2019 05 13 Historikerin Anne Applebaum über Stalin

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13.05.2019

Historikerin Anne Applebaum über Stalin

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Die Menschheit hat Schulden auf ihre Utopien gemacht. Der Sozialismus ist eine
davon. Eine Betrachtung aus Anlass von Anne Applebaums Buch „Roter
Hunger“.

Von JÜRGEN KAUBE

Noch immer gilt der Sozialismus vielen als eine Utopie. Als Denkmöglichkeit, als etwas am
Horizont, auf das es hinzuarbeiten gilt, als Inbegriff einer gerechten Wirtschafts-, ja
Gesellschaftsordnung. Vom Faschismus würde niemand mit Verstand und
Geschichtskenntnis so etwas sagen, auch wenn sich immer mehr Wirrköpfe melden, die
Mussolini hochleben lassen, Reichsbürger spielen oder weiße Rasse. Schon die Analogie
zwischen Faschismus und Sozialismus jedenfalls würden sich viele Linke verbitten.

Ein Buchtitel „Mit Sozialisten reden“ wäre darum unfreiwillig komisch, denn der Sozialismus
ist eine gut eingeführte Redensart. In Russland werden Lenin wie Stalin („Sozialismus in
einem Land“) von führenden Politikern als große Männer verehrt. Das Erstaunen darüber
hält sich in Grenzen, man findet vielmehr historische und völkerpsychologische
Entschuldigungen. Vergleichbare Gesten zugunsten nationalsozialistischer Verbrecher
würden hingegen zu Recht Empörung auslösen. Zumindest Lenin und die russische
Revolution können auch außerhalb Russlands auf Wertschätzung ihres angeblichen Beitrags
zum Menschheitsfortschritt rechnen. Der Sozialismus, so heißt es, war eine respektable Idee,
die leider in und an der Wirklichkeit gescheitert ist. Man schreibt ihm humane Absichten gut.
Er gilt als diskutable Phantasie.

Die amerikanische Historikerin Anne Applebaum hat jetzt ein Buch über die Wirklichkeit des
Sozialismus, der Kollektivierung und des Hasses auf das Privateigentum vorgelegt. In „Roter
Hunger. Stalins Krieg gegen die Ukraine“ schildert sie dabei nicht nur eine Episode aus der
Geschichte der Sowjetunion. Zwischen 1917 und 1933 entfaltete sich vielmehr im Gebiet

12.05.2019 - Aktualisiert: 13.05.2019, 09:09 Uhr
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Anne Applebaum über Stalin

Wer nicht hungert, ist verdächtig

© AP

Überlebende der Hungersnot, die Stalin 1932 und 1933 über die Ukraine brachte, in der
Ortschaft Krasylivka, aufgenommen im Jahr 1934.

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zwischen Winnyzja und Charkiw, Kiew und Donezk die Logik der sozialistischen
Kollektivierung in ihrer grausamen Konsequenz.

Sie hatte eine doppelte Grundlage: Die Verachtung der Bolschewiki für die Ukraine, die als
rückständige Region ohne Anspruch auf nationale Selbstbestimmung galt, deren einzige
Aufgabe es sei, Russland zu ernähren. Und das Urteil von Karl Marx, Bauern seien gar keine
„Klasse“. Sie „können sich nicht vertreten, sie müssen vertreten werden.“ Lenin verschärfte
das noch. Viele Bauern dächten wie Kapitalisten, weil sie ja Eigentum hätten, weswegen noch
der kleinste Landbesitzer zu konterrevolutionären Gesinnungen neige. Der Name, dem man
diesem Feind des Sozialismus gab, war „Kulak“.

Damit, dass der Sozialismus nicht nur den Nationalstaat, sondern auch das Landeigentum
und die selbständigen Bauern zum Verschwinden bringen würde, wurde blutig Ernst
gemacht. Wer Ukrainisch sprach, war nach der zweiten Besetzung des Landes durch die
Bolschewiki mit dem Tode bedroht. Und wer Bauer war, wurde drangsaliert. Denn die
Arbeiter, Soldaten und Funktionäre von Moskau bis Petersburg mussten versorgt werden.
Andernfalls wäre die Unterstützung für die Revolution geschwunden. Doch natürlich setzten
Kollektivierung und Zwangsbewirtschaftung nicht gerade Anreize für eine erhöhte
Produktion. Also trat der Sozialismus schnell in eine Schleife von Repression,
Nahrungsmittelverknappung und weiterer Repression ein, in der sich die Mittel der
Unterdrückung ständig verschärften, weil ihre Folge ein wirtschaftliches Desaster war:
Enteignung von Land, Beschlagnahme von Getreide, Plünderung, Terror und Massentötung
von Leuten, die nicht mitmachen wollten oder konnten.

Schon während der „Entkosakisierung“ 1919 wurden 12.000 Menschen hingerichtet, aber das
war nur ein Vorspiel. Der Kreis der Volksfeinde wurde immer größer. War der Begriff „Kulak“
zunächst für wohlhabende Bauern reserviert, war am Ende jede Familie, die erfolgreich
anbaute oder überhaupt etwas besaß, beispielsweise eine einzige Kuh, ja, die sich auch nur
ernähren wollte, eine von staatsfeindlichen Kulaken. Deren Ausrottung belief sich am Ende
allein in der Ukraine auf fast vier Millionen Tote: durch Entzug von Nahrungsmitteln und
durch direkten Terror.

Dass die Nahrungsknappheit auf falsche Anreize, den Weltkrieg, den Bürgerkrieg und
Missernten zurückging, focht die Sozialisten nicht an. Für sie gab es überhaupt nur Politik,
alles war eine Frage des Willens und der Bereitschaft, Entscheidungen zugunsten des von

© Picture-Alliance

Die Historikerin Anne Applebaum.

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ihnen definierten Gemeinwohls durchzusetzen. Wo noch heute „Demokratisierung“ mit
„Politisierung“ gleichgesetzt wird und beides umstandslos als Wohlfahrtsprojekt gilt, bietet
die Geschichte der Sowjetunion viel Stoff zum Nachdenken. Die Bolschewiki setzten
beispielsweise „politische“ Preise durch, also hohe Preise für Industriegüter und niedrige für
Getreide. Das beförderte die Schattenwirtschaft und zog weiteren Hass auf diejenigen nach
sich, die dort handelten oder die Nahrungsmittel gar nicht verkauften. Oder sie versuchten,
die Bauern in riesigen Agrarbetrieben, angeblich in Gemeinschaftsbesitz, zu proletarisieren
und zu entnationalisieren. Aber die Manager der Kollektivierung, von Moskau entsandte
junge Sozialisten, hatten meist nicht die geringste Ahnung von der Landwirtschaft. Es setzte
Landflucht ein, die dann ihrerseits gewaltsam unterbunden wurde. Zehn Jahre nach der
Revolution war der Lebensstandard noch geringer als unter dem Zaren, und es ging immer
weiter bergab.

Das wiederum durfte nicht am Sozialismus liegen, vor allem aber nicht an seinen Führern in
Moskau. Es musste einerseits an den Bauern liegen, an den Priestern, am Ukrainertum. Der
Widerstand gegen den ökonomischen Wahnsinn und Versuche zu überleben – die Bauern
schlachteten zum Beispiel das Vieh lieber, als es beschlagnahmen zu lassen – wurden
kriminalisiert. Andererseits wurde die Schuld den Funktionären vor Ort zugeschoben, die als
Saboteure der weisen Planwirtschaft bezeichnet wurden. Ergo totgeschlagen. Am Ende
reichte allein die Kenntnis der Hungersnot aus, hingerichtet zu werden. Als 1937 eine
Volkszählung ergab, dass acht Millionen Menschen fehlten, Opfer des Hungers und
entsprechend weniger geborene Kinder, wurden die obersten Volkszähler reihenweise
erschossen.

Anne Applebaum beschreibt diese Verbrechen der russischen Revolution, ihrer
Kollektivierungsideologie und ihrer politischen Mörder als sich abwärtsbewegende
Eskalation hin zu wirtschaftlichen, politischen und moralischen Abgründen. Das Getreide,
das die Bauern abliefern sollten, existierte am Ende nur noch in der Phantasie Stalins.
Während Millionen Hungers starben, exportierte die Sowjetunion, was man ihnen
weggenommen hatte, um an Devisen heranzukommen. Mit den Produkten der glorreichen
Industrialisierung gelang das nämlich nicht. Am Ende entzogen die Parteifunktionäre den
Bauern sogar das Saatgut und tobten, wenn gar nichts mehr aus ihnen herauszuholen war.
Für Mundraub wurde die Todesstrafe eingeführt; schon sechs Monate nach Erlass des
entsprechenden Gesetzes waren 4500 Personen deshalb hingerichtet worden. Wurde eine
Familie beim Essen angetroffen, konnte das also zu Erschießungen führen. Wer nicht

© Siedler Verlag

Anne Applebaum: „Roter Hunger. Stalins Krieg gegen die Ukraine“. Aus dem Englischen
von Martin Richter. Siedler Verlag, München 2019. 544 S. Abb., geb., 36 Euro.

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hungerte, so schreibt Applebaum, war verdächtig. Die Denunziation blühte, weil man
mitunter denen, die Schuldige lieferten, Brot versprochen hatte. Zuletzt herrschte freilich nur
noch Apathie: „Die Leute sind abgestumpft, sie reagieren überhaupt nicht mehr. Nicht auf
das Sterben, nicht auf den Kannibalismus, auf gar nichts“, hielt ein Parteifunktionär 1933
fest.

Dass sich auch westliche Journalisten, Intellektuelle und Politiker an der Vertuschung dieser
Hölle beteiligten, gehört mit zu ihrer Geschichte. Als George Bernard Shaw 1931 seinen 75.
Geburtstag in Moskau mit einem vegetarischen Festmahl feiern ließ, dankte er seinen
Gastgebern und wendete sich gegen antisowjetische Propaganda. Freunde hätten ihn für
seine Reise nach Russland mit Konservendosen ausgestattet. „Sie meinten, Russland würde
hungern. Aber ich warf alles in Polen aus dem Zugfenster, bevor ich die sowjetische Grenze
erreichte.“ Ein Journalist notierte, man habe gespürt, wie sich den Zuhörern bei diesen
Worten kollektiv der Magen zusammenzog.

Am besten aber brachte die Einstellung vieler Fernanhänger des Sozialismus der von
Applebaum zitierte russische Schriftsteller Andrej Platonow zum Ausdruck. In seinem Stück
„14 Rote Hütten“ drängt ein ausländischer Intellektueller bei seinem Besuch in der
Sowjetunion: „Wo ist hier der Sozialismus? Zeigen Sie ihn sofort, mich ärgert der
Kapitalismus!“ Wen der Kapitalismus ärgert, wofür es viele Gründe gibt, sollte sich mit der
Geschichte seines Gegenteils und dessen Hinterlassenschaft befassen. Und zwar nicht nur
mit seiner Ideengeschichte, sondern auch mit den Orten, an denen seine Phrasen
Wirklichkeit wurden.

Anne Applebaum stellt ihr Buch „Roter Hunger. Stalins Krieg gegen die Ukraine“ (Siedler
Verlag, Berlin 2019) heute, am 13. Mai, in Berlin um 18 Uhr in der Quadriga am Werderschen
Markt vor.

Quelle: F.A.Z.

Kino in Moskau zeigt verbotenen Stalin-Film

© Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH 2001–2019

Alle Rechte vorbehalten.


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