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Sir Arthur Conan Doyle 

 
 

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ROFESSOR 

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HALLENGER

 

UND DAS 

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NDE DER 

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ELT

 

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Das Ende der Welt 

(The Poison Belt) 

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Die Linien verblassen 

 
 
 

Jetzt, da die ungeheuren Ereignisse meiner Erinnerung noch 
klar verhaftet sind, ist es unerläßlich geworden, sie 
niederzuschreiben, bevor die Zeit sie verblassen läßt. Noch 
während ich dies tue, bin ich von dem Wunder der Tatsache 
überwältigt, daß es ausgerechnet unserer kleinen Gruppe von 
der  »Vergessenen Welt«  – Professor Challenger, Professor 
Summerlee, Lord John Roxton und mir – vergönnt war, diese 
verblüffenden Erfahrungen durchzumachen. 

Als ich vor ein paar Jahren in der  Daily Gazette  den 

aufsehenerregenden Bericht über unsere Südamerikareise 
veröffentlichte, wäre mir nicht im Traum eingefallen, daß das 
Schicksal mich dazu ausersehen würde, über ein noch 
ungewöhnlicheres Ereignis zu berichten  – ein Ereignis, das in 
der Menschheitsgeschichte nicht nur einmalig war, sondern 
alle anderen, so spektakulär sie auch gewesen sein mögen, weit 
in den Schatten stellte. Das Ereignis selbst wird für mich 
immer wundersam bleiben, aber die Umstände, die dazu 
führten, daß ausgerechnet wir vier beim Eintreffen dieser 
außergewöhnlichen Episode wieder beisammen waren, erfolgte 
aus absolut banalen, aber folgerichtigen Beweggründen heraus. 
Ich will alles, was zu unserem erneuten Zusammentreffen 
führte, so kurz und knapp wie möglich erzählen, obwohl ich 
mir natürlich dessen bewußt bin, daß ein detaillierterer Bericht 
dem Leser mehr geben würde; schließlich ist die Neugier des 
Publikums heutzutage ebenso unersättlich, wie sie früher 
gewesen ist. 

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Am Freitag, dem 27. August – einem Datum, das die Welt so 

schnell nicht wieder vergessen wird – begab ich mich hinunter 
in die Redaktion meiner Zeitung und bat Mr. McArdle, der 
immer noch die Nachrichtenabteilung regierte, mir einen 
dreitägigen Urlaub zu gewähren. Der nette, alte Schotte 
schüttelte den Kopf, kratzte seinen immer schütterer 
werdenden rötlichen Haarkranz und kleidete seine Ablehnung 
schließlich in Worte. 

»Ich glaube, Mr. Malone, daß wir Sie ausgerechnet jetzt am 

dringendsten benötigen. Ich glaube, wir haben da eine 
Geschichte, die nur ein Mann wie Sie in die richtigen 
Proportionen bringen kann.« 

»Wie schade«, sagte ich und versuchte meine Mißstimmung 

zu verbergen. »Wenn man mich braucht, sieht die Sache 
natürlich anders aus. Aber meine Verabredung ist ziemlich 
wichtiger privater Natur. Wenn Sie mir vielleicht doch 
freigeben könnten…« 

»Leider weiß ich nicht, wie ich das bewerkstelligen sollte.« 
Es war natürlich bitter für mich, aber ich mußte das Beste 

daraus machen. Immerhin hatte ich einen großen Fehler 
begangen, denn damals hätte ich natürlich schon wissen sollen, 
daß man als Journalist nicht das Recht hat, eigene Pläne zu 
verfolgen. 

»Nun, ich werde die Sache dann wohl besser vergessen«, 

sagte ich mit soviel Freundlichkeit, wie man einer kurzen 
Abfuhr gegenüber aufbringen konnte. »Welchen Auftrag soll 
ich übernehmen?« 

»Nun,  Sie brauchen bloß diesen entsetzlichen Querkopf in 

Rotherfield zu interviewen.« 

»Sie meinen doch nicht etwa Professor Challenger?« rief ich 

aus. 

»Doch, doch, genau den meine ich. Er hat den jungen Alec 

Simpson vom  Courier  vergangene Woche an Hinterteil und 

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Kragen eine Meile weit die Hauptstraße hinuntergeschleppt. 
Möglicherweise haben Sie davon im Polizeibericht gelesen. 
Unsere Jungs wollen nun alle lieber einen ausgebrochenen 
Alligator aus dem Zoo interviewen. Aber Sie, denke ich, 
könnten es schaffen. Immerhin sind Sie seit langer Zeit mit 
ihm befreundet.« 

»Aber natürlich«, sagte ich erleichtert. »Nichts einfacher als 

das. Zufällig war Professor Challenger nämlich der Grund, 
weswegen ich Sie um Urlaub bat. Es ist nämlich so, daß wir 
heute den dritten Jahrestag unseres großen Abenteuers in 
Südamerika feiern wollen. Er hat uns alle in sein Haus 
eingeladen, um das Ereignis gebührend zu feiern.« 

»Prächtig!« schrie McArdle. Er rieb sich die Hände und 

strahlte mich durch seine Brillengläser an. »Dann werden Sie 
es auch schaffen, ihn nach seiner Meinung zu befragen. Bei 
jedem anderen Mann würde ich sagen, daß man Perlen vor die 
Säue wirft, aber der Bursche hat einmal eine überragende Tat 
vollbracht, und man kann nie wissen, wann er die nächste 
vorbereitet!« 

»Nach was soll ich ihn fragen?« fragte ich. »Was hat er denn 

getan?« 

»Haben Sie in der heutigen  Times  seinen Brief zur Rubrik 

Wissenschaftliche Möglichkeiten nicht gesehen?« 

»Nein«. 
McArdle bückte sich und hob die Zeitung vom Boden auf. 
»Lesen Sie es mir vor«, sagte er und deutete mit dem Finger 

auf eine bestimmte Spalte. »Ich würde es gerne noch einmal 
hören, denn ich bin immer noch nicht sicher, ob ich den Mann 
richtig verstanden habe.« 

Der Brief, den ich dem Nachrichtenchef der  Gazette  vorlas, 

hatte folgenden Wortlaut: 
 

WISSENSCHAFTLICHE MÖGLICHKEITEN 

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Mein Herr, mit ziemlicher Amüsiertheit und auch weniger 
schmeichelhaften Emotionen habe ich den selbstzufriedenen, 
gänzlich närrischen Brief des James Wilson MacPhail gelesen, 
der letztlich zum Thema »Das Verblassen der Fraunhoferschen 
Linien in den Spektren von Planeten und Fixsternen« in Ihrer 
Zeitung abgedruckt wurde. Mr. MacPhail mißt diesen 
Erscheinungen wenig Bedeutung bei. Einer ausgeprägteren 
Intelligenz wird dies jedoch als von allergrößter Wichtigkeit 
erscheinen müssen und sollte demgemäß die absolute 
Aufmerksamkeit jedes Mannes, jeder Frau und jedes Kindes 
dieses Planeten hervorrufen. Da ich kaum zu hoffen wage  – 
und schon gar nicht durch 

die Verwendung der 

wissenschaftlichen Sprache 

–, jene Dilettanten zum 

Nachdenken zu bewegen, die ihre Ideen aus den Spalten von 
Tageszeitungen beziehen, will ich mich bemühen, mich dazu 
herabzulassen, ihre Begrenzungen hinzunehmen und die 
Situation anhand eines kleinen Beispiels erläutern, das die 
Intelligenz Ihrer Leser nicht überbeanspruchen wird. 
 
»Mann, der Kerl ist ein Wunder – ein lebendes Wunder!« sagte 
McArdle und schüttelte sinnierend den Kopf. »Er würde sogar 
eine Quäkerversammlung zu Gewalttaten treiben. Kein 
Wunder, daß ihm in London der Boden zu heiß geworden ist. 
Es ist ein Jammer, Mr. Malone  – ein Mann mit solchen 
Geistesgaben! Aber kommen wir nun zu seinem Beispiel.« 

»Nehmen wir an«, las ich weiter, »daß man während einer 

Atlantiküberquerung ein kleines Bündel miteinander 
verbundener Korken ins Wasser  geworfen hat. Den sie 
umgebenden Bedingungen gemäß werden sie Tag für Tag 
langsam vor sich hintreiben. Wären die Korken mit Intelligenz 
versehen, könnte man sich vorstellen, daß sie der Meinung 
huldigen müßten, die Umstände, unter denen sie existieren, 
seien beständig und unveränderlich. Wir aber, mit unserem 

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überlegenen Wissen, wissen, daß viel geschehen kann, das die 
Korken überraschen müßte. 

Sie können vielleicht gegen eine Schiffswand treiben  – oder 

gegen einen schlafenden Wal; sie können sich aber ebenso gut 
in Seetang verstricken. In jedem Fall würde ihre Reise aber 
möglicherweise damit enden, daß die Elemente sie gegen die 
Felsenküste von Labrador werfen. Aber wie sollen sie sich so 
etwas vorstellen können, wenn sie Tag für Tag von einem 
Ozean, den sie für grenzenlos und allgegenwärtig halten, sanft 
getragen werden? 

Ihre Leser werden möglicherweise einsehen, daß der in dieser 

Parabel erwähnte Atlantik die Stelle jenes mächtigen Ozeans 
einnimmt, den wir als Weltenraum kennen und die kleinen 
Korken nichts anderes darstellen, als das winzige und obskure 
Planetensystem, zu dem wir gehören: Eine Sonne drittrangiger 
Größe und eine Ansammlung belangloser Satelliten, die unter 
den gleichen täglichen Bedingungen einem unbekannten Ende 
entgegenschweben, einer elenden Katastrophe, die uns im 
Ultimaten Grenzgebiet des Weltraums erwartet, wo wir über 
einen ätherischen Niagarafall gespült oder an ein 
unvorstellbares Labrador geworfen werden. 

Ich sehe keinen Grund für den seichten und unwissenden 

Optimismus Ihres Korrespondenten Mr. James Wilson 
MacPhail, aber ich sehe viele Gründe, warum wir sehr genau 
und interessiert unsere Aufmerksamkeit allen Anzeichen des 
Wechsels schenken sollten, die in dem uns umgebenden 
Kosmos sichtbar werden und von denen letztendlich vielleicht 
unser Schicksal abhängt.« 

»Mensch, er wäre der ideale Prediger geworden«, sagte 

McArdle. »Er hört sich an wie eine Orgel. Aber nun zu der 
Sache, die ihm Sorgen bereitet.« 

»Das allgemeine Verblassen und die Verschiebungen der 

Fraunhoferschen Linien im Spektrum deuten meines Erachtens 

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auf eine ausgedehnte kosmische Veränderung subtiler und 
einmaliger Art hin. 

Das Licht eines Planeten ist das reflektierte Licht der Sonne. 

Das Licht eines Sternes hingegen ist selbst erzeugt. Aber die 
Spektren von Planeten und Sternen sind in diesem Fall dem 
gleichen Wechsel unterworfen. Heißt das also, daß die Sterne 
und Planeten sich verändert haben? Eine solche Vorstellung ist 
für mich undenkbar. Welche plötzliche Veränderung könnte 
gleichzeitig sowohl über Sterne als auch Planeten 
hereinbrechen? Haben wir es mit einem Wechsel in unserer 
Atmosphäre zu tun? 

Es ist zwar möglich, aber im höchsten Grade 

unwahrscheinlich, da wir um uns herum keinerlei Anzeichen 
dafür erblicken können und selbst chemische Analysen keine 
Ergebnisse gebracht haben. Worin besteht also die dritte 
Möglichkeit? Kann es sein, daß eine Veränderung im 
Leitungsmedium am Verblassen der Fraunhoferschen Linien 
schuld ist? Daß der unendlich feine Äther, der sich von Stern 
zu Stern erstreckt und sich über das ganze Universum 
ausbreitet, sich verändert hat? Inmitten dieses tiefen Ozeans 
treiben wir auf einer trägen Welle dahin. 

Könnte diese Welle uns nicht in einen Bereich verschlagen, 

in dem ungewöhnliche Zustände herrschen und der über 
Eigenschaften verfügt, von denen wir noch nie gehört haben? 
Die Möglichkeit besteht. Die Störungen, denen das Spektrum 
unterliegt, beweisen es. Es kann ein Wechsel zum Guten hin 
sein, aber auch zum Bösen. Ebenso kann sich die Veränderung 
als neutral erweisen. Wir wissen es nicht. Oberflächliche 
Beobachter mögen der Meinung sein, daß man die Sache mit 
einem Schulterzucken abtun kann, aber ein Mensch wie ich, 
der über die höhere Intelligenz des wahren Denkers verfügt, 
muß einsehen, daß die Möglichkeiten des Universums 
unkalkulierbar sind und sich derjenige, der sich für weise hält, 

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besser auf das Unbekannte vorbereitet. Um ein offensichtliches 
Beispiel heranzuziehen: Wer würde zu behaupten wagen, daß 
die unter den Eingeborenenrassen Sumatras wütenden 
Epidemien, die in der Morgenausgabe Ihrer Zeitung 
verzeichnet sind, etwas mit der Veränderung des Kosmos zu 
tun haben? Vielleicht reagieren die Eingeborenen auf diese 
Veränderung nur schneller als die Völker Europas? 

Mit diesem Gedanken sollten Sie sich beschäftigen. Zum 

gegenwärtigen Zeitpunkt wäre die Verteidigung dieser Idee 
sicher ebenso unprofitabel wie ihre Ablehnung, aber wer nicht 
erkennt, daß sie sich innerhalb der von der wissenschaftlichen 
Möglichkeit gesetzten Grenze befindet, kann nur schwer von 
Begriff und ein phantasieloser Gimpel sein, Hochachtungsvoll, 
GEORGE EDWARD CHALLENGER, The Briars, 
Rotherfield.« 

»Ein netter, zum Nachdenken anregender Brief ist das«, sagte 

McArdle nachdenklich und steckte eine Zigarette in die lange 
Glasröhre, die ihm als Spitze diente. »Was halten Sie davon, 
Mr. Malone?« 

Mir blieb nichts anderes übrig, als demütigst einzugestehen, 

daß ich mit dem hier angesprochenen Thema nicht das 
geringste anfangen konnte. Was, zum Beispiel, waren 
Fraunhofersche Linien? 

Da McArdle diese Angelegenheit bereits mit einem seinem 

Büro zur Verfügung stehenden Fachmann geklärt hatte, zeigte 
er mir zwei auf der Platte seines Schreibtisches liegende 
Spektralstreifen. Sie hatten eine gewisse Ähnlichkeit mit den 
Hutbändern, die die Mitglieder junger und ambitionierter 
Cricket-Klubs tragen. Er machte mir klar, daß sich zwischen 
den einzelnen Farbabstufungen – sie waren Rot, Orange, Gelb, 
Grün, Blau, Indigo und Violett  – schwarze Querbalken 
befanden, die die Ränder der Farben überlagerten. 

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»Die dunklen Streifen sind die Fraunhoferschen Linien«, 

sagte McArdle. »Die Farben selbst sind nichts anderes als 
Licht. Wenn Sie Licht mittels eines Prismas in seine 
Wellenbestandteile zerlegen, weist es keine Farbe mehr auf. 
Sie können ihm nichts mehr entnehmen. Es sind die Linien, die 
zählen, da sie sich der jeweiligen Lichtquelle anpassen. Aber 
anstatt fest zu bleiben, zeigen sie seit einer Woche 
Auflösungserscheinungen, und nun fragen die Astronomen 
natürlich nach der Ursache. 

Hier ist ein Photo der verblassenden Linien für die morgige 

Ausgabe. Bisher hat das Publikum noch kein Interesse an 
dieser Angelegenheit gezeigt, aber Challengers Brief in der 
Times wird es sicher aufrütteln, nehme ich an.« 

»Und was hat seine Bemerkung über Sumatra zu bedeuten?« 
»Nun, es erscheint mir zwar ein wenig an den Haaren 

herbeigezogen, irgendwelche Verbindungen zwischen den 
verblassenden Linien des Spektrums und einem kranken 
Nigger auf Sumatra zu ziehen, aber der alte Fuchs hat uns 
bereits einmal gezeigt, daß er weiß, wovon er redet. Irgendeine 
komische Epidemie ist dort unten ausgebrochen, das steht 
außer Zweifel. Heute hat uns ein Kabel aus Singapur erreicht, 
das besagt, daß die Leuchttürme in der Sundasee ausgefallen 
und daraufhin zwei Schiffe auf Grund gelaufen sind. Auf alle 
Fälle wäre es nicht übel, wenn Sie Challenger in dieser 
Hinsicht ausfragen würden. Wenn Sie etwas handfestes 
bekommen, hätten wir den Artikel gerne für die 
Montagsausgabe.« 

Ich kam gerade aus dem Büro des Nachrichtenchefs und 

dachte noch über den Auftrag nach, als ich hörte, daß unter mir 
im Wartezimmer jemand meinen Namen rief. Es war der 
Telegrammbote, den man mir von meiner Wohnung in 
Streatham nachgeschickt hatte. Die Botschaft, die er mir 

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überbrachte, stammte von dem Mann, über den wir gerade 
gesprochen hatten, und lautete folgendermaßen: 

 

Mahne, Hill Street 17, 
Streatham. 
Sauerstoff mitbringen. 
Challenger. 

 
»Sauerstoff mitbringen!« Der Professor hatte, wie ich mich 

erinnerte, einen derben Humor, der zu den ungeschicktesten 
und schwerfälligsten  Purzelbäumen fähig war. War dies einer 
von jenen Scherzen, die ihn zu einem brüllenden Gelächter 
veranlassen konnten, wobei seine Augen sich schlossen, und er 
nur noch aus einem weitaufgerissenen Mund und einem 
gesträubten Bart bestand, wobei er alle Ernsthaftigkeit um sich 
herum vergaß? Ich las seine Botschaft noch einmal, aber es 
war mir nicht im entferntesten möglich, irgendeinen Ulk aus 
ihr herauszulesen. Also mußte es sich um eine lapidare 
Anweisung handeln – wenn auch um eine äußerst seltsame. Er 
war  der letzte Mensch auf der Welt, dessen wohlüberlegte 
Anweisungen ich in den Wind geschlagen hätte. 
Möglicherweise bereitete er ein chemisches Experiment vor; 
vielleicht… Nun, es konnte mir egal sein, wozu er den 
Sauerstoff brauchte. Ich mußte ihn besorgen. Ich hatte noch 
eine gute Stunde Zeit, bis der Zug von der Victoria-Station 
abfuhr. 

Ich nahm mir, nachdem ich die entsprechende Adresse aus 

dem Telefonbuch herausgesucht hatte, ein Taxi und fuhr zur 
Oxygen Tube Supply Company in der Oxford Street. 

Als ich  den Hof meines Ziels erreichte, erschienen im 

Eingang des Gebäudes zwei junge Männer, die einen eisernen 
Zylinder hinausschleppten und ihn mit sichtlicher Anstrengung 
in einem wartenden Auto verstauten. Ein älterer Mann folgte 

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ihnen keifend auf dem Fuße und gab ihnen mit quäkender, 
sardonischer Stimme Anweisungen. Dann wandte er sich mir 
zu. Es gab keinen Zweifel: Die asketischen Gesichtszüge und 
der Ziegenbart gehörten niemand anderem als meinem stets 
übelgelaunten Geführten Professor Summerlee. 

»Was!« rief er aus. »Nun sagen Sie bloß nicht, daß Sie auch 

eines dieser hirnverbrannten, nach Sauerstoff schreienden 
Telegramme erhalten haben!« 

Ich mußte es zugeben. 
»So, so! Ich erhielt auch eines und habe mich, wie Sie sehen, 

ganz im Gegensatz zu meiner Laune, danach verhalten. Unser 
guter Freund benimmt sich mal wieder unmöglich. Nicht 
einmal das Verlangen nach Sauerstoff kann so dringend sein, 
daß man den üblichen Weg der Versorgung außer acht läßt und 
die Zeit derjenigen mißbraucht, die mehr zu tun haben, als man 
selbst. Warum hat er es nicht direkt bestellt?« 

Ich konnte nur annehmen, daß er es vielleicht sofort haben 

wollte. 

»Oder er bildet es sich jedenfalls ein, aber das, ist wieder eine 

andere Sache. Jetzt dürfte es allerdings überflüssig sein, daß 
Sie sich auch noch mit einem Tank belasten. Ich habe meine 
Ladung ja schon gekauft.« 

»Aber trotzdem… Aus irgendeinem Grunde scheint er zu 

wünschen, daß ich auch einen Tank mitbringe. Es wird 
sicherer sein, wenn ich genau das tue, was er von mir 
verlangt.« 

Ungeachtet des Gebrummels und der Einwände Summerlees 

bestellte ich noch einen zusätzlichen Tank, der zusammen mit 
dem ersten in seinem Wagen verstaut wurde, da er mir 
angeboten hatte, mich zum Bahnhof mitzunehmen. 

Ich begab mich zu meinem Taxi, um zu zahlen. Was  das 

Fahrgeld anbelangte, so entpuppte sich der Fahrer als ziemlich 
streitsüchtig und beleidigend. Als ich zu Professor Summerlee 

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zurückkehrte, hatte dieser gerade einen wütenden Wortwechsel 
mit den Männern, die den Sauerstoff hinausgetragen hatten, 
und sein kleiner weißer Ziegenbart hüpfte vor Entrüstung auf 
und nieder. Wie ich mich erinnere, nannte einer der Männer 
ihn einen »bescheuerten alten Kakadu«, was Summerlees 
Chauffeur so in Rage brachte, daß er aus dem Wagen sprang 
und die Stelle seines beleidigten Herrn einnahm und uns nichts 
anderes mehr übrigblieb, als ihn daran zu hindern, einen 
Auflauf zu verursachen. 

Die Beschreibungen dieser Kleinigkeiten mögen trivial 

erscheinen  – und als sie stattfanden, dachten wir uns auch 
nichts dabei. 

Erst jetzt, wo ich mich darauf zurückbesinne, sehe ich, daß 

sie mit der Geschichte, die ich erzählen will, in einem 
ursächlichen Zusammenhang standen. 

Ich hatte den Eindruck, daß der Chauffeur entweder ein 

Anfänger in seinem Beruf sein müsse oder aufgrund des 
Zwischenfalls stark erregt war, denn als er uns zum Bahnhof 
fuhr, erwiesen sich seine Fahrkünste als ziemlich schlecht. Wir 
wären beinahe zweimal mit anderen, sich auf eine ähnliche 
Weise konfus bewegender Fahrzeuge zusammengestoßen, und 
ich erinnere mich daran, Summerlee gegenüber erwähnt zu 
haben, daß die Moral der Londoner Autofahrer ziemlich 
heruntergekommen sei. Einmal jagten wir haarscharf am 
Rande einer Menschenmenge vorbei, die einen Sportplatz 
umringte. Die Leute, die das offenbar sehr verdroß, erregten 
sich daraufhin in höchstem Maße, und es kam sogar so weit, 
daß einer der Zuschauer auf das Trittbrett sprang und uns mit 
einem Knüppel bedrohte. Ich stieß ihn herunter, aber wir 
waren ziemlich froh, als wir ihn endlich los waren und der 
Park hinter uns lag. All  diese kleinen Zwischenfälle, die mir 
jetzt nach und nach wieder einfallen, setzten meinen Nerven 

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zu, und ich erkannte, daß auch meinem Gefährten allmählich 
der Kragen zu platzen drohte. 

Unsere gute Laune kehrte allerdings zurück, als wir auf dem 

Bahnsteig  auf Lord  John Roxton stießen, der uns bereits 
erwartete. Seine hochgewachsene Gestalt war in einen beigen 
Jagdanzug aus Tweed gekleidet, und sein lebhaftes Gesicht 
und seine unvergeßlichen Augen, die gleichzeitig  streng und 
humorvoll blicken konnten, leuchteten freudig auf, als er uns 
sah. 

In seinem rötlichen Haar zeigten sich ein paar graue Strähnen 

und die letzten Jahre hatten seine Stirnfalten ein wenig vertieft 
– alles in allem war er aber immer noch der gleiche Mann, der 
in der Vergangenheit unser Kamerad gewesen war. 

»Hallo, Herr Professor! Hallo, junger Freund!« rief er, als er 

auf uns zukam. 

Er brüllte vor Vergnügen, als er die beiden Sauerstofftanks 

auf dem Wägelchen des uns begleitenden Dienstmannes 
gewahrte. 

»Sie haben also auch welche mitgebracht!« rief er aus. 

»Meiner ist schon im Gepäckwagen. Was, um Himmels willen, 
hat der alte Bär vor?« 

»Haben Sie seinen Brief in der Times gelesen?« fragte ich. 
»Um was ging es denn?« 
»Um dummes Zeug!« grunzte Summerlee. 
»Nun, ich nehme an, daß es irgend etwas mit dem Sauerstoff 

zu tun hat«, sagte ich. 

»Dummes Zeug!« rief Summerlee erneut, aber diesmal etwas 

wütender. 

Als wir uns in das Raucherabteil der Ersten Klasse setzten, 

hatte er sich bereits die kleine, stummelige Bruyerepfeife 
angezündet, die die Spitze seiner langen, aggressiv 
vorgereckten Nase anzusengen drohte. 

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»Freund Challenger ist ein gerissener Bursche«, sagte er 

vehement. »Das kann niemand abstreiten. Wer das tut, ist ein 
Narr. Sehen Sie sich nur seinen Hut an. Er enthält ein Gehirn 
von sechzig Unzen Gewicht – eine große Maschine, die sanft 
vor sich hinschnurrt und saubere Arbeitsergebnisse produziert. 
Zeigen Sie mir das Maschinenhaus, und ich sage Ihnen, wie 
groß die Maschine ist, die sich darin befindet. Aber er ist ein 
geborener Scharlatan, das habe ich ihn, wie Sie selbst wissen, 
offen ins Gesicht gesagt; ein geborener Scharlatan, der dem 
kindischen Zwang verhaftet ist, im Rampenlicht stehen zu 
müssen. Es ist wieder einmal Sauregurkenzeit; da sieht Freund 
Challenger natürlich wieder einmal die Möglichkeit, ganz groß 
von sich reden zu machen. Sie nehmen doch nicht im Ernst an, 
daß er wirklich an diesen Unsinn von der Veränderung des 
Weltraums und einer darauf fußenden möglichen Gefahr für 
die Menschheit glaubt? Einen solchen Schwachsinn halbe ich 
ja noch nie gehört!« 

Er saß da wie ein alter weißer Rabe und wurde von einem 

krächzenden Gelächter geschüttelt. 

Ich wurde von einer Welle des Ärgers erfaßt, als ich 

Summerlee zuhörte. Es schickte sich einfach nicht, so über 
einen Mann zu sprechen, der nicht nur unser Führer gewesen 
war, sondern uns auch den Ruhm hatte zuteil werden lassen, 
mit dem man uns nach unserem bemerkenswerten Abenteuer 
in Südamerika überschüttete. Ich hatte gerade den Mund 
geöffnet, um ihm eine passende Antwort zu geben, als Lord 
John mir zuvorkam. 

»Sie haben sich schon einmal mit Challenger auf einen Streit 

eingelassen«, sagte er finster, »und ich erinnere mich, daß er 
Sie in weniger als zehn Sekunden am Boden hatte. Mir scheint, 
Professor Summerlee, daß er Sie um Klassen überragt. Das 
Beste, was Sie tun könnten, wäre, daß Sie schnell eine gewisse 

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Entfernung zwischen sich und ihn brächten und ihn im übrigen 
in Ruhe ließen.« 

»Davon abgesehen«, sagte ich, »ist er für uns alle stets ein 

guter Freund gewesen. Was immer er auch für Fehler haben 
mag, er ist aufrichtig wie kein zweiter, und ich zweifle stark 
daran, daß er hinter unseren Rücken je in ähnlicher Weise über 
einen von uns sprechen würde.« 

»Gut gesagt, junger Freund«, sagte Lord  John Roxton. »Sie 

sind ein aufrechter Bursche.« 

Dann klopfte er Professor Summerlee mit einem freundlichen 

Lächeln auf die Schulter. »Na, kommen Sie, Herr Professor. 
Wir wollen uns doch den schönen Tag nicht mit Streitereien 
vergällen. Wir haben zusammen einfach zuviel erlebt. Aber 
mäßigen Sie sich, wenn das Thema auf Challenger kommt, 
denn dieser junge Mann und ich haben eine Schwäche für den 
alten Knaben.« 

Aber Summerlee war nicht in der Stimmung, die Goldene 

Brücke zu beschreiten, die Lord John ihm baute. Sein Gesicht 
zeigte deutliche Mißbilligung. Sogar seine Pfeife stieß 
drohende Rauchwolken aus. 

»Was Sie anbetrifft, Lord John Roxton«, quäkte er, »so haben 

Ihre Ansichten über eine wissenschaftliche Angelegenheit in 
meinen Augen den gleichen Stellenwert, wie meine Meinung 
über ein neuentwickeltes Schießgewehr in den Ihren. Ich 
besitze eine eigene Urteilsfähigkeit, Sir, und ich setze sie nach 
eigenem Gutdünken ein. Und wenn ich auch einmal geirrt habe 
– ist das ein Grund, fortan mit meinen Ansichten hinter dem 
Berg zu bleiben? Muß ich selbst dort schweigen, wo ein Mann 
den hanebüchensten Unsinn als wissenschaftliche Erkenntnis 
verkauft? Haben wir etwa einen Wissenschaftspapst, der seine 
Ansichten ex cathedra niederlegt und das gemeine Volk 
dieselben widerspruchslos hinzunehmen hat? Ich versichere 
Ihnen, Sir, daß auch ich ein Gehirn besitze. Und ich käme mir 

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wie ein Snob oder ein Sklave vor, würde ich es nicht auch 
benutzen. Wenn es Ihnen Spaß macht, an das Gewäsch über 
den Weltraum und die Fraunhoferschen Linien zu glauben, 
dann sei Ihnen das unbenommen, aber verlangen Sie nicht, daß 
jemand, der Sie an Alter und Weisheit überragt, bei dieser 
Torheit mitzieht. Ist es denn nicht offensichtlich, daß die 
Resultate auch an uns sichtbar sein müßten, wenn Challengers 
Behauptungen in dem Maße zuträfen, wie er es sich wünscht?« 
An dieser Stelle mußte er über seine eigene Argumentation 
laut lachen. 

»Jawohl, Sir, auch wir müßten die Auswirkungen längst zu 

spüren bekommen haben, und anstatt gemütlich in diesem Zug 
zu sitzen und wissenschaftliche Probleme zu diskutieren, 
sollten wir längst die Symptome einer Vergiftung zeigen. Wo 
aber sehen wir sie? Darauf verlange ich eine Antwort, Sir! Und 
kommen Sie mir bloß nicht mit Ausflüchten! Ich nagle Sie auf 
eine Antwort fest!« 

Ich fühlte, daß ich immer wütender wurde. In Summerlees 

Verhalten zeigte sich etwas Aggressives und Irritierendes. 

»Ich glaube, daß Sie weniger sicher in Ihrer Meinung wären, 

wenn Sie mehr über die Tatsachen wüßten«, sagte ich. 
Summerlee nahm die Pfeife aus dem Mund und musterte mich 
mit einem unbeweglichen Blick. 

»Darf ich Sie vielleicht fragen, was Sie mit dieser offenbar 

dreisten Bemerkung bezwecken, Sir?« 

»Ich meine damit, daß mir unser Nachrichtenchef, bevor ich 

sein Büro verließ, erzählte, daß er ein Telegramm erhalten hat, 
das ihn davon in Kenntnis setzte, daß unter den Eingeborenen 
Sumatras eine allgemeine Epidemie ausgebrochen sei und daß 
darüber hinaus in der Sundasee die Leuchttürme nicht 
funktionieren.« 

»Es sollte wirklich so etwas wie Grenzen menschlicher 

Torheit geben!« schrie Summerlee in entschiedener Rage. 

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»Kann Ihnen denn wirklich entgangen sein, daß die Luft  – 

nehmen wir einmal Challengers alberne Behauptung als 
gegeben an – auf dieser Seite der Erde die gleiche ist, wie die 
auf der anderen? Glauben Sie vielleicht auch, daß die Luft von 
Kent der von Surrey  – durch die uns dieser Zug gerade 
befördert  – in gewisser Weise überlegen ist? Es gibt doch 
wirklich nichts, was die Leichtgläubigkeit und Unwissenheit 
eines Durchschnittslaien noch übertreffen könnte. Kann man 
wirklich ernsthaft annehmen, daß die Luft Sumatras dermaßen 
tödlich ist, daß sie völlige Abstumpfung hervorruft, während 
sie zur gleichen Zeit auf uns hier nicht die  geringsten 
Auswirkungen hat? Von mir kann ich jedenfalls behaupten, 
daß ich mich körperlich und geistig nie wohler gefühlt habe, 
als gerade jetzt.« 

»Das mag  ja sein. Ich behaupte ja auch gar nicht, ein Mann 

der Wissenschaft zu sein«, sagte ich, »aber ich habe 
irgendwann einmal gehört, daß die Wissenschaft der ersten 
Generation von der zweiten meist schon widerlegt werden 
kann. Aber es erfordert nicht einmal besonders viel gesunden 
Menschenverstand, um die Möglichkeit in Betracht zu ziehen, 
daß es nach dem wenigen, was wir wirklich über die Luft 
wissen, sein kann, daß sie in den verschiedenen Teilen der 
Welt den örtlichen Gegebenheiten unterworfen sein kann und 
bestimmte Auswirkungen erst anderswo hervorruft.« 

»Mit  ›kann‹ und ›könnte‹ können Sie alles beweisen«, rief 

Summerlee wütend aus. »Schweine könnten vielleicht fliegen. 
Ja, Sir, sie  könnten  es vielleicht, aber sie tun es nicht. Es ist 
sinnlos, mit Ihnen zu argumentieren. Challenger hat Sie mit 
diesem Unsinn vollgestopft. Sie sind beide keiner vernünftigen 
Argumentation gewachsen. Ich hingegen hatte meine 
Einwände bereits vorgebracht, bevor dieser Zug auch nur zum 
erstenmal federte.« 

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»Ich muß sagen, Professor Summerlee«, sagte Lord John mit 

einem strengen Blick, »daß sich Ihr Benehmen nicht 
sonderlich gebessert hat, seit ich das erste Mal das Vergnügen 
hatte, Sie zu sehen.« 

»Ihr Krautjunker seid sowieso nicht daran gewöhnt, der 

Wahrheit ins Auge zu blicken«, antwortete Summerlee mit 
einem bitteren Lächeln. »Es muß Ihnen sicher wie ein Schock 
erscheinen, wenn Sie feststellen, daß Sie ungeachtet Ihres 
Titels nichts weiter sind als ein ungebildeter Mensch, 
stimmte?« 

»Ich gebe Ihnen mein Wort, Sir«, sagte Lord John ernst und 

ungehalten, »wenn Sie jünger wären, würden Sie es nicht 
wagen, mich in einer solch ungebührlichen Weise anzureden.« 

Summerlee streckte sein Kinn vor. Sein Ziegenbärtchen 

sträubte sich. 

»Ich will Ihnen sagen, Sir, daß es in meinem Leben noch 

niemals eine Zeit gegeben hat – egal ob ich jung oder alt war –, 
in der ich Angst davor gehabt hätte, meine Meinung gegenüber 
einem unwissenden Laffen auszusprechen. Jawohl, Sir, einem 
unwissenden Laffen gegenüber; selbst wenn Sie über so viele 
Titel verfügten, wie Sklaven erfinden und Narren sich 
verleihen könnten.« 

Einen Augenblick lang schienen Lord Johns Augen Funken 

zu versprühen. Dann jedoch meisterte er mit einer 
bemerkenswerten Anstrengung seinen Ärger, lehnte sich in 
seinen Sitz zurück, verschränkte die Arme und produzierte ein 
verbittertes Lächeln. Mir erschien die ganze Situation zugleich 
bedrohlich und bejammernswert. Wie eine Woge wurde ich 
von der Erinnerung an die gute Kameradschaft der 
Vergangenheit und die glücklichen Tage voller Abenteuer 
überspült, die wir gemeinsam überstanden hatten. Ich erinnerte 
mich an alles, was wir erlitten und wofür wir gearbeitet hatten. 
Der Sieg war schließlich unser gewesen. Daß es so weit hatte 

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kommen können  – zu Beleidigungen und Schmähungen! 
Plötzlich schluchzte ich. Ich schluchzte und schluckte, und 
zwar in einem solchen Maße, daß es unmöglich war, meine 
Tränen zu verbergen. Meine Gefährten sahen mich überrascht 
an, und ich bedeckte das Gesicht mit meinen Händen. 

»Es ist schon in Ordnung«, sagte ich. »Es ist nur… so 

schade!« 

»Sie sind krank, junger Freund, das ist es«, sagte Lord John. 

»Schon als ich Sie sah, kamen Sie mir komisch vor.« 

»Ihr Gesundheitszustand, Sir, hat sich in den drei Jahren 

offensichtlich nicht gebessert«, sagte Summerlee 
kopfschüttelnd. »Auch mir ist nicht verborgen geblieben, daß 
Sie sich seltsam benahmen, als wir uns das erste Mal trafen. 
Sie brauchen Ihr Mitgefühl nicht zu verschwenden, Lord John. 
Diese Tränen sind die Folgen zu großen Alkoholgenusses. Der 
Mann hat getrunken. Nebenbei gesagt, Lord John, nannte ich 
Sie eben einen Laffen. Das war möglicherweise ein wenig 
übertrieben. Aber irgendwie erinnert mich dieses Wort an eine 
kleine Fähigkeit, die ich  – es ist zwar trivial, aber amüsant  – 
einmal besaß. Sie kennen mich ausschließlich als einen 
ernsthaften Mann der Wissenschaft. Können Sie sich 
vorstellen, daß ich einst in verschiedenen Kindergärten den 
Ruf eines ausgezeichneten Tierstimmenimitators besaß? 
Vielleicht kann ich dazu beitragen, uns die Langeweile ein 
wenig zu verkürzen. Würde es Ihnen Spaß machen, meinen 
Hahnenschrei zu hören?« 

»Nein, Sir«, sagte Lord John, der immer noch sichtlich 

beleidigt war. »Das würde mir keinen Spaß machen.« 

»Nun, auch meine Nachahmung einer Henne, die gerade ein 

Ei gelegt hat, wurde von der Kritik stets als eher über dem 
Durchschnitt stehend bezeichnet. Darf ich es wagen?« 

»Nein, Sir – auf keinen Fall!« 

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Aber trotz des ernsthaft geäußerten Verbots legte Professor 

Summerlee seine Pfeife beiseite und unterhielt uns  – 
beziehungsweise glaubte uns zu unterhalten – für den Rest der 
Reise mit fortwährenden Vogel- und anderen Tierschreien, die 
mir so absurd erschienen, daß mein Weinen in ein stürmisches 
Gelächter überging und ich nahe an der Grenze zur Hysterie 
war. Ich saß dem ernsthaft agierenden Professor gegenüber 
und sah  – oder vielmehr hörte  – ihn in der Rolle eines 
aufgeregten Hahnes oder als Welpe, dem man gerade auf den 
Schwanz getreten hat. Einmal reichte Lord  John mir eine 
Zeitung, auf deren Rand er mit Bleistift »Der arme Teufel! 
Jetzt ist er wirklich übergeschnappt!« geschrieben hatte. Ohne 
Zweifel war Summerlees Darbietung etwas ungewöhnlich; 
trotzdem kam sie mir sowohl amüsant als auch herausragend 
vor. 

Während der Professor weiterhin sein Rolle spielte, beugte 

sich Lord John vor und erzählte mir eine endlose Geschichte 
von einem Büffel und einem indischen Radschah, die weder 
einen Anfang noch ein Ende zu haben schien. Professor 
Summerlee hatte gerade angefangen, das Zirpen eines 
Kanarienvogels nachzuahmen, als Lord John sich dem 
Höhepunkt seiner Erzählung näherte und der Zug in den 
Bahnhof von Jarvis Brook einfuhr. Wenn wir nach Rotherfield 
wollten, mußten wir hier aussteigen. 

Challenger war bereits da, um uns abzuholen. Seine 

Erscheinung war überwältigend. Alle Truthähne der Welt 
zusammengenommen konnten nicht soviel steifbeinige Würde 
ausstrahlen wie er, als er vor dem Bahnhofsgebäude auf und ab 
schritt. Das gutmütige Lächeln herablassender Ermutigung, 
dessen er sich befleißigte, galt niemandem und jedem. Wenn er 
sich seit den alten Zeiten überhaupt verändert hatte, dann nur 
insofern, daß seine Eigenarten noch ausgeprägter geworden 
waren. Der große Schädel und die breite Fläche seiner Stirn 

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erschienen mir, wie auch das darauf ruhende Haarbüschel, 
noch größer als zuvor. Sein schwarzer Bart stand vor wie eine 
beeindruckende Kaskade, und die klaren, grauen Augen mit 
den anmaßend und sardonisch wirkenden  Lidern, schauten 
noch herrischer in die Welt als früher. 

Er schüttelte mir freudig die Hand, schenkte mir  – wie ein 

Meister seinem Lehrjungen  – ein gönnerhaftes Lächeln und 
verfrachtete uns, nachdem er den anderen beim Einladen des 
Gepäcks geholfen und die Sauerstofftanks verstaut hatte, in 
einen großen Kraftwagen, der von dem gleichen wortkargen 
Austin gesteuert wurde, den ich bei meinem ersten, 
ereignisreichen Besuch bei Challenger in der Rolle eines 
Butlers erlebt hatte. 

Unsere Reise führte uns über eine Serpentine auf einen Hügel 

und dann durch ein herrliches Land. Ich saß vorne beim 
Chauffeur und hatte den Eindruck, daß meine Gefährten hinter 
mir alle gleichzeitig redeten. Lord John kämpfte immer noch, 
soweit ich das beurteilen konnte, mit seiner Büffelgeschichte. 
Gleichzeitig hörte ich die wohlvertraute, brummige Stimme 
Challengers und das keifende Gerede von Summerlee, die sich 
wieder einmal in eine wissenschaftliche Diskussion verbissen 
hatten. Austin wandte mir plötzlich sein mahagonifarbenes 
Gesicht zu, ohne den Blick vom Steuer zu nehmen. 

»Ich bin entlassen worden«, sagte er. 
»Großer Himmel!« sagte ich. 
An diesem Tag kam mir alles komisch vor. Jedermann sagte 

seltsame, unerwartete Dinge. Es war wie in einem Traum. 

»Zum siebenundvierzigstenmal«, sagte Austin nachdenklich. 
»Und wann gehen Sie?« fragte ich, um einen besseren 

Überblick zu gewinnen. 

»Ich gehe gar nicht«, sagte Austin. 
Damit schien die Unterhaltung beendet zu sein, aber plötzlich 

fing er von neuem an. 

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»Wer würde denn, wenn ich wirklich ginge, nach ihm 

sehen?« Er deutete mit dem Kopf auf seinen Herrn. »Wer 
würde ihm schon dienen wollen?« 

»Na, irgendjemand«, erwiderte ich lahm. 
»Glaub ich nicht. Niemand würde länger als eine Woche 

bleiben. Wenn ich gehen würde,  ginge bei ihm bald alles 
drunter und drüber. Ich erzähle Ihnen das, weil Sie mit ihm 
befreundet sind und Sie es deswegen wissen sollten. Wenn ich 
ihn beim Wort nehmen würde – na ja, aber er hat es bestimmt 
nicht so gemeint. Er und die Herrin wären dann nicht mehr als 
zwei ausgesetzte Kinder. Ich mache alles für ihn. Und dann 
geht er her und wirft mich raus.« 

»Und warum würde kein anderer bleiben?« fragte ich. 
»Nun, weil sie bei ihm – wie ich – nichts verdienen würden. 

Der Herr ist ein sehr gescheiter Mann; so gescheit, daß er sich 
manchmal wie ein Bekloppter aufführt. Was glauben Sie, was 
er heute morgen angestellt hat?« 

»Was hat er denn angestellt?« 
Austin beugte sich zu mir herüber. 
»Er hat die Haushälterin gebissen«, flüsterte er. 
»Er hat sie gebissen?« 
»Jawohl, Sir. Er hat sie ins Bein gebissen. Ich hab mit meinen 

eigenen Augen gesehen, wie sie von der Halle aus zu einem 
Marathonlauf angesetzt hat.« 

»Herrjemineh!« 
»Das kann man wohl sagen, Sir, wenn man so etwas 

mitangesehen hat. Die Nachbarn hat er sich auch nicht gerade 
zu Freunden gemacht. Es gibt sogar ein paar Leute, die sagen, 
er sei bei den Ungeheuern, über die Sie geschrieben haben, in 
allerbester Gesellschaft gewesen. Wohlgemerkt, das sagen sie. 
Aber ich habe ihm zehn Jahre gedient, und ich mag ihn. Wenn 
man seinen Anweisungen nachkommt, Sir, ist er, wenn ich das 
mal so sagen darf, ein großartiger Mensch. Es ist eine Ehre, 

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ihm zu dienen, auch wenn er manchmal unausstehlich ist. Und 
nun sehen Sie sich das mal an, Sir. Kann man das noch mit der 
guten, altmodischen Gastfreundschaft gleichsetzen? Lesen Sie 
selbst.« 

Der Wagen hätte seine Fahrt nun verlangsamt und fuhr einen 

steilen Abhang hinauf. Ich sah eine wohlgeschnittene Hecke. 
Darüber prangte an einem Pfahl ein Schild. Wie Austin gesagt 
hatte, war  es nicht schwierig zu lesen, denn auf dem Schild 
standen nur wenige Worte, und die waren deutlich: 

 

WARNUNG 
Besucher, Presseleute und Bettler 
sind hier nicht erwünscht. 
G. E. CHALLENGER 

 
»Nein, als herzlich kann man ihn wirklich nicht bezeichnen«, 

sagte Austin kopfschüttelnd und warf ebenfalls einen Blick auf 
das bedauerliche Schild.  »So etwas würde auch auf einer 
Weihnachtskarte nicht gut wirken. Ich bitte Sie um 
Verzeihung, Sir, aber soviel wie heute hab ich schon seit einem 
Jahr nicht mehr gesprochen. Es mußte einfach mal aus mir 
heraus. Er kann mich so oft rauswerfen, bis er schwarz wird, 
aber ich gehe einfach nicht, punktum. Ich bin sein Diener, und 
er ist mein Herr, und so wird es auch bleiben, bis zum Ende 
aller Zeiten.« 

Wir passierten weiße Türpfosten, drehten eine Kurve und 

fuhren an einigen Rhododendronbüschen vorbei. Dahinter 
erhob sich ein niedriges Ziegelgebäude mit weißgestrichenen 
Holzarbeiten, das hübsch und gemütlich wirkte. Mrs. 
Challenger, eine kleine zarte, lächelnde Gestalt, stand in der 
offenen Tür, um uns willkommen zu heißen. 

»Nun, meine Liebe«, sagte Challenger, der geschäftig aus 

dem Wagen kletterte, »da hast du unseren Besuch. Es ist etwas 

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neu für uns, Besuch zu haben, nicht wahr? Die Zuneigung 
unserer Nachbarn haben wir nicht eben errungen, wie? Ich 
wette, daß sie Rattengift in unseren Brotkorb schütten würden, 
wenn sie welches hätten.« 

»Es ist entsetzlich  – entsetzlich!« rief seine Frau zwischen 

Lachen und Weinen.  »George hat ständig mit irgend 
jemandem Streit. Wir haben hier nicht einen einzigen Freund.« 

»Deswegen bin ich auch in der Lage, meine gesamte 

Aufmerksamkeit meiner unvergleichlichen Gattin zu widmen«, 
sagte Challenger und legte seinen kurzen, dicken Arm um ihre 
Taille. Stellen Sie sich einen Gorilla und eine Gazelle vor, 
dann wissen Sie, wie die beiden aussehen. »Komm, komm, die 
Herren sind müde von der Reise und sollten schnellstens 
verköstigt werden. Ist Sarah zurückgekehrt?« 

Mrs. Challenger schüttelte bekümmert das Haupt. Der 

Professor lachte laut und strich sich mit meisterhafter Eleganz 
über seinen Bart. 

»Austin«, rief er, »wenn Sie den Wagen gewaschen haben, 

helfen Sie Ihrer Herrin bitte beim Mittagessen. Und Sie, 
Gentlemen, kommen bitte mit in mein Arbeitszimmer, da ich 
Sie gerne über die eine oder andere Angelegenheit in Kenntnis 
setzen möchte.« 

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II 

Die Gezeiten des Todes 

 
 
 

Als wir durch die Halle schritten, klingelte das Telefon, und 
wir wurden zu unfreiwilligen Zeugen des folgenden Dialogs. 
Ich sage »wir«, aber in Wirklichkeit kann natürlich auch 
keinem anderen im Umkreis von hundert Yards die dröhnende 
Stimme entgangen sein, die durch das ganze Haus schallte. Die 
Antworten Professor Challengers sind mir wie eingebrannt. 

»Ja, ja, natürlich, ich bin es… Ja, gewiß,  der  Professor 

Challenger; der berühmte Professor, wer denn sonst? 
Natürlich, jedes Wort, sonst hätte ich es doch nicht 
geschrieben… Es würde mich nicht überraschen… Alle 
Hinweise deuten darauf hin… Spätestens in einem Tag… Nun, 
ich kann Ihnen leider auch nicht helfen, verstehen Sie? Das ist 
sehr betrüblich, ohne Zweifel, aber ich könnte mir vorstellen, 
daß es wichtigere Leute als Sie betrifft. Es ist sinnlos, jetzt 
herumzujammern… Nein, könnte ich möglicherweise nicht… 
Jetzt reicht’s mir aber, Sir! Unsinn! Ich habe Wichtigeres zu 
tun, als solchem Geschwätz zuzuhören!« 

Er legte den Hörer mit einem Schlag auf und führte uns über 

die Treppe in einen großen, luftigen Raum, der offenbar sein 
Arbeitszimmer war. Auf einem Schreibtisch lagen sieben oder 
acht ungeöffnete Telegramme. 

»Ich glaube wirklich«, sagte er, als er sie in die Hand nahm, 

»daß meine Korrespondenten eine Menge Geld sparen würden, 
wenn ich eine Telegrammadresse besäße. Möglicherweise 
würde ›Noah, Rotherfield‹ den Kern der Dinge am besten 
treffen.« 

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Wie immer, wenn er einen unverständlichen  Witz machte, 

stützte er sich auf die Tischplatte und wurde von einem 
bellenden Lachanfall geschüttelt. Seine Hände zitterten so, daß 
er kaum fähig war, die Umschläge zu öffnen. 

»Noah! Noah!« keuchte er, während sein Gesicht die Farbe 

einer Runkelrübe annahm, Lord John und ich ein solidarisches 
Lächeln produzierten und Summerlee wie ein magenkranker 
Ziegenbock mit sardonischer Mißbilligung den Kopf 
schüttelte. Schließlich fing Challenger, immer noch am ganzen 
Leibe vor Heiterkeit zitternd an, die Telegramme zu öffnen. 
Wir drei standen derweil am Erkerfenster und beschäftigten 
uns damit, die herrliche Aussicht zu bewundern. 

Sie war es gewiß wert, daß man sie beachtete. Die 

sanftgeschwungene, kurvenreiche Straße hatte uns auf eine 
bemerkenswerte Erhebung gebracht  – sie maß siebenhundert 
Fuß, wie wir später herausfanden. Challengers Haus stand hart 
am Rande des Hügels, und von der Südseite aus – wo sich das 
Fenster seines Arbeitszimmers befand  – konnte man über das 
weitgedehnte Band des Weald sehen, auf dem die sanften 
Linien der südlichen Downs einen welligen Horizont formten. 
Zwischen den Hügeln zeigte uns eine Rauchwolke den 
Standort von Lewes. Direkt vor unseren Füßen wogte das 
Heidekraut; dazwischen lagen die hellgrünen Streifen des 
Golfgeländes von Crowborough, auf dem zahlreiche Spieler zu 
sehen waren. Etwas im Süden, zwischen den Wäldern, konnten 
wir einen Teil der Hauptstrecke von London nach Brighton 
ausmachen. Direkt vor uns, genau unter unseren Nasen, lag ein 
kleiner eingezäunter Garten, in dem auch der Wagen stand, der 
uns vom Bahnhof abgeholt hatte. 

Ein Aufschrei Challengers führte dazu, daß wir uns 

herumdrehten. Er hatte die Telegramme inzwischen gelesen 
und sie auf dem Schreibtisch zu einem ordentlichen Stapel 
angehäuft. Sein breites, verkniffenes Gesicht – oder soviel, wie 

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davon durch den struppigen Bart zu sehen war  – war immer 
noch tiefgerötet. Allem Anschein nach hatte ihn eine starke 
Aufregung gepackt. 

»Nun, Gentlemen«, sagte er in einem Tonfall, als spräche er 

auf einer öffentlichen Veranstaltung, »dies ist in der Tat ein 
interessantes Wiedersehen, und es findet unter 
außergewöhnlichen  – ich bin fast geneigt zu sagen 
beispiellosen  – Umständen statt. Darf ich Ihnen die Frage 
stellen, ob Ihnen während der Reise hierher irgend etwas 
aufgefallen ist?« 

»Das einzige, was mir auffiel«, sagte Summerlee mit einem 

säuerlichen Lächeln, »war, daß unser junger Freund hier sich 
während der vergangenen Jahre nicht gebessert hat. Es tut mir 
leid, darauf hinweisen zu müssen, aber ich mußte mich wegen 
seines Betragens während der Eisenbahnfahrt ernstlich über 
ihn beschweren. Es würde mir zudem an Offenheit mangeln, 
würde ich nicht noch darauf hinweisen, daß er in mir einen 
äußerst unerfreulichen Eindruck hinterlassen hat.« 

»Aber, ich bitte Sie«, sagte Lord John. »Hin und wieder kann 

doch jeder mal entgleisen. Der junge Mann hat es sicher nicht 
so gemeint. Sie sollten bedenken, daß er ein Internationalist ist. 
Und solche Leute brauchen nun mal eine halbe Stunde, um ein 
Fußballspiel zu beschreiben. Sie sollten ihn mit anderen Augen 
sehen.« 

»Eine halbe Stunde, um ein Fußballspiel zu beschreiben!« 

schrie ich empört. »Sie waren es doch, der mir eine halbe 
Stunde lang mit dieser endlosen Büffelgeschichte zugesetzt 
hat. Professor Summerlee wird das bestätigen.« 

»Ich  vermag kaum zu sagen, wer von Ihnen beiden der 

Unerträglichere war«, erwiderte Summerlee. »Aber eines kann 
ich Ihnen sagen, Challenger: Ich will in meinem ganzen Leben 
nie wieder etwas von Büffeln oder Fußballspielen hören.« 

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»Aber ich habe nicht einmal ein Wort über Fußball verloren«, 

protestierte ich. 

Lord John stieß einen schrillen Pfiff aus. Summerlee 

schüttelte betrübt den Kopf. 

»Und dann noch so früh am Morgen«, sagte er. »Wie 

erbärmlich. Während ich dort in gehaltvollem, aber 
nachdenklichem Schweigen saß…« 

»Schweigen?« schrie Lord John. »Sie haben sich aufgeführt, 

wie jemand aus einem Variete  – oder noch besser, wie ein 
entlaufenes Grammophon! Jedenfalls nicht wie ein Mann!« 

Summerlee riß sich in bitterem Protest zusammen. 
»Sie kommen sich wohl sehr spaßig vor, Lord John«, knurrte 

er mit einem Essiggesicht. 

»Verdammt noch mal, das ist doch schierer Wahnsinn!« rief 

Lord John aus. »Jeder von uns scheint zu wissen, was die 
anderen getan haben, aber keiner von uns weiß, was er selber 
getan hat. Lassen Sie uns ganz vorne anfangen. Wir gingen in 
das Raucherabteil der Ersten Klasse, stimmte? Dann fingen wir 
an, über Freund Challengers Brief in der Times zu streiten.« 

»Oh, das haben Sie tatsächlich getan?« brummte unser 

Gastgeber, während seine Lider sich zu senken begannen. 

»Sie, Summerlee, haben gesagt, daß seine Feststellung jeder 

wissenschaftlichen Grundlage entbehrt.« 

»O, je!« sagte Challenger, streckte die Brust heraus und 

kraulte seinen Bart. »Jeder wissenschaftlichen Grundlage? Mir 
scheint, diese Worte habe ich doch schon einmal gehört. Darf 
ich vielleicht fragen, mit welchen Argumenten sich der große 
und berühmte Professor Summerlee erlaubt hat, die Ansichten 
des niederen Individuums, das es gewagt hat, im 
Zusammenhang mit den Möglichkeiten der Wissenschaft eine 
Meinung zu äußern, zerpflückte? Ob er vielleicht  – bevor er 
dieses unwürdige Nichts zerschmettert hat – geruhen wird, uns 
an seiner gegensätzlichen Auffassung teilhaben zu lassen?« 

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Er verbeugte sich, zuckte die Achseln und breitete, während 

er diese Worte aussprach, mit vollendetem Sarkasmus die 
Arme aus. 

»Meine Beweggründe waren ganz einfacher Natur«, sagte 

Summerlee störrisch. »Ich wies darauf hin, daß es ziemlich 
unwahrscheinlich ist, daß die uns umgebende Lufthülle überall 
die gleiche ist, und es demzufolge kaum möglich ist, daß sie 
hier dermaßen giftig sein kann, daß sie gefährliche Symptome 
hervorruft, während wir in der Eisenbahn von ihren 
Auswirkungen nichts zu spüren bekamen.« 

Challenger quittierte diese Erklärung lediglich mit einem 

brüllenden Gelächter. Er lachte, bis der ganze Raum zu 
erzittern schien. 

»Unser ehrenwerter Professor Summerlee«, sagte er 

schließlich und wischte sich über die schweißbedeckte Stirn, 
»ist  – und das nicht zum erstenmal  – ein bißchen unvertraut 
mit den Fakten der  gegenwärtigen Lage. Die beste 
Möglichkeit, Ihnen meinen Standpunkt nahezubringen, meine 
Herren, besteht darin, daß ich Ihnen erzähle, was ich heute 
morgen getan habe. Sie werden sich ihre eigene 
Geistesverwirrung sicher leichter verzeihen können, wenn Sie 
sich bewußt machen, daß sogar ich gewisse Momente hatte, in 
denen mein Gleichgewicht einer Störung unterworfen war. Wir 
beschäftigen seit einigen Jahren eine Haushälterin  – eine 
gewisse Sarah, mit deren Nachnamen ich mein Gedächtnis nie 
zu belasten wagte. Sie ist in jeder Hinsicht eine unfreundliche, 
förmliche und spröde Person, von gefühllosem Charakter und 
hat nach unseren Erfahrungen nie auch nur ein Anzeichen 
einer Emotion gezeigt. Als ich allein am Frühstückstisch saß – 
Mrs. Challenger pflegt das Frühstück in ihrem Zimmer 
einzunehmen  –, kam mir plötzlich der Gedanke, daß es doch 
ganz unterhaltsam und lehrreich sein könnte, wenn es mir 
gelänge, die Grenzen der Unerschütterlichkeit dieser Frau 

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herauszufinden. Nachdem ich eine kleine Blumenvase 
umgekippt hatte, die auf der Tischdecke stand, klingelte ich 
nach ihr und schlüpfte unter den Tisch. Sie trat ein, sah, daß 
der Raum leer war und vermutete mich in meinem 
Arbeitszimmer. Wie ich es erwartet hatte, kam sie näher und 
beugte sich über den Tisch, um die Vase wieder aufzurichten. 
Ich sah nur einen Baumwollstrumpf und einen Zugstiefel vor 
mir. Indem ich meinen Kopf vorstreckte, versenkte ich meine 
Zähne in den Schenkel ihres Beines. Das Experiment verlief 
unerwartet erfolgreich. Einen Augenblick lang stand sie wie 
gelähmt da und starrte auf meinen Kopf. 

Dann riß sie sich mit einem Schrei los und rannte hinaus. Ich 

lief hinter ihr her, weil ich ihr meine Beweggründe erklären 
wollte, aber sie jagte bereits die Straße hinunter, und ein paar 
Minuten später konnte ich sie, als ich sie endlich mit meinem 
Feldstecher ausfindig machte, sehr schnell in südwestlicher 
Richtung verschwinden sehen. So und nicht anders hat es sich 
abgespielt. Und jetzt ziehen Sie aus dieser Anekdote Ihre 
eigenen Schlußfolgerungen. Wird Ihr  Inneres jetzt erleuchtet? 
Setzt Sie in Ihren Gehirnen etwas in Bewegung? Was halten 
Sie davon, Lord John?« 

Lord John schüttelte ernst den Kopf. 
»Sie werden dieser Tage noch in ernsthafte Schwierigkeiten 

kommen, wenn Sie nicht lernen, sich zu beherrschen«, sagte 
er. 

»Vielleicht ist Ihnen dabei etwas aufgefallen, Summerlee?« 
»Sie sollten sofort Ihre Arbeit unterbrechen, Challenger, und 

sich ein paar Wochen in ein deutsches Bad zurückziehen, 
Challenger«, empfahl Summerlee. 

»Welch tiefschürfende Leistung!« rief Challenger aus. »Und 

nun Sie, mein junger Freund. Ob es möglich ist, daß Sie mit 
der Weisheit gesegnet sind, an denen es ihren Senioren 
gebricht?« 

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Ich war es. Ich sage es in aller Bescheidenheit, aber ich war 

es wirklich. Natürlich mag es Ihnen, die Sie nun wissen, was 
damals geschah, all das offensichtlich erscheinen, aber damals, 
als die Sache noch neu für uns war, war sie uns keinesfalls 
klar. Ganz plötzlich und mit der vollen Kraft der Überzeugung 
wußte ich Bescheid. 

»Gift!« schrie ich. 
Und im gleichen Moment, als ich das Wort aussprach, wurde 

mir bewußt, was alles an diesem Morgen geschehen war: Ich 
dachte an Lord John und seinen Büffel, an meine eigenen, 
hysterischen Tränen, an das unverschämte Verhalten Professor 
Summerlees, an die merkwürdigen Ereignisse in London, die 
Menschen am Sportplatz, das Fahrverhalten des Chauffeurs  – 
und den Streit vor der Sauerstoffhandlung. Es paßte alles 
absolut zusammen. »Natürlich«, rief ich erneut. »Es ist Gift! 
Man hat uns alle vergiftet!« 

»Genau«, sagte Professor  Challenger und rieb sich die 

Hände. »Wir sind alle vergiftet. Unser Planet ist in einen 
Giftstrom eingedrungen und nähert sich mit mehreren 
Millionen Meilen pro Minute seinem Zentrum. Unser junger 
Freund hat die Ursache all dieser Ärgernisse und Verwirrungen 
in einem einzigen Wort zusammengefaßt.« 

In verblüffender Stille sahen wir einander an. Es schien in 

diesem Moment keinen Kommentar zu geben, der die Situation 
wirklich getroffen hätte. 

»Es gibt eine mentale Barriere, mit der man die Symptome 

entdecken und unter Kontrolle halten kann«, sagte Challenger. 
»Ich kann zwar nicht erwarten, daß Sie in Ihnen ebenso 
entwickelt ist wie in mir, da ich glaube, daß die Stärke der 
unterschiedlichen Geisteskräfte die Stärke dieser Barriere 
bestimmt. Aber sie ist zweifellos fühlbar, sogar bei unserem 
jungen Freund hier. Nach dem kleinen Gefühlsausbruch, der 
meine Haushälterin so verschreckte, setzte ich mich hin und 

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versuchte, mit mir ins reine zu kommen. Ich machte mir klar, 
daß ich noch nie zuvor das Verlangen gespürt hatte, jemanden, 
der in meinem Haushalt beschäftigt ist, zu beißen. Also mußte 
der Impuls, der mich überkommen hatte, anomaler Natur sein. 
Augenblicklich erkannte ich die Wahrheit. Während ich zu der 
Erkenntnis gelangte, schlug mein Puls zehn Schläge mehr als 
gewöhnlich; ebenso waren meine Reflexe schneller geworden. 
Daraufhin rief ich mein höheres und gesunderes Ich, den 
wirklichen G. E. C, an, der gelassen und unerschütterlich 
hinter jeder molekularen Störung sitzen mußte. Ich befahl ihm, 
alle närrischen Verhaltensweisen, zu denen das Gift mich 
zwingen würde, genau zu beobachten, Ich stellte fest, daß ich 
in der Tat noch Herr meiner Sinne war. Ich konnte einen 
verwirrten Geist erkennen und kontrollieren. Es war eine 
bemerkenswerte Zurschaustellung des Sieges des Geistes über 
die Materie, denn es war ein Sieg über jene bestimmte Form 
der Materie, die dem Bewußtsein am innigsten verhaftet ist. 
Ich könnte durchaus sagen, daß der Geist ein Defekt ist und 
eine Persönlichkeit ihn kontrollieren kann. Als meine Gattin 
schließlich herunterkam, und ich in mir das Verlangen spürte, 
mich hinter einer Tür zu verstecken und sie beim Eintreten mit 
einem wilden Schrei zu erschrecken, war ich auch schon in der 
Lage, diesen Impuls zu unterdrücken und sie mit Würde und 
Zurückhaltung zu begrüßen. Dem überwältigenden Verlangen, 
wie eine Ente zu quaken, trat ich in der gleichen Weise 
entgegen, und so schaffte ich es, auch diesen Impuls zu 
meistern. Später, als ich hinunterging, um den Wagen 
vorfahren zu lassen, und Austin dabei vorfand, wie er sich  – 
mit einer kleinen Reparatur beschäftigt  – über ihn beugte, 
brachte ich meine bereits erhobene Hand ebenso unter 
Kontrolle und bewahrte ihn so vor einer Erfahrung, die ihn 
möglicherweise dazu veranlaßt hätte, die gleichen Schritte wie 
unsere Haushälterin zu unternehmen. Statt dessen berührte ich 

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ihn an der Schulter und trug ihm auf, den Wagen pünktlich 
vorzufahren, damit wir Sie vom Bahnhof abholen könnten. 
Gegenwärtig fühle ich mich dem Zwang unterworfen, 
Professor Summerlee an seinem albernen alten Bart zu packen 
und seinen Kopf anständig hin und her zu schütteln. Trotzdem 
vermag ich, wie Sie selbst sehen, dieses Verlangen zu 
unterdrücken. Ich hoffe, Sie nehmen sich an meinem Verhalten 
ein Beispiel.« 

»Ich werde besser nach diesem Büffel  Ausschau halten«, 

sagte Lord John. 

»Und ich nach einem Fußballplatz.« 
»Es mag ja sein, daß Sie recht haben, Challenger«, sagte 

Summerlee in einem etwas gemäßigteren Tonfall. »Ich bin 
bereit, zuzugeben, daß mein Sinneswandel eher kritischer als 
konstruktiver Natur ist, da ich nicht dazu neige, neue Theorien 
schnell anzuerkennen  – besonders dann nicht, wenn sie so 
ungewöhnlich und phantastisch klingen wie diese. Wenn ich 
allerdings an die Ereignisse des heutigen Morgens 
zurückdenke und mir das törichte Verhalten meiner Geführten 
vor Augen halte, kann ich mir schon vorstellen, daß irgendein 
erregendes Gift für ihren Zustand verantwortlich gewesen sein 
muß.« 

Challenger klopfte seinem Kollegen leutselig auf die 

Schulter. »Wir machen Fortschritte«, sagte er. »Wir  machen 
ganz offensichtlich Fortschritte.« 

»Würden Sie uns bitte sagen, Sir«, sagte Summerlee 

kleinlaut, »was Sie von der gegenwärtigen Lage halten?« 

»Mit Ihrer Erlaubnis werde ich ein paar Worte zu dieser 

Angelegenheit sagen.« Challenger nahm auf der Tischplatte 
Platz und ließ seine kurzen Stummelbeine hin und her 
baumeln. »Wir werden Zeugen eines schrecklichen und 
gräßlichen Ereignisses werden, das meines Erachtens nur das 
Ende der Welt sein kann.« 

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Das Ende der Welt! Unsere Augen wandten sich dem großen 

Erkerfenster zu, und wir betrachteten die sommerliche 
Schönheit der Landschaft, die sich dahinziehenden, mit 
Heidekraut bewachsenen Abhänge, die großen Landhäuser, die 
gemütlichen Farmen und die sich über die Hügel 
dahinbewegenden Spaziergänger. Das Ende der Welt! Diese 
Worte hatten wir oft gehört, aber der Gedanke, daß es sich 
dabei nicht um ein der reinen Phantasie verhaftetes Datum 
handeln sollte, erschütterte uns zutiefst. Wir wurden alle von 
großer Ernsthaftigkeit ergriffen und warteten darauf, daß 
Challenger fortfuhr. Seine allesüberragende Gegenwart und 
seine Erscheinung verliehen seinen Worten ein solches 
Gewicht, daß wir auf der Stelle alle Eigenarten und 
Absurditäten, die der Mann ausstrahlte, vergaßen, und er uns 
wie ein majestätisches Etwas erschien, das weit mehr war als 
ein gewöhnlicher Mensch. Und dann fiel mir wieder ein, daß 
er, seit wir diesen Raum betreten hatten, zweimal ein 
donnerndes Gelächter ausgestoßen hatte. Eventuell, dachte ich, 
sind der geistigen Objektivität Grenzen gesetzt. Wenn man die 
Sache so sieht, kann die Krise wohl doch nicht so schlimm 
sein. 

»Stellen Sie sich ein Traubenbündel vor«, sagte Challenger, 

»das von winzig kleinen, aber schädlichen Bakterien bedeckt 
ist. Der Gärtner geht gegen sie mit einem Desinfektionsmittel 
vor. Das kann daran, liegen, daß er seine Trauben gerne 
sauberer hätte, aber auch daran, daß er Raum für eine andere 
Bakterienart schaffen will, und zwar für eine solche, die 
weniger giftig ist als die vorherige. Er taucht die Trauben in 
ein Gift – und weg sind sie. Ich habe den Eindruck, daß unser 
Gärtner gerade im Begriff ist, das Sonnensystem zu 
desinfizieren und den menschlichen Bazillus, den sterblichen 
kleinen Winzling, der sich über die Erdkruste dahinbewegt, in 

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einem einzigen Augenblick zu sterilisieren und 
auszuradieren.« 

Erneut verfielen wir in ein Schweigen, das kurz darauf vom 

hellen Klingeln des Telefons unterbrochen wurde. 

»Eine unserer Mitbakterien bittet um Hilfe«, sagte Challenger 

mit einem grimmigen Lächeln. »Sie beginnen allmählich zu 
verstehen, daß ihre fortgesetzte Existenz nicht zu den 
wirklichen Bedürfnissen des Universums gehört.« 

Für eine oder zwei Minuten verließ er den Raum. Ich erinnere 

mich daran, daß während seiner Abwesenheit keiner von uns 
sprach. Die Situation schien uns für Kommentare nicht die 
richtige zu sein. 

»Es war die Brightoner Gesundheitsbehörde«, sagte er, als er 

zurückkehrte. »Aus irgendwelchen Gründen entwickeln sich 
die Dinge an der Meeresküste schneller als anderswo. Da wir 
uns in einer Höhe von siebenhundert Fuß befinden, sind wir 
also im Vorteil. Die Leute scheinen begriffen zu haben, daß ich 
in dieser Angelegenheit die höchste Autorität bin. Ich zweifle 
nicht daran, daß mein Brief in der Times sie zu dieser Ansicht 
geführt hat. Der Mann, mit dem ich sprach, als wir das Haus 
betraten, war der Bürgermeister irgendeiner Provinzstadt. 
Vielleicht haben Sie gehört, als ich mit ihm telefonierte. Ich 
hatte den Eindruck, daß er die Wichtigkeit seiner Existenz 
maßlos überschätzte und habe ihm dabei geholfen, seine 
Gedanken ein wenig zu ordnen.« 

Summerlee war aufgestanden und stand am Fenster. Seine 

knochigen, kleinen Hände zitterten vor Erregung. 

»Challenger«, sagte er mit ruhiger Stimme, »diese 

Angelegenheit ist zu ernst, als daß man derart oberflächlich 
über sie sprechen sollte. Glauben Sie bitte nicht, daß ich Sie 
mit den Fragen, die ich Ihnen vielleicht stellen werde, aus dem 
Konzept bringen will. Aber ich überlasse es Ihnen, sich 
darüber klar zu werden, ob Sie nicht aufgrund von 

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Fehlinformationen oder Fehlschlüssen einem Irrtum unterlegen 
sind. Die Sonne da draußen scheint wie immer und der 
Himmel ist blau. Da sind das Heidekraut, die Blumen und die 
Vögel. Da sind die Leute, die ihren Spaß auf dem Golfplatz 
haben und die Arbeiter, die das Korn schneiden. Sie haben 
gesagt, daß sie und wir am Rande der Vernichtung stehen 
sollen  – daß dieser sonnige Tag der Tag des Untergangs der 
Menschheit sein kann. Soweit wir wissen, sind Sie aufgrund 
von folgendem zu diesem Schluß gekommen: Sie berufen sich 
auf eine Veränderung der Fraunhoferschen Linien, ein paar 
Gerüchte aus Sumatra und auf die seltsame, körperliche 
Erregtheit, die wir aneinander beobachtet haben. Das letzte 
Symptom scheint keine so große Rolle zu spielen, da wir es  – 
mit einiger Anstrengung  – unter Kontrolle halten können. Sie 
brauchen uns gegenüber keinerlei Zeremoniell, Challenger. Es 
ist nicht das erste Mal, daß wir gemeinsam dem Tode ins Auge 
schauen. Seien Sie offen, lassen Sie uns genau wissen, wie es 
um uns bestellt ist. Und sagen Sie uns, wie Ihrer Meinung nach 
unsere Aussichten für die Zukunft sind.« 

Eine gute und tapfere Rede; eine Rede, die voller Vertrauen 

und aufrechtem Geist war und uns alle Steifheit und 
Launenhaftigkeit des alten Zoologen vergessen ließ, Lord John 
stand auf und schüttelte Summerlee die Hand. 

»Verzeihen Sie meine Grobheit«, sagte er. »Und nun, 

Challenger, sind Sie an der Reihe. Sagen Sie uns, wie es steht. 
Wie Sie wissen, gehören wir nicht zu den nervösen 
Charakteren, aber wenn man einen Wochenendbesuch macht 
und plötzlich herausfindet, daß man unverhofft dem Jüngsten 
Tag gegenübersteht, bedarf das, meine ich, einiger 
Erklärungen. Worin besteht die Gefahr, wie groß ist sie 
überhaupt, und wie sollen wir uns ihr gegenüber verhalten?« 

Er stand, groß und stark wie er war, vor dem 

sonnenbeschienenen Fenster und hatte seine gebräunte Hand 

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auf der Schulter Summerlees. Ich saß zurückgelehnt in einem 
Armsessel, hatte eine erloschene Zigarette zwischen den 
Lippen und befand mich in jenem halbbetäubten Zustand, in 
dem man alle Eindrücke äußerst deutlich aufnimmt. Vielleicht 
war es sogar ein neues Stadium der Vergiftung, aber die an 
Trunkenheit erinnernden Eingebungen hatten mich vollends 
verlassen. Ich wurde von einer starken Gleichgültigkeit 
überschwemmt und nahm zur gleichen Zeit alles, was um mich 
herum vorging, mit überraschender Klarheit wahr. Ich fühlte 
mich wie ein Beobachter und hatte nicht den geringsten 
Eindruck, daß ich persönlich betroffen sei. Aber vor mir 
standen drei Männer, die eine große Krise durchliefen, und es 
war faszinierend, sie dabei zu beobachten. Bevor er antwortete, 
streichelte Challenger seinen Bart und runzelte die Stirn. Man 
konnte deutlich sehen, daß er bemüht war, seine Worte 
sorgsam abzuwägen. 

»Was war die letzte Neuigkeit, als  Sie London verließen?« 

fragte er. 

»Ich war etwa gegen zehn Uhr in der Redaktion der Gazette«, 

sagte ich. »Von Reuter kam eine Meldung herein, daß ganz 
Sumatra von der Epidemie ergriffen sei und man deswegen 
nicht fähig gewesen sei, die Leuchttürme zu aktivieren.« 

»Seitdem sind die Ereignisse ziemlich schnell 

fortgeschritten«, sagte Challenger und hob die Telegramme 
auf. »Ich bin sowohl mit den Autoritäten als auch mit der 
Presse in Verbindung, so daß ich Nachrichten aus allen Teilen 
der Erde erhalte. Es gibt in der Tat ein allgemeines und sehr 
beharrendes Verlangen, daß ich nach London kommen soll, 
aber ich sehe keinen Nutzen darin. Nach meinen Unterlagen 
fangen die Vergiftungserscheinungen mit geistiger Erregung 
an; es heißt, daß die heute morgen in Paris ausgebrochenen 
Straßenkämpfe ziemlich gewalttätig waren. Auch die 
walisischen Bergleute haben einen Aufruhr angezettelt. Soweit 

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ich den übermittelten Nachrichten trauen kann, wird dieses 
Stadium der Erregung, das von Volk zu Volk und von 
Individuum zu Individuum verschieden ist, von einer gewissen 
Verzückung und einer Erhöhung der Sinnesschärfe begleitet – 
wovon ich auch einige Anzeichen in unserem jungen Freund 
hier wahrzunehmen glaube  –, was nach einem fühlbaren 
Intervall zu einem Koma führt und dann schnell den Tod zur 
Folge hat. Soweit ich meinen Kenntnissen in der Toxikologie 
trauen darf, gibt es, glaube ich, einige pflanzliche 
Nervengifte…« 

»Daturo«, half Summerlee ihm aus. 
»Ausgezeichnet!« rief Challenger aus. »Es spricht nur für die 

wissenschaftliche Präzision, wenn wir unserem toxischen Gift 
auch einen Namen geben. Wir nennen es Datura. Ihnen, mein 
lieber Summerlee, gebührt die Ehre – leider nur posthum, aber 
nichtsdestoweniger einzigartig  –, dem universellen Zerstörer, 
dem Desinfektionsmittel des Großen Gärtners, einen Namen 
gegeben zu haben. Die Symptome des Daturons sind also jene, 
die ich beschrieben habe. Daß es sich über die ganze Welt 
ausbreiten und jegliches Leben vernichten wird, scheint mir 
sicher zu sein, denn die Atmosphäre ist ein universeller Träger. 
Bis jetzt ist es in seinen Auswirkungen an den Plätzen, wo es 
zugeschlagen hat, eher wechselhaft gewesen, aber der 
Unterschied basiert lediglich auf ein paar Stunden Zeit. Wir 
haben es mit einer Art heranrollender Flutwelle zu tun, die 
einen Strand nach dem anderen überschwemmt und in 
unregelmäßigen Abständen hin und her fließt, bis sie 
schließlich alles unter sich begraben hat. Im Zusammenhang 
mit der Vorgehensweise und der Verbreitung des Daturons 
sind Gesetze an der Arbeit, die von größtem Interesse gewesen 
wären, hätte die uns zur Verfügung stehende Zeit gelangt, sie 
zu studieren. Soweit ich sie verfolgen kann«, – er warf erneut 
einen Blick auf die Telegramme  – »haben die weniger 

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entwickelten Rassen ihren Einfluß als erste zu spüren 
bekommen. In Afrika ist es zu bedauernswerten Vorfällen 
gekommen, und was die australischen Ureinwohner angeht, so 
scheinen sie bereits völlig ausgerottet zu sein. Die nordischen 
Völker haben größere Widerstandskraft gezeigt als die 
südlicher lebenden. Dieses Telegramm hier  – es wurde um 
neun Uhr fünfundvierzig in Marseille abgesandt  – will ich 
Ihnen wörtlich vorlesen: ›während der ganzen Nacht 
rauschähnliche Erregung in der Provence. Winzertumulte bei 
Nimes. Sozialistischer Umsturz in Toulon. Plötzliche Epidemie 
mit komaähnlichen Begleiterscheinungen ergriff heute morgen 
die Bevölkerung. Pestefoudroyant. Viele Tote auf den Straßen. 
Lähmung der Wirtschaft und allgemeines Chaos.‹ 

Eine Stunde später kam dieses, aus der gleichen Quelle: ›Wir 

sind vom Aussterben bedroht. Die Kathedralen und Kirchen 
quellen über von Menschen. Wir haben bereits mehr Tote als 
Lebende. Es ist unvorstellbar und entsetzlich. Der Tod scheint 
schmerzlos zu sein, aber er kommt schnell, und es gibt keine 
Gegenwehr.‹ 

Es gibt ein ähnliches Telegramm aus Paris, wo die 

Entwicklung noch nicht so weit fortgeschritten ist. Indien und 
Persien scheinen völlig entvölkert zu sein. Der slawische Teil 
der österreichischen Bevölkerung ringt mit dem Tode, während 
der germanische von den Auswirkungen bisher kaum berührt 
wurde. Allgemein gesprochen scheinen  – wenn meine 
bescheidenen Informationen stimmen  – die Bewohner der 
Tiefebenen und Küstenregionen die Auswirkungen der 
Epidemie stärker zu spüren als jene, die im Inland oder 
bergigen Gegenden leben. Sogar kleinste Anhöhen rufen 
spürbare Unterschiede hervor. Wenn es einen Überlebenden 
der menschlichen Rasse geben sollte, wird man ihn sicherlich 
erneut auf der Spitze eines Berges Ararat finden. Selbst unser 
kleiner Hügel könnte gegenwärtig eine zeitweilige Insel 

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inmitten des aufgewühlten Meeres bilden. Aber nach dem 
gegenwärtigen Zustand der Welt zu urteilen, kann er uns 
lediglich ein paar kurze Stunden vor der Flutwelle schützen.« 

Lord John strich sich über die Stirn. 
»Was ich nicht verstehe«, sagte er, »ist, wie Sie hier in aller 

Gemütsruhe sitzen und lachen können, wo Sie diesen 
Telegrammstapel in der Hand halten. Ich habe dem Tod 
ebensooft gegenübergestanden, wie die meisten Menschen; 
aber ein Tod, der uns allen gewiß ist – das ist gräßlich!« 

»Was mein Lachen angeht«, sagte Challenger, »so sollten Sie 

daran denken, daß auch ich nicht gegen den stimulierenden 
zerebralen Effekt des ätherischen Gifts gefeit bin. Aber was 
den Schrecken anbetrifft, den der allgemeine Tod in  Ihnen 
hervorruft, so möchte ich zu bedenken geben, daß dies ein 
wenig übertrieben ist. Würde man Sie in einem offenen Boot 
auf dem Meer aussetzen, ohne daß Sie wüßten, in welche 
Richtung Sie sich wenden sollten, würde aller Mut Sie 
verlassen. Die Isolation und die Ungewißheit würden Sie 
niederschmettern. Aber würden Sie die gleiche Fahrt in einem 
gut ausgerüsteten Schiff, auf dem sich alle Ihre Verwandten 
und Freunde befänden, unternehmen. Sie würden  – egal wie 
ungewiß Ihr Ziel auch sein mag – zumindest eine gemeinsame 
und gleichzeitige Erfahrung machen, die Sie bis zum Ende mit 
den anderen in der gleichen, engen Verbindung belassen 
würde. Ein einsamer Tod mag schrecklich sein, aber ein 
universeller  – so schmerzlos er auch kommen mag  – ist in 
meinen Augen kein Grund zur Furcht. Ich könnte mir sogar 
vorstellen, daß das Grauen ganz allein auf der Seite desjenigen 
ist, der feststellt, als einziger überlebt zu haben, während alle 
Gelehrten, Berühmten und Höhergestellten gegangen sind.« 

»Was schlagen Sie also vor?« fragte Summerlee, der zum 

erstenmal genickt und damit seine Einwilligung zur 

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Schlußfolgerung seines wissenschaftlichen Kollegen gegeben 
hatte. 

»Daß wir jetzt etwas essen«, sagte Challenger, denn im 

gleichen Moment dröhnte der Schlag eines Gongs durch das 
Haus. »Die Omeletts, die unsere Köchin zubereitet, werden nur 
noch von ihren Koteletts übertroffen. Jedenfalls können wir 
darauf vertrauen, daß die Auswirkungen des kosmischen Gifts 
ihre beruflichen Fähigkeiten nicht beeinträchtigt haben. Des 
weiteren sollten wir, soweit unsere ernsthaften und vereinigten 
Anstrengungen dazu in der Lage sind, meinen 69er 
Schatzburger vor dem bewahren, was ich nur als 
Verschwendung eines ausgezeichneten Jahrganges bezeichnen 
kann.« Er wuchtete seinen massigen Leib von der 
Schreibtischkante, auf der er, während er uns vom 
bevorstehenden Weltuntergang informiert hatte, gesessen hatte 
und sagte: »Kommen Sie, wenn es uns schon vergönnt ist, 
noch ein bißchen Zeit zu haben, sollten wir sie dazu nutzen, sie 
in nüchterner und berechtigter Freude zu verbringen.« 

Und in der Tat, die Mahlzeit erwies sich als äußerst heiter. Es 

stimmt aber, daß wir unsere gräßliche Lage trotzdem nicht 
vergessen konnten, denn der volle Ernst der Lage verdüsterte, 
unser Unterbewußtsein und dämpfte unsere Gedanken. Aber 
sicherlich ist es die Seele, die dem Tod nie ins Gesicht gesehen 
hat, die gegen Ende am stärksten vor ihm zurückschreckt. Für 
uns Männer war der Tod während eines großen Zeitabschnittes 
unseres Lebens ein ständiger Weggefährte gewesen. Was Mrs. 
Challenger anging, so verließ sie sich völlig auf die starke 
Führungsrolle ihres bedeutenden Gatten. Sie würde dorthin 
gehen, wohin sein Pfad ihn führte. Die Zukunft bestand aus 
Schicksal. Die Gegenwart hatten wir selbst zu verantworten. 
Wir verbrachten sie in bester Kameradschaft und freundlicher 
Heiterkeit. Und wie ich bereits erwähnte, war ein jeder von uns 
äußerst scharfsinnig. Selbst ich schlug hin und wieder Funken. 

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Was Challenger anbetraf, so war er einfach wundervoll. Nie 
zuvor habe ich die geistige Größe dieses Mannes dermaßen 
stark empfunden, nie ist die Kraft seines Wissens mir 
mitreißender erschienen. Summerlee zog ihn ein bißchen mit 
seiner üblichen, ätzenden Kritik auf, und Lord John und ich 
lachten dabei um die Wette. Mrs. Challenger, die eine Hand 
auf den Arm ihres Gatten gelegt hatte, versuchte derweil das 
Gebell des Philosophen unter Kontrolle zu halten. Leben, Tod, 
Schicksal, die Bestimmung des Menschen  – dies waren die 
gewaltigen Themen dieser denkwürdigen Stunde, die dadurch 
am Leben gehalten wurde, daß mit zunehmender  Zeit mein 
Bewußtsein in einen Zustand plötzlicher Verzückung verfiel 
und mir anhand eines Gliederprickelns zeigte, daß sich die 
unsichtbare Todeswoge langsam und sanft um uns herum 
erhob. Einmal stellte ich fest, daß Lord John plötzlich die Hand 
über die Augen legte, dann fiel Summerlee für einen 
Augenblick in seinem Sessel zusammen. Jeder Atemzug, den 
wir machten, war mit seltsamen Kräften geladen. Und dennoch 
fühlten wir uns wohl und glücklich. Schließlich legte Austin 
Zigaretten auf den Tisch und machte  Anstalten, sich 
zurückzuziehen. 

»Austin!« sagte sein Herr. 
»Ja, Sir?« 
»Ich danke Ihnen für Ihre treuen Dienste.« 
Ein Lächeln huschte über das knorrige Gesicht des Dieners. 
»Ich habe stets nur meine Pflicht getan, Sir.« 
»Ich erwarte für heute das Ende der Welt, Austin.« 
»Jawohl, Sir. Um welche Zeit?« 
»Das vermag ich nicht zu sagen, Austin. Aber noch vor 

Einbruch der Dunkelheit.« 

»Sehr wohl, Sir.« 
Der wortkarge Austin verabschiedete sich und ging hinaus. 

Challenger zündete sich eine Zigarette an, lehnte sich mit dem 

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Kopf zu seiner Gattin hinüber und nahm ihre Hand in die 
seine. 

»Du weißt, wie die Dinge stehen, meine Liebe«, sagte er. 

»Ich habe es dir ebenso erklärt, wie unseren Freunden hier. Du 
hast doch keine Angst, nicht wahr?« 

»Es wird doch nicht weh tun, George?« 
»Nicht mehr, als das Lachgas beim Zahnarzt. Jedesmal, wenn 

er dich damit behandelte, bist du praktisch gestorben.« 

»Es war stets eine erfreuliche Erfahrung.« 
»Auch der Tod kann so sein. Der abgenutzte Körper wird gar 

nichts davon spüren; statt dessen fühlen wir das geistige 
Entzücken, das in einem Traum oder im Zustand der Trance 
liegt. Vielleicht baut die Natur für uns eine hübsche Tür, die 
mit einem hauchdünnen, schimmernden Vorhang bedeckt ist, 
um so für unsere erstaunten Seelen einen Eingang für eine 
andere Ebene der Existenz bereitzuhalten. Während meiner 
Untersuchungen des Bestehenden bin ich, wenn ich mich dem 
Kern meiner Forschungen näherte, immer wieder auf Weisheit 
und Freundlichkeit gestoßen. Wenn ein verängstigter 
Sterblicher je der Zartheit bedurft hat, dann in jenem Moment, 
in dem er seine riskante Reise von einem Leben ins andere 
unternimmt. Nein, Summerlee, verschonen Sie mich jetzt mit 
Ihrem Materialismus, denn zumindest ich bin ein zu großes 
Ding, als daß ich lediglich in Form einiger physikalischer 
Bestandteile  – etwa einer Tüte Salz und ein paar Eimern 
Wasser  – enden könnte. Hier… hier…«,  – und er schlug sich 
mit seiner großen, behaarten Faust gegen den bulligen Schädel 
– »da sitzt etwas, das sich zwar der Materie bedient, aber nicht 
aus ihr besteht; etwas, das den Tod vielleicht besiegen könnte, 
das der Tod selbst aber niemals zerstören kann.« 

»Da wir gerade vom Tod sprechen«, sagte Lord John. »Ich 

bin zwar irgendwie ein Christ, aber mir scheint, daß in unseren 
Ahnen  ein gewaltiger Naturtrieb am Werke war, als sie sich 

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zusammen mit ihren Äxten, Pfeilen und Bögen beerdigen 
ließen. Es war irgendwie, als würden sie nach dem Tode 
anderswo weiterleben. Ich frage mich«, fügte er hinzu und 
schaute ein wenig verschämt in die Runde, »ob ich mich nicht 
besser fühlen würde, wenn man mich mit meiner alten 450er, 
der kurzläufigen Vogelflinte mit dem gepolsterten Kolben und 
einem oder zwei Patronengurten zur letzten Ruhe bettete. Mag 
sein, daß dies nur die Vorstellung eines Narren ist, aber ich 
empfinde nun einmal so. Was halten Sie davon, Herr 
Professor?« 

»Nun«, sagte Summerlee, »wenn Sie mich schon um  meine 

Meinung fragen: Ich kann nicht ableugnen, daß mir dies wie 
ein Rückfall in die Steinzeit oder noch frühere Epochen 
vorkommt. Ich bin ein Mensch des zwanzigsten Jahrhunderts 
und möchte wie ein vernünftiger und zivilisierter Mensch 
sterben. Ich kann mir zwar nicht vorstellen, daß ich größere 
Angst vor dem Tode habe als Sie, denn ich bin ein alter Mann 
und hätte  – was immer auch kommen mag  – sowieso nicht 
mehr lange zu leben, aber es ist nun mal gegen meine Natur, 
einfach dazusitzen und wie ein Schaf vor dem Metzger 
kampflos auf ihn zu warten. Sind Sie eigentlich ganz sicher, 
Challenger, daß es nichts gibt, was wir tun könnten?« 

»Um uns zu retten?« sagte Challenger. »Nichts. Aber es steht 

möglicherweise in meiner Macht, unser Leben um ein paar 
Stunden zu verlängern, damit wir Zeuge der Entwicklung 
dieser schrecklichen Tragödie werden können, bevor das 
Schicksal auch uns ereilt. Ich habe gewisse Schritte 
unternommen, um…« 

»Deswegen also die Sauerstofftanks?« 
»Genau deswegen.« 
»Aber was kann ein bißchen Sauerstoff angesichts der 

atmosphärischen Vergiftung schon ausrichten? Könnten wir 
uns denn nicht genauso gut mit Ziegelsteinen gegen unser 

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Schicksal zur Wehr setzen? Wir haben es hier doch mit 
unterschiedlichen Ebenen der Materie zu tun, die nicht 
aufeinander übergreifen können. Kommen Sie, Challenger, das 
können Sie doch unmöglich ernst meinen.« 

»Mein lieber Summerlee, dieses ätherische Gift wird mit 

hoher Wahrscheinlichkeit von materiellen Wirkstoffen 
beeinflußt. Das sehen wir schon an der Methodik und 
Verbreitung des Ausbruchs: Wir sollten das zwar nicht a priori 
erwartet haben, aber es ist zweifellos eine Tatsache. Ich bin der 
festen Überzeugung, daß ein Gas wie Sauerstoff, das die 
Lebens- und Widerstandskraft des Körpers stärkt, in extremer 
Weise die Auswirkungen dessen, was Sie glücklicherweise 
Daturon getauft haben, verzögern müßte. Es mag sein, daß ich 
mich irre, aber ich bin, was die Korrektheit meiner 
Schlußfolgerung anbelangt, absolut zuversichtlich.« 

»Nun«, sagte Lord John, »wenn Sie damit meinen, daß wir 

uns hinsetzen und an diesen Flaschen saugen sollen wie kleine 
Babys, werde ich daran nicht teilnehmen.« 

»Dazu gibt es keinen Anlaß«, antwortete Challenger. »Wir 

haben Vorkehrungen getroffen  – und das verdanken wir 
meiner Gattin  –, nach denen ihr Boudoir so luftdicht wie 
möglich gemacht werden soll. Mit Türvorlegern und 
gefirnißtem Papier…« 

»Gütiger Himmel, Challenger, Sie glauben  doch nicht etwa, 

daß Sie die Luft mit gefirnißtem Papier draußen halten 
könnten?« 

»Sie haben wirklich ein geradezu perverses Talent, Ihre Zeit 

mit den falschen Schlußfolgerungen zu verplempern, mein 
wackerer Freund. Wir haben uns diese ganze Arbeit nicht 
gemacht, um die Luft draußen zu halten, sondern um den 
Sauerstoff am entweichen zu hindern. Ich bin sicher, daß wir – 
wenn es uns gelingt, eine etwas sauerstoffreichere Luft als 
üblich zu erzeugen  – unsere Sinne zusammenhalten können. 

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Ich hatte bereits zwei Sauerstofftanks, und Sie haben  drei 
weitere mitgebracht. Es ist zwar nicht viel, aber immerhin 
etwas.« 

»Wie lange werden sie reichen?« 
»Ich habe keine Ahnung. Wir werden sie erst öffnen, wenn 

die Symptome nicht mehr zu ertragen sind. Dann lassen wir 
das Gas ausströmen, wie wir es benötigen. Vielleicht gewinnen 
wir dadurch ein paar Stunden, möglicherweise sogar ein paar 
Tage, in denen wir die untergegangene Welt beschauen 
können. Unser Schicksal hängt davon ab, wie lange der 
Sauerstoff reicht. Wir allein  –  wir fünf  – werden aller 
Wahrscheinlichkeit nach die Erfahrung machen, wie es ist, der 
gesamten menschlichen Rasse auf ihrem Weg ins Unbekannte 
als Nachhut zu dienen. Vielleicht sind Sie nun so freundlich 
und gestatten mir, daß ich mich ein wenig um die Tanks 
kümmere. Mir scheint, die Atmosphäre wird bereits ein wenig 
drückend.« 

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III 

Vom Gift umgeben 

 
 
 

Der Raum, der dazu dienen sollte, den Aussichtspunkt dieser 
unvergeßlichen Erfahrung abzugeben, war ein entzückend 
feminin eingerichteter Salon, der vierzehn oder sechzehn 
Quadratfuß groß war. An ihn schloß sich, getrennt durch einen 
Vorhang aus rotem Samt, ein Kämmerchen an, das Professor 
Challenger als Ankleideraum diente. Dieses wiederum öffnete 
sich in ein großes Schlafzimmer. Der Vorhang war an seinem 
Platz belassen worden, aber das Boudoir und der 
Ankleideraum konnten für die Zwecke unseres Versuchs als 
ein Zimmer betrachtet werden. Eine Tür und der 
Fensterrahmen waren mit gefirnißtem Papier abgedichtet 
worden und waren somit praktisch versiegelt. Über der 
anderen Tür, die in einen Korridor mündete, befand sich ein 
Ventilator, den man, sollte eine Luftzufuhr sich als 
unumgänglich erweisen, mit einer Kordel in Bewegung 
versetzen konnte. In den einzelnen Zimmerecken standen 
Pflanzen in großen Bodenvasen. »Die Frage, wie wir uns des 
durch das Ausatmen entstehenden Stickstoffs entledigen, ohne 
die Sauerstofftanks über Gebühr zu beanspruchen, ist 
lebenswichtig«, sagte Challenger und sah sich um, nachdem er 
die Sauerstoffflaschen nebeneinander vor die Wand gelegt 
hatte. »Mit etwas mehr Vorbereitungszeit hätte ich die ganze 
Kraft meiner Intelligenz diesem Problem widmen können, aber 
jetzt können wir nicht mehr tun, als uns möglich ist. Die 
Pflanzen werden uns nur wenig dienlich sein. Zwei der 
Sauerstofftanks sind  so weit vorbereitet, daß wir sie in einem 

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Augenblick aktivieren können. Damit sind wir auch gegen 
Überraschungen gewappnet. Wir sollten uns allerdings nicht 
allzu weit von diesem Raum entfernen, da die Krise ganz 
plötzlich und schnell eintreten kann.« 

Es gab ein breites, niedriges Fenster, das sich zu einem 

Balkon hin öffnete. Der Ausblick, den wir von hier aus hatten, 
war identisch mit dem, den wir bereits von seinem 
Arbeitszimmer aus genossen hatten. Als ich hinaussah, konnte 
ich keinerlei Anzeichen  irgendwelcher Unordnung erkennen. 
Direkt unter meinen Augen zog sich die Serpentinenstraße 
hügelabwärts. Eine Pferdedroschke vom Bahnhof, eines jener 
prähistorischen Überbleibsel, wie man sie nur noch in Dörfern 
auf dem Lande finden kann, bahnte sich langsam einen Weg 
nach oben. Etwas weiter unten sah ich ein Hausmädchen, das 
einen Kinderwagen vor sich herschob und ein zweites Kind an 
der Hand führte. Die blauen Rauchfahnen aus den 
Schornsteinen der Landhäuser verliehen der gesamten, 
weitgedehnten Landschaft einen Hauch von Ordnung und 
heimeliger Gemütlichkeit. Nirgendwo im blauen Himmel oder 
auf der sonnenbeschienenen Erde waren die Vorboten einer 
Katastrophe zu erblicken. Die Landarbeiter waren auf die 
Felder zurückgekehrt, und die Golfspieler waren immer noch 
damit beschäftigt, paarweise oder zu vieren die Hügel zu 
umrunden. In meinem Kopf fand allerdings ein dermaßen 
starker Tumult statt, daß er mich im Zusammenhang mit 
meinen überstrapazierten Nerven in all diesen Leuten etwas 
Erstaunliches sehen ließ. 

»Die Burschen da unten scheinen nicht die geringsten 

Krankheitssymptome zu spüren«, sagte ich und deutete auf die 
Hügel. 

»Haben Sie je Golf gespielt?« frage Lord John. 
»Nein, noch nicht.« 

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»Nun, mein junger Freund, wenn Sie es getan hätten, würden 

Sie wissen, daß das einzige, was echte Golfer davon abhalten 
kann, ihre Partie zu unterbrechen, der Weltuntergang ist. 
Hallo! Das Telefon klingelt schon wieder!« 

Seit dem Essen und danach hatte das helle Schrillen der 

Telefonklingel unentwegt nach dem Professor gerufen. 
Nachdem er die Nachrichten entgegengenommen hatte, 
informierte er uns mit ein paar kurzen Sätzen. Noch nie zuvor 
hatte man auf der Welt dermaßen schreckliche Dinge 
registriert. Der große Schatten kroch von Süden nach Norden 
wie eine riesige Springflut. Ägypten hatte das Delirium bereits 
hinter sich und lag im Koma. Spanien und Portugal waren nun, 
nach einem wilden Kampf, in dem die Klerikalen und 
Anarchisten sich ein verzweifeltes Gefecht geliefert hatten, in 
Schweigen verfallen. Aus Südamerika kamen keine Kabel 
mehr durch. In Nordamerika hatten sich die Südstaaten nach 
einem schrecklichen Rassenkrieg dem Gift ergeben. Nördlich 
von Maryland waren die Auswirkungen noch nicht zum 
Höhepunkt gekommen, in Kanada waren sie kaum 
wahrnehmbar. Belgien, Holland und Dänemark waren 
nacheinander angesteckt worden. Aus jedem Winkel wurden 
verzweifelte Botschaften an die Zentren der Wissenschaft 
ausgesandt, die sowohl die Chemiker als auch die weltweit 
bekannten Ärzte um Hilfe anflehten. Die Astronomen wurden 
ebenfalls mit Anfragen überhäuft. Aber man konnte nichts tun. 
Die Angelegenheit war nun nicht nur weltweit bekannt 
geworden, sondern lag auch außerhalb jeglicher menschlichen 
Kontrolle und jeden Wissens. Es war der Tod  – schmerzlos, 
aber unausweichlich –, der Tod für jung und alt, schwach und 
stark, reich und arm, und es gab keine Hoffnung, ihm zu 
entgehen. So sahen die Nachrichten aus, die das Telefon uns 
tröpfchenweise und in konfusen Botschaften überbrachte. Die 
Großstädte kannten ihr Schicksal und bereiteten sich, soweit 

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wir wußten, mit Würde und Resignation darauf vor. Trotzdem 
waren da draußen noch immer die Golfspieler und 
Landarbeiter, die sich 

– unter dem Schatten des 

Schlachtermessers – immer noch aufführten wie herumtollende 
Lämmer. Es verwunderte mich. Aber schließlich  – woher 
sollten sie es wissen? Selbst auf uns war all dies mit einem 
einzigen Schritt zugekommen. Hatte in der Morgenzeitung 
etwas gestanden, was  sie hätte in Alarmstimmung versetzen 
können? Jetzt war es fast drei Uhr nachmittags. Noch während 
wir zu ihnen hinaussahen, schien sich unter den Schnittern ein 
Gerücht zu verbreiten, denn wir stellten plötzlich fest, daß sie 
von den Feldern eilten. Auch einige der Golfspieler kehrten zu 
ihrem Klubhaus zurück. Sie rannten, als suchten sie wegen 
eines Regenschauers Unterschlupf. Die kleinen Caddies eilten 
ihnen hinterher. Andere jedoch spielten weiter. Das 
Hausmädchen hatte sich umgewandt und schob den 
Kinderwagen nun wieder bergauf. Ich bemerkte, daß sie eine 
Hand an die Stirn legte. Die Droschke hatte angehalten, und 
der müde Gaul ruhte sich mit hängendem Kopf aus. Über 
allem lag ein perfekter Sommerhimmel  – eine sich in alle 
Richtungen erstreckende Masse ungebrochenen Blaus, in dem 
sich lediglich über den fernen Hügeln ein 

paar 

Schäfchenwolken zeigten. Wenn  die Menschheit an diesem 
Tag sterben mußte, hatte sie wenigstens ein schönes Totenbett. 
Trotzdem machte die freundliche Lieblichkeit der Natur diese 
schreckliche und allumfassende Vernichtung nur noch 
bedauerlicher und gräßlicher. Es war einfach unglaublich, daß 
man uns aus dieser schönen Welt so mitleidslos und schnell 
vertrieb! 

Aber wie ich bereits sagte, hatte das Telefon schon wieder 

geklingelt. Plötzlich hörte ich Challengers dröhnende Stimme 
aus der Halle. 

»Malone!« rief er. »Es ist für Sie.« 

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Ich eilte nach unten. Es war McArdle, der aus London anrief. 
»Sind Sie’s, Malone?« schrie seine mir bekannte Stimme. 
»Mr. Malone, in London ist die Hölle los. Fragen Sie 

Professor Challenger um Gottes willen, ob er weiß, was man 
dagegen unternehmen kann.« 

»Er weiß auch nichts, Sir«, antwortete ich. »Seiner Meinung 

nach ist diese Krise ebenso universeller wie unausweichlicher 
Natur. Wir haben ein wenig Sauerstoff hier, aber das wird uns 
auch nur für ein paar Stunden vor unserem Schicksal 
bewahren.« 

»Sauerstoff!« brüllte die mit dem Tode ringende Stimme. »Es 

ist keine Zeit mehr, welchen zu besorgen. Seit Sie heute 
morgen gegangen sind, ist aus der Redaktion ein perfektes 
Tollhaus geworden. Die Hälfte des Stabes ist bereits ohne 
Bewußtsein. Auch ich kann mich kaum noch auf den Beinen 
halten. Durch das Fenster kann ich sehen, daß der ganze Boden 
der Fleet Street mit Menschen bedeckt ist. Der gesamte 
Verkehr ist zum Erliegen gekommen. Nach den letzten 
Meldungen zu urteilen, ist die ganze Welt…« 

Seine Stimme war leiser geworden, plötzlich brach sie ab. 

Einen Augenblick später vernahm ich durch das Telefon einen 
gedämpften Schlag, als sei er mit dem Kopf auf die 
Schreibtischplatte gefallen. 

»Mr. McArdle!« schrie ich. »Mr. McArdle!« 
Es kam keine Antwort. Als ich den Hörer auf die Gabel 

hängte, wußte ich, daß ich seine Stimme nie wieder hören 
würde. 

Im gleichen Moment, als ich meinen Fuß auf die erste 

Treppenstufe setzte, um nach oben zurückzukehren, ging es 
los. Ich hatte den Eindruck eines Schwimmenden, der sich bis 
zu den Schultern im Wasser befindet und plötzlich von einer 
rollenden Woge überspült wird. Eine unsichtbare Hand schien 
sich leise um meinen Hals gelegt zu haben und drückte sanft 

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das Leben aus mir heraus. Ich bemerkte einen immensen 
Druck, der sich auf meine Brust legte, fühlte eine Enge in 
meinem Kopf, ein lautes Singen in den Ohren und hatte helle 
Lichtblitze vor den Augen. Ich taumelte auf das 
Treppengeländer zu. Im gleichen Augenblick jagte keuchend 
und schnaufend wie ein verwundeter Büffel Challenger an mir 
vorbei. Es war die schreckliche Vision eines purpurroten 
Gesichts, vorgewölbter Augen und gesträubtem Haar. Er hatte 
sich seine kleine Frau, die allem Anschein nach ohne 
Bewußtsein war, über die Schulter geworfen und stolperte mit 
donnernden Schritten, taumelnd und doch flink, die Treppe 
hinauf, wobei er sich selbst nur durch reine 
Willensanstrengung auf den Beinen hielt. Um uns war die Pest 
– dort oben hingegen die Sicherheit. Nachdem ich seine große 
Leistung verinnerlicht hatte, eilte ich ihm nach,  klammerte 
mich an das Geländer und hielt mich daran fest, bis ich halb 
besinnungslos mit dem Gesicht auf den oberen Treppenabsatz 
fiel. Lord Johns eisenharte Finger packten den Kragen meines 
Jacketts, und ein paar Augenblicke später lag ich  – unfähig zu 
sprechen oder eine Bewegung zu tun  – mit dem Rücken auf 
dem Schlafzimmerteppich. Die Frau lag neben mir, während 
Summerlee in einem am Fenster stehenden Sessel hockte, 
wobei sein Kopf beinahe seine Knie berührte. Wie in einem 
Traum sah ich Challenger wie einen monströsen Käfer 
langsam über den Boden kriechen, und kurz darauf hörte ich 
das sanfte Zischen ausströmenden Sauerstoffs. Challenger 
atmete zwei- oder dreimal tief ein. Seine Lungen dröhnten, als 
er das lebensspendende Gas einsaugte. 

»Es funktioniert!« schrie er triumphierend. »Meine Folgerung 

hat sich als richtig erwiesen!« Und schon war er wieder auf 
den Beinen, munter und stark. Mit einem Schlauch, den er in 
der Hand hielt, eilte er zu seiner Gattin und hielt ihn vor ihr 
Gesicht. Ein paar Sekunden später stöhnte sie, bewegte sich 

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und setzte sich hin. Dann wandte er sich mir zu, und ich fühlte, 
wie das Leben allmählich wieder durch meine Adern pulste. 
Die Vernunft sagte mir, daß dies nicht mehr als ein kleiner 
Aufschub sei, aber dennoch, egal welchen Wert wir ihr auch 
damals beimaßen, erschien mir jede weitere Stunde der 
Existenz als äußerst erstrebenswert. Nie zuvor hatte ich eine 
solch sinnliche Freude erfahren, wie ausgerechnet in diesem 
Augenblick, als mir der Quell des Lebens zuteil wurde. Das 
Gewicht, das auf meinen Lungen lastete, verschwand; das 
Band, das sich um meine Stirn gelegt hatte, löste sich; ich 
fühlte nichts anderes mehr als Frieden, und war von sanfter, 
gleichgültiger Bequemlichkeit erfüllt. Während man 
Summerlee mit den gleichen Mitteln wieder zu sich brachte, 
lag ich da und sah zu. Schließlich war Lord John wieder zur 
Stelle. Er sprang auf, reichte mir die Hand und half mir auf die 
Beine, während Challenger seine Gattin aufhob und auf ein 
kleines Sofa verfrachtete. 

»Oh, George, wie schade, daß du mich wieder zurückgeholt 

hast«, sagte sie, während sie seine Hand hielt. »Das Tor des 
Todes ist wirklich, wie du sagtest, mit hübschen, 
schimmernden Vorhängen versehen. Nachdem das Gefühl, daß 
ich husten müsse, vorbei war, war alles unvorstellbar friedlich 
und schön. Warum hast du mich nicht dort gelassen?« 

»Weil ich möchte, daß wir die Reise gemeinsam machen. Wir 

sind so viele Jahre zusammen gewesen. Es wäre doch traurig, 
wenn wir uns im letzten Moment noch trennen würden.« 

Einen kurzen Augenblick lang erkannte ich in seiner 

zärtlichen Stimme einen ganz neuen Challenger; einen Mann, 
der weit von dem polternden, arroganten Burschen, der 
abwechselnd seine Generation erstaunte und beleidigte, 
entfernt war. Hier, im Schatten des Todes, sah ich den 
wirklichen Challenger, jenen Menschen, der die Liebe einer 

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Frau errungen und behalten hatte. Plötzlich änderte sich seine 
Stimmung, und er war wieder unser starker Kapitän. 

»Ich allein habe diese Katastrophe kommen sehen und 

vorausgesagt«, sagte er mit einem hellen Frohlocken und 
wissenschaftlichem Triumph in der Stimme. »Was Sie angeht, 
mein guter Summerlee, so glaube ich, daß Ihre letzten Zweifel, 
was das Verblassen der Fraunhoferschen Linien angeht, nun 
beseitigt sind und Sie nun nicht mehr länger behaupten, daß 
der Inhalt meines Briefes in der  Times  auf einem Trugschluß 
basierte.« 

Zum ersten Mal stellte sich unser ansonsten kampflustiger 

Kollege einer Herausforderung gegenüber taub. Summerlee 
konnte nichts anderes tun, als keuchend dazusitzen und die 
langen, dürren Glieder zu strecken. Möglicherweise wollte er 
sich damit bestätigen, daß er noch immer am Leben war. 
Challenger ging zu der Sauerstofflasche hinüber, und das laute 
Zischen veränderte sich kurz darauf zu einem feinen Säuseln. 

»Wir müssen sparsam  damit umgehen«, sagte er. »Die 

Atmosphäre dieses Raumes enthält jetzt zuviel Sauerstoff, 
weswegen ich annehme, daß keiner von uns sich über Gebühr 
erschöpft fühlt. Wir können lediglich durch einige 
Experimente herausfinden, welche Sauerstoffmenge genügt, 
um das Gift zu neutralisieren. Warten wir erst einmal ab, ob 
die jetzige Einstellung für uns ausreicht.« 

Fünf Minuten oder mehr saßen wir in nervöser Anspannung 

und ohne eine Wort zu sagen da. Ich war gerade zu dem 
Entschluß gekommen, daß die gegenwärtige Sauerstoffmenge 
nicht ausreichte, um die Beklemmung, denen meine Schläfen 
jetzt wieder unterlagen, verschwinden zu lassen, als Mrs. 
Challenger vom Sofa her bemerkte, daß sie im Begriff sei, die 
Besinnung zu verlieren. Challenger erhöhte die 
Sauerstoffmenge sofort. 

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»In prä-wissenschaftlichen Zeiten«, sagte er, »nahm man 

weiße Mäuse mit in die Unterseeboote, da deren 
schwächlicherer Körperbau Veränderungen in der Atmosphäre 
eher zur Kenntnis nahm als der der Seeleute. Du, meine Liebe, 
wirst also unsere weiße Maus sein. Ich habe den 
Sauerstoffgehalt jetzt erhöht. Geht es dir besser?« 

»Ja, jetzt geht es mir besser.« 
»Vielleicht haben wir jetzt die richtige Mischung getroffen. 

Sobald wir herausgefunden haben, wieviel uns tatsächlich 
langt, können wir ausrechnen, wie lange wir es überstehen 
werden. Leider haben wir bei den Wiederbelebungsversuchen 
eine ansehnliche Menge aus der ersten Flasche verbraucht.« 

»Macht das etwas aus?« fragte Lord John, der  – mit den 

Händen in der Tasche – am Fenster stand. »Wenn wir eh schon 
gehen müssen, warum sollen wir es dann noch hinauszögern? 
Sie nehmen doch nicht etwa an, daß wir noch eine Chance 
haben?« 

Challenger schüttelte lächelnd den Kopf. 
»Nun, meinen Sie dann nicht, es hätte mehr Würde, wenn wir 

uns einfach hinausstürzten, als so lange hier zu warten, bis wir 
hinausgeworfen werden? Wenn es schon sein muß, wäre ich 
dafür, ein Gebet zu sprechen, den Sauerstoff abzudrehen und 
das Fenster aufzumachen.« 

»Ja, warum nicht?« fragte Mrs. Challenger tapfer. »Lord John 

hat sicher recht, George. Es wäre besser so.« 

»Dagegen muß ich schärfstens protestieren«, rief Summerlee 

mit nörgelnder Stimme dazwischen. »Wenn wir sterben 
müssen, dann sollen wir meinetwegen sterben; aber den Tod 
vorsätzlich herbeizuführen, scheint mir doch eine närrische 
und unverantwortliche Tat zu sein.« 

»Und was meint unser junger Freund dazu?« fragte 

Challenger. 

»Ich meine, wir sollten es bis zum Ende durchstehen.« 

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»Ich bin absolut der gleichen Ansicht«, sagte er. 
»Wenn du auch dieser Meinung bist, George«, rief Mrs. 

Challenger aus, »schließe ich mich dir an.« 

»Nun, ja, es war halt nur ein Argument«, sagte Lord John. 

»Wenn Sie alle bis zum Ende ausharren wollen, bin ich 
natürlich dabei. Es gibt natürlich keinen Zweifel, daß die 
Sache mächtig interessant werden kann.  Das Leben hat mir 
ebenso viele Abenteuer und Spannungen beschert wie den 
meisten Menschen, nun aber werde ich auf einem Logenplatz 
enden.« 

»Der für einige Zeit die Fortdauer des Lebens garantiert«, 

sagte Challenger. 

»Welch herrlicher Trost!« rief Summerlee aus. 
Challenger musterte ihn in stummem Tadel. 
»Der uns für einige Zeit die Fortdauer des Lebens garantiert«, 

wiederholte er im belehrendsten Tonfall, zu dem er fähig war. 
»Niemand von uns mag vorherzusagen, ob wir von der Ebene 
aus, die ich die spirituelle nennen möchte, im Gegensatz zur 
jetzigen materiellen, noch Möglichkeiten zur Beobachtung 
haben werden. Es sollte selbst dem Dümmsten klar sein«, (an 
dieser Stelle warf er Summerlee einen Blick zu), »daß wir nur 
so lange, wie wir existieren, die beste Gewähr dafür bieten, die 
Dinge zu beobachten und über die materiellen Dinge ein Urteil 
abzugeben. Nur wenn wir noch für ein paar Stunden am Leben 
bleiben, können wir die Hoffnung hegen, in eine mögliche 
zukünftige Existenz die klare Vorstellung des 
ungeheuerlichsten Ereignisses mitzunehmen, das die Welt und 
– soweit wir wissen – das Universum je heimgesucht hat. Mir 
käme es jämmerlich vor, wenn wir versuchten, diesen Weg auf 
irgendeine Art zu verkürzen und so auch nur eine Minute 
dieser wundervollen Erfahrung verpassen würden.« 

»Ich bin absolut der gleichen Meinung«, rief Summerlee aus. 

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»Also aushalten bis zum Ende«, sagte Lord John. »Bei 

George, der arme Teufel von Chauffeur da unten im Garten hat 
seine letzte Reise bereits gemacht. Ob es Sinn hat, einen 
Ausfall zu machen und ihn hereinzuholen?« 

»Das wäre absoluter Wahnsinn!« schrie Summerlee. 
»Möglicherweise haben Sie recht«, sagte Lord John. »Es 

würde ihm nicht helfen. Und selbst, wenn es uns gelänge, ihn 
wieder ins Leben zurückzurufen, würden wir nur den ganzen 
Sauerstoff im Haus versprühen. Aber sehen Sie sich die 
kleinen Vögel unter den Bäumen an!« 

Wir schoben vier Sessel vor das breite, niedrige Fenster. Mrs. 

Challenger lag immer noch mit geschlossenen Augen auf dem 
kleinen Sofa. Ich erinnere mich, daß mir plötzlich der groteske 
Gedanke durch den Kopf schoß  – möglicherweise wurde die 
Illusion noch durch die schwere Luft, die wir atmeten, 
verstärkt – daß wir uns auf vier Sperrsitzen befanden und den 
letzten Akt des Dramas der Welt beobachteten. 

Direkt vor uns, geradewegs unter unseren Augen, lag der 

kleine Hof, auf dem der erst zur Hälfte gewaschene 
Kraftwagen stand. Austin, der Chauffeur, hatte nun doch seine 
letzte Kündigung erhalten, denn er lag ausgestreckt neben dem 
Rad und hatte eine große, schwarze Schramme auf der Stirn. 
Er schien auf die Treppenstufe oder den Fußabstreifer gefallen 
zu sein. In der Hand hielt er immer noch die Schlauchdüse, mit 
der er den Wagen gewaschen hatte. In einer Ecke des Gartens 
standen ein paar kleine Platanen, unter denen mehrere 
mitleiderweckende Federbälle lagen, die die winzigen Beine in 
die Luft reckten. Der Rundschlag der tödlichen Sense hatte 
alles getroffen, was in ihrer Reichweite gewesen war. 

Über die Hofmauer hinweg schauten wir auf die sich 

dahinschlängelnde Straße hinunter, die an der Eisenbahnstation 
endete. Die Schnitter, die wir von den Feldern hatten flüchten 
sehen, lagen verstreut auf dem Asphalt, wobei sich ihre 

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Glieder und Körper kreuzten. Weiter oben lag das 
Hausmädchen mit dem Kopf und den Schultern in der 
Böschung des Randstreifens. Sie hatte das Baby aus dem 
Kinderwagen genommen und hielt es wie ein bewegungsloses 
Bündel in den Armen. Ein kurzes Stück von ihr entfernt zeigte 
ein dunkler Fleck auf der Straße den Platz an, auf dem der 
kleine Junge hingefallen war. Etwas näher zu uns lag das tote 
Kutschpferd zwischen seinen Deichseln. Der alte Kutscher 
hing wie eine grotesk aussehende Vogelscheuche über dem 
Spritzbrett. Seine Arme baumelten absurd in der Luft herum. 
Durch das Fenster konnten wir verschwommen  einen jungen 
Mann erkennen, der im Inneren der Droschke saß. Die Tür war 
aufgegangen, und seine Hand hielt die Klinke gepackt, als 
hätte er den Versuch unternommen, im letzten Moment 
abzuspringen. In mittlerer Entfernung befanden sich die Hügel 
des Golfplatzes. Zwischen ihnen waren zwar immer noch die 
dunklen Gestalten der Spieler zu erkennen, nur bewegten sie 
sich diesmal nicht, sondern lagen starr im Gras oder dem den 
Platz umgebenden Heidekraut. An einer Stelle zählten wir acht 
gefallene Körper auf einmal. Offenbar hatten die vier Spieler 
mit ihren Caddies bis zum Letzten ausgeharrt. Kein Vogel 
zeigte sich mehr am zur Gruft gewordenen blauen Himmel; auf 
dem weitgedehnten Landstreifen, der sich vor uns dahinzog, 
bewegte sich weder Mensch noch Tier. Die Abendsonne 
schickte ihre friedlichen Strahlen aus, aber alles, was sie 
ausbrütete, war die Stille und das Schweigen des universellen 
Todes  – des Todes, den wir nur allzu bald würden teilen 
müssen. Jetzt schloß uns noch die Scheibe aus zerbrechlichem 
Glas, die unseren zusätzlichen Sauerstoff am Entweichen 
hinderte und sich dem vergifteten Äther in den Weg stellte, 
von dem Schicksal ab, das alle anderen bereits ereilt hatte. Ein 
paar kurze Stunden lang würde das Wissen und die 
Voraussicht eines Menschen dazu in  der Lage sein, unsere 

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kleine Oase des Lebens vor der ausgedehnten Wüste des Todes 
zu schützen und uns davor bewahren, ebenfalls Opfer der 
allgemeinen Katastrophe zu werden. Irgendwann würde dann 
der Sauerstoff knapp werden und auch wir nach Luft ringend 
auf dem kirschfarbenen Teppich liegen. Dann würde das 
Schicksal der menschlichen Rasse und allen irdischen Lebens 
besiegelt sein. In einer Stimmung, die zu ernst war, als daß wir 
sie mit Worten hätten kommentieren können, sahen wir lange 
Zeit auf die Welt hinaus. 

»Da brennt ein Haus«, sagte Challenger schließlich und 

deutete auf eine Rauchsäule, die sich über den Bäumen erhob. 
»Ich nehme an, daß es noch viele solcher Feuersbrünste geben 
wird und ihnen möglicherweise ganze Städte zum Opfer fallen, 
denn man kann davon ausgehen, daß viele Leute mit Feuer in 
der Hand umgefallen sind. Daß es überhaupt brennt, zeigt uns, 
daß der Sauerstoffgehalt der Luft normal ist und mit dem 
Weltraum etwas nicht stimmt. Ah, da sehen wir schon die 
nächste Flamme, auf dem Crowborough Hill. Wenn ich mich 
nicht irre, handelt es sich um das Klubhaus des Golfvereins. 
Ich höre Kirchenglocken, die die Zeit  vermelden. Es würde 
unsere Philosophen sicher interessieren, daß die Technik die 
Rasse, die sie erschaffen hat, überlebt.« 

»Bei George!« rief Lord John aus und sprang nervös auf. 

»Was ist das denn für eine Rauchwolke? Es ist ein Zug!« 

Wir hörten ein Brüllen, und dann kam er plötzlich in Sicht 

und hatte eine Geschwindigkeit, die man nur noch als 
ungeheuerlich bezeichnen kann. Woher er kam und aus 
welcher Entfernung, konnten wir nicht abschätzen. Nur unter 
Ausnutzung eines geradezu wunderbaren Glücks konnte er 
überhaupt eine Entfernung hinter sich gebracht haben. Aber 
nun sahen wir das schreckliche Ende seiner Existenz, denn auf 
dem Gleis stand bewegungslos ein mit Kohlen beladener 
Güterzug. Als wir sahen, daß der Schnellzug über das gleiche 

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Gleis donnerte, hielten wir den Atem an. Der Zusammenstoß 
war grauenhaft. Die Lok  und die Anhänger türmten sich zu 
einem Hügel splitternden Holzes und verbogenen Eisens auf. 
Rote Funken stoben aus dem Wrack und verschwanden erst, 
als alles in hellen Flammen stand. Eine halbe Stunde saßen wir 
da und wagten kaum zu sprechen. Der schauerliche Anblick 
hatte uns gelähmt. 

»Die armen, armen Menschen!« rief Mrs. Challenger 

schließlich aus und klammerte sich schluchzend an den Arm 
ihres Mannes. 

»Die Fahrgäste dieses Zuges waren ebenso wenig am Leben 

wie die Kohlen, mit denen sie zusammenstießen  oder der 
Kohlenstoff, zu dem sie nun geworden sind, meine Liebe«, 
sagte Challenger und streichelte besänftigend ihre Hand. »Es 
war ein Zug der Lebenden, als er den Victoria-Bahnhof 
verließ, aber lange bevor ihn sein Schicksal ereilte, hat er nur 
noch Tote befördert.« 

»Auf der ganzen Welt muß jetzt das gleiche geschehen«, 

sagte ich, während sich vor meinem inneren Auge seltsame 
Ereignisse abspielten. »Denken Sie nur an die Schiffe auf dem 
Meer! Sie werden steuerlos vor sich hinfahren, bis entweder 
die Feuer  in ihren Kesseln erloschen oder sie irgendwo auf 
Grund laufen. Das gleiche gilt für die Segler – sie werden hin 
und her treiben, beladen mit toten Seeleuten, bis ihre Planken 
verrotten, ihre Außenwände lecken und sie nacheinander 
sinken. Vielleicht wird der Atlantik noch in einem Jahrhundert 
mit den alten, umhertreibenden Relikten der Gegenwart 
spielen.« 

»Und erst die Leute in den Kohlengruben«, sagte Summerlee 

mit einem düster klingenden Glucksen. »Sollte es aus 
irgendeinem Zufall einmal dazu kommen, daß auf der Erde 
wieder Geologen leben, werden sie bestimmt seltsame 

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Theorien darüber aufstellen, wie der Mensch in kohlehaltigen 
Schichten existieren konnte.« 

»Ich gebe ja nicht vor, über solche Dinge Bescheid zu 

wissen«, warf Lord John ein, »aber mir scheint, daß die Erde 
nach diesem Ereignis höchstens noch ein Schild tragen wird, 
auf dem  ›Leerstehend, zu Vermieten‹ steht. Wenn die 
menschliche Rasse einmal ausradiert ist, wie kann sie die Erde 
dann ein zweitesmal bevölkern?« 

»Die Welt war auch leer, bevor es uns gab«, antwortete 

Challenger ernst. »Sie entwickelte Leben aufgrund von 
Bedingungen, deren Anfänge jenseits unseres Wissens liegen. 
Warum sollte sich ein solcher Prozeß nicht wiederholen?« 

»Mein lieber Challenger, das meinen Sie doch wohl nicht im 

Ernst.« 

»Professor Summerlee, ich bin nicht in der Stimmung, Dinge 

zu sagen, die ich nicht meine. Ihre Bemerkung ist trivial.« 

»Nun«, sagte Summerlee säuerlich, »Sie haben Ihr ganzes 

Leben als starrsinniger Dogmatiker verbracht, warum sollten 
Sie nicht auch so sterben?« 

»Und Sie, Sir, haben das ganze Leben in einem Zustand 

verstopfter Phantasielosigkeit verbracht, und man kann 
annehmen, daß dies sich niemals ändern wird.« 

»Daß es Ihnen an Phantasie gebracht, können nicht einmal 

Ihre ärgsten Kritiker behaupten«, konterte Summerlee. 

»Auf mein Wort!« sagte Lord John. »Es sähe Ihnen wirklich 

ähnlich, wenn Sie den letzten Atemzug noch dazu 
verwendeten, einander zu schmähen. Wen interessiert es 
schon, ob es auf der Erde jemals wieder Leben geben wird 
oder nicht? Wir werden es auf jeden Fall nicht mehr erleben.« 

»Mit dieser Bemerkung, Sir, stellen Sie Ihr Licht wahrlich 

unter den Scheffel«, sagte Challenger streng. »Ein wahrer 
wissenschaftlicher Geist kann sich doch nicht solchen 
Begrenzungen wie Raum und Zeit unterwerfen. Vielmehr baut 

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er sich selbst einen Beobachtungsstand an der Grenze der 
Gegenwart, die die vollendete Vergangenheit von der 
vollendeten Zukunft trennt. Von diesem sicheren Posten aus 
macht er sowohl zum Anfang als auch zum Ende aller Dinge 
seine Ausfälle. Was den Tod angeht, so stirbt der 
wissenschaftliche Geist so, indem er auf seinem Posten bleibt 
und auf normale und methodische Weise bis zum Ende 
arbeitet: Er ignoriert Dinge wie seine eigene körperliche 
Liquidation ebenso wie alle anderen Begrenzungen der 
materiellen Existenz. Habe ich damit Recht, Professor 
Summerlee?« 

Summerlee brummelte etwas Unverständliches in seinen 

Bart. 

»Mit gewissen Einschränkungen bin ich Ihrer Meinung«, 

sagte er. 

»Der ideale wissenschaftliche Geist«, fuhr Challenger fort,  

»  – ich spreche in der dritten Person, um nicht allzu 
überheblich zu erscheinen – der ideale wissenschaftliche Geist 
sollte dazu fähig sein, noch abstrakt denken zu können, wenn 
sein Träger aus einem Ballonkorb fällt und auf die Erde 
hinabstürzt. Männer dieses Kalibers werden gebraucht, da sie 
die Eroberer der Natur und die Leibgarde der Wahrheit 
stellen.« 

»Mir scheint, daß diesmal die Natur die Oberhand hat«, sagte 

Lord John und schaute aus dem Fenster. »Ich habe ein paar 
meinungsbildende Artikel darüber gelesen, daß Gentlemen wie 
Sie, sie angeblich zu kontrollieren verstünden, aber sie scheint 
ein wenig von ihrer Bewegungsfreiheit zurückgewonnen zu 
haben.« 

»Es ist nur ein zeitweiliger  Rückfall«, sagte Challenger mit 

Überzeugung. »Was sind schon ein paar Millionen Jahre im 
großen Zyklus der Zeit? Die Pflanzenwelt hat, wie Sie sehen, 
überlebt. Schauen Sie sich die Blätter jener Platane dort an. 

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Die Vögel sind tot, aber die Pflanzen wachsen weiter. Aus 
diesem Pflanzenleben, ob es sich nun in einem Teich oder im 
Marschland befindet, werden sich irgendwann mikroskopisch 
kleine Schnecken entwickeln, die die Pioniere jener gewaltigen 
Lebensarmee sein werden, der wir fünf im Moment die 
außergewöhnliche Ehre haben, als Nachhut zu dienen. Wenn 
sich erst einmal die niedrigste Form des Lebens etabliert hat, 
ist die Ankunft des Menschen so sicher, wie sich aus einer 
Eichel ein Baum entwickelt. Und der alte Zyklus beginnt von 
neuem.« 

»Aber das Gift«, fragte ich. »Wird es das Leben nicht im 

Keim ersticken?« 

»Das Gift könnte lediglich eine Schicht oder Ablagerung im 

Weltraum sein  – ein pestähnlicher Golfstrom, der den 
mächtigen Ozean durchquert, über den wir dahinschwimmen. 
Vielleicht ist es auch möglich, Abwehrstoffe zu entwickeln; 
das Leben könnte sich den neuen Bedingungen anpassen. 
Allein die Tatsache, daß wir uns mit Hilfe einer etwas 
größeren Sauerstoffmenge in unserem Blut halten können, 
bedeutet, daß es nicht einmal besonders großer Veränderungen 
bedarf, um das animalische Leben das Gift ertragen zu lassen.« 

Das hinter den Bäumen liegende, qualmende Haus stand nun 

in Flammen. Wir konnten sehen, wie die Feuerzungen hoch in 
den Himmel schossen. 

»Ziemlich abscheulich«, murmelte Lord John stärker 

beeindruckt als je zuvor. 

»Nun, aber was kümmerts uns?« bemerkte ich. »Die Welt ist 

tot. Und das Krematorium ist sicherlich die sauberste Art der 
Bestattung.« 

»Es würde unser Leben ziemlich verkürzen, wenn auch 

dieses Haus in Flammen aufginge.« 

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»Ich habe diese Gefahr vorausgesehen«, sagte Challenger, 

»und bat meine Frau, deswegen Vorsichtsmaßnahmen zu 
ergreifen.« 

»Es ist alles in bester Ordnung, Schatz. Aber mein Kopf 

beginnt schon wieder zu schmerzen. Welch eine bedrohliche 
Atmosphäre!« 

»Wir werden sie ändern«, sagte Challenger und beugte sich 

über den Sauerstofftank. 

»Er ist fast leer«, sagte er. »Immerhin hat er fast dreieinhalb 

Stunden gereicht. Es ist jetzt fast acht Uhr. Wir werden also 
bequem durch die Nacht kommen. Ich nehme an, daß der 
Sauerstoff bis morgen früh um neun reichen wird. Wir werden 
also den Sonnenaufgang zu sehen bekommen, auch wenn er 
diesmal für uns ganz alleine kommt.« 

Er aktivierte den zweiten Tank und öffnete für eine halbe 

Minute den Ventilationsschacht über der Tür. Die Luft wurde 
fühlbar besser, aber als die Symptome sich wieder an uns 
zeigten, schloß er ihn wieder. 

»Nebenbei bemerkt«, sagte er, »lebt der Mensch nicht von 

Sauerstoff allein. Die Zeit fürs Dinner ist bereits vorbei. Ich 
versichere Ihnen, Gentlemen, als ich Sie in mein Haus einlud, 
um das zu feiern, was ich mir als ein freudiges Wiedersehen 
vorstellte, hatte ich die Absicht, meine Küche für sich selbst 
sprechen zu lassen. Jetzt müssen wir uns allerdings mit dem 
zufriedengeben, was wir haben. Ich nehme an, Sie sind mit mir 
einer Meinung, daß es eine Torheit wäre, unseren Sauerstoff 
dadurch zu verschwenden, daß wir den Ölofen anzünden. Ich 
habe einige Mäppchen Bratenfleisch, Brot und Essiggurken 
vorbereitet, die uns mit ein paar Flaschen Bordeaux die Zeit 
ein wenig versüßen können. Vielen Dank, meine Liebe  – wie 
immer bist du auch jetzt die Königin aller Hausfrauen.« 

Es war in der Tat bewundernswert, wie seine mit der 

Selbstachtung und Geschicklichkeit einer britischen Hausfrau 

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ausgestattete Gattin den Tisch mit einer schneeweißen Decke 
und Servietten versah und uns das einfache Mahl auftischte, 
das wir in zivilisiertem Rahmen  – auf dem Tisch stand sogar 
eine elektrische Lampe  – einnahmen. Bewundernswert war 
allerdings auch, daß sich unser Appetit als wahrer Heißhunger 
entpuppte. 

»Daran können wir unsere Emotionen abmessen«, sagte 

Challenger in der  herablassenden Art, die er stets anwandte, 
wenn sein wissenschaftlicher Geist sich dazu erniedrigte, 
unwichtige Tatsachen zu erklären. »Wir haben eine große 
Krise durchlaufen, und das hat unsere Moleküle natürlich in 
Unordnung gebracht. Was wiederum bedeutet, daß wir sie 
wieder in einen Normalzustand versetzen müssen. Große 
Sorgen oder große Freude müßten auch einen übermäßigen 
Hunger erzeugen  – nicht jedoch Appetitlosigkeit, wie uns die 
Romanschreiber glauben machen wollen.« 

»Deswegen macht die Landbevölkerung aus Beerdigungen 

wohl auch immer große Feste«, vermutete ich. 

»Genau. Unser junger Freund hat den Nagel auf den Kopf 

getroffen. Nehmen Sie doch noch eine Scheibe Wurst.« 

»Das gleiche gilt für die Wilden«, sagte Lord John und 

schnitt sich ein Stück Fleisch ab. »Ich sah ihnen einmal zu, als 
sie am Aruwimi River einen Häuptling bestatteten. Danach 
aßen sie ein Flußpferd, das bestimmt nicht weniger wog als der 
ganze Stamm. Es gibt auch einige Stämme unten in Neu-
Guinea, die aus Gründen der Sauberkeit gleich denjenigen, den 
sie kurz zuvor noch beklagt haben, selbst aufessen. Nun, von 
allen Beerdigungsfeierlichkeiten, die die Welt je gesehen hat, 
ist unsere, wie ich annehme, sicher die komischste.« 

»Das Seltsame ist«, sagte Mrs. Challenger, »daß ich nicht 

dazu in der Lage bin, für die, die von uns gegangen sind, 
Trauer zu empfinden. Da sind zum Beispiel mein Vater und 
meine Mutter in Bedford. Ich weiß, daß sie tot sind, und doch 

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kann ich in dieser universellen Tragödie keine Trauer für 
Einzelne spüren, nicht einmal für sie.« 

»Und meine alte Mutter in ihrem Landhaus in Irland«, sagte 

ich. »Ich sehe sie genau vor mir, mit ihrem Schal und dem 
Spitzenhäubchen, wie sie mit geschlossenen Augen in ihrem 
alten Lehnstuhl am Fenster sitzt, während neben ihr ein Buch 
und  ihre Brille liegen. Warum sollte ich sie beweinen? Sie ist 
vergangen, und ich werde vergehen, und vielleicht bin ich ihr 
in einem anderen Leben näher als England Irland. Aber ich 
verspüre einen leisen Kummer, wenn ich daran denke, daß sie 
körperlich zu existieren aufgehört hat.« 

»Was den Körper angeht«, bemerkte Challenger, »so 

wehklagen wir weder deswegen, wenn wir uns die Nägel 
schneiden, noch wenn unser Haar von einigen Locken entblößt 
wird. Ebenso wenig sehnt sich ein Einbeiniger nach seinem 
verlorenen  Glied. Der physische Körper ist doch für uns eher 
eine Quelle des Schmerzes und der Strapazen gewesen. Er ist 
der konstante Behälter unserer Begrenzungen. Warum also 
Sollten wir uns darüber sorgen, wenn er von unserem 
psychischen Ich abgetrennt wird?« 

»Wenn man sie überhaupt voneinander trennen kann«, 

brummte Summerlee, »jedenfalls stellt der universelle Tod 
eine Bedrohung dar.« 

»Wie ich bereits erklärt habe«, sagte Challenger, »muß ein 

universeller Tod von weitaus weniger schrecklicher Natur sein 
als ein isolierter.« 

»Genau so ist es während einer Schlacht«, bemerkte Lord 

John. »Wenn Sie einen einzelnen Mann mit zerfetzter Brust 
und einem Kopfschuß daliegen sehen, wird Ihnen schlecht. 
Aber im Sudan habe ich Tausende so daliegen sehen, ohne daß 
mich ein solches Gefühl überkam. Denn wenn man Geschichte 
macht, zählt das Leben eines Einzelnen zu wenig, als daß man 
sich um ihn Sorgen machen könnte. Wenn das Schicksal 

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tausend Millionen am gleichen Tag ereilt, sieht man den 
Einzelnen in der Menge nicht mehr.« 

»Ich wünschte, es wäre schon vorbei«, sagte Mrs. Challenger 

sehnsüchtig. »O, George, ich habe solche Angst.« 

»Wenn die Zeit kommt, wirst du die tapferste von uns sein, 

meine Liebe. Ich bin stets ein streitsüchtiger Hammel gewesen, 
mein Schatz, aber bitte behalte in Erinnerung, daß G. E. C. sich 
nur so verhalten hat, wie es seinem Charakter entsprach und er 
nichts dafür konnte. Hättest du trotzdem gerne einen anderen 
gehabt?« 

»Nicht um alles in der Welt, Lieber«, sagte sie und 

umschlang seinen massigen Hals mit den Armen. Wir drei 
begaben uns zum Fenster und blieben erstaunt stehen, als wir 
sahen, welcher Blick sich uns bot. 

Die Finsternis hatte sich herabgesenkt und die Welt in 

Schwärze erstarren lassen. Aber am südlichen Horizont befand 
sich ein langer, leuchtender, scharlachfarbener Streifen, der in 
hellen Farben das Pulsieren eines Lebens zeigte, das plötzlich 
einem feuerroten Höhepunkt entgegensprang und sich dann als 
tosende Feuerlinie entpuppte. 

»Lewes steht in Flammen!« rief ich aus. 
»Nein, es ist Brighton, das brennt«, sagte Challenger und 

stand auf, um sich zu uns zu gesellen. »Sehen Sie, wie sich die 
gekurvte Linie der Hügel gegen das Leuchten abhebt? Das 
Feuer liegt Meilen weiter auf der anderen Seite. Die ganze 
Stadt muß in Flammen stehen.« 

Es glühte an unterschiedlichen Orten, und auch der große 

Schrotthaufen auf dem Eisenbahngleis schmorte noch in der 
Dunkelheit vor sich hin, aber gegen die Feuersbrunst, die 
hinter den Hügeln wütete, kamen mir alle anderen Brände nur 
so vor, als hätte jemand ein Streichholz angezündet. Welch ein 
Aufmacher wäre das für die  Gazette  gewesen! Hatte es je für 
einen Journalisten einen solchen Aufmacher gegeben, ohne 

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daß er die Möglichkeit besessen hatte, ihn auch zu bringen? 
Die größte Schlagzeile aller Zeiten – ohne daß jemand da war, 
der sie zu würdigen wußte? Und dann, ganz plötzlich, 
erwachte in mir der alte Instinkt des Berichterstatters. Wenn 
diese Männer der Wissenschaft ihrer Lebensaufgabe bis zum 
bitteren Ende treu bleiben konnten, warum sollte ich mich 
dann nicht als ebenso standhaft erweisen? Kein menschliches 
Auge würde das zu sehen bekommen, was ich sehen würde. Da 
ich zudem die lange Nacht auf irgendeine Weise würde 
verbringen müssen  – und Schlaf,  jedenfalls für mich, nicht in 
Frage kam –, würden mir meine Aufzeichnungen dabei helfen, 
die Stunden der Müdigkeit zu überwinden und meine 
Gedanken zu beschäftigen. Deswegen habe ich jetzt vor mir 
auf den Knien das Notizbuch mit den bekritzelten Seiten, die 
ich im matten Schein unserer einzigen elektrischen Lampe in 
aufgeregter Stimmung beschrieb. Besäße ich 
schriftstellerisches Talent, wären sie des Anlasses sicher 
würdig gewesen. So wie sie jetzt sind, vermögen sie anderen 
lediglich die Gefühle und das Zagen jener schrecklichen Nacht 
wiederzugeben. 

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IV 

Das Tagebuch des Todes 

 
 
 

Wie seltsam die Worte aussehen, die ich an den Anfang 
meines leeren Notizbuches gesetzt habe! Wie seltsamer noch 
aber ist es, daß ich, Edward Malone, es war, der sie 
geschrieben hat; ich, der erst vor zwölf Stunden seine 
Wohnung in Streatham verlassen hat, ohne auch nur einen 
Gedanken daran zu verschwenden, welche Unfaßlichkeiten 
dieser Tag mit sich bringen würde! Ich denke zurück an die 
Kette der Ereignisse, an mein Gespräch mit McArdle, 
Challengers erste alarmierende Meldung in der  Times,  die 
absurde Eisenbahnfahrt, das, in Heiterkeit verlaufene 
Mittagessen, die Katastrophe und an die Gegenwart – daß wir 
auf einem leeren Planeten zurückbleiben und unser Schicksal 
so gewiß ist, daß ich diese Zeilen, die ich in einem 
mechanischen professionellen Habitus niedergeschrieben habe 
und niemals von menschlichen Augen gelesen werden, als die 
Worte eines bereits Toten ansehen kann, denn so nahe ist er 
bereits dem schattigen Grenzland gekommen, über das der 
kleine Kreis seiner auswärtigen Freunde gegangen ist. Ich 
spüre, wie weise und wahr Challengers Worte waren, als er 
sagte, daß die wirkliche Tragödie jene wäre, wenn wir 
feststellen müßten, daß wir allein zurückgeblieben sind, wenn 
alles Edle, Gute und Schöne vergangen ist. Aber diese Gefahr 
besteht für uns nicht. Schon jetzt ist der Inhalt unserer zweiten 
Sauerstoffflasche beinahe erschöpft. Wir können den 
kümmerlichen Rest Leben, der uns noch verbleibt, beinahe auf 
die Minute ausrechnen. 

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Challenger hat uns gerade einen Vortrag gehalten, der gut 

eine Stunde gedauert und aufgrund der Aufregung des 
Vortragenden, der schließlich immer lauter wurde und mit den 
Armen ruderte, in mir den Eindruck erweckt hat, als spreche er 
vor einer Versammlung wissenschaftlicher Skeptiker in der 
Queens Hall. Es war gewiß ein seltsames Publikum, dem er ins 
Gewissen redete: seine Frau, die sich absolut fügsam gebärdete 
und dennoch nichts von dem verstand, was er redete; 
Summerlee, auf einem Sessel im Schatten sitzend, mürrisch 
und kritisch, aber keinesfalls uninteressiert; Lord John, der sich 
wegen des Gesamtverlaufs ein wenig gelangweilt in einer Ecke 
rekelte, und ich, am Fenster stehend und die ganze Szene 
gewissermaßen mit unvoreingenommener Aufmerksamkeit 
beobachtend, als befände ich mich in einem Traum, an dem ich 
nicht das geringste persönliche Interesse hätte. Challenger saß 
an dem die Raummitte einnehmenden Tisch, während das 
elektrische Licht den unter dem Mikroskop liegenden 
Objektträger beleuchtete, den er aus dem Ankleideraum geholt 
hatte. Der kleine  Kreis hellweißen Lichts, den der Spiegel 
zurückwarf, setzte die Hälfte seines zerfurchten, bärtigen 
Gesichts einem strahlenden Leuchten aus, während die andere 
in tiefster Dunkelheit blieb. Wie es aussieht, hat er in letzter 
Zeit an den niedrigsten Formen des Lebens gearbeitet, und was 
ihn gegenwärtig erregt, ist die Tatsache, daß die sich seit dem 
gestrigen Tag auf dem Objektträger befindende Amöbe immer 
noch lebt. 

»Sie sehen es selbst«, wiederholt er mit großer Erregung. 

»Summerlee, wollen Sie herüberkommen und sich selbst 
davon überzeugen? Malone, wollen Sie freundlicherweise das, 
was ich sage, beglaubigen? Die kleinen, spindelähnlichen 
Dinger in der Mitte sind Diatome und können ignoriert 
werden, da sie möglicherweise eher pflanzlicher als 
animalischer Natur sind. Aber rechter Hand werden Sie 

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unzweifelhaft eine Amöbe erblicken, die sich langsam auf dem 
Objektträger bewegt. Die obere Schraube dient der 
Feineinstellung. Schauen Sie es sich selbst an.« 

Summerlee tat wie ihm geheißen und fügte sich. Ich tat das 

gleiche und erblickte ein kleines Geschöpf, das aussah, als 
bestehe es aus Milchglas. Es bewegte sich linkisch auf dem 
erhellten Kreis. Lord John schien Challenger auch ohne 
näheres Hinsehen zu glauben. 

»Ich werde mir nicht den Kopf darüber zerbrechen, ob es lebt 

oder tot ist«, sagte er. »Soweit ich weiß, kennen wir uns nicht 
einmal vom Sehen her, weswegen also sollte ich es mir zu 
Herzen nehmen? Jedenfalls nehme ich nicht an, daß dieses 
Ding sich über unseren Gesundheitszustand Gedanken macht.« 

Darüber  mußte ich lachen, woraufhin Challenger mich mit 

dem kältesten und hochnäsigsten Blick bedachte, zu dem er 
fähig war. Es war eine äußerst unangenehme Erfahrung. 

»Die Respektlosigkeit der Halbgebildeten hat auf die 

Wissenschaft einen größeren Störeffekt als  die Dummheit des 
Ignoranten«, sagte er. »Wenn Lord John Roxton vielleicht 
geruhen würde…« 

»Mein lieber George, sei doch nicht immer so ein 

Heißsporn«, sagte seine Gattin und legte eine Hand auf sein 
Haar, unter dem das Mikroskop beinahe verschwand. »Was hat 
es schon zu bedeuten, ob diese Amöbe lebt oder nicht?« 

»Es hat eine große Bedeutung«, sagte Challenger bärbeißig. 
»Nun, dann erzählen Sie es uns«, sagte Lord John mit einem 

humorigen Lächeln. »Darüber können wir ebenso gut reden 
wie über etwas anderes. Wenn Sie der Meinung sind, ich hätte 
mich diesem Ding gegenüber ein wenig zu burschikos 
aufgeführt oder auf irgendeine Weise seine Gefühle verletzt, 
bitte ich um Entschuldigung.« 

»Was mich betrifft«, sagte Summerlee in seinem quäkenden, 

nörgelnden Tonfall,  »so vermag ich nicht einzusehen, warum 

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Sie der Tatsache, daß das Ding lebt, eine solche Bedeutung 
zumessen. EA hält sich in der gleichen Atmosphäre auf wie 
wir, deswegen ist es doch nur natürlich, daß das Gift keine 
Auswirkungen auf es hat. Befände es sich außerhalb dieses 
Raumes, wäre es so tot wie jedes andere tierische Leben auch.« 

»Ihre Bemerkungen, mein lieber Summerlee«, sagte 

Challenger mit, äußerster Ruhe (Oh, könnte ich dieses 
anmaßende, arrogante Gesicht im hellen Schein des 
respektierenden Mikroskopspiegels doch nur malen!), » – Ihre 
Bemerkungen zeigen einmal wieder, wie mangelhaft Sie dazu 
in der Lage sind, die Situation einzuschätzen. Ich habe dieses 
Spezimen gestern aufgezogen, und seitdem ist es hermetisch 
von der Außenwelt abgeschlossen. Unser Sauerstoff kann es 
nicht erreichen. Aber die Luft hat es durchdrungen, wie jeden 
anderen Punkt im Universum. Also hat es das Gift überlebt. 
Wir können also annehmen, daß alle Amöben, die sich 
außerhalb dieses Raumes befinden, die Katastrophe überlebt 
haben und nicht  – wie Sie fälschlicherweise behaupten, tot 
sind.« 

»Nun, auch jetzt fühle ich mich noch nicht dazu veranlaßt, 

darüber in Hurrarufe auszubrechen«, sagte Lord John. »Denn 
was hat das schon zu sagen?« 

»Es hat nichts anderes zu sagen, als das, daß die Welt nicht 

tot ist, sondern lebt. Besäßen Sie wissenschaftliche 
Vorstellungskraft, würden Sie von nun an einen Blick in die 
Zukunft werfen und sehen, daß in ein paar Millionen Jahren – 
was schließlich nach kosmischen Maßstäben nur eine 
verschwindend geringe Zeitspanne ist – die ganze Welt nur so 
von tierischem und menschlichem Leben wimmeln wird. Und 
all das verdanken wir diesem winzigen Keim. Sie haben doch 
schon ein Präriefeuer gesehen, bei dem die Flammen jedes 
Grasbüschel vom Erdboden gefressen und  nichts als eine 

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pechschwarze Wüste hinterlassen haben. Man müßte 
annehmen, daß der Boden von nun an für immer so bliebe. 

Aber die Wurzeln der Gewächse sind zurückgeblieben, und 

wenn Sie ein paar Jahre später noch einmal an diesen Ort 
zurückkehren, werden Sie nicht einmal mehr die Narben sehen, 
die sich vorher dort befanden. In dieser kleinen Kreatur hier 
befinden sich die Wurzeln tierischen Lebens, und da sie nun 
einmal einer Entwicklung und der Evolution unterworfen ist, 
wird sie im Laufe der Zeit auch gewiß jede Spur der 
unvergleichlichen Krise, die wir gerade durchlaufen, zu tilgen 
verstehen.« 

»Wie beruhigend!« sagte Lord John, rappelte sich auf und 

warf einen Blick durch das Mikroskop.  »Ein lustiger kleiner 
Bursche, dem da das Porträt Nummer eins in der Ahnengalerie 
gebührt. Wir sollten ihm direkt einen Orden verleihen.« 

»Der dunkle Punkt ist sein Zellkern«, sagte Challenger wie 

ein Kindermädchen, das einem Baby Zahlen beizubringen 
versucht. 

»Nun, dann brauchen wir uns ja nicht einsam zu fühlen«, 

sagte Lord John lachend. »Immerhin gibt es außer uns noch 
jemanden, der auf der Erde lebt.« 

»Sie scheinen davon auszugehen, Challenger«, sagte 

Summerlee, »daß der Grund, aus dem diese Welt erschaffen 
wurde, darin besteht, menschliches Leben zu erzeugen und zu 
tragen.« 

»Nun, Sir, welche Art von Lebewesen schlagen Sie denn 

vor?« fragte Challenger kratzbürstig, da er einen erneuten 
Anflug von Widerspruch zu wittern schien. 

»Manchmal glaube ich, es ist nur ein ungeheurer Dünkel, der 

die Menschen glauben macht, diese Bühne sei nur dazu 
errichtet worden, daß sie darauf herumstolzieren können.« 

»Nun, wir wollen nicht dogmatisch werden, aber wenn wir 

das, was Sie ungeheuren Dünkel zu nennen belieben, einmal 

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beiseite lassen, können wir doch mit Sicherheit behaupten, das 
höchste Geschöpf der Natur zu sein.« 

»Das höchste, von dem wir Kenntnis haben.« 
»Das, Sir, versteht sich von selbst.« 
»Denken Sie nur an all die Millionen  – vielleicht sogar 

Milliarden  -Jahre, in denen die Erde leer durch den Weltraum 
gezogen ist  – oder wenn sie nicht leer war, hat es auf ihr 
zumindest kein Anzeichen oder keinen Gedanken der 
menschlichen Rasse gegeben. Stellen Sie sich das vor. Sie 
schwebt durch das All, wird vom Regen ausgewaschen, von 
der Sonne ausgedörrt und von den Winden zernarbt – und das 
ungezählte Jahre lang. Wenn man die geologische Zeit nimmt, 
ist der Mensch praktisch erst gestern auf ihr erschienen. 
Weswegen sollte man also annehmen, daß all diese 
aufwendigen Vorbereitungen nur für ihn gemacht wurden?« 

»Für wen denn sonst – oder für was?« 
Summerlee zuckte die Achseln. 
»Wie sollen wir das wissen? Vielleicht wurde all das aus 

einem Grund geschaffen, den wir nicht einmal begreifen 
können? Vielleicht ist der Mensch lediglich ein 
Zufallsprodukt? Eine unbeabsichtigte Nebenwirkung, die im 
Verlauf des Prozesses entstanden ist? Mir kommt es so vor, als 
würde das Treibholz auf dem Ozean der Meinung sein, die 
Meere seien nur dazu geschaffen worden, um es 
hervorzubringen und zu erhalten oder wenn eine Maus glauben 
würde, daß die Kathedrale, in der sie lebt, nur dazu bestimmt 
sei, ihren Unterschlupf abzugeben.« 

Ich habe mir die Worte ihres Streitgesprächs ziemlich schnell 

notiert, aber jetzt verkommt ihre Diskussion zu einem 
lärmenden Gezänk, das von beiden Seiten nur noch in 
vielsilbigem Fachjargon geführt wird. Es ist zweifellos ein 
Privileg, zwei solche Koryphäen die großen Fragen des Lebens 
diskutieren zu hören, aber da sie sich in fortwährender 

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Nichtübereinstimmung befinden, können einfache Menschen 
wie Lord John und ich ihrer Zurschaustellung nichts positives 
mehr abgewinnen. Sie widerlegen einander ununterbrochen, 
und am Ende wissen wir genauso wenig wie am Anfang. Jetzt 
ist der Wirrwarr verstummt, und Summerlee hat sich in seinen 
Sessel zusammengerollt, während Challenger, der immer noch 
an den Einstellschrauben seines Mikroskops herumfingert, ein 
fortgesetztes, tiefes und unverständliches Donnern von sich 
gibt, wie die See nach einem Sturm. Lord John kommt zu mir 
herüber, und wir sehen zusammen in die Nacht hinaus. 

Da ist der bleiche Neumond  – der letzte Mond, den 

menschliche Augen je erblicken werden  –, und die Sterne 
glänzen in kalter Pracht. Nicht einmal auf dem klaren Plateau 
in Südamerika sind sie mir heller erschienen. Vielleicht hat die 
Veränderung der Luft auch Auswirkungen auf das Licht. Das 
Begräbnisfeuer Brightons lodert immer noch, und am 
westlichen Himmel ist in der Ferne ein roter Fleck zu sehen, 
was bedeutet, daß es auch bei Arundel oder Chichester, 
vielleicht sogar bei Portsmouth, soweit ist. Ich sitze, grüble 
und schreibe hin und wieder etwas auf. Jugend, Schönheit, 
Ritterlichkeit und Liebe  – ist das nun alles vorbei? Die 
sternenbeschienene Erde sieht aus wie ein Traumland sanften 
Friedens. Wer könnte sie sich als ein schreckliches Golgatha 
vorstellen, in dem die Leichen der Menschheit überall verstreut 
liegen? Ich stellte plötzlich fest, daß ich lachte. 

»Hallo, junger Freund«, sagt Lord John, der mich überrascht 

anstarrt. »In diesen schlechten Zeiten wäre ein Witz nicht das 
Schlechteste. Über welchen lachten Sie denn gerade?« 

»Ich dachte an all die großen, ungelösten Fragen«, antwortete 

ich. »An jene Fragen, an die wir soviel Arbeit und 
Gedankenkraft verschwendet haben. Denken Sie 
beispielsweise an Englisch-Deutschen Konkurrenzkampf  – 
oder den Persischen Golf, auf den mein alter Chef so versessen 

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war. Wer hätte, während wir uns darüber die Köpfe heiß 
redeten, vermutet, auf welche Weise diese Fragen schließlich 
gelöst werden würden?« 

Wir schweigen wieder. Ich stelle mir vor, daß jeder von uns 

nun an seine verstorbenen Freunde denkt. Mrs. Challenger 
schluchzt still vor sich hin, und ihr Gatte flüstert ihr etwas zu. 
Ich denke an alle möglichen Leute und sehe sie starr und 
bleich vor mir liegen, so wie den armen Austin unten im 
Garten. Da ist zum Beispiel McArdle. Ich weiß genau, wo er 
ist, wie er daliegt, mit dem Gesicht auf der Schreibtischplatte, 
während seine Hand das Telefon umklammert hält, mit dem 
ich ihn umfallen hörte. Ich denke auch an Beaumont, den 
Redakteur. Ich nehme an, daß er auf dem blauroten, türkischen 
Teppich liegt, der sein Allerheiligstes schmückt. Und die 
Burschen im Reporterzimmer – Macdonna, Murray und Bond. 
Sicher sind sie mitten in der Arbeit gestorben, die Notizbücher, 
die voller glänzender Eindrücke und seltsamer Ereignisse sind, 
in den Händen haltend. Ich kann mir sogar vorstellen, wie der 
eine zu den Ärzten gerast ist, der andere nach Westminster und 
der dritte zur St. Pauls-Kathedrale, Welch herrliche 
Schlagzeilen müssen sie als letzte Vision vor Augen gehabt 
haben – und keine davon war im Druck erschienen! Ich konnte 
Macdonna zwischen den Ärzten sehen: »Hoffnung in der 
Harley Street!« Mac hatte immer eine Schwäche für Stabreime 
gehabt. »Interview mit Mr. Soley Wilson.«  – »Berühmter 
Spezialist sagt: ›Nicht 

verzweifeln!‹« 

– »Unser 

Sonderkorrespondent traf den bekannten Wissenschaftler auf 
dem Dach seines Hauses sitzend an, wohin er sich, um den 
verschreckten Patientenmassen zu entgehen, die sein Heim 
überschwemmen, zurückgezogen hat. In einer Weise, die 
deutlich machte, daß er die immense Wichtigkeit der 
Ereignisse keineswegs unterschätzt, weigerte sich der gefeierte 
Arzt zuzugeben, daß alle Wege der Hoffnung in 

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Einbahnstraßen enden müssen.« So würde Mac anfangen. 
Dann war da noch Bond; er würde möglicherweise die St. 
Pauls-Kathedrale aufsuchen. Bond pflegte ebenfalls seinen 
eigenen Stil. Auf mein Wort, das war genau das richtige 
Thema für ihn! »Ich stehe auf der kleinen Galerie im Inneren 
des Domes und schaue auf die eng zusammenstehende Menge 
verzweifelter Menschen hinab, die sich im letzten Moment vor 
einer Macht auf die Knie werfen, die sie bisher hartnäckig 
ignoriert haben. Plötzlich fangen meine Sinne ein von der 
schwankenden Menge ausgestoßenes Stöhnen auf, das so 
voller Grauen und Flehen und einen solch haarsträubenden 
Hilfeschrei an das Unbekannte ist, daß…« Und so weiter. 

Ja, es mußte ein großartiges Ende für einen Reporter sein, 

wenngleich er  – wie auch ich  – würde sterben müssen, ohne 
seine Kenntnisse verwerten zu können. Was würde Bond, 
dieser arme Kerl, nicht dafür geben, am Ende einer solchen 
Kolumne seine Initialen lesen zu können? 

Aber welchen Unsinn ich hier schreibe! Es ist nur ein 

Versuch, die Müdigkeit zu vertreiben. Mrs. Challenger ist 
durch den Ankleideraum verschwunden, und der Professor 
sagt, daß sie schläft. Er macht sich Notizen und konsultiert, als 
wäre er mit seiner üblichen Arbeit beschäftigt, einige Bücher, 
die vor ihm auf dem Tisch liegen. Er schreibt mit einer Feder, 
die ziemlich laut kratzt und in mir den Eindruck erweckt, als 
würde sie jeden ankreischen, der nicht mit ihm einer Meinung 
ist. 

Summerlee ist in seinem Sessel zusammengesunken und gibt 

von Zeit zu Zeit ein besonders provozierendes Schnarchen von 
sich. Lord John liegt auf dem Rücken. Er hat die Hände in den 
Hosentaschen und hält die Augen geschlossen. Wie Menschen 
unter solchen Bedingungen schlafen können, ist mir ein Rätsel. 

Es ist jetzt drei Uhr dreißig. Ich bin gerade mit einem 

ziemlichen Schreck aufgewacht. Um fünf Minuten nach elf 

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habe ich meine letzte Eintragung gemacht. Ich erinnere mich 
daran, meine Uhr aufgezogen und die Zeit notiert zu haben. Ich 
habe also fast fünf Stunden der geringen Zeitspanne, die uns 
noch verbleibt, verschwendet. Wer hätte das für möglich 
gehalten? Aber ich fühle mich wieder erfrischt und bin bereit, 
mich meinem Schicksal zu stellen – zumindest rede ich mir das 
ein. Und doch – je besser ein Mensch sich fühlt und je weiter 
er sich vom Alter entfernt befindet, desto mehr schreckt er vor 
dem Tod zurück. Wie weise und gnadenvoll ist doch diese 
Einrichtung der Natur, die den irdischen Anker kaum 
wahrnehmbar löst, bis der Mensch sein Bewußtsein verliert 
und er aus dem Hafen in die große See des Jenseits 
hinaustreibt. 

Mrs. Challenger ist immer noch im Ankleideraum. 

Challenger ist in seinem Sessel eingeschlafen. Welch ein Bild! 
Seine  gewaltige Gestalt lehnt sich nach hinten, seine großen, 
haarigen Hände liegen gefaltet auf seiner Weste, und sein Kopf 
ist dermaßen gekippt, daß ich oberhalb seines Kragens nichts 
anderes zu sehen vermag, als seinen leuchtenden, gesträubten 
Bart. Er bewegt sich langsam im Rhythmus seines 
Schnarchens, und Summerlee fügt Challengers sonorem Baß 
seinen helleren Tenor hinzu. Lord John schläft ebenfalls, seine 
hochgewachsene Gestalt liegt zusammengekrümmt in einem 
Korbsessel. Das erste, kalte Licht des Tages stiehlt sich 
langsam in das Zimmer. Alles wirkt grau und jämmerlich. 

Ich sehe mir den Sonnenaufgang an  – jenen schicksalhaften 

Sonnenaufgang, der sich über einer entvölkerten Welt erhebt. 
Die menschliche Rasse ist nicht mehr, sie ist an einem einzigen 
Tag vergangen, aber die Planeten ziehen noch immer ihre 
Bahn. Ebbe und Flut funktionieren wie zuvor, der Wind 
wispert, und die Natur nimmt ihren Verlauf und konzentriert 
sich, wie mir scheint, nun auf die Amöbe, ohne daß es ein 
Anzeichen dafür gibt, daß der, der  sich selbst den Herrn der 

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Schöpfung nennt, das Universum je mit seiner Gegenwart 
gesegnet oder verflucht hat. Unten im Garten liegt Austin. Er 
hat die Arme und Beine von, sich gestreckt, und die 
Schlauchdüse lugt immer noch, zwischen seinen leblosen 
Fingern hervor. Seine beinahe komisch wirkende, 
bemitleidenswerte Gestalt, die so hilflos neben dem Fahrzeug 
liegt, das seiner Aufsicht unterstand, symbolisiert die ganze 
Menschheit. 

Hier enden die Aufzeichnungen, die ich zu jener Zeit machte. 

Die folgenden Ereignisse kamen zu rasch und waren zu 
ergreifend, als daß ich die Zeit gehabt hätte, sie auf der Stelle 
niederzuschreiben, aber dennoch sind sie meinem Gedächtnis 
zu eng verhaftet, als daß ich sie vergessen könnte. 

Irgendeine Trockenheit in der Kehle führte dazu, daß ich 

nach den Sauerstofftanks sah, und was ich erblickte, 
überraschte mich zutiefst. Die Zeit, die uns noch blieb, war 
sehr gering. Irgendwann in der Nacht hatte Challenger den 
vierten Tank aktiviert, und mir war sofort klar, daß auch dieser 
bereits erschöpft war. Schon spürte ich das grauenhafte Gefühl 
des Erstickens. Ich eilte auf den fünften Tank zu, öffnete das 
Ventil und brach damit unseren Restvorrat an. Im gleichen 
Moment plagte mich auch schon mein Gewissen, denn es hatte 
mich bei dem Gedanken ertappt, daß die anderen vielleicht 
nicht mehr aufwachen würden, zöge ich meine Hand zurück. 
Der Gedanke verschwand jedoch sofort wieder, als die Stimme 
Mrs. Challengers aus dem inneren Raum rief: »George, 
George, ich ersticke!« 

»Es ist schon in Ordnung, Mrs. Challenger«, antwortete ich, 

während die anderen aufstanden. »Ich habe gerade einen neuen 
Tank aufgemacht.« 

Selbst in einem Augenblick wie diesem kam ich nicht umhin, 

Challenger zuzulächeln, der sich mit seinen haarigen Fäusten 
die Augen rieb und mich an ein Riesenbaby denken ließ, das 

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gerade aus dem Schlaf erwacht war. Summerlee zitterte, als 
litte er an Schüttelfrost. Es war das erste Mal, daß er sich über 
die Gelassenheit eines Mannes der Wissenschaft hinwegsetzte 
und menschliche Angst zeigte. Lord John war allerdings 
gelassen wie immer und benahm sich, als würde er gleich zu 
einer Jagdpartie aufbrechen. 

»Die fünfte und letzte«, sagte er, während er dem Tank einen 

kurzen Blick zuwarf. »Sagen Sie bloß nicht, Sie wären die 
ganze Nacht wachgeblieben und hätten Ihre Eindrücke zu 
Papier gebracht, junger Freund.« 

»Ich habe mir nur ein paar Notizen gemacht, um die Zeit 

totzuschlagen.« 

»Nun, normalerweise würde ich das niemandem glauben, 

aber ein Ire sollte dazu wohl fähig sein. Ich nehme allerdings 
an, daß Sie so lange warten müssen, bis unser kleiner 
Amöbenbruder erwachsen ist, bevor Sie einen Leser finden. 
Auf das, was im Moment vor sich geht, scheint er ja keinen 
großen Wert zu legen. Nun, Herr Professor, wie steht’s?« 

Challenger sah sich die großen Nebelbänke an, die der 

Morgen über die Landschaft treiben ließ. Hier und da erhoben 
sich bewaldete Hügel wie konische Inseln aus dämmeriger 
See. 

»Man fühlt sich wie beschwipst«, sagte Mrs. Challenger, die 

nun, mit einem Morgenmantel bekleidet, zu uns trat. »Dein 
Lied, George, ›Abschied vom alten, begrüß das neue‹, das war 
prophetisch. Aber Sie zittern ja, meine armen Freunde. Ich 
habe die ganze Nacht unter einer warmen Decke verbracht, 
während Sie frierend in Sesseln saßen. Aber gleich werden Sie 
sich besser fühlen.« 

Die tapfere, kleine Frau eilte hinaus, und kurz darauf 

vernahmen wir das Pfeifen eines Wasserkessels. Bald darauf 
war sie zurück und servierte uns auf einem Tablett fünf 
dampfende Tassen Kakao. 

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»Trinken Sie das«, sagte sie, »dann wird es Ihnen besser 

gehen.« 

Und das taten wir. Summerlee fragte, ob er seine Pfeife 

anzünden dürfe und wir anderen rauchten Zigaretten. 

Das beruhigte zwar, glaube ich, unsere Nerven, war aber 

dennoch ein Fehler, denn der Rauch schuf in dem stickigen 
Raum eine noch schlechtere Atmosphäre. Challenger ließ den 
Ventilator laufen. 

»Wie lange noch, Challenger?« fragte Lord John. 
»Vielleicht drei Stunden«, antwortete Challenger 

schulterzuckend. 

»Ich hatte zwar Angst«, sagte seine Frau, »aber je näher wir 

dem Ende kommen, desto leichter ist der Gedanke zu ertragen. 
Meinst du nicht, daß wir ein Gebet sprechen sollten, George?« 

»Wenn du willst, kannst du ruhig beten«, antwortete der 

große Mann mit freundlicher Stimme. »Jeder von uns betet auf 
seine eigene Art. Meine Art zu beten besteht darin, alles 
hinzunehmen, was das Schicksal mir auferlegt, und zwar 
hoffnungsvoll. Die höchste Religion und die höchste 
Wissenschaft scheinen sich hier zu vereinigen.« 

»Wenn ich ehrlich bin«, sagte Summerlee grummelnd, ohne 

die Pfeife aus dem Mund zu nehmen, »bin ich nicht dazu in der 
Lage, meine geistige Einstellung als hinnahmebereit zu 
bezeichnen – und schon gar nicht als hoffnungsvoll, Ich ergebe 
mich dem Schicksal nur, weil ich keine andere Wahl habe und 
gebe offen zu, daß es mir gefallen hätte, noch ein Jahr mehr zu 
haben, um meine Klassifikation der Kalkfossilien zu beenden.« 

»Ihr unvollendetes Werk ist eine Kleinigkeit«, sagte 

Challenger großsprecherisch, »wenn man es gegen die 
Tatsache abwägt, daß mein eigenes  magnum opus,  ›Die 
Lebensleiter‹, sich immer noch in den ersten Stadien befindet. 
Mein Wissen, meine Belesenheit, meine Erfahrung  – 
genaugenommen meine gesamte Einmaligkeit  – wären in 

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diesen aufsehenerregenden Band mit eingeflossen. Und 
dennoch bin ich, wie ich bereits sagte, voller 
Hinnahmebereitschaft.« 

»Ich nehme an, daß wir alle irgend etwas Unvollendetes 

hinter uns zurücklassen«, sagte Lord John. »Was ist es bei 
Ihnen, junger Freund?« 

»Ich arbeitete gerade an einem Gedichtband«, antwortete ich. 
»Nun, jedenfalls ist der Welt das erspart geblieben«, sagte 

Lord John. »Irgendwie kommt es immer zu einem Ausgleich, 
wenn man im Ungewissen herumtappt.« 

»Und was ist mit Ihnen?« fragte ich. 
»Nun, ich hatte zufälligerweise schon alle Brücken hinter mir 

abgebrochen. Ich hatte Merivale versprochen, im Frühling 
nach Tibet zu gehen und einen Schneeleoparden zu erlegen. 
Aber Sie muß es doch besonders treffen, Mrs. Challenger, wo 
Sie sich gerade ein solch hübsches Heim eingerichtet haben.« 

»Mein Heim ist da, wo George ist. Aber, oh, was würde ich 

nicht dafür geben, noch einmal am frühen Morgen zwischen 
den Hügeln spazieren zu gehen!« 

Unsere Herzen warfen ihre Worte zurück. Die Sonne hatte 

inzwischen den sie verhüllenden, hauchdünnen Nebel 
durchdrungen und badete den gesamten Wald in goldenem 
Licht. Für uns, die wir in dieser finsteren und stickigen 
Atmosphäre saßen, war die herrliche, saubere, windumwobene 
Landschaft ein Traum reiner Schönheit. Mrs. Challenger 
streckte verlangend die Hand aus. Wir schoben die Sessel vor 
uns her und nahmen in einem Halbkreis am Fenster Platz. Die 
Luft war kaum noch zum aushalten, und mir schien, daß die 
Schatten des Todes sich immer enger um uns  – die letzten 
unserer Rasse – drängten. Es war, als seien wir auf allen Seiten 
von eisernen Vorhängen umgeben. 

»Der Tank wird es nicht mehr allzu lange machen«, sagte 

Lord John und atmete tief ein. 

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»Die Tanks sind nicht alle gleich voll«, sagte Challenger. »Es 

kommt immer darauf an, mit welchem Druck und welcher 
Sorgfalt man sie füllt. Ich bin allerdings geneigt, Ihnen 
zuzustimmen, Roxton, dieser hier ist möglicherweise 
schadhaft.« 

»Somit werden wir noch in den letzten Stunden unseres 

Lebens bemogelt«, bemerkte Summerlee bitter. »Dies 
illustriert, meine ich, vortrefflich die Verderbtheit des 
Zeitalters, in dem wir lebten. Aber nun, Challenger, ist es an 
Ihnen, wenn Sie die subjektiven Phänomene der physischen 
Liquidation noch studieren wollen.« 

»Setz dich auf den Schemel zu meinen Füßen und gib mir die 

Hand«, sagte Challenger zu seiner Gattin. »Ich bin der 
Meinung, meine Freunde, daß ein noch längeres Verbleiben in 
dieser unerträglichen Atmosphäre kaum ratsam ist. Meinst du 
nicht auch, mein Schatz?« 

Mrs. Challenger stieß einen leisen Schrei aus und lehnte den 

Kopf gegen sein Knie. 

»Ich habe die Leute während des Winters im Schlangensee 

baden sehen«, sagte Lord John. »Wenn nur einer oder zwei 
draußen bleiben, kann man sie trotz ihres Zitterns diejenigen 
beneiden sehen, die den Sprung gewagt haben. Es sind die, die 
draußen bleiben, die die Kälte in all ihren Auswirkungen  zu 
spüren bekommen. Ich bin mit allem fertig und stimme für 
einen Kopfsprung.« 

»Sie würden das Fenster öffnen und sich der Luft stellen?« 
»Besser vergiftet als erstickt.« 
Summerlee gab mit einem zögernden Nicken sein 

Einverständnis und deutete mit seiner mageren Hand auf 
Challenger. 

»Wir haben uns zeitweilig des öfteren in den Haaren 

gelegen«, sagte er, »aber das ist nun vorbei. Wir waren gute 

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Freunde, und im Innersten meines Herzens habe ich jeden von 
Ihnen stets respektiert. Leben Sie wohl!« 

»Leben Sie wohl, junger Freund!« sagte Lord John. »Aber 

das Fenster ist zugeklebt. Man kann es nicht öffnen.« 

Challenger stand auf, zog seine Frau an sich, preßte sie an 

seine Brust, und sie schlang ihre Arme um seinen Hals. 

»Geben Sie mir den Feldstecher, Malone«, sagte er mit 

ernster Stimme. 

Ich gab ihn ihm. 
»In die Hände, die uns geschaffen haben, geben wir uns 

wieder zurück!« rief Challenger mit seiner Donnerstimme, und 
als die Worte verklungen waren, warf er den Feldstecher durch 
die Scheibe. 

Noch bevor das Klirren des letzten fallenden Glassplitters 

verklungen war, blies der Wind in unsere geröteten Gesichter – 
und er schmeckte süß. 

Ich weiß nicht, wie lange wir in verwunderter Stille 

dastanden. Dann, wie in einem Traum, vernahm ich erneut 
Challengers Stimme. 

»Es herrschen wieder normale Zustände«, rief er aus. »Die 

Welt hat sich des Giftes entledigt, aber wir sind die einzigen 
Menschen, die übriggeblieben sind!« 

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Die tote Welt 

 
 
 

Ich erinnere mich daran, daß wir alle nach Luft ringend in 
unseren Sesseln saßen, während die herrliche, feuchte, aus dem 
Südwesten kommende Brise leise die Musselinvorhänge 
bewegte und unsere erhitzten Gesichter kühlte. Ich frage mich, 
wie lange wir wohl so dort saßen! Hinterher konnten wir uns 
auf keine bestimmte Zeit einigen. Wir waren durcheinander, 
fühlten uns wie gelähmt und halb besinnungslos. Jeder von uns 
hatte seinen ganzen Mut zusammengenommen, um dem Tod 
ins Gesicht zu sehen, aber diese erschreckende und plötzliche 
neue Lage  – daß wir weiterleben mußten, nachdem wir die 
Rasse überlebt hatten, zu der wir gehörten – traf uns mit einem 
solchen physischen Schock, daß wir gebrochen waren. Dann 
begannen die unterbrochenen Mechanismen allmählich wieder 
zu arbeiten; die Erinnerungen überkamen uns; in unseren 
Köpfen begannen die Gedanken wieder Formen anzunehmen. 
Mit heller, gnadenloser Klarheit sahen wir die Beziehungen 
zwischen der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft – 
dem Leben, das wir geführt hatten und dem Leben, das wir nun 
führen mußten. In schweigendem Entsetzen sahen wir einander 
an und fanden in den Augen unserer Gegenüber doch nichts als 
Fragen. Anstatt von Freude überwältigt zu sein, wie es sich 
gehört, wenn man gerade noch einmal davongekommen ist, 
wurden wir von einer schrecklichen Welle tiefster 
Niedergeschlagenheit überspült. Alles, was wir auf Erden 
geliebt hatten, war in einen riesigen, unendlichen, unbekannten 
Ozean hinausgeschwemmt worden, während wir uns wie 

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Schiffbrüchige auf einer Inselwelt fühlten, ohne Gefährten, 
Hoffnungen oder Erwartungen. Ein paar Jahre lang konnten 
wir noch wie Schakale zwischen den Gräbern der 
menschlichen Rasse umherstreifen, dann würde auch unser 
verspätetes, einsames Ende nahen. 

»Es ist schrecklich, George, schrecklich!« rief Mrs. 

Challenger aus, während sie von einem starken Schluchzen 
geschüttelt wurde. »Wären wir doch nur mit den anderen 
gestorben! Oh, warum hat man uns verschont? Ich fühle mich, 
als seien wir tot und um uns herum alles am Leben.« 

Als Challenger seine haarige Pranke auf die ausgestreckte 

Hand seiner Gattin legte, zogen seine Brauen sich in 
nachdenklicher Konzentration zusammen. Mir war aufgefallen, 
daß sie ihm stets, wenn Schwierigkeiten nahten, die Hände 
hinhielt wie ein Kind gegenüber seiner Mutter. 

»Ohne ein Fatalist zu sein, der Widerstand so und so für 

zwecklos hält«, sagte Challenger, »habe ich stets gemeint, daß 
die größte Weisheit darin liegt, sich mit dem Bestehenden 
abzufinden.« Er sprach langsam, und in seiner sonoren Stimme 
klang ein Anflug von Gefühl mit. 

»Ich nehme nichts hin«, sagte Summerlee förmlich. 
»Ich vermag nicht festzustellen, daß es den Teufel schert, ob 

Sie etwas hinnehmen wollen oder nicht«, bemerkte Lord John. 
»Sie werden es hinnehmen müssen, egal wie Sie sich auch 
drehen und wenden. Ich kann mich nicht daran erinnern, daß 
jemand Ihre Einwilligung eingeholt hat, bevor all dies begann, 
und ebenso wenig wird Sie jetzt jemand darum bitten. Ist es 
nicht völlig gleich, wie wir darüber denken?« 

»Ungefähr so gleich wie der Unterschied zwischen 

Zufriedenheit und Unzufriedenheit«, sagte Challenger mit 
nachdenklichem Gesicht und tätschelte die Hand seiner Frau. 
»Sie können mit den Gezeiten schwimmen und in Seele und 
Geist Frieden empfinden, Sie können es aber auch gegen die 

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Gezeiten wagen und dabei müde werden und Schrammen 
davontragen. Was hier vorgegangen ist, entzieht sich unserem 
Einfluß, also sollten wir es akzeptieren und nicht weiter 
darüber sprechen.« 

»Aber was, um alles in der Welt, sollen wir nun anfangen?« 

fragte ich und rief verzweifelt den leeren, blauen Himmel an. 
»Was, zum Beispiel, soll ich nun tun? Es gibt keine Zeitungen 
mehr – das ist das Ende meines Berufes.« 

»Und da es weder etwas zu erlegen noch zu bekämpfen gibt, 

ist auch für mich nichts mehr zu tun«, sagte Lord John. 

»Und da es auch keine Studenten mehr gibt, bin auch ich 

ohne Beschäftigung«, rief Summerlee. 

»Aber ich habe meinen Gatten und mein Haus, deswegen 

kann ich dem Himmel danken, daß man mich noch braucht«, 
sagte Mrs. Challenger. 

»Was mich angeht«, sagte Challenger, »so sehe ich nicht, 

wieso ich mich nicht weiter beschäftigen könnte. Schließlich 
ist die Wissenschaft nicht gestorben, und die Erforschung der 
Katastrophe wird uns ein breites Betätigungsfeld liefern.« 

Er hatte jetzt die Fenster geöffnet, und wir blickten hinaus auf 

die schweigende, bewegungslose Landschaft. 

»Lassen Sie mich nachdenken«, sagte er. »Es war etwa drei 

Uhr nachmittags, als die Welt gestern in den Giftstrom 
eintauchte. Jetzt ist es neun Uhr. Die Frage ist: Um welche Zeit 
haben wir den Giftstrom verlassen?« 

»Bei Tagesanbruch war die Luft noch sehr schlecht«, sagte 

ich. 

»Und später auch noch«, sagte Mrs. Challenger. »Gegen acht 

Uhr früh spürte ich das Gefühl des Hustenmüssens, wie am 
Anfang, besonders stark.« 

»Dann wollen wir annehmen, daß die Erde den Giftstrom 

kurz nach acht Uhr verließ. Die Welt hat sich also siebzehn 
Stunden lang darin aufgehalten. In dieser Zeit hat der Große 

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Gärtner das Menschengeschlecht, das sich auf der Schale 
seiner Frucht befindet, sterilisiert. Ob es möglich ist, daß er 
sein Tagwerk nur unzureichend verrichtet hat – und außer uns 
noch andere überlebt haben?« 

»Das habe ich mich auch schon gefragt«, sagte Lord John. 

»Warum sollten wir die einzigen Kiesel sein, die den Strand 
bevölkern?« 

»Es ist absurd, anzunehmen, daß außer uns möglicherweise 

noch andere überlebt haben«, sagte Summerlee mit 
Überzeugung. »Denken Sie daran, daß das Gift so stark war, 
daß selbst ein Mann wie Malone, der stark ist wie ein Ochse 
und so gut wie keine Nerven hat, kaum die Treppe 
hinaufgehen konnte, bevor er das Bewußtsein verlor. Ist es da 
nicht ziemlich unwahrscheinlich, daß jemand dies siebzehn 
Minuten ertragen haben kann – geschweige denn Stunden?« 

»Außer, jemand hat es kommen sehen und die gleichen 

Vorbereitungen getroffen wie unser alter Freund Challenger.« 

»Das ist,  glaube ich, ziemlich unwahrscheinlich«, sagte 

Challenger, schob das Kinn vor und schloß die Augen. »Eine 
derartige Kombination von Scharfsinn, Handlungsfreudigkeit 
und vorausschauender Vorstellungskraft, die mich diese 
Gefahr erkennen ließ, kann man in einer Generation kaum 
zweimal erwarten.« 

»Dann lautet Ihre Schlußfolgerung, daß mit Bestimmtheit alle 

anderen tot sind?« 

»Man kann es kaum bezweifeln. Wir sollten uns allerdings 

ins Gedächtnis zurückrufen, daß das Gift sich von unten nach 
oben voranarbeitete  und in höherliegenden atmosphärischen 
Schichten möglicherweise weniger tödliche Auswirkungen 
hatte. Es ist in der Tat nur schwer verständlich, daß dies so 
gewesen sein soll, aber das gibt uns die Möglichkeit, seine 
Eigenschaften für die Zukunft zu einem faszinierenden 
Studienfeld zu machen. Es ist deswegen vorstellbar, daß man, 

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wenn man sich auf die Suche nach weiteren Überlebenden 
begibt, den Blick am hoffnungsvollsten und mit der größten 
Erfolgschance auf ein tibetanisches Dorf oder einen Bauernhof 
in den Alpen richtet, der mehrere tausend Fuß über dem 
Meeresspiegel liegt.« 

»Nun, unter dem Gesichtspunkt, daß es weder Eisenbahnen 

noch Dampfschiffe gibt«, sagte Lord John, »könnten wir uns 
ebenso gut über etwaige Überlebende auf dem Mond 
unterhalten. Aber was ich mich frage, ist, ob wir es nun 
wirklich hinter uns haben oder nur die Halbzeit erleben.« 

Summerlee reckte den Hals, um den Horizont abzusuchen. 
»Alles sieht klar und schön aus«, sagte er in einem ziemlich 

unentschlossenen Tonfall. »Aber so war es gestern auch. Ich 
bin auf keinen Fall davon überzeugt, daß nun alles vorbei ist.« 

Challenger zuckte die Achseln. 
»Wir sollten noch einmal auf unseren Fatalismus zu sprechen 

kommen«, sagte er. »Wenn die Welt dieses Ereignis schon 
einmal durchlebt hat  – was nicht auszuschließen ist  –, muß 
dies schon sehr lange her sein. Deswegen können wir auch mit 
wohlbegründeter Hoffnung davon ausgehen, daß es so schnell 
nicht wieder eintritt.« 

»Das hört sich alles sehr gut an«, sagte Lord John, »aber 

wenn Sie den ersten Schock eines Erdstoßes überwunden 
haben, können Sie ziemlich sicher davon ausgehen, daß der 
zweite sofort darauf erfolgt. Ich glaube, wir sollten so weise 
sein und uns die Beine vertreten und ein bißchen Frischluft 
atmen, solange wir die Möglichkeit dazu haben. Und da unser 
Sauerstoff sowieso zu Ende ist, spielt es keine Rolle mehr, ob 
es uns drinnen oder draußen erwischt.« 

Die tiefe Lethargie, die uns erfaßt hatte, war zwar seltsam, 

aber als Reaktion auf die starken Emotionen der letzten 
vierundzwanzig Stunden verständlich. Die Erschöpfung war 
sowohl körperlicher als auch geistiger Natur und bestand aus 

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dem tief in uns verwurzelten Gefühl, daß all das uns nicht 
mehr betraf und alles nur aus sinnloser Anstrengung bestand 
und Müdigkeit erzeugte. Selbst  Challenger hatte diesem 
Gefühl nachgegeben und blieb, den mächtigen Schädel auf die 
Hand gestützt und die Gedanken durch die Ferne schweifen 
lassend, in seinem Sessel sitzen, bis Lord John und ich ihn an 
den Armen Packten, einigermaßen auf die Beine stellten – und 
dafür den Blick und das Knurren eines wütenden Bullenbeißers 
ernteten. Als wir jedoch den beengten Hafen unseres 
Refugiums verlassen hatten und in die geräumigere 
Atmosphäre des täglichen Lebens hinausgeschritten waren, 
kehrte die altvertraute Energie schließlich wieder in unsere 
Körper zurück. 

Was aber sollten wir auf diesem irdischen Friedhof als erstes 

tun? Ob je ein Mensch seit dem Anbeginn der Zeiten mit 
dieser Frage konfrontiert worden ist? Zwar entsprach es der 
Wahrheit, daß unsere körperlichen Bedürfnisse für die Zukunft 
gesichert waren  – schließlich brauchten wir uns nur in den 
Warenhäusern, Weinkellern und Schatzkammern zu bedienen 
–, aber was sollten wir tun? 

Einige Dinge erledigten wir sofort, zumal sie uns direkt ins 

Auge stachen. Wir gingen in die Küche hinunter und legten die 
beiden Domestiken in ihre Betten. Sie schienen gestorben zu 
sein, ohne gelitten zu haben: die eine auf einem Stuhl neben 
dem Feuer, die andere auf dem Boden der Spülküche. Dann 
holten wir den armen Austin ins Haus. Seine Muskeln waren 
hart wie Drahtseile und übertrafen eine gewöhnliche 
Leichenstarre um ein Vielfaches. Seine Gesichtsmuskulatur 
war so verzerrt, daß er sardonisch vor sich hinzugrinsen 
schien. Dieses Symptom zeigte sich an allen Menschen, die an 
dem Gift gestorben waren. Wohin wir auch gingen, überall 
sahen wir uns mit diesen grinsenden Gesichtern konfrontiert, 
die unsere bedauerliche Lage zu verspotten schienen. Alle 

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lächelten grimmig und still über das Schicksal der letzten 
überlebenden ihrer eigenen Rasse. 

»Schauen Sie«, sagte Lord John, der im Speisezimmer 

unruhig auf und ab ging, während wir etwas aßen,  »ich habe 
keine Ahnung, wie Sie darüber denken, aber was mich angeht, 
so kann ich nicht einfach hier herumsitzen und nichts tun.« 

»Vielleicht«, antwortete Challenger, »könnten Sie die 

Freundlichkeit haben und uns sagen, was wir nach Ihrer 
Meinung tun sollten.« 

»Wir sollten uns auf den Weg machen und nachsehen, was 

passiert ist.« 

»Genau das hätte ich auch vorgeschlagen.« 
»Aber nicht in diesem kleinen Bauerndorf. Was dort 

geschehen ist, können wir auch vorn Fenster aus erkennen.« 

»Wohin sollten wir also Ihrer Meinung nach gehen?« 
»Nach London!« 
»Das hört sich ja alles recht gut an«, brummte Summerlee. 

»Und möglicherweise macht Ihnen ein Spaziergang von 
vierzig Meilen nichts aus. Aber was Challenger und seine 
Stummelbeine angeht, bin ich mir da nicht so sicher, und was 
mich betrifft, habe ich nicht den geringsten Zweifel.« 

Challenger war äußerst verletzt. 
»Wenn Sie in der Lage wären, sich selbst eingehend  zu 

betrachten, Sir«, rief er aus, »würden Sie recht schnell merken, 
daß Ihre körperliche Verfassung genügend Grund zum 
Kommentieren bietet.« 

»Ich hatte nicht die Absicht, Sie zu beleidigen, mein lieber 

Challenger«, rief unser taktloser Freund. »Denn schließlich 
kann man Sie ja nicht für Ihr Aussehen verantwortlich machen. 
Wenn die Natur Sie mit einer untersetzten Gestalt ausgestattet 
hat, kann man eben nichts daran ändern, wenn man 
Stummelbeine besitzt.« 

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Challenger war zu wütend, um darauf antworten zu können. 

Statt dessen ging er darüber hinweg, brummte und fletschte die 
Zähne. Lord John beeilte sich, in das Gespräch einzugreifen, 
bevor die Diskussion in Gewalttätigkeiten ausartete. 

»Sie sprechen vom Gehen. Warum sollten wir das 

überhaupt?« fragte er. 

»Schlagen Sie vor, daß wir den Zug nehmen?« gab 

Challenger, der noch immer kochte, zurück. 

»Was ist denn mit dem Wagen? Warum sollten wir ihn nicht 

nehmen?« 

»Ich bin kein Experte«, sagte Challenger nachdenklich und 

strich sich über den Bart, »aber Sie haben natürlich 
vollkommen recht, wenn Sie meinen, daß der menschliche 
Geist in seinen höheren Stadien absolut dazu in der Lage ist, 
auch solche kleinen Hindernisse zu überwinden. Ihre Idee ist 
ausgezeichnet, Lord  John. Ich selbst werde Sie alle nach 
London fahren.« 

»Das werden Sie auf keinen Fall tun«, sagte Summerlee 

entschieden. 

»Nein, George, das wirst du nicht tun!« rief Mrs. Challenger 

aus. »Das hast du schon einmal versucht. Erinnerst du dich 
nicht daran, daß du dabei durch die Garagentür gefahren bist?« 

»Das war nur ein zeitweiliger Mangel an Konzentration«, 

sagte Challenger überheblich. »Du kannst diese Angelegenheit 
als abgeschlossen ansehen. Natürlich werde ich euch alle nach 
London fahren.« 

Es war Lord John, der die Situation entspannte. 
»Was für ein Fabrikat haben Sie?« fragte er. 
»Einen Humber, zwanzig PS.« 
»Na so was  – einen solchen Wagen habe ich doch jahrelang 

selbst gefahren«, erwiderte Lord John. »Bei George!« fügte er 
dann hinzu. »Ich hätte mir nie träumen lassen, einmal die 
ganze Menschheit in einem Auto herumzukutschieren. Soweit 

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ich mich erinnern kann, bietet er Platz für fünf Personen. 
Machen Sie sich fertig, um zehn Uhr stehe ich vor der Tür.« 

Pünktlich auf die Minute fuhr der Wagen mit Lord John am 

Steuer schnurrend und hustend vor. Ich nahm neben ihm auf 
dem Beifahrersitz Platz, während Mrs. Challenger sich  – wie 
ein uns allen dienlicher Prellbock – zwischen die beiden hinten 
sitzenden Streithähne quetschte. Lord John löste die Bremsen, 
schaltete in kurzer Zeit vom ersten auf den dritten Gang, und 
wir fuhren los. Es war die seltsamste Fahrt, die ein Mensch seit 
dem Anbeginn der Zeit unternommen hatte. 

Man muß sich die Lieblichkeit der Natur an diesem 

Augusttag, die Frische der Morgenluft, das goldene Leuchten 
des Sommersonnenscheins, den wolkenlosen Himmel, das 
herrliche Grün der Wälder von Sussex und das tiefe Purpur der 
heidekrautbedeckten Downs nur einmal vorstellen. Wenn man 
auf die vielfarbige Schönheit der Umgebung hinabsah, mußte 
einem einfach jeder Gedanke an die große Katastrophe aus 
dem Bewußtsein schwinden  – wäre nicht die bedrohliche, 
feierliche, alles umfassende Stille gewesen. Das behäbige 
Pulsieren des Lebens, das einem dichtbevölkerten Landstrich 
nicht nur zu eigen, sondern auch so tief und beständig ist, daß 
man es wie ein Küstenbewohner, der an das Wellengemurmel 
gewöhnt ist, gar nicht mehr wahrnimmt; das 
Vogelgezwitscher, das Summen der Insekten, das Blöken der 
Rinder, das ferne Gebell von Hunden, das Schnaufen der Züge 
und das Rumpeln von Wagen  – all diese Geräusche formen 
eine leise, kaum merkbare Kulisse, die auf das Ohr einwirkt. 
Jetzt vermißten wir sie. Die tödliche Stille war schrecklich, Sie 
war so ernst und beeindruckend, daß uns das Gebrumm und 
Gerappel unseres Fahrzeuges wie eine unverantwortliche 
Störung, eine ungebührliche Geringschätzung dieser 
ehrfurchtgebietenden Stille erschien, die sich wie ein 
Leichentuch über die Ruinen der Menschlichkeit legte. Es 

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waren die grauenhafte Stille und die großen Rauchwolken, die 
hier und da über den noch schwelenden Landhäusern 
schwebten, die einen Keil der Niedergeschlagenheit in unsere 
Herzen trieb, als wir das herrliche Panorama des Weald 
musterten. 

Und dann die Toten! Zuerst erfüllten uns die endlosen 

Ansammlungen der verzerrt grinsenden Gesichter mit einem 
Grauen, das uns schüttelte. Die Eindrücke, die ich empfing, 
waren so klar und ätzend, daß ich mir noch genau vorzustellen 
vermag, wie wir den kleinen Abhang des Station Hill 
hinabfuhren, an dem Hausmädchen und den beiden kleinen 
Kindern vorbeikamen und uns den alten Gaul ansahen, der 
immer noch zwischen den Deichseln lag, während der 
Kutscher verdreht auf seinem Sitz hockte und der junge 
Fahrgast den Türknauf festhielt, als hätte er abzuspringen 
versucht. Weiter unten stießen wir auf sechs Schnitter, die in 
einem wirren Haufen neben- und übereinander lagen und mit 
toten, geöffneten Augen in den hellen Himmel starrten. Ich 
sehe diese Dinge vor mir wie auf einer Fotografie. Aber bald 
weigerten sich dank der gnadenvollen Umsicht der Natur 
unsere überreizten Nerven, darauf zu reagieren. Die 
Allgegenwärtigkeit des Grauens verlor jeden individuellen 
Schrecken. Der Einzelne verschwamm in der Gruppe, die 
Gruppen verschmolzen zu Massen, und aus den Massen wurde 
ein universelles Phänomen, das man bald als unausweichliches 
Detail der Gesamtheit akzeptierte. Nur hin und wieder, wo ein 
besonders brutaler oder grotesker Anblick unsere 
Aufmerksamkeit erregte, reagierte das Bewußtsein des 
Einzelnen mit einem plötzlichen Schock. 

Am meisten nahmen uns die Schicksale der Kinder mit. Ich 

erinnere mich daran, daß wir das ihre als besonders ungerecht 
empfanden. Wir hätten in Tränen ausbrechen können  – was 
Mrs. Challenger auch tat –, als wir an der großen Dorfschule 

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vorbeikamen und eine lange Reihe kleiner Gestalten auf der 
Straße liegen sahen, die von ihr wegführte. Sie waren von 
ihren entsetzten Lehrern allein gelassen worden und hatten 
sich, als das Gift sie überfallen hatte, auf dem Heimweg 
befunden. Sehr viele Leute hingen aus den offenen Fenstern 
ihrer Häuser. In Tunbridge Wells fanden wir so gut  wie 
niemanden, der nicht dieses starr lächelnde Gesicht aufwies. 
Im letzten Augenblick schien das fordernde Verlangen nach 
Sauerstoff, das einzig und allein wir hatten befriedigen können, 
die Menschen zu den Fenstern getrieben zu haben. Auch die 
Bürgersteige waren mit barhäuptigen Männern und Frauen 
bedeckt, die es, in den Häusern nicht mehr ausgehalten hatten. 
Viele davon lagen auf den Straßen, und wir konnten es uns als 
Glück anrechnen, daß wir in Lord John einen Fahrer gefunden 
hatten, der mit der Schwierigkeit, einen befahrbaren Weg zu 
finden, bewundernswert fertig wurde. Während wir die Dörfer 
und kleinen Städte durchquerten, konnten wir natürlich nur im 
Schrittempo fahren, und einmal, daran erinnere ich mich, 
mußten wir gegenüber der Schule von Tonbridge anhalten, um 
die Leichen wegzuräumen, die uns den Weg versperrten. 

Ein paar kleine, bestimmte Bilder dieses Todespanoramas der 

Hauptverkehrsstraßen von Sussex und Kent sind mir besonders 
deutlich im Gedächtnis haften geblieben. Eines davon ist das 
eines großen, blitzenden Kraftwagens, der vor einem Lokal in 
dem Dörfchen Southborough stand. In seinem Inneren hielten 
sich einige Leute auf, die, wie ich vermute, von einer 
Vergnügungsreise aus Brighton oder Eastbourne 
zurückgekehrt waren. Ich sah drei farbenfroh gekleidete, 
ausnahmslos junge und hübsche Frauen, von denen eine auf 
ihrem Schoß einen Pekinesen festhielt. In ihrer Gesellschaft 
befanden sich ein verlebt aussehender älterer Mann und ein 
junger Aristokrat, dem nicht einmal das Monokel aus dem 
Auge gefallen war und der zwischen den Fingern seiner 

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behandschuhten Rechten eine heruntergebrannte Zigarette 
hielt. Der Tod mußte sie in dem Moment ereilt haben, als sie 
Platz genommen hatten. Wenn man außer acht ließ, daß der 
ältere Mann bei dem Versuch, mehr Luft zu bekommen, seinen 
Kragen aufgerissen hatte, konnte man sie für Schlafende 
halten. Neben dem Wagen, nahe der Treppe, die zum Lokal 
hinaufführte, lag ein Kellner zwischen zerbrochenen Gläsern 
und einem Tablett. Auf der anderen Seite entdeckte ich zwei 
abgerissene Landstreicher, einen Mann und eine Frau, die dort 
lagen, wo sie hingefallen waren. Der Mann streckte einen Arm 
aus, als wolle er, wie in seinem ganzen Leben zuvor, jemanden 
um ein Almosen bitten. Ein einziger zeitlicher Moment hatte 
genügt, um aus Aristokrat, Kellner, Landstreicher und Hund 
das gleiche zu machen: inaktives, zerfallenes Protoplasma. 

Ich erinnere mich aber noch an ein zweites Bild. Es war auf 

der London zugewandten Seite von Sevenoaks. Dort befindet 
sich linkerhand ein großes Nonnenkloster, vor dem sich ein 
langer, grüner Abhang nach unten zieht. Auf diesem Abhang 
hatte sich eine große Anzahl von Schulkindern versammelt, die 
auf den Knien hockten und beteten. Vor ihnen, in gleicher 
Haltung, eine Reihe von Nonnen und etwas über ihnen eine 
einzelne Gestalt, von der wir annahmen, sie sei die Oberin. Im 
Gegensatz zu den Ausflüglern in dem Wagen schienen diese 
Leute vor die auf sie zukommende Gefahr vorbereitet gewesen 
und einträchtig miteinander gestorben zu sein. Lehrer und 
Schüler hatten sich gemeinsam zu ihrer letzten Lektion 
zusammengefunden. 

Noch immer ist mein Geist von dieser schrecklichen 

Erfahrung wie gelähmt, und ich suche verzweifelt nach einer 
Ausdrucksmöglichkeit, um die Gefühle aufzuzeigen, die uns 
damals bewegten. Vielleicht aber ist es am besten und 
weisesten, dies gar nicht erst zu versuchen und statt dessen die 
Fakten für sich sprechen zu lassen. Selbst Summerlee und 

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Challenger waren zutiefst getroffen, und abgesehen von einem 
gelegentlichen Weinen unserer einzigen Dame, hörten wir von 
unseren hinter uns sitzenden Geführten keinen Laut. Was Lord 
John anging, so war er zu stark mit der Steuerung und dem 
Ausschauhalten nach befahrbaren Wegen beschäftigt, als daß 
er Zeit gehabt hätte, sich an einem Gespräch zu beteiligen. 
Eine bestimmte Phrase, die er mit blutstauender Monotonie 
unablässig wiederholte, ist mir im Gedächtnis haften geblieben 
und brachte mich – als Kommentar zum Tag des Untergangs – 
sogar zum Lachen. 

»Maßarbeit, was?« 
Das war sein Stoßgebet bei jeder neuen Kombination von 

Tod und Desaster, die sich vor uns ausbreitete. »Maßarbeit, 
was?« rief er aus, als wir den Station Hill bei Rotherfield 
hinabfuhren, und es war immer noch »Maßarbeit, was?« als 
wir uns einen Weg durch die Wildnis des Todes in der High 
Street von Lewisham und der Old Kent Road bahnten. 

Hier war es übrigens, wo wir alle von einem plötzlichen, 

verwirrenden Schock heimgesucht wurden. Aus dem Fenster 
eines niedrigen Eckhauses streckte sich nämlich ein langer, 
magerer Arm hervor und winkte mit einem Taschentuch. Nicht 
einmal der Anblick des allgegenwärtigen Todes hatte unsere 
Herzen dermaßen zum Anhalten gebracht und dann so wild 
losschlagen lassen wie dieser unerwartete Hinweis auf Leben. 
Lord John fuhr den Wagen an den Bordstein, und kurz darauf 
eilten wir durch die offene Haustür eine Treppe hinauf ins 
zweite Stockwerk, aus dem das Signal gekommen war. 

Am offenen Fenster saß eine sehr alte Dame in einem Sessel. 

Neben ihr, auf einem zweiten, befand sich eine 
Sauerstoffflasche, die zwar kleiner war, aber die gleichen 
Formen aufwies wie jene, die auch unser Leben gerettet hatten. 
Als wir uns im Eingang versammelten, wandte sie uns ihr 
mageres, gezeichnetes Gesicht zu. Sie trug eine Brille. 

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»Ich fürchtete schon, man hätte mich ganz allein hier 

zurückgelassen«, sagte sie. »Ich bin nämlich Invalide und kann 
mich nicht rühren.« 

»Nun, Madam«, sagte Challenger, »man kann wohl von 

Glück sagen, daß wir gerade des Weges kamen.« 

»Ich möchte Ihnen eine hochnotwichtige Frage stellen«, sagte 

die alte Dame. »Und bitte, Gentlemen, seien Sie offen zu mir. 
Welche Auswirkungen haben diese Ereignisse auf London und 
die Aktien der North-Western-Railways?« 

Hätte sie nicht mit einer solch tragischen Ungeduld auf eine 

Antwort gewartet  – es wäre zum Lachen gewesen. Mrs. 
Burston  – so lautete ihr Name  – war eine alte Witwe, deren 
Einkommen ganz und gar von ein paar Eisenbahnaktien 
abhing. Ihr Leben war vom Anstieg und Fall der Dividende 
bestimmt worden, und so vermochte sie sich nicht 
vorzustellen, wovon sie leben sollte, wenn die  Kurse ins 
Wanken gerieten. Vergebens erklärten wir ihr, daß sie nun 
über alles Geld in der Welt verfügen könne und es ihr trotzdem 
nichts nütze, wenn sie es nähme. Ihr alter Geist konnte sich 
jedoch an diesen neuen Gedanken nicht mehr gewöhnen, und 
so beweinte sie laut den Verlust ihrer Papiere. »Es war alles, 
was ich hatte«, klagte sie. »Wenn ich das nicht mehr habe, will 
ich auch nicht mehr leben.« Während sie vor sich hinweinte, 
fanden wir heraus, wie dieses alte Pflänzchen gelebt hatte, 
während rings um sie herum der Wald abgeholzt worden war. 
Sie war eine anerkannte Invalidin und Asthmatikerin. Da sie 
zum Leben Sauerstoff benötigte, hatte sich zum Zeitpunkt der 
Krise natürlich auch ein Tank in ihrem Zimmer befunden. Als 
sie die Atembeschwerden gefühlt hatte, war sie – wie üblich – 
zum Inhalieren übergegangen. Das hatte ihr Linderung 
verschafft, und da sie mit dem Inhalt der Flasche sparsam 
umgegangen war, hatte sie die Nacht überlebt. Schließlich war 
sie eingeschlafen. Der Motor unseres Wagens hatte sie 

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geweckt. Da es keine Möglichkeit gab, sie mitzunehmen, und 
wir feststellten, daß sie mit allem versehen war, was sie zum 
Leben brauchte, versprachen wir ihr, allerspätestens in ein paar 
Tagen zurückzukehren. Während sie immer noch bitterlich 
über ihre nun wertlosen Aktien weinte, verließen wir sie. 

Als wir die Themse erreichten, wurden die Straßenblockaden 

immer dichter und die Hindernisse immer verwirrender. Nur 
unter allergrößten Schwierigkeiten gelang es uns, die London 
Bridge zu überqueren. Die Zufahrtsstraßen auf der Middlesex-
Seite waren vom Anfang bis zum Ende mit Verkehrsmitteln 
verstopft und machten jeden weiteren Vorstoß in diese 
Richtung unmöglich. An den in Brückennähe gelegenen Piers 
brannte ein Schiff. Die Luft war voll von umhertreibenden 
Rußflocken und dem ätzenden Geruch von Verbranntem. 
Irgendwo in der Nähe des Parlamentsgebäudes schwebte eine 
dichte Rauchwolke, aber es gelang uns nicht herauszufinden, 
was da in Flammen aufgegangen war. 

»Ich weiß nicht, wie Sie es sehen«, bemerkte Lord John, 

»aber mir scheint, daß es auf dem Land wesentlich 
zuversichtlicher aussieht als hier. Das tote London drückt mir 
auf die Nerven. Ich schlage vor, daß wir uns nur kurz umsehen 
und dann nach Rotherfield zurückkehren.« 

»Ich muß zugeben, daß ich auch nicht verstehe, was wir uns 

hier noch erhoffen können«, sagte Professor Summerlee. 

»Und dennoch«, sagte Challenger, dessen dröhnende Stimme 

in der herrschenden Stille ganz verändert klang, »vermag man 
sich kaum vorzustellen, daß es von sieben Millionen Menschen 
nur dieser einen alten Frau gelungen sein soll, aufgrund ihrer 
körperlichen Andersartigkeit diese Katastrophe zu überleben.« 

»Falls es noch andere geben sollte – wie können wir sie dann 

finden, George?« fragte seine Gattin. »Ich bin ganz deiner 
Meinung, daß wir erst dann zurückkehren sollen, nachdem wir 
es zumindest versucht haben.« 

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Wir stiegen aus, ließen den Wagen am Bordstein zurück und 

bewegten uns unter großen Schwierigkeiten über das 
Straßenpflaster der mit Menschen vollgestopften King William 
Street hinweg, bis wir durch eine offene Tür ein großes 
Versicherungsbüro betraten. Da dieses in einem Eckhaus lag, 
nutzten wir die Chance, uns in jeder Richtung umzusehen. Wir 
gingen eine Treppe hinauf und durchquerten ein Zimmer, von 
dem ich annehme, daß es sich um einen Sitzungsraum 
handelte, da in seinem Mittelpunkt acht ältere Männer um 
einen langen Tisch herum saßen. Da die Balkontür geöffnet 
war, begaben wir uns hinaus. Von hier aus konnten wir die in 
alle Himmelsrichtungen führenden, vollgestopften Straßen 
überblicken. Die Straße, die direkt unter uns lag, war von 
einem Ende zum anderen schwarz, und das lag an den Dächern 
der bewegungslos dastehenden Taxen. Alle – oder beinahe alle 
– hatten ihre Schnauzen  nach auswärts gerichtet und zeigten 
uns, daß die verschreckten Stadtmenschen im letzten Moment 
den verzweifelten Versuch unternommen hatten, zu ihren 
Familien in den Vororten oder auf dem Land zurückzukehren. 
Inmitten der einfachen Taxen konnte man hier und da den 
großen, chromglänzenden Wagen eines wohlhabenden 
Magnaten erkennen, den der Strom des schließlich doch zum 
Erliegen gekommenen Verkehrs eingekeilt hatte. Eines dieser 
großen, luxuriösen Fahrzeuge stand genau unter uns. Sein 
Besitzer, ein fetter, alter Mann, lehnte halb aus dem Fenster, 
während seine feiste, von funkelnden Diamanten verzierte 
Hand nach vorne zeigte, als sei er im Begriff, seinen Chauffeur 
zu drängen, einen letzten Versuch zu unternehmen, aus der 
Blechlawine auszubrechen. 

Ein Dutzend Busse erhoben sich wie Inseln aus dieser 

Fahrzeugflut. Die Fahrgäste, die die Plattformen bevölkerten, 
lagen wild durcheinander und wirkten wie Spielzeugpuppen, 
die jemand achtlos verstreut hatte. Auf einem inmitten der 

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Straße liegenden Lampensockel stand ein vierschrötig 
aussehender Polizist, der in solch natürlicher Weise mit dem 
Rücken an dem Laternenpfahl lehnte, daß man sich kaum 
vorstellen konnte, daß er nicht lebte. Vor seinen Füßen lag ein 
in Lumpen gekleideter Zeitungsjunge, von Blättern umgeben. 
Ein Reklameaufsteller, der inmitten der Menge stand, 
verkündete in großen roten Lettern auf gelbem Untergrund 
»Skandal im House of Lords. Länderspiel abgebrochen«. Das 
mußte die Frühausgabe gewesen sein, denn andere Aufsteller 
trugen die Schlagzeile »Ist dies das Ende? Ein großer 
Wissenschaftler warnt«. Auf einem anderen stand: »Ist 
Challenger rehabilitiert? Unheilverkündende Gerüchte.« 

Den letzten Aufsteller, der sich wie ein Banner über all die 

anderen erhob, zeigte Challenger seiner Gattin. Als er ihn 
ansah, stellte ich fest, daß er sich in die Brust warf und seinen 
Bart kraulte. Es schmeichelte und freute diesen komplexen 
Geist, daß London im Gedanken an ihn und seine Worte 
untergegangen war. Seine Gefühle waren so offensichtlich, daß 
sie auf der Stelle  einen sardonischen Kommentar seines 
Kollegen hervorriefen. 

»Bis zum letzten Moment im Rampenlicht, Challenger«, 

bemerkte Summerlee. 

»Es hat fast den Anschein«, antwortete Challenger 

selbstgefällig. »Nun«, fügte er hinzu, während er einen langen 
Blick auf die vollgestopften, stillen und vom Tode 
gezeichneten Straßen warf, »ich glaube wirklich, daß es 
niemandem mehr dienlich sein kann, wenn wir noch länger in 
London bleiben. Ich schlage vor, daß wir auf der Stelle nach 
Rotherfleld zurückfahren und darüber beratschlagen, wie wir 
die Jahre, die nun vor uns liegen, auf die profitabelste Weise 
verbringen wollen.« 

Ich will nur noch ein Beispiel von dem geben, was wir in 

unseren Gedanken aus der toten Stadt mit uns zurücknahmen. 

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Es handelt sich um einen Blick, den wir in das Innere der alten 
Kirche von St. Mary warfen, die genau an der Stelle steht, wo 
wir unseren Wagen geparkt hatten. Wir suchten uns einen Weg 
durch die auf den Treppenstufen hingestreckten Gestalten, 
drückten die Schwingtür auf und traten ein. Der Anblick, der 
sich uns bot, war überwältigend. Die Kirche war voller 
kniender Gestalten, die jede nur mögliche Haltung der Demut 
einnahmen.  Im letzten, bedrohlichen Moment, bei der 
plötzlichen Gegenüberstellung mit den Realitäten des Lebens – 
jenen entsetzlichen Realitäten, die sogar über uns hängen, 
während wir den Schatten folgen  – waren die verschreckten 
Menschen in die alten Stadtkirchen geeilt, die derartige 
Ansammlungen wohl seit Generationen nicht mehr gesehen 
hatten. Hier kauerten sie sich nieder und knieten dichtgedrängt 
nebeneinander. Viele der Anwesenden hatten in der Aufregung 
vergessen, sich ihrer Kopfbedeckungen zu entledigen. Über 
ihnen, in der Kanzel, lag ein Mann in der Kleidung eines 
Laienpredigers, der in dem Augenblick, als das Schicksal sie 
alle ereilt hatte, offensichtlich auf die Menge eingeredet hatte. 
Wie eine Kasperlepuppe hing er vornübergebeugt über den 
Kanzelrand, seine Arme baumelten leblos herunter. Die graue, 
staubige Kirche war für uns ein Alptraum, und dazu kamen 
noch die Reihen der erstarrten Gestalten und die überall 
herrschende Stille. Wir bewegten uns auf Zehenspitzen und 
vermochten uns nur im Flüsterton zu unterhalten. 

Und dann hatte ich plötzlich eine Idee. In einer Ecke der 

Kirche, nahe der Tür, befand sich ein altes Weihwasserbecken, 
und dahinter  – in einer Nische  – gewahrte ich die Seile, mit 
denen man die Glocken in Bewegung versetzte. Warum sollten 
wir nicht eine Botschaft durch London schicken, die die 
Aufmerksamkeit eines jeden erwecken mußte, der noch am 
Leben war?  Ich durchquerte den Raum, zog an einem von 
einer Webkante umhüllten Seil und stellte mit Verwunderung 

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fest, daß es ziemlich schwer war, die Glocken zum Läuten zu 
bringen. Lord John war mir gefolgt. 

»Bei George, junger Freund«, sagte er und entledigte sich 

seines Jacketts. »Ihre Idee ist wirklich vortrefflich. Lassen Sie 
mich Ihnen helfen, dann wird es leichter gehen.« 

Aber auch mit seiner Unterstützung erwies sich die Glocke 

noch als so schwer, daß wir die zusätzliche Hilfe von 
Challenger und Summerlee in Anspruch nehmen mußten, bis 
über uns das donnernde Scheppern erklang, das uns davon in 
Kenntnis setzte, daß wir endlich Erfolg gehabt hatten. Weit 
über London hinweg erscholl unsere kameradschaftliche 
Botschaft, die jedem Überlebenden Hoffnung geben mußte. 
Der laute, metallische Klang ließ unsere Herzen frohlocken, 
woraufhin wir unsere Arbeit noch ernster nahmen. Jedesmal, 
wenn das Glockenseil nach oben schwang, wurden wir zwei 
Fuß in die Luft gehoben, machten uns schwer, um wieder nach 
unten zu kommen, und Challenger, der kleinste von uns, 
widmete sich dieser Tätigkeit mit seinem ganzen Gewicht, 
hüpfte auf und nieder wie ein riesiger Ochsenfrosch und stieß 
jedesmal ein Krächzen aus. Es war der richtige Augenblick für 
einen Künstler, ein Bild von vier Abenteurern zu machen. Wir 
waren Gefährten, die viele gemeinsame Gefahren überstanden 
hatten und nun vom Schicksal dazu auserwählt worden waren, 
eine noch überwältigendere Erfahrung zu machen. Eine halbe 
Stunde lang arbeiteten wir ununterbrochen vor uns hin, bis uns 
der Schweiß in Bächen von der Stirn lief, und unsere Rücken 
und Arme vor Anstrengungen schmerzten. Dann begaben wir 
uns in den Säulengang der Kirche hinaus und suchten mit 
unseren Blicken erwartungsvoll die schweigenden, mit Toten 
gepflasterten Straßen ab. Aber unsere Mühen wurden weder 
durch ein Geräusch noch eine Bewegung belohnt. 

»Es hat keinen Zweck. Es ist niemand übriggeblieben«, rief 

ich aus. 

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»Mehr können wir nicht tun«, sagte Challenger. »Laß uns um 

Himmels willen nach Rotherfield zurückkehren, George. Wenn 
ich noch eine Stunde in dieser schweigenden, schrecklichen 
Stadt verbringe, werde ich wahnsinnig.« 

Ohne ein weiteres Wort bestiegen wir unseren Wagen. Lord 

John wendete und hielt dann nach Süden zu. Für uns war 
dieses Kapitel beendet  – und von dem, das noch auf uns 
zukommen sollte, wußten wir so gut wie nichts. 

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VI 

Das große Erwachen 

 
 
 

Und nun komme ich zum Ende dieses, außergewöhnlichen 
Ereignisses, dessen Gewicht nicht nur unser eigenes kleines, 
individuelles Leben, sondern  auch die allgemeine Geschichte 
der menschlichen Rasse überschattet. Wie ich bereits zu 
Anfang meiner. Erzählung bemerkte, wird dieser Zwischenfall, 
wenn er in die Historie eingeht, alle anderen um Längen 
überragen. Es war unserer Generation vorbehalten, dieses 
unvermeidliche Ereignis zu erleben, da das Schicksal sie dazu 
auserwählt hat, eine wundersame Erfahrung zu machen. Wie 
lange die Auswirkungen noch zu spüren sein werden  – wie 
lange die Menschheit die Bescheidenheit und Ehrfurcht 
widerspiegeln wird, die der große Schock in ihr erzeugte, kann 
nur die Zukunft erweisen. Ich glaube aber, man kann sagen, 
daß die Dinge nie wieder so sein werden wie früher. Man wird 
sich seiner Machtlosigkeit und Unwissenheit erst dann bewußt, 
wenn man erfährt, wie schnell man von einer ungesehenen 
Hand in seine Schranken verwiesen werden kann, wenn sie 
sich ballt und zum Schlage ausholt. Wir sind dem Tode 
ziemlich nahe gewesen und wissen, daß er jederzeit erneut 
zuschlagen kann. Seine grimmige Gegenwart überschattet 
unser Dasein. Wer aber könnte leugnen, daß in seinem 
Schatten Pflichtbewußtsein, Nüchternheit, die Würdigung der 
gewichtigen Dinge des Lebens und das ernsthafte Streben nach 
Selbstvervollkommnung und Besserung in uns wuchs und sich 
dermaßen verdichtet hat, daß sie in jeder Faser unserer 
Gesellschaft spürbar ist? Wir sind über Engstirnigkeiten und 

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Dogmen hinausgewachsen. Unsere Perspektive hat sich 
gewandelt, und uns ist klar geworden, daß wir nicht mehr sind, 
als bedeutungslose und vergängliche Kreaturen, die der Gnade 
des erstbesten kalten Windes aus dem Unbekannten 
ausgeliefert sind. Aber wenngleich die Welt aufgrund dieses 
Wissens ein wenig ernster geworden ist, scheint sie mir 
deswegen nicht gleichzeitig auch ein schwermütigerer Ort 
geworden zu sein. Gewiß stimmen wir darin überein, daß die 
nüchternen und maßvollen Freuden der Gegenwart sowohl 
tiefergehenderer als auch reiferer Natur sind, als jene 
närrischen, lauten Gedränge, die in den alten Zeiten so oft als 
Vergnügen empfunden wurden. Die alte Zeit ist kaum 
vergangen  – und doch scheint sie uns so fern. Das alte, leere 
Dasein, das wir in ziellosen Besuchen und Gegenbesuchen 
vergeudeten, wobei unsere ganze Sorge unnötig aufwendigen 
Haushalten und der Zubereitung und dem Arrangement 
ausgeklügelter, langwieriger Mahlzeiten galt, ist nun einer 
gesunden Entspannung gewichen, die sich mit Literatur und 
Musik und freundlich-familiärer Kommunikation beschäftigt 
und unsere Zeit besser und einfacher nutzt. Wir sind gesunder 
als zuvor und genießen die Freuden des Lebens herzlicher; 
deswegen sind wir auch reicher als früher, selbst nachdem wir 
für die Anhebung dieser Lebensqualität einen hohen Preis in 
eine gemeinsame Kasse zahlen mußten. 

Was die genaue Stunde des großen Erwachens angeht, so ist 

man hier nicht einer Meinung. Allgemein geht man jedoch 
davon aus, daß  – abgesehen von den einzelnen Zeitzonen  – 
möglicherweise die örtlichen Gegebenheiten das 
Zurückweichen des Giftes beeinflußten. In jedem einzelnen 
Landstrich fand die Wiedererweckung praktisch zur gleichen 
Stunde statt. Es gibt zahlreiche Zeugen, die aussagten, daß Big 
Ben in diesem Moment zehn Minuten nach sechs zeigte. Der 
Astronom Royal hat die Zeit auf zwölf Minuten nach sechs 

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(Greenwich) festgelegt. Andererseits nennt Laird Johnson, ein 
sehr tüchtiger Beobachter  aus East Anglia, als Zeitpunkt des 
Erwachens sechs Uhr zwanzig. Auf den Hebriden soll es 
sieben Uhr gewesen sein. In unserem eigenen Fall kann es 
allerdings keinerlei Zweifel geben, da ich in diesem 
Augenblick in Challengers Arbeitszimmer saß und sich seine 
peinlich genau eingestellte Uhr genau vor mir befand. Es war 
viertel nach sechs. 

Eine enorme Niedergeschlagenheit lastete auf meinem Geist. 

Der kumulative Effekt all jener schrecklichen Dinge, die wir 
während unserer Reise gesehen hatten, bedrückte mich seelisch 
sehr stark. Da ich von nahezu strotzender Gesundheit war und 
über große körperliche Kräfte verfügte, kam es ziemlich selten 
vor, daß mich eine solche Stimmung überfiel. Zudem verfügte 
ich über die typisch irische Gabe, noch in der finstersten 
Dunkelheit einen Funken von Humor zu erkennen. Nun aber 
war die Dunkelheit furchtbar und schien nicht mehr enden zu 
wollen. Die anderen hielten sich unten auf und machten Pläne 
für die Zukunft. Ich saß am offenen Fenster, hatte das Kinn auf 
meine Hand gestützt und war bewußtseinsmäßig ganz vom 
Elend unserer Situation gefangen. Konnten wir einfach so 
weiterleben? Das war die Frage, die ich mir zu stellen 
begonnen hatte. War es überhaupt möglich, auf einer toten 
Welt zu existieren? So wie sich in der Physik der größere 
Körper auf den kleineren zubewegt – würden wir uns nicht mit 
überwältigender Kraft zu jenem gewaltigen Körper der 
Menschheit hingezogen fühlen, der bereits den Weg ins 
Unbekannte angetreten hatte? Wie würde unser Ende sein? 
Würden wir sterben, indem das Gift zurückkehrte? Oder würde 
sich die Erde aufgrund der erstickenden Produkte universeller 
Verwesung als unbewohnbar erweisen? Und schließlich: 
Konnte unsere gräßliche Lage dazu führen, daß wir den 
Verstand verloren? Eine Gruppe Wahnsinniger auf einer toten 

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Welt! Ich war noch ganz von diesem Gedanken gefangen, als 
ein leises Geräusch mich dazu veranlaßte, auf die unter mir 
liegende Straße hinabzuschauen. Das alte Kutschpferd kam 
den Hügel hinauf! 

Im gleichen Moment hörte ich das Zwitschern von Vögeln, 

das Husten eines sich unter mir im Garten aufhaltenden 
Menschen und nahm irgendwo vor mir in der Landschaft eine 
Bewegung wahr. Ich erinnere mich daran, daß es hauptsächlich 
dieser absurde, abgemagerte und überalterte Klepper war, der 
meinen Blick gefangenhielt. Langsam keuchend erklomm er 
den Hügel. Dann wanderte mein Blick zu dem Kutscher, der 
zusammengekrümmt auf dem Kutschbock saß  – und 
schlußendlich zu dem jungen Mann, der sich ein wenig 
überrascht aus dem Wagenfenster lehnte und irgendeine 
Anweisung  rief. Sie waren ganz offensichtlich am Leben und 
kein bißchen geschwächt! 

Alle Menschen lebten wieder! War alles nur eine Täuschung 

gewesen? Bestand die Möglichkeit, daß alles, was wir erlebt 
hatten, nur auf einer Halluzination beruhte? Einen Moment 
lang war mein verwirrter Geist wirklich bereit, dies zu 
glauben, aber dann schaute ich nach unten und gewahrte die 
große Blase, die ich mir beim Ziehen der Glockenseile 
zugezogen hatte. Es war also alles Wirklichkeit gewesen. Und 
trotzdem erwachte die Welt wieder zum Leben  – von einer 
Sekunde zur anderen wurde der ganzen Welt die Existenz 
zurückgegeben. Und dann, als mein Blick über die 
weitgedehnte Landschaft wanderte, sah ich es überall. Die 
Welt bewegte sich wieder – und zu meinem Erstaunen mit der 
gleichen Geschwindigkeit, in der sie zum Stillstand gekommen 
war. Da waren die Golfspieler. War es möglich, daß sie in 
ihrem Spiel fortfuhren? Ja, denn schon verließ einer der Spieler 
den Abschlagplatz, und die Gruppe, die sich auf der Wiese 
aufhielt, begab sich zum  nächsten Loch. Die Schnitter kehrten 

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langsam an ihre Arbeit zurück. Das Hausmädchen versetzte 
einem ihrer Schützlinge einen Klaps und schob den 
Kinderwagen weiter bergauf. Jedermann ging der Tätigkeit 
nach, bei der er unterbrochen worden war. 

Ich jagte die Treppe hinunter, aber die Hallentür war offen, 

und ich hörte die lauten und überraschten Stimmen meiner 
Kollegen, die im Garten standen und sich gegenseitig 
beglückwünschten. Wir schüttelten einander lachend die 
Hände, und Mrs. Challenger war vor Freude so durcheinander, 
daß sie uns der Reihe nach küßte und sich erst dann in die 
Arme ihres Gatten warf! 

»Aber es ist unmöglich, daß sie alle nur geschlafen haben!« 

rief Lord John aus. »Verflixt, Challenger, Sie können doch 
nicht im Ernst annehmen, daß die Leute alle nur bewußtlos 
waren, nachdem Sie ihre glasigen Augen, ihre  steifen Glieder 
und das abscheuliche Totengrinsen in ihren Gesichtern 
gesehen haben!« 

»Sie können sich nur in einem Zustand befunden haben, den 

man als Katatonie, als Starrkrampf bezeichnet«, sagte 
Challenger. »Man hat in der Vergangenheit nur wenige 
Erfahrungen mit diesem Phänomen gesammelt, deswegen 
wurde es oft mit dem Tod gleichgesetzt. Beim Starrkrampf 
sinkt die Temperatur, verschwindet die Respiration und ist ein 
Herzschlag kaum nachweisbar. Genaugenommen ist dies der 
Tod  – mit der Ausnahme, daß er nicht anhält. Selbst der 
verständnisvollste Geist«,  – an dieser Stelle schloß er die 
Augen und lächelte feinsinnig  – »könnte sich eine 
Starrkrampf-Epidemie solchen Ausmaßes kaum vorstellen.« 

»Von mir aus können Sie es Starrkrampf nennen«, bemerkte 

Summerlee, »aber schließlich ist auch das nur eine 
Bezeichnung für eine Sache, von der wir ebenso wenig wissen, 
wie von der Ursache der Vergiftung. Das äußerste, das wir 

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sagen können, ist, daß die verunreinigte Luft einen 
zeitweiligen Tod hervorgerufen hat.« 

Austin saß ziemlich verwirrt auf dem Trittbrett des Wagens. 

Er war es gewesen, den ich von unten hatte husten hören. Er 
hatte die ganze Zeit über geschwiegen, aber jetzt murmelte er 
etwas vor sich hin und musterte den Wagen. 

»Dieser nichtsnutzige Klotzkopf«, brummte er. »Man muß 

seine Augen wirklich überall haben.« 

»Was ist denn, Austin?« 
»Der Ölhahn ist offen, Sir. Jemand hat an dem Wagen 

herumgespielt. Ich nehme an, es war der Gärtnerjunge, Sir.« 

Lord  John sah plötzlich sehr schuldig aus. »Ich weiß nicht, 

was mit mir los ist«, fuhr Austin fort und kam taumelnd auf die 
Beine. »Ich glaube, mir ist schwindlig geworden, als ich den 
Wagen waschen wollte. Ich kann mich noch daran erinnern, 
über  die Treppenstufen gestolpert zu sein. Aber ich schwöre 
Ihnen, daß ich den Ölhahn auf keinen Fall offengelassen 
habe.« 

Mit knappen Worten erklärten wir dem verdutzten Austin, 

was mit ihm und der Welt passiert war. Ebenso setzte man ihn 
über das Rätsel des tropfenden  Ölhahns in Kenntnis. Mit 
zutiefst mißtrauischem Gesicht hörte er zu, als wir ihm 
erklärten, daß der Wagen von einem Amateur gesteuert 
worden war. Die wenigen Sätze, mit denen wir ihn über unsere 
Erfahrungen in der schlafenden Stadt informierten,  schienen 
jedoch sein Interesse zu erwecken. Als wir schließlich fertig 
waren, gab er einen Kommentar ab, an den ich mich noch 
genau erinnere. 

»Waren Sie auch an der Bank von England, Sir?« 
»Ja, Austin.« 
»Und die Millionen waren alle da drin und die ganze Stadt 

schlief?« 

»So war es.« 

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»Und ich war nicht dabei!« stöhnte er, wandte sich enttäuscht 

von uns ab und fing erneut an, den Wagen zu waschen. 

Plötzlich hörten wir das Knirschen von Rädern auf dem Kies. 

Die alte Droschke hatte tatsächlich vor Challengers Tür 
gehalten. Ich sah, wie der junge Fahrgast ausstieg. Kurz darauf 
tauchte das zutiefst verstörte Hausmädchen auf, das aussah, als 
sei es ganz plötzlich aus dem tiefsten Schlaf gerissen worden 
und überbrachte Challenger auf einem kleinen Tablett eine 
Visitenkarte. Challenger stieß ein urweltliches Schnauben aus, 
als er die Karte sah. Sein Bart schien vor Zorn Funken zu 
sprühen. 

»Ein Pressemensch!« grunzte er. Und dann, mit einem 

widerwilligen Lächeln: »Aber schließlich ist es nur allzu 
natürlich, daß die ganze Welt sich jetzt zu erfahren beeilt, was 
ich von einer solchen Episode halte.« 

»Das kann an sich kaum der Auftrag dieses Mannes gewesen 

sein«, warf Summerlee ein. »Schließlich war er schon mit der 
Droschke nach hier unterwegs, bevor die Krise einsetzte.« 

Ich warf einen Blick auf die Karte: »James Baxter, Londoner 

Korrespondent des New York Monitor.« 

»Wollen Sie ihn empfangen?« fragte ich. 
»Aber nicht im Traum.« 
»Aber George! Du solltest wirklich etwas freundlicher und 

zuvorkommender anderen gegenüber sein. Sicher hast auch du 
etwas aus dem, was wir zu ertragen hatten, gelernt.« 

Challenger machte »Dz, dz!« und schüttelte den massigen, 

eigensinnigen Kopf. »Gegenüber diesem Natterngezücht? Was 
meinen Sie, Malone? Sind diese Leute nicht die schlimmste 
Plage der modernen Zivilisation, die willigen Werkzeuge der 
Quacksalber und die Mauern im Wege des mit Selbstrespekt 
ausgestatteten Menschen? Haben sie je auch nur ein gutes 
Wort für mich übrig gehabt?« 

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»Wann haben Sie je ein gutes Wort für die Presse übrig 

gehabt?« antwortete ich. »Kommen Sie, Sir, der Mann ist ein 
Fremder, der eine Reise gemacht hat, nur um Sie zu sehen. Ich 
bin sicher, daß Sie sich ihm gegenüber nicht als rüde erweisen 
werden.« 

»Nun gut«, brummelte Challenger. »Aber Sie kommen mit 

mir und übernehmen das Gerede. Ich protestiere schon einmal 
im voraus gegen dieses gewalttätige Eindringen in mein 
Privatleben.« Murmelnd und brummelnd, wie ein wütender 
und gereizter Bullenbeißer watschelte er hinter mir her. 

Der gutaussehende junge Amerikaner zückte  sein Notizbuch 

und kam sofort zur Sache. 

»Ich bin hier heruntergekommen, Sir«, sagte er, »weil unsere 

amerikanischen Leser sehr gerne etwas über diese Gefahr 
erfahren möchten, die die Welt Ihrer Meinung nach bedroht.« 

»Ich weiß von keiner Gefahr, die die Welt im Augenblick 

bedroht«, antwortete Challenger muffig. 

Der Journalist musterte ihn in mildem Erstaunen. 
»Ich meine damit die Möglichkeit, daß die Welt in einen 

Giftstrom eintauchen könnte, Sir.« 

»Ich sehe momentan keine solche Gefahr«, sagte Challenger. 
Jetzt sah der Journalist noch erstaunter drein. 
»Sie sind doch Professor Challenger, oder nicht?« fragte er. 
»Ja, Sir. Das ist mein Name.« 
»Dann verstehe ich nicht, wie Sie sagen können, daß eine 

solche Gefahr nicht besteht. Ich beziehe mich auf den Brief, 
der unter Ihrem Namen heute morgen in der Londoner  Times 
veröffentlicht wurde.« 

Jetzt war Challenger an der Reihe, überrascht aufzuschauen. 

»Heute morgen?« sagte er. »Heute morgen ist doch gar keine 
Ausgabe der Times erschienen.« 

»Sie werden gewiß zugeben, Sir«, sagte der Amerikaner mit 

sanftem Protest, »daß die Londoner  Times  eine Tageszeitung 

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ist.« Er entnahm die Ausgabe der Innentasche seines Jacketts. 
»Hier ist der Brief, den ich meine.« 

Challenger rieb sich kichernd die Hände. 
»Ich beginne zu verstehen«, sagte er. »Sie haben diesen Brief 

also heute morgen gelesen?« 

»Ja, Sir.« 
»Und Sie sind sofort losgefahren, um mich zu interviewen?« 
»Ja, Sir.« 
»Ist Ihnen während der Reise irgend etwas Besonderes 

aufgefallen?« 

»Nun, um die Wahrheit zu sagen, mir erschienen die 

Engländer lebhafter und allgemein menschlicher als je zuvor. 
Der Gepäckschaffner erzählte mir sogar einen Witz, und das ist 
in diesem Land für mich eine neue Erfahrung.« 

»Sonst nichts?« 
»Aber nein, Sir, nichts, an das ich mich erinnern könnte.« 
»Und wann haben Sie den Victoria-Bahnhof verlassen?« 
Der Amerikaner lächelte. 
»Ich bin gekommen, um Sie zu interviewen, Herr Professor, 

aber dies scheint mir doch auf ein ›Fischt-dieser-Nigger-oder-
niggert-dieser-Fisch‹-Spiel herauszulaufen. Jedenfalls tun Sie 
den größten Teil der Arbeit.« 

»Nun, zufälligerweise interessiert es mich. Erinnern Sie sich 

an die Zeit?« 

»Sicher. Es war halb eins.« 
»Und wann kamen Sie hier an?« 
»Gegen viertel nach zwei.« 
»Und dann mieteten Sie eine Droschke?« 
»So war es.« 
»Wie weit, glauben Sie, ist der Bahnhof von hier entfernt?« 
»Nun, ich schätze gut zwei Meilen.« 
»Was glauben Sie, wie lange Sie dafür gebraucht haben?« 

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»Nun, vielleicht eine halbe Stunde. Mit diesem asthmatischen 

Gaul…« 

»Dann müßte es jetzt etwa drei Uhr sein?« 
»Ja, oder ein bißchen später.« 
»Sehen Sie auf Ihre Uhr.« 
Der Amerikaner tat wie ihm geheißen. Anschließend starrte 

er uns verwirrt an. 

»Na so was!« rief er aus. »Das gibt es doch nicht. Das Pferd 

müßte ja jeden Rekord gebrochen haben. Wenn ich mir die 
Sonne so ansehe, steht sie ziemlich tief. Irgend etwas ist hier 
vorgegangen, das ich nicht verstehe.« 

»Können Sie sich nicht an irgend etwas Bemerkenswertes 

erinnern, das geschah, als die Kutsche den Berg hinauffuhr?« 

»Ja, ich glaube mich daran zu erinnern, daß ich plötzlich 

ausgesprochen schläfrig wurde. Ich weiß noch, daß ich dem 
Kutscher irgend etwas sagen wollte. Er nahm mich aber gar 
nicht zur Kenntnis. Ich nehme an, es lag an der Hitze, aber 
einen Augenblick lang wurde mir schwindlig. Das ist alles.« 

»So ist es der ganzen Menschheit ergangen«, sagte 

Challenger zu mir. »Sie haben sich alle einen Augenblick lang 
schwindlig gefühlt. Niemand hat auch nur die geringste 
Vorstellung von dem, was passiert ist. Sie werden mit der 
unterbrochenen Arbeit dort fortfahren, wo sie aufgehört haben 
– so wie Austin jetzt den Wagen wäscht und die Golfer ihr 
Spiel zu Ende führen. Wenn Ihr Chefredakteur, Malone, heute 
die neue Ausgabe zusammenstellt, wird er ziemlich erstaunt 
reagieren, wenn ihm bewußt wird, daß eine Nummer nicht 
erschienen ist. Ja, mein junger Freund«, fügte er hinzu und 
wandte sich an den amerikanischen Reporter, wobei er sich in 
allerbester Gönnerlaune zeigte, »es wird Sie vielleicht 
interessieren, daß  die Welt die giftige Strömung, die den 
Weltraum durchzieht wie der Golfstrom den Ozean, sicher 
passiert hat. Und damit Sie auch persönlich wieder beruhigt 

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sind, will ich Ihnen sagen, daß heute nicht Freitag der 
achtundzwanzigste, sondern Samstag der neunundzwanzigste 
August ist und Sie die letzten achtundzwanzig Stunden 
besinnungslos in Ihrer Droschke auf dem Rotherfield Hill 
zugebracht haben.« 

Und genau hier endet meine Geschichte. Sie ist, wie Sie 

möglicherweise erkennen, nichts anderes als eine längere und 
detailreichere Version des Artikels, der in der Montagsausgabe 
der  Daily Gazette  erschien, als die größte Exklusivstory aller 
Zeiten bezeichnet wurde und nicht weniger als dreieinhalb 
Millionen Exemplare verkaufte. Ich habe mir die grandiosen 
Schlagzeilen einrahmen lassen und an die Wand meines Büros 
gehängt: 

 
DIE WELT FÜR ACHTUNDZWANZIG STUNDEN IM 
KOMA 
BEISPIELLOSES ERLEBNIS CHALLENGER 
REHABILITIERT UNSER KORRESPONDENT WAR 
DABEI FESSELNDE BERICHTERSTATTUNG DAS 
SAUERSTOFFZIMMER UNGLAUBLICHE AUTOREISE 
IM TOTEN LONDON 
GROSSBRÄNDE UND VERLUSTE AN 
MENSCHENLEBEN 
WIRD DAS GIFT WIEDERKEHREN? 
 
Unter dieser majestätischen Auflistung folgt ein 

neuneinhalbspaltiger Bericht, die erste, letzte und einzige 
Wiedergabe jener historischen Ereignisse, die ein Beobachter 
während eines langen Tages im Leben eines Planeten 
aufzuschreiben vermochte. Challenger und Summerlee haben 
die Angelegenheit in einem gemeinsam verfaßten 
wissenschaftlichen Papier behandelt und mir die populäre Seite 
überlassen. Natürlich kann ich nun »Nunc Dimittis« singen, 

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denn nach diesem Erlebnis kann das Leben eines Journalisten 
nur noch aus einem Antiklimax bestehen! 

Aber lassen Sie mich nicht nur mit sensationellen 

Schlagzeilen und einem lediglich persönlichen Triumph enden. 
Viel lieber möchte ich einige wohltuende Passagen zitieren, 
mit der die größte aller Tageszeitungen ihren Aufmacher zu 
diesem Thema beendete  – einen Aufmacher, den jeder, der 
etwas auf sich hält, verwahren sollte, um sich daran zu 
erbauen. 

»Es ist eine altbekannte Binsenweisheit«,  sagte die  Times, 

»daß die menschliche Rasse im Gegensatz zu den 
unermeßlichen, verborgenen Kräften, die uns umgeben, aus 
einem eher schwachen Völkchen besteht. Sowohl die 
Propheten der Vergangenheit als auch die Philosophen der 
Moderne haben darauf hingewiesen und ihre Warnung 
ausgesprochen. Aber wie alle ständig wiederholten Wahrheiten 
hat auch diese im Laufe der Zeit etwas von ihrer 
Wahrhaftigkeit und Beweiskraft eingebüßt. Es bedurfte einer 
Lehre und der tatsächlichen Erfahrung, uns dies erneut bewußt 
zu machen. Es ist auf die schreckliche aber begrüßenswerte 
Prüfung zurückzuführen, die uns auferlegt wurde, daß unser 
Bewußtsein von der Plötzlichkeit dieses Anschlages gelähmt 
ist und wir uns unserer Grenzen und unseres Unvermögens 
bewußt geworden sind. Die Welt hat für diese Erfahrung einen 
furchtbaren Preis zahlen müssen. Und doch haben wir  – 
abgesehen von den Großbränden, die New York, New Orleans 
und Brighton zerstörten und schon für sich die größte Tragödie 
in der Geschichte der Menschheit widerspiegeln  – kaum 
Kenntnis von den wirklichen Ausmaßen der Katastrophe. 
Wenn die Bestandsaufnahmen der Eisenbahn- und 
Schiffsunglücke abgeschlossen sind, wird es kein Frohlocken 
geben, obwohl man absehen kann, daß es den meisten 
Verantwortlichen auf Dampfern und Lokomotiven gelungen 

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ist, die Maschinen abzuschalten, bevor das Gift sie 
niederstreckte. Aber die materiellen Schäden, egal wie viele 
Leben und Waren sie auch gekostet haben, sollten uns heute 
nicht über Gebühr beschäftigen. All diese Wunden wird die 
Zeit heilen. Was allerdings nicht der Vergessenheit 
anheimfallen und uns weiterhin beschäftigen sollte, sind die 
Offenbarungen, über welche Möglichkeiten das Universum 
verfügt, der Abbau unserer eitlen Selbstgefälligkeit und die 
Zurschaustellung der Tatsache, daß  der Pfad unserer 
materiellen Existenz schmal und an beiden Seiten von tiefen 
Abgründen umgeben ist. Von heute an sollten Ernsthaftigkeit 
und Bescheidenheit die Grundpfeiler all unserer Emotionen 
sein. Sie könnten das Fundament bilden, auf dem eine 
gewissenhaftere und ehrfurchtsvollere Rasse einen würdigen 
Tempel errichten könnte.« 

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Als die Erde schrie 

(When the World Screamed) 

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Ich konnte mich zwar noch vage daran erinnern, daß mir mein 
Freund Edward Malone von der Gazette  einst erzählt hatte, er 
sei mit Professor Challenger in einige bemerkenswerte 
Abenteuer verwickelt gewesen, aber da mich mein Beruf 
ziemlich stark in Anspruch nimmt und meine Firma mit 
Aufträgen mehr als ausgelastet ist, bin ich über meine eigenen 
Interessen hinaus über das, was sonst in der Welt vor sich geht, 
nur unvollkommen im Bilde. Ich konnte mich auch daran 
erinnern, daß Challenger als unberechenbares Genie galt und 
man ihm einen gewalttätigen und intoleranten Charakter 
nachsagte; deswegen war ich auch gelinde erstaunt, von ihm 
einen Geschäftsbrief zu erhalten, der sich folgenden Wortlauts 
befleißigte: 
 
kal 4 (b) Enmore Gardens Kensington 
Sir, ich sehe mich dazu veranlaßt, die Dienste eines 
Spezialisten für artesische Bohrungen in Anspruch zu nehmen. 
Ich will aber keinesfalls verhehlen, daß ich jeglichem 
Spezialistentum gegenüber keine sonderlich hohe Meinung 
habe, zumal ich aufgrund von Erfahrungen weiß, daß ein 
Mensch, der  – wie ich  – über ein gutfunktionierendes Gehirn 
verfügt, ein gründlicher arbeitendes
 und breiteres Gesichtsfeld 
besitzt als jemand, der sich auf ein bestimmtes Gebiet 
konzentriert, einen gewöhnlichen Beruf ausübt, und deswegen 
in seiner Weitsicht begrenzt ist. Nichtsdestoweniger bin ich 
bereit, mit  Ihnen einen Versuch zu wagen. Als ich eine Liste 
artesischer Experten studierte, erweckte ein bestimmter 
Umstand (beinahe hätte ich »eine bestimmte Absurdität« 
geschrieben) in Ihrem Namen mein Interesse, und spätere 
Nachforschungen ergaben, daß mein junger Freund, Mr. 
Mahne, mit Ihnen bekannt ist. Mein Schreiben dient dazu, 

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Ihnen mitzuteilen, daß ich mich glücklich schätzen würde, ein 
Gespräch mit Ihnen zu führen, und daß ich, vorausgesetzt, Sie 
entsprechen meinen (sicherlich nicht geringen) Erwartungen, 
eventuell bereit wäre, eine Angelegenheit von allergrößter 
Wichtigkeit in Ihre Hände zu legen. Da besagte Angelegenheit 
größte Geheimhaltung erfordert, kann ich gegenwärtig nicht 
mehr sagen. Weitere Instruktionen können ausschließlich 
mündlich erfolgen. Ich bitte Sie deswegen, allen 
Verpflichtungen, denen Sie möglicherweise gerade nachgehen, 
zu kündigen, und mich am kommenden Freitag um  10.30 Uhr 
an der o. a. Adresse aufzusuchen. Wir besitzen  
sowohl  einen 
Schmutzabstreifer als auch eine Fußmatte,  und Mrs. 
Challenger ist in dieser Hinsicht äußerst penibel.
 

Ich verbleibe, Sir, wie ich begann, 

George Edward Challenger. 

 
Ich übergab den Brief zur Beantwortung an meinen 
Bürovorsteher, der Professor Challenger davon in Kenntnis 
setzte, daß Mr. Peerless Jones sich geehrt fühlen würde, zu der 
vorgeschlagenen Verabredung zu erscheinen. Der Antwortbrief 
war ein perfektes bürokratisches Schreiben, das mit der Phrase 
»Ihren (undatierten) Brief haben wir erhalten« begann. Dies 
brachte uns eine zweite Epistel des Professors ein. 
 
Sir,  
(schrieb er, und seine Handschrift sah plötzlich aus wie 
eine Rolle Stacheldraht),  ich stelle fest, daß Sie sich über 
meinen undatierten Brief mokieren. Darf ich  Ihre geschätzte 
Aufmerksamkeit auf die Tatsache lenken, daß unsere 
Regierung, um uns für die monströse Besteuerung zu 
entschädigen, die sie uns angedeihen läßt, die Eigenart 
entwickelt hat, auf der Außenseite von Briefumschlägen einen 
kleinen, runden Stempel anzubringen, der über das 
Absendedatum Auskunft gibt? Sollte dieses Zeichen fehlen oder 

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unleserlich sein, müßte sich Ihr Einspruch an das örtliche 
Postamt richten. Bis dahin möchte ich Sie bitten, Ihre 
Aufmerksamkeit den Geschäften zu widmen, wegen derer ich 
Sie zu konsultieren beabsichtige und Kommentare über die 
Form, die meine Briefe möglicherweise einnehmen, zu 
unterlassen. 
 
Mir war klar, daß ich es hier mit einem Irren zu tun hatte, 
deswegen überlegte ich mir gut, was ich tun sollte, bevor ich 
weiter in die Sache hineingezogen wurde und suchte meinen 
alten Freund Malone auf, den ich noch aus jenen alten Tagen 
kannte, in denen wir noch für Richmond Rugby gespielt 
hatten. Er war immer noch der gleiche heitere Ire wie zuvor 
und amüsierte sich königlich über meinen ersten 
Zusammenstoß mit Challenger. 

»Das ist noch gar nichts, alter Junge«, sagte er. »Wenn du 

erst einmal fünf Minuten mit ihm allein gewesen bist, wirst du 
dich fühlen wie jemand, dem man bei lebendigem Leibe das 
Fell über die Ohren gezogen hat. Es gibt niemanden, der seinen 
Angriffen gewachsen ist.« 

»Aber warum sollte sich überhaupt jemand dieser Gefahr 

aussetzen?« 

»Das tut ja niemand. Wenn du alle Kräche, 

Beleidigungsklagen und Verurteilungen zusammenzählen 
würdest, denen er…« 

»Verurteilungen!« 
»Glaube mir, er würde sich nicht das geringste dabei denken, 

dich die Treppe hinunterzuwerfen, wenn du anderer Meinung 
wärst als er. Er ist ein Höhlenmensch im Frack. Ich sehe ihn 
vor mir, wie er in der einen Hand eine Keule und in der 
anderen ein Steinbeil hält. Manche Menschen werden einfach 
nicht in das ihnen zugehörige Jahrhundert hineingeboren, aber 

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Challenger gehört nicht einmal in dieses Jahrtausend. Er paßt 
besser ins frühe Neolithikum.« 

»Das ist ja gerade das Unglaubliche! Er ist der klügste Kopf 

von ganz Europa, und er wird von einer solch starken Kraft 
angetrieben, daß er alle seine Träume in Wirklichkeit 
verwandeln kann. Man tut zwar alles, um ihn nicht 
hochkommen zu lassen, denn seine Kollegen hassen ihn wie 
die Pest  – aber ebenso könnte eine Schlepperflotte versuchen 
die  Berengaria  am Auslaufen zu hindern. Er ignoriert sie 
einfach und dampft an ihnen vorbei.« 

»Nun«, meinte ich, »eines ist zumindest klar. Ich will nichts 

mit ihm zu tun haben. Ich werde unsere Verabredung 
absagen.« 

»Das wirst du keinesfalls. Du wirst pünktlich auf die Minute 

bei ihm erscheinen  – und du solltest nicht vergessen, wirklich 
auf die Minute dort zu sein, sonst wirst du es bereuen.« 

»Warum sollte ich?« 
»Nun, ich werde es dir sagen. Zunächst einmal würde ich das, 

was ich über den alten Challenger gesagt habe, nicht so 
wörtlich nehmen. Jeder, der ihn näher kennenlernt, lernt ihn 
auch zu lieben. Der alte Bär stellt keine wirkliche Gefahr dar. 
Ja, ich erinnere mich sogar, daß er über hundert Meilen weit 
ein an Blattern erkranktes indisches Baby auf dem Rücken trug 
und es aus dem Hinterland zum Madeira River hinuntertrug. Er 
ist in jeder Beziehung ein großer Mann. Wenn du begreifst, 
wie man am besten mit ihm umgeht, wird er dir auch nichts 
antun.« 

»Ich will es aber gar nicht erst darauf ankommen lassen.« 
»Du wärst ein Narr, wenn du es nicht tätest. Hast du je vom 

Hengist-Down-Rätsel gehört, dem geheimnisvollen Schacht an 
der Südküste?« 

»Irgendeine geheime Minenexpedition, nehme ich an.« 

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»Nun, du kannst es sehen, wie du willst. Verstehe bitte, daß 

ich das Vertrauen dieses alten Mannes genieße und dir 
deswegen leider erst reinen Wein einschenken kann, wenn er 
es mir gestattet. Aber ich kann dir zumindest das erzählen, was 
in der Presse gestanden hat: Ein Mann namens Betterton, der 
sein Vermögen mit Gummi gemacht hat, hat Challenger vor 
einigen Jahren mit der Bedingung, es im Interesse der 
Wissenschaft zu verwenden, seine gesamte Hinterlassenschaft 
vermacht. Es stellte sich heraus, daß es sich bei seinem Erbe 
um eine ziemlich bedeutende Summe handelte  – mehrere 
Millionen. Challenger kaufte sich daraufhin einen Besitz bei 
Hengist Down in Sussex. Da das Land wertlos ist – es liegt an 
der Nordseite des Kalkgebietes  – konnte er einen ziemlich 
großen Landstrich kaufen und zäunte ihn ein. In der Mitte des 
Gebietes befindet sich eine tiefe Senke, die er auszuheben 
begann. Er gab bekannt«, – an dieser Stelle zwinkerte Malone 
mir zu  – »daß es in England Öl gäbe und er dies beweisen 
würde. Er baute eine kleine Mustersiedlung für eine Gruppe 
gutbezahlter Arbeiter und verpflichtete sie zum Schweigen. 
Das Gebiet um die Senke ist ebenso hermetisch abgeriegelt 
wie der Rest des Besitzes, und die gesamte Umgebung wird 
von Bluthunden bewacht. Ein paar Presseleute sind beinahe 
dabei ums Leben gekommen  – gar nicht zu reden von ihren 
Hosen  –, als sie diese Bestien zu umgehen versuchten. Es ist 
ein großes Unternehmen, das er dort betreibt, und Sir Thomas 
Mordens Firma, die ebenfalls zum Schweigen verpflichtet ist, 
geht ihm dabei zur Hand. Jetzt ist offenbar der Zeitpunkt 
gekommen, an dem man die Unterstützung eines artesischen 
Spezialisten benötigt. Wärst du nicht ein Narr, wenn du einen 
solchen Auftrag, der nicht nur interessant ist, sondern dir auch 
eine Menge neuer Erfahrungen und einen fetten Scheck 
einbringt, ablehnen würdest? Ganz zu schweigen davon, daß 

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die Möglichkeit besteht, daß dir der wundervollste Mensch, der 
dir je begegnet ist, auf die Schulter klopft?« 

Malones Argumente waren überzeugend, deswegen begab ich 

mich am Freitagmorgen nach Enmore Gardens. Ich bereitete 
mich so sorgfältig auf ein pünktliches Erscheinen vor, daß ich 
mich plötzlich zwanzig Minuten zu früh vor der Tür des 
Professors wiederfand. Während ich auf der Straße wartete, 
entdeckte ich plötzlich auf dem Bürgersteig einen abgestellten 
Rolls-Royce mit einem silbernen Pfeilmaskottchen. Der 
Wagen konnte nur Jack Devonshire, dem Juniorgesellschafter 
der Firma Morden gehören. Da ich Jack stets als einen äußerst 
liebenswürdigen Menschen kennengelernt hatte, war ich 
natürlich ziemlich schockiert, als er plötzlich aus dem Haus 
kam, draußen vor der Tür stehenblieb, beide Arme in die Luft 
streckte und mit großer Inbrunst hervorstieß: »Verdammt soll 
er sein! Oh, er soll verdammt sein!« 

»Was ist denn los, Jack? Du scheinst ja heute morgen 

ziemlich gereizt zu sein.« 

»Hallo, Peerless! Hast du auch mit ihm zu tun?« 
»Es sieht ganz so aus.« 
»Nun, du wirst es kaum zum Aushalten finden.« 
»Kaum mehr als du, nehme ich an.« 
»Nun, das kann man wohl behaupten. Die Nachricht, die mir 

der Butler gab, hörte sich folgendermaßen an: ›Der Herr 
Professor hat mir aufgetragen, Ihnen mitzuteilen, daß er gerade 
damit beschäftigt ist, ein Ei zu verzehren, Sir, und daß er sich, 
wenn es Ihnen beliebt, zu einer weniger störenden Zeit zu 
erscheinen, freuen würde, Sie zu empfangen.‹ 

Diese Botschaft ließ er mir von einem Domestiken 

übermitteln! Ich darf vielleicht noch hinzufügen, daß ich 
hergekommen bin, um die zwanzigtausend Pfund einzutreiben, 
die er uns noch schuldet.« 

Ich stieß einen Pfiff aus. 

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»Zahlt er nicht?« 
»Aber sicher, in dieser Beziehung ist er völlig in Ordnung. 

Ich muß dem alten Gorilla sogar bestätigen, daß er eine 
ziemlich großzügige Zahlungsart praktiziert. Aber er zahlt 
eben nur, wenn und wie er Lust dazu hat und schert sich dabei 
um niemanden. Aber vielleicht gehst du jetzt besser hinein, 
versuchst dein Glück und findest selber heraus, wie er dir 
gefällt.« Damit schwang er sich hinter das Steuer und fuhr 
davon. 

Hin und wieder einen Blick auf meine Uhr werfend, wartete 

ich darauf, daß sich die richtige Zeit einstellte. Ich bin, wenn 
ich das einmal anmerken darf, ein ziemlich stämmiges 
Individuum und außerdem Anwärter auf die 
Mittelgewichtsklasse im Belsize-Boxverein, aber dennoch 
habe ich nie zuvor mit dermaßener Verzagtheit einem 
Gespräch wie diesem entgegengeblickt. Es war keine 
körperliche Furcht, denn ich war davon überzeugt, daß ich mir 
diesen seltsamen Irren, sollte er mich angreifen, durchaus vom 
Halse halten konnte. Was sich an Gefühlen in mir die Waage 
hielt, war eher die Furcht vor einem öffentlichen Skandal und 
die Möglichkeit, einen  lukrativen Auftrag zu verlieren. Die 
Dinge sind allerdings leichter zu verkraften, wenn man die 
Phantasie außer acht läßt und zur Aktion schreitet. Deswegen 
schloß ich den Deckel meiner Uhr und begab mich zur Tür. 

Sie wurde von einem alten, holzgesichtigen Butler geöffnet, 

dessen Gesichtsausdruck so leer war, daß er in mir den 
Eindruck hervorrief, an jeden Schock der Welt gewöhnt zu 
sein und von nichts mehr überrascht werden zu können. 

»Sie haben eine Verabredung, Sir?« fragte er. 
»Gewiß.« 
Er warf einen Blick auf die Liste, die er in der Hand hielt. 
»Ihr Name, Sir? Aber gewiß… Mr. Peerless Jones… Um 

zehn Uhr dreißig. Es ist alles in Ordnung. Wir müssen etwas 

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vorsichtig sein, Mr. Jones, weil wir ständig von Journalisten 
belästigt werden. Der Herr Professor hält, wie Sie vielleicht 
wissen, nicht sonderlich viel von der Presse. Hierher, Sir. 
Professor Challenger wird Sie gleich empfangen.« 

Und schon im nächsten Moment fand ich mich in seiner 

Gegenwart wieder. Da ich glaube, daß mein Freund Ted 
Malone ihn in seinem Buch  Die vergessene Welt  besser 
beschrieben hat, als ich dies je zu tun vermag, will ich es auch 
dabei belassen. Alles, was ich sah, war ein Riesenkerl von 
einem Mann, der hinter einem Mahagonischreibtisch saß, 
einen großen spatenförmigen Bart hatte und zwei große, graue 
Augen sein eigen nannte, die zur Hälfte mit schweren Lidern 
bedeckt waren. Sein großer Schädel fuhr zurück, sein Bart 
sträubte sich nach vorn, und seine ganze Erscheinung war eine 
einzige Impression arroganter Intoleranz. 

»Was, zum Teufel, wollen denn Sie hier?« stand deutlich auf 

seiner Stirn geschrieben. Ich legte meine Karte auf den Tisch. 

»Ach ja«, sagte er, nahm die Karte an sich und hielt sie so 

zwischen den Fingern, als ginge von ihr ein übler Geruch aus. 
»Natürlich. Sie sind der Experte – der sogenannte. Mr. Jones – 
Mr. Peerless Jones.  Danken Sie Ihrem Taufpaten, Mr. Jones, 
denn es war Ihre drollige Namensvorsilbe, die mich auf Sie 
aufmerksam machte.« 

»Ich bin wegen eines geschäftlichen Gesprächs zu Ihnen 

gekommen, Professor Challenger«, sagte ich mit aller Würde, 
zu der ich fähig war, »aber nicht, um mit Ihnen über meinen 
Vornamen zu diskutieren.« 

»Herrjeh, Sie scheinen aber wirklich empfindlich zu sein, Mr. 

Jones. Mit Ihren Nerven sieht es wohl nicht zum Besten aus? 
Ich werde also, um mit Ihnen Einigkeit zu erzielen, ganz 
langsam vorgehen. Ich habe übrigens Ihre kleine Broschüre 
über die Landgewinnung auf der Sinai-Halbinsel gelesen, Mr. 
Jones. Haben Sie sie selbst verfaßt?« 

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»Aber natürlich, Sir. Immerhin trägt sie meinen Namen.« 
»Aber gewiß, aber gewiß. Aber deswegen muß es doch nicht 

stimmen, oder? Wie dem auch sei, ich bin bereit, Ihre 
Behauptung zu akzeptieren. Das Büchlein ist nicht ganz ohne 
Wert. Unter dem langatmigen Stil verbirgt sich tatsächlich hin 
und wieder eine brauchbare Idee, Ab und zu entdeckt man 
sogar den Ansatz eines Gedankens. Sind Sie verheiratet?« 

»Nein, Sir, das bin ich nicht.« 
»Dann besteht vielleicht die Chance, daß Sie ein Geheimnis 

für sich behalten können.« 

»Wenn ich ein Versprechen gebe, pflege ich es auch zu 

halten.« 

»Was Sie nicht sagen. Mein junger Freund Malone«,  – 

Challenger drückte sich aus, als sei Ted erst zehn Jahre alt  – 
»hat eine gute Meinung von Ihnen. Er sagt, ich könne Ihnen 
vertrauen. Das Vertrauen, daß ich in Sie setze, ist sehr groß, 
denn ich bin momentan mit einem der größten Experimente 
aller Zeiten beschäftigt – ich möchte sogar sagen, daß es sich 
um  das  größte Experiment aller Zeiten handelt. Ich bitte Sie, 
daran teilzunehmen.« 

»Ich würde mich geehrt fühlen.« 
»Es ist in der Tat eine Ehre. Ich muß gestehen, daß ich 

niemandem einen Einblick in meine Arbeit gestattet hätte, 
wenn die gewaltige Größe dieses Unternehmens nicht 
geradezu nach den modernsten technischen Errungenschaften 
schreien würde. Und nun, Mr. Jones, nachdem Sie mir das 
Versprechen gegeben haben, das Geheimnis unter allen 
Umständen zu wahren, komme ich zum Kern der Sache: Hier 
ist er: Die Welt, auf der wir leben, ist ein mit einem Kreislauf, 
einer Respiration und einem eigenen Nervensystem 
ausgestatteter lebendiger Organismus.« 

Ganz klar: Der Mann war ein Irrer. 

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»Ich nehme an«, fuhr Professor Challenger fort, »daß sich Ihr 

Gehirn weigert, diese Tatsache anzuerkennen. Es wird sich 
aber an diesen Gedanken gewöhnen. Ihnen ist doch sicher 
schon aufgefallen, wie stark ein Mohr oder ein Heide einem 
haarigen Tier ähnelt. Eine bestimmte Analogie durchläuft die 
gesamte Natur. Des weiteren werden Sie zur Kenntnis 
genommen haben, daß es hier und da zu Landverschiebungen 
kommt, was eine langsame Respiration dieser Kreatur 
voraussetzt. Schließlich und endlich werden Sie auch Kenntnis 
von dem Gezappel und Gezucke erhalten haben, das unserem 
zwergenhaften Wahrnehmungssinn wie ein Erdbeben 
erscheint.« 

»Und was ist mit den Vulkanen?« fragte ich. 
»Dz, dz! Sie entsprechen natürlich den Hitzepöckchen eines 

menschlichen Körpers.« 

Als ich den Versuch unternahm, Antworten auf diese 

monströsen Enthüllungen zu finden, wurde ich von Schwindel 
erfaßt. 

»Die Temperatur!« rief ich aus. »Ist es nicht eine Tatsache, 

daß sie, wenn man in die Erde hinabsteigt, immer mehr 
zunimmt und am Erdmittelpunkt aus flüssiger Lava besteht?« 

Er wischte meinen Einwand beiseite. 
»Auch Ihnen, Sir, müßte, seit man in diesem Lande 

Volksschulen betreibt, bekannt geworden sein, daß die Erde an 
den Polen abgeflacht ist. Dies bedeutet, daß die Pole dem 
Erdmittelpunkt näher sind als jeder andere Punkt und 
deswegen aufgrund der Hitze, von der Sie sprachen, höchst 
unangenehm berührt werden. Es ist ja auch überall bekannt, 
daß die Lebensbedingungen  an den Polen geradezu tropisch 
sind, nicht wahr?« 

»Die ganze Idee ist absolut neu für mich.« 
»Natürlich ist sie das, Es ist das Privileg des originellen 

Denkers, Ideen zu entwickeln, die neu und deswegen in der 

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Regel beim Pöbel unwillkommen sind. Und was, Sir, glauben 
Sie, ist dies?« 

Er hielt einen kleinen Gegenstand hoch, den er vom Tisch 

aufgenommen hatte. 

»Ich würde sagen, es ist ein Seeigel.« 
»Vortrefflich!« sagte er in einem dermaßen übertriebenen 

Tonfall, daß ich mir vorkam wie ein Kleinkind, dem es zum 
erstenmal im Leben gelungen war, etwas Bedeutendes zu tun. 
»Es ist ein Seeigel  – ein gewöhnlicher Echinus. Die Natur 
wiederholt sich in vielen Formen, ungeachtet der Größe. 
Dieser Echinus ist ein Modell, ein Prototyp der Welt. Sie 
werden erkennen, daß er nur im Groben kreisförmig und an 
den Polen abgeflacht ist. Sehen wir die Welt also als einen 
Echinus. Welche Einwände haben Sie?« 

Mein Haupteinwand bestand darin, daß ich diesen 

lächerlichen kleinen Seeigel als Argument nicht gelten lassen 
wollte, aber ich hütete mich, das zu sagen. Statt dessen suchte 
ich verzweifelt nach einer weitergehenden Erklärung. 

»Eine lebendige Kreatur braucht Nahrung«, sagte ich. »Wie 

erklären Sie sich den Leibesumfang der Erde?« 

»Ein exzellenter Einwand, wirklich überragend!« sagte der 

Professor in einem großmütigen Anflug von Väterlichkeit. 
»Sie haben ein flinkes Auge für das Offensichtliche, aber dafür 
entgehen Ihnen die etwas subtileren Implikationen. Wie also 
kommt die Welt zu ihrer Nahrung! Wenden wir uns nochmals 
unserem kleinen Freund Echinus zu. Das Wasser, in dem er 
lebt, fließt durch seine Adern und versorgt ihn mit Nahrung.« 

»Dann glauben Sie, daß das Wasser…« 
»Nein, Sir, die Luft. Die Erde bewegt sich auf einem 

kreisförmigen Pfad durch den Weltenraum, und während sie 
sich bewegt, ist sie ununterbrochen von Luft umgeben, die sie 
mit Lebenskraft versorgt. Eine ganze Reihe anderer Welten-

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Echini tut das gleiche: Venus, Mars und der Rest. Jeder von 
ihnen verfügt über eine eigene Weide, die er abgrasen kann.« 

Der Mann war offensichtlich übergeschnappt, aber ich wollte 

mich mit ihm auf keinen Streit einlassen. Da er mein 
Schweigen offenbar für Zustimmung hielt, lächelte er mich in 
der denkbar liebenswürdigsten Weise an. 

»Wir kommen, glaube ich, langsam voran«, sagte er. »Es 

wird allmählich heller in Ihrem Kopf. All das ist für den 
Anfang zweifellos ein wenig verwirrend, aber bald werden wir 
uns daran gewöhnen. Schenken Sie mir bitte Ihre 
Aufmerksamkeit, denn ich habe noch eine oder zwei weitere 
Beobachtungen gemacht, die dieses kleine Geschöpf auf 
meiner Hand betreffen. 

Angenommen, auf dieser harten Außenhaut würde es von 

einer großen Zahl krabbelnder Insekten wimmeln. Würde sich 
der Echinus ihrer Gegenwart überhaupt bewußt werden?« 

»Ich würde sagen, nein.« 
»Dann können Sie sich auch sicher gut vorstellen, daß auch 

die Erde nicht im geringsten weiß, daß sie von der 
menschlichen Rasse nutzbar gemacht worden ist. Sie ist sich 
der Tatsache, daß sie mit Vegetation bedeckt ist und sich auf 
ihr mikroskopisch kleine Lebewesen entwickelt haben, die sie 
während ihrer Reise um die Sonne wie ein Schiff, an dessen 
Rumpf sich Muscheln festsetzen, trägt, gar nicht bewußt. Dies 
ist der gegenwärtige Zustand, den zu ändern ich mich 
entschlossen habe.« 

Ich starre ihn verdutzt an. 
»Sie haben vor, diesen Zustand zu verändern?« 
»Ich habe vor, die Erde wissen zu lassen, daß es zumindest 

einen Menschen gibt – nämlich Georg Edward Challenger  –, 
der ihre Aufmerksamkeit erheischt – der sie sogar verlangt. Es 
ist bestimmt die erste Annäherung dieser Art, die ihr zuteil 
wird.« 

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»Und wie, Sir, wollen Sie das erreichen?« 
»Ah, und jetzt kommen wir wieder zum geschäftlichen Teil. 

Sie sind genau auf den Punkt gekommen. Ich möchte erneut 
Ihre Aufmerksamkeit auf diese interessante kleine Kreatur 
richten, die ich in der Hand halte. Unter ihrer Schutzhaut 
besteht sie ausschließlich aus Nerven und Empfindungen. 
Wenn eine parasitäre Mikrobe auf sich aufmerksam machen 
wollte, wäre es dann nicht am naheliegendsten, sie ginge in der 
Form vor, daß sie ein Loch in die Haut bohren und so das 
Nervensystem berühren würde?« 

»Gewiß.« 
»Oder… Wenden wir uns dem Beispiel einer heimatlosen 

Fliege oder eines Moskitos zu, der die Oberfläche eines 
menschlichen Körpers erforscht. Es ist möglich, daß wir seine 
Gegenwart nicht sofort bemerken. Aber plötzlich, wenn er 
seinen Rüssel in unsere Haut bohrt  – die ja in gewisser 
Beziehung auch eine Schale ist –, werden wir schlagartig daran 
erinnert, daß wir nicht allein sind. Meine Pläne dürften Ihnen 
nun kein Geheimnis mehr sein. Jetzt sehen Sie alles in 
strahlend hellem Licht.« 

»Gütiger Himmel! Sie haben vor, ein Loch durch die 

Erdkruste zu bohren?« 

Mit unglaublicher Selbstgefälligkeit schloß Professor 

Challenger die Augen. »Vor sich«, sagte er, »sehen Sie den 
ersten Menschen, der diese harte Haut je durchdringen wird. 
Ich könnte es sogar in der vollendeten Vergangenheit 
ausdrücken und sagen: der sie durchdrungen hat.« 

»Sie haben es schon getan?« 
»Mit der äußerst wirkungsvollen Hilfe der Firma Morden & 

Co. sollte man vielleicht hinzufügen. Mehrere Jahre harter 
Arbeit bei Tag und Nacht und unter Ausnutzung aller 
möglichen technischen Errungenschaften haben uns endlich an 
unser Ziel gebracht.« 

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»Sie wollen doch nicht etwa sagen, daß Sie die Erdkruste 

durchbohrt haben?« 

»Wenn Ihre Rede Verwirrung signalisieren soll, bin ich 

bereit, sie hinzunehmen; sollte sie jedoch Unglauben…« 

»Nein, Sir, nichts dergleichen.« 
»Dann nehmen Sie meine Feststellung gefälligst ohne 

Widerspruch hin: Wir haben die Kruste durchbohrt. Sie war 
ganze vierzehntausendvierhundertundzweiundvierzig Yards 
dick  – oder knapp acht Meilen. Es wird Sie vielleicht 
interessieren, daß wir während der Bohrarbeiten auf ein 
Kohleflöz gestoßen sind, das möglicherweise auf lange Sicht 
die Kosten des  Unternehmens wieder hereinbringen wird. 
Unser Hauptproblem waren die vielen Quellen in den tieferen 
Kalk- und Hastingsandablagerungen, aber auch die gelang es 
uns zu überwinden. Nun haben wir das letzte Stadium erreicht 
– und dies erfordert niemand anderen als Mr. Peerless Jones. 
Sie, Sir, werden der Moskito sein, während Ihr artesischer 
Bohrer die Stelle des Stachels einnimmt. Der Geist hat sein 
Werk getan. Nun ist die Mechanik an der Reihe; der 
unvergleichliche Mr. Jones mit seinem metallenen Stachel. 
Können Sie mir folgen?« 

»Aber acht Meilen!« rief ich aus. »Sind Sie sich darüber im 

klaren, Sir, daß das Limit für artesische Bohrungen bei 
fünftausend Fuß liegt? Sicher, in Oberschlesien hat man 
einmal auch bei sechstausendzweihundert Fuß Erfolg gehabt, 
aber das war ein Einzelfall und wird noch heute als Wunder 
angesehen.« 

»Sie mißverstehen mich, Mr. Peerless. Entweder ist mit 

meinen Erklärungen etwas nicht in Ordnung oder mit Ihrem 
Gehirn; aber ich will jetzt nicht noch mehr Zeit vergeuden, um 
diese Frage eingehend zu klären. Ich bin mir natürlich sehr 
wohl der Tatsache bewußt, daß artesische Bohrungen 
Begrenzungen unterliegen. Ich hätte aber wohl kaum mehrere 

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Millionen Pfund ausgegeben, um einen kolossalen Tunnel zu 
graben, wenn eine Sechs-Zoll-Bohrung meine Bedürfnisse 
erfüllt hätte. Ich bitte Sie lediglich darum, einen Bohrer 
bereitzuhalten, der so spitz wie möglich ist, von einem 
Elektromotor angetrieben wird und nicht mehr als hundert Fuß 
mißt. Ein gewöhnlicher Schlagbohrer mit einem ausreichenden 
Gewicht dürfte alle Anforderungen erfüllen.« 

»Warum ein Elektromotor?« 
»Meine Aufgabe besteht darin, Mr. Jones, Anweisungen zu 

geben, nicht Begründungen. Wenn wir zum Angriff blasen, 
könnte es sein – es könnte sein, sage ich –, daß nicht weniger 
als Ihr Leben davon abhängt, daß der Bohrer aus einer 
gewissen Entfernung elektrisch bedient wird. Ich nehme an, 
daß sich das bewerkstelligen läßt?« 

»Aber gewiß.« 
»Dann bereiten Sie sich darauf vor, genau dies zu tun. Die 

Angelegenheit ist noch nicht weit genug entwickelt, um Ihre 
persönliche Anwesenheit jetzt schon erforderlich zu machen, 
aber vorbereiten können Sie sich schon einmal… Mehr habe 
ich im Moment dazu nicht zu sagen.« 

»Es ist aber von allergrößter Wichtigkeit«, erklärte ich, »daß 

Sie mich wissen lassen, was der Bohrer durchdringen soll. 
Sand? Lehm? Kalk? Jede dieser Schichten würde eine andere 
Behandlung verlangen.« 

»Nehmen wir an, es handelt sich um Sülze«, sagte 

Challenger. »Ja, lassen wir uns für den Moment annehmen, Sie 
würden Sülze durchbohren. Und jetzt, Mr. Jones, harren 
Angelegenheiten von großer Wichtigkeit meiner 
Aufmerksamkeit; deswegen muß ich Ihnen einen Guten 
Morgen wünschen. Den Arbeitsvertrag, in den Sie auch Ihr 
Honorar eintragen, können Sie bei meinem Betriebsleiter 
unterzeichnen.« 

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Ich verbeugte mich und wandte mich um, aber bevor ich die 

Tür erreichte, siegte wieder meine Neugier. Professor 
Challenger kritzelte mit einem Federkiel über ein Blatt Papier 
und sah mich ob der Unterbrechung mißbilligend an. 

»Ist noch etwas, Sir? Ich hatte gehofft, Sie seien bereits 

gegangen.« 

»Ich wollte Sie nur noch fragen, Sir, welcher Anlaß ein solch 

außergewöhnliches Experiment rechtfertigen könnte.« 

»Hinaus, Sir, hinaus!« rief er ärgerlich. »Vergessen Sie die 

rein kaufmännischen Aspekte und das rein kommerzielle 
Nützlichkeitsdenken Ihres Bewußtseins! Entledigen Sie sich 
Ihres schnöden Geschäftsmannsgeistes! Die Wissenschaft 
sucht nach dem Wissen. Selbst wenn wir alles erfahren haben, 
was wir wissen wollen  – wir werden ewig weitersuchen. 
Endlich einmal zu wissen, was wir sind, warum wir sind und 
wo wir sind  – ist das nicht der Sinn allen menschlichen 
Strebens? Hinaus, Sir, hinaus!« 

Sein gewaltiger, dunkelhaariger Schädel beugte sich erneut 

über die Papiere, und sein Gesicht verschwand vollends hinter 
dem Bart. Der Federkiel kratzte schriller als zuvor. Mit dem 
schwindelerregenden Gedanken, daß ich nun doch sein Partner 
geworden war, verließ ich diesen sonderbaren Mann. 

Als ich in mein Büro zurückkehrte, fand ich dort Ted Malone 

vor, der in Erwartung des Resultats meiner Unterredung breit 
grinste. 

»Oha!« rief er aus. »Du lebst noch? Er hat dich weder 

angefallen noch sonst irgendwie bedroht? Du mußt ihn ja 
ziemlich taktvoll behandelt haben. Nun, was hältst du von dem 
alten Knaben?« 

»Er ist der widerlichste, unverschämteste, intoleranteste, 

eingebildetste Mensch, der mir je begegnet ist, aber…« 

»Siehst du?« rief Malone aus. »Wir alle haben schließlich mit 

diesem ›Aber‹ geendet. Natürlich ist er alles, was du sagst. Er 

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ist sogar noch eine Menge mehr, aber trotzdem fühlt man, daß 
man einen Mann wie ihn nicht anhand der üblichen Standards 
messen darf. Was man von einem Sterblichen nicht ertragen 
würde, bei ihm nimmt man es hin, stimmt’s?« 

»Nun, ich kenne ihn noch nicht gut genug, um das bestätigen 

zu können, aber wenn er kein unhöflicher Größenwahnsinniger 
ist und seine Worte wahr sind, muß man schon zugeben, daß er 
eine Klasse für sich ist. Die Frage ist nur:  Sind  seine Worte 
wahr?« 

»Natürlich sind sie das. Challenger ist immer für eine 

Überraschung gut. Aber welche Stellung nimmst du in dieser 
Angelegenheit nun ein? Hat er dir von Hengist Down erzählt?« 

»Ja, in gewisser Weise schon.« 
»Nun, du kannst nur glauben, daß die ganze Sache etwas 

Kolossales hat. Sie ist sowohl kolossal in der Konzeption wie 
auch in der Durchführung. Obwohl er Presseleute haßt, 
genieße ich sein Vertrauen, weil er genau weiß, daß ich nicht 
mehr veröffentliche, als er mir gestattet. Deswegen bin ich 
auch in seine Pläne eingeweiht  – das heißt, zumindest in 
einige. Aber Challenger ist ein dermaßen schlauer Fuchs, daß 
man sich nie sicher sein kann, ob man ihnen auch vollends auf 
den Grund gekommen ist. Ich weiß jedenfalls genug, um dir 
versichern zu können, daß Hengist Down eine runde Sache 
darstellt und die Arbeiten dort fast zum Abschluß gekommen 
sind. Ich rate dir, einfach auf das zu warten, was auf dich 
zukommt. Du wirst bald von mir oder von ihm Näheres dazu 
hören.« 

Als es schließlich soweit war, war es Malone, der mich 

informierte. Ein paar Wochen später kam er in aller 
Herrgottsfrühe in mein Büro und übergab mir eine schriftliche 
Nachricht. 

»Ich komme gerade von Challenger«, sagte er. 
»Du kommst mir vor wie der Pilotfisch eines Haies.« 

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»Nun, es erfüllt mich mit Stolz, daß ich ihm etwas bedeute. 

Es ist wirklich ein Wunder. Er hat es geschafft. Jetzt bist du an 
der Reihe; dann wird er bereit sein, den Vorhang beiseite zu 
ziehen.« 

»Obwohl ich es einsehe, fällt es mir noch immer schwer, die 

ganze Sache zu glauben. Auf alle Fälle habe ich aber meine 
Ausrüstung auf den Laster geladen und kann jeden Moment 
aufbrechen.« 

»Dann mach dich sofort auf den Weg. Ich habe dich ihm als 

energiegeladenen und äußerst pünktlichen Menschen 
geschildert, laß mich also nicht hängen. Wir können ja mit der 
Eisenbahn fahren, dann kann ich dich über deine Arbeit besser 
in Szene setzen.« 

Es war ein herrlicher Frühlingsmorgen  – der 22. Mai, um 

genau zu sein –, als wir zu jener schicksalsträchtigen Reise, die 
mich zu einem Schauplatz brachte, dessen Bestimmung es war, 
in die Geschichte einzugehen, aufbrachen. Unterwegs händigte 
mir Malone die schriftliche Notiz Challengers aus, die meine 
Instruktionen enthielt. 
 
Sir,  
(hieß es da)  nachdem Sie Hengist Down erreicht haben, 
werden Sie sich bei Mr. Barforth, dem Chefingenieur, melden, 
der über meine Pläne informiert ist Mein  junger Freund 
Malone, der Ihnen diese Nachricht überbracht hat, steht 
ebenfalls mit mir in Verbindung und wird mich vor jeder 
persönlichen Kontaktaufnahme abschirmen. Wir sind 
unterhalb der 14000-Fuß-Grenze auf ein Phänomen gestoßen, 
das meine Ansichten über die Natur des planetaren Körpers 
voll bestätigt, aber es bedarf noch einiger sorgfältiger 
Untersuchungen, bevor ich darauf hoffen darf, die träge 
Intelligenz der modernen wissenschaftlichen Welt zu 
beeindrucken. Es obliegt  Ihnen, die Untersuchungen 
vorzunehmen und die  Wissenschaft zum Zeugen unseres 

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Unternehmens werden zu lassen. Wenn Sie mit dem Aufzug in 
die Grube einfahren, werden Sie beobachten – vorausgesetzt, 
die seltene Gabe der Beobachtung ist Ihnen zu eigen – daß Sie 
während des Abstiegs an allerlei Kalkschichten, Kohlenflözen, 
einigen devonischen und kambrischen Überbleibseln und 
Granitablagerungen vorbeikommen, die sich über den größten 
Teil des Schachtes erstrecken. Was den Boden der Grube 
angeht, so ist er mit einer Persenning bedeckt, die ich Ihnen 
nicht zu betreten rate, da  jede sorglose Behandlung des 
darunter befindlichen Erdoberhäutchens möglicherweise eine 
vorschnelle Reaktion hervorrufen würde. Man hat nach meinen 
Anweisungen zwanzig Fuß über dem Grubenboden  zwei 
Balken angebracht, die durch einen Zwischenraum 
voneinander getrennt sind. Dieser Zwischenraum soll dazu 
dienen, Ihren artesischen Bohrer wie eine Klammer 
festzuhalten. Fünfzig Fuß Bohrlänge dürften ausreichen; Sie 
sollten den Bohrer so ausrichten, daß  er  von den Balken aus 
zwanzig Fuß tief auf die Persenning zielt. Wenn Ihnen das 
heben lieb ist, achten Sie darauf, daß er nicht tiefer geht. Wenn 
dreißig Fuß der Bohrnadel in den Schacht hinaufragen und Sie 
den Bohrer aktivieren, können wir davon ausgehen, daß er 
sich nicht weniger als vierzig Fuß tief  in die Erdsubstanz 
hineinbohrt. Da diese Substanz gehr weich ist, nehme ich an, 
daß Sie nicht einmal Antriebsenergie benötigen werden, 
sondern ein einfaches Ausklinken der Nadel dazu führt, daß sie 
sich  – angetrieben von ihrem Eigengewicht  – in  jene  Stelle 
bohrt, die wir ausgegraben haben. Diese Anweisungen dürften 
an sich  für  jede normalbegabte Intelligenz ausreichend sein, 
weswegen ich kaum daran zweifle, daß Sie noch mehr 
benötigen. Andernfalls lassen Sie mich dies bitte durch 
unseren jungen Freund Mahne wissen.
 

GEORGE EDWARD CHALLENGER 

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Man kann sich sicher vorstellen, daß ich mich in einem 
Zustand äußerster nervlicher Anspannung befand, als wir den 
am nördlichen Fuß der Südhänge gelegenen Bahnhof 
Storrington erreichten. Eine von Wind und Wetter 
mitgenommene Vauxhall 30 Landaulette erwartete uns und 
brachte uns sechs oder sieben Meilen weit über Landstraßen 
und Trampelwege, die trotz ihrer Abgeschiedenheit tief 
ausgefahren waren und alle Anzeichen schwerer Benutzung 
aufwiesen, unserem Ziel entgegen.  Ein zerbrochenes 
Lastfahrzeug, das am Wegesrand lag, deutete an, daß es 
anderen nicht unbedingt besser ergangen war als uns. Einmal 
entdeckte ich Teile einer Maschine, die mich an die Ventile 
und Kolben einer hydraulischen Pumpe erinnerten. Sie waren 
rostig und ragten aus einem Gewirr von Stechginster hervor. 

»Das war Challengers Werk«, sagte Malone grinsend. »Er 

sagte, die Konstruktion wiche um ein Zehntel von seinen 
Zeichnungen ab. Deswegen hat er sie in den Straßengraben 
geworfen.« 

»Und den Hersteller verklagt, nehme ich an.« 
»Verklagt? Mein lieber Freund, wir könnten über einen 

eigenen Gerichtshof verfügen. Wir führen so viele Prozesse, 
daß wir einen Richter für ein ganzes Jahr mit Arbeit versorgen 
könnten – einschließlich die Regierung. Der alte Teufel  schert 
sich um niemanden. Rex gegen George Challenger, George 
Challenger gegen Rex. Die beiden führen von einem 
Gerichtshof zum anderen einen hübschen Teufelstanz auf. Ah, 
jetzt sind wir da. Lassen Sie uns herein, Jenkins!« 

Ein breitschultriger Mann mit einem ansehnlichen 

Blumenkohlohr sah in den Wagen hinein. Sein ganzes Gesicht 
drückte Mißtrauen aus. Als er meinen Begleiter erkannte, 
entspannte er sich und salutierte. 

»In Ordnung, Mr. Malone. Ich dachte schon, es seien wieder 

diese Reporter von der Associated Press.« 

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»Oh, treiben die sich tatsächlich schon wieder hier herum?« 
»Heute die und gestern die von der Times. Oh, sie schwirren 

unablässig hier herum. Sehen Sie mal.« Er deutete auf einen 
entfernten Punkt am Horizont. »Sehen Sie das Funkeln? Das 
ist das Fernrohr der  Chicago Daily News.  Ja, sie sind ganz 
hübsch hinter uns her. Ich habe sie in Massen gesehen; sie sind 
wie ein Krähenschwarm an der Umzäunung 
entlanggeschlichen.« 

»Die arme Pressemeute!« sagte Malone, als wir  das Tor 

durchquerten und den Stacheldrahtzaun hinter uns ließen. »Ich 
kann sie ja so gut verstehen, schließlich gehöre ich ja selbst 
dazu.« 

In diesem Augenblick ertönte hinter uns ein klägliches 

Blöken. 

»Malone! Ted Malone!« Der Schrei wurde von einem fetten 

kleinen Mann ausgestoßen, der gerade mit einem Motorrad 
angekommen war und nun im Griff des herkulischen 
Torwächters zappelte. 

»Lassen Sie mich los!« stieß er hervor. »Nehmen Sie die 

Hände weg! Malone, rufen Sie Ihren Gorilla zurück!« 

»Lassen Sie ihn los, Jenkins, er ist ein Freund von mir«, rief 

Malone. »Nun, alter Junge, was hast du auf dem Herzen? 
Hinter was bist du in dieser Gegend her? Normalerweise ist 
doch die Fleet Street dein Jagdrevier  – und nicht die Wildnis 
von Sussex.« 

»Du weißt ganz genau,  wohinter ich her bin«, sagte unser 

Besucher. »Ich habe Anweisung, eine Story über Hengist 
Down zu schreiben. Ohne den Text kann ich mich zu Hause 
nicht mehr sehen lassen.« 

»Tut mir leid, Roy, aber hier wirst du zu keiner Story 

kommen. Du wirst auf der anderen Seite des Stacheldrahts 
bleiben müssen. Wenn du mehr willst, mußt du dich schon zu 

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Professor Challenger bemühen und ihn um seinen Segen 
bitten.« 

»Da bin ich ja schon gewesen«, sagte der Journalist grimmig. 

»Und zwar heute morgen.« 

»Na, und was hat er gesagt?« 
»Er sagte, er würde mich aus dem Fenster werfen.« 
Malone lachte. 
»Und was hast du darauf erwidert?« 
»Ich fragte ihn, ob mit seiner Tür etwas nicht in Ordnung sei 

und benutzte sie zum Hinausgehen, um ihm zu zeigen, daß sie 
wirklich völlig in Ordnung ist. Es war einfach nicht die 
richtige Zeit für eine Auseinandersetzung. Ich bin einfach 
abgehauen. Wenn ich so an diesen bärtigen assyrischen Bullen 
in London und diesen Meuchler hier, der meinen Film ruiniert 
hat, denke, muß ich schon sagen, daß du dich in ziemlich 
seltsamer Gesellschaft aufhältst, Malone.« 

»Ich kann dir nicht helfen, Roy, so gern ich es auch täte. In 

der Fleet Street sagt man, du seist noch niemals zum Aufgeben 
zu bewegen gewesen, aber diesmal wirst du den Kürzeren 
ziehen. Geh in dein Büro zurück. Wenn du ein paar Tage 
wartest, gebe ich dir, sobald der Alte es erlaubt, eine 
Nachricht.« 

»Keine Chance, so reinzukommen?« 
»Keine jedenfalls von dieser Welt.« 
»Geld ist keine Frage?« 
»Du solltest mich besser kennen.« 
»Man sagt, man arbeitet hier an einer Abkürzung nach 

Neuseeland.« 

»Es wird sich als Abkürzung ins Krankenhaus erweisen, 

wenn du hier eindringst, Roy. Aber jetzt auf Wiedersehen. Wir 
haben noch einiges zu erledigen.« 

Als wir das Lager durchschritten, sagte Malone:  »Das war 

Roy Perkins, der Kriegsberichterstatter. Wir haben seinen 

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Rekord gebrochen, denn bisher hat man ihn für unschlagbar 
gehalten. Es liegt an seinem kleinen, fetten, unschuldigen 
Gesicht, daß er überall hereinkommt. Wir waren mal in der 
gleichen Redaktion.« Er deutete auf eine Ansammlung recht 
ansehnlicher, rotbedachter Bungalows. »Das hier sind die 
Unterkünfte der Arbeiter. Es handelt sich um ausgewählte 
Prachtexemplare, die weit über dem Durchschnitt bezahlt 
werden, und sie sind ausnahmslos Junggesellen und 
Abstinenzler. Challenger hat sie auf sich eingeschworen, und 
ich glaube nicht, daß es bisher eine undichte Stelle gegeben 
hat. Dieses Feld da ist ihr Fußballplatz, und in dem 
freistehenden Gebäude dort befindet sich ihre Bibliothek nebst 
einem Entspannungsraum. Der Alte ist ein guter Organisator, 
das kann ich dir versichern. Und dies ist Mr. Barforth, der 
leitende Chefingenieur.« 

Ein langer, dünner melancholisch blickender Mann, in dessen 

Gesicht sich tiefe, von Besorgnis zeugende Linien eingegraben 
hatten, kam auf uns zu. 

»Ich nehme an, Sie sind der Bohrspezialist«, sagte er mit 

dunkler Stimme. »Ich habe den Auftrag, Sie in Empfang zu 
nehmen. Ich freue mich sehr, daß Sie gekommen sind, denn 
ich muß Ihnen offen gestehen, daß die Verpflichtungen, die ich 
übernommen habe, allmählich an meinen Nerven zerren. Wir 
arbeiten rund um die Uhr, aber ich weiß nie, ob das nächste, 
worauf wir stoßen, Grundwasser, ein Kohleflöz, eine 
Erdölquelle oder das Höllenfeuer ist. Das Letztere ist uns zwar 
bisher erspart geblieben, aber nach allem, was ich weiß, sind 
Sie sicher der richtige Mann, um die entsprechende 
Verbindung dazu herzustellen.« 

»Ist es so heiß dort unten?« 
»Nun, das kann man wohl sagen. Jedenfalls wird es niemand 

abstreiten. Zum Glück ist es nicht heißer, als der barometrische 
Druck und der enge Raum es zuläßt. Die Ventilation ist 

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natürlich abscheulich. Wir pumpen zwar Luft nach unten, aber 
die Männer können nie länger als zwei Stunden arbeiten. Und 
das, obwohl sie ihr Bestes geben. Der Professor ist gestern 
unten gewesen und war mit allem sehr zufrieden. Vielleicht ist 
es am besten, Sie essen mit uns erst einmal zu Mittag. 
Anschließend können Sie sich alles selbst ansehen.« 

Nach einem eilig eingenommenen schlichten Mahl erklärte 

man uns mit liebenswürdiger Gefälligkeit die Funktionsweise 
des Maschinenhauses und machte uns mit den verschiedenen, 
aus ausrangierten Gerätschaften bestehenden Schrotthaufen 
bekannt, die einen Teil des Graslandes bedeckten. Ich sah eine 
große, demontierte Arrol-Hydraulikschaufel, die für die ersten 
Grabungen zu Hilfe genommen worden war. Daneben stand 
eine Maschine, die ein fortlaufendes Stahlseil antrieb, an der 
wiederum Loren befestigt waren, die – auf Plattformen stehend 
– den Erdaushub vom Boden der Grube hinaufbeförderten. In 
der Kraftstation stießen wir auf einige Escher-Wyss-Turbinen, 
die pro Minute einhundertvierzig Umdrehungen machten und 
hydraulische Akkumulatoren steuerten, die pro Quadratzoll 
einen Druck von eintausendvierhundert Pfund entwickelten, 
der durch Drei-Zoll-Röhren in den Schacht geleitet wurde, und 
vier Gesteinsbohrer mit Hohlschneidern vom Typ Brandt 
betrieben. Neben dem Maschinenhaus befand sich ein kleines 
Elektrizitätswerk, das den Strom für das ausgedehnte Lichtnetz 
erzeugte, und direkt daneben stand eine 200 PS starke 
Extraturbine, die einen Zehn-Fuß-Ventilator antrieb, der 
wiederum Luft durch eine Zwölf-Zoll-Röhre auf den Grund 
des Schachtes hinab pumpte. Alle diese Wunder wurden uns – 
versehen mit vielen technischen Erläuterungen  – von einem 
stolzen Techniker nahegebracht, der sich die gleiche Mühe 
gab, mich vor Langeweile einschlafen zu lassen, wie ich 
meinen Lesern. Es kam allerdings zu einer hochwillkommenen 
Unterbrechung, als ich das Quietschen von Reifen hörte und 

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erfreut meinen Leyland-Dreitonner über die Wiese hüpfen sah. 
Er war vollgeladen mit Werkzeugen, den Teilen eines 
Rohrsystems, meinem Vorarbeiter Peters und einem grimmig 
wirkenden Helfer, den ich auf dem Beifahrersitz gewahrte. Die 
beiden fingen sofort an, meine Sachen abzuladen und 
wegzutragen.  Sie ihrer Arbeit überlassend, begaben Barforth, 
Malone und ich uns an den Schacht. 

Es war ein wundersamer Ort und sehr viel größer, als ich 

eigentlich erwartet hatte. Man hatte die vielen tausend Tonnen 
Erdaushub hufeisenförmig um die Schachtanlage verteilt und 
so einen großen Hügel geschaffen. Im Mittelpunkt dieses aus 
Kalk, Lehm, Kohle und Granit bestehenden Hufeisens erhoben 
sich die Gestänge eiserner Säulen und die Räder, die die 
Pumpen und Aufzüge in Betrieb hielten. Sie waren mit dem 
Ziegelbau der Kraftstation, der die Lücke der U-förmigen 
Anlage füllte, verbunden. Dahinter lag der offene Abgrund der 
Grube, eine klaffende Höhle, die dreißig bis vierzig Fuß 
durchmaß und an den Rändern mit Zement eingefaßt war. Als 
ich meinen Hals reckte und über den Rand in den 
furchterregenden Abgrund starrte, von dem ich wußte, daß er 
acht Meilen tief war, begann mir beim Gedanken an das, was 
er darstellte, zu schwindeln. Da das Sonnenlicht schräg in das 
Loch fiel, konnte ich noch mehrere hundert Yards unter mir 
schmutzigweiße Kalkwände erblicken, die die Männer dort, 
wo sie ihnen zu brüchig erschienen waren, mit Ziegelsteinen 
verstärkt hatten. Als ich in die Tiefe starrte, konnte ich weit 
unter mir in der Finsternis einen kleinen Lichtpunkt sehen, der 
sich  – so winzig  er auch war  –  klar und deutlich von dem 
tintenschwarzen Hintergrund abhob. 

»Was ist das für ein Licht?« fragte ich. 
Malone beugte sich neben mir über das Geländer. »Ein 

Aufzugkäfig, der heraufkommt«, sagte er. »Ist das nicht 
wundervoll? Er ist weiter als eine Meile von uns entfernt, und 

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das Licht stammt von einer starken Bogenlampe. Er bewegt 
sich schnell und wird in ein paar Minuten hier sein.« 

Ohne Zweifel wurde der Lichtpunkt größer und größer. 

Schließlich erleuchtete er den Schacht mit seiner silbernen 
Helligkeit dermaßen stark, daß ich den Blick abwenden mußte. 
Kurz darauf krachte der eiserne Käfig gegen die Halterung. 
Vier Männer stiegen aus und begaben sich zum Ausgang. 

»Das war’s«, sagte Malone. »Es ist wirklich kein Vergnügen, 

in dieser Tiefe eine zweistündige Schicht durchzustehen. Nun, 
ein Teil deiner Ausrüstung dürfte jetzt soweit sein. Ich glaube, 
es wäre das beste, wenn wir uns vorher ein wenig dort unten 
umsähen. Dann kannst du die Situation gleich richtig 
einschätzen.« 

Das Maschinenhaus, zu dem er mich führte, besaß einen 

Anbau. Dort hingen an einer Wand mehrere leichte 
Grubenanzüge. Malones Beispiel folgend, entledigte ich mich 
meiner Kleidung und zog einen dieser Anzüge sowie ein paar 
gummibesohlter Schuhe an. Malone, der eher fertig war als 
ich, verließ den Umkleideraum. Kurz darauf drang ein Lärm an 
mein Ohr, wie ihn zehn kämpfende Hunde nicht schlimmer 
erzeugen können. Als ich hinauseilte, sah ich meinen Freund 
über den Boden rollend mit einem Arbeiter ringen, der gerade 
damit beschäftigt war, meinen artesischen Bohrer abzuladen. 
Er war verzweifelt bemüht, dem anderen etwas zu entreißen, 
an das dieser sich mit aller Macht klammerte. Aber Malone 
war zu stark für seinen Gegner, er entriß den bewußten 
Gegenstand dessen Griff und trampelte darauf herum, bis er in 
Stücke brach. Erst dann erkannte ich, daß es ein Fotoapparat 
gewesen war. Mein grimmiggesichtiger Handwerker machte 
ein jammervolles Gesicht und stand auf. 

»Verdammt noch mal, Ted Malone!« sagt er. »Das war ein 

nagelneuer Apparat, der mich zehn Guineen gekostet hat!« 

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»Tut mir leid, Roy. Als ich sah, daß du eine Aufnahme 

machtest, konnte ich nicht mehr anders.« 

»Wie zum Henker, ist es Ihnen gelungen, sich unter meine 

Ausrüstung zu schmuggeln?« fragte ich mit berechtigter 
Empörung. 

Der Schurke grinste mich augenzwinkernd an. »Es gibt 

immer Mittel und Wege«, erklärte er. »Aber nehmen Sie die 
Sache Ihrem Vorarbeiter nicht allzu übel. Er hat die ganze 
Angelegenheit für einen Jux gehalten. Ich habe mit seinem 
Beifahrer die Kleider getauscht, und so bin ich eben 
hereingekommen.« 

»Und genau so wirst du auch wieder gehen«, sagte Malone. 

»Es ist sinnlos, Roy, keine Diskussion. Wäre Challenger hier, 
er würde dich den Hunden vorwerfen. Da ich selbst der Presse 
angehöre, will ich noch einmal Gnade vor Recht ergehen 
lassen. Aber ich bin hier nun einmal als Wachhund angestellt, 
und ich kann nicht nur bellen, sondern auch beißen. Und nun 
sieh zu, daß du fortkommst!« 

Und so wurde unser gewitzter Besucher von zwei grinsenden 

Arbeitern aus dem Lager geleitet.  Vielleicht wird das 
Publikum nun verstehen, wie es zu jenem vierspaltigen Artikel 
mit der Überschrift TRAUM EINES VERRÜCKTEN 
WISSENSCHAFTLERS kam, der mit dem Untertitel EINE 
ABKÜRZUNG NACH AUSTRALIEN versehen war, ein paar 
Tage später im  Adviser  erschien, Professor Challenger einem 
Schlaganfall nahebrachte und den Chefredakteur dieser 
Zeitung mit dem unverständlichsten und gefährlichsten Anruf 
seines Lebens konfrontierte. Der Artikel schilderte in 
malerischer Form und ziemlich übertriebener Weise  die 
Abenteuer  »unseres erfahrenen Kriegsberichterstatters« Roy 
Perkins und enthielt einige farbenfrohe Beschreibungen wie 
»dieser struppige Kerl aus Enmore Gardens«, sprach von 
einem »stacheldrahtumzäunten Grundstück, das von 

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Schlägertrupps und Bluthunden  bewacht wird« und besagte 
»Ich wurde von zwei Raufbolden vom Rande des anglo-
australischen Tunnels weggezerrt, wobei der brutalere der 
beiden mir vom Sehen her als Fisch in allen Wässern und 
Randfigur des Journalismus bekannt ist, während der andere, 
eine  bedrohlich wirkende Erscheinung in seltsamer, tropischer 
Tracht, sich als Bohringenieur ausgab, obwohl er aufgrund 
seiner Physiognomie viel eher nach Whitechapel paßt.« 
Nachdem er uns diesermaßen auf die Palme gebracht hatte, 
hatte der Halunke seinen Lesern noch eine sorgfältige 
Beschreibung jener nichtvorhandenen Eisenbahnschienen 
mitgeliefert, die angeblich direkt in die Grube hineinführen 
sollten. Der einzig praktische Effekt, den der Artikel erzeugte, 
war, daß die Scharen der Herumtreiber, die auf den südlichen 
Hügeln saßen und darauf warteten, daß etwas passierte, noch 
größer wurden. Und dann kam es schließlich zu jenem Tag, an 
dem etwas geschah, und sie sich alle sonstwohin wünschten. 

Mein Vorarbeiter und sein falscher Helfer hatten den ganzen 

Platz mit meinen Apparaturen bedeckt, aber obwohl der 
Bohrer, das Gestänge, der Hahnenfuß und das Druckgewicht 
überall verstreut lagen, bestand Malone darauf, es erst einmal 
liegen zu lassen und uns auf den Grund des Schachtes 
hinabzubegeben. Um dieses Ziel zu erreichen, betraten wir den 
mit Eisengitterwänden versehenen Aufzugkäfig und jagten in 
der Gesellschaft des Chefingenieurs in die Erde hinein. Der 
Schacht war mit mehreren Aufzügen ausgestattet, von denen 
jeder über eine eigene Antriebsstation verfügte. Obwohl jeder 
der einzelnen Lifts mit großer Schnelligkeit fuhr, machte ich 
die Erfahrung, daß die Reise eher einer vertikal vonstatten 
gehenden Eisenbahnfahrt glich als dem behutsamen Sinken, 
das man von englischen Aufzügen her kennt. 

Da der Käfig vergittert und hell erleuchtet war, hatten wir, als 

wir die einzelnen Erdschichten passierten, eine klare Sicht, und 

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ich konnte alles genau erkennen. Da waren fahlblasse Kalk-, 
kaffeebraune Hastings- und hellere Ashburnham-Schichten, 
kohlehaltige Lehmablagerungen und schließlich, sichtbar im 
Schein der elektrischen Lampen, unzählige Flöze 
nachtschwarzer, dunkelnder Kohle, die sich hier und da mit 
Lehmschichten abwechselten. An einigen Punkten hatte man 
Ziegel in die Schachtwand gesetzt, aber im großen und ganzen 
trugen  die Wände sich selbst, und man konnte sich vor dem 
technischen Genius, der dieses Wunderwerk vollbracht hatte, 
nur anerkennend verbeugen. Unter den Kohleflözen sah ich 
vermischte Schichten, die wie Zement wirkten, und als wir uns 
durch das Gebiet des reinen Granits bewegten, leuchteten 
überall funkelnde Quarzkristalle, als seien die Wände von 
Diamantenstaub durchzogen. Weiter und weiter fuhren wir in 
die Tiefe hinab  – tiefer als je ein Sterblicher zuvor. Die 
archaischen Felsen variierten wunderbar in ihren  Farben, und 
ich werde niemals den Glanz des breiten Gürtels aus rotem 
Ton vergessen, der im Schein unserer Lampen in überirdischer 
Schönheit erstrahlte. Wir betraten Sohle nach Sohle und Lift 
nach Lift, und die Luft wurde immer drückender, bis uns selbst 
die leichte Kleidung unerträglich wurde. Endlich, als ich schon 
dachte, ich würde es nicht mehr aushalten können, hielt der 
letzte Lift an, und wir betraten eine kreisförmige, in den Fels 
hineingemeißelte Plattform. Als wir ausstiegen, bemerkte ich, 
daß Malone die Schachtwände mit einem mißtrauischen Blick 
bedachte. Wenn ich nicht gewußt hätte, daß er zu den 
Tapfersten gehört  – in diesem Moment hätte ich glauben 
müssen, er sei ausgesprochen ängstlich. 

»Sieht komisch aus«, sagte der Chefingenieur und legte seine 

Hand auf die nächste Felsmassierung. Er hielt sie ans Licht 
und zeigte uns, daß sie mit einem seltsamen schleimigen Sud 
bedeckt war. »Es hat leichte Beben und etwas Bewegung hier 
unten gegeben, aber fragen Sie mich nicht, woran das liegt. 

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Der Professor scheint ziemlich zufrieden zu sein, aber was 
mich, angeht, so habe ich so etwas noch nie gesehen.« 

»Es ist wohl meine Pflicht, dich darauf hinzuweisen, daß die 

Schachtwand sich bewegt hat, als ich das letzte Mal hier unten 
war«, sagte Malone. »Das war, als wir die beiden Balken 
anbrachten, die deinem Bohrer als Halterung dienen sollen. Als 
wir Löcher in den Fels bohrten, um sie zu befestigen, zuckte 
die Wand wie unter einem elektrischen Schlag zusammen. 
Möglicherweise hört sich die Theorie des Alten in London 
absurd an, aber hier, acht Meilen unter der Oberfläche, können 
einem wirklich Zweifel kommen.« 

»Wenn Sie das gesehen hätten, was sich unter der Persenning 

dort befindet, würden Sie noch weniger zweifeln«, sagte der 
Ingenieur. »Die Felswände sind hier unten so weich wie Käse, 
und als wir sie durchstießen, fanden wir eine Substanz, die auf 
der Erde ihresgleichen sucht. ›Deckt es zu! Nicht berühren!‹ 
sagte der Professor. Deswegen auch die Plane. Wir folgten 
seinen Anweisungen und ließen sie hier liegen.« 

»Könnte ich es mir einmal ansehen?« 
Die tieftraurige Miene des Ingenieurs zeigte nun einen 

beinahe furchtsamen Ausdruck. 

»Man sollte dem Professor gegenüber besser keinen 

Ungehorsam zeigen«, sagte er. »Er ist so verdammt gerissen, 
daß man niemals wissen kann, ob er einen nicht einer Prüfung 
aussetzt. Aber ich glaube doch, daß wir kurz einen Blick 
darauf werfen können.« 

Er drehte unsere Hohlspiegellampe so weit herunter, daß das 

Licht auf die schwarze Persenning traf. Dann bückte er sich, 
griff nach einem Seil, das mit einer Ecke der Plane verbunden 
war und legte ein halbes Dutzend Quadratyards der darunter 
liegenden Fläche frei. 

Es war ein höchst ungewöhnlicher und erschreckender 

Anblick, der sich uns bot. Der Gruftboden bestand aus einem 

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gräulichen Material, das wie glasiert glänzte und sich langsam 
pochend senkte und hob. Es war nicht direkt ein Herzschlag, 
aber die Bewegungen, derer ich ansichtig wurde, erzeugten in 
mir den Eindruck eines gleichmäßigen Wogens, und der 
Rhythmus schien über die ganze Fläche zu verlaufen. Sie war 
nicht homogen, denn darunter konnte man wie durch 
Milchglas gesehen – vage, weißliche Flecken oder Hohlräume 
erkennen, deren Umfang und Größe sich fortwährend 
veränderte. Wie gelähmt standen wir da und starrten auf diesen 
außergewöhnlichen Anblick. 

»Es sieht aus wie ein mit Haut bedecktes Tier«, sagte Malone 

mit gedämpfter Stimme. »So unrecht scheint der Alte mit 
seinem verdammten Echinus ja nicht gehabt zu haben.« 

»Guter Gott!« rief ich aus. »Und ich soll dieser Bestie eine 

Harpune in den Leib jagen!« 

»Das ist dein Privileg, mein Sohn«, erwiderte Malone. 

»Und… Es ist traurig, aber wahr: Wenn ich mich nicht 
anderweitig unentbehrlich machen kann, werde ich, wenn es 
soweit ist, an deiner Seite stehen müssen.« 

»Na, ich aber nicht«, sagte der Ingenieur entschieden. »Mir 

ist nie im Leben etwas klarer bewußt gewesen als das. Wenn 
der Alte darauf bestehen sollte, werde ich meinen Hut nehmen. 
Gütiger Gott, sehen Sie sich das an!« 

Die graue Fläche bewegte sich plötzlich sprungartig nach 

oben und wogte auf uns zu wie eine Welle, die man von der 
Mole aus beobachtet. Dann versank sie wieder, und das 
dumpfe Pochen und Pulsieren erklang wieder wie zuvor. 
Barforth ließ das Seil fallen, und die Persenning bedeckte 
wieder den Boden. 

»Sieht fast so aus, als wüßte es, daß wir hier sind«, sagte er. 

»Aber warum sollte es sich uns in dieser Manier nähern? Ich 
nehme an, daß das Licht irgendeinen Effekt darauf gehabt 
hat.« 

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»Was soll ich denn tun?« fragte ich. 
Mr. Barforth deutete auf die beiden Balken, die unterhalb der 

Liftstation über dem Grubenboden hingen. Der Abstand 
zwischen ihnen betrug neun Zoll. 

»Das war die Idee des Alten«, sagte er. »Ich glaube, ich hätte 

sie besser befestigen können, aber ebenso gut kann man 
versuchen, mit einem verrückten Büffel zu diskutieren. Es ist 
leichter und sicherer, das zu tun, was er einem aufträgt. Er 
meint, Sie sollten einen Sechs-Zoll-Bohrer nehmen und ihn 
irgendwie zwischen den beiden Stützen befestigen.« 

»Ich glaube nicht, daß das sehr schwierig ist«, antwortete ich. 

»Von heute an stehe ich Ihnen für die Arbeit zur Verfügung.« 

Wie man sich vorstellen kann, war dieser Auftrag die 

seltsamste Erfahrung in meinem sicher nicht eintönig 
verlaufenen Leben, einschließlich der Brunnenbohrungen auf 
jedem Kontinent der Erde. Da Professor Challenger jedoch 
vehement darauf bestand, daß das Unternehmen aus einer 
gewissen Entfernung vorgenommen wurde und ich keine 
Unvernunft hinter dieser Absicht erkennen konnte, mußte ich 
mir hinsichtlich der elektrischen Anlagen etwas einfallen 
lassen. Aber auch das war kein großes Problem, zumal der 
Schacht vom Boden bis zum Einstieg bereits verkabelt war. 
Mit unendlicher Sorgfalt brachten mein Vorarbeiter Peters und 
ich das Gestänge nach unten und stapelten es auf den Felssims. 

Dann zogen wir uns, um ein wenig Platz zu schaffen, auf die 

unterste Aufzugsstation zurück. Da wir beabsichtigten, nach 
dem Tastensystem vorzugehen, da wir dabei von der 
Schwerkraft unabhängiger wurden, hängten wir unser Hundert-
Pfund-Gewicht an einen unterhalb des Lifts angebrachten 
Flaschenzug, und darunter bauten wir das mit einem V-
förmigen Abschluß versehene Gestänge auf. Das Seil, das das 
Gewicht hielt, wurde schließlich dermaßen an der 
Schachtwand befestigt, daß eine elektrische Entladung es lösen 

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würde. Es war eine schwierige Arbeit in mehr als tropischer 
Hitze, und dazu kam noch das allgegenwärtige Gefühl, daß ein 
kleiner Ausrutscher mit dem Fuß oder das Fallenlassen eines 
Werkzeugs auf die Persenning unter uns irgendeine 
unvorstellbare Katastrophe hervorrufen konnte. Zudem jagte 
uns auch die Umgebung Entsetzen ein, denn hin und wieder 
sah ich, wie die Wände des Schachtes von einem seltsamen 
Zittern und Zucken geschüttelt wurden oder fühlte ein leises 
Pulsieren, wenn ich sie mit den Händen berührte. Weder Peters 
noch ich vermochten unsere Erleichterung zu verhehlen, als 
wir den letzten Handschlag getan hatten und das Signal gaben, 
daß wir bereit seien, zum letzten Mal an die Oberfläche 
zurückzukehren, um Mr. Barforth zu berichten, daß Professor 
Challenger sein Experiment starten könne, wann immer er 
wolle. 

Wir brauchten nicht lange darauf zu warten. Nur drei Tage 

nach unserem letzten Arbeitstag traf ein Brief von ihm ein. 

Es handelte sich um eine gewöhnliche Einladungskarte jener 

Art, die man verschickt, wenn man Gäste zu einer Gesellschaft 
zu sich nach Hause einlädt. Sie trug folgenden Text: 
 

PROFESSOR GEORGE EDWARD CHALLENGER F.R.S. 
M.D. D.Sc. etc. (Ehemaliger Präsident des Zoologischen 
Instituts und Inhaber derart vieler Titel und Ehrungen, daß 
ihre Aufzählung den  Rahmen dieser Karte sprengen würde) 
ersucht um die Anwesenheit von 
Mr. JONES (ohne Damenbegleitung) 
in Hengist Down, Sussex, um 11.30 Uhr, am Dienstag, 
dem 21. Juni, 
um Zeuge eines bemerkenswerten Triumphs des Geistes 
über die Materie zu werden. 
Sonderzug vom Bahnhof Victoria ab 10.05 Uhr. Die 
Passagiere haben ihr Fahrgeld selbst zu entrichten. Ein Imbiß 

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wird im Anschluß an das Experiment gereicht  – oder auch 
nicht (was auf die Umstände ankommt). Haltestation: 
Storrington. 
U. A. w. g. (und zwar sofort und in Druckschrift) an 
14 (b) Enmore Gardens, S. W 

 
Ich erfuhr, daß Malone eine ähnliche Botschaft erhalten hatte 
und sich köstlich darüber amüsierte. 

»Es ist natürlich nur ein Jux, daß er uns so etwas zusendet«, 

meinte er. »Was sagte doch gleich der Henker zum Mörder: 
›Egal was auch passiert, wir beide werden unter allen 
Umständen dabei sein!‹ Aber eines sage ich dir: Dies wird 
ganz London in Aufregung versetzen. Der Alte kommt genau 
dahin, wo er hinmöchte, denn von nun an werden sich alle 
Scheinwerfer auf seinen haarigen, alten Schädel richten.« 

Der große Tag war endlich gekommen. Ich persönlich spielte 

mit dem Gedanken, noch in der gleichen Nacht aufzubrechen, 
um sicherzugehen, daß noch alles in Ordnung war. Der Bohrer 
war in Position gesetzt, das Gewicht auf ihn abgestimmt, und 
der Strom konnte leicht eingeschaltet werden, und was meinen 
Anteil an diesem Unternehmen anging, so konnte ich mit 
Zufriedenheit feststellen, daß ich ihn ohne Verzögerung 
ausführen konnte. Die elektrischen Schaltungen würden von 
einem Punkt aus bedient werden, der fünfhundert Yards von 
der Schachtmündung entfernt lag, um jede persönliche 
Gefährdung auf ein Minimum zu reduzieren. Als der 
schicksalsträchtige Morgen  – es war ein idealer englischer 
Sommertag – anbrach und ich zuversichtlich über das Gelände 
schritt, begab ich mich ein Stück die Hügelkuppe hinauf, um 
einen generellen Überblick zu gewinnen. 

Die ganze Welt schien nach Hengist Down unterwegs zu 

sein. So weit das Auge reichte, waren die Straßen voller 
Menschen. Kraftfahrzeuge rumpelten schwankend über die 

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Feldwege und setzten ihre Passagiere am Lagereingang ab. 
Dort wurden sie von einer kräftigen Pförtnergruppe in 
Empfang genommen, die weder auf Versprechungen noch auf 
Bestechungsversuche hereinfielen, und nur diejenigen 
hineinließen, die eine gedruckte Einladungskarte vorweisen 
konnten. Jene, die das Versuchsgelände nicht betreten durften, 
zerstreuten sich schließlich und gesellten sich zur großen 
Masse der Beobachter, die die umliegenden Hügel 
bevölkerten. Die gesamte Umgebung wimmelte dermaßen von 
Menschen, daß man den Eindruck gewinnen konnte, hier fände 
ein Derby statt. Hinter der Umzäunung hatte man das Gelände 
in verschiedene Abschnitte eingeteilt, die dazu dienten, die 
Besucher nach ihrem Stand aufzunehmen. So gab es einen 
Abschnitt für die Peers, einen für die Abgeordneten des 
Unterhauses, einen für die Mitglieder wissenschaftlicher 
Vereinigungen, und einen für die prominentesten Vertreter der 
modernen Wissenschaft, zu denen unter anderen Le Pellier von 
der Sorbonne und Dr. Driesinger von der Akademie Berlin 
gehörten. Ein speziell reserviertes Gehege, das mit Sandsäcken 
umgeben und mit einem Wellblechdach ausgestattet war, hatte 
man für die drei Mitglieder der königlichen Familie 
bereitgestellt. 

Um Viertel nach elf holte eine Anzahl von Chars-à-bancs die 

höchstgestellten Gäste von der Eisenbahnstation ab und 
brachte sie zum Lager. Ich verließ die Hügelkuppe und gesellte 
mich zu den anderen, um ihnen beim Empfang der Besucher 
zu assistieren. Professor Challenger hielt sich auf dem 
Abschnitt der Auserwählten auf. Er trug einen Gehrock, eine 
weiße Weste, einen polierten Zylinder, und sein 
Gesichtsausdruck spiegelte eine Mischung aus Übermut, 
Wohlwollen und beinahe übermäßiger Selbstsicherheit wider. 
Einer seiner Kritiker hatte ihn als »offensichtliches Opfer eines 
Gott-Komplexes« beschrieben. Er unterstützte seine Leute 

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dabei, die Gäste an die für sie reservierten Plätze zu führen und 
trieb sie hin und wieder auch an. Schließlich, nachdem sich die 
Elite der Gesellschaft um ihn versammelt hatte, begab er sich, 
um nur auch ja von allen wahrgenommen zu werden, auf einen 
günstig gelegenen kleinen Hügel und sah sich mit einem Blick 
um, als sei er ein Aufsichtsratsvorsitzender, der darauf wartet, 
mit einem Willkommensapplaus empfangen zu werden. Da 
dieser jedoch nicht geäußert wurde, leitete er sofort zu seinem 
Thema über, wobei seine donnernde Stimme bis in die letzten 
Winkel der Absperrung drang. 

»Gentlemen!« brüllte er. »Dieses Ereignis läßt die 

Anwesenheit von Damen nicht zu! Wenn ich davon abgesehen 
habe, Sie zusammen mit Ihren Damen hierherzubitten, so kann 
ich Ihnen versichern, daß das nicht etwa an mangelnder 
Wertschätzung liegt, denn ich kann von mir behaupten«, – an 
dieser Stelle drückte sein Tonfall einen elefantenhaften Humor 
und spöttische Bescheidenheit aus  – »daß die Beziehungen 
zwischen den Damen und mir stets ausgezeichnet und meistens 
sogar innig gewesen sind. Der wirkliche Grund, weshalb ich 
Sie allein zu mir gebeten habe, liegt darin, daß unser 
Experiment ein bißchen gefährlich werden kann  – allerdings 
nicht so gefährlich, um den Ausdruck des Erschreckens zu 
rechtfertigen, den ich auf Ihren Gesichtern wahrnehme. Es 
wird die Herren von der Presse möglicherweise interessieren, 
daß ich für sie auf den uns umgebenden Hügeln ganz 
besondere Plätze habe reservieren lassen, damit sie während 
des Versuchs den besten Überblick haben. Obwohl Sie 
gelegentlich ein dermaßen starkes Interesse an meiner Arbeit 
gezeigt haben, daß es manchmal von Impertinenz nicht mehr 
zu unterscheiden war, möchte ich mir nicht nachsagen lassen, 
ich wüßte Ihre Anwesenheit nicht zu schätzen. Sollte sich das 
Experiment als Fehlschlag erweisen, was ja immerhin möglich 
ist, kann ich wenigstens behaupten, mein Bestes für Sie getan 

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zu haben. Sollte das Experiment gelingen, werden Sie, wenn 
Sie sich ihm gewachsen zeigen sollten, eine unschätzbare 
Erfahrung machen, über die Sie dann belichten können. 

Wie Sie sicherlich wissen, ist es für einen Mann der 

Wissenschaft nicht ganz einfach, seine Handlungen und 
Beweggründe zu erläutern, wenn er nicht unter sein Niveau 
gehen und zur breiten Masse hinabsteigen will. Ich höre jedoch 
einige ungebührliche Zwischenrufe, und möchte den 
Gentleman mit der Hornbrille bitten, das Gewinke mit seinem 
Regenschirm einzustellen.« (Zwischenruf. »Die Art, in der Sie 
Ihre Gäste ansprechen, Sir, ist äußerst beleidigend!«) »Es liegt 
möglicherweise an der von mir benutzten Phrase ›breite 
Masse‹, daß dieser Herr sich so aufplustert. Nun gut, ich will 
hinzufügen, daß meine Zuhörer eine höchst ungewöhnliche 
Menschenmasse darstellen. Ich habe keine Lust, mich über 
dererlei Phrasen zu streiten. Bevor mich diese freche 
Bemerkung unterbrach, war ich gerade im Begriff zu sagen, 
daß ich diese Angelegenheit demnächst ausführlich in meiner 
nächsten Veröffentlichung diskutieren werde, die ich, in aller 
Bescheidenheit, als eines der epochemachendsten Bücher aller 
Zeiten bezeichnen darf.« (Lautes Gemurmel und Zwischenrufe 
wie: »Kommen Sie endlich zur Sache!« – »Weswegen sind wir 
überhaupt hier?« – »Soll das ein Witz sein?«) »Wie gesagt, ich 
war also gerade im Begriff, Ihnen die Sache 
auseinanderzulegen, aber wenn man mich noch einmal 
unterbricht, werde ich mich gezwungen sehen, andere Mittel 
zu ergreifen, um die Ruhe und Ordnung herzustellen, an der es 
dieser Versammlung offenbar gebracht. Die Lage sieht 
folgendermaßen aus: Ich habe einen Schacht durch die 
Erdkruste bohren lassen und bin im Begriff, den Versuch zu 
wagen, die empfindliche Rinde der Erde mit Nachdruck zu 
reizen. Es handelt sich dabei um eine schwierige Operation, 
die Mr. Peerless Jones, einer meiner Untergebenen, ausführen 

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wird. Mr. Jones ist Experte für artesische Bohrungen. Der 
zweite im Bunde ist Mr. Edward Malone, der während dieses 
Ereignisses meine Stelle einnimmt. Die von uns freigelegte, 
empfindliche Substanz wird also gestochen werden, und die 
daraus resultierende Reaktion kann man nur vermuten. 

Wenn Sie nun bitte freundlicherweise Ihre Plätze einnehmen 

wollen, werden diese beiden Gentlemen in die Grube einfahren 
und die letzten Justierungen vornehmen. Wenn ich den auf 
diesem Tisch befindlichen Schalter umlege, wird das 
Experiment seinen Anfang nehmen.« 

Nach dieser geschwollenen Rede Challengers hätte sich jedes 

Publikum fühlen müssen, wie die Erde selbst; seiner 
schützenden Epidermis beraubt und mit freigelegten 
Nervenbahnen. Auch die gegenwärtige Versammlung war in 
dieser Hinsicht keine Ausnahme: Kritisch vor sich 
hinmurmelnd und Vorbehalte äußernd, kehrten die 
Anwesenden auf ihre Plätze zurück. Challenger nahm allein 
neben einem kleinen Tisch am Schachteingang Platz. Seine 
Mähne und sein Bart, die beide vor Erregung gesträubt waren, 
verliehen ihm das Aussehen eines finsteren Fabelwesens. 
Leider hatten Malone und ich keine Gelegenheit, diese Szene 
noch ein wenig länger zu genießen, denn wir eilten auf der 
Stelle los, um unseren Auftrag zu erfüllen. Zwanzig Minuten 
später hielten wir uns auf dem Grubenboden auf und zogen die 
Persenning beiseite. 

Das, was da vor uns lag, bot einen erstaunlichen Anblick. 

Aufgrund irgendeines unerklärlichen telepathischen Sinnes 
schien der alte Planet zu ahnen, daß ihm ein Anschlag auf 
seine bisher durch nichts gestörte Ruhe drohte. Die Oberfläche 
seiner Haut ähnelte kochendem Wasser. Große, graue Blasen 
bildeten sich und platzten mit einem lauten Knall. Die darunter 
liegenden Hohlräume teilten sich und wuchsen in, aufgeregter 
Aktivität wieder zusammen. Der Rhythmus der sich 

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kräuselnden Wogen war stärker und schneller als je zuvor. 
Eine dunkle Flüssigkeit pulsierte durch die sich hin und 
herschlängelnden Aderkanäle. Die Masse pulsierte 
ununterbrochen. Ein schwerer Geruch machte die Luft für 
menschliche Lungen kaum noch atembar. 

Ich starrte noch auf dieses Spektakel, als Malone meinen 

Ellbogen packte und aufgeregt nach Luft schnappte. »Mein 
Gott, Jones!« rief er aus. »Sieh dir das an!« 

Ich folgte seinem Blick, und im nächsten Moment ließ ich die 

Stromleitung fahren und sprang in den Aufzugkäfig zurück. 
»Nun komm schon!« schrie ich. »Das kann zu einem Rennen 
auf Leben und Tod werden!« 

Das, was wir gesehen hatten, war in der Tat ausgesprochen 

alarmierend. Es schien, als entwickele der Schacht an seiner 
tiefsten Stelle plötzlich eine beängstigende Aktivität, denn 
unter uns hatten seine Wände nun das herzschlagähnliche 
Pulsieren aufgenommen. Die Bodenbewegung blieb natürlich 
nicht ohne Auswirkung auf die Löcher, in denen die Balken 
ruhten. Uns war sofort klar, daß die Wände sich nur um 
wenige Zoll zu verschieben brauchten, um die Balken 
abstürzen zu lassen. Wenn dies geschah, würde das spitze 
Ende meiner Bohrnadel den Boden natürlich unabhängig von 
der Stromzufuhr durchstoßen. Bevor dies zur Tatsache wurde, 
war es für Malone und mich lebenswichtig, aus dem Schacht 
herauszukommen. Wenn man sich acht Meilen unter der Erde 
aufhält und die Gefahr besteht, daß über einem  im nächsten 
Augenblick alles zusammenfällt, ist das natürlich eine 
schreckliche Aussicht. In Panik versetzt, jagten wir nach oben 
zurück. 

Ob wir diese alptraumhafte Flucht jemals vergessen werden? 

Die Aufzugseile knirschten und knarrten; die Minuten 
schienen sich zu Stunden auszudehnen. Jedesmal, wenn wir 
eine neue Station erreicht hatten, sprangen wir in den nächsten 

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Aufzug, lösten seine Sperre und flogen weiter der 
Erdoberfläche entgegen. Durch das vergitterte Aufzugdach 
konnten wir hoch über uns den kleinen Lichtpunkt erkennen, 
der den Grubeneingang darstellte. Er wurde größer und größer, 
veränderte sich bald zu einem Kreis, und schließlich erblickten 
unsere erfreuten Augen die Ziegelsteinumrandung. Aufwärts 
jagten wir, aufwärts  – und dann, endlich, sprangen wir in 
einem Augenblick trunkenen Glücks voller Dankbarkeit aus 
unserem Gefängnis und eilten mit den Füßen über grünes Gras. 
Die Berührung war allerdings nur kurz, denn wir hatten kaum 
eine Entfernung von dreißig Schritten zwischen uns und den 
Schacht gebracht, als sich tief unter uns mein eiserner Pfeil in 
das Nervensystem der alten Mutter Erde bohrte und der große 
Augenblick endlich gekommen war. 

Was in diesem Augenblick geschah? Weder Malone noch ich 

waren in der Lage, dies zu beurteilen, da wir beide plötzlich 
von einem Wirbelsturm ergriffen, von den Beinen gerissen und 
wie zwei Pucks auf einer Eisfläche herumgeschleudert wurden. 
Gleichzeitig drang der entsetzlichste Aufschrei an unsere 
Ohren, den wir je gehört hatten. Ob es unter den Hunderten 
von Anwesenden auch nur einen gegeben hat, der auch nur 
einen ähnlichen Schrei vernommen hat und ihn beschreiben 
kann? Es war ein Schmerzensschrei, ein Wutgeheul, ein 
Haßgesang. In diesem entsetzlichen Aufschrei lag der ganze 
Zorn ihrer Majestät der Natur. Er dauerte eine ganze Minute 
lang, war wie das Geheul von tausend Sirenen. Er lähmte die 
große Menge der Anwesenden mit unbändigem Nachdruck, 
pflanzte sich durch die reglose Sommerluft so weit fort, bis er 
an der Südküste ein Echo warf und sogar unsere französischen 
Nachbarn auf der anderen Kanalseite erreichte. Es gibt kein 
Geräusch in der Geschichte der Menschheit, das dem Schrei 
der gequälten Erde jemals entsprochen hätte. 

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Obwohl Malone und ich benommen und nahezu taub waren, 

drang der schockierende Schrei dennoch zu uns durch, aber 
erst später gelang es uns, aufgrund der Erzählungen anderer 
Beteiligter, Einzelheiten über das, was sich um uns abspielte, 
zu erfahren. 

Das erste, was die gepeinigte Erde ausspuckte, waren die 

Aufzugkäfige. Die restlichen Apparaturen verblieben, soweit 
sie an den Wänden befestigt gewesen waren, im Inneren des 
Schachtes, aber die Aufzüge mit ihren festen Böden wurden 
voll von der aufwärts rasenden Druckwelle erfaßt. Wie 
Kügelchen in einem Blasrohr, jagten sie unabhängig 
voneinander durch den Schacht nach oben und flogen 
nacheinander durch die Luft, wobei jeder der Käfige hinter 
seinem Vorgänger herzischte. Sie beschrieben einen weiten 
Kreis. Einer der Käfige landete am Worthing-Pier, ein anderer 
auf einem Feld bei Chichester. Diejenigen, die sie sahen, 
mußten zugeben, daß von allen ungewöhnlichen Sichtungen 
der der vierzehn durch den blauen Himmel segelnden 
Aufzugkäfige für sie der ungewöhnlichste gewesen sei. 

Dann kam die Fontäne. Sie bestand aus einem gewaltigen 

Strahl von ekelhafter Substanz, die Teer zu enthalten schien 
und schätzungsweise tausend Fuß hoch in den Himmel schoß. 
Ein Beobachtungsflugzeug, das über der Szenerie geschwebt 
hatte, wurde von der übelriechenden Flüssigkeit getroffen und 
mußte notlanden, wobei sowohl die Maschine als auch der 
Pilot im Schmutz versanken. Die abscheuliche Substanz 
scheint das Lebensblut des Planeten gewesen zu sein, wie Dr. 
Driesinger und die Berliner Schule meinen, aber es spricht 
auch etwas dafür, daß es sich um eine Schutzflüssigkeit 
handelte, die die gleiche Funktion wie die Stinkdrüse eines 
Skunks erfüllt und dazu dient, der alten Mutter Erde allzu 
eifrige Forscher vom Leibe zu halten. Glücklicherweise 
entkam der Hauptübeltäter, der auf dem bereits erwähnten 

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Hügelchen auf seinem Thron saß, dem Gegenschlag der Erde 
weitgehend unbehelligt, aber die unglücklichen Pressevertreter 
wurden dermaßen in Mitleidenschaft gezogen, daß sie sich 
während der folgenden Wochen in menschlicher Gesellschaft 
nicht mehr blicken lassen konnten. Die abscheuliche 
Flüssigkeit wurde vom Wind nach Süden getrieben und rieselte 
dort auf die pechbehaftete Menschenmenge herab, die so lange 
und geduldig auf den Hügelkuppen gewartet hatte, um zu 
sehen, was hier überhaupt vor sich ging. Es  gab zwar weder 
Verletzte noch Sachschäden zu beklagen, aber viele der in 
nächster Nähe liegenden Häuser waren unbewohnbar 
geworden. Noch heute erinnern sie jeden, der sie betritt, allein 
durch den ihnen anhaftenden Geruch an das große Ereignis. 

Und dann kam der Einsturz der Grube. Wie die Natur eine 

Wunde langsam von unten her schließt, so entledigte sich auch 
die Erde mit extremer Schnelligkeit der Fremdkörper, die für 
sie zu einer lebensgefährlichen Bedrohung geworden waren. 
Aus den tiefsten Tiefen des Schachtes erklang ein 
langanhaltendes, schrilles Kreischen, stieg höher und höher 
und brachte schlußendlich mit einem ohrenbetäubenden Knall 
die Ziegelsteinumrandung des Schachtes zum Zerspringen. Ein 
Vibrieren, das beinahe ein kleines Erdbeben war, verwüstete 
die die Anlage umgebenden Erdhügel. Dort, wo sich einst der 
Schachteinstieg befunden hatte, erhob sich nun ein fünfzig Fuß 
hoher Schrotthaufen aus Eisengestänge. Professor Challengers 
Experiment war damit nicht nur beendet, sondern dem 
menschlichen Blick auch auf ewig entzogen. Wäre nicht der 
von der Königlichen Gesellschaft aufgestellte Obelisk  – man 
müßte daran zweifeln, ob unsere Kindeskinder den Ort dieses 
bemerkenswerten Geschehens überhaupt wiederfänden. 

Und dann kam das große Finale. Als die Menschen endlich 

wieder klar zu denken vermochten und sich über das 
Geschehene einen ersten Überblick zu verschaffen versuchten, 

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herrschte eine Zeitlang Bewegungslosigkeit und 
Stillschweigen. Und dann brach mit einem mächtigen Ruck, 
der ihre Vorstellungskraft rasend schnell beflügelte, ihr 
Bewußtsein auf und ließ sie die Genialität, und Wunderbarkeit 
des Experiments erkennen. 

Wie ein Mann wandte die Menge sich Challenger zu. Aus 

jedem Winkel des Geländes kamen bewundernde Rufe, und 
Challenger, der immer noch auf seinem Hügelchen stand, 
konnte von dort oben auf ein Meer ihm zugewandter Gesichter 
sehen, deren Linie nur noch von zahllosen geschwenkten 
Taschentüchern unterbrochen wurde. Wenn ich mich so 
zurückerinnere, sehe ich ihn in diesem Augenblick am 
klarsten. Er erhob sich mit halbgeschlossenen Augen von 
seinem Stuhl. Ein Lächeln lag auf seinen Lippen und zeigte an, 
wie wohl er diese Ehrung zu schätzen wußte. Challenger hatte 
die linke Hand auf die Hüfte gestützt und die rechte im 
Brustausschnitt seines Gehrockes vergraben. Ich weiß, daß ich 
diesen Anblick nie vergessen werde, ebenso wenig das nun 
einsetzende Klicken der Fotoapparate, die eine 
Geräuschkulisse erzeugten, die man nur mit dem einer Horde 
Grillen vergleichen kann. Die Junisonne beleuchtete ihn mit 
goldenen Strahlen, als er sich mit ernster Miene umwandte und 
in alle Himmelsrichtungen verbeugte. Challenger, der 
Superwissenschaftler; Challenger, der Überpionier; Challenger 
– der allererste Mensch, den die Mutter Erde schlußendlich 
wahrgenommen hat. 

Zum  Abschluß noch ein paar Worte. Mittlerweile weiß man 

natürlich, daß die Effekte, die das Experiment hervorrief, 
überall wahrgenommen werden konnten. Es entspricht zwar 
der Wahrheit, daß der verletzte Planet lediglich am Ort des 
Geschehens selbst aufschrie, aber der Beweis ist nun erbracht, 
daß er wirklich überall zugegen ist. Die Erde gab ihrem Unmut 
durch jeden Spalt und jeden Vulkan Ausdruck. Der Hekla 

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brüllte, bis die Isländer den Weltuntergang befürchteten. Der 
Vesuv sprengte sich den eigenen Kopf ab. Der Ätna spuckte 
eine solche Menge Lava aus, daß die italienische Regierung 
Professor Challenger aufgrund der Beschädigungen in den 
heimatlichen Weinbergen auf eine halbe Million 
Schadensersatz verklagte. Sogar in Mexiko und im 
zentralamerikanischen Gürtel waren die Anzeichen 
plutokratischer Gereiztheit zu spüren. Das Gedonner des 
Stromboli erfüllte den ganzen Mittelmeerraum. Es ist zwar 
bisher eine durchaus menschliche Verhaltensweise gewesen, 
die ganze Welt über ein bestimmtes Thema reden zu lassen  – 
aber sie zum Schreien zu bringen, ist einzig und allein das 
Verdienst Challengers. 

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Die Desintegrationsmaschine 

(The Desintegration Machine) 

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Professor Challenger befand sich in denkbar schlechter 
Stimmung. Als ich – die Hand bereits am Türgriff und den Fuß 
auf der Matte  – vor der Tür seines Arbeitszimmers stand, 
wurde ich Zeuge eines Monolog, dessen Worte im ganzen 
Hause dröhnten und widerhallten. 

»Das war nun schon der zweite falsche Anruf. Der zweite am 

gleichen Morgen. Man stelle sich das einmal vor. Ein Mann 
der Wissenschaft wird durch die fortwährende Störung 
irgendeines Idioten am anderen Ende der Leitung von 
wichtiger Arbeit abgehalten. Ich dulde das nicht. Geben Sie 
augenblicklich Ihrem Amtsleiter davon Kenntnis! Ach, mit 
dem spreche ich schon? Nun,  und warum unternehmen Sie 
nichts dagegen? O, doch, was Sie mit Sicherheit unternommen 
haben, ist, mich von einer Arbeit abzulenken, deren 
Wichtigkeit Ihr Begriffsvermögen wohl um etliches übersteigt. 
Ich verlange, unverzüglich Ihren Vorgesetzten zu sprechen! Er 
ist nicht da? Das dachte ich mir. Wenn sich diese Anrufe 
wiederholen, sehen wir uns vor Gericht wieder. Man hat schon 
krähende Hähne zur Rechenschaft gezogen. Warum also nicht 
auch ein gellendes Telefongeklingel? Der Fall liegt eindeutig. 
Eine schriftliche Entschuldigung? Sehr gut! Ich werde es mir 
überlegen. Guten Morgen!« 

An diesem Punkt des Monologs wagte ich einzutreten. Es 

war ein unglücklich gewählter Augenblick. Ich trat ihm 
entgegen, als er sich gerade vom Telefon wegdrehte, ein Löwe 
in seinem Zorn. Sein gewaltiger, schwarzer Bart sträubte sich, 
die mächtige Brust hob sich vor Entrüstung und die grauen, 
hochmütigen Augen fuhren auf und nieder, wobei die letzten 
Reste seiner Wut sich gegen mich entluden. 

»Infernalische, idiotische, überbezahlte  Schurken!« dröhnte 

er.  »Ich hörte sie lachen, als ich meine gerechtfertigte 

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Beschwerde vortrug. Da ist eine Verschwörung am Werk, mit 
dem Ziel, meine Arbeit zu sabotieren. Und nun, Malone, 
erscheinen auch noch Sie auf der Bildfläche, um diesen 
Vormittag vollends zu einem Desaster zu machen. Sind  Sie, 
möchte ich einmal fragen, aus eigenem Antrieb hier, oder hat 
Ihr Käseblatt Sie wegen eines Interviews geschickt? Als 
Freund genießen Sie zwar Vorrechte  – als Journalist 
verschwenden Sie jedoch nur Ihre Zeit.« 

Ich suchte noch in der Jackentasche nach McArdles Brief, als 

ihm plötzlich ein neues Ärgernis in den Sinn kam. Seine 
großen, haarigen Hände durchwühlten die Papiere auf dem 
Schreibtisch und zogen endlich einen Zeitungsausschnitt 
hervor. 

»Sie waren so freundlich, in einer Ihrer letzten gelehrten 

Arbeiten auf mich anzuspielen«, sagte er und schwenkte das 
Stück Papier wild in der Luft vor mir her. »Und zwar im 
Verlauf Ihrer, nun ja, albernen Bemerkungen, die die kürzlich 
entdeckten Saurierüberreste in Solenhofen betreffen. Sie 
begannen dort einen Abschnitt mit den Worten: ›Professor 
Challenger, einer unserer größten lebenden  
Wissenschaftler‹ – « 

»Na und?« fragte ich. 
»Warum diese verhaßten Einschränkungen und 

Begrenzungen? Vielleicht nennen Sie einmal die anderen, so 
bedeutenden Wissenschaftler, denen Sie Gleichheit, 
womöglich sogar Überlegenheit bescheinigen?« 

»Es war falsch ausgedrückt. Natürlich hätte es ›Unser größter 

lebender Wissenschaftler‹ heißen müssen«, gab ich zu. Und so 
wie ich es sagte, meinte ich es auch. Meine Worte 
verwandelten die frostige Atmosphäre in strahlenden 
Sonnenschein. 

»Mein lieber, junger Freund, glauben Sie nicht, daß ich 

Ungebührliches verlange, aber umgeben von streitsüchtigen 

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und törichten Kollegen bin ich nun mal gezwungen, mich um 
jeden Preis zu behaupten. Selbstüberschätzung ist meinem 
Wesen fremd, doch habe ich den anderen gegenüber einen Ruf 
zu bewahren. Aber treten Sie doch näher! Nehmen Sie Platz! 
Was verschafft mir die Ehre Ihres Besuches?« 

Ich mußte äußerst behutsam vorgehen, denn es war mir klar, 

wie wenig es bedurfte, den Löwen wieder zum Brüllen zu 
bringen. Ich öffnete McArdles Brief. 

»Sie erlauben, daß ich ihn vorlese? Er ist von McArdle, 

meinem Redakteur.« 

»Ich erinnere mich an ihn. Auf seine Weise  ist er kein übler 

Kerl.« 

»Er hegt große Bewunderung für Sie. Er hat sich stets an Sie 

gewandt, wenn eine Nachforschung hohe Qualität erforderte. 
Das ist auch nun wieder der Fall.« 

»Was hat er denn auf dem Herzen?« Challenger plusterte sich 

unter dem Einfluß dieser Schmeichelei wie ein ungelenker 
Vogel auf. Er nahm wieder Platz, die Ellbogen auf dem 
Schreibtisch, die Gorillapranken ineinander verschränkt, den 
Bart nach vorn gesträubt, und die großen, grauen Augen halb 
unter buschigen Lidern verborgen, richteten sich gütig auf 
mich. Er besaß Größe in allem und sein Wohlwollen war noch 
überwältigender als seine Heftigkeit. 

»Ich lese Ihnen den Brief einmal vor. Er lautet: Bitte setzen 

Sie sich mit unserem hochgeschätzten Freund, Professor 
Challenger, in Verbindung und bitten in nachfolgender 
Angelegenheit um seine Mitarbeit. In White Friars, Hamstead, 
wohnt ein lettischer Gentleman namens Theodore Nemor, der 
behauptet, eine Maschine der außergewöhnlichsten Art 
erfunden zu haben, die jeden Gegenstand in ihrer Reichweite 
verschwinden lassen kann. Der Gegenstand löst sich auf und 
kehrt in seinen molekularen oder atomaren Zustand zurück. 
Bei der Umkehrung dieses Verfahrens nimmt er dagegen die 

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ursprüngliche Gestalt wieder an. Diese Behauptung erscheint 
außergewöhnlich, und doch existieren sichere Anzeichen für 
die Richtigkeit. Es sieht so aus, als sei dieser Mann über eine 
bemerkenswerte Erfindung gestolpert. 

Ich  muß Ihnen wohl  kaum den revolutionären Gehalt einer 

solchen Erfindung vor Augen halten, einmal abgesehen von 
ihrer extremen Bedeutung als potentielle Kriegswaffe. Eine 
Macht, die ein Kriegsschiff verschwinden lassen oder ein 
Bataillon – und sei es auch nur für kurze Zeit – in seine Atome 
auflösen kann, würde die Welt beherrschen. Der sozialen und 
politischen Bedeutung wegen sollte dieser Nachricht 
unverzüglich auf den Grund gegangen werden. Der Erfinder 
wirbt um Öffentlichkeit, um die Maschine verkaufen zu 
können. Es wird keine Schwierigkeiten geben, an ihn 
heranzutreten. Die beigefügte Karte gewährt Einlaß in sein 
Haus. Meine Bitte geht dahin, daß Sie und Professor 
Challenger ihn aufsuchen, die Erfindung in Augenschein 
nehmen und für die  Gazette  einen Bericht über den Wert der 
Erfindung schreiben. Ich hoffe, heute abend von Ihnen zu 
hören. – R. McArdle. 

So lauten die Anweisungen, Professor«, fügte ich hinzu, 

während ich den Brief wieder zusammenfaltete. »Ich hoffe 
inständig, daß Sie mich begleiten, denn wie soll ich mit meinen 
begrenzten Fähigkeiten, die Angelegenheit allein beurteilen?« 

»Wahrhaftig, Malone! Wahrhaftig!« schnurrte der große 

Mann. »Obwohl Sie ohne jeden Zweifel mit natürlicher 
Intelligenz gesegnet sind, stimme ich mit Ihnen überein, daß 
Sie in einer derartigen Angelegenheit überfordert sind. Da 
diese unaussprechlichen Menschen am Telefon mir bereits die 
Arbeit dieses Morgens ruiniert haben, kommt es jetzt auch 
nicht mehr darauf an. Ich arbeite gerade an der Entgegnung auf 
diesen italienischen Possenreißer Mazotti, dessen Ansichten 
über die larvale Entwicklung tropischer Termiten meinen 

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Hohn und meine Verachtung herausforderten, doch kann ich 
die vollständige Entlarvung dieses Scharlatans bis zum Abend 
aufschieben. Bis dahin stehe ich Ihnen zu Diensten.« 

Und so kam es, daß ich an  diesem Oktobermorgen mit dem 

Professor in der U-Bahn dem Norden Londons entgegeneilte, 
wo ich eine der eigenartigsten Erfahrungen meines an 
Überraschungen nicht armen Lebens machen sollte. Bevor wir 
Enmore Gardens verließen, hatte ich mich mit Hilfe des 
vielgeschmähten Telefons vergewissert, daß unser Mann zu 
Hause und unser Kommen angekündigt war. Er bewohnte ein 
gepflegtes Haus in Hampstead. Fast eine halbe Stunde ließ er 
uns im Salon warten, während er in lebhaftem Gespräch mit 
einer Besuchergruppe vertieft war, deren Stimmen sie beim 
Abschied als Russen auswiesen. Ich konnte durch die halb 
geöffnete Tür einen Blick auf sie werfen und hatte den 
flüchtigen Eindruck von gutsituierten und intelligenten 
Männern mit Pelzkragen auf den Mänteln und schimmernden 
Zylindern, die den Eindruck bourgeoiser Wohlanständigkeit 
ausstrahlten, die erfolgreichen Kommunisten so rasch zueigen 
ist. Dann schloß sich die Türe hinter ihnen, und im nächsten 
Augenblick betrat Theodore Nemor den Salon. Ich sehe ihn 
noch vor mir, wie er dort im Sonnenlicht stand, seine langen, 
schmalen Hände aneinanderrieb und uns mit einem breiten 
Lächeln aus schlauen, gelben Augen ansah. 

Er war ein kleiner, dicker Mann, der den Eindruck von 

Unförmigkeit erweckte, ohne erkennen zu lassen, worin er 
begründet war. Man konnte meinen, er sei ein Buckliger ohne 
Buckel. Sein großes, schwammiges Gesicht wirkte wie ein 
roher Kloß, dessen Farbe und feuchte Beschaffenheit es auch 
aufwies, und die sein Gesicht zierenden Pickel und Pusteln 
hoben sich noch stärker von diesem teigigen Hintergrund ab. 
Seine Augen waren die einer Katze, und katzenhaft war auch 
der lange, dünne Schnurrbart über dem schlaffen, feuchten 

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Mund. Alles an ihm schien unfertig und abstoßend, bis hinauf 
zu den strohblonden Augenbrauen. Darüber jedoch erhob sich 
ein solch außergewöhnlicher Schädel, wie ich ihn selten 
gesehen habe. Selbst Challengers Hut hätte auf diesen 
gewaltigen Kopf gepaßt. Ohne diese Stirn glich Theodore 
Nemor einem gemeinen, kriecherischen Verschwörer, doch 
sein Schädel konnte es mit den größten Denkern und 
Philosophen aufnehmen. 

»Nun, meine Herren«, sagte er mit samtener Stimme, in der 

nur flüchtige Spuren eines fremden Akzentes mitschwangen, 
»wenn ich aufgrund unseres kurzen Telefonates richtig sehe, 
sind Sie gekommen, um mehr über den Nemor-Desintegrator 
zu erfahren.« 

»Sie haben völlig recht.« 
»Darf ich fragen, ob Sie die britische Regierung 

repräsentieren?« 

»Aber überhaupt nicht. Ich bin Korrespondent der  Gazette, 

und dies ist Professor Challenger.« 

»Ein ehrenwerter Name – von europäischem Rang.« 
Seine gelben Fänge leuchteten geradezu in unterwürfiger 

Liebenswürdigkeit. »Ich gedachte, Ihnen gerade zu erläutern, 
daß die britische Regierung ihre Chance verspielt hat. Was 
darüber hinaus für Konsequenzen entstehen, mag sich später 
erweisen. Vielleicht hat sie gar das Empire verspielt. Ich bin 
bereit, meine Erfindung an die erste Regierung zu verkaufen, 
die meinen Preis akzeptiert, und wenn die Erfindung nun in  – 
wie Sie sicherlich meinen  – falsche Hände fällt, so haben Sie 
sich selbst die Schuld zu geben.« 

»Dann haben Sie Ihr Geheimnis bereits verkauft?« 
»Zu meinem Preis.« 
»Und der Besitzer wird das Monopol darauf haben?« 
»Das wird er, ohne jeden Zweifel.« 
»Aber dann kennen andere das Geheimnis ebenso wie Sie.« 

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»Oh, nein.« Er strich über die gewaltige Stirn. »Hier befindet 

sich der Safe, in dem das Geheimnis sicher bewahrt ist  – 
sicherer als in einem Safe aus Stahl. Mag einigen dieses, 
anderen jenes bekannt sein, niemand außer mir kennt das 
ganze Geheimnis.« 

»Und die Herren, an die Sie verkauft haben.« 
»Aber nein. Ich bin keineswegs so töricht, mein Wissen zu 

offenbaren, bevor der vereinbarte Preis entrichtet ist. 
Eigentlich bin  ich  das Kaufobjekt, und die Käufer bedienen 
sich des wertvollen Inhalts dieses Safes« – er tippte wieder an 
die Braue  – »soweit Sie es wünschen. Mein Teil des 
Abkommens ist dann erfüllt  – gewissenhaft, bis zum letzten 
erfüllt. Danach wird die Geschichte entschieden.« 

Er rieb sich die Hände, und das künstliche Lächeln auf 

seinem Gesicht fiel zu einer Grimasse zusammen. 

»Sie werden entschuldigen«, dröhnte Challenger, der bis 

dahin schweigend verharrt und mit seinem ausdrucksstarken 
Gesicht Theodore Nemor mit größter Mißbilligung beobachtet 
hatte »bevor wir in eine Diskussion eintreten, möchte ich mich 
davon überzeugen, daß überhaupt etwas zu diskutieren ist. Wir 
haben noch nicht den Fall vergessen, in dem ein Italiener 
behauptete, er könne aus der Entfernung Minen explodieren 
lassen. Bei eingehender Untersuchung erwies er sich als 
ausgesprochener Betrüger. Die Geschichte könnte sich hier 
wiederholen. Sie verstehen gewiß, daß ich einen Ruf als 
Wissenschaftler zu verlieren habe  – einen Ruf, der in Europa 
einiges gilt, und wie ich annehmen kann, auch in Amerika 
nicht wenig von Gewicht ist. Vorsicht  ist ein Attribut der 
Wissenschaft, und Sie müssen uns Ihre Beweise schon 
vorlegen, wenn wir Ihre Behauptungen ernsthaft erörtern 
wollen.« 

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Nemor warf einen besonders bösartigen Blick aus seinen 

gelben Augen auf meinen Begleiter, dann jedoch erhellte das 
Lächeln der Genialität wieder sein Gesicht. 

»Sie werden Ihrem Ruf gerecht, Professor. Ich habe immer 

gehört, Sie seien der letzte, der auf einen Betrug hereinfiele. 
Ich bin durchaus darauf vorbereitet, Ihnen eine einwandfreie, 
überzeugende Demonstration darzubieten, doch zuvor muß ich 
einige Worte zum grundsätzlichen Prinzip verlieren. 

Ihnen ist sicherlich klar, daß dies experimentelle Pflänzchen 

hier nur ein verkleinertes Modell darstellt, doch innerhalb 
seiner Möglichkeiten Erstaunliches leistet. Sie, meine  Herren, 
aufzulösen und wieder erscheinen zu lassen, bereitet mir 
keinerlei Schwierigkeiten. Für derlei Zwecke zahlt jedoch eine 
mächtige Regierung kaum einen Preis, der in die Millionen 
geht. Mein Modell ist lediglich ein bescheidenes 
wissenschaftliches Spielzeug. Wenn jedoch die gleiche Kraft 
in größerem Ausmaß angewandt wird, können gewaltige, 
praktische Resultate erzielt werden.« 

»Können wir das Modell sehen?« 
»Sie werden es nicht nur sehen, Professor Challenger, Sie 

werden die beweiskräftigste Vorführung erleben, die möglich 
ist – falls Sie dazu den Mut aufbringen.« 

»Falls?« brüllte der Löwe. »Ihr ›falls‹, mein Herr, ist in 

höchstem Maße beleidigend.« 

»Ich wollte Ihren Mut nicht in Zweifel ziehen, Ich meinte 

lediglich, daß ich Ihnen eine Gelegenheit biete, ihn unter 
Beweis zu stellen. Doch zunächst einige Worte von 
grundsätzlicher Bedeutung. 

Werden bestimmte Kristalle – Salz oder Zucker – mit Wasser 

in Berührung gebracht, lösen sie sich auf und verschwinden. 
Man glaubt kaum, daß sie jemals existiert haben. Doch 
verringert man die Wassermenge durch Verdunstung oder 
dergleichen, siehe da, die Kristalle erscheinen wieder, sind 

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wieder sichtbar wie zuvor. Können Sie sich einen Prozeß 
denken, durch den Sie, ein organisches Lebewesen, sich auf 
die gleiche Weise im Kosmos auflösen und durch eine subtile 
Umkehrung der Bedingungen wieder zur ursprünglichen 
Gestalt zusammensetzen?« 

»Die Analogie ist falsch«, rief Challenger dazwischen. 

»Selbst wenn ich eine so monströse Annahme akzeptierte, 
Moleküle könnten sich aufgrund einer wie auch immer 
gearteten Kraft zerstreuen, aus welchem Grund sollten sie sich 
in der gleichen Weise wie zuvor zusammensetzen?« 

»Der Einwand ist einleuchtend, doch kann ich darauf nur 

antworten, daß es sich bis zum letzten Atom der Struktur so 
verhält. Dahinter steht ein unsichtbares System, in dem jeder 
Baustein seinen Platz hat. Sie mögen jetzt lächeln, Professor, 
aber Ihrer Skepsis und Ihrem Lächeln wird bald ein anderes 
Gefühl folgen.« 

Challenger zuckte die Schultern. »Ich bin bereit, mich Ihrem 

Experiment zu unterziehen.« 

»Da gibt es noch etwas, das ich Ihnen nahebringen möchte 

und das Ihnen helfen wird, zu verstehen. Aus der östlichen 
Magie und dem westlichen Okkultismus ist Ihnen sicher das 
Phänomen der Teleportation geläufig, daß ein Ding aus der 
Ferne an einen anderen Ort versetzt werden kann. Wie sollte 
dergleichen geschehen, wenn nicht durch Auflösung der 
Moleküle, deren Bewegung auf einer Ätherwelle und ihrer 
endlichen Zusammensetzung durch eine unfaßbare Kraft an 
einem neuen Ort. Dies stellt eine genaue Analogie zur Leistung 
meiner Maschine dar.« 

»Sie können eine unglaubwürdige Sache nicht durch eine 

andere erklären«, sagte Challenger. »Ich glaube weder an 
Wunder, noch glaube ich an Ihre Maschine. Meine Zeit ist 
begrenzt, und sollten Sie noch mit einer Demonstration dienen 

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können, würde ich einen Beginn ohne weitere Zeremonie 
begrüßen.« 

»Wenn Sie hier dann bitte folgen wollen«, sagte der Erfinder. 

Er führte uns die Treppe des Hauses hinunter und durch den 
dahinterliegenden, kleinen Garten. Dort befand sich ein 
unübersehbares Gebäude, das er umständlich aufschloß. Wir 
traten ein. 

Das Innere bestand aus einem großen, weißgekalkten Raum 

mit unzähligen, von der Decke reichenden Kupferschnüren und 
einem großen, auf einem Podest ruhenden Magneten. Davor 
befand sich  – drei Fuß lang und einen Fuß im Durchmesser – 
eine Art Glasprisma. Rechts davon, auf einer Plattform aus 
Zinn, stand ein Sessel, über dem eine Haube aus poliertem 
Kupfer hing. An dieser Haube – wie auch am Sessel  – waren 
Metalldrähte befestigt. An der Seite des Sessels befand sich 
eine Art Trommel mit zahlreichen Rastern und einem Griff aus 
Gummi, der augenblicklich in Nullstellung stand. 

»Nemors Desintegrator«, rief der merkwürdige Mann, und 

wies mit theatralischer Geste auf die Maschine. »Das ist das 
Modell, dem es bestimmt ist, in die Geschichte einzugehen. Sie 
wird das Gleichgewicht der Kräfte unter den Nationen von 
Grund auf verändern. Wer sie sein eigen nennt, beherrscht die 
Welt. Nun, Professor Challenger, Sie haben mich  – wenn ich 
einmal so sagen darf  – in dieser Sache mit wenig Höflichkeit 
und Rücksichtnahme behandelt. Würden Sie sich bitte auf den 
Sessel setzen und mir erlauben, Ihnen am eigenen Leibe die 
Fähigkeiten der von mir entdeckten Kraft zu demonstrieren?« 

Challenger besaß den Mut eines Löwen, und etwas in der Art 

dieser Herausforderung brachte ihn im Nu in Raserei. Er 
stürzte auf die Maschine zu, aber ich ergriff seinen Arm und 
hielt ihn zurück. 

»Gehen Sie nicht!« sagte ich. »Ihr Leben ist zu wertvoll. Das 

Ganze ist ungeheuerlich. Welche Sicherheitsgarantien haben 

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Sie denn? Dieser Apparat sieht aus wie der elektrische Stuhl in 
Sing-Sing.« 

»Die Garantie meiner Sicherheit«, sagte Challenger, »sind 

Sie als Zeuge und die Tatsache, daß dieser Herr  – sollte mir 
etwas zustoßen – des Totschlags angeklagt würde.« 

»Es wäre ein harter Schlag für die Wissenschaft, wenn Ihre 

einzigartige Arbeit unvollendet bliebe. Lassen Sie es mich 
zuerst versuchen. Wenn das Experiment sich als harmlos 
erweist, folgen Sie mir.« 

Eine Gefahr für Leib und Leben hätte Challenger nie von 

seinem Vorhaben abgebracht, doch die Vorstellung, seine 
wissenschaftliche Arbeit könne nicht zu Ende geführt werden, 
traf ihn hart. Er zögerte, doch bevor er zu einer Entscheidung 
kam, stürmte ich vorwärts und sprang auf den Sitz. 

Ich sah, wie die Hand des Erfinders sich auf den Griff legte 

und bemerkte ein leichtes Klicken. Dann herrschte vor meinen 
Augen für einen Moment völliges Chaos, und Nebel legte sich 
darüber. Als er sich langsam wieder verzog, stand der Erfinder 
mit seinem verhaßten Grinsen vor mir, und Challenger, dem 
das Blut in die Wangen geschossen war, starrte über dessen 
Schulter. 

»Nun machen Sie schon!« sagte ich. 
»Es ist bereits vorbei. Sie haben bewundernswert reagiert«, 

antwortete Nemor. »Stehen Sie nun auf, Professor Challenger 
wird zweifellos Ihren Platz einnehmen.« 

Ich hatte meinen alten Freund nie so erregt gesehen. Seine 

stählernen Nerven hatten ihn für einen Moment völlig 
verlassen. Mit zitternder Hand ergriff er meinen Arm. 

»Mein Gott, Malone, es ist wahr«, sagte er. »Sie waren 

verschwunden. Kein Zweifel ist möglich. Ein Nebel entstand, 
und dann gab es nur noch Leere.« 

»Wie lange war ich fort?« 

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»Zwei oder drei Minuten. Ich war – muß ich zugeben – sehr 

erschreckt. Eine Rückkehr konnte  ich mir nicht vorstellen. 
Dann schob er den Hebel  – sofern es überhaupt einer ist – in 
eine andere Stellung und Sie saßen wieder auf dem Sitz. Sie 
sahen ein wenig verstört, aber ansonsten wie immer aus. Ich 
dankte dem Himmel, als ich Sie wieder erblickte.« 

Er trocknete sich mit einem großen, roten Taschentuch die 

Stirn. 

»Nun los!« sagte der Erfinder. »Oder haben Ihre Nerven Sie 

verlassen?« 

Challenger straffte sich sichtbar. Dann schob er meine 

protestierende Hand zur Seite und setzte sich auf den Sitz. Der 
Hebel rastete in Stellung drei. Er war verschwunden. 

Ich war zu Tode erschreckt, nicht zuletzt wegen der 

Kaltblütigkeit des Erfinders. »Ein interessanter Vorgang, nicht 
wahr?« bemerkte er. »Hält man sich die geradezu verblüffende 
Persönlichkeit des Professors vor Augen, ist es schon seltsam, 
sich ihn als eine durch dieses Haus schwebende molekulare 
Wolke vorzustellen. Selbstredend befindet er sich nun völlig in 
meiner Gewalt. Keine Macht der Welt kann mich daran 
hindern.« 

»Ich würde schon Mittel und Wege gegen Sie finden.« 
Das Lächeln wurde wieder zur Grimasse. »Sie nehmen doch 

wohl nicht an, daß mir je solch ein Gedanke käme. Es wäre 
unvorstellbar: Professor Challenger für immer in seine 
Bestandteile aufgelöst  – in den Kosmos entschwunden, ohne 
Spuren zu hinterlassen. Schrecklich! Schrecklich! Doch 
andererseits, er war nicht so höflich, wie er hätte sein sollen. 
Glauben Sie nicht, daß eine kleine Lektion…?« 

»Nein! Das glaube ich keineswegs.« 
»Betrachten wir es als eine neugierige Demonstration, um 

Ihren Artikel etwas interessanter zu gestalten. Zum Beispiel 
habe ich herausgefunden, daß das Haar auf völlig andere 

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Vibrationen anspricht und bewußt in den Prozeß einbezogen 
werden kann. Es wäre doch einmal interessant, den Bären ohne 
Fell zu sehen. Schauen Sie sich ihn an!« 

Ein Klicken des Schalters. Sekunden später saß Challenger 

wieder auf dem Sitz. Aber was für ein Challenger! Wie ein 
gestutzter Löwe! Wütend, wie ich ob des grotesken Scherzes 
war, konnte ich doch nur mühsam ein Lachen unterdrücken. 

Der gewaltige Kopf war kahl wie der eines Babys, seine Haut 

rein und unbefleckt wie die eines jungen Mädchens. Der untere 
Teil seines Gesichtes war seiner gewaltigen Mähne beraubt, 
während seine ganze Erscheinung mit den Fängen einer 
Bulldogge über dem massiven Kinn den Eindruck eines 
mitgenommenen und abgekämpften Gladiators erweckte. 

Auf unseren Gesichtern muß ein gewisser Ausdruck gelegen 

haben  – ich hegte nicht den geringsten Zweifel, daß das 
teuflische Grinsen des Erfinders sich ob dieses Anblicks noch 
vertiefte  –  aber, wie dem auch sei: Challengers Hand flog an 
seinen Kopf, und er wurde seines Zustandes gewahr. Im 
nächsten Augenblick war er aus dem Sitz gesprungen, ging 
dem Erfinder an die Kehle und warf ihn zu Boden. Da ich 
Challengers übermenschliche Kraft kannte, fürchtete ich um 
das Leben seines Opfers. 

»Um Himmels willen, seien Sie vorsichtig. Wenn Sie ihn 

umbringen, werden wir dem Rätsel nie auf die Spur kommen«, 
schrie ich. 

Das Argument wirkte. Selbst in Augenblicken größter 

Raserei war Challenger für Vernunftgründe offen. Er sprang 
vom Boden auf und zog den zitternden Erfinder mit sich. »Ich 
gebe Ihnen fünf Minuten«, stieß er voller Zorn hervor. »Habe 
ich in dieser Zeit meine alte Gestalt nicht wieder, werde ich 
das Leben aus Ihrer Gnomengestalt herausprügeln.« Mit einem 
zornigen Challenger war nicht zu spaßen. Selbst die Mutigsten 
würden vor ihm zusammenschrumpfen, und es sprach nichts 

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dafür, daß Theodore Nemor zu ihnen gehörte. Im Gegenteil, 
die Pickel und Warzen in seinem Gesicht wurden, als sein 
ohnehin schon kalkweißes Gesicht die Farbe eines 
Fischbauches annahm, noch deutlicher sichtbar. Seine Lippen 
zuckten. Er war kaum in der Lage zu sprechen. »Aber mein 
lieber Professor«, brabbelte er und faßte sich an die Kehle, 
»diese Gewalttätigkeit ist völlig unnötig. Es war doch nur ein 
harmloser Scherz unter Freunden. Ich wollte lediglich die 
Macht der Maschine demonstrieren. Sie wollten es doch so. 
Nichts für ungut. Ich gedachte keinesfalls Ihre Ehre anzutasten, 
Herr Professor, um nichts in der Welt!« 

Wortlos kletterte Challenger zurück auf den Sitz. 
»Behalten Sie ihn im Auge, Malone! Erlauben Sie ihm keine 

Frechheiten!« 

»Ich werde bestimmt darauf achten.« 
»Also dann, bringen Sie die Sache ins reine, oder tragen Sie 

die Konsequenzen.« 

Der erschreckte Nemor eilte zu der Maschine. Die 

zusammensetzende Kraftkomponente war auf volle Leistung 
eingestellt. Einen Augenblick später erschien der alte Löwe 
wieder mit wehender Mähne. Liebevoll strich er mit den 
Händen durch seinen Bart und ließ sie dann zur Stirn wandern, 
um sich der gänzlichen Wiederherstellung zu versichern. Dann 
stieg er mit ernster Miene vom Thron herab. 

»Sie haben sich da eine Frechheit herausgenommen, die 

ernste Konsequenzen für Sie hätte haben können. Aber wie 
dem auch sei, ich akzeptiere die Entschuldigung, daß es 
lediglich zum Zwecke der Demonstration geschah. Darf ich 
Ihnen nun einige direkte Fragen hinsichtlich dieser 
bemerkenswerten Kraft stellen, deren Entdeckung Sie sich 
rühmen können?« 

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»Ich bin gerne bereit, alle Fragen  – ausgenommen solcher 

nach der Herkunft der Kraft – zu beantworten. Das bleibt mein 
Geheimnis.« 

»Und niemand außer Ihnen weiß davon?« 
»Niemand hat die leiseste Ahnung.« 
»Keine Assistenten?« 
»Nein, mein Herr. Ich arbeite stets allein.« 
»Ach, das ist alles sehr interessant. Ich zweifle nun nicht 

mehr an der Wirkung der Kraft, doch ermesse ich die 
praktische Anwendung noch nicht.« 

»Ich erklärte bereits, daß es sich hier lediglich um ein Modell 

handelt. Doch könnte ohne weiteres  eine Herstellung in 
großem Ausmaß erfolgen. Das Modell wirkt vertikal. Gewisse 
Ströme über und unter Ihnen erzeugen Schwingungen, die 
entweder auflösen oder zusammenfügen. Doch kann dieser 
Prozeß ebenso horizontal durchgeführt werden. Die Wirkung 
würde einen weitaus größeren Bereich einbeziehen.« 

»Geben Sie uns ein Beispiel.« 
»Nehmen wir an, daß sich ein Pol in einem kleinen Boot und 

der andere sich in einem zweiten befindet. Befände sich ein 
Schlachtschiff zwischen ihnen, löste es sich in seine Moleküle 
auf. Das gleiche geschähe mit einer ganzen Truppe.« 

»Und Sie haben diese Erfindung als Monopol an eine einzige 

europäische Regierung verkauft?« 

»Ja, das habe ich. Ist der Preis erst einmal entrichtet, wird 

diese Nation über eine Macht verfügen wie keine andere zuvor. 
Sie haben keine Vorstellung davon, was eine solche Waffe in 
den richtigen Händen auszurichten vermag, wenn man nicht 
davor zurückschreckt sie anzuwenden.« Ein hämisches 
Grinsen glitt über das teuflische Gesicht. »Stellen Sie sich die 
Maschine in  einem Stadtteil Londons vor. Denken Sie an die 
Auswirkungen. Oder« – an dieser Stelle brach er in schallendes 

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Gelächter aus – »das ganze Themsetal würde ausgelöscht, und 
kein Mann, Frau oder Kind überlebt.« 

Die Worte erfüllten mich mit Schrecken, aber mehr noch das 

hämische Frohlocken, das aus ihnen sprach. Auf meinen 
Freund übten sie jedoch scheinbar eine andere Wirkung aus. 
Zu meiner Überraschung brach er in sein geniales Lachen aus 
und streckte dem Erfinder die Hand entgegen. 

»Nun, mein lieber Nemor, wir haben Ihnen zu gratulieren«, 

sagte er. »Zweifellos haben Sie der Natur eine bemerkenswerte 
Entdeckung abgerungen und sie zum Wohle der Menschheit 
nutzbar gemacht. Daß dieser Nutzen für die menschliche Rasse 
auch manchmal schädlich ist, erscheint mir zwar 
beklagenswert, doch kennt die Wissenschaft keine 
Sentimentalität, sondern dient dem Wissen, wo immer sie es 
findet. Abgesehen von dem grundsätzlichen Prinzip der 
Maschine, vermute ich, erheben Sie wohl keine Einwände 
gegen die Untersuchung Ihrer Konstruktion?« 

»Aber ich bitte Sie. Die Maschine stellt schließlich nur den 

Körper dar. Der Seele, dem dahinterstehenden Prinzip, werden 
Sie das Geheimnis nicht entreißen.« 

»So ist es. Doch schon der bloße Mechanismus ist ein Abbild 

eines außergewöhnlichen Scharfsinns.« Eine Zeitlang schritt er 
um die Maschine herum und befingerte verschiedene Teile. 
Dann zog er seine ungefüge Körpermasse auf den isolierten 
Sitz hinauf. 

»Sie wünschen einen erneuten Ausflug in den Kosmos?« 

fragte der Erfinder. 

»Später vielleicht, später! Aber gerade stelle ich zweifellos 

ein Schwanken der Elektrizität fest. Ich spüre ein leichtes 
Prickeln in meinem Körper.« 

»Unmöglich! Die Maschine ist völlig isoliert.« 
»Aber ich versichere Ihnen, ich fühle es noch immer.« 
Er schwang sich vom Sitz herunter. 

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Der Erfinder hastete auf den Sitz. »Ich spüre nichts.« 
»Spüren Sie nicht das Prickeln, das an Ihrem Rückgrat 

herunter läuft?« 

»Nein, nichts dergleichen.« 
Plötzlich gab es eine scharfes Klicken, und der Mann war 

verschwunden. Entsetzt starrte ich Challenger an. 

»Großer Gott! Haben Sie die Maschine versehentlich berührt, 

Professor?« 

Mit einem Anflug milder Überraschung lächelte er mich sanft 

an. »Du lieber Himmel, habe ich doch versehentlich den Hebel 
berührt«, rief er aus. »Derartige peinliche Zwischenfälle 
geschehen oft bei solch unfertigen Modellen. Der Hebel hier 
sollte auch vor Fehlgriffen geschützt sein.« 

»Er befindet sich in der Stellung ›drei‹. Das ist die Stellung, 

die eine Auflösung bewirkt. Ich bemerkte es, als Sie  an dem 
Experiment teilnahmen. Aber ich war so aufgeregt, als er Sie 
wieder erscheinen ließ, daß ich die Stellung für die Umkehrung 
der Auflösung nicht wahrnahm. Haben Sie es bemerkt?« 

»Mag sein, daß dem so ist, mein lieber Malone, doch ziehe 

ich es vor, meinen Verstand nicht mit derartigen Kleinigkeiten 
zu belasten. Es gibt viele Hebelstellungen an der Maschine, 
und wir kennen keine ihrer Bedeutungen. Spielen wir 
leichtfertig mit dem Unbekannten, werden wir nur die 
schlimmsten Erfahrungen machen. Wir lassen vielleicht die 
Dinge besser so, wie sie sind.« 

»Und Sie würden – « 
»Genau das. Es ist besser so. Die überaus interessante 

Persönlichkeit Herrn Theodore Nemors hat sich selbst im 
Kosmos aufgelöst, die Maschine erweist sich so als wertlos, 
und eine gewisse  ausländische Regierung sieht sich einer 
Erfindung beraubt, die viel Leid über die Menschheit gebracht 
hätte. Kein schlechtes Tagwerk, lieber Malone. In Ihrem Blatt 
wird zweifellos ein Artikel kurz nach dem Besuch Ihres 

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eigenen Sonderkorrespondenten erscheinen. Ich habe die 
heutige Erfahrung genossen. Das sind die lichten Augenblicke 
im trüben Alltag des Studiums. Aber das Leben hält 
Vergnügungen wie Pflichten bereit, und so kehre ich also zu 
dem Italiener Mazzotti und dessen grotesken Ansichten über 
die larvale Entwicklung der tropischen Termiten zurück.« 

Als ich noch einen Blick zurückwarf, schien ein leichter 

ätherischer Nebel über dem Sessel zu schweben. »Aber 
eigentlich…« wandte ich ein. 

»Morde zu verhindern ist die erste Bürgerpflicht«, sagte 

Professor  Challenger. »Ich habe danach gehandelt. Genug, 
Malone, genug! Keine Diskussionen mehr über das Thema. Es 
hat meine Gedanken schon zu lange von wichtigeren Dingen 
abgelenkt.« 


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