hervorgeru-
fen,  und  das  mit  Recht.  Die  Grundsätze  der  Fan-
scherade  stehen  in  so  krassem  Gegensatz  zum  kon-
ventionellen Verhalten, daß sie beinahe als asozial zu
bezeichnen sind.«

»Das  sagt  mir  alles  nichts«,  knurrte  Glinnes.  »Ich

habe bis heute nichts von der Fanscherade gehört.«

Akadie sprach in seinem belehrenden Tonfall: »Der

Name  leitet  sich  aus  dem  alten  Glottischen  her:  Fan
bedeutet  eine  uneingeschränkte  Verehrung  und  Be-
wunderung von Ruhm. Im Grunde genommen ist die
ganze These nicht viel mehr als eine Binsenwahrheit:
das  Leben  ist  etwas  so  Kostbares,  daß  es  möglichst
vorteilhaft  genutzt  werden  sollte.  Wer  könnte  dage-
gen  etwas  einwenden?  Die  Fanscher  aber  setzen  die
Idee  in  einer  Weise  in  die  Tat  um,  daß  sie  überall
feindselige Reaktionen hervorrufen. Sie glauben, daß
jeder  Mensch  sich  irgendwelche  hehren  Ziele  setzen
und nach ihrer Verwirklichung streben muß. Wenn er
versagt,  so  hat  er  wenigstens  ehrenhaft  versagt  und

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hat  die  Genugtuung,  sein  Leben  richtig  genutzt  zu
haben. Erreicht er sein Ziel...« Akadie verzog das Ge-
sicht.  »Wer  kommt  in  diesem  Leben  schon  je  zum
Ziel? Der Tod ist das Ziel. Trotzdem – die Fanschera-
de ist im Grunde ein bewundernswertes Ideal.«

Glinnes gab einen skeptischen Knurrlaut von sich.

»Die fünf Billionen Menschen von Alastor – alle sich
nach hehren Zielen abmühend? Es gäbe keinen Frie-
den und keine Ruhe mehr.«

Akadie nickte lächelnd. »Du mußt verstehen, Fan-

scherade ist keine Weltanschauung für fünf Billionen.
Fanscherade  ist  der  verzweifelte  Aufschrei  von  ein-
zelnen, die Einsamkeit eines einzigen Menschen, der
sich in der Unendlichkeit verloren glaubt. Durch die
Fanscherade lehnt sich dieser Einzelne gegen die An-
onymität auf, er will seine persönliche Größe bewei-
sen,  sich  von  der  Masse  abheben.«  Akadie  schwieg
einen  Augenblick  und  zuckte  dann  die  Achseln.
»Man könnte sagen, daß der einzige wahrhaft erfolg-
reiche  Fanscher  der  Connat  wäre.«  Er  trank  seinen
Wein aus.

Die  Sonne  war  nun  untergegangen.  Eine  Schicht

eisgrüner Zirren zog sich über den Himmel und lief
im  Süden  und  Norden  in  rosafarbene,  violette  und
zitronengelbe Fasern und Streifen aus. Eine Weile sa-
ßen die beiden Männer schweigend da.

Schließlich sagte Akadie leise: »Also – dieses ist die

Fanscherade.  Die  wenigsten  Fanscher  begreifen  ihre
neue  Weltanschauung  überhaupt  richtig;  schließlich
sind die meisten nicht viel mehr als Kinder, denen die
Trägheit,  die  erotischen  Ausschweifungen,  die  Ver-
antwortungslosigkeit  und  die  schlampige  Erschei-
nung ihrer Eltern ein Greuel geworden sind. Sie leh-

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nen  Cauch,  Wein  und  die  üppigen  Feste  ab  –  alles
Dinge,  die  dem  momentanen  Lebensgenuß  dienen.
Vielleicht  liegt  ihr  eigentliches  Ziel  darin,  ein  neues
und  anderes  Bild  von  sich  selbst  zu  gewinnen.  Sie
kultivieren  eine  unauffällige  äußere  Erscheinung,
weil  sie  der  Ansicht  sind,  daß  ein  Mensch  nach  sei-
nem Verhalten beurteilt werden sollte und nicht nach
irgendwelchen  äußeren  Symbolen,  die  ihm  seine
Laune gerade eingibt.«

»Eine  Schar  lästiger  und  unreifer  Unzufriedener!«

brummte  Glinnes.  »Wie  können  sie  sich  das  Recht
herausnehmen, die Lebensweise so vieler anderer, er-
fahrenerer  und  vernünftigerer  Menschen  zu  kritisie-
ren?«

»Ah ja!« seufzte Akadie. »Das zumindest ist nichts

Neues.«

Glinnes  schenkte  Wein  in  die  Becher  nach.  »Das

alles  kommt  mir  so  närrisch,  unsinnig  und  nutzlos
vor.  Was  wünschen  sich  die  Menschen  vom  Leben?
Wir  Trills  haben  alles,  was  unser  Dasein  lebenswert
macht:  Essen,  Musik,  Feste.  Was  ist  schlecht  daran?
Wofür  sollte  man  sonst  leben?  Diese  Fanscher  sind
wie griesgrämige Hunde, die mürrisch die Sonne an-
kläffen.«

»Oberflächlich  gesehen  ist  die  Sache  wirklich  ab-

surd«,  sagte  Akadie.  »Andererseits...«  Er  zuckte  die
Achseln.  »Ihr  Standpunkt  hat  eine  gewisse  Größe.
Unzufriedene  –  ja,  aber  weshalb  sind  sie  unzufrie-
den? Weil sie der uralten Sinnlosigkeit des Lebens ei-
nen Sinn abgewinnen wollen; weil sie dem elementa-
ren  Chaos  den  Stempel  menschlichen  Willens  auf-
drücken  wollen;  weil  sie  sich  danach  sehnen,  den
Glanz  und  die  Einzigartigkeit  eines  Individuums  zu

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beweisen, eines Individuums, das nur eines von fünf
Billionen  gesichtslosen  anderen  ist.  Darin  steckt  ein
verzweifelter, wilder Mut.«

»Das hört sich an, als wärst du selbst ein Fanscher«,

schnaubte Glinnes.

Akadie  schüttelte  den  Kopf.  »Es  gibt  schlechtere

Anschauungen, aber nein – ich bin nicht dafür. Fan-
scherade ist ein Zeitvertreib für Jüngere. Ich bin zu alt
dazu.«

»Was halten sie von der Hussade?«
»Sie bezeichnen das Spiel als sinnlose Ersatzhand-

lung,  die  die  Menschen  von  den  wahren  Qualitäten
des Lebens ablenkt.«

Glinnes  schüttelte  erstaunt  den  Kopf.  »Wenn  ich

denke,  daß  das  Trevanyi-Mädchen  mich  einen  Fan-
scher nannte!«

»Fürwahr  eine  seltsame  Vorstellung!«  sagte  Aka-

die.

Glinnes warf Akadie einen mißtrauischen Blick zu,

begegnete aber nur einer Miene unschuldiger Gleich-
gültigkeit.  »Wie  ist  die  Fanscherade  entstanden?  Ich
erinnere mich an keinen derartigen Trend.«

»Das Rohmaterial lag schon lange bereit, würde ich

annehmen. Es hat nur noch eines ideologischen Fun-
kens bedurft.«

»Und  wer  ist  dieser  Funkenschläger  der  Fan-

scherade?«

»Junius Farfan. Er lebt in Welgen.«
»Junius Farfan hat mein Geld!«
Akadie  erhob  sich.  »Ich  glaube,  ich  höre  ein  Boot.

Das muß endlich Marucha sein.« Er ging zur Anlege-
stelle, und Glinnes folgte langsam. Hinter einem wei-
ßen  Schaumkeil  schoß  das  Boot  über  das  Ilfisch-

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Gewässer in die Ambal-Bucht herein und schwenkte
zur  Anlegestelle.  Glinnes  nahm  Glay  die  Leine  ab
und machte sie fest. Marucha sprang munter auf den
Steg herüber. Glinnes starrte verblüfft ihre Kleidung
an:  ein  strenges,  weißes  Leinenkleid,  knöchelhohe
schwarze  Stiefel  und  eine  schwarze  Glockenhaube,
die  ihr  Haar  verdeckte  und  so  ihre  Ähnlichkeit  mit
Glay betonte.

Akadie  trat  vor.  »Ich  bedaure,  daß  ihr  nicht  hier

wart.  Aber  Glinnes  und  ich  haben  eine  recht  ange-
nehme Unterhaltung gehabt. Wir haben über die Fan-
scherade gesprochen.«

»Wie  schön!«  sagte  Marucha.  »Hast  du  ihn  be-

kehrt?«

»Das würde ich kaum annehmen«, meinte Akadie

grinsend. »Der Same muß ruhen, bevor er keimt.«

Glay  war  etwas  abseits  stehengeblieben  und  gab

sich sardonischer denn je. Akadie fuhr fort: »Ich habe
dir einige Dinge mitgebracht. Dies« – er gab Marucha
ein kleines Fläschchen – »ist ein Sensitivierungsmittel;
es macht den Geist in höchstem Maße aufnahmefähig
und steigert das Lernpotential. Gib aber acht, daß du
nicht mehr als eine Kapsel auf einmal nimmst, sonst
wirst  du  hypersensitiv.«  Er  überreichte  Marucha  ei-
nige Bücher. »Hier ist ein Handbuch der mathemati-
schen Logik, eine Abhandlung über Minichronik, und
eine Einführung in die Kosmologie. Alles ist für dein
Projekt wichtig.«

»Sehr  gut«,  sagte  Marucha  etwas  steif.  »Ich  frage

mich, wie ich mich erkenntlich zeigen könnte?«

*

                                                  

Die  Frage  »Was  schulde  ich  dir?«  gilt  auf  Trullion  als  unhöflich,
denn Großzügigkeit in allen materiellen Dingen ist die Norm.

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»Nun, ein Betrag in der Größenordnung von fünf-

zehn  Ozols  wäre  mehr  als  genug«,  sagte  Akadie.
»Aber das hat natürlich keine Eile. Ich muß jetzt wohl
doch  aufbrechen.  Es  ist  schon  ziemlich  dunkel  ge-
worden.«

Trotzdem zögerte Akadie seine Abfahrt hinaus, bis

Marucha  fünfzehn  Ozols  in  seine  schlaffe  Hand  ge-
zählt hatte. »Gute Nacht, mein Freund.« Sie und Glay
gingen zum Haus hinauf. Glinnes fragte:

»Und  was  werde  ich  dir  für  die  Konsultation  auf-

drängen dürfen?«

»Ach ja, laß mich überlegen. Zwanzig Ozols wären

mehr  als  großzügig,  wenn  meine  Informationen  dir
von Nutzen waren.«

Glinnes  gab  ihm  den  Betrag  und  dachte  sich,  daß

Akadie  seine  Kenntnisse  ziemlich  hoch  einschätzte.
Akadie startete sein Boot und fuhr über das Farwan-
Gewässer  in  Richtung  Saur-Fluß  davon,  von  dem  er
dann über die Tethryn-Bucht und die Vernice-Straße
zu  seinem  seltsamen  alten  Herrenhaus  auf  der  Insel
Sarpassante gelangte.

Im  Haus  auf  der  Insel  Rabendary  leuchtete  das

Licht auf. Glinnes ging langsam zur Veranda hinauf,
wo Glay stand und ihm entgegenblickte.

»Ich  habe  erfahren,  was  du  mit  dem  Geld  getan

hast«,  sagte  Glinnes.  »Du  hast  Ambal  für  einen  ab-
surden Unfug verschleudert.«

»Wir haben über die Angelegenheit mehr als genug

geredet.  Morgen  früh  verlasse  ich  dein  Haus.  Ma-
rucha  möchte,  daß  ich  bleibe,  aber  ich  glaube,  ich
werde mich woanders wohler fühlen.«

»Erst  ein  verdammtes  Durcheinander  stiften,  und

sich dann verdrücken, ja?« Die Brüder funkelten ein-

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ander an, bis Glinnes sich schroff abwandte und ins
Haus ging.

Marucha saß über den Fachbüchern, die Akadie ihr

besorgt  hatte.  Glinnes  machte  den  Mund  auf,  über-
legte es sich anders und ging wieder auf die Veranda
hinaus,  um  dort  vor  sich  hinzubrüten.  Drinnen  un-
terhielten  sich  Glay  und  Marucha  mit  gedämpfter
Stimme.

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KAPITEL 6

Am nächsten Morgen packte Glay seine Besitztümer
zusammen,  und  Glinnes  brachte  ihn  nach  Saurkash.
Während der Fahrt wurde kein Wort gesprochen. Als
er  vom  Boot  auf  den  Pier  von  Saurkash  stieg,  sagte
Glay:  »Ich  werde  nicht  weit  weg  sein,  zumindest  in
der nächsten Zeit nicht. Vielleicht werde ich mich auf
dem  Freiland  niederlassen.  Akadie  weiß,  wo  ich  zu
finden  bin,  falls  ich  gebraucht  werde.  Versuch  ein
wenig freundlich zu Marucha zu sein. Ihr Leben war
nicht  glücklich,  und  wenn  sie  jetzt  noch  einmal  von
vorn anfangen will, was schadet es?«

»Bring  diese  zwölftausend  Ozols  zurück,  dann

würde  ich  vielleicht  mehr  auf  deine  Ratschläge  ge-
ben«, sagte Glinnes. »Im Augenblick erwarte ich von
dir nichts als Unsinn.«

»Du bist ein Narr«, sagte Glay brüsk, wandte sich

um  und  ging  über  den  Pier  davon.  Glinnes  sah  ihm
nach.  Schließlich  fuhr  er  wieder  los,  aber  nicht  nach
Rabendary zurück, sondern nach Westen in Richtung
Welgen.

Nach einer Fahrt von weniger als einer Stunde über

friedliche  Wasserwege  erreichte  er  die  Blacklyn-
Bucht,  in  der  der  breite  Fluß  Karbashe  von  Norden
her einmündete, während sie sich im Süden nach ein
paar Meilen zum Südmeer öffnete.

Glinnes machte sein Boot an der öffentlichen Anle-

gestelle  fest,  die  unmittelbar  beim  Hussade-Stadion
lag,  einem  mächtigen  Gerüstbau  aus  graugrünen
Menaholzpfeilern  und  schwarzen  Eisenverstrebun-
gen. Er entdeckte ein großes, pergamentfarbenes Pla-

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kat, das mit roten und blauen Lettern verkündete:

DER HUSSADE-VEREIN FLEHARISH-BUCHT

STELLT EINE MANNSCHAFT

FÜR AUSSCHEIDUNGSKÄMPFE ZUSAMMEN!!!

Entsprechend qualifizierte Bewerber

mögen sich an den Vereinssekretär

Jeral Estang

oder an den ehrenwerten Gründer und

Sponsor, Thammas, Lord Gensifer wenden.

Glinnes las das Plakat ein zweitesmal und fragte sich,
woher  Lord  Gensifer  die  Leute  für  eine  Mannschaft
von  Ausscheidungskampfniveau  bekommen  wollte.
Vor zehn Jahren noch hatte ein gutes Dutzend Mann-
schaften in den Fens gespielt: die Welgener Sturmteu-
fel, die Unschlagbaren vom Hussadeverein Altramar,
die Voulsh-Gialospans

13

 von der Großen Ratteninsel,

die  Gaspar-Magier,  die  Saurkash-Schlangen  –  der
nicht besonders organisierte und leichtfertige Verein,
für  den  er  und  Jut  und  Shira  gespielt  hatten  –  dann
die  Gorgets  vom  Loressamy-Hussadeverein,  und
noch einige andere von verschiedenster Qualität und
andauernd wechselnder Besetzung. Der Konkurrenz-
kampf  zwischen  den  einzelnen  Vereinen  war  hart
gewesen; tüchtige Spieler waren gesucht und wurden
verhätschelt  und  verwöhnt.  Glinnes  hatte  keinen
Anlaß  zu  zweifeln,  daß  die  Situation  jetzt  ähnlich
war.

Als er sich vom Stadion entfernte, begann ein neuer

Gedanke in seinem Gehirn herumzuspuken. Eine ar-

                                                  

13

 

Siehe Glossar

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me  Hussade-Mannschaft  verlor  Geld,  und  wenn  sie
nicht  subventioniert  wurde,  verstreuten  sich  die
Spieler bald in alle Winde. Eine mittelmäßige Mann-
schaft  konnte  gewinnen  oder  verlieren,  je  nachdem,
ob  sie  sich  auf  Spiele  über  oder  unter  dem  eigenen
Niveau  einließ.  Eine  erfolgreiche,  ehrgeizige  Mann-
schaft  jedoch  verdiente  oft  im  Lauf  eines  Jahres  be-
trächtliche Summen, die bei der Aufteilung sehr wohl
zwölftausend Ozols pro Mann ergeben konnten.

Glinnes  wanderte  nachdenklich  zum  Hauptplatz

hinüber. Die Gebäude wirkten etwas verwitterter als
damals, die Kalepsis-Ranke, die die Gaststube vor der
Taverne Aude de Lys überwucherte, war dichter und
üppiger  geworden,  und  –  jetzt,  da  Glinnes  darauf
achtete, fiel es ihm erst auf – überraschend viele Fan-
scher-Trachten und die Fanscher imitierende Gewän-
der  waren  zu  sehen.  Glinnes  verzog  angewidert  das
Gesicht. In der Mitte des Platzes stand wie eh und je
der  Prutanschyr:  eine  Plattform  von  gut  zehn  Meter
Seitenlänge mit einem Gerüst und einer Art Podium
daneben, das den Musikern diente, die das Ritual der
Buße mit ihren Melodien untermalten.

In den zehn Jahren waren wohl auch ein oder zwei

neue Gebäude entstanden, von denen das auffälligste
die  neue  Schenke  Zum  Ehrwürdigen  St.  Gambrinus
war.  Über  dem  ebenerdigen  Biergarten,  in  dem  vier
Trevanyi  den  Gästen  aufspielten,  die  schon  so  früh
am  Tag  einer  Erfrischung  bedurften,  erhob  sich  auf
Menapfosten das eigentliche Wirtshaus.

Heute war Markttag. Grünzeughändler hatten ihre

Karren am Rande des Platzes aufgestellt; sie gehörten
ausnahmslos dem Volk der Wrye an, einer ebenso ei-
genständigen Rasse wie die Trevanyi. Trills aus Wel-

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gen und von den Landbezirken schlenderten an den
Ständen  vorbei,  prüften  und  suchten  aus,  handelten
und  kauften  hin  und  wieder  etwas.  Die  Leute  vom
Land  waren  an  ihrer  Kleidung  erkennbar:  der  un-
vermeidliche Paray wurde ergänzt von den verschie-
densten  bunten  Schals,  gestrickten  Westen,  verrückt
bedruckten  Hemden,  Ketten,  Armbändern,  Kopftü-
chern  und  Bändern,  je  nachdem,  was  Laune,  Be-
quemlichkeit  oder  Geschmack  des  Betreffenden  dik-
tierte.

Die Stadtbewohner begnügten sich mit weniger ei-

genwilliger Gewandung, und Glinnes bemerkte auch
eine beträchtliche Anzahl von Fanscher-Anzügen aus
gutem,  grauem  Tuch,  mit  dezentem  Schnitt,  die  zu
glänzend  polierten  schwarzen  Halbstiefeln  getragen
wurden. Hin und wieder waren auch schwarze Filz-
kappen zu sehen, die das Haar verbargen. Einige der
Leute, die sich in dieser Tracht zeigten, waren älteren
Jahrgangs und schienen sich in ihrem streng elegan-
ten Aufzug nicht recht wohl zu fühlen. Gewiß, über-
legte  Glinnes,  waren  nicht  alle  diese  Menschen  Fan-
scher.

Ein

 

hagerer,

 

langarmiger Mann kam auf Glinnes zu,

der ihn erstaunt und mit mißbilligender Belustigung
anstarrte. »Du auch? Das ist doch nicht möglich!«

Akadie  zeigte  sich  nicht  im  geringsten  verlegen.

»Warum  nicht?  Was  schadet  es,  wenn  man  einer
Laune  nachgibt?  Es  macht  mir  Spaß,  so  zu  tun,  als
wäre ich wieder jung.«

»Mußt du dabei auch so tun, als wärst du ein Fan-

scher?«

Akadie  zuckte  die  Achseln.  »Nochmals:  warum

nicht?  Es  mag  sein,  daß  sie  zu  hochgesteckte  Ideale

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haben; auch, daß sie vielleicht die Leichtfertigkeit und
Sinnlichkeit  von  uns  anderen  allzu  stur  verurteilen.
Trotzdem«  –  er  machte  eine  wegwerfende  Geste  –
»sehe ich nicht ein, warum ich deshalb nicht tun soll,
was mir gefällt.«

Glinnes  schüttelte  mißbilligend  den  Kopf.  »Auf

einmal  scheinen  diese  Fanscher  alle  Weisheit  dieser
Welt  gepachtet  zu  haben,  und  ihre  Eltern,  denen  sie
ihr  Leben  verdanken,  sind  leichtfertig,  träge  und
schlampig.«

Akadie lachte. »Kein solch launischer Trend dauert

lange.  Aber  sie  hellen  die  Eintönigkeit  des  Alltags
auf; warum sollte man also nicht mitmachen?« Bevor
Glinnes  antworten  konnte,  wechselte  Akadie  das
Thema.  »Ich  habe  erwartet,  dich  hier  zu  treffen.  Du
bist natürlich auf der Suche nach Junius Farfan, und
zufälligerweise  kann  ich  ihn  dir  zeigen.  Sieh  dort
hinüber,  jenseits  dieses  Schreckensgerüstes:  im  Gar-
ten  des  Ehrwürdigen  St.  Gambrinus  sitzt  links  im
Schatten ein Fanscher und schreibt in ein Kontobuch.
Dieser Mann ist Junius Farfan.«

»Ich

 

werde

 

gleich

 

hinübergehen

 

und

 

mit

 

ihm

 

reden.«

»Viel Glück«, sagte Akadie.
Glinnes überquerte den Platz, betrat den Biergarten

und ging zu dem Tisch, den Akadie ihm gezeigt hat-
te. »Sie sind Junius Farfan?«

Der  Mann  blickte  auf.  Glinnes  sah  ein  klassisches

regelmäßiges,  wenn  auch  etwas  blutarmes  und
durchgeistigtes Gesicht. Der graue Anzug umgab die
hagere  Gestalt  des  Mannes,  die  nur  aus  Knochen,
Sehnen und Nerven zu bestehen schien, mit strenger,
düsterer Eleganz. Eine schwarze Kappe bedeckte sein
Haar und betonte eine blasse, hohe Stirn über grüble-

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rischen, grauen Augen. Er war vermutlich nicht ein-
mal so alt wie Glinnes selbst. »Ich bin Junius Farfan.«

»Mein  Name  ist  Glinnes  Hulden.  Glay  Hulden  ist

mein  Bruder.  Vor  kurzem  hat  er  Ihnen  eine  größere
Summe  übergeben,  zwölftausend  Ozols,  wenn  ich
recht informiert bin.«

Farfan nickte. »Stimmt.«
»Dann habe ich schlechte Nachrichten für Sie. Glay

hat dieses Geld auf ungesetzlichem Wege erworben.
Er  hat  einen  Besitz  verkauft,  der  nicht  ihm,  sondern
mir gehörte. Um es kurz zu machen – ich möchte die-
ses Geld zurückhaben.«

Farfan  schien  weder  überrascht  noch  sonderlich

beunruhigt zu sein. Er wies auf einen Stuhl. »Setzen
Sie sich doch. Möchten Sie etwas trinken?«

Glinnes nahm Platz und akzeptierte ein Glas Bier.

»Danke. Wo ist also das Geld?«

Farfan  musterte  ihn  ruhig.  »Sie  haben  natürlich

nicht erwartet, daß ich so ohne weiteres zwölftausend
Ozols hergebe.«

»Und  ob  ich  das  erwartet  habe.  Ich  brauche  das

Geld, um den Besitz auszulösen.«

Farfan  lächelte  höflich  entschuldigend.  »Ihre  Er-

wartung kann ich nicht erfüllen, weil ich nicht in der
Lage bin, das Geld zurückzugeben.«

Glinnes stellte sein Glas hart auf den Tisch zurück.

»Und warum nicht?«

»Die  Summe  wurde  investiert;  wir  haben  die  Ma-

schinen für eine Fabrik bestellt. Wir beabsichtigen, je-
ne Güter herzustellen, die zur Zeit noch nach Trullion
importiert werden müssen.«

Glinnes' Stimme war heiser vor Empörung. »Dann

sollten Sie sich lieber anderswo Geld für Ihre Investi-

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tionen  besorgen  und  mir  meine  zwölftausend  Ozols
auszahlen.«

Farfan  nickte  bedächtig.  »Wenn  das  Geld  tatsäch-

lich aus Ihrem Besitz stammt, dann bin ich durchaus
bereit,  unsere  Schuld  anzuerkennen  und  werde  be-
antragen,  daß  die  Summe  einschließlich  Zinsen  aus
dem  ersten  Gewinn  unserer  Unternehmungen  zu-
rückgezahlt wird.«

»Und wann wird das sein?«
»Das weiß ich nicht. Wir hoffen, irgendwie zu Land

zu  kommen,  durch  Pacht  oder  als  Schenkung  oder
durch Beanspruchung unbesiedelten Landes.« Farfan
grinste, was sein Gesicht auf einmal sehr jungenhaft
wirken  ließ.  »Dann  müssen  wir  das  Fabrikgebäude
errichten,  für  Rohstoffe  sorgen,  die  entsprechenden
Fertigungstechniken  lernen,  mit  der  Produktion  be-
ginnen und unsere Werke verkaufen, die erste Liefe-
rung von Rohstoffen bezahlen, neue bestellen und so
weiter.«

»Das  alles  wird  aber  verdammt  lange  dauern«,

sagte Glinnes wütend.

Junius  Farfan  runzelte  überlegen  die  hohe  Stirn.

»Sagen wir einmal, fünf Jahre. Wenn Sie nach dieser
Zeitspanne  Ihren  Anspruch  noch  einmal  vorbringen
wollen, können wir die Sache, wie ich hoffe, zur bei-
derseitigen  Zufriedenheit  regeln.  Als  Privatperson
habe  ich  jedes  Verständnis  für  Ihre  mißliche  Lage«,
sagte  Junius  Farfan.  »Als  Leiter  einer  Organisation,
die  dringend  Kapital  braucht,  bin  ich  jedoch  nur  zu
froh, Ihr Geld zur Verfügung zu haben; wie ich es se-
he, haben wir die Summe nötiger als Sie.« Er schloß
das Kontobuch, in dem er geschrieben hatte, und er-
hob sich. »Guten Tag, Squire Hulden.«

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KAPITEL 7

Glinnes  sah  Junius  Farfan  nach,  wie  er  den  Platz
überquerte und jenseits des Prutanschyr verschwand.
Er  hatte  ungefähr  so  viel  erreicht,  wie  er  erwartet
hatte  –  nichts.  Trotzdem  galt  seine  Empörung  nun
dem  aalglatten  Junius  Farfan  ebenso  wie  Glay.  Auf
jeden Fall wurde es jetzt Zeit, das verlorene Geld zu
vergessen  und  irgendwie  neues  zu  beschaffen.  Er
schaute  in  seiner  Brieftasche  nach,  obwohl  er  ihren
Inhalt  recht  gut  kannte:  drei  Tausend-Ozol-
Banknoten,  vier  Hundert-Ozol-Noten,  und  noch
hundert Ozols in kleineren Scheinen. Er brauchte also
neuntausend  Ozols.  Seine  Pension  betrug  hundert
Ozols im Monat, was für seine Verhältnisse mehr als
genug  war.  Er  verließ  den  Ehrenwerten  St.  Gam-
brinus  und  ging  über  den  Platz  zur  Welgener  Bank,
wo er sich beim Filialdirektor vorstellte.

»Kurz  gesagt«,  erklärte  Glinnes,  »habe  ich  folgen-

des Problem: ich brauche neuntausend Ozols, um die
Insel  Ambal  auszulösen,  die  mein  Bruder  unberech-
tigterweise  an  einen  gewissen  Lute  Casagave  ver-
kauft hat.«

»Ja, Lute Casagave; ich erinnere mich an die Trans-

aktion.«

»Ich  möchte  einen  Kredit  von  neuntausend  Ozols

aufnehmen,  den  ich  in  Raten  von  hundert  Ozols  im
Monat zurückzahlen könnte. Das ist die Summe, die
ich von der Pensionskasse des Whelm ausbezahlt be-
komme. Die Rückzahlung wäre also auf jeden Fall ge-
sichert.«

»Falls Sie nicht sterben. Was dann?«

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Diese  Möglichkeit  hatte  Glinnes  natürlich  nicht  in

Betracht gezogen. »Da wäre noch die Insel Rabenda-
ry, die ich als Sicherheit anbieten könnte.«

»Die Insel Rabendary. Sie sind der Eigentümer?«
»Ich bin der derzeitige Squire«, sagte Glinnes, den

plötzlich  das  bedrückende  Gefühl  überkam,  daß  er
wieder  einmal  nichts  ausrichten  würde.  »Mein  Bru-
der Shira ist vor zwei Monaten verschwunden. Er ist
fast sicher tot.«

»Sehr wahrscheinlich stimmt das. Aber leider kön-

nen  wir  mit  ›fast  sicher‹  und  ›sehr  wahrscheinlich‹
nichts anfangen. Shira Hulden kann erst nach Ablauf
von vier Jahren für tot erklärt werden. Bis dahin ha-
ben Sie kein Verfügungsrecht über die Insel Rabenda-
ry. Es sei denn, natürlich, Sie könnten seinen Tod be-
weisen.«

Glinnes  schüttelte  fassungslos  den  Kopf.  »Soll  ich

zu  den  Merlingen  hinuntertauchen  und  sie  fragen?
Das ist einfach absurd!«

»Ich habe Verständnis für Ihre Lage, doch was Ih-

nen absurd scheinen mag, ist für uns eine alltägliche
Situation, für die es eben leider Vorschriften gibt.«

Glinnes  gab  sich  geschlagen.  Er  verließ  die  Bank

und ging zu seinem Boot zurück; nur einmal blieb er
stehen, um das Plakat nochmals zu lesen, auf dem die
Gründung  eines  Hussade-Vereins  Fleharish-Bucht
verkündet wurde.

Während sein Boot in Richtung Rabendary tucker-

te, stellte Glinnes immer wieder die gleichen Berech-
nungen an, immer mit demselben Ergebnis: neuntau-
send  Ozols  waren  eine  Menge  Geld.  Das  äußerste,
was ihm die Insel Rabendary eintragen konnte, waren
vielleicht zweitausend Ozols pro Jahr, was nur etwa

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ein  Fünftel  der  benötigten  Summe  war.  Schließlich
wandten sich Glinnes' Gedanken der Hussade zu. Ein
Mitglied einer bedeutenden Mannschaft konnte sehr
wohl  zehntausend  oder  zwanzigtausend  Ozols  im
Jahr  verdienen,  wenn  sein  Team  oft  spielte  und  re-
gelmäßig gewann. Lord Gensifer plante anscheinend
die Aufstellung einer solchen Mannschaft. Was alles
gut  und  schön  war,  nur  hatten  die  anderen  Mann-
schaften  der  Gegend  dasselbe  Ziel  vor  Augen:  sich
durch  Listen,  Intrigen,  große  Versprechungen  und
mit Ruhm und Reichtum als Köder die wirklich guten
und daher nicht sehr zahlreichen Spieler zu sichern.
Ein  kämpferischer  Typ  war  vielleicht  langsam  und
ungeschickt;  ein  flinker  Mann  besaß  vielleicht
schlechtes Urteilsvermögen oder ein unzuverlässiges
Gedächtnis oder nicht genug Kraft, um seinen Gegner
ins Wasser zu befördern. In jeder Spielposition waren
bestimmte Eigenschaften wichtig. Der ideale Stürmer
war schnell, wendig, wagemutig, aber auch stark ge-
nug, um mit den gegnerischen Springern und Wäch-
tern fertigzuwerden. Auch ein Springer mußte schnell
und geschickt sein; vor allem mußte er geschickt mit
dem  Pad  sein  –  dem  gepolsterten,  keulenähnlichen
Schläger,  mit  dem  die  Gegner  von  den  Wegen  und
Brücken in die Tanks gestoßen werden. Die Springer
waren die erste Verteidigungslinie gegen die Angriffe
der  Stürmer,  die  Wächter  waren  die  letzte.  Die
Wächter sollten schwere, muskulöse Männer sein, die
mit ihren Pads gut umgehen konnten. Da sie nicht oft
querschwingen  oder  über  die  Tanks  springen  muß-
ten,  war  Wendigkeit  für  einen  Wächter  nicht  unbe-
dingt  nötig.  Der  ideale  Hussadespieler  besaß  aller-
dings alle diese Eigenschaften; er war kräftig, intelli-

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gent, gewitzt, wendig und unaufhaltbar. Solche Män-
ner waren selten. Wie also glaubte Lord Gensifer ein
wettkampffähiges  Team  zusammenzubekommen?
Als  er  in  der  Fleharish-Bucht  angekommen  war,  be-
schloß  Glinnes  unvermittelt,  diese  Frage  zu  klären,
und bog nach Süden in Richtung der Fünf Inseln ab.

Glinnes  machte  sein  Boot  neben  der  schlanken

Ozeanjacht Lord Gensifers fest und sprang an Land.
Ein Weg führte durch den Park zum Herrenhaus hin-
auf.  Als  er  die  Freitreppe  hinaufstieg,  schwang  die
Tür  auf.  Ein  Dienstbote  in  lavendelfarbener  und
grauer Livree musterte ihn kühl. Eine nicht sehr tiefe
Verbeugung  gab  seiner  Meinung  über  Glinnes'  Stel-
lung Ausdruck. »Sie wünschen, Sir?«

»Seien Sie so freundlich und teilen Sie Lord Gensi-

fer mit, daß Glinnes Hulden ihn sprechen möchte.«

»Wollen Sie bitte hereinkommen, Sir?«
Glinnes  trat  in  die  hohe,  sechseckige  Halle,  deren

Boden aus glänzendem grauen und weißen Stelt

14

 be-

stand.  An  der  Decke  hing  ein  Kristallüster  mit  hun-
dert Leuchten und tausend Diamantprismen. Jede der
Wände war mit einem Paneel von weißem Atica-Holz
geschmückt,  das  hohe,  schmale  Spiegel  umrahmte,
die das Glitzern des Lüsters vielfach spiegelten.

Der  Lakai  kam  zurück  und  führte  Glinnes  in  die

Bibliothek, wo Thammas Lord Gensifer, gekleidet in
einen  maronenfarbenen  Hausanzug,  gemütlich  vor
einem Bildschirm saß und sich ein Hussade-Spiel an-
sah.

15

»Setzen  Sie  sich,  Glinnes,  setzen  Sie  sich«,  sagte

                                                  

14

 

Siehe Glossar

15

 

Siehe Glossar

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Lord Gensifer. »Möchten Sie Tee oder vielleicht einen
Rumpunsch?«

»Einen Rumpunsch, bitte.«
Lord  Gensifer  deutete  auf  den  Schirm.  »Die  Aus-

scheidungskämpfe  von  vorigem  Jahr  im  Alastor-
Stadion.  Die  Schwarzroten  sind  die  Hextar-Zulanen
von Sigre. Die Grünen sind die Falifoniken vom Grü-
nen  Stern.  Ein  phantastisches  Spiel.  Ich  habe  es  mir
jetzt schon viermal angesehen, und jedesmal bin ich
begeisterter.«

»Ich habe die Falifoniken vor zwei oder drei Jahren

gesehen«, sagte Glinnes. »Sie kamen mir äußerst ge-
schickt und wendig vor, und schnell wie der Blitz.«

»Das  sind  sie  noch  immer.  Auf  den  ersten  Blick

wirken  sie  nicht  so  eindrucksvoll,  aber  sie  scheinen
überall  zugleich  zu  sein.  Ihre  Verteidigung  ist  nicht
besonders,  aber  sie  brauchen  gar  keine  mit  diesen
Attacken, die sie durchziehen.«

Der Diener brachte Rumpunsch in feucht angelau-

fenen Silberkelchen. Eine Weile sahen Lord Gensifer
und  Glinnes  schweigend  dem  Spiel  zu:  Vorstößen
und Positionsänderungen, Finten und Tricks, schein-
bar  leichtsinnigen  akrobatischen  Meisterleistungen,
verblüffend  exakter  zeitlicher  Abstimmung,  die  wie
glücklicher  Zufall  wirkten.  Zurufe  des  Kapitäns  be-
wirkten  blitzschnelle  Manöver,  Angriffe  und  Ab-
wehrmaßnahmen. Nach und nach wurde die Überle-
genheit  der  Falifoniken  offenbar.  Ihre  Mittelstürmer
schwangen sich seitwärts, um einen Zulaner-Springer
in die Zange zu nehmen, und die Wächter der Zula-
ner  stürmten  vorwärts,  um  ihn  zu  schützen;  in  die-
sem Augenblick warfen sich die Rechtsaußenstürmer
der Falifoniken in die so geöffnete Lücke, erreichten

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die  Plattform  und  ergriffen  den  Goldring  auf  der
Brust  der  Sheirl.  Das  Spiel  wurde  unterbrochen,  da-
mit  das  Lösegeld  übergeben  werden  konnte.  Lord
Gensifer  schaltete  den  Bildschirm  ab.  »Die  Falifoni-
ken  haben  haushoch  gewonnen,  wie  Sie  vermutlich
wissen.  Die  Prämie  brachte  jedem  Mann  rund  vier-
tausend  Ozols  ein...  Aber  Sie  sind  wohl  nicht  ge-
kommen,  um  über  Hussade  zu  plaudern.  Oder
doch?«

»Eigentlich ja. Ich habe heute zufällig in Welgen die

Ankündigung des Vereins Fleharish-Bucht gesehen.«

Lord  Gensifer  stürzte  sich  begeistert  auf  das  The-

ma. »Ich bin der Sponsor. Schon lange habe ich davon
geträumt,  und  jetzt  habe  ich  mich  endlich  dazu  auf-
gerafft.  Das  Welgen-Stadion  wird  unser  Heimplatz
sein,  wir  brauchen  jetzt  nur  noch  eine  Mannschaft
aufzustellen.  Wie  steht's  mit  Ihnen?  Spielen  Sie
noch?«

»Ich habe für meine Division gespielt«, sagte Glin-

nes.  »Wir  haben  die  Sektormeisterschaften  gewon-
nen.«

»Klingt interessant. Wollen Sie's nicht mit uns ver-

suchen?«

»Unter  Umständen,  aber  zunächst  müßte  ich  ein

Problem lösen, bei dem Sie mir vielleicht helfen kön-
nen.«

Lord  Gensifer  kniff  mißtrauisch  die  Augen  zu-

sammen. »Gerne, wenn es in meiner Macht steht. Um
was für ein Problem handelt es sich denn?«

»Wie  Sie  wahrscheinlich  wissen,  hat  mein  Bruder

Glay  die  Insel  Ambal  ohne  meine  Zustimmung  ver-
kauft.  Er  will  das  Geld  nicht  zurückgeben;  es  ist
futsch, um's genau zu sagen.«

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Lord Gensifer hob die Brauen. »Fanscherade?«
»Genau.«
Lord Gensifer schüttelte den Kopf. »Der verrückte

junge Narr.«

»Mein  Problem  ist  folgendes:  ich  besitze  selbst

dreitausend  Ozols.  Ich  brauche  jedoch  noch  weitere
neuntausend, um Lute Casagave auszahlen und den
Vertrag annullieren zu können.«

Lord  Gensifer  spitzte  die  Lippen  und  legte  nach-

denklich  die  Finger  aneinander.  »Wenn  Glay  nicht
berechtigt  war  zu  verkaufen,  dann  hatte  Casagave
kein  Recht  zu  kaufen.  Mir  käme  also  vor,  daß  Glay
und Casagave diese Angelegenheit unter sich ausma-
chen  müßten,  während  Sie  der  gesetzliche  Eigentü-
mer sind.«

»Unglücklicherweise habe ich kein gesetzliches Ei-

gentumsrecht,  solange  ich  nicht  nachweisen  kann,
daß Shira tot ist, und das kann ich nicht. Ich brauche
also bares Geld.«

»Das  ist  schon  eine  ziemlich  vertrackte  Zwick-

mühle«, räumte Lord Gensifer ein.

»Mein Vorschlag wäre nun der – wenn ich bei Ih-

nen spielte, könnten Sie mir dann neuntausend Ozols
als Prämienanteil vorschießen?«

Lord  Gensifer  lehnte  sich  in  seinem  Stuhl  zurück.

»Das wäre eine sehr unsichere Investition.«

»Nicht,  wenn  Sie  eine  gute  Mannschaft  zusam-

menbekommen. Obwohl ich mir ehrlich gesagt nicht
vorstellen  kann,  woher  Sie  die  Leute  nehmen  wol-
len.«

»Es  gibt  genug.«  Lord  Gensifer  richtete  sich  auf,

und  die  Erregung  machte  sein  rosiges  Gesicht  noch
rosiger. »Ich habe mir eine Mannschaft zusammenge-

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stellt, die aus den stärksten Spielern der Gegend be-
steht. Hören Sie zu.« Er las von einem Blatt Papier ab:
»Außenstürmer: Tyran Lucho, ›Blitz‹ Latken. Mittel-
stürmer:  Yalden  Wirp,  ›Goldring‹  Gonniksen.  Sprin-
ger: Nilo Basgard, Der Wilde Wilmer Guff. Wächter:
›Eintunker‹  Maveldip,  ›Käferkopf‹  Holub,  Carbo
Gilweg,  Holbert  Hanigatz.«  Lord  Gensifer  legte  das
Blatt  weg  und  warf  Glinnes  einen  triumphierenden
Blick zu. »Was halten Sie von diesem Team?«

»Ich  bin  zu  lange  fort  gewesen«,  gestand  Glinnes.

»Mir  sind  nur  etwa  die  Hälfte  der  Namen  bekannt.
Mit  Gonniksen  und  Carbo  Gilweg  habe  ich  gespielt,
und  Guff  und  ein  oder  zwei  andere  kenne  ich  als
Gegner.  Sie  waren  vor  zehn  Jahren  gut,  und  heute
sind  sie  vielleicht  noch  besser.  Haben  Sie  alle  diese
Männer für Ihre Mannschaft verpflichtet?«

»Nun – noch nicht offiziell. Ich habe es mir so ge-

dacht:  ich  rede  mit  jedem  einzelnen.  Ich  zeige  die
Aufstellung  und  frage  ihn,  ob  er  nicht  in  einer  sol-
chen Mannschaft spielen will. Wer könnte da nein sa-
gen? Jeder will doch mal ein paar dicke Prämien ver-
dienen.  Es  wird  ganz  bestimmt  keiner  ablehnen.  Ich
habe übrigens schon mit ein oder zwei der Burschen
Kontakt aufgenommen, und sie zeigten sich alle sehr
interessiert.«

»Welchen  Platz  gäbe  es  dabei  für  mich?  Und  wie

steht es mit den neuntausend Ozols?«

Lord  Gensifer  meinte  vorsichtig:  »Was  Ihre  erste

Frage angeht, so müssen Sie bedenken, daß ich Sie in
letzter  Zeit  nicht  habe  spielen  sehen.  Sie  könnten
schließlich  langsam  und  träge  geworden  sein,  nicht
wahr... Wohin gehen Sie?«

»Danke für den Rumpunsch«, sagte Glinnes.

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»Nicht  doch,  einen  Augenblick.  Es  ist  nicht  nötig,

sich beleidigt zu fühlen. Schließlich ist es ja nur wahr,
was ich sagte. Ich habe Sie zehn Jahre lang nicht ge-
sehen.  Allerdings  –  wenn  Sie  mit  den  Sektorenmei-
stern gespielt haben, sind Sie zweifellos gut in Form.
Welche Position bevorzugen Sie?«

»Ich spiele alles außer Sheirl. In der Dreiundneun-

zigsten habe ich als Stürmer und Springer gespielt.«

Lord  Gensifer  schenkte  Glinnes  Punsch  nach.

»Nun,  da  wird  bestimmt  etwas  zu  arrangieren  sein.
Sie  müssen  aber  meine  Lage  verstehen.  Ich  will  die
Besten haben. Wenn Sie dazu gehören, sollen Sie für
die Gorgonen spielen. Wenn nicht – nun, dann müs-
sen wir uns einen Ersatzmann suchen. Das ist einfach
eine  Frage  der  Vernunft  –  nichts,  worüber  man  sich
aufregen müßte.«

»Also  gut  –  und  wie  ist  es  mit  den  neuntausend

Ozols?«

Lord  Gensifer  nahm  einen  Schluck  Punsch.  »Ich

glaube, wenn alles gut geht, und Sie für unseren Ver-
ein  spielen,  dann  müßten  Sie  in  sehr  kurzer  Zeit
neuntausend Ozols an Prämien hereinbekommen.«

»Mit  anderen  Worten  –  Sie  wollen  mir  das  Geld

nicht vorschießen?«

Lord Gensifer hob die Hände. »Glauben Sie, Ozols

wachsen auf Bäumen? Ich brauche genauso dringend
Geld wie irgendein anderer. Tatsächlich ist – aber ich
will nicht auf Einzelheiten eingehen.«

»Wenn  Sie  so  knapp  mit  den  Finanzen  sind,  wie

können Sie dann eine Lösegeldkasse finanzieren?«

Lord Gensifer schnippte wegwerfend mit den Fin-

gern. »Kein Problem. Wir werden das gesamte Kapi-
tal, das dem Verein zur Verfügung steht, einsetzen –

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Ihre  dreitausend  Ozols  eingeschlossen.  Es  ist  ja
schließlich  zu  unser  aller  Vorteil,  eine  möglichst  ap-
petitanregende Kasse bieten zu können.«

Glinnes glaubte seinen Ohren nicht trauen zu kön-

nen. »Meine dreitausend Ozols? Ich soll zum Vereins-
fond  beitragen?  Während  Sie  den  Eigentümeranteil
an den Prämien einstecken wollen?«

Lord Gensifer lehnte sich lächelnd in seinem Stuhl

zurück.  »Warum  nicht?  Jeder  trägt  nach  besten  Ver-
mögen bei, und jeder profitiert. Nur so kommen wir
zu etwas. Kein Grund, empört zu sein.«

Glinnes  stellte  seinen  Becher  auf  das  Tablett  zu-

rück.  »Das  ist  nirgendwo  üblich.  Die  Spieler  stellen
ihre Fähigkeiten zur Verfügung, der Verein finanziert
die Lösegeldkasse. Ich würde nicht einen Ozol herge-
ben;  lieber  würde  ich  eine  eigene  Mannschaft  auf-
stellen.«

»Augenblick, Augenblick. Vielleicht finden wir ei-

nen  Weg,  der  uns  beide  zufriedenstellt.  Ehrlich  ge-
sagt, ich bin zur Zeit gerade etwas knapp bei Kasse.
Sie  brauchen  zwölftausend  Ozols  binnen  dieses  Jah-
res;  Ihre  dreitausend  sind  wertlos  ohne  die  übrigen
neuntausend.«

»Wertlos  würde  ich  nicht  sagen.  Sie  sind  das  Er-

gebnis von zehn Jahren Dienst im Whelm.«

Lord Gensifer wedelte wegwerfend mit der Hand.

»Nehmen  wir  mal  an,  Sie  würden  die  dreitausend
Ozols  für  den  Fond  vorstrecken.  Die  ersten  dreitau-
send  Ozols,  die  wir  einnehmen,  bekämen  dann  Sie;
Sie hätten Ihr Geld wieder, und von da an...«

»Die anderen Spieler würden nie mit einer solchen

Regelung einverstanden sein.«

Lord  Gensifer  zupfte  an  seiner  Unterlippe.  »Nun,

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wir  würden  die  Summe  eben  aus  dem  Vereinsanteil
der Prämie nehmen – mit anderen Worten, aus mei-
ner Tasche.«

»Angenommen,  es  gibt  gar  keine  Prämie;  ange-

nommen,  wir  verlieren  meine  dreitausend  Ozols?
Was dann? Nichts!«

»Wir  haben  aber  nicht  die  Absicht  zu  verlieren!

Man muß positiv denken, mein lieber Glinnes!«

»Ich denke positiv, was mein Geld anbelangt.«
Lord Gensifer seufzte tief. »Wie gesagt, meine per-

sönliche  finanzielle  Lage  ist  im  Augenblick  etwas
prekär...  Aber  wir  könnten  folgende  Vereinbarung
treffen. Wir werden uns zunächst Fünftausend-Ozol-
Gegner  suchen,  die  wir  mit  Leichtigkeit  überrennen
müßten,  und  lassen  unsere  Kasse  auf  zehntausend
Ozols  anwachsen.  Dann  nehmen  wir  Zehntausend-
Ozol-Gegner  an.  Zu  diesem  Zeitpunkt  wird  mit  der
Verteilung der Prämie begonnen, und Sie bekommen
Ihre dreitausend, die Sie vorgestreckt haben, aus dem
Vereinsanteil zurück. Nach ein oder zwei Begegnun-
gen haben wir das leicht eingespielt. Danach leihe ich
Ihnen den Vereinsanteil, bis Sie auf Ihre neuntausend
Ozols kommen. Die können Sie dann in der Folge von
Ihrem normalen Anteil zurückzahlen.«

Glinnes  rechnete  mit  einiger  Verwirrung  im  Kopf

nach. »Das verstehe ich nicht. Sie sind mir weit vor-
aus mit diesem Finanzplan.«

»Es ist ganz einfach. Wenn wir fünf Zehntausend-

Ozol-Spiele gewinnen, haben Sie Ihr Geld.«

»Wenn wir gewinnen. Wenn wir verlieren, habe ich

gar  nichts.  Nicht  einmal  die  dreitausend  Ozols,  die
ich jetzt habe.«

Lord  Gensifer  wedelte  mit  seiner  Namensliste.

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»Diese  Mannschaft  wird  keine  Spiele  verlieren,  das
garantiere ich Ihnen!«

»Sie haben diese Mannschaft noch nicht! Sie haben

keine  Lösegeldkasse.  Sie  haben  nicht  einmal  eine
Sheirl.«

»Kein  Mangel  an  Bewerberinnen,  mein  Junge!

Nicht  für  die  Fleharish-Gorgonen!  Ich  habe  bereits
mit Dutzenden prächtiger Geschöpfe gesprochen.«

»Alle mit der nötigen Qualifikation, zweifellos.«
»Wir  werden  uns  schon  um  ihre  Qualifikation

kümmern,  keine  Sorge!  Wie  lächerlich  das  doch  ist!
Eine nackte Jungfrau sieht doch genauso aus wie je-
des nackte Mädchen. Wer kennt da schon einen Un-
terschied?«

»Die Mannschaft. Es klingt unvernünftig, das gebe

ich  zu,  aber  Hussade  ist  irgendwie  ein  unvernünfti-
ges Spiel.«

»Darauf  will  ich  trinken«,  erklärte  Lord  Gensifer

etwas  großspurig.  »Wer  schert  sich  um  Vernunft?
Nur die Fanscher und vielleicht die Trevanyil.«

Glinnes leerte seinen Punschbecher und erhob sich.

»Ich  muß  jetzt  nach  Hause  und  mich  um  meine  pri-
vaten Trevanyi kümmern. Glay hat ihnen Rabendary
geöffnet, und sie haben die Insel nach Strich und Fa-
den ausgeplündert.«

Lord Gensifer nickte weise. »Man kann einem Tre-

vanyi  nichts  geben,  ohne  daß  er  sich  aus  purer  Ver-
achtung  das  Doppelte  selber  nimmt...  Nun,  um  auf
diese  dreitausend  Ozols  zurückzukommen,  wie  ha-
ben Sie sich entschieden?«

»Ich werde mir die Sache noch sehr genau überle-

gen,  bevor  ich  zu  einer  Entscheidung  komme.  Was
diese  Spielerliste  angeht  –  wie  viele  haben  Sie  tat-

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sächlich verpflichtet?«

»Nun ja – etliche.«
»Ich werde mit allen reden und mich überzeugen,

ob sie es wirklich ernst meinen.«

Lord  Gensifer  runzelte  die  Stirn.  »Hmmm.  Wir

können ja noch ein wenig darüber reden. Wie wär's,
möchten  Sie  zum  Nachtmahl  bleiben?  Ich  bin  heute
abend allein, und ich hasse es, nur in meiner eigenen
Gesellschaft zu essen.«

»Das ist sehr freundlich von Ihnen, Lord Gensifer,

aber  ich  bin  wohl  kaum  zu  einem  Dinner  in  einem
Herrschaftshaus angezogen.«

Lord  Gensifer  machte  eine  wegwerfende  Geste.

»Heute dinieren wir ganz formlos – obwohl ich Ihnen
einen  Gesellschaftsanzug  leihen  könnte,  wenn  Sie
darauf bestehen.«

»Nun,  das  ist  nicht  nötig.  Ich  bin  nicht  so  pedan-

tisch, und wenn es Ihnen nichts ausmacht...«

»Ach,  ich  ziehe  mich  heute  auch  nicht  um.  Viel-

leicht  möchten  Sie  dann  noch  den  Rest  des  Meister-
schaftsspieles sehen.«

»Das würde ich gerne.«
»Fein.  Rallo!  Frischen  Punsch!  Der  hier  ist  schon

recht schal.«

Der große, ovale Tisch im Speisezimmer war für zwei
Personen  gedeckt.  Lord  Gensifer  und  Glinnes  saßen
einander  gegenüber,  eine  weite  Fläche  weißen  Da-
masts zwischen sich; Silber und Kristallglas glitzerten
im  strahlenden  Licht  eines  vielflammigen  Kron-
leuchters.

»Es  mag  Ihnen  seltsam  erscheinen«,  sagte  Lord

Gensifer, »daß ich in diesem scheinbar extravaganten

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Stil lebe und doch knapp bei Kasse bin. Der Grund ist
ganz einfach. Ich beziehe mein Einkommen aus ver-
schiedenen Investitionen, und in letzter Zeit habe ich
einige Rückschläge erlitten.

Starmenter  haben  einige  Lagerhäuser  ausgeraubt

und meine Firma ein bißchen in eine Zwangslage ge-
bracht. Das ist natürlich nur temporär, versteht sich,
aber  im  Augenblick  deckt  mein  Einkommen  gerade
meine  Ausgaben.  Haben  Sie  von  Bela  Gazzardo  ge-
hört?«

»Der  Name  ist  mir  untergekommen.  Ein  Starmen-

ter?«

»Der  Schurke,  der  mir  meine  Einkünfte  um  die

Hälfte beschnitten hat. Der Whelm bekommt ihn an-
scheinend nicht zu fassen.«

»Früher  oder  später  wird  er  geschnappt.  Nur  die

kleinen  Starmenter  überleben.  Sobald  sie  in  großem
Stil operieren und einen gewissen Ruf erlangen, sind
sie dran.«

»Bela  Gazzardo  betreibt  sein  Geschäft  seit  vielen

Jahren«, sagte Lord Gensifer. »Der Whelm sucht im-
mer im falschen Sektor nach ihm.«

»Früher oder später erwischt man ihn.«
Die Mahlzeit nahm ihren Lauf – ein Dutzend erle-

sene Gänge, begleitet von verschiedenen ausgezeich-
neten  Weinen.  Glinnes  überlegte,  daß  das  Leben  in
einem  Herrenhaus  doch  gewisse  Annehmlichkeiten
zu bieten hatte, und seine Gedanken begannen in die
Zukunft  zu  schweifen  –  zu  Zeiten,  wo  er  zwanzig-
oder  dreißigtausend  Ozols  verdient  haben  würde,
oder  vielleicht  auch  hunderttausend,  und  wo  Lute
Casavage die Ambal-Insel aufgegeben haben und das
Herrenhaus  leerstehen  würde.  Welches  Abenteuer

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wäre  es  dann,  umzubauen,  alles  herzurichten  und
neu zu möblieren! Glinnes sah sich schon in prächti-
gen  Gewändern  als  Gastgeber  einer  Schar  hervorra-
gender  Persönlichkeiten  an  einem  Tisch  wie  diesem
speisen...  Die  Vorstellung  ließ  Glinnes  innerlich  lä-
cheln. Wen würde er zu seinen Dinnergesellschaften
einladen? Akadie? Jung Harrad? Carbo Gilweg? Die
Drossets? Dussiane allerdings würde in einer solchen
Umgebung  herrlich  zur  Geltung  kommen.  Glinnes
Phantasie  setzte  den  Rest  der  Familie  dazu,  was  die
liebliche Vision zum Platzen brachte.

Es  war  längst  dunkel  geworden,  als  Glinnes  end-

lich in sein Boot stieg. Die Nacht war klar, der Him-
mel  mit  Myriaden  Sternen  übersät,  die  in  dieser  rei-
nen  Luft  groß  wie  Laternen  strahlten.  Beschwingt
vom Wein, von den großartigen Zukunftsaussichten,
die Lord Gensifer ausgemalt hatte, und von der zau-
berisch ruhigen Schönheit der schwarzen Wasserflä-
che, in der sich die Sterne spiegelten, ließ Glinnes sein
Boot  hinaus  in  die  Fleharish-Bucht  und  die  Selma-
Straße  entlang  brausen.  Unter  dem  prachtvollen
Nachthimmel Trullions verblaßten seine Probleme zu
gar  nicht  beachtenswerten  Kleinigkeiten.  Glay  und
die Fanscherade? Eine Laune, eine Verrücktheit, eine
Belanglosigkeit.  Marucha  und  ihr  sonderbares  Ver-
halten? Sollte sie doch tun, was ihr gefiel; welche bes-
sere  Beschäftigung  bot  sich  ihr  denn?  Lord  Gensifer
und seine gerissenen Vorschläge? Nun, vielleicht lief
wirklich alles so, wie Lord Gensifer glaubte! Aber es
war  schon  verrückt!  Anstatt  neuntausend  Ozols  ge-
liehen  zu  bekommen,  hatte  er  nur  mit  knapper  Not
seine dreitausend gerettet! Lord Gensifers unterneh-
mungslustige  Pläne  beruhten  zweifellos  auf  einem

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verzweifelten Geldbedarf, sagte sich Glinnes. Gleich-
gültig,  wie  leutselig  und  ehrlich  er  sich  gab,  Lord
Gensifer  war  ein  Mann,  vor  dem  man  sich  in  acht
nehmen mußte.

Das  Boot  glitt  die  schmale  Selma-Straße  aufwärts,

an  Stillbeerdickichten  und  weißschimmernden  Hai-
nen von Lanting-Bäumen vorbei und schließlich hin-
aus  in  die  Ambal-Bucht,  wo  ein  leichter  Windhauch
die Sternspiegelungen in einen glitzernd verwobenen
Teppich  verwandelte.  Rechter  Hand  lag  die  Ambal-
Insel,  gekrönt  von  den  Blattbüscheln  der  Fanzaneel-
Bäume,  die  sich  wie  rabenschwarze  Federschöpfe
vom Nachthimmel abhoben. Und dort vorne – die In-
sel Rabendary, sein Heim Rabendary. Das Haus war
dunkel.  War  niemand  da?  Wo  war  Marucha?  Nun,
vermutlich wohl bei Bekannten.

Das Boot trieb die letzten Meter an den Steg heran.

Glinnes  kletterte  auf  die  knarrenden  alten  Planken
hinaus, machte das Boot fest und machte sich auf den
Weg zum Haus.

Leises  Ächzen  von  Leder,  Tappen  von  Schritten.

Schatten  huschten  heran;  dunkle  Gestalten  verdeck-
ten  die  Sterne.  Etwas  Schweres  prallte  auf  seinen
Kopf,  seine  Schultern,  seinen  Nacken,  böse,  dumpfe
Schläge,  die  sein  Rückgrat  trafen,  seine  Zähne  zu-
sammenschlagen  ließen,  seinen  Mund  mit  einem
metallischen  Geschmack  erfüllten.  Er  fiel  zu  Boden.
Schwere  Schläge  krachten  auf  seine  Rippen,  seinen
Schädel;  der  knirschende  Aufprall  jedes  Schlags
wuchs zu einem Donner an, der die ganze Welt aus-
füllte.  Er  versuchte  sich  wegzurollen,  sich  zusam-
menzukrümmen, aber dann ging sein Bewußtsein in
dem Donnerrollen unter.

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Die  Tritte  hörten  auf;  Glinnes  kam  sich  seltsam

körperlos  und  schwebend  vor.  Er  spürte  wie  aus
weiter Ferne, daß jemand seine Kleider abtastete. Ein
heiseres  Flüstern  vibrierte  durch  sein  Hirn:  »Das
Messer, nimm das Messer.« Wieder eine Berührung,
dann  neuerliche  Tritte.  Ganz  von  weitem  glaubte
Glinnes  den  Glockenton  eines  unbekümmerten  La-
chens  zu  hören.  Dann  zersplitterte  sein  Bewußtsein
wie  ein  aufprallender  Tropfen  Quecksilber,  und  er
rührte sich nicht mehr.

Die  Zeit  verging;  der  Teppich  der  Sterne  rutschte
über das Firmament. Langsam, ganz langsam began-
nen sich die Splitter des Bewußtseins wieder zu ver-
einigen.

Ein  kräftiger,  kalter  Griff  umklammerte  Glinnes'

Fußgelenk,  zerrte  ihn  auf  dem  Pfad  hinunter  zum
Wasser.  Glinnes  stöhnte  und  versuchte  vergeblich,
seine Finger in die Erde zu krallen. Mit aller verblie-
benen  Kraft  stieß  er  mit  dem  freien  Fuß  nach  unten
und  traf  etwas  Schwammiges.  Der  Griff  um  seinen
Knöchel  lockerte  sich.  Glinnes  richtete  sich  mühsam
und ächzend auf Hände und Knie auf und kroch den
Pfad zurück. Der Merling folgte ihm und packte ihn
erneut beim Fuß. Glinnes trat wieder nach ihm, und
der Merling ächzte zornig.

Schwach  wälzte  Glinnes  sich  herum.  Unter  den

flammenden  Sternen  von  Trullion  maßen  sich
Mensch  und  Merling.  Glinnes  begann  auf  seinen
Hinterbacken  rückwärts  zu  rutschen,  immer  nur  ein
paar Handbreit. Der Merling hopste vor. Dann stieß
Glinnes mit dem Rücken an die Verandastufen. Dar-
unter  lagen  Fechtstöcke  aus  Dornholz  verwahrt.

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Glinnes drehte sich um und tastete danach; seine Fin-
ger berührten einen der Stöcke. Der Merling machte
einen  Satz  vorwärts,  packte  und  zog  ihn  wieder  auf
das Wasser zu. Glinnes zappelte wie ein gestrandeter
Fisch  und  schlug  wild  um  sich.  Er  konnte  sich
schließlich losreißen und zurück zur Veranda schlep-
pen. Der Merling stieß ein enttäuschtes Krächzen aus
und sprang vorwärts; Glinnes packte einen Stock und
stieß  damit  in  die  Leistengegend  des  Wesens.  Der
Merling sackte zusammen, und Glinnes zog sich die
Stufen  hinauf,  den  Stock  erhoben,  aber  der  Merling
wagte  sich  nicht  mehr  vor.  Glinnes  kroch  ins  Haus
und  zwang  sich  zum  Aufstehen.  Er  taumelte  zum
Lichtschalter  und  seufzte  erleichtert,  als  die  Lampe
aufleuchtete.  Er  stand  sehr  unsicher  auf  den  Füßen,
sein Schädel pochte, der Raum verschwamm ihm vor
den Augen. Das Atmen zerrte schmerzhaft an seinen
Rippen;  vermutlich  waren  etliche  gebrochen.  Seine
Schenkel schmerzten – die Angreifer hatten versucht,
ihn  in  die  Leisten  zu  treten,  hatten  aber  dank  der
Dunkelheit  nicht  getroffen.  Da  durchzuckte  ihn  ein
neues,  schärferes  Unbehagen;  er  tastete  nach  seiner
Brieftasche. Nichts. Er warf einen Blick auf die Schei-
de  an  seinem  Stiefel;  sein  kostbares  Proteummesser
war weg.

Glinnes  seufzte  wütend.  Wer  hatte  das  auf  dem

Gewissen? Er hatte die Drossets in Verdacht. Als ihm
das glockenhelle Lachen einfiel, war er dessen sicher.

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KAPITEL 8

In  der  Früh  war  Marucha  immer  noch  nicht  nach
Hause  gekommen;  Glinnes  nahm  an,  daß  sie  die
Nacht  mit  einem  Liebhaber  verbracht  hatte.  Er  war
froh, daß sie nicht da war – sie hätte nur sein mißli-
ches Erlebnis nach allen Seiten hin durchleuchtet, und
danach war ihm durchaus nicht zumute.

Glinnes hatte auf der Couch geschlafen. Jeder Kno-

chen tat ihm weh, und seine Wut auf die Drossets ließ
ihn in Schweiß ausbrechen. Er schleppte sich ins Ba-
dezimmer und besah sich sein purpurn verschwolle-
nes  Gesicht.  Im  Toilettenschrank  fand  er  einen
schmerzlindernden  Trank,  von  dem  er  sich  eine  ge-
hörige  Dosis  genehmigte  und  zur  Couch  zurück-
wankte.

Den Vormittag über fiel er immer wieder in unru-

higen  Schlaf.  Am  Mittag  schlug  das  Glockensignal
des Bildtelefons an. Glinnes taumelte quer durch den
Raum  und  sprach  ins  Mikrofongitter,  ohne  sich  vor
dem Bildschirm zu zeigen. »Wer ist da?«

»Hier ist Marucha«, ertönte die klare Stimme seiner

Mutter. »Glinnes – bist du das?«

»Ja.«
»Nun, dann laß dich sehen; ich spreche ungern mit

jemandem, den ich nicht sehen kann.«

Glinnes  tastete  an  dem  Aufnahmeschalter  herum.

»Die  Bildtaste  scheint  sich  verklemmt  zu  haben.
Kannst du mich jetzt sehen?«

»Nein. Nun, es ist weiter nicht wichtig. Glinnes, ich

bin  zu  einer  Entscheidung  gekommen.  Akadie  hat
mich vor langer Zeit gebeten, sein Heim mit ihm zu

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teilen,  und  jetzt,  da  du  wieder  zurück  bist  und  ir-
gendwann  doch  eine  Frau  ins  Haus  bringen  wirst,
habe ich zugestimmt.«

Glinnes  konnte  ein  betroffenes  Auflachen  nicht

ganz  unterdrücken.  Wie  zornig  sein  Vater  Jut  gewe-
sen  wäre!  »Ich  wünsche  dir  alles  Gute,  Mutter,  und
bitte richte Akadie meine Grüße aus.«

Marucha zog die Brauen zusammen. »Glinnes, dei-

ne Stimme klingt so seltsam. Geht es dir gut?«

»Ja,  doch  –  ich  bin  nur  ein  bißchen  heiser.  Sobald

du  dich  eingerichtet  hast,  werde  ich  euch  besuchen
kommen.«

»Tu das, Glinnes. Bitte achte auf dich, und sei nicht

zu  streng  mit  den  Drossets.  Was  schadet  es  schon,
wenn sie auf Rabendary bleiben möchten?«

»Ich  werde  mir  deinen  Rat  sicher  gut  überlegen,

Mutter.«

»Auf Wiedersehn, Glinnes.«
Glinnes seufzte tief und zuckte zusammen, als ein

stechender  Schmerz  seine  Rippen  durchfuhr.  Waren
doch welche gebrochen? Er tastete vorsichtig mit den
Fingern die empfindlichsten Stellen ab, konnte jedoch
nichts finden.

Er  nahm  sich  eine  Schüssel  Haferbrei  mit  auf  die

Veranda  und  hielt  eine  ziemlich  triste  Mahlzeit.  Die
Drossets waren natürlich fort. Verstreute Abfälle, ein
Haufen  dürrer  Blätter  und  eine  häßliche  Latrine  aus
Ästen und welkem Laub waren als sichtbare Spuren
ihrer  Anwesenheit  zurückgeblieben.  Ihre  nächtliche
Arbeit hatte ihnen dreitausendvierhundert Ozols ein-
gebracht, außerdem die Genugtuung, ihren Widersa-
cher  bestraft  zu  haben.  Die  Drossets  konnten  heute
sehr zufrieden mit sich sein.

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Glinnes ging zum Telefon und rief Egon Rimbold,

den  praktischen  Arzt  aus  Saurkash,  an.  Er  erklärte
andeutungsweise,  was  ihm  widerfahren  war,  und
Rimbold versprach, vorbeizuschauen.

Glinnes hinkte wieder auf die Veranda hinaus und

ließ  sich  vorsichtig  in  einen  der  alten  Flechtstühle
sinken. Die Aussicht tröstete ihn ein wenig mit ihrer
gewohnten,  beschaulichen  Schönheit.  Perlmuttfarbe-
ner Dunst lag wie ein Schleier über der Ferne; Ambal
schaute  aus  wie  eine  schwebende  Feeninsel.  Seine
Gedanken  begannen  zu  wandern...  Marucha  war  in
Mißachtung  aller  aristokratischen  Verhaltensregeln
eine  Hussade-Prinzessin  geworden  und  hatte  die
schmerzliche  Entwürdigung  –  oder  vielleicht  eher
Genugtuung – einer öffentlichen Entblößung riskiert,
weil  sie  sich  einen  adeligen  Ehemann  erhoffte.  Sie
hatte sich schließlich mit dem Squire von Rabendary,
Jut  Hulden,  begnügt.  Vielleicht  hatte  sie  immer  das
Bild des Herrenhauses von Ambal vor Augen gehabt,
auch  wenn  nichts  Jut  dazu  hätte  bewegen  können,
darin zu wohnen... Nun war Jut tot, Ambal war ver-
kauft,  und  Marucha  wurde  durch  nichts  mehr  auf
Rabendary gehalten... Um die Ambal-Insel wiederzu-
bekommen,  konnte  er  Casavage  die  zwölftausend
Ozols zurückzahlen und den Vertrag zerreißen. Oder
er konnte nachweisen, daß Shira tot war, worauf die
Transaktion  ungesetzlich  geworden  wäre.  Aber
zwölftausend  Ozols  waren  nicht  so  leicht  aufzutrei-
ben,  und  ein  Mann,  den  sich  die  Merlinge  für  eine
Mahlzeit  geholt  hatten,  hinterließ  wenig  Spuren...
Glinnes beugte sich vor, um den Pfad zu mustern. Ja,
da  war  die  Stelle,  wo  die  Drossets  hinter  der  Dorn-
beerenhecke  gewartet  hatten.  Und  da  hatten  sie  ihn

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niedergeschlagen. Dort waren die Spuren, wo er sich
in die Erde gekrallt hatte... gar nicht weit von der täu-
schend ruhigen Oberfläche des Farwan-Gewässers.

Egon Rimbolds wendiges schwarzes Motorboot er-

schien.  »Sie  sind  anscheinend  nicht  aus  dem  Krieg
zurückgekehrt«,  sagte  Rimbold  beim  Aussteigen,
»sondern in einen hineingeraten.«

Glinnes  berichtete,  was  ihm  passiert  war.  »Ich

wurde zusammengeschlagen und ausgeraubt.«

Rimbold blickte über die Wiese. »Wie ich sehe, sind

die Drossets fort.«

»Fort, aber nicht vergessen.«
»Nun, dann wollen wir mal sehen, was wir für Sie

tun können.«

Mit  den  hochentwickelten  pharmazeutischen  Pro-

dukten  Alastors  und  Kunsthaut-Schnellverbänden
fiel es Rimbold nicht schwer, Glinnes so zu verarzten,
daß  er  sich  wieder  einigermaßen  normal  zu  fühlen
begann.

Während  er  seine  Instrumente  einpackte,  erkun-

digte sich Rimbold: »Ich nehme an, daß Sie den Über-
fall der Gendarmerie gemeldet haben?«

Glinnes  riß  die  Augen  auf.  »Um  die  Wahrheit  zu

sagen,  der  Gedanke  ist  mir  überhaupt  nicht  gekom-
men.«

»Es wäre aber klug. Die Drossets sind eine gefährli-

che Bande. Das Mädchen ist genauso schlimm wie die
anderen.«

»Ich werde sie mir schon noch vorknöpfen«, sagte

Glinnes. »Ich weiß noch nicht, wie oder wann, aber es
wird keiner ungeschoren davonkommen.«

Rimbold  hob  die  Hand  in  einer  zu  Vorsicht  mah-

nenden Geste und verabschiedete sich.

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Glinnes  ging  sich  wieder  im  Spiegel  begutachten

und empfand etwas wie mürrische Genugtuung über
sein verbessertes Aussehen. Er kehrte auf die Veran-
da zurück, ließ sich vorsichtig in einem Sessel nieder
und  begann  darüber  nachzudenken,  wie  er  sich  an
den Drossets rächen konnte. Bloße Drohung mit den
Behörden  würde  wenig  fruchten  und  bei  genauerer
Überlegung  ihm  auch  keinerlei  Befriedigung  ver-
schaffen.

Nach  einer  Weile  packte  ihn  Ruhelosigkeit.  Er

humpelte auf dem Besitz umher, schaute sich um und
war entsetzt über die Vernachlässigung und den Ver-
fall überall. Selbst für Trill-Begriffe war der Zustand
Rabendarys eine Schande, und Glinnes wurde neuer-
lich  wütend  auf  Glay  und  Marucha.  Empfanden  sie
denn gar nichts für ihr altes Heim? Egal – jetzt würde
er sich um die Dinge kümmern, und Rabendary wür-
de  wieder  so  werden,  wie  er  es  aus  der  Kindheit  in
Erinnerung hatte.

Heute  war  er  allerdings  zu  zerschlagen  zum  Ar-

beiten. Da er nichts Besseres zu tun wußte, kletterte er
vorsichtig  in  sein  Boot  und  fuhr  das  Farwan-
Gewässer  hinauf  bis  zum  Fluß  und  dann  um  die
Nordspitze  von  Rabendary  herum  zur  Insel  Gilweg,
wo seine Freunde, die Gilwegs, ihr weitläufiges altes
Haus  hatten.  Der  Rest  des  Tages  verging  mit  einem
jener typischen Trill-Feste, die die Fanscher als leicht-
sinnig,  unmoralisch  und  hedonistisch  verurteilten.
Glinnes trank sich einen kleinen Schwips an, sang alte
Lieder zu der Musik von Ziehharmonikas und Gitar-
ren,  vergnügte  sich  mit  den  Gilweg-Mädchen  und
war alles in allem ein so guter Gesellschafter, daß die
Gilwegs  sich  spontan  erbötig  machten,  gleich  am

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nächsten  Tag  nach  Rabendary  zu  kommen  und  bei
der Säuberung des Drosset-Lagerplatzes zu helfen.

Schließlich  kam  man  auch  auf  Hussade  zu  spre-

chen. Glinnes erwähnte Lord Gensifer und die Fleha-
rish-Gorgonen. »Vorläufig ist die Mannschaft nur ei-
ne Liste von glänzenden Namen. Was ist aber, wenn
die  Leute  wirklich  alle  Gorgonen  werden?  Es  hat
schon seltsamere Dinge gegeben. Er möchte, daß ich
im Sturm spiele, und ich bin fast versucht mitzuma-
chen, und wenn's nur wegen des Geldes ist.«

»Pah«,  sagte  Carbo  Gilweg.  »Lord  Gensifer  kennt

nicht mal naß und trocken auseinander, soweit es um
Hussade  geht.  Und  woher  will  er  die  nötigen  Ozols
kriegen? Es weiß doch jeder, daß er von der Hand in
den Mund lebt.«

»Stimmt nicht!« erklärte Glinnes. »Ich habe mit ihm

gegessen,  und  kann  mich  dafür  verbürgen,  daß  er
sich's sehr gut gehen läßt.«

»Das  mag  schon  sein,  aber  eine  tüchtige  Mann-

schaft  zu  managen  ist  etwas  ganz  anderes.  Er  muß
Uniformen und Helme besorgen und eine anständige
Prämienkasse bieten können – das alles kostet minde-
stens  fünftausend  Ozols,  wenn  nicht  mehr.  Ich  be-
zweifle, daß seine Pläne Zukunft haben werden. Wen
will er denn als Kapitän nehmen?«

Glinnes  dachte  nach.  »Ich  glaube  nicht,  daß  er  je-

mand Bestimmten erwähnt hat.«

»Das ist aber der ausschlaggebende Punkt. Wenn er

einen  tüchtigen  Kapitän  verpflichtet,  würde  er  auch
Spieler gewinnen können, die ein bißchen skeptischer
sind als du.«

»Du

 

brauchst

 

mich

 

nicht

 

für

 

dumm

 

zu

 

halten!

 

Ich

 

ha-

be

 

nur

 

ein

 

gewisses Interesse bekundet, weiter nichts.«

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»Du würdest mit unseren guten alten Tanchinaros

von Saurkash besser fahren«, erklärte Ao Gilweg.

»Wir  könnten  wirklich  ein  Paar  von  guten  Stür-

mern brauchen«, sagte Carbo.

»Unsere Verteidigung, das kannst du mir glauben,

ist besser als die meisten, aber unsere Leute schaffen
es  nur  selten  bis  über  den  Graben.  Komm  zu  den
Tanchinaros! Wir werden die Präfektur Jolany nieder-
rennen.«

»Wie hoch beläuft sich eure Kasse?«
»Also,  wir  kommen  einfach  nicht  über  tausend

Ozols  hinaus«,  gab  Carbo  zu.  »Mal  gewinnen  wir,
dann verlieren wir wieder. Ehrlich gesagt, die Mann-
schaft  ist  zu  ungleich  zusammengesetzt.  Der  alte
Neronavy  ist  auch  nicht  der  Kapitän,  der  einen  an-
feuern könnte; er rührt sich nie von seiner Hange weg
und  kennt  genau  drei  Spielvarianten.  Wir  könnten
die  Aufstellung  ändern,  aber  das  würde  auch  nicht
viel ausmachen.«

»Du  hast  mich  eben  an  die  Gorgonen  verloren«,

sagte  Glinnes.  »Ich  erinnere  mich  nämlich  von  vor
zehn Jahren an Neronavy. Ich hätte lieber Akadie als
Kapitän.«

»Gleichgültigkeit,  Faulheit«,  seufzte  Ao  Gilweg.

»Unser Team braucht jemanden zum Anfeuern.«

»Wir  haben  seit  zwei  Jahren  keine  hübsche  Sheirl

mehr gehabt«, sagte Carbo. »Jenlis Wade – langweilig
wie ein toter Cavout. Sie hat nur dumm geschaut, als
sie  ihr  Gewand  verlor.  Barsilla  Cloforeth  –  du  liebe
Güte, zu groß und verhungert. Als sie entblößt wur-
de,  hat's  keiner  der  Mühe  wert  befunden,  auch  nur
hinzuschauen!  Und  die  gute  Barsilla  ist  empört  hin-
ausstolziert.«

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»Wir  hätten  hier  ganz  appetitliche  Sheirls«  –  Ao

Gilweg  deutete  mit  dem  Daumen  auf  seine  Töchter
Rolanda  und  Berinda  –  »nur  ziehen  sie  es  vor,  mit
den Burschen etwas anderes als Hussade zu spielen.
Jetzt  sind  sie  –  glaube  ich  –  nicht  mehr  ganz...  äh...
qualifiziert.«

Der Nachmittag ging in Avness über, Avness wur-

de zur Abenddämmerung, die Dämmerung zur Dun-
kelheit,  und  Glinnes  wurde  eingeladen,  doch  lieber
über Nacht zu bleiben.

In der Früh kehrte Glinnes nach Rabendary zurück

und begann den Lagerplatz der Drossets zu säubern.
Ein  seltsamer  Umstand  ließ  ihn  innehalten.  An  der
Stelle,  wo  das  Feuer  gewesen  war,  hatte  jemand  ein
gut sechzig Zentimeter tiefes Loch in die Erde gegra-
ben. Es war jetzt leer. Glinnes konnte sich keine ver-
nünftige Erklärung für ein solches Loch genau in der
Mitte der alten Feuerstelle denken.

Mittags erschienen die Gilwegs, und zwei Stunden

später war jede Spur von der Anwesenheit der Dros-
sets beseitigt worden.

Inzwischen  hatten  die  weiblichen  Mitglieder  der

Familie  eine  Mahlzeit  bereitet,  so  gut  es  sich  nach
Plünderung von Maruchas Speisekammer – die ihnen
ziemlich  schäbig  vorkam  –  bewerkstelligen  ließ.  Im
übrigen  hatten  die  Frauen  nie  viel  von  Marucha  ge-
halten; sie trug ihnen die Nase zu hoch.

Die Gilwegs kannten nun Glinnes' Schwierigkeiten

in  allen  Einzelheiten.  Sie  überschütteten  ihn  mit
Sympathiekundgebungen  und  recht  widersprüchli-
chen  Ratschlägen.  Ao  Gilweg,  das  Oberhaupt  der
Familie,  hatte  bei  mehreren  Gelegenheiten  mit  Lute
Casavage gesprochen. »Ein abgefeimter Bursche, der

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was weiß ich für Pläne ausheckt! Er ist ganz bestimmt
nicht  seiner  Gesundheit  zuliebe  auf  die  Ambal-Insel
gezogen!«

»Diese  Fremdweltler  sind  doch  immer  irgendwie

komisch«, erklärte Clara, seine Frau. »Ich habe schon
viele getroffen, und alle sind sie überspannt und ner-
vös und wissen nicht, wie man sein Leben genießt.«

»Casavage  ist  entweder  schüchtern  oder  blind«,

sagte  Carbo.  »Wenn  man  seinem  Boot  begegnet,
schaut er nicht einmal auf.«

»Er hält sich für einen große Adeligen«, sagte Clara

mit gerümpfter Nase. »Er ist sich viel zu gut für uns
gewöhnliche Leute. Jedenfalls haben wir noch keinen
Tropfen von seinem Wein zu kosten bekommen.«

Claras Schwester Currance fragte: »Habt ihr seinen

Diener gesehen? Der ist ein Anblick! Ich glaube, er ist
ein  halber  Polgon-Affe  oder  so  was.  Der  jedenfalls
wird  keinen  Fuß  in  mein  Haus  setzen,  das  schwöre
ich euch.«

»Ja, das stimmt«, stellte Clara fest. »Er sieht aus wie

ein übler Schurke. Und vergeßt nicht: wie der Knecht,
so der Herr! Lute Casagave wird nicht besser sein als
sein Diener!«

Ao Gilweg hob beschwichtigend die Hände. »Ach,

hört  doch  auf.  Wir  wollen  vernünftig  sein.  Keiner
dieser  beiden  Männer  ist  irgendeiner  Schuld  über-
führt worden; niemand hat sie auch nur beschuldigt!«

»Er hat sich die Ambal-Insel unter den Nagel geris-

sen! Reicht das nicht?«

»Moment  –  vielleicht  wurde  er  irregeführt,  wer

weiß? Er kann sehr wohl ein gerechter und schuldlo-
ser Mann sein.«

»Ein gerechter und schuldloser Mann würde einen

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zu Unrecht erworbenen Besitz zurückgeben!«

»Genau!  Vielleicht  ist  Lute  Casagave  ein  solcher

Mann!« Ao wandte sich an Glinnes. »Hast du schon
versucht, die Angelegenheit mit Lute Casagave selbst
zu besprechen? Ich glaube nicht.«

Glinnes blickte zweifelnd hinüber zur Ambal-Insel.

»Ich  könnte  wohl  mit  ihm  reden,  das  stimmt  schon.
Was  aber  nicht  die  eine  unangenehme  Tatsache  be-
seitigt, daß selbst ein gerechter Mann seine zwölftau-
send Ozols würde wiederhaben wollen, und die kann
ich ihm nicht geben.«

»Verweise  ihn  doch  an  Glay,  dem  er  den  Betrag

auszahlte«, riet Carbo. »Er hätte sich über die Besitz-
rechte  informieren  sollen,  bevor  er  den  Kauf  ab-
schloß.«

»Das  ist  wirklich  seltsam,  sehr  seltsam...  Wenn  er

nicht  sicher  wußte,  daß  Shira  tot  ist  –  was  zu  recht
makabren Vermutungen Anlaß geben würde.«

»Ach was!« rief Ao Gilweg. »Pack den Stier bei den

Hörnern und rede mit dem Mann selber. Sag ihm, er
solle  deinen  Besitz  räumen  und  sich  sein  Geld  bei
Glay zurückholen, dem Mann, dem er es zu Unrecht
bezahlt hat.«

»Bei  den  fünfzehn  Teufeln,  du  hast  recht!«  rief

Glinnes. »Es ist ganz klar und eindeutig – rechtlich ist
seine  Position  unhaltbar!  Ich  werde  ihm  das  gleich
morgen klarmachen.«

»Denk an Shira!« meinte Carbo Gilweg. »Vielleicht

ist er ein Mann, der vor nichts zurückschreckt!«

»Nimm am besten eine Waffe mit«, rief Ao Gilweg.

»Nichts bringt die Leute so schnell zur Vernunft wie
ein Strahler.«

»Im Augenblick habe ich keine Waffe«, sagte Glin-

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nes. »Diese Schurken von Trevanyi haben meine Ta-
schen  geleert  wie  ein  Schnauzrüßler,  der  Käfer  aus
dem Holz saugt. Aber ich glaube eigentlich nicht, daß
ich  eine  Waffe  brauchen  werde;  wenn  Casagave  so
vernünftig  ist,  wie  ich  hoffe,  werden  wir  uns  wohl
schnell einigen.«

Zwischen dem Bootssteg von Rabendary und der In-
sel Ambal lagen nur ein paar hundert Meter ruhiges
Wasser,  und  Glinnes  hatte  die  Überfahrt  unzählige
Male  gemacht.  Noch  nie  aber  war  sie  ihm  so  lang
vorgekommen.

Auf  der  Insel  rührte  sich  nichts;  nur  Casagaves

graues Motorboot verriet, daß er da sein mußte. Glin-
nes  machte  sein  Boot  fest  und  sprang  zielstrebig  an
Land, was ihm aber nur seine angeknacksten Rippen
schmerzhaft  in  Erinnerung  brachte.  Wie  es  die  Eti-
kette verlangte, betätigte er die Glocke, bevor er den
Weg hinaufging.

Das  Herrenhaus  von  Ambal  war  dem  Gensifer-

Landsitz  sehr  ähnlich:  ein  hohes,  weißes  Bauwerk
von  extravaganter  Vielfalt.  Aus  jeder  Mauer  ragten
Erker hervor, das Dach ruhte auf kannelierten Säulen:
vier Kuppeln aus Milchglas und ein goldenes Türm-
chen in der Mitte. Aus dem Kamin kam diesmal kein
Rauch; aus dem Innern war kein Ton zu hören. Glin-
nes drückte auf die Türglocke.

Eine  Minute  verging.  Hinter  einem  Erkerfenster

regte sich etwas; dann ging die Tür auf, und Lute Ca-
sagave spähte heraus – ein weitaus älterer Mann als
Glinnes,  mit  dünnen  Beinen  und  hängenden  Schul-
tern,  der  einen  Fremdweltler-Anzug  aus  grauem
Tuch  trug.  Silberweiße  Haarsträhnen  hingen  ihm  in

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das hagere Gesicht. Er hatte eine lange, knochige Na-
se,  hohle  Wangen  und  Augen,  die  wie  kalte  Stein-
splitter  aussahen.  Casagaves  Züge  verrieten  einen
wachen  und  disziplinierten  Verstand,  aber  er  hatte
ganz  bestimmt  nicht  das  Gesicht  eines  Mannes,  der
zugunsten  abstrakter  Gerechtigkeit  zwölftausend
Ozols opfern würde.

Casagave äußerte weder einen Gruß noch eine Fra-

ge,  sondern  starrte  seinen  Besucher  nur  schweigend
an, als erwarte er, daß Glinnes sofort den Grund sei-
nes Herkommens nenne.

Glinnes  sagte  höflich:  »Ich  bedaure,  daß  ich

schlechte Nachrichten für Sie habe, Lute Casagave.«

»Sie können mich Lord Ambal nennen.«
Glinnes blieb der Mund offen. »Lord Ambal?«
»So wünsche ich hier betitelt zu werden.«
Glinnes  schüttelte  zweifelnd  den  Kopf.  »Alles

schön und gut; Ihr Blut mag das edelste von Trullion
sein,  trotzdem  können  Sie  nicht  Lord  Ambal  sein,
weil  die  Insel  Ambal  nicht  Ihr  Eigentum  ist.  Das  ist
die schlechte Nachricht, die ich erwähnte.«

»Wer sind Sie?«
»Ich  bin  Glinnes  Hulden,  Squire  von  Rabendary,

und  die  Ambal-Insel  gehört  mir.  Sie  haben  meinem
Bruder Glay Geld gegeben für einen Besitz, der ihm
gar nicht gehörte. Die Situation ist für uns beide nicht
sehr angenehm. Ich habe selbstverständlich nicht die
Absicht,  Pacht  von  Ihnen  zu  verlangen  für  die  Zeit,
die Sie hier gelebt haben, aber ich fürchte, Sie werden
sich einen anderen Wohnsitz suchen müssen.«

Casagaves  Brauen  zogen  sich  zusammen;  seine

Augen wurden zu grauen Schlitzen. »Das ist Unsinn.
Ich  bin  Lord  Ambal,  der  direkte  Nachkomme  jenes

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Lord  Ambal,  der  den  Besitz  seiner  Vorfahren  illegal
zu veräußern versuchte. Der ursprüngliche Kaufver-
trag  war  ungültig;  das  Eigentumsrecht  der  Huldens
hatte  von  Anfang  an  keine  legale  Grundlage.  Seien
Sie dankbar für die zwölftausend Ozols; ich war nicht
verpflichtet, irgend etwas zu zahlen.«

»Also hören Sie!« schrie Glinnes. »Die Insel wurde

an meinen Urgroßvater verkauft. Der Verkauf wurde
im  Grundbuch  von  Welgen  eingetragen  und  kann
nicht so einfach abgetan werden!«

»Da bin ich nicht so sicher«, sagte Lute Casagave.

»Sie sind Glinnes Hulden? Ich habe mit Ihnen nichts
zu schaffen. Shira Hulden ist der Mann, von dem ich
den  Besitz  kaufte,  wobei  Ihr  Bruder  Glay  als  sein
Agent auftrat.«

»Shira ist tot«, sagte Glinnes. »Der Verkauf war ein

Schwindel. Ich schlage vor, daß Sie von Glay Ihr Geld
zurückfordern.«

»Shira ist tot? Woher wollen Sie das wissen?«
»Er  ist  tot,  wahrscheinlich  ermordet  und  von  den

Merlingen verschleppt worden.«

»›Wahrscheinlich‹?  Wahrscheinlichkeit  hat  juri-

stisch keinerlei Bedeutung. Mein Kaufvertrag ist gül-
tig,  falls  Sie  nicht  das  Gegenteil  beweisen  können
oder falls Sie sterben. Dann wäre die Frage ja sowieso
hinfällig.«

»Ich habe nicht die Absicht zu sterben«, sagte Glin-

nes.

»Wer  hat  das  schon?  Es  passiert  doch  fast  immer

gegen unseren Willen.«

»Sagen Sie mal, soll das eine Drohung sein?«
Casagave lachte trocken. »Sie haben die Insel Am-

bal  unberechtigt  betreten;  es  bleiben  Ihnen  zehn  Se-

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kunden, sich zu entfernen.«

Glinnes'  Stimme  zitterte  vor  Wut.  »Da  sitzen  Sie

aber  im  falschen  Boot.  Ich  gebe  im  Gegenteil  Ihnen
drei  Tage  und  nicht  eine  Minute  mehr,  um  meinen
Besitz zu räumen.«

»Was dann?« fragte Lute Casagave spöttisch.
»Das werden Sie schon sehen, wenn Sie die Ambal-

Insel nicht verlassen!«

Casagave  stieß  einen  schrillen  Pfiff  aus.  Schwere

Schritte dröhnten, und hinter Glinnes tauchte ein gut
zwei  Meter  großer  Mann  auf,  der  mindestens  seine
dreihundert  Pfund  wog.  Seine  Haut  hatte  die  Farbe
von Teakholz; schwarzes Haar bedeckte seinen Schä-
del wie dichter Pelz.

Casagave wies mit dem Daumen zur Anlegestelle.

»Entweder ins Boot oder ins Wasser.«

Glinnes,  dem  vom  letzten  Mal  Verprügeltwerden

noch  allerhand  wehtat,  wollte  nicht  eine  zweite  sol-
che  Erfahrung  riskieren.  Er  machte  kehrt  und  mar-
schierte  den  Weg  hinunter.  Lord  Ambal?  Welcher
Betrug!  Das  war  also  der  Grund  für  Casagaves  ge-
nealogische Forschungen gewesen.

Glinnes stieß sein Boot hinaus aufs Meer. Langsam

umkreiste er die Insel Ambal; noch nie war sie ihm so
schön  vorgekommen.  Was  sollte  er  tun,  wenn  Casa-
gave  das  dreitägige  Ultimatum  einfach  nicht  beach-
tete  –  was  er  ziemlich  sicher  tat?  Glinnes  schüttelte
niedergeschlagen den Kopf. Gewaltanwendung wür-
de  ihn  nur  in  Konflikt  mit  den  Behörden  bringen  –
wenn er nicht Shiras Tod beweisen konnte.

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KAPITEL 9

Akadie lebte in einem bizarren alten Schlößchen auf
einer Klippe oberhalb der Clinkhammer-Bucht, einige
Meilen  nordöstlich  von  Rabendary.  Die  Landspitze
wurde  Rorquins  Zahn  genannt,  ein  schwarzer  ver-
witterter  Felsbuckel,  vielleicht  der  Rest  eines  alten
Vulkans, und war jetzt mit Jardbüschen, Feuerblüten
und Zwergpomandern bewachsen; auf der Landseite
drängte  sich  eine  Gruppe  von  Sentinellobäumen.
Akadies Schloß, das Hirngespinst eines längst verges-
senen  Lords,  reckte  fünf  Türme  gegen  den  Himmel,
alle von anderer Höhe und verschiedenem Stil. Einer
war  mit  Schieferplatten  gedeckt,  einer  mit  Ziegeln,
ein dritter mit grünen Glaskacheln, der vierte mit Blei
und  der  fünfte  mit  dem  Spandex  genannten  Kunst-
stoff.  In  jedem  war  unmittelbar  unter  dem  Dach  ein
Studierraum  eingerichtet,  die  den  verschiedensten
Stimmungen Akadies entsprechend ausgestattet wa-
ren.  Akadie  schätzte  und  pflegte  seine  Launen  und
fand,  daß  die  widersprüchliche  Persönlichkeit  eine
Tugend war.

Früh  am  Morgen,  als  der  Dunst  noch  in  dünnen

Schwaden über dem Wasser lag, steuerte Glinnes sein
Boot nach Norden durchs Farwan-Gewässer und den
Saur, dann in westlicher Richtung durch die schmale,
schlingpflanzenverseuchte  Vernice-Straße  in  die
Clinkhammer-Bucht.  Das  ruhige  Wasser  spiegelte
Akadies fünftürmiges Schlößchen mit allen seinen bi-
zarren Einzelheiten.

Akadie  war  gerade  erst  aufgestanden.  Zerzauste

Haarsträhnen hingen ihm ins Gesicht, und die Augen

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hatte er bestenfalls halb offen. Trotzdem begrüßte er
Glinnes einigermaßen freundlich. »Bitte komme nicht
vor  dem  Frühstück  auf  dein  Anliegen  zu  sprechen;
ich  bin  noch  nicht  in  einem  sehr  ansprechbaren  Zu-
stand.«

»Ich  will  nur  Marucha  besuchen«,  sagte  Glinnes.

»Diesmal bedarf ich nicht deiner Dienste.«

»Dann ist's ja gut.«
Marucha,  die  immer  schon  eine  Frühaufsteherin

gewesen war, wirkte angespannt und verdrossen; sie
begrüßte  Glinnes  nicht  gerade  herzlich  und  setzte
Akadie  ein  Frühstück  vor,  das  aus  Obst,  Tee  und
Brötchen bestand. Glinnes bot sie eine Tasse Tee an.

»Ah!« seufzte Akadie, »der Tag beginnt, und lang-

sam bin ich wieder imstande, mich der Welt zu wid-
men.«  Er  trank  seinen  Tee.  »Und  wie  stehen  deine
Angelegenheiten?«

»Wie  zu  erwarten.  Meine  Probleme  sind  nicht

durch ein einfaches Fingerschnippen zu bereinigen.«

»Manchmal«,  philosophierte  Akadie,  »hat  man

keine anderen Probleme als jene, die man sich selbst
bereitet.«

»Das  trifft  für  meinen  Fall  gewiß  zu«,  sagte  Glin-

nes.  »Ich  bemühe  mich,  meinen  Besitz  zurückzuer-
halten und das, was ich noch habe, zu schützen – und
das provoziert natürlich meine Feinde.«

Marucha, die in der Küche herumhantierte, zeigte

betontes Desinteresse für die Unterhaltung.

»Der eigentliche Schuldige ist natürlich Glay«, fuhr

Glinnes  fort.  »Er  hat  nichts  als  Schwierigkeiten  ge-
stiftet und sich dann empfohlen. Ich finde, für einen
Hulden – und für einen Bruder – ist das eine ausge-
sprochen miese Handlungsweise.«

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Marucha  konnte  sich  nicht  länger  bezähmen.  »Ich

glaube nicht, daß er sich viel darum schert, ob er ein
Hulden ist oder nicht. Und was brüderliches Verhal-
ten  angeht  –  das  sollte  auf  Gegenseitigkeit  beruhen.
Du hilfst ihm bei seinen Vorhaben ja auch nicht.«

»Das kostet zu viel«, sagte Glinnes. »Glay kann es

sich leisten, zwölftausend Ozols zu verschenken, weil
das  Geld  nie  ihm  gehört  hat.  Ich  habe  nur  dreitau-
sendvierhundert Ozols ersparen können, und die ha-
ben  mir  Glays  Kumpane,  die  Drossets,  gestohlen.
Jetzt habe ich nichts mehr.«

»Du hast die Insel Rabendary. Das ist viel.«
»Endlich scheinst du einzusehen, daß Shira tot ist.«
Akadie hob die Hand. »Also bitte! Komm, nehmen

wir  uns  den  Tee  mit  in  den  Südturm.  Hier  hinauf,
aber gib acht, die Stufen sind schmal.«

Sie  stiegen  in  den  niedrigsten  und  geräumigsten

Turm  hinauf,  von  dem  man  über  die  ganze  Clink-
hammer-Bucht sehen konnte. Akadie hatte die dunkle
Wandtäfelung mit uralten Bannern und Wimpeln be-
hängt; eine Ecke des Raums wurde von einer Samm-
lung ausgefallener roter Steinguttöpfe eingenommen.
Akadie stellte Teekanne und Tasse auf dem niedrigen
Tischchen  ab  und  bedeutete  Glinnes,  sich  einen  der
alten Korbstühle heranzuholen. »Als ich Marucha bat,
mein Haus mit mir zu teilen, habe ich nicht erwartet,
auch  die  Familienzwistigkeiten  mitgeliefert  zu  be-
kommen.«

»Ich  bin  heute  morgen  wohl  ein  bißchen  unleid-

lich«,  gab  Glinnes  zu.  »Aber  ich  habe  guten  Grund
dazu: die Drossets haben mir im Finstern aufgelauert,
mich  zusammengeschlagen  und  mir  mein  ganzes
Geld  abgenommen.  Ich  kann  seitdem  nachts  kaum

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mehr schlafen. In mir brodelt und kocht es vor Wut.«

»So was kann einen schon erbittern«, räumte Aka-

die  ein.  »Denkst  du  vielleicht  an  Vergeltungsmaß-
nahmen?«

Glinnes warf ihm einen ungläubigen Blick zu. »Ich

denke  kaum  mehr  an  etwas  anderes!  Aber  mir  fällt
nichts  Vernünftiges  ein.  Ich  könnte  ein  oder  zwei
Drossets umbringen und auf dem Prutanschyr enden,
aber  dadurch  bekäme  ich  kaum  mein  Geld  wieder.
Ich könnte ihren Wein mit einer Droge versetzen und
ihr Lager durchsuchen, während sie schlafen, aber ich
habe kein solches Mittel, und selbst wenn ich es hätte,
wie könnte ich sicher sein, daß sie alle von dem Wein
getrunken haben?«

»Solche  Dinge  planen  sind  leichter,  als  sie  sich

durchführen  lassen«,  bemerkte  Akadie  weise.  »Aber
gestatte mir einen vielleicht nützlichen Hinweis. Hast
du schon vom Xian-Moor gehört?«

»Ich

 

war noch nie dort«, sagte Glinnes. »Aber soviel

ich weiß, ist dort die Begräbnisstätte der Trevanyi.«

»Es  ist  sehr  viel  mehr  als  das.  Der  Todesvogel

kommt  aus  dem  Tal  von  Xian,  und  der  Sterbende
vernimmt seinen Gesang. In den Schatten der großen
Ombrils,  die  sonst  nirgendwo  in  Merlank  wachsen,
wandeln die Geister der Trevanyi. Höre – das ist der
wichtigste  Punkt:  wenn  du  die  Krypta  der  Drossets
fändest  und  dir  eine  der  Totenurnen  holtest,  würde
Vang  Drosset  selbst  die  Reinheit  seiner  Tochter  op-
fern, um sie zurückzubekommen.«

»Ich  bin  nicht  interessiert  –  oder  sagen  wir,  sehr

wenig interessiert an der Reinheit seiner Tochter. Ich
will nur mein Geld zurück. Aber deine Idee ist nicht
schlecht.«

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Akadie machte eine wegwerfende Geste. »Freund-

lich von dir. Aber der Vorschlag ist so undurchführ-
bar  und  phantastisch  wie  alle  anderen.  Es  gibt  zu
viele  unüberwindbare  Schwierigkeiten  dabei.  Wie
zum Beispiel wolltest du die Lage der Krypta erfah-
ren,  außer  von  Vang  Drosset  selbst?  Wenn  er  dich
wirklich so ins Herz geschlossen hätte, daß er dir die-
ses  tiefste  Geheimnis  seines  Lebens  anvertraute,  so
würde  er  dir  wohl  kaum  deine  Ozols  vorenthalten,
oder seine Tochter? Aber nehmen wir an, du hättest
Vang  Drosset  herumgekriegt,  dir  das  Geheimnis  zu
verraten, und wärst im Tal von Xian. Wie würdest du
den Drei Alten entgehen, ganz zu schweigen von den
Geistern?«

»Ich weiß es nicht«, sagte Glinnes.
Eine  Weile  saßen  die  beiden  Männer  schweigend

da und tranken ihren Tee. Schließlich fragte Akadie:
»Hast  du  die  Bekanntschaft  von  Lute  Casagave  ge-
macht?«

»Ja. Er weigert sich, die Insel Ambal zu verlassen.«
»Das war vorauszusehen. Er wird zumindest seine

zwölftausend Ozols zurückhaben wollen.«

»Er behauptet, Lord Ambal zu sein.«
Akadie  richtete  sich  abrupt  in  seinem  Sessel  auf;

seine Augen blitzten angesichts dieser faszinierenden
Entwicklung. Aber dann schüttelte er fast bedauernd
den  Kopf  und  ließ  sich  zurücksinken.  »Unwahr-
scheinlich. Sehr unwahrscheinlich. Und in jedem Fall
irrelevant. Ich fürchte, du wirst dich mit dem Verlust
der Insel Ambal abfinden müssen.«

»Ich  finde  mich  mit  keinerlei  Verlusten  ab!«  rief

Glinnes  erregt.  »Ob  es  nun  um  die  Hussade-Spiele
oder um die Ambal-Insel geht: das ist das gleiche. Ich

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gebe niemals auf – ich will nur das bekommen, was
mir gehört!«

Akadie hob beschwichtigend die Hand.
»Beruhige dich. Ich werde in Muße darüber nach-

denken. Wer weiß, was sich noch ergibt? Mein Hono-
rar beträgt fünfzehn Ozols.«

»Fünfzehn  Ozols!«  fuhr  Glinnes  auf.  »Wofür?  Du

hast mir nur gesagt, daß ich mich beruhigen soll!«

»Oh«,  entgegnete  Akadie  mit  einer  verbindlichen

Geste, »ich habe dir einen jener negativen Ratschläge
gegeben, die oft genauso wertvoll sind wie ein positi-
ves Programm. Wenn du mich zum Beispiel fragtest:
›Wie  kann  ich  mit  einem  einzigen  Sprung  von  hier
nach Welgen springen?‹ könnte ich dir nur ›Unmög-
lich‹ antworten, wodurch ich dir viel nutzlose Mühe
und  Plage  ersparen  würde;  damit  wäre  ein  Honorar
von zwanzig oder dreißig Ozols gerechtfertigt.«

Glinnes  lächelte  grimmig.  »Im  vorliegenden  Fall

hast  du  mir  keine  Mühe  erspart;  du  hast  mir  nichts
gesagt, was ich nicht auch selbst wußte. Du mußt dies
als reinen Freundschaftsdienst ansehen.«

Akadie zuckte die Achseln. »Wie du meinst.«
Die beiden Männer kehrten ins Erdgeschoß zurück,

wo  Marucha  über  ein  Magazin  gebeugt  saß,  das  in
Port Maheul erschien: Das interessante Leben der Ober-
klasse.

»Auf Wiedersehn, Mutter«, sagte Glinnes. »Danke

für den Tee.«

Marucha  blickte  von  der  Zeitschrift  auf.  »Du  bist

mir  natürlich  immer  willkommen.«  Und  sie  las  wei-
ter.

Als  Glinnes  wieder  über  die  Clinkhammer-Bucht

hinausfuhr, überlegte er, warum Marucha ihn eigent-

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lich nicht mochte, obwohl er im Grunde seines Her-
zens  die  Antwort  recht  gut  kannte.  Marucha  hatte
nichts  gegen  Glinnes;  sie  hatte  etwas  gegen  Jut  und
sein ›rüpelhaftes Benehmen‹ – seine Sauftouren, seine
gegrölten Lieder, seine grobe Sinnlichkeit, überhaupt
seinen  Mangel  an  Schliff.  Kurzum,  sie  hielt  ihren
Mann  für  einen  groben  Klotz.  Obwohl  Glinnes  weit
weltgewandter  war  als  sein  Vater,  erinnerte  er  sie
doch an Jut. So konnte nie richtige Wärme zwischen
ihnen entstehen.

Glinnes  war  das  ganz  recht;  er  hatte  selbst  auch

nicht sonderlich viel für Marucha übrig...

Glinnes  steuerte  das  Boot  in  das  Zeur-Gewässer,

das  die  Freiland-Insel  der  Präfektur  im  Nordosten
begrenzte. Ein plötzlicher Impuls ließ ihn langsamer
werden  und  zum  Ufer  schwenken.  Er  ließ  das  Boot
ins  Schilf  gleiten  und  machte  es  an  einem  Ast  eines
Casammonbaumes fest. Vorsichtig kletterte er die Bö-
schung hinauf, von wo er die Insel übersehen konnte.

Dreihundert Meter entfernt, am Rande einer Grup-

pe  schwarzer  Kerzennußbäume,  hatten  die  Drossets
ihre  drei  Zelte  aufgebaut  –  dieselben  Rechtecke  in
Rot, Schmutzigbraun und Schwarz, die Glinnes schon
auf Rabendary ein Dorn im Auge gewesen waren.

Auf  einer  Bank  saß  Vang  Drosset  über  irgendeine

Frucht gebeugt, eine Melone vielleicht, oder auch eine
Cazaldo.  Tingo,  die  heute  ein  lila  Kopftuch  trug,
hockte neben dem Feuer, schnitt Wurzelknollen klein
und  warf  sie  in  den  Kessel.  Die  Söhne  Ashmor  und
Harving waren ebensowenig zu sehen wie Duissane.

Glinnes beobachtete das Lager noch fünf Minuten.

Vang  Drosset  verschlang  das  letzte  Stück  Cazaldo
und warf das Kerngehäuse ins Feuer. Dann drehte er

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sich um und redete mit Tingo, die Hände auf die Knie
gestützt. Die Frau setzte ihre Arbeit fort.

Glinnes  sprang  die  Böschung  hinunter  zu  seinem

Boot und fuhr mit Höchstgeschwindigkeit nach Hau-
se.

Eine  Stunde  später  war  er  wieder  zurück.  Glay

hatte während seiner Wanderungen mit den Trevanyi
ihre  Tracht  angenommen;  diese  Kleidung  trug  Glin-
nes jetzt, außerdem einen tief ins Gesicht reichenden
Trevanyi-Turban. Im Boot lag ein junger Cavout, mit
verbundenem  Maul  und  gefesselten  Beinen.  Außer-
dem  waren  drei  leere  Schachteln,  mehrere  gute  Ei-
sentöpfe und eine Schaufel in dem Boot.

Glinnes landete an der gleichen Stelle wie zuvor. Er

kroch die Böschung hoch und studierte das Lager der
Drossets durch sein Fernglas.

Der Kessel hing blubbernd über dem Feuer. Tingo

war  nirgendwo  zu  sehen.  Vang  Drosset  saß  auf  der
Bank  und  schnitzte  einen  Zierknopf  aus  Dakohorn.
Glinnes starrte angestrengt hinüber. Ob Vang Drosset
am  Ende  sein  Messer  benutzte?  Späne  und  Splitter
flogen  nur  so  vom  Dako  weg,  und  Vang  Drosset
prüfte immer wieder zufrieden die Klinge.

Glinnes  holte  den  Cavout  aus  dem  Boot  und  fes-

selte das Tier so an den Hinterbeinen, daß es ein paar
Meter weit in die Wiese hinaushoppeln konnte. Den
Knebel entfernte er.

Nun versteckte sich Glinnes hinter einem Stillbeer-

dickicht und vermummte den unteren Teil seines Ge-
sichtes mit dem Ende des Turbantuches.

Vang  Drosset  schnitzte  weiter  am  Dako  herum.

Schließlich  hielt  er  inne,  streckte  sich  und  bemerkte
den  Cavout.  Er  beobachtete  ihn  einige  Augenblicke

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lang,  stand  dann  auf  und  ließ  den  Blick  über  das
Freiland streifen. Niemand zu sehen. Er wischte das
Messer ab und steckte es in den Stiefel. Tingo Drosset
schaute zu dem einen Zelt heraus; Vang Drosset rief
ihr  etwas  zu.  Daraufhin  kam  sie  ganz  hervor  und
schaute unsicher zu dem Cavout herüber. Vang Dros-
set setzte sich in Bewegung und kam zielbewußt, aber
vorsichtig über die Wiese marschiert. Zehn Meter vor
dem Cavout tat er, als bemerke er das Tier zum ersten
Mal,  und  blieb  wie  überrascht  stehen.  Er  entdeckte
den  Strick  und  verfolgte  ihn  bis  zum  Casammon-
baum.  Er  machte  vier  rasche  Schritte  vorwärts  und
reckte den Hals. Er sah das Boot und blieb wie ange-
wurzelt  stehen,  während  seine  Augen  Inventur
machten.  Eine  Schaufel,  mehrere  brauchbare  Töpfe,
und was enthielten wohl diese Schachteln? Er leckte
sich die Lippen, blickte mißtrauisch nach rechts und
links. Sonderbar. Vermutlich irgendein Kinderstreich.
Trotzdem,  warum  sollte  er  nicht  einen  Blick  in  die
Schachteln riskieren? Nachschauen konnte auf keinen
Fall schaden.

Vang Drosset stieg vorsichtig die Böschung hinun-

ter  und  wußte  nachher  nicht  mehr,  was  ihm  eigent-
lich  passiert  war.  Glinnes,  beflügelt  von  seiner  ge-
rechten Empörung, sprang vor und riß Vang Drosset
mit zwei fürchterlichen Hieben rechts und links übers
Ohr fast den Kopf ab. Vang Drosset kippte um. Glin-
nes  stieß  ihm  das  Gesicht  in  den  Schlamm,  fesselte
ihm  die  Hände  auf  dem  Rücken  und  band  die  Knie
und Fußgelenke mit einem Strick zusammen, den er
für diesen Zweck mitgebracht hatte. Dann knebelte er
Vang  Drosset,  der  mittlerweile  stöhnende  Schnarch-
laute von sich gab, und verband ihm die Augen.

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Er  zog  das  Messer  aus  Vang  Drossets  schwarzem

Stiefel:  es  war  sein  eigenes.  Gut,  die  wunderbare
Klinge  wiederzuhaben!  Er  durchsuchte  Vang  Dros-
sets Kleider, schlitzte mit dem Messer den Stoff auf,
um  es  leichter  zu  haben.  Vang  Drossets  Beutel  ent-
hielt nur zwanzig Ozols, die Glinnes einsteckte. Dann
zog  er  dem  Trevanyi  die  Stiefel  aus  und  schnitt  die
Sohlen auf. Er fand nichts und warf die Stiefel weg.

Vang Drosset hatte also keine größere Summe Gel-

des bei sich. Glinnes versetzte ihm aus Enttäuschung
einen  Tritt  in  die  Rippen.  Als  er  über  die  Wiese
blickte, sah er, wie Tingo Drosset gerade zur Latrine
ging.  Er  nahm  den  Cavout  auf  die  Schulter,  so  daß
sein Gesicht verdeckt war, und marschierte zum La-
ger  hinüber.  Er  erreichte  das  braune  Zelt,  als  Tingo
Drosset eben ihr Geschäft beendet hatte. Er blickte in
das braune Zelt. Er ging zu dem roten hinüber. Eben-
falls leer. Er ging hinein. Tingo Drosset sagte zu sei-
nem  Rücken:  »Scheint  mir  ein  saftiges  Vieh  zu  sein.
Aber laß es doch draußen! Was ist nur in dich gefah-
ren? Schlachte es doch unten beim Wasser.«

Glinnes legte das Tier hin und wartete. Tingo Dros-

set  kam  keifend  über  das  seltsame  Benehmen  ihres
Mannes ins Zelt. Glinnes warf ihr seinen Turban über
den  Kopf  und  drückte  sie  zu  Boden.  Tingo  Drosset
kreischte  und  fluchte  über  dieses  unerwartete  Ver-
halten ihres Mannes.

»Noch ein Laut von dir«, knurrte Glinnes, »und ich

schneid  dir  den  Hals  von  einem  Ohr  zum  anderen
durch!  Lieg  still,  wenn  du  weißt,  was  für  dich  gut
ist!«

»Vang!  Vang!«  kreischte  Tingo  Drosset.  Glinnes

stopfte ihr ein Stück Turbantuch in den Mund.

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Tingo  war  untersetzt  und  stämmig  und  machte

Glinnes  erheblich  zu  schaffen,  bevor  sie  verschnürt
wie ein Paket dalag, geknebelt und eine Binde um die
Augen. Glinnes rieb sich eine gebissene Stelle an der
Hand.  Tingo  Drosset  brummte  der  Kopf  von  dem
Schlag,  den  ihr  der  Biß  eingebracht  hatte.  Es  war
zwar  nicht  wahrscheinlich,  daß  Tingo  Drosset  das
Geld  der  Familie  bei  sich  hatte,  aber  es  hatte  schon
seltsamere  Dinge  gegeben.  Glinnes  untersuchte  mit
gerümpfter  Nase  ihre  Kleider,  während  sie  grunzte
und  stöhnte  und  entsetzt  in  Erwartung  von  Schlim-
merem zappelte.

Er durchsuchte das schwarze Zelt, dann das rote, in

dem  Duissane  in  einer  Ecke  ein  paar  hübsche  Klei-
nigkeiten und Andenken verwahrte, und zuletzt das
braune  Zelt.  Er  fand  kein  Geld,  hatte  es  auch  nicht
erwartet; bei den Trevanyi war es üblich, ihre Wertsa-
chen zu vergraben.

Glinnes  setzte  sich  auf  Vang  Drossets  Bank.  Wo

würde er Geld vergraben, wäre er Vang Drosset? Die
Stelle mußte leicht zugänglich sein und durch irgend-
ein Zeichen gut auffindbar: einen Pfosten, einen Stein,
einen Busch oder Baum. Die Stelle würde außerdem
im  unmittelbaren  Sichtbereich  des  Lagers  liegen,
denn  Vang  Drosset  würde  das  Versteck  kaum  gern
aus  den  Augen  lassen.  Glinnes  schaute  sich  nach-
denklich um. Ein paar Schritte vor ihm hing der Kes-
sel  über  dem  Feuer,  daneben  war  ein  grob  gezim-
merter Tisch mit zwei Bänken aufgestellt. Nur wenige
Meter  weiter  war  der  Boden  von  der  Hitze  eines
weiteren  Feuers  versengt.  Diese  alte  Feuerstelle  lag,
wie ihm vorkam, etwas bequemer als der neue Koch-
platz. Aber manche Gewohnheiten der Trevanyi wa-

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ren eben sonderbar und unerklärlich, überlegte Glin-
nes.  In  dem  Lager  auf  Rabendary...  Auf  einmal  sah
Glinnes den ehemaligen Lagerplatz auf der Insel Ra-
bendary deutlich vor sich – und die frisch aufgegra-
bene Erde an der Feuerstelle.

Glinnes nickte zufrieden. Das war es. Er stand auf

und ging zum Feuer. Er zog den Dreifuß, an dem der
Kessel  hing,  beiseite  und  kratzte  mit  einem  alten
Spaten, dessen Stiel abgebrochen war, die Glutstücke
weg. Die ausgedörrte Erde darunter gab leicht nach.
Zwanzig  Zentimeter  unter  der  Oberfläche  stieß  der
Spaten  an  eine  geschwärzte  Eisenplatte.  Glinnes
kippte sie auf die Seite, so daß ein Tonziegel darunter
sichtbar wurde, den er ebenfalls entfernte. Die Höh-
lung  darunter  enthielt  einen  Steingutkrug.  Glinnes
zog  ihn  heraus.  Ein  dickes  Bündel  rot-schwarzer
Hundert-Ozol-Noten  war  darin.  Glinnes  nickte  er-
freut und verstaute alles in seiner Tasche.

Der  Cavout,  der  jetzt  friedlich  graste,  hatte  Dung

abgesetzt. Glinnes kratzte die Häufchen in den Krug,
stellte ihn in das Loch zurück und richtete alles wie-
der so her, wie es vorher gewesen war, mit Feuer und
Kessel  über  dem  Versteck.  Bei  flüchtigem  Hinsehen
war nicht zu erkennen, daß es geöffnet worden war.

Nun  nahm  Glinnes  den  Cavout  wieder  auf  die

Schulter  und  marschierte  zurück  über  die  Wiese  zu
der  Stelle,  wo  er  sein  Boot  angebunden  hatte.  Vang
Drosset  hatte  verzweifelt  versucht,  sich  zu  befreien,
aber es war ihm nur gelungen, die Böschung hinun-
terzukollern,  so  daß  er  jetzt  im  Uferschlamm  lag.
Glinnes  lächelte  nachsichtig  und  verzichtete  ange-
sichts  der  Tatsache,  daß  er  Vang  Drossets  gesamtes
Geld  in  der  Tasche  hatte,  darauf,  der  zusammenge-

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krümmten  Gestalt  noch  einen  Tritt  zu  versetzen.  Er
band den Cavout im Heck des Bootes an und legte ab.
Vielleicht  hundert  Meter  weiter  neigte  ein  riesiger
Casammonbaum seine dichtbelaubten Äste tief übers
Wasser. Glinnes trieb das Boot durch das Schilf bis zu
einer der dicken, gebogenen Wurzel, machte es daran
fest  und  kletterte  über  die  Wurzel  hinauf  ins  Geäst.
Durch  eine  Lücke  im  Blattwerk  konnte  er  das  Lager
der  Drossets  sehen,  in  dem  sich  aber  noch  nichts
rührte.

Glinnes  machte  es  sich  in  einer  Astgabel  bequem

und  zählte  das  Geld.  Im  ersten  Bündel  fand  er  drei
Tausend-Ozol-Noten, vier Hunderter und sechs Zeh-
ner. Glinnes schmunzelte zufrieden. Er entfernte den
Gummiring vom zweiten Bündel, das um einen gol-
denen Uhranhänger gefaltet war: vierzehn Hundert-
Ozol-Noten.  Glinnes  beachtete  sie  nicht  und  starrte
nur den goldenen Anhänger an, während ihm ein ei-
siges Frösteln über den Rücken lief. Diesen Anhänger
kannte er gut; er hatte seinem Vater gehört. Da – die
Initialen  für  Jut  Hulden.  Und  darunter  ein  zweites
Monogramm: Shira Hulden.

Es  gab  zwei  Möglichkeiten:  die  Drossets  hatten

entweder  den  lebenden  Shira  ausgeraubt  oder  den
toten.  Und  das  waren  die  Kameraden  und  Reisege-
nossen seines Bruders Glay! Glinnes spuckte auf den
Boden.

Er  saß  reglos  in  seiner  Astgabel,  aber  in  seinem

Kopf  brodelte  es  vor  Aufregung  und  entsetzter  Em-
pörung. Shira war tot. Die Drossets hätten ihm sonst
nie sein Geld abnehmen können. Davon war Glinnes
jetzt überzeugt.

Er  wartete  und  beobachtete  weiter.  Genugtuung,

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Wut und Entsetzen schwanden mit der Zeit. Gleich-
mütig und geduldig saß er auf dem Ast. Eine Stunde
verging, dann noch eine halbe. Schließlich kamen von
der  Anlegestelle  am  Ilfisch-Gewässer  drei  Personen
herüber:  Ashmor,  Harving  und  Duissane.  Ashmor
und Harving gingen sofort in das rote Zelt; Duissane
blieb stehen – anscheinend hatte sie irgendeinen Laut
von Tingo vernommen. Sie stürzte in das braune Zelt
und  steckte  einen  Moment  später  den  Kopf  heraus,
um  nach  ihren  Brüdern  zu  rufen.  Dann  verschwand
sie  wieder  im  Zelt.  Ashmor  und  Harving  rannten
auch  hinein.  Fünf  Minuten  später  tauchten  sie  alle
wieder auf, in ein heftiges Gespräch verstrickt. Tingo,
der das Erlebnis offensichtlich nicht geschadet hatte,
fuchtelte  wild  herum  und  zeigte  über  die  Wiese.
Ashmor  und  Harving  machten  sich  auf  und  fanden
nach  einer  Weile  Vang  Drosset.  Sie  banden  ihn  los
und  kehrten  mit  ihm  zum  Lager  zurück.  Die  Söhne
redeten mit heftigen Gesten auf ihn ein. Vang Drosset
humpelte  barfuß  übers  Gras  und  hielt  sich  die  zer-
schlissenen Kleider an den Leib. Im Lager angekom-
men,  schaute  er  sich  genau  um  und  inspizierte  vor
allem  die  Feuerstelle.  Allem  Anschein  nach  war
nichts verändert.

Er  ging  in  das  braune  Zelt.  Die  Söhne  schimpften

mit  Tingo,  die  jetzt  fast  hysterisch  Erklärungen  her-
vorsprudelte  und  immer  wieder  zum  Ufer  zeigte.
Dann  kam  Vang  Drosset  wieder  aus  dem  braunen
Zelt, nun neu gekleidet. Er trat zu Tingo und knuffte
sie;  sie  kreischte  verärgert  und  zog  sich  zurück.  Er
holte  wieder  aus,  worauf  sie  einen  kräftigen  Ast
packte  und  sich  zur  Gegenwehr  bereitmachte.  Vang
Drosset wandte sich mürrisch ab; er ging zum Feuer,

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um  den  Platz  genauer  zu  untersuchen.  Plötzlich
stutzte er – er hatte die Stelle entdeckt, auf die Glin-
nes  Asche  und  Glut  geschoben  hatte.  Er  stieß  einen
heiseren Schrei aus, den Glinnes bis in seinen Baum
hören  konnte.  Wild  stieß  er  den  Dreifuß  beiseite,
räumte mit ein paar Tritten die Glut weg und wühlte
mit bloßen Händen die Eisenplatte heraus. Dann den
Ziegel.  Und  dann  den  Krug.  Er  schaute  hinein.  Er
blickte Ashmor und Harving an, die neugierig dane-
ben standen.

Vang Drosset warf mit einer großartigen Geste der

Verzweiflung  die  Arme  hoch.  Er  schleuderte  den
Krug auf den Boden und trampelte auf den Splittern
herum, er stieß nach dem Feuer, daß die Funken sto-
ben, er schüttelte die sehnigen Fäuste und fluchte in
alle Himmelsrichtungen, wie es nur Angehörige eines
Volkes können, bei dem Flüche noch eine Bedeutung
haben.

Jetzt  war  es  an  der  Zeit  zu  verschwinden,  fand

Glinnes. Er rutschte von dem Baum, schwang sich in
sein  Boot  und  fuhr  zur  Insel  Rabendary  zurück.  Ein
sehr befriedigender Tag war das gewesen. Die Treva-
nyi-Tracht  hatte  seine  Identität  getarnt;  die  Drossets
mochten ihn in Verdacht haben, aber sicher konnten
sie es nicht wissen. Im Augenblick waren alle Treva-
nyi,  die  sich  in  der  Gegend  aufhielten,  verdächtig,
und  die  Drossets  würden  diese  Nacht  über  der  Dis-
kussion,  wer  der  Schuldige  sein  könnte,  kaum  zum
Schlafen kommen.

Glinnes  richtete  sich  eine  Mahlzeit  her  und  aß

draußen  auf  der  Veranda.  Der  Nachmittag  ging  in
Avness  über,  jene  melancholische  Tageszeit,  in  der
das Licht starb und Himmel und Wasser eine blasse,

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milchige Tönung annahmen.

Das  unerwartete  Läuten  des  Telefons  zerriß  die

Stimmung. Glinnes ging hinein und sah das Gesicht
von  Thammas  Lord  Gensifer  vor  sich  auf  dem  Bild-
schirm.  Er  drückte  die  Bildaufnahmetaste.  »Guten
Abend, Lord Gensifer.«

»Ebenfalls  einen  schönen  guten  Abend,  Glinnes

Hulden! Sind Sie bereit, Hussade zu spielen? Ich mei-
ne natürlich nicht, in diesem Augenblick.«

Glinnes  antwortete  mit  einer  vorsichtigen  Gegen-

frage.  »Ich  vermute,  Ihre  Pläne  haben  Gestalt  ange-
nommen?«

»Richtig. Die Fleharish-Gorgonen sind eine fertige

Mannschaft  und  bereit,  mit  dem  Training  zu  begin-
nen. Ich habe Sie als rechten Mittelstürmer eingetra-
gen.«

»Und wer spielt links?«
Lord  Gensifer  blickte  auf  seine  Liste.  »Ein  sehr

vielversprechender  junger  Mann  namens  Savat.  Ihr
beide müßtet eine ausgezeichnete Kombination sein.«

»Savat?  Noch  nie  von  ihm  gehört.  Wer  sind  die

Außenstürmer?«

»Lucho und Helsing.«
»Hmm. Mir ist keiner dieser Namen bekannt. Sind

das die Spieler, die Sie von Anfang an im Auge hat-
ten?«

»Lucho selbstverständlich. Was die anderen betrifft

–  nun,  diese  Liste  war  immer  nur  ein  Provisorium,
das abgeändert werden sollte, sobald sich etwas Bes-
seres ergab. Sie wissen ja recht gut, Glinnes, daß eini-
ge dieser alteingesessenen Spieler viel zu wenig flexi-
bel  sind.  Eine  junge  Mannschaft  fährt  besser  mit
Leuten,  die  fähig  und  willens  sind,  noch  etwas  zu

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lernen. Begeisterung, Elan, Hingabe! Das sind die Ei-
genschaften, die zum Sieg führen!«

»Ich verstehe. Wer hat sich sonst verpflichtet?«
»Iskelatz und Wilmer Guff sind die Springer – wie

gefällt  Ihnen  das?  Sie  werden  kaum  zwei  bessere
Springer in der ganzen Präfektur finden. Die Wächter
– also Ramos ist ein wahrer Panzerwagen, und Pylan
ist auch sehr gut. Sinforetta und ›Pflock‹ Candolf sind
nicht  ganz  so  behende,  aber  dafür  massiv  und  nicht
von  der  Stelle  zu  bringen.  Ich  spiele  als  Kapitän
und...«

»Eh? Wie war das? Hab ich Sie recht verstanden?«
Lord Gensifer runzelte die Stirn. »Ich spiele als Ka-

pitän«, erklärte er gemessen. »Ja, das wäre also unse-
re Mannschaft, bis auf die Ersatzleute natürlich.«

Glinnes  schwieg  einige  Augenblicke.  Dann  fragte

er: »Wie steht es mit der Kasse?«

»Die  Kasse  beläuft  sich  auf  dreitausend  Ozols«,

sagte Lord Gensifer steif. »Die ersten paar Spiele ma-
chen  wir  mit  fünfzehnhundert  Ozols,  zumindest  bis
die Mannschaft darauf drängt, mehr zu riskieren.«

»Ich verstehe. Wann und wo soll trainiert werden?«
»Auf  dem  Platz  von  Saurkash,  morgen  vormittag.

Ich  nehme  also  an,  Sie  sind  entschlossen,  mit  den
Gorgonen zu spielen?«

»Ich  werde  gewiß  morgen  kommen,  und  dann

werden wir ja sehen, wie die Dinge laufen. Aber las-
sen Sie mich offen sein, Lord Gensifer. Der Kapitän ist
der  wichtigste  Mann  des  Teams.  Was  aus  einer
Mannschaft  wird,  hängt  fast  ausschließlich  vom  Ka-
pitän ab. Wir brauchen einen erfahrenen Kapitän. Ich
bezweifle, daß Sie diese Erfahrung besitzen.«

Lord Gensifers Miene wurde hochmütig. »Ich habe

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das  Spiel  seit  langem  gründlichst  studiert.  Ich  habe
Kalenschenkos  Hussade-Taktik  dreimal  durchgear-
beitet;  ich  habe  das  Handbuch  der  Hussade  von
Grund  auf  meinem  Gedächtnis  einverleibt;  ich  habe
alle  die  neuesten  Varianten  studiert,  das  Gegenströ-
mungsprinzip, das Doppelpyramidensystem, Wogen-
formation...«

»Das  mag  schon  sein,  Lord  Gensifer.  Viele  Leute

haben sich theoretisch mit dem Spiel beschäftigt, aber
letzten Endes sind die Reflexe ausschlaggebend, und
wenn man nicht wirklich selbst viel gespielt hat...«

»Wenn  Sie  Ihr  Bestes  tun,  werden  alle  anderen  es

auch  tun«,  sagte  Lord  Gensifer  kühl.  »Sonst  noch
was?...  Beim  vierten  Gongschlag  also.«  Der  Bild-
schirm erlosch.

Glinnes brummte entrüstet. Für einen verbogenen

halben Ozol würde er Lord Gensifer sagen, er möge
Kapitän,  Stürmer,  Springer,  Wächter  und  Sheirl  zu-
gleich  spielen.  Lord  Gensifer  als  Kapitän!  Das  war
doch das letzte.

Aber wenigstens hatte er sein Geld wieder, und ei-

ne  Entschädigung  für  die  bezogenen  Prügel  oben-
drein. Fast fünftausend Ozols: eine hübsche Summe,
die er aber besser an einem sicheren Ort verwahrte.

Glinnes  steckte  das  Geld  in  einen  Krug,  wie  die

Drossets ihn verwendet hatten. Dann vergrub er ihn
hinter dem Haus.

Eine  Stunde  später  kam  ein  Boot  aus  dem  Ilfisch-

Gewässer  heraus  in  die  Bucht  von  Ambal.  Vang
Drosset und seine zwei Söhne saßen darin. Als sie an
der  Anlegestelle  von  Rabendary  vorüberkamen,
stand  Vang  Drosset  auf  und  musterte  das  Boot  der
Huldens mit dem Blick eines hungrigen Geiers. Glin-

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nes hatte die Sachen, mit denen er Vang Drosset an-
gelockt  hatte,  natürlich  entfernt.  Das  Boot  war  von
Hunderten  anderer  nicht  zu  unterscheiden.  Glinnes
blieb  ruhig  auf  seiner  Veranda  sitzen,  die  Füße  aufs
Geländer  gelegt.  Vang  Drosset  und  seine  Söhne
schossen mißtrauische Blicke zu ihm herüber; Glinnes
schaute gleichmütig zurück.

Das  Boot  strebte  das  Farwan-Gewässer  aufwärts,

während die Drossets sich mürrisch unterhielten und
immer  wieder  nach  Glinnes  umschauten.  Dort  fährt
der  Mann,  der  meinen  Bruder  getötet  hat,  dachte
Glinnes.

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KAPITEL 10

Lord  Gensifer,  ausstaffiert  mit  einer  neuen,  gelb-
schwarzen Uniform, stieg auf eine Bank und hielt ei-
ne Ansprache an seine Mannschaft.

»Dies  ist  ein  bedeutender  Tag  für  uns  wie  für  die

Geschichte  der  Hussade  in  der  Präfektur  Jolany!
Heute  beginnen  wir,  die  kampfstärkste,  tüchtigste
und  unüberwindbarste  Mannschaft  zu  schmieden,
die je die Hussade-Plätze von Merlank gestürmt hat.
Einige von euch sind bereits geübte Spieler von Ruf;
andere sind noch unbekannt...«

Glinnes,  der  die  fünfzehn  Mann  um  sich  herum

musterte,  dachte  sich,  daß  diese  beiden  Kategorien
etwa im Verhältnis eins zu acht vertreten waren.

»...  aber  durch  Ausdauer,  Disziplin  und  vor  allen

Dingen«  –  hier  brauchte  Lord  Gensifer  das  Wort
Kercha'an:  Willenskonzentration,  die  zu  über-
menschlichen Kraftleistungen befähigt – »werden wir
unsere Gegner niedermähen! Wir werden jede Jung-
frau zwischen hier und Port Jaime zeigen lassen, was
an ihr dran ist! Wir werden die Prämien scheffelweise
einheimsen; wir werden alle reich und berühmt wer-
den, jeder einzelne von uns!

Zunächst  aber  stehen  uns  Mühe  und  Schweiß  des

Trainings  bevor.  Ich  habe  mich  eingehendst  mit  der
Theorie der Hussade befaßt; ich kenne Kalenschenko
Wort  für  Wort  auswendig.  Alle  Fachleute  sind  sich
darin  einig:  überwinde  die  stärkste  Stelle  des  Geg-
ners, und du hast den Goldring in den Fingern. Das
heißt, daß wir besser springen und besser schwingen
müssen  als  die  besten  Stürmer  des  Landes,  daß  wir

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die  gefährlichsten  Wächter  von  Jolany  eintunken
müssen, daß wir die gewitztesten Spielstrategen von
Trullion austricksen müssen!

Aber nun an die Arbeit. Ich möchte, daß die Stür-

mer  sich  über  das  ganze  Feld  vorarbeiten,  abwech-
selnd springend und schwingend, und an jeder Kreu-
zung drei Padding-Übungen

16

  machen.  Ihr  müßt  zu

einem  einheitlichen  Rhythmus  finden,  ihr  Stürmer!
Die Springer werden die üblichen Trainingsmanöver
ausführen, und die Wächter ebenso. Wir müssen die
Grundlagen meistern! Wir sollten darauf hinarbeiten,
daß wir statt zwei Springern und vier Wächtern sechs
behende, starke Springer im Hinterfeld haben, die je-
derzeit imstande sind, den Pflug vorwärtszutreiben.«
Lord  Gensifer  spielte  auf  die  Taktik  einer  starken
Mannschaft  an,  das  gegnerische  Team  von  hinten
aufzurollen.  »Ans  Werk!  Der  Gedanke  an  den  Sieg
wird unsere Arbeit beflügeln!«

So begann das Training, und Lord Gensifer rannte

herum,  lobte,  kritisierte,  tadelte  und  feuerte  seine
Mannschaft mit schrillen Ki-yik-yik-yik-Rufen an.

Zwanzig Minuten später war sich Glinnes über die

Qualität  der  Mannschaft  im  klaren.  Linksaußen
Lucho und der rechte Springer Wilmer Guff hatten zu
jenem  hypothetischen  Team  gehört,  mit  dem  Lord
Gensifer  Glinnes  zu  ködern  versucht  hatte,  und  wa-
ren  beide  ausgezeichnete  Spieler  –  gewandt,  sicher,
angriffslustig. Der linke Springer Iskelatz schien auch
ganz brauchbar zu sein, nur war er etwas mürrisch, ja
eigensinnig  veranlagt  und  hatte  offensichtlich  etwas
dagegen, sich beim Training zu verausgaben. Iskelatz

                                                  

16

 

Siehe Glossar

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zog es vor, seine Kräfte für das richtige Spiel aufzu-
sparen,  eine  Eigenschaft,  die  Lord  Gensifer  augen-
blicklich auf die Palme brachte.

Der  linke  Mittelstürmer  Savat  und  der  Rechtsau-

ßenstürmer Helsing waren jung, wachsam und eifrig,
wenn  auch  ziemlich  unerfahren,  und  bei  den  Pad-
Übungen  brachte  Glinnes  sie  immer  wieder  durch
Finten  aus  dem  Gleichgewicht.  Die  Wächter  Ramos,
Pylan und Sinforetta waren – der Reihe nach – lang-
sam, begriffsstutzig und übergewichtig. Nur der linke
Mittelwächter,  ›Pflock‹  Gandolf,  wies  die  für  einen
brauchbaren  Spieler  erforderlichen  Kombinationen
von Masse, Kraft, Schlauheit und Wendigkeit auf. Ei-
ne Redensart der Hussade besagt, daß ein schlechter
Stürmer  einen  schlechten  Wächter  überwältigen
könnte,  daß  ein  guter  Wächter  aber  einen  guten
Stürmer  mit  Sicherheit  aufhielt.  Eine  Mannschaft
lebte durch ihre Stürmer und starb durch ihre Wäch-
ter,  behauptet  ein  weiteres  Sprichwort.  Glinnes  sah
eine  Reihe  von  endlosen  Trainingsnachmittagen  vor
sich, falls Lord Gensifer nicht eine stärkere Besetzung
für das Hinterfeld fand.

In  ihrer  augenblicklichen  Zusammensetzung

brachten  die  Gorgonen  also  ein  recht  gutes  Vorder-
feld,  ein  brauchbares  Mittelfeld  und  ein  schwaches
Hinterfeld  ins  Spiel.  Lord  Gensifers  Fähigkeiten  als
Kapitän  waren  schwer  zu  beurteilen.  Der  ideale  Ka-
pitän mußte wie der ideale Springer überall im Feld
wirkungsvoll spielen können, obwohl einige Kapitä-
ne  –  wie  der  alte  Neronavy  von  den  Tanchinaros  –
sich niemals aus dem Schutz ihrer Hange wagten.

In bezug auf Lord Gensifer behielt sich Glinnes sein

Urteil noch vor. Er schien zwar schnell und stark ge-

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nug zu sein, war allerdings etwas übergewichtig und
beim Schwingen nicht gerade behende.

Lord Gensifer stieß eines seiner Ki-yik-yik-yiks  aus.

»He, ihr Stürmer! Ein bißchen mehr Eifer, nehmt die
Beine  unter  die  Arme!  Seid  ihr  vollgefressene  Bären
oder  was?  Glinnes,  mußt  du  Savat  mit  dem  Pad  so
zärtlich  streicheln?  Wenn  er  dich  nicht  blockieren
kann,  dann  laß  es  ihn  spüren!  Und  die  Wächter  –
stellt euch doch richtig hin! Die Knie etwas gebeugt,
wie  ein  Raubtier  vor  dem  Sprung!  Denkt  daran,  je-
desmal,  wenn  einer  unseren  Goldring  in  die  Finger
kriegt, kostet es uns Geld... Schon besser... Wir wollen
nun  ein  paar  Varianten  durchspielen.  Zuerst  die
›Mittelramme‹ aus dem Lantoun-System...«

Die  Mannschaft  trainierte  zwei  Stunden  lang  mit

etlichem Eifer, dann zog man sich in den Magischen
Fisch  zum  Mittagessen  zurück.  Nachmittags  führte
Lord  Gensifer  eine  Reihe  von  Varianten  vor,  die  er
selbst  erdacht  hatte,  Abwandlungen  der  komplizier-
ten Diagonal-Manöver. »Wenn wir diese Formationen
meistern,  können  wir  Außenstürmer  und  Springer
des  Gegners  gleichzeitig  bedrängen;  wenn  sie  dann
nach innen ausweichen, können wir entweder rechts
oder links über einen Außenzug vorstoßen.«

»Gut  und  schön«,  sagte  Lucho,  »aber  sehen  Sie

nicht,  daß  dabei  unsere  eigenen  Flanken  ungedeckt
sind, so daß wir bei einem Gegenstoß über unsere ei-
genen Außenzüge nichts unternehmen könnten?«

Lord  Gensifer  runzelte  die  Stirn.  »In  diesem  Fall

müßten die Springer eben nach außen schwingen. Es
kommt nur auf das gute Zusammenspiel an.«

Die Mannschaft spielte ziemlich träge Lord Gensi-

fers  Formation  durch,  denn  mittlerweile  war  die

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wärmste Zeit des Tages angebrochen, und alle waren
nach  den  Anstrengungen  des  Vormittags  ziemlich
müde. Schließlich mußte Lord Gensifer teils entrüstet,
teils  bedauernd  die  Mannschaft  entlassen.  »Morgen
um dieselbe Zeit; aber macht euch auf einiges Schwit-
zen  gefaßt.  Das  heute  war  ja  eine  Erholung.  Es  gibt
nur eine brauchbare Methode, eine Mannschaft hoch-
zubringen, und das ist, sie zu drillen!«

Drei  Wochen  lang  trainierten  die  Gorgonen  –  mit

den unterschiedlichsten Ergebnissen. Manche Spieler
begannen sich zu langweilen, andere wieder knurrten
und  beschwerten  sich  über  die  Schinderei  die  Lord
Gensifer  ihnen  zumutete.  Glinnes  beurteilte  Lord
Gensifers  Repertoire  an  Spielvarianten  als  viel  zu
kompliziert und riskant; er fand, daß das Hinterfeld
viel zu schwach war, um eine wirkungsvolle Attacke
zu  erlauben.  Die  Springer  waren  gezwungen,  die
Wächter zu schützen, was wiederum den Aktionsra-
dius  der  Stürmer  einschränkte.  Das  zermürbende
Training forderte einen Tribut. Der linke Springer Is-
kelatz, der zwar tüchtig war, aber für Lord Gensifers
Geschmack zu wenig Einsatzeifer zeigte, trat aus der
Mannschaft aus, ebenso Rechtsaußenstürmer Helsing,
in  dem  Glinnes  die  Grundlagen  für  einen  ausge-
zeichneten  Spieler  erkannt  hatte.  Die  Ersatzmänner
waren  beide  schwächere  Spieler.  Lord  Gensifer  ent-
ließ Pylan und Sinforetta, die beiden trägsten Wäch-
ter,  und  warb  ein  nur  unmerklich  besseres  Paar  an;
beide,  so  erfuhr  Glinnes  von  Carbo  Gilweg,  hatten
sich  erfolglos  um  Aufnahme  bei  den  Saurkash-
Tanchinaros beworben.

Lord  Gensifer  lud  schließlich  die  Mannschaft  in

seinen  Herrensitz  ein  und  stellte  die  Sheirl  der  Gor-

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gonen  vor,  Zuranie  Delcargo  aus  dem  Dorf  Stinken-
brunn, das diesen Namen wegen der in der Nähe ge-
legenen heißen Schwefelquellen erhalten hatte. Zura-
nie war eine ziemlich blutarme Schönheit, recht ma-
ger und so schüchtern, daß sie kaum den Mund auf-
tat. Glinnes wunderte sich ein wenig – was konnte ein
Mädchen dieses Wesens dazu bewegen, eine öffentli-
che  Entblößung  zu  riskieren?  Wann  immer  man  sie
ansprach,  warf  sie  den  Kopf  zurück,  so  daß  ihr  das
lange,  blaßblonde  Haar  übers  Gesicht  fiel,  und  sie
sprach  den  ganzen  Abend  über  nicht  mehr  als  drei
Worte.  Sie  hatte  nicht  die  Spur  von  Saschei,  jenem
feurigen,

 

kämpferischen

 

Elan,

 

der

 

eine

 

Mannschaft

 

be-

fähigt,

 

weit

 

mehr

 

zu

 

leisten,

 

als sie theoretisch fähig ist.

Lord Gensifer benutzte die Gelegenheit dazu, den

kommenden  Spielplan  zu  verkünden.  Das  erste
Match würde in zwei Wochen im Stadion von Saur-
kash gegen die Seeraben von Voulash stattfinden.

Einige  Tage  darauf  erschien  Zuranie  auf  dem

Spielplatz, um beim Training zuzusehen. Es hatte in
der  Früh  geregnet,  und  ein  scharfer  Wind  blies  von
Süden.  Die  Spieler  waren  verdrossen  und  unwillig.
Lord  Gensifer  sauste  wie  ein  großes,  eifriges  Insekt
auf  dem  Spielfeld  herum,  schimpfte,  beschwor  und
schrie immer wieder »Ki-yik-yik-yik!«,  aber  seine  An-
strengungen fruchteten nicht viel. Zuranie, die an der
Hütte  des  Pumpenwärters  vor  dem  Wind  Zuflucht
gesucht  hatte,  beobachtete  bedrückt  und  voll  böser
Ahnungen  die  trägen  Manöver  der  Spieler.  Endlich
winkte  sie  schüchtern  zu  Lord  Gensifer  hinüber.  Er
kam herangetrabt. »Ja, Sheirl?«

»Nennen  Sie  mich  nicht  Sheirl«,  sagte  Zuranie

schmollend.  »Ich  weiß  wirklich  nicht,  warum  ich

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mich  auf  so  was  eingelassen  habe.  Wirklich,  ich
könnte nicht da oben stehen und mich von den vielen
Leuten  anstarren  lassen.  Ich  glaube,  ich  würde  ganz
bestimmt sterben. Bitte, Lord Gensifer, seien Sie nicht
böse, aber ich kann einfach nicht.«

Lord Gensifer sandte einen verzweifelten Blick zu

den tiefhängenden grauen Wolkenfetzen empor.

»Meine  liebe  Zuranie!  Natürlich  wirst  du  bei  uns

sein,  wenn  wir  gegen  die  Seeraben  von  Voulash
spielen! In nur zwei Tagen wirst du berühmt sein!«

Zuranie rang hilflos die Hände. »Ich will aber gar

nicht eine berühmte Sheirl werden; ich will nicht, daß
man mir das Kleid herunterreißt...«

»Das geschieht doch nur mit der Sheirl der Verlie-

rer«,  erklärte  Lord  Gensifer  geduldig.  »Du  glaubst
doch  nicht,  daß  die  Seeraben  uns  schlagen  können,
wo wir Tyran Lucho und Glinnes Hulden und mich
und  ›Pflock‹  Candolf  in  der  Mannschaft  haben?  Wir
werden sie niederwalzen wie Schilfhalme; sie werden
sie so oft eintunken, daß sie Kiemen kriegen!«

Zuranie  war  nur  teilweise  beruhigt.  Sie  gab  einen

trübseligen  Seufzer  von  sich  und  sagte  nichts  mehr.
Lord  Gensifer,  dem  endlich  klar  wurde,  daß  eine
Fortsetzung des Trainings heute wenig Zweck hatte,
rief das Team ab. »Morgen um dieselbe Zeit«, befahl
er.  »Wir  müssen  noch  mehr  Schwung  in  unsere
Quermanöver  bringen,  vor  allem  im  Hinterfeld.  Ihr
Wächter müßt euch von der Stelle rühren! Wir spielen
Hussade  –  das  ist  keine  Stehparty!  Morgen  beim
vierten Gongschlag.«

Die  Seeraben  von  Voulash  waren  eine  junge,  noch
ziemlich unbekannte Mannschaft; die Spieler wirkten

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wie Schulbuben. Der Kapitän der Raben war Denzel
Warhound,  ein  sehniger,  krausköpfiger  Bursche  mit
den  weisen,  schlauen  Augen  eines  Fauns.  Die  Sheirl
war ein kurvenreiches, rundgesichtiges Mädchen mit
einem  wilden  Schopf  dunkler  Locken;  beim  Einzug
und der üblichen Platzrunde vor dem Spiel bewies sie
Feuer  und  Begeisterung,  marschierte  stolz  mit  den
Spielern  mit,  die  sichtlich  nervös  waren.  Verglichen
mit  ihnen  wirkten  die  Gorgonen  behäbig  und  ge-
langweilt, und die Sheirl Zuranie, ein zartes, blasses
Pflänzchen, war auch keine Augenweide. Ihre Mutlo-
sigkeit  und  kaum  verhehlte  Verzweiflung  brachten
Lord Gensifer ziemlich in Harnisch, aber er wagte es
ihr nicht zu zeigen, um sie nicht völlig zu demorali-
sieren.  »Tapferes  Mädchen,  wird  schon  gut  gehen!«
murmelte er, als müsse er ein krankes Tier beruhigen.
»Es wird schon nicht so schlimm, wirst sehen!« Aber
Zuranies Ängste waren nicht so leicht zu beschwich-
tigen.

Die  Gorgonen  trugen  heute  zum  ersten  Mal  ihren

gelbschwarzen  Dreß.  Die  Helme  waren  besonders
aufsehenerregend:  aus  einem  blaßlila  Metalloid  ge-
fertigt,  mit  schwarzen  Blattlanzetten  am  Wangen-
schutz  und  einem  schwarzen  Zackenkamm  entlang
des  Scheitels.  Die  Augenlöcher  erweckten  den  Ein-
druck großer, glotzender Augen, die Nase ging in ein
schwarzes  Plüschmaul  über,  aus  dem  eine  schmale
rote  Zunge  hing.  Ein  Teil  der  Mannschaft  fand  das
Kostüm  prächtig;  einige  hatten  Einwände  gegen  die
baumelnden  Zungen;  den  meisten  war  es  egal.  Die
Seeraben  trugen  einen  braunen  Dreß  mit  orangefar-
benen  Helmen,  die  lediglich  mit  einem  grünen  Fe-
derbusch  geschmückt  waren.  Als  er  die  tempera-

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mentvollen Seeraben mit den prächtig ausstaffierten,
aber stumpfen Gorgonen verglich, fühlte sich Glinnes
genötigt,  Lord  Gensifer  ein  paar  taktische  Hinweise
zu geben.

»Schauen Sie sich die Seeraben gut an – sie sind wie

Keval-Fohlen,  voll  Übermut  und  Kraft.  Ich  habe
schon solche Mannschaften gesehen, und wir können
von  ihnen  ein  aggressives,  ja  wagemutiges  Spiel  er-
warten. Unsere Aufgabe ist es, sie soweit zu bringen,
daß sie sich selber schlagen. Wir locken am besten ih-
re  Stürmer  durch  Bluffs  zu  weit  vor,  damit  unsere
Wächter und Springer sie in die Zange nehmen kön-
nen.  Wenn  wir  unsere  Überlegenheit  richtig  einset-
zen, haben wir eine Chance, sie zu besiegen.«

Lord  Gensifer  hob  unmutig  die  Brauen.  »Eine

Chance, sie zu besiegen? Was für ein Unsinn ist das?
Wir werden sie den Platz hinauf- und hinunterscheu-
chen  wie  Hunde,  die  Hühner  jagen!  Wir  sollten  uns
gar  nicht  mit  einer  solchen  Mannschaft  einlassen,
aber die Übung tut uns gut.«

»Trotzdem  rate  ich  zu  einem  vorsichtigen  Spiel.

Sollen sie doch die Fehler machen – sonst schlagen sie
nämlich Kapital aus unseren.«

»Ach was, Glinnes; ich glaube allmählich, Sie sind

über Ihre beste Zeit hinaus.«

»Das stimmt insoweit, als ich nicht mehr zum Spaß

spiele. Ich will Geld verdienen – zehntausend Ozols,
um es genau zu sagen, und ich will gewinnen.«

»Was denken Sie denn – daß Sie allein in dieser La-

ge sind?« erkundigte sich Lord Gensifer mit vor Zorn
heiserer  Stimme.  »Wie,  glauben  Sie,  habe  ich  die
Prämienkasse  finanziert?  Die  Anzüge  gekauft?  Die
Auslagen  der  Spieler  bestritten?  Ich  habe  mich  in

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unmäßige Schulden gestürzt!«

»Nun gut«, sagte Glinnes. »Sie brauchen Geld; ich

brauche Geld. Also wollen wir zusehen, daß wir ge-
winnen  –  durch  die  Strategie,  die  uns  am  besten
liegt.«

»Wir gewinnen, keine Sorge!« erklärte Lord Gensi-

fer,  nun  wieder  munter  und  leutselig.  »Halten  Sie
mich  für  einen  Anfänger?  Ich  kenne  das  Spiel  von
hinten  nach  vorne  und  wieder  zurück.  Aber  Schluß
jetzt  mit  der  Schwarzmalerei;  Sie  sind  ja  schlimmer
als  Zuranie.  Sehen  Sie  nur  das  Publikum  –  minde-
stens zehntausend Leute. Das bringt uns zusätzliche
Ozols!«

*

Glinnes  nickte  düster.  »Wenn  wir  gewinnen.«  Er

bemerkte  einen  Mann,  der  allein  in  einer  Loge  der
untersten  Reihe  der  Vorzugstribüne  saß:  Lute  Casa-
gave,  mit  Fernglas  und  Kamera.  Diese  Ausrüstung
war  nicht  ungewöhnlich;  viele  Liebhaber  des  Spiels
zeichneten die Entblößung der Sheirl in Bild und Ton
auf.  Es  gab  bemerkenswerte  Sammlungen  solcher
Filme. Trotzdem erstaunte es Glinnes etwas, daß Lute
Casagave sich so lebhaft für Hussade interessierte. Er
war ihm nicht als der Typ für frivolen Kampfsport er-
schienen.

Nun trat der Schiedsrichter ans Mikrofon; die Mu-

sik  verstummte,  und  Schweigen  breitete  sich  in  der
Menge aus. »Sportsfreunde von Saurkash und Jolany!
Sie sehen heute ein Match zwischen den kampfesmu-
tigen  Seeraben  von  Voulash  mit  ihrer  Sheirl  Barola

                                                  

*

 

Die  Hälfte  der  Einnahmen  aus  dem  Kartenverkauf  wurde  übli-
cherweise  zwischen  den  beiden  Mannschaften  aufgeteilt,  und
zwar im Verhältnis drei Teile für den Sieger, ein Teil für den Ver-
lierer.

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Felice  und  den  unbezähmbaren  Gorgonen  von
Thammas Lord Gensifer mit der lieblichen Sheirl Zu-
ranie Delcargo! Die Mannschaften werden sich mit all
ihrem Mut und Können sowie einem Lösegeld von je
fünfzehnhundert Ozols für die unverletzliche Würde
ihrer Sheirl einsetzen. Mögen die Sieger sich aller Eh-
ren erfreuen, und die Verlierer stolz auf ihren Einsatz
und  die  Reinheit  ihrer  Sheirl  vom  Platz  gehen!  Die
Kapitäne mögen vortreten!«

Lord  Gensifer  und  Denzel  Warhound  kamen  her-

an. Eine Münze wurde aufgeworfen; die erste Aktiv-
phase fiel den Gorgonen zu; ein grünes Licht würde
anzeigen, wenn die Gorgonen ›frei‹ waren, während
ein rotes Licht für die Seeraben galt.

»Strafen  werden  ohne  Nachsicht  verhängt«,  er-

klärte der Schiedsrichter. »Es darf weder Treten noch
Ziehen  geben,  und  keinerlei  mündliche  Verständi-
gung zwischen den Spielern, Festhalten an den Pads
des Gegners werde ich nicht dulden. Ein Schlag muß
sauber ausgeführt werden.

In der Passivphase darf keine Mannschaft störende

Geräusche  verursachen.  Ich  habe  genügend  Erfah-
rung mit solchen Tricks, und die Beobachter ebenso.
Wir  werden  wachsam  sein.  Ein  Spieler  im  Foul-
Becken  muß  die  Hand  seines  Retters  drücken;  ein
flüchtiges  Winken  oder  ähnliche  Gesten  sind  nicht
ausreichend.  Hat  noch  jemand  Fragen?  Also  meine
Herren  –  lassen  Sie  Ihre  Mannschaft  Aufstellung
nehmen! Möge die Schönheit eurer Sheirls euer Spiel
anfeuern. Das grüne Licht für die Gorgonen, das rote
für die Seeraben!«

Die  Spieler  nahmen  Aufstellung;  die  Trevanyi-

Musiker  spielten  die  traditionelle  Melodie,  als  die

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beiden Kapitäne die Sheirls auf ihr Podest geleiteten.

Die Musik brach ab. Die Kapitäne gingen zu ihren

Hangen,  und  nun  trat  jener  elektrisierende  Augen-
blick  vor  dem  ersten  Aufblitzen  der  Lichter  ein.  Die
Zuschauer waren stumm, die Spieler angespannt; die
Sheirls standen erwartungsvoll und aufgeregt auf ih-
ren  Podesten,  und  jede  wünschte  sich  aus  tiefstem
Herzen,  daß  dieses  gräßliche  Mädchen  am  anderen
Ende  des  Feldes  jenes  sein  möge,  das  entblößt  und
gedemütigt wurde.

Der  Gong!  Die  Signallichter  flammten  grün  auf.

Zwanzig Sekunden lang durfte nun der Kapitän der
Gorgonen  Manöver  ausrufen  und  Anweisungen  ge-
ben,  während  die  Seeraben  stumm  spielen  mußten.
Lord Gensifer leitete die erste Phase der sogenannten
Strahlstrom-Attacke ein: eine Keilformation von Mit-
tel-  und  Außenstürmern,  die  in  der  Mitte  vorstieß;
während die Springer die Außenzüge deckten. Lord
Gensifer  hatte  offensichtlich  nicht  die  Absicht,  Glin-
nes Rat zu beherzigen. In sich hineinfluchend, rannte
Glinnes  vorwärts  und  setzte  über  den  Mittelgraben,
ohne  auf  Widerstand  zu  stoßen,  ebenso  der  linke
Mittelstürmer Savat. Die Seeraben-Stürmer waren alle
zur  Seite  ausgewichen  und  übersprangen  jetzt  den
Mittelgraben,  um  Sarkado,  den  linken  Springer  der
Gorgonen, anzugreifen. Glinnes stieß auf den linken
Springer der Seeraben – die beiden Spieler fintierten
mit  den  Pads,  stießen  und  schlugen  nacheinander;
plötzlich wich der Seeraben-Springer zurück. Glinnes
spürte instinktiv, wann er sich umdrehen mußte, um
den herüberschwingenden rechten Springer der Seer-
aben zu erwischen. Glinnes traf ihn am Genick, wäh-
rend der Mann noch um sein Gleichgewicht kämpfte,

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und  beförderte  ihn  in  das  Becken.  Der  Seerabe
klatschte  mit  einem  höchst  befriedigenden  Platscher
ins Wasser.

Noch ein Platschen: ein Wächter der Seeraben hatte

Chust, den Rechtsaußenstürmer, eingetunkt.

Lord  Gensifers  Stimme  schrillte  über  den  Platz:

»Ki-yik-yik-yik!  Dreizehn-dreißig!  Los,  Glinnes!
Lucho, paß auf den Springer auf! Yik-ki-yik!«

Das grüne Licht wechselte auf rot; nun rief Denzel

Warhound  Spielcodes  aus  und  brachte  seine  Hange
bis vor den Mittelgraben. Die Mittelstürmer sprangen
vor und stürzten sich zu zweit auf Glinnes; er stellte
sich und heizte ihnen so geschickt mit dem Pad ein,
daß  sie  sich  gegenseitig  behinderten.  Glinnes
schwang hinüber auf Zug 3, der bis zum Podest un-
geschützt  war,  aber  die  Wächter  begriffen  es  recht-
zeitig; einer rannte hinüber, um das Ende von Zug 3
zu decken. Die beiden Innenwächter schwangen sich
gleichzeitig  hinter  Glinnes.  Er  tunkte  einen  ein,  den
anderen erwischte Savat. Nun stürmten beide auf das
Podest der Seeraben zu – nur mehr zwei gegnerische
Wächter  standen  ihnen  im  Weg.  Das  Licht  wurde
grün; Lord Gensifer sah, daß ein Seerabenstürmer auf
dem  Podest  stand  und  Zuranies  Goldring  gepackt
hatte. Das Spiel wurde unterbrochen, und Lord Gen-
sifer  zahlte  Denzel  Warhound  mißmutig  die  Löse-
geldprämie.

Die  beiden  Mannschaften  kehrten  auf  ihre  Platz-

hälften  zurück.  Lord  Gensifer  brach  empört  los:
»Mehr Einsatz! Das ist es, was uns fehlt. Euch schla-
fen  ja  die  Füße  ein!  Diese  Burschen  sind  doch  keine
Gegner für uns; sie haben uns nur durch glücklichen
Zufall erwischt.«

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Glinnes hielt den Mund, obwohl ihm die alte Regel

sehr  gut  bekannt  war:  in  der  Hussade  gibt  es  keine
glücklichen  Zufälle.  Er  sagte  nur:  »Wir  sollten  sie
Brücke um Brücke über das Feld zurückdrängen. Wir
dürfen  sie  nicht  bis  zu  unseren  Wächtern  durchlas-
sen!« Die Seeraben hatten nämlich den schwerfälligen
Ramos geblufft und waren an ihm vorbei aufs Podest
gestürmt.

Lord  Gensifer  ignorierte  Glinnes.  »Nochmals  den

Strahlstrom, und dieses Mal bitte ich mir ordentliches
Spiel aus! Die Springer müssen die Außenwege dek-
ken.  Die  Außenstürmer  stoßen  dafür  im  Zentrum
hinter  den  Mittelstürmern  vor.  Wir  werden  uns  von
diesen Muttersöhnchen nicht noch einmal eintunken
lassen!«

Die  Mannschaften  nahmen  ihre  Plätze  ein,  der

Gong  ertönte,  und  das  grüne  Licht  signalisierte  die
Freiphase  für  die  Gorgonen.  »Dreizehn-dreißig,  ki-
yik!
«  schrie  Lord  Gensifer.  »Drauf  auf  sie!  Putzt  sie
weg! Der Goldring winkt!«

Wiederum  wichen  die  Seerabenstürmer  zur  Seite,

um Savat und Glinnes über den Mittelgraben zu las-
sen.  Diesmal  aber  schwangen  sie  hinter  Glinnes  zu-
rück und brachten ihn zu seiner tiefsten Erbitterung
aus  dem  Gleichgewicht.  Er  hätte  sich  trotzdem  wie-
der gefangen, wäre nicht noch ein Springer auf dem
Trapez herübergeschwungen und hätte ihn ins Was-
ser gestoßen.

Mehr als alles andere haßte es Glinnes, eingetunkt

zu  werden.  Es  war  eine  kalte,  nasse  Erfahrung,  die
seinen Stolz verletzte. Mißmutig watete er unter den
Brücken und Wegen nach hinten und zog sich tropf-
naß  die  Leiter  im  Heimtank  der  Gorgonen  hoch.  Er

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tauchte  gerade  zur  rechten  Zeit  auf,  um  einen  Seer-
aben-Außenstürmer  vom  Podest  abzudrücken.  Trie-
fend  und  zornig  deckte  Glinnes  den  Mann  mit  Stö-
ßen,  Schlägen  und  Finten  ein,  bis  er  Hals  über  Kopf
ins Becken purzelte.

Grünes Licht. »Vierzig-fünf-zwölf!« rief Lord Gen-

sifer.  Glinnes  stöhnte  –  Lord  Gensifers  allerkompli-
zierteste  Spielvariante,  die  Granate  oder  Doppeldia-
gonale. Es blieb keine Wahl, als das Manöver mitzu-
machen;  er  würde  jedenfalls  sein  Bestes  tun.  Die
Stürmer  sammelten  sich  am  Mittelgraben;  niemand
stellte  sich  ihnen  auf  dem  Zentralsteg  entgegen;  sie
rannten  hinüber  und  schwärmten  aus,  gefolgt  von
den  Springern.  Die  einzige  schwache  Hoffnung  auf
Erfolg hatten sie, dachte Glinnes, wenn sie die Sheirl
der  Seeraben  erreichten,  bevor  die  verblüfften  Seer-
aben  ihrerseits  bis  zu  der  Sheirl  Zuranie  vordringen
konnten.  Zwei  Seeraben-Wächter  schwenkten  zum
Ende  des  meistbedrohten  Zuges;  zwei  Springer
mußten  ins  Wasser,  ein  Seerabe  und  ein  Gorgone;
nun  schickte  Lord  Gensifer  auch  zwei  Wächter  über
den Graben, gerade als das Licht auf Rot wechselte.

Denzel  Warhound  hatte  sich  im  Schutz  seiner

Hange postiert und grinste zuversichtlich. Er rief sei-
ne  Spielcodes  aus.  Beide  Gorgonenwächter  wurden
gestellt und ins Wasser befördert. Glinnes, Savat und
die  Außenstürmer,  die  eine  Katastrophe  ahnten,  ha-
steten  zurück,  um  das  Podest  zu  schützen.  Glinnes
erreichte die Heimzone gerade rechtzeitig, um einen
Seerabenstürmer  vom  Podest  wegzutreiben  und  in
den  Heimtank  zu  befördern.  Lucho  tunkte  einen
zweiten ein, aber jetzt stürmte fast die gesamte Seer-
abenmannschaft  die  Heimzone  der  Gorgonen.  Die

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beiden  eingetunkten  Wächter  stiegen  naß  und  wü-
tend heraus; beflügelt von ihrer Wut und dank ihres
überlegenen Gewichts gelang es ihnen, die Seeraben
zurückzutreiben.

Grünes  Licht.  Lord  Gensifer  rief:  »Vierzig-fünf-

zwölf;  jetzt  haben  wir  sie,  Jungs!  Der  Weg  ist  frei!
Angriff!«

Glinnes, zornig, daß schon wieder diese verrückte

Variante  aufgerufen  wurde,  löste  sich  aus  dem  Ge-
tümmel und bewegte sich mit den anderen Stürmern
entsprechend  Lord  Gensifers  Anweisung  vorwärts.
Die  leichten,  aber  wendigen  Wächter  der  Seeraben
verließen  ihre  Posten  und  flankierten  sie...  Ein
Gongsignal. Durch irgendein Wunder von Behendig-
keit und Schlauheit (wahrscheinlicher aber durch ir-
gend jemandes krasse Unfähigkeit, fand Glinnes) war
es

 

einem

 

der

 

Seeraben-Springer

 

gelungen,

 

bis

 

zum

 

Po-

dest

 

vorzustoßen und Zuranies Goldring zu ergreifen.

Mit  zitternden  Händen  zahlte  Lord  Gensifer  neu-

erdings Lösegeld. Bei der folgenden Besprechung war
seine Stimme heiser vor Entrüstung.

»Ihr Männer setzt euch nicht richtig ein! Wir kön-

nen ja nicht siegen, wenn alle wie die Schlafwandler
herumstolpern!  Wir  müssen  diesen  Burschen  unser
Spiel aufzwingen! Schaut sie euch doch an, das sind
ja kaum mehr als kleine Jungens! Diesmal müssen wir
es  schaffen.  Wieder  die  Doppeldiagonale,  und  daß
mir jeder tut, was seine Aufgabe ist!«

Gong, grünes Licht, Lord Gensifers Schlachtruf »Ki-

yik«  –  und  die  Gorgonen  formierten  sich  zu  Lord
Gensifers Doppeldiagonale.

Ein doppelter Gongschlag zeigte ein Foul an. Lord

Gensifer  selber  hatte  das  Pad  eines  Seeraben-

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Springers  gepackt  und  wurde  in  das  Foul-Becken  in
der Heimregion der Seeraben verbannt, wo er gries-
grämig  und  zornschnaubend  ausharren  mußte,  bis
ihn jemand rettete. Glinnes als rechter Mittelstürmer
wurde amtierender Kapitän.

Der  Gong  ertönte,  und  das  Licht  war  noch  immer

grün.  Glinnes  brauchte  gar  nicht  erst  eine  Variante
aufzurufen.  Er  winkte  nach  rechts  und  links;  die
Stürmer  drangen  bis  zum  Graben  vor.  Das  Licht
wurde  rot.  Die  Seeraben,  aufgemuntert  durch  ihren
Zwei-Ring-Vorsprung,  fintierten  erst  links  und
schickten  dann  auf  dem  rechten  Außenzug  zwei
Stürmer vor, und ein Springer kam bis über den Mit-
telgraben. Der Springer und einer der Stürmer muß-
ten  ins  Wasser,  der  zweite  Stürmer  zog  sich  zurück,
und  Denzel  Warhound  blies  die  Attacke  ab,  bis  die
eingetunkten  Spieler  wieder  einsatzfähig  waren.
Grünes  Licht.  Lord  Gensifer,  noch  immer  im  Foul-
Becken, bat wild gestikulierend um Rettung; Glinnes
schaute  geflissentlich  woanders  hin.  Er  schickte  die
Springer  auf  die  Außenzüge  und  rief  die  beiden  In-
nenwächter  vor.  Rotes  Licht.  Die  Seeraben  drangen
massiert  auf  der  linken  Seite  vor,  machten  aber  am
Graben  halt.  Denzel  Warhound  war  gewitzt  und
wartete  lieber  ab,  bis  er  die  Gorgonen  in  einem
schwachen Augenblick überrumpeln konnte.

Grünes  Licht.  Glinnes  schickte  die  Gorgonen-

Stürmer  über  den  Graben  vor  und  ließ  die  Innen-
wächter  bis  an  den  Zentralsteg  vorrücken:  langsam
wurde  das  schnellere,  aber  leichtere  Team  unter
Druck  gesetzt.  Die  zwei  Gorgonen-Außenstürmer
wurden  eingetunkt  ebenso  die  zwei  Mittelstürmer
der  Seeraben.  Die  Gorgonen  hatten  nun  eine  stabile

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Front  auf  der  Platzhälfte  der  Seeraben  zustandege-
bracht,  und  immer  noch  winkte  Lord  Gensifer  wü-
tend  und  vergeblich  um  Rettung.  Langsam  drangen
die Gorgonen die Züge entlang weiter vor, wobei ih-
nen  ihre  Erfahrung  und  ihr  größeres  Gewicht  sehr
zustatten kam. Die Seeraben wurden zusehends in ih-
re Heimzone zurückgedrängt. Drei von ihnen mußten
ins Wasser, einer nach dem anderen, dann noch zwei.
Dann ertönte der Gong.

Tyran  Lucho  hatte  das  Podest  erreicht  und  hielt

den Goldring in der Hand. Ergrimmt und mißmutig
kletterte  Lord  Gensifer  aus  dem  Foul-Becken  und
nahm  von  dem  Kapitän  der  Seeraben  das  Lösegeld
entgegen.

Die  Spieler  gingen  wieder  in  Ausgangsposition.

Lord  Gensifer,  den  der  lange  Aufenthalt  im  Foul-
Becken  in  höchst  üble  Laune  versetzt  hatte,  tadelte:
»Viel  zu  unvorsichtig,  diese  Taktik!  Wenn  ein  Team
zwei Ringe im Rückstand ist, dürfen die Wächter nie
so weit über den Graben vordringen – das ist eine der
Grundregeln von Kalenschenko!«

»Wir  haben  ihren  Ring  erwischt«,  wandte  Lucho

ein, der freimütigste Spieler der Mannschaft. »Das ist
doch wohl das Wichtigste.«

»Nichtsdestotrotz«,  sagte  Lord  Gensifer  eisig,

»werden wir uns weiterhin an eine solide Taktik hal-
ten.  Die  anderen  haben  das  Freilicht.  Wir  werden
Fintenmanöver Nummer 4 verwenden.«

Lucho war nicht so leicht zum Schweigen zu brin-

gen.  »Wir  sollten  einfach  alle  am  Graben  aufmar-
schieren. Wir brauchen keine Fallen und Finten oder
irgendeine  komplizierte  Taktik  –  nur  das  einfache
Grundspiel!«

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»Dies ist ein Hussade-Match«, erklärte Lord Gensi-

fer,  »und  keine  Wirtshausrauferei.  Wir  werden  sie
durch  unsere  Taktik  völlig  durcheinanderbringen,
wartet nur!«

Die  Seeraben  stürmten  mit  unbekümmertem  Elan

gegen  den  Graben  vor.  Denzel  Warhound  beabsich-
tigte  anscheinend,  ein  Manöver  wie  im  vorigen
Spielabschnitt  zu  vereiteln.  Rechts  und  links  spran-
gen  Seeraben  über  den  Graben,  während  Denzel
Warhound  seine  Hange  auf  dem  Mittelsteg  auf-
pflanzte, von wo er nur durch Lord Gensifer vertrie-
ben  werden  konnte.  Rechtsaußenstürmer  Cherst
tunkte  den  Springer  der  Seeraben  ein  und  wurde
gleich  darauf  selbst  ins  Wasser  befördert;  Glinnes
mußte nun hinüber, den rechten Außenzug decken.

Grünes  Licht.  »Vierzig-fünf-zwölf!«  schrie  Lord

Gensifer  schon  wieder.  »Diesmal  klappt's,  Männer!
Zeigt ihnen, was wir wert sind!«

»Ich glaube, wir werden ihnen gleich was anderes

zeigen«, bemerkte Glinnes zu Wilmer Guff. »Zuranie
nämlich.«

»Er ist Kapitän.«
»Leider – also los!«
Denzel  Warhound  hatte  vermutlich  genau  diese

Variante erwartet. Seine Stürmer machten kehrt und
stellten Glinnes, der wieder von einem heranschwin-
genden Springer eingetunkt wurde. Lucho erging es
auf der anderen Seite nicht besser. Die beiden wate-
ten so schnell wie möglich zur Leiter zurück, nur um
beim Heraussteigen die Trevanyi-Kapelle die Ode an
die triumphierende Schönheit anstimmen zu hören.

»Jetzt haben wir's«, sagte Glinnes.
Sie kletterten heraus und sahen Denzel Warhound

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auf  ihrem  Podest,  die  Hand  am  Goldring.  Zuranie
blickte  verdattert  gen  Himmel.  »Wo  ist  euer  Geld?
Fünfhundert  Ozols  retten  eure  Sheirl;  fünfhundert
Ozols für ihren Stolz – ist das so viel?«

»Ich  würde  ja  zahlen«,  sagte  Glinnes  zu  Wilmer

Guff,  »nur  wäre  es  hinausgeworfenes  Geld.  Lord
Gensifer würde uns nur weiter mit seiner Doppeldia-
gonale traktieren; bis wir ersaufen.«

Die  Musik  wurde  lauter,  stürmischer,  untermalt

von einem gemessenen, ernsten Rhythmus, der einem
ein  Frösteln  über  den  Rücken  jagte  und  den  Mund
trocken  werden  ließ.  Ein  leises  Stöhnen  erregter  Er-
wartung  kam  von  der  Menge.  Zuranies  Gesicht  war
zu  einer  weißen  Maske  erstarrt  –  es  war  unmöglich,
ihre Gefühle zu erraten. Die Musik brach ab. Ein tie-
fer Gong ertönte – ein, zwei, drei Schläge, dann zog
der  siegreiche  Kapitän  am  Ring.  Zuranies  Gewand
flatterte zu Boden; splitternackt und zitternd stand sie
auf dem Podest.

Auf der anderen Seite des Spielfeldes vollführte die

Sheirl Barola Felice aus dem Stegreif einen Freuden-
tanz und sprang hinunter in die Arme der Seeraben,
die nun den Platz verließen.

Lord  Gensifer  holte  schweigend  einen  schwarzen

Samtmantel,  um  Zuranies  Blöße  zu  bedecken;  die
Gorgonen gingen dann ebenfalls vom Feld.

In den Umkleidekabinen brach Lord Gensifer kühn

das eisige Schweigen.

»Also Männer, wir hatten heute keinen guten Tag –

das  ist  klar.  Die  Seeraben  sind  eine  viel  bessere
Mannschaft,  als  man  vermuten  würde;  sie  waren
doch  ein  bißchen  zu  flink  für  uns.  Aber  nun  wollen
wir alle hinaus auf meinen Landsitz – eine Siegesfeier

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wird  es  nicht  werden,  aber  es  erwartet  uns  wenig-
stens ein recht passabler Sokal-Wein...«

Auf  dem  Landsitz  derer  von  Gensifer  gewann  der
Lord  seine  gewohnt  leutselige  Stimmung  zurück.  Er
mischte sich heiter unter diejenigen seiner aristokrati-
schen  Freunde,  die  ins  Saurkash-Stadion  gekommen
waren, um ihm bei seiner neuesten Laune zuzusehen.
Rund  um  die  reichhaltigen  Buffettische,  im  funkeln-
den  Licht  der  antiken  Kronleuchter,  neben  der
prachtvollen  Sammlung  alter  Wimpel  vom  Rol-
Sternensystem  wurde  geplaudert,  gelästert,  ge-
klatscht.

»Hätte dir nie eine solche Behendigkeit zugetraut,

Thammas,  bis  ich  dich  im  Sturm  auf  diese  üppige
Seeraben-Sheirl sah!«

»Haha!  Ja,  wenn  es  um  die  Damen  geht,  bin  ich

nicht der langsamste!«

»Wir  wußten  ja  schon  lange,  daß  unser  Thammas

ein großer Sportsmann ist, aber warum nur haben die
Gorgonen ihren einzigen Ring gewonnen, während er
im Strafbecken saß?«

»Habe  mich  nur  ein  wenig  ausgeruht,  mein  lieber

Jonas. Warum sich abhetzen, wenn man im schönen
kühlen Wasser rasten kann?«

»Eine gute Mannschaft, Thammas, wirklich gut. Ih-

re Burschen gereichen Ihnen zur Ehre. Halten Sie sie
nur ordentlich in Form.«

»Oh, das tue ich gewiß, mein Lieber. Keine Sorge.«
Die Gorgonen selbst standen etwas unbeholfen da-

neben oder balancierten auf den filigranen Jadeholz-
stühlen und nippten an Weinen, die sie noch nie zu-
vor  gekostet  hatten.  Wenn  Lord  Gensifers  Freunde

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Fragen  an  sie  richteten,  gaben  sie  recht  einsilbige
Antworten.  Lord  Gensifer  kam  schließlich  zu  ihnen
und  unterhielt  sich  mit  den  Männern;  seine  Laune
hatte  sich  mittlerweile  erheblich  gebessert.  »Nun  ja,
Vorwürfe  haben  wohl  keinen  Sinn.  Ich  möchte  nur
das eine sagen: ich sehe die Möglichkeit zur Verbes-
serung, und bei den Sternen« – Lord Gensifer reckte
die  Arme  zur  Decke  wie  ein  zorniger  Zeus  –  »wir
werden  eine  Verbesserung  erreichen.  Von  den  Stür-
mern  erwarte  ich  in  Zukunft  mehr  Elan,  mehr  Ein-
satzwillen.  Von  den  Springern  entschlossenes  Pad-
ding, schnellere Reaktion! Hattet ihr heute müde Fü-
ße,  Springer?  Es  kam  einem  jedenfalls  so  vor.  Die
Wächter müssen zuverlässiger, ehrgeiziger, aggressi-
ver  werden.  Wenn  der  Gegner  auf  unsere  Wächter
stößt,  sollte  er  sich  nur  mehr  nach  seiner  Mutti  zu
Hause  sehnen.  Klar?  Noch  irgendwelche  Bemerkun-
gen?«

Glinnes  wandte  den  Blick  ab,  starrte  in  die  Luft

und  nahm  nachdenklich  einen  Schluck  von  dem
blaßgrünen Sokal-Wein in seinem Glas.

Lord  Gensifer  fuhr  fort:  »Unsere  nächsten  Gegner

sind die Tanchinaros; wir spielen in zwei Wochen im
Stadion  von  Saurkash  gegen  sie.  Ich  bin  überzeugt,
daß das Ergebnis diesmal ganz anders aussehen wird.
Ich habe sie mir angesehen; sie sind langsam wie Di-
dos  einbeinige  Großmutter.  Wir  werden  einfach  an
ihnen vorbei zum Podest schlendern. Wir werden ih-
nen  ihr  Geld  abnehmen,  ihre  Sheirl  ausziehen  und
uns empfehlen.«

»Da Sie schon von Geld reden«, brummte Candolf.

»Wie  sieht  unsere  Kasse  nach  dem  heutigen  Fiasko
aus? Und wer wird unsere Sheirl sein?«

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»Die  Kasse  beläuft  sich  auf  zweitausend  Ozols«,

sagte Lord Gensifer kühl. »Die Sheirl wird eines von
etlichen aparten Geschöpfen sein, die danach lechzen,
an unserem ruhmreichen Aufstieg teilzuhaben.«

»Die  Tanchinaros  sind  im  Vorderfeld  gewiß  lang-

sam«,  sagte  Lucho,  »aber  mit  Wächtern  wie  Gilweg,
Etzing, Barreu und Shamoran könnten die Stürmer in
Rollstühlen spielen.«

Lord Gensifer wischte die Bemerkung beiseite. »Ei-

ne  gute  Mannschaft  spielt  nach  ihrer  eigenen  Taktik
und zwingt den Gegner, darauf einzugehen. Die Tan-
chinaro-Wächter  sind  auch  nur  Männer  aus  Fleisch
und Blut. Wir werden sie so oft ins Wasser befördern,
daß sie glauben, wirklich Tanchinaros

17

 zu sein!«

»Darauf wollen wir trinken!« rief Chaim Lord Sha-

drak.  »Auf  elf  tropfnasse  Tanchinaros  und  ihre  ge-
rupfte Sheirl!«

                                                  

17

 

Siehe Glossar

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KAPITEL 11

Nach  Lord  Gensifers  Party  verbrachte  Glinnes  die
Nacht bei Tyran Lucho, der auf der Insel Altramar zu
Hause  war,  ein  paar  Meilen  östlich  der  fünf  Inseln.
Das Südmeer begann eine Viertelmeile weiter im Sü-
den,  jenseits  einer  Lagune  und  einigen  Sandbänken.
Der  Vorgarten  der  Luchos  war  ein  weißer  Sand-
strand. Glinnes und Tyran kamen gerade rechtzeitig
zu  einer  Sternenschau.  Über  einigen  rotglimmenden
Feuern wurden Krabben, Krebse, Seegurken, Pentab-
rachen, Sauertang und verschiedene kleinere Meeres-
früchte geröstet und gedünstet. Etliche Bierfässer wa-
ren  angestochen  worden;  ein  Tisch  bog  sich  unter
groben,  knusprigen  Brotlaiben,  Früchten  und  Einge-
machtem. Dreißig Leute aller Altersstufen aßen, tran-
ken,  sangen,  spielten  Gitarren  und  Maultrommeln,
vergnügten  sich  im  Sand  und  knüpften  vielleicht
auch  engere  Beziehungen  zu  jemandem  an,  den  sie
später am Abend an eine einsamere Stelle des Stran-
des  locken  wollten.  Glinnes  fühlte  sich  sofort  wohl,
im Gegensatz zu der Gezwungenheit, die er auf Lord
Gensifers  Party  empfunden  hatte,  wo  der  Um-
gangston sehr viel förmlicher gewesen war. Dies wa-
ren  die  Trills,  die  die  Fanscherade  verachtete  und
mißbilligte – eigenwillig, frivol, verfressen, mit einem
gesunden sexuellen Appetit, manche ungepflegt und
dreckig,  einige  nur  ungepflegt.  Kinder  wie  Erwach-
sene vergnügten sich mit erotischen Spielen; Glinnes
beobachtete  mehrere  Leute,  die  deutlich  unter  dem
Einfluß von Cauch standen. Jeder trug die Kleidung,
die  ihm  gerade  behagte;  ein  Fremder  hätte  denken

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können,  in  ein  Kostümfest  geraten  zu  sein.  Tyran
Lucho, von der Disziplin des professionellen Hussa-
de-Sportlers  geprägt,  huldigte  in  Kleidung  und  Ver-
halten  einem  weniger  ausgefallenen  Geschmack;
trotzdem machte er es sich wie Glinnes erleichtert auf
dem Sand bequem, versorgt mit einem Krug Bier und
einem  Chino-Blatt  voll  gegrillter  Meerestiere.  Das
Fest war nur dem Namen nach eine Sternenschau; die
Luft  war  klar  und  lau,  und  die  Sterne  wirkten  wie
große Lampions. Die Ausgelassenheit der kleinen Ge-
sellschaft ließ jedoch nicht vermuten, daß man sich in
dieser Nacht viel den Sternen widmen würde.

Tyran Lucho hatte in berühmten Mannschaften ge-

spielt.  Er  war  als  schweigsamer  Mann  von  großarti-
gen  Fähigkeiten  bekannt,  der  fast  als  einziger  die
Kunst beherrschte, in eine scheinbar undurchdringli-
che  Front  von  Gegnern  eine  Bresche  zu  schlagen;  er
umlief, fintierte, schwang sich von Zug zu Zug oder
ließ sich auch hinausschwingen und schnellte im ge-
eigneten  Augenblick  wieder  zurück  –  ein  Trick,  der
manchesmal  die  Gegner  dazu  brachte,  daß  sie  von
selbst  ins  Wasser  plumpsten.  Zusammen  mit  dem
›Wilden‹  Wilmer  Guff  war  Lucho  in  Lord  Gensifers
Traum-Mannschaft  vertreten  gewesen.  Glinnes  ließ
sich neben Lucho nieder, und die beiden besprachen
das  Match  dieses  Tages.  »Im  wesentlichen«,  sagte
Glinnes, »sind wir im Vorderfeld ganz passabel – mit
Ausnahme  von  Klumpfuß  Chust  –  und  erbärmlich
schwach im Hinterfeld.«

»Stimmt.  Savat  hat  alle  Qualitäten  eines  guten

Spielers. Leider bringt Tammi ihn durcheinander, so
daß er nicht weiß, ob er nach vorn oder zurück soll.«

›Tammi‹  war  der  Spitzname,  mit  dem  die  Mann-

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schaft Thammas Lord Gensifer bedacht hatte.

»Bin ganz deiner Meinung«, sagte Glinnes. »Selbst

Sarkado ist ganz brauchbar, obwohl er eigentlich zu
unentschlossen ist, um in einer wirklich guten Mann-
schaft zu spielen.«

»Um  zu  siegen«,  sagte  Lucho,  »bräuchten  wir  ein

neues Hinterfeld, aber viel nötiger noch einen ande-
ren Kapitän. Tammi weiß ja nicht, was er will.«

»Bedauerlicherweise ist es seine Mannschaft.«
»Aber  es  geht  um  unsere  Zeit  und  unsere  Prämi-

en!« erklärte Lucho mit einer Heftigkeit, die Glinnes
überraschte.  »Auch  um  unseren  Ruf.  Es  tut  keinem
Mann gut, mit einer Schar Tölpel zu spielen.«

»Das stimmt«, sagte Glinnes. »Man neigt dann da-

zu, selber nachzulassen.«

»Ich habe mir die Sache durch den Kopf gehen las-

sen.  Ich  bin  bei  den  Rächern  von  Poldan  ausgestie-
gen,  damit  ich  zu  Hause  wohnen  könnte,  und  ich
dachte,  daß  Lord  Gensifer  unter  Umständen  ein
brauchbares Team zusammenbekommen dürfte. Aber
er wird es nie zu etwas bringen, wenn er darauf be-
harrt, die Mannschaft so zu führen, als wäre das Spiel
nur ein Privatvergnügen.«

»Trotzdem, er ist der Kapitän – wer würde in sei-

ner Position spielen? Denkst du daran?«

Lucho schüttelte den Kopf. »Ich habe nicht die Ge-

duld dazu. Wie steht's mit dir?«

»Ich  spiele  lieber  als  Mittelstürmer.  Candolf  wäre

ganz brauchbar.«

»Er wäre eine Möglichkeit, wenn uns nichts ande-

res  übrig  bleibt.  Aber  ich  habe  an  einen  besseren
Mann gedacht – Denzel Warhound.«

Glinnes überlegte. »Er ist gerissen und schnell, und

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er scheut sich auch nicht, selbst mitzumischen. Er ist
gut,  ja.  Aber  wie  stark  ist  er  mit  den  Seeraben  ver-
bunden?«

»Er will vor allem spielen. Die Seeraben haben kei-

nen  Heimplatz  –  sie  sind  ein  ziemlich  loser  Verein.
Warhound würde sich sofort verändern, wenn er eine
gute Gelegenheit geboten bekommt.«

Glinnes leerte seinen Bierkrug. »Tammi würde aus

der  Haut  fahren,  wenn  er  wüßte,  worüber  wir  jetzt
sprechen... Wer ist das hübsche Mädel in der weißen
Tunika? Es betrübt mich, sie so allein zu sehen.«

»Sie ist die Kusine zweiten Grades der Frau meines

Bruders,  wenn  du's  genau  wissen  willst.  Sie  heißt
Thaio und hat ein sehr anschmiegsames Wesen.«

»Ich  gehe  mal  schnell  rüber  und  frage  sie,  ob  sie

Sheirl werden möchte.«

»Sie wird dir sagen, daß sie sich bis zum Alter von

neun  Jahren  nichts  sehnlicher  gewünscht  hat,  aber
daß es nun längst zu spät sei.«

Das  Spiel  zwischen  den  Gorgonen  und  den  Tanchi-
naros  wurde  an  einem  herrlichen,  warmen  Tag  aus-
getragen. Der Himmel spannte sich wie eine Kuppel
aus  Milchglas  über  dem  Stadion.  Die  Tanchinaros
waren in Saurkash sehr beliebt, so daß die Tribünen
fast  über  ihr  Fassungsvermögen  hinaus  besetzt  wa-
ren.  Aus  beiläufiger  Neugier  musterte  Glinnes  die
Reihe der Ligen: wie das letzte Mal saß in einer Lute
Casagave,  wieder  mit  Kamera  ausgerüstet.  Seltsam,
dachte Glinnes.

Die  Spieler  stellten  sich  für  die  Parade  in  Reihen

auf, die Sheirls traten vor: für die Tanchinaros Filene
Sadjo,  eine  frischgesichtige  Fischerstochter  von  der

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Äußeren Buschinsel; für die Gorgonen Karue Liriant,
ein  hochgewachsenes,  dunkelhaariges  Mädchen  mit
einer  reifen,  beinahe  üppigen  Figur,  die  selbst  der
klassische  Faltenwurf  des  weißen  Gewandes  nicht
verbergen  konnte.  Lord  Gensifer  hatte  die  Identität
der Sheirl bis drei Tage vor dem Spiel für sich behal-
ten. Bei diesem Mannschaftstreffen hatte Karue Liri-
ant  sich  nicht  im  mindesten  bemüht,  die  Wertschät-
zung  der  Spieler  zu  gewinnen  –  was  an  sich  bereits
ein  schlechtes  Vorzeichen  war.  Dennoch  war  Karue
Liriant nur der geringste Anlaß für den Tiefstand der
Kampfmoral.  Der  linke  Außenwächter  Ramos  war,
verärgert  durch  Lord  Gensifers  ständige  Nörgelei,
aus  der  Mannschaft  ausgetreten.  »Es  ist  ja  nicht  so,
daß ich so gut wäre«, erklärte er Lord Gensifer, »son-
dern daß Sie soviel schlechter sind. Ich sollte Sie mit
Ki-Yiks antreiben, nicht Sie mich.«

»Sie verlassen sofort den Platz!« brüllte Lord Gensi-

fer. »Wenn Sie nicht ausgetreten wären, hätte ich Sie
auf jeden Fall gefeuert.«

»Pah«, sagte Ramos. »Wenn Sie jeden rausschmei-

ßen,  der  sich  beklagt,  dann  können  Sie  bald  allein
spielen.«

Bei  dem  Imbiß  nach  dem  Training  stellte  sich  die

Frage  nach  einem  Ersatzmann.  »Ich  hätte  eine  Idee,
die  für  die  Mannschaft  recht  nützlich  sein  könnte«,
erklärte  Lucho  Lord  Gensifer.  »Wie  wär's,  wenn  Sie
als  Wächter  spielten,  was  Ihnen  bestimmt  liegt;  Sie
haben  die  Figur  dafür  und  sind  beharrlich  genug.
Und  dann  wüßte  ich  einen  Mann,  der  einen  sehr
tüchtigen Kapitän für uns abgeben würde.«

»Tatsächlich?« sagte Lord Gensifer eisig. »Und wer

ist dieser Wunderknabe?«

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»Denzel Warhound von den Seeraben.«
Lord  Gensifer  bemühte  sich,  seine  Stimme  unter

Kontrolle zu halten. »Es dürfte einfacher und für das
Training  weniger  schädlich  sein,  wenn  lediglich  ein
neuer Wächter eingestellt wird.«

Darauf hatte Lucho nichts mehr zu sagen. Der neue

Wächter  erschien  zum  nächsten  Training  –  ein  noch
unfähigerer Mann als Ramos.

Die  Gorgonen  stellten  sich  den  Tanchinaros  somit

in einer keineswegs idealen Gemütsverfassung.

Nachdem  sie  den  Platz  umrundet  hatten,  setzten

beide  Mannschaften  die  Helme  auf:  dies  war  der
Moment jener erregenden Metamorphose, durch die
sich gewöhnliche Männer in Heroen und Fabelwesen
verwandelten und in gewissem Grade etwas von der
Natur  ihrer  Maske  übernahmen.  Glinnes  sah  nun
zum  erstenmal  die  Helmmasken  der  Tanchinaros  –
phantastische Gebilde in Silber und Schwarz, mit ro-
ten  und  violetten  Federbüschen  geschmückt.  Die
Tanchinaros waren wirklich ein großartiger Anblick,
als sie aufs Feld stürmten, und, wie erwartet, waren
sie kraftvoll und massiv. »Ein Team von zehn Wäch-
tern und einem fetten alten Mann«, wie Carbo Gilweg
es formuliert hatte. Der ›fette alte Mann‹ war der Ka-
pitän  Nilo  Neronavy,  der  niemals  den  schützenden
Bannkreis  seiner  Hange  verließ,  und  dessen  Taktik
ebenso durchsichtig und geradlinig war, wie die von
Lord Gensifer kompliziert und verwirrend war. Glin-
nes  rechnete  in  punkto  Verteidigung  mit  keinerlei
Schwierigkeiten; die Stürmer der Tanchinaros waren
auf dem Trapez recht unbeholfen, so daß die schnelle
Frontlinie der Gorgonen sie einen nach dem anderen
erledigen  konnte.  Bei  der  Offensive  lagen  die  Dinge

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leider anders. Wäre Glinnes der Kapitän gewesen, so
hätte er die Gegner immer wieder vorgelockt, auf die
eine  Seite,  dann  auf  die  andere  –  bis  sich  für  den
blitzschnellen Vorstoß eines Stürmers eine Lücke bot.
Er bezweifelte, daß Lord Gensifer etwas für eine sol-
che  Strategie  übrig  hatte,  oder  daß  er  überhaupt  die
Mannschaft so geschickt steuern konnte, daß die nö-
tigen schnellen Finten und Bluffs möglich wurden.

Den Gorgonen fiel wieder das grüne Licht zu. Der

Gong ertönte, die Signallampen leuchteten grün auf;
das Spiel hatte begonnen. »Zwölf-zehn, Ki-yik!« schrie
Lord  Gensifer  und  schickte  damit  die  Stürmer  und
Springer  bis  zum  Graben  vor,  während  die  Wächter
jeweils um zwei Kreuzungen vorrückten. »Dreizehn-
acht!«  –  ein  Vorstoß  von  Springern  und  Außenstür-
mern über die Randstege, die Mittelstürmer sprung-
bereit am Graben. Soweit war alles gut verlaufen. Der
nächste  Ruf  mußte  sofort  lauten:  »Acht-dreizehn«,
was  bedeutete,  daß  die  Springer  weiter  vordringen
und  die  Stürmer  nach  links  fintieren  sollten.  Die
Springer  waren  über  den  Graben,  die  Tanchinaro-
Stürmer  zögerten,  wodurch  sich  die  Gelegenheit  zu
einem blitzschnellen Angriff auf die rechte Flanke der
Tanchinaros  bot.  Aber  Lord  Gensifer  war  unschlüs-
sig;  die  gegnerischen  Stürmer  fingen  sich,  drängten
die  Springer  wieder  über  den  Graben  zurück,  und
das Licht wechselte auf rot.

So  ging  es  fünfzehn  Minuten  lang.  Zwei  Tanchi-

naro-Stürmer  wurden  ins  Strafbecken  geschickt,
konnten aber aufs Spielfeld zurückkehren, bevor die
Gorgonen  den  Vorteil  zu  nutzen  vermochten.  Lord
Gensifer wurde ungeduldig und versuchte eine neue
Taktik – genau die Spielvariante, mit der Glinnes ei-

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nen Punkt gegen die Seeraben errungen hatte und die
gegen  eine  Mannschaft  wie  die  Tanchinaros  voll-
kommen ungeeignet war. Das Ergebnis war, daß alle
vier  Stürmer,  ein  Springer  und  Lord  Gensifer  selber
eingetunkt wurden und die Tanchinaros nur noch ei-
nen  einfachen  Spaziergang  vor  sich  hatten,  um  den
Goldring  zu  ergreifen.  Lord  Gensifer  zahlte  wider-
strebend eintausend Ozols Löseprämie.

Die Mannschaften stellten sich neu auf. »Ich weiß,

wie wir das Spiel gewinnen«, meinte Lucho zu Glin-
nes.  »Wir  sorgen  dafür,  daß  Tammi  im  Foul-Becken
bleibt.«

»In  Ordnung«,  sagte  Glinnes.  »Wir  brauchen  nur

möglichst blöd zu tun. Sag's Savat; ich bring' es Chust
bei.«

Grünes  Licht.  Lord  Gensifer  setzte  seine  Mann-

schaft in Bewegung. Zwei Sekunden, bevor das Licht
wechselte,  schwärmte  die  gesamte  Frontlinie  der
Gorgonen in einem scheinbar sinnlosen Manöver aus.
Völlig  verdattert  schrie  Lord  Gensifer  noch  Gegen-
anweisungen,  nachdem  das  Licht  schon  rot  aufge-
leuchtet  war.  Das  Spiel  wurde  unterbrochen,  wäh-
rend Lord Gensifer, dem aufzugehen begann, was da
eben passiert war, sich mürrisch ins Strafbecken ver-
fügte.

Glinnes  als  rechter  Mittelstürmer  übernahm  die

Führung. Die Tanchinaros versuchten den Graben zu
stürmen,  solange  sie  rotes  Freilicht  hatten.  Dank  ex-
aktem  Zusammenspiel  konnten  die  Gorgonen-
Stürmer beide Mittelstürmer der Tanchinaros eintun-
ken,  worauf  sich  die  Außenstürmer  zurückzogen.
Grünes  Licht.  Jetzt  konnte  Glinnes  seine  Pläne  ver-
wirklichen.  Er  rief  der  Reihe  nach  einige  Spielcodes

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auf.  Die  Frontlinie  wich  zurück  und  stieß  dann  wie
ein  Mann  vor;  plötzlich  waren  die  Stürmer  und
Springer  der  Gorgonen  drüben.  Die  Tanchinaro-
Springer  wurden  ins  Wasser  gestoßen,  aber  noch
standen  die  Tanchinaro-Wächter  im  Wege  –  ein  un-
überwindliches  Bollwerk.  Glinnes  rief  seine  eigenen
zwei Innenwächter nach vorne, so daß acht Mann wie
ein  Keil  auf  die  Wächter  zustürmten  –  die  dadurch
gezwungen  waren,  sich  in  der  Mitte  zu  konzentrie-
ren. Glinnes drückte sich dahinter vorbei schubste als
freundschaftliche  Geste  Carbo  Gilweg  in  den  Tank
und ergriff den Goldring.

Lord Gensifer kletterte gekränkt aus dem Strafbek-

ken, würdigte niemanden eines Wortes und kassierte
tausend Ozols von Nilo Neronavy.

Die  Mannschaften  nahmen  neuerlich  Aufstellung.

Rotes Licht. Die Tanchinaros konzentrierten sich auf
ihrer linken Seite in der Hoffnung, einen unvorsichti-
gen  Gorgonen  über  den  Graben  zu  locken.  Glinnes
fing einen Blick von Lucho auf; beide wußten sofort,
was der andere beabsichtigte; beide überquerten den
Graben und stürmten die Mittelwege vor, so schnell,
daß  die  eigentlich  angreifende  Mannschaft  völlig
überrascht  wurde.  Die  Außenstürmer  und  Springer
schlossen  so  schnell  wie  möglich  auf.  Nach  einigen
raschen Schwüngen, Finten und Ausweichmanövern
waren  sie  in  der  gegnerischen  Heimzone  und  be-
schäftigten die Wächter. Der ›Wilde‹ Wilmer Guff, ein
Springer,  schwenkte  um  das  Durcheinander  herum
und packte den Ring.

»Auch ein Weg zum Sieg«, rief Lucho Glinnes zu.

»Wir  greifen  an,  wenn  das  Licht  gegen  uns  ist,  und
Tammi nicht dreinreden kann.«

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Die Spieler stellten sich neu auf. Wieder rotes Licht.

Nilo Neronavy hielt sich an die Strategie, die auf die
Fähigkeiten der Tanchinaros am besten zugeschnitten
war: ein zermalmender, breiter Vorstoß über das ge-
samte Feld. Lucho und Chust landeten bald im Was-
ser; Savat und Glinnes wurden zurückgetrieben. Die
Tanchinaros  standen  jetzt  mit  allen  Wächtern  am
Graben. Grünes Licht. Lord Gensifer rief: »Zwanzig-
zwei!«, ein einfaches Manöver, das so gut war wie ir-
gendein anderes – die Stürmer sollten sich irgendwie
bis  in  die  Heimregion  der  Tanchinaros  durchschla-
gen.  Die  Tanchinaro-Wächter  zogen  sich  sofort  zu-
rück,  die  Gorgonen  kamen  nicht  an  ihnen  vorbei.
Carbo Gilweg stellte Glinnes; die beiden fochten wild
mit  ihren  Pads  –  rechts,  links,  Finte,  Haken,  Parade.
Gilweg senkte den Kopf und sprang vor wie ein Stier;
Glinnes  versuchte  auszuweichen,  wurde  aber  von
Gilwegs Pad erwischt. Er plumpste in den Tank. Gil-
weg schaute zu ihm hinunter. »Wie ist das Wasser?«

Glinnes antwortete nicht. Der Gong war ertönt. Ir-

gendeiner der Tanchinaros hatte den Ring erobert.

Da  nach  vier  Spielen  der  Punktestand  gleich  war,

wurde  eine  Pause  von  fünf  Minuten  eingelegt.  Lord
Gensifer  hielt  sich  mit  eisiger  Miene  abseits.  Lucho
ging  dennoch  zu  ihm  hin,  um  vielleicht  doch  einen
guten Rat anzubringen. »Sie werden's bestimmt wie-
der mit der Dampfwalze probieren. Ich glaube nicht,
daß sie unseren Angriff abwarten – sie werden schon
bei grünem Licht vorstoßen. Wir müssen ihr Zentrum
demolieren, bevor sie mit der ganzen Front über den
Graben sind.«

Lord Gensifer sagte nichts.
Die  Spieler  stellten  sich  noch  einmal  auf.  Grünes

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Licht! Lord Gensifer ließ seine Männer an den Graben
vorrücken. Die Tanchinaros hatten sich in Igelforma-
tion  gruppiert,  um  einen  Angriff  der  Gorgonen  her-
auszufordern.  In  dieser  Situation  war  es  durchaus
möglich,  daß  die  behenderen  Gorgonenstürmer,  auf
den Trapezen hereinschwingend, den einen oder an-
deren Tanchinaro eintunkten – oder selbst eingetunkt
wurden. Lord Gensifer wollte jedoch nicht angreifen.
Rotes  Licht.  Die  Tanchinaros  behielten  ihre  Defensi-
vaufstellung  bei.  Lord  Gensifer  hielt  seine  Spieler
immer noch zurück, eine Vorgangsweise, die nur in-
sofern unklug war, als sie Unsicherheit verriet.

»Gehen wir doch rüber«, rief Glinnes ihm zu, »wir

können ja immer noch zurück.«

Lord  Gensifer  zeigte  nichts  als  steinernes  Schwei-

gen.

Rotes Licht. Die Tanchinaros stürmten vor, alle elf

Mann – ›nur die Sheirl als Wächter des Podests‹, wie
man  sagte.  Wiederum  setzten  sie  über  den  Graben,
nur  die  Wächter  blieben  auf  der  Feldhälfte  der  Tan-
chinaros zurück.

Grünes Licht. Lord Gensifer befahl eine Finte nach

rechts und einen Angriff auf die Tanchinaros, die sich
links eine Ausgangsposition erobert hatten. Bei dem
Gedränge  wurden  zwei  Mann  von  jedem  Team  ins
Wasser  befördert,  aber  mittlerweile  waren  die  Tan-
chinaros  an  der  rechten  Flanke  der  Gorgonen  weit
vorgestoßen,  und  der  ungeschickte  neue  Wächter
wurde eingetunkt.

Das  Licht  wechselte  auf  Rot.  Die  Tanchinaros

kämpften  sich  Meter  um  Meter  an  das  Podest  der
Gorgonen heran, auf dem Karue Liriant ohne erkenn-
bare Besorgnis wartete.

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Grünes Licht. Lord Gensifer sah sich mit einer un-

angenehmen  Situation  konfrontiert.  Seine  Stürmer
beherrschten  das  Zentrum,  aber  die  gegnerischen
Wächter  und  Stürmer,  die  entlang  der  Mittelwege
vordrängten, machten ihnen mehr als genug zu schaf-
fen. Glinnes griff einen Tanchinaro-Mittelstürmer an;
er  glaubte  aus  dem  Augenwinkel  eine  freie  Route
nach vorne zu entdecken – er brauchte nur einen der
Wächter aus der Position zu locken.

Rotes  Licht.  Glinnes  ließ  den  Tanchinaro-Stürmer

stehen, rannte vor zum Graben und setzte darüber. Er
war frei, ungedeckt! Mit einem verzweifelten Sprung
warf sich Carbo Gilweg ihm entgegen und versuchte,
Glinnes  mit  dem  Pad  die  Beine  unter  dem  Körper
wegzuschlagen;  beide  fielen  Hals  über  Kopf  in  den
Mittelgraben.

Der  Gong  –  drei  Schläge.  Das  Spiel  war  entschie-

den.

Der Schiedsrichter rief Lord Gensifer und verkün-

dete  die  Lösegeldforderung  der  Sieger.  Die  Forde-
rung  wurde  abgelehnt.  Die  Musik  wurde  feierlich
und traurig – die goldene Musik eines Sonnenunter-
gangs,  deren  Rhythmus  den  Herzschlag  begleitete
und deren Töne die Süße aller menschlichen Leiden-
schaften  verkündeten.  Zum  dritten  Mal  rief  der
Schiedsrichter  die  Lösegeldforderung  aus;  zum  drit-
ten Mal ignorierte Lord Gensifer die Forderung. Der
Tanchinaro-Stürmer  zog  am  Goldring,  das  weiße
Gewand  fiel  vom  Körper  Karue  Liriants.  Nackt  und
selbstsicher  stand  sie  vor  dem  Publikum,  ja,  sie  lä-
chelte sogar ein wenig. Gleichmütig strich sie sich die
Haare  zurecht,  stellte  sich  auf  die  Zehen,  hob  grü-
ßend die Hände, blickte über die eine, dann über die

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andere Schulter, während die Menge erstaunt dieses
seltsame Verhalten beglotzte.

Ein  ausgefallener  Gedanke  kam  Glinnes  in  den

Sinn.  Er  musterte  sie  scharf.  War  Karue  Liriant
schwanger? Auch andere merkten auf; unter den Zu-
schauern  erhob  sich  ein  Gemurmel.  Lord  Gensifer
holte eilig einen Mantel und führte seine noch immer
lächelnde Sheirl vom Podest. Dann wandte er sich an
die Mannschaft. »Heute abend gibt es keine Party. Ich
habe  nun  die  unangenehme  Pflicht,  undisziplinierte
Teammitglieder  zu  bestrafen.  Tyran  Lucho,  betrach-
ten  Sie  sich  als  entlassen.  Glinnes  Hulden,  Ihr  Ver-
halten...«

»Lord  Gensifer«,  sagte  Glinnes,  »ersparen  Sie  mir

Ihre  Kritik.  Ich  trete  aus  der  Mannschaft  freiwillig
aus. Die Spielbedingungen sind einfach unmöglich.«

Ervil  Savat,  der  linke  Mittelstürmer,  sagte:  »Ich

trete ebenfalls aus.«

»Ich  auch«,  verkündete  Wilmer  Guff,  der  rechte

Springer, der als einer der starken Spieler am meisten
zu tun gehabt hatte. Der Rest der Mannschaft zögerte.
Wenn sie alle austraten, fanden sie vielleicht kein an-
deres Team, das Verwendung für sie hatte. In der be-
troffenen Stille wagte keiner mehr etwas zu sagen.

»Nun gut«, meinte Lord Gensifer. »Wir können nur

froh sein, euch loszuwerden. Ihr wart alle eigenwillig
und unbotmäßig – und Sie, Glinnes Hulden und Ty-
ran  Lucho,  Sie  haben  fortgesetzt  versucht,  meine
Autorität zu untergraben.«

»Nur  um  einen  oder  zwei  Ringe  zu  gewinnen«,

sagte  Lucho.  »Aber  das  ist  ja  jetzt  gleichgültig  –  auf
jeden  Fall  alles  Gute  Ihnen  und  den  Gorgonen.«  Er
nahm seine Maske ab und übergab sie Lord Gensifer.

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Glinnes  tat  dasselbe,  dann  Ervil  Savat  und  Wilmer
Guff.  ›Pflock‹  Candolf,  der  einzige  brauchbare
Wächter, fand es sinnlos, weiter in der Mannschaft zu
spielen, wenn nur die schlechten Spieler übrigblieben,
und gab seine Maske ebenfalls Lord Gensifer ab.

Draußen vor den Umkleidekabinen meinte Glinnes

zu seinen vier Kameraden: »Heute abend kommt ihr
alle  zu  mir  –  letzten  Endes  haben  wir  einen  Sieg  zu
feiern. Wir sind das Mondkalb Tammi los.«

»Ein  im  wesentlichen  annehmbarer  Vorschlag«,

sagte Lucho. »Mir ist auch nach ein oder zwei kühlen
Krügen  zumute,  aber  am  Strand  von  Atramar  wird
mehr los sein; zumindest finden wir verständnisvolle
Zuhörer.«

»Wie  ihr  wollt.  Auf  meiner  Veranda  war  es  wirk-

lich in letzter Zeit ziemlich still. Außer mir sitzt kei-
ner dort, nur vielleicht manchmal ein Merling, wenn
ich nicht da bin.«

Auf dem Weg zum Pier trafen die fünf Carbo Gil-

weg  und  zwei  weitere  Tanchinaro-Wächter,  die  alle
bestens  gelaunt  waren.  »Gut  gespielt,  Gorgonen  –
aber  heute  hattet  ihr  es  mit  den  todesmutigen  Tan-
chinaros zu tun.«

»Danke  für  das  tröstliche  Kompliment«,  sagte

Glinnes,  »aber  nenne  uns  nicht  Gorgonen.  Wir  er-
freuen uns nicht länger dieser Auszeichnung.«

»Was soll das heißen? Hat Lord Gensifer am Ende

seinen phantastischen Plan aufgegeben, ein Hussade-
Team zu führen?«

»Er  hat  uns  aufgegeben,  und  wir  ihn.  Die  Gorgo-

nen  gibt's  noch,  vermute  ich  jedenfalls.  Tammi
braucht nur eine neue Frontlinie.«

»Durch  einen  seltsamen  Zufall«,  sagte  Carbo  Gil-

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weg,  »ist  das  alles,  was  die  Tanchinaros  ebenfalls
brauchen... Wohin seid ihr unterwegs?«

»Raus zu Lucho auf Altramar, um unseren privaten

Sieg zu feiern.«

»Dann kommt lieber zu den Gilwegs zu einer rich-

tigen Siegesfeier.«

»Besser nicht«, meinte Glinnes. »Ihr werdet unsere

langen  Gesichter  bei  dem  Fest  nicht  brauchen  kön-
nen.«

»Im  Gegenteil!  Ich  habe  einen  besonderen  Grund,

euch  einzuladen.  Hört  zu,  gehen  wir  vorher  in  den
Magischen Fisch auf ein Bier.«

Die  acht  Männer  setzten  sich  um  einen  runden

Tisch,  und  die  Kellnerin  brachte  acht  großzügig  be-
messene Krüge mit Bier.

Gilweg musterte mit gerunzelter Stirn den Schaum

auf  seinem  Krug.  »Ich  möchte  euch  einen  Vorschlag
unterbreiten – einen naheliegenden und interessanten
Vorschlag. Die Tanchinaros brauchen wie Lord Gen-
sifer  eine  Frontlinie.  Das  ist  kein  Geheimnis;  jeder
wird  das  zugeben.  Wir  sind  eine  Mannschaft  von
zehn Wächtern und einem Bierfaß.«

»Das  ist  alles  recht  schön,  und  ich  verstehe  auch,

worauf  du  hinauswillst«,  sagte  Glinnes,  »aber
schließlich  werden  eure  Stürmer,  ob  sie  nun  eigent-
lich  Wächter  sind  oder  nicht,  bestimmt  etwas  dage-
gen einzuwenden haben.«

»Sie  haben  gar  kein  Recht  dazu.  Die  Tanchinaros

sind  ein  offener  Verein;  jeder  kann  beitreten,  und
wenn  er  sich  bewährt,  dann  spielt  er.  Denkt  doch
bloß! Zum ersten Mal seit Menschengedenken wären
die kümmerlichen Saurkash-Tanchinaros eine wirkli-
che Mannschaft!«

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»Der  Vorschlag  ist  vielversprechend.«  Glinnes

schaute seine Kameraden an. »Was meint ihr?«

»Ich möchte Hussade spielen«, sagte Wilmer Guff.

»Und ich gewinne gern. Ich bin dafür.«

»Auf  mich  könnt  ihr  auch  zählen«,  sagte  Lucho.

»Vielleicht können wir eines Tages gegen die Gorgo-
nen antreten.«

Savat  stimmte  dem  Vorschlag  ebenfalls  zu,  nur

Candolf  zögerte.  »Ich  bin  ein  Wächter.  Bei  den  Tan-
chinaros ist kein Platz für mich.«

»Sag das nicht«, meinte Gilweg. »Unser linker Au-

ßenwächter  ist  Pedro  Shamoran,  und  er  hat  einen
schlimmen  Fuß.  Es  wird  etliche  Umbesetzungen  ge-
ben, und vielleicht kannst du auch als linker Springer
spielen; du wärst auf jeden Fall schnell genug. War-
um versuchst du's nicht wenigstens?«

»Na schön, warum nicht?«
Gilweg leerte seinen Krug. »Also, dann wäre ja al-

les  geregelt!  Nun  können  wir  alle  miteinander  den
Sieg der Tanchinaros feiern!«

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KAPITEL 12

Als  Glinnes  spät  am  nächsten  Vormittag  heimkam,
fand er ein fremdes Boot an seiner Anlegestelle. Auf
der Veranda saß jedoch niemand, und das Haus war
leer. Glinnes ging hinaus, um sich umzuschauen, und
entdeckte  drei  Männer,  die  über  die  Wiese  schlen-
derten.  Glay,  Akadie  und  Junius  Farfan.  Alle  drei
trugen nüchterne, graue und schwarze Kleidung, die
Tracht  der  Fanscherade.  Glay  und  Farfan  sprachen
ernst miteinander; Akadie hielt sich etwas abseits.

Glinnes  ging  zu  ihnen  hinüber.  Akadie  setzte  ein

etwas schafsmäßiges Grinsen auf, als Glinnes ihn er-
staunt und spöttisch musterte. »Ich hätte nie gedacht,
daß  du  bei  diesem  Blödsinn  mitmachen  würdest«,
schnaubte Glinnes.

»Man  muß  mit  der  Zeit  gehen«,  sagte  Akadie.

»Weißt  du,  ich  finde  diese  Tracht  eigentlich  ganz
amüsant.« Glay warf ihm einen kühnen Blick zu; Ju-
nius Farfan lachte nur.

Glinnes  winkte  zur  Veranda  hinüber.  »Setzt  euch

doch! Möchte jemand Wein?«

Farfan und Akadie nahmen einen Becher Wein an;

Glay lehnte ziemlich schroff ab. Er folgte Glinnes ins
Haus,  in  dem  er  seine  Jugend  verbracht  hatte,  und
sah sich in dem Raum um wie ein Fremder. Er drehte
sich  schließlich  um  und  ging  Glinnes  voran  wieder
hinaus.

»Ich  habe  dir  einen  Vorschlag  zu  machen«,  sagte

Glay. »Du willst die Insel Ambal.« Er warf Junius Far-
fan  einen  Blick  zu;  dieser  legte  ein  Kuvert  auf  den
Tisch. »Du sollst sie haben. Hier ist das Geld, um Ca-

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sagave auszuzahlen.«

Glinnes  griff  nach  dem  Umschlag,  aber  Glay  zog

ihn weg. »Nicht so eilig. Wenn Ambal wieder dir ge-
hört,  kannst  du  dort  leben,  wenn  du  willst.  Und  ich
bekomme das Nutzungsrecht für Rabendary.«

Glinnes starrte ihn verblüfft an. »Jetzt willst du Ra-

bendary!  Warum  können  wir  nicht  beide  hier  leben
und uns brüderlich den Besitz teilen?«

Glay schüttelte den Kopf. »Es würde nur Streit ge-

ben,  wenn  du  deine  Einstellung  nicht  ändertest.  Ich
will  keine  Energie  darauf  verschwenden.  Nimm  du
Ambal, ich nehme Rabendary.«

»Das ist der sonderbarste Vorschlag, den ich je ge-

hört  habe«,  sagte  Glinnes,  »angesichts  der  Tatsache,
daß beides mir gehört.«

Glay wiegte den Kopf. »Nicht, wenn Shira lebt.«
»Shira  ist  tot.«  Glinnes  ging  zu  seinem  Versteck,

grub  den  Krug  aus  und  holte  den  goldenen  Uhran-
hänger heraus. Er nahm ihn mit auf die Veranda und
warf ihn auf den Tisch. »Erinnerst du dich an das? Ich
habe  es  deinen  Freunden,  den  Drossets,  abgenom-
men. Sie haben Shira getötet und ausgeraubt und den
Merlingen überlassen.«

Glay  warf  einen  Blick  auf  den  Anhänger.  »Haben

sie es zugegeben?«

»Nein.«
»Kannst du beweisen, daß du das von den Drossets

hast?«

»Du hast gehört, was ich gesagt habe.«
»Das genügt nicht«, sagte Glay schroff.
Glinnes hob den Kopf und starrte Glay ins Gesicht.

Langsam  stand  er  auf.  Glay  saß  steif  wie  ein  Zaun-
pflock da. Akadie sagte hastig: »Aber selbstverständ-

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lich  genügt  uns  dein  Wort,  Glinnes.  Setz  dich  wie-
der.«

»Glay  soll  seine  Bemerkung  zurückziehen  und

dann sich selber!«

»Glay hat nur gemeint, daß dein Wort vor dem Ge-

setz nicht genügt«, sagte Akadie. »Das stimmt doch,
Glay?«

»Ja, natürlich«, sagte Glay gelangweilt. »Was mich

betrifft,  so  genügt  mir  dein  Wort.  Mein  Vorschlag
bleibt trotzdem der gleiche.«

»Woher stammt die plötzliche Sehnsucht, nach Ra-

bendary  heimzukehren?«  fragte  Glinnes.  »Gebt  ihr
eure verrückte Kostümparade auf?«

»Im  Gegenteil.  Wir  werden  auf  Rabendary  eine

Fanscherade-Gemeinschaft begründen, ein Kollegium
der dynamischen Formulierungen.«

»Bei  den  Sternen«,  verwunderte  sich  Glinnes.

»Formulierungen. Zu welchem Zweck nur?«

Junius Farfan sagte sanft: »Wir beabsichtigen, eine

Akademie der Leistungen zu gründen.«

Glinnes  blickte  kopfschüttelnd  auf  die  Ambal-

Bucht hinaus. »Ich muß zugeben, daß ich mich nicht
mehr auskenne. Der Alastor-Sternhaufen ist unzähli-
ge  Jahrtausende  alt;  Milliarden  Menschen  haben  die
Galaxis besiedelt. Hier und dort, überall auf der wei-
ten Bühne des Lebens, haben große Denker Probleme
formuliert  und  gelöst.  Alles,  was  dem  Menschen
möglich ist, wurde schon erreicht, alle menschlichen
Daseinsziele  –  und  nicht  nur  einmal,  sondern  viele
tausende Male. Wir alle wissen, daß wir in unserem
Zeitalter  den  goldenen  Nachmittag  der  Menschheit
erleben.  Woher  glaubt  ihr  also,  im  Namen  der  Drei-
ßigtausend  Sterne,  ein  neues  Gebiet  der  Erkenntnis

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finden zu können, das so dringend von der Rabenda-
ry-Wiese aus verbreitet werden müßte?«

Glay  machte  eine  ungeduldige  Geste,  als  ob  ihn

Glinnes'  Begriffsstutzigkeit  peinlich  berührte.  Junius
Farfan  gab  jedoch  höflich  Antwort.  »Diese  Einstel-
lung  kennen  wir  natürlich  sehr  gut.  Es  kann  jedoch
leicht gezeigt werden, daß der Umfang menschlicher
Erkenntnis  und  damit  menschlicher  Leistungen  un-
begrenzt ist. Zwischen dem Bekannten und dem Un-
bekannten wird es immer eine Grenze geben, an der
sich die Menschen bewähren können. Wir behaupten
nicht,  hoffen  nicht  einmal,  neue  Grenzen  für  das
menschliche  Wissen  setzen  zu  können.  Unsere  Aka-
demie  soll  nur  der  Vorbereitung  dienen:  bevor  wir
auf Neuland vorstoßen, müssen wir das Alte kennen,
müssen festlegen, auf welchen Gebieten wir uns noch
neue  Ziele  setzen  können.  Das  allein  ist  ein  großes
Vorhaben.  Ich  erwarte,  mein  ganzes  Leben  lang  an
dieser  Vorbereitung  zu  arbeiten.  Auch  damit  werde
ich  meinem  Leben  einen  Sinn  gegeben  haben.  Ich
möchte  Sie  einladen,  Glinnes  Hulden,  in  die  Fan-
scherade einzutreten und gemeinsam mit uns dieses
große Ziel zu verfolgen.«

»Und eine graue Uniform zu tragen und Hussade

und  Sternenschau  aufzugeben?  Nein,  danke.  Es  ist
mir gleichgültig, ob ich im Leben irgendwelche heh-
ren  Ziele  erreiche  oder  nicht.  Was  eure  Akademie
betrifft,  so  würdet  ihr  mir  die  Aussicht  verderben,
wenn ihr sie unten auf der Wiese baut. Seht doch, wie
das  Licht  drüben  auf  dem  Wasser  spielt,  seht  die
wunderbaren  Farbschattierungen  der  Bäume!  Mir
kommt es vor, als ob euer Gerede von ›Lebenszielen‹,
von ›Sinn‹ und ›Leistung‹ einfach Aufschneiderei ist

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– das große Gerede von kleinen Jungen.«

Junius  Farfan  lachte.  »Ich  nehme  gern  die  ›Auf-

schneiderei‹  in  Kauf  –  und  Überheblichkeit,  Eigen-
sinnigkeit,  Elite-Denken,  was  immer  Sie  uns  noch
vorwerfen wollen. Niemand hat je das Gegenteil be-
hauptet,  ebensowenig,  wie  Jan  Dublays  behauptete,
sich fleischlichen Kasteiungen verschrieben zu haben,
als er Die Rose in den Zähnen des Fauns schrieb.«

»Mit  anderen  Worten«,  sagte  Akadie  sanft,  »die

Fanscherade  lenkt  geschickt  die  Kräfte,  die  der
menschlichen  Lasterhaftigkeit  innewohnen,  auf
wahrscheinlich sinnvollere Ziele.«

»Abstrakte  Diskussionen  sind  wohl  interessant«,

bemerkte Junius Farfan, »aber wir sollten uns auf dy-
namische und nicht statische Prozesse konzentrieren.
Sind Sie mit Glays Vorschlag einverstanden?«

»Daß Rabendary in ein Irrenhaus der Fanscherade

verwandelt  wird?  Natürlich  nicht!  Habt  ihr  Leute
denn keine Seele? Schaut euch doch diese Landschaft
an!  Es  gibt  genug  menschliche  Errungenschaften  im
Universum,  aber  nicht  annähernd  genug  Schönheit.
Errichtet eure Akademie doch irgendwo auf den La-
vafeldern oder draußen in den Geborstenen Hügeln.
Nicht hier.«

Junius  Farfan  erhob  sich.  »Dann  werden  wir  uns

jetzt verabschieden.«

Er  hob  den  Umschlag  auf.  Glinnes  langte  danach,

aber  Glay  hielt  ihn  am  Handgelenk  fest.  Farfan
steckte ruhig das Kuvert in seine Rocktasche.

Glay  ließ  los,  ein  wölfisches  Grinsen  im  Gesicht.

Glinnes spannte die Muskeln an und beugte sich vor.
Junius  Farfan  beobachtete  ihn  ernst.  Glinnes  beru-
higte  sich.  Farfans  Blick  war  ruhig  und  sicher  und

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brachte Glinnes ein wenig aus der Fassung.

»Ich  werde  noch  hierbleiben;  Glinnes  wird  mich

später dann heimfahren«, sagte Akadie.

»Wie Sie wollen«, sagte Farfan. Er ging mit Glay zu

ihrem  Boot,  und  nachdem  sie  die  Rabendary-Wiese
noch einmal gemustert hatten, legten sie ab.

»In  gewisser  Weise  war  dieser  Vorschlag  einfach

unverschämt«,  erklärte  Glinnes  zähneknirschend.
»Halten die mich für einen Tölpel, den man so leicht
übers Ohr hauen kann?«

»Sie sind sich ihrer Ziele vollkommen sicher«, sagte

Akadie.  »Vielleicht  erscheint  dir  diese  Sicherheit  als
Unverschämtheit... Zugegeben, manchmal ist da recht
schwer  eine  Grenze  zu  ziehen.  Dennoch  ist  weder
Glay noch Junius Farfan ein unverschämter Mensch.
Farfan  ist  im  Gegenteil  ein  außerordentlich  sanfter,
höflicher  Typ.  Glay  kommt  einem  manchmal  viel-
leicht  ein  wenig  zurückhaltend  vor,  aber  alles  in  al-
lem ist er doch ein guter Bursche.«

Glinnes konnte kaum seine Entrüstung unterdrük-

ken. »Wenn sie mich hinten und vorne betrügen und
mir

 

mein

 

Eigentum

 

nehmen

 

wollen?  Dein  Urteilsver-

mögen

 

ist

 

anscheinend

 

völlig umgekrempelt worden!«

Akadie  wechselte  mit  einer  wegwerfenden  Geste

das Thema. »Ich habe mir gestern das Hussade-Spiel
angeschaut.  Ich  muß  sagen,  ich  habe  mich  recht  gut
unterhalten, obwohl nicht eben glänzende Leistungen
geboten wurden. Hussade ist letzten Endes ein Wech-
selspiel  der  Persönlichkeiten;  kein  Match  gleicht  ei-
nem  anderen.  Ich  würde  sogar  behaupten,  daß  die
Masken ein unbewußtes Bedürfnis sind, daß sie ver-
hindern sollen, daß Persönlichkeiten das Spiel zu sehr
dominieren.«

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»Es gibt die verschiedensten Theorien über Hussa-

de.  Ich  jedenfalls  weiß,  daß  mir  Lord  Gensifers  Per-
sönlichkeit  so  wenig  paßt,  daß  ich  ab  jetzt  mit  den
Tanchinaros spiele.«

Akadie nickte weise.
»Ich habe Lord Gensifer zufällig heute morgen ge-

troffen,  ausgerechnet  in  Voulash,  im  Gasthaus  zum
Grünen Tal. Bei einer Tasse Tee erwähnte er, daß er
einige Spieler wegen Insubordination entlassen hat.«

»Insubordination?« schnaubte Glinnes. »Wegen ge-

rechter  Empörung  wäre  zutreffender.  Was  wollte  er
denn  in  Voulash?  Bitte  berücksichtige,  daß  das  eine
ganz  beiläufige  Frage  ist.  Ich  habe  keine  Lust,  ein
Honorar zu zahlen.«

Akadie  antwortete  mit  leicht  gekränkter  Würde.

»Lord  Gensifer  unterhielt  sich  mit  etlichen  Mitglie-
dern der Voulash-Seeraben über Hussade. Ich glaube,
daß er mehrere überreden konnte, zu den Gorgonen
zu kommen.«

»Also  wirklich!  Lord  Gensifer  will  demnach  nicht

aufgeben?«

»Im Gegenteil. Er kocht über vor Begeisterung. Er

behauptet,  daß  er  nur  durch  unglückselige  Zufälle
und  die  Trägheit  seiner  Spieler  geschlagen  wurde,
und nicht durch das Können der Gegner.«

Glinnes  lachte  verächtlich.  »Immer,  wenn  Lord

Gensifer  im  Strafbecken  saß,  haben  wir  einen  Ring
gewonnen.  Wenn  er  Anweisungen  gab,  wurden  wir
über das ganze Feld gejagt.«

»Wird es dir mit dem alten Neronavy besser erge-

hen? Er ist nicht gerade für ein phantasievolles Spiel
bekannt.«

»Das  ist  richtig.  Vielleicht  finden  wir  eine  bessere

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Lösung.«  Glinnes  überlegte  einen  Augenblick.
»Möchtest du mit nach Voulash kommen?«

»Ich habe zur Zeit nichts anderes vor«, sagte Aka-

die.

Denzel  Warhound  wohnte  in  einem  Blockhaus  zwi-
schen  zwei  riesigen  Myrsil-Bäumen  am  Ende  des
Grünen  Tales.  Er  hatte  noch  nichts  von  Lord  Gensi-
fers  Besuch  in  Voulash  gehört,  zeigte  aber  weder
Überraschung noch Entrüstung. »Die Seeraben waren
nur  ein  temporäres  Unternehmen;  es  erstaunt  mich,
daß  die  Mannschaft  überhaupt  so  gut  zusammenge-
halten hat. Einen Augenblick, bitte.« Er ging zum Te-
lefon und sprach einige Minuten lang mit jemandem,
dessen Gesicht Glinnes nicht sehen konnte, und kam
dann wieder heraus auf die Veranda.

»Beide  Mittelstürmer,  beide  Außenstürmer,  und

ein Springer – alle sind jetzt Gorgonen. Die Seeraben
sind  dieses  Jahr  zum  letzten  Male  geflogen,  soviel
steht fest.«

»Es wäre vielleicht ganz interessant für Sie«, sagte

Glinnes,  »wenn  ich  Ihnen  verrate,  daß  die  Tanchi-
naros  einen  kampflustigen  Kapitän  gut  brauchen
könnten. Neronvay ist wirklich nicht mehr ganz auf
der Höhe. Mit einem tüchtigen Kapitän aber könnten
die Tanchinaros ganz schön zu Geld kommen.«

Denzel  Warhound  massierte  sein  Kinn.  »Die  Tan-

chinaros sind ein offener Verein, glaube ich?«

»So offen wie das Meer.«
»Nun, das ist wirklich ein interessanter Vorschlag,

denke ich.«

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KAPITEL 13

Die Verwandlung der Tanchinaros von ›zehn Wäch-
tern und einem Bierfaß‹ zu einem gut ausgewogenen
und  wendigen  Team  ging  nicht  ganz  ohne  Verstim-
mung  vonstatten.  Der  erzürnte  Nilo  Neronavy  wei-
gerte  sich,  die  überlegenen  Fähigkeiten  von  Denzel
Warhound anzuerkennen. Als man ihm das Gegenteil
nachwies, stürmte er vom Platz und nahm die Sheirl,
seine Nichte, sowie die verdrängten Stürmer mit. Ei-
ne  Stunde  später,  im  Gastgarten  des  Magischen  Fi-
sches, konstituierten sich Neronavy und sein Anhang
zu einer neuen Mannschaft, die den Namen ›Fischtö-
ter von Saurkash‹ erhalten sollte; dieser zuversichtli-
che Kern eines neuen Teams verstieg sich sogar dazu,
Lord  Gensifer,  der  zufällig  vorbeikam,  mit  seinen
Gorgonen  zu  einem  Spiel  herauszufordern.  Lord
Gensifer  erklärte  sich  bereit,  das  Angebot  in  Erwä-
gung zu ziehen.

Die  Tanchinaros,  denen  auf  einmal  ihre  neuen

Möglichkeiten bewußt wurden, trainierten eifrig und
entwickelten Präzision, Koordination und ein Reper-
toire an Grundmanövern. Ihre ersten Gegner würden
die  Raparees  aus  Galgade  in  den  Ost-Fens  sein.  Die
Raparees wollten um nicht mehr als fünfzehnhundert
Ozols spielen, ein Betrag, der ohnehin gerade den fi-
nanziellen Möglichkeiten der Tanchinaros entsprach.
Wer aber sollte die Sheirl sein? Perinda, der Manager
des  Vereins,  führte  mehrere  ziemlich  unscheinbare
Kandidatinnen vor, die die Mannschaft allesamt un-
geeignet fand.

»Wir sind ein erstklassiges Team«, erklärte Denzel

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Warhound.  »Also  besorgen  Sie  uns  auch  eine  erst-
klassige  Sheirl.  Wir  werden  uns  nicht  mit  irgendei-
nem schäbigen Stück Merlingköder zufriedengeben.«

»Es  gäbe  da  schon  ein  Mädchen«,  sagte  Perinda.

»Absolut  erste  Klasse  –  Sashei,  Schönheit,  Begeiste-
rungsfähigkeit, alles da –, nur gibt's dabei den einen
oder anderen kleinen Haken.«

»So? Ist sie die Mutter von neun Kindern?«
»Nein.  Ich  bin  überzeugt,  daß  sie  Jungfrau  ist.

Schließlich  ist  sie  eine  Trevanyi  –  und  das  ist  eines
von den kleinen Problemen, die ich erwähnte.«

»Aha«, sagte Glinnes. »Welche gibt es noch?«
»Nun – sie ist recht gefühlsbetont und ein bißchen

heftig. Ihre Zunge geht ihr manchmal durch. Ein feu-
riges Wesen – alles in allem die ideale Sheirl.«

»Aha. Ist ihr Name vielleicht Duissane Drosset?«
»Stimmt  genau.  Haben  Sie  irgendwelche  Einwän-

de?«

Glinnes spitzte die Lippen und versuchte, sich über

seine  Einstellung  Duissane  Drosset  gegenüber  klar-
zuwerden. Zweifelsohne besaß sie Feuer und Sashei –
sie würde der Mannschaft bestimmt Schwung geben.
Er sagte: »Ich habe keinerlei Einwände.«

Wenn Duissane betroffen darüber war, Glinnes in der
Mannschaft zu finden, so zeigte sie es nicht. Sie kam
allein  auf  den  Trainingsplatz,  was  für  ein  Trevanyi-
Mädchen  schon  ein  sehr  freizügiges  Benehmen  dar-
stellte.  Sie  trug  einen  dunkelbraunen  Umhang,  den
der  Südwind  an  ihre  schlanke  Gestalt  preßte,  und
wirkte sehr schutzbedürftig und unschuldig. Sie sagte
wenig und schaute den Tanchinaros mit anscheinend
sachverständiger Aufmerksamkeit beim Training zu,

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und  die  Mannschaft  spielte  mit  erheblich  mehr
Schwung als sonst.

Duissane  begleitete  die  Spieler  nachher  in  den

Gastgarten  des  Magischen  Fisches,  wo  die  Tanchi-
naros  sich  üblicherweise  nach  dem  Training  labten.
Perinda benahm sich etwas fahrig, und als er Duissa-
ne formell vorstellte, bezeichnete er sie betont als ›ei-
ne unserer Kandidatinnen‹.

Savat rief: »Also soweit's mich angeht, ist sie unsere

Sheirl. Lassen wir doch das Gerede von ›Kandidatin-
nen‹.«

Perinda räusperte sich. »Ja, ja, gewiß. Aber es gibt

da  noch  ein  oder  zwei  Punkte  zu  regeln,  und  die
Sheirl  wird  traditionsgemäß  erst  nach  einer  einge-
henden Beratung gewählt.«

»Was  gibt's  da  noch  zu  beraten?«  wollte  der

Wächter  Etzing  wissen.  Er  fragte  Duissane:  »Bist  du
bereit, treu zu uns zu halten als unsere Sheirl in guten
wie in schlechten Zeiten?«

Duissanes schillernder Blick streifte über die Grup-

pe und schien einen Augenblick auf Glinnes zu ver-
weilen. Sie sagte jedoch ruhig: »Ja, natürlich.«

»Na also!« schrie Etzing. »Sollen wir sie zur Sheirl

weihen oder nicht?«

»Einen  Augenblick,  nur  einen  Augenblick!«  sagte

Perinda,  etwas  rot  im  Gesicht.  »Wie  erwähnt,  sind
noch ein oder zwei Fragen zu klären.«

»Wie  zum  Beispiel?«  knurrte  Etzing.  »Rücken  Sie

schon raus damit!«

Perinda blies die Backen auf, rot vor Verlegenheit.

»Wir können ein andermal darüber sprechen.«

»Was sind das für Fragen?« erkundigte sich Duis-

sane. »Sprechen Sie jetzt darüber, vor allen. Vielleicht

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kann ich klären, was immer noch fraglich sein sollte.
Nur los«, befahl sie, als Perinda noch immer zögerte.
»Wenn  irgendwelche  Behauptungen  über  mich  vor-
gebracht  wurden,  so  möchte  ich  sie  hören.«  Wieder
schien es, als ob ihr Blick einen Moment auf Glinnes
ruhte.

»›Behauptungen‹  wäre  zuviel  gesagt«,  stammelte

Perinda. »Nur Andeutungen und Gerüchte bezüglich
– nun, hinsichtlich Ihrer... Ihrer Jungfräulichkeit. Ob-
wohl Sie eine Trevanyi sind, scheint es Zweifel daran
zu geben.«

Duissanes  Augen  blitzten.  »Wie  kann  jemand  wa-

gen, so etwas über mich zu behaupten? Das ist so fei-
ge  und  gemein!  Glücklicherweise  kenne  ich  meinen
Feind,  und  ich  werde  nie  vergessen,  was  er  mir  an-
getan hat!«

»Nein,  nein!«  rief  Perinda.  »Ich  kann  nicht  sagen,

woher das Gerücht stammt. Es ist nur, daß...«

»Wartet hier!« befahl Duissane. »Geht nicht, bevor

ich wieder da bin. Ich will mich gegen Mißtrauen und
Demütigungen wenigstens verteidigen dürfen.« Zor-
nig  stürmte  sie  aus  dem  Garten  und  stieß  fast  mit
Lord  Gensifer  und  einem  seiner  Kumpane,  Lord
Alandrix,  zusammen,  die  eben  die  Laube  betreten
wollten.

»Bei allen Sternen!« rief Lord Gensifer aus. »Wer ist

denn das gewesen? Und auf wen ist sie so wütend?«

»Mylord, sie ist eine Bewerberin um die Würde der

Tanchinaro-Sheirl«, erklärte Perinda unbehaglich.

Lord  Gensifer  lachte  voll  Genugtuung.  »Dann  hat

sie  eben  die  weiseste  Entscheidung  ihres  Lebens  ge-
troffen, als sie vor dieser Verpflichtung davonlief. Um
die Wahrheit zu sagen, sie ist wirklich ein entzücken-

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des Geschöpf. Ich hätte nichts dagegen, selbst an ih-
rem Ring zu ziehen.«

»Dazu  werden  Sie  mit  großer  Sicherheit  nie  die

Gelegenheit haben«, sagte Glinnes.

»Seien  Sie  nur  nicht  zu  sicher!  Nach  den  jüngsten

Umbesetzungen sind die Gorgonen eine ganz andere
Mannschaft.«

»Ich  denke,  Sie  könnten  ein  Match  mit  uns  be-

kommen, wenn die Prämie angemessen ist.«

»Tatsächlich  –  und  was  halten  Sie  für  angemes-

sen?«

»Dreitausend,  fünftausend,  zehntausend  –  soviel

Sie wollen.«

»Pah.  Die  Tanchinaros  können  keine  zweitausend

Ozols aufbringen, geschweige denn zehntausend.«

»Was  immer  die  Gorgonen  an  Prämie  bieten,  wir

werden das gleiche bieten.«

Lord Gensifer nickte überlegend. »Vielleicht schaut

wirklich  etwas  dabei  heraus.  Zehntausend  Ozols,
sagten Sie.«

»Warum nicht?« Glinnes schaute sich um. Alle an-

wesenden  Tanchinaros  wußten  ebensogut  wie  er
selbst,  daß  die  Kasse  bestenfalls  dreitausend  Ozols
enthielt, aber nur Perinda ließ Besorgnis erkennen.

»Also  gut«,  sagte  Lord  Gensifer  forsch.  »Die  Gor-

gonen  nehmen  die  Herausforderung  an.  Zu  gegebe-
ner  Zeit  werden  wir  die  notwendigen  Vereinbarun-
gen  treffen.«  Er  wandte  sich  zum  Gehen,  eben  als
Duissane  Drosset  wieder  in  den  Gastgarten  mar-
schiert kam. Ihre rotgoldenen Locken waren etwas in
Unordnung geraten; in ihren Augen glomm eine Mi-
schung von Triumph und Zorn. Sie funkelte Glinnes
an und warf ein Papier vor Perinda hin. »Da! Nur um

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Schlangenzungen  zum  Schweigen  zu  bringen,  muß
ich  mich  solchen  Unannehmlichkeiten  unterziehen.
Lesen Sie! Sind Sie nun zufrieden?«

Perinda  studierte  das  Dokument.  »Wir  haben  hier

eine  Bestätigung  der  Unberührtheit  von  Duissane
Drosset. Der unterzeichnende Arzt ist kein geringerer
als Doktor Niameth. Also, dann ist diese unglückseli-
ge Sache ja geklärt.«

»Nicht  so  hastig«,  rief  Glinnes.  »Welches  Datum

steht auf dem Dokument?«

»Was  sind  Sie  doch  für  ein  Scheusal!«  brauste

Duissane  auf.  »Die  Bestätigung  trägt  das  heutige
Datum!«

Perinda erklärte das für zutreffend und fügte trok-

ken hinzu: »Doktor Niameth hat allerdings nicht die
genaue Stunde und Minute seiner Untersuchung an-
geführt, aber ich würde meinen, daß dies wohl zuviel
der Pedanterie wäre.«

»Meine  liebe  junge  Dame,  glauben  Sie  nicht,  daß

Sie mit den Gorgonen besser fahren würden?« sagte
Lord Gensifer. »Wir sind eine höfliche Schar, das ge-
naue Gegenteil von diesen rüden Tanchinaros.«

»Mit Höflichkeit gewinnt man keine Spiele«, stellte

Perinda  fest.  »Wenn  Sie  bei  Ihrem  ersten  Match  be-
reits  nackt  dastehen  wollen,  dann  gehen  Sie  zu  den
Gorgonen.«

Duissane warf Lord Gensifer einen abschätzenden

Blick  zu.  Halb  bedauernd  schüttelte  sie  den  Kopf.
»Ich habe nur die Erlaubnis für die Tanchinaros. Sie
müßten meinen Vater darum ersuchen.«

Lord Gensifer hob den Blick zur Decke, als rufe er

die  eine  oder  andere  Gottheit  zum  Zeugen  auf,  was
doch für unzumutbare Ansinnen an ihn gestellt wür-

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den. Er verbeugte sich tief. »Meine besten Wünsche.«
Er  grüßte  die  Tanchinaros  und  verließ  den  Gastgar-
ten.

Perinda sah Glinnes an. »Es mag ja ein guter Scherz

gewesen  sein,  aber  woher  sollen  wir  zehntausend
Ozols auftreiben?«

»Woher  will  Lord  Gensifer  zehntausend  Ozols

auftreiben? Er hat versucht, von mir Geld zu leihen.
Wer  weiß,  wie  wir  in  ein  oder  zwei  Monaten  daste-
hen? Zehntausend Ozols kommen uns dann vielleicht
als belanglose Summe vor.«

»Wer  weiß,  wer  weiß?«  knurrte  Perinda.  »Aber

kommen  wir  wieder  zu  Duissane  Drosset.  Soll  sie
nun unsere Sheirl sein oder nicht?«

Niemand erhob Einwände; vielleicht wagte es nie-

mand,  nachdem  Duissane  einen  nach  dem  anderen
mit  ihrem  Blick  fixiert  hatte.  Und  so  wurde  sie  zur
Sheirl geweiht.

Das  Match  gegen  die  Raparees  von  Galgade  gewan-
nen sie mit fast beschämender Leichtigkeit. Die Tan-
chinaros  waren  überrascht,  daß  ihre  taktischen  Ma-
növer einen so durchschlagenden Erfolg hatten. Ent-
weder  waren  sie  mindestens  sechsmal  so  stark,  wie
sie angenommen hatten, oder die Reparees waren die
schwächste Mannschaft der Präfektur Jolany. Dreimal
stießen die Tanchinaros über die gesamte Länge des
Feldes  vor,  mit  geschmeidigen  und  entschlossenen
Manövern,  und  die  Reparees  sahen  sich  immer  von
mindestens je zwei Tanchinaros bedrängt, ihre Sheirl
war dauernd in Gefahr, und sie kamen nicht einmal
in  die  Nähe  von  Duissane,  die  ruhig  und  kühl  und
ernst auf ihrem Podest stand, in dem weißen Gewand

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anziehender  denn  je.  Die  Raparees,  entmutigt  durch
ihre  hoffnungslose  Unterlegenheit,  zahlten  dreimal
die Löseprämie und gingen vom Platz, ohne daß ihre
Sheirl entblößt wurde – zur großen Enttäuschung des
Publikums.

Nach dem Spiel versammelten sich die Tanchinaros

im  Magischen  Fisch.  Duissane  gab  sich  bei  der  aus-
gelassenen  Geselligkeit  ziemlich  unnahbar,  und  als
Glinnes  einmal  zufällig  nach  draußen  schaute,  be-
gegnete  er  dem  dräuenden  Blick  von  Vang  Drosset.
Daraufhin  führte  er  Duissane  sofort  aus  der  Gast-
stätte.

Eine  Woche  später  fuhren  die  Tanchinaros  den

Scurge-Fluß hinauf bis Erch auf der Kleinen Rattenin-
sel, wo sie mit ähnlichem Ergebnis gegen die ›Natur-
gewalten von Erch‹ spielten. Lucho war jetzt als lin-
ker Mittelstürmer aufgestellt, um besser mit Glinnes
Hulden zusammenspielen zu können, und Savat gab
einen  recht  tüchtigen  rechten  Außenstürmer  ab.  Die
Aufstellung hatte jedoch immer noch ihre schwachen
Stellen, die ein geschickter Gegner ausnützen würde.
Gajowan,  der  linke  Außenstürmer,  war  etwas  zu
leicht und recht unsicher, und Rolo, der linke Sprin-
ger,  war  zu  langsam.  Bei  dem  Match  gegen  die  Na-
turgewalten bemerkte Glinnes Lord Gensifer in einer
der mittleren Logen. Er stellte außerdem fest, daß sich
Lord Gensifers Blicke recht oft auf Duissane richteten,
obwohl er darin nicht allein dastand, denn Duissane
war  eine  unwiderstehliche,  faszinierende  Sheirl.  In
dem weißen Gewand ließ sie ihre Trevanyi-Herkunft
vergessen  und  war  nichts  als  ein  bezauberndes  Ge-
schöpf:  sehnsüchtig,  kühn,  fröhlich,  traurig,  mutig,
vorsichtig, weise, töricht. Glinnes glaubte noch ande-

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re Eigenschaften an ihr zu erkennen; er konnte sie nie
ansehen,  ohne  ein  glockenhelles  Gelächter  in  einer
sternklaren Nacht zu hören.

Das nächste Spiel gegen die Hansard-Drachen ließ

die  weiche  Stelle  in  der  linken  Flanke  der  Tanchi-
naros offenkundig werden, als die Drachen zweimal
auf dieser Seite weit vordrangen. Beide Male wurden
sie von den Wächtern aufgehalten und gleich darauf
durch  einen  Vorstoß  auf  ihre  Sheirl  von  der  rechten
Flanke  her  besiegt.  Die  Tanchinaros  gewannen  das
Spiel  in  drei  aufeinanderfolgenden  Partien.  Wieder
saß Lord Gensifer in einer der Mittellogen, in Gesell-
schaft von einigen Männern, die Glinnes nicht kannte.
Nach  dem  Spiel  tauchte  er  im  Magischen  Fisch  auf
und erneuerte seine Herausforderung an die Tanchi-
naros. Jeder Verein sollte ein Prämiengeld von zehn-
tausend Ozols beibringen, schlug Lord Gensifer vor,
und das Match sollte in vier Wochen stattfinden.

Ein wenig zögernd nahm Perinda die Herausforde-

rung an. Sobald Lord Gensifer sich empfohlen hatte,
begannen  die  Tanchinaros  sich  die  Köpfe  zu  zerbre-
chen, was für einen hinterhältigen Plan Lord Gensifer
wohl aushecken mochte. Gilweg sagte: »Nicht einmal
Tammi würde mit seinem augenblicklichen Team auf
einen Sieg hoffen.«

»Er glaubt, er kann unsere linke Flanke aufrollen«,

meinte  Etzing  mißmutig.  »Das  ist  uns  heute  ja  fast
passiert.«

»Er  würde  nicht  zehntausend  Ozols  auf  diese

Möglichkeit  setzen«,  sagte  Glinnes.  »Mir  schwant,
daß er ein paar ganz ausgefallene Tricks auf Lager hat
– so zum Beispiel eine völlig neue Mannschaft – die
Karpouns  von  Vertrice  oder  die  Skorpione  von  Port

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Angel  –  die  für  den  einen  Tag  den  Dreß  der  Gorgo-
nen trägt.«

»Wahrscheinlich ist es das, was er vorhat«, stimmte

Lucho  zu.  »Tammi  würde  es  mächtig  Spaß  machen,
uns mit so einem Strohmann-Team zu schlagen.«

»Die zehntausend Ozols würden seiner Stimmung

auch nicht abträglich sein.«

»Eine solche Mannschaft würde unsere linke Seite

zermalmen  wie  eine  Melone«,  prophezeite  Etzing
und warf einen Blick auf die andere Seite der Laube,
wo Gajowan und Rolo mit düsterer Miene zuhörten.
Für die beiden konnte das Gespräch nur die eine Be-
deutung haben: nach der unbarmherzigen Logik des
Professionalsports war für Zweitausend-Ozol-Spieler
in  einer  Zehntausend-Ozol-Mannschaft  einfach  kein
Platz mehr.

Zwei Tage darauf stießen zwei neue Spieler zu den

Tanchinaros.  Der  eine,  Yalden  Wirp,  war  in  Lord
Gensifers  ursprünglicher  Traum-Mannschaft  vertre-
ten gewesen; der zweite, Dion Sladine, hatte als Mit-
glied einer unbedeutenden Mannschaft von den Äu-
ßeren  Hügeln  Denzel  Warhounds  respektvolle  Auf-
merksamkeit  gewonnen.  Die  schwache  linke  Flanke
der Tanchinaros war nun nicht nur verstärkt, sondern
mit potentieller Dynamik versehen worden.

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KAPITEL 14

Rolo und Gajowan wurden überredet, als Ersatzleute
und  Gelegenheitsspieler  beim  Verein  zu  bleiben;  in
einem  Match  gegen  die  Schlaufüchse  von  Wigtown,
zwei  Wochen  vor  dem  Treffen  mit  den  Gorgonen,
spielten  sie  in  ihren  ehemaligen  Positionen.  Die
Schlaufüchse, eine Mannschaft von recht gutem Rufs
verloren  eine  hart  erkämpfte  Prämie,  bevor  sie  die
schwache  linke  Flanke  ihres  Gegners  entdeckten.
Darauf begannen sie die empfindliche Stelle hartnäk-
kig zu attackieren und stießen mehrmals bis ins Hin-
terfeld vor, wo sie jedoch an den ebenso flinken wie
massigen Tanchinaro-Wächtern scheiterten. Fast zehn
Minuten  lang  verteidigten  die  Tanchinaros  lediglich
ihre Heimregion, als fehle ihnen der Schwung für ei-
nen Angriff, während Lord Gensifer von seiner Loge
aus zuschaute und hin und wieder seinen Freunden
eine Bemerkung zumurmelte.

Die  Tanchinaros  siegten  schließlich  doch  mit  eini-

ger Mühe – wie üblich durch drei gewonnene Partien
hintereinander. Bis jetzt hatte noch nie jemand Hand
an Duissanes Ring gelegt.

Die  Prämienkasse  der  Tanchinaros  belief  sich  nun

auf weit über zehntausend Ozols. Die Spieler began-
nen sich mit der Aussicht auf Reichtum zu beschäfti-
gen. Mehrere Möglichkeiten standen ihnen offen. Sie
konnten  sich  als  Zweitausend-Ozol-Mannschaft  an-
sehen  und  versuchen,  nur  Gegner  dieser  Klasse  zu
bekommen. Das würde allerdings ziemlich schwierig,
wenn  nicht  unmöglich  sein.  Sie  konnten  sich  als
Fünftausend-Ozol-Team  betrachten  und  in  dieser

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Kategorie spielen, wobei sie nicht viel riskieren, aber
auch nur wenig gewinnen würden. Oder sie konnten
sich  als  Mannschaft  der  ersten  Kategorie  einstufen
und  gegen  Zehntausend-Ozol-Mannschaften  spielen
– wodurch sich sowohl Reichtum als auch jene unde-
finierbare  Eigenschaft  erwerben  ließen,  die  man  Ist-
houne
 nannte. Mit einem gewissen Maß an Isthoune

18

durften sie sich als Team von Meisterschaftsrang an-
sehen  und  beschließen,  sich  jeder  Mannschaft  von
Trullion  oder  anderen  Welten  zu  stellen,  wobei  um
beliebig hohe Prämien gekämpft werden konnte.

Der  Tag  des  Herausforderungsspiels  begann  mit  ei-
nem heftigen Gewitter. Grelle lila Blitze zuckten von
Wolke  zu  Wolke  und  schlugen  immer  wieder  ir-
gendwo in den Hügeln ein, so daß der eine oder an-
dere  hohe  Mena  in  waberndem  elektrischen  Feuer
zerbarst.  Gegen  Mittag  zog  sich  das  Gewitter  in  die
Hügel zurück und blieb dort grollend hängen.

Die  Tanchinaros  kamen  als  erste  aufs  Feld  und

wurden  einer  begeisterten  Menge  von  sechzehntau-
send  Zuschauern  vorgestellt:  »Die  streitbaren  und
unbarmherzigen  Tanchinaros  vom  Hussade-Verein
Saurkash, der Verteidigung der Ehre ihrer Sheirl ver-
schworen, der der lieblichen Duissane! In der Mann-
schaft kämpfen Spieler wie der Kapitän Denzel War-
hound,  die  Stürmer  Tyran  Lucho  und  Glinnes  Hul-
den,  die  Außenstürmer  Yalden  Wirp  und  Ervil  Sar-
vat, die Wächter...« Und so weiter die Aufstellungsli-
ste herunter. »Und jetzt erscheinen auf dem Platz die
jungen,  zu  allem  entschlossenen  Gorgonen  in  ihren

                                                  

18

 

Siehe Glossar

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prachtvollen Dressen in Schwarz und Gold, unter der
geschickten  Führung  des  Kapitäns  Thammas  Lord
Gensifer,  die  die  Würde  ihrer  entzückenden  Sheirl
Arelmra  mit  allen  Kräften  verteidigen  werden.  Die
Mittelstürmer sind...«

Genau  wie  Glinnes  erwartet  hatte,  brachte  Lord

Gensifer  eine  gänzlich  andere  Mannschaft  ins  Spiel,
die  mit  den  von  den  Tanchinaros  bereits  besiegten
Gorgonen  nichts  gemein  hatte.  Diese  neuen  Gorgo-
nen  verrieten  Sicherheit  und  Erfahrung  und  waren
sichtlich  an  Siege  gewohnt.  Soweit  Glinnes  sah,  war
nur  ein  Mann  ein  Einheimischer:  der  Kapitän  Lord
Gensifer. Sein Plan war natürlich klar – er beabsich-
tigte,  relativ  einfach  und  schnell  zehntausend  Ozols
zu  verdienen.  Die  Praktiken  in  der  Hussade  waren
allgemein ziemlich freizügig; das Spiel basierte ja im
wesentlichen auf Finten, Tricks, Einschüchterung, je-
der  Art  von  Bluffs  und  roher  Kraft.  Lord  Gensifers
kleiner  Schwindel  stellte  also  keine  Verletzung  des
Sportsgeistes dar, obwohl er dazu führen mochte, daß
der  düpierte  Gegner  auf  gewisse  Anstandsregeln
vergaß.

Das Orchester stimmte eine Melodie an, das tradi-

tionelle  Lied  von  Schönheit  und  Ruhm,  als  die  Sheirls
auf ihre Podeste geführt wurden. Arelmra, die Sheirl
der Gorgonen, ein stolzes, dunkelhaariges Mädchen,
besaß  kaum  etwas  von  jener  warmen,  mitreißenden
Begeisterungsfähigkeit,  die  man  Emblance  nannte.
Lord  Gensifer  wirkte,  wie  Glinnes  feststellte,  ruhig
und  zuversichtlich.  Seine  Siegessicherheit  bekam  ei-
nen  ziemlichen  Riß,  als  er  die  geänderte  Besetzung
bei  Stürmer  und  Springer  bemerkte;  dann  zuckte  er
die Achseln und lächelte in sich hinein.

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Die Mannschaften stellten sich auf. Hörner, Trom-

meln  und  Flöten  ließen  das  mitreißende  Siegt für die
Sheirls
 erschallen.

Die  Kapitäne  trafen  sich  auf  dem  Mittelsteg  mit

dem  Schiedsrichter.  Denzel  Warhound  benutzte  die
Gelegenheit,  um  festzustellen:  »Lord  Gensifer,  Ihr
Team strotzt von fremden Gesichtern. Sind das alles
Einheimische?«

»Wir  sind  alle  Bürger  von  Alastor.  Wir  sind  doch

alle  Einheimische,  alle  fünf  Milliarden«,  entgegnete
Lord  Gensifer  großzügig.  »Und  Ihre  Mannschaft?
Stammen alle aus Saurkash?«

»Aus Saurkash und der Umgebung.«
Der  Schiedsrichter  warf  den  Stab.  Die  Gorgonen

gewannen  das  grüne  Licht,  und  das  Spiel  begann.
Lord  Gensifer  rief  ein  Manöver  auf,  und  die  Gorgo-
nen setzten sich gewandt, selbstsicher und angriffslu-
stig  in  Bewegung.  Die  Tanchinaros  wußten  sofort,
daß  sie  einer  Mannschaft  von  sehr  hohem  Können
gegenüberstanden.

Die  Gorgonen  fintierten  auf  die  rechte  Seite  der

Tanchinaros und schwenkten dann zu einem brutalen
Vorstoß  nach  links.  Massige  Gestalten  in  Schwarz
und Gelb mit schauerlich grinsenden Masken stürm-
ten gegen Silber und Schwarz an. Die linke Seite der
Tanchinaros  gab  nur  soweit  nach,  daß  eine  Gruppe
von Gorgonen umzingelt und gegen den Graben ab-
gedrängt  werden  konnte.  Das  Licht  wechselte  auf
Rot.  Warhound  versuchte,  zwei  weit  vorgestoßene
Gorgonen in die Zange zu nehmen, aber die Springer
der  Gorgonen  schwangen  heran  und  schlugen  eine
Bresche zum Rückzug. Rasch und flüssig wechselten
die  Formationen,  Angriffsmuster  bildeten  sich  und

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lösten sich auf, setzten erst den einen, dann den ande-
ren Spieler unter Druck. Nach etwa zehn Minuten, in
denen  keinerlei  Entscheidungen  gefallen  waren,
wagte  sich  Lord  Gensifer  unvorsichtigerweise  aus
dem  Schutz  seiner  Hange.  Glinnes  setzte  über  den
Graben,  attackierte  Lord  Gensifer  und  warf  ihn  ins
Wasser.

Lord Gensifer tauchte naß und wütend wieder auf,

und genau darauf hatte es Glinnes angelegt: die Gor-
gonen  gerieten  nun  durch  seine  hitzigen  Anweisun-
gen ins Hintertreffen. Die Tanchinaros ließen unver-
mutet einen blitzschnellen Zentrumsangriff vom Sta-
pel – ein Vorstoß von klassischer Einfachheit, und Er-
vil Savat schwang sich aufs Podest und ergriff Arelm-
ras  Ring.  Ihre  edlen  Züge  verzerrten  sich  entrüstet;
sie  hatte  offensichtlich  nicht  im  mindesten  mit  einer
so leichten Eroberung ihrer Festung gerechnet.

Lord  Gensifer  bezahlte  mit  steinerner  Miene  fünf-

tausend  Ozols,  und  der  Schiedsrichter  setzte  eine
Pause von fünf Minuten an.

Die Tanchinaros berieten sich.
»Tammi  kocht  vor  Wut«,  sagte  Lucho.  »So  hat  er

sich die Sache nicht vorgestellt.«

»Tunken  wir  ihn  doch  nochmal  ein«,  schlug  War-

hound vor.

»Genau daran dachte ich auch. Die Mannschaft ist

ausgezeichnet,  aber  durch  Tammi  können  wir  den
Burschen beikommen.«

»Aber  unauffällig!«  warnte  Glinnes.  »Sie  dürfen

nicht merken, was wir vorhaben! Laßt Tammi auf je-
den  Fall  baden  gehn,  aber  so,  daß  es  ganz  zufällig
wirkt.«

Das  Spiel  wurde  fortgesetzt.  Lord  Gensifer  begab

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sich zorndräuend auf seinen Platz, und die Gorgonen
wurden anscheinend von seiner Wut angesteckt. Hin
und her liefen die Wellen von Angriff und Gegenan-
griff, behende, rasche Manöver. Beim roten Licht ließ
Warhound  seinen  rechten  Flügel  vorstürmen  –  aber
plötzlich schwenkten die Spieler nach innen und ge-
rieten an Lord Gensifer, der vergeblich versuchte, zu
seiner  Hange  zurückzukommen:  er  wurde  abgefan-
gen  und  in  den  Tank  befördert.  Einen  Augenblick
lang  hatten  die  Tanchinaro-Stürmer  freie  Bahn  nach
vorne, und Warhound rief zum Generalangriff. Lord
Gensifer  kletterte  wutschillernden  Blicks  die  Leiter
herauf, gerade rechtzeitig, um eine zweite Prämie zu
zahlen, womit seine zehntausend Ozols dahin waren.

Die  Tanchinaros  versammelten  sich  und  berieten

nachdenklich.  Warhound  rief  zum  Schiedsrichter
hinüber:  »Wie  nennt  sich  diese  andere  Mannschaft
normalerweise?«

»Wußtet  ihr  das  nicht?  Das  sind  die  Stilette  vom

Planeten  Rufus,  die  auf  Meisterschaftstournee  sind.
Ihr  spielt  heute  gegen  eine  gute  Mannschaft.  Sie  ha-
ben bereits die Skorpione von Port Angel geschlagen
und  die  Ungläubigen  von  Jonus  –  unter  ihrem  eige-
nen Kapitän, selbstredend.«

»Na schön«, meinte Lucho großmütig, »dann wol-

len wir ihnen ein ausgiebiges Bad verschaffen, damit
sie  nicht  übermütig  werden.  Warum  sollte  nur  der
arme Tammi allein baden gehen?«

»Bravo! Wir werden sie gründlich gewaschen nach

Rufus heimschicken!«

Rotes Licht. Die Tanchinaros setzten über den Gra-

ben  und  stießen  auf  die  zur  Großen  Barrikade  for-
mierten  Gorgonen.  Mit  zwei  gewonnenen  Partien

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konnten  die  Tanchinaro-Wächter  es  sich  leisten,  et-
was kühner als sonst zu spielen. Sie rückten ebenfalls
bis zum Graben vor, setzten über – ein Manöver, das
eine  fast  beleidigende  Mißachtung  für  die  Angriffs-
qualitäten  des  Gegners  bewies.  Eine  plötzliche  Kon-
zentration der Kräfte, ein blitzartiger Schlagabtausch,
und Gorgonen wie Tachinaros platschten in das Bek-
ken. Auf den Zügen und Brücken focht Gelb-Schwarz
gegen  Silber-Blau-Schwarz;  Metallfänge  blitzten,
monströse  schwarze  Rachen  ließen  rote  Zungen
baumeln.  Spieler  schwankten,  stürzten;  die  heiseren
Schreie der Kapitäne gingen fast im Lärm der Menge
und  in  der  aufbrausenden  Musik  unter.  Arelmra
preßte  die  Hände  gegen  die  Brust.  Ihre  hoheitsvolle
Selbstsicherheit war verschwunden; es schien, als ob
sie  weinte  und  stöhnte,  obwohl  ihre  Stimme  in  dem
Getöse  nicht  zu  hören  war.  Die  Tanchinaro-Wächter
drangen  wie  ein  Panzerkeil  durch  die  Barrikade  der
Gorgonen,  Warhound  ließ  seine  Hange  stehen,
sprang  an  dem  Getümmel  vorbei  und  ergriff  den
Goldring.

Das  weiße  Gewand  flatterte  zu  Boden;  Arelmra

stand nackt da, während leidenschaftliche Musik die
Niederlage der Gorgonen und die tragische Demüti-
gung ihrer Sheirl feierte. Lord Gensifer brachte ihr ei-
nen Umhang und geleitete sie vom Platz, gefolgt von
den  niedergeschlagenen  Gorgonen.  Duissane  wurde
von jubelnden Tanchinaros aufgehoben und zum Po-
dest  der  Gorgonen  getragen,  während  die  Kapelle
Glänzende Triumphe  spielte.  Von  Freude  überwältigt,
warf Duissane die Arme hoch und lachte und weinte
in einem Atem, umarmte und küßte die Tanchinaros,
bis sie zu Glinnes kam – und da wich sie zurück und

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verließ fluchtartig den Platz.

Die  Tanchinaros  versammelten  sich  schließlich  im

Magischen Fisch, um die Glückwünsche ihrer Freun-
de und Anhänger entgegenzunehmen.

»Noch nie gab's eine Mannschaft mit so viel Einsatz

und Schlagkraft und Finesse!«

»Die  Tanchinaros  werden  Saurkash  berühmt  ma-

chen! Denkt bloß daran!«

»Was  wohl  Lord  Gensifer  jetzt  mit  seinen  Gorgo-

nen anfangen wird?«

»Vielleicht  wird  er  die  Tanchinaros  mit  den  Sole-

lamut-Satansbraten  oder  den  Falifoniken  vom  Grü-
nen Stern herausfordern.«

»Ich würde jedenfalls auf die Tanchinaros setzen.«
»Tanchinaros!« rief Perinda. »Ich komme eben vom

Telefon.  Wir  könnten  in  vierzehn  Tagen  ein  Fünf-
zehntausend-Ozol-Match bekommen – wenn wir nur
wollen.«

»Natürlich wollen wir! Gegen wen?«
»Die Karpouns von Vertrice.«
Im Gastgarten wurde es still.
Die  Karpouns  wurden  zu  den  fünf  besten  Teams

von Trullion gezählt.

»Sie wissen nichts von den Tanchinaros, außer, daß

wir ein paar Spiele gewonnen haben«, sagte Perinda.
»Ich  glaube,  sie  rechnen  mit  leichtverdienten  fünf-
zehntausend Ozols.«

»Gierige Hunde.«
»Wir sind genauso gierig – vielleicht mehr.«
»Wir würden in Welgen spielen«, fuhr Perinda fort.

»Zusätzlich  zur  Prämie  würden  wir  –  falls  wir  ge-
winnen – ein Fünftel vom Kartenverkauf bekommen.
Es ist durchaus möglich, daß wir nahezu vierzigtau-

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send Ozols mit nach Hause nehmen – rund dreitau-
send pro Mann.«

»Wirklich nicht schlecht für einen Nachmittagsver-

dienst!«

»Soviel kriegen wir nur, wenn wir gewinnen.«
»Für  dreitausend  Ozols  spiele  ich  allein  und  ge-

winne.«

»Die  Karpouns«,  sagte  Perinde,  »sind  eine  unbe-

zweifelbar  erstklassige  Mannschaft.  Sie  haben  acht-
undzwanzig  Spiele  hintereinander  in  allen  Partien
gewonnen, und ihre Sheirl ist nie berührt worden.

Was  die  Tanchinaros  betrifft  –  nun,  ich  glaube

nicht,  daß  jemand  weiß,  wie  gut  wir  wirklich  sind.
Die  heutigen  Gorgonen  waren  ein  sehr  gutes  Team,
das  durch  einen  ungeschickten  Kapitän  behindert
wurde.  Die  Karpouns  sind  ebensogut  oder  besser,
deshalb ist es durchaus möglich, daß wir unser Geld
verlieren. Also – was meint ihr? Sollen wir gegen sie
antreten?«

»Wenn  ich  Aussicht  auf  dreitausend  Ozols  habe,

trete ich gegen eine Mannschaft von wirklichen Kar-
pouns

19

 an.«

                                                  

19

 

Siehe Glossar

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KAPITEL 15

Das  Stadion  von  Welgen,  das  größte  der  Präfektur
Jolany, war bis auf den letzten Platz besetzt. Der Adel
aus  den  Präfekturen  Jolany,  Minch,  Straveny  und
Gulkin hatte sich die Sitze in den vier Logenpavillons
gesichert.  Dreißigtausend  gewöhnliche  Leute  füllten
die Bänke der unüberdachten Tribünen. Von Vertrice,
dreihundert Meilen im Westen gelegen, war eine be-
trächtliche  Schar  Schlachtenbummler  erschienen.  Sie
hatten  sich  in  einem  mit  Grün  und  Orange  ge-
schmückten Tribünenabschnitt versammelt. Über ih-
nen hingen achtundzwanzig orangefarbene und grü-
ne  Wimpel,  die  in  den  Farben  der  Mannschaft  ihre
achtundzwanzig  aufeinanderfolgenden  Siege  ver-
kündeten.

Eine Stunde lang spielte die Kapelle schon traditio-

nelle  Hussade-Musik;  die  Siegeshymnen  von  einem
Dutzend  berühmter  Teams,  alte  Klage-  und  Trium-
phlieder; den Schlachtgesang der Miraksier, bei dem es
einen kalt überlief; die zauberhafte, traurig-süße Me-
lodie  Stimmungen  der  Sheirl  Hralce;  und  dann,  fünf
Minuten  vor  Spielbeginn,  das Ruhmeslied Vergessener
Helden.

Die  Tanchinaros  zogen  auf  dem  Platz  ein  und

stellten sich beim östlichen Podest auf, die Helme mit
den silbernen Masken noch zurückgeschoben. Einen
Augenblick  später  erschienen  die  Karpouns  beim
westlichen Podest. Sie trugen dunkelgrüne Leibchen
und grün und orange gestreifte Hosen; wie die Tan-
chinaros hatten sie die Masken noch nach hinten ge-
rückt.  Über  den  Platz  hinweg  musterten  sich  die

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Spieler  gespannt.  Jehan  Aud,  der  Kapitän  der  Kar-
pouns, Veteran von tausend Spielen, war als genialer
Taktiker  bekannt;  kein  Detail  entging  ihm;  für  jede
Variation  wußte  er  instinktiv  das  beste  Gegenmanö-
ver.  Denzel  Warhound  war  dagegen  jung,  erfinde-
risch und schnell. Aud besaß die Sicherheit des erfah-
renen Spielers; Warhound sprudelte über vor vielfäl-
tigen Tricks und Listen. Beide Männer waren zuver-
sichtlich. Die Karpouns hatten den Vorteil eines lan-
gen  Bestehens.  Die  Tanchinaros  waren  ein  junges
Team,  brachten  aber  dafür  Schwung,  Vitalität  und
Kraft  mit,  Eigenschaften,  die  gerade  in  diesem  Spiel
sehr viel wert waren. Die Karpouns wußten, daß sie
gewinnen würden. Die Tanchinaros wußten, daß die
Karpouns verlieren würden.

Die  Mannschaften  warteten,  während  die  Kapelle

Thresildama  spielte,  die  traditionelle  Begrüßung  der
Wettkämpfer.

Nun erschienen die Kapitäne mit den Sheirls, und

die Musiker spielten das Lied von Schönheit und Ruhm.
Die Sheirl der Karpouns war ein zauberhaftes Wesen
namens Farero, eine Blondine mit blitzenden Augen,
erfüllt von Sashei. Durch irgendeinen geheimnisvollen
Vorgang wurde sie, als sie das Podest bestieg, zu ei-
ner  goldenen,  jungfräulichen  Göttin,  zum  Archetyp
der  Sheirl.  Auch  Duissane  schien  ihr  Alltagswesen
abzustreifen; ihre wilde und doch zarte Schönheit, ihr
unbezähmbarer  Mut,  ihre  unbestimmte  Sehnsucht
verliehen  ihr  charakteristisches  Sashei  von  nicht  ge-
ringerem Feuer als das der göttlichen Farero.

Die  Spieler  zogen  ihre  Masken  übers  Gesicht;  die

silberglitzernden  Tanchinaros  konfrontierten  die
Karpouns mit ihren grausamen Raubtiergesichtern.

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Die  Karpouns  gewannen  das  grüne  Licht  und  da-

mit  die  erste  Aktivphase.  Die  Spieler  gingen  an  ihre
Plätze.  Die  Musik  veränderte  sich,  sämtliche  Instru-
mente vereinigten sich zu einer letzten Harmonie, ei-
nem goldenen Klanggewebe, das unvermittelt abriß.
Totenstille.  Vierzigtausend  Zuschauer  hielten  den
Atem an.

Grünes Licht. Die Karpouns stürmten mit ihrer be-

rühmten  ›Flutwelle‹  vor,  die  darauf  ausgelegt  war,
die  Tanchinaros  zu  überrennen  und  zu  erdrücken,
bevor  sie  Zeit  zur  Gegenwehr  fanden.  Die  Stürmer
setzten  über  den  Graben,  die  Springer  folgten,  und
gleich  hinter  ihnen  kamen  die  Wächter  mit  der  Ge-
walt  von  Rammböcken,  um  jeden  Widerstand  hin-
wegzufegen.

Die Tanchinaros waren auf eine solche Taktik vor-

bereitet. Anstatt zurückzuweichen, stürmten die vier
Wächter  vor,  und  die  Mannschaften  prallten  aufein-
ander  wie  zwei  wildgewordene  Büffelherden.  Das
darauffolgende Kampfgetümmel brachte keiner Seite
Vorteile.  Ein  paar  Minuten  später  brach  Glinnes  aus
dem  Durcheinander  aus  und  schaffte  es  auf  das  Po-
dest.  Er  blickte  der  Sheirl  der  Karpouns  voll  ins  Ge-
sicht und ergriff ihren Ring. Sie war blaß vor Aufre-
gung und Bestürzung; noch nie zuvor hatte ein Geg-
ner ihren Ring berührt.

Der  Gong  ertönte;  Jehan  Aud  trennte  sich  etwas

widerstrebend von acht Tausend-Ozol-Scheinen. Nun
wurde eine kurze Pause eingelegt. Fünf Tanchinaros
waren eingetunkt worden und ebensoviele Karpouns;
in dieser Beziehung standen die Mannschaften gleich.
Warhound  triumphierte.  »Sie  sind  gut,  keine  Frage!
Aber unsere Wächter sind unüberwindbar, und unse-

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re Stürmer sind schneller! Nur bei den Springern sind
sie uns überlegen, und auch da nicht sehr!«

»Womit  werden  sie  es  jetzt  versuchen?«  fragte

Glinnes.

»Ich glaube, es kommt nochmals das gleiche«, sagte

Warhound. »Nur mit mehr Methode. Sie wollen un-
sere  Stürmer  festnageln  und  danach  den  Rest  der
Mannschaft niederrennen.«

Das Spiel wurde fortgesetzt. Aud ließ seine Männer

immer wieder vorstoßen und fintieren, eine alte Zer-
mürbungstaktik, mit der der Gegner aus der Reserve
gelockt werden sollte – er hoffte, auf diese Weise den
einen oder anderen Stürmer zu erwischen. Warhound
war  jedoch  zu  gerissen,  um  diesen  Plan  nicht  zu
durchschauen, hielt sich bewußt zurück und gewann
schließlich die Geduldsprobe gegen Aud. Unvermit-
telt  versuchten  die  Karpouns  einen  Vorstoß  in  der
Mitte;  die  Tanchinaro-Stürmer  wichen  jedoch  seit-
wärts  aus  und  setzten  über  den  Graben.  Lucho  er-
reichte das Podest und ergriff Fareros Ring.

Siebentausend  Ozols  waren  diesmal  die  Löseprä-

mie.

Warhound hämmerte seinen Leuten ein: »Nur jetzt

nicht nachlassen! Jetzt sind sie am gefährlichsten! Sie
haben  ihre  achtundzwanzig  Spiele  ja  nicht  durch
Glück  gewonnen.  Ich  rechne  mit  einer  ›Flutwelle‹,
und zwar einer gewaltigen.«

Warhound  hatte  recht.  Die  Karpouns  bestürmten

die  Verteidigungslinien  der  Tanchinaros  mit  allen
Kräften. Glinnes mußte ins Wasser; Sladine und Wil-
mer Guff gingen ebenfalls baden. Glinnes kam gerade
rechtzeitig  die  Leiter  herauf,  um  einen  Karpoun-
Außenstürmer keine drei Meter vom Podest entfernt

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ins  Wasser  zu  befördern;  dann  wurde  er  zum  zwei-
tenmal  eingetunkt,  und  bevor  er  aufs  Spielfeld  zu-
rückkehren konnte, ertönte der Gong.

Zum  erstenmal  hatte  Duissane  die  Hand  eines

Gegners  an  ihrem  goldenen  Ring  gefühlt.  Wütend
zahlte Warhound achttausend Ozols zurück. Glinnes
hatte nie ein anstrengenderes Match erlebt. Die Kar-
pouns  schienen  unerschöpfliche  Kräfte  zu  besitzen;
sie  sprangen  über  die  Gräben,  schwangen  hin  und
her  und  rasten  das  Feld  entlang,  als  hätte  das  Spiel
eben erst begonnen. Er konnte nicht wissen, daß den
Karpouns  ihrerseits  die  Tanchinaro-Stürmer  längst
als  schwarz-silberne,  unnatürlich  behende  Teufel
vorkamen,  die  wie  ein  Sturmwind  dahinbrausten,
während  die  Tanchinaro-Wächter  wie  bedrohliche
Ungeheuer  vor  ihrem  Podest  patrouillierten  –  eine
scheinbar unüberwindliche Barriere.

Hin  und  her  wogte  der  Kampf;  Meter  um  Meter

arbeiteten sich die Tanchinaros zum Podest der Kar-
pouns vor, unbarmherzig, tückisch, jede Chance nut-
zend.  Das  Gebrüll  der  Menge  wurde  in  den  Hinter-
grund  des  Bewußtseins  verdrängt;  die  Realität  be-
stand nur mehr aus dem Feld, den Wegen und Brük-
ken,  den  glitzernden  Wasserbecken.  Einen  Augen-
blick  schob  sich  eine  dunkle  Wolke  vor  die  Sonne.
Fast  im  gleichen  Moment  entdeckte  Glinnes  eine
Lücke  in  der  Barriere  von  Orange  und  Grün.  Eine
Falle? Mit der letzten Energie, die er noch in den Bei-
nen  hatte,  stürmte  er  vorwärts,  vorbei,  hindurch.
Orange-grüne Schemen brüllten heiser auf; die Mas-
ken der Karpouns, anfangs so einschüchternd, wirk-
ten  wie  schmerzlich  verzerrt.  Glinnes  schwang  sich
auf das Podest und griff nach dem Goldring auf Fa-

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reros Brust – jetzt mußte er daran ziehen, mußte das
blauäugige  Mädchen  den  Blicken  vierzigtausend  to-
bender  Menschen  preisgeben.  Die  Musik  dröhnte
trauervoll  und  gemessen;  Glinnes'  Hand  zuckte  zu-
rück, zögerte; er wagte es nicht, diese goldene Göttin
zu erniedrigen.

Die  dunkle  Wolke  war  keine  Wolke.  Drei  schwarze
Schiffe  senkten  sich  auf  den  Platz  herunter,  verdun-
kelten  das  Licht  des  Nachmittags.  Die  Musik  brach
ab; aus den Lautsprechern kam ein entsetzter Schrei:
»Starmenter!  Nehmt...«  Die  Stimme  ging  in  ein  un-
verständliches Gurgeln über, und eine andere, harte
Stimme  rief:  »Bleiben  Sie  auf  Ihren  Plätzen.  Keiner
bewegt sich vom Fleck!«

Glinnes  kümmerte  sich  nicht  darum,  sondern

packte Farero am Arm und zerrte sie vom Podest und
die  Leiter  hinunter,  die  in  das  Becken  unter  dem
Spielfeld  führte.  »Was  machst  du  da?«  keuchte  sie,
vor ihm zurückschreckend.

»Ich versuche, dir das Leben zu retten«, sagte Glin-

nes schroff. »Die Starmenter würden dich gewiß nicht
zurücklassen, und du würdest deine Heimat nie wie-
dersehen.«

Mit  zitternder  Stimme  fragte  sie:  »Sind  wir  hier

unten sicher?«

»Das  glaube  ich  nicht.  Wir  fliehen  durch  den  Ab-

flußgraben. Schnell – er ist auf der anderen Seite.« So
rasch es möglich war, platschten sie durch das Was-
ser, unter den Brücken durch, über den Mittelgraben,
und weiter. Jetzt kam Duissane die andere Leiter her-
untergeklettert,  mit  weißem,  angstverzerrtem  Ge-
sicht.  Glinnes  rief  ihr  zu:  »Komm  mit  –  wir  wollen

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durch den Abfluß hinaus; vielleicht bewachen sie den
nicht.«

An  der  Ecke  des  großen  Beckens  floß  das  Wasser

über eine steile Rinne in einen kleinen Bach ab. Glin-
nes rutschte die Rinne hinunter und sprang auf eine
stinkende, schmale Schlammbank. Als nächstes kam
Duissane  herunter,  das  weiße  Gewand  fest  an  sich
gepreßt.  Glinnes  zog  sie  herüber  auf  den  Schlamm-
streifen;  sie  rutschte  aus  und  setzte  sich  mit  einem
Platsch  in  den  Morast.  Glinnes  konnte  ein  Grinsen
nicht unterdrücken. »Das hast du absichtlich getan«,
rief sie mit schwankender Stimme.

»Hab ich nicht!«
»Hast du!«
»Wie du meinst.«
Farero kam die Rinne heruntergeschlittert; Glinnes

fing  sie  auf  und  half  ihr  auf  die  Schlammbank  her-
über. Duissane kam mühsam auf die Füße. Zögernd
besahen  sich  die  drei  den  Kanal,  der  unter  einem
dichten  Blätterdach  von  Stillbeerbüschen  und  Kern-
weiden träge dahinfloß. Das Wasser war dunkel und
schien  tief  zu  sein;  ein  leichter  Merling-Geruch  hing
in  der  Luft.  Schwimmen  oder  auch  nur  Waten  war
unmöglich. Auf der anderen Seite des Abflusses war
jedoch  ein  primitives  kleines  Boot  angebunden,  ver-
mutlich  Eigentum  von  ein  paar  Jungen,  die  sich
durch  den  Abfluß  Zutritt  ins  Stadion  verschafft  hat-
ten, ohne zu zahlen.

Glinnes  kletterte  über  die  Rinne  zu  dem  Boot;  es

war  halb  vollgelaufen  und  schwankte  bedenklich
unter  seinem  Gewicht.  Er  schöpfte  etliche  Liter  aus,
wagte dann aber nicht, sich noch länger damit aufzu-
halten. Er stieß das Boot über den Graben, Duissane

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stieg  ein,  dann  Farero,  worauf  das  Wasser  fast  bis
zum  Dollbord  stieg.  Glinnes  reichte  Duissane  den
Schöpfeimer; mürrisch machte sie sich an die Arbeit.
Glinnes paddelte vorsichtig den Kanal hinaus. Hinter
ihnen,  oben  im  Stadion,  dröhnten  die  Lautsprecher:
»Alle Personen in den Pavillons A, B, C und D bege-
ben sich zu den Südausgängen. Nicht jeder wird mit-
genommen; wir haben eine genaue Liste jener Perso-
nen,  die  wir  haben  wollen.  Beeilen  Sie  sich  und  ma-
chen  Sie  keine  Schwierigkeiten!  Wir  werden  jeden
töten, der uns behindert.«

Es  ist  so  unwirklich!  dachte  Glinnes.  Eine  phanta-

stische  Lawine  von  Ereignissen  –  Farben,  Musik,
Spannung,  Kampf,  Leidenschaft,  Sieg  –  und  jetzt
Schrecken und Flucht mit zwei Sheirls. Die eine haßte
ihn.  Die  andere,  Farero,  musterte  ihn  von  der  Seite
her  aus  ihren  meerblauen  Augen.  Nun  nahm  sie
Duissane,  die  sich  verdrossen  den  Schlamm  von  ih-
rem  Kleid  zu  kratzen  begann,  den  Schöpfeimer  ab.
Wie verschieden die beiden waren, überlegte Glinnes:
Farero  hatte  sich  bedrückt,  aber  einigermaßen  ruhig
in  ihr  Schicksal  ergeben  –  vermutlich  war  ihr  die
Flucht durch den Abflußkanal immer noch lieber als
die  Entblößung  auf  dem  Podest.  Duissane  dagegen
grollte  offensichtlich  über  die  kleinste  Unannehm-
lichkeit  und  schien  Glinnes  persönlich  für  alle  Wi-
drigkeiten verantwortlich zu machen.

Der  Kanal  machte  einen  hohen  Bogen.  Hundert

Meter voraus glänzte der Sund von Welgen; jenseits
davon begann der südliche Ozean. Glinnes paddelte
jetzt  zuversichtlicher  –  den  Starmentern  waren  sie
entkommen. Ein großangelegter Überfall! Und zwei-
fellos seit langem für genau den Tag geplant, an dem

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alle  reichen  Leute  der  Präfektur  an  einem  Ort  ver-
sammelt  waren.  Sie  würden  eine  Menge  Gefangene
machen,  um  Lösegeld  zu  erpressen,  und  hübsche
Mädchen zur Kurzweil mitnehmen. Die Ausgelösten
würden  bedrückt  und  bankrott  heimkehren,  die
Mädchen  würde  man  nie  wieder  sehen.  Der  Tresor
des Stadions würde eine Beute von mindestens hun-
derttausend  Ozols  liefern,  die  Prämienkassen  der
beiden  Mannschaften  waren  für  weitere  dreißigtau-
send Ozols gut, und vielleicht würden auch die Ban-
ken von Welgen ausgeraubt werden.

Der Kanal weitete sich und lief in vielen Windun-

gen  über  ein  breites  Schlammfeld,  das  übersät  war
von  den  Pockennarben  vieler  kleiner  Gaskrater.  Im
Osten  wurde  es  von  der  Welgener  Landzunge  be-
grenzt,  an  deren  anderer  Seite  sich  der  Hafen  des
Ortes  anschloß.  Nach  Westen  hin  erstreckte  sich  die
Küste  flach  in  den  Dunst  des  späten  Nachmittags.
Glinnes fühlte sich hier unter dem freien Himmel be-
droht – was ganz unvernünftig war, wie er sich sagte:
die  Starmenter  hatten  jetzt  gar  nicht  die  Zeit,  sie  zu
verfolgen,  wenn  sie  das  gebrechliche  kleine  Boot
überhaupt bemerkten. Farero mußte unablässig Was-
ser schöpfen. Es drang durch mehrere Lecks ein, und
Glinnes  fragte  sich,  wie  lange  das  Boot  noch  flott
bleiben  würde.  Der  schwammige,  schwarze  Morast
rundum war jedenfalls nicht sehr einladend. Glinnes
hielt auf die erste der kleinen, bewaldeten Inseln zu,
die es im Sund gab, ein vielleicht fünfzig Meter von
der Küste entferntes Landhügelchen.

Die erste Ozeanwelle ließ das Boot schwanken und

Wasser hereinschwappen. Farero schöpfte, so schnell
sie konnte. Duissane half ängstlich mit den Händen.

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Sie  erreichten  die  Insel  in  dem  Augenblick,  als  das
Boot  unter  ihnen  wegsank.  Sehr  erleichtert  zerrte
Glinnes  es  auf  den  schmalen  Strand  hinauf.  Gerade
als sie an Land wateten, stiegen die drei Starmenter-
Schiffe auf, zogen nach Süden hoch und verschwan-
den mit all ihrer kostbaren Ladung.

Farero seufzte tief. »Ohne deine Hilfe«, sagte sie zu

Glinnes, »wäre ich jetzt in einem dieser Schiffe.«

»Ich  wäre  auch  da  oben  –  ohne  meine  eigene  Hil-

fe«, giftete Duissane.

Aha, dachte Glinnes, da haben wir einen Grund für

ihre miserable Laune: sie fühlte sich vernachlässigt.

Duissane  kletterte  den  Strand  hinauf:  »Und  was

fangen wir hier draußen an?«

»Früher  oder  später  kommt  sicher  jemand  vorbei.

Bis dahin müssen wir warten.«

»Ich  will  aber  nicht  warten«,  erklärte  Duissane.

»Wenn  das  Boot  ausgeschöpft  ist,  können  wir  doch
zur  Küste  zurückrudern.  Müssen  wir  hier  frierend
auf diesem elenden Fleckchen Land hocken?«

»Was schlägst du statt dessen vor? Das Boot leckt,

und  das  Wasser  hier  wimmelt  von  Merlingen.  Aber
vielleicht kann ich die Lecks flicken.«

Duissane  setzte  sich  verdrossen  auf  einen  ange-

schwemmten  Baumstumpf.  Von  Westen  schossen
jetzt Whelm-Schiffe heran, kreisten über der Gegend,
und eines landete in Welgen. »Zu spät, viel zu spät«,
sagte  Glinnes.  Er  schöpfte  das  Boot  aus  und  stopfte
Moos in alle Risse, die er finden konnte. Farero kam
herüber und sah ihm zu. Sie sagte: »Du warst freund-
lich zu mir.«

Glinnes schaute zu ihr hoch.
»Als du am Ring ziehen solltest, hast du gezögert.

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Du wolltest mich nicht demütigen.«

Glinnes  nickte  und  wandte  sich  wieder  seiner  Ar-

beit zu.

»Das  ist  vielleicht  der  Grund,  warum  deine  Sheirl

böse ist.«

Glinnes warf einen Blick zu Duissane hinüber, die

finster  aufs  Wasser  hinausstarrte.  »Sie  ist  selten  gut
gelaunt.«

Farero  sagte  nachdenklich:  »Sheirl  zu  sein  ist  ein

eigenartiges Erlebnis; man empfindet die seltsamsten
Dinge... Ich habe heute verloren, aber die Starmenter
retteten mich vor der Schande. Vielleicht fühlt sie sich
betrogen.«

»Sie  kann  froh  sein,  hier  und  nicht  in  einem  der

Schiffe zu sein.«

»Ich glaube, sie ist verliebt in dich und eifersüchtig

auf mich.«

Glinnes blickte erstaunt auf. »Verliebt in mich?« Er

warf  wieder  einen  unauffälligen  Blick  zu  Duissane
hinüber. »Du irrst dich. Sie haßt mich, dafür habe ich
genug Beweise.«

»Das  mag  sein.  Ich  kenne  mich  in  diesen  Dingen

nicht so aus.«

Glinnes erhob sich vor seinem Werk und musterte

das Boot recht unzufrieden. »Ich traue diesem Moos
nicht  –  besonders,  wo  jetzt  der  Avness-Wind  von
Land her aufkommt.«

»Nun, wir haben doch wenigstens trockenen Boden

unter den Füßen. Eine Weile können wir es schon so
aushalten  –  obwohl  meine  Familie  sich  Sorgen  ma-
chen wird. Ich habe auch Hunger.«

»Wir können am Strand allerhand Eßbares finden«,

sagte  Glinnes.  »Wir  könnten  uns  ein  prima  Nacht-

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mahl zubereiten, nur haben wir kein Feuer. Aber we-
nigstens wächst dort drüben ein Pisangbaum.«

Glinnes kletterte auf den Baum und warf Farero et-

liche reife Früchte hinunter. Als sie an den Strand zu-
rückkamen,  waren  Duissane  und  das  Boot  fort.  Sie
war bereits fünfzig Meter weit draußen und paddelte
auf den Kanal zu, durch den sie das Stadion verlassen
hatten. Glinnes lachte sarkastisch auf. »Sie ist so ver-
liebt in mich und so eifersüchtig auf dich, daß sie uns
beide hier allein zurückläßt.«

Farero  errötete  und  meinte:  »Auch  das  ist  mög-

lich.«

Eine  Zeitlang  beobachteten  sie  das  Boot.  Der

Landwind machte Duissane ziemlich zu schaffen. Sie
hörte immer wieder zu rudern auf und schöpfte Was-
ser;  das  Moos  dichtete  offenbar  die  lecken  Stellen
nicht ab. Als sie wieder zu paddeln anfangen wollte,
geriet  das  Boot  ins  Schwanken,  und  als  sie  sich  am
Dollbord  festhielt,  verlor  sie  das  Paddel.  Der  vom
Land  kommende  Wind  trieb  sie  wieder  hinaus,  an
der  Insel  vorbei  von  der  aus  Glinnes  und  Farero  ihr
nachschauten. Duissane würdigte sie keines Blickes.

Glinnes  und  Farero  kletterten  auf  die  Kuppe  der

Insel und sahen dem sich immer weiter entfernenden
Boot nach. Es war zu befürchten, daß Duissane aufs
offene  Meer  hinausgetrieben  würde.  Nach  einer
Weile kam das Boot zwischen den Inseln außer Sicht.

Die  beiden  kehrten  zum  Strand  zurück.  Glinnes

sagte: »Wenn wir nun ein Feuer hätten, könnten wir
es uns ganz gemütlich machen, zumindest für einen
Tag  oder  so.  Aber  ich  habe  nicht  viel  übrig  für  rohe
Meeresfrüchte.«

»Ich auch nicht«, sagte Farero.

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Glinnes  fand  zwei  trockene  Hölzchen  und  ver-

suchte damit Feuer zu reiben, allerdings ohne Erfolg.
Ärgerlich  warf  er  sie  weg.  »Die  Nächte  sind  zwar
warm, aber ein Feuer ist doch angenehm.«

Farero schaute hierhin und dorthin, nur nicht Glin-

nes ins Gesicht. »Glaubst du denn, daß wir so lange
hier sein werden?«

»Wir können erst fort, wenn ein anderes Boot vor-

beikommt. Das kann in einer Stunde sein, aber auch
in einer Woche.«

Leise  und  stockend  fragte  Farero:  »Und  wirst  du

mich lieben wollen?«

Glinnes studierte sie einige Augenblicke lang, dann

streckte  er  die  Hand  aus  und  berührte  sachte  ihr
Haar.  »Du  bist  schöner,  als  Worte  es  beschreiben
könnten. Ich würde mich freuen, dein erster Liebha-
ber zu werden.«

Farero  wandte  den  Blick  ab.  »Wir  sind  allein...

Meine  Mannschaft  wurde  heute  besiegt,  und  ich
werde nie mehr Sheirl sein. Aber...« Sie brach ab und
zeigte hinaus und sagte leise und tonlos: »Dort fährt
ein Boot.«

Glinnes  zögerte.  Farero  rührte  sich  nicht.  Glinnes

sagte  widerstrebend:  »Wir  müssen  etwas  unterneh-
men  wegen  dieser  närrischen  Duissane  und  ihrem
Boot.«  Er  trat  ans  Ufer  und  rief  laut.  Das  Boot,  eine
Motorzille,  in  der  ein  einzelner  Fischer  saß,  änderte
den Kurs, und wenige Minuten später waren Glinnes
und Farero an Bord. Der Fischer war vom Meer her-
eingekommen und hatte kein treibendes Paddelboot
gesehen;  höchstwahrscheinlich  war  Duissane  auf  ei-
ner der kleinen Inseln an Land gegangen.

Der  Fischer  steuerte  sein  Boot  um  die  Landspitze

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herum  und  in  den  Hafen  von  Welgen.  Farero  und
Glinnes fuhren mit einem Taxi zum Stadion. Der Fah-
rer hatte eine Menge über den Überfall der Starmen-
ter  zu  berichten.  »...  noch  nie  so  etwas  gegeben!  Sie
nahmen dreihundert der reichsten Leute der Gegend
mit und mindestens hundert Mädchen, arme Dinger
–  die  werden  nicht  für  Lösegeld  freigelassen.  Der
Whelm  kam  wieder  einmal  zu  spät.  Die  Starmenter
wußten genau, wen sie mitnehmen mußten und wer
uninteressant für sie war. Die Aktion war auf die Se-
kunde genau geplant: nach kaum einer Viertelstunde
waren sie wieder weg. Sie werden ein Vermögen an
Lösegeldern einnehmen!«

Im  Stadion  verabschiedete  sich  Glinnes  mit  eini-

gem  Bedauern  von  Farero.  Er  rannte  zur  Umkleide-
kabine,  zog  seinen  Tanchinaro-Dreß  aus  und  seine
Alltagskleider wieder an.

Das Taxi brachte ihn zurück zum Hafen, wo Glin-

nes ein kleines, wendiges Motorboot mietete. Er fuhr
um die Landspitze herum und in den Welgener Sund.
Das  blasse  Avness-Licht  überzog  Himmel,  Meer,  In-
seln und Küste mit einem milchigen Schleier, der die
Farben  dämpfte  und  undefinierbar  machte.  Es
herrschte eine beinahe übernatürliche Stille; das Gur-
geln des Wassers unter dem Kiel wirkte fast störend.

Er fuhr an der Insel vorbei, auf der er zuvor mit Fa-

rero  und  Duissane  gelandet  war,  und  noch  weiter
hinaus in die Richtung, in die das Boot getrieben war.
Er umkreiste die ersten paar Inselchen, fand aber we-
der  eine  Spur  von  Duissane  noch  vom  Boot.  Die
nächsten drei Inseln waren ebenfalls leer. Hinter den
letzten  drei  Inseln,  die  er  noch  absuchen  wollte,  be-
gann das Meer, eine ruhige, weite, leere Fläche. Auf

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der  zweiten  dieser  Inseln  erspähte  er  jedoch  eine
schlanke Gestalt in einem weißen Gewand, die heftig
winkte.

Als Duissane den Mann im Boot erkennen konnte,

hörte sie abrupt mit dem Winken auf. Glinnes sprang
an Land und zog das Boot ein Stück aufs Ufer hinauf.
Er  machte  die  Bugleine  an  einer  dicken,  krummen
Luftwurzel fest und schaute sich um. Der flache Strei-
fen des Festlandes war in dem unsicheren Licht kaum
mehr  zu  erkennen.  Eine  langsame,  träge  Dünung
wellte das Wasser – es sah aus, als wäre das Meer von
einem schweren, schimmernden Seidentuch bedeckt.
Glinnes warf Duissane einen Blick zu. Sie hatte noch
kein Wort gesagt. »Welch friedlicher Ort. Ich glaube
nicht, daß selbst die Merlinge soweit herausschwim-
men.«

Duissane schaute zum Boot. »Wenn du gekommen

bist, um mich abzuholen: ich bin fertig.«

»Wir  haben  keine  Eile«,  meinte  Glinnes.  »Über-

haupt keine. Ich habe Brot und Wein und Fleisch mit-
gebracht. Wir können Pisangs dünsten und Quorls

20

und vielleicht erwischen wir auch einen Curset

21

. Wir

wollen  ein  Picknick  veranstalten,  bis  die  Sterne  her-
auskommen.«

Duissane  preßte  störrisch  die  Lippen  zusammen

und blickte hinüber zur Küste. Glinnes trat zu ihr. Er
stand jetzt nur noch eine halbe Armlänge von ihr ent-
fernt  –  näher  war  er  ihr  noch  nie  gewesen.  In  ihren
graugoldenen  Augen  glaubte  Glinnes  eine  Vielfalt
von  Stimmungen  und  Gefühlen  zu  lesen.  Er  beugte

                                                  

20

 

Siehe Glossar

21

 

Siehe Glossar

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den  Kopf  zu  ihr  hinunter,  legte  einen  Arm  um  ihre
Schultern  und  küßte  sie  auf  die  Lippen,  die  jedoch
teilnahmslos und kalt blieben. Sie stieß ihn weg und
schien plötzlich wieder Gewalt über ihre Stimme zu
erlangen.

»Ihr seid doch alle gleich, ihr Trills! Ihr stinkt nach

Cauch,  und  euer  Hirn  ist  eine  einzige  geile  Drüse.
Kennt ihr nur Zügellosigkeit? Habt ihr keine Würde,
keine Selbstachtung?«

Glinnes lachte. »Hast du Hunger?«
»Nein.  Ich  habe  eine  Verabredung  zum  Abendes-

sen und werde zu spät kommen, wenn wir nicht so-
fort aufbrechen.«

»Tatsächlich  –  hast  du  deshalb  das  Boot  gestoh-

len?«

»Ich  habe  gar  nichts  gestohlen.  Das  Boot  war  ge-

nauso  meins  wie  eures.  Du  schienst  ohnehin  für
nichts  Interesse  zu  haben  als  für  dieses  langweilige
Karpoun-Mädchen.  Es  wundert  mich,  daß  du  sie
nicht noch immer anglotzt.«

»Sie hatte Sorge, daß du gekränkt sein könntest.«
Duissane  zog  die  Brauen  hoch.  »Warum  sollte  ich

auch nur einen Gedanken daran verschwenden, was
du tust? Ihre Besorgnis beleidigt mich.«

»Es  ist  wohl  nicht  weiter  wichtig«,  sagte  Glinnes.

»Wie  wäre  es,  wenn  du  etwas  Brennholz  sammelst,
während ich einige Pisangs hole?«

Duissane machte schon den Mund auf, um sich zu

weigern,  fand  aber  dann,  daß  sie  sich  damit  nur  ins
eigene  Fleisch  schnitte.  Sie  suchte  ein  paar  dürre
Zweige  zusammen,  die  sie  hochmütig  auf  den  Sand
warf.  Sie  musterte  immer  wieder  das  Boot,  aber  es
war sehr weit auf den Strand heraufgezogen, so daß

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sie  es  kaum  ins  Wasser  gebracht  hätte.  Außerdem
war der Zündschlüssel vom Motor abgezogen.

Glinnes  brachte  die  Pisangfrüchte,  zündete  ein

Feuer an, grub vier prächtige Quorls aus, putzte und
wusch sie im Meer und legte sie zu den Pisangs zum
Rösten. Er holte Brot und Fleisch aus dem Boot und
breitete  ein  Tuch  auf  dem  Sand  aus.  Duissane  beob-
achtete ihn aus einiger Entfernung.

Glinnes öffnete die Weinflasche und hielt sie Duis-

sane hin.

»Ich mag keinen Wein trinken.«
»Hast du die Absicht, etwas zu essen?«
Duissane fuhr sich mit der Zungenspitze über die

Lippen. »Und was hast du dann vor?«

»Wir werden es uns auf dem Strand gemütlich ma-

chen  und  die  Sterne  ansehen,  und  vielleicht  finden
wir sonst noch etwas zu tun?«

»Oh  –  du  bist  doch  ein  gemeiner  Schuft!  Ich  will

nichts  mit  dir  zu  tun  haben!  Lüstern  und  zügellos,
wie alle Trills!«

»Na, jedenfalls bin ich nicht schlimmer als alle an-

deren. Setz dich. Wir wollen essen und dem Sonnen-
untergang zuschauen.«

»Ich bin hungrig, deshalb werde ich mit dir essen«,

sagte Duissane. »Dann müssen wir zurückfahren. Du
weißt,  was  die  Trevanyi  von  wahlloser  Liebelei  hal-
ten. Außerdem darfst du nicht vergessen, daß ich die
Sheirl der Tanchinaros und eine Jungfrau bin!«

Glinnes deutete durch eine Geste an, daß ihn diese

Erwägungen kalt ließen. »Es gibt immer Veränderun-
gen im Leben, bei uns allen.«

Duissane erstarrte vor Empörung. »So willst du al-

so  die  Sheirl  deiner  Mannschaft  entehren?  Was  bist

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du  doch  für  ein  schmutziger  Schuft  –  erst  solche
elenden  Lügen  über  mich  verbreiten,  und  dann
scheinheilig auf einem Beweis meiner Unberührtheit
bestehen!«

»Ich habe keine Lügen verbreitet«, erklärte Glinnes.

»Ich habe nicht einmal die Wahrheit verbreitet – daß
du und deine Familie mich ausgeraubt habt, und wie
du nur gelacht hast, als ihr mich halbtot für die Mer-
linge liegen ließet.«

Duissane entgegnete etwas unsicher: »Du hast nur

bekommen, was du verdientest.«

»Deinem  Vater  und  deinen  Brüdern  schulde  ich

noch  ein  paar  Tritte«,  sagte  Glinnes.  »Was  dich  be-
trifft,  so  habe  ich  mich  noch  nicht  entschieden.  Iß,
trink Wein, stärke dich.«

»Ich habe keinen Appetit. Nicht den geringsten. Es

ist einfach nicht gerecht, wie du mich behandelst.«

Glinnes antwortete nicht und begann zu essen.
Nach einer Weile gewann bei Duissane der Hunger

die Oberhand. »Denke daran«, ermahnte sie ihn noch,
»wenn  du  deine  Drohung  ausführst,  hast  du  nicht
nur mich, sondern auch alle Tanchinaros entehrt, und
dich selber ebenso. Und meine Familie wird dich zur
Rechenschaft  ziehen,  wird  dich  jagen  bis  zum  Ende
aller  Zeiten;  du  wirst  keinen  ruhigen  Augenblick
mehr  haben,  solange  du  lebst.  Außerdem  ziehst  du
nur meine Verachtung auf dich. Wozu das alles? Nur
um  deine  Lust  zu  befriedigen.  Du  kannst  nicht  das
Wort ›Liebe‹ verwenden, wenn du doch nur auf Ra-
che ausgehst. Die allerschäbigste Art von Rache noch
dazu  –  als  ob  ich  ein  Tier  wäre  oder  ein  Ding  ohne
Gefühle. Gewiß – du kannst mich mißbrauchen oder
töten,  wenn  du  willst,  aber  vergiß  nicht,  wie  sehr

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mich dein Verhalten anwidert. Außerdem...«

»Weib«, brüllte Glinnes, »sei so gut und halte end-

lich den Mund. Du hast mir den Tag verdorben und
nun  auch  den  Abend.  Iß  und  schweig,  dann  fahren
wir  nach  Welgen  zurück.«  Mit  finsterer  Miene  saß
Glinnes  im  Sand,  aß  Pisangs,  Quorls,  Fleisch  und
Brot,  trank  zwei  Flaschen  Wein,  während  Duissane
ihn aus dem Augenwinkel beobachtete, einen seltsa-
men  Ausdruck  im  Gesicht  –  halb  verächtlich,  halb
spöttisch-nachdenklich.

Als  er  seine  Mahlzeit  beendet  hatte,  lehnte  sich

Glinnes gegen eine Düne und betrachtete eine Weile
den Sonnenuntergang. Jeder Farbton wiederholte sich
getreu  auf  der  Wasserfläche,  nur  hie  und  da  zitterte
im Schatten einer Welle eine schwarze, langgezogene
Sichel.

Duissane  saß  schweigend  da,  die  Arme  um  die

Knie geschlungen.

Schließlich  stand  Glinnes  auf  und  schob  das  Boot

ins  Wasser.  Er  winkte  Duissane.  »Steig  ein.«  Sie  ge-
horchte  stumm.  Langsam  tuckerte  das  Boot  in  den
Sund  hinein,  um  die  Landspitze  herum  und  in  den
Hafen von Welgen.

Eine  große,  weiße  Jacht  lag  am  Pier;  Glinnes  er-

kannte  sie  als  die  von  Lord  Gensifer.  Licht  schim-
merte aus allen Bullaugen, was auf irgendeine Gesell-
schaft an Bord schließen ließ.

Glinnes musterte das Schiff stirnrunzelnd. Ob Lord

Gensifer wirklich heute, unmittelbar nach dem Über-
fall der Starmenter, eine Party veranstaltete? Sonder-
bar.  Aber  das  Verhalten  der  Aristokraten  war  schon
immer über seine Begriffe gegangen. Zu seiner Über-
raschung sprang Duissane aus dem Boot und lief zur

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Jacht hinüber. Sie eilte die Gangway hinauf und ver-
schwand im Salon. Glinnes vernahm Lord Gensifers
Stimme: »Duissane, meine Liebe, was in aller Welt...«
Der Rest des Satzes war nicht zu verstehen.

Glinnes  zuckte  die  Achseln  und  brachte  das  Boot

zum Vermieter zurück. Als er über den Pier ging, rief
ihn  Lord  Gensifer  von  der  Jacht  an.  »Glinnes!  Kom-
men Sie doch einen kurzen Augenblick an Bord, seien
Sie so nett!«

Glinnes schlenderte gleichmütig über die Gangway

an  Deck.  Lord  Gensifer  klopfte  ihm  auf  die  Schulter
und führte ihn in den Salon. Ein gutes Dutzend mo-
disch  gekleideter  Leute  hatte  sich  versammelt,  an-
scheinend  adelige  Freunde  Lord  Gensifers.  Außer-
dem entdeckte Glinnes Akadie, Marucha und natür-
lich  Duissane,  die  jetzt  über  ihrem  weißen  Schleier-
gewand einen roten Umhang trug, den ihr vermutlich
eine  der  anwesenden  Damen  geliehen  hatte.  »Da  ist
unser Held!« verkündete Lord Gensifer. »Mit kühner
Entschlossenheit  hat  er  gleich  zwei  liebliche  Sheirls
vor den Starmentern gerettet. Für diesen Trost müs-
sen wir in unserem großen Kummer dankbar sein.«

Glinnes sah sich erstaunt im Salon um. Es kam ihm

vor,  als  erlebe  er  einen  besonders  absurden  Traum,
Akadie, Lord Gensifer, Marucha, Duissane, er selber –
eine wirklich seltsame Mischung!

»Ich  weiß  eigentlich  kaum,  was  alles  genau  pas-

sierte«, sagte Glinnes, »einmal abgesehen vom Über-
fall natürlich.«

»Genaues weiß niemand«, sagte Akadie. Er wirkte

ungewohnt  still  und  nachdenklich  und  schien  seine
Worte mit Bedacht zu wählen. »Die Starmenter waren
sich sehr sicher, wer mitnehmenswert war. Sie holten

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sich  genau  dreihundert  begüterte  Leute  und  etwa
zweihundert  hübsche  Mädchen  außerdem.  Die  drei-
hundert  sollen  gegen  ein  Lösegeld  von  mindestens
hunderttausend Ozols pro Kopf freigelassen werden.
Für  die  Mädchen  wurde  kein  Lösegeld  festgesetzt,
aber  wir  werden  trotzdem  versuchen,  sie  freizukau-
fen.«

»Dann haben die Banditen sich bereits gemeldet?«
»Ja gewiß. Sie hatten alles sehr genau geplant und

kannten die finanzielle Lage jedes einzelnen.«

Lord  Gensifer  bemerkte  mit  ironischer  Gebärde:

»Für die Zurückgelassenen bedeutet das natürlich ei-
nen  schrecklichen  Prestigeverlust,  der  uns  sehr  zu
schaffen macht.«

»Aus  anscheinend  gutem  Grund  wurde  ich  be-

stimmt,  das  Lösegeld  einzusammeln«,  fuhr  Akadie
fort,  »wofür  ich  auch  ein  Honorar  erhalten  soll.  Ein
unerheblicher Betrag, versichere ich dir – mit fünftau-
send Ozols sollen meine Mühen und Unannehmlich-
keiten abgegolten werden.«

Glinnes  hatte  betroffen  zugehört.  »Der  Gesamtbe-

trag  des  Lösegeldes  wird  dann  also  dreihundertmal
hunderttausend Ozols ausmachen, und das sind...«

»Dreißig  Millionen  Ozols  –  kein  schlechter  Ver-

dienst für einen Nachmittag.«

»Wenn sie nicht auf dem Prutanschyr enden.«
Akadie verzog angewidert das Gesicht. »Ach, die-

ses barbarische Überbleibsel – was in aller Welt haben
wir  von  der  Folterung  Verurteilter?  Die  Starmenter
überfallen uns trotzdem immer wieder.«

»Zumindest ist es eine Unterhaltung für das Volk«,

sagte Lord Gensifer. »Denkt doch nur an die armen,
geraubten Mädchen – zu denen  beinahe meine  liebe

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Freundin Duissane gehört hätte!« Er legte einen Arm
um Duissanes Schultern und drückte sie väterlich an
sich. »Ist dafür die Sühne wirklich zu hart? Ich finde
nicht.«

Glinnes' Blick irrte betroffen von Lord Gensifer zu

Duissane  und  zurück;  das  Mädchen  schien  über  ir-
gendeinen geheimen Scherz zu lächeln. War die gan-
ze Welt übergeschnappt? Oder erlebte er wirklich ei-
nen verrückten Traum?

Akadie  zog  gleichmütig  die  Brauen  hoch.  »Die

Untaten der Starmenter sind natürlich arg. Mögen sie
also dafür büßen.«

Einer von Lord Gensifers Freunden erkundigte sich

lächelnd:  »Weiß  man  übrigens,  welche  spezielle
Gruppe von Starmentern uns beehrt hat?«

»Sie  haben  nicht  versucht,  anonym  zu  bleiben«,

sagte Akadie. »Wir haben es mit Sagmondo Bandolio
–  Sagmondo  dem  Gnadenlosen  –  zu  tun.  Einem  der
schlimmsten dieser Banditen.«

Glinnes  kannte  den  Namen;  seit  langem  jagte  der

Whelm hinter Sagmondo Bandolio her. »Bandolio ist
ein  übler  Verbrecher«,  sagte  Glinnes.  »Er  trägt  den
Namen ›der Gnadenlose‹ zu Recht.«

»Es  wird  behauptet,  daß  er  nur  zum  Vergnügen

Starmenter ist«, bemerkte Akadie. »Man sagt, er habe
sich  ein  Dutzend  Identitäten  überall  im  Sternhaufen
zugelegt  und  könne  von  den  zusammengeraubten
Reichtümern beliebig lange im Luxus leben.«

Die  kleine  Gesellschaft  schwieg  betroffen.  Verbre-

chen  in  solchem  Maßstab  war  schon  fast  beeindruk-
kend.

»Er  muß  irgendwo  in  der  Präfektur  einen  Spitzel

haben«, sagte Glinnes, »jemanden, der all die Aristo-

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kraten gut kennt und mit ihren Vermögensverhältnis-
sen vertraut ist.«

»Es sieht ganz danach aus«, bestätigte Akadie.
»Wer  könnte  das  wohl  sein?«  rätselte  Lord  Gensi-

fer. »Wer nur?«

Und  alle  Anwesenden  begannen  über  diese  Frage

nachzudenken,  wobei  jeder  seine  geheimen  Vermu-
tungen hatte.

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KAPITEL 16

Als  die  Tanchinaros  die  Karpouns  besiegten,  hatten
sie sich keinen guten Dienst geleistet. Da Sagmondo
Bandolio und seine Starmenter das gesamte Prämien-
geld  geraubt  hatten,  war  die  Mannschaft  bankrott,
und  angesichts  ihrer  bewiesenen  Fähigkeiten  fiel  es
Perinda  sehr  schwer,  auch  nur  Tausend-  oder  Zwei-
tausend-Ozol-Spiele  zu  arrangieren.  Um  ein  Team
der Zehntausend-Ozol-Klasse herauszufordern, fehlte
einfach das Geld.

Eine Woche nach dem Match gegen die Karpouns

versammelten sich die Tanchinaros auf der Insel Ra-
bendary,  und  Perinda  erläuterte  ihnen  die  mißliche
Situation. »Ich habe nur drei Mannschaften aufgetrie-
ben, die bereit wären, gegen uns zu spielen, und kei-
ne will ihre Sheirl um weniger als zehntausend Ozols
riskieren.  Noch  etwas:  wir  haben  keine  Sheirl  mehr.
Duissane scheint das Interesse eines gewissen Lords
erweckt  zu  haben,  was  natürlich  von  Anfang  an  ihr
Ziel war. Jetzt legt weder sie noch Tammi Wert dar-
auf, daß sie weiter ihre kostbare Haut der Entblößung
aussetzt.«

»Pah!«  sagte  Lucho.  »Duissane  hatte  sowieso  nie

viel für Hussade übrig.«

»Natürlich  nicht«,  meinte  Warhound.  »Sie  ist  eine

Trevanyi. Habt ihr je einen Trevanyi Hussade spielen
gesehen? Sie ist die erste Sheirl dieses Volkes, von der
ich je gehört habe.«

»Die Travanyi haben ihre eigenen speziellen Spie-

le«, sagte Gilweg.

»Wie ›Jedem Hals seinen Dolch‹«, sagte Glinnes.

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»Oder ›Räuber und Trills‹.«
»Oder ›Merling, Merling, hol den Kadaver‹.«
»Oder ›Fangt den Geldsack‹.«
»Also, eine Sheirl finden wir immer«, sagte Perin-

da.  »Viel  mehr  Sorgen  bereitet  uns  das  Geldpro-
blem.«

Glinnes  erbot  sich  widerwillig.  »Ich  würde  meine

fünftausend Ozols rausrücken, wenn ich wüßte, daß
ich sie wiederkriege.«

»Ich könnte auf die eine oder andere Art etwa tau-

send zusammenkratzen«, sagte Warhound.

»Das  wären  schon  sechstausend«,  stellte  Perinda

fest. »Ich würde tausend beitragen – genauer gesagt,
ich  kann  mir  tausend  von  meinem  Vater  borgen...
Wer noch? Wer noch? Kommt schon, rückt mit euren
Reichtümern heraus, ihr geizigen Schlammkratzer.«

Zwei  Wochen  später  spielten  die  Tanchinaros  ge-

gen die Kanchedonen von der Meerinsel. Das Match
fand  im  großen  Stadion  der  Meerinsel  statt;  es  ging
um eine Gewinnsumme von fünfundzwanzigtausend
Ozols, wobei jede Mannschaft fünfzehntausend setzte
und zehntausend der Beitrag des Stadions waren. Die
neue  Sheirl  der  Tanchinaros  war  Sacharissa  Simone,
ein Mädchen aus den Fal-Lal-Bergen – ein nettes, nai-
ves und hübsches Wesen, dem es aber an jener unde-
finierbaren  Eigenschaft  mangelt,  die  Sashei  genannt
wurde.  Außerdem  bestanden  gewisse  Zweifel  über
ihre  Jungfräulichkeit,  aber  keiner  wollte  der  Sache
allzu genau auf den Grund gehen.

»Verbringen  wir  doch  jeder  eine  Nacht  mit  ihr«,

schlug  Warhound  bissig  vor,  »dann  ist  die  Frage  zu
jedermanns Zufriedenheit geklärt.«

Was auch der Grund war, die Tanchinaros spielten

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jedenfalls so schlecht wie noch nie und leisteten sich
eine Reihe erstaunlicher Fehler. Die Kanchedonen si-
cherten  sich  einen  leichten  Drei-Ring-Sieg.  Sacharis-
sas  möglicherweise  unschuldiger  Körper  wurde
fünfunddreißigtausend  Zuschauern  in  allen  Einzel-
heiten vorgeführt, und Glinnes mußte feststellen, daß
er  nur  noch  drei-  oder  vierhundert  Ozols  in  der  Ta-
sche  hatte.  Deprimiert  und  ziemlich  durcheinander
kehrte er nach Rabendary zurück, wo er sich in einen
der alten Flechtstühle auf der Veranda warf und den
Abend damit verbrachte, zur Insel Ambal hinüberzu-
starren. Welch einen Wirrwarr hatte er doch aus sei-
nem  Leben  gemacht!  Die  Tanchinaros  waren  abge-
brannt,  gedemütigt  und  standen  kurz  vor  dem  Zer-
fall. Die Insel Ambal war unerreichbarer denn je ge-
worden.  Duissane,  ein  Mädchen,  das  seine  Gefühle
seltsam aufgerührt hatte, wendete nun ihren ganzen
Ehrgeiz  dem  Adel  zu,  und  Glinnes,  dessen  Empfin-
dungen ihr gegenüber bisher höchstens lauwarm ge-
wesen waren, geriet jetzt außer Fassung bei dem Ge-
danken,  daß  Duissane  das  Bett  mit  einem  anderen
teilte.

Zwei  Tage  nach  dem  katastrophalen  Match  gegen

die  Kanchedonen  fuhr  Glinnes  mit  der  Fähre  nach
Welgen, um einen Käufer für zwanzig Säcke der aus-
gezeichneten  Rabendary-Moschusäpfel  zu  finden,
was  ihm  bald  gelang.  Da  ihm  noch  eine  Stunde  bis
zur  Rückfahrt  blieb,  kehrte  Glinnes  zu  einem  Mit-
tagsimbiß  in  einem  kleinen  Restaurant  ein,  das  halb
unter  Dach,  halb  im  Schatten  eines  Fulgeria-Hains
eingerichtet war. Er trank einen Krug Bier und aß et-
was Brot und Käse, während er den Leuten von Wel-
gen bei ihrem Treiben zusah... Dort kam eine Gruppe

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echter Fanscher vorüber – nüchterne junge Menschen,
aufrecht,  energisch,  den  Blick  in  die  Ferne  gerichtet,
als  beschäftigten  sie  Probleme  größter  Wichtigkeit...
Und da kam Akadie mit gesenktem Kopf herangeeilt,
daß  die  Rockschöße  seines  fanscherartigen  Anzugs
flatterten. Glinnes rief ihn an: »He, Akadie! Setz dich
doch zu mir und trink ein Bier!«

Akadie blieb stehen, als wäre er gegen ein unsicht-

bares  Hindernis  geprallt.  Er  spähte  in  die  schattige
Laube,  um  den  Besitzer  der  Stimme  zu  entdecken,
schaute sich ein paarmal nervös um und drückte sich
dann  hastig  in  einen  Stuhl  neben  Glinnes.  Sein  Ge-
sicht  war  angespannt,  und  seiner  Stimme  waren  Be-
sorgnis und Unruhe anzuhören. »Ich glaube, ich habe
sie abgeschüttelt; ich hoffe es wenigstens.«

»So?« Glinnes blickte in die Richtung, aus der Aka-

die gekommen war. »Wen hast du abgeschüttelt?«

Akadies Antwort war wie üblich ausweichend.
»Ich  hätte  den  Auftrag  ablehnen  sollen;  ich  habe

nichts  als  Sorgen  damit.  Fünftausend  Ozols!  Dafür
muß  ich  mich  von  raubgierigen  Trevanyi  verfolgen
lassen, die nur auf einen Augenblick der Unvorsich-
tigkeit warten. Welch ein Irrsinn. Sie können mir die
dreißig  Millionen  samt  meinen  lächerlichen  fünftau-
send Ozols wegnehmen und damit größer absahnen,
als  es  wohl  je  in  der  Geschichte  dieses  verrückten
menschlichen Universums vorgekommen ist.«

»Mit anderen Worten«, sagte Glinnes, »du hast also

die dreißig Millionen Ozols Lösegeld tatsächlich bei-
sammen?«

Akadie  nickte  erbittert.  »Es  ist  irgendwie  unwirk-

lich – ich meine, die fünftausend, die ich als Honorar
bekommen soll, sind ein ganz reales Geld, aber – ich

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habe  dreißig  Millionen  Ozols  in  dieser  Tasche«  –  er
klopfte auf einen kleinen, schwarzen Aktenkoffer mit
silberner Schließe – »aber es könnten genausogut alte
Zeitungen sein.«

»Für dich.«
»Richtig.« Akadie blickte wieder über die Schulter.

»Andere  Leute  lassen  sich  durch  abstrakte  Symbole
weniger beeinflussen, oder, genauer gesagt, sie sehen
andere Symbole. Für mich stellen diese Papierstücke
nichts als Schrecken und Schmerzen, Raub und Brand
dar.  Andere  Menschen  haben  ganz  andere  Bezugs-
werte:  sie  sehen  darin  Paläste,  Raumjachten,  Luxus
und Vergnügen.«

»Kurzum,  du  hast  also  Angst,  daß  man  dir  das

Geld raubt?«

Akadies  wendiger  Geist  war  einer  nüchternen

Antwort bereits weit vorausgeeilt. »Kannst du dir die
Unannehmlichkeiten  vorstellen,  die  jemand  auf  sich
lädt, der Sagmondo Bandolio dreißig Millionen Ozols
vorenthält?  Das  Gespräch  würde  dann  vielleicht  so
verlaufen: Bandolio: ›Sie werden mir jetzt die dreißig
Millionen Ozols übergeben, Janno Akadie, die Ihnen
anvertraut  wurden.‹  Akadie:  ›Sie  dürfen  nicht  zu
enttäuscht sein, aber ich habe bedauerlicherweise das
Geld  nicht  mehr.‹  Bandolio:...  Nein.  Hier  setzt  mein
Vorstellungsvermögen glücklicherweise aus. Ich will
lieber  nicht  daran  denken.  Würde  er  eiskalt  reagie-
ren? Würde er toben? Würde er gleichgültig lachen?«

»Wenn du wirklich beraubt werden solltest«, sagte

Glinnes, »dann kannst du dich wenigstens damit trö-
sten, daß deine Neugier in dieser Hinsicht befriedigt
werden wird.«

Akadie  reagierte  auf  die  Bemerkung  mit  einem

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säuerlichen  Seitenblick.  »Wenn  ich  nur  wüßte,  wer
mir nachstellt oder wie – wenn ich nur irgend etwas
wüßte  –  genau  wüßte,  wem  ich  ausweichen  muß,
wovor  ich  mich  hüten  muß...«  Er  verstummte  be-
drückt.

»Hast  du  wirklich  eine  konkrete  Bedrohung  fest-

stellen können? Oder bist du nur nervös?«

»Natürlich  bin  ich  nervös,  aber  das  ist  bei  mir  ein

Dauerzustand. Ich verabscheue Unbequemlichkeiten,
ich  fürchte  Schmerzen,  ich  weigere  mich  sogar,  die
Möglichkeit  eines  plötzlichen  Todes  anzuerkennen.
Aber  alle  diese  Dinge  drohen  mir  jetzt  ziemlich  un-
mittelbar.«

»Dreißig Millionen Ozols sind natürlich schon eine

eindrucksvolle  Summe«,  sagte  Glinnes  begehrlich.
»Ich persönlich würde allerdings nur etwa zwölftau-
send davon brauchen.«

Akadie  schob  Glinnes  den  Koffer  hin.  »Bitte  sehr;

nimm  dir,  soviel  du  willst,  und  erkläre  den  Fehlbe-
trag  Bandolio...  Nein.«  Er  zog  die  Tasche  wieder  an
sich. »Dieser Ausweg ist mir leider verboten.«

»Eine  Sache  verstehe  ich  nicht«,  sagte  Glinnes.

»Wenn  du  so  besorgt  bist,  warum  bringst  du  das
Geld  dann  nicht  einfach  auf  die  Bank?  Dort  drüben
zum  Beispiel  wäre  die  Bank  von  Welgen,  keine
zwanzig Sekunden von unserem Tisch entfernt.«

Akadie seufzte. »Wenn es nur so einfach wäre... Ich

habe Anweisung, das Geld jederzeit griffbereit zu ha-
ben, um es an Bandolios Boten auszuliefern.«

»Und wann soll der kommen?«
Akadie  verdrehte  die  Augen  zum  Blätterdach  der

Fulgeria.  »In  fünf  Minuten?  Fünf  Tagen?  Fünf  Wo-
chen? Ich wollte, ich wüßte das.«

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»Dieses Arrangement kommt mir schon sonderbar

vor«,  sagte  Glinnes.  »Aber  die  Starmenter  wissen
wohl,  was  sie  tun.  Denk  doch  nur  –  heute  in  einem
Jahr  wird  dir  dieses  Abenteuer  nur  mehr  wie  eine
spannende Anekdote vorkommen.«

»Ich  kann  nur  an  die  Gegenwart  denken«,  grollte

Akadie. »Und die ist ein Fegefeuer für mich.«

»Was eigentlich befürchtest du?«
Trotz  all  seiner  Ängste  konnte  sich  Akadie  eine

ausführliche, belehrende Erklärung nicht verkneifen.
»Drei  Gruppen  sind  es,  die  nach  dem  Geld  lechzen:
die Fanscher, um Land, Geräte, Informationen, Ener-
gie  kaufen  zu  können;  der  Adel,  um  seine  prekären
Verhältnisse  aufzubessern;  und  die  Trevanyi,  die
schlechterdings  von  Natur  aus  geldgierig  sind.  Erst
vor  wenigen  Augenblicken  habe  ich  zwei  Trevanyi
entdeckt, die mir unauffällig nachgingen.«

»Das  braucht  überhaupt  keine  Bedeutung  zu  ha-

ben«, sagte Glinnes.

»Du  kannst  das  gut  auf  die  leichte  Schulter  neh-

men.« Akadie stand auf. »Willst du nach Rabendary
zurück? Du könntest mit mir fahren.«

Sie  gingen  zusammen  zum  Pier  und  fuhren  mit

Akadies  weißem  Motorboot  los,  nach  Osten  aus  der
Inneren  Bucht  hinaus.  Sie  brausten  zwischen  den
Lace-Inseln  hindurch,  über  die  Ripil-Bucht  an  Saur-
kash  vorbei  dann  durch  das  schmale  Athenry-
Gewässer hinaus in die Fleharish-Bucht, in der sie ei-
nem  schwarz-purpurnen  Rennboot  begegneten,  das
auf einem Gischtkeil dahinfegte.

»Da  wir  von  Trevanyi  sprachen«,  sagte  Glinnes,

»sieh  dir  an,  wer  da  mit  Lord  Gensifer  auf  Vergnü-
gungsfahrt ist.«

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»Ich habe sie gesehen.« Akadie verstaute stirnrun-

zelnd den schwarzen Koffer unter dem Hecksitz.

Lord Gensifer steuerte sein Boot in kühnem Bogen

herum,  eine  breite  Gischtfahne  in  die  Luft  schleu-
dernd,  und  überholte  Akadie  und  Glinnes  mit  Ge-
dröhn.  Akadie  murmelte  eine  Verwünschung  und
brachte sein Boot zum Stillstand; Lord Gensifer kam
längsseits. Duissane, die ein bezauberndes hellblaues
Kleid trug, schaute gelangweilt schmollend herüber,
verriet  aber  sonst  keinerlei  Interesse  für  das  andere
Boot.  Lord  Gensifer  dagegen  war  sonnigster  Laune.
»Hallo  –  und  wohin  seid  ihr  an  diesem  herrlichen
Nachmittag  unterwegs,  mit  solchen  sauertöpfischen
Mienen? Lord Milfreds Entenrevier plündern, möchte
ich  wetten.«  Das  sollte  eine  schalkhafte  Anspielung
auf  einen  uralten  Scherz  der  Region  sein.  »Ihr  seid
mir aber zwei Spitzbuben.«

Akadie antwortete in seinem hochmütigen Tonfall:

»Bedauerlicherweise sind wir in ernsteren Geschäften
unterwegs,  mag  der  Nachmittag  auch  noch  so  herr-
lich sein.«

Lord Gensifer deutete mit einer wegwerfenden Ge-

ste  an,  daß  sein  kleiner  Spaß  schon  vergessen  war,
und  erkundigte  sich:  »Wie  geht  es  mit  der  Kollekte
voran, mein Freund?«

»Ich habe heute morgen die letzten Teilbeträge er-

halten«,  sagte  Akadie  ablehnend.  Es  war  offensicht-
lich,  daß  er  das  Thema  nicht  weiter  zu  verfolgen
wünschte, aber Lord Gensifer ritt taktlos darauf her-
um. »Na, dann rücken Sie mal ein oder zwei Milliön-
chen heraus. Bandolio wird sie kaum vermissen.«

»Ich würde Ihnen nur zu gerne die ganzen dreißig

Millionen übergeben«, sagte Akadie, »und Sie könn-

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ten sich dann mit Sagmondo Bandolio einigen.«

»Danke«, sagte Lord Gensifer, »aber das möchte ich

lieber  nicht.«  Er  spähte  in  Akadies  Boot.  »Sie  haben
das Geld also wirklich bei sich? Ah ja, da hinten auf
dem Boden. Sie sind ziemlich leichtsinnig, wissen Sie.
Ist  Ihnen  klar,  daß  Boote  manchmal  sinken?  Was
würden  Sie  dann  Sagmondo  dem  Gnadenlosen  er-
zählen?«

Akadies  Stimme  verriet  seinen  Ärger.  »Diese

Wahrscheinlichkeit ist verschwindend gering.«

»Sicher,  sicher.  Aber  wir  langweilen  Duissane,

glaube  ich,  die  sich  für  solche  Dinge  wenig  interes-
siert. Stellt euch vor – sie weigert sich, mich zu besu-
chen! Ich habe ihr den Luxus und die Eleganz meines
Landsitzes  vor  Augen  geführt,  aber  sie  will  nichts
davon wissen. Durch und durch eine Trevanyi. Wild
und  ungebunden  wie  ein  Seevogel.  Sind  Sie  sicher,
daß  Sie  nicht  wenigstens  eine  Million  Ozols  entbeh-
ren  könnten?  Wir  wär's  mit  einer  halben  Million?
Oder armselige Hunderttausend, ja?«

Akadie lächelte mit eiserner Geduld und schüttelte

den  Kopf.  Schließlich  zog  Lord  Gensifer  mit  einer
Handbewegung  den  Gashebel  zurück;  das  schwarz-
purpurne  Boot  bäumte  sich  auf,  schoß  in  einem
schnittigen Bogen vorbei und hielt nach Norden auf
das Präfektur-Freiland zu, das die Fleharish-Bucht im
oberen Ende abschloß.

Akadie und Glinnes setzten ihre Fahrt in gemächli-

cherem  Tempo  fort.  Auf  Rabendary  angekommen,
erklärte  sich  Akadie  bereit,  auf  eine  Tasse  Tee  an
Land  zu  kommen,  saß  aber  dann  nervös  auf  der
Kante seines Stuhls und spähte immer wieder hinaus
zum  Ilfisch-Gewässer,  über  die  Ambal-Bucht  und

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durch die Reihe von Pomanderbäumen, die die Insel
auf der Seite des Farwan-Gewässers säumten. Die in
der  leichten  Brise  schwankenden  großen  Blätter  er-
weckten immer wieder den Eindruck, als bewege sich
etwas hinter den Bäumen, und das ließ Akadie zuse-
hends unruhiger werden.

Glinnes  holte  eine  Flasche  alten  Wein  hervor,  um

Akadies  Sorgen  durch  Alkohol  zu  lindern,  und  es
gelang ihm so gut, daß der Nachmittag bereits in die
blasse  Avness  überging,  als  Akadie  feststellte,  er
müsse  nun  doch  nach  Hause.  »Wenn  du  magst,
kannst  du  mich  begleiten.  Ehrlich  gesagt,  ich  hätte
ganz gern jemanden in der Nähe.«

Glinnes erklärte sich einverstanden, Akadie in sei-

nem  eigenen  Boot  zu  folgen,  aber  Akadie  rieb  sich
unschlüssig das Kinn, als wollte er nicht recht aufbre-
chen. »Du solltest vielleicht Marucha anrufen und sie
wissen  lassen,  daß  wir  unterwegs  sind.  Erkundige
dich auch, ob sie irgend etwas Ungewöhnliches beob-
achtet hat.«

»Ist  recht.«  Glinnes  ging  ins  Haus,  um  den  Anruf

zu erledigen. Marucha war tatsächlich froh zu hören,
daß  Akadie  auf  dem  Heimweg  war.  Etwas  Unge-
wöhnliches? Nein, sie hatte nichts Auffallendes beob-
achtet.  Vielleicht  waren  ein  paar  Boote  mehr  als  üb-
lich  in  der  Gegend,  oder  vielleicht  war  es  auch  das-
selbe Boot gewesen, das mehrmals vorbeigekommen
war. Sie hatte nicht so sehr darauf geachtet.

Als Glinnes hinauskam, wartete Akadie bereits am

Ende  des  Bootssteges  und  starrte  stirnrunzelnd  auf
das  Farwan-Gewässer  hinaus.  Er  fuhr  mit  seinem
weißen Motorboot los, und Glinnes folgte ihm in sei-
nem  Kielwasser  bis  in  die  Clinkhammer-Bucht,  die

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ruhig und verlassen im blaugrauen Licht des Abends
dalag. Glinnes wartete ab, bis Akadie sicher den Pier
erreicht  hatte  und  machte  dann  kehrt,  um  nach  Ra-
bendary zurückzufahren.

Er  war  kaum  daheim  angekommen,  als  der  Gong

des  Telefons  ertönte.  Akadies  Gesicht  erschien  auf
dem Bildschirm – mit einem Ausdruck düsteren Tri-
umphs.  »Es  kam  genauso,  wie  ich  erwartet  hatte«,
sagte Akadie. »Sie waren da, erwarteten mich hinter
dem  Bootshaus  vier  waren  es,  und  ganz  bestimmt
Trevanyi, obwohl sie natürlich alle Masken trugen.«

»Was  ist  passiert?«  drängte  Glinnes,  denn  Akadie

schien  auf  bestem  Wege,  den  Vorfall  zu  einem  dra-
matischen Epos auszuschmücken.

»Was ich erwartet habe, das ist passiert«, schnaubte

Akadie.  »Sie  überwältigten  mich  und  entrissen  mir
die schwarze Tasche; dann verschwanden sie mit ih-
ren Booten.«

»So – dreißig Millionen Ozols im Eimer!«
»Haha! Nichts dergleichen. Nur eine verschlossene,

schwarze  Tasche,  vollgepackt  mit  Gras  und  Erde.
Wenn  sie  das  Schloß  aufbrechen,  wird  es  einige
schwer  enttäuschte  Drossets  geben.  Ich  spreche  aus
gutem  Grund  von  den  Drossets  –  ich  habe  nämlich
die sonderbare Haltung des älteren Sohnes wiederer-
kannt, und Vang Drossets Gestalt ist auch recht cha-
rakteristisch.«

»Du sagtest – vier?«
Akadie leistete sich ein grimmiges Lächeln. »Einer

der Banditen war ziemlich schmächtig. Diese Person
hielt sich abseits und stand Wache.«

»So. Und wo ist dann das Geld?«
»Deshalb rufe ich an. Ich habe es in der Köderkiste

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an  deinem  Bootssteg  gelassen,  und  diese  Vorsichts-
maßnahme war mehr als gerechtfertigt. Ich bitte dich
nun  um  folgendes:  geh  zum  Steg  hinaus  und  verge-
wissere  dich,  daß  du  nicht  beobachtet  wirst.  Dann
nimm das folienumwickelte Päckchen heraus und mit
ins Haus. Ich werde es morgen abholen.«

Glinnes funkelte Akadie empört an. »Jetzt habe ich

also  die  Sorge  um  dein  verdammtes  Geld  auf  dem
Hals.  Ich  möchte  genausowenig  wie  du  die  Kehle
durchgeschnitten bekommen. Ich fürchte, daß ich dir
für diesen gefährlichen Dienst ein Honorar berechnen
muß.«

Akadie  vergaß  sofort  seine  Sorgen.  »Welcher  Un-

sinn! Du bist nicht in Gefahr. Niemand weiß, wo das
Geld ist...«

»Irgend  jemand  könnte  die  Dreißig-Millionen-

Ozol-Frage  richtig  erraten.  Vergiß  nicht,  wer  uns
heute nachmittag zusammen gesehen hat.«

Akadie  lachte  etwas  unsicher.  »Deine  Befürchtun-

gen  sind  übertrieben.  Trotzdem  kannst  du  ja,  wenn
dich das beruhigt, mit deiner Pistole Wache halten, ob
jemand die Insel betritt. Das wäre ohnehin das Klüg-
ste.  Wir  werden  beide  eine  ruhigere  Nacht  verbrin-
gen, wenn jemand das Geld bewacht.«

Glinnes brachte vor Entrüstung kein Wort heraus.

Bevor  er  noch  etwas  sagen  konnte,  verabschiedete
sich Akadie mit einer beschwichtigenden Geste, und
der Schirm erlosch.

Glinnes  sprang  auf  und  marschierte  erregt  im

Zimmer hin und her. Dann holte er seine Waffe, wie
Akadie vorgeschlagen hatte, und ging zum Bootssteg.
Die  Wasserfläche  ringsum  war  leer  und  ruhig.  Nun
machte er noch einen Erkundungsgang um das Haus

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herum,  wobei  er  einen  weiten  Bogen  um  das  Dorn-
beergebüsch schlug. So weit er feststellen konnte, war
er auf der Insel Rabendary allein.

Die  Köderkiste  übte  eine  unwiderstehliche  Anzie-

hung auf ihn aus. Er ging zum Steg zurück und hob
den  Deckel.  Tatsächlich  –  ein  in  Metallfolie  gewik-
keltes Päckchen. Glinnes holte es heraus und nahm es
nach  kurzer  Überlegung  mit  ins  Haus.  Wie  sahen
dreißig Millionen Ozols aus? Es machte ja wohl nichts
aus,  wenn  er  seine  Neugier  befriedigte.  Vorsichtig
schlug  er  die  Umhüllung  auf  und  fand  –  einen  Stoß
alte Zeitschriften. Glinnes starrte sie erschrocken an.
Er wollte schon zum Telefon gehen, aber dann über-
legte er es sich anders. Wenn Akadie mit dem Sach-
verhalt  vertraut  war,  würde  er  Glinnes  nur  mit  sei-
nem  unerträglichen  Spott  und  Sarkasmus  auf  die
Nerven  gehen.  Wenn  Akadie  andererseits  von  dem
Austausch  nichts  wußte,  dann  würde  ihn  die  Nach-
richt  niederschmettern,  und  dafür  war  der  nächste
Morgen noch früh genug.

Glinnes wickelte das Paket wieder zu und brachte

es in die Köderkiste zurück. Dann braute er sich eine
Tasse  Tee  und  nahm  sie  mit  auf  die  Veranda,  wo  er
sich niederließ und grübelnd über das Wasser starrte.
Die Nacht war über die Fens heraufgezogen, und der
Himmel  war  mit  Sternen  gespickt.  Glinnes  kam  zu
dem  Schluß,  daß  Akadie  wohl  selbst  das  Geld  her-
ausgeholt  und  das  Päckchen  als  Köder  zurückgelas-
sen  hatte.  Ein  solch  gerissener  Bluff  war  typisch  für
ihn...

Ein Plätschern ließ Glinnes herumfahren. Ein Mer-

ling? Nein – ein Boot, das langsam und leise vom Il-
fisch-Gewässer  herüberkam.  Er  huschte  lautlos  von

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der Veranda und zog sich in den tiefen Schatten unter
dem Sombarillabaum zurück.

Die Luft war vollkommen ruhig. Das Wasser glich

poliertem Mondstein. Glinnes spähte in das milchige
Licht  der  Sterne  hinaus  und  konnte  schließlich  ein
einfaches,  kleines  Boot  erkennen,  in  dem  eine  ir-
gendwie  schmächtige  Gestalt  kauerte.  Akadie,  der
seine  Ozols  abholen  wollte?  Nein.  Glinnes'  Herz
machte  einen  seltsamen,  heftigen  Sprung.  Er  wollte
schon  aus  dem  Schatten  hervorkommen,  aber  dann
stockte er und zog sich wieder zurück.

Das Boot trieb die letzten paar Meter an den Steg.

Die  schmale  Gestalt  sprang  an  Land  und  warf  die
Leine um einen Pfosten. Lautlos wanderte sie durch
das  Sternenlicht  herauf  und  blieb  vor  der  Veranda
stehen.  »Glinnes!  Glinnes!«  Ihre  Stimme  klang  ge-
heimnisvoll und gedämpft wie der Ruf eines Nacht-
vogels.

Glinnes beobachtete sie. Duissane stand unschlüs-

sig da, ließ ratlos die Schultern sinken. Nach einigen
Augenblicken  kam  sie  auf  die  Veranda  herauf  und
spähte in das dunkle Haus. »Glinnes!«

Zögernd trat Glinnes vor. »Ich bin hier drüben.«
Duissane  blickte  ihm  entgegen,  während  er  über

die Veranda zu ihr ging. »Hast du mich erwartet?«

»Nein«, sagte Glinnes. »Eigentlich nicht.«
»Weißt du, weshalb ich gekommen bin?«
Glinnes  schüttelte  langsam  den  Kopf.  »Nein,  aber

ich habe Angst.«

Duissane  lachte  leise.  »Warum  solltest  du  Angst

haben?«

»Weil  du  mich  einmal  den  Merlingen  überlassen

hättest.«

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»Hast du Angst vor dem Tod?« Duissane kam noch

einen Schritt näher. »Was gibt es daran zu fürchten?
Ich habe keine Angst. Ein schwarzer Vogel mit sanf-
ten  Schwingen  trägt  unseren  Geist  in  das  Tal  von
Xian, wo wir in Frieden wandeln für alle Zeiten.«

»Wer von den Merlingen gefressen wird, von dem

bleibt  kein  Geist  übrig.  Und  in  diesem  Zusammen-
hang  würde  mich  interessieren,  wo  dein  Vater  und
deine Brüder sind? Sie kommen durch den Wald, ja?«

»Nein.  Sie  würden  sich  die  Haare  raufen  und  mit

den Zähnen knirschen, wüßten sie, daß ich hier bin.«

»Geh mit mir rund ums Haus«, sagte Glinnes.
Widerspruchslos kam sie mit ihm. Soweit Glinnes

seinen Sinnen trauen konnte, war die Insel bis auf sie
beide verlassen.

»Horch«,  sagte  Duissane.  »Hörst  du  die  Baumfrö-

sche...«

Glinnes  nickte  schroff.  »Ich  höre  sie.  Im  Wald  ist

keiner.«

»Dann glaubst du mir?«
»Du hast mir nur gesagt, daß dein Vater und deine

Brüder nicht hier sind. Das glaube ich dir, weil ich sie
nicht sehe oder höre.«

»Gehen wir doch ins Haus.«
Drinnen  schaltete  Glinnes  als  erstes  das  Licht  ein.

Duissane ließ ihren Umhang von den Schultern glei-
ten. Sie trug nur ihre Sandalen und ein dünnes Kleid.
Sie hatte keine Waffen bei sich.

»Heute«, sagte sie, »bin ich mit Lord Gensifer Mo-

torboot  gefahren,  und  dabei  sah  ich  dich.  Ich  be-
schloß, daß ich heute nacht herkommen würde.«

»Warum?« fragte Glinnes, der zwar nicht ganz ah-

nungslos, aber auch nicht sicher war.

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Duissane legte die Hände auf seine Schultern. »Er-

innerst du dich an die kleine Insel – wie ich dich ver-
höhnte?«

»Nur zu gut.«
»Du  warst  zu  empfindlich.  Ich  sehnte  mich  nach

deiner Härte, wollte, daß du über meine Worte lachst
und  mich  fest  in  die  Arme  nimmst.  In  dem  Augen-
blick hätte ich dir alles gegeben.«

»Du  hast  dich  aber  sehr  gut  verstellt«,  sagte  Glin-

nes. »Ich erinnere mich, daß du mich lüstern, zügellos
und  gemein  nanntest.  Ich  war  überzeugt,  daß  du
mich verabscheust.«

Duissane  verzog  betrübt  das  Gesicht.  »Ich  habe

dich nie verabscheut – nie. Aber du mußt wissen, daß
ich einsam und eigensinnig bin und nur langsam zur
Liebe  finde.  Schau  mich  an.«  Sie  hob  das  Gesicht.
»Findest du mich schön?«

»Aber gewiß. Ich habe nie etwas anderes gedacht.«
»Dann nimm mich in die Arme und küß mich.«
Glinnes wandte den Kopf und horchte. Das Kräch-

zen  der  Baumfrösche  im  Wald  von  Rabendary  war
nicht einen Augenblick abgebrochen. Er blickte wie-
der in das Gesicht, das jetzt seinem so nahe war. Un-
geahnte,  undefinierbare  Gefühle  waren  darin  zu  le-
sen, die er nicht verstand und die ihn deshalb beun-
ruhigten. Noch nie hatte er in den Augen eines Mäd-
chens  einen  solchen  Ausdruck  gesehen;  wie  schwer
war es doch, jemanden zu lieben, wenn man ihm so
wenig trauen konnte! Und um wieviel schwerer war
es, in einer solchen Situation nicht zu lieben! Glinnes
beugte  den  Kopf  und  küßte  Duissane.  Es  war,  als
hätte er noch nie zuvor geküßt. Sie roch nach duften-
den Kräutern, nach Zitronenblüten und kaum merk-

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lich  nach  Holzrauch.  Sein  Puls  raste,  und  er  wußte,
daß  es  jetzt  kein  Zurück  mehr  für  ihn  gab.  Wenn  es
ihre  Absicht  gewesen  war,  ihn  hörig  zu  machen,  so
war  ihr  das  vollkommen  gelungen;  er  fühlte,  daß  er
ihrer nie überdrüssig werden könnte. Wie aber stand
es mit Duissane? Sie holte nun eine herzförmige Ta-
blette hervor, die sie um den Hals gehängt trug. Glin-
nes  erkannte  die  Liebesdroge  Cauch.  Mit  fliegenden
Fingern brach Duissane die Tablette entzwei und gab
Glinnes  die  eine  Hälfte.  »Noch  niemals  habe  ich
Cauch  angerührt«,  sagte  sie.  »Ich  habe  noch  nie  je-
manden lieben wollen. Schenk uns einen Becher Wein
ein.«

Glinnes holte eine Flasche grünen Weins aus dem

Vorratsschrank und füllte ein Glas. Dann ging er auf
die  Veranda  und  musterte  die  Wasseroberfläche.
Glatt  und  verträumt  lag  die  Bucht  da,  nur  an  einer
Stelle  kräuselte  sich  das  Wasser,  wo  vielleicht  ein
Merling oder ein Fisch kurz aufgetaucht war.

»Was dachtest du draußen zu sehen?« fragte Duis-

sane leise.

»Ein  halbes  Dutzend  Drossets«,  gestand  Glinnes,

»mit Mord in den Augen und Messern zwischen den
Zähnen.«

»Glinnes«, sagte Duissane ernst, »ich schwöre dir,

daß  außer  dir  und  mir  niemand  weiß,  daß  ich  hier
bin. Weißt du nicht, wie mein Volk die Jungfräulich-
keit  einschätzt?  Man  würde  mich  genausowenig
schonen wie dich.«

Glinnes  brachte  das  Weinglas  herüber;  Duissane

öffnete die Lippen.

»Tu, was zwischen Liebenden Brauch ist.«
Glinnes legte ihr die Cauchtablette auf die Zunge;

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sie spülte sie mit einem Schluck Wein hinunter. »Nun
du.«

Glinnes  öffnete  den  Mund.  Duissane  legte  ihre

Hälfte der Liebesdroge auf seine Zunge. Wahrschein-
lich war es Cauch, dachte Glinnes, aber sie konnte die
Tablette auch durch ein Schlafmittel oder ein Gift er-
setzt  haben.  Er  schob  die  Tablette  vor  die  Zähne,
nahm das Glas, trank einen Schluck Wein, und dabei
gelang  es  ihm,  die  Tablette  unauffällig  in  das  Glas
fallen zu lassen. Er stellte den Becher auf die Anrichte
hinüber und drehte sich nach Duissane um. Sie hatte
ihr  Kleid  abgestreift  und  stand  nackt  und  anmutig
vor ihm, und Glinnes glaubte, noch nie etwas so Be-
zauberndes  gesehen  zu  haben.  Er  war  jetzt  endlich
überzeugt, daß die männlichen Drossets nicht heim-
lich  durch  die  Dunkelheit  angeschlichen  kamen,  Ra-
che  im  Herzen.  Er  trat  zu  Duissane  und  küßte  sie
wieder,  und  sie  löste  den  Verschluß  seines  Hemdes.
Er  streifte  die  Kleider  ab  und  führte  sie  zur  Couch,
um sie endlich in die Arme zu nehmen, aber Dussia-
ne  richtete  sich  auf  die  Knie  auf  und  drückte  seinen
Kopf an ihre Brust. Er hörte, wie ihr Herz hämmerte,
und war sicher, daß ihre Gefühle echt waren. Sie flü-
sterte: »Ich war grausam zu dir, aber das ist jetzt alles
vorbei. Von nun an lebe ich nur, um dich zu erfreuen,
um dich glücklich zu machen. Du wirst es nie bereu-
en...«

»So  willst  du  hier  mit  mir  auf  Rabendary  leben?«

fragte Glinnes vorsichtig und etwas verwirrt.

»Mein Vater würde mich eher töten«, seufzte Duis-

sane.  »Du  kannst  dir  seinen  Haß  nicht  vorstellen...
Wir müssen auf irgendeine ferne Welt fliehen, wo wir
wie  Edelleute  leben  wollen.  Vielleicht  kaufen  wir

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auch  eine  Raumjacht  und  kreuzen  zwischen  den
bunten Sternen umher.«

Glinnes  lachte.  »Das  wäre  ja  schön,  aber  dazu

braucht man eine Menge Geld.«

»Das ist kein Problem; wir haben doch die dreißig

Millionen Ozols.«

Glinnes schüttelte düster den Kopf. »Ich bin über-

zeugt, daß Akadie dagegen etwas hätte.«

»Was  kann  Akadie  schon  tun?  Mein  Vater  und

meine  Brüder  haben  ihn  heute  abend  überfallen.  In
der Tasche war nur wertloses Zeug. Er hatte das Geld
heute nachmittag bei sich im Boot, und er ist nirgends
gewesen, nur hier. Er hat das Geld hiergelassen, nicht
wahr?«

Glinnes lächelte. »Akadie hat wirklich ein Päckchen

in  meiner  Köderkiste  zurückgelassen.«  Und  dann
mochte er nicht mehr warten und zog sie zu sich auf
die  Couch,  denn  seine  Erregung  war  ins  Unerträgli-
che gewachsen.

Als er schließlich erschöpft und befriedigt in ihren

Armen  ruhte,  blickte  Duissane  träumerisch  zu  ihm
auf.  »Du  wirst  mich  von  Trullion  fortbringen,  weit
weg, ja? Ich möchte so gern in Reichtum leben.«

Glinnes küßte sie auf die Nase. »Scht!« flüsterte er.

»Sei  glücklich  mit  dem,  was  wir  jetzt  und  hier  ha-
ben...«

Aber  sie  drängte:  »Sag  mir,  sag  mir  doch,  daß  du

tun willst, worum ich dich bitte.«

»Das  kann  ich  nicht«,  antwortete  Glinnes.  »Ich

kann dir nur mich selbst und Rabendary geben.«

Duissanes Stimme bekam einen ängstlichen Klang.

»Aber was ist mit dem Paket in der Köderkiste?«

»Das ist auch nur wertloses Zeug. Akadie hat uns

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alle zum Narren gehalten. Oder es hat ihn irgend je-
mand hereingelegt, bevor er Welgen verließ.«

Duissane erstarrte. »Willst du damit sagen, daß das

Geld nicht hier ist?«

»Soviel ich weiß, nicht ein Ozol.«
Duissane stöhnte auf, und der Laut wuchs in ihrer

Kehle zu einem Klageschrei an, einer Klage um ihre
verlorene Unberührtheit. Sie riß sich von ihm los und
lief durch das dunkle Zimmer hinaus zum Bootssteg.
Sie  klappte  die  Köderkiste  auf,  holte  hastig  das  foli-
enumwickelte Päckchen heraus und riß es auf. Beim
Anblick  der  alten  Zeitungen  schrie  sie  verzweifelt
auf. Glinnes beobachtete sie von der Tür her, bedau-
ernd,  ernst  und  traurig,  aber  überhaupt  nicht  er-
staunt.  Duissane  hatte  für  ihn  wirklich  Liebe  emp-
funden,  so  weit  es  ihr  möglich  war.  Sie  kümmerte
sich  nicht  um  ihre  Nacktheit,  rannte  blindlings  den
Steg  entlang  und  sprang  in  ihr  Boot  –  verlor  das
Gleichgewicht  und  stürzte  mit  einem  Aufschrei  ins
Wasser. Es platschte, und ihr Schrei ging in ein Gur-
geln über.

Glinnes  rannte  zum  Steg  hinunter  und  sprang  in

ihr  Boot.  Ihre  blasse  Gestalt  trieb  zwei  Meter  außer-
halb seiner Reichweite. Im Sternenlicht sah er ihr ent-
setztes Gesicht – sie konnte nicht schwimmen. Plötz-
lich  tauchte  ein  paar  Meter  hinter  ihr  der  ölig-
schwarze  Schädel  eines  Merlings  auf,  mit  großen,
silbrig  glimmenden  Glotzaugen.  Glinnes  stieß  einen
heiseren  Schrei  der  Verzweiflung  aus  und  griff  wie-
der nach Duissane. Der Merling schob sich näher und
packte sie am Fuß. Glinnes sprang auf seinen Kopf los
und vermochte das Wesen mit der Faust zwischen die
Augen zu treffen. Der Schlag riß ihm die Knöchel auf

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und  verblüffte  den  Merling  zumindest.  Duissane
packte  Glinnes  mit  dem  verzweifelten  Griff  des  Er-
trinkenden und schlang ihm die Beine um den Hals.
Glinnes  schluckte  ziemlich  Wasser,  bevor  er  das
Mädchen von sich lösen und zum Boot stoßen konn-
te.  Die  Saugfinger  eines  Merlings  schlossen  sich  um
sein  Fußgelenk  –  das  war  der  Alptraum,  der  jeden
Menschen  auf  Trullion  verfolgte:  lebend  von  einem
hungrigen Merling unter Wasser gezogen zu werden.
Glinnes  stieß  und  strampelte  wie  ein  Wahnsinniger;
seine Ferse traf den Merling am Maul. Mit einer letz-
ten,  verzweifelten  Windung  konnte  er  sich  endlich
losreißen. Duissane klammerte sich wimmernd an die
Pfähle  des  Stegs.  Glinnes  schwamm  zur  Leiter,  zog
sich ins Boot und zerrte Duissane über das Dollbord
herein. Erschöpft und nach Luft schnappend wie ge-
strandete Fische lagen sie nebeneinander.

Etwas  polterte  gegen  den  Rumpf  des  Bootes  –  ein

enttäuschter  Merling.  Wenn  das  Wesen  wirklich
hungrig  war,  konnte  es  versuchen,  das  Boot  umzu-
kippen. Glinnes zog sich wankend auf den Steg, hob
Duissane  herauf  und  half  ihr  über  den  sternener-
leuchteten Pfad zum Haus zurück.

Benommen und reglos stand sie mitten im Zimmer,

während Glinnes zwei Becher mit Olanche-Rum voll-
schenkte.  Duissane  trank  apathisch,  in  trübsinnige
Gedanken  versunken.  Glinnes  rieb  sie  mit  einem
Handtuch  trocken,  dann  sich  selber.  Er  führte  Duis-
sane zur Couch, und nach einer Weile begann sie zu
weinen. Er streichelte sie und küßte sie auf die Wan-
gen  und  auf  die  Stirn.  Langsam  begann  sie  sich  zu
erwärmen,  zu  entspannen.  Die  Wirkung  der  Cauch-
Droge  setzte  ein;  der  Gedanke  an  dunkles,  stilles

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Wasser erregte sie, und Zärtlichkeit regte sich erneut,
so daß sie nochmals zueinander fanden.

Früh  am  nächsten  Morgen  erhob  sich  Duissane

vom Lager und legte wortlos Kleid und Sandalen an.
Glinnes sah ihr zu, seltsam gleichmütig und unbetei-
ligt, als sähe er sie aus weiter Ferne. Als sie sich den
Umhang  um  die  Schultern  legte,  setzte  er  sich  auf.
»Wohin gehst du?«

Duissane  warf  ihm  nur  einen  sehr  flüchtigen  Sei-

tenblick  zu;  ihr  Gesichtsausdruck  zwang  ihn  zum
Schweigen. Er stand auf und schlang sich einen Paray
um  die  Hüften.  Duissane  war  bereits  aus  dem  Haus
gegangen.  Glinnes  folgte  ihr  den  Pfad  hinunter  und
auf den Steg hinaus und überlegte krampfhaft, was er
sagen konnte, ohne daß es unaufrichtig oder verdros-
sen klang.

Duissane stieg in ihr Boot. Sie warf ihm einen aus-

druckslosen Blick zu und legte ab. Glinnes schaute ihr
noch  eine  Weile  nach,  während  in  seinem  Kopf  die
unsinnigsten  Gedanken  durcheinanderwirbelten.
Warum  benahm  sie  sich  so?  Sie  war  zu  ihm  gekom-
men; er hatte nichts von ihr gefordert, nichts verspro-
chen...  Schließlich  begriff  er,  wo  sein  Irrtum  lag.  Er
mußte das Geschehene vom Standpunkt der Trevanyi
sehen, sagte er sich. Er hatte ihren übermäßigen Tre-
vanyi-Stolz  schwer  verletzt.  Er  hatte  von  ihr  etwas
von  ungeheurem  Wert  angenommen  und  hatte  ihr
nichts dafür gegeben, schon gar nicht das, worauf sie
gehofft hatte. Er war geizig, gefühllos und seicht; er
hatte sie zum Narren gemacht.

Es gab dabei noch andere, dunklere Gesichtspunk-

te,  die  von  der  Weltanschauung  der  Trevanyi  her-
rührten. Er war nicht nur Glinnes Hulden, nicht ein-

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fach ein lüsterner Trill; er verkörperte das dunkle Ge-
schick, das antagonistische Wesen des Kosmos, gegen
das  sich  die  Trevanyi  nach  ihrem  Glauben  ständig
bewähren mußten. Die Trills sahen das Leben leicht-
fertiger  und  heiterer  –  was  heute  nicht  geschah,
konnte  morgen  eintreffen,  und  inzwischen  brauchte
man sich darüber nicht den Kopf zu zerbrechen. Das
Leben mochte mehr oder weniger angenehm sein – es
war jedenfalls schön zu leben. Für den Trevanyi hatte
jedes Geschehnis seine schicksalshafte Bedeutung, die
in allen Einzelheiten erforscht werden mußte, um die
zukünftigen Folgen abschätzen zu können. Das Uni-
versum  bestand  aus  einer  Kette  von  Ereignissen.  Je-
der formte sich sein Leben selbst, Stück um Stück. Je-
der Vorteil oder Glücksfall war ein persönlicher Sieg,
über den er sich freute; jede Widrigkeit, jedes Mißlin-
gen  –  wie  geringfügig  auch  immer  –  war  eine  Nie-
derlage und eine Beleidigung für sein Selbstbewußt-
sein.  Duissane  hatte  somit  einen  schweren  psychi-
schen Schlag erlitten, und er, Glinnes, war die Ursa-
che,  obwohl  er  vom  Standpunkt  des  Trill  nur  ge-
nommen hatte, was ihm freiwillig angeboten wurde.

Schweren  Herzens  wandte  sich  Glinnes  um,  um

zum Haus zurückzugehen. Als sein Blick auf die Kö-
derkiste fiel, kam ihm eine verrückte Idee. Er hob den
Deckel  und  schaute  hinein.  Da  lag  das  folienver-
packte  Bündel  Altpapier.  Er  holte  es  heraus  und
kämmte mit den Fingern durch die dicke Schicht Sä-
gespäne  und  Spreu  am  Boden;  dabei  stieß  er  auf  ei-
nen Gegenstand, ein in Plastik gewickeltes Päckchen.
Glinnes erspähte das Rosa und Schwarz der Bankno-
ten  von  Alastor.  Akadie  hatte  sich  fürwahr  einen
schlauen  Trick  ausgedacht,  um  sein  Geld  sicher  zu

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verstecken.  Glinnes  überlegte  einen  Augenblick,
nahm dann das folienverpackte Bündel und warf die
Zeitschriften weg. Statt dessen wickelte er das Geld in
die Metallfolie und legte das Päckchen wieder in die
Köderkiste.  Er  hatte  kaum  alle  Spuren  des  Austau-
sches beseitigt, als er ein Boot näherkommen hörte.

Akadies  weißes  Boot  war  es,  das  vom  Farwan-

Gewässer in die Bucht einbog. Zwei Personen waren
an Bord: Akadie und Glay. Das Boot legte an; Glinnes
fing  die  Leine  auf  und  warf  die  Schlinge  über  den
Poller.

Akadie  und  Glay  sprangen  auf  den  Steg  heraus.

»Guten  Morgen«,  sagte  Akadie  mit  unterdrückter
Fröhlichkeit.  Er  musterte  Glinnes  scharf.  »Du  siehst
blaß aus.«

»Ich  habe  kaum  geschlafen«,  sagte  Glinnes,  »aus

Sorge um dein Geld.«

»Es  ist  in  Sicherheit,  hoffe  ich?«  erkundigte  sich

Akadie munter.

»Duissane  Drosset  hat  es  sich  angesehen«,  sagte

Glinnes boshaft. »Aus irgendeinem Grund hat sie es
liegengelassen.«

»Duissane. Woher wußte sie, daß es hier war?«
»Sie  fragte,  wo  es  sei;  ich  sagte  ihr,  daß  du  ein

Päckchen  in  der  Köderkiste  zurückgelassen  hättest.
Sie behauptet, daß es nur Altpapier enthält.«

Akadie lachte. »Ein kleiner Scherz von mir. Ich ha-

be das Geld recht schlau versteckt, glaube ich.« Aka-
die  ging  zur  Köderkiste,  warf  das  Folienpäckchen
gleichgültig  auf  den  Steg  und  griff  in  die  feuchte
Spreu darunter. Sein Gesicht erstarrte. »Das Geld ist
weg!«

»Man  stelle  sich  das  vor!«  meinte  Glinnes.  »Ich

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kann  nicht  glauben,  daß  Duissane  Drosset  eine  Die-
bin ist.«

Akadie  hörte  ihm  kaum  zu.  In  seiner  Stimme  zit-

terte die nackte Angst, als er entsetzt rief: »Sag doch,
wo ist das Geld? Bandolio wird mir das nicht verzei-
hen;  er  wird  Mörder  ausschicken...!  Wo...  wo  ist  es
nur? Hat Duissane das Geld genommen?«

Glinnes brachte es nicht fertig, Akadie noch länger

zu quälen. Er stieß das in Folie gewickelte Päckchen
mit  den  Zehen  an.  »Was  ist  denn  das?«  Akadie
stürzte sich auf das Paket und riß es auf. Dann blickte
er teils dankbar, teils empört zu Glinnes hoch. »Wie
gemein,  einen  Mann  auf  die  Folter  zu  spannen,  der
schon soviel Sorgen hat wie ich!«

Glinnes grinste. »Was wirst du jetzt mit dem Geld

machen?«

»Ich muß weiter auf Instruktionen warten.«
Glinnes  musterte  Glay.  »Und  was  ist  mit  dir?  Im-

mer noch ein Fanscher, wie ich sehe.«

»Natürlich.«
»Wie steht es mit eurem Stützpunkt, eurem Institut,

oder wie ihr es nennt?«

»Wir haben nicht weit von hier einen unbesiedelten

Landstrich  beansprucht,  am  Ende  des  Karbasch-
Tals.«

»An  den  Quellen  des  Karbasch?  Liegt  dort  nicht

das Moor von Xian?«

»Das Xian-Moor ist ganz in der Nähe.«
»Eine seltsame Wahl«, kommentierte Glinnes.
»Wieso  seltsam?«  fragte  Glay.  »Das  Land  ist  frei

und unbesiedelt.«

»Wenn  man  vom  Todesvogel  der  Trevanyi  und

ungezählten Trevanyi-Seelen absieht.«

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»Die  werden  wir  nicht  stören,  und  ich  bezweifle,

daß  sie  uns  stören.  Wir  werden  das  Land  gewisser-
maßen gemeinsam benutzen.«

»Was ist mit meinen zwölftausend Ozols. Wenn ihr

so billig zu Land kommt?«

»Hör auf mit den zwölftausend Ozols. Darüber ha-

ben wir schon genug geredet.«

Akadie  war  bereits  ins  Boot  gestiegen.  »Komm,

mein  Freund,  wir  wollen  zusehen,  daß  wir  Rorquin
erreichen,  bevor  sich  wieder  Diebe  und  Räuber  auf
den Gewässern herumtreiben.«

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KAPITEL 17

Glinnes sah dem weißen Boot nach, bis es hinter einer
Biegung verschwand. Prüfend musterte er den Him-
mel. Über den Bergen waren schwere Wolken aufge-
zogen und rückten bedrohlich der Sonne näher. Das
Wasser der Ambal-Bucht wirkte ölig-träge. Die Insel
Ambal  sah  aus  wie  eine  Kohlezeichnung  auf  grau-
blauem Hintergrund. Glinnes ging zur Veranda hin-
auf und ließ sich in einen der alten morschen Flecht-
stühle sinken. Die Ereignisse der letzten Nacht kamen
ihm jetzt wie ein Traum vor, der sich in Dunst auflö-
ste. Glinnes dachte ohne Vergnügen daran. Duissanes
Beweggründe  hatten  wohl  ein  gewisses  Maß  an  Be-
rechnung  an  sich  gehabt,  aber  ihre  Gefühle  waren
echt gewesen. Er hätte sie zurückweisen und zornig,
aber  nicht  beschämt  heimschicken  können.  Wie  an-
ders  doch  alles  aussah,  jetzt  im  nüchternen  Tages-
licht!

Er  sprang  auf,  ärgerlich  über  die  unangenehme

Richtung,  die  alle  seine  Gedanken  einschlugen.  Er
würde  etwas  tun.  Es  gab  mehr  als  genug  Arbeit.  Er
konnte  Moschusäpfel  pflücken.  Er  konnte  in  den
Wald  gehen  und  Pfefferwurz  zum  Trocknen  sam-
meln.  Er  konnte  den  Küchengarten  umgraben.  Er
konnte  den  Schuppen  reparieren,  der  am  Zusam-
menbrechen  war.  Die  Aussicht  auf  soviel  Mühsal
machte ihn schläfrig; er verfügte sich hinein zu seiner
Couch und legte sich zu einem Schläfchen hin.

Um Mittag erwachte er vom leisen Trommeln des

Regens auf dem Dach. Glinnes deckte sich mit einem
Mantel zu und starrte grübelnd in die Luft. Irgendwo

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im  Hintergrund  seines  Bewußtseins  lauerte  etwas
Dringendes,  Wichtiges,  um  das  er  sich  kümmern
mußte.  Hussade-Training?  Lute  Casagave?  Akadie?
Glay? Duissane? Was war mit Duissane? Sie war ge-
kommen, sie war gegangen, und sie würde keine gel-
be  Blume  mehr  im  Haar  tragen.  Vielleicht  tat  sie  es
doch,  um  Vang  Drosset  das  Geschehene  zu  verber-
gen. Andererseits mochte sie auch seinen Zorn riskie-
ren und ihm alles beichten. Wahrscheinlicher war al-
lerdings, daß sie ihm eine etwas abgeänderte Version
ihres  nächtlichen  Abenteuers  auftischte.  Diese  Mög-
lichkeit,  die  sein  Unterbewußtsein  längst  erkannt
hatte, begann Glinnes nun wirklich zu beunruhigen.
Er stand auf und ging zur Tür. Silbriger Nieselregen
zog sich wie ein Schleier über einen Teil der Ambal-
Bucht, aber so weit Glinnes sehen konnte, waren kei-
ne Boote unterwegs. Die Trevanyi als echte Nomaden
sahen  Regen  als  ein  schlechtes  Vorzeichen  an;  nicht
einmal  um  Rache  zu  üben  würde  ein  Trevanyi  bei
Regen aufbrechen.

Glinnes  stöberte  in  der  Speisekammer  herum  und

fand einen Teller mit kaltem gekochten Schlammegel;
ohne  viel  Appetit  aß  er  die  Portion  auf.  Dann  hörte
der  Regen  plötzlich  auf;  Sonnenschein  überzog  die
Ambal-Bucht.  Glinnes  ging  auf  die  Veranda  hinaus.
Die  ganze  Natur  war  wie  frischgewaschen,  die  Far-
ben  leuchteten  wieder,  das  Wasser  glitzerte,  der
Himmel  klarte  auf.  Glinnes'  Stimmung  besserte  sich
um Größenordnungen.

Es gab eine Menge Arbeit zu erledigen. Er ließ sich

in  einem  der  Flechtstühle  nieder,  um  zu  überlegen,
was er als erstes tun sollte. Da fuhr ein Boot aus dem
Ilfisch-Gewässer  in  die  Ambal-Bucht  ein.  Glinnes

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sprang sofort mißtrauisch auf. Es war jedoch nur ei-
nes von Harrads Mietbooten. Der Insasse, ein junger
Mann  in  halbamtlicher  Uniform,  hatte  sich  anschei-
nend verirrt. Er steuerte zum Bootssteg von Rabenda-
ry herüber und stellte sich auf die Sitzbank.

»Hallo  da  drüben«,  rief  er  Glinnes  an.  »Ich  weiß

nicht  mehr  weiter.  Ich  will  in  die  Clinkhammer-
Bucht, bei der Insel Sarpassante!«

»Sie sind zu weit im Süden. Wen suchen Sie denn?«
Der  junge  Mann  zog  ein  Papier  zu  Rate.  »Einen

gewissen Janno Akadie.«

»Da fahren Sie das Farwan-Gewässer rauf bis zum

Saur, biegen dann in die zweite Wasserstraße auf der
linken  Seite  ein  und  fahren  geradeaus  weiter  bis  in
die  Clinkhammer-Bucht.  Akadies  Haus  steht  auf  ei-
ner nicht zu übersehenden Klippe.«

»Wunderbar;  das  ist  leicht  zu  merken.  Sind  Sie

nicht Glinnes Hulden, der Tanchinaro?«

»Stimmt, ich bin Glinnes Hulden.«
»Ich  hab'  Sie  gegen  die  Naturgewalten  spielen  se-

hen.  Es  war  kein  besonders  aufregendes  Match,  so-
weit ich mich erinnere.«

»Wir  hatten  es  mit  einer  jungen  und  etwas  leicht-

sinnigen Mannschaft zu tun, aber an und für sich sind
sie recht gut.«

»Ja, das ist auch meine Meinung. Also dann – alles

Gute  für  die  Tanchinaros  und  vielen  Dank  für  Ihre
Hilfe.«

Das  Boot  hielt  auf  das  Farwan-Gewässer  zu  und

kam bald hinter den hohen, rotsilbernen Pomandern
außer  Sicht.  Glinnes  mußte  wieder  an  die  Tanchi-
naros  denken.  Sie  hatten  seit  dem  Spiel  gegen  die
Kanchedonen  nicht  mehr  trainiert;  sie  hatten  kein

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Geld;  sie  hatten  keine  Sheirl...  Glinnes'  Gedanken
schweiften zu Duissane ab, die nie wieder Sheirl sein
konnte,  dann  zu  Vang  Drosset,  der  vielleicht  oder
vielleicht  auch  nicht  über  die  Ereignisse  der  letzten
Nacht Bescheid wußte. Glinnes schaute noch einmal
über die Ambal-Bucht. Keine Boote waren zu sehen.
Er ging hinein zum Telefon und rief Akadie an.

Der  Bildschirm  leuchtete  auf:  Akadies  Miene  war

ungewohnt mürrisch, und in seiner Stimme schwang
Ungeduld.  »Gong,  gong,  gong,  das  ist  alles,  was  ich
höre.  Das  Telefon  ist  schon  eine  zweifelhafte  Ein-
richtung.  Ich  erwarte  einen  wichtigen  Besuch  und
möchte nicht dauernd gestört werden.«

»Ach  wirklich?«  sagte  Glinnes.  »Handelt  es  sich

vielleicht um einen jungen Mann in einer hellblauen
Uniform mit einer Botenkappe?«

»Natürlich nicht!« erklärte Akadie. Plötzlich hielt er

inne. »Weshalb fragst du das?«

»Weil vor ein paar Minuten ein solcher Mann mich

nach dem Weg zu deinem Haus gefragt hat.«

»Ich  werde  nach  ihm  Ausschau  halten.  Ist  das  al-

les?«

»Ich dachte, ich könnte vielleicht etwas später vor-

beikommen  und  mir  zwanzigtausend  Ozols  ausbor-
gen.«

»Bah  –  woher  sollte  ich  zwanzigtausend  Ozols

nehmen?«

»Ich wüßte schon eine Quelle.«
Akadie lachte säuerlich. »Du mußt schon jemanden

anpumpen,  der  mehr  auf  Selbstmord  erpicht  ist  als
ich.« Der Bildschirm erlosch.

Glinnes  überlegte  ein  Weilchen,  aber  es  fiel  ihm

kein Grund ein, der weiteres Nichtstun entschuldigt

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hätte. Er trug einen Stapel Obststeigen hinaus in den
Garten  und  begann  Äpfel  zu  pflücken.  Er  arbeitete
mit  dem  verbissenen  Eifer  eines  Trill,  der  sich  wohl
oder übel mit einer Sache beschäftigt, die er als nicht
sehr notwendiges Übel ansieht. Zweimal vernahm er
den Gong seines Telefons, kümmerte sich aber nicht
darum. So erfuhr er nichts von dem folgenschweren
Ereignis,  das  früher  am  Tag  stattgefunden  hatte.  Er
pflückte ein Dutzend Kisten Äpfel voll, lud sie auf ei-
nen  Schubkarren  und  brachte  sie  in  den  Schuppen;
dann kehrte er in den Obstgarten zurück, um weiter-
zupflücken und die Arbeit zu Ende zu bringen.

Der Nachmittag verstrich; das trübselige Licht der

Avness  ging  in  die  metallgrauen,  altrosa  und  lila
Farbtöne des Abends über. Verbissen arbeitete Glin-
nes weiter. Ein kalter Wind kam von den Bergen her-
unter  und  drang  durch  sein  Hemd.  War  wieder  Re-
gen  im  Anzug?  Nein  –  die  Sterne  waren  bereits  zu
sehen.  Heute  nacht  würde  es  nicht  mehr  regnen.  Er
lud  die  letzten  Äpfel  auf  den  Schubkarren  und  fuhr
sie zum Vorratsschuppen.

Plötzlich blieb Glinnes stehen. Die Tür des Schup-

pens stand halb offen. Nur halb. Sonderbar, wo er sie
doch  mit  Absicht  ganz  offen  gelassen  hatte.  Glinnes
setzte  den  Schubkarren  ab  und  kehrte  in  den  Obst-
garten zurück, um die Sache zu überdenken. Er war
eigentlich  nicht  überrascht;  er  hatte  sogar  die  unge-
wohnte  Vorsichtsmaßnahme  ergriffen,  seine  Hand-
waffe  mitzunehmen.  Er  musterte  den  Schuppen  aus
dem  Augenwinkel.  Einer  würde  drinnen  sein,  einer
dahinter,  und  einer  würde  hinter  der  Hausecke  lau-
ern,  nahm  er  an.  Im  Obstgarten  war  er  nicht  in
Reichweite  eines  Messerwurfs  gewesen,  und  außer-

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dem  würden  sie  ihn  wohl  kaum  einfach  umbringen
wollen.  Erst  würde  es  Beschimpfungen  geben,  dann
Schneiden  und  Brennen  und  Verdrehen,  um  sicher-
zugehen, daß er für seine Missetat auch ausreichend
büßte.  Glinnes  fuhr  sich  mit  der  Zunge  über  die
plötzlich  trockenen  Lippen.  Im  Magen  hatte  er  ein
komisch hohles Gefühl... Was sollte er tun? Er konnte
nicht länger im dämmrigen Garten stehen und seine
Apfelernte bewundern.

Ohne  Eile  ging  er  seitlich  ums  Haus  herum;  dann

packte  er  einen  Fechtstock,  rannte  zurück  und  war-
tete an der Ecke. Er hörte jemand laufen, ein hastiges
Gemurmel.  Eine  dunkle  Gestalt  fegte  um  die  Ecke.
Glinnes schwang den Stock; der Mann warf den Arm
hoch, so daß der Prügel ihn nur am Handgelenk traf;
er  stieß  ein  schmerzliches  Geheul  aus.  Glinnes  holte
wieder mit dem Stock aus; der Mann fing den Schlag
auf  und  klemmte  den  Stock  unter  dem  Arm  ein.
Glinnes  zerrte  daran;  die  beiden  wankten  hin  und
her.  Plötzlich  stürzte  sich  noch  einer  auf  ihn,  ein
schwerer, nach Schweiß stinkender Mann, der zornig
aufbrüllte  –  Vang  Drosset.  Glinnes  sprang  zurück
und drückte ab. Er verfehlte Vang Drosset, traf dafür
aber Harving, den ersten Angreifer, der stöhnend da-
vonwankte. Eine dritte Gestalt sprang aus dem Dun-
kel und packte Glinnes; die zwei Männer rangen mit-
einander, während Vang Drosset um sie herumtanzte
und  immer  noch  sein  heiseres  Wutgebrüll  ausstieß.
Glinnes feuerte wieder seine Strahlerpistole ab, aber
da Zielen unmöglich war, verbrannte er nur den Bo-
den  zu  Vang  Drossets  Füßen.  Vang  Drosset  machte
einen plumpen Luftsprung. Glinnes trat und hieb um
sich  und  vermochte  sich  von  Ashmor  loszureißen,

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aber  zuvor  noch  schlug  Vang  Drosset  ihm  über  den
Schädel,  daß  alles  vor  seinen  Augen  verschwamm.
Dafür  gelang  es  Glinnes,  Ashmor  in  die  Leisten  zu
treten,  womit  der  für  einige  Minuten  außer  Gefecht
gesetzt war. Harving, der schlaff auf dem Boden ge-
legen  war,  bäumte  sich  plötzlich  in  einer  heftigen
Bewegung  auf;  Metall  blitzte  auf  und  grub  sich  in
Glinnes'  Schulter.  Glinnes  drückte  wieder  ab;  Har-
ving  fiel  in  sich  zusammen  und  rührte  sich  nicht
mehr.

»Merlingfutter«, keuchte Glinnes. »Wer noch? Du,

Vang  Drosset?  Du?  Beweg  dich  nicht,  nicht  einmal
den  kleinen  Finger,  sonst  brenne  ich  dir  ein  Loch  in
die Eingeweide.«

Vang  Drosset  erstarrte;  Ashmor  lehnte  kraftlos  an

der  Hauswand.  »Geht  vor  mir  her«,  befahl  Glinnes.
»Hinaus  auf  den  Bootssteg.«  Als  Vang  Drosset  zau-
derte, hob Glinnes den Knüttel auf und hieb ihm über
den  Kopf.  »Ich  werde  es  euch  zeigen,  ihr  elenden
Trevanyi-Mörder.  Mich  umbringen,  was?  Es  wird
euch  noch  leid  tun,  daß  ihr  hergekommen  seid,  das
versichere ich euch...! Los! Raus auf den Steg. Na los,
lauft weg, wenn ihr es wagt. Vielleicht treffe ich euch
im Dunklen nicht.« Glinnes schwang den Stock. »Be-
wegt euch!«

Die beiden Drossets wankten auf den Steg hinaus,

fassungslos  über  das  Mißlingen  ihres  scheinbar  so
einfachen Vorhabens. Glinnes verprügelte sie, bis sie
sich auf die Bretter warfen, und dann noch ein Weil-
chen, bis ihnen jede Lust zum Widerstand vergangen
war; dann verschnürte er sie gut mit ein paar Stücken
Angelleine.

»So,  jetzt  habe  ich  euch,  ihr  miserablen  Schurken.

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Also, wer von euch hat meinen Bruder Shira getötet?
– Ach, ihr wollt nicht reden? Nun, ich mag euch nicht
mehr prügeln, aber ich erinnere mich sehr gut an eine
frühere  Gelegenheit,  wo  ihr  mich  für  die  Merlinge
liegengelassen habt. Ich werde euch jetzt etwas erklä-
ren – Vang, hörst du mich? Rede, Vang Drosset, ant-
worte mir.«

»Ich höre dich sehr gut.«
»Dann  paß  auf.  Hast  du  meinen  Bruder  Shira  ge-

tötet?«

»Und  wenn  ich  es  tat?  Es  war  mein  Recht.  Er  gab

meinem kleinen Mädchen Cauch; es war mein Recht,
ihn zu töten. Und mein Recht, dich zu töten.«

»Also Shira gab deiner Tochter Cauch.«
»Das hat er, dieser warmose

22

 Trill-Bock.«

»Was mache ich nun mit dir?«
Vang Drosset schwieg einen Augenblick lang ver-

bissen, dann platzte er heraus: »Du kannst mich um-
bringen  oder  in  Stücke  schneiden,  aber  das  ist  auch
alles, was du davon hast.«

»Ich schlage dir einen Handel vor«, sagte Glinnes.

»Schreib  mir  ein  Geständnis,  daß  du  Shira  umge-
bracht hast...«

»Ich kann keine Buchstaben machen. Ich werde dir

nichts schreiben.«

»Dann mußt du vor Zeugen erklären, daß du Shira

getötet hast...«

»Damit ich auf dem Prutanschyr ende? O nein!«
»Du  kannst  irgendwelche  Entschuldigungen  an-

führen; das ist jetzt ohnehin egal. Sag, daß er dich mit
einer Keule niedergeschlagen hat oder deine Tochter

                                                  

22

 

Siehe Glossar

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belästigt hat oder deine Frau eine warmose alte Krähe
genannt hat – mir ist es gleich. Bezeuge es, dann lasse
ich euch gehen. Du mußt mir nur bei der Seele deines
Vaters schwören, daß du mich in Frieden läßt. Sonst
rolle  ich  dich  und  diesen  mordlustigen  Ashmor  in
den  Schlamm  und  warte,  bis  euch  die  Merlinge  ho-
len.«

Vang Drosset ächzte und stemmte sich gegen seine

Fesseln.  Sein  Sohn  tobte  los:  »Du  kannst  schwören,
was  du  willst;  mich  betrifft  es  nicht!  Ich  werde  ihn
töten, und wenn ich bis in alle Ewigkeit darauf war-
te!«

»Schweig«, krächzte Vang Drosset müde. »Wir sind

geschlagen; wir müssen um unser Leben betteln.« Zu
Glinnes sagte er: »Noch einmal – was sind deine Be-
dingungen?«

Glinnes wiederholte sie.
»Und  du  willst  nicht  lieber  Anklage  erheben?  Ich

sage  dir,  der  fette,  schwitzende  Bock  hat  ihr  Cauch
gegeben  und  hätte  sie  dort  in  der  Wiese  genom-
men...«

»Ich werde keine Anklage erheben.«
»Wie  wäre  es  mit  Verschneiden  oder  Naseabhak-

ken?« höhnte der Sohn. »Willst du uns unsere Glieder
lassen?«

»Ich  brauche  eure  dreckigen  Glieder  nicht«,  sagte

Glinnes. »Behaltet sie.«

Vang  Drosset  stöhnte  plötzlich  zornig  auf.  »Und

was  ist  mit  meiner  Tochter,  die  du  entehrt  hast,  der
du  Cauch  gegeben  hast,  deren  Wert  du  vermindert
hast? Wirst du mir eine Entschädigung zahlen? Statt
dessen  tötest  du  meinen  Sohn  und  bedrohst  und  er-
preßt mich.«

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»Deine  Tochter  ist  aus  freiem  Willen  hierher  ge-

kommen. Ich habe nichts von ihr verlangt. Sie brachte
Cauch mit. Sie hat mich verführt.«

Vang  Drosset  ächzte  vor  Wut.  Sein  Sohn  brüllte

wüste  Beschimpfungen.  Schließlich  resignierte  Vang
Drosset  und  befahl  seinem  Sohn  zu  schweigen.  Zu
Glinnes  sagte  er:  »Ich  bin  mit  dem  Handel  einver-
standen.«

Glinnes  befreite  den  Sohn.  »Heb  deinen  Kadaver

hinweg und laß dich nie wieder blicken.«

»Geh!« schrie Vang Drosset.
Glinnes  zog  sein  eigenes  Boot  dicht  an  den  Steg

heran und wälzte Vang Drosset hinein. Dann ging er
ins Haus und rief Akadie an, bekam aber keine Ver-
bindung.  Akadie  hatte  offenbar  sein  Telefon  abge-
stellt.  Glinnes  kehrte  zum  Boot  zurück  und  steuerte
mit Höchstgeschwindigkeit in das Farwan-Gewässer.
Ein breiter Gischtstreifen schäumte auf beiden Seiten
auf.

»Wohin bringst du mich?« ächzte Vang Drosset.
»Zu Akadie dem Mentor.«
Vang  Drosset  stöhnte  wieder,  sagte  aber  nichts

mehr.

Schließlich schwang das Boot herum zu der Anle-

gestelle  unterhalb  von  Akadies  verrücktem  Haus.
Glinnes schnitt die Fesseln an Vang Drossets Beinen
durch und hievte ihn auf den Steg. Dann trieb er sei-
nen  schwankenden,  stolpernden  Gefangenen  den
Weg  hinauf.  Plötzlich  flammten  an  den  Türen
Scheinwerfer  auf  und  blendeten  Glinnes.  Akadies
Stimme drang schroff aus einem Lautsprecher. »Wer
ist da? Nennen Sie gefälligst Ihren Namen.«

»Glinnes Hulden und Vang Drosset. Wir kommen

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den Weg herauf!« brüllte Glinnes.

»Ein  ungewöhnliches  Besucherpaar«,  höhnte  die

Stimme. »Ich hatte, glaube ich, erwähnt, daß ich die-
sen Abend beschäftigt bin?«

»Ich brauche dich in deiner amtlichen Eigenschaft!«
»Dann kommt herauf.«
Als sie das Schloß erreichten, stand das Tor bereits

offen, und Licht fiel heraus. Glinnes stieß Vang Dros-
set vorwärts, in die Vorhalle hinein.

Akadie erschien. »Worum geht es?«
»Vang  Drosset  hat  sich  entschlossen,  das  Geheim-

nis um Shiras Tod aufzuklären«, sagte Glinnes.

»Nun gut«, sagte Akadie. »Ich habe einen Gast und

hoffe, daß ihr euch kurz fassen werdet.«

»Die  Angelegenheit  ist  wichtig«,  erklärte  Glinnes

schroff. »Sie muß korrekt erledigt werden.«

Akadie  wies  statt  einer  Antwort  nur  in  seine  Bi-

bliothek.  Glinnes  schnitt  Vang  Drosset  die  Armfes-
seln los und stieß ihn vorwärts.

In  der  Bibliothek  war  es  dämmrig  und  ruhig.  Ein

rötliches Feuer aus Treibholz brannte im Kamin. Ein
Mann  erhob  sich  aus  einem  der  Polstersessel  davor
und  nickte  höflich.  Glinnes,  der  seine  ganze  Auf-
merksamkeit  auf  Vang  Drosset  konzentrierte,  hatte
nur  einen  kurzen  Blick  für  ihn  übrig;  er  sah  einen
mittelgroßen  Mann,  der  unauffällig  gekleidet  war,
und dessen Gesicht keinerlei besondere oder bemer-
kenswerte Züge aufwies.

Akadie,  dem  vielleicht  die  Ereignisse  des  vorigen

Tages wieder in den Sinn kamen, erinnerte sich seiner
gewohnten guten Umgangsformen. Er wandte sich an
seinen  Gast.  »Darf  ich  Glinnes  Hulden,  meinen
Nachbarn, vorstellen, und außerdem« – Akadie wies

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mit einer verbindlichen Geste auf Glinnes' Begleiter –
»Vang  Drosset,  einen  Angehörigen  des  wanderlusti-
gen Volkes der Trevanyi. Glinnes und Vang Drosset,
ich  möchte  euch  mit  einem  Mann  von  umfassender
Bildung und Intelligenz bekanntmachen, der sich für
unseren  Winkel  des  Sternhaufens  interessiert.  Sein
Name  ist  Ryl  Shermatz.  Angesichts  seines  Jademe-
daillons  würde  ich  vermuten,  daß  seine  Heimatwelt
Balmath heißt. Habe ich recht?«

»In  gewisser  Weise«,  sagte  Shermatz.  »Es  stimmt,

daß mich einiges mit Balmath verbindet. Im übrigen
aber schmeicheln Sie mir. Ich bin ein umherstreifen-
der  Journalist,  mehr  nicht.  Bitte  kümmern  Sie  sich
nicht um mich und lassen Sie sich nur nicht von Ihren
Geschäften

 

abhalten.

 

Wenn

 

ein vertrauliches Gespräch

gewünscht wird, will ich mich gerne entfernen.«

»Das  ist  keineswegs  nötig«,  wehrte  Glinnes  ab.

»Bitte setzen Sie sich doch wieder.« Er wandte sich an
Akadie.  »Vang  Drosset  will  vor  dir,  einem  amtlich
zugelassenen  Zeugen,  eine  eidesstattliche  Erklärung
abgeben,  die  letzten  Endes  die  Besitzrechte  um  die
Inseln Rabendary und Ambal klären wird.« Er nickte
Vang Drosset zu. »Sprich jetzt.«

Vang  Drosset  fuhr  sich  mit  der  Zunge  über  die

Lippen. »Shira Hulden, ein lüsterner Bock, hat meine
Tochter belästigt. Er drängte ihr Cauch auf und ver-
suchte, ihr Gewalt anzutun. Ich kam dazu, und als ich
mein Eigentum schützen wollte, tötete ich ihn dabei
ungewollt.  Er  ist  tot;  das  wolltest  du  doch  hören.«
Den letzten Satz knurrte er Glinnes zu.

»Stellt  das  einen  gültigen  Beweis  für  Shiras  Tod

dar?« fragte Glinnes Akadie.

Akadie wandte sich an Vang Drosset.

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»Schwören  Sie  bei  der  Seele  Ihres  Vaters,  daß  Sie

die Wahrheit gesprochen haben?«

»Ja«,  brummte  Vang  Drosset.  »Vergeßt  nicht,  es

war Notwehr.«

»Sehr  gut«,  sagte  Akadie.  »Das  Geständnis  wurde

freiwillig  vor  einem  Mentor  und  öffentlichen  Ratge-
ber sowie weiteren Zeugen abgelegt. Es hat gesetzli-
che Gültigkeit.«

»Wenn das so ist, dann ersuche ich dich noch, Lute

Casagave anzurufen und ihn von meinem Grund und
Boden zu weisen.«

Akadie  rieb  sich  das  Kinn.  »Hast  du  die  Absicht,

ihm den Kaufpreis zurückzuerstatten?«

»Den soll er sich von dem Mann zurückholen, dem

er ihn bezahlt hat – Glay Hulden.«

Akadie zuckte die Achseln. »Ich muß das natürlich

als  einen  offiziellen  Auftrag  ansehen  und  dement-
sprechend ein Honorar verlangen.«

»Ich habe nichts anderes erwartet.«
Akadie  begab  sich  an  sein  Telefon.  Vang  Drosset

sagte  mürrisch:  »Seid  ihr  fertig?  In  meinem  Lager
wird heute nacht große Trauer herrschen, und daran
sind nur die Huldens schuld.«

»Die Trauer habt ihr eurer eigenen Mordlust zuzu-

schreiben«,  entgegnete  Glinnes.  »Muß  ich  dich  an
Einzelheiten  erinnern?  Vergiß  nicht,  daß  du  mich
halbtot im Schlamm liegengelassen hast.«

Vang  Drosset  marschierte  finster  zur  Tür,  wo  er

sich noch einmal umwandte und heftig rief: »Was dir
auch geschehen ist, es ist nur der gerechte Ausgleich
für all die Schande, die du über uns gebracht hast, du
und  alle  anderen  Trills  mit  ihrer  Lüsternheit  und
Gier. Geile Böcke seid ihr alle! Nichts als euer Wanst

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und euer Geschlecht ist euch wichtig! Und du, Glin-
nes Hulden, komme mir nicht mehr unter die Augen;
das nächste Mal wirst du es nicht so leicht haben!« Er
drehte sich um und stapfte hinaus.

Akadie,  der  eben  in  die  Bibliothek  zurückkehrte,

sah ihm mit mißbilligend gerümpfter Nase nach. »Du
solltest  lieber  dein  Boot  im  Auge  behalten«,  riet  er
Glinnes.  »Sonst  fährt  er  damit  davon  und  läßt  dich
nach Hause schwimmen.«

Glinnes trat in die Vorhalle und sah Vang Drossets

stämmige  Gestalt  über  die  Landstraße  davonmar-
schieren.  »Er  hat  im  Augenblick  andere  Sorgen  als
fremde Boote. Er kann über die Verleth Brücke heim-
kommen. Was ist mit Lute Casagave?«

»Er  meldet  sich  nicht  am  Telefon«,  sagte  Akadie.

»Du wirst mit deinem Triumph warten müssen.«

»Dann mußt du mit deinem Honorar warten«, ent-

gegnete  Glinnes.  »Hat  eigentlich  dieser  Bote  herge-
funden?«

»Ja, das hat er«, sagte Akadie. »Ich kann wohl be-

haupten,  daß  er  mich  von  einer  großen  Last  befreit
hat. Ich bin mehr als froh, die Angelegenheit endlich
vom Hals zu haben.«

»In  diesem  Fall  könntest  du  mir  eigentlich  eine

Tasse  Tee  anbieten.  Oder  ist  deine  Unterredung  mit
Ryl Shermatz zu vertraulich?«

»Du kannst natürlich Tee haben«, sagte Akadie un-

gnädig.  »Unsere  Unterhaltung  dreht  sich  um  allge-
meine  Dinge.  Ryl  Shermatz  interessiert  sich  für  die
Fanscherade. Er fragt sich, wie auf einer im allgemei-
nen  so  leichtlebigen  und  freisinnigen  Welt  eine  so
strenge,  jedem  Vergnügen  abholde  Sekte  entstehen
konnte.«

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»Ich  glaube,  wir  müssen  Junius  Farfan  als  Kataly-

sator ansehen«, bemerkte Shermatz.

»Oder  stellen  wir  uns  lieber  eine  übersättigte  Lö-

sung  vor.  Nach  außen  hin  erscheint  sie  stabil  und
ausgewogen, aber wenn ein einziger, mikroskopisch
kleiner  Kristall  hinzukommt,  ist  es  sofort  mit  der
Ausgewogenheit vorbei.«

»Ein  sehr  treffendes  Beispiel!«  erklärte  Akadie.

»Aber erlauben Sie mir, etwas Kräftigeres als Tee zu
unserer Stärkung zu besorgen.«

»Warum nicht?« Shermatz streckte behaglich seine

Beine vor dem Feuer aus. »Sie haben ein sehr gemüt-
liches Heim.«

»Ja,  ich  finde  es  ganz  angenehm.«  Akadie  ver-

schwand kurz, um eine Flasche Wein zu holen.

»Ich hoffe, daß es Ihnen auf Trullion gefällt«, sagte

Glinnes zu Shermatz.

»Aber bestimmt. Jede Welt des Sternhaufens hat ih-

re charakteristische Note, und der aufmerksame Rei-
sende lernt rasch, diese individuelle Ausstrahlung zu
erkennen und zu genießen. Trullion zum Beispiel ist
eine sanfte und friedliche Welt; seine weiten Wasser-
flächen spiegeln die Sterne wider, das Licht ist weich
und angenehm, und Land und Wasser verschmelzen
zu einer bezaubernden Vielfalt.«

»Diese friedliche Atmosphäre mag einem als erstes

auffallen«, räumte Akadie ein, »aber manchmal frage
ich mich, ob sie überhaupt eine reale Grundlage hat.
So treiben sich in diesen sanften Gewässern zum Bei-
spiel  unzählige  Merlinge  herum,  abscheuliche  Krea-
turen,  wie  man  sie  so  bald  nicht  wieder  findet,  und
die heiteren, gelassenen Züge der Trills verbergen ei-
ne im Grunde gewalttätige Natur.«

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»Ach,  hör  auf«,  sagte  Glinnes.  »Jetzt  übertreibst

du.«

»Keineswegs!  Hast  du  je  erlebt,  daß  ein  Hussade-

Publikum  um  Schonung  der  unterlegenen  Sheirl  ge-
beten hätte? Niemals! Sie muß zu den Klängen einer
barbarischen  Musik  entblößt  werden,  einer  Musik,
die  Gefühle  weckt,  die  ich  nicht  zu  benennen  weiß,
die aber das Blut kochen macht und die Menschen in
Tiere verwandelt.«

»Bah«, sagte Glinnes. »Hussade wird doch überall

gespielt.«

Akadie beachtete den Einwurf nicht.
»Und dann der Prutanschyr. Man braucht sich nur

die  verzückten  Gesichter  der  Zuschauer  anzusehen,
wenn irgendein armseliger Verbrecher vorführt, wie
entsetzlich der Vorgang des Sterbens sein kann.«

»Der  Prutanschyr  hat  vielleicht  einen  nützlichen

Zweck«, meinte Shermatz. »Es ist allerdings schwie-
rig,  die  Auswirkung  solcher  Dinge  von  allen  Seiten
her richtig zu beurteilen.«

»Vom  Standpunkt  des  Missetäters  aus  bestimmt

nicht«,  sagte  Akadie.  »Ist  es  nicht  furchtbar,  so  zu
sterben – inmitten einer begeisterten Menge, die sich
an jeder Todeszuckung weidet?«

»Gewiß ist das kein sehr erbaulicher oder sanftmü-

tiger Vorgang«, sagte Shermatz mit einem betrübten
Lächeln. »Doch die Menschen von Trullion scheinen
den Prutanschyr als eine notwendige Einrichtung an-
zusehen, sonst würden sie ihn wohl abschaffen.«

»Es ist eine Schande für Trullion, für ganz Alastor,

daß  es  noch  so  etwas  gibt«,  sagte  Akadie  kalt.  »Der
Connat müßte alle diese barbarischen Einrichtungen
im Namen der Menschlichkeit verbieten.«

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Shermatz rieb sich das Kinn. »Nun, was Sie sagen,

hat wohl etwas für sich. Trotzdem hält der Connat es
sehr  selten  für  ratsam,  sich  in  lokale  Bräuche  einzu-
mischen.«

»Diese Zurückhaltung ist zweischneidig! Nun, wir

sind  jedenfalls  auf  die  Weisheit  seiner  Entscheidun-
gen angewiesen. Was immer man von den Fanschern
halten mag, zumindest verabscheuen sie den Prutan-
schyr und möchten ihn abschaffen. Wenn sie je an die
Macht kommen, werden sie es bestimmt sofort tun.«

»Zweifellos würden sie auch die Hussade abschaf-

fen wollen«, sagte Glinnes.

»Aber  keineswegs«,  antwortete  Akadie.  »Die  Fan-

scher stehen dem Spiel gleichgültig gegenüber; für sie
hat es keinerlei Bedeutung.«

»Fürwahr  eine  trübsinnige,  penible  Gesellschaft!«

sagte Glinnes.

»Verglichen mit ihren warmosen Erzeugern mögen

sie einem wohl wirklich so erscheinen«, wandte Aka-
die ein.

»Das  stimmt  zweifellos«,  sagte  Ryl  Shermatz.

»Aber man muß auch bedenken, daß jede extremisti-
sche Anschauung ihre Gegenströmung erzeugt.«

»Das ist hier auf Trullion der Fall«, bestätigte Aka-

die.  »Ich  habe  Sie  ja  gewarnt,  daß  diese  idyllische
Atmosphäre trügerisch ist.«

Plötzlich  wurde  die  Bibliothek  von  grellem  Licht

überflutet, das jedoch nur einige Augenblicke andau-
erte.  Akadie  stieß  einen  überraschten  Ruf  aus  und
eilte  zum  Fenster,  gefolgt  von  Glinnes.  Sie  sahen  ei-
nen  großen,  weißen  Motorkreuzer  langsam  in  die
Clinkhammer-Bucht einlaufen; der Suchscheinwerfer
auf  dem  Hauptmast  strich  über  die  Küste  und  hatte

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dabei  kurz  Akadies  Schlößchen  gestreift  und  seine
Bibliothek taghell erleuchtet.

»Ich  glaube,  das  ist  die  Scopoeia,  Lord  Rianles

Jacht«, sagte Akadie verwundert. »Was in aller Welt
sucht sie hier in der Clinkhammer-Bucht?«

Ein Boot legte von der Jacht ab und hielt auf Aka-

dies Bootssteg zu; gleichzeitig ließ das Nebelhorn ein
dreimaliges,  herrisches  Tuten  erschallen.  Akadie
murmelte  eine  Verwünschung  und  eilte  aus  dem
Haus.  Ryl  Shermatz  wanderte  derweilen  in  der  Bi-
bliothek  herum  und  inspizierte  Akadies  wirre
Sammlung von Andenken, Nippes und Kuriositäten.
In einer Vitrine war eine Anzahl kleiner Büsten auf-
gestellt  –  die  Abbilder  von  Persönlichkeiten,  die  auf
die  eine  oder  andere  Weise  die  Geschichte  von  Ala-
stor  beeinflußt  hatten:  Gelehrte,  Wissenschaftler,
Krieger,  Philosophen,  Dichter,  Musiker.  Auf  dem
untersten Bord war eine eindrucksvolle Sammlung an
Anti-Helden  zu  sehen.  »Interessant«,  bemerkte  Ryl
Shermatz.  »Wir  haben  eine  reiche  Geschichte,  wie
man sieht.«

Glinnes zeigte ihm eine bestimmte Büste. »Hier se-

hen Sie Akadie selbst; er zählt sich offensichtlich jetzt
schon zu den Unsterblichen.«

Shermatz schmunzelte: »Da Akadie die Sammlung

zusammengestellt  hat,  müssen  wir  es  wohl  ihm
überlassen, wen er für würdig hält, darin vertreten zu
sein.«

Glinnes trat ans Fenster und sah, wie eben das Boot

zur Jacht zurückkehrte. Einen Augenblick später kam
Akadie  herein,  mit  aschgrauem  Gesicht  und  wirrem
Haar.

»Was  hast  du?«  erkundigte  sich  Glinnes.  »Du

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schaust drein, als hättest du einen Geist gesehen.«

»Das war Lord Rianle«, krächzte Akadie. »Der Va-

ter  von  Lord  Erzan-Rianle,  der  entführt  wurde.  Er
will seine hunderttausend Ozols zurück.«

Glinnes riß verblüfft die Augen auf. »Will er seinen

Sohn in der Gefangenschaft verfaulen lassen?«

Akadie  ging  in  den  Nebenraum,  in  dem  sich  sein

Telefon  befand,  und  schaltete  das  Gerät  wieder  ein.
Er  kam  zu  Shermatz  und  Glinnes  zurück  und  sagte
tonlos:  »Der  Whelm  hat  Bandolios  Versteck  ausge-
räuchert.  Man  hat  Bandolio  und  alle  seine  Männer
und Schiffe erwischt. Die Gefangenen, die Bandolio in
Welgen  machte,  und  noch  viele  andere  konnten  be-
freit werden.«

»Das  ist  doch  eine  wunderbare  Nachricht!«  rief

Glinnes. »Warum läufst du also herum wie eine auf-
gewärmte Leiche?«

»Heute nachmittag habe ich das Lösegeld abgelie-

fert. Die dreißig Millionen Ozols sind weg.«

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KAPITEL 18

Glinnes  führte  Akadie  zu  einem  bequemen  Sessel.
»Setz  dich  um  Himmels  willen  hin  und  trink  diesen
Wein.«

Er  warf  einen  Blick  zu  Ryl  Shermatz  hinüber,  der

vor  dem  Kamin  stand  und  interessiert  ins  Feuer
starrte. »Sag doch, wie hast du das Geld abgeliefert?«

»Durch  den  Boten,  den  du  hergewiesen  hast.  Er

hatte  das  richtige  Erkennungszeichen  bei  sich,  also
gab ich ihm das Paket, und er ging wieder. Das war
alles.«

»Du kennst den Boten nicht?«
»Ich habe ihn nie zuvor gesehen.« Akadie kam ab-

rupt  wieder  zu  sich.  Er  funkelte  Glinnes  an.  »Du
scheinst dich sehr für das alles zu interessieren!«

»Wer würde sich nicht für dreißig Millionen Ozols

interessieren?«

»Wieso hattest du die Nachricht noch nicht gehört?

Seit Mittag weiß jeder Bescheid! Alle haben versucht,
mich anzurufen.«

»Ich  habe  in  meinem  Obstgarten  gearbeitet  und

mich nicht um das Telefon gekümmert.«

»Das  Geld  gehört  den  Leuten,  die  die  Lösegelder

bezahlt haben«, erklärte Akadie streng.

»Gewiß.  Aber  wer  immer  die  Summe  wiederbe-

schafft,  könnte  mit  gutem  Recht  eine  erhebliche  Be-
lohnung beanspruchen.«

»Puh«,  knurrte  Akadie,  »hast  du  gar  kein  An-

standsgefühl?«

Der  Gong  schlug  zu.  Akadie  zuckte  nervös  zu-

sammen  und  eilte  zum  Telefon.  Einige  Augenblicke

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später kam er niedergeschlagen zurück. »Lord Gygax
will ebenfalls seine hunderttausend Ozols zurückha-
ben. Er wurde recht störrisch und sogar etwas belei-
digend.«

Der  Gong  ertönte  schon  wieder.  »Ich  glaube,  du

hast  einen  lebhaften  Abend  vor  dir«,  sagte  Glinnes
und stand auf.

»Gehst du schon?« erkundigte sich Akadie kläglich.
»Ja, und wenn ich du wäre, würde ich das Telefon

wieder  abstellen.«  Er  verbeugte  sich  vor  Ryl  Sher-
matz. »Es war mir eine Freude, Sie kennengelernt zu
haben.«

Glinnes  ließ  sein  Boot  mit  Höchstgeschwindigkeit

nach  Westen  brausen:  quer  über  die  Clinkhammer-
Bucht, unter der Verleth-Brücke durch und die Mel-
lish-Straße  entlang.  Bald  tauchten  voraus  ein  paar
Dutzend  unscheinbare  Lichter  auf  –  Saurkash.  Glin-
nes  steuerte  zum  Pier,  machte  sein  Boot  fest  und
sprang an Land. Es war still in Saurkash, bis auf ein
paar  gedämpfte  Stimmen  und  Gelächter  aus  dem  in
der  Nähe  gelegenen  Magischen  Fisch.  Glinnes  ging
den  Pier  entlang  zu  Harrads  Bootsverleih.  Eine  ein-
same Lampe beleuchtete die Reihe der Mietboote. Er
ging zum Büro und spähte durch die Tür. Jung Har-
rad  war  nirgends  zu  sehen,  obwohl  in  dem  Raum
Licht brannte. Einer der Männer in der Schenke erhob
sich und kam zum Pier geschlendert. Es war der jun-
ge Harrad.

»Ja, Sir, was kann ich für Sie tun? Wenn es um eine

Bootsreparatur geht, müßten Sie morgen... Oh, Squire
Hulden,  ich  hab'  Sie  bei  dem  schlechten  Licht  nicht
gleich erkannt.«

»Macht nichts«, sagte Glinnes. »Hören Sie, ich habe

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heute einen jungen Mann in einem Ihrer Boote gese-
hen,  einen  Hussade-Spieler,  den  ich  gerne  ausfor-
schen würde. Erinnern Sie sich an seinen Namen?«

»Heute,  sagen  Sie?  Etwa  am  frühen  Nachmittag

oder etwas später?«

»Zu dieser Zeit müßte er hier gewesen sein.«
»Ich hab' drinnen im Buch alles notiert. Ein Hussa-

de-Spieler,  sagen  Sie.  Er  hat  mir  zwar  nicht  danach
ausgeschaut,  aber  man  weiß  ja  nie.  Was  haben  die
Tanchinaros als nächstes vor?«

»Wir  werden  bald  wieder  in  Aktion  treten.  Das

heißt, sobald wir zehntausend Ozols für die Prämien-
kasse  zusammengekratzt  haben.  Die  schwächeren
Mannschaften wollen nicht gegen uns antreten.«

»Mit gutem Grund! Nun, schauen wir uns mal die

Liste an... Ja, das könnte sein Name sein.« Jung Har-
rad  drehte  das  Geschäftsbuch  hin  und  her.  »Schill
Sodergang,  wenn  ich  das  recht  entziffere.  Keine
Adresse.«

»Keine Adresse? Und Sie wissen auch nicht, wo er

zu finden ist?«

»Vielleicht sollte ich vorsichtiger sein«, meinte Jung

Harrad entschuldigend. »Aber ich habe noch nie ein
Boot  verloren,  außer,  als  der  alte  Zax  sich  mit  Sour-
schnaps  vollaufen  ließ,  bis  er  nichts  mehr  sehen
konnte.«

»Hat  Sodergang  mit  Ihnen  gesprochen?  Über  ir-

gend etwas?«

»Nicht  viel.  Er  hat  nur  nach  dem  Weg  zu  Akadie

gefragt.«

»Und als er zurückkam?«
»Da fragte er, wann das Fährboot nach Port Maheul

vorbeikäme. Er mußte eine Stunde warten.«

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»Hatte er eine schwarze Tasche bei sich?«
»Stimmt, ja, das hatte er.«
»Hat er sonst noch mit jemandem gesprochen?«
»Nein,  er  machte  auf  der  Bank  dort  drüben  ein

Nickerchen.«

»Na  ja,  so  wichtig  ist  es  nun  auch  wieder  nicht«,

sagte  Glinnes.  »Ich  werde  ihn  schon  ein  andermal
treffen.«

Glinnes fuhr wie der Teufel die dunklen Wasserstra-
ßen entlang, an stillen, baumbestandenen Inseln vor-
über,  die  sich  als  bizarre,  schwarze  Silhouetten  vor
dem  silbrigen  Licht  der  Sterne  abhoben.  Um  Mitter-
nacht  erreichte  er  Welgen.  Er  übernachtete  in  einem
Hafengasthaus und nahm früh am nächsten Morgen
die Fähre nach Osten.

Port  Maheul,  das  seinen  Namen  eher  durch  den

belebten  Raumhafen  erhalten  hatte  als  durch  seine
Lage  an  der  Küste  des  Südmeeres,  war  die  größte
Stadt  der  Präfektur  Jolany  und  vielleicht  die  älteste
von  Trullion.  Die  wichtigsten  Gebäude  waren  noch
nach  sehr  altertümlichen  Normen  der  Haltbarkeit
und  Dauerhaftigkeit  errichtet  worden.  Überall  sah
man  glasierte  Russet-Ziegel,  Balken  aus  dem  unver-
wüstlichen  schwarzen  Salpoonholz,  und  steile  Dä-
cher, die mit blauen Glaskacheln gedeckt waren. Der
Hauptplatz war einer der malerischsten von Merlank
mit seinem Saum ehrwürdiger Häuser, den dunklen
Sulpicella-Bäumen  und  dem  kunstvollen  Fischgrä-
tenpflaster  aus  rötlichen  Ziegeln  und  heller  Horn-
blende aus den Bergen. In der Mitte stand wie überall
der Prutanschyr, nur gab es hier einen gläsernen Kes-
sel, damit die faszinierte Menge zusehen konnte, wie

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ein  Verbrecher  gesotten  wurde.  Jenseits  des  Platzes
breitete sich ein unordentlicher Grünzeugmarkt aus,
an den sich wiederum ein Wirrwarr kleiner, ziemlich
heruntergekommener  Häuschen  anschloß.  Dahinter
begann  der  Raumstützpunkt,  nüchterne  Bauten  aus
Stahl  und  Glas.  Das  Landefeld  selbst  erstreckte  sich
nach  Osten  bis  zu  den  Genglin-Marschen,  wo,  wie
man  sich  erzählte,  die  Merlinge  durch  Sumpf  und
Schilf bis an den Rand der Piste krochen, um die lan-
denden und startenden Raumschiffe zu bestaunen.

Glinnes  verbrachte  auf  der  Suche  nach  Schill  So-

dergang drei anstrengende Tage in Port Maheul. Der
Steward  von  der  Fähre,  die  zwischen  den  Fens  und
Port  Maheul  verkehrte,  erinnerte  sich  vage,  daß  So-
dergang  an  Bord  gewesen  war,  wußte  aber  sonst
nichts, nicht einmal, wo Sodergang ausgestiegen war.
Im Einwohnerregister gab es keine Sodergangs, und
auch bei der Gendarmerie war der Name unbekannt.

Glinnes  forschte  noch  auf  dem  Raumhafen  nach.

Ein Schiff der Andrujukha-Linie war einen Tag nach
Sodergangs Besuch in den Fens von Port Maheul ge-
startet, aber der Name Sodergang tauchte in der Pas-
sagierliste nicht auf.

Am  Nachmittag  des  dritten  Tages  kehrte  Glinnes

nach  Welgen  zurück  und  fuhr  mit  seinem  eigenen
Boot nochmals nach Saurkash. Dort traf er Jung Har-
rad,  der  vor  sensationellen  Neuigkeiten  fast  platzte,
so  daß  Glinnes  mit  seinen  eigenen  Fragen  warten
mußte,  bis  Harrad  seinen  Klatsch  losgeworden  war.
Einige der Nachrichten gaben Glinnes allerdings ge-
nug  zu  denken.  Wie  es  schien,  war  sozusagen  unter
Jung  Harrads  Nase  ein  unverschämter  Schurken-
streich verübt worden. Akadie, dem Jung Harrad nie

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recht  getraut  hatte,  war  der  eiskalte  Verbrecher,  der
die  Gelegenheit  beim  Schopf  ergriffen  und  dreißig
Millionen Ozols unterschlagen hatte.

Glinnes lachte ungläubig.
»Das ist doch blanker Unsinn!«
»Unsinn?«  Jung  Harrad  blickte  auf,  um  zu  sehen,

ob Glinnes das ernst meinte. »Die Lords sind alle da-
von überzeugt; wie können sich so viele bedeutende
Männer irren? Sie weigern sich zu glauben, daß Aka-
die  ausgerechnet  an  dem  Tag,  da  die  Nachricht  von
Bandolios  Ergreifung  kam,  sein  Telefon  abgestellt
hatte.«

Glinnes schnaubte verächtlich. »Ich habe mich auch

nicht gemeldet. Bin ich denn deshalb gleich ein Ver-
brecher?«

Harrad zuckte die Achseln. »Irgend jemand ist um

dreißig  Millionen  Ozols  reicher.  Wer?  Die  Beweise
reichen  noch  nicht  aus,  aber  es  steht  jedenfalls  fest,
daß  Akadie  sich  durch  sein  Verhalten  in  ein  sehr
schlechtes Licht gesetzt hat.«

»Ach,  hören  Sie  doch  auf.  Was  hat  er  denn  noch

angestellt?«

»Er  ist  in  die  Fanscherade  eingetreten!  Er  ist  ein

richtiger Fanscher geworden. Man glaubt allgemein,
daß sie ihn nur wegen des Geldes aufgenommen ha-
ben.«

Glinnes  griff  sich  an  den  Kopf.  »Akadie  ein  Fan-

scher? Das glaube ich einfach nicht. Er ist zu gescheit,
um sich einer Schar von Verrückten anzuschließen!«

Jung  Harrad  blieb  bei  seiner  Überzeugung.  »War-

um ist er dann mitten in der Nacht aufgebrochen und
ins Tal der Grünen Geister gefahren? Und denken Sie
daran,  daß  er  schon  seit  einer  Ewigkeit  Fanscher-

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Tracht trägt und die Lebensweise der Fanscher nach-
äfft.«

»Akadie ist einfach ein bißchen töricht. Er hat nur

einer Laune nachgegeben.«

Jung Harrad zog die Nase kraus. »Na, jetzt kann er

allen Launen nachgeben, die ihm nur einfallen, das ist
mal  sicher.  Irgendwie  imponiert  mir  eine  solche
Frechheit,  aber  wenn  es  um  dreißig  Millionen  Ozols
geht,  klingt  ein  abgeschaltetes  Telefon  doch  ein  biß-
chen dünn.«

»Was  sollte  er  denn  sonst  sagen,  außer  die  Wahr-

heit? Ich habe selbst festgestellt, daß sein Telefon ab-
geschaltet war.«

»Nun,  ich  bin  überzeugt,  daß  die  Wahrheit  schon

noch  herauskommen  wird.  Haben  Sie  übrigens  die-
sen  Hussade-Spieler,  wie  hieß  er  doch,  Jorcom,  Jar-
com? – auftreiben können?«

»Jorcom? Jarcom?« Glinnes riß verblüfft die Augen

auf. »Sodergang wollten Sie wohl sagen.«

Jung  Harrad  grinste  etwas  belämmert.  »Das  war

jemand  anderer,  ein  Fischer  von  der  Isley-Bucht  un-
ten.  Ich  habe  den  Namen  an  der  falschen  Stelle  ein-
getragen.«

Glinnes gab sich alle Mühe, ruhig zu bleiben. »Der

Mann hieß also Jorcom? Oder Jarcom?«

»Schauen  wir's  uns  an«,  meinte  Jung  Harrad.  Er

brachte das Buch heraus. »Hier steht Sodergang, und
da ist der andere Name; mir kommt's wie Jarcom vor.
Er hat den Namen selber eingetragen.«

»Es sieht wie Jarcom aus«, sagte Glinnes. »Oder soll

es vielleicht Jarcony heißen?«

»Jarcony! Sie haben recht! Das ist der Name, den er

nannte. In welcher Position spielt er?«

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»Position?  Springer.  Ich  muß  ihn  mal  besuchen.

Nur leider weiß ich nicht, wo er wohnt.« Er warf ei-
nen  Blick  auf  Jung  Harrads  Bürouhr.  Wenn  er  auf
Teufel  komm  raus  nach  Welgen  zurückfuhr,  konnte
er gerade noch die Fähre nach Port Maheul erreichen.
Er  warf  in  einer  Mischung  von  Verzweiflung  und
Zorn die Arme hoch, sprang in sein Boot und brauste
nach Osten in Richtung Welgen davon.

In  Port  Maheul  mußte  Glinnes  feststellen,  daß  der
Name  ›Jarcony‹  ebenso  unbekannt  war  wie  ›Soder-
gang‹.  Jetzt  bekam  er  die  Sache  langsam  über  und
verzog sich müde und enttäuscht in den Gästegarten
des Fremdenrasthauses, wo er sich eine Flasche Wein
bestellte.  Jemand  hatte  eine  Zeitung  liegengelassen;
Glinnes holte sie sich und überflog die Titelseite. Ein
Artikel erregte seine Aufmerksamkeit:

MISSGLÜCKTER ÜBERFALL

AUF FANSCHER-KOMMUNE

(Port Maheul) Gestern traf die Nachricht ein, daß das
Fanscher-Lager im Tal der Grünen Geister – oder Tal
von  Xian,  wie  die  Trevanyi  es  nennen  –  von  einer
Bande Trevanyi angegriffen wurde. Die Beweggrün-
de des Überfalls sind noch nicht ganz geklärt. Es ist
bekannt,  daß  die  Trevanyi  über  die  Besetzung  ihres
heiligen Tales durch die Fanscher erzürnt sind. Man
darf aber auch nicht vergessen, daß der Mentor Janno
Akadie,  seit  vielen  Jahren  in  der  Gegend  von  Saur-
kash ansässig, sich zum Fanscher erklärt hat und sich
seit kurzem im Fanscher-Lager aufhält. Das Gerücht
will  wissen,  daß  Akadie  über  den  Verbleib  einer

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Summe  von  dreißig  Millionen  Ozols  Bescheid  weiß,
die  Akadie  an  den  Starmenter  Sagmondo  Bandolio
abgeliefert haben will. Bandolio behauptet indessen,
die  Summe  nicht  erhalten  zu  haben.  Es  ist  denkbar,
daß  der  Anführer  der  Trevanyi-Bande,  ein  gewisser
Vang  Drosset,  zu  dem  Schluß  kam,  daß  Akadie  das
Geld mit ins Tal der Grünen Geister genommen hätte,
und deshalb den Überfall organisiert hat. Geschehen
ist folgendes: Sieben Trevanyi drangen des Nachts in
Akadies  Zelt  ein,  konnten  aber  seine  Hilferufe  nicht
ersticken.  Eine  Anzahl  von  Fanschern  wurde  durch
die  Rufe  alarmiert;  bei  dem  darauffolgenden  Hand-
gemenge  wurden  zwei  Trevanyi  getötet  und  etliche
verwundet.  Diejenigen,  die  entkommen  konnten,
fanden  Zuflucht  bei  einem  in  der  Nähe  stattfinden-
den Trevanyi-Treffen, bei dem es um gewisse religiö-
se  Riten  geht.  Es  ist  wohl  nicht  nötig  zu  erwähnen,
daß es den Trevanyi nicht gelang, sich in den Besitz
der  dreißig  Millionen  Ozols  zu  setzen,  die  augen-
scheinlich  sehr  sicher  versteckt  sind.  Die  Fanscher
sind über den Angriff empört und bezeichnen ihn als
feindseligen Akt gegen ihre Bewegung.

»Wir haben wie Karpouns gekämpft«, erklärte ein

Sprecher  der  Fanscher.  »Wir  greifen  niemanden  an,
aber  unsere  Rechte  werden  wir  mit  allen  Kräften
verteidigen. Die Zukunft gehört der Fanscherade! Wir
rufen die Jugend von Merlank und alle anderen auf,
die  sich  durch  die  warmose  alte  Lebensweise  abge-
stoßen  fühlen:  Kommt  zu  den  Fanschern!  Leiht  uns
eure Kraft und eure Kameradschaft!«

Gendarmeriechef Filidice zeigt sich durch den Vor-

fall beunruhigt und hat eine Untersuchung angeord-
net. »Wir werden keine weitere Störung der öffentli-

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chen Ruhe und Ordnung mehr dulden«, erklärte er.

Glinnes  warf  die  Zeitung  auf  den  Tisch.  Verdrossen
lehnte  er  sich  zurück  und  schüttete  sich  ein  halbes
Glas Wein in die Kehle. Die Welt, die er kannte und
liebte,  schien  endgültig  in  Trümmer  zu  gehen.  Fan-
scher und Fanscherade! Lute Casagave, Lord Ambal!
Jorcom, Jarcom, Jarcony, Sodergang! Er verabscheute
jeden einzelnen dieser Namen!

Er  trank  seinen  Wein  aus  und  ging  hinunter  zum

Pier, um auf die Fähre nach Welgen zu warten.

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KAPITEL 19

Die Insel Rabendary wirkte unnatürlich still und ein-
sam. Eine Stunde nach Glinnes' Rückkehr schlug der
Gong des Telefons an. Das Gesicht seiner Mutter er-
schien auf dem Bildschirm.

»Ich  dachte,  du  wärst  auch  zu  den  Fanschern  ge-

gangen«, sagte Glinnes dumpf.

»Nein, nein, ich nicht.« Maruchas Stimme klang be-

sorgt  und  unruhig.  »Janno  tat  es,  um  das  Durchein-
ander  zu  vermeiden.  Du  kannst  dir  nicht  vorstellen,
welche  Anschuldigungen,  Beschimpfungen  und  Un-
terstellungen  wir  über  uns  ergehen  lassen  mußten!
Wir hatten keine ruhige Minute mehr, und da dachte
der arme Janno, es wäre besser, sich zu verziehen.«

»Also ist er doch kein Fanscher geworden.«
»Natürlich  nicht!  Du  hast  schon  als  Kind  immer

alles  so  wörtlich  nehmen  müssen!  Kannst  du  nicht
verstehen, daß jemand sich für eine Idee interessieren
kann, ohne gleich zu ihrem überzeugten Befürworter
zu werden?«

Glinnes  ging  nicht  auf  diese  kritische  Bemerkung

ein. »Wie lange will Akadie im Tal bleiben?«

»Ich finde, er sollte sofort zurückkehren. Wie kann

er dort ein normales Leben führen? Es ist mehr als ge-
fährlich!  Hast  du  gehört,  wie  er  von  den  Trevanyi
überfallen wurde?«

»Ich habe erfahren, daß sie ihm das Lösegeld rau-

ben wollten.«

Maruchas  Stimme  wurde  schrill.  »Du  solltest  so

etwas nicht einmal im Scherz sagen! Der arme Janno!
Was  er  alles  durchgemacht  hat!  Und  er  ist  dir  doch

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immer ein so guter Freund gewesen.«

»Ich habe nichts gegen ihn gesagt oder getan.«
»Nein,  aber  jetzt  mußt  du  etwas  für  ihn  tun.  Ich

möchte, daß du ins Tal fährst und ihn heimholst.«

»Was?  Ich  halte  einen  solchen  Ausflug  nicht  für

sehr  sinnvoll.  Wenn  er  heimkommen  will,  wird  er
schon von selber kommen.«

»Das stimmt nicht! Du kannst dir nicht vorstellen,

in  welcher  Verfassung  er  ist;  er  weiß  sich  einfach
nicht mehr zu helfen! Ich habe ihn noch nie so erlebt!«

»Vielleicht will er nur mal ein bißchen Urlaub ma-

chen – fern aller Geschäfte.«

»Urlaub?  Wo  sein  Leben  ständig  in  Gefahr  ist?  Es

ist allgemein bekannt, daß die Trevanyi ein Massaker
planen.«

»Hmm. Das kann ich mir nicht recht vorstellen.«
»Nun  gut.  Wenn  du  mir  nicht  helfen  willst,  muß

ich selbst gehen.«

»Wohin gehen?«
»In  das  Lager  der  Fanscher,  um  Janno  heimzuho-

len.«

»Verdammt. Na schön. Was ist, wenn er nicht mit-

kommen will?«

»Du mußt es versuchen.«

Glinnes  flog  mit  dem  Luftbus  bis  zu  der  Bergstadt
Circanie, wo er ein uraltes Bodenauto mietete, das ihn
ins  Tal  von  Xian  bringen  sollte.  Ein  schwatzhafter
Alter, der einen blauen Schal um den Kopf gebunden
hatte, war im Mietpreis inbegriffen; er ging mit dem
antiken Gefährt um, als müsse er ein widerspenstiges
Tier  zähmen.  Manchmal  streifte  das  Gleitauto  den
Boden, dann wieder machte es einen zehn Meter ho-

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hen Luftsprung, wodurch Glinnes die Landschaft aus
den ungewöhnlichsten Blickwinkeln zu sehen bekam.
Zwei  Energiestrahlergewehre  auf  dem  Sitz  neben
dem  Fahrer  erregten  seine  Neugier,  und  er  erkun-
digte sich nach ihrem Zweck.

»Gefährliche Gegend hier«, sagte der Fahrer. »Wer

hätte je gedacht, daß es einmal so weit kommt?«

Glinnes betrachtete die Landschaft, die so friedlich

wirkte wie Rabendary. Da und dort standen Bergpo-
mander – wie rosa Dunstwölkchen, die sich in silber-
nen  Fingern  verfangen  hatten,  sahen  sie  aus.  Blau-
grüne  Fialabäume  in  Reih  und  Glied  betonten  den
Hügelkamm. Wenn das Auto einen seiner Luftsprün-
ge machte, weitete sich der Horizont; man sah bis ins
Vorland im Süden – ein blaßfarbenes Flickenmuster,
das in der Ferne im Dunst unterging.

»Ich sehe keinen besonderen Grund zu Besorgnis«,

sagte Glinnes.

»Wenn  Sie  kein  Fanscher  sind,  haben  Sie  gewisse

Aussichten. Keine besonders guten, möchte ich beto-
nen, weil das Treffen der Trevanyi nur ein paar Mei-
len  weiter  drüben  stattfindet  und  sie  angriffslustig
wie die Wespen sind. Sie trinken Racq, ein Gesöff, das
die  Nerven  angreift  und  sie  nicht  gerade  duldsamer
macht.«

Das  Tal  verengte  sich,  und  die  Berge  zu  beiden

Seiten ragten immer steiler empor. Ein ruhiges Flüß-
chen strömte den flachen Talboden entlang; an seinen
Ufern  standen  Haine  von  Sombarilla,  Pomander,
Deodar.

»Ist

 

das

 

das

 

Tal

 

der Grünen Geister?« fragte Glinnes.

»Manche nennen es so. Die Trevanyi begraben ihre

weniger wichtigen Toten unter den Bäumen da. Das

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eigentliche heilige Tal liegt weiter vorn, noch jenseits
von  den  Fanschern.  Dort  –  Sie  können  ihr  Lager
schon sehen. Eine fleißige Schar sind sie wohl, da be-
steht  kein  Zweifel...  Ich  frage  mich  nur,  was  sie  ei-
gentlich wollen. Ob sie es wohl selber wissen?«

Das  Auto  erreichte  das  Lager  –  ein  geordnetes

Durcheinander voller Geschäftigkeit. Hunderte Zelte
waren am Flußufer aufgestellt worden. Auf der gro-
ßen  Wiese  war  man  dabei,  feste  Gebäude  aus
Schaumbeton zu errichten.

Glinnes fand Akadie ohne Schwierigkeiten. Er saß

im  Schatten  eines  Glyptusbaums  an  einem  Pult  und
beschäftigte  sich  mit  verschiedenen  Schreibarbeiten.
Er  begrüßte  Glinnes  weder  erstaunt  noch  besonders
freundlich.

»Ich  bin  gekommen,  um  dich  zur  Vernunft  zu

bringen«,  sagte  Glinnes.  »Marucha  möchte,  daß  du
heimkommst auf den Rorquin-Zahn.«

»Ich  werde  zurückkehren,  wann  es  mir  beliebt«,

erklärte  Akadie  gemessen.  »Bis  du  kamst,  war  das
Leben hier einigermaßen friedlich. Ich muß allerdings
zugeben, daß meine Weisheit nicht auf großen Bedarf
stößt.  Ich  hatte  erwartet,  als  verehrungswürdiger
Mentor empfangen zu werden; statt dessen sitze ich
hier  und  erledige  armselige  Buchhaltungsarbeiten.«
Er  wies  mit  einer  verächtlichen  Geste  auf  das  Pult.
»Man sagte mir, daß ich für meinen Unterhalt arbei-
ten müßte, und das ist eine Aufgabe, für die sich kei-
ner besonders begeistert.« Er warf einen säuerlichen
Blick zu einer nahen Zeltgruppe hinüber. »Jeder will
nur an den großartigen Plänen teilhaben. Verlautba-
rungen  und  Anweisungen  fliegen  wie  Spreu  durch
die Luft.«

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»Ich  dächte«,  sagte  Glinnes,  »daß  du  mit  dreißig

Millionen  Ozols  doch  leicht  deinen  Lebensunterhalt
bestreiten könntest.«

Akadie  bedachte  ihn  mit  einem  müde  vorwurfs-

vollen Blick. »Ist dir klar, daß dieser Vorfall mein Le-
ben ruiniert hat? Meine Integrität wurde in Frage ge-
stellt – ich kann nie wieder als Mentor arbeiten.«

»Du bist auch ohne die dreißig Millionen wohlha-

bend  genug«,  sagte  Glinnes.  »Was  soll  ich  meiner
Mutter sagen?«

»Sag  ihr,  daß  ich  überarbeitet  bin  und  mich  lang-

weile, daß mir aber zumindest die Anschuldigungen
nicht  bis  hierher  gefolgt  sind.  Willst  du  Glay  besu-
chen?«

»Nein. Wozu sind diese Betonbauten?«
»Ich lasse es mir angelegen sein, nichts zu wissen«,

sagte Akadie.

»Hast du die Geister gesehen?«
»Nein;  ich  habe  allerdings  auch  nicht  Ausschau

nach ihnen gehalten. Du kannst auf der anderen Seite
des  Flusses  Trevanyi-Gräber  finden,  aber  die  heilige
Heimstatt  des  Todesvogels  liegt  eine  Meile  weiter
oben  im  Tal,  jenseits  dieses  Deodar-Wäldchens.  Ich
habe  mich  flüchtig  umgesehen  und  war  begeistert.
Ein  entzückendes  Fleckchen,  das  steht  fest  –  viel  zu
schön für die Trevanyi.«

»Wie  ist  das  Essen?«  erkundigte  sich  Glinnes  un-

schuldig.

Akadie  verzog  das  Gesicht.  »Die  Fanscher  wollen

die Geheimnisse des Universums ergründen, wissen
aber noch nicht einmal, wie man ein Toast zubereitet.
Jede Mahlzeit gleicht der anderen: Brei und ein Salat
aus verschiedenem Grünzeug. Im Umkreis von Mei-

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len  gibt  es  keine  Flasche  Wein...«  Akadie  ließ  sich
noch  etliche  Minuten  über  dieses  Thema  aus.  Er
sprach vom Fanatismus der Fanscher, von ihrer Nai-
vität,  aber  vor  allem  von  ihrer  Knickerigkeit,  die  er
unverzeihlich  fand.  Bei  der  Erwähnung  der  dreißig
Millionen Ozols bebte er vor Zorn, zeigte jedoch an-
dererseits  das  Bedürfnis,  immer  wieder  seine
Schuldlosigkeit bestätigt zu bekommen. »Du hast den
Boten  doch  selber  gesehen;  du  hast  ihn  zu  meinem
Haus gewiesen. Hat das denn keine Beweiskraft?«

»Bis jetzt hat noch niemand eine Aussage von mir

haben  wollen.  Was  ist  mit  deinem  Bekannten,  Ryl
Shermatz? Wo war er, als der Bote kam?«

»Er hat die Übergabe nicht mitangesehen. Ein son-

derbarer  Mann,  dieser  Shermatz!  Sein  Geist  ist  wie
Quecksilber.«

Glinnes  stand  auf.  »Du  solltest  mitkommen.  Hier

erreichst  du  gar  nichts.  Wenn  du  all  der  Aufregung
entgehen willst, dann bleib doch eine Woche oder so
auf Rabendary.«

Akadie  zupfte  sich  am  Kinn.  »Nun  ja,  warum

nicht?«  Er  schnippte  die  Papiere  verächtlich  weg.
»Was  wissen  diese  Fanscher  schon  von  Weltge-
wandtheit,  Geschmack,  Klugheit?  Sie  lassen  mich
Zahlen  addieren.«  Er  erhob  sich.  »Ich  werde  den
Staub dieses Ortes von den Füßen schütteln. Die Fan-
scherade  beginnt  mich  zu  langweilen;  diese  Leute
werden  ganz  bestimmt  nicht  das  Universum  er-
obern.«

»Also komm«, sagte Glinnes. »Willst du irgend et-

was  mitnehmen?  Dreißig  Millionen  Ozols  zum  Bei-
spiel?«

»Dieser  Scherz  ist  recht  abgeschmackt«,  bemerkte

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Akadie. »Ich werde gehen, wie ich bin, aber um mei-
nem Abschied die rechte Würze zu verleihen, will ich
meine  Arbeit  mit  einer  etwas  unorthodoxen  Rech-
nung  abschließen.«  Er  kritzelte  mit  Schwung  einige
Zahlen  auf  das  Papier  und  warf  sich  dann  seinen
Mantel über die Schulter. »Ich bin bereit.«

Das Bodenauto glitt das Tal der Grünen Geister hin-
unter  und  erreichte  Circanie  zur  Avness-Stunde.
Akadie und Glinnes mieteten sich für die Nacht in ei-
nem kleinen Landgasthof ein.

Etwa um Mitternacht erwachte Glinnes durch den

Lärm  aufgeregter  Stimmen,  und  kurz  darauf  ver-
nahm  er  draußen  das  Geräusch  hastiger  Schritte.  Er
schaute aus dem Fenster, doch die Straße lag verlas-
sen  im  Sternenlicht  da.  Betrunkene,  dachte  Glinnes
und kehrte zu seinem Lager zurück.

In  der  Früh  hörten  sie,  was  die  Ursache  für  den

Vorfall  gewesen  war.  Die  halbe  Nacht  lang  hatten
sich die Trevanyi bei ihrem Treffen aufgeputscht; sie
waren durch Feuer gegangen; sie hatten ihre eigenar-
tigen  hypnotisierenden  Tänze  aufgeführt;  ihre  ›Gro-
tesken‹, wie sie ihre Seher nannten, hatten den Rauch
von  Baicha-Wurzeln  eingeatmet  und  das  Schicksal
des  Trevanyi-Volkes  benommen  und  rülpsend  ge-
weissagt. Die Krieger begrüßten ihr Geschick mit fa-
natischen  Schreien  und  makabrem  Geheul  und
stürmten  über  die  sternenlichten  Hügel,  um  das  La-
ger der Fanscher zu überfallen.

Die Fanscher waren darauf nicht ganz unvorberei-

tet.  Sie  setzten  ihre  Strahlergewehre  mit  vernichten-
der  Wirkung  ein:  die  attackierenden  Trevanyi  er-
starrten in dem blauen Feuer zu glosenden rauchen-

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den Schemen. Chaos griff um sich. Der erste kampf-
lustige  Ansturm  löste  sich  zu  einem  Durcheinander
zuckender  Körper  auf,  die  schwelend  den  Talboden
bedeckten,  und  endlich  hörte  jede  Kampfhandlung
auf;  die  Trevanyi  waren  entweder  tot  oder  entsetzt
geflohen.  Die  Fanscher  sahen  ihnen  in  bedrücktem
Schweigen nach. Sie hatten gesiegt, aber sie wußten,
daß sie doch verloren hatten. Die Fanscherade würde
nie  mehr  dasselbe  sein;  Schwung  und  Begeisterung
waren verschwunden, und am nächsten Morgen gab
es eine traurige Arbeit zu tun. Sie hatten das Univer-
sum  erlösen  wollen,  nun  hatten  sie  Hunderte  von
verkohlten und verstümmelten Leichen zu beerdigen.

Akadie und Glinnes kehrten ohne weitere Zwischen-
fälle nach Rabendary zurück, aber Glinnes' nachlässi-
ge Haushaltsführung irritierte Akadie dermaßen, daß
er  noch  am  selben  Tag  beschloß,  auf  den  Rorquin-
Zahn heimzukehren.

Glinnes  rief  Marucha  an,  deren  Stimmung  wieder

umgeschlagen  hatte:  jetzt  verlor  sie  die  Nerven  bei
der  Aussicht  auf  Akadies  Heimkehr.  »Es  hat  einen
fürchterlichen und ganz unnötigen Aufruhr gegeben
–  ich  weiß  gar  nicht  mehr,  wo  mir  der  Kopf  steht!
Lord Gensifer verlangt, daß Janno sich sofort mit ihm
in  Verbindung  setzt.  Er  war  schrecklich  lästig  und
ohne jedes Verständnis für meine Lage.«

Akadies  aufgestaute  Entrüstung  brach  sich  freie

Bahn. »Wie kann er es wagen, mich so zu tyrannisie-
ren?  Ich  werde  ihm  meine  Meinung  sagen,  und  das
gleich jetzt. Ruf ihn an!«

Glinnes stellte die Verbindung her. Lord Gensifers

Gesicht erschien auf dem Bildschirm. »Man sagte mir,

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daß  Sie  mit  Janno  Akadie  zu  sprechen  wünschten«,
sagte Glinnes.

»Stimmt genau«, rief Lord Gensifer. »Wo ist er?«
Akadie trat vor. »Ich bin hier, wenn Sie nichts da-

gegen  haben!  Ich  wüßte  nicht,  was  ich  mit  Ihnen  so
Dringendes  zu  besprechen  hätte,  daß  Sie  unaufhör-
lich bei mir zu Hause anrufen!«

»Hören  Sie  auf«,  sagte  Lord  Gensifer  und  schob

energisch die Unterlippe vor. »Der Verbleib der drei-
ßig Millionen Ozols ist noch immer nicht geklärt.«

»So – und weshalb sollte ich überhaupt mit Ihnen

darüber sprechen?« wollte Akadie wissen. »Sie sind ja
gar  nicht  betroffen.  Sie  wurden  nicht  entführt,  und
Sie haben kein Lösegeld gezahlt.«

»Ich  bin  der  Vorsitzende  des  Adelsrates  und  be-

vollmächtigt, die Angelegenheit zu untersuchen.«

»Trotzdem  paßt  mir  Ihr  Ton  nicht«,  sagte  Akadie.

»Ich habe meinen Standpunkt längst klargemacht. Ich
wünsche, nicht mehr über die Angelegenheit zu spre-
chen.«

Lord Gensifer schwieg einen Augenblick. »Es wird

Ihnen nichts anderes übrigbleiben«, sagte er schließ-
lich.

»Ich verstehe Sie nicht«, entgegnete Akadie eisig.
»Die Sache ist ganz einfach. Der Whelm wird Sag-

mondo Bandolio an den Gendarmeriechef Filidice in
Welgen ausliefern. Zweifellos wird man den Verbre-
cher zwingen, seine Komplizen zu nennen.«

»Das geht mich nichts an. Er kann so viele Kompli-

zen nennen, wie er will.«

Lord  Gensifer  legte  den  Kopf  schief.  »Jemand  mit

profunder  Kenntnis  der  hiesigen  Verhältnisse  hat
Bandolio  mit  Informationen  versorgt.  Diese  Person

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wird Bandolios Schicksal teilen.«

»Verdientermaßen.«
»Dann  möchte  ich  nur  noch  sagen,  daß  Sie  mich,

wenn Ihnen irgend etwas Nützliches einfallen sollte,
und  sei  es  noch  so  unbedeutend,  jederzeit  anrufen
können  –  zu  jeder  Tages-  und  Nachtstunde,  außer
natürlich  heute  in  einer  Woche«,  Lord  Gensifer
schmunzelte  wohlwollend,  »wenn  ich  mich  mit  der
zukünftigen Lady Gensifer vermähle.«

Akadies berufliches Interesse erwachte. »Wer wird

denn die neue Lady Gensifer sein?«

Lord  Gensifer  schloß  halb  die  Augen,  in  seliger

Vorfreude versunken. »Sie ist anmutig, schön und tu-
gendhaft wie keine andere, eigentlich viel zu gut für
jemanden wie mich. Ich spreche von der ehemaligen
Sheirl  der  Tanchinaros,  Duissane  Drosset.  Ihr  Vater
wurde  bei  dem  Kampf  heute  nacht  getötet,  und  sie
hat  sich  meinem  Trost  und  meiner  Obhut  anver-
traut.«

»Dann  hat  uns  dieser  Tag  zumindest  eine  ange-

nehme  Überraschung  beschert«,  bemerkte  Akadie
trocken.

Der  Bildschirm  verdunkelte  sich.  Lord  Gensifer

war trösten gegangen.

Im  Tal  herrschte  wieder  Stille.  Noch  nie  war  die
Schönheit  der  Landschaft  so  offenkundig  gewesen.
Das  Wetter  war  außergewöhnlich  klar;  die  Luft  war
eine  kristallene  Linse,  die  alle  Farben  vertiefte,  ver-
zauberte.  Jeder  Ton  war  klar  und  deutlich  zu  ver-
nehmen,  klang  aber  seltsam  gedämpft;  vielleicht
sprachen auch die Menschen im Tal unwillkürlich lei-
ser und vermieden jeden Lärm. Nachts brannten nur

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wenige trübe Lichter, und die Gespräche wurden zu
einem Flüstern im Dunklen. Der Überfall der Treva-
nyi  hatte  bestätigt,  was  viele  vorausgesagt  hatten  –
daß  die  Fanscherade,  wenn  sie  sich  durchsetzen
wollte,  erst  eine  Vielzahl  negativer  Kräfte  überwin-
den  mußte.  Jetzt  war  die  Zeit  für  Entschlossenheit
und eine Festigung des Geistes gekommen. Eine An-
zahl Leute verließ unvermittelt das Tal und ließ sich
nicht mehr blicken.

Bei dem Trevanyi-Treffen hatten sich die Gemüter

nur  weiter  erhitzt.  Wenn  es  noch  Stimmen  gab,  die
zur  Mäßigung  mahnten,  so  gingen  sie  jetzt  in  dem
Dröhnen  der  Trommeln,  Hörner  und  Narwouns  un-
ter,  jenen  gewundenen,  tiefstimmigen  Instrumenten,
die nur die Trevanyi benützten. Abends sprangen die
Männer  durch  Feuer  und  schnitten  sich  mit  ihren
Dolchen in Schenkel und Arme, um Blut für die heili-
gen Riten zu opfern. Clans aus dem fernen Bassway
und aus den Ostländern trafen ein, und viele hatten
Strahlergewehre.  Fäßchen  eines  feurigen  Gebräus,
das  sich  Racq  nannte,  wurden  angestochen  und  ge-
leert, und die Krieger sangen zur wirbelnden Musik
der Narwouns, Trommeln und Hörner kühne und to-
desmutige Gelübde in die Nacht hinaus.

Am dritten Morgen nach dem nächtlichen Überfall

erschien ein Trupp Gendarmerie am Versammlungs-
platz.  Der  Gendarmeriechef  Filidice  war  selbst  ge-
kommen, um die Trevanyi zur Vernunft zu mahnen
und seinen Entschluß zu verkünden, die Ruhe um je-
den Preis aufrechtzuerhalten.

Die  Trevanyi  machten  ihrer  Entrüstung  lautstark

Luft.  Die  Fanscher  waren  in  heiliges  Gebiet  einge-
drungen, in das Tal, in dem die Geister lebten!

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Filidice  hob  die  Stimme.  »Ihr  habt  Grund  zur  Be-

schwerde.  Ich  habe  die  Absicht,  euren  Standpunkt
den Fanschern klarzulegen. Aber was sich auch dar-
aus  ergibt,  ihr  müßt  euch  auf  jeden  Fall  an  meine
Anweisung halten. Seid ihr dazu bereit?«

Die Trevanyi schwiegen.
Filidice  wiederholte  seine  Forderung,  erhielt  aber

wieder keine Antwort. »Wenn ihr euch weigert, mei-
ne  Anweisungen  zu  befolgen  und  die  Ruhe  zu  be-
wahren«, rief er, »werden wir Gehorsam erzwingen.
Ihr seid gewarnt!«

Die  Gendarmen  bestiegen  wieder  ihre  Flugboote

und setzten über den Hügel ins Tal der Grünen Gei-
ster.

Junius  Farfan  empfing  Gendarmeriechef  Filidice.

Farfan  war  abgemagert;  seine  Kleidung  hing  faltig
um seine Gestalt, und neue, strenge Linien zeichneten
sein  Gesicht.  Er  hörte  den  Gendarmeriechef  schwei-
gend an. Seine Antwort war kühl. »Wir haben mona-
telang  hier  gearbeitet,  ohne  jemandem  Ungelegen-
heiten  zu  bereiten.  Wir  respektieren  die  Gräber  der
Trevanyi;  es  sind  keinerlei  unehrerbietige  Handlun-
gen vorgekommen; niemals wurden die Trevanyi am
freien Zutritt zum Moor von Xian gehindert. Die Tre-
vanyi sind einfach unvernünftig; wir müssen uns bei
allem  Respekt  vor  dem  Gesetz  weigern,  unser  Land
zu verlassen.«

Gendarmeriechef  Filidice,  ein  untersetzter,  blasser

Mann mit eisblauen Augen, der von der Würde und
Wichtigkeit  seines  Amtes  zutiefst  überzeugt  war,
hatte für Widersetzlichkeit noch nie viel übrig gehabt.
»Nun gut«, sagte er. »Ich habe die Trevanyi zur Mä-
ßigung gemahnt; ich tue das Gleiche nun bei Ihnen.«

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Junius  Farfan  neigte  den  Kopf.  »Wir  werden  die

Trevanyi keinesfalls angreifen. Wir sind jedoch bereit,
uns mit allen Kräften zu verteidigen.«

Filidice stieß ein sarkastisches Schnauben aus. »Die

Trevanyi sind Krieger, jeder einzelne Mann. Sie wür-
den  euch  mit  Vergnügen  die  Kehle  durchschneiden,
wenn wir sie ließen. Ich rate Ihnen dringend, eine an-
dere Lösung zu finden. Warum müssen Sie Ihr Ideo-
logiezentrum ausgerechnet hier bauen?«

»Das  Land  war  unbesiedelt  und  frei.  Wollen  Sie

uns anderswo Land zur Verfügung stellen?«

»Natürlich  nicht.  Genaugenommen  verstehe  ich

überhaupt  nicht,  wozu  Sie  ein  großartiges  Zentrum
brauchen.  Warum  kehren  Sie  nicht  alle  nach  Hause
zurück und vermeiden diesen Hader und Streit?«

Junius  Farfan  lächelte.  »Jetzt  spricht  Ihr  ideologi-

sches Vorurteil aus Ihnen.«

»Es ist kein Vorurteil, wenn man die erprobten und

vernünftigen  Richtlinien  der  Vergangenheit  bevor-
zugt; das ist ganz gewöhnliche Vernunft.«

Junius  Farfan  zuckte  die  Achseln  und  unternahm

keinen Versuch, eine unwiderlegbare Ansicht zu wi-
derlegen. Die Gendarmerie bezog jedenfalls auf dem
Hügelkamm Posten.

Der  Tag  verstrich.  Am  Avness  brach  ein  Gewitter

los.  Eine  Stunde  lang  zuckten  violette  Feuerstrahlen
über  die  dunklen  Flanken  der  Hügel.  Die  Fanscher
traten  vor  ihre  Zelte,  um  das  Schauspiel  zu  bestau-
nen.  Die  Trevanyi  erschauerten  vor  diesem  üblen
Vorzeichen; nach ihrem Glauben stand jetzt Urmank,
der  Geistertöter,  auf  den  Wolken  und  speerte  die
Seelen  von  Trevanyi  und  Trills  ohne  Unterschied.
Trotzdem sammelten sie sich, tranken Racq, umarm-

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ten  einander  und  brachen  um  Mitternacht  zu  ihrem
Unternehmen  auf,  um  in  der  stillen  grauen  Stunde
vor der Morgendämmerung angreifen zu können. Im
Schutz des Deodars schwärmten sie aus, schlichen die
Hänge  entlang  und  umgingen  mit  Leichtigkeit  die
Gendarmen  und  ihre  elektronischen  Spürgeräte.
Trotz  aller  Vorsicht  gerieten  sie  in  einen  Hinterhalt
der Fanscher. Gebrüll und Schmerzensschreie zerris-
sen  die  Stille  der  letzten  Nachtstunden.  Strahlerge-
wehre  blitzten  auf;  zuckende,  ineinander  verkrallte
Gestalten  hoben  sich  als  groteske  Schemen  vor  dem
grau  werdenden  Himmel  ab,  brennende  Leichen
überall.  Die  Trevanyi  kämpften  mit  gutturalen
Schreien,  gezischten  Flüchen  –  die  Fanscher  fochten
in unheimlichem Schweigen. Die Gendarmen stießen
in  ihre  Signalhörner  und  warfen  sich  zwischen  die
kämpfenden Parteien, die schwarz-graue Regierungs-
fahne schwingend. Die Trevanyi denen plötzlich be-
wußt  wurde,  daß  sie  gegen  einen  besessenen  Feind
kämpften, wichen zurück. Die Fanscher verfolgten sie
wie  Rachegötter.  Die  Gendarmen  brüllten  Befehle
und bliesen die Hörner, aber keine Seite nahm Rück-
sicht  auf  sie.  Die  schwarzgraue  Flagge  wurde  ihnen
entrissen,  und  auch  sonst  wurden  sie  nicht  gerade
sanft behandelt. Daraufhin funkten sie um Hilfe nach
Circanie;  Gendarmeriechef  Filidice,  grob  aus  dem
Schlaf gerissen und auch sonst kein Freund der Fan-
scher, ließ die Miliz ausrücken.

Kurz nach Tagesanbruch traf die Miliz im Tal ein –

eine Kompanie Trills, alles Leute vom Lande. Sie ver-
achteten  die  Trevanyi,  aber  sie  kannten  sie  und  fan-
den  sich  mit  ihrer  Existenz  ab.  Die  verrückten  Fan-
scher  dagegen  waren  ein  fremdes  Element  in  ihrer

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Welt, und dafür hatten sie keinerlei Verständnis. Die
Trevanyi, die sich mittlerweile von ihrer Panik erholt
hatten, begleiteten den Einzug der Miliz ins Tal; Mu-
sikanten tanzten an den Soldaten vorbei und spielten
aufmunternde Kampflieder und wüste Moritaten.

Die Fanscher hatten sich in den Schutz des Deodar-

Waldes zurückgezogen; nur Junius Farfan und einige
andere erwarteten die Miliz. Sie hatten jede Hoffnung
auf Sieg aufgegeben; jetzt stand die Staatsgewalt ge-
gen sie. Der Milizhauptmann trat vor und gab ihnen
seine  Befehle  bekannt:  die  Fanscher  mußten  das  Tal
verlassen.

»Mit welcher Begründung?« fragte Farfan.
»Daß eure Anwesenheit Unruhe verursacht.«
»Unsere Anwesenheit ist legal.«
»Trotzdem  verursacht  sie  Spannungen,  die  es  zu-

vor  nicht  gab.  Ausschlaggebender  als  Legalität  sind
praktische  Erwägungen,  und  euer  weiterer  Aufent-
halt  im  Tal  der  Grünen  Geister  ist  aus  praktischen
Erwägungen  abzulehnen.  Ich  muß  darauf  bestehen,
daß ihr abzieht.«

Junius  Farfan  beriet  sich  mit  seinen  Kameraden.

Dann  wandte  er  sich  mit  tränenüberströmten  Wan-
gen  ab,  um  die  übrigen  Fanscher  zu  instruieren,  die
im Schatten der Deodars die weitere Entwicklung ab-
gewartet  hatten.  Junius  Farfan  weinte  über  den  Zu-
sammenbruch  seines  großen  Traums,  aber  das  min-
derte den Haß der im Hinterhalt liegenden Trevanyi
nicht. Von Racq aufgeputscht, konnten sie nicht län-
ger  an  sich  halten.  Ein  Dolch  blitzte  auf  und  bohrte
sich  in  Farfans  Genick.  Die  Fanscher  stießen  einen
seltsamen,  stöhnenden  Schrei  aus  und  fielen  über
Miliz und Trevanyi gleichermaßen her. In ihren Au-

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gen  flackerte  verzweifeltes  Entsetzen.  Die  Soldaten,
die sich an diesem Zwist unbeteiligt fühlten, suchten
ihr Heil in der Flucht. Trevanyi und Fanscher wälzten
sich ineinander verkrallt auf der Erde, jeder nur mehr
darauf bedacht, den Gegner umzubringen.

Endlich,  wie  in  stummem  Einverständnis,  lösten

sich die Überlebenden voneinander und krochen fort.
Die  Trevanyi  kehrten  über  die  Hügel  zu  ihren  weh-
klagenden Angehörigen zurück. Die Fanscher hielten
sich  nur  noch  kurz  in  ihrem  Lager  auf  und  zogen
dann  durch  das  Tal  fort.  Die  Fanscherade  war  am
Ende. Der große Traum war ausgeträumt.

Monate  später  erwähnte  der  Connat  in  einem  Ge-
spräch mit einem seiner Minister die Schlacht im Tal
der Grünen Geister. »Ich befand mich zufällig in der
Nähe und wurde auf dem laufenden gehalten. Es war
ein tragisches Aufeinandertreffen zweier verschiede-
ner Weltanschauungen.«

»Hättet  Ihr  die  Konfrontation  nicht  verhindern

können?«

Der  Connat  zuckte  die  Achseln.  »Ich  hätte  den

Whelm  hinbeordern  können.  Ich  habe  das  in  einem
Fall getan, der diesem recht ähnlich war – die Affäre
mit dem Tamarcho auf Rhamnotis –, und damals kam
es zu keiner befriedigenden Lösung. Eine von solchen
Unruhen geplagte Gesellschaft ist wie ein Mensch mit
Bauchweh. Er wird sich erst besser fühlen, wenn sein
Körper das Gift losgeworden ist.«

»Und  doch  –  viele  Menschen  haben  dadurch  ihr

Leben verloren.«

Der  Connat  machte  eine  undeutbare  Geste.  »Ich

freue mich an der Kameradschaft in der Schenke, im

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Landgasthaus,  in  der  Hafentaverne.  Ich  bereise  die
Welten von Alastor, und überall finde ich Menschen,
die mir klug und faszinierend erscheinen, Menschen,
die ich liebe. Jedes Individuum der fünf Milliarden ist
ein Kosmos für sich, ist einzigartig und unersetzlich...
Manchmal begegne ich auch einem Mann oder einer
Frau, die ich hassen muß. Ich blicke in ihre Gesichter
und  sehe  Bosheit,  Grausamkeit  und  Verderbtheit.
Dann denke ich immer, daß diese Leute im Gesamt-
schema aller Dinge genauso ihren Platz haben; ohne
sie  gäbe  es  nichts,  an  dem  die  Tugend  sich  messen
könnte. Leben ohne Gegensätze ist Essen ohne Salz...
Als Connat muß ich nach den Richtlinien der Politik
denken:  dann  kann  ich  den  Menschen  nur  als  eine
verschwimmende  Gesamtheit  von  fünf  Milliarden
verschwimmenden  Gesichtern  sehen.  Diesem  Men-
schen gegenüber empfinde ich keine Gefühle. So war
es auch im Tal der Grünen Geister. Die Fanscherade
war von ihrer Geburtsstunde an zum Untergang ver-
urteilt  –  es  hat  wohl  selten  einen  so  sonderbaren
Mann wie Junius Farfan gegeben. Einige haben über-
lebt, aber sie sind keine Fanscher mehr. Die meisten
werden ihre Tracht ablegen und wieder zu normalen
Trills werden. Einige werden auf andere Welten aus-
wandern.  Ein  oder  zwei  werden  vielleicht  zu
Starmentern. Und ein paar Hartnäckige werden in ih-
rem  Privatleben  die  Ideale  der  Fanscher  verfolgen.
Aber alle, die daran teilhatten, werden sich immer an
den großen Traum erinnern und wissen, daß sie den
anderen etwas voraushaben, die nicht von dem Glanz
und der Tragik dieser Idee berührt wurden.«

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KAPITEL 20

Eines  Tages  kehrte  Glay  nach  Rabendary  heim,  den
Arm  in  einer  Schlinge,  mit  zerrissenen,  fleckigen
Kleidern. »Ich muß ja irgendwo leben«, sagte er ver-
drossen. »Also kann ich genausogut hierbleiben.«

»Es  ist  nicht  schlechter  als  anderswo«,  sagte  Glin-

nes.  »Ich  vermute,  du  hast  nicht  daran  gedacht,  das
Geld mitzubringen.«

»Geld? Welches Geld?«
»Die zwölftausend Ozols.«
»Nein.«
»Das  ist  schade.  Casagave  nennt  sich  jetzt  Lord

Ambal.«

Glay zeigte nicht das mindeste Interesse. Seine Ge-

fühle waren verbraucht, seine Welt war grau und leer
geworden. »Wenn er wirklich Lord Ambal wäre – be-
kommt er dadurch ein Recht auf die Insel?«

»Er scheint dieser Ansicht zu sein.«
Der Gong rief Glinnes ans Telefon. Der Bildschirm

zeigte Akadies Gesicht. »Ah, Glinnes! Ich bin wirklich
froh, daß ich dich daheim antreffe. Ich brauche Hilfe.
Kannst du sofort auf den Rorquin-Zahn herauskom-
men?«

»Gewiß, wenn du mein übliches Honorar bezahlen

willst.«

Akadie hob ärgerlich die Hand. »Ich habe jetzt kei-

nen  Sinn  für  ironische  Scherze.  Kannst  du  sofort
kommen?«

»Also gut. Was hast du für Schwierigkeiten?«
»Das erkläre ich dir, wenn du da bist.«

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Akadie empfing Glinnes schon am Tor und führte ihn
fast im Laufschritt in die Bibliothek. »Ich möchte dich
mit zwei Beamten der Präfektur bekanntmachen, die
irregeleitet genug sind, meine arme, gehetzte Person
aller möglichen Untaten zu bezichtigen. Rechts unser
ehrenwerter  Gendarmeriechef  Benko  Filidice;  links
Inspektor  Lucian  Daul,  öffentlicher  Ankläger,  Ge-
fängnisverwalter  und  Aufseher  der  Prutanschyr.
Dies,  meine  Herren,  ist  mein  Freund  und  Nachbar
Glinnes  Hulden,  der  Ihnen  vielleicht  besser  als  der
kühne rechte Mittelstürmer der Tanchinaros bekannt
ist.«

Man grüßte sich, und sowohl Filidice als auch Daul

kommentierten  höflich  Glinnes'  Leistungen  auf  dem
Hussadefeld.  Filidice,  ein  massiger  Klotz  von  einem
Mann mit bleichen, melancholischen Zügen und kal-
ten, blauen Augen, trug einen gelblichen Anzug aus
Gabardine  mit  schwarzen  Paspeln.  Daul  war  groß
und hager, hatte lange dünne Arme, schmale Hände
und  lange,  knochige  Finger.  Sein  Gesicht  unter  dem
Wust von stumpfschwarzen Krauslocken war ebenso
blaß wie das seines Vorgesetzten, nur mit durch Ha-
gerkeit  betonteren  Zügen.  Daul  gab  sich  übermäßig
zuvorkommend und höflich, als sei ihm der Gedanke
unangenehm, daß er jemanden kränken könnte.

Akadie wandte sich in seinem pedantischsten Ton-

fall  an  Glinnes.  »Diese  beiden  Herren,  beides  fähige
und  unvoreingenommene  Beamte  des  öffentlichen
Dienstes,  erklären  mir,  daß  ich  mit  dem  Starmenter
Sagmondo Bandolio konspiriert habe. Sie behaupten,
daß  das  mir  anvertraute  Lösegeld  sich  noch  in  mei-
nem  Besitz  befindet.  Ich  beginne  langsam  selbst  an
meiner Unschuld zu zweifeln.«

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»Meiner  Meinung  nach«,  sagte  Glinnes,  »würdest

du für ein paar Ozols alles tun – außer ein Risiko ein-
zugehen.«

»Ich  habe  dich  um  deine  Hilfe  gebeten  und  nicht

um  spitzfindige  Bemerkungen!  Hast  du  nicht  einen
Boten  zu  meinem  Haus  dirigiert?  Warst  du  nicht
Zeuge  meiner  Unterredung  mit  einem  gewissen  Ryl
Shermatz, und war an diesem Tag mein Telefon nicht
abgeschaltet?«

»Stimmt alles ganz genau«, sagte Glinnes.
Gendarmeriechef  Filidice  sagte  milde:  »Ich  versi-

chere Ihnen, Janno Akadie, daß wir vor allem deshalb
zu  Ihnen  gekommen  sind,  weil  wir  uns  an  niemand
anderen wenden können. Das Geld kam bis zu Ihnen
und verschwand. Bandolio hat es nicht erhalten. Wir
haben seinen Geist sondiert; er belügt uns nicht. Er ist
im Gegenteil sehr hilfsbereit und zuvorkommend.«

»Wie wurde laut Bandolio die Sache eigentlich or-

ganisiert?« erkundigte Glinnes sich.

»Dabei gab es einige merkwürdige Gesichtspunkte.

Bandolio  hat  mit  einem  Mann  zusammengearbeitet,
der geradezu fanatisch vorsichtig war, mit jemandem,
der – um Sie zu zitieren – ›für ein paar Ozols alles tun
würde – außer ein Risiko einzugehen‹. Dieser Mann
hat die Aktion angeregt. Er sandte Bandolio eine Bot-
schaft  durch  Kanäle,  die  nur  Starmentern  bekannt
sind,  was  darauf  schließen  läßt,  daß  dieser  Mann  –
nennen wir ihn X entweder selbst ein Starmenter war
oder einen zum Komplizen hatte.«

»Es ist recht gut bekannt, daß ich kein Starmenter

bin«, stellte Akadie fest.

Filidice nickte gewichtig. »Natürlich – aber Sie ha-

ben,  wenn  man  die  Sache  einmal  ganz  hypothetisch

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betrachtet, eine Menge Bekannte, von denen einer ein
Starmenter oder ein Ex-Starmenter sein könnte.«

Akadie blickte etwas betroffen drein. »Das ist wohl

möglich.«

Filidice fuhr fort. »Nach Empfang der Botschaft traf

Bandolio  Vorkehrungen,  mit  X  zusammenzutreffen.
Diese  Vorkehrungen  waren  ziemlich  kompliziert:
beide  Männer  waren  mißtrauisch.  Sie  trafen  sich  an
einem Ort in der Nähe von Welgen, bei Dunkelheit. X
trug eine Hussade-Maske. Sein Plan war höchst ein-
fach. Er wollte bei einem großen Hussade-Match da-
für sorgen, daß die reichsten Leute der Präfektur alle
in  einem  Tribünenabschnitt  beisammen  saßen;  das
wollte  er  durch  das  Verschicken  von  Freikarten  be-
werkstelligen. X sollte zwei Millionen Ozols erhalten.
Den Rest würde Bandolio einstecken...

Der  Plan  war  gut;  Bandolio  stimmte  zu,  und  die

weiteren  Ereignisse  haben  wir  ja  selbst  miterlebt.
Bandolio schickte schließlich einen Vertrauten, einen
gewissen Lempel, hierher, um das Geld bei dem mit
der Einsammlung Beauftragten abzuholen – und das
sind Sie.«

Akadie runzelte zweifelnd die Stirn.
»Dieser Bote war Lempel?«
»Nein. Lempel traf eine Woche nach dem Überfall

in Port Maheul ein. Er reiste nicht wieder ab, weil er
vergiftet wurde – wahrscheinlich von X. Er starb im
Schlaf,  im  Touristengasthof  von  Welgen,  einen  Tag,
bevor die Nachricht von der Gefangennahme Bando-
lios eintraf.«

»Das  muß  der  Tag  gewesen  sein,  bevor  ich  das

Geld ablieferte.«

Gendarmeriechef  Filidice  lächelte  nur  vielsagend.

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»Die

 

Lösegeldsumme

 

befand

 

sich

 

jedenfalls

 

nicht unter

seinen Effekten. Das sind also die Fakten: Sie hatten
das Geld. Lempel hatte es nicht. Wo ist es hin?«

»Er  hat  vermutlich  eine  Vereinbarung  mit  dem

Boten  getroffen,  bevor  er  vergiftet  wurde.  Der  Bote
muß das Geld haben.«

»Aber  wer  ist  dieser  geheimnisvolle  Bote?  Einige

der  Lords  sehen  ihn  als  ein  reines  Phantasiegebilde
an.«

Akadie  sagte  langsam  und  deutlich:  »Ich  mache

hiermit vor Ihnen meine offizielle Aussage. Ich habe
das  Geld  gemäß  meinen  Anweisungen  an  einen  Bo-
ten  ausgeliefert.  Ein  gewisser  Ryl  Shermatz  war  zu
dieser Zeit mein Gast und gewissermaßen Zeuge der
Übergabe.«

Daul meldete sich zum ersten Mal zu Wort. »Er hat

tatsächlich gesehen, wie das Geld übergeben wurde?«

»Er  sah  höchstwahrscheinlich,  wie  ich  dem  Boten

einen schwarzen Aktenkoffer aushändigte.«

Daul  wedelte  mit  einer  seiner  knochigen  Hände.

»Ein mißtrauischer Mensch wird sich vermutlich fra-
gen  müssen,  ob  der  Koffer  wirklich  das  Geld  ent-
hielt.«

Akadies  Antwort  klang  eisig.  »Ein  kluger  Mensch

wird begreifen müssen, daß ich es nicht wagen wür-
de, Sagmondo Bandolio auch nur einen Ozol zu un-
terschlagen, geschweige denn dreißig Millionen.«

»Aber  zu  diesem  Zeitpunkt  war  Bandolio  bereits

gefaßt.«

»Das  wußte  ich  nicht.  Ryl  Shermatz  kann  das  be-

stätigen.«

»Ah, wieder der mysteriöse Ryl Shermatz. Wer ist

er?«

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»Ein Reisejournalist.«
»Tatsächlich. Und wo ist er jetzt?«
»Ich  habe  ihn  noch  vor  zwei  Tagen  gesehen.  Er

sagte, daß er Trullion bald verlassen würde. Vielleicht
ist er schon fort – wohin, weiß ich nicht.«

»Aber er ist Ihr einziger Entlastungszeuge.«
»Keineswegs.  Der  Bote  hatte  sich  verfahren  und

fragte  Glinnes  Hulden  nach  dem  Weg.  Das  stimmt
doch?«

»Es stimmt«, bestätigte Glinnes.
»Janno  Akadies  Beschreibung  dieses  ›Boten‹«  –

Daul gab dem Wort einen sarkastischen Klang – »ist
unglücklicherweise zu allgemein, als daß sie uns bei
unseren Nachforschungen helfen könnte.«

»Was  soll  ich  denn  sagen?«  begehrte  Akadie  auf.

»Er war eben ein ganz gewöhnlich aussehender, mit-
telgroßer  junger  Mann  ohne  besondere  Kennzei-
chen.«

Filidice  wandte  sich  an  Glinnes.  »Können  Sie  das

bestätigen?«

»Vollkommen.«
»Und als er mit Ihnen sprach, hat er keinerlei Hin-

weise auf seine Identität gegeben?«

Glinnes  kramte  in  seinem  Gedächtnis  nach  dem

Tag vor wenigen Wochen. »Soweit ich mich erinnere,
fragte  er  nach  dem  Weg  zu  Akadies  Haus.  Das  war
alles...« Glinnes brach ziemlich abrupt ab. Daul wur-
de sofort mißtrauisch und schob das Kinn vor. »Sonst
nichts?«

Glinnes  schüttelte  den  Kopf  und  antwortete  ent-

schieden: »Sonst nichts.«

Daul beruhigte sich. Einen Augenblick lang blieb es

still in der Bibliothek. Dann sagte Filidice gemessen:

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»Es  ist  bedauerlich,  daß  keine  der  von  Ihnen  er-
wähnten Personen bei der Hand ist, um Ihre Aussa-
gen zu bestätigen.«

Jetzt  ließ  Akadie  endlich  seine  Entrüstung  erken-

nen.  »Ich  sehe  keine  Notwendigkeit  für  Bestätigun-
gen! Ich weigere mich zu glauben, daß man mehr von
mir erwartet als eine einfache Darlegung der Fakten!«

»Unter gewöhnlichen Umständen würde ich Ihnen

zustimmen«, sagte Filidice. »Wenn dreißig Millionen
Ozols verschwinden, kann ich das nicht mehr.«

»Sie  wissen  genausoviel  wie  ich«,  stellte  Akadie

fest.  »Ich  hoffe,  Ihre  Nachforschungen  sind  von  Er-
folg gekrönt.«

Gendarmeriechef  Filidice  grunzte  unzufrieden.

»Wir  greifen  nach  Strohhalmen.  Das  Geld  aber  exi-
stiert – irgendwo.«

»Hier ist es nicht, das versichere ich Ihnen«, sagte

Akadie.

Glinnes  konnte  sich  nicht  mehr  länger  im  Zaum

halten.  Er  ging  zur  Tür.  »Allen  ein  schönes  Wetter.
Ich muß mich jetzt um meine Geschäfte kümmern.«

Die Beamten verabschiedeten sich höflich von ihm;

Akadie gönnte ihm nur einen verdrossenen Blick.

Glinnes  rannte  fast  zu  seinem  Boot.  Er  legte  ab  und
fuhr nach Osten die Vernice-Straße entlang, bog dann
statt  nach  Süden  in  nördlicher  Richtung  in  den  Sar-
pent-Kanal  ein,  durch  den  er  die  Zwickelbucht  er-
reichte; hier floß der Scurge mit dem Saur zusammen.
Glinnes  fuhr  den  Scurge  flußaufwärts,  kurvte  in
wahnwitzigem  Tempo  durch  die  Windungen  und
verfluchte sich alle paar hundert Meter wegen seiner
Dummheit.  Am  Zusammenfluß  des  Scurge  mit  dem

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Karbasch  lag  Erch,  ein  verträumtes  Dorf,  das  im
Schatten  ungeheurer  Kerzennußbäume  dahindäm-
merte. Hier hatten vor langer Zeit die Tanchinaros die
›Naturgewalten‹ besiegt.

Glinnes machte sein Boot am Steg fest und sprach

einen  Mann  an,  der  vor  dem  baufälligen  Gasthaus
döste.  »Bitte,  wo  finde  ich  einen  gewissen  Jarcony?
Oder gibt's hier vielleicht einen Jarcom?«

»Jarcony? Welchen suchen Sie denn? Vater? Sohn?

Oder den Cavouthändler?«

»Ich suche einen jungen Mann, der eine blaue Uni-

form trägt.«

»Das müßte Remo sein. Er ist Steward auf der Fäh-

re  nach  Port  Maheul.  Er  müßte  jetzt  zu  Hause  sein.
Gehen Sie nur die Gasse da lang. Es ist das Haus un-
ter dem Thrackelbeerbusch.«

Glinnes  ging  in  die  angewiesene  Richtung,  bis  er

auf  eine  schilfgedeckte  Blockhütte  stieß,  die  von  ei-
nem  ungeheuren  Busch  fast  erdrückt  wurde.  Er  zog
an einer Schnur, die den Klöppel einer kleinen Glocke
in Bewegung setzte. Ein verschlafenes Gesicht wurde
im Fenster sichtbar.

»Wer ist da? Was gibt's?«
»Oh,  ich  hab  Sie  anscheinend  bei  einer  wohlver-

dienten Ruhepause gestört«, sagte Glinnes. »Erinnern
Sie sich an mich?«

»Aber  –  ja,  natürlich.  Sie  sind  Glinnes  Hulden.

Schau an, was es alles gibt. Einen Moment bitte.«

Jarcony wickelte sich einen Paray um und stieß die

knarrende Tür auf. Er zeigte auf eine Laube, die aus
dem  Trackelbeerdickicht  herausgeschnitten  worden
war.

»Setzen  wir  uns  doch  hier  hin.  Möchten  Sie  einen

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Becher kühlen Wein?«

»Das wäre eine gute Idee«, meinte Glinnes.
Remo Jarcony brachte einen Steingutkrug und zwei

Becher heraus.

»Und was führt Sie zu mir?«
»Eine  etwas  verzwickte  Angelegenheit«,  sagte

Glinnes. »Sie werden sich erinnern, daß wir uns tra-
fen,  als  Sie  nach  dem  Wohnsitz  von  Janno  Akadie
suchten.«

»Stimmt genau. Ich hatte einen kleinen Auftrag für

einen  Herrn  aus  Port  Maheul  übernommen.  Es  hat
doch hoffentlich keine Ungelegenheiten gegeben?«

»Ich glaube, Sie sollten ein Päckchen abholen, oder

etwas ähnliches?«

»Richtig. Noch einen Becher?«
»Mit dem größten Vergnügen. Und Sie haben dann

das Paket abgeliefert?«

»Ich habe mich genau an die Anweisungen gehal-

ten. Der Herr war anscheinend zufrieden, da ich seit-
dem nichts mehr von ihm gehört habe.«

»Dürfte  ich  fragen,  wie  diese  Anweisungen  laute-

ten?«

»Aber  gewiß.  Der  Herr  ersuchte  mich,  das  Paket

zum Raumhafen von Port Maheul zu bringen und es
dort im Schließfach 42 zu hinterlegen, zu dem er mir
den  Schlüssel  mitgab.  Ich  tat,  was  er  verlangte,  und
verdiente mir damit zwanzig Ozols – Geld für nichts
eigentlich.«

»Erinnern Sie sich, wie der Herr aussah, der Ihnen

den Auftrag gab?«

Jarcony  blinzelte  in  das  dichte  Blätterdach  hinauf.

»Nicht  sehr  gut,  fürchte  ich.  Ich  glaube,  er  war  ein
Fremdweltler  –  ein  kleiner,  untersetzter  Mann  mit

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flinken Bewegungen. Ich weiß noch, daß er eine Glat-
ze hatte und in einem Ohr einen prächtigen Smaragd
trug, der mir sehr auffiel. Aber vielleicht würden Sie
mich jetzt aufklären: warum stellen Sie mir alle diese
Fragen?«

»Das ist ganz einfach«, sagte Glinnes. »Der Herr ist

ein  Verleger  von  Gethryn;  Akadie  möchte  der  Ab-
handlung, die er dem Herrn zukommen ließ, noch ei-
nen Anhang anfügen.«

»Ich verstehe...«
»Nun,  die  Sache  wird  jetzt  etwas  umständlicher,

aber  es  ist  auch  nicht  weiter  schlimm.  Ich  werde
Akadie  benachrichtigen,  daß  seine  Arbeit  bereits  in
Gethryn  sein  muß.«  Glinnes  stand  auf.  »Schönen
Dank für den Wein und Ihre Hilfe, aber jetzt muß ich
nach  Saurkash  zurück...  Nur  der  Neugier  halber  –
was  haben  Sie  mit  dem  Schlüssel  zum  Schließfach
gemacht?«

»Den habe ich laut Anweisung am Gepäckschalter

abgegeben.«

Glinnes  brauste  mit  solcher  Geschwindigkeit  nach
Westen,  daß  sein  Kielwasser  gegen  die  Ufer  des
schmalen  Jade-Kanals  gischtete.  In  kühnem  Bogen
fegte er in den Barabas-Fluß hinaus, wobei noch die
Jerdinen  am  Ufer  eine  kräftige  Dusche  abbekamen.
Weiter  ging  es  in  einem  Höllentempo  nach  Westen.
Erst als er in die Nähe von Port Maheul kam, ließ er
das Boot langsamer werden. Er machte es am Haupt-
pier fest und legte halb im Laufschritt die gute Meile
bis zum Raumhafengebäude zurück. Es war ein riesi-
ges  Bauwerk  aus  schwarzem  Eisen  und  vor  Alter
blaßgrün  und  blau  angelaufenem  Glas.  Auf  dem

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Landefeld  dahinter  waren  im  Augenblick  weder
Raumschiffe noch lokale Luftfahrzeuge zu sehen.

Glinnes betrat die Halle und sah sich in dem unter-

seeisch wirkenden Dämmerlicht um. Auf den Bänken
saßen einige Reisende, die auf den einen oder ande-
ren  der  fahrplanmäßigen  Luftbusse  warteten.  In  der
Wand  neben  der  Gepäckaufbewahrungsstelle  waren
etliche  Reihen  Schließfächer  untergebracht.  Hinter
dem niedrigen Gepäckschalter saß ein Beamter.

Glinnes ging hinüber und inspizierte die Schließfä-

cher.  Die  unbenutzten  standen  offen,  der  Magnet-
schlüssel steckte im Schloß. Das Türchen von Fach 42
war  geschlossen.  Glinnes  warf  einen  Blick  zu  dem
Schalterbeamten hinüber und prüfte dann die Festig-
keit der Tür. Sie rührte sich nicht um einen Millime-
ter.

Das  Fach  bestand  aus  dickem  Stahlblech,  und  die

Türen  waren  genau  eingepaßt.  Nichts  zu  machen.
Glinnes ließ sich auf einer Bank in der Nähe nieder.

Verschiedene  Möglichkeiten  boten  sich  an.  Nur

wenige der Schließfächer standen in Gebrauch. Glin-
nes zählte nur vier verschlossene Türen bei fünfzehn
Schließfächern.  War  es  übertrieben  zu  hoffen,  daß
Fach  42  immer  noch  die  schwarze  Tasche  enthielt?
Durchaus nicht, fand Glinnes. Es sah so aus, als wä-
ren Lempel und der kahle, untersetzte Fremdweltler,
der Jarcony als Boten angestellt hatte, ein und diesel-
be  Person.  Nur  hatte  Lempel  sterben  müssen,  bevor
er die Tasche aus Fach 42 hatte abholen können... So
war es wahrscheinlich gewesen.

Was jetzt viel wichtiger war – wie kam man in Fach

42?

Glinnes  musterte  den  Schalterbeamten.  Er  war

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klein, hatte strähniges, rötlichgraues Haar, eine lange,
vibrierende  Nase  und  eine  Miene,  die  pedantische
Beharrlichkeit  verriet.  Hoffnungslos,  von  so  einem
Mann irgendeine Form von Kooperation zu erwarten:
er war das Musterbeispiel eines kleinlichen Paragra-
phenreiters.

Glinnes  dachte  noch  fünf  Minuten  angestrengt

nach. Dann stand er auf und trat zu der Schließwand.
Er schob eine Münze in den Zahlschlitz von Fach 30,
schloß die Tür auf und zog den Schlüssel ab.

Er ging zum Gepäckschalter und legte den Schlüs-

sel auf die Platte. Der Beamte kam heran. »Ja, Sir?«

»Seien  Sie  so  freundlich  und  bewahren  Sie  diesen

Schlüssel für mich auf«, sagte Glinnes. »Ich mag ihn
nicht bei mir haben.«

Der Beamte nahm den Schlüssel und verzog mür-

risch das Gesicht.

»Wie  lange  wollen  Sie  ausbleiben,  Sir?  Manche

Leute lassen ihre Schlüssel unmöglich lange hier.«

»Es ist nur für einen Tag oder so.« Glinnes legte ei-

ne Münze auf das Schalterpult. »Für Ihre Mühe.«

»Danke.« Der Beamte zog eine Lade auf und warf

den Schlüssel in ein Seitenfach.

Glinnes zog sich zurück und machte es sich auf ei-

ner Bank bequem, von der aus er den Gepäckschalter
im Auge behalten konnte.

Eine  Stunde  verstrich.  Ein  Luftbus  von  Kap  Flory

landete  draußen  auf  dem  Platz,  spie  Passagiere  aus,
schluckte  eine  Ladung  neue.  An  der  Gepäckaufbe-
wahrung  ging  es  eine  Weile  lebhaft  zu;  der  Beamte
hastete zwischen den Stellagen und Ablagen hin und
her. Glinnes beobachtete ihn gespannt. Man hätte er-
warten können, daß der Mann nach diesen Anstren-

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gungen  eine  Ruhepause  oder  einen  Besuch  auf  der
Toilette  eingelegt  hätte  –  indessen  schenkte  er  sich
nur, als der letzte Reisende verschwunden war, einen
Becher kalten Tee ein, den er in einem Zug leertrank,
dann  einen  zweiten,  über  dem  er  ein  paar  Minuten
saß.  Darauf  kehrte  er  an  seine  Arbeit  zurück,  und
Glinnes wappnete sich mit Geduld.

Nach einer Weile begann er sich zu langweilen. Er

beobachtete  die  Menschen,  die  kamen  und  gingen,
und  amüsierte  sich  eine  Zeitlang  damit,  Vermutun-
gen über ihren Beruf und ihr geheimstes Privatleben
anzustellen,  aber  dann  verlor  das  auch  jeden  Reiz.
Was  interessierten  ihn  diese  Vertreter,  diese  Groß-
mütter und Großväter, die von Verwandtenbesuchen
heimkehrten, die Funktionäre und Kleinkrämer? Was
war mit dem Schalterbeamten? Und mit seiner Blase?
Eben,  als  Glinnes  wieder  hinüberschaute,  trank  der
Beamte  schon  wieder  Tee.  Welches  Organ  seines
schmächtigen Körpers speicherte wohl all diese Flüs-
sigkeit?  Der  Gedanke  ließ  Glinnes  selbst  ein  leichtes
menschliches Rühren verspüren. Er warf einen Blick
zu  den  Toiletten  auf  der  anderen  Seite  der  Halle.
Wenn  er  auch  nur  einen  Augenblick  verschwand,
brauchte  sich  der  Beamte  nur  den  gleichen  Moment
aussuchen,  dann  war  die  ganze  Warterei  umsonst
gewesen...  Glinnes  setzte  sich  bequemer  hin.  Er
mußte es wohl genauso lange aushalten können wie
der Beamte. Seine Ausdauer hatte ihm auf dem Hus-
sadeplatz gute Dienste geleistet; bei einem Wettstreit
mit  diesem  Gepäckaufbewahrungsbeamten  würde
Ausdauer  wiederum  der  ausschlaggebende  Faktor
sein.

Menschen  kamen  und  gingen  –  ein  Mann,  der  ei-

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nen Hut mit einer lächerlichen gelben Kokarde trug;
eine  ältliche  Frau,  die  einen  betäubenden  Moschus-
duft  ausströmte;  zwei  junge  Männer,  die  ihre  Fan-
scher-Tracht  zur  Schau  stellten  und  sich  nach  allen
Seiten  umsahen,  als  ob  sie  sich  überzeugen  wollten,
daß  auch  alle  die  trotzige  Herausforderung  bemerk-
ten...  Glinnes  schlug  die  Beine  übereinander  und
rutschte auf seiner Bank hin und her. Der Schalterbe-
amte  ließ  sich  auf  einem  Hocker  nieder  und  begann
Eintragungen  in  ein  Register  zu  machen.  Glinnes
stand auf und marschierte die Halle hinauf und wie-
der  herunter.  Der  Beamte  war  jetzt  an  den  Schalter
getreten und blickte hinaus in die Halle. Dann drehte
er  sich  um  und  langte  –  nein!  dachte  Glinnes,  nicht
schon  wieder!  –  nach  dem  Teebehälter.  Der  Mann
war  einfach  nicht  menschlich!  Der  Beamte  setzte  je-
doch nur die Verschlußkappe auf den Behälter. Dann
rieb er sich das Kinn und schien zu überlegen, wäh-
rend Glinnes von einem Bein aufs andere trat.

Der  Beamte  kam  endlich  zu  einem  Entschluß.  Er

ging um den Schalter herum und auf die Herrentoi-
lette zu.

Glinnes stöhnte erleichtert auf und schob sich lang-

sam  näher  an  den  Schalter.  Niemand  schien  auf  ihn
zu achten. Er duckte sich blitzschnell hinter der Bar-
riere, zog die Lade auf und schaute in das Fach. Zwei
Schlüssel!  Er  nahm  beide,  schob  die  Lade  zu  und
sprang  wieder  hinaus  in  den  Wartesaal.  Soweit  er
feststellen konnte, hatte niemand sein Tun bemerkt.

Glinnes ging geradewegs zum Schließfach 42. Der

eine Schlüssel in seiner Hand trug einen braunen An-
hänger  mit  den  schwarz  aufgedruckten  Ziffern  30.
Der Anhänger des zweiten Schlüssels zeigte die Zahl

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42.  Glinnes  schloß  das  Fach  auf.  Er  nahm  den
schwarzen  Aktenkoffer  heraus  und  verschloß  das
Fach  wieder.  Hatte  er  noch  Zeit,  die  Schlüssel  zu-
rückzubringen? Glinnes entschloß sich, es doch lieber
nicht zu riskieren. Er trat aus dem Wartesaal hinaus
in das rauchige Licht der Avness und machte sich auf
den Weg zurück zum Hafen. Bei der ersten Gelegen-
heit trat er hinter eine Mauer, um sich zu erleichtern.

Er fand sein Boot genauso vor, wie er es zurückge-

lassen hatte, legte ab und nahm Kurs nach Osten.

Mit dem Knie steuernd, versuchte er die Tasche zu

öffnen.  Das  Schloß  widerstand  seinen  Fingern,  wor-
auf er es mit einer Metallstange bearbeitete. Plötzlich
schnappte  die  Verschlußzunge  zurück.  Der  Deckel
klappte auf. Glinnes strich über die dicken Geldbün-
del: ein Stoß Alastor-Banknoten neben dem anderen.
Dreißig Millionen Ozols.

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KAPITEL 21

Es war eine halbe Stunde vor Mitternacht, als Glinnes
am Steg von Rabendary anlegte. Das Haus war dun-
kel; Glay war nicht daheim. Glinnes brachte den Ak-
tenkoffer  hinein,  legte  ihn  auf  den  Tisch  und  starrte
ihn einige Minuten lang an. Dann machte er ihn auf
und  nahm  Banknoten  im  Wert  von  dreißigtausend
Ozols heraus, die er in einen Krug stopfte und neben
der Veranda vergrub. Dann ging er ins Haus zurück
und rief Akadie an, erntete aber nur ein Summen und
expandierende  rote  Kreise  auf  dem  Bildschirm,  was
darauf  hindeutete,  daß  das  Gerät  außer  Betrieb  ge-
setzt war. Glinnes setzte sich auf die Bettcouch, mü-
de,  aber  nicht  zum  Schlafen  aufgelegt.  Er  versuchte
noch  einmal,  mit  Akadies  Haus  Verbindung  zu  be-
kommen,  wieder  ohne  Erfolg;  darauf  nahm  er  den
schwarzen Aktenkoffer mit ins Boot und nahm Kurs
nach Norden.

Von der Bucht aus schien Akadies Haus dunkel zu

sein. Es war jedoch nicht wahrscheinlich, daß Akadie,
der erst bei Nacht richtig aktiv wurde, um diese Zeit
schon schlief...

Dann entdeckte Glinnes auf dem Pier einen Mann,

der  sich  unauffällig  im  Schatten  hielt.  Er  drehte  ab
und hielt ein paar Meter vor der Küste an. Die dunkle
Gestalt  rührte  sich  nicht.  Glinnes  rief  hinüber:  »Wer
ist da auf dem Pier?«

Nach  einer  kurzen  Pause  kam  gedämpft  die  Ant-

wort  über  das  Wasser:  »Ein  Gendarmeriekonstabler
der Präfektur auf Wachdienst.«

»Ist Janno Akadie zu Hause?«

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Wieder das Zögern, dann die tiefe Stimme: »Nein.«
»Wo ist er?«
Pause,  dann  die  gleichmütige  Stimme:  »Er  ist  in

Welgen.«

Glinnes  riß  das  Boot  herum  und  brauste  über  die

Clinkhammer-Bucht  davon,  den  Saur  hinunter,  zu-
rück  ins  Farwan-Gewässer.  Als  er  auf  Rabendary
eintraf,  war  das  Haus  noch  immer  dunkel;  Glay
schien anderswo zu übernachten. Glinnes machte das
Boot fest und trug die schwarze Tasche ins Haus. Er
rief  den  Gilweg-Wohnsitz  an,  aber  der  Bildschirm
zeigte nur das Gesicht von Varella, einem der jünge-
ren  Mädchen.  Außer  den  Kindern  war  niemand  zu
Hause; alle anderen waren fort, Freunde besuchen, an
einer  Sternenschau  teilnehmen  oder  Wein  trinken,
oder vielleicht waren sie in Welgen, um sich die Hin-
richtungen anzusehen – das Mädchen wußte es nicht
genau.

Glinnes unterbrach die Verbindung, versteckte den

schwarzen  Koffer  zwischen  den  Schilflagen  des  Da-
ches, warf sich auf sein Bett und war in wenigen Au-
genblicken eingeschlafen.

Der Morgen war kristallklar und sonnig. Eine warme
Brise  pustete  weiße  Schaumkrönchen  über  die  Am-
bal-Bucht; der Himmel glich fliederfarbenem Glas. So
unwahrscheinlich  klare  Tage  waren  in  den  Fens  sel-
ten.

Glinnes  aß  eine  Kleinigkeit  zum  Frühstück  und

versuchte  dann  wieder,  Akadie  anzurufen.  Wenige
Minuten später legte ein Boot am Steg an, und Glay
sprang  an  Land.  Glinnes  ging  ihm  entgegen.  Glay
blieb  plötzlich  stehen  und  inspizierte  Glinnes  von

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oben bis unten. »Du bist so aufgekratzt, scheint mir.«

»Ich habe genug Geld, um Casagave auszuzahlen.

Und das werden wir noch in dieser Stunde tun.«

Glay blickte über die Bucht hinüber zur Insel Am-

bal,  die  im  frischen  Morgenlicht  so  herrlich  aussah
wie  selten  zuvor.  »Wie  du  meinst.  Aber  du  solltest
ihn lieber vorher anrufen.«

»Wozu?«
»Um ihn vorzuwarnen.«
»Ich  sehe  nicht  ein,  warum  ich  das  sollte«,  sagte

Glinnes, ging aber doch zum Telefon. Lute Casagaves
Gesicht  erschien  auf  dem  Bildschirm.  Er  erkundigte
sich scharf: »Was wollen Sie?«

»Ich habe zwölftausend Ozols für Sie«, sagte Glin-

nes.  »Ich  wünsche  den  Kaufvertrag  zu  annullieren.
Wenn  es  Ihnen  recht  ist,  bringe  ich  gleich  jetzt  das
Geld hinüber.«

»Schicken  Sie  das  Geld  mit  dem  Eigentümer  her-

über«, sagte Casagave.

»Ich bin der Eigentümer.«
»Shira  Hulden  ist  der  Eigentümer.  Er  wird  wohl

selbst  imstande  sein,  diesen  Vertrag  zu  annullieren,
wenn es ihm beliebt.«

»Ich werde Ihnen heute noch eine amtliche Bestäti-

gung über den Tod von Shira bringen.«

»Ach nein. Und woher wollen Sie die bekommen?«
»Von  Janno  Akadie,  einem  beamteten  Mentor  der

Präfektur, der das Geständnis des Mörders bezeugen
wird.«

»Ach nein«, sagte Casagave mit einem höhnischen

Auflachen.  Der  Bildschirm  erlosch.  Glinnes  wandte
sich verwirrt an Glay. »Das ist gar nicht die Reaktion,
die ich erwartet hätte. Er war nicht im geringsten be-

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stürzt.«

Glay  zuckte  die  Achseln.  »Warum  sollte  er  das

sein?  Akadie  sitzt  im  Gefängnis.  Wenn  es  nach  dem
Willen der Lords geht, wir man ihn auf den Prutan-
schyr  bringen.  Ein  Zeugnis  von  Akadie  ist  keinen
krummen Ozol mehr wert.«

Glinnes  verdrehte  die  Augen  zur  Decke  und  warf

die Arme hoch. »Wann ist je ein Mann schon so vom
Pech verfolgt worden!« rief er aus.

Glay  wandte  sich  kommentarlos  ab.  Nach  einer

Weile ging er zu seiner Bettcouch und schlief ein.

Glinnes marschierte auf der Veranda hin und her,

tief  in  Gedanken  versunken.  Schließlich  machte  er
sich  mit  einem  unartikulierten  Fluch  Luft,  sprang  in
sein Boot und fuhr nach Westen.

Eine  Stunde  später  traf  er  in  Welgen  ein  und

konnte  nur  mit  Mühe  am  vollbesetzten  Pier  einen
Platz für sein Boot finden. Ungewöhnlich viele Leute
hatten sich diesen Tag ausgesucht, um nach Welgen
zu  fahren.  Auf  dem  Hauptplatz  herrschten  Trubel
und Geschäftigkeit. Menschen aus der Stadt und von
den Fens strömten unruhig hierhin und dorthin, im-
mer ein Auge auf dem Prutanschyr, wo Handwerker
die  Zahnräder  einer  umfangreichen  Maschine  ein-
stellten, deren Funktion Glinnes ein Rätsel war. Glin-
nes blieb stehen, um sich bei einem alten Mann zu er-
kundigen, der auf seinen Stock gestützt den Arbeitern
zusah.  »Was  ist  das  für  ein  Ding  auf  dem  Prutan-
schyr?«

»Wieder  eine  von  Filidices  Verrücktheiten.«  Der

Alte spuckte verächtlich aufs Pflaster. »Er bevorzugt
diese neumodischen Mechanismen, die nur selten da-
zu  zu  bringen  sind,  daß  sie  ihre  Funktion  erfüllen.

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Zweiundsechzig  Banditen  müssen  erledigt  werden,
und gestern noch hat das Ding mit Mühe einen einzi-
gen Mann zerstückelt. Heute muß es bereits repariert
werden! Das sind Zustände! Zu meiner Zeit begnügte
man sich mit einfacheren Vorrichtungen.«

Glinnes begab sich zur Gendarmerie, erfuhr jedoch

nur,  daß  Filidice  nicht  zu  sprechen  sei.  Darauf  er-
suchte er um eine Unterredung von fünf Minuten mit
Janno Akadie, aber auch das wurde ihm verweigert.
Heute  waren  keine  Besucher  im  Gefängnis  zugelas-
sen.

Glinnes  kehrte  auf  den  Hauptplatz  zurück  und

suchte sich einen Platz im Gastgarten des Ehrenwer-
ten St. Gambrinus, wo er vor einer wahren Ewigkeit –
so kam es ihm jedenfalls vor – mit Junius Farfan ge-
sprochen  hatte.  Er  bestellte  sich  eine  Achtelpinte
Aquavit,  die  er  in  einem  Zug  hinunterstürzte.  Das
Schicksal hatte sich wirklich gegen ihn verschworen!
Er  hatte  den  Nachweis  für  Shiras  Tod  in  der  Hand,
verlor dann aber sein Geld. Jetzt hatte er Geld genug,
konnte  aber  Shiras  Tod  nicht  mehr  beweisen.  Sein
Zeuge  Akadie  war  wertlos  geworden,  und  der  Mör-
der, Vang Drosset, war tot!

Also – was sollte er nun tun? Die dreißig Millionen

Ozols  waren  ein  bitterer  Scherz.  Er  würde  das  Geld
lieber den Merlingen vorwerfen, als es dem Gendar-
meriechef  Filidice  abliefern.  Glinnes  winkte  dem
Kellner und ließ sich noch einen Aquavit bringen; er
warf  einen  bitteren  Blick  auf  das  scheußliche  Gerät
auf  dem  Prutanschyr.  Um  Akadie  zu  retten,  mochte
es doch erforderlich werden, das Geld abzulieferen –
obwohl, genauer betrachtet, die Anklage gegen Aka-
die auf sehr schwachen Füßen stand...

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Ein  Schatten  fiel  über  den  Eingang.  Glinnes  blin-

zelte  ins  Licht  und  sah  eine  mittelgroße  Gestalt  ein-
treten,  einen  unauffälligen  Mann,  der  ihm  bekannt
vorkam. Er schaute genauer hin und sprang dann mit
wiedererwachter  Energie  auf  die  Füße.  Auf  seine
einladende Geste trat der Mann näher.

»Wenn  ich  mich  nicht  täusche«,  sagte  Glinnes,

»dann sind Sie Ryl Shermatz. Ich bin Glinnes Hulden,
ein Freund des Mentors Janno Akadie.«

»Aber  natürlich!  Ich  erinnere  mich  gut  an  Sie«,

sagte  Shermatz.  »Und  wie  geht  es  unserem  Freund
Akadie?«

Der  Kellner  brachte  den  Aquavit,  und  Glinnes

schob Shermatz das Glas hin. »Den werden Sie bald
brauchen,  glaube  ich...  Ich  nehme  an,  daß  Sie  die
Neuigkeiten noch nicht vernommen haben?«

»Ich bin gerade erst von Morilia zurückgekommen.

Warum fragen Sie?«

Aufgemuntert durch den günstigen Zufall und den

Aquavit  holte  Glinnes  zu  einer  dramatisierten  Ant-
wort aus. »Unser gemeinsamer Freund Akadie ist un-
schuldig in den Kerker geworfen worden. Er wird ei-
ner phantastischen Unterschlagung beschuldigt, und
wenn es nach dem Willen der betroffenen Lords geht,
wird  man  ihn  wohl  zwischen  die  Räder  dieser
Fleischmaschine da drüben werfen.«

»Fürwahr  eine  schlechte  Nachricht!«  sagte  Sher-

matz. Er hob das Glas mit einer ironisch-dankenden
Geste und leerte es. »Akadie hätte nie vom Pfad der
Rechtschaffenheit  abweichen  sollen;  ihm  fehlt  die
kalte  Entschlossenheit,  die  einen  erfolgreichen  Ver-
brecher auszeichnet.«

»Sie  mißverstehen  mich«,  sagte  Glinnes  etwas  är-

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gerlich. »Die Beschuldigung ist absolut haltlos.«

»Es  erstaunt  mich,  daß  Sie  das  mit  solcher  Sicher-

heit behaupten können«, sagte Shermatz.

»Wenn  es  erforderlich  wird,  könnte  Akadies  Un-

schuld  über  jeden  Zweifel  hinaus  bewiesen  werden.
Aber darum geht es mir im Moment nicht. Ich frage
mich  vielmehr,  warum  Filidice  Akadie  anscheinend
auf  bloßen  Verdacht  hin  eingekerkert  hat,  während
der wahre Schuldige noch frei herumläuft.«

»Eine  interessante  Behauptung.  Kennen  Sie  den

Schuldigen?«

Glinnes schüttelte den Kopf. »Ich wünschte es mir

– besonders, wenn ein bestimmter Mann der Schuldi-
ge sein sollte.«

»Und warum vertrauen Sie mir das alles an?«
»Sie haben gesehen, wie Akadie das Geld dem Bo-

ten übergab. Ihre Aussage wird ihn entlasten.«

»Ich  sah,  wie  eine  schwarze  Tasche  übergeben

wurde. Es kann natürlich irgend etwas anderes darin
gewesen sein.«

Glinnes wählte seine Worte mit Vorsicht. »Sie fra-

gen  sich  vermutlich,  warum  ich  von  Akadies  Un-
schuld so überzeugt bin. Der Grund ist ganz einfach.
Ich weiß, daß er tatsächlich mit dem Geld genau das
tat, was er behauptet hat. Bandolio wurde gefaßt; sein
Vertrauter Lempel wurde ermordet. Das Geld – nun,
es  war  niemand  mehr  da,  der  es  beanspruchen
konnte.  Meiner  Meinung  nach  verdienen  es  diese
rachsüchtigen  Lords  ebensowenig  wie  Bandolio.  Ich
habe  jedenfalls  nicht  die  Absicht,  irgendeiner  Seite
dazu zu verhelfen.«

Shermatz nickte verständnisvoll.
»Ich  kann  Sie  sehr  gut  begreifen«,  sagte  er  ernst.

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»Wenn  Akadie  tatsächlich  unschuldig  ist,  wer  war
dann wirklich Bandolios Komplize?«

»Es erstaunt mich, daß Bandolio diesen Punkt nicht

geklärt haben soll, aber Gendarmeriechef Filidice ge-
stattet mir nicht einmal, mit Akadie zu sprechen, ge-
schweige denn mit Bandolio.«

»Da  bin  ich  nicht  so  sicher.«  Shermatz  erhob  sich.

»Ein  paar  Worte  mit  dem  Gendarmeriechef  Filidice
dürften ganz aufschlußreich sein.«

»Setzen  Sie  sich  wieder«,  sagte  Glinnes.  »Er  wird

uns nicht vorlassen.«

»Ich denke doch. Ich bin nämlich ein bißchen mehr

als ein umherreisender Journalist – ich habe den Rang
eines  Generalinspektors  des  Whelm.  Gendarmerie-
chef  Filidice  wird  uns  mit  Freuden  empfangen.  Wir
wollen der Sache sofort auf den Grund gehen. Wo ist
er zu finden?«

»Dort  drüben  ist  sein  Amtssitz«,  sagte  Glinnes.

»Das Gebäude ist ziemlich verwahrlost, repräsentiert
aber dennoch hier in Welgen die Majestät des Geset-
zes von Trullion.«

Glinnes und Ryl Shermatz mußten nur kurz in einem
Vorraum warten, bis der Gendarmeriechef mit beun-
ruhigter  Miene  zu  ihnen  herauskam.  »Was  ist  denn
schon wieder? Wer sind Sie, Sir?«

Shermatz  legte  eine  Metallplakette  auf  den  Tisch.

»Hier ist meine Legitimation.«

Filidice besah sich etwas erschrocken die Plakette.

»Ich stehe natürlich zu Ihren Diensten.«

»Ich  bin  in  der  Sache  des  Starmenters  Bandolio

hier«, erklärte Shermatz. »Sie haben ihn verhört?«

»Soweit  es  nötig  war.  Es  lag  kein  Grund  vor,  eine

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umfassende Untersuchung durchzuführen.«

»Haben Sie seinen hiesigen Komplizen entlarvt?«
Filidice nickte schroff.
»Ein  gewisser  Janno  Akadie  hat  mit  ihm  zusam-

mengearbeitet. Er ist bereits verhaftet.«

»Sie sind also von Akadies Schuld überzeugt?«
»Das Beweismaterial spricht sehr deutlich dafür.«
»Hat er gestanden?«
»Nein.«
»Haben  Sie  ihn  einer  Psychosondierung  unterzo-

gen?«

»Dafür  haben  wir  hier  in  Welgen  keine  Einrich-

tung.«

»Ich  möchte  mit  Bandolio  und  mit  Akadie  spre-

chen; Akadie zuerst, bitte.«

Filidice  wandte  sich  an  einen  Untergebenen  und

erteilte  die  nötigen  Anweisungen.  Zu  Shermatz  und
Glinnes sagte er: »Bitte kommen Sie mit in mein Bü-
ro.«

Fünf  Minuten  später  wurde  der  jammernde  und

protestierende  Akadie  in  das  Zimmer  geschoben.
Beim Anblick von Glinnes und Shermatz verstummte
er abrupt.

Shermatz  sagte  höflich:  »Guten  Morgen,  Janno

Akadie; ich freue mich, Sie noch einmal zu sehen.«

»Doch  wohl  nicht  unter  diesen  Umständen!  Kön-

nen  Sie  sich  das  vorstellen  –  man  hat  mich  in  eine
Zelle gesteckt wie einen Verbrecher! Ich dachte schon,
jetzt bringen sie mich auf den Prutanschyr! Haben Sie
so etwas schon erlebt?«

»Ich hoffe, daß wir imstande sein werden, die An-

gelegenheit  aufzuklären.«  Shermatz  wandte  sich  an
Filidice. »Was genau wird Akadie vorgeworfen?«

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»Daß  er  mit  Sagmondo  Bandolio  konspiriert  hat,

und  daß  er  dreißig  Millionen  Ozols  Lösegeld  unter-
schlagen hat.«

»Beide Anschuldigungen sind falsch!« schrie Aka-

die. »Ich bin das Opfer eines Komplotts!«

»Wir werden der Wahrheit schon noch auf die Spur

kommen«, beruhigte ihn Shermatz. »Wollen wir uns
nun anhören, was der Starmenter Bondolio zu sagen
hat?«

Filidice gab seinem Untergebenen einen Wink, und

bald  darauf  betrat  Sagmondo  Bandolio  den  Raum  –
ein  großer,  schwarzbärtiger  Mann  mit  einer  Glatze
inmitten schwarzer Stoppeln, funkelnden blauen Au-
gen und ruhiger Miene. Das war der Mann, der fünf
gefürchtete  Schiffe  und  vierhundert  Mann  befehligt
hatte, der zehntausendemale der Urheber von Tragö-
dien  gewesen  war,  aus  Gründen,  die  nur  er  allein
kannte.

Shermatz winkte ihn heran. »Befriedigen Sie meine

Neugier,  Sagmondo  Bandolio  –  bereuen  Sie  das  Le-
ben, das Sie geführt haben?«

Bandolio lächelte höflich.
»Die  letzten  zwei  Wochen  bereue  ich  gewiß.  Was

die  Zeit  vorher  angeht,  so  ist  das  nicht  so  leicht  zu
entscheiden. Ich könnte Ihre Frage in keinem Fall zu-
friedenstellend beantworten. Im nachhinein behaup-
tet man nur zu leicht etwas, das einem vorher nie in
den Sinn gekommen wäre.«

»Wir  untersuchen  den  Überfall  auf  Welgen.  Kön-

nen Sie Ihren hiesigen Komplizen genauer identifizie-
ren?«

Bandolio  zupfte  an  seinem  Bart.  »Ich  habe  ihn

überhaupt  noch  nicht  identifiziert,  wenn  ich  mich

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nicht irre.«

»Er  wurde  vom  Whelm  einer  Psychosondierung

unterzogen«,  erklärte  Gendarmeriechef  Filidice.  »Er
kann keinerlei Informationen zurückgehalten haben.«

»Welche Aussagen hat er vor Ihnen gemacht?«
»Die Initiative ging von Trullion aus. Bandolio er-

hielt  durch  geheime  Starmenter-Kanäle  einen  Vor-
schlag  zugespielt,  der  ihn  immerhin  soweit  interes-
sierte,  daß  er  einen  Untergebenen  namens  Lempel
herschickte,  der  die  näheren  Umstände  erkunden
sollte. Lempels Bericht war positiv, also kam Bando-
lio selbst nach Trullion. Auf dem Strand in der Nähe
von  Welgen  traf  er  mit  einem  Trill  zusammen,  der
sein  Komplize  wurde.  Das  Treffen  fand  um  Mitter-
nacht  statt.  Der  Trill  trug  eine  Hussade-Maske  und
hatte  eine  kultivierte  Stimme,  die  Bandolio  jedoch
nicht  identifizieren  könnte,  wie  er  sagt.  Es  wurden
die nötigen Vereinbarungen getroffen, und Bandolio
sah den Mann nie wieder. Er beauftragte Lempel mit
der Durchführung, und Lempel ist jetzt tot. Bandolio
behauptet, keine weiteren Informationen zu besitzen,
und die Psychosondierung bestätigt diese Aussage.«

Shermatz  wandte  sich  an  Bandolio:  »Ist  diese  Zu-

sammenfassung korrekt?«

»Das  ist  sie,  außer,  daß  noch  der  Verdacht  zu  er-

wähnen  wäre,  daß  mein  hiesiger  Bundesgenosse
Lempel  überredete,  den  Whelm  zu  verständigen,
damit die beiden das gesamte Lösegeld für sich hät-
ten.  Als  der  Whelm  informiert  war,  gab  es  keinen
Grund mehr, Lempel am Leben zu lassen.«

»Sie haben also keinerlei Ursache, die Identität Ih-

res hiesigen Komplizen zu verschweigen?«

»Ganz  im  Gegenteil.  Mein  sehnlichster  Wunsch

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wäre,  ihn  zur  Musik  des  Prutanschyr  tanzen  zu  se-
hen.«

»Hier  vor  Ihnen  steht  Janno  Akadie.  Kennen  Sie

ihn?«

»Nein.«
»Ist es möglich, daß Akadie Ihr Verbündeter war?«
»Nein. Der Mann war so groß wie ich.«
Shermatz warf Filidice einen scharfen Blick zu.
»Da hören Sie es: um ein Haar hätte der Falsche auf

dem Prutanschyr gebüßt.«

Filidices  blasses  Gesicht  begann,  vor  Schweiß  zu

glänzen.

»Ich  schwöre  Ihnen,  ich  wurde  unerträglich  unter

Druck gesetzt! Der Adelsrat bestand darauf, daß ich
etwas  unternahm;  Lord  Gensifer,  der  Vorsitzende,
erhielt  alle  Vollmachten,  im  Namen  des  Rates  ein
energisches Vorgehen gegen den Verräter zu fordern.
Da ich das Geld nicht wiederbeschaffen konnte, blieb
mir nichts übrig...«

»Als Akadie einzusperren, um den Adelsrat zu be-

sänftigen.«

»Es erschien mir das Nächstliegende.«
»Sie haben Ihren Verbündeten bei Sternenlicht ge-

troffen?« fragte Glinnes Bandolio.

»Das habe ich.« Bandolios Miene war fast heiter.
»Was hatte er an?«
»Den üblichen Paray der Trills mit Umhang. Letz-

terer  war  an  den  Schultern  stark  ausgepolstert  oder
mit  Epauletten  oder  Schnüren  geschmückt;  nur  ein
Trill könnte ihren genauen Zweck angeben. Wie er da
in seiner Hussademaske am Strand stand, glich er in
den Umrissen einem großen, schwarzen Vogel.«

»Sie standen nahe bei ihm?«

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»Wir

 

waren

 

etwa

 

zwei Meter voneinander entfernt.«

»Was für eine Maske trug er?«
Bandolio  lachte.  »Woher  sollte  ich  eure  hiesigen

Masken  kennen?  An  den  Schläfen  saßen  jedenfalls
Hörner, das Maul war mit mächtigen Zähnen besetzt,
und eine lange Zunge hing heraus. Es war, als hätte
ich ein Ungeheuer vor mir.«

»Was ist mit seiner Stimme?«
»Ich bekam nur ein heiseres Murmeln zu hören; er

wollte offensichtlich nichts riskieren.«

»Seine  Haltung,  Gesten,  Eigentümlichkeiten  der

Bewegung?«

»Nichts. Er rührte sich nicht.«
»Sein Boot?«
»Ein ganz gewöhnliches Motorboot.«
»An welchem Tag fand dieses Treffen statt?«
»Am vierten des Lyssum.«
Glinnes  überlegte  kurz.  »Jede  weitere  Verständi-

gung fand über Lempel statt?«

»Stimmt.«
»Sie hatten keinen weiteren Kontakt mehr zu dem

Mann in der Hussademaske?«

»Keinen.«
»Was genau war seine Aufgabe?«
»Er  übernahm  es,  die  dreihundert  reichsten  Män-

ner der Präfektur im Abschnitt D des Stadions zu ver-
sammeln. Das ist ihm auch bestens gelungen.«

»Die  Karten  wurden  anonym  gekauft  und  durch

Boten verteilt«, warf Filidice ein. »Dieser Punkt bringt
uns nicht weiter.«

Ryl  Shermatz  musterte  Filidice  stumm  und  nach-

denklich. Filidice begann sich unbehaglich zu fühlen.
Shermatz  sagte:  »Es  würde  mich  interessieren,  war-

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um  Sie  Akadie  aufgrund  von  Beweismaterial  einge-
sperrt haben, das selbst auf den ersten Blick zweifel-
haft erscheint.«

»Ich  habe  aus  einer  absolut  zuverlässigen  Quelle

eine  vertrauliche  Information  erhalten«,  entgegnete
Filidice  würdevoll.  »Angesichts  der  allgemeinen  Er-
regung entschloß ich mich, rasch zu handeln.«

»Die Information war vertraulich, sagen Sie?«
»Nun, ja.«
»Und wer ist diese absolut zuverlässige Quelle?«
Filidice zögerte, hob dann resignierend die Hände.

»Der Vorsitzende des Adelsrats hat mich überzeugt,
daß  Akadie  über  den  Verbleib  des  Lösegeldes  Be-
scheid wissen müsse. Er empfahl, Akadie einzusper-
ren und ihm mit dem Prutanschyr zu drohen, bis er
bereit wäre, das Geld herauszurücken.«

»Der Vorsitzende des Adelsrats... das ist Lord Gen-

sifer, nicht wahr?«

»Genau«, sagte Filidice.
»Dieser Schurke!« zischte Akadie. »Ich werde ihm

die Meinung sagen!«

»Es wäre interessant zu erfahren, was hinter seiner

Anschuldigung steckt«, überlegte Shermatz laut. »Ich
schlage  vor,  daß  wir  Lord  Gensifer  aufsuchen  und
ihn nach seinen Beweggründen fragen.«

Filidice hob die Hand.
»Das  würde  Lord  Gensifer  heute  sehr  ungelegen

kommen.  Der  Adel  hat  sich  in  Schloß  Gensifer  ver-
sammelt, um Lord Gensifers Hochzeit zu feiern.«

»Ich  nehme  auf  Lord  Gensifer  genausoviel  Rück-

sicht wie er auf mich«, erklärte Akadie zornig. »Wir
werden ihn jetzt aufsuchen!«

»Ich  stimme  mit  Janno  Akadie  völlig  überein«,

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sagte Glinnes, »um so mehr, als wir dort wahrschein-
lich  den  wahren  Schuldigen  identifizieren  und  fest-
nehmen könnten.«

Ryl Shermatz musterte ihn verwundert. »Sie sagen

das sehr überzeugt.«

»Kann sein, daß ich mich irre«, sagte Glinnes. »Für

diesen  Fall  würde  ich  vorschlagen,  Sagmondo  Ban-
dolio mitzunehmen.«

Filidice,  der  das  Gefühl  bekam,  daß  ihm  der  Fall

mehr und mehr aus den Händen genommen wurde,
versuchte sich zu behaupten. »Das ist kein guter Vor-
schlag.  Erstens  ist  Bandolio  ein  wendiger  und  geris-
sener  Bursche;  er  darf  dem  Prutanschyr  nicht  ent-
kommen. Zweitens hat er selbst erklärt, daß er nicht
imstande ist, den Verräter zu identifizieren, weil die-
ser  eine  Hussademaske  trug.  Drittens  finde  ich  die
Idee,  daß  wir  den  Schuldigen  auf  Lord  Gensifers
Hochzeitsfest  finden  sollen,  höchst  sonderbar,  um
nicht zu sagen – verrückt! Ich wünsche keinen Skan-
dal  hervorzurufen,  und  ich  will  mich  auch  nicht  lä-
cherlich machen.«

Shermatz  sagte  streng:  »Ein  gewissenhafter  Mann

macht  sich  nie  lächerlich,  wenn  er  seine  Pflicht  tut.
Ich  schlage  vor,  daß  wir  unsere  Untersuchung  ohne
Rücksicht auf solche Nebensächlichkeiten fortsetzen.«

Filidice gab sich geschlagen. »Nun gut, fahren wir

also zu Schloß Gensifer hinaus. Konstabler, fesseln Sie
den Häftling! Die Hand- und Fußketten lassen Sie mit
einem  doppelten  Schloß  sichern,  und  um  den  Hals
bekommt er einen Fangdraht.«

Das  schwarze  und  graue  Gendarmerieboot  strebte
über die Fleharish-Bucht den Fünf Inseln zu. Am Pier

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drängten sich unzählige elegante Boote, und der Weg
zum  Schloß  war  mit  Girlanden  aus  scharlachroten,
gelben  und  rosa  Seidenbändern  geschmückt.  Durch
die prachtvollen Parkanlagen schlenderten Lords und
Ladies in den archaischen Festgewändern, die nur zu
den  formellsten  Anlässen  getragen  wurden  und  die
gewöhnliche Leute kaum je zu Gesicht bekamen.

Die kleine Gruppe von offiziellen Besuchern wan-

derte den Pfad hinauf, sich peinlich bewußt, wie sehr
sie  aus  dem  Rahmen  fiel.  Gendarmeriechef  Filidice
insbesondere  schwankte  zwischen  aufgestauter  Wut
und  Verlegenheit.  Ryl  Shermatz  war  ziemlich  unbe-
kümmert, und Sagmondo Bandolio schien die Situa-
tion sogar zu genießen. Stolz aufgerichtet marschierte
er  dahin  und  sah  sich  munter  überall  um.  Ein  alter
Haushofmeister  entdeckte  sie  und  eilte  ihnen  kon-
sterniert entgegen. Filidice murmelte eine Erklärung;
das  Gesicht  des  Haushofmeisters  verzog  sich  entrü-
stet:  »Sie  werden  doch  gewiß  nicht  die  Feier  stören
wollen!  Die  Zeremonie  findet  in  Kürze  statt.  Das  ist
eine  ganz  unerhörte  Vorgangsweise!«  Die  Selbstbe-
herrschung des Gendarmeriechefs geriet ins Wanken.
Seine Stimme wurde schrill. »Schweigen Sie! Das ist
eine  Amtshandlung!  Verschwinden  Sie  –  nein,  Mo-
ment! Wir haben vielleicht Anweisungen für Sie.« Er
warf Shermatz einen säuerlichen Blick zu. »Wie wün-
schen Sie vorzugehen?«

Shermatz  wandte  sich  an  Glinnes.  »Was  würden

Sie vorschlagen?«

»Einen  Augenblick«,  sagte  Glinnes.  Er  blickte  su-

chend über den Park und die vielleicht zweihundert
umherwandernden

 

Gäste.

 

Noch nie hatte er eine solch

prächtige Parade kostbarster Gewänder gesehen – die

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Samtumhänge der Lords, am Rücken bestickt mit ih-
ren heraldischen Emblemen; die Kleider ihrer Damen,
gegürtet  und  geschmückt  mit  schwarzen  Korallen
oder versilberten Merlingschuppen oder rechteckigen
Turmalinen mit dazu passenden Tiaren. Glinnes ließ
den Blick über die Gesichter streifen. Lute Casagave –
Lord Ambal, wie er genannt werden wollte – würde
gewiß auch hier sein. Er entdeckte Duissane in einem
einfachen,  weißen  Gewand  und  einem  zierlichen
weißen  Turban.  Sie  spürte  seinen  Blick,  wandte  sich
um und sah ihn an. Glinnes empfand in diesem Au-
genblick etwas, das er nicht zu benennen wußte – das
Gefühl,  etwas  Kostbares  entschwinden  zu  sehen,  es
für  immer  zu  verlieren.  Lord  Gensifer  stand  in  der
Nähe.  Er  bemerkte  die  ungeladenen  Besucher  und
runzelte überrascht und entrüstet die Stirn.

Jemand ganz in der Nähe drehte sich auf der Stelle

um  und  begann  sich  hastig  zu  entfernen.  Die  Bewe-
gung lenkte Glinnes' Aufmerksamkeit auf den Mann.
Er sprang vor, packte ihn am Arm und riß ihn herum.
»Aber Lute Casagave!«

Casagaves  Züge  waren  weiß  vor  Empörung.  »Ich

bin Lord Ambal. Wie können Sie es wagen, mich an-
zufassen?«

»Kommen  Sie  bitte  mit«,  sagte  Glinnes.  »Die  An-

gelegenheit ist wichtig.«

»Ich werde nichts dergleichen tun!«
»Dann bleiben Sie von mir aus hier stehen.« Glin-

nes winkte seine Begleiter herbei. Casagave versuchte
nochmals, sich zu entfernen; Glinnes zerrte ihn brutal
zurück. Casagaves Miene hatte sich zu einer gefährli-
chen  Maske  verzerrt.  »Was  zum  Teufel  wollen  Sie
von mir?«

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»Hören  Sie  gut  zu«,  sagte  Glinnes  drohend.  »Das

ist  Ryl  Shermatz,  Generalinspektor  des  Whelm.  Da-
neben  Janno  Akadie,  ehemals  beamteter  Mentor  der
Präfektur Jolany. Beide sind Zeugen von Vang Dros-
sets Geständnis gewesen, daß er Shira Hulden getötet
hat.  Ich  bin  somit  Squire  von  Rabendary,  und  ich
verlange, daß Sie die Insel Ambal auf der Stelle räu-
men.«

Lute Casagave antwortete nicht. Filidice erkundigte

sich ärgerlich: »Haben Sie uns nur hierher geschleppt,
um Lord Ambal diese Mitteilung zu machen?«

Sagmondo  Bandolios  herzhaftes  Gelächter  schnitt

ihm das Wort ab. »Lord Ambal! Also wirklich! Das ist
neu, wirklich ganz neu!«

Casagave  wandte  sich  ab  und  wollte  gehen,  aber

Shermatz' ruhige Stimme ließ ihn innehalten. »Noch
einen Augenblick, bitte. Dies ist eine amtliche Unter-
suchung, und die Frage Ihrer Identität könnte wichtig
werden. Bleiben Sie also, wo Sie sind!«

»Ich  bin  Lord  Ambal;  das  muß  Ihnen  wohl  genü-

gen.«

Ryl  Shermatz  wandte  sich  mit  milde  fragendem

Blick  an  Bandolio.  »Sie  kennen  ihn  unter  anderem
Namen?«

»Unter anderem Namen – und bei einem ganz an-

deren Zeitvertreib. Seine Unternehmungen haben mir
oft genug einen Strich durch die Rechnung gemacht.
Er hat getan, was ich schon vor zehn Jahren hätte tun
sollen  –  sich  mit  seinem  Raub  zur  Ruhe  gesetzt.  Sie
sehen  hier  Alonzo  Dirrig  vor  sich,  auch  bekannt  als
der  Eisteufel  oder  Dirrig,  der  Schädelmacher,  einst
Befehlshaber über vier Schiffe und einer der tüchtig-
sten Starmenter, die es je gegeben hat.«

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»Sie irren sich, wer Sie auch sein mögen.« Casagave

verneigte sich und wandte sich zum Gehen.

»Moment! Nicht so hastig!« rief Filidice. »Vielleicht

haben wir hier einen wichtigen Fang gemacht. Wenn
das der Fall ist, dann wäre Janno Akadie gerechtfer-
tigt. Lord Ambal, streiten Sie die Beschuldigung von
Sagmondo Bandolio ab?«

»Da gibt es nichts zu bestreiten. Der Mann täuscht

sich.«

Bandolio lachte lauthals los. »Seht euch doch seine

linke  Handfläche  an;  ihr  werdet  eine  Narbe  finden,
die ich ihm selbst beigebracht habe.«

Filidice fuhr fort: »Leugnen Sie ab, besagter Alonzo

Dirrig  zu  sein;  weiters,  daß  Sie  die  Entführung  von
dreihundert  adeligen  Persönlichkeiten  der  Präfektur
geplant  haben;  weiters,  daß  Sie  in  der  Folge  einen
gewissen Lempel getötet haben?«

Casagave verzog die Lippen. »Natürlich leugne ich

es. Beweisen Sie es doch, wenn Sie können!«

Filidice  wandte  sich  an  Glinnes.  »Wo  ist  Ihr  Be-

weis?«

»Einen  Augenblick«,  sagte  Shermatz  verwirrt.  Er

wandte sich an Bandolio: »Ist das der Mann, mit dem
Sie am Strand bei Welgen verhandelten?«

»Alonzo  Dirrig  sollte  mich  zur  Durchführung  sei-

ner Pläne brauchen? Niemals – nicht Alonzo Dirrig.«

Filidice warf Glinnes einen mißtrauischen Blick zu.

»Dann haben Sie sich also doch geirrt!«

»Nicht so hastig!« sagte Glinnes. »Ich habe nie Ca-

sagave oder Dirrig, wie er auch heißt, beschuldigt. Ich
habe  ihn  nur  festgehalten,  um  endlich  eine  mir  am
Herzen liegende Angelegenheit zu klären.«

Casagave  drehte  sich  um  und  marschierte  davon.

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Ryl Shermatz gab Filidice einen Wink, und der befahl
seinen  beiden  Konstablern:  »Ihm  nach!  Nehmt  ihn
fest.« Die Beamten eilten davon. Casagave warf einen
Blick über die Schulter zurück; als er sah, daß er ver-
folgt  wurde,  rannte  er  auf  den  Pier  hinaus  und
sprang  in  sein  Boot.  Der  Motor  brüllte  auf  und  das
Boot  schoß  auf  einem  Gischtkeil  über  die  Fleharish-
Bucht davon.

Filidice  brüllte  den  Konstablern  nach:  »Folgt  ihm

im  Kutter;  verliert  ihn  nicht  aus  den  Augen!  Funkt
um Verstärkung! Fordert Luftunterstützung! Verhaf-
tet ihn!«

Lord Gensifer stellte ihn entrüstet zur Rede: »Was

soll das, hier einen solchen Aufruhr zu stiften? Sehen
Sie nicht, daß wir ein festliches Ereignis feiern?«

Gendarmeriechef Filidice besann sich auf die Wür-

de  seines  Amtes.  »Wir  bedauern  selbstverständlich
die Störung, die unser Eindringen verursacht hat. Wir
hatten  Grund  anzunehmen,  daß  Lord  Ambal  der
Komplize  von  Sagmondo  Bandolio  gewesen  sein
könnte. Anscheinend trifft das nicht zu.«

Lord Gensifers Gesicht lief rot an. Sein Blick durch-

bohrte erst Akadie, dann Filidice. »Selbstverständlich
trifft  das  nicht  zu!  Habe  ich  Ihnen  die  Sache  nicht
deutlich genug auseinandergesetzt? Wir kennen Ban-
dolios Komplizen!«

»Wirklich?« erkundigte sich Akadie in einem Ton,

der  einen  empfindsameren  Mann  als  Lord  Gensifer
hätte erbleichen lassen. »Und wer ist es?«

»Der  treulose  Mentor,  der  voll  Hinterlist  erst  die

dreißig  Millionen  Ozols  eingesammelt  und  sie  dann
beiseite  geschafft  hat!«  erklärte  Lord  Gensifer.  »Sein
Name ist Janno Akadie!«

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Ryl  Shermatz  erklärte  sanft:  »Sagmondo  Bandolio

bestreitet diese Theorie aber. Er behauptet, daß Aka-
die keinesfalls der Mann war.«

Lord  Gensifer  warf  die  Arme  zornig  hoch.  »Nun

gut,  dann  ist  Akadie  von  mir  aus  unschuldig!  Wen
interessiert das schon? Ich habe die ganze Sache mehr
als satt! Bitte gehen Sie endlich! Sie belästigen meine
Gäste und stören eine feierliche Zeremonie.«

»Bitte  nehmen  Sie  meine  Entschuldigung  entge-

gen«,  sagte  Filidice  eingeschüchtert.  »Ich  versichere
Ihnen,  daß  dies  nicht  meine  Absicht  war.  Kommen
Sie also, meine Herren, wir wollen...«

»Einen Augenblick noch«, sagte Glinnes. »Wir ha-

ben  den  wichtigsten  Punkt  der  Angelegenheit  noch
nicht  geklärt.  Sagmondo  Bandolio  kann  den  Mann
nicht  identifizieren,  mit  dem  er  sich  auf  dem  Strand
getroffen hat, aber er ist ganz bestimmt imstande, die
Maske  zu  identifizieren.  Lord  Gensifer,  würden  Sie
einen Helm der Fleharish-Gorgonen holen?«

Lord Gensifer richtete sich entrüstet auf. »Ich wer-

de gewiß nichts dergleichen tun. Was soll dieser Un-
sinn? Muß ich Sie noch einmal ersuchen, meinen Be-
sitz zu verlassen?«

Glinnes  ignorierte  ihn  und  erklärte  Filidice:  »Als

Bandolio die Hörner und die heraushängende Zunge
der  Maske  beschrieb,  mußte  ich  sofort  an  die  Fleha-
rish-Gorgonen denken. Am vierten Tag des Lyssum,
an  dem  das  Treffen  stattfand,  hatten  die  Gorgonen
noch nicht ihre Uniformen erhalten. Nur Lord Gensi-
fer kann einen Gorgonen-Helm benutzt haben. Daher
ist Lord Gensifer der Schuldige!«

»Was reden Sie da?« keuchte Filidice erschrocken.
»Aha!« schrie Akadie und warf sich auf Lord Gen-

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sifer. Glinnes zerrte ihn zurück und hielt ihn fest.

»Was  ist  das  für  eine  wahnsinnige  Verleumdung,

die  Sie  da  vorbringen?«  brüllte  Lord  Gensifer.  Sein
Gesicht  war  plötzlich  fleckig  geworden.  »Haben  Sie
den Verstand verloren?«

»Es ist wirklich lächerlich«, stellte Filidice fest. »Ich

will nichts mehr davon hören.«

»Nur langsam«, sagte Ryl Shermatz mit einem lei-

sen  Lächeln.  »Glinnes  Huldens  Theorie  ist  eine  ein-
gehendere  Überprüfung  wert.  Und  meiner  Ansicht
nach ist sie in jedem Hinblick befriedigend.«

Filidice  sagte  mit  unterdrückter  Stimme:  »Lord

Gensifer ist eine bedeutende Persönlichkeit; er ist der
Vorsitzende des Adelsrates...«

»Und in dieser Stellung hat er Sie dazu gezwungen,

Akadie einzusperren«, sagte Glinnes.

Lord  Gensifer  fuchtelte  wütend  vor  Glinnes'  Ge-

sicht herum; aber er brachte kein Wort mehr heraus.

Gendarmeriechef  Filidice  stellte  Lord  Gensifer  be-

drückt  die  Frage:  »Können  Sie  diese  Anschuldigung
widerlegen? Hat Ihnen vielleicht jemand einen Helm
gestohlen?«

Lord Gensifer nickte heftig. »Das ist es! Zweifellos

hat  jemand  einen  Helm  der  Gorgonen  aus  meinem
Lager gestohlen – höchstwahrscheinlich Akadie!«

»In  diesem  Fall«,  stellte  Glinnes  fest,  »müßte  jetzt

einer fehlen. Gehen wir doch die Helme zählen.«

Lord Gensifer holte zu einem wilden Schlag gegen

Glinnes  aus,  der  jedoch  mühelos  auswich.  Shermatz
winkte  Filidice.  »Verhaften  Sie  diesen  Mann  und
bringen Sie ihn ins Gefängnis. Wir werden ihn einer
Psychosondierung  unterziehen,  dann  wird  sich  die
Wahrheit schon herausstellen.«

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»Niemals«,  keuchte  Lord  Gensifer.  »Ich  will  nicht

auf  den  Prutanschyr!«  Wie  Casagave  drehte  er  sich
um  und  rannte  zum  Pier,  während  seine  Gäste  ihm
entgeistert nachsahen. Eine solche Hochzeit hatten sie
noch nicht erlebt.

»Ihm nach!« befahl Shermatz schroff. Der Gendar-

meriechef  stürmte  schwerfällig  los  und  polterte  den
Steg  entlang,  als  Lord  Gensifer  gerade  in  sein  Boot
sprang. Jede Vorsicht außer acht lassend, warf er sich
mit einem Satz auf ihn. Lord Gensifer versuchte, ihn
zurückzustoßen, aber Filidice fiel auf ihn. Lord Gensi-
fer  wurde  gegen  das  Dollbord  geworfen,  verlor  das
Gleichgewicht und stürzte ins Wasser.

Verzweifelt  schwamm  Lord  Gensifer  unter  den

Steg. Filidice rief ihm nach: »Es hat doch keinen Sinn,
Lord  Gensifer;  der  Gerechtigkeit  muß  Genüge  getan
werden. Kommen Sie hervor, das rate ich Ihnen!«

Nur  ein  Plätschern  zeigte  an,  daß  Lord  Gensifer

noch unter dem Pier war. Filidice rief ihn wieder an.
»Lord Gensifer! Warum machen Sie uns allen unnöti-
ge Schwierigkeiten? Kommen Sie heraus – Sie können
nicht mehr entkommen!«

Unter dem Pier ertönte plötzlich ein heiserer Schrei,

dann einen Augenblick lang verzweifeltes Platschen,
und dann hörte man nichts mehr. Filidice richtete sich
langsam  aus  seiner  Hocke  auf.  Mit  aschgrauem  Ge-
sicht starrte er ins Wasser hinunter. Nach einer Weile
zog  er  sich  auf  den  Steg  hinauf  und  kehrte  zu  Ryl
Shermatz, Glinnes und Akadie zurück. »Jetzt können
wir  diesen  Fall  wohl  abschließen«,  sagte  er.  »Die
dreißig Millionen Ozols – ich glaube, wir werden nie
erfahren, wo sie geblieben sind.«

Ryl Shermatz warf Glinnes einen Blick zu, den die-

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ser mit gerunzelter Stirn erwiderte. »Nun ja, so wich-
tig ist das auch wieder nicht«, sagte Shermatz. »Aber
wo ist denn unser Gefangener, wo ist Bandolio? Ist es
möglich, daß er sich das Durcheinander zunutze ge-
macht hat?«

»Es  sieht  ganz  so  aus«,  sagte  Filidice  niederge-

schlagen. »Er ist fort! Welch ein unseliger Tag!«

»Im Gegenteil«, sagte Akadie. »Für mich hat er die

größte Genugtuung meines Lebens gebracht.«

»Casagave  ist  vertrieben  –  dafür  bin  ich  überaus

dankbar«,  bemerkte  Glinnes.  »Es  war  auch  für  mich
ein glücklicher Tag!«

Filidice  rieb  sich  verwirrt  die  Stirn.  »Ich  kann  es

noch  gar  nicht  fassen.  Lord  Gensifer  erschien  mir
immer als ein Muster der Rechtschaffenheit!«

»Lord Gensifer hat genau zum falschen Zeitpunkt

eingegriffen«,  erklärte  Glinnes.  »Er  brachte  Lempel
um, nachdem Lempel den Boten instruiert hatte, aber
bevor  ihm  das  Geld  abgeliefert  worden  war.  Er  hat
vermutlich angenommen, daß Akadie genauso prin-
zipienlos  war  wie  er  und  das  Geld  erst  gar  nicht
übergeben hatte.«

»Wirklich  betrüblich«,  sagte  Akadie.  »Und  die

dreißig  Millionen  Ozols  –  wo  mögen  sie  jetzt  wohl
sein?  Vielleicht  auf  irgendeiner  fernen  Welt,  auf  der
der  Bote  jetzt  seinen  unerwarteten  Reichtum  ge-
nießt.«

»So wird es höchstwahrscheinlich sein«, meinte Fi-

lidice.  »Nun,  ich  vermute,  ich  werde  den  Gästen  ir-
gendeine Erklärung geben müssen.«

»Entschuldigt  mich«,  sagte  Glinnes.  »Dort  drüben

ist  jemand,  mit  dem  ich  sprechen  möchte.«  Er  ging
durch den Park zu der Stelle, an der er Duissane zu-

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letzt gesehen hatte. Sie war nicht mehr da. Er schaute
sich  überall  um,  aber  er  konnte  keine  Duissane  fin-
den.  Ob  sie  vielleicht  ins  Haus  gegangen  war?  Er
konnte  es  nicht  recht  glauben  –  das  Haus  hatte  für
Duissane jetzt keine Bedeutung mehr...

Um  das  Haus  herum  führte  ein  Pfad  zum  Strand.

Glinnes  lief  in  plötzlicher  Gewißheit  zum  Meer  hin-
unter,  und  da  war  Duissane.  Sie  stand  im  Sand  und
blickte  auf  das  Wasser  hinaus,  zu  jener  endlosen  Li-
nie, an der Himmel und Wasser verschmolzen.

Glinnes trat zu ihr. Sie fuhr zusammen und schaute

ihn an, als sähe sie ihn zum erstenmal. Dann wandte
sie sich ab und ging langsam am Wasser entlang nach
Osten. Glinnes holte sie ein, und im dunstigen Licht
eines  alten  Nachmittags  wanderten  sie  zusammen
über den Strand.

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GLOSSAR

1

Starmenter:  Piraten  und  räuberische  Rebellen,  de-
ren  Schlupfwinkel  die  sogenannten  ›Starments‹
sind.

2

Merlank: Eine Art Eidechse. Der Kontinent umfaßt
den  Äquator  wie  eine  Eidechse,  die  sich  an  eine
blaue Glaskugel klammert.

3

Cauch (gesprochen kauk): Ein Aphrodisiakum, das
aus  den  Sporen  eines  Bergschimmels  gewonnen
wird und von den meisten Trills hin und wieder
eingenommen wird. Manche verlieren sich so sehr
in  ihren  erotischen  Phantasien,  daß  sie  als  unzu-
rechnungsfähig  angesehen  werden;  diese  Men-
schen sind Zielscheibe freundlichen Spotts. Unzu-
rechnungsfähigkeit  kann  unter  den  auf  Trullion
herrschenden  Bedingungen  kaum  als  ernstzu-
nehmendes  soziologisches  Problem  betrachtet
werden.

4

Sheirl  (gesprochen  Schirl):  ein  unübersetzbares
Wort aus dem speziellen Vokabular der Hussade
–  eine  zauberhafte  Nymphe  voller  Lebensgeist
und  Feuer,  die  die  Spieler  ihrer  Mannschaft  zu
ungewöhnlichen  Leistungen  anspornt.  Die  Sheirl
ist  eine  Jungfrau,  die  vor  der  Schande  der  Nie-
derlage beschützt werden muß.

5

Merlinge:  amphibische,  halbintelligente  Eingebo-
rene  von  Trullion,  die  in  Uferhöhlungen  unter
Wasser leben. Zwischen Menschen und Merlingen
herrscht ein sehr labiler Duldenspakt; beide Seiten

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hassen  und  verfolgen  die  andere,  doch  unter  ge-
rade noch erträglichen Bedingungen. Die Merlin-
ge  streifen  nachts  über  das  Land  auf  der  Suche
nach Aas, kleinen Tieren und Kindern. Wenn sie
Boote  angreifen  oder  in  Wohnstätten  eindringen,
werfen  die  Menschen  zur  Vergeltung  Explosiv-
stoffe  ins  Wasser.  Fällt  ein  Mensch  ins  Wasser
oder  versucht  jemand  zu  schwimmen,  so  ist  er
damit  in  das  Revier  der  Merlinge  eingedrungen
und  riskiert,  unter  Wasser  gezogen  zu  werden.
Andererseits  kann  ein  Merling,  der  an  Land  er-
wischt wird, auch keine Gnade erwarten.

6

Sternenschau:  Nachts  ist  der  Himmel  übersät  mit
den Sternen des Alastor-Haufens. Ihr Licht bricht
sich  in  der  Atmosphäre  –  die  Luft  ist  erfüllt  von
vielfarbigem Glitzern und Funkeln. Die Trills las-
sen  sich  draußen  in  ihren  Gärten  nieder,  Krüge
mit Wein bei der Hand, und benennen die Sterne,
diskutieren  über  ihre  Welten.  Für  die  Trills,  wie
für  die  meisten  Menschen  von  Alastor,  ist  der
Sternenhimmel  kein  abstraktes  Lichtmuster,  son-
dern ein Ausblick auf ferne Orte und Welten, ein
belebtes Panorama. Meist kommt bei der Sternen-
schau auch die Sprache auf die Raumpiraten, die
sogenannten ›Starmenter‹, und ihre schrecklichen
Untaten.  Wenn  die  Sonne  von  Numenes  sichtbar
ist,  wendet  sich  das  Gespräch  dem  Connat  und
dem herrlichen Lusz zu, und immer gibt es einen,
der sagt: »Paßt auf, was ihr redet! Vielleicht sitzt
er hier unter uns, trinkt unseren Wein und merkt
sich  alle  Unzufriedenen!«  –  was  zuerst  ein  unru-
higes Gemurmel hervorruft, denn die Gewohnheit

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des Connat, unerkannt die Welten von Alastor zu
durchwandern, ist allen bekannt. Dann aber sagt
sich einer beherzt: »Unsinn – wir sind zehn (oder
zwölf  oder  sechzehn  oder  zwanzig,  je  nachdem)
von  fünf  Billionen!  Der  Connat  unter  uns?  Das
will ich riskieren!«

Bei  einer  solchen  Sternenschau  war  Sharue

Hulden allein ins Dunkle fortgeschlendert. Bevor
ihre  Abwesenheit  bemerkt  wurde,  hatten  die
Merlinge sie gepackt und unter Wasser gezogen.

7

Paro: Ein berühmter Hussade-Spieler, der Liebling
des  ganzen  Sternhaufens,  gefeiert  wegen  seines
kühnen und angriffslustigen Spiels.

Slabar Velche: Ein berüchtigter Starmenter.

8

Trevanyi: Ein Nomadenvolk von spezifischer ras-
sischer  Herkunft,  dem  Dieberei,  Zauberkünste
und ein gefährlicher Trickreichtum zugeschrieben
werden;  ein  leicht  erregbares,  heißblütiges,  ra-
chelüsternes  Volk.  Sie  betrachten  Cauch  als  Gift
und hüten die Ehre ihrer Frauen mit fanatischem
Eifer.

9

Zanzamar: eine Stadt am äußersten Ende des Son-
nenaufgangskaps.

10

Urush:  Verächtlicher  Ausdruck  der  Trevanyi  für
einen Trill.

11

Spag: Zustand der Brunft, der sexuellen Erregung;
daraus:

Spageen: ein Individuum in diesem Zustand.

12

Forlostwenna:  Ein  Wort  der  Trevanyi-Mundart  –

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ein  Zwang,  sich  erneut  auf  die  Wanderung  zu
machen; viel stärker als der allgemeine Ausdruck
›Wanderlust‹.

13

Gealospans:  wörtlich,  ›Mädchenentblößer‹  –  An-
spielung  auf  das  erhoffte  Schicksal  der  gegneri-
schen Sheirl.

14

Stelt:  Ein  kostbares  Mineral,  das  aus  Vulkan-
schloten auf bestimmten Typen erloschener Sterne
gewonnen wird; eine Mischung von Metallen und
natürlichem Glas, die die vielfältigen Muster und
Färbungen aufweisen kann.

15

Hussade: Das Hussade-Spielfeld besteht aus einem
Gitter  von  ›Zügen‹  oder  ›Wegen‹  in  Längsrich-
tung und sogenannten ›Brücken‹ in Querrichtung
über einem großen, anderthalb Meter tiefen Was-
serbecken. Die Züge sind drei Meter voneinander
entfernt,  die  Brücke  zur  anderen.  Der  Mittelgra-
ben ist zweieinhalb Meter breit und kann auf bei-
den Seiten passiert werden oder in der Mitte, aber
ein  geschickter  Spieler  kann  ihn  natürlich  auch
überall überspringen. In den ›Heimtanks‹ an den
beiden  Enden  des  Spielfeldes  steht  das  Podium,
auf dem die Sheirl der Mannschaft den Ausgang
erwartet.

Die Spieler befördern die Gegner durch Treffer

mit den ›Pads‹ oder durch Bodycheck ins Wasser,
dürfen  dazu  aber  in  keiner  Weise  die  Hände  ge-
brauchen.

Der  Kapitän  jeder  Mannschaft  ist  mit  einer

›Hange‹ versehen, einem Licht auf einem ein Me-
ter  hohen  Gestell.  Solange  das  Licht  brennt,  darf

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der  Kapitän  weder  angegriffen  werden  noch
selbst angreifen. Wenn er sich mehr als zwei Me-
ter  von  der  Hange  entfernt  oder  das  Gestell  auf-
hebt,  um  seine  Position  zu  ändern,  erlischt  das
Licht;  dann  darf  er  angreifen  und  angegriffen
werden.  Ein  wirklich  tüchtiger  Kapitän  braucht
sich um seine Hange kaum zu kümmern; ein we-
niger  geschickter  wird  sich  an  einem  wichtigen
Kreuzungspunkt  postieren,  den  er  durch  seine
Unangreifbarkeit  im  Bereich  der  brennenden
Hange schützen kann.

Die Sheirl steht auf ihrer Plattform am Ende des

Spielfeldes, umgeben vom Heimtank. Sie trägt ein
weißes  Gewand,  das  nur  durch  einen  Goldring
über der Brust zusammengehalten wird. Die geg-
nerischen  Spieler  versuchen,  diesen  Ring  in  die
Hand zu bekommen; ein leichter Zug entblößt die
Sheirl. Die Würde der Sheirl kann von ihrem Ka-
pitän  um  eine  bestimmte  Summe  ausgelöst  wer-
den, um fünfhundert Ozols, tausend, zweitausend
oder auch viel mehr, je nachdem, welche Verein-
barungen vor dem Spiel getroffen wurden.

16

Pad:  eine  ein  Meter  lange,  gepolsterte  Keule,  mit
der die gegnerischen Spieler ins Wasser gestoßen
werden können.

17

Tanchinaros:  schwarz-silbern  gestreifter  Fisch  in
dem fernen südlichen Ozean.

18

Isthoune:  Stolz  und  Selbstvertrauen;  Mana:  der
emotionelle Zustand, der einen Mann zu den ver-
rücktesten  Heldentaten  treiben  kann;  ein  im  we-
sentlichen unübersetzbares Wort.

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19

Karpoun:  ein  wildes,  tigerähnliches  Raubtier  aus
den Shamschin-Vulkanfeldern.

20

Quorls:  Eine  Molluskenart,  die  im  feuchten  Sand
des Strandes lebt.

21

Curset: ein krabbenähnliches Meeresinsekt.

22

Warmos:  schmutzig,  pervers,  haltlos;  ein  oft  auf
die Trills angewendetes Eigenschaftswort.


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