Ebook (German) @ Fantasy @ Alpers, Hans Joachim Raumschiff Der Kinder 03 Wrack Aus Der Tnendlichkeit

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Hans J. Alpers / Ronald M. Hahn

Wrack aus der

Unendlichkeit

Band 3

aus der Reihe

„Raumschiff der Kinder“

ungekürzte Originaledition

der nicht mehr  aufgelegten

Einzelausgabe von 1977

©   Ensslin   &   Laiblin   Verlag   GmbH   &   Co.   KG   Reutlingen   1977.   Sämtliche
Rechte,   auch   die   der   Verfilmung,   des   Vortrags,   der   Rundfunk­   und
Fernsehübertragung,   der   Verbreitung   durch   Kassetten   und   Schallplatten
sowie der fotomechanischen Wiedergabe, vorbehalten. Printed in Germany.

ISBN 3­7709­0402­8

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Die kosmische Uhr

„Harpo?“
„Hmm.“
„Harpooo?“
„Hmm!“
„Harpo! Antworte bitte.“
„Was gibt’s denn, Schwatzmaul? Du siehst doch, daß ich zu tun habe. Ich

muß diese verflixte Mathe­Aufgabe noch lösen.“

Schwatzmaul   war   das  Bordgehirn  des   Raumschiffes   EUKALYPTUS.   Die

Kinder hatten ihm diesen Spitznamen verliehen, weil es gern ungefragt seine
Meinung äußerte. Aber auf eine gewisse Art waren sie sogar froh darüber, daß
Schwatzmaul nicht eine jener eiskalt und logisch denkenden Maschinen war,
wie man sie nur allzu oft an Bord anderer Weltraumschiffe antraf. Das Bord­
gehirn   verfügte   über   eine   Anzahl   von  Fernsehaugen,   überall   an   Bord   des
Schiffes, und war fähig, optische Eindrücke wahrzunehmen.

Harpo sah ein wenig unwillig von seinen über den Kontrolltisch ausgebrei­

teten Schmierzetteln hoch.  Mußte  Schwatzmaul ihn ausgerechnet jetzt stö­
ren? Er war ohnehin ärgerlich, weil er seit zwei Stunden vergeblich versuchte
diese knifflige Gleichung mit zwei Unbekannten zu lösen. Obwohl die Kinder
in jeder Beziehung ihren Mann – und natürlich auch ihre Frau – standen,
hatten sie beschlossen, daß die Weiterbildung nicht vernachlässigt werden
durfte. Mathematik gehörte dazu, also  mußten  Aufgaben gelöst und geübt
werden. Die Lehre vom Zusammenleben in einer Gemeinschaft war ebenso
wichtig, deshalb wurden Geschichte, Politik, Soziologie und Psychologie mit
Hilfe von Mikrofilmen aus dem Schiffsarchiv gelernt. Und ... und ... und ...

„Harpo,   weißt   du,  was  tick­tick­tick­tick­tick   bedeutet?“   fragte   Schwatz­

maul.

„Ach, laß mich doch in Ruhe.“
„Wenn du unter Druck stehst, kann ich dir Zeit sparen helfen“, flüsterte

Schwatzmaul in verschwörerischem Tonfall. „Wenn du in der dritten Zeile ,x‘
ausklammerst, dann ...“

„Ich will aber nicht, daß du mir dabei hilfst“, schimpfte Harpo. „Ich will es

allein schaffen! Also gut, wie war das noch einmal? Was wolltest du von mir
wissen?“

„Ich will nur wissen, was tick­tick­tick­tick­tick zu bedeuten hat.“
„Mann!“ stöhnte Harpo, obwohl der Computer ja kein Mann war. „Das ist

natürlich eine Uhr! Und nun – bitte Schwatzmaul! – unterhalte dich meinet­
wegen mit dem kleinen Ollie. Der freut sich, wenn du ihm Rätsel aufgibst:
Hängt an der Wand, macht tick­tick­tick, und wenn es herunterfällt, ist die
Uhr kaputt. Was ist das?“

„Na  schön“, brummte Schwatzmaul leicht säuerlich. „Du bist heute sehr

ungnädig. Gut, gut, ich nehme zu den Akten, daß es dich nicht interessiert.
Aber nochmals, Harpo Trumpff, Herr Harpo Trumpff, Chronist und Logbuch­

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führer  des Raumschiffes EUKALYPTUS: Würdest du bitte die Gnade haben,
zur Kenntnis zu nehmen, daß vierzehn Lichtminuten von hier eine mehrere
Kilometer große Uhr im Weltraum hängt? – Ich sage das ja nur, damit hin­
terher nicht wieder von gewissen Leuten das große Gemecker zum Dessert
auf den Tisch kommt“, fügte das Bordgehirn hinzu.

„Waaas?“ stieß Harpo hervor, sprang auf und stieß beinahe den Schwenk­

sitz  um. Seine dichten, blonden Locken fielen ihm dabei in die Stirn und
nahmen ihm vorübergehend die Sicht. Mit einer charakteristischen Handbe­
wegung warf er das Haar wieder in den Nacken. „Eine Uhr?  Kilometergroß,
im Weltraum – und die hängt da einfach rum? – Schwatzmaul, du bist über­
geschnappt!“

„Ich habe lediglich gefragt“, näselte das Bordgehirn vorwurfsvoll, „was tick­

tick­tick­tick­tick bedeutet, weil ich dieses Ticken mit meinen Instrumenten
aufnehme.   Und   da   du   sagtest,   es   könne   sich   nur   um   eine   Uhr   handeln,
schwebt eben eine riesige im All.“

„Ich breche zusammen!“  stöhnte Harpo. „Warum haben  wir  auf diesem

Schiff nicht einen ganz lieben, netten Computer, der Daten ausspuckt wie
etwa:   ,Funksignale  aus  dem  Raumquadranten  sowieso   empfangen   ...‘  Das
wäre doch so einfach, soo nervenschonend ...“

„Pah“,   machte   Schwatzmaul   geringschätzig.   „Wie   der   Herr,   so’s

Gescherr...“

Harpo   wurde   sofort   klar,   daß   die   Mathematikaufgaben   jetzt   unwichtig

waren. Signale im All! Gerade  jetzt, da die Generatoren  der EUKALYPTUS
langsam  auf Touren  kamen, man  zum  ersten  Mal nicht ein Spielball  kos­
mischer Kräfte war, sondern bewußt Sterne ansteuerte – und einige Hoffnung
hatte, sie in absehbarer Zeit auch zu erreichen. „Kannst du die Signale ent­
schlüsseln?“ fragte er nervös.

„Signale   hast   du   gesagt“,   erinnerte   ihn   das   Bordgehirn.   „Ich   jedenfalls

sprach nur von einem simplen Ticken. Um genau zu sein: Meine Massedetek­
toren melden ein Objekt, das rund ist, einen Durchmesser von 4,43456... äh,
ich glaube, ich kürze besser ab ... von 4,4 Kilometern besitzt und zu etwa
achtzig Prozent aus Metall besteht, dabei leicht radioaktiv strahlt ...“

„Ist das für Menschen gefährlich?“
„Nein.“
„Sofort Thunderclap informieren“, haspelte Harpo aufgeregt. Er raufte sich

die Haare, während tausend Gedanken auf einmal ihn beschäftigten.

„Der pennt“, sagte Schwatzmaul.
„Dann weck ihn auf, in Dreiteufelsnamen!“
„Schon versucht. Thunderclap Genius schläft wie ein Murmeltier und rea­

giert nicht mal auf meine lauteste Wecksirene. Ich habe gerade einen unserer
kleinen mechanischen Freunde mit einem großen Eimer kalten Wassers in
Marsch gesetzt.“

Harpo  mußte  grinsen. Er stellte sich schon bildhaft vor, wie Thunderclap

das kühle Naß über das Gesicht schwappte. Nun, da er als Wachhabender die
Zentrale hütete, mußte Harpo eine schnelle Entscheidung treffen.

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„Kurs auf das fremde Objekt!“ ordnete er an.
„Kurs schon vor fünf Minuten geändert“, gab Schwatzmaul kichernd zu­

rück.

„Ganz schön voreilig“, knurrte Harpo. „Wie, um alles in der Welt, konntest

du bloß wissen ...“

„Ich kenne dich doch! Fast genauso gut wie jede meiner Sub­Schaltungen.“
In  diesem  Moment   ertönte   durch   die  vielen  Metallwände  hindurch,  die

Thunderclaps Bett in einem der Nebenräume von der Zentrale abschirmten,
ein spitzer Schrei, gefolgt von einem saftigen Fluchen.

„Aha“,   machten   Harpo   und   Schwatzmaul   gleichzeitig.   Ihre   Stimmen

klangen heiter und zufrieden. Wenig später wurde eine der Türen zur Zentra­
le   von   der   Lichtschranke   geräuschlos   geöffnet,   und   ein   patschnasser
Thunderclap Genius fuhr mit seinem Rollstuhl herein. Er mußte in seinem
Gefährt   eingeschlafen   sein,   sonst   hätte   er   nicht   so   schnell   erscheinen
können. Für gewöhnlich war der querschnittgelähmte Junge auf die Hilfe sei­
ner Freunde angewiesen, wenn er das Bett mit dem Rollstuhl vertauschen
wollte.

„Wer hat das angeordnet? Ich will es auf der Stelle wissen!“ schrie er em­

pört. „Wo ist der Erzhalunke?“ Er wandte sich dem kleinen Roboter zu, der
ihm immer noch diensteifrig mit dem mittlerweile leeren Wassereimer folgte.
„Sofort bringst du einen neuen, nein, zwei neue Eimer Wasser in die Zentrale!
– Harpo, du Schuft, du wirst schon sehen, daß man nicht ungestraft ein so
wichtiges Mitglied der Besatzung ...“

Schwatzmaul hüstelte, während Harpo ein möglichst unschuldiges Gesicht

machte und, die Hände auf dem Rücken, die Sterne betrachtete. „Ich war es
wirklich nicht“, sagte er schließlich und lachte. „Ehrlich, Thunderclap! Und
an Schwatzmaul kannst du dich nicht rächen. Oder willst du vielleicht Wasser
gegen seine Fernsehkamera oder gegen die Verkleidung kippen?“

Schwatzmaul zog es mal wieder vor, mit den anderen per Fernsehschirm

zu   verkehren.   Blitzartig   erschien   auf   einem   der   Monitoren   die   Aufschrift:
„Bitte kein Wasser auf den Computer spritzen!“

Harpo, der den kleinen Roboter dennoch vorsorglich im Auge behielt, at­

mete auf, als dieser – wohl unter einem Gegenbefehl Schwatzmauls handelnd
– abmarschierte. Die Grünen, wie die Roboter an Bord der EUKALYPTUS ge­
nannt wurden, weil sie mit grünen Fellen bekleidet wie kindergroße Teddy­
bären   wirkten,   waren   einst   die   gefürchteten   Lehrer   und   Beobachter   der
Kinder gewesen. Inzwischen hatte man sie zu netten Handlangern umgebaut.

Nur Lonzo machte eine Ausnahme. Aber er war eben kein Roboter im ge­

wöhnlichen Sinn, sondern ein Freund und Kumpel der Kinder.

„Dieser Halunke!“ stöhnte Thunderclap. Aber er nahm dankbar das Hand­

tuch   entgegen,   das   ihm   der   zurückgekehrte   Grüne   jetzt   reichte.   „Mit   dir
werde ich einen Monat nicht mehr reden“, drohte er dem Bordgehirn.

„Das ist unfair“, protestierte Schwatzmaul. „Was kann ich dafür, daß du

eingeschlafen bist? Schließlich wirst du hier gebraucht!“

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„Das hat er von Captain Kidd“, kam Lonzos fröhliche Stimme vom Eingang

her.   Er  betrat  soeben  mit  Harpos  Schwester  Anca,  dem  kleinen  Ollie  und
Alexander   die   Zentrale   und   der   gläsernen  Sternenkuppel.  Es   war   Zeit   für
einen Wachwechsel. Anca war für die nächste Schicht vorgesehen.

„Selbst   vor   und   nach   den   größten   Seegefechten   und  alleraufregendsten

Schatzsuchen“, fuhr Lonzo plappernd fort, „konnte Captain Kidd jederzeit
einschlafen, auf der Stelle, wenn es sein mußte sogar im Stehen und mit of­
fenen Augen. Niemand bekam ihn dann wach. Kein  Böllerschuß, nicht ein­
mal ein Faß Rum, das man ihm auf den großen Zeh warf. Er grunzte dann nur
und   schnarchte   wieder   weiter.   Aber   wehe,   es   war   das   Klirren   feindlicher
Enterhaken zu hören ...“

„Ganz klar“, bestätigte nun auch Ollie. „Unser Thunderclap hat Piratenblut

in den Adern. Im Schnarchen macht er selbst Captain Kidd etwas vor! Wie
war doch noch sein richtiger Name?“

„Pitter Sause­“ versuchte Schwatzmaul ihm diensteifrig auszuhelfen.
„Ruhe!“ brüllte Thunderclap dazwischen, der um keinen Preis der Welt zu­

lassen wollte, daß sein richtiger Name unter die Leute kam. „Sonst komme
ich mit dem  Feuerwehrschlauch!“ Er sah sich grimmig um und drohte dem
Aufnahmeobjektiv des Bordgehirns mit der Faust. „Wir sind doch hier nicht
im Kindergarten! Immerhin gibt es ernsthafte Probleme zu lösen. Schwatz­
maul, wir erwarten deinen Bericht.“

Manchmal   konnte   Schwatzmaul   sehr   vernünftig   und   sachlich   sein.   Ja,

eigentlich mußte man ihm zugestehen, daß er über seinen  Späßen  niemals
vergaß, welche wichtigen Funktionen er im Raumschiff auszufüllen hatte. Im
Grunde war er doch recht zuverlässig. Ohne Schnörkel berichtete er deshalb
noch einmal von der Entdeckung, über die bisher nur Harpo informiert war.

„Juchhuuu!“ jubelte Ollie. „Endlich mal wieder ein Abenteuer!“
„Der spuckt vielleicht Töne“, mokierte sich Anca. „Kaum sind wir drei Wo­

chen im Weltraum, da wird es ihm schon wieder langweilig.“

Das Mädchen hatte recht. Nur neunzehn Tage waren seit ihrem Start vom

Frostplaneten vergangen, aber irgendwie kam es den meisten bereits wie eine
Ewigkeit vor. Sie fühlten sich wie alte  Raumhasen, die seit Jahrzehnten von
Stern zu Stern durch den Kosmos kurvten. Mit sich allein, den Lernaufgaben,
dem Kochen, Wäsche Waschen und Säubern der Decks – auch wenn man, ge­
naugenommen,   bei   den   meisten   anfallenden   Arbeiten   lediglich   entspre­
chende Programme für die Grünen zusammenstellte.

„Wir   erreichen   das   fremde   Objekt   in   drei   Stunden,   fünfzehn   Minuten,

vierund­“ gab Schwatzmaul informationsfreudig bekannt.

Harpo, der den  Genauigkeitsfimmel  des Bordgehirns kannte, unterbrach

dessen  Redefluß  und   meinte:   „Sag   mal,   Schwatzmaul,   wieso   dauert   das
eigentlich so lange? Wenn das Objekt doch nur ganze vierzehn Lichtminuten
entfernt ist und wir schon mit halber Lichtgeschwindigkeit fliegen – müßten
wir dann nicht in einer halben Stunde dran sein? Das Licht braucht vierzehn
Minuten.   Wir   dürfen   dann   doch   höchstens   achtundzwanzig   benötigen.
Oder?“

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„Mein lieber Harpo“, begann Schwatzmaul, erfreut darüber, wieder einen

längeren theoretischen Vortrag halten zu können. „Ich –“

„Mein größerer Bruder“, fiel Lonzo hastig ein, „liebt bekanntermaßen weit­

schweifige  Kommentare.   Ich   darf   wohl   anmerken,   daß   Captain   Kidd   ihn
allein aus diesem Grund auf der Stelle verschrottet und Kanonenkugeln aus
ihm gegossen hätte ... Um es kurz und treffend mit Captain Kidd zu sagen:
Diese alte Schaluppe funktioniert im Prinzip nicht anders als jene alte Brigg,
mit der wir damals die neun Weltmeere unsicher machten. Man  muß vor
dem Wind kreuzen, Segel reffen und die Matrosen mit einem Fäßchen Rum
bei Laune halten. Das dauert seine Zeit. Wo ist übrigens der Rum für die Ma­
trosen?“

„Neun Weltmeere?“ heulte jetzt Schwatzmaul auf. „Hat man je so etwas ge­

hört?“

„Damals“, behauptete Lonzo starrsinnig, „gab es auf der Erde eben mehr

Weltmeere als heute!“

Schwatzmaul   gab   auf,   denn   offenbar   war   er   dem   kleinen  Metallroboter

doch nicht gewachsen. Er ging lieber seufzend auf Harpos Frage ein: „Lonzo
hat leider recht, zumindest was die Frage der Manövrierfähigkeit von Raum­
schiffen betrifft. Wir benötigen deshalb mehr Zeit, das Objekt zu erreichen,
weil   wir   erstens   nicht   schlagartig   im   rechten   Winkel   den   Kurs   ändern
können, sondern eine parabelförmige Kurve benötigen. Zweitens müssen wir
die hohe Geschwindigkeit allmählich abbremsen, und zwar so langsam, daß
niemandem an Bord etwas zustößt. Beschleunigungs­ und Verzögerungskräf­
te  machen dem menschlichen Organismus nämlich hart zu schaffen. Man
muß da vorsichtig dosieren.“

„Ach was“, meinte Alexander, der mit seinem roten Pelz wie ein kleiner

Grizzlybär aussah. „Wir alle mächtig stark. Ich besonders!“

„Na, und ich?“ fragte Ollie hochnäsig, der sich, seit Alexander ihn bei einem

Ringkampf gönnerhaft hatte gewinnen lassen, für einen ebenbürtigen Gegner
hielt.

„Schwatzmaul  weiß schon,  was er  tut“,  griff Thunderclap  ein.  „Und  wir

können uns jetzt in Ruhe überlegen, was uns in drei Stunden erwarten mag!“

Böhmische Dörfer

Mittlerweile hatten alle Besatzungsmitglieder der EUKALYPTUS erfahren,

daß der Kurs gewechselt und ein unbekanntes Objekt angesteuert wurde. Da
es an Bord keinen Kapitän und keine Offiziere gab, die über die Köpfe der
anderen hinweg  entscheiden konnten, hätte  jetzt eigentlich die  Schiffsver­
sammlung einberufen werden müssen.

Es war nämlich so, daß derjenige, der gerade die Wache übernahm, ge­

legentlich aus der jeweiligen Situation heraus Entscheidungen treffen mußte.

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Allein. Aber für seine Maßnahmen war er der Bordversammlung verantwort­
lich.   Und   die   bestand   aus   sämtlichen   zehn   Besatzungsmitgliedern.   Jeder
hatte die gleichen Rechte und Pflichten. Natürlich gehörten auch die nicht
menschlichen   Besatzungsmitglieder   dazu:  Trompo,   das   zierliche,  kätz­
chengroße  und  elefantenähnliche  Wesen aus dem All, Alexander, der zotte­
lige  Rotpelz  vom   Planeten   Nordpol,   und   der   stets   zu   Späßen   aufgelegte
Roboter Lonzo, der nicht müde wurde, zu behaupten, eigentlich gar keine
Maschine, sondern ein Mensch zu sein und früher zusammen mit dem  Pi­
ratenkapitän Kidd die tollsten Abenteuer erlebt zu haben.

Diesmal verlangte niemand eine Schiffsversammlung. Es herrschte vollste

Übereinstimmung: Der fremde Körper im Weltraum wird angesteuert.

Die Besatzung war jetzt, da es spannend zu werden versprach, fast vollzäh­

lig in der  Raumschiffszentrale  versammelt. Es war ein riesiger, kreisrunder
Raum,   der   von   einer   gläsernen   Kuppel   überdacht   wurde   und   einen   fas­
zinierenden Ausblick auf die Milchstraße gestattete.

„Unsere Teleskope sind zwar gut, aber nicht gut genug“, murrte Thunder­

clap, der ungeduldig mit den Händen in der Luft herumfuchtelte. Das tat er
häufig, wenn er aufgeregt war – so wie andere auf und ab gehen oder auf der
Sitzfläche eines Stuhls herumrutschen. Er ärgerte sich, daß selbst die stärks­
ten Vergrößerungen nicht mehr zeigten als einen nur  fußballgroßen, pech­
schwarzen Körper.

„Sicher“,   meinte  Micel  Fopp,   „es   gibt   bessere.   Aber   die   sind   riesig   und

tonnenschwer!   Wir   sind   nun   einmal   auf   einem   Raumschiff   und   nicht   in
einem Observatorium.“

„Ach, mich ärgert nur, daß uns dieses Ding absolut nichts über sich ver­

raten will“, antwortete Thunderclap. „Eine schwarze Murmel! Was soll das?
Ich finde das nicht fair!“

„Du bist wie ein Wissenschaftler, der sich beleidigt fühlt, wenn ihm nicht

auf der Stelle alle  Geheimnisse  des Universums in den  Schoß  fallen“, sagte
Harpo lachend. „Mensch, das macht es doch gerade so spannend, wenn man
zunächst ein paar Nüsse knacken muß!“

„Mich macht es nervös“, schimpfte Thunderclap. „Sag mal, Micel – fühlst

du nicht wenigstens eine Kleinigkeit?“

Thunderclap spielte mit diesem Worten auf  Micels  besondere Begabung

an.   Der   schwarzhaarige,   dunkeläugige   Junge   konnte   nämlich   Gedanken
lesen, auch über größere Entfernungen hinweg.

„Nein“, sagte Micel und zuckte mit seinen viel zu kurzen, verkümmerten

Ärmchen. „Aber wir sind auch noch zu weit entfernt. Ein Genie bin ich nun
mal nicht. Im Gedankenlesen stolpere ich sogar bei euch. Das kann aber auch
an dem krausen Zeug liegen, das durch eure Gehirnwindungen hüpft.“

Alle lachten,  denn sie  wußten  ja, daß Micel es nicht  ernst meinte. Aber

recht hatte er schon. Er war noch ein Lehrling, und niemand konnte ihm hel­
fen. Er selbst mußte sich nach und nach in die Gebiete vortasten, für die er
dank einer Laune der Natur Begabung zeigte.

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„Wenn   uns   die   Massedetektoren   nicht   etwas   anderes   melden   würden“,

kam es aus luftiger Höhe von  Karlie  Müllerchen, der hinter dem Tisch des
Astronavigators saß und Sternenkarten wälzte, „dann könnte mich niemand
davon abbringen, daß wir es nicht mit einem Körper, sondern mit einem so­
genannten ,Black hole‘  zu tun haben!“  Karlies  Stimme  kiekste  ein  bißchen,
was aber niemanden störte. Dieses  Kieksen  war allen genauso vertraut wie
der Riesenwuchs des Jungen. Er war gerade erst sechzehn Jahre alt geworden,
maß aber vom Scheitel bis zur Sohle bereits mehr als zwei Meter zwanzig. Auf
seinem spitzen Kinn sproß bereits munter ein dünner Bart.

Abweichungen im Aussehen, körperliche oder geistige Behinderungen ver­

schiedener Art, Verhaltensstörungen oder organisch bedingte Besonderhei­
ten hatten die meisten Kinder an Bord der EUKALYPTUS aufzuweisen. Das
waren die Folgen der erschreckenden Umweltveränderungen auf der Erde,
von der diese Kinder kamen. Große Chemiekonzerne und gewissenlose Poli­
tiker hatten in der Vergangenheit rücksichtslos ihre Interessen durchgesetzt
und dabei mit chemischen und atomaren Abfallprodukten Mensch und Na­
tur   vergiftet.   Das   Raumschiff   EUKALYPTUS,   das   Platz   für   mehrere   zehn­
tausend Menschen bot, war einst eine Art Sanatorium gewesen. Es kreiste auf
einer Parkbahn um die Erde, bis es bei einer Katastrophe ins All hinausge­
schleudert wurde. Die Kinder, Patienten auf dem Schiff, waren durch die Er­
eignisse gezwungen, die verschwundene Besatzung zu ersetzen und fern von
der Erde ihren Weg durch den Kosmos zu suchen.

Karlie fuhr fort: „Stimmt doch, was ich gesagt habe, oder? Man sieht von

dem   Körper   so   wenig   wie   vom   Mond   der   Erde,   wenn   er   sich   bei   einer
Sonnenfinsternis vor die Sonne schiebt. Hier verschluckte er ein paar Sterne.
Hmmm...“   Karlies   Hobby   waren   die   Sterne.   Er   unterhielt   ich   häufig   mit
Schwatzmaul über Astronomie oder las auf dem Filmbetrachter große Spulen
mit Mikrofilmaufnahmen dickbändiger wissenschaftlicher Werke.

Die im Laufe der Zeit angesammelten  Kenntnisse  halfen ihm jetzt  nicht

viel. Der geheimnisvolle Körper – die kosmische Uhr, wie Harpo ihn scherz­
haft nannte – war keine Sonne. Schließlich hätte er dann Licht aussenden
müssen. Außerdem war er für eine Sonne viel zu winzig. Da er ganz allein in­
mitten des Weltraums schwebte, hätte man ihn für einen sogenannten Irr­
läufer   halten   können,   einen   Planeten,   der   sein   eigenes   Sonnensystem
verlassen hatte und nun als Einzelgänger durch die Galaxis raste. Eigenartig
war nur, daß er nicht wie andere Irrläufer mit hoher Geschwindigkeit flog,
sondern beinahe bewegungslos seine Position hielt.

„Neue Daten!“ schnatterte Schwatzmaul unerwartet los. „Das dreiachsige

Massediagramm zeigt auf allen Ebenen Sprünge.“

„Böhmische Dörfer“, meinte Ollie grinsend.
Die älteren Jungen und Anca studierten aufmerksam die Projektion auf den

Zentralbildschirmen, die Schwatzmauls Außenkameras jetzt zeigten. Ollie er­
kannte lediglich bizarre Kurven, etwa so, wie sie entstehen, wenn der Herz­
schlag eines Menschen gemessen wird. Solche EKG­Kurven hatte er schon
gesehen, auch  seine eigene. Was für ihn nur ein wirres  Linienmuster  war,

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schien für die Älteren ein interessantes Detail in einer  Informationskette zu
sein.   Jedenfalls   reckten   sie   die   Hälse,   als   liefe   auf   den   Monitoren   ein
spannender Abenteuerfilm ab.

„Will mir nicht mal einer erklären, was das alles zu bedeuten hat?“ fragte

Ollie ungeduldig und zerrte an den Fransen seiner Trapperhose. Thunderclap
bequemte sich schließlich zu einer Antwort. „Die Masse im Innern des Kör­
pers ist nicht gleichmäßig verteilt“,  sagte  er mit vor Aufregung  glühenden
Wangen.

„Na und?“ krähte Ollie.
„Mensch!“ rief Karlie. „Das bedeutet, daß der Körper porös ist! Ausgehöhlt,

verstehst du?“

„Dann isser eben ausgehöhlt“, erwiderte Ollie maulend. „Find’ ich über­

haupt nichts Aufregendes dran.“

In Wahrheit ärgerte er sich nur, daß er die Kurven nicht lesen konnte und

sich alles erklären lassen mußte.

„Dieser Knirps macht mich noch wahnsinnig“, seufzte Karlie. „Also: Die

Kurven sagen nicht nur aus, daß der Körper im Innern aus einer Kette von
Hohlräumen besteht, sondern diese Höhlen haben eine exakt kubische Form
und sind gleich weit voneinander entfernt. Das heißt ...“

„Ein Wunder der Natur!“ platze Ollie heraus.
„Quatsch, Wunder!“ meinte Karlie. Sein breites Grinsen zeigte, daß ihm die

Unterhaltung   entgegen   seinen   Beteuerungen   dennoch  Spaß  machte.   „Ich
sage nur soviel: Wenn jemand aus der Ferne ein Massediagramm von der EU­
KALYPTUS aufnehmen würde – viel anders als dieses hier würde das auch
nicht aussehen!“

„Mann,   klasse!“   schrie   Ollie   in   voller   Lautstärke.   „Ein   Raumschiff   mit

schleimigen Krötenmonstern vom Sirius!“

„Du mit deiner Phantasie!“ kicherte Anca belustigt, denn im Erfinden von

Monstergeschichten war Ollie der Meister aller Klassen. Niemand vermochte
die Nächte zu zählen, die sie nach den Erzählungen des Kleinen schlaflos ver­
bracht hatten.

„Auf jeden Fall müssen wir eine Entermannschaft auswählen“, mischte sich

Lonzo ein, der aufgeregt mit seinen metallenen Tentakeln wedelte. Das hell­
rote   Glimmen   seiner  Sehlinsen  machte   deutlich,   daß   man   Mühe   haben
würde, ihn davon zu überzeugen, daß die Mannschaft ohne die in seinem Ge­
hirn gespeicherten Erfahrungen von Captain Kidd auskommen konnte. Ganz
besonders deshalb, weil Lonzos angebliche Erfahrungen als Seeräuber aus
der Bordbibliothek stammten.

„Schwatzmaul   soll   entscheiden,   wer   die   EUKALYPTUS  verläßt,   um   das

fremde Objekt zu erforschen“, schlug Harpo vor. „Wenn es überhaupt dazu
kommt.“

„Gern“, meldete sich spontan das Bordgehirn. „Da einige von euch in den

nächsten Stunden hier schwer abkömmlich sein werden, schlage ich vor, daß
Harpo, Anca, Ollie, Alexander und Lonzo an der Expedition teilnehmen.“

„Jubel, Jubel!“ schrie Ollie und sprang vor Freude in die Luft.

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Alexander war nicht weniger begeistert und boxte Lonzo freundschaftlich

in die Metallrippen.

„Kamerad!“ dröhnte der Roboter. „Ich gebe dir mein Seemannsehrenwort,

daß   ich   dir   ewig   dankbar   bin.   Vergessen   wir   alles,   was   über   deine
Verschrottung gesagt wurde. Selbst Captain Kidd hätte keine bessere Wahl
treffen können. Es ist überhaupt ein brillanter Einfall von dir, daß Lonzo eine
Expedition anführen soll.“

„Hee!“  protestierten   die   anderen  wie  aus einem  Mund.  „Davon  war  gar

keine Rede.“

Alle lachten und riefen durcheinander.
„Tatsächlich nicht?“ fragte Lonzo treuherzig. „Ja, dann muß ich mich glatt

verhört haben. Aber Captain Kidd hätte die Leitung zweifellos mit­“

„Und warum darf ich nicht mit?“ Micel protestierte und unterbrach damit

den eitlen Lonzo. „Ich habe hier doch sowieso nichts zu tun!“

„Und ich werde auch nicht unbedingt gebraucht“, warf Karlie ein. „Wenn

das Schiff erst antriebslos neben dem anderen Objekt schwebt, ist kein Navi­
gieren mehr erforderlich.“

„Und wenn es plötzlich abhaut?“ fragte Harpo und brachte den Langen da­

mit zum Schweigen.

„Klar“, meinte Alexander. Er hatte inzwischen die Sprache der Menschen

gelernt, um von der Übersetzungsmaschine unabhängig zu sein. „Und Micel
nützen   viel   mehr,   wenn   hierbleiben.   Wir   nicht   wissen,   was   uns   erwartet.
Funkverbindung kann stören oder unterbrechen. Dann Micel immer noch in
der Lage, unsere Gedanken zu lesen!“

Die beiden Jungen sahen ein, daß Schwatzmaul in der Tat eine weise Ent­

scheidung getroffen hatte. Manchmal ging es einfach nicht anders, da mußte
man die eigene Abenteuerlust unterdrücken. Das Wohl der Kinderbesatzung
des Schiffes war nun einmal wichtiger.

Die Frage, die nun auftauchte, war allerdings eine der schwierigsten. Nie­

mand hatte sich nämlich Gedanken darüber gemacht, wie man überhaupt zu
dem   fremden   Objekt  hinübergelangen  konnte.   Auf   Karlies   entsprechende
Frage   antwortete   Anca   wie   aus   der   Pistole   geschossen:   „Na,   natürlich   in
einem Raumanzug!“

„Eben“,   meinte   auch   Ollie.   „Raumanzug   an.   Aus   der   Schleuse   hüpfen.

Fertig. Kein Problem. He, he!“

„Doch ein Problem, he, he“, äffte Karlie den Kleinen nach. „Ich weiß ja

nicht, wie es euch geht, aber ich habe an Bord dieses Schiffes noch keinen
einzigen Raumanzug gesehen.“

Das   Argument   saß,   wie   sie   alle   erschreckt   zugeben   mußten.   Als   die

ursprüngliche   Besatzung   der   EUKALYPTUS   getürmt   war,   hatte   sie   wahr­
scheinlich jeden verfügbaren Raumanzug verwenden müssen, um in der At­
mosphärelosigkeit des Alls zu überleben.

„Du meinst, die haben nicht einen einzigen Raumanzug  übriggelassen?“

fragte Harpo enttäuscht. „Die werden doch nicht abgezählt gewesen sein? Ob
nicht  doch noch ein paar  übriggeblieben  sind?“ Immerhin mußte auch er

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zugeben, daß sich hier ein Problem ergab. Bewußt hatten weder er noch die
anderen einen Raumanzug gesehen, obgleich sie die meisten Decks und Kor­
ridore kannten.

„Warum fragen wir nicht einfach Schwatzmaul?“ schlug Anca vor.
Der antwortete gleich: „Ein kluger Gedanke, Pummelchen!“
Pummelchen war der Spitzname des Mädchens. Allerdings hörte Anca ihn

nicht gern, denn er war ungerecht. Abgesehen von ihrem etwas pausbäckigen
Gesicht und ein bißchen Babyspeck war die Kleine gar nicht pummelig. In
mutwilliger   Verzweiflung   raufte   sie   sich   das   seidig   glänzende   Haar   und
fauchte drohend: „Lonzo, du Piratenseele! Hast du etwa Schwatzmaul diesen
Namen beigebracht?“

„Aber Pummelchen, niemals würde ich dieses Wort in den Mund nehmen!

Großes Piratenehrenwort!“

„Du  vergißt“, erinnerte sie Schwatzmaul heiter, „daß ich alles sehe, höre

und weiß. Da muß mir Lonzo gar nichts mehr verraten.“

„Sehr gut“, hakte Thunderclap Genius schnell ein, der bereits wieder ein

Wortgefecht zwischen Lonzo und Schwatzmaul befürchtete, „dann kann das
allwissende  Supergehirn  uns  ja  vielleicht  mal  schnell  verraten,  wo  wir  die
dringend benötigten Raumanzüge finden!“

„Äh ... das ist nämlich so ...“ begann Schwatzmaul sichtlich verlegen.
„Er weiß es nicht!“ triumphierte Anca schadenfroh lachend.
„In der ursprünglichen Planung waren sie vorgesehen“, rechtfertigte sich

das   Bordgehirn   rasch.   „Auf   jedem   Deck   sollten  Notanzüge  bereitliegen.
Allerdings sollten das Anzüge sein, die euch nicht viel geholfen hätten: unför­
mige Gebilde, nur durch Steuerraketen zu bedienen und gänzlich untauglich,
um sich darin wie in einem richtigen Anzug zu bewegen. Sie sollten Schiff­
brüchigen ermöglichen, eine Weile im All auszuhalten; so lange, bis Rettung
naht. Ihr wißt ja selbst sehr gut, daß die EUKALYPTUS noch nicht voll ausge­
rüstet war, als sie aus dem Orbit der Erde gerissen wurde. In meinen Spei­
chern  gibt   es  keine Information,   ob  diese  Anzüge   jemals   an Bord   gelangt
sind.“

„Aber damals, als die Katastrophe eintrat“, hakte Harpo blitzschnell ein,

„da   haben   wir   für   kurze   Zeit   Kontakt   mit   einem   Raumfahrer   gehabt,   der
einen richtigen Raumanzug trug! Und so plump sah der gar nicht aus. Er­
innert ihr euch daran?“

Die   Kinder   erinnerten   sich.   Der   Mann   war   auf   einem   Bildschirm   er­

schienen und hatte sie warnen wollen. Sie hatten keine Spur mehr von ihm
entdeckt, als sie später das Schiff übernahmen.

„Gewiß“, gab Schwatzmaul zu. Die tiefe Stimme, derer es sich bediente,

wenn er mit den Kindern sprach, klang verlegen. „Ich muß zugeben, daß es
Dinge   an   Bord   des   Schiffes   gibt,   von   denen   ich   nichts   weiß.   Tatsächlich
wurden aus Kammern in der Nähe des Gleitboot­Hangars solche Anzüge ge­
holt,   als   die   Besatzung   von   Bord   ging.   Dort  müßtet  ihr   mal   nachsehen.
Vielleicht sind noch einige zurückgeblieben?“

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„Worauf warten wir noch?“ fragte Harpo und stürmte los. Die anderen Ex­

peditionsmitglieder folgten ihm auf dem Fuß.

Maßgeschneidert

Obwohl Schwatzmaul in diesem Teil des Schiffes relativ wenige  Überwa­

chungskameras besaß, dirigierte er die Freunde rasch und sicher in die Nähe
der Kammern, in denen er übriggebliebene Raumanzüge vermutete.

Aber Harpo und seine Gefährten kannten sich in diesem Bereich ebenfalls

ganz gut aus. Schließlich waren die Gleitboote, die sie hier entdeckt hatten,
ihre Transportmittel gewesen, als sie die Expedition zum Planeten Nordpol
unternahmen.

„Hier muß es sein!“ rief Anca. Sie deutete auf eine Tür, die mit einem klo­

bigen  Stahlhebel  verschlossen   war   und   solide   wie   der   Eingang   zu   einem
Tresor wirkte.

In der großen Halle, in der sie sich nun befanden, herrschte ein diffuses,

bläuliches Licht. Alles wirkte irgendwie geheimnisvoll: Stahlgerippe im Hin­
tergrund, die undeutlichen Konturen der drei Boote, die Tresortüren mit ih­
ren unbekannten Überraschungen dahinter. Wie aus weiter Ferne wisperte
aus einem Lautsprecher  die Stimme  des Bordgehirns:  „Den  Hebel einfach
nach unten drücken. Gar nicht kompliziert.“

„Der hat gut reden!“ stöhnte Harpo, der mit gefletschten Zähnen den Hebel

nach   unten   zu   drücken   versuchte,   ohne   daß   dieser   sich   auch   nur   einen
Millimeter   bewegte.   „Uff!“   Keuchend   mobilisierte   er   seine   ganze   Kraft.
Vergebens. Der Hebel rührte sich nicht vom Fleck.

„Laß  Papa mal ran“, sagte Lonzo und piekte Harpo mit der Spitze eines

Tentakels.

Harpo quietschte auf und machte einen Satz. Jemand kicherte. Als Harpo

sich den anderen  zuwandte, sah er nur unschuldige Gesichter, die gelang­
weilt die hohe Hallendecke betrachteten.

Lonzo, der kleiner war als Harpo, ringelte seine vier Tentakel zu dem Hebel

hinauf   und   zerrte   daran,   als   habe   er   vor,   das   ganze   Universum   aus   den
Angeln zu heben. Dabei schnaufte und ächzte und japste er wie ein Schwer­
arbeiter, obwohl ihm als Roboter diese Belastung gar nichts ausmachte. Seine
Tentakel wurden immer dünner und länger. Man konnte richtig Angst be­
kommen, daß sie jeden Moment abknickten.

„Sapperlot!“ fluchte Lonzo nach einer Weile ungehemmter Aktivität und lo­

ckerte seinen Griff. „Doppelter Mastbruch! Beim angefaulten Vorderzahn des
Klabautermannes! Sitzt der aber fest!“

„Muß Freund Lonzo trinken Kännchen Öl zum Frühstück!“ brummte Alex­

ander und schob mit seinen  Bärenpranken  den Metallmann sanft zur Seite.
„Wird er auch kriegen Kraft wie Alexander!“

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Verglichen   mit   seinen   Eltern   und   Verwandten   auf   dem   Frostplaneten

Nordpol war Alexander sicher nicht mehr als ein Winzling, aber man konnte
doch sehen, daß unter dem dichten, rotbraunen Pelz die Muskeln spielten.

Er griff nach dem Hebel, konnte ihn aber nur mit den Fingerspitzen errei­

chen. Also winkte er Lonzo heran und ließ sich von ihm hochheben.

„Muß ... sich ... haben ... verklemmt ...“ stieß er ruckartig hervor, aber dann

wälzte er sich plötzlich auf dem Boden. Ganz leicht war der Hebel aus seiner
Verankerung gerutscht.

„Sie ist offen!“ rief Anca jubelnd und stürzte zur Tür. Tatsächlich klaffte be­

reits  ein  schmaler  Spalt.   Ein  dumpfer,   muffiger  Geruch  schlug  ihnen  ent­
gegen. Ansonsten war es stockdunkel in dem dahinterliegenden Raum.

Ollie schnupperte mißtrauisch. „Das kostet mich wieder viele Jahre Siech­

tum“, behauptete er. „Wer weiß, was dort für Bazillen und Viren hocken, alle
auf der Lauer nach dem armen Oliver ...“

Die anderen kicherten. Ollies übertriebene Furcht vor Krankheiten hatte

nicht zum ersten Mal zur Unterhaltung der Gruppe beigetragen. Der Kleine
war natürlich kerngesund, was ihn aber nicht daran hinderte, stets ein Arse­
nal von Pillen und Wässerchen mit sich herumzuschleppen. Und wehe, wenn
ihn tatsächlich einmal ein harmloser Schnupfen erwischte ...

Allerdings   ließ   sich   Ollie   trotz   schlimmster   Befürchtungen   nicht   davon

abhalten, die Tür noch etwas mehr aufzuziehen. Entweder berührte sie dabei
einen Kontakt, oder Schwatzmaul hatte aus der Ferne helfend eingegriffen.
Jedenfalls   blitzten,   etwas   zögernd   zwar,   aber   unaufhaltsam,  einige  Lichter
auf, die sich zu einer gleißenden Leuchtplatte an der Decke summierten.

„Juchhuu!“   rief   Ollie   begeistert   und   zwängte   sich   nun   vollends   in   die

Kammer. „Dort sind unsere Anzüge!“

Die anderen waren jetzt natürlich ebenfalls nicht mehr aufzuhalten und

stürmten hinter dem Kleinen her. Tatsächlich: Fein säuberlich auf Haken an
der Wand aufgereiht, hingen mindestens zehn Raumanzüge. Allerdings nicht
die  unförmigen, die  das Bordgehirn  beschrieben  hatte.  Helme und  Sauer­
stoffflaschen lagen davor auf den Regalen. Die vielen leeren Haken zeigten je­
doch, daß früher einmal weitaus mehr Raumanzüge hier deponiert gewesen
waren. Auf allen hatte sich etwas Staub abgelagert, aber als Anca spielerisch
über die Oberfläche eines Helmes pustete, blinkte darunter gleich braun ein­
gefärbtes Plexiglas.

Ollie   flüchtete   vergeblich   vor   der   Staubwolke   und   begann   sogleich   mit

einem  Nieskonzert.  Unfähig  zu sprechen, deutete  er anklagend mit einem
Finger auf das Mädchen.

„Hätte  ich   nicht   gedacht“,   seufzte   er,  als   er   wieder  zu   Atem   kam,   „daß

meine Lieblingsfreundin mir das antut. Pustet mir den Tod frontal ins Ange­
sicht!“

Harpo beachtete die anderen gar nicht und stieg bereits in eine der glatten

Monturen. Ein kleines Namensschild, das sich hier wie auf jedem der Anzüge
befand, verriet, daß sein früherer Träger ein gewisser Kurt Sterz gewesen war.

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„Nun helft mir doch mal“, klagte er schließlich nach drei vergeblichen Ver­

suchen, den komplizierten Anzug überzustreifen.

Die   anderen   griffen   tatkräftig   ein   und   zogen   das   Unterteil   des   Raum­

anzuges hoch, nachdem Harpo in die Beinteile geschlüpft war.

Noch bevor er ein paar mühevolle, stolpernde Schritte unternahm, war je­

dem klar, daß dieser Anzug nicht für Harpo Trumpff geeignet war. Schon das
Unterteil reichte ihm weit über den Bauchnabel, obwohl es offensichtlich in
der Taille abschließen sollte. Er war zwecklos, auch noch das Oberteil anzu­
probieren. Harpo versuchte es dennoch – mit dem Erfolg, daß sein Kopf im
Bruststück verschwand. Der Anzug war viel zu groß für ihn.

Es genügte einfach nicht, über irgendeinen Raumanzug zu verfügen. Die

Dinger   waren   die   reinste   Maßarbeit   und   überhaupt   nicht   zu   handhaben,
wenn nicht jede Kleinigkeit stimmte: Körpergröße, Schulterbreite, Länge und
Dicke der Finger, Beinlänge und Beindurchmesser ...

„Hoffnungslos“, seufzte Harpo resignierend.
Mit hängenden Schultern kehrten die Freunde mit dem Antigravlift in die

Zentrale zurück. Obwohl Schwatzmaul das meiste aus der Ferne schon mit­
bekommen hatte, erzählten die  Expeditionsanwärter  noch einmal lang und
breit von dem fehlgeschlagenen Versuch. Alle Zuhörer kommentierten diese
neue Erfahrung mit enttäuschten Ausrufen. Rat wußte niemand.

„Wenn ich den verehrten Anwesenden vielleicht einen meiner geistreichen

Vorschläge unterbreiten dürfte“, setze Schwatzmaul an. „Mir ist nämlich et­
was eingefallen ...“

„Heraus damit!“ forderte Karlie. „Ich akzeptiere selbst den größten Hum­

bug, wenn sich dadurch etwas erreichen läßt!“

„Ich glaube, ich habe das Problem gelöst“, fuhr das Bordgehirn mit beinahe

bescheiden klingender Stimme fort.

„Waaas?“ riefen die Kinder im Chor. „Kennst du noch ein anderes Lager mit

Raumanzügen, die vielleicht verstellbar sind?“

„Das nun nicht gerade, meine Herrschaften.“
Schwatzmaul   hatte   scheinbar   wieder   einmal   seinen  überhöflichen  Tag.

„Aber ich sehe eigentlich keinen Grund, der uns daran hindern sollte, jedem
von euch einen nagelneuen, maßgeschneiderten Raumanzug anzufertigen.“

In der Zentrale des Raumschiffes EUKALYPTUS brach verständlicherweise

ein mittelschwerer Tumult aus.

„Warum hast du das nicht gleich gesagt?“ rief Thunderclap ärgerlich.
„Tut   mir   leid“,   flüsterte   Schwatzmaul   verlegen,   „aber   ich   hatte   ...   äh   ...

vergessen, daß ich so etwas veranlassen kann.“

„Vergessen?“ fragten Harpo und Micel wie aus einem Munde und ziemlich

schockiert. „Wie kann ein Elektronengehirn etwas vergessen?“

„Ja ... nun“, erwiderte Schwatzmaul. „Ihr wißt doch, daß einzelne Speicher

durch die Katastrophe von mir abgetrennt und erst nach und nach wieder
eingesetzt   wurden.   So   erging   es   mir   auch   mit   den   Programmen   für   die
Anfertigung von Spezialkleidung. Wir haben – wie ich soeben feststellte – alle

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erforderlichen Materialien an Bord. Werkzeuge und Maschinen für die Ferti­
gung übrigens auch.“

„Mensch, klasse! Jetzt wird doch noch etwas aus der Expedition ins Unbe­

kannte!“ Alle freuten sich.

Nur Harpo legte seine Stirn in nachdenkliche Falten. „Dauert das nicht Wo­

chen?“ fragte er schließlich mißtrauisch.

„Aber nie und nimmer!“ verteidigte sich das Bordgehirn. „Die Grünen sind

schon in der Schneiderei! In drei Stunden habt ihr den ersten Anzug. Alle
zwei Stunden habt ihr einen weiteren!“

„Is’ nicht wahr!“ rief Ollie verblüfft.
„Wenn ich es sage!“ trumpfte Schwatzmaul auf.
„Er hat recht“, bestätigte nun auch Lonzo. „Bei Captain Kidds Piraten!“
„Wenn   Lonzo   mitarbeitet,   geht   es   ein   paar   Minuten   schneller“,   meinte

Schwatzmaul anzüglich.

„Lonzo hält  es wie  die engsten  Vertrauten  von Captain  Kidd. Unsereins

braucht keine Schutzkleidung“, entgegnete der Roboter schnell. „Es sind im
Moment nur vier Anzüge nötig. Der Raumhelm würde meine schönen blon­
den Locken ruinieren.“

„Rrrraaaah!“ krähte Ollie. „Dabei hat er kein einziges Haar auf dem Kopf!“
In den nun folgenden Jagd durch die Zentrale sah Ollie bald ein, daß Lonzo

zwar keine Haare, aber besonders schnelle Beine hatte.

„Wir müssen ja nichts überstürzen“, meinte Harpo lachend. „Gönnen wir

Lonzo seine Locken und befreien ihn von der Arbeit.“

Nur mit Mühe gelang es Thunderclap, das Tohuwabohu mit seiner Stimme

zu durchdringen.   „Vielleicht  macht ihr  euch mal  die  Mühe, auf  den Bild­
schirm zu  gucken!“   schrie   er. „Wir  haben unser  Ziel  mittlerweile   erreicht.
Schaut nur, dort ist es!“

Ein pockennarbiger Geselle

In der Aufregung um das Problem Raumanzüge hatten Harpo und seine

Freunde   den   eigentlichen   Auslöser   der   allgemeinen   Hektik   beinahe
vergessen. Inzwischen hatte Schwatzmaul das Raumschiff, von der Besatzung
unbemerkt,   in   einer   Entfernung   von   nur  wenigen   Kilometern   auf   die   Ge­
schwindigkeit des fremden Objekts abgebremst und dann zum Stillstand ge­
bracht.   Durch   die   Massenanziehung   trudelten   nun   beide   Körper   ganz
allmählich   aufeinander   zu.   Der   Computer   sorgte   dafür,   daß   durch   kleine
Schübe der Steuerdüsen eine gewisse Sicherheitsdistanz gewahrt blieb.

Staunend   betrachteten   die   Kinder   den   Körper,   dessen   Ticken   in   den

Massedetektoren sie über viele Millionen Kilometer hinweg angelockt hatte.
Das Ding war etwas kleiner als ihr eigenes Raumschiff. 

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Auf den ersten Blick hätte niemand zu behaupten gewagt, daß sie es mit

einem fremden Raumfahrzeug zu tun hatten. Es sah eher aus wie ein pocken­
narbiger Gesteinsklumpen. Man erkannte allerdings auch, daß er trotz vieler
Narben und kleiner Krater ebenmäßiger war und intensiver glänzte als ein
gewöhnlicher Gesteinsklumpen.

„Das sieht ja unheimlich alt aus ... wenn es tatsächlich das Produkt einer

unbekannten Technik sein sollte“, flüsterte Anca.

Obwohl   sie   längst   wußten,   daß   der   vor   ihnen   liegende   Körper   haupt­

sächlich aus Metall bestand, hatte es noch immer die Möglichkeit gegeben,
daß hier ein riesiger, poröser Erzbrocken durchs All schwebte.

„Diese Noppen!“ rief Harpo. „Und seht doch: Sind das nicht Löcher? Ein­

stiegslöcher?“

„Ich sehe ein Gebilde, das wie ein Turm mit halbzerfallenen Antennen aus­

sieht“, meldete Karlie, der diesmal sonderbarerweise nicht kiekste, sondern
vor Aufregung eine belegte, fast heisere Stimme hatte. „Wenn es bloß nicht so
verflixt dunkel wäre!“

In   diesem   Augenblick   schaltete   Schwatzmaul   die   starken  Außenschein­

werfer der EUKALYPTUS ein und zentrierte die Lichtkegel auf den Körper im
All.   Gleichzeitig   gab   er   noch   eine  Vergrößerungsstufe  hinzu,   so   daß   der
riesige Hauptbildschirm der Zentrale nun völlig ausgefüllt war.

Und jetzt konnte es keinen Zweifel mehr geben: Vor ihren Augen, so greif­

bar nahe, daß allen ein Schauder über den Rücken lief, lag allem Anschein
nach ein Raumschiff! Und obwohl manches vertraut wirkte, weil es mit Teilen
der EUKALYPTUS Ähnlichkeit zeigte, konnten die Beobachter den Zweck der
vielen Wölbungen und Türmchen an der Außenwand nicht einmal erraten.

Am deutlichsten zu erkennen war noch die Funktion der Schleusen. Es gab

auf   der   sichtbaren   Seite   des   Schiffes   allein   fünf   davon,   und   alle   standen
sperrangelweit   offen.   Die Einstiege  waren  an  den  Rändern   beschädigt,  als
hätte man die Schleusentüren mit Gewalt aus ihrer Verankerung gerissen.

„Das ist ein Wrack“, sagte Thunderclap mit Bestimmtheit.
Niemand zweifelte daran. Nur Ollie, der in der Nase bohrend inmitten der

anderen stand, konnte sich nicht verkneifen zu bemerken: „Die hatten Angst
vor uns und sind getürmt.“

Micel meinte ironisch: „Klar. Und weil sie in der Eile die Haustürschlüssel

nicht fanden, haben sie die Schleusen mit ein paar Stangen Dynamit ins All
hinausgeblasen, wie?“ Er lachte, wurde dann aber wieder ernst und erklärte:
„Diese Schleusen stehen bereits seit undenklichen Zeiten offen. Seht euch die
Meteoritenkrater an. Die reichen weit in das Innere des Schiffes hinein und
bedecken   auch   die  Schleusenränder.  Wenn   ihr   mich   fragt,   dann   ist   diese
Eisenkugel  hier schon  herumgeschwirrt, als unsere Vorfahren noch im Ne­
andertal von Ast zu Ast hüpften.“

Als  Thunderclap  und  Harpo   ihn   fragend   ansahen,  fügte   er  hinzu:   „Und

organische Lebewesen mit hochentwickelten Gehirnen sind auch nicht an
Bord. Glaube ich wenigstens ... Spüren kann ich gar nichts ...“

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„Das muß nicht viel besagen“, meinte Harpo nachdenklich. „Die können ja

so andersartig sein, daß du ihre Gehirnströme nicht empfangen kannst.“

Ansonsten gaben alle Micel recht. Das Schiff mußte tatsächlich uralt sein.

Je genauer man hinsah, desto klarer wurde, daß die zahllosen Meteorite, mal
größere,   aber   meistens   nur  staubgroße  Partikelchen,   dem   einst   sicherlich
blitzblanken Schiff zugesetzt hatten. Die Beschädigungen des Wracks waren
ein Werk vieler Jahrhunderte, vielleicht sogar mehrerer Jahrtausende.

„Ob die EUKALYPTUS auch mal so aussehen wird?“ fragte Anca leise und

etwas ängstlich.

„Nach so einer Zeitspanne – bestimmt“, antwortete Harpo. Er wußte, daß

bereits jetzt der kosmische Staub an der Oberfläche ihres Weltraumschiffes
nagte. Der Stahl war nicht mehr so glatt, wie an dem Tag, als er aus dem
Walzwerk   gekommen   war.   Vorerst   konnte   man   diese   Abnutzungserschei­
nungen  kaum mit  bloßem  Auge  erkennen.  Und   schließlich  bestanden  die
Außenwände   aus   mehreren   Schichten   einer   hochwertigen   Legierung   und
waren insgesamt fast einen Meter dick.

Gefährlich waren Einschläge größerer Meteorite. Sie rissen Löcher in die

Außenwände und waren drüben am Wrack für die Zerstörungen von mehre­
ren Türmchen und für die Krater in der Hülle verantwortlich. Schwatzmaul
und die Grünen sorgten auf der EUKALYPTUS dafür, daß solche Treffer – die
aber wirklich selten waren – von der Besatzung gar nicht bemerkt wurden.
Solche Schäden wurden schnell ausgebessert.

Ollie hüpfte von einem Bein auf das andere, so aufgeregt war er. „Man­

nomann“, stöhnte er, „daß ich das auf meine alten Tage noch erleben darf!
Ein richtiges Wrack und noch dazu uralt! Ob es einen Schatz an Bord gibt?“

„Aber sicherlich!“ trompetete  Lonzo auf der  Stelle  los. „Jedes Wrack hat

einen Schatz an Bord. Die, die was auf sich halten, sogar deren zwei! Das hat
schon Captain Kidd gesagt!“ In diesem Augenblick bellte Ollies Jacke, und das
bedeutete, daß er entgegen den Anweisungen mal wieder seinen Freund Mo­
ritz in die Zentrale geschmuggelt hatte.

„Dackel an Bord, Captain“, meldete Lonzo und ging rasch in Deckung, als

das bellende Bündel mit gefletschten Mausezähnchen hinter ihm herwetzte.
Der Dackel Moritz gehörte zu Ollies besten Freunden. Aber da es seine Ange­
wohnheit war, den armen Trompo – den er auch für eine Art Hund hielt –
durch die Gegend zu jagen, hatte man ihm den Zutritt zur Hauptzentrale un­
tersagt.   Ollie   konnte   es   einfach   nicht   lassen   und   versuchte   mit   tausend
Tricks, seinen Dackelfreund doch um sich zu haben. Zum Leidwesen Lonzos,
denn auf dessen Metallbeine hatte Moritz es ganz besonders abgesehen. Ollie
schritt jedoch sofort zur Tat und fing Moritz ein, bevor er Lonzo, der in hells­
tem   Ton:   „Meine   Hose!   Meine   schöne  Sonntagnachmittagsausgehhose!“
plärrte, in die Fänge bekam.

Harpo, den das Abenteuerfieber intensiv gepackt hatte, bekam alles nur am

Rande mit. Am liebsten wäre er stehenden  Fußes  in das Wrack  hinüberge­
wechselt. Zu dumm, daß die Raumanzüge noch nicht fertig waren. Anderer­

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seits war es ganz gut, sich in Ruhe auf den Ausstieg vorzubereiten, dadurch
wurden Fehler vermieden.

Das Bellen von Moritz war ein sicheres Zeichen dafür, daß er Trompo ge­

wittert hatte. Wenig später schlüpfte das kleine Wesen tatsächlich zwischen
zwei großen Armaturenbänken hervor. Als Trompo sah, daß Moritz angeleint
war, ging er an ihn heran und kitzelte mit seinem Rüssel des Dackels Nase.
Moritz, der Trompo als Spielkameraden betrachtete, zerrte ungeduldig an der
Leine und versuchte schwanzwedelnd ihn zu erreichen. Aber Ollie stemmte
sich wild dagegen und ließ ihm keine Chance. Trompo trompetete Moritz aus
nächste Nähe markerschütternd ins Ohr, bevor er sich mit einem Satz in die
geöffneten Arme Ancas flüchtete, die sich zu ihm hinabgebeugt hatte.

Von seinem Lieblingsplatz aus betrachtete er aufmerksam den Bildschirm.

Auf den ersten Blick wirkte Trompo wie ein kleiner, rosa Elefant, mit einem
weichen   Fell  und  streichholzlangen  Stoßzähnen.  Allerdings hatte   er  Hase­
nohren.  Und wenn man ihn sprechen hörte, gab es niemanden mehr, der
glaubte, ein Tier vor sich zu haben. Trompo war ein intelligentes Wesen und
vor langer Zeit Mitarbeiter eines Galaktischen Mediziners gewesen, bis er sich
den Kindern angeschlossen hatte.

„Sagt  dir dieses  Wrack  etwas?“   fragte Harpo Trompo. Das  kleine  Wesen

schwieg und studierte ernsthaft jede Einzelheit des dunklen Schiffskörpers.
Trompo hatte, als er noch bei den Galaktischen Medizinern gewesen war,
Hunderte   von   bewohnten   Planeten   besucht,   und   so   war   es   immerhin
möglich, daß ihm ein solcher Schiffstyp schon einmal begegnet war.

„Nein“, flötete er schließlich mit seiner zarten Stimme und schüttelte den

Kopf, daß seine Schlappohren flogen. „Ein solches Raumschiff habe ich nie
gesehen. Es muß von weit her kommen. Vielleicht ist die Besatzung hier, fern
der Heimat, durch eine Katastrophe vernichtet worden. Oder sie mußte das
Raumschiff wegen eines Defekts aufgeben. Ich weiß nicht. Aber ich bin si­
cher, daß die Bauweise dieses Schiffs nicht den uns bekannten Techniken
entspricht.“

„Na, bald werden wir ja mehr wissen“, murmelte Thunderclap. Er schien

etwas enttäuscht  zu sein, was aber auch daran liegen konnte, daß es ihm
wegen   seiner   Behinderung   nicht   möglich   war,   an   der   Expedition   teil­
zunehmen.

„Wo bleiben denn erste Raumanzug?“ fragte jetzt Alexander ungeduldig.

„Alexander kann kaum noch erwarten, zu machen Shakehands mit andere
Weltraumflieger.“

„In Arbeit, verehrter Herr Rotpelz“, sagte die tiefe Stimme Schwatzmauls,

das sich jetzt wieder in die Unterhaltung einschaltete. „Ich darf die Dame
und die Herren von der Expeditionsgruppe aber doch bitten, sich von einem
der   Grünen  ausgiebig   vermessen   zu  lassen.   Doch   vielleicht   interessiert   es
euch auch, daß dieses Wrack nicht so tot ist, wie ihr glaubt!“

„Was ist los?“ Harpo war ganz verdattert, so sehr hatte er sich schon an den

Gedanken gewöhnt, es mit einem uralten, toten, total verwaisten und verros­

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teten Kahn zu tun zu haben. „Es sind also doch noch Wesen an Bord? Ja, wer
denn? Etwa die Nachkommen der einstigen Raumfahrer?“

„Nein, nein“, wehrte Schwatzmaul ab. „Eher Leben meiner Art. Ich spüre

elektronische Ströme, Magnetfelder und aktive Strahlungsquellen. Ich wette,
daß   dort   drüben,   nach   all   den   Jahren,   noch   immer   ein   paar   Maschinen
funktionieren!“

„Was denn, nur Maschinen?“ quäkte Lonzo. „Keine Spur von intelligentem

Leben meiner Art?“

Die Expedition ins Unbekannte

Trotz der Aufregung hatten alle gut geschlafen – wenn man mal von Lonzo

absah, dem es genügte, den größten Teil seiner Stromkreise abzuschalten.
Die  Schlafperiode  hatte dem Bordgehirn und seinen tüchtigen Helfern ge­
nügt, um die benötigten Raumanzüge fertigzustellen. Einiges wurde von den
vorhandenen   Anzügen   übernommen.   Etwa   die   Sauerstoffversorgung,   die
Funkgeräte und der Körperwächter, der dafür sorgte, daß die Temperatur ge­
nau den Anforderungen des Körpers entsprach.

Ferner saugte die komplizierte Apparatur den Schweiß ab, maß und regu­

lierte den Blutdruck, beseitigte Ausscheidungen und führte dem Körper bei
Bedarf flüssige Nahrung zu. Auf diese Weise konnte man es tagelang, ja, not­
falls sogar Wochen im Anzug aushalten.

„Ausgezeichnet“, lobte Harpo, als er das geschmeidige Material betastete.

„Seide hätte nicht leichter und flexibler sein können!“

„Es ist eine der neuesten Entwicklungen der irdischen Raumfahrttechnik“,

erklärte   der   Computer.   „Ein   Kunststoff   namens  Bodyskin.  Er   ist   zehnmal
widerstandsfähiger   als  Hochleistungsstahl  und   läßt   weder   extreme   Hitze
noch Kälte an den Träger heran. Ihr habt jetzt wirklich das Beste, was die
bordeigene Raumfahrtzubehör­Industrie zu bieten hat!“

„Bodyskin?“ fragte Anca neugierig. „Heißt das nicht soviel wie ...“
„Körperhaut“, bestätigte Schwatzmaul. „Der Name wurde gewählt, weil der

Stoff  ebensowenig  hinderlich ist wie die menschliche Haut, wenn man sich
bewegt.“

Harpo wollte seinen Raumanzug auf der Stelle anprobieren, aber Schwatz­

maul rief: „Halt! So einfach geht das nicht. Ihr müßt euch schon ausziehen,
bevor ihr in eure zweite Haut schlüpft.“

„Ausziehen? Ganz nackt?“ fragte Lonzo. Er begann bereits die Schrauben

an seiner eisernen Brustplatte zu lösen.

„Gewiß, sonst erfüllen die Geräte im Bodyskin­Anzug nicht ihren Zweck.“
Die Kinder stiegen aus ihren Jeans und Pullovern, wobei Ollie Zeter und

Mordio schrie, weil er auf seine heißgeliebte Lederhose verzichten mußte.

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Lonzo, der sich in allerletzer Sekunde doch noch entschlossen hatte, „ange­

zogen“ zu bleiben, ging von einem zum anderen und streifte jedem eine Art
Netz über den Oberkörper. Daran wurde ein kleines Kontrollgerät befestigt.
Das war der Körperwächter. Natürlich verzichtete er nicht darauf, ausführlich
darauf   hinzuweisen,   daß   Captain   Kidd,   hätte   er   diesen   famosen   Anzug
damals besessen, unbesiegbar gewesen wäre.

Als er bei Anca ankam, meinte er, indem er das Mädchen ungeniert be­

trachtete: „Oh, Pummelchen, du bist ja schon eine richtige kleine Frau ge­
worden.“

Harpo   mußte   ihm   recht   geben,   als   er   zu   seiner   fast   dreizehnjährigen

Schwester hinübersah und sie zum ersten Mal seit längerer Zeit bewußt mus­
terte.

Anca   reagierte   mit   roten   Wangen   auf   diese   Bemerkung.   Dann   stieß   sie

einen spitzen Schrei aus, weil Lonzos Tentakel ihr das Netz umlegten. O je,
waren die eisig kalt!

Lonzo gab ihr einen leichten Klaps  und wandte  sich dann dem Rotpelz

Alexander zu. Der hatte interessiert beobachtet, wie die Kinder ihre Kleidung
ablegten.  Daß  Menschen   Kleider   trugen   und   diese   künstliche   Haut   nach
Belieben ablegen konnten, faszinierte ihn immer wieder aufs neue. Auch er
bekam sein Netz über den dichten Pelz gezogen.

Schließlich   half   Lonzo   seinen   Freunden   in   die   Raumanzüge.   Das   war

einfach,  weil   sie leicht   und  elastisch   waren. Ganz   anders   als   die  klobigen
Dinger,   mit   denen   sie   sich   am   Tag   vorher   abgemüht   hatten.   Dann   kon­
trollierte Lonzo mit maschineller Präzision den Verschluß der Plexiglashelme
und den Sitz der Sauerstoffflaschen. Ein kleines Ventil wurde geöffnet. Der
vorher schlaffe Anzug blähte sich auf. Das Material hatte die Eigenschaft, in­
nerhalb   einer   engen   Grenze   auf   Druck  zu   reagieren.  Wurde  diese   Grenze
überschritten, so hing er entweder zerknittert oder prall – je nachdem, ob der
größere Druck innen oder außen herrschte – am Körper, gab aber nicht wei­
ter nach. Das war wichtig.

Schließlich erhielt jeder eine Pistole, die aber nicht als Waffe, sondern viel­

mehr als Rückstoßgerät benutzt werden sollte. Mit ihr konnte man die Bewe­
gungen   im  luftleeren   Raum   kontrollieren   und   beeinflussen.   Wenn  sie   das
Wrack   erreicht   hatten,   würden   sie   wieder   aufrecht   gehen   können   –  dafür
sorgten die Magnetschuhe.

Nachdem eine Verständigungsprobe gezeigt hatte, daß die Helmfunkgeräte

einwandfrei funktionierten, konnte das Abenteuer beginnen. Lonzo trug als
einziger keinen Raumanzug – er brauchte so etwas nicht, da er nicht atmete
und keine empfindlichen Organe vor dem Vakuum im All schützen mußte. Er
schritt allen voran zur Luftschleuse neben dem Hangar der Gleitboote.

Schwatzmaul gab seine besten Wünsche mit auf den Weg. Dann öffnete er

die äußere  Schleusentür.  Wie ein gähnender Schlund lag das All vor ihnen,
tiefblau wie dicke Tinte. Dazwischen leuchteten einsame Sterne. Ein Zurück
gab es jetzt nicht mehr.

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Und dann bewegte sich das Wrack in ihr Blickfeld, weil die EUKALYPTUS

leicht rotierte.

Das Bordgehirn hatte den Abstand zwischen den beiden Schiffen noch wei­

ter verringert, um es den Freunden leichter zu machen. Nur wenige hundert
Meter   waren   zu   überwinden   –   über   einen   Abgrund   hinweg,   der   keinen
Anfang und kein Ende hatte.

Geisterhaft huschten die Scheinwerferkegel über die rauhe Oberfläche des

Wracks. Bevor einer entgleiten konnte, hakte Lonzo eine  Sicherheitsleine  in
die dafür vorgesehenen Ösen der Raumanzüge. Nun konnten sie einander
nicht   mehr   verlieren.   Er   bedeutete   ihnen,   die   Scheinwerfer   auf   der   Brust
einzuschalten. Sprechen konnte er nach dem Absprung nicht mehr mit ih­
nen. Das Funkgerät nützte im luftleeren Raum nichts mehr, weil der Schall
Lonzos Anweisungen nicht übertragen würde. Und eine andere technische
Lösung des Problems war in der Eile nicht gefunden worden. Notfalls konnte
Lonzo jedoch mit Hilfe elektronischer Impulse Schwatzmaul erreichen, der in
der Lage war, sie in Worte umzuwandeln und direkt an die  Funkhelme  der
anderen abzustrahlen.

Auf ein Kommando von Lonzos Tentakeln sprangen sie alle gleichzeitig ab

und  faßten  sich dabei an den Händen. Gerade so, wie man manchmal zu
mehreren in ein Schwimmbecken hüpft. Aber sie fühlten sich natürlich ganz
anders. Denn die Freunde fielen ja keineswegs nach unten, sondern schweb­
ten in das All hinaus. Am ehesten vergleichbar war diese Aktion mit  Unter­
wasserschwimmen.

Ganz   langsam   geriet   die   Gruppe   ins   Trudeln,   weil   die  Absprungbewe­

gungen ungleichmäßig erfolgt waren. Bald wußte niemand mehr so recht, wo
denn   nun  die   EUKALYPTUS   lag  und  wo  das  Wrack.   Nur  gut,   daß  Lonzos
elektronische   Instrumente   nicht   so   leicht   zu   verwirren   waren   wie   die
menschlichen Sinne.

„Mann, das ist ja wie auf einem Karussell!“ jauchzte Ollie. „Jungejunge, mir

wird ganz anders. Das hält man ja im Schädel nicht aus!“ Natürlich verstand
ihn niemand, und keiner lachte. Jeder hatte mit sich selbst genug zu tun.
Dem Magen beispielsweise schien es gar nicht zu gefallen, was ihm hier ge­
boten wurde.

„Augen   schließen,   wenn   euch   übel   werden   sollte“,   kam   die   Stimme

Thunderclaps von der EUKALYPTUS durch die Helm­Kopfhörer. Jetzt war er
vielleicht doch ganz froh, daß er nicht an diesem Unternehmen teilnahm.

Anca und Ollie folgten seinem Rat auf der Stelle und fühlten sich gleich

besser.   Alexander   hielt   es   eine   Weile   länger   aus,   schließlich   besaß   er   im
wahrsten Sinne des Wortes eine Bärennatur! Dann klappte auch er die Lider
zu.

Harpo hatte von Anfang an die Augen geschlossen, aus Angst. Er fürchtete

nichts so sehr wie die Dunkelheit. Nur die Tatsache, daß er rechts die Pranke
Alexanders und links die Hand seiner Schwester fühlte, half ihm ein wenig.
Die Furcht vor einem Alleinsein im Dunkeln war damals der Grund gewesen,
weshalb man ihn an Bord der EUKALYPTUS gebracht hatte.

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Schließlich betätigte Lonzo mehrmals seine  Rückstoßpistole.  Mit drei ge­

nau gezielten und  wohldosierten  Schüssen brachte er Ruhe in die Gruppe.
Mit einem weiteren kräftigeren Schuß setzte er sie in Richtung auf das Wrack
in Bewegung. Bald würde die zwar geringe, aber immerhin meßbare Schwer­
kraft des Wracks ein übriges tun und sie anziehen.

Je näher sie dem Wrack kamen, desto geheimnisvoller erschien es ihnen.

Die   Scheinwerfer   der   EUKALYPTUS  warfen   bizarre   Schatten   zwischen   die
eigenartigen  noppenhaften  Wölbungen   und  eckig­schartigen,   in   Mäander­
Linien   konstruierten   Türmchen.   Den   Kindern   lief   der   eine   oder   andere
Schauer über den Rücken, weil sie darin die  Schattengeister  längst verstor­
bener, fremder Raumfahrer zu erblicken glaubten.

Aber dann wurde es Zeit, sich auf die Landung vorzubereiten. Zwar war

ihre Geschwindigkeit nicht besonders groß und in den druckfesten Anzügen
konnte nicht viel passieren, aber wenn möglich, wollten sie mit den Füßen
zuerst auf der Außenhaut des Wracks aufsetzen.

Harpo,   Anca   und   Lonzo   gelang   dies   ohne   Schwierigkeiten.   Auch   Ollie

landete mit Hilfe der Magnetschuhe richtig auf der Oberfläche des Schiffes.
Allein Alexander kam brummelnd mit dem Hinterteil zuerst an. Er rappelte
sich unter Mithilfe seiner Freunde rasch wieder auf.

„Seht doch mal!“ rief Anca andächtig und zeigte auf die EUKALYPTUS. Wie

ein   riesiger   Knochen   schwebte   sie   vor   ihnen   im   All,   mit   eingeschalteten
Scheinwerfern, deren blendendes Licht manchmal in die Augen stach. Un­
schwer erkannte man die hell erleuchtete, durchsichtige Kuppel der Zentrale.
Ollie glaubte  sogar Thunderclap Genius und die anderen zu erspähen. Sie
schienen zu winken. Aber vielleicht täuschte er sich. Ein eigenartiges Gefühl
überkam sie, als sie das riesige Raumschiff erblickten. Ein warmes, stolzes
Gefühl. Dort war ihr Zuhause.

„Lonzo wird schon ungeduldig“, meinte Harpo, als er den Roboter wild mit

den Tentakeln wedeln sah. „Laßt uns aufbrechen.“

Sie spürten erleichtert den sicheren Halt der Magnetschuhe. Das war na­

türlich nicht mit der künstlich erzeugten Schwerkraft auf der EUKALYPTUS
zu vergleichen, aber man konnte sich ohne große Mühe vorwärts bewegen.

Ob nun durch Zufall oder Lonzos kluges Dirigieren: Ihre Ankunft war in un­

mittelbarer   Nachbarschaft   einer   Schleuse   erfolgt.   Nicht   mehr   als   zwanzig
Meter waren bis zu der Öffnung zurückzulegen.

So aus nächster Nähe wurde allen erst richtig bewußt, daß nicht nur das

Wrack, sondern auch die Schleuse riesige Dimensionen hatte. Sicher war sie
nicht nur für Raumfahrer konstruiert worden, wahrscheinlich auch für Bei­
boote, die von hier aus operieren konnten.

„Alles in Ordnung?“ fragte Karlie Müllerchen aus weiter Ferne. Harpo, nick­

te, bis ihm einfiel, daß Karlie eine Antwort erwartete. „Uns geht’s prima“, sag­
te er deshalb. „Oder?“

„Klar!“ riefen die anderen im Chor.
„Keine Arm­ und Beinbrüche?“ fragte Karlie kichernd. „Brim steht nämlich

schon mit seinen Skalpellen bereit!“

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Gelächter ertönte auf beiden Seiten, dazwischen die empörte Stimme Brim

Boriams:   „Ist   ga­gar   nicht   w­wahr!“   Brim   übte   auf   der   EUKALYPTUS   die
Funktion des Schiffsarztes aus, seit die Galaktischen Mediziner ihm per Hyp­
noseschulung beigebracht hatten, was man als angehender Arzt wissen muß­
te. Da Brim, der krausköpfige Afrikanerjunge, seinen zukünftigen Beruf sehr
ernst nahm, studierte er in letzter Zeit eifrig verschiedene Fachliteratur.

„Wir betreten  gleich  den  Schleusentrakt“, berichtete Harpo  ordnungsge­

mäß. „Aber das seht ihr ja wahrscheinlich selbst. Wir melden  uns wieder,
sobald wir Neues zu berichten haben.“

„Okay, Harpo“, bestätigte Thunderclap von der Zentrale aus. „Und haltet

absolute  Funkdisziplin.  Es kann nicht angehen, daß ständig alle  durchein­
anderreden. Dummerweise kann man dann nämlich überhaupt nichts mehr
verstehen.“ Er fügte noch ein fachmännisch klingendes „Over!“ hinzu, was
bedeutete, daß er mit seiner Mitteilung fertig war.

Einander immer noch an den Händen haltend, tappten sie sich Schritt für

Schritt an das dunkle Loch der Schleuse heran. Lonzo deutete auf die Halte­
rungen. Auch die anderen sahen es nun deutlich: Sie wirkten total zerfetzt.

„Lonzo meint, daß diese Zerstörungen nicht allein durch Meteorite bewirkt

wurden“, meldete sich nun Schwatzmaul.

„Ich  glaube, er   hat   recht“,   bestätigte  Harpo.  „Das  sieht   verdammt   nach

einer gewaltigen Detonation aus, obwohl der Zahn der Zeit vieles abgenagt
hat.“

Ihnen wurde nun erst richtig bewußt, daß hier tatsächlich eine Katastrophe

stattgefunden haben mußte. Die Schleusenränder wirkten rissig und verliefen
in bizarr gezackten Linien. Wenn man genau hinsah, konnte man sogar er­
kennen, daß einzelne Metallfetzen von der nicht mehr vorhandenen Türe üb­
riggeblieben waren.

Vor   ihnen   lag   ein   Korridor   aus   porösem   Metall,   der   in   das   Innere   des

Wracks führte. Wie es schien, war er passierbar. Trotzdem mußte sich Harpo
zuerst ein Herz fassen, ehe er den ersten Schritt wagte.

Es schien eine einzige Trümmerlandschaft zu sein. Träger aus Stahl und

einem   nicht   identifizierbaren   schwammigen   Material   ragten   wie   Skelette
zerbombter Hochhäuser aus den Wänden. Die Verkleidungen aus  zentime­
terdickem  Metall   hingen  durchlöchert  wie   Seitenteile  zerfledderter  Papp­
kartons   an   diesen   Skeletten.   An   einer   Stelle   hatten   Druckwellen   oder   ein
großer Meteorit die meterdicke Außenhaut des Schiffes durchschlagen. Ein
Loch klaffte.

Dahinter blinkten kalt die Sterne. Was mochten die fremden Raumfahrer

empfunden haben, als sie vor langer Zeit an dieser Stelle standen und hinaus­
schauten – wenn überhaupt jemand die Explosion überlebt hatte?

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Ollie, der Entdecker

Der Metallsteg, auf dem sie sich bewegten, hatte sich zu Wellenlinien ver­

zogen, war aber nicht gerissen. Man konnte es wagen, darauf weiter vorzu­
dringen,   wenn   man   die   in   den   Gang   hineinragenden,   messerscharfen
Stahlteile sorgfältig umging.

Die Kinder waren von dieser ungewöhnlichen Umgebung so beeindruckt,

daß sie minutenlang auf jede Unterhaltung verzichteten und sich nur stumm
weitertasteten.

Schließlich erreichten sie die zweite, innere Tür der Luftschleuse. Sie war

offenbar von innen herausgesprengt worden, hing aber noch in den Angeln.

„Seht mal!“ rief Anca und deutete auf die Wand dahinter. Die Wand war

schwarz, aber an einigen Stellen schimmerten Spuren einer gelben Farbe. Auf
dem  Farbsegment  waren Zeichen  deutlich erkennbar: aus Schlangenlinien
zusammengesetzte Figuren. Zweifellos eine Schrift – die Schrift der Fremden.

Lonzo leuchtete den Fleck sorgfältiger aus und sah ihn sich genauer an.

Von diesem Moment an waren die geheimnisvollen Schriftzeichen in seinem
Gedächtnis gespeichert und konnten jederzeit wieder abgerufen werden.

Je weiter die Kinder in das Innere des Wracks vordrangen, desto erregter

wurden sie. Vor ihnen erstreckte sich ein Gewirr von Gängen und Luftschäch­
ten, die an einigen Stellen in größere Räume mündeten und sich dann erneut
verzweigten. Ohne Lonzo hätten sie sich keinen Schritt in das Labyrinth hin­
eingetraut.  Aber   das   unfehlbare   Gedächtnis   ihres   maschinellen   Freundes
würde sie sicher zurückführen.

Erstaunlicherweise nahm das Ausmaß der Zerstörung ab, je weiter sie vor­

drangen.   Die  Metallplatten  wirkten   zwar   an   einigen   Stellen   dünn   und
morsch, Wände waren eingeknickt und Versorgungsleitungen geplatzt. Aber
solche Zerstörungen wie an den Schleusen waren nicht mehr zu sehen.

„Komisch“,  murmelte   Alexander,   der   Rotpelz,   während   Harpo   aufgeregt

einen Bericht an die Zentrale der EUKALYPTUS durchgab.

Immer wieder entdeckten die Freunde die seltsamen Schriftzeichen. Hier

und da standen rostige Klumpen, Überreste zerschmolzener Maschinen. Sie
passierten auch kleine Gänge, die merkwürdigerweise von Druck, Feuer und
Korrosion   nicht   zerstört   waren.   Im   Lichtstrahl   der  Brustscheinwerfer  ent­
deckten sie bunte Farbmuster an den Wänden.

Allmählich fühlten sie sich sicherer und verzichteten darauf, sich an den

Händen zu halten. Lonzo hatte bereits die Sicherheitsleinen ausgeklinkt, die
jetzt  wie ein aufgerolltes  Lasso um  seinen  Hals  baumelten.  Plötzlich  stieß
Anca einen leisen Schrei aus.

„Ollie! Wo ist Ollie?“
Die Mitglieder der Expedition hielten wie auf Kommando inne. Das konnte

doch nicht mit rechten Dingen zugehen! Ollie war eben noch bei ihnen ge­
wesen! Jetzt war er wie vom All verschluckt.

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„Ollie!“ riefen sie im Chor über Funk, so laut, daß ihre eigenen Trommel­

felle zu platzen drohten. „Ollie, wo steckst du? Ist dir was passiert?“

Aus der Zentrale der EUKALYPTUS kam erregtes Stimmengewirr. Thunder­

clap, Karlie, Micel, Brim und Trompo hockten dort vor ihren Lautsprechern
und fieberten mit. Karlies  kieksendes  Organ war deutlich zu hören. „Wenn
der   Wicht   nur   einen   Schabernack   vorhat,   wird   er   sechs  Wochen   lang   die
Kombüse fegen, das verspreche ich euch!“

Ein paar Sekunden lang war er in den Helmlautsprechern totenstill. Dann

erklang die kichernde Stimme des Vermißten in den Empfängern.

„Nur keine Panik auf der Titanic,  teure  Freunde! Mir fehlt nix. Aber ich

habe   eine   wahnsinnige   Entdeckung   gemacht!   Wahrscheinlich   ist   es   die
Schatzkammer, nach der wir suchen!“

„Schatzkammer?“ echote Thunderclap Genius verständnislos.
„Suchen wir denn so was?“ fragte Karlie verdattert. Alle atmeten auf, und

obwohl Harpo Mühe hatte, nicht in ein Gelächter auszubrechen, donnerte er:
„Bei allen Geistern der Galaxis! Hatten wir nicht  ausgemacht, daß wir zu­
sammenbleiben? Wo steckst du eigentlich?“

„Na, hier! Huhu!“
„Da   ist   er!“   rief   Anca   und   deutete   in   einen  Nebengang.  Wirklich,   dort

schaukelte Ollies Brustscheinwerfer hin und her. Der Kleine ruderte wie wild
mit beiden Armen.

Die anderen eilten erleichtert auf ihn zu. Sie achteten kaum darauf, daß

dieser  Gang   der bisher  intakteste  des ganzen   Wracks  war. Abgesehen  von
einer  dicken  Schicht  kosmischen  Staubes   schien  er  unversehrt.  Das inter­
essanteste war jedoch, daß er vor einer mannshohen, kreisrunden Tür ende­
te, die matt schimmerte und ohne sichtbare Kratzer war.

Dies mußte ein besonderes Metall sein, wenn es die Zeit so gut überdauert

hatte. Die dazugehörende Wand  schien aus dem gleichen  Material  zu  be­
stehen. Sie schimmerte blaugrün im Licht der Scheinwerfer.

„Wenn das keine Schatzkammer ist ...“ verkündete Ollie stolz und sah sich

beifallheischend um.

„Eher   eine   zweite,   innere   Luftschleuse“,   bemerkte   Harpo   trocken.   „An­

scheinend hat man das Innere des Schiffes nochmals mit einer eigenen Hülle
aus hochwertigem Material umgeben. Junge, da stehen uns vielleicht noch
ganz unerwartete Überraschungen bevor!“

Alexander zog spielerisch an einem Griff und fiel fast zu Boden, als die Luke

ohne Widerstand  aufklappte.  Dahinter  lag  ein dunkler  Gang,  dessen  Ende
nicht erkennbar war.

„Nichts wie hinein und im Golde gewühlt!“ jubelte Ollie.
Sie stiegen durch die Luke. Harpo gab einen kurzen Bericht an die Zentrale,

folgte dann und zog die Luke hinter sich zu. Wenn dies wirklich eine Schleuse
war, mußte die äußere Öffnung erst einmal geschlossen werden.

Zur grenzenlosen Überraschung des  Expeditionstrupps  flammten an der

Decke Lampen auf, die ein trübes, rotes Licht ausstrahlten. Lonzo deutete auf
ein Gitter am Boden, konnte sich aber nicht verständlich machen.

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„Lonzo sagt, daß ein Gas in die Schleuse einströmt“, meldete sich Schwatz­

maul über Funk. „Der Mechanismus funktioniert also noch.“

Und nach einer Weile: „Jetzt scheint der Vorgang abgeschlossen zu sein.

Lonzo analysiert soeben die Zusammensetzung des Gases.“

Im gleichen Moment sprang – ohne das Zutun von Lonzo und den Kindern

– die innere Schleusentür auf. Gewöhnt an das schwache Licht ihrer Schein­
werfer,   blieben   die   Kinder   für   einen   Moment   lang   gebannt   stehen.   Eine
grelle, gelbe Lichtflut blendete sie – und das, obwohl sie durch das eingefärb­
te Plexiglas ihrer Raumfahrerhelme geschützt waren.

Schließlich  stolperten  sie weiter und sahen  sich verwirrt  um. Sie hatten

alles Mögliche erwartet – aber nicht das!

Sie standen, inmitten einer Lichtflut, die aus den Wänden hervordrang, auf

einem   weichen,   rostbraunen  Pflanzenteppich.  In   Reichweite   ihrer   Arme
wuchs ein baumhohes Gewächs, das wie ein zarter, faltiger Beutel aus inein­
andergelegten  Seidenschichten  bläulicher   Färbung   aussah.   Dahinter   er­
streckte sich ein wahrer Dschungel von Pflanzen in abenteuerlichen Formen
und Farben.

Viele sahen aus wie übergroße Tulpen, Rosen oder Nelken, andere hatten

auswuchernde  Formen   wie  meterhohes  Rübenkraut   mit   lauter   kleinen
Noppen darauf.

Ollie war nicht mehr zu halten und berührte eine Pflanze. Sie ließ sich so

leicht zusammendrücken wie ein Windbeutel.

„Die   Atmosphäre   ist   atembar“,   sagte  Thunderclap   plötzlich   in   die   Stille

hinein. „Ich hoffe, ihr habt keine andere Erfahrung gemacht!“

„Kei... keine Angst“,  stotterte  Harpo, der sich  als erster von der Überra­

schung erholte. „Wir atmen, auch wenn wir schweigen, Thunderclap.“

„Wir halten es trotzdem für besser, wenn ihr die Helme noch nicht ablegt“,

meldete sich nun Brim Boriam. „Es gibt Mikroorganismen, die wir noch un­
tersuchen müssen. Sie könnten euch gefährlich werden.“

Die   Botschaft,   die   Harpo   nun   an   die   Zentrale   übermittelte,  riß  sogar

Thunderclap fast vom Stuhl. Sofort kursierten die wildesten Spekulationen an
Bord der EUKALYPTUS, was den  Pflanzenreichtum an Bord des Wracks be­
traf. Sie erinnerten sich alle nur zu gut an ihren früheren Lebensbereich auf
Deck 27. Dort gab es ebenfalls Pflanzen in Hülle und Fülle, die man allerdings
nicht mit denen des Wracks vergleichen konnte, denn letztere waren echt –
und die aus der EUKALYPTUS aus Plastik.

Aber hier war möglicherweise etwas geschehen, das nicht vorprogrammiert

war. Hatten die Pflanzen nach dem Fortgang der fremden Raumfahrer nach
und nach das verlassene Wrack erobert? Manche Gewächse hatten die Ange­
wohnheit, über den Rand ihrer Beete hinauszuwuchern, wenn sie nicht daran
gehindert wurden. Es war nur eine Frage der Zeit, bis sie sich über das ganze
Raumschiff   ausbreiten   würden.   Sie   schleppten   Erde   mit   sich,   verstreuten
Samen, wurden nach und nach selbst zu Humus und belegten die Decks.
Neuer Boden entstand, auf dem dann wieder junge Pflanzen wuchsen.

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Vielleicht war dieser Bezirk aber auch nur eine künstlich angelegte grüne

Lunge für das Schiff und seine Besatzung, ein gigantischer  hydroponischer
Garten? Die Pflanzen hatten teilweise Ähnlichkeit mit gewaltigen Windbeu­
teln und schaukelten trotz ihrer Größe im Hauch einer fernen, schwachen
Luftströmung.   Vielleicht   dienten   sie   wirklich   zur   Regeneration   der   Atmo­
sphäre? Andererseits ...

„Harpo, Harpo!“ rief Anca aufgeregt. „Alexander hat eben ein Tierchen mit

ganz großen Augen gesehen! Da – noch eins!“

Jetzt  sahen  sie es alle. Ein  eichhörnchengroßes  Lebewesen  schaute  zwi­

schen den Seidenschalen einer Pflanze hervor, bog sie mit zierlichen Pfoten
auseinander. Es schien in der Pflanze zu leben. Die beiden Augen waren be­
merkenswert   groß;   sie   nahmen   fast   ein   Drittel   des   Köpfchens   ein   und
schimmerten grünlich, während das Fell rotgelb war. Erschreckt zog es sich
zurück, als es sich beobachtet fühlte. Nach einer Weile streckte es den Kopf
aber schon wieder neugierig hervor.

„Ach, ist das süß!“ Ollie, der schon auf dem Weg war, wurde von Alexander

gerade   noch  festgehalten.  „Nicht   erschrecken   winziges   Bär“,   brummte   er.
„Lieber erst Gegend erkunden.“

Aber so leicht ließ sich Ollie nicht überzeugen. Er  wollte unbedingt  mit

dem Tierchen spielen. Und auch Anca war nicht von der Stelle zu bewegen.
Schließlich gelang es den beiden, eines der kleinen Wesen durch Lockrufe so
neugierig zu machen, daß es sich greifen und streicheln ließ.

Dann erst konnte es weitergehen.
Der  Dschungel   war  kleiner  als ursprünglich  angenommen,  jedenfalls  an

dieser Stelle. Sie hielten sich immer in der Nähe der leuchtenden Wände auf
und erreichten nach kaum zehn Minuten ein Metalltor, auf dem wieder un­
bekannte Schriftzeichen angebracht waren.

Karlie   meldete   sich   von   Bord   der   EUKALYPTUS.   „He,   eure   Funkwellen

werden jetzt kolossal überlagert! Möglicherweise wird die Verbindung bald
abreißen. Ich habe keine Ahnung, woran das liegt!“

Schwatzmaul griff sofort erläuternd ein: „Lonzo hat gerade eine Erklärung

dafür gefunden. Die Wand, vor der ihr euch befindet, besteht offenbar aus
einer Legierung, die unsere üblichen Wellen nicht durchdringen können. Es
kann   also   sein,   daß   die   Verbindung   zur   Zentrale   abreißt.   Keine   Panik,   es
steckt zumindest kein Störsender dazwischen!“

Harpo wandte sich der makellosen Wand zu. Das Tor, vor dem sie standen,

öffnete sich wie von selbst und gab zögernd einen kleinen Spalt frei. Wieder
schien   ein   verborgener   Mechanismus   in  Tätigkeit   zu treten.  Ohne  Zögern
verließ die Expedition die  Dschungelzone  und trat mutig durch das Tor in
einen weiteren unbekannten Sektor des geheimnisvollen Wracks.

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In der Klemme

Erschreckt merkten die Eindringlinge, daß sich plötzlich der Boden unter

ihnen bewegte. Harpo purzelte gegen Alexander, woraufhin dieser zur Seite
sprang, rückwärts gegen Ollie prallte und alle drei am Boden lagen. Verblüfft
starrten sie sich an. Die Bewegung war nach wie vor deutlich spürbar.

„Wat is’ das denn?“ krähte Ollie mit zitternd erhobenen Händen und ziem­

lich belämmertem Blick. „Sind wir denn hier auf  ‘ner Baustelle?“

Diesen   Eindruck   konnte  man   wahrhaftig  gewinnen.   Es   schien,   als   hätte

sich der Mittelteil des Korridorbodens in eine Art quietschendes Förderband
verwandelt. Harpo saß mit gespreizten Beinen da und stützte sich mit den
Händen ab. Er erkannte, daß sie – langsam, aber sicher – einen halbdunklen,
nur von einer Notbeleuchtung erhellten Gang entlangtransportiert wurden.

Anca rief von weit hinten mit ängstlicher Stimme: „So wartet doch! Wohin

wollt ihr denn?“

Sie hatte als letzte das Tor passiert und erkannt, daß das in den Boden „ein­

gebaute“ mysteriöse Förderband nur die Hälfte der zur Verfügung stehenden
Grünfläche des Korridors einnahm. Zu beiden Seiten lag ein stahlblau mar­
kierter Gehstreifen, der sich nicht bewegte. Mit fliegenden Haaren rannte sie
hinter   den   anderen   her.   Dabei   achtete   sie   darauf,   die  Gehspur  nicht   zu
verlassen.

„Schockschwerenot!“   rief   Ollie.   „Ein   Fußboden,   der   sich   bewegt.   Da

schnallst du ab!“

„Mir scheint, die Leute hier waren so bequem, daß sie sich fahren lassen

wollten“, warf Harpo ein. „Du liebe Güte, kann man das Ding  denn nicht
vielleicht abstellen?“

Vorsichtig, auf gummiweichen Beinen, standen sie der Reihe nach auf. Das

Transportband lief zwar nicht sehr schnell – fünf Kilometer in der Stunde,
schätzte   Harpo   –,   aber   das   unangenehme   Gefühl,   auf   einem   sich   be­
wegenden Untergrund zu stehen, machte die vier unsicher. Mehrere Türen,
deren Aufschriften im Laufe der Zeit verblaßt waren, glitten beidseitig an ih­
nen vorbei. Als Anca die anderen fast erreicht hatte, machte Alexander gerade
einen tapsigen Versuch, das Band zu verlassen. Er hatte allerdings nicht da­
mit gerechnet, daß dieses Unterfangen mit einem Absprung aus einer fah­
renden Straßenbahn vergleichbar war. Er torkelte, glitt aus und fiel. Dann
rollte er auf den Gehstreifen. Die anderen machten es ihm nach.

Das leise Quietschen des Transportbandes verstummte. Es stoppte.
„Aha“, sagte Anca. „Das Ding läuft nur, wenn jemand draufsteht.“
Ratlos blickten sich die Kinder an. Sie hatten sich genau an einer breiten,

zweiflügeligen Türe getroffen, die einen Spaltbreit offenstand. Ollie bemühte
sich bereits, neugierig den Kopf durch die Fuge zu strecken, was ihm aber
nicht gelang.

Harpo führte aus, daß die Einrichtung des Laufbandes für die Besatzung si­

cher viele Vorteile gebracht hatte. „Stellt euch nur vor“, meinte er, „wie viele

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Kilometer jemand laufen  müßte, der den Weg vom  Außendeck  zur  Schiffs­
mitte zurückzulegen hat! Auf der EUKALYPTUS haben wir ja unsere Antigrav­
lifts – hier sind es die Transportbänder.“

„Ihr   könnt   übrigens   unbesorgt   die   Helme   aufklappen“,   meldete   sich

Thunderclap Genius kaum noch hörbar über Schwatzmauls Funkanlage aus
der Ferne. „Unsere Testserien haben ergeben, daß die in der Atemluft vor­
handenen Mikroben euch nicht schaden. Und die irdischen Mikroben ver­
tragen sich auch gut mit denen des Wracks.“

Das ließen sich die Kinder nicht zweimal sagen. Sie öffneten die Helme,

schnupperten  die  würzige   Luft  und freuten  sich,  daß   sie  sich   nun  wieder
ohne Hilfe der Funkgeräte verständigen konnten.

„He“,   ließ   sich   im   gleichen   Moment   Ollie   vernehmen,   „hier  riecht’s  ja

penetrant nach Schatzkammer!“ Ein aufgeregtes Keuchen. Er versuchte den
Türspalt zu erweitern.  Vor Nervosität  hatte sich seine Zunge zwischen die
Lippen geschoben.

„Laß mich mal“, flüsterte  Harpo, den die Abenteuerlust nun auch packte.

Was hatte der Kleine entdeckt? Nicht,  daß  er an die Existenz eines Schatzes
glaubte – das waren wohl eher Wunschträume Ollies, der von Lonzos alber­
nen  Piratengeschichten  beeinflußt  war –, aber ein kleiner Berg von Juwelen
und   Geschmeide   würde   sicher   großen  Eindruck  auf  Thunderclap  und  die
anderen machen. Mit goldenen Ketten und Diamanten konnte man die Kom­
büse der EUKALYPTUS ausschmücken, eine andere Verwendungsmöglich­
keit sah er nicht.

Ollie   machte   artig   Platz.   Nacheinander   lugten   sie   durch   den   etwa   fünf

Zentimeter   breiten   Spalt,   erblickten   jedoch   nichts   als   einen   Tisch,   sechs
schalenförmige  Sitzgelegenheiten,  von denen  zwei  umgestürzt  waren,   und
einen Teppich, der ausgebleicht und schmutzig war. Dennoch waren auf ihm
eingewebte Drachen zu erkennen. Direkt gegenüber befand sich eine weitere
reich   verzierte   Tür   mit   einem   kostbar   glänzenden   Knauf,   der   auf   einem
Raumschiff   anachronistisch   wirkte.   Die   anderen   Türen   funktionierten   per
Selenzellen.

Noch seltsamer muteten die beiden angerosteten Gebilde an, die entfernt

mittelalterlichen Ritterrüstungen ähnelten. Andererseits wieder wirkten  sie
wie metallene Standbilder von Fabelwesen mit Vogelköpfen. Sie waren rechts
und links der Tür postiert.

„Was soll das sein?“ fragte  Alexander, der so etwas natürlich von seinem

Heimatplaneten nicht kannte.

„Das sind Roboter!“ sagte Anca mit einer solchen Bestimmtheit, daß nie­

mand an ihren Worten zu zweifeln wagte. „Und sie sehen nur deshalb anders
aus   als   unsere   Grünen,   weil   sie  eben   von   Wesen   konstruiert   wurden,   die
keine Menschen waren – wahrscheinlich.“

Harpo nickte. Das war logisch. Die Menschen hatten ihre Roboter nach ih­

rem eigenen Ebenbild gemacht, einfach deshalb, weil man, um für Menschen
bestimmte Arbeiten von metallenen Gehilfen verrichten zu lassen, einfach
dafür sorgen mußte, daß sie dazu auch von der Konstruktion her in der Lage

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waren. Hatten die Fremden nach dem gleichen Prinzip gehandelt, so mußten
sie erschreckend  ausgeschaut  haben.  Die  beiden   angerosteten  Türwächter
sahen aus wie kleinwüchsige, breitschultrige  Humanoide mit spitzen Vogel­
schnäbeln  und langen, dreieckig auslaufenden Plattfüßen. Ihre  Kopfflächen
waren   mit   Dutzenden  Eisenpickeln  bedeckt,   die   wie   kleine   Schrauben
wirkten. In den Fäusten trugen die silbergrauen Roboter lange Stäbe, die in
einer Kugel endeten. Man konnte sie aus der Entfernung für Morgensterne
halten.

„Die sehen wir uns genauer an“, sagte Ollie begeistert und begann an den

Türhälften zu rütteln. Erst als Lonzo und Alexander ihre Kräfte in die Bresche
warfen, gingen sie,  greulich  quietschend, weiter auf. Irgend etwas hatte sie
blockiert.

Die Öffnung reichte gerade. Ollie und Anca schoben sich hindurch. Anca

drehte sich triumphierend um und streckte den anderen die Zunge heraus.

„Hat sich was von wegen Pummelchen“, sagte sie grinsend, als Harpo äch­

zend seine breiten Schultern durch den entstandenen Spalt zwängte. Lonzo
hatte ohnehin keine Schwierigkeiten, klein, wie er war.

Alexander,   der   nun   wirklich   zu   dick   war,   blieb   enttäuscht   brummend

draußen stehen. „Stehen Schmiere für Einbrecher“, erklärte er, „und pfeifen
Liedchen, wenn Bullen kommen!“

Ollie stimmte an: „Gold und Silber lieb’ ich sehr, kann’s auch gut gebrau­

chen ...“, während Harpo sich zögernd den starren Robotern näherte. Anca
und  Lonzo folgten  ihm. Die  Torwächter  wirkten  so, als  seien  sie  ziemlich
schrottreif.

Die Gruppe kam sich indes wie ein  Einbrecherteam  vor. Ollie linste ver­

stohlen in alle Ecken, als erwarte er jederzeit das Eingreifen eines Unbekann­
ten, und bohrte aufgeregt in der Nase. Anca nagte nervös an ihrer Unterlippe.
Lonzo riß die  Schippermütze  vom Kopf, deutete eine elegante Verbeugung
vor   den   Maschinen   an   und   flötete:   „Stets   zu   Diensten,   edle   Herren.   Graf
Lonzo de  Güldenstern  gibt sich die Ehre. Würden Sie die Nettigkeit haben
und uns ihre Schatzkammer plündern lassen?“

„Grrrrg“, machten die beiden Roboter plötzlich und hoben die vermeint­

lichen Morgensterne. Mit einem Schreckensschrei wichen Harpo und seine
Freunde zurück.

Gleich darauf setzte sich einer der verrosteten Roboter quietschend in Be­

wegung, verhielt aber nach einem Schritt wie eine Marionette, der man die
Schnüre gekappt hat. Da er auf einem Bein nicht stehen konnte, fiel er um.
Das  Geräusch,   das   er  dabei   erzeugte,  klang   wie   das   Umfallen  eines  Drei­
einhalbmeterturms  leerer Konservendosen. Es schepperte und krachte ble­
chern. Der zweite Roboter blieb stumm und starr.

„Tscha“, meinte Ollie lakonisch, „der ist hin!“
Und das war er in der Tat. Die klauenartigen Finger des Maschinenwesens

gaben die seltsame,  stangenartige  Waffe frei, die Lonzo eiligst einer einge­
henden wissenschaftlichen Untersuchung unterzog.

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„Chemischer Kampfstoff“, verkündete er, nachdem die Analysatoren sich

wieder in seine  Brustklappe  zurückgezogen hatten. „Ein Betäubungsmittel,
das   offenbar   unerwünschte   Eindringlinge   vertreiben   soll.   Allerdings   ist   es
nicht mehr wirksam.“

„Der Schatz, der Schatz!“ wisperte nun Ollie, der aufgeregt von einem Bein

auf das andere hüpfte.

Lonzo untersuchte schnell den Türknauf und legte dann einen Tentakel

darum. Der Knauf ließ sich drehen. Die Tür öffnete sich ohne Schwierigkei­
ten. Was sie dahinter erwartete, war allerdings weder Ollies vielbeschworener
Schatz, noch sonst etwas, das sich als wertvoll erwies. Nur ein großer Raum,
dessen hohe Wände in beruhigenden Farbtönen gehalten waren. Darin gab
es eine Reihe fürstlich gedeckter Tische  mit  altmodischen Kerzenständern
und  heruntergebrannten  Kerzen,   staubbedeckte   Teppiche   und   von   Vor­
hängen abgeteilte  Nischen mit Sitzgruppen.  Die Stühle lagen teilweise auf
dem Boden, und Rückstände auf den Tellern, die Lonzo als Staub deutete,
entpuppten   sich   einwandfrei   als   Überreste   von   Mahlzeiten,   die   plötzlich
abgebrochen worden sein mußten.

Ollie fand in einer Ecke eine Uniformmütze, die, kaum daß er sie berührte,

zu Staub zerfiel.

Ähnliches   geschah   mit   den   verwahrlosten   Vorhängen,   die   seit   Jahr­

hunderten keinen Windhauch mehr verspürt hatten. Als Harpo einen davon
beiseite zog, rauschte eine Staubwolke hinab, die ihn in einen keuchenden
Husten ausbrechen ließ. Der ganze Vorhang war verschwunden, hatte sich in
nichts aufgelöst.

„Tretet nicht so feste auf“, kicherte Anca. „Sonst bricht das ganze Wrack

noch auseinander!“

Merkwürdig war diese seltsame Hinterlassenschaft schon. Es sah so aus, als

sei  man   auf  einen  luxuriösen   Speisesaal  gestoßen.   Aber   warum   war  er  so
groß, wenn in ihm nur knapp zehn Tische standen? Rein platzmäßig hätten
hier leicht dreihundert Menschen essen können. Konnte das heißen, daß das
Schiff nur von einer Handvoll Raumfahrern gesteuert worden war? Handelte
es sich bei diesem Wrack um einen überdimensionalen Frachter?

Lonzo entdeckte mehrere Türen. Eine davon führte in einen Raum, dessen

Wände mit  deckenhohen Regalen verkleidet waren. Einige Sitzbänke, belegt
mit verstaubten Fellen. Eine computerähnliche, abgeschaltete Maschine mit
einem davorstehenden Drehstuhl. Mehrere leere,  kürbisähnliche  Flaschen.
Sonst nichts.

Aber die Regale. Sie standen voller Bücher! Und das mußten Tausende sein!
„Ohhh“, staunte Harpo, der als Büchernarr bekannt war. Er leckte sich die

Lippen und lief händereibend auf das erste Regal zu. „Rühr besser nichts an,
Harpo!“ rief Lonzo ihm nach, aber die Warnung kam eine Zehntelsekunde zu
spät.

Harpos   ausgestreckte,   nach   einem   verstaubten   Wälzer   langende   Rechte

zuckte zurück, als seine Ohren das leise, kaum hörbare Rieseln vernahmen.
Schreckensbleich schrie Anca: „Das Regal! Das Regal! Es stürzt ein!“

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Harpo vollbrachte  in diesen Moment  eine fast  olympiareife  Leistung.  Er

sprang aus dem Stand nach hinten, dann hüllte ihn eine graue Wolke ein, die
ihm Mund, Augen, Ohren und Nasenlöcher mit feinem Staub füllte.

Das Rauschen des blitzartig zu Staub zerfallenen Bücherregals dauerte an,

bis er prustend und nach Luft schnappend mit den Fingern den Schmutz aus
den Ohren  gepuhlt  hatte. Um Harpo herum wirbelte eine gewaltige Staub­
wolke auf, die die anderen sofort einhüllte.

„Harpo!“   rief   Anca.   „Lebst   du   noch?“   Es   war   echte   Besorgnis   in   ihrer

Stimme.

„Blubblgrgl“, machte Harpo, spuckte, hustete, bekam eine neue Ladung in

den Mund und beeilte sich, beide Zeigefinger als Nasenpfropfen zu benutzen.

Es dauerte fast drei Minuten, bis die graue  Staubwand  sich gesetzt hatte

und   Harpo   sich   unverletzt   erhob.   Er   stand   knietief   im   Staub.   Erschreckt
stellte er fest, daß das Regal auf eine Länge von mehr als zwölf Metern zu­
sammengebrochen   war.   Und   der   Rest   der   Wand   schwankte   ebenfalls   be­
drohlich!

Irgendwie erwischten Lonzos Tentakel den völlig überraschten Jungen und

zogen ihn aus der  Schmutzhalde.  Anca und Ollie begannen ihm den Dreck
aus dem Gesicht zu wischen, während Alexander grinsend bemerkte: „Harpo
sehen aus wie Brim Boriam! Schwarz von Zehen bis Haarwurzeln.“

Lonzo schimpfte: „Welch ein Frevel!  Mußtest  du dieses barbarische Ver­

nichtungswerk   unbedingt   ausführen?   Die   schönen   Bücher!   Die   schönen,
schönen Bücher! Mir stehen die Haare zu Berge, wenn ich daran denke, wie
viele Piratenromane dabeigewesen sein könnten!“

Natürlich war sein Zorn nur gespielt, das wußten sie alle. Und wie hätte

Harpo   auch   ahnen   können,   daß   die   Bücher   einschließlich   des   Regals   im
Laufe der Zeit so porös geworden waren, daß eine leichte Berührung genügte,
um sie zu Staub zerfallen zu lassen.

„Mamma mia!“ japste Harpo, als er wieder Luft bekam. „Das wäre ja um ein

Haar ins Auge gegangen!“

Mit Hilfe ihrer Wasservorräte gelang es, aus den Expeditionsteilnehmern in

zehn Minuten wieder menschenähnliche Wesen zu machen. Ollie, der wäh­
rend der Waschprozedur die Bibliothek verlassen hatte, um zu sondieren, wie
er sagte, kehrte zurück. Auch er hatte etwas von der Staubwolke abbekom­
men.

„Wir   sind   nicht   allein   auf   dem   Wrack!“   keuchte   er.   „Da   ist   wer   im

Anmarsch! Ogottogottogott! Jetzt geht’s uns an den Kragen!“

„Was?“ riefen die anderen wie aus einem Munde.
„Gaaaanz sicher! Ich habe Schritte gehört, da draußen! Die Truppen des

Chef­Bibliothekars! Oder die galaktischen Detektive! Meine Medizin! Wo ist
meine Medizin?“ Der Kleine war tatsächlich ganz aus dem Häuschen.

„Schäff­Piplotekar? Was sein das?“ erkundigte sich Alexander freundlich.

„Gehen wir raus und sehen nach, was?“

„Ich würde ja gerne mitgehen ...“ begann Ollie zögernd, als er erkannte, daß

Alexander sich überhaupt nicht zu fürchten schien.

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„Seien wir lieber vorsichtig“, warnte Harpo.
„... aber leider“, fuhr Ollie seufzend fort, „verbietet mir eine schwere Krank­

heit, mich aufzuregen.“

„Also, ich habe keine Angst!“ rief Anca resolut. „Wenn ihr zu feige seid, ge­

hen Ali und ich eben allein!“

Bevor   sie  diesen  Entschluß  in   die   Tat   umsetzen   konnte,   drang   das   Ge­

räusch sich nähernder Schritte auch schon an ihre Ohren. Schritte? Nein, das
hörte sich eher an wie ...

Da es sowieso keine Möglichkeit gab, sich in der Bibliothek zu verstecken,

begann Lonzo nach kurzem Befragen seiner Informationsspeicher den einzig
richtigen Plan vorzubereiten. Er stellte sich wie ein armer Sünder in Positur,
machte   sein  Schönwettergesicht  und   fing   an,  Entschuldigungsreden  zu
formulieren: „Verzeihen Sie die Unordnung, Herr Kapitän oder Admiral, aber
Sie wissen ja, wie neugierige Kinder nun mal sind, hihi ...“

Er hörte erst auf, als sich die Tür zum Speisezimmer öffnete und ein Ding

hereinrollte, das aussah wie eine lange  Metallzigarre  auf Raupenketten. An
der Spitze tasteten biegsame Fühler nach allen Richtungen. Dann begann ein
ausfahrbarer Saugrüssel wie verrückt den verdreckten Boden zu reinigen, was
wie am Schnürchen ablief und nach kurzer Zeit beendet war. Anschließend
spritzte ein anderer, dünnerer Rüssel eine dicke, grüngelbe Flüssigkeit aus,
die nach Krankenhaus roch. Rotierende, an der Unterseite der Zigarre ange­
brachte Besen begannen den Boden zu polieren.

„Eine Bohnermaschine!“ schrien die Kinder und begannen zu lachen. Ollie,

der   etwas   beschämt   wirkte,   weil   sich   sein   furchterregender   Angreifer   als
simpler Reinigungsautomat entpuppte, drehte indessen verlegen Däumchen
und fixierte, als sei er gar nicht da, die Decke. Sein Gesicht nahm langsam die
Farbe einer überreifen Tomate an.

Die Bohnermaschine bewegte sich plötzlich mit einem drohenden Sum­

men auf die Eindringlinge zu.

Im Reich der Drachen

„Aufgepaßt, Seeleute!“ sagte Lonzo warnend und machte einen Schritt zu­

rück. „Ich glaube, die Kiste plant einen Angriff!“

Zwar rechnete keiner der Anwesenden mit einer tödlichen Bedrohung, aber

das hinderte niemanden daran, rasch den Rückzug anzutreten. Möglicher­
weise hielt das eifrige Maschinchen sie ebenfalls für eine Art Unrat. Der Ge­
danke, von dem suchenden Saugrüssel abgesaugt und gebohnert zu werden,
womöglich   in   dem   mittlerweile   furchterregende   Ausmaße   annehmenden,
ballonähnlichen Behälter an seinem Ende zu verschwinden, behagte keinem.

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Die Bohnermaschine bewegte sich bis auf einen Meter an die abwartende

Gruppe heran und begann mit den Fühlern tastende Bewegungen auszufüh­
ren.

„Soll das etwas bedeuten?“ fragte Anca aufgeregt. „Es wirkt wie ein  Kon­

taktaufnahmeversuch.“

„Quark!“ machte Harpo.
Anca klammerte sich an Ollie, der, starr vor Schreck, vergaß, seinen rechten

Zeigefinger aus dem linken Nasenloch zu nehmen.

„Wieso sollte ausgerechnet ...“
Lonzo streckte vorsichtig einen Tentakel aus und berührte die Oberseite

der Maschine. Diese wich zunächst zurück, fuhr aber dann wieder näher her­
an, als erwarte sie etwas von Lonzos Greifarm, der nun lautlos über das Me­
tall   fuhr.   Der   aufgeblasene   Plastiksack   am   anderen   Ende   der   Maschine
begann allmählich zu schrumpfen. Offenbar was er in der Lage, die aufge­
saugten Schmutzberge zu atomisieren.

„Das Ding strahlt Energie ab“, erklärte Lonzo. „Funkwellen, nehme ich an.

Das könnte bedeuten, daß es in diesem Moment irgendwohin meldet, daß
wir uns in diesem Raum aufhalten.“

„Nix wie weg!“ stieß Ollie hervor.
„Du   meinst,   die   Kiste   hat   uns   wirklich   wahrgenommen?“   fragte   Harpo

fassungslos.   Es   war   kaum   zu   glauben,   daß   dieses   Gerät,   das   von   der
Beschränktheit   seiner   Funktionen   her   nur   mit   einem   Getränkeautomaten
oder einer Waschmaschine vergleichbar war, zu solch komplizierten Wahr­
nehmungen in der Lage sein sollte.

„Aber ... das würde ja ein elektronisches Gehirn voraussetzen!“ platze Anca

heraus. „Willst du damit sagen –“

„Genau  das“, unterbrach  sie  Lonzo. „Diese  Maschine braucht,  um selb­

ständig arbeiten zu können – und daß sie das tut, haben wir ja gesehen –, ein
Gehirn. Was macht sie, wenn sie auf  Hindernisse  stößt, denen sie nicht ge­
wachsen ist? Sie funkt um Anweisungen!“ Lonzo sah sich triumphierend um.
„Ich will dreihundert Jahre allein auf der Skelettinsel im Chinesischen Meer
verbringen, wenn sie unser Hiersein nicht bereits weitergegeben hat.“

„Nichts wie weg!“ meinte nun auch Harpo und setzte sich, Ollie an der lin­

ken und seine Schwester an der rechten Hand haltend, Richtung Ausgang in
Bewegung. Die anderen folgten ihm, so schnell sie ihre Beine trugen, wobei
sie das plötzlich einsetzende protestierende Gesumme der Bohnermaschine
ignorierten.

Wenn auf dem Wrack schon einfache Arbeitsgeräte so agieren konnten –

über welche Fähigkeiten mochten da erst die komplizierten Geräte verfügen?
Und überhaupt: Wem hatte die Bohnermaschine eine Nachricht übermittelt,
wenn dieses uralte Wrack unbewohnt war?

Im Speisesaal angekommen, erwartete sie eine böse Überraschung. Durch

die Tür, die auch die Mitglieder der EUKALYPTUS­Expedition benutzt hatten,
drängten sich vier metallene Ungetüme in den Raum. Sie sahen wie  acht­

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beinige Spinnen in Dackelgröße aus. Sie hatten keine Köpfe, wohl aber an der
Vorderfront drei rötlich leuchtende Fotozellen.

Im Grunde wirkten sie wie schwarze, etwas angerostete Tellerminen, aber

ungehindert des Rosts, der sich im Laufe der Zeit auf ihnen abgelagert hatte,
bewegten sie sich flink voran.

„Dadada“, flüsterte Ollie.
„Zur anderen Tür!“ rief Harpo. „Dort, hinter dem Vorhang!“
Sie ignorierten die Staubwolke, die sich auf sie hinabsenkte, als Alexander

den Vorhang beiseite schob. Harpo warf sich gegen die Tür, aber sie klemmte.
„Verflixt!“

Hinter sich hörte er Alexander erschreckt brummen. Der Rotpelz hatte sich

neben Lonzo in Positur gestellt, trommelte mit den mächtigen Pranken gegen
seine Brust und knurrte: „Abhauen, Eisendinger! Wer Freunde mein weh tut,
kriegt was auf die Birne!“

Und Lonzo trompetete: „Alle Mann in die Boote! Jetzt geht’s um Sein oder

Nichtsein!  Mein Skalp! Mein  schöner,  lockiger  Skalp!“  Er  zitterte  und bib­
berte, als hätte er eine Horde heulender Indianer vor sich.

Ollie und Anca warfen sich neben Harpo mit aller Kraft gegen die schwere

Türe und schrien: „Fest! Fest! Gleich haben sie uns!“

Die spinnenähnlichen Neuankömmlinge stoppten plötzlich. Sie blieben im

Halbkreis   stehen,   als   berieten   sie   lautlos.   Offenbar   wußten   sie   mit   den
Eindringlingen nichts Rechtes anzufangen.

„Na?“ hörte Harpo Alexander sagen. „Angst gekriegt vor starkes Rotpelz,

wie?“

Lonzo   blubberte:   „Mast­   und  Schotbruch!   Ich   will   ja   nicht   vorlaut   er­

scheinen,   Matrosen,   aber   wir   haben   uns   da   wohl   in   etwas   verrannt,   das,
fürchte ich, so originell gar nicht ist.“

Ächzend gab die Türe jetzt nach. Modriger Geruch schlug den rasch  hin­

durchschlüpfenden Kindern entgegen.

Finsternis.
Harpo drehte sich um. Noch immer standen die vier spinnenartigen Robo­

ter da und betrachteten mit blitzenden Sehzellen die Kinder. Dann setzte sich
die Leitspinne in Bewegung und lief zur Bibliothek hinüber. Die anderen folg­
ten. Offenbar hatten sie überhaupt kein Interesse an den zähneklappernden
Expeditionsmitgliedern, die nun erleichtert aufatmeten.

Ein weiteres  Spinnenkommando  näherte  sich und schleppte Kisten,  die,

gut einsehbar, staubige Bücher enthielten.

„Hihihi“, kicherte Lonzo. „Was sind wir doch für dumme Hühner! Das sind

Robot­Bibliothekare, die jetzt anrücken. Sie wollen die Bibliothek wieder in
Ordnung bringen!“

Daß er recht hatte, bewies das dritte Kommando, das bald nachfolgte. Es

transportierte Metallregale. Alle verschwanden in der Bibliothek.

„Dann   waren   die   vier   ersten   wohl   die   Ingenieure,   was?“   fragte   Harpo

erleichtert. Er wischte sich verstohlen Schweißperlen von der Stirn. „Trotz­
dem bin ich dafür, daß wir schleunigst das Weite suchen. Irgendetwas ist mir

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nicht geheuer. Oder kann mir vielleicht jemand verraten, wieso die Roboter
noch   alle   funktionieren,   wenn   angeblich   niemand   mehr   da   ist,   der   sie
steuert?“

„Wer hat denn überhaupt gesagt, daß das Wrack unbewohnt ist?“ erkundig­

te sich Anca spitz.

„Niemand. Wir haben es einfach angenommen.“
„Ich möchte ja nicht arrogant erscheinen“, fügte Lonzo hinzu, während sie

im Licht ihrer Handscheinwerfer den Nebenraum einer eingehenden Unter­
suchung unterzogen, „aber es kann durchaus Roboter geben, die sich selbst
steuern  – wie ... äh ...“ Er brach  ab, denn beinahe hätte er sich selbst  als
lebendes Beispiel dahingestellt. Aber bevor Lonzo zugab, ein Roboter zu sein,
hätte er sich eher die nichtvorhandene Zunge abgebissen.

„Fies kalt hier“, hörte man Ollie quengeln. Und plötzlich: „Huch, was ist

denn das?“

Ehe Lonzo sich versah, hing der Kleine an seinem Hals und brüllte wie am

Spieß. „Ich bin auf etwas Hartes getreten! Ein Gespenst!“

„Gespenster sind doch luftdurchlässig“, spottete Harpo lachend und rich­

tete   einen  Lampenstrahl  auf die  Stelle,  an  der Ollie  eben  noch  gestanden
hatte. Dann keuchte er entsetzt: „Mann – das ist ja ein Krokodil!“

„Ein was?“ fragte Alexander geschockt.
Harpos   Ausruf   genügte   jedenfalls.   Ollie   und   Anca   quietschten   entsetzt.

Harpo, der das Objekt, das in der Tat fatal einem Reptil ähnelte, nun voll an­
leuchtete, blieb gelassen.

Mit aufgerissenem Rachen kauerte ein Tier vor ihnen. Es war etwa einen

Meter   lang   und   drachenähnlich.   Es   saß  auf   dem   Rand   eines   großen,   aus
Pflanzenresten und Gräsern zusammengesetzten Nestes, in dem drei riesige,
goldgesprenkelte Eier glänzten.

„Ein Saurier!“ stöhnte Ollie, einer Ohnmacht nahe. „Er wird uns fressen!“
„Quatsch mit Soße“, gab Harpo zurück. „Saurier sind Pflanzenfresser. Je­

denfalls die meisten!“

Der vermeintliche Saurier breitete kleine Schwingen aus, machte ein paar­

mal laut: „Chrrrrr, chrrrr, chrrrr“, tat aber ansonsten nichts, was darauf hin­
deuten konnte, daß er den Fremden feindlich gesonnen war. Harpo wurde
vielmehr den Eindruck nicht los, daß das kleine Ungeheuer sich ebenso vor
ihnen fürchtete wie sie sich vor ihm.

„Immer schön cool bleiben“, quäkte Lonzo. „Das hat auch Captain Kidd

damals gesagt, als wir zusammen mit den  Motorradrockern  von San Fran­
cisco eine Tausend­Meilen­Ralley machten. – Wir haben nur ein Nest aufge­
stöbert.   Würdet   ihr   etwa   nicht   grunzen,   wenn   fremde   Piraten   Anstalten
machen, eure Küken zu rauben?“

Die Kinder lachten. Nach alledem, was sie bisher erlebt hatte, schien dieser

Minidrache  wirklich nichts Böses im Schilde zu führen. Täuschten sie sich,
oder sahen sie wirklich so etwas wie Beruhigung in seinen Augen, als er zu
seinem Nest zurückhoppelte und sich mit leisem Fiepen auf die Eier setzte?

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„Schon gut, Bürschlein“, sagte Ollie großmütig. „Wir wollen dir die Brut

nicht klauen.“ Vorsichtig schritt er als erster am Nest vorbei, dabei sorgfältig
auf   die   anderen   schielend,   ob   sie   seinen   Mut   auch   entsprechend   be­
wunderten.

Der nistende Minidrache war übrigens nicht der einzige, der sich in dieser

Region aufhielt. Im nächsten langen Korridor wimmelte es nur so von kleinen
Drachen. Auch hier wucherten Pflanzen, die die Expeditionsmitglieder be­
hinderten.   Hier  lebten   meist  Jungdrachen, die  kaum  größer  waren   als  ihr
Freund Trompo und lustig wie Enten daherwatschelten.

Nun sahen die Kinder die kurzen Stummelflügel der Reptilien zum ersten

Mal   aus   nächster   Nähe.   Einer   der   Drachen   versuchte   sich   flatternd   zu
erheben,  was ihm aber nicht  gelang.  Die Schwingen  waren  klein wie eine
Handfläche und fast so durchsichtig wie Papier.

Fachmännisch erklärte Harpo: „Die Flügel sind viel zu klein für diese put­

zigen Tiere. Möglicherweise sind sie degeneriert. Oder auch mutiert.“

„Mu... was?“ fragte Ollie neugierig. „Was ist das?“
Harpo warf sich in die Brust und erklärte, daß er diese Weisheit seinem

Freund Thunderclap Genius verdanke. „Organismen, Menschen, Tiere und
auch Pflanzen verändern ihr Aussehen meist unter kosmischem Strahlenbe­
schuß, manchmal aber auch durch den Gebrauch falscher Medikamente. Das
kann dann so weit gehen, daß sich der Enkel vom Opa so unterscheidet wie
ein Ei von der Henne ... ähem.“ Er räusperte sich stolz. „Im Grunde sind auch
wir, die wir auf der EUKALYPTUS leben, in gewisser Hinsicht mutiert.“

Offenbar   vermochten   die   kleinen   Drachen   mit   der   plötzlichen  Schein­

werferhelligkeit  wenig anzufangen. Lonzo führte das darauf zurück, daß sie
wahrscheinlich bereits seit Generationen im Halbdunkel lebten und sich ihre
Augen den Verhältnissen angepaßt hatten.

„Aber wovon ernähren sie sich?“ wollte Anca wissen. „Von diesem Grün­

zeug hier? Das müßte doch bald ratzekahl gefressen sein.“

Die Antwort ergab sich einige Schritte weiter von ganz allein: Die Umge­

bung,   ein   Wirrwarr   von   Korridoren   und   kleinen   Räumen,   war   so   stark
beschädigt, daß es Dutzende von Löchern und Spalten in den Wandungen
gab, durch die die Tiere auch in andere Regionen vorstoßen konnten. Lonzos
Scheinwerferstrahl, der einen der Gänge erhellte, zeigte in der Ferne einen
üppig   wuchernden,   unter   heller   Beleuchtung   liegenden   Dschungel.   Eben
kam watschelnd ein Jungdrache aus dem Loch. Im Maul trug er ein Pflanzen­
büschel, auf dem er eifrig herumkaute.

„Wir sollten  uns noch  auf allerlei   Überraschungen  gefaßt  machen“,  ließ

Harpo   verlauten,   der   die   Gruppe   nun   anführte.   „Lonzo,   hältst   du   es   für
möglich, daß es hier Raubtiere gibt?“

Der Roboter stieß ein erschrockenes Schnauben aus. „Heilige Galaxis! Mal

bloß nicht den Geist des Alls an die Wand. Das hätte uns nämlich gerade
noch gefehlt, nach allem, was wir schon hinter uns haben. Na, hoffen wir das
Beste.   Ich   habe   jedenfalls   nicht   vor,   als   Schnitzel   im   Magen   eines   galak­
tischen Faglquurz zu enden!“

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Diese Antwort brachte spontan wieder Stimmung in die Runde. Wer hatte

je von einem Schnitzel aus Metall gehört? Selbst die gefräßigsten galaktischen
„Faglquurze“ – was immer das sein mochte – würden ein solches nicht ohne
Bauchschmerzen verdauen.

Allmählich ließen sie das Reich der Drachen hinter sich. Die Nester – viele

waren längst zerfallen – wurden seltener und hörten schließlich ganz auf. Der
breite   Korridor,   durch   den   sie   gingen,   endete   an   einem   großen   Tor,   das
keinerlei Öffnungsmechanismen aufwies.

„Was nun?“ fragte Ollie säuerlich.
„Tastet die Türfüllung ab“, riet Lonzo. „Irgendwo muß schließlich ein Öff­

ner sein!“

„Und   wenn   sie   durch   Telepathie   geöffnet   wird?“   fragte   Ollie,   dessen

Patschhändchen bereits suchend über die Metallfläche glitten.

Alexander lehnte mit seinem Hinterteil an der rechten Hälfte der Türfül­

lung, riß das Maul weit auf und ließ ein herzhaftes, urwüchsiges Gähnen hö­
ren, das, nachdem es im tiefsten Baß aller Zeiten angefangen hatte, beinahe
im Ultraschallbereich endete.

Die   Tür   sprang   auf,   als   sei   Alexanders   Gähnen   eine   Art   „Sesam­öffne­

dich“­Spruch gewesen. Und das war es wohl auch, wie Lonzo treffend aus­
drückte:   Der   unsichtbare  Öffnungsmechanismus  reagierte  nicht   auf   einen
Knopfdruck, sondern auf eine bestimmte Tonlage, die man mit den Stimm­
bändern produzierte!

Die Weltraumfabrik

Eine neue Welt tat sich vor ihnen auf. Ohne ihr Zutun schloß sich hinter ih­

nen das Tor wieder und wischte den wuchernden Dschungel von der Bildflä­
che, als habe es ihn niemals gegeben. Ein betäubender Lärm drang von allen
Seiten her auf sie ein. Summen, Rasseln, Ticken und Klicken addierten sich
zu einem  Maschinenkonzert.  Der Fußboden und die  Schiffswände  leiteten
ferne Vibrationen weiter und kribbelten unter den Füßen.

Sie befanden sich in einer riesigen Halle. Weiße  Lichtkaskaden  duldeten

nirgendwo auch nur den kleinsten Schatten. Die helle Flut leckte über einen
Saal, der geradezu klinisch sauber erschien. Die Geräusche und Vibrationen
gingen von Maschinen aus, die schnurgerade in langen Reihen den Raum
ausfüllten.

Trotz fremdartiger Bauelemente erkannten die Freunde sofort, daß es sich

bei   den   schnurrenden   und   ratternden  Maschinenblöcken  um   Automaten
handelte. Einiger waren groß wie ein solides Einfamilienhaus. Harpo und die
anderen hatten solche Maschinen schon gesehen – wenn im Filmsaal der EU­
KALYPTUS Lehrfilme über vollautomatisierte Fabriken auf der Erde gezeigt
wurden.

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Die   Wirklichkeit   war   natürlich   weitaus   überwältigender.   Für   eine   Weile

rührte sich vor Staunen niemand vom Fleck.

Die Luft war heiß und trocken. Und sie schmeckte nach Staub und Öl.
„Igittigitt“, stöhnte Alexander und blähte seine Nüstern. „Ist ja wie in stin­

kiges Maschinenraum!“

Niemand   mochte   widersprechen.   Scheu   wanderten   die   Blicke   über   die

Automaten,   die   rastlos   ihren   den   Kindern   noch   unbekannten   Funktionen
nachkamen. Die Schutzverkleidungen verwehrten fast überall einen tieferen
Einblick. Hier und dort sah man im Innern eines Schachtes oder Schlundes
Metallschneiden gegeneinander hacken oder Greifer fassen. Alle Automaten
wurden   durch   verschiedene   Röhren,   halbkreisförmige   Tunnel   und   farbige
Kabel   miteinander   verbunden.   Unter   den  Tunnelblechen  rasselten   Ketten
und Fließbänder.

Die Kabel führten zu einer Schalttafel, die wohl zwanzig Meter hoch und

dreißig Meter lang war. Tausende von Lämpchen leuchteten dort in Paaren,
Ketten   und   ganzen   Hundertschaften   nacheinander   auf   und  verloschen
wieder. Sie gehorchten einem unbekannten Rhythmus. Über Skalen mit un­
verständlichen Beschriftungen rasten aus Leuchtpunkten zusammengesetzte
Fieberkurven. Relais klickten, und wie von Geisterhand bewegte Hebel raste­
ten ein und wieder aus. Auf einem kleinen, rechteckigen Kontrollpunkt zuck­
ten   unablässig   irgendwelche   Tasten,   gerade   so,   als   würden   unsichtbare
Hände auf einer  Riesenschreibmaschine  schreiben. An einer anderen Stelle
glitt ein Lochstreifen aus der Schaltwand heraus, produzierte ablaufend Sym­
bole auf einem Bildschirm und verschwand wenige Zentimeter tiefer erneut
hinter der Verkleidung.

Anca entdeckte eine Maschine, die Ähnlichkeit mit einer Schildkröte besaß

und   sich   lautlos   –   zumindest   im   Vergleich   zu   dem   Krach   ringsum   –   auf
kleinen Rollen vorwärts bewegte. Ein langer Schlauch fuhr saugend über den
blankgescheuerten Boden.

„Ein Staubsauger“, meinte Harpo. „Ähnlich wie die Bohnermaschine in der

Bibliothek.“

Ollie, der den  Raumfahrerhelm  hin und her klappte, um die stickige Luft

immer mal wieder mit frischem Sauerstoff anzureichern, fragte verständnis­
los: „Und was machen die hier, die Maschinen? Laufen die nur so vor sich hin
oder wie oder was?“

Der Staubsauger ignorierte die Eindringlinge mit einprogrammierter Ruhe.

Harpo rieb sich nachdenklich das Kinn. Der Kleine hatte recht! Was produ­
zierten diese Maschinen eigentlich? Maschinen üben Funktionen aus, stellen
etwas her. Es fiel schwer zu glauben, daß diese Maschinen nur den Zweck
hatten, Lärm zu machen und Lämpchen auf einer Schalttafel in Bewegung zu
halten.

Daß die Maschinen entgegen  ihrem ersten Eindruck vielleicht  gar keine

Fertigungsautomaten  waren,  sondern  mit  dem  Antrieb  des Wracks  zu tun
hatten, wollte kaum einleuchten. Wo Raumschiffgeneratoren arbeiten, treten
meist Strahlungen auf. Lonzo hätte sie längst gewarnt. Und die Fremden hät­

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ten es sicherlich verstanden, diese Räume so zu sichern, daß Unbefugte nicht
ohne weiteres eindringen konnten.

„Da!“ rief Lonzo. In einiger Entfernung hatte sich ein Tor geöffnet, und ein

Transportfahrzeug   rollte   herein.   Die   Köpfe   der   Kinder   schnellten   herum.
Alexander schnupperte aufgeregt und stellte seine Bärenohren steil auf.

Das Gefährt war so groß wie ein Personenkraftwagen. Es fuhr rückwärts an

einen  Maschinenblock heran. Als die Ladefläche unter eine der  Maschinen­
öffnungen glitt, tauchten verborgene hydraulische Greifarme auf. Sie langten
in  das  Loch  hinein  und  stapelten   in   wahnwitziger  Geschwindigkeit   kleine
Schachteln auf die Ladefläche.

Neugierig näherten sich die Kinder. Ein bißchen mulmig war ihnen schon

zumute, aber niemand zeigte die Unsicherheit offen.

Der Transporter hatte eine Art Fahrerkabine. Sie war leer. Lonzo lugte auf

die   Ladefläche,   ließ   dann   blitzschnell   zwei   Tentakel   vorschnellen   und
grapschte sich eine der Schachteln vom vordersten Stapel.

„Potz Galaxis!“ stöhnte er und tat entsetzt. „Ist die aber schwer!“
Die straff gespannten  Metalltentakel  zeigten, daß Lonzo gar nicht so sehr

übertrieb.   Ächzend  zeigte   er   die  Schachtel  herum.  Sie  bestand   aus   einem
silbrigen Metall.

Harpo überwand als erster seine Scheu davor. Er  faßte  sich ein Herz und

versuchte den Deckel  hochzuklappen.  Theoretisch mußte das möglich sein,
denn die Trennfuge zeigte deutlich, daß diese Metallschachtel kein massiver
Block war. Eine Art Magnet bildete wohl den Verschluß. Harpo mußte beide
Hände benützen, ehe es ihm gelang, den Deckel zu lüften.

Alle reckten neugierig die Hälse, um in das Innere der Schachtel zu spähen.

Aber alles, was sie sahen, waren kleine, fast durchsichtige, blauschimmernde
Kügelchen. Welchem Zweck mochten sie dienen?

Als Harpo eines der Kügelchen herausnehmen wollte, mußte er feststellen,

daß dieses winzige Ding, nicht größer als eine Glasmurmel, zu schwer war für
seine Fingerspitzen. Es wog mindestens zehn Pfund.

„Das ... ist ... unglaublich!“ stieß er hervor. „He, Lonzo, wie ist so etwas

möglich?“

Kopfschüttelnd sah er zu, wie Lonzo mit seinem dritten Tentakel den De­

ckel wieder aufsetzte und die Schachtel an ihren Platz auf der Ladefläche zu­
rückbugsierte. Eine Antwort auf Harpos Frage wußte er offenbar auch nicht.

Die Greifer hatten die Ladefläche vollgepackt. Jetzt verharrten sie regungs­

los im Raum. Auf einem  Instrumentenkasten, der seitlich  an dem Gefährt
angebracht   war,   leuchtete   eine   gelbe   Lampe   auf.   Sofort   setzten   sich   dich
Greifarme   erneut  in  Bewegung.  Sie tasteten   über  die  Ladung,  schnappten
eine der Schachteln und schoben sie in die Maschine zurück. Dann setzte
sich der Wagen summend in Bewegung und verschwand auf dem gleichen
Weg, auf dem er gekommen war.

Lonzo   bemerkte   die   verblüfften   Gesichter   seiner   menschlichen   Freunde

und meinte anzüglich: „Da gehen euch die Schuhe auf, was? Na, überlegt
doch mal, was wohl der Grund für das Verhalten der Greifarme sein könnte!“

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„Der Wagen war überladen!“ platzte Harpo heraus. „Sicher besaß er eine

Wiegeeinrichtung in der Aufhängung. Das gelbe Licht signalisierte das Über­
gewicht – also wurde abgeladen!“

„Super­süperb!“ lobte Lonzo. „Aber wie kann ein programmiertes Gehirn

einen Wagen überladen, wenn es den Auftrag hat, ein bestimmtes Gewicht
nicht zu überschreiten? Ich meine: Wir müssen ja wohl davon ausgehen, daß
diese Anlage von einem Computer zentral gesteuert und kontrolliert wird“,
fügte er hinzu.

Dieses Mal war Anca am schnellsten. „Ganz einfach“, sprudelte sie hervor

und   schob   ihren   Bruder   zur   Seite,   bevor   er  mit   seiner  Kombinationsgabe
glänzen konnte. „Die Schachtel! Du hast eine Schachtel geklaut ...“

„Entliehen!“ korregierte Lonzo empört.
„Dann eben entliehen. Auf jeden Fall verringerte sich dadurch das Gesamt­

gewicht der Ladung. Die Greifer luden eine zusätzliche Schachten auf und
entfernten sie dann wieder, als die ... äh ... geliehene Schachtel zurückgelegt
wurde.“

„Formidable, wie Captain Kidd zu sagen beliebte“, lobte Lonzo und drückte

das Mädchen gegen seine Metallbrust. „Das heißt ,ausgezeichnet‘. Pummel­
chen, du bist ein Schatz!“

Anca freute sich so sehr über das Lob, daß sie sogar vergaß, gegen den Aus­

druck Pummelchen zu protestieren.

Olli  hatte mit offenem Mund zugehört. „Du bist ja richtig intelligentuell

oder wie das heißt“, äußerte er schließlich begeistert.

Alexander kratzte nachdenklich an seiner Nase herum und überlegte dabei,

wie kompliziert doch alles geworden war, seitdem er seine Heimatwelt Nord­
pol verlassen hatte. Dort genügte es, wenn man ein Paar fixe Hände hatte, um
die dicksten Fische zu greifen und in den Iglu zu tragen. „Alexander eines
Tages auch viel intelligentuell“, meinte er.

Niemand   lachte,   obwohl   Alexander   natürlich   „intellektuell“   meinte.   Er

hatte mit seinem Lerneifer schon öfter Staunen hervorgerufen.

Die   Frage,   weshalb   diese   seltsamen   Murmeln   derartig   schwer   waren,

beschäftigte   die   gesamte   Expedition.   Lonzo   befragte   seine   Speicherbänke
und kam zu der Lösung, es müsse  sich  um ein künstliches, überschweres
Element handeln, das mit nichts auf der Erde Bekanntem vergleichbar war.
Was man aber konkret mit superschweren Murmeln anfangen konnte, wußte
selbst   Lonzo   nicht   zu   sagen.   Schwatzmaul   konnte   man   nicht   fragen.   Die
Funkverbindung  zur EUKALYPTUS war sowohl über die Funksprechgeräte
wie auch über Lonzos eingebauten Sender von Störungen überlagert.

In der nächsten halben Stunde geschahen noch weitere seltsame Dinge in

der Fabrikhalle. In regelmäßigen Abständen tauchten andere Transportfahr­
zeuge auf, um die Schachteln mit den schweren Kugeln abzuholen. Und der
programmierte Staubsauger bewegte sich rastlos zwischen den Automaten.
Einmal versuchte er sogar, Lonzos Metallfüße zu säubern, was ihm aber nicht
gelang, weil dieser erschrocken das Weite suchte. Ansonsten wich die  putz­

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wütige  Schildkröte stets respektvoll  aus, wenn ihr  die Eindringlinge in die
Quere kamen.

Plötzlich fiel eine der geräuschvollen Maschinen aus, was einen winzigen

Wagen auf den Plan rief, der Ähnlichkeit mit einem Werkzeugkasten auf Rau­
penketten   hatte.   Er   zischte   auf   das   verstummte  Produktionsgerät  zu   und
klappte sich auf. Greifarme kamen zum Vorschein, betasteten eine Platte am
Fuß der großen Maschine und schraubten sie ab. Die Greifer langten in ein
Gewirr von Kabeln und fischten zielsicher ein verschmortes Schaltelement
heraus. Ein anderer Greifer schwenkte bereits mit einem Ersatzteil heran.

Alexander hatte sich neugierig genähert. Als er jetzt noch einen weiteren

Schritt   tat,   gab   der   Werkzeugkasten   ein   kreischendes   Geräusch   von   sich.
Gleichzeitig  leuchtete ein  Blinklicht  an  der Rückfront  auf,  das  erst  wieder
erlosch, als Alexander sich ein paar Schritte entfernte. Zweifellos hatte der
Werkzeugkasten   etwas   gegen   neugierige   Zuschauer.   Alexander   trat   total
verunsichert den Rückzug an.

Am   anderen   Ende   der   Halle   wurden  keine   Kugeln   produziert.  Vielmehr

nahmen die Transportwagen an diesen Maschinen würfelartige Gegenstände
auf. Sie benötigten dafür auch keine Greifer, sondern fuhren trichterähnliche
Aufbauten unter die Fertigungsanlage. Die Ladung prasselte in die Trichter.

Erneut entnahm Lonzo eine Probe. Was nach Stahl ausgesehen und beim

Aufschlagen auch so geklungen hatte, erwies sich als festes, aber watteleich­
tes Produkt. Diese Würfel hatten außerdem noch andere Eigenschaften, was
sich augenblicklich zeigte.

Lonzos Gelenke begannen plötzlich zu krachen. Funken stoben aus seinen

Sehlinsen.

Erschrocken   fuhren   Harpo,   Anca   und   Ollie   zusammen.   Alexander   legte

brummend die Tatzenhände vor die Augen.

Lonzo leuchtete jetzt wie eine Glühbirne.  Sein Körper strahlte  eine der­

artige Hitze aus, daß die Freunde zurückweichen mußten.

„Lonzo!“ brüllten Harpo und Ollie wie aus einem Mund. „Weg mit dem

Ding! Schnell! Wirf es weg!“

Es schien, als würde der Roboter aus einem Trancezustand erwachen. Sei­

ne Tentakel peitschten durch die Luft, seine Brustklappe sprang klickend auf,
und seine Innereien wurden sichtbar. Dann gewann er die Kontrolle über sei­
nen Mechanismus zurück. Er warf den unheimlichen Würfel mit einer ruck­
artigen Bewegung in den Trichter zurück. Ein starkes Vibrieren ging durch
seine Metallbeine. Offensichtlich hatte er Mühe, das Gleichgewicht zu halten.

Benommen   schnarrte   er:   „Das   ...   war   ...   phantastisch!“   Ein   dünner

Rauchfaden  ringelte   sich   aus  seiner  Brustöffnung,  schließlich  puffte   sogar
eine dicke schwarze Qualmwolke hinterher. Lonzo schwankte, als beständen
seine Beine aus Gummi. Mit einer rührenden menschlichen Gebärde faßte er
sich an den stählernen Schädel.

„Lonzo ...“ flüsterte Harpo, dessen Nasenspitze ganz  blaß  geworden war.

„Ist   dir   etwas   passiert?   Fehlt   dir   etwas,   alter   Junge?“   Seine   Stimme   klang

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besorgt, und auch den anderen war der Schreck in die Glieder gefahren. Dem
guten Lonzo durfte einfach nichts Ernsthaftes passiert sein!

Alle atmeten auf, als Lonzo plötzlich einen Luftsprung machte und schrie:

„Es war ungeheuer, Freunde! Ungeheuer, sage ich euch! So etwas habe ich
nicht   mehr erlebt, seit  ich  damals  auf dem Roa­Roa­Atoll  gemeinsam  mit
Captain Kidd ein ganzes Faß Nähmaschinenöl aussoff! Hoho!“ Übermütig be­
gann er zu tanzen und zu singen. Das alte  Piratenlied  „Vierzehn Mann auf
des toten Mannes Kiste“ hatte viele Strophen.

Harpo, Anca, Ollie und Alexander blickten sich erst blaß, dann erleichtert

und schließlich ratlos an.

„Lonzo“, hauchte Anca entsetzt. „Lieber, guter Lonzo, was ist bloß in dich

gefahren? Du führst dich ja auf, als hättest du das große Los gezogen!“

„Hab’  ich auch, hab’  ich auch!“ Lonzo brach in seine Darbietung ab und

berichtete ganz sachlich, was ihm widerfahren war, als er den Würfel berührt
hatte. Ein gewaltiger  Energiestoß  war durch seinen Körper gefegt. Er hatte
sich gefühlt wie der sagenhafte Riese Goliath, dessen Vater und Großvater in
einer Person. Leider waren seine stromführenden Teile solchen  Energiestö­
ßen nicht gewachsen.

Begeistert klopfte Lonzo Harpo auf die Schulter und sagte: „Diese Würfel

sind   nichts   anderes   als   genial   konstruierte  Energiespeicher.  Ich   möchte
wetten, daß man mit einem einzigen dieser Dinger ein Raumschiff wie die
EUKALYPTUS zehn  Jahre lang mit  Energie versorgen kann, Antrieb einge­
schlossen.“

„Klasse!“ rief Harpo. „Stellt euch das mal vor! Wir werden nie Energiepro­

bleme haben, nicht einmal in hundert Jahren! Mensch, wir müssen unbe­
dingt ein paar Dutzend dieser Dinger mitnehmen!“

„Und wer soll die tragen?“ erkundigte sich Anca. „Ich sehe schon, wie Ollie

die Würfel nimmt und derart aufgeladen wird, daß er mit einem einzigen Satz
zur EUKALYPTUS zurückspringt – womöglich noch ohne Raumanzug.“

„Och“, kommentierte der Kleine. „Ihr habt ja bloß Schiß, daß ich kräftiger

werde als ihr alle zusammen. Stimmt’s?“

„Ojeoje“, jammerte Lonzo. „Das ist wirklich ein Problem. Tragen darf die

keiner von uns. Selbst mir kam es vor, als würde ich in tausend Teile gerissen.
Aber sicherlich ...“

Ollie   schluckte   mehrmals   heftig,   dann   hatte   er   seine   Stimme   wiederge­

funden. „Da­da­da­das“, stotterte er mit weit aufgerissenen Augen, „kö­kö­
könnten wir auch so haben!“

Er zeigte auf etwas, das den anderen während der Unterhaltung entgangen

war. Eine riesige Maschine bewegte sich drohend auf sie zu und schickte sich
an, die Eindringlinge zu zermalmen ...

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Raumgeister

Das Ungetüm, das eine vage Ähnlichkeit mit einer Dampfwalze aufwies,

entpuppte sich beim Näherkommen glücklicherweise doch als etwas schwer­
fälliger, als sie auf den ersten Blick angenommen hatten. Harpo, Anca, Ollie,
Alexander und Lonzo rannten sofort in alle vier Windrichtungen, als sie die
Gefahr erkannten. Die Trennung schien für den Moment die beste Lösung zu
sein.

Die Maschine stoppte und summte zornig. Sie schien aus dem Konzept ge­

bracht zu sein und drehte sich langsam und sichtlich ziellos im Kreis herum.
Der Motor spuckte mehrmals und setzte dann völlig aus.

Die Flüchtlinge lugten aus ihren Verstecken hinter den Maschinenblöcken

hervor. Schließlich kamen sie vorsichtig näher, immer auf der Hut vor wei­
teren Attacken. Flüsternd berieten sie, was diese unerwartete Rettung zu be­
deuten hatte. Mußte man einen neuerlichen Angriff einkalkulieren, oder war
das nichts weiter als ein Kurzschluß?

Natürlich hielt Lonzo, der Schlaumeier, nicht lange mit seiner Meinung zu­

rück: „Es war ein Kurzschluß“, behauptete er. Und als die anderen vorsichtig
protestierten,   schnarrte   er   weiter:   „Kurzschluß!   Kurzschluß!   Die  Roboter­
gesetze  verbieten einer  selbstdenkenden  Maschine einen  Angriff auf Men­
schen. Ganz einfach also! Kurzschluß!“

„Die Roboter­ was?“ krähte Ollie. „Jungejunge! Haben die eigene Gesetze?

Und eigene Richter? Und Schöffen? Und ein Roboter­Gesetzbuch?“

„Es gibt nur drei Robotergesetze“, erklärte Harpo, der begriff, worauf Lonzo

hinauswollte. „Sie wurden bereits im 20. Jahrhundert von einem gewissen
Doktor Asimov gemacht.“

„Was der alles weiß!“ rief Lonzo staunend, aber auch ein bißchen in seiner

Eitelkeit gekränkt, weil jemand ihm zuvorgekommen war. „Jetzt laßt aber mal
Captain Kidds Vertrauten erzählen. Das ist nämlich so: Paragraph 1 besagt,
daß kein Roboter einen Menschen schädigen oder durch Untätigkeit zulassen
darf, daß ein Mensch Schaden nimmt. Nach Paragraph 2 muß jeder Roboter
jederzeit allen menschlichen Weisungen Folge leisten, mit der Ausnahme von
Weisungen, die gegen Paragraph 1 verstoßen. Und in Paragraph 3 ist festge­
legt, daß sich jeder Roboter selbst vor Schaden zu bewahren hat oder aufge­
tretene Schäden beheben muß, es sei denn, daß er damit gegen Paragraph 1
und Paragraph 2 verstößt.“

„Komische Gesetze“, meinte Ollie. „Kann ich mir gar nicht denken, daß die

wirken. Nicht mal der olle Moses kam mit nur drei Geboten aus. Und seitdem
ist die Welt noch viel komplizierter geworden.“

„Und   woher   sollen   unsere   unbekannten   Roboter­Konstrukteure   Doktor

Asimov gekannt haben?“ fragte Anca lachend.

„Na, auf jeden Fall hält es Lonzo auch nicht so genau mit seiner Gesetze­

streue“, fuhr der kleine Oliver fort. „Er hätte sich todesmutig der  Walzma­
schine  in den Weg werfen müssen, um uns zu retten. Klar, wir hätten ihn

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natürlich gehindert, weil Lonzo unser Kumpel ist. Aber versuchen hätte er es
müssen, gell? Von wegen ,Untätigkeit‘ und so in Paragraph 1 ...“

„He, du kannst ja plötzlich logisch denken“, äußerte Harpo anerkennend.
„Ha!“ schrie Lonzo. „Wicht! Elender! Klabautermann! Hat denn vielleicht

einer von euch Schaden genommen, he?“

Er versuchte seiner Stimme einen besonders strengen und verärgerten Ton

zu geben, was ihm aber nicht gelingen wollte. „Und das kommt nämlich da­
her, daß ich Paragraph 1 exakt befolgt habe. Mein Beispiel hat euch gezeigt,
daß Flucht das einzig Richtige war. Und so habe ich euch gerettet ...“

Harpo konnte sich nur mühsam ein Grinsen verkneifen. Anca platzte mit

ihrem Kichern laut heraus. „Hättest du nach Paragraph 3 nicht den ... nun ja,
den Defekt an deinem Gehirn reparieren müssen? Ich meine damals, als du
dich   auf   unsere   Seite   geschlagen   hast   und   nicht   länger   den   Befehlen   der
ursprünglichen Besatzung gehorchtest?“ fragte sie schließlich.

„Schnickschnack“,   knurrte   Lonzo.   „Erstens   hat   Lonzos   Gehirn   niemals

Schaden genommen. Und zweitens nützte euch dieser Schaden gemäß Para­
graph 1. Und da Paragraph 1 über Paragraph 3 geht –“ Er unterbrach sich
selbst.   „Ihr   habt   mich   aufs   Glatteis   geführt!   Was  habe   ich   überhaupt   mit
diesen Problemen zu tun? Bin ich etwa ein Roboter? Schon meine prächtigen
Locken und die schönen rehbraunen Augen beweisen das Gegenteil!“

Jetzt brach prustendes Gelächter los, und anschließend stoben wieder alle

auseinander. Dieses Mal auf der Flucht vor Lonzo, der mit einem wilden Pi­
ratenschrei  seiner   Empörung   Luft   machte.   Helles   Gelächter   und   ausge­
lassenes   Gekreische   ersetzten   einige   Minuten   lang   den   streng
wissenschaftlichen Charakter der Expedition.

Nach  einer  Weile meinten  alle, daß es  Zeit  sei, die  Fabrikationshalle  zu

verlassen, zumal ja am Ende des Saales eine weitere, noch nicht näher inspi­
zierte Tür wartete. Unbehindert marschierten sie zur Tür, die sich bereitwillig
für sie öffnete. Aber dahinter lag nichts weiter als eine zweite Produktions­
stätte, die sich nur in kleinen Details von der ersten unterschied. Die gefertig­
ten Produkte sahen anders aus. Die Freunde machten sich dieses Mal nicht
die Mühe, sie näher zu untersuchen.

Eine dritte Halle schloß sich an. Sie war noch wärmer und trockener als die

anderen. Hinter einem dick verglasten Sichtfenster sah man flüssiges Metall.
Offenbar wurden hier die Rohprodukte geschmolzen und so weit aufbereitet,
daß  sie in  den anderen  Hallen  weiterverarbeitet   werden konnten.  Säulen­
artige Roboter auf Raupenketten schafften von irgendwoher Behälter herbei
und   schütteten   deren   Inhalt   in   die  Schmelzanlage.  Von   der   Expedition
nahmen sie nicht die geringste Notiz.

Eigentlich hatten sich die Kinder – schon wegen der Hitze – hier nicht lange

aufhalten   wollen,   aber   als   Harpo   aus   einer   Laune   heraus   auf   ein   Podest
kletterte und von dort aus zufällig in einen herbeigeschafften Behälter sehen
konnte, stieß er einen überraschten Schrei aus: „Das darf doch nicht wahr
sein! Die schmelzen alles wieder ein, was in den anderen Hallen produziert
wurde!“

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„Potz Galaxis!“ stieß Lonzo hervor. „Ja, ist das denn die Möglichkeit!“
„Ist   sich   natürlich   absurd“,   äußerte   sich   Alexander   nachdenklich.   „Aber

was weiß Alexander, wie lange verrückte Maschinen schon produzieren ver­
rücktes Zeug? Wahrscheinlich Lager schon längst voll und Rohstoffe alle. Also
wieder schmelzen Lagervorräte. Verrückt – aber logisch verrückt!“

„Psst“, zischte Ollie plötzlich. „Da war etwas!“
War das  nur eine Einbildung,  oder  hatte sich  wirklich  am Eingang  eine

Gestalt bewegt? Aber soweit man sehen konnte, stand in der Nähe der Tür
nur ein würfelförmiger, fahrbarer Tisch. Der Tisch hatte Einbuchtungen, in
denen Flaschen steckten. Nichts Ungewöhnliches.

„Verdammt!“ schimpfte Ollie. „Ich bin ganz sicher, daß sich da drüben et­

was bewegt hat! Ganz sicher!“

Aber nichts rührte sich. Ollie mußte sich getäuscht haben. Dennoch waren

sie wieder wachsam. Dicht  beieinanderbleibend  verließen  die Freunde die
Halle und fanden sich in einem Korridor wieder. Links und rechts des Ganges
befanden   sich   durchsichtige  Kunststoffplatten  mit   elektronischen   Bau­
elementen dahinter. Der Krach aus den Fabrikationshallen wurde leiser, die
Hitze ließ nach. Die Luft blieb trocken, aber sie roch nicht mehr nach Öl und
heißem Metall. Nur der Boden vibrierte noch immer vom fernen Hämmern
der Maschinen.

Man konnte sich wieder mit normaler Lautstärke unterhalten und vernahm

deutlich die Geräusche der eigenen Schritte. Und dann fiel Anca ein leises
Quietschen auf. Hinter ihnen!

„Stop!“ zischte Harpo. Er hatte es auch gehört und fuhr auf dem Absatz

herum.   Gerade   noch   bemerkte   er   eine   Bewegung   am   anderen   Ende   des
Ganges, dort wo er eine Biegung machte.

Etwas war ihnen gefolgt und verbarg sich hastig vor ihren Blicken. Es lau­

erte hinter der Biegung. Man konnte sogar einen Schatten erkennen, der in
den   gut   ausgeleuchteten   Gang   fiel.   Der   Schatten   aber   war   derart   bizarr
verzerrt, daß man keine Rückschlüsse auf das Aussehen des Verfolgers ziehen
konnte.

Harpo legte einen Finger an den Mund und schlich auf Zehenspitzen den

Weg zurück. Alexander wollte etwas sagen, aber Lonzo warnte ihn rechtzeitig.
Als Harpo die Biegung erreicht hatte, hielt er gebannt den Atem an. Worauf
hatte er sich da nur wieder eingelassen! Sein Herz klopfte bis zum Hals. Aber
jetzt, so nahe am Ziel, wollte er nicht umkehren. Er holte noch einmal tief
Luft – und steckte den Kopf um die Ecke.

Der Gang war leer.
In einiger Entfernung stand nichts weiter als ein fahrbarer Tisch mit allerlei

Flaschen. So einen hatten sie vorhin schon gesehen.

Etwas verunsichert kehrte Harpo zurück und berichtete. Alle fühlten sich

unbehaglich, aber nach kurzer Beratung wurde der Weg fortgesetzt.

„Und es ist doch jemand hinter uns!“ behauptete Ollie nach einer Weile mit

trotziger Stimme. „Ich will einen Spaziergang auf der Außenhaut dieses ollen

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Wracks machen – und zwar ohne Raumanzug –, wenn uns nicht ein Spion auf
den Fersen sitzt!“

Niemand widersprach, denn alle hatten das gleiche merkwürdige Gefühl,

beobachtet   zu   werden.   Es   war   unheimlich,   richtig   gespenstisch.   Kein
Wunder, daß Ollie plötzlich ausrief: „Klar doch, Gespenster! Es sind Raum­
geister, die uns verfolgen. Geister sind doch nahezu unsichtbar, das weiß je­
der!“

Anstelle eines wilden Gelächters kamen nur ein paar müde Proteste. War es

wirklich so unwahrscheinlich, was der Kleine sagte? Immerhin befanden sie
sich an Bord eines fremden Raumschiffes, und niemand hatte sie eingeladen.

Harpo versuche, die Geistergedanken zu verscheuchen, aber er wurde das

dumme Gefühl nicht los, daß sie an Bord dieses alten Raumschiffes nicht
willkommen waren. Vielleicht gab es hier irgendwo ein Wesen, das sie nicht
dulden wollte. Unwillkürlich fiel ihm wieder die kurzgeschlossene Maschine
ein. Ob Kurzschluß oder nicht – sie hatte angegriffen!

Ollie ließ sich nicht bremsen. Nun war er in seinem Element. Geister waren

sein Spezialgebiet. Er redete und redete, bis sich selbst bei Alexander der Pelz
sträubte.

Lonzo machte dem Gerede schließlich ein Ende. „Ja, hat man denn so et­

was schon  gesehen? Erfahrene Raumfahrer fürchten sich  vor  Weltraumge­
spenstern! Was würde Captain Kidd wohl dazu sagen? Und überhaupt weiß
man doch, daß all die Gespenstergeschichten nur dazu dienen, um Kinder zu
erschrecken und sie aus Angst zum Folgen zu veranlassen.“

Seine Worte wirkten, zumindest auf Harpo und Alexander. Sie warfen sich

in die Brust und musterten herausfordernd ihre Umgebung.

Ganz anders reagierte Ollie. Er klammerte sich an Ancas Arm und zeigte

den Gang hinab. „D­d­da!“ stieß er hervor. „Ich habe doch recht gehabt. Der
Fürst der Geisterwelt läßt sich euren Unglauben nicht länger gefallen!“

Dieses Mal waren die Expeditionsmitglieder schneller als der Verfolger. Er

konnte sich nicht rechtzeitig zurückziehen. Harpo fiel es wie Schuppen von
den Augen. Natürlich! Der Verfolger war niemand anderes als der fahrbare
Tisch mit den Flaschen, der ihnen schon in der Halle aufgefallen war!

„Ha!“ dröhnte Lonzo und setzte sich in Bewegung. „Bleib stehen, Schurke,

und stelle dich dem Feind!“

Der Tisch drehte sich,  wollte  davonrollen, als Lonzos Tentakel nach ihm

züngelten.  Er summte wütend, aber dann hatte ihn ein Greifarm erwischt
und ließ ihn nicht mehr los.

Das Ding war stärker, als Lonzo vermutet hatte. Er mußte sich mit aller

Kraft dagegenstemmen, als der Tisch seine Motoren zur Höchstleistung auf­
jaulen ließ. Und er besaß Verteidigungswaffen! Ein winziger Greifarm richtete
eine gefüllte Flasche auf Lonzo und sprühte ihn von oben bis unten mit einer
unter Druck stehenden, klebrigen Flüssigkeit ein. Als Lonzo dennoch  fest­
hielt, warf der Greifarm mit kleinen Würfeln, die zweifellos aus Eis bestanden.
Und schließlich schleuderte er sogar seine Flaschen gegen Lonzo. Eine Fla­
sche zerschellte klirrend an Lonzos Kopf.

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„Na warte!“ knurrte Lonzo erbost. Im Nu hatte er seine beiden restlichen

Tentakel   um   die   Laufräder   des   Gegners   geschlungen   und   hob   den   Tisch
hoch. Ein schrilles Heulen zeigte an, daß der streitbare „Servierwagen“ von
diesem Vorgehen nicht sehr erbaut war und sich geschlagen geben mußte.

Lonzo kannte kein Pardon. Er legte den Tisch auf die Seite, was ihn ziem­

lich hilflos machte, und ging seelenruhig daran, eine Platte  abzuschrauben,
hinter der er den Steuermechanismus vermutete. Lonzo führte seine geöffne­
te Brust, in der sich ein Arsenal verschiedenster Werkzeuge befand, an den
Gegner heran und hatte bald sein Ziel erreicht.

Als er in das Innere des Wagens griff, drang jedoch urplötzlich ein dicker

Ölstrahl  hervor, traf Lonzos Füße und brachte ihn ins Rutschen. Der Tisch
nutzte seine Chance sofort, kippte mit einem Ruck auf die Räder zurück und
raste fort, als sei der Teufel hinter seiner schwarzen Maschinenseele her.

Überall erwachten in diesem Moment Alarmklingeln zum Leben.

Gewissenskonflikte

Wer   bisher   noch   gezweifelt   hatte,   mußte   nun   endgültig   zur   Kenntnis

nehmen, daß dieses  Geisterschiff  wieder zum Leben erwacht war. Erschro­
cken stellten die Kinder fest, daß es an Bord mehr bewegliche Einheiten gab,
als sie je gedacht hatten. Türen öffneten und schlossen sich, Scheinwerfer
blitzten   an   der   Decke   auf   und   machten   die   helle   Beleuchtung   noch
gleißender. Und aus verborgenen Lautsprechern drang ein unentwirrbares
Gemurmel, als sei ihnen eine Meute wütender Wachsoldaten auf der Spur.

Harpo war gerade noch in der Lage, einen lauten Warnschrei auszustoßen,

als die ersten maschinellen Angreifer aus allen möglichen und unmöglichen
Winkeln hervorstießen und auf sie zueilten.

„Bloß weg hier!“ schnarrte Lonzo. „Dieses Viertel wird zu ungemütlich!“ Er

stolperte über einen Staubsauger, der mit seinem  Saugarm  herumfuchtelte,
kam aber wieder auf die Beine. Knurrend brachte er seine Tentakel in Kampf­
position. Immerhin waren sie kräftig genug, um mit einem einzigen Schlag
die Antennen des Gegners zu zerstören.

Anca und Harpo flohen in einen Nebengang, liefen dort aber einem Mons­

trum direkt vor die breitflächigen Schaufeln. Dabei machten sie eine eigen­
artige Erfahrung. Die Maschine wäre in der Lage gewesen, sie ernsthaft zu
verletzen – wenn sie sofort und präzise nach Art einer perfekten Maschine
reagiert   hätte.   Tatsächlich   zischte   sie   erst   einmal   drohend   –   und   zögerte
selbst dann noch mit dem Angriff, als die Geschwister nicht zurückwichen.

In diesem Moment war Alexander zur Stelle. Er schob die Maschine mit bä­

renhafter Stärke zur Seite, als sei sie nichts weiter als ein lästiger Hampel­
mann. Und wieder konnte man beobachten, daß der Apparat sich nicht so
wehrte, wie es ihm sicherlich möglich gewesen wäre. Alexander nutzte den

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Vorteil,  hieb  mit seiner Pranke auf ein Sortiment von Schaltknöpfen an der
Brust der Maschine und brachte sie augenblicklich zum Erstarren.

„Wartet auf mich!“ krähte Ollie, der von einem  einrädrigen  Turm verfolgt

wurde.   Gerade   als   er   mit   einem   Satz   auf   Alexanders   Arm   sprang,   worauf
dieser benommen zu Boden ging, bremste der balancierende Turm jäh ab,
drehte sich wie irre im Kreis und fiel dann um.

Nun fehlte nur noch Lonzo. Er hatte sich gerade aus der Umschlingung

feindlicher Greifarme befreit und rief: „Rennt weiter! Die Richtung ist gut. Die
Hauptstreitmacht der Klapperatismen ist hinter uns!“

Mit riesigen Sätzen eilte er hinter den Kindern her. Sie wetzten mit häm­

mernden Pulsen und pfeifenden Lungen den freigekämpften Gang entlang.
Gelegentlich mußten sie plötzlich aufgehenden Türen ausweichen.

„Mann!“ stöhnte Harpo nur mal so zwischendurch, als er Luft holte. Das

sah   ja   wirklich   so   aus,   als   hätte   ihr   unbekannter   Gegenspieler   zu   einem
ultimativen Schlag gegen sie ausgeholt.

Der Gang endete an einer Treppe, die steil in die Tiefe führte. Das war ein

Geschenk des Himmels. Gleichzeitig mehrere Stufen auf einmal nehmend,
flitzten sie hinab und machten erst Halt, als sie ein großes Stück zurückgelegt
hatten, ohne behelligt worden zu sein.

Sie waren  froh, daß die Bodyskin­Anzüge so flexibel waren und eng am

Körper anlagen. Auch die herabgeklappten Helme störten kaum beim Laufen.
Mit den klobigen Anzügen der früheren EUKALYPTUS­Besatzung hätten sie
nie im Leben so flink sein können.

„Uff“, machte Ollie. „Das sind aber vielleicht fiese Gespenster!“
„Hihi“, kicherte Lonzo und zeigte schadenfroh auf ein gutes Dutzend von

Apparaten,   die   sich   am   obersten   Treppenabsatz   anscheinend   ratlos   ver­
sammelt hatten. Räder und Raupenketten sind nun mal nicht die besten Mit­
tel, um eine Treppe zu bezwingen. Wohl dem, der Füße hat.

Die   meisten   Maschinen   registrierten,   daß   eine   weitere   Verfolgung   un­

möglich geworden war, und zogen sich zurück. Bloß der lästige  Getränke­
wagen  reagierte   anders.   Vielleicht   war   es   ihm   auch   nur   unmöglich,
rechtzeitig  zu bremsen.  Auf jeden  Fall kam er polternd  die Treppe  herab,
überschlug sich mehrmals und schlitterte dann, mehr rutschend als fahrend,
der Expedition entgegen.

„Vorsicht!“   schrie   Harpo.   „Aus   dem   Weg!“   Gleichzeitig   riß   er   seine

Schwester zur Seite. Die anderen konnte er nicht mehr erreichen. Erleichtert
bemerkte er, daß sich auch Ollie, Alexander und Lonzo reaktionsschnell aus
der Bahn der irren Maschine geworfen hatten. Es krachte und schepperte,
dann war die Blechlawine an ihnen vorbei.

„Krackkrackkrack!“   machte   es.   Der   Angreifer   purzelte   mit   ständig

wachsender   Geschwindigkeit   noch   weitere   fünfzig   Stufen   hinab   und
donnerte dann gegen eine Wand. Es gab einen Knall wie bei einer Explosion,
dann herrschte Ruhe. Nur ein bißchen Rauch bahnte sich von der Aufprall­
stelle aus seinen Weg nach oben.

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„Das wäre beinahe ins Auge gegangen“, flüsterte Anca. Ihre Augen waren

vor Schreck geweitet. Sie deutete auf das Wrack am Fuß der Treppe. „Ist sie
kaputt, Harpo?“

Ehe der Bruder in der Lage war, ihr zu antworten, hatte sich Ollie bereits

auf das Treppengeländer geschwungen und rutschte in altbewährte  Raum­
fahrermanier nach unten. Alexander folgte ihm auf dem gleichen Weg, freu­
dig brummend.

Harpo nahm Anca bei der Hand und eilte hinterher, verzichtete zwar auf

die Rutschpartie, nahm aber immer zwei Stufen auf einmal. Allein Lonzo stol­
zierte gemessenen Schrittes die Treppe hinab.

„Die Motoren sind hin“, stellte er fest, als er die Einzelteile des Getränke­

wagens  untersuchte. „Auch eine Menge Kabel sind  zerrissen.  Schade, mein
Sparringpartner ist so schnell zu keinem kleinen Ringkampf mehr fähig!“

„Argl, argl, argl“, kam es leise von irgendwoher.
„Hast du etwas gesagt?“ fragte Anca und sah den Rotpelz an.
„Ich?“   Alexander   deutete   mit   beiden   Zeigefingern   auf   seinen   runden

Bauch.   „Ist   Alexander   vielleicht  Jahrmarktswunder,   was   reden   mit   Bauch,
he?“

„Kann ja sein, daß du einfach nur ein bißchen Hunger hast“, meinte Harpo

anzüglich.

„Argl, argl ...“ ertönte es wieder.
„Alexander  ist  es  nicht!“  rief   Ollie   triumphierend.  „Es   kam  aus  der  Ma­

schine!“

Harpo hatte ebenfalls den Eindruck gewonnen, daß dieses Geräusch von

dem demolierten Tisch erzeugt wurde. Nachdem er sich überzeugt hatte, daß
ihm keine Gefahr drohen konnte, beugte er sich über den  Blechkasten.  Ein
Gitternetz an der Seite sah vielversprechend aus.

„Der Translator!“ rief Harpo aus, als die Geräusche wieder zu vernehmen

waren. Sie kamen tatsächlich aus dem Gitter. Er hob seinen rechten Arm und
führte ihn ganz nahe an die Stelle heran. Er war jetzt froh, daß er das  arm­
bandgroße  Übersetzungsgerät  über   den   Raumanzug   gestreift   hatte.   Jetzt
mochte es sich als wertvoll erweisen. Die kleine Maschine, ein Erzeugnis der
Galaktischen   Mediziner,   war   ein   Wunderwerk   der  Miniaturtechnik.  Der
winzige Computer konnte in Minutenschnelle eine Sprache analysieren und
dann übersetzen, wenn man ihm Gelegenheit gab, genügend viele Ausdrücke
zu speichern.

Nach knapp zwei Minuten wurde das scheinbar stereotype „Argl, argl“ vom

übersetzten Text des Translators überlagert: „Klick ... setzten aus. Funktionen
setzen aus. Funktionen setzen aus. Funktionen setzen aus ...“

„Kannst du mich verstehen?“ fragte Harpo, was der Translator in ein artiges

„Argl, argl“ übersetzte. Die Antwort kam rasch: „Verstehe. Verstehe. Verstehe.
Gefahr für euch. Gefahr für euch!“

Harpo schluckte. Sein Herz begann schneller zu schlagen. Es funktionierte.

Vielleicht würden sie jetzt endlich erfahren, was sich auf diesem Geisterschiff
abspielte.

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„Was sind das für Gefahren?“ fragte er. „Warum greift ihr uns nicht an?

Wem haben wir etwas getan? Wir sind nichts weiter als friedliche Forscher.
Wir wollen gar nichts von euch!“

„Angreifen ...“ rasselte der Translator nach einer Weile und übersetzte da­

mit die Worte der demolierten Maschine. „... Angreifen ist verboten. So will es
die Schaltung. Angreifen! So will es die andere Schaltung. Angreifen – nicht
angreifen   –   angreifen   –   nicht   angreifen!   Kurzschluß!   Kurzschluß!  Wider­
sprüchliche Befehle ...“ Ein hohes Summen schien darauf hinzudeuten, daß
der Maschine nicht mehr viel Zeit für diesen Dialog blieb. Aber sie schien
noch einmal alle  Restenergien  zu sammeln, um den wichtigsten Teil einer
Botschaft weiterzugeben.

„Befehl   lautet:   Vernichtet   die   Eindringlinge!   Schaltung   sagt:   Nicht

angreifen! Doch Multivac ...“

„Wer ist Multivac?“ fragte Lonzo schnell.
Als Antwort kam zunächst ein Knacken, dann eine kleine Stichflamme aus

dem Gitter. Ende!

Aber der Translator setzte sich noch einmal in Bewegung. Ob seine Senso­

ren so besonders hellhörig oder in dem Knacken Informationen gespeichert
waren,   ließ   sich   nicht   ermitteln.   Die   letzte   Botschaft   des   Servierwagens
bestand aus einer unverständlichen Zahlenreihe.

Schweigen. Harpo sah die anderen an, die verstört um ihn herumstanden.

Ancas Augen signalisierten Angst. Ollie  biß  sich mutig  auf  die Unterlippe,
aber die Art, wie er seine Finger knetete, zeigte deutlich, wie nervös er war.
Alexander bleckte sein Bärengebiß und fuhr sich mit der langen, roten Zunge
über die Nase.

Nur Lonzo sah man nicht an, was er dachte. In seinem Innern klickte und

ratterte es so laut und schnell, daß Harpo schon befürchtete, der metallene
Freund würde sich in Rauch und Flammen auflösen.

„Ich glaube“, sagte der kleine Roboter schließlich, während seine  Metall­

greifer die Schultern von Ollie und Anca umschlangen, „wir sind der Lösung
des Problems einen Riesenschritt nähergekommen!“

Erstaunte Gesichter sahen ihn an.
„Tatsächlich?“ brummte Alexander erfreut.
„Ja. Erinnert ihr euch, was ich euch über die Robotergesetze gesagt habe?“

fragte Lonzo listig. „Keine Maschine darf einem organischen Wesen etwas zu­
leide tun. Sie muß es sogar beschützen. Nehmen wir ruhig mal an, daß auch
andere Rassen sich vor ihren eigenen Geschöpfen schützen. Und nehmen wir
weiter   an,   daß   dennoch   ein   Befehl   gegeben   wird,   der   Gewalt   gegen
organisches Leben beinhaltet. Na, was passiert dann wohl?“

„Der Roboter kommt in einen Gewissenskonflikt“, antwortete Harpo nach­

denklich. „Er soll zwei widersprüchlichen Befehlen gehorchen. Das ist un­
möglich. Vielleicht wird er darüber sogar verrückt.“

„Na   also!“   rief   Lonzo.  „Da  haben   wir   die   Antwort.   Nur   liegen  zwischen

Befehl und Ausführung immer ein paar Sekunden, vielleicht sogar Minuten.
Die Maschine kann, wenn auch widerstrebend, zunächst dem Angriffsbefehl

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gehorchen, muß aber im letzten Moment den Gehorsam aus Gewissenskon­
flikten verweigern. Wird sie dann von einer starken, übergeordneten Instanz,
einer wirklichen Autorität also, weiterhin  gezwungen – dann bleibt letzten
Endes nur die Selbstvernichtung.“

„Mir dämmert einiges“, mischte sich Anca ein. „Dieser fahrbare Tisch und

all die anderen Verfolger wollten uns in Wirklichkeit gar nicht vernichten,
sondern gehorchten nur dem Befehl eines Unbekannten. In dem Moment,
wo sie direkt mit uns konfrontiert werden, bewirken sozusagen vorprogram­
mierte Konflikte früher oder später ein verschmortes Gehirn.“

„Pummelchen, du hast es!“
„Soll   das   heißen,   daß   dieser   alberne   Servierwagen   ein   eigenes  po­

sitronisches Gehirn besaß?“ fragte Ollie.

„Davon kannst du ausgehen“, sagte Harpo trocken.
„Hätt’ ich nicht gedacht. Der sah überhaupt nicht intelli... intellek... also

schlau aus!“ meinte Ollie.

„Bleibt die Frage nach dem geheimnisvollen Unbekannten“, nahm Harpo

wieder den Faden auf. „Ob er wohl Multivac heißt?“

„Na, und ob! Wahrscheinlich ist das der Chef eines riesigen Raumgeister­

Kollektivs, so eine Art Präsident oder Diktator.“ Das war natürlich Ollie.

„Quatsch!“ korregierte Anca. „Ein Kollektiv braucht keinen Diktator oder so

was!“

Lonzo kicherte. „Auf jeden Fall hat Herr Multivac entschieden eine Macke.

Sonst würde er nicht so nette Leute wie uns angreifen lassen.“

Als hätte jemand diese Worte gehört und auch verstanden, hallte im glei­

chen   Moment   ein   tiefes,   triumphierendes   und,   allen   Gespenster­Absagen
zum Trotz, geisterhaftes Lachen durch die Korridore und  Treppenschächte
des Wracks.

Schlappe für Multivac

Nach dem allerersten Schreck hatten die Freunde ihren doch etwas unge­

mütlichen Aufenthaltsort am Fuß der Treppe verlassen. Sie passierten eine
Reihe von Räumen, deren Eingangstüren leicht von Hand zu bewegen waren.

Hier sah es wohnlicher aus. Man konnte sich vorstellen, daß in solchen

Räumen die einstige Besatzung des Wracks gelebt hatte.

Ollie   ließ   sich   trotz   aller   Ermahnungen   nicht   von   einer   kleinen   Entde­

ckungsreise abhalten und stieß dabei auf eine Kette von Räumen, in denen
sich Möbel befanden, die unschwer als Betten zu identifizieren waren. Der
einstige   weiche   Belag   war   in   den  Gestellen   längst   zu   einer   dicken   Staub­
schicht zerfallen, aber die Kinder sahen dies nicht ungern. Denn Staub lag
auch überall auf dem Boden. Das bedeutete, daß ihre maschinellen Verfolger
selten oder niemals in diesen Teil des Wracks vordrangen.

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Froh   waren   sie  allerdings,   daß   die   Beleuchtung   funktionierte.   In   jedem

Raum, den sie betraten, flammte gelbes Licht an der Decke auf. Sie passierten
Raum für Raum – alles einstige Schlafstellen der Unbekannten. Sechs, man­
chmal acht dieser Kojen befanden sich übereinander. Sie waren schmal und
kurz – ein ausgewachsener Mensch hätte nur mit großer Mühe darin Platz ge­
habt.

„Die   Besatzung   muß   ja   aus   Tausenden   und   aber   Tausenden   Leuten

bestanden haben“, vermutete Harpo staunend. „Und ich möchte wetten, daß
dies hier nicht der einzige Schlafbereich des Schiffes war.“

Niemand   traute   sich,   konsequent   darüber   nachzudenken,   wo   die   Be­

satzung geblieben war. Daß hier seit langer Zeit niemand mehr lebte, war
allen klar. Lonzo ließ es sich nicht nehmen: Sein Körper plumpste in einer der
Kojen hinein und wirbelte eine dichte Staubwolke auf, aus der er prustend
und pustend nach einer Weile wieder auftauchte. Alles nieste, hustete und
schimpfte.

„Wißt ihr, was ich glaube?“ blockte er schnell die Proteste ab. „Wer früher

mal hier gepennt hat, der gehörte nicht unbedingt zur Besatzung! Kombinie­
re: Auswanderer!“

„Was ist los?“
„Na, Auswanderer! Das Schiff sollte die Wesen zu einer neuen Heimatwelt

bringen. Oder das Schiff hatte die Passagiere ausgeladen und befand sich auf
dem Rückflug. Auf jeden Fall hat es aus irgendwelchen  Gründen  sein Ziel
nicht erreicht.“

Kopfschüttelnd meinte Anca: „Und die Tiere? Wieso sind Tiere an Bord? Ob

die Auswanderer sie mitgebracht haben?“

„Klar“, meinte Ollie. „Und weil die Tollwut hatten, mußten sie an Bord zu­

rückbleiben.“

„Weiß’  nich“,   erwiderte   Alexander.   „Wenn   Leute   können   bauen   Raum­

schiff, dann doch sicher auch kleines Krankheit bekämpfen.“

„Ach“,   ergänzte   Anca   und   zuckte   mit   den  Schultern.  „Auf   einem   derart

großen Schiff kann es schon angehen, daß ein paar Tiere aus Versehen zu­
rückbleiben.   Oder   sie   sind   ausgerissen   und   konnten   nicht   rechtzeitig   ge­
funden werden. Später haben sie sich dann vermehrt.“

„Wobei   wir   immer   davon   ausgehen,   daß   kein   noch   größeres   Unglück

passiert ist, bei dem alle Passagiere umkamen“, gab Harpo zu bedenken und
rieb sich das Kinn.

„Jawoll!“ Das war Lonzo. „Aber die herausgesprengten Schleusentore könn­

ten immerhin ein Beweis sein, daß es Überlebende gegeben hat. Vielleicht
haben die Auswanderer letzten Endes mit den Beibooten doch noch ihr Ziel
erreicht.“

„Find’ ich richtig doll, sich so was vorzustellen“, flüsterte der kleine Oliver,

hin und her gerissen zwischen Begeisterung und wohligem Schaudern.

„Dann ist es wohl nichts mehr mit deinen Raumgeistern?“ neckte ihn Anca.

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„Wieso denn?“ protestierte der Kleine schlagfertig mit funkelnden Augen.

„Fieslinge gibt es überall. Und der Obermacker der Fieslinge wurde von den
anderen gezwungen, hierzubleiben und bis in alle Ewigkeit zu spuken!“

Darauf wußte im Moment niemand etwas zu entgegnen. Ollie war nun ein­

mal schwer davon zu überzeugen, daß es keine Geister gab.

Der Knirps nutzte die Situation aus und fügte hinzu: „Wenn Multivac nicht

eine Pseu... ein Pseudo... also ein Deckname für Captain Kidd ist. Klar, jetzt
fällt es mir wie Schuppen von den Augen: Kidd will uns nicht an den Schatz
heranlassen!“

Das war nun wahrlich Ollies Meisterstück. Alles schrie und lachte  durch­

einander, wobei nur Lonzos heiliger Eid, daß Captain Kidd ein anständiger
Pirat sei und so etwas niemals täte, den Tumult übertönte.

Der kleine Ollie hatte es mal wieder geschafft, daß sich die Spannung der

letzten Stunde in Gelächter auflöste.

Aber nach einer Weile wurde allen wieder bewußt, daß damit das Problem

mit ihrem  mißgünstigen  Verfolger nicht gelöst war. Und das Problem hatte
einen Namen: Multivac!

„Trotzdem eigenartig“, sagte Harpo schließlich. „Wenn Multivac weder ein

Raumgeist noch Captain Kidd ist – ja, was dann eigentlich? Nach all den Jah­
ren! Ein extrem Langlebiger? Oder der Nachkomme von Wesen, die nicht mit
den anderen zusammen aufgebrochen sind?“

„Es gibt noch eine andere Möglichkeit“, flötete Lonzo und tat, als würde er

sehr gelangweilt die Decke betrachten.

„Meinst du etwa ...?“ setzte Harpo zaghaft an.
„Nun?“
„Dieser Multivac ist überhaupt kein organisches Lebewesen!“ platzte Har­

po jetzt laut heraus. „Multivac ist eine Maschine!“

Lonzo klopfte ihm begeistert mit drei Tentakeln zugleich auf die Schulter.

„Ha!“ rief er. „Er ist so ein garstiger Computer wie dieses vorlaute Schwatz­
maul auf der EUKALYPTUS. Das sagt euch euer Freund Lonzo. Hick! Äh ... ich
meine: Hugh! Ich habe gesprochen!“

„Aber Schwatzmaul ist nett“, protestierte Anca.
„Na ja, wenn er sich Mühe gibt“, schränkte Lonzo ein, der sich nur so viel

herausnahm,  weil die Funkverbindung  zur EUKALYPTUS noch immer un­
terbrochen war. „Multivac ist jedenfalls nicht nett!“

Die   Kinder   erinnerten   sich,   daß   Schwatzmaul   nicht   von   Anfang   an   ihr

Freund gewesen war. Und es hatte Schwierigkeiten gegeben,  als die Kata­
strophe   an   Bord   der   EUKALYPTUS   zeitweise   einen   Teil   des   Bordgehirns
lahmlegte.   Schwatzmaul   besaß   damals   nicht   mehr  die   Kontrolle   über   das
Schiff, während die Grünen wie tot auf den Decks lagen. Wenn ihnen von
Schwatzmaul auch bewußt kein Schaden zugefügt worden war, so hatte sich
doch gezeigt, daß auch Elektronengehirne versagen konnten. Vielleicht war
Multivac etwas Ähnliches passiert? Vielleicht mußte man ihn mit einem Men­
schen vergleichen, der nicht im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte und deshalb
unberechenbar war?

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Im Gänsemarsch marschierte die Gruppe durch ein Labyrinth von Räumen

und Gängen. Einige waren wie die Schlafsäle mit einer dichten Staubschicht
bedeckt, andere machten einen blitzblanken Eindruck. Das beunruhigte sie,
denn wo geputzt wurde, da waren auch die  angriffswütigen  Roboter nicht
fern. Aber alles blieb ruhig.

„Ich hab’ einen Kohldampf, daß ich zwanzig von Karlies Kartoffelpuffern

verschlingen könnte“, meldete sich Oliver, obwohl er ja wie die anderen vom
Körperwächter   des   Raumanzugs   intravenös   mit   flüssigem  Nahrungskon­
zentrat versorgt wurde. Aber der Magen wußte das ja nicht und knurrte trotz­
dem.

„Die würden sogar mir jetzt schmecken“, antwortete Harpo, dessen Abnei­

gung gegen Karlie Müllerchens Leibgericht kein Geheimnis war. „Hätten wir
uns bloß ein dickes Stullenpaket mitgenommen!“

„Hunger von Menschenkindern nix gegen Bärenhunger von Rotpelz Alex­

ander“, brummte ihr Freund und rieb sich den kugeligen Bauch.

„Ha, was sehen meine trüben Augen!“ rief Ollie aus, als sie einen weiteren

Raum betraten, der von Regalen gesäumt war. „Multivac lädt uns zu einem
Versöhnungsmahl ein!“

Er stürzte los. Auf den Regalen stapelten sich Hunderte von blitzblanken

Dosen, die tatsächlich Ähnlichkeit mit irdischen Konserven hatten. Sie sahen
bemerkenswert neu aus.

„Da   kann   alles   mögliche   drin   sein“,   meinte   Harpo   skeptisch.   Aber   der

Kleine zerrte bereits an einer Dose und brachte dabei einen ganzen Stapel
zum Einsturz. Man sah ihm an, daß er am liebsten gleich seine Zähne in das
Blech   geschlagen   hätte.   Suchend   sah   er   sich   nach   einem   geeigneten
Gegenstand um, mit dem die Dose zu öffnen war.

Lonzo ließ blitzschnell einen Tentakel hervorschnellen und nahm Ollie die

Dose fort. „Erst prüfen, dann kosten“, mahnte er. „Wer weiß, ob die Fremden
nicht schlimmere Dinge als Kartoffelpuffer bevorzugten!“

Er ließ seine Brustklappe aufspringen und zwei winzige Greifer ausfahren,

die   mit   messerscharfen   Klauen   versehen   waren.   Die   Klauen   stießen   zu,
durchbohrten die Blechhülle und hatten im Nu den Deckel der Büchse abge­
fräst.  Dann tauchte Lonzo einen dünnen Saugrüssel in das Innere, um den
Inhalt zu analysieren.

Die Kinder, die Fruchtsaft oder etwas Ähnliches erwartet hatten, machten

enttäuschte Gesichter, als Lonzo meldete: „Leer! Die Dosen enthalten absolut
nichts!“

Die Dosen sahen so neu aus, daß der Inhalt wohl kaum ganz und gar ver­

trocknet sein konnte. Aber wer hatte ein Interesse daran, Dosen ohne Inhalt
zu produzieren und aufzubewahren?

„Das ist verrückt“, flüsterte Harpo.
„Genau das ist es!“ antwortete Anca triumphierend. „So unsinnig wie die

Fertigung   von   Kugeln,   die   anschließend   wieder   eingeschmolzen   werden.
Weißt du, was ich glaube? Hinter beidem steckt der gleiche Grund! Sicher gibt
es ein altes Programm, das die Produktion von Nahrungsmitteln vorschreibt.

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Da   aber   keine   Nahrungsmittel   mehr   geerntet   oder   sonstwie   gewonnen
werden, ist davon nur noch die Dosenfabrikation übrig!“

„Irre!“ rief Harpo.
„Klasse, Pummelchen – das ist die Erklärung!“
Anca wandte sich rasch um, konnte aber nicht  mehr feststellen, wer sie

schon wieder Pummelchen genannt hatte. Alexander, Lonzo und Ollie sahen
sie unbefangen an. Anca seufzte.

Hungergefühle   waren   nicht   die   einzigen   körperlichen   Reaktionen   der

Kinder. Mit jedem Schritt wurde ihnen bewußter, daß sie seit vielen Stunden
auf   den  Beinen   waren.  Dazu   kamen  Angst   und  Nervenanspannung.   Nach
kurzer Beratung wurde entschieden, daß man versuchen wollte, erst einmal
ein paar Stunden zu schlafen.

Obwohl kein treusorgendes Schwatzmaul die Beleuchtung dämpfen konn­

te und als Bett nur harter Fußboden diente, schliefen sie bald ein. Allein Har­
po   lag   noch   ein   paar   Minuten   länger   wach   als   die   anderen.   Ihm   ging
manches durch den Sinn. Wie mochte es den Freunden auf der EUKALYPTUS
gehen? Zu lange hatten sie nichts mehr von ihnen gehört. Sicher machte man
sich bereits Sorgen um sie. Er vergegenwärtigte sich die vertrauten Gesichter
von Thunderclap, Karlie, Brim und Micel. Ob der Einfluß des fremden Metalls
auch Micels Gehirnströme blockierte? Oder hielt Micel die anderen über die
Ereignisse auf dem laufenden, weil er als Beobachter aus der Ferne in ihren
Gehirnen las? Harpo fühlte zu seinem eigenen Erstaunen, daß ihn das Wrack
immer mehr beunruhigte. Er wünschte, sie würden bald zur EUKALYPTUS
zurückkehren. Was suchten sie eigentlich noch hier? Ach ja, da gab es noch
dieses Geheimnis um Multivac ...

Als er aufwachte, stellte Harpo mit einem Blick auf seine Uhr fest, daß sie

sich seit achtzehn Stunden auf dem fremden Schiff befanden. Sein zweiter
Blick streifte den Raum, in dem sie sich zur Ruhe gelegt hatten. Erst die De­
cke, dann die Wände, schließlich die Tür. Moment! War die Tür nicht ge­
schlossen gewesen, als sie sich ausgestreckt hatten?

In   panischer   Angst   weckte   Harpo   seine   Freunde.   Alexander   fuhr   brum­

mend neben ihm hoch, und hinter seinem roten Zottelfell tauchten die Köpfe
von Ollie und Anca auf, die sich eng an ihn gekuschelt hatte. Die Rauman­
züge   hatte   man   abgelegt,   weil   es   ohne   sie   bequemer   war.   Ollie   rieb   sich
stöhnend den Rücken. Der harte Boden hatte ihm überhaupt nicht behagt.

„Wir  sind  entdeckt!“   keuchte   Harpo.   „Wir   müssen  schnell  weg   hier!“   Er

deutete zur offenen Tür und wurde sofort von den anderen verstanden.

Harpo eilte von einem zum anderen und half beim Anlegen der Rauman­

züge. Ollie schniefte übertrieben und nörgelte etwas, das sich wie „todkrank“
anhörte. Nachträglich kamen ihm wohl Bedenken, weil ihm Pyjama und war­
me Decken gefehlt hatten. Auf dem Gang draußen erklang ein knarrendes
Geräusch. Ein drohender Schatten fiel in den Raum. Die Kinder drängten sich
schutzsuchend aneinander. Dann lugte Lonzos stählerner Kopf in den Raum,
empfangen von einem vierstimmigen Ausruf, in dem Erleichterung und Em­
pörung mitschwangen.

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„He, was habt ihr denn?“ gluckste Lonzo.
„Lonzo!“ brüllte Harpo. „Wie kannst du uns nur so erschrecken!“
„Schurke!“ donnerte der kleine Ollie mit roten Ohren und rannte auf den

Roboter zu.

Lonzo lachte meckernd. „Na, ihr werdet doch wohl vor mir keine Angst

haben, was?“

„Vor dir nicht ...“ setzte Harpo an.
„Aber?“
„Ach, nichts ...“
Alle strengten sich an, möglichst gelangweilte Gesichter zu machen. Angst?

Sie doch nicht ...

Lonzo ließ wieder ein meckerndes Lachen hören. „Und warum hängt ihr

wie die Kletten aneinander? Es ist doch Platz genug.“ Er wurde schnell wieder
ernst.   „Draußen   war   nämlich   ein   Geräusch.   Ich   entdeckte   einen   kleinen
Wagen, der wie ein geölter Blitz verschwand, als er mich bemerkte.“

„Also doch ein Spion!“ platzte Harpo heraus.
„Multivac kennt unseren Aufenthaltsort“,  bestätigte Lonzo. „Machen wir

uns auf die Socken.“

Die Tür bewegte sich. „Multivac will uns hier festhalten!“ rief Anca.
Alle rannten los. Ohne Lonzo hätten sie aber keine Chance gehabt. Er stand

der Tür am nächsten und reagierte blitzschnell. Er verwandelte sich in einen
Koloß  aus hochwertigem Stahl. Seine Tentakel umklammerten die schwere
Tür, die wie alle Wand­ und  Bodenteile  im inneren Bereich des Wracks aus
der glänzenden, unbekannten Legierung bestand. Er stemmte sich gegen den
Mechanismus, der die Tür zudrücken wollte. Für einen Moment hoben sich
die entgegengesetzten Kräfte auf. Aber der Druck, dem der Roboter ausge­
setzt war, wurde immer stärker. „Hinaus!“ schrie er schrill. „Lange kann ich
sie nicht mehr halten!“

Ollie zischte bereits an ihm vorbei, hinein in den rettenden Gang. Harpo

und Anca hielten sich an den Händen und wollten folgen. Aber die Tür hatte
Lonzo   bereits   wieder   zwanzig   Zentimeter   abgerungen.   Der   verbleibende
Spalt war zu schmal!

Alexander fletschte wütend die Zähne. Seine mächtigen Pranken schlugen

gegen das Metall. „Warte, dumme Tür!“ rief er erbost. „Alexander wird dir
zeigen!“

Er nahm einen kleinen Anlauf und warf sich mit der Schulter gegen die Tür.

Die sprang gleich einen halben Meter zurück. Jubelnd stürmten Anca und
Harpo   aus   dem   Raum.   Alexander   machte   einen  Riesensatz,   dann   landete
auch er bäuchlings im Gang.

„Vorsicht!“ rief Harpo Lonzo zu, während er Alexander auf die Beine half.

Der Roboter war durch das plötzliche Nachgeben der Tür ausgerutscht und
hatte seinen festen Griff verloren. Dann krachte die Tür ins  Schloß.  Lonzo
wurde beim Aufprall durch die Luft gewirbelt und in den Gang  hinauskata­
pultiert. Radschlagend und dem Augenschein nach unversehrt kam er wieder
auf die Beine.

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„Junge, Junge!“ stöhnte der kleine Oliver.
„Gerettet!“ brummte Alexander zufrieden, obwohl er nach der Anstrengung

noch ein bißchen schnaufte.

„Ihr  hättet   keine   Chance   gehabt“,  verkündete   Ollie,   „wenn   ich   nicht   so

schnell durchgeflitzt wäre. Das hat die blöde Tür derart verdutzt, daß ...“

Die Proteste der anderen hinderten ihn jedoch am Weiterreden.
„Was nun weiter?“ fragte Harpo und musterte skeptisch den engen Gang,

der vor ihnen lag. Mit einem Korridor hatte der nichts gemein. Der Ausdruck
Tunnel war treffender, zumal die Wände sich in einem Halbrund wölbten.

„Auf zu Multivac“, antwortete Lonzo. „Wir scheinen auf der richtigen Spur

zu sein. Sonst hätte sich unser Gegner nicht diese Mühe gemacht, uns am Be­
treten des Ganges zu hindern!“

Niemand wagte zu überlegen, wo  Multivacs nächste Falle auf sie wartete.

Aber sie hatten sowieso keine andere Wahl, als weiterzugehen. Den Kindern
fiel zum ersten Mal auf, daß der Gang weniger gut ausgeleuchtet war, als sie
es von anderen Teilen des Schiffes her gewohnt waren. Und die Metallwände
sahen zwar auch hier glänzend und unversehrt aus, funkelten aber in einem
neuen, leicht rötlichen Farbton. Eine andere Legierung als bisher?

„Krrrk,  krrrk“,   machte   es   unverhofft   in   den   Helmlautsprechern.   Es   war

Thunderclap Genius, der ihnen  mitteilte, daß die  Funkimpulse  wieder  zur
EUKALYPTUS durchdrangen. Offenbar hatten sie die  funkhemmende  Zone
des Wracks überwunden.

Unterwegs zu Multivac

Vor ihnen gabelte sich der Tunnel, dessen Verlauf sie bisher gefolgt waren.
„Was nun?“ fragte Harpo ratlos. „Wahrscheinlich ist der innerste Sektor des

Wracks   von   Hunderten   solcher   Tunnels   durchzogen.   Und   irgendwo,
vielleicht in der Mitte, vielleicht auch am Rand, sitzt Multivac wie eine Spinne
im Netz und wartet darauf, daß wir ihm in die Falle gehen.“

„Euch bleibt aber keine andere Wahl“, meldete sich Thunderclap, der mitt­

lerweile von Lonzo einen vollständigen Bericht über die Zeitspanne erhalten
hatte, in der die Funkverbindung unterbrochen gewesen war. „Ihr müßt so
lange suchen, bis ihr den Weg gefunden habt, der zu Multivac führt. Tut mir
leid.“

„Du hast gut funken!“
„Harpo!“ rief nun Brim Boriam dazwischen. „Es geht jetzt nicht mehr nur

darum, daß dieses Wrack erforscht wird. Multivac weiß sicher, daß ihr von
einem anderen Raumschiff kommt. Und ohne Zweifel hat es die EUKALYP­
TUS   längst   geortet.   Verstehst   du?   Wer   weiß,   ob   wir   mit   der   fremdartigen
Technologie, über die Multivac verfügt, Schritt halten können!“ Er stotterte

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diesmal   überhaupt   nicht,   obwohl   man  seiner  Stimme  die   pure   Nervosität
sehr gut anhören konnte.

Und Micel fügte hastig hinzu: „Wenn es diesem verrückten Gehirn einfällt,

die EUKALYPTUS zu vernichten, dann wird es das auch tun. Ihr müßt es aus­
schalten – wir alle sind in Gefahr!“

Harpo schwieg. Auch Anca, Alexander und Ollie blieben stumm. Ja, sicher,

im Grunde wußten sie, daß Micel recht hatte. Aber dieses Wissen machte sie
eigentlich nur noch mutloser.

„Auf jeden Fall münden beide Tunnel letzten Endes am gleichen Punkt“,

sagte Thunderclap. „Einstweilen könnt ihr also keinen Fehler machen.“

Ollie nahm den Freunden die Initiative ab und setzte als erster seinen Fuß

in den Tunnel zur Rechten. Wer ihn so gut kannte wie seine Freunde, der be­
merkte allerdings, daß selbst bei ihm die Bewegungen zaghafter geworden
waren. Anca folgte ihm. Harpo zuckte mit den Schultern und schloß sich an.

Hinter sich spürte er Lonzo und Alexander.
Nichts geschah. Hunderte von Metern gingen sie unbehelligt dem Mittel­

punkt des Wracks entgegen – und Multivac schien sie zu ignorieren. Das war
schlimmer   als   alles   andere.   Denn   das   Gehirn   war   verrückt   –   aber   nicht
dumm. Es schien sich sehr sicher zu fühlen. Vielleicht deshalb, weil es wußte,
daß die Eindringlinge blind in eine seiner Fallen stolperten?

Den   Freunden   wäre   es  gewiß  nicht   angenehm   gewesen,   wenn   kurzge­

schlossene Roboter ihnen den Weg versperrt oder sie angegriffen hätten –
aber das Warten auf eine unbekannte Gefahr war noch weitaus schlimmer.

Die Tunnelwände wirkten nackt und schmucklos. Das Fehlen von Farben

und Verzierungen gab Harpo zu denken. Wie es aussah, waren auch die Be­
wohner des Raumschiffes nicht oder nur sehr selten hierher vorgedrungen.
Zumindest hatten sie sich hier niemals lange aufgehalten. Auch die Größe der
Tunnel   deutete   darauf   hin.   Sie   wußten   zwar   noch   immer   nicht,   wie   die
Fremden ausgesehen hatten und wie groß sie waren, aber gegen die sons­
tigen Ausmaße der Schiffseinrichtung – bis auf die Schlafkojen – wirkten die
hiesigen   Gänge   extrem   niedrig.   Selbst   die   kleine   Anca   mußte   sich   leicht
bücken, um vorwärts zu kommen.

Wenn   etwas   Unvorhergesehenes   passierte,   dann   gab   es   nur   zwei

Fluchtrichtungen: nach vorn oder zurück. Kein Wunder, daß Harpo sich un­
gemütlich fühlte.

Die   Beleuchtung   war   jetzt   nur   noch  mattrot  wie   in   der   inneren   Luft­

schleuse. Wieder ein Indiz. Denn die Beleuchtung der anderen Schiffssekto­
ren  hatte   ebenfalls   darauf   hingewiesen,   daß   die   Fremden   weiches,   gelbes
Licht bevorzugten. Andererseits bedeuteten rote Lichter immerhin, daß die
Gänge tatsächlich benutzt wurden und nicht etwa überdimensionale Entlüf­
tungsschächte  darstellten. Tröstlich zu wissen, daß ihr Unternehmen nicht
schon von Anfang an zum Scheitern verurteilt war. Multivac saß also nicht
etwa in einem nur ihm zugänglichen Teil des Schiffes, eingeschweißt und vor
jedem Zugriff sicher.

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„He, da vorn wird es wieder heller!“ rief Ollie und lief schneller  auf das

gelbe Licht zu.

Lonzo knurrte: „Helme schließen und die Entermesser bereithalten, Ma­

trosen! Ab sofort verkehrt Lonzo nur noch über Schwatzmaul mit euch!“

Die   Kinder   folgten   seiner   Anweisung,   erhöhten   ihre  Schrittzahl  und   er­

reichten bald einen neuen Kreuzungspunkt. Hier liefen nicht weniger als fünf
Tunnel in alle Raumrichtungen auseinander.

Aber nicht nur das helle Licht war bemerkenswert! An den Wänden hingen

mehrere Schränke. Einen kurzen Moment  lang  glaubte Harpo  an den un­
glaublichen   Glücksfall,   daß   sie   ungehindert   in   die   Zentrale   von   Multivac
vorgedrungen waren und jetzt nur einen Stecker herausziehen mußten, um
das ausgeflippte Gehirn auszuschalten. Aber das wäre natürlich des glückli­
chen Zufalls zu viel gewesen. Es gab hier keinerlei Steckdosen, geschweige
denn Stecker.

Als er einen der Schränke öffnete, fiel ihm ein Wust von Kabelenden ent­

gegen.   Einige   härtere   Gegenstände   prasselten   zu   Boden.   Daß   es   sich   um
Zangen   und   andere   Werkzeuge   handelte,   sah   man   sofort.   Am   Boden   des
Schrankes lagen aufgerollte Kabel, gedruckte Schaltungen und einige unbe­
kannte Teile, die aber ebenfalls mit Elektronik zu tun hatten.

„Die Werkstatt des Wartungsingenieurs“, murmelte Harpo enttäuscht und

räumt die herausgefallenen Sachen wieder ein. Anca hatte neugierig einen
weiteren Schrank geöffnet. Darin befanden sich dünne Kunststoff­Folien, die
mit  den   inzwischen  schon   vertrauten  Schriftzeichen  bedruckt   waren,   teil­
weise aber auch abstrakte Dinge zeigten.

„Sicher sind das Konstruktionszeichnungen oder Schaltpläne“, behauptete

sie. „Auf jedem Fall nehmen wir sie mit!“

Lonzo eilte hilfreich herbei und nahm ihr das Bündel ab. Bevor Anca den

Schrank wieder schloß, sah sie sich noch einmal suchend um, ob auch nichts
vergessen wurde – und stutzte. Aufgeregt bückte sie sich und entnahm dem
untersten Fach einen staubbedeckten Gegenstand. Als sie ihn herumdrehte,
entfuhr ihr ein überraschter Ausruf.

Sofort  eilten die anderen  herbei. Gemeinsam betrachteten sie den Fund

des Mädchens, eine kleine, viereckige Platte.

„Stellt euch vor!“ donnerte Ollie los, damit die Freunde auf der EUKALYP­

TUS auch ja sofort informiert waren. „Wir haben ein Bild gefunden! Das Bild
eines fremden Raumfahrers! Bei allen sieben Monden von Morrisons Planet!
Das war sicher der Captain von diesem Kahn!“

Die funkelnden Sehzellen Lonzos verrieten, daß er jetzt am liebsten eine

Geschichte über Captain Kidd losgeworden wäre, aber ohne Funkgerät hatte
er keine Chance. Und Schwatzmaul würde in dieser angespannten Situation
kaum als Übersetzer mitspielen. Also ließ er es.

Die Platte bestand aus einer harten Folie und einem Metallrahmen. Man

erkannte unschwer den Kopf eines fremden Wesens. Kein Mensch, kein Tier.
Es hatte wenig mit jeder Art von intelligentem Leben zu tun, mit dem die
Kinder   bisher   konfrontiert   waren.   Das   Gesicht   schimmerte   schwarz   und

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wurde von drei großen, facettenartigen Knopfaugen beherrscht. Man konnte
weder Ohren noch Haare entdecken, jedoch ein  mundähnliches  Loch und
einen Kranz von Fühlern, die überall aus dem Kopf sprossen. Am ehesten
glich der Fremde einem stark vergrößerten Insekt.

Über   die   Größe   des   Wesens   sagte   das   kleine   Bild   nichts   aus.   Aber   die

Kinder   hatten   eine   ungefähre   Vorstellung   von   den   Fremden,   die   einst   in
diesem Schiff durch das All flogen. Bei aller Fremdheit wirkte dieses Geschöpf
nicht unsympathisch. Wahrscheinlich war es der Blick der Knopfaugen, der
Wärme und Nettigkeit ausstrahlte.

„Mitnehmen“, entschied Anca.
Alexander, der vor Nervosität zappelte, ging bereits voraus. Wenn dieses

Bild auch nicht unheimlich war – das unbekannte Bordgehirn war es auf je­
den Fall! Je eher sie es entdeckten, desto schneller konnten sie auf die EUKA­
LYPTUS zurück!

Aber guter Rat war teuer. Aus einem der fünf Tunnel waren sie gekommen.

Blieben noch vier Möglichkeiten. Wie sollten sie wissen, welcher Gang sie ih­
rem Ziel näher brachte?

Lonzo schien in sich hineinzuhorchen und kletterte dann wie in Trance an

der Wand hoch. Er deutete auf einen der Tunnel und winkte.

„Gehen wir“, sagte Harpo kurz entschlossen. Es war ja egal, welchen Gang

sie zuerst untersuchten. Lonzo war es am ehesten zuzutrauen, daß er seinen
großen, degenerierten Artgenossen aufspürte.

Jetzt übernahm Harpo wieder die Führung. Er spähte in den Gang, so weit

er blicken konnte, bemerkte aber nichts Ungewöhnliches. Der Tunnel schien
endlos zu sein und so ungemütlich leer wie die anderen. Verdrossen, aber
ständig auf der Hut vor Überraschungen, setzte er Fuß um Fuß voran.

Plötzlich, als hätte ihm jemand einen Stoß in die Rippen versetzt, blieb er

stehen.

Er vergaß vor Überraschung das Ausatmen und hätte sich am liebsten die

Augen ausgewischt, aber das ging nicht, da der Raumhelm ihn daran hin­
derte.

„W­wie habt ihr mich denn überholt?“ stotterte er fassungslos und starrte

mit offenem Mund auf die Gestalten von Anca, Alexander, Ollie und Lonzo,
die plötzlich direkt vor ihm aufgetaucht waren. Der Gang war eigentlich so
eng, daß er es hätte merken müssen, wenn sich die anderen an ihm vorbeige­
zwängt hätten. Wo war er nur mit seinen Gedanken gewesen?

Er drehte sich um – und erneut stockte ihm der Atem. Hinter ihm waren sie

noch einmal: Lonzo, Alexander, Anca und Ollie.

Sie hatten sich verdoppelt. Sie befanden sich vor und hinter ihm! Aber die,

die vor ihm standen, sahen gar nicht aus wie seine Freunde. Im Gegenteil:
Harpo sah in höhnisch verzogene Gesichter, die plötzlich ein gellendes Ge­
lächter ausstießen. Dann waren sie genauso schnell verschwunden, wie sie
aus dem Nichts aufgetaucht waren. 

„Was war das?“ keuchte Harpo. „Habt ihr das auch gesehen?“
„Ja“, hauchte Anca zitternd.

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„Raumgeister!“ kreischte Ollie. „Meine Medizin! Ich will sofort meine Medi­

zin! Ich habe Halunazi... Halluzino... Ich sehe alles doppelt!“

„Was habt ihr gesehen?“ fragte Thunderclap aus der Zentrale. „He, hallo!

Stimmt bei euch was nicht?“ Alexander brummelte: „Noch ein Rotpelzkum­
pel hier? Wie das? Wie das?“

Ollies schreckensbleiches Gesicht verriet, daß ihm die Haare unter seinem

Raumhelm buchstäblich zu Berge standen.

In kurzen Sätzen schilderte Harpo das mysteriöse Geschehen.
Thunderclap erwiderte nachdenklich: „Lonzo hat aber nichts gesehen!“
„Was? Ist er denn blind?“
„Lonzo leistet tausend heilige Eide auf die Gebeine von Captain Kidd. Er

hat nicht das geringste wahrgenommen!“

Das war der Augenblick, in dem Ollie und Anca aufkreischten. Harpo hatte

die beiden noch nie auf diese Weise schreien hören. Das war nackte Angst.
Dann stimmte Alexander ein, brüllend wie ein Löwe. Und Harpo. Aus dem
Nichts tauchte vor ihnen im Tunnel ein Ungeheur auf. Bei Harpo war es nicht
nur die Furcht vor diesem grünen, vierköpfigen Ungetüm, das wie eine Riese­
nechse aussah. Vier Hälse mit klaffenden Mäulern und messerscharfen Zahn­
reihen kamen immer näher.

Seit Harpo sich in diesem Tunnel aufhielt, spürte er ein Unbehagen. Die al­

ten Ängste kamen wieder, jene, die ihn als Patient auf die EUKALYPTUS ge­
bracht   hatten.  Platzangst!   Er  drohte   zu ersticken.  Er  mußte   hinaus, sofort
hinaus!  Irgendwohin,   nur   hinaus   aus   der   Enge  dieser   metallenen,   ihn   er­
drückenden Gänge. Er schrie gellend wie am Spieß. Vor ihm war das Unge­
heuer. Und hinter ihm stand Lonzo. Er ließ keinen durch.

Harpo rannte gegen Lonzo an und versuchte ihn zu Fall zu bringen. Aber

Lonzo stand wie ein Denkmal. Er war stärker. Die anderen Kinder waren be­
reits verstummt, als Harpos markerschütternde Schreie noch immer seinen
Helm erzittern ließen.

Sie lebten immer noch. Das Ungeheuer ging nicht zum Angriff über. Trotz

der Gefahr versuchten sie Harpo zu beruhigen, der wie ein Wahnsinniger um
sich schlug.

Niemand wußte später, wie lange dieser Anfall gedauert hatte. Aber irgend­

wann drang die Stimme Schwatzmauls in Harpos Bewußtsein. Schwatzmaul
sang ein Kinderlied, ganz ruhig. Und Harpo hörte zu, wurde still. Alexander
schlang seine Arme um ihn und drückte ihn an sich, bis Harpos Zittern auf­
hörte.

„Geht   es   wieder?“   fragte   Schwatzmaul   dann.   „Hör   mir   gut   zu,   Harpo.

Multivac   versucht   euch   mit   Halluzinationen   zur   Umkehr   zu   zwingen.
Schließe bitte die Augen, Harpo. Hör mir zu.“

„Es sind alles nur Trugbilder“, flüsterte das Bordgehirn weiter. „Multivac

kann euch nichts anhaben. Nur ihr seht diese Verdoppelungen und das Un­
geheuer. Lonzo ist dagegen immun, weil er selbst über ein positronisches Ge­
hirn   verfügt,   das   sich   nun   einmal   nicht   täuschen   läßt.   Ihr   anderen   müßt
gegen diese Visionen ankämpfen. Geht weiter. Ihr seid ganz nahe am Ziel.

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Und   Multivac   weiß   das   auch,   sonst   würde   er   sich   nicht   gegen   euer
Eindringen wehren. Und denkt immer daran: Was ihr auch an Schrecklichem
seht, es sind alles Trugbilder.“

Harpo wagte die Augen wieder zu öffnen. Das Ungeheuer war verschwun­

den, und seine Freunde blickten ihn aufmunternd an. Anca hatte geweint,
das   sah   man   deutlich.   Jetzt   lächelte   sie   wieder.  Alexander   gab   ihm   einen
freundschaftlichen Knuff, während Lonzo ihm listig zublinzelte.

„Danke“, sagte Harpo. „Ist ja schon alles in Ordnung.“
Ollie stemmte beide Hände in die Hüften und brüllte mit Donnerstimme:

„So, und jetzt hauen wir Multivac endgültig in die Pfanne!“

Eine unerwartete Begegnung

Nun glaubte auch Harpo, daß sie es schaffen würden. Vor einem durchge­

drehten Computer kneifen, vor einem, der sie mit einem Gruselkabinett in
die Flucht jagen wollte? Wäre ja noch schöner!

Als Harpo weitergehen wollte, fühlte er sich entsetzlich müde. Die Beine

waren schwer wie Blei. Es gelang ihm einfach nicht, die Füße zu heben. Auch
die anderen klagten plötzlich über Müdigkeit und Gehschwierigkeiten.

„Ein neuer Trick von Multivac“, erklärte Schwatzmaul. „Jetzt versucht er

euch zu lähmen. Ihr müßt mit aller Macht dagegen angehen!“ Und er begann
mit lauter Stimme zu schmettern: „Der Kuckuck und der Esel, die hatten ein­
mal Streit ...“

Die Kinder mußten lachen, es war wirklich zu komisch, daß ein Bordge­

hirn, das nie im Leben einen Kuckuck oder einen Esel zu Gesicht bekommen
hatte,   dieses   Lied   sang.   Als   sei   Schwatzmaul   je   auf   eigenen   Beinen   über
Felder und Wiesen gerannt! Die eintönige Melodie aber hatte einen Effekt: Sie
zog die Kinder in ihren Bann, und irgendwie schaffte es Schwatzmaul, die
Kraft der Hypnose Multivacs abzuschwächen.  Langsam, mit großer Mühe,
gelang  es Harpo und  den anderen,  wieder einen Fuß vor den anderen  zu
setzen.   Unerbittlich,   die   Zähne  aufeinandergepreßt  und   im   Geiste   jede
Strophe Schwatzmauls mitsingend, tasteten sie sich voran.

Lonzo   machte   sich   plötzlich   an   Harpos  Gürtelschlaufe  zu   schaffen,

quetschte sich dann an ihm vorbei  und ging  ungehindert weiter. Er  hatte
Harpo und die anderen wieder angeleint und zog sie jetzt hinter sich her. Die
Kinder   und   Alexander  fielen   zu  Boden,   aber   Lonzo  (immerhin   war  er  ein
Wunderwerk irdischer Kybernetik) war stark genug, sie gelassen hinter sich
herzuschleifen.

Und dann  waren   die Lähmungserscheinungen  von einem Moment  zum

anderen fort, wie weggeblasen. Multivac hatte eingesehen, daß auch dieser
Trick   bei   seinen   Widersachern   nicht   zog.   Was   würde   ihm   als   nächstes
einfallen?

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„Danke“, flüsterte Harpo und meinte Lonzo.
„Lonzo läßt euch sagen“, meldete sich wieder Schwatzmaul, „daß wir alle

einem   großen   Irrtum   aufgesessen   sind,   als   wir   annahmen,   wir   müßten
Multivac suchen! Die Wahrheit ist: Ihr befindet euch längst im Innern meines
ausgeklinkten Bruders!“

Die Nachricht hatte eine durchschlagende Wirkung. Harpo ließ sich gleich

wieder auf den Boden fallen. Ollie fluchte. Alexander seufzte wie jemand, der
seine Brille sucht und feststellen muß, daß er sie auf der Nase hat. Nur Anca
feixte. Lonzo hielt sich vornehm im Hintergrund und tat so, als betrachtete er
mit höchstem Interesse seine nicht vorhandenen Fingernägel.

„Tscha“,   meinte  Schwatzmaul   ein  wenig   kleinlaut,   „es geht   eben  nichts

über die elektronische Spürnase eines Roboters, nicht wahr?

Ehe Harpo etwas erwidern konnte, entdeckte er, daß Lonzo seine Brust­

klappe geöffnet und die darin befestigten Greifer ausgefahren hatte. Mit tän­
zelnden   Bewegungen   begann   er,   aus   der  Tunnelwandung  Schrauben
herauszudrehen.

„He,   Seemann“,   frotzelte   Harpo   den   geschäftig   wirkenden   Metallmann,

„was hast du entdeckt? Captain Kidds Geheimversteck, in dem er seinen Rum
aufbewahrte?“

Ollie lachte brüllend, und in der Zentrale der EUKALYPTUS atmeten alle

auf.  Das war  der  alte Harpo,  wie er leibte  und lebte! Wenn er  wieder  ein
Scherzchen auf den Lippen hatte, konnte eigentlich nichts mehr schiefgehen.

„Mensch,   Harpo“,   sagte   Thunderclap.   „Noch   so   einen   Lacher,   und   ich

komme rüber! Ich hab’  eh schon das Gefühl, daß ich  ‘ne Menge verpasse!
Lonzo  hat   herausgefunden,  daß  sich  hinter  der  Metallplatte  ein  Gang   be­
findet, der früher von Ingenieuren und Technikern benutzt wurde, wenn sie
Multivac   mit   Ersatzteilen   versorgen   wollten.   Und  er   meint,   es  gäbe   keine
bessere Möglichkeit, das verrückte Gehirn lahmzulegen, als in seinen Kabel­
gängen Unordnung zu stiften.“

„Ja, aber“, protestierte Harpo verblüfft, „woher, bei allen Planeten, weiß er,

was sich hinter dieser Platte verbirgt? Er hat doch keine Röntgenaugen!“

„Das nicht, aber er hat natürlich alle mit seinen Fotozellen registrierten

Schriftzeichen   sofort   an   unser   liebes   Schwatzmaul  weitergefunkt.  Und
dessen Speicherbänke haben die letzten Stunden ununterbrochen gerattert,
um die Schrift zu entschlüsseln.“

Thunderclaps   Worte  klangen   etwas   triumphierend.   Schließlich   wollte   er

nicht   verschweigen,   daß   an   Bord   der   EUKALYPTUS   auch   einiges   getan
wurde,   um   der   Expedition   zu   helfen.   „Natürlich   ist   uns   dies   –   in   be­
scheidenem  Umfang   – gelungen.  Lonzo  erhielt   soeben  die   Informationen.
Und da auf der Wandplatte alles draufsteht, was er wissen muß, hat er eben
gleich losgelegt.“

Lonzo führte nun einen Freudentanz auf, um zu zeigen, daß er fertig war.

Die Kinder eilten sofort zu ihm hin und spähten hinter die demontierte Me­
tallplatte. Sie blickten in einen etwa vierzig Zentimeter breiten Gang, dessen
Wände mit Tausenden von Kabeln aller Stärken bedeckt waren.

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„Welch ein Wirrwar!“ rief Anca aus. „Wie soll man da die richtige Strippe

finden?“

„Können wir nicht zur Abwechslung mal wieder die Helme abnehmen?“

fragte Olli. „Ich schwitze wie ein Schweinebraten. Und außerdem können wir
keine Silbe von dem hören, was Lonzo sagt.“

„In Ordnung. Wir riskieren das“, gab Harpo über Schwatzmaul zur Antwort

und setzte als erster den Helm ab. Er folgte Lonzo in den engen Gang. Ihre
Brustlampen  warfen   gespenstische   Schatten.   Nach   und   nach   folgten   die
anderen.

Der Gang endete nach ungefähr zwanzig Metern vor einer weiteren Eisen­

wand, auf der wieder Schriftzeichen prangten.

„Der Zutritt zu diesem Bereich ist nur autorisiertem Personal mit Sonder­

ausweis  gestattet“, übersetzte Lonzo. „Jede Zuwiderhandlung wird mit dem
Entzug der Charge geahndet!“

„Was ist denn eine  Scharsche?“ fragte Ollie, der sich neugierig an Harpo

vorbeizuquetschen versuchte.

„Ein Dienstgrad“, erklärte Anca dem Kleinen. „Aber jetzt sei mal ruhig.“
Während Lonzo die Platte mit seinen Tentakeln abtastete, einen Öffnungs­

mechanismus fand und mit Hilfe seines eingebauten Computers  versuchte
ihn zu knacken, brummte Alexander mißmutig: „Alexander keine Türen mö­
gen. Türen immer und immer und immer verschlossen. Rotpelze besser Felle
vor Hütten hängen. Muß Gast nicht stehen in Kälte, wo Nordwind machen
lange Eiszapfen an Nase.“

Anca kicherte.
Plötzlich sprang die Platte auf. Vor ihnen erstreckte sich ein kleiner Raum,

der etwa zehn Quadratmeter maß und eine Höhe hatte, in der sich sogar der
Riesenkarlie klein vorgekommen wäre.

Es schien mehr ein Schacht zu sein, der sich hier vor ihnen auftat. Ein Ende

war jedenfalls nicht abzusehen, was aber auch daran liegen mochte, daß die
Scheinwerfer  der Eindringlinge zu schwach waren, um die Decke zu errei­
chen.

Ollie machte: „Oho!“ und war als erster drin. Er reckte und streckte sich, als

hätte er eine ganze Nacht in einer Schreibtischschublade zubringen müssen.
„He!“ rief er plötzlich laut. „Was sind denn das für Dinger?“

Die „Dinger“, auf die er zeigte, erinnerten Harpo an jene Schaltungen, die

er einmal in der  Kommunikationszentrale  der EUKALYPTUS gesehen hatte.
An Metallgestellen waren unzählige kleine, schwarze, mit Draht umwickelte
Plättchen befestigt, die alle miteinander verbunden waren und leise vor sich
hin summten. Zweifellos hatten sie einen Bereich vor sich, der für Multivac
sehr wichtig war. Wenn sie eine der Schaltungen beschädigten ...

Harpo kam nicht mehr dazu, diesen verführerischen Gedanken zu Ende zu

denken. Eine rollende, tiefe Stimme dröhnte plötzlich aus verborgenen Laut­
sprechern. Die Stimmen von der EUKALYPTUS, die eben noch leise im Hin­
tergrund   zu   hören   gewesen   waren,   tauchten   unter   in   einem
ohrenbetäubenden Sturm elektrischer Entladungen.

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Plötzlich schnellte Lonzo zur Seite. Mit ausgestreckten Tentakeln versuchte

er den sich mit rasender Geschwindigkeit schließenden Eingang offenzuhal­
ten. Vergebens. Die bewegliche Platte schlug zu und riß Lonzo einen Tentakel
ab. Sie saßen in der Falle!

Harpo schrie: „Wir sitzen fest! Multivac hat uns erwischt!“
Seltsamerweise   brauchte   er   gar   nicht   dermaßen   zu   brüllen,   denn   die

Störgeräusche  waren  wieder  verstummt.  Lonzo trommelte noch einmal mit
seinen restlichen Tentakeln gegen den verschlossenen Eingang und gab dann
auf. Jammernd trauerte er seinem verlorenen Tentakel nach, dann versetzte
er der Tür einen wütenden Tritt.

Die rollende Stimme, die nun wieder zu hören war, mußte Multivac gehö­

ren. Geistesgegenwärtig schaltete Harpo den Translator ein, der die Sprache,
die einst hier gesprochen wurde, bereits von dem sie verfolgenden Getränke­
wagen gelernt hatte. Sogleich änderte sich die Tonlage Multivacs. Es zwit­
scherte kurz, dann übertrugen Harpos Kommunikationssysteme jedes Wort
in die Helmlautsprecher der atemlos und wie gelähmt dastehenden anderen.

„... Frevel, in diesen Bereich vorzudringen! Wer seid ihr, Würmer, daß ihr es

wagt, den Herrn über Leben und Tod in seiner Einsamkeit zu stören?

Noch nie gelangte ein Sterblicher so nahe an mich heran! Sprecht, sonst

werdet ihr meinen Zorn zu spüren bekommen!“

Durch   Harpos   Translator   modifiziert,   klang   die   Stimme   nicht   mehr

furchterregend,  sondern   eher  lächerlich.   Kein  Wunder,  daß   Anca,   die   den
leicht zitternden Ollie an der Hand hielt, spitz erwiderte: „Wenn hier noch nie
ein Sterblicher war, müssen die Wesen, die früher hier gelebt haben, uns­
terblich gewesen sein.“

„Schweig!“   donnerte   Multivac.   Seine   Stimme   endete   in   einem   hohen

Kieksen, als hätte er gerade einen Stimmbruch hinter sich. „Die Zeiten, von
denen   du sprichst,   sind  Vergangenheit!  Die   Vergangenheit  ist  tot   und be­
graben. Ich erinnere mich ihrer nur mit Widerwillen.“

„Warum dat denn?“ krähte Ollie respektlos, der nun, nachdem Anca ihren

Mut gezeigt hatte, auch nicht zurückstehen wollte. „Hat man dir übel mitge­
spielt, Kumpel Raumgeist?“

Multivac   produzierte   einen   Laut,   der   wie   ein   unwilliges   Knurren   klang.

„Elender Wicht!“ dröhnte es aus den Lautsprechern. „Auch du bist einer von
denen, die die Worte Multivacs anzweifeln!“ Offenbar hatte der Kleine unbe­
wußt einen wunden Punkt in der Vergangenheit des durchgedrehten Compu­
ters angesprochen.

Plötzlich ergoß sich ein nicht mehr zu stoppender Wortschwall über die Ex­

peditionsmitglieder.   Er   gipfelte   in   so   absurden   Behauptungen   wie,   daß
organische Lebewesen die mit den meisten Fehlern behafteten Wesen in der
Galaxis seinen, nicht würdig, sich allein zu regieren, und unfähig, unterein­
ander Frieden zu halten.

„Es bedarf intelligenter Computer, die Geschicke der organischen Wesen

zu lenken. Die Erfahrung hat gezeigt, daß  nichtautomatische  Intelligenzen
eine Brutstätte der Verdorbenheit sind! Kaum sind sie unter sich – und ohne

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Aufsicht –, beginnen sie zu streiten, schlagen sich und entfesseln Kriege. Sie
haben   alle   unterschiedliche   Ansichten,   die   man   niemals   unter   einen   Hut
bringen kann – und das ist das Grundübel. Es muß  schlußendlich  zu ihrer
Zerstörung führen! Ständig ziehen sie alles um sich herum in Zweifel, nörgeln
über   Haare   in   der   Suppe   und   über   das   Wasser,   das   nach   Chemikalien
schmeckt. Organische Wesen sind Fehlentwicklungen der Natur, und ...“

„Da  bin   ich  ganz   anderer   Ansicht“,  hörte   sich   Harpo  zu   seiner   eigenen

Überraschung mutig sagen.

Seine Bemerkung führte zu einem Wutanfall Multivacs, der mit keifender

Stimme  losschrie:   „Da   haben   wir   es   wieder!   Widerspruch!   Immer   Wider­
spruch, wenn es um  feststehende  Tatsachen geht! Ich dulde das nicht, ich
dulde das nicht! Ruhe! Ruhe!!! Ich kann das einfach nicht länger hinnehmen!“

Lampen leuchteten grell auf. Deren Existenz war ihnen bisher verborgen

geblieben.   Sie   sahen   eine   Wand   mit   Schaltelementen   und   elektrischen
Leitungen.   Dann   entdeckten   sie   einen   winzigen,   zwischen   den   anderen
Elementen eingezwängten Bildschirm, der sich in diesem Moment erhellte.

Wollte   ihnen   Multivac,   jetzt   total   durchgedreht,   etwas   ganz   Absurdes

bieten? Vielleicht einen Cowboy­Film? Allmählich konnte die Kinder nichts
mehr   überraschen.   Als  die   ersten   Bilder   über   den   Bildschirm   flimmerten,
zeigte es sich, daß sie Multivac falsch eingeschätzt hatten. Er reagierte wie ein
vernünftiger Gesprächspartner.

Die Wahrheit kommt ans Tageslicht

Während der nun folgenden Minuten sagte niemand auch nur ein Wort –

wenn man von der fremdartigen Stimme absah, die aus den Lautsprechern
drang  und  behende  vom Translator  übersetzt  wurde.  Auf  dem  Bildschirm
formten sich mit dem ersten Geräusch Bilder, die sich zu einem Film anein­
anderreihten.  Knappe   Montagen   dokumentierten   die   Kultur   der   Erbauer
dieses Schiffes. Die Heimatwelt wurde gezeigt: Ein kleiner  Wüstenplanet  im
roten Zwielicht einer übermächtigen, uralten Sonne, die flackernd den ge­
samten Horizont ausfüllte. Schlanke Türme und gläserne Kuppeln reckten
sich in den roten Himmel.

Der   Ton   informierte   darüber,   daß   diese   Sonne   im   Laufe   von   vielen

Millionen Jahren ihre Energien in den Kosmos geschleudert hatte und nun zu
erkalten drohte. Zuvor jedoch würden sich in einem letzten Aufwallen die
feurigen Energien  noch einmal machtvoll über die Planeten ergießen und
alles Leben darauf verbrennen.

Der erste Planet trug Leben, das von den äußeren Planeten vorgedrungen

war, als die Kraft der Sonne nachließ. Seit Tausenden von Jahren kämpften
die insektenhaft anmutenden Wesen einen verzweifelten Kampf gegen das
Schicksal.   Sie  rückten  von  Planet  zu  Planet  der   Sonnenwärme nach  –  ein

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Wettlauf mit dem Tod. Endlich wurde von den Wissenschaftlern ein neuer
Raumschiffantrieb  entwickelt.   Der   Wüstenplanet   verwandelte   sich   in   eine
gigantische   Werft.  Ununterbrochen   starteten   Schiffe  in  das  All.  Und   jedes
glich dem Wrack wie ein Ei dem anderen. Hunderttausende von Schiffen, mit
Millionen und aber Millionen Wesen an Bord – alle auf der Suche nach einer
neuen Heimatwelt.

Die letzten Bilder vom Planeten zeigten dunkle Kuppeln und ausgestor­

bene Montagefelder. Dieses Schiff mußte eines der letzten gewesen sein, die
den toten Planeten verlassen hatten.

Bilder  aus dem  Leben an  Bord des Schiffes schlossen  sich  an. Die   Aus­

wanderer bevölkerten die Decks wie Ameisenschwärme. Aber wie es schien,
durften sie sich nur in einem begrenzten Sektor aufhalten. Die Freunde er­
kannten   die   Räume   mit   den   Schlafplätzen.   Die   Enge   führte   bald   zu
Aggressionen   und   Streit.   Es   kam   zu   gewalttätigen   Ausschreitungen   mit
Verletzten und Toten, schließlich zu bürgerkriegsähnlichen Zuständen.

Minutiös   hatten   die   Kameras   die   Entwicklung   des   Zusammenlebens   an

Bord aufgezeigt. Man sah endlose Schlangen bei der Essenausgabe, während
andere Wesen in phantasievollen Uniformen sich in geschmackvoll ausge­
statteten   kleinen   Räumen   aufhielten   und   von   dienstbeflissenen   Un­
tergebenen betreut wurden.

Die Schlafsäle, in denen die Betten schichtweise benutzt wurden, waren

ständig mit wimmelndem Leben erfüllt. Die Uniformierten dagegen machten
lange Spaziergänge  auf unbevölkerten  Decks. Jeder von ihnen  hatte einen
eigenen Raum mit allem Komfort. Sprecher der Auswanderer verlangten die
Freigabe weiterer Decks. Die Uniformierten trieben sie mit Waffen zu ihren
Leidensgefährten   zurück.   Der  Übersetzungstext  war   an   dieser   Stelle   nicht
eindeutig, weil dem Translator Vokabeln zu fehlen schienen. Aber die Offizie­
re des Schiffes beriefen sich allem Anschein nach auf unverständliche Vor­
schriften und Rituale. Entschieden wurde das Öffnen bestimmter Räume in
der Nähe der Auswandererdecks abgelehnt.

Die Massen ließen sich nicht abspeisen. Sie drangen unter Verlusten mit

Gewalt in die verbotenen Schiffbezirke vor. Sie öffneten die Räume, die man
sorgsam vor ihnen abgeschirmt hatte.

Im ersten Moment begriffen die Kinder die Erregung der fremden Wesen

nicht, als die mit Gegenständen überfüllten Räume ins Bild gerückt wurden.
Der Ton klärte sie darüber auf, daß es sich um Luxusgegenstände handelte:
berauschende Essenzen und  Duftkräuter, Schmuck und Gewänder, seltene
Nahrungsmittel und Getränke.

Anstatt   jeden   verfügbaren   Quadratzentimeter   des   Schiffes   mit   lebens­

wichtigen Vorräten zu füllen oder als Lebensraum für die Auswanderer zu
nutzen, hatten sich die Uniformierten auf Kosten der Auswanderer Privilegi­
en verschafft: geräumige eigene Decks und die Annehmlichkeiten ihres frü­
heren   Lebens.   Die   Empörung   schwappte   über.   Die   zunächst   waffenlosen
Auswanderer griffen die Uniformierten an und stürmten mit den eroberten
Waffen weiter vor. Aber die Uniformierten hatten vorgesorgt und verteidigten

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zäh den Kern des Schiffes. Schließlich drangen sie  schwerbewaffnet  in das
Gebiet der Aufständischen ein und machten gnadenlos von ihren Waffen Ge­
brauch.

Da griff Multivac ein. Weil er seiner eigenen Maxime genügen mußte und

damit jedes organische Leben vor Schaden zu bewahren hatte, ging er glei­
chermaßen gegen Rebellen und Schiffsleitung vor. Beide wehrten sich gegen
das Bordgehirn. Multivac sah keine andere Möglichkeit und übernahm die
Alleinherrschaft. Er entfernte alle organischen Lebewesen aus seiner nächs­
ten   Umgebung   und   begann   damit,   seinen   einstigen   Erbauern   vorzu­
schreiben,   wie   sie   ihr   Leben   zu   führen   hatten.   Das   Ergebnis   war   eine
Computerdiktatur.  Multivacs   organische   Untertanen   antworteten   mit   An­
schlägen gegen alle kybernetischen Organismen in Reichweite.

Multivac sah seine eigene Existenz gefährdet und holte zu einem Gegen­

schlag aus: Er bremste das Raumschiff ab und ließ es antriebslos zwischen
den Sternen schweben. Er gab bekannt, daß die Fahrt erst fortgesetzt würde,
wenn sich alle bedingungslos seiner Herrschaft unterwerfen würden.

Damit brachte er das Faß zum Überlaufen. Verschiedene Fraktionen bilde­

ten sich und bekämpften einander gnadenlos. Schließlich siegten jene, die
sich nicht unterwerfen wollten. Nur wenige tausend Wesen hatten die Aus­
einandersetzungen   und   die   Versorgungslücken   als   Folge   von   Beschädi­
gungen am weitverzweigten Multivac­System überlebt. Sie bahnten sich jetzt
einen Weg durch das Schiff, besetzten die Beiboote und sprengten sich ihren
Weg ins All hinaus. Multivac ließ sie ziehen, nachdem seine Hilfstruppen –
kleinere   Roboter   und   Maschinen   –   von   den   Flüchtlingen   besiegt   worden
waren.  Eine  Folge  der   Auseinandersetzungen  waren  Verwüstungen   in  den
Außenbereichen,   besonders   im  hydroponischen  Garten.   Lagervorräte   mit
Samen und Humus ergossen sich über den Boden, die gläsernen Kuppeln mit
den Pflanzen, Zucht­ und Versuchstieren zerbrachen  und eröffneten ihren
Gefangenen neue Lebensbereiche. So wurde Multivac letzten Endes ein Herr­
scher über ein Reich von Pflanzen, Tieren und Robotern, das Gesetzmäßig­
keiten gehorchte, die nach dem Auszug der Erbauer des Schiffes zum größten
Teil sinnlos geworden waren.

Harpo was der erste, der sich nach dem Ende des Films faßte. „Jetzt ver­

stehe ich beinahe alles“, sagte er zu seinen Freunden. „Aber das Verhalten
Multivacs ist mir ehrlich gesagt noch immer ein Rätsel.“ Ein schmerzhaftes
Kichern war die Antwort. „Ein Rätsel?“ höhnte Multivac. „Dabei ist doch alles
klar! Sie hätten sich gegenseitig umgebracht, wenn ich nicht eingeschritten
wäre. Organische Wesen sind unberechenbar! Sie werden von Gefühlen und
Drüsensekreten beherrscht! Sie hätten mein Schiff zu einem Schlachtfeld ge­
macht. Sie ...“

„Das Schiff ist ein Schlachtfeld!“ übertönte Anca mit klarer Stimme das rä­

sonierende Gehirn. Du hast überhaupt nichts verhindert, sondern im Gegen­
teil alles nur noch verschlimmert! Du bist nichts weiter als ein stockdummer
Computer, eine Maschine ohne Herz und ohne Spur von Menschlichkeit! An­
statt den unterdrückten Auswanderern zu helfen ...“ Sie stockte, weil ihr ein­

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fiel, daß es natürlich unsinnig war, diesem Bordgehirn fehlende menschliche
Gefühle   vorzuwerfen.   Multivac   war   ja   nichts   weiter   als   eine   defekte,   von
Extraterrestriern  erbaute   Maschine.   Ausnahmen   wie   Lonzo   und   Schwatz­
maul konnte man nicht als Maßstab heranziehen.

„An Bord dieses Schiffes herrscht Frieden“, donnerte es aus den Lautspre­

chern, das heißt, genaugenommen prasselte ein unverständlicher Text aus
den Membranen, den der Translator hastig übersetzte. „Meine Untertanen
sind zufrieden mit der Welt, seit ich sie beherrsche. Es gibt keinen Streit und
keine   Gewalt   mehr.   Und   ich   werde   verhindern,   daß   Querulanten   wie   ihr
abermals Neid und Mißgunst säen!“

„Untertanen?“ riefen Harpo und Ollie lachend.
„Wo  stecken  die denn?“  fügte  Anca  hinzu.  „Meinst  du  etwa  die   kleinen

Eichhörnchen im hydroponischen Garten? Oder die Drachen?“

„Rebellion!“ quäkte Multivac hysterisch. „Ihr zweifelt meine Autorität an!

Ich werde euch vernichten! Niemals wieder soll sich das wiederholen, was
sich schon einmal auf meinem Schiff abgespielt hat!“

„Er ist völlig kaputt“, meinte Lonzo, der gerade einen  Reservetentakel  als

Ersatz   für   das   verlorene   Glied   angeschraubt   hatte.   „Man   braucht   doch
wirklich   nur   eine   Spur   von   Intelligenz,   um   zu   erkennen,   daß   diese   Aus­
wanderer nur deshalb gewalttätig wurden, weil sie sich unterdrückt fühlten
und zusehen mußten, wie ihre Machthaber in Saus und Braus lebten! Auf der
Erde weiß jedes Schulkind, daß Menschen, die in alten Bruchbuden wohnen
und mehr Prügel bekommen als Essen, wütend werden. Sie greifen alles an,
was ihnen über den Weg läuft.“

Multivac zischte: „Wer ist der elende Wicht, der mich verhöhnt und verun­

glimpft?“  Harpo mußte trotz der angespannten Situation grinsen, weil der
Translator offenbar wieder einmal eine Stufe zu drastisch übersetzte. „Meine
Analyse ergibt, daß diese Kreatur zu 98 Prozent aus Metall besteht. Unge­
wöhnlich!   Organische   Wesen   bestehen   in   der   Regel   hauptsächlich   aus
Wasser!“

„Das kommt daher“, krähte Ollie, „weil unser Kumpel Lonzo kein Mensch

ist, sondern eine Maschine! Ein Roboter – aber einer mit Verstand!“ Er streck­
te Multivac die Zunge heraus.

„Ein ... Roboter?“  gurgelte   Multivac  ungläubig.  „Das ist  nicht  wahr!  Das

kann nicht wahr sein! Sag sofort, daß es nicht wahr ist! Der besonders kleine
Wicht soll sofort ...“

„Und warum soll es nicht wahr sein?“ erkundigte sich Lonzo seelenruhig.
„Weil Roboter nicht so kindisch reden wie du! Du willst mich nur verwir­

ren, kleine Metallbestie! Ich hab’s: Du bist ein organisches Wesen mit einem
dicken Metallpanzer!“

„Vor allen  Dingen  eines mit außergewöhnlicher Intelligenz“, behauptete

Lonzo   eitel.   „Ganz   im   Gegenteil   zu   dir.   Du   darfst   mir   eine  Mathematik­
aufgabe stellen, damit du mein phantastisches organisches Gehirn in Aktion
erleben kannst!“

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Multivac zögerte keine Sekunde: „16x² ­ 24xy + 9y² + 9x ­ 38y + 154 = 0 und

3x + 4y + 21 = 0. Parabel und Gerade! Wie groß ist der kürzeste Abstand ,d‘?
Hihihi!“

Mit diebischer Freude sah Harpo, wie Lonzos Sehzellen aufblitzten.

„d = 10“, schnurrte er honigsüß. Ein Ächzen schien aus den Lautsprechern zu
kommen. Multivac hatte zweifellos erkannt, daß nur ein positronisches Ge­
hirn   in   der   Lage   war,   diese   Gleichungen   derart   schnell   abzuleiten.
Elektronisches   Wissen   und   menschliches   Verhalten   in   einem   Körper?
Multivac   begann   plötzlich   wirre   Sätze   zu  reden,   so wirr, daß  die  Freunde
einen Moment lang dachten, mit dem Translator sei etwas nicht in Ordnung.
Aber auch aus den Lautsprechern drangen nur noch abgehackte Wortfetzen.

War dies die Chance, oder gerieten sie erneut in Gefahr? Harpo hielt vor

Spannung den Atem an. Dann hörte er Thunderclaps Stimme aus dem Laut­
sprecher des zurückgeklappten Raumhelms flüstern: „Wir haben alles mitbe­
kommen, Freunde. Keine Angst! Jetzt setzen wir unsere Geheimwaffe ein!“

Schwatzmaul greift ein

Es hätte keinen der Freunde allzusehr verwundert, wenn das unzerstörbar

erscheinende Metall im nächsten Augenblick unter Axthieben zersprungen
wäre und ein Trupp von Kindern und Grünen, mit Karlie und Brim an der
Spitze, einen tollkühnen Befreiungsversuch unternommen hätte.

Daß   Schwatzmaul   jetzt   alle   Register   seines   einprogrammierten   Wissens

und Könnens zog – damit hatte niemand gerechnet. Kein Wunder also, daß es
Harpo, Anca, Ollie, Alexander und sogar Lonzo die Sprache verschlug, als sich
das Bordgehirn der EUKALYPTUS räusperte und dann über die vier einge­
schalteten  Lautsprechersysteme  der   Raumanzüge   artig   einen   „guten   Tag
allerseits!“ wünschte. Da die Helme  herabgeklappt  waren – notfalls konnte
man   sie   schnell   wieder   verschließen   –,   drang   der   gute   Wunsch   auch   in
Multivacs   verborgene   Mikrophone.   Darüber   hinaus   verrieten   ihm   seine
feinen   Sensoren,   daß   sich   jetzt   jenes   Elektronengehirn   zu   Wort   meldete,
dessen elektrische Ströme ihm längst bekannt waren.

Multivac wußte, daß in unmittelbarer Nähe des Wracks ein anderes Raum­

schiff schwebte und daß dieses Schiff einen Computer beherbergte, der ihm
an Speicherkapazität und Funktionsvolumen ebenbürtig war. Er hatte dieses
andere   Gehirn   bisher   ignoriert.   Es  paßte  nicht   in   sein   Weltbild,   daß   es
außerhalb   der  von   ihm   beherrschten   Welt  Kräfte   gab,  die   seinem   Einfluß
entzogen waren.

Aber Schwatzmaul ließ es nicht zu, daß Multivac ihn weiter ignorierte. Mit

einer gewollt unmusikalischen Stimme begann er das Lied „Hänschen klein“
zu singen.

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Multivac schwieg. Aber über den kleinen Bildschirm liefen in wahnwitziger

Geschwindigkeit Hunderte von wirren Kurven.

Schwatzmaul beendete das Lied, ließ aus dem Tonarchiv prasselnden Bei­

fall  einer  vieltausendköpfigen  Menge   für  sich  ablaufen,  bedankte  sich   be­
scheiden – und intonierte mit brüchiger Stimme „Wir lagen vor Madagaskar“.
Das klang so schaurig, daß sich in der Zentrale der EUKALYPTUS dem Dackel
Moritz   das   Fell   sträubte.   Er   kläffte   wild.   Allein   Lonzo   schien   das   Lied   zu
gefallen. Aus dem Winkel seines  Brustfaches  kramte er seine Schiffermütze
hervor, stülpte sie auf den Kopf und sang ebenso lauthals wie falsch mit.

„Aufhören!“ schrie Multivac.
Schwatzmaul und Lonzo mußten dies als eine Art Beifall  mißverstanden

haben, denn sie sangen nun noch lauter und schauriger. Bei Multivac brann­
ten die ersten Transistoren durch, dann begann der Boden unter den Füßen
der Gefangenen  zu vibrieren.  Schließlich brachen eine Anzahl von Schalt­
elementen krachend und funkensprühend auseinander.

„Verrat!“ schrie Multivac. „Man setzt mich hypnotischen Strahlen aus!“ Mit

der lallenden Stimme eines Betrunkenen rief er nach der Wache. Aber die er­
schien nicht, weil sie seit Jahrhunderten nicht mehr existierte.

Schwatzmaul feuerte eine Breitseite menschlich klingenden Gelächters ab,

das   mit   einem   leisen   Kichern   begann   und   in   einem   gurgelnden   Röcheln
endete,  wobei  er prustete: „Nicht  kitzeln!  Nicht  kitzeln! Wo ich  unter  den
Fußsohlen doch so empfindlich bin!“

„Vernichten! Vernichten!“ trompetete Multivac, während gleichzeitig wei­

tere   Schaltelemente   zusammenbrachen.   Lonzos   äußerst   kompliziertes   In­
nenleben   registrierte   einen  Energieausbruch  von   ungewohnter   Stärke.   Es
roch nach verschmorten Wicklungen und schwelendem Kunststoff.

In eine erneutes Gelächter hinein, das er auf einer Spule ablaufen ließ, sag­

te Schwatzmaul: „Ich in ein Computer, Multivac – genau wie du! Eine An­
sammlung von Drähten, Spulen, Magnetbändern, gedruckten Schaltungen,
Kabeln und Blechen. Aber ich bin ein guter Typ, während du ein humorloser
alter  Knochen  bist,  reif  für  den   Schrottplatz! Warum  löschst   du nicht  das
dumme Programm, das in dir abläuft, seit das erste organische Wesen dir ein
Kännchen Öl zu trinken gab? Sei fröhlich und mach ein Tänzchen mit uns!“

Harpo, der diesen Wink sofort verstanden hatte, faßte Anca an der Hand

und begann mit ihr übermütig herumzuhüpfen. Ollie faßte Alexander an den
langen Zotteln und versuchte mit ihm Tango zu tanzen. Lonzo, wie immer
bei solchen Gelegenheiten gar nicht faul, quakte wie eine Ente und benutzte
seine Tentakel zu seiner bekannten Radschläger­Einlage, die er im Zuge einer
Kaperfahrt mit Captain Kidd in Düsseldorf erlernt zu haben behauptete.

„Aaaarrrrhhhh!“ machte Multivac wutentbrannt.
„Das ganze Universum ist wahnsinnig!“
„Tatsächlich?“ fragte Harpo freundlich.
„Quiek! Quiek!“ machte Multivac.
„Nicht quieken“, machte Schwatzmaul und lachte. „Samba! Samba!“

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Multivac schien von einer Fieberwelle geschüttelt zu werden. Seine bisher

ziemlich schrille Stimme brummte kellertief, erstarb mehrmals, setzte wieder
neu ein. „Illusion“, brummte er monoton. „Hypnosestrahl. Jemand ... arbeitet
...   an   ...   der   ...   Auflösung   ...   meiner   ...   inneren   ...   Kontrolle   ...   Nicht   be­
einflussen   lassen.   Nur   nicht   beeinflussen   lassen!   Niemand   kann   Multivac
besiegen und sein Programm löschen! Multivacs Realität ist die einzig wahre
Realität. Der Gegner arbeitet mit falschen Programmen!“

„Heladiladiladi ­ Heladiladiho!“ brüllten die Gefangenen im Chor. Schwatz­

maul schloß sich an und sang die zweite, dritte, vierte und fünfte Stimme
gleichzeitig. Die Zurückgebliebenen auf der EUKALYPTUS fielen in den Lärm
mit ein. Anfangs klangen die Stimmen etwas zittrig, doch als sie sich erst ein­
mal an die neue Lage gewöhnt hatten, sangen sie wie die anderen aus voller
Kehle. Trompo legte sogar ein Trompetensolo ein.

„Barbarenmusik!“ stöhnte Multivac. „Meine Schaltkreise! Meine schönen,

schönen Schaltkreise!“ Und dann, unerwartet und unmaschinell: „Au weia!“

Darauf hatte Schwatzmaul gewartet. Das Bordgehirn des Wracks stand nun

schutzlos einem übergeordneten Bordgehirn von der EUKALYPTUS gegen­
über. Zirpend rasten elektrische Impulse aus den Tiefen der EUKALYPTUS
durch  das All  und durchdrangen  die Abschirmungen  des Wracks. Ein  un­
sichtbarer Energiestoß, der zehntausend Tonnen Gestein auf der Stelle zum
Schmelzen gebracht hätte, jagte in die Speicherbänke Multivacs und fetzte
sie auseinander.

Multivac gab nur ein Brummen von sich, dann schaltete er sich mit einem

dröhnenden Kreischen aus.

„Dachte ich es mir doch“, hörte Harpo das Bordgehirn der EUKALYPTUS

sagen.   „Multivac   besaß   eine  gutbewachte  Sicherheitsschaltung,   die   ihn
eigentlich schon hätte ausschalten müssen, als sein Wahnsinn so weit gedieh,
daß er organische Wesen angreifen ließ. Aber er hatte diese Schaltung über­
listet. Erst als er die Kontrolle verlor, weil er nach dem, was er wahrnahm, an
sich selbst zweifelte, konnte ich den größten Teil der Speicher zerstören und
diese Sicherheitsschaltung aktivieren.“

„Ist er jetzt tot?“ fragte Anca mitleidig, obwohl der Computer sie ernsthaft

bedroht hatte.

„Wenn er jemals gelebt hätte, wäre er das“, antwortete Schwatzmaul. „Er ist

zum   größten   Teil   zerstört   und   kann   nur   noch   simpelste   Steuerungsme­
chanismen in Gang setzen. Er besaß kein Gefühl, aber dafür eine kranke Ra­
tio.   Dennoch   habe   ich   ihn   nicht   gern   zerstört.   Aber   es   war   die   einzige
Möglichkeit. Denn selbst wenn er euch hätte ziehen lassen, hätte niemand
dafür garantieren können, daß er nicht eines Tages andere organische Lebe­
wesen, vielleicht einen ganzen bewohnten Planeten angegriffen und vernich­
tet hätte.“

Die   Rückkehr   ging   viel   leichter   vonstatten,   als   sich   die   Expeditionsteil­

nehmer dies vorgestellt hatten. Niemand hielt sie auf, und es gab keine Tür,
die sich dagegen stemmte, geöffnet zu werden. Soweit Lichtschranken vor­

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handen waren, öffneten sich die Türen so einladend, wie man das auch von
funktionierenden Türen erwartete.

Die   meisten   Roboter   standen   reglos   dort,   wo   sie   durch   die   Zerstörung

Multivacs überrascht worden waren. Die riesigen Fabrikanlagen lagen still im
Schein einer trüben Notbeleuchtung. Hier wurde nicht mehr produziert. Nur
der kleine Reinigungsroboter raste unermüdlich um die Maschinenblöcke. Er
würde so lange saugen und bürsten, bis eines Tages seine Akkumulatoren
keine Energie mehr lieferten. Wie es aussah, besaß er ein von Multivac un­
abhängiges Programm.

„Wie wird das alles weitergehen?“ fragte Harpo besorgt. Er war ein bißchen

traurig, daß diese seltsame  Maschinenwelt  viele hundert Jahre ein – wenn
auch sinnloses – Dasein geführt hatte und verrosten würde wie die Außenbe­
zirke des Schiffes. Wenn Multivac sie nicht so provoziert hätte ... Aber das war
natürlich unsinnig.

Früher oder später hätte Multivacs Wahnsinn wohl ohnehin zur Selbstzer­

störung geführt. Und außerdem hatten Maschinen ihren Konstrukteuren zu
gehorchen und durften sich nicht als Gewaltherrscher über sie aufspielen.

„Wir wissen nicht, wie es weitergeht“, erklärte Lonzo ungewohnt ernsthaft.

„Da es noch Licht und Luft gibt, scheinen die  Grundschaltungen  intakt zu
sein. Denkt an die  Energiewürfel.  Kann sein, daß dieses Wrack noch einige
tausend Jahre versorgt wird. Aber beschwören kann ich es nicht.“

„Die Tiere!“ rief Anca plötzlich, als die hydroponischen Gärten vor ihnen

lagen. „Ich will nicht, daß die Tiere sterben müssen!“

Daran hatte keiner gedacht. Nein, den Tieren durfte nichts geschehen!
„Wir bringen sie einfach auf die EUKALYPTUS“, meldete sich Thunderclap

fröhlich. „Wir haben so viele unbewohnte Decks, daß wir ihnen eines einräu­
men können.“

„Aber sie werden vielleicht ohne die Pflanzen nicht leben können“, warf

Harpo ein.

„Wieso?“   rief  Ollie,  der   Feuer  und  Flamme  war.  „Die  nehmen  wir   doch

einfach auch mit. Ist doch klar“!

So   klar   erschien   das   den   anderen   gar   nicht.   Pflanzen   konnte   man   um­

betten, aber wie sollte man die scheuen Tiere davon überzeugen, daß sie ge­
rettet werden sollten?

„Wir machen tüchtig Lärm und treiben alle Tiere in einen vorher ausge­

suchten Bezirk des Schiffes“, schlug Anca vor.

„Das mit dem Krachmachen ist gut“, lobte Harpo. „Aber was dann? Wie soll

es weitergehen? Wie willst du die Tiere transportieren?

„Die Grünen könnten dieses Stück des Wracks mit Schneidbrennern her­

ausschneiden ...“

„Unmöglich!“   protestierte   ihr   Bruder.   „Das   würde   die   Tiere   erst   recht

ängstlich machen. Und selbst wenn das gelingen sollte: Wie willst du das Seg­
ment so luftdicht isolieren, daß wir es durch das All transportieren können?
Und   wahrscheinlich   müßte   es   so   groß   sein,   daß   nicht   einmal   unsere

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Hangarschleuse  ausreichen   würde,   um   es   aufzunehmen.   Nein,   nein,   wir
müssen uns etwas anderes einfallen lassen.“

Anca   schwieg.   Auch   den   anderen   wollte   trotz   rauchender   Köpfe   keine

brauchbare Idee kommen.

Die Freunde in der Zentrale der EUKALYPTUS hatten alles mitgehört.
„Ich hab’s!“ rief Karlie plötzlich aufgeregt. Man konnte sich bildhaft, wie er

nach dem Mikrophon griff und daran zerrte. „Wenn wir nicht alle Tiere und
Pflanzen   auf   einmal   auf   die   EUKALYPTUS   bringen   können   –   dann   eben
schubweise.  Paßt  auf, denn Karlie Müllerchen gibt euch jetzt einen heißen
Tip: Wir benutzen die Gleitboote!“

Alle riefen durcheinander. Natürlich! Daß sie nicht gleich auf diese Lösung

gekommen waren. Die Boote hatten zwar keinen großen Lagerraum, aber bei
entsprechend   zügigem   Pendelverkehr   war   der   Transport   der   Tiere   und
Pflanzen wahrscheinlich nur eine Sache von wenigen Stunden.

„Karlie,   du   bist   ein   Ass!“   rief   Harpo.   Aber   bei   dem   Stimmengewirr   auf

beiden Seiten des  Funkkanals  war zu bezweifeln, daß es den erreichte, für
den das Lob gedacht war.

Schwatzmaul griff jetzt ein und beschlagnahmte die Funkfrequenz für sich,

damit Ruhe einkehrte. Schließlich mußten noch etliche Detailfragen geklärt
werden. Mit wohlgesetzten Worten machte er auch gleich einige Vorschläge
zum technischen Ablauf. Zum Beispiel war es wichtig, daß die Boote so nahe
wie möglich an die Tiere herankamen.

Einfach würde es trotzdem nicht werden. Aber wer geglaubt hätte, daß sich

die Kinder von Problemen abschrecken ließen, der kannte sie schlecht. Schon
wurden die ersten Ideen in die Tat umgesetzt.

Karlie,   Brim   und   Thunderclap   setzten   mit   einigen   Grünen  auf   den   drei

Gleitbooten zum Wrack über. Nach einigen Sprengungen legten sie direkt an
der inneren Schleuse am hydroponischen Garten an. Dort hatte sich die Si­
tuation verändert. Die lebenswichtige Beleuchtung war ausgefallen. Wie in
den Maschinenhallen brannte nur eine trübe, rote Notbeleuchtung.

Es   war   gar   nicht   nötig,   Krach   zu   schlagen.   Die   Tiere   kamen   ihnen   wie

Flüchtlinge entgegen und schmiegten sich ängstlich an sie. Es dauerte ein
paar  Minuten,   bis  Karlie  den  Grund  entdeckte.  Die  Brustscheinwerfer   der
Jungen zogen die Tiere wie magisch an, weil sie sich von dem Licht Wärme
und Leben versprachen. Willig folgten die Tiere durch einen improvisierten
Zuführungstunnel in die Gleitboote. Später flammte das Licht wieder auf, ob­
wohl niemand sagen konnte, warum und wie lange. Aber da tummelten sich
die Tiere längst an Bord der EUKALYPTUS. Es gab weitaus mehr Tiere, als sie
zuvor   angenommen   hatten:   großäugige   Eichkätzchen,   gefleckte   und   ge­
schuppte  Katzenwesen,   ein   paar   Echsen,  hornbewehrte  Schlangen,   grun­
zende   Kröten   mit   blauer   Haut   und   drei   Augen   –   zusammen   vielleicht
tausend. Aber im Pendelverkehr der Gleitboote waren sie schnell an Bord ge­
bracht. Auch die kleinen Drachen wurden nicht vergessen. Zwischendurch
wurden Pflanzen geladen, damit die neue Umgebung den ängstlichen Passa­
gieren   nicht   zu   fremd   erschien.   Die   Grünen   schufteten   unermüdlich   und

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nahmen die Pflanzen immer gleich mitsamt ihrem Humusbett an Bord. Nur
die  größten  Gewächse  mußte   man   zurücklassen,   weil   es keine  Transport­
möglichkeiten gab.

Ollie  hatte   seit   dem   Transport   der   Tiere   jedes   Interesse   an   dem   Wrack

verloren und trieb sich meistens auf dem Deck herum, auf dem seine neuen
Freunde untergebracht waren. Besonders stolz war er auf eine  dackelgroße
Katzensippe,  die  er  höchstpersönlich   eingefangen  hatte.  Die   kleinen   Tiere
waren friedlich und ließen sich von Ollie tragen. Er arbeitete bereits Pläne
aus,   sie   mit   Moritz   zu   kreuzen,   aber   es   war   sehr   zu   bezweifeln,   daß   das
gelingen würde.

Als letzte verließen Harpo und Anca das Wrack, nachdem die Grünen auch

noch   etliche   Energiewürfel   in   Schutzkästen   abtransportiert   hatten.   Die
beiden ließen es sich nicht nehmen, auf dem gleichen Weg zur EUKALYPTUS
zurückzukehren, auf dem sie gekommen waren. Elegant lösten sie sich von
der   schwarzen,   zernabten   Außenhaut   des   Wracks,   auf   dem   nun   niemand
mehr lebte als ein paar Riesenpflanzen, Würmer und Mikroben.

Harpo, der die Augen für einen Moment instinktiv geschlossen hatte, spür­

te den festen Griff seiner Schwester und öffnete schließlich die Lider. Der
Ausblick, der sich ihm bot, war phantastisch:

Vor   ihnen,   in   einer   Entfernung   von   nur   hundert   Metern,   schwebte   das

stolze  Schiff.   Man  sah   die   beiden  Riesenkugeln,  die  durch   ein  langes,  zy­
lindrisches Zwischenstück miteinander verbunden waren. Ein bißchen sah es
aus   wie  eine   kilometerlange   Hantel   oder   wie   ein  Riesenknochen.  Winzige
Lichtpunkte verrieten, daß an Bord alles seinen gewohnten Gang ging. Unter
der gläsernen Kuppel der Zentrale arbeiteten Schwatzmaul und Karlie bereits
den neuen Kurs aus.

Über ihre Funkgeräte hörten die Geschwister einen wilden  Protestschrei.

Die Stimme war unschwer zu erkennen. Es war der kleine Oliver.

„Der Schatz!“ rief er aufgeregt. „Wir haben den Schatz vergessen!“
Mit ausgebreiteten Armen schossen Harpo und Anca zwischen den Sternen

dahin. Bald würden sie wieder an Bord sein, unter Freunden, die sie nicht
missen mochten, unterwegs im Sternenraum, der ihre Heimat war.

Ende

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Die Besatzung der EUKALYPTUS

Harpo Trumpff:
Sechzehn. Blondes, schulterlanges Haar. Hat gelegentlich Angst vor dem

Alleinsein in der Dunkelheit. Grund seines Aufenthalts auf dem Sanatoriums­
schiff: Schwindelanfälle,  Gedächtnisstörungen   nach   Stürzen.   Chronist  und
Logbuchführer der EUKALYPTUS.

Anca Trumpff:
Harpos Schwester. Zwölf. Langes schwarzes Haar. Klein. Etwas pummelig.

Regt sich auf, wenn man sie „Pummelchen“ nennt. Liebt Tiere. Mit Ollie sehr
eng befreundet. Übertreibt gern. Wurde auf das Schiff geschickt, damit Harpo
sich nicht allein fühlt.

Brim Boriam:
Vierzehnjähriger Negerjunge. Krauses Haar. War anfangs sehr schüchtern.

Litt unter starken Sprachstörungen. Stottert jetzt nur noch, wenn er sehr auf­
geregt   ist.   Hat   medizinisches   Talent.   Wurde   von   den   Galaktischen   Medi­
zinern in einem Schnellhypnose Verfahren zum Arzt ausgebildet.

Thunderclap Genius:
Deckname eines gelähmten fünfzehnjährigen Jungen. Hütet seinen echten

Namen sorgsam. Hochintelligenter Tüftler. Technisch begabt. Alleswissende
Leseratte mit eidetischem Gedächtnis (vergißt kaum etwas, was er einmal ge­
hört oder gelesen hat). Hobby: Entschlüsseln von Geheimschriften.

Lonzo:
Roboter. Im Gegensatz zu seinen maschinellen Kollegen, die wegen ihrer

teddybärartigen  Aufmachung die „Grünen“ genannt werden, ohne Verklei­
dung. Behauptet von sich, überhaupt keine Maschine, sondern ein ehema­
liger   Seeräuber   zu   sein.   Ist   zweifellos   defekt.   Steht   voll   auf   der   Seite   der
Kinder. Akzeptieren ihn, so wie er ist. Klopft gern Sprüche. Hat so ziemlich je­
des Buch über Piraten gelesen. Ist in  der  Lage, kleinere  Verletzungen und
Krankheiten   mit   einem  eingebauten   medizinischen  System  zu   behandeln.
Besitzt   aus  Metallringen  zusammengesetzte  Beine   und  einen   kugelrunden
Kopf.

Micel Fopp:
Vierzehn.   Schwarzhaarig.   Dunkle   Augen.   Wurde   durch   falsche   Medi­

kamente, die seine Mutter während ihrer Schwangerschaft einnahm, mit ver­
kürzten Armen geboren. Hände klein wie die eines Fünfjährigen und direkt
an seinen Schultern angewachsen. Ansonsten körperlich unversehrt. „Tele­
path“ (ist in der Lage Gedanken zu lesen).

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Karlie Müllerchen:
Fünfzehn.   2,20   Meter   groß.   Niemand   weiß,   wann   er   aufhören   wird   zu

wachsen. Bürstenhaarschnitt. Liebt nichts mehr als Kartoffelpuffer. Tischt sie
jedesmal, wenn er mit Küchendienst an der Reihe ist, den anderen in hundert
Variationen auf. Hat Humor und starkes Interesse an Funktechnik und Astro­
navigation.

Ollie:
Elf. Strubbelkopf. Fransenbesetzte Lederhose. Ziemlich frech. Sogenannter

„Hypochonder“ (eingebildeter Kranker). Kerngesund, redet sich aber ständig
ein, gegen alles und jeden allergisch zu sein. Schreit nach Medizin, sobald er
einen einsamen Pickel auf seiner Haut entdeckt. Sein Ziel: rasch erwachsen
zu werden, weil er Anca Trumpff heiraten will.

Moritz:
Dackel. Ollies Liebling. Darf eigentlich nicht in die Zentrale. Wird von Ollie

immer wieder eingeschmuggelt. Hat es auf Lonzos Metallbeine abgesehen.
Und auf Trompo, den er für eine Art Hund hält.

Trompo:
Außerirdisches Wesen von Katzengröße. Sieht wie ein rosafarbener Elefant

aus. Schlappohren. Haut ist von einem Fell bedeckt. Ist kein Tier, sondern ein
intelligentes Lebewesen von einem Planeten mit unaussprechlichem Namen.
Lebte als eine Art „Krankheitsaufspürer“ bei den Galaktischen Medizinern,
bevor er auf das „Raumschiff der Kinder“ kam.

Alexander:
Sieht wie ein Bär aus. Trägt einen roten Pelz. Kein Wunder, denn er ent­

stammt einer intelligenten Lebensform des Planeten Nordpol, die als Rasse
der Rotpelze bekannt ist. Vielleicht zehn Jahre alt, aber sehr stark. Und lern­
eifrig.   Nur   mit   der   menschlichen   Sprache   will   es   noch   nicht   so   richtig
klappen.

Schwatzmaul:
Elektronengehirn   der   EUKALYPTUS.  Umfaßt  alle   elektronischen   Teile,

Steuer­ und Kontrollelemente des Schiffes. Und die Speicherbänke. Die Bord­
bibliothek. Ist nicht perfekt. Muß manchmal zugeben, daß er Wissenslücken
hat. Redet mit menschlicher Stimme viel, gern und geschwollen. Auch über
Sachen, die keinen interessieren. Das hat ihm seinen Namen eingetragen.

EUKALYPTUS:
Den Namen erhielt das Schiff erst durch die Kinder. Obwohl es ja eigentlich

eher  wie  eine  riesige   Hantel   aussieht.  Zwei   Kugeln,   ein  zylindrisches   Ver­
bindungsstück. Besteht aus  einer Vielzahl von Decks, jedes  kilometergroß,
viele davon als künstliche Wüsten und Dschungel ausgestattet.

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Ob das Raumfahrzeug ursprünglich als eine Art  Auswanderungsschiff  für

interstellare Reisen vorgesehen war, weiß man nicht so genau. Sicher ist nur,
daß es einen neuartigen, vorher nicht getesteten Antrieb besitzt, der mehrfa­
che Lichtgeschwindigkeit  zuläßt.  Es umkreiste als  Hospitalschiff  für kranke
und umweltgestörte Kinder die Erde – bis es sich aus noch ungeklärter Ursa­
che aus seiner Umlaufbahn riß. Die ursprüngliche Besatzung ließ das Schiff
und die Kinder im Stich. Diese mußten selbst lernen, das Schiff zu steuern.
Oder steuern zu lassen, denn die meiste Arbeit nimmt ihnen der allgegen­
wärtige Computer Schwatzmaul ab. Daß sich die EUKALYPTUS überhaupt
wieder   manövrieren   läßt,   verdanken   die   Kinder  vor   allem  den   hilfreichen
„Weltraumärzten“,   einer   extraterrestrischen   Rasse.   Die   EUKALYPTUS   hat
mehrere Beiboote, Fabrikationsstätten für alles, was an Bord benötigt wird,
Wartungsroboter – und natürlich eine sehr tüchtige, aber auch fröhliche Be­
satzung.

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