Dissieux, Michael Die Legende von Arc's Hill 01 Die schwarze Stadt

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Inhalte

1.

Titel

2.

Impressum

3.

Die schwarze Stadt

4.

Der Autor

5.

Der LUZIFER Verlag

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DIE LEGENDE VON

ARC’S HILL

BUCH EINS

DIE SCHWARZE STADT

Michael Dissieux

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Impressum

Deutsche Erstausgabe

Copyright Gesamtausgabe

© 2014

LUZIFER-Verlag

, Bochum

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit
Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Cover: Timo Kümmel

ISBN E-Book: 978-3-95835-038-0

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DIE SCHWARZE STADT

Es ist nicht tot, was ewig liegt, bis dass die Zeit den Tod
besiegt. - H.P. Lovecraft

Manche sagen, Arc´s Hill sei verflucht, eine Stadt, die den Pestatem
des Bösen verbreitet.

Andere bezeichnen den Landstrich jenseits der Wälder von Durham
als vom Teufel berührt.

Glaubte man den uralten Legenden, so erzählten sich die Männer,
wenn sie am Abend in den Tavernen zusammen saßen, mit
gewichtiger und gleichzeitig von Furcht gezeichneter Miene von
den dunkelsten Nächten des Jahres, wenn man den Teufel mit sein-
er dämonischen Brut auf den weiten Ebenen des verfluchten
Landes tanzen sehen konnte.

Und nur hinter vorgehaltener und zitternder Hand sprachen sie
von den grauen Bergen, die das verfluchte Städtchen wie der feiste
Schoß einer gewaltigen Bestie hüteten, und auch davon, wie das
verzweifelte Wehklagen gepeinigter Kinder durch die kalte
Nachtluft bis hinunter in die Gassen des Städtchens drang. Gerade
so, als versuchten die kleinen, gemarterten Seelen vor jenen
schrecklichen, unaussprechlichen Kreaturen zu entfliehen, welche
seit Urgedenken auf den steinernen Felsen der Berge ihre Zuflucht
besaßen.

Saßen die Männer am Abend im Kreise ihrer Familie in den Stuben
beisammen, und waren die Vorhänge zugezogen und Fenster und
Türen fest verschlossen, dann erzählten die Ältesten von ihnen von
den geflügelten Wesen, die man des Nachts schattengleich und

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schweigend durch das weite Land jenseits von Arc´s Hill streifen
und den Himmel in totale Finsternis tauchen sehen konnte.

Oder aber sie sprachen mit leiser Stimme und mit von Furcht ge-
weiteten Augen von den unheimlichen Stimmen, die durch die
Dunkelheit drangen und direkt aus der harten und kalten Erde
herzurühren schienen.

Einige wenige glaubten zu wissen, dass diese fremdartigen Sprac-
hen von Wesen aus den schwarzen Räumen zwischen den Sternen
stammten. Grauenvolle Kreaturen, die aus dem Dunkel hin-
abgestiegen waren, um ihre unheilige Saat in den Schoß der neu er-
schaffenen und noch glühenden Welt zu legen.

Es gab andere, die diese archaischen Wesen als ›Die Großen Alten‹
betitelten, abscheuliche Dämonen, welche aus einem Universum
weit jenseits des unseren stammten.

Doch wurde ihnen kein Glauben geschenkt und ihre Worte als Nar-
retei und von Alkohol geschwängerte Geisterfurcht abgetan.

Dabei kamen diese Wenigen der abscheulichen Wahrheit viel näh-
er, als jeder andere, der an den Tischen der nach Rauch und Sch-
weiß stinkenden Tavernen oder aber im Kreise der Familie im
Laufe der Jahrhunderte seine selbstersonnenen Geschichten zum
Besten gegeben hatte. Auch wenn sich diese Wenigen der Bedeu-
tung ihrer Worte kaum im Klaren waren.

Es waren eben nur Geschichten, die man sich über das verfluchte
Städtchen Arc´s Hill erzählte. Worte von Narren, die im Schatten
von Aberglauben und mit der Furcht ihrer Vorfahren herangewach-
sen waren …

***

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1986 …

Wenn man alles verloren hat, was man im Leben als wichtig
erachtete, ist es kein leichtes Unterfangen, wieder aus den düsteren
Tiefen der Verzweiflung herauszugelangen. Noch aussichtsloser er-
scheint der mutlose Versuch, seinen Geist von der wunderlichen
und verlockenden Sehnsucht nach dem Tode zu befreien oder gar
zu beschützen.

In London, jener lauten und grellen Stadt, in der Wahnsinn und
Hochgefühl an jeder Ecke Hand in Hand gingen, hatte Mike Os-
mond diesbezüglich keine Möglichkeit gesehen, den schreienden
Schatten der Vergangenheit zu entfliehen und sich aus dem Sumpf
von Niedergang und verzehrendem Selbstmitleid zu befreien.

Jede Straße und jeder Stein erinnerten ihn an seine Familie und zo-
gen mit der unbarmherzigen Härte eines dunklen Dämons seinen
Verstand in diese finstere Grube aus Schmerzen und Todessehn-
sucht hinab. Selbst das Sonnenlicht und das Flüstern des Abend-
windes waren für Mike wie das Leuchten in Olivias Augen und der
süße, neugierige Klang von Susans kindlicher Stimme.

Er wollte sich vor den Schrecken dieser neuen, leeren Welt – einer
Welt ohne Olivia und Susan – in einer Dunkelheit verstecken, die er
sich selbst erschuf, und in ihrem Schoß ganz und gar aufgehen.

Zu viel Alkohol floss seine Kehle hinab und versuchte seine
schreienden Sinne zu betäuben. Er saß in dunklen Zimmern und
lag in kalten Betten, berauscht vom Gelächter von Whiskey und Bi-
er in seinem Verstand, und lauschte einer fremdartigen, er-
drückenden Stille, die ihn verspottete und zerriss.

Er war nicht mehr er selbst. Er war ein Fremder, der ihn verhöhnte
und sich an seinem eigenen Leid labte.

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Immer wieder tauchten ihre Gesichter vor seinen schmerzenden,
schwarz geränderten Augen auf, wie Geister aus längst zerfallenden
Zeiten.

Das wunderbare, weiche Antlitz von Olivia, das ihn seit der
Schulzeit fast sein gesamtes Leben begleitet hatte, und dessen
Lachen ihn selbst an einem stürmischen Regentag verzaubern
konnte.

Wie hatte er es geliebt, dieses wie in kostbaren Marmor gearbeitete
Gesicht zu berühren, zu liebkosen und zu streicheln, in ihren hellen
und klaren Augen wie in einem beruhigenden Bergsee zu versinken
und den weißen Grund ihrer Seele zu erforschen. Jedes Mal ent-
deckte er etwas Neues und Liebreizendes an ihr. Er genoss den Duft
ihrer Haut und das Aroma ihrer Haare, und ließ sich von ihr zu
Welten jenseits jeder Vorstellungskraft entführen.

Dann erschien Susan im trüben Nebel seiner Erinnerungen.

Seine kleine Tochter.

Ihre gemeinsame Tochter …

Das gleiche ebenmäßige Antlitz, das gleiche Lächeln, die gleichen
hohen Wangenknochen und die gleichen blonden Locken wie
Olivia.

Wenn Mike in der Tiefe seines finsteren Abgrunds ihr Lachen
hörte, fern und vergänglich, mit dem Echo des Verlorenen behaftet,
hatte er das Gefühl, einen kurzen Blick in den Himmel werfen zu
dürfen.

Diese Schmerzen …

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Diese Finsternis tief in seiner Seele, in der zeit seines Lebens
Lichtschein vorgeherrscht hatte.

Seine Familie war der Mittelpunkt einer Welt gewesen, die weitaus
imposanter und gigantischer war als alle strahlenden Welten jen-
seits der Sterne, und die ihn mit starken Armen und verführ-
erischen Düften in einer Welt am Leben erhielt, die ihr Glück voller
Neid und Missfallen betrachtete.

Die schreckliche Frage, welch grauenvolle und widerwärtige
Kreatur das Schicksal sein mochte, konnte sich Mike in den Orgien
seiner von Alkohol geschwängerten Nächte nicht zu genüge beant-
worten. Er kam zu dem niederschmetternden Entschluss, dass der
menschliche Verstand in seiner Beschränkung nicht dazu geschaf-
fen war, das verkommene Wesen dieser Bestie zu erfassen, die un-
ser aller Leben in ihren schuppigen Klauen hielt und unbarmherzig
mal an diesem, mal an jenem Faden zog. Und das nur, um sich
selbst an der grauenvollen Abartigkeit seines Handelns zu laben
und ein weiteres glückliches und erfülltes Leben mit einem simplen
Wimpernschlag auszulöschen.

Doch der Dämon war nicht dazu in der Lage gewesen, Mikes Leben
vollständig auszublenden.

Er hatte ihm Olivia und Susan genommen. In einer Nacht, die kalt
und neblig war, und in der beide über eine einsame Straße liefen,
die sich in jener Nacht als perverser Spielplatz des Dämons
entpuppte.

Eine Zeit lang hing Mike willenlos und gebrochen an den Fäden
seines absonderlichen Gegenspielers und wartete voller Sehnsucht
darauf, dass sich endlich die richtige Schnur um seinen Hals legen
und ihn mit Olivia und Susan wieder vereinen würde.

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Doch dieser Wunsch war zu banal für den grinsenden Dämon, als
welchen Mike das Schicksal seines Lebens mittlerweile betrachtete.
Er beschloss, in einem eigensinnigen Aufbäumen seiner Selbstach-
tung, sich nicht auf das niedere Spiel jenes unsichtbaren und per-
vertierten Wesens einzulassen.

Mit Gedanken erfüllt, die nicht seinem eigenen Verstand zu
entstammen schienen, beschloss Mike, all den Erinnerungen an
seine lebendige Zeit den Rücken zu kehren. Denn so viel Alkohol er
auch zu trinken vermochte um seine toten Sinne zu betäuben, so
musste er sich eingestehen, dass die Geister seiner Frau und seiner
Tochter noch immer durch die Hektik einer grellen Stadt wandel-
ten, die er einmal als seine Heimat bezeichnet hatte.

Alles, was er in seinem sterbenden Leben noch tun konnte, war,
diesem dunklen Sumpf, in dessen Tiefen sein Leben allmählich
versank, den Rücken zu kehren.

Und er hoffte inständig, dass er die lieblichen Geisterwesen seiner
Liebsten in den modernen Häuserschluchten Londons zurücklassen
konnte.

***

So erreichte Mike Osmond am Nachmittag eines verregneten Tages
einen kleinen Ort am Rande der Welt; abgeschnitten von jeglicher
Zivilisation und scheinbar vergessen von der Zeit.

Bislang war Mike der naiven Auffassung gewesen, dass in der Hek-
tik moderner Zeiten und karriereorientierter Menschen ein
Städtchen wie Arc´s Hill unmöglich existieren konnte. Doch als er
die schmale Straße durch den Wald westlich von Durham befuhr
und die Schatten der Bäume nach einigen Meilen ungewöhnlicher
Stille den Blick auf jenen fremdartigen und nicht vorstellbaren Ort
freigaben, wurde Mikes taumelnder Verstand eines Besseren

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belehrt. Er schien die Zeit, wie er sie bisher gekannt und definiert
hatte, hinter sich zurückgelassen zu haben.

Arc´s Hill lag etwa fünf Meilen westlich von Durham, einer kleinen,
beschaulichen Stadt mit hellen Straßen und gepflegten Häusern.
Als Mike Arc´s Hill an diesem Herbsttag erblickte, erschien es ihm,
als habe er mit Durham die letzte Bastion von Zivilisation und
Gesittung verlassen und sei in ein vergessenes Zeitalter
eingetaucht.

Eingebettet in den gigantischen, dunklen Schoß schroffer Gebirgs-
felsen, die sich steil und unwirtlich in einen beinahe schwarzen
Himmel erstreckten, kauerte der Ort wie ein kränklicher Fötus in
den Schatten des dunklen Gesteins.

Eine Straße aus schmutzigem Kopfsteinpflaster schlängelte sich
leblosem Gewürm gleich den Hügel hinab, hinein in die Schatten
elender Häuserschluchten. Niedrige, windschiefe und dem Zerfall
dargebotene Bauten schmiegten sich in letzter verzweifelter Zunei-
gung aneinander und harrten der Zeit des Vergessens. Über den
mit Moos bewachsenen Schindeln der Dächer stach der schwarze
Finger eines Kirchturms in den düsteren Leib tiefhängender
Wolken, als versuchte Arc´s Hill sich mit Gottes Hilfe gegen den
unwiderruflichen Niedergang aufzulehnen.

Das Städtchen glich dem bizarren Gemälde eines entarteten Künst-
lers, als wäre der Teufel selbst aus der Hölle gestiegen, um die Erde
mit Trostlosigkeit zu strafen.

Was Mike vom Rand des Waldes aus erblickte, wirkte leblos und
verlassen.

Nichts rührte sich.

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Ein erdrückendes Schweigen hing tief in den Gassen von Arc´s Hill.
Mike hatte das Gefühl, sein Blick würde über ein steinernes, verrot-
tetes Grab schweifen, das sich mit letzter Kraft dagegen wehrte, in
die harte, ungeweihte Erde gezogen zu werden.

Der Anblick der tristen Häuser und schwarzen Bänder enger und
verborgener Gassen ließ ihn erschaudern. Alles wirkte verlassen
und tot, bar jeglichen Lebens. Selbst die Luft schien still und
verkommen über den von Regen glänzenden Dächern zu verharren.

Doch genau das war es, was Mike zu finden erhofft hatte. Denn in
einem Ort, von allen Zeiten vergessen, an den sich niemand mehr
jenseits des Waldes erinnern würde – oder mochte – würden die
scharfen, nadelfeinen Zähne des Schmerzes sich vielleicht nicht
mehr so tief in seiner geschundenen Seele festbeißen können.

Am Ende der Welt hoffte er vergessen zu können, was ihm die alte
Welt, die er einst liebte und pflegte, auf so niederträchtige Weise
genommen hatte.

Der Mensch geht merkwürdige Wege, um zu vergessen, dachte
Mike, während er diesen als wagemutig zu bezeichnenden Schritt
heraus aus der zivilisierten, modernen und lärmenden Welt, hinein
in den schweigsamen, fast reglos zu nennenden Landstrich unter-
nahm. Dabei keimte ein Gefühl in ihm, das eine seltsame Mischung
aus Erleichterung und Furcht vor dem Namenlosen darbot. Welche
Empfindung in ihm überwog, darüber wagte er in diesen ersten
Minuten nicht nachzudenken.

Vielleicht wollte sich Mike an jenem kalten Herbsttag, als er Arc´s
Hill erreichte, nicht eingestehen, dass etwas Bedrohliches von
diesem Ort ausging. Er versuchte zu vermeiden, dass seine Illusion
von Vergessen und Neubeginn durch infantile Gedankengänge zer-
stört wurde.

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Doch ahnte er damals schon in den Tiefen seines Bewusstseins,
weit unterhalb der Oberfläche seines Denkens, dass über den
flachen Häusern mit ihren dunklen Dächern und steinernen Kam-
inen, die düster in das schwindende Grau des Tages ragten, ein
giftiger Dunst hing, der den Ort wie eine unsichtbare Beklemmung
am Atmen hinderte.

Dank seiner beruflichen Position im Büro einer angesehenen Ver-
sicherung, die Mike in seinem alten Leben inne hatte, war es ihm
möglich gewesen, zumindest einen geringen Standard seines alten,
lieb gewonnenen Lebensstils beizubehalten.

So hatte er mit dem letzten Geld eines Daseins, das er zu vergessen
suchte, ein altes, leerstehendes Haus erstanden, das etwas abseits
der Wege an den felsigen Ausläufern der nahen Berge erbaut
worden war; vom übrigen Ort getrennt durch einen schmalen,
steinigen Fußpfad, der unter einem Spalier riesiger Trauerweiden
mit vernarbten, knorrigen schwarzen Stämmen hindurchführte.

Das Haus, ein imposantes Gebäude aus dunkelroten Klinkersteinen
und mit Holz verkleideten Anbauten, gefiel Mike beim ersten An-
blick. Trotz der verfallenen und lange verlassenen Atmosphäre, die
sich hinter den schwarzen Fenstern wie eine lauernde Bestie zu ver-
stecken schien, hatte er das Gefühl, in dem alten Gemäuer ein
neues Zuhause gefunden zu haben. Einige Holzlatten der Erker
waren zerbrochen oder von grauem Moder befallen und viele der
dunklen Schindeln des hohen Daches fehlten oder lagen zerbrochen
im mit Unkraut und abgestorbenen Buschwerk überwucherten
Garten.

Doch Mike schätzte die abgeschiedene Lage von den übrigen alter-
tümlichen Häusern Arc´s Hills. Das Gefühl, durch den in tiefen
Schatten liegenden Feldweg von der übrigen Welt und dem mit ihr
verbundenen Schmerz getrennt zu sein, erzeugte in ihm eine Eu-
phorie, die jene andere Empfindung, die ihn unbewusst vor dem

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stillen und einsamen Haus schaudern ließ, in der Tiefe seines Un-
terbewusstseins in dessen finstere Grube zurückdrängte.

Der Makler, der es ihm verkauft hatte und der nur widerwillig aus
Durham in diesen seltsamen Ort gekommen war, erzählte Mike,
dass das Gebäude in den letzten zwei Jahrzehnten leergestanden
hatte. In der schäbigen Taverne des Ortes, so erwähnte der Mann
nicht ohne einem nervösen Flackern in den Augen, erzählte man
sich die skurrilsten Geschichten, die sich in ihrer Düsternis um das
Verschwinden des letzten Besitzers des Anwesens rankten.

Jener Makler aus Durham, der Mike als Mr. Delwright im Gedächt-
nis haften geblieben war, fügte mit unsicherem Lächeln hinzu, dass
man an jedem Ort der Welt, der Arc´s Hill auch nur im Entfern-
testen ähnelte, derartige schauerliche Mythen anzutreffen ver-
mochte, und man den Worten jener einfältigen Menschen nicht
allzu viel an Beachtung schenken durfte.

Mr. Delwright war Mike sehr angespannt vorgekommen, als er über
die alten Geschichten plauderte, die man in der Taverne am späten
Abend und nach einigen Bieren zu hören bekam. Unablässig hatte
der Makler seinen Ehering am Finger gedreht und sich in dem
herrschaftlichen Anwesen umgesehen, als rechnete er jederzeit
damit, einen Geist zu erblicken.

Doch Mike schätzte den Mann für seine Ehrlichkeit, denn wer hielt
sich schon an Anstandsregeln, wenn es galt, ein altes, dem Zerfall
preisgegebenes und von düsteren Mären umgebenes Haus an den
Mann zu bringen?

Jene von Delwright erwähnten makabren Ammenmärchen taten
Mikes Eifer keinen Abbruch. Wer einmal in die Hölle geblickt hat,
lässt sich von ländlichem Aberglauben nicht in die Flucht schlagen.

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Und so begann er bereits an seinem ersten Tag in dem modrigen
Anwesen die staubigen Zimmer zu lüften und den erstickenden
Gestank von Jahrzehnten zu vertreiben.

Viele der antiquierten Möbel waren noch brauchbar und genügten
seinen Zwecken. Jenes Mobiliar, das sich bereits im Zerfall befand
oder von Menschenhand zertrümmert worden war – vieles davon
im Zorn, wie Mike zu erkennen glaubte – ersetzte er durch einige
wenige schlichte Möbelstücke, die er aus London nach Arc´s Hill
bringen ließ.

Sein letztes Zugeständnis an sein altes Leben.

Die trüben Tage verbrachte er damit, die knarrenden Holzböden zu
wischen und von einer harten, nach Fäulnis stinkenden Schicht aus
Dreck und Staub zu befreien. Ebenso säuberte er die veralteten, je-
doch noch gebrauchsfertigen sanitären Anlagen des Anwesens, die
dem modernen Standard lange schon nicht mehr entsprachen.
Unter einem archaischen, schützenden Mantel aus Zerfall und vor
Jahren verendetem mikroskopisch kleinem Getier blieben sie lange
und hartnäckig Mikes Blicken verborgen.

Der Gestank, der sich in den hohen, kalten Räumen eingenistet
hatte und von uralten, unaussprechlichen Zeiten zeugte, war über-
wältigend und erinnerte Mike an den süßen, sekkanten Geruch al-
ter Gräber an heißen Sommertagen.

Er fragte sich, welch grauenvolle Geschichten sich stumm im
abgestandenen Atem des Hauses hielten und darauf lauerten, den
ersten, unbedarften Zuhörer mit ihren albtraumhaften Visionen um
den Verstand zu bringen.

Was mochte sich in diesem uralten, dem Verfall dargebotenen Haus
zugetragen haben, dass sich, wie Mike Delwrights Schilderungen

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entnommen hatte, kein Käufer in den letzten beiden Jahrzehnten
gefunden hatte?

Eine stumme, düstere Bedrohung schien wie ein stinkendes Tuch
die Wände und Decken des Anwesens zu verhüllen.

Muteten die Tage schon befremdlich und seltsam an – obgleich die
letzten hellen Sonnenstrahlen eines schwindenden Sommers durch
die kleinen geöffneten Fenster fielen und ein leichenfahles Muster
auf zerschlissene Teppiche und graue Holzböden warfen – so em-
pfingen ihn die Nächte umso schrecklicher.

Zu diesen unwirtlichen Zeiten hielt sich Mike zumeist in den Keller-
räumen des Hauses auf.

Eine unnatürliche, schockierende Kälte staute sich in den niedrigen
Verschlägen und Kammern, die sich labyrinthartig wie eine finstere
Grube unter dem Anwesen ausbreiteten.

Mike erklärte sich die eisige Luft damit, dass sich die Kellerräume,
die er durch eine steile, hölzerne Stiege mit knarrenden Holztritten
erreichte, tief unter der Erde befanden und die kleinen Räume die
Kälte nicht mehr freigaben. Zudem kündigte sich in den Nächten
der nahende Winter aus den Bergen an.

Er war sich dessen bewusst, dass diese Gedanken nur einem
Scheindenken entsprachen, um sich die neue Euphorie, die ihn in
Arc´s Hill gepackt hatte und ihm ein neues Leben versprach, nicht
nehmen zu lassen. Er wusste, der Grad zwischen Niedergang durch
unsägliche, habgierige Trauer und dem schlichten Triumph, end-
lich den entscheidenden Schritt heraus aus der Depression getan zu
haben, war ein schmaler.

So arbeitete er in den Nächten in den ausgekühlten, beengten
Kellerräumen und Verschlägen, die durch simple Türen aus

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morschen Holzlatten miteinander verbunden waren. Er trug eine
wollene Jacke und eine altmodische Wollmütze, die seine Ohren je-
doch nur teilweise zu wärmen vermochte. In vielen der niedrigen
Kammern konnte Mike nicht einmal aufrecht stehen. Die Decke be-
stand aus losem Gestein und vernarbtem Staub, übersät mit dick-
em, schwarzem Spinngewebe.

Keuchend und mit Schmerzen in Hüfte und Beinen mangels des
aufrechten Ganges arbeitete er sich des Nachts von Raum zu Raum.
Dabei stieß er auf Unmengen von alten, vermoderten Holzplanken,
die unter seiner Berührung zu Staub zerfielen. Er fand altertüm-
liches, mit Schimmel und Spinnweben überzogenes Mobiliar, das
dem Griff seiner Hände nicht mehr Stand hielt. Dazu zertrat er
Hunderte von Käfern, Spinnen und anderem Gewürm, das ihm
fremdartig anmutete und dessen schweigendes Dasein in absoluter
Finsternis er nach Jahrzehnten aufgeschreckt hatte.

In einem der tiefliegenden Verschläge stieß Mike auf Berge alter,
nach Fäulnis und Vergangenheit riechender Kleider, die nachlässig
in verschimmelte Kisten gesteckt worden waren oder einfach auf
dem harten Erdreich zu formlosen Haufen aufgetürmt lagen.

Sie schienen ein hohes Alter zu besitzen, denn die Schnitte der
Hosen und Röcke, sowie die Tatsache, dass Mike unter den Haufen
auch von Moder und Staub verhärtete Fräcke und Gehröcke mit
dazugehörigen Zylindern vorfand, zeugten von einer Zeit, die längst
schon vergessen und in der das Anwesen noch jung an Jahren
gewesen war.

Mike versuchte sich die Menschen vorzustellen, die einst diese
Kleider trugen. Doch die bloße Vorstellung, dass selbst die Nach-
kommen dieser Personen nicht mehr unter den Lebenden weilten,
erinnerte ihn auf schreckliche Weise an Susan und Olivia. Er
beschloss, bei nächster Gelegenheit die Kisten und Berge mit

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Kleidern im Garten hinter dem Anwesen den Flammen zu
übergeben.

In einem weiteren Raum, dessen felsige Decke sich bedrohlich nach
unten neigte und breite, von einer Wand zur nächsten reichende
Risse aufwies, fand Mike verrostete, rußgeschwärzte Öfen und
wurmstichige Schränke, die einmal einer Küche gedient haben
mochten, und die das Alter jeglicher Farbe beraubt hatte.

Seit Jahrzehnten harrten diese Zeugen aus längst vergangenen Ta-
gen unter einer dicken Schicht aus grauem Staub und von der
Decke herabrieselnden Steinchen in ewiger Finsternis, denn der
gesamte Keller besaß nicht ein Fenster. Das einzige Licht stammte
von Öllaternen, die Mike in der Wohnung gefunden hatte, sowie
zwei starken Taschenlampen.

Eine widernatürliche, belastende Stille hing wie ein unsichtbarer
Schleier in den niedrigen Räumen, die einem unheimlichen, lange
verrotteten Grabgewölbe glichen.

Das Zerbersten von morschem Holz und verhärteten Erdhaufen,
das Knacken der flinken, aufgeschreckten Käfer unter Mikes
Schuhen, sowie das angestrengte Keuchen seines Atems ob der un-
bequemen Haltung, in der er des Nachts diese Arbeiten verrichtete,
waren die einzigen trostlosen Geräusche, welche das Haus erfüllten.

Inmitten dieser totenähnlichen Stille stieß Mike in der sechsten
Nacht seiner Arbeit auf eine alte, eisenbeschlagene Truhe, die ledig-
lich von einem simplen, verrosteten Schloss gesichert wurde. Doch
löste sich das Metall schnell unter seinen Händen in einer Wolke
aus Rost und Staub auf.

Was Mike im Innern dieser seltsamen Kiste vorfand, ließ ihn den
Schrecken der Kälte und das unangetastete Schweigen in den
Kellerräumen vergessen. Mit seinem Fund stieg er in dieser Nacht

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die steile Stiege in die gewärmte Wohnung empor, die ihm plötzlich
von einer schweren Atmosphäre belastet erschien. Fast kam es ihm
vor, als trüge er mit der Truhe und ihrem unheimlichen Inhalt auch
die tiefe Stille und eine lange begrabene Vergangenheit hinauf in
die Wohnstube.

In dieser Nacht, in der Mike die alte Truhe entdecke hatte, träumte
er zum ersten Mal von Seiner Stadt …

***

Ich wandelte durch düsteren, kargen Raum, ohne Richtung, ohne
Ende, bewegte mich mechanisch in einem Körper, der nicht der
meine sein konnte.

Albtraumgleiche Furcht leitete mich hämisch durch das unwirt-
liche Dunkel, durch eine gespenstische Leere, wie sie selbst den
schrecklichsten, gegenstandslosesten Fantasien uneigen war. Der
Körper, der mich trug, so ich in der Lage war, jenen fremden Leib
in dieser schauerlichen Welt zu spüren, fühlte sich heiß und
pochend an, als würde er von verzehrendem Fieber heimgesucht.
Dann wiederum kalt und schweigend, wie der verrottete Leib
eines Toten.

Mir kam der schreiende Gedanke, dass dies die untrüglichen
Zeichen des Todes bedeuten konnte, der mich des Nachts im Schlaf
ereilt hatte. Absolute, namenlose Einsamkeit über einem unend-
lichen Abgrund tiefster Schwärze. Hier konnte mein Geist auf
nichts Lebendiges mehr stoßen. Hier, inmitten von Finsternis und
richtungsloser Weite.

Hatte ich endlich Gnade vor dem Richter und Dämon gefunden,
der über unser aller Leben urteilt, und befand mich auf dem stillen
Weg zu Olivia und meiner kleinen Tochter? Hatte ich endlich
genügend Leid in dieser schrecklichen, lauten und dekadenten

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Welt erfahren, um schließlich auf die lange ersehnte Reise
geschickt zu werden?

Der Gedanke, widerlich und verführerisch zugleich, erschreckte
mich und ließ Raum und Zeit zu einem Nichts aus Sinnen,
Gedanken und Ängsten verkommen. Fast schon war ich dazu
bereit, mich der monströsen Dunkelheit des Todes hinzugeben und
blind auf den Pfaden der Stille zu wandeln.

War es nicht das, was ich mir immer erhofft hatte? Jene Visionen,
zu denen mich der Alkohol verleitet und die ich in jenen ruinösen
Nächten als die einzige Wahrheit anerkannt hatte?

Schmerz und Leid waren fremd in diesem finsteren Schweben.
Einzig der Gedanke an Erlösung und das totale Vergessen all jener
Widerwärtigkeiten meines alten Lebens hielten meinen sch-
weigsamen Verstand gefangen.

Wo ich mich befand, war unwichtig. Selbst was im Dunkeln lauern
konnte, schreckte mich nicht. Nach einem Leben in Pein gab es
nichts mehr, das man als Entsetzlich erachten konnte.

Einzig der Weg zählte.

Jener stille, schwarze Pfad, auf dem ich wandelte, und der mich
durch diese Ebene des Todes leitete.

Ich ließ mich treiben und labte mich am Vergessen.

Dann tauchte Lichtschein wie ein entferntes, schwaches Pulsieren
inmitten der Einförmigkeit auf. Das Licht, von welchem die Worte
der vom Tode Wiedergekehrten berichteten?

Das Licht der anderen Welt?

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Das Funkeln wurde stärker. Ich bewegte mich schneller als erwar-
tet darauf zu.

Die grabesähnliche, lauernde Nacht um mich herum wurde geban-
nt und in die Höhlen meiner ureigenen Ängste zurückgetrieben.

Und dann, mit Augen, die mir fremd erschienen, und einem Ver-
stand, der mich schwindeln ließ, sah ich sie zum ersten Mal.

Die Stadt in der Dunkelheit.

Ich blickte auf ein glänzendes, reflektierendes Meer heller Dächer
und blendender weißer Fassaden herab. Auf ein Flechtwerk im-
posanter, gerader und leuchtender Straßenzüge.

Alles schwamm in diesem unnatürlichen, verlockenden Schein
goldenen Lichtes, der vom Mittelpunkt dieser Stadt auszugehen
schien, einem monströsen Tempel, der auf der Spitze eines terras-
sengleichen Hügels thronte, umgeben von blühenden, farbenfro-
hen Blumenmeeren und unbekannten, uralten Bäumen, durchzo-
gen von Straßen und Wegen, die sich bis hinunter zu den fürst-
lichen Bauten und glanzvollen Palästen wanden.

Ich sah einen Fluss, der sich schimmernd wie Silber unter Brücken
aus weißem Marmor schlängelte und von einem dampfenden
Wasserfall über den Terrassen gespeist wurde.

War das der Ort meiner Bestimmung? Der Ort, wo sich die Toten
sammeln, um ihrer Erklärung zu harren? Wurde hier über den
Menschen gerichtet?

Doch wo waren sie, die Legionen der Geister und unglücklicher
Seelen?

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Die Stadt lag verlassen und still vor mir, ein Elysium bar jeglicher
Präsenz. Ein schweigendes, in Licht ertränktes, einsames Grab in-
mitten schier endloser Wüsten purer Finsternis.

Nichts rührte sich … nichts regte sich …

Die Stadt hätte ein Traum sein können, die Fantasie verzweifelter
Gedanken, die sich nach der endgültigen Erlösung sehnten.

Etwas zog an mir …

Ich wollte nicht fort. Mich verlangte nach dem Eintauchen in
dieses unbeschreibliche, wundersame Meer fremder Existenz. Ich
wollte die Straßen erkunden, die herrschaftlichen Häuser und den
Weg ersteigen, hinauf zum majestätischen, gigantischen Tempel,
und die Kühle und Erhabenheit seiner hohen und verlassenen Hal-
len spüren.

Doch der Schein wurde schwächer. Die Nacht raste in atem-
beraubender Geschwindigkeit an mir vorbei. Willenlos wurde ich
von ihr aufgesogen, eingehüllt und höhnisch lachend begrüßt.

Die kalten Klauen der Furcht und des Verlustes griffen nach mir
und entrissen mir jegliche Erinnerung an jenen wundervollen Aus-
blick auf das Meer aus Licht und engelsgleichem Glanz.

Als Mike im Zwielicht eines heraufziehenden, düsteren Morgens er-
wachte, waren die Bilder jener geheimnisumwitterten Stadt ver-
schwunden. Lediglich das euphorische Gefühl von Ewigkeit brachte
ungreifbare Fetzen seines Traumes an den Rand seiner
Wahrnehmungskraft zurück.

Doch die Stadt selbst … war verschwunden.

***

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Am Mittag nach jener denkwürdigen Nacht streifte Mike ruhelos
und von seltsamen Gedanken und Empfindungen geplagt durch die
hohen Räume des Hauses. Er brachte kaum genügend Energie und
Konzentration auf, um sich auf die nötigen Arbeiten in den oberen
Zimmern des Anwesens zu kümmern, von denen einige seit un-
gezählten Jahren scheinbar von keinem menschlichen Wesen mehr
betreten worden waren. Vielmehr wurde Mike von einem abstrusen
Gefühl gefangengehalten, das seine Gedanken in eine völlig andere,
ihm unbekannte Richtung zog.

Er sah verzerrte, nebulöse Bilder von grenzenloser Finsternis und
hellem, gespenstischem Schein am Rande seiner Wahrnehmung-
skraft, ohne sie richtig greifen und verstehen zu können.

Die Empfindungen wirkten düster und abschreckend, aber auf
groteske Weise auch verlockend, als versuchte ihn irgendetwas
nicht Erkennbares zu verführen.

So setzte er sich am frühen Nachmittag dieses trüben und ver-
regneten Tages in einen altertümlichen Sessel, den er in der ersten
Nacht seiner Arbeiten in den Kellerverliesen gefunden und nach
oben getragen hatte, und widmete sich dem alten, in schwarzes
Leder gebundene Buch, sowie den Fotos, die er in der verstaubten
Truhe im letzten Raum des Kellers gefunden hatte. Vielleicht würde
es ihm gelingen, sich mittels ihrer von den merkwürdigen Bildern
in seinem Kopf abzulenken und seine überreizten Sinne zu
beruhigen.

Er betrachtete die gelbstichigen, an den Rändern zerrissenen Auf-
nahmen mit der Faszination eines Altertumforschers, der ein un-
schätzbares, antikes Gut in Händen hält.

Manche der Aufnahmen waren durch Kälte und Feuchtigkeit kaum
noch zu erkennen. Andere wiederum waren erstaunlich gut erhal-
ten, als seien sie mit besonderer Sorgfalt behandelt worden. Die

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Ränder waren vergilbt und die Farbe gebleicht, was darauf
schließen ließ, dass sie schon mehrere Jahrzehnte alt sein mussten.

Auf den meisten der Fotografien waren zwei kleine Mädchen von
etwa zehn Jahren zu erkennen. Sie blickten entweder scheu
lächelnd in die Kamera oder aber sie lachten dem Fotografen aus-
gelassen entgegen, wobei ihre funkelnden, kindlichen Augen Mike
schmerzlich an Susan erinnerten.

Auf wenigen der Fotos konnte er eine Frau und einen Mann sehen,
wobei er die Frau von den blonden Haaren und dem offenen
Lächeln her eindeutig als die Mutter der beiden Mädchen erkannte.

Der Mann, so dachte Mike, musste der Vater sein und derjenige,
der die meisten Fotos gemacht hatte, denn ihn fand er lediglich auf
zwei unscharfen und verwackelten Aufnahmen wieder. Sie alle tru-
gen altmodische, mit Rüschen besetzte Kleidung, ähnlich den
Wäschebergen, die Mike in den Nächten zuvor in den Kellerräumen
aufgefunden hatte.

Er suchte auf den fleckigen Rückseiten der Fotos nach Anhalt-
spunkten wie Namen oder Daten, doch er fand nur leere Flächen
mit schmutzigen, vergessenen Fingerabdrücken.

Als er nach dem Buch griff und die Fotos auf einen kleinen, runden
Tisch zu seiner rechten Seite ablegte, überkam ihn das bizarre Ge-
fühl, dass seine unzusammenhängenden Visionen vom Tage mit
dem Geschriebenen, das er vorzufinden erhoffte, in Verbindung
stehen könnten.

Mit Fingern, von denen er sich nicht eingestehen wollte, dass sie
unmerklich zitterten, öffnete Mike den ledernen Einband und
strich mit dem Daumen über das trockene, pergamentartige Papier,
das alle Zeitalter der Welt zu beinhalten schien. Der Geruch von
Schimmel und Alter erfüllte den Raum.

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Mike erkannte mit einer morbiden Faszination, dass es sich bei
dem Buch um ein altes Tagebuch handelte.

Während der Regen vor den düsteren Fenstern einen leisen,
einschläfernden Rhythmus gegen die Scheiben flüsterte, begann er
die erste Seite des alten Buches zu lesen.

***

05. Februar 1966

Ich beginne dieses Buch zu schreiben, in der Hoffnung, all das Ges-
chehene verstehen zu können. Ich hätte nie gedacht, dass ich so-
weit getrieben werde, war ich doch bislang ein rational denkender
Mensch, der an die unumstößlichen Ergebnisse wissenschaftlicher
Fakten geglaubt hatte. Doch all dies, was hier geschieht – was mit
mir geschieht – kann mit keiner uns bekannten Wissenschaft
erklärt werden.

Ich erhoffe mir durch den puren Akt des Niederschreibens meine
Furcht im Zaum halten zu können. Wovor ich mich fürchte, weiß
ich im Grunde nicht, denn am Tage sind die Erinnerungen an die
Nächte kaum greifbar. Doch konnte ich so viel von den Träumen
in meinem Unterbewusstsein festhalten, dass ich mir im Klaren
darüber bin, dass es durchaus einen Grund gibt, sich zu fürchten.
Einen wahrlich schrecklichen Grund.

Es hat vor einer Woche begonnen. Da träumte ich in einer regn-
erischen Nacht zum ersten Mal von dieser merkwürdigen Stadt.

Ich möchte hier nicht näher auf die Beschreibung derselben einge-
hen, da ich mir nicht mehr sicher bin, ob ihr Glanz und ihr über-
wältigender Schein nicht bloß Blendwerk sind, um von ihrer
wahren Erscheinung abzulenken.

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Hielt ich den Traum in der ersten Nacht noch für eine völlig nor-
male, wenn auch sehr intensive Illusion, so wurde mir im Laufe
der letzten Tage schnell klar, dass es sich hierbei unmöglich um
einen schlichten Traum handeln konnte. Selbst ein Albtraum sucht
sein Opfer in den meisten Fällen nur einmal heim.

Ich wandle jedoch in jeder Nacht durch die breiten und hellen
Alleen dieser seltsamen Stadt und kann nicht verhindern, dass ich
eine gewisse Bewunderung für die Architektur und das Wesen
dieser Metropole empfinde.

Indem ich dies hier niederschreibe, hoffe ich, den Bann zu brechen,
den die Nächte mir auferlegt haben. Mit meiner Familie möchte
ich nicht darüber sprechen. Sie würden mich für verrückt
erklären. Und vielleicht hätten sie sogar Recht.

08. Februar 1966

Seit meinem letzten Eintrag war ich in jeder Nacht in dieser selt-
samen, und doch Ehrfurcht gebietenden Traumstadt. Und mit je-
dem meiner Besuche wurde das überwältigende Gefühl von Demut
größer, angesichts des majestätischen Atems, den diese leblose
Stadt erzeugt. Die imposanten Bauten und breiten, geraden, na-
hezu perfekten Straßen und Plätze ergeben ein erschreckend
schönes Kunstwerk, das meine ungeteilte Verehrung, aber auch
einen mir bis dahin unbekannten Neid zum Vorschein bringt.
Sucht man derartige Formen makelloser Schönheit doch
vergebens in unserer schlichten, hochmütigen Welt.

Meine anfängliche Furcht vor dieser namenlosen Stadt scheint
sich mit jedem meiner nächtlichen Besuche und jedem einzelnen
Schritt zu schwinden, den mein Fuß auf die weißen, gepflasterten
Straßen setzen darf.

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Dennoch will ich mir einen letzten Rest von Vernunft und Vorsicht
bewahren, denn immer noch weiß ich nicht das Geringste über das
Wesen dieser Stadt, ebenso wenig über ihre Schöpfer, noch Sinn
oder Ort ihrer Herkunft. Die Straßen empfangen mich zwar mit
hellem, einladendem Glanz, doch sind sie mir immer noch so
fremd wie in der ersten Nacht.

Ich scheine das einzige Wesen zu sein, welches das grabesähnliche
Schweigen der Häuser und Gärten, Straßen und Plätze, und der
Brunnen mit ihren aus Marmor geschliffenen Statuen brechen
darf. In all den Stunden – oder waren es Tage, Wochen? – war
mir kein einziges anderes Lebewesen begegnet. Selbst die Fenster
der herrschaftlichen Häuser scheinen verlassen und blind,
obgleich ich mich des erdrückenden Gefühls nicht erwehren kann,
bei jedem meiner Schritte beobachtet zu werden.

So verlassen und starr sich mir die namenlose Stadt auch präsen-
tiert, so sehr spüre ich verborgenes, schlafendes Leben in ihr, das
den Zeiten harrt, in denen es endlich wieder seine Augen öffnen
und wandeln darf.

Der Gedanke erschreckt mich. Und doch erregt er meine schier zü-
gellos zu nennende Neugierde, denn welche Wesen mochten sich in
einer derart grandiosen Stadt aus reinstem Licht verbergen?
Welches Geschöpf vermochte würdig zu sein, über diese Traum-
straßen wandeln zu dürfen? Bin ich es überhaupt, würdig? Oder
bin ich ein Eindringling, in eine Welt, die mein Verstand nicht er-
fassen kann? Wer oder was hat mich hierher gelockt, um mir die
seit Ewigkeiten verborgenen Geheimnisse der namenlosen Stadt
zu offenbaren?

***

An dieser Stelle des mit zitternder Handschrift verfassten Textes
beendete Mike das Lesen. Obwohl er das Haus bisher nur selten

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geheizt hatte, stand kalter Schweiß auf seiner Stirn. Eine merkwür-
dige Entkräftung hielt ihn mit kalter Faust gefangen.

Er vermochte nicht zu sagen, ob dies am trüben, trostlosen Tages-
licht lag, das düster durch die schmalen Fenster fiel und den Raum
nur spärlich zu erhellen vermochte, oder ihn der Traum der Nacht
doch mehr erschöpft hatte als er sich eingestehen wollte.

Vielleicht musste er diese fremdartige Mattigkeit, die ihm fast den
klaren Verstand zu rauben drohte, auch jenen Zeilen in dem
Tagebuch zuschreiben, so sehr er sich auch dagegen zu wehren ver-
suchte. Trotz jedweden Leugnens erkannte er mit einem eiskalten
Schaudern, dass jener unbekannte Verfasser dieser mittlerweile
zwanzig Jahre alten Zeilen sich untrüglich auf denselben Traum
bezog, welcher Mike in der vergangenen Nacht heimgesucht hatte
und an den er sich nur noch bruchstückhaft erinnern konnte.

Noch hegte er die scheinheilige Hoffnung, dass er lediglich der
grausigen Täuschung eines intensiven Trugbildes erlegen war, die
ihn in ihren Bann geschlagen und offenkundig derart geschwächt
hatte, dass sein Verstand tatsächlich versuchte, eine Verbindung
zwischen dem alten Text in dem Buch und jenem merkwürdigen
Traum zu weben. Doch der Inhalt des abgegriffenen Tagebuches
schien dieses Hoffen bereits im Ansatz ersticken zu wollen.

Mike war in seinem bisherigen Leben – jenes, von dem er angen-
ommen hatte, es in dieser Einöde mit Erfolg abgelegt zu haben –
ein rational denkender Mensch gewesen.

Er glaubte an die Thesen der Wissenschaft und Ergebnisse, die man
mit Zahlen belegen und erklären konnte. Spekulationen oder gar
übersinnliche Phänomene waren für ihn stets reine Zeitver-
schwendung gewesen und gehörten in die Welten von Phantasten
und Träumern. Doch irgendetwas in seinem Unterbewusstsein
mahnte Mike, sich in dieser Angelegenheit nicht ausschließlich auf

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seinen Verstand zu verlassen. Eine kleine unangenehme Stimme,
deren jämmerliches Aufbegehren er unmöglich ignorieren durfte.

Konnte es denn wirklich sein, dass dieser Mann – der bisher letzte
Bewohner dieses abgelegenen Anwesens, sofern Mike den Worten
Delwrights Glauben schenkte – tatsächlich denselben Traum ge-
habt hatte, wie er ihm selbst in der letzten Nacht beschert worden
war?

Schenkte Mike, entgegen seiner Natur, jener qualvollen Stimme in
den Tiefen seines Verstands Gehör, so hatten die Schritte des
Mannes dieselben Straßen berührt, die er selbst in seinem Traum
aus der Ferne als strahlende Bänder zwischen leuchtenden
Häuserzeilen und herrschaftlichen Anwesen erblickt hatte.

Die Arbeiten an dem großen Haus schienen Mike zu überan-
strengen. Dazu die monotone Abgeschiedenheit des Anwesens von
der Stadt. Er hatte in den letzten Tagen und Nächten viel getätigt,
sowohl in den verstaubten und verwaisten Wohnräumen, als auch
des Nachts in den Verliesen des Kellers. Hinzu fügte sich die psych-
ische Belastung durch den Verlust seiner Familie, die scheinbar im-
mer noch tiefer in ihm steckte und wütete, als er angenommen
hatte. Zu dieser Bürde aus Einsamkeit und Schmerz gesellten sich
nun noch jene befremdlichen Worte, die er in dem alten Tagebuch
gefunden hatte.

Das alles, so befand Mike, war zuviel für seinen geschundenen
Seelenfrieden. Was er brauchte war etwas, das seine düsteren,
überreizten Gedanken in ihre finsteren Höhlen zurückdrängte und
ihm ein anderes Antlitz seiner neuen Heimat preisgab.

So legte er das Buch und die Fotografien auf den kleinen Beistellt-
isch neben dem antiken Sessel und beschloss zum ersten Mal, seit
er Arc´s Hill erreicht hatte, dem Ort einen Besuch abzustatten.

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Als er aufbrach, regnete es noch immer. Er schlug den Kragen
seines Mantels hoch, um sich vor dem schneidenden Wind zu
schützen, und spannte den Regenschirm auf.

Sofort begann ein dumpfes, rhythmisches Klopfen, das seine Sch-
ritte über den schmalen, vom Regen aufgeweichten Fußpfad unter
den tropfenden Weiden hindurch bis hinunter in das verschlafene
Städtchen lenkte.

Er wusste nicht, wohin er gehen sollte, hatte er es bislang doch ver-
säumt, den Ort genauer zu erkunden. Jedoch hatte er nicht vor, bei
dem tristen, kalten Herbstregen länger als zwingend notwendig
durch die engen und dunklen Gassen zu spazieren.

Er begegnete nur sehr wenigen Menschen, die trotz des Regens un-
terwegs waren. Er grüßte alle, doch erhielt er weder eine Antwort
noch einen Blick, der ihn als Fremden zeichnete. Vielmehr traf er
auf mürrische, verschlossene Gesichter, die ihre Augen unter breit-
krempigen, altmodischen Hüten oder tief gehaltenen Schirmen
verbargen und eilends ihrer Wege gingen.

Ein kleines Mädchen von etwa zehn Jahren hingegen, das in einen
vom Regen glänzenden Mantel gehüllt war, blieb vor ihm stehen
und sah ihn mit ausdruckslosen Augen an.

Mike musterte das Kind, dessen Gesicht bleich und wächsern
wirkte, und konnte sich eines eisigen Schauers nicht erwehren, der
ihn augenblicklich gefangen hielt.

Das Mädchen neigte den Kopf zu Seite, als betrachtete es etwas, das
es nicht verstand. Der Ausdruck ihrer dunklen Augen zeugte von
Gleichgültigkeit.

Mike suchte nach den richtigen Worten, um das Kind zu begrüßen,
ohne es zu erschrecken. Doch noch ehe er etwas sagen konnte, ging

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das Mädchen an ihm vorbei und verschwand mit langsamen Schrit-
ten im grauen Dunst des Regens. Mike sah ihm nach, wie es sich
schattengleich von ihm entfernte, fast so, als sei es lediglich ein
Gespenst seiner überreizten Phantasie gewesen.

Mit Gedanken, die ihm nun noch verworrener anmuteten, schritt
Mike weiter seines Weges durch enge Durchfahrten und finstere
Gassen, in deren Pfützen sich der Regen silbern spiegelte. Die ver-
fallenen Häuser zu beiden Seiten der steinernen Pfade erschienen
ihm wie sterbende Riesen, die sich in ihrer Resignation gegenein-
ander lehnten und dem Ende harrten.

Der Gestank von abgestandenem Wasser und Fäulnis hing schwer
zwischen alten Backsteinmauern und den hohen Giebeln der ver-
rotteten Häuser.

Außer dem ständigen Prasseln des Regens lag eine fast greifbare
Stille über dem Ort.

Er erreichte einen kleinen Platz, in dessen Mitte ein Zierbrunnen
aus kupfernen Pfannen und bleiernen Rohren stand.

Um den Brunnen herum waren verschlungene Wege angelegt
worden, die von braunem Laub bedeckt und durch niedrig
geschnittene Hecken von der Straße getrennt waren. Mike konnte
die schwarzen Schatten einiger Bänke erkennen, auf denen sich
ebenfalls abgestorbene Blätter und dunkle Zweige häuften.

Gegenüber des Brunnens erblickte er die matte Beleuchtung einer
kleinen Taverne. Da der Regen seinen Mantel mittlerweile gut
durchnässt hatte und ihm zunehmend kalt wurde, beschloss Mike,
auf ein Glas in die Spelunke einzukehren. Vielleicht schaffte er es
dort, in der Gesellschaft anderer Männer, seine trüben und zun-
ehmend furchtsamen Gedanken zu vertreiben. Und wenn nicht

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dies, so doch zumindest soweit zu bannen, dass ihn diese unerklär-
liche Müdigkeit wieder aus ihrem eisigen Griff entließ.

Doch als er an die Männer in der Taverne dachte, erschien das
Mädchen wieder in seinen Gedanken. Der leere, unheimliche Aus-
druck ihrer Augen ließ ihn erneut frösteln.

Mit dem Gefühl, endlich wieder seit Tagen in Gesellschaft anderer
Menschen zu gelangen, betrat er das kleine Gasthaus, das sich ihm
auf einem alten, an eisernen Ketten im Wind schwankenden Schild
über dem Eingang als ›Knights Head‹ offenbarte.

Hegte er noch beim Anblick des windschiefen, alten Backsteinbaus
Hoffnung auf menschliche Gesellschaft und vielleicht ein Gespräch,
das seine wirren Gedanken zu verdrängen vermochte, so schlug
diese Hoffnung beim Betreten des Gasthauses in pure Ent-
täuschung um. Als er die Tür hinter sich geschlossen hatte und das
helle Klingeln einer feinen Glocke über dem Türrahmen verstummt
war, blickte er sich niedergeschlagen im dämmerigen Licht der Tav-
erne um.

Die Tische, die er nur als schwarze Schatten im diffusen Licht des
schwindenden Tages erkannte, waren verwaist. Eine alte Musicbox
am anderen Ende des Raumes war stumm und ausgeschaltet. Der
Geruch von Zigaretten, abgestandenem Bier und gebratenem Speck
hing in der Luft.

Gerade als sich Mike nach seinem flüchtigen Blick durch den
Schankraum wieder zum Gehen wenden wollte, hielt ihn die tiefe,
müde Stimme eines Mannes zurück, der hinter der Theke aus
dunklem Holz stand und lustlos in einer zerknitterten Zeitung las.
Mike hatte den Mann bislang nicht bemerkt.

»Kommen Sie ruhig herein, Mister. Auch wenn es Ihnen nicht so
erscheint, aber wir haben geöffnet.«

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Mike zögerte, erinnerte ihn die Erscheinung des Mannes hinter der
Theke doch augenblicklich an jenes seltsame Mädchen aus der
Gasse, obwohl er sich den Grund für diesen Vergleich nicht
erklären konnte. Doch dann trat er näher, wohl auch, um nicht
wieder in den Regen hinaus zu müssen. Er ließ sich schwer atmend
auf einen abgenutzten Hocker an der Theke nieder und bestellte auf
den fragenden Blick des Schankwartes hin ein Bier. Sein Mantel
hinterließ einen Ring aus Wassertropfen rund um den Barhocker.

Das ›Knights Head‹ war ein düsterer, niedriger Raum mit dunkel
gebeizten Dachbalken und unbehandelten Stützpfeilern, die ebenso
finster erschienen wie der übrige Raum. Hinter den kleinen Fen-
sterscheiben konnte Mike das verschwommene Muster des Regens
erkennen, doch er bezweifelte, dass der Schankraum des
Gasthauses selbst bei hellem Sonnenschein viel freundlicher
gewirkt hätte. Dennoch waren ihm dieser Ort und die Gesellschaft
des grobschlächtigen, schweigsamen Wirtes im Augenblick lieber,
als die trübe Stille seines Hauses jenseits der Trauerweiden.

Der Mann hinter der Theke machte einen müden, abwesenden
Eindruck. Er war ein kräftiger Bursche mit ernstem Blick und di-
chtem, schwarzen Haar, das sein herbes Antlitz, einer dunklen
Wolke gleich, einrahmte und unter einem albernen, grauen Hut ge-
bändigt wurde, wie man sie in den Städten trug. Eine ebenso vers-
chrobene Feder steckte in einem dünnen Gummiband. Das Gesicht
des Mannes wirkte älter als er wohl in Wirklichkeit war.

Als er Mikes indiskreten Blick bemerkte, legte er die Zeitung bei-
seite, wischte seine Hände an einer fleckigen Schürze ab, die er um
die Taille gebunden trug, und baute sich vor seinem Gast auf. Seine
beleibten Armen stützten sich dabei wie Holzpfosten auf der
wurmstichigen Theke ab.

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»Es kommt selten vor, dass sich Fremde nach Arc´s Hill verirren«,
begann er ohne zu zaudern, wobei seine dunklen Augen Mike mit
einer Mischung aus Neugierde und Argwohn betrachteten.

»Ich bin kein Fremder«, entgegnete Mike mit müder Stimme und
erschrak über die tiefe Verwirrung, die seinen Worten inne lag. Er
griff nach seinem Glas und nahm einen langen kühlen Schluck, der
seinen Körper augenblicklich zu erfrischen schien. »Ich habe das
alte Herrenhaus auf dem Hügel gekauft.«

Für den Bruchteil einer Sekunde glaubte Mike, einen tiefen
Schrecken in den Augen seines Gegenübers zu erkennen. Tatsäch-
lich schien das Gesicht des Mannes eine Spur blasser geworden zu
sein, was aber infolge des trüben, schwindenden Tageslichtes auch
eine Täuschung seiner Sinne gewesen sein konnte.

»Sie meinen das alte Grady-Anwesen?«

Der Mann griff nach einem Tuch und rieb gedankenverloren über
die Theke. Dabei schien sein Blick ins Leere zu gehen. Der Hut warf
einen finsteren Schatten über seine Augen.

»Ich kenne es.«

Er hielt in seiner Tätigkeit inne.

»Hat lange leer gestanden, das Haus.«

»Ich weiß. Ich kenne die Geschichte des Hauses und habe im Mo-
ment eine Menge Arbeit, es wieder so herzurichten, dass man guten
Gewissens darin wohnen kann.«

Mike rollte das Glas zwischen seinen Händen und genoss die an-
genehme Kühle, die sich zwischen seinen Fingern ausbreitete. Dann

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stellte er das Bier auf der Theke ab und blickte dem Schankwirt
geradewegs in die Augen.

»Grady … ist das der Name des letzten Besitzers?«

Seine Gedanken verweilten bei dem alten Tagebuch, in welchem er
am Mittag gelesen hatte. Waren es Gradys Worte, die in den vergil-
bten, pergamentartigen Seiten geschrieben standen? Doch der hün-
enhafte Mann hinter der Theke enttäuschte ihn.

»Nein. Grady hieß der Mann, der das Haus vor fast einhundertfün-
fzig Jahren auf dem Hügel vor der Stadt erbauen ließ. Reginald
Grady. Hier im Ort nennt man es nur das Grady-Anwesen.«

Der Mann sah Mike in die Augen, doch lag die Ahnung einer tiefen
Furchtsamkeit im Blick des Schankwirtes. Als er weitersprach,
schüttelte er den Kopf, als versuchte er sich selbst von ers-
chreckenden Gedanken zu befreien. Die Feder an seinem Hut
wippte leicht und drohte aus dem Gummiband zu fallen. Plötzlich
wirkte der Mann, der auf Mike den Eindruck eines gutmütigen und
schwerfälligen Einsiedlers machte, nervös und aufgebracht.

»Ich will Sie nicht beunruhigen, Mister. Aber Sie haben das Haus
eines Wahnsinnigen erstanden.« Er blickte sich hektisch in dem
stillen Raum um. »Man erzählt, Grady habe sich mit den Mächten
der Finsternis eingelassen und ihnen seine Seele verpfändet. Von
seltsamen Dingen und Ritualen ist die Rede.«

Mike hatte gerade einen weiteren Schluck getrunken. Jetzt aber
stellte er sein Glas verwundert auf die Theke zurück. Er konnte sich
eines Lächelns nicht erwehren.

»Wollen Sie mir erzählen, dieser Grady sei ein Hexenmeister
gewesen?«

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Der Mann schüttelte den Kopf, wobei sein Blick den seines Ge-
genübers zu bannen versuchte.

»Schlimmer, Mister. Viel schlimmer. Man sagt, er habe seine ges-
amte Familie einem Dämon geopfert, den er in seinem Irrsinn an-
betete. Seine Frau und seine fünf Kinder. Und zu guter Letzt ver-
schwand Grady selbst. Spurlos, ohne dass ihn jemand dabei beo-
bachtet hätte, wie er das Dorf verließ. Lediglich seine Familie fand
man noch in dem alten Haus vor.«

Der Mann legte eine theatralische Pause ein.

»Abgeschlachtet in ihren Betten.«

Ein kalter Schauer schien Mikes Körper in Eis verwandeln zu
wollen. Es gelang ihm nur schwerlich, seiner Stimme einen festen
Klang zu verleihen.

»Aber das Ganze ist fast einhunderfünfzig Jahre her. Das sind sich-
er nur Ammenmärchen, wie man sie sich wohl in jedem
abgeschiedenen Landstrich auf der ganzen Welt erzählt.«

Der Wirt schüttelte bedächtig den Kopf. Sein Blick war noch ernster
und finsterer geworden.

»Man erzählt sich die seltsame Geschichte des alten Grady seit
Generationen. Die Alten erzählen sie ihren Kindern, wenn sie den-
ken, dass diese alt genug für die schreckliche Sage ihrer Heimat sei-
en. Und diese erzählen sie wiederum ihren Kindern. Nein, Mister
…« Er trat einen Schritt zurück und musterte Mike kritisch. Fast
empfand es dieser, als begutachtete der Schankwirt einen Aussätzi-
gen. »Das, was dort oben in dem Haus geschah, ist kein Ammen-
märchen. Es gab viele Familien, die nach dem Verschwinden von
Reginald Grady in das Anwesen zogen. Viele verschwanden nach
kurzer Zeit ebenso spurlos, wie der alte Mann damals. Und

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diejenigen, welche das Glück besaßen, nicht der Teufelei zum Opfer
zu fallen, die zweifelsohne in den Zimmern dort oben umhergeht
…« Der Mann schlug mit der freien Hand ein Kreuz vor seiner
Brust. »… waren dem Wahnsinn verfallen und haben das Haus und
Arc´s Hill bei Nacht und Nebel verlassen.«

»Aber in den letzten zwanzig Jahren hat das Haus leer gestanden.«

Mikes Stimme hatte sich in ein heiseres Flüstern verwandelt, was
ihm, in Anbetracht der ungeheuerlichen Geschichte, die er gerade
gehört hatte, als durchaus angemessen erschien.

»Der Letzte, der dort oben wohnte, war ein Mann namens Charles
Ward, der mit seiner Frau und seinen beiden Töchtern das Haus
bezogen hatte.«

Der Wirt deutete mit einem Kopfnicken auf das Glas und füllte es
dann nach, ohne eine Antwort seines Gastes abzuwarten.

»Und ist er ebenfalls … wahnsinnig geworden?«

Mike überkam das absurde Gefühl, sich in den Fängen eines skurri-
len Traumes zu befinden. Die Frage hatte sarkastisch klingen sol-
len, doch die Stimme, die diese Worte sprach, schien nicht mehr
seine eigene zu sein.

Der Schankwirt nickte. »Als man Charles Ward eines Nachts
schreiend und mit fiebrigem Wahn in den Augen auf dem Markt-
platz des Dorfes aufgegriffen hatte, war man zu der Überzeugung
gelangt, dass es für alle das Beste sei, das unheimliche Haus zu
meiden und dem Zerfall preiszugeben.«

»Aber was war mit der Familie von Ward? Seiner Frau und seinen
beiden Töchtern?«

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Der Mann schloss die Augen. Sein Antlitz, ungeschlacht und roh,
verzerrte sich zu einer harten Maske, deren Lippen bebten, als er
weitersprach.

»Ich war damals dabei, als einige Männer zum Haus hinaufgingen.
Denn Ward hatte im Fieberwahn und mit einem hässlichen Lachen,
das nie und nimmer aus einer menschlichen Kehle hatte stammen
können, erzählt, dass er seine Familie in ihren Betten niedergemet-
zelt hätte. Wir waren zum Hügel hinaufgegangen, nachdem man
Ward in Polizeigewahrsam genommen hatte. Und wir fanden tat-
sächlich die zerstückelten Körper von Wards Frau und seiner
beiden Mädchen. Glauben Sie mir, es war ein schrecklicher Anblick.
Besonders die Kinder.«

Der Mann stieß ein tiefes Stöhnen aus. Dann herrschte Schweigen
zwischen den beiden. Kaum, dass die Worte des Wirtes verstummt
waren, legte sich eine tiefe und lähmende Stille über den Raum, als
hätte sich etwas Finsteres von draußen ins Haus geschlichen. Mike
wurde mehr denn je von dem Gefühl beherrscht, sich in einem
düsteren Traum zu befinden, ähnlich jenem, der ihn in der Nacht
heimgesucht hatte.

Wie konnte in einer Zeit wie dieser, die von Hektik und Karriere-
denken geprägt war, eine derartige Geschichte tief in den Gedanken
dieser Menschen verwurzelt sein?

Mike fiel es schwer, dem Gehörten Glauben zu schenken. Und doch
spürte er, sehr zu seinem Entsetzen, eine plötzliche Furcht in sich
aufsteigen, die sich kalt durch seinen Leib fraß und seine Gedanken
lähmte.

Die Worte des Wirtes, von deren Wahrheit Mike dennoch nicht
überzeugt war, tanzten wie grauenvolle Bilder vor seinen Augen
und ließen ihn schaudern. Er fragte sich, wie tief altertümlicher
Aberglaube in einem abgelegenen Städtchen wie Arc´s Hill in

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dessen Bewohnern schlummern mochte. Wie sehr durfte man sol-
chen Worten Glauben schenken?

Ein Blick in die finsteren, nachdenklichen Augen seines Ge-
genübers, in Verbindung mit dem alten Tagebuch, das Mike im
Keller gefunden hatte, versuchte ihn von der immer noch lebendi-
gen Seele dieser seit Generationen überlieferten Sage zu überzeu-
gen. Er spürte, wie sich ein uralter Glaube seinen Weg zur Ober-
fläche seines Verstandes zu bahnen versuchte.

Doch Mike war aus London in diesen von Gott verlassenen Land-
strich gekommen. Einer Stadt, die einmal seine Heimat war und
sein ganzes Glück bedeutet hatte. Eine Stadt der Hektik, der grellen
Lichter und mit Wissenschaft zu belegender Realität.

Daher fiel es ihm trotz der kalten Furcht, die er verspürte, schwer,
den Worten des Schankwirtes die gleiche Akzeptanz entgegen-
zubringen, wie es der Mann mit dem finsteren Blick hinter der
Theke augenscheinlich tat.

»Wenn man das Haus der Zeit hatte überlassen wollen …«, sagte
Mike schließlich in die Last des Schweigens hinein und drehte sein
Glas erneut zwischen den Handflächen. » … warum hat man es
dann an mich verkauft?«

Als sich die Blicke der beiden Männer wieder trafen, glaubte Mike
in den Augen des Schankwirtes einen Anflug von Hohn aufblitzen
zu sehen. Sein Gesicht jedoch blieb ernst.

»Manche Häuser wollen nicht leer stehen«, antwortete der Mann
mit unvernehmbarer Stimme.

Dann ließ er Mike alleine und ging zu seiner Zeitung am anderen
Ende der Theke zurück. Die Feder wippte leicht, als versuchte sie,
Mike zum Abschied zu winken.

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***

Als er an diesem Abend zurück in das alte Haus kam, das er nun als
das Grady-Anwesen kennengelernt hatte, drohte ihn die finsterte
Stille der hohen und kalten Räume wie ein Mantel zu ersticken. Er
saß in dem alten Sessel, in dem er am Mittag das Tagebuch gelesen
hatte, und hielt ein Glas mit Whiskey in der Hand, den er sich im
›Knights Head‹ gekauft hatte. Er war sich sicher, dass er den wär-
menden Alkohol benötigen würde, nachdem ihn die Worte des
Schankwirtes derart aufgewühlt hatten. Auch wenn er immer noch
nicht dazu bereit schien, sich zu seiner inneren Unruhe und den
rasenden Gedanken zu bekennen, die ihn heimsuchten, seit er die
Taverne verlassen hatte.

Der Whiskey tat seine Wirkung, auch wenn die behagliche Wärme
in seinem Körper ihn schmerzlich an London und endlose exzessive
Nächte der Trauer und Tränen erinnerte. Mike betrachtete die
Flasche auf dem Beistelltisch neben dem Sessel und schätzte sich
glücklich, in dieser einsamen und unheimlichen Gegend auf ein de-
rartiges Relikt aus der modernen Welt gestoßen zu sein. Es würden
keine Abende und Nächte folgen, wie sie in London fast alltäglich
gewesen waren. Dessen war er sich sicher. Doch jetzt, da er alleine
in dem großen Herrenhaus saß und sich so schutzlos wie noch nie
zuvor fühlte, benötigte er den scheinbaren Freund aus der Flasche,
an den er sich in den letzten Monaten so sehr geklammert hatte.

Während sich sein Körper von innen erwärmte und selbst die
merkwürdigen Worte des ungeschlachten Mannes aus der Taverne
ihren Schrecken einbüßten, ertappte sich Mike immer wieder dabei,
wie sein Blick zu dem ledernen Buch wanderte, das im Schein einer
alten Öllampe neben der Flasche auf dem Tisch lag.

Das Tagebuch des Charles Ward, wie er nun wusste.

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Nach den Worten des Wirtes zu urteilen, war sich Mike sicher, dass
es sich bei dem Buch um eben jene Zeilen handelte, die Ward vor
zwanzig Jahren niedergeschrieben hatte und die, sollte Mike je den
Mut aufbringen, weiterzulesen, den beginnenden Wahnsinn des
Mannes dokumentieren würden.

Doch Mike weigerte sich beharrlich, dem inneren Drang
nachzugeben, das Buch zu nehmen und tiefer in Wards Abgründe
einzutauchen. Stattdessen labte er sich mit geschlossenen Augen an
dem scharfen Geschmack des Alkohols auf seiner Zunge und genoss
das barbarische Brennen in der Kehle, dem die verführerische
Wohltat sinnlicher Vereinigung von Alkohol und Trauer in seinem
Körper folgte.

Auf diese – zugegebenermaßen – kindliche Art und Weise ver-
suchte er sich, dem seit Generationen gewachsenen Aberglauben
des Ortes zu entziehen. Auch wollte er den skurrilen Worten des
Schankwirtes keinen Glauben schenken. Zu grotesk erschienen ihm
im Dunstnebel des Alkohols die Worte und Gebärden des Mannes.

Man fand derartige altertümliche Sagen und Mythen in jeder
kleineren, entlegenen Stadt auf der ganzen Welt vor, so sagte sich
Mike und betrachtete das Glitzern des Whiskeys im Lampenschein.
Ihn überkam das Gefühl, auf die stille Oberfläche eines funkelnden
Sees in der Abenddämmerung zu blicken.

Redeten die einen von Spukhäusern und unsichtbaren Gespen-
stern, die an die Fundamente alter, geschichtsträchtiger Häuser ge-
bunden waren und die neuen Besitzer der Häuser in den Wahnsinn
zu treiben versuchten, so erzählten die anderen von Zaubergeistern
und anderen Dämonen, die man des Nachts auf verwaisten Feldern
und an einsamen Wegesrändern beobachten konnte.

Keine dieser fabelhaften Geschichten, welche die schlichten
Gemüter der Bewohner derartiger Orte beherrschten, konnte

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bislang wissenschaftlich oder rational begründet werden. Nicht ein-
mal einigen, in Mikes Augen verwirrten Suchern nach dem Über-
sinnlichen, die ihr Leben opferten, um in alten Mären und purem
Aberglauben den unauffindbaren Wahrheitskern hervorzubringen,
war es bisher gelungen, feststehende Beweise vorzulegen.

Eine derartige Legende besaß ihre Wurzeln seit Generationen in
der Erde von Arc´s Hill. Und ein jeder, der auf dieser verfluchten
Erde wandelte und sich mit den Einwohners dieses Landstrichs
einließ, wurde zwangsläufig vom boshaften Geist der Vergangenheit
infiziert, so wie es bei dem Schankwart offenkundig geschehen war.

Was Mike akzeptierte und kannte, ohne seinen Verstand in Zweifel
ziehen zu müssen, waren die Legenden der Großstadt. Hektik,
Lärm und gleißender, künstlicher Schein. Diese modernen und
meist maskierten Schauermärchen hatten ihn in dem unerschütter-
lichen Glauben erzogen, dass sich alles auf der Welt materiell und
methodisch erklären ließe, und dass keineswegs Dinge außerhalb
jeglicher menschlichen Vorstellungskraft existierten, die man nur
mit Dämonen oder Teufeln zu erklären vermochte.

Benommen von der Wirkung des Alkohols und ermutigt von seinen
eigenen leugnenden Gedankengängen, ließ sich Mike vom Rhyth-
mus des Regens an den Fenstern ermüden. Noch ehe er sich dem
unausweichlichen Gedanken hingeben konnte, sich doch noch
Wards Aufzeichnungen anzunehmen, war er auch schon in jenem
alten und gewaltigen Sessel eingeschlafen, in dem vielleicht sogar
jener dem Wahnsinn anheim gefallene Charles Ward selbst
gesessen hatte.

Kaum dass er den Atem der Ruhe und Entspannung in seinem In-
nern spürte, als er auch schon zurück zu den Pfaden seines illusor-
ischen Traumes wandelte …

***

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Ich stand am Ende jenes endlosen, bizarren Korridors aus allum-
fassender Dunkelheit, der mich schon einmal gefangen und zu
dieser strahlenden Stadt, diesem Elysium epochaler Baukunst,
geleitet hatte. Diesmal erschien mir das Dunkel nicht fremd und
beängstigend. Stattdessen war ich mir sogar sicher, dass mich Et-
was in dieser grabähnlichen Nacht willkommen hieß.

Mein Blick glitt voller Ehrfurcht über das Flammen der blitzenden
Dächer und Türme, den blendenden Schein heller, surrealer
Bauten und ausladender, makelloser Straßenzüge. Meine Augen
folgten dem tanzenden Glitzern klaren Wassers, das den sich
schlängelnden Flusslauf unter Brücken und Stegen speiste.

Diesmal entließ mich das Dunkel meines Traumes, ohne mich
abermals widerwillig in die schreckliche Realität zurückzuziehen,
und ich setzte zum ersten Mal einen Fuß auf die weiße, mar-
morgleiche Straße, die sich demütig zwischen den ausdrucksvollen
Gärten zweier prachtvoller Paläste hindurch wand.

Der pure Akt der Berührung erschien mir in diesem Augenblick als
Frevel und unwürdig einer jeden menschlichen Seele, angesichts
der majestätischen, fast kosmisch zu nennenden Eleganz dieser
schweigenden Stadt.

Ich erblickte Blumen, deren Schönheit ich noch nie zuvor in
meinem Leben zu Gesicht bekommen hatte; in Palastgärten, die
eine eigene, wundersame Welt darstellten, einem gewaltigen, na-
hezu perfekten Gemälde gleich, in alle nur erdenkliche Farben
getaucht. Die Paläste selbst waren monumentale Schlösser, wie sie
sich der phantasievollste Geschichtenerzähler nicht ersinnen kon-
nte, und von derart auserwähltem Reiz, dass mir die reine An-
wesenheit meines unwürdigen Geistes im Schatten dieser Bauten
als höchste Blasphemie erschien. Die Eingänge dieser Pracht-
bauten waren kolossale, kupferne Pforten, von reich verzierten
weißen Säulen gestützt und mit handgeschnitzten Ornamenten

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verfeinert. Breite, ausladende, blendend weiße Treppengänge
führten zu diesen Portalen. Mein unwürdiger, in seiner Fähigkeit
begrenzter Verstand vermochte nur einen Hauch der Andeutung
zu erahnen, welch prächtige Säle und Hallen sich jenseits der Ein-
lässe verbargen, scheinbar leer und schweigend, und doch ange-
füllt mit Leben, das lange Zeiten schon der Stunde des Erwachens
harrte und so gegenwärtig erschien, wie die kühle Luft dieser selt-
samen und fantastischen Stadt.

Doch waren diese Prachtburgen nicht das Ziel meiner nächtlichen
Traumreise.

Ich schritt voran durch eine atemberaubende Stille, von einem
Willen gelenkt, der nicht mein eigener schien. Vorbei an Herren-
häusern und prächtigen, uralten Fassaden mit schwerem Gebälk
und blendenden Marmorsäulen, an blühenden, edengleichen
Gärten, und dem glitzernden Fluss entlang, der sich verlockend
und distanziert zugleich flüsternd durch dieses traumerdachte
Paradies schlängelte.

Als ich den terrassenförmigen Berg erreichte, blickte ich empor
zum gottesgleichen Tempel, der auf dem höchsten Balkon thronte,
unnahbar und eigen, und eins erschien mit dem Weiß und Blau
eines nahezu perfekten Himmels.

Wie unwürdig ich doch war …

Wie unbedeutend und klein …

Mit den Schritten eines Fremden begann ich den Aufstieg auf
einem schmalen Pfad, der sich in Serpentinen um die Anhöhe
wand und sich aus den Niederungen der Straßenzüge hinaufzog
zum Thron der Stadt.

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Dort musste ein Gott leben, dachte ich in demütiger Ehrerbietung.
Nur ein Gott war würdig, einen derartigen Thron zu besteigen.

Mein Atem ging schwer, und mein Herz schlug hart in meiner
Brust; das einzige Geräusch, das sich seinen Weg in meinen
Traum suchte. Und doch verspürte ich nicht den Schmerz der
Erschöpfung.

Dann endlich stand ich davor. Der Tempel war ein gewaltiger,
von Schönheit und Wohlgestalt, von Licht erfüllter Quell all jener
Freuden und Versuchungen, denen man sich nur in den geheim-
sten Winkeln des Bewusstseins hinzugeben vermochte.

Mächtige, mit seltsamen Hieroglyphen veredelte Säulen und
Pfeiler erstreckten sich in schiere Unendlichkeit. Breite, weiße
Stufen luden mich ein, sie zu ersteigen und zu einer hellen, eisen-
beschlagenen und mit Gold und Kupfer veredelten Pforte zu gelan-
gen, die einen Spalt offen stand und den Blick in ein Halbdunkel
aus Unendlichkeit freigab.

Demütig trat ich näher, verließ den blendenden Schein eines
Tages, der mir so unwirklich erschien wie der Traum, der mich
hierher geführt hatte.

Ich schritt durch den Spalt der offenen Pforte, die mir so gewaltig
wie das Zelt des Himmels anmutete … und fand mich in einer
weiten, grenzenlos erscheinenden Halle wieder. Eine eigene, fant-
astische Welt, deren Beschreibung es dem menschlichen Verstand
an Worten mangelte. Ich spürte, wie ich an die Grenzen meines
Bewusstseins und Daseins stieß.

Inmitten dieser Halle, die der Himmel selbst hätte sein können,
erblickte ich eine Gestalt.

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Es war das erste Wesen, das erste Anzeichen von Leben, dem ich in
dieser stillen und schlafenden Stadt begegnete. Es stand da,
umgeben von gewaltigen Säulen und Fresken und Reliefs, die sich
in die Unendlichkeit zu erstrecken schienen und sich in Dunkelheit
verloren.

Wir sahen uns an – Sekunden, Ewigkeiten – es existierte keine
Zeitspanne in diesem Traum.

Ich spürte die kolossale Macht, die von dieser Gestalt ausging, ich
konnte den Willen, den Geist der Kreatur, mit jeder Faser meines
Körpers fühlen.

Ich wusste nicht zu sagen, was es war. Ob ein Mensch oder gar ein
göttliches Wesen, das dem Sitz und der Umgebung angemessen er-
schien. Denn alles, was ich erblicken und an das ich mich außer-
halb meines Traumgebildes erinnern konnte, war der seltsame
Umstand, dass ich lediglich den Schattenriss des Wesens vor mir
sehen konnte. Es erschien mir wie ein Geist; durchscheinend und
ohne jegliche feste Kontur, und doch so präsent, dass ich mich in
Anbetracht der gewaltigen Stärke, die dieses Wesen auf sich ver-
einte, nicht in der Lage sah, meinen Blick von der Gestalt
abzuwenden.

Dort, wo ich das Antlitz des Geschöpfes vermutete, bildete ich mir
ein, Augen zu erkennen. Blicke, die mich trafen und meine inner-
sten und geheimsten Gedankengänge erforschten. Ich spürte seine
Gegenwart tief in meiner Seele, eine Berührung, kalt und heiß
gleichermaßen.

Und doch fiel ich einem Trugschluss anheim, denn da war nichts,
das ich als greifbar hätte bezeichnen können. Mal glaubte ich die
Umrisse eines Menschen zu erkennen, dann sahen meine Augen
die Konturen einer hageren, hoch aufgerichteten Kreatur mit lan-
gen Fangarmen und einem widerlichen Schädel, dann wiederum

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die Gestalt eines Tieres, das sich auf die Hinterbeine aufgerichtet
hatte.

Während all dem – all der Sekunden oder Stunden oder gar Jahre
– sah ich mich außerstande, mich zu bewegen, meinen Standort zu
wechseln oder gar das Geschöpf aus dem Auge zu entlassen.

Dann sprach das Wesen zu mir.

Deutlich hörte ich eine Stimme in meinem Kopf. Ein leises, herr-
liches Flüstern, ein Raunen, von einer Ebene, weit jenseits allen
Denkens und höher, als es selbst der Himmel hätte sein können …

… doch ehe mich der Sinn jener gesungenen und geflüsterten
Worte erreichte, wurde ich auch schon von einer schwarzen,
harten Faust gepackt und in die Eiseskälte finsterster Nacht
gezogen.

Fort vom hellen Glanz der riesigen Tempelhalle.

Fort vom verführerischen Schweigen jener traumerfundenen
Stadt mit ihren Palästen und Gärten und Straßen und Brücken
und dem glitzernden, goldenen Fluss …

… und fort von dem übersinnlichen Geschöpf, dessen Worte sich in
der Leere der Dunkelheit verloren, ehe sie mich erreichten …

… zurück in die von Regen geschwängerte, kalte Nacht und dem,
was ich Leben nannte.

***

Die Traumvisionen waren nur schwerlich zu halten und nichts, das
man hätte greifen können. Keine Bilder, keine Stimmen. Nicht ein-
mal die schlierigen Fetzen der Dunkelheit, die ihn zu der prachtvol-
len Stadt führten, besaßen Substanz.

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Fast erschien es Mike, als bestünde eine stabile und doch unsicht-
bare Grenze zwischen jener Welt, die sein Geist des Nachts erschuf,
und der Trostlosigkeit seiner altbekannten Realität, die ihm so viel
weniger verlockend anmutete, als seine nebulöse, verschwommene
Einbildung eines Traumes.

Alles, was sich in seinem Verstand manifestiert hatte, war lediglich
dieses ferne, kaum wahrnehmbare und fremdartige Flüstern, das
ihn aus der Ehrfurcht gebietenden Stadt entlassen hatte, bevor es
seinen Geist erreichen konnte. Nicht mehr als der Hauch eines san-
ften Windes über frühmorgendlichen Wiesen, wenn die Halme ras-
chelten und das Blattwerk der Wälder seinen monotonen Gesang
anstimmte.

Es waren Worte gewesen. Eine Stimme, die jenes schattengleiche
Wesen an Mike hatte richten wollen, bevor ihn die Dunkelheit jäh
in die erbärmlichen Fänge leiderfüllter Realität zurückgezogen
hatte.

Was war es gewesen, das ihm dieses Geschöpf hatte sagen wollen?
Welche Worte … welche Botschaft? War Mike auserwählt worden,
sie als das vielleicht erste menschliche Wesen vernehmen zu
dürfen?

Während der graue Abend sich allmählich in tiefste Dunkelheit
wandelte, verschwendete er keinen Gedanken daran, sich um die
anfallenden Arbeiten zu kümmern, die seiner harrten in den ver-
waisten Räumen des alten Hauses. Stattdessen hatte er ein Feuer
im Kamin entzündet und sich zurück in den antiquierten Sessel ge-
setzt. Fast glaubte er, den Geist des seltsamen Charles Ward in
seiner Nähe zu spüren, als er seine Hände auf die zerschlissenen
hölzernen Armlehnen legte.

Während die Wärme des flackernden Feuers ihn in einen wohligen
Mantel hüllte, hielt Mike die Augen geschlossen und versuchte

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vergeblich, jener fremdartigen, geflüsterten Stimme in seinem Kopf
zu lauschen. Sein Bewusstsein reichte nicht so weit, etwas ergreifen
zu können, das er nur im Traum erlebt hatte.

In der trüben Wirklichkeit dieses verregneten Abends besaß sein
Verstand weit weniger Fähigkeiten, zu fühlen und zu begreifen, als
er es im Glanz jener betäubenden Stadt tat. Und doch konnte sich
Mike eines Gedankens nicht erwehren, der ihn, wenn auch unbe-
wusst, beschäftigte, seit er jenes Elysium des Traumes verlassen
hatte.

Es war mehr ein Gefühl, als ein greifbarer und realer Gedanke,
doch glaubte Mike, sich zu erinnern, das Flüstern jenes mystischen
Wesens auch noch nach seinem Erwachen vernommen zu haben.
Nicht etwa als letzter Fetzen eines Traumes, der seinem Begreifen
entglitt, sondern als eine reale Empfindung, die ihn seither an
seinem Verstand zweifeln ließ.

Die Tatsache, dass sich in dieser nebulösen Vorstellung das siren-
engleiche Flüstern der Gestalt in ein tiefes, donnerndes Grollen ver-
wandelt hatte, tat sein Übriges, Mike in einer Unruhe zurückzu-
lassen, die ihn frösteln ließ; hatte er doch das trügerische Gefühl,
dass jenes profane Flüstern, das jetzt mehr dem Knurren eines Un-
getüms glich, direkt aus der Erde gekommen war …

Nachdem sich Mike in der altmodischen Küche mit dem gus-
seisernen Ofen etwas zu Essen bereitet hatte, nahm er, entgegen
seinem eigentlichen Willen, das alte Tagebuch zur Hand, von dem
er nun wusste, dass es ein Mann namens Charles Ward vor rund
zwanzig Jahren niedergeschrieben hatte.

Er begann mit einer verstörenden Mischung aus kindlicher Neu-
gierde und furchtsamen Grauen den nächsten Eintrag des letzten
Bewohners des Grady-Anwesens zu studieren. Auf dem Tisch neben
dem Sessel stand ein weiteres Glas Whiskey. Vor den Fenstern

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hatte mittlerweile die Nacht ihren Einzug gehalten. Vielleicht traf er
in dem Buch auf etwas, das die Barriere zwischen der Traumwelt
und seiner scheußlichen, grauen Realität zumindest in seinen
Grundfesten zu erschüttern vermochte …

***

09. Februar 1966

In der letzten Nacht war ich zum Tempel hinaufgegangen. Der
Aufstieg war lang und beschwerlich, da sich der kiesbestreute Weg
serpentinenartig um den gigantischen Hügel schlängelte. Doch
spürt man im Traum weder Schmerz noch Erschöpfung.

Der Anblick der heiligen Anlage auf dem Berg war beeindruckend
und fürchterlich zugleich. Nie zuvor, weder im Traum noch im
wachen Zustand, hatte ich ein Bauwerk von derart erhabener Ges-
innung bestaunen dürfen. Und doch haftete den strahlenden
Mauern etwas Bedrohliches an. Ich kann nicht beschreiben, was
mich zu dieser Vermutung veranlasste, handelte es sich doch aus-
schließlich um einen Traum, wie ich mir immer noch einzureden
versuche. Doch fühlte ich selbst in diesem schlafenden Zustand
eine kalte Faust der Beklemmung, die mich eisern gepackt hielt,
während ich den Koloss aus Stein, Kupfer und Gold betrachtete.

Das Innere des Tempels, jene erste Halle, die ich betrat, als ich
durch das gigantische Portal ging, glich einer Symphonie aus
Weite, Größe und schier unendlicher Glorie, die ich hier mit mein-
en simplen Worten kaum zu erfassen vermag. Ich hatte das atem-
beraubende Gefühl, das Tor zu einer anderen, fremdartigen Di-
mension durchbrochen zu haben. Vielleicht trat ich aber auch ein-
fach nur von einem Traum in den nächsten. Die Halle – falls man
sie überhaupt als solche bezeichnen durfte – schien keine physis-
chen Grenzen zu besitzen. Weder in der Länge, noch in der Höhe.
Es war eine kunstvolle Ansammlung von Säulen und Torbögen,

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allesamt verziert mit unbekannten Hieroglyphen und fremdarti-
ger Fresken. Sie muteten als die überwältigenden Arbeiten un-
bekannter Kunstschöpfer an, die man sich nur schwer vorzustellen
vermag.

Und inmitten dieser hohen, kalten ersten Halle des Tempels bin ich
auf dieses Wesen gestoßen. Seltsamerweise erschrak ich nicht,
fand ich die Stadt doch bislang verlassen und schweigend vor. Ich
kann hier nicht niederschreiben, um welche Art von Wesen es sich
handelte. Ich weiß nicht einmal, ob es irdischen Ursprungs war,
denn ich kann es nur als schwarzen Schatten inmitten des hellen
Scheins der Tempelanlage beschreiben.

Es stand einfach da, eine nebulöse Silhouette, deren Konturen im-
mer wieder zu verschwimmen schienen. Ich hatte das unheimliche
Gefühl, als würde ich durch den Schatten hindurch in eine alte,
lange vergessene Zeit blicken können.

Das mag an dieser Stelle nun merkwürdig und ohne Sinn anmuten
und davon zeugen, dass ich im Begriff bin, den Verstand zu ver-
lieren. Doch war dies genau die Empfindung, die ich in meinem
Traum verspürt hatte. Ebenso wurde ich von dem naiv zu
nennenden Bewusstsein überwältigt, dass ich einer der wenigen
Menschen war, denen die Ehre zuteil geworden war, einen Blick –
wenn auch nur im Traume – auf dieses von Licht durchflutete,
herrliche Geschöpf werfen zu dürfen.

Als ich mein Wort an jenes gesichtslose Wesen richten wollte, en-
dete mein Traum abrupt und ich wachte in kalten Schweiß geba-
det in meinem eigenen Zimmer auf. So ungern ich es auch zugeben
mag, so hoffe ich doch, in der nächsten Nacht erneut zu der frem-
den Stadt reisen zu können und dem sonderbaren Wesen zu
begegnen.

***

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Mike lehnte sich im Sessel zurück und ließ das Buch in den Schoß
sinken. Er versuchte die Worte von Charles Ward auf sich wirken
zu lassen. Doch ihre Bedeutung fand nur schwerlich Zugang zu
seinem ausgemergelten Verstand.

Konnte es denn tatsächlich möglich sein, dass ein Mann zwanzig
Jahre bevor Mike von jener seltsamen Stadt geträumt hatte, von
demselben Traum heimgesucht worden war? Mit welchen wis-
senschaftlichen Maßstäben konnte ein derartiger Zufall begründet
werden?

Mike starrte zur Decke und lauschte dem flüsternden Knacken des
Kaminfeuers. So sehr er sich auch zu konzentrieren versuchte und
bereit war, seinen Verstand für eine Welt zu öffnen, die mit ra-
tionalen Worten kaum zu erklären war, es wollte ihm einfach nicht
gelingen, eine Verbindung zwischen Wards Aufzeichnungen und
seinen eigenen Erlebnissen zu knüpfen.

Dieses Haus, selbst der ganze düstere Landstrich, schienen eine ei-
gene verworrene und in den Grundfesten der Realität erschütterte
Welt zu beherbergen, deren Erfassung für einen schlichten mensch-
lichen Verstand nicht geeignet schien.

Mike war versucht, diese unwirkliche Gegend als das an-
zuerkennen, wie man sie in den seit Generationen gewobenen
Geschichten und uralten Legenden darstellte. Doch war da immer
noch ein letzter Funke seines sachlich arbeitenden Verstandes, der
sich weigerte, das gelesene Wort des alten Buches, ebenso die ab-
sonderlichen Worte des Schankwirtes, in den Reigen „fantastisch zu
erklärender Dinge“ einzuordnen.

Vielmehr befriedigte sich Mike damit, seine derzeitige Verfassung
mit der fast unmenschlich zu nennenden Überbeanspruchung
seines Denkens seit dem Tode von Olivia und Susan zu
beschreiben.

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Männer, die stärker waren als er, hätten in seiner Situation längst
den Verstand verloren und sich den süßen Verführungen des Todes
ergeben, so mutmaßte er. Warum also sollte es ein schändliches
Verhalten sein, sich von den düsteren Mythen dieser Gegend in die
Knie zwingen zu lassen, sofern die Seele ohnehin einen unheilbaren
Bruch erlitten hatte?

Er nahm das Buch wieder zur Hand und ließ seinen Blick
sehnsüchtig zum im Feuerschein glitzernden Whiskey wandern, als
ihn eine Bewegung im Augenwinkel aufschrecken ließ.

In Anbetracht der Tatsache, dass er sich als das einzige mensch-
liche Wesen in dem großen Anwesen wähnte und die schaurige
Geschichte, auf die er in den wenigen Tagen gestoßen war, einen
nachhaltigen Eindruck in seinen Gedanken hinterlassen hatte, ers-
chreckte ihn diese schlichte Bewegung mehr, als er sich eingestehen
wollte.

Mike drehte sich zu einem der Fenster um, hinter dem er den
Hauch einer Erschütterung zu sehen geglaubt hatte. Er schalt sich
einen Narren, dass er es dem Alkohol erneut erlaubt hatte, seine
Sinne in jene tiefen Tümpel der Täuschung zu tauchen, wie es ihm
in seiner kleinen Wohnung in London nur zu oft widerfahren war.
Doch im nächsten Augenblick verflog die einschläfernde Wirkung
des Whiskeys und seine Gedanken tauchten aus einem See eiskal-
ten Wassers auf, geschärft und wachsam.

Die Bewegung war keineswegs auf pure Einbildung zurückzuführen
gewesen. Im dunklen Rechteck des Fensters und jenseits seines ei-
genen, fahlen Spiegelbildes erkannte Mike das Abbild eines kleinen
Mädchens.

Er stand auf, schloss das Buch und legte es auf den kleinen Tisch
neben dem Sessel. Er rechnete damit, dass das Kind, nachdem es
entdeckt worden war, verschwinden und zurück in den Ort laufen

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würde, wo es zweifelsohne herstammte. Vielleicht war er nur Opfer
einer makabren Mutprobe unter den Kindern des Ortes geworden.

Aber das Mädchen stand unbeweglich in der Nacht vor dem Haus
und starrte zu ihm ins Zimmer.

Mike versuchte in stiller Verzweiflung erneut dem Alkohol die
Schuld an seinen Trugschlüssen zu geben. Doch ebenso schnell
wurde ihm bewusst, dass er sich im Moment mit einer merkwürdi-
gen und unheimlichen Realität konfrontiert sah. Er ging langsam
auf das Mädchen zu, wobei er sich bemühte, seine Nervosität nicht
zu zeigen.

Als er sich ihm näherte und sein eigenes Spiegelbild in der Scheibe
nach und nach verblasste, erkannte Mike mit leichtem Schaudern
jenes Mädchen, das ihm in den Gassen von Arc´s Hill schon einmal
begegnet war. Sie trug denselben dunklen Regenmantel, der vom
Wasser glänzte. Die langen Haare waren nass, und ihr bleiches
Gesicht wirkte ebenso wächsern und ausdruckslos wie bei ihrer er-
sten Begegnung.

Er zögerte. Dann öffnete er das Fenster und erschrak ob der Kälte,
die ins Haus strömte. Das Mädchen wich keinen Schritt zurück.
Ihre dunklen, fast schwarzen Augen beobachteten Mike.

»Was tust du bei diesem Wetter hier?«, fragte Mike und versuchte
seiner Stimme einen versöhnlichen, jedoch strengen Klang zu ver-
leihen. Stattdessen erschienen ihm seine eigenen Worte eher einem
heiseren Flüstern gleich, das seinen Schrecken nicht verbergen
konnte.

Das Mädchen legte den Kopf zur Seite und entließ ihn nicht aus
seinem Blick. Fast erschien es Mike, als versuchte das Kind das
Wesen seines Gegenübers zu ergründen.

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»Wir haben uns schon einmal gesehen«, fuhr Mike fort. »Erinnerst
du dich? Es war im Dorf, heute Nachmittag.«

Mike versuchte ein Lächeln, das jedoch nicht erwidert wurde. Er
wusste nicht, was er mit dem Kind anfangen sollte. Irgendjemand
im Ort würde sich bereits Sorgen machen, immerhin war es fast
Nacht und ein eisiger Wind wehte um das alte Haus.

»Du solltest nach Hause gehen«, setzte Mike an. »Das ist kein Ort
für ein kleines Mädchen wie dich. Außerdem solltest du schon lange
in deinem Bett liegen und schlafen.«

Profane Worte, doch Mike fühlte sich plötzlich wie ein Gefangener.
Er hatte in London nie lernen müssen, mit einer derartigen Situ-
ation umzugehen.

Der Blick des Mädchens wanderte an ihm vorbei ins Innere des
Hauses, als suchte es nach etwas Bestimmten. Das Gesicht jedoch
blieb ausdruckslos. Als sich die dunklen Augen wieder auf ihn
richteten, verzogen sich die schmalen Lippen zu einer traurigen
Grimasse.

»Sie sollten auch nicht hier sein«, sagte das Mädchen mit tonloser
Stimme. »In dem Haus werden böse Träume geboren.«

Mike betrachtete das Kind, das ihn unverwandt anstarrte. Er suchte
in dem kleinen, hübschen Gesicht nach einer kindlichen List oder
dem Vergnügen eines unausgereiften Verstandes, ihn durch Worte
zu erschrecken. Doch immer noch wirkte das Antlitz wie eine
bleiche Maske, ohne jegliche Regung, sah man einmal von der
tiefen Trauer ab, die sich in das unschuldige Gesicht gegraben
hatte.

»Was redest du da?«, fragte Mike und suchte die nähere Umgebung
nach anderen Kindern ab, die sich einen Spaß daraus machten,

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dem Fremden in ihrem Dorf einen Streich zu spielen. Doch das
Mädchen schien alleine. Es stand inmitten eines verwilderten Blu-
menbeetes, das vor dem Fenster lag, und trug seinen dunklen Re-
genmantel und ebenso dunkle Schuhe, die im aufgeweichten Erd-
boden versanken und schmutzig waren. Ihr helles Haar hing in nas-
sen Strähnen ins Gesicht.

»Sie dürfen nicht träumen«, fuhr das Kind fort, ohne Mike aus ihr-
em Blick zu entlassen. »Er versucht Sie zu täuschen. So, wie Er es
bei meinem Vater getan hat.«

Mike spürte trotz seines Unbehagens, wie das Kind seine Geduld
überstrapazierte. Er wusste nicht, was er tun sollte, kannte er doch
außer dem Schankwirt niemanden im Ort.

»Was ist mit deinem Vater?«, griff er die Worte des Mädchens auf.
»Er wird sich Sorgen machen und bereits auf der Suche nach dir
sein. Geh nach Hause.«

Zum ersten Mal kam etwas Regung in das Kind. Langsam schüttelte
es den Kopf.

»Mein Vater hat mich zu Ihnen geschickt. Ich soll Sie warnen.«

»Wovor?«

Das wächserne Gesicht blickte starr und ernst.

»Vor den Träumen. Vor den Verführungen. Vor … Ihm

Mike setzte ein gequältes Lächeln auf und legte seine Hände auf die
Fensterflügel, als beabsichtigte er, jene zu schließen. Ein kalter
Schauer fuhr durch seinen Körper, der jedoch nicht von der Nacht
herrührte.

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»Geh nach Hause, Kleines …«, begann er, doch das Mädchen
schnitt ihm das Wort ab.

»Er versucht, Sie zu verführen und lässt Sie sehen, was Er will, dass
Sie es sehen. Aber die Wahrheit ist eine andere. Sie sehen nur Seine
Maske.«

»Von wem redest du? Wer bist du?«

»Er ist ein Dämon. Der Wächter. Er bewacht die Pforte zur Gruft.«

Mike fuhr sich mit Händen, die von der Nachtluft kalt geworden
waren, über die Augen. Eine bleierne Müdigkeit hatte sich hinter
seinen Lidern eingenistet, doch sein Herz schlug hart in der Brust.

»Hör zu«, setzte er an, doch da trat das Mädchen langsam vom
Fenster zurück.

»Lassen Sie nicht zu, dass Er sie täuscht. Er will die Pforte öffnen
und IHN erwecken, dass er aus der Erde steigen kann.«

»Was redest du da?«

Das Mädchen zog sich in die Dunkelheit zurück. Ihr Mantel war
kaum noch zu erkennen. Nur ihr kleines Gesicht glich einem
verblassenden, aschfahlen Mond.

»Warte.«

»Träumen Sie nicht. Denn Sie sehen nicht Seine wahre Gestalt.«

Das Mädchen verschwand. Ihr Gesicht nur noch ein bleiches Oval
in der Finsternis.

»Wer bist du?«

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Mike starrte in die Nacht hinaus, lehnte sich weit aus dem Fenster.
Die Kälte ergriff ihn mit erbarmungslosen Fingern, seine Augen
begannen zu tränen.

Das Mädchen war verschwunden.

Doch dann glaubte er im kalten Flüstern des Nachtwindes ganz
leise ihre Stimme zu vernehmen.

»… Emma …«

***

Er stand noch lange am Fenster und starrte in die schwarze Wand
der Nacht hinaus. Die grauen Schatten der Bäume und Sträucher
waren kaum zu erkennen. Die Kälte der nahen Berge fuhr ihm
unter die Kleidung und ließ ihn frösteln. Sein Körper zitterte, aber
Mike blieb am Fenster stehen und versuchte der feinen Stimme des
Kindes zu lauschen.

Doch alles blieb still.

Schließlich schloss er das Fenster und betrachtete nachdenklich
sein groteskes Spiegelbild. Hinter sich konnte er das behagliche Kn-
istern des Feuers im Kamin hören. Sein Gesicht wirkte blass und
angespannt, seine Augen müde und mit einer unbekannten Furcht
erfüllt.

Was war nur aus seinem Leben geworden? Was hatte der Teufel
ihm noch genommen, außer seiner Frau und seiner kleinen
Tochter? Nahm er ihm nun den Verstand?

Mit bebendem Körper – ob vor der Kälte der Nacht oder Furcht
vermochte er nicht zu sagen – ging Mike zum Sessel zurück und
leerte das Glas Whiskey in einem Schluck. Das Feuer, das sich

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augenblicklich durch seine Eingeweide fraß, beruhigte ihn, so wie
es das immer getan hatte, in jenen langen, schmerzerfüllten Nächt-
en in London.

Er starrte ins Feuer, und dachte dabei an die Abdrücke kleiner
Kinderschuhe im Matsch vor dem Fenster. Ein untrüglicher Beweis,
dass er sich die Erscheinung nicht eingebildet hatte.

Emma … war das ihr Name?

Nach einer Weile ergriff er das brüchige Leder des Buches, schlug
es auf und las weiter in den Aufzeichnungen des Charles Ward.

***

10. Februar 1966

Der Aufstieg zum Tempel war auch in dieser Nacht nicht erschöp-
fend. Wie ich mir erhofft hatte, fand ich den Weg mit ers-
chreckender Leichtigkeit zurück in diese fremdartige, verlassene
Stadt. Fast schon möchte ich daran zweifeln, dass dieser Ort nur
ein Traumgespinst zu sein vermag. Doch möchte ich meine Mut-
maßungen nicht hier und jetzt zu Papier bringen; zu fantastisch
erscheinen mir diese Gedanken.

Als ich das Portal der Tempelanlage durchschritt, erwartete mich
mein merkwürdiger Gastgeber bereits. Wie in der Nacht zuvor,
war er nichts weiter als eine schattengleiche Gestalt, die inmitten
der gigantischen Tempelhalle stand.

Ich wagte kaum, mich ihm zu nähern, zu groß war mein Respekt,
aber gleichzeitig auch meine Furcht vor diesem von Licht
beschienenen, konturenlosen Wesen, welches das einzige in dieser
Stadt war, das mich an einen Traum denken ließ. Zu surreal

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mutete diese Kreatur an – sei es ein Mensch oder eine andere,
schwer vorstellbare Wesensart.

Ich wollte das Wort an das Geschöpf richten, so wie in der Nacht
zuvor. Trotz aller Furchtsamkeit hatte ich innerlich beschlossen,
dessen bizarrem Geheimnis auf den Grund zu gehen. Doch noch
bevor ich meinen Mund öffnen und gedankenlose und an diesem
Ort unangebrachte Worte aussprechen konnte, vernahm ich plötz-
lich eine hohe, Echo begleitete Stimme in meinem Kopf.

Ich wusste sofort, dass diese Stimme, die mich an den fernen Sing-
sang eines Männerchores erinnerte, ihren Ursprung in diesem hel-
len Lichtwesen besaß, das nach wie vor bewegungslos in der Mitte
der Halle harrte.

Die Gestalt redete in einer fremden Sprache zu mir, die ich, ohne
dass ich einen Gedanken daran verschwendete, verstehen konnte.
Sie erzählte mir von der Stadt und davon, wie sie einst voller
Leben war. In einer Zeitepoche, die lange vergessen und im nebli-
gen Morast der Vergangenheit versunken war, hatten die Stadt
und ihre Gebieter über eine Welt geherrscht, die lange vor der un-
seren untergegangen war.

Der Name der Stadt lautete Re´grith Dath – die Traumstadt, die
man nur des Nachts erblicken konnte. Nur wenige waren dazu
auserkoren, jemals einen Fuß in diese Stadt zu setzen. Und es war-
en noch weniger, die sich in der Morgendämmerung ihrer
erinnerten.

Ich sei einer dieser wenigen Auserwählten, so erzählte mir das
Wesen. Dabei erfüllte seine melodische Stimme meinen Kopf wie
die Verführung der Sirenen.

Er erzählte mir, Re´grith Dath sei untergegangen. In einem ge-
waltigen Krieg, mit einer Macht außerhalb unserer Welt, sei die

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Stadt mit all ihren Bewohnern und Palästen und blühenden
Gärten in einem schrecklichen und stinkenden Aschenregen ver-
sunken und im Laufe der Zeitalter in Vergessenheit geraten. Selbst
der Name der Stadt war den Ruinen in die dunkle Vergangenheit
gefolgt. Nur wenige wussten der Legenden der versunkenen Stadt
Re´grith Dath, und diejenigen, die davon sprachen, wurden
eingesperrt oder lebten abgeschieden und dem Wahnsinn verfallen
in tiefen Höhlen, in die nie das Licht des Tages drang. Bald schon
würde es nicht einmal den Hauch einer Erinnerung an diese Stadt
geben, und auch der letzte Geist die Mauern des Hohetempels ver-
lassen haben.

Und dann erzählte mir die Gestalt in ihrer lichtgetränkten Herr-
lichkeit von einem Ort in dieser Welt, die wir die unsere nennen.
Sie erzählte mir von Arc´s Hill.

Der Ort sei seit Anbeginn aller Zeiten ein mystischer Platz im Kos-
mos gewesen, denn er beherbergte die verschlossene Pforte, einen
alten, toten Baumkreis in den Bergen. Ein Ort, an dem in frühen
Zeitaltern Dämonen und Teufel tanzten und mit den Herrschern
anderer Welten palaverten und tranken und aßen. Dort, an jenem
versteinerten, archaischen Ort, fand man die Pforte und den lan-
gen Gang, der hinunter nach Re´grith Dath führte.

Denn was nicht vergessen, war nicht tot, und was nicht tot, würde
wieder auferstehen.

Der Geist aus Licht und Schatten, der letzte Hohepriester von Re´-
grith Dath, erzählte mir mehr. Mit Worten, die feiner als die
leiseste Musik waren. Ich verfiel diesen Worten.

Er, der Nad´naruhl mit Namen hieß und einst über die prächtigen
Bauten und breiten Straßen und blühenden Schlossgärten
herrschte, erzählte mir, was zu tun sei, um nach Re´grith Dath zu

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gelangen. Er brachte mir die Worte bei, die nötig waren, um die
versiegelte Pforte zu öffnen …

… und die dunkle Stadt aus ihrem stillen, verborgenen Grab
zurück ans Licht zu bringen, wo sie einst über ungezähmte Welten
herrschte.

Doch erst galt es, den toten Baumkreis zu finden …

An dieser Stelle waren einige Seiten aus dem Tagebuch gerissen.
Mikes Finger glitten über die gezackten Überreste, dort, wo die
Seiten offenbar in Eile entfernt worden waren. Er zählte vier Seiten
und fragte sich, was Charles Ward der Nachwelt verschweigen
wollte.

Die fünfte Seite war nur zur Hälfte herausgerissen … die Schrift
kaum zu entziffern.

13. Februar 1966

Ich hatte den Baumkreis gefunden, auf einem Felsplateau, das
schwer zugänglich war. Es war eine kalte Nacht mit tief hän-
genden, schwarzen Wolkengebilden, doch glaubte ich weniger,
dass mein Frösteln vom scharfen Nordwind herrührte. Ich begann
die Worte zu sprechen, die mich Nad´naruhl gelehrt hatte. Nur
wenige kennen diese Worte, und ich bin einer dieser wenigen
Auserwählten.

Ein seltsames Gefühl hielt mich gefangen. Auf der einen Seite eine
schier ungebändigte Furcht vor dem, was da kommen möge. Doch
wurde dieses Entsetzen fast vollständig von einer nahezu un-
menschlichen Neugierde verdrängt, wie ich sie nicht einmal als
Kind empfunden hatte. Wusste ich doch, dass mein Handeln inmit-
ten des steinernen Baumkreises die Grenzen des Universums zu
zerrütten vermag und die Geburt eines neuen, ewigwährenden

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Zeitalters einläuten konnte. Ich bin Teil von etwas Großem, Un-
fassbarem. Ich bin der Auserwählte.

Während ich den Gesang der versunkenen Stadt anstimmte,
spürte ich, wie die Erde unter meinen Füßen erzitterte. Ich weiß
nicht, ob ich mir dies nur einbildete, denn meine Nerven waren bis
aufs Äußerste angespannt. Aber eines war ganz sicher kein Trug-
schluss … je öfter ich die alten Worte Nad´naruhls wiederholte
und mich dabei unweigerlich in einen tranceähnlichen Zustand
versetzte, desto deutlicher erschien mir das Flüstern, das an meine
Ohren drang. Erst dachte ich an den kalten Wind, der aus den
Bergschluchten zu mir herüber wehte und mir eine letzte Warnung
zuzurufen schien. Doch mittlerweile bin ich mir sicher, dass das
Flüstern eine Stimme war. Worte, die tief aus der Erde auf meinen
monotonen Gesang zu antworten schienen …

Eine Stimme aus der Erde.

Mike spürte eine unbändige Kälte, die nicht einmal das prasselnde
Kaminfeuer zu bändigen vermochte.

Der Rest der Seite fehlte, und auch die nächsten Seiten hatte eine
unwirsche Hand aus dem Tagebuch gerissen. Dann stieß Mike auf
einen einzigen Satz, den Ward scheinbar in seinen furchtsamen Ak-
tionen zu entfernen übersehen hatte.

Ich habe die Stadt gesehen; Re´grith Dath … die schwarze Stadt,
tief in der Erde …

Und dann, etwas später, mit fahriger, fast kindlich wirkender
Schrift …

… Pesthauch aus der Urzeit …

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Die restlichen Seiten des alten Buches fehlten … bis auf die letzte
Seite. Sie war zerknittert und eingerissen, und Mike hatte Mühe,
die zittrige Handschrift zu entziffern. Es waren nur ein paar Sätze,
die scheinbar ziellos über die Seite verteilt waren. Es waren die
Worte eines Mannes, den Furcht lenkte und dessen Gedanken nicht
mehr die seinen schienen.

Ich kann nicht zulassen, dass Nad´naruhl sich der Träume meiner
geliebten Frau und meiner Töchter bemächtigt. Niemand soll
jemals wieder einen Fuß in diese schreckliche Stadt setzen.

Die Pforte muss auf ewig verschlossen bleiben, die Legende ver-
gessen werden.

Es darf keine Träume mehr geben, denn wenn Re´grith Dath aus
der Asche geboren wird, werden die Welten sterben. Meine Fam-
ilie darf nicht träumen … ich darf nicht träumen … niemand darf
träumen …

Hier endete das Tagebuch des Charles Ward.

***

Mike blätterte das alte Buch noch einmal mit fahrigen Bewegungen
durch, suchte nach Einträgen, die seinem fast schon berauscht zu
nennenden Verstand entgangen sein mochten. Doch er fand keine
weiteren Erläuterungen oder Hinweise auf die merkwürdigen
Träume Wards – oder gar auf seine eigenen – oder auf den
mystischen Baumkreis und seine unheilschwangere Bedeutung.

Sofern Ward tatsächlich in seinen Aufzeichnungen näher auf diesen
fremdartigen Ort eingegangen war, so musste er dies auf jenen
Seiten getan haben, die er in seinem offensichtlichen Wahn aus
dem Buch herausgerissen hatte.

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Frustriert und zutiefst verstört warf Mike das Tagebuch auf den
Tisch, wo es über die glatte Oberfläche rutschte und mit einem
dumpfen Knall zu Boden fiel. Fast augenblicklich spürte er einen
stechenden Schmerz hinter seiner Stirn und zwischen den Schläfen.
Eine Nachwirkung des seltsamen Traumes, dessen Opfer er ge-
worden war? Oder hatte sich sein Verstand derart auf Wards Ges-
chriebenes konzentriert, dass es ihm plötzlich an klarem Denken
mangelte?

Vor seinen übermüdeten Augen tauchten immer wieder die letzten
Worte des Buches auf. Insbesondere die Fragmente, die von zit-
ternder Hand niedergeschrieben waren. Sie übten eine unheim-
liche, fast grotesk zu nennende Anziehungskraft auf Mike aus. Doch
Ward hatte – offensichtlich aus gutem Grund – alles Erdenkliche
dafür getan, um dem eventuellen Leser seiner unheiligen Hinterlas-
senschaft nicht den vollen Schrecken seiner Erlebnisse zukommen
zu lassen. Wen hatte er mit seinen Handlungen, jene Seiten aus
dem Buch zu entfernen, schützen wollen? Wirklich denjenigen, den
irgendwann einmal das Unglück ereilen sollte, das Buch in Händen
zu halten? Oder versuchte er seinen eigenen Verstand zu schützen,
indem er die Tatsachen seiner Erlebnisse kurzerhand vernichtete?

Es verlangte Mike danach, die fieberhaft niedergeschriebenen
Worte erneut zu lesen. Vielleicht etwas Neues zu entdecken, so ein-
fältig dieser Wunsch auch klingen mochte. Er wollte Wards Worte
noch einmal fühlen, ertasten, riechen. Wollte ihnen das ungesagte
Geheimnis entlocken, dass Charles Ward in seinem Irrsinn vor
zwanzig Jahren mit in sein tiefes Grab genommen hatte.

Er erinnerte sich der Worte des Schankwirtes, der, war man wirk-
lich so töricht und schenkte dem seltsamen Mann Glauben, dabei
gewesen war, als man Ward in jener schicksalsschwangeren Nacht
auf dem Marktplatz von Arc´s Hill aufgefunden hatte.

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Seine Augen hätten in irrem Fieber gebrannt, so lauteten die Worte
des Schankwirtes. Und er hatte den Männern, die damals zugegen
gewesen waren, in wirren Worten anvertraut, was er seiner Familie
angetan hatte.

Was war es gewesen, das einen ehrbaren Menschen dazu verleiten
konnte, seine geliebte Frau und seine kleinen Töchter in ihren
Betten zu meucheln? Aus welcher Veranlassung heraus hatte Ward
offensichtlich seinen Verstand verloren und war, beseelt von fiebri-
gem Wahn, zum Marktplatz des Ortes gelaufen, seine unfassbare
Tat zu beichten? Fort vom alten Grady-Anwesen …

Die Antwort musste auf den herausgerissenen Seiten seines
Tagebuch zu finden sein. Doch rechnete Mike trotz seines
Begehrens nicht damit, jene mysteriösen Seiten jemals irgendwo in
den dunklen Eingeweiden des alten Hauses vorzufinden. Viel wahr-
scheinlicher mutete an, dass Ward mit dem letzten Funken Ver-
stand, der ihn noch aufrecht gehalten hatte, diese Seiten vollends
vernichtete, ehe er dazu überging, seine Familie aus dem Leben
auszulöschen.

Mike musste mehr über jene Geschichte erfahren. Und noch ehe er
sich zur Nachtruhe begeben und im Traum abermals in die selt-
same Stadt reisen würde, gedachte er noch einmal das ›Knights
Head‹ aufzusuchen. Zwar war der Schankwirt ein mürrischer und
wortkarger Zeitgenosse, doch er war der einzige Mensch, den er
bisher in Arc´s Hill kennengelernt hatte. Zudem war er einer jener
Männer gewesen, die anwesend waren, als man Ward wahnsinnig
auffand.

So machte sich Mike an diesem späten Abend noch einmal auf den
Weg in den Ort, in der Hoffnung, die kleine Taverne offen
vorzufinden.

***

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Er hatte keine Mühe, den kleinen Platz mit seinem Zierbrunnen in
dem Labyrinth aus engen Straßen und finsteren Gassen
wiederzufinden. Jetzt, in Anbetracht der befremdlichen Geschichte,
die ihm Wards Tagebuch anvertraut hatte, erschien ihm die un-
heimliche Stille des Ortes noch erdrückender und die kalte
Nachtluft noch erstickender. Lediglich das leise Flüstern des Re-
gens auf Asphalt und Kieswegen begleitete ihn. Büsche und Bäume
schienen Mike verzweifelte Worte zuzuwispern, wenn der Regen
sich seinen Weg durch Geäst und Blattwerk suchte.

Trotz der fortgeschrittenen Stunde war die Beleuchtung des
›Knights Head‹ eingeschaltet. Ein mattes Licht erhellte den Ge-
hweg vor der Taverne und ließ den Regen in den Pfützen funkeln.
Neben der Tür, in einem der kleinen Fenster, hing ein von Hand
geschriebenes Schild, das Mike verriet, dass das Gasthaus noch
geöffnet war.

Als er den niedrigen, vom gelben Schein einiger altertümlicher
Lampen erhellten Schankraum des Hauses betrat, stand der Wirt
hinter der Theke, die Arme weit ausgebreitet auf der wurmstichigen
Holzplatte abgestützt, gerade so, als hätte der Mann Mikes Ankunft
in dieser Nacht erwartet. Er trug seinen albernen, grauen Hut, wie
am Tage, an dem Mike die Bekanntschaft des Mannes gemacht
hatte.

Er grüßte den ungeschlachten Mann, und als dieser ihm knapp zu-
nickte, setzte sich Mike ihm gegenüber auf den selben Hocker, auf
dem er bei seinem letzten Besuch gesessen hatte. Wie zuvor waren
sie alleine in der Taverne, was ihm sein Vorhaben erleichterte.

»Wie kommen Sie voran?«, fragte der Wirt mit teilnahmsloser
Stimme und maß Mike mit prüfendem, fast abschätzendem Blick.
Mike konnte sich des Gefühls nicht erwehren, dass der Mann den
ganzen Abend auf ihn gewartet hatte. »Ist sicher ein hartes Stück
Arbeit, das alte Haus wieder herzurichten.«

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Mike nickte wortlos und bestellte dann etwas zu trinken. Er fühlte
eine innere Niedergeschlagenheit ob der Tatsache, dass er es nicht
schaffte, seine verworrenen Gedanken in Worte zu fassen, ohne die
Hitze des Alkohols in seinem Leib zu spüren. Hatte London ihn
wirklich derart tief in den Strudel der Abhängigkeit gezogen?

Während der Schankwirt ihm den Rücken zuwandte, um eine
Flasche aus dem mit einem trüben Spiegel verzierten Regal zu
holen, beschloss Mike, direkt und ohne Umschweife auf den eigent-
lichen Grund seines Besuches zu einer derart späten Stunde zu
sprechen zu kommen. Er verspürte nicht die geringste Lust, mit
dem Mann über banale Dinge zu reden, während in seinem Kopf
Wards letzte niedergeschriebene Worte wie ein entferntes Donner-
grollen nachhallten. Zudem glaubte er im argwöhnischen Blick des
Mannes etwas gelesen zu haben – ein leichtes, nervöses Aufblitzen
– das ihn geradezu dazu aufforderte, das Gespräch auf seine Erleb-
nisse hinzuführen.

Als ihm sein Gastgeber ein Glas mit verlockend goldenem Whiskey
vorgesetzt hatte, blieb er abwartend vor Mike stehen, als wollte er
durch seine Geste dessen düstere Gedankengänge unterstreichen.
Mike nahm einen gierigen Schluck und spürte augenblicklich die
beißende Hitze in seiner Kehle, die ihn jedoch entgegen aller Er-
wartung diesmal nicht zu beruhigen vermochte.

»Wussten Sie, dass Charles Ward ein Tagebuch führte?«

Der Wirt bedachte ihn mit einem Blick, der keinerlei Überraschung
ausdrückte, schwieg jedoch.

»Er schreibt darin von Träumen, die ihn in den Nächten heimge-
sucht hätten.«

Mike erwartete eine Reaktion. Doch der Blick seines Gegenübers
blieb weiterhin gelassen, auch wenn Mike glaubte, eine tiefe,

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versteckte Unruhe in den Augen des Mannes erkennen zu können.
Offensichtlich erzählte er dem Schankwirt nichts, was dieser nicht
bereits wusste. Er beschloss, nicht mehr länger mit seinen Erlebnis-
sen hinter dem Berg zu halten.

»Ward erwähnte in seinen Aufzeichnungen einen Ort in den Ber-
gen, an dem es einen altertümlichen Baumkreis geben soll. Haben
Sie davon schon einmal etwas gehört?«

Er vermied es, die archaische Bedeutung des Kreises zu erwähnen.

Plötzlich kam Regung in das Gesicht des grobschlächtigen Mannes.
Seine Augen weiteten sich und ein Anflug von Entsetzen stahl sich
in seinen Blick. Seine Hände, mit denen er sich immer noch auf der
alten Theke abstützte, verkrampften sich zu Fäusten, deren
Knöchel weiß hervortraten.

Dies alles offenbarte sich Mike binnen einer einzigen Sekunde.
Dann gewann der Mann seine vorherige Beherrschung zurück. Er
betrachtete Mike lange Zeit schweigend und mit einem Ausdruck in
den Augen, den dieser unmöglich zu deuten wusste.

»Der Steinerne Baumkreis«, flüsterte der Wirt schließlich zu sich
selbst, wobei er auf das wurmstrichige Holz der Theke starrte, als
hätte er dort ein lästiges Insekt erblickt. Ein unmerkliches Zittern
hatte sich des massigen Leibes des Mannes bemächtigt.

»Man sollte diesen Ort besser vergessen.«

»Was ist damit?«, setzte Mike nach und griff das Glas, um seine
aufsteigende Nervosität zu verbergen. Das Gefühl, sich in einer
fremden, kaum vorstellbaren Welt zu befinden, überkam ihn stärk-
er als je zuvor, seit er diesen merkwürdigen Ort betreten hatte.

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Der Wirt schüttelte den Kopf und starrte gedankenverloren auf ein-
en Punkt der Theke. Es mochte an der diffusen Beleuchtung der
Taverne liegen, doch glaubte Mike zu erkennen, wie das feiste
Gesicht des Mannes jeglicher Farbe beraubt wurde. Der lächerliche
Hut warf tiefe Schatten bis zur schiefen, von roten Äderchen verun-
stalteten Nase.

»Ich hätte nie gedacht, dass Ward den Baumkreis gefunden hat.«
Er hob seinen Blick und betrachtete Mike mit einem gehetzten und
furchtsamen Ausdruck in den Augen. »Er hat diesen schrecklichen
Ort tatsächlich in seinem Tagebuch erwähnt?«

Mike nickte, beschloss jedoch, seinem Gegenüber nichts davon zu
offenbaren, auf welche Art und Weise Charles Ward von diesem Ort
erfahren hatte.

»Sie sollten das, was Sie gelesen haben, ganz schnell wieder ver-
gessen, Mister«, fuhr der Mann schließlich mit flüsternder Stimme
fort, als befürchtete er, jemand könnte ungewollt dieser unheiligen
Unterhaltung beiwohnen. »Der Ort ist nicht gut.«

Mike deutete mit einem Nicken auf sein Glas, und der Wirt füllte es
augenblicklich nach, wobei die Hand, welche die Flasche hielt,
merklich zitterte. Er verschüttete einige Tropfen Whiskey auf der
Theke, doch schien er dies nicht zu bemerken.

»Was wissen Sie darüber«, fragte Mike und legte einige Geld-
scheine auf die Holzplatte. In der heutigen Zeit, so dachte er sich,
immer noch die beste Art, jemanden zum Reden zu bewegen, der
sich dagegen zu wehren versucht.

Der Schankwirt betrachtete das Geld, ohne es anzufassen. Dann bo-
hrte sich sein Blick in Mikes Augen, dass dieser das unbehagliche
Gefühl bekam, der Mann versuchte geradewegs den Grund seiner
verzweifelten Seele zu erforschen.

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»Der Steinerne Baumkreis liegt auf einem hoch gelegenen Felsplat-
eau in den Bergen«, begann er schließlich mit heiserer Stimme zu
erzählen. Dabei schob er mit einer unbedachten Bewegung die
Geldscheine zu Mike zurück. Dieser beachtete das Geld ebenso
wenig wie es der Schankwirt zuvor getan hatte.

»Ich war noch nie dort oben gewesen. Niemand aus dem Ort war
das.«

Er griff nach einem Glas und schenkte sich nun seinerseits einen
Whiskey ein. Mike konnte die innere Zerrissenheit des Mannes
förmlich mit Händen greifen.

»Man erzählt sich, dieser unheilige Ort sei älter als alles Lebendige
auf diesem Planeten. Manche der Legenden im Ort erwähnen Hex-
en, die sich in dunklen Gewitternächten im Kreis uralter, verstein-
erter Bäume treffen, um über ihre abscheulichen Taten in der
Menschenwelt zu palavern und zu lachen. Andere wiederum erzäh-
len sich, dass der Teufel selbst in den steinernen Eingeweiden des
Kreises seine Heimstatt besitzt.«

Er schüttelte den Kopf, als versuchte er dadurch das Gesagte zu
widerlegen, und leerte sein Glas mit einem kräftigen Schluck. Ein
bitteres Stöhnen brach zwischen seinen Lippen hervor. Der Geruch
von Whiskey, Speck und Knoblauch wehte Mike entgegen.

»Ich weiß nicht, welchen Geschichten man Glauben schenken darf.
Mit Sicherheit sind all diese Legenden nichts weiter als Ausgebur-
ten purer Ammenmärchen, mit denen man in früheren Jahren die
Kinder zu erschrecken versuchte.«

Ein nervöses Lachen entrann der Kehle des Mannes. Seine Augen
jedoch blickten nach wie vor voller Furcht und Kleinmut, was den
Sinn seiner eigenen Beschwichtigungsversuche widerlegte.

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»Man erzählt sich, dass in den alten Zeiten, als die ersten
Menschen in dieses Tal kamen und ihre Hütten errichteten, einige
hinauf zum Baumkreis gestiegen seien, um die Götter anzurufen
und um deren Beistand zu beten. Sie baten um Schutz und gute
Ernten, denn die Erde war zu dieser Zeit hart und unwirtlich
gewesen. Scheinbar hielten diese einfältigen Menschen den
Baumkreis für einen heiligen Ort. Aber nur wenige von ihnen waren
aus den Bergen zurückgekehrt. Und diejenigen, die den beschwer-
lichen Weg zurück in die Siedlung gefunden hatten, waren dem
Wahnsinn verfallen und weggesperrt worden, glaubt man den alten
Überlieferungen.«

Wieder schüttelte der Mann energisch den Kopf und starrte auf
sein leeres Glas. Sein Atem ging schwer, und Mike sah ihm an, dass
er sich nach einem weiteren Schluck Whiskey sehnte.

»Doch dies ist alles lange her. Aufgrund dieser Begebenheit taufte
man die erste Siedlung auf den Namen Hill´s Grave. Niemand hatte
sich fortan mehr dem verfluchten Ort in den Bergen genähert. Man
lernte die Berge zu meiden und begann, finstere Geschichten um
die Felsen und jenes, was sie beherbergten, zu spinnen.« Wieder
schüttelte der Schankwirt den Kopf, als fiele es ihm schwer, seinen
eigenen Worten zu glauben. »Wissen Sie, Mister …« Er beugte sich
nach vorn und bannte Mike mit seinem Blick. »Auch wenn dies
alles nur Legenden und Märchen von bescheiden denkenden und
abergläubischen Bauern sind, so glaubt man an Orten wie Arc´s
Hill dennoch an diese Geschichten. Und man befolgt ihre Botschaft,
sich von der Brutstätte des Teufels fernzuhalten.«

Es gelang Mike nur schwerlich, sich von den Augen des Mannes
abzuwenden.

»Was ist mit Ihnen«, fragte er mit brüchiger Stimme und leerte
sein Glas.

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Der Wirt setzte ein verbittertes, fast resignierend zu nennendes
Lächeln auf. Sein Anblick ließ Mike frösteln. »Ich war nie dort
oben, falls Sie das meinen«, antwortete er nach einer ganzen Weile.
»Aber ich habe Ward in jener Nacht gesehen. Und das, was er getan
hat. Ich glaube, dass dieser Ort in den Bergen, der Steinerne
Baumkreis, ein gotteslästerlicher Ort ist, der den Mann verdorben
und ihn zu seinen abscheulichen Taten verführt hat.« Sein Blick
wurde finster. Sein teigiges Gesicht näherte sich dem seines Gastes.
Plötzlich schien sich eine tiefe, lauernde Stille über das Haus gesen-
kt zu haben, die sie beide belauschte. »Wenn Sie mich fragen, ich
glaube, dass dort oben der Teufel tanzt.«

Als Mike das ›Knights Head‹ weit nach Mitternacht verließ, drehte
er sich an der Türe noch einmal zu dem Schankwirt der Taverne
um. Dieser wirkte im Schein der altertümlichen Lampen über der
Theke seltsam bleich und von einer tiefen Furcht berührt.

»Gibt es im Ort ein kleines Mädchen namens Emma?«

Die Gestalt des Wirtes straffte sich augenblicklich. Er richtete sich
zu seiner vollen Größe auf und starrte Mike mit großen Augen an.
Seine Lippen formten Worte, doch es dauerte eine Weile, bis er
diese aussprechen konnte. Dabei klang seine Stimme leise und schi-
en aus weiter Entfernung zu kommen.

»Es gibt nur sehr wenige Kinder in Arc´s Hill. Aber keines davon
heißt Emma.« Der Mann blickte sich um, als lauschte er auf ein
plötzliches Geräusch. Dann flüsterte er, während er sich im matten
Schein der Lampen zu ducken schien: »Charles Wards Töchter
hingegen hießen Carla … und Emma.«

***

In dieser Nacht saß Mike noch lange in seiner Schlafkammer, die er
sich im oberen Bereich des Hauses eingerichtet hatte, in einem

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alten, ledernen Lehnsessel und blickte auf das starre Gemälde der
Nacht hinaus.

Dort, wo die Sonne schon vor langem hinter düsteren Wolken un-
tergegangen war, glühte der Himmel noch immer in einer dünnen
Linie aus verwaschenem Rot über den Felsen. Fast erschien es
Mike, als würden die Berge selbst von einer pulsierenden Glut tief
in ihrem steinernen Schoß in diesen bizarren Schein getaucht. Die
Kämme des Gebirges glichen den grotesken Schatten versteinerter
Ungeheuer, die sich allmählich aus der Glut einer lodernden Hölle
herausschälten.

Nichts bewegte sich. Kein Wind zerstörte die erstarrte Nacht. Eine
bleierne Stille hatte sich über den Ort und das alte Haus gesenkt
und verbarg den vergessenen Landstrich in einem schweigenden
Mantel.

Mikes Verstand war erfüllt von den widersprüchlichsten Gedanken.
Hätte er sein Denken einer Menschenseele fern von Arc´s Hill an-
vertraut, hätte dieser Umstand genügt, um ihn vor seinen Mit-
menschen auf ewig als vom Irrsinn gezeichnet wegzusperren. Da
waren Charles Wards letzte Worte in diesem skurrilen Tagebuch,
das immer noch auf dem Boden in der Wohnstube lag. Mike hatte
bisher dem schreienden Drang widerstehen können, es aufzuheben
und noch einmal nach entgangenen Textpassagen durchzusehen.
Und es gab die düsteren Worte des Schankwirtes, die sich wie die
sengenden Peitschenhiebe des Jüngsten Gerichts in seine
Gedanken eingebrannt hatten. Welchen Glauben konnte er diesem
seltsamen Mann schenken, der sich zeit seines Lebens den dunklen
Legenden dieses Landstriches ausgesetzt sah und mit den Ammen-
märchen seiner Vorfahren großgezogen worden war? Und wie sehr
waren die düsteren Erzählungen des Wirtes, die alten Legenden
dieses Ortes betreffend, mit der Wahrheit in Verbindung zu
bringen?

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Mike dachte an das kleine Mädchen, das er am späten Abend am
Fenster gesehen hatte.

Emma schien ihr Name, spielten ihm seine Sinne nicht einen
schrecklichen Streich.

Emma … so lautete auch der Name einer der Töchter von Charles
Ward.

Mike spürte mit jeder Sekunde, in der er in der schweigenden
Dunkelheit verharrte, dass sich sein Verstand einer tiefen Kluft
näherte, deren Ende er nicht abschätzen konnte und die ihn unwei-
gerlich mit ihren Verhöhnungen und Verlockungen aus der Tiefe
nach endgültiger Stille anzuziehen schien. Er betrachtete mit leth-
argischer Gleichgültigkeit die bizarren Formen der Nacht, die sich
ihm zwischen den hohen Weiden darboten, die den Pfad zu seinem
Haus säumten.

Irgendwo da draußen, in dieser schrecklichen Dunkelheit, verbarg
sich jener unheimliche und legendenträchtige Ort, von dem Ward
geschrieben und der das blanke Entsetzen in die Augen des Wirtes
getrieben hatte.

Ward hatte davon berichtet, wie er die beschwörenden Worte jenes
geisterhaften Wesens aus der Traumstadt innerhalb dieses Stein-
ernen Baumkreises gesprochen hatte. Und auch davon, wie seinen
Worten aus der Tiefe des Erdreiches geantwortet wurde.

Der Schankwirt des ›Knights Head‹ glaubte, dass dort oben in den
dunklen Bergen der Leibhaftige seine Brutstätte besaß. Mike kon-
nte nicht verhehlen, dass es ihn danach verlangte, sich im Schlaf
erneut auf den Weg zu jener mystischen, abnormen Stadt zu
begeben.

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Doch befürchtete er, dass er nach all den Aufregungen des Tages
nicht dazu in der Lage war, den ersehnten Schlaf zu finden. Ebenso
wenig verlangte es ihn danach, den Rest der Nacht in dem ledernen
Sessel zu verbringen und in die versteinerte Nacht zu starren.

So ging er zu Bett, als ihm die Uhr die dritte Stunde des neuen
Tages verkündete. Sagte man nicht, dass dies die Stunde der Dä-
monen sei?

Noch ehe sich Mike dem quälenden Gedanken hingeben konnte,
auf welche Weise er sein Herz beruhigen und den erhofften Schlaf
finden konnte, als er sich auch schon auf dem Weg durch endloses
Dunkel in die in seinem tiefsten Unterbewusstsein verborgene
Stadt befand.

Jene Stadt, die er – dank Charles Ward – als Re´grith Dath kannte

***

In dieser Nacht blieb mir der Aufstieg zur Tempelanlage erspart.
Als ich die Augen öffnete und mich die träge Dunkelheit meines
Schlafes entließ, stand ich vor dem offenen Portal des Tempels, aus
dessen Halle ein kalter Wind zu mir wehte. Ich spürte den eisigen
Hauch schlanker, verlangender Finger auf meiner Haut, bez-
weifelte jedoch, dass dieses Gefühl der Beklemmung, das mich au-
genblicklich fest umschlungen hielt, von der Kälte herrührte, die
auf dem obersten Felsplateau herrschte.

Zögernd betrat ich den ausladenden Saal, der sich mir zunächst in
bleierner Nacht präsentierte, bis sich meine Augen an den Über-
gang vom Glanz der Stadt zum düsteren Innern des Tempels
gewöhnt hatten. Nach und nach schälten sich die mächtigen Säu-
len und Fresken aus dem Dämmerlicht, dann die gigantischen
Torbögen und Pilaster, die sie trugen. Und inmitten all jener

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Herrlichkeit stand die in einen Kranz aus gleißendem Licht geb-
ettete, konturenlose Gestalt, die mich bereits in der Nacht zuvor
erwartet hatte.

Ehrfurchtsvoll verharrte ich in meinem Schritt. Eine beklemmende
Stille breitete sich trotz der Weite der Tempelhalle aus.

Ich spürte, wie sich jede Faser meines Körpers anspannte, und
fragte mich zum wiederholten Male, ob es überhaupt möglich war,
derartigen Realismus innerhalb eines Traumes zu empfinden.
Mein Denken blendete alles aus, was um mich herum geschah. Der
monströse Eingang des Tempels, die kunstvoll verzierten
Arabesken der Säulen, die unheimliche Kälte der Halle … das alles
verschwand in einem stillen Nebel. Es gab nur noch mich, meinen
Atem, meinen Herzschlag und das schemenhafte Wesen, das re-
glos in der Mitte all dieser Nebelspiralen und Traumgebilde ver-
harrte und mich anstarrte.

Ich dachte daran, mein Wort an die Gestalt zu richten, so wie es
Ward versuchte, ehe er aus seinem Traum gerissen wurde. Doch
war ich unfähig, Worte zu bilden, die mir in der Situation als an-
gemessen erschienen. Ich hatte das absurde Gefühl, als hätte sich
etwas Fremdes meiner Gedanken bemächtigt, um mich zu kontrol-
lieren. Das Gefühl war abstoßend und erschreckend, aber auch be-
rauschend, auf eine primitive und widerstandslose Weise.

Und dann – ich wusste nicht zu sagen, wie viel Zeit vergangen
war, seit ich den Tempel zum zweiten Male betreten hatte – hörte
ich eine Stimme in meinem Kopf, die voller und eindringlicher war
als alles, was ich bisher in meinem Leben empfunden hatte. Ich
erkannte die unvorstellbare, uralte Macht, die dieser Stimme in-
newohnte. Eine Stimme, die es gewohnt war, zu herrschen. Die
führte, und der man nachgiebig folgte.

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Doch spürte ich auch die verheerende Verführung, mit der die mel-
odische Stimme meinen Verstand packte und ihn zu seinen Gun-
sten formte. Willenlos ließ ich es geschehen und lauschte den
Worten wie der großartigsten Melodie, die jemals in meiner Welt
von Menschenhand geschrieben worden war. Losgelöst vom ei-
genen Willen vernahm ich die Worte, die zu hören bereits Charles
Ward die Ehre hatte.

»Du bist auserwählt«, dröhnte die Stimme wie ein ganzer Chor in
meinen Gedanken. Es schienen Tausende zu sein. »Nur wenigen
wird jemals diese Ehre zuteil. Nur besondere Geister besitzen die
Gabe, den Worten unserer Welt Gehör zu schenken.«

Die Gestalt schien näher zu kommen, an Größe zu gewinnen. Und
doch verringerte sich ihr Abstand nicht. Ich spürte, wie mir die
Sinne schwanden, doch etwas – oder jemand – hielt meinen Ver-
stand mit eisernem Griff aufrecht.

»Du hast den Weg in meine Stadt gefunden. Du hast die Straßen
berührt und die verborgenen Gärten in ihrer blühenden Pracht be-
treten. Und du hast den Weg zum Tempel meines Herrn gefunden
und zu mir, Nad´naruhl, der da einst Wächter über diese Stadt
gewesen, die dich in ihrer Schönheit und Eleganz berührt hat.«

Ein schwaches Echo folgte jedem Wort, das die Gestalt sagte. Es
war ein monotones Auf- und Abschwellen, eine Symphonie purer
Verlockung und tiefster Versprechen.

»Die Stadt, die du nur des Nachts finden kannst, nennt sich Re´-
grith Dath. Es ist die Heimstätte der Ältesten, die lange vor euch
Menschen und allem Lebendigem auf Erden wandelten. Re´grith
Dath ist älter als alles, was du dir in deinem begrenzten mensch-
lichen Verstand vorzustellen vermagst. Einst, in Zeiten, die selbst
in den ältesten Legenden in die Nebel der Vergessenheit geraten
sind, waren die hellen Straßen erfüllt mit Leben und Lachen. In

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den Gärten der Paläste hatten die Jüngsten gespielt, und der Duft
von Blumen und grünen Bäumen hatte wie ein süßer Hauch über
den Dächern der prunkvollen Häuser gehangen und die Lüfte
erblühen lassen. Ein jeder hatte in Frieden mit seinem nächsten
gelebt, es gab keinen Neid und keine Missgunst, und jedes Paar
Augen, in das man blickte, waren die Augen eines Vertrauten. In
einer Schrift, die man in deiner schlichten Welt anbetet, wird von
einem Ort namens Eden erzählt. Doch dieser Ort, den es nur in
eurer schlichten Fantasie gibt – denn zu mehr gereicht die
Fähigkeit Eures Geschlechtes nicht – reicht an Würde und Herr-
lichkeit nicht heran an Re´grith Dath. Hier gab es keinen Hass,
keinen Krieg und keinen Tod.

Doch gebietet alles Gute dem Bösen aufzuerstehen. Und so kamen
Herrscher von weit jenseits der Dunkelheit und brachen über die
Stadt herein. Sie verfinsterten das Leuchten des Himmels und bra-
chten das Lachen in den Gärten und den Glanz in den Augen der
Bewohner zum Schweigen. Schreckliche Untaten zogen wie heißer
Sturm durch die Straßen. Unser Volk war zu schwach, sich dem
Bösen und der Arglist jener fremdartigen Bedrohung zu stellen.

Re´grith Dath ging unter, in einem gewaltigen Sturm aus Asche,
Staub, Schreien und dem triumphalen Geheul der neuen
Herrscher. Bis es nur noch totes Schweigen und kalte Stille in den
Straßen und Gärten der Stadt gab. Alles Leben wurde ausgelöscht,
und nach dem Sturm versank Re´grith Dath in der Schwärze des
Vergessens.«

In

meinen

Gedanken

entstanden

Bilder

schrecklichster

Gräueltaten. Ich hörte erbärmliche Schreie von Wesen, die Kinder
sein mochten, und das Wehklagen weiblicher Stimmen. Dazu das
aufgebrachte, jedoch aussichtslose Gebrüll männlicher Kehlen. Ich
sah Rauch über der Stadt, die jeglichen Glanz und die Pracht ihrer

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Bauten verloren hatte und nur noch einer schwarzen, sterbenden
Silhouette vor einem rotglühenden, brennenden Himmel glich.

Ich konnte die Verheerung riechen, die sich stinkend durch die
Straßen und Gassen wälzte und nichts verschonte und lebendig
zurückließ.

Was war Traum? Konnte man im Traum den Tod riechen? Erlebte
man im Traum den Niedergang mit der namenlosen Furcht der
Opfer?

Eine eisige Kälte hielt mich gefangen und verwandelte meine
Gedanken in düstere, triste Szenarien grausamster Härte. Ich
wollte meinen Blick, meine geistigen Augen abwenden, fort von
dem scheußlichen Schrecken der Vernichtung, die wie ein gewalti-
ger, schwarzer und tosender Sturm über die Dächer der Stadt hin-
wegbrauste. Doch war mein Wille längst nicht mehr der meine.
Ich spürte das schattengleiche Wesen stärker als je zuvor in mir;
in meinen Gedanken, meinem Körper, selbst in dem kalten Entset-
zen, das mich gepackt hatte.

Er wollte, dass ich diese Bilder sah. Er wollte mir den grausigen
Untergang seines Reiches darbieten und mir all die unsägliche
Scheußlichkeit nahebringen, die lange vor dem Beginn der Zeiten
seinem Volk zugefügt worden war. Ich sollte teilhaben am Sterben
eines lange vergessenen Zeitalters.

Mir schwanden die Sinne, und ich sehnte mich nach dem Er-
wachen und der Erlösung aus diesem gottlosen Traum. Doch das
Wesen hielt mein Denken mit eiserner Kälte in seinem Bann und
mich aufrecht, angesichts all jener abstoßenden Bilder, die es mir
vorführte.

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Dann plötzlich, mit einem letzten Schlag, verhallten das Sterben
und die Schreie in meinem Kopf, und die Bilder aus Feuer und
Asche verblassten.

Zurück blieben farblose Schatten der schrecklichen Geschehnisse
und ein fernes Echo des Gebrülls, bis auch diese verschwanden
und eine fast unerträgliche Stille einkehrte, die mein Denken zu
zerschneiden drohte. Noch immer hielt mich die Kreatur in ihrem
Bann. Eine feine, ferne Melodie erklang, ähnlich dem leisen
Flüstern eines Chores. Nur mit Mühe erkannte ich darin die
Stimme meines Gegenübers, dessen Worte meinen Verstand wie
das stete Rauschen von Meereswellen erfüllten.

»Es gibt einen Weg, das einst stolze und blühende Re´grith Dath
ans Licht zu heben. Nur wenigen ist es gegeben, diesen Weg zu be-
streiten, und nur die reinsten Geister sind auserwählt, den Weg
hinab in das dunkle Grab der Stadt anzutreten. Du hast die Macht,
neues Leben nach Re´grith Dath zu bringen und die ewige Fin-
sternis, die unsere Gruft ist, mit Licht zu zerschneiden.«

Plötzlich spürte ich, wie mich die eisige Umklammerung des Schat-
tenwesens losließ. Augenblicklich taumelte ich und stürzte auf den
harten Steinboden. Mit verschwommenem Blick sah ich zu dem
Wesen auf und bemerkte mit Ehrfurcht und Entsetzen, dass sich
das Geschöpf genähert hatte und nun gebieterisch über mir
aufragte. Noch immer war es mir unmöglich zu erkennen, ob es
sich bei der Gestalt um einen Menschen handelte.

Dann versank mein Verstand wieder im rauschenden Meer der
Worte, die das Wesen an mich richtete.

»Du musst die Pforte finden.«

Ich glaubte, eine Erregung innerhalb des Schattenwesens
erkennen zu können, ein feines Vibrieren des amorphen Leibes.

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»Der Ort in deiner Welt, den du deine Heimstatt nennst, ist ein
kosmischer Ort. Jene Herrscher aus fernen Welten und Zeiten, die
uns einst besiegten und dem düsteren Schicksal übergaben, be-
gruben unsere Geister sowie die allumfassende Herrlichkeit un-
seres Gottes tief in der kalten, harten Erde jenes mystischen Ortes
und belegten die Pforte mit einem Bannspruch, den nur eine
lebendige Stimme brechen kann.« Plötzlich ebbte die Melodie der
Gestalt zu einem traurigen Klagelied ab. »Lange blieben die Zeiten
still und deine Welt leer. Erstes Leben, das die giftige Luft atmete,
blieb stumm und konnte unseren Zwecken nicht dienen. Und so
verharrten unsere Geister innerhalb der schweigenden Mauern
dieser Stadt und verloren jegliche Hoffnung, dass da einmal der
Tag kommen möge, wo lebendige Stimmen deine Welt bevölker-
ten. Viele von uns verendeten und gaben sich dem Nichts der ewi-
gen Reise durch den Kosmos hin.«

Wieder begann die Gestalt zu erzittern, als versetze sie die pure
Erinnerung in zornige Ekstase.

»Doch dann begann deine Gattung, das Menschentum, diesen
Planeten zu besiedeln, gesandt von weit jenseits der Grenzen vor-
stellbarer Orte. Und mit dem Erklingen eurer Stimmen erwachte
in den verbliebenen wenigen Geistern der Altzeit die Hoffnung auf
Erlösung. Doch war es den ersten aufrechtgehenden Kreaturen
deiner Welt nicht vergönnt, die Sprache so zu benutzen, dass man
sie als verständlich hätte erklären können. Und wieder befiel unser
Volk tiefste Resignation. Viele Zeitalter vergingen und wurden wie
ihre Namen vergessen, bis endlich Wesen zu diesem Ort kamen
und ihn besiedelten. Doch selbst diesen Lebewesen war es nicht
möglich, ihre tierische Sprache zu unseren Gunsten einzusetzen.
Erst als sich die Zeiten weiterdrehten und aus den primitiven Tier-
en die Menschen emporwuchsen, war es uns möglich, in Kontakt
mit einigen Auserwählten deiner Spezies zu treten.«

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Immer noch lag ich auf der Erde, mir der Demut unbewusst, die
ich diesem formlosen Geschöpf entgegenbrachte.

»Gehe und finde die Pforte. Finde den alten Ort, der den Eingang
nach Re´grith Dath bildet und den nur die Formel des
Rulth´matheth, des obersten Gottes unserer Welt, zu öffnen ver-
mag. Gehe und finde den versteinerten Kreis der alten Bäume, die
einst in vergessenen Zeitaltern die Wächter der Pforte waren. Und
sprich die Worte des Rulth´matheth, um den Bann der Zerstörer
zu brechen und Licht und Leben in die Häuser und Straßen von
Re´grith Dath zu bringen.«

Ein tiefes Schaudern ergriff das gestaltlose Wesen, seiner Kehle
entrann ein gutturales Stöhnen, das mich an Wollüstigkeit denken
ließ.

»Sprich die Worte des Rulth´matheth, die ältesten, sakralen
Worte, die einst die obersten Herrscher verwendeten, breche das
Siegel jener schauerlichen Horden, die aus fernen Welten einfielen,
und öffne die Pforte nach Re´grith Dath.«

Plötzlich spürte ich, wie mein Körper von einer ungestalteten
Macht ergriffen und aufgerichtet wurde. Ich ließ es geschehen, als
sei es nicht mein eigener Leib, der willenlos gehalten wurde und
die Kälte tiefster Furcht und höchster Erregung gleichermaßen
spürte.

Und dann, als das Wesen direkt vor mir stand und meine Augen
schmerzten ob des gleißenden Scheines, hörte ich endlich und zum
ersten Mal jene Worte, von denen Charles Ward in seinem
Tagebuch berichtet hatte.

Jene Worte, aus einer Zeit, bevor die Zeiten geboren waren und
unsere Welt aus Feuer und Asche bestand.

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Jene Worte, von einem Ort weit jenseits jeglicher menschlicher
Vorstellungskraft.

Ich schloss die Augen und lauschte der verlockenden Melodie jener
uralten, vergessenen Beschwörung, welche den Bann zu brechen
vermochte und die Pforte nach Re´grith Dath, der Traumstadt der
Ältesten, öffnen würde …

***

Mike fand den Aufstieg in die dunklen Berge in der darauffol-
genden Abenddämmerung ohne Probleme.

Am frühen Mittag hatte er das ›Knights Head‹ aufgesucht,
getrieben von einem fast zügellos zu nennenden Begehren und im-
mer noch berauscht von der melodischen, sirenengleichen Stimme
Nad´naruhls. Das furchtbare Gefühl, nicht Herr seiner Sinne und
seines Leibes zu sein, ließ Mike schwindeln und verlieh ihm doch
eine tiefe, unbekannte Haltung, derer er sich als unwürdig
erachtete.

Der Schankwirt der Taverne, der sich ihm endlich als Daniel Paxton
vorgestellt hatte, war bleich geworden und in seiner massigen Er-
scheinung zusammengesunken, als Mike ohne weitere Umschweife
auf den Grund seines frühen Besuches in der Schankstube zu
sprechen kam. In den Augen des Mannes hatte sich ein furchtsames
Flackern widergespiegelt, und seine Stimme hatte merklich an
Stärke verloren, als er Mike widerstrebend den Weg zu jenem
mystischen Ort erklärte, ohne dabei dessen Absichten zu erfragen
oder sich nach dem furchtbaren und übermüdeten Erscheinungsb-
ild seines Gastes zu erkunden. Mike war sich nicht sicher gewesen,
ob Paxton in diesen Augenblicken ihrer kleinen Unterredung nicht
selbst unter dem Einfluss jener seltsamen Gestalt aus dem nächt-
lichen Traum gestanden hatte. Denn für einen Menschen, der nach
eigenen Aussagen noch nie an jenem geheimnisumwitterten Ort in

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den Bergen verweilt hatte, wusste Paxton erstaunlich genau über
den hinter Buschwerk und tiefhängendem Geflecht verborgenen
Pfad Bescheid, der hinauf in die Berge und zum Felsplateau führte.

Und so hatte sich Mike mit seinem neu erworbenen Wissen und
einer seltsamen inneren Ruhe, die ihn bei Anbruch der Dämmer-
ung befallen hatte, auf den Weg zum Rande des kleinen Städtchens
gemacht. Im Schutze der nahenden Dunkelheit, aber auch verbor-
gen im Mantel von Stille und Einsamkeit, war er über eine weite,
brachliegende Ebene zu den ersten Ausläufern der Berge gelaufen,
wo er auch, wie ihm Paxton prophezeit hatte, des mysteriösen
Pfades fündig wurde, den ein unwissendes Auge zwischen zwei
nahe beieinanderstehenden Büschen nie entdeckt hätte.

Der Aufstieg gestaltete sich schwieriger als vermutet. Nicht zuletzt
der Tatsache wegen, dass immer wieder herabgestürzte Felsbrock-
en und dichte Dornenranken den schmalen Weg versperrten.

Mike hatte eine große Taschenlampe mit leistungsstarken Batterien
eingesteckt und folgte dem bleichen Lichtschimmer auf dem
Boden, der ihn immer wieder vor losem Geröll und uralten, ver-
steinerten Wurzeln warnte. Einmal offenbarte ihm der Lichtpunkt
seiner Lampe gar eine tiefe Grube inmitten des Pfades, die allerd-
ings, folgte er den harten, verkrusteten Rändern des Grabens,
bereits vor ungezählten Jahren ausgehoben worden war.

Mike suchte den Grund der Grube, der sich gute fünf Meter unter
ihm befand, mit der Taschenlampe ab, konnte allerdings lediglich
die verendeten Kadaver etlichen Kleingetiers erkennen, die den
Boden mit ihren bleichen Knochenresten bedeckten. Im Stillen
dankte er Gott dafür, dass der Lichtschimmer nicht auf die verrot-
teten Formen menschlicher Überreste gestoßen war.

Es bereitete ihm einige Schwierigkeiten, die Falle – sofern es denn
eine solche darstellen sollte – am Rande zu passieren, ohne selbst

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in das harte Grab hinabzustürzen. Doch als er es endlich nach
äußersten Anstrengungen geschafft hatte, verschwendete er keinen
weiteren Gedanken mehr an das dunkle Grab und seine Bedeutung.
Er hatte immer mehr das Gefühl, von einer Macht getrieben zu wer-
den, die seinem Verstand bei Weitem überlegen war.

Mittlerweile hatten auch die Ränder des Himmels ihre Farbe ver-
loren, und Mike stolperte durch eine einheitliche, schwarze Masse
aus Kälte und Stille, die von keinem Mondstrahl oder Sternenlicht
erhellt wurde. Lediglich seine Taschenlampe zeigte ihm den Weg
direkt vor seinen Füßen und streifte trockenes, vernarbtes Astwerk
und verkrüppelte Büsche, sowie bedrohlich erscheinende, schwarze
Baumstämme, bar jeglichen Lebens, die ihn stumm zu beobachten
schienen und seinen Pfad flankierten.

Das Gefühl, dass seine Schritte in dieser finsteren, schweigenden
Umgebung nicht ungesehen blieben, erdrückte Mike. Hinter jedem
im Schein seiner Taschenlampe aufflackernden Buschwerk ver-
mutete er die höhnisch grinsende Fratze eines Wesens, wie es nur
eine derartige Nacht und ein ebenso düsterer Ort gebären konnten.

Ein kalter, schneidender Wind war aufgekommen und zerrte an
seiner Kleidung, die er, wie er sich törichterweise eingestehen
musste, zu schlicht und unangemessen gewählt hatte. Er musste die
Augen zu schmalen Schlitzen verengen. Dennoch trieb ihn der eis-
ige Hauch, der zwischen den Felsen auf ihn einstach, Tränen über
die Wangen, die salzig schmeckten, wenn sie seine Lippen
berührten.

Wenn er nach oben in die Dunkelheit blickte, hatte er das beklem-
mende Gefühl, nur den Arm ausstrecken zu müssen, um die tief
hängende, rauchgleiche Wolkendecke berühren zu können. Er
glaubte, groteske Gestalten in diesen Wolkengebilden ausmachen
zu können. Schreckliche Dämonen und kreischende Bestien, die
einander über den farblosen Himmel jagten.

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Mike wusste, dass sein Verstand bis aufs Äußerste angespannt war
und er allmählich Opfer von Trugbildern wurde. War es Charles
Ward einst ähnlich ergangen?

Diese Erlebnisse erzeugten in seinem Kopf eine lähmende Furcht,
die seine anfängliche Ruhe, mit der er den Aufstieg begonnen hatte,
als heuchlerisch enttarnte und schnell schwinden ließ. Der Weg
wurde steiler und steiniger, das Buschwerk und die kahlen,
größtenteils abgestorbenen und gar verbrannten Bäume zu beider
Seiten des Pfades spärlicher.

Schließlich schlängelte sich der schwarze Weg durch eine raue,
finstere und zerklüftete Felsenlandschaft, die ihm wie stumme, je-
doch stets wachsame Wächter erschienen.

Die Luft wurde eisiger und erschwerte Mike das Atmen in erhebli-
chem Maße. Immer wieder musste er anhalten und sich auf seinen
zitternden Knien abstützen, um wieder zu Luft zu gelangen. Dabei
spürte er seine Lungen in kaltem Feuer brennen und sein Herz so
laut in seinem Leib schlagen, dass er befürchtete, es versuche sich
in Panik einen Weg aus seinem frierenden und niedergekämpften
Körper zu graben.

Die bange Frage drängte sich in all ihrer Scheußlichkeit auf, ob er
sich, im Angesicht dieser düsteren und bizarren Landschaft, über-
haupt dazu in der Lage sah, sich an die archaischen Worte des
Nad´naruhl zu erinnern, wenn der Zeitpunkt gekommen war, sie
laut auszusprechen. Doch noch schrecklicher plagte ihn die
Ungewissheit, was diese uralte Beschwörung bewirken würde.

Ward hatte in seiner mit bebender Hand verfassten Niederschrift
nicht viel hinterlassen, was Mike als Anhaltspunkt dessen dienen
konnte, was ihn erwartete. Doch den letzten, angsterfüllten Sätzen
des Buches zufolge, schienen die Worte des alten Herrschers etwas

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heraufzubeschwören, das nur schwerlich mit dem menschlichen
Verstand vereinbart werden konnte.

Der Gedanke an das, was ihn in dieser apokalyptischen Nacht noch
erwarten mochte, ließ seinen Schritt langsamer und seinen Atem
quälender werden. Zu guter Letzt stolperte Mike immer öfter über
loses Geröll oder spitze, aus dem Fels hervorragende Steine, und
robbte nicht selten auf Händen und Füßen über harte Erde und
scharfes Gestein, bis seine Finger bluteten und sich der Herzschlag
in seine Hände verlagert zu haben schien.

Und dann, als ihn der letzte Rest menschlichen Verstandes bereits
zur Umkehr bewog, stolperte er um einen letzten, hoch aufra-
genden Felsen herum, der wie die Klinge eines gigantischen Mess-
ers aus der harten Erde aufragte und majestätisch in die finstere
Nacht stach.

Im nächsten Augenblick stand er unvermittelt am Rande des
Felsplateaus.

Es kam ganz plötzlich, ohne das Erschallen himmlischer – oder gar
höllischer – Hörner, und ohne, dass ihn ein furchtsamer Schrecken
packte.

Mit wild schlagendem Herzen und eisigen Tränen in den Augen,
starrte er gebannt auf die düsteren Schatten einer riesigen, freien
Fläche, die von steinernen, stumm in die Nacht ragenden Kolossen
umringt war.

Augenblicklich schien das Heulen des Windes in einem fernen Echo
zu ersterben. Zurück blieb das verzweifelte Schlagen von Mikes
Herz und das brausende Schreien seines Blutes in seinen eisigen
Adern.

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Die Felsen um ihn herum verschwammen in einem grauen, alles er-
stickenden Nebel. Der steinige Boden, die tief hängenden, monströs
anheimelnden Wolkenschwaden … alles löste sich in einem Strudel
aus Bedeutungslosigkeit auf. Zurück blieb ein frierender und
furchtgepeinigter Mann, der unmöglich er selbst sein konnte, so
dachte Mike in einem letzten Aufflammen seines Verstandes.

Er fand den Gedanken in sich, wie viele Menschen vor ihm diesen
mystischen Ort wohl jemals betreten hatten. Doch schwand dieser
letzte Fetzen seines Bewusstseins und vereinte sich mit all den
Nichtigkeiten dieser Nacht, die der Nebel schluckte.

Nichts war mehr von höherer Bedeutung in seinem armseligen
Leben.

Olivia, die ihm in dieser alten Welt genommen wurde und seine
kleine, süße Tochter Susan mit sich in die Finsternis ihrer Gräber
geführt hatte.

Die grellen und lauten Lichter der Stadt, die einst seine Droge
gewesen waren.

Arc´s Hill und das merkwürdige Haus des Reginald Grady, in dem
er in Melancholie und Erinnerungen seine letzten und einsamen
Tage zu verbringen gedacht hatte.

Charles Ward und sein verfluchtes Tagebuch.

Das ›Knights Head‹ und der wortkarge, massige Schankwirt, den er
seit diesem Tag als Daniel Paxton kannte.

All dies existierte in dieser Nacht und an diesem Ort nicht mehr.

Er war ein anderer geworden.

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Mike befand sich in einer fremdartigen, fernen Welt; einer un-
bekannten Zeit, die stillzustehen schien, als er auf Beinen, ohne jeg-
liche Empfindungen und ohne das Zutun seines eigenen Willens, in
das Zentrum des Steinernen Baumkreises ging.

Langsam …

Schritt für Schritt …

Ohne das geringste Geräusch …

Die Welt war still geworden.

Sie lauerte …

Die Nacht hatte ihr unheimliches Flüstern verloren.

In Zeiten, die sich der menschliche Verstand nicht mehr vorzustel-
len vermochte, waren diese gigantischen, starren Schatten, die vor
Mike in eine unsichtbare Höhe emporragten, einmal junge,
blühende Schösslinge gewesen, die zu kräftigen und robusten Bäu-
men herangewachsen waren, lange bevor erster Atem über die Welt
strich.

Doch jetzt, in dieser Nacht, die ewig und Mike als die letzte seiner
Existenz erschien, waren sie düstere und stumme Wächter eines
Ortes, an dem die Geschicke des Kosmos einst zusammentrafen,
und in dessen harter und versteinerter Erde die Geister der ge-
fallenen Herrscher begraben lagen.

Hier, im Zentrum des zeitlosen Zirkels, befand sich die versiegelte
Pforte nach Re´grith Dath.

Mike schwanden die Sinne, als er in die Mitte des riesigen Kreises
trat. Ihm schien, als versuchte eine unbekannte Macht seinen Leib
und seine Seele auszusaugen.

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Er stolperte, fiel auf die Knie und spürte kalte, harte Erde unter
seinen Händen. Und ein verlangendes, ungeduldiges Beben, das
sich kaum merklich durch das Erdreich pflügte.

Waren dies die Sendboten des Wahnsinns?

Hatten sie auch Ward zu sich gerufen?

Als er sich wieder aufrichtete und ein eisiger, lautloser Wind sein
Gesicht wie feinste Nadelstiche traf, schloss er die Augen und warf
den Kopf in den Nacken, so dass sein Antlitz den über ihm dahin-
rasenden Wolkenungetümen zugewandt war. Tiefe, gutturale Laute
verließen seine Kehle, Speichel tropfte aus seinem Mund. Er
schmeckte das bittere Kupfer von Blut auf der Zunge.

Und dann, mit einer rauen Stimme, die nicht seine eigene war,
begann Mike die archaischen Worte des Großen Rulth´matheth zu
sprechen, die ihn das lichtbeschienene Wesen auf dem Tempelberg
gelehrt hatte. Jene uralte Sprache aus den dunklen Gräbern der
Welten.

Seine Lippen formten die ältesten Laute des Kosmos. Seiner Kehle
entrannen animalische Laute und Worte, dem Zischen von Schlan-
gen und dem Knurren wilder Hunde gleich. Auf seiner Stirn bildete
sich kalter Schweiß.

Die Laute entstammten nicht seinem Verstand. Sie stiegen aus dem
tiefsten Innern seines Daseins empor. Tiefer noch als jedes Denken.

Tiefer als der Grund seiner Seele …

Etwas war in ihm …

Etwas sprach die unheiligen Worte des Rulth´matheth …

Etwas benutzte die Vergänglichkeit seines irdenen Leibes …

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Sein Körper bäumte sich in grotesken Bewegungen auf. Seine
Gliedmaßen begannen unkontrolliert und tranceartig zu erzittern.

Der Wind flaute auf und fuhr fordernd unter seine Kleidung. Er
spürte eiseskalte Hände, die nach ihm griffen. Finger, die seinen
Leib wie eine Geliebte ertasteten. Tränen und Schweiß liefen gleich-
ermaßen über sein Gesicht. Sein Haar peitschte ihm im Wind ins
Antlitz, als hätte es eigenes Leben entdeckt. Die Augen hielt er
geschlossen, doch konnte er spüren, wie etwas geschah. Unentwegt
spie er die urzeitlichen Laute in die dunkle Nacht, wieder und
wieder.

Ihn befiel das Gefühl, sich in bodenloser Leere zu befinden. Es gab
keine Zeiten mehr. Keinen Wind. Keine Schmerzen. Kein Oben und
kein Unten. Kein Denken …

Etwas zog an ihm.

Etwas bewegte sich.

Er strauchelte, doch seine Augen blieben geschlossen.

Etwas hielt seine Lider geschlossen.

Es war nicht sein eigener Wille. Ebenso wenig, wie es seine eigene
Stimme war, die urzeitliche Laute aus seiner Kehle stieß und eine
Sprache in die Nacht spie, der nichts Menschliches anhaftete.

Dem wütenden Keifen einer Monstrosität gleich.

Das Gefühl, dass sich der Boden unter seinen Füßen bewegte, er-
griff Mike mit schockierender Heftigkeit. Mal wurde sein Fuß nach
oben gedrückt, als versuchte sich etwas Gigantisches aus dem
Erdreich zu heben. Dann wiederum versank sein Fuß in einer tiefen
Mulde, um gleich darauf wieder in die Höhe gestemmt zu werden.

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Er stolperte. Seine Stimme schrie in den Lauten seiner
Erinnerungen …

… und endlich öffnete Mike die Augen.

Was er sah, ließ seinen Verstand jene Grenzen erreichen, die
blindem, bedingungslosem Wahnsinn gleichkamen.

Immer noch formten seine bebenden, tauben Lippen die archa-
ischen Worte der Ältesten. Ein unentwegter Gesang …

Seine Augen starren derweil voller Entsetzen auf das infernalische
Szenario, das sich um ihn herum im Steinernen Baumkreis der äl-
testen Wächter des Kosmos abspielte.

Die harte, steinige Erde warf sich wie die Wellen eines Meeres in
die Höhe, um gleich darauf wieder in dunklen Gräben zu ver-
schwinden. Tiefe, grobe Risse zerpflügten den Boden, aus dem
trübe Dampfschwaden in die Nachtluft aufstiegen und sich zu
grotesken Formen vereinten.

Tief in den Gruben, die sich sternförmig vom Zentrum des
Steinkreises bis hin zu den monumentalen, schwarzen Wächtern
zogen, pulsierte ein schwaches, gelbstichiges Glühen, das den
Rauchschwaden die kranke Farbe brackigen Sumpfes verlieh.

Mikes Augen, längst jeglichen Verstandes beraubt, betrachteten das
schreckliche Schauspiel mit einer morbiden Mischung aus Grauen
und perverser Faszination, während seine Ohren der nächsten Sin-
nestäuschung zu unterliegen schienen.

Tief aus der Erde, von jenem Ort, der das abträgliche Leuchten ge-
bar, glaubte Mike das erregte Flüstern von Wesen fern jeglicher
Vorstellungskraft zu vernehmen.

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Leise und fern. Nicht mehr, als das flaue Wehklagen des Windes.

Und doch verstand er Worte, deren Sinn er nicht kannte und die
ihm plötzlich so vertraut erschienen. Die Worte seines Traumes …

Ein Chor triumphaler Seufzer erfüllte die vom aufsteigenden
Dampf gelb gefärbte Nacht und erfüllte sein Denken mit resignier-
endem Wahn. Ohne Unterlass schrie er weiterhin die unheiligen
Worte des Rulth´matheth in die brüllende Nacht hinaus …

Die Erde begann aufzubrechen. Hartes Gestein und stinkender Sch-
lamm wurden in die kalte Finsternis gespien. Etwas versuchte sich
aus Jahrtausende altem Fels zu befreien.

Grässliches Krachen und Bersten erfüllte die Luft, vermodertes
Erdreich und glühender Stein quollen mit grauenerregender Urge-
walt aus dem Boden hervor. Tiefstes, urzeitliches Donnergrollen
drang in infernalen Schreien aus dem Schoß der Erde an die Ober-
fläche empor und ließ die nach Schwefel und Asche stinkende
Nacht erzittern. Blitze zuckten, Feuerlanzen gleich, aus dem Innern
des Berges.

Etwas drückte und schlug in seinem Grab gegen den Erdboden …

Etwas kam …

Und noch immer spie Mikes vom Wahn zerfetzter Leib die archa-
ischen Worte der Großen Alten in die teilnahmslose Kälte der Berge
hinaus.

***

Ein Traum ?

Ein immer wiederkehrender, verzehrender, blendender, verderb-
ter Traum?

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Oder grauenvolle Realität?

Ich gehe langsam durch die Straßen der Stadt, die ich als Re´grith
Dath kennengelernt habe.

Meine Schritte sind schwer, mein Leib ist abgezehrt. Mein Ver-
stand leer und erloschen.

Der Glanz der alten Stadt jenseits der Nacht ist verblasst. Die ho-
hen Aversen mit ihren Säulen und Fresken liegen in profaner
Dunkelheit verborgen, die einst blühenden Gärten in tiefster Sch-
wärze begraben.

Die hellen, breiten Chausseen und Alleen gleichen verrotteten, sch-
lammgetauchten Gassen.

Der Himmel weist die schrecklich schwarze Farbe geronnenen
Blutes auf.

Der Tempel des Nad´naruhl, hoch oben auf dem Berg, wacht fin-
ster und gewaltig über die stille Stadt. Seit ich hier bin, habe ich es
nicht gewagt, hinaufzusteigen zu den endlosen Hallen des unheim-
lichen Wächters.

Ich fürchte das gleißende Licht.

Die beseligende Stimme.

Die verheißungsvollen Worte der ältesten Rasse.

Ich fürchte meine Träume …

Müde gehe ich durch das ewige Schweigen meines Grabes.

Kein Gedanke lenkt mich mehr, kein Schmerz peinigt mich.

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Die Nacht meines sterbenden Traumes hält mich gefangen.

Ich weiß jetzt, was Re´grith Dath bedeutet.

Ich kenne die Sprache der ältesten Wesen.

Die Sprache des Großen Alten, des gefangenen Teufels …

Re´gridh Dath … es bedeutet ›Stadt der Toten‹ …

ENDE

Die Geschichte geht weiter mit

DAS GRAB DES TEUFELS

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Der Autor

Michael Dissieux … geboren 1967 entdeckte Michael Dissieux
bereits früh die Liebe zum Schreiben. Mit 10 Jahren verfasste er er-
ste

Geschichten,

denen

einige

Romane

und

unzählige

Kurzgeschichten folgten.

Einige dieser Geschichten, die sich allesamt in den Bereichen des
Horrors und des Unheimlichen ansiedeln, wurden in den „John
Sinclair“ – Ausgaben als `Horrorstory der Woche´ veröffentlicht.

Zudem

arbeitete

Dissieux

an

der

Romanreihe

JESSICA

BANNISTER mit, welche im Bastei-Verlag erschien.

2011 erschien sein Debütroman GRAUES LAND im Luzifer-Verlag,
für den er mit dem 3. Platz des “Vincent Preises“ ausgezeichnet
wurde. Sein Nachfolgeroman DIE SCHREIE DER TOTEN belegte
ein Jahr später in der gleichen Kategorie den 5. Platz.

Michael Dissieux lebt in Saarbrücken und arbeitet, neben der
Schriftstellerei, als Busfahrer im Linienverkehr.

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LUZIFER Verlag

- Dein Verlag für Thriller, Horror und

Endzeit-Romane

internationaler

Newcomer

und

Bestseller-Autoren.

Im Verlagsprogramm des inhabergeführten LUZIFER Verlags find-
et der geneigte Leser spannende Unterhaltungsliteratur der Genre
Thriller, Horror, Endzeit (Apokalypse, Dystopie), Zombie,
Pandemie, Science Fiction, Phantastik und vieles mehr.

Dabei finden immer mehr internationale Bestseller bekannter
(Genre)-Autoren ihren Platz in unserem Buchsortiment. Bekannte
Autoren wie Russell Blake, Craig DiLouie, Cheryl Kaye Tarif, G. Mi-
chael Hopf, F. Paul Wilson oder Greg F. Gifune sollten das Herz
eines jeden Thriller- oder Horror-Roman-Fans höher schlagen
lassen.

Alle Titel werden in der Regel als hochwertige Klappenbroschur
und preisgünstiges Ebook angeboten. Der LUZIFER Verlag ist
ständig bemüht, sein Angebot an Spannungs-Literatur adäquat
weiter auszubauen, um dem Leser ein abwechslungsreiches Buch-
sortiment anzubieten.

Leseproben bei

SCRIBD

im PDF-Format.

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