Doyle Arthur C Professor Challenger und das Ende der Welt

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Sir Arthur Conan Doyle


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Das Ende der Welt

(The Poison Belt)

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I

Die Linien verblassen



Jetzt, da die ungeheuren Ereignisse meiner Erinnerung noch
klar verhaftet sind, ist es unerläßlich geworden, sie
niederzuschreiben, bevor die Zeit sie verblassen läßt. Noch
während ich dies tue, bin ich von dem Wunder der Tatsache
überwältigt, daß es ausgerechnet unserer kleinen Gruppe von
der »Vergessenen Welt« – Professor Challenger, Professor
Summerlee, Lord John Roxton und mir – vergönnt war, diese
verblüffenden Erfahrungen durchzumachen.

Als ich vor ein paar Jahren in der Daily Gazette den

aufsehenerregenden Bericht über unsere Südamerikareise
veröffentlichte, wäre mir nicht im Traum eingefallen, daß das
Schicksal mich dazu ausersehen würde, über ein noch
ungewöhnlicheres Ereignis zu berichten – ein Ereignis, das in
der Menschheitsgeschichte nicht nur einmalig war, sondern
alle anderen, so spektakulär sie auch gewesen sein mögen, weit
in den Schatten stellte. Das Ereignis selbst wird für mich
immer wundersam bleiben, aber die Umstände, die dazu
führten, daß ausgerechnet wir vier beim Eintreffen dieser
außergewöhnlichen Episode wieder beisammen waren, erfolgte
aus absolut banalen, aber folgerichtigen Beweggründen heraus.
Ich will alles, was zu unserem erneuten Zusammentreffen
führte, so kurz und knapp wie möglich erzählen, obwohl ich
mir natürlich dessen bewußt bin, daß ein detaillierterer Bericht
dem Leser mehr geben würde; schließlich ist die Neugier des
Publikums heutzutage ebenso unersättlich, wie sie früher
gewesen ist.

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Am Freitag, dem 27. August – einem Datum, das die Welt so

schnell nicht wieder vergessen wird – begab ich mich hinunter
in die Redaktion meiner Zeitung und bat Mr. McArdle, der
immer noch die Nachrichtenabteilung regierte, mir einen
dreitägigen Urlaub zu gewähren. Der nette, alte Schotte
schüttelte den Kopf, kratzte seinen immer schütterer
werdenden rötlichen Haarkranz und kleidete seine Ablehnung
schließlich in Worte.

»Ich glaube, Mr. Malone, daß wir Sie ausgerechnet jetzt am

dringendsten benötigen. Ich glaube, wir haben da eine
Geschichte, die nur ein Mann wie Sie in die richtigen
Proportionen bringen kann.«

»Wie schade«, sagte ich und versuchte meine Mißstimmung

zu verbergen. »Wenn man mich braucht, sieht die Sache
natürlich anders aus. Aber meine Verabredung ist ziemlich
wichtiger privater Natur. Wenn Sie mir vielleicht doch
freigeben könnten…«

»Leider weiß ich nicht, wie ich das bewerkstelligen sollte.«
Es war natürlich bitter für mich, aber ich mußte das Beste

daraus machen. Immerhin hatte ich einen großen Fehler
begangen, denn damals hätte ich natürlich schon wissen sollen,
daß man als Journalist nicht das Recht hat, eigene Pläne zu
verfolgen.

»Nun, ich werde die Sache dann wohl besser vergessen«,

sagte ich mit soviel Freundlichkeit, wie man einer kurzen
Abfuhr gegenüber aufbringen konnte. »Welchen Auftrag soll
ich übernehmen?«

»Nun, Sie brauchen bloß diesen entsetzlichen Querkopf in

Rotherfield zu interviewen.«

»Sie meinen doch nicht etwa Professor Challenger?« rief ich

aus.

»Doch, doch, genau den meine ich. Er hat den jungen Alec

Simpson vom Courier vergangene Woche an Hinterteil und

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Kragen eine Meile weit die Hauptstraße hinuntergeschleppt.
Möglicherweise haben Sie davon im Polizeibericht gelesen.
Unsere Jungs wollen nun alle lieber einen ausgebrochenen
Alligator aus dem Zoo interviewen. Aber Sie, denke ich,
könnten es schaffen. Immerhin sind Sie seit langer Zeit mit
ihm befreundet.«

»Aber natürlich«, sagte ich erleichtert. »Nichts einfacher als

das. Zufällig war Professor Challenger nämlich der Grund,
weswegen ich Sie um Urlaub bat. Es ist nämlich so, daß wir
heute den dritten Jahrestag unseres großen Abenteuers in
Südamerika feiern wollen. Er hat uns alle in sein Haus
eingeladen, um das Ereignis gebührend zu feiern.«

»Prächtig!« schrie McArdle. Er rieb sich die Hände und

strahlte mich durch seine Brillengläser an. »Dann werden Sie
es auch schaffen, ihn nach seiner Meinung zu befragen. Bei
jedem anderen Mann würde ich sagen, daß man Perlen vor die
Säue wirft, aber der Bursche hat einmal eine überragende Tat
vollbracht, und man kann nie wissen, wann er die nächste
vorbereitet!«

»Nach was soll ich ihn fragen?« fragte ich. »Was hat er denn

getan?«

»Haben Sie in der heutigen Times seinen Brief zur Rubrik

Wissenschaftliche Möglichkeiten nicht gesehen?«

»Nein«.
McArdle bückte sich und hob die Zeitung vom Boden auf.
»Lesen Sie es mir vor«, sagte er und deutete mit dem Finger

auf eine bestimmte Spalte. »Ich würde es gerne noch einmal
hören, denn ich bin immer noch nicht sicher, ob ich den Mann
richtig verstanden habe.«

Der Brief, den ich dem Nachrichtenchef der Gazette vorlas,

hatte folgenden Wortlaut:

WISSENSCHAFTLICHE MÖGLICHKEITEN

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Mein Herr, mit ziemlicher Amüsiertheit und auch weniger
schmeichelhaften Emotionen habe ich den selbstzufriedenen,
gänzlich närrischen Brief des James Wilson MacPhail gelesen,
der letztlich zum Thema »Das Verblassen der Fraunhoferschen
Linien in den Spektren von Planeten und Fixsternen« in Ihrer
Zeitung abgedruckt wurde. Mr. MacPhail mißt diesen
Erscheinungen wenig Bedeutung bei. Einer ausgeprägteren
Intelligenz wird dies jedoch als von allergrößter Wichtigkeit
erscheinen müssen und sollte demgemäß die absolute
Aufmerksamkeit jedes Mannes, jeder Frau und jedes Kindes
dieses Planeten hervorrufen. Da ich kaum zu hoffen wage –
und schon gar nicht durch

die Verwendung der

wissenschaftlichen Sprache

–, jene Dilettanten zum

Nachdenken zu bewegen, die ihre Ideen aus den Spalten von
Tageszeitungen beziehen, will ich mich bemühen, mich dazu
herabzulassen, ihre Begrenzungen hinzunehmen und die
Situation anhand eines kleinen Beispiels erläutern, das die
Intelligenz Ihrer Leser nicht überbeanspruchen wird.

»Mann, der Kerl ist ein Wunder – ein lebendes Wunder!« sagte
McArdle und schüttelte sinnierend den Kopf. »Er würde sogar
eine Quäkerversammlung zu Gewalttaten treiben. Kein
Wunder, daß ihm in London der Boden zu heiß geworden ist.
Es ist ein Jammer, Mr. Malone – ein Mann mit solchen
Geistesgaben! Aber kommen wir nun zu seinem Beispiel.«

»Nehmen wir an«, las ich weiter, »daß man während einer

Atlantiküberquerung ein kleines Bündel miteinander
verbundener Korken ins Wasser geworfen hat. Den sie
umgebenden Bedingungen gemäß werden sie Tag für Tag
langsam vor sich hintreiben. Wären die Korken mit Intelligenz
versehen, könnte man sich vorstellen, daß sie der Meinung
huldigen müßten, die Umstände, unter denen sie existieren,
seien beständig und unveränderlich. Wir aber, mit unserem

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überlegenen Wissen, wissen, daß viel geschehen kann, das die
Korken überraschen müßte.

Sie können vielleicht gegen eine Schiffswand treiben – oder

gegen einen schlafenden Wal; sie können sich aber ebenso gut
in Seetang verstricken. In jedem Fall würde ihre Reise aber
möglicherweise damit enden, daß die Elemente sie gegen die
Felsenküste von Labrador werfen. Aber wie sollen sie sich so
etwas vorstellen können, wenn sie Tag für Tag von einem
Ozean, den sie für grenzenlos und allgegenwärtig halten, sanft
getragen werden?

Ihre Leser werden möglicherweise einsehen, daß der in dieser

Parabel erwähnte Atlantik die Stelle jenes mächtigen Ozeans
einnimmt, den wir als Weltenraum kennen und die kleinen
Korken nichts anderes darstellen, als das winzige und obskure
Planetensystem, zu dem wir gehören: Eine Sonne drittrangiger
Größe und eine Ansammlung belangloser Satelliten, die unter
den gleichen täglichen Bedingungen einem unbekannten Ende
entgegenschweben, einer elenden Katastrophe, die uns im
Ultimaten Grenzgebiet des Weltraums erwartet, wo wir über
einen ätherischen Niagarafall gespült oder an ein
unvorstellbares Labrador geworfen werden.

Ich sehe keinen Grund für den seichten und unwissenden

Optimismus Ihres Korrespondenten Mr. James Wilson
MacPhail, aber ich sehe viele Gründe, warum wir sehr genau
und interessiert unsere Aufmerksamkeit allen Anzeichen des
Wechsels schenken sollten, die in dem uns umgebenden
Kosmos sichtbar werden und von denen letztendlich vielleicht
unser Schicksal abhängt.«

»Mensch, er wäre der ideale Prediger geworden«, sagte

McArdle. »Er hört sich an wie eine Orgel. Aber nun zu der
Sache, die ihm Sorgen bereitet.«

»Das allgemeine Verblassen und die Verschiebungen der

Fraunhoferschen Linien im Spektrum deuten meines Erachtens

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auf eine ausgedehnte kosmische Veränderung subtiler und
einmaliger Art hin.

Das Licht eines Planeten ist das reflektierte Licht der Sonne.

Das Licht eines Sternes hingegen ist selbst erzeugt. Aber die
Spektren von Planeten und Sternen sind in diesem Fall dem
gleichen Wechsel unterworfen. Heißt das also, daß die Sterne
und Planeten sich verändert haben? Eine solche Vorstellung ist
für mich undenkbar. Welche plötzliche Veränderung könnte
gleichzeitig sowohl über Sterne als auch Planeten
hereinbrechen? Haben wir es mit einem Wechsel in unserer
Atmosphäre zu tun?

Es ist zwar möglich, aber im höchsten Grade

unwahrscheinlich, da wir um uns herum keinerlei Anzeichen
dafür erblicken können und selbst chemische Analysen keine
Ergebnisse gebracht haben. Worin besteht also die dritte
Möglichkeit? Kann es sein, daß eine Veränderung im
Leitungsmedium am Verblassen der Fraunhoferschen Linien
schuld ist? Daß der unendlich feine Äther, der sich von Stern
zu Stern erstreckt und sich über das ganze Universum
ausbreitet, sich verändert hat? Inmitten dieses tiefen Ozeans
treiben wir auf einer trägen Welle dahin.

Könnte diese Welle uns nicht in einen Bereich verschlagen,

in dem ungewöhnliche Zustände herrschen und der über
Eigenschaften verfügt, von denen wir noch nie gehört haben?
Die Möglichkeit besteht. Die Störungen, denen das Spektrum
unterliegt, beweisen es. Es kann ein Wechsel zum Guten hin
sein, aber auch zum Bösen. Ebenso kann sich die Veränderung
als neutral erweisen. Wir wissen es nicht. Oberflächliche
Beobachter mögen der Meinung sein, daß man die Sache mit
einem Schulterzucken abtun kann, aber ein Mensch wie ich,
der über die höhere Intelligenz des wahren Denkers verfügt,
muß einsehen, daß die Möglichkeiten des Universums
unkalkulierbar sind und sich derjenige, der sich für weise hält,

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besser auf das Unbekannte vorbereitet. Um ein offensichtliches
Beispiel heranzuziehen: Wer würde zu behaupten wagen, daß
die unter den Eingeborenenrassen Sumatras wütenden
Epidemien, die in der Morgenausgabe Ihrer Zeitung
verzeichnet sind, etwas mit der Veränderung des Kosmos zu
tun haben? Vielleicht reagieren die Eingeborenen auf diese
Veränderung nur schneller als die Völker Europas?

Mit diesem Gedanken sollten Sie sich beschäftigen. Zum

gegenwärtigen Zeitpunkt wäre die Verteidigung dieser Idee
sicher ebenso unprofitabel wie ihre Ablehnung, aber wer nicht
erkennt, daß sie sich innerhalb der von der wissenschaftlichen
Möglichkeit gesetzten Grenze befindet, kann nur schwer von
Begriff und ein phantasieloser Gimpel sein, Hochachtungsvoll,
GEORGE EDWARD CHALLENGER, The Briars,
Rotherfield.«

»Ein netter, zum Nachdenken anregender Brief ist das«, sagte

McArdle nachdenklich und steckte eine Zigarette in die lange
Glasröhre, die ihm als Spitze diente. »Was halten Sie davon,
Mr. Malone?«

Mir blieb nichts anderes übrig, als demütigst einzugestehen,

daß ich mit dem hier angesprochenen Thema nicht das
geringste anfangen konnte. Was, zum Beispiel, waren
Fraunhofersche Linien?

Da McArdle diese Angelegenheit bereits mit einem seinem

Büro zur Verfügung stehenden Fachmann geklärt hatte, zeigte
er mir zwei auf der Platte seines Schreibtisches liegende
Spektralstreifen. Sie hatten eine gewisse Ähnlichkeit mit den
Hutbändern, die die Mitglieder junger und ambitionierter
Cricket-Klubs tragen. Er machte mir klar, daß sich zwischen
den einzelnen Farbabstufungen – sie waren Rot, Orange, Gelb,
Grün, Blau, Indigo und Violett – schwarze Querbalken
befanden, die die Ränder der Farben überlagerten.

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»Die dunklen Streifen sind die Fraunhoferschen Linien«,

sagte McArdle. »Die Farben selbst sind nichts anderes als
Licht. Wenn Sie Licht mittels eines Prismas in seine
Wellenbestandteile zerlegen, weist es keine Farbe mehr auf.
Sie können ihm nichts mehr entnehmen. Es sind die Linien, die
zählen, da sie sich der jeweiligen Lichtquelle anpassen. Aber
anstatt fest zu bleiben, zeigen sie seit einer Woche
Auflösungserscheinungen, und nun fragen die Astronomen
natürlich nach der Ursache.

Hier ist ein Photo der verblassenden Linien für die morgige

Ausgabe. Bisher hat das Publikum noch kein Interesse an
dieser Angelegenheit gezeigt, aber Challengers Brief in der
Times wird es sicher aufrütteln, nehme ich an.«

»Und was hat seine Bemerkung über Sumatra zu bedeuten?«
»Nun, es erscheint mir zwar ein wenig an den Haaren

herbeigezogen, irgendwelche Verbindungen zwischen den
verblassenden Linien des Spektrums und einem kranken
Nigger auf Sumatra zu ziehen, aber der alte Fuchs hat uns
bereits einmal gezeigt, daß er weiß, wovon er redet. Irgendeine
komische Epidemie ist dort unten ausgebrochen, das steht
außer Zweifel. Heute hat uns ein Kabel aus Singapur erreicht,
das besagt, daß die Leuchttürme in der Sundasee ausgefallen
und daraufhin zwei Schiffe auf Grund gelaufen sind. Auf alle
Fälle wäre es nicht übel, wenn Sie Challenger in dieser
Hinsicht ausfragen würden. Wenn Sie etwas handfestes
bekommen, hätten wir den Artikel gerne für die
Montagsausgabe.«

Ich kam gerade aus dem Büro des Nachrichtenchefs und

dachte noch über den Auftrag nach, als ich hörte, daß unter mir
im Wartezimmer jemand meinen Namen rief. Es war der
Telegrammbote, den man mir von meiner Wohnung in
Streatham nachgeschickt hatte. Die Botschaft, die er mir

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überbrachte, stammte von dem Mann, über den wir gerade
gesprochen hatten, und lautete folgendermaßen:

Mahne, Hill Street 17,
Streatham.
Sauerstoff mitbringen.
Challenger.


»Sauerstoff mitbringen!« Der Professor hatte, wie ich mich

erinnerte, einen derben Humor, der zu den ungeschicktesten
und schwerfälligsten Purzelbäumen fähig war. War dies einer
von jenen Scherzen, die ihn zu einem brüllenden Gelächter
veranlassen konnten, wobei seine Augen sich schlossen, und er
nur noch aus einem weitaufgerissenen Mund und einem
gesträubten Bart bestand, wobei er alle Ernsthaftigkeit um sich
herum vergaß? Ich las seine Botschaft noch einmal, aber es
war mir nicht im entferntesten möglich, irgendeinen Ulk aus
ihr herauszulesen. Also mußte es sich um eine lapidare
Anweisung handeln – wenn auch um eine äußerst seltsame. Er
war der letzte Mensch auf der Welt, dessen wohlüberlegte
Anweisungen ich in den Wind geschlagen hätte.
Möglicherweise bereitete er ein chemisches Experiment vor;
vielleicht… Nun, es konnte mir egal sein, wozu er den
Sauerstoff brauchte. Ich mußte ihn besorgen. Ich hatte noch
eine gute Stunde Zeit, bis der Zug von der Victoria-Station
abfuhr.

Ich nahm mir, nachdem ich die entsprechende Adresse aus

dem Telefonbuch herausgesucht hatte, ein Taxi und fuhr zur
Oxygen Tube Supply Company in der Oxford Street.

Als ich den Hof meines Ziels erreichte, erschienen im

Eingang des Gebäudes zwei junge Männer, die einen eisernen
Zylinder hinausschleppten und ihn mit sichtlicher Anstrengung
in einem wartenden Auto verstauten. Ein älterer Mann folgte

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ihnen keifend auf dem Fuße und gab ihnen mit quäkender,
sardonischer Stimme Anweisungen. Dann wandte er sich mir
zu. Es gab keinen Zweifel: Die asketischen Gesichtszüge und
der Ziegenbart gehörten niemand anderem als meinem stets
übelgelaunten Geführten Professor Summerlee.

»Was!« rief er aus. »Nun sagen Sie bloß nicht, daß Sie auch

eines dieser hirnverbrannten, nach Sauerstoff schreienden
Telegramme erhalten haben!«

Ich mußte es zugeben.
»So, so! Ich erhielt auch eines und habe mich, wie Sie sehen,

ganz im Gegensatz zu meiner Laune, danach verhalten. Unser
guter Freund benimmt sich mal wieder unmöglich. Nicht
einmal das Verlangen nach Sauerstoff kann so dringend sein,
daß man den üblichen Weg der Versorgung außer acht läßt und
die Zeit derjenigen mißbraucht, die mehr zu tun haben, als man
selbst. Warum hat er es nicht direkt bestellt?«

Ich konnte nur annehmen, daß er es vielleicht sofort haben

wollte.

»Oder er bildet es sich jedenfalls ein, aber das, ist wieder eine

andere Sache. Jetzt dürfte es allerdings überflüssig sein, daß
Sie sich auch noch mit einem Tank belasten. Ich habe meine
Ladung ja schon gekauft.«

»Aber trotzdem… Aus irgendeinem Grunde scheint er zu

wünschen, daß ich auch einen Tank mitbringe. Es wird
sicherer sein, wenn ich genau das tue, was er von mir
verlangt.«

Ungeachtet des Gebrummels und der Einwände Summerlees

bestellte ich noch einen zusätzlichen Tank, der zusammen mit
dem ersten in seinem Wagen verstaut wurde, da er mir
angeboten hatte, mich zum Bahnhof mitzunehmen.

Ich begab mich zu meinem Taxi, um zu zahlen. Was das

Fahrgeld anbelangte, so entpuppte sich der Fahrer als ziemlich
streitsüchtig und beleidigend. Als ich zu Professor Summerlee

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zurückkehrte, hatte dieser gerade einen wütenden Wortwechsel
mit den Männern, die den Sauerstoff hinausgetragen hatten,
und sein kleiner weißer Ziegenbart hüpfte vor Entrüstung auf
und nieder. Wie ich mich erinnere, nannte einer der Männer
ihn einen »bescheuerten alten Kakadu«, was Summerlees
Chauffeur so in Rage brachte, daß er aus dem Wagen sprang
und die Stelle seines beleidigten Herrn einnahm und uns nichts
anderes mehr übrigblieb, als ihn daran zu hindern, einen
Auflauf zu verursachen.

Die Beschreibungen dieser Kleinigkeiten mögen trivial

erscheinen – und als sie stattfanden, dachten wir uns auch
nichts dabei.

Erst jetzt, wo ich mich darauf zurückbesinne, sehe ich, daß

sie mit der Geschichte, die ich erzählen will, in einem
ursächlichen Zusammenhang standen.

Ich hatte den Eindruck, daß der Chauffeur entweder ein

Anfänger in seinem Beruf sein müsse oder aufgrund des
Zwischenfalls stark erregt war, denn als er uns zum Bahnhof
fuhr, erwiesen sich seine Fahrkünste als ziemlich schlecht. Wir
wären beinahe zweimal mit anderen, sich auf eine ähnliche
Weise konfus bewegender Fahrzeuge zusammengestoßen, und
ich erinnere mich daran, Summerlee gegenüber erwähnt zu
haben, daß die Moral der Londoner Autofahrer ziemlich
heruntergekommen sei. Einmal jagten wir haarscharf am
Rande einer Menschenmenge vorbei, die einen Sportplatz
umringte. Die Leute, die das offenbar sehr verdroß, erregten
sich daraufhin in höchstem Maße, und es kam sogar so weit,
daß einer der Zuschauer auf das Trittbrett sprang und uns mit
einem Knüppel bedrohte. Ich stieß ihn herunter, aber wir
waren ziemlich froh, als wir ihn endlich los waren und der
Park hinter uns lag. All diese kleinen Zwischenfälle, die mir
jetzt nach und nach wieder einfallen, setzten meinen Nerven

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zu, und ich erkannte, daß auch meinem Gefährten allmählich
der Kragen zu platzen drohte.

Unsere gute Laune kehrte allerdings zurück, als wir auf dem

Bahnsteig auf Lord John Roxton stießen, der uns bereits
erwartete. Seine hochgewachsene Gestalt war in einen beigen
Jagdanzug aus Tweed gekleidet, und sein lebhaftes Gesicht
und seine unvergeßlichen Augen, die gleichzeitig streng und
humorvoll blicken konnten, leuchteten freudig auf, als er uns
sah.

In seinem rötlichen Haar zeigten sich ein paar graue Strähnen

und die letzten Jahre hatten seine Stirnfalten ein wenig vertieft
– alles in allem war er aber immer noch der gleiche Mann, der
in der Vergangenheit unser Kamerad gewesen war.

»Hallo, Herr Professor! Hallo, junger Freund!« rief er, als er

auf uns zukam.

Er brüllte vor Vergnügen, als er die beiden Sauerstofftanks

auf dem Wägelchen des uns begleitenden Dienstmannes
gewahrte.

»Sie haben also auch welche mitgebracht!« rief er aus.

»Meiner ist schon im Gepäckwagen. Was, um Himmels willen,
hat der alte Bär vor?«

»Haben Sie seinen Brief in der Times gelesen?« fragte ich.
»Um was ging es denn?«
»Um dummes Zeug!« grunzte Summerlee.
»Nun, ich nehme an, daß es irgend etwas mit dem Sauerstoff

zu tun hat«, sagte ich.

»Dummes Zeug!« rief Summerlee erneut, aber diesmal etwas

wütender.

Als wir uns in das Raucherabteil der Ersten Klasse setzten,

hatte er sich bereits die kleine, stummelige Bruyerepfeife
angezündet, die die Spitze seiner langen, aggressiv
vorgereckten Nase anzusengen drohte.

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»Freund Challenger ist ein gerissener Bursche«, sagte er

vehement. »Das kann niemand abstreiten. Wer das tut, ist ein
Narr. Sehen Sie sich nur seinen Hut an. Er enthält ein Gehirn
von sechzig Unzen Gewicht – eine große Maschine, die sanft
vor sich hinschnurrt und saubere Arbeitsergebnisse produziert.
Zeigen Sie mir das Maschinenhaus, und ich sage Ihnen, wie
groß die Maschine ist, die sich darin befindet. Aber er ist ein
geborener Scharlatan, das habe ich ihn, wie Sie selbst wissen,
offen ins Gesicht gesagt; ein geborener Scharlatan, der dem
kindischen Zwang verhaftet ist, im Rampenlicht stehen zu
müssen. Es ist wieder einmal Sauregurkenzeit; da sieht Freund
Challenger natürlich wieder einmal die Möglichkeit, ganz groß
von sich reden zu machen. Sie nehmen doch nicht im Ernst an,
daß er wirklich an diesen Unsinn von der Veränderung des
Weltraums und einer darauf fußenden möglichen Gefahr für
die Menschheit glaubt? Einen solchen Schwachsinn halbe ich
ja noch nie gehört!«

Er saß da wie ein alter weißer Rabe und wurde von einem

krächzenden Gelächter geschüttelt.

Ich wurde von einer Welle des Ärgers erfaßt, als ich

Summerlee zuhörte. Es schickte sich einfach nicht, so über
einen Mann zu sprechen, der nicht nur unser Führer gewesen
war, sondern uns auch den Ruhm hatte zuteil werden lassen,
mit dem man uns nach unserem bemerkenswerten Abenteuer
in Südamerika überschüttete. Ich hatte gerade den Mund
geöffnet, um ihm eine passende Antwort zu geben, als Lord
John mir zuvorkam.

»Sie haben sich schon einmal mit Challenger auf einen Streit

eingelassen«, sagte er finster, »und ich erinnere mich, daß er
Sie in weniger als zehn Sekunden am Boden hatte. Mir scheint,
Professor Summerlee, daß er Sie um Klassen überragt. Das
Beste, was Sie tun könnten, wäre, daß Sie schnell eine gewisse

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Entfernung zwischen sich und ihn brächten und ihn im übrigen
in Ruhe ließen.«

»Davon abgesehen«, sagte ich, »ist er für uns alle stets ein

guter Freund gewesen. Was immer er auch für Fehler haben
mag, er ist aufrichtig wie kein zweiter, und ich zweifle stark
daran, daß er hinter unseren Rücken je in ähnlicher Weise über
einen von uns sprechen würde.«

»Gut gesagt, junger Freund«, sagte Lord John Roxton. »Sie

sind ein aufrechter Bursche.«

Dann klopfte er Professor Summerlee mit einem freundlichen

Lächeln auf die Schulter. »Na, kommen Sie, Herr Professor.
Wir wollen uns doch den schönen Tag nicht mit Streitereien
vergällen. Wir haben zusammen einfach zuviel erlebt. Aber
mäßigen Sie sich, wenn das Thema auf Challenger kommt,
denn dieser junge Mann und ich haben eine Schwäche für den
alten Knaben.«

Aber Summerlee war nicht in der Stimmung, die Goldene

Brücke zu beschreiten, die Lord John ihm baute. Sein Gesicht
zeigte deutliche Mißbilligung. Sogar seine Pfeife stieß
drohende Rauchwolken aus.

»Was Sie anbetrifft, Lord John Roxton«, quäkte er, »so haben

Ihre Ansichten über eine wissenschaftliche Angelegenheit in
meinen Augen den gleichen Stellenwert, wie meine Meinung
über ein neuentwickeltes Schießgewehr in den Ihren. Ich
besitze eine eigene Urteilsfähigkeit, Sir, und ich setze sie nach
eigenem Gutdünken ein. Und wenn ich auch einmal geirrt habe
– ist das ein Grund, fortan mit meinen Ansichten hinter dem
Berg zu bleiben? Muß ich selbst dort schweigen, wo ein Mann
den hanebüchensten Unsinn als wissenschaftliche Erkenntnis
verkauft? Haben wir etwa einen Wissenschaftspapst, der seine
Ansichten ex cathedra niederlegt und das gemeine Volk
dieselben widerspruchslos hinzunehmen hat? Ich versichere
Ihnen, Sir, daß auch ich ein Gehirn besitze. Und ich käme mir

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wie ein Snob oder ein Sklave vor, würde ich es nicht auch
benutzen. Wenn es Ihnen Spaß macht, an das Gewäsch über
den Weltraum und die Fraunhoferschen Linien zu glauben,
dann sei Ihnen das unbenommen, aber verlangen Sie nicht, daß
jemand, der Sie an Alter und Weisheit überragt, bei dieser
Torheit mitzieht. Ist es denn nicht offensichtlich, daß die
Resultate auch an uns sichtbar sein müßten, wenn Challengers
Behauptungen in dem Maße zuträfen, wie er es sich wünscht?«
An dieser Stelle mußte er über seine eigene Argumentation
laut lachen.

»Jawohl, Sir, auch wir müßten die Auswirkungen längst zu

spüren bekommen haben, und anstatt gemütlich in diesem Zug
zu sitzen und wissenschaftliche Probleme zu diskutieren,
sollten wir längst die Symptome einer Vergiftung zeigen. Wo
aber sehen wir sie? Darauf verlange ich eine Antwort, Sir! Und
kommen Sie mir bloß nicht mit Ausflüchten! Ich nagle Sie auf
eine Antwort fest!«

Ich fühlte, daß ich immer wütender wurde. In Summerlees

Verhalten zeigte sich etwas Aggressives und Irritierendes.

»Ich glaube, daß Sie weniger sicher in Ihrer Meinung wären,

wenn Sie mehr über die Tatsachen wüßten«, sagte ich.
Summerlee nahm die Pfeife aus dem Mund und musterte mich
mit einem unbeweglichen Blick.

»Darf ich Sie vielleicht fragen, was Sie mit dieser offenbar

dreisten Bemerkung bezwecken, Sir?«

»Ich meine damit, daß mir unser Nachrichtenchef, bevor ich

sein Büro verließ, erzählte, daß er ein Telegramm erhalten hat,
das ihn davon in Kenntnis setzte, daß unter den Eingeborenen
Sumatras eine allgemeine Epidemie ausgebrochen sei und daß
darüber hinaus in der Sundasee die Leuchttürme nicht
funktionieren.«

»Es sollte wirklich so etwas wie Grenzen menschlicher

Torheit geben!« schrie Summerlee in entschiedener Rage.

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»Kann Ihnen denn wirklich entgangen sein, daß die Luft –

nehmen wir einmal Challengers alberne Behauptung als
gegeben an – auf dieser Seite der Erde die gleiche ist, wie die
auf der anderen? Glauben Sie vielleicht auch, daß die Luft von
Kent der von Surrey – durch die uns dieser Zug gerade
befördert – in gewisser Weise überlegen ist? Es gibt doch
wirklich nichts, was die Leichtgläubigkeit und Unwissenheit
eines Durchschnittslaien noch übertreffen könnte. Kann man
wirklich ernsthaft annehmen, daß die Luft Sumatras dermaßen
tödlich ist, daß sie völlige Abstumpfung hervorruft, während
sie zur gleichen Zeit auf uns hier nicht die geringsten
Auswirkungen hat? Von mir kann ich jedenfalls behaupten,
daß ich mich körperlich und geistig nie wohler gefühlt habe,
als gerade jetzt.«

»Das mag ja sein. Ich behaupte ja auch gar nicht, ein Mann

der Wissenschaft zu sein«, sagte ich, »aber ich habe
irgendwann einmal gehört, daß die Wissenschaft der ersten
Generation von der zweiten meist schon widerlegt werden
kann. Aber es erfordert nicht einmal besonders viel gesunden
Menschenverstand, um die Möglichkeit in Betracht zu ziehen,
daß es nach dem wenigen, was wir wirklich über die Luft
wissen, sein kann, daß sie in den verschiedenen Teilen der
Welt den örtlichen Gegebenheiten unterworfen sein kann und
bestimmte Auswirkungen erst anderswo hervorruft.«

»Mit ›kann‹ und ›könnte‹ können Sie alles beweisen«, rief

Summerlee wütend aus. »Schweine könnten vielleicht fliegen.
Ja, Sir, sie könnten es vielleicht, aber sie tun es nicht. Es ist
sinnlos, mit Ihnen zu argumentieren. Challenger hat Sie mit
diesem Unsinn vollgestopft. Sie sind beide keiner vernünftigen
Argumentation gewachsen. Ich hingegen hatte meine
Einwände bereits vorgebracht, bevor dieser Zug auch nur zum
erstenmal federte.«

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»Ich muß sagen, Professor Summerlee«, sagte Lord John mit

einem strengen Blick, »daß sich Ihr Benehmen nicht
sonderlich gebessert hat, seit ich das erste Mal das Vergnügen
hatte, Sie zu sehen.«

»Ihr Krautjunker seid sowieso nicht daran gewöhnt, der

Wahrheit ins Auge zu blicken«, antwortete Summerlee mit
einem bitteren Lächeln. »Es muß Ihnen sicher wie ein Schock
erscheinen, wenn Sie feststellen, daß Sie ungeachtet Ihres
Titels nichts weiter sind als ein ungebildeter Mensch,
stimmte?«

»Ich gebe Ihnen mein Wort, Sir«, sagte Lord John ernst und

ungehalten, »wenn Sie jünger wären, würden Sie es nicht
wagen, mich in einer solch ungebührlichen Weise anzureden.«

Summerlee streckte sein Kinn vor. Sein Ziegenbärtchen

sträubte sich.

»Ich will Ihnen sagen, Sir, daß es in meinem Leben noch

niemals eine Zeit gegeben hat – egal ob ich jung oder alt war –,
in der ich Angst davor gehabt hätte, meine Meinung gegenüber
einem unwissenden Laffen auszusprechen. Jawohl, Sir, einem
unwissenden Laffen gegenüber; selbst wenn Sie über so viele
Titel verfügten, wie Sklaven erfinden und Narren sich
verleihen könnten.«

Einen Augenblick lang schienen Lord Johns Augen Funken

zu versprühen. Dann jedoch meisterte er mit einer
bemerkenswerten Anstrengung seinen Ärger, lehnte sich in
seinen Sitz zurück, verschränkte die Arme und produzierte ein
verbittertes Lächeln. Mir erschien die ganze Situation zugleich
bedrohlich und bejammernswert. Wie eine Woge wurde ich
von der Erinnerung an die gute Kameradschaft der
Vergangenheit und die glücklichen Tage voller Abenteuer
überspült, die wir gemeinsam überstanden hatten. Ich erinnerte
mich an alles, was wir erlitten und wofür wir gearbeitet hatten.
Der Sieg war schließlich unser gewesen. Daß es so weit hatte

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kommen können – zu Beleidigungen und Schmähungen!
Plötzlich schluchzte ich. Ich schluchzte und schluckte, und
zwar in einem solchen Maße, daß es unmöglich war, meine
Tränen zu verbergen. Meine Gefährten sahen mich überrascht
an, und ich bedeckte das Gesicht mit meinen Händen.

»Es ist schon in Ordnung«, sagte ich. »Es ist nur… so

schade!«

»Sie sind krank, junger Freund, das ist es«, sagte Lord John.

»Schon als ich Sie sah, kamen Sie mir komisch vor.«

»Ihr Gesundheitszustand, Sir, hat sich in den drei Jahren

offensichtlich nicht gebessert«, sagte Summerlee
kopfschüttelnd. »Auch mir ist nicht verborgen geblieben, daß
Sie sich seltsam benahmen, als wir uns das erste Mal trafen.
Sie brauchen Ihr Mitgefühl nicht zu verschwenden, Lord John.
Diese Tränen sind die Folgen zu großen Alkoholgenusses. Der
Mann hat getrunken. Nebenbei gesagt, Lord John, nannte ich
Sie eben einen Laffen. Das war möglicherweise ein wenig
übertrieben. Aber irgendwie erinnert mich dieses Wort an eine
kleine Fähigkeit, die ich – es ist zwar trivial, aber amüsant –
einmal besaß. Sie kennen mich ausschließlich als einen
ernsthaften Mann der Wissenschaft. Können Sie sich
vorstellen, daß ich einst in verschiedenen Kindergärten den
Ruf eines ausgezeichneten Tierstimmenimitators besaß?
Vielleicht kann ich dazu beitragen, uns die Langeweile ein
wenig zu verkürzen. Würde es Ihnen Spaß machen, meinen
Hahnenschrei zu hören?«

»Nein, Sir«, sagte Lord John, der immer noch sichtlich

beleidigt war. »Das würde mir keinen Spaß machen.«

»Nun, auch meine Nachahmung einer Henne, die gerade ein

Ei gelegt hat, wurde von der Kritik stets als eher über dem
Durchschnitt stehend bezeichnet. Darf ich es wagen?«

»Nein, Sir – auf keinen Fall!«

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Aber trotz des ernsthaft geäußerten Verbots legte Professor

Summerlee seine Pfeife beiseite und unterhielt uns –
beziehungsweise glaubte uns zu unterhalten – für den Rest der
Reise mit fortwährenden Vogel- und anderen Tierschreien, die
mir so absurd erschienen, daß mein Weinen in ein stürmisches
Gelächter überging und ich nahe an der Grenze zur Hysterie
war. Ich saß dem ernsthaft agierenden Professor gegenüber
und sah – oder vielmehr hörte – ihn in der Rolle eines
aufgeregten Hahnes oder als Welpe, dem man gerade auf den
Schwanz getreten hat. Einmal reichte Lord John mir eine
Zeitung, auf deren Rand er mit Bleistift »Der arme Teufel!
Jetzt ist er wirklich übergeschnappt!« geschrieben hatte. Ohne
Zweifel war Summerlees Darbietung etwas ungewöhnlich;
trotzdem kam sie mir sowohl amüsant als auch herausragend
vor.

Während der Professor weiterhin sein Rolle spielte, beugte

sich Lord John vor und erzählte mir eine endlose Geschichte
von einem Büffel und einem indischen Radschah, die weder
einen Anfang noch ein Ende zu haben schien. Professor
Summerlee hatte gerade angefangen, das Zirpen eines
Kanarienvogels nachzuahmen, als Lord John sich dem
Höhepunkt seiner Erzählung näherte und der Zug in den
Bahnhof von Jarvis Brook einfuhr. Wenn wir nach Rotherfield
wollten, mußten wir hier aussteigen.

Challenger war bereits da, um uns abzuholen. Seine

Erscheinung war überwältigend. Alle Truthähne der Welt
zusammengenommen konnten nicht soviel steifbeinige Würde
ausstrahlen wie er, als er vor dem Bahnhofsgebäude auf und ab
schritt. Das gutmütige Lächeln herablassender Ermutigung,
dessen er sich befleißigte, galt niemandem und jedem. Wenn er
sich seit den alten Zeiten überhaupt verändert hatte, dann nur
insofern, daß seine Eigenarten noch ausgeprägter geworden
waren. Der große Schädel und die breite Fläche seiner Stirn

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erschienen mir, wie auch das darauf ruhende Haarbüschel,
noch größer als zuvor. Sein schwarzer Bart stand vor wie eine
beeindruckende Kaskade, und die klaren, grauen Augen mit
den anmaßend und sardonisch wirkenden Lidern, schauten
noch herrischer in die Welt als früher.

Er schüttelte mir freudig die Hand, schenkte mir – wie ein

Meister seinem Lehrjungen – ein gönnerhaftes Lächeln und
verfrachtete uns, nachdem er den anderen beim Einladen des
Gepäcks geholfen und die Sauerstofftanks verstaut hatte, in
einen großen Kraftwagen, der von dem gleichen wortkargen
Austin gesteuert wurde, den ich bei meinem ersten,
ereignisreichen Besuch bei Challenger in der Rolle eines
Butlers erlebt hatte.

Unsere Reise führte uns über eine Serpentine auf einen Hügel

und dann durch ein herrliches Land. Ich saß vorne beim
Chauffeur und hatte den Eindruck, daß meine Gefährten hinter
mir alle gleichzeitig redeten. Lord John kämpfte immer noch,
soweit ich das beurteilen konnte, mit seiner Büffelgeschichte.
Gleichzeitig hörte ich die wohlvertraute, brummige Stimme
Challengers und das keifende Gerede von Summerlee, die sich
wieder einmal in eine wissenschaftliche Diskussion verbissen
hatten. Austin wandte mir plötzlich sein mahagonifarbenes
Gesicht zu, ohne den Blick vom Steuer zu nehmen.

»Ich bin entlassen worden«, sagte er.
»Großer Himmel!« sagte ich.
An diesem Tag kam mir alles komisch vor. Jedermann sagte

seltsame, unerwartete Dinge. Es war wie in einem Traum.

»Zum siebenundvierzigstenmal«, sagte Austin nachdenklich.
»Und wann gehen Sie?« fragte ich, um einen besseren

Überblick zu gewinnen.

»Ich gehe gar nicht«, sagte Austin.
Damit schien die Unterhaltung beendet zu sein, aber plötzlich

fing er von neuem an.

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»Wer würde denn, wenn ich wirklich ginge, nach ihm

sehen?« Er deutete mit dem Kopf auf seinen Herrn. »Wer
würde ihm schon dienen wollen?«

»Na, irgendjemand«, erwiderte ich lahm.
»Glaub ich nicht. Niemand würde länger als eine Woche

bleiben. Wenn ich gehen würde, ginge bei ihm bald alles
drunter und drüber. Ich erzähle Ihnen das, weil Sie mit ihm
befreundet sind und Sie es deswegen wissen sollten. Wenn ich
ihn beim Wort nehmen würde – na ja, aber er hat es bestimmt
nicht so gemeint. Er und die Herrin wären dann nicht mehr als
zwei ausgesetzte Kinder. Ich mache alles für ihn. Und dann
geht er her und wirft mich raus.«

»Und warum würde kein anderer bleiben?« fragte ich.
»Nun, weil sie bei ihm – wie ich – nichts verdienen würden.

Der Herr ist ein sehr gescheiter Mann; so gescheit, daß er sich
manchmal wie ein Bekloppter aufführt. Was glauben Sie, was
er heute morgen angestellt hat?«

»Was hat er denn angestellt?«
Austin beugte sich zu mir herüber.
»Er hat die Haushälterin gebissen«, flüsterte er.
»Er hat sie gebissen?«
»Jawohl, Sir. Er hat sie ins Bein gebissen. Ich hab mit meinen

eigenen Augen gesehen, wie sie von der Halle aus zu einem
Marathonlauf angesetzt hat.«

»Herrjemineh!«
»Das kann man wohl sagen, Sir, wenn man so etwas

mitangesehen hat. Die Nachbarn hat er sich auch nicht gerade
zu Freunden gemacht. Es gibt sogar ein paar Leute, die sagen,
er sei bei den Ungeheuern, über die Sie geschrieben haben, in
allerbester Gesellschaft gewesen. Wohlgemerkt, das sagen sie.
Aber ich habe ihm zehn Jahre gedient, und ich mag ihn. Wenn
man seinen Anweisungen nachkommt, Sir, ist er, wenn ich das
mal so sagen darf, ein großartiger Mensch. Es ist eine Ehre,

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ihm zu dienen, auch wenn er manchmal unausstehlich ist. Und
nun sehen Sie sich das mal an, Sir. Kann man das noch mit der
guten, altmodischen Gastfreundschaft gleichsetzen? Lesen Sie
selbst.«

Der Wagen hätte seine Fahrt nun verlangsamt und fuhr einen

steilen Abhang hinauf. Ich sah eine wohlgeschnittene Hecke.
Darüber prangte an einem Pfahl ein Schild. Wie Austin gesagt
hatte, war es nicht schwierig zu lesen, denn auf dem Schild
standen nur wenige Worte, und die waren deutlich:

WARNUNG
Besucher, Presseleute und Bettler
sind hier nicht erwünscht.
G. E. CHALLENGER


»Nein, als herzlich kann man ihn wirklich nicht bezeichnen«,

sagte Austin kopfschüttelnd und warf ebenfalls einen Blick auf
das bedauerliche Schild. »So etwas würde auch auf einer
Weihnachtskarte nicht gut wirken. Ich bitte Sie um
Verzeihung, Sir, aber soviel wie heute hab ich schon seit einem
Jahr nicht mehr gesprochen. Es mußte einfach mal aus mir
heraus. Er kann mich so oft rauswerfen, bis er schwarz wird,
aber ich gehe einfach nicht, punktum. Ich bin sein Diener, und
er ist mein Herr, und so wird es auch bleiben, bis zum Ende
aller Zeiten.«

Wir passierten weiße Türpfosten, drehten eine Kurve und

fuhren an einigen Rhododendronbüschen vorbei. Dahinter
erhob sich ein niedriges Ziegelgebäude mit weißgestrichenen
Holzarbeiten, das hübsch und gemütlich wirkte. Mrs.
Challenger, eine kleine zarte, lächelnde Gestalt, stand in der
offenen Tür, um uns willkommen zu heißen.

»Nun, meine Liebe«, sagte Challenger, der geschäftig aus

dem Wagen kletterte, »da hast du unseren Besuch. Es ist etwas

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neu für uns, Besuch zu haben, nicht wahr? Die Zuneigung
unserer Nachbarn haben wir nicht eben errungen, wie? Ich
wette, daß sie Rattengift in unseren Brotkorb schütten würden,
wenn sie welches hätten.«

»Es ist entsetzlich – entsetzlich!« rief seine Frau zwischen

Lachen und Weinen. »George hat ständig mit irgend
jemandem Streit. Wir haben hier nicht einen einzigen Freund.«

»Deswegen bin ich auch in der Lage, meine gesamte

Aufmerksamkeit meiner unvergleichlichen Gattin zu widmen«,
sagte Challenger und legte seinen kurzen, dicken Arm um ihre
Taille. Stellen Sie sich einen Gorilla und eine Gazelle vor,
dann wissen Sie, wie die beiden aussehen. »Komm, komm, die
Herren sind müde von der Reise und sollten schnellstens
verköstigt werden. Ist Sarah zurückgekehrt?«

Mrs. Challenger schüttelte bekümmert das Haupt. Der

Professor lachte laut und strich sich mit meisterhafter Eleganz
über seinen Bart.

»Austin«, rief er, »wenn Sie den Wagen gewaschen haben,

helfen Sie Ihrer Herrin bitte beim Mittagessen. Und Sie,
Gentlemen, kommen bitte mit in mein Arbeitszimmer, da ich
Sie gerne über die eine oder andere Angelegenheit in Kenntnis
setzen möchte.«

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II

Die Gezeiten des Todes



Als wir durch die Halle schritten, klingelte das Telefon, und
wir wurden zu unfreiwilligen Zeugen des folgenden Dialogs.
Ich sage »wir«, aber in Wirklichkeit kann natürlich auch
keinem anderen im Umkreis von hundert Yards die dröhnende
Stimme entgangen sein, die durch das ganze Haus schallte. Die
Antworten Professor Challengers sind mir wie eingebrannt.

»Ja, ja, natürlich, ich bin es… Ja, gewiß, der Professor

Challenger; der berühmte Professor, wer denn sonst?
Natürlich, jedes Wort, sonst hätte ich es doch nicht
geschrieben… Es würde mich nicht überraschen… Alle
Hinweise deuten darauf hin… Spätestens in einem Tag… Nun,
ich kann Ihnen leider auch nicht helfen, verstehen Sie? Das ist
sehr betrüblich, ohne Zweifel, aber ich könnte mir vorstellen,
daß es wichtigere Leute als Sie betrifft. Es ist sinnlos, jetzt
herumzujammern… Nein, könnte ich möglicherweise nicht…
Jetzt reicht’s mir aber, Sir! Unsinn! Ich habe Wichtigeres zu
tun, als solchem Geschwätz zuzuhören!«

Er legte den Hörer mit einem Schlag auf und führte uns über

die Treppe in einen großen, luftigen Raum, der offenbar sein
Arbeitszimmer war. Auf einem Schreibtisch lagen sieben oder
acht ungeöffnete Telegramme.

»Ich glaube wirklich«, sagte er, als er sie in die Hand nahm,

»daß meine Korrespondenten eine Menge Geld sparen würden,
wenn ich eine Telegrammadresse besäße. Möglicherweise
würde ›Noah, Rotherfield‹ den Kern der Dinge am besten
treffen.«

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Wie immer, wenn er einen unverständlichen Witz machte,

stützte er sich auf die Tischplatte und wurde von einem
bellenden Lachanfall geschüttelt. Seine Hände zitterten so, daß
er kaum fähig war, die Umschläge zu öffnen.

»Noah! Noah!« keuchte er, während sein Gesicht die Farbe

einer Runkelrübe annahm, Lord John und ich ein solidarisches
Lächeln produzierten und Summerlee wie ein magenkranker
Ziegenbock mit sardonischer Mißbilligung den Kopf
schüttelte. Schließlich fing Challenger, immer noch am ganzen
Leibe vor Heiterkeit zitternd an, die Telegramme zu öffnen.
Wir drei standen derweil am Erkerfenster und beschäftigten
uns damit, die herrliche Aussicht zu bewundern.

Sie war es gewiß wert, daß man sie beachtete. Die

sanftgeschwungene, kurvenreiche Straße hatte uns auf eine
bemerkenswerte Erhebung gebracht – sie maß siebenhundert
Fuß, wie wir später herausfanden. Challengers Haus stand hart
am Rande des Hügels, und von der Südseite aus – wo sich das
Fenster seines Arbeitszimmers befand – konnte man über das
weitgedehnte Band des Weald sehen, auf dem die sanften
Linien der südlichen Downs einen welligen Horizont formten.
Zwischen den Hügeln zeigte uns eine Rauchwolke den
Standort von Lewes. Direkt vor unseren Füßen wogte das
Heidekraut; dazwischen lagen die hellgrünen Streifen des
Golfgeländes von Crowborough, auf dem zahlreiche Spieler zu
sehen waren. Etwas im Süden, zwischen den Wäldern, konnten
wir einen Teil der Hauptstrecke von London nach Brighton
ausmachen. Direkt vor uns, genau unter unseren Nasen, lag ein
kleiner eingezäunter Garten, in dem auch der Wagen stand, der
uns vom Bahnhof abgeholt hatte.

Ein Aufschrei Challengers führte dazu, daß wir uns

herumdrehten. Er hatte die Telegramme inzwischen gelesen
und sie auf dem Schreibtisch zu einem ordentlichen Stapel
angehäuft. Sein breites, verkniffenes Gesicht – oder soviel, wie

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davon durch den struppigen Bart zu sehen war – war immer
noch tiefgerötet. Allem Anschein nach hatte ihn eine starke
Aufregung gepackt.

»Nun, Gentlemen«, sagte er in einem Tonfall, als spräche er

auf einer öffentlichen Veranstaltung, »dies ist in der Tat ein
interessantes Wiedersehen, und es findet unter
außergewöhnlichen – ich bin fast geneigt zu sagen
beispiellosen – Umständen statt. Darf ich Ihnen die Frage
stellen, ob Ihnen während der Reise hierher irgend etwas
aufgefallen ist?«

»Das einzige, was mir auffiel«, sagte Summerlee mit einem

säuerlichen Lächeln, »war, daß unser junger Freund hier sich
während der vergangenen Jahre nicht gebessert hat. Es tut mir
leid, darauf hinweisen zu müssen, aber ich mußte mich wegen
seines Betragens während der Eisenbahnfahrt ernstlich über
ihn beschweren. Es würde mir zudem an Offenheit mangeln,
würde ich nicht noch darauf hinweisen, daß er in mir einen
äußerst unerfreulichen Eindruck hinterlassen hat.«

»Aber, ich bitte Sie«, sagte Lord John. »Hin und wieder kann

doch jeder mal entgleisen. Der junge Mann hat es sicher nicht
so gemeint. Sie sollten bedenken, daß er ein Internationalist ist.
Und solche Leute brauchen nun mal eine halbe Stunde, um ein
Fußballspiel zu beschreiben. Sie sollten ihn mit anderen Augen
sehen.«

»Eine halbe Stunde, um ein Fußballspiel zu beschreiben!«

schrie ich empört. »Sie waren es doch, der mir eine halbe
Stunde lang mit dieser endlosen Büffelgeschichte zugesetzt
hat. Professor Summerlee wird das bestätigen.«

»Ich vermag kaum zu sagen, wer von Ihnen beiden der

Unerträglichere war«, erwiderte Summerlee. »Aber eines kann
ich Ihnen sagen, Challenger: Ich will in meinem ganzen Leben
nie wieder etwas von Büffeln oder Fußballspielen hören.«

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»Aber ich habe nicht einmal ein Wort über Fußball verloren«,

protestierte ich.

Lord John stieß einen schrillen Pfiff aus. Summerlee

schüttelte betrübt den Kopf.

»Und dann noch so früh am Morgen«, sagte er. »Wie

erbärmlich. Während ich dort in gehaltvollem, aber
nachdenklichem Schweigen saß…«

»Schweigen?« schrie Lord John. »Sie haben sich aufgeführt,

wie jemand aus einem Variete – oder noch besser, wie ein
entlaufenes Grammophon! Jedenfalls nicht wie ein Mann!«

Summerlee riß sich in bitterem Protest zusammen.
»Sie kommen sich wohl sehr spaßig vor, Lord John«, knurrte

er mit einem Essiggesicht.

»Verdammt noch mal, das ist doch schierer Wahnsinn!« rief

Lord John aus. »Jeder von uns scheint zu wissen, was die
anderen getan haben, aber keiner von uns weiß, was er selber
getan hat. Lassen Sie uns ganz vorne anfangen. Wir gingen in
das Raucherabteil der Ersten Klasse, stimmte? Dann fingen wir
an, über Freund Challengers Brief in der Times zu streiten.«

»Oh, das haben Sie tatsächlich getan?« brummte unser

Gastgeber, während seine Lider sich zu senken begannen.

»Sie, Summerlee, haben gesagt, daß seine Feststellung jeder

wissenschaftlichen Grundlage entbehrt.«

»O, je!« sagte Challenger, streckte die Brust heraus und

kraulte seinen Bart. »Jeder wissenschaftlichen Grundlage? Mir
scheint, diese Worte habe ich doch schon einmal gehört. Darf
ich vielleicht fragen, mit welchen Argumenten sich der große
und berühmte Professor Summerlee erlaubt hat, die Ansichten
des niederen Individuums, das es gewagt hat, im
Zusammenhang mit den Möglichkeiten der Wissenschaft eine
Meinung zu äußern, zerpflückte? Ob er vielleicht – bevor er
dieses unwürdige Nichts zerschmettert hat – geruhen wird, uns
an seiner gegensätzlichen Auffassung teilhaben zu lassen?«

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Er verbeugte sich, zuckte die Achseln und breitete, während

er diese Worte aussprach, mit vollendetem Sarkasmus die
Arme aus.

»Meine Beweggründe waren ganz einfacher Natur«, sagte

Summerlee störrisch. »Ich wies darauf hin, daß es ziemlich
unwahrscheinlich ist, daß die uns umgebende Lufthülle überall
die gleiche ist, und es demzufolge kaum möglich ist, daß sie
hier dermaßen giftig sein kann, daß sie gefährliche Symptome
hervorruft, während wir in der Eisenbahn von ihren
Auswirkungen nichts zu spüren bekamen.«

Challenger quittierte diese Erklärung lediglich mit einem

brüllenden Gelächter. Er lachte, bis der ganze Raum zu
erzittern schien.

»Unser ehrenwerter Professor Summerlee«, sagte er

schließlich und wischte sich über die schweißbedeckte Stirn,
»ist – und das nicht zum erstenmal – ein bißchen unvertraut
mit den Fakten der gegenwärtigen Lage. Die beste
Möglichkeit, Ihnen meinen Standpunkt nahezubringen, meine
Herren, besteht darin, daß ich Ihnen erzähle, was ich heute
morgen getan habe. Sie werden sich ihre eigene
Geistesverwirrung sicher leichter verzeihen können, wenn Sie
sich bewußt machen, daß sogar ich gewisse Momente hatte, in
denen mein Gleichgewicht einer Störung unterworfen war. Wir
beschäftigen seit einigen Jahren eine Haushälterin – eine
gewisse Sarah, mit deren Nachnamen ich mein Gedächtnis nie
zu belasten wagte. Sie ist in jeder Hinsicht eine unfreundliche,
förmliche und spröde Person, von gefühllosem Charakter und
hat nach unseren Erfahrungen nie auch nur ein Anzeichen
einer Emotion gezeigt. Als ich allein am Frühstückstisch saß –
Mrs. Challenger pflegt das Frühstück in ihrem Zimmer
einzunehmen –, kam mir plötzlich der Gedanke, daß es doch
ganz unterhaltsam und lehrreich sein könnte, wenn es mir
gelänge, die Grenzen der Unerschütterlichkeit dieser Frau

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herauszufinden. Nachdem ich eine kleine Blumenvase
umgekippt hatte, die auf der Tischdecke stand, klingelte ich
nach ihr und schlüpfte unter den Tisch. Sie trat ein, sah, daß
der Raum leer war und vermutete mich in meinem
Arbeitszimmer. Wie ich es erwartet hatte, kam sie näher und
beugte sich über den Tisch, um die Vase wieder aufzurichten.
Ich sah nur einen Baumwollstrumpf und einen Zugstiefel vor
mir. Indem ich meinen Kopf vorstreckte, versenkte ich meine
Zähne in den Schenkel ihres Beines. Das Experiment verlief
unerwartet erfolgreich. Einen Augenblick lang stand sie wie
gelähmt da und starrte auf meinen Kopf.

Dann riß sie sich mit einem Schrei los und rannte hinaus. Ich

lief hinter ihr her, weil ich ihr meine Beweggründe erklären
wollte, aber sie jagte bereits die Straße hinunter, und ein paar
Minuten später konnte ich sie, als ich sie endlich mit meinem
Feldstecher ausfindig machte, sehr schnell in südwestlicher
Richtung verschwinden sehen. So und nicht anders hat es sich
abgespielt. Und jetzt ziehen Sie aus dieser Anekdote Ihre
eigenen Schlußfolgerungen. Wird Ihr Inneres jetzt erleuchtet?
Setzt Sie in Ihren Gehirnen etwas in Bewegung? Was halten
Sie davon, Lord John?«

Lord John schüttelte ernst den Kopf.
»Sie werden dieser Tage noch in ernsthafte Schwierigkeiten

kommen, wenn Sie nicht lernen, sich zu beherrschen«, sagte
er.

»Vielleicht ist Ihnen dabei etwas aufgefallen, Summerlee?«
»Sie sollten sofort Ihre Arbeit unterbrechen, Challenger, und

sich ein paar Wochen in ein deutsches Bad zurückziehen,
Challenger«, empfahl Summerlee.

»Welch tiefschürfende Leistung!« rief Challenger aus. »Und

nun Sie, mein junger Freund. Ob es möglich ist, daß Sie mit
der Weisheit gesegnet sind, an denen es ihren Senioren
gebricht?«

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Ich war es. Ich sage es in aller Bescheidenheit, aber ich war

es wirklich. Natürlich mag es Ihnen, die Sie nun wissen, was
damals geschah, all das offensichtlich erscheinen, aber damals,
als die Sache noch neu für uns war, war sie uns keinesfalls
klar. Ganz plötzlich und mit der vollen Kraft der Überzeugung
wußte ich Bescheid.

»Gift!« schrie ich.
Und im gleichen Moment, als ich das Wort aussprach, wurde

mir bewußt, was alles an diesem Morgen geschehen war: Ich
dachte an Lord John und seinen Büffel, an meine eigenen,
hysterischen Tränen, an das unverschämte Verhalten Professor
Summerlees, an die merkwürdigen Ereignisse in London, die
Menschen am Sportplatz, das Fahrverhalten des Chauffeurs –
und den Streit vor der Sauerstoffhandlung. Es paßte alles
absolut zusammen. »Natürlich«, rief ich erneut. »Es ist Gift!
Man hat uns alle vergiftet!«

»Genau«, sagte Professor Challenger und rieb sich die

Hände. »Wir sind alle vergiftet. Unser Planet ist in einen
Giftstrom eingedrungen und nähert sich mit mehreren
Millionen Meilen pro Minute seinem Zentrum. Unser junger
Freund hat die Ursache all dieser Ärgernisse und Verwirrungen
in einem einzigen Wort zusammengefaßt.«

In verblüffender Stille sahen wir einander an. Es schien in

diesem Moment keinen Kommentar zu geben, der die Situation
wirklich getroffen hätte.

»Es gibt eine mentale Barriere, mit der man die Symptome

entdecken und unter Kontrolle halten kann«, sagte Challenger.
»Ich kann zwar nicht erwarten, daß Sie in Ihnen ebenso
entwickelt ist wie in mir, da ich glaube, daß die Stärke der
unterschiedlichen Geisteskräfte die Stärke dieser Barriere
bestimmt. Aber sie ist zweifellos fühlbar, sogar bei unserem
jungen Freund hier. Nach dem kleinen Gefühlsausbruch, der
meine Haushälterin so verschreckte, setzte ich mich hin und

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versuchte, mit mir ins reine zu kommen. Ich machte mir klar,
daß ich noch nie zuvor das Verlangen gespürt hatte, jemanden,
der in meinem Haushalt beschäftigt ist, zu beißen. Also mußte
der Impuls, der mich überkommen hatte, anomaler Natur sein.
Augenblicklich erkannte ich die Wahrheit. Während ich zu der
Erkenntnis gelangte, schlug mein Puls zehn Schläge mehr als
gewöhnlich; ebenso waren meine Reflexe schneller geworden.
Daraufhin rief ich mein höheres und gesunderes Ich, den
wirklichen G. E. C, an, der gelassen und unerschütterlich
hinter jeder molekularen Störung sitzen mußte. Ich befahl ihm,
alle närrischen Verhaltensweisen, zu denen das Gift mich
zwingen würde, genau zu beobachten, Ich stellte fest, daß ich
in der Tat noch Herr meiner Sinne war. Ich konnte einen
verwirrten Geist erkennen und kontrollieren. Es war eine
bemerkenswerte Zurschaustellung des Sieges des Geistes über
die Materie, denn es war ein Sieg über jene bestimmte Form
der Materie, die dem Bewußtsein am innigsten verhaftet ist.
Ich könnte durchaus sagen, daß der Geist ein Defekt ist und
eine Persönlichkeit ihn kontrollieren kann. Als meine Gattin
schließlich herunterkam, und ich in mir das Verlangen spürte,
mich hinter einer Tür zu verstecken und sie beim Eintreten mit
einem wilden Schrei zu erschrecken, war ich auch schon in der
Lage, diesen Impuls zu unterdrücken und sie mit Würde und
Zurückhaltung zu begrüßen. Dem überwältigenden Verlangen,
wie eine Ente zu quaken, trat ich in der gleichen Weise
entgegen, und so schaffte ich es, auch diesen Impuls zu
meistern. Später, als ich hinunterging, um den Wagen
vorfahren zu lassen, und Austin dabei vorfand, wie er sich –
mit einer kleinen Reparatur beschäftigt – über ihn beugte,
brachte ich meine bereits erhobene Hand ebenso unter
Kontrolle und bewahrte ihn so vor einer Erfahrung, die ihn
möglicherweise dazu veranlaßt hätte, die gleichen Schritte wie
unsere Haushälterin zu unternehmen. Statt dessen berührte ich

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ihn an der Schulter und trug ihm auf, den Wagen pünktlich
vorzufahren, damit wir Sie vom Bahnhof abholen könnten.
Gegenwärtig fühle ich mich dem Zwang unterworfen,
Professor Summerlee an seinem albernen alten Bart zu packen
und seinen Kopf anständig hin und her zu schütteln. Trotzdem
vermag ich, wie Sie selbst sehen, dieses Verlangen zu
unterdrücken. Ich hoffe, Sie nehmen sich an meinem Verhalten
ein Beispiel.«

»Ich werde besser nach diesem Büffel Ausschau halten«,

sagte Lord John.

»Und ich nach einem Fußballplatz.«
»Es mag ja sein, daß Sie recht haben, Challenger«, sagte

Summerlee in einem etwas gemäßigteren Tonfall. »Ich bin
bereit, zuzugeben, daß mein Sinneswandel eher kritischer als
konstruktiver Natur ist, da ich nicht dazu neige, neue Theorien
schnell anzuerkennen – besonders dann nicht, wenn sie so
ungewöhnlich und phantastisch klingen wie diese. Wenn ich
allerdings an die Ereignisse des heutigen Morgens
zurückdenke und mir das törichte Verhalten meiner Geführten
vor Augen halte, kann ich mir schon vorstellen, daß irgendein
erregendes Gift für ihren Zustand verantwortlich gewesen sein
muß.«

Challenger klopfte seinem Kollegen leutselig auf die

Schulter. »Wir machen Fortschritte«, sagte er. »Wir machen
ganz offensichtlich Fortschritte.«

»Würden Sie uns bitte sagen, Sir«, sagte Summerlee

kleinlaut, »was Sie von der gegenwärtigen Lage halten?«

»Mit Ihrer Erlaubnis werde ich ein paar Worte zu dieser

Angelegenheit sagen.« Challenger nahm auf der Tischplatte
Platz und ließ seine kurzen Stummelbeine hin und her
baumeln. »Wir werden Zeugen eines schrecklichen und
gräßlichen Ereignisses werden, das meines Erachtens nur das
Ende der Welt sein kann.«

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Das Ende der Welt! Unsere Augen wandten sich dem großen

Erkerfenster zu, und wir betrachteten die sommerliche
Schönheit der Landschaft, die sich dahinziehenden, mit
Heidekraut bewachsenen Abhänge, die großen Landhäuser, die
gemütlichen Farmen und die sich über die Hügel
dahinbewegenden Spaziergänger. Das Ende der Welt! Diese
Worte hatten wir oft gehört, aber der Gedanke, daß es sich
dabei nicht um ein der reinen Phantasie verhaftetes Datum
handeln sollte, erschütterte uns zutiefst. Wir wurden alle von
großer Ernsthaftigkeit ergriffen und warteten darauf, daß
Challenger fortfuhr. Seine allesüberragende Gegenwart und
seine Erscheinung verliehen seinen Worten ein solches
Gewicht, daß wir auf der Stelle alle Eigenarten und
Absurditäten, die der Mann ausstrahlte, vergaßen, und er uns
wie ein majestätisches Etwas erschien, das weit mehr war als
ein gewöhnlicher Mensch. Und dann fiel mir wieder ein, daß
er, seit wir diesen Raum betreten hatten, zweimal ein
donnerndes Gelächter ausgestoßen hatte. Eventuell, dachte ich,
sind der geistigen Objektivität Grenzen gesetzt. Wenn man die
Sache so sieht, kann die Krise wohl doch nicht so schlimm
sein.

»Stellen Sie sich ein Traubenbündel vor«, sagte Challenger,

»das von winzig kleinen, aber schädlichen Bakterien bedeckt
ist. Der Gärtner geht gegen sie mit einem Desinfektionsmittel
vor. Das kann daran, liegen, daß er seine Trauben gerne
sauberer hätte, aber auch daran, daß er Raum für eine andere
Bakterienart schaffen will, und zwar für eine solche, die
weniger giftig ist als die vorherige. Er taucht die Trauben in
ein Gift – und weg sind sie. Ich habe den Eindruck, daß unser
Gärtner gerade im Begriff ist, das Sonnensystem zu
desinfizieren und den menschlichen Bazillus, den sterblichen
kleinen Winzling, der sich über die Erdkruste dahinbewegt, in

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einem einzigen Augenblick zu sterilisieren und
auszuradieren.«

Erneut verfielen wir in ein Schweigen, das kurz darauf vom

hellen Klingeln des Telefons unterbrochen wurde.

»Eine unserer Mitbakterien bittet um Hilfe«, sagte Challenger

mit einem grimmigen Lächeln. »Sie beginnen allmählich zu
verstehen, daß ihre fortgesetzte Existenz nicht zu den
wirklichen Bedürfnissen des Universums gehört.«

Für eine oder zwei Minuten verließ er den Raum. Ich erinnere

mich daran, daß während seiner Abwesenheit keiner von uns
sprach. Die Situation schien uns für Kommentare nicht die
richtige zu sein.

»Es war die Brightoner Gesundheitsbehörde«, sagte er, als er

zurückkehrte. »Aus irgendwelchen Gründen entwickeln sich
die Dinge an der Meeresküste schneller als anderswo. Da wir
uns in einer Höhe von siebenhundert Fuß befinden, sind wir
also im Vorteil. Die Leute scheinen begriffen zu haben, daß ich
in dieser Angelegenheit die höchste Autorität bin. Ich zweifle
nicht daran, daß mein Brief in der Times sie zu dieser Ansicht
geführt hat. Der Mann, mit dem ich sprach, als wir das Haus
betraten, war der Bürgermeister irgendeiner Provinzstadt.
Vielleicht haben Sie gehört, als ich mit ihm telefonierte. Ich
hatte den Eindruck, daß er die Wichtigkeit seiner Existenz
maßlos überschätzte und habe ihm dabei geholfen, seine
Gedanken ein wenig zu ordnen.«

Summerlee war aufgestanden und stand am Fenster. Seine

knochigen, kleinen Hände zitterten vor Erregung.

»Challenger«, sagte er mit ruhiger Stimme, »diese

Angelegenheit ist zu ernst, als daß man derart oberflächlich
über sie sprechen sollte. Glauben Sie bitte nicht, daß ich Sie
mit den Fragen, die ich Ihnen vielleicht stellen werde, aus dem
Konzept bringen will. Aber ich überlasse es Ihnen, sich
darüber klar zu werden, ob Sie nicht aufgrund von

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Fehlinformationen oder Fehlschlüssen einem Irrtum unterlegen
sind. Die Sonne da draußen scheint wie immer und der
Himmel ist blau. Da sind das Heidekraut, die Blumen und die
Vögel. Da sind die Leute, die ihren Spaß auf dem Golfplatz
haben und die Arbeiter, die das Korn schneiden. Sie haben
gesagt, daß sie und wir am Rande der Vernichtung stehen
sollen – daß dieser sonnige Tag der Tag des Untergangs der
Menschheit sein kann. Soweit wir wissen, sind Sie aufgrund
von folgendem zu diesem Schluß gekommen: Sie berufen sich
auf eine Veränderung der Fraunhoferschen Linien, ein paar
Gerüchte aus Sumatra und auf die seltsame, körperliche
Erregtheit, die wir aneinander beobachtet haben. Das letzte
Symptom scheint keine so große Rolle zu spielen, da wir es –
mit einiger Anstrengung – unter Kontrolle halten können. Sie
brauchen uns gegenüber keinerlei Zeremoniell, Challenger. Es
ist nicht das erste Mal, daß wir gemeinsam dem Tode ins Auge
schauen. Seien Sie offen, lassen Sie uns genau wissen, wie es
um uns bestellt ist. Und sagen Sie uns, wie Ihrer Meinung nach
unsere Aussichten für die Zukunft sind.«

Eine gute und tapfere Rede; eine Rede, die voller Vertrauen

und aufrechtem Geist war und uns alle Steifheit und
Launenhaftigkeit des alten Zoologen vergessen ließ, Lord John
stand auf und schüttelte Summerlee die Hand.

»Verzeihen Sie meine Grobheit«, sagte er. »Und nun,

Challenger, sind Sie an der Reihe. Sagen Sie uns, wie es steht.
Wie Sie wissen, gehören wir nicht zu den nervösen
Charakteren, aber wenn man einen Wochenendbesuch macht
und plötzlich herausfindet, daß man unverhofft dem Jüngsten
Tag gegenübersteht, bedarf das, meine ich, einiger
Erklärungen. Worin besteht die Gefahr, wie groß ist sie
überhaupt, und wie sollen wir uns ihr gegenüber verhalten?«

Er stand, groß und stark wie er war, vor dem

sonnenbeschienenen Fenster und hatte seine gebräunte Hand

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auf der Schulter Summerlees. Ich saß zurückgelehnt in einem
Armsessel, hatte eine erloschene Zigarette zwischen den
Lippen und befand mich in jenem halbbetäubten Zustand, in
dem man alle Eindrücke äußerst deutlich aufnimmt. Vielleicht
war es sogar ein neues Stadium der Vergiftung, aber die an
Trunkenheit erinnernden Eingebungen hatten mich vollends
verlassen. Ich wurde von einer starken Gleichgültigkeit
überschwemmt und nahm zur gleichen Zeit alles, was um mich
herum vorging, mit überraschender Klarheit wahr. Ich fühlte
mich wie ein Beobachter und hatte nicht den geringsten
Eindruck, daß ich persönlich betroffen sei. Aber vor mir
standen drei Männer, die eine große Krise durchliefen, und es
war faszinierend, sie dabei zu beobachten. Bevor er antwortete,
streichelte Challenger seinen Bart und runzelte die Stirn. Man
konnte deutlich sehen, daß er bemüht war, seine Worte
sorgsam abzuwägen.

»Was war die letzte Neuigkeit, als Sie London verließen?«

fragte er.

»Ich war etwa gegen zehn Uhr in der Redaktion der Gazette«,

sagte ich. »Von Reuter kam eine Meldung herein, daß ganz
Sumatra von der Epidemie ergriffen sei und man deswegen
nicht fähig gewesen sei, die Leuchttürme zu aktivieren.«

»Seitdem sind die Ereignisse ziemlich schnell

fortgeschritten«, sagte Challenger und hob die Telegramme
auf. »Ich bin sowohl mit den Autoritäten als auch mit der
Presse in Verbindung, so daß ich Nachrichten aus allen Teilen
der Erde erhalte. Es gibt in der Tat ein allgemeines und sehr
beharrendes Verlangen, daß ich nach London kommen soll,
aber ich sehe keinen Nutzen darin. Nach meinen Unterlagen
fangen die Vergiftungserscheinungen mit geistiger Erregung
an; es heißt, daß die heute morgen in Paris ausgebrochenen
Straßenkämpfe ziemlich gewalttätig waren. Auch die
walisischen Bergleute haben einen Aufruhr angezettelt. Soweit

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ich den übermittelten Nachrichten trauen kann, wird dieses
Stadium der Erregung, das von Volk zu Volk und von
Individuum zu Individuum verschieden ist, von einer gewissen
Verzückung und einer Erhöhung der Sinnesschärfe begleitet –
wovon ich auch einige Anzeichen in unserem jungen Freund
hier wahrzunehmen glaube –, was nach einem fühlbaren
Intervall zu einem Koma führt und dann schnell den Tod zur
Folge hat. Soweit ich meinen Kenntnissen in der Toxikologie
trauen darf, gibt es, glaube ich, einige pflanzliche
Nervengifte…«

»Daturo«, half Summerlee ihm aus.
»Ausgezeichnet!« rief Challenger aus. »Es spricht nur für die

wissenschaftliche Präzision, wenn wir unserem toxischen Gift
auch einen Namen geben. Wir nennen es Datura. Ihnen, mein
lieber Summerlee, gebührt die Ehre – leider nur posthum, aber
nichtsdestoweniger einzigartig –, dem universellen Zerstörer,
dem Desinfektionsmittel des Großen Gärtners, einen Namen
gegeben zu haben. Die Symptome des Daturons sind also jene,
die ich beschrieben habe. Daß es sich über die ganze Welt
ausbreiten und jegliches Leben vernichten wird, scheint mir
sicher zu sein, denn die Atmosphäre ist ein universeller Träger.
Bis jetzt ist es in seinen Auswirkungen an den Plätzen, wo es
zugeschlagen hat, eher wechselhaft gewesen, aber der
Unterschied basiert lediglich auf ein paar Stunden Zeit. Wir
haben es mit einer Art heranrollender Flutwelle zu tun, die
einen Strand nach dem anderen überschwemmt und in
unregelmäßigen Abständen hin und her fließt, bis sie
schließlich alles unter sich begraben hat. Im Zusammenhang
mit der Vorgehensweise und der Verbreitung des Daturons
sind Gesetze an der Arbeit, die von größtem Interesse gewesen
wären, hätte die uns zur Verfügung stehende Zeit gelangt, sie
zu studieren. Soweit ich sie verfolgen kann«, – er warf erneut
einen Blick auf die Telegramme – »haben die weniger

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entwickelten Rassen ihren Einfluß als erste zu spüren
bekommen. In Afrika ist es zu bedauernswerten Vorfällen
gekommen, und was die australischen Ureinwohner angeht, so
scheinen sie bereits völlig ausgerottet zu sein. Die nordischen
Völker haben größere Widerstandskraft gezeigt als die
südlicher lebenden. Dieses Telegramm hier – es wurde um
neun Uhr fünfundvierzig in Marseille abgesandt – will ich
Ihnen wörtlich vorlesen: ›während der ganzen Nacht
rauschähnliche Erregung in der Provence. Winzertumulte bei
Nimes. Sozialistischer Umsturz in Toulon. Plötzliche Epidemie
mit komaähnlichen Begleiterscheinungen ergriff heute morgen
die Bevölkerung. Pestefoudroyant. Viele Tote auf den Straßen.
Lähmung der Wirtschaft und allgemeines Chaos.‹

Eine Stunde später kam dieses, aus der gleichen Quelle: ›Wir

sind vom Aussterben bedroht. Die Kathedralen und Kirchen
quellen über von Menschen. Wir haben bereits mehr Tote als
Lebende. Es ist unvorstellbar und entsetzlich. Der Tod scheint
schmerzlos zu sein, aber er kommt schnell, und es gibt keine
Gegenwehr.‹

Es gibt ein ähnliches Telegramm aus Paris, wo die

Entwicklung noch nicht so weit fortgeschritten ist. Indien und
Persien scheinen völlig entvölkert zu sein. Der slawische Teil
der österreichischen Bevölkerung ringt mit dem Tode, während
der germanische von den Auswirkungen bisher kaum berührt
wurde. Allgemein gesprochen scheinen – wenn meine
bescheidenen Informationen stimmen – die Bewohner der
Tiefebenen und Küstenregionen die Auswirkungen der
Epidemie stärker zu spüren als jene, die im Inland oder
bergigen Gegenden leben. Sogar kleinste Anhöhen rufen
spürbare Unterschiede hervor. Wenn es einen Überlebenden
der menschlichen Rasse geben sollte, wird man ihn sicherlich
erneut auf der Spitze eines Berges Ararat finden. Selbst unser
kleiner Hügel könnte gegenwärtig eine zeitweilige Insel

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inmitten des aufgewühlten Meeres bilden. Aber nach dem
gegenwärtigen Zustand der Welt zu urteilen, kann er uns
lediglich ein paar kurze Stunden vor der Flutwelle schützen.«

Lord John strich sich über die Stirn.
»Was ich nicht verstehe«, sagte er, »ist, wie Sie hier in aller

Gemütsruhe sitzen und lachen können, wo Sie diesen
Telegrammstapel in der Hand halten. Ich habe dem Tod
ebensooft gegenübergestanden, wie die meisten Menschen;
aber ein Tod, der uns allen gewiß ist – das ist gräßlich!«

»Was mein Lachen angeht«, sagte Challenger, »so sollten Sie

daran denken, daß auch ich nicht gegen den stimulierenden
zerebralen Effekt des ätherischen Gifts gefeit bin. Aber was
den Schrecken anbetrifft, den der allgemeine Tod in Ihnen
hervorruft, so möchte ich zu bedenken geben, daß dies ein
wenig übertrieben ist. Würde man Sie in einem offenen Boot
auf dem Meer aussetzen, ohne daß Sie wüßten, in welche
Richtung Sie sich wenden sollten, würde aller Mut Sie
verlassen. Die Isolation und die Ungewißheit würden Sie
niederschmettern. Aber würden Sie die gleiche Fahrt in einem
gut ausgerüsteten Schiff, auf dem sich alle Ihre Verwandten
und Freunde befänden, unternehmen. Sie würden – egal wie
ungewiß Ihr Ziel auch sein mag – zumindest eine gemeinsame
und gleichzeitige Erfahrung machen, die Sie bis zum Ende mit
den anderen in der gleichen, engen Verbindung belassen
würde. Ein einsamer Tod mag schrecklich sein, aber ein
universeller – so schmerzlos er auch kommen mag – ist in
meinen Augen kein Grund zur Furcht. Ich könnte mir sogar
vorstellen, daß das Grauen ganz allein auf der Seite desjenigen
ist, der feststellt, als einziger überlebt zu haben, während alle
Gelehrten, Berühmten und Höhergestellten gegangen sind.«

»Was schlagen Sie also vor?« fragte Summerlee, der zum

erstenmal genickt und damit seine Einwilligung zur

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Schlußfolgerung seines wissenschaftlichen Kollegen gegeben
hatte.

»Daß wir jetzt etwas essen«, sagte Challenger, denn im

gleichen Moment dröhnte der Schlag eines Gongs durch das
Haus. »Die Omeletts, die unsere Köchin zubereitet, werden nur
noch von ihren Koteletts übertroffen. Jedenfalls können wir
darauf vertrauen, daß die Auswirkungen des kosmischen Gifts
ihre beruflichen Fähigkeiten nicht beeinträchtigt haben. Des
weiteren sollten wir, soweit unsere ernsthaften und vereinigten
Anstrengungen dazu in der Lage sind, meinen 69er
Schatzburger vor dem bewahren, was ich nur als
Verschwendung eines ausgezeichneten Jahrganges bezeichnen
kann.« Er wuchtete seinen massigen Leib von der
Schreibtischkante, auf der er, während er uns vom
bevorstehenden Weltuntergang informiert hatte, gesessen hatte
und sagte: »Kommen Sie, wenn es uns schon vergönnt ist,
noch ein bißchen Zeit zu haben, sollten wir sie dazu nutzen, sie
in nüchterner und berechtigter Freude zu verbringen.«

Und in der Tat, die Mahlzeit erwies sich als äußerst heiter. Es

stimmt aber, daß wir unsere gräßliche Lage trotzdem nicht
vergessen konnten, denn der volle Ernst der Lage verdüsterte,
unser Unterbewußtsein und dämpfte unsere Gedanken. Aber
sicherlich ist es die Seele, die dem Tod nie ins Gesicht gesehen
hat, die gegen Ende am stärksten vor ihm zurückschreckt. Für
uns Männer war der Tod während eines großen Zeitabschnittes
unseres Lebens ein ständiger Weggefährte gewesen. Was Mrs.
Challenger anging, so verließ sie sich völlig auf die starke
Führungsrolle ihres bedeutenden Gatten. Sie würde dorthin
gehen, wohin sein Pfad ihn führte. Die Zukunft bestand aus
Schicksal. Die Gegenwart hatten wir selbst zu verantworten.
Wir verbrachten sie in bester Kameradschaft und freundlicher
Heiterkeit. Und wie ich bereits erwähnte, war ein jeder von uns
äußerst scharfsinnig. Selbst ich schlug hin und wieder Funken.

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Was Challenger anbetraf, so war er einfach wundervoll. Nie
zuvor habe ich die geistige Größe dieses Mannes dermaßen
stark empfunden, nie ist die Kraft seines Wissens mir
mitreißender erschienen. Summerlee zog ihn ein bißchen mit
seiner üblichen, ätzenden Kritik auf, und Lord John und ich
lachten dabei um die Wette. Mrs. Challenger, die eine Hand
auf den Arm ihres Gatten gelegt hatte, versuchte derweil das
Gebell des Philosophen unter Kontrolle zu halten. Leben, Tod,
Schicksal, die Bestimmung des Menschen – dies waren die
gewaltigen Themen dieser denkwürdigen Stunde, die dadurch
am Leben gehalten wurde, daß mit zunehmender Zeit mein
Bewußtsein in einen Zustand plötzlicher Verzückung verfiel
und mir anhand eines Gliederprickelns zeigte, daß sich die
unsichtbare Todeswoge langsam und sanft um uns herum
erhob. Einmal stellte ich fest, daß Lord John plötzlich die Hand
über die Augen legte, dann fiel Summerlee für einen
Augenblick in seinem Sessel zusammen. Jeder Atemzug, den
wir machten, war mit seltsamen Kräften geladen. Und dennoch
fühlten wir uns wohl und glücklich. Schließlich legte Austin
Zigaretten auf den Tisch und machte Anstalten, sich
zurückzuziehen.

»Austin!« sagte sein Herr.
»Ja, Sir?«
»Ich danke Ihnen für Ihre treuen Dienste.«
Ein Lächeln huschte über das knorrige Gesicht des Dieners.
»Ich habe stets nur meine Pflicht getan, Sir.«
»Ich erwarte für heute das Ende der Welt, Austin.«
»Jawohl, Sir. Um welche Zeit?«
»Das vermag ich nicht zu sagen, Austin. Aber noch vor

Einbruch der Dunkelheit.«

»Sehr wohl, Sir.«
Der wortkarge Austin verabschiedete sich und ging hinaus.

Challenger zündete sich eine Zigarette an, lehnte sich mit dem

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Kopf zu seiner Gattin hinüber und nahm ihre Hand in die
seine.

»Du weißt, wie die Dinge stehen, meine Liebe«, sagte er.

»Ich habe es dir ebenso erklärt, wie unseren Freunden hier. Du
hast doch keine Angst, nicht wahr?«

»Es wird doch nicht weh tun, George?«
»Nicht mehr, als das Lachgas beim Zahnarzt. Jedesmal, wenn

er dich damit behandelte, bist du praktisch gestorben.«

»Es war stets eine erfreuliche Erfahrung.«
»Auch der Tod kann so sein. Der abgenutzte Körper wird gar

nichts davon spüren; statt dessen fühlen wir das geistige
Entzücken, das in einem Traum oder im Zustand der Trance
liegt. Vielleicht baut die Natur für uns eine hübsche Tür, die
mit einem hauchdünnen, schimmernden Vorhang bedeckt ist,
um so für unsere erstaunten Seelen einen Eingang für eine
andere Ebene der Existenz bereitzuhalten. Während meiner
Untersuchungen des Bestehenden bin ich, wenn ich mich dem
Kern meiner Forschungen näherte, immer wieder auf Weisheit
und Freundlichkeit gestoßen. Wenn ein verängstigter
Sterblicher je der Zartheit bedurft hat, dann in jenem Moment,
in dem er seine riskante Reise von einem Leben ins andere
unternimmt. Nein, Summerlee, verschonen Sie mich jetzt mit
Ihrem Materialismus, denn zumindest ich bin ein zu großes
Ding, als daß ich lediglich in Form einiger physikalischer
Bestandteile – etwa einer Tüte Salz und ein paar Eimern
Wasser – enden könnte. Hier… hier…«, – und er schlug sich
mit seiner großen, behaarten Faust gegen den bulligen Schädel
– »da sitzt etwas, das sich zwar der Materie bedient, aber nicht
aus ihr besteht; etwas, das den Tod vielleicht besiegen könnte,
das der Tod selbst aber niemals zerstören kann.«

»Da wir gerade vom Tod sprechen«, sagte Lord John. »Ich

bin zwar irgendwie ein Christ, aber mir scheint, daß in unseren
Ahnen ein gewaltiger Naturtrieb am Werke war, als sie sich

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zusammen mit ihren Äxten, Pfeilen und Bögen beerdigen
ließen. Es war irgendwie, als würden sie nach dem Tode
anderswo weiterleben. Ich frage mich«, fügte er hinzu und
schaute ein wenig verschämt in die Runde, »ob ich mich nicht
besser fühlen würde, wenn man mich mit meiner alten 450er,
der kurzläufigen Vogelflinte mit dem gepolsterten Kolben und
einem oder zwei Patronengurten zur letzten Ruhe bettete. Mag
sein, daß dies nur die Vorstellung eines Narren ist, aber ich
empfinde nun einmal so. Was halten Sie davon, Herr
Professor?«

»Nun«, sagte Summerlee, »wenn Sie mich schon um meine

Meinung fragen: Ich kann nicht ableugnen, daß mir dies wie
ein Rückfall in die Steinzeit oder noch frühere Epochen
vorkommt. Ich bin ein Mensch des zwanzigsten Jahrhunderts
und möchte wie ein vernünftiger und zivilisierter Mensch
sterben. Ich kann mir zwar nicht vorstellen, daß ich größere
Angst vor dem Tode habe als Sie, denn ich bin ein alter Mann
und hätte – was immer auch kommen mag – sowieso nicht
mehr lange zu leben, aber es ist nun mal gegen meine Natur,
einfach dazusitzen und wie ein Schaf vor dem Metzger
kampflos auf ihn zu warten. Sind Sie eigentlich ganz sicher,
Challenger, daß es nichts gibt, was wir tun könnten?«

»Um uns zu retten?« sagte Challenger. »Nichts. Aber es steht

möglicherweise in meiner Macht, unser Leben um ein paar
Stunden zu verlängern, damit wir Zeuge der Entwicklung
dieser schrecklichen Tragödie werden können, bevor das
Schicksal auch uns ereilt. Ich habe gewisse Schritte
unternommen, um…«

»Deswegen also die Sauerstofftanks?«
»Genau deswegen.«
»Aber was kann ein bißchen Sauerstoff angesichts der

atmosphärischen Vergiftung schon ausrichten? Könnten wir
uns denn nicht genauso gut mit Ziegelsteinen gegen unser

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Schicksal zur Wehr setzen? Wir haben es hier doch mit
unterschiedlichen Ebenen der Materie zu tun, die nicht
aufeinander übergreifen können. Kommen Sie, Challenger, das
können Sie doch unmöglich ernst meinen.«

»Mein lieber Summerlee, dieses ätherische Gift wird mit

hoher Wahrscheinlichkeit von materiellen Wirkstoffen
beeinflußt. Das sehen wir schon an der Methodik und
Verbreitung des Ausbruchs: Wir sollten das zwar nicht a priori
erwartet haben, aber es ist zweifellos eine Tatsache. Ich bin der
festen Überzeugung, daß ein Gas wie Sauerstoff, das die
Lebens- und Widerstandskraft des Körpers stärkt, in extremer
Weise die Auswirkungen dessen, was Sie glücklicherweise
Daturon getauft haben, verzögern müßte. Es mag sein, daß ich
mich irre, aber ich bin, was die Korrektheit meiner
Schlußfolgerung anbelangt, absolut zuversichtlich.«

»Nun«, sagte Lord John, »wenn Sie damit meinen, daß wir

uns hinsetzen und an diesen Flaschen saugen sollen wie kleine
Babys, werde ich daran nicht teilnehmen.«

»Dazu gibt es keinen Anlaß«, antwortete Challenger. »Wir

haben Vorkehrungen getroffen – und das verdanken wir
meiner Gattin –, nach denen ihr Boudoir so luftdicht wie
möglich gemacht werden soll. Mit Türvorlegern und
gefirnißtem Papier…«

»Gütiger Himmel, Challenger, Sie glauben doch nicht etwa,

daß Sie die Luft mit gefirnißtem Papier draußen halten
könnten?«

»Sie haben wirklich ein geradezu perverses Talent, Ihre Zeit

mit den falschen Schlußfolgerungen zu verplempern, mein
wackerer Freund. Wir haben uns diese ganze Arbeit nicht
gemacht, um die Luft draußen zu halten, sondern um den
Sauerstoff am entweichen zu hindern. Ich bin sicher, daß wir –
wenn es uns gelingt, eine etwas sauerstoffreichere Luft als
üblich zu erzeugen – unsere Sinne zusammenhalten können.

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Ich hatte bereits zwei Sauerstofftanks, und Sie haben drei
weitere mitgebracht. Es ist zwar nicht viel, aber immerhin
etwas.«

»Wie lange werden sie reichen?«
»Ich habe keine Ahnung. Wir werden sie erst öffnen, wenn

die Symptome nicht mehr zu ertragen sind. Dann lassen wir
das Gas ausströmen, wie wir es benötigen. Vielleicht gewinnen
wir dadurch ein paar Stunden, möglicherweise sogar ein paar
Tage, in denen wir die untergegangene Welt beschauen
können. Unser Schicksal hängt davon ab, wie lange der
Sauerstoff reicht. Wir allein – wir fünf – werden aller
Wahrscheinlichkeit nach die Erfahrung machen, wie es ist, der
gesamten menschlichen Rasse auf ihrem Weg ins Unbekannte
als Nachhut zu dienen. Vielleicht sind Sie nun so freundlich
und gestatten mir, daß ich mich ein wenig um die Tanks
kümmere. Mir scheint, die Atmosphäre wird bereits ein wenig
drückend.«

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III

Vom Gift umgeben



Der Raum, der dazu dienen sollte, den Aussichtspunkt dieser
unvergeßlichen Erfahrung abzugeben, war ein entzückend
feminin eingerichteter Salon, der vierzehn oder sechzehn
Quadratfuß groß war. An ihn schloß sich, getrennt durch einen
Vorhang aus rotem Samt, ein Kämmerchen an, das Professor
Challenger als Ankleideraum diente. Dieses wiederum öffnete
sich in ein großes Schlafzimmer. Der Vorhang war an seinem
Platz belassen worden, aber das Boudoir und der
Ankleideraum konnten für die Zwecke unseres Versuchs als
ein Zimmer betrachtet werden. Eine Tür und der
Fensterrahmen waren mit gefirnißtem Papier abgedichtet
worden und waren somit praktisch versiegelt. Über der
anderen Tür, die in einen Korridor mündete, befand sich ein
Ventilator, den man, sollte eine Luftzufuhr sich als
unumgänglich erweisen, mit einer Kordel in Bewegung
versetzen konnte. In den einzelnen Zimmerecken standen
Pflanzen in großen Bodenvasen. »Die Frage, wie wir uns des
durch das Ausatmen entstehenden Stickstoffs entledigen, ohne
die Sauerstofftanks über Gebühr zu beanspruchen, ist
lebenswichtig«, sagte Challenger und sah sich um, nachdem er
die Sauerstoffflaschen nebeneinander vor die Wand gelegt
hatte. »Mit etwas mehr Vorbereitungszeit hätte ich die ganze
Kraft meiner Intelligenz diesem Problem widmen können, aber
jetzt können wir nicht mehr tun, als uns möglich ist. Die
Pflanzen werden uns nur wenig dienlich sein. Zwei der
Sauerstofftanks sind so weit vorbereitet, daß wir sie in einem

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Augenblick aktivieren können. Damit sind wir auch gegen
Überraschungen gewappnet. Wir sollten uns allerdings nicht
allzu weit von diesem Raum entfernen, da die Krise ganz
plötzlich und schnell eintreten kann.«

Es gab ein breites, niedriges Fenster, das sich zu einem

Balkon hin öffnete. Der Ausblick, den wir von hier aus hatten,
war identisch mit dem, den wir bereits von seinem
Arbeitszimmer aus genossen hatten. Als ich hinaussah, konnte
ich keinerlei Anzeichen irgendwelcher Unordnung erkennen.
Direkt unter meinen Augen zog sich die Serpentinenstraße
hügelabwärts. Eine Pferdedroschke vom Bahnhof, eines jener
prähistorischen Überbleibsel, wie man sie nur noch in Dörfern
auf dem Lande finden kann, bahnte sich langsam einen Weg
nach oben. Etwas weiter unten sah ich ein Hausmädchen, das
einen Kinderwagen vor sich herschob und ein zweites Kind an
der Hand führte. Die blauen Rauchfahnen aus den
Schornsteinen der Landhäuser verliehen der gesamten,
weitgedehnten Landschaft einen Hauch von Ordnung und
heimeliger Gemütlichkeit. Nirgendwo im blauen Himmel oder
auf der sonnenbeschienenen Erde waren die Vorboten einer
Katastrophe zu erblicken. Die Landarbeiter waren auf die
Felder zurückgekehrt, und die Golfspieler waren immer noch
damit beschäftigt, paarweise oder zu vieren die Hügel zu
umrunden. In meinem Kopf fand allerdings ein dermaßen
starker Tumult statt, daß er mich im Zusammenhang mit
meinen überstrapazierten Nerven in all diesen Leuten etwas
Erstaunliches sehen ließ.

»Die Burschen da unten scheinen nicht die geringsten

Krankheitssymptome zu spüren«, sagte ich und deutete auf die
Hügel.

»Haben Sie je Golf gespielt?« frage Lord John.
»Nein, noch nicht.«

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»Nun, mein junger Freund, wenn Sie es getan hätten, würden

Sie wissen, daß das einzige, was echte Golfer davon abhalten
kann, ihre Partie zu unterbrechen, der Weltuntergang ist.
Hallo! Das Telefon klingelt schon wieder!«

Seit dem Essen und danach hatte das helle Schrillen der

Telefonklingel unentwegt nach dem Professor gerufen.
Nachdem er die Nachrichten entgegengenommen hatte,
informierte er uns mit ein paar kurzen Sätzen. Noch nie zuvor
hatte man auf der Welt dermaßen schreckliche Dinge
registriert. Der große Schatten kroch von Süden nach Norden
wie eine riesige Springflut. Ägypten hatte das Delirium bereits
hinter sich und lag im Koma. Spanien und Portugal waren nun,
nach einem wilden Kampf, in dem die Klerikalen und
Anarchisten sich ein verzweifeltes Gefecht geliefert hatten, in
Schweigen verfallen. Aus Südamerika kamen keine Kabel
mehr durch. In Nordamerika hatten sich die Südstaaten nach
einem schrecklichen Rassenkrieg dem Gift ergeben. Nördlich
von Maryland waren die Auswirkungen noch nicht zum
Höhepunkt gekommen, in Kanada waren sie kaum
wahrnehmbar. Belgien, Holland und Dänemark waren
nacheinander angesteckt worden. Aus jedem Winkel wurden
verzweifelte Botschaften an die Zentren der Wissenschaft
ausgesandt, die sowohl die Chemiker als auch die weltweit
bekannten Ärzte um Hilfe anflehten. Die Astronomen wurden
ebenfalls mit Anfragen überhäuft. Aber man konnte nichts tun.
Die Angelegenheit war nun nicht nur weltweit bekannt
geworden, sondern lag auch außerhalb jeglicher menschlichen
Kontrolle und jeden Wissens. Es war der Tod – schmerzlos,
aber unausweichlich –, der Tod für jung und alt, schwach und
stark, reich und arm, und es gab keine Hoffnung, ihm zu
entgehen. So sahen die Nachrichten aus, die das Telefon uns
tröpfchenweise und in konfusen Botschaften überbrachte. Die
Großstädte kannten ihr Schicksal und bereiteten sich, soweit

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wir wußten, mit Würde und Resignation darauf vor. Trotzdem
waren da draußen noch immer die Golfspieler und
Landarbeiter, die sich

– unter dem Schatten des

Schlachtermessers – immer noch aufführten wie herumtollende
Lämmer. Es verwunderte mich. Aber schließlich – woher
sollten sie es wissen? Selbst auf uns war all dies mit einem
einzigen Schritt zugekommen. Hatte in der Morgenzeitung
etwas gestanden, was sie hätte in Alarmstimmung versetzen
können? Jetzt war es fast drei Uhr nachmittags. Noch während
wir zu ihnen hinaussahen, schien sich unter den Schnittern ein
Gerücht zu verbreiten, denn wir stellten plötzlich fest, daß sie
von den Feldern eilten. Auch einige der Golfspieler kehrten zu
ihrem Klubhaus zurück. Sie rannten, als suchten sie wegen
eines Regenschauers Unterschlupf. Die kleinen Caddies eilten
ihnen hinterher. Andere jedoch spielten weiter. Das
Hausmädchen hatte sich umgewandt und schob den
Kinderwagen nun wieder bergauf. Ich bemerkte, daß sie eine
Hand an die Stirn legte. Die Droschke hatte angehalten, und
der müde Gaul ruhte sich mit hängendem Kopf aus. Über
allem lag ein perfekter Sommerhimmel – eine sich in alle
Richtungen erstreckende Masse ungebrochenen Blaus, in dem
sich lediglich über den fernen Hügeln ein

paar

Schäfchenwolken zeigten. Wenn die Menschheit an diesem
Tag sterben mußte, hatte sie wenigstens ein schönes Totenbett.
Trotzdem machte die freundliche Lieblichkeit der Natur diese
schreckliche und allumfassende Vernichtung nur noch
bedauerlicher und gräßlicher. Es war einfach unglaublich, daß
man uns aus dieser schönen Welt so mitleidslos und schnell
vertrieb!

Aber wie ich bereits sagte, hatte das Telefon schon wieder

geklingelt. Plötzlich hörte ich Challengers dröhnende Stimme
aus der Halle.

»Malone!« rief er. »Es ist für Sie.«

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Ich eilte nach unten. Es war McArdle, der aus London anrief.
»Sind Sie’s, Malone?« schrie seine mir bekannte Stimme.
»Mr. Malone, in London ist die Hölle los. Fragen Sie

Professor Challenger um Gottes willen, ob er weiß, was man
dagegen unternehmen kann.«

»Er weiß auch nichts, Sir«, antwortete ich. »Seiner Meinung

nach ist diese Krise ebenso universeller wie unausweichlicher
Natur. Wir haben ein wenig Sauerstoff hier, aber das wird uns
auch nur für ein paar Stunden vor unserem Schicksal
bewahren.«

»Sauerstoff!« brüllte die mit dem Tode ringende Stimme. »Es

ist keine Zeit mehr, welchen zu besorgen. Seit Sie heute
morgen gegangen sind, ist aus der Redaktion ein perfektes
Tollhaus geworden. Die Hälfte des Stabes ist bereits ohne
Bewußtsein. Auch ich kann mich kaum noch auf den Beinen
halten. Durch das Fenster kann ich sehen, daß der ganze Boden
der Fleet Street mit Menschen bedeckt ist. Der gesamte
Verkehr ist zum Erliegen gekommen. Nach den letzten
Meldungen zu urteilen, ist die ganze Welt…«

Seine Stimme war leiser geworden, plötzlich brach sie ab.

Einen Augenblick später vernahm ich durch das Telefon einen
gedämpften Schlag, als sei er mit dem Kopf auf die
Schreibtischplatte gefallen.

»Mr. McArdle!« schrie ich. »Mr. McArdle!«
Es kam keine Antwort. Als ich den Hörer auf die Gabel

hängte, wußte ich, daß ich seine Stimme nie wieder hören
würde.

Im gleichen Moment, als ich meinen Fuß auf die erste

Treppenstufe setzte, um nach oben zurückzukehren, ging es
los. Ich hatte den Eindruck eines Schwimmenden, der sich bis
zu den Schultern im Wasser befindet und plötzlich von einer
rollenden Woge überspült wird. Eine unsichtbare Hand schien
sich leise um meinen Hals gelegt zu haben und drückte sanft

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das Leben aus mir heraus. Ich bemerkte einen immensen
Druck, der sich auf meine Brust legte, fühlte eine Enge in
meinem Kopf, ein lautes Singen in den Ohren und hatte helle
Lichtblitze vor den Augen. Ich taumelte auf das
Treppengeländer zu. Im gleichen Augenblick jagte keuchend
und schnaufend wie ein verwundeter Büffel Challenger an mir
vorbei. Es war die schreckliche Vision eines purpurroten
Gesichts, vorgewölbter Augen und gesträubtem Haar. Er hatte
sich seine kleine Frau, die allem Anschein nach ohne
Bewußtsein war, über die Schulter geworfen und stolperte mit
donnernden Schritten, taumelnd und doch flink, die Treppe
hinauf, wobei er sich selbst nur durch reine
Willensanstrengung auf den Beinen hielt. Um uns war die Pest
– dort oben hingegen die Sicherheit. Nachdem ich seine große
Leistung verinnerlicht hatte, eilte ich ihm nach, klammerte
mich an das Geländer und hielt mich daran fest, bis ich halb
besinnungslos mit dem Gesicht auf den oberen Treppenabsatz
fiel. Lord Johns eisenharte Finger packten den Kragen meines
Jacketts, und ein paar Augenblicke später lag ich – unfähig zu
sprechen oder eine Bewegung zu tun – mit dem Rücken auf
dem Schlafzimmerteppich. Die Frau lag neben mir, während
Summerlee in einem am Fenster stehenden Sessel hockte,
wobei sein Kopf beinahe seine Knie berührte. Wie in einem
Traum sah ich Challenger wie einen monströsen Käfer
langsam über den Boden kriechen, und kurz darauf hörte ich
das sanfte Zischen ausströmenden Sauerstoffs. Challenger
atmete zwei- oder dreimal tief ein. Seine Lungen dröhnten, als
er das lebensspendende Gas einsaugte.

»Es funktioniert!« schrie er triumphierend. »Meine Folgerung

hat sich als richtig erwiesen!« Und schon war er wieder auf
den Beinen, munter und stark. Mit einem Schlauch, den er in
der Hand hielt, eilte er zu seiner Gattin und hielt ihn vor ihr
Gesicht. Ein paar Sekunden später stöhnte sie, bewegte sich

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und setzte sich hin. Dann wandte er sich mir zu, und ich fühlte,
wie das Leben allmählich wieder durch meine Adern pulste.
Die Vernunft sagte mir, daß dies nicht mehr als ein kleiner
Aufschub sei, aber dennoch, egal welchen Wert wir ihr auch
damals beimaßen, erschien mir jede weitere Stunde der
Existenz als äußerst erstrebenswert. Nie zuvor hatte ich eine
solch sinnliche Freude erfahren, wie ausgerechnet in diesem
Augenblick, als mir der Quell des Lebens zuteil wurde. Das
Gewicht, das auf meinen Lungen lastete, verschwand; das
Band, das sich um meine Stirn gelegt hatte, löste sich; ich
fühlte nichts anderes mehr als Frieden, und war von sanfter,
gleichgültiger Bequemlichkeit erfüllt. Während man
Summerlee mit den gleichen Mitteln wieder zu sich brachte,
lag ich da und sah zu. Schließlich war Lord John wieder zur
Stelle. Er sprang auf, reichte mir die Hand und half mir auf die
Beine, während Challenger seine Gattin aufhob und auf ein
kleines Sofa verfrachtete.

»Oh, George, wie schade, daß du mich wieder zurückgeholt

hast«, sagte sie, während sie seine Hand hielt. »Das Tor des
Todes ist wirklich, wie du sagtest, mit hübschen,
schimmernden Vorhängen versehen. Nachdem das Gefühl, daß
ich husten müsse, vorbei war, war alles unvorstellbar friedlich
und schön. Warum hast du mich nicht dort gelassen?«

»Weil ich möchte, daß wir die Reise gemeinsam machen. Wir

sind so viele Jahre zusammen gewesen. Es wäre doch traurig,
wenn wir uns im letzten Moment noch trennen würden.«

Einen kurzen Augenblick lang erkannte ich in seiner

zärtlichen Stimme einen ganz neuen Challenger; einen Mann,
der weit von dem polternden, arroganten Burschen, der
abwechselnd seine Generation erstaunte und beleidigte,
entfernt war. Hier, im Schatten des Todes, sah ich den
wirklichen Challenger, jenen Menschen, der die Liebe einer

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Frau errungen und behalten hatte. Plötzlich änderte sich seine
Stimmung, und er war wieder unser starker Kapitän.

»Ich allein habe diese Katastrophe kommen sehen und

vorausgesagt«, sagte er mit einem hellen Frohlocken und
wissenschaftlichem Triumph in der Stimme. »Was Sie angeht,
mein guter Summerlee, so glaube ich, daß Ihre letzten Zweifel,
was das Verblassen der Fraunhoferschen Linien angeht, nun
beseitigt sind und Sie nun nicht mehr länger behaupten, daß
der Inhalt meines Briefes in der Times auf einem Trugschluß
basierte.«

Zum ersten Mal stellte sich unser ansonsten kampflustiger

Kollege einer Herausforderung gegenüber taub. Summerlee
konnte nichts anderes tun, als keuchend dazusitzen und die
langen, dürren Glieder zu strecken. Möglicherweise wollte er
sich damit bestätigen, daß er noch immer am Leben war.
Challenger ging zu der Sauerstofflasche hinüber, und das laute
Zischen veränderte sich kurz darauf zu einem feinen Säuseln.

»Wir müssen sparsam damit umgehen«, sagte er. »Die

Atmosphäre dieses Raumes enthält jetzt zuviel Sauerstoff,
weswegen ich annehme, daß keiner von uns sich über Gebühr
erschöpft fühlt. Wir können lediglich durch einige
Experimente herausfinden, welche Sauerstoffmenge genügt,
um das Gift zu neutralisieren. Warten wir erst einmal ab, ob
die jetzige Einstellung für uns ausreicht.«

Fünf Minuten oder mehr saßen wir in nervöser Anspannung

und ohne eine Wort zu sagen da. Ich war gerade zu dem
Entschluß gekommen, daß die gegenwärtige Sauerstoffmenge
nicht ausreichte, um die Beklemmung, denen meine Schläfen
jetzt wieder unterlagen, verschwinden zu lassen, als Mrs.
Challenger vom Sofa her bemerkte, daß sie im Begriff sei, die
Besinnung zu verlieren. Challenger erhöhte die
Sauerstoffmenge sofort.

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»In prä-wissenschaftlichen Zeiten«, sagte er, »nahm man

weiße Mäuse mit in die Unterseeboote, da deren
schwächlicherer Körperbau Veränderungen in der Atmosphäre
eher zur Kenntnis nahm als der der Seeleute. Du, meine Liebe,
wirst also unsere weiße Maus sein. Ich habe den
Sauerstoffgehalt jetzt erhöht. Geht es dir besser?«

»Ja, jetzt geht es mir besser.«
»Vielleicht haben wir jetzt die richtige Mischung getroffen.

Sobald wir herausgefunden haben, wieviel uns tatsächlich
langt, können wir ausrechnen, wie lange wir es überstehen
werden. Leider haben wir bei den Wiederbelebungsversuchen
eine ansehnliche Menge aus der ersten Flasche verbraucht.«

»Macht das etwas aus?« fragte Lord John, der – mit den

Händen in der Tasche – am Fenster stand. »Wenn wir eh schon
gehen müssen, warum sollen wir es dann noch hinauszögern?
Sie nehmen doch nicht etwa an, daß wir noch eine Chance
haben?«

Challenger schüttelte lächelnd den Kopf.
»Nun, meinen Sie dann nicht, es hätte mehr Würde, wenn wir

uns einfach hinausstürzten, als so lange hier zu warten, bis wir
hinausgeworfen werden? Wenn es schon sein muß, wäre ich
dafür, ein Gebet zu sprechen, den Sauerstoff abzudrehen und
das Fenster aufzumachen.«

»Ja, warum nicht?« fragte Mrs. Challenger tapfer. »Lord John

hat sicher recht, George. Es wäre besser so.«

»Dagegen muß ich schärfstens protestieren«, rief Summerlee

mit nörgelnder Stimme dazwischen. »Wenn wir sterben
müssen, dann sollen wir meinetwegen sterben; aber den Tod
vorsätzlich herbeizuführen, scheint mir doch eine närrische
und unverantwortliche Tat zu sein.«

»Und was meint unser junger Freund dazu?« fragte

Challenger.

»Ich meine, wir sollten es bis zum Ende durchstehen.«

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»Ich bin absolut der gleichen Ansicht«, sagte er.
»Wenn du auch dieser Meinung bist, George«, rief Mrs.

Challenger aus, »schließe ich mich dir an.«

»Nun, ja, es war halt nur ein Argument«, sagte Lord John.

»Wenn Sie alle bis zum Ende ausharren wollen, bin ich
natürlich dabei. Es gibt natürlich keinen Zweifel, daß die
Sache mächtig interessant werden kann. Das Leben hat mir
ebenso viele Abenteuer und Spannungen beschert wie den
meisten Menschen, nun aber werde ich auf einem Logenplatz
enden.«

»Der für einige Zeit die Fortdauer des Lebens garantiert«,

sagte Challenger.

»Welch herrlicher Trost!« rief Summerlee aus.
Challenger musterte ihn in stummem Tadel.
»Der uns für einige Zeit die Fortdauer des Lebens garantiert«,

wiederholte er im belehrendsten Tonfall, zu dem er fähig war.
»Niemand von uns mag vorherzusagen, ob wir von der Ebene
aus, die ich die spirituelle nennen möchte, im Gegensatz zur
jetzigen materiellen, noch Möglichkeiten zur Beobachtung
haben werden. Es sollte selbst dem Dümmsten klar sein«, (an
dieser Stelle warf er Summerlee einen Blick zu), »daß wir nur
so lange, wie wir existieren, die beste Gewähr dafür bieten, die
Dinge zu beobachten und über die materiellen Dinge ein Urteil
abzugeben. Nur wenn wir noch für ein paar Stunden am Leben
bleiben, können wir die Hoffnung hegen, in eine mögliche
zukünftige Existenz die klare Vorstellung des
ungeheuerlichsten Ereignisses mitzunehmen, das die Welt und
– soweit wir wissen – das Universum je heimgesucht hat. Mir
käme es jämmerlich vor, wenn wir versuchten, diesen Weg auf
irgendeine Art zu verkürzen und so auch nur eine Minute
dieser wundervollen Erfahrung verpassen würden.«

»Ich bin absolut der gleichen Meinung«, rief Summerlee aus.

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»Also aushalten bis zum Ende«, sagte Lord John. »Bei

George, der arme Teufel von Chauffeur da unten im Garten hat
seine letzte Reise bereits gemacht. Ob es Sinn hat, einen
Ausfall zu machen und ihn hereinzuholen?«

»Das wäre absoluter Wahnsinn!« schrie Summerlee.
»Möglicherweise haben Sie recht«, sagte Lord John. »Es

würde ihm nicht helfen. Und selbst, wenn es uns gelänge, ihn
wieder ins Leben zurückzurufen, würden wir nur den ganzen
Sauerstoff im Haus versprühen. Aber sehen Sie sich die
kleinen Vögel unter den Bäumen an!«

Wir schoben vier Sessel vor das breite, niedrige Fenster. Mrs.

Challenger lag immer noch mit geschlossenen Augen auf dem
kleinen Sofa. Ich erinnere mich, daß mir plötzlich der groteske
Gedanke durch den Kopf schoß – möglicherweise wurde die
Illusion noch durch die schwere Luft, die wir atmeten,
verstärkt – daß wir uns auf vier Sperrsitzen befanden und den
letzten Akt des Dramas der Welt beobachteten.

Direkt vor uns, geradewegs unter unseren Augen, lag der

kleine Hof, auf dem der erst zur Hälfte gewaschene
Kraftwagen stand. Austin, der Chauffeur, hatte nun doch seine
letzte Kündigung erhalten, denn er lag ausgestreckt neben dem
Rad und hatte eine große, schwarze Schramme auf der Stirn.
Er schien auf die Treppenstufe oder den Fußabstreifer gefallen
zu sein. In der Hand hielt er immer noch die Schlauchdüse, mit
der er den Wagen gewaschen hatte. In einer Ecke des Gartens
standen ein paar kleine Platanen, unter denen mehrere
mitleiderweckende Federbälle lagen, die die winzigen Beine in
die Luft reckten. Der Rundschlag der tödlichen Sense hatte
alles getroffen, was in ihrer Reichweite gewesen war.

Über die Hofmauer hinweg schauten wir auf die sich

dahinschlängelnde Straße hinunter, die an der Eisenbahnstation
endete. Die Schnitter, die wir von den Feldern hatten flüchten
sehen, lagen verstreut auf dem Asphalt, wobei sich ihre

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Glieder und Körper kreuzten. Weiter oben lag das
Hausmädchen mit dem Kopf und den Schultern in der
Böschung des Randstreifens. Sie hatte das Baby aus dem
Kinderwagen genommen und hielt es wie ein bewegungsloses
Bündel in den Armen. Ein kurzes Stück von ihr entfernt zeigte
ein dunkler Fleck auf der Straße den Platz an, auf dem der
kleine Junge hingefallen war. Etwas näher zu uns lag das tote
Kutschpferd zwischen seinen Deichseln. Der alte Kutscher
hing wie eine grotesk aussehende Vogelscheuche über dem
Spritzbrett. Seine Arme baumelten absurd in der Luft herum.
Durch das Fenster konnten wir verschwommen einen jungen
Mann erkennen, der im Inneren der Droschke saß. Die Tür war
aufgegangen, und seine Hand hielt die Klinke gepackt, als
hätte er den Versuch unternommen, im letzten Moment
abzuspringen. In mittlerer Entfernung befanden sich die Hügel
des Golfplatzes. Zwischen ihnen waren zwar immer noch die
dunklen Gestalten der Spieler zu erkennen, nur bewegten sie
sich diesmal nicht, sondern lagen starr im Gras oder dem den
Platz umgebenden Heidekraut. An einer Stelle zählten wir acht
gefallene Körper auf einmal. Offenbar hatten die vier Spieler
mit ihren Caddies bis zum Letzten ausgeharrt. Kein Vogel
zeigte sich mehr am zur Gruft gewordenen blauen Himmel; auf
dem weitgedehnten Landstreifen, der sich vor uns dahinzog,
bewegte sich weder Mensch noch Tier. Die Abendsonne
schickte ihre friedlichen Strahlen aus, aber alles, was sie
ausbrütete, war die Stille und das Schweigen des universellen
Todes – des Todes, den wir nur allzu bald würden teilen
müssen. Jetzt schloß uns noch die Scheibe aus zerbrechlichem
Glas, die unseren zusätzlichen Sauerstoff am Entweichen
hinderte und sich dem vergifteten Äther in den Weg stellte,
von dem Schicksal ab, das alle anderen bereits ereilt hatte. Ein
paar kurze Stunden lang würde das Wissen und die
Voraussicht eines Menschen dazu in der Lage sein, unsere

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kleine Oase des Lebens vor der ausgedehnten Wüste des Todes
zu schützen und uns davor bewahren, ebenfalls Opfer der
allgemeinen Katastrophe zu werden. Irgendwann würde dann
der Sauerstoff knapp werden und auch wir nach Luft ringend
auf dem kirschfarbenen Teppich liegen. Dann würde das
Schicksal der menschlichen Rasse und allen irdischen Lebens
besiegelt sein. In einer Stimmung, die zu ernst war, als daß wir
sie mit Worten hätten kommentieren können, sahen wir lange
Zeit auf die Welt hinaus.

»Da brennt ein Haus«, sagte Challenger schließlich und

deutete auf eine Rauchsäule, die sich über den Bäumen erhob.
»Ich nehme an, daß es noch viele solcher Feuersbrünste geben
wird und ihnen möglicherweise ganze Städte zum Opfer fallen,
denn man kann davon ausgehen, daß viele Leute mit Feuer in
der Hand umgefallen sind. Daß es überhaupt brennt, zeigt uns,
daß der Sauerstoffgehalt der Luft normal ist und mit dem
Weltraum etwas nicht stimmt. Ah, da sehen wir schon die
nächste Flamme, auf dem Crowborough Hill. Wenn ich mich
nicht irre, handelt es sich um das Klubhaus des Golfvereins.
Ich höre Kirchenglocken, die die Zeit vermelden. Es würde
unsere Philosophen sicher interessieren, daß die Technik die
Rasse, die sie erschaffen hat, überlebt.«

»Bei George!« rief Lord John aus und sprang nervös auf.

»Was ist das denn für eine Rauchwolke? Es ist ein Zug!«

Wir hörten ein Brüllen, und dann kam er plötzlich in Sicht

und hatte eine Geschwindigkeit, die man nur noch als
ungeheuerlich bezeichnen kann. Woher er kam und aus
welcher Entfernung, konnten wir nicht abschätzen. Nur unter
Ausnutzung eines geradezu wunderbaren Glücks konnte er
überhaupt eine Entfernung hinter sich gebracht haben. Aber
nun sahen wir das schreckliche Ende seiner Existenz, denn auf
dem Gleis stand bewegungslos ein mit Kohlen beladener
Güterzug. Als wir sahen, daß der Schnellzug über das gleiche

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Gleis donnerte, hielten wir den Atem an. Der Zusammenstoß
war grauenhaft. Die Lok und die Anhänger türmten sich zu
einem Hügel splitternden Holzes und verbogenen Eisens auf.
Rote Funken stoben aus dem Wrack und verschwanden erst,
als alles in hellen Flammen stand. Eine halbe Stunde saßen wir
da und wagten kaum zu sprechen. Der schauerliche Anblick
hatte uns gelähmt.

»Die armen, armen Menschen!« rief Mrs. Challenger

schließlich aus und klammerte sich schluchzend an den Arm
ihres Mannes.

»Die Fahrgäste dieses Zuges waren ebenso wenig am Leben

wie die Kohlen, mit denen sie zusammenstießen oder der
Kohlenstoff, zu dem sie nun geworden sind, meine Liebe«,
sagte Challenger und streichelte besänftigend ihre Hand. »Es
war ein Zug der Lebenden, als er den Victoria-Bahnhof
verließ, aber lange bevor ihn sein Schicksal ereilte, hat er nur
noch Tote befördert.«

»Auf der ganzen Welt muß jetzt das gleiche geschehen«,

sagte ich, während sich vor meinem inneren Auge seltsame
Ereignisse abspielten. »Denken Sie nur an die Schiffe auf dem
Meer! Sie werden steuerlos vor sich hinfahren, bis entweder
die Feuer in ihren Kesseln erloschen oder sie irgendwo auf
Grund laufen. Das gleiche gilt für die Segler – sie werden hin
und her treiben, beladen mit toten Seeleuten, bis ihre Planken
verrotten, ihre Außenwände lecken und sie nacheinander
sinken. Vielleicht wird der Atlantik noch in einem Jahrhundert
mit den alten, umhertreibenden Relikten der Gegenwart
spielen.«

»Und erst die Leute in den Kohlengruben«, sagte Summerlee

mit einem düster klingenden Glucksen. »Sollte es aus
irgendeinem Zufall einmal dazu kommen, daß auf der Erde
wieder Geologen leben, werden sie bestimmt seltsame

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Theorien darüber aufstellen, wie der Mensch in kohlehaltigen
Schichten existieren konnte.«

»Ich gebe ja nicht vor, über solche Dinge Bescheid zu

wissen«, warf Lord John ein, »aber mir scheint, daß die Erde
nach diesem Ereignis höchstens noch ein Schild tragen wird,
auf dem ›Leerstehend, zu Vermieten‹ steht. Wenn die
menschliche Rasse einmal ausradiert ist, wie kann sie die Erde
dann ein zweitesmal bevölkern?«

»Die Welt war auch leer, bevor es uns gab«, antwortete

Challenger ernst. »Sie entwickelte Leben aufgrund von
Bedingungen, deren Anfänge jenseits unseres Wissens liegen.
Warum sollte sich ein solcher Prozeß nicht wiederholen?«

»Mein lieber Challenger, das meinen Sie doch wohl nicht im

Ernst.«

»Professor Summerlee, ich bin nicht in der Stimmung, Dinge

zu sagen, die ich nicht meine. Ihre Bemerkung ist trivial.«

»Nun«, sagte Summerlee säuerlich, »Sie haben Ihr ganzes

Leben als starrsinniger Dogmatiker verbracht, warum sollten
Sie nicht auch so sterben?«

»Und Sie, Sir, haben das ganze Leben in einem Zustand

verstopfter Phantasielosigkeit verbracht, und man kann
annehmen, daß dies sich niemals ändern wird.«

»Daß es Ihnen an Phantasie gebracht, können nicht einmal

Ihre ärgsten Kritiker behaupten«, konterte Summerlee.

»Auf mein Wort!« sagte Lord John. »Es sähe Ihnen wirklich

ähnlich, wenn Sie den letzten Atemzug noch dazu
verwendeten, einander zu schmähen. Wen interessiert es
schon, ob es auf der Erde jemals wieder Leben geben wird
oder nicht? Wir werden es auf jeden Fall nicht mehr erleben.«

»Mit dieser Bemerkung, Sir, stellen Sie Ihr Licht wahrlich

unter den Scheffel«, sagte Challenger streng. »Ein wahrer
wissenschaftlicher Geist kann sich doch nicht solchen
Begrenzungen wie Raum und Zeit unterwerfen. Vielmehr baut

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er sich selbst einen Beobachtungsstand an der Grenze der
Gegenwart, die die vollendete Vergangenheit von der
vollendeten Zukunft trennt. Von diesem sicheren Posten aus
macht er sowohl zum Anfang als auch zum Ende aller Dinge
seine Ausfälle. Was den Tod angeht, so stirbt der
wissenschaftliche Geist so, indem er auf seinem Posten bleibt
und auf normale und methodische Weise bis zum Ende
arbeitet: Er ignoriert Dinge wie seine eigene körperliche
Liquidation ebenso wie alle anderen Begrenzungen der
materiellen Existenz. Habe ich damit Recht, Professor
Summerlee?«

Summerlee brummelte etwas Unverständliches in seinen

Bart.

»Mit gewissen Einschränkungen bin ich Ihrer Meinung«,

sagte er.

»Der ideale wissenschaftliche Geist«, fuhr Challenger fort,

» – ich spreche in der dritten Person, um nicht allzu
überheblich zu erscheinen – der ideale wissenschaftliche Geist
sollte dazu fähig sein, noch abstrakt denken zu können, wenn
sein Träger aus einem Ballonkorb fällt und auf die Erde
hinabstürzt. Männer dieses Kalibers werden gebraucht, da sie
die Eroberer der Natur und die Leibgarde der Wahrheit
stellen.«

»Mir scheint, daß diesmal die Natur die Oberhand hat«, sagte

Lord John und schaute aus dem Fenster. »Ich habe ein paar
meinungsbildende Artikel darüber gelesen, daß Gentlemen wie
Sie, sie angeblich zu kontrollieren verstünden, aber sie scheint
ein wenig von ihrer Bewegungsfreiheit zurückgewonnen zu
haben.«

»Es ist nur ein zeitweiliger Rückfall«, sagte Challenger mit

Überzeugung. »Was sind schon ein paar Millionen Jahre im
großen Zyklus der Zeit? Die Pflanzenwelt hat, wie Sie sehen,
überlebt. Schauen Sie sich die Blätter jener Platane dort an.

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Die Vögel sind tot, aber die Pflanzen wachsen weiter. Aus
diesem Pflanzenleben, ob es sich nun in einem Teich oder im
Marschland befindet, werden sich irgendwann mikroskopisch
kleine Schnecken entwickeln, die die Pioniere jener gewaltigen
Lebensarmee sein werden, der wir fünf im Moment die
außergewöhnliche Ehre haben, als Nachhut zu dienen. Wenn
sich erst einmal die niedrigste Form des Lebens etabliert hat,
ist die Ankunft des Menschen so sicher, wie sich aus einer
Eichel ein Baum entwickelt. Und der alte Zyklus beginnt von
neuem.«

»Aber das Gift«, fragte ich. »Wird es das Leben nicht im

Keim ersticken?«

»Das Gift könnte lediglich eine Schicht oder Ablagerung im

Weltraum sein – ein pestähnlicher Golfstrom, der den
mächtigen Ozean durchquert, über den wir dahinschwimmen.
Vielleicht ist es auch möglich, Abwehrstoffe zu entwickeln;
das Leben könnte sich den neuen Bedingungen anpassen.
Allein die Tatsache, daß wir uns mit Hilfe einer etwas
größeren Sauerstoffmenge in unserem Blut halten können,
bedeutet, daß es nicht einmal besonders großer Veränderungen
bedarf, um das animalische Leben das Gift ertragen zu lassen.«

Das hinter den Bäumen liegende, qualmende Haus stand nun

in Flammen. Wir konnten sehen, wie die Feuerzungen hoch in
den Himmel schossen.

»Ziemlich abscheulich«, murmelte Lord John stärker

beeindruckt als je zuvor.

»Nun, aber was kümmerts uns?« bemerkte ich. »Die Welt ist

tot. Und das Krematorium ist sicherlich die sauberste Art der
Bestattung.«

»Es würde unser Leben ziemlich verkürzen, wenn auch

dieses Haus in Flammen aufginge.«

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»Ich habe diese Gefahr vorausgesehen«, sagte Challenger,

»und bat meine Frau, deswegen Vorsichtsmaßnahmen zu
ergreifen.«

»Es ist alles in bester Ordnung, Schatz. Aber mein Kopf

beginnt schon wieder zu schmerzen. Welch eine bedrohliche
Atmosphäre!«

»Wir werden sie ändern«, sagte Challenger und beugte sich

über den Sauerstofftank.

»Er ist fast leer«, sagte er. »Immerhin hat er fast dreieinhalb

Stunden gereicht. Es ist jetzt fast acht Uhr. Wir werden also
bequem durch die Nacht kommen. Ich nehme an, daß der
Sauerstoff bis morgen früh um neun reichen wird. Wir werden
also den Sonnenaufgang zu sehen bekommen, auch wenn er
diesmal für uns ganz alleine kommt.«

Er aktivierte den zweiten Tank und öffnete für eine halbe

Minute den Ventilationsschacht über der Tür. Die Luft wurde
fühlbar besser, aber als die Symptome sich wieder an uns
zeigten, schloß er ihn wieder.

»Nebenbei bemerkt«, sagte er, »lebt der Mensch nicht von

Sauerstoff allein. Die Zeit fürs Dinner ist bereits vorbei. Ich
versichere Ihnen, Gentlemen, als ich Sie in mein Haus einlud,
um das zu feiern, was ich mir als ein freudiges Wiedersehen
vorstellte, hatte ich die Absicht, meine Küche für sich selbst
sprechen zu lassen. Jetzt müssen wir uns allerdings mit dem
zufriedengeben, was wir haben. Ich nehme an, Sie sind mit mir
einer Meinung, daß es eine Torheit wäre, unseren Sauerstoff
dadurch zu verschwenden, daß wir den Ölofen anzünden. Ich
habe einige Mäppchen Bratenfleisch, Brot und Essiggurken
vorbereitet, die uns mit ein paar Flaschen Bordeaux die Zeit
ein wenig versüßen können. Vielen Dank, meine Liebe – wie
immer bist du auch jetzt die Königin aller Hausfrauen.«

Es war in der Tat bewundernswert, wie seine mit der

Selbstachtung und Geschicklichkeit einer britischen Hausfrau

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ausgestattete Gattin den Tisch mit einer schneeweißen Decke
und Servietten versah und uns das einfache Mahl auftischte,
das wir in zivilisiertem Rahmen – auf dem Tisch stand sogar
eine elektrische Lampe – einnahmen. Bewundernswert war
allerdings auch, daß sich unser Appetit als wahrer Heißhunger
entpuppte.

»Daran können wir unsere Emotionen abmessen«, sagte

Challenger in der herablassenden Art, die er stets anwandte,
wenn sein wissenschaftlicher Geist sich dazu erniedrigte,
unwichtige Tatsachen zu erklären. »Wir haben eine große
Krise durchlaufen, und das hat unsere Moleküle natürlich in
Unordnung gebracht. Was wiederum bedeutet, daß wir sie
wieder in einen Normalzustand versetzen müssen. Große
Sorgen oder große Freude müßten auch einen übermäßigen
Hunger erzeugen – nicht jedoch Appetitlosigkeit, wie uns die
Romanschreiber glauben machen wollen.«

»Deswegen macht die Landbevölkerung aus Beerdigungen

wohl auch immer große Feste«, vermutete ich.

»Genau. Unser junger Freund hat den Nagel auf den Kopf

getroffen. Nehmen Sie doch noch eine Scheibe Wurst.«

»Das gleiche gilt für die Wilden«, sagte Lord John und

schnitt sich ein Stück Fleisch ab. »Ich sah ihnen einmal zu, als
sie am Aruwimi River einen Häuptling bestatteten. Danach
aßen sie ein Flußpferd, das bestimmt nicht weniger wog als der
ganze Stamm. Es gibt auch einige Stämme unten in Neu-
Guinea, die aus Gründen der Sauberkeit gleich denjenigen, den
sie kurz zuvor noch beklagt haben, selbst aufessen. Nun, von
allen Beerdigungsfeierlichkeiten, die die Welt je gesehen hat,
ist unsere, wie ich annehme, sicher die komischste.«

»Das Seltsame ist«, sagte Mrs. Challenger, »daß ich nicht

dazu in der Lage bin, für die, die von uns gegangen sind,
Trauer zu empfinden. Da sind zum Beispiel mein Vater und
meine Mutter in Bedford. Ich weiß, daß sie tot sind, und doch

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kann ich in dieser universellen Tragödie keine Trauer für
Einzelne spüren, nicht einmal für sie.«

»Und meine alte Mutter in ihrem Landhaus in Irland«, sagte

ich. »Ich sehe sie genau vor mir, mit ihrem Schal und dem
Spitzenhäubchen, wie sie mit geschlossenen Augen in ihrem
alten Lehnstuhl am Fenster sitzt, während neben ihr ein Buch
und ihre Brille liegen. Warum sollte ich sie beweinen? Sie ist
vergangen, und ich werde vergehen, und vielleicht bin ich ihr
in einem anderen Leben näher als England Irland. Aber ich
verspüre einen leisen Kummer, wenn ich daran denke, daß sie
körperlich zu existieren aufgehört hat.«

»Was den Körper angeht«, bemerkte Challenger, »so

wehklagen wir weder deswegen, wenn wir uns die Nägel
schneiden, noch wenn unser Haar von einigen Locken entblößt
wird. Ebenso wenig sehnt sich ein Einbeiniger nach seinem
verlorenen Glied. Der physische Körper ist doch für uns eher
eine Quelle des Schmerzes und der Strapazen gewesen. Er ist
der konstante Behälter unserer Begrenzungen. Warum also
Sollten wir uns darüber sorgen, wenn er von unserem
psychischen Ich abgetrennt wird?«

»Wenn man sie überhaupt voneinander trennen kann«,

brummte Summerlee, »jedenfalls stellt der universelle Tod
eine Bedrohung dar.«

»Wie ich bereits erklärt habe«, sagte Challenger, »muß ein

universeller Tod von weitaus weniger schrecklicher Natur sein
als ein isolierter.«

»Genau so ist es während einer Schlacht«, bemerkte Lord

John. »Wenn Sie einen einzelnen Mann mit zerfetzter Brust
und einem Kopfschuß daliegen sehen, wird Ihnen schlecht.
Aber im Sudan habe ich Tausende so daliegen sehen, ohne daß
mich ein solches Gefühl überkam. Denn wenn man Geschichte
macht, zählt das Leben eines Einzelnen zu wenig, als daß man
sich um ihn Sorgen machen könnte. Wenn das Schicksal

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tausend Millionen am gleichen Tag ereilt, sieht man den
Einzelnen in der Menge nicht mehr.«

»Ich wünschte, es wäre schon vorbei«, sagte Mrs. Challenger

sehnsüchtig. »O, George, ich habe solche Angst.«

»Wenn die Zeit kommt, wirst du die tapferste von uns sein,

meine Liebe. Ich bin stets ein streitsüchtiger Hammel gewesen,
mein Schatz, aber bitte behalte in Erinnerung, daß G. E. C. sich
nur so verhalten hat, wie es seinem Charakter entsprach und er
nichts dafür konnte. Hättest du trotzdem gerne einen anderen
gehabt?«

»Nicht um alles in der Welt, Lieber«, sagte sie und

umschlang seinen massigen Hals mit den Armen. Wir drei
begaben uns zum Fenster und blieben erstaunt stehen, als wir
sahen, welcher Blick sich uns bot.

Die Finsternis hatte sich herabgesenkt und die Welt in

Schwärze erstarren lassen. Aber am südlichen Horizont befand
sich ein langer, leuchtender, scharlachfarbener Streifen, der in
hellen Farben das Pulsieren eines Lebens zeigte, das plötzlich
einem feuerroten Höhepunkt entgegensprang und sich dann als
tosende Feuerlinie entpuppte.

»Lewes steht in Flammen!« rief ich aus.
»Nein, es ist Brighton, das brennt«, sagte Challenger und

stand auf, um sich zu uns zu gesellen. »Sehen Sie, wie sich die
gekurvte Linie der Hügel gegen das Leuchten abhebt? Das
Feuer liegt Meilen weiter auf der anderen Seite. Die ganze
Stadt muß in Flammen stehen.«

Es glühte an unterschiedlichen Orten, und auch der große

Schrotthaufen auf dem Eisenbahngleis schmorte noch in der
Dunkelheit vor sich hin, aber gegen die Feuersbrunst, die
hinter den Hügeln wütete, kamen mir alle anderen Brände nur
so vor, als hätte jemand ein Streichholz angezündet. Welch ein
Aufmacher wäre das für die Gazette gewesen! Hatte es je für
einen Journalisten einen solchen Aufmacher gegeben, ohne

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daß er die Möglichkeit besessen hatte, ihn auch zu bringen?
Die größte Schlagzeile aller Zeiten – ohne daß jemand da war,
der sie zu würdigen wußte? Und dann, ganz plötzlich,
erwachte in mir der alte Instinkt des Berichterstatters. Wenn
diese Männer der Wissenschaft ihrer Lebensaufgabe bis zum
bitteren Ende treu bleiben konnten, warum sollte ich mich
dann nicht als ebenso standhaft erweisen? Kein menschliches
Auge würde das zu sehen bekommen, was ich sehen würde. Da
ich zudem die lange Nacht auf irgendeine Weise würde
verbringen müssen – und Schlaf, jedenfalls für mich, nicht in
Frage kam –, würden mir meine Aufzeichnungen dabei helfen,
die Stunden der Müdigkeit zu überwinden und meine
Gedanken zu beschäftigen. Deswegen habe ich jetzt vor mir
auf den Knien das Notizbuch mit den bekritzelten Seiten, die
ich im matten Schein unserer einzigen elektrischen Lampe in
aufgeregter Stimmung beschrieb. Besäße ich
schriftstellerisches Talent, wären sie des Anlasses sicher
würdig gewesen. So wie sie jetzt sind, vermögen sie anderen
lediglich die Gefühle und das Zagen jener schrecklichen Nacht
wiederzugeben.

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IV

Das Tagebuch des Todes



Wie seltsam die Worte aussehen, die ich an den Anfang
meines leeren Notizbuches gesetzt habe! Wie seltsamer noch
aber ist es, daß ich, Edward Malone, es war, der sie
geschrieben hat; ich, der erst vor zwölf Stunden seine
Wohnung in Streatham verlassen hat, ohne auch nur einen
Gedanken daran zu verschwenden, welche Unfaßlichkeiten
dieser Tag mit sich bringen würde! Ich denke zurück an die
Kette der Ereignisse, an mein Gespräch mit McArdle,
Challengers erste alarmierende Meldung in der Times, die
absurde Eisenbahnfahrt, das, in Heiterkeit verlaufene
Mittagessen, die Katastrophe und an die Gegenwart – daß wir
auf einem leeren Planeten zurückbleiben und unser Schicksal
so gewiß ist, daß ich diese Zeilen, die ich in einem
mechanischen professionellen Habitus niedergeschrieben habe
und niemals von menschlichen Augen gelesen werden, als die
Worte eines bereits Toten ansehen kann, denn so nahe ist er
bereits dem schattigen Grenzland gekommen, über das der
kleine Kreis seiner auswärtigen Freunde gegangen ist. Ich
spüre, wie weise und wahr Challengers Worte waren, als er
sagte, daß die wirkliche Tragödie jene wäre, wenn wir
feststellen müßten, daß wir allein zurückgeblieben sind, wenn
alles Edle, Gute und Schöne vergangen ist. Aber diese Gefahr
besteht für uns nicht. Schon jetzt ist der Inhalt unserer zweiten
Sauerstoffflasche beinahe erschöpft. Wir können den
kümmerlichen Rest Leben, der uns noch verbleibt, beinahe auf
die Minute ausrechnen.

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Challenger hat uns gerade einen Vortrag gehalten, der gut

eine Stunde gedauert und aufgrund der Aufregung des
Vortragenden, der schließlich immer lauter wurde und mit den
Armen ruderte, in mir den Eindruck erweckt hat, als spreche er
vor einer Versammlung wissenschaftlicher Skeptiker in der
Queens Hall. Es war gewiß ein seltsames Publikum, dem er ins
Gewissen redete: seine Frau, die sich absolut fügsam gebärdete
und dennoch nichts von dem verstand, was er redete;
Summerlee, auf einem Sessel im Schatten sitzend, mürrisch
und kritisch, aber keinesfalls uninteressiert; Lord John, der sich
wegen des Gesamtverlaufs ein wenig gelangweilt in einer Ecke
rekelte, und ich, am Fenster stehend und die ganze Szene
gewissermaßen mit unvoreingenommener Aufmerksamkeit
beobachtend, als befände ich mich in einem Traum, an dem ich
nicht das geringste persönliche Interesse hätte. Challenger saß
an dem die Raummitte einnehmenden Tisch, während das
elektrische Licht den unter dem Mikroskop liegenden
Objektträger beleuchtete, den er aus dem Ankleideraum geholt
hatte. Der kleine Kreis hellweißen Lichts, den der Spiegel
zurückwarf, setzte die Hälfte seines zerfurchten, bärtigen
Gesichts einem strahlenden Leuchten aus, während die andere
in tiefster Dunkelheit blieb. Wie es aussieht, hat er in letzter
Zeit an den niedrigsten Formen des Lebens gearbeitet, und was
ihn gegenwärtig erregt, ist die Tatsache, daß die sich seit dem
gestrigen Tag auf dem Objektträger befindende Amöbe immer
noch lebt.

»Sie sehen es selbst«, wiederholt er mit großer Erregung.

»Summerlee, wollen Sie herüberkommen und sich selbst
davon überzeugen? Malone, wollen Sie freundlicherweise das,
was ich sage, beglaubigen? Die kleinen, spindelähnlichen
Dinger in der Mitte sind Diatome und können ignoriert
werden, da sie möglicherweise eher pflanzlicher als
animalischer Natur sind. Aber rechter Hand werden Sie

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unzweifelhaft eine Amöbe erblicken, die sich langsam auf dem
Objektträger bewegt. Die obere Schraube dient der
Feineinstellung. Schauen Sie es sich selbst an.«

Summerlee tat wie ihm geheißen und fügte sich. Ich tat das

gleiche und erblickte ein kleines Geschöpf, das aussah, als
bestehe es aus Milchglas. Es bewegte sich linkisch auf dem
erhellten Kreis. Lord John schien Challenger auch ohne
näheres Hinsehen zu glauben.

»Ich werde mir nicht den Kopf darüber zerbrechen, ob es lebt

oder tot ist«, sagte er. »Soweit ich weiß, kennen wir uns nicht
einmal vom Sehen her, weswegen also sollte ich es mir zu
Herzen nehmen? Jedenfalls nehme ich nicht an, daß dieses
Ding sich über unseren Gesundheitszustand Gedanken macht.«

Darüber mußte ich lachen, woraufhin Challenger mich mit

dem kältesten und hochnäsigsten Blick bedachte, zu dem er
fähig war. Es war eine äußerst unangenehme Erfahrung.

»Die Respektlosigkeit der Halbgebildeten hat auf die

Wissenschaft einen größeren Störeffekt als die Dummheit des
Ignoranten«, sagte er. »Wenn Lord John Roxton vielleicht
geruhen würde…«

»Mein lieber George, sei doch nicht immer so ein

Heißsporn«, sagte seine Gattin und legte eine Hand auf sein
Haar, unter dem das Mikroskop beinahe verschwand. »Was hat
es schon zu bedeuten, ob diese Amöbe lebt oder nicht?«

»Es hat eine große Bedeutung«, sagte Challenger bärbeißig.
»Nun, dann erzählen Sie es uns«, sagte Lord John mit einem

humorigen Lächeln. »Darüber können wir ebenso gut reden
wie über etwas anderes. Wenn Sie der Meinung sind, ich hätte
mich diesem Ding gegenüber ein wenig zu burschikos
aufgeführt oder auf irgendeine Weise seine Gefühle verletzt,
bitte ich um Entschuldigung.«

»Was mich betrifft«, sagte Summerlee in seinem quäkenden,

nörgelnden Tonfall, »so vermag ich nicht einzusehen, warum

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Sie der Tatsache, daß das Ding lebt, eine solche Bedeutung
zumessen. EA hält sich in der gleichen Atmosphäre auf wie
wir, deswegen ist es doch nur natürlich, daß das Gift keine
Auswirkungen auf es hat. Befände es sich außerhalb dieses
Raumes, wäre es so tot wie jedes andere tierische Leben auch.«

»Ihre Bemerkungen, mein lieber Summerlee«, sagte

Challenger mit, äußerster Ruhe (Oh, könnte ich dieses
anmaßende, arrogante Gesicht im hellen Schein des
respektierenden Mikroskopspiegels doch nur malen!), » – Ihre
Bemerkungen zeigen einmal wieder, wie mangelhaft Sie dazu
in der Lage sind, die Situation einzuschätzen. Ich habe dieses
Spezimen gestern aufgezogen, und seitdem ist es hermetisch
von der Außenwelt abgeschlossen. Unser Sauerstoff kann es
nicht erreichen. Aber die Luft hat es durchdrungen, wie jeden
anderen Punkt im Universum. Also hat es das Gift überlebt.
Wir können also annehmen, daß alle Amöben, die sich
außerhalb dieses Raumes befinden, die Katastrophe überlebt
haben und nicht – wie Sie fälschlicherweise behaupten, tot
sind.«

»Nun, auch jetzt fühle ich mich noch nicht dazu veranlaßt,

darüber in Hurrarufe auszubrechen«, sagte Lord John. »Denn
was hat das schon zu sagen?«

»Es hat nichts anderes zu sagen, als das, daß die Welt nicht

tot ist, sondern lebt. Besäßen Sie wissenschaftliche
Vorstellungskraft, würden Sie von nun an einen Blick in die
Zukunft werfen und sehen, daß in ein paar Millionen Jahren –
was schließlich nach kosmischen Maßstäben nur eine
verschwindend geringe Zeitspanne ist – die ganze Welt nur so
von tierischem und menschlichem Leben wimmeln wird. Und
all das verdanken wir diesem winzigen Keim. Sie haben doch
schon ein Präriefeuer gesehen, bei dem die Flammen jedes
Grasbüschel vom Erdboden gefressen und nichts als eine

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pechschwarze Wüste hinterlassen haben. Man müßte
annehmen, daß der Boden von nun an für immer so bliebe.

Aber die Wurzeln der Gewächse sind zurückgeblieben, und

wenn Sie ein paar Jahre später noch einmal an diesen Ort
zurückkehren, werden Sie nicht einmal mehr die Narben sehen,
die sich vorher dort befanden. In dieser kleinen Kreatur hier
befinden sich die Wurzeln tierischen Lebens, und da sie nun
einmal einer Entwicklung und der Evolution unterworfen ist,
wird sie im Laufe der Zeit auch gewiß jede Spur der
unvergleichlichen Krise, die wir gerade durchlaufen, zu tilgen
verstehen.«

»Wie beruhigend!« sagte Lord John, rappelte sich auf und

warf einen Blick durch das Mikroskop. »Ein lustiger kleiner
Bursche, dem da das Porträt Nummer eins in der Ahnengalerie
gebührt. Wir sollten ihm direkt einen Orden verleihen.«

»Der dunkle Punkt ist sein Zellkern«, sagte Challenger wie

ein Kindermädchen, das einem Baby Zahlen beizubringen
versucht.

»Nun, dann brauchen wir uns ja nicht einsam zu fühlen«,

sagte Lord John lachend. »Immerhin gibt es außer uns noch
jemanden, der auf der Erde lebt.«

»Sie scheinen davon auszugehen, Challenger«, sagte

Summerlee, »daß der Grund, aus dem diese Welt erschaffen
wurde, darin besteht, menschliches Leben zu erzeugen und zu
tragen.«

»Nun, Sir, welche Art von Lebewesen schlagen Sie denn

vor?« fragte Challenger kratzbürstig, da er einen erneuten
Anflug von Widerspruch zu wittern schien.

»Manchmal glaube ich, es ist nur ein ungeheurer Dünkel, der

die Menschen glauben macht, diese Bühne sei nur dazu
errichtet worden, daß sie darauf herumstolzieren können.«

»Nun, wir wollen nicht dogmatisch werden, aber wenn wir

das, was Sie ungeheuren Dünkel zu nennen belieben, einmal

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beiseite lassen, können wir doch mit Sicherheit behaupten, das
höchste Geschöpf der Natur zu sein.«

»Das höchste, von dem wir Kenntnis haben.«
»Das, Sir, versteht sich von selbst.«
»Denken Sie nur an all die Millionen – vielleicht sogar

Milliarden -Jahre, in denen die Erde leer durch den Weltraum
gezogen ist – oder wenn sie nicht leer war, hat es auf ihr
zumindest kein Anzeichen oder keinen Gedanken der
menschlichen Rasse gegeben. Stellen Sie sich das vor. Sie
schwebt durch das All, wird vom Regen ausgewaschen, von
der Sonne ausgedörrt und von den Winden zernarbt – und das
ungezählte Jahre lang. Wenn man die geologische Zeit nimmt,
ist der Mensch praktisch erst gestern auf ihr erschienen.
Weswegen sollte man also annehmen, daß all diese
aufwendigen Vorbereitungen nur für ihn gemacht wurden?«

»Für wen denn sonst – oder für was?«
Summerlee zuckte die Achseln.
»Wie sollen wir das wissen? Vielleicht wurde all das aus

einem Grund geschaffen, den wir nicht einmal begreifen
können? Vielleicht ist der Mensch lediglich ein
Zufallsprodukt? Eine unbeabsichtigte Nebenwirkung, die im
Verlauf des Prozesses entstanden ist? Mir kommt es so vor, als
würde das Treibholz auf dem Ozean der Meinung sein, die
Meere seien nur dazu geschaffen worden, um es
hervorzubringen und zu erhalten oder wenn eine Maus glauben
würde, daß die Kathedrale, in der sie lebt, nur dazu bestimmt
sei, ihren Unterschlupf abzugeben.«

Ich habe mir die Worte ihres Streitgesprächs ziemlich schnell

notiert, aber jetzt verkommt ihre Diskussion zu einem
lärmenden Gezänk, das von beiden Seiten nur noch in
vielsilbigem Fachjargon geführt wird. Es ist zweifellos ein
Privileg, zwei solche Koryphäen die großen Fragen des Lebens
diskutieren zu hören, aber da sie sich in fortwährender

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Nichtübereinstimmung befinden, können einfache Menschen
wie Lord John und ich ihrer Zurschaustellung nichts positives
mehr abgewinnen. Sie widerlegen einander ununterbrochen,
und am Ende wissen wir genauso wenig wie am Anfang. Jetzt
ist der Wirrwarr verstummt, und Summerlee hat sich in seinen
Sessel zusammengerollt, während Challenger, der immer noch
an den Einstellschrauben seines Mikroskops herumfingert, ein
fortgesetztes, tiefes und unverständliches Donnern von sich
gibt, wie die See nach einem Sturm. Lord John kommt zu mir
herüber, und wir sehen zusammen in die Nacht hinaus.

Da ist der bleiche Neumond – der letzte Mond, den

menschliche Augen je erblicken werden –, und die Sterne
glänzen in kalter Pracht. Nicht einmal auf dem klaren Plateau
in Südamerika sind sie mir heller erschienen. Vielleicht hat die
Veränderung der Luft auch Auswirkungen auf das Licht. Das
Begräbnisfeuer Brightons lodert immer noch, und am
westlichen Himmel ist in der Ferne ein roter Fleck zu sehen,
was bedeutet, daß es auch bei Arundel oder Chichester,
vielleicht sogar bei Portsmouth, soweit ist. Ich sitze, grüble
und schreibe hin und wieder etwas auf. Jugend, Schönheit,
Ritterlichkeit und Liebe – ist das nun alles vorbei? Die
sternenbeschienene Erde sieht aus wie ein Traumland sanften
Friedens. Wer könnte sie sich als ein schreckliches Golgatha
vorstellen, in dem die Leichen der Menschheit überall verstreut
liegen? Ich stellte plötzlich fest, daß ich lachte.

»Hallo, junger Freund«, sagt Lord John, der mich überrascht

anstarrt. »In diesen schlechten Zeiten wäre ein Witz nicht das
Schlechteste. Über welchen lachten Sie denn gerade?«

»Ich dachte an all die großen, ungelösten Fragen«, antwortete

ich. »An jene Fragen, an die wir soviel Arbeit und
Gedankenkraft verschwendet haben. Denken Sie
beispielsweise an Englisch-Deutschen Konkurrenzkampf –
oder den Persischen Golf, auf den mein alter Chef so versessen

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war. Wer hätte, während wir uns darüber die Köpfe heiß
redeten, vermutet, auf welche Weise diese Fragen schließlich
gelöst werden würden?«

Wir schweigen wieder. Ich stelle mir vor, daß jeder von uns

nun an seine verstorbenen Freunde denkt. Mrs. Challenger
schluchzt still vor sich hin, und ihr Gatte flüstert ihr etwas zu.
Ich denke an alle möglichen Leute und sehe sie starr und
bleich vor mir liegen, so wie den armen Austin unten im
Garten. Da ist zum Beispiel McArdle. Ich weiß genau, wo er
ist, wie er daliegt, mit dem Gesicht auf der Schreibtischplatte,
während seine Hand das Telefon umklammert hält, mit dem
ich ihn umfallen hörte. Ich denke auch an Beaumont, den
Redakteur. Ich nehme an, daß er auf dem blauroten, türkischen
Teppich liegt, der sein Allerheiligstes schmückt. Und die
Burschen im Reporterzimmer – Macdonna, Murray und Bond.
Sicher sind sie mitten in der Arbeit gestorben, die Notizbücher,
die voller glänzender Eindrücke und seltsamer Ereignisse sind,
in den Händen haltend. Ich kann mir sogar vorstellen, wie der
eine zu den Ärzten gerast ist, der andere nach Westminster und
der dritte zur St. Pauls-Kathedrale, Welch herrliche
Schlagzeilen müssen sie als letzte Vision vor Augen gehabt
haben – und keine davon war im Druck erschienen! Ich konnte
Macdonna zwischen den Ärzten sehen: »Hoffnung in der
Harley Street!« Mac hatte immer eine Schwäche für Stabreime
gehabt. »Interview mit Mr. Soley Wilson.« – »Berühmter
Spezialist sagt: ›Nicht

verzweifeln!‹«

– »Unser

Sonderkorrespondent traf den bekannten Wissenschaftler auf
dem Dach seines Hauses sitzend an, wohin er sich, um den
verschreckten Patientenmassen zu entgehen, die sein Heim
überschwemmen, zurückgezogen hat. In einer Weise, die
deutlich machte, daß er die immense Wichtigkeit der
Ereignisse keineswegs unterschätzt, weigerte sich der gefeierte
Arzt zuzugeben, daß alle Wege der Hoffnung in

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Einbahnstraßen enden müssen.« So würde Mac anfangen.
Dann war da noch Bond; er würde möglicherweise die St.
Pauls-Kathedrale aufsuchen. Bond pflegte ebenfalls seinen
eigenen Stil. Auf mein Wort, das war genau das richtige
Thema für ihn! »Ich stehe auf der kleinen Galerie im Inneren
des Domes und schaue auf die eng zusammenstehende Menge
verzweifelter Menschen hinab, die sich im letzten Moment vor
einer Macht auf die Knie werfen, die sie bisher hartnäckig
ignoriert haben. Plötzlich fangen meine Sinne ein von der
schwankenden Menge ausgestoßenes Stöhnen auf, das so
voller Grauen und Flehen und einen solch haarsträubenden
Hilfeschrei an das Unbekannte ist, daß…« Und so weiter.

Ja, es mußte ein großartiges Ende für einen Reporter sein,

wenngleich er – wie auch ich – würde sterben müssen, ohne
seine Kenntnisse verwerten zu können. Was würde Bond,
dieser arme Kerl, nicht dafür geben, am Ende einer solchen
Kolumne seine Initialen lesen zu können?

Aber welchen Unsinn ich hier schreibe! Es ist nur ein

Versuch, die Müdigkeit zu vertreiben. Mrs. Challenger ist
durch den Ankleideraum verschwunden, und der Professor
sagt, daß sie schläft. Er macht sich Notizen und konsultiert, als
wäre er mit seiner üblichen Arbeit beschäftigt, einige Bücher,
die vor ihm auf dem Tisch liegen. Er schreibt mit einer Feder,
die ziemlich laut kratzt und in mir den Eindruck erweckt, als
würde sie jeden ankreischen, der nicht mit ihm einer Meinung
ist.

Summerlee ist in seinem Sessel zusammengesunken und gibt

von Zeit zu Zeit ein besonders provozierendes Schnarchen von
sich. Lord John liegt auf dem Rücken. Er hat die Hände in den
Hosentaschen und hält die Augen geschlossen. Wie Menschen
unter solchen Bedingungen schlafen können, ist mir ein Rätsel.

Es ist jetzt drei Uhr dreißig. Ich bin gerade mit einem

ziemlichen Schreck aufgewacht. Um fünf Minuten nach elf

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habe ich meine letzte Eintragung gemacht. Ich erinnere mich
daran, meine Uhr aufgezogen und die Zeit notiert zu haben. Ich
habe also fast fünf Stunden der geringen Zeitspanne, die uns
noch verbleibt, verschwendet. Wer hätte das für möglich
gehalten? Aber ich fühle mich wieder erfrischt und bin bereit,
mich meinem Schicksal zu stellen – zumindest rede ich mir das
ein. Und doch – je besser ein Mensch sich fühlt und je weiter
er sich vom Alter entfernt befindet, desto mehr schreckt er vor
dem Tod zurück. Wie weise und gnadenvoll ist doch diese
Einrichtung der Natur, die den irdischen Anker kaum
wahrnehmbar löst, bis der Mensch sein Bewußtsein verliert
und er aus dem Hafen in die große See des Jenseits
hinaustreibt.

Mrs. Challenger ist immer noch im Ankleideraum.

Challenger ist in seinem Sessel eingeschlafen. Welch ein Bild!
Seine gewaltige Gestalt lehnt sich nach hinten, seine großen,
haarigen Hände liegen gefaltet auf seiner Weste, und sein Kopf
ist dermaßen gekippt, daß ich oberhalb seines Kragens nichts
anderes zu sehen vermag, als seinen leuchtenden, gesträubten
Bart. Er bewegt sich langsam im Rhythmus seines
Schnarchens, und Summerlee fügt Challengers sonorem Baß
seinen helleren Tenor hinzu. Lord John schläft ebenfalls, seine
hochgewachsene Gestalt liegt zusammengekrümmt in einem
Korbsessel. Das erste, kalte Licht des Tages stiehlt sich
langsam in das Zimmer. Alles wirkt grau und jämmerlich.

Ich sehe mir den Sonnenaufgang an – jenen schicksalhaften

Sonnenaufgang, der sich über einer entvölkerten Welt erhebt.
Die menschliche Rasse ist nicht mehr, sie ist an einem einzigen
Tag vergangen, aber die Planeten ziehen noch immer ihre
Bahn. Ebbe und Flut funktionieren wie zuvor, der Wind
wispert, und die Natur nimmt ihren Verlauf und konzentriert
sich, wie mir scheint, nun auf die Amöbe, ohne daß es ein
Anzeichen dafür gibt, daß der, der sich selbst den Herrn der

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Schöpfung nennt, das Universum je mit seiner Gegenwart
gesegnet oder verflucht hat. Unten im Garten liegt Austin. Er
hat die Arme und Beine von, sich gestreckt, und die
Schlauchdüse lugt immer noch, zwischen seinen leblosen
Fingern hervor. Seine beinahe komisch wirkende,
bemitleidenswerte Gestalt, die so hilflos neben dem Fahrzeug
liegt, das seiner Aufsicht unterstand, symbolisiert die ganze
Menschheit.

Hier enden die Aufzeichnungen, die ich zu jener Zeit machte.

Die folgenden Ereignisse kamen zu rasch und waren zu
ergreifend, als daß ich die Zeit gehabt hätte, sie auf der Stelle
niederzuschreiben, aber dennoch sind sie meinem Gedächtnis
zu eng verhaftet, als daß ich sie vergessen könnte.

Irgendeine Trockenheit in der Kehle führte dazu, daß ich

nach den Sauerstofftanks sah, und was ich erblickte,
überraschte mich zutiefst. Die Zeit, die uns noch blieb, war
sehr gering. Irgendwann in der Nacht hatte Challenger den
vierten Tank aktiviert, und mir war sofort klar, daß auch dieser
bereits erschöpft war. Schon spürte ich das grauenhafte Gefühl
des Erstickens. Ich eilte auf den fünften Tank zu, öffnete das
Ventil und brach damit unseren Restvorrat an. Im gleichen
Moment plagte mich auch schon mein Gewissen, denn es hatte
mich bei dem Gedanken ertappt, daß die anderen vielleicht
nicht mehr aufwachen würden, zöge ich meine Hand zurück.
Der Gedanke verschwand jedoch sofort wieder, als die Stimme
Mrs. Challengers aus dem inneren Raum rief: »George,
George, ich ersticke!«

»Es ist schon in Ordnung, Mrs. Challenger«, antwortete ich,

während die anderen aufstanden. »Ich habe gerade einen neuen
Tank aufgemacht.«

Selbst in einem Augenblick wie diesem kam ich nicht umhin,

Challenger zuzulächeln, der sich mit seinen haarigen Fäusten
die Augen rieb und mich an ein Riesenbaby denken ließ, das

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gerade aus dem Schlaf erwacht war. Summerlee zitterte, als
litte er an Schüttelfrost. Es war das erste Mal, daß er sich über
die Gelassenheit eines Mannes der Wissenschaft hinwegsetzte
und menschliche Angst zeigte. Lord John war allerdings
gelassen wie immer und benahm sich, als würde er gleich zu
einer Jagdpartie aufbrechen.

»Die fünfte und letzte«, sagte er, während er dem Tank einen

kurzen Blick zuwarf. »Sagen Sie bloß nicht, Sie wären die
ganze Nacht wachgeblieben und hätten Ihre Eindrücke zu
Papier gebracht, junger Freund.«

»Ich habe mir nur ein paar Notizen gemacht, um die Zeit

totzuschlagen.«

»Nun, normalerweise würde ich das niemandem glauben,

aber ein Ire sollte dazu wohl fähig sein. Ich nehme allerdings
an, daß Sie so lange warten müssen, bis unser kleiner
Amöbenbruder erwachsen ist, bevor Sie einen Leser finden.
Auf das, was im Moment vor sich geht, scheint er ja keinen
großen Wert zu legen. Nun, Herr Professor, wie steht’s?«

Challenger sah sich die großen Nebelbänke an, die der

Morgen über die Landschaft treiben ließ. Hier und da erhoben
sich bewaldete Hügel wie konische Inseln aus dämmeriger
See.

»Man fühlt sich wie beschwipst«, sagte Mrs. Challenger, die

nun, mit einem Morgenmantel bekleidet, zu uns trat. »Dein
Lied, George, ›Abschied vom alten, begrüß das neue‹, das war
prophetisch. Aber Sie zittern ja, meine armen Freunde. Ich
habe die ganze Nacht unter einer warmen Decke verbracht,
während Sie frierend in Sesseln saßen. Aber gleich werden Sie
sich besser fühlen.«

Die tapfere, kleine Frau eilte hinaus, und kurz darauf

vernahmen wir das Pfeifen eines Wasserkessels. Bald darauf
war sie zurück und servierte uns auf einem Tablett fünf
dampfende Tassen Kakao.

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»Trinken Sie das«, sagte sie, »dann wird es Ihnen besser

gehen.«

Und das taten wir. Summerlee fragte, ob er seine Pfeife

anzünden dürfe und wir anderen rauchten Zigaretten.

Das beruhigte zwar, glaube ich, unsere Nerven, war aber

dennoch ein Fehler, denn der Rauch schuf in dem stickigen
Raum eine noch schlechtere Atmosphäre. Challenger ließ den
Ventilator laufen.

»Wie lange noch, Challenger?« fragte Lord John.
»Vielleicht drei Stunden«, antwortete Challenger

schulterzuckend.

»Ich hatte zwar Angst«, sagte seine Frau, »aber je näher wir

dem Ende kommen, desto leichter ist der Gedanke zu ertragen.
Meinst du nicht, daß wir ein Gebet sprechen sollten, George?«

»Wenn du willst, kannst du ruhig beten«, antwortete der

große Mann mit freundlicher Stimme. »Jeder von uns betet auf
seine eigene Art. Meine Art zu beten besteht darin, alles
hinzunehmen, was das Schicksal mir auferlegt, und zwar
hoffnungsvoll. Die höchste Religion und die höchste
Wissenschaft scheinen sich hier zu vereinigen.«

»Wenn ich ehrlich bin«, sagte Summerlee grummelnd, ohne

die Pfeife aus dem Mund zu nehmen, »bin ich nicht dazu in der
Lage, meine geistige Einstellung als hinnahmebereit zu
bezeichnen – und schon gar nicht als hoffnungsvoll, Ich ergebe
mich dem Schicksal nur, weil ich keine andere Wahl habe und
gebe offen zu, daß es mir gefallen hätte, noch ein Jahr mehr zu
haben, um meine Klassifikation der Kalkfossilien zu beenden.«

»Ihr unvollendetes Werk ist eine Kleinigkeit«, sagte

Challenger großsprecherisch, »wenn man es gegen die
Tatsache abwägt, daß mein eigenes magnum opus, ›Die
Lebensleiter‹, sich immer noch in den ersten Stadien befindet.
Mein Wissen, meine Belesenheit, meine Erfahrung –
genaugenommen meine gesamte Einmaligkeit – wären in

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diesen aufsehenerregenden Band mit eingeflossen. Und
dennoch bin ich, wie ich bereits sagte, voller
Hinnahmebereitschaft.«

»Ich nehme an, daß wir alle irgend etwas Unvollendetes

hinter uns zurücklassen«, sagte Lord John. »Was ist es bei
Ihnen, junger Freund?«

»Ich arbeitete gerade an einem Gedichtband«, antwortete ich.
»Nun, jedenfalls ist der Welt das erspart geblieben«, sagte

Lord John. »Irgendwie kommt es immer zu einem Ausgleich,
wenn man im Ungewissen herumtappt.«

»Und was ist mit Ihnen?« fragte ich.
»Nun, ich hatte zufälligerweise schon alle Brücken hinter mir

abgebrochen. Ich hatte Merivale versprochen, im Frühling
nach Tibet zu gehen und einen Schneeleoparden zu erlegen.
Aber Sie muß es doch besonders treffen, Mrs. Challenger, wo
Sie sich gerade ein solch hübsches Heim eingerichtet haben.«

»Mein Heim ist da, wo George ist. Aber, oh, was würde ich

nicht dafür geben, noch einmal am frühen Morgen zwischen
den Hügeln spazieren zu gehen!«

Unsere Herzen warfen ihre Worte zurück. Die Sonne hatte

inzwischen den sie verhüllenden, hauchdünnen Nebel
durchdrungen und badete den gesamten Wald in goldenem
Licht. Für uns, die wir in dieser finsteren und stickigen
Atmosphäre saßen, war die herrliche, saubere, windumwobene
Landschaft ein Traum reiner Schönheit. Mrs. Challenger
streckte verlangend die Hand aus. Wir schoben die Sessel vor
uns her und nahmen in einem Halbkreis am Fenster Platz. Die
Luft war kaum noch zum aushalten, und mir schien, daß die
Schatten des Todes sich immer enger um uns – die letzten
unserer Rasse – drängten. Es war, als seien wir auf allen Seiten
von eisernen Vorhängen umgeben.

»Der Tank wird es nicht mehr allzu lange machen«, sagte

Lord John und atmete tief ein.

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»Die Tanks sind nicht alle gleich voll«, sagte Challenger. »Es

kommt immer darauf an, mit welchem Druck und welcher
Sorgfalt man sie füllt. Ich bin allerdings geneigt, Ihnen
zuzustimmen, Roxton, dieser hier ist möglicherweise
schadhaft.«

»Somit werden wir noch in den letzten Stunden unseres

Lebens bemogelt«, bemerkte Summerlee bitter. »Dies
illustriert, meine ich, vortrefflich die Verderbtheit des
Zeitalters, in dem wir lebten. Aber nun, Challenger, ist es an
Ihnen, wenn Sie die subjektiven Phänomene der physischen
Liquidation noch studieren wollen.«

»Setz dich auf den Schemel zu meinen Füßen und gib mir die

Hand«, sagte Challenger zu seiner Gattin. »Ich bin der
Meinung, meine Freunde, daß ein noch längeres Verbleiben in
dieser unerträglichen Atmosphäre kaum ratsam ist. Meinst du
nicht auch, mein Schatz?«

Mrs. Challenger stieß einen leisen Schrei aus und lehnte den

Kopf gegen sein Knie.

»Ich habe die Leute während des Winters im Schlangensee

baden sehen«, sagte Lord John. »Wenn nur einer oder zwei
draußen bleiben, kann man sie trotz ihres Zitterns diejenigen
beneiden sehen, die den Sprung gewagt haben. Es sind die, die
draußen bleiben, die die Kälte in all ihren Auswirkungen zu
spüren bekommen. Ich bin mit allem fertig und stimme für
einen Kopfsprung.«

»Sie würden das Fenster öffnen und sich der Luft stellen?«
»Besser vergiftet als erstickt.«
Summerlee gab mit einem zögernden Nicken sein

Einverständnis und deutete mit seiner mageren Hand auf
Challenger.

»Wir haben uns zeitweilig des öfteren in den Haaren

gelegen«, sagte er, »aber das ist nun vorbei. Wir waren gute

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Freunde, und im Innersten meines Herzens habe ich jeden von
Ihnen stets respektiert. Leben Sie wohl!«

»Leben Sie wohl, junger Freund!« sagte Lord John. »Aber

das Fenster ist zugeklebt. Man kann es nicht öffnen.«

Challenger stand auf, zog seine Frau an sich, preßte sie an

seine Brust, und sie schlang ihre Arme um seinen Hals.

»Geben Sie mir den Feldstecher, Malone«, sagte er mit

ernster Stimme.

Ich gab ihn ihm.
»In die Hände, die uns geschaffen haben, geben wir uns

wieder zurück!« rief Challenger mit seiner Donnerstimme, und
als die Worte verklungen waren, warf er den Feldstecher durch
die Scheibe.

Noch bevor das Klirren des letzten fallenden Glassplitters

verklungen war, blies der Wind in unsere geröteten Gesichter –
und er schmeckte süß.

Ich weiß nicht, wie lange wir in verwunderter Stille

dastanden. Dann, wie in einem Traum, vernahm ich erneut
Challengers Stimme.

»Es herrschen wieder normale Zustände«, rief er aus. »Die

Welt hat sich des Giftes entledigt, aber wir sind die einzigen
Menschen, die übriggeblieben sind!«

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V

Die tote Welt



Ich erinnere mich daran, daß wir alle nach Luft ringend in
unseren Sesseln saßen, während die herrliche, feuchte, aus dem
Südwesten kommende Brise leise die Musselinvorhänge
bewegte und unsere erhitzten Gesichter kühlte. Ich frage mich,
wie lange wir wohl so dort saßen! Hinterher konnten wir uns
auf keine bestimmte Zeit einigen. Wir waren durcheinander,
fühlten uns wie gelähmt und halb besinnungslos. Jeder von uns
hatte seinen ganzen Mut zusammengenommen, um dem Tod
ins Gesicht zu sehen, aber diese erschreckende und plötzliche
neue Lage – daß wir weiterleben mußten, nachdem wir die
Rasse überlebt hatten, zu der wir gehörten – traf uns mit einem
solchen physischen Schock, daß wir gebrochen waren. Dann
begannen die unterbrochenen Mechanismen allmählich wieder
zu arbeiten; die Erinnerungen überkamen uns; in unseren
Köpfen begannen die Gedanken wieder Formen anzunehmen.
Mit heller, gnadenloser Klarheit sahen wir die Beziehungen
zwischen der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft –
dem Leben, das wir geführt hatten und dem Leben, das wir nun
führen mußten. In schweigendem Entsetzen sahen wir einander
an und fanden in den Augen unserer Gegenüber doch nichts als
Fragen. Anstatt von Freude überwältigt zu sein, wie es sich
gehört, wenn man gerade noch einmal davongekommen ist,
wurden wir von einer schrecklichen Welle tiefster
Niedergeschlagenheit überspült. Alles, was wir auf Erden
geliebt hatten, war in einen riesigen, unendlichen, unbekannten
Ozean hinausgeschwemmt worden, während wir uns wie

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Schiffbrüchige auf einer Inselwelt fühlten, ohne Gefährten,
Hoffnungen oder Erwartungen. Ein paar Jahre lang konnten
wir noch wie Schakale zwischen den Gräbern der
menschlichen Rasse umherstreifen, dann würde auch unser
verspätetes, einsames Ende nahen.

»Es ist schrecklich, George, schrecklich!« rief Mrs.

Challenger aus, während sie von einem starken Schluchzen
geschüttelt wurde. »Wären wir doch nur mit den anderen
gestorben! Oh, warum hat man uns verschont? Ich fühle mich,
als seien wir tot und um uns herum alles am Leben.«

Als Challenger seine haarige Pranke auf die ausgestreckte

Hand seiner Gattin legte, zogen seine Brauen sich in
nachdenklicher Konzentration zusammen. Mir war aufgefallen,
daß sie ihm stets, wenn Schwierigkeiten nahten, die Hände
hinhielt wie ein Kind gegenüber seiner Mutter.

»Ohne ein Fatalist zu sein, der Widerstand so und so für

zwecklos hält«, sagte Challenger, »habe ich stets gemeint, daß
die größte Weisheit darin liegt, sich mit dem Bestehenden
abzufinden.« Er sprach langsam, und in seiner sonoren Stimme
klang ein Anflug von Gefühl mit.

»Ich nehme nichts hin«, sagte Summerlee förmlich.
»Ich vermag nicht festzustellen, daß es den Teufel schert, ob

Sie etwas hinnehmen wollen oder nicht«, bemerkte Lord John.
»Sie werden es hinnehmen müssen, egal wie Sie sich auch
drehen und wenden. Ich kann mich nicht daran erinnern, daß
jemand Ihre Einwilligung eingeholt hat, bevor all dies begann,
und ebenso wenig wird Sie jetzt jemand darum bitten. Ist es
nicht völlig gleich, wie wir darüber denken?«

»Ungefähr so gleich wie der Unterschied zwischen

Zufriedenheit und Unzufriedenheit«, sagte Challenger mit
nachdenklichem Gesicht und tätschelte die Hand seiner Frau.
»Sie können mit den Gezeiten schwimmen und in Seele und
Geist Frieden empfinden, Sie können es aber auch gegen die

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Gezeiten wagen und dabei müde werden und Schrammen
davontragen. Was hier vorgegangen ist, entzieht sich unserem
Einfluß, also sollten wir es akzeptieren und nicht weiter
darüber sprechen.«

»Aber was, um alles in der Welt, sollen wir nun anfangen?«

fragte ich und rief verzweifelt den leeren, blauen Himmel an.
»Was, zum Beispiel, soll ich nun tun? Es gibt keine Zeitungen
mehr – das ist das Ende meines Berufes.«

»Und da es weder etwas zu erlegen noch zu bekämpfen gibt,

ist auch für mich nichts mehr zu tun«, sagte Lord John.

»Und da es auch keine Studenten mehr gibt, bin auch ich

ohne Beschäftigung«, rief Summerlee.

»Aber ich habe meinen Gatten und mein Haus, deswegen

kann ich dem Himmel danken, daß man mich noch braucht«,
sagte Mrs. Challenger.

»Was mich angeht«, sagte Challenger, »so sehe ich nicht,

wieso ich mich nicht weiter beschäftigen könnte. Schließlich
ist die Wissenschaft nicht gestorben, und die Erforschung der
Katastrophe wird uns ein breites Betätigungsfeld liefern.«

Er hatte jetzt die Fenster geöffnet, und wir blickten hinaus auf

die schweigende, bewegungslose Landschaft.

»Lassen Sie mich nachdenken«, sagte er. »Es war etwa drei

Uhr nachmittags, als die Welt gestern in den Giftstrom
eintauchte. Jetzt ist es neun Uhr. Die Frage ist: Um welche Zeit
haben wir den Giftstrom verlassen?«

»Bei Tagesanbruch war die Luft noch sehr schlecht«, sagte

ich.

»Und später auch noch«, sagte Mrs. Challenger. »Gegen acht

Uhr früh spürte ich das Gefühl des Hustenmüssens, wie am
Anfang, besonders stark.«

»Dann wollen wir annehmen, daß die Erde den Giftstrom

kurz nach acht Uhr verließ. Die Welt hat sich also siebzehn
Stunden lang darin aufgehalten. In dieser Zeit hat der Große

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Gärtner das Menschengeschlecht, das sich auf der Schale
seiner Frucht befindet, sterilisiert. Ob es möglich ist, daß er
sein Tagwerk nur unzureichend verrichtet hat – und außer uns
noch andere überlebt haben?«

»Das habe ich mich auch schon gefragt«, sagte Lord John.

»Warum sollten wir die einzigen Kiesel sein, die den Strand
bevölkern?«

»Es ist absurd, anzunehmen, daß außer uns möglicherweise

noch andere überlebt haben«, sagte Summerlee mit
Überzeugung. »Denken Sie daran, daß das Gift so stark war,
daß selbst ein Mann wie Malone, der stark ist wie ein Ochse
und so gut wie keine Nerven hat, kaum die Treppe
hinaufgehen konnte, bevor er das Bewußtsein verlor. Ist es da
nicht ziemlich unwahrscheinlich, daß jemand dies siebzehn
Minuten ertragen haben kann – geschweige denn Stunden?«

»Außer, jemand hat es kommen sehen und die gleichen

Vorbereitungen getroffen wie unser alter Freund Challenger.«

»Das ist, glaube ich, ziemlich unwahrscheinlich«, sagte

Challenger, schob das Kinn vor und schloß die Augen. »Eine
derartige Kombination von Scharfsinn, Handlungsfreudigkeit
und vorausschauender Vorstellungskraft, die mich diese
Gefahr erkennen ließ, kann man in einer Generation kaum
zweimal erwarten.«

»Dann lautet Ihre Schlußfolgerung, daß mit Bestimmtheit alle

anderen tot sind?«

»Man kann es kaum bezweifeln. Wir sollten uns allerdings

ins Gedächtnis zurückrufen, daß das Gift sich von unten nach
oben voranarbeitete und in höherliegenden atmosphärischen
Schichten möglicherweise weniger tödliche Auswirkungen
hatte. Es ist in der Tat nur schwer verständlich, daß dies so
gewesen sein soll, aber das gibt uns die Möglichkeit, seine
Eigenschaften für die Zukunft zu einem faszinierenden
Studienfeld zu machen. Es ist deswegen vorstellbar, daß man,

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wenn man sich auf die Suche nach weiteren Überlebenden
begibt, den Blick am hoffnungsvollsten und mit der größten
Erfolgschance auf ein tibetanisches Dorf oder einen Bauernhof
in den Alpen richtet, der mehrere tausend Fuß über dem
Meeresspiegel liegt.«

»Nun, unter dem Gesichtspunkt, daß es weder Eisenbahnen

noch Dampfschiffe gibt«, sagte Lord John, »könnten wir uns
ebenso gut über etwaige Überlebende auf dem Mond
unterhalten. Aber was ich mich frage, ist, ob wir es nun
wirklich hinter uns haben oder nur die Halbzeit erleben.«

Summerlee reckte den Hals, um den Horizont abzusuchen.
»Alles sieht klar und schön aus«, sagte er in einem ziemlich

unentschlossenen Tonfall. »Aber so war es gestern auch. Ich
bin auf keinen Fall davon überzeugt, daß nun alles vorbei ist.«

Challenger zuckte die Achseln.
»Wir sollten noch einmal auf unseren Fatalismus zu sprechen

kommen«, sagte er. »Wenn die Welt dieses Ereignis schon
einmal durchlebt hat – was nicht auszuschließen ist –, muß
dies schon sehr lange her sein. Deswegen können wir auch mit
wohlbegründeter Hoffnung davon ausgehen, daß es so schnell
nicht wieder eintritt.«

»Das hört sich alles sehr gut an«, sagte Lord John, »aber

wenn Sie den ersten Schock eines Erdstoßes überwunden
haben, können Sie ziemlich sicher davon ausgehen, daß der
zweite sofort darauf erfolgt. Ich glaube, wir sollten so weise
sein und uns die Beine vertreten und ein bißchen Frischluft
atmen, solange wir die Möglichkeit dazu haben. Und da unser
Sauerstoff sowieso zu Ende ist, spielt es keine Rolle mehr, ob
es uns drinnen oder draußen erwischt.«

Die tiefe Lethargie, die uns erfaßt hatte, war zwar seltsam,

aber als Reaktion auf die starken Emotionen der letzten
vierundzwanzig Stunden verständlich. Die Erschöpfung war
sowohl körperlicher als auch geistiger Natur und bestand aus

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dem tief in uns verwurzelten Gefühl, daß all das uns nicht
mehr betraf und alles nur aus sinnloser Anstrengung bestand
und Müdigkeit erzeugte. Selbst Challenger hatte diesem
Gefühl nachgegeben und blieb, den mächtigen Schädel auf die
Hand gestützt und die Gedanken durch die Ferne schweifen
lassend, in seinem Sessel sitzen, bis Lord John und ich ihn an
den Armen Packten, einigermaßen auf die Beine stellten – und
dafür den Blick und das Knurren eines wütenden Bullenbeißers
ernteten. Als wir jedoch den beengten Hafen unseres
Refugiums verlassen hatten und in die geräumigere
Atmosphäre des täglichen Lebens hinausgeschritten waren,
kehrte die altvertraute Energie schließlich wieder in unsere
Körper zurück.

Was aber sollten wir auf diesem irdischen Friedhof als erstes

tun? Ob je ein Mensch seit dem Anbeginn der Zeiten mit
dieser Frage konfrontiert worden ist? Zwar entsprach es der
Wahrheit, daß unsere körperlichen Bedürfnisse für die Zukunft
gesichert waren – schließlich brauchten wir uns nur in den
Warenhäusern, Weinkellern und Schatzkammern zu bedienen
–, aber was sollten wir tun?

Einige Dinge erledigten wir sofort, zumal sie uns direkt ins

Auge stachen. Wir gingen in die Küche hinunter und legten die
beiden Domestiken in ihre Betten. Sie schienen gestorben zu
sein, ohne gelitten zu haben: die eine auf einem Stuhl neben
dem Feuer, die andere auf dem Boden der Spülküche. Dann
holten wir den armen Austin ins Haus. Seine Muskeln waren
hart wie Drahtseile und übertrafen eine gewöhnliche
Leichenstarre um ein Vielfaches. Seine Gesichtsmuskulatur
war so verzerrt, daß er sardonisch vor sich hinzugrinsen
schien. Dieses Symptom zeigte sich an allen Menschen, die an
dem Gift gestorben waren. Wohin wir auch gingen, überall
sahen wir uns mit diesen grinsenden Gesichtern konfrontiert,
die unsere bedauerliche Lage zu verspotten schienen. Alle

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lächelten grimmig und still über das Schicksal der letzten
überlebenden ihrer eigenen Rasse.

»Schauen Sie«, sagte Lord John, der im Speisezimmer

unruhig auf und ab ging, während wir etwas aßen, »ich habe
keine Ahnung, wie Sie darüber denken, aber was mich angeht,
so kann ich nicht einfach hier herumsitzen und nichts tun.«

»Vielleicht«, antwortete Challenger, »könnten Sie die

Freundlichkeit haben und uns sagen, was wir nach Ihrer
Meinung tun sollten.«

»Wir sollten uns auf den Weg machen und nachsehen, was

passiert ist.«

»Genau das hätte ich auch vorgeschlagen.«
»Aber nicht in diesem kleinen Bauerndorf. Was dort

geschehen ist, können wir auch vorn Fenster aus erkennen.«

»Wohin sollten wir also Ihrer Meinung nach gehen?«
»Nach London!«
»Das hört sich ja alles recht gut an«, brummte Summerlee.

»Und möglicherweise macht Ihnen ein Spaziergang von
vierzig Meilen nichts aus. Aber was Challenger und seine
Stummelbeine angeht, bin ich mir da nicht so sicher, und was
mich betrifft, habe ich nicht den geringsten Zweifel.«

Challenger war äußerst verletzt.
»Wenn Sie in der Lage wären, sich selbst eingehend zu

betrachten, Sir«, rief er aus, »würden Sie recht schnell merken,
daß Ihre körperliche Verfassung genügend Grund zum
Kommentieren bietet.«

»Ich hatte nicht die Absicht, Sie zu beleidigen, mein lieber

Challenger«, rief unser taktloser Freund. »Denn schließlich
kann man Sie ja nicht für Ihr Aussehen verantwortlich machen.
Wenn die Natur Sie mit einer untersetzten Gestalt ausgestattet
hat, kann man eben nichts daran ändern, wenn man
Stummelbeine besitzt.«

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Challenger war zu wütend, um darauf antworten zu können.

Statt dessen ging er darüber hinweg, brummte und fletschte die
Zähne. Lord John beeilte sich, in das Gespräch einzugreifen,
bevor die Diskussion in Gewalttätigkeiten ausartete.

»Sie sprechen vom Gehen. Warum sollten wir das

überhaupt?« fragte er.

»Schlagen Sie vor, daß wir den Zug nehmen?« gab

Challenger, der noch immer kochte, zurück.

»Was ist denn mit dem Wagen? Warum sollten wir ihn nicht

nehmen?«

»Ich bin kein Experte«, sagte Challenger nachdenklich und

strich sich über den Bart, »aber Sie haben natürlich
vollkommen recht, wenn Sie meinen, daß der menschliche
Geist in seinen höheren Stadien absolut dazu in der Lage ist,
auch solche kleinen Hindernisse zu überwinden. Ihre Idee ist
ausgezeichnet, Lord John. Ich selbst werde Sie alle nach
London fahren.«

»Das werden Sie auf keinen Fall tun«, sagte Summerlee

entschieden.

»Nein, George, das wirst du nicht tun!« rief Mrs. Challenger

aus. »Das hast du schon einmal versucht. Erinnerst du dich
nicht daran, daß du dabei durch die Garagentür gefahren bist?«

»Das war nur ein zeitweiliger Mangel an Konzentration«,

sagte Challenger überheblich. »Du kannst diese Angelegenheit
als abgeschlossen ansehen. Natürlich werde ich euch alle nach
London fahren.«

Es war Lord John, der die Situation entspannte.
»Was für ein Fabrikat haben Sie?« fragte er.
»Einen Humber, zwanzig PS.«
»Na so was – einen solchen Wagen habe ich doch jahrelang

selbst gefahren«, erwiderte Lord John. »Bei George!« fügte er
dann hinzu. »Ich hätte mir nie träumen lassen, einmal die
ganze Menschheit in einem Auto herumzukutschieren. Soweit

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ich mich erinnern kann, bietet er Platz für fünf Personen.
Machen Sie sich fertig, um zehn Uhr stehe ich vor der Tür.«

Pünktlich auf die Minute fuhr der Wagen mit Lord John am

Steuer schnurrend und hustend vor. Ich nahm neben ihm auf
dem Beifahrersitz Platz, während Mrs. Challenger sich – wie
ein uns allen dienlicher Prellbock – zwischen die beiden hinten
sitzenden Streithähne quetschte. Lord John löste die Bremsen,
schaltete in kurzer Zeit vom ersten auf den dritten Gang, und
wir fuhren los. Es war die seltsamste Fahrt, die ein Mensch seit
dem Anbeginn der Zeit unternommen hatte.

Man muß sich die Lieblichkeit der Natur an diesem

Augusttag, die Frische der Morgenluft, das goldene Leuchten
des Sommersonnenscheins, den wolkenlosen Himmel, das
herrliche Grün der Wälder von Sussex und das tiefe Purpur der
heidekrautbedeckten Downs nur einmal vorstellen. Wenn man
auf die vielfarbige Schönheit der Umgebung hinabsah, mußte
einem einfach jeder Gedanke an die große Katastrophe aus
dem Bewußtsein schwinden – wäre nicht die bedrohliche,
feierliche, alles umfassende Stille gewesen. Das behäbige
Pulsieren des Lebens, das einem dichtbevölkerten Landstrich
nicht nur zu eigen, sondern auch so tief und beständig ist, daß
man es wie ein Küstenbewohner, der an das Wellengemurmel
gewöhnt ist, gar nicht mehr wahrnimmt; das
Vogelgezwitscher, das Summen der Insekten, das Blöken der
Rinder, das ferne Gebell von Hunden, das Schnaufen der Züge
und das Rumpeln von Wagen – all diese Geräusche formen
eine leise, kaum merkbare Kulisse, die auf das Ohr einwirkt.
Jetzt vermißten wir sie. Die tödliche Stille war schrecklich, Sie
war so ernst und beeindruckend, daß uns das Gebrumm und
Gerappel unseres Fahrzeuges wie eine unverantwortliche
Störung, eine ungebührliche Geringschätzung dieser
ehrfurchtgebietenden Stille erschien, die sich wie ein
Leichentuch über die Ruinen der Menschlichkeit legte. Es

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waren die grauenhafte Stille und die großen Rauchwolken, die
hier und da über den noch schwelenden Landhäusern
schwebten, die einen Keil der Niedergeschlagenheit in unsere
Herzen trieb, als wir das herrliche Panorama des Weald
musterten.

Und dann die Toten! Zuerst erfüllten uns die endlosen

Ansammlungen der verzerrt grinsenden Gesichter mit einem
Grauen, das uns schüttelte. Die Eindrücke, die ich empfing,
waren so klar und ätzend, daß ich mir noch genau vorzustellen
vermag, wie wir den kleinen Abhang des Station Hill
hinabfuhren, an dem Hausmädchen und den beiden kleinen
Kindern vorbeikamen und uns den alten Gaul ansahen, der
immer noch zwischen den Deichseln lag, während der
Kutscher verdreht auf seinem Sitz hockte und der junge
Fahrgast den Türknauf festhielt, als hätte er abzuspringen
versucht. Weiter unten stießen wir auf sechs Schnitter, die in
einem wirren Haufen neben- und übereinander lagen und mit
toten, geöffneten Augen in den hellen Himmel starrten. Ich
sehe diese Dinge vor mir wie auf einer Fotografie. Aber bald
weigerten sich dank der gnadenvollen Umsicht der Natur
unsere überreizten Nerven, darauf zu reagieren. Die
Allgegenwärtigkeit des Grauens verlor jeden individuellen
Schrecken. Der Einzelne verschwamm in der Gruppe, die
Gruppen verschmolzen zu Massen, und aus den Massen wurde
ein universelles Phänomen, das man bald als unausweichliches
Detail der Gesamtheit akzeptierte. Nur hin und wieder, wo ein
besonders brutaler oder grotesker Anblick unsere
Aufmerksamkeit erregte, reagierte das Bewußtsein des
Einzelnen mit einem plötzlichen Schock.

Am meisten nahmen uns die Schicksale der Kinder mit. Ich

erinnere mich daran, daß wir das ihre als besonders ungerecht
empfanden. Wir hätten in Tränen ausbrechen können – was
Mrs. Challenger auch tat –, als wir an der großen Dorfschule

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vorbeikamen und eine lange Reihe kleiner Gestalten auf der
Straße liegen sahen, die von ihr wegführte. Sie waren von
ihren entsetzten Lehrern allein gelassen worden und hatten
sich, als das Gift sie überfallen hatte, auf dem Heimweg
befunden. Sehr viele Leute hingen aus den offenen Fenstern
ihrer Häuser. In Tunbridge Wells fanden wir so gut wie
niemanden, der nicht dieses starr lächelnde Gesicht aufwies.
Im letzten Augenblick schien das fordernde Verlangen nach
Sauerstoff, das einzig und allein wir hatten befriedigen können,
die Menschen zu den Fenstern getrieben zu haben. Auch die
Bürgersteige waren mit barhäuptigen Männern und Frauen
bedeckt, die es, in den Häusern nicht mehr ausgehalten hatten.
Viele davon lagen auf den Straßen, und wir konnten es uns als
Glück anrechnen, daß wir in Lord John einen Fahrer gefunden
hatten, der mit der Schwierigkeit, einen befahrbaren Weg zu
finden, bewundernswert fertig wurde. Während wir die Dörfer
und kleinen Städte durchquerten, konnten wir natürlich nur im
Schrittempo fahren, und einmal, daran erinnere ich mich,
mußten wir gegenüber der Schule von Tonbridge anhalten, um
die Leichen wegzuräumen, die uns den Weg versperrten.

Ein paar kleine, bestimmte Bilder dieses Todespanoramas der

Hauptverkehrsstraßen von Sussex und Kent sind mir besonders
deutlich im Gedächtnis haften geblieben. Eines davon ist das
eines großen, blitzenden Kraftwagens, der vor einem Lokal in
dem Dörfchen Southborough stand. In seinem Inneren hielten
sich einige Leute auf, die, wie ich vermute, von einer
Vergnügungsreise aus Brighton oder Eastbourne
zurückgekehrt waren. Ich sah drei farbenfroh gekleidete,
ausnahmslos junge und hübsche Frauen, von denen eine auf
ihrem Schoß einen Pekinesen festhielt. In ihrer Gesellschaft
befanden sich ein verlebt aussehender älterer Mann und ein
junger Aristokrat, dem nicht einmal das Monokel aus dem
Auge gefallen war und der zwischen den Fingern seiner

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behandschuhten Rechten eine heruntergebrannte Zigarette
hielt. Der Tod mußte sie in dem Moment ereilt haben, als sie
Platz genommen hatten. Wenn man außer acht ließ, daß der
ältere Mann bei dem Versuch, mehr Luft zu bekommen, seinen
Kragen aufgerissen hatte, konnte man sie für Schlafende
halten. Neben dem Wagen, nahe der Treppe, die zum Lokal
hinaufführte, lag ein Kellner zwischen zerbrochenen Gläsern
und einem Tablett. Auf der anderen Seite entdeckte ich zwei
abgerissene Landstreicher, einen Mann und eine Frau, die dort
lagen, wo sie hingefallen waren. Der Mann streckte einen Arm
aus, als wolle er, wie in seinem ganzen Leben zuvor, jemanden
um ein Almosen bitten. Ein einziger zeitlicher Moment hatte
genügt, um aus Aristokrat, Kellner, Landstreicher und Hund
das gleiche zu machen: inaktives, zerfallenes Protoplasma.

Ich erinnere mich aber noch an ein zweites Bild. Es war auf

der London zugewandten Seite von Sevenoaks. Dort befindet
sich linkerhand ein großes Nonnenkloster, vor dem sich ein
langer, grüner Abhang nach unten zieht. Auf diesem Abhang
hatte sich eine große Anzahl von Schulkindern versammelt, die
auf den Knien hockten und beteten. Vor ihnen, in gleicher
Haltung, eine Reihe von Nonnen und etwas über ihnen eine
einzelne Gestalt, von der wir annahmen, sie sei die Oberin. Im
Gegensatz zu den Ausflüglern in dem Wagen schienen diese
Leute vor die auf sie zukommende Gefahr vorbereitet gewesen
und einträchtig miteinander gestorben zu sein. Lehrer und
Schüler hatten sich gemeinsam zu ihrer letzten Lektion
zusammengefunden.

Noch immer ist mein Geist von dieser schrecklichen

Erfahrung wie gelähmt, und ich suche verzweifelt nach einer
Ausdrucksmöglichkeit, um die Gefühle aufzuzeigen, die uns
damals bewegten. Vielleicht aber ist es am besten und
weisesten, dies gar nicht erst zu versuchen und statt dessen die
Fakten für sich sprechen zu lassen. Selbst Summerlee und

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Challenger waren zutiefst getroffen, und abgesehen von einem
gelegentlichen Weinen unserer einzigen Dame, hörten wir von
unseren hinter uns sitzenden Geführten keinen Laut. Was Lord
John anging, so war er zu stark mit der Steuerung und dem
Ausschauhalten nach befahrbaren Wegen beschäftigt, als daß
er Zeit gehabt hätte, sich an einem Gespräch zu beteiligen.
Eine bestimmte Phrase, die er mit blutstauender Monotonie
unablässig wiederholte, ist mir im Gedächtnis haften geblieben
und brachte mich – als Kommentar zum Tag des Untergangs –
sogar zum Lachen.

»Maßarbeit, was?«
Das war sein Stoßgebet bei jeder neuen Kombination von

Tod und Desaster, die sich vor uns ausbreitete. »Maßarbeit,
was?« rief er aus, als wir den Station Hill bei Rotherfield
hinabfuhren, und es war immer noch »Maßarbeit, was?« als
wir uns einen Weg durch die Wildnis des Todes in der High
Street von Lewisham und der Old Kent Road bahnten.

Hier war es übrigens, wo wir alle von einem plötzlichen,

verwirrenden Schock heimgesucht wurden. Aus dem Fenster
eines niedrigen Eckhauses streckte sich nämlich ein langer,
magerer Arm hervor und winkte mit einem Taschentuch. Nicht
einmal der Anblick des allgegenwärtigen Todes hatte unsere
Herzen dermaßen zum Anhalten gebracht und dann so wild
losschlagen lassen wie dieser unerwartete Hinweis auf Leben.
Lord John fuhr den Wagen an den Bordstein, und kurz darauf
eilten wir durch die offene Haustür eine Treppe hinauf ins
zweite Stockwerk, aus dem das Signal gekommen war.

Am offenen Fenster saß eine sehr alte Dame in einem Sessel.

Neben ihr, auf einem zweiten, befand sich eine
Sauerstoffflasche, die zwar kleiner war, aber die gleichen
Formen aufwies wie jene, die auch unser Leben gerettet hatten.
Als wir uns im Eingang versammelten, wandte sie uns ihr
mageres, gezeichnetes Gesicht zu. Sie trug eine Brille.

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»Ich fürchtete schon, man hätte mich ganz allein hier

zurückgelassen«, sagte sie. »Ich bin nämlich Invalide und kann
mich nicht rühren.«

»Nun, Madam«, sagte Challenger, »man kann wohl von

Glück sagen, daß wir gerade des Weges kamen.«

»Ich möchte Ihnen eine hochnotwichtige Frage stellen«, sagte

die alte Dame. »Und bitte, Gentlemen, seien Sie offen zu mir.
Welche Auswirkungen haben diese Ereignisse auf London und
die Aktien der North-Western-Railways?«

Hätte sie nicht mit einer solch tragischen Ungeduld auf eine

Antwort gewartet – es wäre zum Lachen gewesen. Mrs.
Burston – so lautete ihr Name – war eine alte Witwe, deren
Einkommen ganz und gar von ein paar Eisenbahnaktien
abhing. Ihr Leben war vom Anstieg und Fall der Dividende
bestimmt worden, und so vermochte sie sich nicht
vorzustellen, wovon sie leben sollte, wenn die Kurse ins
Wanken gerieten. Vergebens erklärten wir ihr, daß sie nun
über alles Geld in der Welt verfügen könne und es ihr trotzdem
nichts nütze, wenn sie es nähme. Ihr alter Geist konnte sich
jedoch an diesen neuen Gedanken nicht mehr gewöhnen, und
so beweinte sie laut den Verlust ihrer Papiere. »Es war alles,
was ich hatte«, klagte sie. »Wenn ich das nicht mehr habe, will
ich auch nicht mehr leben.« Während sie vor sich hinweinte,
fanden wir heraus, wie dieses alte Pflänzchen gelebt hatte,
während rings um sie herum der Wald abgeholzt worden war.
Sie war eine anerkannte Invalidin und Asthmatikerin. Da sie
zum Leben Sauerstoff benötigte, hatte sich zum Zeitpunkt der
Krise natürlich auch ein Tank in ihrem Zimmer befunden. Als
sie die Atembeschwerden gefühlt hatte, war sie – wie üblich –
zum Inhalieren übergegangen. Das hatte ihr Linderung
verschafft, und da sie mit dem Inhalt der Flasche sparsam
umgegangen war, hatte sie die Nacht überlebt. Schließlich war
sie eingeschlafen. Der Motor unseres Wagens hatte sie

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geweckt. Da es keine Möglichkeit gab, sie mitzunehmen, und
wir feststellten, daß sie mit allem versehen war, was sie zum
Leben brauchte, versprachen wir ihr, allerspätestens in ein paar
Tagen zurückzukehren. Während sie immer noch bitterlich
über ihre nun wertlosen Aktien weinte, verließen wir sie.

Als wir die Themse erreichten, wurden die Straßenblockaden

immer dichter und die Hindernisse immer verwirrender. Nur
unter allergrößten Schwierigkeiten gelang es uns, die London
Bridge zu überqueren. Die Zufahrtsstraßen auf der Middlesex-
Seite waren vom Anfang bis zum Ende mit Verkehrsmitteln
verstopft und machten jeden weiteren Vorstoß in diese
Richtung unmöglich. An den in Brückennähe gelegenen Piers
brannte ein Schiff. Die Luft war voll von umhertreibenden
Rußflocken und dem ätzenden Geruch von Verbranntem.
Irgendwo in der Nähe des Parlamentsgebäudes schwebte eine
dichte Rauchwolke, aber es gelang uns nicht herauszufinden,
was da in Flammen aufgegangen war.

»Ich weiß nicht, wie Sie es sehen«, bemerkte Lord John,

»aber mir scheint, daß es auf dem Land wesentlich
zuversichtlicher aussieht als hier. Das tote London drückt mir
auf die Nerven. Ich schlage vor, daß wir uns nur kurz umsehen
und dann nach Rotherfield zurückkehren.«

»Ich muß zugeben, daß ich auch nicht verstehe, was wir uns

hier noch erhoffen können«, sagte Professor Summerlee.

»Und dennoch«, sagte Challenger, dessen dröhnende Stimme

in der herrschenden Stille ganz verändert klang, »vermag man
sich kaum vorzustellen, daß es von sieben Millionen Menschen
nur dieser einen alten Frau gelungen sein soll, aufgrund ihrer
körperlichen Andersartigkeit diese Katastrophe zu überleben.«

»Falls es noch andere geben sollte – wie können wir sie dann

finden, George?« fragte seine Gattin. »Ich bin ganz deiner
Meinung, daß wir erst dann zurückkehren sollen, nachdem wir
es zumindest versucht haben.«

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Wir stiegen aus, ließen den Wagen am Bordstein zurück und

bewegten uns unter großen Schwierigkeiten über das
Straßenpflaster der mit Menschen vollgestopften King William
Street hinweg, bis wir durch eine offene Tür ein großes
Versicherungsbüro betraten. Da dieses in einem Eckhaus lag,
nutzten wir die Chance, uns in jeder Richtung umzusehen. Wir
gingen eine Treppe hinauf und durchquerten ein Zimmer, von
dem ich annehme, daß es sich um einen Sitzungsraum
handelte, da in seinem Mittelpunkt acht ältere Männer um
einen langen Tisch herum saßen. Da die Balkontür geöffnet
war, begaben wir uns hinaus. Von hier aus konnten wir die in
alle Himmelsrichtungen führenden, vollgestopften Straßen
überblicken. Die Straße, die direkt unter uns lag, war von
einem Ende zum anderen schwarz, und das lag an den Dächern
der bewegungslos dastehenden Taxen. Alle – oder beinahe alle
– hatten ihre Schnauzen nach auswärts gerichtet und zeigten
uns, daß die verschreckten Stadtmenschen im letzten Moment
den verzweifelten Versuch unternommen hatten, zu ihren
Familien in den Vororten oder auf dem Land zurückzukehren.
Inmitten der einfachen Taxen konnte man hier und da den
großen, chromglänzenden Wagen eines wohlhabenden
Magnaten erkennen, den der Strom des schließlich doch zum
Erliegen gekommenen Verkehrs eingekeilt hatte. Eines dieser
großen, luxuriösen Fahrzeuge stand genau unter uns. Sein
Besitzer, ein fetter, alter Mann, lehnte halb aus dem Fenster,
während seine feiste, von funkelnden Diamanten verzierte
Hand nach vorne zeigte, als sei er im Begriff, seinen Chauffeur
zu drängen, einen letzten Versuch zu unternehmen, aus der
Blechlawine auszubrechen.

Ein Dutzend Busse erhoben sich wie Inseln aus dieser

Fahrzeugflut. Die Fahrgäste, die die Plattformen bevölkerten,
lagen wild durcheinander und wirkten wie Spielzeugpuppen,
die jemand achtlos verstreut hatte. Auf einem inmitten der

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Straße liegenden Lampensockel stand ein vierschrötig
aussehender Polizist, der in solch natürlicher Weise mit dem
Rücken an dem Laternenpfahl lehnte, daß man sich kaum
vorstellen konnte, daß er nicht lebte. Vor seinen Füßen lag ein
in Lumpen gekleideter Zeitungsjunge, von Blättern umgeben.
Ein Reklameaufsteller, der inmitten der Menge stand,
verkündete in großen roten Lettern auf gelbem Untergrund
»Skandal im House of Lords. Länderspiel abgebrochen«. Das
mußte die Frühausgabe gewesen sein, denn andere Aufsteller
trugen die Schlagzeile »Ist dies das Ende? Ein großer
Wissenschaftler warnt«. Auf einem anderen stand: »Ist
Challenger rehabilitiert? Unheilverkündende Gerüchte.«

Den letzten Aufsteller, der sich wie ein Banner über all die

anderen erhob, zeigte Challenger seiner Gattin. Als er ihn
ansah, stellte ich fest, daß er sich in die Brust warf und seinen
Bart kraulte. Es schmeichelte und freute diesen komplexen
Geist, daß London im Gedanken an ihn und seine Worte
untergegangen war. Seine Gefühle waren so offensichtlich, daß
sie auf der Stelle einen sardonischen Kommentar seines
Kollegen hervorriefen.

»Bis zum letzten Moment im Rampenlicht, Challenger«,

bemerkte Summerlee.

»Es hat fast den Anschein«, antwortete Challenger

selbstgefällig. »Nun«, fügte er hinzu, während er einen langen
Blick auf die vollgestopften, stillen und vom Tode
gezeichneten Straßen warf, »ich glaube wirklich, daß es
niemandem mehr dienlich sein kann, wenn wir noch länger in
London bleiben. Ich schlage vor, daß wir auf der Stelle nach
Rotherfleld zurückfahren und darüber beratschlagen, wie wir
die Jahre, die nun vor uns liegen, auf die profitabelste Weise
verbringen wollen.«

Ich will nur noch ein Beispiel von dem geben, was wir in

unseren Gedanken aus der toten Stadt mit uns zurücknahmen.

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Es handelt sich um einen Blick, den wir in das Innere der alten
Kirche von St. Mary warfen, die genau an der Stelle steht, wo
wir unseren Wagen geparkt hatten. Wir suchten uns einen Weg
durch die auf den Treppenstufen hingestreckten Gestalten,
drückten die Schwingtür auf und traten ein. Der Anblick, der
sich uns bot, war überwältigend. Die Kirche war voller
kniender Gestalten, die jede nur mögliche Haltung der Demut
einnahmen. Im letzten, bedrohlichen Moment, bei der
plötzlichen Gegenüberstellung mit den Realitäten des Lebens –
jenen entsetzlichen Realitäten, die sogar über uns hängen,
während wir den Schatten folgen – waren die verschreckten
Menschen in die alten Stadtkirchen geeilt, die derartige
Ansammlungen wohl seit Generationen nicht mehr gesehen
hatten. Hier kauerten sie sich nieder und knieten dichtgedrängt
nebeneinander. Viele der Anwesenden hatten in der Aufregung
vergessen, sich ihrer Kopfbedeckungen zu entledigen. Über
ihnen, in der Kanzel, lag ein Mann in der Kleidung eines
Laienpredigers, der in dem Augenblick, als das Schicksal sie
alle ereilt hatte, offensichtlich auf die Menge eingeredet hatte.
Wie eine Kasperlepuppe hing er vornübergebeugt über den
Kanzelrand, seine Arme baumelten leblos herunter. Die graue,
staubige Kirche war für uns ein Alptraum, und dazu kamen
noch die Reihen der erstarrten Gestalten und die überall
herrschende Stille. Wir bewegten uns auf Zehenspitzen und
vermochten uns nur im Flüsterton zu unterhalten.

Und dann hatte ich plötzlich eine Idee. In einer Ecke der

Kirche, nahe der Tür, befand sich ein altes Weihwasserbecken,
und dahinter – in einer Nische – gewahrte ich die Seile, mit
denen man die Glocken in Bewegung versetzte. Warum sollten
wir nicht eine Botschaft durch London schicken, die die
Aufmerksamkeit eines jeden erwecken mußte, der noch am
Leben war? Ich durchquerte den Raum, zog an einem von
einer Webkante umhüllten Seil und stellte mit Verwunderung

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fest, daß es ziemlich schwer war, die Glocken zum Läuten zu
bringen. Lord John war mir gefolgt.

»Bei George, junger Freund«, sagte er und entledigte sich

seines Jacketts. »Ihre Idee ist wirklich vortrefflich. Lassen Sie
mich Ihnen helfen, dann wird es leichter gehen.«

Aber auch mit seiner Unterstützung erwies sich die Glocke

noch als so schwer, daß wir die zusätzliche Hilfe von
Challenger und Summerlee in Anspruch nehmen mußten, bis
über uns das donnernde Scheppern erklang, das uns davon in
Kenntnis setzte, daß wir endlich Erfolg gehabt hatten. Weit
über London hinweg erscholl unsere kameradschaftliche
Botschaft, die jedem Überlebenden Hoffnung geben mußte.
Der laute, metallische Klang ließ unsere Herzen frohlocken,
woraufhin wir unsere Arbeit noch ernster nahmen. Jedesmal,
wenn das Glockenseil nach oben schwang, wurden wir zwei
Fuß in die Luft gehoben, machten uns schwer, um wieder nach
unten zu kommen, und Challenger, der kleinste von uns,
widmete sich dieser Tätigkeit mit seinem ganzen Gewicht,
hüpfte auf und nieder wie ein riesiger Ochsenfrosch und stieß
jedesmal ein Krächzen aus. Es war der richtige Augenblick für
einen Künstler, ein Bild von vier Abenteurern zu machen. Wir
waren Gefährten, die viele gemeinsame Gefahren überstanden
hatten und nun vom Schicksal dazu auserwählt worden waren,
eine noch überwältigendere Erfahrung zu machen. Eine halbe
Stunde lang arbeiteten wir ununterbrochen vor uns hin, bis uns
der Schweiß in Bächen von der Stirn lief, und unsere Rücken
und Arme vor Anstrengungen schmerzten. Dann begaben wir
uns in den Säulengang der Kirche hinaus und suchten mit
unseren Blicken erwartungsvoll die schweigenden, mit Toten
gepflasterten Straßen ab. Aber unsere Mühen wurden weder
durch ein Geräusch noch eine Bewegung belohnt.

»Es hat keinen Zweck. Es ist niemand übriggeblieben«, rief

ich aus.

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»Mehr können wir nicht tun«, sagte Challenger. »Laß uns um

Himmels willen nach Rotherfield zurückkehren, George. Wenn
ich noch eine Stunde in dieser schweigenden, schrecklichen
Stadt verbringe, werde ich wahnsinnig.«

Ohne ein weiteres Wort bestiegen wir unseren Wagen. Lord

John wendete und hielt dann nach Süden zu. Für uns war
dieses Kapitel beendet – und von dem, das noch auf uns
zukommen sollte, wußten wir so gut wie nichts.

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VI

Das große Erwachen



Und nun komme ich zum Ende dieses, außergewöhnlichen
Ereignisses, dessen Gewicht nicht nur unser eigenes kleines,
individuelles Leben, sondern auch die allgemeine Geschichte
der menschlichen Rasse überschattet. Wie ich bereits zu
Anfang meiner. Erzählung bemerkte, wird dieser Zwischenfall,
wenn er in die Historie eingeht, alle anderen um Längen
überragen. Es war unserer Generation vorbehalten, dieses
unvermeidliche Ereignis zu erleben, da das Schicksal sie dazu
auserwählt hat, eine wundersame Erfahrung zu machen. Wie
lange die Auswirkungen noch zu spüren sein werden – wie
lange die Menschheit die Bescheidenheit und Ehrfurcht
widerspiegeln wird, die der große Schock in ihr erzeugte, kann
nur die Zukunft erweisen. Ich glaube aber, man kann sagen,
daß die Dinge nie wieder so sein werden wie früher. Man wird
sich seiner Machtlosigkeit und Unwissenheit erst dann bewußt,
wenn man erfährt, wie schnell man von einer ungesehenen
Hand in seine Schranken verwiesen werden kann, wenn sie
sich ballt und zum Schlage ausholt. Wir sind dem Tode
ziemlich nahe gewesen und wissen, daß er jederzeit erneut
zuschlagen kann. Seine grimmige Gegenwart überschattet
unser Dasein. Wer aber könnte leugnen, daß in seinem
Schatten Pflichtbewußtsein, Nüchternheit, die Würdigung der
gewichtigen Dinge des Lebens und das ernsthafte Streben nach
Selbstvervollkommnung und Besserung in uns wuchs und sich
dermaßen verdichtet hat, daß sie in jeder Faser unserer
Gesellschaft spürbar ist? Wir sind über Engstirnigkeiten und

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Dogmen hinausgewachsen. Unsere Perspektive hat sich
gewandelt, und uns ist klar geworden, daß wir nicht mehr sind,
als bedeutungslose und vergängliche Kreaturen, die der Gnade
des erstbesten kalten Windes aus dem Unbekannten
ausgeliefert sind. Aber wenngleich die Welt aufgrund dieses
Wissens ein wenig ernster geworden ist, scheint sie mir
deswegen nicht gleichzeitig auch ein schwermütigerer Ort
geworden zu sein. Gewiß stimmen wir darin überein, daß die
nüchternen und maßvollen Freuden der Gegenwart sowohl
tiefergehenderer als auch reiferer Natur sind, als jene
närrischen, lauten Gedränge, die in den alten Zeiten so oft als
Vergnügen empfunden wurden. Die alte Zeit ist kaum
vergangen – und doch scheint sie uns so fern. Das alte, leere
Dasein, das wir in ziellosen Besuchen und Gegenbesuchen
vergeudeten, wobei unsere ganze Sorge unnötig aufwendigen
Haushalten und der Zubereitung und dem Arrangement
ausgeklügelter, langwieriger Mahlzeiten galt, ist nun einer
gesunden Entspannung gewichen, die sich mit Literatur und
Musik und freundlich-familiärer Kommunikation beschäftigt
und unsere Zeit besser und einfacher nutzt. Wir sind gesunder
als zuvor und genießen die Freuden des Lebens herzlicher;
deswegen sind wir auch reicher als früher, selbst nachdem wir
für die Anhebung dieser Lebensqualität einen hohen Preis in
eine gemeinsame Kasse zahlen mußten.

Was die genaue Stunde des großen Erwachens angeht, so ist

man hier nicht einer Meinung. Allgemein geht man jedoch
davon aus, daß – abgesehen von den einzelnen Zeitzonen –
möglicherweise die örtlichen Gegebenheiten das
Zurückweichen des Giftes beeinflußten. In jedem einzelnen
Landstrich fand die Wiedererweckung praktisch zur gleichen
Stunde statt. Es gibt zahlreiche Zeugen, die aussagten, daß Big
Ben in diesem Moment zehn Minuten nach sechs zeigte. Der
Astronom Royal hat die Zeit auf zwölf Minuten nach sechs

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(Greenwich) festgelegt. Andererseits nennt Laird Johnson, ein
sehr tüchtiger Beobachter aus East Anglia, als Zeitpunkt des
Erwachens sechs Uhr zwanzig. Auf den Hebriden soll es
sieben Uhr gewesen sein. In unserem eigenen Fall kann es
allerdings keinerlei Zweifel geben, da ich in diesem
Augenblick in Challengers Arbeitszimmer saß und sich seine
peinlich genau eingestellte Uhr genau vor mir befand. Es war
viertel nach sechs.

Eine enorme Niedergeschlagenheit lastete auf meinem Geist.

Der kumulative Effekt all jener schrecklichen Dinge, die wir
während unserer Reise gesehen hatten, bedrückte mich seelisch
sehr stark. Da ich von nahezu strotzender Gesundheit war und
über große körperliche Kräfte verfügte, kam es ziemlich selten
vor, daß mich eine solche Stimmung überfiel. Zudem verfügte
ich über die typisch irische Gabe, noch in der finstersten
Dunkelheit einen Funken von Humor zu erkennen. Nun aber
war die Dunkelheit furchtbar und schien nicht mehr enden zu
wollen. Die anderen hielten sich unten auf und machten Pläne
für die Zukunft. Ich saß am offenen Fenster, hatte das Kinn auf
meine Hand gestützt und war bewußtseinsmäßig ganz vom
Elend unserer Situation gefangen. Konnten wir einfach so
weiterleben? Das war die Frage, die ich mir zu stellen
begonnen hatte. War es überhaupt möglich, auf einer toten
Welt zu existieren? So wie sich in der Physik der größere
Körper auf den kleineren zubewegt – würden wir uns nicht mit
überwältigender Kraft zu jenem gewaltigen Körper der
Menschheit hingezogen fühlen, der bereits den Weg ins
Unbekannte angetreten hatte? Wie würde unser Ende sein?
Würden wir sterben, indem das Gift zurückkehrte? Oder würde
sich die Erde aufgrund der erstickenden Produkte universeller
Verwesung als unbewohnbar erweisen? Und schließlich:
Konnte unsere gräßliche Lage dazu führen, daß wir den
Verstand verloren? Eine Gruppe Wahnsinniger auf einer toten

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Welt! Ich war noch ganz von diesem Gedanken gefangen, als
ein leises Geräusch mich dazu veranlaßte, auf die unter mir
liegende Straße hinabzuschauen. Das alte Kutschpferd kam
den Hügel hinauf!

Im gleichen Moment hörte ich das Zwitschern von Vögeln,

das Husten eines sich unter mir im Garten aufhaltenden
Menschen und nahm irgendwo vor mir in der Landschaft eine
Bewegung wahr. Ich erinnere mich daran, daß es hauptsächlich
dieser absurde, abgemagerte und überalterte Klepper war, der
meinen Blick gefangenhielt. Langsam keuchend erklomm er
den Hügel. Dann wanderte mein Blick zu dem Kutscher, der
zusammengekrümmt auf dem Kutschbock saß – und
schlußendlich zu dem jungen Mann, der sich ein wenig
überrascht aus dem Wagenfenster lehnte und irgendeine
Anweisung rief. Sie waren ganz offensichtlich am Leben und
kein bißchen geschwächt!

Alle Menschen lebten wieder! War alles nur eine Täuschung

gewesen? Bestand die Möglichkeit, daß alles, was wir erlebt
hatten, nur auf einer Halluzination beruhte? Einen Moment
lang war mein verwirrter Geist wirklich bereit, dies zu
glauben, aber dann schaute ich nach unten und gewahrte die
große Blase, die ich mir beim Ziehen der Glockenseile
zugezogen hatte. Es war also alles Wirklichkeit gewesen. Und
trotzdem erwachte die Welt wieder zum Leben – von einer
Sekunde zur anderen wurde der ganzen Welt die Existenz
zurückgegeben. Und dann, als mein Blick über die
weitgedehnte Landschaft wanderte, sah ich es überall. Die
Welt bewegte sich wieder – und zu meinem Erstaunen mit der
gleichen Geschwindigkeit, in der sie zum Stillstand gekommen
war. Da waren die Golfspieler. War es möglich, daß sie in
ihrem Spiel fortfuhren? Ja, denn schon verließ einer der Spieler
den Abschlagplatz, und die Gruppe, die sich auf der Wiese
aufhielt, begab sich zum nächsten Loch. Die Schnitter kehrten

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langsam an ihre Arbeit zurück. Das Hausmädchen versetzte
einem ihrer Schützlinge einen Klaps und schob den
Kinderwagen weiter bergauf. Jedermann ging der Tätigkeit
nach, bei der er unterbrochen worden war.

Ich jagte die Treppe hinunter, aber die Hallentür war offen,

und ich hörte die lauten und überraschten Stimmen meiner
Kollegen, die im Garten standen und sich gegenseitig
beglückwünschten. Wir schüttelten einander lachend die
Hände, und Mrs. Challenger war vor Freude so durcheinander,
daß sie uns der Reihe nach küßte und sich erst dann in die
Arme ihres Gatten warf!

»Aber es ist unmöglich, daß sie alle nur geschlafen haben!«

rief Lord John aus. »Verflixt, Challenger, Sie können doch
nicht im Ernst annehmen, daß die Leute alle nur bewußtlos
waren, nachdem Sie ihre glasigen Augen, ihre steifen Glieder
und das abscheuliche Totengrinsen in ihren Gesichtern
gesehen haben!«

»Sie können sich nur in einem Zustand befunden haben, den

man als Katatonie, als Starrkrampf bezeichnet«, sagte
Challenger. »Man hat in der Vergangenheit nur wenige
Erfahrungen mit diesem Phänomen gesammelt, deswegen
wurde es oft mit dem Tod gleichgesetzt. Beim Starrkrampf
sinkt die Temperatur, verschwindet die Respiration und ist ein
Herzschlag kaum nachweisbar. Genaugenommen ist dies der
Tod – mit der Ausnahme, daß er nicht anhält. Selbst der
verständnisvollste Geist«, – an dieser Stelle schloß er die
Augen und lächelte feinsinnig – »könnte sich eine
Starrkrampf-Epidemie solchen Ausmaßes kaum vorstellen.«

»Von mir aus können Sie es Starrkrampf nennen«, bemerkte

Summerlee, »aber schließlich ist auch das nur eine
Bezeichnung für eine Sache, von der wir ebenso wenig wissen,
wie von der Ursache der Vergiftung. Das äußerste, das wir

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sagen können, ist, daß die verunreinigte Luft einen
zeitweiligen Tod hervorgerufen hat.«

Austin saß ziemlich verwirrt auf dem Trittbrett des Wagens.

Er war es gewesen, den ich von unten hatte husten hören. Er
hatte die ganze Zeit über geschwiegen, aber jetzt murmelte er
etwas vor sich hin und musterte den Wagen.

»Dieser nichtsnutzige Klotzkopf«, brummte er. »Man muß

seine Augen wirklich überall haben.«

»Was ist denn, Austin?«
»Der Ölhahn ist offen, Sir. Jemand hat an dem Wagen

herumgespielt. Ich nehme an, es war der Gärtnerjunge, Sir.«

Lord John sah plötzlich sehr schuldig aus. »Ich weiß nicht,

was mit mir los ist«, fuhr Austin fort und kam taumelnd auf die
Beine. »Ich glaube, mir ist schwindlig geworden, als ich den
Wagen waschen wollte. Ich kann mich noch daran erinnern,
über die Treppenstufen gestolpert zu sein. Aber ich schwöre
Ihnen, daß ich den Ölhahn auf keinen Fall offengelassen
habe.«

Mit knappen Worten erklärten wir dem verdutzten Austin,

was mit ihm und der Welt passiert war. Ebenso setzte man ihn
über das Rätsel des tropfenden Ölhahns in Kenntnis. Mit
zutiefst mißtrauischem Gesicht hörte er zu, als wir ihm
erklärten, daß der Wagen von einem Amateur gesteuert
worden war. Die wenigen Sätze, mit denen wir ihn über unsere
Erfahrungen in der schlafenden Stadt informierten, schienen
jedoch sein Interesse zu erwecken. Als wir schließlich fertig
waren, gab er einen Kommentar ab, an den ich mich noch
genau erinnere.

»Waren Sie auch an der Bank von England, Sir?«
»Ja, Austin.«
»Und die Millionen waren alle da drin und die ganze Stadt

schlief?«

»So war es.«

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»Und ich war nicht dabei!« stöhnte er, wandte sich enttäuscht

von uns ab und fing erneut an, den Wagen zu waschen.

Plötzlich hörten wir das Knirschen von Rädern auf dem Kies.

Die alte Droschke hatte tatsächlich vor Challengers Tür
gehalten. Ich sah, wie der junge Fahrgast ausstieg. Kurz darauf
tauchte das zutiefst verstörte Hausmädchen auf, das aussah, als
sei es ganz plötzlich aus dem tiefsten Schlaf gerissen worden
und überbrachte Challenger auf einem kleinen Tablett eine
Visitenkarte. Challenger stieß ein urweltliches Schnauben aus,
als er die Karte sah. Sein Bart schien vor Zorn Funken zu
sprühen.

»Ein Pressemensch!« grunzte er. Und dann, mit einem

widerwilligen Lächeln: »Aber schließlich ist es nur allzu
natürlich, daß die ganze Welt sich jetzt zu erfahren beeilt, was
ich von einer solchen Episode halte.«

»Das kann an sich kaum der Auftrag dieses Mannes gewesen

sein«, warf Summerlee ein. »Schließlich war er schon mit der
Droschke nach hier unterwegs, bevor die Krise einsetzte.«

Ich warf einen Blick auf die Karte: »James Baxter, Londoner

Korrespondent des New York Monitor.«

»Wollen Sie ihn empfangen?« fragte ich.
»Aber nicht im Traum.«
»Aber George! Du solltest wirklich etwas freundlicher und

zuvorkommender anderen gegenüber sein. Sicher hast auch du
etwas aus dem, was wir zu ertragen hatten, gelernt.«

Challenger machte »Dz, dz!« und schüttelte den massigen,

eigensinnigen Kopf. »Gegenüber diesem Natterngezücht? Was
meinen Sie, Malone? Sind diese Leute nicht die schlimmste
Plage der modernen Zivilisation, die willigen Werkzeuge der
Quacksalber und die Mauern im Wege des mit Selbstrespekt
ausgestatteten Menschen? Haben sie je auch nur ein gutes
Wort für mich übrig gehabt?«

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»Wann haben Sie je ein gutes Wort für die Presse übrig

gehabt?« antwortete ich. »Kommen Sie, Sir, der Mann ist ein
Fremder, der eine Reise gemacht hat, nur um Sie zu sehen. Ich
bin sicher, daß Sie sich ihm gegenüber nicht als rüde erweisen
werden.«

»Nun gut«, brummelte Challenger. »Aber Sie kommen mit

mir und übernehmen das Gerede. Ich protestiere schon einmal
im voraus gegen dieses gewalttätige Eindringen in mein
Privatleben.« Murmelnd und brummelnd, wie ein wütender
und gereizter Bullenbeißer watschelte er hinter mir her.

Der gutaussehende junge Amerikaner zückte sein Notizbuch

und kam sofort zur Sache.

»Ich bin hier heruntergekommen, Sir«, sagte er, »weil unsere

amerikanischen Leser sehr gerne etwas über diese Gefahr
erfahren möchten, die die Welt Ihrer Meinung nach bedroht.«

»Ich weiß von keiner Gefahr, die die Welt im Augenblick

bedroht«, antwortete Challenger muffig.

Der Journalist musterte ihn in mildem Erstaunen.
»Ich meine damit die Möglichkeit, daß die Welt in einen

Giftstrom eintauchen könnte, Sir.«

»Ich sehe momentan keine solche Gefahr«, sagte Challenger.
Jetzt sah der Journalist noch erstaunter drein.
»Sie sind doch Professor Challenger, oder nicht?« fragte er.
»Ja, Sir. Das ist mein Name.«
»Dann verstehe ich nicht, wie Sie sagen können, daß eine

solche Gefahr nicht besteht. Ich beziehe mich auf den Brief,
der unter Ihrem Namen heute morgen in der Londoner Times
veröffentlicht wurde.«

Jetzt war Challenger an der Reihe, überrascht aufzuschauen.

»Heute morgen?« sagte er. »Heute morgen ist doch gar keine
Ausgabe der Times erschienen.«

»Sie werden gewiß zugeben, Sir«, sagte der Amerikaner mit

sanftem Protest, »daß die Londoner Times eine Tageszeitung

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ist.« Er entnahm die Ausgabe der Innentasche seines Jacketts.
»Hier ist der Brief, den ich meine.«

Challenger rieb sich kichernd die Hände.
»Ich beginne zu verstehen«, sagte er. »Sie haben diesen Brief

also heute morgen gelesen?«

»Ja, Sir.«
»Und Sie sind sofort losgefahren, um mich zu interviewen?«
»Ja, Sir.«
»Ist Ihnen während der Reise irgend etwas Besonderes

aufgefallen?«

»Nun, um die Wahrheit zu sagen, mir erschienen die

Engländer lebhafter und allgemein menschlicher als je zuvor.
Der Gepäckschaffner erzählte mir sogar einen Witz, und das ist
in diesem Land für mich eine neue Erfahrung.«

»Sonst nichts?«
»Aber nein, Sir, nichts, an das ich mich erinnern könnte.«
»Und wann haben Sie den Victoria-Bahnhof verlassen?«
Der Amerikaner lächelte.
»Ich bin gekommen, um Sie zu interviewen, Herr Professor,

aber dies scheint mir doch auf ein ›Fischt-dieser-Nigger-oder-
niggert-dieser-Fisch‹-Spiel herauszulaufen. Jedenfalls tun Sie
den größten Teil der Arbeit.«

»Nun, zufälligerweise interessiert es mich. Erinnern Sie sich

an die Zeit?«

»Sicher. Es war halb eins.«
»Und wann kamen Sie hier an?«
»Gegen viertel nach zwei.«
»Und dann mieteten Sie eine Droschke?«
»So war es.«
»Wie weit, glauben Sie, ist der Bahnhof von hier entfernt?«
»Nun, ich schätze gut zwei Meilen.«
»Was glauben Sie, wie lange Sie dafür gebraucht haben?«

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»Nun, vielleicht eine halbe Stunde. Mit diesem asthmatischen

Gaul…«

»Dann müßte es jetzt etwa drei Uhr sein?«
»Ja, oder ein bißchen später.«
»Sehen Sie auf Ihre Uhr.«
Der Amerikaner tat wie ihm geheißen. Anschließend starrte

er uns verwirrt an.

»Na so was!« rief er aus. »Das gibt es doch nicht. Das Pferd

müßte ja jeden Rekord gebrochen haben. Wenn ich mir die
Sonne so ansehe, steht sie ziemlich tief. Irgend etwas ist hier
vorgegangen, das ich nicht verstehe.«

»Können Sie sich nicht an irgend etwas Bemerkenswertes

erinnern, das geschah, als die Kutsche den Berg hinauffuhr?«

»Ja, ich glaube mich daran zu erinnern, daß ich plötzlich

ausgesprochen schläfrig wurde. Ich weiß noch, daß ich dem
Kutscher irgend etwas sagen wollte. Er nahm mich aber gar
nicht zur Kenntnis. Ich nehme an, es lag an der Hitze, aber
einen Augenblick lang wurde mir schwindlig. Das ist alles.«

»So ist es der ganzen Menschheit ergangen«, sagte

Challenger zu mir. »Sie haben sich alle einen Augenblick lang
schwindlig gefühlt. Niemand hat auch nur die geringste
Vorstellung von dem, was passiert ist. Sie werden mit der
unterbrochenen Arbeit dort fortfahren, wo sie aufgehört haben
– so wie Austin jetzt den Wagen wäscht und die Golfer ihr
Spiel zu Ende führen. Wenn Ihr Chefredakteur, Malone, heute
die neue Ausgabe zusammenstellt, wird er ziemlich erstaunt
reagieren, wenn ihm bewußt wird, daß eine Nummer nicht
erschienen ist. Ja, mein junger Freund«, fügte er hinzu und
wandte sich an den amerikanischen Reporter, wobei er sich in
allerbester Gönnerlaune zeigte, »es wird Sie vielleicht
interessieren, daß die Welt die giftige Strömung, die den
Weltraum durchzieht wie der Golfstrom den Ozean, sicher
passiert hat. Und damit Sie auch persönlich wieder beruhigt

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sind, will ich Ihnen sagen, daß heute nicht Freitag der
achtundzwanzigste, sondern Samstag der neunundzwanzigste
August ist und Sie die letzten achtundzwanzig Stunden
besinnungslos in Ihrer Droschke auf dem Rotherfield Hill
zugebracht haben.«

Und genau hier endet meine Geschichte. Sie ist, wie Sie

möglicherweise erkennen, nichts anderes als eine längere und
detailreichere Version des Artikels, der in der Montagsausgabe
der Daily Gazette erschien, als die größte Exklusivstory aller
Zeiten bezeichnet wurde und nicht weniger als dreieinhalb
Millionen Exemplare verkaufte. Ich habe mir die grandiosen
Schlagzeilen einrahmen lassen und an die Wand meines Büros
gehängt:


DIE WELT FÜR ACHTUNDZWANZIG STUNDEN IM
KOMA
BEISPIELLOSES ERLEBNIS CHALLENGER
REHABILITIERT UNSER KORRESPONDENT WAR
DABEI FESSELNDE BERICHTERSTATTUNG DAS
SAUERSTOFFZIMMER UNGLAUBLICHE AUTOREISE
IM TOTEN LONDON
GROSSBRÄNDE UND VERLUSTE AN
MENSCHENLEBEN
WIRD DAS GIFT WIEDERKEHREN?

Unter dieser majestätischen Auflistung folgt ein

neuneinhalbspaltiger Bericht, die erste, letzte und einzige
Wiedergabe jener historischen Ereignisse, die ein Beobachter
während eines langen Tages im Leben eines Planeten
aufzuschreiben vermochte. Challenger und Summerlee haben
die Angelegenheit in einem gemeinsam verfaßten
wissenschaftlichen Papier behandelt und mir die populäre Seite
überlassen. Natürlich kann ich nun »Nunc Dimittis« singen,

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denn nach diesem Erlebnis kann das Leben eines Journalisten
nur noch aus einem Antiklimax bestehen!

Aber lassen Sie mich nicht nur mit sensationellen

Schlagzeilen und einem lediglich persönlichen Triumph enden.
Viel lieber möchte ich einige wohltuende Passagen zitieren,
mit der die größte aller Tageszeitungen ihren Aufmacher zu
diesem Thema beendete – einen Aufmacher, den jeder, der
etwas auf sich hält, verwahren sollte, um sich daran zu
erbauen.

»Es ist eine altbekannte Binsenweisheit«, sagte die Times,

»daß die menschliche Rasse im Gegensatz zu den
unermeßlichen, verborgenen Kräften, die uns umgeben, aus
einem eher schwachen Völkchen besteht. Sowohl die
Propheten der Vergangenheit als auch die Philosophen der
Moderne haben darauf hingewiesen und ihre Warnung
ausgesprochen. Aber wie alle ständig wiederholten Wahrheiten
hat auch diese im Laufe der Zeit etwas von ihrer
Wahrhaftigkeit und Beweiskraft eingebüßt. Es bedurfte einer
Lehre und der tatsächlichen Erfahrung, uns dies erneut bewußt
zu machen. Es ist auf die schreckliche aber begrüßenswerte
Prüfung zurückzuführen, die uns auferlegt wurde, daß unser
Bewußtsein von der Plötzlichkeit dieses Anschlages gelähmt
ist und wir uns unserer Grenzen und unseres Unvermögens
bewußt geworden sind. Die Welt hat für diese Erfahrung einen
furchtbaren Preis zahlen müssen. Und doch haben wir –
abgesehen von den Großbränden, die New York, New Orleans
und Brighton zerstörten und schon für sich die größte Tragödie
in der Geschichte der Menschheit widerspiegeln – kaum
Kenntnis von den wirklichen Ausmaßen der Katastrophe.
Wenn die Bestandsaufnahmen der Eisenbahn- und
Schiffsunglücke abgeschlossen sind, wird es kein Frohlocken
geben, obwohl man absehen kann, daß es den meisten
Verantwortlichen auf Dampfern und Lokomotiven gelungen

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ist, die Maschinen abzuschalten, bevor das Gift sie
niederstreckte. Aber die materiellen Schäden, egal wie viele
Leben und Waren sie auch gekostet haben, sollten uns heute
nicht über Gebühr beschäftigen. All diese Wunden wird die
Zeit heilen. Was allerdings nicht der Vergessenheit
anheimfallen und uns weiterhin beschäftigen sollte, sind die
Offenbarungen, über welche Möglichkeiten das Universum
verfügt, der Abbau unserer eitlen Selbstgefälligkeit und die
Zurschaustellung der Tatsache, daß der Pfad unserer
materiellen Existenz schmal und an beiden Seiten von tiefen
Abgründen umgeben ist. Von heute an sollten Ernsthaftigkeit
und Bescheidenheit die Grundpfeiler all unserer Emotionen
sein. Sie könnten das Fundament bilden, auf dem eine
gewissenhaftere und ehrfurchtsvollere Rasse einen würdigen
Tempel errichten könnte.«

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Als die Erde schrie

(When the World Screamed)

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Ich konnte mich zwar noch vage daran erinnern, daß mir mein
Freund Edward Malone von der Gazette einst erzählt hatte, er
sei mit Professor Challenger in einige bemerkenswerte
Abenteuer verwickelt gewesen, aber da mich mein Beruf
ziemlich stark in Anspruch nimmt und meine Firma mit
Aufträgen mehr als ausgelastet ist, bin ich über meine eigenen
Interessen hinaus über das, was sonst in der Welt vor sich geht,
nur unvollkommen im Bilde. Ich konnte mich auch daran
erinnern, daß Challenger als unberechenbares Genie galt und
man ihm einen gewalttätigen und intoleranten Charakter
nachsagte; deswegen war ich auch gelinde erstaunt, von ihm
einen Geschäftsbrief zu erhalten, der sich folgenden Wortlauts
befleißigte:

kal 4 (b) Enmore Gardens Kensington
Sir, ich sehe mich dazu veranlaßt, die Dienste eines
Spezialisten für artesische Bohrungen in Anspruch zu nehmen.
Ich will aber keinesfalls verhehlen, daß ich jeglichem
Spezialistentum gegenüber keine sonderlich hohe Meinung
habe, zumal ich aufgrund von Erfahrungen weiß, daß ein
Mensch, der – wie ich – über ein gutfunktionierendes Gehirn
verfügt, ein gründlicher arbeitendes
und breiteres Gesichtsfeld
besitzt als jemand, der sich auf ein bestimmtes Gebiet
konzentriert, einen gewöhnlichen Beruf ausübt, und deswegen
in seiner Weitsicht begrenzt ist. Nichtsdestoweniger bin ich
bereit, mit Ihnen einen Versuch zu wagen. Als ich eine Liste
artesischer Experten studierte, erweckte ein bestimmter
Umstand (beinahe hätte ich »eine bestimmte Absurdität«
geschrieben) in Ihrem Namen mein Interesse, und spätere
Nachforschungen ergaben, daß mein junger Freund, Mr.
Mahne, mit Ihnen bekannt ist. Mein Schreiben dient dazu,

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Ihnen mitzuteilen, daß ich mich glücklich schätzen würde, ein
Gespräch mit Ihnen zu führen, und daß ich, vorausgesetzt, Sie
entsprechen meinen (sicherlich nicht geringen) Erwartungen,
eventuell bereit wäre, eine Angelegenheit von allergrößter
Wichtigkeit in Ihre Hände zu legen. Da besagte Angelegenheit
größte Geheimhaltung erfordert, kann ich gegenwärtig nicht
mehr sagen. Weitere Instruktionen können ausschließlich
mündlich erfolgen. Ich bitte Sie deswegen, allen
Verpflichtungen, denen Sie möglicherweise gerade nachgehen,
zu kündigen, und mich am kommenden Freitag um 10.30 Uhr
an der o. a. Adresse aufzusuchen. Wir besitzen
sowohl einen
Schmutzabstreifer als auch eine Fußmatte, und Mrs.
Challenger ist in dieser Hinsicht äußerst penibel.

Ich verbleibe, Sir, wie ich begann,

George Edward Challenger.


Ich übergab den Brief zur Beantwortung an meinen
Bürovorsteher, der Professor Challenger davon in Kenntnis
setzte, daß Mr. Peerless Jones sich geehrt fühlen würde, zu der
vorgeschlagenen Verabredung zu erscheinen. Der Antwortbrief
war ein perfektes bürokratisches Schreiben, das mit der Phrase
»Ihren (undatierten) Brief haben wir erhalten« begann. Dies
brachte uns eine zweite Epistel des Professors ein.

Sir,
(schrieb er, und seine Handschrift sah plötzlich aus wie
eine Rolle Stacheldraht), ich stelle fest, daß Sie sich über
meinen undatierten Brief mokieren. Darf ich Ihre geschätzte
Aufmerksamkeit auf die Tatsache lenken, daß unsere
Regierung, um uns für die monströse Besteuerung zu
entschädigen, die sie uns angedeihen läßt, die Eigenart
entwickelt hat, auf der Außenseite von Briefumschlägen einen
kleinen, runden Stempel anzubringen, der über das
Absendedatum Auskunft gibt? Sollte dieses Zeichen fehlen oder

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unleserlich sein, müßte sich Ihr Einspruch an das örtliche
Postamt richten. Bis dahin möchte ich Sie bitten, Ihre
Aufmerksamkeit den Geschäften zu widmen, wegen derer ich
Sie zu konsultieren beabsichtige und Kommentare über die
Form, die meine Briefe möglicherweise einnehmen, zu
unterlassen.

Mir war klar, daß ich es hier mit einem Irren zu tun hatte,
deswegen überlegte ich mir gut, was ich tun sollte, bevor ich
weiter in die Sache hineingezogen wurde und suchte meinen
alten Freund Malone auf, den ich noch aus jenen alten Tagen
kannte, in denen wir noch für Richmond Rugby gespielt
hatten. Er war immer noch der gleiche heitere Ire wie zuvor
und amüsierte sich königlich über meinen ersten
Zusammenstoß mit Challenger.

»Das ist noch gar nichts, alter Junge«, sagte er. »Wenn du

erst einmal fünf Minuten mit ihm allein gewesen bist, wirst du
dich fühlen wie jemand, dem man bei lebendigem Leibe das
Fell über die Ohren gezogen hat. Es gibt niemanden, der seinen
Angriffen gewachsen ist.«

»Aber warum sollte sich überhaupt jemand dieser Gefahr

aussetzen?«

»Das tut ja niemand. Wenn du alle Kräche,

Beleidigungsklagen und Verurteilungen zusammenzählen
würdest, denen er…«

»Verurteilungen!«
»Glaube mir, er würde sich nicht das geringste dabei denken,

dich die Treppe hinunterzuwerfen, wenn du anderer Meinung
wärst als er. Er ist ein Höhlenmensch im Frack. Ich sehe ihn
vor mir, wie er in der einen Hand eine Keule und in der
anderen ein Steinbeil hält. Manche Menschen werden einfach
nicht in das ihnen zugehörige Jahrhundert hineingeboren, aber

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Challenger gehört nicht einmal in dieses Jahrtausend. Er paßt
besser ins frühe Neolithikum.«

»Das ist ja gerade das Unglaubliche! Er ist der klügste Kopf

von ganz Europa, und er wird von einer solch starken Kraft
angetrieben, daß er alle seine Träume in Wirklichkeit
verwandeln kann. Man tut zwar alles, um ihn nicht
hochkommen zu lassen, denn seine Kollegen hassen ihn wie
die Pest – aber ebenso könnte eine Schlepperflotte versuchen
die Berengaria am Auslaufen zu hindern. Er ignoriert sie
einfach und dampft an ihnen vorbei.«

»Nun«, meinte ich, »eines ist zumindest klar. Ich will nichts

mit ihm zu tun haben. Ich werde unsere Verabredung
absagen.«

»Das wirst du keinesfalls. Du wirst pünktlich auf die Minute

bei ihm erscheinen – und du solltest nicht vergessen, wirklich
auf die Minute dort zu sein, sonst wirst du es bereuen.«

»Warum sollte ich?«
»Nun, ich werde es dir sagen. Zunächst einmal würde ich das,

was ich über den alten Challenger gesagt habe, nicht so
wörtlich nehmen. Jeder, der ihn näher kennenlernt, lernt ihn
auch zu lieben. Der alte Bär stellt keine wirkliche Gefahr dar.
Ja, ich erinnere mich sogar, daß er über hundert Meilen weit
ein an Blattern erkranktes indisches Baby auf dem Rücken trug
und es aus dem Hinterland zum Madeira River hinuntertrug. Er
ist in jeder Beziehung ein großer Mann. Wenn du begreifst,
wie man am besten mit ihm umgeht, wird er dir auch nichts
antun.«

»Ich will es aber gar nicht erst darauf ankommen lassen.«
»Du wärst ein Narr, wenn du es nicht tätest. Hast du je vom

Hengist-Down-Rätsel gehört, dem geheimnisvollen Schacht an
der Südküste?«

»Irgendeine geheime Minenexpedition, nehme ich an.«

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»Nun, du kannst es sehen, wie du willst. Verstehe bitte, daß

ich das Vertrauen dieses alten Mannes genieße und dir
deswegen leider erst reinen Wein einschenken kann, wenn er
es mir gestattet. Aber ich kann dir zumindest das erzählen, was
in der Presse gestanden hat: Ein Mann namens Betterton, der
sein Vermögen mit Gummi gemacht hat, hat Challenger vor
einigen Jahren mit der Bedingung, es im Interesse der
Wissenschaft zu verwenden, seine gesamte Hinterlassenschaft
vermacht. Es stellte sich heraus, daß es sich bei seinem Erbe
um eine ziemlich bedeutende Summe handelte – mehrere
Millionen. Challenger kaufte sich daraufhin einen Besitz bei
Hengist Down in Sussex. Da das Land wertlos ist – es liegt an
der Nordseite des Kalkgebietes – konnte er einen ziemlich
großen Landstrich kaufen und zäunte ihn ein. In der Mitte des
Gebietes befindet sich eine tiefe Senke, die er auszuheben
begann. Er gab bekannt«, – an dieser Stelle zwinkerte Malone
mir zu – »daß es in England Öl gäbe und er dies beweisen
würde. Er baute eine kleine Mustersiedlung für eine Gruppe
gutbezahlter Arbeiter und verpflichtete sie zum Schweigen.
Das Gebiet um die Senke ist ebenso hermetisch abgeriegelt
wie der Rest des Besitzes, und die gesamte Umgebung wird
von Bluthunden bewacht. Ein paar Presseleute sind beinahe
dabei ums Leben gekommen – gar nicht zu reden von ihren
Hosen –, als sie diese Bestien zu umgehen versuchten. Es ist
ein großes Unternehmen, das er dort betreibt, und Sir Thomas
Mordens Firma, die ebenfalls zum Schweigen verpflichtet ist,
geht ihm dabei zur Hand. Jetzt ist offenbar der Zeitpunkt
gekommen, an dem man die Unterstützung eines artesischen
Spezialisten benötigt. Wärst du nicht ein Narr, wenn du einen
solchen Auftrag, der nicht nur interessant ist, sondern dir auch
eine Menge neuer Erfahrungen und einen fetten Scheck
einbringt, ablehnen würdest? Ganz zu schweigen davon, daß

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die Möglichkeit besteht, daß dir der wundervollste Mensch, der
dir je begegnet ist, auf die Schulter klopft?«

Malones Argumente waren überzeugend, deswegen begab ich

mich am Freitagmorgen nach Enmore Gardens. Ich bereitete
mich so sorgfältig auf ein pünktliches Erscheinen vor, daß ich
mich plötzlich zwanzig Minuten zu früh vor der Tür des
Professors wiederfand. Während ich auf der Straße wartete,
entdeckte ich plötzlich auf dem Bürgersteig einen abgestellten
Rolls-Royce mit einem silbernen Pfeilmaskottchen. Der
Wagen konnte nur Jack Devonshire, dem Juniorgesellschafter
der Firma Morden gehören. Da ich Jack stets als einen äußerst
liebenswürdigen Menschen kennengelernt hatte, war ich
natürlich ziemlich schockiert, als er plötzlich aus dem Haus
kam, draußen vor der Tür stehenblieb, beide Arme in die Luft
streckte und mit großer Inbrunst hervorstieß: »Verdammt soll
er sein! Oh, er soll verdammt sein!«

»Was ist denn los, Jack? Du scheinst ja heute morgen

ziemlich gereizt zu sein.«

»Hallo, Peerless! Hast du auch mit ihm zu tun?«
»Es sieht ganz so aus.«
»Nun, du wirst es kaum zum Aushalten finden.«
»Kaum mehr als du, nehme ich an.«
»Nun, das kann man wohl behaupten. Die Nachricht, die mir

der Butler gab, hörte sich folgendermaßen an: ›Der Herr
Professor hat mir aufgetragen, Ihnen mitzuteilen, daß er gerade
damit beschäftigt ist, ein Ei zu verzehren, Sir, und daß er sich,
wenn es Ihnen beliebt, zu einer weniger störenden Zeit zu
erscheinen, freuen würde, Sie zu empfangen.‹

Diese Botschaft ließ er mir von einem Domestiken

übermitteln! Ich darf vielleicht noch hinzufügen, daß ich
hergekommen bin, um die zwanzigtausend Pfund einzutreiben,
die er uns noch schuldet.«

Ich stieß einen Pfiff aus.

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»Zahlt er nicht?«
»Aber sicher, in dieser Beziehung ist er völlig in Ordnung.

Ich muß dem alten Gorilla sogar bestätigen, daß er eine
ziemlich großzügige Zahlungsart praktiziert. Aber er zahlt
eben nur, wenn und wie er Lust dazu hat und schert sich dabei
um niemanden. Aber vielleicht gehst du jetzt besser hinein,
versuchst dein Glück und findest selber heraus, wie er dir
gefällt.« Damit schwang er sich hinter das Steuer und fuhr
davon.

Hin und wieder einen Blick auf meine Uhr werfend, wartete

ich darauf, daß sich die richtige Zeit einstellte. Ich bin, wenn
ich das einmal anmerken darf, ein ziemlich stämmiges
Individuum und außerdem Anwärter auf die
Mittelgewichtsklasse im Belsize-Boxverein, aber dennoch
habe ich nie zuvor mit dermaßener Verzagtheit einem
Gespräch wie diesem entgegengeblickt. Es war keine
körperliche Furcht, denn ich war davon überzeugt, daß ich mir
diesen seltsamen Irren, sollte er mich angreifen, durchaus vom
Halse halten konnte. Was sich an Gefühlen in mir die Waage
hielt, war eher die Furcht vor einem öffentlichen Skandal und
die Möglichkeit, einen lukrativen Auftrag zu verlieren. Die
Dinge sind allerdings leichter zu verkraften, wenn man die
Phantasie außer acht läßt und zur Aktion schreitet. Deswegen
schloß ich den Deckel meiner Uhr und begab mich zur Tür.

Sie wurde von einem alten, holzgesichtigen Butler geöffnet,

dessen Gesichtsausdruck so leer war, daß er in mir den
Eindruck hervorrief, an jeden Schock der Welt gewöhnt zu
sein und von nichts mehr überrascht werden zu können.

»Sie haben eine Verabredung, Sir?« fragte er.
»Gewiß.«
Er warf einen Blick auf die Liste, die er in der Hand hielt.
»Ihr Name, Sir? Aber gewiß… Mr. Peerless Jones… Um

zehn Uhr dreißig. Es ist alles in Ordnung. Wir müssen etwas

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vorsichtig sein, Mr. Jones, weil wir ständig von Journalisten
belästigt werden. Der Herr Professor hält, wie Sie vielleicht
wissen, nicht sonderlich viel von der Presse. Hierher, Sir.
Professor Challenger wird Sie gleich empfangen.«

Und schon im nächsten Moment fand ich mich in seiner

Gegenwart wieder. Da ich glaube, daß mein Freund Ted
Malone ihn in seinem Buch Die vergessene Welt besser
beschrieben hat, als ich dies je zu tun vermag, will ich es auch
dabei belassen. Alles, was ich sah, war ein Riesenkerl von
einem Mann, der hinter einem Mahagonischreibtisch saß,
einen großen spatenförmigen Bart hatte und zwei große, graue
Augen sein eigen nannte, die zur Hälfte mit schweren Lidern
bedeckt waren. Sein großer Schädel fuhr zurück, sein Bart
sträubte sich nach vorn, und seine ganze Erscheinung war eine
einzige Impression arroganter Intoleranz.

»Was, zum Teufel, wollen denn Sie hier?« stand deutlich auf

seiner Stirn geschrieben. Ich legte meine Karte auf den Tisch.

»Ach ja«, sagte er, nahm die Karte an sich und hielt sie so

zwischen den Fingern, als ginge von ihr ein übler Geruch aus.
»Natürlich. Sie sind der Experte – der sogenannte. Mr. Jones –
Mr. Peerless Jones. Danken Sie Ihrem Taufpaten, Mr. Jones,
denn es war Ihre drollige Namensvorsilbe, die mich auf Sie
aufmerksam machte.«

»Ich bin wegen eines geschäftlichen Gesprächs zu Ihnen

gekommen, Professor Challenger«, sagte ich mit aller Würde,
zu der ich fähig war, »aber nicht, um mit Ihnen über meinen
Vornamen zu diskutieren.«

»Herrjeh, Sie scheinen aber wirklich empfindlich zu sein, Mr.

Jones. Mit Ihren Nerven sieht es wohl nicht zum Besten aus?
Ich werde also, um mit Ihnen Einigkeit zu erzielen, ganz
langsam vorgehen. Ich habe übrigens Ihre kleine Broschüre
über die Landgewinnung auf der Sinai-Halbinsel gelesen, Mr.
Jones. Haben Sie sie selbst verfaßt?«

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»Aber natürlich, Sir. Immerhin trägt sie meinen Namen.«
»Aber gewiß, aber gewiß. Aber deswegen muß es doch nicht

stimmen, oder? Wie dem auch sei, ich bin bereit, Ihre
Behauptung zu akzeptieren. Das Büchlein ist nicht ganz ohne
Wert. Unter dem langatmigen Stil verbirgt sich tatsächlich hin
und wieder eine brauchbare Idee, Ab und zu entdeckt man
sogar den Ansatz eines Gedankens. Sind Sie verheiratet?«

»Nein, Sir, das bin ich nicht.«
»Dann besteht vielleicht die Chance, daß Sie ein Geheimnis

für sich behalten können.«

»Wenn ich ein Versprechen gebe, pflege ich es auch zu

halten.«

»Was Sie nicht sagen. Mein junger Freund Malone«, –

Challenger drückte sich aus, als sei Ted erst zehn Jahre alt –
»hat eine gute Meinung von Ihnen. Er sagt, ich könne Ihnen
vertrauen. Das Vertrauen, daß ich in Sie setze, ist sehr groß,
denn ich bin momentan mit einem der größten Experimente
aller Zeiten beschäftigt – ich möchte sogar sagen, daß es sich
um das größte Experiment aller Zeiten handelt. Ich bitte Sie,
daran teilzunehmen.«

»Ich würde mich geehrt fühlen.«
»Es ist in der Tat eine Ehre. Ich muß gestehen, daß ich

niemandem einen Einblick in meine Arbeit gestattet hätte,
wenn die gewaltige Größe dieses Unternehmens nicht
geradezu nach den modernsten technischen Errungenschaften
schreien würde. Und nun, Mr. Jones, nachdem Sie mir das
Versprechen gegeben haben, das Geheimnis unter allen
Umständen zu wahren, komme ich zum Kern der Sache: Hier
ist er: Die Welt, auf der wir leben, ist ein mit einem Kreislauf,
einer Respiration und einem eigenen Nervensystem
ausgestatteter lebendiger Organismus.«

Ganz klar: Der Mann war ein Irrer.

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»Ich nehme an«, fuhr Professor Challenger fort, »daß sich Ihr

Gehirn weigert, diese Tatsache anzuerkennen. Es wird sich
aber an diesen Gedanken gewöhnen. Ihnen ist doch sicher
schon aufgefallen, wie stark ein Mohr oder ein Heide einem
haarigen Tier ähnelt. Eine bestimmte Analogie durchläuft die
gesamte Natur. Des weiteren werden Sie zur Kenntnis
genommen haben, daß es hier und da zu Landverschiebungen
kommt, was eine langsame Respiration dieser Kreatur
voraussetzt. Schließlich und endlich werden Sie auch Kenntnis
von dem Gezappel und Gezucke erhalten haben, das unserem
zwergenhaften Wahrnehmungssinn wie ein Erdbeben
erscheint.«

»Und was ist mit den Vulkanen?« fragte ich.
»Dz, dz! Sie entsprechen natürlich den Hitzepöckchen eines

menschlichen Körpers.«

Als ich den Versuch unternahm, Antworten auf diese

monströsen Enthüllungen zu finden, wurde ich von Schwindel
erfaßt.

»Die Temperatur!« rief ich aus. »Ist es nicht eine Tatsache,

daß sie, wenn man in die Erde hinabsteigt, immer mehr
zunimmt und am Erdmittelpunkt aus flüssiger Lava besteht?«

Er wischte meinen Einwand beiseite.
»Auch Ihnen, Sir, müßte, seit man in diesem Lande

Volksschulen betreibt, bekannt geworden sein, daß die Erde an
den Polen abgeflacht ist. Dies bedeutet, daß die Pole dem
Erdmittelpunkt näher sind als jeder andere Punkt und
deswegen aufgrund der Hitze, von der Sie sprachen, höchst
unangenehm berührt werden. Es ist ja auch überall bekannt,
daß die Lebensbedingungen an den Polen geradezu tropisch
sind, nicht wahr?«

»Die ganze Idee ist absolut neu für mich.«
»Natürlich ist sie das, Es ist das Privileg des originellen

Denkers, Ideen zu entwickeln, die neu und deswegen in der

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Regel beim Pöbel unwillkommen sind. Und was, Sir, glauben
Sie, ist dies?«

Er hielt einen kleinen Gegenstand hoch, den er vom Tisch

aufgenommen hatte.

»Ich würde sagen, es ist ein Seeigel.«
»Vortrefflich!« sagte er in einem dermaßen übertriebenen

Tonfall, daß ich mir vorkam wie ein Kleinkind, dem es zum
erstenmal im Leben gelungen war, etwas Bedeutendes zu tun.
»Es ist ein Seeigel – ein gewöhnlicher Echinus. Die Natur
wiederholt sich in vielen Formen, ungeachtet der Größe.
Dieser Echinus ist ein Modell, ein Prototyp der Welt. Sie
werden erkennen, daß er nur im Groben kreisförmig und an
den Polen abgeflacht ist. Sehen wir die Welt also als einen
Echinus. Welche Einwände haben Sie?«

Mein Haupteinwand bestand darin, daß ich diesen

lächerlichen kleinen Seeigel als Argument nicht gelten lassen
wollte, aber ich hütete mich, das zu sagen. Statt dessen suchte
ich verzweifelt nach einer weitergehenden Erklärung.

»Eine lebendige Kreatur braucht Nahrung«, sagte ich. »Wie

erklären Sie sich den Leibesumfang der Erde?«

»Ein exzellenter Einwand, wirklich überragend!« sagte der

Professor in einem großmütigen Anflug von Väterlichkeit.
»Sie haben ein flinkes Auge für das Offensichtliche, aber dafür
entgehen Ihnen die etwas subtileren Implikationen. Wie also
kommt die Welt zu ihrer Nahrung! Wenden wir uns nochmals
unserem kleinen Freund Echinus zu. Das Wasser, in dem er
lebt, fließt durch seine Adern und versorgt ihn mit Nahrung.«

»Dann glauben Sie, daß das Wasser…«
»Nein, Sir, die Luft. Die Erde bewegt sich auf einem

kreisförmigen Pfad durch den Weltenraum, und während sie
sich bewegt, ist sie ununterbrochen von Luft umgeben, die sie
mit Lebenskraft versorgt. Eine ganze Reihe anderer Welten-

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Echini tut das gleiche: Venus, Mars und der Rest. Jeder von
ihnen verfügt über eine eigene Weide, die er abgrasen kann.«

Der Mann war offensichtlich übergeschnappt, aber ich wollte

mich mit ihm auf keinen Streit einlassen. Da er mein
Schweigen offenbar für Zustimmung hielt, lächelte er mich in
der denkbar liebenswürdigsten Weise an.

»Wir kommen, glaube ich, langsam voran«, sagte er. »Es

wird allmählich heller in Ihrem Kopf. All das ist für den
Anfang zweifellos ein wenig verwirrend, aber bald werden wir
uns daran gewöhnen. Schenken Sie mir bitte Ihre
Aufmerksamkeit, denn ich habe noch eine oder zwei weitere
Beobachtungen gemacht, die dieses kleine Geschöpf auf
meiner Hand betreffen.

Angenommen, auf dieser harten Außenhaut würde es von

einer großen Zahl krabbelnder Insekten wimmeln. Würde sich
der Echinus ihrer Gegenwart überhaupt bewußt werden?«

»Ich würde sagen, nein.«
»Dann können Sie sich auch sicher gut vorstellen, daß auch

die Erde nicht im geringsten weiß, daß sie von der
menschlichen Rasse nutzbar gemacht worden ist. Sie ist sich
der Tatsache, daß sie mit Vegetation bedeckt ist und sich auf
ihr mikroskopisch kleine Lebewesen entwickelt haben, die sie
während ihrer Reise um die Sonne wie ein Schiff, an dessen
Rumpf sich Muscheln festsetzen, trägt, gar nicht bewußt. Dies
ist der gegenwärtige Zustand, den zu ändern ich mich
entschlossen habe.«

Ich starre ihn verdutzt an.
»Sie haben vor, diesen Zustand zu verändern?«
»Ich habe vor, die Erde wissen zu lassen, daß es zumindest

einen Menschen gibt – nämlich Georg Edward Challenger –,
der ihre Aufmerksamkeit erheischt – der sie sogar verlangt. Es
ist bestimmt die erste Annäherung dieser Art, die ihr zuteil
wird.«

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»Und wie, Sir, wollen Sie das erreichen?«
»Ah, und jetzt kommen wir wieder zum geschäftlichen Teil.

Sie sind genau auf den Punkt gekommen. Ich möchte erneut
Ihre Aufmerksamkeit auf diese interessante kleine Kreatur
richten, die ich in der Hand halte. Unter ihrer Schutzhaut
besteht sie ausschließlich aus Nerven und Empfindungen.
Wenn eine parasitäre Mikrobe auf sich aufmerksam machen
wollte, wäre es dann nicht am naheliegendsten, sie ginge in der
Form vor, daß sie ein Loch in die Haut bohren und so das
Nervensystem berühren würde?«

»Gewiß.«
»Oder… Wenden wir uns dem Beispiel einer heimatlosen

Fliege oder eines Moskitos zu, der die Oberfläche eines
menschlichen Körpers erforscht. Es ist möglich, daß wir seine
Gegenwart nicht sofort bemerken. Aber plötzlich, wenn er
seinen Rüssel in unsere Haut bohrt – die ja in gewisser
Beziehung auch eine Schale ist –, werden wir schlagartig daran
erinnert, daß wir nicht allein sind. Meine Pläne dürften Ihnen
nun kein Geheimnis mehr sein. Jetzt sehen Sie alles in
strahlend hellem Licht.«

»Gütiger Himmel! Sie haben vor, ein Loch durch die

Erdkruste zu bohren?«

Mit unglaublicher Selbstgefälligkeit schloß Professor

Challenger die Augen. »Vor sich«, sagte er, »sehen Sie den
ersten Menschen, der diese harte Haut je durchdringen wird.
Ich könnte es sogar in der vollendeten Vergangenheit
ausdrücken und sagen: der sie durchdrungen hat.«

»Sie haben es schon getan?«
»Mit der äußerst wirkungsvollen Hilfe der Firma Morden &

Co. sollte man vielleicht hinzufügen. Mehrere Jahre harter
Arbeit bei Tag und Nacht und unter Ausnutzung aller
möglichen technischen Errungenschaften haben uns endlich an
unser Ziel gebracht.«

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»Sie wollen doch nicht etwa sagen, daß Sie die Erdkruste

durchbohrt haben?«

»Wenn Ihre Rede Verwirrung signalisieren soll, bin ich

bereit, sie hinzunehmen; sollte sie jedoch Unglauben…«

»Nein, Sir, nichts dergleichen.«
»Dann nehmen Sie meine Feststellung gefälligst ohne

Widerspruch hin: Wir haben die Kruste durchbohrt. Sie war
ganze vierzehntausendvierhundertundzweiundvierzig Yards
dick – oder knapp acht Meilen. Es wird Sie vielleicht
interessieren, daß wir während der Bohrarbeiten auf ein
Kohleflöz gestoßen sind, das möglicherweise auf lange Sicht
die Kosten des Unternehmens wieder hereinbringen wird.
Unser Hauptproblem waren die vielen Quellen in den tieferen
Kalk- und Hastingsandablagerungen, aber auch die gelang es
uns zu überwinden. Nun haben wir das letzte Stadium erreicht
– und dies erfordert niemand anderen als Mr. Peerless Jones.
Sie, Sir, werden der Moskito sein, während Ihr artesischer
Bohrer die Stelle des Stachels einnimmt. Der Geist hat sein
Werk getan. Nun ist die Mechanik an der Reihe; der
unvergleichliche Mr. Jones mit seinem metallenen Stachel.
Können Sie mir folgen?«

»Aber acht Meilen!« rief ich aus. »Sind Sie sich darüber im

klaren, Sir, daß das Limit für artesische Bohrungen bei
fünftausend Fuß liegt? Sicher, in Oberschlesien hat man
einmal auch bei sechstausendzweihundert Fuß Erfolg gehabt,
aber das war ein Einzelfall und wird noch heute als Wunder
angesehen.«

»Sie mißverstehen mich, Mr. Peerless. Entweder ist mit

meinen Erklärungen etwas nicht in Ordnung oder mit Ihrem
Gehirn; aber ich will jetzt nicht noch mehr Zeit vergeuden, um
diese Frage eingehend zu klären. Ich bin mir natürlich sehr
wohl der Tatsache bewußt, daß artesische Bohrungen
Begrenzungen unterliegen. Ich hätte aber wohl kaum mehrere

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Millionen Pfund ausgegeben, um einen kolossalen Tunnel zu
graben, wenn eine Sechs-Zoll-Bohrung meine Bedürfnisse
erfüllt hätte. Ich bitte Sie lediglich darum, einen Bohrer
bereitzuhalten, der so spitz wie möglich ist, von einem
Elektromotor angetrieben wird und nicht mehr als hundert Fuß
mißt. Ein gewöhnlicher Schlagbohrer mit einem ausreichenden
Gewicht dürfte alle Anforderungen erfüllen.«

»Warum ein Elektromotor?«
»Meine Aufgabe besteht darin, Mr. Jones, Anweisungen zu

geben, nicht Begründungen. Wenn wir zum Angriff blasen,
könnte es sein – es könnte sein, sage ich –, daß nicht weniger
als Ihr Leben davon abhängt, daß der Bohrer aus einer
gewissen Entfernung elektrisch bedient wird. Ich nehme an,
daß sich das bewerkstelligen läßt?«

»Aber gewiß.«
»Dann bereiten Sie sich darauf vor, genau dies zu tun. Die

Angelegenheit ist noch nicht weit genug entwickelt, um Ihre
persönliche Anwesenheit jetzt schon erforderlich zu machen,
aber vorbereiten können Sie sich schon einmal… Mehr habe
ich im Moment dazu nicht zu sagen.«

»Es ist aber von allergrößter Wichtigkeit«, erklärte ich, »daß

Sie mich wissen lassen, was der Bohrer durchdringen soll.
Sand? Lehm? Kalk? Jede dieser Schichten würde eine andere
Behandlung verlangen.«

»Nehmen wir an, es handelt sich um Sülze«, sagte

Challenger. »Ja, lassen wir uns für den Moment annehmen, Sie
würden Sülze durchbohren. Und jetzt, Mr. Jones, harren
Angelegenheiten von großer Wichtigkeit meiner
Aufmerksamkeit; deswegen muß ich Ihnen einen Guten
Morgen wünschen. Den Arbeitsvertrag, in den Sie auch Ihr
Honorar eintragen, können Sie bei meinem Betriebsleiter
unterzeichnen.«

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Ich verbeugte mich und wandte mich um, aber bevor ich die

Tür erreichte, siegte wieder meine Neugier. Professor
Challenger kritzelte mit einem Federkiel über ein Blatt Papier
und sah mich ob der Unterbrechung mißbilligend an.

»Ist noch etwas, Sir? Ich hatte gehofft, Sie seien bereits

gegangen.«

»Ich wollte Sie nur noch fragen, Sir, welcher Anlaß ein solch

außergewöhnliches Experiment rechtfertigen könnte.«

»Hinaus, Sir, hinaus!« rief er ärgerlich. »Vergessen Sie die

rein kaufmännischen Aspekte und das rein kommerzielle
Nützlichkeitsdenken Ihres Bewußtseins! Entledigen Sie sich
Ihres schnöden Geschäftsmannsgeistes! Die Wissenschaft
sucht nach dem Wissen. Selbst wenn wir alles erfahren haben,
was wir wissen wollen – wir werden ewig weitersuchen.
Endlich einmal zu wissen, was wir sind, warum wir sind und
wo wir sind – ist das nicht der Sinn allen menschlichen
Strebens? Hinaus, Sir, hinaus!«

Sein gewaltiger, dunkelhaariger Schädel beugte sich erneut

über die Papiere, und sein Gesicht verschwand vollends hinter
dem Bart. Der Federkiel kratzte schriller als zuvor. Mit dem
schwindelerregenden Gedanken, daß ich nun doch sein Partner
geworden war, verließ ich diesen sonderbaren Mann.

Als ich in mein Büro zurückkehrte, fand ich dort Ted Malone

vor, der in Erwartung des Resultats meiner Unterredung breit
grinste.

»Oha!« rief er aus. »Du lebst noch? Er hat dich weder

angefallen noch sonst irgendwie bedroht? Du mußt ihn ja
ziemlich taktvoll behandelt haben. Nun, was hältst du von dem
alten Knaben?«

»Er ist der widerlichste, unverschämteste, intoleranteste,

eingebildetste Mensch, der mir je begegnet ist, aber…«

»Siehst du?« rief Malone aus. »Wir alle haben schließlich mit

diesem ›Aber‹ geendet. Natürlich ist er alles, was du sagst. Er

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ist sogar noch eine Menge mehr, aber trotzdem fühlt man, daß
man einen Mann wie ihn nicht anhand der üblichen Standards
messen darf. Was man von einem Sterblichen nicht ertragen
würde, bei ihm nimmt man es hin, stimmt’s?«

»Nun, ich kenne ihn noch nicht gut genug, um das bestätigen

zu können, aber wenn er kein unhöflicher Größenwahnsinniger
ist und seine Worte wahr sind, muß man schon zugeben, daß er
eine Klasse für sich ist. Die Frage ist nur: Sind seine Worte
wahr?«

»Natürlich sind sie das. Challenger ist immer für eine

Überraschung gut. Aber welche Stellung nimmst du in dieser
Angelegenheit nun ein? Hat er dir von Hengist Down erzählt?«

»Ja, in gewisser Weise schon.«
»Nun, du kannst nur glauben, daß die ganze Sache etwas

Kolossales hat. Sie ist sowohl kolossal in der Konzeption wie
auch in der Durchführung. Obwohl er Presseleute haßt,
genieße ich sein Vertrauen, weil er genau weiß, daß ich nicht
mehr veröffentliche, als er mir gestattet. Deswegen bin ich
auch in seine Pläne eingeweiht – das heißt, zumindest in
einige. Aber Challenger ist ein dermaßen schlauer Fuchs, daß
man sich nie sicher sein kann, ob man ihnen auch vollends auf
den Grund gekommen ist. Ich weiß jedenfalls genug, um dir
versichern zu können, daß Hengist Down eine runde Sache
darstellt und die Arbeiten dort fast zum Abschluß gekommen
sind. Ich rate dir, einfach auf das zu warten, was auf dich
zukommt. Du wirst bald von mir oder von ihm Näheres dazu
hören.«

Als es schließlich soweit war, war es Malone, der mich

informierte. Ein paar Wochen später kam er in aller
Herrgottsfrühe in mein Büro und übergab mir eine schriftliche
Nachricht.

»Ich komme gerade von Challenger«, sagte er.
»Du kommst mir vor wie der Pilotfisch eines Haies.«

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»Nun, es erfüllt mich mit Stolz, daß ich ihm etwas bedeute.

Es ist wirklich ein Wunder. Er hat es geschafft. Jetzt bist du an
der Reihe; dann wird er bereit sein, den Vorhang beiseite zu
ziehen.«

»Obwohl ich es einsehe, fällt es mir noch immer schwer, die

ganze Sache zu glauben. Auf alle Fälle habe ich aber meine
Ausrüstung auf den Laster geladen und kann jeden Moment
aufbrechen.«

»Dann mach dich sofort auf den Weg. Ich habe dich ihm als

energiegeladenen und äußerst pünktlichen Menschen
geschildert, laß mich also nicht hängen. Wir können ja mit der
Eisenbahn fahren, dann kann ich dich über deine Arbeit besser
in Szene setzen.«

Es war ein herrlicher Frühlingsmorgen – der 22. Mai, um

genau zu sein –, als wir zu jener schicksalsträchtigen Reise, die
mich zu einem Schauplatz brachte, dessen Bestimmung es war,
in die Geschichte einzugehen, aufbrachen. Unterwegs händigte
mir Malone die schriftliche Notiz Challengers aus, die meine
Instruktionen enthielt.

Sir,
(hieß es da) nachdem Sie Hengist Down erreicht haben,
werden Sie sich bei Mr. Barforth, dem Chefingenieur, melden,
der über meine Pläne informiert ist Mein junger Freund
Malone, der Ihnen diese Nachricht überbracht hat, steht
ebenfalls mit mir in Verbindung und wird mich vor jeder
persönlichen Kontaktaufnahme abschirmen. Wir sind
unterhalb der 14000-Fuß-Grenze auf ein Phänomen gestoßen,
das meine Ansichten über die Natur des planetaren Körpers
voll bestätigt, aber es bedarf noch einiger sorgfältiger
Untersuchungen, bevor ich darauf hoffen darf, die träge
Intelligenz der modernen wissenschaftlichen Welt zu
beeindrucken. Es obliegt Ihnen, die Untersuchungen
vorzunehmen und die Wissenschaft zum Zeugen unseres

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Unternehmens werden zu lassen. Wenn Sie mit dem Aufzug in
die Grube einfahren, werden Sie beobachten – vorausgesetzt,
die seltene Gabe der Beobachtung ist Ihnen zu eigen – daß Sie
während des Abstiegs an allerlei Kalkschichten, Kohlenflözen,
einigen devonischen und kambrischen Überbleibseln und
Granitablagerungen vorbeikommen, die sich über den größten
Teil des Schachtes erstrecken. Was den Boden der Grube
angeht, so ist er mit einer Persenning bedeckt, die ich Ihnen
nicht zu betreten rate, da jede sorglose Behandlung des
darunter befindlichen Erdoberhäutchens möglicherweise eine
vorschnelle Reaktion hervorrufen würde. Man hat nach meinen
Anweisungen zwanzig Fuß über dem Grubenboden zwei
Balken angebracht, die durch einen Zwischenraum
voneinander getrennt sind. Dieser Zwischenraum soll dazu
dienen, Ihren artesischen Bohrer wie eine Klammer
festzuhalten. Fünfzig Fuß Bohrlänge dürften ausreichen; Sie
sollten den Bohrer so ausrichten, daß er von den Balken aus
zwanzig Fuß tief auf die Persenning zielt. Wenn Ihnen das
heben lieb ist, achten Sie darauf, daß er nicht tiefer geht. Wenn
dreißig Fuß der Bohrnadel in den Schacht hinaufragen und Sie
den Bohrer aktivieren, können wir davon ausgehen, daß er
sich nicht weniger als vierzig Fuß tief in die Erdsubstanz
hineinbohrt. Da diese Substanz gehr weich ist, nehme ich an,
daß Sie nicht einmal Antriebsenergie benötigen werden,
sondern ein einfaches Ausklinken der Nadel dazu führt, daß sie
sich – angetrieben von ihrem Eigengewicht – in jene Stelle
bohrt, die wir ausgegraben haben. Diese Anweisungen dürften
an sich für jede normalbegabte Intelligenz ausreichend sein,
weswegen ich kaum daran zweifle, daß Sie noch mehr
benötigen. Andernfalls lassen Sie mich dies bitte durch
unseren jungen Freund Mahne wissen.

GEORGE EDWARD CHALLENGER

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Man kann sich sicher vorstellen, daß ich mich in einem
Zustand äußerster nervlicher Anspannung befand, als wir den
am nördlichen Fuß der Südhänge gelegenen Bahnhof
Storrington erreichten. Eine von Wind und Wetter
mitgenommene Vauxhall 30 Landaulette erwartete uns und
brachte uns sechs oder sieben Meilen weit über Landstraßen
und Trampelwege, die trotz ihrer Abgeschiedenheit tief
ausgefahren waren und alle Anzeichen schwerer Benutzung
aufwiesen, unserem Ziel entgegen. Ein zerbrochenes
Lastfahrzeug, das am Wegesrand lag, deutete an, daß es
anderen nicht unbedingt besser ergangen war als uns. Einmal
entdeckte ich Teile einer Maschine, die mich an die Ventile
und Kolben einer hydraulischen Pumpe erinnerten. Sie waren
rostig und ragten aus einem Gewirr von Stechginster hervor.

»Das war Challengers Werk«, sagte Malone grinsend. »Er

sagte, die Konstruktion wiche um ein Zehntel von seinen
Zeichnungen ab. Deswegen hat er sie in den Straßengraben
geworfen.«

»Und den Hersteller verklagt, nehme ich an.«
»Verklagt? Mein lieber Freund, wir könnten über einen

eigenen Gerichtshof verfügen. Wir führen so viele Prozesse,
daß wir einen Richter für ein ganzes Jahr mit Arbeit versorgen
könnten – einschließlich die Regierung. Der alte Teufel schert
sich um niemanden. Rex gegen George Challenger, George
Challenger gegen Rex. Die beiden führen von einem
Gerichtshof zum anderen einen hübschen Teufelstanz auf. Ah,
jetzt sind wir da. Lassen Sie uns herein, Jenkins!«

Ein breitschultriger Mann mit einem ansehnlichen

Blumenkohlohr sah in den Wagen hinein. Sein ganzes Gesicht
drückte Mißtrauen aus. Als er meinen Begleiter erkannte,
entspannte er sich und salutierte.

»In Ordnung, Mr. Malone. Ich dachte schon, es seien wieder

diese Reporter von der Associated Press.«

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»Oh, treiben die sich tatsächlich schon wieder hier herum?«
»Heute die und gestern die von der Times. Oh, sie schwirren

unablässig hier herum. Sehen Sie mal.« Er deutete auf einen
entfernten Punkt am Horizont. »Sehen Sie das Funkeln? Das
ist das Fernrohr der Chicago Daily News. Ja, sie sind ganz
hübsch hinter uns her. Ich habe sie in Massen gesehen; sie sind
wie ein Krähenschwarm an der Umzäunung
entlanggeschlichen.«

»Die arme Pressemeute!« sagte Malone, als wir das Tor

durchquerten und den Stacheldrahtzaun hinter uns ließen. »Ich
kann sie ja so gut verstehen, schließlich gehöre ich ja selbst
dazu.«

In diesem Augenblick ertönte hinter uns ein klägliches

Blöken.

»Malone! Ted Malone!« Der Schrei wurde von einem fetten

kleinen Mann ausgestoßen, der gerade mit einem Motorrad
angekommen war und nun im Griff des herkulischen
Torwächters zappelte.

»Lassen Sie mich los!« stieß er hervor. »Nehmen Sie die

Hände weg! Malone, rufen Sie Ihren Gorilla zurück!«

»Lassen Sie ihn los, Jenkins, er ist ein Freund von mir«, rief

Malone. »Nun, alter Junge, was hast du auf dem Herzen?
Hinter was bist du in dieser Gegend her? Normalerweise ist
doch die Fleet Street dein Jagdrevier – und nicht die Wildnis
von Sussex.«

»Du weißt ganz genau, wohinter ich her bin«, sagte unser

Besucher. »Ich habe Anweisung, eine Story über Hengist
Down zu schreiben. Ohne den Text kann ich mich zu Hause
nicht mehr sehen lassen.«

»Tut mir leid, Roy, aber hier wirst du zu keiner Story

kommen. Du wirst auf der anderen Seite des Stacheldrahts
bleiben müssen. Wenn du mehr willst, mußt du dich schon zu

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Professor Challenger bemühen und ihn um seinen Segen
bitten.«

»Da bin ich ja schon gewesen«, sagte der Journalist grimmig.

»Und zwar heute morgen.«

»Na, und was hat er gesagt?«
»Er sagte, er würde mich aus dem Fenster werfen.«
Malone lachte.
»Und was hast du darauf erwidert?«
»Ich fragte ihn, ob mit seiner Tür etwas nicht in Ordnung sei

und benutzte sie zum Hinausgehen, um ihm zu zeigen, daß sie
wirklich völlig in Ordnung ist. Es war einfach nicht die
richtige Zeit für eine Auseinandersetzung. Ich bin einfach
abgehauen. Wenn ich so an diesen bärtigen assyrischen Bullen
in London und diesen Meuchler hier, der meinen Film ruiniert
hat, denke, muß ich schon sagen, daß du dich in ziemlich
seltsamer Gesellschaft aufhältst, Malone.«

»Ich kann dir nicht helfen, Roy, so gern ich es auch täte. In

der Fleet Street sagt man, du seist noch niemals zum Aufgeben
zu bewegen gewesen, aber diesmal wirst du den Kürzeren
ziehen. Geh in dein Büro zurück. Wenn du ein paar Tage
wartest, gebe ich dir, sobald der Alte es erlaubt, eine
Nachricht.«

»Keine Chance, so reinzukommen?«
»Keine jedenfalls von dieser Welt.«
»Geld ist keine Frage?«
»Du solltest mich besser kennen.«
»Man sagt, man arbeitet hier an einer Abkürzung nach

Neuseeland.«

»Es wird sich als Abkürzung ins Krankenhaus erweisen,

wenn du hier eindringst, Roy. Aber jetzt auf Wiedersehen. Wir
haben noch einiges zu erledigen.«

Als wir das Lager durchschritten, sagte Malone: »Das war

Roy Perkins, der Kriegsberichterstatter. Wir haben seinen

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Rekord gebrochen, denn bisher hat man ihn für unschlagbar
gehalten. Es liegt an seinem kleinen, fetten, unschuldigen
Gesicht, daß er überall hereinkommt. Wir waren mal in der
gleichen Redaktion.« Er deutete auf eine Ansammlung recht
ansehnlicher, rotbedachter Bungalows. »Das hier sind die
Unterkünfte der Arbeiter. Es handelt sich um ausgewählte
Prachtexemplare, die weit über dem Durchschnitt bezahlt
werden, und sie sind ausnahmslos Junggesellen und
Abstinenzler. Challenger hat sie auf sich eingeschworen, und
ich glaube nicht, daß es bisher eine undichte Stelle gegeben
hat. Dieses Feld da ist ihr Fußballplatz, und in dem
freistehenden Gebäude dort befindet sich ihre Bibliothek nebst
einem Entspannungsraum. Der Alte ist ein guter Organisator,
das kann ich dir versichern. Und dies ist Mr. Barforth, der
leitende Chefingenieur.«

Ein langer, dünner melancholisch blickender Mann, in dessen

Gesicht sich tiefe, von Besorgnis zeugende Linien eingegraben
hatten, kam auf uns zu.

»Ich nehme an, Sie sind der Bohrspezialist«, sagte er mit

dunkler Stimme. »Ich habe den Auftrag, Sie in Empfang zu
nehmen. Ich freue mich sehr, daß Sie gekommen sind, denn
ich muß Ihnen offen gestehen, daß die Verpflichtungen, die ich
übernommen habe, allmählich an meinen Nerven zerren. Wir
arbeiten rund um die Uhr, aber ich weiß nie, ob das nächste,
worauf wir stoßen, Grundwasser, ein Kohleflöz, eine
Erdölquelle oder das Höllenfeuer ist. Das Letztere ist uns zwar
bisher erspart geblieben, aber nach allem, was ich weiß, sind
Sie sicher der richtige Mann, um die entsprechende
Verbindung dazu herzustellen.«

»Ist es so heiß dort unten?«
»Nun, das kann man wohl sagen. Jedenfalls wird es niemand

abstreiten. Zum Glück ist es nicht heißer, als der barometrische
Druck und der enge Raum es zuläßt. Die Ventilation ist

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natürlich abscheulich. Wir pumpen zwar Luft nach unten, aber
die Männer können nie länger als zwei Stunden arbeiten. Und
das, obwohl sie ihr Bestes geben. Der Professor ist gestern
unten gewesen und war mit allem sehr zufrieden. Vielleicht ist
es am besten, Sie essen mit uns erst einmal zu Mittag.
Anschließend können Sie sich alles selbst ansehen.«

Nach einem eilig eingenommenen schlichten Mahl erklärte

man uns mit liebenswürdiger Gefälligkeit die Funktionsweise
des Maschinenhauses und machte uns mit den verschiedenen,
aus ausrangierten Gerätschaften bestehenden Schrotthaufen
bekannt, die einen Teil des Graslandes bedeckten. Ich sah eine
große, demontierte Arrol-Hydraulikschaufel, die für die ersten
Grabungen zu Hilfe genommen worden war. Daneben stand
eine Maschine, die ein fortlaufendes Stahlseil antrieb, an der
wiederum Loren befestigt waren, die – auf Plattformen stehend
– den Erdaushub vom Boden der Grube hinaufbeförderten. In
der Kraftstation stießen wir auf einige Escher-Wyss-Turbinen,
die pro Minute einhundertvierzig Umdrehungen machten und
hydraulische Akkumulatoren steuerten, die pro Quadratzoll
einen Druck von eintausendvierhundert Pfund entwickelten,
der durch Drei-Zoll-Röhren in den Schacht geleitet wurde, und
vier Gesteinsbohrer mit Hohlschneidern vom Typ Brandt
betrieben. Neben dem Maschinenhaus befand sich ein kleines
Elektrizitätswerk, das den Strom für das ausgedehnte Lichtnetz
erzeugte, und direkt daneben stand eine 200 PS starke
Extraturbine, die einen Zehn-Fuß-Ventilator antrieb, der
wiederum Luft durch eine Zwölf-Zoll-Röhre auf den Grund
des Schachtes hinab pumpte. Alle diese Wunder wurden uns –
versehen mit vielen technischen Erläuterungen – von einem
stolzen Techniker nahegebracht, der sich die gleiche Mühe
gab, mich vor Langeweile einschlafen zu lassen, wie ich
meinen Lesern. Es kam allerdings zu einer hochwillkommenen
Unterbrechung, als ich das Quietschen von Reifen hörte und

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erfreut meinen Leyland-Dreitonner über die Wiese hüpfen sah.
Er war vollgeladen mit Werkzeugen, den Teilen eines
Rohrsystems, meinem Vorarbeiter Peters und einem grimmig
wirkenden Helfer, den ich auf dem Beifahrersitz gewahrte. Die
beiden fingen sofort an, meine Sachen abzuladen und
wegzutragen. Sie ihrer Arbeit überlassend, begaben Barforth,
Malone und ich uns an den Schacht.

Es war ein wundersamer Ort und sehr viel größer, als ich

eigentlich erwartet hatte. Man hatte die vielen tausend Tonnen
Erdaushub hufeisenförmig um die Schachtanlage verteilt und
so einen großen Hügel geschaffen. Im Mittelpunkt dieses aus
Kalk, Lehm, Kohle und Granit bestehenden Hufeisens erhoben
sich die Gestänge eiserner Säulen und die Räder, die die
Pumpen und Aufzüge in Betrieb hielten. Sie waren mit dem
Ziegelbau der Kraftstation, der die Lücke der U-förmigen
Anlage füllte, verbunden. Dahinter lag der offene Abgrund der
Grube, eine klaffende Höhle, die dreißig bis vierzig Fuß
durchmaß und an den Rändern mit Zement eingefaßt war. Als
ich meinen Hals reckte und über den Rand in den
furchterregenden Abgrund starrte, von dem ich wußte, daß er
acht Meilen tief war, begann mir beim Gedanken an das, was
er darstellte, zu schwindeln. Da das Sonnenlicht schräg in das
Loch fiel, konnte ich noch mehrere hundert Yards unter mir
schmutzigweiße Kalkwände erblicken, die die Männer dort,
wo sie ihnen zu brüchig erschienen waren, mit Ziegelsteinen
verstärkt hatten. Als ich in die Tiefe starrte, konnte ich weit
unter mir in der Finsternis einen kleinen Lichtpunkt sehen, der
sich – so winzig er auch war – klar und deutlich von dem
tintenschwarzen Hintergrund abhob.

»Was ist das für ein Licht?« fragte ich.
Malone beugte sich neben mir über das Geländer. »Ein

Aufzugkäfig, der heraufkommt«, sagte er. »Ist das nicht
wundervoll? Er ist weiter als eine Meile von uns entfernt, und

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das Licht stammt von einer starken Bogenlampe. Er bewegt
sich schnell und wird in ein paar Minuten hier sein.«

Ohne Zweifel wurde der Lichtpunkt größer und größer.

Schließlich erleuchtete er den Schacht mit seiner silbernen
Helligkeit dermaßen stark, daß ich den Blick abwenden mußte.
Kurz darauf krachte der eiserne Käfig gegen die Halterung.
Vier Männer stiegen aus und begaben sich zum Ausgang.

»Das war’s«, sagte Malone. »Es ist wirklich kein Vergnügen,

in dieser Tiefe eine zweistündige Schicht durchzustehen. Nun,
ein Teil deiner Ausrüstung dürfte jetzt soweit sein. Ich glaube,
es wäre das beste, wenn wir uns vorher ein wenig dort unten
umsähen. Dann kannst du die Situation gleich richtig
einschätzen.«

Das Maschinenhaus, zu dem er mich führte, besaß einen

Anbau. Dort hingen an einer Wand mehrere leichte
Grubenanzüge. Malones Beispiel folgend, entledigte ich mich
meiner Kleidung und zog einen dieser Anzüge sowie ein paar
gummibesohlter Schuhe an. Malone, der eher fertig war als
ich, verließ den Umkleideraum. Kurz darauf drang ein Lärm an
mein Ohr, wie ihn zehn kämpfende Hunde nicht schlimmer
erzeugen können. Als ich hinauseilte, sah ich meinen Freund
über den Boden rollend mit einem Arbeiter ringen, der gerade
damit beschäftigt war, meinen artesischen Bohrer abzuladen.
Er war verzweifelt bemüht, dem anderen etwas zu entreißen,
an das dieser sich mit aller Macht klammerte. Aber Malone
war zu stark für seinen Gegner, er entriß den bewußten
Gegenstand dessen Griff und trampelte darauf herum, bis er in
Stücke brach. Erst dann erkannte ich, daß es ein Fotoapparat
gewesen war. Mein grimmiggesichtiger Handwerker machte
ein jammervolles Gesicht und stand auf.

»Verdammt noch mal, Ted Malone!« sagt er. »Das war ein

nagelneuer Apparat, der mich zehn Guineen gekostet hat!«

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»Tut mir leid, Roy. Als ich sah, daß du eine Aufnahme

machtest, konnte ich nicht mehr anders.«

»Wie zum Henker, ist es Ihnen gelungen, sich unter meine

Ausrüstung zu schmuggeln?« fragte ich mit berechtigter
Empörung.

Der Schurke grinste mich augenzwinkernd an. »Es gibt

immer Mittel und Wege«, erklärte er. »Aber nehmen Sie die
Sache Ihrem Vorarbeiter nicht allzu übel. Er hat die ganze
Angelegenheit für einen Jux gehalten. Ich habe mit seinem
Beifahrer die Kleider getauscht, und so bin ich eben
hereingekommen.«

»Und genau so wirst du auch wieder gehen«, sagte Malone.

»Es ist sinnlos, Roy, keine Diskussion. Wäre Challenger hier,
er würde dich den Hunden vorwerfen. Da ich selbst der Presse
angehöre, will ich noch einmal Gnade vor Recht ergehen
lassen. Aber ich bin hier nun einmal als Wachhund angestellt,
und ich kann nicht nur bellen, sondern auch beißen. Und nun
sieh zu, daß du fortkommst!«

Und so wurde unser gewitzter Besucher von zwei grinsenden

Arbeitern aus dem Lager geleitet. Vielleicht wird das
Publikum nun verstehen, wie es zu jenem vierspaltigen Artikel
mit der Überschrift TRAUM EINES VERRÜCKTEN
WISSENSCHAFTLERS kam, der mit dem Untertitel EINE
ABKÜRZUNG NACH AUSTRALIEN versehen war, ein paar
Tage später im Adviser erschien, Professor Challenger einem
Schlaganfall nahebrachte und den Chefredakteur dieser
Zeitung mit dem unverständlichsten und gefährlichsten Anruf
seines Lebens konfrontierte. Der Artikel schilderte in
malerischer Form und ziemlich übertriebener Weise die
Abenteuer »unseres erfahrenen Kriegsberichterstatters« Roy
Perkins und enthielt einige farbenfrohe Beschreibungen wie
»dieser struppige Kerl aus Enmore Gardens«, sprach von
einem »stacheldrahtumzäunten Grundstück, das von

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Schlägertrupps und Bluthunden bewacht wird« und besagte
»Ich wurde von zwei Raufbolden vom Rande des anglo-
australischen Tunnels weggezerrt, wobei der brutalere der
beiden mir vom Sehen her als Fisch in allen Wässern und
Randfigur des Journalismus bekannt ist, während der andere,
eine bedrohlich wirkende Erscheinung in seltsamer, tropischer
Tracht, sich als Bohringenieur ausgab, obwohl er aufgrund
seiner Physiognomie viel eher nach Whitechapel paßt.«
Nachdem er uns diesermaßen auf die Palme gebracht hatte,
hatte der Halunke seinen Lesern noch eine sorgfältige
Beschreibung jener nichtvorhandenen Eisenbahnschienen
mitgeliefert, die angeblich direkt in die Grube hineinführen
sollten. Der einzig praktische Effekt, den der Artikel erzeugte,
war, daß die Scharen der Herumtreiber, die auf den südlichen
Hügeln saßen und darauf warteten, daß etwas passierte, noch
größer wurden. Und dann kam es schließlich zu jenem Tag, an
dem etwas geschah, und sie sich alle sonstwohin wünschten.

Mein Vorarbeiter und sein falscher Helfer hatten den ganzen

Platz mit meinen Apparaturen bedeckt, aber obwohl der
Bohrer, das Gestänge, der Hahnenfuß und das Druckgewicht
überall verstreut lagen, bestand Malone darauf, es erst einmal
liegen zu lassen und uns auf den Grund des Schachtes
hinabzubegeben. Um dieses Ziel zu erreichen, betraten wir den
mit Eisengitterwänden versehenen Aufzugkäfig und jagten in
der Gesellschaft des Chefingenieurs in die Erde hinein. Der
Schacht war mit mehreren Aufzügen ausgestattet, von denen
jeder über eine eigene Antriebsstation verfügte. Obwohl jeder
der einzelnen Lifts mit großer Schnelligkeit fuhr, machte ich
die Erfahrung, daß die Reise eher einer vertikal vonstatten
gehenden Eisenbahnfahrt glich als dem behutsamen Sinken,
das man von englischen Aufzügen her kennt.

Da der Käfig vergittert und hell erleuchtet war, hatten wir, als

wir die einzelnen Erdschichten passierten, eine klare Sicht, und

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ich konnte alles genau erkennen. Da waren fahlblasse Kalk-,
kaffeebraune Hastings- und hellere Ashburnham-Schichten,
kohlehaltige Lehmablagerungen und schließlich, sichtbar im
Schein der elektrischen Lampen, unzählige Flöze
nachtschwarzer, dunkelnder Kohle, die sich hier und da mit
Lehmschichten abwechselten. An einigen Punkten hatte man
Ziegel in die Schachtwand gesetzt, aber im großen und ganzen
trugen die Wände sich selbst, und man konnte sich vor dem
technischen Genius, der dieses Wunderwerk vollbracht hatte,
nur anerkennend verbeugen. Unter den Kohleflözen sah ich
vermischte Schichten, die wie Zement wirkten, und als wir uns
durch das Gebiet des reinen Granits bewegten, leuchteten
überall funkelnde Quarzkristalle, als seien die Wände von
Diamantenstaub durchzogen. Weiter und weiter fuhren wir in
die Tiefe hinab – tiefer als je ein Sterblicher zuvor. Die
archaischen Felsen variierten wunderbar in ihren Farben, und
ich werde niemals den Glanz des breiten Gürtels aus rotem
Ton vergessen, der im Schein unserer Lampen in überirdischer
Schönheit erstrahlte. Wir betraten Sohle nach Sohle und Lift
nach Lift, und die Luft wurde immer drückender, bis uns selbst
die leichte Kleidung unerträglich wurde. Endlich, als ich schon
dachte, ich würde es nicht mehr aushalten können, hielt der
letzte Lift an, und wir betraten eine kreisförmige, in den Fels
hineingemeißelte Plattform. Als wir ausstiegen, bemerkte ich,
daß Malone die Schachtwände mit einem mißtrauischen Blick
bedachte. Wenn ich nicht gewußt hätte, daß er zu den
Tapfersten gehört – in diesem Moment hätte ich glauben
müssen, er sei ausgesprochen ängstlich.

»Sieht komisch aus«, sagte der Chefingenieur und legte seine

Hand auf die nächste Felsmassierung. Er hielt sie ans Licht
und zeigte uns, daß sie mit einem seltsamen schleimigen Sud
bedeckt war. »Es hat leichte Beben und etwas Bewegung hier
unten gegeben, aber fragen Sie mich nicht, woran das liegt.

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Der Professor scheint ziemlich zufrieden zu sein, aber was
mich, angeht, so habe ich so etwas noch nie gesehen.«

»Es ist wohl meine Pflicht, dich darauf hinzuweisen, daß die

Schachtwand sich bewegt hat, als ich das letzte Mal hier unten
war«, sagte Malone. »Das war, als wir die beiden Balken
anbrachten, die deinem Bohrer als Halterung dienen sollen. Als
wir Löcher in den Fels bohrten, um sie zu befestigen, zuckte
die Wand wie unter einem elektrischen Schlag zusammen.
Möglicherweise hört sich die Theorie des Alten in London
absurd an, aber hier, acht Meilen unter der Oberfläche, können
einem wirklich Zweifel kommen.«

»Wenn Sie das gesehen hätten, was sich unter der Persenning

dort befindet, würden Sie noch weniger zweifeln«, sagte der
Ingenieur. »Die Felswände sind hier unten so weich wie Käse,
und als wir sie durchstießen, fanden wir eine Substanz, die auf
der Erde ihresgleichen sucht. ›Deckt es zu! Nicht berühren!‹
sagte der Professor. Deswegen auch die Plane. Wir folgten
seinen Anweisungen und ließen sie hier liegen.«

»Könnte ich es mir einmal ansehen?«
Die tieftraurige Miene des Ingenieurs zeigte nun einen

beinahe furchtsamen Ausdruck.

»Man sollte dem Professor gegenüber besser keinen

Ungehorsam zeigen«, sagte er. »Er ist so verdammt gerissen,
daß man niemals wissen kann, ob er einen nicht einer Prüfung
aussetzt. Aber ich glaube doch, daß wir kurz einen Blick
darauf werfen können.«

Er drehte unsere Hohlspiegellampe so weit herunter, daß das

Licht auf die schwarze Persenning traf. Dann bückte er sich,
griff nach einem Seil, das mit einer Ecke der Plane verbunden
war und legte ein halbes Dutzend Quadratyards der darunter
liegenden Fläche frei.

Es war ein höchst ungewöhnlicher und erschreckender

Anblick, der sich uns bot. Der Gruftboden bestand aus einem

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gräulichen Material, das wie glasiert glänzte und sich langsam
pochend senkte und hob. Es war nicht direkt ein Herzschlag,
aber die Bewegungen, derer ich ansichtig wurde, erzeugten in
mir den Eindruck eines gleichmäßigen Wogens, und der
Rhythmus schien über die ganze Fläche zu verlaufen. Sie war
nicht homogen, denn darunter konnte man wie durch
Milchglas gesehen – vage, weißliche Flecken oder Hohlräume
erkennen, deren Umfang und Größe sich fortwährend
veränderte. Wie gelähmt standen wir da und starrten auf diesen
außergewöhnlichen Anblick.

»Es sieht aus wie ein mit Haut bedecktes Tier«, sagte Malone

mit gedämpfter Stimme. »So unrecht scheint der Alte mit
seinem verdammten Echinus ja nicht gehabt zu haben.«

»Guter Gott!« rief ich aus. »Und ich soll dieser Bestie eine

Harpune in den Leib jagen!«

»Das ist dein Privileg, mein Sohn«, erwiderte Malone.

»Und… Es ist traurig, aber wahr: Wenn ich mich nicht
anderweitig unentbehrlich machen kann, werde ich, wenn es
soweit ist, an deiner Seite stehen müssen.«

»Na, ich aber nicht«, sagte der Ingenieur entschieden. »Mir

ist nie im Leben etwas klarer bewußt gewesen als das. Wenn
der Alte darauf bestehen sollte, werde ich meinen Hut nehmen.
Gütiger Gott, sehen Sie sich das an!«

Die graue Fläche bewegte sich plötzlich sprungartig nach

oben und wogte auf uns zu wie eine Welle, die man von der
Mole aus beobachtet. Dann versank sie wieder, und das
dumpfe Pochen und Pulsieren erklang wieder wie zuvor.
Barforth ließ das Seil fallen, und die Persenning bedeckte
wieder den Boden.

»Sieht fast so aus, als wüßte es, daß wir hier sind«, sagte er.

»Aber warum sollte es sich uns in dieser Manier nähern? Ich
nehme an, daß das Licht irgendeinen Effekt darauf gehabt
hat.«

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»Was soll ich denn tun?« fragte ich.
Mr. Barforth deutete auf die beiden Balken, die unterhalb der

Liftstation über dem Grubenboden hingen. Der Abstand
zwischen ihnen betrug neun Zoll.

»Das war die Idee des Alten«, sagte er. »Ich glaube, ich hätte

sie besser befestigen können, aber ebenso gut kann man
versuchen, mit einem verrückten Büffel zu diskutieren. Es ist
leichter und sicherer, das zu tun, was er einem aufträgt. Er
meint, Sie sollten einen Sechs-Zoll-Bohrer nehmen und ihn
irgendwie zwischen den beiden Stützen befestigen.«

»Ich glaube nicht, daß das sehr schwierig ist«, antwortete ich.

»Von heute an stehe ich Ihnen für die Arbeit zur Verfügung.«

Wie man sich vorstellen kann, war dieser Auftrag die

seltsamste Erfahrung in meinem sicher nicht eintönig
verlaufenen Leben, einschließlich der Brunnenbohrungen auf
jedem Kontinent der Erde. Da Professor Challenger jedoch
vehement darauf bestand, daß das Unternehmen aus einer
gewissen Entfernung vorgenommen wurde und ich keine
Unvernunft hinter dieser Absicht erkennen konnte, mußte ich
mir hinsichtlich der elektrischen Anlagen etwas einfallen
lassen. Aber auch das war kein großes Problem, zumal der
Schacht vom Boden bis zum Einstieg bereits verkabelt war.
Mit unendlicher Sorgfalt brachten mein Vorarbeiter Peters und
ich das Gestänge nach unten und stapelten es auf den Felssims.

Dann zogen wir uns, um ein wenig Platz zu schaffen, auf die

unterste Aufzugsstation zurück. Da wir beabsichtigten, nach
dem Tastensystem vorzugehen, da wir dabei von der
Schwerkraft unabhängiger wurden, hängten wir unser Hundert-
Pfund-Gewicht an einen unterhalb des Lifts angebrachten
Flaschenzug, und darunter bauten wir das mit einem V-
förmigen Abschluß versehene Gestänge auf. Das Seil, das das
Gewicht hielt, wurde schließlich dermaßen an der
Schachtwand befestigt, daß eine elektrische Entladung es lösen

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würde. Es war eine schwierige Arbeit in mehr als tropischer
Hitze, und dazu kam noch das allgegenwärtige Gefühl, daß ein
kleiner Ausrutscher mit dem Fuß oder das Fallenlassen eines
Werkzeugs auf die Persenning unter uns irgendeine
unvorstellbare Katastrophe hervorrufen konnte. Zudem jagte
uns auch die Umgebung Entsetzen ein, denn hin und wieder
sah ich, wie die Wände des Schachtes von einem seltsamen
Zittern und Zucken geschüttelt wurden oder fühlte ein leises
Pulsieren, wenn ich sie mit den Händen berührte. Weder Peters
noch ich vermochten unsere Erleichterung zu verhehlen, als
wir den letzten Handschlag getan hatten und das Signal gaben,
daß wir bereit seien, zum letzten Mal an die Oberfläche
zurückzukehren, um Mr. Barforth zu berichten, daß Professor
Challenger sein Experiment starten könne, wann immer er
wolle.

Wir brauchten nicht lange darauf zu warten. Nur drei Tage

nach unserem letzten Arbeitstag traf ein Brief von ihm ein.

Es handelte sich um eine gewöhnliche Einladungskarte jener

Art, die man verschickt, wenn man Gäste zu einer Gesellschaft
zu sich nach Hause einlädt. Sie trug folgenden Text:

PROFESSOR GEORGE EDWARD CHALLENGER F.R.S.
M.D. D.Sc. etc. (Ehemaliger Präsident des Zoologischen
Instituts und Inhaber derart vieler Titel und Ehrungen, daß
ihre Aufzählung den Rahmen dieser Karte sprengen würde)
ersucht um die Anwesenheit von
Mr. JONES (ohne Damenbegleitung)
in Hengist Down, Sussex, um 11.30 Uhr, am Dienstag,
dem 21. Juni,
um Zeuge eines bemerkenswerten Triumphs des Geistes
über die Materie zu werden.
Sonderzug vom Bahnhof Victoria ab 10.05 Uhr. Die
Passagiere haben ihr Fahrgeld selbst zu entrichten. Ein Imbiß

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wird im Anschluß an das Experiment gereicht – oder auch
nicht (was auf die Umstände ankommt). Haltestation:
Storrington.
U. A. w. g. (und zwar sofort und in Druckschrift) an
14 (b) Enmore Gardens, S. W


Ich erfuhr, daß Malone eine ähnliche Botschaft erhalten hatte
und sich köstlich darüber amüsierte.

»Es ist natürlich nur ein Jux, daß er uns so etwas zusendet«,

meinte er. »Was sagte doch gleich der Henker zum Mörder:
›Egal was auch passiert, wir beide werden unter allen
Umständen dabei sein!‹ Aber eines sage ich dir: Dies wird
ganz London in Aufregung versetzen. Der Alte kommt genau
dahin, wo er hinmöchte, denn von nun an werden sich alle
Scheinwerfer auf seinen haarigen, alten Schädel richten.«

Der große Tag war endlich gekommen. Ich persönlich spielte

mit dem Gedanken, noch in der gleichen Nacht aufzubrechen,
um sicherzugehen, daß noch alles in Ordnung war. Der Bohrer
war in Position gesetzt, das Gewicht auf ihn abgestimmt, und
der Strom konnte leicht eingeschaltet werden, und was meinen
Anteil an diesem Unternehmen anging, so konnte ich mit
Zufriedenheit feststellen, daß ich ihn ohne Verzögerung
ausführen konnte. Die elektrischen Schaltungen würden von
einem Punkt aus bedient werden, der fünfhundert Yards von
der Schachtmündung entfernt lag, um jede persönliche
Gefährdung auf ein Minimum zu reduzieren. Als der
schicksalsträchtige Morgen – es war ein idealer englischer
Sommertag – anbrach und ich zuversichtlich über das Gelände
schritt, begab ich mich ein Stück die Hügelkuppe hinauf, um
einen generellen Überblick zu gewinnen.

Die ganze Welt schien nach Hengist Down unterwegs zu

sein. So weit das Auge reichte, waren die Straßen voller
Menschen. Kraftfahrzeuge rumpelten schwankend über die

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Feldwege und setzten ihre Passagiere am Lagereingang ab.
Dort wurden sie von einer kräftigen Pförtnergruppe in
Empfang genommen, die weder auf Versprechungen noch auf
Bestechungsversuche hereinfielen, und nur diejenigen
hineinließen, die eine gedruckte Einladungskarte vorweisen
konnten. Jene, die das Versuchsgelände nicht betreten durften,
zerstreuten sich schließlich und gesellten sich zur großen
Masse der Beobachter, die die umliegenden Hügel
bevölkerten. Die gesamte Umgebung wimmelte dermaßen von
Menschen, daß man den Eindruck gewinnen konnte, hier fände
ein Derby statt. Hinter der Umzäunung hatte man das Gelände
in verschiedene Abschnitte eingeteilt, die dazu dienten, die
Besucher nach ihrem Stand aufzunehmen. So gab es einen
Abschnitt für die Peers, einen für die Abgeordneten des
Unterhauses, einen für die Mitglieder wissenschaftlicher
Vereinigungen, und einen für die prominentesten Vertreter der
modernen Wissenschaft, zu denen unter anderen Le Pellier von
der Sorbonne und Dr. Driesinger von der Akademie Berlin
gehörten. Ein speziell reserviertes Gehege, das mit Sandsäcken
umgeben und mit einem Wellblechdach ausgestattet war, hatte
man für die drei Mitglieder der königlichen Familie
bereitgestellt.

Um Viertel nach elf holte eine Anzahl von Chars-à-bancs die

höchstgestellten Gäste von der Eisenbahnstation ab und
brachte sie zum Lager. Ich verließ die Hügelkuppe und gesellte
mich zu den anderen, um ihnen beim Empfang der Besucher
zu assistieren. Professor Challenger hielt sich auf dem
Abschnitt der Auserwählten auf. Er trug einen Gehrock, eine
weiße Weste, einen polierten Zylinder, und sein
Gesichtsausdruck spiegelte eine Mischung aus Übermut,
Wohlwollen und beinahe übermäßiger Selbstsicherheit wider.
Einer seiner Kritiker hatte ihn als »offensichtliches Opfer eines
Gott-Komplexes« beschrieben. Er unterstützte seine Leute

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dabei, die Gäste an die für sie reservierten Plätze zu führen und
trieb sie hin und wieder auch an. Schließlich, nachdem sich die
Elite der Gesellschaft um ihn versammelt hatte, begab er sich,
um nur auch ja von allen wahrgenommen zu werden, auf einen
günstig gelegenen kleinen Hügel und sah sich mit einem Blick
um, als sei er ein Aufsichtsratsvorsitzender, der darauf wartet,
mit einem Willkommensapplaus empfangen zu werden. Da
dieser jedoch nicht geäußert wurde, leitete er sofort zu seinem
Thema über, wobei seine donnernde Stimme bis in die letzten
Winkel der Absperrung drang.

»Gentlemen!« brüllte er. »Dieses Ereignis läßt die

Anwesenheit von Damen nicht zu! Wenn ich davon abgesehen
habe, Sie zusammen mit Ihren Damen hierherzubitten, so kann
ich Ihnen versichern, daß das nicht etwa an mangelnder
Wertschätzung liegt, denn ich kann von mir behaupten«, – an
dieser Stelle drückte sein Tonfall einen elefantenhaften Humor
und spöttische Bescheidenheit aus – »daß die Beziehungen
zwischen den Damen und mir stets ausgezeichnet und meistens
sogar innig gewesen sind. Der wirkliche Grund, weshalb ich
Sie allein zu mir gebeten habe, liegt darin, daß unser
Experiment ein bißchen gefährlich werden kann – allerdings
nicht so gefährlich, um den Ausdruck des Erschreckens zu
rechtfertigen, den ich auf Ihren Gesichtern wahrnehme. Es
wird die Herren von der Presse möglicherweise interessieren,
daß ich für sie auf den uns umgebenden Hügeln ganz
besondere Plätze habe reservieren lassen, damit sie während
des Versuchs den besten Überblick haben. Obwohl Sie
gelegentlich ein dermaßen starkes Interesse an meiner Arbeit
gezeigt haben, daß es manchmal von Impertinenz nicht mehr
zu unterscheiden war, möchte ich mir nicht nachsagen lassen,
ich wüßte Ihre Anwesenheit nicht zu schätzen. Sollte sich das
Experiment als Fehlschlag erweisen, was ja immerhin möglich
ist, kann ich wenigstens behaupten, mein Bestes für Sie getan

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zu haben. Sollte das Experiment gelingen, werden Sie, wenn
Sie sich ihm gewachsen zeigen sollten, eine unschätzbare
Erfahrung machen, über die Sie dann belichten können.

Wie Sie sicherlich wissen, ist es für einen Mann der

Wissenschaft nicht ganz einfach, seine Handlungen und
Beweggründe zu erläutern, wenn er nicht unter sein Niveau
gehen und zur breiten Masse hinabsteigen will. Ich höre jedoch
einige ungebührliche Zwischenrufe, und möchte den
Gentleman mit der Hornbrille bitten, das Gewinke mit seinem
Regenschirm einzustellen.« (Zwischenruf. »Die Art, in der Sie
Ihre Gäste ansprechen, Sir, ist äußerst beleidigend!«) »Es liegt
möglicherweise an der von mir benutzten Phrase ›breite
Masse‹, daß dieser Herr sich so aufplustert. Nun gut, ich will
hinzufügen, daß meine Zuhörer eine höchst ungewöhnliche
Menschenmasse darstellen. Ich habe keine Lust, mich über
dererlei Phrasen zu streiten. Bevor mich diese freche
Bemerkung unterbrach, war ich gerade im Begriff zu sagen,
daß ich diese Angelegenheit demnächst ausführlich in meiner
nächsten Veröffentlichung diskutieren werde, die ich, in aller
Bescheidenheit, als eines der epochemachendsten Bücher aller
Zeiten bezeichnen darf.« (Lautes Gemurmel und Zwischenrufe
wie: »Kommen Sie endlich zur Sache!« – »Weswegen sind wir
überhaupt hier?« – »Soll das ein Witz sein?«) »Wie gesagt, ich
war also gerade im Begriff, Ihnen die Sache
auseinanderzulegen, aber wenn man mich noch einmal
unterbricht, werde ich mich gezwungen sehen, andere Mittel
zu ergreifen, um die Ruhe und Ordnung herzustellen, an der es
dieser Versammlung offenbar gebracht. Die Lage sieht
folgendermaßen aus: Ich habe einen Schacht durch die
Erdkruste bohren lassen und bin im Begriff, den Versuch zu
wagen, die empfindliche Rinde der Erde mit Nachdruck zu
reizen. Es handelt sich dabei um eine schwierige Operation,
die Mr. Peerless Jones, einer meiner Untergebenen, ausführen

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wird. Mr. Jones ist Experte für artesische Bohrungen. Der
zweite im Bunde ist Mr. Edward Malone, der während dieses
Ereignisses meine Stelle einnimmt. Die von uns freigelegte,
empfindliche Substanz wird also gestochen werden, und die
daraus resultierende Reaktion kann man nur vermuten.

Wenn Sie nun bitte freundlicherweise Ihre Plätze einnehmen

wollen, werden diese beiden Gentlemen in die Grube einfahren
und die letzten Justierungen vornehmen. Wenn ich den auf
diesem Tisch befindlichen Schalter umlege, wird das
Experiment seinen Anfang nehmen.«

Nach dieser geschwollenen Rede Challengers hätte sich jedes

Publikum fühlen müssen, wie die Erde selbst; seiner
schützenden Epidermis beraubt und mit freigelegten
Nervenbahnen. Auch die gegenwärtige Versammlung war in
dieser Hinsicht keine Ausnahme: Kritisch vor sich
hinmurmelnd und Vorbehalte äußernd, kehrten die
Anwesenden auf ihre Plätze zurück. Challenger nahm allein
neben einem kleinen Tisch am Schachteingang Platz. Seine
Mähne und sein Bart, die beide vor Erregung gesträubt waren,
verliehen ihm das Aussehen eines finsteren Fabelwesens.
Leider hatten Malone und ich keine Gelegenheit, diese Szene
noch ein wenig länger zu genießen, denn wir eilten auf der
Stelle los, um unseren Auftrag zu erfüllen. Zwanzig Minuten
später hielten wir uns auf dem Grubenboden auf und zogen die
Persenning beiseite.

Das, was da vor uns lag, bot einen erstaunlichen Anblick.

Aufgrund irgendeines unerklärlichen telepathischen Sinnes
schien der alte Planet zu ahnen, daß ihm ein Anschlag auf
seine bisher durch nichts gestörte Ruhe drohte. Die Oberfläche
seiner Haut ähnelte kochendem Wasser. Große, graue Blasen
bildeten sich und platzten mit einem lauten Knall. Die darunter
liegenden Hohlräume teilten sich und wuchsen in, aufgeregter
Aktivität wieder zusammen. Der Rhythmus der sich

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kräuselnden Wogen war stärker und schneller als je zuvor.
Eine dunkle Flüssigkeit pulsierte durch die sich hin und
herschlängelnden Aderkanäle. Die Masse pulsierte
ununterbrochen. Ein schwerer Geruch machte die Luft für
menschliche Lungen kaum noch atembar.

Ich starrte noch auf dieses Spektakel, als Malone meinen

Ellbogen packte und aufgeregt nach Luft schnappte. »Mein
Gott, Jones!« rief er aus. »Sieh dir das an!«

Ich folgte seinem Blick, und im nächsten Moment ließ ich die

Stromleitung fahren und sprang in den Aufzugkäfig zurück.
»Nun komm schon!« schrie ich. »Das kann zu einem Rennen
auf Leben und Tod werden!«

Das, was wir gesehen hatten, war in der Tat ausgesprochen

alarmierend. Es schien, als entwickele der Schacht an seiner
tiefsten Stelle plötzlich eine beängstigende Aktivität, denn
unter uns hatten seine Wände nun das herzschlagähnliche
Pulsieren aufgenommen. Die Bodenbewegung blieb natürlich
nicht ohne Auswirkung auf die Löcher, in denen die Balken
ruhten. Uns war sofort klar, daß die Wände sich nur um
wenige Zoll zu verschieben brauchten, um die Balken
abstürzen zu lassen. Wenn dies geschah, würde das spitze
Ende meiner Bohrnadel den Boden natürlich unabhängig von
der Stromzufuhr durchstoßen. Bevor dies zur Tatsache wurde,
war es für Malone und mich lebenswichtig, aus dem Schacht
herauszukommen. Wenn man sich acht Meilen unter der Erde
aufhält und die Gefahr besteht, daß über einem im nächsten
Augenblick alles zusammenfällt, ist das natürlich eine
schreckliche Aussicht. In Panik versetzt, jagten wir nach oben
zurück.

Ob wir diese alptraumhafte Flucht jemals vergessen werden?

Die Aufzugseile knirschten und knarrten; die Minuten
schienen sich zu Stunden auszudehnen. Jedesmal, wenn wir
eine neue Station erreicht hatten, sprangen wir in den nächsten

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Aufzug, lösten seine Sperre und flogen weiter der
Erdoberfläche entgegen. Durch das vergitterte Aufzugdach
konnten wir hoch über uns den kleinen Lichtpunkt erkennen,
der den Grubeneingang darstellte. Er wurde größer und größer,
veränderte sich bald zu einem Kreis, und schließlich erblickten
unsere erfreuten Augen die Ziegelsteinumrandung. Aufwärts
jagten wir, aufwärts – und dann, endlich, sprangen wir in
einem Augenblick trunkenen Glücks voller Dankbarkeit aus
unserem Gefängnis und eilten mit den Füßen über grünes Gras.
Die Berührung war allerdings nur kurz, denn wir hatten kaum
eine Entfernung von dreißig Schritten zwischen uns und den
Schacht gebracht, als sich tief unter uns mein eiserner Pfeil in
das Nervensystem der alten Mutter Erde bohrte und der große
Augenblick endlich gekommen war.

Was in diesem Augenblick geschah? Weder Malone noch ich

waren in der Lage, dies zu beurteilen, da wir beide plötzlich
von einem Wirbelsturm ergriffen, von den Beinen gerissen und
wie zwei Pucks auf einer Eisfläche herumgeschleudert wurden.
Gleichzeitig drang der entsetzlichste Aufschrei an unsere
Ohren, den wir je gehört hatten. Ob es unter den Hunderten
von Anwesenden auch nur einen gegeben hat, der auch nur
einen ähnlichen Schrei vernommen hat und ihn beschreiben
kann? Es war ein Schmerzensschrei, ein Wutgeheul, ein
Haßgesang. In diesem entsetzlichen Aufschrei lag der ganze
Zorn ihrer Majestät der Natur. Er dauerte eine ganze Minute
lang, war wie das Geheul von tausend Sirenen. Er lähmte die
große Menge der Anwesenden mit unbändigem Nachdruck,
pflanzte sich durch die reglose Sommerluft so weit fort, bis er
an der Südküste ein Echo warf und sogar unsere französischen
Nachbarn auf der anderen Kanalseite erreichte. Es gibt kein
Geräusch in der Geschichte der Menschheit, das dem Schrei
der gequälten Erde jemals entsprochen hätte.

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Obwohl Malone und ich benommen und nahezu taub waren,

drang der schockierende Schrei dennoch zu uns durch, aber
erst später gelang es uns, aufgrund der Erzählungen anderer
Beteiligter, Einzelheiten über das, was sich um uns abspielte,
zu erfahren.

Das erste, was die gepeinigte Erde ausspuckte, waren die

Aufzugkäfige. Die restlichen Apparaturen verblieben, soweit
sie an den Wänden befestigt gewesen waren, im Inneren des
Schachtes, aber die Aufzüge mit ihren festen Böden wurden
voll von der aufwärts rasenden Druckwelle erfaßt. Wie
Kügelchen in einem Blasrohr, jagten sie unabhängig
voneinander durch den Schacht nach oben und flogen
nacheinander durch die Luft, wobei jeder der Käfige hinter
seinem Vorgänger herzischte. Sie beschrieben einen weiten
Kreis. Einer der Käfige landete am Worthing-Pier, ein anderer
auf einem Feld bei Chichester. Diejenigen, die sie sahen,
mußten zugeben, daß von allen ungewöhnlichen Sichtungen
der der vierzehn durch den blauen Himmel segelnden
Aufzugkäfige für sie der ungewöhnlichste gewesen sei.

Dann kam die Fontäne. Sie bestand aus einem gewaltigen

Strahl von ekelhafter Substanz, die Teer zu enthalten schien
und schätzungsweise tausend Fuß hoch in den Himmel schoß.
Ein Beobachtungsflugzeug, das über der Szenerie geschwebt
hatte, wurde von der übelriechenden Flüssigkeit getroffen und
mußte notlanden, wobei sowohl die Maschine als auch der
Pilot im Schmutz versanken. Die abscheuliche Substanz
scheint das Lebensblut des Planeten gewesen zu sein, wie Dr.
Driesinger und die Berliner Schule meinen, aber es spricht
auch etwas dafür, daß es sich um eine Schutzflüssigkeit
handelte, die die gleiche Funktion wie die Stinkdrüse eines
Skunks erfüllt und dazu dient, der alten Mutter Erde allzu
eifrige Forscher vom Leibe zu halten. Glücklicherweise
entkam der Hauptübeltäter, der auf dem bereits erwähnten

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Hügelchen auf seinem Thron saß, dem Gegenschlag der Erde
weitgehend unbehelligt, aber die unglücklichen Pressevertreter
wurden dermaßen in Mitleidenschaft gezogen, daß sie sich
während der folgenden Wochen in menschlicher Gesellschaft
nicht mehr blicken lassen konnten. Die abscheuliche
Flüssigkeit wurde vom Wind nach Süden getrieben und rieselte
dort auf die pechbehaftete Menschenmenge herab, die so lange
und geduldig auf den Hügelkuppen gewartet hatte, um zu
sehen, was hier überhaupt vor sich ging. Es gab zwar weder
Verletzte noch Sachschäden zu beklagen, aber viele der in
nächster Nähe liegenden Häuser waren unbewohnbar
geworden. Noch heute erinnern sie jeden, der sie betritt, allein
durch den ihnen anhaftenden Geruch an das große Ereignis.

Und dann kam der Einsturz der Grube. Wie die Natur eine

Wunde langsam von unten her schließt, so entledigte sich auch
die Erde mit extremer Schnelligkeit der Fremdkörper, die für
sie zu einer lebensgefährlichen Bedrohung geworden waren.
Aus den tiefsten Tiefen des Schachtes erklang ein
langanhaltendes, schrilles Kreischen, stieg höher und höher
und brachte schlußendlich mit einem ohrenbetäubenden Knall
die Ziegelsteinumrandung des Schachtes zum Zerspringen. Ein
Vibrieren, das beinahe ein kleines Erdbeben war, verwüstete
die die Anlage umgebenden Erdhügel. Dort, wo sich einst der
Schachteinstieg befunden hatte, erhob sich nun ein fünfzig Fuß
hoher Schrotthaufen aus Eisengestänge. Professor Challengers
Experiment war damit nicht nur beendet, sondern dem
menschlichen Blick auch auf ewig entzogen. Wäre nicht der
von der Königlichen Gesellschaft aufgestellte Obelisk – man
müßte daran zweifeln, ob unsere Kindeskinder den Ort dieses
bemerkenswerten Geschehens überhaupt wiederfänden.

Und dann kam das große Finale. Als die Menschen endlich

wieder klar zu denken vermochten und sich über das
Geschehene einen ersten Überblick zu verschaffen versuchten,

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herrschte eine Zeitlang Bewegungslosigkeit und
Stillschweigen. Und dann brach mit einem mächtigen Ruck,
der ihre Vorstellungskraft rasend schnell beflügelte, ihr
Bewußtsein auf und ließ sie die Genialität, und Wunderbarkeit
des Experiments erkennen.

Wie ein Mann wandte die Menge sich Challenger zu. Aus

jedem Winkel des Geländes kamen bewundernde Rufe, und
Challenger, der immer noch auf seinem Hügelchen stand,
konnte von dort oben auf ein Meer ihm zugewandter Gesichter
sehen, deren Linie nur noch von zahllosen geschwenkten
Taschentüchern unterbrochen wurde. Wenn ich mich so
zurückerinnere, sehe ich ihn in diesem Augenblick am
klarsten. Er erhob sich mit halbgeschlossenen Augen von
seinem Stuhl. Ein Lächeln lag auf seinen Lippen und zeigte an,
wie wohl er diese Ehrung zu schätzen wußte. Challenger hatte
die linke Hand auf die Hüfte gestützt und die rechte im
Brustausschnitt seines Gehrockes vergraben. Ich weiß, daß ich
diesen Anblick nie vergessen werde, ebenso wenig das nun
einsetzende Klicken der Fotoapparate, die eine
Geräuschkulisse erzeugten, die man nur mit dem einer Horde
Grillen vergleichen kann. Die Junisonne beleuchtete ihn mit
goldenen Strahlen, als er sich mit ernster Miene umwandte und
in alle Himmelsrichtungen verbeugte. Challenger, der
Superwissenschaftler; Challenger, der Überpionier; Challenger
– der allererste Mensch, den die Mutter Erde schlußendlich
wahrgenommen hat.

Zum Abschluß noch ein paar Worte. Mittlerweile weiß man

natürlich, daß die Effekte, die das Experiment hervorrief,
überall wahrgenommen werden konnten. Es entspricht zwar
der Wahrheit, daß der verletzte Planet lediglich am Ort des
Geschehens selbst aufschrie, aber der Beweis ist nun erbracht,
daß er wirklich überall zugegen ist. Die Erde gab ihrem Unmut
durch jeden Spalt und jeden Vulkan Ausdruck. Der Hekla

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brüllte, bis die Isländer den Weltuntergang befürchteten. Der
Vesuv sprengte sich den eigenen Kopf ab. Der Ätna spuckte
eine solche Menge Lava aus, daß die italienische Regierung
Professor Challenger aufgrund der Beschädigungen in den
heimatlichen Weinbergen auf eine halbe Million
Schadensersatz verklagte. Sogar in Mexiko und im
zentralamerikanischen Gürtel waren die Anzeichen
plutokratischer Gereiztheit zu spüren. Das Gedonner des
Stromboli erfüllte den ganzen Mittelmeerraum. Es ist zwar
bisher eine durchaus menschliche Verhaltensweise gewesen,
die ganze Welt über ein bestimmtes Thema reden zu lassen –
aber sie zum Schreien zu bringen, ist einzig und allein das
Verdienst Challengers.

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Die Desintegrationsmaschine

(The Desintegration Machine)

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Professor Challenger befand sich in denkbar schlechter
Stimmung. Als ich – die Hand bereits am Türgriff und den Fuß
auf der Matte – vor der Tür seines Arbeitszimmers stand,
wurde ich Zeuge eines Monolog, dessen Worte im ganzen
Hause dröhnten und widerhallten.

»Das war nun schon der zweite falsche Anruf. Der zweite am

gleichen Morgen. Man stelle sich das einmal vor. Ein Mann
der Wissenschaft wird durch die fortwährende Störung
irgendeines Idioten am anderen Ende der Leitung von
wichtiger Arbeit abgehalten. Ich dulde das nicht. Geben Sie
augenblicklich Ihrem Amtsleiter davon Kenntnis! Ach, mit
dem spreche ich schon? Nun, und warum unternehmen Sie
nichts dagegen? O, doch, was Sie mit Sicherheit unternommen
haben, ist, mich von einer Arbeit abzulenken, deren
Wichtigkeit Ihr Begriffsvermögen wohl um etliches übersteigt.
Ich verlange, unverzüglich Ihren Vorgesetzten zu sprechen! Er
ist nicht da? Das dachte ich mir. Wenn sich diese Anrufe
wiederholen, sehen wir uns vor Gericht wieder. Man hat schon
krähende Hähne zur Rechenschaft gezogen. Warum also nicht
auch ein gellendes Telefongeklingel? Der Fall liegt eindeutig.
Eine schriftliche Entschuldigung? Sehr gut! Ich werde es mir
überlegen. Guten Morgen!«

An diesem Punkt des Monologs wagte ich einzutreten. Es

war ein unglücklich gewählter Augenblick. Ich trat ihm
entgegen, als er sich gerade vom Telefon wegdrehte, ein Löwe
in seinem Zorn. Sein gewaltiger, schwarzer Bart sträubte sich,
die mächtige Brust hob sich vor Entrüstung und die grauen,
hochmütigen Augen fuhren auf und nieder, wobei die letzten
Reste seiner Wut sich gegen mich entluden.

»Infernalische, idiotische, überbezahlte Schurken!« dröhnte

er. »Ich hörte sie lachen, als ich meine gerechtfertigte

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Beschwerde vortrug. Da ist eine Verschwörung am Werk, mit
dem Ziel, meine Arbeit zu sabotieren. Und nun, Malone,
erscheinen auch noch Sie auf der Bildfläche, um diesen
Vormittag vollends zu einem Desaster zu machen. Sind Sie,
möchte ich einmal fragen, aus eigenem Antrieb hier, oder hat
Ihr Käseblatt Sie wegen eines Interviews geschickt? Als
Freund genießen Sie zwar Vorrechte – als Journalist
verschwenden Sie jedoch nur Ihre Zeit.«

Ich suchte noch in der Jackentasche nach McArdles Brief, als

ihm plötzlich ein neues Ärgernis in den Sinn kam. Seine
großen, haarigen Hände durchwühlten die Papiere auf dem
Schreibtisch und zogen endlich einen Zeitungsausschnitt
hervor.

»Sie waren so freundlich, in einer Ihrer letzten gelehrten

Arbeiten auf mich anzuspielen«, sagte er und schwenkte das
Stück Papier wild in der Luft vor mir her. »Und zwar im
Verlauf Ihrer, nun ja, albernen Bemerkungen, die die kürzlich
entdeckten Saurierüberreste in Solenhofen betreffen. Sie
begannen dort einen Abschnitt mit den Worten: ›Professor
Challenger, einer unserer größten lebenden
Wissenschaftler‹ – «

»Na und?« fragte ich.
»Warum diese verhaßten Einschränkungen und

Begrenzungen? Vielleicht nennen Sie einmal die anderen, so
bedeutenden Wissenschaftler, denen Sie Gleichheit,
womöglich sogar Überlegenheit bescheinigen?«

»Es war falsch ausgedrückt. Natürlich hätte es ›Unser größter

lebender Wissenschaftler‹ heißen müssen«, gab ich zu. Und so
wie ich es sagte, meinte ich es auch. Meine Worte
verwandelten die frostige Atmosphäre in strahlenden
Sonnenschein.

»Mein lieber, junger Freund, glauben Sie nicht, daß ich

Ungebührliches verlange, aber umgeben von streitsüchtigen

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und törichten Kollegen bin ich nun mal gezwungen, mich um
jeden Preis zu behaupten. Selbstüberschätzung ist meinem
Wesen fremd, doch habe ich den anderen gegenüber einen Ruf
zu bewahren. Aber treten Sie doch näher! Nehmen Sie Platz!
Was verschafft mir die Ehre Ihres Besuches?«

Ich mußte äußerst behutsam vorgehen, denn es war mir klar,

wie wenig es bedurfte, den Löwen wieder zum Brüllen zu
bringen. Ich öffnete McArdles Brief.

»Sie erlauben, daß ich ihn vorlese? Er ist von McArdle,

meinem Redakteur.«

»Ich erinnere mich an ihn. Auf seine Weise ist er kein übler

Kerl.«

»Er hegt große Bewunderung für Sie. Er hat sich stets an Sie

gewandt, wenn eine Nachforschung hohe Qualität erforderte.
Das ist auch nun wieder der Fall.«

»Was hat er denn auf dem Herzen?« Challenger plusterte sich

unter dem Einfluß dieser Schmeichelei wie ein ungelenker
Vogel auf. Er nahm wieder Platz, die Ellbogen auf dem
Schreibtisch, die Gorillapranken ineinander verschränkt, den
Bart nach vorn gesträubt, und die großen, grauen Augen halb
unter buschigen Lidern verborgen, richteten sich gütig auf
mich. Er besaß Größe in allem und sein Wohlwollen war noch
überwältigender als seine Heftigkeit.

»Ich lese Ihnen den Brief einmal vor. Er lautet: Bitte setzen

Sie sich mit unserem hochgeschätzten Freund, Professor
Challenger, in Verbindung und bitten in nachfolgender
Angelegenheit um seine Mitarbeit. In White Friars, Hamstead,
wohnt ein lettischer Gentleman namens Theodore Nemor, der
behauptet, eine Maschine der außergewöhnlichsten Art
erfunden zu haben, die jeden Gegenstand in ihrer Reichweite
verschwinden lassen kann. Der Gegenstand löst sich auf und
kehrt in seinen molekularen oder atomaren Zustand zurück.
Bei der Umkehrung dieses Verfahrens nimmt er dagegen die

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ursprüngliche Gestalt wieder an. Diese Behauptung erscheint
außergewöhnlich, und doch existieren sichere Anzeichen für
die Richtigkeit. Es sieht so aus, als sei dieser Mann über eine
bemerkenswerte Erfindung gestolpert.

Ich muß Ihnen wohl kaum den revolutionären Gehalt einer

solchen Erfindung vor Augen halten, einmal abgesehen von
ihrer extremen Bedeutung als potentielle Kriegswaffe. Eine
Macht, die ein Kriegsschiff verschwinden lassen oder ein
Bataillon – und sei es auch nur für kurze Zeit – in seine Atome
auflösen kann, würde die Welt beherrschen. Der sozialen und
politischen Bedeutung wegen sollte dieser Nachricht
unverzüglich auf den Grund gegangen werden. Der Erfinder
wirbt um Öffentlichkeit, um die Maschine verkaufen zu
können. Es wird keine Schwierigkeiten geben, an ihn
heranzutreten. Die beigefügte Karte gewährt Einlaß in sein
Haus. Meine Bitte geht dahin, daß Sie und Professor
Challenger ihn aufsuchen, die Erfindung in Augenschein
nehmen und für die Gazette einen Bericht über den Wert der
Erfindung schreiben. Ich hoffe, heute abend von Ihnen zu
hören. – R. McArdle.

So lauten die Anweisungen, Professor«, fügte ich hinzu,

während ich den Brief wieder zusammenfaltete. »Ich hoffe
inständig, daß Sie mich begleiten, denn wie soll ich mit meinen
begrenzten Fähigkeiten, die Angelegenheit allein beurteilen?«

»Wahrhaftig, Malone! Wahrhaftig!« schnurrte der große

Mann. »Obwohl Sie ohne jeden Zweifel mit natürlicher
Intelligenz gesegnet sind, stimme ich mit Ihnen überein, daß
Sie in einer derartigen Angelegenheit überfordert sind. Da
diese unaussprechlichen Menschen am Telefon mir bereits die
Arbeit dieses Morgens ruiniert haben, kommt es jetzt auch
nicht mehr darauf an. Ich arbeite gerade an der Entgegnung auf
diesen italienischen Possenreißer Mazotti, dessen Ansichten
über die larvale Entwicklung tropischer Termiten meinen

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Hohn und meine Verachtung herausforderten, doch kann ich
die vollständige Entlarvung dieses Scharlatans bis zum Abend
aufschieben. Bis dahin stehe ich Ihnen zu Diensten.«

Und so kam es, daß ich an diesem Oktobermorgen mit dem

Professor in der U-Bahn dem Norden Londons entgegeneilte,
wo ich eine der eigenartigsten Erfahrungen meines an
Überraschungen nicht armen Lebens machen sollte. Bevor wir
Enmore Gardens verließen, hatte ich mich mit Hilfe des
vielgeschmähten Telefons vergewissert, daß unser Mann zu
Hause und unser Kommen angekündigt war. Er bewohnte ein
gepflegtes Haus in Hampstead. Fast eine halbe Stunde ließ er
uns im Salon warten, während er in lebhaftem Gespräch mit
einer Besuchergruppe vertieft war, deren Stimmen sie beim
Abschied als Russen auswiesen. Ich konnte durch die halb
geöffnete Tür einen Blick auf sie werfen und hatte den
flüchtigen Eindruck von gutsituierten und intelligenten
Männern mit Pelzkragen auf den Mänteln und schimmernden
Zylindern, die den Eindruck bourgeoiser Wohlanständigkeit
ausstrahlten, die erfolgreichen Kommunisten so rasch zueigen
ist. Dann schloß sich die Türe hinter ihnen, und im nächsten
Augenblick betrat Theodore Nemor den Salon. Ich sehe ihn
noch vor mir, wie er dort im Sonnenlicht stand, seine langen,
schmalen Hände aneinanderrieb und uns mit einem breiten
Lächeln aus schlauen, gelben Augen ansah.

Er war ein kleiner, dicker Mann, der den Eindruck von

Unförmigkeit erweckte, ohne erkennen zu lassen, worin er
begründet war. Man konnte meinen, er sei ein Buckliger ohne
Buckel. Sein großes, schwammiges Gesicht wirkte wie ein
roher Kloß, dessen Farbe und feuchte Beschaffenheit es auch
aufwies, und die sein Gesicht zierenden Pickel und Pusteln
hoben sich noch stärker von diesem teigigen Hintergrund ab.
Seine Augen waren die einer Katze, und katzenhaft war auch
der lange, dünne Schnurrbart über dem schlaffen, feuchten

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Mund. Alles an ihm schien unfertig und abstoßend, bis hinauf
zu den strohblonden Augenbrauen. Darüber jedoch erhob sich
ein solch außergewöhnlicher Schädel, wie ich ihn selten
gesehen habe. Selbst Challengers Hut hätte auf diesen
gewaltigen Kopf gepaßt. Ohne diese Stirn glich Theodore
Nemor einem gemeinen, kriecherischen Verschwörer, doch
sein Schädel konnte es mit den größten Denkern und
Philosophen aufnehmen.

»Nun, meine Herren«, sagte er mit samtener Stimme, in der

nur flüchtige Spuren eines fremden Akzentes mitschwangen,
»wenn ich aufgrund unseres kurzen Telefonates richtig sehe,
sind Sie gekommen, um mehr über den Nemor-Desintegrator
zu erfahren.«

»Sie haben völlig recht.«
»Darf ich fragen, ob Sie die britische Regierung

repräsentieren?«

»Aber überhaupt nicht. Ich bin Korrespondent der Gazette,

und dies ist Professor Challenger.«

»Ein ehrenwerter Name – von europäischem Rang.«
Seine gelben Fänge leuchteten geradezu in unterwürfiger

Liebenswürdigkeit. »Ich gedachte, Ihnen gerade zu erläutern,
daß die britische Regierung ihre Chance verspielt hat. Was
darüber hinaus für Konsequenzen entstehen, mag sich später
erweisen. Vielleicht hat sie gar das Empire verspielt. Ich bin
bereit, meine Erfindung an die erste Regierung zu verkaufen,
die meinen Preis akzeptiert, und wenn die Erfindung nun in –
wie Sie sicherlich meinen – falsche Hände fällt, so haben Sie
sich selbst die Schuld zu geben.«

»Dann haben Sie Ihr Geheimnis bereits verkauft?«
»Zu meinem Preis.«
»Und der Besitzer wird das Monopol darauf haben?«
»Das wird er, ohne jeden Zweifel.«
»Aber dann kennen andere das Geheimnis ebenso wie Sie.«

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»Oh, nein.« Er strich über die gewaltige Stirn. »Hier befindet

sich der Safe, in dem das Geheimnis sicher bewahrt ist –
sicherer als in einem Safe aus Stahl. Mag einigen dieses,
anderen jenes bekannt sein, niemand außer mir kennt das
ganze Geheimnis.«

»Und die Herren, an die Sie verkauft haben.«
»Aber nein. Ich bin keineswegs so töricht, mein Wissen zu

offenbaren, bevor der vereinbarte Preis entrichtet ist.
Eigentlich bin ich das Kaufobjekt, und die Käufer bedienen
sich des wertvollen Inhalts dieses Safes« – er tippte wieder an
die Braue – »soweit Sie es wünschen. Mein Teil des
Abkommens ist dann erfüllt – gewissenhaft, bis zum letzten
erfüllt. Danach wird die Geschichte entschieden.«

Er rieb sich die Hände, und das künstliche Lächeln auf

seinem Gesicht fiel zu einer Grimasse zusammen.

»Sie werden entschuldigen«, dröhnte Challenger, der bis

dahin schweigend verharrt und mit seinem ausdrucksstarken
Gesicht Theodore Nemor mit größter Mißbilligung beobachtet
hatte »bevor wir in eine Diskussion eintreten, möchte ich mich
davon überzeugen, daß überhaupt etwas zu diskutieren ist. Wir
haben noch nicht den Fall vergessen, in dem ein Italiener
behauptete, er könne aus der Entfernung Minen explodieren
lassen. Bei eingehender Untersuchung erwies er sich als
ausgesprochener Betrüger. Die Geschichte könnte sich hier
wiederholen. Sie verstehen gewiß, daß ich einen Ruf als
Wissenschaftler zu verlieren habe – einen Ruf, der in Europa
einiges gilt, und wie ich annehmen kann, auch in Amerika
nicht wenig von Gewicht ist. Vorsicht ist ein Attribut der
Wissenschaft, und Sie müssen uns Ihre Beweise schon
vorlegen, wenn wir Ihre Behauptungen ernsthaft erörtern
wollen.«

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Nemor warf einen besonders bösartigen Blick aus seinen

gelben Augen auf meinen Begleiter, dann jedoch erhellte das
Lächeln der Genialität wieder sein Gesicht.

»Sie werden Ihrem Ruf gerecht, Professor. Ich habe immer

gehört, Sie seien der letzte, der auf einen Betrug hereinfiele.
Ich bin durchaus darauf vorbereitet, Ihnen eine einwandfreie,
überzeugende Demonstration darzubieten, doch zuvor muß ich
einige Worte zum grundsätzlichen Prinzip verlieren.

Ihnen ist sicherlich klar, daß dies experimentelle Pflänzchen

hier nur ein verkleinertes Modell darstellt, doch innerhalb
seiner Möglichkeiten Erstaunliches leistet. Sie, meine Herren,
aufzulösen und wieder erscheinen zu lassen, bereitet mir
keinerlei Schwierigkeiten. Für derlei Zwecke zahlt jedoch eine
mächtige Regierung kaum einen Preis, der in die Millionen
geht. Mein Modell ist lediglich ein bescheidenes
wissenschaftliches Spielzeug. Wenn jedoch die gleiche Kraft
in größerem Ausmaß angewandt wird, können gewaltige,
praktische Resultate erzielt werden.«

»Können wir das Modell sehen?«
»Sie werden es nicht nur sehen, Professor Challenger, Sie

werden die beweiskräftigste Vorführung erleben, die möglich
ist – falls Sie dazu den Mut aufbringen.«

»Falls?« brüllte der Löwe. »Ihr ›falls‹, mein Herr, ist in

höchstem Maße beleidigend.«

»Ich wollte Ihren Mut nicht in Zweifel ziehen, Ich meinte

lediglich, daß ich Ihnen eine Gelegenheit biete, ihn unter
Beweis zu stellen. Doch zunächst einige Worte von
grundsätzlicher Bedeutung.

Werden bestimmte Kristalle – Salz oder Zucker – mit Wasser

in Berührung gebracht, lösen sie sich auf und verschwinden.
Man glaubt kaum, daß sie jemals existiert haben. Doch
verringert man die Wassermenge durch Verdunstung oder
dergleichen, siehe da, die Kristalle erscheinen wieder, sind

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wieder sichtbar wie zuvor. Können Sie sich einen Prozeß
denken, durch den Sie, ein organisches Lebewesen, sich auf
die gleiche Weise im Kosmos auflösen und durch eine subtile
Umkehrung der Bedingungen wieder zur ursprünglichen
Gestalt zusammensetzen?«

»Die Analogie ist falsch«, rief Challenger dazwischen.

»Selbst wenn ich eine so monströse Annahme akzeptierte,
Moleküle könnten sich aufgrund einer wie auch immer
gearteten Kraft zerstreuen, aus welchem Grund sollten sie sich
in der gleichen Weise wie zuvor zusammensetzen?«

»Der Einwand ist einleuchtend, doch kann ich darauf nur

antworten, daß es sich bis zum letzten Atom der Struktur so
verhält. Dahinter steht ein unsichtbares System, in dem jeder
Baustein seinen Platz hat. Sie mögen jetzt lächeln, Professor,
aber Ihrer Skepsis und Ihrem Lächeln wird bald ein anderes
Gefühl folgen.«

Challenger zuckte die Schultern. »Ich bin bereit, mich Ihrem

Experiment zu unterziehen.«

»Da gibt es noch etwas, das ich Ihnen nahebringen möchte

und das Ihnen helfen wird, zu verstehen. Aus der östlichen
Magie und dem westlichen Okkultismus ist Ihnen sicher das
Phänomen der Teleportation geläufig, daß ein Ding aus der
Ferne an einen anderen Ort versetzt werden kann. Wie sollte
dergleichen geschehen, wenn nicht durch Auflösung der
Moleküle, deren Bewegung auf einer Ätherwelle und ihrer
endlichen Zusammensetzung durch eine unfaßbare Kraft an
einem neuen Ort. Dies stellt eine genaue Analogie zur Leistung
meiner Maschine dar.«

»Sie können eine unglaubwürdige Sache nicht durch eine

andere erklären«, sagte Challenger. »Ich glaube weder an
Wunder, noch glaube ich an Ihre Maschine. Meine Zeit ist
begrenzt, und sollten Sie noch mit einer Demonstration dienen

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können, würde ich einen Beginn ohne weitere Zeremonie
begrüßen.«

»Wenn Sie hier dann bitte folgen wollen«, sagte der Erfinder.

Er führte uns die Treppe des Hauses hinunter und durch den
dahinterliegenden, kleinen Garten. Dort befand sich ein
unübersehbares Gebäude, das er umständlich aufschloß. Wir
traten ein.

Das Innere bestand aus einem großen, weißgekalkten Raum

mit unzähligen, von der Decke reichenden Kupferschnüren und
einem großen, auf einem Podest ruhenden Magneten. Davor
befand sich – drei Fuß lang und einen Fuß im Durchmesser –
eine Art Glasprisma. Rechts davon, auf einer Plattform aus
Zinn, stand ein Sessel, über dem eine Haube aus poliertem
Kupfer hing. An dieser Haube – wie auch am Sessel – waren
Metalldrähte befestigt. An der Seite des Sessels befand sich
eine Art Trommel mit zahlreichen Rastern und einem Griff aus
Gummi, der augenblicklich in Nullstellung stand.

»Nemors Desintegrator«, rief der merkwürdige Mann, und

wies mit theatralischer Geste auf die Maschine. »Das ist das
Modell, dem es bestimmt ist, in die Geschichte einzugehen. Sie
wird das Gleichgewicht der Kräfte unter den Nationen von
Grund auf verändern. Wer sie sein eigen nennt, beherrscht die
Welt. Nun, Professor Challenger, Sie haben mich – wenn ich
einmal so sagen darf – in dieser Sache mit wenig Höflichkeit
und Rücksichtnahme behandelt. Würden Sie sich bitte auf den
Sessel setzen und mir erlauben, Ihnen am eigenen Leibe die
Fähigkeiten der von mir entdeckten Kraft zu demonstrieren?«

Challenger besaß den Mut eines Löwen, und etwas in der Art

dieser Herausforderung brachte ihn im Nu in Raserei. Er
stürzte auf die Maschine zu, aber ich ergriff seinen Arm und
hielt ihn zurück.

»Gehen Sie nicht!« sagte ich. »Ihr Leben ist zu wertvoll. Das

Ganze ist ungeheuerlich. Welche Sicherheitsgarantien haben

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Sie denn? Dieser Apparat sieht aus wie der elektrische Stuhl in
Sing-Sing.«

»Die Garantie meiner Sicherheit«, sagte Challenger, »sind

Sie als Zeuge und die Tatsache, daß dieser Herr – sollte mir
etwas zustoßen – des Totschlags angeklagt würde.«

»Es wäre ein harter Schlag für die Wissenschaft, wenn Ihre

einzigartige Arbeit unvollendet bliebe. Lassen Sie es mich
zuerst versuchen. Wenn das Experiment sich als harmlos
erweist, folgen Sie mir.«

Eine Gefahr für Leib und Leben hätte Challenger nie von

seinem Vorhaben abgebracht, doch die Vorstellung, seine
wissenschaftliche Arbeit könne nicht zu Ende geführt werden,
traf ihn hart. Er zögerte, doch bevor er zu einer Entscheidung
kam, stürmte ich vorwärts und sprang auf den Sitz.

Ich sah, wie die Hand des Erfinders sich auf den Griff legte

und bemerkte ein leichtes Klicken. Dann herrschte vor meinen
Augen für einen Moment völliges Chaos, und Nebel legte sich
darüber. Als er sich langsam wieder verzog, stand der Erfinder
mit seinem verhaßten Grinsen vor mir, und Challenger, dem
das Blut in die Wangen geschossen war, starrte über dessen
Schulter.

»Nun machen Sie schon!« sagte ich.
»Es ist bereits vorbei. Sie haben bewundernswert reagiert«,

antwortete Nemor. »Stehen Sie nun auf, Professor Challenger
wird zweifellos Ihren Platz einnehmen.«

Ich hatte meinen alten Freund nie so erregt gesehen. Seine

stählernen Nerven hatten ihn für einen Moment völlig
verlassen. Mit zitternder Hand ergriff er meinen Arm.

»Mein Gott, Malone, es ist wahr«, sagte er. »Sie waren

verschwunden. Kein Zweifel ist möglich. Ein Nebel entstand,
und dann gab es nur noch Leere.«

»Wie lange war ich fort?«

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»Zwei oder drei Minuten. Ich war – muß ich zugeben – sehr

erschreckt. Eine Rückkehr konnte ich mir nicht vorstellen.
Dann schob er den Hebel – sofern es überhaupt einer ist – in
eine andere Stellung und Sie saßen wieder auf dem Sitz. Sie
sahen ein wenig verstört, aber ansonsten wie immer aus. Ich
dankte dem Himmel, als ich Sie wieder erblickte.«

Er trocknete sich mit einem großen, roten Taschentuch die

Stirn.

»Nun los!« sagte der Erfinder. »Oder haben Ihre Nerven Sie

verlassen?«

Challenger straffte sich sichtbar. Dann schob er meine

protestierende Hand zur Seite und setzte sich auf den Sitz. Der
Hebel rastete in Stellung drei. Er war verschwunden.

Ich war zu Tode erschreckt, nicht zuletzt wegen der

Kaltblütigkeit des Erfinders. »Ein interessanter Vorgang, nicht
wahr?« bemerkte er. »Hält man sich die geradezu verblüffende
Persönlichkeit des Professors vor Augen, ist es schon seltsam,
sich ihn als eine durch dieses Haus schwebende molekulare
Wolke vorzustellen. Selbstredend befindet er sich nun völlig in
meiner Gewalt. Keine Macht der Welt kann mich daran
hindern.«

»Ich würde schon Mittel und Wege gegen Sie finden.«
Das Lächeln wurde wieder zur Grimasse. »Sie nehmen doch

wohl nicht an, daß mir je solch ein Gedanke käme. Es wäre
unvorstellbar: Professor Challenger für immer in seine
Bestandteile aufgelöst – in den Kosmos entschwunden, ohne
Spuren zu hinterlassen. Schrecklich! Schrecklich! Doch
andererseits, er war nicht so höflich, wie er hätte sein sollen.
Glauben Sie nicht, daß eine kleine Lektion…?«

»Nein! Das glaube ich keineswegs.«
»Betrachten wir es als eine neugierige Demonstration, um

Ihren Artikel etwas interessanter zu gestalten. Zum Beispiel
habe ich herausgefunden, daß das Haar auf völlig andere

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Vibrationen anspricht und bewußt in den Prozeß einbezogen
werden kann. Es wäre doch einmal interessant, den Bären ohne
Fell zu sehen. Schauen Sie sich ihn an!«

Ein Klicken des Schalters. Sekunden später saß Challenger

wieder auf dem Sitz. Aber was für ein Challenger! Wie ein
gestutzter Löwe! Wütend, wie ich ob des grotesken Scherzes
war, konnte ich doch nur mühsam ein Lachen unterdrücken.

Der gewaltige Kopf war kahl wie der eines Babys, seine Haut

rein und unbefleckt wie die eines jungen Mädchens. Der untere
Teil seines Gesichtes war seiner gewaltigen Mähne beraubt,
während seine ganze Erscheinung mit den Fängen einer
Bulldogge über dem massiven Kinn den Eindruck eines
mitgenommenen und abgekämpften Gladiators erweckte.

Auf unseren Gesichtern muß ein gewisser Ausdruck gelegen

haben – ich hegte nicht den geringsten Zweifel, daß das
teuflische Grinsen des Erfinders sich ob dieses Anblicks noch
vertiefte – aber, wie dem auch sei: Challengers Hand flog an
seinen Kopf, und er wurde seines Zustandes gewahr. Im
nächsten Augenblick war er aus dem Sitz gesprungen, ging
dem Erfinder an die Kehle und warf ihn zu Boden. Da ich
Challengers übermenschliche Kraft kannte, fürchtete ich um
das Leben seines Opfers.

»Um Himmels willen, seien Sie vorsichtig. Wenn Sie ihn

umbringen, werden wir dem Rätsel nie auf die Spur kommen«,
schrie ich.

Das Argument wirkte. Selbst in Augenblicken größter

Raserei war Challenger für Vernunftgründe offen. Er sprang
vom Boden auf und zog den zitternden Erfinder mit sich. »Ich
gebe Ihnen fünf Minuten«, stieß er voller Zorn hervor. »Habe
ich in dieser Zeit meine alte Gestalt nicht wieder, werde ich
das Leben aus Ihrer Gnomengestalt herausprügeln.« Mit einem
zornigen Challenger war nicht zu spaßen. Selbst die Mutigsten
würden vor ihm zusammenschrumpfen, und es sprach nichts

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dafür, daß Theodore Nemor zu ihnen gehörte. Im Gegenteil,
die Pickel und Warzen in seinem Gesicht wurden, als sein
ohnehin schon kalkweißes Gesicht die Farbe eines
Fischbauches annahm, noch deutlicher sichtbar. Seine Lippen
zuckten. Er war kaum in der Lage zu sprechen. »Aber mein
lieber Professor«, brabbelte er und faßte sich an die Kehle,
»diese Gewalttätigkeit ist völlig unnötig. Es war doch nur ein
harmloser Scherz unter Freunden. Ich wollte lediglich die
Macht der Maschine demonstrieren. Sie wollten es doch so.
Nichts für ungut. Ich gedachte keinesfalls Ihre Ehre anzutasten,
Herr Professor, um nichts in der Welt!«

Wortlos kletterte Challenger zurück auf den Sitz.
»Behalten Sie ihn im Auge, Malone! Erlauben Sie ihm keine

Frechheiten!«

»Ich werde bestimmt darauf achten.«
»Also dann, bringen Sie die Sache ins reine, oder tragen Sie

die Konsequenzen.«

Der erschreckte Nemor eilte zu der Maschine. Die

zusammensetzende Kraftkomponente war auf volle Leistung
eingestellt. Einen Augenblick später erschien der alte Löwe
wieder mit wehender Mähne. Liebevoll strich er mit den
Händen durch seinen Bart und ließ sie dann zur Stirn wandern,
um sich der gänzlichen Wiederherstellung zu versichern. Dann
stieg er mit ernster Miene vom Thron herab.

»Sie haben sich da eine Frechheit herausgenommen, die

ernste Konsequenzen für Sie hätte haben können. Aber wie
dem auch sei, ich akzeptiere die Entschuldigung, daß es
lediglich zum Zwecke der Demonstration geschah. Darf ich
Ihnen nun einige direkte Fragen hinsichtlich dieser
bemerkenswerten Kraft stellen, deren Entdeckung Sie sich
rühmen können?«

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»Ich bin gerne bereit, alle Fragen – ausgenommen solcher

nach der Herkunft der Kraft – zu beantworten. Das bleibt mein
Geheimnis.«

»Und niemand außer Ihnen weiß davon?«
»Niemand hat die leiseste Ahnung.«
»Keine Assistenten?«
»Nein, mein Herr. Ich arbeite stets allein.«
»Ach, das ist alles sehr interessant. Ich zweifle nun nicht

mehr an der Wirkung der Kraft, doch ermesse ich die
praktische Anwendung noch nicht.«

»Ich erklärte bereits, daß es sich hier lediglich um ein Modell

handelt. Doch könnte ohne weiteres eine Herstellung in
großem Ausmaß erfolgen. Das Modell wirkt vertikal. Gewisse
Ströme über und unter Ihnen erzeugen Schwingungen, die
entweder auflösen oder zusammenfügen. Doch kann dieser
Prozeß ebenso horizontal durchgeführt werden. Die Wirkung
würde einen weitaus größeren Bereich einbeziehen.«

»Geben Sie uns ein Beispiel.«
»Nehmen wir an, daß sich ein Pol in einem kleinen Boot und

der andere sich in einem zweiten befindet. Befände sich ein
Schlachtschiff zwischen ihnen, löste es sich in seine Moleküle
auf. Das gleiche geschähe mit einer ganzen Truppe.«

»Und Sie haben diese Erfindung als Monopol an eine einzige

europäische Regierung verkauft?«

»Ja, das habe ich. Ist der Preis erst einmal entrichtet, wird

diese Nation über eine Macht verfügen wie keine andere zuvor.
Sie haben keine Vorstellung davon, was eine solche Waffe in
den richtigen Händen auszurichten vermag, wenn man nicht
davor zurückschreckt sie anzuwenden.« Ein hämisches
Grinsen glitt über das teuflische Gesicht. »Stellen Sie sich die
Maschine in einem Stadtteil Londons vor. Denken Sie an die
Auswirkungen. Oder« – an dieser Stelle brach er in schallendes

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Gelächter aus – »das ganze Themsetal würde ausgelöscht, und
kein Mann, Frau oder Kind überlebt.«

Die Worte erfüllten mich mit Schrecken, aber mehr noch das

hämische Frohlocken, das aus ihnen sprach. Auf meinen
Freund übten sie jedoch scheinbar eine andere Wirkung aus.
Zu meiner Überraschung brach er in sein geniales Lachen aus
und streckte dem Erfinder die Hand entgegen.

»Nun, mein lieber Nemor, wir haben Ihnen zu gratulieren«,

sagte er. »Zweifellos haben Sie der Natur eine bemerkenswerte
Entdeckung abgerungen und sie zum Wohle der Menschheit
nutzbar gemacht. Daß dieser Nutzen für die menschliche Rasse
auch manchmal schädlich ist, erscheint mir zwar
beklagenswert, doch kennt die Wissenschaft keine
Sentimentalität, sondern dient dem Wissen, wo immer sie es
findet. Abgesehen von dem grundsätzlichen Prinzip der
Maschine, vermute ich, erheben Sie wohl keine Einwände
gegen die Untersuchung Ihrer Konstruktion?«

»Aber ich bitte Sie. Die Maschine stellt schließlich nur den

Körper dar. Der Seele, dem dahinterstehenden Prinzip, werden
Sie das Geheimnis nicht entreißen.«

»So ist es. Doch schon der bloße Mechanismus ist ein Abbild

eines außergewöhnlichen Scharfsinns.« Eine Zeitlang schritt er
um die Maschine herum und befingerte verschiedene Teile.
Dann zog er seine ungefüge Körpermasse auf den isolierten
Sitz hinauf.

»Sie wünschen einen erneuten Ausflug in den Kosmos?«

fragte der Erfinder.

»Später vielleicht, später! Aber gerade stelle ich zweifellos

ein Schwanken der Elektrizität fest. Ich spüre ein leichtes
Prickeln in meinem Körper.«

»Unmöglich! Die Maschine ist völlig isoliert.«
»Aber ich versichere Ihnen, ich fühle es noch immer.«
Er schwang sich vom Sitz herunter.

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Der Erfinder hastete auf den Sitz. »Ich spüre nichts.«
»Spüren Sie nicht das Prickeln, das an Ihrem Rückgrat

herunter läuft?«

»Nein, nichts dergleichen.«
Plötzlich gab es eine scharfes Klicken, und der Mann war

verschwunden. Entsetzt starrte ich Challenger an.

»Großer Gott! Haben Sie die Maschine versehentlich berührt,

Professor?«

Mit einem Anflug milder Überraschung lächelte er mich sanft

an. »Du lieber Himmel, habe ich doch versehentlich den Hebel
berührt«, rief er aus. »Derartige peinliche Zwischenfälle
geschehen oft bei solch unfertigen Modellen. Der Hebel hier
sollte auch vor Fehlgriffen geschützt sein.«

»Er befindet sich in der Stellung ›drei‹. Das ist die Stellung,

die eine Auflösung bewirkt. Ich bemerkte es, als Sie an dem
Experiment teilnahmen. Aber ich war so aufgeregt, als er Sie
wieder erscheinen ließ, daß ich die Stellung für die Umkehrung
der Auflösung nicht wahrnahm. Haben Sie es bemerkt?«

»Mag sein, daß dem so ist, mein lieber Malone, doch ziehe

ich es vor, meinen Verstand nicht mit derartigen Kleinigkeiten
zu belasten. Es gibt viele Hebelstellungen an der Maschine,
und wir kennen keine ihrer Bedeutungen. Spielen wir
leichtfertig mit dem Unbekannten, werden wir nur die
schlimmsten Erfahrungen machen. Wir lassen vielleicht die
Dinge besser so, wie sie sind.«

»Und Sie würden – «
»Genau das. Es ist besser so. Die überaus interessante

Persönlichkeit Herrn Theodore Nemors hat sich selbst im
Kosmos aufgelöst, die Maschine erweist sich so als wertlos,
und eine gewisse ausländische Regierung sieht sich einer
Erfindung beraubt, die viel Leid über die Menschheit gebracht
hätte. Kein schlechtes Tagwerk, lieber Malone. In Ihrem Blatt
wird zweifellos ein Artikel kurz nach dem Besuch Ihres

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eigenen Sonderkorrespondenten erscheinen. Ich habe die
heutige Erfahrung genossen. Das sind die lichten Augenblicke
im trüben Alltag des Studiums. Aber das Leben hält
Vergnügungen wie Pflichten bereit, und so kehre ich also zu
dem Italiener Mazzotti und dessen grotesken Ansichten über
die larvale Entwicklung der tropischen Termiten zurück.«

Als ich noch einen Blick zurückwarf, schien ein leichter

ätherischer Nebel über dem Sessel zu schweben. »Aber
eigentlich…« wandte ich ein.

»Morde zu verhindern ist die erste Bürgerpflicht«, sagte

Professor Challenger. »Ich habe danach gehandelt. Genug,
Malone, genug! Keine Diskussionen mehr über das Thema. Es
hat meine Gedanken schon zu lange von wichtigeren Dingen
abgelenkt.«


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