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Roland und der 

Meuchelmörder 

von Ekkehart Reinke 

scanned by : horseman 

kleser: Larentia 

Version 1.0 

Ein Schrei durchbrach die Mittagsstille auf Schloß 
Camelot! 

Die meisten Bewohner schliefen fest. Das morgendliche 

Jagdvergnügen mit dem anschließenden üppigen 
Festschmaus hatte die Herren stark ermüdet. Manche 
waren noch an der Tafel eingeschlummert. Die Damen 
hielten Schönheitsschlaf. 

Da ertönte dieser entsetzliche Schrei! 

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Er drang aus dem Erdboden, brach sich an den 

meterdicken Grundmauern und verhallte fast ungehört. 
Nur Paul, der diensthabende Wächter im Verlies, fuhr 
erschrocken in die Höhe. 

Es war der Schrei eines Menschen unter unerträglichem 

Schmerz, in auswegloser Todesnot. Und so verzerrt er 
auch klang, Paul erkannte die Stimme sofort. 

Sie gehörte Haggan vom Horn, dem Gefangenen des 

Königs. 

»Hilfe! Hilfe!« brüllte Haggan. »Man hat mich vergiftet!« 

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Paul sprang auf. Ein Zittern befiel ihn. Er wurde abwechselnd rot und 
blaß. Eisiger Schreck durchfuhr ihn, dem siedendheiß fürchterliche 
Ahnungen folgten. Er tat ein paar zögernde Schritte von der Bank 
weg, auf der er es sich gerade mit einem Krüglein Branntwein 
behaglich gemacht hatte. 

»Hilfe! Wächter! Tod und Verdammnis, das Gift bringt mich um!« 
So grauenhaft waren die Schreie, daß er sich am liebsten die Ohren 

zugehalten hätte. Hastig griff Paul nach dem Schlüsselbund. Gift! 
Wie konnte das nur geschehen? Er hatte mit eigener Hand die dünne 
Gemüsesuppe aus der Küche geholt, sie herübergetragen und dem 
Gefangenen gebracht. 

»Hölle und Teufel! Kommt denn keiner? Soll ich verrecken?« 
Wo kam das Gift her? 
Plötzlich erinnerte sich Paul, daß er auf dem Weg von der Küche in 

einem Gang die Schüssel abgesetzt hatte, um mit einer hübschen 
Kammerfrau zu plaudern, die er verehrte. 

Vor Angst brannten ihm die Fußsohlen. Während seines 

Geschwätzes mit der Zofe hatte er nicht auf die Suppenschüssel 
geachtet! Jeder konnte unbemerkt Gift hineingeschüttet haben ... 

»Wächter! Wo bleibst du? Hilfe! Ich sterbe!« Die Stimme 

überschlug sich in unvorstellbarer Qual. 

Paul rannte schon zur Eisentür. Auf keinen Fall durfte Haggan 

sterben! Er als Wächter bürgte dem König mit seinem eigenen Leben 
dafür! Mit fliegenden Händen schloß er die schwere Eisentür auf und 
trat in das tief unter der Erde gelegene, kreisrunde Verlies. 

Wegen seiner besonderen Gefährlichkeit war Haggan mit Ketten 

an die gegenüberliegende Wand gefesselt worden. Nicht einmal in 
den zehn Tagen seit seiner Gefangennahme hatte man sie gelöst. Und 
doch hatte dieser unbeugsame Mann seinen Kerkerwächtern bisher 
immer in stolzer, ja hochmütiger Haltung entgegengeblickt und zu 
ihnen in einem Tone gesprochen, als sei er ein Fürst, und sie seien 
seine Sklaven. 

Jetzt aber wand er sich, ein zuckendes Bündel, auf dem kotigen 

Boden, wimmerte und stöhnte und schlug wie rasend mit den 

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ungefesselten Beinen um sich. 

Und immer wieder gellten die Schreie: »Hilfe! Gift! Ich verrecke!« 
Die Ketten klirrten, als er die Hände auf den Magen preßte. Der 

Schmerz schien seine Gedärme zu zerreißen. 

Unschlüssig trat Paul an den Gefangenen heran. Blaß und verzagt 

mühte er sich doch um einen beruhigenden Tonfall, als er ihn 
ansprach: »Schon gut, Ritter Haggan. Ich bin ja da!« 

Er kniete neben dem Schreienden nieder und beugte sich über ihn. 
Im selben Augenblick schnellte der eben noch hilflos 

zusammengekrümmte Gefangene wie eine angreifende Schlange 
hoch, warf die mit Ketten gefesselten Arme um den Hals des 
überraschten Wärters und drückte sie im Würgegriff zusammen. 
Rostiges Eisen drückte gegen Pauls Kehle. Sein blasses Gesicht 
verlor die letzte Farbe und wurde kalkweiß. 

Er wollte nach Luft schnappen. Vergeblich. Nicht mal ein Seufzer 

entfloh dem blutleeren Mund. 

Ohne Gegenwehr sackte Paul zusammen. 
Ein triumphierendes Lächeln kräuselte die strengen Lippen 

Haggans. Er entriß dem Leblosen das Schlüsselbund und öffnete das 
Schloß, mit dem seine Ketten an zwei eisernen Ringen in der Wand 
befestigt waren. Dann tastete er mit den Händen Pauls Körper ab. Im 
Wams fand er einen Hirschfänger. Den steckte er zu sich. 

Dann stand er auf und ging, ohne noch einen Blick auf seinen 

Kerker zu werfen, festen Schrittes zur Tür hinaus. Dort verhielt er 
und lauschte. 

Noch immer herrschte Stille im Schloß. 
Ohne länger zu zögern, schlich Haggan die schier endlosen, 

gewundenen Stufen empor, die nach oben in die eigentliche Burg 
führten. Die Entbehrungen der letzten zehn Tage, das Leben in 
Schmutz und feuchter Kälte hatten ihm nichts anhaben können. Auch 
die abgerissene, zerfetzte Kleidung konnten das kundige Auge nicht 
darüber hinwegtäuschen, daß Haggan ein ungewöhnlicher Mann war. 

Das  kantige, gebräunte Viereckgesicht umrahmte glattes schwarzes 

Haar und ein wilder Vollbart. Unter den dichten Brauen waren 

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tiefliegende scharfe graue Augen, die ständig eine Drohung 
auszustrahlen schienen. Wenige hielten diesem stechenden Blick 
längere Zeit stand. 

Der Mann maß nur wenig über Mittelgröße, aber die wuchtigen, 

breiten Schultern und die muskulösen Gliedmaßen vermittelten den 
Eindruck gewaltiger Körperkraft. 

Das war Haggan vom Horn, vor dem die Mächtigen zitterten, des 

Königs Artus gefährlichster Feind! 

Artus hatte es als einen glücklichen Tag bezeichnet, als das 

Schicksal ihm diesen Ritter in die Hände spielte. Unverzüglich ließ 
er ihn in den Kerker werfen und befahl, daß er nie wieder das Licht 
des Tages erblicken solle. 

Aber jetzt schlief der König wie seine Getreuen, und sein 

Gefangener erreichte eben die Wachstube knapp unterhalb des 
Erdgeschosses. Er suchte nach einer Waffe. Nichts! Da nahm er den 
Branntweinkrug an sich, nachdem er einen kräftigen Zug daraus 
getan, der Feuer in seine Adern jagte. 

Oben spähte er geduckt hinaus. Vor ihm lag ein breiter Gang, an 

dessen Wände einige Gobelins hingen. Sonst war der Gang leer. 
Kein menschliches Wesen zeigte sich. 

Beruhigt schlich Haggan weiter. Bald teilte sich der Gang. 

Geradeaus ging es zur großen Halle. Haggan schnupperte. Er 
brauchte nur dem Geruch zu folgen ... 

Plötzlich erstarrte er. In der Halle rührte sich etwas. Die Hunde 

waren aufmerksam geworden! Dann fiel ein Schatten in den Gang. 
Der Schatten eines Mannes! Gedankenschnell zwängte sich Haggan 
hinter einen Gobelin, der eine biblische Szene zeigte: Salome bringt 
König Herodes das Haupt von Johannes dem Täufer. 

Während sich Haggan mit angehaltenem Atem an die Wand lehnte 

und wünschte, er könne mit ihr verschmelzen, dachte er daran, daß 
Artus ihm das Schicksal von Johannes zugedacht hatte. Seine Hände 
umschlossen den Griff des Hirschfängers und den Griff des Kruges. 
Nie wieder würde er sich schmählich in Ketten schlagen lassen, um 
später enthauptet zu werden! 

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Näherten sich da Schritte? War er schon entdeckt? Jeden 

Augenblick erwartete er einen Alarmruf. Erregt drehte er an seinem 
breiten Siegelring, den ihm Artus' Häscher belassen hatten. 

Doch nichts geschah. 
Vorsichtig lüpfte Haggan den Gobelin. Der Schatten war 

verschwunden! Haggan zögerte nicht länger. Er verließ das Versteck. 
Wieder stieg ihm Küchengeruch in die Nase. An der Stelle, wo 
weitere Gänge abzweigten, verharrte er kurz. Der Geruch schien von 
links zu kommen. Nach 20 Schritten stand er vor einer Tür. Er hörte 
Geschirrklappern und fröhliche Stimmen. 

Haggan riß die Tür auf! Drei Küchenjungen in weißen Gewändern 

starrten ihn an. Er ließ ihnen keinen Augenblick zur Besinnung. Den 
Hirschfänger zwischen den Zähnen, stürmte er wie ein Orkan unter 
sie. Den ersten packte er um die Hüfte, hob ihn, als wäre er eine 
Feder, und warf ihn in den großen Suppenkessel. 

Den zweiten stieß Haggan roh in eine riesige klebrige Teigmasse 

und wälzte ihn darin umher, bis er in dem zähen Gemisch wie 
gefesselt war. 

Der dritte wandte  sich zur Flucht. Haggan warf ihm den Krug an 

den Schädel, erwischte ihn am Rockzipfel und drehte ihn wirbelnd 
herum. Er zog ihn so dicht an sich heran, daß ihre Nasen sich fast 
berührten. Sie hatten die gleiche Größe. 

»Zieh dich aus!« zischte ihm Haggan ins Gesicht. Seine 

tiefliegenden grauen Augen waren wie Dolche. »Runter mit den 
Kleidern! Beeil dich, oder ich stoße dir den Hirschfänger in den Leib. 
Und keinen Ton!« 

Aschfahl im Gesicht, gehorchte der stämmige Küchenjunge. 

Indessen hatte sich auch Haggan seiner arg mitgenommenen 
Kleidung entledigt. Er warf sie seinem nackten Gegenüber vor den 
dicken weißen Bauch. »Zieh das an!« Gleichzeitig griff er zu den 
Küchenkleidern und stieg hinein. 

Als er fertig war, tunkte er den Burschen, der im Kessel hockte, 

noch einmal kräftig in die Abwaschbrühe und befahl ihm mit 
erschreckender Geste Schweigen, so ihm sein Leben lieb sei. Dann 

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verklebte er dem zweiten Burschen Augen und Mund mit einer 
Handvoll Teig und schob ihn in den Backofen. Sein Glück wollte es, 
daß kein Feuer darunter brannte. 

Zitternd stand der Dritte in Haggans abgerissenen Kleidern vor ihm 

und vernahm die scharfe Stimme des Gefürchteten: »Du rennst jetzt 
durchs Burgtor ins Freie, als wäre der Gottseibeiuns hinter dir her! 
Verstanden? Was sollst du tun?« 

»Ich renne durchs Burgtor ins Freie«, stammelte der andere. 
Haggan versetzte ihm eine schallende Ohrfeige. »Als wäre der 

Gottseibeiuns hinter dir her!« fuhr er ihn in unterdrücktem Ton an, 
der dennoch seine Wirkung nicht verfehlte. 

»Als wäre der Gottseibeiuns hinter mir her!« wiederholte der 

Küchenhelfer schlotternd. 

»Du rennst und rennst  - über die Zugbrücke und dann ins Tal zu 

den Bauernhöfen ...« 

»Ich renne und renne ...« 
Schon traf ihn der nächste Schlag. »Laß mich ausreden, elender 

Suppenrührer! Was auch geschieht, du hörst nicht auf zu rennen, und 
wenn dir die Schildwachen das Hinterteil mit Pfeilen spicken! Du 
rennst so lange, ohne dich umzuschauen, bis du besinnungslos zu 
Boden fällst. Merk es dir! Denn sonst, du verdammter 
Bratspießwender,  dreh ich dir noch vor dem Abendläuten mit eigener 
Hand dreimal den Hals um! Und nun fort mit dir!« 

Haggan gab dem Jungen einen wuchtigen Stoß, und der rannte nun 

wie ein Besessener in die angegebene Richtung. Durchs Burgtor an 
den schläfrigen Schildwachen vorbei. Über die Zugbrücke. Und 
hinunter ins Tal zu den Bauernhäusern in der Ferne. Mit Bedauern 
sah Haggan, daß der Branntweinkrug zerschellt war. Dann verließ er 
die Küche. In ruhigem Schritt näherte er sich den Wachen. 

Er fand, daß sie dem Flüchtigen verdutzt und unentschlossen 

nachschauten. Gerade rief der Wachhabende: »Männer, das muß der 
Gefangene des Königs sein! Einen halben Dukaten dem, der ihn 
wiederbringt! Drauf, ihr Männer, ihm nach!« 

Und dann stürzten fast alle Wachen in höchster Eile dem 

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Flüchtigen hinterdrein. 

Haggan wartete, bis die Verfolger die Zugbrücke überquert hatten. 

Nun schritt er ebenfalls lässig ins Freie. Niemand kümmerte sich um 
ihn. Die Wachen waren es gewöhnt, daß die Bediensteten der Küche 
häufig einmal herauskamen, um nach der Hitze von Herd und Ofen 
frische Luft zu schöpfen. 

Wo der Weg ins Tal führte, bog Haggan nach rechts ab und 

erreichte, jetzt schneller ausschreitend, bald den Wald. Kaum war er 
unter den mächtigen Buchen und hochragenden Tannen, als er 
Hufschlag hinter sich vernahm. Er fuhr herum. Mit gezogenem 
Schwert sprengte ein Reiter auf ihn los! 

»Hab

'

 ich dich, Schurke!« rief der Reiter. »Eine falsche Bewegung, 

und mit dieser Klinge stoße ich dich nieder, daß du für immer das 
Atmen vergißt!« 

Ehe es sich Haggan versah, hatte ihm der Reiter eine Schlinge über 

den Kopf geworfen, die langsam an seinem Körper herabglitt. Mit 
einem Ruck zog der Reiter den Strick an, und die Schlinge schnürte 
dem gestellten Flüchtling die Arme fest an den Leib. 

Erbittert knirschte Haggan mit den Zähnen. »Du mußt der Schatten 

sein, den ich im Schlosse sah«, murmelte er zornig. »Und ich 
glaubte, dich getäuscht zu haben!« 

Der Reiter frohlockte: »Schwarz wie Haar und Bart ist deine Seele, 

Haggan. Und hättest du dich in einen Engel verwandelt und trügest 
schimmernde Flügel auf dem Rücken und wäre der Schein des 
Himmels um dich, dein rabenschwarzes Gelock verriete dich doch!« 

Er riß sein Pferd herum und schlug den Rückweg zum Schloß ein. 

Wohl oder übel mußte Haggan ihm folgen. 

Doch sie hatten noch keine fünf Klafter zurückgelegt, als ein 

hünenhafter, starkknochiger Graukopf aus dem Schutz der Bäume 
trat, sich dem Pferd in den Weg stellte, mit einer Hand in die Zügel 
griff und mit der anderen, die ein ungefüges Langschwert schwang, 
zum Streich ausholte. Ehe der Reiter sich verteidigen konnte, stürzte 
er schwer getroffen aus dem Sattel. 

»Trumm!« rief Haggan überrascht und über alle Maßen erfreut. 

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»Mein treuer Trumm! Du kamst im rechten Augenblick!« 

Der grauhaarige Hüne überzeugte sich, daß der Reiter unter der 

vereinten Wirkung von Schlag und Sturz das Bewußtsein verloren 
hatte. Mit wenigen Handgriffen befreite er alsdann Haggan von dem 
Strick, umarmte ihn freudig und rief: »Daß Ihr wieder frei seid, Herr, 
ist der  schönste Moment meines Lebens. Seit fünf Tagen und 
Nächten harrte ich hier Eurer.« 

Noch einmal tauchte er in den Wald und führte einen Fuchshengst 

hervor, der Haggan mit einem Wiehern begrüßte. Der Ritter 
entledigte sich rasch der Küchentracht und legte den Kettenpanzer 
an, den Trumm ihm reichte. Sie bestiegen die Pferde, Haggan den 
Fuchs, reckte sich in den Steigbügeln und schüttelte die Faust gegen 
Schloß Camelot, das mit seinen weißen Mauern, den goldbedeckten 
Zinnen und den schlanken Türmen wie ein steingewordenes Märchen 
auf der Anhöhe emporragte. 

»König Artus«, rief er mit einer Stimme, die Trumm frösteln 

machte, »meine Rache wird fürchterlich sein! Und wären die Mauern 
deines Schlosses 1000 Klafter dick und die Zahl deiner Ritter 
unermeßlich, ich  hole dich aus ihrer Mitte und reiße dir den Kopf 
mitsamt der Krone von den Schultern!« Er hielt inne und sandte 
einen letzten grausamen Blick zu Camelot hinüber. Dann klatschte er 
mit dem Zügel auf den Hals des Fuchses. 

Einmal in jeder Woche hielt König Artus Audienz, wenn er nicht 
gerade auf der Suche nach dem heiligen Gral durch ferne Lande 
streifte. Dann konnte jeder Untertan seines Reiches ihm dringende 
Anliegen vortragen. Manchem wurde hier sein Recht, das er auf 
andere Weise nie erlangt hätte. 

Doch an diesem trüben Tage wurden alle Bittsteller schon vor der 

Bannmeile abgewiesen und auf die kommende Woche vertröstet. 
Denn schwere Sorgen suchten den König heim, und deshalb widmete 
er die heutige Audienz nur einem einzigen Manne. 

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Dieser Mann war Ritter Roland, den reitende Boten von einer 

nahegelegenen Burg geholt hatten, wo er eine leichte Wunde 
auskuriert hatte. Als der hochgewachsene blonde Mann im 
hirschledernen Anzug des Jägers, von mehreren Pagen geleitet, zum 
Thronsaal schritt, folgten ihm viele Blicke, in denen je nach 
Geschlecht und Wesensart alle menschlichen Gefühlsregungen 
verborgen waren: Bewunderung und Neid, Verehrung und Mißgunst, 
Liebe und Abneigung. 

Doch Roland nahm nichts davon wahr. In gesammelter Erwartung 

schritt er an Hofschranzen und Dienern, an Rittern und Damen, an 
Edelleuten und Gesinde vorüber, ohne ihrer zu achten. Hinter ihm 
schloß sich die mit Gold- und Silberwerk verzierte mächtige 
Flügeltür, und Roland sah sich dem König und zwei Rittern der 
Tafelrunde gegenüber. 

Nach  der Begrüßung erteilte Artus dem einen seiner Paladine das 

Wort. Und der hob an, die wildbewegte Geschichte derer vom Horn 
zu berichten. 

Es wuchs in Burgund der ungeschlachte Ritter Greif vom Horn auf 

und erwarb sich alsbald den Ruf eines ungestümen und 
unberechenbaren Mannes, der jedoch bei allen tollen Abenteuern 
stets die Grenzen der Ehre wahrte und nie einer unredlichen oder 
niederträchtigen Handlung bezichtigt wurde. 

Greif hatte zwei Söhne, von denen jeder eine Seite seines 

zwiespältigen Charakters geerbt zu haben schien. 

Jorn, der jüngere, war allgemein beliebt wegen seiner ehrlichen 

Gesinnung und seines freundlichen Wesens. Er war der Liebling des 
Vaters und wich selten von seiner Seite. 

Dagegen galt der ältere Sohn Haggan als finsterer Bursche, mit 

dem nicht gut Kirschen essen war. Er hatte nur wenige Freunde, 
wüste Gesellen. Die Frauen gingen ihm aus dem Wege. Die meisten 
Männer mieden ihn. Wo immer er auftauchte, mit seinem 
helmgleichen rabenschwarzen Haar und dem wirren Vollbart 
verbreitete der stiernackige junge Ritter Unruhe und Leid. 

Sein alter Vater Greif war froh, daß Haggan sich selten auf der 

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Burg oder auch nur in ihrer Nähe aufhielt. Die Sucht nach 
Abenteuern trieb Haggan in die Ferne. Selten hielt er sich an die 
goldenen Regeln des Rittertums. Er raubte, vergewaltigte, 
brandschatzte und erschlug. 

Sein Gefolge verwandelte sich mehr und mehr in einen trunk- und 

rauflüsternen Haufen von Raubrittern. Niemand war vor ihnen 
sicher, ob Mann, ob Weib, ob reich oder arm. Immer üblere Kerle 
sammelten sich um ihn. Ritter ohne Ehre, Knappen ohne Treue, 
Dirnen und Verstoßene. 

Bei ihren nächtlichen Gelagen träumten sie von dem ganz großen 

Streich. Camelot wollten sie erobern, den weisen, gütigen König 
Artus stürzen, alle Ritter der Tafelrunde ermorden, Haggan zum 
neuen König krönen und dann eine Schreckensherrschaft errichten: 
Willkür statt Gerechtigkeit, Gemetzel statt Turnier. 

Haggan verschmähte das Wappen seiner Ahnen, den Greif, und 

ließ sich ein neues Wappen auf den Schild malen: fünf schwarze 
Wölfe mit roten Zungen auf silbernem Grund! 

Wüste Reden führte der gefürchtete Ritter, wenn die Sprache auf 

seinen Vater Greif und seinen  jüngeren Bruder Jorn kam. Am 
liebsten hätte er sie wohl auch umgebracht. 

Selten tauchte er noch in der väterlichen Burg auf  - und darüber 

waren alle nur froh. Bei seinem letzten Besuch vor zwei Jahren aber 
traf er dort ein reizendes Burgfräulein namens Griseldis an. Haggan 
war sofort entflammt und warb mit der ihm eigenen Heftigkeit um 
sie. 

Doch die junge Schöne zeigte sich eher entsetzt denn 

geschmeichelt und floh der Gegenwart des ungeliebten Verehrers, 
wo es nur anging. Als er sie heftiger bedrängte, verbat sie sich in 
klaren Worten jede weitere Annäherung. 

Denn Griseldis, die Lieblingsnichte der Königsgattin Ginevra, 

liebte Haggans Bruder Jorn, und es war ausgemacht, daß sie im 
nächsten Monat Hochzeit feierten. 

Als Haggan das erfuhr, bekam er einen  Wutanfall und schwor, daß 

er es ihnen allen heimzahlen werde. Wie ein Rasender verließ er die 

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Burg. 

Die Hochzeit fand statt. Nur ein Umstand sollte bald die glückliche 

Ehe trüben. Vater Greif überlebte die Aufregungen nicht lange. In 
seinem letzten Willen setzte er Jorn zum Alleinerben ein. 

Auf die Nachricht von Greifs Tod stattete Haggan der Burg noch 

einen Besuch ab. Er traf Griseldis allein, riß der Widerstrebenden die 
Kleider vom Leib und vergewaltigte sie. Dann schloß er sie in der 
Kemenate ein und  legte Feuer. Die Burg brannte bis auf die 
Grundmauern ab. Wie durch ein Wunder wurde Griseldis gerettet. 

Haggan aber hatte sich in einen Hinterhalt gelegt. Dort lauerte er 

Jorn auf und tötete ihn meuchlings. Mehrere Zeugen stellten ihn noch 
mit dem blutbefleckten Schwert in der Hand neben dem sterbenden 
Bruder. Haggan kämpfte sich den Weg frei und machte sich zu 
seinen Raubrittern auf, um alles für die geplante Eroberung Camelots 
vorzubereiten. 

So eilig hatte er es, daß er Tag und Nacht querfeldein ritt, bis ihn 

der Schlaf übermannte. Ein glücklicher Zufall wollte es jedoch, daß 
eine starke Streife des Königs ihn, bevor er weiteren Schaden 
anrichtete, schlafend antraf und gefangennahm. 

Nach zehn Tagen im Kerker aber glückte Haggan die Flucht. 
Reiner Zufall, daß diesmal kein Toter zu beklagen war. Der 

Wächter Paul, die drei Küchenjungen und der Reiter, denen Haggan 
so übel mitgespielt hatte, überlebten die schweren Mißhandlungen 
und waren in der Pflege des königlichen Arztes. 

Der Erzähler schwieg. Roland holte tief Atem, und sein Blick 

suchte das Auge des Königs. 

Im Thronsaal war völlige Stille. Aus dem Hof drang ab und zu 

Hundegebell. Quer durch das Gemach fiel ein Streifen Sonne und 
glitzerte auf der Krone. Roland senkte geblendet die Lider. 

Mit fast  geschlossenen Augen vernahm er Artus' leise Stimme, in 

der verhaltene Leidenschaft bebte. 

»Roland, Ihr habt manch starken Gegner niedergeworfen  - nun 

bringt mir diesen Mann, der wie ein Ungewitter mein Land 
verwüsten will! Aber bewahrt Vorsicht und nehmt Euer Herz in 

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beide Hände! Denn er ist der gefährlichste Gegner, dem Ihr je 
entgegentratet. Er ist stärker als der grimme Bär, brutaler als der 
rasche Blitz, gemeiner als die tückische Schlange und reißender als 
die hungrigen Wölfe, die er im Wappen führt. Sein Wort ist Lüge, 
und sein Tun ist Untat. Sein Dasein beleidigt das 
Menschengeschlecht. Gürtet Euch, Roland, mit den schärfsten 
Waffen, umgebt Euch mit erprobten Freunden und wappnet Euer 
Herz mit stählerner Tapferkeit  - sonst werdet Ihr unfehlbar 
unterliegen. Roland, bringt mir Haggan vom Horn, den 
Hochverräter!« 

In aller Herrgottsfrühe ritt Roland davon. Er war allein. Allein mit 
seinem herrlichen Rappschimmel Samum, den die Stallknechte 
prächtig herausgeputzt hatten. Sogar ein Schachbrettmuster hatten sie 
ihm ins Fell gestriegelt. Als einzige Begleitung hatten Roß und 
Reiter ein kräftiges Packpferd. 

Die Luft ging schneidend. Kahl standen die Bäume gegen den 

fahlen Himmel. Schnee lag in der Luft. Roland ritt ostwärts, dem 
Städtchen Beauvais zu. Hier hoffte er, Haggans Spur zu finden. 

Denn der zweite Paladin im Thronsaal hatte ihm geheimnisvoll 

mitgeteilt: »Dort wohnt der Kaufmann Klotz. Wenn überhaupt einer, 
so muß er wissen, wo sich Haggans geheimnisvolle Zuflucht 
befindet, in der er mit seinem Gesindel zu lagern pflegt. Klotz trieb 
mit ihm Handel, soviel ist bekannt. Er kaufte sein Raubzeug. Bringt 
Klotz zum Sprechen, und Ihr seid auf der Fährte!« 

Roland blickte sich um. Nicht länger mehr grüßten ihn die 

vertrauten Türme Camelots. Ein Hügel schob sich davor. 

Roland hielt an. Ein Reiter jagte ihm nach. Es war ein junger Kerl 

mit weichen Gesichtszügen, lang wehendem aschblonden Haar und 
von schmaler Gestalt. In den hellen Augen stand Keckheit. 

Nun war er heran und parierte seinen kleinen Grauen. Außer Atem 

vom schnellen Galopp rief er: »Welch Glück, Euch noch zu 

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erreichen, Ritter! Sehr früh begabt Ihr Euch auf den Weg. Ich nenne 
mich Hein. Nehmt mich zum Knappen!« 

Roland lachte. »Ich habe Boten zu Louis und Pierre geschickt, die 

auf Urlaub weilen. Sie erwarten mich am Treffpunkt.« 

»Nun, so nehmt mich, bis Ihr sie trefft! Ein Ritter ohne Knappe  - 

das ist wie ein Lenz ohne Liebe, wie ein Schwertarm ohne Kraft.« 

»Deine Rede ist kühn, aber dein Körper wirkt schwächlich.« 
»Täuscht Euch nicht, Ritter! Die schlanke Pappel überragt die 

mächtige Eiche. Jagt mich nicht weg! Ich folge Euch doch. Ihr 
braucht mich.« 

»Ausgerechnet einen Hänfling! Kannst du überhaupt Reisig zum 

Lagerfeuer tragen, ohne in die Knie zu gehen?« 

Hein lachte. Es klang wie Vogelruf so hell. »So sprach mein 

früherer Ritter auch!« Er nannte einen Namen, den Roland nicht 
kannte. »Den ganzen Tag zog er mich auf. Doch als uns die sechs 
Normannen überfielen, war er heilfroh, mich an seiner Seite zu 
haben. Ihr hättet sehen sollen, welche Arbeit mein Schwert 
verrichtete. Ich erledigte drei. Drei muskelstrotzende Normannen!« 

»Und dein Ritter die anderen drei?« fragte Roland zweifelnd. 
»Leider nicht. Zwei erschlug er. Der dritte überwand ihn. Ich sah 

meinen Ritter sterben. Der letzte Normanne floh. Doch ich gebe die 
Hoffnung nicht auf, ihn wiederzutreffen. Seine Kumpane sollten im 
Jenseits wieder vollzählig sein. Laßt Ihr mich an Eurer Seite, Herr?« 

Roland glaubte ihm wenig. Der junge Kerl prahlte. Er wollte ihm 

ein hartes Nein antworten, ihn mit herrischer Gebärde wegjagen. 
Aber da traf ihn sein schwebender Blick. Der rührte ihn. Ein Gefühl 
ergriff Roland, über dessen Natur er sich nicht schlüssig wurde. Und 
ohne es  zu wollen, sprach er: »Nun wohl. Sei mein Knappe bis 
Beauvais!« 

Am Abend des sechsten Tages erreichten sie die Stadt. Die Tore 
waren schon geschlossen. Aus dem schmalen Fenster des Torhauses 

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blickte finster ein spitzbärtiger Mann auf sie herab. »Packt  euch!« 
rief er. »Kein Fremder bekommt Einlaß zur Nacht. Ihr mögt morgen 
wiederkommen. Nur im hellen Tageslicht lassen sich Spitzbuben von 
ehrlichen Männern unterscheiden.« 

Roland hatte schon eine barsche Antwort auf der Zunge, da drängte 

sich Hein auf seinem kleinen Grauen heftig an ihm vorbei. Sein 
helles Haar wehte. 

»Kein Wort weiter, du jämmerlicher Greis! Weißt du denn nicht, 

wer hier Einlaß begehrt? Der hochberühmte Ritter Roland und sein 
edler Knappe Hein, dessen Schwert schon manchen Schwätzer das 
Schweigen lehrte! Heraus mit dem Schlüssel! öffnet das Tor!« 

Sein Auftritt hatte zur Folge, daß sich eine Flut von 

Beschimpfungen aus dem Fenster über die beiden ergoß. Hein 
antwortete in gleicher Münze. Als das Wortgefecht auf dem 
Höhepunkt war, flog eine enge Tür zu Füßen der Mauer auf, und ein 
Trupp Stadtsoldaten quoll heraus. Drohend erhoben sie die langen 
Spieße. Der Spitzbart zeterte: »Jagt sie davon!« 

Anstatt ihn, wie er versprochen, das Schweigen zu lehren, riß Hein 

erschrocken seinen Grauen herum und verbarg sich zitternd hinter 
Roland. Der sah es mit spöttischem Lächeln, zog sein Schwert, 
schlug mit der Breitseite gegen seinen Schild und gebot mit 
mächtiger Stimme Ruhe. 

Im flackernden, Ungewissen Licht zweier Fackeln standen sich die 

Parteien unschlüssig gegenüber. 

Der Spitzbart brach das kurze Schweigen. »Wenn Ihr wirklich ein 

Ritter seid, und ein hochberühmter dazu, so werdet Ihr das Gesetz 
der Stadt ehrfürchtig achten. Das Tor bleibt geschlossen für 
jedermann. Und wenn Ihr noch so gewalttätig wärt, Ritter, gegen 
diesen Wald von Spießen kommt Ihr nicht an.« 

»Aber ich habe dringende Botschaft für Kaufmann Klotz«, sagte 

Roland. 

»Den kenne ich«, erwiderte der Herr des Tores trocken. »Der 

empfängt niemand zur Nacht.« 

Roland vermeinte, ein geringfügiges Zögern aus seinem Tonfall 

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herauszuhören. Er beharrte: »Das kannst du schwerlich beurteilen. 
Ich warne dich, dir Klotzens Wohlwollen zu verscherzen!« 

»Nichts da! Kein Wort mehr! Das Tor bleibt geschlossen für 

jedermann  ...« Er ließ den Satz in der Schwebe und fuhr dann leiser 
fort: »... es sei denn ...« Nun schwieg er endgültig und sah Roland 
gespannt an. 

Der Ritter streifte sich einen Handschuh ab und griff mit den 

Fingern in den anderen. Langsam zog er sie wieder heraus. Die Hand 
war nun geschlossen. »Es sei denn«, sagte er, nur für den 
spitzbärtigen Wortführer vernehmlich, »ich besäße einen Magneten 
für Euren Torschlüssel, nicht wahr?« 

Dessen Augen funkelten begehrlich. Mit einer Handbewegung 

scheuchte er seine Männer zurück. Als der letzte Spießträger in der 
kleinen Pforte verschwunden war, fragte er Roland leise: »Besitzt Ihr 
ihn denn, einen Magneten?« 

Der Ritter öffnete die Hand. Ein Dukaten lag darin. 
»Das Magnetchen möchte mir schon gefallen. Nur fürchte ich, es 

ist zu schwach für den großen Schlüssel.« 

»So will ich es verdoppeln«, sagte Roland und fischte einen 

zweiten Dukaten aus dem Handschuh. 

»Verdreifacht es, und das Tor wird geöffnet!« 
Da spornte Hein sein Pferd und ritt den feilschenden Anführer der 

Stadtsoldaten fast um. Nach dem Abzug der spießbewehrten Männer 
war sein Mut offenbar wieder gewaltig gewachsen. »Nichts da!« rief 
Hein. »Ein Dukaten genügt, oder wir stürmen das Torhaus.« 

Der Anführer behielt die Ruhe. »Ein Schritt durch die Pforte würde 

Euer letzter sein. Mit eingeschlagenem Schädel brächet ihr auf der 
Schwelle zusammen.« 

»Laßt Euch das nicht bieten!« forderte Hein seinen Ritter auf. Aber 

Roland griff schon zum drittenmal in den Handschuh und zahlte dem 
Torwächter, was er verlangt hatte. 

Der wurde nun überaus freundlich. »Ich gebe Euch einen Soldaten 

mit, der Euch auf schnellstem Wege zu Kaufmann Klotz führt«, 
versprach er. »Als Fremde würdet Ihr in dieser Dunkelheit 

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stundenlang vergeblich umherirren und sein Haus trotzdem nicht 
finden.« 

Hein zog ein ärgerliches Gesicht. Aber Roland, dem es darauf 

ankam, keine Stunde zu versäumen, bedankte sich und folgte, 
nachdem das Stadttor umständlich auf- und wieder zugeschlossen 
war, dem entschlossen voranschreitenden Soldaten über den kleinen 
Platz an der Innenseite der Stadtmauer in eine stockdunkle Straße. 

Indessen begab sich der Spitzbart in das Häuschen zurück und 

befahl seinen Soldaten: »Legt die Uniformen ab und schlüpft in die 
Kapuzen! Jean führt die Fremden in die Irre. An dem bewußten Platz 
legen wir uns in den Hinterhalt und erledigen sie.« Dann bestimmte 
er zwei Männer, die den Posten am Tor halten sollten. Die übrigen 
beeilten sich, die Maskerade zu vollziehen. 

»Meinst du, daß sich der Überfall lohnt, Oberst?« fragte ein Soldat 

den Anführer. 

»Wer drei Dukaten so mir nichts dir nichts aus dem Handschuh 

zieht«, entgegnete der, »trägt noch viele kleine Brüderchen am Leibe 
versteckt!« 

Seit einer halben Stunde folgten sie nun schon dem unbeirrt 
vorantappenden Führer. Allmählich gewöhnte sich das Auge an die 
Dunkelheit und unterschied Häuser, Fenster, Giebel, Straßenecken, 
Brunnen und kleine Plätze. 

»Herr Ritter«, flüsterte Hein. »Es kommt mir vor, als seien wir an 

diesem gelben Haus schon dreimal vorbeigekommen. Ich fürchte, der 
Mann führt uns falsch.« 

»Warum sollte er?« erwiderte Roland unwillig. »Er sitzt doch 

bestimmt lieber im warmen Torhäuschen, als sich hier nächtens die 
Füße wundzulaufen.« Dieser Hein war doch gar zu ängstlich! Und 
wie voll hatte er früher den Mund genommen! Man sollte einen 
Aufschneider in Zukunft nicht Prahlhans nennen, sondern Prahlhein  - 
dachte Roland. 

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»Ich erkenne das Haus aber an seinem winzigen Erker mit den 

gekreuzten Gitterstäben davor«, beharrte der Knappe. 

Aus einer Seitengasse erschien ein Schemen, der sich beim 

Näherkommen in einen späten Heimkehrer verwandelte. »Sagt mir, 
guter Mann«, rief Roland ihm zu, »sind wir auf dem rechten Weg 
zum Kaufmann Klotz?« 

Der Mann lüftete ein wenig die Kapuze, die fast sein ganzes 

Gesicht verbarg, und erwiderte: »Das seid Ihr, Herr! Erlaubt, daß ich 
mich anschließe! Ich wohne dem Kaufmann gleich gegenüber.« 

Roland nickte befriedigt. Wer wollte schon etwas auf die 

Fantastereien dieses jungen Burschen Hein geben, dem noch  nicht 
einmal die ersten Barthaare sprossen! 

Doch schon war der Knappe wieder an seiner Seite. »Kam Euch 

die Stimme des Mannes nicht bekannt vor, Herr Ritter?« raunte Hein. 

Roland schüttelte den Kopf. 
»Ich glaube, es ist der Oberst der Stadtsoldaten!« fuhr  Hein in 

ängstlichem Tone fort. »Hier stimmt etwas nicht. Eine Teufelei ist im 
Gange ...« 

»Schweig, feigherziger Jüngling, und verdächtige nicht ehrbare 

Männer!« 

Und fortan schwieg Hein beleidigt. 
Nach einer Weile blieb ihr Führer, der bisher kein Wort 

gesprochen, stehen und bedeutete Roland zu halten. »Verzeiht mir, 
Herr Ritter, aber ich muß Euch jetzt bitten, abzusteigen. Vor uns liegt 
die engste Gasse der Stadt, und an einem bestimmten Punkte stoßen 
zwei gegenüberliegende Balkons fast aufeinander, so daß nur ein 
Fußgänger darunter passieren kann, aber kein Reiter.« 

»Bin sowieso froh, endlich aus dem Sattel zu kommen«, sagte 

Roland und kam dem offenbar wohlgemeinten Rat nach. Hein folgte 
seinem Beispiel. 

Roland schritt weiter. Plötzlich wurde es so dunkel, daß er den 

Führer nicht mehr sah. Dann blieb Samum stehen. Kein Aufmuntern 
half. Der Hengst blieb störrisch. Er wollte nicht weiter. Roland ging 
nach vorn, die Hände vorgestreckt. Er stieß gegen Mauerwerk. Eine 

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Hauswand! 

Mit leichtem Argwohn drehte er  sich herum. Dies war eine 

Sackgasse! Oder hatte er nur eine Biegung verpaßt? Wind fing sich 
in dem Winkel, schnitt in die Augen und verschluckte Geräusche. Er 
ahnte mehr, als daß er ihn sah, den Knappen. 

Plötzlich spürte er, daß Hein aus irgendeinem Grunde nicht mehr 

aufrecht stehen konnte. Seine Knie gaben nach. Der Oberkörper fiel 
vornüber. Ein leises Ächzen kam aus seinem Mund. Sein Körper lag 
zu Rolands Füßen. »Hein, was ist?« 

Beunruhigt zog Roland das Schwert. 
Sterne tanzten vor seinen Augen. Der Schädel dröhnte. Irgend 

etwas war mit voller Gewalt auf seinem Helm gelandet. Er sprang 
über den gestürzten Hein hinweg. Hier hatte er mehr Platz. Die 
Sterne vergingen. Schattenhafte Gestalten umsprangen ihn. Hände 
packten ihn. 

Roland schüttelte sie ab. Er hob das Schwert. 
Eine Stimme ganz in der Nähe sagte: »Heraus mit dem 

Dukatenbeutel, und wir schonen Euch!« 

Diesmal erkannte auch er den Tonfall. Es war wirklich der 

spitzbärtige Anführer der Stadtsoldaten, wie Hein vermutet hatte! 

Der heimtückische Überfall machte Roland zornig. Er hieb und 

stach um sich. Wild tanzten die Schattenmänner durcheinander. 
Wieder traf ihn ein Schlag. Seine Rippen dröhnten. 

»Zurück!« rief Roland. Gleichzeitig machte er einen Ausfall. Die 

Feinde wichen zurück. Niemand wollte mit seiner Klinge 
Bekanntschaft schließen. So schaffte sich der Ritter Luft. In dem 
engen Windfang wäre er verloren gewesen. 

Hier war es heller. Über ein schimmerndes Schindeldach lugte der 

Halbmond. Roland sah die Waffen der Gegner. Sie hatten die Spieße 
zu Hause gelassen und trugen statt dessen Morgensterne und 
Todeskugeln. Das waren Metallklumpen, die durch einen kurzen 
Lederriemen mit einem festen Knüppel verbunden waren. 

Der Mann, der ihm am nächsten war, schwang gerade die 

Todeskugel gegen ihn. Roland sprang zur Seite und führte im 

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gleichen Augenblick einen Hieb gegen den Lederriemen, Seine 
Klinge durchschnitt ihn, und die Kugel flog auf ihn zu. Er fing sie 
mit der Linken. 

Und wieder vernahm er die bekannte Stimme vom Stadttor, leicht 

verzerrt von Ungeduld und Ärger: »Streckt die Waffen, Ritter, und 
rückt den Beutel heraus! Wir wollen Euch nichts Böses ...« 

Roland warf die Kugel in die Richtung der Stimme. Er mußte 

getroffen haben, denn es folgte ein greller Aufschrei. Erneut zuckte 
Rolands Klinge im Mondlicht, und die Schatten wichen auseinander. 

Der getroffene Anführer jammerte laut. Er beklagte seine Schulter 

und seinen Arm. Wahrscheinlich war er im Gelenk getroffen worden. 
Sein Heulen schwoll immer mehr an. Mehrere Stimmen geboten ihm 
Ruhe. Aber er jammerte nur lauter. 

Fenster wurden aufgerissen. Rufe erklangen: »Wer lärmt da 

unten?« 

»Überfall!« rief Roland aus voller Lunge. »Ergreift die Räuber!« 
Den Angreifern wurde es mulmig. In aller Stille hatten sie Roland 

und Mein abtun wollen. Aufsehen zu erregen, bedeutete ihnen fast 
größere Gefahr als feindliche Waffen. Eine rauhe Stimme mahnte 
zum Rückzug. »Weg mit euch, Kameraden! Verstreut euch! Und 
schleppt den Obersten mit!« 

Das aber wollte Roland nicht zulassen. Ungestraft und unerkannt 

sollten die dreisten Banditen nicht entkommen! Bestimmt war es 
nicht ihr erster Raubüberfall gewesen. Gelang ihnen die Flucht, so 
war zu befürchten, daß sie ihre niederträchtigen nächtlichen 
Verbrechen fortsetzen würden. 

Mit Riesenschritten eilte Roland an die Stelle, wo der Anführer 

zusammengesunken war. Der Kerl saß auf dem Boden. Mit dem 
Rücken lehnte er an der Hauswand. Der Ritter stellte sich vor ihn, als 
gelte es, den Leib eines lieben Freundes zu schützen. 

Da sausten zwei Morgensterne zu gleicher Zeit auf ihn zu. Doch 

rechtzeitig riß Roland das Schwert hoch, schlug von der Seite zu, und 
der gute Stahl fraß sich durch das nagelbestückte Kernholz wie durch 
Butter. Ungefährlich fielen die abgehackten Enden der gräßlichen 

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Waffen auf die Erde. 

»Flieht, Männer!« rief eine schrille Stimme. Die Kapuzenmänner 

ergriff Panik. Soviel Widerstand waren sie nicht gewohnt. Doch 
Fliehen erwies sich als schwieriger als gedacht. Denn nun waren sie 
in der eigenen Falle gefangen. Aus den Häusern der Nachbarschaft 
strömten beherzte Männer herbei und versperrten den Ausweg. 
Keiner kam mit leeren Händen. Sie hatten zum Werkzeug gegriffen, 
das ihnen sonst den Beruf ermöglichte. Der Metzger hielt das 
Schlachtemesser, der Bäcker die Brotschaufel und der Schmied den 
Hammer. 

Dennoch gelang es im Handgemenge zwei Banditen zu 

entschlüpfen. Drei aber wurden überwältigt. Rufe des Erstaunens 
wurden laut, als man ihnen in die Gesichter leuchtete. 

»Das sind ja Stadtsoldaten!« 
»Hier liegt ihr Oberst!« 
Dann umringten die Männer Roland und drückten mit schwieligen 

Händen seine Rechte. Auf der nachtdunklen Straße herrschte 
mittlerweile ein Trubel wie sonst nur an geschäftigen Tagen auf dem 
Marktplatz. 

Ein gewichtiger Herr, den eine silberne Halskette schmückte, nahte 

bedächtig. Man öffnete ihm eine Gasse. Es war der Bürgermeister. 
Roland erfuhr, daß er Beauvais hieß  - wie die Stadt. Sicherlich hatte 
dieser glückliche Umstand seine Wahl in das hohe Amt begünstigt. 

Überglücklich bedankte er sich bei Roland, nachdem man ihn von 

allem unterrichtet hatte: »Ihr habt mir und meiner Stadt einen 
unschätzbaren Dienst erwiesen! Seit Monaten schon konnte sich 
nachts kein Fremder auf die Straße wagen, ohne ausgeplündert zu 
werden. Wie oft verlangte ich vom Obersten der Stadtpolizei, er solle 
die Banditen fangen! Immer wieder fand er Ausflüchte und 
Entschuldigungen für sein Unvermögen. Und nun stellt sich dank 
Eures Heldenmutes heraus, daß er selber der Schuldige ist! Welch 
eine Kanaille! Mißbraucht sein Vertrauensamt dazu, um mit seinen 
Kreaturen Überfälle auszuführen und Menschen Schaden anzutun! 
Ich bin erschüttert. Dieser Schuft, dieser Halunke, dieser 

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Malefizkerl...« 

Roland fiel ihm ins Wort. »Herr Bürgermeister, verzeiht... Mein 

Knappe wurde verwundet. Ich muß mich um ihn kümmern.« 

»Wie konnte ich das übersehen!« rief der dicke Würdenträger. »Ich 

lasse den Tapferen sofort in mein Haus schaffen. Die denkbar beste 
Pflege soll ihm dort zuteil werden. Auch Euch bitte ich, für die Nacht 
mit meiner bescheidenen Hütte vorliebzunehmen.« 

»Eigentlich war ich auf dem Wege zum Kaufmann Klotz.« 
»Oh, zum Klotz wollt Ihr! Ein wohlangesehener Herr ist das. Er 

macht glänzende Geschäfte. Doch rate ich Euch, ihn erst morgen am 
Vormittag aufzusuchen. Seitdem die Überfälle begannen, fürchtet er 
so um seine reichen Lager, daß er sein Haus vor Sonnenuntergang 
bis zum Morgengrauen wie eine Festung verbarrikadiert hält und 
niemanden einläßt.« 

Wohl oder übel willigte Roland ein. Er mußte noch eine Weile 

warten, bis Herr Beauvais alle notwendigen Anordnungen getroffen 
hatte. Das Oberhaupt der Lohgerberzunft übernahm mit seinen 
Männern den Abtransport der beiden Banditen und des verwundeten 
Anführers ins Stadtgefängnis. Die Metzger machten sich auf, das 
Torhäuschen zu besetzen. Und die Straßenfeger erboten sich, nach 
den beiden geflohenen Banditen zu fahnden. Sie kannten von ihrer 
Arbeit her jeden Winkel der Stadt. 

Endlich folgte Roland dem Bürgermeister in dessen Haus. Es war 

alles andere als eine bescheidene Hütte. Die zahlreichen Räume 
sprachen von behaglichem, bürgerlichen Wohlstand. Überrascht sah 
sich Roland plötzlich vier jungen Mädchen gegenüber, die wie die 
Orgelpfeifen aufgereiht vor ihm knicksten. 

»Meine vier Töchter«, stellte Herr Beauvais vor. »Wie Ihr seht, 

zieren sie mein Haus aufs angenehmste, gemahnen mich jedoch auch 
durch ihren bloßen Anblick daran, daß es mir noch obliegt, einen 
Stammhalter zu zeugen. Bisher war mir das nicht vergönnt. Doch...«, 
fügte er mit verschmitztem Ausdruck hinzu, »...noch ist nicht aller 
Tage Abend!« 

Seine Frau, die genauso dick war wie er, konnte daraufhin einen 

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tiefen Seufzer nicht unterdrücken. Die Töchter erröteten und 
schlugen brav die Augen nieder. 

Nein, nicht alle vier! Die Älteste, die 18 Jahre zählen mochte, 

schaute Roland frei und keck ins Auge. Wenn ihre Wangen glühten, 
so nicht vor Scham, sondern vor innerem Feuer. Roland musterte sie 
mit erwachendem Interesse. Sie war ein hübsches, wohlgestaltetes 
Mädchen mit runden Hüften, was darauf schließen ließ, daß sie eines 
Tages in ähnlichem Leibesumfang prangen würde wie ihre Eltern. 

Man bemühte sich, Roland allerlei Erfrischungen anzubieten. Er 

aber bat nur um ein heißes Bad und verlangte, nach seinem Knappen 
zu sehen. Sofort wurde ein Dienstmädchen beauftragt, das Feuer zu 
schüren, einen Kessel aufzusetzen und den Zuber zu richten. 
Indessen betrat Roland besorgt das kleine Zimmer, in das man Hein 
gebettet hatte. 

Mit mattem, schwebendem Lächeln sah der Knappe zu ihm auf. 
»Hast du Schmerzen?« fragte Roland. 
Hein rollte mit den Augen. »Das Schlimmste ist vorüber. Als mich 

der Schlag traf, war ich wie gelähmt. Noch als sie mich herschafften, 
brannte mein Arm wie Feuer. Sie holten den Bader. Er meinte, der 
Knochen sei heil, und verband die tiefe Fleischwunde. Nun befinde 
ich mich ganz wohl.« 

»Eine Nacht auf weichen Kissen  - das wird dich wieder auf die 

Beine bringen!« 

»Mag sein. Doch hättet Ihr auf mich gehört, als ich Euch vor dem 

falschen Führer und dem anderen Manne warnte, so wären wir ohne 
Schlag und Gegenschlag davongekommen.« 

»Das mag wohl sein. Ich habe derlei Hinterlist nicht vermutet. 

Doch hat die Sache ihr Gutes. Die Schufte wurden entlarvt, und die 
Stadt ist von einer Plage befreit.  Morgen wird der Bader wieder nach 
deiner Wunde sehen.« 

»Nicht nötig, Herr Ritter. So ein Fliegenstich wirft mich nicht um! 

Ich fühl's  - morgen früh bin ich wieder der alte Raufbold, der sich 
vor Tod und Teufel nicht fürchtet!« 

Roland hatte Mühe, sich das Lachen zu verbeißen. Hein war 

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unverbesserlich. Kaum befand er sich in Sicherheit, so brach seine 
Prahlsucht wieder durch! 

Er wünschte ihm eine gute Nacht. Als er noch einen Blick auf das 

blasse ovale Gesicht mit den langen aschblonden Haaren warf, fühlte 
er sich seltsam gerührt. Rasch verließ er das Zimmer. 

Draußen empfing ihn die Dienstmagd, zeigte ihm die Waschküche 

und den für ihn bestimmten Schlafraum und berichtete, die Familie 
des Bürgermeisters habe sich zur Ruhe begeben. Roland entließ sie. 

Aus dem Zuber dampfte es. Roland entkleidete sich, wusch Staub 

und Blutspritzer von Gesicht und Händen und stieg dann vorsichtig 
in das heiße Wasser. Eine Zeitlang meinte er zu verbrühen, aber mit 
einem Schlag hatte er sich daran gewöhnt. Nun fühlte er sich 
ungemein behaglich. Die Ereignisse des Tages verschwammen. 

Er dachte an morgen. An Kaufmann Klotz. Von ihm hing es ab, ob 

er Haggan aufspüren konnte. Er hoffte, daß seine Knappen Louis und 
Pierre morgen Beauvais erreichen würden. Vielleicht auch sein 
Freund Volker vom Hohentwiel, der fahrende Ritter und berühmte 
Minnesänger. 

Seine Gedanken verloren sich. Er wurde müde. Die Augenlider 

fielen ihm zu. Er raffte sich auf, griff nach der Bürste und bearbeitete 
damit seinen Rücken. 

Plötzlich spürte  er neben dem Borstenkratzer die Berührung einer 

weichen Hand. Er warf die Bürste weg und überließ sich mit 
wohligem Schauer dem prickelnden Streicheln. Erst nach einiger Zeit 
warf er einen Blick über die Schulter. 

Die älteste Tochter des Bürgermeisters stand da hinter ihm in 

einem tief ausgeschnittenen weißen Nachtgewand, aus dessen 
Spitzensaum die rosigen Knospen ihrer entzückenden Brüste 
hervorlugten, und streichelte seinen Rücken. 

»Jungfer!« stieß er erschrocken hervor. 
»Mein Name ist Anni«, sagte sie lächelnd. 
»Anni, ich bitte dich, verlasse sofort diesen Raum! Wenn deine 

Eltern ...« Unbegreiflicherweise geriet Roland ins Stocken, 
stammelte etwas von Bürgerehre und Gastrecht und schwieg dann 

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verwirrt. 

Ihre Hände glitten zu seiner Brust und wurden fordernder. Ihre 

Zähne öffneten sich. Die Zungenspitze erschien zwischen den 
weißen Perlen. Ihre Augen blickten begehrlich. »Wie Ihr befehlt, 
Herr Ritter. Gleich begebe ich mich in mein Zimmer. Es ist das dritte 
zur rechten Hand. Ich verriegle es nie. Wach  werde ich liegen, bis... 
bis Ihr kommt...« Ihre Hände glitten tiefer. 

Platsch! Annis Hände tauchten ins Wasser. Sie beugte sich vor und 

küßte Roland auf den Mund. Ihre vollen Lippen schmiegten sich 
zärtlich auf seine. 

Unwillkürlich hielt Roland ihre Hände fest und zog sie nach oben. 

Dann machte er sich aus ihrer Umarmung frei. 

Kopfschüttelnd sah sie ihn an. »Herr Ritter, ich begreife nicht...« 
Er legte den Finger auf seinen Mund und winkte ihr, zu 

verschwinden. Was sollte er ihr sagen? Er begriff sich ja selber nicht. 
Aber wie konnte er den Verheißungen einer Liebesnacht nachgeben, 
während unter demselben Dache sein junger Knappe Hein vielleicht 
unter plötzlich wiederkehrenden Wundschmerzen litt? 

Kaufmann Klotz war säbelbeinig und pockennarbig. Sein 
abgewetzter, speckig schimmernder Tuchrock verriet nichts von dem 
Reichtum, über den er verfügte. Fast unterwürfig empfing er Roland 
und strich dessen gestrige Verdienste um die Stadt Beauvais mit 
schmeichelnden Worten heraus. 

»Verfügen Sie über mich, Herr Ritter!« sagte er. »Ich wäre 

glücklich, Euch zu Diensten zu sein, obwohl ich bei Gott nicht weiß, 
wie ich schwacher und unwürdiger Bürger einem Helden wie Euch 
nützen könnte. Es sei denn ... Wünscht Ihr Stoffe zu kaufen? Oder 
eine Rüstung? Oder Waffen? Sagt nur frei heraus, wonach es Euch 
gelüstet! Kaufmann Klotz gibt alles wohlfeil her  - vor allem dem 
Ritter Roland. Und sollte es Euch an Geld gebrechen  - Kaufmann 
Klotz leiht Euch gern jede Summe und verlangt nur geringe zehn 

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Prozent Zinsen. Das ist wie geschenkt!« 

Roland hob abwehrend die Hand. »Nur eine Auskunft erbitte ich, 

Klotz!« 

Wenn Kaufmann Klotz einem anderen zuhörte, riß er die Augen 

weit auf und öffnete leicht den Mund, als trinke er die Worte seines 
Gegenübers wie einen köstlichen Saft. 

»Ihr kennt Haggan vom Horn?« fragte Roland geradezu. 
»Nur flüchtig. Wir trieben bisweilen Handel. Kauf und Verkauf. 

Das ist nun vorbei. König Artus hält Haggan gefangen.« 

»Nicht mehr«, sagte Roland. »Haggan entflohen.« 
»Was Ihr nicht sagt! Welch großes Unheil! Man sagte mir, Haggan 

vom Horn sei eine Bestie, die den Tod verdient.« 

Wenn Kaufmann Klotz sprach, dann lehnte er sich mit 

geschlossenen Augen weit zurück, als wolle er dem anderen die 
geheimen Gedanken verbergen, die hinter den sorgsam gewählten 
Worten stecken mochten. 

»So heißt es«, sagte Roland ernst. »Und es heißt auch, daß Ihr, 

Kaufmann Klotz, seinen Aufenthaltsort kennt.« 

Die aufgerissenen Augen Klotzens verengten sich, wurden zu 

Schlitzen und verschwanden schließlich hinter den schweren Lidern. 
»Seinen Aufenthaltsort?« wiederholte er tonlos. 

»Sein Versteck, seine Zuflucht, seinen Unterschlupf!« 
Der Raum lag im Halbdunkel. Die in düsteren Farben gegossenen 

Butzenglasscheiben der Fenster ließen nur wenig Helligkeit herein. 
Klotz schwieg lange. Dann drang ein herzergreifendes Stöhnen aus 
seiner Kehle. 

Er sprang auf und marschierte auf Säbelbeinen, die überlangen 

Arme mächtig schwingend, diagonal durch das Besuchszimmer, 
wobei er mit klagender Stimme, als sei er den Tränen nahe, ausrief: 
»Nichts weiß ich, Herr Ritter. Wer mag mich verleumdet haben? Ich 
schwöre es Euch, daß ich gar nichts weiß von Haggans Umtrieben  - 
außer daß er mir noch hundert Dukaten schuldet. Beim Haupte 
meines Kindes, beim Augenlicht meiner Mutter, beim unbefleckten 
Ruf meines Hauses schwöre ich Euch: unwissend bin ich wie ein 

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Neugeborener!« 

So sehr Roland auch in ihn drang, Klotz wich von dieser Aussage 

nicht ab. Der Ritter sah bald ein, daß er hier keine Auskunft erhalten 
würde. In kaltem Ton verabschiedete er sich. 

Er trat auf die Straße. Die Enttäuschung drückte ihn schwer. Was 

war nun zu tun? Haggan war wie von der Erde verschwunden. Wenn 
schon Kaufmann Klotz leugnete, sein Versteck zu kennen, so würde 
es ihm niemand sagen können. 

Wohin sollte Roland sich wenden?  Noch nie war er so verzagt 

gewesen. Schweren Herzens schritt er dem Haus des Bürgermeisters 
entgegen. 

Schon der Morgen war voll Aufregungen gewesen. Heins Wunde 

hatte sich über Nacht entzündet. Man hatte zum Bader geschickt. Der 
entfernte den Eiter, legte Heilkräuter und einen neuen Verband auf. 

In aller Herrgottsfrühe waren, wie erhofft, Louis und Pierre 

eingetroffen. Sie hatten sich zu Roland durchgefragt. Während Pierre 
sich mit der Familie Beauvais am Frühstückstisch niederließ, um ihn 
zwei volle Stunden lang nicht zu verlassen, nahm Louis einen 
geflüsterten Befehl Rolands entgegen und ward nicht mehr gesehen. 
Zu dem Zeitpunkt, da Roland von seinem vergeblichen Gang 
zurückkehrte, war Louis noch nicht wieder aufgetaucht. 

Selbst der Anblick der rosigen  Anni riß Roland nicht aus seiner 

Niedergeschlagenheit. Doch war es angenehm, wie sie um ihn herum 
schwirrte und girrte. Ihr glattes freundliches Gesicht ließ nicht darauf 
schließen, daß sie die ganze Nacht in vergeblicher Erwartung 
Rolands wachgelegen hatte. 

Um nicht unhöflich zu erscheinen, begann Roland ein 

oberflächliches Gespräch mit ihr. Bald kam die Rede auf Kaufmann 
Klotz. »Er treibt sogar mit dem Morgenland Handel«, verkündete sie 
voll Bürgerstolz. »Bestimmt ist er der reichste Mann der Stadt.« 

»Und sein Kind?« fragte Roland. »Ist es ein Sohn oder eine 

Tochter?« 

Sie schüttelte voll Mitgefühl den Kopf. »Das ist sein einziger 

Kummer. Klotzens Ehe blieb kinderlos.« 

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Roland horchte auf. Die Worte, die Klotz im Zimmer hinter den 

Butzenscheiben so feierlich gesprochen, hatte er wörtlich im 
Gedächtnis. »Kennst du zufällig seine Mutter, Anni?« 

»Ich kannte sie flüchtig. Warum fragt Ihr? Sie ist seit vielen Jahren 

tot.« 

»Ganz recht. Ich glaube, er erwähnte es. Was ich noch wissen 

möchte: ist er wohlgelitten in der Stadt? Ist sein Ruf untadlig?« 

Sie kicherte. »Jeder stellt sich gut mit ihm. Aber es gibt manch 

böses Gerücht. Und einige Leute gibt es, die er zugrunde richtete. 
Dreimal wurde er wegen Wuchers angeklagt und mußte hohe Strafen 
zahlen. Aber noch immer verleiht er Geld zu schlimmen Zinsen. Ein 
Ehrenamt, wie mein Vater es innehat, würde man ihm seines 
schlechten Rufes wegen nie antragen.« 

In diesem Augenblick wurde Anni von ihrer Mutter gerufen, und 

Roland blieb allein zurück. Seine Ahnung hatte ihn nicht getrogen. 
Kaufmann Klotz wußte mehr über Haggan, als er zugab. Wieder 
hörte er ihn mit bewegter Stimme schwören: 

Beim Haupte meines Kindes, beim Augenlicht meiner Mutter, beim 

unbefleckten Ruf meines Hauses ... 

Kaufman Klotz hatte ihn schamlos belogen! 

Vergnügt vor sich hinpfeifend, betätigte ein junger Jäger den 
schweren bronzenen Türklopfer an Kaufmann Klotzens Haus. Als 
die Dienstmagd ihm öffnete, bot er ihr zwei Hasen und fünf 
Rebhühner zum Kauf an. 

»Alles ganz frisch«, sagte er. »Erst heute früh habe ich die Tiere 

mit Pfeil und Bogen erlegt.« 

Die Dienstmagd musterte den etwas wild aussehenden Mann nicht 

ohne Wohlgefallen, zögerte aber. »Wir kaufen sonst immer bei dem 
alten Will ...« 

»Der alte Will«, unterbrach sie der Jäger, »liegt krank im Bett und 

bat mich, für ihn einzuspringen. Er verlangt für die Tiere anderthalb 

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Dukaten.« 

Wieder stutzte die Dienstmagd. So wohlfeil trennte sich der alte 

Will doch sonst nicht von seiner Jagdbeute! Doch sie nahm das Wild 
an sich und wandte sich zur Küche. »Wart einen Augenblick! Ich 
hole dir das Geld.« 

Als sie nach einiger Zeit wiederkam, wunderte sie sich, denn der 

Jäger war verschwunden. Achselzuckend ging sie in die Küche 
zurück. Er wird schon wiederkommen, dachte sie. 

Sie ahnte nicht, daß der Jäger noch im  Hause war. Er hatte sich, 

kaum daß sie ihm den Rücken kehrte, auf leisen Sohlen eine Treppe 
hinaufgeschlichen, die zu den Privatgemächern des Hausherrn 
führten. Oben trat er vorsichtig in einen Gang, auf den mehrere 
Türen mündeten. 

Die eine stand ein wenig offen. Lautlos schlüpfte er hinein, und 

lautlos schloß er sie von innen. Als erstes vergewisserte er sich, daß 
er allein war. Ganz still stand er in dem prachtvoll eingerichteten 
Schlafzimmer und lauschte. Von nebenan klangen Stimmen. Mit 
unendlicher Vorsicht näherte er sich der Wand. Aber auch als er sein 
Ohr dagegen legte, blieben die Stimmen unverständlich. Nicht mal 
einzelne Worte waren zu unterscheiden. 

Da bemerkte er dicht unter der Decke eine Klappe in der getäfelten 

Wand. Mit den gleitenden Bewegungen eines geschmeidigen 
scheuen Waldtiers trug er rasch ein Marmortischchen unter die 
Klappe, stellte vorsichtig einen Stuhl darauf und kletterte dann 
gewandt in die Höhe. Alles geschah völlig lautlos. 

Als er auf dem Stuhl stand und sich reckte, war sein Kopf in Höhe 

der Klappe. Er probierte vorsichtig mit den Händen. Die Klappe ließ 
sich zur Seite schieben! Durch die entstandene unauffällige Öffnung 
drangen die bisher unverständlichen Stimmen nun klar und deutlich 
ins Schlafgemach. 

»Mein lieber Lutz von Lutzerath«, sagte gerade Kaufmann Klotz. 

»Die Nachricht von Haggans Entkommen kann nicht mehr 
bezweifelt werden. Dieser Ritter, der mich des Morgens aufsuchte, 
ist einer von des Königs einfältigen Turnierschlägern, der nicht ein-

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mal Fantasie genug hätte, um so etwas zu erfinden!« 

»Nun, das ist doch höchst erfreulich«, antwortete der andere, der 

demnach nur Lutz von Lutzgerath sein konnte. »Auch für dich, 
Klotz! Wenn Haggan auf freiem Fuß ist, wird er dir bald wieder 
reiche Beute bringen.« 

»Wahrhaftig, Lutz?« 
»Aber sicher. Ich kenne Haggan gut. Abenteuer sind sein Leben. 

Da fällt immer Beute an. Er faulenzt keinen Tag.« 

»Soll mir schon recht sein. Und deine Pläne, wenn ich fragen 

darf?« 

»Ich habe noch ein mehrtägiges Geschäft in der Stadt zu 

erledigen«, sagte die Stimme des Ritters Lutz von Lutzerath, »das 
von den deinen recht verschieden ist. Es handelt sich, im Vertrauen 
gesagt, um eine Tuchhändlersfrau, deren Ehemann für einen Monat 
auf Handelsreise ging. Dabei fällt mir ein  - was wollte dieser Ritter 
Roland eigentlich von dir? Solltest du ihn auf Haggans Spur setzen?« 

»So ist es. Natürlich leugnete ich jede Kenntnis seines Verstecks. 

Dessen genaue Lage kenne ich übrigens wirklich nicht. Denn den 
Plan dazu übergab ich aus Gründen eigener Sicherheit, als Haggan 
von Artus ergriffen ward, deinem Bruder, dem wohllöblichen Atz 
von Atzerath, auf dessen fester Burg ein so gefährliches Dokument 
weit besser verwahrt ist als in meiner schlichten Bürgerwohnung.« 

Der heimliche Lauscher hatte genug gehört. Es wurde für ihn 

höchste Zeit zum Rückzug. Bisher hatte ihm das Glück zur Seite 
gestanden. Er wollte seine Treue lieber nicht auf die Probe stellen. 

Doch beim Heruntersteigen passierte das Mißgeschick. Der Stuhl 

kam auf der blanken Marmorplatte des Tischchens ins Rutschen und 
fiel mit Gepolter auf den Fußboden! 

Die beiden Männer im Nebenzimmer horchten auf. 
»Was geschieht da in meinem Schlafzimmer?« verwunderte sich 

Klotz. 

Ritter Lutz von Lutzerath reagierte schneller. Er sprang auf, rannte 

zum Gang und prallte vor der Nebentür mit Rolands Knappen Louis  - 
denn niemand anders als er war der Eindringling  - zusammen. Louis 

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versuchte den Ritter über den Haufen zu rennen. Aber er blieb mit 
der Fußspitze an der Türschwelle hängen und stürzte vornüber. 

Lutz griff gedankenschnell zu. Mit einer Hand packte er Louis am 

Kragen seiner Lederjacke, die andere preßte er ihm gegen die Kehle, 
daß dem Knappen die Luft wegblieb. 

Indessen war auch Klotz auf den Gang getreten und fragte voll 

Argwohn: »Wen haben wir denn da erwischt? Wer ist der 
Schandbube, der sich in fremde Häuser einschleicht?« 

»Das werden wir gleich erfahren«, erwiderte Lutz und schleifte 

den vom Würgegriff halb bewußtlosen Louis in das 
Besucherzimmer, wo er ihn gegen Klotzens Schreibtisch schleuderte. 
Mit geschlossenen Augen rutschte der ertappte Lauscher auf den 
Boden und lag in kläglicher Haltung da. 

Lutz gab ihm einen Fußtritt. »He, du Lumpenkerl! Sag uns deinen 

Namen und was dich hertreibt! Wolltest du etwa unser Gespräch 
belauschen?« 

»Er wird  ein Dieb sein«, keifte Klotz. »Wir müssen seine Taschen 

untersuchen!« Er tat es gleich selber, fand aber nichts als ein weißes 
Tüchlein und einen halben Dukaten, den er verächtlich zu Boden 
warf. 

»Wirst du wohl antworten, wenn ich dich etwas frage?« rief  Lutz 

und stieß Louis mit dem Fuß an. Der rührte sich nicht und gab keinen 
Mucks von sich. 

»Er ist ohnmächtig«, bemerkte der Kaufmann. »Du hast ihn zu hart 

angefaßt. Nicht daß er es nicht verdiente ...« 

»Und wäre er nicht ohnmächtig, sondern schon halbtot, ich wollte 

ihn doch zum Reden bringen!« Der Ritter sprach's und zog eine 
Reitgerte hervor. Damit versetzte er Louis drei kräftige Hiebe, daß 
Kaufmann Klotz schaudernd zur Seite blickte. 

Nun wurde auch Lutz nachdenklich. »Sollte er wirklich hinüber 

sein?  Ein Wunder wäre es nicht bei meiner Stärke, die sich in 
manchem Turnier bewährte! Doch wünschte ich nie, meine Kraft an 
solchem hergelaufenen Lumpen zu erproben ...« 

Klotz beugte sich zu Louis nieder. »Er ist tot«, sagte er nach einer 

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Weile tonlos. »Er atmet nicht mehr.« 

Lutz stieß einen Fluch aus. »Das bringt mir wenig Ehre.« 
»Ehre!« rief Klotz und schloß die Augen. »Wer denkt bei so was 

an Ehre! Mir bringt es schweren Verdruß, wenn man den Toten in 
meinem Hause findet. Die Leute von Beauvais mögen mich nicht. 
Natürlich ist das der reine Neid. Sie verübeln mir den günstigen 
Gang meiner Geschäfte. Man wirft mir Knüppel zwischen die Beine, 
wo es nur angeht. Unlängst klagten sie mich sogar des Wuchers an, 
obwohl ich Geld zu nur zehn Prozent Zinsen  an Honoratioren und zu 
nur 20 Prozent an armes Volk verleihe ...»Er riß die Augen wieder 
auf und blickte wie gehetzt umher, als könne jeden Augenblick der 
Büttel eintreten und ihm die Hand auf die Schulter legen. »Ich hab' 
eine Idee, wie wir uns seiner entledigen«, sagte Lutz, der die Ruhe 
nicht verloren hatte. 

»Dann sprecht!« forderte Klotz. 
»Wir werfen ihn einfach aus dem Fenster. Draußen ist wüstes 

Wetter, ein grauslich trüber Tag, kein Volk auf den Straßen. Zuvor 
drücken wir ihm einen Krummdolch in die  Hand  - ich sehe genügend 
Waffen an jener Wand hängen. Wenn man ihn findet, wird jeder 
meinen, er sei in raubmörderischer Absicht am Haus 
emporgeklettert, um durch ein Fenster einzusteigen, was er ja wohl 
auch tat, und sei dabei abgestürzt und aus eigener Schuld zu Tode 
gekommen.« 

»Vortrefflich!« lobte der Kaufmann den arglistigen Plan. 

»Vielleicht haben wir sogar noch das Glück, daß sich ihn im Sturz 
der Krummdolch in den Leib bohrt.« 

Ohne Verzug machten sie sich an die Ausführung, öffneten das 

Fenster, fanden die Gasse menschenleer und hoben den nicht sehr 
schweren Körper mit vereinten Kräften auf das Sims. 

»Nun den Dolch in seine Hand!« 
Auch das geschah. 
Sie waren eben dabei, den reglosen Körper hinabzustoßen, als die 

vermeintliche Leiche lebendig wurde. Louis hatte sie getäuscht. Er 
konnte nämlich gut und gern 100 Atemzüge lang die Luft anhalten. 

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Derlei Kniffe hatte ihn sein früheres Leben als Räuber in den 
Wäldern gelehrt. 

Plötzlich entglitten dem Kaufmann die Füße, die er angehoben 

hatte. Und ehe er  sich von der Überraschung erholte, trafen ihn diese 
Füße mit solcher Kraft vor die Brust, daß er fast bis an das andere 
Ende des Gemachs zurücktaumelte. 

Aber auch diesmal war Lutz von Lutzerath auf der Hut. Er hatte 

Louis an den Schultern ans Fenster getragen und ließ nicht los. Ja, er 
verdoppelte seine Anstrengungen, um den von den »Toten« 
Erwachten aus dem Fenster zu werfen. 

Da spürte er plötzlich die Schneide des Krummdolchs an seiner 

Kehle. »Loslassen!« herrschte Louis ihn an. »Oder ich mache Euch 
kalt!« 

Dem Ritter blieb nichts anderes übrig, als zu gehorchen. Ehe sich 

Louis aber vom Fenstersims wieder in den Raum schwingen konnte, 
hatte Lutz eine andere Waffe, ein Langschwert, von der Wand 
gerissen und versperrte Louis den Weg zur Tür. Seine Haltung 
verriet, daß er etwas vom Waffenhandwerk verstand ... 

Und was sollte ein kurzer Krummdolch gegen ein Langschwert 

ausrichten? 

Louis ließ sich nicht einschüchtern. Er hatte seinerzeit viele 

Lektionen von einem berühmten Fechtmeister erhalten und nichts 
davon verlernt. So griff er jetzt mutig an. Seine Beine tanzten wie auf 
einer Bauernhochzeit. Ein Irrwisch konnte nicht schneller im Raum 
herumhuschen als er. Wie mit einem Säbel fuhrwerkte er mit dem 
Krummdolch durch die Luft. 

Da mußte Lutz gewaltig auf  der Hut sein. Sonst hätte er sich gleich 

im ersten Durchgang eine gefährliche Verwundung eingefangen, die 
ihn kampfunfähig gemacht hätte. 

Wieder und wieder kreuzten sie die Klingen, daß die Funken 

stoben. 

Allmählich gewann der Ritter die Oberhand. Die Ungleichheit der 

Waffen machte sich im Lauf des Kampfes zu seinem Vorteil 
bemerkbar. 

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Klotz hatte sich ängstlich hinter seinen eichenen Schreibtisch 

verzogen. Er war ein Mann des schnellen Geldes  - nicht der 
schnellen Klinge. 

Aus sicherer Deckung verfolgte er zunächst besorgt, dann bald mit 

größerer Zuversicht den Fortgang des Kampfes. 

»Gib's ihm!« rief er haßerfüllt und schwenkte die überlangen Arme 

wie Flegel. »Er brach den Frieden des Hauses! Jetzt hast du ihn!  Er 
wollte meine Gelder rauben! Jetzt ist er in der Klemme! Er wollte an 
mein Leben! Hau ihm auf den Schädel!« 

Nun hatte der pockennarbige Kaufmann keine Bedenken mehr, daß 

man einen Toten in seinem Hause finden würde. Denn Louis starb ja 
als Eindringling mit geraubter Waffe in der Faust  - das konnte später 
niemand ableugnen. 

Der Knappe war in eine Zimmerecke gedrängt und wehrte sich nur 

noch mit dem Mute der Verzweiflung. Doch keine Todesangst 
lahmte seinen Arm. Im Innern aber verfluchte er sein Mißgeschick 
beim Verlassen des Lauscherpostens. 

Immer näher rückte ihm Lutz zu Leibe. 
Ein Schlag ritzte Louis' Jägerjoppe auf. Danach rückte Lutz einen 

weiteren Schritt vor. 

Jetzt gab es kein Entkommen mehr. 
Der nächste Streich würde den Knappen fällen. 
Schon holte Lutz zum Todesstreich aus. Hoch schwang er das 

Langschwert, höher als bisher! 

Und da geschah es. 
Als er die Waffe niedersausen lassen wollte, blieb sie mit der 

Spitze im Kronleuchter hängen. Er riß und zerrte. Er fluchte, und 
Klotz jammerte um sein schönes Stück. 

Endlich hatte Lutz die Waffe frei und schlug zu. Doch wo Louis 

eben noch gestanden, war jetzt nur noch die Wand. Und in die bohrte 
sich die Schwertklinge. 

Diesmal half kein Ziehen und Zerren, kein Toben und Stoßen. Das 

Schwert ließ sich nicht  mehr befreien. Zu tief hatte es sich in der 
Wand verbissen. 

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Klotz schloß schaudernd die Augen. 
Der Krummdolch erschien drohend vor des Ritters Gesicht. Was 

blieb Lutz übrig? Er mußte die Waffe loslassen und drei schnelle 
Rückwärtsschritte tun. Geistesgegenwärtig griff er nach einem 
breiten Ledersessel, um damit die erwartete Attacke des Gegners 
abzuwehren. 

Aber Louis hatte gar nicht die Absicht, den Kampf blutig zu 

beenden. Nicht dafür hatte ihn Ritter Roland hergeschickt. 
Kundschaften sollte er - und keine Wunden schlagen! 

Deshalb warf er dem weichenden Lutz den Krummdolch vor die 

Füße, sprang behend zur Tür hinaus und eilte, so schnell er konnte, 
die breite Treppe hinunter. 

Gerade wollte er unten die Haustür öffnen und ins Freie stürmen, 

da trat ihm unvermutet die Dienstmagd entgegen. Sie schimpfte, aber 
nicht allzu grimmig: »Ein saumseliger Vertreter des alten Will bist 
du. Glaubte schon, du kämst nicht wieder. Hier, nimm dein Geld!« 

Eilig griff Louis nach den anderthalb Dukaten, denn jeden 

Augenblick konnte Lutz auf dem Treppenabsatz erscheinen. 
Plötzlich aber gedachte er des halben Dukaten, den ihm Klotz 
abgenommen hatte, als er ihn für tot hielt. Noch nie hatte Louis, 
weder als Räuber noch als Schankwirt oder als Knappe, freiwillig 
einen halben Dukaten fahrenlassen. 

Und so rief er keck: »Ich hab mir's anders überlegt«, schaute aber 

aus den Augenwinkeln unentwegt nach oben. »Fünf Stück Wild! 
Dafür mußt du mir schon zwei Dukaten geben!« 

Die Dienstmagd weigerte sich. 
Louis ließ nicht nach. 
»Gesagt ist gesagt!« rief die Dienstmagd zornig. 
»Ich bleibe hier so lange, bis ich meinen Lohn habe!« beharrte 

Louis. Im gleichen Augenblick erblickte er einen Stiefel des Ritters 
auf der obersten Stufe! 

Immer noch zögerte die Dienstmagd. Schon zeigte sich der zweite 

Stiefel. Louis wich und wankte nicht. 

»Geht!« rief die Dienstmagd und stampfte mit dem Fuß auf. 

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»Nicht ohne den halben Dukaten, mein schönes Kind!« 

schmeichelte ihr Louis, während schwere Schritte bedrohlich auf der 
Treppe dröhnten und in der Hand des eilig nahenden Lutz ein neues 
Schwert aus Klotzens Waffensammlung sichtbar wurde. 

»Mein schönes Kind  - hast du gesagt?« wiederholte die 

Dienstmagd zweifelnd. »Meinst du das ehrlich?« 

Nur zehn Stufen war Lutz noch entfernt. 
»Kannst du zweifeln?« erwiderte Louis. 
Die Dienstmagd strahlte und versenkte die Hand in der 

Küchenschürze. 

Lutz war bis auf fünf Stufen heran. 
Der Dienstmagd fiel ein, daß sie trotz des Aufgelds noch günstig 

davonkam, und sie hielt Louis den halben Dukaten hin. 

Drei Stufen noch ... 
Die Hand des Knappen griff wie eine Geierkralle nach der Münze, 

und dann schoß er auf die Gasse hinaus, als stände sein Hosenboden 
in hellen Flammen. 

Im Haus des Bürgermeisters Beauvais hatte Ritter Roland mit 
wachsender Ungeduld die Rückkehr seines Knappen Louis erwartet. 
Als er endlich kam, schloß sich der Ritter sofort mit ihm in ein enges 
Gemach ein und ließ sich im Flüsterton berichten. 

In aller Ausführlichkeit erzählte Louis, wie er sich eingeschlichen 

und seinen Lauscherplatz gefunden habe. Das Gespräch zwischen 
Klotz und Lutz gab er fast wörtlich wieder. Dagegen verschwieg er 
listig, wie es seine Art war, daß er schließlich entdeckt worden war  -
und alle Begebnisse danach. 

Das sollte sich noch als verhängnisvoll erweisen. 
Sofort danach blies Roland zum Aufbruch. Vergebens baten ihn 

Beauvais und seine ganze Familie fast mit Tränen in den Augen, 
ihnen das nicht anzutun! Nie hätten sie liebere und verdienstvollere 
Gäste gehabt. 

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Umsonst verwies der Knappe Pierre auf die Annehmlichkeiten 

eines Aufenthalts bei den Beauvais und die Unwirtlichkeit des 
Reisens unter freiem Himmel beim augenblicklichen Wetter. Und 
auch der Einwand von Louis, Lutz wolle sich noch mehrere Tage der 
Liebe wegen in der Stadt umtun und könne daher keineswegs seinen 
Bruder warnen, verschlug bei Roland nicht. Der befahl den 
Abmarsch. 

Die kleine Burg des Atz von Atzerath lag nur drei Tagereisen weit 

nach Süden. 

Zuvor aber besuchte Roland noch Hein, der blaß und still in seinen 

Kissen lag. Er entlohnte ihn und entließ ihn aus seinen Diensten. 
»Sobald Volker vom Hohentwiel hier auftaucht, sagt ihm, wir seien 
nach der Burg des Atz von Atzerath geritten! Bewahre das aber vor 
allen anderen als tiefes Geheimnis!« 

Hein nickte. Er sah Roland aus seinen hellen schwebenden Augen 

merkwürdig an. Auch Roland hatte ein eigentümliches Gefühl in der 
Kehle, als er sich von ihm abwandte. Draußen empfahl er den 
Verwundeten der besonderen Pflege der Jungfer Anni. Die hübsche 
Tochter des Herrn Beauvais hatte für dieses Ansinnen aber nur ein 
spöttisches Achselzukken übrig. 

Am Stadttor trat zu Ehren Rolands die ganze Wache heraus und 

erwies ihm Reverenz. Heute wurde sie von der Zunft der 
Rosinenbäcker gestellt, was man unschwer an dem süßen Duft 
merkte, der aus der Wachstube kam. Noch einmal bedankten sich die 
wackeren Männer bei Roland und erzählten ihm, daß die von ihm 
entlarvten Stadtsoldaten inzwischen im Gefängnis ihrem Prozeß 
entgegensähen. 

»Werdet ihr sie hängen?« fragte Louis. 
»Wohl kaum«, war die Antwort, »selbst wenn sie es verdient 

haben mögen. Wahrscheinlich werden sie ein paar Jahre lang 
niedere, ungeliebte Arbeiten verrichten müssen. So nützen sie der 
Gemeinde, die sie so lange betrogen, während ein Gehenkter nur den 
Krähen und Raben nützt.« 

Roland schmunzelte über diesen Beweis praktischen Bürgersinns. 

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Dann ritten sie weiter. Louis führte das Packpferd. 

Schon in den Gassen hatte es gestürmt. Doch vor den Toren der 

Stadt empfing sie die Sturmsbraut mit überwältigendem 
Temperament. Die Dämmerung fiel ein. Dunkle Wolken jagten 
dahin. Die Bäume bogen sich unter dem Anprall heftiger Böen. 

Sie ritten nach Süden. Aber es war schwer, die Richtung 

beizubehalten, so gewaltig wehte es übers freie Feld von Westen her. 
Pierre biß sich auf die Lippen. Zu klagen war sinnlos. In diesem 
Tosen der Elemente wäre seine Stimme kläglich untergegangen. 
Sehnsüchtig blickte er nach fernen Lichtpünktchen aus, die ein 
Dörflein angekündigt hätten. 

Vielleicht wäre es sogar in einem  Wald ein wenig angenehmer? 

Schützten Bäume nicht vor heftigen Stürmen? Aber  - sagte sich 
Pierre  - heut war es wohl wahrscheinlicher, daß der Sturm Äste und 
Stämme knickte, sie auf den Reiter warf und ihn erschlug. 

Unmerklich ließ der Sturm nach. Langsamer wurde der Fluß der 

Wolken. Schon erreichte ein hastig vorgestoßenes Wort das Ohr des 
Kameraden. Nicht länger mehr wirbelte der Staub der Felder um die 
Pferdehufe. 

Dafür begann ein anderer Wirbel. Schnee! Er fiel nicht als sanfte 

weiße Flockenpracht. In Bächen, die verwirrende Zickzackkurven 
beschrieben, stürzte er aus dem schwarzen Himmel, der 200 Klafter 
tief zu lasten schien. Er biß in die Haut, er näßte die Pferde, er 
verwirrte den Blick. 

Dann begann es zu grollen. Von fernher leuchtete es geisterhaft 

über dem Horizont. Verängstigt murmelte Pierre Gebet um Gebet. 
Und das Grollen wurde zum Donner, das ferne Leuchten zu 
blendenden Blitzen, die neben ihnen in den Boden fuhren. 

Während Schnee in riesigen Mengen sie umhüllte, brach ein 

tosendes Wintergewitter los. 

Die Pferde scheuten. Manchmal brachen sie, von einem besonders 

hellen Blitz zu Tode erschreckt, mehrere Galoppsprünge in seitliche 
Richtung weg, ehe der Reiter sie wieder in die Hand bekam. 

Zuweilen sah man im Aufleuchten eines Blitzes noch einen 

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Kameraden aus der Dunkelheit herausgehoben. Aber meistens war 
nicht einmal der Hals des eigenen Pferdes zu erkennen. 

Als die Gewalt des Gewitters gebrochen war, hatten sie einander 

verloren. Der Schneesturm wütete weiter, und jeder war auf sich 
allein gestellt. Vergebens blieben- Schreie. Vergebens war 
angestrengtes Spähen in diese oder jene Richtung. 

Nie kam Antwort. Nichts war zu sehen als eine graue Finsternis, 

gebildet aus düsterster Nacht und Unmassen von Schnee. 

So irrte jeder dahin und wußte nicht einmal, in welcher Richtung er 

ritt. 

Immer weiter gerieten sie auseinander. Die Pferde schnaubten. Sie 

waren am Ende ihrer Kräfte. Die nassen Flanken zitterten. Der 
Schnee drohte unüberwindlich zu werden. Manchmal brachen sie bis 
zum Bauch ein. 

Und als der Flockenwirbel nachließ, kam die Kälte ... 

Pierre rief so lange nach den Gefährten, bis er heiser war und keinen 
Ton mehr herausbrachte. Er hatte keine Ahnung, wo er sich befand. 
Vielleicht war er im Kreis geritten? 

Eine Zeitlang klammerte er sich an diese Vorstellung. Dann mußte 

er ja früher oder später auf die Mauer der guten Stadt Beauvais 
stoßen, die ihm jetzt als der Inbegriff aller Wärme und Geborgenheit 
erschien. 

Denn die Kälte, die über die schneebedeckte Ebene fiel, machte 

ihm schwer zu schaffen. Er fror erbärmlich. Viel zu dünn war er 
bekleidet. Da nützte ihm auch sein leichter Fettpanzer nichts. Mit 
tausend Klingen schnitt der Frost in seinen Leib, und seine Zähne 
klapperten wie Schlegel aufs Trommelfell. 

Über ihm rissen die Wolken auf. Stücke des Himmels wurden 

sichtbar. Einzelne Sterne flackerten trügerisch. Er erkannte keinen. 
Keiner war ein Anhaltspunkt für ihn. 

Er hatte Mühe, die Zügel festzuhalten. Sein Wallach tat ohnehin, 

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was ihm einfiel. Das Tier war nicht weniger verwirrt als er. Häufig 
blieb es einfach stehen. 

Was treibe ich eigentlich hier? fragte sich Pierre. Er zitterte am 

ganzen Körper und wußte sich nicht mehr zu erinnern, wie er in diese 
fürchterliche Lage geraten war. Mißmutig rieb er sich die klammen 
Finger. Selbst zum Beten war er zu schwach. Es war ihm, als trüge er 
vor dem Gesicht ein undurchdringliches Visier aus dickem, starrem 
Eis. 

Als der Wallach sich wieder in Bewegung setzte, konnte Pierre 

sich nicht mehr im Sattel halten. Sein Körper rutschte unaufhaltsam 
ab. Er wehrte sich nicht. Er plumpste in den Schnee. 

Es tat nicht weh. Weicher war er nie gefallen. 
Plötzlich merkte er, daß die unerträglichen Schmerzen, die Frost, 

Einsamkeit und Hoffnungslosigkeit ihm bereitet hatten, vergangen 
waren. 

Es war schön, so im Schnee zu liegen. Er sehnte sich nicht mehr 

nach den Mauern von Beauvais. Hier war es doch bequem! Lag er 
überhaupt auf Schnee? Oder war es ein unermeßlich großes Bett? 

Gleichviel. Er fühlte sich leicht. So leicht, wie ein dicker Junge 

sich nirgends sonst fühlen konnte. Und darum wollte er hier auch 
bleiben. Für immer! 

Schöner konnte es nirgends sein. 
Er schloß die Augen. Die eisverkrusteten Lippen verzogen sich zu 

einem glücklichen Lächeln. 

Sanft berührte der Tod seine Stirn. 

Zu keiner Zeit dachte Louis ans Aufgeben. Er richtete alle Sinne aufs 
Überleben. Fremd war ihm solch Wetter nicht. Die Räuberjahre im 
Wald hatten ihn gelehrt, alle möglichen Widernisse zu überleben. 

Natürlich war es ein großes Glück, daß er  das Packpferd bei sich 

hatte. Es trug Decken, die er ihm bald abnahm. Bevor er eine um sich 
schlang, breitete er je eine Decke über seine beiden Pferde. Nun 

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konnten sie der einbrechenden Kälte viel besser trotzen. 

Als die ersten Sterne aus der unermeßlichen Tiefe  des Himmels 

durch die Wolkenlöcher brachen, pfiff er fast vergnügt vor sich hin. 
Er sah den unscheinbaren Polarstern, den er im Rücken behalten 
mußte. Vor sich erblickte er die eindrucksvollen Schultersterne des 
Orion. 

Vorwärts! Es galt, keine Zeit zu verlieren. Sie mußten in 

Bewegung bleiben. Keine Ebene ist unendlich. Irgendwann würde er 
auf günstigeres Gelände stoßen. Wenn sein Reitpferd Miene machte, 
stehenzubleiben, sprang er ab und stapfte selber voran. 

Das tat gut.  Es brachte das Blut in Wallung. Bevor er sich wieder 

in den Sattel schwang, klopfte er den beiden Pferden den Hals, 
richtete ihre Decken und sprach mit tiefer, beruhigender Stimme auf 
sie ein. 

So vermittelte er den Tieren eine Zuversicht, die er selber kaum 

besaß. Wenn er dann wieder in den Sattel stieg, schritten sie so 
unbekümmert durch den tiefen Schnee, als kämen sie eben aus dem 
Stall auf eine grüne Wiese. 

Allmählich gewöhnten sich die Augen des Knappen an die 

Umgebung, die zuerst so völlig gleichförmig erschien. Er unterschied 
kleine Bodenwellen. Er bemerkte hier und da einen kahlen Strauch, 
der nur noch in erbärmlich wirkender Gebärde die Astspitzen aus 
dem Schnee reckte. Dann richtete sich Louis jedesmal im Sattel auf, 
um den Blick aus schmal zusammengezogenen Augenschlitzen über 
das Gelände schweifen zu lassen. 

Und er schnupperte. Er sog den Wind ein und prüfte seinen 

besonderen Duft wie ein Wild. 

Louis war ein Waldläufer. Seine Instinkte waren so scharf wie die 

von Hirsch, Luchs, Marder und Wolf.  Aber sein Verstand war 
hundertmal schärfer. 

Und dieser Verstand sagte ihm plötzlich, von Beobachtung und 

Geruch angeregt, daß er nur um einen Achtelkreis nach links 
abzufallen brauche, um auf Wald zu stoßen. Und im Wald würde er 
diese entsetzliche Nacht, die mit immer grimmiger werdender Kälte 

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vor ihm lag, überwinden. Dessen war er sich sicher. 

»Vorwärts, meine munteren Hüpfer!« spornte er die Gäule an, die 

erwartungsfroh die Ohren spitzten. »Spreizt eure zierlichen Beine, 
spannt eure mächtigen Muskeln!  Vorwärts, jetzt geht es ins gelobte 
Land!« Und wieder teilte sich die Munterkeit seiner Stimme den 
Tieren mit. Sie gehorchten ihm, als verstünden sie jedes Wort. 

Ihm fiel ein Liedchen ein, das er oft von Volker gehört hatte. Und 

inmitten trostloser Verlassenheit, todesstarrer Kälte und im Banne 
einer immer größer werdenden Erschöpfung stimmte Louis das 
Liedchen an: 

»Weiß wie der Schnee, Still wie der See, Scheu wie das Reh  -

Liebchen, bist du! Aber küsse ich dich, Änderst du dich ... Nicht 
mehr so lind, Ich dich dann find, Sondern wild wie den Wind ...« 

Das Liedchen brach ab. Teils weil Louis der Text ausging  - teils 

weil ihm der Frost zu scharf in die Kehle biß. Als der Hustenanfall 
vorüber war, sagte ihm der nächste Atemzug, daß er dem Wald nun 
ganz nahe war. Er roch Esche und Buche, Ahorn und Eiche, Tanne 
und Fichte! 

Der Wald! Die Rettung! Er würde Reisig sammeln und ein Feuer 

entfachen. Das größte Feuer, das er je entfacht hatte. 

Es dauerte nun nicht mehr lange, bis sie den Waldrand erreichten. 

Louis sprang ab, ergriff den Zügel des Reitpferdes und ging 
vorsichtig voran. Denn der Boden war schwierig. Umgestürzte 
Stämme zwangen zu großen Umwegen. Wie leicht konnte sich ein 
Pferd ein Bein brechen! 

Darum ließ er beim Weiterschreiten größte Umsicht walten. Tiefer 

drangen sie ein. Manchmal versank er bis an die Hüften in einem 
Schneeloch. Dann wieder reichte ihm der Schnee nur bis an die 
Fußknöchel, und er folgte diesem Wildwechsel so lange er konnte. 

Große Schneeklumpen lösten sich aus den Baumkronen und fielen 

ihm und den Pferden klatschend und kalt auf den Kopf und 
Schultern. Er suchte nach einer Lichtung. Keine einfache Aufgabe, 
denn je tiefer sie in den Wald eindrangen, um so schwärzer wurde 
die Nacht. Hierhin drang kein Sternenlicht mehr. 

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Plötzlich blieb er wie angewurzelt stehen. Er glaubte seinen Augen 

nicht zu trauen. Durch die Stämme flackerte Feuerschein! 

Er schloß die Augen und schüttelte unwirsch den Kopf. 

Spukgeister narrten ihn. War es so weit gekommen, daß er Irrlichter 
sah? Das durfte nicht sein! Wer denen vertraute  - das wußte er  - war 
unrettbar verloren. 

Er zwang sich zur Ruhe und blieb geraume Zeit mit geschlossenen 

Augen regungslos stehen. Endlich öffnete er die Lider. 

Es war nicht zu glauben! Noch immer flackerte Feuer, wo nur 

schwarzer Wald sein durfte. Dreimal wiederholte er sein Manöver, 
ehe er daran glaubte, was seine Augen ihm mitteilten. Aber erst dann 
setzte er sich in Bewegung und ging auf das Feuer zu, als der Wind 
seiner Nase den würzigen Geruch brennenden Holzes zutrug. 

Tief aufatmend schritt Louis nun auf den Feuerschein zu. Es 

dauerte viel länger, als er gedacht hatte, denn der Boden wurde mit 
jedem Schritt unwegsamer. 

Aber endlich wehte ihm wärmere Luft entgegen ... 
Einige Schritte noch ... Der Wald öffnete sich. In der Mitte einer 

großen Lichtung brannte ein Lagerfeuer, wie er es hatte entfachen 
wollen. Die Scheite prasselten und knackten in der Winternacht. Die 
Flammen schlugen hoch bis zur halben Höhe der Bäume. Funken 
stoben. Gluthauch wehte herüber. 

Zwei Schatten hoben sich vom Feuer ab. Jetzt wuchsen die 

Schatten und verwandelten sich in zwei menschliche Gestalten. Zwei 
dick vermummte Gestalten, deren Gesichter nicht zu  erkennen 
waren, starrten ihm entgegen. 

Louis' Hand fuhr unwillkürlich zum  Schwertgriff. Gleich darauf 

schämte er sich dieser Bewegung. 

Denn die Männer winkten ihm, ans Feuer zu  treten. Einer ging auf 

ihn zu und rief freundlich: »Komm näher, Fremder! Wärm dich und 
deine Gäule! Sollst auch ein Schüsselchen voll heißer Suppe haben. 
Komm! Hier ist es behaglicher.« 

Louis sah, daß sie den Platz vom Schnee gesäubert hatten. Er stieg 

vom Pferd und ließ sich zu Boden gleiten. Sogleich spürte er, wie 

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müde er war. Es war ihm bisher überhaupt nicht zu Bewußtsein 
gekommen. Dennoch wollte er sofort wieder aufspringen. »Meine 
Pferde ...«, sagte er matt. 

»Um die kümmert sich mein Freund«, sagte der eine 

dickvermummte Fremde. Wirklich begab sich der andere, ohne ein 
Wort zu äußern, zu den Tieren. Der erste, der Wortführer des 
Zwiegespanns zu sein schien, fragte indes: »Wer bist du? Und was 
treibst du hier?« 

Nach kurzer Überlegung erwiderte der Knappe ausweichend: 

»Mein Name ist Louis. Ich stehe im Ritterdienst und habe mich 
verirrt.« 

»Ich heiße Funkenmann!« erklärte der Fremde nicht ohne Stolz. 

»Und mein Genosse nennt sich Schiebermann.« Er war sehr 
gesprächig und setzte Louis ausführlich darüber in Kenntnis, daß sie 
hier in diesem Teil des Waldes vom Unwetter überrascht worden 
seien. 

»Zum Glück fanden wir eine alte, halbverfallene Hütte. Dort 

verbargen wir uns.« 

Mit vielen Gesten schilderte er, wie sie während des Gewitters 

wimmernd am Boden gelegen hatten und mehrmals glaubten, ihr 
letztes Stündlein habe geschlagen. Viel schauriger rollte der Donner 
im Wald als auf der Ebene, meinte er. Zudem folgte auf fast jeden 
betäubenden Donnerschlag das nicht geringer laute Krachen eines 
vom Blitzschlag gefällten oder durch den Sturm gestürzten Baumes. 

Louis hörte ihm kaum zu. Wohlig räkelte er sich vor dem Feuer. 

Doch als er unter dem Einfluß der Wärme das Blut wieder in seine 
froststarren, bisher gefühllosen Hände und Füße strömte, spürte er 
nach anfänglich angenehmen Kribbeln so zerreißenden Schmerz, daß 
er am liebsten laut aufgeschrien hätte. 

Nach dem Unwetter  - berichtete Funkenmann eifrig  - hatten es sein 

Kamerad und er bei der einsetzenden Kälte nicht mehr in der 
baufälligen Hütte ausgehalten. Sie rissen, was es an losen Balken und 
Brettern gab, gänzlich herab und errichteten daraus das Lagerfeuer, 
das sie seitdem ständig mit abgesplitterten Ästen fütterten. 

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Allmählich ließen die Schmerzen in Louis' Händen und Füßen 

nach. Die Wärme drückte auf seine Augenlider. Was hatte er auch 
alles schon durchgemacht! Es war ja nicht allein der lange Ritt. Auch 
der Kampf mit Lutz von Lutzerath hatte viele Kräfte gekostet. Als 
Schiebermann, der inzwischen die Pferde abgesattelt, erfrischt und 
trockengerieben hatte, mit einer Schüssel heißer Suppe kam, war 
Louis schon fest eingeschlafen. 

Die beiden Genossen schauten schweigend auf den friedlich 

schlafenden Knappen. Schließlich ergriff Funkenmann das Wort. 
Mitleidig sagte er: »Armer Kerl! Sitzt wahrscheinlich das ganze Jahr 
über in einem behaglichen Burggemach. Kein Wunder, daß er bei der 
leisesten Anstrengung aus dem Sattel fällt!« 

Als Roland sich von seinen Knappen getrennt sah, wußte er gleich, 
daß jedes Suchen bei diesen entfesselten Naturgewalten sinnlos war. 
Er tröstete sich damit, daß sie ja früher oder später von allein 
zusammentreffen würden. Das Ziel  - die Burg des Atz von  Atzerath  - 
kannten sie ja. 

Wenn er sich Sorgen machte, so nur um seinen kostbaren 

Araberhengst. Doch Samum ertrug Kälte und Schnee weit besser, als 
er es bei einem so hochgezüchteten Tier für möglich gehalten hatte. 
Der Hengst trabte durch den hohen Schnee fast so leichtfüßig wie auf 
festem Boden. Er war wirklich ein Ausnahmepferd, wie es in jedem 
Jahrzehnt nur einmal geboren wird! 

Roland fühlte keine Müdigkeit. Das Wetter focht ihn nicht an. Als 

Sohn armer Köhlersleute war er von früher Jugend auf daran 
gewöhnt, die schlimmsten Wechselfälle des Klimas unter freiem 
Himmel zu ertragen. Kein Blitz ängstigte ihn, kein Donner ließ ihn 
zusammenzucken. Der wilde Tanz der Schneemassen hatte ihm sogar 
eine geheime Freude bereitet. Und die folgende grimme Kälte 
machte seinen Kopf klar, das Gemüt frei und belebte seinen Körper 
wie ein Bad im frischen Quell. 

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Er hatte sich vorgenommen, die Burg von Atzerath in zwei statt in 

den üblichen drei Tagesritten zu erreichen. Und da Samum so willig 
unter ihm ging wie stets, beschloß er, von diesem Vorhaben nicht 
abzuweichen. 

Er wollte die ganze Nacht durchreiten und sich und Samum erst am 

Morgen drei oder vier Stunden Schlaf gönnen. 

Zwischen den jagenden Wolken erschien hin und wieder der 

Mond. In seinem bleichen Licht erblickte Roland weit vor sich 
dunkle, geduckte Flecken im Schnee. War es ein Waldstück? Oder 
ein Gehöft? 

Roland hielt gerade darauf zu. Wenn dort Menschen wohnten, 

konnte er sich von ihnen vielleicht bestätigen Lassen, daß er noch auf 
dem richtigen Weg zur Burg von Atzerath war. 

Samum, der bisher bemerkenswerten Gleichmut bewiesen hatte, 

wurde plötzlich unruhig. Seine Schritte wurden kürzer. Ein Zittern, 
das nicht von der Kälte herrührte, durchlief seine Flanken. Irgend 
etwas flößte dem stolzen Araber Furcht ein. 

»Ruhig, Samum!« sagte Roland. »Es ist nichts ...« 
Der Hengst war aus dem Trab in einen zögernden, fast stolpernden 

Schritt verfallen. Alle Versuche des Ritters, ihn aufzumuntern, 
schlugen fehl. Samum benahm sich widerborstig, bockte und brach 
mehrmals zur Seite weg. 

»Samum!« rief Roland ärgerlich. Aber da sein stolzes Pferd noch 

nie ein solches Verhalten an den Tag gelegt hatte, widerstand er der 
Versuchung, es zu strafen. »Komm, sei ein guter Kerl! Geh, geh!« 

Doch nun blieb Samum, am ganzen Körper zitternd, endgültig 

stehen. 

»Nun, wenn du es nicht anders willst...« 
Roland stieg ab. Er klopfte Samum den Hals, zog sein Schwert und 

ging zu Fuß weiter. Die Augen hielt er unverwandt auf die 
rätselhaften dunklen Flecke in der eintönig weißen Landschaft 
gerichtet, die ein Gemäuer, ein Gehölz, ja sogar eine Tierherde sein 
konnten. Im Ungewissen Licht dieser stürmischen Nacht erlangte 
auch das schärfste Auge keine Gewißheit. 

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Unheilverkündend knirschte der Schnee unter Rolands Füßen. Der 

Ritter ruckte an Samums Zügel. Aber der Hengst wollte ihm nicht 
mehr folgen. Er stemmte sich mit den Vorderbeinen gegen den 
Boden und gab keinen Fußbreit nach. Da ließ Roland den Zügel los 
und schritt allein weiter. 

Nach zehn Schritten blieb er stehen, um zu lauschen. Der Wind 

fuhr mit schaurigem Singen durch die aufgehäuften Schneehügel. 
Nachtvögel stießen unheimliche, klagende Töne aus. In der Ferne 
heulte ein Tier. Ein Hund? Oder ein Wolf? 

Was waren das für Bewegungen vor ihm? 
»Holla!« rief Roland laut. »Ist da jemand?« 
Es dünkte Roland, als bekomme er Antwort. Sie klang hohl und 

war kaum zu verstehen. 

Da merkte er, daß es das Echo seiner eigenen Worte war. 
Noch mehrmals wiederholte er den Ruf. Jedesmal antwortete ihm 

nur sein Echo. 

Da faßte er sein Schwert fester und ging ohne weiteres Zögern auf 

die geheimnisvollen dunklen Flecken in der weißen Einöde zu. 

Beim sechsten Schritt wankte der Boden unter ihm! 
Ringsum krachte und polterte es. 
Entsetzt wollte Roland zurückspringen. 
Aber es war schon zu spät. Sein Fuß fand keinen Halt mehr. Die 

Erde gab nach. Wie durch Zauberei versank Roland im Boden. 

Er warf die Arme zur Seite und den Kopf nach hinten. 
Aber da verschwand schon der Himmel mit den gezackten Wolken 

und den matten Sternen vor seinen Augen. Roland stürzte 
unwiderruflich ins Leere. 

Eine Ewigkeit schien dieser Sturz ins Innere der Erde zu dauern. 
Dann war er jäh zu Ende. Mit furchtbarer Wucht schlug Roland in 

der Tiefe auf, und sein Bewußtsein verlöschte auf der Stelle. 

Anni Beauvais, die Tochter des Bürgermeisters, trat rasch in den 

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Raum, in dem der leicht verwundete Hein ruhte. »Bist du wach, 
Kleiner?« 

Er schlug entrüstet die hellen Augen auf. 
»Schon wieder ist ein Ritter gekommen«, sagte sie. »Soll ein 

berühmter Sänger sein. Nennt sich Volker vom Hohentwiel. Er will 
dich sprechen.« 

»Bitte ihn herein!« forderte Hein sie streng auf. 
»Gleich, gleich! Nur nicht so ungestüm! Meine drei Schwestern 

sind bei ihm. Sie himmeln seine romantischen schwarzen Locken, 
den frech gezwirbelten Schnurrbart und seine munteren grünen 
Augen an. Ich weiß nicht - mir gefällt er nicht so besonders ...« 

»Ich sagte: bitte ihn herein!« unterbrach sie der Verwundete und 

hob drohend den verbundenen Arm. 

Seine Unterredung mit Volker war von kurzer Dauer. Sobald der 

Sänger vernommen hatte, daß Roland ihn auf Burg Atzerath erwarte, 
sprang er auf und wollte davoneilen. Doch schließlich hörte er sich 
noch Heins Bericht über Rolands Abenteuer in Beauvais an. 

Dann fragte er kurz: »Willst du mich begleiten?« 
»Ich fühle mich noch zu  schwach«, sagte Hein. »Meine 

Armwunde...« 

Doch Volker war schon aus der Tür, Eine Stunde später kam Anni 

erneut zu dem Knappen. »Meine Schwestern weinen 
herzzerreißend«, berichtete sie herablassend. »Und warum? Nur weil 
dieser Lockenkopf mit der Fiedel auf dem Rücken uns schon wieder 
verließ! Beim Himmel, was sie nur an ihm finden! Gegen Roland 
verblaßt er - wie alle!« 

»Ja, Roland«, seufzte Hein. 
»Kann ich dir ein Geheimnis anvertrauen?« fragte Anni eifrig. 
Der Knappe war nicht sonderlich begierig auf die  Geheimnisse der 

Bürgermeisterstochter, aber da er sich ein wenig langweilte, 
ermunterte er sie, ihm ihr Herz auszuschütten. 

Ohne weiteres platzte sie heraus: »Ritter Roland liebt mich.« 
Hein richtete sich auf. »Du lügst!« 
Ohne seinen heftigen Einwand zu beachten, fuhr Anni 

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schwärmerisch fort: »Gleich am ersten Abend gestand er mir seine 
Gefühle. Es geschah, als ich ihn im Zuber mit heißem Wasser badete. 
Oh, er hat einen herrlichen Körper, dein Ritter! Ich versah mich 
keines Bösen, da umarmte er mich plötzlich und flüsterte mir Worte 
ins Ohr! Worte, sag' ich dir! Oh, was für Worte er raunte! Ich wette, 
du kennst derlei Worte nicht einmal! So feurig war er, daß fast der 
Zuber umgestürzt wäre!« 

»Ich glaube dir kein Wort«, flüsterte Hein. 
»Nun«, sagte Anni lachend, »das liegt ja nur daran, daß du 

Milchbart überhaupt nichts von der Liebe verstehst. Womöglich hast 
du noch nie mit einem Mädchen das Lager geteilt. Nun?« 

Verlegen wendete Hein den Kopf ab. 
Triumphierend schloß Anni ihren Bericht: »Da ist dein Ritter 

Roland aus anderem Holz, mein Lieber! Er nahm sich nach dem 
aufregenden Bad kaum die Zeit zum Abtrocknen. So eilig hatte er es, 
in meine Kammer zu kommen, die er erst nach dem dritten 
Hahnenschrei verließ. Ach, was weißt denn du, du ...« Anni suchte 
nach einem Wort, in das sie ihre ganze Überlegenheit verpacken 
konnte: »... du jugendlicher Jüngling!« 

Den Kopf hoch erhoben, rauschte sie stolz zur Tür hinaus. 
Hein blieb unbeweglich liegen. Er war fast völlig unter der 

Bettdecke verschwunden. Manchmal bewegten sich seine blassen 
Lippen und formten den Satz: »Sie lügt ja ...« 

Plötzlich warf er das Bettzeug von sich, sprang auf und kleidete 

sich in Windeseile an. Er raffte seine Waffen und die wenigen 
anderen Habseligkeiten zusammen, die er besaß, fand den Weg zum 
Stall, band seinen kleinen Grauen los, saß auf und ritt, ohne nach 
rechts oder links zu sehen, zum Stadttor. Dort erfuhr er auf Befragen, 
daß Ritter Volker vom Hohentwiel die Stadt erst vor kurzer Zeit auf 
dem gleichen Weg verlassen hatte. 

Heute hatten die Lohgerber die Wache übernommen, und statt 

nach Zuckerwerk roch es nach herberen Düften, so daß sich Hein 
verstohlen die Nase zuhielt. 

Der Wachhabende spähte über die verschneite Ebene, über der sich 

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ein klarer Winterhimmel spannte. Schließlich machte er in der Ferne 
einen winzigen schwarzen Punkt aus und erklärte mit großer 
Bestimmtheit: »Dort, junger Herr, dort reitet Volker vom 
Hohentwiel!« 

Noch nie hatte sich der kleine Graue so anstrengen müssen wie an 

diesem Tage. Unerbittlich trieb Hein ihn an. 

So war noch keine Stunde vergangen, als Volker hinter sich Rufe 

hörte. Er hielt an und wartete geduldig, bis Hein mit flatternden 
Haaren und geröteten Wangen herangaloppiert kam. In seinen hellen 
Augen leuchtete ein kecker Mut. 

»Welch Glück, daß ich Euch noch einholte, Herr!« rief Hein. 

»Sonst wärt Ihr womöglich mutterseelenallein nach Atzerath und ins 
Verderben geritten.« 

»Was für ein Verderben?« fragte Volker verwundert. 
»Ich traue diesem Atz jede Scheußlichkeit zu«, versetzte Hein mit 

wissendem Gesichtsausdruck. »Nehmt mich zum Knappen, Herr, 
und es wird Euch niemand zu nahe treten!« 

»Aber vor kurzem fühltest du dich noch zu matt zum Aufstehen 

und klagtest über Schmerzen in deiner Armwunde ...« 

»... die ich empfing, als ich Euren Freund Roland aus den Händen 

mordgieriger Banditen rettete!« rief Hein voller Stolz. »Es ist wahr, 
manch anderer würde solche Wunde noch wochenlang pflegen. Aber 
Ihr müßt wissen, ein Rauhbein und Draufgänger, wie ich es bin, den 
hält es nicht daheim, wenn er weiß, daß Ritter zu Abenteuern 
aufbrechen.« 

Zweifelnd betrachtete Volker die schmale Gestalt des Jungen. 

»Deine Rede klingt mutig, aber ich fürchte, daß dein Anblick keinem 
Gegner Schrecken einflößt.« 

»Um so besser! So wird er mich unterschätzen und um so gewisser 

in die Grube fahren, wenn meine Klinge ihn überrascht. Nehmt mich 
mit, Ritter, Ihr werdet mich doch nicht los!« 

Volker hatte auf seinen zahllosen Fahrten schon die seltsamsten 

Vögel kennengelernt und hatte  deshalb ein weites Herz auch für 
absonderliche Gesellen. Lachend fragte er: »Kannst du singen, 

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Knappe Hein?« 

»Ja, Herr. Vor allem Eure Lieder.« Und er sang glockenrein ein 

paar wohlbekannte Verse: 

»Weiß wie der Schnee, Still wie der See, Scheu wie das Reh, 

Liebste, bist du!« 

Volker nickte zufrieden. »Bleibe bei mir! Du kannst gut die zweite 

Stimme übernehmen. So werden wir uns also unterwegs die Zeit mit 
Chorgesang vertreiben!« 

»Einverstanden, Ritter. Aber auch wenn Ihr anders entschieden 

hättet, wärt Ihr mich nicht losgeworden. Ein Raufbold wie ich ist von 
niemandem zu bändigen!« 

Roland erwachte. Alles war in ein Ungewisses Graulicht getaucht. Er 
hatte Schwierigkeiten, sich zu orientieren. 

Seine letzte Erinnerung war dieser furchtbare Sturz. Noch dröhnte 

ihm der Kopf. Er wagte kaum, sich zu bewegen. Alle Knochen im 
Leibe taten ihm weh. 

Erst als sich seine Augen an das Halbdunkel gewöhnt hatten, 

konnte er sich ein Bild der Umgebung machen. Er lag auf dem Grund 
einer wohl sechs Klafter tiefen Grube, deren Seitenwände senkrecht 
in die Höhe wuchsen. Oben war die Grube mit Latten und ineinander 
verwobenem Flechtwerk aus Laub und Zweigen kunstvoll abgedeckt. 
Nur gerade über ihm war ein unregelmäßig gezacktes Loch, durch 
das etwas Tageslicht sickerte. 

Dieses Loch hatte er bei seinem Sturz gerissen! 
Ihn schauderte. Er mußte dem Schicksal dankbar sein, daß er den 

Fall in solche Tiefe lebend überstanden hatte. Und dennoch war es 
kein Wunder. Es war in Wirklichkeit eine natürliche Folge seiner 
unermüdlichen Übungen bei den täglichen, stundenlang währenden 
Ritterspielen auf Schloß Camelot. Jeden Teil eines echten 
Turnierkampfs hatte er da wieder und wieder geprobt  - nicht zuletzt 
das Fallen von dem in vollem Galopp dahinjagenden Pferd. 

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Trotzdem hatte er Glück gehabt! Denn jetzt erkannte er, daß in 

unregelmäßigen Abständen ein Klafter lange, oben zugespitzte 
Pfähle aus dem Grund ragten. Wäre er auf einen gefallen, so hätte er 
einen grauenvollen Tod erlitten! Und der nächste Pfahl war nur einen 
halben Schritt entfernt ... 

Bei dieser Vorstellung drehte sich Roland der Magen um. Er brach 

alles heraus, was er in den letzten 24 Stunden zu sich genommen 
hatte. 

Einem anderen Wesen war es schlimmer ergangen als ihm. 

Gegenüber hing der Kadaver eines gepfählten Wolfes! 

Nun begriff Roland auch, wovor Samum gescheut hatte. Der 

Hengst hatte den Wolf gewittert... 

In diesem Augenblick gab sich Roland das Versprechen, in 

Zukunft den Instinkten seines treuen Pferdes zu vertrauen. 

Aber hatte er überhaupt noch eine Zukunft? Aus  eigener Kraft 

konnte er diese Grube nie verlassen. Die senkrechten Wände waren 
unersteigbar. Es sei denn, er hätte ein Werkzeug. Roland überlegte. 
Vielleicht gelang es ihm, einen Pfahl aus dem Boden zu reißen und 
mit seiner Hilfe Stufen in die Wand zu bohren? Aber wie sollte er 
das ungefüge Werkzeug handhaben, sobald er einmal den festen 
Grund verlassen hatte und in der Wand hing? 

Ein Schauer überlief ihn. 
Plötzlich hörte er Geräusche von oben. Es wurde merklich heller. 

Dort, wo an der gegenüberliegenden Ecke zwei Wände im rechten 
Winkel aufeinanderstießen, riß eine unsichtbare Hand ein Stück der 
Auflage ab. Gespannt richtete Roland die Augen auf diese Stelle. 

Durch die neugeschaffene Öffnung wurde jetzt eine rohgezimmerte 

Leiter herabgelassen. Als sie fest auf dem Boden stand, reichte sie 
mit dem oberen Ende noch zur Öffnung hinaus. 

Eine Weile geschah nun gar nichts. 
Dann schoben sich lange, in Fellhosen gekleidete Beine in Rolands 

Blickfeld. Sie stiegen die Sprossen hinab, die weit auseinanderlagen. 
Ein kräftiger Körper folgte. Bedächtig kam ein Mann herunter. Er 
war von Kopf bis Fuß in Lammfell gekleidet. 

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Unten wandte der Mann Roland sein Gesicht zu. Es war knochig 

und wirkte wie aus Holz. Unter den buschigen Brauen, die in der 
Mitte zusammengewachsen waren, lagen die Augen tief in den 
Höhlen. Die Wangen waren eingefallen. Der Mund saß schief. Der 
Mann hatte nur ein Ohr. 

Das andere hatte er vor Jahren im Kampf mit einem Wolf verloren. 
Der Mann hieß Klopper und war ein Gutsherr von grausamer 

Gemütsart. Doch stand er als Lehnsmann in hohem Ansehen bei dem 
Ritter Atz von Atzerath, dem er zur vertraglich festgelegten Abgabe 
stets ein gutes Aufgeld zahlte. Dafür konnte Klopper auf seinem 
Grund und Boden schalten und walten, wie er wollte. 

In der Grube, die wirklich ursprünglich nur als Wolfsfalle gedacht 

war, hatte er im vergangenen Winter bereits zwei Männer gefangen 
und sie, nachdem er sie all ihrer Habe beraubt hatte, grausam 
ermordet. Nichts anderes hatte er mit Roland im Sinn. Nur dem 
Umstand, daß er  in dessen Taschen keinerlei Münze gefunden hatte, 
verdankte es Roland, daß er noch atmete. 

Kloppers Stimme war rauh wie ein ungehobeltes Brett: »Bist du 

endlich aufgewacht, Hans?« 

Roland schluckte. Dann antwortete er mit Würde: »Du scheinst 

mich zu verwechseln. Ich heiße Roland!« 

Klopper lachte. Es klang, als krächze ein Schwarm Raben. »Jeden 

meiner Knechte nenne ich Hans. Merk dir das!« 

»Ich bin nicht dein Knecht, Bauer! Ich bin ein Ritter und werde 

dich lehren ...« 

Klopper schnitt ihm das Wort ab. »Vielleicht warst du einer, bevor 

du dich erfrechtest, meinen Hof zu überfallen, und dabei in diese 
Wolfsgrube fielst. Du mußt reich sein. Das sah ich an deinem Pferd, 
das jetzt in meinem Stall steht. Ein Ritter, der sich einen Solchen 
edlen Araber leisten kann, führt mindestens 500 Dukaten mit sich.« 

Roland lachte bitter auf. Sein ganzes Besitztum bestand aus 46 

Dukaten, die in der Satteltasche des Packpferds untergebracht waren. 

»Hör zu, Hans!« schepperte Kloppers rauhe Stimme. »Ich bin ein 

guter, weichherziger Mensch, wie du ihn auf 100 Meilen in der 

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Runde nicht noch einmal finden wirst. Deshalb töte ich dich nicht, 
wie es mein Recht wäre. Da schau dir den Wolf an! Du hast das 
gleiche Schicksal verdient. Doch gib mir freiwillig deine 500 
Dukaten, und du sollst frei sein. Du mußt sie gut versteckt haben, 
Hans, sonst hätte ich sie in deinen Taschen gefunden, als du wie tot 
dalagst.« 

Um seinen Worten Nachdruck zu verleihen, holte der Mann, der 

nur ein Ohr hatte, eine lange Pferdepeitsche hinter dem Rücken 
hervor und schlug damit auf Roland ein. Der wäre unfehlbar 
getroffen worden, hätte er sich nicht rechtzeitig zur Seite gerollt. 

Nun ist es genug  - dacht er  - wälzte sich herum und wollte 

aufspringen. 

Aber er sank kraftlos zurück. Erst in diesem Augenblick merkte 

Roland, daß er an Händen und Füßen mit derben Stricken gefesselt 
war! 

Der Mann lachte sein mißtönendes Rabengelächter. »Nun, Hans, 

entscheide dich! Sag mir, wo deine Dukaten sind! Oder ich prügle 
dich durch und schicke dich dann zur Feldarbeit. Immer in Fesseln, 
versteht sich. Ich bin die Milde und Güte in Person, das sagt man auf 
100 Meilen im Umkreis. Aber so ein verstockter Kerl wie du bringt 
das sanfteste Gemüt in Wallung.« 

Während er sprach, hatte Roland sich auf den Bauch gewälzt. 

Trotz der Fesseln brachte er es fertig, ungesehen von Klopper, seine 
rechte Hand durch den offenen Hosenschlitz an die Innenseite des 
Oberschenkels zu führen. Hier hatte er für den Notfall ein kleines, 
scharfes Messer mit Scheide durch einen dünnen Lederriemen 
befestigt. Zu seiner ungeheuren Erleichterung stellte er fest, daß der 
geldgierige Klopper es bei seiner Durchsuchung übersehen hatte. So 
scharf war er hinter den Dukaten hergewesen! 

In fliegender Eile zog Roland das Messerchen heraus und 

zersäbelte die Stricke. 

Schon zischte die Peitschenschnur wieder durch die Luft, und 

diesmal fand sie ihr Ziel. Glühende Zangen bissen in Rolands 
Rücken. 

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Er sprang auf. Die Stricke fielen herab. In seiner Hand verborgen 

ruhte das Messerchen. Klopper brüllte wutentbrannt. Es war ihm 
unerklärlich, wie Roland sich von den Fesseln befreien konnte. 

Doch er faßte sich schnell und schlug ohne Ansatz wieder zu. Der 

Gutsherr war ein Meister im Umgang mit der Peitsche. Die lederne 
Schnur traf haargenau Rolands Handgelenk. 

Der Schmerz war so furchtbar, daß er das Messerchen fallen lassen 

mußte. 

Und wieder wirbelte die Peitsche! 
Da ergriff Roland die Flucht. Von Pfahl zu Pfahl sprang er, 

während die wütenden Schmerzen in Rücken und Hand ihm die 
Tränen in die Augen trieben. 

Wie Raubtiere im Käfig schlichen die beiden Männer zwischen 

den Pfählen umher. Roland hatte alle Sinne gespannt. Er ahnte 
hellsichtig den Zeitpunkt, wann er den nächsten Sprung wagen 
durfte. 

Dreimal ging es gut. 
Jedesmal kam er der rettenden Leiter ein kleines Stück näher. Jetzt 

trennten ihn nur noch zwei Klafter von ihr. Im Geist sah er sich 
schon hinaufklettern ... 

Da verlegten ihm ein paar klatschende Peitschenhiebe den Weg. 

»Ich weiß genau, was du vorhast, Hans!« rief Klopper überlegen. 
»An die Leiter kommst du nie!« Und er lachte krächzend. 

Roland gab den Plan auf. Er mußte Neues ersinnen. Sein Entschluß 

war schnell gefaßt. 

Nur vier Schritte trennten ihn von Klopper. Der schlich noch näher 

heran. Die Peitsche wippte in seiner Hand. Sein verbliebenes Ohr 
glühte. 

Roland stieß sich kräftig ab, flog ihm dicht über dem Boden mit 

vorgestreckten Armen entgegen und umfaßte seine Knie, während er 
mit der Schulter die Hüfte des Gegners traf. Klopper verlor das 
Gleichgewicht und stürzte hintenüber. Im nächsten Augenblick 
wälzten sich beide übereinander. 

Keuchender Männeratem. Heiseres Stöhnen. Schmerzensschreie. 

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Dumpfer Klang, wenn sie im wilden Ringkampf mit den Körpern 
gegen einen Pfahl prallten. 

Schließlich gewann Roland die Oberhand. Klopper lag besiegt 

unter ihm.  Er konnte die Peitschenhand nicht rühren. Wütend spuckte 
er Roland ins Gesicht. 

»Ergib dich!« rief der Ritter. 
Klopper gab nicht nach. Auf alle Arten versuchte er, Roland 

abzuschütteln. Noch hielt ihn der Ritter allein durch sein Gewicht 
fest. Aber er merkte, daß ihn die Kräfte verließen. 

Der nächtliche Tiefensturz und die nachfolgende stundenlange 

Fesselung hatten ihn mürbe gemacht. 

Tausend Trommeln lärmten in seinem Schädel. Die  Muskeln 

wurden ihm schlaff. Da half kein Aufbäumen. Seine Gegenwehr 
wurde schwächer. Es war das Werk eines Augenblicks, und die Lose 
waren vertauscht. Erschöpft lag Roland auf dem Rücken und blickte 
erbittert in das wutverzerrte Gesicht seines Bezwingers. 

Nie im Leben würde er den unmenschlichen Blick aus den kleinen, 

falschen Augen vergessen! Nie den Anblick des hölzernen 
Peitschenstiels, mit dem Klopper vor seiner Nase herumfuchtelte. 
Nie diese von Gier triefende, böse Stimme: »Die Dukaten her, 
Hans!« 

Roland war am Ende. Und er hatte Haggan noch nicht einmal 

aufgespürt! Scham erfüllte ihn wegen seines Versagens. 

Da fühlte er eine schmale, harte Erhöhung unter der rechten Hüfte. 

Es war das Messerchen! Vorsichtig tastete er danach, während jäh 
Hoffnung  in ihm aufflammte. Er packte zu und stach von unten auf 
den triumphierenden Gegner ein. 

Mühevoll drang die schmale Klinge durch das dicke Lammfell. 

Dann war ihr Weg schon fast beendet. Kaum einen Zoll tief bohrte 
sie sich in Kloppers Oberarm. Aber der siegessichere Gutsherr 
erschrak bei dem unerwarteten Schmerz so sehr, daß er aufsprang 
und wie von Sinnen zur Leiter rannte. Sogar die Peitsche ließ er in 
seiner Verwirrung liegen und klamm hastig die Sprossen empor. 

Roland wäre gern liegengeblieben, um sich  ein wenig auszuruhen. 

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Aber er blieb dem anderen dicht auf den Fersen. Der hätte sonst, 
kaum oben angelangt, die Leiter hochgezogen, und wieder wäre ihm 
Roland auf Gedeih und Verderb ausgeliefert gewesen. 

Dennoch war Roland erst in der Mitte der Leiter angekommen, als 

Klopper schon zur Grube hinauskroch. Oben drehte er sich 
blitzschnell um, ergriff die Holmenden und drückte sie von sich weg. 
Er wollte die Leiter samt Roland umstürzen. 

Roland kletterte wie ein Besessener. Um den rechten Holm wand 

er sich zur  Wandseite der Leiter. So verhinderte sein Gewicht vorerst 
das Umstürzen. 

Nur noch ein Klafter, und er war oben! 
Doch nun schob Klopper aus Leibeskräften. Die Leiter neigte sich. 

Von Haß erfüllt, hing Kipper schon halben Leibes über der Grube 
und drückte die Holme weiter von sich. Dann gab er ihr den 
entscheidenden Stoß. 

Im gleichen Augenblick ließ Roland los und sprang in die Höhe. 

Trotz seiner Erschöpfung konnte er mit den Fingerspitzen den oberen 
Grubenrand erreichen. Blitzartig fuhr ihm sein Königssprung bei den 
Wikingern durch den Kopf. 

Bange Augenblicke lang hing Roland in der Schwebe. Dann zog er 

sich unendlich langsam hoch. Zoll um Zoll näherte sich sein Kopf 
dem Grubenrand. 

Da brach der Sand unter seinen Fingern weg! Die Linke rutschte 

ab. Roland hing nur noch an einem Arm, während sein Körper frei in 
der Luft pendelte. 

Unter sich sah er die zugespitzten Pfähle. 
Er raffte die letzten Kräfte zusammen. An einem Arm hängend, 

holte er Schwung und warf die Beine nach oben. Sein linker Fuß 
verhakte sich an der rettenden Kante. Dann stemmte er den Körper 
hoch. 

Als er schweratmend, aber in Sicherheit oben lag, hörte er hinter 

sich die Leiter in die Grube plumpsen. Gleich darauf folgte ein 
entsetzlicher Schrei, der wie abgerissen verstummte. 

Im Liegen wandte Roland den Kopf und schaute in die Tiefe. 

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Es war ein grauenhaftes Bild. In seiner blinden Vernichtungswut 

hatte Klopper die Holme ein wenig zu spät losgelassen. Er bekam 
Übergewicht und stürzte selber nach unten. Genau in einen der von 
ihm scharf zugespitzten Pfähle! 

So fand Klopper den Tod, den er Roland zugedacht hatte. 
Schweißgetränkt kam der junge Ritter auf die Beine, wandte der 

schrecklichen Grube den Rücken und machte auf müden Beinen ein 
paar schwere Schritte auf das Gehöft zu. 

Und sah sich fünf Bauern gegenüber, die mit Dreschflegeln, 

Knüppeln und Peitschen auf ihn losgingen! Ihre finsteren Mienen 
ließen keinen Zweifel darüber, daß sie ihn erschlagen wollten. 

Roland dachte an Flucht. Aber wohin sollte er fliehen? Hinter ihm 

gähnte die Wolfsfalle, die zur Todesfalle geworden war. Blieb nur 
die Flucht nach vorn. Einer plötzlichen Eingebung folgend, hob er 
die Hand wie zum Gruß. 

»Männer«, sagte er mit klarer Stimme, »was wollt ihr von mir?« 
Dabei musterte er einen nach dem anderen. Nur auf dem ersten 

Blick sahen sie gleich aus: ungepflegt, abgerissen, mit strubbligem 
Haar und schmutzigen Gesichtern. Doch bald erkannte er 
Unterschiede. Zwei Männer fielen ihm besonders auf. 

Der Hagere am rechten Flügel hinkte und hatte einen unsteten 

Blick. In der Mitte stand, zwei Schritte vor allen anderen, ein 
Vierschrötiger mit tiefen Falten zwischen Augen und Mund und 
rötlichem Backenbart. Roland hielt ihn für den Anführer. 

Er hatte sich nicht getäuscht. Der Rote war es, der ihm antwortete. 

Er sagte: »Wir wollen dir danken, Fremder. Du hast uns von einem 
strengen Gutsherrn erlöst, der uns schuften und hungern ließ, der uns 
piesackte und schlechter behandelte als sein Vieh. Seit Jahren waren 
wir ihm Untertan und hatten schon alle Hoffnung aufgegeben. Keiner 
von uns weiß noch seinen eigenen Namen, denn er nannte jeden 
verächtlich Hans. Noch einmal: Dank, Fremder!« 

Roland atmete tief durch. Mit freundlicher Geste streckte er dem 

Sprecher die Hand hin. 

Doch der schüttelte finster den Kopf. »Wir haben unsere Pflicht 

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erfüllt, Fremder, und dir gedankt, wie es uns zustand. Das ist nun 
abgetan und vergessen. Jetzt werden wir dich totschlagen.« 

»Aber warum?« 
»Weil du 500 Dukaten bei dir führst. Wir haben es vorhin alle 

gehört. Und weil wir hier nicht bleiben können. Sowie Ritter Atz von 
Kloppers Tod erfährt, wird er uns einen neuen Lehnsmann schicken, 
der vielleicht noch strenger ist als der verblichene Klopper. Deshalb 
müssen wir so weit von diesem verfluchten Ort fliehen, wie es nur 
geht. Ohne Geld kommen wir nicht weit, und man würde uns nur 
wieder einfangen. Du hast 500 Dukaten. Das sind für jeden von uns 
100. Damit läßt es sich weit gehen und lange leben.« 

Roland erkannte, daß es  sinnlos gewesen wäre, ihm zu versichern 

daß er kein Geld bei sich trug. Sie würden ihm ebensowenig glauben 
wie vorher Klopper. »Gut«, sagte er laut. »Dann werden wir eben 
kämpfen!« 

Die fünf Männer stießen wilde Schreie aus und rückten näher. 
»Aber nicht so!« fuhr Roland fort. »Fünf Bewaffnete gegen einen 

mit leeren Händen! So kämpfen Memmen, aber keine Männer. Gebt 
mir eine Waffe von jener Art, wie ihr sie führt  - und ich bin bereit! 
Aber ich denke, ihr seid ehrliche Leute und werdet einzeln gegen 
mich antreten ...« 

»Spar deinen Atem!« unterbrach ihn der Rote. »Bewaffnet und im 

Einzelkampf bist du uns überlegen. Sonst hättest du Klopper nicht 
erledigen können. Kämpfen wir also ehrlich, werden wir es einer 
nach dem anderen mit dem Leben bezahlen. Nein, Fremder. Lieber 
wollen wir feige Memmen sein, vor denen jeder ehrliche Mann 
verächtlich ausspeit, wenn wir dich dadurch überwinden und dich 
von den Dukaten befreien können!« 

Die anderen stimmten ihm lauthals zu und machten sich 

gegenseitig Mut. 

Jetzt oder nie! dachte Roland. Die Aufmerksamkeit der Männer 

war vorübergehend abgelenkt. Während sie noch miteinander 
sprachen, lief er auf den Anführer los. Der sah ihn kommen. Sein 
Gesicht war entschlossen. Er schwang den riesigen Dreschflegel. 

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Bis auf drei Klafter näherte sich Roland. Dann bog er unvermittelt 

nach rechts ab und sprang den hinkenden Hageren an. Roland hatte 
den Mann richtig eingeschätzt. Er hatte überhaupt keine Lust, sich 
zur Wehr zu setzen, und versuchte wegzurennen. Roland entriß ihm 
die Keule und stieß ihn zurück. 

Der Mann warf sich zu Boden, zog sich die Jacke über den Kopf 

und erwartete winselnd den tödlichen Schlag. 

Doch Roland fiel schon knüppelschwingend über den nächsten her. 

Die Überraschung benahm den Männern den Atem. Auch dieser 
Mann mußte seinen Knüppel loslassen. Brüllend landete er auf dem 
Rücken. 

Der dritte verlor jeden Mut. Er rannte davon, bevor Roland ihm 

nahe kam. Schon war er hinter der Ecke des Gehöfts verschwunden. 

Nun waren nur noch zwei Männer übrig, der Rotbart und ein 

ebenso stämmiger  Glatzkopf. Mit unartikuliertem Schrei stürzten 
sich die beiden auf Roland. Doch im Übereifer behinderten sie sich 
gegenseitig. Ehe die Dreschflegel Roland treffen konnten, waren sie 
ineinander verhakt. 

Während die beiden noch mit den vorübergehend unbrauchbaren 

Waffen herumfuchtelten, trat Roland mit erhobenem Knüppel dicht 
vor sie hin. »Laßt die Waffen fallen und schert euch weg!« befahl er. 

Der Glatzkopf gehorchte. Nun trug der Rotbart das Gewicht beider 

Dreschflegel. Er schien zu wanken. In Wirklichkeit aber holte er zum 
Wurf aus. Gleich darauf traf das Doppelgerät Roland mit großer 
Wucht vor die Brust. 

Der Himmel verrutschte. Roland brach zusammen, während ihm 

der Knüppel entglitt. Sterne tanzten am hellen Tag. Die 
vorhergegangenen Anstrengungen hatten seine letzten Kraftreserven 
erschöpft. Die Sinne vergingen ihm. 

Mit einem tierischen Schrei hob der Rote die Keule auf. Da 

erscholl hinter ihm eine Stimme: »Nun ist es genug! Laß den Mann 
am Leben!« 

Der Rote fuhr herum. Er sah einen Reiter hoch zu Pferd vor sich, 

stieß einen Schrei aus, ließ alles fallen, was er in den Händen hielt, 

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und rannte davon, so schnell ihn seine Füße trugen. 

In diesem Augenblick erwachte Roland. Verschwommen sah er 

den Reiter, der ihn vor Ungewissem Los bewahrt hatte. In seinem 
geschwächten Zustand sah er nur ein gebräuntes Gesicht und 
schwarzes Haar. 

Volker vom Hohentwiel, dachte Roland. Mein Freund ist da! 
Dann versank er wieder in die wolkigen Schwaden der 

Bewußtlosigkeit. 

Rolands sonst so scharfer Blick hatte ihn getrogen. In seinem 
jämmerlichen Zustand täuschte ihn das volle dunkle Haar des 
Reiters. 

Der Mann, der dem Roten Einhalt geboten hatte, war nicht sein 

Freund Volker vom Hohentwiel. Es war Haggan, den man im Lande 
den Gräßlichen nannte. Haggan, der Schänder seiner Schwägerin 
Griseldis, der Mörder seines Bruders Jorn. Haggan, der nach König 
Artus' Worten stärker als der grimme Bär war, brutaler als der rasche 
Blitz, gemeiner als die tückische Schlange und reißender als die 
hungrigen Wölfe, die er im Wappen führte. 

Haggan, der Mann, der Artus den Kopf mitsamt der Krone von den 

Schultern reißen wollte! Er ritt auf einem robusten Schimmel, den er 
bei einem Scharmützel einem fahrenden Ritter abgenommen hatte. 

Auf dem Fuchshengst, den er zuerst geritten, saß jetzt sein 

grauhaariger Vertrauter Trumm. Der Hüne ritt heran und sagte 
tadelnd: »Ich begreife Euch nicht, Herr! Es ist doch sonst nicht Eure 
Art, dem Schicksal in den Arm zu greifen!« 

»Recht hast du, Trumm«, entgegnete Haggan und musterte den 

kraftlos dahingestreckten Roland. »Mir gefiel die Art, wie dieser 
Bursche da fünf Männer auf einmal angriff. Ich glaube, in ihm ein 
würdiges Mitglied meiner Bande zu finden. Aber da ich ihn aus der 
Nähe sehe, fürchte ich, mich geirrt zu haben.« 

Trumm sah verachtungsvoll auf Roland hinab. »In diesen glatten 

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Zügen hat kein Laster seine Spuren hinterlassen. Er taugt eher zum 
Vasallen des Königs als zum Mitglied unserer Bande. Ich hätte nicht 
übel Lust, den Rotbart zurückzurufen, damit er seinen Mord 
vollende.« 

»Laß es sein!« gebot Haggan. »Er scheint sowieso am Verrecken. 

Uns wird dieser Jüngling nie gefährlich werden, und hätte er doppelt 
soviel Mut, als er ihn hier zeigte. Oh, Trumm, ich habe ein mächtiges 
Verlangen, meine wilden Kerle wiederzusehen! Wie ich sie kenne, 
haben sie inzwischen unsere Kriegskasse bis auf den letzten 
Groschen geplündert, die Weinkeller des Atz von Atzerath, meines 
lieben Freundes, leergesoffen und seinem Weibervolk nachgestellt. 
Die Burg ist nicht mehr fern. Vorwärts, Trumm, wir reiten!« 

Warmer Atem blies Roland ins Gesicht. Weiche Haut kitzelte seine 
Wangen. Er warf sich herum. Langsam schlug er die Augen auf. 
Samum war es, sein treuer Hengst, der seinen edlen Kopf an seines 
Herrn Wange rieb. 

Roland fühlte sich frisch wie nach einem langen Schlaf. Er griff 

nach dem herabhängenden Zügel und zog sich in die Höhe. Sein 
Kopf war klar. Noch stand die Sonne am Himmel. Schnee gleißte. Er 
tätschelte dem Pferd den Hals. Samum schnaubte leise. 

Nicht weit  entfernt standen vier der Männer, mit denen er sich 

geschlagen hatte. Die Männer, die ihre eigenen Namen nicht mehr 
kannten, weil sie ein grausamer Gutsherr als Sklaven behandelt und 
unterschiedslos jeden Hans genannt hatte. 

Sie hatten sich kaum verändert. Noch immer trugen sie abgerissene 

Kleider, hatten strubblige Haare und schmutzige Gesichter. Aber ihre 
Hände waren jetzt leer und ihre Blicke eher freundlich. 

Mit einem Schlag fiel Roland wieder ein, was geschehen war, 

bevor er besinnungslos wurde. War  es wirklich Volker, der ihn 
gerettet hatte? Oder hatte ihm sein ermattetes Auge einen Streich ge-
spielt? 

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Da trat der Rotbart einen Schritt vor. 
»Gott sei Dank, daß Ihr lebt und bei Kräften seid, Herr«, sagte er in 

ehrerbietigem, fast demütigem Ton. »Verzeiht uns, daß wir Euch 
Böses wollten! Die lange Knechtschaft hat unsere Herzen verhärtet 
und unseren Geist verwirrt. Nicht aus eigenem Antrieb gingen wir 
Euch ans Fell. Jemand hetzte uns auf. Als Ihr leblos zu Boden sankt, 
taten wir alles, um Euch wiederzubeleben. Wir rieben Eure Stirn mit 
Schnee ab. Wir massierten Eure Brust und die Gelenke. Nichts half. 
Dann entdeckten wir Euren edlen Hengst in Kloppers Stall und Eure 
Waffen in seiner Stube und ahnten, daß Ihr ein großmächtiger Ritter 
sein müßt. Wir führten den Hengst zu Euch, und er vollbrachte das 
Wunder. Noch einmal, Herr: verzeiht uns armen Hansen!« 

»Wo ist der Ritter, der mich beschützte, als ich wehrlos lag?« 

fragte Roland. 

»Er ritt mit seinem Begleiter, einem riesenhaften Graukopf, davon. 

Wir kennen seinen Namen nicht. Nur einmal sahen wir ihn vor vielen 
Monden, und Klopper nannte ihn den >freundlichen Herrn.<« 

Nein, es konnte nicht Volker gewesen sein. Der wäre nicht ohne 

ihn davongeritten. Und einen riesenhaften Graukopf kannte Roland 
auch nicht. 

Die Stimme des Roten riß Roland in die Wirklichkeit zurück. »Ihr 

braucht Euch dem freundlichen Herrn nicht verpflichtet zu fühlen, 
Ritter. Schon ehe er dazwischentrat, sank mir die Waffe aus der 
Hand. Ich sah in Euer Gesicht, das so jung und so ehrlich und so 
ritterlich ist, und konnte Euch nichts zuleide tun. Ach, warum haben 
wir uns überhaupt gegen Euch aufhetzen lassen? Es war der 
Hinkefuß, der uns zu der Schandtat anstiftete.« 

Erst jetzt bemerkte Roland, daß ein Mann fehlte. »Wo ist er?« 
»Geflohen, Herr. Vor unserer und Eurer Wut.« 
Der Glatzkopf näherte sich schüchtern und überreichte Roland 

Lanze und Schwert. Der Ritter legte den Waffengurt an, richtete 
Samums Zaumzeug und sprang leichtfüßig in den Sattel. Die Burg 
des Atz von Atzerath konnte nicht  mehr weit sein. Er fühlte den alten 
Tatendrang. Er mußte seine Aufgabe erfüllen, Haggan vom Horn 

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stellen und in seine Gewalt bringen! 

»Herr Ritter«, sagte der Rote, »erlaubt uns die Bitte, Euch zu 

begleiten! Wenn Ihr auf Feinde stoßt, würden wir gern für Euch das 
Beil erheben. So werden wir unsere Schuld an Euch gutmachen.« 

»Wie könnte ich Euch noch trauen?« Roland lachte bitter auf. 

»Seid froh, daß ich euch den niederträchtigen Angriff auf Leib und 
Leben verzeihe! Doch wie leicht könntet ihr wieder anderen Sinnes 
werden. Darum möchte ich die scharfen Schneiden eurer Äxte nicht 
in meinem Rücken wissen.« 

Er schnalzte, und Samum trabte an. Die Sonne halbrechts vor sich, 

hielten sie wieder in südliche Richtung. Bald sah er zwei 
Pferdespuren, die vielleicht eine Stunde alt waren. Sie führten in die 
gleiche Richtung. 

Der schwarzhaarige Ritter, den man den freundlichen Herrn 

nannte, und der riesenhafte Graukopf? Ja, sie mußten es sein! Roland 
ließ Samum Galopp gehen. 

Er brannte darauf, die Bekanntschaft der beiden zu machen. 

Doch als Roland nach scharfem Ritt wieder Menschen begegnete, 
waren es Louis und zwei dickvermummte Fremde auf Mauleseln. 
Groß war die Wiedersehensfreude bei ihm und seinem treuen 
Knappen und höchst willkommen der Lebensmittelsack auf dem 
Packpferd, den Louis wohlbehalten durch das Unwetter gerettet 
hatte. Denn Roland, der lange Zeit nichts zwischen die Zähne 
bekommen hatte, spürte schon seit einiger Zeit nagenden Hunger. 

Er stillte ihn mit hartem Gerstenbrot und kaltem Schweinefleisch, 

während Louis von seinen Erlebnissen berichtete und ihm dabei 
seine Begleiter vorstellte. Roland sah in zwei verwegene, nicht 
unbedingt Vertrauen einflößende Gesichter, aus denen jedoch 
treuherzige Augen schauten. 

»Sie sind beide Gaukler, Herr«, sagte Louis eifrig und fast ein 

wenig stolz auf seine Entdeckungen. »Dieser hier zu meiner Rechten 

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nennt sich Funkenmann. Er ist Feuerschlucker. Deshalb hat er auch 
ein ziemlich großes Maul. Der andere, der ziemlich schweigsam ist, 
heißt Schiebermann und ist Schwertschlucker.« 

»Ich bin gespannt darauf, eure Künste zu sehen«, sagte Roland 

höflich. 

»Das dürft Ihr auch sein. Mir gaben sie schon eine kleine 

Vorstellung. Funkenmann fraß das halbe Lagerfeuer und spie es 
wieder aus  - mit drei Klafter langer Flamme, kaum anders als der 
Drache Fasolt damals im Odenwald. Und Schiebermann, nicht faul, 
schob sich ein langes Schwert bis zum Griff in den Schlund. Ich sage 
Euch, mir blieb der Atem weg!« 

Die beiden Gaukler grinsten halb verlegen, halb geschmeichelt. 
»Und solltet  Ihr meiner einmal überdrüssig werden, Herr, so bin 

ich jetzt um  meine Zukunft nicht mehr bange. Dann ziehe auch ich 
als Gaukler durch die Lande. Die beiden haben mir nämlich die 
Kunst der Magie beigebracht.« 

Roland schüttelte zweifelnd den Kopf. 
»Wirklich, Herr! Ich zaubere Euch Eier, Tüchlein und sogar 

Dukaten aus der leeren Luft! Ihr werdet staunen, Herr! Nun mögt Ihr 
selber entscheiden, ob Ihr einem Knappen, der außerdem ein großer 
Magier ist, nicht lieber den Sold verdoppeln wollt!« 

Lächelnd hob Roland die Hand. 
»Es war nur ein Scherz, Herr Ritter«, erklärte Louis schnell. »Ein 

Mann wie ich ist schließlich nicht auf Sold angewiesen. Wenn's 
nottut, pflück' ich mir eben ein paar Dukaten aus der Luft!« 

Funkenmann brach in ein lautes Gelächter aus, und alle fielen ein. 
Nach einer Weile bemerkte Roland: »Was mag nur aus dem guten 

Pierre geworden sein?« 

Da schlug sich Louis mit der flachen Hand gegen die Stirn. »Daß 

ich Pierre vergessen konnte! Seid guten Mutes, Ritter, er ist mit dem 
Leben davongekommen. Doch er war nahe daran zu erfrieren. 
Während er im frostigen Schnee lag und auf sein letztes Stündlein 
wartete, trabte sein Wallach weiter und lief einem Bäuerlein in den 
Stall. Der wackere Mann dachte sich sein Teil, nahm Laterne und 

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Schlitten und  ging den frischen Spuren nach. Er fand Pierre und 
brachte ihn in seine Kate. Das Weib des Bauern pflegte Pierre mit 
großer Sorgfalt. Heute morgen stießen wir auf das bescheidene 
Anwesen, tränkten unsere Tiere und erfuhren die Geschichte. Pierre 
hatte zwar noch Fieber, doch schien er schon recht guter Dinge. Eine 
Woche lang soll er das Bett hüten. Dann wird er wieder gesund und 
kein Pfündchen leichter sein!« 

Roland fiel ein Stein vom Herzen. Nun konnte er seine Gedanken 

vollends seiner Aufgabe widmen und sich um niemand mehr Sorgen 
machen. Doch immer wenn er sich den bevorstehenden Kampf mit 
dem gefürchteten Haggan vom Horn ausmalte, schoben sich andere 
Bilder und Vorstellungen dazwischen. 

Warum nur kam ihm Hein nicht aus dem Sinn? Was für ein 

Geheimnis umgab diesen schlanken Jüngling mit den weichen 
Zügen, dem lang wehenden aschblonden Haar und den kecken, 
hellen Augen? 

Weit weniger milde Gedanken hegte sein Freund Volker vom 
Hohentwiel, der mit Pfeil und Bogen durch einen Tann schweifte, 
um vor Sonnenuntergang noch ein Rebhuhn oder einen Hasen fürs 
Abendmahl zu erlegen. Er war des prahlerischen Weggenossen Hein 
redlich müde. Wohl zeigte er sich beim Singen recht anstellig, aber 
sonst war er zu nichts zu gebrauchen! Er hatte sich sogar geweigert, 
ihn bei der Jagd zu begleiten! Er sei zu erschöpft. Volker hätte ihn 
am liebsten zum Teufel gejagt. Hoffentlich bereitete er wenigstens 
am Lagerplatz ein Feuer vor ... 

Hein hatte inzwischen wahrhaftig ein kleines Feuerchen 

zustandegebracht und rieb sich darüber die frostklammen, schmalen 
Finger. Plötzlich fielen zwei lange Schatten über den Schnee. 
Erschrocken fuhr Hein herum. 

Unbemerkt hatten sich zwei Reiter genähert und hielten jetzt vor 

ihm. Ein Schwarzhaariger mit wirrem Vollbart auf einem Schimmel 

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und ein starkknochiger Hüne mit grauem Haar auf einem Fuchs. 
Höhnisch - so schien es Hein - schauten sie auf ihn herab. 

»He, Kleiner«, rief mit rauher Stimme der Schimmelreiter, »bist du 

ein Spielmann?« Er hatte die Fiedel gesehen, die Volker 
zurückgelassen hatte. 

»Was sonst?« entgegnete Hein, dem es nichts ausmachte, sich mit 

fremden Federn zu schmücken. »Meiner Fiedel Klang fährt den 
Weibern in die Beine, und meine Lieder machen die düsterste 
Burghalle zum Festsaal.« 

»Dann schwing deinen müden Hintern auf den grauen Klepper und 

komm mit uns!« schnauzte der Graukopf. Und da Hein noch zögerte, 
stieß er ihn unsanft mit dem stumpfen Ende seiner Lanze an. Der 
stolperte zurück und warf einen scheuen Blick über die Schulter. 
Nein, von Volker war nichts zu sehen. 

»Tu, was er dir sagt!« herrschte ihn der Schwarzhaarige an. 
Was blieb Hein angesichts der beiden gewalttätigen Männer übrig? 

Er nahm die Fiedel auf, schlang sie sich auf den Rücken, bestieg sein 
Pferd und folgte den beiden Fremden, die alsbald ein schnelles 
Tempo anschlugen. 

Hein setzte ein munteres Gesicht auf und blickte mit kecken Augen 

umher. Aber im Inneren war er ziemlich verzagt, als er in dieser 
zweifelhaften Gesellschaft einem Ungewissen Abenteuer 
entgegenritt. 

Auf Burg Atzerath brodelte es. Haggans wüste Gesellen hatten sich 
dort eingenistet und bereiteten dem Burgherrn täglich neuen Ärger. 
Sie lagen auf der faulen Haut und wollten auch noch bedient werden. 
Sie fraßen und soffen im Übermaß. Und natürlich stellten sie dauernd 
dem Weibervolk nach. 

Darum atmete Atz erleichtert auf, als sein Bruder Lutz ihn 

besuchte und gute Nachricht brachte. Nach seinem Handgemenge 
mit dem »unbekannten Dieb und Lauscher« bei Kaufmann Klotz in 

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Beauvais hatte Lutz kurzentschlossen seine Pläne geändert. Er 
verzichtete auf das vorgesehene Techtelmechtel mit der 
Tuchhändlersgattin und machte sich lieber sofort nach Atzerath auf. 
Ihn trieb eine unangenehme Vorahnung. 

Da er die Gegend viel besser als Roland und dessen Männer 

kannte, übernachtete er auf einer kleinen, etwas entfernt liegenden 
Burg und brauchte sich deshalb nicht mit dem Unwetter 
herumzuschlagen. 

Von ihm erfuhr nun Atz zu seiner Freude, daß Haggan wieder frei 

sei. Man dürfe sein Eintreffen jeden Tag erwarten. Atz verkündete 
die Nachricht sofort den Gesellen Haggans, in der Hoffnung, sie 
dadurch gefügiger zu machen. Doch er traf auf zweifelnde Mienen. 

Ein Mann mit langen dünnen Beinen, gedrungenem und 

muskulösem Oberkörper und abstoßend häßlichem Gesicht erhob 
sich vom Fußboden, wo er neben einem Weinfaß gelegen hatte. Er 
schwenkte den noch halbvollen Weinbecher, als er Atz schreiend 
anfuhr: »Lügner! Verdammter Lügner! Niemand entkommt aus dem 
Verlies des Königs!« Er hatte einen kleinen Buckel auf der rechten 
Schulterseite, und sein Name war Jong. 

Dem Ritter Atz stieg die Zornesröte ins Gesicht. Seine Hand fuhr 

zum Schwertgriff. »Du wagst es, mich in meinem eigenen Hause 
einen Lügner zu nennen?« rief er durchdringend. »Trinkst meinen 
Wein, ißt meine Schafe, betatschst mit  gieren Händen meine Mägde  - 
und beleidigst mich obendrein?« 

»Halt die Schnauze!« versetzte Jong roh und nahm einen hastigen 

Schluck Wein. »Sonst könnte es dir übel ergehen!« 

»Du drohst mir?« erboste sich Atz. »Du wirst sofort meine Burg 

verlassen und dich nie mehr im Umkreis von zehn Meilen blicken 
lassen, oder man wird dich vom höchsten Punkt des Burgfrieds in 
den Graben werfen!« 

Ursprünglich hatte Atz den wüsten Kerl nur warnen wollen. Aber 

sein Zorn übermannte ihn. Jetzt schritt er zur Tat. 

Er gab seinen Knappen einen Wink. Und schon setzten die sich in 

Bewegung, um Jong zu packen und womöglich auf den Burgfried zu 

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schleppen, wenn er nicht freiwillig das Weite suchte. 

Der bucklige Aufrührer erkannte die Gefahr. Er wußte aber auch, 

wie er ihr begegnen mußte. Nicht umsonst hatte er in den letzten drei 
Tagen mit den einzelnen Spießgesellen aus der wüsten Bande des 
Herrn Haggan heimlich geflüstert und sie durch allerlei Versprechen 
auf seine Seite gebracht. Viele sahen in ihm schon den rechtmäßigen 
Nachfolger Haggans. Jong wollte die Burg in seine Gewalt bringen, 
und nie schien ihm die Gelegenheit günstiger als jetzt. 

Also streckte er den Arm in die Höhe und schrie mit sich 

überschlagender Stimme: »Söhne der Hölle, an meine Seite!« 

Das war der verabredete Ruf zum Anfang des Aufruhrs. Mehr als 

die Hälfte der 20 Haggan-Männer trennte sich auch gehorsam von 
den Freuden des Mahls und der Fässer und scharte sich um den 
Buckligen. Wie durch Zauber erschienen in ihren Händen plumpe 
Spieße und Stoßschwerter. Schon kam es zwischen ihnen und den 
vordersten der anrückenden Knappen zum Austausch von Stößen 
und Schlägen. 

Aber auch Atz hatte vorgesorgt. Wieder gab er einen Wink, wobei 

der breite Siegelring an einem Finger seiner rechten Hand in der 
Sonne hell aufblinkte. Und plötzlich erschienen auf allen erhöhten 
Stellen der Vorburg, auf Söllern, Wehrgängen und Brüstungen 
Schützen mit gespannten Bögen. Aufblickend sah Jong zahlreiche 
todverheißende Pfeile auf sich und seine Truppe gerichtet. 

Sollte er aufgeben? 
Er dachte nicht daran. Die Bogenschützen schreckten ihn nicht. 
»Vorwärts, Söhne der Hölle!« schrie er mit verzerrtem Gesicht. 

Gleich darauf hallte die Vorburg von wildem Kampfgeschrei, von 
Eisenklang und Schmerzensrufen wider. 

»Vorwärts, Söhne der Hölle!« wiederholten Jongs Parteigänger 

und feuerten sich so selber an. So gewaltig war ihr Ansturm, daß der 
Aufmarsch der Knappen ins Wanken geriet. Ätzens Männer sahen 
sich von allen Seiten ins Handgemenge gezwungen. Vielen wäre es 
bestimmt schlecht ergangen, wenn die Stiche und Schläge der 
Höllensöhne besser gezielt gewesen wären. Aber die meisten hatten 

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schon soviel gezecht, daß sie mehr Luftlöcher als Treffer schlugen. 

Jong aber warf sich geradewegs auf den Burgherrn. Zuvor 

schleuderte er ihm den fast leeren Weinbecher mitten ins Gesicht. 
Bevor sich Atz von der Überraschung und dem plötzlichen Schmerz 
erholt hatte, umschlang ihn Jong mit der Muskelkraft mächtiger 
Arme, hielt ihn wie einen Schutzschild vor sich und schnürte ihm 
fast den Atem ab. 

Überall sprühten nun die Funken, wirbelte Staub auf, erklangen 

Schreie der Wut, der Warnung, des Schrecks und des Schmerzes. Im 
Handumdrehen waren Freund und Feind in dem Getümmel kaum zu 
unterscheiden. 

Das machte die Bogenschützen unsicher. Sie legten an, sie zielten, 

und sie ließen verlegen den Bogen wieder sinken, ohne die gespannte 
Sehne vorschnellen zu lassen. 

Nur vereinzelte Pfeile wurden halbherzig abgeschossen. Sie flogen 

alle über die Köpfe der erbittert Kämpfenden hinweg und richteten 
keinen Schaden an. Die Bogner wagten es einfach nicht, mitten ins 
Getümmel hineinzuhalten. 

Als die Knappen sahen, daß Atz hilflos und kampfunfähig in Jongs 

Umarmung zappelte und die Schützen ihnen keine Unterstützung 
bringen konnten, verließ viele der Mut. Schon lösten sich die ersten 
aus dem Gefecht und flohen in die Halle. Einge ließen dabei sogar 
ihre Waffen fallen, so kopflos waren sie. 

Es dauerte nicht lange, und das Feld gehörte den Söhnen der Hölle, 

die mit wachsender Kühnheit nun auch gegen die Bogenschützen 
vorgingen und einen nach dem anderen verjagten. 

»Laß mich los!« keuchte Atz und wand sich in den bärenstarken 

Armen Jongs. »Verfluchter Hund!« Sein Blick suchte seinen Bruder 
Lutz, der sich in einer Nische der Burgmauer zurückgezogen und 
bisher keinen Finger gerührt hatte. Jetzt zuckte Lutz mit den 
Achseln, um anzudeuten, daß er nichts für Atz tun könnte  - jedenfalls 
nicht im Augenblick. 

Inzwischen waren die Bogenschützen und Knappen von den 

Aufrührern entwaffnet worden. Die zügellose Horde fiel dann über 

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einige der Wehrlosen her, die in dem vorhergegangenen Kampf 
besonders hartnäckig Widerstand geleistet und damit ihren Wunsch 
nach Vergeltung geweckt hatten. Die Armen wurden nach Strich und 
Faden verprügelt, doch floß kaum weiteres Blut. 

Es herrschte ein unbeschreibliches Durcheinander. Zum Glück für 

die Besiegten hielt der Rachedurst der Höllensöhne nicht lange an. 
Müde vom Austeilen der Schläge, ließen sie bald von ihren Opfern 
ab und scharten sich wieder um die Weinfässer. Und, o Wunder, 
während ihre Trunkenheit voranschritt, verbrüderten sie sich schon 
wieder mit den Männern, denen sie eben noch das Fell versohlt 
hatten! 

Ein entschlossener Anführer hätte jetzt noch schnell das Blättchen 

wieder wenden können. Aber niemand fand sich dazu bereit. Lutz tat 
weiterhin, als gehe ihn das alles nichts an. 

Jong übergab seinen Gefangenen Atz der Obhut von vier 

Spießgesellen, denen er vertraute. Sie hielten den entmachteten 
Burgherrn so fest, daß er kein Glied rühren konnte. Aber wenigstens 
konnte er frei atmen. 

Der Bucklige baute sich drei Schritt vor Atz auf. Er achtete darauf, 

daß er höher stand, und hatte deshalb einen etwas herausragenden 
Stein des Hofes als Standplatz gewählt. Die Hände in die Hüften 
gestemmt, betrachtete er höhnisch den gedemütigten Feind. 

Atz  verging fast vor Angst. Wie schnell hatte sich das Glück 

gewandelt! Aber er ließ sich von seinen Gefühlen nichts anmerken. 
Seine grauen Augen wirkten fast gelassen, als er Jongs scharfen 
Blick erwiderte. 

Des Ritters gespielte Ruhe verfehlte ihre Wirkung auf den 

buckligen Anführer nicht. Als Jong ihn ansprach, brüllte er nicht 
mehr, sondern bemühte sich um einen ruhigen Ton. Dennoch klang 
der Hohn deutlich heraus. 

»So, alter Atz«, sagte er, »die Lage hat sich gründlich geändert. 

Von jetzt an trinke ich aus eigenem Weinkeller, schlachte meine 
eigenen Schafe und betatsche Mägde, die mir gehören  - wie alles, das 
einmal dein war.« 

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»Ein Aasgeier bist du«, stieß Atz hervor, »und ein Aasgeier wirst 

du stets bleiben. Frohlocke nicht zu früh! Bedenke, daß in kurzer Zeit 
Herr Haggan eintreffen wird! Er wird dir die Haut vom Leibe ziehen. 
Du wirst wünschen, nie geboren worden zu sein.« 

»Mit Haggan kannst du nur noch unmündige Waisen und zahnlose 

Greise erschrecken, armseliger Atz! Doch lassen wir das! 
Unterhalten wir uns über deine Zukunft! Ich könnte dich jetzt vom 
höchsten Punkt des Bergfrieds in den Graben stoßen, wie du es mit 
mir vorhattest.« 

Bruder Lutz stand nicht weit entfernt. Er hörte jedes Wort. Aber er 

blickte in eine andere Richtung. 

»Tu es!« zischte Atz. »Und Haggan wird mich furchtbar rächen.« 
»Ich bin doch kein Unmensch, ängstlicher Atz! Ich will deinen 

fetten Körper, vor dem mich ekelt, nicht antasten. Obwohl du übel an 
mir handeltest, will ich großmütig sein, wie es meine Art ist. Du 
darfst, wenn du es wünschst, sogar in der Burg bleiben. Natürlich 
mußt du dir dann deinen Unterhalt verdienen, indem du Wachdienst 
hältst, die Hallen und Gänge fegst, Rüstungen polierst, zur Mahlzeit 
die Schüsseln aufträgst und fleißig  die Becher füllst. Entscheidest du 
dich anders, so darfst du ungehindert davongehen, wohin es dich 
gelüstet. Ich gäbe dir sogar einen Wanderstab und einen 
bescheidenen Zehrgroschen mit!« 

Das unerhörte Ansinnen verschlug dem stolzen, ehemaligen 

Burgherrn die Sprache. 

»Doch vorher wirst du mir einen kleinen Gefallen tun«, sagte Jong 

bedeutungsvoll. Er schaute dabei über die Schulter. Regungslos stand 
Lutz in seiner Nische. Die Männer, die sich um die Weinfässer 
gelagert hatten, wurden immer ausgelassener. Sie grölten und tanzten 
mit den Mägden. 

Jong trat dicht an Atz heran. »Laßt ihn los!« befahl er den vier 

Männern. Sie gehorchten. Atz konnte sich allein kaum auf den 
Beinen halten. Er war ein gebrochener Mann. Jetzt sah man es 
deutlich, und der Bucklige triumphierte innerlich. Er wies die vier 
Männer an, sich ein paar Schritte zu entfernen. Sie brauchten nicht zu 

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hören, was er Atz zu sagen hatte. 

Er senkte die Stimme. »Wir alle wissen, daß Haggan nie 

zurückkehren wird. An seiner Stelle führe ich von jetzt an das 
Kommando. Ist es da nicht gut und billig, wenn ich in alle seine 
Rechte eintrete?« 

Atz war totenblaß. Seine Lippen zitterten, aber er gab keinen Laut 

von sich. 

Jong schien ihn mit Blicken durchbohren zu wollen. »Haggan und 

du, elender Atz  - ihr teiltet ein Geheimnis. Oft wenn er auf deiner 
Burg weilte, verließ er sie, ohne daß jemand es bemerkte. Oft war es 
auch umgekehrt. Die Wachen am Tor hörten keinen Schritt und 
sahen nicht mal einen  Schatten  - und doch erschien er, der eben noch 
ferne weilte, wie ein Geist in der Burg. Es muß einen geheimen 
Zugang geben, der nur euch beiden bekannt ist. Eröffne mir dieses 
Geheimnis, und ich schenke dir das Leben!« 

»Niemals!« 
»Schon mancher halsstarrige Mann hat >niemals< gesagt«, 

belehrte ihn Jong von oben herab und nestelte an seinem Gurt. 
»Doch hörte ich von keinem, der sich nicht nach kürzerem oder 
längerem Nachdenken eines anderen besann.« 

Die grauen Augen des bedrängten Ritters Atz begannen zu 

flackern. Aufmerksam beobachteten ihn seine vier Wächter. Jong 
zog ein spitzes, zweiseitig geschärftes Messer aus dem Gurt. 

»Ich gebe dir jetzt Zeit zum Nachdenken, unglückseliger Atz«, 

sagte Jong. »Da es sich besser nachdenken läßt, wenn man durch 
seine  Umgebung nicht abgelenkt wird, schneide ich dir die Ohren ab 
und steche dir die Augen aus.« 

»Das wirst du nicht wagen!« knirschte Atz erblassend. 
»Es ist keinerlei Wagnis dabei«, versetzte Jong. Auf seinen Wink 

packten die Vier den Ritter erneut so, daß er keinen Muskel bewegen 
konnte. Nur den Kopf drehte er angstvoll zur Seite. 

Langsam kam der Bucklige näher. Die Spitze des Messers auf des 

anderen Gesicht gerichtet. Als die Klinge noch einen Zoll von 
seinem linken Auge entfernt war, schrie Atz laut auf:  »Halt, Jong! 

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Ich will dir alles sagen. Du sollst das Geheimnis erfahren. Ich liefere 
dir den Plan zu Haggans Versteck aus. Aber laß mir mein 
Augenlicht!« 

Gleichmütig steckte Jong das Messer wieder in den Gurt. »Warum 

nicht gleich so, dummer Atz? Wo bewahrst du den Plan auf?« 

»In meinem Schlafgemach«, stammelte der verzweifelte Ritter. 
Als die kleine Gruppe auf ihrem Wege an der Mauernische 

vorbeikam, wollte Lutz das Schwert ziehen und angreifen. Aber jetzt 
war es Atz, der verneinend den Kopf schüttelte. Er wußte, daß jeder 
Befreiungsversuch scheitern würde. Sie würden nur beide ihr Leben 
einbüßen. 

Im Schlafgemach wurde es Atz gestattet, sich frei zu bewegen. 

Neben dem hohen Bett stand ein rohgezimmerter Schrank mit einer 
großen Lade. Ohne weiteres Säumen trat Atz an ihn heran, zog die 
Lade auf und holte nach einigem Kramen ein schmales Blatt weißen 
Papiers heraus. 

Jong stand auf der Schwelle und sah ihm gespannt zu. 
Atz sah flüchtig auf das Papier und streckte dann den Arm aus, um 

es Jong zu überreichen. 

Der ging, ein hämisches Grinsen auf den Lippen, langsam auf ihn 

zu. 

In diesem Augenblick zerknüllte Atz das Papier zu einem Knäuel, 

kaum halb so groß wie eine Kinderfaust, und schob es sich 
blitzschnell in den Mund. Ehe Jong oder einer seiner Vertrauten ein-
greifen konnte, hatte Atz das Papier hinuntergewürgt. 

Der Bucklige erstarrte mitten im Schritt. 
Atz brach in ein Gelächter aus. »Das wird dich lehren, dem Wort 

eines Ritters nicht länger zu mißtrauen! Niemals solltest du unser 
Geheimnis erfahren  - das versprach ich dir  - und nun ist es für ewig 
vernichtet!« 

Es war sein letztes Lachen, und es waren seine letzten Worte in 

dieser Welt. Er hatte den Anführer der Höllensöhne übertölpelt, und 
der meinte vor Wut zu zerspringen. Mit einem tierischen Laut sprang 
Jong ihn an und stieß ihm das Messer tief in den Leib. 

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Lachend ging Atz in den Tod, und die Wut des geprellten Mörders 

verwandelte sich in Raserei. Dabei wußte Jong noch nicht einmal, 
daß Atz ihn doppelt getäuscht hatte. 

Denn das verschluckte Papier war nicht nur weiß, sondern auch 

unbeschrieben gewesen. Das Geheimnis von Haggans Unterschlupf 
schlummerte woanders ... 

Als der wuchtige graue Turm von Schloß Atzerath über den 
schneebedeckten Fichten auftauchte, erfüllte Hein eine freudige 
Vorahnung. Während des scharfen Ritts hatte er die anfängliche 
Beklommenheit gegenüber den beiden schwergerüsteten und 
gewalttätig aussehenden Männern völlig verloren. Er hielt sie jetzt 
für Männer, die den Grobian herauskehrten, aber wenn es drauf 
ankam, kaum über die Stränge schlagen würden. Mehrmals hatten sie 
sich unterwegs besorgt nach ihm umgeschaut, um sich zu 
vergewissern, daß sein kleiner Grauer auch mit ihnen Schritt zu 
halten vermochte. 

Außerdem glaubte Hein, daß die Fiedel ihm zusätzlichen Schutz 

gab. Wer würde sich schon an einem Spielmann vergreifen? 

Wieder versank der Turm hinter einem steilen Vorhügel. Der Weg 

wurde schmal und gewunden. Nur hintereinander konnten sie hier 
reiten, und die Pferde hatten große Mühe. Der Graue schnaufte laut, 
aber er fiel  nicht zurück. Er hatte schließlich nur ein geringes 
Gewicht zu tragen. 

Die Kuppe des Vorhügels war unbewaldet. Oben hielten sie. Nur 

ein schmales Tal trennte sie noch von der Burg, die jetzt in ihrer 
ganzen Ausdehnung vor ihnen lag. Heins Begleiter berieten sich 
flüsternd. Dann winkte ihm der riesige Graukopf. Sie wandten sich 
nach rechts, weg von der Burg, auf ein Gewirr von felsigen 
Erhebungen zu, die eine Schlucht umsäumten. 

Hein sah sich um. Der andere Fremde ritt geradewegs auf die Burg 

zu. Doch schon entzogen die Bäume ihn seinen Blicken. Warum 

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hatten sie sich getrennt? Was führten sie im Schilde? 

In weniger als einer Stunde durchquerte Haggan das Tal und 

erreichte das Burgtor, vor dem drei Männer Wache hielten. In einem 
plötzlichen Entschluß klappte er das Visier hinunter. Bei seinem 
Nahen hatten sich die Wachen erhoben und blickten ihm gespannt 
entgegen, die Lanzen drohend erhoben. 

»Wer seid Ihr, Ritter?« rief ihn einer an. 
»Das erfahrt ihr früh genug!« entgegnete Haggan mit rauher 

Stimme. »Macht Platz!« 

»Laßt euer Gesicht sehen, Herr!« verlangte der zweite Wächter. 
»Aus dem Weg!« brüllte Haggan. 
»Gebt die Parole!« rief der dritte. 
Da spornte Haggan den mächtigen Schimmel und preschte 

vorwärts. Einen riß es vom Anprall herum. Den zweiten warf 
Haggans Lanze zu Boden. Den dritten packte er am Kragen, hob ihn 
hoch und donnerte ihm ins Ohr: »Schließ das Tor auf!« 

Zitternd brachte der Mann einen Schlüssel zutage. Haggan ließ ihn 

herab, und bald war sein Weg frei. 

Im Vorhof lagerten noch einige verschüchterte Knappen. Haggan 

parierte den Schimmel, sprang klirrend herab und warf einem den 
Zügel zu. »Los, ihr Faulenzer!« rief er. »Nehmt euch des Schimmels 
an! In zwei Stunden will ich ihn gut herausgefüttert und strahlend 
gestriegelt sehen!« 

Dann stampfte  er sporenklirrend auf das zweite Burgtor zu. Zwei 

Knappen liefen ihm voraus und rissen eilfertig das Tor auf. 

Mit einem Blick aus den schmalen Visierschlitzen übersah Haggan 

die weite Halle. Wenn auch die Rauchschwaden aus dem offenen 
Kamin den Raum wie feiner Nebel füllten, war für den 
Neuankömmling kein Zweifel möglich. Er war mitten in eine 
Sauforgie geraten! 

Ein flüchtiges Lächeln umspielte das strenge Gesicht Haggans. So 

und nicht anders hatte er seine wüsten Gesellen anzutreffen erwartet. 
Aber jetzt  würde er dem Treiben ein Ende gebieten. Kaum jemand 
hatte sein Eintreten bemerkt. Wilde Gesänge stiegen zur 

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rauchgeschwängerten Decke auf. Hier stieß einer dem Kameraden 
unsanft vom Spundloch des Weinfasses weg. Da verirrte sich die 
Hand eines anderen im  Mieder der laut aufkreischenden Magd. 
Einige Kerle hockten am Boden, der Blick selig auf den Becher 
gerichtet, den die Hand fest umklammert hielt. Andere würfelten. 
Zwei prügelten sich. Warum, hatten sie schon vergessen. 

Haggan klappte das Visier auf, nahm ein paar Schritte Anlauf und 

sprang auf den langen Eichentisch in der Mitte der Halle. Dann 
brüllte er: »Hört her, ihr Saufsäcke, ihr Wüstlinge, ihr Armleuchter!« 

Köpfe wandten sich. Gesichter starrten den Mann auf dem Tisch 

an, der in voller Rüstung vor ihnen stand. Der Lärm verebbte. 
Mancher rieb sich die Augen. War es möglich? 

»Ruhe! Haltet das Maul, ihr Lieblinge Haggans! Euer Herr ist 

zurückgekehrt! Wo bleibt mein Begrüßungstrunk?« 

Da begriffen sie alle. Auch die, deren Geist vom Trunk schon 

umnebelt war. Und dann stiegen Schreie empor: »Hoch Haggan!« 

Aber nicht minder laut erschallte es: »Nieder mit Haggan!« 
Einer wankte unsicheren Schritts auf den Ritter zu und reichte ihm 

einen Becher, den größten, den es gab, empor. Haggan griff danach. 
Noch während er trank, umringte ihn eine Horde von etwa acht 
Männern, die auf Jongs Seite standen und nicht daran dachten, den 
Rückkehrer als Hauptmann anzuerkennen. 

Mit vereinten Kräften stürzten sie den Tisch um. Doch Haggan war 

auf allerlei Überraschungen vorbereitet. Er warf das schwere 
Trinkgefäß dem vordersten Angreifer ins Gesicht und sprang 
gleichzeitig mit vorgestrecktem Schwert in den Haufen hinein. Drei 
riß er um. Den vierten fegte ein Hieb seiner  mit Eisen bewehrten 
Linken von den Füßen. Dann fuhr er wie ein Racheengel zwischen 
die übrigen. 

Sie bekamen kaum die Arme hoch zur Verteidigung. Hatten sie 

vergessen, daß Haggans Kraft schier unmenschlich war? Jammernd 
fanden sie sich auf dem Rücken wieder, hielten sich die 
schmerzenden Rippen und verwünschten sich heimlich für ihren 
Trotz. 

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Zwei, die Haggans wirbelnde Schläge noch nicht erreicht hatten, 

fielen vor ihm auf die Knie und winselten um Gnade. Er versetzte 
jedem einen Fußtritt, daß sie sich überkugelten. 

Jubel. Hochrufe. Die Halle dröhnte. Die Höllensöhne feierten mit 

Getöse ihren Herrn, den sie doch noch vor einer Stunde leichtfertig 
verraten hatten. 

Haggan legte Helm und Harnisch ab. Mit spöttischem Blick 

umfaßte er die Männer, die er seit Jahren kannte, benutzte und von 
Herzen verachtete. 

Plötzlich trat Stille ein. 
Jong kam in die Halle. 
Der Bucklige wirbelte herein wie eine Feuerkugel. Er war außer 

sich. Dämonen schienen ihn zu treiben. Er entriß dem 
Nächststehenden einen Spieß. Scheu wichen  alle vor ihm zurück. 
Wie von Zauberhand ergab sich eine Gasse, die geradewegs zu 
Haggan führte. Mit gesenktem Kopf raste Jong auf den 
Zurückgekehrten zu. 

»Jong!« Haggans Stimme traf ihn wie ein Bolzen. Er erstarrte und 

richtete sich auf. »Kommst du, um mir erneut Treue zu schwören?« 

Jong stieß einen unartikulierten Schrei aus. Wie haßte er diese 

Stimme! Sie wollte ihn demütigen, vor aller Augen erniedrigen, in 
den Dreck stoßen. Erbitterung erfüllte ihn. 

Seine Starre löste sich. Er drang auf Haggan ein. 
Als die Spitze des Spießes nur noch einen Fuß von seiner Brust 

entfernt war, schlug Haggan mit dem Schwert die Waffe zur Seite. 

Jong strauchelte. Haggans zweiter Schlag traf seinen Buckel. Der 

Spieß entglitt Jongs Händen und rollte über den Boden. Jong stöhnte. 
Haggan hob den Fuß, um ihn dem Geschlagenen auf die Schulter zu 
setzen. 

Da fühlte er sich hinterrücks von starken Armen gepackt. Sie 

zerrten an seinen Schultern. Sie rüttelten an seinen Knien. Haggan 
wankte. Sie wollten ihm das Schwert entwinden. Aber  er ließ es nicht 
los. 

Seine Muskeln spannten sich und drangen fingerdick unter der 

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Haut hervor. Mit seiner urwüchsigen Kraft wehrte sich Haggan vom 
Horn, Haggan der Gräßliche gegen die vier Getreuen Jongs. 

Aber wie sollte er sie abschütteln, einer gegen vier? 

An der ersten Felsnadel, die klobig aus dem Boden wuchs und hoch 
über den Baumwipfeln in einer Spitze endigte, hielt Trumm an, und 
auch Hein stoppte den Grauen. Vor ihnen wölbte sich der Eingang in 
eine enge Schlucht, in die nie Tageslicht fiel. Trumm zog ein 
schwarzes Tuch hervor. 

»Komm näher, Spielmännchen!« sagte er freundlich. »Ich will dir 

die Augen verbinden.« 

Hein entflammte. »Die Augen verbinden? Das ist nicht ritterlich! 

Ich lasse es nicht zu.« 

»Papperlapapp! Ritterlich hin, ritterlich her. Dies ist ein Ort des 

Geheimnisses, den nur wenige Menschen auf Erden finden. Kein 
anderer darf den Weg erspähen. Sobald wir an Ort und Stelle sind, 
fällt das Tuch. Das verspreche ich dir.« 

Hein wich zurück. Jähe Angst ergriff von ihm Besitz. Der 

Graukopf wollte ihm Böses! Ablehnend streckte er die Hände nach 
vom. »Weg mit dem Tuch! Ich traue Euch nicht!« 

»Das Köpfchen her! Zum letztenmal, Knäblein!« 
Hein riß am Zügel des Grauen. Er wollte fliehen. Doch dazu kam 

er nicht mehr. Der Riese drängte den Fuchshengst heran, war neben 
ihm, und wie gelähmt hing Hein in seiner bärenhaften Umarmung. Er 
mochte schreien und sich sträuben  - mühelos bändigte ihn Trumm 
und knüpfte das schwarze Tuch um seinen Kopf, so daß er nichts 
mehr sah. Ein leichter Klaps auf den Rücken: »Keine Angst, 
Bürschlein! Dir geschieht nichts. Trumm«  - zum erstenmal hörte 
Hein den Namen - »vergreift sich nur an Männern!« 

»Hölle und Teufel!« brauste Hein auf. Aber ein zweiter, diesmal 

schmerzhafter Klaps ließ ihn verstummen. Sein Mut war dahin. Mit 
klopfendem Herzen ließ er es zu, daß Trumm den Grauen antrieb. 

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»Und laß dir nicht einfallen, die Hände von den Zügeln zu nehmen!« 
mahnte Trumm grollend. 

Dann ritten sie in die Schlucht. Hein, der nichts mehr sehen 

konnte, schien es eine Ewigkeit. Ihm war, als schlängle sich der Weg 
in unendlich vielen Windungen. Dann wieder hatte er das Gefühl, als 
ritten sie geradewegs in den Berg hinein. Mal meinte er wieder, es 
ginge aufwärts, hoch, immer höher, zu fernen Gipfeln. Dann wieder 
dröhnte das Echo der Hufschläge in seinen Ohren und vermittelte 
ihm das Gefühl, tief unter der Erde zu sein. 

Und nie verließ ihn die bohrende Angst vor einem meuchlerischen 

Streich aus dem Dunkeln. 

Endlich wieder Trumms Stimme: »Steig ab, Fiedler!« 
Hein gehorchte. Eine grobe Hand griff nach seinem Ellbogen und 

führte ihn weiter. »Fünf Stufen!« warnte Trumm. Jäh ging es 
abwärts. Hein stolperte und griff mit der freien Hand ins Leere. Das 
höhnische Lachen Trumms empörte ihn. 

Die Stufen  waren zu Ende. Es ging weiter vorwärts, im Kreis 

herum, eine Biegung nach links, eine nach rechts ... Nahm der Weg 
kein Ende? 

Dann fiel das Tuch. Kein sah sich in einem achteckigen Raum, der 

rings mit kostbaren Teppichen behängt war. Auch der Fußboden 
wölbte sich unter orientalischem Webwerk. An den Wänden waren 
gepolsterte Ruhebänke und feingeschnitzte Regale mit Krügen, in 
denen Vorräte lagerten. Die Mitte nahm ein ebenfalls achteckiges 
Tischlein mit solider Marmorplatte ein. Ein vielarmiger Leuchter 
spendete mildes Licht. 

Mit großen Augen sah Kein sich um. Nirgends war ein Eingang zu 

erblicken. Wie waren sie hereingekommen? 

Er erschrak, als Trumms Stimme, die in dem Gemach wie eine 

Trommel dröhnte, ihn neuerdings ansprach. »Dies ist der geheime 
Unterschlupf Haggans des Gräßlichen!« 

Hein erschauerte. Er schloß die Augen. Er war in der Höhle des 

Löwen! Würde er sie jemals lebend verlassen? 

Dann hörte er Wasser rauschen. Er öffnete die Lider. Sein Blick 

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fiel auf einen Wasserfall, der in Wandnähe aus der Decke kam, in 
eine Vertiefung sprudelte, sich dort sammelte und unterirdisch 
wieder abfloß. 

»Warte hier!« bedeutete ihm Trumm und verzog das Gesicht. Es 

sollte wohl ein Lächeln sein. »In den Regalen ist Speis und Trank. 
Im Wasserfall kannst du baden. Ich bin bald wieder da.« 

Langsam drehte Hein sich um. Niemand war hinter ihm. Trumm 

war verschwunden. Es mußte Geheimtüren geben. Aber Hein war 
viel zu müde und eingeschüchtert, um nach ihnen zu suchen. 
Seufzend streckte er sich auf der Ruhebank aus, nachdem er die 
Fiedel vom Rücken gestreift hatte. 

Indessen stapfte Trumm in gebückter Haltung einen niedrigen 

Gang, der vom Unterschlupf zu der 500 Klafter entfernten Burg 
führte. Mit einer Kerze leuchtete er seinen Schritten voraus. Hin und 
wieder blieb er stehen und zog eine Karte zu Rate, denn der Gang 
verästelte sich häufig, und ohne eine Planzeichnung hätte er sich 
rettungslos verirrt. 

Der Geheimgang war Bestandteil eines natürlichen Höhlensystems, 

das der Baumeister von Atzerath durch Zufall bei den Arbeiten am 
Fundament gefunden hatte. Als einzigen weihte er den damaligen 
Burgherrn ein. Gemeinsam durchforschten sie monatelang die 
meilenweiten Gänge, die oft tief unter der Erde unvermittelt endeten. 
Nur einer führte eine halbe Meile von Atzerath entfernt inmitten fast 
undurchdringlichen, dornigen Gestrüpps und dichtverwachsenem 
Unterholz ans Tageslicht. 

Der Baumeister fertigte eine Karte an, von der später noch einige 

wenige Abschriften hergestellt wurden. Sollten je Feinde die Burg 
besetzen, würde der Burgherr einen fabelhaften Fluchtweg zur 
Verfügung haben. Kurz bevor der Gang an der Erdoberfläche 
mündete, ließ er von dem Baumeister und zwei zum Schweigen 
verpflichteten Arbeitern an einer Stelle, wo ein unterirdischer 
Wasserfall floß, den achteckigen Schlupfwinkel erbauen. 

Übrigens wurden nach der Beendigung dieses unterirdischen 

Bauwerks die drei Beteiligten nie wieder gesehen. Nur der Burgherr 

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wußte, wie sie umgekommen waren und daß er ihre Leichen mit 
eigener Hand in einen Seitengang geschleppt hatte. Nie würde man 
dort ihre Skelette finden. 

Das Geheimnis vererbte der tückische Burgherr seinen Söhnen Atz 

und Lutz. Diese teilten es später mit Haggan, ihrem Busenfreund, der 
es an Trumm weitergab. Nachdem nun Atz tot war, kannten nur noch 
drei Männer das Geheimnis. 

Den Zugang zum Schloß bildete eine für Uneingeweihte völlig 

unsichtbare Tapetentür in der Kemenate, die für die Frau des 
Burgherrn gedacht war. Da Atz unbeweibt war, blieb die Kemenate 
unbenutzt. 

Dennoch beachtete Trumm, als er sie erreichte, alle gewohnten 

Vorsichtsmaßnahmen, ehe er sie von außen her öffnete. Durch 
aufmerksames Horchen hatte er sich vergewissert, daß kein 
Unbefugter zufällig in der Kemenate war. Von dort gelangte Trumm 
rasch in die Halle. Er kam gerade in dem Augenblick, als Haggan 
von Jongs vier Getreuen überrumpelt worden war. 

Der riesige Graukopf kam seinem Herrn sofort zu Hilfe. Als er den 

ersten Schlag führte, erwachten mehrere Höllensöhne aus der 
Erstarrung und schlugen mit scharfer Klinge auf die Jong-Anhänger 
ein. Keiner überlebte. 

Sie wollten auch dem zitternden Jong das gleiche Schicksal 

bereiten. Aber Haggan hielt sie mit herrischer Gebärde zurück. 
»Einen so schnellen Tod hat der Verräter nicht verdient!« verkündete 
Haggan finster, und Jong, der das hörte, wand sich vor Furcht wie in 
Krämpfen. Haggan fuhr fort: »Das Urteil über Jongs Missetat aber 
überlasse ich dem Burgherrn Atz von Atzerath! Wo ist er? Wo ist 
mein Freund Atz? Warum eilt er nicht herbei, um mich an seine 
Brust zu drücken?« 

Totenstille  trat nach diesen Worten ein. Schuldbewußt blickten die 

Höllensöhne, von denen keiner besser war als Jong, zu Boden. 

Noch einmal rief Haggan, lauter diesmal, nach Atz. 
Da schlurfte ein Mann mit gesenktem Kopf langsam durch die 

weite Halle heran. Haggan faßte ihn scharf ins Auge und erkannte 

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ihn. »Lutz!« rief er überrascht. »Du hier? Komm, alter Freund und 
Eisenfresser! Wo ist dein Bruder? Wo ist Atz? Warum läßt er mich 
warten? Ist das gastlich? Ist das fürstliche Manier?« 

Noch drei Schritte tat Lutz. Dann blieb er stehen. Dumpf klang 

seine Stimme, als er antwortete: »Es ist noch keine halbe Stunde her, 
da wurde mein Bruder von deinem Unterführer Jong meuchlings 
erstochen!« 

»Ist das wahr?« fragte Haggan. 
Der Bucklige bedeckte seine Augen mit den Händen.  Er ertrug 

Haggans bohrenden Blick nicht länger. 

»Es ist wahr«, sagte Lutz tonlos. »Und ich wünsche, da ich der 

Erbe meines Bruders bin, das Urteil über den Meuchelmörder zu 
sprechen.« 

»Das steht dir zu, Lutz, falls es mit meinem übereinstimmt.« 
Der Bruder des Burgherrn erhob seine Stimme nicht, aber die 

Worte seines Urteils waren bis in den letzten Winkel der Halle zu 
vernehmen. Noch bevor er geendet hatte, gab es einen dumpfen 
Krach. 

Jong, der bucklige Aufrührer, war ohnmächtig umgefallen. 

Als der nächste Morgen graute, standen fünf Männer auf der 
unbewaldeten Kuppe und schauten angestrengt zu den grauen 
Mauern und dem wuchtigen Turm von Burg Atzerath hinüber. In der 
vergangenen Nacht waren Roland, Louis und die beiden Gaukler auf 
Volker vom Hohentwiel 

gestoßen. Der briet gerade zwei 

frischerlegte Fasanen an einem kleinen Lagerfeuer und beklagte sich 
lauthals über Kein, der ihn schnöde verlassen und ihm die Fiedel 
gestohlen hatte. 

Roland freute sich über das Wiedersehen mit dem Freunde, aber 

der Verdacht gegen Hein erboste ihn mehr, als er sich selber erklären 
konnte. Wie kam es nur, daß ihm der prahlerische und keineswegs 
mutige Junge so ans Herz gewachsen war? 

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Die ersten Sonnenstrahlen strichen über die Burgzinnen und 

erfaßten die Flagge mit dem silbernen Hirsch auf schwarzem Grunde 
über dem Burgfried. Plötzlich erschien eine Gruppe von Männern, 
und die Flagge wurde heruntergeholt. Gleich darauf stieg am 
Flaggenmast ein zappelnder Körper empor, der mit einem Ruck 
erschlaffte. 

Und jetzt hing statt der Fahne mit dem Atzerath-Wappen ein 

Gehenkter über der Burg! 

Roland und Volker wechselten einen Blick. Das grausige 

Schauspiel überzeugte die beiden Ritter, daß Haggan der Gräßliche 
das Kommando auf der Burg führte. Vorsichtig zogen sie sich in die 
Deckung der dichtstehenden Fichten zurück und beobachteten, wie 
überall verstärkte Wachtposten aufzogen. 

Louis fluchte lautlos vor sich hin. »Verdammt, verdammt, wir 

kamen zu spät. Diese Feste können wir zu dritt nie erstürmen. Und 
hätte jeder von uns zehn Löwen im Leib, so müßten wir doch im 
Hagel der Geschosse untergehen, noch bevor wir das erste Bollwerk 
genommen hätten!« Mißmutig formte er Schneebälle und warf sie 
gegen die unverschämt grinsenden Funkmann und Schiebermann. 

Volker schien von allen Sorgen  unberührt. Er wälzte sich auf den 

Rücken und sang mit seiner klaren, warmer Stimme: 

»Hör ich nur des Hochwaldes Rauschen, Und denke voll Liebe an 

dich, Dann möcht' ich mit niemandem tauschen, Kein König ist 
reicher als ich!« 

Roland lauschte dem Freunde  mit halbem Ohr, während seine 

Augen auf Funkenmann und Schiebermann nachdenklich ruhten. 
Natürlich war auch ihm klar, daß die Burg weder im Handstreich 
noch auf andere gewaltsame Art zu erstürmen war. Aber es mußte 
doch einen Weg geben! Auf keinen Fall würde er unverrichteter 
Dinge von hier abziehen. Der gefährlichste Mann des Reiches, 
Haggan der Gräßliche, mußte auf irgendeine Weise unschädlich 
gemacht werden! 

Der Ritter zermarterte sich den Kopf. Allmählich begann sich ein 

Gedanke in ihm zu formen. Er spann ihn weiter aus, und sein Mund 

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verzog sich zu einem Lächeln. 

So mußte es gehen! 
»Freunde!« rief er, an einen Buchenstamm gelehnt. »Ich habe die 

Lösung! Wir werden Haggan aus der Burg, aus der Mitte seiner 
verruchten Kumpane herausholen, wenn ihr mir vertrauensvoll folgt. 
Hört meinen Plan!« 

Volker und Louis waren aufgesprungen und zu ihm getreten. 

Aufmerksam hingen ihre Blicke an seinen Lippen. Sie würden ihm 
auch in die Hölle folgen, wenn er es verlangte! Die Höllensöhne 
sollten sie kennenlernen! 

»Sprich, Roland!« forderte Volker ihn auf. »Wie lautet dein Plan?« 
Roland aber winkte den beiden Gauklern, die sich bescheiden 

abseits hielten. »Kommt her, alle beide! Ich brauche euch. Ihr wißt, 
daß ich Haggan gefangennehmen und nach Schloß Camelot 
zurückbringen muß. Seid ihr bereit, mir dabei zu helfen?« 

Die Gaukler sahen einander verlegen an. Dann erwiderte 

Funkenmann: »Herr, wie sollten wir Euch helfen? Wir sind 
armseliges, fahrendes Volk und im Waffenhandwerk nicht erfahren. 
Schiebermann hier, mein  Geselle, kann wohl Schwerter schlucken, 
aber nicht mit ihnen fechten. Und ich kann nur Feuer schlucken und 
Flammen sprühen. Gaukelei, nichts als Gaukelei!« 

»Eure Kunststücke werden uns sehr nützlich sein«, behauptete 

Roland. »Und nun hört, was ich mir ausgedacht habe!« 

Vor den untereinander so verschiedenen Männern entwickelte 

Roland seinen tollkühnen Plan. Ihre Gesichter waren ernst, und der 
Gedanke an die vor ihnen liegenden Gefahren verschlug ihnen den 
Atem. 

Vom Wachtturm klang ein Warnruf. »Über das Tal nähern sich fünf 
Männer!« 

Der Wachhabende am Tor trat heraus. Er legte den Kopf in den 

Nacken und rief nach oben: »Sind sie bewaffnet?« 

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»Es sieht nicht so aus. Doch sind es auch keine Bauern des 

Burglehens. Es sind Fremde. Sie wirken zerlumpt und arm. Ein Pferd 
führen sie mit sich.« 

»Dank für die Meldung. Wir werden sie schon auf den rechten 

Weg bringen!« Der Wachhabende lachte roh, und seine drei Posten 
stimmten ein. Auf ihre Lanzen gestützt, erwarteten sie die angekün-
digten Fremden. Endlich wurden  sie auch von ihrem Standplatz aus 
sichtbar. 

Die Gruppe bot wirklich keinen kriegerischen Anblick. An der 

Spitze ging ein Hinkefuß, dessen rechtes Auge hinter einer Binde 
verborgen war. Er trug gelbe, anliegende Hosen, hohe Stiefel, einen 
weiten Mantel voller Flicken und vereinzelter Risse. Auf dem Kopf 
saß ihm der Hut wie ein Topfdeckel. 

Es war Volker, und seine Kleider stammten aus dem Vorrat 

Funkenmanns, der ihm mit seinem Gesellen auf dem Fuße folgte und 
mit pfiffigem Ausdruck aus seiner Vermummung schaute. Dann kam 
Louis und zuletzt Roland, der sich mit Schiebermanns Hilfe recht 
vagabundenhaft ausstaffiert hatte. Er führte das Packpferd mit sich. 
Die übrigen Pferde hatten sie am Waldrand angebunden. In dicke 
Bündel gehüllt, führten sie ihre Waffen mit sich. Aber niemand 
vermutete sie in dem wollenen Zeug auf dem breiten Rücken des 
Gauls. 

Die Wachen empfingen sie sehr ungnädig. »Zieht weiter, 

Lumpenpack! In dieser Burg wohnen nur ehrliche Leute.« 

Das »Lumpenpack« ließ betreten die Köpfe hängen. Aber  Volker 

hinkte unbekümmert weiter und öffnete den Mund zu einer längeren 
Rede. Er verstand es, den Wachhabenden neugierig zu machen, 
indem er sich und die anderen Mitglieder seiner »Truppe« als bestau-
nenswerte Künstler vorstellte, die schon an vielen Burgen 
beifallumrauscht ihre Vorstellungen gegeben hätten. 

Die Wachen lauschten dem Redefluß des einäugigen Hinkebeins, 

und ihre Augen glänzten in der Vorahnung eines glänzenden 
Schauspiels. Allein der Wachhabende hegte noch Zweifel. »Eh' ich 
euch glaube und Zutritt gewähre, gebt mir eine Kostprobe eures 

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Könnens!« verlangte er. 

Volker winkte Schiebermann zu sich. »Dieser wunderbare 

Künstler«, schwärmte er dann, »nährt sich nicht von Fleisch, Korn 
und Früchten, sondern von nacktem Eisen. Seht ihr, wie er mit 
begehrlichen Blicken das Schwert an Eurer Hüfte betrachtet? Er 
möchte es zu gern verschlucken!« 

»Verschlucken?« rief der Wachhabende. »Das kann kein 

sterblicher Mensch! Die Klinge ist scharf, das Eisen lang und hart.« 

»Und doch wette ich, daß er die Waffe bis zum Heft verschluckt.« 
Die Wachen lachten laut. »Ich setze einen Dukaten dagegen.« 
»Topp!« rief Volker. »Die Wette gilt!« 
Immer noch lachend händigte der Wachhabende Schiebermann 

sein Schwert aus. Unter gewaltigem Hokuspokus nahm der Gaukler 
die Klinge  entgegen, rieb sich den Bauch, öffnete den Mund, weit 
und immer weiter, hob das Schwert, daß es in der Sonne blitzte und 
blinkte, schob es in den Mund und durch die Gurgel. 

Dann tat er, als gelinge das Kunststück nicht, zog das Schwert 

heraus, setzte neuerlich an  - und so trieb er es einigemal. Dann gab er 
sich einen Ruck, schien seinen ganzen Mut zusammenzunehmen, 
stand aufrecht, gereckt wie ein junger Buchenstamm, und schob nun 
wirklich das Schwert von oben in seinen Leib, immer tiefer, bis nur 
noch das Heft herausschaute. 

Mit offenen Mündern sahen die Wachen zu. Aber Schiebermann 

stolzierte wie ein Posten mit dem Schwert im Leibe einigemal auf 
und ab, ehe er endlich mit nicht weniger Hokuspokus als zu Anfang 
das Schwert Stück um Stück wieder ans Tageslicht holte. Der 
Wachhabende war begeistert und wollte sofort seinen verlorenen 
Dukaten bezahlen. Aber Volker wehrte ab. 

»Behalte die Münze!« sagte er und deutete auf Louis. »Ich habe 

einen Zauberer bei mir, der mir so viele Dukaten aus der Luft holt, 
wie ich haben will!« 

Louis wies seine leeren Hände vor, fuchtelte schneller, als Blicke 

folgen konnten, durch die Luft, drehte sich auf dem Hacken einmal 
um sich selber, griff dem Wachhabenden ans Ohr und hielt plötzlich 

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einen Dukaten zwischen Zeige- und Mittelfinger! Lauter Beifall 
lohnte seine Vorführung. 

»Und nun«, rief Volker, »führt uns zum Burgherrn!« 
»Folgt mir!« sagte der Wachhabende. »Haggan wird euch nicht 

mehr von seiner Seite lassen. So etwas wie euch gibt es im ganzen 
Lande kein zweitesmal!« 

So hielten sie Einzug auf Burg Atzerath. 

Nachdem der Aufrührer Jong gehängt worden war, trieb Haggan die 
Burgbewohner zu emsiger Arbeit an. Zunächst mußten sie die von 
ihren Saufereien verdreckten Innen- und Außenräume reinigen. Dann 
wurden sie zu Waffenübungen gerufen, die bis zum Abend 
fortgesetzt werden sollten. Knappen und Höllensöhne stöhnten 
einträchtig nebeneinander unter den ungewohnten Strapazen, die 
durch ihre Brummschädel vom übertriebenen Weingenuß des Vor-
abends besonders anstrengend waren. 

Haggan setzte die Burg in den bestmöglichen 

Verteidigungszustand. Er rechnete damit, daß früher oder später ein 
Trupp von König Artus' Rittern vor Atzerath auftauchen würde. Aber 
er war guten Mutes, sowohl einem wagemutigen Sturm wie auch 
einer längeren Belagerung trotzen zu können. 

Es kam nur darauf an, seinen Männern den Liederjahn wieder 

auszutreiben, der während seiner Gefangenschaft auf Camelot 
eingerissen war. 

Die Halle funkelte wieder vor Sauberkeit, als ihm die Gaukler 

gemeldet wurden. Kein Ritter des Mittelalters hätte sich ein solches 
Schauspiel an einem eintönigen Wintertag versagt. In diesem Punkte 
unterschied sich der Geschmack des Burgadels in keiner Weise von 
dem des Volkes, das zur Sommer- und Herbstzeit in Scharen auf die 
Jahrmärkte strömte. 

Haggan nahm mit Trumm und Lutz auf hohen Stühlen Platz und 

sah den Gauklern erwartungsfroh entgegen. An ihrer bescheidenen 

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Kleidung nahm er keinen Anstoß. Wer weiß, wie lang und 
beschwerlich die Reise war, die hinter ihnen lag! 

Als erster trat Louis auf. Indem er das Gackern von Hennen 

nachahmte, zauberte er Eier vom Fußboden, von den Wänden und 
aus der Luft. Trumm kreischte vor Vergnügen. Haggan lachte breit. 
Sogar Lutz, dem nach seines Bruders Tod der Sinn  eigentlich nicht 
nach Vergnügungen stand, wurde aufmerksam. 

Jetzt näherte sich Louis den Zuschauern und pflückte Trumm eine 

Blume aus der Nase. Dann begab er sich zu Lutz und hob die Hand  - 
in der Absicht, aus dem Ärmel des Ritters einen Dukaten zu zaubern. 
Urplötzlich erhob sich Lutz halb, packte Louis am Arm und schrie: 
»Dich erkenn' ich trotz deiner Verkleidung, Unseliger! Du bist der 
Dieb, der sich bei Kaufmann Klotz einschlich. Vorsicht, Haggan! 
Hüte dich, Trumm! Dies sind keine echten Gaukler! Sie  wollen uns 
Böses!« 

Alle drei sprangen auf und zogen die Waffen. Dabei mußte Lutz 

den ertappten Louis loslassen, der auf der Stelle zu Roland eilte. Der 
hatte bereits das Deckenbündel geöffnet und reichte Louis und 
Volker ihre Handwaffen. 

Oh, wie flink zeigte sich jetzt das ehemalige Hinkebein Volker! 

Louis wandte sich gegen Lutz von Lutzerath, und der einstige 
Waldräuber, der bei einem Fechtmeister fleißig Unterricht 
genommen hatte, entzauberte in Windeseile den viel ungelenkeren 
Ritter. Er umtanzte ihn und ließ die Klinge schwirren, daß Lutz 
glaubte, sein Gegner führe drei oder gar vier Waffen zugleich. 

Doch im Vertrauen auf seine Kraft setzte Lutz alles auf einen mit 

voller Gewalt von oben her geführten Schlag, der Louis den Schädel 
spalten sollte. Nicht noch einmal durfte ihm dieser Frechling 
entwischen! 

Indessen fühlte Volker kaum die Waffe in der Hand, da sah er sich 

schon dem Graukopf Trumm gegenüber, der ihn um mehr als 
Haupteslänge überragte. Trumms Kampfstil war in Jahrzehnten 
gleich geblieben und  immer gleich erfolgreich gewesen. Mit seinem 
Zweihandschwert mähte er alles nieder, was sich ihm in den Weg 

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stellte. 

Aber er hatte noch nie einen so eleganten Fechter wie Volker zum 

Gegner gehabt. Nie war der Sänger da, wo Trumms Waffe 
vernichtend einschlug. Dafür wurde fast jeder Schlag Volkers ein 
Treffer. Bald tropfte Blut auf den eben gesäuberten Fußboden, und 
Trumm sah sich in höchsten Nöten. Er war in die Verteidigung 
gedrängt. Aber wie sollte der plumpe Mann sich gegen den hervor-
ragend fechtenden Volker verteidigen? 

Trumm dämmerte es, daß er verloren war. Seine Wunden 

schmerzten. Schon stand er mit dem Rücken zur Wand. Sein Blick 
war trüb geworden, und er konnte Volkers Bewegungen nicht mehr 
folgen. Da rutschte der Minnesänger auf dem glatt gescheuerten 
Boden aus und fiel! 

Als er wieder hochkam, war Trumm geflohen. Volker sah gerade 

noch einen Hacken - dann war der Riese außer Sichtweite. 

Trumm stürzte in die Kemenate. Ein Blick über die Schulter. 

Keiner verfolgte ihn. Mit bebenden Händen öffnete er die geheime 
Tapetentür ... 

Im selben Augenblick führte der bis zum äußersten gereizte Lutz 

einen Fehlhieb und rannte, vom eigenen Schwung vorwärtsgetrieben, 
in die Klinge des Knappen Louis. Mit einem Aufschrei, dem 
röchelnde Laute folgten, sank er nieder. 

In einem anderen Teil der Halle standen sich Roland und Haggan 

gegenüber. »Wenn Ihr Haggan seid«, rief Roland schneidend, »so 
ergebt Euch! Ich stehe hier in des Königs Auftrag, um den 
Flüchtigen aus Camelots Verlies  zurückzubringen. Tot oder lebendig 
- Ihr entgeht mir nicht!« 

Der Gräßliche maß ihn mit verächtlichem Blick. »Denkt Artus, den 

Gott verdammen möge, so gering von mir, daß er mir einen 
Milchbart schickt, um mich gefangen zu nehmen? Wo sind Eure 
Narben, wo sind die Gesichtsrunen des Mannes, Ritter Namenlos?« 

»Kein Wort mehr!« unterbrach ihn Roland. »Meinen Namen sollt 

Ihr erfahren. Ich bin Roland! Und jetzt werft das Schwert weg! 
Ergebt Euch auf Gnade und Ungnade!« 

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Haggan lachte ihm ins Gesicht. 
Roland wartete noch ein paar Atemzüge lang. Haggan hörte nicht 

auf zu lachen. Er lachte ihn aus. Da faßte Roland sein Schwert fester 
und rief: »Dann muß ich Euch mit Gewalt gefangennehmen!« Er 
ging in Angriffsstellung und ... 

Unvermittelt ließ Roland die Waffe sinken. »Verzeiht, Ritter«, 

sagte er niedergeschlagen. »Ich kann gegen Euch nicht kämpfen. Ihr 
wart es, der mir das Leben gerettet habt als ich wehrlos in der Hand 
der wilden Bauern war.« 

»So ist es«, bestätigte Haggan grinsend. »Ohne mich lägt ihr jetzt 

erschlagen und steif gefroren auf Kloppers Hof.« Und wieder 
schallte sein Lachen durch die Halle und gellte Roland in den Ohren. 

Volker und Louis sahen ihn zögern und kamen neugierig näher. 

Kein Zweifel, daß sie Haggan angreifen würden, wenn Roland es 
nicht tat. 

Haggans stechende Augen rollten. Er schaute von einem zum 

anderen. Rolands Gesicht spiegelte den inneren Kampf, der in ihm 
tobte. Und ehe noch die Freunde eingreifen konnten, hatte er sich 
entschieden. 

»Hört meinen Vorschlag, Haggan! Ich darf Euch kein Leid 

zufügen  - nach dem, was Ihr an mir getan habt. Aber des Königs 
Auftrag muß erfüllt werden. So laßt uns in ritterlichem Zweikampf 
nach strengen Turnierregeln den Zwist entscheiden. Hebt meine 
Lanze Euch aus dem Sattel, so gebt Ihr Euch gefangen. Werft Ihr 
mich in den Staub, so bin ich Euer Gefangener, und Ihr mögt mit mir 
verfahren, wie es Euch gefällt.« 

Noch immer lachte Haggan. Sein Blick tastete über Rolands 

Gestalt. Er schätzte ihn ab. Nun, er war gutgewachsen, groß und 
geschickt in seinen Bewegungen. Aber wie sollte er gegen ihn, 
Haggan, vor dem Fürsten zitterten, bestehen? Ein Jüngling ohne die 
Erfahrung vieler kampfdurchtoster Jahre? 

Haggans Entschluß war gefaßt. »Ich nehme den Vorschlag an. 

Erwartet mich in einer Stunde, so Ihr Roß und Lanze  habt, vor den 
Toren der Burg! Genießt die letzte Stunde, die Ihr in Freiheit 

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verbringen werdet!« 

Dann wandte er sich und verließ eilends die Halle. Auch er begab 

sich zur Kemenate. Auch er betrat den geheimen Gang. 

Als er den unterirdischen Raum erreichte, saß Trumm auf einem 

Schemel und kühlte seine Wunden. Hein hatte sich, so weit es der 
Raum zuließ, von ihm zurückgezogen und blickte furchtsam Haggan 
entgegen. 

Trumms Gesicht spiegelte Schmerzen wider. Doch als Haggan 

rasch eintrat, verzog er die Lippen zu einem gequälten Lachen. Er 
deutete auf Hein. »Sieh unser Spielmännchen, Haggan! Ich 
überraschte ihn beim Baden. Vor Schreck sang er wie eine Lerche. 
Und er ist eine Lerche! Die Männerkleider dienten dazu, uns zu 
täuschen. Das halbgare Bürschlein wird  nie ein Mann werden. Es ist 
ein Mädchen!« 

Und mit den Händen malte Trumm fast zärtlich die Umrisse eines 

weiblichen Körpers in die Luft. 

Eine Stunde ist eine kurze Zeit. Es gab noch viel zu tun. Louis 
verließ die Burg, wobei er am Tor einen längeren Aufenthalt hatte, 
weil die Wächter ihn darum baten, noch ein wenig für sie zu zaubern. 
Dieser Bitte konnte er sich natürlich nicht entziehen, und so holte er 
ihnen Löffel, Eier und Federn aus Ohren und Nasen, zum Abschluß 
sogar einen halben Dukaten, den ebenso selbstverständlich der 
Wachhabende für sich behielt. »Als Andenken«, sagte er listig. Und 
überlegte doch schon, ob er mit dieser Münze wohl endgültig die 
Gunst der immer noch zwischen Tugend und Gefühl schwankenden 
Magd Hulda gewinnen könne. 

Eilends begab sich Louis dann ins Tal, wo sie die Pferde 

angepflockt hatten. Sie grasten am Bachrand, aber der edle Samum 
gebärdete sich höchst ungeduldig. 

Louis klopfte ihm den Hals. »Warte nur, mein Schöner«, sagte er, 

»bald wirst du dich tummeln können, wenn du meinen Herrn in den 

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schwersten Kampf seines Lebens trägst  - gegen Haggan vom Horn, 
den noch nie ein Gegner überwand!« 

In der Burg hatten indessen die Höllensöhne und Knappen 

gemerkt, daß niemand mehr ihre ermüdenden Waffenspiele 
beaufsichtigte. Einer nach dem anderen schlich sich davon. Den 
Anfang machten die Kühneren unter ihnen. Da nichts darauf geschah 
und sich weiterhin weder der gefürchtete Haggan noch sein zweites 
Ich, der riesige Trumm, blicken ließen, faßten sich auch die übrigen 
ein Herz, warfen die Waffen weg und folgten dem Vortrupp. 

Die Fässer waren leergetrunken. Aber einige kannten den Weg 

zum Weinkeller, über dessen Vorräte sagenhafte Berichte im 
Schwange waren. Geräuschvoll tappste die wüste Horde in langer 
Schlange über glatte, breite Steinstufen nach unten. Bald verkündete 
ein langanhaltendes Freudengeheul Roland und Volker, die sich in 
der Halle aufhielten, daß die Höllensöhne das Ziel ihrer Sehnsüchte 
entdeckt hatte. 

»Die werden uns nicht mehr in die Quere kommen«, sagte Volker 

und lachte. 

Roland zerbrach sich den Kopf darüber, wie Haggan und Trumm 

nach Belieben, wie es schien, an jedem Ort der Burg plötzlich 
auftauchen und spurlos wieder verschwinden konnten. Während sie 
auf die Rückkehr von Louis warteten, streifte er ruhelos durch die 
Räume und fand schließlich den erstochenen Atz, der in seinem 
Zimmer aufgebahrt lag. 

Der breite Siegelring an seiner Hand fiel Roland auf. Er hatte die 

gleichen Ringe bei Haggan und Trumm gesehen. Bargen die Ringe 
ein Geheimnis? 

Er tastete den Ring vorsichtig ab und fand einen schmalen, kaum 

fühlbaren Vorsprung an der rechten Seite, der sich eindrücken ließ. 
Roland bewegte den Mechanismus, und der Ringdeckel klappte auf. 
War im Inneren des Ringes ein Plan verborgen? 

Aber nein. Dort war nur in feinster Goldschmiedearbeit das 

Wappen der Atzeraths - ein Hirsch - verborgen. 

Seufzend klappte Roland den Ringdeckel zu und gab das Suchen 

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auf. Zu wohlbehütet war dieses Geheimnis. Er verließ die Kammer 
mit dem toten Burgherren, ging in die  Halle zurück und berichtete 
Volker von seinem Fund. 

Da hörten sie Hufschlag im Vorhof, und sie traten ins Freie. Louis 

war mit den restlichen Pferden zurückgekehrt. Auf den ersten Blick 
sah Roland, daß sein Samum sich in glänzender Form befand. Auf 
ihn würde er sich bei dem heißen Gang, der ihm bevorstand, 
verlassen können. 

Es fehlte jetzt nur noch eine halbe Stunde an der vereinbarten Zeit. 

Mit der umsichtigen Hilfe seines Knappen legte Roland die Rüstung 
an, die ihn schon so oft geschützt hatte, stieg in  den Sattel des 
ungeduldig tänzelnden Arabers und nahm den Schild. Noch immer 
trug er kein anderes Wappen als den unglückseligen Würfel, der nur 
ein Auge zeigte. 

Zuletzt griff der Ritter nach der Lanze, wog sie in der Hand und 

konzentrierte sich ganz auf den bevorstehenden Kampf. Es war 
früher Nachmittag, und die Wintersonne sank schon tief gegen Süd 
westen. 

Auch Louis und Volker saßen auf, und gemeinsam ritten sie zu den 

Auen am Bach hinunter. Die Wachen erkannten sie nicht. Sie 
achteten ihrer auch kaum, weil sie gerade in ein hitziges 
Streitgespräch über die Frage verwickelt waren, ob der fremde 
Magier nun mit überirdischen Mächten oder schlicht mit dem Teufel 
im Bunde stehe. Ein einziger wagte die Bemerkung, es sei alles 
nichts weiter als ein flinker, von jedem erlernbarer Gauklertrick. 
Aber er wurde zuerst ausgelacht. Schließlich verbot man ihm sogar 
unter Androhung von Prügeln, weiterhin so ketzerische Ansichten 
laut werden zu lassen. 

Nun warteten die drei Freunde am Bach, dessen Ränder zugefroren 

waren. 

Mit einem Blick auf den Stand der Sonne sagte Volker: »Die Zeit 

ist um.« Seine Stimme klang beklommen. 

»Vielleicht kommt Haggan gar nicht«, sagte Louis. »Kann sein, 

daß er in seinem Versteck liegt, gebratene Hühnchen frißt und sich 

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über uns lustig macht!« 

Rolands Herz tat einen schnelleren Schlag. Und obwohl er sich 

dagegen sträubte, gewann er an Louis' Gedanken Geschmack. Wäre 
es denn so schlimm, wenn Haggan in seinem Schlupfwinkel bliebe 
und nicht zum Duell erschiene? 

Genau das  ist es ja, was ich mir wünsche,  stellte Roland 

erschrocken fest. Und er dachte:  Nun ist es klar. Ich fürchte mich vor 
dem Duell mit dem Gräßlichen, dem niemand gewachsen ist. 
Außerdem ist es Unrecht, daß ich überhaupt gegen ihn kämpfe. 
Unrecht, daß ich ihm die Freiheit nehme und ihn in Ketten dem 
König ausliefern will.
 

Er hat mir doch das Leben gerettet! 
Oh, käme er mir nie mehr unter die Augen! Ich könnte ihn doch 

nicht besiegen. 

Seine Arme waren wie Blei. 
Da  blitzten Funken am jenseitigen Rand der Auen auf. Die Sonne 

spiegelte sich in einer Rüstung. Auf schneeweißem Pferd kam der 
Gefürchtete geritten: Haggan vom Horn. Als er sich näherte, 
erkannte Roland schaudernd das Wappen des Gräßlichen auf seinem 
Schild: fünf schwarze Wölfe mit roten Zungen auf silbernem Grund! 

Langsam wurden Roß und Reiter größer. Die Strahlen der Sonne 

funkelten und gleißten auf der Rüstung, daß Haggan von einem 
Glanz umgeben schien, der Roland in den Augen schmerzte. 

Gern hätte er Samum herumgeworfen und wäre davongeritten, 

denn dieser strahlende Anblick nahm ihm den letzten Zweifel. Es 
war vermessen, sich mit dem übermächtigen Kämpfer zu schlagen! 

Haggans Worte fielen ihm ein: »Genieße deine letzte Stunde in 

Freiheit!« 

Doch es war  zu spät zu schmählicher Flucht. Haggan hielt 20 

Schritt entfernt und hob die Lanze zum Gruß. 

Er ist sich seiner Sache so sicher, daß er sogar auf Trumms 

Begleitung verzichtet hat,  dachte Roland. Seine Kehle war wie 
ausgedörrt. Leise bat er Louis, ihm einen Becher Wasser zu bringen. 
Der Knappe eilte zum Bach, um daraus zu schöpfen. 

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Volker ritt zu Haggan hinüber und fragte: »Wollen wir Lose 

werfen, um die Seiten zu bestimmen?« 

Haggan lachte laut auf. »Wozu die Umstände? Ob ich den Bach 

zur Rechten oder zur Linken, die Sonne im Gesicht oder im Rücken 
habe, gilt mir gleich. Der Sieg ist mir sicher.« 

Volker war tief beeindruckt von dem überlegenen Auftreten des 

Gegners. Aber er ließ sich nichts anmerken, als er in gewollt 
gleichgültigem Ton antwortete: »Ihr habt völlig recht. Beim 
Seitenwechsel nach dem ersten Gang gleichen sich mögliche 
Vorteile ja sowieso aus.« 

»Wer sagt Euch denn, daß es einen zweiten Gang geben wird?« 

erwiderte Haggan spottend. »Ich gedenke, ein schnelles Ende zu 
machen. Und nun gebt  den Weg frei! Ich reite bis zu jener Birke dort 
zurück. Alsdann gebt das Zeichen!« 

Roland trank durstig das eiskalte Bachwasser und verfolgte mit 

brennenden Augen den Weg Haggans bis zu der Birke. Dort wendete 
der Gräßliche. 

Volker hob den Arm. 
Die Pferde galoppierten an. Es war ein herrliches Bild, als die 

beiden Ritter über die weiße Schneefläche mit eingelegten Lanzen 
schnurstracks aufeinander zuritten. Der Rappe Samum erschien dem 
Auge kaum schneller als Haggans stolzer Schimmmel. Und wieder 
begann Haggans Rüstung zu blinken, zu prunken und zu glühen. 

Louis wendete den Blick ab. Er konnte die Spannung nicht mehr 

ertragen. 

Roland war so bleich wie der Schnee geworden. Doch niemand sah 

es dank des geschlossenen Visiers. Aber von dem Augenblick an, da 
sein Roß ihn dem Gegner entgegentrug, war die Angst von ihm 
abgefallen. Die bleierne Schwere in den Armen lahmte ihn nicht 
mehr. Er stürmte in den Kampf. Ohne Furcht, aber auch ohne 
Zuversicht. Jedes Gefühl war aus seinem Herzen geflohen. 

Näher und näher kamen sich die Ritter. 
Und dann der Zusammenstoß! 
Haggan fing Rolands Lanzenstoß mit dem Schild auf. So ruckte er 

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um keines Haares Breite im Sattel. Doch als er am Gegner vorbei 
war, ließ er den Schild sinken. Er spürte den Anprall von der 
Schulter bis zu den Fingerspitzen. Ihm war, als seien sämtliche 
Muskeln betäubt. 

Roland wurde knapp über der rechten Hüfte getroffen und ein 

stumpfer Schmerz schien ihm die Eingeweide zu zerreißen. Hätte ihn 
die Lanze höher am Körper erwischt, an Brust oder Schulter, er hätte 
sich nicht im Sattel halten können. Auch so schwankte er wie ein 
Bootsmast im Sturm. 

Diesmal trabte Roland bis zu der Birke, um dort zu wenden. Jetzt 

ritt er gegen die Sonne. Aber Haggan blitzte und prunkte und glühte 
nicht mehr. Wirkte er im Sonnenlicht fast wie ein überirdisches 
Wesen, so war er jetzt eine gewöhnliche, wenn auch stattliche 
Rittererscheinung. 

Beim zweiten Zusammenprall wankten beide, doch war keiner 

ernstlich in Gefahr, aus dem Sattel zu fallen. Schon während sein 
Schimmel zur Birke galoppierte, schaute Haggan sich um. Er meinte 
wohl, Roland sei zu Boden gestürzt. Als er sah, daß dies nicht zutraf, 
schüttelte er unmutig den Kopf, daß sein Helmbusch hin- und 
herflog. 

Beim nächsten Gang gab er seinem Pferd die Sporen. Er wollte 

dem Kampf offenbar mit aller Gewalt ein Ende bereiten. 

Als die Ritter noch zehn Schritt voneinander entfernt waren, grub 

Haggan erneut die Sporen in die schon blutenden Weichen des 
Schimmels. Das Tier machte einen unerwarteten Sprung, und 
Rolands Lanze stieß ins Leere. 

Doch Haggan traf, und es war ein Treffer, der Roland von Kopf bis 

zu den Zehen durchschüttelte. Volker bedeckte sich unwillkürlich die 
Augen mit der Hand. Als er sie schnell wieder wegzog, lag Rolands 
Körper fast waagerecht zur Seite. So ging es zehn Galoppsprünge 
lang weiter, und bei jedem fürchtete Volker den Sturz seines 
Freundes. Aber er überstand die schlimme Lage. 

Und nach dem zehnten Sprung arbeitete er sich mit größter 

Anstrengung wieder nach oben. Es sah aus, als krieche er mühselig 

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auf sein Pferd hinauf. Dann saß er wieder kerzengerade im Sattel. 
Doch er konnte Lanze und Schild kaum mehr halten. 

Da hörte er Volker schreien. Er horchte, verstand ihn aber nicht. 

Doch nach dem Wenden erkannte er, was der Freund ihm mitteilen 
wollte. Haggans  Lanze war gesplittert, und in seinem Übermut hatte 
er keine zweite mitgebracht! 

Roland gewann Zuversicht. Nun war er im Vorteil. Sollte der 

Gräßliche doch nicht unüberwindbar sein? 

Samum schien die Gefühle seines Reiters zu spüren. Mit erhöhter 

Schnelligkeit jagte er auf Haggan los. Schneller als in den vorherigen 
Gängen schmolz der Abstand zwischen den Gegnern. 

Doch was war das? Haggan hatte die zersplitterte Lanze 

weggeworfen und parierte den Schimmel lange vor dem Ort ihres 
Aufeinandertreffens. Wollte er aufgeben? 

Ein Hochgefühl schwellte Rolands Brust. 
Aber dann sah er, daß Haggan das Schwert zog. 
Er wollte einen Schwerterkampf zu Pferde! So stand es in keiner 

Turnierregel, und Roland hatte es kaum je geübt. Natürlich hätte er 
versuchen können, Haggan mit der Lanze aus dem Sattel zu heben. 
Aber sein Gefühl für Fairneß hinderte ihn daran. Nach kurzem 
Überlegen warf auch er die Lanze weg, zog ebenfalls sein Schwert 
und drang auf Haggan ein. 

Nun sangen die Klingen ihr klirrendes Lied. Wie zustoßende 

Schlangen zuckten sie gegeneinander. Schlag  - Parade  -Gegenschlag. 
Das Bild wechselte ständig. Selten, daß ein Hieb zum Treffer wurde. 
Wenn das Schwert zur Parade zu spät kam, rettete meist doch der 
Schild. 

Dennoch gab es die ersten Wunden, wenn der wuchtige 

Schwerthieb die Rüstung durchfuhr. Das war, als würden lodernde 
Fackeln gegen den Körper gedrückt. Aber je mehr Fackeln Roland an 
seiner linken Körperseite spürte, desto mehr wuchs sein Kampfgeist. 

Er wehrte sich mit Umsicht und dem ganzen Schwung seiner 

unverbrauchten Jugendkraft. Trotzdem merkte er, daß die Waage des 
Sieges sich auf Haggans Seite neigte. 

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Woran liegt es?  fragte er sich verzweifelt. Und dann erkannte er 

den Grund. Haggan, der im Schwerterkampf zu Pferde erfahren 
schien, hetzte seinen Schimmel ständig dazu an, Samum zu 
bedrängen. So wurde Roland dauernd herumgedreht und sah den 
nächsten Schlag oft erst im letzten Augenblick von rechts kommen, 
wenn er ihn von der anderen Seite erwartete. 

Sobald er dies erkannte, manövrierte er dagegen, und rasch kam 

Haggan in ähnliche Bedrängnis. Nun war der Kampf wieder 
unentschieden. 

Wohl eine Stunde lang wogte der Kampf hin und her, und die 

Ritter nutzten dabei die ganze Länge und Breite der Bachauen. Wohl 
eine Stunde lang schrie Louis wie ein Besessener seinem Herrn 
Warnungen, aufmunternde Worte und flehende Wünsche zu, von 
denen der nicht das geringste wahrnahm. 

Volker verkrampfte die Hände um seinen Schwertgriff, als wolle er 

ihn zerdrücken. Als erster bemerkte er, daß Roland einen Plan 
verfolgte. Wenn auch der Kampf im Zickzack über das Schneefeld 
hin und hersprang, war es Roland doch gelungen, den Gegner immer 
näher zum Bach zu drängen. 

Zu spät merkte es Haggan, daß der Schimmel in Gefahr kam, mit 

den Hinterbeinen in den halbzugefrorenen Wasserlauf abzugleiten. 
Zweimal konnte er es noch gerade so vermeiden. Doch dann geschah 
es. 

Der Schimmel glitt rückwärts in den Bach und versuchte, mit 

einem irren Luftsprung herauszukommen. Haggan wurde wie eine 
Puppe weggeschleudert und knallte aufs Eis, das unter ihm brach. 
Ehe er sich's versah, lag er im eiskalten, schnellfließenden Wasser. 
Nur sein Schwert ragte wie ein abgebrochener Wurzelstab nach 
oben. 

Wie der Blitz sprang Roland vom Pferd, führte einen Hieb gegen 

Haggans Waffe, die davonflog, und zerrte den halb betäubten Gegner 
aus dem Wasser. Dann kniete er sich auf seine Brust und sagte 
schweratmend: »Ergebt Euch - oder Ihr sterbt auf der Stelle!« 

Haggans Lippen bewegten sich mühsam. Doch ehe das erste Wort 

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hörbar wurde, rief eine bekannte Stimme: »Werft Euer Schwert weg, 
Roland! Sonst mache ich Eure Braut vor Euren Augen nieder!« 

Roland sah sich um. In einiger Entfernung saß Trumm auf dem 

Fuchshengst, vor sich im Sattel gefesselt Hein. Ein Hein in 
Mädchenkleidern! Wie Schuppen fiel es Roland von den Augen. 
Was sein Verstand nicht durchschaute, hatte sein Herz fast vom 
ersten Augenblick an begriffen. Darum hatte er Hein sofort gern 
gehabt! Darum gewann er den vermeintlichen Jüngling von Tag zu 
Tag lieber und nahm ihm weder die laute Prahlerei noch sein 
zaghaftes Handeln übel. 

Trumm schwenkte sein Schwert. Nun sah Roland, daß der 

Graukopf die sechsköpfige Wache der Burg mitgebracht hatte. Sie 
hielt sich zu seinem Schutz im Halbkreis um ihn geschart. 

Und dann hörte er Hein, der in Wirklichkeit Heide hieß, und die 

flatternde helle Stimme schnitt ihm durchs Herz: »Hab Erbarmen, 
süßer  Roland! Hilf mir, mein geliebter Ritter! Ich will nicht so jung 
sterben!« 

Roland erhob sich. Er schleuderte sein Schwert weit von sich und 

breitete die Arme aus, um anzuzeigen, daß er waffenlos war. Es 
schmerzte ihn nicht, daß Haggan, den er überwunden zu haben 
geglaubt hatte, nun abermals frei kam. Es reute ihn nicht, daß er bei 
der Erfüllung eines Auftrags von König Artus zum erstenmal versagt 
hatte. Und er verschwendete nicht den kleinsten Gedanken an die 
Gefahr, die Haggan nun neuerdings über Camelot bringen würde. 

Alles in ihm drängte zu dem Mädchen. Nichts wünschte er 

sehnlicher, als sie in seine Arme zu schließen. Was wogen dagegen 
Pflicht, Ruhm und Ehre? Sie erschienen ihm geringer als Staub. 

Und er rief: »Nun gebt mir meine Braut frei!« 
Die Antwort Trumms ließ nicht lange auf sich warten. »Ich bringe 

sie Euch ...« 

Im leichten Trab kam Trumm auf Roland zu, vor sich das Mädchen 

Heide. Verzehrend brannten sich Rolands Augen in ihre weichen 
Züge, ihr langes, aschblondes Haar und die hellen Augen, die  so 
keck strahlen konnten und jetzt trüb vor Tränen waren. 

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Nun war sie ihm ganz nahe. Er streckte die Arme aus, um sie von 

Trumms Fuchshengst zu heben. 

Da führte Trumm überraschend einen heimtückischen Schlag. Von 

oben drang sein Schwert durch Rolands Helm. 

Wie vom Blitz getroffen, stürzte Roland kopfüber in den Schnee. 

Den entsetzen Schrei Heides hörte er nicht mehr. 

Und nicht Trumms rauhe Stimme: »Das ist dein Ende, Roland!« 
 

ENDE DES 1. TEILS DER TRILOGIE 

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Freude herrscht im Schloß Camelot. Der totgeglaubte Roland war 
zurückgekehrt!  - Nach einem triumphalen Empfang erzählte Roland 
vor dem König und der Tafelrunde von seinen Abenteuern, und der 
Jubel wurde unermeßlich, als er ankündigte, er habe Haggan 
gefangengenommen ... 
»Wo ist er?« fragten alle durcheinander. Die Ritter sprangen auf. 
»Wo habt Ihr ihn verborgen?« Auch König Artus wurde ungeduldig. 
Es kostete Roland einige Überwindung, die Wahrheit zu sagen, die 
jetzt in seinen Ohren wie ein unerhörter Fehltritt klang. »Ich ließ 
ihn auf der Waldburg zurück. Er gab mir sein Ehrenwort, später 
nach  Camelot zu folgen. Zehn Tage Frist gab ich ihm.« 
Verwunderte Blicke trafen Roland. Der König legte eine Hand vor 
die Augen. Stimmengewirr. Roland kam sich wie ein Verfemter vor, 
und bald sollte er es auch sein. 
Ein paar Tage später kam Roland in Haft. Ihm sollte der Prozeß 
gemacht werden. Roland ahnte bereits sein Urteil. . . 

Rolands Entritterung 

ist ein dramatischer Ritter-Roman. Ruhm und Ehre sollen ihm 
aberkannt werden, und ihm droht die Todesstrafe. 

Liebe Leser, 
Sie erhalten den Ritter-Roland-Roman Band 29 in  14 
Tagen bei Ihrem Zeitschriftenhändler. DM 1,60.