Ritter Roland 28 Ekkehart Reinke Roland und der Meuchelmörder

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Roland und der

Meuchelmörder

von Ekkehart Reinke

scanned by : horseman

kleser: Larentia

Version 1.0

Ein Schrei durchbrach die Mittagsstille auf Schloß
Camelot!

Die meisten Bewohner schliefen fest. Das morgendliche

Jagdvergnügen mit dem anschließenden üppigen
Festschmaus hatte die Herren stark ermüdet. Manche
waren noch an der Tafel eingeschlummert. Die Damen
hielten Schönheitsschlaf.

Da ertönte dieser entsetzliche Schrei!

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Er drang aus dem Erdboden, brach sich an den

meterdicken Grundmauern und verhallte fast ungehört.
Nur Paul, der diensthabende Wächter im Verlies, fuhr
erschrocken in die Höhe.

Es war der Schrei eines Menschen unter unerträglichem

Schmerz, in auswegloser Todesnot. Und so verzerrt er
auch klang, Paul erkannte die Stimme sofort.

Sie gehörte Haggan vom Horn, dem Gefangenen des

Königs.

»Hilfe! Hilfe!« brüllte Haggan. »Man hat mich vergiftet!«

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Paul sprang auf. Ein Zittern befiel ihn. Er wurde abwechselnd rot und
blaß. Eisiger Schreck durchfuhr ihn, dem siedendheiß fürchterliche
Ahnungen folgten. Er tat ein paar zögernde Schritte von der Bank
weg, auf der er es sich gerade mit einem Krüglein Branntwein
behaglich gemacht hatte.

»Hilfe! Wächter! Tod und Verdammnis, das Gift bringt mich um!«
So grauenhaft waren die Schreie, daß er sich am liebsten die Ohren

zugehalten hätte. Hastig griff Paul nach dem Schlüsselbund. Gift!
Wie konnte das nur geschehen? Er hatte mit eigener Hand die dünne
Gemüsesuppe aus der Küche geholt, sie herübergetragen und dem
Gefangenen gebracht.

»Hölle und Teufel! Kommt denn keiner? Soll ich verrecken?«
Wo kam das Gift her?
Plötzlich erinnerte sich Paul, daß er auf dem Weg von der Küche in

einem Gang die Schüssel abgesetzt hatte, um mit einer hübschen
Kammerfrau zu plaudern, die er verehrte.

Vor Angst brannten ihm die Fußsohlen. Während seines

Geschwätzes mit der Zofe hatte er nicht auf die Suppenschüssel
geachtet! Jeder konnte unbemerkt Gift hineingeschüttet haben ...

»Wächter! Wo bleibst du? Hilfe! Ich sterbe!« Die Stimme

überschlug sich in unvorstellbarer Qual.

Paul rannte schon zur Eisentür. Auf keinen Fall durfte Haggan

sterben! Er als Wächter bürgte dem König mit seinem eigenen Leben
dafür! Mit fliegenden Händen schloß er die schwere Eisentür auf und
trat in das tief unter der Erde gelegene, kreisrunde Verlies.

Wegen seiner besonderen Gefährlichkeit war Haggan mit Ketten

an die gegenüberliegende Wand gefesselt worden. Nicht einmal in
den zehn Tagen seit seiner Gefangennahme hatte man sie gelöst. Und
doch hatte dieser unbeugsame Mann seinen Kerkerwächtern bisher
immer in stolzer, ja hochmütiger Haltung entgegengeblickt und zu
ihnen in einem Tone gesprochen, als sei er ein Fürst, und sie seien
seine Sklaven.

Jetzt aber wand er sich, ein zuckendes Bündel, auf dem kotigen

Boden, wimmerte und stöhnte und schlug wie rasend mit den

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ungefesselten Beinen um sich.

Und immer wieder gellten die Schreie: »Hilfe! Gift! Ich verrecke!«
Die Ketten klirrten, als er die Hände auf den Magen preßte. Der

Schmerz schien seine Gedärme zu zerreißen.

Unschlüssig trat Paul an den Gefangenen heran. Blaß und verzagt

mühte er sich doch um einen beruhigenden Tonfall, als er ihn
ansprach: »Schon gut, Ritter Haggan. Ich bin ja da!«

Er kniete neben dem Schreienden nieder und beugte sich über ihn.
Im selben Augenblick schnellte der eben noch hilflos

zusammengekrümmte Gefangene wie eine angreifende Schlange
hoch, warf die mit Ketten gefesselten Arme um den Hals des
überraschten Wärters und drückte sie im Würgegriff zusammen.
Rostiges Eisen drückte gegen Pauls Kehle. Sein blasses Gesicht
verlor die letzte Farbe und wurde kalkweiß.

Er wollte nach Luft schnappen. Vergeblich. Nicht mal ein Seufzer

entfloh dem blutleeren Mund.

Ohne Gegenwehr sackte Paul zusammen.
Ein triumphierendes Lächeln kräuselte die strengen Lippen

Haggans. Er entriß dem Leblosen das Schlüsselbund und öffnete das
Schloß, mit dem seine Ketten an zwei eisernen Ringen in der Wand
befestigt waren. Dann tastete er mit den Händen Pauls Körper ab. Im
Wams fand er einen Hirschfänger. Den steckte er zu sich.

Dann stand er auf und ging, ohne noch einen Blick auf seinen

Kerker zu werfen, festen Schrittes zur Tür hinaus. Dort verhielt er
und lauschte.

Noch immer herrschte Stille im Schloß.
Ohne länger zu zögern, schlich Haggan die schier endlosen,

gewundenen Stufen empor, die nach oben in die eigentliche Burg
führten. Die Entbehrungen der letzten zehn Tage, das Leben in
Schmutz und feuchter Kälte hatten ihm nichts anhaben können. Auch
die abgerissene, zerfetzte Kleidung konnten das kundige Auge nicht
darüber hinwegtäuschen, daß Haggan ein ungewöhnlicher Mann war.

Das kantige, gebräunte Viereckgesicht umrahmte glattes schwarzes

Haar und ein wilder Vollbart. Unter den dichten Brauen waren

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tiefliegende scharfe graue Augen, die ständig eine Drohung
auszustrahlen schienen. Wenige hielten diesem stechenden Blick
längere Zeit stand.

Der Mann maß nur wenig über Mittelgröße, aber die wuchtigen,

breiten Schultern und die muskulösen Gliedmaßen vermittelten den
Eindruck gewaltiger Körperkraft.

Das war Haggan vom Horn, vor dem die Mächtigen zitterten, des

Königs Artus gefährlichster Feind!

Artus hatte es als einen glücklichen Tag bezeichnet, als das

Schicksal ihm diesen Ritter in die Hände spielte. Unverzüglich ließ
er ihn in den Kerker werfen und befahl, daß er nie wieder das Licht
des Tages erblicken solle.

Aber jetzt schlief der König wie seine Getreuen, und sein

Gefangener erreichte eben die Wachstube knapp unterhalb des
Erdgeschosses. Er suchte nach einer Waffe. Nichts! Da nahm er den
Branntweinkrug an sich, nachdem er einen kräftigen Zug daraus
getan, der Feuer in seine Adern jagte.

Oben spähte er geduckt hinaus. Vor ihm lag ein breiter Gang, an

dessen Wände einige Gobelins hingen. Sonst war der Gang leer.
Kein menschliches Wesen zeigte sich.

Beruhigt schlich Haggan weiter. Bald teilte sich der Gang.

Geradeaus ging es zur großen Halle. Haggan schnupperte. Er
brauchte nur dem Geruch zu folgen ...

Plötzlich erstarrte er. In der Halle rührte sich etwas. Die Hunde

waren aufmerksam geworden! Dann fiel ein Schatten in den Gang.
Der Schatten eines Mannes! Gedankenschnell zwängte sich Haggan
hinter einen Gobelin, der eine biblische Szene zeigte: Salome bringt
König Herodes das Haupt von Johannes dem Täufer.

Während sich Haggan mit angehaltenem Atem an die Wand lehnte

und wünschte, er könne mit ihr verschmelzen, dachte er daran, daß
Artus ihm das Schicksal von Johannes zugedacht hatte. Seine Hände
umschlossen den Griff des Hirschfängers und den Griff des Kruges.
Nie wieder würde er sich schmählich in Ketten schlagen lassen, um
später enthauptet zu werden!

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Näherten sich da Schritte? War er schon entdeckt? Jeden

Augenblick erwartete er einen Alarmruf. Erregt drehte er an seinem
breiten Siegelring, den ihm Artus' Häscher belassen hatten.

Doch nichts geschah.
Vorsichtig lüpfte Haggan den Gobelin. Der Schatten war

verschwunden! Haggan zögerte nicht länger. Er verließ das Versteck.
Wieder stieg ihm Küchengeruch in die Nase. An der Stelle, wo
weitere Gänge abzweigten, verharrte er kurz. Der Geruch schien von
links zu kommen. Nach 20 Schritten stand er vor einer Tür. Er hörte
Geschirrklappern und fröhliche Stimmen.

Haggan riß die Tür auf! Drei Küchenjungen in weißen Gewändern

starrten ihn an. Er ließ ihnen keinen Augenblick zur Besinnung. Den
Hirschfänger zwischen den Zähnen, stürmte er wie ein Orkan unter
sie. Den ersten packte er um die Hüfte, hob ihn, als wäre er eine
Feder, und warf ihn in den großen Suppenkessel.

Den zweiten stieß Haggan roh in eine riesige klebrige Teigmasse

und wälzte ihn darin umher, bis er in dem zähen Gemisch wie
gefesselt war.

Der dritte wandte sich zur Flucht. Haggan warf ihm den Krug an

den Schädel, erwischte ihn am Rockzipfel und drehte ihn wirbelnd
herum. Er zog ihn so dicht an sich heran, daß ihre Nasen sich fast
berührten. Sie hatten die gleiche Größe.

»Zieh dich aus!« zischte ihm Haggan ins Gesicht. Seine

tiefliegenden grauen Augen waren wie Dolche. »Runter mit den
Kleidern! Beeil dich, oder ich stoße dir den Hirschfänger in den Leib.
Und keinen Ton!«

Aschfahl im Gesicht, gehorchte der stämmige Küchenjunge.

Indessen hatte sich auch Haggan seiner arg mitgenommenen
Kleidung entledigt. Er warf sie seinem nackten Gegenüber vor den
dicken weißen Bauch. »Zieh das an!« Gleichzeitig griff er zu den
Küchenkleidern und stieg hinein.

Als er fertig war, tunkte er den Burschen, der im Kessel hockte,

noch einmal kräftig in die Abwaschbrühe und befahl ihm mit
erschreckender Geste Schweigen, so ihm sein Leben lieb sei. Dann

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verklebte er dem zweiten Burschen Augen und Mund mit einer
Handvoll Teig und schob ihn in den Backofen. Sein Glück wollte es,
daß kein Feuer darunter brannte.

Zitternd stand der Dritte in Haggans abgerissenen Kleidern vor ihm

und vernahm die scharfe Stimme des Gefürchteten: »Du rennst jetzt
durchs Burgtor ins Freie, als wäre der Gottseibeiuns hinter dir her!
Verstanden? Was sollst du tun?«

»Ich renne durchs Burgtor ins Freie«, stammelte der andere.
Haggan versetzte ihm eine schallende Ohrfeige. »Als wäre der

Gottseibeiuns hinter dir her!« fuhr er ihn in unterdrücktem Ton an,
der dennoch seine Wirkung nicht verfehlte.

»Als wäre der Gottseibeiuns hinter mir her!« wiederholte der

Küchenhelfer schlotternd.

»Du rennst und rennst - über die Zugbrücke und dann ins Tal zu

den Bauernhöfen ...«

»Ich renne und renne ...«
Schon traf ihn der nächste Schlag. »Laß mich ausreden, elender

Suppenrührer! Was auch geschieht, du hörst nicht auf zu rennen, und
wenn dir die Schildwachen das Hinterteil mit Pfeilen spicken! Du
rennst so lange, ohne dich umzuschauen, bis du besinnungslos zu
Boden fällst. Merk es dir! Denn sonst, du verdammter
Bratspießwender, dreh ich dir noch vor dem Abendläuten mit eigener
Hand dreimal den Hals um! Und nun fort mit dir!«

Haggan gab dem Jungen einen wuchtigen Stoß, und der rannte nun

wie ein Besessener in die angegebene Richtung. Durchs Burgtor an
den schläfrigen Schildwachen vorbei. Über die Zugbrücke. Und
hinunter ins Tal zu den Bauernhäusern in der Ferne. Mit Bedauern
sah Haggan, daß der Branntweinkrug zerschellt war. Dann verließ er
die Küche. In ruhigem Schritt näherte er sich den Wachen.

Er fand, daß sie dem Flüchtigen verdutzt und unentschlossen

nachschauten. Gerade rief der Wachhabende: »Männer, das muß der
Gefangene des Königs sein! Einen halben Dukaten dem, der ihn
wiederbringt! Drauf, ihr Männer, ihm nach!«

Und dann stürzten fast alle Wachen in höchster Eile dem

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Flüchtigen hinterdrein.

Haggan wartete, bis die Verfolger die Zugbrücke überquert hatten.

Nun schritt er ebenfalls lässig ins Freie. Niemand kümmerte sich um
ihn. Die Wachen waren es gewöhnt, daß die Bediensteten der Küche
häufig einmal herauskamen, um nach der Hitze von Herd und Ofen
frische Luft zu schöpfen.

Wo der Weg ins Tal führte, bog Haggan nach rechts ab und

erreichte, jetzt schneller ausschreitend, bald den Wald. Kaum war er
unter den mächtigen Buchen und hochragenden Tannen, als er
Hufschlag hinter sich vernahm. Er fuhr herum. Mit gezogenem
Schwert sprengte ein Reiter auf ihn los!

»Hab

'

ich dich, Schurke!« rief der Reiter. »Eine falsche Bewegung,

und mit dieser Klinge stoße ich dich nieder, daß du für immer das
Atmen vergißt!«

Ehe es sich Haggan versah, hatte ihm der Reiter eine Schlinge über

den Kopf geworfen, die langsam an seinem Körper herabglitt. Mit
einem Ruck zog der Reiter den Strick an, und die Schlinge schnürte
dem gestellten Flüchtling die Arme fest an den Leib.

Erbittert knirschte Haggan mit den Zähnen. »Du mußt der Schatten

sein, den ich im Schlosse sah«, murmelte er zornig. »Und ich
glaubte, dich getäuscht zu haben!«

Der Reiter frohlockte: »Schwarz wie Haar und Bart ist deine Seele,

Haggan. Und hättest du dich in einen Engel verwandelt und trügest
schimmernde Flügel auf dem Rücken und wäre der Schein des
Himmels um dich, dein rabenschwarzes Gelock verriete dich doch!«

Er riß sein Pferd herum und schlug den Rückweg zum Schloß ein.

Wohl oder übel mußte Haggan ihm folgen.

Doch sie hatten noch keine fünf Klafter zurückgelegt, als ein

hünenhafter, starkknochiger Graukopf aus dem Schutz der Bäume
trat, sich dem Pferd in den Weg stellte, mit einer Hand in die Zügel
griff und mit der anderen, die ein ungefüges Langschwert schwang,
zum Streich ausholte. Ehe der Reiter sich verteidigen konnte, stürzte
er schwer getroffen aus dem Sattel.

»Trumm!« rief Haggan überrascht und über alle Maßen erfreut.

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»Mein treuer Trumm! Du kamst im rechten Augenblick!«

Der grauhaarige Hüne überzeugte sich, daß der Reiter unter der

vereinten Wirkung von Schlag und Sturz das Bewußtsein verloren
hatte. Mit wenigen Handgriffen befreite er alsdann Haggan von dem
Strick, umarmte ihn freudig und rief: »Daß Ihr wieder frei seid, Herr,
ist der schönste Moment meines Lebens. Seit fünf Tagen und
Nächten harrte ich hier Eurer.«

Noch einmal tauchte er in den Wald und führte einen Fuchshengst

hervor, der Haggan mit einem Wiehern begrüßte. Der Ritter
entledigte sich rasch der Küchentracht und legte den Kettenpanzer
an, den Trumm ihm reichte. Sie bestiegen die Pferde, Haggan den
Fuchs, reckte sich in den Steigbügeln und schüttelte die Faust gegen
Schloß Camelot, das mit seinen weißen Mauern, den goldbedeckten
Zinnen und den schlanken Türmen wie ein steingewordenes Märchen
auf der Anhöhe emporragte.

»König Artus«, rief er mit einer Stimme, die Trumm frösteln

machte, »meine Rache wird fürchterlich sein! Und wären die Mauern
deines Schlosses 1000 Klafter dick und die Zahl deiner Ritter
unermeßlich, ich hole dich aus ihrer Mitte und reiße dir den Kopf
mitsamt der Krone von den Schultern!« Er hielt inne und sandte
einen letzten grausamen Blick zu Camelot hinüber. Dann klatschte er
mit dem Zügel auf den Hals des Fuchses.

*

Einmal in jeder Woche hielt König Artus Audienz, wenn er nicht
gerade auf der Suche nach dem heiligen Gral durch ferne Lande
streifte. Dann konnte jeder Untertan seines Reiches ihm dringende
Anliegen vortragen. Manchem wurde hier sein Recht, das er auf
andere Weise nie erlangt hätte.

Doch an diesem trüben Tage wurden alle Bittsteller schon vor der

Bannmeile abgewiesen und auf die kommende Woche vertröstet.
Denn schwere Sorgen suchten den König heim, und deshalb widmete
er die heutige Audienz nur einem einzigen Manne.

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Dieser Mann war Ritter Roland, den reitende Boten von einer

nahegelegenen Burg geholt hatten, wo er eine leichte Wunde
auskuriert hatte. Als der hochgewachsene blonde Mann im
hirschledernen Anzug des Jägers, von mehreren Pagen geleitet, zum
Thronsaal schritt, folgten ihm viele Blicke, in denen je nach
Geschlecht und Wesensart alle menschlichen Gefühlsregungen
verborgen waren: Bewunderung und Neid, Verehrung und Mißgunst,
Liebe und Abneigung.

Doch Roland nahm nichts davon wahr. In gesammelter Erwartung

schritt er an Hofschranzen und Dienern, an Rittern und Damen, an
Edelleuten und Gesinde vorüber, ohne ihrer zu achten. Hinter ihm
schloß sich die mit Gold- und Silberwerk verzierte mächtige
Flügeltür, und Roland sah sich dem König und zwei Rittern der
Tafelrunde gegenüber.

Nach der Begrüßung erteilte Artus dem einen seiner Paladine das

Wort. Und der hob an, die wildbewegte Geschichte derer vom Horn
zu berichten.

Es wuchs in Burgund der ungeschlachte Ritter Greif vom Horn auf

und erwarb sich alsbald den Ruf eines ungestümen und
unberechenbaren Mannes, der jedoch bei allen tollen Abenteuern
stets die Grenzen der Ehre wahrte und nie einer unredlichen oder
niederträchtigen Handlung bezichtigt wurde.

Greif hatte zwei Söhne, von denen jeder eine Seite seines

zwiespältigen Charakters geerbt zu haben schien.

Jorn, der jüngere, war allgemein beliebt wegen seiner ehrlichen

Gesinnung und seines freundlichen Wesens. Er war der Liebling des
Vaters und wich selten von seiner Seite.

Dagegen galt der ältere Sohn Haggan als finsterer Bursche, mit

dem nicht gut Kirschen essen war. Er hatte nur wenige Freunde,
wüste Gesellen. Die Frauen gingen ihm aus dem Wege. Die meisten
Männer mieden ihn. Wo immer er auftauchte, mit seinem
helmgleichen rabenschwarzen Haar und dem wirren Vollbart
verbreitete der stiernackige junge Ritter Unruhe und Leid.

Sein alter Vater Greif war froh, daß Haggan sich selten auf der

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Burg oder auch nur in ihrer Nähe aufhielt. Die Sucht nach
Abenteuern trieb Haggan in die Ferne. Selten hielt er sich an die
goldenen Regeln des Rittertums. Er raubte, vergewaltigte,
brandschatzte und erschlug.

Sein Gefolge verwandelte sich mehr und mehr in einen trunk- und

rauflüsternen Haufen von Raubrittern. Niemand war vor ihnen
sicher, ob Mann, ob Weib, ob reich oder arm. Immer üblere Kerle
sammelten sich um ihn. Ritter ohne Ehre, Knappen ohne Treue,
Dirnen und Verstoßene.

Bei ihren nächtlichen Gelagen träumten sie von dem ganz großen

Streich. Camelot wollten sie erobern, den weisen, gütigen König
Artus stürzen, alle Ritter der Tafelrunde ermorden, Haggan zum
neuen König krönen und dann eine Schreckensherrschaft errichten:
Willkür statt Gerechtigkeit, Gemetzel statt Turnier.

Haggan verschmähte das Wappen seiner Ahnen, den Greif, und

ließ sich ein neues Wappen auf den Schild malen: fünf schwarze
Wölfe mit roten Zungen auf silbernem Grund!

Wüste Reden führte der gefürchtete Ritter, wenn die Sprache auf

seinen Vater Greif und seinen jüngeren Bruder Jorn kam. Am
liebsten hätte er sie wohl auch umgebracht.

Selten tauchte er noch in der väterlichen Burg auf - und darüber

waren alle nur froh. Bei seinem letzten Besuch vor zwei Jahren aber
traf er dort ein reizendes Burgfräulein namens Griseldis an. Haggan
war sofort entflammt und warb mit der ihm eigenen Heftigkeit um
sie.

Doch die junge Schöne zeigte sich eher entsetzt denn

geschmeichelt und floh der Gegenwart des ungeliebten Verehrers,
wo es nur anging. Als er sie heftiger bedrängte, verbat sie sich in
klaren Worten jede weitere Annäherung.

Denn Griseldis, die Lieblingsnichte der Königsgattin Ginevra,

liebte Haggans Bruder Jorn, und es war ausgemacht, daß sie im
nächsten Monat Hochzeit feierten.

Als Haggan das erfuhr, bekam er einen Wutanfall und schwor, daß

er es ihnen allen heimzahlen werde. Wie ein Rasender verließ er die

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Burg.

Die Hochzeit fand statt. Nur ein Umstand sollte bald die glückliche

Ehe trüben. Vater Greif überlebte die Aufregungen nicht lange. In
seinem letzten Willen setzte er Jorn zum Alleinerben ein.

Auf die Nachricht von Greifs Tod stattete Haggan der Burg noch

einen Besuch ab. Er traf Griseldis allein, riß der Widerstrebenden die
Kleider vom Leib und vergewaltigte sie. Dann schloß er sie in der
Kemenate ein und legte Feuer. Die Burg brannte bis auf die
Grundmauern ab. Wie durch ein Wunder wurde Griseldis gerettet.

Haggan aber hatte sich in einen Hinterhalt gelegt. Dort lauerte er

Jorn auf und tötete ihn meuchlings. Mehrere Zeugen stellten ihn noch
mit dem blutbefleckten Schwert in der Hand neben dem sterbenden
Bruder. Haggan kämpfte sich den Weg frei und machte sich zu
seinen Raubrittern auf, um alles für die geplante Eroberung Camelots
vorzubereiten.

So eilig hatte er es, daß er Tag und Nacht querfeldein ritt, bis ihn

der Schlaf übermannte. Ein glücklicher Zufall wollte es jedoch, daß
eine starke Streife des Königs ihn, bevor er weiteren Schaden
anrichtete, schlafend antraf und gefangennahm.

Nach zehn Tagen im Kerker aber glückte Haggan die Flucht.
Reiner Zufall, daß diesmal kein Toter zu beklagen war. Der

Wächter Paul, die drei Küchenjungen und der Reiter, denen Haggan
so übel mitgespielt hatte, überlebten die schweren Mißhandlungen
und waren in der Pflege des königlichen Arztes.

Der Erzähler schwieg. Roland holte tief Atem, und sein Blick

suchte das Auge des Königs.

Im Thronsaal war völlige Stille. Aus dem Hof drang ab und zu

Hundegebell. Quer durch das Gemach fiel ein Streifen Sonne und
glitzerte auf der Krone. Roland senkte geblendet die Lider.

Mit fast geschlossenen Augen vernahm er Artus' leise Stimme, in

der verhaltene Leidenschaft bebte.

»Roland, Ihr habt manch starken Gegner niedergeworfen - nun

bringt mir diesen Mann, der wie ein Ungewitter mein Land
verwüsten will! Aber bewahrt Vorsicht und nehmt Euer Herz in

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beide Hände! Denn er ist der gefährlichste Gegner, dem Ihr je
entgegentratet. Er ist stärker als der grimme Bär, brutaler als der
rasche Blitz, gemeiner als die tückische Schlange und reißender als
die hungrigen Wölfe, die er im Wappen führt. Sein Wort ist Lüge,
und sein Tun ist Untat. Sein Dasein beleidigt das
Menschengeschlecht. Gürtet Euch, Roland, mit den schärfsten
Waffen, umgebt Euch mit erprobten Freunden und wappnet Euer
Herz mit stählerner Tapferkeit - sonst werdet Ihr unfehlbar
unterliegen. Roland, bringt mir Haggan vom Horn, den
Hochverräter!«

*

In aller Herrgottsfrühe ritt Roland davon. Er war allein. Allein mit
seinem herrlichen Rappschimmel Samum, den die Stallknechte
prächtig herausgeputzt hatten. Sogar ein Schachbrettmuster hatten sie
ihm ins Fell gestriegelt. Als einzige Begleitung hatten Roß und
Reiter ein kräftiges Packpferd.

Die Luft ging schneidend. Kahl standen die Bäume gegen den

fahlen Himmel. Schnee lag in der Luft. Roland ritt ostwärts, dem
Städtchen Beauvais zu. Hier hoffte er, Haggans Spur zu finden.

Denn der zweite Paladin im Thronsaal hatte ihm geheimnisvoll

mitgeteilt: »Dort wohnt der Kaufmann Klotz. Wenn überhaupt einer,
so muß er wissen, wo sich Haggans geheimnisvolle Zuflucht
befindet, in der er mit seinem Gesindel zu lagern pflegt. Klotz trieb
mit ihm Handel, soviel ist bekannt. Er kaufte sein Raubzeug. Bringt
Klotz zum Sprechen, und Ihr seid auf der Fährte!«

Roland blickte sich um. Nicht länger mehr grüßten ihn die

vertrauten Türme Camelots. Ein Hügel schob sich davor.

Roland hielt an. Ein Reiter jagte ihm nach. Es war ein junger Kerl

mit weichen Gesichtszügen, lang wehendem aschblonden Haar und
von schmaler Gestalt. In den hellen Augen stand Keckheit.

Nun war er heran und parierte seinen kleinen Grauen. Außer Atem

vom schnellen Galopp rief er: »Welch Glück, Euch noch zu

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erreichen, Ritter! Sehr früh begabt Ihr Euch auf den Weg. Ich nenne
mich Hein. Nehmt mich zum Knappen!«

Roland lachte. »Ich habe Boten zu Louis und Pierre geschickt, die

auf Urlaub weilen. Sie erwarten mich am Treffpunkt.«

»Nun, so nehmt mich, bis Ihr sie trefft! Ein Ritter ohne Knappe -

das ist wie ein Lenz ohne Liebe, wie ein Schwertarm ohne Kraft.«

»Deine Rede ist kühn, aber dein Körper wirkt schwächlich.«
»Täuscht Euch nicht, Ritter! Die schlanke Pappel überragt die

mächtige Eiche. Jagt mich nicht weg! Ich folge Euch doch. Ihr
braucht mich.«

»Ausgerechnet einen Hänfling! Kannst du überhaupt Reisig zum

Lagerfeuer tragen, ohne in die Knie zu gehen?«

Hein lachte. Es klang wie Vogelruf so hell. »So sprach mein

früherer Ritter auch!« Er nannte einen Namen, den Roland nicht
kannte. »Den ganzen Tag zog er mich auf. Doch als uns die sechs
Normannen überfielen, war er heilfroh, mich an seiner Seite zu
haben. Ihr hättet sehen sollen, welche Arbeit mein Schwert
verrichtete. Ich erledigte drei. Drei muskelstrotzende Normannen!«

»Und dein Ritter die anderen drei?« fragte Roland zweifelnd.
»Leider nicht. Zwei erschlug er. Der dritte überwand ihn. Ich sah

meinen Ritter sterben. Der letzte Normanne floh. Doch ich gebe die
Hoffnung nicht auf, ihn wiederzutreffen. Seine Kumpane sollten im
Jenseits wieder vollzählig sein. Laßt Ihr mich an Eurer Seite, Herr?«

Roland glaubte ihm wenig. Der junge Kerl prahlte. Er wollte ihm

ein hartes Nein antworten, ihn mit herrischer Gebärde wegjagen.
Aber da traf ihn sein schwebender Blick. Der rührte ihn. Ein Gefühl
ergriff Roland, über dessen Natur er sich nicht schlüssig wurde. Und
ohne es zu wollen, sprach er: »Nun wohl. Sei mein Knappe bis
Beauvais!«

*

Am Abend des sechsten Tages erreichten sie die Stadt. Die Tore
waren schon geschlossen. Aus dem schmalen Fenster des Torhauses

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blickte finster ein spitzbärtiger Mann auf sie herab. »Packt euch!«
rief er. »Kein Fremder bekommt Einlaß zur Nacht. Ihr mögt morgen
wiederkommen. Nur im hellen Tageslicht lassen sich Spitzbuben von
ehrlichen Männern unterscheiden.«

Roland hatte schon eine barsche Antwort auf der Zunge, da drängte

sich Hein auf seinem kleinen Grauen heftig an ihm vorbei. Sein
helles Haar wehte.

»Kein Wort weiter, du jämmerlicher Greis! Weißt du denn nicht,

wer hier Einlaß begehrt? Der hochberühmte Ritter Roland und sein
edler Knappe Hein, dessen Schwert schon manchen Schwätzer das
Schweigen lehrte! Heraus mit dem Schlüssel! öffnet das Tor!«

Sein Auftritt hatte zur Folge, daß sich eine Flut von

Beschimpfungen aus dem Fenster über die beiden ergoß. Hein
antwortete in gleicher Münze. Als das Wortgefecht auf dem
Höhepunkt war, flog eine enge Tür zu Füßen der Mauer auf, und ein
Trupp Stadtsoldaten quoll heraus. Drohend erhoben sie die langen
Spieße. Der Spitzbart zeterte: »Jagt sie davon!«

Anstatt ihn, wie er versprochen, das Schweigen zu lehren, riß Hein

erschrocken seinen Grauen herum und verbarg sich zitternd hinter
Roland. Der sah es mit spöttischem Lächeln, zog sein Schwert,
schlug mit der Breitseite gegen seinen Schild und gebot mit
mächtiger Stimme Ruhe.

Im flackernden, Ungewissen Licht zweier Fackeln standen sich die

Parteien unschlüssig gegenüber.

Der Spitzbart brach das kurze Schweigen. »Wenn Ihr wirklich ein

Ritter seid, und ein hochberühmter dazu, so werdet Ihr das Gesetz
der Stadt ehrfürchtig achten. Das Tor bleibt geschlossen für
jedermann. Und wenn Ihr noch so gewalttätig wärt, Ritter, gegen
diesen Wald von Spießen kommt Ihr nicht an.«

»Aber ich habe dringende Botschaft für Kaufmann Klotz«, sagte

Roland.

»Den kenne ich«, erwiderte der Herr des Tores trocken. »Der

empfängt niemand zur Nacht.«

Roland vermeinte, ein geringfügiges Zögern aus seinem Tonfall

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herauszuhören. Er beharrte: »Das kannst du schwerlich beurteilen.
Ich warne dich, dir Klotzens Wohlwollen zu verscherzen!«

»Nichts da! Kein Wort mehr! Das Tor bleibt geschlossen für

jedermann ...« Er ließ den Satz in der Schwebe und fuhr dann leiser
fort: »... es sei denn ...« Nun schwieg er endgültig und sah Roland
gespannt an.

Der Ritter streifte sich einen Handschuh ab und griff mit den

Fingern in den anderen. Langsam zog er sie wieder heraus. Die Hand
war nun geschlossen. »Es sei denn«, sagte er, nur für den
spitzbärtigen Wortführer vernehmlich, »ich besäße einen Magneten
für Euren Torschlüssel, nicht wahr?«

Dessen Augen funkelten begehrlich. Mit einer Handbewegung

scheuchte er seine Männer zurück. Als der letzte Spießträger in der
kleinen Pforte verschwunden war, fragte er Roland leise: »Besitzt Ihr
ihn denn, einen Magneten?«

Der Ritter öffnete die Hand. Ein Dukaten lag darin.
»Das Magnetchen möchte mir schon gefallen. Nur fürchte ich, es

ist zu schwach für den großen Schlüssel.«

»So will ich es verdoppeln«, sagte Roland und fischte einen

zweiten Dukaten aus dem Handschuh.

»Verdreifacht es, und das Tor wird geöffnet!«
Da spornte Hein sein Pferd und ritt den feilschenden Anführer der

Stadtsoldaten fast um. Nach dem Abzug der spießbewehrten Männer
war sein Mut offenbar wieder gewaltig gewachsen. »Nichts da!« rief
Hein. »Ein Dukaten genügt, oder wir stürmen das Torhaus.«

Der Anführer behielt die Ruhe. »Ein Schritt durch die Pforte würde

Euer letzter sein. Mit eingeschlagenem Schädel brächet ihr auf der
Schwelle zusammen.«

»Laßt Euch das nicht bieten!« forderte Hein seinen Ritter auf. Aber

Roland griff schon zum drittenmal in den Handschuh und zahlte dem
Torwächter, was er verlangt hatte.

Der wurde nun überaus freundlich. »Ich gebe Euch einen Soldaten

mit, der Euch auf schnellstem Wege zu Kaufmann Klotz führt«,
versprach er. »Als Fremde würdet Ihr in dieser Dunkelheit

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stundenlang vergeblich umherirren und sein Haus trotzdem nicht
finden.«

Hein zog ein ärgerliches Gesicht. Aber Roland, dem es darauf

ankam, keine Stunde zu versäumen, bedankte sich und folgte,
nachdem das Stadttor umständlich auf- und wieder zugeschlossen
war, dem entschlossen voranschreitenden Soldaten über den kleinen
Platz an der Innenseite der Stadtmauer in eine stockdunkle Straße.

Indessen begab sich der Spitzbart in das Häuschen zurück und

befahl seinen Soldaten: »Legt die Uniformen ab und schlüpft in die
Kapuzen! Jean führt die Fremden in die Irre. An dem bewußten Platz
legen wir uns in den Hinterhalt und erledigen sie.« Dann bestimmte
er zwei Männer, die den Posten am Tor halten sollten. Die übrigen
beeilten sich, die Maskerade zu vollziehen.

»Meinst du, daß sich der Überfall lohnt, Oberst?« fragte ein Soldat

den Anführer.

»Wer drei Dukaten so mir nichts dir nichts aus dem Handschuh

zieht«, entgegnete der, »trägt noch viele kleine Brüderchen am Leibe
versteckt!«

*

Seit einer halben Stunde folgten sie nun schon dem unbeirrt
vorantappenden Führer. Allmählich gewöhnte sich das Auge an die
Dunkelheit und unterschied Häuser, Fenster, Giebel, Straßenecken,
Brunnen und kleine Plätze.

»Herr Ritter«, flüsterte Hein. »Es kommt mir vor, als seien wir an

diesem gelben Haus schon dreimal vorbeigekommen. Ich fürchte, der
Mann führt uns falsch.«

»Warum sollte er?« erwiderte Roland unwillig. »Er sitzt doch

bestimmt lieber im warmen Torhäuschen, als sich hier nächtens die
Füße wundzulaufen.« Dieser Hein war doch gar zu ängstlich! Und
wie voll hatte er früher den Mund genommen! Man sollte einen
Aufschneider in Zukunft nicht Prahlhans nennen, sondern Prahlhein -
dachte Roland.

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»Ich erkenne das Haus aber an seinem winzigen Erker mit den

gekreuzten Gitterstäben davor«, beharrte der Knappe.

Aus einer Seitengasse erschien ein Schemen, der sich beim

Näherkommen in einen späten Heimkehrer verwandelte. »Sagt mir,
guter Mann«, rief Roland ihm zu, »sind wir auf dem rechten Weg
zum Kaufmann Klotz?«

Der Mann lüftete ein wenig die Kapuze, die fast sein ganzes

Gesicht verbarg, und erwiderte: »Das seid Ihr, Herr! Erlaubt, daß ich
mich anschließe! Ich wohne dem Kaufmann gleich gegenüber.«

Roland nickte befriedigt. Wer wollte schon etwas auf die

Fantastereien dieses jungen Burschen Hein geben, dem noch nicht
einmal die ersten Barthaare sprossen!

Doch schon war der Knappe wieder an seiner Seite. »Kam Euch

die Stimme des Mannes nicht bekannt vor, Herr Ritter?« raunte Hein.

Roland schüttelte den Kopf.
»Ich glaube, es ist der Oberst der Stadtsoldaten!« fuhr Hein in

ängstlichem Tone fort. »Hier stimmt etwas nicht. Eine Teufelei ist im
Gange ...«

»Schweig, feigherziger Jüngling, und verdächtige nicht ehrbare

Männer!«

Und fortan schwieg Hein beleidigt.
Nach einer Weile blieb ihr Führer, der bisher kein Wort

gesprochen, stehen und bedeutete Roland zu halten. »Verzeiht mir,
Herr Ritter, aber ich muß Euch jetzt bitten, abzusteigen. Vor uns liegt
die engste Gasse der Stadt, und an einem bestimmten Punkte stoßen
zwei gegenüberliegende Balkons fast aufeinander, so daß nur ein
Fußgänger darunter passieren kann, aber kein Reiter.«

»Bin sowieso froh, endlich aus dem Sattel zu kommen«, sagte

Roland und kam dem offenbar wohlgemeinten Rat nach. Hein folgte
seinem Beispiel.

Roland schritt weiter. Plötzlich wurde es so dunkel, daß er den

Führer nicht mehr sah. Dann blieb Samum stehen. Kein Aufmuntern
half. Der Hengst blieb störrisch. Er wollte nicht weiter. Roland ging
nach vorn, die Hände vorgestreckt. Er stieß gegen Mauerwerk. Eine

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Hauswand!

Mit leichtem Argwohn drehte er sich herum. Dies war eine

Sackgasse! Oder hatte er nur eine Biegung verpaßt? Wind fing sich
in dem Winkel, schnitt in die Augen und verschluckte Geräusche. Er
ahnte mehr, als daß er ihn sah, den Knappen.

Plötzlich spürte er, daß Hein aus irgendeinem Grunde nicht mehr

aufrecht stehen konnte. Seine Knie gaben nach. Der Oberkörper fiel
vornüber. Ein leises Ächzen kam aus seinem Mund. Sein Körper lag
zu Rolands Füßen. »Hein, was ist?«

Beunruhigt zog Roland das Schwert.
Sterne tanzten vor seinen Augen. Der Schädel dröhnte. Irgend

etwas war mit voller Gewalt auf seinem Helm gelandet. Er sprang
über den gestürzten Hein hinweg. Hier hatte er mehr Platz. Die
Sterne vergingen. Schattenhafte Gestalten umsprangen ihn. Hände
packten ihn.

Roland schüttelte sie ab. Er hob das Schwert.
Eine Stimme ganz in der Nähe sagte: »Heraus mit dem

Dukatenbeutel, und wir schonen Euch!«

Diesmal erkannte auch er den Tonfall. Es war wirklich der

spitzbärtige Anführer der Stadtsoldaten, wie Hein vermutet hatte!

Der heimtückische Überfall machte Roland zornig. Er hieb und

stach um sich. Wild tanzten die Schattenmänner durcheinander.
Wieder traf ihn ein Schlag. Seine Rippen dröhnten.

»Zurück!« rief Roland. Gleichzeitig machte er einen Ausfall. Die

Feinde wichen zurück. Niemand wollte mit seiner Klinge
Bekanntschaft schließen. So schaffte sich der Ritter Luft. In dem
engen Windfang wäre er verloren gewesen.

Hier war es heller. Über ein schimmerndes Schindeldach lugte der

Halbmond. Roland sah die Waffen der Gegner. Sie hatten die Spieße
zu Hause gelassen und trugen statt dessen Morgensterne und
Todeskugeln. Das waren Metallklumpen, die durch einen kurzen
Lederriemen mit einem festen Knüppel verbunden waren.

Der Mann, der ihm am nächsten war, schwang gerade die

Todeskugel gegen ihn. Roland sprang zur Seite und führte im

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gleichen Augenblick einen Hieb gegen den Lederriemen, Seine
Klinge durchschnitt ihn, und die Kugel flog auf ihn zu. Er fing sie
mit der Linken.

Und wieder vernahm er die bekannte Stimme vom Stadttor, leicht

verzerrt von Ungeduld und Ärger: »Streckt die Waffen, Ritter, und
rückt den Beutel heraus! Wir wollen Euch nichts Böses ...«

Roland warf die Kugel in die Richtung der Stimme. Er mußte

getroffen haben, denn es folgte ein greller Aufschrei. Erneut zuckte
Rolands Klinge im Mondlicht, und die Schatten wichen auseinander.

Der getroffene Anführer jammerte laut. Er beklagte seine Schulter

und seinen Arm. Wahrscheinlich war er im Gelenk getroffen worden.
Sein Heulen schwoll immer mehr an. Mehrere Stimmen geboten ihm
Ruhe. Aber er jammerte nur lauter.

Fenster wurden aufgerissen. Rufe erklangen: »Wer lärmt da

unten?«

»Überfall!« rief Roland aus voller Lunge. »Ergreift die Räuber!«
Den Angreifern wurde es mulmig. In aller Stille hatten sie Roland

und Mein abtun wollen. Aufsehen zu erregen, bedeutete ihnen fast
größere Gefahr als feindliche Waffen. Eine rauhe Stimme mahnte
zum Rückzug. »Weg mit euch, Kameraden! Verstreut euch! Und
schleppt den Obersten mit!«

Das aber wollte Roland nicht zulassen. Ungestraft und unerkannt

sollten die dreisten Banditen nicht entkommen! Bestimmt war es
nicht ihr erster Raubüberfall gewesen. Gelang ihnen die Flucht, so
war zu befürchten, daß sie ihre niederträchtigen nächtlichen
Verbrechen fortsetzen würden.

Mit Riesenschritten eilte Roland an die Stelle, wo der Anführer

zusammengesunken war. Der Kerl saß auf dem Boden. Mit dem
Rücken lehnte er an der Hauswand. Der Ritter stellte sich vor ihn, als
gelte es, den Leib eines lieben Freundes zu schützen.

Da sausten zwei Morgensterne zu gleicher Zeit auf ihn zu. Doch

rechtzeitig riß Roland das Schwert hoch, schlug von der Seite zu, und
der gute Stahl fraß sich durch das nagelbestückte Kernholz wie durch
Butter. Ungefährlich fielen die abgehackten Enden der gräßlichen

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Waffen auf die Erde.

»Flieht, Männer!« rief eine schrille Stimme. Die Kapuzenmänner

ergriff Panik. Soviel Widerstand waren sie nicht gewohnt. Doch
Fliehen erwies sich als schwieriger als gedacht. Denn nun waren sie
in der eigenen Falle gefangen. Aus den Häusern der Nachbarschaft
strömten beherzte Männer herbei und versperrten den Ausweg.
Keiner kam mit leeren Händen. Sie hatten zum Werkzeug gegriffen,
das ihnen sonst den Beruf ermöglichte. Der Metzger hielt das
Schlachtemesser, der Bäcker die Brotschaufel und der Schmied den
Hammer.

Dennoch gelang es im Handgemenge zwei Banditen zu

entschlüpfen. Drei aber wurden überwältigt. Rufe des Erstaunens
wurden laut, als man ihnen in die Gesichter leuchtete.

»Das sind ja Stadtsoldaten!«
»Hier liegt ihr Oberst!«
Dann umringten die Männer Roland und drückten mit schwieligen

Händen seine Rechte. Auf der nachtdunklen Straße herrschte
mittlerweile ein Trubel wie sonst nur an geschäftigen Tagen auf dem
Marktplatz.

Ein gewichtiger Herr, den eine silberne Halskette schmückte, nahte

bedächtig. Man öffnete ihm eine Gasse. Es war der Bürgermeister.
Roland erfuhr, daß er Beauvais hieß - wie die Stadt. Sicherlich hatte
dieser glückliche Umstand seine Wahl in das hohe Amt begünstigt.

Überglücklich bedankte er sich bei Roland, nachdem man ihn von

allem unterrichtet hatte: »Ihr habt mir und meiner Stadt einen
unschätzbaren Dienst erwiesen! Seit Monaten schon konnte sich
nachts kein Fremder auf die Straße wagen, ohne ausgeplündert zu
werden. Wie oft verlangte ich vom Obersten der Stadtpolizei, er solle
die Banditen fangen! Immer wieder fand er Ausflüchte und
Entschuldigungen für sein Unvermögen. Und nun stellt sich dank
Eures Heldenmutes heraus, daß er selber der Schuldige ist! Welch
eine Kanaille! Mißbraucht sein Vertrauensamt dazu, um mit seinen
Kreaturen Überfälle auszuführen und Menschen Schaden anzutun!
Ich bin erschüttert. Dieser Schuft, dieser Halunke, dieser

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Malefizkerl...«

Roland fiel ihm ins Wort. »Herr Bürgermeister, verzeiht... Mein

Knappe wurde verwundet. Ich muß mich um ihn kümmern.«

»Wie konnte ich das übersehen!« rief der dicke Würdenträger. »Ich

lasse den Tapferen sofort in mein Haus schaffen. Die denkbar beste
Pflege soll ihm dort zuteil werden. Auch Euch bitte ich, für die Nacht
mit meiner bescheidenen Hütte vorliebzunehmen.«

»Eigentlich war ich auf dem Wege zum Kaufmann Klotz.«
»Oh, zum Klotz wollt Ihr! Ein wohlangesehener Herr ist das. Er

macht glänzende Geschäfte. Doch rate ich Euch, ihn erst morgen am
Vormittag aufzusuchen. Seitdem die Überfälle begannen, fürchtet er
so um seine reichen Lager, daß er sein Haus vor Sonnenuntergang
bis zum Morgengrauen wie eine Festung verbarrikadiert hält und
niemanden einläßt.«

Wohl oder übel willigte Roland ein. Er mußte noch eine Weile

warten, bis Herr Beauvais alle notwendigen Anordnungen getroffen
hatte. Das Oberhaupt der Lohgerberzunft übernahm mit seinen
Männern den Abtransport der beiden Banditen und des verwundeten
Anführers ins Stadtgefängnis. Die Metzger machten sich auf, das
Torhäuschen zu besetzen. Und die Straßenfeger erboten sich, nach
den beiden geflohenen Banditen zu fahnden. Sie kannten von ihrer
Arbeit her jeden Winkel der Stadt.

Endlich folgte Roland dem Bürgermeister in dessen Haus. Es war

alles andere als eine bescheidene Hütte. Die zahlreichen Räume
sprachen von behaglichem, bürgerlichen Wohlstand. Überrascht sah
sich Roland plötzlich vier jungen Mädchen gegenüber, die wie die
Orgelpfeifen aufgereiht vor ihm knicksten.

»Meine vier Töchter«, stellte Herr Beauvais vor. »Wie Ihr seht,

zieren sie mein Haus aufs angenehmste, gemahnen mich jedoch auch
durch ihren bloßen Anblick daran, daß es mir noch obliegt, einen
Stammhalter zu zeugen. Bisher war mir das nicht vergönnt. Doch...«,
fügte er mit verschmitztem Ausdruck hinzu, »...noch ist nicht aller
Tage Abend!«

Seine Frau, die genauso dick war wie er, konnte daraufhin einen

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tiefen Seufzer nicht unterdrücken. Die Töchter erröteten und
schlugen brav die Augen nieder.

Nein, nicht alle vier! Die Älteste, die 18 Jahre zählen mochte,

schaute Roland frei und keck ins Auge. Wenn ihre Wangen glühten,
so nicht vor Scham, sondern vor innerem Feuer. Roland musterte sie
mit erwachendem Interesse. Sie war ein hübsches, wohlgestaltetes
Mädchen mit runden Hüften, was darauf schließen ließ, daß sie eines
Tages in ähnlichem Leibesumfang prangen würde wie ihre Eltern.

Man bemühte sich, Roland allerlei Erfrischungen anzubieten. Er

aber bat nur um ein heißes Bad und verlangte, nach seinem Knappen
zu sehen. Sofort wurde ein Dienstmädchen beauftragt, das Feuer zu
schüren, einen Kessel aufzusetzen und den Zuber zu richten.
Indessen betrat Roland besorgt das kleine Zimmer, in das man Hein
gebettet hatte.

Mit mattem, schwebendem Lächeln sah der Knappe zu ihm auf.
»Hast du Schmerzen?« fragte Roland.
Hein rollte mit den Augen. »Das Schlimmste ist vorüber. Als mich

der Schlag traf, war ich wie gelähmt. Noch als sie mich herschafften,
brannte mein Arm wie Feuer. Sie holten den Bader. Er meinte, der
Knochen sei heil, und verband die tiefe Fleischwunde. Nun befinde
ich mich ganz wohl.«

»Eine Nacht auf weichen Kissen - das wird dich wieder auf die

Beine bringen!«

»Mag sein. Doch hättet Ihr auf mich gehört, als ich Euch vor dem

falschen Führer und dem anderen Manne warnte, so wären wir ohne
Schlag und Gegenschlag davongekommen.«

»Das mag wohl sein. Ich habe derlei Hinterlist nicht vermutet.

Doch hat die Sache ihr Gutes. Die Schufte wurden entlarvt, und die
Stadt ist von einer Plage befreit. Morgen wird der Bader wieder nach
deiner Wunde sehen.«

»Nicht nötig, Herr Ritter. So ein Fliegenstich wirft mich nicht um!

Ich fühl's - morgen früh bin ich wieder der alte Raufbold, der sich
vor Tod und Teufel nicht fürchtet!«

Roland hatte Mühe, sich das Lachen zu verbeißen. Hein war

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unverbesserlich. Kaum befand er sich in Sicherheit, so brach seine
Prahlsucht wieder durch!

Er wünschte ihm eine gute Nacht. Als er noch einen Blick auf das

blasse ovale Gesicht mit den langen aschblonden Haaren warf, fühlte
er sich seltsam gerührt. Rasch verließ er das Zimmer.

Draußen empfing ihn die Dienstmagd, zeigte ihm die Waschküche

und den für ihn bestimmten Schlafraum und berichtete, die Familie
des Bürgermeisters habe sich zur Ruhe begeben. Roland entließ sie.

Aus dem Zuber dampfte es. Roland entkleidete sich, wusch Staub

und Blutspritzer von Gesicht und Händen und stieg dann vorsichtig
in das heiße Wasser. Eine Zeitlang meinte er zu verbrühen, aber mit
einem Schlag hatte er sich daran gewöhnt. Nun fühlte er sich
ungemein behaglich. Die Ereignisse des Tages verschwammen.

Er dachte an morgen. An Kaufmann Klotz. Von ihm hing es ab, ob

er Haggan aufspüren konnte. Er hoffte, daß seine Knappen Louis und
Pierre morgen Beauvais erreichen würden. Vielleicht auch sein
Freund Volker vom Hohentwiel, der fahrende Ritter und berühmte
Minnesänger.

Seine Gedanken verloren sich. Er wurde müde. Die Augenlider

fielen ihm zu. Er raffte sich auf, griff nach der Bürste und bearbeitete
damit seinen Rücken.

Plötzlich spürte er neben dem Borstenkratzer die Berührung einer

weichen Hand. Er warf die Bürste weg und überließ sich mit
wohligem Schauer dem prickelnden Streicheln. Erst nach einiger Zeit
warf er einen Blick über die Schulter.

Die älteste Tochter des Bürgermeisters stand da hinter ihm in

einem tief ausgeschnittenen weißen Nachtgewand, aus dessen
Spitzensaum die rosigen Knospen ihrer entzückenden Brüste
hervorlugten, und streichelte seinen Rücken.

»Jungfer!« stieß er erschrocken hervor.
»Mein Name ist Anni«, sagte sie lächelnd.
»Anni, ich bitte dich, verlasse sofort diesen Raum! Wenn deine

Eltern ...« Unbegreiflicherweise geriet Roland ins Stocken,
stammelte etwas von Bürgerehre und Gastrecht und schwieg dann

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verwirrt.

Ihre Hände glitten zu seiner Brust und wurden fordernder. Ihre

Zähne öffneten sich. Die Zungenspitze erschien zwischen den
weißen Perlen. Ihre Augen blickten begehrlich. »Wie Ihr befehlt,
Herr Ritter. Gleich begebe ich mich in mein Zimmer. Es ist das dritte
zur rechten Hand. Ich verriegle es nie. Wach werde ich liegen, bis...
bis Ihr kommt...« Ihre Hände glitten tiefer.

Platsch! Annis Hände tauchten ins Wasser. Sie beugte sich vor und

küßte Roland auf den Mund. Ihre vollen Lippen schmiegten sich
zärtlich auf seine.

Unwillkürlich hielt Roland ihre Hände fest und zog sie nach oben.

Dann machte er sich aus ihrer Umarmung frei.

Kopfschüttelnd sah sie ihn an. »Herr Ritter, ich begreife nicht...«
Er legte den Finger auf seinen Mund und winkte ihr, zu

verschwinden. Was sollte er ihr sagen? Er begriff sich ja selber nicht.
Aber wie konnte er den Verheißungen einer Liebesnacht nachgeben,
während unter demselben Dache sein junger Knappe Hein vielleicht
unter plötzlich wiederkehrenden Wundschmerzen litt?

*

Kaufmann Klotz war säbelbeinig und pockennarbig. Sein
abgewetzter, speckig schimmernder Tuchrock verriet nichts von dem
Reichtum, über den er verfügte. Fast unterwürfig empfing er Roland
und strich dessen gestrige Verdienste um die Stadt Beauvais mit
schmeichelnden Worten heraus.

»Verfügen Sie über mich, Herr Ritter!« sagte er. »Ich wäre

glücklich, Euch zu Diensten zu sein, obwohl ich bei Gott nicht weiß,
wie ich schwacher und unwürdiger Bürger einem Helden wie Euch
nützen könnte. Es sei denn ... Wünscht Ihr Stoffe zu kaufen? Oder
eine Rüstung? Oder Waffen? Sagt nur frei heraus, wonach es Euch
gelüstet! Kaufmann Klotz gibt alles wohlfeil her - vor allem dem
Ritter Roland. Und sollte es Euch an Geld gebrechen - Kaufmann
Klotz leiht Euch gern jede Summe und verlangt nur geringe zehn

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Prozent Zinsen. Das ist wie geschenkt!«

Roland hob abwehrend die Hand. »Nur eine Auskunft erbitte ich,

Klotz!«

Wenn Kaufmann Klotz einem anderen zuhörte, riß er die Augen

weit auf und öffnete leicht den Mund, als trinke er die Worte seines
Gegenübers wie einen köstlichen Saft.

»Ihr kennt Haggan vom Horn?« fragte Roland geradezu.
»Nur flüchtig. Wir trieben bisweilen Handel. Kauf und Verkauf.

Das ist nun vorbei. König Artus hält Haggan gefangen.«

»Nicht mehr«, sagte Roland. »Haggan entflohen.«
»Was Ihr nicht sagt! Welch großes Unheil! Man sagte mir, Haggan

vom Horn sei eine Bestie, die den Tod verdient.«

Wenn Kaufmann Klotz sprach, dann lehnte er sich mit

geschlossenen Augen weit zurück, als wolle er dem anderen die
geheimen Gedanken verbergen, die hinter den sorgsam gewählten
Worten stecken mochten.

»So heißt es«, sagte Roland ernst. »Und es heißt auch, daß Ihr,

Kaufmann Klotz, seinen Aufenthaltsort kennt.«

Die aufgerissenen Augen Klotzens verengten sich, wurden zu

Schlitzen und verschwanden schließlich hinter den schweren Lidern.
»Seinen Aufenthaltsort?« wiederholte er tonlos.

»Sein Versteck, seine Zuflucht, seinen Unterschlupf!«
Der Raum lag im Halbdunkel. Die in düsteren Farben gegossenen

Butzenglasscheiben der Fenster ließen nur wenig Helligkeit herein.
Klotz schwieg lange. Dann drang ein herzergreifendes Stöhnen aus
seiner Kehle.

Er sprang auf und marschierte auf Säbelbeinen, die überlangen

Arme mächtig schwingend, diagonal durch das Besuchszimmer,
wobei er mit klagender Stimme, als sei er den Tränen nahe, ausrief:
»Nichts weiß ich, Herr Ritter. Wer mag mich verleumdet haben? Ich
schwöre es Euch, daß ich gar nichts weiß von Haggans Umtrieben -
außer daß er mir noch hundert Dukaten schuldet. Beim Haupte
meines Kindes, beim Augenlicht meiner Mutter, beim unbefleckten
Ruf meines Hauses schwöre ich Euch: unwissend bin ich wie ein

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Neugeborener!«

So sehr Roland auch in ihn drang, Klotz wich von dieser Aussage

nicht ab. Der Ritter sah bald ein, daß er hier keine Auskunft erhalten
würde. In kaltem Ton verabschiedete er sich.

Er trat auf die Straße. Die Enttäuschung drückte ihn schwer. Was

war nun zu tun? Haggan war wie von der Erde verschwunden. Wenn
schon Kaufmann Klotz leugnete, sein Versteck zu kennen, so würde
es ihm niemand sagen können.

Wohin sollte Roland sich wenden? Noch nie war er so verzagt

gewesen. Schweren Herzens schritt er dem Haus des Bürgermeisters
entgegen.

Schon der Morgen war voll Aufregungen gewesen. Heins Wunde

hatte sich über Nacht entzündet. Man hatte zum Bader geschickt. Der
entfernte den Eiter, legte Heilkräuter und einen neuen Verband auf.

In aller Herrgottsfrühe waren, wie erhofft, Louis und Pierre

eingetroffen. Sie hatten sich zu Roland durchgefragt. Während Pierre
sich mit der Familie Beauvais am Frühstückstisch niederließ, um ihn
zwei volle Stunden lang nicht zu verlassen, nahm Louis einen
geflüsterten Befehl Rolands entgegen und ward nicht mehr gesehen.
Zu dem Zeitpunkt, da Roland von seinem vergeblichen Gang
zurückkehrte, war Louis noch nicht wieder aufgetaucht.

Selbst der Anblick der rosigen Anni riß Roland nicht aus seiner

Niedergeschlagenheit. Doch war es angenehm, wie sie um ihn herum
schwirrte und girrte. Ihr glattes freundliches Gesicht ließ nicht darauf
schließen, daß sie die ganze Nacht in vergeblicher Erwartung
Rolands wachgelegen hatte.

Um nicht unhöflich zu erscheinen, begann Roland ein

oberflächliches Gespräch mit ihr. Bald kam die Rede auf Kaufmann
Klotz. »Er treibt sogar mit dem Morgenland Handel«, verkündete sie
voll Bürgerstolz. »Bestimmt ist er der reichste Mann der Stadt.«

»Und sein Kind?« fragte Roland. »Ist es ein Sohn oder eine

Tochter?«

Sie schüttelte voll Mitgefühl den Kopf. »Das ist sein einziger

Kummer. Klotzens Ehe blieb kinderlos.«

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Roland horchte auf. Die Worte, die Klotz im Zimmer hinter den

Butzenscheiben so feierlich gesprochen, hatte er wörtlich im
Gedächtnis. »Kennst du zufällig seine Mutter, Anni?«

»Ich kannte sie flüchtig. Warum fragt Ihr? Sie ist seit vielen Jahren

tot.«

»Ganz recht. Ich glaube, er erwähnte es. Was ich noch wissen

möchte: ist er wohlgelitten in der Stadt? Ist sein Ruf untadlig?«

Sie kicherte. »Jeder stellt sich gut mit ihm. Aber es gibt manch

böses Gerücht. Und einige Leute gibt es, die er zugrunde richtete.
Dreimal wurde er wegen Wuchers angeklagt und mußte hohe Strafen
zahlen. Aber noch immer verleiht er Geld zu schlimmen Zinsen. Ein
Ehrenamt, wie mein Vater es innehat, würde man ihm seines
schlechten Rufes wegen nie antragen.«

In diesem Augenblick wurde Anni von ihrer Mutter gerufen, und

Roland blieb allein zurück. Seine Ahnung hatte ihn nicht getrogen.
Kaufmann Klotz wußte mehr über Haggan, als er zugab. Wieder
hörte er ihn mit bewegter Stimme schwören:

Beim Haupte meines Kindes, beim Augenlicht meiner Mutter, beim

unbefleckten Ruf meines Hauses ...

Kaufman Klotz hatte ihn schamlos belogen!

*

Vergnügt vor sich hinpfeifend, betätigte ein junger Jäger den
schweren bronzenen Türklopfer an Kaufmann Klotzens Haus. Als
die Dienstmagd ihm öffnete, bot er ihr zwei Hasen und fünf
Rebhühner zum Kauf an.

»Alles ganz frisch«, sagte er. »Erst heute früh habe ich die Tiere

mit Pfeil und Bogen erlegt.«

Die Dienstmagd musterte den etwas wild aussehenden Mann nicht

ohne Wohlgefallen, zögerte aber. »Wir kaufen sonst immer bei dem
alten Will ...«

»Der alte Will«, unterbrach sie der Jäger, »liegt krank im Bett und

bat mich, für ihn einzuspringen. Er verlangt für die Tiere anderthalb

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Dukaten.«

Wieder stutzte die Dienstmagd. So wohlfeil trennte sich der alte

Will doch sonst nicht von seiner Jagdbeute! Doch sie nahm das Wild
an sich und wandte sich zur Küche. »Wart einen Augenblick! Ich
hole dir das Geld.«

Als sie nach einiger Zeit wiederkam, wunderte sie sich, denn der

Jäger war verschwunden. Achselzuckend ging sie in die Küche
zurück. Er wird schon wiederkommen, dachte sie.

Sie ahnte nicht, daß der Jäger noch im Hause war. Er hatte sich,

kaum daß sie ihm den Rücken kehrte, auf leisen Sohlen eine Treppe
hinaufgeschlichen, die zu den Privatgemächern des Hausherrn
führten. Oben trat er vorsichtig in einen Gang, auf den mehrere
Türen mündeten.

Die eine stand ein wenig offen. Lautlos schlüpfte er hinein, und

lautlos schloß er sie von innen. Als erstes vergewisserte er sich, daß
er allein war. Ganz still stand er in dem prachtvoll eingerichteten
Schlafzimmer und lauschte. Von nebenan klangen Stimmen. Mit
unendlicher Vorsicht näherte er sich der Wand. Aber auch als er sein
Ohr dagegen legte, blieben die Stimmen unverständlich. Nicht mal
einzelne Worte waren zu unterscheiden.

Da bemerkte er dicht unter der Decke eine Klappe in der getäfelten

Wand. Mit den gleitenden Bewegungen eines geschmeidigen
scheuen Waldtiers trug er rasch ein Marmortischchen unter die
Klappe, stellte vorsichtig einen Stuhl darauf und kletterte dann
gewandt in die Höhe. Alles geschah völlig lautlos.

Als er auf dem Stuhl stand und sich reckte, war sein Kopf in Höhe

der Klappe. Er probierte vorsichtig mit den Händen. Die Klappe ließ
sich zur Seite schieben! Durch die entstandene unauffällige Öffnung
drangen die bisher unverständlichen Stimmen nun klar und deutlich
ins Schlafgemach.

»Mein lieber Lutz von Lutzerath«, sagte gerade Kaufmann Klotz.

»Die Nachricht von Haggans Entkommen kann nicht mehr
bezweifelt werden. Dieser Ritter, der mich des Morgens aufsuchte,
ist einer von des Königs einfältigen Turnierschlägern, der nicht ein-

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mal Fantasie genug hätte, um so etwas zu erfinden!«

»Nun, das ist doch höchst erfreulich«, antwortete der andere, der

demnach nur Lutz von Lutzgerath sein konnte. »Auch für dich,
Klotz! Wenn Haggan auf freiem Fuß ist, wird er dir bald wieder
reiche Beute bringen.«

»Wahrhaftig, Lutz?«
»Aber sicher. Ich kenne Haggan gut. Abenteuer sind sein Leben.

Da fällt immer Beute an. Er faulenzt keinen Tag.«

»Soll mir schon recht sein. Und deine Pläne, wenn ich fragen

darf?«

»Ich habe noch ein mehrtägiges Geschäft in der Stadt zu

erledigen«, sagte die Stimme des Ritters Lutz von Lutzerath, »das
von den deinen recht verschieden ist. Es handelt sich, im Vertrauen
gesagt, um eine Tuchhändlersfrau, deren Ehemann für einen Monat
auf Handelsreise ging. Dabei fällt mir ein - was wollte dieser Ritter
Roland eigentlich von dir? Solltest du ihn auf Haggans Spur setzen?«

»So ist es. Natürlich leugnete ich jede Kenntnis seines Verstecks.

Dessen genaue Lage kenne ich übrigens wirklich nicht. Denn den
Plan dazu übergab ich aus Gründen eigener Sicherheit, als Haggan
von Artus ergriffen ward, deinem Bruder, dem wohllöblichen Atz
von Atzerath, auf dessen fester Burg ein so gefährliches Dokument
weit besser verwahrt ist als in meiner schlichten Bürgerwohnung.«

Der heimliche Lauscher hatte genug gehört. Es wurde für ihn

höchste Zeit zum Rückzug. Bisher hatte ihm das Glück zur Seite
gestanden. Er wollte seine Treue lieber nicht auf die Probe stellen.

Doch beim Heruntersteigen passierte das Mißgeschick. Der Stuhl

kam auf der blanken Marmorplatte des Tischchens ins Rutschen und
fiel mit Gepolter auf den Fußboden!

Die beiden Männer im Nebenzimmer horchten auf.
»Was geschieht da in meinem Schlafzimmer?« verwunderte sich

Klotz.

Ritter Lutz von Lutzerath reagierte schneller. Er sprang auf, rannte

zum Gang und prallte vor der Nebentür mit Rolands Knappen Louis -
denn niemand anders als er war der Eindringling - zusammen. Louis

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versuchte den Ritter über den Haufen zu rennen. Aber er blieb mit
der Fußspitze an der Türschwelle hängen und stürzte vornüber.

Lutz griff gedankenschnell zu. Mit einer Hand packte er Louis am

Kragen seiner Lederjacke, die andere preßte er ihm gegen die Kehle,
daß dem Knappen die Luft wegblieb.

Indessen war auch Klotz auf den Gang getreten und fragte voll

Argwohn: »Wen haben wir denn da erwischt? Wer ist der
Schandbube, der sich in fremde Häuser einschleicht?«

»Das werden wir gleich erfahren«, erwiderte Lutz und schleifte

den vom Würgegriff halb bewußtlosen Louis in das
Besucherzimmer, wo er ihn gegen Klotzens Schreibtisch schleuderte.
Mit geschlossenen Augen rutschte der ertappte Lauscher auf den
Boden und lag in kläglicher Haltung da.

Lutz gab ihm einen Fußtritt. »He, du Lumpenkerl! Sag uns deinen

Namen und was dich hertreibt! Wolltest du etwa unser Gespräch
belauschen?«

»Er wird ein Dieb sein«, keifte Klotz. »Wir müssen seine Taschen

untersuchen!« Er tat es gleich selber, fand aber nichts als ein weißes
Tüchlein und einen halben Dukaten, den er verächtlich zu Boden
warf.

»Wirst du wohl antworten, wenn ich dich etwas frage?« rief Lutz

und stieß Louis mit dem Fuß an. Der rührte sich nicht und gab keinen
Mucks von sich.

»Er ist ohnmächtig«, bemerkte der Kaufmann. »Du hast ihn zu hart

angefaßt. Nicht daß er es nicht verdiente ...«

»Und wäre er nicht ohnmächtig, sondern schon halbtot, ich wollte

ihn doch zum Reden bringen!« Der Ritter sprach's und zog eine
Reitgerte hervor. Damit versetzte er Louis drei kräftige Hiebe, daß
Kaufmann Klotz schaudernd zur Seite blickte.

Nun wurde auch Lutz nachdenklich. »Sollte er wirklich hinüber

sein? Ein Wunder wäre es nicht bei meiner Stärke, die sich in
manchem Turnier bewährte! Doch wünschte ich nie, meine Kraft an
solchem hergelaufenen Lumpen zu erproben ...«

Klotz beugte sich zu Louis nieder. »Er ist tot«, sagte er nach einer

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Weile tonlos. »Er atmet nicht mehr.«

Lutz stieß einen Fluch aus. »Das bringt mir wenig Ehre.«
»Ehre!« rief Klotz und schloß die Augen. »Wer denkt bei so was

an Ehre! Mir bringt es schweren Verdruß, wenn man den Toten in
meinem Hause findet. Die Leute von Beauvais mögen mich nicht.
Natürlich ist das der reine Neid. Sie verübeln mir den günstigen
Gang meiner Geschäfte. Man wirft mir Knüppel zwischen die Beine,
wo es nur angeht. Unlängst klagten sie mich sogar des Wuchers an,
obwohl ich Geld zu nur zehn Prozent Zinsen an Honoratioren und zu
nur 20 Prozent an armes Volk verleihe ...»Er riß die Augen wieder
auf und blickte wie gehetzt umher, als könne jeden Augenblick der
Büttel eintreten und ihm die Hand auf die Schulter legen. »Ich hab'
eine Idee, wie wir uns seiner entledigen«, sagte Lutz, der die Ruhe
nicht verloren hatte.

»Dann sprecht!« forderte Klotz.
»Wir werfen ihn einfach aus dem Fenster. Draußen ist wüstes

Wetter, ein grauslich trüber Tag, kein Volk auf den Straßen. Zuvor
drücken wir ihm einen Krummdolch in die Hand - ich sehe genügend
Waffen an jener Wand hängen. Wenn man ihn findet, wird jeder
meinen, er sei in raubmörderischer Absicht am Haus
emporgeklettert, um durch ein Fenster einzusteigen, was er ja wohl
auch tat, und sei dabei abgestürzt und aus eigener Schuld zu Tode
gekommen.«

»Vortrefflich!« lobte der Kaufmann den arglistigen Plan.

»Vielleicht haben wir sogar noch das Glück, daß sich ihn im Sturz
der Krummdolch in den Leib bohrt.«

Ohne Verzug machten sie sich an die Ausführung, öffneten das

Fenster, fanden die Gasse menschenleer und hoben den nicht sehr
schweren Körper mit vereinten Kräften auf das Sims.

»Nun den Dolch in seine Hand!«
Auch das geschah.
Sie waren eben dabei, den reglosen Körper hinabzustoßen, als die

vermeintliche Leiche lebendig wurde. Louis hatte sie getäuscht. Er
konnte nämlich gut und gern 100 Atemzüge lang die Luft anhalten.

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Derlei Kniffe hatte ihn sein früheres Leben als Räuber in den
Wäldern gelehrt.

Plötzlich entglitten dem Kaufmann die Füße, die er angehoben

hatte. Und ehe er sich von der Überraschung erholte, trafen ihn diese
Füße mit solcher Kraft vor die Brust, daß er fast bis an das andere
Ende des Gemachs zurücktaumelte.

Aber auch diesmal war Lutz von Lutzerath auf der Hut. Er hatte

Louis an den Schultern ans Fenster getragen und ließ nicht los. Ja, er
verdoppelte seine Anstrengungen, um den von den »Toten«
Erwachten aus dem Fenster zu werfen.

Da spürte er plötzlich die Schneide des Krummdolchs an seiner

Kehle. »Loslassen!« herrschte Louis ihn an. »Oder ich mache Euch
kalt!«

Dem Ritter blieb nichts anderes übrig, als zu gehorchen. Ehe sich

Louis aber vom Fenstersims wieder in den Raum schwingen konnte,
hatte Lutz eine andere Waffe, ein Langschwert, von der Wand
gerissen und versperrte Louis den Weg zur Tür. Seine Haltung
verriet, daß er etwas vom Waffenhandwerk verstand ...

Und was sollte ein kurzer Krummdolch gegen ein Langschwert

ausrichten?

Louis ließ sich nicht einschüchtern. Er hatte seinerzeit viele

Lektionen von einem berühmten Fechtmeister erhalten und nichts
davon verlernt. So griff er jetzt mutig an. Seine Beine tanzten wie auf
einer Bauernhochzeit. Ein Irrwisch konnte nicht schneller im Raum
herumhuschen als er. Wie mit einem Säbel fuhrwerkte er mit dem
Krummdolch durch die Luft.

Da mußte Lutz gewaltig auf der Hut sein. Sonst hätte er sich gleich

im ersten Durchgang eine gefährliche Verwundung eingefangen, die
ihn kampfunfähig gemacht hätte.

Wieder und wieder kreuzten sie die Klingen, daß die Funken

stoben.

Allmählich gewann der Ritter die Oberhand. Die Ungleichheit der

Waffen machte sich im Lauf des Kampfes zu seinem Vorteil
bemerkbar.

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Klotz hatte sich ängstlich hinter seinen eichenen Schreibtisch

verzogen. Er war ein Mann des schnellen Geldes - nicht der
schnellen Klinge.

Aus sicherer Deckung verfolgte er zunächst besorgt, dann bald mit

größerer Zuversicht den Fortgang des Kampfes.

»Gib's ihm!« rief er haßerfüllt und schwenkte die überlangen Arme

wie Flegel. »Er brach den Frieden des Hauses! Jetzt hast du ihn! Er
wollte meine Gelder rauben! Jetzt ist er in der Klemme! Er wollte an
mein Leben! Hau ihm auf den Schädel!«

Nun hatte der pockennarbige Kaufmann keine Bedenken mehr, daß

man einen Toten in seinem Hause finden würde. Denn Louis starb ja
als Eindringling mit geraubter Waffe in der Faust - das konnte später
niemand ableugnen.

Der Knappe war in eine Zimmerecke gedrängt und wehrte sich nur

noch mit dem Mute der Verzweiflung. Doch keine Todesangst
lahmte seinen Arm. Im Innern aber verfluchte er sein Mißgeschick
beim Verlassen des Lauscherpostens.

Immer näher rückte ihm Lutz zu Leibe.
Ein Schlag ritzte Louis' Jägerjoppe auf. Danach rückte Lutz einen

weiteren Schritt vor.

Jetzt gab es kein Entkommen mehr.
Der nächste Streich würde den Knappen fällen.
Schon holte Lutz zum Todesstreich aus. Hoch schwang er das

Langschwert, höher als bisher!

Und da geschah es.
Als er die Waffe niedersausen lassen wollte, blieb sie mit der

Spitze im Kronleuchter hängen. Er riß und zerrte. Er fluchte, und
Klotz jammerte um sein schönes Stück.

Endlich hatte Lutz die Waffe frei und schlug zu. Doch wo Louis

eben noch gestanden, war jetzt nur noch die Wand. Und in die bohrte
sich die Schwertklinge.

Diesmal half kein Ziehen und Zerren, kein Toben und Stoßen. Das

Schwert ließ sich nicht mehr befreien. Zu tief hatte es sich in der
Wand verbissen.

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Klotz schloß schaudernd die Augen.
Der Krummdolch erschien drohend vor des Ritters Gesicht. Was

blieb Lutz übrig? Er mußte die Waffe loslassen und drei schnelle
Rückwärtsschritte tun. Geistesgegenwärtig griff er nach einem
breiten Ledersessel, um damit die erwartete Attacke des Gegners
abzuwehren.

Aber Louis hatte gar nicht die Absicht, den Kampf blutig zu

beenden. Nicht dafür hatte ihn Ritter Roland hergeschickt.
Kundschaften sollte er - und keine Wunden schlagen!

Deshalb warf er dem weichenden Lutz den Krummdolch vor die

Füße, sprang behend zur Tür hinaus und eilte, so schnell er konnte,
die breite Treppe hinunter.

Gerade wollte er unten die Haustür öffnen und ins Freie stürmen,

da trat ihm unvermutet die Dienstmagd entgegen. Sie schimpfte, aber
nicht allzu grimmig: »Ein saumseliger Vertreter des alten Will bist
du. Glaubte schon, du kämst nicht wieder. Hier, nimm dein Geld!«

Eilig griff Louis nach den anderthalb Dukaten, denn jeden

Augenblick konnte Lutz auf dem Treppenabsatz erscheinen.
Plötzlich aber gedachte er des halben Dukaten, den ihm Klotz
abgenommen hatte, als er ihn für tot hielt. Noch nie hatte Louis,
weder als Räuber noch als Schankwirt oder als Knappe, freiwillig
einen halben Dukaten fahrenlassen.

Und so rief er keck: »Ich hab mir's anders überlegt«, schaute aber

aus den Augenwinkeln unentwegt nach oben. »Fünf Stück Wild!
Dafür mußt du mir schon zwei Dukaten geben!«

Die Dienstmagd weigerte sich.
Louis ließ nicht nach.
»Gesagt ist gesagt!« rief die Dienstmagd zornig.
»Ich bleibe hier so lange, bis ich meinen Lohn habe!« beharrte

Louis. Im gleichen Augenblick erblickte er einen Stiefel des Ritters
auf der obersten Stufe!

Immer noch zögerte die Dienstmagd. Schon zeigte sich der zweite

Stiefel. Louis wich und wankte nicht.

»Geht!« rief die Dienstmagd und stampfte mit dem Fuß auf.

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»Nicht ohne den halben Dukaten, mein schönes Kind!«

schmeichelte ihr Louis, während schwere Schritte bedrohlich auf der
Treppe dröhnten und in der Hand des eilig nahenden Lutz ein neues
Schwert aus Klotzens Waffensammlung sichtbar wurde.

»Mein schönes Kind - hast du gesagt?« wiederholte die

Dienstmagd zweifelnd. »Meinst du das ehrlich?«

Nur zehn Stufen war Lutz noch entfernt.
»Kannst du zweifeln?« erwiderte Louis.
Die Dienstmagd strahlte und versenkte die Hand in der

Küchenschürze.

Lutz war bis auf fünf Stufen heran.
Der Dienstmagd fiel ein, daß sie trotz des Aufgelds noch günstig

davonkam, und sie hielt Louis den halben Dukaten hin.

Drei Stufen noch ...
Die Hand des Knappen griff wie eine Geierkralle nach der Münze,

und dann schoß er auf die Gasse hinaus, als stände sein Hosenboden
in hellen Flammen.

*

Im Haus des Bürgermeisters Beauvais hatte Ritter Roland mit
wachsender Ungeduld die Rückkehr seines Knappen Louis erwartet.
Als er endlich kam, schloß sich der Ritter sofort mit ihm in ein enges
Gemach ein und ließ sich im Flüsterton berichten.

In aller Ausführlichkeit erzählte Louis, wie er sich eingeschlichen

und seinen Lauscherplatz gefunden habe. Das Gespräch zwischen
Klotz und Lutz gab er fast wörtlich wieder. Dagegen verschwieg er
listig, wie es seine Art war, daß er schließlich entdeckt worden war -
und alle Begebnisse danach.

Das sollte sich noch als verhängnisvoll erweisen.
Sofort danach blies Roland zum Aufbruch. Vergebens baten ihn

Beauvais und seine ganze Familie fast mit Tränen in den Augen,
ihnen das nicht anzutun! Nie hätten sie liebere und verdienstvollere
Gäste gehabt.

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Umsonst verwies der Knappe Pierre auf die Annehmlichkeiten

eines Aufenthalts bei den Beauvais und die Unwirtlichkeit des
Reisens unter freiem Himmel beim augenblicklichen Wetter. Und
auch der Einwand von Louis, Lutz wolle sich noch mehrere Tage der
Liebe wegen in der Stadt umtun und könne daher keineswegs seinen
Bruder warnen, verschlug bei Roland nicht. Der befahl den
Abmarsch.

Die kleine Burg des Atz von Atzerath lag nur drei Tagereisen weit

nach Süden.

Zuvor aber besuchte Roland noch Hein, der blaß und still in seinen

Kissen lag. Er entlohnte ihn und entließ ihn aus seinen Diensten.
»Sobald Volker vom Hohentwiel hier auftaucht, sagt ihm, wir seien
nach der Burg des Atz von Atzerath geritten! Bewahre das aber vor
allen anderen als tiefes Geheimnis!«

Hein nickte. Er sah Roland aus seinen hellen schwebenden Augen

merkwürdig an. Auch Roland hatte ein eigentümliches Gefühl in der
Kehle, als er sich von ihm abwandte. Draußen empfahl er den
Verwundeten der besonderen Pflege der Jungfer Anni. Die hübsche
Tochter des Herrn Beauvais hatte für dieses Ansinnen aber nur ein
spöttisches Achselzukken übrig.

Am Stadttor trat zu Ehren Rolands die ganze Wache heraus und

erwies ihm Reverenz. Heute wurde sie von der Zunft der
Rosinenbäcker gestellt, was man unschwer an dem süßen Duft
merkte, der aus der Wachstube kam. Noch einmal bedankten sich die
wackeren Männer bei Roland und erzählten ihm, daß die von ihm
entlarvten Stadtsoldaten inzwischen im Gefängnis ihrem Prozeß
entgegensähen.

»Werdet ihr sie hängen?« fragte Louis.
»Wohl kaum«, war die Antwort, »selbst wenn sie es verdient

haben mögen. Wahrscheinlich werden sie ein paar Jahre lang
niedere, ungeliebte Arbeiten verrichten müssen. So nützen sie der
Gemeinde, die sie so lange betrogen, während ein Gehenkter nur den
Krähen und Raben nützt.«

Roland schmunzelte über diesen Beweis praktischen Bürgersinns.

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Dann ritten sie weiter. Louis führte das Packpferd.

Schon in den Gassen hatte es gestürmt. Doch vor den Toren der

Stadt empfing sie die Sturmsbraut mit überwältigendem
Temperament. Die Dämmerung fiel ein. Dunkle Wolken jagten
dahin. Die Bäume bogen sich unter dem Anprall heftiger Böen.

Sie ritten nach Süden. Aber es war schwer, die Richtung

beizubehalten, so gewaltig wehte es übers freie Feld von Westen her.
Pierre biß sich auf die Lippen. Zu klagen war sinnlos. In diesem
Tosen der Elemente wäre seine Stimme kläglich untergegangen.
Sehnsüchtig blickte er nach fernen Lichtpünktchen aus, die ein
Dörflein angekündigt hätten.

Vielleicht wäre es sogar in einem Wald ein wenig angenehmer?

Schützten Bäume nicht vor heftigen Stürmen? Aber - sagte sich
Pierre - heut war es wohl wahrscheinlicher, daß der Sturm Äste und
Stämme knickte, sie auf den Reiter warf und ihn erschlug.

Unmerklich ließ der Sturm nach. Langsamer wurde der Fluß der

Wolken. Schon erreichte ein hastig vorgestoßenes Wort das Ohr des
Kameraden. Nicht länger mehr wirbelte der Staub der Felder um die
Pferdehufe.

Dafür begann ein anderer Wirbel. Schnee! Er fiel nicht als sanfte

weiße Flockenpracht. In Bächen, die verwirrende Zickzackkurven
beschrieben, stürzte er aus dem schwarzen Himmel, der 200 Klafter
tief zu lasten schien. Er biß in die Haut, er näßte die Pferde, er
verwirrte den Blick.

Dann begann es zu grollen. Von fernher leuchtete es geisterhaft

über dem Horizont. Verängstigt murmelte Pierre Gebet um Gebet.
Und das Grollen wurde zum Donner, das ferne Leuchten zu
blendenden Blitzen, die neben ihnen in den Boden fuhren.

Während Schnee in riesigen Mengen sie umhüllte, brach ein

tosendes Wintergewitter los.

Die Pferde scheuten. Manchmal brachen sie, von einem besonders

hellen Blitz zu Tode erschreckt, mehrere Galoppsprünge in seitliche
Richtung weg, ehe der Reiter sie wieder in die Hand bekam.

Zuweilen sah man im Aufleuchten eines Blitzes noch einen

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Kameraden aus der Dunkelheit herausgehoben. Aber meistens war
nicht einmal der Hals des eigenen Pferdes zu erkennen.

Als die Gewalt des Gewitters gebrochen war, hatten sie einander

verloren. Der Schneesturm wütete weiter, und jeder war auf sich
allein gestellt. Vergebens blieben- Schreie. Vergebens war
angestrengtes Spähen in diese oder jene Richtung.

Nie kam Antwort. Nichts war zu sehen als eine graue Finsternis,

gebildet aus düsterster Nacht und Unmassen von Schnee.

So irrte jeder dahin und wußte nicht einmal, in welcher Richtung er

ritt.

Immer weiter gerieten sie auseinander. Die Pferde schnaubten. Sie

waren am Ende ihrer Kräfte. Die nassen Flanken zitterten. Der
Schnee drohte unüberwindlich zu werden. Manchmal brachen sie bis
zum Bauch ein.

Und als der Flockenwirbel nachließ, kam die Kälte ...

*

Pierre rief so lange nach den Gefährten, bis er heiser war und keinen
Ton mehr herausbrachte. Er hatte keine Ahnung, wo er sich befand.
Vielleicht war er im Kreis geritten?

Eine Zeitlang klammerte er sich an diese Vorstellung. Dann mußte

er ja früher oder später auf die Mauer der guten Stadt Beauvais
stoßen, die ihm jetzt als der Inbegriff aller Wärme und Geborgenheit
erschien.

Denn die Kälte, die über die schneebedeckte Ebene fiel, machte

ihm schwer zu schaffen. Er fror erbärmlich. Viel zu dünn war er
bekleidet. Da nützte ihm auch sein leichter Fettpanzer nichts. Mit
tausend Klingen schnitt der Frost in seinen Leib, und seine Zähne
klapperten wie Schlegel aufs Trommelfell.

Über ihm rissen die Wolken auf. Stücke des Himmels wurden

sichtbar. Einzelne Sterne flackerten trügerisch. Er erkannte keinen.
Keiner war ein Anhaltspunkt für ihn.

Er hatte Mühe, die Zügel festzuhalten. Sein Wallach tat ohnehin,

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was ihm einfiel. Das Tier war nicht weniger verwirrt als er. Häufig
blieb es einfach stehen.

Was treibe ich eigentlich hier? fragte sich Pierre. Er zitterte am

ganzen Körper und wußte sich nicht mehr zu erinnern, wie er in diese
fürchterliche Lage geraten war. Mißmutig rieb er sich die klammen
Finger. Selbst zum Beten war er zu schwach. Es war ihm, als trüge er
vor dem Gesicht ein undurchdringliches Visier aus dickem, starrem
Eis.

Als der Wallach sich wieder in Bewegung setzte, konnte Pierre

sich nicht mehr im Sattel halten. Sein Körper rutschte unaufhaltsam
ab. Er wehrte sich nicht. Er plumpste in den Schnee.

Es tat nicht weh. Weicher war er nie gefallen.
Plötzlich merkte er, daß die unerträglichen Schmerzen, die Frost,

Einsamkeit und Hoffnungslosigkeit ihm bereitet hatten, vergangen
waren.

Es war schön, so im Schnee zu liegen. Er sehnte sich nicht mehr

nach den Mauern von Beauvais. Hier war es doch bequem! Lag er
überhaupt auf Schnee? Oder war es ein unermeßlich großes Bett?

Gleichviel. Er fühlte sich leicht. So leicht, wie ein dicker Junge

sich nirgends sonst fühlen konnte. Und darum wollte er hier auch
bleiben. Für immer!

Schöner konnte es nirgends sein.
Er schloß die Augen. Die eisverkrusteten Lippen verzogen sich zu

einem glücklichen Lächeln.

Sanft berührte der Tod seine Stirn.

*

Zu keiner Zeit dachte Louis ans Aufgeben. Er richtete alle Sinne aufs
Überleben. Fremd war ihm solch Wetter nicht. Die Räuberjahre im
Wald hatten ihn gelehrt, alle möglichen Widernisse zu überleben.

Natürlich war es ein großes Glück, daß er das Packpferd bei sich

hatte. Es trug Decken, die er ihm bald abnahm. Bevor er eine um sich
schlang, breitete er je eine Decke über seine beiden Pferde. Nun

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konnten sie der einbrechenden Kälte viel besser trotzen.

Als die ersten Sterne aus der unermeßlichen Tiefe des Himmels

durch die Wolkenlöcher brachen, pfiff er fast vergnügt vor sich hin.
Er sah den unscheinbaren Polarstern, den er im Rücken behalten
mußte. Vor sich erblickte er die eindrucksvollen Schultersterne des
Orion.

Vorwärts! Es galt, keine Zeit zu verlieren. Sie mußten in

Bewegung bleiben. Keine Ebene ist unendlich. Irgendwann würde er
auf günstigeres Gelände stoßen. Wenn sein Reitpferd Miene machte,
stehenzubleiben, sprang er ab und stapfte selber voran.

Das tat gut. Es brachte das Blut in Wallung. Bevor er sich wieder

in den Sattel schwang, klopfte er den beiden Pferden den Hals,
richtete ihre Decken und sprach mit tiefer, beruhigender Stimme auf
sie ein.

So vermittelte er den Tieren eine Zuversicht, die er selber kaum

besaß. Wenn er dann wieder in den Sattel stieg, schritten sie so
unbekümmert durch den tiefen Schnee, als kämen sie eben aus dem
Stall auf eine grüne Wiese.

Allmählich gewöhnten sich die Augen des Knappen an die

Umgebung, die zuerst so völlig gleichförmig erschien. Er unterschied
kleine Bodenwellen. Er bemerkte hier und da einen kahlen Strauch,
der nur noch in erbärmlich wirkender Gebärde die Astspitzen aus
dem Schnee reckte. Dann richtete sich Louis jedesmal im Sattel auf,
um den Blick aus schmal zusammengezogenen Augenschlitzen über
das Gelände schweifen zu lassen.

Und er schnupperte. Er sog den Wind ein und prüfte seinen

besonderen Duft wie ein Wild.

Louis war ein Waldläufer. Seine Instinkte waren so scharf wie die

von Hirsch, Luchs, Marder und Wolf. Aber sein Verstand war
hundertmal schärfer.

Und dieser Verstand sagte ihm plötzlich, von Beobachtung und

Geruch angeregt, daß er nur um einen Achtelkreis nach links
abzufallen brauche, um auf Wald zu stoßen. Und im Wald würde er
diese entsetzliche Nacht, die mit immer grimmiger werdender Kälte

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vor ihm lag, überwinden. Dessen war er sich sicher.

»Vorwärts, meine munteren Hüpfer!« spornte er die Gäule an, die

erwartungsfroh die Ohren spitzten. »Spreizt eure zierlichen Beine,
spannt eure mächtigen Muskeln! Vorwärts, jetzt geht es ins gelobte
Land!« Und wieder teilte sich die Munterkeit seiner Stimme den
Tieren mit. Sie gehorchten ihm, als verstünden sie jedes Wort.

Ihm fiel ein Liedchen ein, das er oft von Volker gehört hatte. Und

inmitten trostloser Verlassenheit, todesstarrer Kälte und im Banne
einer immer größer werdenden Erschöpfung stimmte Louis das
Liedchen an:

»Weiß wie der Schnee, Still wie der See, Scheu wie das Reh -

Liebchen, bist du! Aber küsse ich dich, Änderst du dich ... Nicht
mehr so lind, Ich dich dann find, Sondern wild wie den Wind ...«

Das Liedchen brach ab. Teils weil Louis der Text ausging - teils

weil ihm der Frost zu scharf in die Kehle biß. Als der Hustenanfall
vorüber war, sagte ihm der nächste Atemzug, daß er dem Wald nun
ganz nahe war. Er roch Esche und Buche, Ahorn und Eiche, Tanne
und Fichte!

Der Wald! Die Rettung! Er würde Reisig sammeln und ein Feuer

entfachen. Das größte Feuer, das er je entfacht hatte.

Es dauerte nun nicht mehr lange, bis sie den Waldrand erreichten.

Louis sprang ab, ergriff den Zügel des Reitpferdes und ging
vorsichtig voran. Denn der Boden war schwierig. Umgestürzte
Stämme zwangen zu großen Umwegen. Wie leicht konnte sich ein
Pferd ein Bein brechen!

Darum ließ er beim Weiterschreiten größte Umsicht walten. Tiefer

drangen sie ein. Manchmal versank er bis an die Hüften in einem
Schneeloch. Dann wieder reichte ihm der Schnee nur bis an die
Fußknöchel, und er folgte diesem Wildwechsel so lange er konnte.

Große Schneeklumpen lösten sich aus den Baumkronen und fielen

ihm und den Pferden klatschend und kalt auf den Kopf und
Schultern. Er suchte nach einer Lichtung. Keine einfache Aufgabe,
denn je tiefer sie in den Wald eindrangen, um so schwärzer wurde
die Nacht. Hierhin drang kein Sternenlicht mehr.

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Plötzlich blieb er wie angewurzelt stehen. Er glaubte seinen Augen

nicht zu trauen. Durch die Stämme flackerte Feuerschein!

Er schloß die Augen und schüttelte unwirsch den Kopf.

Spukgeister narrten ihn. War es so weit gekommen, daß er Irrlichter
sah? Das durfte nicht sein! Wer denen vertraute - das wußte er - war
unrettbar verloren.

Er zwang sich zur Ruhe und blieb geraume Zeit mit geschlossenen

Augen regungslos stehen. Endlich öffnete er die Lider.

Es war nicht zu glauben! Noch immer flackerte Feuer, wo nur

schwarzer Wald sein durfte. Dreimal wiederholte er sein Manöver,
ehe er daran glaubte, was seine Augen ihm mitteilten. Aber erst dann
setzte er sich in Bewegung und ging auf das Feuer zu, als der Wind
seiner Nase den würzigen Geruch brennenden Holzes zutrug.

Tief aufatmend schritt Louis nun auf den Feuerschein zu. Es

dauerte viel länger, als er gedacht hatte, denn der Boden wurde mit
jedem Schritt unwegsamer.

Aber endlich wehte ihm wärmere Luft entgegen ...
Einige Schritte noch ... Der Wald öffnete sich. In der Mitte einer

großen Lichtung brannte ein Lagerfeuer, wie er es hatte entfachen
wollen. Die Scheite prasselten und knackten in der Winternacht. Die
Flammen schlugen hoch bis zur halben Höhe der Bäume. Funken
stoben. Gluthauch wehte herüber.

Zwei Schatten hoben sich vom Feuer ab. Jetzt wuchsen die

Schatten und verwandelten sich in zwei menschliche Gestalten. Zwei
dick vermummte Gestalten, deren Gesichter nicht zu erkennen
waren, starrten ihm entgegen.

Louis' Hand fuhr unwillkürlich zum Schwertgriff. Gleich darauf

schämte er sich dieser Bewegung.

Denn die Männer winkten ihm, ans Feuer zu treten. Einer ging auf

ihn zu und rief freundlich: »Komm näher, Fremder! Wärm dich und
deine Gäule! Sollst auch ein Schüsselchen voll heißer Suppe haben.
Komm! Hier ist es behaglicher.«

Louis sah, daß sie den Platz vom Schnee gesäubert hatten. Er stieg

vom Pferd und ließ sich zu Boden gleiten. Sogleich spürte er, wie

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müde er war. Es war ihm bisher überhaupt nicht zu Bewußtsein
gekommen. Dennoch wollte er sofort wieder aufspringen. »Meine
Pferde ...«, sagte er matt.

»Um die kümmert sich mein Freund«, sagte der eine

dickvermummte Fremde. Wirklich begab sich der andere, ohne ein
Wort zu äußern, zu den Tieren. Der erste, der Wortführer des
Zwiegespanns zu sein schien, fragte indes: »Wer bist du? Und was
treibst du hier?«

Nach kurzer Überlegung erwiderte der Knappe ausweichend:

»Mein Name ist Louis. Ich stehe im Ritterdienst und habe mich
verirrt.«

»Ich heiße Funkenmann!« erklärte der Fremde nicht ohne Stolz.

»Und mein Genosse nennt sich Schiebermann.« Er war sehr
gesprächig und setzte Louis ausführlich darüber in Kenntnis, daß sie
hier in diesem Teil des Waldes vom Unwetter überrascht worden
seien.

»Zum Glück fanden wir eine alte, halbverfallene Hütte. Dort

verbargen wir uns.«

Mit vielen Gesten schilderte er, wie sie während des Gewitters

wimmernd am Boden gelegen hatten und mehrmals glaubten, ihr
letztes Stündlein habe geschlagen. Viel schauriger rollte der Donner
im Wald als auf der Ebene, meinte er. Zudem folgte auf fast jeden
betäubenden Donnerschlag das nicht geringer laute Krachen eines
vom Blitzschlag gefällten oder durch den Sturm gestürzten Baumes.

Louis hörte ihm kaum zu. Wohlig räkelte er sich vor dem Feuer.

Doch als er unter dem Einfluß der Wärme das Blut wieder in seine
froststarren, bisher gefühllosen Hände und Füße strömte, spürte er
nach anfänglich angenehmen Kribbeln so zerreißenden Schmerz, daß
er am liebsten laut aufgeschrien hätte.

Nach dem Unwetter - berichtete Funkenmann eifrig - hatten es sein

Kamerad und er bei der einsetzenden Kälte nicht mehr in der
baufälligen Hütte ausgehalten. Sie rissen, was es an losen Balken und
Brettern gab, gänzlich herab und errichteten daraus das Lagerfeuer,
das sie seitdem ständig mit abgesplitterten Ästen fütterten.

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Allmählich ließen die Schmerzen in Louis' Händen und Füßen

nach. Die Wärme drückte auf seine Augenlider. Was hatte er auch
alles schon durchgemacht! Es war ja nicht allein der lange Ritt. Auch
der Kampf mit Lutz von Lutzerath hatte viele Kräfte gekostet. Als
Schiebermann, der inzwischen die Pferde abgesattelt, erfrischt und
trockengerieben hatte, mit einer Schüssel heißer Suppe kam, war
Louis schon fest eingeschlafen.

Die beiden Genossen schauten schweigend auf den friedlich

schlafenden Knappen. Schließlich ergriff Funkenmann das Wort.
Mitleidig sagte er: »Armer Kerl! Sitzt wahrscheinlich das ganze Jahr
über in einem behaglichen Burggemach. Kein Wunder, daß er bei der
leisesten Anstrengung aus dem Sattel fällt!«

*

Als Roland sich von seinen Knappen getrennt sah, wußte er gleich,
daß jedes Suchen bei diesen entfesselten Naturgewalten sinnlos war.
Er tröstete sich damit, daß sie ja früher oder später von allein
zusammentreffen würden. Das Ziel - die Burg des Atz von Atzerath -
kannten sie ja.

Wenn er sich Sorgen machte, so nur um seinen kostbaren

Araberhengst. Doch Samum ertrug Kälte und Schnee weit besser, als
er es bei einem so hochgezüchteten Tier für möglich gehalten hatte.
Der Hengst trabte durch den hohen Schnee fast so leichtfüßig wie auf
festem Boden. Er war wirklich ein Ausnahmepferd, wie es in jedem
Jahrzehnt nur einmal geboren wird!

Roland fühlte keine Müdigkeit. Das Wetter focht ihn nicht an. Als

Sohn armer Köhlersleute war er von früher Jugend auf daran
gewöhnt, die schlimmsten Wechselfälle des Klimas unter freiem
Himmel zu ertragen. Kein Blitz ängstigte ihn, kein Donner ließ ihn
zusammenzucken. Der wilde Tanz der Schneemassen hatte ihm sogar
eine geheime Freude bereitet. Und die folgende grimme Kälte
machte seinen Kopf klar, das Gemüt frei und belebte seinen Körper
wie ein Bad im frischen Quell.

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Er hatte sich vorgenommen, die Burg von Atzerath in zwei statt in

den üblichen drei Tagesritten zu erreichen. Und da Samum so willig
unter ihm ging wie stets, beschloß er, von diesem Vorhaben nicht
abzuweichen.

Er wollte die ganze Nacht durchreiten und sich und Samum erst am

Morgen drei oder vier Stunden Schlaf gönnen.

Zwischen den jagenden Wolken erschien hin und wieder der

Mond. In seinem bleichen Licht erblickte Roland weit vor sich
dunkle, geduckte Flecken im Schnee. War es ein Waldstück? Oder
ein Gehöft?

Roland hielt gerade darauf zu. Wenn dort Menschen wohnten,

konnte er sich von ihnen vielleicht bestätigen Lassen, daß er noch auf
dem richtigen Weg zur Burg von Atzerath war.

Samum, der bisher bemerkenswerten Gleichmut bewiesen hatte,

wurde plötzlich unruhig. Seine Schritte wurden kürzer. Ein Zittern,
das nicht von der Kälte herrührte, durchlief seine Flanken. Irgend
etwas flößte dem stolzen Araber Furcht ein.

»Ruhig, Samum!« sagte Roland. »Es ist nichts ...«
Der Hengst war aus dem Trab in einen zögernden, fast stolpernden

Schritt verfallen. Alle Versuche des Ritters, ihn aufzumuntern,
schlugen fehl. Samum benahm sich widerborstig, bockte und brach
mehrmals zur Seite weg.

»Samum!« rief Roland ärgerlich. Aber da sein stolzes Pferd noch

nie ein solches Verhalten an den Tag gelegt hatte, widerstand er der
Versuchung, es zu strafen. »Komm, sei ein guter Kerl! Geh, geh!«

Doch nun blieb Samum, am ganzen Körper zitternd, endgültig

stehen.

»Nun, wenn du es nicht anders willst...«
Roland stieg ab. Er klopfte Samum den Hals, zog sein Schwert und

ging zu Fuß weiter. Die Augen hielt er unverwandt auf die
rätselhaften dunklen Flecke in der eintönig weißen Landschaft
gerichtet, die ein Gemäuer, ein Gehölz, ja sogar eine Tierherde sein
konnten. Im Ungewissen Licht dieser stürmischen Nacht erlangte
auch das schärfste Auge keine Gewißheit.

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Unheilverkündend knirschte der Schnee unter Rolands Füßen. Der

Ritter ruckte an Samums Zügel. Aber der Hengst wollte ihm nicht
mehr folgen. Er stemmte sich mit den Vorderbeinen gegen den
Boden und gab keinen Fußbreit nach. Da ließ Roland den Zügel los
und schritt allein weiter.

Nach zehn Schritten blieb er stehen, um zu lauschen. Der Wind

fuhr mit schaurigem Singen durch die aufgehäuften Schneehügel.
Nachtvögel stießen unheimliche, klagende Töne aus. In der Ferne
heulte ein Tier. Ein Hund? Oder ein Wolf?

Was waren das für Bewegungen vor ihm?
»Holla!« rief Roland laut. »Ist da jemand?«
Es dünkte Roland, als bekomme er Antwort. Sie klang hohl und

war kaum zu verstehen.

Da merkte er, daß es das Echo seiner eigenen Worte war.
Noch mehrmals wiederholte er den Ruf. Jedesmal antwortete ihm

nur sein Echo.

Da faßte er sein Schwert fester und ging ohne weiteres Zögern auf

die geheimnisvollen dunklen Flecken in der weißen Einöde zu.

Beim sechsten Schritt wankte der Boden unter ihm!
Ringsum krachte und polterte es.
Entsetzt wollte Roland zurückspringen.
Aber es war schon zu spät. Sein Fuß fand keinen Halt mehr. Die

Erde gab nach. Wie durch Zauberei versank Roland im Boden.

Er warf die Arme zur Seite und den Kopf nach hinten.
Aber da verschwand schon der Himmel mit den gezackten Wolken

und den matten Sternen vor seinen Augen. Roland stürzte
unwiderruflich ins Leere.

Eine Ewigkeit schien dieser Sturz ins Innere der Erde zu dauern.
Dann war er jäh zu Ende. Mit furchtbarer Wucht schlug Roland in

der Tiefe auf, und sein Bewußtsein verlöschte auf der Stelle.

*

Anni Beauvais, die Tochter des Bürgermeisters, trat rasch in den

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Raum, in dem der leicht verwundete Hein ruhte. »Bist du wach,
Kleiner?«

Er schlug entrüstet die hellen Augen auf.
»Schon wieder ist ein Ritter gekommen«, sagte sie. »Soll ein

berühmter Sänger sein. Nennt sich Volker vom Hohentwiel. Er will
dich sprechen.«

»Bitte ihn herein!« forderte Hein sie streng auf.
»Gleich, gleich! Nur nicht so ungestüm! Meine drei Schwestern

sind bei ihm. Sie himmeln seine romantischen schwarzen Locken,
den frech gezwirbelten Schnurrbart und seine munteren grünen
Augen an. Ich weiß nicht - mir gefällt er nicht so besonders ...«

»Ich sagte: bitte ihn herein!« unterbrach sie der Verwundete und

hob drohend den verbundenen Arm.

Seine Unterredung mit Volker war von kurzer Dauer. Sobald der

Sänger vernommen hatte, daß Roland ihn auf Burg Atzerath erwarte,
sprang er auf und wollte davoneilen. Doch schließlich hörte er sich
noch Heins Bericht über Rolands Abenteuer in Beauvais an.

Dann fragte er kurz: »Willst du mich begleiten?«
»Ich fühle mich noch zu schwach«, sagte Hein. »Meine

Armwunde...«

Doch Volker war schon aus der Tür, Eine Stunde später kam Anni

erneut zu dem Knappen. »Meine Schwestern weinen
herzzerreißend«, berichtete sie herablassend. »Und warum? Nur weil
dieser Lockenkopf mit der Fiedel auf dem Rücken uns schon wieder
verließ! Beim Himmel, was sie nur an ihm finden! Gegen Roland
verblaßt er - wie alle!«

»Ja, Roland«, seufzte Hein.
»Kann ich dir ein Geheimnis anvertrauen?« fragte Anni eifrig.
Der Knappe war nicht sonderlich begierig auf die Geheimnisse der

Bürgermeisterstochter, aber da er sich ein wenig langweilte,
ermunterte er sie, ihm ihr Herz auszuschütten.

Ohne weiteres platzte sie heraus: »Ritter Roland liebt mich.«
Hein richtete sich auf. »Du lügst!«
Ohne seinen heftigen Einwand zu beachten, fuhr Anni

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schwärmerisch fort: »Gleich am ersten Abend gestand er mir seine
Gefühle. Es geschah, als ich ihn im Zuber mit heißem Wasser badete.
Oh, er hat einen herrlichen Körper, dein Ritter! Ich versah mich
keines Bösen, da umarmte er mich plötzlich und flüsterte mir Worte
ins Ohr! Worte, sag' ich dir! Oh, was für Worte er raunte! Ich wette,
du kennst derlei Worte nicht einmal! So feurig war er, daß fast der
Zuber umgestürzt wäre!«

»Ich glaube dir kein Wort«, flüsterte Hein.
»Nun«, sagte Anni lachend, »das liegt ja nur daran, daß du

Milchbart überhaupt nichts von der Liebe verstehst. Womöglich hast
du noch nie mit einem Mädchen das Lager geteilt. Nun?«

Verlegen wendete Hein den Kopf ab.
Triumphierend schloß Anni ihren Bericht: »Da ist dein Ritter

Roland aus anderem Holz, mein Lieber! Er nahm sich nach dem
aufregenden Bad kaum die Zeit zum Abtrocknen. So eilig hatte er es,
in meine Kammer zu kommen, die er erst nach dem dritten
Hahnenschrei verließ. Ach, was weißt denn du, du ...« Anni suchte
nach einem Wort, in das sie ihre ganze Überlegenheit verpacken
konnte: »... du jugendlicher Jüngling!«

Den Kopf hoch erhoben, rauschte sie stolz zur Tür hinaus.
Hein blieb unbeweglich liegen. Er war fast völlig unter der

Bettdecke verschwunden. Manchmal bewegten sich seine blassen
Lippen und formten den Satz: »Sie lügt ja ...«

Plötzlich warf er das Bettzeug von sich, sprang auf und kleidete

sich in Windeseile an. Er raffte seine Waffen und die wenigen
anderen Habseligkeiten zusammen, die er besaß, fand den Weg zum
Stall, band seinen kleinen Grauen los, saß auf und ritt, ohne nach
rechts oder links zu sehen, zum Stadttor. Dort erfuhr er auf Befragen,
daß Ritter Volker vom Hohentwiel die Stadt erst vor kurzer Zeit auf
dem gleichen Weg verlassen hatte.

Heute hatten die Lohgerber die Wache übernommen, und statt

nach Zuckerwerk roch es nach herberen Düften, so daß sich Hein
verstohlen die Nase zuhielt.

Der Wachhabende spähte über die verschneite Ebene, über der sich

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ein klarer Winterhimmel spannte. Schließlich machte er in der Ferne
einen winzigen schwarzen Punkt aus und erklärte mit großer
Bestimmtheit: »Dort, junger Herr, dort reitet Volker vom
Hohentwiel!«

Noch nie hatte sich der kleine Graue so anstrengen müssen wie an

diesem Tage. Unerbittlich trieb Hein ihn an.

So war noch keine Stunde vergangen, als Volker hinter sich Rufe

hörte. Er hielt an und wartete geduldig, bis Hein mit flatternden
Haaren und geröteten Wangen herangaloppiert kam. In seinen hellen
Augen leuchtete ein kecker Mut.

»Welch Glück, daß ich Euch noch einholte, Herr!« rief Hein.

»Sonst wärt Ihr womöglich mutterseelenallein nach Atzerath und ins
Verderben geritten.«

»Was für ein Verderben?« fragte Volker verwundert.
»Ich traue diesem Atz jede Scheußlichkeit zu«, versetzte Hein mit

wissendem Gesichtsausdruck. »Nehmt mich zum Knappen, Herr,
und es wird Euch niemand zu nahe treten!«

»Aber vor kurzem fühltest du dich noch zu matt zum Aufstehen

und klagtest über Schmerzen in deiner Armwunde ...«

»... die ich empfing, als ich Euren Freund Roland aus den Händen

mordgieriger Banditen rettete!« rief Hein voller Stolz. »Es ist wahr,
manch anderer würde solche Wunde noch wochenlang pflegen. Aber
Ihr müßt wissen, ein Rauhbein und Draufgänger, wie ich es bin, den
hält es nicht daheim, wenn er weiß, daß Ritter zu Abenteuern
aufbrechen.«

Zweifelnd betrachtete Volker die schmale Gestalt des Jungen.

»Deine Rede klingt mutig, aber ich fürchte, daß dein Anblick keinem
Gegner Schrecken einflößt.«

»Um so besser! So wird er mich unterschätzen und um so gewisser

in die Grube fahren, wenn meine Klinge ihn überrascht. Nehmt mich
mit, Ritter, Ihr werdet mich doch nicht los!«

Volker hatte auf seinen zahllosen Fahrten schon die seltsamsten

Vögel kennengelernt und hatte deshalb ein weites Herz auch für
absonderliche Gesellen. Lachend fragte er: »Kannst du singen,

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Knappe Hein?«

»Ja, Herr. Vor allem Eure Lieder.« Und er sang glockenrein ein

paar wohlbekannte Verse:

»Weiß wie der Schnee, Still wie der See, Scheu wie das Reh,

Liebste, bist du!«

Volker nickte zufrieden. »Bleibe bei mir! Du kannst gut die zweite

Stimme übernehmen. So werden wir uns also unterwegs die Zeit mit
Chorgesang vertreiben!«

»Einverstanden, Ritter. Aber auch wenn Ihr anders entschieden

hättet, wärt Ihr mich nicht losgeworden. Ein Raufbold wie ich ist von
niemandem zu bändigen!«

*

Roland erwachte. Alles war in ein Ungewisses Graulicht getaucht. Er
hatte Schwierigkeiten, sich zu orientieren.

Seine letzte Erinnerung war dieser furchtbare Sturz. Noch dröhnte

ihm der Kopf. Er wagte kaum, sich zu bewegen. Alle Knochen im
Leibe taten ihm weh.

Erst als sich seine Augen an das Halbdunkel gewöhnt hatten,

konnte er sich ein Bild der Umgebung machen. Er lag auf dem Grund
einer wohl sechs Klafter tiefen Grube, deren Seitenwände senkrecht
in die Höhe wuchsen. Oben war die Grube mit Latten und ineinander
verwobenem Flechtwerk aus Laub und Zweigen kunstvoll abgedeckt.
Nur gerade über ihm war ein unregelmäßig gezacktes Loch, durch
das etwas Tageslicht sickerte.

Dieses Loch hatte er bei seinem Sturz gerissen!
Ihn schauderte. Er mußte dem Schicksal dankbar sein, daß er den

Fall in solche Tiefe lebend überstanden hatte. Und dennoch war es
kein Wunder. Es war in Wirklichkeit eine natürliche Folge seiner
unermüdlichen Übungen bei den täglichen, stundenlang währenden
Ritterspielen auf Schloß Camelot. Jeden Teil eines echten
Turnierkampfs hatte er da wieder und wieder geprobt - nicht zuletzt
das Fallen von dem in vollem Galopp dahinjagenden Pferd.

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Trotzdem hatte er Glück gehabt! Denn jetzt erkannte er, daß in

unregelmäßigen Abständen ein Klafter lange, oben zugespitzte
Pfähle aus dem Grund ragten. Wäre er auf einen gefallen, so hätte er
einen grauenvollen Tod erlitten! Und der nächste Pfahl war nur einen
halben Schritt entfernt ...

Bei dieser Vorstellung drehte sich Roland der Magen um. Er brach

alles heraus, was er in den letzten 24 Stunden zu sich genommen
hatte.

Einem anderen Wesen war es schlimmer ergangen als ihm.

Gegenüber hing der Kadaver eines gepfählten Wolfes!

Nun begriff Roland auch, wovor Samum gescheut hatte. Der

Hengst hatte den Wolf gewittert...

In diesem Augenblick gab sich Roland das Versprechen, in

Zukunft den Instinkten seines treuen Pferdes zu vertrauen.

Aber hatte er überhaupt noch eine Zukunft? Aus eigener Kraft

konnte er diese Grube nie verlassen. Die senkrechten Wände waren
unersteigbar. Es sei denn, er hätte ein Werkzeug. Roland überlegte.
Vielleicht gelang es ihm, einen Pfahl aus dem Boden zu reißen und
mit seiner Hilfe Stufen in die Wand zu bohren? Aber wie sollte er
das ungefüge Werkzeug handhaben, sobald er einmal den festen
Grund verlassen hatte und in der Wand hing?

Ein Schauer überlief ihn.
Plötzlich hörte er Geräusche von oben. Es wurde merklich heller.

Dort, wo an der gegenüberliegenden Ecke zwei Wände im rechten
Winkel aufeinanderstießen, riß eine unsichtbare Hand ein Stück der
Auflage ab. Gespannt richtete Roland die Augen auf diese Stelle.

Durch die neugeschaffene Öffnung wurde jetzt eine rohgezimmerte

Leiter herabgelassen. Als sie fest auf dem Boden stand, reichte sie
mit dem oberen Ende noch zur Öffnung hinaus.

Eine Weile geschah nun gar nichts.
Dann schoben sich lange, in Fellhosen gekleidete Beine in Rolands

Blickfeld. Sie stiegen die Sprossen hinab, die weit auseinanderlagen.
Ein kräftiger Körper folgte. Bedächtig kam ein Mann herunter. Er
war von Kopf bis Fuß in Lammfell gekleidet.

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Unten wandte der Mann Roland sein Gesicht zu. Es war knochig

und wirkte wie aus Holz. Unter den buschigen Brauen, die in der
Mitte zusammengewachsen waren, lagen die Augen tief in den
Höhlen. Die Wangen waren eingefallen. Der Mund saß schief. Der
Mann hatte nur ein Ohr.

Das andere hatte er vor Jahren im Kampf mit einem Wolf verloren.
Der Mann hieß Klopper und war ein Gutsherr von grausamer

Gemütsart. Doch stand er als Lehnsmann in hohem Ansehen bei dem
Ritter Atz von Atzerath, dem er zur vertraglich festgelegten Abgabe
stets ein gutes Aufgeld zahlte. Dafür konnte Klopper auf seinem
Grund und Boden schalten und walten, wie er wollte.

In der Grube, die wirklich ursprünglich nur als Wolfsfalle gedacht

war, hatte er im vergangenen Winter bereits zwei Männer gefangen
und sie, nachdem er sie all ihrer Habe beraubt hatte, grausam
ermordet. Nichts anderes hatte er mit Roland im Sinn. Nur dem
Umstand, daß er in dessen Taschen keinerlei Münze gefunden hatte,
verdankte es Roland, daß er noch atmete.

Kloppers Stimme war rauh wie ein ungehobeltes Brett: »Bist du

endlich aufgewacht, Hans?«

Roland schluckte. Dann antwortete er mit Würde: »Du scheinst

mich zu verwechseln. Ich heiße Roland!«

Klopper lachte. Es klang, als krächze ein Schwarm Raben. »Jeden

meiner Knechte nenne ich Hans. Merk dir das!«

»Ich bin nicht dein Knecht, Bauer! Ich bin ein Ritter und werde

dich lehren ...«

Klopper schnitt ihm das Wort ab. »Vielleicht warst du einer, bevor

du dich erfrechtest, meinen Hof zu überfallen, und dabei in diese
Wolfsgrube fielst. Du mußt reich sein. Das sah ich an deinem Pferd,
das jetzt in meinem Stall steht. Ein Ritter, der sich einen Solchen
edlen Araber leisten kann, führt mindestens 500 Dukaten mit sich.«

Roland lachte bitter auf. Sein ganzes Besitztum bestand aus 46

Dukaten, die in der Satteltasche des Packpferds untergebracht waren.

»Hör zu, Hans!« schepperte Kloppers rauhe Stimme. »Ich bin ein

guter, weichherziger Mensch, wie du ihn auf 100 Meilen in der

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Runde nicht noch einmal finden wirst. Deshalb töte ich dich nicht,
wie es mein Recht wäre. Da schau dir den Wolf an! Du hast das
gleiche Schicksal verdient. Doch gib mir freiwillig deine 500
Dukaten, und du sollst frei sein. Du mußt sie gut versteckt haben,
Hans, sonst hätte ich sie in deinen Taschen gefunden, als du wie tot
dalagst.«

Um seinen Worten Nachdruck zu verleihen, holte der Mann, der

nur ein Ohr hatte, eine lange Pferdepeitsche hinter dem Rücken
hervor und schlug damit auf Roland ein. Der wäre unfehlbar
getroffen worden, hätte er sich nicht rechtzeitig zur Seite gerollt.

Nun ist es genug - dacht er - wälzte sich herum und wollte

aufspringen.

Aber er sank kraftlos zurück. Erst in diesem Augenblick merkte

Roland, daß er an Händen und Füßen mit derben Stricken gefesselt
war!

Der Mann lachte sein mißtönendes Rabengelächter. »Nun, Hans,

entscheide dich! Sag mir, wo deine Dukaten sind! Oder ich prügle
dich durch und schicke dich dann zur Feldarbeit. Immer in Fesseln,
versteht sich. Ich bin die Milde und Güte in Person, das sagt man auf
100 Meilen im Umkreis. Aber so ein verstockter Kerl wie du bringt
das sanfteste Gemüt in Wallung.«

Während er sprach, hatte Roland sich auf den Bauch gewälzt.

Trotz der Fesseln brachte er es fertig, ungesehen von Klopper, seine
rechte Hand durch den offenen Hosenschlitz an die Innenseite des
Oberschenkels zu führen. Hier hatte er für den Notfall ein kleines,
scharfes Messer mit Scheide durch einen dünnen Lederriemen
befestigt. Zu seiner ungeheuren Erleichterung stellte er fest, daß der
geldgierige Klopper es bei seiner Durchsuchung übersehen hatte. So
scharf war er hinter den Dukaten hergewesen!

In fliegender Eile zog Roland das Messerchen heraus und

zersäbelte die Stricke.

Schon zischte die Peitschenschnur wieder durch die Luft, und

diesmal fand sie ihr Ziel. Glühende Zangen bissen in Rolands
Rücken.

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Er sprang auf. Die Stricke fielen herab. In seiner Hand verborgen

ruhte das Messerchen. Klopper brüllte wutentbrannt. Es war ihm
unerklärlich, wie Roland sich von den Fesseln befreien konnte.

Doch er faßte sich schnell und schlug ohne Ansatz wieder zu. Der

Gutsherr war ein Meister im Umgang mit der Peitsche. Die lederne
Schnur traf haargenau Rolands Handgelenk.

Der Schmerz war so furchtbar, daß er das Messerchen fallen lassen

mußte.

Und wieder wirbelte die Peitsche!
Da ergriff Roland die Flucht. Von Pfahl zu Pfahl sprang er,

während die wütenden Schmerzen in Rücken und Hand ihm die
Tränen in die Augen trieben.

Wie Raubtiere im Käfig schlichen die beiden Männer zwischen

den Pfählen umher. Roland hatte alle Sinne gespannt. Er ahnte
hellsichtig den Zeitpunkt, wann er den nächsten Sprung wagen
durfte.

Dreimal ging es gut.
Jedesmal kam er der rettenden Leiter ein kleines Stück näher. Jetzt

trennten ihn nur noch zwei Klafter von ihr. Im Geist sah er sich
schon hinaufklettern ...

Da verlegten ihm ein paar klatschende Peitschenhiebe den Weg.

»Ich weiß genau, was du vorhast, Hans!« rief Klopper überlegen.
»An die Leiter kommst du nie!« Und er lachte krächzend.

Roland gab den Plan auf. Er mußte Neues ersinnen. Sein Entschluß

war schnell gefaßt.

Nur vier Schritte trennten ihn von Klopper. Der schlich noch näher

heran. Die Peitsche wippte in seiner Hand. Sein verbliebenes Ohr
glühte.

Roland stieß sich kräftig ab, flog ihm dicht über dem Boden mit

vorgestreckten Armen entgegen und umfaßte seine Knie, während er
mit der Schulter die Hüfte des Gegners traf. Klopper verlor das
Gleichgewicht und stürzte hintenüber. Im nächsten Augenblick
wälzten sich beide übereinander.

Keuchender Männeratem. Heiseres Stöhnen. Schmerzensschreie.

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Dumpfer Klang, wenn sie im wilden Ringkampf mit den Körpern
gegen einen Pfahl prallten.

Schließlich gewann Roland die Oberhand. Klopper lag besiegt

unter ihm. Er konnte die Peitschenhand nicht rühren. Wütend spuckte
er Roland ins Gesicht.

»Ergib dich!« rief der Ritter.
Klopper gab nicht nach. Auf alle Arten versuchte er, Roland

abzuschütteln. Noch hielt ihn der Ritter allein durch sein Gewicht
fest. Aber er merkte, daß ihn die Kräfte verließen.

Der nächtliche Tiefensturz und die nachfolgende stundenlange

Fesselung hatten ihn mürbe gemacht.

Tausend Trommeln lärmten in seinem Schädel. Die Muskeln

wurden ihm schlaff. Da half kein Aufbäumen. Seine Gegenwehr
wurde schwächer. Es war das Werk eines Augenblicks, und die Lose
waren vertauscht. Erschöpft lag Roland auf dem Rücken und blickte
erbittert in das wutverzerrte Gesicht seines Bezwingers.

Nie im Leben würde er den unmenschlichen Blick aus den kleinen,

falschen Augen vergessen! Nie den Anblick des hölzernen
Peitschenstiels, mit dem Klopper vor seiner Nase herumfuchtelte.
Nie diese von Gier triefende, böse Stimme: »Die Dukaten her,
Hans!«

Roland war am Ende. Und er hatte Haggan noch nicht einmal

aufgespürt! Scham erfüllte ihn wegen seines Versagens.

Da fühlte er eine schmale, harte Erhöhung unter der rechten Hüfte.

Es war das Messerchen! Vorsichtig tastete er danach, während jäh
Hoffnung in ihm aufflammte. Er packte zu und stach von unten auf
den triumphierenden Gegner ein.

Mühevoll drang die schmale Klinge durch das dicke Lammfell.

Dann war ihr Weg schon fast beendet. Kaum einen Zoll tief bohrte
sie sich in Kloppers Oberarm. Aber der siegessichere Gutsherr
erschrak bei dem unerwarteten Schmerz so sehr, daß er aufsprang
und wie von Sinnen zur Leiter rannte. Sogar die Peitsche ließ er in
seiner Verwirrung liegen und klamm hastig die Sprossen empor.

Roland wäre gern liegengeblieben, um sich ein wenig auszuruhen.

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Aber er blieb dem anderen dicht auf den Fersen. Der hätte sonst,
kaum oben angelangt, die Leiter hochgezogen, und wieder wäre ihm
Roland auf Gedeih und Verderb ausgeliefert gewesen.

Dennoch war Roland erst in der Mitte der Leiter angekommen, als

Klopper schon zur Grube hinauskroch. Oben drehte er sich
blitzschnell um, ergriff die Holmenden und drückte sie von sich weg.
Er wollte die Leiter samt Roland umstürzen.

Roland kletterte wie ein Besessener. Um den rechten Holm wand

er sich zur Wandseite der Leiter. So verhinderte sein Gewicht vorerst
das Umstürzen.

Nur noch ein Klafter, und er war oben!
Doch nun schob Klopper aus Leibeskräften. Die Leiter neigte sich.

Von Haß erfüllt, hing Kipper schon halben Leibes über der Grube
und drückte die Holme weiter von sich. Dann gab er ihr den
entscheidenden Stoß.

Im gleichen Augenblick ließ Roland los und sprang in die Höhe.

Trotz seiner Erschöpfung konnte er mit den Fingerspitzen den oberen
Grubenrand erreichen. Blitzartig fuhr ihm sein Königssprung bei den
Wikingern durch den Kopf.

Bange Augenblicke lang hing Roland in der Schwebe. Dann zog er

sich unendlich langsam hoch. Zoll um Zoll näherte sich sein Kopf
dem Grubenrand.

Da brach der Sand unter seinen Fingern weg! Die Linke rutschte

ab. Roland hing nur noch an einem Arm, während sein Körper frei in
der Luft pendelte.

Unter sich sah er die zugespitzten Pfähle.
Er raffte die letzten Kräfte zusammen. An einem Arm hängend,

holte er Schwung und warf die Beine nach oben. Sein linker Fuß
verhakte sich an der rettenden Kante. Dann stemmte er den Körper
hoch.

Als er schweratmend, aber in Sicherheit oben lag, hörte er hinter

sich die Leiter in die Grube plumpsen. Gleich darauf folgte ein
entsetzlicher Schrei, der wie abgerissen verstummte.

Im Liegen wandte Roland den Kopf und schaute in die Tiefe.

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Es war ein grauenhaftes Bild. In seiner blinden Vernichtungswut

hatte Klopper die Holme ein wenig zu spät losgelassen. Er bekam
Übergewicht und stürzte selber nach unten. Genau in einen der von
ihm scharf zugespitzten Pfähle!

So fand Klopper den Tod, den er Roland zugedacht hatte.
Schweißgetränkt kam der junge Ritter auf die Beine, wandte der

schrecklichen Grube den Rücken und machte auf müden Beinen ein
paar schwere Schritte auf das Gehöft zu.

Und sah sich fünf Bauern gegenüber, die mit Dreschflegeln,

Knüppeln und Peitschen auf ihn losgingen! Ihre finsteren Mienen
ließen keinen Zweifel darüber, daß sie ihn erschlagen wollten.

Roland dachte an Flucht. Aber wohin sollte er fliehen? Hinter ihm

gähnte die Wolfsfalle, die zur Todesfalle geworden war. Blieb nur
die Flucht nach vorn. Einer plötzlichen Eingebung folgend, hob er
die Hand wie zum Gruß.

»Männer«, sagte er mit klarer Stimme, »was wollt ihr von mir?«
Dabei musterte er einen nach dem anderen. Nur auf dem ersten

Blick sahen sie gleich aus: ungepflegt, abgerissen, mit strubbligem
Haar und schmutzigen Gesichtern. Doch bald erkannte er
Unterschiede. Zwei Männer fielen ihm besonders auf.

Der Hagere am rechten Flügel hinkte und hatte einen unsteten

Blick. In der Mitte stand, zwei Schritte vor allen anderen, ein
Vierschrötiger mit tiefen Falten zwischen Augen und Mund und
rötlichem Backenbart. Roland hielt ihn für den Anführer.

Er hatte sich nicht getäuscht. Der Rote war es, der ihm antwortete.

Er sagte: »Wir wollen dir danken, Fremder. Du hast uns von einem
strengen Gutsherrn erlöst, der uns schuften und hungern ließ, der uns
piesackte und schlechter behandelte als sein Vieh. Seit Jahren waren
wir ihm Untertan und hatten schon alle Hoffnung aufgegeben. Keiner
von uns weiß noch seinen eigenen Namen, denn er nannte jeden
verächtlich Hans. Noch einmal: Dank, Fremder!«

Roland atmete tief durch. Mit freundlicher Geste streckte er dem

Sprecher die Hand hin.

Doch der schüttelte finster den Kopf. »Wir haben unsere Pflicht

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erfüllt, Fremder, und dir gedankt, wie es uns zustand. Das ist nun
abgetan und vergessen. Jetzt werden wir dich totschlagen.«

»Aber warum?«
»Weil du 500 Dukaten bei dir führst. Wir haben es vorhin alle

gehört. Und weil wir hier nicht bleiben können. Sowie Ritter Atz von
Kloppers Tod erfährt, wird er uns einen neuen Lehnsmann schicken,
der vielleicht noch strenger ist als der verblichene Klopper. Deshalb
müssen wir so weit von diesem verfluchten Ort fliehen, wie es nur
geht. Ohne Geld kommen wir nicht weit, und man würde uns nur
wieder einfangen. Du hast 500 Dukaten. Das sind für jeden von uns
100. Damit läßt es sich weit gehen und lange leben.«

Roland erkannte, daß es sinnlos gewesen wäre, ihm zu versichern

daß er kein Geld bei sich trug. Sie würden ihm ebensowenig glauben
wie vorher Klopper. »Gut«, sagte er laut. »Dann werden wir eben
kämpfen!«

Die fünf Männer stießen wilde Schreie aus und rückten näher.
»Aber nicht so!« fuhr Roland fort. »Fünf Bewaffnete gegen einen

mit leeren Händen! So kämpfen Memmen, aber keine Männer. Gebt
mir eine Waffe von jener Art, wie ihr sie führt - und ich bin bereit!
Aber ich denke, ihr seid ehrliche Leute und werdet einzeln gegen
mich antreten ...«

»Spar deinen Atem!« unterbrach ihn der Rote. »Bewaffnet und im

Einzelkampf bist du uns überlegen. Sonst hättest du Klopper nicht
erledigen können. Kämpfen wir also ehrlich, werden wir es einer
nach dem anderen mit dem Leben bezahlen. Nein, Fremder. Lieber
wollen wir feige Memmen sein, vor denen jeder ehrliche Mann
verächtlich ausspeit, wenn wir dich dadurch überwinden und dich
von den Dukaten befreien können!«

Die anderen stimmten ihm lauthals zu und machten sich

gegenseitig Mut.

Jetzt oder nie! dachte Roland. Die Aufmerksamkeit der Männer

war vorübergehend abgelenkt. Während sie noch miteinander
sprachen, lief er auf den Anführer los. Der sah ihn kommen. Sein
Gesicht war entschlossen. Er schwang den riesigen Dreschflegel.

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Bis auf drei Klafter näherte sich Roland. Dann bog er unvermittelt

nach rechts ab und sprang den hinkenden Hageren an. Roland hatte
den Mann richtig eingeschätzt. Er hatte überhaupt keine Lust, sich
zur Wehr zu setzen, und versuchte wegzurennen. Roland entriß ihm
die Keule und stieß ihn zurück.

Der Mann warf sich zu Boden, zog sich die Jacke über den Kopf

und erwartete winselnd den tödlichen Schlag.

Doch Roland fiel schon knüppelschwingend über den nächsten her.

Die Überraschung benahm den Männern den Atem. Auch dieser
Mann mußte seinen Knüppel loslassen. Brüllend landete er auf dem
Rücken.

Der dritte verlor jeden Mut. Er rannte davon, bevor Roland ihm

nahe kam. Schon war er hinter der Ecke des Gehöfts verschwunden.

Nun waren nur noch zwei Männer übrig, der Rotbart und ein

ebenso stämmiger Glatzkopf. Mit unartikuliertem Schrei stürzten
sich die beiden auf Roland. Doch im Übereifer behinderten sie sich
gegenseitig. Ehe die Dreschflegel Roland treffen konnten, waren sie
ineinander verhakt.

Während die beiden noch mit den vorübergehend unbrauchbaren

Waffen herumfuchtelten, trat Roland mit erhobenem Knüppel dicht
vor sie hin. »Laßt die Waffen fallen und schert euch weg!« befahl er.

Der Glatzkopf gehorchte. Nun trug der Rotbart das Gewicht beider

Dreschflegel. Er schien zu wanken. In Wirklichkeit aber holte er zum
Wurf aus. Gleich darauf traf das Doppelgerät Roland mit großer
Wucht vor die Brust.

Der Himmel verrutschte. Roland brach zusammen, während ihm

der Knüppel entglitt. Sterne tanzten am hellen Tag. Die
vorhergegangenen Anstrengungen hatten seine letzten Kraftreserven
erschöpft. Die Sinne vergingen ihm.

Mit einem tierischen Schrei hob der Rote die Keule auf. Da

erscholl hinter ihm eine Stimme: »Nun ist es genug! Laß den Mann
am Leben!«

Der Rote fuhr herum. Er sah einen Reiter hoch zu Pferd vor sich,

stieß einen Schrei aus, ließ alles fallen, was er in den Händen hielt,

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und rannte davon, so schnell ihn seine Füße trugen.

In diesem Augenblick erwachte Roland. Verschwommen sah er

den Reiter, der ihn vor Ungewissem Los bewahrt hatte. In seinem
geschwächten Zustand sah er nur ein gebräuntes Gesicht und
schwarzes Haar.

Volker vom Hohentwiel, dachte Roland. Mein Freund ist da!
Dann versank er wieder in die wolkigen Schwaden der

Bewußtlosigkeit.

*

Rolands sonst so scharfer Blick hatte ihn getrogen. In seinem
jämmerlichen Zustand täuschte ihn das volle dunkle Haar des
Reiters.

Der Mann, der dem Roten Einhalt geboten hatte, war nicht sein

Freund Volker vom Hohentwiel. Es war Haggan, den man im Lande
den Gräßlichen nannte. Haggan, der Schänder seiner Schwägerin
Griseldis, der Mörder seines Bruders Jorn. Haggan, der nach König
Artus' Worten stärker als der grimme Bär war, brutaler als der rasche
Blitz, gemeiner als die tückische Schlange und reißender als die
hungrigen Wölfe, die er im Wappen führte.

Haggan, der Mann, der Artus den Kopf mitsamt der Krone von den

Schultern reißen wollte! Er ritt auf einem robusten Schimmel, den er
bei einem Scharmützel einem fahrenden Ritter abgenommen hatte.

Auf dem Fuchshengst, den er zuerst geritten, saß jetzt sein

grauhaariger Vertrauter Trumm. Der Hüne ritt heran und sagte
tadelnd: »Ich begreife Euch nicht, Herr! Es ist doch sonst nicht Eure
Art, dem Schicksal in den Arm zu greifen!«

»Recht hast du, Trumm«, entgegnete Haggan und musterte den

kraftlos dahingestreckten Roland. »Mir gefiel die Art, wie dieser
Bursche da fünf Männer auf einmal angriff. Ich glaube, in ihm ein
würdiges Mitglied meiner Bande zu finden. Aber da ich ihn aus der
Nähe sehe, fürchte ich, mich geirrt zu haben.«

Trumm sah verachtungsvoll auf Roland hinab. »In diesen glatten

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Zügen hat kein Laster seine Spuren hinterlassen. Er taugt eher zum
Vasallen des Königs als zum Mitglied unserer Bande. Ich hätte nicht
übel Lust, den Rotbart zurückzurufen, damit er seinen Mord
vollende.«

»Laß es sein!« gebot Haggan. »Er scheint sowieso am Verrecken.

Uns wird dieser Jüngling nie gefährlich werden, und hätte er doppelt
soviel Mut, als er ihn hier zeigte. Oh, Trumm, ich habe ein mächtiges
Verlangen, meine wilden Kerle wiederzusehen! Wie ich sie kenne,
haben sie inzwischen unsere Kriegskasse bis auf den letzten
Groschen geplündert, die Weinkeller des Atz von Atzerath, meines
lieben Freundes, leergesoffen und seinem Weibervolk nachgestellt.
Die Burg ist nicht mehr fern. Vorwärts, Trumm, wir reiten!«

*

Warmer Atem blies Roland ins Gesicht. Weiche Haut kitzelte seine
Wangen. Er warf sich herum. Langsam schlug er die Augen auf.
Samum war es, sein treuer Hengst, der seinen edlen Kopf an seines
Herrn Wange rieb.

Roland fühlte sich frisch wie nach einem langen Schlaf. Er griff

nach dem herabhängenden Zügel und zog sich in die Höhe. Sein
Kopf war klar. Noch stand die Sonne am Himmel. Schnee gleißte. Er
tätschelte dem Pferd den Hals. Samum schnaubte leise.

Nicht weit entfernt standen vier der Männer, mit denen er sich

geschlagen hatte. Die Männer, die ihre eigenen Namen nicht mehr
kannten, weil sie ein grausamer Gutsherr als Sklaven behandelt und
unterschiedslos jeden Hans genannt hatte.

Sie hatten sich kaum verändert. Noch immer trugen sie abgerissene

Kleider, hatten strubblige Haare und schmutzige Gesichter. Aber ihre
Hände waren jetzt leer und ihre Blicke eher freundlich.

Mit einem Schlag fiel Roland wieder ein, was geschehen war,

bevor er besinnungslos wurde. War es wirklich Volker, der ihn
gerettet hatte? Oder hatte ihm sein ermattetes Auge einen Streich ge-
spielt?

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Da trat der Rotbart einen Schritt vor.
»Gott sei Dank, daß Ihr lebt und bei Kräften seid, Herr«, sagte er in

ehrerbietigem, fast demütigem Ton. »Verzeiht uns, daß wir Euch
Böses wollten! Die lange Knechtschaft hat unsere Herzen verhärtet
und unseren Geist verwirrt. Nicht aus eigenem Antrieb gingen wir
Euch ans Fell. Jemand hetzte uns auf. Als Ihr leblos zu Boden sankt,
taten wir alles, um Euch wiederzubeleben. Wir rieben Eure Stirn mit
Schnee ab. Wir massierten Eure Brust und die Gelenke. Nichts half.
Dann entdeckten wir Euren edlen Hengst in Kloppers Stall und Eure
Waffen in seiner Stube und ahnten, daß Ihr ein großmächtiger Ritter
sein müßt. Wir führten den Hengst zu Euch, und er vollbrachte das
Wunder. Noch einmal, Herr: verzeiht uns armen Hansen!«

»Wo ist der Ritter, der mich beschützte, als ich wehrlos lag?«

fragte Roland.

»Er ritt mit seinem Begleiter, einem riesenhaften Graukopf, davon.

Wir kennen seinen Namen nicht. Nur einmal sahen wir ihn vor vielen
Monden, und Klopper nannte ihn den >freundlichen Herrn.<«

Nein, es konnte nicht Volker gewesen sein. Der wäre nicht ohne

ihn davongeritten. Und einen riesenhaften Graukopf kannte Roland
auch nicht.

Die Stimme des Roten riß Roland in die Wirklichkeit zurück. »Ihr

braucht Euch dem freundlichen Herrn nicht verpflichtet zu fühlen,
Ritter. Schon ehe er dazwischentrat, sank mir die Waffe aus der
Hand. Ich sah in Euer Gesicht, das so jung und so ehrlich und so
ritterlich ist, und konnte Euch nichts zuleide tun. Ach, warum haben
wir uns überhaupt gegen Euch aufhetzen lassen? Es war der
Hinkefuß, der uns zu der Schandtat anstiftete.«

Erst jetzt bemerkte Roland, daß ein Mann fehlte. »Wo ist er?«
»Geflohen, Herr. Vor unserer und Eurer Wut.«
Der Glatzkopf näherte sich schüchtern und überreichte Roland

Lanze und Schwert. Der Ritter legte den Waffengurt an, richtete
Samums Zaumzeug und sprang leichtfüßig in den Sattel. Die Burg
des Atz von Atzerath konnte nicht mehr weit sein. Er fühlte den alten
Tatendrang. Er mußte seine Aufgabe erfüllen, Haggan vom Horn

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stellen und in seine Gewalt bringen!

»Herr Ritter«, sagte der Rote, »erlaubt uns die Bitte, Euch zu

begleiten! Wenn Ihr auf Feinde stoßt, würden wir gern für Euch das
Beil erheben. So werden wir unsere Schuld an Euch gutmachen.«

»Wie könnte ich Euch noch trauen?« Roland lachte bitter auf.

»Seid froh, daß ich euch den niederträchtigen Angriff auf Leib und
Leben verzeihe! Doch wie leicht könntet ihr wieder anderen Sinnes
werden. Darum möchte ich die scharfen Schneiden eurer Äxte nicht
in meinem Rücken wissen.«

Er schnalzte, und Samum trabte an. Die Sonne halbrechts vor sich,

hielten sie wieder in südliche Richtung. Bald sah er zwei
Pferdespuren, die vielleicht eine Stunde alt waren. Sie führten in die
gleiche Richtung.

Der schwarzhaarige Ritter, den man den freundlichen Herrn

nannte, und der riesenhafte Graukopf? Ja, sie mußten es sein! Roland
ließ Samum Galopp gehen.

Er brannte darauf, die Bekanntschaft der beiden zu machen.

*

Doch als Roland nach scharfem Ritt wieder Menschen begegnete,
waren es Louis und zwei dickvermummte Fremde auf Mauleseln.
Groß war die Wiedersehensfreude bei ihm und seinem treuen
Knappen und höchst willkommen der Lebensmittelsack auf dem
Packpferd, den Louis wohlbehalten durch das Unwetter gerettet
hatte. Denn Roland, der lange Zeit nichts zwischen die Zähne
bekommen hatte, spürte schon seit einiger Zeit nagenden Hunger.

Er stillte ihn mit hartem Gerstenbrot und kaltem Schweinefleisch,

während Louis von seinen Erlebnissen berichtete und ihm dabei
seine Begleiter vorstellte. Roland sah in zwei verwegene, nicht
unbedingt Vertrauen einflößende Gesichter, aus denen jedoch
treuherzige Augen schauten.

»Sie sind beide Gaukler, Herr«, sagte Louis eifrig und fast ein

wenig stolz auf seine Entdeckungen. »Dieser hier zu meiner Rechten

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nennt sich Funkenmann. Er ist Feuerschlucker. Deshalb hat er auch
ein ziemlich großes Maul. Der andere, der ziemlich schweigsam ist,
heißt Schiebermann und ist Schwertschlucker.«

»Ich bin gespannt darauf, eure Künste zu sehen«, sagte Roland

höflich.

»Das dürft Ihr auch sein. Mir gaben sie schon eine kleine

Vorstellung. Funkenmann fraß das halbe Lagerfeuer und spie es
wieder aus - mit drei Klafter langer Flamme, kaum anders als der
Drache Fasolt damals im Odenwald. Und Schiebermann, nicht faul,
schob sich ein langes Schwert bis zum Griff in den Schlund. Ich sage
Euch, mir blieb der Atem weg!«

Die beiden Gaukler grinsten halb verlegen, halb geschmeichelt.
»Und solltet Ihr meiner einmal überdrüssig werden, Herr, so bin

ich jetzt um meine Zukunft nicht mehr bange. Dann ziehe auch ich
als Gaukler durch die Lande. Die beiden haben mir nämlich die
Kunst der Magie beigebracht.«

Roland schüttelte zweifelnd den Kopf.
»Wirklich, Herr! Ich zaubere Euch Eier, Tüchlein und sogar

Dukaten aus der leeren Luft! Ihr werdet staunen, Herr! Nun mögt Ihr
selber entscheiden, ob Ihr einem Knappen, der außerdem ein großer
Magier ist, nicht lieber den Sold verdoppeln wollt!«

Lächelnd hob Roland die Hand.
»Es war nur ein Scherz, Herr Ritter«, erklärte Louis schnell. »Ein

Mann wie ich ist schließlich nicht auf Sold angewiesen. Wenn's
nottut, pflück' ich mir eben ein paar Dukaten aus der Luft!«

Funkenmann brach in ein lautes Gelächter aus, und alle fielen ein.
Nach einer Weile bemerkte Roland: »Was mag nur aus dem guten

Pierre geworden sein?«

Da schlug sich Louis mit der flachen Hand gegen die Stirn. »Daß

ich Pierre vergessen konnte! Seid guten Mutes, Ritter, er ist mit dem
Leben davongekommen. Doch er war nahe daran zu erfrieren.
Während er im frostigen Schnee lag und auf sein letztes Stündlein
wartete, trabte sein Wallach weiter und lief einem Bäuerlein in den
Stall. Der wackere Mann dachte sich sein Teil, nahm Laterne und

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Schlitten und ging den frischen Spuren nach. Er fand Pierre und
brachte ihn in seine Kate. Das Weib des Bauern pflegte Pierre mit
großer Sorgfalt. Heute morgen stießen wir auf das bescheidene
Anwesen, tränkten unsere Tiere und erfuhren die Geschichte. Pierre
hatte zwar noch Fieber, doch schien er schon recht guter Dinge. Eine
Woche lang soll er das Bett hüten. Dann wird er wieder gesund und
kein Pfündchen leichter sein!«

Roland fiel ein Stein vom Herzen. Nun konnte er seine Gedanken

vollends seiner Aufgabe widmen und sich um niemand mehr Sorgen
machen. Doch immer wenn er sich den bevorstehenden Kampf mit
dem gefürchteten Haggan vom Horn ausmalte, schoben sich andere
Bilder und Vorstellungen dazwischen.

Warum nur kam ihm Hein nicht aus dem Sinn? Was für ein

Geheimnis umgab diesen schlanken Jüngling mit den weichen
Zügen, dem lang wehenden aschblonden Haar und den kecken,
hellen Augen?

*

Weit weniger milde Gedanken hegte sein Freund Volker vom
Hohentwiel, der mit Pfeil und Bogen durch einen Tann schweifte,
um vor Sonnenuntergang noch ein Rebhuhn oder einen Hasen fürs
Abendmahl zu erlegen. Er war des prahlerischen Weggenossen Hein
redlich müde. Wohl zeigte er sich beim Singen recht anstellig, aber
sonst war er zu nichts zu gebrauchen! Er hatte sich sogar geweigert,
ihn bei der Jagd zu begleiten! Er sei zu erschöpft. Volker hätte ihn
am liebsten zum Teufel gejagt. Hoffentlich bereitete er wenigstens
am Lagerplatz ein Feuer vor ...

Hein hatte inzwischen wahrhaftig ein kleines Feuerchen

zustandegebracht und rieb sich darüber die frostklammen, schmalen
Finger. Plötzlich fielen zwei lange Schatten über den Schnee.
Erschrocken fuhr Hein herum.

Unbemerkt hatten sich zwei Reiter genähert und hielten jetzt vor

ihm. Ein Schwarzhaariger mit wirrem Vollbart auf einem Schimmel

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und ein starkknochiger Hüne mit grauem Haar auf einem Fuchs.
Höhnisch - so schien es Hein - schauten sie auf ihn herab.

»He, Kleiner«, rief mit rauher Stimme der Schimmelreiter, »bist du

ein Spielmann?« Er hatte die Fiedel gesehen, die Volker
zurückgelassen hatte.

»Was sonst?« entgegnete Hein, dem es nichts ausmachte, sich mit

fremden Federn zu schmücken. »Meiner Fiedel Klang fährt den
Weibern in die Beine, und meine Lieder machen die düsterste
Burghalle zum Festsaal.«

»Dann schwing deinen müden Hintern auf den grauen Klepper und

komm mit uns!« schnauzte der Graukopf. Und da Hein noch zögerte,
stieß er ihn unsanft mit dem stumpfen Ende seiner Lanze an. Der
stolperte zurück und warf einen scheuen Blick über die Schulter.
Nein, von Volker war nichts zu sehen.

»Tu, was er dir sagt!« herrschte ihn der Schwarzhaarige an.
Was blieb Hein angesichts der beiden gewalttätigen Männer übrig?

Er nahm die Fiedel auf, schlang sie sich auf den Rücken, bestieg sein
Pferd und folgte den beiden Fremden, die alsbald ein schnelles
Tempo anschlugen.

Hein setzte ein munteres Gesicht auf und blickte mit kecken Augen

umher. Aber im Inneren war er ziemlich verzagt, als er in dieser
zweifelhaften Gesellschaft einem Ungewissen Abenteuer
entgegenritt.

*

Auf Burg Atzerath brodelte es. Haggans wüste Gesellen hatten sich
dort eingenistet und bereiteten dem Burgherrn täglich neuen Ärger.
Sie lagen auf der faulen Haut und wollten auch noch bedient werden.
Sie fraßen und soffen im Übermaß. Und natürlich stellten sie dauernd
dem Weibervolk nach.

Darum atmete Atz erleichtert auf, als sein Bruder Lutz ihn

besuchte und gute Nachricht brachte. Nach seinem Handgemenge
mit dem »unbekannten Dieb und Lauscher« bei Kaufmann Klotz in

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Beauvais hatte Lutz kurzentschlossen seine Pläne geändert. Er
verzichtete auf das vorgesehene Techtelmechtel mit der
Tuchhändlersgattin und machte sich lieber sofort nach Atzerath auf.
Ihn trieb eine unangenehme Vorahnung.

Da er die Gegend viel besser als Roland und dessen Männer

kannte, übernachtete er auf einer kleinen, etwas entfernt liegenden
Burg und brauchte sich deshalb nicht mit dem Unwetter
herumzuschlagen.

Von ihm erfuhr nun Atz zu seiner Freude, daß Haggan wieder frei

sei. Man dürfe sein Eintreffen jeden Tag erwarten. Atz verkündete
die Nachricht sofort den Gesellen Haggans, in der Hoffnung, sie
dadurch gefügiger zu machen. Doch er traf auf zweifelnde Mienen.

Ein Mann mit langen dünnen Beinen, gedrungenem und

muskulösem Oberkörper und abstoßend häßlichem Gesicht erhob
sich vom Fußboden, wo er neben einem Weinfaß gelegen hatte. Er
schwenkte den noch halbvollen Weinbecher, als er Atz schreiend
anfuhr: »Lügner! Verdammter Lügner! Niemand entkommt aus dem
Verlies des Königs!« Er hatte einen kleinen Buckel auf der rechten
Schulterseite, und sein Name war Jong.

Dem Ritter Atz stieg die Zornesröte ins Gesicht. Seine Hand fuhr

zum Schwertgriff. »Du wagst es, mich in meinem eigenen Hause
einen Lügner zu nennen?« rief er durchdringend. »Trinkst meinen
Wein, ißt meine Schafe, betatschst mit gieren Händen meine Mägde -
und beleidigst mich obendrein?«

»Halt die Schnauze!« versetzte Jong roh und nahm einen hastigen

Schluck Wein. »Sonst könnte es dir übel ergehen!«

»Du drohst mir?« erboste sich Atz. »Du wirst sofort meine Burg

verlassen und dich nie mehr im Umkreis von zehn Meilen blicken
lassen, oder man wird dich vom höchsten Punkt des Burgfrieds in
den Graben werfen!«

Ursprünglich hatte Atz den wüsten Kerl nur warnen wollen. Aber

sein Zorn übermannte ihn. Jetzt schritt er zur Tat.

Er gab seinen Knappen einen Wink. Und schon setzten die sich in

Bewegung, um Jong zu packen und womöglich auf den Burgfried zu

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schleppen, wenn er nicht freiwillig das Weite suchte.

Der bucklige Aufrührer erkannte die Gefahr. Er wußte aber auch,

wie er ihr begegnen mußte. Nicht umsonst hatte er in den letzten drei
Tagen mit den einzelnen Spießgesellen aus der wüsten Bande des
Herrn Haggan heimlich geflüstert und sie durch allerlei Versprechen
auf seine Seite gebracht. Viele sahen in ihm schon den rechtmäßigen
Nachfolger Haggans. Jong wollte die Burg in seine Gewalt bringen,
und nie schien ihm die Gelegenheit günstiger als jetzt.

Also streckte er den Arm in die Höhe und schrie mit sich

überschlagender Stimme: »Söhne der Hölle, an meine Seite!«

Das war der verabredete Ruf zum Anfang des Aufruhrs. Mehr als

die Hälfte der 20 Haggan-Männer trennte sich auch gehorsam von
den Freuden des Mahls und der Fässer und scharte sich um den
Buckligen. Wie durch Zauber erschienen in ihren Händen plumpe
Spieße und Stoßschwerter. Schon kam es zwischen ihnen und den
vordersten der anrückenden Knappen zum Austausch von Stößen
und Schlägen.

Aber auch Atz hatte vorgesorgt. Wieder gab er einen Wink, wobei

der breite Siegelring an einem Finger seiner rechten Hand in der
Sonne hell aufblinkte. Und plötzlich erschienen auf allen erhöhten
Stellen der Vorburg, auf Söllern, Wehrgängen und Brüstungen
Schützen mit gespannten Bögen. Aufblickend sah Jong zahlreiche
todverheißende Pfeile auf sich und seine Truppe gerichtet.

Sollte er aufgeben?
Er dachte nicht daran. Die Bogenschützen schreckten ihn nicht.
»Vorwärts, Söhne der Hölle!« schrie er mit verzerrtem Gesicht.

Gleich darauf hallte die Vorburg von wildem Kampfgeschrei, von
Eisenklang und Schmerzensrufen wider.

»Vorwärts, Söhne der Hölle!« wiederholten Jongs Parteigänger

und feuerten sich so selber an. So gewaltig war ihr Ansturm, daß der
Aufmarsch der Knappen ins Wanken geriet. Ätzens Männer sahen
sich von allen Seiten ins Handgemenge gezwungen. Vielen wäre es
bestimmt schlecht ergangen, wenn die Stiche und Schläge der
Höllensöhne besser gezielt gewesen wären. Aber die meisten hatten

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schon soviel gezecht, daß sie mehr Luftlöcher als Treffer schlugen.

Jong aber warf sich geradewegs auf den Burgherrn. Zuvor

schleuderte er ihm den fast leeren Weinbecher mitten ins Gesicht.
Bevor sich Atz von der Überraschung und dem plötzlichen Schmerz
erholt hatte, umschlang ihn Jong mit der Muskelkraft mächtiger
Arme, hielt ihn wie einen Schutzschild vor sich und schnürte ihm
fast den Atem ab.

Überall sprühten nun die Funken, wirbelte Staub auf, erklangen

Schreie der Wut, der Warnung, des Schrecks und des Schmerzes. Im
Handumdrehen waren Freund und Feind in dem Getümmel kaum zu
unterscheiden.

Das machte die Bogenschützen unsicher. Sie legten an, sie zielten,

und sie ließen verlegen den Bogen wieder sinken, ohne die gespannte
Sehne vorschnellen zu lassen.

Nur vereinzelte Pfeile wurden halbherzig abgeschossen. Sie flogen

alle über die Köpfe der erbittert Kämpfenden hinweg und richteten
keinen Schaden an. Die Bogner wagten es einfach nicht, mitten ins
Getümmel hineinzuhalten.

Als die Knappen sahen, daß Atz hilflos und kampfunfähig in Jongs

Umarmung zappelte und die Schützen ihnen keine Unterstützung
bringen konnten, verließ viele der Mut. Schon lösten sich die ersten
aus dem Gefecht und flohen in die Halle. Einge ließen dabei sogar
ihre Waffen fallen, so kopflos waren sie.

Es dauerte nicht lange, und das Feld gehörte den Söhnen der Hölle,

die mit wachsender Kühnheit nun auch gegen die Bogenschützen
vorgingen und einen nach dem anderen verjagten.

»Laß mich los!« keuchte Atz und wand sich in den bärenstarken

Armen Jongs. »Verfluchter Hund!« Sein Blick suchte seinen Bruder
Lutz, der sich in einer Nische der Burgmauer zurückgezogen und
bisher keinen Finger gerührt hatte. Jetzt zuckte Lutz mit den
Achseln, um anzudeuten, daß er nichts für Atz tun könnte - jedenfalls
nicht im Augenblick.

Inzwischen waren die Bogenschützen und Knappen von den

Aufrührern entwaffnet worden. Die zügellose Horde fiel dann über

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einige der Wehrlosen her, die in dem vorhergegangenen Kampf
besonders hartnäckig Widerstand geleistet und damit ihren Wunsch
nach Vergeltung geweckt hatten. Die Armen wurden nach Strich und
Faden verprügelt, doch floß kaum weiteres Blut.

Es herrschte ein unbeschreibliches Durcheinander. Zum Glück für

die Besiegten hielt der Rachedurst der Höllensöhne nicht lange an.
Müde vom Austeilen der Schläge, ließen sie bald von ihren Opfern
ab und scharten sich wieder um die Weinfässer. Und, o Wunder,
während ihre Trunkenheit voranschritt, verbrüderten sie sich schon
wieder mit den Männern, denen sie eben noch das Fell versohlt
hatten!

Ein entschlossener Anführer hätte jetzt noch schnell das Blättchen

wieder wenden können. Aber niemand fand sich dazu bereit. Lutz tat
weiterhin, als gehe ihn das alles nichts an.

Jong übergab seinen Gefangenen Atz der Obhut von vier

Spießgesellen, denen er vertraute. Sie hielten den entmachteten
Burgherrn so fest, daß er kein Glied rühren konnte. Aber wenigstens
konnte er frei atmen.

Der Bucklige baute sich drei Schritt vor Atz auf. Er achtete darauf,

daß er höher stand, und hatte deshalb einen etwas herausragenden
Stein des Hofes als Standplatz gewählt. Die Hände in die Hüften
gestemmt, betrachtete er höhnisch den gedemütigten Feind.

Atz verging fast vor Angst. Wie schnell hatte sich das Glück

gewandelt! Aber er ließ sich von seinen Gefühlen nichts anmerken.
Seine grauen Augen wirkten fast gelassen, als er Jongs scharfen
Blick erwiderte.

Des Ritters gespielte Ruhe verfehlte ihre Wirkung auf den

buckligen Anführer nicht. Als Jong ihn ansprach, brüllte er nicht
mehr, sondern bemühte sich um einen ruhigen Ton. Dennoch klang
der Hohn deutlich heraus.

»So, alter Atz«, sagte er, »die Lage hat sich gründlich geändert.

Von jetzt an trinke ich aus eigenem Weinkeller, schlachte meine
eigenen Schafe und betatsche Mägde, die mir gehören - wie alles, das
einmal dein war.«

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»Ein Aasgeier bist du«, stieß Atz hervor, »und ein Aasgeier wirst

du stets bleiben. Frohlocke nicht zu früh! Bedenke, daß in kurzer Zeit
Herr Haggan eintreffen wird! Er wird dir die Haut vom Leibe ziehen.
Du wirst wünschen, nie geboren worden zu sein.«

»Mit Haggan kannst du nur noch unmündige Waisen und zahnlose

Greise erschrecken, armseliger Atz! Doch lassen wir das!
Unterhalten wir uns über deine Zukunft! Ich könnte dich jetzt vom
höchsten Punkt des Bergfrieds in den Graben stoßen, wie du es mit
mir vorhattest.«

Bruder Lutz stand nicht weit entfernt. Er hörte jedes Wort. Aber er

blickte in eine andere Richtung.

»Tu es!« zischte Atz. »Und Haggan wird mich furchtbar rächen.«
»Ich bin doch kein Unmensch, ängstlicher Atz! Ich will deinen

fetten Körper, vor dem mich ekelt, nicht antasten. Obwohl du übel an
mir handeltest, will ich großmütig sein, wie es meine Art ist. Du
darfst, wenn du es wünschst, sogar in der Burg bleiben. Natürlich
mußt du dir dann deinen Unterhalt verdienen, indem du Wachdienst
hältst, die Hallen und Gänge fegst, Rüstungen polierst, zur Mahlzeit
die Schüsseln aufträgst und fleißig die Becher füllst. Entscheidest du
dich anders, so darfst du ungehindert davongehen, wohin es dich
gelüstet. Ich gäbe dir sogar einen Wanderstab und einen
bescheidenen Zehrgroschen mit!«

Das unerhörte Ansinnen verschlug dem stolzen, ehemaligen

Burgherrn die Sprache.

»Doch vorher wirst du mir einen kleinen Gefallen tun«, sagte Jong

bedeutungsvoll. Er schaute dabei über die Schulter. Regungslos stand
Lutz in seiner Nische. Die Männer, die sich um die Weinfässer
gelagert hatten, wurden immer ausgelassener. Sie grölten und tanzten
mit den Mägden.

Jong trat dicht an Atz heran. »Laßt ihn los!« befahl er den vier

Männern. Sie gehorchten. Atz konnte sich allein kaum auf den
Beinen halten. Er war ein gebrochener Mann. Jetzt sah man es
deutlich, und der Bucklige triumphierte innerlich. Er wies die vier
Männer an, sich ein paar Schritte zu entfernen. Sie brauchten nicht zu

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hören, was er Atz zu sagen hatte.

Er senkte die Stimme. »Wir alle wissen, daß Haggan nie

zurückkehren wird. An seiner Stelle führe ich von jetzt an das
Kommando. Ist es da nicht gut und billig, wenn ich in alle seine
Rechte eintrete?«

Atz war totenblaß. Seine Lippen zitterten, aber er gab keinen Laut

von sich.

Jong schien ihn mit Blicken durchbohren zu wollen. »Haggan und

du, elender Atz - ihr teiltet ein Geheimnis. Oft wenn er auf deiner
Burg weilte, verließ er sie, ohne daß jemand es bemerkte. Oft war es
auch umgekehrt. Die Wachen am Tor hörten keinen Schritt und
sahen nicht mal einen Schatten - und doch erschien er, der eben noch
ferne weilte, wie ein Geist in der Burg. Es muß einen geheimen
Zugang geben, der nur euch beiden bekannt ist. Eröffne mir dieses
Geheimnis, und ich schenke dir das Leben!«

»Niemals!«
»Schon mancher halsstarrige Mann hat >niemals< gesagt«,

belehrte ihn Jong von oben herab und nestelte an seinem Gurt.
»Doch hörte ich von keinem, der sich nicht nach kürzerem oder
längerem Nachdenken eines anderen besann.«

Die grauen Augen des bedrängten Ritters Atz begannen zu

flackern. Aufmerksam beobachteten ihn seine vier Wächter. Jong
zog ein spitzes, zweiseitig geschärftes Messer aus dem Gurt.

»Ich gebe dir jetzt Zeit zum Nachdenken, unglückseliger Atz«,

sagte Jong. »Da es sich besser nachdenken läßt, wenn man durch
seine Umgebung nicht abgelenkt wird, schneide ich dir die Ohren ab
und steche dir die Augen aus.«

»Das wirst du nicht wagen!« knirschte Atz erblassend.
»Es ist keinerlei Wagnis dabei«, versetzte Jong. Auf seinen Wink

packten die Vier den Ritter erneut so, daß er keinen Muskel bewegen
konnte. Nur den Kopf drehte er angstvoll zur Seite.

Langsam kam der Bucklige näher. Die Spitze des Messers auf des

anderen Gesicht gerichtet. Als die Klinge noch einen Zoll von
seinem linken Auge entfernt war, schrie Atz laut auf: »Halt, Jong!

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Ich will dir alles sagen. Du sollst das Geheimnis erfahren. Ich liefere
dir den Plan zu Haggans Versteck aus. Aber laß mir mein
Augenlicht!«

Gleichmütig steckte Jong das Messer wieder in den Gurt. »Warum

nicht gleich so, dummer Atz? Wo bewahrst du den Plan auf?«

»In meinem Schlafgemach«, stammelte der verzweifelte Ritter.
Als die kleine Gruppe auf ihrem Wege an der Mauernische

vorbeikam, wollte Lutz das Schwert ziehen und angreifen. Aber jetzt
war es Atz, der verneinend den Kopf schüttelte. Er wußte, daß jeder
Befreiungsversuch scheitern würde. Sie würden nur beide ihr Leben
einbüßen.

Im Schlafgemach wurde es Atz gestattet, sich frei zu bewegen.

Neben dem hohen Bett stand ein rohgezimmerter Schrank mit einer
großen Lade. Ohne weiteres Säumen trat Atz an ihn heran, zog die
Lade auf und holte nach einigem Kramen ein schmales Blatt weißen
Papiers heraus.

Jong stand auf der Schwelle und sah ihm gespannt zu.
Atz sah flüchtig auf das Papier und streckte dann den Arm aus, um

es Jong zu überreichen.

Der ging, ein hämisches Grinsen auf den Lippen, langsam auf ihn

zu.

In diesem Augenblick zerknüllte Atz das Papier zu einem Knäuel,

kaum halb so groß wie eine Kinderfaust, und schob es sich
blitzschnell in den Mund. Ehe Jong oder einer seiner Vertrauten ein-
greifen konnte, hatte Atz das Papier hinuntergewürgt.

Der Bucklige erstarrte mitten im Schritt.
Atz brach in ein Gelächter aus. »Das wird dich lehren, dem Wort

eines Ritters nicht länger zu mißtrauen! Niemals solltest du unser
Geheimnis erfahren - das versprach ich dir - und nun ist es für ewig
vernichtet!«

Es war sein letztes Lachen, und es waren seine letzten Worte in

dieser Welt. Er hatte den Anführer der Höllensöhne übertölpelt, und
der meinte vor Wut zu zerspringen. Mit einem tierischen Laut sprang
Jong ihn an und stieß ihm das Messer tief in den Leib.

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Lachend ging Atz in den Tod, und die Wut des geprellten Mörders

verwandelte sich in Raserei. Dabei wußte Jong noch nicht einmal,
daß Atz ihn doppelt getäuscht hatte.

Denn das verschluckte Papier war nicht nur weiß, sondern auch

unbeschrieben gewesen. Das Geheimnis von Haggans Unterschlupf
schlummerte woanders ...

*

Als der wuchtige graue Turm von Schloß Atzerath über den
schneebedeckten Fichten auftauchte, erfüllte Hein eine freudige
Vorahnung. Während des scharfen Ritts hatte er die anfängliche
Beklommenheit gegenüber den beiden schwergerüsteten und
gewalttätig aussehenden Männern völlig verloren. Er hielt sie jetzt
für Männer, die den Grobian herauskehrten, aber wenn es drauf
ankam, kaum über die Stränge schlagen würden. Mehrmals hatten sie
sich unterwegs besorgt nach ihm umgeschaut, um sich zu
vergewissern, daß sein kleiner Grauer auch mit ihnen Schritt zu
halten vermochte.

Außerdem glaubte Hein, daß die Fiedel ihm zusätzlichen Schutz

gab. Wer würde sich schon an einem Spielmann vergreifen?

Wieder versank der Turm hinter einem steilen Vorhügel. Der Weg

wurde schmal und gewunden. Nur hintereinander konnten sie hier
reiten, und die Pferde hatten große Mühe. Der Graue schnaufte laut,
aber er fiel nicht zurück. Er hatte schließlich nur ein geringes
Gewicht zu tragen.

Die Kuppe des Vorhügels war unbewaldet. Oben hielten sie. Nur

ein schmales Tal trennte sie noch von der Burg, die jetzt in ihrer
ganzen Ausdehnung vor ihnen lag. Heins Begleiter berieten sich
flüsternd. Dann winkte ihm der riesige Graukopf. Sie wandten sich
nach rechts, weg von der Burg, auf ein Gewirr von felsigen
Erhebungen zu, die eine Schlucht umsäumten.

Hein sah sich um. Der andere Fremde ritt geradewegs auf die Burg

zu. Doch schon entzogen die Bäume ihn seinen Blicken. Warum

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hatten sie sich getrennt? Was führten sie im Schilde?

In weniger als einer Stunde durchquerte Haggan das Tal und

erreichte das Burgtor, vor dem drei Männer Wache hielten. In einem
plötzlichen Entschluß klappte er das Visier hinunter. Bei seinem
Nahen hatten sich die Wachen erhoben und blickten ihm gespannt
entgegen, die Lanzen drohend erhoben.

»Wer seid Ihr, Ritter?« rief ihn einer an.
»Das erfahrt ihr früh genug!« entgegnete Haggan mit rauher

Stimme. »Macht Platz!«

»Laßt euer Gesicht sehen, Herr!« verlangte der zweite Wächter.
»Aus dem Weg!« brüllte Haggan.
»Gebt die Parole!« rief der dritte.
Da spornte Haggan den mächtigen Schimmel und preschte

vorwärts. Einen riß es vom Anprall herum. Den zweiten warf
Haggans Lanze zu Boden. Den dritten packte er am Kragen, hob ihn
hoch und donnerte ihm ins Ohr: »Schließ das Tor auf!«

Zitternd brachte der Mann einen Schlüssel zutage. Haggan ließ ihn

herab, und bald war sein Weg frei.

Im Vorhof lagerten noch einige verschüchterte Knappen. Haggan

parierte den Schimmel, sprang klirrend herab und warf einem den
Zügel zu. »Los, ihr Faulenzer!« rief er. »Nehmt euch des Schimmels
an! In zwei Stunden will ich ihn gut herausgefüttert und strahlend
gestriegelt sehen!«

Dann stampfte er sporenklirrend auf das zweite Burgtor zu. Zwei

Knappen liefen ihm voraus und rissen eilfertig das Tor auf.

Mit einem Blick aus den schmalen Visierschlitzen übersah Haggan

die weite Halle. Wenn auch die Rauchschwaden aus dem offenen
Kamin den Raum wie feiner Nebel füllten, war für den
Neuankömmling kein Zweifel möglich. Er war mitten in eine
Sauforgie geraten!

Ein flüchtiges Lächeln umspielte das strenge Gesicht Haggans. So

und nicht anders hatte er seine wüsten Gesellen anzutreffen erwartet.
Aber jetzt würde er dem Treiben ein Ende gebieten. Kaum jemand
hatte sein Eintreten bemerkt. Wilde Gesänge stiegen zur

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rauchgeschwängerten Decke auf. Hier stieß einer dem Kameraden
unsanft vom Spundloch des Weinfasses weg. Da verirrte sich die
Hand eines anderen im Mieder der laut aufkreischenden Magd.
Einige Kerle hockten am Boden, der Blick selig auf den Becher
gerichtet, den die Hand fest umklammert hielt. Andere würfelten.
Zwei prügelten sich. Warum, hatten sie schon vergessen.

Haggan klappte das Visier auf, nahm ein paar Schritte Anlauf und

sprang auf den langen Eichentisch in der Mitte der Halle. Dann
brüllte er: »Hört her, ihr Saufsäcke, ihr Wüstlinge, ihr Armleuchter!«

Köpfe wandten sich. Gesichter starrten den Mann auf dem Tisch

an, der in voller Rüstung vor ihnen stand. Der Lärm verebbte.
Mancher rieb sich die Augen. War es möglich?

»Ruhe! Haltet das Maul, ihr Lieblinge Haggans! Euer Herr ist

zurückgekehrt! Wo bleibt mein Begrüßungstrunk?«

Da begriffen sie alle. Auch die, deren Geist vom Trunk schon

umnebelt war. Und dann stiegen Schreie empor: »Hoch Haggan!«

Aber nicht minder laut erschallte es: »Nieder mit Haggan!«
Einer wankte unsicheren Schritts auf den Ritter zu und reichte ihm

einen Becher, den größten, den es gab, empor. Haggan griff danach.
Noch während er trank, umringte ihn eine Horde von etwa acht
Männern, die auf Jongs Seite standen und nicht daran dachten, den
Rückkehrer als Hauptmann anzuerkennen.

Mit vereinten Kräften stürzten sie den Tisch um. Doch Haggan war

auf allerlei Überraschungen vorbereitet. Er warf das schwere
Trinkgefäß dem vordersten Angreifer ins Gesicht und sprang
gleichzeitig mit vorgestrecktem Schwert in den Haufen hinein. Drei
riß er um. Den vierten fegte ein Hieb seiner mit Eisen bewehrten
Linken von den Füßen. Dann fuhr er wie ein Racheengel zwischen
die übrigen.

Sie bekamen kaum die Arme hoch zur Verteidigung. Hatten sie

vergessen, daß Haggans Kraft schier unmenschlich war? Jammernd
fanden sie sich auf dem Rücken wieder, hielten sich die
schmerzenden Rippen und verwünschten sich heimlich für ihren
Trotz.

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Zwei, die Haggans wirbelnde Schläge noch nicht erreicht hatten,

fielen vor ihm auf die Knie und winselten um Gnade. Er versetzte
jedem einen Fußtritt, daß sie sich überkugelten.

Jubel. Hochrufe. Die Halle dröhnte. Die Höllensöhne feierten mit

Getöse ihren Herrn, den sie doch noch vor einer Stunde leichtfertig
verraten hatten.

Haggan legte Helm und Harnisch ab. Mit spöttischem Blick

umfaßte er die Männer, die er seit Jahren kannte, benutzte und von
Herzen verachtete.

Plötzlich trat Stille ein.
Jong kam in die Halle.
Der Bucklige wirbelte herein wie eine Feuerkugel. Er war außer

sich. Dämonen schienen ihn zu treiben. Er entriß dem
Nächststehenden einen Spieß. Scheu wichen alle vor ihm zurück.
Wie von Zauberhand ergab sich eine Gasse, die geradewegs zu
Haggan führte. Mit gesenktem Kopf raste Jong auf den
Zurückgekehrten zu.

»Jong!« Haggans Stimme traf ihn wie ein Bolzen. Er erstarrte und

richtete sich auf. »Kommst du, um mir erneut Treue zu schwören?«

Jong stieß einen unartikulierten Schrei aus. Wie haßte er diese

Stimme! Sie wollte ihn demütigen, vor aller Augen erniedrigen, in
den Dreck stoßen. Erbitterung erfüllte ihn.

Seine Starre löste sich. Er drang auf Haggan ein.
Als die Spitze des Spießes nur noch einen Fuß von seiner Brust

entfernt war, schlug Haggan mit dem Schwert die Waffe zur Seite.

Jong strauchelte. Haggans zweiter Schlag traf seinen Buckel. Der

Spieß entglitt Jongs Händen und rollte über den Boden. Jong stöhnte.
Haggan hob den Fuß, um ihn dem Geschlagenen auf die Schulter zu
setzen.

Da fühlte er sich hinterrücks von starken Armen gepackt. Sie

zerrten an seinen Schultern. Sie rüttelten an seinen Knien. Haggan
wankte. Sie wollten ihm das Schwert entwinden. Aber er ließ es nicht
los.

Seine Muskeln spannten sich und drangen fingerdick unter der

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Haut hervor. Mit seiner urwüchsigen Kraft wehrte sich Haggan vom
Horn, Haggan der Gräßliche gegen die vier Getreuen Jongs.

Aber wie sollte er sie abschütteln, einer gegen vier?

*

An der ersten Felsnadel, die klobig aus dem Boden wuchs und hoch
über den Baumwipfeln in einer Spitze endigte, hielt Trumm an, und
auch Hein stoppte den Grauen. Vor ihnen wölbte sich der Eingang in
eine enge Schlucht, in die nie Tageslicht fiel. Trumm zog ein
schwarzes Tuch hervor.

»Komm näher, Spielmännchen!« sagte er freundlich. »Ich will dir

die Augen verbinden.«

Hein entflammte. »Die Augen verbinden? Das ist nicht ritterlich!

Ich lasse es nicht zu.«

»Papperlapapp! Ritterlich hin, ritterlich her. Dies ist ein Ort des

Geheimnisses, den nur wenige Menschen auf Erden finden. Kein
anderer darf den Weg erspähen. Sobald wir an Ort und Stelle sind,
fällt das Tuch. Das verspreche ich dir.«

Hein wich zurück. Jähe Angst ergriff von ihm Besitz. Der

Graukopf wollte ihm Böses! Ablehnend streckte er die Hände nach
vom. »Weg mit dem Tuch! Ich traue Euch nicht!«

»Das Köpfchen her! Zum letztenmal, Knäblein!«
Hein riß am Zügel des Grauen. Er wollte fliehen. Doch dazu kam

er nicht mehr. Der Riese drängte den Fuchshengst heran, war neben
ihm, und wie gelähmt hing Hein in seiner bärenhaften Umarmung. Er
mochte schreien und sich sträuben - mühelos bändigte ihn Trumm
und knüpfte das schwarze Tuch um seinen Kopf, so daß er nichts
mehr sah. Ein leichter Klaps auf den Rücken: »Keine Angst,
Bürschlein! Dir geschieht nichts. Trumm« - zum erstenmal hörte
Hein den Namen - »vergreift sich nur an Männern!«

»Hölle und Teufel!« brauste Hein auf. Aber ein zweiter, diesmal

schmerzhafter Klaps ließ ihn verstummen. Sein Mut war dahin. Mit
klopfendem Herzen ließ er es zu, daß Trumm den Grauen antrieb.

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»Und laß dir nicht einfallen, die Hände von den Zügeln zu nehmen!«
mahnte Trumm grollend.

Dann ritten sie in die Schlucht. Hein, der nichts mehr sehen

konnte, schien es eine Ewigkeit. Ihm war, als schlängle sich der Weg
in unendlich vielen Windungen. Dann wieder hatte er das Gefühl, als
ritten sie geradewegs in den Berg hinein. Mal meinte er wieder, es
ginge aufwärts, hoch, immer höher, zu fernen Gipfeln. Dann wieder
dröhnte das Echo der Hufschläge in seinen Ohren und vermittelte
ihm das Gefühl, tief unter der Erde zu sein.

Und nie verließ ihn die bohrende Angst vor einem meuchlerischen

Streich aus dem Dunkeln.

Endlich wieder Trumms Stimme: »Steig ab, Fiedler!«
Hein gehorchte. Eine grobe Hand griff nach seinem Ellbogen und

führte ihn weiter. »Fünf Stufen!« warnte Trumm. Jäh ging es
abwärts. Hein stolperte und griff mit der freien Hand ins Leere. Das
höhnische Lachen Trumms empörte ihn.

Die Stufen waren zu Ende. Es ging weiter vorwärts, im Kreis

herum, eine Biegung nach links, eine nach rechts ... Nahm der Weg
kein Ende?

Dann fiel das Tuch. Kein sah sich in einem achteckigen Raum, der

rings mit kostbaren Teppichen behängt war. Auch der Fußboden
wölbte sich unter orientalischem Webwerk. An den Wänden waren
gepolsterte Ruhebänke und feingeschnitzte Regale mit Krügen, in
denen Vorräte lagerten. Die Mitte nahm ein ebenfalls achteckiges
Tischlein mit solider Marmorplatte ein. Ein vielarmiger Leuchter
spendete mildes Licht.

Mit großen Augen sah Kein sich um. Nirgends war ein Eingang zu

erblicken. Wie waren sie hereingekommen?

Er erschrak, als Trumms Stimme, die in dem Gemach wie eine

Trommel dröhnte, ihn neuerdings ansprach. »Dies ist der geheime
Unterschlupf Haggans des Gräßlichen!«

Hein erschauerte. Er schloß die Augen. Er war in der Höhle des

Löwen! Würde er sie jemals lebend verlassen?

Dann hörte er Wasser rauschen. Er öffnete die Lider. Sein Blick

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fiel auf einen Wasserfall, der in Wandnähe aus der Decke kam, in
eine Vertiefung sprudelte, sich dort sammelte und unterirdisch
wieder abfloß.

»Warte hier!« bedeutete ihm Trumm und verzog das Gesicht. Es

sollte wohl ein Lächeln sein. »In den Regalen ist Speis und Trank.
Im Wasserfall kannst du baden. Ich bin bald wieder da.«

Langsam drehte Hein sich um. Niemand war hinter ihm. Trumm

war verschwunden. Es mußte Geheimtüren geben. Aber Hein war
viel zu müde und eingeschüchtert, um nach ihnen zu suchen.
Seufzend streckte er sich auf der Ruhebank aus, nachdem er die
Fiedel vom Rücken gestreift hatte.

Indessen stapfte Trumm in gebückter Haltung einen niedrigen

Gang, der vom Unterschlupf zu der 500 Klafter entfernten Burg
führte. Mit einer Kerze leuchtete er seinen Schritten voraus. Hin und
wieder blieb er stehen und zog eine Karte zu Rate, denn der Gang
verästelte sich häufig, und ohne eine Planzeichnung hätte er sich
rettungslos verirrt.

Der Geheimgang war Bestandteil eines natürlichen Höhlensystems,

das der Baumeister von Atzerath durch Zufall bei den Arbeiten am
Fundament gefunden hatte. Als einzigen weihte er den damaligen
Burgherrn ein. Gemeinsam durchforschten sie monatelang die
meilenweiten Gänge, die oft tief unter der Erde unvermittelt endeten.
Nur einer führte eine halbe Meile von Atzerath entfernt inmitten fast
undurchdringlichen, dornigen Gestrüpps und dichtverwachsenem
Unterholz ans Tageslicht.

Der Baumeister fertigte eine Karte an, von der später noch einige

wenige Abschriften hergestellt wurden. Sollten je Feinde die Burg
besetzen, würde der Burgherr einen fabelhaften Fluchtweg zur
Verfügung haben. Kurz bevor der Gang an der Erdoberfläche
mündete, ließ er von dem Baumeister und zwei zum Schweigen
verpflichteten Arbeitern an einer Stelle, wo ein unterirdischer
Wasserfall floß, den achteckigen Schlupfwinkel erbauen.

Übrigens wurden nach der Beendigung dieses unterirdischen

Bauwerks die drei Beteiligten nie wieder gesehen. Nur der Burgherr

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wußte, wie sie umgekommen waren und daß er ihre Leichen mit
eigener Hand in einen Seitengang geschleppt hatte. Nie würde man
dort ihre Skelette finden.

Das Geheimnis vererbte der tückische Burgherr seinen Söhnen Atz

und Lutz. Diese teilten es später mit Haggan, ihrem Busenfreund, der
es an Trumm weitergab. Nachdem nun Atz tot war, kannten nur noch
drei Männer das Geheimnis.

Den Zugang zum Schloß bildete eine für Uneingeweihte völlig

unsichtbare Tapetentür in der Kemenate, die für die Frau des
Burgherrn gedacht war. Da Atz unbeweibt war, blieb die Kemenate
unbenutzt.

Dennoch beachtete Trumm, als er sie erreichte, alle gewohnten

Vorsichtsmaßnahmen, ehe er sie von außen her öffnete. Durch
aufmerksames Horchen hatte er sich vergewissert, daß kein
Unbefugter zufällig in der Kemenate war. Von dort gelangte Trumm
rasch in die Halle. Er kam gerade in dem Augenblick, als Haggan
von Jongs vier Getreuen überrumpelt worden war.

Der riesige Graukopf kam seinem Herrn sofort zu Hilfe. Als er den

ersten Schlag führte, erwachten mehrere Höllensöhne aus der
Erstarrung und schlugen mit scharfer Klinge auf die Jong-Anhänger
ein. Keiner überlebte.

Sie wollten auch dem zitternden Jong das gleiche Schicksal

bereiten. Aber Haggan hielt sie mit herrischer Gebärde zurück.
»Einen so schnellen Tod hat der Verräter nicht verdient!« verkündete
Haggan finster, und Jong, der das hörte, wand sich vor Furcht wie in
Krämpfen. Haggan fuhr fort: »Das Urteil über Jongs Missetat aber
überlasse ich dem Burgherrn Atz von Atzerath! Wo ist er? Wo ist
mein Freund Atz? Warum eilt er nicht herbei, um mich an seine
Brust zu drücken?«

Totenstille trat nach diesen Worten ein. Schuldbewußt blickten die

Höllensöhne, von denen keiner besser war als Jong, zu Boden.

Noch einmal rief Haggan, lauter diesmal, nach Atz.
Da schlurfte ein Mann mit gesenktem Kopf langsam durch die

weite Halle heran. Haggan faßte ihn scharf ins Auge und erkannte

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ihn. »Lutz!« rief er überrascht. »Du hier? Komm, alter Freund und
Eisenfresser! Wo ist dein Bruder? Wo ist Atz? Warum läßt er mich
warten? Ist das gastlich? Ist das fürstliche Manier?«

Noch drei Schritte tat Lutz. Dann blieb er stehen. Dumpf klang

seine Stimme, als er antwortete: »Es ist noch keine halbe Stunde her,
da wurde mein Bruder von deinem Unterführer Jong meuchlings
erstochen!«

»Ist das wahr?« fragte Haggan.
Der Bucklige bedeckte seine Augen mit den Händen. Er ertrug

Haggans bohrenden Blick nicht länger.

»Es ist wahr«, sagte Lutz tonlos. »Und ich wünsche, da ich der

Erbe meines Bruders bin, das Urteil über den Meuchelmörder zu
sprechen.«

»Das steht dir zu, Lutz, falls es mit meinem übereinstimmt.«
Der Bruder des Burgherrn erhob seine Stimme nicht, aber die

Worte seines Urteils waren bis in den letzten Winkel der Halle zu
vernehmen. Noch bevor er geendet hatte, gab es einen dumpfen
Krach.

Jong, der bucklige Aufrührer, war ohnmächtig umgefallen.

*

Als der nächste Morgen graute, standen fünf Männer auf der
unbewaldeten Kuppe und schauten angestrengt zu den grauen
Mauern und dem wuchtigen Turm von Burg Atzerath hinüber. In der
vergangenen Nacht waren Roland, Louis und die beiden Gaukler auf
Volker vom Hohentwiel

gestoßen. Der briet gerade zwei

frischerlegte Fasanen an einem kleinen Lagerfeuer und beklagte sich
lauthals über Kein, der ihn schnöde verlassen und ihm die Fiedel
gestohlen hatte.

Roland freute sich über das Wiedersehen mit dem Freunde, aber

der Verdacht gegen Hein erboste ihn mehr, als er sich selber erklären
konnte. Wie kam es nur, daß ihm der prahlerische und keineswegs
mutige Junge so ans Herz gewachsen war?

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Die ersten Sonnenstrahlen strichen über die Burgzinnen und

erfaßten die Flagge mit dem silbernen Hirsch auf schwarzem Grunde
über dem Burgfried. Plötzlich erschien eine Gruppe von Männern,
und die Flagge wurde heruntergeholt. Gleich darauf stieg am
Flaggenmast ein zappelnder Körper empor, der mit einem Ruck
erschlaffte.

Und jetzt hing statt der Fahne mit dem Atzerath-Wappen ein

Gehenkter über der Burg!

Roland und Volker wechselten einen Blick. Das grausige

Schauspiel überzeugte die beiden Ritter, daß Haggan der Gräßliche
das Kommando auf der Burg führte. Vorsichtig zogen sie sich in die
Deckung der dichtstehenden Fichten zurück und beobachteten, wie
überall verstärkte Wachtposten aufzogen.

Louis fluchte lautlos vor sich hin. »Verdammt, verdammt, wir

kamen zu spät. Diese Feste können wir zu dritt nie erstürmen. Und
hätte jeder von uns zehn Löwen im Leib, so müßten wir doch im
Hagel der Geschosse untergehen, noch bevor wir das erste Bollwerk
genommen hätten!« Mißmutig formte er Schneebälle und warf sie
gegen die unverschämt grinsenden Funkmann und Schiebermann.

Volker schien von allen Sorgen unberührt. Er wälzte sich auf den

Rücken und sang mit seiner klaren, warmer Stimme:

»Hör ich nur des Hochwaldes Rauschen, Und denke voll Liebe an

dich, Dann möcht' ich mit niemandem tauschen, Kein König ist
reicher als ich!«

Roland lauschte dem Freunde mit halbem Ohr, während seine

Augen auf Funkenmann und Schiebermann nachdenklich ruhten.
Natürlich war auch ihm klar, daß die Burg weder im Handstreich
noch auf andere gewaltsame Art zu erstürmen war. Aber es mußte
doch einen Weg geben! Auf keinen Fall würde er unverrichteter
Dinge von hier abziehen. Der gefährlichste Mann des Reiches,
Haggan der Gräßliche, mußte auf irgendeine Weise unschädlich
gemacht werden!

Der Ritter zermarterte sich den Kopf. Allmählich begann sich ein

Gedanke in ihm zu formen. Er spann ihn weiter aus, und sein Mund

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verzog sich zu einem Lächeln.

So mußte es gehen!
»Freunde!« rief er, an einen Buchenstamm gelehnt. »Ich habe die

Lösung! Wir werden Haggan aus der Burg, aus der Mitte seiner
verruchten Kumpane herausholen, wenn ihr mir vertrauensvoll folgt.
Hört meinen Plan!«

Volker und Louis waren aufgesprungen und zu ihm getreten.

Aufmerksam hingen ihre Blicke an seinen Lippen. Sie würden ihm
auch in die Hölle folgen, wenn er es verlangte! Die Höllensöhne
sollten sie kennenlernen!

»Sprich, Roland!« forderte Volker ihn auf. »Wie lautet dein Plan?«
Roland aber winkte den beiden Gauklern, die sich bescheiden

abseits hielten. »Kommt her, alle beide! Ich brauche euch. Ihr wißt,
daß ich Haggan gefangennehmen und nach Schloß Camelot
zurückbringen muß. Seid ihr bereit, mir dabei zu helfen?«

Die Gaukler sahen einander verlegen an. Dann erwiderte

Funkenmann: »Herr, wie sollten wir Euch helfen? Wir sind
armseliges, fahrendes Volk und im Waffenhandwerk nicht erfahren.
Schiebermann hier, mein Geselle, kann wohl Schwerter schlucken,
aber nicht mit ihnen fechten. Und ich kann nur Feuer schlucken und
Flammen sprühen. Gaukelei, nichts als Gaukelei!«

»Eure Kunststücke werden uns sehr nützlich sein«, behauptete

Roland. »Und nun hört, was ich mir ausgedacht habe!«

Vor den untereinander so verschiedenen Männern entwickelte

Roland seinen tollkühnen Plan. Ihre Gesichter waren ernst, und der
Gedanke an die vor ihnen liegenden Gefahren verschlug ihnen den
Atem.

*

Vom Wachtturm klang ein Warnruf. »Über das Tal nähern sich fünf
Männer!«

Der Wachhabende am Tor trat heraus. Er legte den Kopf in den

Nacken und rief nach oben: »Sind sie bewaffnet?«

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»Es sieht nicht so aus. Doch sind es auch keine Bauern des

Burglehens. Es sind Fremde. Sie wirken zerlumpt und arm. Ein Pferd
führen sie mit sich.«

»Dank für die Meldung. Wir werden sie schon auf den rechten

Weg bringen!« Der Wachhabende lachte roh, und seine drei Posten
stimmten ein. Auf ihre Lanzen gestützt, erwarteten sie die angekün-
digten Fremden. Endlich wurden sie auch von ihrem Standplatz aus
sichtbar.

Die Gruppe bot wirklich keinen kriegerischen Anblick. An der

Spitze ging ein Hinkefuß, dessen rechtes Auge hinter einer Binde
verborgen war. Er trug gelbe, anliegende Hosen, hohe Stiefel, einen
weiten Mantel voller Flicken und vereinzelter Risse. Auf dem Kopf
saß ihm der Hut wie ein Topfdeckel.

Es war Volker, und seine Kleider stammten aus dem Vorrat

Funkenmanns, der ihm mit seinem Gesellen auf dem Fuße folgte und
mit pfiffigem Ausdruck aus seiner Vermummung schaute. Dann kam
Louis und zuletzt Roland, der sich mit Schiebermanns Hilfe recht
vagabundenhaft ausstaffiert hatte. Er führte das Packpferd mit sich.
Die übrigen Pferde hatten sie am Waldrand angebunden. In dicke
Bündel gehüllt, führten sie ihre Waffen mit sich. Aber niemand
vermutete sie in dem wollenen Zeug auf dem breiten Rücken des
Gauls.

Die Wachen empfingen sie sehr ungnädig. »Zieht weiter,

Lumpenpack! In dieser Burg wohnen nur ehrliche Leute.«

Das »Lumpenpack« ließ betreten die Köpfe hängen. Aber Volker

hinkte unbekümmert weiter und öffnete den Mund zu einer längeren
Rede. Er verstand es, den Wachhabenden neugierig zu machen,
indem er sich und die anderen Mitglieder seiner »Truppe« als bestau-
nenswerte Künstler vorstellte, die schon an vielen Burgen
beifallumrauscht ihre Vorstellungen gegeben hätten.

Die Wachen lauschten dem Redefluß des einäugigen Hinkebeins,

und ihre Augen glänzten in der Vorahnung eines glänzenden
Schauspiels. Allein der Wachhabende hegte noch Zweifel. »Eh' ich
euch glaube und Zutritt gewähre, gebt mir eine Kostprobe eures

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Könnens!« verlangte er.

Volker winkte Schiebermann zu sich. »Dieser wunderbare

Künstler«, schwärmte er dann, »nährt sich nicht von Fleisch, Korn
und Früchten, sondern von nacktem Eisen. Seht ihr, wie er mit
begehrlichen Blicken das Schwert an Eurer Hüfte betrachtet? Er
möchte es zu gern verschlucken!«

»Verschlucken?« rief der Wachhabende. »Das kann kein

sterblicher Mensch! Die Klinge ist scharf, das Eisen lang und hart.«

»Und doch wette ich, daß er die Waffe bis zum Heft verschluckt.«
Die Wachen lachten laut. »Ich setze einen Dukaten dagegen.«
»Topp!« rief Volker. »Die Wette gilt!«
Immer noch lachend händigte der Wachhabende Schiebermann

sein Schwert aus. Unter gewaltigem Hokuspokus nahm der Gaukler
die Klinge entgegen, rieb sich den Bauch, öffnete den Mund, weit
und immer weiter, hob das Schwert, daß es in der Sonne blitzte und
blinkte, schob es in den Mund und durch die Gurgel.

Dann tat er, als gelinge das Kunststück nicht, zog das Schwert

heraus, setzte neuerlich an - und so trieb er es einigemal. Dann gab er
sich einen Ruck, schien seinen ganzen Mut zusammenzunehmen,
stand aufrecht, gereckt wie ein junger Buchenstamm, und schob nun
wirklich das Schwert von oben in seinen Leib, immer tiefer, bis nur
noch das Heft herausschaute.

Mit offenen Mündern sahen die Wachen zu. Aber Schiebermann

stolzierte wie ein Posten mit dem Schwert im Leibe einigemal auf
und ab, ehe er endlich mit nicht weniger Hokuspokus als zu Anfang
das Schwert Stück um Stück wieder ans Tageslicht holte. Der
Wachhabende war begeistert und wollte sofort seinen verlorenen
Dukaten bezahlen. Aber Volker wehrte ab.

»Behalte die Münze!« sagte er und deutete auf Louis. »Ich habe

einen Zauberer bei mir, der mir so viele Dukaten aus der Luft holt,
wie ich haben will!«

Louis wies seine leeren Hände vor, fuchtelte schneller, als Blicke

folgen konnten, durch die Luft, drehte sich auf dem Hacken einmal
um sich selber, griff dem Wachhabenden ans Ohr und hielt plötzlich

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einen Dukaten zwischen Zeige- und Mittelfinger! Lauter Beifall
lohnte seine Vorführung.

»Und nun«, rief Volker, »führt uns zum Burgherrn!«
»Folgt mir!« sagte der Wachhabende. »Haggan wird euch nicht

mehr von seiner Seite lassen. So etwas wie euch gibt es im ganzen
Lande kein zweitesmal!«

So hielten sie Einzug auf Burg Atzerath.

*

Nachdem der Aufrührer Jong gehängt worden war, trieb Haggan die
Burgbewohner zu emsiger Arbeit an. Zunächst mußten sie die von
ihren Saufereien verdreckten Innen- und Außenräume reinigen. Dann
wurden sie zu Waffenübungen gerufen, die bis zum Abend
fortgesetzt werden sollten. Knappen und Höllensöhne stöhnten
einträchtig nebeneinander unter den ungewohnten Strapazen, die
durch ihre Brummschädel vom übertriebenen Weingenuß des Vor-
abends besonders anstrengend waren.

Haggan setzte die Burg in den bestmöglichen

Verteidigungszustand. Er rechnete damit, daß früher oder später ein
Trupp von König Artus' Rittern vor Atzerath auftauchen würde. Aber
er war guten Mutes, sowohl einem wagemutigen Sturm wie auch
einer längeren Belagerung trotzen zu können.

Es kam nur darauf an, seinen Männern den Liederjahn wieder

auszutreiben, der während seiner Gefangenschaft auf Camelot
eingerissen war.

Die Halle funkelte wieder vor Sauberkeit, als ihm die Gaukler

gemeldet wurden. Kein Ritter des Mittelalters hätte sich ein solches
Schauspiel an einem eintönigen Wintertag versagt. In diesem Punkte
unterschied sich der Geschmack des Burgadels in keiner Weise von
dem des Volkes, das zur Sommer- und Herbstzeit in Scharen auf die
Jahrmärkte strömte.

Haggan nahm mit Trumm und Lutz auf hohen Stühlen Platz und

sah den Gauklern erwartungsfroh entgegen. An ihrer bescheidenen

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Kleidung nahm er keinen Anstoß. Wer weiß, wie lang und
beschwerlich die Reise war, die hinter ihnen lag!

Als erster trat Louis auf. Indem er das Gackern von Hennen

nachahmte, zauberte er Eier vom Fußboden, von den Wänden und
aus der Luft. Trumm kreischte vor Vergnügen. Haggan lachte breit.
Sogar Lutz, dem nach seines Bruders Tod der Sinn eigentlich nicht
nach Vergnügungen stand, wurde aufmerksam.

Jetzt näherte sich Louis den Zuschauern und pflückte Trumm eine

Blume aus der Nase. Dann begab er sich zu Lutz und hob die Hand -
in der Absicht, aus dem Ärmel des Ritters einen Dukaten zu zaubern.
Urplötzlich erhob sich Lutz halb, packte Louis am Arm und schrie:
»Dich erkenn' ich trotz deiner Verkleidung, Unseliger! Du bist der
Dieb, der sich bei Kaufmann Klotz einschlich. Vorsicht, Haggan!
Hüte dich, Trumm! Dies sind keine echten Gaukler! Sie wollen uns
Böses!«

Alle drei sprangen auf und zogen die Waffen. Dabei mußte Lutz

den ertappten Louis loslassen, der auf der Stelle zu Roland eilte. Der
hatte bereits das Deckenbündel geöffnet und reichte Louis und
Volker ihre Handwaffen.

Oh, wie flink zeigte sich jetzt das ehemalige Hinkebein Volker!

Louis wandte sich gegen Lutz von Lutzerath, und der einstige
Waldräuber, der bei einem Fechtmeister fleißig Unterricht
genommen hatte, entzauberte in Windeseile den viel ungelenkeren
Ritter. Er umtanzte ihn und ließ die Klinge schwirren, daß Lutz
glaubte, sein Gegner führe drei oder gar vier Waffen zugleich.

Doch im Vertrauen auf seine Kraft setzte Lutz alles auf einen mit

voller Gewalt von oben her geführten Schlag, der Louis den Schädel
spalten sollte. Nicht noch einmal durfte ihm dieser Frechling
entwischen!

Indessen fühlte Volker kaum die Waffe in der Hand, da sah er sich

schon dem Graukopf Trumm gegenüber, der ihn um mehr als
Haupteslänge überragte. Trumms Kampfstil war in Jahrzehnten
gleich geblieben und immer gleich erfolgreich gewesen. Mit seinem
Zweihandschwert mähte er alles nieder, was sich ihm in den Weg

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stellte.

Aber er hatte noch nie einen so eleganten Fechter wie Volker zum

Gegner gehabt. Nie war der Sänger da, wo Trumms Waffe
vernichtend einschlug. Dafür wurde fast jeder Schlag Volkers ein
Treffer. Bald tropfte Blut auf den eben gesäuberten Fußboden, und
Trumm sah sich in höchsten Nöten. Er war in die Verteidigung
gedrängt. Aber wie sollte der plumpe Mann sich gegen den hervor-
ragend fechtenden Volker verteidigen?

Trumm dämmerte es, daß er verloren war. Seine Wunden

schmerzten. Schon stand er mit dem Rücken zur Wand. Sein Blick
war trüb geworden, und er konnte Volkers Bewegungen nicht mehr
folgen. Da rutschte der Minnesänger auf dem glatt gescheuerten
Boden aus und fiel!

Als er wieder hochkam, war Trumm geflohen. Volker sah gerade

noch einen Hacken - dann war der Riese außer Sichtweite.

Trumm stürzte in die Kemenate. Ein Blick über die Schulter.

Keiner verfolgte ihn. Mit bebenden Händen öffnete er die geheime
Tapetentür ...

Im selben Augenblick führte der bis zum äußersten gereizte Lutz

einen Fehlhieb und rannte, vom eigenen Schwung vorwärtsgetrieben,
in die Klinge des Knappen Louis. Mit einem Aufschrei, dem
röchelnde Laute folgten, sank er nieder.

In einem anderen Teil der Halle standen sich Roland und Haggan

gegenüber. »Wenn Ihr Haggan seid«, rief Roland schneidend, »so
ergebt Euch! Ich stehe hier in des Königs Auftrag, um den
Flüchtigen aus Camelots Verlies zurückzubringen. Tot oder lebendig
- Ihr entgeht mir nicht!«

Der Gräßliche maß ihn mit verächtlichem Blick. »Denkt Artus, den

Gott verdammen möge, so gering von mir, daß er mir einen
Milchbart schickt, um mich gefangen zu nehmen? Wo sind Eure
Narben, wo sind die Gesichtsrunen des Mannes, Ritter Namenlos?«

»Kein Wort mehr!« unterbrach ihn Roland. »Meinen Namen sollt

Ihr erfahren. Ich bin Roland! Und jetzt werft das Schwert weg!
Ergebt Euch auf Gnade und Ungnade!«

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Haggan lachte ihm ins Gesicht.
Roland wartete noch ein paar Atemzüge lang. Haggan hörte nicht

auf zu lachen. Er lachte ihn aus. Da faßte Roland sein Schwert fester
und rief: »Dann muß ich Euch mit Gewalt gefangennehmen!« Er
ging in Angriffsstellung und ...

Unvermittelt ließ Roland die Waffe sinken. »Verzeiht, Ritter«,

sagte er niedergeschlagen. »Ich kann gegen Euch nicht kämpfen. Ihr
wart es, der mir das Leben gerettet habt als ich wehrlos in der Hand
der wilden Bauern war.«

»So ist es«, bestätigte Haggan grinsend. »Ohne mich lägt ihr jetzt

erschlagen und steif gefroren auf Kloppers Hof.« Und wieder
schallte sein Lachen durch die Halle und gellte Roland in den Ohren.

Volker und Louis sahen ihn zögern und kamen neugierig näher.

Kein Zweifel, daß sie Haggan angreifen würden, wenn Roland es
nicht tat.

Haggans stechende Augen rollten. Er schaute von einem zum

anderen. Rolands Gesicht spiegelte den inneren Kampf, der in ihm
tobte. Und ehe noch die Freunde eingreifen konnten, hatte er sich
entschieden.

»Hört meinen Vorschlag, Haggan! Ich darf Euch kein Leid

zufügen - nach dem, was Ihr an mir getan habt. Aber des Königs
Auftrag muß erfüllt werden. So laßt uns in ritterlichem Zweikampf
nach strengen Turnierregeln den Zwist entscheiden. Hebt meine
Lanze Euch aus dem Sattel, so gebt Ihr Euch gefangen. Werft Ihr
mich in den Staub, so bin ich Euer Gefangener, und Ihr mögt mit mir
verfahren, wie es Euch gefällt.«

Noch immer lachte Haggan. Sein Blick tastete über Rolands

Gestalt. Er schätzte ihn ab. Nun, er war gutgewachsen, groß und
geschickt in seinen Bewegungen. Aber wie sollte er gegen ihn,
Haggan, vor dem Fürsten zitterten, bestehen? Ein Jüngling ohne die
Erfahrung vieler kampfdurchtoster Jahre?

Haggans Entschluß war gefaßt. »Ich nehme den Vorschlag an.

Erwartet mich in einer Stunde, so Ihr Roß und Lanze habt, vor den
Toren der Burg! Genießt die letzte Stunde, die Ihr in Freiheit

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verbringen werdet!«

Dann wandte er sich und verließ eilends die Halle. Auch er begab

sich zur Kemenate. Auch er betrat den geheimen Gang.

Als er den unterirdischen Raum erreichte, saß Trumm auf einem

Schemel und kühlte seine Wunden. Hein hatte sich, so weit es der
Raum zuließ, von ihm zurückgezogen und blickte furchtsam Haggan
entgegen.

Trumms Gesicht spiegelte Schmerzen wider. Doch als Haggan

rasch eintrat, verzog er die Lippen zu einem gequälten Lachen. Er
deutete auf Hein. »Sieh unser Spielmännchen, Haggan! Ich
überraschte ihn beim Baden. Vor Schreck sang er wie eine Lerche.
Und er ist eine Lerche! Die Männerkleider dienten dazu, uns zu
täuschen. Das halbgare Bürschlein wird nie ein Mann werden. Es ist
ein Mädchen!«

Und mit den Händen malte Trumm fast zärtlich die Umrisse eines

weiblichen Körpers in die Luft.

*

Eine Stunde ist eine kurze Zeit. Es gab noch viel zu tun. Louis
verließ die Burg, wobei er am Tor einen längeren Aufenthalt hatte,
weil die Wächter ihn darum baten, noch ein wenig für sie zu zaubern.
Dieser Bitte konnte er sich natürlich nicht entziehen, und so holte er
ihnen Löffel, Eier und Federn aus Ohren und Nasen, zum Abschluß
sogar einen halben Dukaten, den ebenso selbstverständlich der
Wachhabende für sich behielt. »Als Andenken«, sagte er listig. Und
überlegte doch schon, ob er mit dieser Münze wohl endgültig die
Gunst der immer noch zwischen Tugend und Gefühl schwankenden
Magd Hulda gewinnen könne.

Eilends begab sich Louis dann ins Tal, wo sie die Pferde

angepflockt hatten. Sie grasten am Bachrand, aber der edle Samum
gebärdete sich höchst ungeduldig.

Louis klopfte ihm den Hals. »Warte nur, mein Schöner«, sagte er,

»bald wirst du dich tummeln können, wenn du meinen Herrn in den

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schwersten Kampf seines Lebens trägst - gegen Haggan vom Horn,
den noch nie ein Gegner überwand!«

In der Burg hatten indessen die Höllensöhne und Knappen

gemerkt, daß niemand mehr ihre ermüdenden Waffenspiele
beaufsichtigte. Einer nach dem anderen schlich sich davon. Den
Anfang machten die Kühneren unter ihnen. Da nichts darauf geschah
und sich weiterhin weder der gefürchtete Haggan noch sein zweites
Ich, der riesige Trumm, blicken ließen, faßten sich auch die übrigen
ein Herz, warfen die Waffen weg und folgten dem Vortrupp.

Die Fässer waren leergetrunken. Aber einige kannten den Weg

zum Weinkeller, über dessen Vorräte sagenhafte Berichte im
Schwange waren. Geräuschvoll tappste die wüste Horde in langer
Schlange über glatte, breite Steinstufen nach unten. Bald verkündete
ein langanhaltendes Freudengeheul Roland und Volker, die sich in
der Halle aufhielten, daß die Höllensöhne das Ziel ihrer Sehnsüchte
entdeckt hatte.

»Die werden uns nicht mehr in die Quere kommen«, sagte Volker

und lachte.

Roland zerbrach sich den Kopf darüber, wie Haggan und Trumm

nach Belieben, wie es schien, an jedem Ort der Burg plötzlich
auftauchen und spurlos wieder verschwinden konnten. Während sie
auf die Rückkehr von Louis warteten, streifte er ruhelos durch die
Räume und fand schließlich den erstochenen Atz, der in seinem
Zimmer aufgebahrt lag.

Der breite Siegelring an seiner Hand fiel Roland auf. Er hatte die

gleichen Ringe bei Haggan und Trumm gesehen. Bargen die Ringe
ein Geheimnis?

Er tastete den Ring vorsichtig ab und fand einen schmalen, kaum

fühlbaren Vorsprung an der rechten Seite, der sich eindrücken ließ.
Roland bewegte den Mechanismus, und der Ringdeckel klappte auf.
War im Inneren des Ringes ein Plan verborgen?

Aber nein. Dort war nur in feinster Goldschmiedearbeit das

Wappen der Atzeraths - ein Hirsch - verborgen.

Seufzend klappte Roland den Ringdeckel zu und gab das Suchen

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auf. Zu wohlbehütet war dieses Geheimnis. Er verließ die Kammer
mit dem toten Burgherren, ging in die Halle zurück und berichtete
Volker von seinem Fund.

Da hörten sie Hufschlag im Vorhof, und sie traten ins Freie. Louis

war mit den restlichen Pferden zurückgekehrt. Auf den ersten Blick
sah Roland, daß sein Samum sich in glänzender Form befand. Auf
ihn würde er sich bei dem heißen Gang, der ihm bevorstand,
verlassen können.

Es fehlte jetzt nur noch eine halbe Stunde an der vereinbarten Zeit.

Mit der umsichtigen Hilfe seines Knappen legte Roland die Rüstung
an, die ihn schon so oft geschützt hatte, stieg in den Sattel des
ungeduldig tänzelnden Arabers und nahm den Schild. Noch immer
trug er kein anderes Wappen als den unglückseligen Würfel, der nur
ein Auge zeigte.

Zuletzt griff der Ritter nach der Lanze, wog sie in der Hand und

konzentrierte sich ganz auf den bevorstehenden Kampf. Es war
früher Nachmittag, und die Wintersonne sank schon tief gegen Süd
westen.

Auch Louis und Volker saßen auf, und gemeinsam ritten sie zu den

Auen am Bach hinunter. Die Wachen erkannten sie nicht. Sie
achteten ihrer auch kaum, weil sie gerade in ein hitziges
Streitgespräch über die Frage verwickelt waren, ob der fremde
Magier nun mit überirdischen Mächten oder schlicht mit dem Teufel
im Bunde stehe. Ein einziger wagte die Bemerkung, es sei alles
nichts weiter als ein flinker, von jedem erlernbarer Gauklertrick.
Aber er wurde zuerst ausgelacht. Schließlich verbot man ihm sogar
unter Androhung von Prügeln, weiterhin so ketzerische Ansichten
laut werden zu lassen.

Nun warteten die drei Freunde am Bach, dessen Ränder zugefroren

waren.

Mit einem Blick auf den Stand der Sonne sagte Volker: »Die Zeit

ist um.« Seine Stimme klang beklommen.

»Vielleicht kommt Haggan gar nicht«, sagte Louis. »Kann sein,

daß er in seinem Versteck liegt, gebratene Hühnchen frißt und sich

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über uns lustig macht!«

Rolands Herz tat einen schnelleren Schlag. Und obwohl er sich

dagegen sträubte, gewann er an Louis' Gedanken Geschmack. Wäre
es denn so schlimm, wenn Haggan in seinem Schlupfwinkel bliebe
und nicht zum Duell erschiene?

Genau das ist es ja, was ich mir wünsche, stellte Roland

erschrocken fest. Und er dachte: Nun ist es klar. Ich fürchte mich vor
dem Duell mit dem Gräßlichen, dem niemand gewachsen ist.
Außerdem ist es Unrecht, daß ich überhaupt gegen ihn kämpfe.
Unrecht, daß ich ihm die Freiheit nehme und ihn in Ketten dem
König ausliefern will.

Er hat mir doch das Leben gerettet!
Oh, käme er mir nie mehr unter die Augen! Ich könnte ihn doch

nicht besiegen.

Seine Arme waren wie Blei.
Da blitzten Funken am jenseitigen Rand der Auen auf. Die Sonne

spiegelte sich in einer Rüstung. Auf schneeweißem Pferd kam der
Gefürchtete geritten: Haggan vom Horn. Als er sich näherte,
erkannte Roland schaudernd das Wappen des Gräßlichen auf seinem
Schild: fünf schwarze Wölfe mit roten Zungen auf silbernem Grund!

Langsam wurden Roß und Reiter größer. Die Strahlen der Sonne

funkelten und gleißten auf der Rüstung, daß Haggan von einem
Glanz umgeben schien, der Roland in den Augen schmerzte.

Gern hätte er Samum herumgeworfen und wäre davongeritten,

denn dieser strahlende Anblick nahm ihm den letzten Zweifel. Es
war vermessen, sich mit dem übermächtigen Kämpfer zu schlagen!

Haggans Worte fielen ihm ein: »Genieße deine letzte Stunde in

Freiheit!«

Doch es war zu spät zu schmählicher Flucht. Haggan hielt 20

Schritt entfernt und hob die Lanze zum Gruß.

Er ist sich seiner Sache so sicher, daß er sogar auf Trumms

Begleitung verzichtet hat, dachte Roland. Seine Kehle war wie
ausgedörrt. Leise bat er Louis, ihm einen Becher Wasser zu bringen.
Der Knappe eilte zum Bach, um daraus zu schöpfen.

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Volker ritt zu Haggan hinüber und fragte: »Wollen wir Lose

werfen, um die Seiten zu bestimmen?«

Haggan lachte laut auf. »Wozu die Umstände? Ob ich den Bach

zur Rechten oder zur Linken, die Sonne im Gesicht oder im Rücken
habe, gilt mir gleich. Der Sieg ist mir sicher.«

Volker war tief beeindruckt von dem überlegenen Auftreten des

Gegners. Aber er ließ sich nichts anmerken, als er in gewollt
gleichgültigem Ton antwortete: »Ihr habt völlig recht. Beim
Seitenwechsel nach dem ersten Gang gleichen sich mögliche
Vorteile ja sowieso aus.«

»Wer sagt Euch denn, daß es einen zweiten Gang geben wird?«

erwiderte Haggan spottend. »Ich gedenke, ein schnelles Ende zu
machen. Und nun gebt den Weg frei! Ich reite bis zu jener Birke dort
zurück. Alsdann gebt das Zeichen!«

Roland trank durstig das eiskalte Bachwasser und verfolgte mit

brennenden Augen den Weg Haggans bis zu der Birke. Dort wendete
der Gräßliche.

Volker hob den Arm.
Die Pferde galoppierten an. Es war ein herrliches Bild, als die

beiden Ritter über die weiße Schneefläche mit eingelegten Lanzen
schnurstracks aufeinander zuritten. Der Rappe Samum erschien dem
Auge kaum schneller als Haggans stolzer Schimmmel. Und wieder
begann Haggans Rüstung zu blinken, zu prunken und zu glühen.

Louis wendete den Blick ab. Er konnte die Spannung nicht mehr

ertragen.

Roland war so bleich wie der Schnee geworden. Doch niemand sah

es dank des geschlossenen Visiers. Aber von dem Augenblick an, da
sein Roß ihn dem Gegner entgegentrug, war die Angst von ihm
abgefallen. Die bleierne Schwere in den Armen lahmte ihn nicht
mehr. Er stürmte in den Kampf. Ohne Furcht, aber auch ohne
Zuversicht. Jedes Gefühl war aus seinem Herzen geflohen.

Näher und näher kamen sich die Ritter.
Und dann der Zusammenstoß!
Haggan fing Rolands Lanzenstoß mit dem Schild auf. So ruckte er

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um keines Haares Breite im Sattel. Doch als er am Gegner vorbei
war, ließ er den Schild sinken. Er spürte den Anprall von der
Schulter bis zu den Fingerspitzen. Ihm war, als seien sämtliche
Muskeln betäubt.

Roland wurde knapp über der rechten Hüfte getroffen und ein

stumpfer Schmerz schien ihm die Eingeweide zu zerreißen. Hätte ihn
die Lanze höher am Körper erwischt, an Brust oder Schulter, er hätte
sich nicht im Sattel halten können. Auch so schwankte er wie ein
Bootsmast im Sturm.

Diesmal trabte Roland bis zu der Birke, um dort zu wenden. Jetzt

ritt er gegen die Sonne. Aber Haggan blitzte und prunkte und glühte
nicht mehr. Wirkte er im Sonnenlicht fast wie ein überirdisches
Wesen, so war er jetzt eine gewöhnliche, wenn auch stattliche
Rittererscheinung.

Beim zweiten Zusammenprall wankten beide, doch war keiner

ernstlich in Gefahr, aus dem Sattel zu fallen. Schon während sein
Schimmel zur Birke galoppierte, schaute Haggan sich um. Er meinte
wohl, Roland sei zu Boden gestürzt. Als er sah, daß dies nicht zutraf,
schüttelte er unmutig den Kopf, daß sein Helmbusch hin- und
herflog.

Beim nächsten Gang gab er seinem Pferd die Sporen. Er wollte

dem Kampf offenbar mit aller Gewalt ein Ende bereiten.

Als die Ritter noch zehn Schritt voneinander entfernt waren, grub

Haggan erneut die Sporen in die schon blutenden Weichen des
Schimmels. Das Tier machte einen unerwarteten Sprung, und
Rolands Lanze stieß ins Leere.

Doch Haggan traf, und es war ein Treffer, der Roland von Kopf bis

zu den Zehen durchschüttelte. Volker bedeckte sich unwillkürlich die
Augen mit der Hand. Als er sie schnell wieder wegzog, lag Rolands
Körper fast waagerecht zur Seite. So ging es zehn Galoppsprünge
lang weiter, und bei jedem fürchtete Volker den Sturz seines
Freundes. Aber er überstand die schlimme Lage.

Und nach dem zehnten Sprung arbeitete er sich mit größter

Anstrengung wieder nach oben. Es sah aus, als krieche er mühselig

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auf sein Pferd hinauf. Dann saß er wieder kerzengerade im Sattel.
Doch er konnte Lanze und Schild kaum mehr halten.

Da hörte er Volker schreien. Er horchte, verstand ihn aber nicht.

Doch nach dem Wenden erkannte er, was der Freund ihm mitteilen
wollte. Haggans Lanze war gesplittert, und in seinem Übermut hatte
er keine zweite mitgebracht!

Roland gewann Zuversicht. Nun war er im Vorteil. Sollte der

Gräßliche doch nicht unüberwindbar sein?

Samum schien die Gefühle seines Reiters zu spüren. Mit erhöhter

Schnelligkeit jagte er auf Haggan los. Schneller als in den vorherigen
Gängen schmolz der Abstand zwischen den Gegnern.

Doch was war das? Haggan hatte die zersplitterte Lanze

weggeworfen und parierte den Schimmel lange vor dem Ort ihres
Aufeinandertreffens. Wollte er aufgeben?

Ein Hochgefühl schwellte Rolands Brust.
Aber dann sah er, daß Haggan das Schwert zog.
Er wollte einen Schwerterkampf zu Pferde! So stand es in keiner

Turnierregel, und Roland hatte es kaum je geübt. Natürlich hätte er
versuchen können, Haggan mit der Lanze aus dem Sattel zu heben.
Aber sein Gefühl für Fairneß hinderte ihn daran. Nach kurzem
Überlegen warf auch er die Lanze weg, zog ebenfalls sein Schwert
und drang auf Haggan ein.

Nun sangen die Klingen ihr klirrendes Lied. Wie zustoßende

Schlangen zuckten sie gegeneinander. Schlag - Parade -Gegenschlag.
Das Bild wechselte ständig. Selten, daß ein Hieb zum Treffer wurde.
Wenn das Schwert zur Parade zu spät kam, rettete meist doch der
Schild.

Dennoch gab es die ersten Wunden, wenn der wuchtige

Schwerthieb die Rüstung durchfuhr. Das war, als würden lodernde
Fackeln gegen den Körper gedrückt. Aber je mehr Fackeln Roland an
seiner linken Körperseite spürte, desto mehr wuchs sein Kampfgeist.

Er wehrte sich mit Umsicht und dem ganzen Schwung seiner

unverbrauchten Jugendkraft. Trotzdem merkte er, daß die Waage des
Sieges sich auf Haggans Seite neigte.

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Woran liegt es? fragte er sich verzweifelt. Und dann erkannte er

den Grund. Haggan, der im Schwerterkampf zu Pferde erfahren
schien, hetzte seinen Schimmel ständig dazu an, Samum zu
bedrängen. So wurde Roland dauernd herumgedreht und sah den
nächsten Schlag oft erst im letzten Augenblick von rechts kommen,
wenn er ihn von der anderen Seite erwartete.

Sobald er dies erkannte, manövrierte er dagegen, und rasch kam

Haggan in ähnliche Bedrängnis. Nun war der Kampf wieder
unentschieden.

Wohl eine Stunde lang wogte der Kampf hin und her, und die

Ritter nutzten dabei die ganze Länge und Breite der Bachauen. Wohl
eine Stunde lang schrie Louis wie ein Besessener seinem Herrn
Warnungen, aufmunternde Worte und flehende Wünsche zu, von
denen der nicht das geringste wahrnahm.

Volker verkrampfte die Hände um seinen Schwertgriff, als wolle er

ihn zerdrücken. Als erster bemerkte er, daß Roland einen Plan
verfolgte. Wenn auch der Kampf im Zickzack über das Schneefeld
hin und hersprang, war es Roland doch gelungen, den Gegner immer
näher zum Bach zu drängen.

Zu spät merkte es Haggan, daß der Schimmel in Gefahr kam, mit

den Hinterbeinen in den halbzugefrorenen Wasserlauf abzugleiten.
Zweimal konnte er es noch gerade so vermeiden. Doch dann geschah
es.

Der Schimmel glitt rückwärts in den Bach und versuchte, mit

einem irren Luftsprung herauszukommen. Haggan wurde wie eine
Puppe weggeschleudert und knallte aufs Eis, das unter ihm brach.
Ehe er sich's versah, lag er im eiskalten, schnellfließenden Wasser.
Nur sein Schwert ragte wie ein abgebrochener Wurzelstab nach
oben.

Wie der Blitz sprang Roland vom Pferd, führte einen Hieb gegen

Haggans Waffe, die davonflog, und zerrte den halb betäubten Gegner
aus dem Wasser. Dann kniete er sich auf seine Brust und sagte
schweratmend: »Ergebt Euch - oder Ihr sterbt auf der Stelle!«

Haggans Lippen bewegten sich mühsam. Doch ehe das erste Wort

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hörbar wurde, rief eine bekannte Stimme: »Werft Euer Schwert weg,
Roland! Sonst mache ich Eure Braut vor Euren Augen nieder!«

Roland sah sich um. In einiger Entfernung saß Trumm auf dem

Fuchshengst, vor sich im Sattel gefesselt Hein. Ein Hein in
Mädchenkleidern! Wie Schuppen fiel es Roland von den Augen.
Was sein Verstand nicht durchschaute, hatte sein Herz fast vom
ersten Augenblick an begriffen. Darum hatte er Hein sofort gern
gehabt! Darum gewann er den vermeintlichen Jüngling von Tag zu
Tag lieber und nahm ihm weder die laute Prahlerei noch sein
zaghaftes Handeln übel.

Trumm schwenkte sein Schwert. Nun sah Roland, daß der

Graukopf die sechsköpfige Wache der Burg mitgebracht hatte. Sie
hielt sich zu seinem Schutz im Halbkreis um ihn geschart.

Und dann hörte er Hein, der in Wirklichkeit Heide hieß, und die

flatternde helle Stimme schnitt ihm durchs Herz: »Hab Erbarmen,
süßer Roland! Hilf mir, mein geliebter Ritter! Ich will nicht so jung
sterben!«

Roland erhob sich. Er schleuderte sein Schwert weit von sich und

breitete die Arme aus, um anzuzeigen, daß er waffenlos war. Es
schmerzte ihn nicht, daß Haggan, den er überwunden zu haben
geglaubt hatte, nun abermals frei kam. Es reute ihn nicht, daß er bei
der Erfüllung eines Auftrags von König Artus zum erstenmal versagt
hatte. Und er verschwendete nicht den kleinsten Gedanken an die
Gefahr, die Haggan nun neuerdings über Camelot bringen würde.

Alles in ihm drängte zu dem Mädchen. Nichts wünschte er

sehnlicher, als sie in seine Arme zu schließen. Was wogen dagegen
Pflicht, Ruhm und Ehre? Sie erschienen ihm geringer als Staub.

Und er rief: »Nun gebt mir meine Braut frei!«
Die Antwort Trumms ließ nicht lange auf sich warten. »Ich bringe

sie Euch ...«

Im leichten Trab kam Trumm auf Roland zu, vor sich das Mädchen

Heide. Verzehrend brannten sich Rolands Augen in ihre weichen
Züge, ihr langes, aschblondes Haar und die hellen Augen, die so
keck strahlen konnten und jetzt trüb vor Tränen waren.

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Nun war sie ihm ganz nahe. Er streckte die Arme aus, um sie von

Trumms Fuchshengst zu heben.

Da führte Trumm überraschend einen heimtückischen Schlag. Von

oben drang sein Schwert durch Rolands Helm.

Wie vom Blitz getroffen, stürzte Roland kopfüber in den Schnee.

Den entsetzen Schrei Heides hörte er nicht mehr.

Und nicht Trumms rauhe Stimme: »Das ist dein Ende, Roland!«

ENDE DES 1. TEILS DER TRILOGIE

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Freude herrscht im Schloß Camelot. Der totgeglaubte Roland war
zurückgekehrt! - Nach einem triumphalen Empfang erzählte Roland
vor dem König und der Tafelrunde von seinen Abenteuern, und der
Jubel wurde unermeßlich, als er ankündigte, er habe Haggan
gefangengenommen ...
»Wo ist er?« fragten alle durcheinander. Die Ritter sprangen auf.
»Wo habt Ihr ihn verborgen?« Auch König Artus wurde ungeduldig.
Es kostete Roland einige Überwindung, die Wahrheit zu sagen, die
jetzt in seinen Ohren wie ein unerhörter Fehltritt klang. »Ich ließ
ihn auf der Waldburg zurück. Er gab mir sein Ehrenwort, später
nach Camelot zu folgen. Zehn Tage Frist gab ich ihm.«
Verwunderte Blicke trafen Roland. Der König legte eine Hand vor
die Augen. Stimmengewirr. Roland kam sich wie ein Verfemter vor,
und bald sollte er es auch sein.
Ein paar Tage später kam Roland in Haft. Ihm sollte der Prozeß
gemacht werden. Roland ahnte bereits sein Urteil. . .

Rolands Entritterung

ist ein dramatischer Ritter-Roman. Ruhm und Ehre sollen ihm
aberkannt werden, und ihm droht die Todesstrafe.

Liebe Leser,
Sie erhalten den Ritter-Roland-Roman Band 29 in 14
Tagen bei Ihrem Zeitschriftenhändler. DM 1,60.


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