Heyne 3563 Vance, Jack Alastor 1 Trullion Alastor 2262

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Weit draußen, nahe dem Rande der Galaxis, liegt der
Sternhaufen Alastor, ein Wirbel von dreißigtausend le-
bendigen Sonnen. Er ist von unregelmäßiger Form und
hat einen Durchmesser von zwanzig bis dreißig Lichtjah-
ren. Die Umgebung ist dunkel, der Weltraum leer bis auf
wenige Einsiedlersterne. Von außen sieht Alastor wie ein
funkelndes Lichtergewebe aus, mit breiten Sternenbän-
dern, flammenden Zusammenballungen, glitzernden
Knoten. Staubwolken ziehen sich wie Schatten darüber,
und die Sterne darin glimmen rötlich oder stumpfgelb
wie rauchiger Bernstein. Unsichtbar schweben dunkle
Sterne durch Millionen von Bruchstücken aus Eisen,
Schlacke und Eis: das sind die »Starments«, tote Sonnen,
die den berüchtigten »Starmentern« als Schlupfwinkel
dienen.

Verstreut über den Sternhaufen finden sich etwa drei-

tausend besiedelte Planeten mit einer menschlichen Be-
völkerung von insgesamt vielleicht fünf Billionen. Die
Welten sind vielfältig, ihre Bewohner sind es ebenso, ob-
wohl sie eine gemeinsame Sprache haben und alle sich
der Oberherrschaft des Connat in Lusz auf der Welt Nu-
menes beugen.

Auf Trullion, einer dieser exotischen Welten, einem Pla-
neten, der fast ganz von Wasser bedeckt und nur in
Äquatornähe von einem schmalen Kontinent umspannt
und zahllosen Inseln bekränzt ist, lebt Glinnes Hulden
mit seiner Mutter und seinen Brüdern. Er verteidigt die
kleine fruchtbare Insel, die er sein eigen nennt, gegen
Neider, Sektierer und Gesindel, und er verteidigt sein Le-
ben und das seiner Angehörigen und Freunde, wenn
nachts die halbintelligenten Merlinge aus dem Wasser
steigen, um unachtsame Menschen in die dunklen Tiefen
des Meeres zu ziehen.

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Vom gleichen Autor erschienen außerdem
als Heyne-Taschenbücher

Start ins Unendliche · Band 3111
Jäger im Weltall · Band 3139
Die Mordmaschine · Band 3141
Der Dämonenprinz · Band 3143
Emphyrio · Band 3261
Der Mann ohne Gesicht · Band 3448
Der Kampf um Durdane · Band 3463
Die Asutra · Band 3480

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JACK VANCE

TRULLION:

ALASTOR 2262

Fantasy-Roman

Deutsche Erstveröffentlichung

WILHELM HEYNE VERLAG

MÜNCHEN

Dieses E-Book ist nicht zum Verkauf bestimmt!!

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HEYNE-BUCH Nr. 3563

im Wilhelm Heyne Verlag, München

Titel der amerikanischen Originalausgabe

TRULLION: ALASTOR 2262

Deutsche Übersetzung von Yoma Cap

Redaktion: Wolfgang Jeschke

Copyright © 1973 by Jack Vance

Copyright © 1977 der deutschen Übersetzung

by Wilhelm Heyne Verlag, München

Printed in Germany 1977

Umschlag: Johann Peter Reuter, Gummersbach-Strombach

Umschlaggestaltung: Atelier Heinrichs, München

Gesamtherstellung: Mohndruck Reinhard Mohn OHG,

Gütersloh

ISBN 3-453-30457-8

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Weit draußen, nahe dem Rande der Galaxis, liegt der
Sternhaufen Alastor, ein Wirbel von dreißigtausend
lebendigen Sonnen. Er ist von unregelmäßiger Form
und hat einen Durchmesser von zwanzig bis dreißig
Lichtjahren. Die Umgebung ist dunkel, der Weltraum
leer bis auf wenige Einsiedlersterne. Von außen sieht
Alastor wie ein funkelndes Lichtergewebe aus, mit
breiten Sternenbändern, flammenden Zusammen-
ballungen, glitzernden Knoten. Staubwolken ziehen
sich wie Schatten darüber, und die Sterne darin
glimmen rötlich oder stumpfgelb wie rauchiger Bern-
stein. Unsichtbar schweben dunkle Sterne durch Mil-
lionen von Bruchstücken aus Eisen, Schlacke und Eis:
das sind die ›Starments‹, tote Sonnen.

Verstreut über den Sternhaufen finden sich etwa

dreitausend besiedelte Planeten mit einer menschli-
chen Bevölkerung von insgesamt vielleicht fünf Bil-
lionen. Die Welten sind vielfältig, ihre Bewohner sind
es ebenso, obwohl sie eine gemeinsame Sprache ha-
ben und alle sich der Oberherrschaft des Connat in
Lusz auf der Welt Numenes beugen.

Der augenblickliche Connat heißt Oman Ursht, der

sechzehnte in der Linie der Iditen, und ist ein Mann
von alltäglichem Aussehen und unauffälligem Auf-
treten. Auf Porträts und bei offiziellen Anlässen trägt
er eine strenge schwarze Uniform mit schwerem
Helm, um den Eindruck unnachgiebiger Autorität zu
erwecken. Nur so kennen ihn die Menschen von Ala-
stor. Privat ist Oman Ursht ein ruhiger und besonne-
ner Mann, der lieber etwas zu wenig als zu viel re-
giert. Er ist es gewohnt, jede seiner Handlungen ge-
nau zu überdenken, denn er weiß recht gut, daß alles,
was er tut, jede Geste, jedes Wort, jede unwillkürliche

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Betonung, eine Lawine unvorhersehbarer Folgen
auslösen könnte. Aus diesem Grund bemüht er sich,
streng, nüchtern und sachlich zu wirken.

Dem flüchtigen Beobachter erscheint der Alastor-

Sternhaufen als eine friedliche, ja beschauliche An-
sammlung von Welten. Der Connat weiß, daß es an-
ders ist. Er weiß, daß überall, wo Menschen nach
Vorteilen streben, nur ein labiles Gleichgewicht herr-
schen kann; wird kein Ausgleich für diese Kräfte ge-
schaffen, entstehen Spannungen im sozialen Gewebe,
so daß es manchmal zerreißt. Der Connat sieht seine
Funktion darin, solche sozialen Spannungen zu er-
kennen und zu beheben. Manchmal verbessert er die
Zustände, manchmal setzt er Ablenkungstaktiken ein.
Wird eine harte Vorgangsweise unvermeidlich, so
schickt er seine Streitmacht aus, den Whelm, der Po-
lizei und Militär in einem ist. Oman Ursht scheut da-
vor zurück, einem Insekt etwas zuleide zu tun; der
Connat kann aber auch ohne Gewissensbisse den
Untergang einer Million Menschen befehlen. In vielen
Fällen allerdings enthält er sich jeder Einmischung,
da er der Ansicht ist, jeder Zustand schaffe selbst ei-
nen Gegen-Zustand, und er danach trachtet, nicht ei-
nen dritten, komplizierenden Faktor herbeizuführen.
Im Zweifel tue – gar nichts: eine der Lieblingsmaximen
des Connat.

Nach alter Tradition durchwandert er inkognito die

Welten von Alastor. Hin und wieder, etwa um einem
Unrecht abzuhelfen, gibt er sich als mächtiger Beam-
ter zu erkennen; oft belohnt er Güte und Selbstlosig-
keit. Immer wieder fasziniert ihn das Alltagsleben
seiner Untertanen aufs neue, und Gespräche wie die
folgenden hört er sich stets interessiert an:

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ALTER MANN (zu einem trägen Burschen): Wenn

jeder hätte, was er sich wünscht, wer würde
dann noch arbeiten? Niemand.

BURSCHE: Ich nicht, darauf kannst du dich verlas-

sen.

ALTER MANN: Und du wärst der erste, der empört

aufschreit, denn nur die Arbeit hält alles in Ord-
nung. Aber jetzt mach weiter; spuck in die Hän-
de. Ich kann Trägheit nicht leiden.

BURSCHE (knurrend): Wenn ich der Connat wäre,

wurde ich dafür sorgen, daß jedem seine Wün-
sche erfüllt werden. Keine Schufterei mehr! Frei-
er Eintritt bei den Hussade-Spielen! Eine tolle
Raumjacht! Jeden Tag neue Kleider! Diener, die
einem das herrlichste Essen servieren!

ALTER MANN: Der Connat müßte ein Zauberer sein,

um dich und die Diener zufriedenzustellen. Die
würden nämlich nichts lieber tun, als dir zu ge-
ben, was du verdienst – täglich mindestens einen
Arschtritt. Und jetzt geh wieder an die Arbeit.

Oder:

JUNGER MANN: Geh niemals in die Nähe von Lusz,

ich flehe dich an! Der Connat würde dich für sich
beanspruchen!

MÄDCHEN (schelmisch): Was würdest du dann tun?
JUNGER MANN: Ich würde ein Rebell! Ich würde

der glorreichste Starmenter

1

sein, der je die

Himmel unsicher gemacht hat! Und endlich
würde ich die Macht von Alastor erringen,

1

Siehe Glossar am Schluß des Bandes.

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Whelm, Connat und alles andere überwinden
und dich zurückerobern.

MÄDCHEN: Du bist mutig, aber der Connat würde

doch nie jemand so Gewöhnlichen wie mich er-
wählen; dienen ihm in Lusz doch schon die
schönsten Frauen von Alastor.

JUNGER MANN: Welch herrliches Leben er führen

muß! Connat zu sein – das wäre mein Traum!

MÄDCHEN stößt einen ärgerlichen Seufzer aus und

wird unnahbar.

JUNGER MANN ist verwirrt. Oman Ursht entfernt

sich.

Lusz, der Palast des Connat, ist wirklich ein bemer-
kenswertes Bauwerk. Auf fünf gewaltigen Säulen ru-
hend, erhebt es sich dreitausend Meter über das
Meer. Zahllose Besucher durchstreifen die unteren
Regionen; von allen Welten Alastors kommen sie und
von noch ferneren Gegenden – aus den Dunkelzonen,
dem Primarchat, dem Erdischen Sektor, dem Rubri-
mar-Haufen und aus den vielen anderen Teilen der
Galaxis, die der Mensch für sich erobert und erschlos-
sen hat.

Über den öffentlichen Räumen und Wandelgängen

befinden sich Regierungsbüros, Zeremoniensäle, und
darüber die Privatgemächer des Connat. Sie berühren
die Wolken und ragen oftmals sogar darüber hinaus.
Wenn das Sonnenlicht auf seinen schimmernden
Mauern spielt, ist Lusz, der Palast des Connat, ein
über alle Maßen prächtiger Anblick und wird oft zu
den erhabensten Werken der Menschheit gezählt.

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KAPITEL 1

Raum 2262 im Ring der Welten gehört Trullion, dem
einzigen Planeten einer kleinen, weißen Sonne, die
nur ein Lichtfunken in einer breiten Sternspirale am
Rande des Haufens ist. Trullion ist eine kleine Welt,
die zum Großteil aus Wasser besteht und nur einen
schmalen Kontinent, Merlank

2

, in Äquatornähe be-

sitzt. Dicke Wolkenbänke treiben vom Meer herein
und fangen sich in den Zentralbergen; Hunderte von
Flüssen bringen das Wasser durch breite Täler ins
Meer zurück, fruchtbare Täler, in denen Obst und
Getreide so reichlich gedeihen, daß sie kaum Markt-
wert haben.

Die ersten Siedler auf Trullion brachten Arbeitsei-

fer und Sparsamkeit mit, Lebensgewohnheiten, die
ihnen in ihrer früheren, harten Umwelt zustatten ge-
kommen waren; das erste Zeitalter der Trill-
Geschichte wies Dutzende Kriege auf, tausende
Abenteuer, das Entstehen eines Erbadels und ein
Nachlassen der anfänglichen Betriebsamkeit. Die Trill
fragten sich – wozu arbeiten, wozu Waffen tragen
und sich plagen, wenn ein Leben voller Feste, mit
Singen, Feiern und Muße ebenso möglich ist? Nach
drei Generationen bestand das alte Trullion nur mehr
in der Erinnerung. Die meisten Trill arbeiteten jetzt
nur noch, soweit die Umstände sie dazu zwangen:
um ein Fest vorzubereiten, ihrer Vorliebe für Hussade
zu frönen, um einen Pulsor für ihr Boot zu verdienen
oder einen Topf für die Küche oder ein Stück Stoff für

2

Siehe Glossar

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den Paray, das leichte Hüfttuch, das von Männern
wie Frauen getragen wurde. Wenn es sich ergab, ar-
beiteten sie auch auf den fruchtbaren Feldern, fisch-
ten im Meer, angelten in den Flüssen, ernteten wilde
Früchte – und wenn einem Trill danach war, schürfte
er wohl auch in den Bergen nach Smaragden und
Opalen oder sammelte Cauch

3

. Er arbeitete vielleicht

eine Stunde am Tag, manchmal auch zwei oder drei;
viel mehr Zeit verbrachte der durchschnittliche Trill
aber damit, auf der Veranda seines gemütlich ver-
wahrlosten Hauses zu dösen. Er hegte eine Abnei-
gung gegen die meisten technischen Einrichtungen,
weil er sie kalt, verwirrend und – wichtiger – teuer
fand, wiewohl er sich – mit einem gewissen Mißtrau-
en zwar – des Telefons bediente, um seine gesell-
schaftlichen Unternehmungen praktischer ordnen zu
können; einen Pulsormotor für sein Boot hielt er da-
gegen für selbstverständlich.

Wie in den meisten ländlichen Kulturen kannte

auch jeder Trill seinen genauen Platz in der Gesell-
schaftsordnung. Ganz oben, fast als Klasse für sich,
war die Aristokratie; die unterste Schicht bildeten die
nomadischen Trevanyi eine ebenso in sich geschlos-
sene Klasse. Die meisten Trill lehnten neuartige oder
exotische Ideen ab. Obwohl sie üblicherweise ruhig
und friedfertig waren, konnten sie bei entsprechen-
dem Anlaß in jähzorniges Wüten verfallen, und auch
sonst zeigte ihre Kultur einige fast barbarische Züge –
insbesondere das makabre Ritual der Prutanschyr.

Die Regierung von Trullion beschränkte sich auf

wesentliche Verwaltungseinrichtungen, für die die

3

Siehe Glossar

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meisten Trill herzlich wenig Interesse aufbrachten.
Merlank war in zwanzig Präfekturen aufgeteilt, die
ihre eigenen Behörden hatten und von einer kleinen
Zahl Beamten verwaltet wurden, die eine Stufe höher
standen als die gewöhnlichen Trill, aber immer noch
beträchtlich tiefer als die Aristokraten.

Der Handel mit anderen Planeten des Sternhaufens

war unerheblich, und auf ganz Trullion gab es auch
nur vier Raumhäfen: Port Maheul an der Südküste,
und Vayamenda im Osten.

Hundert Meilen östlich von Port Maheul lag die

Markstadt Welgen, berühmt für ihr prächtiges Hus-
sade-Stadion. Hinter Welgen begannen die Fens, ein
Landstrich von außergewöhnlicher Schönheit. Tau-
sende Wasserstraßen teilten das Festland in unzählige
Inseln und Inselchen, einige davon so klein, daß ge-
rade die Hütte eines Fischers darauf Platz fand, und
ein Baum, an dem er sein Boot festmachen konnte.

Wohin man auch kam, ein prächtiger Ausblick

nach dem anderen erfreute das Auge: graugrüne Me-
nas, silbrig-rote Pomanderbäume, schwarze Jerdinen
säumten die Wasserwege und verliehen jeder Insel
ihre charakteristische Silhouette. Draußen auf ihren
verfallenen Veranden saßen die Landleute, Krüge mit
selbstgekeltertem Wein bei der Hand. Manche musi-
zierten – mit Ziehharmonikas, kleinen, rundbäuchi-
gen Gitarren oder Maultrommeln, deren munteres
Trillern und Pfeifen weit übers Wasser schallte. Das
Licht in den Fens war niemals grell, sondern immer
weich und gedämpft, und es schimmerte in zarten,
kaum wahrnehmbaren Farbtönen, als spiegelte es das
Glitzern des Wasser wider. Den Morgen über ver-
hüllte sanfter Nebel die Ferne; die Sonnenuntergänge

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waren zauberische Schauspiele in Apfelgrün und La-
vendel. Die verschiedensten Boote glitten über die
Wasserwege, manchmal kam eine Segeljacht eines
Aristokraten vorbei, oder die Fähre, die Welgen mit
den Dörfern der Fens verband.

Mitten in den Fens, ein paar Meilen vom Dorf

Saurkash entfernt, lag die Insel Rabendary, auf der
Jut Hulden mit seiner Frau Marucha und seinen drei
Söhnen lebte. Rabendary war vielleicht vierzig Hek-
tar groß, wovon gut ein Hektar waldbestanden war,
mit Menas, Schwarzholzbäumen, Semprissimas, Ker-
zennußbäumen. Nach Süden hin breitete sich die
weite Ambal-Bucht aus. Das Farwan-Gewässer
säumte Rabendary im Westen, die Gilweg-Straße im
Osten, und entlang seiner Nordküste strömte der
breite, ruhige Saur-Fluß. Auf der Westspitze der Insel
stand das etwas verfallene alte Haus der Huldens
zwischen zwei mächtigen Mimosenbäumen. An den
Verandapfosten rankte sich Rosalia-Rebe hoch und
hing über das Dach herunter, ein duftiger schattiger
Vorhang für alle, die in den alten Flechtstühlen aus-
ruhten. Nach Süden hin hatte man einen wundervol-
len Ausblick über die Ambal-Bucht und die Insel
Ambal, ein Idyll von über hundert Ar, mit einer An-
zahl herrlicher Pomanderbäume, deren Laubwerk ein
rotsilbernes Muster vor dem Hintergrund der matt-
grünen Menas bildete, und drei riesige Fanzaneel-
bäumen, die ihre großen, zottigen Blattwedel hoch in
die Luft reckten. Durch die Bäume schimmerte das
weiße Mauerwerk des Landhauses, in dem Lord Am-
bal vor langer Zeit seine diversen Geliebten unterge-
bracht hatte. Der Besitz gehörte jetzt Jut Hulden, aber
er hatte nicht die geringste Absicht, in das Schlößchen

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zu übersiedeln; seine Freunde hätten ihn für verrückt
gehalten.

In seiner Jugend hatte Jut Hulden mit den Saur-

kash-Schlangen Hussade gespielt. Marucha war die
Sheirl

4

der Welgen-Wölfe gewesen; so hatten sie sich

kennengelernt, hatten geheiratet und drei Söhne in
die Welt gesetzt, Shira und die Zwillinge Glinnes und
Glay, und eine Tochter, Sharue, die von den Merlin-
gen

5

geraubt worden war.

4

Siehe Glossar

5

Siehe Glossar

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KAPITEL 2

Glinnes Hulden kam brüllend und strampelnd zur
Welt; Glay folgte ihm eine Stunde später in mißtraui-
schem Schweigen. Vom ersten Tag ihres Lebens an
unterschieden sich die beiden – in Aussehen, Tempe-
rament, in allen Lebensumständen. Glinnes war, wie
Jut und Shira, freundlich, vertrauensvoll und heiter;
er wuchs zu einem hübschen Burschen mit gesunder
Haut heran, mit sandfarbenen Haaren und einem
breiten, lebensfrohen Mund. Glinnes genoß alle Ver-
gnügungen der Fens voll und ganz: Feste, Liebes-
abenteuer, die Sternenschau

6

, Segeln, Hussade,

nächtliche Merlingjagden, einfaches Nichtstun.

Glay hatte anfangs nicht die robuste Gesundheit

seines Bruders; die ersten sechs Lebensjahre war er
kränklich, unruhig und still. Dann besserte sich sein
Zustand, und bald überholte er Glinnes im Wachsen
und blieb auch weiterhin der größere von beiden.
Sein Haar war schwarz, seine Züge angespannt,
scharf geschnitten, seine Augen blickten eindringlich.
Glinnes akzeptierte Ereignisse und Ideen mit heiterer
Unvoreingenommenheit, Glay dagegen blieb abwei-
send und in sich gekehrt. Glinnes zeigte eine natürli-
che Begabung für Hussade; Glay weigerte sich, auch
nur ein Spielfeld zu betreten. Obwohl Jut ein gerech-
ter Vater war, fiel es ihm schwer, seine Vorliebe für
Glinnes nicht zu zeigen. Marucha, die selbst groß und
dunkelhaarig war und zu romantischen Träumereien
neigte, bevorzugte Glay, in dem sie künstlerische

6

Siehe Glossar

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Anlagen zu entdecken glaubte. Sie versuchte, Glay
für Musik zu interessieren, und erklärte ihm, wie er
durch Musik seine Gefühle ausdrücken und anderen
verständlich machen könne. Glay konnte sich jedoch
nicht dafür begeistern und brachte auf ihrer Gitarre
nur einige gleichgültige Mißtöne hervor.

Glay war auch sich selbst ein Rätsel. Selbstanalyse

führte zu nichts; er fand sich ebenso unverständlich
wie der Rest der Familie. In seiner Jugend brachten
ihm sein ernsthaftes Benehmen und seine recht
hochmütige Verschlossenheit den Spitznamen ›Lord
Glay‹ ein; dazu paßte wohl auch, daß Glay das einzi-
ge Mitglied der Familie war, das in das Herrschafts-
haus auf der Insel Ambal übersiedeln wollte. Selbst
Marucha hatte den Gedanken als närrischen, wenn
auch amüsanten Tagtraum fallenlassen.

Glays einziger Vertrauter war Akadie der Mentor,

der in einem bemerkenswerten Haus auf der Sarpas-
sante-Insel lebte, ein paar Meilen nördlich von Ra-
bendary. Akadie, ein dünner, langarmiger Mann von
seltsam zusammengewürfeltem Aussehen – er hatte
eine große Nase, schüttere, tabakbraune Locken, gla-
sige Augen und einen schmalen Mund, um den im-
mer ein Lächeln zu zucken schien – war wie Glay in
gewisser Weise ein Außenseiter. Im Gegensatz zu
Glay aber schlug er Kapital aus seinen Eigenschaften
und zählte Aristokraten zu seinen Klienten.

Akadies Beruf umfaßte die Aufgaben eines Epi-

grammverfassers, Dichters, Kalligraphen, Weisen,
Schiedsrichter in Geschmacksfragen, professionellen
Gastes (es galt als höchster Luxus, Akadie zur Zierde
einer gesellschaftlichen Veranstaltung anzuheuern),
sowie eines Heiratsvermittlers, Rechtsberaters, Tra-

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ditionsbewahrers und Verbreiters von Skandalge-
schichten.

Akadies ungewöhnliches Gesicht, seine sanfte

Stimme und geschliffene Sprache verliehen dem
Tratsch nur zusätzliche Würze. Jut mißbrauchte Aka-
die und wollte nichts mit ihm zu tun haben, zum Be-
dauern von Marucha, die nie ihre gesellschaftlichen
Ambitionen aufgegeben hatte und im Innersten ihres
Herzens überzeugt war, unter ihrem Stand geheiratet
zu haben. Hussade-Sheirls heirateten schließlich oft
Lords!

Akadie hatte auch andere Welten gesehen. Abends,

während einer Sternenschau, pflegte er die Sterne zu
suchen, die er besucht hatte, und beschrieb dann die
Pracht ihrer Welten und die sonderbaren Bräuche ih-
rer Bewohner. Jut Hulden hatte für Reisen nichts üb-
rig; sein einziges Interesse an anderen Welten be-
schränkte

sich

auf

die

Güte

ihrer

Hussade-Mannschaf-

ten und die Heimat der Alastor-Champions.

Als Glinnes sechzehn war, sah er ein Starmenter-

Schiff. Es stieß über der Ambal-Bucht aus dem Him-
mel herunter und schoß mit unglaublicher Ge-
schwindigkeit in Richtung Welgen. Das Radio
brachte eine Live-Übertragung des Überfalls. Die
Starmenter landeten auf dem Hauptplatz und
stürmten aus ihrem Schiff, um Banken, Edelsteinlager
und Cauch-Depots auszurauben, wobei Cauch das
wertvollste aller Produkte von Trullion war. Sie nah-
men auch eine Anzahl wichtiger Persönlichkeiten ge-
fangen, um sie gegen Lösegeld einzutauschen. Der
Überfall war gut organisiert und rasch vorbei; binnen
zehn Minuten hatten die Starmenter Beute und Ge-
fangene in ihr Schiff gebracht. Zu ihrem Pech lief ge-

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rade ein Kreuzer des Whelm Port Maheul an, als über
Funk Alarm gegeben wurde. Das Kriegsschiff brauch-
te nur den Kurs zu ändern und statt dessen in Welgen
zu landen. Glinnes rannte auf die Veranda hinaus,
um das Whelm-Schiff niedergehen zu sehen – ein
mächtiges, in Beige, Scharlach und Schwarz gehalte-
nes Raumschiff. Wie ein Adler schoß es auf Welgen
herunter und verschwand aus Glinnes' Sicht. Der Ra-
diosprecher rief aufgeregt: »... sie steigen auf, aber da
ist schon das Whelm-Schiff! Bei den Neun Glorien,
das Whelm-Schiff ist da! Die Starmenter können nicht
in den Whisk

*

übergehen; sie würden durch die Rei-

bung verglühen! Sie müssen kämpfen!«

Der Reporter konnte seine Aufregung kaum mehr

bezähmen: »Das Whelm-Schiff greift an; der
Starmenter ist nicht mehr manövrierfähig! Hurrah! Er
fällt auf den Platz zurück! Nein, nein! Schrecklich!
Furchtbar! Auf den Markt ist das Schiff gestürzt!
Hunderte von Menschen zerschmettert! Achtung!
Alle Ambulanzen, alle Ärzte und Sanitäter nach Wel-
gen! Notstand! Bis hierher höre ich die entsetzlichen
Schreie... Das Starmenterschiff ist zerborsten, aber es
kämpft noch... ein blauer Strahl... wieder einer... Das
Whelm-Schiff feuert zurück. Jetzt rührt sich nichts
mehr bei den Starmentern. Ihr Schiff ist zerstört.« Der
Ansager schwieg einen Moment lang, dann über-
mannte ihn wieder die Aufregung. »Welch ein An-
blick! Die Menschen brüllen vor Zorn; sie umringen
die Starmenter, zerren sie heraus...« Er begann zu
stammeln, unterbrach sich und sprach dann ruhiger
weiter. »Die Gendarmen haben eingegriffen. Sie

*

Interstellarantrieb

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drängen die Menge zurück, und die Starmenter sind
in Haft, aber sie wehren sich verzweifelt. Wie sie
zappeln und um sich treten! Der Prutanschyr erwar-
tet sie! Sie würden die Rache der Menge vorziehen...!
Wie furchtbar sie der armen Stadt Welgen mitgespielt
haben...«

Jut und Shira arbeiteten im äußeren Obstgarten, wo

sie den Apfelbäumen Edelreiser aufpfropften. Glin-
nes rannte hinüber, um ihnen die Neuigkeiten zu be-
richten. »... und zum Schluß wurden die Starmenter
gefangengenommen und fortgebracht!«

»Ihr Pech«, sagte Jut schroff und fuhr in seiner Ar-

beit fort. Für einen Trill war er ein ungewöhnlich ver-
schlossener und schweigsamer Mann – Wesenszüge,
die sich nach dem Tod Sharues durch die Merlinge
noch vertieft hatten.

Shira sagte: »Na, dann werden sie wohl den Pru-

tanschyr abstauben. Vielleicht sollten wir die Nach-
richten anhören.«

Jut grunzte nur. »Eine Folterung ist wie die andere.

Das Feuer sengt, die Räder brechen, das Seil zerrt.
Manchen Leuten gefällt das. Ich unterhalte mich bes-
ser bei Hussade.«

Shira blinzelte Glinnes zu. »Ein Spiel ist wie das

andere. Die Stürmer springen, das Wasser spritzt, die
Sheirl verliert ihr Gewand, und die Bäuche hübscher
Mädels sind alle gleich.«

»Hier spricht die Stimme der Erfahrung«, bemerkte

Glinnes, und Shira, der berüchtigste Schürzenjäger
des Distrikts, brach in Gelächter aus.

Shira sah sich mit seiner Mutter Marucha tatsäch-

lich die grausamen Hinrichtungen an, während Glin-
nes und Glay von Jut zu Hause behalten wurden.

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Shira und Marucha kehrten mit der Abendfähre

zurück. Marucha war müde und ging gleich ins Bett;
Shira jedoch kam zu Jut, Glinnes und Glay auf die
Veranda heraus und berichtete ihnen, was er gesehen
hatte. »Dreiunddreißig hatten sie gefangen, und alle
waren in Käfigen auf dem Platz zur Schau gestellt.
Die ganzen Vorbereitungen mußten sie mitansehen.
Eine hartgesottene Schar, das muß ich sagen – ihre
Rasse konnte ich nicht feststellen. Einige mögen
Echaliten gewesen sein, andere Satagonen, und ein
weißhäutiger Kerl soll ein echter Blaweg gewesen
sein. Arme Hunde, wenn man sich's recht überlegt.
Sie waren nackt und in den Farben der Schande an-
gemalt: Köpfe grün, ein Bein blau, das andere rot.
Alle verschnitten natürlich. Ja, der Prutanschyr ist ein
entsetzlicher Ort! Und dann die Musik! Süß wie Blü-
tenduft und doch fremd und schrill, daß einem die
Töne an den Nerven zerrten... Naja, jedenfalls war ein
großer Kessel mit siedendem Öl vorbereitet worden,
und ein kleiner Fahrkran stand dabei. Die Musik be-
gann – acht Trevanyi mit ihren Hörnern und Fiedeln.
Wie kann nur ein so ernstes Volk so liebliche Musik
machen? Bis in die Knochen kalt wird einem bei die-
sen süßen Tönen, die Eingeweide verkrampfen sich,
und man glaubt, den Geschmack von Blut im Mund
zu spüren! Gendarmeriechef Filidice war anwesend,
aber die Hinrichtung nahm der Oberverwalter Ge-
rence vor. Die Starmenter wurden einer nach dem
anderen auf Haken gehängt, aufgehoben und lang-
sam in das Öl getaucht; dann wurden sie auf ein gro-
ßes Gerüst gebunden. Ich weiß nicht, was entsetzli-
cher war, ihr Geheul oder die wunderbare, traurige
Musik. Die Menschen fielen auf die Knie; manche be-

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kamen Weinkrämpfe – ich weiß nicht, ob aus Furcht
oder Freude. Ich weiß überhaupt nicht, was ich da-
von halten soll... Jedenfalls, nach ungefähr zwei
Stunden waren sie endlich alle tot.«

»Hmmm«, meinte Jut Hulden. »Eins zumindest ist

sicher – es werden sobald nicht wieder welche kom-
men.«

Glinnes hatte erschrocken und fasziniert zugehört.

»Das ist eine furchtbare Strafe, selbst für einen
Starmenter.«

»Das ist es tatsächlich«, sagte Jut. »Kannst du dir

den Grund dafür nicht denken?«

Glinnes schluckte hart und konnte sich unter meh-

reren Theorien nicht entscheiden.

Jut fragte: »Würdest du jetzt noch Starmenter wer-

den wollen und ein solches Ende riskieren?«

»Niemals«, erklärte Glinnes aus tiefstem Herzen.
Jut wandte sich an den grübelnd dasitzenden Glay.

»Und du?«

»Ich hatte sowieso nie vor, zum Räuber und Mör-

der zu werden.«

Jut lachte rauh. »Nun, wenigstens einer von euch

beiden ist bekehrt worden.«

Glinnes sagte: »Ich würde nicht Musik hören wol-

len, die zu einer Folterung gespielt wird.«

»Und weshalb nicht?« erkundigte sich Shira. »Bei

der Hussade, wenn die Sheirl entehrt wird, ist die
Musik süß und wild. Musik gibt dem Ereignis Würze,
wie Salz dem Essen.«

Glay raffte sich zu der Bemerkung auf: »Akadie

behauptet, daß jeder Mensch eine Katharsis braucht,
selbst wenn sie die Form eines Alptraumes hat.«

»Das mag sein«, sagte Jut. »Ich brauche keine Alp-

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träume; ich werde zeit meines Lebens einen vor Au-
gen haben.« Jut meinte, wie alle wußten, den Raub
von Sharue. Seit damals waren seine nächtlichen
Merlingsjagden fast zur Besessenheit geworden.

»Also, wenn ihr zwei Burschen nicht Starmenter

werden wollt, was dann?« fragte Shira. »Ich nehme
an, daß ihr keinen Wert darauf legt, zu Hause zu
bleiben.«

»Ich bin für Hussade«, sagte Glinnes. »Am Fischen

oder Cauch-Sammeln liegt mir nichts.« Er dachte an
das beige-schwarz-scharlachfarbene Schiff, das sich
mutig auf die Starmenter gestürzt hatte. »Oder ich
trete in den Whelm ein und führe ein Abenteuerle-
ben.«

»Über den Whelm kann ich nichts sagen«, meinte

Jut bedächtig, »aber wenn du dich für Hussade ent-
scheidest, kann ich dir ein oder zwei nützliche Rat-
schläge geben. Lauf jeden Tag fünf Meilen, um deine
Ausdauer zu stärken. Spring über die Trainingsgrä-
ben, bis du selbst mit einer Binde um die Augen si-
cher landen könntest. Laß die Mädchen in Ruhe, oder
es werden in der Präfektur bald keine Jungfrauen
mehr übrig sein, die eure Sheirl sein könnten.«

»Also das riskiere ich«, sagte Glinnes.
Jut spähte unter seinen schwarzen Augenbrauen

hervor zu Glay hin. »Und was ist mit dir? Wirst du
daheim bleiben?«

Glay zuckte die Achseln. »Wenn es möglich wäre,

würde ich reisen und die Welten Alastors kennenler-
nen.«

Jut hob die buschigen Brauen. »Wie willst du rei-

sen, wenn du kein Geld hast?«

»Laut Akadie gibt es die verschiedensten Möglich-

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keiten. Er hat zweiundzwanzig Welten besucht, sich
von einem Raumhafen zum anderen gearbeitet.«

»Hmmm. Das mag sein. Aber nimm dir nur nicht

Akadie zum Vorbild. Seine Reisen haben ihm nichts
eingebracht als nutzloses Wissen.«

Glay überlegte kurz. »Wenn das stimmt«, sagte er,

»und das muß es ja, da du es behauptest, dann hat
Akadie seine Menschenkenntnis und Weisheit hier
auf Trullion erworben, was ihm noch mehr anzu-
rechnen wäre.«

Jut, der eine ehrliche Niederlage nie übelnahm,

schlug Glay auf die Schulter. »In dir hat er einen treu-
en Freund.«

»Ich bin Akadie dankbar«, sagte Glay. »Er hat mir

viele Dinge klargemacht.«

Shira, dessen Gedanken meist lüsterne Wege gin-

gen, stieß Glay verschmitzt in die Rippen. »Begleite
Glinnes auf seinen heimlichen Ausflügen, dann
brauchst du Akadies Erklärungen nicht mehr.«

»Ich habe nicht von solchen Dingen gesprochen.«
»Wovon denn dann?«
»Wozu sollte ich das erklären? Ihr würdet mich nur

verspotten, und das ist so sinnlos.«

»Kein Spott!« erklärte Shira. »Wir werden dich ru-

hig anhören! Rede nur.«

»Also gut. Es ist mir eigentlich gleichgültig, ob ihr

spottet oder nicht. Lange schon empfinde ich eine
Leere, spüre, daß mir irgend etwas fehlt. Ich brauche
eine Last, gegen die ich meine Schulter stemmen
kann; ich brauche eine Herausforderung, der ich mich
stellen und die ich überwinden kann.«

»Beherzte Worte«, meinte Shira zweifelnd.

»Aber...«

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»Aber warum sollte ich mir überhaupt die Mühe

machen? Weil ich nur einmal lebe, nur einmal auf
dieser Welt existiere. Ich möchte meine Spur hinter-
lassen, irgendwo, irgendwie. Der Gedanke läßt mich
einfach nicht zur Ruhe kommen! Das Universum ist
mein Widersacher; es fordert mich heraus, etwas Be-
merkenswertes zu tun, so daß die Menschen sich
immer an mich erinnern! Warum sollte der Name
›Glay Hulden‹ nicht so weithin bekannt werden wie
›Paro‹ und ›Slabar Velche‹

7

? Ich werde es soweit

bringen; es ist das mindeste, was ich mir schuldig
bin!«

Jut bemerkte düster: »Dann solltest du am besten

entweder ein großer Hussadespieler oder ein be-
rühmter Starmenter werden.«

»Ich habe mich vielleicht übertrieben ausgedrückt«,

sagte Glay. »In Wahrheit suche ich weder Ruhm noch
einen gefährlichen Ruf. Es liegt mir nichts daran, daß
auch nur ein einziger Mensch mich bestaunt. Ich
möchte einfach nur die Chance haben, mein Bestes zu
tun.«

Eine Weile herrschte Schweigen auf der Veranda.

Vom Schiff drang das Summen nächtlicher Insekten
herüber, und das Wasser schlug leise platschend ge-
gen den Bootssteg. Vielleicht war ein Merling an die
Oberfläche gekommen, um nach interessanten Lauten
zu horchen.

Jut sagte schwerfällig: »Dein Ehrgeiz spricht für

dich. Und doch frage ich mich, wie die Welt aussähe,
wenn alle Menschen solch heftiges Streben zeigten.
Wo gäbe es noch Ruhe und Frieden?«

7

Siehe Glossar

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»Das ist wirklich ein schwieriges Problem«, stellte

Glinnes fest. »Ich habe mir darüber wirklich noch nie
Gedanken gemacht. Glay, du erstaunst mich. Du bist
einzigartig!«

Glay grunzte abweisend. »Dessen bin ich mir gar

nicht so sicher. Es muß viele, sehr viele Menschen ge-
ben, die verzweifelt nach Selbsterfüllung streben.«

»Vielleicht ist das ein Grund, warum einer

Starmenter wird«, vermutete Glinnes. »Man langweilt
sich zu Hause, bei der Hussade leistet man nicht viel,
mit den Mädchen hat man keinen Erfolg – also macht
man aus purer rachsüchtiger Enttäuschung in seinem
schwarzen Schiff den Weltraum unsicher!«

»Diese Theorie hat etwas für sich«, meinte Jut Hul-

den. »Aber Rachsucht ist eine zweischneidige Sache,
wie dreiunddreißig Leute heute feststellen mußten.«

»Etwas verstehe ich dabei nicht«, sagte Glinnes.

»Der Connat weiß von ihren Verbrechen. Warum
schickt er nicht den Whelm aus und läßt sie ein für
allemal ausrotten?«

Shira lachte nachsichtig. »Glaubst du denn, der

Whelm unternimmt nichts? Seine Schiffe sind dau-
ernd unterwegs. Aber für jede bewohnte Welt gibt es
hundert unbewohnte, gar nicht zu reden von den
Monden, Asteroiden, Starments und sonstigen toten
Brocken. Es gibt unzählige Schlupfwinkel im Welt-
raum. Der Whelm tut sein möglichstes.«

Glinnes wandte sich an Glay. »Da hast du's: tritt in

den Whelm ein und sieh dir die Welten des Sternhau-
fens an. Laß dich fürs Reisen bezahlen!«

»Das wäre ein Gedanke«, sagte Glay.

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KAPITEL 3

Schließlich war es dann Glinnes, der nach Port Ma-
heul fuhr und sich in den Whelm aufnehmen ließ. Er
war damals gerade siebzehn geworden. Glay trat we-
der in den Whelm ein, noch spielte er Hussade oder
wurde ein Starmenter. Kurz nachdem Glinnes zum
Whelm ging, verließ auch Glay sein Zuhause. Er
durchwanderte Merlank kreuz und quer, arbeitete
hin und wieder, um ein paar Ozols zu verdienen,
lebte aber auch oft nur von dem, was das Land bot.
Mehrmals versuchte er es mit den Tricks, die Akadie
ihm empfohlen hatte, um zu anderen Welten zu
kommen, aber aus dem einen oder anderen Grund
hatte er nie Erfolg, und er brachte auch nie genug
Geld zusammen, um sich eine Passage leisten zu
können.

Eine Weile zog er mit einer Truppe Trevanyi

8

um-

her, da ihn die strengen Lebensregeln dieser Men-
schen, die sich so sehr von der Leichtfertigkeit der
meisten Trills unterschieden, irgendwie anzogen.

Nach acht Wanderjahren kehrte er auf die Insel Ra-

bendary heim, wo sich eigentlich nichts geändert
hatte, außer daß Shira sich schließlich vom aktiven
Hussadespiel zurückgezogen hatte. Jut unternahm
immer noch seine nächtlichen Rachefeldzüge gegen
die Merlinge; Marucha hoffte immer noch, vom
Landadel der Umgebung gesellschaftlich anerkannt
zu werden, obwohl diese Kreise nicht die geringsten
Absichten in dieser Richtung zu erkennen gaben. Jut,

8

Siehe Glossar

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der sich auf Maruchas Wunsch jetzt Squire Hulden
von Rabendary nannte, weigerte sich nach wie vor, in
den Herrensitz von Ambal zu übersiedeln, weil die-
ser – so schön seine Proportionen, so grandios seine
Räume und getäfelten Decken auch sein mochten –
keine gemütliche Veranda mit Blick übers Wasser be-
saß.

Die Familie erhielt regelmäßig Nachricht von Glin-

nes, der sich im Whelm recht gut hielt. Im Ausbil-
dungslager hatte er sich eine Empfehlung für den Of-
fizierslehrgang verdient, nach dessen Abschluß er
dem taktischen Korps der Hunderteinundneunzig-
sten Schwadron zugeteilt wurde und das Kommando
über das Landeboot Nr. 191–539 und seine zwanzig-
köpfige Besatzung erhielt.

Nun hatte Glinnes eine vorteilhafte Karriere mit

den verschiedensten Ruhestandsvergünstigungen vor
sich. Trotzdem war er nicht recht zufrieden. Er hatte
sich das Leben in der Streitkraft romantischer, aben-
teuerlicher vorgestellt; er hatte davon geträumt, den
Sternhaufen in einem Patrouillenboot zu durchstrei-
fen, die Schlupfwinkel von Starmentern aufzuspüren
und dann auf fernen, malerischen Welten ein paar
Tage Landurlaub verbringen zu können. Kurzum, in
seiner Vorstellung hatte alles viel aufregender und
gefährlicher ausgesehen als die perfekt durchorgani-
sierte Routine, in die er geraten war. Um sich die
Eintönigkeit zu erleichtern, spielte er Hussade; seine
Mannschaft rangierte bei den Flottenwettkämpfen
immer ziemlich weit vorne und gewann zwei Mei-
sterschaften.

Glinnes suchte schließlich um Versetzung auf ein

Patrouillenboot an, was jedoch abgelehnt wurde.

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Darauf ging er zum Schwadronskommandanten, der
sich Glinnes' Beschwerde mit gelassener Gleichgül-
tigkeit anhörte. »Die Versetzung wurde aus gutem
Grund abgelehnt.«

»Aus welchem Grund?« wollte Glinnes wissen.

»Ich bin doch gewiß nicht unersetzlich für den Be-
stand der Schwadron?«

»Durchaus nicht. Wir wünschen jedoch nicht, eine

glatt funktionierende Organisation durcheinanderzu-
bringen.« Er rückte einige Papiere auf seinem
Schreibtisch zurecht und lehnte sich dann in seinem
Stuhl zurück. »Unter uns – es heißt, daß wir bald ein
größeres Unternehmen starten.«

»Wirklich? Und gegen wen?«
»Was das betrifft, so kann ich auch nur raten. Ha-

ben Sie schon einmal von den Tamarcho gehört?«

»Ja, natürlich. Ich habe in einer Zeitschrift etwas

über sie gelesen: ein Kult fanatischer Krieger auf einer
Welt, deren Namen mir im Augenblick nicht einfällt.
Anscheinend morden und zerstören sie aus reinem
Vernichtungswillen, oder so ähnlich.«

»Nun, dann wissen Sie soviel wie ich«, sagte der

Kommandant, »außer, daß die Welt Rhamnotis heißt,
und daß die Tamarcho bereits einen ganzen Distrikt
dem Erdboden gleichgemacht haben. Ich nehme des-
halb an, daß wir als nächstes auf Rhamnotis einge-
setzt werden.«

»Das wäre eine Erklärung«, meinte Glinnes. »Und

was wissen wir über Rhamnotis? Eine finstere Wü-
stenwelt oder so?«

»Ganz im Gegenteil.« Der Kommandant schwang

auf seinem Sessel herum und drückte einige Schalt-
knöpfe; ein Bildschirm leuchtete auf, und eine Stim-

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me sagte: »Alastor 965, Rhamnotis. Die physischen
Daten...« Der Sprecher las eine Reihe von Zahlen her-
unter, die die Masse, Größe, Schwerkraft, atmosphä-
rischen und klimatischen Bedingungen des Planeten
angaben, während auf dem Schirm eine Merkator-
Projektion seiner Oberfläche gezeigt wurde. Der
Kommandant berührte wieder eine Taste, so daß die
historischen und anthropologischen Angaben über-
sprungen wurden, und ließ die sogenannten inoffizi-
ellen Informationen ablaufen: »Rhamnotis ist eine
Welt, auf der jede Handlung, jeder Gegenstand, jede
Institution zur Gesundheit und zum Wohlbefinden
ihrer Bewohner beitragen. Die ursprünglichen Sied-
ler, die von der Welt Triskelion kamen, beschlossen,
nie wieder solche häßlichen und lebensfeindlichen
Umstände zu dulden, wie sie sie hinter sich gelassen
hatten, und schlossen zu diesem Zweck einen feierli-
chen Vertrag, der jetzt das wichtigste Dokument auf
Rhamnotis darstellt und Gegenstand fast kultischer
Verehrung geworden ist.

Heute sind die üblichen Nachteile und Mißstände

einer Zivilisation – Zwist, Schmutz, Müll, Verstädte-
rung – nahezu aus dem Gedächtnis der Bevölkerung
verschwunden. Rhamnotis ist gegenwärtig eine Welt,
die sich ausgezeichneter Verwaltung erfreut, und auf
der das Beste schon zur Norm geworden ist. Soziale
Mißstände sind unbekannt; Armut ist nicht mehr als
ein exotisches Wort. Die Arbeitswoche hat zehn
Stunden, und jedes Mitglied der Bevölkerung leistet
seinen Teil; seine überschüssige Energie widmet der
Rhamnoter Karnevalsumzügen und Märchenspielen,
die Touristen von den entferntesten Welten anziehen.
Die Küche ist zu den besten des Sternhaufens zu

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zählen. Strände, Wälder, Seen und Berge bieten eine
unvergleichliche Erholungslandschaft. Hussade ist
ein Publikumssport, obwohl die einheimischen
Mannschaften in den Alastor-Ausscheidungen nie be-
sonders hervorgetreten sind.«

Der Kommandant drückte auf eine weitere Taste;

der Sprecher sagte: »In den letzten Jahren hat ein Kult
namens Tamarcho von sich reden gemacht. Die Prin-
zipien der Tamarcho sind unklar und scheinen von
Person zu Person verschieden zu sein. Ganz allge-
mein befassen sich die Tamarchisten mit sinnloser
Gewalt, Zerstörung und Verschmutzung. Sie haben
hunderte Hektar unberührten Waldes verbrannt; sie
verschmutzen Seen, Reservoirs und Brunnen mit Ka-
davern, Müll und Rohöl; sie haben Wildtränken in
Naturparks vergiftet und Giftköder für Vögel und
Haustiere ausgelegt. Sie werfen Exkremente in festli-
che Menschenmengen und urinieren von Türmen auf
die Leute unten. Sie verehren das Abstoßende und
nennen sich auch selbst die ›Häßlichen‹.«

Der Kommandant schaltete den Bildschirm ab. »So

steht die Sache also. Die Tamarchisten haben ein
Stück Land besetzt und wollen nicht abziehen; an-
scheinend haben die Rhamnoter den Whelm zu Hilfe
gerufen. Trotzdem, Genaueres wissen wir noch nicht;
wir könnten ebensogut auf die Breakneck-Insel ge-
schickt werden, um die Prostituierten zu vertrei-
ben...«

Die übliche Strategie des Whelm, die sich in zehntau-
senden Unternehmungen bewährt hatte, bestand
darin, mit einer so übermächtigen Streitmacht anzu-
rücken, daß der Gegner von vornherein einge-

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schüchtert war und die sichere Niederlage vor sich
sah. In den meisten Fällen verflüchtigte sich jeder
Widerstand, so daß es gar nicht erst zu Kampfhand-
lungen kam. Um den Verrückten König Zag von der
Grauen Welt, Alastor 1740, zu unterwerfen, postierte
der Whelm tausend Tyrant-Schlachtschiffe über der
Schwarzen Metropole, die fast die Sonne verdunkel-
ten. Schwadronen von Vavarangi- und Stinger-
Booten schwebten darunter in konzentrischen Mu-
stern, und in noch geringerer Höhe schossen Kampf-
boote hin und her wie Hornissen. Am fünften Tag
landete eine schwerbewaffnete Streitmacht von
zwanzig Millionen Mann und stellte König Zags ent-
setzte Miliz kalt, die schon lange vorher jeden Ge-
danken an Widerstand aufgegeben hatte.

Mit derselben Taktik hoffte man das Problem der

Tamarchisten möglichst rasch zu bereinigen. Vier
Flottillen von Tyrant-Schiffen und Zerstörern tauch-
ten blitzartig aus vier verschiedenen Richtungen über
den Silbernen Bergen auf, wo die Häßlichen sich ein-
genistet hatten. Bodenbeobachter meldeten keinerlei
nennenswerte Reaktion der Tamarchisten.

Die Tyrant-Schlachtschiffe sanken tiefer herunter,

und die ganze Nacht lang war der Himmel von dem
Netz ihrer bösartig knisternden, blauen Feuerstrahlen
überzogen. Als der Morgen anbrach, hatten die Ta-
marchisten ihre Lager abgebrochen und waren nicht
mehr zu sehen. Die Bodenbeobachter meldeten, daß
sie sich in die Wälder zurückgezogen hätten.

Monitorkapseln überflogen das Gebiet, und dröh-

nende Lautsprecherstimmen befahlen den Häßlichen,
Gruppen zu bilden, in einen nahegelegenen Kurort
zu marschieren und sich dort zu ergeben. Die einzige

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Antwort war, daß einige Heckenschützen das Feuer
auf die Kapseln eröffneten.

Mit bedrohlicher Unaufhaltsamkeit gingen die Ty-

rants tiefer. Die Monitorkapseln gaben ein neues Ul-
timatum bekannt: Ergebt euch, oder wir greifen an.
Die Tamarchisten reagierten nicht darauf.

Sechzehn gepanzerte Himmelsforts landeten auf

einer Bergwiese, um die Umgebung für eine Trup-
penlandung abzusichern. Sie zogen nicht nur das
Feuer von kleineren Waffen auf sich, sondern auch
die Energiestöße von etlichen veralteten blauen
Strahlern. Um nicht eine unbekannte Anzahl von
Verrückten einfach niedermachen zu müssen, stiegen
die Himmelforts wieder auf.

Der Kommandeur des Unternehmens war mehr

verblüfft als wütend und beschloß, die Silbernen Ber-
ge durch Fußtruppen abzuriegeln, um die Häßlichen
auszuhungern.

Zweitausendzweihundert Landeboote, darunter

Nr. 191–539 unter dem Kommando von Glinnes Hul-
den, kamen herunter und schlossen die Tamarchisten
in ihren gebirgigen Schlupfwinkeln ein. Wo es das
Gelände erlaubte, stießen die Truppen vorsichtig die
Täler aufwärts vor, nachdem Kampfboote vorausge-
flogen waren, um etwaige Heckenschützen zu erledi-
gen. Es gab einige Verluste, deshalb zog der Kom-
mandeur seine Leute aus allen Beschußzonen wieder
zurück, da die Tamarcho schließlich keine unmittel-
bare Gefahr darstellten.

Die Belagerung dauerte einen Monat. Beobachter

meldeten, daß den Tamarchisten der Proviant aus-
ging, daß sie Rinde, Insekten, Blätter oder was sie
sonst finden konnten, aßen.

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Der Kommandeur ließ nochmals Monitorkapseln

über das Gebiet ausschwärmen und eine ordentliche
Kapitulation verlangen. Die Tamarchisten antworte-
ten mit einer Reihe von Ausbruchversuchen, die je-
doch zurückgeschlagen wurden und ihnen beträchtli-
che Verluste zufügten.

Der Kommandeur schickte nun noch einmal die

Monitoren aus und drohte mit dem Einsatz von
Schmerzgas, falls die Kapitulation nicht binnen sechs
Stunden erfolgte. Die gestellte Frist lief ergebnislos
aus. Vavarangi-Boote schossen herunter und bom-
bardierten die Schlupfwinkel mit Schmerzgas-
Kanistern. Würgend, zuckend und zusammenge-
krümmt wälzten sich die Tamarchisten aus ihren
Verstecken. Der Kommandeur ließ einen ›Truppenre-
gen‹ von hunderttausend Mann niedergehen, und
nach einigen kurzen, heftigen Schußwechseln war die
Gegend gesäubert. Die gefangenen Tamarchisten
zählten weniger als zweitausend Personen beiderlei
Geschlechts. Glinnes stellte erstaunt fest, daß manche
kaum mehr als Kinder waren und wenige älter als er.
Sie hatten keine Munition mehr, keine Energieversor-
gung, keine Lebensmittel und medizinischen Vorräte.
Sie schnitten Grimassen und spuckten die Whelm-
Soldaten an – ›Häßliche‹ waren sie wirklich. Glinnes
Erstaunen wuchs. Was hatte diese jungen Leute dazu
bewegt, für eine so offensichtlich verlorene Sache so
fanatisch zu kämpfen? Was hatte sie überhaupt erst
dazu gebracht, ›Häßliche‹ zu werden? Warum hatten
sie soviel Schönes zerstört und beschmutzt, ruiniert
und vergiftet?

Glinnes versuchte, einen Gefangenen auszufragen,

doch der gab vor, seinen Dialekt nicht zu verstehen.

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Kurz darauf erhielt Glinnes Befehl, mit seinem Boot
wieder zu starten.

Glinnes kehrte zum Stützpunkt zurück. Als er seine
angesammelte Post abholte, fand er einen Brief von
Shira, der traurige Nachricht enthielt. Jut Hulden war
einmal zu oft Merlinge jagen gegangen und war in
eine schlau angelegte Falle geraten. Bevor Shira ihm
zu Hilfe kommen konnte, war Jut ins Farwan-
Gewässer gezerrt worden.

Die Nachricht rief in Glinnes eine seltsame Bestür-

zung hervor. Er konnte sich kaum vorstellen, daß es
in den umwandelbaren, zeitlosen Fens Veränderun-
gen gab, so einschneidende noch dazu.

Shira war jetzt Squire von Rabendary. Glinnes

fragte sich, welche weiteren Veränderungen die Zu-
kunft bringen mochte. Vermutlich keine – Shira hatte
für Neuerungen nicht viel übrig. Er würde eine Frau
heimbringen und eine Familie gründen; das zumin-
dest stand ziemlich fest – früher oder später kam es
dazu. Glinnes überlegte, wer wohl den untersetzten,
kahl werdenden Shira mit den roten Backen und der
plumpen Nase heiraten würde. Selbst als Hussade-
spieler hatte Shira es schwer gehabt, die Mädchen in
schattige Eckchen zu locken, denn während Shira sich
selbst für einen netten, einfachen Kerl hielt, fanden
die anderen ihn derb, lüstern und wichtigtuerisch.

Glinnes begann immer öfter an seine Kindheit zu-

rückzudenken. Er erinnerte sich an die dunstigen
Morgen, die festlichen Abende, die Sternenschau. Er
erinnerte sich an gute Freunde und ihre verrückten
Gewohnheiten; er dachte an den Rabendary-Wald –
die dunklen Menas, die emporragten über die rötli-

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chen Pomanderbäume, die silbriggrünen Birken, die
dunkelgrünen Stachelnußbäume. Er erinnerte sich an
den Schimmer, der über dem Wasser hing und die
Umrisse ferner Küsten verwischte; er dachte an das
heruntergekommene alte Heim seiner Familie und
merkte schließlich, daß er fürchterlich Heimweh hat-
te.

Zwei Monate später, nach vollen zehn Jahren in

Whelm, quittierte er den Dienst und kehrte nach
Trullion zurück.

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KAPITEL 4

Glinnes hatte durch einen Brief seine Ankunft ange-
kündigt, aber als er in Port Maheul in der Präfektur
Staveny an Land ging, war niemand von seiner Fa-
milie da, um ihn willkommen zu heißen, was er
ziemlich seltsam fand.

Er brachte sein Gepäck auf die Fähre und suchte

sich einen Platz auf dem Oberdeck, um die vorbeizie-
hende Landschaft zu beobachten. Wie ungebunden
und fröhlich die Menschen in ihren Parays aussahen,
scharlachfarbene, blaue und ockergelbe bewegte
Flecken! Glinnes fühlte sich in seiner halbmilitäri-
schen Kleidung – schwarzer Jacke und beigefarbenen
Hosen, die in schwarze Stiefel gesteckt waren – be-
engt und unzufrieden. Hoffentlich würde er das Zeug
nie wieder anziehen müssen!

Endlich legte das Fährboot am Landesteg in Wel-

gen an. Ein verführerischer Duft streifte Glinnes' Na-
se, und er folgte ihm zu einem nahegelegenen Fisch-
bratstand, wo er sich eine Portion gedämpfte Schilf-
früchte und ein Stück gegrillten Aal kaufte. Schon
beim Anlandgehen hatte er Ausschau nach Shira oder
Glay oder Marucha gehalten, aber er erwartete nicht
mehr, sie tatsächlich hier zu finden. Eine Gruppe
Fremdweltler erregte seine Aufmerksamkeit: drei
junge Männer, die uniformähnlich gekleidet waren –
ordentliche graue Overalls mit einem Gürtel, hoch-
glanzgewichste schwarze Schuhe – und drei junge
Frauen, die ziemlich streng wirkende Kleider aus
grobem weißen Stoff trugen. Männer wie Frauen
hatten sehr kurz geschnittenes Haar, was recht apart

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wirkte, und trugen kleine Plaketten an der linken
Schulter. Sie kamen dicht an Glinnes vorbei, und er
erkannte, daß es gar keine Fremdweltler waren, son-
dern Trills... Zöglinge eines spartanischen Internats?
Angehörige eines religiösen Ordens? Beides war
möglich, denn sie hatten Bücher und Handrechner
bei sich und schienen in eine ernsthafte Unterhaltung
vertieft zu sein. Glinnes musterte die Mädchen ge-
nauer. Irgend etwas, überlegte er, machte sie seltsam
unattraktiv, aber er kam nicht gleich darauf, was es
war. Das durchschnittliche Trillmädchen zog an, was
gerade bei der Hand war, ohne sich sonderlich Ge-
danken darüber zu machen, ob es zerknittert oder fa-
denscheinig oder schmutzig war, und schmückte sich
dann mit Blumen. Diese Mädchen aber wirkten nicht
nur sauber und ordentlich, sondern richtiggehend
penibel. Zu sauber, zu ordentlich... Glinnes zuckte die
Achseln und kehrte auf die Fähre zurück.

Das Boot tuckerte weiter ins Herz der Fens hinein,

Wasserstraßen entlang, in denen der dumpfe Geruch
stehender Gewässer, verrottender Schilfstengel und
nasser Moorerde Glinnes heimatlich um die Nase
strich. Hin und wieder machte sich auch die Andeu-
tung eines stechenden Gestanks bemerkbar, der die
Nähe eines Merlings verriet. Vorne tauchte nun die
Ripil-Bucht auf, und eine Ansammlung von Hütten,
Saurkash, wurde sichtbar. Das war für Glinnes die
Endstation; von hier bog die Fähre nach Norden zu
den Dörfern auf der Großen Ratteninsel ab. Glinnes
brachte seine Koffer auf den Landesteg und schaute
sich im Dorf um.

Das auffallendste Merkmal war das Hussade-Feld

mit der alten, verwitterten Zuschauertribüne, einst

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das Heimstadion der Saurkash-Schlangen. Gleich da-
neben lag der Magische Fisch, die gemütlichste der
drei Kneipen von Saurkash. Er ging am Pier entlang
zu der Bude, wo zehn Jahre zuvor Milo Harrad Boote
vermietet und einen Wassertaxidienst betrieben hatte.

Harrad war nicht zu sehen. Ein junger Mann, den

Glinnes nicht kannte, hielt im Schatten ein Nicker-
chen.

»Guten Tag, mein Freund«, sagte Glinnes, worauf

der junge Mann aufwachte und sich mit einem Blick
milden Vorwurfs Glinnes zuwandte. »Können Sie
mich zur Rabendary-Insel bringen?«

»Wann immer Sie wollen.« Der junge Mann mu-

sterte Glinnes von oben bis unten und erhob sich trä-
ge. »Sie müssen Glinnes Hulden sein, wenn ich mich
nicht irre.«

»Stimmt. Aber ich erinnere mich nicht an Sie.«
»Wie könnten Sie auch? Ich bin der Neffe des alten

Harrad von Voulash. Die Leute nennen mich hier
Jung Harrad, und ich vermute, diesen Namen werde
ich für den Rest meines Lebens behalten. Ich weiß
noch recht gut, wie Sie für die Schlangen spielten.«

»Das ist etliche Zeit her. Sie müssen ein gutes Ge-

dächtnis haben!«

»So gut auch wieder nicht. Die Huldens hatten

immer etwas für Hussade übrig. Der alte Harrad hat
sehr oft von Jut erzählt, dem besten Stürmer, den es
in Saurkash je zu sehen gab – das behauptete der alte
Milo wenigstens. Shira war wohl ein ganz guter Ver-
teidiger, aber langsam beim Springen. Ich glaube
nicht, daß ich je einen guten Überschwung von ihm
gesehen habe.«

»Eine recht zutreffende Beurteilung.« Glinnes

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blickte die Wasserstraße entlang. »Ich hatte eigentlich
erwartet, daß er oder mein Bruder Glay mich hier ab-
holt. Aber vermutlich hatten sie Besseres zu tun.«

Jung Harrad warf ihm einen zögernden Blick zu,

zuckte dann die Achseln und holte eines seiner
schlanken, grünweißen Boote an den Steg. Glinnes
lud sein Gepäck ein, und sie fuhren los, die Mellish-
Straße nach Osten.

Nach einer Weile räusperte sich Jung Harrad. »Sie

dachten also, daß Shira Sie abholen würde?«

»Ja, eigentlich schon.«
»Dann haben Sie also das von Shira nicht gehört?«
»Was ist ihm denn zugestoßen?«
»Er ist verschwunden.«
»Verschwunden?« Glinnes schaute sich mit offe-

nem Mund um. »Wohin?«

»Das weiß keiner. Höchstwahrscheinlich in die

Speisekammer der Merlinge. Die meisten Leute, die
verschwinden, landen ja dort.«

»Wenn sie nicht auf Besuch bei Freunden sind.«

*

»Zwei Monate lang? Shira war ein berüchtigter

Bock, hab ich gehört, aber ein Cauch-Trip von zwei
Monaten wäre wohl sehr ungewöhnlich.«

Glinnes gab einen niedergeschlagenen Knurrlaut

von sich und wandte sich ab, da ihm jede Lust zur
Unterhaltung vergangen war. Jut fort, Shira fort –
seine Heimkehr würde ziemlich trübselig werden.
Die Landschaft, die immer vertrauter wurde, immer
mehr Erinnerungen weckte, verstärkte jetzt nur noch
seine Bedrückung. Rechts und links glitten Inseln

*

Auf Besuch bei Freunden: ein Euphemismus für cauch-trunkene
Liebende, die sich in der Wildnis herumtreiben.

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vorüber, die er gut kannte: die Jurzy-Insel, wo die
Jurzy-Blitze, seine erste Mannschaft, immer trainiert
hatten; Calceon-Eiland, wo die süße Loel Issam sich
für seine heißesten Liebesbeteuerungen taub gezeigt
hatte...

Später war sie Sheirl der Gaspar-Triptanen gewor-

den und hatte dann, nach ihrer Entehrung, Lord Clois
von Graven Table geheiratet, einem Hochland im
Norden der Fens... Erinnerungen wirbelten in seinen
Gedanken auf, und er fragte sich, warum er die Fens
jemals verlassen hatte. Die zehn Jahre im Whelm er-
schienen ihm jetzt nur mehr wie ein Traum.

Das Boot glitt hinaus in die See-Bucht. Im Süden,

rund eine Meile entfernt, lag die Nahe Insel, dahinter,
etwas breiter und höher, die Mittelinsel, und noch
weiter dahinter die Ferne Insel, drei durch den Was-
serdunst zunehmend stärker verwischte Silhouetten
hintereinander, deren letzte, die Ferne Insel, sich
kaum mehr vom blassen südlichen Horizont abhob.

Das Boot bog nun in das schmale Athenry-

Gewässer ein, einen ruhigen Wasserweg, über dem
Stillbeerenbäume zu einem Tunneldach zusammen-
wuchsen. Der Geruch von Merlingen lag spürbar
über den dunklen Buchten, und Harrad und Glinnes
hielten beide Ausschau nach einem verdächtigen
Kräuseln der Oberfläche. Aus Gründen, die ihnen
selbst wohl am besten bekannt waren, hielten sich die
Merlinge gern im Athenry-Gewässer auf – vielleicht
wegen der Stillbeeren, die für Menschen giftig waren,
vielleicht wegen des Schattens, oder vielleicht be-
hagte ihnen das Aroma der Stillbeerwurzeln im Was-
ser. Die Wasserfläche blieb jedoch glatt und ruhig;
wenn Merlinge in der Nähe waren, blieben sie in ih-

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ren Höhlen. Das Boot erreichte nun die Mündung zur
Fleharish-Bucht. Auf den Fünf Inseln im Süden be-
fand sich der alte Herrensitz von Thammas Lord
Gensifer. Nicht weit davon entfernt schoß ein Segel-
boot auf Tragflächen quer über die Bucht; Lord Gen-
sifer selbst saß an der Ruderpinne: ein jovialer, rund-
gesichtiger Mann, der zehn Jahre älter als Glinnes
war, breite Schultern und eine stämmige Brust, doch
ziemlich dünne Beine besaß. Er machte eine ge-
schickte Wende, brauste heran, bis er sich neben Har-
rads Boot befand, und ließ das Segel in den Wind
drehen. Das Boot tauchte die Tragflügel ein und
schaukelte flach auf dem Wasser. »Also das ist doch
bestimmt der junge Glinnes Hulden, zurück von sei-
nen Sternenfahrten!« rief Lord Gensifer. »Willkom-
men daheim in den Fens!«

Glinnes und Harrad standen beide auf und grüß-

ten, wie es einem Lord von Gensifers Stellung ge-
bührte.

»Danke«, sagte Glinnes. »Ich bin wirklich froh,

wieder daheim zu sein.«

»Es geht doch nichts über die Fens! Nun, und was

haben Sie für Pläne für zu Hause?«

Die Frage verwirrte Glinnes. »Pläne? Nichts Be-

stimmtes eigentlich... Sollte ich Pläne haben?«

»Ich dächte schon. Schließlich sind Sie jetzt Squire

von Rabendary.«

Glinnes blinzelte über das Wasser in Richtung der

Insel Rabendary. »Das bin ich wohl, wenn Shira
wirklich tot ist. Ich bin um eine Stunde älter als
Glay.«

»Ist nur begrüßenswert, wenn Sie meine Meinung

hören wollen... A – hm. Na, Sie werden schon selbst

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noch sehen.« Lord Gensifer holte die Schot ein. »Wie
steht's mit Hussade? Was halten Sie von dem neuen
Verein? Wir hätten natürlich gern einen Hulden in
der Mannschaft.«

»Ich weiß noch nichts davon, Lord Gensifer. All die

Veränderungen daheim haben mich noch gar nicht
zur Besinnung kommen lassen.«

»Nun, kommt Zeit, kommt Rat.« Lord Gensifer

luvte an; der Bootsrumpf schnellte vorwärts, hob sich
auf die Tragflächen und zischte atemberaubend
schnell über die Fleharish-Bucht davon.

»Das ist ein Sport«, bemerkte Jung Harrad voll

Neid. »Er hat sich das Ding von Illucante liefern las-
sen, von der Inter-Welt. Man denke bloß, wieviele
Ozols ihn das gekostet haben muß!«

»Kommt mir ziemlich gefährlich vor«, sagte Glin-

nes. »Wenn er kentert, ist er mit den Merlingen hier
draußen alleine.«

»Lord Gensifer ist eben ein tollkühner Bursche«,

sagte Harrad. »Übrigens heißt es, daß das Boot
durchaus sicher ist. Es kann vor allem nicht sinken,
auch wenn es mal umschlägt. Er könnte auf dem
Rumpf sitzen bleiben, bis ihn jemand auffischt.«

Sie querten die Fleharish-Bucht und bogen in das

Ilfisch-Gewässer ein, an dessen linkem Ufer das Prä-
fektur-Freiland lag – eine zweihundert Hektar große
Insel, die allen Wanderern und Fremden offenstand,
den Trevanyi, Wrye, oder Leuten, die ›auf Besuch bei
Freunden‹ waren. Nun fuhr das Boot in die Ambal-
Bucht ein, und gleich darauf tauchte vor ihnen der
vertraute Umriß der Insel Rabendary auf: Daheim!
Glinnes mußte blinzeln, weil ihm jetzt doch die Au-
gen feucht wurden. Eine traurige Heimkehr war es

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schon. Die Insel Ambal war noch schöner als in der
Erinnerung. Als er zu dem alten Herrenhaus hin-
überblickte, glaubte Glinnes, dünnen Rauch aus ei-
nem der Kamine aufsteigen zu sehen. Ein verrückter
Gedanke kam ihm, der jedoch Lord Gensifers seltsa-
me Bemerkung erklären würde. War Glay ins Her-
renhaus übergesiedelt? Lord Gensifer würde ein sol-
ches Verhalten lächerlich und verurteilenswert finden
– ein vulgärer Versuch, Höherstehende nachzuäffen.

Das Boot legte am Steg von Rabendary an; Glinnes

hievte sein Gepäck heraus und bezahlte Jung Harrad.
Betroffen starrte er zum Haus hinüber. War es immer
so stark verfallen gewesen? Hatte das Unkraut immer
so dicht gestanden? Ein gewisses Maß an Verwahrlo-
sung schätzten die Trills als gemütlich, aber das alte
Haus war über diesen Zustand längst hinaus. Als er
die Stufen zur Veranda hinaufstieg, knarrten und
ächzten sie unter seinem Gewicht.

Ein paar Flecken Farbe erregten seine Aufmerk-

samkeit, drüben auf der Wiese nahe am Waldrand.
Glinnes blinzelte und spähte scharf hinüber. Drei
Zelte: rot, schwarz, dumpf orangefarben. Trevanyi-
Zelte. Glinnes schüttelte verärgert den Kopf. Er war
anscheinend nicht zu früh heimgekehrt. »Hallo, im
Haus da! Ist niemand hier?«

Die schlanke, hochgewachsene Gestalt seiner Mut-

ter erschien in der Türöffnung. Sie starrte ihn ungläu-
big an, lief dann ein paar Schritte auf ihn zu. »Glin-
nes! Wie seltsam, dich wieder hier zu sehen!«

Glinnes umarmte und küßte sie, ohne sich über ih-

re Bemerkung zu wundern. »Ja, ich bin wieder da-
heim, und mir kommt's auch seltsam vor. Wo ist
denn Glay?«

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»Er ist mit einigen Kameraden unterwegs. Aber

wie gut du aussiehst! Du bist zu einem prächtigen
Mann herangewachsen!«

»Und du hast dich nicht um ein Haar verändert; du

bist immer noch meine bildschöne Mutter.«

»Ach Glinnes, du Schmeichler, ich fühle mich alt

wie die Berge und sehe bestimmt auch so aus... Ich
nehme an, du hast die traurige Nachricht bekom-
men?«

»Wegen Shira? Ja. Es betrübt mich schrecklich.

Weiß denn keiner, was wirklich passiert ist?«

»Man weiß überhaupt nichts«, sagte Marucha

ziemlich steif. »Aber setz dich doch, Glinnes; zieh
diese hübschen Stiefel aus und laß deine Füße ausru-
hen. Möchtest du einen Becher Apfelwein?«

»Sehr gerne, und etwas zu essen, was gerade bei

der Hand ist. Ich bin halb verhungert.«

Marucha brachte Wein, Brot, ein kaltes Hack-

fleischgericht, Obst und Meerpudding. Sie setzte sich
und schaute ihm beim Essen zu. »Es freut mich, dich
wiederzusehen. Was für Pläne hast du nun?«

Glinnes fand, daß ihre Stimme einen kaum wahr-

nehmbaren, kühlen Unterton hatte. Aber Marucha
war eigentlich nie besonders herzlich gewesen. Er
antwortete: »Ich habe überhaupt keine Pläne; ich ha-
be von Shiras Schicksal erst von Jung Harrad gehört.
Er hat also nie geheiratet?«

Marucha preßte mißbilligend die Lippen zusam-

men. »Er konnte sich nie recht entschließen... Er hatte
natürlich da und dort Freundinnen.«

Wieder fühlte Glinnes, daß manches unausgespro-

chen blieb, Dinge, über die seine Mutter anscheinend
nicht zu sprechen wünschte. Eine leichte Verstim-

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mung begann sich in ihm bemerkbar zu machen, aber
er unterdrückte sie sofort. Es war nicht gut, einen
neuen Lebensabschnitt mit Groll im Herzen zu be-
ginnen.

Marucha fragte ihn unvermittelt in munterem, et-

was sprödem Ton:

»Aber wo ist deine Uniform? Ich hätte dich so gern

als Offizier des Whelm gesehen.«

»Ich habe den Dienst quittiert. Ich will jetzt zu

Hause bleiben.«

»Oh.« Maruchas Stimme war tonlos. »Natürlich

freuen wir uns, dich wieder daheim zu haben, aber
hältst du es für klug, deine Karriere aufzugeben?«

»Ich habe sie schon aufgegeben.« Trotz seiner gu-

ten Vorsätze war Glinnes' Stimme jetzt ein wenig
schärfer geworden.

»Ich werde hier nötiger gebraucht als im Whelm.

Unser altes Heim verfällt ja völlig. Unternimmt Glay
denn überhaupt nichts dagegen?«

»Er war so beschäftigt mit... nun, mit seinen Ange-

legenheiten. In gewisser Weise ist er jetzt eine wichti-
ge Persönlichkeit geworden.«

»Das sollte ihn nicht davon abhalten, die Stufen zu

reparieren. Sie faulen einem ja unter den Füßen weg...
Oder – ich habe auf Ambal Rauch bemerkt. Lebt Glay
jetzt am Ende drüben?«

»Nein. Wir haben die Ambal-Insel verkauft, an ei-

nen von Glays Freunden.«

Glinnes fuhr betroffen auf. »Ihr habt die Ambal-

Insel verkauft? Aus welchem Grund nur...« Er suchte
sich zu fassen. »Shira hat die Insel verkauft?«

»Nein«, sagte Marucha kühl. »Glay und ich haben

beschlossen, uns davon zu trennen.«

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»Aber...« Glinnes unterbrach sich und wählte seine

Worte mit Bedacht. »Ich habe bestimmt nicht die Ab-
sicht, mich von der Ambal-Insel zu trennen – oder
von sonst einem Teil unseres Landes.«

»Leider ist der Verkauf nun schon durchgeführt

worden. Wir nahmen an, daß du deine Laufbahn im
Whelm verfolgen und nicht so bald heimkommen
würdest. Natürlich hätten wir deine Einstellung be-
rücksichtigt, hätten wir davon gewußt.«

Glinnes bemühte sich, höflich zu bleiben. »Ich bin

entschieden dafür, daß wir den Vertrag annullieren.

*

Wir wollen doch Ambal nicht verlieren.«

»Aber mein lieber Glinnes, wir haben es bereits

aufgegeben.«

»Nicht, wenn wir das Geld zurückgeben. Wo ist

es?«

»Danach wirst du Glay fragen müssen.«
Glinnes dachte an den sardonischen Glay von vor

zehn Jahren, der nie Interesse für die Angelegenheit
von Rabendary gezeigt hatte. Daß Glay nun auf ein-
mal solche schwerwiegenden Entscheidungen traf,
erschien Glinnes unverständlich und seinem Vater Jut
gegenüber pietätlos, denn dieser hatte jeden Qua-
dratmeter seines Bodens geliebt.

Glinnes fragte: »Wieviel habt ihr für Ambal be-

kommen?«

»Zwölftausend Ozols.«
Mit vor Ärger heiserer Stimme rief Glinnes: »Das

ist verschenkt! Ein so herrliches Fleckchen wie die

*

Nach Trill-Gesetz gilt der Kaufvertrag für ein Grundstück ein
Jahr lang nur provisorisch, und beide Parteien können ihn wider-
rufen.

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Ambal-Insel, und das Herrenhaus ist überdies in gu-
tem Zustand! Irgend jemand hat hier den Verstand
verloren!«

Maruchas schwarze Augen blitzten. »Du hast gar

kein Recht, dich zu beschweren. Du warst nicht hier,
als wir dich brauchten, also gehört es sich nicht, daß
du jetzt zu nörgeln anfängst.«

»Ich werde mehr tun als nörgeln; ich werde den

Vertrag annullieren. Wenn Shira tot ist, bin ich Squire
von Rabendary, und niemand sonst ist berechtigt,
Grund zu verkaufen.«

»Aber wir wissen nicht, ob Shira tot ist«, stellte Ma-

rucha mit freundlicher Überlegenheit fest. »Er könnte
nur auf Besuch bei Freunden sein.«

Glinnes fragte höflich: »Kennst du jemand von die-

sen ›Freunden‹?«

Marucha hob verächtlich die Schultern. »Kaum.

Aber du weißt ja, wie Shira immer war. Er hat sich
nicht verändert.«

»Nach zwei Monaten sollte er von seinem Besuch

wohl zurück sein.«

»Wir hoffen natürlich, daß er noch lebt. Tatsächlich

können wir ihn erst nach vier Jahren für tot ansehen,
wie es das Gesetz bestimmt.«

»Aber dann ist der Vertrag längst gültig geworden!

Warum sollten wir irgendeinen Teil unseres Landes
hergeben?«

»Wir haben das Geld gebraucht. Ist das nicht

Grund genug?«

»Ihr habt Geld wofür gebraucht?«
»Diese Frage mußt du Glay stellen.«
»Das werde ich tun. Wo ist er?«
»Ich weiß es wirklich nicht. Vermutlich wird er

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bald heimkommen.«

»Etwas anderes: sind das Trevanyi-Zelte drüben

beim Wald?«

Marucha nickte. Mittlerweile versuchte keiner von

beiden mehr, sich um Freundlichkeit zu bemühen.
»Bitte kritisiere nicht mich oder Glay. Shira hat sie
herkommen lassen, und sie haben auch keinen Scha-
den angerichtet.«

»Vielleicht nicht, aber das wird schon noch kom-

men. Du weißt recht gut, wie es uns das letztemal mit
Trevanyi erging. Sie haben das Küchenbesteck ge-
stohlen.«

»Die Drossets sind nicht so«, sagte Marucha. »Für

Trevanyi scheinen sie ganz anständig zu sein. Gewiß
sind sie so ehrlich, wie sie es sich leisten können.«

Glinnes hob erbittert die Hände. »Es hat keinen

Sinn, sich zu streiten. Aber wegen Ambal möchte ich
noch etwas sagen. Shira hätte bestimmt nie gewollt,
daß die Insel verkauft wird. Wenn er noch lebt, so
habt ihr ohne seine Zustimmung gehandelt. Ist er tot,
dann habt ihr ohne meine verkauft, und ich bestehe
darauf, daß wir den Vertrag annullieren.«

Marucha hob kühl die zarten, weißen Schultern.

»Das ist eine Angelegenheit, die du mit Glay regeln
mußt. Ich möchte wirklich nichts damit zu schaffen
haben.«

»Wer hat die Insel Ambal gekauft?«
»Ein Mann namens Lute Casagave, ein ruhiger und

vornehmer Mensch. Ich glaube, er ist ein Fremdwelt-
ler; für einen Trill ist er viel zu weltgewandt.«

Glinnes beendete seine Mahlzeit und ging dann zu

seinem Gepäck. »Ich habe ein paar Kleinigkeiten mit-
gebracht.« Er reichte seiner Mutter ein Päckchen; sie

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nahm es wortlos. »Mach es auf«, sagte Glinnes. »Es ist
für dich.«

Sie löste die Schnur und zog ein Stück purpurnen

Stoff aus der Umhüllung, der mit grünen, silbernen
und goldenen Stickereien, phantastischen Vögeln, ge-
schmückt war. »Wie herrlich!« Sie seufzte tief. »Also
Glinnes, das ist ein wundervolles Geschenk!«

»Das ist nicht alles«, sagte Glinnes. Er holte weitere

Päckchen hervor, die Marucha begeistert öffnete. Im
Gegensatz zu den meisten Trills fand sie Gefallen am
Besitz schöner Dinge.

»Das sind Sternkristalle«, sagte Glinnes. »Sie haben

keinen anderen Namen, soviel ich weiß; sie werden
genauso, mit Facetten und allem, im Staub toter Ster-
ne gefunden. Nichts kann sie ritzen, nicht einmal ein
Diamant, und sie haben sonderbare optische Eigen-
schaften.«

»Oh, wie schwer sie sind!«
»Das hier ist eine antike Vase, keiner weiß, wie alt

sie wirklich ist. Die Schrift auf dem Boden soll erdisch
sein.«

»Sie ist bezaubernd!«
»Nun, dies hier ist nichts Besonderes, es hat mir

einfach gefallen – ein Nußknacker in Form eines Urt-
land-Gabelkäfers. Ehrlich gestanden, ich hab's bei ei-
nem Trödler gefunden.«

»Aber wirklich hübsch. Zum Nüsseknacken, sagst

du?«

»Ja. Man legt die Nuß zwischen diese Klauen und

drückt den Gabelschwanz zusammen... Die hier wa-
ren für Glay und Shira gedacht – Messer aus Pro-
teum. Die Schneide besteht aus einer einzelnen Mole-
külkette – absolut unzerstörbar. Man kann damit auf

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Stahl herumhacken, trotzdem werden sie nie
stumpf.«

»Glay wird sich freuen«, sagte Marucha etwas

kühler als zuvor. »Und Shira gewiß ebenfalls.«

Glinnes schnaubte voll Skepsis, was Marucha ge-

flissentlich überhörte. »Vielen Dank für die Geschen-
ke. Ich finde sie alle sehr schön.« Sie blickte durch die
offene Tür über die Veranda zum Bootssteg hinaus.
»Jetzt ist Glay gekommen.«

Glinnes trat auf die Veranda hinaus. Glay, der eben

den Pfad von der Anlegestelle heraufkam, blieb ste-
hen, zeigte aber sonst keinerlei Überraschung.
Schließlich ging er langsam weiter. Glinnes sprang
die Stufen hinunter, und die Brüder umarmten ein-
ander.

Glay trug, wie Glinnes auffiel, nicht den üblichen

Paray der Trill, sondern graue Hosen und eine
dunkle Jacke.

»Willkommen zu Hause«, sagte Glay. »Ich traf Jung

Harrad; er sagte mir, daß du hier bist.«

»Ich bin froh, wieder daheim zu sein«, sagte Glin-

nes. »Nur du und Marucha, das muß ziemlich trüb-
selig gewesen sein. Jetzt, wo ich wieder da bin, hoffe
ich, daß unser Heim wieder wie früher werden
kann.«

Glay nickte gleichgültig. »Ja. Das Leben war ziem-

lich ruhig hier. Und alle Dinge ändern sich, gewiß –
wie ich hoffe, zum Besseren.«

Glinnes war nicht ganz klar, was Glay eigentlich

meinte. »Wir müssen über vieles sprechen. Aber vor
allem – ich bin froh, dich wiederzusehen. Du schaust
so erstaunlich weise und abgeklärt aus – irgendwie,
wie soll ich sagen, selbstsicher.«

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Glay lachte. »Wenn ich zurückdenke, wird mir

klar, daß ich immer zuviel gegrübelt habe, immer
versucht habe, zuviele unlösbare Probleme zu bewäl-
tigen. Das habe ich aufgegeben. Ich habe sozusagen
den gordischen Knoten zerschnitten.«

»Wie das?«
Glay machte eine wegwerfende Geste. »Es wäre zu

umständlich, auf das alles jetzt einzugehen... Du
siehst gut aus. Der Dienst im Whelm hat dir anschei-
nend getaugt. Wann mußt du wieder zurück?«

»Zum Whelm? Gar nicht. Das ist ein abgeschlosse-

nes Kapitel, vor allem, da ich jetzt Squire von Raben-
dary bin, wie es scheint.«

»Ja«, sagte Glay tonlos. »Du bist mir eine Stunde

voraus.«

»Komm doch rein«, sagte Glinnes. »Ich habe dir

etwas mitgebracht. Für Shira auch. Glaubst du, daß er
tot ist?«

Glay

nickte

düster.

»Es

gibt

keine

andere

Erklärung.«

»Das meine ich auch. Mutter glaubt, daß er ›auf Be-

such‹ ist.«

»Zwei Monate lang? Wohl kaum.«
Die beiden traten ins Haus, und Glinnes holte das

Messer

hervor,

das

er

im

Bazar

des Technischen Labors

von

Boreal

City

auf

Maranian

erstanden

hatte.

»Paß mit

der Schneide auf. Wenn du sie nur berührst, hast du
dich

schon

geschnitten.

Aber

man kann damit auch ein

Stahlseil

durchhacken, ohne daß sie beschädigt wird.«

Glay nahm das Messer vorsichtig in die Hand und

blinzelte die unsichtbare Schneide entlang. »Es macht
mir Angst.«

»Ja, es ist schon ein bißchen unheimlich. Jetzt, wo

Shira tot ist, werde ich das zweite selbst behalten.«

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Marucha sagte kühl quer durch den Raum: »Wir

wissen nicht, ob Shira tot ist.«

Weder Glay noch Glinnes erwiderten etwas darauf.

Glay legte sein Messer auf den Kaminsims aus rauch-
geschwärztem alten Kaban-Holz. Glinnes setzte sich.
»Wir sollten lieber wegen der Ambal-Insel reinen
Tisch machen.«

Glay lehnte sich an die Wand und musterte Glinnes

mit düsterem Blick. »Darüber gibt es nichts zu sagen.
Ich habe die Insel an Lute Casagave verkauft.«

»Dieser Verkauf war nicht nur unklug, sondern

auch ungesetzlich. Ich habe die Absicht, den Vertrag
zu annullieren.«

»Tatsächlich – und wie willst du das anfangen?«
»Wir werden das Geld zurückgeben und Casagave

ersuchen, das Land zu verlassen. Die Sache ist ganz
einfach.«

»Wenn du zwölftausend Ozols hast.«
»Ich habe sie nicht – aber du.«
Glay schüttelte langsam den Kopf. »Nicht mehr.«
»Wo ist das Geld?«
»Ich habe es jemandem gegeben.«
»Wem?«
»Einem Mann namens Junius Farfan. Ich gab es

ihm, er nahm es an – ich kann es nicht wieder zu-
rückverlangen.«

»Ich glaube, wir sollten Junius Farfan aufsuchen –

jetzt gleich.«

Glay schüttelte den Kopf. »Mißgönne mir doch

nicht dieses Geld. Du hast deinen Teil bekommen –
du bist Squire von Rabendary. Laß mich Ambal als
meinen Anteil haben.«

»Es geht überhaupt nicht um Anteile, oder wem

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was gehört«, sagte Glinnes mühsam beherrscht. »Ra-
bendary gehört uns beiden. Es ist unsere Heimat.«

»So kann man die Sache gewiß auch sehen«, sagte

Glay. »Aber ich war nun einmal anderer Ansicht. Wie
ich dir schon gesagt habe, vieles hat sich geändert.«

Glinnes lehnte sich in seinem Stuhl zurück,

sprachlos vor Entrüstung.

»Laß es doch auf sich beruhen«, sagte Glay müde.

»Ich habe mir Ambal genommen; du hast dafür Ra-
bendary. Das ist schließlich nur gerecht. Ich werde so-
fort ausziehen und dir deinen Besitz überlassen.«

Glinnes versuchte herauszuschreien, daß er das

nicht wollte, aber die Worte blieben ihm in der Kehle
stecken. Er konnte nur sagen: »Wie du willst. Ich hof-
fe nur, du wirst es dir noch anders überlegen.«

Glays einzige Antwort war ein geheimnisvolles Lä-

cheln, das für Glinnes überhaupt keine Antwort war.
»Etwas anderes«, sagte Glinnes. »Was ist mit diesen
Trevanyi da drüben?«

»Es sind Leute, mit denen ich eine Zeitlang unter-

wegs war – die Drossets. Hast du etwas gegen ihr
Hiersein einzuwenden?«

»Sie sind deine Freunde. Wenn du schon darauf

bestehst, dich anderswo niederzulassen, warum
nimmst du dann nicht deine Freunde mit?«

»Ich weiß noch nicht, wohin ich gehen werde«,

sagte Glay. »Wenn du sie loswerden willst, dann sag
ihnen doch einfach, daß sie gehen sollen. Du bist
Squire von Rabendary, nicht ich.«

»Er ist nicht Squire, bevor wir über Shiras Schicksal

Gewißheit haben!« warf Marucha ein.

»Shira ist tot«, sagte Glay.
»Trotzdem hat Glinnes einfach kein Recht, heim-

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zukommen und sofort Schwierigkeiten zu machen. Er
ist wirklich genauso ein Dickkopf wie Shira und sein
Vater.«

»Ich mache keine Schwierigkeiten. Ihr macht sie«,

sagte Glinnes. »Ich muß jetzt von irgendwo zwölftau-
send Ozols auftreiben, um die Ambal-Insel zu retten,
und eine Bande Trevanyi verjagen, bevor sie ihren
ganzen Stamm herholen. Es ist ein Glück, daß ich
jetzt heimgekommen bin, wo wir überhaupt noch ein
Heim haben.«

Glay schenkte sich mit steinerner Miene Apfelwein

in einen Becher. Die ganze Angelegenheit schien ihn
nur zu langweilen...

Von draußen jenseits der Wiese kam ein ächzendes,

knirschendes Geräusch, gefolgt von einem gewalti-
gen Krachen. Glinnes ging auf die Veranda nachse-
hen. Er kam rasch zu Glay zurück. »Deine Freunde
haben eben einen unserer ältesten Borkennußbäume
gefällt.«

»Einen von deinen Bäumen«, sagte Glay mit feinem

Lächeln.

»Du wirst sie nicht fortschicken?«
»Sie würden nicht auf mich hören. Ich stehe in ih-

rer Schuld.«

»Haben sie auch Namen?«
»Der Häuptling ist Vang Drosset. Sein Weib heißt

Tingo. Die Söhne heißen Ashmor und Harving. Die
Tochter heißt Duissane. Die Alte heißt Immifalda.«

Glinnes ging zu seinem Gepäck und holte seine

Dienstpistole heraus, die er in die Tasche schob. Glay
sah es und verzog sardonisch den Mund, murmelte
dann Marucha einige Worte zu, während Glinnes
wütend hinausmarschierte.

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Das sanfte Licht des Nachmittages ließ alles in der

Nähe mit ungewöhnlicher Farbkraft leuchten, wäh-
rend es die Ferne in einen schimmernden Schleier
hüllte. Glinnes war erfüllt von einem Widerstreit der
verschiedensten Gefühle: Kummer, Sehnsucht nach
den goldenen Zeiten von früher, Bitterkeit, Zorn auf
Glay, den er nicht zu unterdrücken vermochte, ob-
wohl er es versuchte.

Er näherte sich dem Lager, und sechs Augenpaare

beobachteten jeden seiner Schritte, schätzten ihn
aufmerksam ab. Das Lager war nicht besonders sau-
ber, allerdings auch nicht zu sehr verschmutzt; Glin-
nes hatte schon weit Ärgeres gesehen. Zwei Feuer
brannten. An dem einen hockte ein Bursche und
drehte einen Spieß voll fetter junger Waldhühner. Ein
Kessel über dem anderen Feuer verströmte einen ste-
chenden Kräutergeruch: die Drossets bereiteten of-
fenbar eine Portion Trevanyi-Bier zu, das nach länge-
rem Genuß die Augäpfel auffallend goldgelb färbte.
Die Frau, die in der Brühe rührte, hatte strenge,
scharfgeschnittene Züge. Ihr Haar war grellrot ge-
färbt und hing ihr in zwei Zöpfen über den Rücken.
Glinnes machte einen Bogen, um dem säuerlichen
Gestank auszuweichen.

Von dem umgestürzten Baum kam jetzt ein Mann

heran, der die abgefallenen Borkennüsse gesammelt
hatte. Zwei ungeschlachte junge Männer schlenderten
hinterher. Alle drei trugen schwarze Hosen, die in
weiche schwarze Stiefel gestopft waren, weite Hem-
den aus gelblicher Seide, bunte Halstücher – das typi-
sche Trevanyi-Kostüm. Vang Drosset hatte einen fla-
chen, schwarzen Hut ins Genick geschoben, so daß
sein hellbraunes, dichtgelocktes Haar sichtbar wurde.

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Seine Haut hatte die Farbe von trockenem Biskuit,
und seine Augen glommen gelb, als würden sie von
innen erleuchtet. Alles in allem ein eindrucksvoller
Typ, mit dem bestimmt nicht gut Kirschen essen war,
dachte Glinnes. Er sagte: »Du bist Vang Drosset? Ich
bin Glinnes Hulden, Squire von Rabendary. Ich muß
dich ersuchen, dein Lager hier abzubrechen.«

Vang Drosset winkte seinen Söhnen, zwei Korbses-

sel zu bringen. »Oh. Setzt Euch und nehmt eine Erfri-
schung an«, sagte Vang Drosset. »Dann wollen wir
über unser Weggehen reden.«

Glinnes lächelte und schüttelte den Kopf. »Ich ste-

he lieber.« Wenn er sich setzte und ihren Tee trank,
verpflichtete er sich ihnen, und sie konnten eine
Gunst von ihm fordern. Er blickte an Vang Drosset
vorbei zu dem Jungen, der den Bratspieß drehte, und
stellte fest, daß es gar kein Junge war, sondern ein
schlankes, hübsches Mädchen von siebzehn oder
achtzehn Jahren. Vang Drosset rief ihr über die
Schulter ein Wort zu; das Mädchen stand auf und
ging in das schmutzigrote Zelt. Bevor es verschwand,
warf es einen Blick über die Achsel zurück. Glinnes
sah ein zartes Gesicht mit von Natur aus goldenen
Augen und rotgoldene Locken, die ihm wirr über die
Ohren und in den Nacken hingen.

Vang Drosset grinste, daß seine prächtigen weißen

Zähne aufblitzten. »Was nun das Abbrechen unseres
Lagers angeht, so ersuche ich Euch um die Erlaubnis,
bleiben zu können. Wir machen ja keinen Schaden.«

»Da bin ich nicht so sicher. Trevanyi sind unge-

mütliche Nachbarn. Wild und Geflügel verschwin-
den, und unsere Sachen auch.«

»Wir haben weder Wild noch Geflügel gestohlen«,

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sagte Vang Drosset sanft.

»Ihr habt einen prächtigen Baum vernichtet, nur

um leichter an die Nüsse zu kommen.«

»Der Wald ist voller Bäume. Wir brauchten Feuer-

holz. Die Sache ist doch belanglos.«

»Für euch vielleicht. Weißt du, daß ich als Junge

auf diesem Baum gespielt habe? Schau! Dort habe ich
mein Zeichen eingeschnitten! In dieser Astgabel habe
ich mir ein Baumhaus gebaut, in dem ich manchmal
auch übernachtete. Ich habe diesen Baum geliebt!«

Vang Drosset verzog das Gesicht bei dem Gedan-

ken, ein Mann könne einen Baum lieben. Seine beiden
Söhne lachten verächtlich, wandten sich ab und be-
gannen, Messerwerfen zu üben. Glinnes ließ sich
nicht beirren. »Und wieso Brennholz? Der Wald ist
voll von dürrem Holz. Ihr braucht es nur zu holen.«

»Ein weiter Weg für Leute mit müdem Rücken.«
Glinnes wies auf den Bratspieß. »Diese Vögel – die

sind noch nicht ausgewachsen, keiner hat eine Brut
aufgezogen. Wir jagen nur die dreijährigen Vögel, die
ihr zweifellos alle schon aufgefressen habt, und ver-
mutlich die zweijährigen auch schon. Wenn ihr jetzt
noch über die Jährlinge herfallt, wird es hier bald kei-
ne Waldhühner mehr geben. Und dort, in dem Korb –
die Bodenfrüchte. Ihr habt die ganzen Pflanzen aus-
gerissen, mitsamt der Wurzel; ihr habt unsere zu-
künftige Ernte zerstört! Du sagst, ihr macht keinen
Schaden? Ihr verwüstet das Land – der Schaden wird
in zehn Jahren noch zu spüren sein! Packt eure Zelte
zusammen, beladet eure Wagen

*

und verschwindet.«

*

Die Wagen der Trevanyi sind breite schwere Boote mit Rädern,
Land- und Wasserfahrzeuge gleichzeitig.

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»Das ist keine freundliche Sprache, Squire Hul-

den«, sagte Vang tonlos.

»Wie soll man jemanden freundlich vom eigenen

Grund und Boden weisen?« fragte Glinnes. »Das ist
nicht gut möglich. Du verlangst zu viel.«

Vang Drosset wandte sich mit einem ärgerlichen

Zischlaut ab und starrte über die Wiese. Ashmor und
Harving beschäftigten sich gerade mit einem er-
staunlichen Trevanyi-Kunststück, das Glinnes noch
nie zuvor gesehen hatte. Sie standen etwa zehn Meter
voneinander entfernt, und jeder schleuderte abwech-
selnd ein Messer nach dem Kopf des anderen. Der,
auf den gezielt wurde, riß seinen eigenen Dolch hoch
und fing damit irgendwie die heranwirbelnde Waffe
auf, so daß sie wegprallte.

»Trevanyi hat man besser zum Freund als zum

Feind«, sagte Vang Drosset leise.

»Du kennst vielleicht das Sprichwort: ›Östlich von

Zanzamar

9

leben die freundlichen Trevanyi‹«, erwi-

derte Glinnes.

Vang Drosset bekam einen Unterton von falscher

Unterwürfigkeit. »Aber wir sind nicht so schlimm,
wie man uns nachsagt! Wir tragen zu den Freuden
von Rabendary bei! Wir werden bei Euren Festen
Musik machen; wir sind in allen Messertänzen be-
wandert...«

Er schnippte mit den Fingern, und seine beiden

Söhne begannen zuckend im Kreis zu springen und
ließen ihre Messer blitzend hochwirbeln.

Zufall, Scherz oder Mordabsicht – plötzlich sauste

ein Messer auf Glinnes' Kopf zu. Vang Drosset schrie

9

Siehe Glossar

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auf, was genauso ein Ausdruck von Freude wie eine
Warnung sein konnte. Glinnes hatte jedoch etwas
derartiges erwartet. Er duckte sich, und das Messer
fuhr ein Stück hinter ihm in den Boden. Glinnes riß
seine Waffe heraus; die Mündung spie blaues Feuer,
und das eine Ende des Bratspießes flammte auf. Die
brutzelnden Vögel plumpsten in die Glut.

Das Mädchen Duissane kam aus dem Zelt gestürzt,

und das Feuer in seinen Augen war nicht weniger ge-
fährlich als der Strahl der Waffe. Sie griff nach dem
Spieß und verbrannte sich die Hand; endlich gelang
es ihr, die Vögel mit einem Stock aus der Glut zu sto-
ßen. Sie fluchte und schimpfte dabei, ohne auch nur
Atem zu schöpfen: »Du abscheulicher Urush

10

, jetzt

hast du unser Essen ruiniert! Haare sollen dir auf der
Zunge wachsen! Du mit deinem abstoßenden Wanst
voller Hundegedärme, scher dich weg, bevor wir
dich Fanscher heißen, du hinterhältiger Spießbürger!
Wir kennen dich, keine Sorge! Du bist ein schlimme-
rer Spageen

11

als dein Bock von Bruder; übel wie er

war sonst nicht so bald einer...«

Vang Drosset hob die geballte Faust. Das Mädchen

verstummte und begann wütend die Asche von den
Vögeln zu kratzen. Vang Drosset wandte sich zu
Glinnes zurück, ein ungutes Lächeln um den Mund.
»Das war nicht sehr freundlich«, sagte er. »Haben
Euch die Messerspiele nicht gefallen?«

»Nicht besonders«, sagte Glinnes. Er zog sein eige-

nes, neues Messer und hob den Trevanyi-Dolch auf.
Er schnitt ein Stück von der Klinge weg, als schälte er

10

Siehe Glossar

11

Siehe Glossar

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einen Zweig. Die Drossets schauten gebannt zu.
Glinnes steckte sein Messer weg und sagte: »Das
Freiland liegt nur eine Meile entfernt am Ilfisch-
Gewässer. Dort könnt ihr lagern, ohne jemandem zu
schaden.«

»Wir waren vorher auf dem Freiland«, schrie Duis-

sane. »Der Spageen Shira hat uns eingeladen; genügt
dir das nicht?«

Glinnes konnte sich nicht vorstellen, was die Ursa-

che für Shiras Großzügigkeit gewesen sein mochte.
»Ich dachte, es war Glay, der mit euch gezogen ist.«

Vang Drosset gab dem Mädchen wieder einen

Wink. Duissane wandte sich ab und brachte die Vö-
gel zu einem wackeligen Tisch.

»Morgen brechen wir auf«, sagte Vang Drosset mit

singender, schicksalsschwerer Stimme. »Forlostwen-
na

12

ist über uns gekommen; so sind wir bereit zum

Weiterziehen.«

»Ihr könnt Glay begleiten«, sagte Glinnes. »For-

lostwenna ist auch über ihn gekommen.«

Vang Drosset spuckte auf die Erde. »Fanscherade

ist über ihm, das ist es. Er ist jetzt zu gut für uns.«

»Und zu gut für dich«, murmelte Harving.
Fanscherade? Das Wort war ihm unbekannt, aber

er würde die Drossets um keine Erläuterung bitten.
Er grüßte kühl und wandte sich um. Als er über die
Wiese ging, bohrten sich sechs Paar Augen in seinen
Rücken. Er war froh, als er außer Sichtweite eines ge-
schleuderten Messers war.

12

Siehe Glossar

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KAPITEL 5

Avness nannte man jene blaßdämmrige Stunde kurz
vor Sonnenuntergang – eine trübsinnige, stille Tages-
zeit, in der alle Farben verblaßten und die Landschaft
seltsam dimensionslos wurde, dunstige Silhouetten,
die sich ohne räumliche Tiefe hintereinander reihten.
Avness war die Morgendämmerung, eine Zeit, die
dem Gemüt der Trill wenig behagte. Die Trill hatten
keine Ader für melancholische Besinnlichkeit.

Als Glinnes ins Haus zurückkam, war es leer: so-

wohl Glay wie Marucha waren fortgegangen. Glin-
nes' Stimmung verdüsterte sich noch um einige Gra-
de. Er ging auf die Veranda hinaus und blickte zu
den Zelten der Drossets hinüber, schon halb ent-
schlossen, sie zu einem Abschiedsfest herüberzuho-
len – eigentlich vor allem Duissane, die zweifelsohne
ein faszinierendes Geschöpf war, trotz hitzigem Ge-
müt und übler Laune. Glinnes versuchte sich vorzu-
stellen, wie sie wohl aussehen mochte, wenn sie
freundlich gestimmt war... Duissane würde jedem
Fest Glanz verleihen... Absurder Einfall. Vang Dros-
set würde ihm beim geringsten Verdacht das Herz
herausschneiden.

Glinnes kehrte ins Haus zurück und schenkte sich

frischen Wein ein. Er öffnete die Speisekammer und
musterte den spärlichen Inhalt. Welch ein Kontrast zu
der Üppigkeit vergangener, glücklicherer Zeit! – Er
vernahm das Plätschern und Rauschen eines durchs
Wasser schneidenden Bugs. Glinnes trat auf die Ve-
randa und sah dem herangleitenden Boot entgegen.
Nicht Marucha war es, wie er erwartet hatte, sondern

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ein hagerer, langarmiger Mann mit schmalen Schul-
tern und spitzen Ellbogen, der einen Anzug aus dun-
kelbraunem und blauem Samt des Schnittes trug, wie
ihn der Adel bevorzugte. Schütteres, braunes Haar
hing ihm fast bis auf die Schultern; seine Miene war
sanft und freundlich, aber seine Augen und ein ge-
wisser Zug um seinen Mund verrieten einen Hang zu
koboldhafter Bosheit. Glinnes erkannte Janno Akadie,
den Mentor, den er als wortgewandten, witzigen,
manchmal sarkastischen oder auch ätzend spötti-
schen Partylöwen in Erinnerung hatte, einen Mann,
der nie um ein Epigramm, eine Anspielung oder ei-
nen tiefgründigen Spott verlegen war. Akadie beein-
druckte viele, doch Jut Hulden hatte sich in seiner
Gegenwart nie recht wohlgefühlt.

Glinnes ging zum Bootssteg hinunter, fing die An-

legeleine auf und machte sie am Poller fest. Akadie
sprang geschickt an Land und begrüßte Glinnes über-
schwenglich. »Ich habe vernommen, daß du wieder
hier bist, und konnte es einfach nicht erwarten, dich
aufzusuchen. Es ist eine Freude, dich wieder unter
uns zu haben!«

Glinnes gab die notwendigen höflichen Antworten,

und Akadie nickte mit etwas ungewohnter Herzlich-
keit. »Ja, ja, es hat viele Veränderungen gegeben seit
deiner Abreise – und ich nehme an, daß nicht alle
nach deinem Geschmack sein dürften.«

»Ich bin mir noch nicht ganz klar darüber«, sagte

Glinnes vorsichtig, aber Akadie ging darüber hinweg
und blickte zu dem dunklen Haus hinauf. »Deine lie-
be Mutter ist nicht daheim?«

»Ich weiß nicht, wo sie ist, aber komm doch mit

herauf und trink einen Becher Wein mit mir.«

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Akadie nickte zustimmend. Die beiden wanderten

vom Bootssteg zum Haus hinauf. Akadie warf einen
Blick zum Waldrand, wo das Lagerfeuer der Drossets
als flackernder, orangeroter Schein zu sehen war.
»Die Trevanyi sind noch hier, wie ich feststelle.«

»Sie brechen morgen auf.«
Akadie nickte weise. »Das Mädchen ist bezau-

bernd, aber ein bißchen unheimlich – es kommt ei-
nem vor, als habe ihr das Schicksal eine besondere
Rolle zugedacht. Ich frage mich, wem sie zum Schick-
sal werden wird.«

Glinnes zog die Brauen hoch; es war ihm nicht ein-

gefallen, Duissane in diesem geheimnisvollen Licht
zu betrachten, aber Akadies Bemerkung berührte ihn
doch seltsam. »Da hast du recht, sie ist ein bemer-
kenswertes Mädchen.«

Akadie machte es sich in einem der alten Flecht-

stühle auf der Veranda gemütlich. Glinnes brachte
Wein, Käse und Nüsse heraus, und eine Weile be-
trachteten die beiden Männer schweigend das Schau-
spiel des Sonnenuntergangs mit seinen blassen, ver-
wischten Farben.

»Ich nehme an, du hast Urlaub bekommen?« sagte

Akadie schließlich.

»Nein. Ich habe den Whelm endgültig verlassen.

Ich bin ja jetzt anscheinend Squire von Rabendary –
falls Shira nicht wieder auftaucht, was niemand für
wahrscheinlich hält.«

»Zwei Monate lassen allerdings das Schlimmste be-

fürchten«, bemerkte Akadie etwas salbungsvoll.

»Was, glaubst du, ist ihm zugestoßen?«
Akadie nippte an seinem Wein. »Ich weiß nicht

mehr als du, trotz meines Rufes.«

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»Offen gesagt, mir ist die Situation unverständ-

lich«, sagte Glinnes. »Warum hat Glay Ambal ver-
kauft? Ich verstehe es einfach nicht; er gibt mir weder
eine Erklärung noch das Geld zurück, so daß ich den
Vertrag annullieren könnte. Ich hätte mir nie gedacht,
daß ich daheim auf so viele Schwierigkeiten stoße.
Was hältst denn du von der Angelegenheit?«

Akadie stellte bedächtig seinen Becher auf den

Tisch zurück. »Wünschst du mich beruflich zu kon-
sultieren? Du verschwendest höchstwahrscheinlich
dein Geld, denn offengestanden, ich sehe keinen
Ausweg aus deinen Schwierigkeiten.«

Glinnes seufzte geduldig. Das war wieder der

Akadie, bei dem er nie recht wußte, wie er ihn be-
handeln sollte. Er sagte: »Wenn du mir von Nutzen
bist, honoriere ich das natürlich.« Mit einiger Ge-
nugtuung bemerkte er, daß Akadie leicht verdrießlich
den Mund spitzte.

Akadie überlegte. »Hmmm. Natürlich kann ich

mich nicht für beiläufige Gerüchte bezahlen lassen.
Ich muß dir nützen, wie du es ausgedrückt hast.
Manchmal ist die Trennungslinie zwischen einem
freundschaftlichen Gefallen und professioneller Hilfe
sehr schwer zu ziehen. Ich schlage vor, daß wir uns
auf das eine oder andere einigen.«

»Du kannst es als Konsultation ansehen«, sagte

Glinnes, »denn es sieht so aus, als ob ich wirklich
handfesten Rat brauchte.«

»Sehr gut. Worüber willst du mich um Rat fragen?«
»Über die allgemeine Lage. Ich möchte mir über

die Situation klarwerden, denn ich tappe im Dunkeln.
Zunächst – die Insel Ambal, die zu verkaufen Glay
keinerlei Recht hatte.«

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»Dabei gibt es kein Problem. Gib das Geld zurück

und annulliere den Vertrag.«

»Glay will mir das Geld nicht geben, und ich habe

natürlich nicht zwölftausend Ozols an eigenen Mit-
teln.«

»Eine schwierige Situation«, mußte Akadie zuge-

ben. »Shira hat sich natürlich geweigert zu verkaufen.
Der Handel wurde erst nach seinem Verschwinden
abgeschlossen.«

»Hmmm. Worauf willst du hinaus?«
»Auf gar nichts. Ich gebe dir Tatsachen bekannt,

aus denen du deine Schlüsse ziehen magst, wie es dir
beliebt.«

»Wer ist Lute Casagave?«
»Ich weiß es nicht. Dem Anschein nach ist er ein

kultivierter Mann mit gesetzten Gewohnheiten, der
sich für Genealogie interessiert. Er stellte einen Über-
blick über den hiesigen Adel zusammen, behauptet er
jedenfalls. Selbstverständlich können seine Motive ei-
ne ganz andere Grundlage haben als nur das Interes-
se eines Amateurs. Vielleicht versucht er, einen An-
spruch auf einen der hiesigen Titel geltend zu ma-
chen? Wenn dem so ist, dann haben wir recht interes-
sante Ereignisse vor uns...

Hmmm.
Was weiß ich noch über den geheimnisvollen Lute

Casagave?

Er behauptet, ein Bole von Ellent zu sein. Alastor

485, wie dir gewiß bekannt ist. In dieser Hinsicht ha-
be ich meine Zweifel.«

»Wieso?«
»Ich bin ein aufmerksamer Beobachter, wie du

weißt. Nach einem kleinen Essen in seinem Herren-

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haus zog ich meine Bibliothek zu Rate. Ich stellte fest,
daß sonderbarerweise ein sehr großer Prozentsatz der
Bolen Linkshänder sind. Casagave ist Rechtshänder.
Die meisten Bolen sind tief religiös; ihr Ort der Ver-
dammnis ist der Schwarze Ozean um den Südpol von
Ellent; gräßliche Meereswesen bewachen die Seelen
der Verdammten. Auf Ellent bedeutet es, sich in den
Einfluß des Bösen zu begeben, wenn man irgend et-
was aus dem Meer ißt. Kein Bole ißt Fisch. Und doch
hat Lute Casavage in aller Gemütsruhe ein Seespin-
nenragout verspeist, und danach einen prächtigen,
gegrillten Entenfisch, der ihm nicht weniger ge-
schmeckt hat als mir.

Ist Lute Casagave ein Bole?« Akadie breitete die

Hände aus. »Ich weiß es nicht.«

»Aber warum sollte er eine falsche Herkunft vor-

täuschen? Außer...«

»Genau. Trotzdem kann es eine ganz harmlose Er-

klärung dafür geben. Vielleicht ist er ein Bole, der
sich angepaßt hat. Übermäßiges Mißtrauen ist genau-
so von Nachteil wie Naivität.«

»Zweifellos. Nun, aber das ist nebensächlich. Ich

kann ihm so oder so sein Geld nicht geben, weil Glay
es nicht herausrückt. Weißt du, wo es hin ist?«

»Das weiß ich.« Akadie warf Glinnes einen schrä-

gen Blick zu. »Ich muß dich darauf hinweisen, daß
dies eine Information der Klasse Zwei ist, und ich
mein Honorar danach berechnen muß.«

»Geht in Ordnung«, sagte Glinnes. »Wenn es mir

übertrieben scheint, kannst du es ja nochmals berech-
nen. Wo ist das Geld?«

»Glay gab es einem Mann namens Junius Farfan,

der in Welgen lebt.«

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Glinnes runzelte die Stirn und starrte auf die Am-

bal-Bucht hinaus. »Diesen Namen habe ich schon ge-
hört.«

»Sehr wahrscheinlich. Er ist der Leiter der hiesigen

Fanscher.«

»Oh? Und warum sollte Glay ihm Geld geben? Ist

Glay auch ein Fanscher?«

»Wenn er's noch nicht ist, so fehlt jedenfalls nicht

mehr viel. Bis jetzt hat er allerdings noch nicht ihre
sonderbaren Bräuche angenommen.«

Plötzlich fiel Glinnes etwas ein. »Diese trübsinni-

gen grauen Kleider? Das kurzgeschorene Haar?«

»Das sind nur äußere Symbole. Die Bewegung hat

natürlich ziemlich erbitterte Reaktionen hervorgeru-
fen, und das mit Recht. Die Grundsätze der Fan-
scherade stehen in so krassem Gegensatz zum kon-
ventionellen Verhalten, daß sie beinahe als asozial zu
bezeichnen sind.«

»Das sagt mir alles nichts«, knurrte Glinnes. »Ich

habe bis heute nichts von der Fanscherade gehört.«

Akadie sprach in seinem belehrenden Tonfall: »Der

Name leitet sich aus dem alten Glottischen her: Fan
bedeutet eine uneingeschränkte Verehrung und Be-
wunderung von Ruhm. Im Grunde genommen ist die
ganze These nicht viel mehr als eine Binsenwahrheit:
das Leben ist etwas so Kostbares, daß es möglichst
vorteilhaft genutzt werden sollte. Wer könnte dage-
gen etwas einwenden? Die Fanscher aber setzen die
Idee in einer Weise in die Tat um, daß sie überall
feindselige Reaktionen hervorrufen. Sie glauben, daß
jeder Mensch sich irgendwelche hehren Ziele setzen
und nach ihrer Verwirklichung streben muß. Wenn er
versagt, so hat er wenigstens ehrenhaft versagt und

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hat die Genugtuung, sein Leben richtig genutzt zu
haben. Erreicht er sein Ziel...« Akadie verzog das Ge-
sicht. »Wer kommt in diesem Leben schon je zum
Ziel? Der Tod ist das Ziel. Trotzdem – die Fanschera-
de ist im Grunde ein bewundernswertes Ideal.«

Glinnes gab einen skeptischen Knurrlaut von sich.

»Die fünf Billionen Menschen von Alastor – alle sich
nach hehren Zielen abmühend? Es gäbe keinen Frie-
den und keine Ruhe mehr.«

Akadie nickte lächelnd. »Du mußt verstehen, Fan-

scherade ist keine Weltanschauung für fünf Billionen.
Fanscherade ist der verzweifelte Aufschrei von ein-
zelnen, die Einsamkeit eines einzigen Menschen, der
sich in der Unendlichkeit verloren glaubt. Durch die
Fanscherade lehnt sich dieser Einzelne gegen die An-
onymität auf, er will seine persönliche Größe bewei-
sen, sich von der Masse abheben.« Akadie schwieg
einen Augenblick und zuckte dann die Achseln.
»Man könnte sagen, daß der einzige wahrhaft erfolg-
reiche Fanscher der Connat wäre.« Er trank seinen
Wein aus.

Die Sonne war nun untergegangen. Eine Schicht

eisgrüner Zirren zog sich über den Himmel und lief
im Süden und Norden in rosafarbene, violette und
zitronengelbe Fasern und Streifen aus. Eine Weile sa-
ßen die beiden Männer schweigend da.

Schließlich sagte Akadie leise: »Also – dieses ist die

Fanscherade. Die wenigsten Fanscher begreifen ihre
neue Weltanschauung überhaupt richtig; schließlich
sind die meisten nicht viel mehr als Kinder, denen die
Trägheit, die erotischen Ausschweifungen, die Ver-
antwortungslosigkeit und die schlampige Erschei-
nung ihrer Eltern ein Greuel geworden sind. Sie leh-

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nen Cauch, Wein und die üppigen Feste ab – alles
Dinge, die dem momentanen Lebensgenuß dienen.
Vielleicht liegt ihr eigentliches Ziel darin, ein neues
und anderes Bild von sich selbst zu gewinnen. Sie
kultivieren eine unauffällige äußere Erscheinung,
weil sie der Ansicht sind, daß ein Mensch nach sei-
nem Verhalten beurteilt werden sollte und nicht nach
irgendwelchen äußeren Symbolen, die ihm seine
Laune gerade eingibt.«

»Eine Schar lästiger und unreifer Unzufriedener!«

brummte Glinnes. »Wie können sie sich das Recht
herausnehmen, die Lebensweise so vieler anderer, er-
fahrenerer und vernünftigerer Menschen zu kritisie-
ren?«

»Ah ja!« seufzte Akadie. »Das zumindest ist nichts

Neues.«

Glinnes schenkte Wein in die Becher nach. »Das

alles kommt mir so närrisch, unsinnig und nutzlos
vor. Was wünschen sich die Menschen vom Leben?
Wir Trills haben alles, was unser Dasein lebenswert
macht: Essen, Musik, Feste. Was ist schlecht daran?
Wofür sollte man sonst leben? Diese Fanscher sind
wie griesgrämige Hunde, die mürrisch die Sonne an-
kläffen.«

»Oberflächlich gesehen ist die Sache wirklich ab-

surd«, sagte Akadie. »Andererseits...« Er zuckte die
Achseln. »Ihr Standpunkt hat eine gewisse Größe.
Unzufriedene – ja, aber weshalb sind sie unzufrie-
den? Weil sie der uralten Sinnlosigkeit des Lebens ei-
nen Sinn abgewinnen wollen; weil sie dem elementa-
ren Chaos den Stempel menschlichen Willens auf-
drücken wollen; weil sie sich danach sehnen, den
Glanz und die Einzigartigkeit eines Individuums zu

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beweisen, eines Individuums, das nur eines von fünf
Billionen gesichtslosen anderen ist. Darin steckt ein
verzweifelter, wilder Mut.«

»Das hört sich an, als wärst du selbst ein Fanscher«,

schnaubte Glinnes.

Akadie schüttelte den Kopf. »Es gibt schlechtere

Anschauungen, aber nein – ich bin nicht dafür. Fan-
scherade ist ein Zeitvertreib für Jüngere. Ich bin zu alt
dazu.«

»Was halten sie von der Hussade?«
»Sie bezeichnen das Spiel als sinnlose Ersatzhand-

lung, die die Menschen von den wahren Qualitäten
des Lebens ablenkt.«

Glinnes schüttelte erstaunt den Kopf. »Wenn ich

denke, daß das Trevanyi-Mädchen mich einen Fan-
scher nannte!«

»Fürwahr eine seltsame Vorstellung!« sagte Aka-

die.

Glinnes warf Akadie einen mißtrauischen Blick zu,

begegnete aber nur einer Miene unschuldiger Gleich-
gültigkeit. »Wie ist die Fanscherade entstanden? Ich
erinnere mich an keinen derartigen Trend.«

»Das Rohmaterial lag schon lange bereit, würde ich

annehmen. Es hat nur noch eines ideologischen Fun-
kens bedurft.«

»Und wer ist dieser Funkenschläger der Fan-

scherade?«

»Junius Farfan. Er lebt in Welgen.«
»Junius Farfan hat mein Geld!«
Akadie erhob sich. »Ich glaube, ich höre ein Boot.

Das muß endlich Marucha sein.« Er ging zur Anlege-
stelle, und Glinnes folgte langsam. Hinter einem wei-
ßen Schaumkeil schoß das Boot über das Ilfisch-

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Gewässer in die Ambal-Bucht herein und schwenkte
zur Anlegestelle. Glinnes nahm Glay die Leine ab
und machte sie fest. Marucha sprang munter auf den
Steg herüber. Glinnes starrte verblüfft ihre Kleidung
an: ein strenges, weißes Leinenkleid, knöchelhohe
schwarze Stiefel und eine schwarze Glockenhaube,
die ihr Haar verdeckte und so ihre Ähnlichkeit mit
Glay betonte.

Akadie trat vor. »Ich bedaure, daß ihr nicht hier

wart. Aber Glinnes und ich haben eine recht ange-
nehme Unterhaltung gehabt. Wir haben über die Fan-
scherade gesprochen.«

»Wie schön!« sagte Marucha. »Hast du ihn be-

kehrt?«

»Das würde ich kaum annehmen«, meinte Akadie

grinsend. »Der Same muß ruhen, bevor er keimt.«

Glay war etwas abseits stehengeblieben und gab

sich sardonischer denn je. Akadie fuhr fort: »Ich habe
dir einige Dinge mitgebracht. Dies« – er gab Marucha
ein kleines Fläschchen – »ist ein Sensitivierungsmittel;
es macht den Geist in höchstem Maße aufnahmefähig
und steigert das Lernpotential. Gib aber acht, daß du
nicht mehr als eine Kapsel auf einmal nimmst, sonst
wirst du hypersensitiv.« Er überreichte Marucha ei-
nige Bücher. »Hier ist ein Handbuch der mathemati-
schen Logik, eine Abhandlung über Minichronik, und
eine Einführung in die Kosmologie. Alles ist für dein
Projekt wichtig.«

»Sehr gut«, sagte Marucha etwas steif. »Ich frage

mich, wie ich mich erkenntlich zeigen könnte?«

*

*

Die Frage »Was schulde ich dir?« gilt auf Trullion als unhöflich,
denn Großzügigkeit in allen materiellen Dingen ist die Norm.

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»Nun, ein Betrag in der Größenordnung von fünf-

zehn Ozols wäre mehr als genug«, sagte Akadie.
»Aber das hat natürlich keine Eile. Ich muß jetzt wohl
doch aufbrechen. Es ist schon ziemlich dunkel ge-
worden.«

Trotzdem zögerte Akadie seine Abfahrt hinaus, bis

Marucha fünfzehn Ozols in seine schlaffe Hand ge-
zählt hatte. »Gute Nacht, mein Freund.« Sie und Glay
gingen zum Haus hinauf. Glinnes fragte:

»Und was werde ich dir für die Konsultation auf-

drängen dürfen?«

»Ach ja, laß mich überlegen. Zwanzig Ozols wären

mehr als großzügig, wenn meine Informationen dir
von Nutzen waren.«

Glinnes gab ihm den Betrag und dachte sich, daß

Akadie seine Kenntnisse ziemlich hoch einschätzte.
Akadie startete sein Boot und fuhr über das Farwan-
Gewässer in Richtung Saur-Fluß davon, von dem er
dann über die Tethryn-Bucht und die Vernice-Straße
zu seinem seltsamen alten Herrenhaus auf der Insel
Sarpassante gelangte.

Im Haus auf der Insel Rabendary leuchtete das

Licht auf. Glinnes ging langsam zur Veranda hinauf,
wo Glay stand und ihm entgegenblickte.

»Ich habe erfahren, was du mit dem Geld getan

hast«, sagte Glinnes. »Du hast Ambal für einen ab-
surden Unfug verschleudert.«

»Wir haben über die Angelegenheit mehr als genug

geredet. Morgen früh verlasse ich dein Haus. Ma-
rucha möchte, daß ich bleibe, aber ich glaube, ich
werde mich woanders wohler fühlen.«

»Erst ein verdammtes Durcheinander stiften, und

sich dann verdrücken, ja?« Die Brüder funkelten ein-

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ander an, bis Glinnes sich schroff abwandte und ins
Haus ging.

Marucha saß über den Fachbüchern, die Akadie ihr

besorgt hatte. Glinnes machte den Mund auf, über-
legte es sich anders und ging wieder auf die Veranda
hinaus, um dort vor sich hinzubrüten. Drinnen un-
terhielten sich Glay und Marucha mit gedämpfter
Stimme.

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KAPITEL 6

Am nächsten Morgen packte Glay seine Besitztümer
zusammen, und Glinnes brachte ihn nach Saurkash.
Während der Fahrt wurde kein Wort gesprochen. Als
er vom Boot auf den Pier von Saurkash stieg, sagte
Glay: »Ich werde nicht weit weg sein, zumindest in
der nächsten Zeit nicht. Vielleicht werde ich mich auf
dem Freiland niederlassen. Akadie weiß, wo ich zu
finden bin, falls ich gebraucht werde. Versuch ein
wenig freundlich zu Marucha zu sein. Ihr Leben war
nicht glücklich, und wenn sie jetzt noch einmal von
vorn anfangen will, was schadet es?«

»Bring diese zwölftausend Ozols zurück, dann

würde ich vielleicht mehr auf deine Ratschläge ge-
ben«, sagte Glinnes. »Im Augenblick erwarte ich von
dir nichts als Unsinn.«

»Du bist ein Narr«, sagte Glay brüsk, wandte sich

um und ging über den Pier davon. Glinnes sah ihm
nach. Schließlich fuhr er wieder los, aber nicht nach
Rabendary zurück, sondern nach Westen in Richtung
Welgen.

Nach einer Fahrt von weniger als einer Stunde über

friedliche Wasserwege erreichte er die Blacklyn-
Bucht, in der der breite Fluß Karbashe von Norden
her einmündete, während sie sich im Süden nach ein
paar Meilen zum Südmeer öffnete.

Glinnes machte sein Boot an der öffentlichen Anle-

gestelle fest, die unmittelbar beim Hussade-Stadion
lag, einem mächtigen Gerüstbau aus graugrünen
Menaholzpfeilern und schwarzen Eisenverstrebun-
gen. Er entdeckte ein großes, pergamentfarbenes Pla-

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kat, das mit roten und blauen Lettern verkündete:

DER HUSSADE-VEREIN FLEHARISH-BUCHT

STELLT EINE MANNSCHAFT

FÜR AUSSCHEIDUNGSKÄMPFE ZUSAMMEN!!!

Entsprechend qualifizierte Bewerber

mögen sich an den Vereinssekretär

Jeral Estang

oder an den ehrenwerten Gründer und

Sponsor, Thammas, Lord Gensifer wenden.

Glinnes las das Plakat ein zweitesmal und fragte sich,
woher Lord Gensifer die Leute für eine Mannschaft
von Ausscheidungskampfniveau bekommen wollte.
Vor zehn Jahren noch hatte ein gutes Dutzend Mann-
schaften in den Fens gespielt: die Welgener Sturmteu-
fel, die Unschlagbaren vom Hussadeverein Altramar,
die Voulsh-Gialospans

13

von der Großen Ratteninsel,

die Gaspar-Magier, die Saurkash-Schlangen – der
nicht besonders organisierte und leichtfertige Verein,
für den er und Jut und Shira gespielt hatten – dann
die Gorgets vom Loressamy-Hussadeverein, und
noch einige andere von verschiedenster Qualität und
andauernd wechselnder Besetzung. Der Konkurrenz-
kampf zwischen den einzelnen Vereinen war hart
gewesen; tüchtige Spieler waren gesucht und wurden
verhätschelt und verwöhnt. Glinnes hatte keinen
Anlaß zu zweifeln, daß die Situation jetzt ähnlich
war.

Als er sich vom Stadion entfernte, begann ein neuer

Gedanke in seinem Gehirn herumzuspuken. Eine ar-

13

Siehe Glossar

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me Hussade-Mannschaft verlor Geld, und wenn sie
nicht subventioniert wurde, verstreuten sich die
Spieler bald in alle Winde. Eine mittelmäßige Mann-
schaft konnte gewinnen oder verlieren, je nachdem,
ob sie sich auf Spiele über oder unter dem eigenen
Niveau einließ. Eine erfolgreiche, ehrgeizige Mann-
schaft jedoch verdiente oft im Lauf eines Jahres be-
trächtliche Summen, die bei der Aufteilung sehr wohl
zwölftausend Ozols pro Mann ergeben konnten.

Glinnes wanderte nachdenklich zum Hauptplatz

hinüber. Die Gebäude wirkten etwas verwitterter als
damals, die Kalepsis-Ranke, die die Gaststube vor der
Taverne Aude de Lys überwucherte, war dichter und
üppiger geworden, und – jetzt, da Glinnes darauf
achtete, fiel es ihm erst auf – überraschend viele Fan-
scher-Trachten und die Fanscher imitierende Gewän-
der waren zu sehen. Glinnes verzog angewidert das
Gesicht. In der Mitte des Platzes stand wie eh und je
der Prutanschyr: eine Plattform von gut zehn Meter
Seitenlänge mit einem Gerüst und einer Art Podium
daneben, das den Musikern diente, die das Ritual der
Buße mit ihren Melodien untermalten.

In den zehn Jahren waren wohl auch ein oder zwei

neue Gebäude entstanden, von denen das auffälligste
die neue Schenke Zum Ehrwürdigen St. Gambrinus
war. Über dem ebenerdigen Biergarten, in dem vier
Trevanyi den Gästen aufspielten, die schon so früh
am Tag einer Erfrischung bedurften, erhob sich auf
Menapfosten das eigentliche Wirtshaus.

Heute war Markttag. Grünzeughändler hatten ihre

Karren am Rande des Platzes aufgestellt; sie gehörten
ausnahmslos dem Volk der Wrye an, einer ebenso ei-
genständigen Rasse wie die Trevanyi. Trills aus Wel-

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gen und von den Landbezirken schlenderten an den
Ständen vorbei, prüften und suchten aus, handelten
und kauften hin und wieder etwas. Die Leute vom
Land waren an ihrer Kleidung erkennbar: der un-
vermeidliche Paray wurde ergänzt von den verschie-
densten bunten Schals, gestrickten Westen, verrückt
bedruckten Hemden, Ketten, Armbändern, Kopftü-
chern und Bändern, je nachdem, was Laune, Be-
quemlichkeit oder Geschmack des Betreffenden dik-
tierte.

Die Stadtbewohner begnügten sich mit weniger ei-

genwilliger Gewandung, und Glinnes bemerkte auch
eine beträchtliche Anzahl von Fanscher-Anzügen aus
gutem, grauem Tuch, mit dezentem Schnitt, die zu
glänzend polierten schwarzen Halbstiefeln getragen
wurden. Hin und wieder waren auch schwarze Filz-
kappen zu sehen, die das Haar verbargen. Einige der
Leute, die sich in dieser Tracht zeigten, waren älteren
Jahrgangs und schienen sich in ihrem streng elegan-
ten Aufzug nicht recht wohl zu fühlen. Gewiß, über-
legte Glinnes, waren nicht alle diese Menschen Fan-
scher.

Ein

hagerer,

langarmiger Mann kam auf Glinnes zu,

der ihn erstaunt und mit mißbilligender Belustigung
anstarrte. »Du auch? Das ist doch nicht möglich!«

Akadie zeigte sich nicht im geringsten verlegen.

»Warum nicht? Was schadet es, wenn man einer
Laune nachgibt? Es macht mir Spaß, so zu tun, als
wäre ich wieder jung.«

»Mußt du dabei auch so tun, als wärst du ein Fan-

scher?«

Akadie zuckte die Achseln. »Nochmals: warum

nicht? Es mag sein, daß sie zu hochgesteckte Ideale

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haben; auch, daß sie vielleicht die Leichtfertigkeit und
Sinnlichkeit von uns anderen allzu stur verurteilen.
Trotzdem« – er machte eine wegwerfende Geste –
»sehe ich nicht ein, warum ich deshalb nicht tun soll,
was mir gefällt.«

Glinnes schüttelte mißbilligend den Kopf. »Auf

einmal scheinen diese Fanscher alle Weisheit dieser
Welt gepachtet zu haben, und ihre Eltern, denen sie
ihr Leben verdanken, sind leichtfertig, träge und
schlampig.«

Akadie lachte. »Kein solch launischer Trend dauert

lange. Aber sie hellen die Eintönigkeit des Alltags
auf; warum sollte man also nicht mitmachen?« Bevor
Glinnes antworten konnte, wechselte Akadie das
Thema. »Ich habe erwartet, dich hier zu treffen. Du
bist natürlich auf der Suche nach Junius Farfan, und
zufälligerweise kann ich ihn dir zeigen. Sieh dort
hinüber, jenseits dieses Schreckensgerüstes: im Gar-
ten des Ehrwürdigen St. Gambrinus sitzt links im
Schatten ein Fanscher und schreibt in ein Kontobuch.
Dieser Mann ist Junius Farfan.«

»Ich

werde

gleich

hinübergehen

und

mit

ihm

reden.«

»Viel Glück«, sagte Akadie.
Glinnes überquerte den Platz, betrat den Biergarten

und ging zu dem Tisch, den Akadie ihm gezeigt hat-
te. »Sie sind Junius Farfan?«

Der Mann blickte auf. Glinnes sah ein klassisches

regelmäßiges, wenn auch etwas blutarmes und
durchgeistigtes Gesicht. Der graue Anzug umgab die
hagere Gestalt des Mannes, die nur aus Knochen,
Sehnen und Nerven zu bestehen schien, mit strenger,
düsterer Eleganz. Eine schwarze Kappe bedeckte sein
Haar und betonte eine blasse, hohe Stirn über grüble-

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rischen, grauen Augen. Er war vermutlich nicht ein-
mal so alt wie Glinnes selbst. »Ich bin Junius Farfan.«

»Mein Name ist Glinnes Hulden. Glay Hulden ist

mein Bruder. Vor kurzem hat er Ihnen eine größere
Summe übergeben, zwölftausend Ozols, wenn ich
recht informiert bin.«

Farfan nickte. »Stimmt.«
»Dann habe ich schlechte Nachrichten für Sie. Glay

hat dieses Geld auf ungesetzlichem Wege erworben.
Er hat einen Besitz verkauft, der nicht ihm, sondern
mir gehörte. Um es kurz zu machen – ich möchte die-
ses Geld zurückhaben.«

Farfan schien weder überrascht noch sonderlich

beunruhigt zu sein. Er wies auf einen Stuhl. »Setzen
Sie sich doch. Möchten Sie etwas trinken?«

Glinnes nahm Platz und akzeptierte ein Glas Bier.

»Danke. Wo ist also das Geld?«

Farfan musterte ihn ruhig. »Sie haben natürlich

nicht erwartet, daß ich so ohne weiteres zwölftausend
Ozols hergebe.«

»Und ob ich das erwartet habe. Ich brauche das

Geld, um den Besitz auszulösen.«

Farfan lächelte höflich entschuldigend. »Ihre Er-

wartung kann ich nicht erfüllen, weil ich nicht in der
Lage bin, das Geld zurückzugeben.«

Glinnes stellte sein Glas hart auf den Tisch zurück.

»Und warum nicht?«

»Die Summe wurde investiert; wir haben die Ma-

schinen für eine Fabrik bestellt. Wir beabsichtigen, je-
ne Güter herzustellen, die zur Zeit noch nach Trullion
importiert werden müssen.«

Glinnes' Stimme war heiser vor Empörung. »Dann

sollten Sie sich lieber anderswo Geld für Ihre Investi-

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tionen besorgen und mir meine zwölftausend Ozols
auszahlen.«

Farfan nickte bedächtig. »Wenn das Geld tatsäch-

lich aus Ihrem Besitz stammt, dann bin ich durchaus
bereit, unsere Schuld anzuerkennen und werde be-
antragen, daß die Summe einschließlich Zinsen aus
dem ersten Gewinn unserer Unternehmungen zu-
rückgezahlt wird.«

»Und wann wird das sein?«
»Das weiß ich nicht. Wir hoffen, irgendwie zu Land

zu kommen, durch Pacht oder als Schenkung oder
durch Beanspruchung unbesiedelten Landes.« Farfan
grinste, was sein Gesicht auf einmal sehr jungenhaft
wirken ließ. »Dann müssen wir das Fabrikgebäude
errichten, für Rohstoffe sorgen, die entsprechenden
Fertigungstechniken lernen, mit der Produktion be-
ginnen und unsere Werke verkaufen, die erste Liefe-
rung von Rohstoffen bezahlen, neue bestellen und so
weiter.«

»Das alles wird aber verdammt lange dauern«,

sagte Glinnes wütend.

Junius Farfan runzelte überlegen die hohe Stirn.

»Sagen wir einmal, fünf Jahre. Wenn Sie nach dieser
Zeitspanne Ihren Anspruch noch einmal vorbringen
wollen, können wir die Sache, wie ich hoffe, zur bei-
derseitigen Zufriedenheit regeln. Als Privatperson
habe ich jedes Verständnis für Ihre mißliche Lage«,
sagte Junius Farfan. »Als Leiter einer Organisation,
die dringend Kapital braucht, bin ich jedoch nur zu
froh, Ihr Geld zur Verfügung zu haben; wie ich es se-
he, haben wir die Summe nötiger als Sie.« Er schloß
das Kontobuch, in dem er geschrieben hatte, und er-
hob sich. »Guten Tag, Squire Hulden.«

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KAPITEL 7

Glinnes sah Junius Farfan nach, wie er den Platz
überquerte und jenseits des Prutanschyr verschwand.
Er hatte ungefähr so viel erreicht, wie er erwartet
hatte – nichts. Trotzdem galt seine Empörung nun
dem aalglatten Junius Farfan ebenso wie Glay. Auf
jeden Fall wurde es jetzt Zeit, das verlorene Geld zu
vergessen und irgendwie neues zu beschaffen. Er
schaute in seiner Brieftasche nach, obwohl er ihren
Inhalt recht gut kannte: drei Tausend-Ozol-
Banknoten, vier Hundert-Ozol-Noten, und noch
hundert Ozols in kleineren Scheinen. Er brauchte also
neuntausend Ozols. Seine Pension betrug hundert
Ozols im Monat, was für seine Verhältnisse mehr als
genug war. Er verließ den Ehrenwerten St. Gam-
brinus und ging über den Platz zur Welgener Bank,
wo er sich beim Filialdirektor vorstellte.

»Kurz gesagt«, erklärte Glinnes, »habe ich folgen-

des Problem: ich brauche neuntausend Ozols, um die
Insel Ambal auszulösen, die mein Bruder unberech-
tigterweise an einen gewissen Lute Casagave ver-
kauft hat.«

»Ja, Lute Casagave; ich erinnere mich an die Trans-

aktion.«

»Ich möchte einen Kredit von neuntausend Ozols

aufnehmen, den ich in Raten von hundert Ozols im
Monat zurückzahlen könnte. Das ist die Summe, die
ich von der Pensionskasse des Whelm ausbezahlt be-
komme. Die Rückzahlung wäre also auf jeden Fall ge-
sichert.«

»Falls Sie nicht sterben. Was dann?«

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Diese Möglichkeit hatte Glinnes natürlich nicht in

Betracht gezogen. »Da wäre noch die Insel Rabenda-
ry, die ich als Sicherheit anbieten könnte.«

»Die Insel Rabendary. Sie sind der Eigentümer?«
»Ich bin der derzeitige Squire«, sagte Glinnes, den

plötzlich das bedrückende Gefühl überkam, daß er
wieder einmal nichts ausrichten würde. »Mein Bru-
der Shira ist vor zwei Monaten verschwunden. Er ist
fast sicher tot.«

»Sehr wahrscheinlich stimmt das. Aber leider kön-

nen wir mit ›fast sicher‹ und ›sehr wahrscheinlich‹
nichts anfangen. Shira Hulden kann erst nach Ablauf
von vier Jahren für tot erklärt werden. Bis dahin ha-
ben Sie kein Verfügungsrecht über die Insel Rabenda-
ry. Es sei denn, natürlich, Sie könnten seinen Tod be-
weisen.«

Glinnes schüttelte fassungslos den Kopf. »Soll ich

zu den Merlingen hinuntertauchen und sie fragen?
Das ist einfach absurd!«

»Ich habe Verständnis für Ihre Lage, doch was Ih-

nen absurd scheinen mag, ist für uns eine alltägliche
Situation, für die es eben leider Vorschriften gibt.«

Glinnes gab sich geschlagen. Er verließ die Bank

und ging zu seinem Boot zurück; nur einmal blieb er
stehen, um das Plakat nochmals zu lesen, auf dem die
Gründung eines Hussade-Vereins Fleharish-Bucht
verkündet wurde.

Während sein Boot in Richtung Rabendary tucker-

te, stellte Glinnes immer wieder die gleichen Berech-
nungen an, immer mit demselben Ergebnis: neuntau-
send Ozols waren eine Menge Geld. Das äußerste,
was ihm die Insel Rabendary eintragen konnte, waren
vielleicht zweitausend Ozols pro Jahr, was nur etwa

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ein Fünftel der benötigten Summe war. Schließlich
wandten sich Glinnes' Gedanken der Hussade zu. Ein
Mitglied einer bedeutenden Mannschaft konnte sehr
wohl zehntausend oder zwanzigtausend Ozols im
Jahr verdienen, wenn sein Team oft spielte und re-
gelmäßig gewann. Lord Gensifer plante anscheinend
die Aufstellung einer solchen Mannschaft. Was alles
gut und schön war, nur hatten die anderen Mann-
schaften der Gegend dasselbe Ziel vor Augen: sich
durch Listen, Intrigen, große Versprechungen und
mit Ruhm und Reichtum als Köder die wirklich guten
und daher nicht sehr zahlreichen Spieler zu sichern.
Ein kämpferischer Typ war vielleicht langsam und
ungeschickt; ein flinker Mann besaß vielleicht
schlechtes Urteilsvermögen oder ein unzuverlässiges
Gedächtnis oder nicht genug Kraft, um seinen Gegner
ins Wasser zu befördern. In jeder Spielposition waren
bestimmte Eigenschaften wichtig. Der ideale Stürmer
war schnell, wendig, wagemutig, aber auch stark ge-
nug, um mit den gegnerischen Springern und Wäch-
tern fertigzuwerden. Auch ein Springer mußte schnell
und geschickt sein; vor allem mußte er geschickt mit
dem Pad sein – dem gepolsterten, keulenähnlichen
Schläger, mit dem die Gegner von den Wegen und
Brücken in die Tanks gestoßen werden. Die Springer
waren die erste Verteidigungslinie gegen die Angriffe
der Stürmer, die Wächter waren die letzte. Die
Wächter sollten schwere, muskulöse Männer sein, die
mit ihren Pads gut umgehen konnten. Da sie nicht oft
querschwingen oder über die Tanks springen muß-
ten, war Wendigkeit für einen Wächter nicht unbe-
dingt nötig. Der ideale Hussadespieler besaß aller-
dings alle diese Eigenschaften; er war kräftig, intelli-

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gent, gewitzt, wendig und unaufhaltbar. Solche Män-
ner waren selten. Wie also glaubte Lord Gensifer ein
wettkampffähiges Team zusammenzubekommen?
Als er in der Fleharish-Bucht angekommen war, be-
schloß Glinnes unvermittelt, diese Frage zu klären,
und bog nach Süden in Richtung der Fünf Inseln ab.

Glinnes machte sein Boot neben der schlanken

Ozeanjacht Lord Gensifers fest und sprang an Land.
Ein Weg führte durch den Park zum Herrenhaus hin-
auf. Als er die Freitreppe hinaufstieg, schwang die
Tür auf. Ein Dienstbote in lavendelfarbener und
grauer Livree musterte ihn kühl. Eine nicht sehr tiefe
Verbeugung gab seiner Meinung über Glinnes' Stel-
lung Ausdruck. »Sie wünschen, Sir?«

»Seien Sie so freundlich und teilen Sie Lord Gensi-

fer mit, daß Glinnes Hulden ihn sprechen möchte.«

»Wollen Sie bitte hereinkommen, Sir?«
Glinnes trat in die hohe, sechseckige Halle, deren

Boden aus glänzendem grauen und weißen Stelt

14

be-

stand. An der Decke hing ein Kristallüster mit hun-
dert Leuchten und tausend Diamantprismen. Jede der
Wände war mit einem Paneel von weißem Atica-Holz
geschmückt, das hohe, schmale Spiegel umrahmte,
die das Glitzern des Lüsters vielfach spiegelten.

Der Lakai kam zurück und führte Glinnes in die

Bibliothek, wo Thammas Lord Gensifer, gekleidet in
einen maronenfarbenen Hausanzug, gemütlich vor
einem Bildschirm saß und sich ein Hussade-Spiel an-
sah.

15

»Setzen Sie sich, Glinnes, setzen Sie sich«, sagte

14

Siehe Glossar

15

Siehe Glossar

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Lord Gensifer. »Möchten Sie Tee oder vielleicht einen
Rumpunsch?«

»Einen Rumpunsch, bitte.«
Lord Gensifer deutete auf den Schirm. »Die Aus-

scheidungskämpfe von vorigem Jahr im Alastor-
Stadion. Die Schwarzroten sind die Hextar-Zulanen
von Sigre. Die Grünen sind die Falifoniken vom Grü-
nen Stern. Ein phantastisches Spiel. Ich habe es mir
jetzt schon viermal angesehen, und jedesmal bin ich
begeisterter.«

»Ich habe die Falifoniken vor zwei oder drei Jahren

gesehen«, sagte Glinnes. »Sie kamen mir äußerst ge-
schickt und wendig vor, und schnell wie der Blitz.«

»Das sind sie noch immer. Auf den ersten Blick

wirken sie nicht so eindrucksvoll, aber sie scheinen
überall zugleich zu sein. Ihre Verteidigung ist nicht
besonders, aber sie brauchen gar keine mit diesen
Attacken, die sie durchziehen.«

Der Diener brachte Rumpunsch in feucht angelau-

fenen Silberkelchen. Eine Weile sahen Lord Gensifer
und Glinnes schweigend dem Spiel zu: Vorstößen
und Positionsänderungen, Finten und Tricks, schein-
bar leichtsinnigen akrobatischen Meisterleistungen,
verblüffend exakter zeitlicher Abstimmung, die wie
glücklicher Zufall wirkten. Zurufe des Kapitäns be-
wirkten blitzschnelle Manöver, Angriffe und Ab-
wehrmaßnahmen. Nach und nach wurde die Überle-
genheit der Falifoniken offenbar. Ihre Mittelstürmer
schwangen sich seitwärts, um einen Zulaner-Springer
in die Zange zu nehmen, und die Wächter der Zula-
ner stürmten vorwärts, um ihn zu schützen; in die-
sem Augenblick warfen sich die Rechtsaußenstürmer
der Falifoniken in die so geöffnete Lücke, erreichten

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die Plattform und ergriffen den Goldring auf der
Brust der Sheirl. Das Spiel wurde unterbrochen, da-
mit das Lösegeld übergeben werden konnte. Lord
Gensifer schaltete den Bildschirm ab. »Die Falifoni-
ken haben haushoch gewonnen, wie Sie vermutlich
wissen. Die Prämie brachte jedem Mann rund vier-
tausend Ozols ein... Aber Sie sind wohl nicht ge-
kommen, um über Hussade zu plaudern. Oder
doch?«

»Eigentlich ja. Ich habe heute zufällig in Welgen die

Ankündigung des Vereins Fleharish-Bucht gesehen.«

Lord Gensifer stürzte sich begeistert auf das The-

ma. »Ich bin der Sponsor. Schon lange habe ich davon
geträumt, und jetzt habe ich mich endlich dazu auf-
gerafft. Das Welgen-Stadion wird unser Heimplatz
sein, wir brauchen jetzt nur noch eine Mannschaft
aufzustellen. Wie steht's mit Ihnen? Spielen Sie
noch?«

»Ich habe für meine Division gespielt«, sagte Glin-

nes. »Wir haben die Sektormeisterschaften gewon-
nen.«

»Klingt interessant. Wollen Sie's nicht mit uns ver-

suchen?«

»Unter Umständen, aber zunächst müßte ich ein

Problem lösen, bei dem Sie mir vielleicht helfen kön-
nen.«

Lord Gensifer kniff mißtrauisch die Augen zu-

sammen. »Gerne, wenn es in meiner Macht steht. Um
was für ein Problem handelt es sich denn?«

»Wie Sie wahrscheinlich wissen, hat mein Bruder

Glay die Insel Ambal ohne meine Zustimmung ver-
kauft. Er will das Geld nicht zurückgeben; es ist
futsch, um's genau zu sagen.«

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Lord Gensifer hob die Brauen. »Fanscherade?«
»Genau.«
Lord Gensifer schüttelte den Kopf. »Der verrückte

junge Narr.«

»Mein Problem ist folgendes: ich besitze selbst

dreitausend Ozols. Ich brauche jedoch noch weitere
neuntausend, um Lute Casagave auszahlen und den
Vertrag annullieren zu können.«

Lord Gensifer spitzte die Lippen und legte nach-

denklich die Finger aneinander. »Wenn Glay nicht
berechtigt war zu verkaufen, dann hatte Casagave
kein Recht zu kaufen. Mir käme also vor, daß Glay
und Casagave diese Angelegenheit unter sich ausma-
chen müßten, während Sie der gesetzliche Eigentü-
mer sind.«

»Unglücklicherweise habe ich kein gesetzliches Ei-

gentumsrecht, solange ich nicht nachweisen kann,
daß Shira tot ist, und das kann ich nicht. Ich brauche
also bares Geld.«

»Das ist schon eine ziemlich vertrackte Zwick-

mühle«, räumte Lord Gensifer ein.

»Mein Vorschlag wäre nun der – wenn ich bei Ih-

nen spielte, könnten Sie mir dann neuntausend Ozols
als Prämienanteil vorschießen?«

Lord Gensifer lehnte sich in seinem Stuhl zurück.

»Das wäre eine sehr unsichere Investition.«

»Nicht, wenn Sie eine gute Mannschaft zusam-

menbekommen. Obwohl ich mir ehrlich gesagt nicht
vorstellen kann, woher Sie die Leute nehmen wol-
len.«

»Es gibt genug.« Lord Gensifer richtete sich auf,

und die Erregung machte sein rosiges Gesicht noch
rosiger. »Ich habe mir eine Mannschaft zusammenge-

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stellt, die aus den stärksten Spielern der Gegend be-
steht. Hören Sie zu.« Er las von einem Blatt Papier ab:
»Außenstürmer: Tyran Lucho, ›Blitz‹ Latken. Mittel-
stürmer: Yalden Wirp, ›Goldring‹ Gonniksen. Sprin-
ger: Nilo Basgard, Der Wilde Wilmer Guff. Wächter:
›Eintunker‹ Maveldip, ›Käferkopf‹ Holub, Carbo
Gilweg, Holbert Hanigatz.« Lord Gensifer legte das
Blatt weg und warf Glinnes einen triumphierenden
Blick zu. »Was halten Sie von diesem Team?«

»Ich bin zu lange fort gewesen«, gestand Glinnes.

»Mir sind nur etwa die Hälfte der Namen bekannt.
Mit Gonniksen und Carbo Gilweg habe ich gespielt,
und Guff und ein oder zwei andere kenne ich als
Gegner. Sie waren vor zehn Jahren gut, und heute
sind sie vielleicht noch besser. Haben Sie alle diese
Männer für Ihre Mannschaft verpflichtet?«

»Nun – noch nicht offiziell. Ich habe es mir so ge-

dacht: ich rede mit jedem einzelnen. Ich zeige die
Aufstellung und frage ihn, ob er nicht in einer sol-
chen Mannschaft spielen will. Wer könnte da nein sa-
gen? Jeder will doch mal ein paar dicke Prämien ver-
dienen. Es wird ganz bestimmt keiner ablehnen. Ich
habe übrigens schon mit ein oder zwei der Burschen
Kontakt aufgenommen, und sie zeigten sich alle sehr
interessiert.«

»Welchen Platz gäbe es dabei für mich? Und wie

steht es mit den neuntausend Ozols?«

Lord Gensifer meinte vorsichtig: »Was Ihre erste

Frage angeht, so müssen Sie bedenken, daß ich Sie in
letzter Zeit nicht habe spielen sehen. Sie könnten
schließlich langsam und träge geworden sein, nicht
wahr... Wohin gehen Sie?«

»Danke für den Rumpunsch«, sagte Glinnes.

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»Nicht doch, einen Augenblick. Es ist nicht nötig,

sich beleidigt zu fühlen. Schließlich ist es ja nur wahr,
was ich sagte. Ich habe Sie zehn Jahre lang nicht ge-
sehen. Allerdings – wenn Sie mit den Sektorenmei-
stern gespielt haben, sind Sie zweifellos gut in Form.
Welche Position bevorzugen Sie?«

»Ich spiele alles außer Sheirl. In der Dreiundneun-

zigsten habe ich als Stürmer und Springer gespielt.«

Lord Gensifer schenkte Glinnes Punsch nach.

»Nun, da wird bestimmt etwas zu arrangieren sein.
Sie müssen aber meine Lage verstehen. Ich will die
Besten haben. Wenn Sie dazu gehören, sollen Sie für
die Gorgonen spielen. Wenn nicht – nun, dann müs-
sen wir uns einen Ersatzmann suchen. Das ist einfach
eine Frage der Vernunft – nichts, worüber man sich
aufregen müßte.«

»Also gut – und wie ist es mit den neuntausend

Ozols?«

Lord Gensifer nahm einen Schluck Punsch. »Ich

glaube, wenn alles gut geht, und Sie für unseren Ver-
ein spielen, dann müßten Sie in sehr kurzer Zeit
neuntausend Ozols an Prämien hereinbekommen.«

»Mit anderen Worten – Sie wollen mir das Geld

nicht vorschießen?«

Lord Gensifer hob die Hände. »Glauben Sie, Ozols

wachsen auf Bäumen? Ich brauche genauso dringend
Geld wie irgendein anderer. Tatsächlich ist – aber ich
will nicht auf Einzelheiten eingehen.«

»Wenn Sie so knapp mit den Finanzen sind, wie

können Sie dann eine Lösegeldkasse finanzieren?«

Lord Gensifer schnippte wegwerfend mit den Fin-

gern. »Kein Problem. Wir werden das gesamte Kapi-
tal, das dem Verein zur Verfügung steht, einsetzen –

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Ihre dreitausend Ozols eingeschlossen. Es ist ja
schließlich zu unser aller Vorteil, eine möglichst ap-
petitanregende Kasse bieten zu können.«

Glinnes glaubte seinen Ohren nicht trauen zu kön-

nen. »Meine dreitausend Ozols? Ich soll zum Vereins-
fond beitragen? Während Sie den Eigentümeranteil
an den Prämien einstecken wollen?«

Lord Gensifer lehnte sich lächelnd in seinem Stuhl

zurück. »Warum nicht? Jeder trägt nach besten Ver-
mögen bei, und jeder profitiert. Nur so kommen wir
zu etwas. Kein Grund, empört zu sein.«

Glinnes stellte seinen Becher auf das Tablett zu-

rück. »Das ist nirgendwo üblich. Die Spieler stellen
ihre Fähigkeiten zur Verfügung, der Verein finanziert
die Lösegeldkasse. Ich würde nicht einen Ozol herge-
ben; lieber würde ich eine eigene Mannschaft auf-
stellen.«

»Augenblick, Augenblick. Vielleicht finden wir ei-

nen Weg, der uns beide zufriedenstellt. Ehrlich ge-
sagt, ich bin zur Zeit gerade etwas knapp bei Kasse.
Sie brauchen zwölftausend Ozols binnen dieses Jah-
res; Ihre dreitausend sind wertlos ohne die übrigen
neuntausend.«

»Wertlos würde ich nicht sagen. Sie sind das Er-

gebnis von zehn Jahren Dienst im Whelm.«

Lord Gensifer wedelte wegwerfend mit der Hand.

»Nehmen wir mal an, Sie würden die dreitausend
Ozols für den Fond vorstrecken. Die ersten dreitau-
send Ozols, die wir einnehmen, bekämen dann Sie;
Sie hätten Ihr Geld wieder, und von da an...«

»Die anderen Spieler würden nie mit einer solchen

Regelung einverstanden sein.«

Lord Gensifer zupfte an seiner Unterlippe. »Nun,

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wir würden die Summe eben aus dem Vereinsanteil
der Prämie nehmen – mit anderen Worten, aus mei-
ner Tasche.«

»Angenommen, es gibt gar keine Prämie; ange-

nommen, wir verlieren meine dreitausend Ozols?
Was dann? Nichts!«

»Wir haben aber nicht die Absicht zu verlieren!

Man muß positiv denken, mein lieber Glinnes!«

»Ich denke positiv, was mein Geld anbelangt.«
Lord Gensifer seufzte tief. »Wie gesagt, meine per-

sönliche finanzielle Lage ist im Augenblick etwas
prekär... Aber wir könnten folgende Vereinbarung
treffen. Wir werden uns zunächst Fünftausend-Ozol-
Gegner suchen, die wir mit Leichtigkeit überrennen
müßten, und lassen unsere Kasse auf zehntausend
Ozols anwachsen. Dann nehmen wir Zehntausend-
Ozol-Gegner an. Zu diesem Zeitpunkt wird mit der
Verteilung der Prämie begonnen, und Sie bekommen
Ihre dreitausend, die Sie vorgestreckt haben, aus dem
Vereinsanteil zurück. Nach ein oder zwei Begegnun-
gen haben wir das leicht eingespielt. Danach leihe ich
Ihnen den Vereinsanteil, bis Sie auf Ihre neuntausend
Ozols kommen. Die können Sie dann in der Folge von
Ihrem normalen Anteil zurückzahlen.«

Glinnes rechnete mit einiger Verwirrung im Kopf

nach. »Das verstehe ich nicht. Sie sind mir weit vor-
aus mit diesem Finanzplan.«

»Es ist ganz einfach. Wenn wir fünf Zehntausend-

Ozol-Spiele gewinnen, haben Sie Ihr Geld.«

»Wenn wir gewinnen. Wenn wir verlieren, habe ich

gar nichts. Nicht einmal die dreitausend Ozols, die
ich jetzt habe.«

Lord Gensifer wedelte mit seiner Namensliste.

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»Diese Mannschaft wird keine Spiele verlieren, das
garantiere ich Ihnen!«

»Sie haben diese Mannschaft noch nicht! Sie haben

keine Lösegeldkasse. Sie haben nicht einmal eine
Sheirl.«

»Kein Mangel an Bewerberinnen, mein Junge!

Nicht für die Fleharish-Gorgonen! Ich habe bereits
mit Dutzenden prächtiger Geschöpfe gesprochen.«

»Alle mit der nötigen Qualifikation, zweifellos.«
»Wir werden uns schon um ihre Qualifikation

kümmern, keine Sorge! Wie lächerlich das doch ist!
Eine nackte Jungfrau sieht doch genauso aus wie je-
des nackte Mädchen. Wer kennt da schon einen Un-
terschied?«

»Die Mannschaft. Es klingt unvernünftig, das gebe

ich zu, aber Hussade ist irgendwie ein unvernünfti-
ges Spiel.«

»Darauf will ich trinken«, erklärte Lord Gensifer

etwas großspurig. »Wer schert sich um Vernunft?
Nur die Fanscher und vielleicht die Trevanyil.«

Glinnes leerte seinen Punschbecher und erhob sich.

»Ich muß jetzt nach Hause und mich um meine pri-
vaten Trevanyi kümmern. Glay hat ihnen Rabendary
geöffnet, und sie haben die Insel nach Strich und Fa-
den ausgeplündert.«

Lord Gensifer nickte weise. »Man kann einem Tre-

vanyi nichts geben, ohne daß er sich aus purer Ver-
achtung das Doppelte selber nimmt... Nun, um auf
diese dreitausend Ozols zurückzukommen, wie ha-
ben Sie sich entschieden?«

»Ich werde mir die Sache noch sehr genau überle-

gen, bevor ich zu einer Entscheidung komme. Was
diese Spielerliste angeht – wie viele haben Sie tat-

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sächlich verpflichtet?«

»Nun ja – etliche.«
»Ich werde mit allen reden und mich überzeugen,

ob sie es wirklich ernst meinen.«

Lord Gensifer runzelte die Stirn. »Hmmm. Wir

können ja noch ein wenig darüber reden. Wie wär's,
möchten Sie zum Nachtmahl bleiben? Ich bin heute
abend allein, und ich hasse es, nur in meiner eigenen
Gesellschaft zu essen.«

»Das ist sehr freundlich von Ihnen, Lord Gensifer,

aber ich bin wohl kaum zu einem Dinner in einem
Herrschaftshaus angezogen.«

Lord Gensifer machte eine wegwerfende Geste.

»Heute dinieren wir ganz formlos – obwohl ich Ihnen
einen Gesellschaftsanzug leihen könnte, wenn Sie
darauf bestehen.«

»Nun, das ist nicht nötig. Ich bin nicht so pedan-

tisch, und wenn es Ihnen nichts ausmacht...«

»Ach, ich ziehe mich heute auch nicht um. Viel-

leicht möchten Sie dann noch den Rest des Meister-
schaftsspieles sehen.«

»Das würde ich gerne.«
»Fein. Rallo! Frischen Punsch! Der hier ist schon

recht schal.«

Der große, ovale Tisch im Speisezimmer war für zwei
Personen gedeckt. Lord Gensifer und Glinnes saßen
einander gegenüber, eine weite Fläche weißen Da-
masts zwischen sich; Silber und Kristallglas glitzerten
im strahlenden Licht eines vielflammigen Kron-
leuchters.

»Es mag Ihnen seltsam erscheinen«, sagte Lord

Gensifer, »daß ich in diesem scheinbar extravaganten

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Stil lebe und doch knapp bei Kasse bin. Der Grund ist
ganz einfach. Ich beziehe mein Einkommen aus ver-
schiedenen Investitionen, und in letzter Zeit habe ich
einige Rückschläge erlitten.

Starmenter haben einige Lagerhäuser ausgeraubt

und meine Firma ein bißchen in eine Zwangslage ge-
bracht. Das ist natürlich nur temporär, versteht sich,
aber im Augenblick deckt mein Einkommen gerade
meine Ausgaben. Haben Sie von Bela Gazzardo ge-
hört?«

»Der Name ist mir untergekommen. Ein Starmen-

ter?«

»Der Schurke, der mir meine Einkünfte um die

Hälfte beschnitten hat. Der Whelm bekommt ihn an-
scheinend nicht zu fassen.«

»Früher oder später wird er geschnappt. Nur die

kleinen Starmenter überleben. Sobald sie in großem
Stil operieren und einen gewissen Ruf erlangen, sind
sie dran.«

»Bela Gazzardo betreibt sein Geschäft seit vielen

Jahren«, sagte Lord Gensifer. »Der Whelm sucht im-
mer im falschen Sektor nach ihm.«

»Früher oder später erwischt man ihn.«
Die Mahlzeit nahm ihren Lauf – ein Dutzend erle-

sene Gänge, begleitet von verschiedenen ausgezeich-
neten Weinen. Glinnes überlegte, daß das Leben in
einem Herrenhaus doch gewisse Annehmlichkeiten
zu bieten hatte, und seine Gedanken begannen in die
Zukunft zu schweifen – zu Zeiten, wo er zwanzig-
oder dreißigtausend Ozols verdient haben würde,
oder vielleicht auch hunderttausend, und wo Lute
Casavage die Ambal-Insel aufgegeben haben und das
Herrenhaus leerstehen würde. Welches Abenteuer

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wäre es dann, umzubauen, alles herzurichten und
neu zu möblieren! Glinnes sah sich schon in prächti-
gen Gewändern als Gastgeber einer Schar hervorra-
gender Persönlichkeiten an einem Tisch wie diesem
speisen... Die Vorstellung ließ Glinnes innerlich lä-
cheln. Wen würde er zu seinen Dinnergesellschaften
einladen? Akadie? Jung Harrad? Carbo Gilweg? Die
Drossets? Dussiane allerdings würde in einer solchen
Umgebung herrlich zur Geltung kommen. Glinnes
Phantasie setzte den Rest der Familie dazu, was die
liebliche Vision zum Platzen brachte.

Es war längst dunkel geworden, als Glinnes end-

lich in sein Boot stieg. Die Nacht war klar, der Him-
mel mit Myriaden Sternen übersät, die in dieser rei-
nen Luft groß wie Laternen strahlten. Beschwingt
vom Wein, von den großartigen Zukunftsaussichten,
die Lord Gensifer ausgemalt hatte, und von der zau-
berisch ruhigen Schönheit der schwarzen Wasserflä-
che, in der sich die Sterne spiegelten, ließ Glinnes sein
Boot hinaus in die Fleharish-Bucht und die Selma-
Straße entlang brausen. Unter dem prachtvollen
Nachthimmel Trullions verblaßten seine Probleme zu
gar nicht beachtenswerten Kleinigkeiten. Glay und
die Fanscherade? Eine Laune, eine Verrücktheit, eine
Belanglosigkeit. Marucha und ihr sonderbares Ver-
halten? Sollte sie doch tun, was ihr gefiel; welche bes-
sere Beschäftigung bot sich ihr denn? Lord Gensifer
und seine gerissenen Vorschläge? Nun, vielleicht lief
wirklich alles so, wie Lord Gensifer glaubte! Aber es
war schon verrückt! Anstatt neuntausend Ozols ge-
liehen zu bekommen, hatte er nur mit knapper Not
seine dreitausend gerettet! Lord Gensifers unterneh-
mungslustige Pläne beruhten zweifellos auf einem

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verzweifelten Geldbedarf, sagte sich Glinnes. Gleich-
gültig, wie leutselig und ehrlich er sich gab, Lord
Gensifer war ein Mann, vor dem man sich in acht
nehmen mußte.

Das Boot glitt die schmale Selma-Straße aufwärts,

an Stillbeerdickichten und weißschimmernden Hai-
nen von Lanting-Bäumen vorbei und schließlich hin-
aus in die Ambal-Bucht, wo ein leichter Windhauch
die Sternspiegelungen in einen glitzernd verwobenen
Teppich verwandelte. Rechter Hand lag die Ambal-
Insel, gekrönt von den Blattbüscheln der Fanzaneel-
Bäume, die sich wie rabenschwarze Federschöpfe
vom Nachthimmel abhoben. Und dort vorne – die In-
sel Rabendary, sein Heim Rabendary. Das Haus war
dunkel. War niemand da? Wo war Marucha? Nun,
vermutlich wohl bei Bekannten.

Das Boot trieb die letzten Meter an den Steg heran.

Glinnes kletterte auf die knarrenden alten Planken
hinaus, machte das Boot fest und machte sich auf den
Weg zum Haus.

Leises Ächzen von Leder, Tappen von Schritten.

Schatten huschten heran; dunkle Gestalten verdeck-
ten die Sterne. Etwas Schweres prallte auf seinen
Kopf, seine Schultern, seinen Nacken, böse, dumpfe
Schläge, die sein Rückgrat trafen, seine Zähne zu-
sammenschlagen ließen, seinen Mund mit einem
metallischen Geschmack erfüllten. Er fiel zu Boden.
Schwere Schläge krachten auf seine Rippen, seinen
Schädel; der knirschende Aufprall jedes Schlags
wuchs zu einem Donner an, der die ganze Welt aus-
füllte. Er versuchte sich wegzurollen, sich zusam-
menzukrümmen, aber dann ging sein Bewußtsein in
dem Donnerrollen unter.

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Die Tritte hörten auf; Glinnes kam sich seltsam

körperlos und schwebend vor. Er spürte wie aus
weiter Ferne, daß jemand seine Kleider abtastete. Ein
heiseres Flüstern vibrierte durch sein Hirn: »Das
Messer, nimm das Messer.« Wieder eine Berührung,
dann neuerliche Tritte. Ganz von weitem glaubte
Glinnes den Glockenton eines unbekümmerten La-
chens zu hören. Dann zersplitterte sein Bewußtsein
wie ein aufprallender Tropfen Quecksilber, und er
rührte sich nicht mehr.

Die Zeit verging; der Teppich der Sterne rutschte
über das Firmament. Langsam, ganz langsam began-
nen sich die Splitter des Bewußtseins wieder zu ver-
einigen.

Ein kräftiger, kalter Griff umklammerte Glinnes'

Fußgelenk, zerrte ihn auf dem Pfad hinunter zum
Wasser. Glinnes stöhnte und versuchte vergeblich,
seine Finger in die Erde zu krallen. Mit aller verblie-
benen Kraft stieß er mit dem freien Fuß nach unten
und traf etwas Schwammiges. Der Griff um seinen
Knöchel lockerte sich. Glinnes richtete sich mühsam
und ächzend auf Hände und Knie auf und kroch den
Pfad zurück. Der Merling folgte ihm und packte ihn
erneut beim Fuß. Glinnes trat wieder nach ihm, und
der Merling ächzte zornig.

Schwach wälzte Glinnes sich herum. Unter den

flammenden Sternen von Trullion maßen sich
Mensch und Merling. Glinnes begann auf seinen
Hinterbacken rückwärts zu rutschen, immer nur ein
paar Handbreit. Der Merling hopste vor. Dann stieß
Glinnes mit dem Rücken an die Verandastufen. Dar-
unter lagen Fechtstöcke aus Dornholz verwahrt.

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Glinnes drehte sich um und tastete danach; seine Fin-
ger berührten einen der Stöcke. Der Merling machte
einen Satz vorwärts, packte und zog ihn wieder auf
das Wasser zu. Glinnes zappelte wie ein gestrandeter
Fisch und schlug wild um sich. Er konnte sich
schließlich losreißen und zurück zur Veranda schlep-
pen. Der Merling stieß ein enttäuschtes Krächzen aus
und sprang vorwärts; Glinnes packte einen Stock und
stieß damit in die Leistengegend des Wesens. Der
Merling sackte zusammen, und Glinnes zog sich die
Stufen hinauf, den Stock erhoben, aber der Merling
wagte sich nicht mehr vor. Glinnes kroch ins Haus
und zwang sich zum Aufstehen. Er taumelte zum
Lichtschalter und seufzte erleichtert, als die Lampe
aufleuchtete. Er stand sehr unsicher auf den Füßen,
sein Schädel pochte, der Raum verschwamm ihm vor
den Augen. Das Atmen zerrte schmerzhaft an seinen
Rippen; vermutlich waren etliche gebrochen. Seine
Schenkel schmerzten – die Angreifer hatten versucht,
ihn in die Leisten zu treten, hatten aber dank der
Dunkelheit nicht getroffen. Da durchzuckte ihn ein
neues, schärferes Unbehagen; er tastete nach seiner
Brieftasche. Nichts. Er warf einen Blick auf die Schei-
de an seinem Stiefel; sein kostbares Proteummesser
war weg.

Glinnes seufzte wütend. Wer hatte das auf dem

Gewissen? Er hatte die Drossets in Verdacht. Als ihm
das glockenhelle Lachen einfiel, war er dessen sicher.

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KAPITEL 8

In der Früh war Marucha immer noch nicht nach
Hause gekommen; Glinnes nahm an, daß sie die
Nacht mit einem Liebhaber verbracht hatte. Er war
froh, daß sie nicht da war – sie hätte nur sein mißli-
ches Erlebnis nach allen Seiten hin durchleuchtet, und
danach war ihm durchaus nicht zumute.

Glinnes hatte auf der Couch geschlafen. Jeder Kno-

chen tat ihm weh, und seine Wut auf die Drossets ließ
ihn in Schweiß ausbrechen. Er schleppte sich ins Ba-
dezimmer und besah sich sein purpurn verschwolle-
nes Gesicht. Im Toilettenschrank fand er einen
schmerzlindernden Trank, von dem er sich eine ge-
hörige Dosis genehmigte und zur Couch zurück-
wankte.

Den Vormittag über fiel er immer wieder in unru-

higen Schlaf. Am Mittag schlug das Glockensignal
des Bildtelefons an. Glinnes taumelte quer durch den
Raum und sprach ins Mikrofongitter, ohne sich vor
dem Bildschirm zu zeigen. »Wer ist da?«

»Hier ist Marucha«, ertönte die klare Stimme seiner

Mutter. »Glinnes – bist du das?«

»Ja.«
»Nun, dann laß dich sehen; ich spreche ungern mit

jemandem, den ich nicht sehen kann.«

Glinnes tastete an dem Aufnahmeschalter herum.

»Die Bildtaste scheint sich verklemmt zu haben.
Kannst du mich jetzt sehen?«

»Nein. Nun, es ist weiter nicht wichtig. Glinnes, ich

bin zu einer Entscheidung gekommen. Akadie hat
mich vor langer Zeit gebeten, sein Heim mit ihm zu

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teilen, und jetzt, da du wieder zurück bist und ir-
gendwann doch eine Frau ins Haus bringen wirst,
habe ich zugestimmt.«

Glinnes konnte ein betroffenes Auflachen nicht

ganz unterdrücken. Wie zornig sein Vater Jut gewe-
sen wäre! »Ich wünsche dir alles Gute, Mutter, und
bitte richte Akadie meine Grüße aus.«

Marucha zog die Brauen zusammen. »Glinnes, dei-

ne Stimme klingt so seltsam. Geht es dir gut?«

»Ja, doch – ich bin nur ein bißchen heiser. Sobald

du dich eingerichtet hast, werde ich euch besuchen
kommen.«

»Tu das, Glinnes. Bitte achte auf dich, und sei nicht

zu streng mit den Drossets. Was schadet es schon,
wenn sie auf Rabendary bleiben möchten?«

»Ich werde mir deinen Rat sicher gut überlegen,

Mutter.«

»Auf Wiedersehn, Glinnes.«
Glinnes seufzte tief und zuckte zusammen, als ein

stechender Schmerz seine Rippen durchfuhr. Waren
doch welche gebrochen? Er tastete vorsichtig mit den
Fingern die empfindlichsten Stellen ab, konnte jedoch
nichts finden.

Er nahm sich eine Schüssel Haferbrei mit auf die

Veranda und hielt eine ziemlich triste Mahlzeit. Die
Drossets waren natürlich fort. Verstreute Abfälle, ein
Haufen dürrer Blätter und eine häßliche Latrine aus
Ästen und welkem Laub waren als sichtbare Spuren
ihrer Anwesenheit zurückgeblieben. Ihre nächtliche
Arbeit hatte ihnen dreitausendvierhundert Ozols ein-
gebracht, außerdem die Genugtuung, ihren Widersa-
cher bestraft zu haben. Die Drossets konnten heute
sehr zufrieden mit sich sein.

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Glinnes ging zum Telefon und rief Egon Rimbold,

den praktischen Arzt aus Saurkash, an. Er erklärte
andeutungsweise, was ihm widerfahren war, und
Rimbold versprach, vorbeizuschauen.

Glinnes hinkte wieder auf die Veranda hinaus und

ließ sich vorsichtig in einen der alten Flechtstühle
sinken. Die Aussicht tröstete ihn ein wenig mit ihrer
gewohnten, beschaulichen Schönheit. Perlmuttfarbe-
ner Dunst lag wie ein Schleier über der Ferne; Ambal
schaute aus wie eine schwebende Feeninsel. Seine
Gedanken begannen zu wandern... Marucha war in
Mißachtung aller aristokratischen Verhaltensregeln
eine Hussade-Prinzessin geworden und hatte die
schmerzliche Entwürdigung – oder vielleicht eher
Genugtuung – einer öffentlichen Entblößung riskiert,
weil sie sich einen adeligen Ehemann erhoffte. Sie
hatte sich schließlich mit dem Squire von Rabendary,
Jut Hulden, begnügt. Vielleicht hatte sie immer das
Bild des Herrenhauses von Ambal vor Augen gehabt,
auch wenn nichts Jut dazu hätte bewegen können,
darin zu wohnen... Nun war Jut tot, Ambal war ver-
kauft, und Marucha wurde durch nichts mehr auf
Rabendary gehalten... Um die Ambal-Insel wiederzu-
bekommen, konnte er Casavage die zwölftausend
Ozols zurückzahlen und den Vertrag zerreißen. Oder
er konnte nachweisen, daß Shira tot war, worauf die
Transaktion ungesetzlich geworden wäre. Aber
zwölftausend Ozols waren nicht so leicht aufzutrei-
ben, und ein Mann, den sich die Merlinge für eine
Mahlzeit geholt hatten, hinterließ wenig Spuren...
Glinnes beugte sich vor, um den Pfad zu mustern. Ja,
da war die Stelle, wo die Drossets hinter der Dorn-
beerenhecke gewartet hatten. Und da hatten sie ihn

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niedergeschlagen. Dort waren die Spuren, wo er sich
in die Erde gekrallt hatte... gar nicht weit von der täu-
schend ruhigen Oberfläche des Farwan-Gewässers.

Egon Rimbolds wendiges schwarzes Motorboot er-

schien. »Sie sind anscheinend nicht aus dem Krieg
zurückgekehrt«, sagte Rimbold beim Aussteigen,
»sondern in einen hineingeraten.«

Glinnes berichtete, was ihm passiert war. »Ich

wurde zusammengeschlagen und ausgeraubt.«

Rimbold blickte über die Wiese. »Wie ich sehe, sind

die Drossets fort.«

»Fort, aber nicht vergessen.«
»Nun, dann wollen wir mal sehen, was wir für Sie

tun können.«

Mit den hochentwickelten pharmazeutischen Pro-

dukten Alastors und Kunsthaut-Schnellverbänden
fiel es Rimbold nicht schwer, Glinnes so zu verarzten,
daß er sich wieder einigermaßen normal zu fühlen
begann.

Während er seine Instrumente einpackte, erkun-

digte sich Rimbold: »Ich nehme an, daß Sie den Über-
fall der Gendarmerie gemeldet haben?«

Glinnes riß die Augen auf. »Um die Wahrheit zu

sagen, der Gedanke ist mir überhaupt nicht gekom-
men.«

»Es wäre aber klug. Die Drossets sind eine gefährli-

che Bande. Das Mädchen ist genauso schlimm wie die
anderen.«

»Ich werde sie mir schon noch vorknöpfen«, sagte

Glinnes. »Ich weiß noch nicht, wie oder wann, aber es
wird keiner ungeschoren davonkommen.«

Rimbold hob die Hand in einer zu Vorsicht mah-

nenden Geste und verabschiedete sich.

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Glinnes ging sich wieder im Spiegel begutachten

und empfand etwas wie mürrische Genugtuung über
sein verbessertes Aussehen. Er kehrte auf die Veran-
da zurück, ließ sich vorsichtig in einem Sessel nieder
und begann darüber nachzudenken, wie er sich an
den Drossets rächen konnte. Bloße Drohung mit den
Behörden würde wenig fruchten und bei genauerer
Überlegung ihm auch keinerlei Befriedigung ver-
schaffen.

Nach einer Weile packte ihn Ruhelosigkeit. Er

humpelte auf dem Besitz umher, schaute sich um und
war entsetzt über die Vernachlässigung und den Ver-
fall überall. Selbst für Trill-Begriffe war der Zustand
Rabendarys eine Schande, und Glinnes wurde neuer-
lich wütend auf Glay und Marucha. Empfanden sie
denn gar nichts für ihr altes Heim? Egal – jetzt würde
er sich um die Dinge kümmern, und Rabendary wür-
de wieder so werden, wie er es aus der Kindheit in
Erinnerung hatte.

Heute war er allerdings zu zerschlagen zum Ar-

beiten. Da er nichts Besseres zu tun wußte, kletterte er
vorsichtig in sein Boot und fuhr das Farwan-
Gewässer hinauf bis zum Fluß und dann um die
Nordspitze von Rabendary herum zur Insel Gilweg,
wo seine Freunde, die Gilwegs, ihr weitläufiges altes
Haus hatten. Der Rest des Tages verging mit einem
jener typischen Trill-Feste, die die Fanscher als leicht-
sinnig, unmoralisch und hedonistisch verurteilten.
Glinnes trank sich einen kleinen Schwips an, sang alte
Lieder zu der Musik von Ziehharmonikas und Gitar-
ren, vergnügte sich mit den Gilweg-Mädchen und
war alles in allem ein so guter Gesellschafter, daß die
Gilwegs sich spontan erbötig machten, gleich am

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nächsten Tag nach Rabendary zu kommen und bei
der Säuberung des Drosset-Lagerplatzes zu helfen.

Schließlich kam man auch auf Hussade zu spre-

chen. Glinnes erwähnte Lord Gensifer und die Fleha-
rish-Gorgonen. »Vorläufig ist die Mannschaft nur ei-
ne Liste von glänzenden Namen. Was ist aber, wenn
die Leute wirklich alle Gorgonen werden? Es hat
schon seltsamere Dinge gegeben. Er möchte, daß ich
im Sturm spiele, und ich bin fast versucht mitzuma-
chen, und wenn's nur wegen des Geldes ist.«

»Pah«, sagte Carbo Gilweg. »Lord Gensifer kennt

nicht mal naß und trocken auseinander, soweit es um
Hussade geht. Und woher will er die nötigen Ozols
kriegen? Es weiß doch jeder, daß er von der Hand in
den Mund lebt.«

»Stimmt nicht!« erklärte Glinnes. »Ich habe mit ihm

gegessen, und kann mich dafür verbürgen, daß er
sich's sehr gut gehen läßt.«

»Das mag schon sein, aber eine tüchtige Mann-

schaft zu managen ist etwas ganz anderes. Er muß
Uniformen und Helme besorgen und eine anständige
Prämienkasse bieten können – das alles kostet minde-
stens fünftausend Ozols, wenn nicht mehr. Ich be-
zweifle, daß seine Pläne Zukunft haben werden. Wen
will er denn als Kapitän nehmen?«

Glinnes dachte nach. »Ich glaube nicht, daß er je-

mand Bestimmten erwähnt hat.«

»Das ist aber der ausschlaggebende Punkt. Wenn er

einen tüchtigen Kapitän verpflichtet, würde er auch
Spieler gewinnen können, die ein bißchen skeptischer
sind als du.«

»Du

brauchst

mich

nicht

für

dumm

zu

halten!

Ich

ha-

be

nur

ein

gewisses Interesse bekundet, weiter nichts.«

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»Du würdest mit unseren guten alten Tanchinaros

von Saurkash besser fahren«, erklärte Ao Gilweg.

»Wir könnten wirklich ein Paar von guten Stür-

mern brauchen«, sagte Carbo.

»Unsere Verteidigung, das kannst du mir glauben,

ist besser als die meisten, aber unsere Leute schaffen
es nur selten bis über den Graben. Komm zu den
Tanchinaros! Wir werden die Präfektur Jolany nieder-
rennen.«

»Wie hoch beläuft sich eure Kasse?«
»Also, wir kommen einfach nicht über tausend

Ozols hinaus«, gab Carbo zu. »Mal gewinnen wir,
dann verlieren wir wieder. Ehrlich gesagt, die Mann-
schaft ist zu ungleich zusammengesetzt. Der alte
Neronavy ist auch nicht der Kapitän, der einen an-
feuern könnte; er rührt sich nie von seiner Hange weg
und kennt genau drei Spielvarianten. Wir könnten
die Aufstellung ändern, aber das würde auch nicht
viel ausmachen.«

»Du hast mich eben an die Gorgonen verloren«,

sagte Glinnes. »Ich erinnere mich nämlich von vor
zehn Jahren an Neronavy. Ich hätte lieber Akadie als
Kapitän.«

»Gleichgültigkeit, Faulheit«, seufzte Ao Gilweg.

»Unser Team braucht jemanden zum Anfeuern.«

»Wir haben seit zwei Jahren keine hübsche Sheirl

mehr gehabt«, sagte Carbo. »Jenlis Wade – langweilig
wie ein toter Cavout. Sie hat nur dumm geschaut, als
sie ihr Gewand verlor. Barsilla Cloforeth – du liebe
Güte, zu groß und verhungert. Als sie entblößt wur-
de, hat's keiner der Mühe wert befunden, auch nur
hinzuschauen! Und die gute Barsilla ist empört hin-
ausstolziert.«

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»Wir hätten hier ganz appetitliche Sheirls« – Ao

Gilweg deutete mit dem Daumen auf seine Töchter
Rolanda und Berinda – »nur ziehen sie es vor, mit
den Burschen etwas anderes als Hussade zu spielen.
Jetzt sind sie – glaube ich – nicht mehr ganz... äh...
qualifiziert.«

Der Nachmittag ging in Avness über, Avness wur-

de zur Abenddämmerung, die Dämmerung zur Dun-
kelheit, und Glinnes wurde eingeladen, doch lieber
über Nacht zu bleiben.

In der Früh kehrte Glinnes nach Rabendary zurück

und begann den Lagerplatz der Drossets zu säubern.
Ein seltsamer Umstand ließ ihn innehalten. An der
Stelle, wo das Feuer gewesen war, hatte jemand ein
gut sechzig Zentimeter tiefes Loch in die Erde gegra-
ben. Es war jetzt leer. Glinnes konnte sich keine ver-
nünftige Erklärung für ein solches Loch genau in der
Mitte der alten Feuerstelle denken.

Mittags erschienen die Gilwegs, und zwei Stunden

später war jede Spur von der Anwesenheit der Dros-
sets beseitigt worden.

Inzwischen hatten die weiblichen Mitglieder der

Familie eine Mahlzeit bereitet, so gut es sich nach
Plünderung von Maruchas Speisekammer – die ihnen
ziemlich schäbig vorkam – bewerkstelligen ließ. Im
übrigen hatten die Frauen nie viel von Marucha ge-
halten; sie trug ihnen die Nase zu hoch.

Die Gilwegs kannten nun Glinnes' Schwierigkeiten

in allen Einzelheiten. Sie überschütteten ihn mit
Sympathiekundgebungen und recht widersprüchli-
chen Ratschlägen. Ao Gilweg, das Oberhaupt der
Familie, hatte bei mehreren Gelegenheiten mit Lute
Casavage gesprochen. »Ein abgefeimter Bursche, der

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was weiß ich für Pläne ausheckt! Er ist ganz bestimmt
nicht seiner Gesundheit zuliebe auf die Ambal-Insel
gezogen!«

»Diese Fremdweltler sind doch immer irgendwie

komisch«, erklärte Clara, seine Frau. »Ich habe schon
viele getroffen, und alle sind sie überspannt und ner-
vös und wissen nicht, wie man sein Leben genießt.«

»Casavage ist entweder schüchtern oder blind«,

sagte Carbo. »Wenn man seinem Boot begegnet,
schaut er nicht einmal auf.«

»Er hält sich für einen große Adeligen«, sagte Clara

mit gerümpfter Nase. »Er ist sich viel zu gut für uns
gewöhnliche Leute. Jedenfalls haben wir noch keinen
Tropfen von seinem Wein zu kosten bekommen.«

Claras Schwester Currance fragte: »Habt ihr seinen

Diener gesehen? Der ist ein Anblick! Ich glaube, er ist
ein halber Polgon-Affe oder so was. Der jedenfalls
wird keinen Fuß in mein Haus setzen, das schwöre
ich euch.«

»Ja, das stimmt«, stellte Clara fest. »Er sieht aus wie

ein übler Schurke. Und vergeßt nicht: wie der Knecht,
so der Herr! Lute Casagave wird nicht besser sein als
sein Diener!«

Ao Gilweg hob beschwichtigend die Hände. »Ach,

hört doch auf. Wir wollen vernünftig sein. Keiner
dieser beiden Männer ist irgendeiner Schuld über-
führt worden; niemand hat sie auch nur beschuldigt!«

»Er hat sich die Ambal-Insel unter den Nagel geris-

sen! Reicht das nicht?«

»Moment – vielleicht wurde er irregeführt, wer

weiß? Er kann sehr wohl ein gerechter und schuldlo-
ser Mann sein.«

»Ein gerechter und schuldloser Mann würde einen

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zu Unrecht erworbenen Besitz zurückgeben!«

»Genau! Vielleicht ist Lute Casagave ein solcher

Mann!« Ao wandte sich an Glinnes. »Hast du schon
versucht, die Angelegenheit mit Lute Casagave selbst
zu besprechen? Ich glaube nicht.«

Glinnes blickte zweifelnd hinüber zur Ambal-Insel.

»Ich könnte wohl mit ihm reden, das stimmt schon.
Was aber nicht die eine unangenehme Tatsache be-
seitigt, daß selbst ein gerechter Mann seine zwölftau-
send Ozols würde wiederhaben wollen, und die kann
ich ihm nicht geben.«

»Verweise ihn doch an Glay, dem er den Betrag

auszahlte«, riet Carbo. »Er hätte sich über die Besitz-
rechte informieren sollen, bevor er den Kauf ab-
schloß.«

»Das ist wirklich seltsam, sehr seltsam... Wenn er

nicht sicher wußte, daß Shira tot ist – was zu recht
makabren Vermutungen Anlaß geben würde.«

»Ach was!« rief Ao Gilweg. »Pack den Stier bei den

Hörnern und rede mit dem Mann selber. Sag ihm, er
solle deinen Besitz räumen und sich sein Geld bei
Glay zurückholen, dem Mann, dem er es zu Unrecht
bezahlt hat.«

»Bei den fünfzehn Teufeln, du hast recht!« rief

Glinnes. »Es ist ganz klar und eindeutig – rechtlich ist
seine Position unhaltbar! Ich werde ihm das gleich
morgen klarmachen.«

»Denk an Shira!« meinte Carbo Gilweg. »Vielleicht

ist er ein Mann, der vor nichts zurückschreckt!«

»Nimm am besten eine Waffe mit«, rief Ao Gilweg.

»Nichts bringt die Leute so schnell zur Vernunft wie
ein Strahler.«

»Im Augenblick habe ich keine Waffe«, sagte Glin-

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nes. »Diese Schurken von Trevanyi haben meine Ta-
schen geleert wie ein Schnauzrüßler, der Käfer aus
dem Holz saugt. Aber ich glaube eigentlich nicht, daß
ich eine Waffe brauchen werde; wenn Casagave so
vernünftig ist, wie ich hoffe, werden wir uns wohl
schnell einigen.«

Zwischen dem Bootssteg von Rabendary und der In-
sel Ambal lagen nur ein paar hundert Meter ruhiges
Wasser, und Glinnes hatte die Überfahrt unzählige
Male gemacht. Noch nie aber war sie ihm so lang
vorgekommen.

Auf der Insel rührte sich nichts; nur Casagaves

graues Motorboot verriet, daß er da sein mußte. Glin-
nes machte sein Boot fest und sprang zielstrebig an
Land, was ihm aber nur seine angeknacksten Rippen
schmerzhaft in Erinnerung brachte. Wie es die Eti-
kette verlangte, betätigte er die Glocke, bevor er den
Weg hinaufging.

Das Herrenhaus von Ambal war dem Gensifer-

Landsitz sehr ähnlich: ein hohes, weißes Bauwerk
von extravaganter Vielfalt. Aus jeder Mauer ragten
Erker hervor, das Dach ruhte auf kannelierten Säulen:
vier Kuppeln aus Milchglas und ein goldenes Türm-
chen in der Mitte. Aus dem Kamin kam diesmal kein
Rauch; aus dem Innern war kein Ton zu hören. Glin-
nes drückte auf die Türglocke.

Eine Minute verging. Hinter einem Erkerfenster

regte sich etwas; dann ging die Tür auf, und Lute Ca-
sagave spähte heraus – ein weitaus älterer Mann als
Glinnes, mit dünnen Beinen und hängenden Schul-
tern, der einen Fremdweltler-Anzug aus grauem
Tuch trug. Silberweiße Haarsträhnen hingen ihm in

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das hagere Gesicht. Er hatte eine lange, knochige Na-
se, hohle Wangen und Augen, die wie kalte Stein-
splitter aussahen. Casagaves Züge verrieten einen
wachen und disziplinierten Verstand, aber er hatte
ganz bestimmt nicht das Gesicht eines Mannes, der
zugunsten abstrakter Gerechtigkeit zwölftausend
Ozols opfern würde.

Casagave äußerte weder einen Gruß noch eine Fra-

ge, sondern starrte seinen Besucher nur schweigend
an, als erwarte er, daß Glinnes sofort den Grund sei-
nes Herkommens nenne.

Glinnes sagte höflich: »Ich bedaure, daß ich

schlechte Nachrichten für Sie habe, Lute Casagave.«

»Sie können mich Lord Ambal nennen.«
Glinnes blieb der Mund offen. »Lord Ambal?«
»So wünsche ich hier betitelt zu werden.«
Glinnes schüttelte zweifelnd den Kopf. »Alles

schön und gut; Ihr Blut mag das edelste von Trullion
sein, trotzdem können Sie nicht Lord Ambal sein,
weil die Insel Ambal nicht Ihr Eigentum ist. Das ist
die schlechte Nachricht, die ich erwähnte.«

»Wer sind Sie?«
»Ich bin Glinnes Hulden, Squire von Rabendary,

und die Ambal-Insel gehört mir. Sie haben meinem
Bruder Glay Geld gegeben für einen Besitz, der ihm
gar nicht gehörte. Die Situation ist für uns beide nicht
sehr angenehm. Ich habe selbstverständlich nicht die
Absicht, Pacht von Ihnen zu verlangen für die Zeit,
die Sie hier gelebt haben, aber ich fürchte, Sie werden
sich einen anderen Wohnsitz suchen müssen.«

Casagaves Brauen zogen sich zusammen; seine

Augen wurden zu grauen Schlitzen. »Das ist Unsinn.
Ich bin Lord Ambal, der direkte Nachkomme jenes

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Lord Ambal, der den Besitz seiner Vorfahren illegal
zu veräußern versuchte. Der ursprüngliche Kaufver-
trag war ungültig; das Eigentumsrecht der Huldens
hatte von Anfang an keine legale Grundlage. Seien
Sie dankbar für die zwölftausend Ozols; ich war nicht
verpflichtet, irgend etwas zu zahlen.«

»Also hören Sie!« schrie Glinnes. »Die Insel wurde

an meinen Urgroßvater verkauft. Der Verkauf wurde
im Grundbuch von Welgen eingetragen und kann
nicht so einfach abgetan werden!«

»Da bin ich nicht so sicher«, sagte Lute Casagave.

»Sie sind Glinnes Hulden? Ich habe mit Ihnen nichts
zu schaffen. Shira Hulden ist der Mann, von dem ich
den Besitz kaufte, wobei Ihr Bruder Glay als sein
Agent auftrat.«

»Shira ist tot«, sagte Glinnes. »Der Verkauf war ein

Schwindel. Ich schlage vor, daß Sie von Glay Ihr Geld
zurückfordern.«

»Shira ist tot? Woher wollen Sie das wissen?«
»Er ist tot, wahrscheinlich ermordet und von den

Merlingen verschleppt worden.«

»›Wahrscheinlich‹? Wahrscheinlichkeit hat juri-

stisch keinerlei Bedeutung. Mein Kaufvertrag ist gül-
tig, falls Sie nicht das Gegenteil beweisen können
oder falls Sie sterben. Dann wäre die Frage ja sowieso
hinfällig.«

»Ich habe nicht die Absicht zu sterben«, sagte Glin-

nes.

»Wer hat das schon? Es passiert doch fast immer

gegen unseren Willen.«

»Sagen Sie mal, soll das eine Drohung sein?«
Casagave lachte trocken. »Sie haben die Insel Am-

bal unberechtigt betreten; es bleiben Ihnen zehn Se-

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kunden, sich zu entfernen.«

Glinnes' Stimme zitterte vor Wut. »Da sitzen Sie

aber im falschen Boot. Ich gebe im Gegenteil Ihnen
drei Tage und nicht eine Minute mehr, um meinen
Besitz zu räumen.«

»Was dann?« fragte Lute Casagave spöttisch.
»Das werden Sie schon sehen, wenn Sie die Ambal-

Insel nicht verlassen!«

Casagave stieß einen schrillen Pfiff aus. Schwere

Schritte dröhnten, und hinter Glinnes tauchte ein gut
zwei Meter großer Mann auf, der mindestens seine
dreihundert Pfund wog. Seine Haut hatte die Farbe
von Teakholz; schwarzes Haar bedeckte seinen Schä-
del wie dichter Pelz.

Casagave wies mit dem Daumen zur Anlegestelle.

»Entweder ins Boot oder ins Wasser.«

Glinnes, dem vom letzten Mal Verprügeltwerden

noch allerhand wehtat, wollte nicht eine zweite sol-
che Erfahrung riskieren. Er machte kehrt und mar-
schierte den Weg hinunter. Lord Ambal? Welcher
Betrug! Das war also der Grund für Casagaves ge-
nealogische Forschungen gewesen.

Glinnes stieß sein Boot hinaus aufs Meer. Langsam

umkreiste er die Insel Ambal; noch nie war sie ihm so
schön vorgekommen. Was sollte er tun, wenn Casa-
gave das dreitägige Ultimatum einfach nicht beach-
tete – was er ziemlich sicher tat? Glinnes schüttelte
niedergeschlagen den Kopf. Gewaltanwendung wür-
de ihn nur in Konflikt mit den Behörden bringen –
wenn er nicht Shiras Tod beweisen konnte.

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KAPITEL 9

Akadie lebte in einem bizarren alten Schlößchen auf
einer Klippe oberhalb der Clinkhammer-Bucht, einige
Meilen nordöstlich von Rabendary. Die Landspitze
wurde Rorquins Zahn genannt, ein schwarzer ver-
witterter Felsbuckel, vielleicht der Rest eines alten
Vulkans, und war jetzt mit Jardbüschen, Feuerblüten
und Zwergpomandern bewachsen; auf der Landseite
drängte sich eine Gruppe von Sentinellobäumen.
Akadies Schloß, das Hirngespinst eines längst verges-
senen Lords, reckte fünf Türme gegen den Himmel,
alle von anderer Höhe und verschiedenem Stil. Einer
war mit Schieferplatten gedeckt, einer mit Ziegeln,
ein dritter mit grünen Glaskacheln, der vierte mit Blei
und der fünfte mit dem Spandex genannten Kunst-
stoff. In jedem war unmittelbar unter dem Dach ein
Studierraum eingerichtet, die den verschiedensten
Stimmungen Akadies entsprechend ausgestattet wa-
ren. Akadie schätzte und pflegte seine Launen und
fand, daß die widersprüchliche Persönlichkeit eine
Tugend war.

Früh am Morgen, als der Dunst noch in dünnen

Schwaden über dem Wasser lag, steuerte Glinnes sein
Boot nach Norden durchs Farwan-Gewässer und den
Saur, dann in westlicher Richtung durch die schmale,
schlingpflanzenverseuchte Vernice-Straße in die
Clinkhammer-Bucht. Das ruhige Wasser spiegelte
Akadies fünftürmiges Schlößchen mit allen seinen bi-
zarren Einzelheiten.

Akadie war gerade erst aufgestanden. Zerzauste

Haarsträhnen hingen ihm ins Gesicht, und die Augen

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hatte er bestenfalls halb offen. Trotzdem begrüßte er
Glinnes einigermaßen freundlich. »Bitte komme nicht
vor dem Frühstück auf dein Anliegen zu sprechen;
ich bin noch nicht in einem sehr ansprechbaren Zu-
stand.«

»Ich will nur Marucha besuchen«, sagte Glinnes.

»Diesmal bedarf ich nicht deiner Dienste.«

»Dann ist's ja gut.«
Marucha, die immer schon eine Frühaufsteherin

gewesen war, wirkte angespannt und verdrossen; sie
begrüßte Glinnes nicht gerade herzlich und setzte
Akadie ein Frühstück vor, das aus Obst, Tee und
Brötchen bestand. Glinnes bot sie eine Tasse Tee an.

»Ah!« seufzte Akadie, »der Tag beginnt, und lang-

sam bin ich wieder imstande, mich der Welt zu wid-
men.« Er trank seinen Tee. »Und wie stehen deine
Angelegenheiten?«

»Wie zu erwarten. Meine Probleme sind nicht

durch ein einfaches Fingerschnippen zu bereinigen.«

»Manchmal«, philosophierte Akadie, »hat man

keine anderen Probleme als jene, die man sich selbst
bereitet.«

»Das trifft für meinen Fall gewiß zu«, sagte Glin-

nes. »Ich bemühe mich, meinen Besitz zurückzuer-
halten und das, was ich noch habe, zu schützen – und
das provoziert natürlich meine Feinde.«

Marucha, die in der Küche herumhantierte, zeigte

betontes Desinteresse für die Unterhaltung.

»Der eigentliche Schuldige ist natürlich Glay«, fuhr

Glinnes fort. »Er hat nichts als Schwierigkeiten ge-
stiftet und sich dann empfohlen. Ich finde, für einen
Hulden – und für einen Bruder – ist das eine ausge-
sprochen miese Handlungsweise.«

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Marucha konnte sich nicht länger bezähmen. »Ich

glaube nicht, daß er sich viel darum schert, ob er ein
Hulden ist oder nicht. Und was brüderliches Verhal-
ten angeht – das sollte auf Gegenseitigkeit beruhen.
Du hilfst ihm bei seinen Vorhaben ja auch nicht.«

»Das kostet zu viel«, sagte Glinnes. »Glay kann es

sich leisten, zwölftausend Ozols zu verschenken, weil
das Geld nie ihm gehört hat. Ich habe nur dreitau-
sendvierhundert Ozols ersparen können, und die ha-
ben mir Glays Kumpane, die Drossets, gestohlen.
Jetzt habe ich nichts mehr.«

»Du hast die Insel Rabendary. Das ist viel.«
»Endlich scheinst du einzusehen, daß Shira tot ist.«
Akadie hob die Hand. »Also bitte! Komm, nehmen

wir uns den Tee mit in den Südturm. Hier hinauf,
aber gib acht, die Stufen sind schmal.«

Sie stiegen in den niedrigsten und geräumigsten

Turm hinauf, von dem man über die ganze Clink-
hammer-Bucht sehen konnte. Akadie hatte die dunkle
Wandtäfelung mit uralten Bannern und Wimpeln be-
hängt; eine Ecke des Raums wurde von einer Samm-
lung ausgefallener roter Steinguttöpfe eingenommen.
Akadie stellte Teekanne und Tasse auf dem niedrigen
Tischchen ab und bedeutete Glinnes, sich einen der
alten Korbstühle heranzuholen. »Als ich Marucha bat,
mein Haus mit mir zu teilen, habe ich nicht erwartet,
auch die Familienzwistigkeiten mitgeliefert zu be-
kommen.«

»Ich bin heute morgen wohl ein bißchen unleid-

lich«, gab Glinnes zu. »Aber ich habe guten Grund
dazu: die Drossets haben mir im Finstern aufgelauert,
mich zusammengeschlagen und mir mein ganzes
Geld abgenommen. Ich kann seitdem nachts kaum

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mehr schlafen. In mir brodelt und kocht es vor Wut.«

»So was kann einen schon erbittern«, räumte Aka-

die ein. »Denkst du vielleicht an Vergeltungsmaß-
nahmen?«

Glinnes warf ihm einen ungläubigen Blick zu. »Ich

denke kaum mehr an etwas anderes! Aber mir fällt
nichts Vernünftiges ein. Ich könnte ein oder zwei
Drossets umbringen und auf dem Prutanschyr enden,
aber dadurch bekäme ich kaum mein Geld wieder.
Ich könnte ihren Wein mit einer Droge versetzen und
ihr Lager durchsuchen, während sie schlafen, aber ich
habe kein solches Mittel, und selbst wenn ich es hätte,
wie könnte ich sicher sein, daß sie alle von dem Wein
getrunken haben?«

»Solche Dinge planen sind leichter, als sie sich

durchführen lassen«, bemerkte Akadie weise. »Aber
gestatte mir einen vielleicht nützlichen Hinweis. Hast
du schon vom Xian-Moor gehört?«

»Ich

war noch nie dort«, sagte Glinnes. »Aber soviel

ich weiß, ist dort die Begräbnisstätte der Trevanyi.«

»Es ist sehr viel mehr als das. Der Todesvogel

kommt aus dem Tal von Xian, und der Sterbende
vernimmt seinen Gesang. In den Schatten der großen
Ombrils, die sonst nirgendwo in Merlank wachsen,
wandeln die Geister der Trevanyi. Höre – das ist der
wichtigste Punkt: wenn du die Krypta der Drossets
fändest und dir eine der Totenurnen holtest, würde
Vang Drosset selbst die Reinheit seiner Tochter op-
fern, um sie zurückzubekommen.«

»Ich bin nicht interessiert – oder sagen wir, sehr

wenig interessiert an der Reinheit seiner Tochter. Ich
will nur mein Geld zurück. Aber deine Idee ist nicht
schlecht.«

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Akadie machte eine wegwerfende Geste. »Freund-

lich von dir. Aber der Vorschlag ist so undurchführ-
bar und phantastisch wie alle anderen. Es gibt zu
viele unüberwindbare Schwierigkeiten dabei. Wie
zum Beispiel wolltest du die Lage der Krypta erfah-
ren, außer von Vang Drosset selbst? Wenn er dich
wirklich so ins Herz geschlossen hätte, daß er dir die-
ses tiefste Geheimnis seines Lebens anvertraute, so
würde er dir wohl kaum deine Ozols vorenthalten,
oder seine Tochter? Aber nehmen wir an, du hättest
Vang Drosset herumgekriegt, dir das Geheimnis zu
verraten, und wärst im Tal von Xian. Wie würdest du
den Drei Alten entgehen, ganz zu schweigen von den
Geistern?«

»Ich weiß es nicht«, sagte Glinnes.
Eine Weile saßen die beiden Männer schweigend

da und tranken ihren Tee. Schließlich fragte Akadie:
»Hast du die Bekanntschaft von Lute Casagave ge-
macht?«

»Ja. Er weigert sich, die Insel Ambal zu verlassen.«
»Das war vorauszusehen. Er wird zumindest seine

zwölftausend Ozols zurückhaben wollen.«

»Er behauptet, Lord Ambal zu sein.«
Akadie richtete sich abrupt in seinem Sessel auf;

seine Augen blitzten angesichts dieser faszinierenden
Entwicklung. Aber dann schüttelte er fast bedauernd
den Kopf und ließ sich zurücksinken. »Unwahr-
scheinlich. Sehr unwahrscheinlich. Und in jedem Fall
irrelevant. Ich fürchte, du wirst dich mit dem Verlust
der Insel Ambal abfinden müssen.«

»Ich finde mich mit keinerlei Verlusten ab!« rief

Glinnes erregt. »Ob es nun um die Hussade-Spiele
oder um die Ambal-Insel geht: das ist das gleiche. Ich

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gebe niemals auf – ich will nur das bekommen, was
mir gehört!«

Akadie hob beschwichtigend die Hand.
»Beruhige dich. Ich werde in Muße darüber nach-

denken. Wer weiß, was sich noch ergibt? Mein Hono-
rar beträgt fünfzehn Ozols.«

»Fünfzehn Ozols!« fuhr Glinnes auf. »Wofür? Du

hast mir nur gesagt, daß ich mich beruhigen soll!«

»Oh«, entgegnete Akadie mit einer verbindlichen

Geste, »ich habe dir einen jener negativen Ratschläge
gegeben, die oft genauso wertvoll sind wie ein positi-
ves Programm. Wenn du mich zum Beispiel fragtest:
›Wie kann ich mit einem einzigen Sprung von hier
nach Welgen springen?‹ könnte ich dir nur ›Unmög-
lich‹ antworten, wodurch ich dir viel nutzlose Mühe
und Plage ersparen würde; damit wäre ein Honorar
von zwanzig oder dreißig Ozols gerechtfertigt.«

Glinnes lächelte grimmig. »Im vorliegenden Fall

hast du mir keine Mühe erspart; du hast mir nichts
gesagt, was ich nicht auch selbst wußte. Du mußt dies
als reinen Freundschaftsdienst ansehen.«

Akadie zuckte die Achseln. »Wie du meinst.«
Die beiden Männer kehrten ins Erdgeschoß zurück,

wo Marucha über ein Magazin gebeugt saß, das in
Port Maheul erschien: Das interessante Leben der Ober-
klasse.

»Auf Wiedersehn, Mutter«, sagte Glinnes. »Danke

für den Tee.«

Marucha blickte von der Zeitschrift auf. »Du bist

mir natürlich immer willkommen.« Und sie las wei-
ter.

Als Glinnes wieder über die Clinkhammer-Bucht

hinausfuhr, überlegte er, warum Marucha ihn eigent-

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lich nicht mochte, obwohl er im Grunde seines Her-
zens die Antwort recht gut kannte. Marucha hatte
nichts gegen Glinnes; sie hatte etwas gegen Jut und
sein ›rüpelhaftes Benehmen‹ – seine Sauftouren, seine
gegrölten Lieder, seine grobe Sinnlichkeit, überhaupt
seinen Mangel an Schliff. Kurzum, sie hielt ihren
Mann für einen groben Klotz. Obwohl Glinnes weit
weltgewandter war als sein Vater, erinnerte er sie
doch an Jut. So konnte nie richtige Wärme zwischen
ihnen entstehen.

Glinnes war das ganz recht; er hatte selbst auch

nicht sonderlich viel für Marucha übrig...

Glinnes steuerte das Boot in das Zeur-Gewässer,

das die Freiland-Insel der Präfektur im Nordosten
begrenzte. Ein plötzlicher Impuls ließ ihn langsamer
werden und zum Ufer schwenken. Er ließ das Boot
ins Schilf gleiten und machte es an einem Ast eines
Casammonbaumes fest. Vorsichtig kletterte er die Bö-
schung hinauf, von wo er die Insel übersehen konnte.

Dreihundert Meter entfernt, am Rande einer Grup-

pe schwarzer Kerzennußbäume, hatten die Drossets
ihre drei Zelte aufgebaut – dieselben Rechtecke in
Rot, Schmutzigbraun und Schwarz, die Glinnes schon
auf Rabendary ein Dorn im Auge gewesen waren.

Auf einer Bank saß Vang Drosset über irgendeine

Frucht gebeugt, eine Melone vielleicht, oder auch eine
Cazaldo. Tingo, die heute ein lila Kopftuch trug,
hockte neben dem Feuer, schnitt Wurzelknollen klein
und warf sie in den Kessel. Die Söhne Ashmor und
Harving waren ebensowenig zu sehen wie Duissane.

Glinnes beobachtete das Lager noch fünf Minuten.

Vang Drosset verschlang das letzte Stück Cazaldo
und warf das Kerngehäuse ins Feuer. Dann drehte er

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sich um und redete mit Tingo, die Hände auf die Knie
gestützt. Die Frau setzte ihre Arbeit fort.

Glinnes sprang die Böschung hinunter zu seinem

Boot und fuhr mit Höchstgeschwindigkeit nach Hau-
se.

Eine Stunde später war er wieder zurück. Glay

hatte während seiner Wanderungen mit den Trevanyi
ihre Tracht angenommen; diese Kleidung trug Glin-
nes jetzt, außerdem einen tief ins Gesicht reichenden
Trevanyi-Turban. Im Boot lag ein junger Cavout, mit
verbundenem Maul und gefesselten Beinen. Außer-
dem waren drei leere Schachteln, mehrere gute Ei-
sentöpfe und eine Schaufel in dem Boot.

Glinnes landete an der gleichen Stelle wie zuvor. Er

kroch die Böschung hoch und studierte das Lager der
Drossets durch sein Fernglas.

Der Kessel hing blubbernd über dem Feuer. Tingo

war nirgendwo zu sehen. Vang Drosset saß auf der
Bank und schnitzte einen Zierknopf aus Dakohorn.
Glinnes starrte angestrengt hinüber. Ob Vang Drosset
am Ende sein Messer benutzte? Späne und Splitter
flogen nur so vom Dako weg, und Vang Drosset
prüfte immer wieder zufrieden die Klinge.

Glinnes holte den Cavout aus dem Boot und fes-

selte das Tier so an den Hinterbeinen, daß es ein paar
Meter weit in die Wiese hinaushoppeln konnte. Den
Knebel entfernte er.

Nun versteckte sich Glinnes hinter einem Stillbeer-

dickicht und vermummte den unteren Teil seines Ge-
sichtes mit dem Ende des Turbantuches.

Vang Drosset schnitzte weiter am Dako herum.

Schließlich hielt er inne, streckte sich und bemerkte
den Cavout. Er beobachtete ihn einige Augenblicke

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lang, stand dann auf und ließ den Blick über das
Freiland streifen. Niemand zu sehen. Er wischte das
Messer ab und steckte es in den Stiefel. Tingo Drosset
schaute zu dem einen Zelt heraus; Vang Drosset rief
ihr etwas zu. Daraufhin kam sie ganz hervor und
schaute unsicher zu dem Cavout herüber. Vang Dros-
set setzte sich in Bewegung und kam zielbewußt, aber
vorsichtig über die Wiese marschiert. Zehn Meter vor
dem Cavout tat er, als bemerke er das Tier zum ersten
Mal, und blieb wie überrascht stehen. Er entdeckte
den Strick und verfolgte ihn bis zum Casammon-
baum. Er machte vier rasche Schritte vorwärts und
reckte den Hals. Er sah das Boot und blieb wie ange-
wurzelt stehen, während seine Augen Inventur
machten. Eine Schaufel, mehrere brauchbare Töpfe,
und was enthielten wohl diese Schachteln? Er leckte
sich die Lippen, blickte mißtrauisch nach rechts und
links. Sonderbar. Vermutlich irgendein Kinderstreich.
Trotzdem, warum sollte er nicht einen Blick in die
Schachteln riskieren? Nachschauen konnte auf keinen
Fall schaden.

Vang Drosset stieg vorsichtig die Böschung hinun-

ter und wußte nachher nicht mehr, was ihm eigent-
lich passiert war. Glinnes, beflügelt von seiner ge-
rechten Empörung, sprang vor und riß Vang Drosset
mit zwei fürchterlichen Hieben rechts und links übers
Ohr fast den Kopf ab. Vang Drosset kippte um. Glin-
nes stieß ihm das Gesicht in den Schlamm, fesselte
ihm die Hände auf dem Rücken und band die Knie
und Fußgelenke mit einem Strick zusammen, den er
für diesen Zweck mitgebracht hatte. Dann knebelte er
Vang Drosset, der mittlerweile stöhnende Schnarch-
laute von sich gab, und verband ihm die Augen.

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Er zog das Messer aus Vang Drossets schwarzem

Stiefel: es war sein eigenes. Gut, die wunderbare
Klinge wiederzuhaben! Er durchsuchte Vang Dros-
sets Kleider, schlitzte mit dem Messer den Stoff auf,
um es leichter zu haben. Vang Drossets Beutel ent-
hielt nur zwanzig Ozols, die Glinnes einsteckte. Dann
zog er dem Trevanyi die Stiefel aus und schnitt die
Sohlen auf. Er fand nichts und warf die Stiefel weg.

Vang Drosset hatte also keine größere Summe Gel-

des bei sich. Glinnes versetzte ihm aus Enttäuschung
einen Tritt in die Rippen. Als er über die Wiese
blickte, sah er, wie Tingo Drosset gerade zur Latrine
ging. Er nahm den Cavout auf die Schulter, so daß
sein Gesicht verdeckt war, und marschierte zum La-
ger hinüber. Er erreichte das braune Zelt, als Tingo
Drosset eben ihr Geschäft beendet hatte. Er blickte in
das braune Zelt. Er ging zu dem roten hinüber. Eben-
falls leer. Er ging hinein. Tingo Drosset sagte zu sei-
nem Rücken: »Scheint mir ein saftiges Vieh zu sein.
Aber laß es doch draußen! Was ist nur in dich gefah-
ren? Schlachte es doch unten beim Wasser.«

Glinnes legte das Tier hin und wartete. Tingo Dros-

set kam keifend über das seltsame Benehmen ihres
Mannes ins Zelt. Glinnes warf ihr seinen Turban über
den Kopf und drückte sie zu Boden. Tingo Drosset
kreischte und fluchte über dieses unerwartete Ver-
halten ihres Mannes.

»Noch ein Laut von dir«, knurrte Glinnes, »und ich

schneid dir den Hals von einem Ohr zum anderen
durch! Lieg still, wenn du weißt, was für dich gut
ist!«

»Vang! Vang!« kreischte Tingo Drosset. Glinnes

stopfte ihr ein Stück Turbantuch in den Mund.

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Tingo war untersetzt und stämmig und machte

Glinnes erheblich zu schaffen, bevor sie verschnürt
wie ein Paket dalag, geknebelt und eine Binde um die
Augen. Glinnes rieb sich eine gebissene Stelle an der
Hand. Tingo Drosset brummte der Kopf von dem
Schlag, den ihr der Biß eingebracht hatte. Es war
zwar nicht wahrscheinlich, daß Tingo Drosset das
Geld der Familie bei sich hatte, aber es hatte schon
seltsamere Dinge gegeben. Glinnes untersuchte mit
gerümpfter Nase ihre Kleider, während sie grunzte
und stöhnte und entsetzt in Erwartung von Schlim-
merem zappelte.

Er durchsuchte das schwarze Zelt, dann das rote, in

dem Duissane in einer Ecke ein paar hübsche Klei-
nigkeiten und Andenken verwahrte, und zuletzt das
braune Zelt. Er fand kein Geld, hatte es auch nicht
erwartet; bei den Trevanyi war es üblich, ihre Wertsa-
chen zu vergraben.

Glinnes setzte sich auf Vang Drossets Bank. Wo

würde er Geld vergraben, wäre er Vang Drosset? Die
Stelle mußte leicht zugänglich sein und durch irgend-
ein Zeichen gut auffindbar: einen Pfosten, einen Stein,
einen Busch oder Baum. Die Stelle würde außerdem
im unmittelbaren Sichtbereich des Lagers liegen,
denn Vang Drosset würde das Versteck kaum gern
aus den Augen lassen. Glinnes schaute sich nach-
denklich um. Ein paar Schritte vor ihm hing der Kes-
sel über dem Feuer, daneben war ein grob gezim-
merter Tisch mit zwei Bänken aufgestellt. Nur wenige
Meter weiter war der Boden von der Hitze eines
weiteren Feuers versengt. Diese alte Feuerstelle lag,
wie ihm vorkam, etwas bequemer als der neue Koch-
platz. Aber manche Gewohnheiten der Trevanyi wa-

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ren eben sonderbar und unerklärlich, überlegte Glin-
nes. In dem Lager auf Rabendary... Auf einmal sah
Glinnes den ehemaligen Lagerplatz auf der Insel Ra-
bendary deutlich vor sich – und die frisch aufgegra-
bene Erde an der Feuerstelle.

Glinnes nickte zufrieden. Das war es. Er stand auf

und ging zum Feuer. Er zog den Dreifuß, an dem der
Kessel hing, beiseite und kratzte mit einem alten
Spaten, dessen Stiel abgebrochen war, die Glutstücke
weg. Die ausgedörrte Erde darunter gab leicht nach.
Zwanzig Zentimeter unter der Oberfläche stieß der
Spaten an eine geschwärzte Eisenplatte. Glinnes
kippte sie auf die Seite, so daß ein Tonziegel darunter
sichtbar wurde, den er ebenfalls entfernte. Die Höh-
lung darunter enthielt einen Steingutkrug. Glinnes
zog ihn heraus. Ein dickes Bündel rot-schwarzer
Hundert-Ozol-Noten war darin. Glinnes nickte er-
freut und verstaute alles in seiner Tasche.

Der Cavout, der jetzt friedlich graste, hatte Dung

abgesetzt. Glinnes kratzte die Häufchen in den Krug,
stellte ihn in das Loch zurück und richtete alles wie-
der so her, wie es vorher gewesen war, mit Feuer und
Kessel über dem Versteck. Bei flüchtigem Hinsehen
war nicht zu erkennen, daß es geöffnet worden war.

Nun nahm Glinnes den Cavout wieder auf die

Schulter und marschierte zurück über die Wiese zu
der Stelle, wo er sein Boot angebunden hatte. Vang
Drosset hatte verzweifelt versucht, sich zu befreien,
aber es war ihm nur gelungen, die Böschung hinun-
terzukollern, so daß er jetzt im Uferschlamm lag.
Glinnes lächelte nachsichtig und verzichtete ange-
sichts der Tatsache, daß er Vang Drossets gesamtes
Geld in der Tasche hatte, darauf, der zusammenge-

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krümmten Gestalt noch einen Tritt zu versetzen. Er
band den Cavout im Heck des Bootes an und legte ab.
Vielleicht hundert Meter weiter neigte ein riesiger
Casammonbaum seine dichtbelaubten Äste tief übers
Wasser. Glinnes trieb das Boot durch das Schilf bis zu
einer der dicken, gebogenen Wurzel, machte es daran
fest und kletterte über die Wurzel hinauf ins Geäst.
Durch eine Lücke im Blattwerk konnte er das Lager
der Drossets sehen, in dem sich aber noch nichts
rührte.

Glinnes machte es sich in einer Astgabel bequem

und zählte das Geld. Im ersten Bündel fand er drei
Tausend-Ozol-Noten, vier Hunderter und sechs Zeh-
ner. Glinnes schmunzelte zufrieden. Er entfernte den
Gummiring vom zweiten Bündel, das um einen gol-
denen Uhranhänger gefaltet war: vierzehn Hundert-
Ozol-Noten. Glinnes beachtete sie nicht und starrte
nur den goldenen Anhänger an, während ihm ein ei-
siges Frösteln über den Rücken lief. Diesen Anhänger
kannte er gut; er hatte seinem Vater gehört. Da – die
Initialen für Jut Hulden. Und darunter ein zweites
Monogramm: Shira Hulden.

Es gab zwei Möglichkeiten: die Drossets hatten

entweder den lebenden Shira ausgeraubt oder den
toten. Und das waren die Kameraden und Reisege-
nossen seines Bruders Glay! Glinnes spuckte auf den
Boden.

Er saß reglos in seiner Astgabel, aber in seinem

Kopf brodelte es vor Aufregung und entsetzter Em-
pörung. Shira war tot. Die Drossets hätten ihm sonst
nie sein Geld abnehmen können. Davon war Glinnes
jetzt überzeugt.

Er wartete und beobachtete weiter. Genugtuung,

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Wut und Entsetzen schwanden mit der Zeit. Gleich-
mütig und geduldig saß er auf dem Ast. Eine Stunde
verging, dann noch eine halbe. Schließlich kamen von
der Anlegestelle am Ilfisch-Gewässer drei Personen
herüber: Ashmor, Harving und Duissane. Ashmor
und Harving gingen sofort in das rote Zelt; Duissane
blieb stehen – anscheinend hatte sie irgendeinen Laut
von Tingo vernommen. Sie stürzte in das braune Zelt
und steckte einen Moment später den Kopf heraus,
um nach ihren Brüdern zu rufen. Dann verschwand
sie wieder im Zelt. Ashmor und Harving rannten
auch hinein. Fünf Minuten später tauchten sie alle
wieder auf, in ein heftiges Gespräch verstrickt. Tingo,
der das Erlebnis offensichtlich nicht geschadet hatte,
fuchtelte wild herum und zeigte über die Wiese.
Ashmor und Harving machten sich auf und fanden
nach einer Weile Vang Drosset. Sie banden ihn los
und kehrten mit ihm zum Lager zurück. Die Söhne
redeten mit heftigen Gesten auf ihn ein. Vang Drosset
humpelte barfuß übers Gras und hielt sich die zer-
schlissenen Kleider an den Leib. Im Lager angekom-
men, schaute er sich genau um und inspizierte vor
allem die Feuerstelle. Allem Anschein nach war
nichts verändert.

Er ging in das braune Zelt. Die Söhne schimpften

mit Tingo, die jetzt fast hysterisch Erklärungen her-
vorsprudelte und immer wieder zum Ufer zeigte.
Dann kam Vang Drosset wieder aus dem braunen
Zelt, nun neu gekleidet. Er trat zu Tingo und knuffte
sie; sie kreischte verärgert und zog sich zurück. Er
holte wieder aus, worauf sie einen kräftigen Ast
packte und sich zur Gegenwehr bereitmachte. Vang
Drosset wandte sich mürrisch ab; er ging zum Feuer,

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um den Platz genauer zu untersuchen. Plötzlich
stutzte er – er hatte die Stelle entdeckt, auf die Glin-
nes Asche und Glut geschoben hatte. Er stieß einen
heiseren Schrei aus, den Glinnes bis in seinen Baum
hören konnte. Wild stieß er den Dreifuß beiseite,
räumte mit ein paar Tritten die Glut weg und wühlte
mit bloßen Händen die Eisenplatte heraus. Dann den
Ziegel. Und dann den Krug. Er schaute hinein. Er
blickte Ashmor und Harving an, die neugierig dane-
ben standen.

Vang Drosset warf mit einer großartigen Geste der

Verzweiflung die Arme hoch. Er schleuderte den
Krug auf den Boden und trampelte auf den Splittern
herum, er stieß nach dem Feuer, daß die Funken sto-
ben, er schüttelte die sehnigen Fäuste und fluchte in
alle Himmelsrichtungen, wie es nur Angehörige eines
Volkes können, bei dem Flüche noch eine Bedeutung
haben.

Jetzt war es an der Zeit zu verschwinden, fand

Glinnes. Er rutschte von dem Baum, schwang sich in
sein Boot und fuhr zur Insel Rabendary zurück. Ein
sehr befriedigender Tag war das gewesen. Die Treva-
nyi-Tracht hatte seine Identität getarnt; die Drossets
mochten ihn in Verdacht haben, aber sicher konnten
sie es nicht wissen. Im Augenblick waren alle Treva-
nyi, die sich in der Gegend aufhielten, verdächtig,
und die Drossets würden diese Nacht über der Dis-
kussion, wer der Schuldige sein könnte, kaum zum
Schlafen kommen.

Glinnes richtete sich eine Mahlzeit her und aß

draußen auf der Veranda. Der Nachmittag ging in
Avness über, jene melancholische Tageszeit, in der
das Licht starb und Himmel und Wasser eine blasse,

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milchige Tönung annahmen.

Das unerwartete Läuten des Telefons zerriß die

Stimmung. Glinnes ging hinein und sah das Gesicht
von Thammas Lord Gensifer vor sich auf dem Bild-
schirm. Er drückte die Bildaufnahmetaste. »Guten
Abend, Lord Gensifer.«

»Ebenfalls einen schönen guten Abend, Glinnes

Hulden! Sind Sie bereit, Hussade zu spielen? Ich mei-
ne natürlich nicht, in diesem Augenblick.«

Glinnes antwortete mit einer vorsichtigen Gegen-

frage. »Ich vermute, Ihre Pläne haben Gestalt ange-
nommen?«

»Richtig. Die Fleharish-Gorgonen sind eine fertige

Mannschaft und bereit, mit dem Training zu begin-
nen. Ich habe Sie als rechten Mittelstürmer eingetra-
gen.«

»Und wer spielt links?«
Lord Gensifer blickte auf seine Liste. »Ein sehr

vielversprechender junger Mann namens Savat. Ihr
beide müßtet eine ausgezeichnete Kombination sein.«

»Savat? Noch nie von ihm gehört. Wer sind die

Außenstürmer?«

»Lucho und Helsing.«
»Hmm. Mir ist keiner dieser Namen bekannt. Sind

das die Spieler, die Sie von Anfang an im Auge hat-
ten?«

»Lucho selbstverständlich. Was die anderen betrifft

– nun, diese Liste war immer nur ein Provisorium,
das abgeändert werden sollte, sobald sich etwas Bes-
seres ergab. Sie wissen ja recht gut, Glinnes, daß eini-
ge dieser alteingesessenen Spieler viel zu wenig flexi-
bel sind. Eine junge Mannschaft fährt besser mit
Leuten, die fähig und willens sind, noch etwas zu

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lernen. Begeisterung, Elan, Hingabe! Das sind die Ei-
genschaften, die zum Sieg führen!«

»Ich verstehe. Wer hat sich sonst verpflichtet?«
»Iskelatz und Wilmer Guff sind die Springer – wie

gefällt Ihnen das? Sie werden kaum zwei bessere
Springer in der ganzen Präfektur finden. Die Wächter
– also Ramos ist ein wahrer Panzerwagen, und Pylan
ist auch sehr gut. Sinforetta und ›Pflock‹ Candolf sind
nicht ganz so behende, aber dafür massiv und nicht
von der Stelle zu bringen. Ich spiele als Kapitän
und...«

»Eh? Wie war das? Hab ich Sie recht verstanden?«
Lord Gensifer runzelte die Stirn. »Ich spiele als Ka-

pitän«, erklärte er gemessen. »Ja, das wäre also unse-
re Mannschaft, bis auf die Ersatzleute natürlich.«

Glinnes schwieg einige Augenblicke. Dann fragte

er: »Wie steht es mit der Kasse?«

»Die Kasse beläuft sich auf dreitausend Ozols«,

sagte Lord Gensifer steif. »Die ersten paar Spiele ma-
chen wir mit fünfzehnhundert Ozols, zumindest bis
die Mannschaft darauf drängt, mehr zu riskieren.«

»Ich verstehe. Wann und wo soll trainiert werden?«
»Auf dem Platz von Saurkash, morgen vormittag.

Ich nehme also an, Sie sind entschlossen, mit den
Gorgonen zu spielen?«

»Ich werde gewiß morgen kommen, und dann

werden wir ja sehen, wie die Dinge laufen. Aber las-
sen Sie mich offen sein, Lord Gensifer. Der Kapitän ist
der wichtigste Mann des Teams. Was aus einer
Mannschaft wird, hängt fast ausschließlich vom Ka-
pitän ab. Wir brauchen einen erfahrenen Kapitän. Ich
bezweifle, daß Sie diese Erfahrung besitzen.«

Lord Gensifers Miene wurde hochmütig. »Ich habe

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das Spiel seit langem gründlichst studiert. Ich habe
Kalenschenkos Hussade-Taktik dreimal durchgear-
beitet; ich habe das Handbuch der Hussade von
Grund auf meinem Gedächtnis einverleibt; ich habe
alle die neuesten Varianten studiert, das Gegenströ-
mungsprinzip, das Doppelpyramidensystem, Wogen-
formation...«

»Das mag schon sein, Lord Gensifer. Viele Leute

haben sich theoretisch mit dem Spiel beschäftigt, aber
letzten Endes sind die Reflexe ausschlaggebend, und
wenn man nicht wirklich selbst viel gespielt hat...«

»Wenn Sie Ihr Bestes tun, werden alle anderen es

auch tun«, sagte Lord Gensifer kühl. »Sonst noch
was?... Beim vierten Gongschlag also.« Der Bild-
schirm erlosch.

Glinnes brummte entrüstet. Für einen verbogenen

halben Ozol würde er Lord Gensifer sagen, er möge
Kapitän, Stürmer, Springer, Wächter und Sheirl zu-
gleich spielen. Lord Gensifer als Kapitän! Das war
doch das letzte.

Aber wenigstens hatte er sein Geld wieder, und ei-

ne Entschädigung für die bezogenen Prügel oben-
drein. Fast fünftausend Ozols: eine hübsche Summe,
die er aber besser an einem sicheren Ort verwahrte.

Glinnes steckte das Geld in einen Krug, wie die

Drossets ihn verwendet hatten. Dann vergrub er ihn
hinter dem Haus.

Eine Stunde später kam ein Boot aus dem Ilfisch-

Gewässer heraus in die Bucht von Ambal. Vang
Drosset und seine zwei Söhne saßen darin. Als sie an
der Anlegestelle von Rabendary vorüberkamen,
stand Vang Drosset auf und musterte das Boot der
Huldens mit dem Blick eines hungrigen Geiers. Glin-

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nes hatte die Sachen, mit denen er Vang Drosset an-
gelockt hatte, natürlich entfernt. Das Boot war von
Hunderten anderer nicht zu unterscheiden. Glinnes
blieb ruhig auf seiner Veranda sitzen, die Füße aufs
Geländer gelegt. Vang Drosset und seine Söhne
schossen mißtrauische Blicke zu ihm herüber; Glinnes
schaute gleichmütig zurück.

Das Boot strebte das Farwan-Gewässer aufwärts,

während die Drossets sich mürrisch unterhielten und
immer wieder nach Glinnes umschauten. Dort fährt
der Mann, der meinen Bruder getötet hat, dachte
Glinnes.

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KAPITEL 10

Lord Gensifer, ausstaffiert mit einer neuen, gelb-
schwarzen Uniform, stieg auf eine Bank und hielt ei-
ne Ansprache an seine Mannschaft.

»Dies ist ein bedeutender Tag für uns wie für die

Geschichte der Hussade in der Präfektur Jolany!
Heute beginnen wir, die kampfstärkste, tüchtigste
und unüberwindbarste Mannschaft zu schmieden,
die je die Hussade-Plätze von Merlank gestürmt hat.
Einige von euch sind bereits geübte Spieler von Ruf;
andere sind noch unbekannt...«

Glinnes, der die fünfzehn Mann um sich herum

musterte, dachte sich, daß diese beiden Kategorien
etwa im Verhältnis eins zu acht vertreten waren.

»... aber durch Ausdauer, Disziplin und vor allen

Dingen« – hier brauchte Lord Gensifer das Wort
Kercha'an: Willenskonzentration, die zu über-
menschlichen Kraftleistungen befähigt – »werden wir
unsere Gegner niedermähen! Wir werden jede Jung-
frau zwischen hier und Port Jaime zeigen lassen, was
an ihr dran ist! Wir werden die Prämien scheffelweise
einheimsen; wir werden alle reich und berühmt wer-
den, jeder einzelne von uns!

Zunächst aber stehen uns Mühe und Schweiß des

Trainings bevor. Ich habe mich eingehendst mit der
Theorie der Hussade befaßt; ich kenne Kalenschenko
Wort für Wort auswendig. Alle Fachleute sind sich
darin einig: überwinde die stärkste Stelle des Geg-
ners, und du hast den Goldring in den Fingern. Das
heißt, daß wir besser springen und besser schwingen
müssen als die besten Stürmer des Landes, daß wir

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die gefährlichsten Wächter von Jolany eintunken
müssen, daß wir die gewitztesten Spielstrategen von
Trullion austricksen müssen!

Aber nun an die Arbeit. Ich möchte, daß die Stür-

mer sich über das ganze Feld vorarbeiten, abwech-
selnd springend und schwingend, und an jeder Kreu-
zung drei Padding-Übungen

16

machen. Ihr müßt zu

einem einheitlichen Rhythmus finden, ihr Stürmer!
Die Springer werden die üblichen Trainingsmanöver
ausführen, und die Wächter ebenso. Wir müssen die
Grundlagen meistern! Wir sollten darauf hinarbeiten,
daß wir statt zwei Springern und vier Wächtern sechs
behende, starke Springer im Hinterfeld haben, die je-
derzeit imstande sind, den Pflug vorwärtszutreiben.«
Lord Gensifer spielte auf die Taktik einer starken
Mannschaft an, das gegnerische Team von hinten
aufzurollen. »Ans Werk! Der Gedanke an den Sieg
wird unsere Arbeit beflügeln!«

So begann das Training, und Lord Gensifer rannte

herum, lobte, kritisierte, tadelte und feuerte seine
Mannschaft mit schrillen Ki-yik-yik-yik-Rufen an.

Zwanzig Minuten später war sich Glinnes über die

Qualität der Mannschaft im klaren. Linksaußen
Lucho und der rechte Springer Wilmer Guff hatten zu
jenem hypothetischen Team gehört, mit dem Lord
Gensifer Glinnes zu ködern versucht hatte, und wa-
ren beide ausgezeichnete Spieler – gewandt, sicher,
angriffslustig. Der linke Springer Iskelatz schien auch
ganz brauchbar zu sein, nur war er etwas mürrisch, ja
eigensinnig veranlagt und hatte offensichtlich etwas
dagegen, sich beim Training zu verausgaben. Iskelatz

16

Siehe Glossar

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zog es vor, seine Kräfte für das richtige Spiel aufzu-
sparen, eine Eigenschaft, die Lord Gensifer augen-
blicklich auf die Palme brachte.

Der linke Mittelstürmer Savat und der Rechtsau-

ßenstürmer Helsing waren jung, wachsam und eifrig,
wenn auch ziemlich unerfahren, und bei den Pad-
Übungen brachte Glinnes sie immer wieder durch
Finten aus dem Gleichgewicht. Die Wächter Ramos,
Pylan und Sinforetta waren – der Reihe nach – lang-
sam, begriffsstutzig und übergewichtig. Nur der linke
Mittelwächter, ›Pflock‹ Gandolf, wies die für einen
brauchbaren Spieler erforderlichen Kombinationen
von Masse, Kraft, Schlauheit und Wendigkeit auf. Ei-
ne Redensart der Hussade besagt, daß ein schlechter
Stürmer einen schlechten Wächter überwältigen
könnte, daß ein guter Wächter aber einen guten
Stürmer mit Sicherheit aufhielt. Eine Mannschaft
lebte durch ihre Stürmer und starb durch ihre Wäch-
ter, behauptet ein weiteres Sprichwort. Glinnes sah
eine Reihe von endlosen Trainingsnachmittagen vor
sich, falls Lord Gensifer nicht eine stärkere Besetzung
für das Hinterfeld fand.

In ihrer augenblicklichen Zusammensetzung

brachten die Gorgonen also ein recht gutes Vorder-
feld, ein brauchbares Mittelfeld und ein schwaches
Hinterfeld ins Spiel. Lord Gensifers Fähigkeiten als
Kapitän waren schwer zu beurteilen. Der ideale Ka-
pitän mußte wie der ideale Springer überall im Feld
wirkungsvoll spielen können, obwohl einige Kapitä-
ne – wie der alte Neronavy von den Tanchinaros –
sich niemals aus dem Schutz ihrer Hange wagten.

In bezug auf Lord Gensifer behielt sich Glinnes sein

Urteil noch vor. Er schien zwar schnell und stark ge-

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nug zu sein, war allerdings etwas übergewichtig und
beim Schwingen nicht gerade behende.

Lord Gensifer stieß eines seiner Ki-yik-yik-yiks aus.

»He, ihr Stürmer! Ein bißchen mehr Eifer, nehmt die
Beine unter die Arme! Seid ihr vollgefressene Bären
oder was? Glinnes, mußt du Savat mit dem Pad so
zärtlich streicheln? Wenn er dich nicht blockieren
kann, dann laß es ihn spüren! Und die Wächter –
stellt euch doch richtig hin! Die Knie etwas gebeugt,
wie ein Raubtier vor dem Sprung! Denkt daran, je-
desmal, wenn einer unseren Goldring in die Finger
kriegt, kostet es uns Geld... Schon besser... Wir wollen
nun ein paar Varianten durchspielen. Zuerst die
›Mittelramme‹ aus dem Lantoun-System...«

Die Mannschaft trainierte zwei Stunden lang mit

etlichem Eifer, dann zog man sich in den Magischen
Fisch zum Mittagessen zurück. Nachmittags führte
Lord Gensifer eine Reihe von Varianten vor, die er
selbst erdacht hatte, Abwandlungen der komplizier-
ten Diagonal-Manöver. »Wenn wir diese Formationen
meistern, können wir Außenstürmer und Springer
des Gegners gleichzeitig bedrängen; wenn sie dann
nach innen ausweichen, können wir entweder rechts
oder links über einen Außenzug vorstoßen.«

»Gut und schön«, sagte Lucho, »aber sehen Sie

nicht, daß dabei unsere eigenen Flanken ungedeckt
sind, so daß wir bei einem Gegenstoß über unsere ei-
genen Außenzüge nichts unternehmen könnten?«

Lord Gensifer runzelte die Stirn. »In diesem Fall

müßten die Springer eben nach außen schwingen. Es
kommt nur auf das gute Zusammenspiel an.«

Die Mannschaft spielte ziemlich träge Lord Gensi-

fers Formation durch, denn mittlerweile war die

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wärmste Zeit des Tages angebrochen, und alle waren
nach den Anstrengungen des Vormittags ziemlich
müde. Schließlich mußte Lord Gensifer teils entrüstet,
teils bedauernd die Mannschaft entlassen. »Morgen
um dieselbe Zeit; aber macht euch auf einiges Schwit-
zen gefaßt. Das heute war ja eine Erholung. Es gibt
nur eine brauchbare Methode, eine Mannschaft hoch-
zubringen, und das ist, sie zu drillen!«

Drei Wochen lang trainierten die Gorgonen – mit

den unterschiedlichsten Ergebnissen. Manche Spieler
begannen sich zu langweilen, andere wieder knurrten
und beschwerten sich über die Schinderei die Lord
Gensifer ihnen zumutete. Glinnes beurteilte Lord
Gensifers Repertoire an Spielvarianten als viel zu
kompliziert und riskant; er fand, daß das Hinterfeld
viel zu schwach war, um eine wirkungsvolle Attacke
zu erlauben. Die Springer waren gezwungen, die
Wächter zu schützen, was wiederum den Aktionsra-
dius der Stürmer einschränkte. Das zermürbende
Training forderte einen Tribut. Der linke Springer Is-
kelatz, der zwar tüchtig war, aber für Lord Gensifers
Geschmack zu wenig Einsatzeifer zeigte, trat aus der
Mannschaft aus, ebenso Rechtsaußenstürmer Helsing,
in dem Glinnes die Grundlagen für einen ausge-
zeichneten Spieler erkannt hatte. Die Ersatzmänner
waren beide schwächere Spieler. Lord Gensifer ent-
ließ Pylan und Sinforetta, die beiden trägsten Wäch-
ter, und warb ein nur unmerklich besseres Paar an;
beide, so erfuhr Glinnes von Carbo Gilweg, hatten
sich erfolglos um Aufnahme bei den Saurkash-
Tanchinaros beworben.

Lord Gensifer lud schließlich die Mannschaft in

seinen Herrensitz ein und stellte die Sheirl der Gor-

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gonen vor, Zuranie Delcargo aus dem Dorf Stinken-
brunn, das diesen Namen wegen der in der Nähe ge-
legenen heißen Schwefelquellen erhalten hatte. Zura-
nie war eine ziemlich blutarme Schönheit, recht ma-
ger und so schüchtern, daß sie kaum den Mund auf-
tat. Glinnes wunderte sich ein wenig – was konnte ein
Mädchen dieses Wesens dazu bewegen, eine öffentli-
che Entblößung zu riskieren? Wann immer man sie
ansprach, warf sie den Kopf zurück, so daß ihr das
lange, blaßblonde Haar übers Gesicht fiel, und sie
sprach den ganzen Abend über nicht mehr als drei
Worte. Sie hatte nicht die Spur von Saschei, jenem
feurigen,

kämpferischen

Elan,

der

eine

Mannschaft

be-

fähigt,

weit

mehr

zu

leisten,

als sie theoretisch fähig ist.

Lord Gensifer benutzte die Gelegenheit dazu, den

kommenden Spielplan zu verkünden. Das erste
Match würde in zwei Wochen im Stadion von Saur-
kash gegen die Seeraben von Voulash stattfinden.

Einige Tage darauf erschien Zuranie auf dem

Spielplatz, um beim Training zuzusehen. Es hatte in
der Früh geregnet, und ein scharfer Wind blies von
Süden. Die Spieler waren verdrossen und unwillig.
Lord Gensifer sauste wie ein großes, eifriges Insekt
auf dem Spielfeld herum, schimpfte, beschwor und
schrie immer wieder »Ki-yik-yik-yik!«, aber seine An-
strengungen fruchteten nicht viel. Zuranie, die an der
Hütte des Pumpenwärters vor dem Wind Zuflucht
gesucht hatte, beobachtete bedrückt und voll böser
Ahnungen die trägen Manöver der Spieler. Endlich
winkte sie schüchtern zu Lord Gensifer hinüber. Er
kam herangetrabt. »Ja, Sheirl?«

»Nennen Sie mich nicht Sheirl«, sagte Zuranie

schmollend. »Ich weiß wirklich nicht, warum ich

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mich auf so was eingelassen habe. Wirklich, ich
könnte nicht da oben stehen und mich von den vielen
Leuten anstarren lassen. Ich glaube, ich würde ganz
bestimmt sterben. Bitte, Lord Gensifer, seien Sie nicht
böse, aber ich kann einfach nicht.«

Lord Gensifer sandte einen verzweifelten Blick zu

den tiefhängenden grauen Wolkenfetzen empor.

»Meine liebe Zuranie! Natürlich wirst du bei uns

sein, wenn wir gegen die Seeraben von Voulash
spielen! In nur zwei Tagen wirst du berühmt sein!«

Zuranie rang hilflos die Hände. »Ich will aber gar

nicht eine berühmte Sheirl werden; ich will nicht, daß
man mir das Kleid herunterreißt...«

»Das geschieht doch nur mit der Sheirl der Verlie-

rer«, erklärte Lord Gensifer geduldig. »Du glaubst
doch nicht, daß die Seeraben uns schlagen können,
wo wir Tyran Lucho und Glinnes Hulden und mich
und ›Pflock‹ Candolf in der Mannschaft haben? Wir
werden sie niederwalzen wie Schilfhalme; sie werden
sie so oft eintunken, daß sie Kiemen kriegen!«

Zuranie war nur teilweise beruhigt. Sie gab einen

trübseligen Seufzer von sich und sagte nichts mehr.
Lord Gensifer, dem endlich klar wurde, daß eine
Fortsetzung des Trainings heute wenig Zweck hatte,
rief das Team ab. »Morgen um dieselbe Zeit«, befahl
er. »Wir müssen noch mehr Schwung in unsere
Quermanöver bringen, vor allem im Hinterfeld. Ihr
Wächter müßt euch von der Stelle rühren! Wir spielen
Hussade – das ist keine Stehparty! Morgen beim
vierten Gongschlag.«

Die Seeraben von Voulash waren eine junge, noch
ziemlich unbekannte Mannschaft; die Spieler wirkten

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wie Schulbuben. Der Kapitän der Raben war Denzel
Warhound, ein sehniger, krausköpfiger Bursche mit
den weisen, schlauen Augen eines Fauns. Die Sheirl
war ein kurvenreiches, rundgesichtiges Mädchen mit
einem wilden Schopf dunkler Locken; beim Einzug
und der üblichen Platzrunde vor dem Spiel bewies sie
Feuer und Begeisterung, marschierte stolz mit den
Spielern mit, die sichtlich nervös waren. Verglichen
mit ihnen wirkten die Gorgonen behäbig und ge-
langweilt, und die Sheirl Zuranie, ein zartes, blasses
Pflänzchen, war auch keine Augenweide. Ihre Mutlo-
sigkeit und kaum verhehlte Verzweiflung brachten
Lord Gensifer ziemlich in Harnisch, aber er wagte es
ihr nicht zu zeigen, um sie nicht völlig zu demorali-
sieren. »Tapferes Mädchen, wird schon gut gehen!«
murmelte er, als müsse er ein krankes Tier beruhigen.
»Es wird schon nicht so schlimm, wirst sehen!« Aber
Zuranies Ängste waren nicht so leicht zu beschwich-
tigen.

Die Gorgonen trugen heute zum ersten Mal ihren

gelbschwarzen Dreß. Die Helme waren besonders
aufsehenerregend: aus einem blaßlila Metalloid ge-
fertigt, mit schwarzen Blattlanzetten am Wangen-
schutz und einem schwarzen Zackenkamm entlang
des Scheitels. Die Augenlöcher erweckten den Ein-
druck großer, glotzender Augen, die Nase ging in ein
schwarzes Plüschmaul über, aus dem eine schmale
rote Zunge hing. Ein Teil der Mannschaft fand das
Kostüm prächtig; einige hatten Einwände gegen die
baumelnden Zungen; den meisten war es egal. Die
Seeraben trugen einen braunen Dreß mit orangefar-
benen Helmen, die lediglich mit einem grünen Fe-
derbusch geschmückt waren. Als er die tempera-

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mentvollen Seeraben mit den prächtig ausstaffierten,
aber stumpfen Gorgonen verglich, fühlte sich Glinnes
genötigt, Lord Gensifer ein paar taktische Hinweise
zu geben.

»Schauen Sie sich die Seeraben gut an – sie sind wie

Keval-Fohlen, voll Übermut und Kraft. Ich habe
schon solche Mannschaften gesehen, und wir können
von ihnen ein aggressives, ja wagemutiges Spiel er-
warten. Unsere Aufgabe ist es, sie soweit zu bringen,
daß sie sich selber schlagen. Wir locken am besten ih-
re Stürmer durch Bluffs zu weit vor, damit unsere
Wächter und Springer sie in die Zange nehmen kön-
nen. Wenn wir unsere Überlegenheit richtig einset-
zen, haben wir eine Chance, sie zu besiegen.«

Lord Gensifer hob unmutig die Brauen. »Eine

Chance, sie zu besiegen? Was für ein Unsinn ist das?
Wir werden sie den Platz hinauf- und hinunterscheu-
chen wie Hunde, die Hühner jagen! Wir sollten uns
gar nicht mit einer solchen Mannschaft einlassen,
aber die Übung tut uns gut.«

»Trotzdem rate ich zu einem vorsichtigen Spiel.

Sollen sie doch die Fehler machen – sonst schlagen sie
nämlich Kapital aus unseren.«

»Ach was, Glinnes; ich glaube allmählich, Sie sind

über Ihre beste Zeit hinaus.«

»Das stimmt insoweit, als ich nicht mehr zum Spaß

spiele. Ich will Geld verdienen – zehntausend Ozols,
um es genau zu sagen, und ich will gewinnen.«

»Was denken Sie denn – daß Sie allein in dieser La-

ge sind?« erkundigte sich Lord Gensifer mit vor Zorn
heiserer Stimme. »Wie, glauben Sie, habe ich die
Prämienkasse finanziert? Die Anzüge gekauft? Die
Auslagen der Spieler bestritten? Ich habe mich in

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unmäßige Schulden gestürzt!«

»Nun gut«, sagte Glinnes. »Sie brauchen Geld; ich

brauche Geld. Also wollen wir zusehen, daß wir ge-
winnen – durch die Strategie, die uns am besten
liegt.«

»Wir gewinnen, keine Sorge!« erklärte Lord Gensi-

fer, nun wieder munter und leutselig. »Halten Sie
mich für einen Anfänger? Ich kenne das Spiel von
hinten nach vorne und wieder zurück. Aber Schluß
jetzt mit der Schwarzmalerei; Sie sind ja schlimmer
als Zuranie. Sehen Sie nur das Publikum – minde-
stens zehntausend Leute. Das bringt uns zusätzliche
Ozols!«

*

Glinnes nickte düster. »Wenn wir gewinnen.« Er

bemerkte einen Mann, der allein in einer Loge der
untersten Reihe der Vorzugstribüne saß: Lute Casa-
gave, mit Fernglas und Kamera. Diese Ausrüstung
war nicht ungewöhnlich; viele Liebhaber des Spiels
zeichneten die Entblößung der Sheirl in Bild und Ton
auf. Es gab bemerkenswerte Sammlungen solcher
Filme. Trotzdem erstaunte es Glinnes etwas, daß Lute
Casagave sich so lebhaft für Hussade interessierte. Er
war ihm nicht als der Typ für frivolen Kampfsport er-
schienen.

Nun trat der Schiedsrichter ans Mikrofon; die Mu-

sik verstummte, und Schweigen breitete sich in der
Menge aus. »Sportsfreunde von Saurkash und Jolany!
Sie sehen heute ein Match zwischen den kampfesmu-
tigen Seeraben von Voulash mit ihrer Sheirl Barola

*

Die Hälfte der Einnahmen aus dem Kartenverkauf wurde übli-
cherweise zwischen den beiden Mannschaften aufgeteilt, und
zwar im Verhältnis drei Teile für den Sieger, ein Teil für den Ver-
lierer.

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Felice und den unbezähmbaren Gorgonen von
Thammas Lord Gensifer mit der lieblichen Sheirl Zu-
ranie Delcargo! Die Mannschaften werden sich mit all
ihrem Mut und Können sowie einem Lösegeld von je
fünfzehnhundert Ozols für die unverletzliche Würde
ihrer Sheirl einsetzen. Mögen die Sieger sich aller Eh-
ren erfreuen, und die Verlierer stolz auf ihren Einsatz
und die Reinheit ihrer Sheirl vom Platz gehen! Die
Kapitäne mögen vortreten!«

Lord Gensifer und Denzel Warhound kamen her-

an. Eine Münze wurde aufgeworfen; die erste Aktiv-
phase fiel den Gorgonen zu; ein grünes Licht würde
anzeigen, wenn die Gorgonen ›frei‹ waren, während
ein rotes Licht für die Seeraben galt.

»Strafen werden ohne Nachsicht verhängt«, er-

klärte der Schiedsrichter. »Es darf weder Treten noch
Ziehen geben, und keinerlei mündliche Verständi-
gung zwischen den Spielern, Festhalten an den Pads
des Gegners werde ich nicht dulden. Ein Schlag muß
sauber ausgeführt werden.

In der Passivphase darf keine Mannschaft störende

Geräusche verursachen. Ich habe genügend Erfah-
rung mit solchen Tricks, und die Beobachter ebenso.
Wir werden wachsam sein. Ein Spieler im Foul-
Becken muß die Hand seines Retters drücken; ein
flüchtiges Winken oder ähnliche Gesten sind nicht
ausreichend. Hat noch jemand Fragen? Also meine
Herren – lassen Sie Ihre Mannschaft Aufstellung
nehmen! Möge die Schönheit eurer Sheirls euer Spiel
anfeuern. Das grüne Licht für die Gorgonen, das rote
für die Seeraben!«

Die Spieler nahmen Aufstellung; die Trevanyi-

Musiker spielten die traditionelle Melodie, als die

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beiden Kapitäne die Sheirls auf ihr Podest geleiteten.

Die Musik brach ab. Die Kapitäne gingen zu ihren

Hangen, und nun trat jener elektrisierende Augen-
blick vor dem ersten Aufblitzen der Lichter ein. Die
Zuschauer waren stumm, die Spieler angespannt; die
Sheirls standen erwartungsvoll und aufgeregt auf ih-
ren Podesten, und jede wünschte sich aus tiefstem
Herzen, daß dieses gräßliche Mädchen am anderen
Ende des Feldes jenes sein möge, das entblößt und
gedemütigt wurde.

Der Gong! Die Signallichter flammten grün auf.

Zwanzig Sekunden lang durfte nun der Kapitän der
Gorgonen Manöver ausrufen und Anweisungen ge-
ben, während die Seeraben stumm spielen mußten.
Lord Gensifer leitete die erste Phase der sogenannten
Strahlstrom-Attacke ein: eine Keilformation von Mit-
tel- und Außenstürmern, die in der Mitte vorstieß;
während die Springer die Außenzüge deckten. Lord
Gensifer hatte offensichtlich nicht die Absicht, Glin-
nes Rat zu beherzigen. In sich hineinfluchend, rannte
Glinnes vorwärts und setzte über den Mittelgraben,
ohne auf Widerstand zu stoßen, ebenso der linke
Mittelstürmer Savat. Die Seeraben-Stürmer waren alle
zur Seite ausgewichen und übersprangen jetzt den
Mittelgraben, um Sarkado, den linken Springer der
Gorgonen, anzugreifen. Glinnes stieß auf den linken
Springer der Seeraben – die beiden Spieler fintierten
mit den Pads, stießen und schlugen nacheinander;
plötzlich wich der Seeraben-Springer zurück. Glinnes
spürte instinktiv, wann er sich umdrehen mußte, um
den herüberschwingenden rechten Springer der Seer-
aben zu erwischen. Glinnes traf ihn am Genick, wäh-
rend der Mann noch um sein Gleichgewicht kämpfte,

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und beförderte ihn in das Becken. Der Seerabe
klatschte mit einem höchst befriedigenden Platscher
ins Wasser.

Noch ein Platschen: ein Wächter der Seeraben hatte

Chust, den Rechtsaußenstürmer, eingetunkt.

Lord Gensifers Stimme schrillte über den Platz:

»Ki-yik-yik-yik! Dreizehn-dreißig! Los, Glinnes!
Lucho, paß auf den Springer auf! Yik-ki-yik!«

Das grüne Licht wechselte auf rot; nun rief Denzel

Warhound Spielcodes aus und brachte seine Hange
bis vor den Mittelgraben. Die Mittelstürmer sprangen
vor und stürzten sich zu zweit auf Glinnes; er stellte
sich und heizte ihnen so geschickt mit dem Pad ein,
daß sie sich gegenseitig behinderten. Glinnes
schwang hinüber auf Zug 3, der bis zum Podest un-
geschützt war, aber die Wächter begriffen es recht-
zeitig; einer rannte hinüber, um das Ende von Zug 3
zu decken. Die beiden Innenwächter schwangen sich
gleichzeitig hinter Glinnes. Er tunkte einen ein, den
anderen erwischte Savat. Nun stürmten beide auf das
Podest der Seeraben zu – nur mehr zwei gegnerische
Wächter standen ihnen im Weg. Das Licht wurde
grün; Lord Gensifer sah, daß ein Seerabenstürmer auf
dem Podest stand und Zuranies Goldring gepackt
hatte. Das Spiel wurde unterbrochen, und Lord Gen-
sifer zahlte Denzel Warhound mißmutig die Löse-
geldprämie.

Die beiden Mannschaften kehrten auf ihre Platz-

hälften zurück. Lord Gensifer brach empört los:
»Mehr Einsatz! Das ist es, was uns fehlt. Euch schla-
fen ja die Füße ein! Diese Burschen sind doch keine
Gegner für uns; sie haben uns nur durch glücklichen
Zufall erwischt.«

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Glinnes hielt den Mund, obwohl ihm die alte Regel

sehr gut bekannt war: in der Hussade gibt es keine
glücklichen Zufälle. Er sagte nur: »Wir sollten sie
Brücke um Brücke über das Feld zurückdrängen. Wir
dürfen sie nicht bis zu unseren Wächtern durchlas-
sen!« Die Seeraben hatten nämlich den schwerfälligen
Ramos geblufft und waren an ihm vorbei aufs Podest
gestürmt.

Lord Gensifer ignorierte Glinnes. »Nochmals den

Strahlstrom, und dieses Mal bitte ich mir ordentliches
Spiel aus! Die Springer müssen die Außenwege dek-
ken. Die Außenstürmer stoßen dafür im Zentrum
hinter den Mittelstürmern vor. Wir werden uns von
diesen Muttersöhnchen nicht noch einmal eintunken
lassen!«

Die Mannschaften nahmen ihre Plätze ein, der

Gong ertönte, und das grüne Licht signalisierte die
Freiphase für die Gorgonen. »Dreizehn-dreißig, ki-
yik!
« schrie Lord Gensifer. »Drauf auf sie! Putzt sie
weg! Der Goldring winkt!«

Wiederum wichen die Seerabenstürmer zur Seite,

um Savat und Glinnes über den Mittelgraben zu las-
sen. Diesmal aber schwangen sie hinter Glinnes zu-
rück und brachten ihn zu seiner tiefsten Erbitterung
aus dem Gleichgewicht. Er hätte sich trotzdem wie-
der gefangen, wäre nicht noch ein Springer auf dem
Trapez herübergeschwungen und hätte ihn ins Was-
ser gestoßen.

Mehr als alles andere haßte es Glinnes, eingetunkt

zu werden. Es war eine kalte, nasse Erfahrung, die
seinen Stolz verletzte. Mißmutig watete er unter den
Brücken und Wegen nach hinten und zog sich tropf-
naß die Leiter im Heimtank der Gorgonen hoch. Er

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tauchte gerade zur rechten Zeit auf, um einen Seer-
aben-Außenstürmer vom Podest abzudrücken. Trie-
fend und zornig deckte Glinnes den Mann mit Stö-
ßen, Schlägen und Finten ein, bis er Hals über Kopf
ins Becken purzelte.

Grünes Licht. »Vierzig-fünf-zwölf!« rief Lord Gen-

sifer. Glinnes stöhnte – Lord Gensifers allerkompli-
zierteste Spielvariante, die Granate oder Doppeldia-
gonale. Es blieb keine Wahl, als das Manöver mitzu-
machen; er würde jedenfalls sein Bestes tun. Die
Stürmer sammelten sich am Mittelgraben; niemand
stellte sich ihnen auf dem Zentralsteg entgegen; sie
rannten hinüber und schwärmten aus, gefolgt von
den Springern. Die einzige schwache Hoffnung auf
Erfolg hatten sie, dachte Glinnes, wenn sie die Sheirl
der Seeraben erreichten, bevor die verblüfften Seer-
aben ihrerseits bis zu der Sheirl Zuranie vordringen
konnten. Zwei Seeraben-Wächter schwenkten zum
Ende des meistbedrohten Zuges; zwei Springer
mußten ins Wasser, ein Seerabe und ein Gorgone;
nun schickte Lord Gensifer auch zwei Wächter über
den Graben, gerade als das Licht auf Rot wechselte.

Denzel Warhound hatte sich im Schutz seiner

Hange postiert und grinste zuversichtlich. Er rief sei-
ne Spielcodes aus. Beide Gorgonenwächter wurden
gestellt und ins Wasser befördert. Glinnes, Savat und
die Außenstürmer, die eine Katastrophe ahnten, ha-
steten zurück, um das Podest zu schützen. Glinnes
erreichte die Heimzone gerade rechtzeitig, um einen
Seerabenstürmer vom Podest wegzutreiben und in
den Heimtank zu befördern. Lucho tunkte einen
zweiten ein, aber jetzt stürmte fast die gesamte Seer-
abenmannschaft die Heimzone der Gorgonen. Die

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beiden eingetunkten Wächter stiegen naß und wü-
tend heraus; beflügelt von ihrer Wut und dank ihres
überlegenen Gewichts gelang es ihnen, die Seeraben
zurückzutreiben.

Grünes Licht. Lord Gensifer rief: »Vierzig-fünf-

zwölf; jetzt haben wir sie, Jungs! Der Weg ist frei!
Angriff!«

Glinnes, zornig, daß schon wieder diese verrückte

Variante aufgerufen wurde, löste sich aus dem Ge-
tümmel und bewegte sich mit den anderen Stürmern
entsprechend Lord Gensifers Anweisung vorwärts.
Die leichten, aber wendigen Wächter der Seeraben
verließen ihre Posten und flankierten sie... Ein
Gongsignal. Durch irgendein Wunder von Behendig-
keit und Schlauheit (wahrscheinlicher aber durch ir-
gend jemandes krasse Unfähigkeit, fand Glinnes) war
es

einem

der

Seeraben-Springer

gelungen,

bis

zum

Po-

dest

vorzustoßen und Zuranies Goldring zu ergreifen.

Mit zitternden Händen zahlte Lord Gensifer neu-

erdings Lösegeld. Bei der folgenden Besprechung war
seine Stimme heiser vor Entrüstung.

»Ihr Männer setzt euch nicht richtig ein! Wir kön-

nen ja nicht siegen, wenn alle wie die Schlafwandler
herumstolpern! Wir müssen diesen Burschen unser
Spiel aufzwingen! Schaut sie euch doch an, das sind
ja kaum mehr als kleine Jungens! Diesmal müssen wir
es schaffen. Wieder die Doppeldiagonale, und daß
mir jeder tut, was seine Aufgabe ist!«

Gong, grünes Licht, Lord Gensifers Schlachtruf »Ki-

yik« – und die Gorgonen formierten sich zu Lord
Gensifers Doppeldiagonale.

Ein doppelter Gongschlag zeigte ein Foul an. Lord

Gensifer selber hatte das Pad eines Seeraben-

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Springers gepackt und wurde in das Foul-Becken in
der Heimregion der Seeraben verbannt, wo er gries-
grämig und zornschnaubend ausharren mußte, bis
ihn jemand rettete. Glinnes als rechter Mittelstürmer
wurde amtierender Kapitän.

Der Gong ertönte, und das Licht war noch immer

grün. Glinnes brauchte gar nicht erst eine Variante
aufzurufen. Er winkte nach rechts und links; die
Stürmer drangen bis zum Graben vor. Das Licht
wurde rot. Die Seeraben, aufgemuntert durch ihren
Zwei-Ring-Vorsprung, fintierten erst links und
schickten dann auf dem rechten Außenzug zwei
Stürmer vor, und ein Springer kam bis über den Mit-
telgraben. Der Springer und einer der Stürmer muß-
ten ins Wasser, der zweite Stürmer zog sich zurück,
und Denzel Warhound blies die Attacke ab, bis die
eingetunkten Spieler wieder einsatzfähig waren.
Grünes Licht. Lord Gensifer, noch immer im Foul-
Becken, bat wild gestikulierend um Rettung; Glinnes
schaute geflissentlich woanders hin. Er schickte die
Springer auf die Außenzüge und rief die beiden In-
nenwächter vor. Rotes Licht. Die Seeraben drangen
massiert auf der linken Seite vor, machten aber am
Graben halt. Denzel Warhound war gewitzt und
wartete lieber ab, bis er die Gorgonen in einem
schwachen Augenblick überrumpeln konnte.

Grünes Licht. Glinnes schickte die Gorgonen-

Stürmer über den Graben vor und ließ die Innen-
wächter bis an den Zentralsteg vorrücken: langsam
wurde das schnellere, aber leichtere Team unter
Druck gesetzt. Die zwei Gorgonen-Außenstürmer
wurden eingetunkt ebenso die zwei Mittelstürmer
der Seeraben. Die Gorgonen hatten nun eine stabile

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Front auf der Platzhälfte der Seeraben zustandege-
bracht, und immer noch winkte Lord Gensifer wü-
tend und vergeblich um Rettung. Langsam drangen
die Gorgonen die Züge entlang weiter vor, wobei ih-
nen ihre Erfahrung und ihr größeres Gewicht sehr
zustatten kam. Die Seeraben wurden zusehends in ih-
re Heimzone zurückgedrängt. Drei von ihnen mußten
ins Wasser, einer nach dem anderen, dann noch zwei.
Dann ertönte der Gong.

Tyran Lucho hatte das Podest erreicht und hielt

den Goldring in der Hand. Ergrimmt und mißmutig
kletterte Lord Gensifer aus dem Foul-Becken und
nahm von dem Kapitän der Seeraben das Lösegeld
entgegen.

Die Spieler gingen wieder in Ausgangsposition.

Lord Gensifer, den der lange Aufenthalt im Foul-
Becken in höchst üble Laune versetzt hatte, tadelte:
»Viel zu unvorsichtig, diese Taktik! Wenn ein Team
zwei Ringe im Rückstand ist, dürfen die Wächter nie
so weit über den Graben vordringen – das ist eine der
Grundregeln von Kalenschenko!«

»Wir haben ihren Ring erwischt«, wandte Lucho

ein, der freimütigste Spieler der Mannschaft. »Das ist
doch wohl das Wichtigste.«

»Nichtsdestotrotz«, sagte Lord Gensifer eisig,

»werden wir uns weiterhin an eine solide Taktik hal-
ten. Die anderen haben das Freilicht. Wir werden
Fintenmanöver Nummer 4 verwenden.«

Lucho war nicht so leicht zum Schweigen zu brin-

gen. »Wir sollten einfach alle am Graben aufmar-
schieren. Wir brauchen keine Fallen und Finten oder
irgendeine komplizierte Taktik – nur das einfache
Grundspiel!«

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»Dies ist ein Hussade-Match«, erklärte Lord Gensi-

fer, »und keine Wirtshausrauferei. Wir werden sie
durch unsere Taktik völlig durcheinanderbringen,
wartet nur!«

Die Seeraben stürmten mit unbekümmertem Elan

gegen den Graben vor. Denzel Warhound beabsich-
tigte anscheinend, ein Manöver wie im vorigen
Spielabschnitt zu vereiteln. Rechts und links spran-
gen Seeraben über den Graben, während Denzel
Warhound seine Hange auf dem Mittelsteg auf-
pflanzte, von wo er nur durch Lord Gensifer vertrie-
ben werden konnte. Rechtsaußenstürmer Cherst
tunkte den Springer der Seeraben ein und wurde
gleich darauf selbst ins Wasser befördert; Glinnes
mußte nun hinüber, den rechten Außenzug decken.

Grünes Licht. »Vierzig-fünf-zwölf!« schrie Lord

Gensifer schon wieder. »Diesmal klappt's, Männer!
Zeigt ihnen, was wir wert sind!«

»Ich glaube, wir werden ihnen gleich was anderes

zeigen«, bemerkte Glinnes zu Wilmer Guff. »Zuranie
nämlich.«

»Er ist Kapitän.«
»Leider – also los!«
Denzel Warhound hatte vermutlich genau diese

Variante erwartet. Seine Stürmer machten kehrt und
stellten Glinnes, der wieder von einem heranschwin-
genden Springer eingetunkt wurde. Lucho erging es
auf der anderen Seite nicht besser. Die beiden wate-
ten so schnell wie möglich zur Leiter zurück, nur um
beim Heraussteigen die Trevanyi-Kapelle die Ode an
die triumphierende Schönheit anstimmen zu hören.

»Jetzt haben wir's«, sagte Glinnes.
Sie kletterten heraus und sahen Denzel Warhound

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auf ihrem Podest, die Hand am Goldring. Zuranie
blickte verdattert gen Himmel. »Wo ist euer Geld?
Fünfhundert Ozols retten eure Sheirl; fünfhundert
Ozols für ihren Stolz – ist das so viel?«

»Ich würde ja zahlen«, sagte Glinnes zu Wilmer

Guff, »nur wäre es hinausgeworfenes Geld. Lord
Gensifer würde uns nur weiter mit seiner Doppeldia-
gonale traktieren; bis wir ersaufen.«

Die Musik wurde lauter, stürmischer, untermalt

von einem gemessenen, ernsten Rhythmus, der einem
ein Frösteln über den Rücken jagte und den Mund
trocken werden ließ. Ein leises Stöhnen erregter Er-
wartung kam von der Menge. Zuranies Gesicht war
zu einer weißen Maske erstarrt – es war unmöglich,
ihre Gefühle zu erraten. Die Musik brach ab. Ein tie-
fer Gong ertönte – ein, zwei, drei Schläge, dann zog
der siegreiche Kapitän am Ring. Zuranies Gewand
flatterte zu Boden; splitternackt und zitternd stand sie
auf dem Podest.

Auf der anderen Seite des Spielfeldes vollführte die

Sheirl Barola Felice aus dem Stegreif einen Freuden-
tanz und sprang hinunter in die Arme der Seeraben,
die nun den Platz verließen.

Lord Gensifer holte schweigend einen schwarzen

Samtmantel, um Zuranies Blöße zu bedecken; die
Gorgonen gingen dann ebenfalls vom Feld.

In den Umkleidekabinen brach Lord Gensifer kühn

das eisige Schweigen.

»Also Männer, wir hatten heute keinen guten Tag –

das ist klar. Die Seeraben sind eine viel bessere
Mannschaft, als man vermuten würde; sie waren
doch ein bißchen zu flink für uns. Aber nun wollen
wir alle hinaus auf meinen Landsitz – eine Siegesfeier

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wird es nicht werden, aber es erwartet uns wenig-
stens ein recht passabler Sokal-Wein...«

Auf dem Landsitz derer von Gensifer gewann der
Lord seine gewohnt leutselige Stimmung zurück. Er
mischte sich heiter unter diejenigen seiner aristokrati-
schen Freunde, die ins Saurkash-Stadion gekommen
waren, um ihm bei seiner neuesten Laune zuzusehen.
Rund um die reichhaltigen Buffettische, im funkeln-
den Licht der antiken Kronleuchter, neben der
prachtvollen Sammlung alter Wimpel vom Rol-
Sternensystem wurde geplaudert, gelästert, ge-
klatscht.

»Hätte dir nie eine solche Behendigkeit zugetraut,

Thammas, bis ich dich im Sturm auf diese üppige
Seeraben-Sheirl sah!«

»Haha! Ja, wenn es um die Damen geht, bin ich

nicht der langsamste!«

»Wir wußten ja schon lange, daß unser Thammas

ein großer Sportsmann ist, aber warum nur haben die
Gorgonen ihren einzigen Ring gewonnen, während er
im Strafbecken saß?«

»Habe mich nur ein wenig ausgeruht, mein lieber

Jonas. Warum sich abhetzen, wenn man im schönen
kühlen Wasser rasten kann?«

»Eine gute Mannschaft, Thammas, wirklich gut. Ih-

re Burschen gereichen Ihnen zur Ehre. Halten Sie sie
nur ordentlich in Form.«

»Oh, das tue ich gewiß, mein Lieber. Keine Sorge.«
Die Gorgonen selbst standen etwas unbeholfen da-

neben oder balancierten auf den filigranen Jadeholz-
stühlen und nippten an Weinen, die sie noch nie zu-
vor gekostet hatten. Wenn Lord Gensifers Freunde

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Fragen an sie richteten, gaben sie recht einsilbige
Antworten. Lord Gensifer kam schließlich zu ihnen
und unterhielt sich mit den Männern; seine Laune
hatte sich mittlerweile erheblich gebessert. »Nun ja,
Vorwürfe haben wohl keinen Sinn. Ich möchte nur
das eine sagen: ich sehe die Möglichkeit zur Verbes-
serung, und bei den Sternen« – Lord Gensifer reckte
die Arme zur Decke wie ein zorniger Zeus – »wir
werden eine Verbesserung erreichen. Von den Stür-
mern erwarte ich in Zukunft mehr Elan, mehr Ein-
satzwillen. Von den Springern entschlossenes Pad-
ding, schnellere Reaktion! Hattet ihr heute müde Fü-
ße, Springer? Es kam einem jedenfalls so vor. Die
Wächter müssen zuverlässiger, ehrgeiziger, aggressi-
ver werden. Wenn der Gegner auf unsere Wächter
stößt, sollte er sich nur mehr nach seiner Mutti zu
Hause sehnen. Klar? Noch irgendwelche Bemerkun-
gen?«

Glinnes wandte den Blick ab, starrte in die Luft

und nahm nachdenklich einen Schluck von dem
blaßgrünen Sokal-Wein in seinem Glas.

Lord Gensifer fuhr fort: »Unsere nächsten Gegner

sind die Tanchinaros; wir spielen in zwei Wochen im
Stadion von Saurkash gegen sie. Ich bin überzeugt,
daß das Ergebnis diesmal ganz anders aussehen wird.
Ich habe sie mir angesehen; sie sind langsam wie Di-
dos einbeinige Großmutter. Wir werden einfach an
ihnen vorbei zum Podest schlendern. Wir werden ih-
nen ihr Geld abnehmen, ihre Sheirl ausziehen und
uns empfehlen.«

»Da Sie schon von Geld reden«, brummte Candolf.

»Wie sieht unsere Kasse nach dem heutigen Fiasko
aus? Und wer wird unsere Sheirl sein?«

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»Die Kasse beläuft sich auf zweitausend Ozols«,

sagte Lord Gensifer kühl. »Die Sheirl wird eines von
etlichen aparten Geschöpfen sein, die danach lechzen,
an unserem ruhmreichen Aufstieg teilzuhaben.«

»Die Tanchinaros sind im Vorderfeld gewiß lang-

sam«, sagte Lucho, »aber mit Wächtern wie Gilweg,
Etzing, Barreu und Shamoran könnten die Stürmer in
Rollstühlen spielen.«

Lord Gensifer wischte die Bemerkung beiseite. »Ei-

ne gute Mannschaft spielt nach ihrer eigenen Taktik
und zwingt den Gegner, darauf einzugehen. Die Tan-
chinaro-Wächter sind auch nur Männer aus Fleisch
und Blut. Wir werden sie so oft ins Wasser befördern,
daß sie glauben, wirklich Tanchinaros

17

zu sein!«

»Darauf wollen wir trinken!« rief Chaim Lord Sha-

drak. »Auf elf tropfnasse Tanchinaros und ihre ge-
rupfte Sheirl!«

17

Siehe Glossar

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KAPITEL 11

Nach Lord Gensifers Party verbrachte Glinnes die
Nacht bei Tyran Lucho, der auf der Insel Altramar zu
Hause war, ein paar Meilen östlich der fünf Inseln.
Das Südmeer begann eine Viertelmeile weiter im Sü-
den, jenseits einer Lagune und einigen Sandbänken.
Der Vorgarten der Luchos war ein weißer Sand-
strand. Glinnes und Tyran kamen gerade rechtzeitig
zu einer Sternenschau. Über einigen rotglimmenden
Feuern wurden Krabben, Krebse, Seegurken, Pentab-
rachen, Sauertang und verschiedene kleinere Meeres-
früchte geröstet und gedünstet. Etliche Bierfässer wa-
ren angestochen worden; ein Tisch bog sich unter
groben, knusprigen Brotlaiben, Früchten und Einge-
machtem. Dreißig Leute aller Altersstufen aßen, tran-
ken, sangen, spielten Gitarren und Maultrommeln,
vergnügten sich im Sand und knüpften vielleicht
auch engere Beziehungen zu jemandem an, den sie
später am Abend an eine einsamere Stelle des Stran-
des locken wollten. Glinnes fühlte sich sofort wohl,
im Gegensatz zu der Gezwungenheit, die er auf Lord
Gensifers Party empfunden hatte, wo der Um-
gangston sehr viel förmlicher gewesen war. Dies wa-
ren die Trills, die die Fanscherade verachtete und
mißbilligte – eigenwillig, frivol, verfressen, mit einem
gesunden sexuellen Appetit, manche ungepflegt und
dreckig, einige nur ungepflegt. Kinder wie Erwach-
sene vergnügten sich mit erotischen Spielen; Glinnes
beobachtete mehrere Leute, die deutlich unter dem
Einfluß von Cauch standen. Jeder trug die Kleidung,
die ihm gerade behagte; ein Fremder hätte denken

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können, in ein Kostümfest geraten zu sein. Tyran
Lucho, von der Disziplin des professionellen Hussa-
de-Sportlers geprägt, huldigte in Kleidung und Ver-
halten einem weniger ausgefallenen Geschmack;
trotzdem machte er es sich wie Glinnes erleichtert auf
dem Sand bequem, versorgt mit einem Krug Bier und
einem Chino-Blatt voll gegrillter Meerestiere. Das
Fest war nur dem Namen nach eine Sternenschau; die
Luft war klar und lau, und die Sterne wirkten wie
große Lampions. Die Ausgelassenheit der kleinen Ge-
sellschaft ließ jedoch nicht vermuten, daß man sich in
dieser Nacht viel den Sternen widmen würde.

Tyran Lucho hatte in berühmten Mannschaften ge-

spielt. Er war als schweigsamer Mann von großarti-
gen Fähigkeiten bekannt, der fast als einziger die
Kunst beherrschte, in eine scheinbar undurchdringli-
che Front von Gegnern eine Bresche zu schlagen; er
umlief, fintierte, schwang sich von Zug zu Zug oder
ließ sich auch hinausschwingen und schnellte im ge-
eigneten Augenblick wieder zurück – ein Trick, der
manchesmal die Gegner dazu brachte, daß sie von
selbst ins Wasser plumpsten. Zusammen mit dem
›Wilden‹ Wilmer Guff war Lucho in Lord Gensifers
Traum-Mannschaft vertreten gewesen. Glinnes ließ
sich neben Lucho nieder, und die beiden besprachen
das Match dieses Tages. »Im wesentlichen«, sagte
Glinnes, »sind wir im Vorderfeld ganz passabel – mit
Ausnahme von Klumpfuß Chust – und erbärmlich
schwach im Hinterfeld.«

»Stimmt. Savat hat alle Qualitäten eines guten

Spielers. Leider bringt Tammi ihn durcheinander, so
daß er nicht weiß, ob er nach vorn oder zurück soll.«

›Tammi‹ war der Spitzname, mit dem die Mann-

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schaft Thammas Lord Gensifer bedacht hatte.

»Bin ganz deiner Meinung«, sagte Glinnes. »Selbst

Sarkado ist ganz brauchbar, obwohl er eigentlich zu
unentschlossen ist, um in einer wirklich guten Mann-
schaft zu spielen.«

»Um zu siegen«, sagte Lucho, »bräuchten wir ein

neues Hinterfeld, aber viel nötiger noch einen ande-
ren Kapitän. Tammi weiß ja nicht, was er will.«

»Bedauerlicherweise ist es seine Mannschaft.«
»Aber es geht um unsere Zeit und unsere Prämi-

en!« erklärte Lucho mit einer Heftigkeit, die Glinnes
überraschte. »Auch um unseren Ruf. Es tut keinem
Mann gut, mit einer Schar Tölpel zu spielen.«

»Das stimmt«, sagte Glinnes. »Man neigt dann da-

zu, selber nachzulassen.«

»Ich habe mir die Sache durch den Kopf gehen las-

sen. Ich bin bei den Rächern von Poldan ausgestie-
gen, damit ich zu Hause wohnen könnte, und ich
dachte, daß Lord Gensifer unter Umständen ein
brauchbares Team zusammenbekommen dürfte. Aber
er wird es nie zu etwas bringen, wenn er darauf be-
harrt, die Mannschaft so zu führen, als wäre das Spiel
nur ein Privatvergnügen.«

»Trotzdem, er ist der Kapitän – wer würde in sei-

ner Position spielen? Denkst du daran?«

Lucho schüttelte den Kopf. »Ich habe nicht die Ge-

duld dazu. Wie steht's mit dir?«

»Ich spiele lieber als Mittelstürmer. Candolf wäre

ganz brauchbar.«

»Er wäre eine Möglichkeit, wenn uns nichts ande-

res übrig bleibt. Aber ich habe an einen besseren
Mann gedacht – Denzel Warhound.«

Glinnes überlegte. »Er ist gerissen und schnell, und

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er scheut sich auch nicht, selbst mitzumischen. Er ist
gut, ja. Aber wie stark ist er mit den Seeraben ver-
bunden?«

»Er will vor allem spielen. Die Seeraben haben kei-

nen Heimplatz – sie sind ein ziemlich loser Verein.
Warhound würde sich sofort verändern, wenn er eine
gute Gelegenheit geboten bekommt.«

Glinnes leerte seinen Bierkrug. »Tammi würde aus

der Haut fahren, wenn er wüßte, worüber wir jetzt
sprechen... Wer ist das hübsche Mädel in der weißen
Tunika? Es betrübt mich, sie so allein zu sehen.«

»Sie ist die Kusine zweiten Grades der Frau meines

Bruders, wenn du's genau wissen willst. Sie heißt
Thaio und hat ein sehr anschmiegsames Wesen.«

»Ich gehe mal schnell rüber und frage sie, ob sie

Sheirl werden möchte.«

»Sie wird dir sagen, daß sie sich bis zum Alter von

neun Jahren nichts sehnlicher gewünscht hat, aber
daß es nun längst zu spät sei.«

Das Spiel zwischen den Gorgonen und den Tanchi-
naros wurde an einem herrlichen, warmen Tag aus-
getragen. Der Himmel spannte sich wie eine Kuppel
aus Milchglas über dem Stadion. Die Tanchinaros
waren in Saurkash sehr beliebt, so daß die Tribünen
fast über ihr Fassungsvermögen hinaus besetzt wa-
ren. Aus beiläufiger Neugier musterte Glinnes die
Reihe der Ligen: wie das letzte Mal saß in einer Lute
Casagave, wieder mit Kamera ausgerüstet. Seltsam,
dachte Glinnes.

Die Spieler stellten sich für die Parade in Reihen

auf, die Sheirls traten vor: für die Tanchinaros Filene
Sadjo, eine frischgesichtige Fischerstochter von der

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Äußeren Buschinsel; für die Gorgonen Karue Liriant,
ein hochgewachsenes, dunkelhaariges Mädchen mit
einer reifen, beinahe üppigen Figur, die selbst der
klassische Faltenwurf des weißen Gewandes nicht
verbergen konnte. Lord Gensifer hatte die Identität
der Sheirl bis drei Tage vor dem Spiel für sich behal-
ten. Bei diesem Mannschaftstreffen hatte Karue Liri-
ant sich nicht im mindesten bemüht, die Wertschät-
zung der Spieler zu gewinnen – was an sich bereits
ein schlechtes Vorzeichen war. Dennoch war Karue
Liriant nur der geringste Anlaß für den Tiefstand der
Kampfmoral. Der linke Außenwächter Ramos war,
verärgert durch Lord Gensifers ständige Nörgelei,
aus der Mannschaft ausgetreten. »Es ist ja nicht so,
daß ich so gut wäre«, erklärte er Lord Gensifer, »son-
dern daß Sie soviel schlechter sind. Ich sollte Sie mit
Ki-Yiks antreiben, nicht Sie mich.«

»Sie verlassen sofort den Platz!« brüllte Lord Gensi-

fer. »Wenn Sie nicht ausgetreten wären, hätte ich Sie
auf jeden Fall gefeuert.«

»Pah«, sagte Ramos. »Wenn Sie jeden rausschmei-

ßen, der sich beklagt, dann können Sie bald allein
spielen.«

Bei dem Imbiß nach dem Training stellte sich die

Frage nach einem Ersatzmann. »Ich hätte eine Idee,
die für die Mannschaft recht nützlich sein könnte«,
erklärte Lucho Lord Gensifer. »Wie wär's, wenn Sie
als Wächter spielten, was Ihnen bestimmt liegt; Sie
haben die Figur dafür und sind beharrlich genug.
Und dann wüßte ich einen Mann, der einen sehr
tüchtigen Kapitän für uns abgeben würde.«

»Tatsächlich?« sagte Lord Gensifer eisig. »Und wer

ist dieser Wunderknabe?«

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»Denzel Warhound von den Seeraben.«
Lord Gensifer bemühte sich, seine Stimme unter

Kontrolle zu halten. »Es dürfte einfacher und für das
Training weniger schädlich sein, wenn lediglich ein
neuer Wächter eingestellt wird.«

Darauf hatte Lucho nichts mehr zu sagen. Der neue

Wächter erschien zum nächsten Training – ein noch
unfähigerer Mann als Ramos.

Die Gorgonen stellten sich den Tanchinaros somit

in einer keineswegs idealen Gemütsverfassung.

Nachdem sie den Platz umrundet hatten, setzten

beide Mannschaften die Helme auf: dies war der
Moment jener erregenden Metamorphose, durch die
sich gewöhnliche Männer in Heroen und Fabelwesen
verwandelten und in gewissem Grade etwas von der
Natur ihrer Maske übernahmen. Glinnes sah nun
zum erstenmal die Helmmasken der Tanchinaros –
phantastische Gebilde in Silber und Schwarz, mit ro-
ten und violetten Federbüschen geschmückt. Die
Tanchinaros waren wirklich ein großartiger Anblick,
als sie aufs Feld stürmten, und, wie erwartet, waren
sie kraftvoll und massiv. »Ein Team von zehn Wäch-
tern und einem fetten alten Mann«, wie Carbo Gilweg
es formuliert hatte. Der ›fette alte Mann‹ war der Ka-
pitän Nilo Neronavy, der niemals den schützenden
Bannkreis seiner Hange verließ, und dessen Taktik
ebenso durchsichtig und geradlinig war, wie die von
Lord Gensifer kompliziert und verwirrend war. Glin-
nes rechnete in punkto Verteidigung mit keinerlei
Schwierigkeiten; die Stürmer der Tanchinaros waren
auf dem Trapez recht unbeholfen, so daß die schnelle
Frontlinie der Gorgonen sie einen nach dem anderen
erledigen konnte. Bei der Offensive lagen die Dinge

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leider anders. Wäre Glinnes der Kapitän gewesen, so
hätte er die Gegner immer wieder vorgelockt, auf die
eine Seite, dann auf die andere – bis sich für den
blitzschnellen Vorstoß eines Stürmers eine Lücke bot.
Er bezweifelte, daß Lord Gensifer etwas für eine sol-
che Strategie übrig hatte, oder daß er überhaupt die
Mannschaft so geschickt steuern konnte, daß die nö-
tigen schnellen Finten und Bluffs möglich wurden.

Den Gorgonen fiel wieder das grüne Licht zu. Der

Gong ertönte, die Signallampen leuchteten grün auf;
das Spiel hatte begonnen. »Zwölf-zehn, Ki-yik!« schrie
Lord Gensifer und schickte damit die Stürmer und
Springer bis zum Graben vor, während die Wächter
jeweils um zwei Kreuzungen vorrückten. »Dreizehn-
acht!« – ein Vorstoß von Springern und Außenstür-
mern über die Randstege, die Mittelstürmer sprung-
bereit am Graben. Soweit war alles gut verlaufen. Der
nächste Ruf mußte sofort lauten: »Acht-dreizehn«,
was bedeutete, daß die Springer weiter vordringen
und die Stürmer nach links fintieren sollten. Die
Springer waren über den Graben, die Tanchinaro-
Stürmer zögerten, wodurch sich die Gelegenheit zu
einem blitzschnellen Angriff auf die rechte Flanke der
Tanchinaros bot. Aber Lord Gensifer war unschlüs-
sig; die gegnerischen Stürmer fingen sich, drängten
die Springer wieder über den Graben zurück, und
das Licht wechselte auf rot.

So ging es fünfzehn Minuten lang. Zwei Tanchi-

naro-Stürmer wurden ins Strafbecken geschickt,
konnten aber aufs Spielfeld zurückkehren, bevor die
Gorgonen den Vorteil zu nutzen vermochten. Lord
Gensifer wurde ungeduldig und versuchte eine neue
Taktik – genau die Spielvariante, mit der Glinnes ei-

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nen Punkt gegen die Seeraben errungen hatte und die
gegen eine Mannschaft wie die Tanchinaros voll-
kommen ungeeignet war. Das Ergebnis war, daß alle
vier Stürmer, ein Springer und Lord Gensifer selber
eingetunkt wurden und die Tanchinaros nur noch ei-
nen einfachen Spaziergang vor sich hatten, um den
Goldring zu ergreifen. Lord Gensifer zahlte wider-
strebend eintausend Ozols Löseprämie.

Die Mannschaften stellten sich neu auf. »Ich weiß,

wie wir das Spiel gewinnen«, meinte Lucho zu Glin-
nes. »Wir sorgen dafür, daß Tammi im Foul-Becken
bleibt.«

»In Ordnung«, sagte Glinnes. »Wir brauchen nur

möglichst blöd zu tun. Sag's Savat; ich bring' es Chust
bei.«

Grünes Licht. Lord Gensifer setzte seine Mann-

schaft in Bewegung. Zwei Sekunden, bevor das Licht
wechselte, schwärmte die gesamte Frontlinie der
Gorgonen in einem scheinbar sinnlosen Manöver aus.
Völlig verdattert schrie Lord Gensifer noch Gegen-
anweisungen, nachdem das Licht schon rot aufge-
leuchtet war. Das Spiel wurde unterbrochen, wäh-
rend Lord Gensifer, dem aufzugehen begann, was da
eben passiert war, sich mürrisch ins Strafbecken ver-
fügte.

Glinnes als rechter Mittelstürmer übernahm die

Führung. Die Tanchinaros versuchten den Graben zu
stürmen, solange sie rotes Freilicht hatten. Dank ex-
aktem Zusammenspiel konnten die Gorgonen-
Stürmer beide Mittelstürmer der Tanchinaros eintun-
ken, worauf sich die Außenstürmer zurückzogen.
Grünes Licht. Jetzt konnte Glinnes seine Pläne ver-
wirklichen. Er rief der Reihe nach einige Spielcodes

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auf. Die Frontlinie wich zurück und stieß dann wie
ein Mann vor; plötzlich waren die Stürmer und
Springer der Gorgonen drüben. Die Tanchinaro-
Springer wurden ins Wasser gestoßen, aber noch
standen die Tanchinaro-Wächter im Wege – ein un-
überwindliches Bollwerk. Glinnes rief seine eigenen
zwei Innenwächter nach vorne, so daß acht Mann wie
ein Keil auf die Wächter zustürmten – die dadurch
gezwungen waren, sich in der Mitte zu konzentrie-
ren. Glinnes drückte sich dahinter vorbei schubste als
freundschaftliche Geste Carbo Gilweg in den Tank
und ergriff den Goldring.

Lord Gensifer kletterte gekränkt aus dem Strafbek-

ken, würdigte niemanden eines Wortes und kassierte
tausend Ozols von Nilo Neronavy.

Die Mannschaften nahmen neuerlich Aufstellung.

Rotes Licht. Die Tanchinaros konzentrierten sich auf
ihrer linken Seite in der Hoffnung, einen unvorsichti-
gen Gorgonen über den Graben zu locken. Glinnes
fing einen Blick von Lucho auf; beide wußten sofort,
was der andere beabsichtigte; beide überquerten den
Graben und stürmten die Mittelwege vor, so schnell,
daß die eigentlich angreifende Mannschaft völlig
überrascht wurde. Die Außenstürmer und Springer
schlossen so schnell wie möglich auf. Nach einigen
raschen Schwüngen, Finten und Ausweichmanövern
waren sie in der gegnerischen Heimzone und be-
schäftigten die Wächter. Der ›Wilde‹ Wilmer Guff, ein
Springer, schwenkte um das Durcheinander herum
und packte den Ring.

»Auch ein Weg zum Sieg«, rief Lucho Glinnes zu.

»Wir greifen an, wenn das Licht gegen uns ist, und
Tammi nicht dreinreden kann.«

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Die Spieler stellten sich neu auf. Wieder rotes Licht.

Nilo Neronavy hielt sich an die Strategie, die auf die
Fähigkeiten der Tanchinaros am besten zugeschnitten
war: ein zermalmender, breiter Vorstoß über das ge-
samte Feld. Lucho und Chust landeten bald im Was-
ser; Savat und Glinnes wurden zurückgetrieben. Die
Tanchinaros standen jetzt mit allen Wächtern am
Graben. Grünes Licht. Lord Gensifer rief: »Zwanzig-
zwei!«, ein einfaches Manöver, das so gut war wie ir-
gendein anderes – die Stürmer sollten sich irgendwie
bis in die Heimregion der Tanchinaros durchschla-
gen. Die Tanchinaro-Wächter zogen sich sofort zu-
rück, die Gorgonen kamen nicht an ihnen vorbei.
Carbo Gilweg stellte Glinnes; die beiden fochten wild
mit ihren Pads – rechts, links, Finte, Haken, Parade.
Gilweg senkte den Kopf und sprang vor wie ein Stier;
Glinnes versuchte auszuweichen, wurde aber von
Gilwegs Pad erwischt. Er plumpste in den Tank. Gil-
weg schaute zu ihm hinunter. »Wie ist das Wasser?«

Glinnes antwortete nicht. Der Gong war ertönt. Ir-

gendeiner der Tanchinaros hatte den Ring erobert.

Da nach vier Spielen der Punktestand gleich war,

wurde eine Pause von fünf Minuten eingelegt. Lord
Gensifer hielt sich mit eisiger Miene abseits. Lucho
ging dennoch zu ihm hin, um vielleicht doch einen
guten Rat anzubringen. »Sie werden's bestimmt wie-
der mit der Dampfwalze probieren. Ich glaube nicht,
daß sie unseren Angriff abwarten – sie werden schon
bei grünem Licht vorstoßen. Wir müssen ihr Zentrum
demolieren, bevor sie mit der ganzen Front über den
Graben sind.«

Lord Gensifer sagte nichts.
Die Spieler stellten sich noch einmal auf. Grünes

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Licht! Lord Gensifer ließ seine Männer an den Graben
vorrücken. Die Tanchinaros hatten sich in Igelforma-
tion gruppiert, um einen Angriff der Gorgonen her-
auszufordern. In dieser Situation war es durchaus
möglich, daß die behenderen Gorgonenstürmer, auf
den Trapezen hereinschwingend, den einen oder an-
deren Tanchinaro eintunkten – oder selbst eingetunkt
wurden. Lord Gensifer wollte jedoch nicht angreifen.
Rotes Licht. Die Tanchinaros behielten ihre Defensi-
vaufstellung bei. Lord Gensifer hielt seine Spieler
immer noch zurück, eine Vorgangsweise, die nur in-
sofern unklug war, als sie Unsicherheit verriet.

»Gehen wir doch rüber«, rief Glinnes ihm zu, »wir

können ja immer noch zurück.«

Lord Gensifer zeigte nichts als steinernes Schwei-

gen.

Rotes Licht. Die Tanchinaros stürmten vor, alle elf

Mann – ›nur die Sheirl als Wächter des Podests‹, wie
man sagte. Wiederum setzten sie über den Graben,
nur die Wächter blieben auf der Feldhälfte der Tan-
chinaros zurück.

Grünes Licht. Lord Gensifer befahl eine Finte nach

rechts und einen Angriff auf die Tanchinaros, die sich
links eine Ausgangsposition erobert hatten. Bei dem
Gedränge wurden zwei Mann von jedem Team ins
Wasser befördert, aber mittlerweile waren die Tan-
chinaros an der rechten Flanke der Gorgonen weit
vorgestoßen, und der ungeschickte neue Wächter
wurde eingetunkt.

Das Licht wechselte auf Rot. Die Tanchinaros

kämpften sich Meter um Meter an das Podest der
Gorgonen heran, auf dem Karue Liriant ohne erkenn-
bare Besorgnis wartete.

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Grünes Licht. Lord Gensifer sah sich mit einer un-

angenehmen Situation konfrontiert. Seine Stürmer
beherrschten das Zentrum, aber die gegnerischen
Wächter und Stürmer, die entlang der Mittelwege
vordrängten, machten ihnen mehr als genug zu schaf-
fen. Glinnes griff einen Tanchinaro-Mittelstürmer an;
er glaubte aus dem Augenwinkel eine freie Route
nach vorne zu entdecken – er brauchte nur einen der
Wächter aus der Position zu locken.

Rotes Licht. Glinnes ließ den Tanchinaro-Stürmer

stehen, rannte vor zum Graben und setzte darüber. Er
war frei, ungedeckt! Mit einem verzweifelten Sprung
warf sich Carbo Gilweg ihm entgegen und versuchte,
Glinnes mit dem Pad die Beine unter dem Körper
wegzuschlagen; beide fielen Hals über Kopf in den
Mittelgraben.

Der Gong – drei Schläge. Das Spiel war entschie-

den.

Der Schiedsrichter rief Lord Gensifer und verkün-

dete die Lösegeldforderung der Sieger. Die Forde-
rung wurde abgelehnt. Die Musik wurde feierlich
und traurig – die goldene Musik eines Sonnenunter-
gangs, deren Rhythmus den Herzschlag begleitete
und deren Töne die Süße aller menschlichen Leiden-
schaften verkündeten. Zum dritten Mal rief der
Schiedsrichter die Lösegeldforderung aus; zum drit-
ten Mal ignorierte Lord Gensifer die Forderung. Der
Tanchinaro-Stürmer zog am Goldring, das weiße
Gewand fiel vom Körper Karue Liriants. Nackt und
selbstsicher stand sie vor dem Publikum, ja, sie lä-
chelte sogar ein wenig. Gleichmütig strich sie sich die
Haare zurecht, stellte sich auf die Zehen, hob grü-
ßend die Hände, blickte über die eine, dann über die

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andere Schulter, während die Menge erstaunt dieses
seltsame Verhalten beglotzte.

Ein ausgefallener Gedanke kam Glinnes in den

Sinn. Er musterte sie scharf. War Karue Liriant
schwanger? Auch andere merkten auf; unter den Zu-
schauern erhob sich ein Gemurmel. Lord Gensifer
holte eilig einen Mantel und führte seine noch immer
lächelnde Sheirl vom Podest. Dann wandte er sich an
die Mannschaft. »Heute abend gibt es keine Party. Ich
habe nun die unangenehme Pflicht, undisziplinierte
Teammitglieder zu bestrafen. Tyran Lucho, betrach-
ten Sie sich als entlassen. Glinnes Hulden, Ihr Ver-
halten...«

»Lord Gensifer«, sagte Glinnes, »ersparen Sie mir

Ihre Kritik. Ich trete aus der Mannschaft freiwillig
aus. Die Spielbedingungen sind einfach unmöglich.«

Ervil Savat, der linke Mittelstürmer, sagte: »Ich

trete ebenfalls aus.«

»Ich auch«, verkündete Wilmer Guff, der rechte

Springer, der als einer der starken Spieler am meisten
zu tun gehabt hatte. Der Rest der Mannschaft zögerte.
Wenn sie alle austraten, fanden sie vielleicht kein an-
deres Team, das Verwendung für sie hatte. In der be-
troffenen Stille wagte keiner mehr etwas zu sagen.

»Nun gut«, meinte Lord Gensifer. »Wir können nur

froh sein, euch loszuwerden. Ihr wart alle eigenwillig
und unbotmäßig – und Sie, Glinnes Hulden und Ty-
ran Lucho, Sie haben fortgesetzt versucht, meine
Autorität zu untergraben.«

»Nur um einen oder zwei Ringe zu gewinnen«,

sagte Lucho. »Aber das ist ja jetzt gleichgültig – auf
jeden Fall alles Gute Ihnen und den Gorgonen.« Er
nahm seine Maske ab und übergab sie Lord Gensifer.

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Glinnes tat dasselbe, dann Ervil Savat und Wilmer
Guff. ›Pflock‹ Candolf, der einzige brauchbare
Wächter, fand es sinnlos, weiter in der Mannschaft zu
spielen, wenn nur die schlechten Spieler übrigblieben,
und gab seine Maske ebenfalls Lord Gensifer ab.

Draußen vor den Umkleidekabinen meinte Glinnes

zu seinen vier Kameraden: »Heute abend kommt ihr
alle zu mir – letzten Endes haben wir einen Sieg zu
feiern. Wir sind das Mondkalb Tammi los.«

»Ein im wesentlichen annehmbarer Vorschlag«,

sagte Lucho. »Mir ist auch nach ein oder zwei kühlen
Krügen zumute, aber am Strand von Atramar wird
mehr los sein; zumindest finden wir verständnisvolle
Zuhörer.«

»Wie ihr wollt. Auf meiner Veranda war es wirk-

lich in letzter Zeit ziemlich still. Außer mir sitzt kei-
ner dort, nur vielleicht manchmal ein Merling, wenn
ich nicht da bin.«

Auf dem Weg zum Pier trafen die fünf Carbo Gil-

weg und zwei weitere Tanchinaro-Wächter, die alle
bestens gelaunt waren. »Gut gespielt, Gorgonen –
aber heute hattet ihr es mit den todesmutigen Tan-
chinaros zu tun.«

»Danke für das tröstliche Kompliment«, sagte

Glinnes, »aber nenne uns nicht Gorgonen. Wir er-
freuen uns nicht länger dieser Auszeichnung.«

»Was soll das heißen? Hat Lord Gensifer am Ende

seinen phantastischen Plan aufgegeben, ein Hussade-
Team zu führen?«

»Er hat uns aufgegeben, und wir ihn. Die Gorgo-

nen gibt's noch, vermute ich jedenfalls. Tammi
braucht nur eine neue Frontlinie.«

»Durch einen seltsamen Zufall«, sagte Carbo Gil-

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weg, »ist das alles, was die Tanchinaros ebenfalls
brauchen... Wohin seid ihr unterwegs?«

»Raus zu Lucho auf Altramar, um unseren privaten

Sieg zu feiern.«

»Dann kommt lieber zu den Gilwegs zu einer rich-

tigen Siegesfeier.«

»Besser nicht«, meinte Glinnes. »Ihr werdet unsere

langen Gesichter bei dem Fest nicht brauchen kön-
nen.«

»Im Gegenteil! Ich habe einen besonderen Grund,

euch einzuladen. Hört zu, gehen wir vorher in den
Magischen Fisch auf ein Bier.«

Die acht Männer setzten sich um einen runden

Tisch, und die Kellnerin brachte acht großzügig be-
messene Krüge mit Bier.

Gilweg musterte mit gerunzelter Stirn den Schaum

auf seinem Krug. »Ich möchte euch einen Vorschlag
unterbreiten – einen naheliegenden und interessanten
Vorschlag. Die Tanchinaros brauchen wie Lord Gen-
sifer eine Frontlinie. Das ist kein Geheimnis; jeder
wird das zugeben. Wir sind eine Mannschaft von
zehn Wächtern und einem Bierfaß.«

»Das ist alles recht schön, und ich verstehe auch,

worauf du hinauswillst«, sagte Glinnes, »aber
schließlich werden eure Stürmer, ob sie nun eigent-
lich Wächter sind oder nicht, bestimmt etwas dage-
gen einzuwenden haben.«

»Sie haben gar kein Recht dazu. Die Tanchinaros

sind ein offener Verein; jeder kann beitreten, und
wenn er sich bewährt, dann spielt er. Denkt doch
bloß! Zum ersten Mal seit Menschengedenken wären
die kümmerlichen Saurkash-Tanchinaros eine wirkli-
che Mannschaft!«

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»Der Vorschlag ist vielversprechend.« Glinnes

schaute seine Kameraden an. »Was meint ihr?«

»Ich möchte Hussade spielen«, sagte Wilmer Guff.

»Und ich gewinne gern. Ich bin dafür.«

»Auf mich könnt ihr auch zählen«, sagte Lucho.

»Vielleicht können wir eines Tages gegen die Gorgo-
nen antreten.«

Savat stimmte dem Vorschlag ebenfalls zu, nur

Candolf zögerte. »Ich bin ein Wächter. Bei den Tan-
chinaros ist kein Platz für mich.«

»Sag das nicht«, meinte Gilweg. »Unser linker Au-

ßenwächter ist Pedro Shamoran, und er hat einen
schlimmen Fuß. Es wird etliche Umbesetzungen ge-
ben, und vielleicht kannst du auch als linker Springer
spielen; du wärst auf jeden Fall schnell genug. War-
um versuchst du's nicht wenigstens?«

»Na schön, warum nicht?«
Gilweg leerte seinen Krug. »Also, dann wäre ja al-

les geregelt! Nun können wir alle miteinander den
Sieg der Tanchinaros feiern!«

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KAPITEL 12

Als Glinnes spät am nächsten Vormittag heimkam,
fand er ein fremdes Boot an seiner Anlegestelle. Auf
der Veranda saß jedoch niemand, und das Haus war
leer. Glinnes ging hinaus, um sich umzuschauen, und
entdeckte drei Männer, die über die Wiese schlen-
derten. Glay, Akadie und Junius Farfan. Alle drei
trugen nüchterne, graue und schwarze Kleidung, die
Tracht der Fanscherade. Glay und Farfan sprachen
ernst miteinander; Akadie hielt sich etwas abseits.

Glinnes ging zu ihnen hinüber. Akadie setzte ein

etwas schafsmäßiges Grinsen auf, als Glinnes ihn er-
staunt und spöttisch musterte. »Ich hätte nie gedacht,
daß du bei diesem Blödsinn mitmachen würdest«,
schnaubte Glinnes.

»Man muß mit der Zeit gehen«, sagte Akadie.

»Weißt du, ich finde diese Tracht eigentlich ganz
amüsant.« Glay warf ihm einen kühnen Blick zu; Ju-
nius Farfan lachte nur.

Glinnes winkte zur Veranda hinüber. »Setzt euch

doch! Möchte jemand Wein?«

Farfan und Akadie nahmen einen Becher Wein an;

Glay lehnte ziemlich schroff ab. Er folgte Glinnes ins
Haus, in dem er seine Jugend verbracht hatte, und
sah sich in dem Raum um wie ein Fremder. Er drehte
sich schließlich um und ging Glinnes voran wieder
hinaus.

»Ich habe dir einen Vorschlag zu machen«, sagte

Glay. »Du willst die Insel Ambal.« Er warf Junius Far-
fan einen Blick zu; dieser legte ein Kuvert auf den
Tisch. »Du sollst sie haben. Hier ist das Geld, um Ca-

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sagave auszuzahlen.«

Glinnes griff nach dem Umschlag, aber Glay zog

ihn weg. »Nicht so eilig. Wenn Ambal wieder dir ge-
hört, kannst du dort leben, wenn du willst. Und ich
bekomme das Nutzungsrecht für Rabendary.«

Glinnes starrte ihn verblüfft an. »Jetzt willst du Ra-

bendary! Warum können wir nicht beide hier leben
und uns brüderlich den Besitz teilen?«

Glay schüttelte den Kopf. »Es würde nur Streit ge-

ben, wenn du deine Einstellung nicht ändertest. Ich
will keine Energie darauf verschwenden. Nimm du
Ambal, ich nehme Rabendary.«

»Das ist der sonderbarste Vorschlag, den ich je ge-

hört habe«, sagte Glinnes, »angesichts der Tatsache,
daß beides mir gehört.«

Glay wiegte den Kopf. »Nicht, wenn Shira lebt.«
»Shira ist tot.« Glinnes ging zu seinem Versteck,

grub den Krug aus und holte den goldenen Uhran-
hänger heraus. Er nahm ihn mit auf die Veranda und
warf ihn auf den Tisch. »Erinnerst du dich an das? Ich
habe es deinen Freunden, den Drossets, abgenom-
men. Sie haben Shira getötet und ausgeraubt und den
Merlingen überlassen.«

Glay warf einen Blick auf den Anhänger. »Haben

sie es zugegeben?«

»Nein.«
»Kannst du beweisen, daß du das von den Drossets

hast?«

»Du hast gehört, was ich gesagt habe.«
»Das genügt nicht«, sagte Glay schroff.
Glinnes hob den Kopf und starrte Glay ins Gesicht.

Langsam stand er auf. Glay saß steif wie ein Zaun-
pflock da. Akadie sagte hastig: »Aber selbstverständ-

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lich genügt uns dein Wort, Glinnes. Setz dich wie-
der.«

»Glay soll seine Bemerkung zurückziehen und

dann sich selber!«

»Glay hat nur gemeint, daß dein Wort vor dem Ge-

setz nicht genügt«, sagte Akadie. »Das stimmt doch,
Glay?«

»Ja, natürlich«, sagte Glay gelangweilt. »Was mich

betrifft, so genügt mir dein Wort. Mein Vorschlag
bleibt trotzdem der gleiche.«

»Woher stammt die plötzliche Sehnsucht, nach Ra-

bendary heimzukehren?« fragte Glinnes. »Gebt ihr
eure verrückte Kostümparade auf?«

»Im Gegenteil. Wir werden auf Rabendary eine

Fanscherade-Gemeinschaft begründen, ein Kollegium
der dynamischen Formulierungen.«

»Bei den Sternen«, verwunderte sich Glinnes.

»Formulierungen. Zu welchem Zweck nur?«

Junius Farfan sagte sanft: »Wir beabsichtigen, eine

Akademie der Leistungen zu gründen.«

Glinnes blickte kopfschüttelnd auf die Ambal-

Bucht hinaus. »Ich muß zugeben, daß ich mich nicht
mehr auskenne. Der Alastor-Sternhaufen ist unzähli-
ge Jahrtausende alt; Milliarden Menschen haben die
Galaxis besiedelt. Hier und dort, überall auf der wei-
ten Bühne des Lebens, haben große Denker Probleme
formuliert und gelöst. Alles, was dem Menschen
möglich ist, wurde schon erreicht, alle menschlichen
Daseinsziele – und nicht nur einmal, sondern viele
tausende Male. Wir alle wissen, daß wir in unserem
Zeitalter den goldenen Nachmittag der Menschheit
erleben. Woher glaubt ihr also, im Namen der Drei-
ßigtausend Sterne, ein neues Gebiet der Erkenntnis

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finden zu können, das so dringend von der Rabenda-
ry-Wiese aus verbreitet werden müßte?«

Glay machte eine ungeduldige Geste, als ob ihn

Glinnes' Begriffsstutzigkeit peinlich berührte. Junius
Farfan gab jedoch höflich Antwort. »Diese Einstel-
lung kennen wir natürlich sehr gut. Es kann jedoch
leicht gezeigt werden, daß der Umfang menschlicher
Erkenntnis und damit menschlicher Leistungen un-
begrenzt ist. Zwischen dem Bekannten und dem Un-
bekannten wird es immer eine Grenze geben, an der
sich die Menschen bewähren können. Wir behaupten
nicht, hoffen nicht einmal, neue Grenzen für das
menschliche Wissen setzen zu können. Unsere Aka-
demie soll nur der Vorbereitung dienen: bevor wir
auf Neuland vorstoßen, müssen wir das Alte kennen,
müssen festlegen, auf welchen Gebieten wir uns noch
neue Ziele setzen können. Das allein ist ein großes
Vorhaben. Ich erwarte, mein ganzes Leben lang an
dieser Vorbereitung zu arbeiten. Auch damit werde
ich meinem Leben einen Sinn gegeben haben. Ich
möchte Sie einladen, Glinnes Hulden, in die Fan-
scherade einzutreten und gemeinsam mit uns dieses
große Ziel zu verfolgen.«

»Und eine graue Uniform zu tragen und Hussade

und Sternenschau aufzugeben? Nein, danke. Es ist
mir gleichgültig, ob ich im Leben irgendwelche heh-
ren Ziele erreiche oder nicht. Was eure Akademie
betrifft, so würdet ihr mir die Aussicht verderben,
wenn ihr sie unten auf der Wiese baut. Seht doch, wie
das Licht drüben auf dem Wasser spielt, seht die
wunderbaren Farbschattierungen der Bäume! Mir
kommt es vor, als ob euer Gerede von ›Lebenszielen‹,
von ›Sinn‹ und ›Leistung‹ einfach Aufschneiderei ist

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– das große Gerede von kleinen Jungen.«

Junius Farfan lachte. »Ich nehme gern die ›Auf-

schneiderei‹ in Kauf – und Überheblichkeit, Eigen-
sinnigkeit, Elite-Denken, was immer Sie uns noch
vorwerfen wollen. Niemand hat je das Gegenteil be-
hauptet, ebensowenig, wie Jan Dublays behauptete,
sich fleischlichen Kasteiungen verschrieben zu haben,
als er Die Rose in den Zähnen des Fauns schrieb.«

»Mit anderen Worten«, sagte Akadie sanft, »die

Fanscherade lenkt geschickt die Kräfte, die der
menschlichen Lasterhaftigkeit innewohnen, auf
wahrscheinlich sinnvollere Ziele.«

»Abstrakte Diskussionen sind wohl interessant«,

bemerkte Junius Farfan, »aber wir sollten uns auf dy-
namische und nicht statische Prozesse konzentrieren.
Sind Sie mit Glays Vorschlag einverstanden?«

»Daß Rabendary in ein Irrenhaus der Fanscherade

verwandelt wird? Natürlich nicht! Habt ihr Leute
denn keine Seele? Schaut euch doch diese Landschaft
an! Es gibt genug menschliche Errungenschaften im
Universum, aber nicht annähernd genug Schönheit.
Errichtet eure Akademie doch irgendwo auf den La-
vafeldern oder draußen in den Geborstenen Hügeln.
Nicht hier.«

Junius Farfan erhob sich. »Dann werden wir uns

jetzt verabschieden.«

Er hob den Umschlag auf. Glinnes langte danach,

aber Glay hielt ihn am Handgelenk fest. Farfan
steckte ruhig das Kuvert in seine Rocktasche.

Glay ließ los, ein wölfisches Grinsen im Gesicht.

Glinnes spannte die Muskeln an und beugte sich vor.
Junius Farfan beobachtete ihn ernst. Glinnes beru-
higte sich. Farfans Blick war ruhig und sicher und

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brachte Glinnes ein wenig aus der Fassung.

»Ich werde noch hierbleiben; Glinnes wird mich

später dann heimfahren«, sagte Akadie.

»Wie Sie wollen«, sagte Farfan. Er ging mit Glay zu

ihrem Boot, und nachdem sie die Rabendary-Wiese
noch einmal gemustert hatten, legten sie ab.

»In gewisser Weise war dieser Vorschlag einfach

unverschämt«, erklärte Glinnes zähneknirschend.
»Halten die mich für einen Tölpel, den man so leicht
übers Ohr hauen kann?«

»Sie sind sich ihrer Ziele vollkommen sicher«, sagte

Akadie. »Vielleicht erscheint dir diese Sicherheit als
Unverschämtheit... Zugegeben, manchmal ist da recht
schwer eine Grenze zu ziehen. Dennoch ist weder
Glay noch Junius Farfan ein unverschämter Mensch.
Farfan ist im Gegenteil ein außerordentlich sanfter,
höflicher Typ. Glay kommt einem manchmal viel-
leicht ein wenig zurückhaltend vor, aber alles in al-
lem ist er doch ein guter Bursche.«

Glinnes konnte kaum seine Entrüstung unterdrük-

ken. »Wenn sie mich hinten und vorne betrügen und
mir

mein

Eigentum

nehmen

wollen? Dein Urteilsver-

mögen

ist

anscheinend

völlig umgekrempelt worden!«

Akadie wechselte mit einer wegwerfenden Geste

das Thema. »Ich habe mir gestern das Hussade-Spiel
angeschaut. Ich muß sagen, ich habe mich recht gut
unterhalten, obwohl nicht eben glänzende Leistungen
geboten wurden. Hussade ist letzten Endes ein Wech-
selspiel der Persönlichkeiten; kein Match gleicht ei-
nem anderen. Ich würde sogar behaupten, daß die
Masken ein unbewußtes Bedürfnis sind, daß sie ver-
hindern sollen, daß Persönlichkeiten das Spiel zu sehr
dominieren.«

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»Es gibt die verschiedensten Theorien über Hussa-

de. Ich jedenfalls weiß, daß mir Lord Gensifers Per-
sönlichkeit so wenig paßt, daß ich ab jetzt mit den
Tanchinaros spiele.«

Akadie nickte weise.
»Ich habe Lord Gensifer zufällig heute morgen ge-

troffen, ausgerechnet in Voulash, im Gasthaus zum
Grünen Tal. Bei einer Tasse Tee erwähnte er, daß er
einige Spieler wegen Insubordination entlassen hat.«

»Insubordination?« schnaubte Glinnes. »Wegen ge-

rechter Empörung wäre zutreffender. Was wollte er
denn in Voulash? Bitte berücksichtige, daß das eine
ganz beiläufige Frage ist. Ich habe keine Lust, ein
Honorar zu zahlen.«

Akadie antwortete mit leicht gekränkter Würde.

»Lord Gensifer unterhielt sich mit etlichen Mitglie-
dern der Voulash-Seeraben über Hussade. Ich glaube,
daß er mehrere überreden konnte, zu den Gorgonen
zu kommen.«

»Also wirklich! Lord Gensifer will demnach nicht

aufgeben?«

»Im Gegenteil. Er kocht über vor Begeisterung. Er

behauptet, daß er nur durch unglückselige Zufälle
und die Trägheit seiner Spieler geschlagen wurde,
und nicht durch das Können der Gegner.«

Glinnes lachte verächtlich. »Immer, wenn Lord

Gensifer im Strafbecken saß, haben wir einen Ring
gewonnen. Wenn er Anweisungen gab, wurden wir
über das ganze Feld gejagt.«

»Wird es dir mit dem alten Neronavy besser erge-

hen? Er ist nicht gerade für ein phantasievolles Spiel
bekannt.«

»Das ist richtig. Vielleicht finden wir eine bessere

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Lösung.« Glinnes überlegte einen Augenblick.
»Möchtest du mit nach Voulash kommen?«

»Ich habe zur Zeit nichts anderes vor«, sagte Aka-

die.

Denzel Warhound wohnte in einem Blockhaus zwi-
schen zwei riesigen Myrsil-Bäumen am Ende des
Grünen Tales. Er hatte noch nichts von Lord Gensi-
fers Besuch in Voulash gehört, zeigte aber weder
Überraschung noch Entrüstung. »Die Seeraben waren
nur ein temporäres Unternehmen; es erstaunt mich,
daß die Mannschaft überhaupt so gut zusammenge-
halten hat. Einen Augenblick, bitte.« Er ging zum Te-
lefon und sprach einige Minuten lang mit jemandem,
dessen Gesicht Glinnes nicht sehen konnte, und kam
dann wieder heraus auf die Veranda.

»Beide Mittelstürmer, beide Außenstürmer, und

ein Springer – alle sind jetzt Gorgonen. Die Seeraben
sind dieses Jahr zum letzten Male geflogen, soviel
steht fest.«

»Es wäre vielleicht ganz interessant für Sie«, sagte

Glinnes, »wenn ich Ihnen verrate, daß die Tanchi-
naros einen kampflustigen Kapitän gut brauchen
könnten. Neronvay ist wirklich nicht mehr ganz auf
der Höhe. Mit einem tüchtigen Kapitän aber könnten
die Tanchinaros ganz schön zu Geld kommen.«

Denzel Warhound massierte sein Kinn. »Die Tan-

chinaros sind ein offener Verein, glaube ich?«

»So offen wie das Meer.«
»Nun, das ist wirklich ein interessanter Vorschlag,

denke ich.«

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KAPITEL 13

Die Verwandlung der Tanchinaros von ›zehn Wäch-
tern und einem Bierfaß‹ zu einem gut ausgewogenen
und wendigen Team ging nicht ganz ohne Verstim-
mung vonstatten. Der erzürnte Nilo Neronavy wei-
gerte sich, die überlegenen Fähigkeiten von Denzel
Warhound anzuerkennen. Als man ihm das Gegenteil
nachwies, stürmte er vom Platz und nahm die Sheirl,
seine Nichte, sowie die verdrängten Stürmer mit. Ei-
ne Stunde später, im Gastgarten des Magischen Fi-
sches, konstituierten sich Neronavy und sein Anhang
zu einer neuen Mannschaft, die den Namen ›Fischtö-
ter von Saurkash‹ erhalten sollte; dieser zuversichtli-
che Kern eines neuen Teams verstieg sich sogar dazu,
Lord Gensifer, der zufällig vorbeikam, mit seinen
Gorgonen zu einem Spiel herauszufordern. Lord
Gensifer erklärte sich bereit, das Angebot in Erwä-
gung zu ziehen.

Die Tanchinaros, denen auf einmal ihre neuen

Möglichkeiten bewußt wurden, trainierten eifrig und
entwickelten Präzision, Koordination und ein Reper-
toire an Grundmanövern. Ihre ersten Gegner würden
die Raparees aus Galgade in den Ost-Fens sein. Die
Raparees wollten um nicht mehr als fünfzehnhundert
Ozols spielen, ein Betrag, der ohnehin gerade den fi-
nanziellen Möglichkeiten der Tanchinaros entsprach.
Wer aber sollte die Sheirl sein? Perinda, der Manager
des Vereins, führte mehrere ziemlich unscheinbare
Kandidatinnen vor, die die Mannschaft allesamt un-
geeignet fand.

»Wir sind ein erstklassiges Team«, erklärte Denzel

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Warhound. »Also besorgen Sie uns auch eine erst-
klassige Sheirl. Wir werden uns nicht mit irgendei-
nem schäbigen Stück Merlingköder zufriedengeben.«

»Es gäbe da schon ein Mädchen«, sagte Perinda.

»Absolut erste Klasse – Sashei, Schönheit, Begeiste-
rungsfähigkeit, alles da –, nur gibt's dabei den einen
oder anderen kleinen Haken.«

»So? Ist sie die Mutter von neun Kindern?«
»Nein. Ich bin überzeugt, daß sie Jungfrau ist.

Schließlich ist sie eine Trevanyi – und das ist eines
von den kleinen Problemen, die ich erwähnte.«

»Aha«, sagte Glinnes. »Welche gibt es noch?«
»Nun – sie ist recht gefühlsbetont und ein bißchen

heftig. Ihre Zunge geht ihr manchmal durch. Ein feu-
riges Wesen – alles in allem die ideale Sheirl.«

»Aha. Ist ihr Name vielleicht Duissane Drosset?«
»Stimmt genau. Haben Sie irgendwelche Einwän-

de?«

Glinnes spitzte die Lippen und versuchte, sich über

seine Einstellung Duissane Drosset gegenüber klar-
zuwerden. Zweifelsohne besaß sie Feuer und Sashei
sie würde der Mannschaft bestimmt Schwung geben.
Er sagte: »Ich habe keinerlei Einwände.«

Wenn Duissane betroffen darüber war, Glinnes in der
Mannschaft zu finden, so zeigte sie es nicht. Sie kam
allein auf den Trainingsplatz, was für ein Trevanyi-
Mädchen schon ein sehr freizügiges Benehmen dar-
stellte. Sie trug einen dunkelbraunen Umhang, den
der Südwind an ihre schlanke Gestalt preßte, und
wirkte sehr schutzbedürftig und unschuldig. Sie sagte
wenig und schaute den Tanchinaros mit anscheinend
sachverständiger Aufmerksamkeit beim Training zu,

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und die Mannschaft spielte mit erheblich mehr
Schwung als sonst.

Duissane begleitete die Spieler nachher in den

Gastgarten des Magischen Fisches, wo die Tanchi-
naros sich üblicherweise nach dem Training labten.
Perinda benahm sich etwas fahrig, und als er Duissa-
ne formell vorstellte, bezeichnete er sie betont als ›ei-
ne unserer Kandidatinnen‹.

Savat rief: »Also soweit's mich angeht, ist sie unsere

Sheirl. Lassen wir doch das Gerede von ›Kandidatin-
nen‹.«

Perinda räusperte sich. »Ja, ja, gewiß. Aber es gibt

da noch ein oder zwei Punkte zu regeln, und die
Sheirl wird traditionsgemäß erst nach einer einge-
henden Beratung gewählt.«

»Was gibt's da noch zu beraten?« wollte der

Wächter Etzing wissen. Er fragte Duissane: »Bist du
bereit, treu zu uns zu halten als unsere Sheirl in guten
wie in schlechten Zeiten?«

Duissanes schillernder Blick streifte über die Grup-

pe und schien einen Augenblick auf Glinnes zu ver-
weilen. Sie sagte jedoch ruhig: »Ja, natürlich.«

»Na also!« schrie Etzing. »Sollen wir sie zur Sheirl

weihen oder nicht?«

»Einen Augenblick, nur einen Augenblick!« sagte

Perinda, etwas rot im Gesicht. »Wie erwähnt, sind
noch ein oder zwei Fragen zu klären.«

»Wie zum Beispiel?« knurrte Etzing. »Rücken Sie

schon raus damit!«

Perinda blies die Backen auf, rot vor Verlegenheit.

»Wir können ein andermal darüber sprechen.«

»Was sind das für Fragen?« erkundigte sich Duis-

sane. »Sprechen Sie jetzt darüber, vor allen. Vielleicht

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kann ich klären, was immer noch fraglich sein sollte.
Nur los«, befahl sie, als Perinda noch immer zögerte.
»Wenn irgendwelche Behauptungen über mich vor-
gebracht wurden, so möchte ich sie hören.« Wieder
schien es, als ob ihr Blick einen Moment auf Glinnes
ruhte.

»›Behauptungen‹ wäre zuviel gesagt«, stammelte

Perinda. »Nur Andeutungen und Gerüchte bezüglich
– nun, hinsichtlich Ihrer... Ihrer Jungfräulichkeit. Ob-
wohl Sie eine Trevanyi sind, scheint es Zweifel daran
zu geben.«

Duissanes Augen blitzten. »Wie kann jemand wa-

gen, so etwas über mich zu behaupten? Das ist so fei-
ge und gemein! Glücklicherweise kenne ich meinen
Feind, und ich werde nie vergessen, was er mir an-
getan hat!«

»Nein, nein!« rief Perinda. »Ich kann nicht sagen,

woher das Gerücht stammt. Es ist nur, daß...«

»Wartet hier!« befahl Duissane. »Geht nicht, bevor

ich wieder da bin. Ich will mich gegen Mißtrauen und
Demütigungen wenigstens verteidigen dürfen.« Zor-
nig stürmte sie aus dem Garten und stieß fast mit
Lord Gensifer und einem seiner Kumpane, Lord
Alandrix, zusammen, die eben die Laube betreten
wollten.

»Bei allen Sternen!« rief Lord Gensifer aus. »Wer ist

denn das gewesen? Und auf wen ist sie so wütend?«

»Mylord, sie ist eine Bewerberin um die Würde der

Tanchinaro-Sheirl«, erklärte Perinda unbehaglich.

Lord Gensifer lachte voll Genugtuung. »Dann hat

sie eben die weiseste Entscheidung ihres Lebens ge-
troffen, als sie vor dieser Verpflichtung davonlief. Um
die Wahrheit zu sagen, sie ist wirklich ein entzücken-

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des Geschöpf. Ich hätte nichts dagegen, selbst an ih-
rem Ring zu ziehen.«

»Dazu werden Sie mit großer Sicherheit nie die

Gelegenheit haben«, sagte Glinnes.

»Seien Sie nur nicht zu sicher! Nach den jüngsten

Umbesetzungen sind die Gorgonen eine ganz andere
Mannschaft.«

»Ich denke, Sie könnten ein Match mit uns be-

kommen, wenn die Prämie angemessen ist.«

»Tatsächlich – und was halten Sie für angemes-

sen?«

»Dreitausend, fünftausend, zehntausend – soviel

Sie wollen.«

»Pah. Die Tanchinaros können keine zweitausend

Ozols aufbringen, geschweige denn zehntausend.«

»Was immer die Gorgonen an Prämie bieten, wir

werden das gleiche bieten.«

Lord Gensifer nickte überlegend. »Vielleicht schaut

wirklich etwas dabei heraus. Zehntausend Ozols,
sagten Sie.«

»Warum nicht?« Glinnes schaute sich um. Alle an-

wesenden Tanchinaros wußten ebensogut wie er
selbst, daß die Kasse bestenfalls dreitausend Ozols
enthielt, aber nur Perinda ließ Besorgnis erkennen.

»Also gut«, sagte Lord Gensifer forsch. »Die Gor-

gonen nehmen die Herausforderung an. Zu gegebe-
ner Zeit werden wir die notwendigen Vereinbarun-
gen treffen.« Er wandte sich zum Gehen, eben als
Duissane Drosset wieder in den Gastgarten mar-
schiert kam. Ihre rotgoldenen Locken waren etwas in
Unordnung geraten; in ihren Augen glomm eine Mi-
schung von Triumph und Zorn. Sie funkelte Glinnes
an und warf ein Papier vor Perinda hin. »Da! Nur um

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Schlangenzungen zum Schweigen zu bringen, muß
ich mich solchen Unannehmlichkeiten unterziehen.
Lesen Sie! Sind Sie nun zufrieden?«

Perinda studierte das Dokument. »Wir haben hier

eine Bestätigung der Unberührtheit von Duissane
Drosset. Der unterzeichnende Arzt ist kein geringerer
als Doktor Niameth. Also, dann ist diese unglückseli-
ge Sache ja geklärt.«

»Nicht so hastig«, rief Glinnes. »Welches Datum

steht auf dem Dokument?«

»Was sind Sie doch für ein Scheusal!« brauste

Duissane auf. »Die Bestätigung trägt das heutige
Datum!«

Perinda erklärte das für zutreffend und fügte trok-

ken hinzu: »Doktor Niameth hat allerdings nicht die
genaue Stunde und Minute seiner Untersuchung an-
geführt, aber ich würde meinen, daß dies wohl zuviel
der Pedanterie wäre.«

»Meine liebe junge Dame, glauben Sie nicht, daß

Sie mit den Gorgonen besser fahren würden?« sagte
Lord Gensifer. »Wir sind eine höfliche Schar, das ge-
naue Gegenteil von diesen rüden Tanchinaros.«

»Mit Höflichkeit gewinnt man keine Spiele«, stellte

Perinda fest. »Wenn Sie bei Ihrem ersten Match be-
reits nackt dastehen wollen, dann gehen Sie zu den
Gorgonen.«

Duissane warf Lord Gensifer einen abschätzenden

Blick zu. Halb bedauernd schüttelte sie den Kopf.
»Ich habe nur die Erlaubnis für die Tanchinaros. Sie
müßten meinen Vater darum ersuchen.«

Lord Gensifer hob den Blick zur Decke, als rufe er

die eine oder andere Gottheit zum Zeugen auf, was
doch für unzumutbare Ansinnen an ihn gestellt wür-

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den. Er verbeugte sich tief. »Meine besten Wünsche.«
Er grüßte die Tanchinaros und verließ den Gastgar-
ten.

Perinda sah Glinnes an. »Es mag ja ein guter Scherz

gewesen sein, aber woher sollen wir zehntausend
Ozols auftreiben?«

»Woher will Lord Gensifer zehntausend Ozols

auftreiben? Er hat versucht, von mir Geld zu leihen.
Wer weiß, wie wir in ein oder zwei Monaten daste-
hen? Zehntausend Ozols kommen uns dann vielleicht
als belanglose Summe vor.«

»Wer weiß, wer weiß?« knurrte Perinda. »Aber

kommen wir wieder zu Duissane Drosset. Soll sie
nun unsere Sheirl sein oder nicht?«

Niemand erhob Einwände; vielleicht wagte es nie-

mand, nachdem Duissane einen nach dem anderen
mit ihrem Blick fixiert hatte. Und so wurde sie zur
Sheirl geweiht.

Das Match gegen die Raparees von Galgade gewan-
nen sie mit fast beschämender Leichtigkeit. Die Tan-
chinaros waren überrascht, daß ihre taktischen Ma-
növer einen so durchschlagenden Erfolg hatten. Ent-
weder waren sie mindestens sechsmal so stark, wie
sie angenommen hatten, oder die Reparees waren die
schwächste Mannschaft der Präfektur Jolany. Dreimal
stießen die Tanchinaros über die gesamte Länge des
Feldes vor, mit geschmeidigen und entschlossenen
Manövern, und die Reparees sahen sich immer von
mindestens je zwei Tanchinaros bedrängt, ihre Sheirl
war dauernd in Gefahr, und sie kamen nicht einmal
in die Nähe von Duissane, die ruhig und kühl und
ernst auf ihrem Podest stand, in dem weißen Gewand

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anziehender denn je. Die Raparees, entmutigt durch
ihre hoffnungslose Unterlegenheit, zahlten dreimal
die Löseprämie und gingen vom Platz, ohne daß ihre
Sheirl entblößt wurde – zur großen Enttäuschung des
Publikums.

Nach dem Spiel versammelten sich die Tanchinaros

im Magischen Fisch. Duissane gab sich bei der aus-
gelassenen Geselligkeit ziemlich unnahbar, und als
Glinnes einmal zufällig nach draußen schaute, be-
gegnete er dem dräuenden Blick von Vang Drosset.
Daraufhin führte er Duissane sofort aus der Gast-
stätte.

Eine Woche später fuhren die Tanchinaros den

Scurge-Fluß hinauf bis Erch auf der Kleinen Rattenin-
sel, wo sie mit ähnlichem Ergebnis gegen die ›Natur-
gewalten von Erch‹ spielten. Lucho war jetzt als lin-
ker Mittelstürmer aufgestellt, um besser mit Glinnes
Hulden zusammenspielen zu können, und Savat gab
einen recht tüchtigen rechten Außenstürmer ab. Die
Aufstellung hatte jedoch immer noch ihre schwachen
Stellen, die ein geschickter Gegner ausnützen würde.
Gajowan, der linke Außenstürmer, war etwas zu
leicht und recht unsicher, und Rolo, der linke Sprin-
ger, war zu langsam. Bei dem Match gegen die Na-
turgewalten bemerkte Glinnes Lord Gensifer in einer
der mittleren Logen. Er stellte außerdem fest, daß sich
Lord Gensifers Blicke recht oft auf Duissane richteten,
obwohl er darin nicht allein dastand, denn Duissane
war eine unwiderstehliche, faszinierende Sheirl. In
dem weißen Gewand ließ sie ihre Trevanyi-Herkunft
vergessen und war nichts als ein bezauberndes Ge-
schöpf: sehnsüchtig, kühn, fröhlich, traurig, mutig,
vorsichtig, weise, töricht. Glinnes glaubte noch ande-

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re Eigenschaften an ihr zu erkennen; er konnte sie nie
ansehen, ohne ein glockenhelles Gelächter in einer
sternklaren Nacht zu hören.

Das nächste Spiel gegen die Hansard-Drachen ließ

die weiche Stelle in der linken Flanke der Tanchi-
naros offenkundig werden, als die Drachen zweimal
auf dieser Seite weit vordrangen. Beide Male wurden
sie von den Wächtern aufgehalten und gleich darauf
durch einen Vorstoß auf ihre Sheirl von der rechten
Flanke her besiegt. Die Tanchinaros gewannen das
Spiel in drei aufeinanderfolgenden Partien. Wieder
saß Lord Gensifer in einer der Mittellogen, in Gesell-
schaft von einigen Männern, die Glinnes nicht kannte.
Nach dem Spiel tauchte er im Magischen Fisch auf
und erneuerte seine Herausforderung an die Tanchi-
naros. Jeder Verein sollte ein Prämiengeld von zehn-
tausend Ozols beibringen, schlug Lord Gensifer vor,
und das Match sollte in vier Wochen stattfinden.

Ein wenig zögernd nahm Perinda die Herausforde-

rung an. Sobald Lord Gensifer sich empfohlen hatte,
begannen die Tanchinaros sich die Köpfe zu zerbre-
chen, was für einen hinterhältigen Plan Lord Gensifer
wohl aushecken mochte. Gilweg sagte: »Nicht einmal
Tammi würde mit seinem augenblicklichen Team auf
einen Sieg hoffen.«

»Er glaubt, er kann unsere linke Flanke aufrollen«,

meinte Etzing mißmutig. »Das ist uns heute ja fast
passiert.«

»Er würde nicht zehntausend Ozols auf diese

Möglichkeit setzen«, sagte Glinnes. »Mir schwant,
daß er ein paar ganz ausgefallene Tricks auf Lager hat
– so zum Beispiel eine völlig neue Mannschaft – die
Karpouns von Vertrice oder die Skorpione von Port

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Angel – die für den einen Tag den Dreß der Gorgo-
nen trägt.«

»Wahrscheinlich ist es das, was er vorhat«, stimmte

Lucho zu. »Tammi würde es mächtig Spaß machen,
uns mit so einem Strohmann-Team zu schlagen.«

»Die zehntausend Ozols würden seiner Stimmung

auch nicht abträglich sein.«

»Eine solche Mannschaft würde unsere linke Seite

zermalmen wie eine Melone«, prophezeite Etzing
und warf einen Blick auf die andere Seite der Laube,
wo Gajowan und Rolo mit düsterer Miene zuhörten.
Für die beiden konnte das Gespräch nur die eine Be-
deutung haben: nach der unbarmherzigen Logik des
Professionalsports war für Zweitausend-Ozol-Spieler
in einer Zehntausend-Ozol-Mannschaft einfach kein
Platz mehr.

Zwei Tage darauf stießen zwei neue Spieler zu den

Tanchinaros. Der eine, Yalden Wirp, war in Lord
Gensifers ursprünglicher Traum-Mannschaft vertre-
ten gewesen; der zweite, Dion Sladine, hatte als Mit-
glied einer unbedeutenden Mannschaft von den Äu-
ßeren Hügeln Denzel Warhounds respektvolle Auf-
merksamkeit gewonnen. Die schwache linke Flanke
der Tanchinaros war nun nicht nur verstärkt, sondern
mit potentieller Dynamik versehen worden.

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KAPITEL 14

Rolo und Gajowan wurden überredet, als Ersatzleute
und Gelegenheitsspieler beim Verein zu bleiben; in
einem Match gegen die Schlaufüchse von Wigtown,
zwei Wochen vor dem Treffen mit den Gorgonen,
spielten sie in ihren ehemaligen Positionen. Die
Schlaufüchse, eine Mannschaft von recht gutem Rufs
verloren eine hart erkämpfte Prämie, bevor sie die
schwache linke Flanke ihres Gegners entdeckten.
Darauf begannen sie die empfindliche Stelle hartnäk-
kig zu attackieren und stießen mehrmals bis ins Hin-
terfeld vor, wo sie jedoch an den ebenso flinken wie
massigen Tanchinaro-Wächtern scheiterten. Fast zehn
Minuten lang verteidigten die Tanchinaros lediglich
ihre Heimregion, als fehle ihnen der Schwung für ei-
nen Angriff, während Lord Gensifer von seiner Loge
aus zuschaute und hin und wieder seinen Freunden
eine Bemerkung zumurmelte.

Die Tanchinaros siegten schließlich doch mit eini-

ger Mühe – wie üblich durch drei gewonnene Partien
hintereinander. Bis jetzt hatte noch nie jemand Hand
an Duissanes Ring gelegt.

Die Prämienkasse der Tanchinaros belief sich nun

auf weit über zehntausend Ozols. Die Spieler began-
nen sich mit der Aussicht auf Reichtum zu beschäfti-
gen. Mehrere Möglichkeiten standen ihnen offen. Sie
konnten sich als Zweitausend-Ozol-Mannschaft an-
sehen und versuchen, nur Gegner dieser Klasse zu
bekommen. Das würde allerdings ziemlich schwierig,
wenn nicht unmöglich sein. Sie konnten sich als
Fünftausend-Ozol-Team betrachten und in dieser

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Kategorie spielen, wobei sie nicht viel riskieren, aber
auch nur wenig gewinnen würden. Oder sie konnten
sich als Mannschaft der ersten Kategorie einstufen
und gegen Zehntausend-Ozol-Mannschaften spielen
– wodurch sich sowohl Reichtum als auch jene unde-
finierbare Eigenschaft erwerben ließen, die man Ist-
houne
nannte. Mit einem gewissen Maß an Isthoune

18

durften sie sich als Team von Meisterschaftsrang an-
sehen und beschließen, sich jeder Mannschaft von
Trullion oder anderen Welten zu stellen, wobei um
beliebig hohe Prämien gekämpft werden konnte.

Der Tag des Herausforderungsspiels begann mit ei-
nem heftigen Gewitter. Grelle lila Blitze zuckten von
Wolke zu Wolke und schlugen immer wieder ir-
gendwo in den Hügeln ein, so daß der eine oder an-
dere hohe Mena in waberndem elektrischen Feuer
zerbarst. Gegen Mittag zog sich das Gewitter in die
Hügel zurück und blieb dort grollend hängen.

Die Tanchinaros kamen als erste aufs Feld und

wurden einer begeisterten Menge von sechzehntau-
send Zuschauern vorgestellt: »Die streitbaren und
unbarmherzigen Tanchinaros vom Hussade-Verein
Saurkash, der Verteidigung der Ehre ihrer Sheirl ver-
schworen, der der lieblichen Duissane! In der Mann-
schaft kämpfen Spieler wie der Kapitän Denzel War-
hound, die Stürmer Tyran Lucho und Glinnes Hul-
den, die Außenstürmer Yalden Wirp und Ervil Sar-
vat, die Wächter...« Und so weiter die Aufstellungsli-
ste herunter. »Und jetzt erscheinen auf dem Platz die
jungen, zu allem entschlossenen Gorgonen in ihren

18

Siehe Glossar

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prachtvollen Dressen in Schwarz und Gold, unter der
geschickten Führung des Kapitäns Thammas Lord
Gensifer, die die Würde ihrer entzückenden Sheirl
Arelmra mit allen Kräften verteidigen werden. Die
Mittelstürmer sind...«

Genau wie Glinnes erwartet hatte, brachte Lord

Gensifer eine gänzlich andere Mannschaft ins Spiel,
die mit den von den Tanchinaros bereits besiegten
Gorgonen nichts gemein hatte. Diese neuen Gorgo-
nen verrieten Sicherheit und Erfahrung und waren
sichtlich an Siege gewohnt. Soweit Glinnes sah, war
nur ein Mann ein Einheimischer: der Kapitän Lord
Gensifer. Sein Plan war natürlich klar – er beabsich-
tigte, relativ einfach und schnell zehntausend Ozols
zu verdienen. Die Praktiken in der Hussade waren
allgemein ziemlich freizügig; das Spiel basierte ja im
wesentlichen auf Finten, Tricks, Einschüchterung, je-
der Art von Bluffs und roher Kraft. Lord Gensifers
kleiner Schwindel stellte also keine Verletzung des
Sportsgeistes dar, obwohl er dazu führen mochte, daß
der düpierte Gegner auf gewisse Anstandsregeln
vergaß.

Das Orchester stimmte eine Melodie an, das tradi-

tionelle Lied von Schönheit und Ruhm, als die Sheirls
auf ihre Podeste geführt wurden. Arelmra, die Sheirl
der Gorgonen, ein stolzes, dunkelhaariges Mädchen,
besaß kaum etwas von jener warmen, mitreißenden
Begeisterungsfähigkeit, die man Emblance nannte.
Lord Gensifer wirkte, wie Glinnes feststellte, ruhig
und zuversichtlich. Seine Siegessicherheit bekam ei-
nen ziemlichen Riß, als er die geänderte Besetzung
bei Stürmer und Springer bemerkte; dann zuckte er
die Achseln und lächelte in sich hinein.

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Die Mannschaften stellten sich auf. Hörner, Trom-

meln und Flöten ließen das mitreißende Siegt für die
Sheirls
erschallen.

Die Kapitäne trafen sich auf dem Mittelsteg mit

dem Schiedsrichter. Denzel Warhound benutzte die
Gelegenheit, um festzustellen: »Lord Gensifer, Ihr
Team strotzt von fremden Gesichtern. Sind das alles
Einheimische?«

»Wir sind alle Bürger von Alastor. Wir sind doch

alle Einheimische, alle fünf Milliarden«, entgegnete
Lord Gensifer großzügig. »Und Ihre Mannschaft?
Stammen alle aus Saurkash?«

»Aus Saurkash und der Umgebung.«
Der Schiedsrichter warf den Stab. Die Gorgonen

gewannen das grüne Licht, und das Spiel begann.
Lord Gensifer rief ein Manöver auf, und die Gorgo-
nen setzten sich gewandt, selbstsicher und angriffslu-
stig in Bewegung. Die Tanchinaros wußten sofort,
daß sie einer Mannschaft von sehr hohem Können
gegenüberstanden.

Die Gorgonen fintierten auf die rechte Seite der

Tanchinaros und schwenkten dann zu einem brutalen
Vorstoß nach links. Massige Gestalten in Schwarz
und Gelb mit schauerlich grinsenden Masken stürm-
ten gegen Silber und Schwarz an. Die linke Seite der
Tanchinaros gab nur soweit nach, daß eine Gruppe
von Gorgonen umzingelt und gegen den Graben ab-
gedrängt werden konnte. Das Licht wechselte auf
Rot. Warhound versuchte, zwei weit vorgestoßene
Gorgonen in die Zange zu nehmen, aber die Springer
der Gorgonen schwangen heran und schlugen eine
Bresche zum Rückzug. Rasch und flüssig wechselten
die Formationen, Angriffsmuster bildeten sich und

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lösten sich auf, setzten erst den einen, dann den ande-
ren Spieler unter Druck. Nach etwa zehn Minuten, in
denen keinerlei Entscheidungen gefallen waren,
wagte sich Lord Gensifer unvorsichtigerweise aus
dem Schutz seiner Hange. Glinnes setzte über den
Graben, attackierte Lord Gensifer und warf ihn ins
Wasser.

Lord Gensifer tauchte naß und wütend wieder auf,

und genau darauf hatte es Glinnes angelegt: die Gor-
gonen gerieten nun durch seine hitzigen Anweisun-
gen ins Hintertreffen. Die Tanchinaros ließen unver-
mutet einen blitzschnellen Zentrumsangriff vom Sta-
pel – ein Vorstoß von klassischer Einfachheit, und Er-
vil Savat schwang sich aufs Podest und ergriff Arelm-
ras Ring. Ihre edlen Züge verzerrten sich entrüstet;
sie hatte offensichtlich nicht im mindesten mit einer
so leichten Eroberung ihrer Festung gerechnet.

Lord Gensifer bezahlte mit steinerner Miene fünf-

tausend Ozols, und der Schiedsrichter setzte eine
Pause von fünf Minuten an.

Die Tanchinaros berieten sich.
»Tammi kocht vor Wut«, sagte Lucho. »So hat er

sich die Sache nicht vorgestellt.«

»Tunken wir ihn doch nochmal ein«, schlug War-

hound vor.

»Genau daran dachte ich auch. Die Mannschaft ist

ausgezeichnet, aber durch Tammi können wir den
Burschen beikommen.«

»Aber unauffällig!« warnte Glinnes. »Sie dürfen

nicht merken, was wir vorhaben! Laßt Tammi auf je-
den Fall baden gehn, aber so, daß es ganz zufällig
wirkt.«

Das Spiel wurde fortgesetzt. Lord Gensifer begab

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sich zorndräuend auf seinen Platz, und die Gorgonen
wurden anscheinend von seiner Wut angesteckt. Hin
und her liefen die Wellen von Angriff und Gegenan-
griff, behende, rasche Manöver. Beim roten Licht ließ
Warhound seinen rechten Flügel vorstürmen – aber
plötzlich schwenkten die Spieler nach innen und ge-
rieten an Lord Gensifer, der vergeblich versuchte, zu
seiner Hange zurückzukommen: er wurde abgefan-
gen und in den Tank befördert. Einen Augenblick
lang hatten die Tanchinaro-Stürmer freie Bahn nach
vorne, und Warhound rief zum Generalangriff. Lord
Gensifer kletterte wutschillernden Blicks die Leiter
herauf, gerade rechtzeitig, um eine zweite Prämie zu
zahlen, womit seine zehntausend Ozols dahin waren.

Die Tanchinaros versammelten sich und berieten

nachdenklich. Warhound rief zum Schiedsrichter
hinüber: »Wie nennt sich diese andere Mannschaft
normalerweise?«

»Wußtet ihr das nicht? Das sind die Stilette vom

Planeten Rufus, die auf Meisterschaftstournee sind.
Ihr spielt heute gegen eine gute Mannschaft. Sie ha-
ben bereits die Skorpione von Port Angel geschlagen
und die Ungläubigen von Jonus – unter ihrem eige-
nen Kapitän, selbstredend.«

»Na schön«, meinte Lucho großmütig, »dann wol-

len wir ihnen ein ausgiebiges Bad verschaffen, damit
sie nicht übermütig werden. Warum sollte nur der
arme Tammi allein baden gehen?«

»Bravo! Wir werden sie gründlich gewaschen nach

Rufus heimschicken!«

Rotes Licht. Die Tanchinaros setzten über den Gra-

ben und stießen auf die zur Großen Barrikade for-
mierten Gorgonen. Mit zwei gewonnenen Partien

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konnten die Tanchinaro-Wächter es sich leisten, et-
was kühner als sonst zu spielen. Sie rückten ebenfalls
bis zum Graben vor, setzten über – ein Manöver, das
eine fast beleidigende Mißachtung für die Angriffs-
qualitäten des Gegners bewies. Eine plötzliche Kon-
zentration der Kräfte, ein blitzartiger Schlagabtausch,
und Gorgonen wie Tachinaros platschten in das Bek-
ken. Auf den Zügen und Brücken focht Gelb-Schwarz
gegen Silber-Blau-Schwarz; Metallfänge blitzten,
monströse schwarze Rachen ließen rote Zungen
baumeln. Spieler schwankten, stürzten; die heiseren
Schreie der Kapitäne gingen fast im Lärm der Menge
und in der aufbrausenden Musik unter. Arelmra
preßte die Hände gegen die Brust. Ihre hoheitsvolle
Selbstsicherheit war verschwunden; es schien, als ob
sie weinte und stöhnte, obwohl ihre Stimme in dem
Getöse nicht zu hören war. Die Tanchinaro-Wächter
drangen wie ein Panzerkeil durch die Barrikade der
Gorgonen, Warhound ließ seine Hange stehen,
sprang an dem Getümmel vorbei und ergriff den
Goldring.

Das weiße Gewand flatterte zu Boden; Arelmra

stand nackt da, während leidenschaftliche Musik die
Niederlage der Gorgonen und die tragische Demüti-
gung ihrer Sheirl feierte. Lord Gensifer brachte ihr ei-
nen Umhang und geleitete sie vom Platz, gefolgt von
den niedergeschlagenen Gorgonen. Duissane wurde
von jubelnden Tanchinaros aufgehoben und zum Po-
dest der Gorgonen getragen, während die Kapelle
Glänzende Triumphe spielte. Von Freude überwältigt,
warf Duissane die Arme hoch und lachte und weinte
in einem Atem, umarmte und küßte die Tanchinaros,
bis sie zu Glinnes kam – und da wich sie zurück und

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verließ fluchtartig den Platz.

Die Tanchinaros versammelten sich schließlich im

Magischen Fisch, um die Glückwünsche ihrer Freun-
de und Anhänger entgegenzunehmen.

»Noch nie gab's eine Mannschaft mit so viel Einsatz

und Schlagkraft und Finesse!«

»Die Tanchinaros werden Saurkash berühmt ma-

chen! Denkt bloß daran!«

»Was wohl Lord Gensifer jetzt mit seinen Gorgo-

nen anfangen wird?«

»Vielleicht wird er die Tanchinaros mit den Sole-

lamut-Satansbraten oder den Falifoniken vom Grü-
nen Stern herausfordern.«

»Ich würde jedenfalls auf die Tanchinaros setzen.«
»Tanchinaros!« rief Perinda. »Ich komme eben vom

Telefon. Wir könnten in vierzehn Tagen ein Fünf-
zehntausend-Ozol-Match bekommen – wenn wir nur
wollen.«

»Natürlich wollen wir! Gegen wen?«
»Die Karpouns von Vertrice.«
Im Gastgarten wurde es still.
Die Karpouns wurden zu den fünf besten Teams

von Trullion gezählt.

»Sie wissen nichts von den Tanchinaros, außer, daß

wir ein paar Spiele gewonnen haben«, sagte Perinda.
»Ich glaube, sie rechnen mit leichtverdienten fünf-
zehntausend Ozols.«

»Gierige Hunde.«
»Wir sind genauso gierig – vielleicht mehr.«
»Wir würden in Welgen spielen«, fuhr Perinda fort.

»Zusätzlich zur Prämie würden wir – falls wir ge-
winnen – ein Fünftel vom Kartenverkauf bekommen.
Es ist durchaus möglich, daß wir nahezu vierzigtau-

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send Ozols mit nach Hause nehmen – rund dreitau-
send pro Mann.«

»Wirklich nicht schlecht für einen Nachmittagsver-

dienst!«

»Soviel kriegen wir nur, wenn wir gewinnen.«
»Für dreitausend Ozols spiele ich allein und ge-

winne.«

»Die Karpouns«, sagte Perinde, »sind eine unbe-

zweifelbar erstklassige Mannschaft. Sie haben acht-
undzwanzig Spiele hintereinander in allen Partien
gewonnen, und ihre Sheirl ist nie berührt worden.

Was die Tanchinaros betrifft – nun, ich glaube

nicht, daß jemand weiß, wie gut wir wirklich sind.
Die heutigen Gorgonen waren ein sehr gutes Team,
das durch einen ungeschickten Kapitän behindert
wurde. Die Karpouns sind ebensogut oder besser,
deshalb ist es durchaus möglich, daß wir unser Geld
verlieren. Also – was meint ihr? Sollen wir gegen sie
antreten?«

»Wenn ich Aussicht auf dreitausend Ozols habe,

trete ich gegen eine Mannschaft von wirklichen Kar-
pouns

19

an.«

19

Siehe Glossar

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KAPITEL 15

Das Stadion von Welgen, das größte der Präfektur
Jolany, war bis auf den letzten Platz besetzt. Der Adel
aus den Präfekturen Jolany, Minch, Straveny und
Gulkin hatte sich die Sitze in den vier Logenpavillons
gesichert. Dreißigtausend gewöhnliche Leute füllten
die Bänke der unüberdachten Tribünen. Von Vertrice,
dreihundert Meilen im Westen gelegen, war eine be-
trächtliche Schar Schlachtenbummler erschienen. Sie
hatten sich in einem mit Grün und Orange ge-
schmückten Tribünenabschnitt versammelt. Über ih-
nen hingen achtundzwanzig orangefarbene und grü-
ne Wimpel, die in den Farben der Mannschaft ihre
achtundzwanzig aufeinanderfolgenden Siege ver-
kündeten.

Eine Stunde lang spielte die Kapelle schon traditio-

nelle Hussade-Musik; die Siegeshymnen von einem
Dutzend berühmter Teams, alte Klage- und Trium-
phlieder; den Schlachtgesang der Miraksier, bei dem es
einen kalt überlief; die zauberhafte, traurig-süße Me-
lodie Stimmungen der Sheirl Hralce; und dann, fünf
Minuten vor Spielbeginn, das Ruhmeslied Vergessener
Helden.

Die Tanchinaros zogen auf dem Platz ein und

stellten sich beim östlichen Podest auf, die Helme mit
den silbernen Masken noch zurückgeschoben. Einen
Augenblick später erschienen die Karpouns beim
westlichen Podest. Sie trugen dunkelgrüne Leibchen
und grün und orange gestreifte Hosen; wie die Tan-
chinaros hatten sie die Masken noch nach hinten ge-
rückt. Über den Platz hinweg musterten sich die

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Spieler gespannt. Jehan Aud, der Kapitän der Kar-
pouns, Veteran von tausend Spielen, war als genialer
Taktiker bekannt; kein Detail entging ihm; für jede
Variation wußte er instinktiv das beste Gegenmanö-
ver. Denzel Warhound war dagegen jung, erfinde-
risch und schnell. Aud besaß die Sicherheit des erfah-
renen Spielers; Warhound sprudelte über vor vielfäl-
tigen Tricks und Listen. Beide Männer waren zuver-
sichtlich. Die Karpouns hatten den Vorteil eines lan-
gen Bestehens. Die Tanchinaros waren ein junges
Team, brachten aber dafür Schwung, Vitalität und
Kraft mit, Eigenschaften, die gerade in diesem Spiel
sehr viel wert waren. Die Karpouns wußten, daß sie
gewinnen würden. Die Tanchinaros wußten, daß die
Karpouns verlieren würden.

Die Mannschaften warteten, während die Kapelle

Thresildama spielte, die traditionelle Begrüßung der
Wettkämpfer.

Nun erschienen die Kapitäne mit den Sheirls, und

die Musiker spielten das Lied von Schönheit und Ruhm.
Die Sheirl der Karpouns war ein zauberhaftes Wesen
namens Farero, eine Blondine mit blitzenden Augen,
erfüllt von Sashei. Durch irgendeinen geheimnisvollen
Vorgang wurde sie, als sie das Podest bestieg, zu ei-
ner goldenen, jungfräulichen Göttin, zum Archetyp
der Sheirl. Auch Duissane schien ihr Alltagswesen
abzustreifen; ihre wilde und doch zarte Schönheit, ihr
unbezähmbarer Mut, ihre unbestimmte Sehnsucht
verliehen ihr charakteristisches Sashei von nicht ge-
ringerem Feuer als das der göttlichen Farero.

Die Spieler zogen ihre Masken übers Gesicht; die

silberglitzernden Tanchinaros konfrontierten die
Karpouns mit ihren grausamen Raubtiergesichtern.

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Die Karpouns gewannen das grüne Licht und da-

mit die erste Aktivphase. Die Spieler gingen an ihre
Plätze. Die Musik veränderte sich, sämtliche Instru-
mente vereinigten sich zu einer letzten Harmonie, ei-
nem goldenen Klanggewebe, das unvermittelt abriß.
Totenstille. Vierzigtausend Zuschauer hielten den
Atem an.

Grünes Licht. Die Karpouns stürmten mit ihrer be-

rühmten ›Flutwelle‹ vor, die darauf ausgelegt war,
die Tanchinaros zu überrennen und zu erdrücken,
bevor sie Zeit zur Gegenwehr fanden. Die Stürmer
setzten über den Graben, die Springer folgten, und
gleich hinter ihnen kamen die Wächter mit der Ge-
walt von Rammböcken, um jeden Widerstand hin-
wegzufegen.

Die Tanchinaros waren auf eine solche Taktik vor-

bereitet. Anstatt zurückzuweichen, stürmten die vier
Wächter vor, und die Mannschaften prallten aufein-
ander wie zwei wildgewordene Büffelherden. Das
darauffolgende Kampfgetümmel brachte keiner Seite
Vorteile. Ein paar Minuten später brach Glinnes aus
dem Durcheinander aus und schaffte es auf das Po-
dest. Er blickte der Sheirl der Karpouns voll ins Ge-
sicht und ergriff ihren Ring. Sie war blaß vor Aufre-
gung und Bestürzung; noch nie zuvor hatte ein Geg-
ner ihren Ring berührt.

Der Gong ertönte; Jehan Aud trennte sich etwas

widerstrebend von acht Tausend-Ozol-Scheinen. Nun
wurde eine kurze Pause eingelegt. Fünf Tanchinaros
waren eingetunkt worden und ebensoviele Karpouns;
in dieser Beziehung standen die Mannschaften gleich.
Warhound triumphierte. »Sie sind gut, keine Frage!
Aber unsere Wächter sind unüberwindbar, und unse-

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re Stürmer sind schneller! Nur bei den Springern sind
sie uns überlegen, und auch da nicht sehr!«

»Womit werden sie es jetzt versuchen?« fragte

Glinnes.

»Ich glaube, es kommt nochmals das gleiche«, sagte

Warhound. »Nur mit mehr Methode. Sie wollen un-
sere Stürmer festnageln und danach den Rest der
Mannschaft niederrennen.«

Das Spiel wurde fortgesetzt. Aud ließ seine Männer

immer wieder vorstoßen und fintieren, eine alte Zer-
mürbungstaktik, mit der der Gegner aus der Reserve
gelockt werden sollte – er hoffte, auf diese Weise den
einen oder anderen Stürmer zu erwischen. Warhound
war jedoch zu gerissen, um diesen Plan nicht zu
durchschauen, hielt sich bewußt zurück und gewann
schließlich die Geduldsprobe gegen Aud. Unvermit-
telt versuchten die Karpouns einen Vorstoß in der
Mitte; die Tanchinaro-Stürmer wichen jedoch seit-
wärts aus und setzten über den Graben. Lucho er-
reichte das Podest und ergriff Fareros Ring.

Siebentausend Ozols waren diesmal die Löseprä-

mie.

Warhound hämmerte seinen Leuten ein: »Nur jetzt

nicht nachlassen! Jetzt sind sie am gefährlichsten! Sie
haben ihre achtundzwanzig Spiele ja nicht durch
Glück gewonnen. Ich rechne mit einer ›Flutwelle‹,
und zwar einer gewaltigen.«

Warhound hatte recht. Die Karpouns bestürmten

die Verteidigungslinien der Tanchinaros mit allen
Kräften. Glinnes mußte ins Wasser; Sladine und Wil-
mer Guff gingen ebenfalls baden. Glinnes kam gerade
rechtzeitig die Leiter herauf, um einen Karpoun-
Außenstürmer keine drei Meter vom Podest entfernt

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ins Wasser zu befördern; dann wurde er zum zwei-
tenmal eingetunkt, und bevor er aufs Spielfeld zu-
rückkehren konnte, ertönte der Gong.

Zum erstenmal hatte Duissane die Hand eines

Gegners an ihrem goldenen Ring gefühlt. Wütend
zahlte Warhound achttausend Ozols zurück. Glinnes
hatte nie ein anstrengenderes Match erlebt. Die Kar-
pouns schienen unerschöpfliche Kräfte zu besitzen;
sie sprangen über die Gräben, schwangen hin und
her und rasten das Feld entlang, als hätte das Spiel
eben erst begonnen. Er konnte nicht wissen, daß den
Karpouns ihrerseits die Tanchinaro-Stürmer längst
als schwarz-silberne, unnatürlich behende Teufel
vorkamen, die wie ein Sturmwind dahinbrausten,
während die Tanchinaro-Wächter wie bedrohliche
Ungeheuer vor ihrem Podest patrouillierten – eine
scheinbar unüberwindliche Barriere.

Hin und her wogte der Kampf; Meter um Meter

arbeiteten sich die Tanchinaros zum Podest der Kar-
pouns vor, unbarmherzig, tückisch, jede Chance nut-
zend. Das Gebrüll der Menge wurde in den Hinter-
grund des Bewußtseins verdrängt; die Realität be-
stand nur mehr aus dem Feld, den Wegen und Brük-
ken, den glitzernden Wasserbecken. Einen Augen-
blick schob sich eine dunkle Wolke vor die Sonne.
Fast im gleichen Moment entdeckte Glinnes eine
Lücke in der Barriere von Orange und Grün. Eine
Falle? Mit der letzten Energie, die er noch in den Bei-
nen hatte, stürmte er vorwärts, vorbei, hindurch.
Orange-grüne Schemen brüllten heiser auf; die Mas-
ken der Karpouns, anfangs so einschüchternd, wirk-
ten wie schmerzlich verzerrt. Glinnes schwang sich
auf das Podest und griff nach dem Goldring auf Fa-

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reros Brust – jetzt mußte er daran ziehen, mußte das
blauäugige Mädchen den Blicken vierzigtausend to-
bender Menschen preisgeben. Die Musik dröhnte
trauervoll und gemessen; Glinnes' Hand zuckte zu-
rück, zögerte; er wagte es nicht, diese goldene Göttin
zu erniedrigen.

Die dunkle Wolke war keine Wolke. Drei schwarze
Schiffe senkten sich auf den Platz herunter, verdun-
kelten das Licht des Nachmittags. Die Musik brach
ab; aus den Lautsprechern kam ein entsetzter Schrei:
»Starmenter! Nehmt...« Die Stimme ging in ein un-
verständliches Gurgeln über, und eine andere, harte
Stimme rief: »Bleiben Sie auf Ihren Plätzen. Keiner
bewegt sich vom Fleck!«

Glinnes kümmerte sich nicht darum, sondern

packte Farero am Arm und zerrte sie vom Podest und
die Leiter hinunter, die in das Becken unter dem
Spielfeld führte. »Was machst du da?« keuchte sie,
vor ihm zurückschreckend.

»Ich versuche, dir das Leben zu retten«, sagte Glin-

nes schroff. »Die Starmenter würden dich gewiß nicht
zurücklassen, und du würdest deine Heimat nie wie-
dersehen.«

Mit zitternder Stimme fragte sie: »Sind wir hier

unten sicher?«

»Das glaube ich nicht. Wir fliehen durch den Ab-

flußgraben. Schnell – er ist auf der anderen Seite.« So
rasch es möglich war, platschten sie durch das Was-
ser, unter den Brücken durch, über den Mittelgraben,
und weiter. Jetzt kam Duissane die andere Leiter her-
untergeklettert, mit weißem, angstverzerrtem Ge-
sicht. Glinnes rief ihr zu: »Komm mit – wir wollen

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durch den Abfluß hinaus; vielleicht bewachen sie den
nicht.«

An der Ecke des großen Beckens floß das Wasser

über eine steile Rinne in einen kleinen Bach ab. Glin-
nes rutschte die Rinne hinunter und sprang auf eine
stinkende, schmale Schlammbank. Als nächstes kam
Duissane herunter, das weiße Gewand fest an sich
gepreßt. Glinnes zog sie herüber auf den Schlamm-
streifen; sie rutschte aus und setzte sich mit einem
Platsch in den Morast. Glinnes konnte ein Grinsen
nicht unterdrücken. »Das hast du absichtlich getan«,
rief sie mit schwankender Stimme.

»Hab ich nicht!«
»Hast du!«
»Wie du meinst.«
Farero kam die Rinne heruntergeschlittert; Glinnes

fing sie auf und half ihr auf die Schlammbank her-
über. Duissane kam mühsam auf die Füße. Zögernd
besahen sich die drei den Kanal, der unter einem
dichten Blätterdach von Stillbeerbüschen und Kern-
weiden träge dahinfloß. Das Wasser war dunkel und
schien tief zu sein; ein leichter Merling-Geruch hing
in der Luft. Schwimmen oder auch nur Waten war
unmöglich. Auf der anderen Seite des Abflusses war
jedoch ein primitives kleines Boot angebunden, ver-
mutlich Eigentum von ein paar Jungen, die sich
durch den Abfluß Zutritt ins Stadion verschafft hat-
ten, ohne zu zahlen.

Glinnes kletterte über die Rinne zu dem Boot; es

war halb vollgelaufen und schwankte bedenklich
unter seinem Gewicht. Er schöpfte etliche Liter aus,
wagte dann aber nicht, sich noch länger damit aufzu-
halten. Er stieß das Boot über den Graben, Duissane

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stieg ein, dann Farero, worauf das Wasser fast bis
zum Dollbord stieg. Glinnes reichte Duissane den
Schöpfeimer; mürrisch machte sie sich an die Arbeit.
Glinnes paddelte vorsichtig den Kanal hinaus. Hinter
ihnen, oben im Stadion, dröhnten die Lautsprecher:
»Alle Personen in den Pavillons A, B, C und D bege-
ben sich zu den Südausgängen. Nicht jeder wird mit-
genommen; wir haben eine genaue Liste jener Perso-
nen, die wir haben wollen. Beeilen Sie sich und ma-
chen Sie keine Schwierigkeiten! Wir werden jeden
töten, der uns behindert.«

Es ist so unwirklich! dachte Glinnes. Eine phanta-

stische Lawine von Ereignissen – Farben, Musik,
Spannung, Kampf, Leidenschaft, Sieg – und jetzt
Schrecken und Flucht mit zwei Sheirls. Die eine haßte
ihn. Die andere, Farero, musterte ihn von der Seite
her aus ihren meerblauen Augen. Nun nahm sie
Duissane, die sich verdrossen den Schlamm von ih-
rem Kleid zu kratzen begann, den Schöpfeimer ab.
Wie verschieden die beiden waren, überlegte Glinnes:
Farero hatte sich bedrückt, aber einigermaßen ruhig
in ihr Schicksal ergeben – vermutlich war ihr die
Flucht durch den Abflußkanal immer noch lieber als
die Entblößung auf dem Podest. Duissane dagegen
grollte offensichtlich über die kleinste Unannehm-
lichkeit und schien Glinnes persönlich für alle Wi-
drigkeiten verantwortlich zu machen.

Der Kanal machte einen hohen Bogen. Hundert

Meter voraus glänzte der Sund von Welgen; jenseits
davon begann der südliche Ozean. Glinnes paddelte
jetzt zuversichtlicher – den Starmentern waren sie
entkommen. Ein großangelegter Überfall! Und zwei-
fellos seit langem für genau den Tag geplant, an dem

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alle reichen Leute der Präfektur an einem Ort ver-
sammelt waren. Sie würden eine Menge Gefangene
machen, um Lösegeld zu erpressen, und hübsche
Mädchen zur Kurzweil mitnehmen. Die Ausgelösten
würden bedrückt und bankrott heimkehren, die
Mädchen würde man nie wieder sehen. Der Tresor
des Stadions würde eine Beute von mindestens hun-
derttausend Ozols liefern, die Prämienkassen der
beiden Mannschaften waren für weitere dreißigtau-
send Ozols gut, und vielleicht würden auch die Ban-
ken von Welgen ausgeraubt werden.

Der Kanal weitete sich und lief in vielen Windun-

gen über ein breites Schlammfeld, das übersät war
von den Pockennarben vieler kleiner Gaskrater. Im
Osten wurde es von der Welgener Landzunge be-
grenzt, an deren anderer Seite sich der Hafen des
Ortes anschloß. Nach Westen hin erstreckte sich die
Küste flach in den Dunst des späten Nachmittags.
Glinnes fühlte sich hier unter dem freien Himmel be-
droht – was ganz unvernünftig war, wie er sich sagte:
die Starmenter hatten jetzt gar nicht die Zeit, sie zu
verfolgen, wenn sie das gebrechliche kleine Boot
überhaupt bemerkten. Farero mußte unablässig Was-
ser schöpfen. Es drang durch mehrere Lecks ein, und
Glinnes fragte sich, wie lange das Boot noch flott
bleiben würde. Der schwammige, schwarze Morast
rundum war jedenfalls nicht sehr einladend. Glinnes
hielt auf die erste der kleinen, bewaldeten Inseln zu,
die es im Sund gab, ein vielleicht fünfzig Meter von
der Küste entferntes Landhügelchen.

Die erste Ozeanwelle ließ das Boot schwanken und

Wasser hereinschwappen. Farero schöpfte, so schnell
sie konnte. Duissane half ängstlich mit den Händen.

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Sie erreichten die Insel in dem Augenblick, als das
Boot unter ihnen wegsank. Sehr erleichtert zerrte
Glinnes es auf den schmalen Strand hinauf. Gerade
als sie an Land wateten, stiegen die drei Starmenter-
Schiffe auf, zogen nach Süden hoch und verschwan-
den mit all ihrer kostbaren Ladung.

Farero seufzte tief. »Ohne deine Hilfe«, sagte sie zu

Glinnes, »wäre ich jetzt in einem dieser Schiffe.«

»Ich wäre auch da oben – ohne meine eigene Hil-

fe«, giftete Duissane.

Aha, dachte Glinnes, da haben wir einen Grund für

ihre miserable Laune: sie fühlte sich vernachlässigt.

Duissane kletterte den Strand hinauf: »Und was

fangen wir hier draußen an?«

»Früher oder später kommt sicher jemand vorbei.

Bis dahin müssen wir warten.«

»Ich will aber nicht warten«, erklärte Duissane.

»Wenn das Boot ausgeschöpft ist, können wir doch
zur Küste zurückrudern. Müssen wir hier frierend
auf diesem elenden Fleckchen Land hocken?«

»Was schlägst du statt dessen vor? Das Boot leckt,

und das Wasser hier wimmelt von Merlingen. Aber
vielleicht kann ich die Lecks flicken.«

Duissane setzte sich verdrossen auf einen ange-

schwemmten Baumstumpf. Von Westen schossen
jetzt Whelm-Schiffe heran, kreisten über der Gegend,
und eines landete in Welgen. »Zu spät, viel zu spät«,
sagte Glinnes. Er schöpfte das Boot aus und stopfte
Moos in alle Risse, die er finden konnte. Farero kam
herüber und sah ihm zu. Sie sagte: »Du warst freund-
lich zu mir.«

Glinnes schaute zu ihr hoch.
»Als du am Ring ziehen solltest, hast du gezögert.

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Du wolltest mich nicht demütigen.«

Glinnes nickte und wandte sich wieder seiner Ar-

beit zu.

»Das ist vielleicht der Grund, warum deine Sheirl

böse ist.«

Glinnes warf einen Blick zu Duissane hinüber, die

finster aufs Wasser hinausstarrte. »Sie ist selten gut
gelaunt.«

Farero sagte nachdenklich: »Sheirl zu sein ist ein

eigenartiges Erlebnis; man empfindet die seltsamsten
Dinge... Ich habe heute verloren, aber die Starmenter
retteten mich vor der Schande. Vielleicht fühlt sie sich
betrogen.«

»Sie kann froh sein, hier und nicht in einem der

Schiffe zu sein.«

»Ich glaube, sie ist verliebt in dich und eifersüchtig

auf mich.«

Glinnes blickte erstaunt auf. »Verliebt in mich?« Er

warf wieder einen unauffälligen Blick zu Duissane
hinüber. »Du irrst dich. Sie haßt mich, dafür habe ich
genug Beweise.«

»Das mag sein. Ich kenne mich in diesen Dingen

nicht so aus.«

Glinnes erhob sich vor seinem Werk und musterte

das Boot recht unzufrieden. »Ich traue diesem Moos
nicht – besonders, wo jetzt der Avness-Wind von
Land her aufkommt.«

»Nun, wir haben doch wenigstens trockenen Boden

unter den Füßen. Eine Weile können wir es schon so
aushalten – obwohl meine Familie sich Sorgen ma-
chen wird. Ich habe auch Hunger.«

»Wir können am Strand allerhand Eßbares finden«,

sagte Glinnes. »Wir könnten uns ein prima Nacht-

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mahl zubereiten, nur haben wir kein Feuer. Aber we-
nigstens wächst dort drüben ein Pisangbaum.«

Glinnes kletterte auf den Baum und warf Farero et-

liche reife Früchte hinunter. Als sie an den Strand zu-
rückkamen, waren Duissane und das Boot fort. Sie
war bereits fünfzig Meter weit draußen und paddelte
auf den Kanal zu, durch den sie das Stadion verlassen
hatten. Glinnes lachte sarkastisch auf. »Sie ist so ver-
liebt in mich und so eifersüchtig auf dich, daß sie uns
beide hier allein zurückläßt.«

Farero errötete und meinte: »Auch das ist mög-

lich.«

Eine Zeitlang beobachteten sie das Boot. Der

Landwind machte Duissane ziemlich zu schaffen. Sie
hörte immer wieder zu rudern auf und schöpfte Was-
ser; das Moos dichtete offenbar die lecken Stellen
nicht ab. Als sie wieder zu paddeln anfangen wollte,
geriet das Boot ins Schwanken, und als sie sich am
Dollbord festhielt, verlor sie das Paddel. Der vom
Land kommende Wind trieb sie wieder hinaus, an
der Insel vorbei von der aus Glinnes und Farero ihr
nachschauten. Duissane würdigte sie keines Blickes.

Glinnes und Farero kletterten auf die Kuppe der

Insel und sahen dem sich immer weiter entfernenden
Boot nach. Es war zu befürchten, daß Duissane aufs
offene Meer hinausgetrieben würde. Nach einer
Weile kam das Boot zwischen den Inseln außer Sicht.

Die beiden kehrten zum Strand zurück. Glinnes

sagte: »Wenn wir nun ein Feuer hätten, könnten wir
es uns ganz gemütlich machen, zumindest für einen
Tag oder so. Aber ich habe nicht viel übrig für rohe
Meeresfrüchte.«

»Ich auch nicht«, sagte Farero.

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Glinnes fand zwei trockene Hölzchen und ver-

suchte damit Feuer zu reiben, allerdings ohne Erfolg.
Ärgerlich warf er sie weg. »Die Nächte sind zwar
warm, aber ein Feuer ist doch angenehm.«

Farero schaute hierhin und dorthin, nur nicht Glin-

nes ins Gesicht. »Glaubst du denn, daß wir so lange
hier sein werden?«

»Wir können erst fort, wenn ein anderes Boot vor-

beikommt. Das kann in einer Stunde sein, aber auch
in einer Woche.«

Leise und stockend fragte Farero: »Und wirst du

mich lieben wollen?«

Glinnes studierte sie einige Augenblicke lang, dann

streckte er die Hand aus und berührte sachte ihr
Haar. »Du bist schöner, als Worte es beschreiben
könnten. Ich würde mich freuen, dein erster Liebha-
ber zu werden.«

Farero wandte den Blick ab. »Wir sind allein...

Meine Mannschaft wurde heute besiegt, und ich
werde nie mehr Sheirl sein. Aber...« Sie brach ab und
zeigte hinaus und sagte leise und tonlos: »Dort fährt
ein Boot.«

Glinnes zögerte. Farero rührte sich nicht. Glinnes

sagte widerstrebend: »Wir müssen etwas unterneh-
men wegen dieser närrischen Duissane und ihrem
Boot.« Er trat ans Ufer und rief laut. Das Boot, eine
Motorzille, in der ein einzelner Fischer saß, änderte
den Kurs, und wenige Minuten später waren Glinnes
und Farero an Bord. Der Fischer war vom Meer her-
eingekommen und hatte kein treibendes Paddelboot
gesehen; höchstwahrscheinlich war Duissane auf ei-
ner der kleinen Inseln an Land gegangen.

Der Fischer steuerte sein Boot um die Landspitze

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herum und in den Hafen von Welgen. Farero und
Glinnes fuhren mit einem Taxi zum Stadion. Der Fah-
rer hatte eine Menge über den Überfall der Starmen-
ter zu berichten. »... noch nie so etwas gegeben! Sie
nahmen dreihundert der reichsten Leute der Gegend
mit und mindestens hundert Mädchen, arme Dinger
– die werden nicht für Lösegeld freigelassen. Der
Whelm kam wieder einmal zu spät. Die Starmenter
wußten genau, wen sie mitnehmen mußten und wer
uninteressant für sie war. Die Aktion war auf die Se-
kunde genau geplant: nach kaum einer Viertelstunde
waren sie wieder weg. Sie werden ein Vermögen an
Lösegeldern einnehmen!«

Im Stadion verabschiedete sich Glinnes mit eini-

gem Bedauern von Farero. Er rannte zur Umkleide-
kabine, zog seinen Tanchinaro-Dreß aus und seine
Alltagskleider wieder an.

Das Taxi brachte ihn zurück zum Hafen, wo Glin-

nes ein kleines, wendiges Motorboot mietete. Er fuhr
um die Landspitze herum und in den Welgener Sund.
Das blasse Avness-Licht überzog Himmel, Meer, In-
seln und Küste mit einem milchigen Schleier, der die
Farben dämpfte und undefinierbar machte. Es
herrschte eine beinahe übernatürliche Stille; das Gur-
geln des Wassers unter dem Kiel wirkte fast störend.

Er fuhr an der Insel vorbei, auf der er zuvor mit Fa-

rero und Duissane gelandet war, und noch weiter
hinaus in die Richtung, in die das Boot getrieben war.
Er umkreiste die ersten paar Inselchen, fand aber we-
der eine Spur von Duissane noch vom Boot. Die
nächsten drei Inseln waren ebenfalls leer. Hinter den
letzten drei Inseln, die er noch absuchen wollte, be-
gann das Meer, eine ruhige, weite, leere Fläche. Auf

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der zweiten dieser Inseln erspähte er jedoch eine
schlanke Gestalt in einem weißen Gewand, die heftig
winkte.

Als Duissane den Mann im Boot erkennen konnte,

hörte sie abrupt mit dem Winken auf. Glinnes sprang
an Land und zog das Boot ein Stück aufs Ufer hinauf.
Er machte die Bugleine an einer dicken, krummen
Luftwurzel fest und schaute sich um. Der flache Strei-
fen des Festlandes war in dem unsicheren Licht kaum
mehr zu erkennen. Eine langsame, träge Dünung
wellte das Wasser – es sah aus, als wäre das Meer von
einem schweren, schimmernden Seidentuch bedeckt.
Glinnes warf Duissane einen Blick zu. Sie hatte noch
kein Wort gesagt. »Welch friedlicher Ort. Ich glaube
nicht, daß selbst die Merlinge soweit herausschwim-
men.«

Duissane schaute zum Boot. »Wenn du gekommen

bist, um mich abzuholen: ich bin fertig.«

»Wir haben keine Eile«, meinte Glinnes. »Über-

haupt keine. Ich habe Brot und Wein und Fleisch mit-
gebracht. Wir können Pisangs dünsten und Quorls

20

und vielleicht erwischen wir auch einen Curset

21

. Wir

wollen ein Picknick veranstalten, bis die Sterne her-
auskommen.«

Duissane preßte störrisch die Lippen zusammen

und blickte hinüber zur Küste. Glinnes trat zu ihr. Er
stand jetzt nur noch eine halbe Armlänge von ihr ent-
fernt – näher war er ihr noch nie gewesen. In ihren
graugoldenen Augen glaubte Glinnes eine Vielfalt
von Stimmungen und Gefühlen zu lesen. Er beugte

20

Siehe Glossar

21

Siehe Glossar

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den Kopf zu ihr hinunter, legte einen Arm um ihre
Schultern und küßte sie auf die Lippen, die jedoch
teilnahmslos und kalt blieben. Sie stieß ihn weg und
schien plötzlich wieder Gewalt über ihre Stimme zu
erlangen.

»Ihr seid doch alle gleich, ihr Trills! Ihr stinkt nach

Cauch, und euer Hirn ist eine einzige geile Drüse.
Kennt ihr nur Zügellosigkeit? Habt ihr keine Würde,
keine Selbstachtung?«

Glinnes lachte. »Hast du Hunger?«
»Nein. Ich habe eine Verabredung zum Abendes-

sen und werde zu spät kommen, wenn wir nicht so-
fort aufbrechen.«

»Tatsächlich – hast du deshalb das Boot gestoh-

len?«

»Ich habe gar nichts gestohlen. Das Boot war ge-

nauso meins wie eures. Du schienst ohnehin für
nichts Interesse zu haben als für dieses langweilige
Karpoun-Mädchen. Es wundert mich, daß du sie
nicht noch immer anglotzt.«

»Sie hatte Sorge, daß du gekränkt sein könntest.«
Duissane zog die Brauen hoch. »Warum sollte ich

auch nur einen Gedanken daran verschwenden, was
du tust? Ihre Besorgnis beleidigt mich.«

»Es ist wohl nicht weiter wichtig«, sagte Glinnes.

»Wie wäre es, wenn du etwas Brennholz sammelst,
während ich einige Pisangs hole?«

Duissane machte schon den Mund auf, um sich zu

weigern, fand aber dann, daß sie sich damit nur ins
eigene Fleisch schnitte. Sie suchte ein paar dürre
Zweige zusammen, die sie hochmütig auf den Sand
warf. Sie musterte immer wieder das Boot, aber es
war sehr weit auf den Strand heraufgezogen, so daß

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sie es kaum ins Wasser gebracht hätte. Außerdem
war der Zündschlüssel vom Motor abgezogen.

Glinnes brachte die Pisangfrüchte, zündete ein

Feuer an, grub vier prächtige Quorls aus, putzte und
wusch sie im Meer und legte sie zu den Pisangs zum
Rösten. Er holte Brot und Fleisch aus dem Boot und
breitete ein Tuch auf dem Sand aus. Duissane beob-
achtete ihn aus einiger Entfernung.

Glinnes öffnete die Weinflasche und hielt sie Duis-

sane hin.

»Ich mag keinen Wein trinken.«
»Hast du die Absicht, etwas zu essen?«
Duissane fuhr sich mit der Zungenspitze über die

Lippen. »Und was hast du dann vor?«

»Wir werden es uns auf dem Strand gemütlich ma-

chen und die Sterne ansehen, und vielleicht finden
wir sonst noch etwas zu tun?«

»Oh – du bist doch ein gemeiner Schuft! Ich will

nichts mit dir zu tun haben! Lüstern und zügellos,
wie alle Trills!«

»Na, jedenfalls bin ich nicht schlimmer als alle an-

deren. Setz dich. Wir wollen essen und dem Sonnen-
untergang zuschauen.«

»Ich bin hungrig, deshalb werde ich mit dir essen«,

sagte Duissane. »Dann müssen wir zurückfahren. Du
weißt, was die Trevanyi von wahlloser Liebelei hal-
ten. Außerdem darfst du nicht vergessen, daß ich die
Sheirl der Tanchinaros und eine Jungfrau bin!«

Glinnes deutete durch eine Geste an, daß ihn diese

Erwägungen kalt ließen. »Es gibt immer Veränderun-
gen im Leben, bei uns allen.«

Duissane erstarrte vor Empörung. »So willst du al-

so die Sheirl deiner Mannschaft entehren? Was bist

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du doch für ein schmutziger Schuft – erst solche
elenden Lügen über mich verbreiten, und dann
scheinheilig auf einem Beweis meiner Unberührtheit
bestehen!«

»Ich habe keine Lügen verbreitet«, erklärte Glinnes.

»Ich habe nicht einmal die Wahrheit verbreitet – daß
du und deine Familie mich ausgeraubt habt, und wie
du nur gelacht hast, als ihr mich halbtot für die Mer-
linge liegen ließet.«

Duissane entgegnete etwas unsicher: »Du hast nur

bekommen, was du verdientest.«

»Deinem Vater und deinen Brüdern schulde ich

noch ein paar Tritte«, sagte Glinnes. »Was dich be-
trifft, so habe ich mich noch nicht entschieden. Iß,
trink Wein, stärke dich.«

»Ich habe keinen Appetit. Nicht den geringsten. Es

ist einfach nicht gerecht, wie du mich behandelst.«

Glinnes antwortete nicht und begann zu essen.
Nach einer Weile gewann bei Duissane der Hunger

die Oberhand. »Denke daran«, ermahnte sie ihn noch,
»wenn du deine Drohung ausführst, hast du nicht
nur mich, sondern auch alle Tanchinaros entehrt, und
dich selber ebenso. Und meine Familie wird dich zur
Rechenschaft ziehen, wird dich jagen bis zum Ende
aller Zeiten; du wirst keinen ruhigen Augenblick
mehr haben, solange du lebst. Außerdem ziehst du
nur meine Verachtung auf dich. Wozu das alles? Nur
um deine Lust zu befriedigen. Du kannst nicht das
Wort ›Liebe‹ verwenden, wenn du doch nur auf Ra-
che ausgehst. Die allerschäbigste Art von Rache noch
dazu – als ob ich ein Tier wäre oder ein Ding ohne
Gefühle. Gewiß – du kannst mich mißbrauchen oder
töten, wenn du willst, aber vergiß nicht, wie sehr

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mich dein Verhalten anwidert. Außerdem...«

»Weib«, brüllte Glinnes, »sei so gut und halte end-

lich den Mund. Du hast mir den Tag verdorben und
nun auch den Abend. Iß und schweig, dann fahren
wir nach Welgen zurück.« Mit finsterer Miene saß
Glinnes im Sand, aß Pisangs, Quorls, Fleisch und
Brot, trank zwei Flaschen Wein, während Duissane
ihn aus dem Augenwinkel beobachtete, einen seltsa-
men Ausdruck im Gesicht – halb verächtlich, halb
spöttisch-nachdenklich.

Als er seine Mahlzeit beendet hatte, lehnte sich

Glinnes gegen eine Düne und betrachtete eine Weile
den Sonnenuntergang. Jeder Farbton wiederholte sich
getreu auf der Wasserfläche, nur hie und da zitterte
im Schatten einer Welle eine schwarze, langgezogene
Sichel.

Duissane saß schweigend da, die Arme um die

Knie geschlungen.

Schließlich stand Glinnes auf und schob das Boot

ins Wasser. Er winkte Duissane. »Steig ein.« Sie ge-
horchte stumm. Langsam tuckerte das Boot in den
Sund hinein, um die Landspitze herum und in den
Hafen von Welgen.

Eine große, weiße Jacht lag am Pier; Glinnes er-

kannte sie als die von Lord Gensifer. Licht schim-
merte aus allen Bullaugen, was auf irgendeine Gesell-
schaft an Bord schließen ließ.

Glinnes musterte das Schiff stirnrunzelnd. Ob Lord

Gensifer wirklich heute, unmittelbar nach dem Über-
fall der Starmenter, eine Party veranstaltete? Sonder-
bar. Aber das Verhalten der Aristokraten war schon
immer über seine Begriffe gegangen. Zu seiner Über-
raschung sprang Duissane aus dem Boot und lief zur

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Jacht hinüber. Sie eilte die Gangway hinauf und ver-
schwand im Salon. Glinnes vernahm Lord Gensifers
Stimme: »Duissane, meine Liebe, was in aller Welt...«
Der Rest des Satzes war nicht zu verstehen.

Glinnes zuckte die Achseln und brachte das Boot

zum Vermieter zurück. Als er über den Pier ging, rief
ihn Lord Gensifer von der Jacht an. »Glinnes! Kom-
men Sie doch einen kurzen Augenblick an Bord, seien
Sie so nett!«

Glinnes schlenderte gleichmütig über die Gangway

an Deck. Lord Gensifer klopfte ihm auf die Schulter
und führte ihn in den Salon. Ein gutes Dutzend mo-
disch gekleideter Leute hatte sich versammelt, an-
scheinend adelige Freunde Lord Gensifers. Außer-
dem entdeckte Glinnes Akadie, Marucha und natür-
lich Duissane, die jetzt über ihrem weißen Schleier-
gewand einen roten Umhang trug, den ihr vermutlich
eine der anwesenden Damen geliehen hatte. »Da ist
unser Held!« verkündete Lord Gensifer. »Mit kühner
Entschlossenheit hat er gleich zwei liebliche Sheirls
vor den Starmentern gerettet. Für diesen Trost müs-
sen wir in unserem großen Kummer dankbar sein.«

Glinnes sah sich erstaunt im Salon um. Es kam ihm

vor, als erlebe er einen besonders absurden Traum,
Akadie, Lord Gensifer, Marucha, Duissane, er selber –
eine wirklich seltsame Mischung!

»Ich weiß eigentlich kaum, was alles genau pas-

sierte«, sagte Glinnes, »einmal abgesehen vom Über-
fall natürlich.«

»Genaues weiß niemand«, sagte Akadie. Er wirkte

ungewohnt still und nachdenklich und schien seine
Worte mit Bedacht zu wählen. »Die Starmenter waren
sich sehr sicher, wer mitnehmenswert war. Sie holten

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sich genau dreihundert begüterte Leute und etwa
zweihundert hübsche Mädchen außerdem. Die drei-
hundert sollen gegen ein Lösegeld von mindestens
hunderttausend Ozols pro Kopf freigelassen werden.
Für die Mädchen wurde kein Lösegeld festgesetzt,
aber wir werden trotzdem versuchen, sie freizukau-
fen.«

»Dann haben die Banditen sich bereits gemeldet?«
»Ja gewiß. Sie hatten alles sehr genau geplant und

kannten die finanzielle Lage jedes einzelnen.«

Lord Gensifer bemerkte mit ironischer Gebärde:

»Für die Zurückgelassenen bedeutet das natürlich ei-
nen schrecklichen Prestigeverlust, der uns sehr zu
schaffen macht.«

»Aus anscheinend gutem Grund wurde ich be-

stimmt, das Lösegeld einzusammeln«, fuhr Akadie
fort, »wofür ich auch ein Honorar erhalten soll. Ein
unerheblicher Betrag, versichere ich dir – mit fünftau-
send Ozols sollen meine Mühen und Unannehmlich-
keiten abgegolten werden.«

Glinnes hatte betroffen zugehört. »Der Gesamtbe-

trag des Lösegeldes wird dann also dreihundertmal
hunderttausend Ozols ausmachen, und das sind...«

»Dreißig Millionen Ozols – kein schlechter Ver-

dienst für einen Nachmittag.«

»Wenn sie nicht auf dem Prutanschyr enden.«
Akadie verzog angewidert das Gesicht. »Ach, die-

ses barbarische Überbleibsel – was in aller Welt haben
wir von der Folterung Verurteilter? Die Starmenter
überfallen uns trotzdem immer wieder.«

»Zumindest ist es eine Unterhaltung für das Volk«,

sagte Lord Gensifer. »Denkt doch nur an die armen,
geraubten Mädchen – zu denen beinahe meine liebe

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Freundin Duissane gehört hätte!« Er legte einen Arm
um Duissanes Schultern und drückte sie väterlich an
sich. »Ist dafür die Sühne wirklich zu hart? Ich finde
nicht.«

Glinnes' Blick irrte betroffen von Lord Gensifer zu

Duissane und zurück; das Mädchen schien über ir-
gendeinen geheimen Scherz zu lächeln. War die gan-
ze Welt übergeschnappt? Oder erlebte er wirklich ei-
nen verrückten Traum?

Akadie zog gleichmütig die Brauen hoch. »Die

Untaten der Starmenter sind natürlich arg. Mögen sie
also dafür büßen.«

Einer von Lord Gensifers Freunden erkundigte sich

lächelnd: »Weiß man übrigens, welche spezielle
Gruppe von Starmentern uns beehrt hat?«

»Sie haben nicht versucht, anonym zu bleiben«,

sagte Akadie. »Wir haben es mit Sagmondo Bandolio
– Sagmondo dem Gnadenlosen – zu tun. Einem der
schlimmsten dieser Banditen.«

Glinnes kannte den Namen; seit langem jagte der

Whelm hinter Sagmondo Bandolio her. »Bandolio ist
ein übler Verbrecher«, sagte Glinnes. »Er trägt den
Namen ›der Gnadenlose‹ zu Recht.«

»Es wird behauptet, daß er nur zum Vergnügen

Starmenter ist«, bemerkte Akadie. »Man sagt, er habe
sich ein Dutzend Identitäten überall im Sternhaufen
zugelegt und könne von den zusammengeraubten
Reichtümern beliebig lange im Luxus leben.«

Die kleine Gesellschaft schwieg betroffen. Verbre-

chen in solchem Maßstab war schon fast beeindruk-
kend.

»Er muß irgendwo in der Präfektur einen Spitzel

haben«, sagte Glinnes, »jemanden, der all die Aristo-

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kraten gut kennt und mit ihren Vermögensverhältnis-
sen vertraut ist.«

»Es sieht ganz danach aus«, bestätigte Akadie.
»Wer könnte das wohl sein?« rätselte Lord Gensi-

fer. »Wer nur?«

Und alle Anwesenden begannen über diese Frage

nachzudenken, wobei jeder seine geheimen Vermu-
tungen hatte.

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KAPITEL 16

Als die Tanchinaros die Karpouns besiegten, hatten
sie sich keinen guten Dienst geleistet. Da Sagmondo
Bandolio und seine Starmenter das gesamte Prämien-
geld geraubt hatten, war die Mannschaft bankrott,
und angesichts ihrer bewiesenen Fähigkeiten fiel es
Perinda sehr schwer, auch nur Tausend- oder Zwei-
tausend-Ozol-Spiele zu arrangieren. Um ein Team
der Zehntausend-Ozol-Klasse herauszufordern, fehlte
einfach das Geld.

Eine Woche nach dem Match gegen die Karpouns

versammelten sich die Tanchinaros auf der Insel Ra-
bendary, und Perinda erläuterte ihnen die mißliche
Situation. »Ich habe nur drei Mannschaften aufgetrie-
ben, die bereit wären, gegen uns zu spielen, und kei-
ne will ihre Sheirl um weniger als zehntausend Ozols
riskieren. Noch etwas: wir haben keine Sheirl mehr.
Duissane scheint das Interesse eines gewissen Lords
erweckt zu haben, was natürlich von Anfang an ihr
Ziel war. Jetzt legt weder sie noch Tammi Wert dar-
auf, daß sie weiter ihre kostbare Haut der Entblößung
aussetzt.«

»Pah!« sagte Lucho. »Duissane hatte sowieso nie

viel für Hussade übrig.«

»Natürlich nicht«, meinte Warhound. »Sie ist eine

Trevanyi. Habt ihr je einen Trevanyi Hussade spielen
gesehen? Sie ist die erste Sheirl dieses Volkes, von der
ich je gehört habe.«

»Die Travanyi haben ihre eigenen speziellen Spie-

le«, sagte Gilweg.

»Wie ›Jedem Hals seinen Dolch‹«, sagte Glinnes.

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»Oder ›Räuber und Trills‹.«
»Oder ›Merling, Merling, hol den Kadaver‹.«
»Oder ›Fangt den Geldsack‹.«
»Also, eine Sheirl finden wir immer«, sagte Perin-

da. »Viel mehr Sorgen bereitet uns das Geldpro-
blem.«

Glinnes erbot sich widerwillig. »Ich würde meine

fünftausend Ozols rausrücken, wenn ich wüßte, daß
ich sie wiederkriege.«

»Ich könnte auf die eine oder andere Art etwa tau-

send zusammenkratzen«, sagte Warhound.

»Das wären schon sechstausend«, stellte Perinda

fest. »Ich würde tausend beitragen – genauer gesagt,
ich kann mir tausend von meinem Vater borgen...
Wer noch? Wer noch? Kommt schon, rückt mit euren
Reichtümern heraus, ihr geizigen Schlammkratzer.«

Zwei Wochen später spielten die Tanchinaros ge-

gen die Kanchedonen von der Meerinsel. Das Match
fand im großen Stadion der Meerinsel statt; es ging
um eine Gewinnsumme von fünfundzwanzigtausend
Ozols, wobei jede Mannschaft fünfzehntausend setzte
und zehntausend der Beitrag des Stadions waren. Die
neue Sheirl der Tanchinaros war Sacharissa Simone,
ein Mädchen aus den Fal-Lal-Bergen – ein nettes, nai-
ves und hübsches Wesen, dem es aber an jener unde-
finierbaren Eigenschaft mangelt, die Sashei genannt
wurde. Außerdem bestanden gewisse Zweifel über
ihre Jungfräulichkeit, aber keiner wollte der Sache
allzu genau auf den Grund gehen.

»Verbringen wir doch jeder eine Nacht mit ihr«,

schlug Warhound bissig vor, »dann ist die Frage zu
jedermanns Zufriedenheit geklärt.«

Was auch der Grund war, die Tanchinaros spielten

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jedenfalls so schlecht wie noch nie und leisteten sich
eine Reihe erstaunlicher Fehler. Die Kanchedonen si-
cherten sich einen leichten Drei-Ring-Sieg. Sacharis-
sas möglicherweise unschuldiger Körper wurde
fünfunddreißigtausend Zuschauern in allen Einzel-
heiten vorgeführt, und Glinnes mußte feststellen, daß
er nur noch drei- oder vierhundert Ozols in der Ta-
sche hatte. Deprimiert und ziemlich durcheinander
kehrte er nach Rabendary zurück, wo er sich in einen
der alten Flechtstühle auf der Veranda warf und den
Abend damit verbrachte, zur Insel Ambal hinüberzu-
starren. Welch einen Wirrwarr hatte er doch aus sei-
nem Leben gemacht! Die Tanchinaros waren abge-
brannt, gedemütigt und standen kurz vor dem Zer-
fall. Die Insel Ambal war unerreichbarer denn je ge-
worden. Duissane, ein Mädchen, das seine Gefühle
seltsam aufgerührt hatte, wendete nun ihren ganzen
Ehrgeiz dem Adel zu, und Glinnes, dessen Empfin-
dungen ihr gegenüber bisher höchstens lauwarm ge-
wesen waren, geriet jetzt außer Fassung bei dem Ge-
danken, daß Duissane das Bett mit einem anderen
teilte.

Zwei Tage nach dem katastrophalen Match gegen

die Kanchedonen fuhr Glinnes mit der Fähre nach
Welgen, um einen Käufer für zwanzig Säcke der aus-
gezeichneten Rabendary-Moschusäpfel zu finden,
was ihm bald gelang. Da ihm noch eine Stunde bis
zur Rückfahrt blieb, kehrte Glinnes zu einem Mit-
tagsimbiß in einem kleinen Restaurant ein, das halb
unter Dach, halb im Schatten eines Fulgeria-Hains
eingerichtet war. Er trank einen Krug Bier und aß et-
was Brot und Käse, während er den Leuten von Wel-
gen bei ihrem Treiben zusah... Dort kam eine Gruppe

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echter Fanscher vorüber – nüchterne junge Menschen,
aufrecht, energisch, den Blick in die Ferne gerichtet,
als beschäftigten sie Probleme größter Wichtigkeit...
Und da kam Akadie mit gesenktem Kopf herangeeilt,
daß die Rockschöße seines fanscherartigen Anzugs
flatterten. Glinnes rief ihn an: »He, Akadie! Setz dich
doch zu mir und trink ein Bier!«

Akadie blieb stehen, als wäre er gegen ein unsicht-

bares Hindernis geprallt. Er spähte in die schattige
Laube, um den Besitzer der Stimme zu entdecken,
schaute sich ein paarmal nervös um und drückte sich
dann hastig in einen Stuhl neben Glinnes. Sein Ge-
sicht war angespannt, und seiner Stimme waren Be-
sorgnis und Unruhe anzuhören. »Ich glaube, ich habe
sie abgeschüttelt; ich hoffe es wenigstens.«

»So?« Glinnes blickte in die Richtung, aus der Aka-

die gekommen war. »Wen hast du abgeschüttelt?«

Akadies Antwort war wie üblich ausweichend.
»Ich hätte den Auftrag ablehnen sollen; ich habe

nichts als Sorgen damit. Fünftausend Ozols! Dafür
muß ich mich von raubgierigen Trevanyi verfolgen
lassen, die nur auf einen Augenblick der Unvorsich-
tigkeit warten. Welch ein Irrsinn. Sie können mir die
dreißig Millionen samt meinen lächerlichen fünftau-
send Ozols wegnehmen und damit größer absahnen,
als es wohl je in der Geschichte dieses verrückten
menschlichen Universums vorgekommen ist.«

»Mit anderen Worten«, sagte Glinnes, »du hast also

die dreißig Millionen Ozols Lösegeld tatsächlich bei-
sammen?«

Akadie nickte erbittert. »Es ist irgendwie unwirk-

lich – ich meine, die fünftausend, die ich als Honorar
bekommen soll, sind ein ganz reales Geld, aber – ich

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habe dreißig Millionen Ozols in dieser Tasche« – er
klopfte auf einen kleinen, schwarzen Aktenkoffer mit
silberner Schließe – »aber es könnten genausogut alte
Zeitungen sein.«

»Für dich.«
»Richtig.« Akadie blickte wieder über die Schulter.

»Andere Leute lassen sich durch abstrakte Symbole
weniger beeinflussen, oder, genauer gesagt, sie sehen
andere Symbole. Für mich stellen diese Papierstücke
nichts als Schrecken und Schmerzen, Raub und Brand
dar. Andere Menschen haben ganz andere Bezugs-
werte: sie sehen darin Paläste, Raumjachten, Luxus
und Vergnügen.«

»Kurzum, du hast also Angst, daß man dir das

Geld raubt?«

Akadies wendiger Geist war einer nüchternen

Antwort bereits weit vorausgeeilt. »Kannst du dir die
Unannehmlichkeiten vorstellen, die jemand auf sich
lädt, der Sagmondo Bandolio dreißig Millionen Ozols
vorenthält? Das Gespräch würde dann vielleicht so
verlaufen: Bandolio: ›Sie werden mir jetzt die dreißig
Millionen Ozols übergeben, Janno Akadie, die Ihnen
anvertraut wurden.‹ Akadie: ›Sie dürfen nicht zu
enttäuscht sein, aber ich habe bedauerlicherweise das
Geld nicht mehr.‹ Bandolio:... Nein. Hier setzt mein
Vorstellungsvermögen glücklicherweise aus. Ich will
lieber nicht daran denken. Würde er eiskalt reagie-
ren? Würde er toben? Würde er gleichgültig lachen?«

»Wenn du wirklich beraubt werden solltest«, sagte

Glinnes, »dann kannst du dich wenigstens damit trö-
sten, daß deine Neugier in dieser Hinsicht befriedigt
werden wird.«

Akadie reagierte auf die Bemerkung mit einem

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säuerlichen Seitenblick. »Wenn ich nur wüßte, wer
mir nachstellt oder wie – wenn ich nur irgend etwas
wüßte – genau wüßte, wem ich ausweichen muß,
wovor ich mich hüten muß...« Er verstummte be-
drückt.

»Hast du wirklich eine konkrete Bedrohung fest-

stellen können? Oder bist du nur nervös?«

»Natürlich bin ich nervös, aber das ist bei mir ein

Dauerzustand. Ich verabscheue Unbequemlichkeiten,
ich fürchte Schmerzen, ich weigere mich sogar, die
Möglichkeit eines plötzlichen Todes anzuerkennen.
Aber alle diese Dinge drohen mir jetzt ziemlich un-
mittelbar.«

»Dreißig Millionen Ozols sind natürlich schon eine

eindrucksvolle Summe«, sagte Glinnes begehrlich.
»Ich persönlich würde allerdings nur etwa zwölftau-
send davon brauchen.«

Akadie schob Glinnes den Koffer hin. »Bitte sehr;

nimm dir, soviel du willst, und erkläre den Fehlbe-
trag Bandolio... Nein.« Er zog die Tasche wieder an
sich. »Dieser Ausweg ist mir leider verboten.«

»Eine Sache verstehe ich nicht«, sagte Glinnes.

»Wenn du so besorgt bist, warum bringst du das
Geld dann nicht einfach auf die Bank? Dort drüben
zum Beispiel wäre die Bank von Welgen, keine
zwanzig Sekunden von unserem Tisch entfernt.«

Akadie seufzte. »Wenn es nur so einfach wäre... Ich

habe Anweisung, das Geld jederzeit griffbereit zu ha-
ben, um es an Bandolios Boten auszuliefern.«

»Und wann soll der kommen?«
Akadie verdrehte die Augen zum Blätterdach der

Fulgeria. »In fünf Minuten? Fünf Tagen? Fünf Wo-
chen? Ich wollte, ich wüßte das.«

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»Dieses Arrangement kommt mir schon sonderbar

vor«, sagte Glinnes. »Aber die Starmenter wissen
wohl, was sie tun. Denk doch nur – heute in einem
Jahr wird dir dieses Abenteuer nur mehr wie eine
spannende Anekdote vorkommen.«

»Ich kann nur an die Gegenwart denken«, grollte

Akadie. »Und die ist ein Fegefeuer für mich.«

»Was eigentlich befürchtest du?«
Trotz all seiner Ängste konnte sich Akadie eine

ausführliche, belehrende Erklärung nicht verkneifen.
»Drei Gruppen sind es, die nach dem Geld lechzen:
die Fanscher, um Land, Geräte, Informationen, Ener-
gie kaufen zu können; der Adel, um seine prekären
Verhältnisse aufzubessern; und die Trevanyi, die
schlechterdings von Natur aus geldgierig sind. Erst
vor wenigen Augenblicken habe ich zwei Trevanyi
entdeckt, die mir unauffällig nachgingen.«

»Das braucht überhaupt keine Bedeutung zu ha-

ben«, sagte Glinnes.

»Du kannst das gut auf die leichte Schulter neh-

men.« Akadie stand auf. »Willst du nach Rabendary
zurück? Du könntest mit mir fahren.«

Sie gingen zusammen zum Pier und fuhren mit

Akadies weißem Motorboot los, nach Osten aus der
Inneren Bucht hinaus. Sie brausten zwischen den
Lace-Inseln hindurch, über die Ripil-Bucht an Saur-
kash vorbei dann durch das schmale Athenry-
Gewässer hinaus in die Fleharish-Bucht, in der sie ei-
nem schwarz-purpurnen Rennboot begegneten, das
auf einem Gischtkeil dahinfegte.

»Da wir von Trevanyi sprachen«, sagte Glinnes,

»sieh dir an, wer da mit Lord Gensifer auf Vergnü-
gungsfahrt ist.«

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»Ich habe sie gesehen.« Akadie verstaute stirnrun-

zelnd den schwarzen Koffer unter dem Hecksitz.

Lord Gensifer steuerte sein Boot in kühnem Bogen

herum, eine breite Gischtfahne in die Luft schleu-
dernd, und überholte Akadie und Glinnes mit Ge-
dröhn. Akadie murmelte eine Verwünschung und
brachte sein Boot zum Stillstand; Lord Gensifer kam
längsseits. Duissane, die ein bezauberndes hellblaues
Kleid trug, schaute gelangweilt schmollend herüber,
verriet aber sonst keinerlei Interesse für das andere
Boot. Lord Gensifer dagegen war sonnigster Laune.
»Hallo – und wohin seid ihr an diesem herrlichen
Nachmittag unterwegs, mit solchen sauertöpfischen
Mienen? Lord Milfreds Entenrevier plündern, möchte
ich wetten.« Das sollte eine schalkhafte Anspielung
auf einen uralten Scherz der Region sein. »Ihr seid
mir aber zwei Spitzbuben.«

Akadie antwortete in seinem hochmütigen Tonfall:

»Bedauerlicherweise sind wir in ernsteren Geschäften
unterwegs, mag der Nachmittag auch noch so herr-
lich sein.«

Lord Gensifer deutete mit einer wegwerfenden Ge-

ste an, daß sein kleiner Spaß schon vergessen war,
und erkundigte sich: »Wie geht es mit der Kollekte
voran, mein Freund?«

»Ich habe heute morgen die letzten Teilbeträge er-

halten«, sagte Akadie ablehnend. Es war offensicht-
lich, daß er das Thema nicht weiter zu verfolgen
wünschte, aber Lord Gensifer ritt taktlos darauf her-
um. »Na, dann rücken Sie mal ein oder zwei Milliön-
chen heraus. Bandolio wird sie kaum vermissen.«

»Ich würde Ihnen nur zu gerne die ganzen dreißig

Millionen übergeben«, sagte Akadie, »und Sie könn-

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ten sich dann mit Sagmondo Bandolio einigen.«

»Danke«, sagte Lord Gensifer, »aber das möchte ich

lieber nicht.« Er spähte in Akadies Boot. »Sie haben
das Geld also wirklich bei sich? Ah ja, da hinten auf
dem Boden. Sie sind ziemlich leichtsinnig, wissen Sie.
Ist Ihnen klar, daß Boote manchmal sinken? Was
würden Sie dann Sagmondo dem Gnadenlosen er-
zählen?«

Akadies Stimme verriet seinen Ärger. »Diese

Wahrscheinlichkeit ist verschwindend gering.«

»Sicher, sicher. Aber wir langweilen Duissane,

glaube ich, die sich für solche Dinge wenig interes-
siert. Stellt euch vor – sie weigert sich, mich zu besu-
chen! Ich habe ihr den Luxus und die Eleganz meines
Landsitzes vor Augen geführt, aber sie will nichts
davon wissen. Durch und durch eine Trevanyi. Wild
und ungebunden wie ein Seevogel. Sind Sie sicher,
daß Sie nicht wenigstens eine Million Ozols entbeh-
ren könnten? Wir wär's mit einer halben Million?
Oder armselige Hunderttausend, ja?«

Akadie lächelte mit eiserner Geduld und schüttelte

den Kopf. Schließlich zog Lord Gensifer mit einer
Handbewegung den Gashebel zurück; das schwarz-
purpurne Boot bäumte sich auf, schoß in einem
schnittigen Bogen vorbei und hielt nach Norden auf
das Präfektur-Freiland zu, das die Fleharish-Bucht im
oberen Ende abschloß.

Akadie und Glinnes setzten ihre Fahrt in gemächli-

cherem Tempo fort. Auf Rabendary angekommen,
erklärte sich Akadie bereit, auf eine Tasse Tee an
Land zu kommen, saß aber dann nervös auf der
Kante seines Stuhls und spähte immer wieder hinaus
zum Ilfisch-Gewässer, über die Ambal-Bucht und

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durch die Reihe von Pomanderbäumen, die die Insel
auf der Seite des Farwan-Gewässers säumten. Die in
der leichten Brise schwankenden großen Blätter er-
weckten immer wieder den Eindruck, als bewege sich
etwas hinter den Bäumen, und das ließ Akadie zuse-
hends unruhiger werden.

Glinnes holte eine Flasche alten Wein hervor, um

Akadies Sorgen durch Alkohol zu lindern, und es
gelang ihm so gut, daß der Nachmittag bereits in die
blasse Avness überging, als Akadie feststellte, er
müsse nun doch nach Hause. »Wenn du magst,
kannst du mich begleiten. Ehrlich gesagt, ich hätte
ganz gern jemanden in der Nähe.«

Glinnes erklärte sich einverstanden, Akadie in sei-

nem eigenen Boot zu folgen, aber Akadie rieb sich
unschlüssig das Kinn, als wollte er nicht recht aufbre-
chen. »Du solltest vielleicht Marucha anrufen und sie
wissen lassen, daß wir unterwegs sind. Erkundige
dich auch, ob sie irgend etwas Ungewöhnliches beob-
achtet hat.«

»Ist recht.« Glinnes ging ins Haus, um den Anruf

zu erledigen. Marucha war tatsächlich froh zu hören,
daß Akadie auf dem Heimweg war. Etwas Unge-
wöhnliches? Nein, sie hatte nichts Auffallendes beob-
achtet. Vielleicht waren ein paar Boote mehr als üb-
lich in der Gegend, oder vielleicht war es auch das-
selbe Boot gewesen, das mehrmals vorbeigekommen
war. Sie hatte nicht so sehr darauf geachtet.

Als Glinnes hinauskam, wartete Akadie bereits am

Ende des Bootssteges und starrte stirnrunzelnd auf
das Farwan-Gewässer hinaus. Er fuhr mit seinem
weißen Motorboot los, und Glinnes folgte ihm in sei-
nem Kielwasser bis in die Clinkhammer-Bucht, die

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ruhig und verlassen im blaugrauen Licht des Abends
dalag. Glinnes wartete ab, bis Akadie sicher den Pier
erreicht hatte und machte dann kehrt, um nach Ra-
bendary zurückzufahren.

Er war kaum daheim angekommen, als der Gong

des Telefons ertönte. Akadies Gesicht erschien auf
dem Bildschirm – mit einem Ausdruck düsteren Tri-
umphs. »Es kam genauso, wie ich erwartet hatte«,
sagte Akadie. »Sie waren da, erwarteten mich hinter
dem Bootshaus vier waren es, und ganz bestimmt
Trevanyi, obwohl sie natürlich alle Masken trugen.«

»Was ist passiert?« drängte Glinnes, denn Akadie

schien auf bestem Wege, den Vorfall zu einem dra-
matischen Epos auszuschmücken.

»Was ich erwartet habe, das ist passiert«, schnaubte

Akadie. »Sie überwältigten mich und entrissen mir
die schwarze Tasche; dann verschwanden sie mit ih-
ren Booten.«

»So – dreißig Millionen Ozols im Eimer!«
»Haha! Nichts dergleichen. Nur eine verschlossene,

schwarze Tasche, vollgepackt mit Gras und Erde.
Wenn sie das Schloß aufbrechen, wird es einige
schwer enttäuschte Drossets geben. Ich spreche aus
gutem Grund von den Drossets – ich habe nämlich
die sonderbare Haltung des älteren Sohnes wiederer-
kannt, und Vang Drossets Gestalt ist auch recht cha-
rakteristisch.«

»Du sagtest – vier?«
Akadie leistete sich ein grimmiges Lächeln. »Einer

der Banditen war ziemlich schmächtig. Diese Person
hielt sich abseits und stand Wache.«

»So. Und wo ist dann das Geld?«
»Deshalb rufe ich an. Ich habe es in der Köderkiste

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an deinem Bootssteg gelassen, und diese Vorsichts-
maßnahme war mehr als gerechtfertigt. Ich bitte dich
nun um folgendes: geh zum Steg hinaus und verge-
wissere dich, daß du nicht beobachtet wirst. Dann
nimm das folienumwickelte Päckchen heraus und mit
ins Haus. Ich werde es morgen abholen.«

Glinnes funkelte Akadie empört an. »Jetzt habe ich

also die Sorge um dein verdammtes Geld auf dem
Hals. Ich möchte genausowenig wie du die Kehle
durchgeschnitten bekommen. Ich fürchte, daß ich dir
für diesen gefährlichen Dienst ein Honorar berechnen
muß.«

Akadie vergaß sofort seine Sorgen. »Welcher Un-

sinn! Du bist nicht in Gefahr. Niemand weiß, wo das
Geld ist...«

»Irgend jemand könnte die Dreißig-Millionen-

Ozol-Frage richtig erraten. Vergiß nicht, wer uns
heute nachmittag zusammen gesehen hat.«

Akadie lachte etwas unsicher. »Deine Befürchtun-

gen sind übertrieben. Trotzdem kannst du ja, wenn
dich das beruhigt, mit deiner Pistole Wache halten, ob
jemand die Insel betritt. Das wäre ohnehin das Klüg-
ste. Wir werden beide eine ruhigere Nacht verbrin-
gen, wenn jemand das Geld bewacht.«

Glinnes brachte vor Entrüstung kein Wort heraus.

Bevor er noch etwas sagen konnte, verabschiedete
sich Akadie mit einer beschwichtigenden Geste, und
der Schirm erlosch.

Glinnes sprang auf und marschierte erregt im

Zimmer hin und her. Dann holte er seine Waffe, wie
Akadie vorgeschlagen hatte, und ging zum Bootssteg.
Die Wasserfläche ringsum war leer und ruhig. Nun
machte er noch einen Erkundungsgang um das Haus

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herum, wobei er einen weiten Bogen um das Dorn-
beergebüsch schlug. So weit er feststellen konnte, war
er auf der Insel Rabendary allein.

Die Köderkiste übte eine unwiderstehliche Anzie-

hung auf ihn aus. Er ging zum Steg zurück und hob
den Deckel. Tatsächlich – ein in Metallfolie gewik-
keltes Päckchen. Glinnes holte es heraus und nahm es
nach kurzer Überlegung mit ins Haus. Wie sahen
dreißig Millionen Ozols aus? Es machte ja wohl nichts
aus, wenn er seine Neugier befriedigte. Vorsichtig
schlug er die Umhüllung auf und fand – einen Stoß
alte Zeitschriften. Glinnes starrte sie erschrocken an.
Er wollte schon zum Telefon gehen, aber dann über-
legte er es sich anders. Wenn Akadie mit dem Sach-
verhalt vertraut war, würde er Glinnes nur mit sei-
nem unerträglichen Spott und Sarkasmus auf die
Nerven gehen. Wenn Akadie andererseits von dem
Austausch nichts wußte, dann würde ihn die Nach-
richt niederschmettern, und dafür war der nächste
Morgen noch früh genug.

Glinnes wickelte das Paket wieder zu und brachte

es in die Köderkiste zurück. Dann braute er sich eine
Tasse Tee und nahm sie mit auf die Veranda, wo er
sich niederließ und grübelnd über das Wasser starrte.
Die Nacht war über die Fens heraufgezogen, und der
Himmel war mit Sternen gespickt. Glinnes kam zu
dem Schluß, daß Akadie wohl selbst das Geld her-
ausgeholt und das Päckchen als Köder zurückgelas-
sen hatte. Ein solch gerissener Bluff war typisch für
ihn...

Ein Plätschern ließ Glinnes herumfahren. Ein Mer-

ling? Nein – ein Boot, das langsam und leise vom Il-
fisch-Gewässer herüberkam. Er huschte lautlos von

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der Veranda und zog sich in den tiefen Schatten unter
dem Sombarillabaum zurück.

Die Luft war vollkommen ruhig. Das Wasser glich

poliertem Mondstein. Glinnes spähte in das milchige
Licht der Sterne hinaus und konnte schließlich ein
einfaches, kleines Boot erkennen, in dem eine ir-
gendwie schmächtige Gestalt kauerte. Akadie, der
seine Ozols abholen wollte? Nein. Glinnes' Herz
machte einen seltsamen, heftigen Sprung. Er wollte
schon aus dem Schatten hervorkommen, aber dann
stockte er und zog sich wieder zurück.

Das Boot trieb die letzten paar Meter an den Steg.

Die schmale Gestalt sprang an Land und warf die
Leine um einen Pfosten. Lautlos wanderte sie durch
das Sternenlicht herauf und blieb vor der Veranda
stehen. »Glinnes! Glinnes!« Ihre Stimme klang ge-
heimnisvoll und gedämpft wie der Ruf eines Nacht-
vogels.

Glinnes beobachtete sie. Duissane stand unschlüs-

sig da, ließ ratlos die Schultern sinken. Nach einigen
Augenblicken kam sie auf die Veranda herauf und
spähte in das dunkle Haus. »Glinnes!«

Zögernd trat Glinnes vor. »Ich bin hier drüben.«
Duissane blickte ihm entgegen, während er über

die Veranda zu ihr ging. »Hast du mich erwartet?«

»Nein«, sagte Glinnes. »Eigentlich nicht.«
»Weißt du, weshalb ich gekommen bin?«
Glinnes schüttelte langsam den Kopf. »Nein, aber

ich habe Angst.«

Duissane lachte leise. »Warum solltest du Angst

haben?«

»Weil du mich einmal den Merlingen überlassen

hättest.«

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»Hast du Angst vor dem Tod?« Duissane kam noch

einen Schritt näher. »Was gibt es daran zu fürchten?
Ich habe keine Angst. Ein schwarzer Vogel mit sanf-
ten Schwingen trägt unseren Geist in das Tal von
Xian, wo wir in Frieden wandeln für alle Zeiten.«

»Wer von den Merlingen gefressen wird, von dem

bleibt kein Geist übrig. Und in diesem Zusammen-
hang würde mich interessieren, wo dein Vater und
deine Brüder sind? Sie kommen durch den Wald, ja?«

»Nein. Sie würden sich die Haare raufen und mit

den Zähnen knirschen, wüßten sie, daß ich hier bin.«

»Geh mit mir rund ums Haus«, sagte Glinnes.
Widerspruchslos kam sie mit ihm. Soweit Glinnes

seinen Sinnen trauen konnte, war die Insel bis auf sie
beide verlassen.

»Horch«, sagte Duissane. »Hörst du die Baumfrö-

sche...«

Glinnes nickte schroff. »Ich höre sie. Im Wald ist

keiner.«

»Dann glaubst du mir?«
»Du hast mir nur gesagt, daß dein Vater und deine

Brüder nicht hier sind. Das glaube ich dir, weil ich sie
nicht sehe oder höre.«

»Gehen wir doch ins Haus.«
Drinnen schaltete Glinnes als erstes das Licht ein.

Duissane ließ ihren Umhang von den Schultern glei-
ten. Sie trug nur ihre Sandalen und ein dünnes Kleid.
Sie hatte keine Waffen bei sich.

»Heute«, sagte sie, »bin ich mit Lord Gensifer Mo-

torboot gefahren, und dabei sah ich dich. Ich be-
schloß, daß ich heute nacht herkommen würde.«

»Warum?« fragte Glinnes, der zwar nicht ganz ah-

nungslos, aber auch nicht sicher war.

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Duissane legte die Hände auf seine Schultern. »Er-

innerst du dich an die kleine Insel – wie ich dich ver-
höhnte?«

»Nur zu gut.«
»Du warst zu empfindlich. Ich sehnte mich nach

deiner Härte, wollte, daß du über meine Worte lachst
und mich fest in die Arme nimmst. In dem Augen-
blick hätte ich dir alles gegeben.«

»Du hast dich aber sehr gut verstellt«, sagte Glin-

nes. »Ich erinnere mich, daß du mich lüstern, zügellos
und gemein nanntest. Ich war überzeugt, daß du
mich verabscheust.«

Duissane verzog betrübt das Gesicht. »Ich habe

dich nie verabscheut – nie. Aber du mußt wissen, daß
ich einsam und eigensinnig bin und nur langsam zur
Liebe finde. Schau mich an.« Sie hob das Gesicht.
»Findest du mich schön?«

»Aber gewiß. Ich habe nie etwas anderes gedacht.«
»Dann nimm mich in die Arme und küß mich.«
Glinnes wandte den Kopf und horchte. Das Kräch-

zen der Baumfrösche im Wald von Rabendary war
nicht einen Augenblick abgebrochen. Er blickte wie-
der in das Gesicht, das jetzt seinem so nahe war. Un-
geahnte, undefinierbare Gefühle waren darin zu le-
sen, die er nicht verstand und die ihn deshalb beun-
ruhigten. Noch nie hatte er in den Augen eines Mäd-
chens einen solchen Ausdruck gesehen; wie schwer
war es doch, jemanden zu lieben, wenn man ihm so
wenig trauen konnte! Und um wieviel schwerer war
es, in einer solchen Situation nicht zu lieben! Glinnes
beugte den Kopf und küßte Duissane. Es war, als
hätte er noch nie zuvor geküßt. Sie roch nach duften-
den Kräutern, nach Zitronenblüten und kaum merk-

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lich nach Holzrauch. Sein Puls raste, und er wußte,
daß es jetzt kein Zurück mehr für ihn gab. Wenn es
ihre Absicht gewesen war, ihn hörig zu machen, so
war ihr das vollkommen gelungen; er fühlte, daß er
ihrer nie überdrüssig werden könnte. Wie aber stand
es mit Duissane? Sie holte nun eine herzförmige Ta-
blette hervor, die sie um den Hals gehängt trug. Glin-
nes erkannte die Liebesdroge Cauch. Mit fliegenden
Fingern brach Duissane die Tablette entzwei und gab
Glinnes die eine Hälfte. »Noch niemals habe ich
Cauch angerührt«, sagte sie. »Ich habe noch nie je-
manden lieben wollen. Schenk uns einen Becher Wein
ein.«

Glinnes holte eine Flasche grünen Weins aus dem

Vorratsschrank und füllte ein Glas. Dann ging er auf
die Veranda und musterte die Wasseroberfläche.
Glatt und verträumt lag die Bucht da, nur an einer
Stelle kräuselte sich das Wasser, wo vielleicht ein
Merling oder ein Fisch kurz aufgetaucht war.

»Was dachtest du draußen zu sehen?« fragte Duis-

sane leise.

»Ein halbes Dutzend Drossets«, gestand Glinnes,

»mit Mord in den Augen und Messern zwischen den
Zähnen.«

»Glinnes«, sagte Duissane ernst, »ich schwöre dir,

daß außer dir und mir niemand weiß, daß ich hier
bin. Weißt du nicht, wie mein Volk die Jungfräulich-
keit einschätzt? Man würde mich genausowenig
schonen wie dich.«

Glinnes brachte das Weinglas herüber; Duissane

öffnete die Lippen.

»Tu, was zwischen Liebenden Brauch ist.«
Glinnes legte ihr die Cauchtablette auf die Zunge;

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sie spülte sie mit einem Schluck Wein hinunter. »Nun
du.«

Glinnes öffnete den Mund. Duissane legte ihre

Hälfte der Liebesdroge auf seine Zunge. Wahrschein-
lich war es Cauch, dachte Glinnes, aber sie konnte die
Tablette auch durch ein Schlafmittel oder ein Gift er-
setzt haben. Er schob die Tablette vor die Zähne,
nahm das Glas, trank einen Schluck Wein, und dabei
gelang es ihm, die Tablette unauffällig in das Glas
fallen zu lassen. Er stellte den Becher auf die Anrichte
hinüber und drehte sich nach Duissane um. Sie hatte
ihr Kleid abgestreift und stand nackt und anmutig
vor ihm, und Glinnes glaubte, noch nie etwas so Be-
zauberndes gesehen zu haben. Er war jetzt endlich
überzeugt, daß die männlichen Drossets nicht heim-
lich durch die Dunkelheit angeschlichen kamen, Ra-
che im Herzen. Er trat zu Duissane und küßte sie
wieder, und sie löste den Verschluß seines Hemdes.
Er streifte die Kleider ab und führte sie zur Couch,
um sie endlich in die Arme zu nehmen, aber Dussia-
ne richtete sich auf die Knie auf und drückte seinen
Kopf an ihre Brust. Er hörte, wie ihr Herz hämmerte,
und war sicher, daß ihre Gefühle echt waren. Sie flü-
sterte: »Ich war grausam zu dir, aber das ist jetzt alles
vorbei. Von nun an lebe ich nur, um dich zu erfreuen,
um dich glücklich zu machen. Du wirst es nie bereu-
en...«

»So willst du hier mit mir auf Rabendary leben?«

fragte Glinnes vorsichtig und etwas verwirrt.

»Mein Vater würde mich eher töten«, seufzte Duis-

sane. »Du kannst dir seinen Haß nicht vorstellen...
Wir müssen auf irgendeine ferne Welt fliehen, wo wir
wie Edelleute leben wollen. Vielleicht kaufen wir

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auch eine Raumjacht und kreuzen zwischen den
bunten Sternen umher.«

Glinnes lachte. »Das wäre ja schön, aber dazu

braucht man eine Menge Geld.«

»Das ist kein Problem; wir haben doch die dreißig

Millionen Ozols.«

Glinnes schüttelte düster den Kopf. »Ich bin über-

zeugt, daß Akadie dagegen etwas hätte.«

»Was kann Akadie schon tun? Mein Vater und

meine Brüder haben ihn heute abend überfallen. In
der Tasche war nur wertloses Zeug. Er hatte das Geld
heute nachmittag bei sich im Boot, und er ist nirgends
gewesen, nur hier. Er hat das Geld hiergelassen, nicht
wahr?«

Glinnes lächelte. »Akadie hat wirklich ein Päckchen

in meiner Köderkiste zurückgelassen.« Und dann
mochte er nicht mehr warten und zog sie zu sich auf
die Couch, denn seine Erregung war ins Unerträgli-
che gewachsen.

Als er schließlich erschöpft und befriedigt in ihren

Armen ruhte, blickte Duissane träumerisch zu ihm
auf. »Du wirst mich von Trullion fortbringen, weit
weg, ja? Ich möchte so gern in Reichtum leben.«

Glinnes küßte sie auf die Nase. »Scht!« flüsterte er.

»Sei glücklich mit dem, was wir jetzt und hier ha-
ben...«

Aber sie drängte: »Sag mir, sag mir doch, daß du

tun willst, worum ich dich bitte.«

»Das kann ich nicht«, antwortete Glinnes. »Ich

kann dir nur mich selbst und Rabendary geben.«

Duissanes Stimme bekam einen ängstlichen Klang.

»Aber was ist mit dem Paket in der Köderkiste?«

»Das ist auch nur wertloses Zeug. Akadie hat uns

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alle zum Narren gehalten. Oder es hat ihn irgend je-
mand hereingelegt, bevor er Welgen verließ.«

Duissane erstarrte. »Willst du damit sagen, daß das

Geld nicht hier ist?«

»Soviel ich weiß, nicht ein Ozol.«
Duissane stöhnte auf, und der Laut wuchs in ihrer

Kehle zu einem Klageschrei an, einer Klage um ihre
verlorene Unberührtheit. Sie riß sich von ihm los und
lief durch das dunkle Zimmer hinaus zum Bootssteg.
Sie klappte die Köderkiste auf, holte hastig das foli-
enumwickelte Päckchen heraus und riß es auf. Beim
Anblick der alten Zeitungen schrie sie verzweifelt
auf. Glinnes beobachtete sie von der Tür her, bedau-
ernd, ernst und traurig, aber überhaupt nicht er-
staunt. Duissane hatte für ihn wirklich Liebe emp-
funden, so weit es ihr möglich war. Sie kümmerte
sich nicht um ihre Nacktheit, rannte blindlings den
Steg entlang und sprang in ihr Boot – verlor das
Gleichgewicht und stürzte mit einem Aufschrei ins
Wasser. Es platschte, und ihr Schrei ging in ein Gur-
geln über.

Glinnes rannte zum Steg hinunter und sprang in

ihr Boot. Ihre blasse Gestalt trieb zwei Meter außer-
halb seiner Reichweite. Im Sternenlicht sah er ihr ent-
setztes Gesicht – sie konnte nicht schwimmen. Plötz-
lich tauchte ein paar Meter hinter ihr der ölig-
schwarze Schädel eines Merlings auf, mit großen,
silbrig glimmenden Glotzaugen. Glinnes stieß einen
heiseren Schrei der Verzweiflung aus und griff wie-
der nach Duissane. Der Merling schob sich näher und
packte sie am Fuß. Glinnes sprang auf seinen Kopf los
und vermochte das Wesen mit der Faust zwischen die
Augen zu treffen. Der Schlag riß ihm die Knöchel auf

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und verblüffte den Merling zumindest. Duissane
packte Glinnes mit dem verzweifelten Griff des Er-
trinkenden und schlang ihm die Beine um den Hals.
Glinnes schluckte ziemlich Wasser, bevor er das
Mädchen von sich lösen und zum Boot stoßen konn-
te. Die Saugfinger eines Merlings schlossen sich um
sein Fußgelenk – das war der Alptraum, der jeden
Menschen auf Trullion verfolgte: lebend von einem
hungrigen Merling unter Wasser gezogen zu werden.
Glinnes stieß und strampelte wie ein Wahnsinniger;
seine Ferse traf den Merling am Maul. Mit einer letz-
ten, verzweifelten Windung konnte er sich endlich
losreißen. Duissane klammerte sich wimmernd an die
Pfähle des Stegs. Glinnes schwamm zur Leiter, zog
sich ins Boot und zerrte Duissane über das Dollbord
herein. Erschöpft und nach Luft schnappend wie ge-
strandete Fische lagen sie nebeneinander.

Etwas polterte gegen den Rumpf des Bootes – ein

enttäuschter Merling. Wenn das Wesen wirklich
hungrig war, konnte es versuchen, das Boot umzu-
kippen. Glinnes zog sich wankend auf den Steg, hob
Duissane herauf und half ihr über den sternener-
leuchteten Pfad zum Haus zurück.

Benommen und reglos stand sie mitten im Zimmer,

während Glinnes zwei Becher mit Olanche-Rum voll-
schenkte. Duissane trank apathisch, in trübsinnige
Gedanken versunken. Glinnes rieb sie mit einem
Handtuch trocken, dann sich selber. Er führte Duis-
sane zur Couch, und nach einer Weile begann sie zu
weinen. Er streichelte sie und küßte sie auf die Wan-
gen und auf die Stirn. Langsam begann sie sich zu
erwärmen, zu entspannen. Die Wirkung der Cauch-
Droge setzte ein; der Gedanke an dunkles, stilles

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Wasser erregte sie, und Zärtlichkeit regte sich erneut,
so daß sie nochmals zueinander fanden.

Früh am nächsten Morgen erhob sich Duissane

vom Lager und legte wortlos Kleid und Sandalen an.
Glinnes sah ihr zu, seltsam gleichmütig und unbetei-
ligt, als sähe er sie aus weiter Ferne. Als sie sich den
Umhang um die Schultern legte, setzte er sich auf.
»Wohin gehst du?«

Duissane warf ihm nur einen sehr flüchtigen Sei-

tenblick zu; ihr Gesichtsausdruck zwang ihn zum
Schweigen. Er stand auf und schlang sich einen Paray
um die Hüften. Duissane war bereits aus dem Haus
gegangen. Glinnes folgte ihr den Pfad hinunter und
auf den Steg hinaus und überlegte krampfhaft, was er
sagen konnte, ohne daß es unaufrichtig oder verdros-
sen klang.

Duissane stieg in ihr Boot. Sie warf ihm einen aus-

druckslosen Blick zu und legte ab. Glinnes schaute ihr
noch eine Weile nach, während in seinem Kopf die
unsinnigsten Gedanken durcheinanderwirbelten.
Warum benahm sie sich so? Sie war zu ihm gekom-
men; er hatte nichts von ihr gefordert, nichts verspro-
chen... Schließlich begriff er, wo sein Irrtum lag. Er
mußte das Geschehene vom Standpunkt der Trevanyi
sehen, sagte er sich. Er hatte ihren übermäßigen Tre-
vanyi-Stolz schwer verletzt. Er hatte von ihr etwas
von ungeheurem Wert angenommen und hatte ihr
nichts dafür gegeben, schon gar nicht das, worauf sie
gehofft hatte. Er war geizig, gefühllos und seicht; er
hatte sie zum Narren gemacht.

Es gab dabei noch andere, dunklere Gesichtspunk-

te, die von der Weltanschauung der Trevanyi her-
rührten. Er war nicht nur Glinnes Hulden, nicht ein-

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fach ein lüsterner Trill; er verkörperte das dunkle Ge-
schick, das antagonistische Wesen des Kosmos, gegen
das sich die Trevanyi nach ihrem Glauben ständig
bewähren mußten. Die Trills sahen das Leben leicht-
fertiger und heiterer – was heute nicht geschah,
konnte morgen eintreffen, und inzwischen brauchte
man sich darüber nicht den Kopf zu zerbrechen. Das
Leben mochte mehr oder weniger angenehm sein – es
war jedenfalls schön zu leben. Für den Trevanyi hatte
jedes Geschehnis seine schicksalshafte Bedeutung, die
in allen Einzelheiten erforscht werden mußte, um die
zukünftigen Folgen abschätzen zu können. Das Uni-
versum bestand aus einer Kette von Ereignissen. Je-
der formte sich sein Leben selbst, Stück um Stück. Je-
der Vorteil oder Glücksfall war ein persönlicher Sieg,
über den er sich freute; jede Widrigkeit, jedes Mißlin-
gen – wie geringfügig auch immer – war eine Nie-
derlage und eine Beleidigung für sein Selbstbewußt-
sein. Duissane hatte somit einen schweren psychi-
schen Schlag erlitten, und er, Glinnes, war die Ursa-
che, obwohl er vom Standpunkt des Trill nur ge-
nommen hatte, was ihm freiwillig angeboten wurde.

Schweren Herzens wandte sich Glinnes um, um

zum Haus zurückzugehen. Als sein Blick auf die Kö-
derkiste fiel, kam ihm eine verrückte Idee. Er hob den
Deckel und schaute hinein. Da lag das folienver-
packte Bündel Altpapier. Er holte es heraus und
kämmte mit den Fingern durch die dicke Schicht Sä-
gespäne und Spreu am Boden; dabei stieß er auf ei-
nen Gegenstand, ein in Plastik gewickeltes Päckchen.
Glinnes erspähte das Rosa und Schwarz der Bankno-
ten von Alastor. Akadie hatte sich fürwahr einen
schlauen Trick ausgedacht, um sein Geld sicher zu

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verstecken. Glinnes überlegte einen Augenblick,
nahm dann das folienverpackte Bündel und warf die
Zeitschriften weg. Statt dessen wickelte er das Geld in
die Metallfolie und legte das Päckchen wieder in die
Köderkiste. Er hatte kaum alle Spuren des Austau-
sches beseitigt, als er ein Boot näherkommen hörte.

Akadies weißes Boot war es, das vom Farwan-

Gewässer in die Bucht einbog. Zwei Personen waren
an Bord: Akadie und Glay. Das Boot legte an; Glinnes
fing die Leine auf und warf die Schlinge über den
Poller.

Akadie und Glay sprangen auf den Steg heraus.

»Guten Morgen«, sagte Akadie mit unterdrückter
Fröhlichkeit. Er musterte Glinnes scharf. »Du siehst
blaß aus.«

»Ich habe kaum geschlafen«, sagte Glinnes, »aus

Sorge um dein Geld.«

»Es ist in Sicherheit, hoffe ich?« erkundigte sich

Akadie munter.

»Duissane Drosset hat es sich angesehen«, sagte

Glinnes boshaft. »Aus irgendeinem Grund hat sie es
liegengelassen.«

»Duissane. Woher wußte sie, daß es hier war?«
»Sie fragte, wo es sei; ich sagte ihr, daß du ein

Päckchen in der Köderkiste zurückgelassen hättest.
Sie behauptet, daß es nur Altpapier enthält.«

Akadie lachte. »Ein kleiner Scherz von mir. Ich ha-

be das Geld recht schlau versteckt, glaube ich.« Aka-
die ging zur Köderkiste, warf das Folienpäckchen
gleichgültig auf den Steg und griff in die feuchte
Spreu darunter. Sein Gesicht erstarrte. »Das Geld ist
weg!«

»Man stelle sich das vor!« meinte Glinnes. »Ich

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kann nicht glauben, daß Duissane Drosset eine Die-
bin ist.«

Akadie hörte ihm kaum zu. In seiner Stimme zit-

terte die nackte Angst, als er entsetzt rief: »Sag doch,
wo ist das Geld? Bandolio wird mir das nicht verzei-
hen; er wird Mörder ausschicken...! Wo... wo ist es
nur? Hat Duissane das Geld genommen?«

Glinnes brachte es nicht fertig, Akadie noch länger

zu quälen. Er stieß das in Folie gewickelte Päckchen
mit den Zehen an. »Was ist denn das?« Akadie
stürzte sich auf das Paket und riß es auf. Dann blickte
er teils dankbar, teils empört zu Glinnes hoch. »Wie
gemein, einen Mann auf die Folter zu spannen, der
schon soviel Sorgen hat wie ich!«

Glinnes grinste. »Was wirst du jetzt mit dem Geld

machen?«

»Ich muß weiter auf Instruktionen warten.«
Glinnes musterte Glay. »Und was ist mit dir? Im-

mer noch ein Fanscher, wie ich sehe.«

»Natürlich.«
»Wie steht es mit eurem Stützpunkt, eurem Institut,

oder wie ihr es nennt?«

»Wir haben nicht weit von hier einen unbesiedelten

Landstrich beansprucht, am Ende des Karbasch-
Tals.«

»An den Quellen des Karbasch? Liegt dort nicht

das Moor von Xian?«

»Das Xian-Moor ist ganz in der Nähe.«
»Eine seltsame Wahl«, kommentierte Glinnes.
»Wieso seltsam?« fragte Glay. »Das Land ist frei

und unbesiedelt.«

»Wenn man vom Todesvogel der Trevanyi und

ungezählten Trevanyi-Seelen absieht.«

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»Die werden wir nicht stören, und ich bezweifle,

daß sie uns stören. Wir werden das Land gewisser-
maßen gemeinsam benutzen.«

»Was ist mit meinen zwölftausend Ozols. Wenn ihr

so billig zu Land kommt?«

»Hör auf mit den zwölftausend Ozols. Darüber ha-

ben wir schon genug geredet.«

Akadie war bereits ins Boot gestiegen. »Komm,

mein Freund, wir wollen zusehen, daß wir Rorquin
erreichen, bevor sich wieder Diebe und Räuber auf
den Gewässern herumtreiben.«

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KAPITEL 17

Glinnes sah dem weißen Boot nach, bis es hinter einer
Biegung verschwand. Prüfend musterte er den Him-
mel. Über den Bergen waren schwere Wolken aufge-
zogen und rückten bedrohlich der Sonne näher. Das
Wasser der Ambal-Bucht wirkte ölig-träge. Die Insel
Ambal sah aus wie eine Kohlezeichnung auf grau-
blauem Hintergrund. Glinnes ging zur Veranda hin-
auf und ließ sich in einen der alten morschen Flecht-
stühle sinken. Die Ereignisse der letzten Nacht kamen
ihm jetzt wie ein Traum vor, der sich in Dunst auflö-
ste. Glinnes dachte ohne Vergnügen daran. Duissanes
Beweggründe hatten wohl ein gewisses Maß an Be-
rechnung an sich gehabt, aber ihre Gefühle waren
echt gewesen. Er hätte sie zurückweisen und zornig,
aber nicht beschämt heimschicken können. Wie an-
ders doch alles aussah, jetzt im nüchternen Tages-
licht!

Er sprang auf, ärgerlich über die unangenehme

Richtung, die alle seine Gedanken einschlugen. Er
würde etwas tun. Es gab mehr als genug Arbeit. Er
konnte Moschusäpfel pflücken. Er konnte in den
Wald gehen und Pfefferwurz zum Trocknen sam-
meln. Er konnte den Küchengarten umgraben. Er
konnte den Schuppen reparieren, der am Zusam-
menbrechen war. Die Aussicht auf soviel Mühsal
machte ihn schläfrig; er verfügte sich hinein zu seiner
Couch und legte sich zu einem Schläfchen hin.

Um Mittag erwachte er vom leisen Trommeln des

Regens auf dem Dach. Glinnes deckte sich mit einem
Mantel zu und starrte grübelnd in die Luft. Irgendwo

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im Hintergrund seines Bewußtseins lauerte etwas
Dringendes, Wichtiges, um das er sich kümmern
mußte. Hussade-Training? Lute Casagave? Akadie?
Glay? Duissane? Was war mit Duissane? Sie war ge-
kommen, sie war gegangen, und sie würde keine gel-
be Blume mehr im Haar tragen. Vielleicht tat sie es
doch, um Vang Drosset das Geschehene zu verber-
gen. Andererseits mochte sie auch seinen Zorn riskie-
ren und ihm alles beichten. Wahrscheinlicher war al-
lerdings, daß sie ihm eine etwas abgeänderte Version
ihres nächtlichen Abenteuers auftischte. Diese Mög-
lichkeit, die sein Unterbewußtsein längst erkannt
hatte, begann Glinnes nun wirklich zu beunruhigen.
Er stand auf und ging zur Tür. Silbriger Nieselregen
zog sich wie ein Schleier über einen Teil der Ambal-
Bucht, aber so weit Glinnes sehen konnte, waren kei-
ne Boote unterwegs. Die Trevanyi als echte Nomaden
sahen Regen als ein schlechtes Vorzeichen an; nicht
einmal um Rache zu üben würde ein Trevanyi bei
Regen aufbrechen.

Glinnes stöberte in der Speisekammer herum und

fand einen Teller mit kaltem gekochten Schlammegel;
ohne viel Appetit aß er die Portion auf. Dann hörte
der Regen plötzlich auf; Sonnenschein überzog die
Ambal-Bucht. Glinnes ging auf die Veranda hinaus.
Die ganze Natur war wie frischgewaschen, die Far-
ben leuchteten wieder, das Wasser glitzerte, der
Himmel klarte auf. Glinnes' Stimmung besserte sich
um Größenordnungen.

Es gab eine Menge Arbeit zu erledigen. Er ließ sich

in einem der Flechtstühle nieder, um zu überlegen,
was er als erstes tun sollte. Da fuhr ein Boot aus dem
Ilfisch-Gewässer in die Ambal-Bucht ein. Glinnes

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sprang sofort mißtrauisch auf. Es war jedoch nur ei-
nes von Harrads Mietbooten. Der Insasse, ein junger
Mann in halbamtlicher Uniform, hatte sich anschei-
nend verirrt. Er steuerte zum Bootssteg von Rabenda-
ry herüber und stellte sich auf die Sitzbank.

»Hallo da drüben«, rief er Glinnes an. »Ich weiß

nicht mehr weiter. Ich will in die Clinkhammer-
Bucht, bei der Insel Sarpassante!«

»Sie sind zu weit im Süden. Wen suchen Sie denn?«
Der junge Mann zog ein Papier zu Rate. »Einen

gewissen Janno Akadie.«

»Da fahren Sie das Farwan-Gewässer rauf bis zum

Saur, biegen dann in die zweite Wasserstraße auf der
linken Seite ein und fahren geradeaus weiter bis in
die Clinkhammer-Bucht. Akadies Haus steht auf ei-
ner nicht zu übersehenden Klippe.«

»Wunderbar; das ist leicht zu merken. Sind Sie

nicht Glinnes Hulden, der Tanchinaro?«

»Stimmt, ich bin Glinnes Hulden.«
»Ich hab' Sie gegen die Naturgewalten spielen se-

hen. Es war kein besonders aufregendes Match, so-
weit ich mich erinnere.«

»Wir hatten es mit einer jungen und etwas leicht-

sinnigen Mannschaft zu tun, aber an und für sich sind
sie recht gut.«

»Ja, das ist auch meine Meinung. Also dann – alles

Gute für die Tanchinaros und vielen Dank für Ihre
Hilfe.«

Das Boot hielt auf das Farwan-Gewässer zu und

kam bald hinter den hohen, rotsilbernen Pomandern
außer Sicht. Glinnes mußte wieder an die Tanchi-
naros denken. Sie hatten seit dem Spiel gegen die
Kanchedonen nicht mehr trainiert; sie hatten kein

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Geld; sie hatten keine Sheirl... Glinnes' Gedanken
schweiften zu Duissane ab, die nie wieder Sheirl sein
konnte, dann zu Vang Drosset, der vielleicht oder
vielleicht auch nicht über die Ereignisse der letzten
Nacht Bescheid wußte. Glinnes schaute noch einmal
über die Ambal-Bucht. Keine Boote waren zu sehen.
Er ging hinein zum Telefon und rief Akadie an.

Der Bildschirm leuchtete auf: Akadies Miene war

ungewohnt mürrisch, und in seiner Stimme schwang
Ungeduld. »Gong, gong, gong, das ist alles, was ich
höre. Das Telefon ist schon eine zweifelhafte Ein-
richtung. Ich erwarte einen wichtigen Besuch und
möchte nicht dauernd gestört werden.«

»Ach wirklich?« sagte Glinnes. »Handelt es sich

vielleicht um einen jungen Mann in einer hellblauen
Uniform mit einer Botenkappe?«

»Natürlich nicht!« erklärte Akadie. Plötzlich hielt er

inne. »Weshalb fragst du das?«

»Weil vor ein paar Minuten ein solcher Mann mich

nach dem Weg zu deinem Haus gefragt hat.«

»Ich werde nach ihm Ausschau halten. Ist das al-

les?«

»Ich dachte, ich könnte vielleicht etwas später vor-

beikommen und mir zwanzigtausend Ozols ausbor-
gen.«

»Bah – woher sollte ich zwanzigtausend Ozols

nehmen?«

»Ich wüßte schon eine Quelle.«
Akadie lachte säuerlich. »Du mußt schon jemanden

anpumpen, der mehr auf Selbstmord erpicht ist als
ich.« Der Bildschirm erlosch.

Glinnes überlegte ein Weilchen, aber es fiel ihm

kein Grund ein, der weiteres Nichtstun entschuldigt

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hätte. Er trug einen Stapel Obststeigen hinaus in den
Garten und begann Äpfel zu pflücken. Er arbeitete
mit dem verbissenen Eifer eines Trill, der sich wohl
oder übel mit einer Sache beschäftigt, die er als nicht
sehr notwendiges Übel ansieht. Zweimal vernahm er
den Gong seines Telefons, kümmerte sich aber nicht
darum. So erfuhr er nichts von dem folgenschweren
Ereignis, das früher am Tag stattgefunden hatte. Er
pflückte ein Dutzend Kisten Äpfel voll, lud sie auf ei-
nen Schubkarren und brachte sie in den Schuppen;
dann kehrte er in den Obstgarten zurück, um weiter-
zupflücken und die Arbeit zu Ende zu bringen.

Der Nachmittag verstrich; das trübselige Licht der

Avness ging in die metallgrauen, altrosa und lila
Farbtöne des Abends über. Verbissen arbeitete Glin-
nes weiter. Ein kalter Wind kam von den Bergen her-
unter und drang durch sein Hemd. War wieder Re-
gen im Anzug? Nein – die Sterne waren bereits zu
sehen. Heute nacht würde es nicht mehr regnen. Er
lud die letzten Äpfel auf den Schubkarren und fuhr
sie zum Vorratsschuppen.

Plötzlich blieb Glinnes stehen. Die Tür des Schup-

pens stand halb offen. Nur halb. Sonderbar, wo er sie
doch mit Absicht ganz offen gelassen hatte. Glinnes
setzte den Schubkarren ab und kehrte in den Obst-
garten zurück, um die Sache zu überdenken. Er war
eigentlich nicht überrascht; er hatte sogar die unge-
wohnte Vorsichtsmaßnahme ergriffen, seine Hand-
waffe mitzunehmen. Er musterte den Schuppen aus
dem Augenwinkel. Einer würde drinnen sein, einer
dahinter, und einer würde hinter der Hausecke lau-
ern, nahm er an. Im Obstgarten war er nicht in
Reichweite eines Messerwurfs gewesen, und außer-

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dem würden sie ihn wohl kaum einfach umbringen
wollen. Erst würde es Beschimpfungen geben, dann
Schneiden und Brennen und Verdrehen, um sicher-
zugehen, daß er für seine Missetat auch ausreichend
büßte. Glinnes fuhr sich mit der Zunge über die
plötzlich trockenen Lippen. Im Magen hatte er ein
komisch hohles Gefühl... Was sollte er tun? Er konnte
nicht länger im dämmrigen Garten stehen und seine
Apfelernte bewundern.

Ohne Eile ging er seitlich ums Haus herum; dann

packte er einen Fechtstock, rannte zurück und war-
tete an der Ecke. Er hörte jemand laufen, ein hastiges
Gemurmel. Eine dunkle Gestalt fegte um die Ecke.
Glinnes schwang den Stock; der Mann warf den Arm
hoch, so daß der Prügel ihn nur am Handgelenk traf;
er stieß ein schmerzliches Geheul aus. Glinnes holte
wieder mit dem Stock aus; der Mann fing den Schlag
auf und klemmte den Stock unter dem Arm ein.
Glinnes zerrte daran; die beiden wankten hin und
her. Plötzlich stürzte sich noch einer auf ihn, ein
schwerer, nach Schweiß stinkender Mann, der zornig
aufbrüllte – Vang Drosset. Glinnes sprang zurück
und drückte ab. Er verfehlte Vang Drosset, traf dafür
aber Harving, den ersten Angreifer, der stöhnend da-
vonwankte. Eine dritte Gestalt sprang aus dem Dun-
kel und packte Glinnes; die zwei Männer rangen mit-
einander, während Vang Drosset um sie herumtanzte
und immer noch sein heiseres Wutgebrüll ausstieß.
Glinnes feuerte wieder seine Strahlerpistole ab, aber
da Zielen unmöglich war, verbrannte er nur den Bo-
den zu Vang Drossets Füßen. Vang Drosset machte
einen plumpen Luftsprung. Glinnes trat und hieb um
sich und vermochte sich von Ashmor loszureißen,

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aber zuvor noch schlug Vang Drosset ihm über den
Schädel, daß alles vor seinen Augen verschwamm.
Dafür gelang es Glinnes, Ashmor in die Leisten zu
treten, womit der für einige Minuten außer Gefecht
gesetzt war. Harving, der schlaff auf dem Boden ge-
legen war, bäumte sich plötzlich in einer heftigen
Bewegung auf; Metall blitzte auf und grub sich in
Glinnes' Schulter. Glinnes drückte wieder ab; Har-
ving fiel in sich zusammen und rührte sich nicht
mehr.

»Merlingfutter«, keuchte Glinnes. »Wer noch? Du,

Vang Drosset? Du? Beweg dich nicht, nicht einmal
den kleinen Finger, sonst brenne ich dir ein Loch in
die Eingeweide.«

Vang Drosset erstarrte; Ashmor lehnte kraftlos an

der Hauswand. »Geht vor mir her«, befahl Glinnes.
»Hinaus auf den Bootssteg.« Als Vang Drosset zau-
derte, hob Glinnes den Knüttel auf und hieb ihm über
den Kopf. »Ich werde es euch zeigen, ihr elenden
Trevanyi-Mörder. Mich umbringen, was? Es wird
euch noch leid tun, daß ihr hergekommen seid, das
versichere ich euch...! Los! Raus auf den Steg. Na los,
lauft weg, wenn ihr es wagt. Vielleicht treffe ich euch
im Dunklen nicht.« Glinnes schwang den Stock. »Be-
wegt euch!«

Die beiden Drossets wankten auf den Steg hinaus,

fassungslos über das Mißlingen ihres scheinbar so
einfachen Vorhabens. Glinnes verprügelte sie, bis sie
sich auf die Bretter warfen, und dann noch ein Weil-
chen, bis ihnen jede Lust zum Widerstand vergangen
war; dann verschnürte er sie gut mit ein paar Stücken
Angelleine.

»So, jetzt habe ich euch, ihr miserablen Schurken.

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Also, wer von euch hat meinen Bruder Shira getötet?
– Ach, ihr wollt nicht reden? Nun, ich mag euch nicht
mehr prügeln, aber ich erinnere mich sehr gut an eine
frühere Gelegenheit, wo ihr mich für die Merlinge
liegengelassen habt. Ich werde euch jetzt etwas erklä-
ren – Vang, hörst du mich? Rede, Vang Drosset, ant-
worte mir.«

»Ich höre dich sehr gut.«
»Dann paß auf. Hast du meinen Bruder Shira ge-

tötet?«

»Und wenn ich es tat? Es war mein Recht. Er gab

meinem kleinen Mädchen Cauch; es war mein Recht,
ihn zu töten. Und mein Recht, dich zu töten.«

»Also Shira gab deiner Tochter Cauch.«
»Das hat er, dieser warmose

22

Trill-Bock.«

»Was mache ich nun mit dir?«
Vang Drosset schwieg einen Augenblick lang ver-

bissen, dann platzte er heraus: »Du kannst mich um-
bringen oder in Stücke schneiden, aber das ist auch
alles, was du davon hast.«

»Ich schlage dir einen Handel vor«, sagte Glinnes.

»Schreib mir ein Geständnis, daß du Shira umge-
bracht hast...«

»Ich kann keine Buchstaben machen. Ich werde dir

nichts schreiben.«

»Dann mußt du vor Zeugen erklären, daß du Shira

getötet hast...«

»Damit ich auf dem Prutanschyr ende? O nein!«
»Du kannst irgendwelche Entschuldigungen an-

führen; das ist jetzt ohnehin egal. Sag, daß er dich mit
einer Keule niedergeschlagen hat oder deine Tochter

22

Siehe Glossar

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belästigt hat oder deine Frau eine warmose alte Krähe
genannt hat – mir ist es gleich. Bezeuge es, dann lasse
ich euch gehen. Du mußt mir nur bei der Seele deines
Vaters schwören, daß du mich in Frieden läßt. Sonst
rolle ich dich und diesen mordlustigen Ashmor in
den Schlamm und warte, bis euch die Merlinge ho-
len.«

Vang Drosset ächzte und stemmte sich gegen seine

Fesseln. Sein Sohn tobte los: »Du kannst schwören,
was du willst; mich betrifft es nicht! Ich werde ihn
töten, und wenn ich bis in alle Ewigkeit darauf war-
te!«

»Schweig«, krächzte Vang Drosset müde. »Wir sind

geschlagen; wir müssen um unser Leben betteln.« Zu
Glinnes sagte er: »Noch einmal – was sind deine Be-
dingungen?«

Glinnes wiederholte sie.
»Und du willst nicht lieber Anklage erheben? Ich

sage dir, der fette, schwitzende Bock hat ihr Cauch
gegeben und hätte sie dort in der Wiese genom-
men...«

»Ich werde keine Anklage erheben.«
»Wie wäre es mit Verschneiden oder Naseabhak-

ken?« höhnte der Sohn. »Willst du uns unsere Glieder
lassen?«

»Ich brauche eure dreckigen Glieder nicht«, sagte

Glinnes. »Behaltet sie.«

Vang Drosset stöhnte plötzlich zornig auf. »Und

was ist mit meiner Tochter, die du entehrt hast, der
du Cauch gegeben hast, deren Wert du vermindert
hast? Wirst du mir eine Entschädigung zahlen? Statt
dessen tötest du meinen Sohn und bedrohst und er-
preßt mich.«

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»Deine Tochter ist aus freiem Willen hierher ge-

kommen. Ich habe nichts von ihr verlangt. Sie brachte
Cauch mit. Sie hat mich verführt.«

Vang Drosset ächzte vor Wut. Sein Sohn brüllte

wüste Beschimpfungen. Schließlich resignierte Vang
Drosset und befahl seinem Sohn zu schweigen. Zu
Glinnes sagte er: »Ich bin mit dem Handel einver-
standen.«

Glinnes befreite den Sohn. »Heb deinen Kadaver

hinweg und laß dich nie wieder blicken.«

»Geh!« schrie Vang Drosset.
Glinnes zog sein eigenes Boot dicht an den Steg

heran und wälzte Vang Drosset hinein. Dann ging er
ins Haus und rief Akadie an, bekam aber keine Ver-
bindung. Akadie hatte offenbar sein Telefon abge-
stellt. Glinnes kehrte zum Boot zurück und steuerte
mit Höchstgeschwindigkeit in das Farwan-Gewässer.
Ein breiter Gischtstreifen schäumte auf beiden Seiten
auf.

»Wohin bringst du mich?« ächzte Vang Drosset.
»Zu Akadie dem Mentor.«
Vang Drosset stöhnte wieder, sagte aber nichts

mehr.

Schließlich schwang das Boot herum zu der Anle-

gestelle unterhalb von Akadies verrücktem Haus.
Glinnes schnitt die Fesseln an Vang Drossets Beinen
durch und hievte ihn auf den Steg. Dann trieb er sei-
nen schwankenden, stolpernden Gefangenen den
Weg hinauf. Plötzlich flammten an den Türen
Scheinwerfer auf und blendeten Glinnes. Akadies
Stimme drang schroff aus einem Lautsprecher. »Wer
ist da? Nennen Sie gefälligst Ihren Namen.«

»Glinnes Hulden und Vang Drosset. Wir kommen

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den Weg herauf!« brüllte Glinnes.

»Ein ungewöhnliches Besucherpaar«, höhnte die

Stimme. »Ich hatte, glaube ich, erwähnt, daß ich die-
sen Abend beschäftigt bin?«

»Ich brauche dich in deiner amtlichen Eigenschaft!«
»Dann kommt herauf.«
Als sie das Schloß erreichten, stand das Tor bereits

offen, und Licht fiel heraus. Glinnes stieß Vang Dros-
set vorwärts, in die Vorhalle hinein.

Akadie erschien. »Worum geht es?«
»Vang Drosset hat sich entschlossen, das Geheim-

nis um Shiras Tod aufzuklären«, sagte Glinnes.

»Nun gut«, sagte Akadie. »Ich habe einen Gast und

hoffe, daß ihr euch kurz fassen werdet.«

»Die Angelegenheit ist wichtig«, erklärte Glinnes

schroff. »Sie muß korrekt erledigt werden.«

Akadie wies statt einer Antwort nur in seine Bi-

bliothek. Glinnes schnitt Vang Drosset die Armfes-
seln los und stieß ihn vorwärts.

In der Bibliothek war es dämmrig und ruhig. Ein

rötliches Feuer aus Treibholz brannte im Kamin. Ein
Mann erhob sich aus einem der Polstersessel davor
und nickte höflich. Glinnes, der seine ganze Auf-
merksamkeit auf Vang Drosset konzentrierte, hatte
nur einen kurzen Blick für ihn übrig; er sah einen
mittelgroßen Mann, der unauffällig gekleidet war,
und dessen Gesicht keinerlei besondere oder bemer-
kenswerte Züge aufwies.

Akadie, dem vielleicht die Ereignisse des vorigen

Tages wieder in den Sinn kamen, erinnerte sich seiner
gewohnten guten Umgangsformen. Er wandte sich an
seinen Gast. »Darf ich Glinnes Hulden, meinen
Nachbarn, vorstellen, und außerdem« – Akadie wies

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mit einer verbindlichen Geste auf Glinnes' Begleiter –
»Vang Drosset, einen Angehörigen des wanderlusti-
gen Volkes der Trevanyi. Glinnes und Vang Drosset,
ich möchte euch mit einem Mann von umfassender
Bildung und Intelligenz bekanntmachen, der sich für
unseren Winkel des Sternhaufens interessiert. Sein
Name ist Ryl Shermatz. Angesichts seines Jademe-
daillons würde ich vermuten, daß seine Heimatwelt
Balmath heißt. Habe ich recht?«

»In gewisser Weise«, sagte Shermatz. »Es stimmt,

daß mich einiges mit Balmath verbindet. Im übrigen
aber schmeicheln Sie mir. Ich bin ein umherstreifen-
der Journalist, mehr nicht. Bitte kümmern Sie sich
nicht um mich und lassen Sie sich nur nicht von Ihren
Geschäften

abhalten.

Wenn

ein vertrauliches Gespräch

gewünscht wird, will ich mich gerne entfernen.«

»Das ist keineswegs nötig«, wehrte Glinnes ab.

»Bitte setzen Sie sich doch wieder.« Er wandte sich an
Akadie. »Vang Drosset will vor dir, einem amtlich
zugelassenen Zeugen, eine eidesstattliche Erklärung
abgeben, die letzten Endes die Besitzrechte um die
Inseln Rabendary und Ambal klären wird.« Er nickte
Vang Drosset zu. »Sprich jetzt.«

Vang Drosset fuhr sich mit der Zunge über die

Lippen. »Shira Hulden, ein lüsterner Bock, hat meine
Tochter belästigt. Er drängte ihr Cauch auf und ver-
suchte, ihr Gewalt anzutun. Ich kam dazu, und als ich
mein Eigentum schützen wollte, tötete ich ihn dabei
ungewollt. Er ist tot; das wolltest du doch hören.«
Den letzten Satz knurrte er Glinnes zu.

»Stellt das einen gültigen Beweis für Shiras Tod

dar?« fragte Glinnes Akadie.

Akadie wandte sich an Vang Drosset.

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»Schwören Sie bei der Seele Ihres Vaters, daß Sie

die Wahrheit gesprochen haben?«

»Ja«, brummte Vang Drosset. »Vergeßt nicht, es

war Notwehr.«

»Sehr gut«, sagte Akadie. »Das Geständnis wurde

freiwillig vor einem Mentor und öffentlichen Ratge-
ber sowie weiteren Zeugen abgelegt. Es hat gesetzli-
che Gültigkeit.«

»Wenn das so ist, dann ersuche ich dich noch, Lute

Casagave anzurufen und ihn von meinem Grund und
Boden zu weisen.«

Akadie rieb sich das Kinn. »Hast du die Absicht,

ihm den Kaufpreis zurückzuerstatten?«

»Den soll er sich von dem Mann zurückholen, dem

er ihn bezahlt hat – Glay Hulden.«

Akadie zuckte die Achseln. »Ich muß das natürlich

als einen offiziellen Auftrag ansehen und dement-
sprechend ein Honorar verlangen.«

»Ich habe nichts anderes erwartet.«
Akadie begab sich an sein Telefon. Vang Drosset

sagte mürrisch: »Seid ihr fertig? In meinem Lager
wird heute nacht große Trauer herrschen, und daran
sind nur die Huldens schuld.«

»Die Trauer habt ihr eurer eigenen Mordlust zuzu-

schreiben«, entgegnete Glinnes. »Muß ich dich an
Einzelheiten erinnern? Vergiß nicht, daß du mich
halbtot im Schlamm liegengelassen hast.«

Vang Drosset marschierte finster zur Tür, wo er

sich noch einmal umwandte und heftig rief: »Was dir
auch geschehen ist, es ist nur der gerechte Ausgleich
für all die Schande, die du über uns gebracht hast, du
und alle anderen Trills mit ihrer Lüsternheit und
Gier. Geile Böcke seid ihr alle! Nichts als euer Wanst

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und euer Geschlecht ist euch wichtig! Und du, Glin-
nes Hulden, komme mir nicht mehr unter die Augen;
das nächste Mal wirst du es nicht so leicht haben!« Er
drehte sich um und stapfte hinaus.

Akadie, der eben in die Bibliothek zurückkehrte,

sah ihm mit mißbilligend gerümpfter Nase nach. »Du
solltest lieber dein Boot im Auge behalten«, riet er
Glinnes. »Sonst fährt er damit davon und läßt dich
nach Hause schwimmen.«

Glinnes trat in die Vorhalle und sah Vang Drossets

stämmige Gestalt über die Landstraße davonmar-
schieren. »Er hat im Augenblick andere Sorgen als
fremde Boote. Er kann über die Verleth Brücke heim-
kommen. Was ist mit Lute Casagave?«

»Er meldet sich nicht am Telefon«, sagte Akadie.

»Du wirst mit deinem Triumph warten müssen.«

»Dann mußt du mit deinem Honorar warten«, ent-

gegnete Glinnes. »Hat eigentlich dieser Bote herge-
funden?«

»Ja, das hat er«, sagte Akadie. »Ich kann wohl be-

haupten, daß er mich von einer großen Last befreit
hat. Ich bin mehr als froh, die Angelegenheit endlich
vom Hals zu haben.«

»In diesem Fall könntest du mir eigentlich eine

Tasse Tee anbieten. Oder ist deine Unterredung mit
Ryl Shermatz zu vertraulich?«

»Du kannst natürlich Tee haben«, sagte Akadie un-

gnädig. »Unsere Unterhaltung dreht sich um allge-
meine Dinge. Ryl Shermatz interessiert sich für die
Fanscherade. Er fragt sich, wie auf einer im allgemei-
nen so leichtlebigen und freisinnigen Welt eine so
strenge, jedem Vergnügen abholde Sekte entstehen
konnte.«

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»Ich glaube, wir müssen Junius Farfan als Kataly-

sator ansehen«, bemerkte Shermatz.

»Oder stellen wir uns lieber eine übersättigte Lö-

sung vor. Nach außen hin erscheint sie stabil und
ausgewogen, aber wenn ein einziger, mikroskopisch
kleiner Kristall hinzukommt, ist es sofort mit der
Ausgewogenheit vorbei.«

»Ein sehr treffendes Beispiel!« erklärte Akadie.

»Aber erlauben Sie mir, etwas Kräftigeres als Tee zu
unserer Stärkung zu besorgen.«

»Warum nicht?« Shermatz streckte behaglich seine

Beine vor dem Feuer aus. »Sie haben ein sehr gemüt-
liches Heim.«

»Ja, ich finde es ganz angenehm.« Akadie ver-

schwand kurz, um eine Flasche Wein zu holen.

»Ich hoffe, daß es Ihnen auf Trullion gefällt«, sagte

Glinnes zu Shermatz.

»Aber bestimmt. Jede Welt des Sternhaufens hat ih-

re charakteristische Note, und der aufmerksame Rei-
sende lernt rasch, diese individuelle Ausstrahlung zu
erkennen und zu genießen. Trullion zum Beispiel ist
eine sanfte und friedliche Welt; seine weiten Wasser-
flächen spiegeln die Sterne wider, das Licht ist weich
und angenehm, und Land und Wasser verschmelzen
zu einer bezaubernden Vielfalt.«

»Diese friedliche Atmosphäre mag einem als erstes

auffallen«, räumte Akadie ein, »aber manchmal frage
ich mich, ob sie überhaupt eine reale Grundlage hat.
So treiben sich in diesen sanften Gewässern zum Bei-
spiel unzählige Merlinge herum, abscheuliche Krea-
turen, wie man sie so bald nicht wieder findet, und
die heiteren, gelassenen Züge der Trills verbergen ei-
ne im Grunde gewalttätige Natur.«

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»Ach, hör auf«, sagte Glinnes. »Jetzt übertreibst

du.«

»Keineswegs! Hast du je erlebt, daß ein Hussade-

Publikum um Schonung der unterlegenen Sheirl ge-
beten hätte? Niemals! Sie muß zu den Klängen einer
barbarischen Musik entblößt werden, einer Musik,
die Gefühle weckt, die ich nicht zu benennen weiß,
die aber das Blut kochen macht und die Menschen in
Tiere verwandelt.«

»Bah«, sagte Glinnes. »Hussade wird doch überall

gespielt.«

Akadie beachtete den Einwurf nicht.
»Und dann der Prutanschyr. Man braucht sich nur

die verzückten Gesichter der Zuschauer anzusehen,
wenn irgendein armseliger Verbrecher vorführt, wie
entsetzlich der Vorgang des Sterbens sein kann.«

»Der Prutanschyr hat vielleicht einen nützlichen

Zweck«, meinte Shermatz. »Es ist allerdings schwie-
rig, die Auswirkung solcher Dinge von allen Seiten
her richtig zu beurteilen.«

»Vom Standpunkt des Missetäters aus bestimmt

nicht«, sagte Akadie. »Ist es nicht furchtbar, so zu
sterben – inmitten einer begeisterten Menge, die sich
an jeder Todeszuckung weidet?«

»Gewiß ist das kein sehr erbaulicher oder sanftmü-

tiger Vorgang«, sagte Shermatz mit einem betrübten
Lächeln. »Doch die Menschen von Trullion scheinen
den Prutanschyr als eine notwendige Einrichtung an-
zusehen, sonst würden sie ihn wohl abschaffen.«

»Es ist eine Schande für Trullion, für ganz Alastor,

daß es noch so etwas gibt«, sagte Akadie kalt. »Der
Connat müßte alle diese barbarischen Einrichtungen
im Namen der Menschlichkeit verbieten.«

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Shermatz rieb sich das Kinn. »Nun, was Sie sagen,

hat wohl etwas für sich. Trotzdem hält der Connat es
sehr selten für ratsam, sich in lokale Bräuche einzu-
mischen.«

»Diese Zurückhaltung ist zweischneidig! Nun, wir

sind jedenfalls auf die Weisheit seiner Entscheidun-
gen angewiesen. Was immer man von den Fanschern
halten mag, zumindest verabscheuen sie den Prutan-
schyr und möchten ihn abschaffen. Wenn sie je an die
Macht kommen, werden sie es bestimmt sofort tun.«

»Zweifellos würden sie auch die Hussade abschaf-

fen wollen«, sagte Glinnes.

»Aber keineswegs«, antwortete Akadie. »Die Fan-

scher stehen dem Spiel gleichgültig gegenüber; für sie
hat es keinerlei Bedeutung.«

»Fürwahr eine trübsinnige, penible Gesellschaft!«

sagte Glinnes.

»Verglichen mit ihren warmosen Erzeugern mögen

sie einem wohl wirklich so erscheinen«, wandte Aka-
die ein.

»Das stimmt zweifellos«, sagte Ryl Shermatz.

»Aber man muß auch bedenken, daß jede extremisti-
sche Anschauung ihre Gegenströmung erzeugt.«

»Das ist hier auf Trullion der Fall«, bestätigte Aka-

die. »Ich habe Sie ja gewarnt, daß diese idyllische
Atmosphäre trügerisch ist.«

Plötzlich wurde die Bibliothek von grellem Licht

überflutet, das jedoch nur einige Augenblicke andau-
erte. Akadie stieß einen überraschten Ruf aus und
eilte zum Fenster, gefolgt von Glinnes. Sie sahen ei-
nen großen, weißen Motorkreuzer langsam in die
Clinkhammer-Bucht einlaufen; der Suchscheinwerfer
auf dem Hauptmast strich über die Küste und hatte

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dabei kurz Akadies Schlößchen gestreift und seine
Bibliothek taghell erleuchtet.

»Ich glaube, das ist die Scopoeia, Lord Rianles

Jacht«, sagte Akadie verwundert. »Was in aller Welt
sucht sie hier in der Clinkhammer-Bucht?«

Ein Boot legte von der Jacht ab und hielt auf Aka-

dies Bootssteg zu; gleichzeitig ließ das Nebelhorn ein
dreimaliges, herrisches Tuten erschallen. Akadie
murmelte eine Verwünschung und eilte aus dem
Haus. Ryl Shermatz wanderte derweilen in der Bi-
bliothek herum und inspizierte Akadies wirre
Sammlung von Andenken, Nippes und Kuriositäten.
In einer Vitrine war eine Anzahl kleiner Büsten auf-
gestellt – die Abbilder von Persönlichkeiten, die auf
die eine oder andere Weise die Geschichte von Ala-
stor beeinflußt hatten: Gelehrte, Wissenschaftler,
Krieger, Philosophen, Dichter, Musiker. Auf dem
untersten Bord war eine eindrucksvolle Sammlung an
Anti-Helden zu sehen. »Interessant«, bemerkte Ryl
Shermatz. »Wir haben eine reiche Geschichte, wie
man sieht.«

Glinnes zeigte ihm eine bestimmte Büste. »Hier se-

hen Sie Akadie selbst; er zählt sich offensichtlich jetzt
schon zu den Unsterblichen.«

Shermatz schmunzelte: »Da Akadie die Sammlung

zusammengestellt hat, müssen wir es wohl ihm
überlassen, wen er für würdig hält, darin vertreten zu
sein.«

Glinnes trat ans Fenster und sah, wie eben das Boot

zur Jacht zurückkehrte. Einen Augenblick später kam
Akadie herein, mit aschgrauem Gesicht und wirrem
Haar.

»Was hast du?« erkundigte sich Glinnes. »Du

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schaust drein, als hättest du einen Geist gesehen.«

»Das war Lord Rianle«, krächzte Akadie. »Der Va-

ter von Lord Erzan-Rianle, der entführt wurde. Er
will seine hunderttausend Ozols zurück.«

Glinnes riß verblüfft die Augen auf. »Will er seinen

Sohn in der Gefangenschaft verfaulen lassen?«

Akadie ging in den Nebenraum, in dem sich sein

Telefon befand, und schaltete das Gerät wieder ein.
Er kam zu Shermatz und Glinnes zurück und sagte
tonlos: »Der Whelm hat Bandolios Versteck ausge-
räuchert. Man hat Bandolio und alle seine Männer
und Schiffe erwischt. Die Gefangenen, die Bandolio in
Welgen machte, und noch viele andere konnten be-
freit werden.«

»Das ist doch eine wunderbare Nachricht!« rief

Glinnes. »Warum läufst du also herum wie eine auf-
gewärmte Leiche?«

»Heute nachmittag habe ich das Lösegeld abgelie-

fert. Die dreißig Millionen Ozols sind weg.«

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KAPITEL 18

Glinnes führte Akadie zu einem bequemen Sessel.
»Setz dich um Himmels willen hin und trink diesen
Wein.«

Er warf einen Blick zu Ryl Shermatz hinüber, der

vor dem Kamin stand und interessiert ins Feuer
starrte. »Sag doch, wie hast du das Geld abgeliefert?«

»Durch den Boten, den du hergewiesen hast. Er

hatte das richtige Erkennungszeichen bei sich, also
gab ich ihm das Paket, und er ging wieder. Das war
alles.«

»Du kennst den Boten nicht?«
»Ich habe ihn nie zuvor gesehen.« Akadie kam ab-

rupt wieder zu sich. Er funkelte Glinnes an. »Du
scheinst dich sehr für das alles zu interessieren!«

»Wer würde sich nicht für dreißig Millionen Ozols

interessieren?«

»Wieso hattest du die Nachricht noch nicht gehört?

Seit Mittag weiß jeder Bescheid! Alle haben versucht,
mich anzurufen.«

»Ich habe in meinem Obstgarten gearbeitet und

mich nicht um das Telefon gekümmert.«

»Das Geld gehört den Leuten, die die Lösegelder

bezahlt haben«, erklärte Akadie streng.

»Gewiß. Aber wer immer die Summe wiederbe-

schafft, könnte mit gutem Recht eine erhebliche Be-
lohnung beanspruchen.«

»Puh«, knurrte Akadie, »hast du gar kein An-

standsgefühl?«

Der Gong schlug zu. Akadie zuckte nervös zu-

sammen und eilte zum Telefon. Einige Augenblicke

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später kam er niedergeschlagen zurück. »Lord Gygax
will ebenfalls seine hunderttausend Ozols zurückha-
ben. Er wurde recht störrisch und sogar etwas belei-
digend.«

Der Gong ertönte schon wieder. »Ich glaube, du

hast einen lebhaften Abend vor dir«, sagte Glinnes
und stand auf.

»Gehst du schon?« erkundigte sich Akadie kläglich.
»Ja, und wenn ich du wäre, würde ich das Telefon

wieder abstellen.« Er verbeugte sich vor Ryl Sher-
matz. »Es war mir eine Freude, Sie kennengelernt zu
haben.«

Glinnes ließ sein Boot mit Höchstgeschwindigkeit

nach Westen brausen: quer über die Clinkhammer-
Bucht, unter der Verleth-Brücke durch und die Mel-
lish-Straße entlang. Bald tauchten voraus ein paar
Dutzend unscheinbare Lichter auf – Saurkash. Glin-
nes steuerte zum Pier, machte sein Boot fest und
sprang an Land. Es war still in Saurkash, bis auf ein
paar gedämpfte Stimmen und Gelächter aus dem in
der Nähe gelegenen Magischen Fisch. Glinnes ging
den Pier entlang zu Harrads Bootsverleih. Eine ein-
same Lampe beleuchtete die Reihe der Mietboote. Er
ging zum Büro und spähte durch die Tür. Jung Har-
rad war nirgends zu sehen, obwohl in dem Raum
Licht brannte. Einer der Männer in der Schenke erhob
sich und kam zum Pier geschlendert. Es war der jun-
ge Harrad.

»Ja, Sir, was kann ich für Sie tun? Wenn es um eine

Bootsreparatur geht, müßten Sie morgen... Oh, Squire
Hulden, ich hab' Sie bei dem schlechten Licht nicht
gleich erkannt.«

»Macht nichts«, sagte Glinnes. »Hören Sie, ich habe

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heute einen jungen Mann in einem Ihrer Boote gese-
hen, einen Hussade-Spieler, den ich gerne ausfor-
schen würde. Erinnern Sie sich an seinen Namen?«

»Heute, sagen Sie? Etwa am frühen Nachmittag

oder etwas später?«

»Zu dieser Zeit müßte er hier gewesen sein.«
»Ich hab' drinnen im Buch alles notiert. Ein Hussa-

de-Spieler, sagen Sie. Er hat mir zwar nicht danach
ausgeschaut, aber man weiß ja nie. Was haben die
Tanchinaros als nächstes vor?«

»Wir werden bald wieder in Aktion treten. Das

heißt, sobald wir zehntausend Ozols für die Prämien-
kasse zusammengekratzt haben. Die schwächeren
Mannschaften wollen nicht gegen uns antreten.«

»Mit gutem Grund! Nun, schauen wir uns mal die

Liste an... Ja, das könnte sein Name sein.« Jung Har-
rad drehte das Geschäftsbuch hin und her. »Schill
Sodergang, wenn ich das recht entziffere. Keine
Adresse.«

»Keine Adresse? Und Sie wissen auch nicht, wo er

zu finden ist?«

»Vielleicht sollte ich vorsichtiger sein«, meinte Jung

Harrad entschuldigend. »Aber ich habe noch nie ein
Boot verloren, außer, als der alte Zax sich mit Sour-
schnaps vollaufen ließ, bis er nichts mehr sehen
konnte.«

»Hat Sodergang mit Ihnen gesprochen? Über ir-

gend etwas?«

»Nicht viel. Er hat nur nach dem Weg zu Akadie

gefragt.«

»Und als er zurückkam?«
»Da fragte er, wann das Fährboot nach Port Maheul

vorbeikäme. Er mußte eine Stunde warten.«

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»Hatte er eine schwarze Tasche bei sich?«
»Stimmt, ja, das hatte er.«
»Hat er sonst noch mit jemandem gesprochen?«
»Nein, er machte auf der Bank dort drüben ein

Nickerchen.«

»Na ja, so wichtig ist es nun auch wieder nicht«,

sagte Glinnes. »Ich werde ihn schon ein andermal
treffen.«

Glinnes fuhr wie der Teufel die dunklen Wasserstra-
ßen entlang, an stillen, baumbestandenen Inseln vor-
über, die sich als bizarre, schwarze Silhouetten vor
dem silbrigen Licht der Sterne abhoben. Um Mitter-
nacht erreichte er Welgen. Er übernachtete in einem
Hafengasthaus und nahm früh am nächsten Morgen
die Fähre nach Osten.

Port Maheul, das seinen Namen eher durch den

belebten Raumhafen erhalten hatte als durch seine
Lage an der Küste des Südmeeres, war die größte
Stadt der Präfektur Jolany und vielleicht die älteste
von Trullion. Die wichtigsten Gebäude waren noch
nach sehr altertümlichen Normen der Haltbarkeit
und Dauerhaftigkeit errichtet worden. Überall sah
man glasierte Russet-Ziegel, Balken aus dem unver-
wüstlichen schwarzen Salpoonholz, und steile Dä-
cher, die mit blauen Glaskacheln gedeckt waren. Der
Hauptplatz war einer der malerischsten von Merlank
mit seinem Saum ehrwürdiger Häuser, den dunklen
Sulpicella-Bäumen und dem kunstvollen Fischgrä-
tenpflaster aus rötlichen Ziegeln und heller Horn-
blende aus den Bergen. In der Mitte stand wie überall
der Prutanschyr, nur gab es hier einen gläsernen Kes-
sel, damit die faszinierte Menge zusehen konnte, wie

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ein Verbrecher gesotten wurde. Jenseits des Platzes
breitete sich ein unordentlicher Grünzeugmarkt aus,
an den sich wiederum ein Wirrwarr kleiner, ziemlich
heruntergekommener Häuschen anschloß. Dahinter
begann der Raumstützpunkt, nüchterne Bauten aus
Stahl und Glas. Das Landefeld selbst erstreckte sich
nach Osten bis zu den Genglin-Marschen, wo, wie
man sich erzählte, die Merlinge durch Sumpf und
Schilf bis an den Rand der Piste krochen, um die lan-
denden und startenden Raumschiffe zu bestaunen.

Glinnes verbrachte auf der Suche nach Schill So-

dergang drei anstrengende Tage in Port Maheul. Der
Steward von der Fähre, die zwischen den Fens und
Port Maheul verkehrte, erinnerte sich vage, daß So-
dergang an Bord gewesen war, wußte aber sonst
nichts, nicht einmal, wo Sodergang ausgestiegen war.
Im Einwohnerregister gab es keine Sodergangs, und
auch bei der Gendarmerie war der Name unbekannt.

Glinnes forschte noch auf dem Raumhafen nach.

Ein Schiff der Andrujukha-Linie war einen Tag nach
Sodergangs Besuch in den Fens von Port Maheul ge-
startet, aber der Name Sodergang tauchte in der Pas-
sagierliste nicht auf.

Am Nachmittag des dritten Tages kehrte Glinnes

nach Welgen zurück und fuhr mit seinem eigenen
Boot nochmals nach Saurkash. Dort traf er Jung Har-
rad, der vor sensationellen Neuigkeiten fast platzte,
so daß Glinnes mit seinen eigenen Fragen warten
mußte, bis Harrad seinen Klatsch losgeworden war.
Einige der Nachrichten gaben Glinnes allerdings ge-
nug zu denken. Wie es schien, war sozusagen unter
Jung Harrads Nase ein unverschämter Schurken-
streich verübt worden. Akadie, dem Jung Harrad nie

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recht getraut hatte, war der eiskalte Verbrecher, der
die Gelegenheit beim Schopf ergriffen und dreißig
Millionen Ozols unterschlagen hatte.

Glinnes lachte ungläubig.
»Das ist doch blanker Unsinn!«
»Unsinn?« Jung Harrad blickte auf, um zu sehen,

ob Glinnes das ernst meinte. »Die Lords sind alle da-
von überzeugt; wie können sich so viele bedeutende
Männer irren? Sie weigern sich zu glauben, daß Aka-
die ausgerechnet an dem Tag, da die Nachricht von
Bandolios Ergreifung kam, sein Telefon abgestellt
hatte.«

Glinnes schnaubte verächtlich. »Ich habe mich auch

nicht gemeldet. Bin ich denn deshalb gleich ein Ver-
brecher?«

Harrad zuckte die Achseln. »Irgend jemand ist um

dreißig Millionen Ozols reicher. Wer? Die Beweise
reichen noch nicht aus, aber es steht jedenfalls fest,
daß Akadie sich durch sein Verhalten in ein sehr
schlechtes Licht gesetzt hat.«

»Ach, hören Sie doch auf. Was hat er denn noch

angestellt?«

»Er ist in die Fanscherade eingetreten! Er ist ein

richtiger Fanscher geworden. Man glaubt allgemein,
daß sie ihn nur wegen des Geldes aufgenommen ha-
ben.«

Glinnes griff sich an den Kopf. »Akadie ein Fan-

scher? Das glaube ich einfach nicht. Er ist zu gescheit,
um sich einer Schar von Verrückten anzuschließen!«

Jung Harrad blieb bei seiner Überzeugung. »War-

um ist er dann mitten in der Nacht aufgebrochen und
ins Tal der Grünen Geister gefahren? Und denken Sie
daran, daß er schon seit einer Ewigkeit Fanscher-

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Tracht trägt und die Lebensweise der Fanscher nach-
äfft.«

»Akadie ist einfach ein bißchen töricht. Er hat nur

einer Laune nachgegeben.«

Jung Harrad zog die Nase kraus. »Na, jetzt kann er

allen Launen nachgeben, die ihm nur einfallen, das ist
mal sicher. Irgendwie imponiert mir eine solche
Frechheit, aber wenn es um dreißig Millionen Ozols
geht, klingt ein abgeschaltetes Telefon doch ein biß-
chen dünn.«

»Was sollte er denn sonst sagen, außer die Wahr-

heit? Ich habe selbst festgestellt, daß sein Telefon ab-
geschaltet war.«

»Nun, ich bin überzeugt, daß die Wahrheit schon

noch herauskommen wird. Haben Sie übrigens die-
sen Hussade-Spieler, wie hieß er doch, Jorcom, Jar-
com? – auftreiben können?«

»Jorcom? Jarcom?« Glinnes riß verblüfft die Augen

auf. »Sodergang wollten Sie wohl sagen.«

Jung Harrad grinste etwas belämmert. »Das war

jemand anderer, ein Fischer von der Isley-Bucht un-
ten. Ich habe den Namen an der falschen Stelle ein-
getragen.«

Glinnes gab sich alle Mühe, ruhig zu bleiben. »Der

Mann hieß also Jorcom? Oder Jarcom?«

»Schauen wir's uns an«, meinte Jung Harrad. Er

brachte das Buch heraus. »Hier steht Sodergang, und
da ist der andere Name; mir kommt's wie Jarcom vor.
Er hat den Namen selber eingetragen.«

»Es sieht wie Jarcom aus«, sagte Glinnes. »Oder soll

es vielleicht Jarcony heißen?«

»Jarcony! Sie haben recht! Das ist der Name, den er

nannte. In welcher Position spielt er?«

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»Position? Springer. Ich muß ihn mal besuchen.

Nur leider weiß ich nicht, wo er wohnt.« Er warf ei-
nen Blick auf Jung Harrads Bürouhr. Wenn er auf
Teufel komm raus nach Welgen zurückfuhr, konnte
er gerade noch die Fähre nach Port Maheul erreichen.
Er warf in einer Mischung von Verzweiflung und
Zorn die Arme hoch, sprang in sein Boot und brauste
nach Osten in Richtung Welgen davon.

In Port Maheul mußte Glinnes feststellen, daß der
Name ›Jarcony‹ ebenso unbekannt war wie ›Soder-
gang‹. Jetzt bekam er die Sache langsam über und
verzog sich müde und enttäuscht in den Gästegarten
des Fremdenrasthauses, wo er sich eine Flasche Wein
bestellte. Jemand hatte eine Zeitung liegengelassen;
Glinnes holte sie sich und überflog die Titelseite. Ein
Artikel erregte seine Aufmerksamkeit:

MISSGLÜCKTER ÜBERFALL

AUF FANSCHER-KOMMUNE

(Port Maheul) Gestern traf die Nachricht ein, daß das
Fanscher-Lager im Tal der Grünen Geister – oder Tal
von Xian, wie die Trevanyi es nennen – von einer
Bande Trevanyi angegriffen wurde. Die Beweggrün-
de des Überfalls sind noch nicht ganz geklärt. Es ist
bekannt, daß die Trevanyi über die Besetzung ihres
heiligen Tales durch die Fanscher erzürnt sind. Man
darf aber auch nicht vergessen, daß der Mentor Janno
Akadie, seit vielen Jahren in der Gegend von Saur-
kash ansässig, sich zum Fanscher erklärt hat und sich
seit kurzem im Fanscher-Lager aufhält. Das Gerücht
will wissen, daß Akadie über den Verbleib einer

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Summe von dreißig Millionen Ozols Bescheid weiß,
die Akadie an den Starmenter Sagmondo Bandolio
abgeliefert haben will. Bandolio behauptet indessen,
die Summe nicht erhalten zu haben. Es ist denkbar,
daß der Anführer der Trevanyi-Bande, ein gewisser
Vang Drosset, zu dem Schluß kam, daß Akadie das
Geld mit ins Tal der Grünen Geister genommen hätte,
und deshalb den Überfall organisiert hat. Geschehen
ist folgendes: Sieben Trevanyi drangen des Nachts in
Akadies Zelt ein, konnten aber seine Hilferufe nicht
ersticken. Eine Anzahl von Fanschern wurde durch
die Rufe alarmiert; bei dem darauffolgenden Hand-
gemenge wurden zwei Trevanyi getötet und etliche
verwundet. Diejenigen, die entkommen konnten,
fanden Zuflucht bei einem in der Nähe stattfinden-
den Trevanyi-Treffen, bei dem es um gewisse religiö-
se Riten geht. Es ist wohl nicht nötig zu erwähnen,
daß es den Trevanyi nicht gelang, sich in den Besitz
der dreißig Millionen Ozols zu setzen, die augen-
scheinlich sehr sicher versteckt sind. Die Fanscher
sind über den Angriff empört und bezeichnen ihn als
feindseligen Akt gegen ihre Bewegung.

»Wir haben wie Karpouns gekämpft«, erklärte ein

Sprecher der Fanscher. »Wir greifen niemanden an,
aber unsere Rechte werden wir mit allen Kräften
verteidigen. Die Zukunft gehört der Fanscherade! Wir
rufen die Jugend von Merlank und alle anderen auf,
die sich durch die warmose alte Lebensweise abge-
stoßen fühlen: Kommt zu den Fanschern! Leiht uns
eure Kraft und eure Kameradschaft!«

Gendarmeriechef Filidice zeigt sich durch den Vor-

fall beunruhigt und hat eine Untersuchung angeord-
net. »Wir werden keine weitere Störung der öffentli-

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chen Ruhe und Ordnung mehr dulden«, erklärte er.

Glinnes warf die Zeitung auf den Tisch. Verdrossen
lehnte er sich zurück und schüttete sich ein halbes
Glas Wein in die Kehle. Die Welt, die er kannte und
liebte, schien endgültig in Trümmer zu gehen. Fan-
scher und Fanscherade! Lute Casagave, Lord Ambal!
Jorcom, Jarcom, Jarcony, Sodergang! Er verabscheute
jeden einzelnen dieser Namen!

Er trank seinen Wein aus und ging hinunter zum

Pier, um auf die Fähre nach Welgen zu warten.

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KAPITEL 19

Die Insel Rabendary wirkte unnatürlich still und ein-
sam. Eine Stunde nach Glinnes' Rückkehr schlug der
Gong des Telefons an. Das Gesicht seiner Mutter er-
schien auf dem Bildschirm.

»Ich dachte, du wärst auch zu den Fanschern ge-

gangen«, sagte Glinnes dumpf.

»Nein, nein, ich nicht.« Maruchas Stimme klang be-

sorgt und unruhig. »Janno tat es, um das Durchein-
ander zu vermeiden. Du kannst dir nicht vorstellen,
welche Anschuldigungen, Beschimpfungen und Un-
terstellungen wir über uns ergehen lassen mußten!
Wir hatten keine ruhige Minute mehr, und da dachte
der arme Janno, es wäre besser, sich zu verziehen.«

»Also ist er doch kein Fanscher geworden.«
»Natürlich nicht! Du hast schon als Kind immer

alles so wörtlich nehmen müssen! Kannst du nicht
verstehen, daß jemand sich für eine Idee interessieren
kann, ohne gleich zu ihrem überzeugten Befürworter
zu werden?«

Glinnes ging nicht auf diese kritische Bemerkung

ein. »Wie lange will Akadie im Tal bleiben?«

»Ich finde, er sollte sofort zurückkehren. Wie kann

er dort ein normales Leben führen? Es ist mehr als ge-
fährlich! Hast du gehört, wie er von den Trevanyi
überfallen wurde?«

»Ich habe erfahren, daß sie ihm das Lösegeld rau-

ben wollten.«

Maruchas Stimme wurde schrill. »Du solltest so

etwas nicht einmal im Scherz sagen! Der arme Janno!
Was er alles durchgemacht hat! Und er ist dir doch

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immer ein so guter Freund gewesen.«

»Ich habe nichts gegen ihn gesagt oder getan.«
»Nein, aber jetzt mußt du etwas für ihn tun. Ich

möchte, daß du ins Tal fährst und ihn heimholst.«

»Was? Ich halte einen solchen Ausflug nicht für

sehr sinnvoll. Wenn er heimkommen will, wird er
schon von selber kommen.«

»Das stimmt nicht! Du kannst dir nicht vorstellen,

in welcher Verfassung er ist; er weiß sich einfach
nicht mehr zu helfen! Ich habe ihn noch nie so erlebt!«

»Vielleicht will er nur mal ein bißchen Urlaub ma-

chen – fern aller Geschäfte.«

»Urlaub? Wo sein Leben ständig in Gefahr ist? Es

ist allgemein bekannt, daß die Trevanyi ein Massaker
planen.«

»Hmm. Das kann ich mir nicht recht vorstellen.«
»Nun gut. Wenn du mir nicht helfen willst, muß

ich selbst gehen.«

»Wohin gehen?«
»In das Lager der Fanscher, um Janno heimzuho-

len.«

»Verdammt. Na schön. Was ist, wenn er nicht mit-

kommen will?«

»Du mußt es versuchen.«

Glinnes flog mit dem Luftbus bis zu der Bergstadt
Circanie, wo er ein uraltes Bodenauto mietete, das ihn
ins Tal von Xian bringen sollte. Ein schwatzhafter
Alter, der einen blauen Schal um den Kopf gebunden
hatte, war im Mietpreis inbegriffen; er ging mit dem
antiken Gefährt um, als müsse er ein widerspenstiges
Tier zähmen. Manchmal streifte das Gleitauto den
Boden, dann wieder machte es einen zehn Meter ho-

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hen Luftsprung, wodurch Glinnes die Landschaft aus
den ungewöhnlichsten Blickwinkeln zu sehen bekam.
Zwei Energiestrahlergewehre auf dem Sitz neben
dem Fahrer erregten seine Neugier, und er erkun-
digte sich nach ihrem Zweck.

»Gefährliche Gegend hier«, sagte der Fahrer. »Wer

hätte je gedacht, daß es einmal so weit kommt?«

Glinnes betrachtete die Landschaft, die so friedlich

wirkte wie Rabendary. Da und dort standen Bergpo-
mander – wie rosa Dunstwölkchen, die sich in silber-
nen Fingern verfangen hatten, sahen sie aus. Blau-
grüne Fialabäume in Reih und Glied betonten den
Hügelkamm. Wenn das Auto einen seiner Luftsprün-
ge machte, weitete sich der Horizont; man sah bis ins
Vorland im Süden – ein blaßfarbenes Flickenmuster,
das in der Ferne im Dunst unterging.

»Ich sehe keinen besonderen Grund zu Besorgnis«,

sagte Glinnes.

»Wenn Sie kein Fanscher sind, haben Sie gewisse

Aussichten. Keine besonders guten, möchte ich beto-
nen, weil das Treffen der Trevanyi nur ein paar Mei-
len weiter drüben stattfindet und sie angriffslustig
wie die Wespen sind. Sie trinken Racq, ein Gesöff, das
die Nerven angreift und sie nicht gerade duldsamer
macht.«

Das Tal verengte sich, und die Berge zu beiden

Seiten ragten immer steiler empor. Ein ruhiges Flüß-
chen strömte den flachen Talboden entlang; an seinen
Ufern standen Haine von Sombarilla, Pomander,
Deodar.

»Ist

das

das

Tal

der Grünen Geister?« fragte Glinnes.

»Manche nennen es so. Die Trevanyi begraben ihre

weniger wichtigen Toten unter den Bäumen da. Das

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eigentliche heilige Tal liegt weiter vorn, noch jenseits
von den Fanschern. Dort – Sie können ihr Lager
schon sehen. Eine fleißige Schar sind sie wohl, da be-
steht kein Zweifel... Ich frage mich nur, was sie ei-
gentlich wollen. Ob sie es wohl selber wissen?«

Das Auto erreichte das Lager – ein geordnetes

Durcheinander voller Geschäftigkeit. Hunderte Zelte
waren am Flußufer aufgestellt worden. Auf der gro-
ßen Wiese war man dabei, feste Gebäude aus
Schaumbeton zu errichten.

Glinnes fand Akadie ohne Schwierigkeiten. Er saß

im Schatten eines Glyptusbaums an einem Pult und
beschäftigte sich mit verschiedenen Schreibarbeiten.
Er begrüßte Glinnes weder erstaunt noch besonders
freundlich.

»Ich bin gekommen, um dich zur Vernunft zu

bringen«, sagte Glinnes. »Marucha möchte, daß du
heimkommst auf den Rorquin-Zahn.«

»Ich werde zurückkehren, wann es mir beliebt«,

erklärte Akadie gemessen. »Bis du kamst, war das
Leben hier einigermaßen friedlich. Ich muß allerdings
zugeben, daß meine Weisheit nicht auf großen Bedarf
stößt. Ich hatte erwartet, als verehrungswürdiger
Mentor empfangen zu werden; statt dessen sitze ich
hier und erledige armselige Buchhaltungsarbeiten.«
Er wies mit einer verächtlichen Geste auf das Pult.
»Man sagte mir, daß ich für meinen Unterhalt arbei-
ten müßte, und das ist eine Aufgabe, für die sich kei-
ner besonders begeistert.« Er warf einen säuerlichen
Blick zu einer nahen Zeltgruppe hinüber. »Jeder will
nur an den großartigen Plänen teilhaben. Verlautba-
rungen und Anweisungen fliegen wie Spreu durch
die Luft.«

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»Ich dächte«, sagte Glinnes, »daß du mit dreißig

Millionen Ozols doch leicht deinen Lebensunterhalt
bestreiten könntest.«

Akadie bedachte ihn mit einem müde vorwurfs-

vollen Blick. »Ist dir klar, daß dieser Vorfall mein Le-
ben ruiniert hat? Meine Integrität wurde in Frage ge-
stellt – ich kann nie wieder als Mentor arbeiten.«

»Du bist auch ohne die dreißig Millionen wohlha-

bend genug«, sagte Glinnes. »Was soll ich meiner
Mutter sagen?«

»Sag ihr, daß ich überarbeitet bin und mich lang-

weile, daß mir aber zumindest die Anschuldigungen
nicht bis hierher gefolgt sind. Willst du Glay besu-
chen?«

»Nein. Wozu sind diese Betonbauten?«
»Ich lasse es mir angelegen sein, nichts zu wissen«,

sagte Akadie.

»Hast du die Geister gesehen?«
»Nein; ich habe allerdings auch nicht Ausschau

nach ihnen gehalten. Du kannst auf der anderen Seite
des Flusses Trevanyi-Gräber finden, aber die heilige
Heimstatt des Todesvogels liegt eine Meile weiter
oben im Tal, jenseits dieses Deodar-Wäldchens. Ich
habe mich flüchtig umgesehen und war begeistert.
Ein entzückendes Fleckchen, das steht fest – viel zu
schön für die Trevanyi.«

»Wie ist das Essen?« erkundigte sich Glinnes un-

schuldig.

Akadie verzog das Gesicht. »Die Fanscher wollen

die Geheimnisse des Universums ergründen, wissen
aber noch nicht einmal, wie man ein Toast zubereitet.
Jede Mahlzeit gleicht der anderen: Brei und ein Salat
aus verschiedenem Grünzeug. Im Umkreis von Mei-

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len gibt es keine Flasche Wein...« Akadie ließ sich
noch etliche Minuten über dieses Thema aus. Er
sprach vom Fanatismus der Fanscher, von ihrer Nai-
vität, aber vor allem von ihrer Knickerigkeit, die er
unverzeihlich fand. Bei der Erwähnung der dreißig
Millionen Ozols bebte er vor Zorn, zeigte jedoch an-
dererseits das Bedürfnis, immer wieder seine
Schuldlosigkeit bestätigt zu bekommen. »Du hast den
Boten doch selber gesehen; du hast ihn zu meinem
Haus gewiesen. Hat das denn keine Beweiskraft?«

»Bis jetzt hat noch niemand eine Aussage von mir

haben wollen. Was ist mit deinem Bekannten, Ryl
Shermatz? Wo war er, als der Bote kam?«

»Er hat die Übergabe nicht mitangesehen. Ein son-

derbarer Mann, dieser Shermatz! Sein Geist ist wie
Quecksilber.«

Glinnes stand auf. »Du solltest mitkommen. Hier

erreichst du gar nichts. Wenn du all der Aufregung
entgehen willst, dann bleib doch eine Woche oder so
auf Rabendary.«

Akadie zupfte sich am Kinn. »Nun ja, warum

nicht?« Er schnippte die Papiere verächtlich weg.
»Was wissen diese Fanscher schon von Weltge-
wandtheit, Geschmack, Klugheit? Sie lassen mich
Zahlen addieren.« Er erhob sich. »Ich werde den
Staub dieses Ortes von den Füßen schütteln. Die Fan-
scherade beginnt mich zu langweilen; diese Leute
werden ganz bestimmt nicht das Universum er-
obern.«

»Also komm«, sagte Glinnes. »Willst du irgend et-

was mitnehmen? Dreißig Millionen Ozols zum Bei-
spiel?«

»Dieser Scherz ist recht abgeschmackt«, bemerkte

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Akadie. »Ich werde gehen, wie ich bin, aber um mei-
nem Abschied die rechte Würze zu verleihen, will ich
meine Arbeit mit einer etwas unorthodoxen Rech-
nung abschließen.« Er kritzelte mit Schwung einige
Zahlen auf das Papier und warf sich dann seinen
Mantel über die Schulter. »Ich bin bereit.«

Das Bodenauto glitt das Tal der Grünen Geister hin-
unter und erreichte Circanie zur Avness-Stunde.
Akadie und Glinnes mieteten sich für die Nacht in ei-
nem kleinen Landgasthof ein.

Etwa um Mitternacht erwachte Glinnes durch den

Lärm aufgeregter Stimmen, und kurz darauf ver-
nahm er draußen das Geräusch hastiger Schritte. Er
schaute aus dem Fenster, doch die Straße lag verlas-
sen im Sternenlicht da. Betrunkene, dachte Glinnes
und kehrte zu seinem Lager zurück.

In der Früh hörten sie, was die Ursache für den

Vorfall gewesen war. Die halbe Nacht lang hatten
sich die Trevanyi bei ihrem Treffen aufgeputscht; sie
waren durch Feuer gegangen; sie hatten ihre eigenar-
tigen hypnotisierenden Tänze aufgeführt; ihre ›Gro-
tesken‹, wie sie ihre Seher nannten, hatten den Rauch
von Baicha-Wurzeln eingeatmet und das Schicksal
des Trevanyi-Volkes benommen und rülpsend ge-
weissagt. Die Krieger begrüßten ihr Geschick mit fa-
natischen Schreien und makabrem Geheul und
stürmten über die sternenlichten Hügel, um das La-
ger der Fanscher zu überfallen.

Die Fanscher waren darauf nicht ganz unvorberei-

tet. Sie setzten ihre Strahlergewehre mit vernichten-
der Wirkung ein: die attackierenden Trevanyi er-
starrten in dem blauen Feuer zu glosenden rauchen-

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den Schemen. Chaos griff um sich. Der erste kampf-
lustige Ansturm löste sich zu einem Durcheinander
zuckender Körper auf, die schwelend den Talboden
bedeckten, und endlich hörte jede Kampfhandlung
auf; die Trevanyi waren entweder tot oder entsetzt
geflohen. Die Fanscher sahen ihnen in bedrücktem
Schweigen nach. Sie hatten gesiegt, aber sie wußten,
daß sie doch verloren hatten. Die Fanscherade würde
nie mehr dasselbe sein; Schwung und Begeisterung
waren verschwunden, und am nächsten Morgen gab
es eine traurige Arbeit zu tun. Sie hatten das Univer-
sum erlösen wollen, nun hatten sie Hunderte von
verkohlten und verstümmelten Leichen zu beerdigen.

Akadie und Glinnes kehrten ohne weitere Zwischen-
fälle nach Rabendary zurück, aber Glinnes' nachlässi-
ge Haushaltsführung irritierte Akadie dermaßen, daß
er noch am selben Tag beschloß, auf den Rorquin-
Zahn heimzukehren.

Glinnes rief Marucha an, deren Stimmung wieder

umgeschlagen hatte: jetzt verlor sie die Nerven bei
der Aussicht auf Akadies Heimkehr. »Es hat einen
fürchterlichen und ganz unnötigen Aufruhr gegeben
– ich weiß gar nicht mehr, wo mir der Kopf steht!
Lord Gensifer verlangt, daß Janno sich sofort mit ihm
in Verbindung setzt. Er war schrecklich lästig und
ohne jedes Verständnis für meine Lage.«

Akadies aufgestaute Entrüstung brach sich freie

Bahn. »Wie kann er es wagen, mich so zu tyrannisie-
ren? Ich werde ihm meine Meinung sagen, und das
gleich jetzt. Ruf ihn an!«

Glinnes stellte die Verbindung her. Lord Gensifers

Gesicht erschien auf dem Bildschirm. »Man sagte mir,

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daß Sie mit Janno Akadie zu sprechen wünschten«,
sagte Glinnes.

»Stimmt genau«, rief Lord Gensifer. »Wo ist er?«
Akadie trat vor. »Ich bin hier, wenn Sie nichts da-

gegen haben! Ich wüßte nicht, was ich mit Ihnen so
Dringendes zu besprechen hätte, daß Sie unaufhör-
lich bei mir zu Hause anrufen!«

»Hören Sie auf«, sagte Lord Gensifer und schob

energisch die Unterlippe vor. »Der Verbleib der drei-
ßig Millionen Ozols ist noch immer nicht geklärt.«

»So – und weshalb sollte ich überhaupt mit Ihnen

darüber sprechen?« wollte Akadie wissen. »Sie sind ja
gar nicht betroffen. Sie wurden nicht entführt, und
Sie haben kein Lösegeld gezahlt.«

»Ich bin der Vorsitzende des Adelsrates und be-

vollmächtigt, die Angelegenheit zu untersuchen.«

»Trotzdem paßt mir Ihr Ton nicht«, sagte Akadie.

»Ich habe meinen Standpunkt längst klargemacht. Ich
wünsche, nicht mehr über die Angelegenheit zu spre-
chen.«

Lord Gensifer schwieg einen Augenblick. »Es wird

Ihnen nichts anderes übrigbleiben«, sagte er schließ-
lich.

»Ich verstehe Sie nicht«, entgegnete Akadie eisig.
»Die Sache ist ganz einfach. Der Whelm wird Sag-

mondo Bandolio an den Gendarmeriechef Filidice in
Welgen ausliefern. Zweifellos wird man den Verbre-
cher zwingen, seine Komplizen zu nennen.«

»Das geht mich nichts an. Er kann so viele Kompli-

zen nennen, wie er will.«

Lord Gensifer legte den Kopf schief. »Jemand mit

profunder Kenntnis der hiesigen Verhältnisse hat
Bandolio mit Informationen versorgt. Diese Person

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wird Bandolios Schicksal teilen.«

»Verdientermaßen.«
»Dann möchte ich nur noch sagen, daß Sie mich,

wenn Ihnen irgend etwas Nützliches einfallen sollte,
und sei es noch so unbedeutend, jederzeit anrufen
können – zu jeder Tages- und Nachtstunde, außer
natürlich heute in einer Woche«, Lord Gensifer
schmunzelte wohlwollend, »wenn ich mich mit der
zukünftigen Lady Gensifer vermähle.«

Akadies berufliches Interesse erwachte. »Wer wird

denn die neue Lady Gensifer sein?«

Lord Gensifer schloß halb die Augen, in seliger

Vorfreude versunken. »Sie ist anmutig, schön und tu-
gendhaft wie keine andere, eigentlich viel zu gut für
jemanden wie mich. Ich spreche von der ehemaligen
Sheirl der Tanchinaros, Duissane Drosset. Ihr Vater
wurde bei dem Kampf heute nacht getötet, und sie
hat sich meinem Trost und meiner Obhut anver-
traut.«

»Dann hat uns dieser Tag zumindest eine ange-

nehme Überraschung beschert«, bemerkte Akadie
trocken.

Der Bildschirm verdunkelte sich. Lord Gensifer

war trösten gegangen.

Im Tal herrschte wieder Stille. Noch nie war die
Schönheit der Landschaft so offenkundig gewesen.
Das Wetter war außergewöhnlich klar; die Luft war
eine kristallene Linse, die alle Farben vertiefte, ver-
zauberte. Jeder Ton war klar und deutlich zu ver-
nehmen, klang aber seltsam gedämpft; vielleicht
sprachen auch die Menschen im Tal unwillkürlich lei-
ser und vermieden jeden Lärm. Nachts brannten nur

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wenige trübe Lichter, und die Gespräche wurden zu
einem Flüstern im Dunklen. Der Überfall der Treva-
nyi hatte bestätigt, was viele vorausgesagt hatten –
daß die Fanscherade, wenn sie sich durchsetzen
wollte, erst eine Vielzahl negativer Kräfte überwin-
den mußte. Jetzt war die Zeit für Entschlossenheit
und eine Festigung des Geistes gekommen. Eine An-
zahl Leute verließ unvermittelt das Tal und ließ sich
nicht mehr blicken.

Bei dem Trevanyi-Treffen hatten sich die Gemüter

nur weiter erhitzt. Wenn es noch Stimmen gab, die
zur Mäßigung mahnten, so gingen sie jetzt in dem
Dröhnen der Trommeln, Hörner und Narwouns un-
ter, jenen gewundenen, tiefstimmigen Instrumenten,
die nur die Trevanyi benützten. Abends sprangen die
Männer durch Feuer und schnitten sich mit ihren
Dolchen in Schenkel und Arme, um Blut für die heili-
gen Riten zu opfern. Clans aus dem fernen Bassway
und aus den Ostländern trafen ein, und viele hatten
Strahlergewehre. Fäßchen eines feurigen Gebräus,
das sich Racq nannte, wurden angestochen und ge-
leert, und die Krieger sangen zur wirbelnden Musik
der Narwouns, Trommeln und Hörner kühne und to-
desmutige Gelübde in die Nacht hinaus.

Am dritten Morgen nach dem nächtlichen Überfall

erschien ein Trupp Gendarmerie am Versammlungs-
platz. Der Gendarmeriechef Filidice war selbst ge-
kommen, um die Trevanyi zur Vernunft zu mahnen
und seinen Entschluß zu verkünden, die Ruhe um je-
den Preis aufrechtzuerhalten.

Die Trevanyi machten ihrer Entrüstung lautstark

Luft. Die Fanscher waren in heiliges Gebiet einge-
drungen, in das Tal, in dem die Geister lebten!

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Filidice hob die Stimme. »Ihr habt Grund zur Be-

schwerde. Ich habe die Absicht, euren Standpunkt
den Fanschern klarzulegen. Aber was sich auch dar-
aus ergibt, ihr müßt euch auf jeden Fall an meine
Anweisung halten. Seid ihr dazu bereit?«

Die Trevanyi schwiegen.
Filidice wiederholte seine Forderung, erhielt aber

wieder keine Antwort. »Wenn ihr euch weigert, mei-
ne Anweisungen zu befolgen und die Ruhe zu be-
wahren«, rief er, »werden wir Gehorsam erzwingen.
Ihr seid gewarnt!«

Die Gendarmen bestiegen wieder ihre Flugboote

und setzten über den Hügel ins Tal der Grünen Gei-
ster.

Junius Farfan empfing Gendarmeriechef Filidice.

Farfan war abgemagert; seine Kleidung hing faltig
um seine Gestalt, und neue, strenge Linien zeichneten
sein Gesicht. Er hörte den Gendarmeriechef schwei-
gend an. Seine Antwort war kühl. »Wir haben mona-
telang hier gearbeitet, ohne jemandem Ungelegen-
heiten zu bereiten. Wir respektieren die Gräber der
Trevanyi; es sind keinerlei unehrerbietige Handlun-
gen vorgekommen; niemals wurden die Trevanyi am
freien Zutritt zum Moor von Xian gehindert. Die Tre-
vanyi sind einfach unvernünftig; wir müssen uns bei
allem Respekt vor dem Gesetz weigern, unser Land
zu verlassen.«

Gendarmeriechef Filidice, ein untersetzter, blasser

Mann mit eisblauen Augen, der von der Würde und
Wichtigkeit seines Amtes zutiefst überzeugt war,
hatte für Widersetzlichkeit noch nie viel übrig gehabt.
»Nun gut«, sagte er. »Ich habe die Trevanyi zur Mä-
ßigung gemahnt; ich tue das Gleiche nun bei Ihnen.«

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Junius Farfan neigte den Kopf. »Wir werden die

Trevanyi keinesfalls angreifen. Wir sind jedoch bereit,
uns mit allen Kräften zu verteidigen.«

Filidice stieß ein sarkastisches Schnauben aus. »Die

Trevanyi sind Krieger, jeder einzelne Mann. Sie wür-
den euch mit Vergnügen die Kehle durchschneiden,
wenn wir sie ließen. Ich rate Ihnen dringend, eine an-
dere Lösung zu finden. Warum müssen Sie Ihr Ideo-
logiezentrum ausgerechnet hier bauen?«

»Das Land war unbesiedelt und frei. Wollen Sie

uns anderswo Land zur Verfügung stellen?«

»Natürlich nicht. Genaugenommen verstehe ich

überhaupt nicht, wozu Sie ein großartiges Zentrum
brauchen. Warum kehren Sie nicht alle nach Hause
zurück und vermeiden diesen Hader und Streit?«

Junius Farfan lächelte. »Jetzt spricht Ihr ideologi-

sches Vorurteil aus Ihnen.«

»Es ist kein Vorurteil, wenn man die erprobten und

vernünftigen Richtlinien der Vergangenheit bevor-
zugt; das ist ganz gewöhnliche Vernunft.«

Junius Farfan zuckte die Achseln und unternahm

keinen Versuch, eine unwiderlegbare Ansicht zu wi-
derlegen. Die Gendarmerie bezog jedenfalls auf dem
Hügelkamm Posten.

Der Tag verstrich. Am Avness brach ein Gewitter

los. Eine Stunde lang zuckten violette Feuerstrahlen
über die dunklen Flanken der Hügel. Die Fanscher
traten vor ihre Zelte, um das Schauspiel zu bestau-
nen. Die Trevanyi erschauerten vor diesem üblen
Vorzeichen; nach ihrem Glauben stand jetzt Urmank,
der Geistertöter, auf den Wolken und speerte die
Seelen von Trevanyi und Trills ohne Unterschied.
Trotzdem sammelten sie sich, tranken Racq, umarm-

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ten einander und brachen um Mitternacht zu ihrem
Unternehmen auf, um in der stillen grauen Stunde
vor der Morgendämmerung angreifen zu können. Im
Schutz des Deodars schwärmten sie aus, schlichen die
Hänge entlang und umgingen mit Leichtigkeit die
Gendarmen und ihre elektronischen Spürgeräte.
Trotz aller Vorsicht gerieten sie in einen Hinterhalt
der Fanscher. Gebrüll und Schmerzensschreie zerris-
sen die Stille der letzten Nachtstunden. Strahlerge-
wehre blitzten auf; zuckende, ineinander verkrallte
Gestalten hoben sich als groteske Schemen vor dem
grau werdenden Himmel ab, brennende Leichen
überall. Die Trevanyi kämpften mit gutturalen
Schreien, gezischten Flüchen – die Fanscher fochten
in unheimlichem Schweigen. Die Gendarmen stießen
in ihre Signalhörner und warfen sich zwischen die
kämpfenden Parteien, die schwarz-graue Regierungs-
fahne schwingend. Die Trevanyi denen plötzlich be-
wußt wurde, daß sie gegen einen besessenen Feind
kämpften, wichen zurück. Die Fanscher verfolgten sie
wie Rachegötter. Die Gendarmen brüllten Befehle
und bliesen die Hörner, aber keine Seite nahm Rück-
sicht auf sie. Die schwarzgraue Flagge wurde ihnen
entrissen, und auch sonst wurden sie nicht gerade
sanft behandelt. Daraufhin funkten sie um Hilfe nach
Circanie; Gendarmeriechef Filidice, grob aus dem
Schlaf gerissen und auch sonst kein Freund der Fan-
scher, ließ die Miliz ausrücken.

Kurz nach Tagesanbruch traf die Miliz im Tal ein –

eine Kompanie Trills, alles Leute vom Lande. Sie ver-
achteten die Trevanyi, aber sie kannten sie und fan-
den sich mit ihrer Existenz ab. Die verrückten Fan-
scher dagegen waren ein fremdes Element in ihrer

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Welt, und dafür hatten sie keinerlei Verständnis. Die
Trevanyi, die sich mittlerweile von ihrer Panik erholt
hatten, begleiteten den Einzug der Miliz ins Tal; Mu-
sikanten tanzten an den Soldaten vorbei und spielten
aufmunternde Kampflieder und wüste Moritaten.

Die Fanscher hatten sich in den Schutz des Deodar-

Waldes zurückgezogen; nur Junius Farfan und einige
andere erwarteten die Miliz. Sie hatten jede Hoffnung
auf Sieg aufgegeben; jetzt stand die Staatsgewalt ge-
gen sie. Der Milizhauptmann trat vor und gab ihnen
seine Befehle bekannt: die Fanscher mußten das Tal
verlassen.

»Mit welcher Begründung?« fragte Farfan.
»Daß eure Anwesenheit Unruhe verursacht.«
»Unsere Anwesenheit ist legal.«
»Trotzdem verursacht sie Spannungen, die es zu-

vor nicht gab. Ausschlaggebender als Legalität sind
praktische Erwägungen, und euer weiterer Aufent-
halt im Tal der Grünen Geister ist aus praktischen
Erwägungen abzulehnen. Ich muß darauf bestehen,
daß ihr abzieht.«

Junius Farfan beriet sich mit seinen Kameraden.

Dann wandte er sich mit tränenüberströmten Wan-
gen ab, um die übrigen Fanscher zu instruieren, die
im Schatten der Deodars die weitere Entwicklung ab-
gewartet hatten. Junius Farfan weinte über den Zu-
sammenbruch seines großen Traums, aber das min-
derte den Haß der im Hinterhalt liegenden Trevanyi
nicht. Von Racq aufgeputscht, konnten sie nicht län-
ger an sich halten. Ein Dolch blitzte auf und bohrte
sich in Farfans Genick. Die Fanscher stießen einen
seltsamen, stöhnenden Schrei aus und fielen über
Miliz und Trevanyi gleichermaßen her. In ihren Au-

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gen flackerte verzweifeltes Entsetzen. Die Soldaten,
die sich an diesem Zwist unbeteiligt fühlten, suchten
ihr Heil in der Flucht. Trevanyi und Fanscher wälzten
sich ineinander verkrallt auf der Erde, jeder nur mehr
darauf bedacht, den Gegner umzubringen.

Endlich, wie in stummem Einverständnis, lösten

sich die Überlebenden voneinander und krochen fort.
Die Trevanyi kehrten über die Hügel zu ihren weh-
klagenden Angehörigen zurück. Die Fanscher hielten
sich nur noch kurz in ihrem Lager auf und zogen
dann durch das Tal fort. Die Fanscherade war am
Ende. Der große Traum war ausgeträumt.

Monate später erwähnte der Connat in einem Ge-
spräch mit einem seiner Minister die Schlacht im Tal
der Grünen Geister. »Ich befand mich zufällig in der
Nähe und wurde auf dem laufenden gehalten. Es war
ein tragisches Aufeinandertreffen zweier verschiede-
ner Weltanschauungen.«

»Hättet Ihr die Konfrontation nicht verhindern

können?«

Der Connat zuckte die Achseln. »Ich hätte den

Whelm hinbeordern können. Ich habe das in einem
Fall getan, der diesem recht ähnlich war – die Affäre
mit dem Tamarcho auf Rhamnotis –, und damals kam
es zu keiner befriedigenden Lösung. Eine von solchen
Unruhen geplagte Gesellschaft ist wie ein Mensch mit
Bauchweh. Er wird sich erst besser fühlen, wenn sein
Körper das Gift losgeworden ist.«

»Und doch – viele Menschen haben dadurch ihr

Leben verloren.«

Der Connat machte eine undeutbare Geste. »Ich

freue mich an der Kameradschaft in der Schenke, im

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Landgasthaus, in der Hafentaverne. Ich bereise die
Welten von Alastor, und überall finde ich Menschen,
die mir klug und faszinierend erscheinen, Menschen,
die ich liebe. Jedes Individuum der fünf Milliarden ist
ein Kosmos für sich, ist einzigartig und unersetzlich...
Manchmal begegne ich auch einem Mann oder einer
Frau, die ich hassen muß. Ich blicke in ihre Gesichter
und sehe Bosheit, Grausamkeit und Verderbtheit.
Dann denke ich immer, daß diese Leute im Gesamt-
schema aller Dinge genauso ihren Platz haben; ohne
sie gäbe es nichts, an dem die Tugend sich messen
könnte. Leben ohne Gegensätze ist Essen ohne Salz...
Als Connat muß ich nach den Richtlinien der Politik
denken: dann kann ich den Menschen nur als eine
verschwimmende Gesamtheit von fünf Milliarden
verschwimmenden Gesichtern sehen. Diesem Men-
schen gegenüber empfinde ich keine Gefühle. So war
es auch im Tal der Grünen Geister. Die Fanscherade
war von ihrer Geburtsstunde an zum Untergang ver-
urteilt – es hat wohl selten einen so sonderbaren
Mann wie Junius Farfan gegeben. Einige haben über-
lebt, aber sie sind keine Fanscher mehr. Die meisten
werden ihre Tracht ablegen und wieder zu normalen
Trills werden. Einige werden auf andere Welten aus-
wandern. Ein oder zwei werden vielleicht zu
Starmentern. Und ein paar Hartnäckige werden in ih-
rem Privatleben die Ideale der Fanscher verfolgen.
Aber alle, die daran teilhatten, werden sich immer an
den großen Traum erinnern und wissen, daß sie den
anderen etwas voraushaben, die nicht von dem Glanz
und der Tragik dieser Idee berührt wurden.«

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KAPITEL 20

Eines Tages kehrte Glay nach Rabendary heim, den
Arm in einer Schlinge, mit zerrissenen, fleckigen
Kleidern. »Ich muß ja irgendwo leben«, sagte er ver-
drossen. »Also kann ich genausogut hierbleiben.«

»Es ist nicht schlechter als anderswo«, sagte Glin-

nes. »Ich vermute, du hast nicht daran gedacht, das
Geld mitzubringen.«

»Geld? Welches Geld?«
»Die zwölftausend Ozols.«
»Nein.«
»Das ist schade. Casagave nennt sich jetzt Lord

Ambal.«

Glay zeigte nicht das mindeste Interesse. Seine Ge-

fühle waren verbraucht, seine Welt war grau und leer
geworden. »Wenn er wirklich Lord Ambal wäre – be-
kommt er dadurch ein Recht auf die Insel?«

»Er scheint dieser Ansicht zu sein.«
Der Gong rief Glinnes ans Telefon. Der Bildschirm

zeigte Akadies Gesicht. »Ah, Glinnes! Ich bin wirklich
froh, daß ich dich daheim antreffe. Ich brauche Hilfe.
Kannst du sofort auf den Rorquin-Zahn herauskom-
men?«

»Gewiß, wenn du mein übliches Honorar bezahlen

willst.«

Akadie hob ärgerlich die Hand. »Ich habe jetzt kei-

nen Sinn für ironische Scherze. Kannst du sofort
kommen?«

»Also gut. Was hast du für Schwierigkeiten?«
»Das erkläre ich dir, wenn du da bist.«

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Akadie empfing Glinnes schon am Tor und führte ihn
fast im Laufschritt in die Bibliothek. »Ich möchte dich
mit zwei Beamten der Präfektur bekanntmachen, die
irregeleitet genug sind, meine arme, gehetzte Person
aller möglichen Untaten zu bezichtigen. Rechts unser
ehrenwerter Gendarmeriechef Benko Filidice; links
Inspektor Lucian Daul, öffentlicher Ankläger, Ge-
fängnisverwalter und Aufseher der Prutanschyr.
Dies, meine Herren, ist mein Freund und Nachbar
Glinnes Hulden, der Ihnen vielleicht besser als der
kühne rechte Mittelstürmer der Tanchinaros bekannt
ist.«

Man grüßte sich, und sowohl Filidice als auch Daul

kommentierten höflich Glinnes' Leistungen auf dem
Hussadefeld. Filidice, ein massiger Klotz von einem
Mann mit bleichen, melancholischen Zügen und kal-
ten, blauen Augen, trug einen gelblichen Anzug aus
Gabardine mit schwarzen Paspeln. Daul war groß
und hager, hatte lange dünne Arme, schmale Hände
und lange, knochige Finger. Sein Gesicht unter dem
Wust von stumpfschwarzen Krauslocken war ebenso
blaß wie das seines Vorgesetzten, nur mit durch Ha-
gerkeit betonteren Zügen. Daul gab sich übermäßig
zuvorkommend und höflich, als sei ihm der Gedanke
unangenehm, daß er jemanden kränken könnte.

Akadie wandte sich in seinem pedantischsten Ton-

fall an Glinnes. »Diese beiden Herren, beides fähige
und unvoreingenommene Beamte des öffentlichen
Dienstes, erklären mir, daß ich mit dem Starmenter
Sagmondo Bandolio konspiriert habe. Sie behaupten,
daß das mir anvertraute Lösegeld sich noch in mei-
nem Besitz befindet. Ich beginne langsam selbst an
meiner Unschuld zu zweifeln.«

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»Meiner Meinung nach«, sagte Glinnes, »würdest

du für ein paar Ozols alles tun – außer ein Risiko ein-
zugehen.«

»Ich habe dich um deine Hilfe gebeten und nicht

um spitzfindige Bemerkungen! Hast du nicht einen
Boten zu meinem Haus dirigiert? Warst du nicht
Zeuge meiner Unterredung mit einem gewissen Ryl
Shermatz, und war an diesem Tag mein Telefon nicht
abgeschaltet?«

»Stimmt alles ganz genau«, sagte Glinnes.
Gendarmeriechef Filidice sagte milde: »Ich versi-

chere Ihnen, Janno Akadie, daß wir vor allem deshalb
zu Ihnen gekommen sind, weil wir uns an niemand
anderen wenden können. Das Geld kam bis zu Ihnen
und verschwand. Bandolio hat es nicht erhalten. Wir
haben seinen Geist sondiert; er belügt uns nicht. Er ist
im Gegenteil sehr hilfsbereit und zuvorkommend.«

»Wie wurde laut Bandolio die Sache eigentlich or-

ganisiert?« erkundigte Glinnes sich.

»Dabei gab es einige merkwürdige Gesichtspunkte.

Bandolio hat mit einem Mann zusammengearbeitet,
der geradezu fanatisch vorsichtig war, mit jemandem,
der – um Sie zu zitieren – ›für ein paar Ozols alles tun
würde – außer ein Risiko einzugehen‹. Dieser Mann
hat die Aktion angeregt. Er sandte Bandolio eine Bot-
schaft durch Kanäle, die nur Starmentern bekannt
sind, was darauf schließen läßt, daß dieser Mann –
nennen wir ihn X entweder selbst ein Starmenter war
oder einen zum Komplizen hatte.«

»Es ist recht gut bekannt, daß ich kein Starmenter

bin«, stellte Akadie fest.

Filidice nickte gewichtig. »Natürlich – aber Sie ha-

ben, wenn man die Sache einmal ganz hypothetisch

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betrachtet, eine Menge Bekannte, von denen einer ein
Starmenter oder ein Ex-Starmenter sein könnte.«

Akadie blickte etwas betroffen drein. »Das ist wohl

möglich.«

Filidice fuhr fort. »Nach Empfang der Botschaft traf

Bandolio Vorkehrungen, mit X zusammenzutreffen.
Diese Vorkehrungen waren ziemlich kompliziert:
beide Männer waren mißtrauisch. Sie trafen sich an
einem Ort in der Nähe von Welgen, bei Dunkelheit. X
trug eine Hussade-Maske. Sein Plan war höchst ein-
fach. Er wollte bei einem großen Hussade-Match da-
für sorgen, daß die reichsten Leute der Präfektur alle
in einem Tribünenabschnitt beisammen saßen; das
wollte er durch das Verschicken von Freikarten be-
werkstelligen. X sollte zwei Millionen Ozols erhalten.
Den Rest würde Bandolio einstecken...

Der Plan war gut; Bandolio stimmte zu, und die

weiteren Ereignisse haben wir ja selbst miterlebt.
Bandolio schickte schließlich einen Vertrauten, einen
gewissen Lempel, hierher, um das Geld bei dem mit
der Einsammlung Beauftragten abzuholen – und das
sind Sie.«

Akadie runzelte zweifelnd die Stirn.
»Dieser Bote war Lempel?«
»Nein. Lempel traf eine Woche nach dem Überfall

in Port Maheul ein. Er reiste nicht wieder ab, weil er
vergiftet wurde – wahrscheinlich von X. Er starb im
Schlaf, im Touristengasthof von Welgen, einen Tag,
bevor die Nachricht von der Gefangennahme Bando-
lios eintraf.«

»Das muß der Tag gewesen sein, bevor ich das

Geld ablieferte.«

Gendarmeriechef Filidice lächelte nur vielsagend.

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»Die

Lösegeldsumme

befand

sich

jedenfalls

nicht unter

seinen Effekten. Das sind also die Fakten: Sie hatten
das Geld. Lempel hatte es nicht. Wo ist es hin?«

»Er hat vermutlich eine Vereinbarung mit dem

Boten getroffen, bevor er vergiftet wurde. Der Bote
muß das Geld haben.«

»Aber wer ist dieser geheimnisvolle Bote? Einige

der Lords sehen ihn als ein reines Phantasiegebilde
an.«

Akadie sagte langsam und deutlich: »Ich mache

hiermit vor Ihnen meine offizielle Aussage. Ich habe
das Geld gemäß meinen Anweisungen an einen Bo-
ten ausgeliefert. Ein gewisser Ryl Shermatz war zu
dieser Zeit mein Gast und gewissermaßen Zeuge der
Übergabe.«

Daul meldete sich zum ersten Mal zu Wort. »Er hat

tatsächlich gesehen, wie das Geld übergeben wurde?«

»Er sah höchstwahrscheinlich, wie ich dem Boten

einen schwarzen Aktenkoffer aushändigte.«

Daul wedelte mit einer seiner knochigen Hände.

»Ein mißtrauischer Mensch wird sich vermutlich fra-
gen müssen, ob der Koffer wirklich das Geld ent-
hielt.«

Akadies Antwort klang eisig. »Ein kluger Mensch

wird begreifen müssen, daß ich es nicht wagen wür-
de, Sagmondo Bandolio auch nur einen Ozol zu un-
terschlagen, geschweige denn dreißig Millionen.«

»Aber zu diesem Zeitpunkt war Bandolio bereits

gefaßt.«

»Das wußte ich nicht. Ryl Shermatz kann das be-

stätigen.«

»Ah, wieder der mysteriöse Ryl Shermatz. Wer ist

er?«

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»Ein Reisejournalist.«
»Tatsächlich. Und wo ist er jetzt?«
»Ich habe ihn noch vor zwei Tagen gesehen. Er

sagte, daß er Trullion bald verlassen würde. Vielleicht
ist er schon fort – wohin, weiß ich nicht.«

»Aber er ist Ihr einziger Entlastungszeuge.«
»Keineswegs. Der Bote hatte sich verfahren und

fragte Glinnes Hulden nach dem Weg. Das stimmt
doch?«

»Es stimmt«, bestätigte Glinnes.
»Janno Akadies Beschreibung dieses ›Boten‹« –

Daul gab dem Wort einen sarkastischen Klang – »ist
unglücklicherweise zu allgemein, als daß sie uns bei
unseren Nachforschungen helfen könnte.«

»Was soll ich denn sagen?« begehrte Akadie auf.

»Er war eben ein ganz gewöhnlich aussehender, mit-
telgroßer junger Mann ohne besondere Kennzei-
chen.«

Filidice wandte sich an Glinnes. »Können Sie das

bestätigen?«

»Vollkommen.«
»Und als er mit Ihnen sprach, hat er keinerlei Hin-

weise auf seine Identität gegeben?«

Glinnes kramte in seinem Gedächtnis nach dem

Tag vor wenigen Wochen. »Soweit ich mich erinnere,
fragte er nach dem Weg zu Akadies Haus. Das war
alles...« Glinnes brach ziemlich abrupt ab. Daul wur-
de sofort mißtrauisch und schob das Kinn vor. »Sonst
nichts?«

Glinnes schüttelte den Kopf und antwortete ent-

schieden: »Sonst nichts.«

Daul beruhigte sich. Einen Augenblick lang blieb es

still in der Bibliothek. Dann sagte Filidice gemessen:

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»Es ist bedauerlich, daß keine der von Ihnen er-
wähnten Personen bei der Hand ist, um Ihre Aussa-
gen zu bestätigen.«

Jetzt ließ Akadie endlich seine Entrüstung erken-

nen. »Ich sehe keine Notwendigkeit für Bestätigun-
gen! Ich weigere mich zu glauben, daß man mehr von
mir erwartet als eine einfache Darlegung der Fakten!«

»Unter gewöhnlichen Umständen würde ich Ihnen

zustimmen«, sagte Filidice. »Wenn dreißig Millionen
Ozols verschwinden, kann ich das nicht mehr.«

»Sie wissen genausoviel wie ich«, stellte Akadie

fest. »Ich hoffe, Ihre Nachforschungen sind von Er-
folg gekrönt.«

Gendarmeriechef Filidice grunzte unzufrieden.

»Wir greifen nach Strohhalmen. Das Geld aber exi-
stiert – irgendwo.«

»Hier ist es nicht, das versichere ich Ihnen«, sagte

Akadie.

Glinnes konnte sich nicht mehr länger im Zaum

halten. Er ging zur Tür. »Allen ein schönes Wetter.
Ich muß mich jetzt um meine Geschäfte kümmern.«

Die Beamten verabschiedeten sich höflich von ihm;

Akadie gönnte ihm nur einen verdrossenen Blick.

Glinnes rannte fast zu seinem Boot. Er legte ab und
fuhr nach Osten die Vernice-Straße entlang, bog dann
statt nach Süden in nördlicher Richtung in den Sar-
pent-Kanal ein, durch den er die Zwickelbucht er-
reichte; hier floß der Scurge mit dem Saur zusammen.
Glinnes fuhr den Scurge flußaufwärts, kurvte in
wahnwitzigem Tempo durch die Windungen und
verfluchte sich alle paar hundert Meter wegen seiner
Dummheit. Am Zusammenfluß des Scurge mit dem

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Karbasch lag Erch, ein verträumtes Dorf, das im
Schatten ungeheurer Kerzennußbäume dahindäm-
merte. Hier hatten vor langer Zeit die Tanchinaros die
›Naturgewalten‹ besiegt.

Glinnes machte sein Boot am Steg fest und sprach

einen Mann an, der vor dem baufälligen Gasthaus
döste. »Bitte, wo finde ich einen gewissen Jarcony?
Oder gibt's hier vielleicht einen Jarcom?«

»Jarcony? Welchen suchen Sie denn? Vater? Sohn?

Oder den Cavouthändler?«

»Ich suche einen jungen Mann, der eine blaue Uni-

form trägt.«

»Das müßte Remo sein. Er ist Steward auf der Fäh-

re nach Port Maheul. Er müßte jetzt zu Hause sein.
Gehen Sie nur die Gasse da lang. Es ist das Haus un-
ter dem Thrackelbeerbusch.«

Glinnes ging in die angewiesene Richtung, bis er

auf eine schilfgedeckte Blockhütte stieß, die von ei-
nem ungeheuren Busch fast erdrückt wurde. Er zog
an einer Schnur, die den Klöppel einer kleinen Glocke
in Bewegung setzte. Ein verschlafenes Gesicht wurde
im Fenster sichtbar.

»Wer ist da? Was gibt's?«
»Oh, ich hab Sie anscheinend bei einer wohlver-

dienten Ruhepause gestört«, sagte Glinnes. »Erinnern
Sie sich an mich?«

»Aber – ja, natürlich. Sie sind Glinnes Hulden.

Schau an, was es alles gibt. Einen Moment bitte.«

Jarcony wickelte sich einen Paray um und stieß die

knarrende Tür auf. Er zeigte auf eine Laube, die aus
dem Trackelbeerdickicht herausgeschnitten worden
war.

»Setzen wir uns doch hier hin. Möchten Sie einen

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Becher kühlen Wein?«

»Das wäre eine gute Idee«, meinte Glinnes.
Remo Jarcony brachte einen Steingutkrug und zwei

Becher heraus.

»Und was führt Sie zu mir?«
»Eine etwas verzwickte Angelegenheit«, sagte

Glinnes. »Sie werden sich erinnern, daß wir uns tra-
fen, als Sie nach dem Wohnsitz von Janno Akadie
suchten.«

»Stimmt genau. Ich hatte einen kleinen Auftrag für

einen Herrn aus Port Maheul übernommen. Es hat
doch hoffentlich keine Ungelegenheiten gegeben?«

»Ich glaube, Sie sollten ein Päckchen abholen, oder

etwas ähnliches?«

»Richtig. Noch einen Becher?«
»Mit dem größten Vergnügen. Und Sie haben dann

das Paket abgeliefert?«

»Ich habe mich genau an die Anweisungen gehal-

ten. Der Herr war anscheinend zufrieden, da ich seit-
dem nichts mehr von ihm gehört habe.«

»Dürfte ich fragen, wie diese Anweisungen laute-

ten?«

»Aber gewiß. Der Herr ersuchte mich, das Paket

zum Raumhafen von Port Maheul zu bringen und es
dort im Schließfach 42 zu hinterlegen, zu dem er mir
den Schlüssel mitgab. Ich tat, was er verlangte, und
verdiente mir damit zwanzig Ozols – Geld für nichts
eigentlich.«

»Erinnern Sie sich, wie der Herr aussah, der Ihnen

den Auftrag gab?«

Jarcony blinzelte in das dichte Blätterdach hinauf.

»Nicht sehr gut, fürchte ich. Ich glaube, er war ein
Fremdweltler – ein kleiner, untersetzter Mann mit

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flinken Bewegungen. Ich weiß noch, daß er eine Glat-
ze hatte und in einem Ohr einen prächtigen Smaragd
trug, der mir sehr auffiel. Aber vielleicht würden Sie
mich jetzt aufklären: warum stellen Sie mir alle diese
Fragen?«

»Das ist ganz einfach«, sagte Glinnes. »Der Herr ist

ein Verleger von Gethryn; Akadie möchte der Ab-
handlung, die er dem Herrn zukommen ließ, noch ei-
nen Anhang anfügen.«

»Ich verstehe...«
»Nun, die Sache wird jetzt etwas umständlicher,

aber es ist auch nicht weiter schlimm. Ich werde
Akadie benachrichtigen, daß seine Arbeit bereits in
Gethryn sein muß.« Glinnes stand auf. »Schönen
Dank für den Wein und Ihre Hilfe, aber jetzt muß ich
nach Saurkash zurück... Nur der Neugier halber –
was haben Sie mit dem Schlüssel zum Schließfach
gemacht?«

»Den habe ich laut Anweisung am Gepäckschalter

abgegeben.«

Glinnes brauste mit solcher Geschwindigkeit nach
Westen, daß sein Kielwasser gegen die Ufer des
schmalen Jade-Kanals gischtete. In kühnem Bogen
fegte er in den Barabas-Fluß hinaus, wobei noch die
Jerdinen am Ufer eine kräftige Dusche abbekamen.
Weiter ging es in einem Höllentempo nach Westen.
Erst als er in die Nähe von Port Maheul kam, ließ er
das Boot langsamer werden. Er machte es am Haupt-
pier fest und legte halb im Laufschritt die gute Meile
bis zum Raumhafengebäude zurück. Es war ein riesi-
ges Bauwerk aus schwarzem Eisen und vor Alter
blaßgrün und blau angelaufenem Glas. Auf dem

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Landefeld dahinter waren im Augenblick weder
Raumschiffe noch lokale Luftfahrzeuge zu sehen.

Glinnes betrat die Halle und sah sich in dem unter-

seeisch wirkenden Dämmerlicht um. Auf den Bänken
saßen einige Reisende, die auf den einen oder ande-
ren der fahrplanmäßigen Luftbusse warteten. In der
Wand neben der Gepäckaufbewahrungsstelle waren
etliche Reihen Schließfächer untergebracht. Hinter
dem niedrigen Gepäckschalter saß ein Beamter.

Glinnes ging hinüber und inspizierte die Schließfä-

cher. Die unbenutzten standen offen, der Magnet-
schlüssel steckte im Schloß. Das Türchen von Fach 42
war geschlossen. Glinnes warf einen Blick zu dem
Schalterbeamten hinüber und prüfte dann die Festig-
keit der Tür. Sie rührte sich nicht um einen Millime-
ter.

Das Fach bestand aus dickem Stahlblech, und die

Türen waren genau eingepaßt. Nichts zu machen.
Glinnes ließ sich auf einer Bank in der Nähe nieder.

Verschiedene Möglichkeiten boten sich an. Nur

wenige der Schließfächer standen in Gebrauch. Glin-
nes zählte nur vier verschlossene Türen bei fünfzehn
Schließfächern. War es übertrieben zu hoffen, daß
Fach 42 immer noch die schwarze Tasche enthielt?
Durchaus nicht, fand Glinnes. Es sah so aus, als wä-
ren Lempel und der kahle, untersetzte Fremdweltler,
der Jarcony als Boten angestellt hatte, ein und diesel-
be Person. Nur hatte Lempel sterben müssen, bevor
er die Tasche aus Fach 42 hatte abholen können... So
war es wahrscheinlich gewesen.

Was jetzt viel wichtiger war – wie kam man in Fach

42?

Glinnes musterte den Schalterbeamten. Er war

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klein, hatte strähniges, rötlichgraues Haar, eine lange,
vibrierende Nase und eine Miene, die pedantische
Beharrlichkeit verriet. Hoffnungslos, von so einem
Mann irgendeine Form von Kooperation zu erwarten:
er war das Musterbeispiel eines kleinlichen Paragra-
phenreiters.

Glinnes dachte noch fünf Minuten angestrengt

nach. Dann stand er auf und trat zu der Schließwand.
Er schob eine Münze in den Zahlschlitz von Fach 30,
schloß die Tür auf und zog den Schlüssel ab.

Er ging zum Gepäckschalter und legte den Schlüs-

sel auf die Platte. Der Beamte kam heran. »Ja, Sir?«

»Seien Sie so freundlich und bewahren Sie diesen

Schlüssel für mich auf«, sagte Glinnes. »Ich mag ihn
nicht bei mir haben.«

Der Beamte nahm den Schlüssel und verzog mür-

risch das Gesicht.

»Wie lange wollen Sie ausbleiben, Sir? Manche

Leute lassen ihre Schlüssel unmöglich lange hier.«

»Es ist nur für einen Tag oder so.« Glinnes legte ei-

ne Münze auf das Schalterpult. »Für Ihre Mühe.«

»Danke.« Der Beamte zog eine Lade auf und warf

den Schlüssel in ein Seitenfach.

Glinnes zog sich zurück und machte es sich auf ei-

ner Bank bequem, von der aus er den Gepäckschalter
im Auge behalten konnte.

Eine Stunde verstrich. Ein Luftbus von Kap Flory

landete draußen auf dem Platz, spie Passagiere aus,
schluckte eine Ladung neue. An der Gepäckaufbe-
wahrung ging es eine Weile lebhaft zu; der Beamte
hastete zwischen den Stellagen und Ablagen hin und
her. Glinnes beobachtete ihn gespannt. Man hätte er-
warten können, daß der Mann nach diesen Anstren-

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gungen eine Ruhepause oder einen Besuch auf der
Toilette eingelegt hätte – indessen schenkte er sich
nur, als der letzte Reisende verschwunden war, einen
Becher kalten Tee ein, den er in einem Zug leertrank,
dann einen zweiten, über dem er ein paar Minuten
saß. Darauf kehrte er an seine Arbeit zurück, und
Glinnes wappnete sich mit Geduld.

Nach einer Weile begann er sich zu langweilen. Er

beobachtete die Menschen, die kamen und gingen,
und amüsierte sich eine Zeitlang damit, Vermutun-
gen über ihren Beruf und ihr geheimstes Privatleben
anzustellen, aber dann verlor das auch jeden Reiz.
Was interessierten ihn diese Vertreter, diese Groß-
mütter und Großväter, die von Verwandtenbesuchen
heimkehrten, die Funktionäre und Kleinkrämer? Was
war mit dem Schalterbeamten? Und mit seiner Blase?
Eben, als Glinnes wieder hinüberschaute, trank der
Beamte schon wieder Tee. Welches Organ seines
schmächtigen Körpers speicherte wohl all diese Flüs-
sigkeit? Der Gedanke ließ Glinnes selbst ein leichtes
menschliches Rühren verspüren. Er warf einen Blick
zu den Toiletten auf der anderen Seite der Halle.
Wenn er auch nur einen Augenblick verschwand,
brauchte sich der Beamte nur den gleichen Moment
aussuchen, dann war die ganze Warterei umsonst
gewesen... Glinnes setzte sich bequemer hin. Er
mußte es wohl genauso lange aushalten können wie
der Beamte. Seine Ausdauer hatte ihm auf dem Hus-
sadeplatz gute Dienste geleistet; bei einem Wettstreit
mit diesem Gepäckaufbewahrungsbeamten würde
Ausdauer wiederum der ausschlaggebende Faktor
sein.

Menschen kamen und gingen – ein Mann, der ei-

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nen Hut mit einer lächerlichen gelben Kokarde trug;
eine ältliche Frau, die einen betäubenden Moschus-
duft ausströmte; zwei junge Männer, die ihre Fan-
scher-Tracht zur Schau stellten und sich nach allen
Seiten umsahen, als ob sie sich überzeugen wollten,
daß auch alle die trotzige Herausforderung bemerk-
ten... Glinnes schlug die Beine übereinander und
rutschte auf seiner Bank hin und her. Der Schalterbe-
amte ließ sich auf einem Hocker nieder und begann
Eintragungen in ein Register zu machen. Glinnes
stand auf und marschierte die Halle hinauf und wie-
der herunter. Der Beamte war jetzt an den Schalter
getreten und blickte hinaus in die Halle. Dann drehte
er sich um und langte – nein! dachte Glinnes, nicht
schon wieder! – nach dem Teebehälter. Der Mann
war einfach nicht menschlich! Der Beamte setzte je-
doch nur die Verschlußkappe auf den Behälter. Dann
rieb er sich das Kinn und schien zu überlegen, wäh-
rend Glinnes von einem Bein aufs andere trat.

Der Beamte kam endlich zu einem Entschluß. Er

ging um den Schalter herum und auf die Herrentoi-
lette zu.

Glinnes stöhnte erleichtert auf und schob sich lang-

sam näher an den Schalter. Niemand schien auf ihn
zu achten. Er duckte sich blitzschnell hinter der Bar-
riere, zog die Lade auf und schaute in das Fach. Zwei
Schlüssel! Er nahm beide, schob die Lade zu und
sprang wieder hinaus in den Wartesaal. Soweit er
feststellen konnte, hatte niemand sein Tun bemerkt.

Glinnes ging geradewegs zum Schließfach 42. Der

eine Schlüssel in seiner Hand trug einen braunen An-
hänger mit den schwarz aufgedruckten Ziffern 30.
Der Anhänger des zweiten Schlüssels zeigte die Zahl

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42. Glinnes schloß das Fach auf. Er nahm den
schwarzen Aktenkoffer heraus und verschloß das
Fach wieder. Hatte er noch Zeit, die Schlüssel zu-
rückzubringen? Glinnes entschloß sich, es doch lieber
nicht zu riskieren. Er trat aus dem Wartesaal hinaus
in das rauchige Licht der Avness und machte sich auf
den Weg zurück zum Hafen. Bei der ersten Gelegen-
heit trat er hinter eine Mauer, um sich zu erleichtern.

Er fand sein Boot genauso vor, wie er es zurückge-

lassen hatte, legte ab und nahm Kurs nach Osten.

Mit dem Knie steuernd, versuchte er die Tasche zu

öffnen. Das Schloß widerstand seinen Fingern, wor-
auf er es mit einer Metallstange bearbeitete. Plötzlich
schnappte die Verschlußzunge zurück. Der Deckel
klappte auf. Glinnes strich über die dicken Geldbün-
del: ein Stoß Alastor-Banknoten neben dem anderen.
Dreißig Millionen Ozols.

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KAPITEL 21

Es war eine halbe Stunde vor Mitternacht, als Glinnes
am Steg von Rabendary anlegte. Das Haus war dun-
kel; Glay war nicht daheim. Glinnes brachte den Ak-
tenkoffer hinein, legte ihn auf den Tisch und starrte
ihn einige Minuten lang an. Dann machte er ihn auf
und nahm Banknoten im Wert von dreißigtausend
Ozols heraus, die er in einen Krug stopfte und neben
der Veranda vergrub. Dann ging er ins Haus zurück
und rief Akadie an, erntete aber nur ein Summen und
expandierende rote Kreise auf dem Bildschirm, was
darauf hindeutete, daß das Gerät außer Betrieb ge-
setzt war. Glinnes setzte sich auf die Bettcouch, mü-
de, aber nicht zum Schlafen aufgelegt. Er versuchte
noch einmal, mit Akadies Haus Verbindung zu be-
kommen, wieder ohne Erfolg; darauf nahm er den
schwarzen Aktenkoffer mit ins Boot und nahm Kurs
nach Norden.

Von der Bucht aus schien Akadies Haus dunkel zu

sein. Es war jedoch nicht wahrscheinlich, daß Akadie,
der erst bei Nacht richtig aktiv wurde, um diese Zeit
schon schlief...

Dann entdeckte Glinnes auf dem Pier einen Mann,

der sich unauffällig im Schatten hielt. Er drehte ab
und hielt ein paar Meter vor der Küste an. Die dunkle
Gestalt rührte sich nicht. Glinnes rief hinüber: »Wer
ist da auf dem Pier?«

Nach einer kurzen Pause kam gedämpft die Ant-

wort über das Wasser: »Ein Gendarmeriekonstabler
der Präfektur auf Wachdienst.«

»Ist Janno Akadie zu Hause?«

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Wieder das Zögern, dann die tiefe Stimme: »Nein.«
»Wo ist er?«
Pause, dann die gleichmütige Stimme: »Er ist in

Welgen.«

Glinnes riß das Boot herum und brauste über die

Clinkhammer-Bucht davon, den Saur hinunter, zu-
rück ins Farwan-Gewässer. Als er auf Rabendary
eintraf, war das Haus noch immer dunkel; Glay
schien anderswo zu übernachten. Glinnes machte das
Boot fest und trug die schwarze Tasche ins Haus. Er
rief den Gilweg-Wohnsitz an, aber der Bildschirm
zeigte nur das Gesicht von Varella, einem der jünge-
ren Mädchen. Außer den Kindern war niemand zu
Hause; alle anderen waren fort, Freunde besuchen, an
einer Sternenschau teilnehmen oder Wein trinken,
oder vielleicht waren sie in Welgen, um sich die Hin-
richtungen anzusehen – das Mädchen wußte es nicht
genau.

Glinnes unterbrach die Verbindung, versteckte den

schwarzen Koffer zwischen den Schilflagen des Da-
ches, warf sich auf sein Bett und war in wenigen Au-
genblicken eingeschlafen.

Der Morgen war kristallklar und sonnig. Eine warme
Brise pustete weiße Schaumkrönchen über die Am-
bal-Bucht; der Himmel glich fliederfarbenem Glas. So
unwahrscheinlich klare Tage waren in den Fens sel-
ten.

Glinnes aß eine Kleinigkeit zum Frühstück und

versuchte dann wieder, Akadie anzurufen. Wenige
Minuten später legte ein Boot am Steg an, und Glay
sprang an Land. Glinnes ging ihm entgegen. Glay
blieb plötzlich stehen und inspizierte Glinnes von

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oben bis unten. »Du bist so aufgekratzt, scheint mir.«

»Ich habe genug Geld, um Casagave auszuzahlen.

Und das werden wir noch in dieser Stunde tun.«

Glay blickte über die Bucht hinüber zur Insel Am-

bal, die im frischen Morgenlicht so herrlich aussah
wie selten zuvor. »Wie du meinst. Aber du solltest
ihn lieber vorher anrufen.«

»Wozu?«
»Um ihn vorzuwarnen.«
»Ich sehe nicht ein, warum ich das sollte«, sagte

Glinnes, ging aber doch zum Telefon. Lute Casagaves
Gesicht erschien auf dem Bildschirm. Er erkundigte
sich scharf: »Was wollen Sie?«

»Ich habe zwölftausend Ozols für Sie«, sagte Glin-

nes. »Ich wünsche den Kaufvertrag zu annullieren.
Wenn es Ihnen recht ist, bringe ich gleich jetzt das
Geld hinüber.«

»Schicken Sie das Geld mit dem Eigentümer her-

über«, sagte Casagave.

»Ich bin der Eigentümer.«
»Shira Hulden ist der Eigentümer. Er wird wohl

selbst imstande sein, diesen Vertrag zu annullieren,
wenn es ihm beliebt.«

»Ich werde Ihnen heute noch eine amtliche Bestäti-

gung über den Tod von Shira bringen.«

»Ach nein. Und woher wollen Sie die bekommen?«
»Von Janno Akadie, einem beamteten Mentor der

Präfektur, der das Geständnis des Mörders bezeugen
wird.«

»Ach nein«, sagte Casagave mit einem höhnischen

Auflachen. Der Bildschirm erlosch. Glinnes wandte
sich verwirrt an Glay. »Das ist gar nicht die Reaktion,
die ich erwartet hätte. Er war nicht im geringsten be-

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stürzt.«

Glay zuckte die Achseln. »Warum sollte er das

sein? Akadie sitzt im Gefängnis. Wenn es nach dem
Willen der Lords geht, wir man ihn auf den Prutan-
schyr bringen. Ein Zeugnis von Akadie ist keinen
krummen Ozol mehr wert.«

Glinnes verdrehte die Augen zur Decke und warf

die Arme hoch. »Wann ist je ein Mann schon so vom
Pech verfolgt worden!« rief er aus.

Glay wandte sich kommentarlos ab. Nach einer

Weile ging er zu seiner Bettcouch und schlief ein.

Glinnes marschierte auf der Veranda hin und her,

tief in Gedanken versunken. Schließlich machte er
sich mit einem unartikulierten Fluch Luft, sprang in
sein Boot und fuhr nach Westen.

Eine Stunde später traf er in Welgen ein und

konnte nur mit Mühe am vollbesetzten Pier einen
Platz für sein Boot finden. Ungewöhnlich viele Leute
hatten sich diesen Tag ausgesucht, um nach Welgen
zu fahren. Auf dem Hauptplatz herrschten Trubel
und Geschäftigkeit. Menschen aus der Stadt und von
den Fens strömten unruhig hierhin und dorthin, im-
mer ein Auge auf dem Prutanschyr, wo Handwerker
die Zahnräder einer umfangreichen Maschine ein-
stellten, deren Funktion Glinnes ein Rätsel war. Glin-
nes blieb stehen, um sich bei einem alten Mann zu er-
kundigen, der auf seinen Stock gestützt den Arbeitern
zusah. »Was ist das für ein Ding auf dem Prutan-
schyr?«

»Wieder eine von Filidices Verrücktheiten.« Der

Alte spuckte verächtlich aufs Pflaster. »Er bevorzugt
diese neumodischen Mechanismen, die nur selten da-
zu zu bringen sind, daß sie ihre Funktion erfüllen.

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Zweiundsechzig Banditen müssen erledigt werden,
und gestern noch hat das Ding mit Mühe einen einzi-
gen Mann zerstückelt. Heute muß es bereits repariert
werden! Das sind Zustände! Zu meiner Zeit begnügte
man sich mit einfacheren Vorrichtungen.«

Glinnes begab sich zur Gendarmerie, erfuhr jedoch

nur, daß Filidice nicht zu sprechen sei. Darauf er-
suchte er um eine Unterredung von fünf Minuten mit
Janno Akadie, aber auch das wurde ihm verweigert.
Heute waren keine Besucher im Gefängnis zugelas-
sen.

Glinnes kehrte auf den Hauptplatz zurück und

suchte sich einen Platz im Gastgarten des Ehrenwer-
ten St. Gambrinus, wo er vor einer wahren Ewigkeit –
so kam es ihm jedenfalls vor – mit Junius Farfan ge-
sprochen hatte. Er bestellte sich eine Achtelpinte
Aquavit, die er in einem Zug hinunterstürzte. Das
Schicksal hatte sich wirklich gegen ihn verschworen!
Er hatte den Nachweis für Shiras Tod in der Hand,
verlor dann aber sein Geld. Jetzt hatte er Geld genug,
konnte aber Shiras Tod nicht mehr beweisen. Sein
Zeuge Akadie war wertlos geworden, und der Mör-
der, Vang Drosset, war tot!

Also – was sollte er nun tun? Die dreißig Millionen

Ozols waren ein bitterer Scherz. Er würde das Geld
lieber den Merlingen vorwerfen, als es dem Gendar-
meriechef Filidice abliefern. Glinnes winkte dem
Kellner und ließ sich noch einen Aquavit bringen; er
warf einen bitteren Blick auf das scheußliche Gerät
auf dem Prutanschyr. Um Akadie zu retten, mochte
es doch erforderlich werden, das Geld abzulieferen –
obwohl, genauer betrachtet, die Anklage gegen Aka-
die auf sehr schwachen Füßen stand...

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Ein Schatten fiel über den Eingang. Glinnes blin-

zelte ins Licht und sah eine mittelgroße Gestalt ein-
treten, einen unauffälligen Mann, der ihm bekannt
vorkam. Er schaute genauer hin und sprang dann mit
wiedererwachter Energie auf die Füße. Auf seine
einladende Geste trat der Mann näher.

»Wenn ich mich nicht täusche«, sagte Glinnes,

»dann sind Sie Ryl Shermatz. Ich bin Glinnes Hulden,
ein Freund des Mentors Janno Akadie.«

»Aber natürlich! Ich erinnere mich gut an Sie«,

sagte Shermatz. »Und wie geht es unserem Freund
Akadie?«

Der Kellner brachte den Aquavit, und Glinnes

schob Shermatz das Glas hin. »Den werden Sie bald
brauchen, glaube ich... Ich nehme an, daß Sie die
Neuigkeiten noch nicht vernommen haben?«

»Ich bin gerade erst von Morilia zurückgekommen.

Warum fragen Sie?«

Aufgemuntert durch den günstigen Zufall und den

Aquavit holte Glinnes zu einer dramatisierten Ant-
wort aus. »Unser gemeinsamer Freund Akadie ist un-
schuldig in den Kerker geworfen worden. Er wird ei-
ner phantastischen Unterschlagung beschuldigt, und
wenn es nach dem Willen der betroffenen Lords geht,
wird man ihn wohl zwischen die Räder dieser
Fleischmaschine da drüben werfen.«

»Fürwahr eine schlechte Nachricht!« sagte Sher-

matz. Er hob das Glas mit einer ironisch-dankenden
Geste und leerte es. »Akadie hätte nie vom Pfad der
Rechtschaffenheit abweichen sollen; ihm fehlt die
kalte Entschlossenheit, die einen erfolgreichen Ver-
brecher auszeichnet.«

»Sie mißverstehen mich«, sagte Glinnes etwas är-

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gerlich. »Die Beschuldigung ist absolut haltlos.«

»Es erstaunt mich, daß Sie das mit solcher Sicher-

heit behaupten können«, sagte Shermatz.

»Wenn es erforderlich wird, könnte Akadies Un-

schuld über jeden Zweifel hinaus bewiesen werden.
Aber darum geht es mir im Moment nicht. Ich frage
mich vielmehr, warum Filidice Akadie anscheinend
auf bloßen Verdacht hin eingekerkert hat, während
der wahre Schuldige noch frei herumläuft.«

»Eine interessante Behauptung. Kennen Sie den

Schuldigen?«

Glinnes schüttelte den Kopf. »Ich wünschte es mir

– besonders, wenn ein bestimmter Mann der Schuldi-
ge sein sollte.«

»Und warum vertrauen Sie mir das alles an?«
»Sie haben gesehen, wie Akadie das Geld dem Bo-

ten übergab. Ihre Aussage wird ihn entlasten.«

»Ich sah, wie eine schwarze Tasche übergeben

wurde. Es kann natürlich irgend etwas anderes darin
gewesen sein.«

Glinnes wählte seine Worte mit Vorsicht. »Sie fra-

gen sich vermutlich, warum ich von Akadies Un-
schuld so überzeugt bin. Der Grund ist ganz einfach.
Ich weiß, daß er tatsächlich mit dem Geld genau das
tat, was er behauptet hat. Bandolio wurde gefaßt; sein
Vertrauter Lempel wurde ermordet. Das Geld – nun,
es war niemand mehr da, der es beanspruchen
konnte. Meiner Meinung nach verdienen es diese
rachsüchtigen Lords ebensowenig wie Bandolio. Ich
habe jedenfalls nicht die Absicht, irgendeiner Seite
dazu zu verhelfen.«

Shermatz nickte verständnisvoll.
»Ich kann Sie sehr gut begreifen«, sagte er ernst.

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»Wenn Akadie tatsächlich unschuldig ist, wer war
dann wirklich Bandolios Komplize?«

»Es erstaunt mich, daß Bandolio diesen Punkt nicht

geklärt haben soll, aber Gendarmeriechef Filidice ge-
stattet mir nicht einmal, mit Akadie zu sprechen, ge-
schweige denn mit Bandolio.«

»Da bin ich nicht so sicher.« Shermatz erhob sich.

»Ein paar Worte mit dem Gendarmeriechef Filidice
dürften ganz aufschlußreich sein.«

»Setzen Sie sich wieder«, sagte Glinnes. »Er wird

uns nicht vorlassen.«

»Ich denke doch. Ich bin nämlich ein bißchen mehr

als ein umherreisender Journalist – ich habe den Rang
eines Generalinspektors des Whelm. Gendarmerie-
chef Filidice wird uns mit Freuden empfangen. Wir
wollen der Sache sofort auf den Grund gehen. Wo ist
er zu finden?«

»Dort drüben ist sein Amtssitz«, sagte Glinnes.

»Das Gebäude ist ziemlich verwahrlost, repräsentiert
aber dennoch hier in Welgen die Majestät des Geset-
zes von Trullion.«

Glinnes und Ryl Shermatz mußten nur kurz in einem
Vorraum warten, bis der Gendarmeriechef mit beun-
ruhigter Miene zu ihnen herauskam. »Was ist denn
schon wieder? Wer sind Sie, Sir?«

Shermatz legte eine Metallplakette auf den Tisch.

»Hier ist meine Legitimation.«

Filidice besah sich etwas erschrocken die Plakette.

»Ich stehe natürlich zu Ihren Diensten.«

»Ich bin in der Sache des Starmenters Bandolio

hier«, erklärte Shermatz. »Sie haben ihn verhört?«

»Soweit es nötig war. Es lag kein Grund vor, eine

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umfassende Untersuchung durchzuführen.«

»Haben Sie seinen hiesigen Komplizen entlarvt?«
Filidice nickte schroff.
»Ein gewisser Janno Akadie hat mit ihm zusam-

mengearbeitet. Er ist bereits verhaftet.«

»Sie sind also von Akadies Schuld überzeugt?«
»Das Beweismaterial spricht sehr deutlich dafür.«
»Hat er gestanden?«
»Nein.«
»Haben Sie ihn einer Psychosondierung unterzo-

gen?«

»Dafür haben wir hier in Welgen keine Einrich-

tung.«

»Ich möchte mit Bandolio und mit Akadie spre-

chen; Akadie zuerst, bitte.«

Filidice wandte sich an einen Untergebenen und

erteilte die nötigen Anweisungen. Zu Shermatz und
Glinnes sagte er: »Bitte kommen Sie mit in mein Bü-
ro.«

Fünf Minuten später wurde der jammernde und

protestierende Akadie in das Zimmer geschoben.
Beim Anblick von Glinnes und Shermatz verstummte
er abrupt.

Shermatz sagte höflich: »Guten Morgen, Janno

Akadie; ich freue mich, Sie noch einmal zu sehen.«

»Doch wohl nicht unter diesen Umständen! Kön-

nen Sie sich das vorstellen – man hat mich in eine
Zelle gesteckt wie einen Verbrecher! Ich dachte schon,
jetzt bringen sie mich auf den Prutanschyr! Haben Sie
so etwas schon erlebt?«

»Ich hoffe, daß wir imstande sein werden, die An-

gelegenheit aufzuklären.« Shermatz wandte sich an
Filidice. »Was genau wird Akadie vorgeworfen?«

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»Daß er mit Sagmondo Bandolio konspiriert hat,

und daß er dreißig Millionen Ozols Lösegeld unter-
schlagen hat.«

»Beide Anschuldigungen sind falsch!« schrie Aka-

die. »Ich bin das Opfer eines Komplotts!«

»Wir werden der Wahrheit schon noch auf die Spur

kommen«, beruhigte ihn Shermatz. »Wollen wir uns
nun anhören, was der Starmenter Bondolio zu sagen
hat?«

Filidice gab seinem Untergebenen einen Wink, und

bald darauf betrat Sagmondo Bandolio den Raum –
ein großer, schwarzbärtiger Mann mit einer Glatze
inmitten schwarzer Stoppeln, funkelnden blauen Au-
gen und ruhiger Miene. Das war der Mann, der fünf
gefürchtete Schiffe und vierhundert Mann befehligt
hatte, der zehntausendemale der Urheber von Tragö-
dien gewesen war, aus Gründen, die nur er allein
kannte.

Shermatz winkte ihn heran. »Befriedigen Sie meine

Neugier, Sagmondo Bandolio – bereuen Sie das Le-
ben, das Sie geführt haben?«

Bandolio lächelte höflich.
»Die letzten zwei Wochen bereue ich gewiß. Was

die Zeit vorher angeht, so ist das nicht so leicht zu
entscheiden. Ich könnte Ihre Frage in keinem Fall zu-
friedenstellend beantworten. Im nachhinein behaup-
tet man nur zu leicht etwas, das einem vorher nie in
den Sinn gekommen wäre.«

»Wir untersuchen den Überfall auf Welgen. Kön-

nen Sie Ihren hiesigen Komplizen genauer identifizie-
ren?«

Bandolio zupfte an seinem Bart. »Ich habe ihn

überhaupt noch nicht identifiziert, wenn ich mich

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nicht irre.«

»Er wurde vom Whelm einer Psychosondierung

unterzogen«, erklärte Gendarmeriechef Filidice. »Er
kann keinerlei Informationen zurückgehalten haben.«

»Welche Aussagen hat er vor Ihnen gemacht?«
»Die Initiative ging von Trullion aus. Bandolio er-

hielt durch geheime Starmenter-Kanäle einen Vor-
schlag zugespielt, der ihn immerhin soweit interes-
sierte, daß er einen Untergebenen namens Lempel
herschickte, der die näheren Umstände erkunden
sollte. Lempels Bericht war positiv, also kam Bando-
lio selbst nach Trullion. Auf dem Strand in der Nähe
von Welgen traf er mit einem Trill zusammen, der
sein Komplize wurde. Das Treffen fand um Mitter-
nacht statt. Der Trill trug eine Hussade-Maske und
hatte eine kultivierte Stimme, die Bandolio jedoch
nicht identifizieren könnte, wie er sagt. Es wurden
die nötigen Vereinbarungen getroffen, und Bandolio
sah den Mann nie wieder. Er beauftragte Lempel mit
der Durchführung, und Lempel ist jetzt tot. Bandolio
behauptet, keine weiteren Informationen zu besitzen,
und die Psychosondierung bestätigt diese Aussage.«

Shermatz wandte sich an Bandolio: »Ist diese Zu-

sammenfassung korrekt?«

»Das ist sie, außer, daß noch der Verdacht zu er-

wähnen wäre, daß mein hiesiger Bundesgenosse
Lempel überredete, den Whelm zu verständigen,
damit die beiden das gesamte Lösegeld für sich hät-
ten. Als der Whelm informiert war, gab es keinen
Grund mehr, Lempel am Leben zu lassen.«

»Sie haben also keinerlei Ursache, die Identität Ih-

res hiesigen Komplizen zu verschweigen?«

»Ganz im Gegenteil. Mein sehnlichster Wunsch

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wäre, ihn zur Musik des Prutanschyr tanzen zu se-
hen.«

»Hier vor Ihnen steht Janno Akadie. Kennen Sie

ihn?«

»Nein.«
»Ist es möglich, daß Akadie Ihr Verbündeter war?«
»Nein. Der Mann war so groß wie ich.«
Shermatz warf Filidice einen scharfen Blick zu.
»Da hören Sie es: um ein Haar hätte der Falsche auf

dem Prutanschyr gebüßt.«

Filidices blasses Gesicht begann, vor Schweiß zu

glänzen.

»Ich schwöre Ihnen, ich wurde unerträglich unter

Druck gesetzt! Der Adelsrat bestand darauf, daß ich
etwas unternahm; Lord Gensifer, der Vorsitzende,
erhielt alle Vollmachten, im Namen des Rates ein
energisches Vorgehen gegen den Verräter zu fordern.
Da ich das Geld nicht wiederbeschaffen konnte, blieb
mir nichts übrig...«

»Als Akadie einzusperren, um den Adelsrat zu be-

sänftigen.«

»Es erschien mir das Nächstliegende.«
»Sie haben Ihren Verbündeten bei Sternenlicht ge-

troffen?« fragte Glinnes Bandolio.

»Das habe ich.« Bandolios Miene war fast heiter.
»Was hatte er an?«
»Den üblichen Paray der Trills mit Umhang. Letz-

terer war an den Schultern stark ausgepolstert oder
mit Epauletten oder Schnüren geschmückt; nur ein
Trill könnte ihren genauen Zweck angeben. Wie er da
in seiner Hussademaske am Strand stand, glich er in
den Umrissen einem großen, schwarzen Vogel.«

»Sie standen nahe bei ihm?«

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»Wir

waren

etwa

zwei Meter voneinander entfernt.«

»Was für eine Maske trug er?«
Bandolio lachte. »Woher sollte ich eure hiesigen

Masken kennen? An den Schläfen saßen jedenfalls
Hörner, das Maul war mit mächtigen Zähnen besetzt,
und eine lange Zunge hing heraus. Es war, als hätte
ich ein Ungeheuer vor mir.«

»Was ist mit seiner Stimme?«
»Ich bekam nur ein heiseres Murmeln zu hören; er

wollte offensichtlich nichts riskieren.«

»Seine Haltung, Gesten, Eigentümlichkeiten der

Bewegung?«

»Nichts. Er rührte sich nicht.«
»Sein Boot?«
»Ein ganz gewöhnliches Motorboot.«
»An welchem Tag fand dieses Treffen statt?«
»Am vierten des Lyssum.«
Glinnes überlegte kurz. »Jede weitere Verständi-

gung fand über Lempel statt?«

»Stimmt.«
»Sie hatten keinen weiteren Kontakt mehr zu dem

Mann in der Hussademaske?«

»Keinen.«
»Was genau war seine Aufgabe?«
»Er übernahm es, die dreihundert reichsten Män-

ner der Präfektur im Abschnitt D des Stadions zu ver-
sammeln. Das ist ihm auch bestens gelungen.«

»Die Karten wurden anonym gekauft und durch

Boten verteilt«, warf Filidice ein. »Dieser Punkt bringt
uns nicht weiter.«

Ryl Shermatz musterte Filidice stumm und nach-

denklich. Filidice begann sich unbehaglich zu fühlen.
Shermatz sagte: »Es würde mich interessieren, war-

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um Sie Akadie aufgrund von Beweismaterial einge-
sperrt haben, das selbst auf den ersten Blick zweifel-
haft erscheint.«

»Ich habe aus einer absolut zuverlässigen Quelle

eine vertrauliche Information erhalten«, entgegnete
Filidice würdevoll. »Angesichts der allgemeinen Er-
regung entschloß ich mich, rasch zu handeln.«

»Die Information war vertraulich, sagen Sie?«
»Nun, ja.«
»Und wer ist diese absolut zuverlässige Quelle?«
Filidice zögerte, hob dann resignierend die Hände.

»Der Vorsitzende des Adelsrats hat mich überzeugt,
daß Akadie über den Verbleib des Lösegeldes Be-
scheid wissen müsse. Er empfahl, Akadie einzusper-
ren und ihm mit dem Prutanschyr zu drohen, bis er
bereit wäre, das Geld herauszurücken.«

»Der Vorsitzende des Adelsrats... das ist Lord Gen-

sifer, nicht wahr?«

»Genau«, sagte Filidice.
»Dieser Schurke!« zischte Akadie. »Ich werde ihm

die Meinung sagen!«

»Es wäre interessant zu erfahren, was hinter seiner

Anschuldigung steckt«, überlegte Shermatz laut. »Ich
schlage vor, daß wir Lord Gensifer aufsuchen und
ihn nach seinen Beweggründen fragen.«

Filidice hob die Hand.
»Das würde Lord Gensifer heute sehr ungelegen

kommen. Der Adel hat sich in Schloß Gensifer ver-
sammelt, um Lord Gensifers Hochzeit zu feiern.«

»Ich nehme auf Lord Gensifer genausoviel Rück-

sicht wie er auf mich«, erklärte Akadie zornig. »Wir
werden ihn jetzt aufsuchen!«

»Ich stimme mit Janno Akadie völlig überein«,

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sagte Glinnes, »um so mehr, als wir dort wahrschein-
lich den wahren Schuldigen identifizieren und fest-
nehmen könnten.«

Ryl Shermatz musterte ihn verwundert. »Sie sagen

das sehr überzeugt.«

»Kann sein, daß ich mich irre«, sagte Glinnes. »Für

diesen Fall würde ich vorschlagen, Sagmondo Ban-
dolio mitzunehmen.«

Filidice, der das Gefühl bekam, daß ihm der Fall

mehr und mehr aus den Händen genommen wurde,
versuchte sich zu behaupten. »Das ist kein guter Vor-
schlag. Erstens ist Bandolio ein wendiger und geris-
sener Bursche; er darf dem Prutanschyr nicht ent-
kommen. Zweitens hat er selbst erklärt, daß er nicht
imstande ist, den Verräter zu identifizieren, weil die-
ser eine Hussademaske trug. Drittens finde ich die
Idee, daß wir den Schuldigen auf Lord Gensifers
Hochzeitsfest finden sollen, höchst sonderbar, um
nicht zu sagen – verrückt! Ich wünsche keinen Skan-
dal hervorzurufen, und ich will mich auch nicht lä-
cherlich machen.«

Shermatz sagte streng: »Ein gewissenhafter Mann

macht sich nie lächerlich, wenn er seine Pflicht tut.
Ich schlage vor, daß wir unsere Untersuchung ohne
Rücksicht auf solche Nebensächlichkeiten fortsetzen.«

Filidice gab sich geschlagen. »Nun gut, fahren wir

also zu Schloß Gensifer hinaus. Konstabler, fesseln Sie
den Häftling! Die Hand- und Fußketten lassen Sie mit
einem doppelten Schloß sichern, und um den Hals
bekommt er einen Fangdraht.«

Das schwarze und graue Gendarmerieboot strebte
über die Fleharish-Bucht den Fünf Inseln zu. Am Pier

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drängten sich unzählige elegante Boote, und der Weg
zum Schloß war mit Girlanden aus scharlachroten,
gelben und rosa Seidenbändern geschmückt. Durch
die prachtvollen Parkanlagen schlenderten Lords und
Ladies in den archaischen Festgewändern, die nur zu
den formellsten Anlässen getragen wurden und die
gewöhnliche Leute kaum je zu Gesicht bekamen.

Die kleine Gruppe von offiziellen Besuchern wan-

derte den Pfad hinauf, sich peinlich bewußt, wie sehr
sie aus dem Rahmen fiel. Gendarmeriechef Filidice
insbesondere schwankte zwischen aufgestauter Wut
und Verlegenheit. Ryl Shermatz war ziemlich unbe-
kümmert, und Sagmondo Bandolio schien die Situa-
tion sogar zu genießen. Stolz aufgerichtet marschierte
er dahin und sah sich munter überall um. Ein alter
Haushofmeister entdeckte sie und eilte ihnen kon-
sterniert entgegen. Filidice murmelte eine Erklärung;
das Gesicht des Haushofmeisters verzog sich entrü-
stet: »Sie werden doch gewiß nicht die Feier stören
wollen! Die Zeremonie findet in Kürze statt. Das ist
eine ganz unerhörte Vorgangsweise!« Die Selbstbe-
herrschung des Gendarmeriechefs geriet ins Wanken.
Seine Stimme wurde schrill. »Schweigen Sie! Das ist
eine Amtshandlung! Verschwinden Sie – nein, Mo-
ment! Wir haben vielleicht Anweisungen für Sie.« Er
warf Shermatz einen säuerlichen Blick zu. »Wie wün-
schen Sie vorzugehen?«

Shermatz wandte sich an Glinnes. »Was würden

Sie vorschlagen?«

»Einen Augenblick«, sagte Glinnes. Er blickte su-

chend über den Park und die vielleicht zweihundert
umherwandernden

Gäste.

Noch nie hatte er eine solch

prächtige Parade kostbarster Gewänder gesehen – die

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Samtumhänge der Lords, am Rücken bestickt mit ih-
ren heraldischen Emblemen; die Kleider ihrer Damen,
gegürtet und geschmückt mit schwarzen Korallen
oder versilberten Merlingschuppen oder rechteckigen
Turmalinen mit dazu passenden Tiaren. Glinnes ließ
den Blick über die Gesichter streifen. Lute Casagave –
Lord Ambal, wie er genannt werden wollte – würde
gewiß auch hier sein. Er entdeckte Duissane in einem
einfachen, weißen Gewand und einem zierlichen
weißen Turban. Sie spürte seinen Blick, wandte sich
um und sah ihn an. Glinnes empfand in diesem Au-
genblick etwas, das er nicht zu benennen wußte – das
Gefühl, etwas Kostbares entschwinden zu sehen, es
für immer zu verlieren. Lord Gensifer stand in der
Nähe. Er bemerkte die ungeladenen Besucher und
runzelte überrascht und entrüstet die Stirn.

Jemand ganz in der Nähe drehte sich auf der Stelle

um und begann sich hastig zu entfernen. Die Bewe-
gung lenkte Glinnes' Aufmerksamkeit auf den Mann.
Er sprang vor, packte ihn am Arm und riß ihn herum.
»Aber Lute Casagave!«

Casagaves Züge waren weiß vor Empörung. »Ich

bin Lord Ambal. Wie können Sie es wagen, mich an-
zufassen?«

»Kommen Sie bitte mit«, sagte Glinnes. »Die An-

gelegenheit ist wichtig.«

»Ich werde nichts dergleichen tun!«
»Dann bleiben Sie von mir aus hier stehen.« Glin-

nes winkte seine Begleiter herbei. Casagave versuchte
nochmals, sich zu entfernen; Glinnes zerrte ihn brutal
zurück. Casagaves Miene hatte sich zu einer gefährli-
chen Maske verzerrt. »Was zum Teufel wollen Sie
von mir?«

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»Hören Sie gut zu«, sagte Glinnes drohend. »Das

ist Ryl Shermatz, Generalinspektor des Whelm. Da-
neben Janno Akadie, ehemals beamteter Mentor der
Präfektur Jolany. Beide sind Zeugen von Vang Dros-
sets Geständnis gewesen, daß er Shira Hulden getötet
hat. Ich bin somit Squire von Rabendary, und ich
verlange, daß Sie die Insel Ambal auf der Stelle räu-
men.«

Lute Casagave antwortete nicht. Filidice erkundigte

sich ärgerlich: »Haben Sie uns nur hierher geschleppt,
um Lord Ambal diese Mitteilung zu machen?«

Sagmondo Bandolios herzhaftes Gelächter schnitt

ihm das Wort ab. »Lord Ambal! Also wirklich! Das ist
neu, wirklich ganz neu!«

Casagave wandte sich ab und wollte gehen, aber

Shermatz' ruhige Stimme ließ ihn innehalten. »Noch
einen Augenblick, bitte. Dies ist eine amtliche Unter-
suchung, und die Frage Ihrer Identität könnte wichtig
werden. Bleiben Sie also, wo Sie sind!«

»Ich bin Lord Ambal; das muß Ihnen wohl genü-

gen.«

Ryl Shermatz wandte sich mit milde fragendem

Blick an Bandolio. »Sie kennen ihn unter anderem
Namen?«

»Unter anderem Namen – und bei einem ganz an-

deren Zeitvertreib. Seine Unternehmungen haben mir
oft genug einen Strich durch die Rechnung gemacht.
Er hat getan, was ich schon vor zehn Jahren hätte tun
sollen – sich mit seinem Raub zur Ruhe gesetzt. Sie
sehen hier Alonzo Dirrig vor sich, auch bekannt als
der Eisteufel oder Dirrig, der Schädelmacher, einst
Befehlshaber über vier Schiffe und einer der tüchtig-
sten Starmenter, die es je gegeben hat.«

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»Sie irren sich, wer Sie auch sein mögen.« Casagave

verneigte sich und wandte sich zum Gehen.

»Moment! Nicht so hastig!« rief Filidice. »Vielleicht

haben wir hier einen wichtigen Fang gemacht. Wenn
das der Fall ist, dann wäre Janno Akadie gerechtfer-
tigt. Lord Ambal, streiten Sie die Beschuldigung von
Sagmondo Bandolio ab?«

»Da gibt es nichts zu bestreiten. Der Mann täuscht

sich.«

Bandolio lachte lauthals los. »Seht euch doch seine

linke Handfläche an; ihr werdet eine Narbe finden,
die ich ihm selbst beigebracht habe.«

Filidice fuhr fort: »Leugnen Sie ab, besagter Alonzo

Dirrig zu sein; weiters, daß Sie die Entführung von
dreihundert adeligen Persönlichkeiten der Präfektur
geplant haben; weiters, daß Sie in der Folge einen
gewissen Lempel getötet haben?«

Casagave verzog die Lippen. »Natürlich leugne ich

es. Beweisen Sie es doch, wenn Sie können!«

Filidice wandte sich an Glinnes. »Wo ist Ihr Be-

weis?«

»Einen Augenblick«, sagte Shermatz verwirrt. Er

wandte sich an Bandolio: »Ist das der Mann, mit dem
Sie am Strand bei Welgen verhandelten?«

»Alonzo Dirrig sollte mich zur Durchführung sei-

ner Pläne brauchen? Niemals – nicht Alonzo Dirrig.«

Filidice warf Glinnes einen mißtrauischen Blick zu.

»Dann haben Sie sich also doch geirrt!«

»Nicht so hastig!« sagte Glinnes. »Ich habe nie Ca-

sagave oder Dirrig, wie er auch heißt, beschuldigt. Ich
habe ihn nur festgehalten, um endlich eine mir am
Herzen liegende Angelegenheit zu klären.«

Casagave drehte sich um und marschierte davon.

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Ryl Shermatz gab Filidice einen Wink, und der befahl
seinen beiden Konstablern: »Ihm nach! Nehmt ihn
fest.« Die Beamten eilten davon. Casagave warf einen
Blick über die Schulter zurück; als er sah, daß er ver-
folgt wurde, rannte er auf den Pier hinaus und
sprang in sein Boot. Der Motor brüllte auf und das
Boot schoß auf einem Gischtkeil über die Fleharish-
Bucht davon.

Filidice brüllte den Konstablern nach: »Folgt ihm

im Kutter; verliert ihn nicht aus den Augen! Funkt
um Verstärkung! Fordert Luftunterstützung! Verhaf-
tet ihn!«

Lord Gensifer stellte ihn entrüstet zur Rede: »Was

soll das, hier einen solchen Aufruhr zu stiften? Sehen
Sie nicht, daß wir ein festliches Ereignis feiern?«

Gendarmeriechef Filidice besann sich auf die Wür-

de seines Amtes. »Wir bedauern selbstverständlich
die Störung, die unser Eindringen verursacht hat. Wir
hatten Grund anzunehmen, daß Lord Ambal der
Komplize von Sagmondo Bandolio gewesen sein
könnte. Anscheinend trifft das nicht zu.«

Lord Gensifers Gesicht lief rot an. Sein Blick durch-

bohrte erst Akadie, dann Filidice. »Selbstverständlich
trifft das nicht zu! Habe ich Ihnen die Sache nicht
deutlich genug auseinandergesetzt? Wir kennen Ban-
dolios Komplizen!«

»Wirklich?« erkundigte sich Akadie in einem Ton,

der einen empfindsameren Mann als Lord Gensifer
hätte erbleichen lassen. »Und wer ist es?«

»Der treulose Mentor, der voll Hinterlist erst die

dreißig Millionen Ozols eingesammelt und sie dann
beiseite geschafft hat!« erklärte Lord Gensifer. »Sein
Name ist Janno Akadie!«

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Ryl Shermatz erklärte sanft: »Sagmondo Bandolio

bestreitet diese Theorie aber. Er behauptet, daß Aka-
die keinesfalls der Mann war.«

Lord Gensifer warf die Arme zornig hoch. »Nun

gut, dann ist Akadie von mir aus unschuldig! Wen
interessiert das schon? Ich habe die ganze Sache mehr
als satt! Bitte gehen Sie endlich! Sie belästigen meine
Gäste und stören eine feierliche Zeremonie.«

»Bitte nehmen Sie meine Entschuldigung entge-

gen«, sagte Filidice eingeschüchtert. »Ich versichere
Ihnen, daß dies nicht meine Absicht war. Kommen
Sie also, meine Herren, wir wollen...«

»Einen Augenblick noch«, sagte Glinnes. »Wir ha-

ben den wichtigsten Punkt der Angelegenheit noch
nicht geklärt. Sagmondo Bandolio kann den Mann
nicht identifizieren, mit dem er sich auf dem Strand
getroffen hat, aber er ist ganz bestimmt imstande, die
Maske zu identifizieren. Lord Gensifer, würden Sie
einen Helm der Fleharish-Gorgonen holen?«

Lord Gensifer richtete sich entrüstet auf. »Ich wer-

de gewiß nichts dergleichen tun. Was soll dieser Un-
sinn? Muß ich Sie noch einmal ersuchen, meinen Be-
sitz zu verlassen?«

Glinnes ignorierte ihn und erklärte Filidice: »Als

Bandolio die Hörner und die heraushängende Zunge
der Maske beschrieb, mußte ich sofort an die Fleha-
rish-Gorgonen denken. Am vierten Tag des Lyssum,
an dem das Treffen stattfand, hatten die Gorgonen
noch nicht ihre Uniformen erhalten. Nur Lord Gensi-
fer kann einen Gorgonen-Helm benutzt haben. Daher
ist Lord Gensifer der Schuldige!«

»Was reden Sie da?« keuchte Filidice erschrocken.
»Aha!« schrie Akadie und warf sich auf Lord Gen-

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sifer. Glinnes zerrte ihn zurück und hielt ihn fest.

»Was ist das für eine wahnsinnige Verleumdung,

die Sie da vorbringen?« brüllte Lord Gensifer. Sein
Gesicht war plötzlich fleckig geworden. »Haben Sie
den Verstand verloren?«

»Es ist wirklich lächerlich«, stellte Filidice fest. »Ich

will nichts mehr davon hören.«

»Nur langsam«, sagte Ryl Shermatz mit einem lei-

sen Lächeln. »Glinnes Huldens Theorie ist eine ein-
gehendere Überprüfung wert. Und meiner Ansicht
nach ist sie in jedem Hinblick befriedigend.«

Filidice sagte mit unterdrückter Stimme: »Lord

Gensifer ist eine bedeutende Persönlichkeit; er ist der
Vorsitzende des Adelsrates...«

»Und in dieser Stellung hat er Sie dazu gezwungen,

Akadie einzusperren«, sagte Glinnes.

Lord Gensifer fuchtelte wütend vor Glinnes' Ge-

sicht herum; aber er brachte kein Wort mehr heraus.

Gendarmeriechef Filidice stellte Lord Gensifer be-

drückt die Frage: »Können Sie diese Anschuldigung
widerlegen? Hat Ihnen vielleicht jemand einen Helm
gestohlen?«

Lord Gensifer nickte heftig. »Das ist es! Zweifellos

hat jemand einen Helm der Gorgonen aus meinem
Lager gestohlen – höchstwahrscheinlich Akadie!«

»In diesem Fall«, stellte Glinnes fest, »müßte jetzt

einer fehlen. Gehen wir doch die Helme zählen.«

Lord Gensifer holte zu einem wilden Schlag gegen

Glinnes aus, der jedoch mühelos auswich. Shermatz
winkte Filidice. »Verhaften Sie diesen Mann und
bringen Sie ihn ins Gefängnis. Wir werden ihn einer
Psychosondierung unterziehen, dann wird sich die
Wahrheit schon herausstellen.«

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»Niemals«, keuchte Lord Gensifer. »Ich will nicht

auf den Prutanschyr!« Wie Casagave drehte er sich
um und rannte zum Pier, während seine Gäste ihm
entgeistert nachsahen. Eine solche Hochzeit hatten sie
noch nicht erlebt.

»Ihm nach!« befahl Shermatz schroff. Der Gendar-

meriechef stürmte schwerfällig los und polterte den
Steg entlang, als Lord Gensifer gerade in sein Boot
sprang. Jede Vorsicht außer acht lassend, warf er sich
mit einem Satz auf ihn. Lord Gensifer versuchte, ihn
zurückzustoßen, aber Filidice fiel auf ihn. Lord Gensi-
fer wurde gegen das Dollbord geworfen, verlor das
Gleichgewicht und stürzte ins Wasser.

Verzweifelt schwamm Lord Gensifer unter den

Steg. Filidice rief ihm nach: »Es hat doch keinen Sinn,
Lord Gensifer; der Gerechtigkeit muß Genüge getan
werden. Kommen Sie hervor, das rate ich Ihnen!«

Nur ein Plätschern zeigte an, daß Lord Gensifer

noch unter dem Pier war. Filidice rief ihn wieder an.
»Lord Gensifer! Warum machen Sie uns allen unnöti-
ge Schwierigkeiten? Kommen Sie heraus – Sie können
nicht mehr entkommen!«

Unter dem Pier ertönte plötzlich ein heiserer Schrei,

dann einen Augenblick lang verzweifeltes Platschen,
und dann hörte man nichts mehr. Filidice richtete sich
langsam aus seiner Hocke auf. Mit aschgrauem Ge-
sicht starrte er ins Wasser hinunter. Nach einer Weile
zog er sich auf den Steg hinauf und kehrte zu Ryl
Shermatz, Glinnes und Akadie zurück. »Jetzt können
wir diesen Fall wohl abschließen«, sagte er. »Die
dreißig Millionen Ozols – ich glaube, wir werden nie
erfahren, wo sie geblieben sind.«

Ryl Shermatz warf Glinnes einen Blick zu, den die-

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ser mit gerunzelter Stirn erwiderte. »Nun ja, so wich-
tig ist das auch wieder nicht«, sagte Shermatz. »Aber
wo ist denn unser Gefangener, wo ist Bandolio? Ist es
möglich, daß er sich das Durcheinander zunutze ge-
macht hat?«

»Es sieht ganz so aus«, sagte Filidice niederge-

schlagen. »Er ist fort! Welch ein unseliger Tag!«

»Im Gegenteil«, sagte Akadie. »Für mich hat er die

größte Genugtuung meines Lebens gebracht.«

»Casagave ist vertrieben – dafür bin ich überaus

dankbar«, bemerkte Glinnes. »Es war auch für mich
ein glücklicher Tag!«

Filidice rieb sich verwirrt die Stirn. »Ich kann es

noch gar nicht fassen. Lord Gensifer erschien mir
immer als ein Muster der Rechtschaffenheit!«

»Lord Gensifer hat genau zum falschen Zeitpunkt

eingegriffen«, erklärte Glinnes. »Er brachte Lempel
um, nachdem Lempel den Boten instruiert hatte, aber
bevor ihm das Geld abgeliefert worden war. Er hat
vermutlich angenommen, daß Akadie genauso prin-
zipienlos war wie er und das Geld erst gar nicht
übergeben hatte.«

»Wirklich betrüblich«, sagte Akadie. »Und die

dreißig Millionen Ozols – wo mögen sie jetzt wohl
sein? Vielleicht auf irgendeiner fernen Welt, auf der
der Bote jetzt seinen unerwarteten Reichtum ge-
nießt.«

»So wird es höchstwahrscheinlich sein«, meinte Fi-

lidice. »Nun, ich vermute, ich werde den Gästen ir-
gendeine Erklärung geben müssen.«

»Entschuldigt mich«, sagte Glinnes. »Dort drüben

ist jemand, mit dem ich sprechen möchte.« Er ging
durch den Park zu der Stelle, an der er Duissane zu-

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letzt gesehen hatte. Sie war nicht mehr da. Er schaute
sich überall um, aber er konnte keine Duissane fin-
den. Ob sie vielleicht ins Haus gegangen war? Er
konnte es nicht recht glauben – das Haus hatte für
Duissane jetzt keine Bedeutung mehr...

Um das Haus herum führte ein Pfad zum Strand.

Glinnes lief in plötzlicher Gewißheit zum Meer hin-
unter, und da war Duissane. Sie stand im Sand und
blickte auf das Wasser hinaus, zu jener endlosen Li-
nie, an der Himmel und Wasser verschmolzen.

Glinnes trat zu ihr. Sie fuhr zusammen und schaute

ihn an, als sähe sie ihn zum erstenmal. Dann wandte
sie sich ab und ging langsam am Wasser entlang nach
Osten. Glinnes holte sie ein, und im dunstigen Licht
eines alten Nachmittags wanderten sie zusammen
über den Strand.

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GLOSSAR

1

Starmenter: Piraten und räuberische Rebellen, de-
ren Schlupfwinkel die sogenannten ›Starments‹
sind.

2

Merlank: Eine Art Eidechse. Der Kontinent umfaßt
den Äquator wie eine Eidechse, die sich an eine
blaue Glaskugel klammert.

3

Cauch (gesprochen kauk): Ein Aphrodisiakum, das
aus den Sporen eines Bergschimmels gewonnen
wird und von den meisten Trills hin und wieder
eingenommen wird. Manche verlieren sich so sehr
in ihren erotischen Phantasien, daß sie als unzu-
rechnungsfähig angesehen werden; diese Men-
schen sind Zielscheibe freundlichen Spotts. Unzu-
rechnungsfähigkeit kann unter den auf Trullion
herrschenden Bedingungen kaum als ernstzu-
nehmendes soziologisches Problem betrachtet
werden.

4

Sheirl (gesprochen Schirl): ein unübersetzbares
Wort aus dem speziellen Vokabular der Hussade
– eine zauberhafte Nymphe voller Lebensgeist
und Feuer, die die Spieler ihrer Mannschaft zu
ungewöhnlichen Leistungen anspornt. Die Sheirl
ist eine Jungfrau, die vor der Schande der Nie-
derlage beschützt werden muß.

5

Merlinge: amphibische, halbintelligente Eingebo-
rene von Trullion, die in Uferhöhlungen unter
Wasser leben. Zwischen Menschen und Merlingen
herrscht ein sehr labiler Duldenspakt; beide Seiten

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hassen und verfolgen die andere, doch unter ge-
rade noch erträglichen Bedingungen. Die Merlin-
ge streifen nachts über das Land auf der Suche
nach Aas, kleinen Tieren und Kindern. Wenn sie
Boote angreifen oder in Wohnstätten eindringen,
werfen die Menschen zur Vergeltung Explosiv-
stoffe ins Wasser. Fällt ein Mensch ins Wasser
oder versucht jemand zu schwimmen, so ist er
damit in das Revier der Merlinge eingedrungen
und riskiert, unter Wasser gezogen zu werden.
Andererseits kann ein Merling, der an Land er-
wischt wird, auch keine Gnade erwarten.

6

Sternenschau: Nachts ist der Himmel übersät mit
den Sternen des Alastor-Haufens. Ihr Licht bricht
sich in der Atmosphäre – die Luft ist erfüllt von
vielfarbigem Glitzern und Funkeln. Die Trills las-
sen sich draußen in ihren Gärten nieder, Krüge
mit Wein bei der Hand, und benennen die Sterne,
diskutieren über ihre Welten. Für die Trills, wie
für die meisten Menschen von Alastor, ist der
Sternenhimmel kein abstraktes Lichtmuster, son-
dern ein Ausblick auf ferne Orte und Welten, ein
belebtes Panorama. Meist kommt bei der Sternen-
schau auch die Sprache auf die Raumpiraten, die
sogenannten ›Starmenter‹, und ihre schrecklichen
Untaten. Wenn die Sonne von Numenes sichtbar
ist, wendet sich das Gespräch dem Connat und
dem herrlichen Lusz zu, und immer gibt es einen,
der sagt: »Paßt auf, was ihr redet! Vielleicht sitzt
er hier unter uns, trinkt unseren Wein und merkt
sich alle Unzufriedenen!« – was zuerst ein unru-
higes Gemurmel hervorruft, denn die Gewohnheit

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des Connat, unerkannt die Welten von Alastor zu
durchwandern, ist allen bekannt. Dann aber sagt
sich einer beherzt: »Unsinn – wir sind zehn (oder
zwölf oder sechzehn oder zwanzig, je nachdem)
von fünf Billionen! Der Connat unter uns? Das
will ich riskieren!«

Bei einer solchen Sternenschau war Sharue

Hulden allein ins Dunkle fortgeschlendert. Bevor
ihre Abwesenheit bemerkt wurde, hatten die
Merlinge sie gepackt und unter Wasser gezogen.

7

Paro: Ein berühmter Hussade-Spieler, der Liebling
des ganzen Sternhaufens, gefeiert wegen seines
kühnen und angriffslustigen Spiels.

Slabar Velche: Ein berüchtigter Starmenter.

8

Trevanyi: Ein Nomadenvolk von spezifischer ras-
sischer Herkunft, dem Dieberei, Zauberkünste
und ein gefährlicher Trickreichtum zugeschrieben
werden; ein leicht erregbares, heißblütiges, ra-
chelüsternes Volk. Sie betrachten Cauch als Gift
und hüten die Ehre ihrer Frauen mit fanatischem
Eifer.

9

Zanzamar: eine Stadt am äußersten Ende des Son-
nenaufgangskaps.

10

Urush: Verächtlicher Ausdruck der Trevanyi für
einen Trill.

11

Spag: Zustand der Brunft, der sexuellen Erregung;
daraus:

Spageen: ein Individuum in diesem Zustand.

12

Forlostwenna: Ein Wort der Trevanyi-Mundart –

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ein Zwang, sich erneut auf die Wanderung zu
machen; viel stärker als der allgemeine Ausdruck
›Wanderlust‹.

13

Gealospans: wörtlich, ›Mädchenentblößer‹ – An-
spielung auf das erhoffte Schicksal der gegneri-
schen Sheirl.

14

Stelt: Ein kostbares Mineral, das aus Vulkan-
schloten auf bestimmten Typen erloschener Sterne
gewonnen wird; eine Mischung von Metallen und
natürlichem Glas, die die vielfältigen Muster und
Färbungen aufweisen kann.

15

Hussade: Das Hussade-Spielfeld besteht aus einem
Gitter von ›Zügen‹ oder ›Wegen‹ in Längsrich-
tung und sogenannten ›Brücken‹ in Querrichtung
über einem großen, anderthalb Meter tiefen Was-
serbecken. Die Züge sind drei Meter voneinander
entfernt, die Brücke zur anderen. Der Mittelgra-
ben ist zweieinhalb Meter breit und kann auf bei-
den Seiten passiert werden oder in der Mitte, aber
ein geschickter Spieler kann ihn natürlich auch
überall überspringen. In den ›Heimtanks‹ an den
beiden Enden des Spielfeldes steht das Podium,
auf dem die Sheirl der Mannschaft den Ausgang
erwartet.

Die Spieler befördern die Gegner durch Treffer

mit den ›Pads‹ oder durch Bodycheck ins Wasser,
dürfen dazu aber in keiner Weise die Hände ge-
brauchen.

Der Kapitän jeder Mannschaft ist mit einer

›Hange‹ versehen, einem Licht auf einem ein Me-
ter hohen Gestell. Solange das Licht brennt, darf

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der Kapitän weder angegriffen werden noch
selbst angreifen. Wenn er sich mehr als zwei Me-
ter von der Hange entfernt oder das Gestell auf-
hebt, um seine Position zu ändern, erlischt das
Licht; dann darf er angreifen und angegriffen
werden. Ein wirklich tüchtiger Kapitän braucht
sich um seine Hange kaum zu kümmern; ein we-
niger geschickter wird sich an einem wichtigen
Kreuzungspunkt postieren, den er durch seine
Unangreifbarkeit im Bereich der brennenden
Hange schützen kann.

Die Sheirl steht auf ihrer Plattform am Ende des

Spielfeldes, umgeben vom Heimtank. Sie trägt ein
weißes Gewand, das nur durch einen Goldring
über der Brust zusammengehalten wird. Die geg-
nerischen Spieler versuchen, diesen Ring in die
Hand zu bekommen; ein leichter Zug entblößt die
Sheirl. Die Würde der Sheirl kann von ihrem Ka-
pitän um eine bestimmte Summe ausgelöst wer-
den, um fünfhundert Ozols, tausend, zweitausend
oder auch viel mehr, je nachdem, welche Verein-
barungen vor dem Spiel getroffen wurden.

16

Pad: eine ein Meter lange, gepolsterte Keule, mit
der die gegnerischen Spieler ins Wasser gestoßen
werden können.

17

Tanchinaros: schwarz-silbern gestreifter Fisch in
dem fernen südlichen Ozean.

18

Isthoune: Stolz und Selbstvertrauen; Mana: der
emotionelle Zustand, der einen Mann zu den ver-
rücktesten Heldentaten treiben kann; ein im we-
sentlichen unübersetzbares Wort.

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19

Karpoun: ein wildes, tigerähnliches Raubtier aus
den Shamschin-Vulkanfeldern.

20

Quorls: Eine Molluskenart, die im feuchten Sand
des Strandes lebt.

21

Curset: ein krabbenähnliches Meeresinsekt.

22

Warmos: schmutzig, pervers, haltlos; ein oft auf
die Trills angewendetes Eigenschaftswort.


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