Über dieses Buch:
Damit hatten die Sibunas nicht gerechnet: Außer Mara ist plötzlich auch
Daniel in höchster Gefahr. Die Freunde sind verzweifelt. Was auch immer sie
tun, um den beiden zu helfen, geht schief. Zum ersten Mal will Nina wirklich
aufgeben, doch dann kehrt ihr schlimmster Gegner zurück: Zeno Trabas. Und
er ist zu allem bereit, um die Träne der Isis vor Nina und ihren Freunden in
seine Finger zu bekommen …
Die Buchreihe zur Nickelodeon-Erfolgsserie – jetzt als eBook!
In der Serie Das Haus Anubis erscheinen bei dotbooks auch die folgenden
eBooks:
Das Haus Anubis: Der geheime Club der Alten Weide
Das Haus Anubis: Das Geheimnis des Grabmals
Das Haus Anubis: Der geheimnisvolle Fluch
Das Haus Anubis: Die Auserwählte
Das Haus Anubis: Das Geheimnis der Winsbrügge-Westerlings
Das Haus Anubis: Pfad der 7 Sünden
Das Haus Anubis im Internet:
www.DasHausAnubis.de
www.DasHausAnubis-DerFilm.de
www.studio100.de
***
Vollständige eBook-Ausgabe November 2012
Copyright © der Originalausgabe 2012 Studio 100 Media GmbH
Text von Susanne Picard, basierend auf den Drehbüchern zur TV-Serie Het
Huis Anubis von Hans Bourlon, Gert Verhulst und Anjali Taneja
Copyright © der eBook-Ausgabe 2012 dotbooks GmbH, München
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmi-
gung des Verlages wiedergegeben werden.
Titelbildgestaltung: Nicola Bernhart Feines Grafikdesign, München
Titelbildabbildung: © 2012 Studio 100 Media GmbH
ISBN 978-3-95520-005-3
***
Wenn Ihnen dieser Roman gefallen hat, empfehlen wir Ihnen gerne weiteren
Lesestoff aus unserem Programm. Schicken Sie einfach eine eMail mit dem
Stichwort Haus Anubis an:
Besuchen Sie uns im Internet:
www.dotbooks.de
www.facebook.com/dotbooks
www.twitter.com/dotbooks_verlag
www.pinterest.com/dotbooks
3/246
DAS HAUS ANUBIS
Die Träne der Isis
Das Buch zur TV-Serie
dotbooks.
INHALT
7/246
1
DER ANFANG VOM ENDE
Entsetzt stand Nina vor Mara und Daniel. Die beiden lagen bewusstlos am
Boden, und nichts und niemand konnte sie wecken!
„Daniel ...!“, flüsterte Nina zum wiederholten Mal. Sie kniete sich neben ihn
und nahm sein Gesicht in die Hände. Doch ihr Freund wollte einfach nicht
aufwachen. Er war wie tot.
Auch Mara bewegte sich kein Stück. Sie hatte die Augen geschlossen und re-
agierte so wenig auf Ansprache wie Daniel.
Ratlos sah Nina ihre Freundinnen Delia und Luzy an, die mit ihr zusammen
ins Internat gestürmt waren. Was war nur passiert?
Auf einmal hörte Nina einen entsetzten Schrei. Rosie, die Haushälterin des
Internats, war gerade aus dem Garten gekommen und stand nun fassungslos
in der Eingangshalle.
„Was ist passiert?“, jammerte sie und wollte zu ihnen laufen. „Meine armen
Kleinen!“
Luzy sprang auf. Das fehlte gerade noch, dass Rosie jetzt aufkreuzte!
Luzy stellte sich zwischen die Haushälterin und die Freundinnen. „Schnell,
wir brauchen einen Notarzt!“, rief sie drängend.
Kreidebleich hastete Rosie die Treppe hinauf in Victors Büro.
Nina folgte ihr mit den Blicken und schaute dann zu Delia. „Mara hat den
Stein angefasst! Wir müssen das Gift von ihren Händen entfernen!“, sagte sie
entschieden. „Hol Spülmittel! Wenn die Sanitäter Maras rote Hände sehen,
stellen sie uns bestimmt irgendwelche Fragen!“
Delia stürzte sofort in den Putzraum, um Reinigungsmittel zu holen.
Als Rosie die Treppe wieder herunterkam, verbarg Nina die Flasche mit der
Scheuermilch unter ihrem weiten Mantel. Gut, dass sie immer noch ihr
Kostüm vom verpatzten Weihnachtsmusical trug! Sie wechselte einen Blick
mit Luzy, die sofort wieder zu Rosie ging und diese in die Küche brachte, um
ihr einen Tee zu machen und sie so lange abzulenken, bis die Rettungshelfer
kamen.
Nina schien es eine Ewigkeit zu dauern, dann hörte sie endlich die Sirene
eines herannahenden Krankenwagens.
Es klingelte.
Delia, die die Flaschen mit den Reinigungsmitteln rechtzeitig wieder an ihren
ursprünglichen Ort gebracht hatte, öffnete die Tür und ließ die Sanitäter
herein. Rosie war wieder aus der Küche gekommen. Sie zitterte wie
Espenlaub.
Hastig stand Nina auf und zog Delia mit sich, um dem Rettungsdienst Platz
zu machen.
Vorsichtig hoben die Sanitäter zuerst Mara und danach Daniel auf eine
Trage.
„Wie ist das passiert?“, wandte sich der Notarzt an Nina.
Es dauerte ein paar Sekunden, bis sie begriff, was der Mann von ihr wollte.
Sie schüttelte hilflos den Kopf. „Ich weiß es nicht. Wir haben sie so
gefunden!“
Der Arzt nickte grimmig und schob Daniel mithilfe seines Kollegen zur Tür.
„Ich komme mit!“, sagte Nina plötzlich.
Erst wollte der Arzt abwehren, doch er bemerkte die Sorge in Ninas Gesicht.
„Na gut“, antwortete er. „Dann komm.“
Nina folgte ihm rasch.
„Ich komme mit dem Rad nach!“, rief Delia.
Nina hörte das schon gar nicht mehr. Die Tür des Krankenwagens war bereits
hinter ihr zugefallen.
Ängstlich lief Nina neben den Sanitätern her, die Daniel auf der Trage in die
Ambulanz des Krankenhauses schoben. Den ganzen Weg in die Klinik hatten
die Sanitäter ihren Freund untersucht, seine Lungengeräusche abgehört, sein-
en Puls gefühlt und seine Reflexe getestet. Sie hatten Ninas drängende Fra-
gen nicht beantworten können. Als die Pfleger Daniel nun in den Behand-
lungsraum schoben, wollte Nina ihm auch dorthin folgen.
9/246
Ein Notarzt hielt sie zurück. „Tut mir leid. Bitte warte hier.“
Entsetzt blickte Nina über die Schulter des Mannes in das Zimmer, in dem
Daniel nun an Schläuche und ein Atemgerät angeschlossen wurde. In diesem
Moment kam auch Delia keuchend angerannt. Sie war auf ihrem Fahrrad so
schnell wie möglich hinter den Sanitätern hergefahren. Bevor Nina sie jedoch
begrüßen konnte, sprach der Notarzt sie noch einmal an.
„Ich möchte, dass du genau überlegst, was passiert sein könnte. Auch das
kleinste Detail kann lebenswichtig sein.“
Nina warf Delia, die hinter dem Arzt stand, einen fragenden Blick zu, bevor
sie zögernd antwortete. Als Delia das sah, begann sie wilde Grimassen zu
schneiden. Nina konnte erraten, was sie dachte. Sie durfte den Club nicht ver-
raten – aber die Ärzte mussten doch wissen, wie Daniel und Mara zu behan-
deln waren!
„Ich ... ich glaube, dass … dass Mara vielleicht vergiftet wurde“, stammelte
sie und warf der entsetzten Delia einen entschuldigenden Blick zu.
Der Arzt runzelte die Stirn. „Gift? Wie kommst du darauf? Was für ein
Gift?“
Nina schüttelte niedergeschlagen den Kopf. „Mehr weiß ich nicht.“
Das reichte dem Arzt nicht, allerdings fragte er auch nicht weiter. „Danke
trotzdem“, sagte er und verschwand im Behandlungsraum.
Nina schluckte. Nun hieß es warten.
Nina wusste nicht, wie oft sie bereits auf die geschlossene Tür des Behand-
lungsraums gesehen hatte, ohne zu hören oder zu erfahren, was dahinter vor
sich ging. Auch Delias Gegenwart und die Versuche, ihrer Freundin, sie mit
Keksen aus dem Automaten abzulenken, waren vergeblich.
Sie wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, als auf einmal Luzy und Mag-
nus den Flur der Notaufnahme entlanggelaufen kamen.
„Wisst ihr schon was?“, rief Luzy ihnen entgegen.
Nina schüttelte bedrückt den Kopf. „Nein. Sie wollten uns nichts sagen. Wir
sollen Geduld haben!“
Das Fünkchen Hoffnung schwand aus Luzys Gesicht.
10/246
Auch Magnus war mittlerweile dazugekommen. „Ihr erzählt mir jetzt sofort,
was hier los ist!“, schrie er wütend. „Ich habe die Schnauze voll von euren
Spielchen! Was ist mit Mara?“, fragte er drohend, und Nina wich unwillkür-
lich einen Schritt zurück.
Doch Magnus gab nicht nach. „Und sagt nur nicht, dass ihr nicht wisst, wor-
um es geht!“, fügte er hinzu, als er erkannte, wie Delia und Nina sich Hilfe
suchend anschauten.
„Wir haben wirklich keine Ahnung!“, sagte Delia schließlich kleinlaut.
Magnus glaubte ihr kein Wort. „Ihr sagt mir sofort die Wahrheit oder ich
kann für nichts mehr garantieren!“
Am liebsten wäre Nina auf der Stelle in einem Erdloch verschwunden. Sie
schämte sich, ohne genau zu wissen, wofür. Sie konnte verstehen, wie Mag-
nus sich fühlte, durfte ihm aber nichts sagen! In diesem Moment sah sie er-
leichtert, wie sich die Tür des Behandlungsraums öffnete und der Arzt, der
die beiden untersucht hatte, heraustrat.
Sofort stürzte Magnus auf ihn zu. „Liegt Mara hier? Mara Minkmar? Was hat
sie?“
Geduldig wandte der Doktor sich ihm zu. „Sie hat eine schwere Gehirner-
schütterung und wird eine Weile hierbleiben müssen, aber sonst scheint alles
in Ordnung zu sein.“
Magnus seufzte und legte kurz die Hände vors Gesicht.
Auch Nina atmete auf. Mara war nichts Schlimmes passiert! Vielleicht wurde
alles gut.
Sie trat einen Schritt vor. „Wissen Sie auch schon, was mit Daniel ist?“
Der Notarzt, der beim Anblick von Magnus’ Erleichterung ein wenig hatte
lächeln müssen, wurde ernst. „Da habe ich leider keine guten Neuigkeiten“,
antwortete er. „Wir haben alles versucht, es ist uns jedoch noch nicht gelun-
gen, ihn wieder zu Bewusstsein zu bringen. Daniel liegt im Koma … Es tut
mir leid“, fügte er hinzu, als er bemerkte, wie blass Nina geworden war.
Nina spürte, wie eine kalte Hand nach ihrem Herzen griff. „Können Sie denn
gar nichts für ihn tun?“, fragte sie mit erstickter Stimme.
11/246
„Wir können leider nichts machen, außer seinen Zustand zu beobachten.
Aber ihr könnt helfen“, sagte er mit einem aufmunternden Lächeln. „Indem
ihr ihn besucht und mit ihm sprecht. Vielleicht wacht er dann wieder auf.“
Nina konnte nur nicken. Der Kloß in ihrem Hals saß zu fest. Keinen Laut
hätte sie herausgebracht.
Sie sah gar nicht, dass Magnus sich jetzt auf Mara stürzte, die aus dem Zim-
mer geschoben wurde, oder dass Rosie angelaufen kam und Luzy nach Hause
abholte.
Sie wusste nur, sie würde so lange in Daniels Nähe bleiben, wie es nötig war.
Erbost stieß Victor Emanuel Rodemer, Hausverwalter des Internats „Haus
Anubis“, die Tür zu seinem Kellerlabor auf. Konnte es wirklich wahr sein,
was Luzy und Rosie ihm gerade erzählt hatten, als sie zur Tür hereingekom-
men waren? Hatte sein Vater all die Drohungen wahr gemacht, die er den
Kindern – der Schlangenbrut, wie er sie auch nannte – gegenüber aus-
gestoßen hatte?
„Vater?“
Er rannte auf den großen Wandspiegel zu und blieb mit geballten Fäusten da-
vor stehen.
„Vater, was ist mit den Kindern passiert? Vater?“
Nichts rührte sich. Erst als Victor noch einen Schritt auf den Spiegel zuging,
flackerte schwach eine Gestalt hinter dem halb blinden Glas auf.
„Du ... du hast ... gar nichts verstanden!“, grollte eine Stimme, die tiefer und
drohender klang als die des Hausverwalters. „Ich komme hier nicht weg ohne
das kleine Haus.“
Victor ging nicht auf diesen Hinweis ein. „Was hast du mit Mara und Daniel
gemacht?“
„Das war nicht ich, du Einfaltspinsel!“, keuchte die Gestalt hinter dem
Spiegel, die fast so aussah wie Victor selbst. „Aber ich habe jemanden gese-
hen“, fuhr er fort und wurde wieder blasser. „Er hat Mara getragen!“
„Wen?“, flüsterte Victor erschrocken. Waren er und die Kinder nicht die Ein-
zigen, die hinter der Träne der Isis her waren?
12/246
„Das weiß ich nicht!“, antwortete sein Vater wütend. „Ein Mann ... mit
Kapuze!“ Er rang nach Luft.
„Vater, was ist denn los?“, wollte Victor wissen.
„Du musst das Miniaturhaus finden! Schnell! Meine Kräfte schwinden ...!“
„Aber wo soll ich denn suchen?“, fragte Victor verwirrt.
„Das musst du schon selbst herausfinden, wenn du deinen toten Vogel
wiedersehen willst!“, röchelte Victor Senior. Mit diesen Worten verschwand
er ganz in die Dunkelheit hinter dem Glas.
Victor starrte den leeren Spiegel an, in dem er sich selbst nur noch versch-
wommen erkennen konnte.
„Ein Mann mit Kapuze“, dachte er laut.
Immerhin ein kleiner Hinweis ...
Morten Vierstein konnte nicht anders. Überaus selbstzufrieden schlug er die
Kapuze seines grauen Sweatshirts, das er wie immer unter seiner Lederjacke
trug, zurück und zog eine winzige Phiole mit einer klaren Flüssigkeit aus der
Tasche.
Sein Auftraggeber, der Ägyptologe Zeno Trabas, hob seinen Blick von der
Miniaturversion des Internats Haus Anubis zu seinem Freund und Helfer. Der
Dank und die Vorfreude in seinen Augen waren Vierstein eine Genugtuung.
Die Mühen hatten sich gelohnt. „Endlich, jetzt gehört die Träne der Isis mir!“
„Luzy sagt, man muss die Flüssigkeit in diesen Schornstein gießen“, sagte
Vierstein und wies mit dem Finger auf den Schornstein über der
Dachkammer.
Feierlich nahm Trabas das Fläschchen aus Viersteins Hand.
„So lange haben wir gewartet“, murmelte er leise. „Und nun ... ist der Augen-
blick gekommen.“
Mit diesen Worten entstöpselte er die Phiole und schüttete die Flüssigkeit
darin so vorsichtig, wie er es mit seinen zitternden Fingern zuwege brachte,
in den Schornstein des Miniaturhauses.
Gespannt schauten er und Vierstein zu, wie sich nach einigen Sekunden ein
wenig Rauch aus dem Schornstein zu kräuseln begann. Dann sirrte und
13/246
klackte es geheimnisvoll im Innern des Hauses. Eine Feder, die das Dach auf
den Wänden gehalten hatte, sprang auf.
Langsam klappte Trabas das Dach zurück und spähte hinein. Aber, was er er-
wartet hatte, war nicht da.
„Was ist das?“, keuchte Trabas verwirrt und holte etwas aus dem Häuschen.
Vierstein kam näher heran. Er war neugierig. Wie die Träne der Isis wohl
aussah?
Doch Trabas hielt keinen Edelstein in der Hand. Nur eine winzige Truhe, der-
en Deckel man aufklappen konnte. Und die Truhe war leer!
Keine Träne? Vierstein war verwirrt.
„Nein!“, schrie Trabas auf, als habe man ihn tödlich verwundet. „Nein, nein!“
Seine Rufe gingen in schweres Husten über. Er bekam keine Luft!
Schnell griff Vierstein nach der Atemmaske des alten Mannes und streifte sie
ihm über Mund und Nase. Schon nach wenigen Sekunden wurde Trabas’
Atem ruhiger.
Die Verwirrung allerdings blieb.
Wenn die Träne der Isis nicht in diesem Häuschen war – wo war sie dann?
„Wir ... wir müssen weitermachen“, sagte Trabas erschöpft, als sein Atem
sich wieder beruhigt hatte.
„Aber wie?“ Vierstein war ratlos.
„Ich habe ... nicht mehr viel Zeit“, keuchte Trabas. „Wenn wir die Träne der
Isis nicht bald finden, bin ich in ein paar Wochen ...“
Schon die wenigen Worte waren für den Kranken zu viel gewesen. Ein
Hustenanfall schüttelte seinen geschwächten Körper. Vierstein zog es das
Herz zusammen. Es fiel ihm nicht leicht, seinen Auftraggeber so leiden zu
sehen.
„Was soll ich tun?“, fragte er leise und erhöhte die Sauerstoffzufuhr, damit
Zeno Trabas besser atmen konnte.
„Luzy“, hauchte dieser und drückte Vierstein die kleine Holzkiste in die
Hand, die er aus dem Miniaturhaus genommen hatte. „Sie muss uns
weiterhelfen!“
14/246
2
DIAGNOSE: KOMA
Müde setzte sich Nina auf einen der unbequemen Plastikstühle, auf denen sie
mit Delia bereits die ganze Nacht zugebracht hatte. Er war, wie alle anderen,
nicht einmal gepolstert. Dass Wartezimmer in Krankenhäusern aber auch im-
mer so ungemütlich sein mussten! Die Zeitschriften auf dem Tischchen zwis-
chen ihrer Freundin und sich selbst hatte sie schon hundertmal angefasst und
wieder fortgelegt, sogar Delia konnten die neuesten Schlagzeilen über die It-
Girls und die Hollywoodberühmtheiten nicht mehr ablenken. Ninas Freundin
hatte zwischendurch geweint, das war an den schwarzen Mascaraspuren in
ihrem blassen Gesicht deutlich zu sehen.
Nina seufzte niedergeschlagen. Noch immer gab es keine Neuigkeiten von
Daniel, auch der Arzt hatte sich seit gestern Abend nicht mehr blicken lassen.
Tränen stiegen in Nina auf, als sie an all die Erlebnisse dachte, die Daniel
und sie geteilt hatten und die so wunderschön gewesen waren. Der Augen-
blick, als sie sich das erste Mal gestanden hatten, wie toll sie einander fanden
– und der Kuss danach! Der Augenblick, als Nina wegen ihrer kranken Oma
so traurig gewesen war und sie sich so einsam gefühlt hatte – und Daniel ihr
versprochen hatte, dass er sie nie allein lassen würde. Und der Augenblick,
als Daniel ihr gestanden hatte, er würde ihr alles verzeihen, sogar eine ver-
masselte Teilnahme am Physikwettbewerb ...
Verzweifelt versuchte Nina, an etwas anderes zu denken, trotzdem kehrten
ihre Gedanken immer wieder an ihre gemeinsamen Momente mit Daniel
zurück. Glücklicherweise kam in diesem Moment Luzy den Gang
entlanggelaufen. Ihre Absätze klapperten so laut auf dem Linoleumboden,
dass Nina aus ihren schmerzvollen und dennoch so schönen Gedanken
aufschreckte.
„Gibt’s schon was Neues?“, fragte Luzy ängstlich.
Traurig schüttelte Nina den Kopf und versank erneut in ihren Gedanken.
Doch nicht für lange, denn plötzlich schrie ihr jemand ins Ohr: „Buh!“
Sie fiel fast vom Stuhl, so sehr zuckte sie zusammen. Und nicht nur sie, auch
Delia erwachte auf einmal aus ihrer Lethargie.
„Oh Mann, Felix!“, maulte die Blondine. „Das ist wirklich nicht der richtige
Zeitpunkt zum Erschrecken!“
„Wollte ich ja gar nicht!“, klang es dumpf neben Nina. „Ich komm einfach
nicht mehr raus!“
Nina sah auf. Neben ihr stand eine Gestalt, die von Kopf bis Fuß in weiße
Mullbinden eingewickelt war. Nur ein Augenschlitz war freigelassen, und die
große schwarze Brille, die auf der eingepackten Nase saß, verriet, wer sich
unter den Bandagen befand: Felix Gaber.
Umständlich ließ er einen Rucksack und zwei Flaschen Apfelsaft in Ninas
Schoß plumpsen. „Proviant“, verkündete er durch die Verbände hindurch, die
sogar seinen Mund bedeckten.
Trotz ihrer trüben Stimmung musste Nina grinsen.
„Für alle, die bisher Zweifel hatten: Es gibt nur eine Person, die so eine bes-
cheuerte Aktion bringt!“, sagte Luzy und wies grinsend auf die Mumie. Auch
sie konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen.
„Das ist ganz schön unpraktisch, Felix!“, schmunzelte Nina und spähte in den
Rucksack, den Felix ihr gegeben hatte. Mehrere Erdnussbutter- und
Käsebrote waren darin sowie ein paar Stücke von Rosies Marmorkuchen.
„Danke!“
Selbst unter den Verbänden war zu sehen, dass Felix grinste, als er die Dau-
men hochstreckte.
„Hast du gefragt, ob du die Verbände einfach so nehmen darfst?“, fragte
Luzy.
„Na ja ...“ Felix zögerte mit der Antwort.
„Hab ich mir fast gedacht“, sagte Luzy und wies auf eine grün gekleidete
Gestalt, die in diesem Moment am Ende des Flurs auftauchte. Felix wandte
sich um, so gut es ging, und flüchtete sofort.
Der Pfleger rannte hinterher.
16/246
Typisch Felix!, dachte Nina. Sie schaute erneut in den Rucksack. Eigentlich
hatte sie keinen Appetit, aber der Kuchen sah sehr verlockend aus. Sie wollte
sich gerade ein Stück nehmen, als sie ein Türenklappen direkt vor sich hörte.
Der Notarzt, Dr. Brink, hatte Daniels Zimmer verlassen.
Sie vergaß den Proviant und sprang gleichzeitig mit Delia auf.
„Und? Wissen Sie schon mehr?“
Dr. Brink seufzte. „Das Positive ist, sein Zustand hat sich nicht
verschlechtert.“
„Und das Negative?“, entgegnete Delia mit großen Augen. „Was ist das
Negative?“
Der Arzt machte ein besorgtes Gesicht. „Wir wissen nicht, wo wir suchen
sollen. Daniel zeigt keine Reaktion auf jegliche Reize.“
Nina musste schlucken. Sie konnte nicht sprechen. Felix’ Rucksack hatte sie
an sich gedrückt, als wolle sie sich schützen.
„Reize?“, fragte Delia. „Was denn für Reize? Piksen und Kneifen?“
„Wir beobachten ihn sehr aufmerksam. Sobald er irgendeine Reaktion zeigt,
werde ich euch sicher informieren.“
„Können wir vielleicht zu ihm?“, fragte Nina.
Dr. Brink nickte und öffnete die Tür. Er ging als Erster ins Krankenzimmer
und blieb neben Daniels Bett stehen.
Nina, Delia und Luzy folgten ihm, blieben allerdings in respektvoller Ent-
fernung zurück. Daniel lag in einem weiß bezogenen Bett. Er hatte eine
Atemmaske auf der Nase, Schläuche und Drähte aller Art verbanden seinen
Körper mit Maschinen, die seinen Herzschlag, seinen Blutdruck und seine
Hirnströme errechneten. Ein Monitor piepte regelmäßig. Immerhin ein
Zeichen, dass er tatsächlich noch am Leben war!
„Kommt ruhig näher“, sagte Dr. Brink. „Ihr braucht keine Angst zu haben,
ihr stört ihn nicht.“ Er lächelte Nina an und verließ leise das Zimmer.
Durch die Regelmäßigkeit der Pieptöne ein wenig beruhigt, trat Nina ans Bett
heran.
„Er sieht so aus, als würde er einfach schlafen“, bemerkte sie beinahe staun-
end. „Und jeden Moment aufwachen.“
Delia war nicht überzeugt. „Und was ist, wenn er nicht mehr aufwacht?“
17/246
„Sag so was nicht!“, fuhr Luzy sie an. „Sonst passiert es wirklich!“
„So etwas darfst du nicht denken!“, meinte auch Nina. „Du darfst die
Hoffnung nicht aufgeben, sonst ...“ Aber sie wagte nicht, den Satz zu Ende zu
sprechen.
„Vielleicht ist es auch ein Fluch, wie bei deiner Oma!“, gab Delia zu
bedenken.
„Das bringt doch nichts“, sagte Nina. „Egal, was es ist, wir können ihm
helfen, ihn besuchen und mit ihm sprechen und bei ihm sein. Vielleicht wacht
er dann wieder auf.“
„Nina hat recht. Wir müssen stark sein“, bestätigte Luzy, musste allerdings
bei diesen Worten schlucken.
„Ist es okay, wenn ich kurz allein mit ihm sein will?“, fragte Nina nach einer
Pause.
Luzy stimmte zu und zog die widerstrebende Delia mit sich.
Nina sah auf Daniels blasses Gesicht hinunter und strich langsam über seinen
Unterarm, der auf der dünnen Decke lag.
„Eigentlich bist du immer derjenige, der mich rettet“, murmelte sie. „Wer soll
das denn jetzt machen? Du musst ganz schnell zurückkommen! Der Club
kann nicht ohne dich ... und ich auch nicht“, fügte sie noch leiser hinzu. Sie
musste erneut schlucken, aber der Frosch in ihrem Hals wollte nicht ver-
schwinden. „Kannst du dich an die Zeit erinnern, als meine Oma krank war?
Da hast du mir gesagt, dass ich niemals aufgeben darf. Dass alles gut wird.“
Sie atmete durch.
„Und es wird auch alles gut. Ich werd alles dafür tun, damit du bald wieder
bei uns bist. Das verspreche ich dir, Daniel“, sagte sie.
Sie hob die linke Hand ans Auge. „Sibuna!“
Danach wandte sie sich um und verließ leise das Zimmer.
Sie war so in Gedanken, dass sie den fremden Jungen kaum bemerkte, der ihr
im letzten Moment auswich. Beinahe wäre sie mit ihm zusammengestoßen,
als er aus Maras Zimmer kam. Sie registrierte auch nicht, wie sehr er ers-
chrak. Fast, als sei er bei etwas Verbotenem ertappt worden.
Zerstreut betrachtete Nina Maras Zimmertür. Sollte sie die Freundin be-
suchen? Sie erinnerte sich an die Vision. Noch schien Mara nicht außer
18/246
Gefahr. Dann sagte sie sich allerdings, dass Magnus seine Freundin sicher
nicht aus den Augen lassen würde.
Nina wandte sich zum Gehen, ohne auf den Fremden zu achten, der ihr bei-
nahe furchtsam hinterherblickte. Er seufzte erleichtert, als sie sich um seine
Gegenwart nicht weiter kümmerte, doch auch das sah sie nicht.
Nina konnte nur an Daniel denken. Jetzt, wo sie ihn gesehen hatte, war sie
ein wenig getröstet. Er war nicht allein, denn sie würde auf ihn achtgeben wie
Magnus auf Mara.
Daniel würde sich auf sie und den Club verlassen können.
19/246
3
DIE VERRÄTERIN
Eine Verräterin.
Luzy Schoppa war sicher, sie war genau das. Niedergeschlagen trottete sie
die große Schultreppe hinunter und ging in Richtung ihres Fahrrades. Warum
nur hatte sie beim Frühstück nichts gesagt! Ninas trauriges Gesicht hätte ein-
en Stein erweichen können. Luzy war sich so schäbig vorgekommen wie nie
zuvor. Sie war diejenige gewesen, die Zeno Trabas und seinem Helfer
Morten Vierstein ermöglicht hatte, überhaupt so weit zu kommen. Nur wegen
ihr hatten die beiden Mara entführen können – und nur deshalb hatte Daniel
sie retten wollen!
Und nun lag er wegen Luzys Machenschaften im Koma.
Luzy konnte an nichts anderes denken. Sie merkte gar nicht, wie sich hinter
ihr jemand an sie heranschlich. Plötzlich wurde sie gepackt und in einen
kleinen Transportbus geschubst. Mit einem Knall schloss sich hinter ihr die
Schiebetür. Luzy war so erschrocken, dass sie nicht sicher war: Hatte da je-
mand hämisch gelacht? Sie hielt kurz die Luft an.
Wer konnte so hinterhältig und gemein sein, sie am helllichten Tag zu ent-
führen – direkt vor der Schule? Der Bus ruckte und fuhr mit quietschenden
Reifen davon.
Luzy fiel nur einer ein, der das wagen konnte: Morten Vierstein.
Wütend nahm sie sich fest vor, zu kratzen, zu beißen und zu treten, sobald er
die Tür aufmachte. Sie würde sich das nicht von ihm gefallen lassen!
Doch als die Autotür sich öffnete, war sie vom plötzlich einfallenden Licht so
geblendet, dass sie sich kaum wehren konnte. Vierstein packte sie an den
Handgelenken und fesselte sie. Er riss sie mit, in ein Schloss, durch einen
langen Gang, hinein in ein düsteres Zimmer mit dunklen Holzpaneelen an der
Wand und dunkelroten Gardinen. Ihre unsanfte Reise endete auf einem Stuhl
am Fuß eines Bettes.
„Schön, dich wiederzusehen“, krächzte eine Stimme aus einer Ecke des Zim-
mers. Es war Zeno Trabas, der aufrecht, aber sehr schwach in seinem breiten
Bett saß. Morten Vierstein stand bösartig grinsend neben ihm.
„Wo bin ich?“, wollte Luzy wissen und versuchte, die Fesseln um ihre
Handgelenke zu lösen. „Machen Sie mich los!“ Am liebsten hätte sie ges-
chrien vor Wut, als sie feststellte, dass die Kabelbinder zu fest saßen.
„Ganz ruhig, junge Dame“, sagte Trabas beinahe freundlich. „Erst die Arbeit,
dann das Vergnügen.“
„Vergnügen? Das ist doch ...“ Luzy schnappte nach Luft. „Soll erst jemand
sterben? Ist es das, was Sie wollen, Sie Irrer?“
„Was soll das?“, fragte Vierstein ungeduldig. „Wir wollen nur die Träne der
Isis!“
„Ja klar!“, stieß Luzy hervor. „Und deshalb liegt Daniel im Koma?“
„Daniel? Der Arme!“, höhnte Vierstein, als Trabas ihn am Arm packte und
ihn unterbrach.
„Was glaubst du, was wir mit ihm gemacht haben?“, wollte er von Luzy
wissen.
„Sie waren im Keller!“, entgegnete Luzy. „Und dann haben Sie Daniel natür-
lich dabei überrascht, wie er Mara retten wollte! Sie haben ihn kaltblütig
niedergeschlagen!“
„Dafür gibt’s überhaupt keine Beweise!“, gab Vierstein pampig zurück.
„Ach nein?“ Luzy war jetzt so richtig in Fahrt. Sie hatte gar keine Angst
mehr. „Geben Sie’s doch zu! Einen wehrlosen Jungen! Eiskalt haben Sie ihn
umgehauen! Das ist versuchter Totschlag!“
„Morten!“ Zeno Trabas fuhr auf. „Was hast du da unten gemacht?“ Er rang
nach Luft.
„Ja, das wüsste ich auch gern!“, rief Luzy angriffslustig.
„Aber so war das gar nicht!“, stieß Morten Vierstein hervor. Mehr konnte er
nicht sagen, denn Trabas fiel atemlos vor Aufregung zurück in sein Bett. Er
hustete und bekam kaum Luft, Vierstein musste sich um ihn kümmern. Er
21/246
streifte dem Kranken die Atemmaske über, danach packte er Luzy am Arm
und zog sie auf den Gang hinaus.
Vorsichtig schloss er die Tür, bevor er Luzys Handgelenke ergriff und die
Fesseln durchschnitt. „Wag nur nicht, ihn noch einmal so aufzuregen!“, zis-
chte er.
Luzy biss sich auf die Lippen und sagte nichts. Sie traute sich nur, Vierstein
böse anzusehen. Am Ende fesselte er sie erneut! Das Risiko wollte sie nicht
eingehen. Sie wandte sich um und wollte schon gehen, als er sie zurückhielt.
„Nicht so schnell! Hier.“
Er hielt ihr einen kleinen Gegenstand entgegen, den er aus der Innentasche
seiner Lederjacke gezogen hatte.
„Was ist das?“, fragte Luzy misstrauisch. Der Gegenstand sah aus wie eine
kleine Kiste.
„Ein neues Möbelstück aus dem kleinen Haus. Für die nächste Aufgabe.“
Luzy machte keine Anstalten, die kleine Kiste zu nehmen. „Wie lange soll
das eigentlich so weitergehen?“, wollte sie wissen. „Ich hab das Ding noch
nie gesehen!“
„Nimm es!“, meinte Vierstein drohend. „Oder willst du die Träne der Isis gar
nicht mehr finden? Für Daniel?“
„Als ob Daniel Ihnen irgendetwas bedeuten würde!“, stieß Luzy empört
hervor.
„Das mit Daniel war nicht geplant!“, verteidigte sich Vierstein. „Aber du
willst mit Sicherheit nicht, dass deinen anderen Freunden etwas passiert,
oder?“
Luzy zauderte, nahm dann allerdings die Kiste, die Vierstein ihr hinhielt. Sie
sagte nichts, sondern funkelte ihn nur böse an. Schließlich wandte sie sich en-
dgültig von ihm ab.
„Und ruf mich an, wenn du was weißt, sonst wirst du’s bereuen!“, rief er ihr
hinterher. Eine Tür schlug zu. Als Luzy sich am Treppenabsatz umdrehte,
war Vierstein wieder in Trabas’ Zimmer verschwunden.
Aufgebracht zog Morten Vierstein die Tür hinter sich zu.
22/246
„Luzy gehorcht mir!“, antwortete er auf den vorwurfsvollen Blick seines
Auftraggebers. „Ein bisschen Druck bewirkt Wunder! Ich habe die Kleine im
Griff.“
„Das ist gut so!“, erklärte Zeno Trabas. „Dann ist das also ganz anders als die
Sache im Keller?“
Vierstein senkte schuldbewusst den Blick.
„Die Träne allein genügt nicht“, fuhr Trabas fort. „Das weißt du. Der letzte
Nachfahre von Tutanchamun und Amneris muss ein Ende finden. Die Blut-
linie – sie muss unterbrochen werden.“
„Mara!“, sagte Vierstein eifrig. Er wollte Trabas erkennen lassen, dass er
alles verstanden hatte.
Trabas nickte. „Jetzt wäre der geeignete Zeitpunkt, die Wahrheit darüber zu
sagen, was im Keller passiert ist.“
„Mara hatte ihre Hand bereits auf dem Stein. Die Prüfung lief nach Plan!“
„Und das Gift?“
„Dann kam Daniel herein und hat sie weggezogen. Und das Gift ...“ Vierstein
unterbrach sich beschämt und schwieg.
„Was ist passiert?“, drängte Trabas.
Vierstein holte tief Luft, bevor er seinem Auftraggeber das Wesentliche
beichtete. „Daniel ist auf die Spritze gefallen“, stieß er hervor. „Das Gift für
Mara – es ist in Daniel!“
„Hey! Was machst du da?“ Delia versuchte, ihren Finger aus Felix’ festem
Griff zu befreien.
Er war gekleidet wie ein Chemielaborant, was irgendwie passte – immerhin
hatten sie gerade Chemie gehabt und standen noch im Chemielabor der
Schule. Felix hatte Delias rechten Zeigefinger gepackt und tauchte ihn in ein
Gläschen mit dickflüssiger, fester Farbe, das vor ihm auf dem gekachelten
Tisch stand. Luzy und Nina sahen gespannt zu.
„Fingerabdrücke nehmen!“, meinte Felix ganz selbstverständlich auf ihre
Frage.
„Igitt!“ Angeekelt wischte Delia den schmutzigen Finger an dem weißen Kit-
tel ab, den Felix trug.
23/246
„Spinnst du? Das vermasselt doch alles!“, antwortete Felix unwirsch, nahm
Delias Finger und drückte ihn fest auf ein Blatt Papier, das auf dem Tisch vor
ihm lag.
„Na und? Was soll das?“, wollte Delia wissen. „Bin ich jetzt verdächtig, oder
was?“
„Ich habe Felix darum gebeten, das zu machen“, unterbrach Nina das Gezänk
der beiden. „Wir müssen einfach rausfinden, was bei der Prüfung der Neph-
thys passiert ist. Wir vergleichen unsere Fingerabdrücke mit denen, die wir
dort finden. Dann sehen wir, wer alles da war. Wer auch immer Daniel das
angetan hat, er kann sich auf was gefasst machen.“ Den letzten Satz sprach
sie leise, aber sehr entschlossen. „Kann ich mich auf euch verlassen? Ich
glaub, ich schaff das nicht allein.“
Nina blickte in die Runde. Felix nickte eifrig. Wie sie erwartet hatte, war er
froh, den CSI-Detective geben zu dürfen. Delia dagegen sah immer noch
beleidigt aus. Und Luzy ... ihre Reaktion war die seltsamste, fand Nina. Ihr
Gesichtsausdruck war steinern und kaum zu deuten.
„Super-Felix ist für dich da!“, trompetete Felix und wandte sich seinem CSI-
Koffer zu.
„Ich auch“, schloss Delia sich an. „Das weißt du ja!“
Nina lächelte. Ja, das wusste sie! Delia war die beste Freundin, die man sich
vorstellen konnte.
„Klar“, sagte nun auch Luzy. Es klang seltsam verhalten. „Wir sind alle bei
dir“, bekräftigte sie plötzlich.
Nina schaute zu Felix und sah zu, wie er weiterhin Proben nahm.
Luzy schien das trotz ihres Versprechens unangenehm zu sein. „Ist das denn
echt alles notwendig?“
„Wir brauchen alle Daten, die wir kriegen können“, erklärte Nina. „Oder hast
du eine bessere Idee?“
Luzy wandte sich ab. „Nein“, flüsterte sie kaum hörbar.
„Wir werden herausfinden, wer Daniel das angetan hat“, wiederholte Nina
fest und zuckte nicht mit der Wimper, als Felix ihr ein Haar ausrupfte.
Sie war entschlossen wie nie.
24/246
4
DER ONKEL AUS DER SCHWEIZ
Vorsichtig klopfte Rosie mit der Gartenschaufel die Erde um die zarten
Wurzeln der Blumenstaude fest. Sonst floss die gute Erde bereits beim
Gießen davon! Sie strich liebevoll über eines der grünen Blätter.
„So, wer von euch hat am meisten Durst?“, fragte sie ihre Lieblinge und
stand auf. „Keine Sorge, ihr bekommt alle etwas!“
Sie ging in die Küche, um ihre Gießkanne zu füllen, doch als sie wieder
zurückkam und um den Zaun vor ihrem Beet bog, blieb sie wie angewurzelt
stehen. Die Blumen! Wo die kleinen, mit viel Liebe gepflanzten Stauden
bunte Blütenköpfe gehabt hatten, waren jetzt nur noch grüne Blätter zu
sehen.
„Bä-ä-äh!“
Suchend schaute Rosie sich um. Dieses Meckern hatte sie gerade schon in
der Küche gehört!
„Bä-ää-ääh!“
Rosie ging ein Licht auf. Das Meckern war also keineswegs ein Geist, wie sie
zuerst vermutet hatte!
„Wer um alles in der Welt hat denn eine Ziege mit in den Garten gebracht?“,
überlegte sie laut und ging dem Geräusch nach.
Sie stürmte so entschlossen vorwärts, dass sie beinahe mit jemandem zusam-
mengestoßen wäre.
„Grüezi!“, schmetterte ihr der Unbekannte entgegen. „Mein Name ist Ursli!“
Er trug eine Schirmmütze und einen rosafarbenen Schal. Mit seinem freund-
lichen Großvaterbart und dem netten Lächeln sah er eigentlich alles andere
als Furcht einflößend aus, dennoch wich Rosie erschrocken ein paar Schritte
zurück. „Gehen Sie weg, Sie Blumenmörder!“, schimpfte sie empört und
wies auf die kleine weiße Gestalt, die in diesem Moment kauend um die Ecke
der Hecke trabte.
Der Herr mit dem seltsamen Namen wandte sich schuldbewusst um.
„Gnädige Frau, das ist Delphi. Und Delphi hört nichts, wenn sie Hunger hat.“
Rosie winkte ab. „Ich möchte Sie bitten, augenblicklich den Garten zu ver-
lassen!“, verlangte sie energisch.
Entschuldigend breitete der Herr die Hände aus, die in fingerlosen Hand-
schuhen steckten. „Das geht leider nicht.“ Er lächelte Rosie gewinnend an.
„Wir möchten Felix besuchen. Ist er da?“
Der Herr – Ursli hieß er wohl, wie Rosie sich erinnerte –, war so ausnehmend
höflich, dass sie schon gar nicht mehr so zornig war. Nur, die abgefressenen
Blumen verzieh sie ihm noch nicht!
„Was wollen Sie denn von Felix?“, fragte sie misstrauisch.
„Ich bin sein Onkel!“, erklärte Ursli.
„Aber Felix ist doch in der Schweiz!“, entgegnete Rosie verblüfft.
„Liebes Fräulein“, sagte Ursli traurig. Rosie hätte beinahe Mitleid bekom-
men. „Jetzt bin ich so lange gereist! Soll das denn alles umsonst gewesen
sein?“
Rosie wusste nicht, was sie entgegnen sollte. Einerseits tat ihr dieser freund-
liche Mann nun wirklich ein bisschen leid, andererseits hatte seine Ziege
gerade ihre Blumenlieblinge gefressen!
Auf einmal strahlte Urslis freundliches Gesicht hell auf. „Wissen Sie was,
gnädige Frau? Delphi und ich bleiben hier im Garten und warten auf ihn.
Denn in der Schweiz ist Felix nicht, da bin ich ganz, ganz, ganz sicher.“
Rosie kam nicht dazu, zu antworten, denn neben ihr ertönte eine erboste
Stimme. „Was ist denn das für ein Geschrei? Kann es hier nie einfach mal
ruhig sein?“
„Victor!“ Rosie wandte sich dem überraschend aufgetauchten Hausverwalter
zu und hörte sich zu ihrem eigenen Erstaunen erklären, wer der fremde Herr
war und dass dieser ein wenig bleiben würde.
Erst wollte Victor protestieren. Doch er gab knurrend nach, als er Rosies
Gesichtsausdruck bemerkte. Wenn sie ihn so ansah, dann war sein Nachmit-
tagskaffee in Gefahr. Und außerdem hatte er Besseres zu tun.
26/246
Er nickte Rosie und dem Fremden ungnädig zu, aber er wartete nicht mehr
ab, dass sie diesen Mann mit sich fortzog, sondern huschte sofort wieder ins
Haus. Am Fuß der Treppe in die oberen Stockwerke nahm er seinen
Werkzeugkasten und eilte die Stufen zur Dachkammer hinauf. Glücklicher-
weise traf er auf niemanden, denn die Kinder waren in der Schule.
Als er die Tür zu Delias Zimmer öffnete, verzog er angewidert das Gesicht.
Dieses schreckliche Rosa hier überall! Schnell packte er sich den Stuhl, der
vor ihrem Schreibtisch stand, drehte ihn um und begann ihn zu verdrahten.
Schon bald hatte er es geschafft. Beinahe unsichtbar hatte er ein Mikrofon
unter dem Sitz des barocken Sessels angebracht. Er schaltete es an und
klopfte gegen den Draht, der die Membran umgab. Im Gegenstück, das in
seinem Ohr saß, ploppte es leise.
„Victor! Wo ist das kleine Haus?“, erklang eine Stimme im Raum.
Victor schreckte auf und schaute zum Spiegelschrank hinüber. Dort stand
sein Vater, hinter dem Glas, und hielt Corvuz, Victors ausgestopften Raben,
fest an sich gedrückt.
„Ich habe nicht mehr viel Zeit! Und Corvuz auch nicht! Warum suchst du
nicht das kleine Haus?“ Mit diesen Worten zupfte er dem Raben eine kleine
Feder aus.
Victor wimmerte, riss sich allerdings zusammen. „Diese Schlangenbrut hier
weiß viel, aber bald weiß ich es auch!“ Er wies auf das Mikrofon unter dem
Stuhl. „Und dann finde ich das kleine Haus! Wirklich!“
„Beeil dich!“, stöhnte Victor Senior – und verschwand.
Victor seufzte. Er konnte nur hoffen, dass sein Plan gelang!
Die Gänge schienen endlos zu sein. Überall roch es nach Desinfektionsmittel,
es wirkte steril und nicht so, als sei dieses Krankenhaus ein Ort, an dem
Menschen gesund werden konnten. Ninas und Luzys Schritte hallten von den
Wänden wider, als gingen sie einen düsteren Flur in einem Albtraum entlang.
Nina schauderte. „Langsam bekomme ich eine echte Abneigung gegen
Krankenhäuser“, sagte sie eigentlich nur, um ihre Stimme zu hören. „Dass
man Daniel kaum besuchen darf und nie jemanden erreicht! Das sind
schlechte Zeichen, oder?“
27/246
Beinahe Hilfe suchend wandte sie sich zu Luzy.
Eine Unterstützung war die nicht gerade. Sie zuckte nur mit den Achseln.
„Ich weiß nicht. Vielleicht ist das ja in Krankenhäusern auch einfach so.“
Das klang nicht sehr beruhigend!
Plötzlich fiel Ninas Blick auf zwei Ärzte, die vor ihr im Gang standen. Direkt
vor der Tür zu Daniels Zimmer! Erkennbar waren sie an den weißen Kitteln
und den Stethoskopen, die sie um den Hals trugen. Der Arzt, der sein Gesicht
den beiden Mädchen zugewandt hatte und eine Brille trug, hatte die Stirn in
sorgenvolle Falten gelegt und nickte ernst, während der andere sprach. Nina
erkannte seine Stimme sofort, es war Dr. Brink, Daniels behandelnder Arzt.
„... hatte sich natürlich schon einige Zeit angekündigt“, sagte er gerade.
„Aber wir haben einfach nichts mehr für ihn tun können! Wenigstens hat er
nicht leiden müssen“, fügte er etwas leiser hinzu.
Nina erschrak zu Tode und wurde auf der Stelle blass wie ein Leintuch. Luzy
fiel nichts anderes ein, als sie am Arm zu packen und an den Ärzten vorbei zu
Daniels Zimmer zu zerren. Beide Mädchen rissen gleichzeitig die Tür auf.
Doch das Zimmer, in dem Daniel mitsamt all den Apparaten, die ihn am
Leben erhielten, gelegen hatte, war leer. Kein Daniel, kein Bett und nur
wenige Maschinen. Ohne das Piepen der Apparate dröhnte die Stille
geradezu in Ninas Ohren.
Wo war Daniel? War er ...?
Nina wagte es nicht einmal zu denken. Sie konnte nur auf den leeren Platz
starren, an dem gestern noch Daniels Bett gestanden hatte.
Luzys Stimme drang an Ninas Ohr. „Glaubst du ... glaubst du, dass der Arzt
Daniel meinte?“
„Das kann nicht sein!“, presste Nina mühsam hervor. Sie konnte den Blick
von der Stelle, an der das Bett gestanden hatte, nicht abwenden.
„Was fällt euch denn ein?“, erklang eine entrüstete Stimme in die unheim-
liche Stille hinein. „Das hier ist ein Krankenhaus, da kann man nicht einfach
...“
Nina fuhr herum. Hinter ihr stand Dr. Brink.
Nina konnte nichts sagen.
28/246
„Wo ist Daniel?“, fragte Luzy stattdessen voller Furcht. „Er ist doch nicht
etwa ...?“
Der Arzt schüttelte langsam den Kopf. „Daniel liegt weiterhin im Koma“,
meinte er beruhigend. „Aber weil sein Zustand sonst stabil ist, haben wir ihn
auf eine andere Station verlegt.“
Nina sah auf. Ein Stein fiel ihr vom Herzen! Sie seufzte und warf Luzy, die
fast so erleichtert wirkte wie sie selbst, einen hoffnungsvollen Blick zu.
Dr. Brink lächelte. „Soll ich dich zu ihm bringen?“
Nina konnte nur nicken.
Der Arzt führte sie und Luzy über eine Treppe in ein anderes Stockwerk. Vor
einer Tür, die eigentlich genauso wirkte wie alle anderen, blieb er stehen. „Ihr
dürft ihn kurz besuchen. Aber nicht zu lange!“
Nina warf ihm einen dankbaren Blick zu und betrat das Zimmer.
Da lag er! Ohne Schläuche und auch ohne das steril wirkende Hemd, das er
bisher getragen hatte. Man hatte ihm seinen eigenen Schlafanzug angezogen.
Nina fand, es sah beinahe so aus, als würde er schlafen.
Langsam trat sie an Daniels Bett und strich ihm mit Tränen in den Augen
über die Schulter. „Mensch, da hast du mir einen richtigen Schrecken einge-
jagt“, flüsterte sie zärtlich.
Luzy war in der Tür stehen geblieben und starrte auf Daniel hinunter. Als
Nina sich umdrehte und sie fragend ansah, entschuldigte sie sich. „Ich lass
euch beide mal allein“, sagte sie betont heiter.
Vorsichtig zog sie die Tür zu. Nein, sie konnte nicht dort hineingehen!
Diesen Schrecken hatte Nina nicht verdient! Und den hatte die Freundin –
wie Daniel seinen Krankenhausaufenthalt – nur Luzy und ihren
Machenschaften zu verdanken.
Luzy sank entmutigt auf einen der Stühle im Gang. Wie sollte sie nur all das
gutmachen, was sie angerichtet hatte!
„Was hab ich nur getan?“, schluchzte sie verzweifelt auf.
„Das, was du tun musstest!“, schnarrte eine Stimme in ihre Gedanken hinein.
Luzy fuhr herum.
Morten Vierstein!
29/246
„Nun? Ist schlimm, wie er so daliegt, nicht wahr? Bisher ist es nur Daniel,
doch deine anderen Freunde könnten auch in Gefahr sein ...“
„Was meinen Sie?“
„Das weißt du genau: Tu, was ich sage!“
„Aber ich weiß nicht, wo die Kiste im Haus sein soll!“
„Dann musst du eben suchen! Bis morgen hast du den Auftrag für die neue
Prüfung gefunden! Oder du kannst bald alle deine Freunde im Krankenhaus
besuchen.“
Vierstein lächelte sie noch einmal böse an. Danach wandte er sich ab und
ging.
Am liebsten hätte Luzy ihm ihren Hass ins Gesicht geschrien.
Doch sie schwieg.
Sie durfte einfach nicht riskieren, dass er seine Drohungen wahr machte.
30/246
5
GUTEN APPETIT
Hurra, Onkel Ursli durfte bleiben!
Auch wenn Victor ihm nicht gestattet hatte, gemeinsam mit seiner Ziege
Delphi im Haus zu wohnen, freute Felix sich darauf, seinen Onkel einige Zeit
in seiner Nähe zu behalten. Schnell band er die kleine Ziege des Onkels mit
einem alten Schal an einen Pflock, damit sie sich nicht wieder über Rosies
Blumen hermachte, und rannte zu Ursli hinüber.
Was sich nicht alles in dessen Taschen und Koffern verbarg! Warme Felle,
ein Teppich, Bücher, Säckchen mit geheimnisvollem Inhalt und – Felix war
fasziniert! – ein riesiger Traumfänger von den Indianern in Nordamerika.
Felix wusste, so ein Gegenstand sollte schlechte Träume einfangen. Das
passt zu Onkel Ursli, dachte er. Der Traumfänger war kunstvoll mit einem In-
dianerkopf bestickt, der eine Wolfsmütze trug, und so weich, dass Felix am
liebsten den ganzen Tag darübergestreichelt hätte.
Allerdings wollte er sich die anderen spannenden Gegenstände, die sein
Onkel aus den Tiefen seines Gepäcks holte, nicht entgehen lassen. Er legte
den Traumfänger auf einen bunten Teppich und schaute Ursli weiter gespannt
beim Ausräumen des großen, altmodischen Koffers zu. Wenn er allerdings
auf interessante Geschichten hoffte, so wurde er fürs Erste enttäuscht. Denn
Ursli war ganz damit beschäftigt, sich mit Haushälterin Rosie zu unterhalten.
Die war nämlich enttäuscht, dass Ursli zusammen mit seiner Ziege Delphi im
Garten und nicht in ihrer Nähe, im Haus, schlafen würde.
„Wir haben genug Platz im Haus!“
Felix sah genau, wie sehr sich Onkel Ursli über das Angebot freute, obwohl
er aufs Neue freundlich, aber bestimmt, ablehnte.
„Wirklich, Rosie, im Garten finde ich total zu mir selbst!“, versicherte er.
„Weißt du, mein Onkel will einfach ganz nah bei Delphi bleiben!“, warf
Felix ein. Immerhin war Delphi eine wahrsagende Ziege, wenn man Onkel
Ursli glauben durfte. Und Felix zweifelte daran keine Sekunde.
„Richtig“, bestätigte Ursli. „Das ist allerdings nicht der einzige Grund, der
mich unter freiem Himmel schlafen lässt.“
Rosie war verlegen. „Sie meinen Victor? Ach, den dürfen Sie sich nicht so zu
Herzen nehmen! Victor brummt den ganzen Tag vor sich hin, aber er ist ja
sowieso die meiste Zeit im Keller!“
Ursli schüttelte den Kopf. „Nein, das meine ich nicht.“
„Was denn dann?“, wollte Rosie wissen.
Ursli beugte sich über den Kofferdeckel zu Rosie hin. „Ich spüre es. Es ist
was Böses! Das Haus ist verflucht!“
Rosie schlug entsetzt die Hand vor den Mund. Das hatte sie die ganze Zeit
geahnt! Mit großen, erschrockenen Augen sah sie von Ursli zu Felix und
wieder zurück.
Und als wollte das Haus die schlechte Meinung bestätigen, die Felix’ Onkel
von ihm hatte, erklang mit einem Mal aus dem obersten Fenster des Hauses
Anubis ein grausamer Schrei!
Ungeduldig drehte Victor an den Reglern des Tonbandgerätes herum, das er
in seinem Kellerlabor aufgebaut hatte. Warum nur hörte er denn nichts? Er
hatte ganz sicher das Mikrofon unter Delias Stuhl ordnungsgemäß ver-
drahtet? Egal, welchen der Schalter er betätigte, in den Kopfhörern auf seinen
Ohren erklang nichts als leises Rauschen.
„Das ist doch die richtige Frequenz!“, sagte er schließlich ärgerlich. „Und die
Kinder sind auch schon wieder aus der Schule da! Warum ist auf dem Dach-
boden denn nichts zu hören, Corvuz?“
Er wandte seinen Kopf unwillkürlich zu dem Käfig hin, der wie immer in
einer Ecke des Arbeitstisches stand. Sofort biss er sich auf die Lippen. Der
Käfig war leer, Corvuz immer noch bei Victor Senior in der dunklen Welt
hinter den Spiegeln. Mit einem Schlag war Victor klar, warum er diese ganze
Sache mit dem Mikrofon überhaupt organisiert hatte: Er musste Corvuz
befreien!
32/246
Hastig wandte er sich erneut seinem Gerät zu. Er schaltete es aus und an, rüt-
telte daran herum – irgendwie musste es doch mal funktionieren! Vielleicht
war es nur ein Wackelkontakt.
Ärgerlich drehte er den Lautstärkeregler voll auf.
In diesem Moment schrie jemand so gellend in das Mikrofon, dass Victor
aufstöhnte und sich die Kopfhörer herunterriss. Seine Ohren schmerzten, als
hätte jemand ein Messer hineingestoßen.
Er keuchte erneut auf und bohrte seine Zeigefinger in die Ohrmuscheln, aber
es schien nichts zu helfen. Seine Trommelfelle zitterten nach wie vor ...
„Ursli!“, schrie Felix. „Delphi ist weg!“
Er wies mit einem Finger auf den Pflock, an dem nur noch die zerkauten
Überreste eines rosafarbenen Schals hingen.
Delphi war verschwunden.
Rosie quiekte auf und hastete ins Haus, wo ein neuerlicher Schrei ertönte,
schrecklicher und schriller als der erste.
Ursli wurde blass. „Wo ist Delphi?“, wollte er wissen. In der Ferne meckerte
es.
Felix holte Luft. Das war ... der Schrei, der aus dem Dachfenster kam, das
gedämpfte Meckern ... der durchgekaute Schal, der Delphi hatte festhalten
sollen!
Auf einmal wusste er, was passiert war.
Was passiert sein musste! Hastig rannte er hinter Rosie her. Delia brauchte
dringend seine Hilfe!
Kurz vor der Tür zur Dachkammer prallte Felix in jemanden, mit dem er
nicht gerechnet hatte.
„Au! Pass doch mal auf, du Idiot!“, schrie Magnus.
„Alter, was schreist du denn so?“, gab Felix zurück.
„Du glaubst nicht im Ernst, dass ich das war, oder?“, fragte Magnus
bedrohlich.
Erst jetzt sah Felix, dass sein bester Freund aus Maras Zimmer gekommen
war. Er klopfte ihm freundschaftlich auf die Schulter.
33/246
„Brauchst dich nicht zu schämen!“, grinste er. „Wir schreien alle ab und an
mal!“
Aber ihre Flachserei wurde von einem weiteren Schrei unterbrochen, der
diesmal sogar dreigeteilt war.
Felix hob die Augenbrauen und starrte an die Decke.
Er sauste los – in Richtung Dachkammer. Magnus folgte ihm, mit Rosie und
Ursli im Schlepptau, die ebenfalls die Treppe heraufgekommen waren. Felix
war der Erste, der die Tür zur Dachkammer aufstieß – und ein Szenario vor
Augen hatte, über das er beinahe gelacht hätte.
Delia stand in der Mitte des Zimmers. Sie hielt mit beiden Händen einen
zerkauten Stofffetzen hoch – weißer Organza mit rosa Punkten – und kreis-
chte ohrenbetäubend. Überall im Zimmer lagen feuchte und zerrissene
Kleider. Es sah ganz so aus, als hätte Delphi ganze Arbeit geleistet. Schräg
hinter der heulenden Delia stand Luzy und hielt sich mit genervter Miene die
Zeigefinger in die Ohren. Und die tierliebende Nina kniete auf dem Boden
neben dem Bett und versuchte geduldig, Urslis Ziege einen weiteren pink-
farbenen Stoffrest zu entwinden. Doch Delphi schmeckte es wohl zu gut – sie
gab Delias rosa Paradebluse nicht wieder her.
Hastig eilte Ursli auf beide zu, um Nina dabei zu helfen, von der Bluse zu
retten, was davon übrig war. Es schien die arme Delia wirklich mitzunehmen,
was die Ziege mit den Kleidern angestellt hatte!
„Meine Klamotten!“, heulte sie. „Warum denn nur meine Sachen? Warum
nicht die von Victor?“ Sie schluchzte auf. „Oder die von Felix! ... Meine
Klamotten ...!“
„Ah!“ Alle fuhren auf. In Delias anhaltendes Schluchzen hatte sich ein neuer
Ruf gemischt. Victor bahnte sich einen Weg zwischen Magnus und Felix
hindurch. „Was habe ich über dieses schmutzige Vieh gesagt?“
Felix schaute den Hausverwalter stirnrunzelnd an. Der sprach ja noch lauter
als sonst! Glaubte Victor, dass sie alle taub waren? So laut hatte Delia nun
auch nicht geschrien.
Ursli war verzweifelt. „Entschuldigen Sie bitte, wir haben sie mit nach
draußen genommen, aber sie liebt nun mal schöne Kleidung!“
Victor runzelte die Stirn. „Wie bitte?“
34/246
Geduldig wiederholte Ursli sein Sprüchlein.
Felix verschränkte die Arme vor der Brust und nickte. Da hatte Onkel Ursli
recht!
Victor sagte nichts mehr. Er bohrte sich mit gerümpfter Nase den Zeigefinger
ins Ohr und verließ die Dachkammer ohne ein weiteres Wort.
Magnus folgte ihm. Mit einem Seitenblick auf die heulende Delia, die
krampfhaft den weißen Stoff mit den rosa Punkten umklammerte, tippte er
sich an die Stirn und ging.
Auch Ursli und Rosie flohen, mit Delphi im Schlepptau. Rosie versprach Ap-
felpfannkuchen zum Abendbrot, um Delia zu trösten, doch die bekam das
kaum mit.
Nina und Luzy seufzten. Da war noch viel Trost nötig!
Obwohl es bereits Abend war und Rosie die versprochenen Apfelp-
fannkuchen gebacken hatte, war Delias Kummer um ihre Kleider wieder voll
aufgebrochen, als sie mit den anderen Clubmitgliedern in die Dachkammer
zurückgekehrt war. Weinend sank sie auf ihrem Stuhl zusammen.
Felix hockte sich neben sie. Einerseits konnte er nicht verstehen, wie jemand
wegen seiner Klamotten so einen Aufstand machen konnte, andererseits
wusste er auch, wie viel Wert Delia auf ihre Sachen legte. Sie tat ihm wirk-
lich leid. Er legte den Arm um ihre Schultern.
„Ich habe heute Morgen einfach irgendetwas angezogen! Ich habe meinen
schönen Sachen nie genug Aufmerksamkeit geschenkt!“, schluchzte sie.
Beinahe bedauerte Felix, dass sie nicht automatisch an seine Schulter sackte
...! Vorsichtig richtete er sie auf. „Ich bin mir ganz sicher!“, meinte er
tröstend. „Deine Klamotten haben nicht einmal gespürt, wie sie gefressen
wurden!“
Luzy, die hinter Delia stand, knuffte ihn auf den Arm. „Felix, halt den Mund!
So machst du’s auch nicht besser!“
„Manche Sachen hatte ich erst ein Mal an“, weinte Delia. „Sie wissen gar
nicht, was sie mir bedeutet haben ...! Ich konnte nicht mal Abschied
nehmen!“
Nun wurde das Geheule sogar Nina zu viel.
35/246
„Für deine Sachen finden wir schon eine Lösung“, sagte sie freundlich, aber
bestimmt. „Wir müssen uns jetzt um Daniel kümmern.“
Bisher hatte Nina sich mit der Tafel beschäftigt, auf die sie eine Liste all
dessen geschrieben hatte, was zu Daniels Rettung wohl getan werden musste.
Sie stellte sich wie eine Professorin daneben und wandte sich den anderen
drei Sibunas zu. Dabei wirkte sie so streng, dass sogar Delia das Schluchzen
eine Weile aufgab.
„Okay, das ist der Plan“, dozierte Nina und wies mit einem Zeigestock auf
die handgeschriebene Liste. „Felix, du und ich gehen gemeinsam in den
Keller, in den geheimen Gang. Wir nehmen Fingerabdrücke und Fußab-
drücke, alles, was wir kriegen können. Das vergleichen wir mit den von uns
genommenen Abdrücken. Hoffentlich bekommen wir danach heraus, wer im
Gang war und wer den Stein angefasst hat.“
Felix hatte eifrig zugehört. Doch auf einmal hob er wie in der Schule den
Finger. „Aber wie konnte Daniel ins Koma fallen, wenn er keine roten Hände
hatte?“
Nina nickte. „Genau. Wenn Daniel das Gift auf dem Stein nicht berührt hat,
was hat er dann? Das müssen wir auch herausfinden. Okay, während wir un-
ten sind, lenkt Delia Victor ab, damit er nicht in den Keller kommt.“
Delia hob das Gesicht vom Schreibtisch. Sie war ein Bild des Elends: Der
Mascara war zerlaufen, Tränenspuren bedeckten ihre Wangen.
Nina nahm das als Zeichen, dass Delia einverstanden war. „Luzy, du hilfst
ihr und hältst in der Eingangshalle Wache. Mit Walkie-Talkies bleiben wir in
Kontakt.“
Felix war begeistert und knuffte Luzy, die merkwürdig unbeteiligt neben ihm
stand, auf die Schulter.
„Okay, alles klar“, sagte Nina. „Luzy, kannst du Felix noch dein Horusauge
geben? Sonst kann er nicht in den Gang.“
Luzy, die bereits vorher nicht viel gesagt hatte, starrte Nina nun an wie ein
Kaninchen die Schlange und antwortete nicht.
„Alles in Ordnung?“, wollte Nina besorgt wissen. Sie konnte wirklich keine
Ausfälle mehr gebrauchen! Wenn jetzt nicht alle auf dem Posten waren, dann
war Daniel in größerer Gefahr, als er es sowieso schon war!
36/246
„Mir ... mir ist schwindelig“, murmelte Luzy. „Ich gehe kurz in mein Zimmer
und trink was. Rosie hat mir da letztens so einen Vitaminsaft gegeben ...“ Mit
diesen Worten hastete sie zur Tür und war verschwunden.
Delia, Felix und Nina sahen ihr verwirrt hinterher
37/246
6
DIE SCHLINGE ZIEHT SICH ZU
Luzy wäre beinahe gestolpert, als sie die Treppe hinunter in ihr Zimmer ran-
nte. Dass ihr schwindelig war, war nicht einmal gelogen! Laut knallte sie die
Zimmertür hinter sich zu.
Das Horusauge! Jetzt war sie wohl endgültig aufgeflogen. Das Amulett besaß
sie nämlich gar nicht mehr, Vierstein hatte es ihr kurz vor der verpatzten
Musicalaufführung weggenommen! Und er hatte es ihr nicht zurückgegeben.
Wie sollte sie das Nina und den anderen vom Club nur erklären?
Verzweifelt ließ sie sich aufs Bett fallen. Vielleicht war es besser, wenn sie
die Wahrheit sagte? Das letzte Mal, als sie Daniel alles hatte beichten wollen,
hatte es allerdings damit geendet, dass zwei ihrer Freunde im Krankenhaus
gelandet waren! Einer davon lag im Koma – und niemand hatte eine Ahnung,
ob er je wieder aufwachte.
Wenigstens ging es Mara einigermaßen gut, aber wer wusste schon, wie
lange noch!
Was würde geschehen, wenn Vierstein herausfand, dass sie auch ihren ander-
en Freunden alles über ihn erzählt hatte? Er sparte ja nicht mit Drohungen,
was er Nina, Felix und Delia antäte, falls Luzy auch nur ein Sterbenswört-
chen verriet!
Die anderen durften einfach nicht erfahren, wer hinter all dem steckte – zu
ihrem eigenen Schutz!
Entschlossen schnappte sich Luzy das große Handy, das Vierstein ihr
gegeben hatte, damit er sie jederzeit anrufen konnte, und tippte seine Num-
mer ein.
Es klingelte ein paarmal, bevor sie schließlich eine barsche Stimme am an-
deren Ende der Leitung hörte.
„Ich hoffe für dich, es gibt gute Neuigkeiten“, sagte Vierstein, ohne sich mit
einer Begrüßung aufzuhalten. „Hast du das, was ich brauche?“
„Nein“, gab Luzy pampig zurück. „Weil Sie etwas haben, was ich brauche:
das Horusauge! Nina will mit Felix in den Gang …“
„Mir egal, was ihr da treibt!“, unterbrach Vierstein. „Ich will, dass du die
Kiste mit dem nächsten Hinweis findest! Hast du schon im Keller
nachgeschaut?“
Luzy biss sich auf die Lippen. Wie stellte Vierstein sich das eigentlich vor?
„Victor ist zu Hause!“, antwortete sie. „Ich brauche das Horusauge für
Felix!“
Doch Vierstein ging nicht darauf ein. „Bis morgen hast du den Auftrag für
die neue Prüfung, sonst kannst du deine anderen Freunde auch im Kranken-
haus besuchen!“
Klack. Vierstein hatte aufgelegt.
Fassungslos blickte Luzy das Handy an. Dann schleuderte sie es wütend auf
ihr Bett. Wie unverschämt konnte man sein!
Als sie wieder ein wenig ruhiger atmete, schnappte sie sich erneut ihre
Tasche und holte die winzige Kiste daraus hervor, die Vierstein ihr gegeben
hatte. Im Keller. Ja, diese Kiste sah so aus, als wäre sie dort unten. Luzy war
mit den anderen schon oft in Victors Kellerlabor gewesen, obwohl der es im-
mer aufs Neue streng verboten hatte. Aufgefallen war ihr diese Kiste noch
nie.
Aber jetzt konnte es nicht schnell genug gehen. Sie brauchte die neue
Aufgabe – nur so war Vierstein vielleicht dazu zu bewegen, ihr heute Abend
das Horusauge vorbeizubringen!
Vorsichtig schaute sie aus der Tür. Im Gang war niemand zu sehen. Von un-
ten drangen allerdings Stimmen herauf.
„Mensch, geh weg, lass mich vorbei!“ Das war Victor. Warum schrie der
denn so?
Das fragte sich wohl auch Haushälterin Rosie. „Schrei nicht so, ich steh
direkt neben dir!“, sagte sie begütigend. „Du kannst doch nicht einfach so
weggehen!“
39/246
„Ich geh zum Arzt, in Ordnung?“, brüllte Victor, als befände sich Rosie auf
dem Dachboden und nicht direkt neben ihm.
Luzy schüttelte den Kopf. War Victor taub, dass er nicht merkte, wie laut er
sprach?
Sie wartete, bis Victor zur Tür hinaus und Rosie im Waschraum verschwun-
den war, dann huschte sie die Treppe hinunter zur Kellertür. Leise schlüpfte
sie in das verbotene Labor des Hausverwalters.
Im Keller war es dunkel. Nur ein seltsames Tonbandgerät auf Victors Arbeit-
stisch und eine trübe leuchtende Schreibtischlampe erhellten das wie immer
unheimliche Szenario ein wenig.
Luzy sah sich ratlos um. Wo sollte sie hier nach etwas suchen? Sie spähte
durch die Mauer in das geheime Zimmer. So oft war sie schon hier gewesen,
doch eine Kiste ... Halt! Dort hinten! Neben dem Eingang!
Luzys Gesicht erhellte sich. „Hier bist du!“
Da war sie, die gesuchte Kiste! Ein ausgestopfter Fuchs stand darauf. Nach
einem letzten Kontrollblick auf die Miniaturkiste in ihrer Hand hob sie lang-
sam den Deckel an. Nichts von Bedeutung war darin, nur ein paar uralte
Flaschen, Staub und wahrscheinlich Mäusedreck.
Luzy schüttelte sich, dann aber fasste sie tapfer hinein. Hier irgendwo musste
der Zettel mit der nächsten Aufgabe sein! Sie schob die Flaschen hin und her.
Vielleicht dort in der Ecke?
Schließlich ertasteten ihre Finger etwas. Kein gewöhnliches Papier. Ein
Stück Pergament!
Luzy strahlte.
„Hab die Schlüssel vergessen!“, brüllte auf einmal eine bekannte Stimme
oben in der Eingangshalle.
Luzy erschrak. Victor!
Hastig sah sie sich um, als die Kellertür knarrte. Wo sollte sie hin? Unter den
Schreibtisch? Zu offensichtlich. Durch das Mauerloch? Was, wenn Victor
genau dorthin wollte? Außerdem hatte sie kein Horusauge. Was, wenn das
Licht Ras aufleuchtete, sie verriet und gleichzeitig blendete?
Auf der Kellertreppe waren bereits Schritte zu hören.
40/246
Es gab nur eine Lösung: Luzy kroch in die Kiste. Leise ließ sie den Deckel
herunter.
Gerade rechtzeitig, denn schon öffnete Victor das Gatter zum Labor.
Luzy hörte, wie er ärgerlich vor sich hin brummte und an der Kiste vorbei
zum Schreibtisch schlurfte. Es klackerte, als würde jemand auf der Tis-
chplatte herumwühlen. Ärgerlich schimpfte Victor dabei vor sich hin. Behut-
sam hob Luzy den Deckel an.
Aber da drehte Victor sich um – und kam auf die Kiste zu! Luzy duckte sich
eilig und hielt den Atem an.
„Ha, ich wusste es!“, brummte der Hausverwalter. Es klirrte leise, als er sein-
en Schlüsselbund vom Boden neben der Kiste aufhob.
Einen Moment später knallte das Gatter vor dem Labor ins Schloss. Schritte
entfernten sich die Treppe hinauf.
Kaum hatte Luzy gehört, dass sich auch die Kellertür zur Eingangshalle
geschlossen hatte, schoss sie aus der Kiste hervor und atmete tief durch. Sie
wollte gerade gehen, als ihr Blick auf Victors Schreibtisch fiel. Da blitzte
doch etwas orangerot?
Das Horusauge!
Sie jubelte innerlich. Victor musste es abgenommen und vergessen haben.
Endlich hatte sie mal Glück! Sie hatte nicht nur den Zettel gefunden, sondern
auch ein Horusauge!
Ihr fiel ein Stein vom Herzen. Jetzt konnte sie Nina und den anderen erzäh-
len, sie hätte es aus ihrem Zimmer geholt. Sie musste sich keine Ausrede ein-
fallen lassen, warum sie es nicht hatte. Und so konnten sie sofort mit der Ex-
pedition beginnen, denn nun würde Victor die nächste Zeit beim Arzt
verbringen.
Sie nahm das Amulett vom Tisch und rannte die Treppe hinauf.
Bevor er Nina durch die geborstene Wand hinterherkletterte, warf Felix noch
einmal einen kurzen Blick auf Victors Kellerlabor. Auch wenn Luzy erzählt
hatte, dass Victor zum Arzt gegangen sei, konnte er das Gefühl nicht abschüt-
teln, dass er beobachtet wurde.
41/246
Genau – war da nicht ein Schatten im Spiegel zu erkennen? Victors Schatten?
Nein. Da hatte er sich anscheinend getäuscht. Nun, er konnte nur hoffen, dass
Luzy und Delia gut aufpassten und ihn und Nina rechtzeitig warnten. Im let-
zten Moment hatten sie entschieden, dass Luzy von der Dachkammer aus da-
rauf achten sollte, ob Victor zurückkam, während Delia den Garten bewachte.
So konnten sie Victor nicht übersehen, wenn er zurückkehrte.
„Felix, wo bleibst du denn?“ Ninas Stimme klang so, als sei sie schon ein
gutes Stück im Labyrinth, und Felix beeilte sich, ihr zu folgen: durch die
Kammer mit der Anubis-Statue, vorbei an den Kacheln im Boden, die auf
Gewicht reagiert hatten, über den schmalen Steg mit den Pendeln bis hin zur
Prüfung der Nephthys.
Felix zerrte unwillkürlich am Kragen seines Kapuzensweatshirts, als er der
Mauernische mit dem kleinen Rauchbrunnen und dem Gitter davor wieder
gegenüberstand. Hier war es passiert! Hier hatte er sich über Nacht in einen
anderen verwandelt. Nichts hatte sich verändert ... oder doch? Einen Unter-
schied gab es!
„Das Gitter!“, rief er aus. „Es war beim letzten Mal zu. Jemand hat das
Fläschchen!“
Nina bewahrte Ruhe. „Darum kümmern wir uns später“, sagte sie sachlich.
„Lass uns zuerst den Boden auf Fußspuren untersuchen, bevor wir alles ver-
wischen mit unserem Getrampel.“
Natürlich! Sie hatte ja recht. Felix hob den Daumen. „Du bist echt gut! Darf
ich in dein Team?“
Nina musste lachen. „Bist du doch schon.“
Er grinste und öffnete den CSI-Koffer, den er mitgebracht hatte.
Nina sah ihm nicht zu, sondern starrte den Stein mit dem Handabdruck an.
„Ob Mara wirklich ihre Hand daraufgelegt hat?“, überlegte sie laut. „Kann ja
gar nicht anders sein, denn ihre Hände waren rot und das Gitter geöffnet.
Aber was ist dann mit Daniel passiert ...?“
Felix antwortete nicht. Er war damit beschäftigt, die Gitterstäbe auf Fingerab-
drücke zu untersuchen.
Nina hob das Walkie-Talkie an den Mund. „Delia? Hast du was gesehen?
Over.“
42/246
Es knackte in dem Gerät. Delia meldete sich. „Ich sehe Gras, Zweige und
meinen eigenen Atem von der Kälte hier draußen, nur keinen Victor. Habt ihr
schon Spuren gefunden? Over.“
„Noch nicht“, erwiderte Nina, ohne auf Delias Gejammer über die Kälte ein-
zugehen. „Wir geben dir und Luzy Bescheid. Over.“
Felix hielt Nina stolz drei Abdrücke auf speziellen Plastikfolien entgegen.
„Da waren zwei Fingerabdrücke auf dem Stein – und einer war auf dem
Gitter.“
„Sehr gut!“, freute sich Nina. „Bist du fertig? Dann komm. Mal schauen, ob
wir da vorne was finden können.“
Felix konnte seine Sachen gar nicht so schnell einpacken, wie Nina vor-
anging. Aufgeregt hastete er hinter ihr her. Seinen Koffer mit den wertvollen
Beweisstücken behielt er bei sich.
Sie mussten nicht lange laufen, bis sie in eine Höhle kamen, die größer und
höher war als jede andere davor. Staunend hielt Nina inne. Felix blieb sicher-
heitshalber hinter ihr. An einer Wand der Höhle standen Bambusrohre in un-
terschiedlicher Größe.
„Eine Orgel!“, rief Nina. „Aus Bambus!“ Sie schaltete das Walkie-Talkie an.
„Wir haben die nächste Prüfung gefunden!“, sagte sie zu Delia und Luzy.
„Echt abgefahren! Das sieht aus, als könne man einfach hindurchlaufen!“
Sie begann zu suchen. Gab es diesmal kein Gitter? Wo war das Fläschchen?
Auch wenn sie kein Miniaturhaus hatten, es hätte Nina schon sehr beruhigt,
wenigstens die kleine Phiole in ihrem Besitz zu wissen und so dem unbekan-
nten Gegner einen Schritt voraus zu sein.
„Da sind Bambusstäbe“, erklärte Nina. „Aber kein Fels. Kein Gitter. Nichts
... Luzy? Over.“
Sie hatte gehofft, die Freundin hätte vielleicht eine Idee, wo sie suchen soll-
ten. Es dauerte ein paar Sekunden, bis die Freundin antwortete.
„Nein“, sagte Luzy nervös. „Hier ... hier ist alles ganz ruhig. Over.“
Nina sah das Gerät stirnrunzelnd an. Das klang ja nun nicht gerade, als würde
Luzy sich dafür interessieren, was sie hier unten gefunden hatten. Was Delia
wohl gerade machte? Sich die Nägel feilen?
„Delia?“, sprach Nina ins Walkie-Talkie. „Bist du noch da? Over!“
43/246
Keine Reaktion.
„Delia?“, fragte Nina beunruhigt weiter. Was, wenn Victor die Freundin er-
wischt hatte? „Delia, wo bist du? Over!“
Felix hob den Kopf und blickte Nina fragend an. Sie erwiderte den Blick be-
sorgt, doch dann knackte es zwei Mal. Das verabredete Zeichen dafür, dass
alles in Ordnung war!
Nina fiel ein Stein vom Herzen. Nichtsdestoweniger begann sie, unruhig zu
werden.
Als Felix neugierig die Bambusorgel untersuchen wollte, hielt Nina ihn fest.
„Felix, nein! Ich hab kein gutes Gefühl dabei. Wir gehen zurück. Delia sagt
nichts, vielleicht kommt Victor gerade.“
Das sah auch Felix ein. Er schnappte sich den CSI-Koffer mit den Beweis-
mitteln, die er gesammelt hatte, und hastete hinter Nina her. Es dauerte nicht
lange, bis sie durch die geheime Wand zurück in den Keller geklettert waren.
Doch während Felix sich und sein Gepäck sortierte, erstarrte Nina. Mitten im
Kellerlabor, keine drei Meter von ihr und Felix entfernt, stand Victor!
Felix und Nina warfen sich einen erschrockenen Blick zu. Noch schien der
Hausverwalter sie nicht bemerkt zu haben. Eilig drückten sich die beiden an
die Wand. Nina legte die Finger auf die Lippen. Jetzt nur kein Laut! Sonst
würde Victor sie am Ende vielleicht entdecken!
Vorsichtig spähte sie an den Ziegeln der zerbrochenen Wand vorbei ins
Labor. Vielleicht ging Victor ja gleich wieder!
In diesem Moment knackte es im Walkie-Talkie.
Und bevor Nina den Ausknopf drücken konnte, trompetete Delias freudige
Stimme durchs Mikrofon: „Ihr erratet nie, was ich von Onkel Ursli bekom-
men habe! Over!“
44/246
7
RÄTSEL ÜBER RÄTSEL
Luzy warf einen letzten Blick durch das Fenster der Dachkammer in den
dunklen Garten. Weit und breit war nichts zu sehen.
Die Luft war rein!
Sie zog das kleine Pergamentstück aus der Tasche und ging hinüber zur
Tafel. Nina hatte die Karte des Kellerlabyrinths unter die Aufgabenliste ge-
hängt, die sie entworfen hatte. Luzy zog sich Handschuhe an – ihre Fingerab-
drücke würde Felix sicher nicht auf dem Pergament finden! –, nahm die
Karte und legte sie auf den Tisch. Das Walkie-Talkie platzierte sie sicherheit-
shalber daneben, damit sie es sofort zur Hand hatte, falls Nina und Felix sich
meldeten.
Suchend schob sie das Pergament über die Karte.
Hier, bei der Zeichnung der Göttin Isis, schien das passende Feld zu sein.
Jedenfalls hatte der leere Umriss auf der Karte die richtige Form.
Vorsichtig legte Luzy das Pergament auf das alte Papier. Erst tat sich ein paar
Sekunden lang nichts. Doch plötzlich begann das Papier zu leuchten. Luzy
blinzelte vor Schreck. Als das Licht wieder verschwand, erschienen Buch-
staben auf dem Feld. Die neue Aufgabe!
Schnell zog Luzy einen Fotoapparat aus der Tasche. Die Karte wollte sie
nicht stehlen. Der Verdacht würde sofort auf sie fallen. Aber es würde
Morten Vierstein ja auch schon helfen, die Aufgabe zu kennen.
Kaum war sie fertig, wollte sie den Zettel einstecken. Sie würde sich eine
Ausrede einfallen lassen, mit der sie die anderen überzeugen konnte, warum
ausgerechnet sie ihn gefunden hatte.
Er ließ sich allerdings nicht mehr lösen! Was sie auch tat, er blieb an der
Karte haften, so sehr sie auch daran zerrte und zog.
„Warum geht das hier nicht ab?“, fragte sie entsetzt. Sie war sich gar nicht
bewusst, dass sie laut sprach.
„Was hast du gesagt, Luzy? Over“, erklang es scheppernd aus dem Walkie-
Talkie.
Erschrocken schnappte sich Luzy das Gerät. „Nein, nein, nichts – falscher
Alarm! Over!“
Nina schien das zu glauben.
Wieder versuchte Luzy, den Zettel von der Karte zu nehmen – vergeblich.
Die beiden Pergamente schienen sich auf magische Weise miteinander ver-
bunden zu haben, als wären sie nie getrennt gewesen.
Ratlos starrte Luzy die Karte an, dann warf sie einen Blick zur Tür. Sie hatte
nicht mehr viel Zeit, sich eine Ausrede auszudenken.
Nina hatte das Gefühl, ihr Herz würde für einige Sekunden aussetzen. Das
war typisch Delia!
Eilig suchten sie und Felix gleichzeitig nach dem Walkie-Talkie, um es aus-
zuschalten, doch bevor einer von ihnen den Ausknopf fand, kam Delias
begeisterte Stimme aufs Neue aus dem Lautsprecher.
„Eine Jacke! Und was für eine! Ich sehe echt toll aus!“
Endlich fand Nina den richtigen Schalter. Plötzlich war es totenstill im
Raum. Sie warf einen panischen Blick ins Kellerlabor, aber Victor hatte sich
nicht einmal umgedreht. Er kramte weiter in den Sachen auf seinem Arbeit-
stisch herum.
Hatte er nichts gehört? Das war fast zu gut, um wahr zu sein.
Felix unterdrückte ein Lachen. „Taub! Victor ist völlig taub! Deshalb hat er
in letzter Zeit auch so gebrüllt, wenn er sprach!“
Nina nickte langsam. Das stimmte, es musste stimmen! Denn obwohl Felix
immer noch kicherte – und das nicht gerade leise! –, wandte Victor sich nicht
einmal um.
Dennoch legte Nina einen Zeigefinger auf die Lippen und huschte in dem
Moment, in dem Victor sich unter den Tisch beugte, um etwas aufzuheben,
mit Felix im Schlepptau hinter dem Hausverwalter zur Treppe.
46/246
Auf den Stufen blieb Felix stehen und warf einen Blick zurück. „Ist er wohl
auch so taub, dass er meinen Super-Rap nicht hört?“, fragte er halblaut.
Schon legte er los. „Ich bin Super-Felix, mit Verlaub, und Victor ist jetzt völ-
lig taub! Hört nicht mal meinen neuen Rap, denn er ist taub, der alte …“
In diesem Moment legte Nina ihm eine Hand auf den Mund und zog ihn die
letzten Stufen in die Eingangshalle hinauf.
Am nächsten Morgen, bevor sie in die Schule ging, lief Nina eilig durch die
Drehtür des Krankenhauses. Nach der gelungenen Expedition ins Keller-
labyrinth gestern Abend fehlten nur noch die Fingerabdrücke von zwei Per-
sonen: die von Mara und die von Daniel. Luzy war heute Morgen so mutig
gewesen, sich um die von Mara zu kümmern. Als die Freundin zum ersten
Mal seit Tagen wieder beim Frühstück erschienen war, war Luzy schnell in
Maras und Charlottes Zimmer geflitzt und hatte dort ein leeres Milchglas von
Maras Nachttisch genommen.
Nun war Nina dran. Beim Frühstück hatte sie, unbemerkt von Rosie, ein un-
benutztes Wasserglas vom Frühstückstisch stibitzt und brachte es nun ins
Krankenhaus, um Fingerabdrücke von Daniel nehmen zu können.
Langsam öffnete sie schließlich die Tür von Daniels Zimmer und lugte
hinein. Es war still.
Nina zog es das Herz zusammen, als sie erkannte, dass Daniel sich seit ihrem
letzten Besuch nicht gerührt hatte.
Sie gab sich einen Ruck. Sie ging ans Bett, holte ihr Glas aus der Tasche und
legte Daniels Finger darum. Dann steckte sie es in die Tüte zurück und ver-
staute diese sorgfältig in ihrer Tasche.
„Entschuldige, dass ich das einfach so tue“, sagte sie zu Daniel. „Aber nur so
finden wir raus, wie wir dir helfen können.“
Halb erwartete Nina ein Zeichen von Daniel, dass er verstand, was sie tat.
Doch er rührte sich nicht und lag so reglos da wie zuvor.
Plötzlich hielt Nina es nicht mehr aus. Sie konnte die Tränen nicht mehr
zurückhalten und schlug schluchzend die Hände vors Gesicht. Es war so
schrecklich, Daniel so leblos in seinem Bett liegen zu sehen und nicht zu wis-
sen, ob es je wieder anders werden würde!
47/246
Als sich die Tür öffnete und jemand hereinkam, hörte sie es kaum.
„Hallo, ich bin Vincent, Daniels neuer Zimmergenosse.“
Einen Moment war Nina irritiert und glaubte, ihn zu kennen. Ja, sie hatte ihn
schon einmal gesehen – er war aus Maras Krankenzimmer gekommen, als sie
auf Daniels Arzt gewartet hatte. Damals hatte sie ihn für einen Pfleger
gehalten.
Er klang schuldbewusst, als hätte er Nina und Daniel bei etwas gestört. „Oh!
Sorry, ich lass euch kurz allein.“
Nina wischte sich hastig die Tränen von den Wangen. „Nicht nötig, geht
schon“, murmelte sie. „Und ich muss ja sowieso gleich in die Schule.“
Vincent lächelte ihr halb aufmunternd, halb mitleidig zu. „Ist nicht schön,
seinen Freund so zu sehen.“
Traurig schüttelte Nina den Kopf. „Nein, absolut nicht. Und ich habe solche
Angst, dass er ...“
„He, du musst positiv denken!“, beteuerte Vincent energisch. „Und mit ihm
reden! Vielleicht kann er dich ja hören. Ich glaube fest daran, dass das
funktioniert.“
Das sagte Nina sich auch immer wieder. Sie sah Vincent dankbar an. Der
zupfte jetzt eine Blüte aus einem der Blumensträuße auf seinem Nachttisch
und reichte sie ihr.
Überrascht nahm Nina sie entgegen und schnupperte daran. „Danke! ... Ich
muss in die Schule. Mach’s gut!“
Damit ging sie zur Tür. Dann wandte sie sich noch einmal kurz zu Daniel
um. „Werd ganz schnell gesund.“
Mit diesen Worten zog sie die Tür hinter sich zu.
So etwas Dummes!
Nina hätte sich ohrfeigen können. Warum hatte sie das Glas mit Daniels
Fingerabdrücken auch mit in die Schule nehmen müssen! Als sie Felix das
Glas hatte geben wollen, damit er die Fingerabdrücke davon nehmen konnte,
war es auf den Boden gefallen und zerbrochen.
48/246
Es war ihr gar nicht recht, Daniel ein zweites Mal wie einem Verdächtigen
die Fingerabdrücke abnehmen zu müssen. Dass er im Koma lag und sein Ein-
verständnis nicht geben konnte, machte Nina ein schlechtes Gewissen.
Delia und Felix, die sie begleiteten, hatten dafür kein Verständnis.
„Daniel würde auch alles rausfinden wollen“, meinte Felix. „Dazu ist er viel
zu neugierig.“
„Genau“, pflichtete Delia ihm bei. „Und sieh es mal so: So kannst du Daniel
heute zweimal besuchen!“
Nina musste lächeln und ging um den Krankenwagen herum, der direkt vor
dem Haupteingang der Klinik stand. Sie und ihre beiden Freunde warfen dem
Krankenwagen einen verwunderten Blick zu. Warum parkte der Wagen denn
hier? Die Ambulanz war doch hinter dem Hauptgebäude?
Aber dann vergaß sie es wieder.
Vor Daniels Zimmer drückte Felix Nina ein neues Glas in die Hand. An-
scheinend hatte er es aus der Schulkantine mitgehen lassen. Nina war das im
Moment allerdings egal. Zu wichtig war das, was sie hier taten.
„Vorsicht diesmal“, mahnte Felix. „Und beeil dich, Charlotte und Kaya woll-
ten auch gleich kommen!“
Nina nickte und schlüpfte durch die Tür ins Zimmer. Delia und Felix folgten
ihr. Daniels Zimmergenosse Vincent war nicht da. Wahrscheinlich war er in
der Klinik unterwegs. Auch wenn er ein gebrochenes Bein hatte, mit Krücken
konnte er herumhumpeln.
Daniels Bett war leer. Es sah aus, als hätte nie jemand dort gelegen.
Nina seufzte ein wenig ärgerlich auf.
„Haben sie ihn jetzt schon wieder verlegt?“, fragte sie, ohne eigentlich eine
Antwort zu erwarten.
In diesem Moment hörte sie Schritte hinter sich. Sie fuhr herum und erblickte
Dr. Brink vor sich.
„Hallo, wir suchen Daniel Gutenberg. Er liegt ... er lag hier“, meinte Delia
freundlich.
Aber der Arzt erwiderte ihr Lächeln nicht. „Ich habe sehr schlechte
Neuigkeiten.“ Er zögerte. So, als gefiele ihm ganz und gar nicht, was er zu
sagen hatte.
49/246
Plötzlich klirrte es laut.
Erschrocken blickte Delia nach unten. Das Glas, das Nina in der Hand gehal-
ten hatte, war zu Boden gefallen. Doch die Freundin schien das nicht zu be-
merken. Totenbleich sah sie Dr. Brink aus weit aufgerissenen Augen an.
Unbehaglich ließ der Arzt seinen Blick über Nina, Felix und Delia schweifen.
Auch Charlotte und Kaya waren mittlerweile angekommen und schauten den
Doktor fragend an.
„Daniel ... ist nicht mehr bei uns“, erklärte der Arzt.
Nina schlug die Hand vor den Mund und wandte sich ab.
„Daniel ist tot?“, quiekte Delia entsetzt. Auch Charlotte und Kaya konnten
kaum glauben, was sie da hörten.
„Nein, Ihr Freund ist nicht tot“, meinte der Arzt beruhigend.
„Hätten Sie das nicht gleich sagen können?“, beschwerte sich Delia.
„Und wo ist er dann?“, wollte Kaya empört wissen.
„Genau“, mischte sich auch Felix ein. „Wo ist er denn nun?“
„Das wissen wir nicht“, antwortete der Arzt.
„Sie meinen sicher, er wird gerade untersucht, und Sie wissen nicht genau,
wo er ist, oder?“, versuchte Charlotte es so vernünftig wie immer.
„Nein, er ist nicht mehr hier im Krankenhaus“, gab der Arzt zu. Er schien
sich bei diesem Geständnis nicht wohlzufühlen.
„Sie haben einen Patienten verloren?“, fragte Felix entsetzt. „Und da heißt es
immer, ich sei schusselig!“
„Heute Vormittag wurde er ganz normal untersucht, zwei Stunden später war
er nicht mehr in seinem Bett“, erklärte der Arzt. Er wirkte genauso ratlos, wie
Nina sich fühlte.
„Was ist denn, wenn er aufgewacht ist?“, schlug Charlotte vor. „Bei manchen
Komapatienten ...“
Doch der Arzt schüttelte den Kopf. „Auch der Tropf ist verschwunden. Es ist
denkbar, dass er weggebracht wurde.“
Delia verstand nur Bahnhof. „Wieso denn weggebracht? Von wem? Und
warum?“
Nina glaubte zu verstehen. Sie wurde noch blasser – wenn das überhaupt
möglich war.
50/246
„Da… Daniel wurde ... entführt!“, hauchte sie.
51/246
8
EIN FLUCH IM HAUS ANUBIS
Im Garten des Hauses Anubis kletterte Onkel Ursli aus seinem Zelt. Er sah
stirnrunzelnd erst in den düsteren Himmel, dann auf die kleine weiße Ziege,
die er neben seinem Klappstuhl aus Korbgeflecht festgebunden hatte. Beruhi-
gend strich er Delphi über den Rücken.
Die Ziege meckerte leise vor sich hin und drängte sich an ihn.
„Ganz ruhig, meine kleine Geiß!“, murmelte Ursli und schaute erneut in den
Himmel. Er war grau, keine Sonnenstrahlen drangen durch. Es war erst
Nachmittag und dennoch beinahe so dunkel wie am Abend. Das waren wirk-
lich keine guten Zeichen. Irgendetwas ging vor sich.
Und es war sicher nichts Gutes.
Delphi meckerte erneut.
„Ja, ich weiß“, sagte Ursli besorgt und warf einen weiteren Blick auf die
düsteren Wolken, die bedrohlich über dem Horizont hingen. Sorgenvoll
tätschelte er der Ziege den Kopf. „Großes Unheil liegt in der Luft ...“
Kaum hatte Nina den Verdacht geäußert, Daniel sei entführt worden, redeten
alle wild durcheinander.
„Haben Sie schon Fingerabdrücke genommen?“, wollte Felix wissen.
„Gibt es ein Bekennerschreiben?“, fragte Charlotte. „Ich meine, nach 24
Stunden …“
Delia fiel ihr ins Wort. „Vielleicht ist er unter dem Bett!“, schlug sie vor. „Da
könnte er sich möglicherweise verstecken!“
Dem Arzt wurde es zu viel. „Ruhe!“, donnerte er. „Ruhe, ich bitte euch! Wir
haben die Polizei verständigt, und sie war auch bereits hier. Mehr können wir
als Krankenhaus im Augenblick nicht tun, tut mir leid.“
Nina seufzte gereizt auf. „Was sagen denn die Polizisten?“ Es konnte doch
nicht sein: Hier verschwanden einfach Patienten so mir nichts, dir nichts mit-
samt ihren medizinischen Apparaturen – und keiner unternahm etwas?
„Sie sagen, dass ihr euch keine Sorgen machen sollt!“, erklang es plötzlich
hinter ihr.
Erleichtert wandte sich der Arzt zum Gehen. „Ich nehme an, Sie kommen
ohne mich zurecht“, stellte er klar und verschwand.
Nina beachtete ihn gar nicht mehr, sondern wandte sich dem Kommissar zu,
der neben einem uniformierten Beamten stand. Er selbst war in Zivil und sehr
lässig gekleidet. Eine Lederjacke, ein graues Kapuzensweatshirt. Irgendetwas
an seinem Lächeln kam Nina falsch vor. Aber sie sagte sich, dass sie aus laut-
er Angst um Daniel wohl keinem mehr traute – nicht einmal einem
Kriminalkommissar.
„Wir haben bereits mit unseren Ermittlungen angefangen“, versicherte der ihr
nun. „Ihr könnt also beruhigt nach Hause gehen. Kopf hoch! Es wird sich
alles klären! Wenn euch was einfällt, könnt ihr mich jederzeit anrufen.“ Mit
diesen Worten streckte er Nina eine Visitenkarte entgegen.
Dankbar nahm Nina sie an.
„Wer tut denn so was – einen kranken Jungen aus einer Klinik entführen!“,
beklagte sich Delia.
Der Kommissar ging nicht darauf ein. „Wenn wir Neuigkeiten haben, hört ihr
von uns“, erklärte er. Es klang endgültig, und so stellte auch niemand mehr
eine Frage.
Er nickte ihnen noch einmal zu und verließ mit dem uniformierten Polizisten
den Flur.
Trübsinnig machten sich Nina, Felix, Delia, Charlotte und Kaya auf ins Haus
Anubis.
Als sie aus dem Haupteingang traten, schloss sich die Fahrertür des Kranken-
wagens, der davor parkte, mit einem Knall. Mit quietschenden Reifen fuhr
der Wagen an und brauste davon.
Wütend starrte Magnus auf all die leeren Plätze um ihn herum.
53/246
Er war die Geheimnistuerei seiner Mitbewohner schon lange leid! Und wenn
er auch der Einzige war, der sich bequemte, pünktlich zur Erdkundestunde
von Herrn Altrichter zu kommen, dann hätten sie ihm wenigstens sagen
können, wo sie waren. Fand er. Er hätte eigentlich auch wichtigere Dinge zu
tun gehabt – zum Beispiel: herauszufinden, wer hinter dem Anschlag auf
Mara und Daniel steckte.
Als Luzy jetzt atemlos hereingestürmt kam und so tat, als könne sie kein
Wässerchen trüben, konnte Magnus seinen Zorn kaum noch unterdrücken.
„Bin ich zu früh?“, wollte Luzy angesichts der leeren Plätze um sie herum
wissen.
Diese Unschuldsnummer hätte sie sich sparen können, fand Magnus. Er
blickte demonstrativ auf die Uhr.
„Sogar genau vier Minuten zu spät!“, knurrte er.
„Und wo sind die alle?“
Beinahe hätte Magnus ihr die Verwirrung abgenommen! Aber so leicht ließ
er sich nicht übers Ohr hauen. Er wandte sich langsam zu Luzy um.
„Seltsam, nicht wahr? Obwohl – es passieren ja eine Menge seltsamer
Dinge!“ Zu seiner Genugtuung schien ihr der direkte Blickkontakt unbehag-
lich zu sein. Sie antwortete nicht.
In diesem Moment betrat Herr Altrichter den Raum. „Silentium!“, verlangte
er überflüssigerweise, denn es waren ja schon alle still – jedenfalls die weni-
gen Schüler, die heute zum Unterricht erschienen waren. Hinter ihm schlich
Frau Engel her. Beide sahen bedrückt und ernst aus.
„Ich habe gerade einen Anruf von der Polizei erhalten“, sagte Herr Altrichter.
Frau Engel stand neben ihm und tupfte sich die Augen mit einem Taschen-
tuch ab.
„Ein Unfall mit dem Chemiebaukasten?“, grinste Magnus böse, doch Herr
Altrichter ging nicht auf den unpassenden Scherz ein.
„Ihr Mitschüler Daniel Gutenberg ist heute aus dem Krankenhaus ver-
schwunden“, sprach Herr Altrichter weiter.
Magnus wollte seinen Ohren nicht trauen. Erst veränderte sich Felix, dann
wurde Mara niedergeschlagen, und nun verschwand auch noch Daniel?
54/246
Er hörte kaum, das Luzy hinter ihm erschrocken aufkeuchte. „Was? Ver-
schwunden?“, fragte sie mit erstickter Stimme.
„Ja“, bestätigte Herr Altrichter. „Anscheinend wurde er entführt. Gesicherte
Informationen liegen noch nicht vor. Falls irgendjemand etwas gesehen oder
bemerkt hat, bitte bei mir oder bei Frau Engel melden.“ Er drückte seine
weinende Ehefrau kurz an sich.
Die beiden Lehrer sahen erschüttert aus – genau wie Magnus und Luzy.
Luzy sprang auf, schob ihren Stuhl mit einem Ruck beiseite und lief
schluchzend aus dem Klassenzimmer.
Wütender als je zuvor wandte Magnus sich um. Jetzt war er sich sicher: Luzy
und die anderen wussten, was da mit Mara und Daniel vor sich ging! Und sie
wollten es geheim halten.
Aber er, Magnus, würde es herausfinden!
„Morten?“
Luzy stieß verzweifelt die Haupteingangstür der Schule auf und rannte auf
den Schulhof.
„Morten!“
Irgendwo musste dieser Fiesling doch sein! Sicher stand er im Schatten einer
der Kastanien, um sich ihre Reaktion nur ja nicht entgehen zu lassen!
„Morten!“ Luzy konnte es nicht fassen. Hatte sie wirklich erst vor ein paar
Tagen geglaubt, Morten Vierstein und Zeno Trabas könnten nichts Sch-
limmeres mehr anstellen? Ein Junge im Koma, ein Mädchen offenbar
niedergeschlagen – oder wo hatte Mara sonst die Gehirnerschütterung her ...?
Und nun? Wie hatte sie sich nur je mit solchen Verbrechern einlassen
können!
Halb zornig, halb verzweifelt zerrte sie das Handy, das Vierstein ihr gegeben
hatte, aus der Tasche und tippte seine Nummer ein. Niemand meldete sich.
Mit einem Wutschrei schaltete Luzy das Telefon ab.
Ihr Blick fiel auf die Mülltonnen am Ende des Schulhofs. Entschlossen ging
sie darauf zu, öffnete den Deckel der erstbesten Restmülltonne, die sie er-
reichte, und pfefferte das nutzlose Handy mit aller Kraft hinein.
Nie mehr würde sie etwas mit Morten Vierstein zu tun haben wollen.
55/246
Daniel war zwar nach wie vor verschwunden und Mara immer noch krank,
doch mit diesem Entschluss fühlte sich Luzy ein wenig besser.
Rosie saß in einem Sessel des Wohnzimmers und schluchzte in ein Taschen-
tuch. Und obwohl Charlotte ihr die Schultern massierte, konnte sie sich nicht
beruhigen.
„Eine Entführung! Kinder, Kinder!“
„Wer sagt denn eigentlich, es sei eine Entführung?“, wollte Mara wissen. Sie
saß auf dem Sofa und sah beinahe so aus, als hätte sie ein schlechtes
Gewissen.
Magnus hielt sie fest, als wollte er verhindern, dass man ihm seine Freundin
unter der Nase wegstahl. „Vielleicht ist er ja aufgewacht. Kann doch sein,
oder?“
„Er hätte uns bestimmt sofort Bescheid gegeben“, sagte Nina leise. Sie hatte
sich in einem anderen Sessel zusammengekauert.
„Vielleicht irrt er ganz allein umher und weiß nicht, wo er hinsoll“, schnüf-
felte Rosie. Der Gedanke schien sie sehr aufzuregen. „Der arme Junge!“
Nina antwortete nicht. Tränenspuren überzogen ihr Gesicht, ihre Augen war-
en vom Weinen schon ganz geschwollen.
„Dann dauert es sicher nicht mehr lange, bis die Polizei ihn irgendwo aufgre-
ift“, versuchte Magnus die Gemüter zu beruhigen.
„Und was machen wir jetzt?“, wollte Nina schließlich wissen.
„Nina hat recht“, erklärte Delia. „Wir müssen etwas tun. Irgendwas!“
„Die Polizei ist ja dran“, gab Kaya zu bedenken.
„Sie haben sogar Altrichter angerufen“, fügte Magnus beruhigend hinzu.
„Vielleicht müssen wir einfach nur abwarten.“ Delia war kurz davor,
aufzugeben.
„Wenn wir nur eine Idee hätten, wer es gewesen ist!“, sagte Nina.
Magnus warf Luzy einen mörderischen Blick zu, doch die zog es vor, nicht
darauf einzugehen.
„Bestimmt derselbe, der ihn schachmatt gesetzt hat!“, rief Felix aus. „Und
dich natürlich auch, Mara!“
56/246
„Kannst du dich wirklich an gar nichts mehr erinnern?“, wollte Delia von
Mara wissen.
Bedrückt schüttelte Mara den Kopf. Sie wollte sich ja daran erinnern, was
passiert war, aber da war eine große Lücke in ihrem Gedächtnis. Es war, als
würde sie in ein Schwarzes Loch blicken, wenn sie daran zu denken ver-
suchte, was an jenem Abend passiert war.
„Hey!“, versuchte Magnus sie zu trösten. „Wir werden schon herausfinden,
wer der große Unbekannte ist!“
57/246
9
WO IST DANIEL?
Warum nur passte dieser Draht denn nicht in diese Öffnung?
Leise fluchte Victor Rodemer in sich hinein. Schließlich ließ er sein Hilf-
swerkzeug ärgerlich sinken. Er konnte sich einfach nicht konzentrieren!
Diese Schlangenbrut war ja wirklich lästig, aber er wusste genau, dass es
ganz und gar nicht in Ordnung war, wenn eines von den Kindern spurlos ver-
schwand. Entführt, aus der Klinik, wie der Kommissar gerade am Telefon
selbst zu ihm gesagt hatte!
Ob der Täter der gleiche war, der den Kindern auch das Haus gestohlen
hatte?
Victor überlegte, ob er vielleicht dem Kommissar alles hätte sagen müssen,
als er ein leises Stöhnen hörte.
„Victor? ... Victor!“
Stirnrunzelnd wandte Victor sich um. „Vater? Du musst lauter sprechen!“
„Was stehst du hier herum? Die Zeit drängt!“
„Tut mir leid, ich war nicht ganz bei der Sache“, erklärte Victor kurz ange-
bunden. „Daniel wurde entführt.“
Sein Vater lachte hämisch. „Das kommt davon, wenn man sich mit Dingen
beschäftigt, die einen nichts angehen! Hol mir das kleine Haus, schnell!“
Victor konnte es kaum glauben. „Vater, du hast wohl nicht richtig ver-
standen! Ein Junge wurde entführt! Aus dem Krankenbett, er lag im Koma!“
Victor Senior schien das nicht zu verstehen. „Ich brauche das kleine Haus!
Sonst wird Daniel nicht der Letzte sein!“ Mit diesen Worten zog er Corvuz
hinter seinem Rücken hervor.
Diesmal konnte Victor Senior seinen Sohn nicht so beeindrucken, wie er es
gehofft hatte.
„Daniel ist verschwunden!“, wiederholte Victor langsam, als sei sein Vater
ein kleines Kind. Wie konnte er denn einfach über ein so schlimmes Ver-
brechen hinweggehen? „Wer weiß, was ihm geschehen ist?“
Er ging aufgeregt ein paar Schritte hin und her.
„Ich werde das kleine Haus finden“, sagte er schließlich entschieden und
blieb vor dem Spiegel stehen. „Nicht für dich, damit das klar ist! Sondern für
Corvuz! Und wehe, du drohst mir noch einmal damit, ihm wehzutun!“ Den
letzten Satz schrie er fast.
Für einen Moment schwieg Rodemer Senior. „Endlich, Victor!“, hauchte er
nach einer kurzen Pause. „Nun sehe ich einen echten Rodemer in dir, ha!“
Dann hielt er inne, um Luft zu holen. „Genug Zeit vergeudet“, keuchte er.
„Finde das Haus! Schnell!“
Der Spiegel wurde dunkel. Nichts war mehr darin zu sehen.
Victor dachte nach. Das kleine Haus. Und sein Vater sah so schwach aus! Es
schien wirklich nicht mehr viel Zeit zu bleiben. Er musste das Miniaturhaus
finden. Im Haus Anubis war es nicht mehr, oder? Wer hatte es stehlen
können?
Auf einmal fiel ihm Luzy ein. Hatte die vorhin nicht erst einen Anruf erhal-
ten, von jemandem, der äußerst verdächtig geklungen hatte? Ein Mimo oder
Mori oder so. Jemand, dessen Name mit M begann. Victor hatte neugierig
hinter der Rüstung gestanden und gelauscht.
Erst hatte Luzy so getan, als würde sie diesen Momi oder Morti nicht kennen,
doch dann, am Telefon, hatte sie ihm gleich vorgeworfen, er sei an Daniels
Entführung schuld. Wusste die kleine Luzy Schoppa, wer hinter all dem
steckte?
Victor runzelte die Stirn. Es war eine vage Spur.
Aber immerhin eine Spur.
Nina hielt die Gesellschaft der anderen und ihre Spekulationen über Daniels
Entführung nicht mehr aus. Sie wollte allein sein. Am liebsten bei Daniel, nur
… das ging ja nicht.
Was also lag näher, als in das Zimmer zu gehen, in dem sie Daniel nah sein
konnte, auch wenn er nicht da war!
59/246
Sie huschte über den Gang und schlüpfte in Daniels und Kayas Zimmer.
Leise zog sie die Tür hinter sich zu und sah sich um. Da, die ganzen
ägyptischen Bücher auf dem Tisch. Eine Zeichnung der Körperproportionen
von Leonardo da Vinci an der Wand. Und über dem Bett die große Fotografie
von Albert Einstein und das Poster des Tom-Hanks-Films Illuminati.
Alles hier gehörte zu Daniel und zeigte Aspekte von ihm: Klugheit, Wissen,
Neugier. Und doch schien etwas Wesentliches zu fehlen. Die Dinge waren
leblos.
Niedergeschlagen ließ Nina sich auf sein Bett sinken, nahm das Kopfkissen
und drückte es an sich. Es roch nach frischer Wäsche, genau wie Daniel.
Daniel entführt! Es war schlimm genug, ihn leblos in einem Krankenbett zu
sehen. Und nun wusste sie nicht einmal mehr, wo er war!
Nina konnte ihre Tränen nicht mehr zurückhalten. Die Erinnerungen an all
die schönen Zeiten überwältigten sie. Der erste Blick, den sie und Daniel
gewechselt hatten, als sie das erste Mal ins Speisezimmer des Hauses Anubis
gekommen war ... als er sie vor Zeno Trabas gerettet hatte ... als sie sich zum
ersten Mal küssten, als König und Königin des Abschlussballs ... sein Ver-
sprechen, sie nie allein zu lassen ...!
Und dann der furchtbare Moment, als sie ihn leblos in der Eingangshalle ge-
funden hatte! Nina schluchzte auf und drückte das Kissen enger an sich.
„Wo bist du denn bloß?“, flüsterte sie leise. „Gib mir ein Zeichen, damit wir
dich retten können!“
Was konnte sie nur tun? Wie konnte sie ihn erreichen?
Plötzlich hatte sie eine Idee ...
Watte.
Da war überall Watte um ihn herum, ein weiches, weißes Etwas. Und es war
nicht nur direkt vor seinen Augen, sondern auch in seinem Kopf.
Er versuchte zu blinzeln und durch die Watte, die ihn umgab, etwas zu
erkennen. Da waren Konturen. Ein großes Rechteck. Eine Tür, sagte eine
Stimme in ihm.
Die Watte – oder was auch immer es war – schien dünner zu werden.
60/246
Er versuchte, sich aufzurichten, doch es gelang nicht richtig. Er hatte kaum
Kraft in den Armen. Erschöpft von dem Versuch legte er sich wieder hin. Vi-
elleicht fing er erst einmal mit Kleinigkeiten an. Es half immer, seine
Gedanken zu ordnen.
Wer war er? Daran konnte er sich erinnern: Er hieß Daniel Gutenberg.
Wo war er? Nun, in einem weißen Zimmer. In einem weiß bezogenen Bett.
Zwei Schläuche hingen in seinem rechten Arm. Der eine führte zu einer
Stange, an der ein Beutel aus Plastikfolie befestigt war – eine Infusion. Der
andere führte in einen Rundkolben. Eine schmutzig aussehende Flüssigkeit
schien aus seinem Arm dort hineinzutropfen.
Wie lange hatte er geschlafen? Das war nicht genau zu beantworten.
War er im Krankenhaus? Es sah ganz so aus. Dazu passte, wie schlecht er
sich fühlte.
Gab es denn hier keine Ärzte oder Schwestern? Er spürte genau, an diesem
Ort war irgendetwas ganz und gar nicht in Ordnung.
In diesem Moment hörte er, wie sich leise die Tür öffnete.
Rasch schloss er die Augen. Niemand sollte sehen, dass er wach war.
Daniel spürte ein leichtes Ziepen im Arm. Der Schlauch, der in den Run-
dkolben mit der trüben Flüssigkeit führte! Der Unbekannte fummelte daran
herum. Wahrscheinlich überprüfte er, was er da sah. Daniel wagte nicht, die
Augen zu öffnen, um sich zu vergewissern.
Wieder ziepte es im Arm, dann hörte Daniel leise Schritte und das Schließen
der Tür.
Er war allein.
Als er nachsah, hatte sich an den Schläuchen nichts geändert. Nach wie vor
tropfte die Flüssigkeit aus dem Infusionsbeutel in ihn hinein, die trübe Brühe
aus ihm heraus. Doch nun war wesentlich weniger von dieser komischen
Flüssigkeit, die man scheinbar aus ihm herausdestillierte, in dem Run-
dkolben. Wahrscheinlich hatte der unbekannte Besucher sie mitgenommen.
Verwirrt legte er seinen Kopf aufs Kissen zurück. Was war hier nur los? Und
was war das für eine Melodie, die da auf einmal erklang?
Das war sein Handy! Jemand rief ihn an, und er wusste auch genau, wer das
war! Diesen Song hatte er als Klingelton für seine Freundin eingestellt! Mit
61/246
einem Mal war Daniel klar, warum ihm diese Umgebung so merkwürdig
vorkam. Nina hätte sich nie und nimmer nehmen lassen, bei ihm zu sein,
wenn er aufwachte, das wusste er sicher.
Das Handy klingelte weiter.
Wo war es nur? Auf seinem Nachttisch lag es nicht, und es klang auch
gedämpft, so als sei es versteckt. Seine Tasche, er hatte es immer in der
Handytasche seines Rucksacks. Angestrengt wendete Daniel sich auf die an-
dere Seite des Bettes. Vielleicht stand die Tasche dort.
Und richtig, da war sie.
Doch er konnte sie nicht erreichen. Die Schläuche hinderten ihn, und erst jet-
zt bemerkte er, wie erschöpft er war. Er wusste auf einmal genau, den Ruck-
sack anzuheben, um das Handy aus der Tasche zu holen, würde ihn mehr
Kraft kosten als das Fitnessprogramm, das Kaya in einer Woche absolvierte.
Plötzlich brach der Klingelton ab. Nina hatte aufgelegt. Oder seine Mailbox
war angesprungen. Müde und resigniert ließ Daniel sich in sein Kopfkissen
fallen. Er musste sich ein wenig ausruhen, bevor er sich an die Anstrengung
machte, sie zurückzurufen.
Bevor er erschöpft einschlief, konnte er gerade noch ein wenig hoffen, dass
sich Nina keine allzu großen Sorgen machte ...
„Was ... was gibt es Neues?“
Zeno Trabas bekam trotz seiner Sauerstoffmaske kaum genug Luft. Ärgerlich
klappte Morten Vierstein das Handy zu, mit dem er gerade versucht hatte,
Luzy Schoppa zu erreichen.
Einerseits lief alles sehr gut für ihn und seinen Auftraggeber, andererseits ...
hatte er nicht mehr viel Zeit. Trabas war sehr krank, wahrscheinlich würde er
bald sterben. Jedenfalls hatte das die Pflegerin behauptet, die jeden Tag kam,
um nach dem alten Archäologen zu sehen. Und ausgerechnet jetzt konnte er
Luzy nicht erreichen!
Doch Morten Vierstein wollte seinem Auftraggeber keinen Kummer bereiten.
Trabas hatte Angst vor dem Tod, das war verständlich. Und so konnte Vier-
stein nur eins tun: diese Angst mildern. Er hob den Rundkolben auf, den er
62/246
zuvor aus dem Zimmer des schlafenden Daniel mitgenommen hatte, und
zeigte ihn Trabas.
„Wir haben Erfolg!“, verkündete er. „Das Gift ist schon halb aus Daniels
Körper heraus. Und Luzy wird sich morgen sicher melden.“
Trabas schloss bei diesen Worten kurz die Augen. Erleichtert bemerkte
Morten Vierstein, dass sein Auftraggeber ein wenig ruhiger aussah.
„Wie lange ... dauert es noch?“, wollte Trabas wissen. Seine Stimme klang
schwach.
Vierstein zögerte. „Nicht mehr lange“, antwortete er vage.
„Aber ... wie ist die Lage?“
„Das Krankenhaus hat die Polizei verständigt.“ Vierstein versuchte, so ruhig
wie möglich zu bleiben. Es schien allerdings nicht zu helfen.
Langsam zog Trabas sich die Maske von der Nase und warf Vierstein einen
bösen Blick zu.
„Wie ... wie konntest du! Die Polizei?“
Vierstein hob einen Finger. Er wandte sich zur Eingangstür des Zimmers und
winkte eine Gestalt herbei, die sich im Schatten verborgen hatte.
Trabas staunte, als er erkannte, wer sich da neben Vierstein stellte.
„Darf ich vorstellen?“, fragte sein Helfer selbstzufrieden und legte den Arm
um den grinsenden Mann neben ihm. „Der erste Polizist der Welt, der genau
das macht, was wir ihm sagen.“
Der Polizist nickte freundlich. Trabas staunte und wusste keine Antwort, als
Morten Vierstein sich dem vermeintlichen Gesetzeshüter zuwandte und
begann, an seiner Uniform herumzuzupfen.
„War ein echtes Schnäppchen“, sprach Vierstein weiter. „Könnte man glatt
drauf reinfallen, was?“
Zeno Trabas brach in heiseres Lachen aus. „Nicht schlecht, Morten. Nicht
schlecht. So langsam kommst du in Übung!“
Morten Vierstein lächelte stolz, steckte dem falschen Polizisten einen Brie-
fumschlag zu und bedeutete ihm mit einem knappen Winken, dass er
entlassen war.
63/246
„Alles läuft nach Plan“, sagte er zu Trabas, als der falsche Polizist fort war.
„Der Junge liegt nebenan, bald haben wir das Gift, und Luzy steht kurz vor
der nächsten Prüfung.“
Trabas nickte erleichtert, schloss die Augen und schlief ein.
Vorsichtig zog Vierstein seinem Auftraggeber die Sauerstoffmaske über die
Nase. Ganz wohl war ihm bei dem letzten Satz, einer eindeutigen Lüge, nicht
gewesen.
Aber er würde den Inhalt dieser Lüge sehr bald wahr werden lassen, das
schwor er sich mit einem letzten Blick auf das blasse Gesicht des Kranken.
64/246
10
WAS TUN?
Nina war endgültig am Ende mit ihrer Weisheit.
Als sich die Tür zu Daniels Zimmer leise öffnete, vergrub sie ihre Nase tiefer
in seinem Kopfkissen. Sie wusste nicht mehr, was sie noch tun sollte. Wo
konnte Daniel sein? Keiner hatte etwas gesehen, die Ärzte und Schwestern
hatten keine Ahnung. Sogar die schwache Hoffnung, er sei wirklich aus dem
Koma aufgewacht und könne an sein Handy gehen, hatte sich nicht be-
wahrheitet. Es blieb ihr wirklich nichts mehr zu tun, als darauf zu warten,
dass die Polizei Ergebnisse lieferte! Und wer wusste schon, wann das sein
würde.
Sie kam sich hilflos vor wie nie und wollte niemanden sehen.
Eine Hand strich ihr sanft über den Rücken.
„Wenn du jemanden zum Reden brauchst ...“, murmelte eine Stimme.
Delia.
Nina riss sich ein wenig zusammen. Vor Delia musste sie sich nicht für ihre
Tränen schämen. Sie hob den Kopf. „Wie haben sie ihn denn nur aus dem
Krankenhaus bekommen?“, fragte sie in den Raum hinein. „Man kann doch
nicht so einfach mit einem Patienten da rausspazieren!“
„Also ...“, wollte Delia einwerfen, aber Nina sprach bereits weiter.
„Er braucht doch alle möglichen Geräte, Monitore und so! Haben sie die
auch aus der Klinik gestohlen?“
Delia runzelte die Stirn, als würde sie überlegen. „Ähm ...“
„Und wenn wir nur wüssten, ob in der letzten Zeit irgendetwas aus dem
Krankenhaus geklaut wurde – und wer Zugang hatte!“
„Vielleicht ...“
„Wir sollten auch in Erfahrung bringen, ob Daniel Besuch hatte – vorher,
meine ich! Und …“
Delia wurde es zu bunt. Sie hielt Nina mit der rechten Hand den Mund zu.
„Hey!“, sagte sie sanft.
Nina fiel auf, dass sie die ganze Zeit geredet hatte und Delia nicht hatte zu
Wort kommen lassen. Sie sah auf. Die Freundin war aufgestanden und
grinste ein wenig verschlagen. So, wie Delia immer grinste, wenn sie eine
Idee hatte.
„Komm!“, meinte Delia nur. „Oder willst du weiter Daniels Kissen
knuddeln?“
„Wohin?“, fragte Nina verblüfft.
„Na dahin, wo du alles rausfinden kannst – ins Krankenhaus!“
Aber was in Daniels Zimmer im Haus Anubis noch wie eine ganz tolle Idee
geklungen hatte, schien auf den Fluren der Klinik auf einmal ein unüberwind-
bares Hindernis zu sein.
„Ich habe niemanden gefunden, der zu dem Zeitpunkt Dienst hatte! Auch
nicht diesen Arzt!“
Ratlos trat Nina neben Delia, die am Tresen für die Pfleger gewartet hatte.
Delia runzelte die Stirn. „Willst du wieder gehen?“
Nina seufzte auf. „Wenn etwas Ungewöhnliches passiert ist, muss es irgend-
wo vermerkt sein.“ Ratlos ließ sie ihren Blick über die verlassene Büronische
der Pfleger gleiten. Plötzlich hielt sie inne. Da! Auf dem Regal, die
Aktenordner!
Ninas Gesicht hellte sich auf. „Und ich weiß auch, wo!“
Flugs war sie hinter den Schreibtisch gehuscht und begann, in den
Karteikästen und den Patientenbüchern zu blättern.
Erschrocken fuhr Delia herum. Glücklicherweise war der Gang nach wie vor
leer! Durfte Nina das so einfach machen? Was, wenn jemand sie erwischte?
„Nina, was machst du denn da?“
„Wenn sie etwas wissen, haben sie es vielleicht in seiner Akte notiert!“,
rechtfertigte sich Nina.
Delia war neugierig geworden und schlich ebenfalls hinter den Schreibtisch.
Nervös sah sie sich um. Das war sicher verboten!
66/246
Doch Nina ließ sich nicht beirren und zog schließlich ein großes Blatt Papier
hervor. „Und da ist es auch schon!“, verkündete sie triumphierend.
Delia war sprachlos. Die Freundin war immer für eine Überraschung gut!
Erst saß sie so traurig und hilflos auf dem Bett ihres Freundes herum, und
nun stahl sie Patientenakten, ohne ein schlechtes Gewissen zu haben!
Plötzlich ertönte ein Räuspern.
Nina und Delia erschraken. Da stand jemand direkt hinter ihnen – Dr. Brink!
„Was macht ihr hier?“ Es klang nicht so, als sei er damit einverstanden, dass
jemand in den Akten herumstöberte.
Der Arzt war so plötzlich aufgetaucht, dass nicht einmal der sonst so schlag-
fertigen Delia auf Anhieb eine Ausrede einfiel. „Wir ... wir spielen Versteck-
en!“, presste sie mit einem falschen Lächeln hervor. Sie drehte sich zu Nina
und stupste sie neckisch gegen die Schulter. „Oh … Nina! Hab dich!“
Doch ein Blick auf Dr. Brinks finsteres Gesicht bewies, diese Erklärung zog
bei ihm nicht.
„Das sind streng vertrauliche Informationen! Ich muss die Polizei rufen!“,
erklärte der Arzt ungehalten und nahm den Hörer auf.
Nina konnte es für einen Augenblick nicht fassen. Die Polizei? Was wollte
die denn anderes als sie selbst?
„Ich will wissen, was mit Daniel passiert ist!“, forderte sie trotzig. Sie ließ
sich nicht drohen!
Überrascht wandte Dr. Brink sich um. „Ich weiß, dass das Ganze schwer für
euch ist, aber so geht das nicht!“
Er tippte die Nummer der Polizei ins Telefon.
„Bitte!“, drängte Nina.
Irgendetwas in ihrer flehenden Stimme schien den Arzt zu berühren, denn er
legte den Hörer nach einem kleinen Seufzer auf und wandte sich um.
„Nur ausnahmsweise!“ Mit diesen Worten hielt er Nina Daniels Patien-
tenakte hin.
Neugierig beugten sich die beiden Mädchen über die Papiere.
„Und?“, fragte Delia schließlich. „Was ist denn nun passiert?“
„Davon steht hier nichts!“, meinte Nina ein wenig ratlos.
67/246
„Das liegt daran, dass wir auch nichts wissen!“, murrte Dr. Brink ein wenig
gereizt und nahm die Akte wieder an sich.
„Irgendjemand muss doch was gesehen haben!“ Nina blieb hartnäckig.
„Ich kann nichts für euch tun!“, entgegnete Dr. Brink kurz angebunden und
wandte sich seinen Papieren zu.
Delia nahm Nina am Arm. „Komm, hier erreichen wir nichts mehr. Wir ge-
hen.“ Sie wollte Nina mit sich fortziehen.
„Und ich weiß auch, wer etwas gesehen hat“, rief Nina plötzlich und befreite
ihren Arm. Sie beugte sich über den Tisch.
„Vincent! Daniels Zimmernachbar! Der war bei ihm!“
Dr. Brink schaute sie ungeduldig an. Oder runzelte er die Stirn, weil er selbst
nicht auf diese Idee gekommen war?
„Was willst du Vincent denn fragen?“, wollte Delia wissen.
„Ob er etwas gesehen hat. Ob Daniel Besuch bekam. Oder ...“
„Hier“, erklärte Dr. Brink und holte ein Blatt aus seinen Akten. „Vincent, das
ist er. Er ist heute entlassen worden. Etwa eine Stunde, nachdem wir festges-
tellt haben, dass Daniel nicht mehr da ist.“
„Er kann uns vielleicht weiterhelfen!“, meinte Nina aufgeregt. „Wo wohnt er
denn?“
Das war für Dr. Brink zu viel. „Das kann ich euch nun wirklich nicht sagen!
Datenschutz!“
„Bitte!“, flehte Nina. Auch Delia sah drein wie ein kleiner, verlassener Hund.
„Ich bin sowieso zu weit gegangen!“, wehrte der Arzt ab und hob beide
Hände. „Es geht nicht!“ Er wandte sich zum Gehen.
„Genau!“, rief Delia plötzlich aus. „Sie sind bereits zu weit gegangen, als Sie
uns die Akte gezeigt haben!“
Dr. Brink presste die Lippen aufeinander. „Nicht so laut!“
„Ich kann noch viel lauter!“, schrie Delia den Gang entlang und lächelte
dabei zuckersüß.
„Schon gut!“ Beinahe ärgerlich ging Dr. Brink hinter den Schreibtisch und
nahm Vincents Krankenblatt wieder auf.
Er blätterte zur letzten Seite vor und stutzte. „Seltsam.“
Nina beugte sich mit roten Flecken auf den Wangen über den Tresen. „Und?“
68/246
Dr. Brink blickte sie verwundert an. „Hier steht keine Adresse!“
Nina hatte nicht geglaubt, dass der Tag gegen Abend noch einmal eine gute
Wendung nehmen könnte. Daniel entführt, von der Polizei nichts Neues, im
Krankenhaus hatten sie auf Granit gebissen.
Niedergeschlagen wie nie zuvor war sie mit Delia ins Haus Anubis zurück-
gekehrt. Nicht einmal Delias Angebot, Nina dürfe heute bei ihr übernachten,
heiterte sie auf. Sie hoffte nur, dass dieser fürchterliche Tag bald zu Ende
sein würde.
Als Onkel Ursli mit der Idee eines gemeinsamen Suppenmahls angekommen
war, hatte sie ihn, wie alle anderen, insgeheim für verrückt erklärt. Aber dann
hatte Ursli recht gehabt! Suppe und Kummer hatten wirklich etwas gemein-
sam: Man konnte sie miteinander teilen. Und trotz oder vielleicht auch gerade
wegen des merkwürdigen Stromausfalls, der während des Essens passiert
war, wegen der vielen Kerzen, die sie hatten anzünden müssen und nicht zu-
letzt auch wegen der warmen Suppe fühlte Nina sich nun in Delias gemütli-
chem Dachzimmer schon viel zuversichtlicher.
Sie zündete eine letzte Kerze an. „Sogar Victor war entspannt!“ Immer noch
war ihr ganz warm ums Herz von Urslis Freundlichkeit und der leckeren
Gemüsesuppe, die er und Rosie gekocht hatten. „Zumindest ein bisschen!“,
lachte sie in Gedanken an Victors wie immer brummige Miene. „Wahr-
scheinlich zum ersten Mal in seinem Leben!“
„Hattet ihr auch das Gefühl, dass wir Daniel finden?“, fragte Delia
träumerisch. „Also, ich glaub jetzt ganz fest daran!“
Felix, der die Kerzen auf Delias Schreibtisch anzündete, nickte grinsend.
„Mein Onkel Ursli ist einfach der Beste!“, sagte er und arrangierte die Kerzen
so, dass vor ihm auf dem Tisch ein freier Platz entstand, auf dem er die Karte
des Labyrinths im Keller auffalten konnte.
„Ja, ich hätte auch gern so einen Onkel!“, schwärmte Delia. „Und so eine
Ziege!“, fügte sie lachend hinzu.
Unwillkürlich kicherte Nina mit.
69/246
„Leute! Guckt mal!“ Felix war überrascht aufgesprungen. Nina und Delia
wechselten einen Blick und gingen zu ihm hinüber. Er wies mit dem Finger
auf die linke Ecke der Karte. „Die neue Aufgabe!“
Verblüfft starrten alle drei die Karte an. Wo kam denn die neue Aufgabe her?
„Wie kann das denn sein?“ Delia hatte als Erste die Sprache wiedergefunden.
„Daniel vielleicht?“, überlegte Felix.
„Du meinst, er war hier? An der Karte? … Daniel!!“, rief Delia laut, als
würde sich der Vermisste in der Dachkammer verstecken.
„Nein!“, wehrte Felix ab. „Nicht heute. Aber vielleicht, bevor ihr ihn und
Mara in der Eingangshalle gefunden habt!“
Nina wurde es zu bunt. Das war genau der Moment, an den sie an diesem
Abend nicht erinnert werden wollte! Kurz entschlossen nahm sie Felix die
Karte aus der Hand und faltete sie zusammen. „Daniel ist weg!“, erklärte sie
ärgerlich. „Er ist entführt oder sogar ... Und ihr wollt einfach so weiter-
machen mit den Prüfungen, als ob nichts passiert wäre?“
Sie ging hinüber zu Delias Bett, schob die Karte darunter und setzte sich
selbst darauf.
„Was willst du denn machen?“, wollte Delia wissen.
„Was weiß ich“, antwortete Nina niedergeschlagen. „Etwas für Daniel. Wir
müssen doch was tun!“
Sie seufzte und schwieg. Nach einer Pause stand sie auf. „Ich hab’s.“
„Was?“, fragte Delia.
„Ich weiß, was wir tun können!“, sagte Nina.
„Willst du noch mal bei der Polizei anrufen?“ Delia war verwirrt.
„Nein.“ Nina schüttelte den Kopf. „Erinnert ihr euch, was der Arzt gesagt
hat? Wir sollten für Daniel im Koma da sein. Und wir könnten ihn irgendwie
erreichen. Und das können wir immer noch, auch wenn er gerade nicht da
ist.“
Ein wenig ratlos blickten Felix und Delia die Freundin an. Was meinte sie
nur?
„Wir machen eine Feier! Für Daniel!“, erklärte Nina. „Jeder kann etwas
vorbereiten, was ihn an Daniel erinnert. Versteht ihr? So können wir für ihn
da sein und an ihn denken.“
70/246
Delia und Felix sahen sich an. Darauf wären sie nie gekommen.
Aber es war eine tolle Idee!
71/246
11
LUZY HAT DIE NASE VOLL
Luzy ließ sich mit ihrer Sturmlaterne auf ihr Bett sinken. Täuschte sie sich
oder war das Zimmer heute dunkler als sonst? Vielleicht kam ihr das wegen
des Stromausfalls auch nur so vor. Die Schatten hinter ihrem Schreibtisch
und hinter Ninas Schrank schienen jedenfalls tiefer zu sein als an den anderen
Abenden.
Das mit der Suppe war eigentlich eine nette Idee von Onkel Ursli gewesen.
Aber so gut es gemeint gewesen war, jetzt nagte das schlechte Gewissen nur
umso heftiger an Luzy.
Sie war schuld daran, dass Daniel im Koma lag und entführt worden war, sie
hatte den Club verraten und das Minihaus gestohlen, Sie war schuld daran,
dass die anderen so traurig waren. Nur ihr, Luzy, war es zu verdanken, dass
Vierstein Zugang zum Labyrinth erhalten hatte und so schlimme Dinge an-
richten konnte.
Sie dachte an all die Gelegenheiten zurück, an denen er ihr gedroht hatte. Im-
mer wieder hatte er Luzy unter Druck gesetzt, indem er behauptete, ihren
Freunden würde Schlimmes zustoßen, wenn sie nicht genau das tat, was er
wollte.
Und obwohl sie jedes Mal die Zähne zusammengebissen und gehorcht hatte,
war ihren Freunden so ziemlich alles zugestoßen, was nur möglich war: Mara
war krank, Felix war ein anderer geworden, Daniel im Koma und entführt –
und keiner wusste, ob er überhaupt noch lebte.
Und sie war schuld. Denn vielleicht wäre gar nichts passiert, wenn sie von
Anfang an ehrlich gewesen wäre.
Sie stand auf, nahm die Sturmlaterne und lief zum Badezimmer, um sich die
Zähne zu putzen. Aber bevor sie dort ankam, stieß sie mit Magnus zusam-
men, der gerade Mara ins Bett gebracht hatte.
„Du bist es“, murmelte sie, als sie ihn erkannte.
„Ja, ich freu mich auch immer wieder, dich zu sehen“, sagte er. Ironie troff
aus seiner Stimme.
Luzy biss sich verlegen auf die Lippen. Sie hatte sich Magnus’ Zorn wirklich
verdient. „Wie geht es Mara?“, fragte sie kleinlaut.
„Sollte ich das nicht besser dich fragen?“, wollte Magnus wissen. „Du weißt
doch genau, was passiert ist!“
Luzy konnte Magnus’ Blick nicht erwidern. Da hatte er recht. Sie brachte
kein Wort heraus.
„Uiuiui, Luzy Schoppa hat’s die Sprache verschlagen!“, höhnte Magnus. „Ist
ja mal ganz was Neues. Oder hast du plötzlich Angst?“
Und wie sie Angst hatte! Aber sie konnte Magnus einfach nichts erzählen!
Was, wenn Vierstein davon erfuhr? Vielleicht geschah dann noch etwas viel
Schlimmeres.
„Da gibt’s nichts zu sagen!“, stieß Luzy hervor. „Und jetzt lass mich endlich
in Ruhe!“
Wütend ließ sie Magnus stehen und knallte die Badezimmertür hinter sich zu.
„Schöner Mist!“, sagte sie zu ihrem Spiegelbild. Es sah grimmiger aus als
sonst. War das ihre finstere Miene oder lag das an dem fehlenden Licht, das
der Stromausfall verursachte?
Auf einmal löste sich eine Gestalt aus den Schatten hinter Luzy. Sie schrie
vor Schreck leise auf.
„Mund zu, Luzy! Sonst hört dich das ganze Haus! Und das willst du doch
nicht, oder?“
Morten Vierstein! Luzy keuchte auf. Was machte der denn hier im Haus
Anubis? Und im Badezimmer obendrein?
„Was machen Sie hier?“, quiekte sie. Ihr Herz schlug bis zum Hals.
Vierstein nahm seine Sonnenbrille ab. Er lachte bösartig und dachte dabei
wohl selbst nicht daran, dass man ihn draußen im Gang durchaus hören kon-
nte. „Hast du wirklich gedacht, du bist mich los? Ich finde dich überall!“
„Das weiß ich, und Daniel auch, Sie Kidnapper!“, rief Luzy und erinnerte
sich im letzten Moment an Magnus draußen im Flur.
Das schien Vierstein nicht zu gefallen. „Wovon sprichst du?“
73/246
„Sie wissen genau, wovon ich spreche!“, gab Luzy zurück.
„Sag du es mir! Was hab ich denn diesmal gemacht, hm?“
Sein herablassender Tonfall machte Luzy nur wütender. „Sie haben Daniel
aus dem Krankenhaus entführt! Wie geht es ihm? Wenn Sie ihm was ...“
„Das passiert eben, wenn man uns in die Quere kommt!“, unterbrach Vier-
stein. „Aber wenn du nur noch diese eine, klitzekleine Prüfung für uns
machst, wirst du ...“
Luzy schüttelte den Kopf. „Es ist vorbei. Ein für alle Mal! Ich hab genug get-
an! Ich schreie, wenn Sie mich nicht loslassen!“
„Moment! Wenn du nicht mitmachst, leidet nur einer darunter: Daniel!“
Luzy fuhr zurück. Er hatte es zugegeben! Wie hätte er sonst drohen können,
Daniel etwas anzutun? Sie hatte also recht gehabt: Morten Vierstein und
Zeno Trabas waren Daniels Entführer!
„Willst du, dass ihm was passiert? Trabas weiß genau, was zu tun ist, wenn
ich mich nicht melde!“
„Lassen Sie Daniel in Ruhe!“ Luzy war völlig aufgeregt. Mittlerweile traute
sie Vierstein alles zu.
„Deine Wahl! Tschüs, Luzy!“ Mit diesen Worten setzte Vierstein seine
Sonnenbrille wieder auf und verschwand aus der Tür des Badezimmers.
Luzy wandte sich ihrem Spiegelbild zu. Sie schnappte sich die Sturmlaterne
und riss die Tür auf. Nichts wie zurück in ihr Zimmer! Vielleicht hatte sie
wenigstens dort Ruhe. Sie wollte nur noch ins Bett.
Doch kaum hatte sie ihre Zimmertür zugeworfen, stieß sie mit jemandem
zusammen. „Magnus!“
Offenbar hatte er hier auf sie gewartet.
„Schlechtes Gewissen?“, grinste Magnus. „Kein Wunder! Rede!“
So gut sie konnte, verbarg Luzy ihre Angst. „Worüber soll ich denn reden?“,
meinte sie. „Über das Wetter?“
„Über die Wahrheit!“, sagte Magnus drohend und machte einen Schritt auf
sie zu. Unwillkürlich wich Luzy zurück.
„Ich weiß, du weißt mehr! Keine weiteren Ausreden!“
Luzy holte Luft. Daniel war in den Händen von Zeno Trabas und Morten Vi-
erstein, zwei schrecklich skrupellosen Verbrechern. Ihm durfte einfach nicht
74/246
mehr passieren – und sie würde alles daransetzen, sich nicht noch mehr vor-
werfen zu müssen!
Wenn sie allerdings beichtete, war Magnus sicher der Letzte, dem sie etwas
sagen wollte.
„Fängst du schon wieder damit an?“, fuhr sie ihn an. „Ich weiß nichts, ver-
stehst du das?“ Nun ging sie ihrerseits einen Schritt auf ihn zu. „Nichts.
Nichts!“
„Ach!“, machte Magnus und stellte die Kerze ab, die er bei sich gehabt hatte.
Er zog sein Handy hervor.
„Mit wem hast du gerade im Bad gesprochen?“, wollte er wissen. „Mit
deinem neuen Liebhaber?“
Luzy suchte fieberhaft nach einer Ausrede. „Das geht dich nichts an!“,
erklärte sie schließlich. „Ich hab mit niemandem gesprochen!“
Doch Magnus schien ihr kein Wort zu glauben.
„Ach nein?“ Er drückte eine Taste auf seinem Handy.
„Moment!“, tönte auf einmal Morten Viersteins Stimme durchs Zimmer.
„Wenn du nicht mitmachst, leidet nur einer darunter: Daniel!“
Luzy wurde blass vor Schreck. Magnus hatte an der Badezimmertür
gelauscht – und er wusste jetzt, dass es Vierstein gab! Für einen Moment
dachte Luzy daran, Magnus einzuweihen. Andererseits traute sie ihm einfach
nicht. Der ging bestimmt los und petzte!
Magnus ließ Luzy nicht aus den Augen. „Erzähl mir nicht schon wieder, dass
du nichts weißt! Was ist mit Mara und Daniel passiert?“
In Luzy brodelte es. Sie stieß mit einem kleinen Schrei Magnus ihre beiden
Hände vor die Brust und lief aus dem Zimmer.
„Jaja“, murmelte Magnus. „Lauf du nur. Du kannst mir nicht für ewig en-
tkommen!“ Damit nahm er seine Kerze und verließ das Zimmer ebenfalls.
Eine Sekunde blieb es in dem Mädchenzimmer still. Doch dann rührte sich
etwas unter Luzys ordentlich an einer Kleiderstange aufgehängten Sachen.
Eine glatzköpfige Gestalt in blauem Kittel kroch darunter hervor. Auf dem
Gesicht war im Licht der Sturmlaterne, die Luzy vergessen hatte, ein zu-
friedenes Grinsen zu sehen.
75/246
Victor Rodemer hatte alles gehört. Er hatte recht gehabt – die kleine Luzy
Schoppa wusste tatsächlich mehr, als sie verraten wollte!
Luzy hatte keine Ahnung, wo sie hinlief. Sie spürte nur die frische Luft und
die Kälte draußen im Garten – beides beruhigte sie ein wenig. Sie blieb end-
lich stehen und genoss für einen Augenblick die Stille und die nächtliche
Brise, die ihr die glühenden Wangen kühlte.
„Je später der Abend, desto netter die Gäste!“, erklang auf einmal eine fre-
undliche Stimme hinter ihr.
Sie zuckte zusammen. Onkel Ursli! Von welchen netten Gästen sprach er?
Sie konnte er ja wohl nicht meinen. Oder wollte er sie auf den Arm nehmen?
„Eine Nachtwanderung?“
„Was?“ Luzy verstand nicht.
Ursli lachte leise. „Das mache ich auch gern. Im Nachtkleid draußen herum-
laufen, es gibt nichts Schöneres.“
Na toll, dachte Luzy. Noch einer, der meinte, er könnte sich auf ihre Kosten
amüsieren!
Die Ziege an seiner Seite meckerte leise, als wollte sie lachen.
„’tschuldigung“, sagte Luzy kurz angebunden und wandte sich ab. Sogar eine
Ziege machte sich über sie lustig! „Ich weiß nicht, was Sie meinen.“
Onkel Ursli blieb gelassen. „Jaja, Delphi, ich weiß, das hast du schon oft
gesagt“, meinte er zu seiner kleinen Ziege und band sie mit einem Schal
neben seinem Zelt fest. „Entschuldigung“, wandte er sich wieder an Luzy.
„Delphi ist in letzter Zeit so wahnsinnig überbesorgt. Und jetzt zu dir. Man
sagt ja oft, das Glück kommt über Nacht. Suchst du etwas zum Schlafen?“
Onkel Urslis gleichbleibende Freundlichkeit und sein Lächeln taten Luzy gut.
Sie wusste gar nicht mehr, wie das war, nett behandelt zu werden. Sie rang
sich ein Lächeln ab.
„Ich? Nein ... Oder vielleicht doch?“
Ursli nickte schmunzelnd. „Onkel Ursli hat was für dich.“ Mit diesen Worten
wandte er sich dem Haufen Sachen zu, die ordentlich neben seinem Wigwam
aufgestapelt waren. Er zog ein Bündel hervor und warf es scheinbar
nachlässig auf das leere Rasenstück neben seinem Zelt. Noch im Fallen
76/246
entfaltete sich das Bündel und wurde zu einem kleinen Einmannzelt. Dann
holte Ursli einen zusammengerollten Schlafsack hervor und drückte ihn Luzy
in die Hand.
„Danke!“, murmelte Luzy. Onkel Ursli war scheinbar der Einzige, bei dem
sie heute Nacht bleiben durfte.
Ursli nickte lächelnd. „Gute Nacht, Luzy. Und denk daran: Deine Sorgen
können morgen schon wieder vergessen sein.“
77/246
12
DAS GEHEIMNISVOLLE SCHLOSS
So trübsinnig hatte im Haus Anubis selten ein neuer Tag angefangen.
Kaya, Charlotte und Mara saßen bereits am Frühstückstisch, als Magnus
hereinkam – aber keiner der drei hatte Rosies appetitlich angerichtete Speisen
angerührt. Kaya wollte scheinbar nicht einmal hinsehen. Er hatte sein Gesicht
in den Händen vergraben und trug noch immer seinen Schlafanzug.
„Und? Gibt es schon Neuigkeiten von Daniel?“, wollte Magnus wissen.
Mara seufzte. „Nein. Nichts.“
„Willst du dir nicht mal was anziehen?“, fragte Charlotte zu Kaya gewandt.
„Oder willst du den ganzen Tag so bleiben?“
Kaya massierte sich die Nasenwurzel. „Ist doch völlig egal“, brummte er.
Magnus verzog das Gesicht. Bevor er allerdings etwas Abfälliges sagen kon-
nte, öffnete sich die Tür.
Nina schob sich herein. Eine strahlende Delia und ein grinsender Felix fol-
gten ihr auf den Fersen.
„Ich ... wir möchten euch einen Vorschlag machen“, begann Nina ein wenig
schüchtern.
„Ja, was denn, Nina?“ Rosie, die gerade Gläser und Orangensaft herein-
brachte, sah sie ermunternd an.
Nina schien allen Mut zusammennehmen zu müssen. „Ich vermisse Daniel.
Wir alle vermissen ihn“, hauchte sie leise und mit einem Seitenblick auf
Kaya. „Und es ist so schrecklich, dass wir nichts tun können! Aber mir ist da
etwas eingefallen. Es ist nur ein wenig schwierig, das zu erklären.“
„Wir machen eine Party!“, platzte Delia heraus. Felix gab einen kleinen
Juchzer von sich. „Für Daniel!“ Beide strahlten in die Runde, als hätten sie in
der letzten Mathearbeit bei Herrn Altrichter eine Eins bekommen.
Charlotte, Magnus und Mara sahen sich stirnrunzelnd an. Waren die drei ver-
rückt geworden?
„Also, ich weiß nicht“, stammelte Mara.
„Mir ist auch nicht gerade nach Party zumute“, fügte Magnus hinzu.
„Ihr macht was?“ Kaya konnte es gar nicht fassen. „Spinnt ihr?!“
„Ruhig, Alter!“, sagte Felix fröhlich. „Wir meinen das so …“
„Daniel ist weg!“, stieß Kaya hervor und sprang auf. „Wer weiß, ob er jemals
...“ Sein Blick fiel auf Nina und Delia, die ihn ein wenig schuldbewusst an-
schaute. Kaya verstummte und ging ohne ein weiteres Wort hinaus.
„Lass ihn“, meinte Rosie beruhigend. „Nina, glaubst du, das ist wirklich eine
gute Idee?“
Nina zuckte mit den Achseln. „Ich weiß, das klingt irgendwie verrückt, aber
habt ihr das denn gestern beim Suppe-essen nicht gespürt? Vielleicht kriegt
Daniel irgendwie mit, dass wir an ihn denken! Darum sollten, nein, müssen
wir etwas tun.“
Rosie war die Erste, die genau verstand, was Nina wollte. „Ich finde, das ist
ein großartiger Einfall!“, erklärte sie herzlich. „Das machen wir!“
„Wir dachten, Rosie könnte Daniels Lieblingsessen kochen!“, schlug Delia
vor.
„Und ich zünde seinen Lieblingsböller!“, fügte Felix hinzu.
„Ich sing unser Lied“, flüsterte Nina leise.
Charlotte und Mara nickten langsam. Irgendwie klang das alles gar nicht
mehr so dumm wie am Anfang.
„Aber ...“ Magnus hob die Hand. Er hatte einen Blick wie drei Tage
Regenwetter.
Gespannt auf seinen Einwand sahen die anderen ihn an.
„Muss ich da auch wieder Suppe essen ...?“
Ein wenig ungelenk zog Luzy den Reißverschluss ihres kleinen Zelts auf und
krabbelte ins Freie. Es war ungewohnt gewesen, im Garten zu übernachten,
doch eigentlich fühlte sie sich gar nicht so schlecht.
79/246
Kaum hatte sie ihren Kopf aus dem Zelt gesteckt, wurde sie schon mit einem
freundlichen „Guten Morgen, Luzy!“ begrüßt. Onkel Ursli saß neben seinem
Wigwam und trank genüsslich eine Tasse Tee.
„Wie spät ist es?“, wollte Luzy wissen und machte es sich neben dem Hocker
bequem, auf dem eine dampfende Kanne mit Tee neben einem weiteren
Becher stand.
„Das ist nicht so wichtig“, meinte Ursli. „Komm, nimm dir eine Tasse Tee,
das tut dir gut … Delphi sagte, du hast nicht gut geschlafen.“
Luzy senkte den Kopf. „Weiß Delphi denn auch, was für dumme Sachen ich
gemacht hab?“
Ursli schwieg. „Gut und Böse sind Teil des Ganzen“, erklärte er nach einer
langen Pause bedächtig. „Lass das Gute das Böse verdrängen, dann kommt
das Gleichgewicht.“
Luzy schloss kurz die Augen. Ob Ursli recht hatte?
Nachdem sie den Becher geleert hatte, stellte sie ihn auf den Hocker, be-
dankte sich bei Ursli und ging zurück zum Haus. Kurz vor dem
Haupteingang blieb sie stehen. Lärm drang aus dem Haus. Stimmengewirr,
die anderen warfen sich Rufe zu. Was war da los?
Plötzlich stürmte Victor aus der Tür, ließ sie hinter sich zufallen und schim-
pfte dabei mit sich selbst. „Eine dumme Idee, so eine Party für Daniel! Nichts
als Flausen haben sie im Kopf!“
Luzy biss sich auf die Lippen. Eine Feier für Daniel? Und niemand hatte ihr
etwas gesagt? Gehörte sie überhaupt noch dazu? Konnte sie den anderen
wirklich in die Augen sehen und so weitermachen wie bisher?
Lass das Gute das Böse verdrängen, dann kommt das Gleichgewicht!, hörte
sie auf einmal eine Stimme in ihren Gedanken. Sie wandte sich um und warf
einen letzten Blick auf Onkel Ursli, der friedlich dasaß und seinen Tee
austrank.
Auf einmal wusste sie, was zu tun war. Sie musste den anderen alles beicht-
en! Das Böse, das sie so bedrückte, musste fortgedrängt werden. Mutig
machte sie einen Schritt aufs Haus zu, doch jemand hielt sie am Arm fest.
„Die Prüfung, Luzy!“
80/246
Morten Vierstein! Schon wieder! Wut flammte in Luzy auf. Sie riss ihren
Arm los.
„Ist das nicht toll?“, fragte Vierstein. „Ein Fest für Daniel! Wenn alle ihm
ihre guten Wünsche schicken, bist du bei der Prüfung ungestört!“
Luzy zögerte und antwortete nicht.
„Also, worauf wartest du?“, sagte er drängend. „Jetzt oder nie!“
Jetzt oder nie?
„Gut!“, stieß Luzy hervor. „Dann eben NIE!“
Sie ließ Vierstein zurück und flüchtete ins Haus. Die Tür warf sie hinter sich
zu. Nun hatte es dieser Mistkerl hoffentlich begriffen!
In der Eingangshalle blieb sie stehen. Mit Vierstein hatte sie gebrochen. Auf
einmal wurde Luzy von Angst überwältigt. Diesem Verbrecher traute sie
alles zu. Was, wenn er Daniel etwas noch Schlimmeres antat?
Und noch eine Sache fiel ihr ein: Wie würden die anderen über sie denken,
wenn sie ihnen alles erzählte? Sie hatte den Club verraten und war schuld
daran, dass Mara krank und Daniel verschwunden war. Sie schämte sich
schrecklich.
„Du, hab ich dich!“
Luzy fuhr zusammen. Magnus! Er verschränkte beide Arme vor der Brust
und schaute sie herausfordernd an. Und hinter ihm kamen gleich Delia und
Felix und besprachen, welche Lampions man für das Fest aufhängen konnte.
Ausgerechnet! Am liebsten hätte Luzy alles Nina gebeichtet – die war wenig-
stens immer freundlich und verständnisvoll. Sie senkte den Blick.
„Luzy! Wo warst du denn?“
„Wir haben dich schon überall gesucht!“
Felix und Delia redeten durcheinander, als sie Luzy sahen.
Luzy konnte die Tränen nicht mehr zurückhalten. „Es ... es ist alles meine
Schuld!“, brach es schließlich aus ihr hervor. „Ich hab den Club verraten!“
Felix und Delia starrten sie mit offenem Mund an.
Auch Magnus schwieg verblüfft. Den Club?
„Bitte!“, schluchzte Luzy schließlich. „Ich weiß nicht, was ich noch sagen
soll!“
81/246
„Wie?“, rief Magnus. „Das war dein großes Geständnis? So einfach ist das
nicht, Luzy! Was genau ist passiert?“
„Nein!“, unterbrach Delia. „Nicht jetzt und nicht hier! Nina hat heute endlich
zum ersten Mal wieder gelacht, seit Daniel weg ist, das dürfen wir nicht
kaputtmachen!“
Magnus gefiel das nicht, aber er fügte sich. „Wenn das hier vorbei ist, will
ich Antworten!“, zischte er und verschwand im Wohnzimmer.
„Darüber sprechen wir später!“, ordnete Delia an, als Nina aus dem Wohnzi-
mmer kam. „Komm, Nina!“, fing sie die Freundin ab, bevor Luzy ihr
erklären konnte, warum sie die ganze Nacht und den Morgen über nicht im
Haus gewesen war und auch nicht bei den Partyvorbereitungen geholfen
hatte. Sie zog Nina an Luzy vorbei die Treppe hinauf. „Ich hab da ein paar
schöne Fotos von Daniel, die wir aufhängen können!“
Felix folgte den beiden.
Luzy blieb ganz allein zurück.
Sie konnte wirklich nicht behaupten, dass es ihr nach dieser Beichte besser
ging!
Victor spähte um die Ecke des sorgsam gestutzten Buchsbaums. Mit wem
sprach die kleine Luzy Schoppa denn da? Ein Fremder mit einer schwarzen
Lederjacke, einem grauen Kapuzensweatshirt und einer Sonnenbrille schon
so früh am Morgen? War das vielleicht der Unbekannte, mit dem sie sich
gestern Abend im Badezimmer getroffen hatte, wie Magnus gesagt hatte?
Jener Unbekannte, dessen Name mit M begann und den Luzy am Telefon
beschuldigt hatte, Daniel entführt zu haben? Und den sein Vater dabei beo-
bachtet haben wollte, wie er Mara Minkmar in den Keller schleppte?
Victor überlegte fieberhaft. Wahrscheinlich war das dann auch derjenige, der
das Miniaturhaus in seinem Besitz hatte! War Luzy etwa seine Spionin? Ja,
das passte!
Da – Luzy verschwand im Haus. Der Unbekannte drehte sich um und verließ
den Garten des Internats. Vorsichtig, damit ihn der Fremde nicht entdeckte,
huschte Victor hinter ihm her und sah, wie er in einen schwarzen Kleinbus
einstieg.
82/246
Hastig blickte Victor sich um. Zu Fuß konnte er dem Unbekannten nicht
mehr folgen! An der Hecke stand ein Fahrrad, aber Victor bemerkte schnell,
dass es keine Kette hatte. Doch direkt daneben stand auch ein kleines Moped.
Der Helm hing am Lenkrad.
Hektisch wühlte Victor in seiner Jackentasche herum. Der Unbekannte hatte
den Motor des Busses bereits gestartet!
Schließlich zerrte Victor eine Zange aus einer der unzähligen Taschen seines
Arbeitskittels hervor, schaute sich noch einmal um – beobachtete ihn auch
niemand? – und zwickte das Schloss des Mopeds durch. Eilig stülpte er sich
den Helm über den Kopf und startete das Moped, um dem schwarzen Bus,
der mittlerweile die Allee hinunterfuhr, hinterherzusausen.
Immer auf der Hut, damit der Unbekannte ihn im Rückspiegel nicht ent-
deckte, folgte Victor dem schwarzen Bus, bis dieser von der Straße in einen
Kiesweg einbog, der durch einen sorgsam gepflegten Park führte. Als Victor
neben der Einfahrt anhielt und um die Ecke lugte, war der Bus nirgendwo zu
sehen, und so beschloss er, es zu riskieren.
Langsam fuhr er den Kiesweg entlang, bis dieser sich zu einer eleganten
Auffahrt vor einem Schloss ausweitete. Es war ein vornehmes Gebäude, hier
musste jemand wohnen, der reich und einflussreich war.
Und auf diesem Vorplatz war auch der schwarze Bus zu sehen!
Schnell lenkte Victor das Moped hinter einen Baum und stellte es ab. Er
wollte zu Fuß weitergehen, um nur ja nicht erwischt zu werden.
Er musste einfach herausfinden, wer hier wohnte. Und wer das Miniaturhaus
gestohlen und Daniel entführt hatte!
83/246
13
EINE FEIER FÜR DANIEL
Das Wohnzimmer hatte sich unter Delias Regie völlig verändert.
Stühle, Tische und Stehlampen waren mit vereinten Kräften fortgeräumt
worden. Von einer Wand zur anderen war ein riesiges Banner mit der Aufs-
chrift Daniel, wir denken an dich! gespannt worden, darunter hatten Felix
und Magnus eine Holzpalette gestellt, die mit einer von Rosies Tischdecken
belegt als Bühne diente. Kreuz und quer hatten Charlotte und Mara
Wäscheleinen aufgehängt, an denen bunte Lampions schaukelten, und Nina
hatte mit Wäscheklammern Daniels schönste Fotos dazwischengeklemmt.
Vor der improvisierten Bühne saßen alle Bewohner des Hauses Anubis, dazu
Max, Rosie, Onkel Ursli und auch Daniels Onkel Per Marrant. Nur Kaya und
Victor fehlten.
Hin und wieder warf Charlotte einen verstohlenen Blick auf die Tür. Viel-
leicht konnte er sich letztlich doch überwinden, zu kommen, immerhin war
Kaya Daniels bester Freund.
Auf der Bühne stand Nina und sang hingebungsvoll ein Lied für Daniel, das
sie selbst geschrieben hatte.
Alle Anwesenden lauschten andächtig. Nina sang nicht laut, aber sie hatte
eine schöne und klare Sopranstimme. Sie hielt die Augen beim Singen
geschlossen, so als müsse sie nur inbrünstig genug an Daniel denken, um es
ihn über die Entfernung hinweg auch spüren zu lassen.
„Du zauberst meine Traurigkeit mit einem Lächeln fort,
Du weißt, was ich dir sagen will, verstehst ohne ein Wort.
Und wünsch ich mir den einen, der für immer zu mir hält,
Dann denk ich nur an dich,
Du bist und bleibst mein wahrer Held.
Du bist die Hauptfigur in allen meinen Träumen,
Seit du da bist, will ich keinen Traum versäumen!
Ich mag meine Welt, denn du gehörst dazu,
Du, nur du!
Du blickst mich einfach an, und überall ist Sonnenschein!“
Als sie geendet hatte, blieb es ein paar Sekunden still. Ursli lächelte selig.
Rosie tupfte sich gerührt die Tränen aus dem Gesicht, Delia strahlte.
Schließlich klatschten alle wie wild. Magnus hob einen Daumen, und Per
Marrant nickte freundlich, als Nina sich setzte.
Als Nächstes stand Charlotte auf und ging auf die Bühne. Sie hatte ein Rätsel
für Daniel, und als sie es vorgetragen hatte, gab sie Per Marrant ein Zeichen
und holte ihn neben sich auf die Bühne.
Kaum hatte Herr Marrant ein paar Worte gesagt, als die Tür aufging und
Kaya sich hereinschob. Er hatte sich angezogen und winkte verlegen ab, als
Charlotte ihm eifrig bedeutete, er solle auf die Bühne kommen. Respektvoll
machten Charlotte und Herr Marrant Platz für ihn.
Kaya druckste ein wenig herum, bevor er anfing zu sprechen. „Daniel und ich
sind total verschieden“, sagte er schließlich. „Er ist schlau und liest viel, und
ich mache gerne Sport. Die Hälfte der Zeit verstehe ich gar nicht, wovon er
redet.“ Er lachte leise beim Gedanken an einen Wortwechsel, den nur er kan-
nte. Und vielleicht Daniel. „Aber trotzdem ist Daniel mein bester Freund.
Und ich habe ihm viel zu verdanken. Daniel hat mal gesagt, dass man nicht
immer den leichten Weg aussuchen muss. Es gibt Dinge, für die es sich lohnt
zu kämpfen. Und da hat er absolut recht. Also ...“ Kaya zögerte und wandte
sich einem der Bilder zu, die überall hingen. „Ich vermisse dich, Alter. Wir
wünschen uns, dass du zurückkommst.“
Rosie schnäuzte geräuschvoll in ihr Taschentuch.
„Und zwar ganz schnell“, fügte Kaya hinzu. Er streckte die Hände aus. Die
anderen verstanden sofort. Sie erhoben sich und fassten sich an die Händen,
bis sie einen Kreis bildeten. Luzy stellte sich als Letztes dazu. Sie hielt Max
an der Hand, und etwas zögernd streckte Delia schließlich ihre Rechte aus.
Als Luzy sie ebenso zögernd nahm und der Kreis sich schloss, schien ein
Ruck durch jeden Einzelnen zu gehen.
85/246
Ein wenig ängstlich sah Rosie auf. „Was ... was passiert hier?“, hauchte sie
und schaute sich um. Auch die anderen traten unruhig von einem Bein aufs
andere. War es wirklich dunkler geworden?
„Daniel ...?“ Nina drückte die Hände von Kaya und Delia neben ihr fester.
Sie war sicher, Daniel hörte sie.
„Daniel!“ Nina stellte sich vor, wie alles, die guten Wünsche, die Besorgnis
der anderen, die Freundschaft und ihre eigene Liebe, zu Daniel flog.
Plötzlich zweifelte sie nicht mehr, dass alles gut werden würde.
Ein wenig ratlos starrte Victor auf den Eingang des Schlosses. Wie sollte er
bloß dort hineinkommen, ohne dass jemand ihn sah? Langsam schlich er sich
über die Brücke zu dem prachtvollen Gebäude. Der Haupteingang war
verschlossen.
Einfach klopfen?
Victor schnaubte bei diesem Einfall. Und was sollte er sagen, wenn jemand
öffnete? Hallo, guten Tag, ich würde gern wissen, ob Sie ein kleines Voodoo-
haus besitzen und Daniel Gutenberg entführt haben?
Nein, unmöglich. Er musste sich in Ruhe überlegen, wie seine nächsten Sch-
ritte aussehen sollten. Missmutig schlich er zu seinem Moped zurück. Er
wollte gerade losfahren, als ein weißer Lieferwagen an seinem Versteck
vorbeibrauste und hinter dem schwarzen Bus, mit dem der Unbekannte
gekommen war, auf dem Vorplatz des Schlosses stehen blieb. Jemand stieg
aus und lief hinten zum Laderaum des Fahrzeugs.
Geschickt die Deckung der ordentlich gestutzten Bäume nutzend, schlich
Victor sich wieder näher heran. Der Fahrer des Lieferwagens nahm eine
Sauerstoffflasche und eine kleine Schachtel mit unbekanntem Inhalt aus dem
Laderaum und ging auf den Eingang des Schlosses zu.
Derjenige, der ihm die Tür aufmachte – Victor konnte ihn nicht erkennen –,
ließ die Haupttür hinter dem Lieferanten offen.
Das war die Gelegenheit! Victor huschte zum offen stehenden Lieferwagen
und schnappte sich die erstbeste Kiste. Er lud sie sich auf die Schulter, um
das Gesicht dahinter zu verstecken und huschte durch die geöffnete Tür ins
Schloss.
86/246
Victor sah erleichtert, dass die Gänge leer waren. Ein paar Meter weiter je-
doch stand eine Tür offen. Stimmen drangen an sein Ohr, sie sprachen über
medizinische Geräte. Dann waren auf einmal Schritte zu hören.
Was nun? Victor schlüpfte ins nächste Zimmer. Glücklicherweise war die
Tür nicht verschlossen. Vorsichtig spähte Victor durch einen Türspalt und
sah, dass eine Gestalt den Gang entlangkam. Es war der Unbekannte mit der
Lederjacke, mit dem Luzy zuvor gesprochen hatte! Der Mann ging den Gang
weiter und bog ab. Seine Schritte verklangen. Der Lieferant folgte ihm, ver-
ließ aber das Schloss und machte die Eingangstür hinter sich zu.
Leise schob Victor sich wieder in den Flur. Ihn plagte die Neugier. Was war
wohl in dem Zimmer, aus dem die beiden gerade gekommen waren? Ob
Daniel darin lag? Die Kinder hatten gesagt, er läge im Koma. Kein Wunder,
dass er in so einem Fall medizinische Gerätschaften brauchte!
Er schlich sich näher an das geheimnisvolle Zimmer heran. Die Tür war nicht
geschlossen. Um hineinzusehen, musste Victor sie ein wenig aufschieben.
Er hatte recht gehabt!
Dort in dem holzgetäfelten Raum stand ein Krankenbett, darin lag ein
Kranker. Medizinische Monitore, ein Sauerstoffgerät und ein Tropf waren
daneben aufgebaut. Der Kranke hatte die Augen geschlossen und schien fest
zu schlafen.
Er hatte Victor das Gesicht zugewandt, der vor Schreck erstarrte, als er den
Schlafenden erkannte.
Es war Zeno Trabas!
Das war wirklich immer das Lästigste an so einer Feier – das Aufräumen!
Diesmal allerdings schien alles viel schneller zu gehen. Das Fest für Daniel
war vorbei, doch alle standen noch unter dem Eindruck des Geschehens. Sie
hatten eine Verbindung zu Daniel gehabt! Jeder hatte es gespürt – wenn auch
nur für einen winzigen Moment: Daniel war am Leben, ja, vielleicht sogar
wach.
Nina lächelte beim Gedanken daran vor sich hin, während sie den Boden
fegte und die Bilder von Daniel ordentlich auf einen Stapel legte.
Plötzlich tippte sie jemand von hinten an.
87/246
„Nina?“
Nina wandte sich sofort zu der Freundin um. „Delia, haben wir gerade wirk-
lich Daniels Stimme gehört?“, fragte sie aufgeregt. „Es kommt mir vor wie
ein Traum!“
Delia druckste ein wenig herum und antwortete nicht sofort.
„Was ist denn los?“, wollte Nina irritiert wissen.
„Wir müssen was besprechen“, murmelte Delia. „Nach dem Aufräumen, auf
dem Dachboden.“
Mehr wollte sie anscheinend nicht sagen. Nina nickte bloß. Sie ahnte bereits,
dass es mit dem Club zusammenhing.
Hinter ihr tauchte Felix auf. Er hatte sich wie ein altes Waschweib ein Tuch
um den Kopf gebunden. Der Knoten prangte auf der Stirn. „Packt Luzy dann
aus? Was hat sie überhaupt gemeint?“, flüsterte er durchdringend.
Verwirrt sah Nina ihn an. „Was ist denn los, darf ich das auch erfahren?“
„Luzy ist ... die Verräterin!“, stieß Delia hervor.
„Was?“ Nina konnte es nicht fassen. „Bist du sicher?“
„Na ja, sie hat es selbst gesagt“, bestätigte Delia. „Aber mehr wissen wir
auch noch nicht.“
Nina starrte die beiden Freunde an, die unter Rosies Kommando nun weiter
für Ordnung im Wohnzimmer sorgten.
Nina konnte es nicht glauben. Daniel war derjenige gewesen, der Luzy ver-
traut hatte. Und ausgerechnet ihn hatte die Freundin verraten!
88/246
14
LUZYS BEICHTE
Nina konnte sich kaum darauf konzentrieren, zu fegen und die Stühle um den
Esstisch gerade zu rücken. Sie hatte so viele Fragen!
Wieso hatte Luzy den Club verraten? Und wie? Hatte sie wirklich das Haus
gestohlen? Sie musste sich noch ein wenig gedulden. Erst wenn das Wohnzi-
mmer Rosies Sauberkeitsansprüchen genügte, würden sie Gelegenheit haben,
sich ins Dachzimmer zurückzuziehen, um sich diese Fragen von Luzy beant-
worten zu lassen.
Kaum eine halbe Stunde später war es so weit. Alle Bewohner des Hauses
Anubis, außer Charlotte und Kaya, hatten sich in der Dachkammer eingefun-
den. Sogar Magnus hatte darauf bestanden, dabei zu sein, und er hatte Mara
mitgebracht. Die beiden saßen am Kopfende von Delias Bett, Nina und Delia
am Fußende, Luzy auf einem Stuhl vor Delias Schminktisch.
Felix stand vor Luzy und leuchtete ihr mit einer Taschenlampe ins Gesicht.
„Los!“, meinte er grimmig. „Sprich!“
Luzy wand sich verlegen. Sie kam sich vor wie eine Schwerverbrecherin vor
einem Tribunal. „Ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll“, murmelte sie.
„Am Anfang!“, gab Delia ungeduldig zurück.
„Aber nicht bei deiner Geburt!“, ergänzte Felix. „Sonst sitzen wir morgen
noch hier.“
Luzy holte tief Luft. „Es hat alles damit angefangen, dass Max und Kaya
diese doofe Miss Deutschland interviewt haben“, sagte sie. „Max hat ihre
Krone zerbrochen und musste sie bezahlen. Er wurde bedroht, der Manager
wollte zehntausend Euro! Ich wollte ihm helfen, doch so viel Geld hatte ich
nicht. Und dann fand ich die Dominosteine in Ninas Schublade. Die hab ich
verkauft. Wenn ich allerdings geahnt hätte, wer der Käufer war, ich hätte es
mir anders überlegt!“ Sie schaute die anderen bittend an. „Ich wusste es ja
nicht! Wirklich nicht.“
„Wer war denn der Käufer?“, wollte Delia wissen.
„Morten Vierstein“, erwiderte Luzy.
Magnus und Mara sahen sich ratlos an.
„Morten wer?“, fragte Nina verwirrt. „Wer ist das?“
„Das ist nicht so wichtig“, winkte Luzy ab. „Aber sein Auftraggeber … Da
muss ich erst mal weiter ausholen.“ Sie erzählte davon, wie Morten Vierstein
sie erpresst hatte, weil sie nicht alle Dominosteine abgeliefert hatte, außer-
dem alles von den nächtlichen Treffen vor dem Haus Anubis und wie gemein
Vierstein sie immer wieder unter Druck setzte.
„Also, dieser Morten wollte, dass du für ihn spionierst!“, warf Magnus ein,
als Luzy kurz innehielt, um Luft zu holen. „Und das hast du einfach so
gemacht?“
„Natürlich nicht!“, gab Luzy entrüstet zurück. „Morten hat mich erpresst und
gesagt, er geht zur Polizei und zeigt mich an, wenn ich nicht mehr mitmache!
Ich wollte nicht ins Gefängnis, und ich hatte solche Angst! Ich wusste ja auch
gar nicht, was ihr macht, aber Morten wusste es: Ihr sucht die Träne der Isis!“
Sie atmete wieder durch.
„Zuerst wollte er nur wissen, was ihr wisst. Es ging immer weiter. Er hat mir
gedroht. Schließlich hab ich dieses Minihaus gestohlen. Während des Music-
als ist Morten dann zu mir gekommen und sagte, dass er Mara hat und mit ihr
in den Gang wollte. Und als Daniel im Koma lag, ging es einfach so weiter.
Morten hat gedroht, dass euch das Gleiche passiert, wenn ich nicht mehr
mitmache.“
Sie schaute Nina entschuldigend an. „Ohne mich wäre Daniel noch da. Das
ist alles meine Schuld!“
„Was will Morten denn mit der Träne?“, wollte Nina wissen. „Und wer ist
sein Auftraggeber?“
„Also, das …“
„Wer ist es?“, unterbrach Magnus. Er wollte endlich wissen, wer hinter
Maras Gehirnerschütterung steckte!
90/246
Luzy zögerte. Sie hatte keine Ahnung, ob die anderen ihr das glauben
würden. „Zeno Trabas.“
Die Nachricht schlug ein wie eine Bombe. Es wurde totenstill in der
Dachkammer.
Selbst Magnus war für einen Moment starr vor Schreck. „Das ... das kann
nicht sein! Trabas?“
Felix rieb sich die Stirn. „Oh, nicht schon wieder der Typ!“, murmelte er.
„Bist du dir sicher?“, fragte Magnus nach.
Luzy nickte betreten. „Ganz sicher.“
„Aber du hast noch nicht alles erzählt“, kam Nina zum Thema zurück. „Was
ist mit Daniel? Und mit Mara?“
„Das weiß ich nicht, echt nicht! Morten hat mich in der Schule eingesperrt,
bevor er Mara entführt hat. Daniel hat mich gerettet. Er wollte hinterher. Das
ist das Letzte, was ich von ihm gesehen habe, bevor er ins Koma gefallen
ist.“
Die anderen schwiegen. Eine lange Pause entstand, denn jeder musste erst
einmal verarbeiten, was er gerade gehört hatte.
Besonders Nina war verwirrt. Ein ganzes Bündel von Neuigkeiten hatte Luzy
da ausgepackt, doch wie sollte das Daniel helfen? War er nun von Zeno Tra-
bas und diesem Morten Vierstein entführt worden? Und wenn ja, warum?
Um Luzy weiter zu erpressen? Nur, was war dann mit Mara?
Das alles passte nicht zusammen.
Schließlich stand Luzy auf und lief zur Tür.
„Wo willst du hin?“, verlangte Delia zu wissen.
„Ich halte das nicht mehr aus!“, erwiderte Luzy kläglich. „Ich geh weg! ... Es
tut mir so leid!“, sagte sie noch einmal, an Nina gewandt. Danach hastete sie
endgültig zur Tür und war fort.
Stille breitete sich aus.
Diesmal war es Felix, der als Erster die Sprache wiederfand. „Hat das ir-
gendwer kommen sehen?“, fragte er. „Also ich nicht.“
„Ich schon“, antwortete Delia düster. „Und Nina auch. Ich wollte von Anfang
an nicht, dass Luzy zurück in den Club kommt!“
91/246
„Dieses komische Telefon, das sie immer bei sich hatte!“ Nina ging ein gan-
zer Kronleuchter auf. „Und dass sie damals mit Schuhen ins Bett ist! Ich
wusste es, wie dumm von mir!“
„Dann bin ich megadumm!“, warf Felix ein. „Ich hab nichts gemerkt! Wusste
es Daniel?“
„Nein“, tröstete ihn Nina. „Daniel hat ihr vertraut. Das Schlimme ist, Daniel
ist einfach zu gut, um Luzy wirklich zu verdächtigen. Er konnte sich nicht
vorstellen, dass sie so etwas tut.“
Delia nickte trübsinnig.
„Es bringt nichts, darüber nachzudenken!“, meldete sich Mara eindringlich
zu Wort. „Ach, ich könnte mich so ärgern, dass ich nichts mehr weiß!“
„Vielleicht ist das besser für dich“, meinte Nina.
„Aber wer sagt denn eigentlich, dass sie uns alles erzählt hat?“, wollte Felix
plötzlich wissen.
„Stimmt!“, sagte Delia. „Wenn Luzy so viel weiß, woher wissen wir, dass sie
uns nicht noch mehr verschweigt?“
Nina starrte sie an. „Glaubst du, sie weiß, wo Daniel ist? Würde sie uns das
tatsächlich verheimlichen?“
Delia schüttelte ratlos den Kopf.
„Okay, jetzt ist Schluss.“ Felix hatte es satt, herumzustehen und nichts zu
verstehen. Er marschierte mit großen Schritten an den Mädchen vorbei zur
Tür. „Wir gehen zu ihr, bevor sie ganz weg ist.“
Magnus trat ihm in den Weg. „Und wenn Luzy zum Südpol auswandert, ihr
bleibt hier!“
„Was soll das?“ Mara hielt ihn fest.
„Luzy interessiert mich nicht!“, gab er zurück.
„Magnus, bitte!“, drängte Mara, aber er hörte nicht darauf.
„Ihr sagt mir sofort, was ihr über Mara wisst! Und keine Ausreden mehr!“
Betreten sahen die drei Sibunas sich an. Sollten sie Magnus wirklich alles
verraten? Würde er wirklich glauben, dass sie alle drei zur gleichen Zeit die
gleiche Vision gehabt hatten?
Delia biss sich auf die Lippen. Felix zuckte verlegen die Achseln.
Doch Nina blickte dem zornigen Jungen direkt ins Gesicht.
92/246
„Okay!“, sagte sie entschlossen. „Ich erzähl dir alles.“
Vorsichtig schlich Luzy die Treppe hinunter.
Keiner war zu sehen.
Sehr gut. Die anderen saßen sicher noch oben in der Dachkammer bei Delia
und versuchten, mit der Enttäuschung fertig zu werden, die sie ihnen bereitet
hatte. Luzy schämte sich wie nie zuvor in ihrem Leben. Sie wusste genau,
keinen Tag, ja, keine Stunde würde sie es länger hier im Haus Anubis aushal-
ten! Sie musste gehen, und es war besser, wenn niemand sie dabei erwischte.
Sie hätte nicht ertragen, das Ganze ein weiteres Mal erklären zu müssen.
Nicht einmal ihrer besten Freundin Lotte hatte sie sagen können, was los war.
Luzy hatte das Gefühl gehabt, ihr alles erklären zu müssen. Aber sie hatte
nicht eingestehen können, dass sie etwas wirklich Dummes gemacht hatte.
Am Ende hatte sie nur Ich muss dringend weg, mach dir keine Sorgen! auf
einen Zettel geschrieben, ihn zusammengefaltet und mit Lottes Namen verse-
hen auf dem Schreibtisch liegen lassen. Die würde ihn dort schon finden.
Hauptsache, sie war erst einmal weg von hier.
Luzy hatte die Klinke der Eingangstür bereits in der Hand, als sie sich ein let-
ztes Mal umdrehte, um stumm Lebewohl zu sagen. In diesem Moment wurde
ihr die Tür aus der Hand gerissen.
Rosie!
Luzy zuckte zusammen, als die Haushälterin vor Schreck einen spitzen
Schrei ausstieß.
„Huch! Ich dachte, du bist Victor!“
Luzy wischte sich verstohlen die Tränen aus den Augen. „Nee, ich bin’s nur,
Rosie!“
„Immer hab ich zu ihm gehalten!“, schimpfte Rosie. „Auch wenn ihn sonst
niemand mochte! Aber jetzt reicht’s, kein Wort sprech ich mehr mit ihm!
Einfach nicht zu Daniels Feier zu kommen!“
Sie wollte sich schon in die Küche aufmachen, als sie sich noch einmal zu
Luzy umwandte und ihr etwas anvertraute.
93/246
„Und wenn er nach seinem Werkzeug sucht, dann erzähl ihm bloß nicht, dass
ich es zum Müll gestellt hab!“, sagte sie. „Das kann er schön allein
rausfinden.“
Luzy musste beinahe schmunzeln. Rosie würde sie wirklich vermissen!
„Ohne dich hätte ich es hier nie so lange ausgehalten, Rosie!“, sagte sie leise.
„Du bist ein Schatz!“
„Oh!“ Gerührt packte Rosie die überraschte Luzy und drückte sie fest an
sich. „Meine Süße!“
Es schien ewig zu dauern, bis sie Luzy losließ. „So geht’s jedenfalls nicht!“,
schimpfte sie weiter. „Der kann doch nicht machen, was er will!“ Dann dre-
hte sie sich um und lief wutentbrannt davon.
Luzy sah ihr unter Tränen lächelnd hinterher.
Es war ein guter Abschied.
94/246
15
DER UNGLÄUBIGE MAGNUS
„Und dann hatten wir alle eine Vision – die gleiche Vision!“ Nina hielt inne
und musste Luft holen. Die Rolle, die Mara in all den Geschehnissen spielte,
war wahrlich nicht leicht zu erklären. Besonders, weil sie ja selbst keine Ah-
nung hatte, wie genau diese Rolle aussah.
„Eine Vision?“, stammelte Magnus. Offenbar konnte er kaum glauben, was
er da hörte. „Was für eine Vision?“
Nina rang die Hände. Sie wusste, wie sich das anhören musste: ganz schön
verrückt!
Sie schaute Hilfe suchend zu Felix und Delia. Delia starrte nur düster vor sich
hin. Felix machte eine Geste in Richtung Mara, die alles bedeuten konnte.
Am ehesten jedoch: Nun hast du angefangen, jetzt erzähl es auch zu Ende.
Recht hatte er.
Auch Magnus interpretierte Felix’ Wink richtig. „Über Mara?“, wollte er
wissen.
„Über mich?“, fragte Mara gleichzeitig.
Nina wagte nicht, zu antworten.
„Ja, was habt ihr denn nun gesehen?“, wollte Magnus ungeduldig wissen.
„Ich weiß nicht, ob du das ...“
„Sag es!!“
Nina seufzte. „Mara lag in einem Bett. Mit geschlossenen Augen.“
„Hat sie geschlafen?“ Magnus war verwirrt.
Felix schüttelte den Kopf.
Mara beugte sich entsetzt vor. „Ich war ...“
Nina hatte einen Kloß im Hals. Sie konnte nur nicken.
„Bist du dir ganz sicher?“ Magnus’ Stimme klang erstickt.
„Ja“, erwiderte Delia leise.
„Wir müssen die Träne der Isis suchen“, sprach Nina weiter. Sie wollte nicht
zu lange bei dem Moment verweilen, in dem alle eine Mara vor sich sahen,
die gerade gestorben war. „Das hat Sarah uns aufgetragen.“
„Die Träne kann jemandem das Leben retten“, erklärte Delia.
„Dir!“, ergänzte Nina. Sie war kaum zu hören.
„Und das sagt ihr erst jetzt?“, stieß Magnus hervor und schlug mit der Faust
gegen die Dachschräge. „Ich raff’s einfach nicht! So was sagt man sofort!“
Mara sah auf. Sie war blass geworden. „Ich ... ich geh kurz nach unten. Ich
muss mich ein wenig hinlegen.“
Sie ging hinaus.
Magnus folgte ihr. „Wir sind noch nicht fertig!“, sagte er mit unterdrückter
Wut und ließ die drei Sibunas betreten zurück.
Ratlos saß Nina auf Delias Bett.
War es wirklich richtig gewesen, Magnus und Mara von der Vision zu
erzählen?
Delia jedenfalls ließ keinen Zweifel daran, dass sie von Ninas Aktion nichts
hielt. „Du hättest es niemals erzählen dürfen! Mara macht sich solche
Sorgen!“
Nina drückte ein rotes Kuschelkissen von Delias Bett fester an sich. Das
genau hatte sie der Freundin eigentlich ersparen wollen.
„Wir hätten es sofort erzählen sollen“, hielt Felix dagegen. „Wie es damals
bereits jemand sagte, nämlich ich!“
Das fand Delia nun wieder nicht. „Und dann?“, hielt sie dagegen.
„Dann hätte Magnus mitgeholfen!“, erwiderte Felix.
„Ach ja? Magnus als Clubmitglied? Lass uns doch gleich Altrichter fragen!
Und Victor! Und Corvuz auch, wenn wir gerade dabei sind!“, schimpfte
Delia zurück.
„Wir hätten mit Magnus zusammenarbeiten können.“ Felix blieb stur.
„Wir können nicht jedem vertrauen! Nicht mal Luzy, und die war sogar
schon mal im Club!“, entgegnete Delia prompt. „Und Magnus sowieso nicht!
Mit dem kann man gar nicht zusammenarbeiten!“
96/246
Langsam verlor Felix die Geduld. „Ja, weil du nicht willst! Du kannst mit
niemandem zusammenarbeiten!“
„Das ist Schwachsinn!“, schrie Delia.
„Na, dann passt es ja zu dir!“, schrie Felix zurück.
„Ruhe!“, fuhr Nina dazwischen. Ihr wurde es jetzt zu bunt. Sich zu streiten,
brachte nichts. Magnus wusste nun Bescheid. Daniel hatte in dieser Situation
einfach Vorrang! Dass alle das immer vergaßen!
„Wir suchen nicht nach der Träne!“, stieß sie hervor. „Wir suchen nach
Daniel.“ Entschlossen stand sie auf und zog die Visitenkarte des Kommissars
aus der Tasche. „Wir müssen unbedingt noch mal mit Luzy reden. Sie weiß
sicher mehr, als sie sagt! Felix, du rufst die Polizei an und erzählst alles, was
Luzy uns erzählt hat.“ Sie drückte die Karte in Felix’ Hand.
„Klar!“, rief der begeistert. „Wird gemacht!“
Nina wandte sich an Delia. „Delia, suchst du im Erdgeschoss nach Luzy? Ich
suche in unserem Zimmer nach ihr. Wir treffen uns in einer Viertelstunde bei
mir.“
Zu dritt machten sie sich auf den Weg.
Als Nina die Tür zu ihrem und Luzys Zimmer öffnete, schien eine kalte Hand
nach ihrem Herzen zu greifen.
Luzys Zimmerhälfte sah seltsam leer aus. Das Bett war unberührt.
Und als Nina zu der Kleiderstange blickte, auf der Luzy ihre Kleider aufbe-
wahrte, erschrak sie richtig: Die Bügel darauf waren zum größten Teil leer.
„Oh nein!“, wisperte sie und hastete von der Kleiderstange hinüber zum Bett.
Sie hob die Tagesdecke an.
„Oh nein!“, wiederholte sie. „Ihr Reiserucksack ist weg!“
Verzweifelt ließ Nina sich auf ihr Bett sinken. Sie nahm die Hände vors
Gesicht.
Was sollten sie tun? Nun war Luzy verschwunden – und dabei wussten sie
lange nicht genug darüber, was Zeno Trabas und sein geheimnisvoller Helfer,
dieser Morten Vierstein, im Schilde führten!
Schritte erklangen auf dem Gang und hielten in der Tür inne. „Und? Ist sie
hier?“, fragte Delia aufgeregt.
„Nein.“ Nina schüttelte den Kopf.
97/246
Resigniert setzte Delia sich neben Nina. „Sonst ist sie auch nirgendwo! Ich
habe überall gesucht!“
„Wir haben sie verpasst!“, sagte Nina schließlich.
Felix kam herein. Er sah auch nicht aus, als hätte er gute Nachrichten. Er ließ
sich neben Delia auf Ninas Bett nieder.
„Also, die Polizei bedankt sich für die Hinweise, die Ermittlungen laufen,
aber konkret wissen die leider auch nichts.“
Mit diesen Worten gab er Nina die Visitenkarte des Kommissars zurück.
Ratlos schauten die drei sich an.
Es schien ihnen, als stünden sie an derselben Stelle, an der sie am Morgen da-
vor gewesen waren: Daniel war entführt – und keiner wusste, was sie für ihn
tun konnten.
Nachdenklich starrte Magnus auf den Bildschirm seines Laptops. Der zeigte
das Bild der kleinen Kamera, die er auf Maras Schrank aufgestellt hatte. Er
konnte seine Augen nicht von dem Anblick lösen, den die Kamera übertrug:
eine friedlich schlafende Mara, die sich gemütlich unter ihrer Decke aus-
gestreckt hatte.
Nichts deutete darauf hin, dass die Vision, von der Nina erzählt hatte, bald
eintreffen würde.
Magnus blickte verstohlen zu Felix hinüber. Der Freund schlief heute das er-
ste Mal, seit er sich so verändert hatte, wieder in seinem eigenen Bett. Er
schien zu glauben, was Delia und Nina berichtet hatten, auch wenn er selbst,
wie er erzählt hatte, diese Vision nicht geteilt hatte.
Magnus musste daran denken, was Felix gesagt hatte, um ihn restlos davon
zu überzeugen, dass er nicht Ferdi war: „Komm schon, Alter. Was ist wahr-
scheinlicher? Dass hier irgendein Typ aufkreuzt, der behauptet, dass er Felix
ist und rein zufällig auf Erdnussbutter und Böller steht – oder dass ich Super-
Felix bin, der von einem der zahlreichen Flüche hier im Haus getroffen
wurde?“
Als Magnus Felix’ Worte wiederholte, musste er leise kichern. Es klang völ-
lig verrückt, aber wie hatte Sherlock Holmes, der Meisterdetektiv: gesagt:
98/246
Wenn man alle logischen Lösungen eines Problems eliminiert, ist die unlo-
gische, obwohl unmöglich, unweigerlich richtig.
Und wenn Sherlock Holmes recht hatte, dann war es Felix, der da drüben in
seinem Bett schnarchte und nicht Ferdi.
Magnus klappte den Laptop zu und schob ihn unters Bett.
Er musste erst einmal eine Runde schlafen, bevor er sich weiter Gedanken
darüber machte, was er als Nächstes unternehmen konnte, um Mara zu
schützen.
Kaum hatte er die Augen geschlossen, schreckte er wieder auf. Wieso war er
denn nicht mehr in seinem Bett? Und wie war er vor Maras Zimmertür
geraten?
Verunsichert schaute er sich um, doch außer ihm war niemand im Mädchen-
flur vor dem Badezimmer.
„Magnus!“
Das war Mara! Und sie klang sehr verzweifelt! Erschrocken fuhr Magnus
herum. Da, unter der Tür zu Maras Zimmer schien ein Licht hindurch! Er riss
die Tür auf und konnte in der grellen Helligkeit zuerst kaum etwas erkennen.
Dann sah er es.
Mara!
Sie lag in einem weiß bezogenen Krankenhausbett, und man hatte ihr eine
Sauerstoffmaske über die Nase gestülpt. Ein Mann in einem weißen Kittel
und mit einem Stethoskop um den Hals – es handelte sich um einen Arzt –
beugte sich über sie und hatte eine Hand auf ihre Stirn gelegt.
Magnus schluckte. Der Arzt blickte niedergeschlagen auf und schüttelte lang-
sam den Kopf. Es sah endgültig aus.
Magnus erstarrte. Was er da sah, war schrecklich. Er hatte das Gefühl, dass
es ihm die Kehle zuschnürte …
„Mara!“ Keuchend fand er sich in seinem Bett sitzend wieder.
Das musste die Vision sein, von der Nina erzählt hatte! Aber es hatte so echt
ausgesehen, gar nicht, als wäre es nur ein Traum! Oder besser, ein Albtraum,
denn Magnus konnte sich kaum etwas Schlimmeres vorstellen als das, was er
gerade gesehen hatte.
99/246
Er hatte das alles wirklich als idiotischen Kinderkram abtun wollen, dem die
immer freundliche Nina, die naive Blondine Delia und der alberne Felix
aufgesessen waren.
Und jetzt?
Jetzt war er sicher: Mara war in echter Gefahr!
Und vielleicht gab es nur eins, das sie retten konnte.
Die Träne der Isis.
Ninas Hand umklammerte das Bild von ihr mit Daniel. Sie hatte gehofft,
damit besser einschlafen zu können, aber es hatte nichts geholfen.
Sie warf sich unruhig hin und her und versuchte, mit aller Kraft die Dunkel-
heit und die Angst zu vertreiben, die seit Daniels Entführung jede Sekunde
des Tages zu überschatten schienen.
Plötzlich stand sie draußen im Flur vor ihrem Zimmer – ohne Hausschuhe.
Alles war in seltsam blaues Licht getaucht.
Sie überlegte einen Moment, dann wusste sie Bescheid: Sie hatte einmal
mehr einen dieser anstrengenden Wachträume. Ihr Herz sank. Würde Sarah
gleich kommen und Forderungen an sie stellen?
„Hallo?“, rief sie schüchtern den unheimlichen Gang entlang und ging vor-
sichtig ein paar Schritte weiter. Wo war Sarah? Meist erschien sie doch direkt
in ihrem Zimmer. „Ist da jemand?“
Aus der Ferne waren Stimmen zu hören, aber Nina verstand sie nicht. Sie trat
einen Schritt vor, als es am Ende des Flurs, hinter dem Eingang zur Dach-
kammer, hell zu leuchten begann. Lichtstrahlen drangen darunter hervor,
dann sprang die Tür auf.
Nina musste blinzeln und erkannte kaum, dass sich zwei Gestalten auf sie
zubewegten, die schließlich vor ihr stehen blieben. Beide trugen lange Roben
und hatten eine Kapuze so tief übers Gesicht gezogen, dass sie nicht zu
erkennen waren.
Doch dann schlug die erste die Robe zurück.
„Sarah!“ Nina erschrak, so überrascht war sie über den ungewöhnlichen
Auftritt des Geistes.
„Du musst weitermachen, Nina!“
100/246
„Womit soll ich weitermachen?“, wollte Nina wissen.
„Gib nicht auf! Die Zeit drängt! Die Kräfte des Bösen, sie werden stärker!“
Sarah hielt kurz inne. „Nichts ist, wie es scheint, das weißt du doch“, fuhr sie
fort.
Nina nickte widerwillig. Wie konnte Sarah nur verlangen, dass sie weiter die
Träne suchen sollte? Daniel war verschwunden! Aber das konnte sie dem
Geist wohl schlecht direkt vorwerfen.
„Weißt du, wo Daniel ist?“, fragte sie Sarah.
Sarah sah zu der Gestalt, die neben ihr stand. Ein Junge. Er schlug die
Kapuze zurück, die sein Gesicht bedeckte.
Nina riss die Augen auf. Es war Daniel!
Ihr Freund schaute sie ernst an. „Ja“, sagte er schließlich. „Sie weiß es.“
Nina war sprachlos. Sie hatte so viele Fragen! Warum war Daniel entführt
worden? Hatte es wirklich mit der Träne und ihrer Suche zu tun? Oder hatte
es einen ganz anderen Grund? War er am Ende ... tot? So wie Sarah? Immer-
hin war er mit ihr zusammen hier erschienen.
Doch bevor sie eine dieser Fragen stellen konnte, wachte sie auf und lag
wieder in ihrem Bett.
Allein. Sarah und Daniel waren verschwunden.
101/246
16
EINEN TAG FREI
So sehr der Traum Nina beunruhigt hatte, am nächsten Morgen im
Sonnenschein auf dem Schulhof schien er unendlich weit fort zu sein.
Nina hörte dem Geplänkel zwischen Felix und Delia kaum zu. Felix hatte
heute Nacht in seinem eigenen Bett geschlafen, was Delia gar nicht gefallen
hatte.
„Hoffentlich hast du Magnus nicht mehr erzählt, als er schon weiß, sonst
schläfst du wieder bei mir!“, sagte Delia gerade.
„Nein!“, wehrte Felix sich entrüstet. „Und stell dir vor, Magnus nörgelt nicht
an mir rum und schminkt sich morgens auch nicht stundenlang!“
Davon ließ Delia sich nicht beeindrucken. „Wahrscheinlich erzählt er dir
dafür auch nichts von dem fetten Erdnussbutterfleck an deinem Mund!“,
meinte sie gehässig.
Nina musste kichern, als sie sah, wie hektisch Felix sich über die Lippen
fuhr.
„Magnus interessiert sich gar nicht für die Träne!“, lenkte Felix ab. „Er
glaubt nicht an die Vision.“
„Klar“, brummte Delia. „Und ich glaub Magnus kein Wort.“
„Aber das ist ja auch egal, wir suchen doch Daniel, oder?“, argumentierte
Felix.
Daniel. Nina blieb stehen.
„Ich hab von Sarah geträumt“, platzte es aus ihr heraus.
Delia und Felix, die weitergegangen waren, hielten an und wandten sich um.
„Ist sie wieder da?“, wollte Delia wissen. „Was hat sie gesagt?“
„Weiß sie von Daniel?“, fragte Felix.
„Daniel war bei ihr!“, stieß Nina hervor.
Die beiden anderen starrten sie sprachlos an. Was hatte das zu bedeuten?
Auf einmal spürte Nina, dass jemand hinter ihr stand. Schon legte sich eine
Hand auf ihre Schulter.
Als sie sich umdrehte, entdeckte sie in ein bekanntes Gesicht: Vincent, der
Junge, der mit Daniel das Krankenhauszimmer geteilt hatte!
Er lächelte sie freundlich an. „Hallo!“
Delia blieb der Mund offen stehen. Wer war denn dieser gut aussehende
Typ? Den durfte Nina ihr gerne vorstellen. Sie strahlte ihn an, doch er schien
nur Augen für Nina zu haben.
„Ich hab das von Daniel gehört“, sagte Vincent, und das Lächeln verschwand
für einen Moment von seinem Gesicht. „Es tut mir leid.“
„Danke“, antwortete Nina betrübt.
„Wie geht’s dir?“, wollte Vincent wissen.
„Ich weiß ... nein, ich fühle, dass es ihm gut geht“, erwiderte Nina und wech-
selte einen Blick mit Delia, die sie aufmunternd angrinste.
„Aber wir können nichts tun, und das ist so ...“ Sie beendete den Satz nicht.
Dann blickte sie zu Vincent auf. Er überragte sie um beinahe einen Kopf.
„Wir haben dich gesucht!“, sagte sie aufgeregt. „Hast du an dem Tag irgen-
detwas gesehen? Weißt du, was mit Daniel passiert ist?“
Delia und Felix nickten eifrig. Vincent schien angesichts der drei großen Au-
genpaare, die ihn erwartungsvoll ansahen, in sich zusammenzusinken.
„Ich ... ich war bei der Physiotherapeutin, davor war er noch da! Danach
durfte ich nach Hause – und seitdem bin ich krankgeschrieben. Das hab ich
auch so der Polizei gesagt!“
Nina ließ den Kopf hängen. Das wäre ja auch zu schön gewesen!
Vincent schaute traurig zu Nina.
Für Delia war klar, dass er gerne etwas gesagt hätte, was Nina fröhlicher
machte. „Na ja“, meinte sie, um die Niedergeschlagenheit zu vertreiben. „Wir
haben Schule!“
„Und morgen?“, wollte Vincent wissen.
„Morgen auch!“, ärgerte sich Felix.
„Na ja, wenn ihr morgen wieder in die Schule müsst, dann könnt ihr doch
heute was anderes machen!“, meinte Vincent, als sei das ein toller Einfall.
Das fand Felix auch.
103/246
„Mir graut es wirklich davor, in die Schule zu gehen“, sagte Nina.
„Weißt du, was?“, meinte Delia. „Ich glaube, es wird dir ganz gut tun, mit
Vincent zu gehen. Herr Altrichter kann das bestimmt verstehen! – Und du, du
passt gut auf sie auf und bringst sie wohlbehalten zurück, sonst kriegst du’s
mit mir zu tun!“, drohte sie Vincent scherzhaft.
„Danke!“ Nina strahlte. Sie schien sich wirklich zu freuen.
Glücklich blickte Delia der Freundin und dem netten Jungen hinterher.
Luzy gähnte herzhaft und riss den Reißverschluss ihres Einmannzeltes auf.
So gut hatte sie schon lange nicht mehr geschlafen! Sie kroch aus dem klein-
en Wigwam und schaute sich im sonnenbeschienenen Garten um.
Wie schön, dass es Onkel Ursli gab! So hatte sie nicht zu ihrer fürchterlichen
Tante fahren müssen, die sowieso keine Zeit für sie haben würde, und war
gar nicht so weit von ihrem Zuhause fort. Neben ihr rupfte Delphi ein wenig
Rasen aus dem Boden.
„Guten Morgen, Delphi!“, sagte Luzy. „Weißt du, wie spät es ist?“
„Guten Morgen, Luzy!“, antwortete auf einmal Onkel Ursli links von ihr. „Es
ist Frühstückszeit! Ich habe schon lange keine Uhr mehr. Aber sag mal – wo-
hin musst du denn so früh gehen?“
„Gute Frage! Weiß ich eigentlich auch nicht“, erwiderte Luzy.
Delphi meckerte laut.
„Jaja, Delphi!“, lachte Onkel Ursli. „Sie findet, wenn du willst, kannst du
heute und morgen hierbleiben.“
Luzy lächelte. Es schien, als wäre fürs Erste für sie gesorgt, ohne dass sie
sich den anderen stellen musste. Ein wenig feige war es ja schon, doch so
konnte sie etwas länger darüber nachdenken, was sie tun sollte und wie sie
am besten helfen konnte, Daniel zu finden.
Und das würde sie ausnutzen!
Die Träne der Isis!
Hätte jemand vor einem Jahr gesagt, es gebe heutzutage alte ägyptische
Flüche, Zukunftsvisionen und geheimnisvolle Schätze in alten Häusern, Mag-
nus von Hagen hätte ihn für verrückt erklärt.
104/246
Und jetzt?, dachte er missmutig. Jetzt glaube ich den ganzen Quatsch selbst.
Meine Freundin ist eine altägyptische Prinzessin, und ich habe in der Nacht
davon geträumt, dass sie stirbt.
Magnus kam sich reichlich albern vor. Erst recht, wenn er daran dachte, mit
welcher Selbstverständlichkeit Felix davon ausging, dass das alles real war.
Ein wenig beneidete Magnus den Freund um diese Einstellung. Sogar seine
eigene Veränderung nahm der einfach so hin.
Ob vielleicht doch mehr dahintersteckte?
Den Gral hatte es ja offenbar auch gegeben, Mara war eine Prinzessin, und
Felix’ Veränderung war ja wohl ebenfalls keine Einbildung.
Vielleicht gab es dann auch einen Fluch, der sie alle treffen konnte, einen Ge-
genstand, den man die Träne der Isis nannte und der diesen Fluch löste.
Doch wie hing das alles zusammen? Bisher kannte er nur Luzys Geschichte,
und die hatte ihn dabei nicht viel weitergebracht. Er überlegte.
Erst einmal musste er Felix finden. Der sollte ihm einfach alles erzählen, was
bisher geschehen war. Und Magnus wusste auch schon, wie er das am besten
anstellen würde.
In der großen Pause erwischte er Felix allein vor den Spinden. Gerade hatten
sie die Mathestunde mit Herrn Altrichter hinter sich, ein Fach, das Felix gar
nicht leiden konnte und bei dem Magnus ihm oft half.
„Weißt du, Felix, ich find’s echt schade, dass ich nicht früher von der Vision
erfahren hab!“, begann Magnus und ließ den Kopf hängen. „Ich habe da echt
einiges verpasst, geheime Gänge ... gefährliche Prüfungen ... Ich hoffe, ich
kann mich heute Nachmittag auf die Matheaufgaben konzentrieren!“
Das war das Stichwort. Felix zuckte sichtlich zusammen bei dem Gedanken
an den Berg Hausaufgaben, die Herr Altrichter ihnen aufgegeben hatte und
bei denen Magnus ihm wohl würde helfen müssen. Exponentialfunktionen
kapierte er einfach nicht!
„Ja, total gefährliche Prüfungen, Mann! Ich sag’s dir, voll abgefahren!“, ver-
sicherte er eifrig.
„Hab ich alles verpasst“, meinte Magnus und versuchte, dabei möglichst bet-
roffen auszusehen. „Zu blöd!“
105/246
„Zu blöd?“ Felix war entsetzt. „Wir wären fast gestorben, Alter!“ Er sah sich
vorsichtig um und legte Magnus den Arm um die Schultern. „Niemand
erzählt das so gut wie ich. Also pass auf ...“
Magnus saß im Computerzimmer vor einem Bildschirm, doch so richtig auf
seine Suche konzentrieren konnte er sich nicht. Er staunte immer noch über
das, was Felix ihm alles erzählt hatte. Diese Abenteuer klangen in der Tat
spannender als so mancher Indiana-Jones-Film! Schwingende Pendel über
bodenlosen Abgründen, Rätsel auf geheimnisvollen Karten, Labyrinthe, her-
abfallende Steine ...
Nur … was hatte das alles mit der Träne der Isis zu tun? Magnus nahm sich
zusammen und begann, im Internet gezielt danach zu suchen, was diese
Träne genau hätte sein können.
Doch er hatte wenig Erfolg.
Dass Isis eine ägyptische Göttin war, war ihm ganz klar, das hatte er bereits
in der sechsten Klasse gelernt. Dass sie die Göttin der Fruchtbarkeit war, war
ebenfalls nicht neu. Aber was konnte diese Tatsache denn bloß mit einem
Labyrinth und einem Schatz unter dem Haus Anubis zu tun haben?
Magnus lehnte sich zurück und schloss die Augen, um besser nachdenken zu
können. Offenbar war die Träne der Isis in dem Labyrinth versteckt. In den
geheimen Gängen, in denen es ebenfalls Prüfungen gab, sonst kam man an
diese Träne nicht heran.
Und wie kam man durch ein Labyrinth? Mit einer Karte. Und mit Hinweisen.
Und davon hatte Felix vorhin doch erzählt, oder nicht?
War nur noch die Frage, wo diese Karte war.
Und auf diese Frage gab es nur eine Antwort: Sie musste auf dem Dachboden
sein, in Delias Zimmer, wo sich der Club immer traf!
106/246
17
ENDE MIT SCHRECKEN
Als Nina gegen Mittag die Schule betrat, war ihr Herz schon viel leichter als
am Morgen.
Es hatte wirklich gutgetan, mit Vincent in diesen Streichelzoo zu gehen, auch
wenn der eigentlich eher für kleine Kinder war. Gerade durch diese heitere
Umgebung waren die Sorge um Daniel und der düstere Traum in den Hinter-
grund getreten. Obwohl sie Vincent kaum kannte, hatte Nina das Gefühl, dass
sie etwas mit ihm gemeinsam hatte: Immerhin hatte er mit Daniel das Zim-
mer geteilt. Er kannte Daniels Zustand besser als jeder andere.
Dabei hatte sie nicht einmal nach Vincents Telefonnummer gefragt!
Als sie jetzt lächelnd auf Felix und Delia zukam, sah sie gleich, dass die Fre-
undin erleichtert war: Es ging ihr besser. Auch Felix schien sich zu freuen
und ihr das Schwänzen nicht übel zu nehmen.
„Tsss, einfach so mit fremden Jungen weggehen!“, sagte er nun mit gespiel-
ter Strenge.
Nina verdrehte die Augen. „Vincent ist ganz normal. Kein Grund zur Sorge!“
„Das weiß man nie so genau!“, unkte Felix. „So ’n Vampir sieht ja auch aus
wie ein normaler Mensch.“
„Stimmt!“, kicherte Nina. „Sogar du siehst aus wie ein normaler Mensch.“
Stirnrunzelnd sah Felix an sich herab.
„Er ist kein Vampir!“, meinte sie ein wenig vorwurfsvoll. „Wir waren ein-
fach im Streichelzoo!“
„Im Streichelzoo!?“, riefen Felix und Delia gleichzeitig.
„Ja“, erwiderte Nina, überrascht von der seltenen Einigkeit der beiden. „Und
ich bin froh, dass ich mitgegangen bin.“
„Und?“, wollte Felix neugierig wissen. „Findest du ihn nett?“
Langsam verlor Nina die Geduld. Was wollte Felix ihr denn da unterstellen?
Dass sie Spaß hatte, während Daniel in Schwierigkeiten war? „Mann, Felix,
was soll das?“, antwortete sie scharf. „Ja, Vincent ist nett. Und es war schön,
mal an was anderes zu denken. Hoffentlich könnt ihr das verstehen!“
Ein wenig schuldbewusst ließ Felix den Kopf hängen.
„Ich vermisse Daniel so sehr, dass es wehtut“, fügte Nina etwas leiser hinzu.
„’tschuldigung!“, murmelte Felix. „Ach, kommt her!“, sagte er dann und
nahm Delia und Nina kurz entschlossen in die Arme.
Auf einmal erklangen feste Schritte, die neben den dreien stehen blieben. „Ja,
Nina!“
Alle drei fuhren auseinander. Herr Altrichter! Jetzt würde es wohl wirklich
etwas setzen, immerhin hatte Nina die ersten vier Stunden geschwänzt!
Doch auf Herrn Altrichters sonst so strengem Gesicht breitete sich ein
Lächeln aus.
„Wie geht es Ihnen?“ Er trat vor und tätschelte Nina freundlich die Schulter.
„Wo waren Sie denn?“
Das war Delias Stichwort. Sie schob Nina beiseite und stellte sich vor den
Schuldirektor. „Bevor Sie Nina bestrafen, wollte ich sagen, dass …“
Herr Altrichter winkte mit beiden Händen ab. „Wer redet denn von
Bestrafen!“, meinte er leutselig. „Das eine Mal Schule schwänzen nehme ich
auf meine Kappe!“
Delia, Nina und Felix glaubten ihren Ohren kaum zu trauen, als sich hinter
Herrn Altrichter eine kleine, aber strenge Person mit viel zu rot geschmink-
ten, verkniffenen Lippen, einem straffen Dutt und einer Hakennase räusperte.
Entsetzt fuhr Herr Altrichter herum.
„Also, Frau Schulrätin!“, stammelte er wie ein Fünftklässler, den man bei
einem albernen Streich erwischt hatte. „Es ist nicht so, wie Sie denken!“
Nina, Delia und Felix sahen sich entsetzt an. Sie wussten, ihr Schuldirektor
hatte wegen des verpatzten Musicals schon genug Probleme mit der Schulrät-
in, dass er allerdings auch Ninas Schwänzen durchgehen ließ ... das versprach
zusätzlichen Ärger!
108/246
„Sie wissen gar nicht, was ich denke“, sagte die Schulrätin schnippisch. „Ist
diese junge Dame heute Morgen ohne Ihre Zustimmung dem Unterricht
ferngeblieben?“
„Ja!“, erwiderte Herr Altrichter. „Ihre persönliche Situation ist …“
„… völlig irrelevant!“, beendete die Schulrätin den Satz. „Hier wird Schule
geschwänzt! Und Sie sehen darüber hinweg?“
„Aber Sie wissen doch gar nicht, was hier los ist!“, rief Herr Altrichter aus.
„Nicht gerade ein Vorbild an Ordnung, Herr Altrichter!“, meinte die
Schulrätin, als spräche sie mit einem Lausbuben. „Können wir diese Unter-
haltung in Ihrem Büro fortsetzen oder muss ich noch weiter hier im Gang
herumstehen?“
Herr Altrichter ließ Nina, Delia und Felix bei den Spinden stehen und bug-
sierte die Schulrätin in sein Büro, das am Ende des Flurs lag. Kopfschüttelnd
folgte sie ihm.
Ein wenig sorgenvoll sahen die drei dem Schuldirektor und der Schulrätin
hinterher. Sie konnten nur hoffen, dass Herr Altrichter wegen seiner Freund-
lichkeit gegenüber Nina nicht allzu viel Ärger einstecken musste.
Nina war die Erste, die die betretene Stille unterbrach, in die sie nach dem
Abgang Altrichters verfallen waren. Sie holte tief Luft, bevor sie sprach.
„Ich muss euch auch etwas verkünden.“ Sie sah Felix und Delia in die Au-
gen. „Ihr werdet es nicht gern hören: Ich glaube, es ist die richtige
Entscheidung.“
„Na sag schon“, meinte Delia, als Nina nicht weitersprach. „Mach’s nicht so
spannend.“
„Es hat mit dem Club zu tun. Wir müssen ihn auflösen!“ Ninas Stimme klang
traurig, aber entschlossen.
Felix und Delia waren entsetzt. Den Club auflösen? Warum das denn? Hatte
es damit zu tun, dass Nina den Morgen mit Vincent verbracht hatte?
Als hätte Nina die Fragen gehört, redete sie weiter. „Der Club ist schuld
daran, dass das alles passiert ist. Wir können jetzt nicht irgendeiner Träne
nachjagen, wir müssen Daniel suchen, auch wenn keiner weiß, wo er ist.“
109/246
Sie hielt inne und holte tief Luft. Es fiel ihr sichtlich schwer, das zu sagen.
Und dennoch sprach sie es ein zweites Mal aus, sodass bei Felix und Delia
kein Zweifel mehr blieb. „Es ist am besten, wir lösen den Club auf.“
110/246
18
DANIEL, BIST DU’S?
Vorsichtig lugte Magnus um die Ecke in den Mädchenflur hinein.
Niemand war zu sehen. Aber das war ja auch kein Wunder. Die anderen war-
en noch in der Schule und wollten gegen die geplante Entlassung von Herrn
Altrichter protestieren. Er hatte die Plakate und Transparente gesehen, mit
der Max, Kaya, Charlotte und die anderen gegen den Entschluss der Schulrät-
in demonstrieren wollten, und hatte auch die Rufe seiner Mitschüler gehört:
„Altrichter bleibt! Altrichter bleibt!“
Eigentlich hätte er gerne mitgemacht – wann konnte man schon Lehrern und
Schulrätinnen so deutlich zeigen, dass man mit ihnen nicht einverstanden
war? –, doch es war ihm wichtiger, die Karte des geheimnisvollen Labyrinths
zu finden. Bestimmt war sie bei Delia im Zimmer, welchen besseren Ort
hätte es geben können?
Langsam schlich er sich an der Tür zu Charlottes und Maras Zimmer vorbei.
Sicher schlief Mara, der es immer noch nicht so richtig gut ging, und er woll-
te sie nicht wecken.
Er war schon beinahe an der Tür zu Luzys und Ninas Zimmer vorbei, als er
hinter sich eine fröhliche Stimme hörte.
„Hey!“
Er erstarrte und biss sich auf die Unterlippe. Mara! War sie tatsächlich wach
gewesen? Oder er nicht leise genug?
Langsam drehte er sich um und tat so, als sei er nur zufällig hier.
„Hey!“, erwiderte er betont heiter.
„Was machst du denn hier?“, wollte Mara wissen.
Magnus wand sich verlegen. „Weißt du, die Schule – ich wollte ...“ Um seine
Worte zu bekräftigen, begann er, hastig in seiner Schultasche
herumzuwühlen.
Mara verschränkte die Arme vor der Brust. „Aha“, meinte sie mindestens so
streng wie die Schulrätin. „Und was machst du wirklich hier?“
Magnus klappte seine Tasche zu. „Na gut“, meinte er. „Ich wollte auf den
Dachboden, um diese Karte zu suchen.“
Mara starrte ihn mit offenem Mund an. „Die Geschichte von der Vision ist
totaler Unsinn. Das glaubst du, stimmt’s?“
Magnus starrte vor sich hin. Glaubte er das wirklich?
„Ich weiß es nicht“, stieß er schließlich hervor. „Es hängt so viel davon ab!“
„Ich denke schon, dass es wahr ist“, bestätigte Mara leise.
Magnus starrte sie an. „Aber du fühlst dich gut, oder?“, wollte er wissen.
„Ja!“, antwortete sie beruhigend. „Nina und Delia würden sich so was doch
nicht einfach ausdenken, oder?“, fuhr sie fort.
Magnus sah ihr in die dunklen Augen. Wie meist machte sein Herz einen
Hüpfer, wenn er das tat. Sie war so hübsch! Und sie war seine Freundin. Ihr
durfte einfach nichts passieren. Er nahm ihre Hände in die seinen.
„Wenn etwas von der Vision wahr ist, dann muss ich die Träne der Isis find-
en!“, sagte er entschieden.
„Aber die anderen haben bereits danach gesucht!“ Mara war anzusehen, dass
sie Angst um Magnus hatte. „Das hat alles nur noch schlimmer gemacht.
Denk an Daniel! Du kannst nicht einfach …“
„Das interessiert mich nicht!“, unterbrach Magnus seine Freundin aufgeregt.
„Auch wenn ich von vorne beginnen muss, ich werde die Träne finden! Und
auf dem Dachboden fange ich an.“
Mara wollte widersprechen, doch er wandte sich um und ließ sie einfach
stehen. Er wollte nicht mehr mit ihr streiten. Er würde sie retten, da ließ er
nicht mit sich diskutieren! Dann ging er auf den Dachboden hinauf.
Oben, vor Delias Zimmertür, blieb er stehen. Was, wenn Nina, Felix und die
blonde Barbie hier oben waren? Er glaubte zwar, Ninas grünen Mantel neben
Charlottes rotem bei den Demonstranten gesehen zu haben, aber man konnte
ja nie wissen.
Langsam öffnete er die Tür und spähte ins Zimmer. Niemand war da.
Leise schlich er sich in die Dachkammer und blickte sich um. Meine Güte,
was lag hier für ein Kram herum! Und alles glitzerte in Rosa, Pink oder Lila.
112/246
Magnus rümpfte die Nase. Außerdem roch es nach einem Parfüm, das für
seinen Geschmack viel zu süß und schwer war.
Na ja, er würde hoffentlich nicht lange bleiben müssen. Er klappte ein paar
Kommoden auf, zog die Schublade des Schreibtischs auf und sah unter dem
Bett nach, bis sein Blick schließlich auf Delias Nachttisch fiel.
Ein großes Stück altes, an den Rändern ausgefranstes Stück Papier – nein,
Pergament! – befand sich dort. Es war mehrfach gefaltet.
Magnus staunte. Das musste die Karte sein! Und die lag einfach so auf dem
Nachttisch herum, als hätte Rosie sie beim Aufräumen unter dem Bett gefun-
den und daraufgelegt? Nein, so einfach konnte es doch gar nicht sein!
Zögernd faltete er das riesige Pergament ein Stück auf. Ja, das war er wohl,
der ominöse Lageplan des Kellerlabyrinths. Da hatte er wirklich Glück
gehabt!
Grinsend schlug er die Karte zu, steckte sie in seine Tasche und schlüpfte aus
der Tür.
Immer noch war es still im Haus. Mara hatte sich wieder in ihrem Zimmer
verkrochen. Vielleicht war sie wütend auf ihn, überlegte er kurz, doch dann
zuckte er innerlich mit den Achseln. Damit würde er jetzt leben müssen. Im-
merhin tat er das alles nur, um sie zu retten.
Leise huschte er den Gang entlang zu seinem Zimmer, das am Ende des un-
teren Flurs genau gegenüber der Küche lag. Hinter der nur angelehnten Tür
klapperte Rosie bereits mit den Töpfen, um das Abendessen vorzubereiten.
Als er in sein Zimmer geschlüpft war, schloss er vorsichtshalber hinter sich
ab.
Erleichtert warf er die Schultasche in die Ecke neben dem Schrank und ließ
sich auf seinem Bett nieder. Er hatte es geschafft! Neugierig entfaltete er das
riesige Pergament. Es fühlte sich staubig und trocken an. Er hatte das Gefühl,
dass es zu Asche zerfiel, wenn er es zu fest anfasste.
Staunend betrachtete er den Lageplan, der sich vor ihm auf dem Bett aus-
breitete. Jede Menge verworrene Gänge, viele Kammern, die nach Göttern
benannt waren und geheimnisvolle Zeichnungen. Da, das war die Prüfung der
Nephthys, von der Felix erzählt hatte. Sie hatte ihn verändert. Und ganz links
113/246
war die Kammer des Anubis. Das musste der Raum hinter der Wand sein, auf
der die anderen die Rätsel um den Gral gefunden hatten!
Und beinahe in der Mitte war auch die Prüfung der Isis. Samt dem Rätsel, das
dazugehörte. Dort musste sie sein, die Träne.
Es schien ganz einfach: Durch die Gänge erreichte man die Träne.
Warum hatten die anderen sie dann noch nicht geholt?
Magnus dachte an Felix’ Worte zurück. Total gefährliche Prüfungen, Mann!
Ich sag’s dir, voll abgefahren! Wir wären fast gestorben, Alter.
Felix übertrieb gern, das wusste Magnus. Aber nach seinen Erzählungen lag
auf der Hand, dass die Rätsel und auch die Prüfungen es in sich hatten. Die
anderen hätten es nicht geschafft, wenn sie nicht alle zusammengehalten
hätten.
Magnus sank der Mut. Das konnte er nicht allein bewältigen. Resigniert ließ
er sich auf sein Kopfkissen fallen.
Was sollte er nur tun?
Die Hürde schien unüberwindlich. Er war ganz in Gedanken versunken.
Da hörte er eine bekannte Stimme neben sich freundlich fragen: „Brauchst du
Hilfe?“
Magnus fuhr zusammen. Das war doch ...
... Daniel!
Von Grauen gepackt drückte Magnus sich auf seinem Bett mit dem Rücken
gegen die Wand. Das konnte nicht sein! Daniel lag doch im Koma und war
entführt!
Aber da stand er, vollständig angezogen und umgeben von einer leuchtenden
Aura.
„D... Da...“
„Daniel, genau.“
Magnus war fassungslos. Der Geist vor ihm konnte tatsächlich sprechen!
„Bist du wieder ... wie bist du hier reingekommen?“
Daniel lächelte. „Durch die Tür, das finde ich immer noch am praktischsten.“
114/246
Magnus konnte Daniels Gestalt nur anstarren. Geister gab’s in Rosies Fantas-
ie, vielleicht auch in der puderrosa Welt von Delia, aber dass ihm einer
erschien?
„Ich muss träumen!“, murmelte er.
Der Geist Daniels – oder was auch immer es war – trat vor und kniff ihn fest
in den Arm.
„Au!“
Daniel sah ihn unverwandt an. „Träumst du?“
Magnus schüttelte atemlos den Kopf. „Das kann nicht sein!“, stammelte er.
Das Lächeln auf Daniels Gesicht verschwand. „Magnus! Willst du die Träne
der Isis finden? Dann musst du akzeptieren, dass du nicht alles erklären
kannst.“
Magnus schwieg. Das überraschte ihn nicht. Das hatte er sich schon selbst
gesagt.
„Bist du bereit?“, fragte Daniel und wartete Magnus’ Antwort gar nicht ab.
Er klatschte in die Hände, und auf einmal standen Magnus und er vor der zer-
borstenen Wand hinter Victors Kellerlabor.
„Wo sind wir?“, hauchte Magnus überwältigt.
Der leuchtende Daniel legte ihm schmunzelnd eine Hand auf die Schulter.
„Ich geb dir einen Tipp: Wir sind immer noch im Haus Anubis!“
Daniel kletterte durch das Loch und stand in einem staubigen Zimmer mit
einem Porträt von Herrn Winnsbrügge-Westerling und einer Statue des
ägyptischen Gottes Anubis.
Magnus folgte ihm zitternd in den dämmrigen Raum. Ja, er hatte Angst. Ganz
eindeutig. Mit großen Augen sah er Daniel an, der das alles völlig normal zu
finden schien.
Der Freund wandte sich um und ging einen finsteren Gang entlang, der aus
dem Zimmer hinausführte.
Magnus beeilte sich, hinter ihm herzugehen. Merkwürdigerweise fand er ein-
en leuchtenden Geist in dieser staubigen unheimlichen Finsternis beruhigend.
Staunend schaute er sich um. Sie kamen an den Prüfungen vorbei, von denen
Felix erzählt hatte, die mit den Kacheln, die man mit Gewichten belasten
musste, und sah den Stein, der beinahe auf den Club herabgefallen wäre.
115/246
Danach kam der Steg mit den Pendeln, die nun in der Wand klemmten. Dann
traten er und Daniel vor eine kleine Nische, in der immer noch ein rötlich
beleuchteter Rauchbrunnen plätscherte. Ein Stein mit einem Handabdruck
stand davor.
Als Magnus neugierig seine Hand in den steinernen Abdruck legen wollte,
hielt Daniel ihn zurück. „Nicht anfassen! Den Fehler hat Felix schon
gemacht.“
Magnus sog scharf die Luft ein und wich zurück. Felix! Deshalb hatte er sich
verändert!
„Das ist die letzte Prüfung, die wir gemacht haben“, fuhr Daniel fort. „Oder
besser, die Vierstein und Trabas für uns erledigt haben. Sie haben das Mini-
aturhaus und die Flüssigkeit.“
„Welche Flüssigkeit?“ Magnus runzelte die Stirn.
„Ein kleines Fläschchen, das man nach jeder Prüfung kriegt“, sagte Daniel.
„Die Flüssigkeit muss in das Haus.“
Magnus nickte langsam. Ja, auch davon hatte Felix erzählt. Er sah sich um.
Das alles schien so seltsam! Aber er war wirklich hier. Der Fels fühlte sich
echt an, ihm war kalt, und dort, wo Daniel ihn gekniffen hatte, tat Magnus
der Arm weh. Felix hatte genauestens davon berichtet, auch was Nina und
Delia über die Vision gesagt hatten, passte ins Bild. Selbst Mara war der
festen Überzeugung, die Auserwählte zu sein!
Und obwohl Magnus das alles immer noch für völlig verrückt hielt, glaubte
er dann doch nicht, dass gleich fünf seiner Freunde das Gleiche
zusammensponnen.
Das Ganze musste stimmen.
Er wandte sich dem leuchtenden Daniel zu. „Aber warum erzählst du mir das
alles?“
„Magnus, ich will, dass du meinen Platz im Club übernimmst. Die anderen
schaffen es nicht alleine – und du auch nicht.“
Magnus sah Daniel ungläubig an. „Ich? Deinen Platz?“
Daniel war ernst geworden. „Die Träne der Isis ist das Einzige, was Mara
retten kann. Ich vertraue dir.“
116/246
Magnus musste schlucken. Mara! Ja, Daniel hatte recht. Sie musste gerettet
werden.
Daniel schaute kurz zu Magnus. „Ich muss gehen.“
„Gehen?“, wollte Magnus überrascht wissen. „Wohin denn?“
Aber statt einer Antwort klatschte Daniel nur in die Hände.
Im nächsten Moment fuhr Magnus auf und fand sich für einen Moment nicht
zurecht. Dann erkannte er plötzlich seine Umgebung: Es war sein und Felix’
Zimmer, und er war auf seinem Bett eingeschlafen.
„Daniel!?“
Doch Daniel war fort. Magnus war allein, mit einem blauen Fleck auf dem
Arm – genau da, wo Daniel ihn gekniffen hatte.
117/246
19
WIRKLICH SCHLUSS?
Nina stand vor ihrem Schulspind und wühlte gedankenvertieft in ihrer
Schultasche. Wonach suchte sie eigentlich? Nach einer Antwort, was den
Club betraf? Nein! Die war ein für alle Mal klar. Sie würde den Club der Al-
ten Weide auflösen.
Neben ihr wechselten Delia und Felix einen kurzen Blick, dann zuckte Delia
mit den Achseln und drückte energisch die Spindtür zu.
„So, genug gegrübelt!“, sagte sie betont fröhlich. „Wann machen wir
weiter?“
Nina wandte sich um, als könne sie Delias Frage gar nicht fassen. „Womit
denn? Wir haben alle Spuren verfolgt – nichts!“
„Ich rede auch nicht von Daniel!“, gab Delia zurück.
„Sie meint die ...“ Felix zwinkerte auffällig und wies mit einem Finger auf
sein rechtes Auge.
„Hast du was im Auge?“, meinte Nina mit gespielter Unschuld.
„Was? Nein!“, erwiderte Felix stirnrunzelnd. „Okay, ein Rätsel: Was ist im
Auge, flüssig, salzig und hat was mit traurig zu tun?“
„Jaja, die Träne der Isis, schon verstanden.“ Nina ließ ein Vokabelheft in ihre
Schultasche fallen und schlug sie zu. Dann drehte sie sich zu den Freunden
um. „Aber wer weiß, wo die ist. Und wann wir sie finden! Vielleicht ist der
Gang noch hundert Kilometer lang. Vielleicht gibt es noch hundert Prüfun-
gen.“ Sie seufzte ärgerlich. „Nein. Wir lösen den Club auf!“
Delia konnte kaum glauben, dass ausgerechnet ihre beste Freundin, die im-
mer alles durchgehalten hatte und ihr und den anderen stets Mut zuge-
sprochen hatte, jetzt aufgeben wollte. „Und was ist mit Mara?“
„Ja“, pflichtete Felix ihr bei. „Stell dir vor, die Vision wird wahr! Brrr!“ Er
schüttelte sich vor Grausen.
„Die Aufgabe für die nächste Prüfung haben wir doch schon!“, legte Delia
noch einen drauf.
Aber Nina wandte sich ab.
„Nein. Ich will nicht mehr“, sagte sie dann.
Ohne sich noch einmal umzudrehen, ließ sie Felix und Delia ratlos zurück.
Nach der großen Pause hielt Nina es nicht mehr aus.
Sie musste wissen, dass Felix und Delia sie verstanden, es waren doch ihre
Freunde! Sicher begriffen sie, warum Nina mit dem Club nicht weitermachen
konnte.
Nina fand beide vor einer großen Karte, auf der die Krater des Mondes
verzeichnet waren. Beinahe musste sie lächeln, denn die sonstigen Kampf-
hähne schienen sich prima zu vertragen. Dann wurde sie allerdings wieder
ernst. Sie wusste genau, wie leid es besonders Felix tun würde, wenn es keine
Clubsitzungen mehr gab. Sie beschloss, den Stier bei den Hörnern zu packen.
„Tut mir leid!“, sagte sie.
„Ich versteh das schon“, erwiderte Delia.
„Ich kann einfach nicht mehr, solange ich nicht weiß, wie es Daniel geht!“,
versuchte Nina zu erklären, wie es ihr ging. „Und solange ergibt der Club
einfach keinen Sinn mehr.“
„Wer sagt das?“
Alle drei fuhren erschrocken herum. Magnus kam heran und sah sehr
entschlossen aus.
Delia verdrehte die Augen. „Was ist dein Problem, Magnus?“
„Ich will die Träne der Isis“, erklärte dieser einfach. Er schaute sie alle der
Reihe nach an. „Und wir werden sie zusammen finden.“
„Du meintest doch, du glaubst nicht dran“, erwiderte Felix überrascht.
Delia wurde auf der Stelle wütend. Magnus im Club? Das ging gar nicht!
Magnus sagte gerade „Da war mir noch nicht klar, wie sehr Mara in Gefahr
ist“, als sie ihn auch schon erbost unterbrach.
„Du meinst, wir können ruhig ins Koma fallen und gekidnappt werden und
verschwinden und nie wieder auftauchen, aber wenn Mara in Gefahr ist,
spielst du den Helden?“
119/246
Sie sah gar nicht, wie sehr ihre Worte über Daniel Nina trafen.
Magnus wurde trotzig. „Ich werde diese Träne finden, wenn sie Mara retten
kann. Und ohne mich schafft ihr das sowieso nicht.“
„Und ob wir das schaffen!“, schimpfte Delia.
„Das ist viel zu kompliziert und gefährlich!“, widersprach Magnus.
Jetzt ergriff Nina wieder das Wort. „Der Club der Alten Weide ist
aufgelöst!“, erklärte sie nachdrücklich.
„Du kannst nicht einfach so aufgeben!“, protestierte Magnus fassungslos.
Nina ließ sich nicht beirren. „Natürlich kann ich das.“
„Daniel würde bestimmt wollen, dass ihr weitermacht!“, beharrte Magnus.
„Magnus! Daniel liegt im Koma!“, rief Nina aufgeregt. „Irgendwo, ganz al-
lein. Und schuld daran sind das Geheimnis und der Club. Wir hätten das
Ganze nie anfangen dürfen!“
„Aber Daniel …“
Das war zu viel. „Was weißt du schon von Daniel!“, schrie Nina wild.
Magnus zögerte. Da hatte er sich wohl auf Glatteis begeben. „Sicher nicht so
viel wie du, aber ...“
„Was!?“
Magnus schwieg. Er konnte Nina verstehen. Daniel war im Grunde genau das
passiert, was er bei Mara befürchtete. Er sah, dass Delia Nina die Hand auf
den Arm legte und Nina sich etwas zu beruhigen schien. Mitfühlend schaute
er sie an. Doch der Schmerz in ihren Augen verschwand nicht.
„Wenn du die Träne der Isis suchen willst, kannst du das alleine machen“,
sagte sie schließlich leise. „Ich werd dich nicht aufhalten.“
Dann schüttelte sie Delias Hand ab und ließ die anderen einfach stehen.
Der junge Mann in seinem Bett sah wirklich schwach und hilflos aus. Man
konnte beinahe Mitleid mit ihm haben. Aber Zeno Trabas empfand nichts,
dazu war er selbst viel zu krank. Er bekam vor Anstrengung kaum Luft,
während dieser Daniel dort regelmäßig und tief atmete und er selbst es nur
mit dem Rollstuhl geschafft hatte, hierherzukommen.
Da hatte dieser Daniel es besser! Trabas hatte sich davon überzeugen wollen,
dass das Gift, das die Auserwählte töten konnte, endlich aus Daniel
120/246
herausdestilliert war. Und dann würde es Daniel wieder gut gehen. Doch ei-
gentlich spielte das auch keine Rolle mehr.
„Wie weit bist du?“, fragte Trabas ächzend. Er musste husten, so schwierig
war das Sprechen für ihn mittlerweile geworden.
Vierstein blickte von der Vorrichtung auf, mit der das Gift aus Daniels Körp-
er extrahiert wurde. Er trug einen weißen Arztkittel und einen Mundschutz,
sodass man ihn möglichst nicht erkennen konnte. Das tat er immer, wenn er
Daniel besuchte.
„Es läuft alles nach Plan“, sagte Vierstein. „Ein paar Tage noch, dann haben
wir genug Gift, um die Auserwählte aus dem Weg zu räumen! Ich warte nur
auf Ihr Signal.“ Zum ersten Mal schaute er Zeno Trabas direkt an.
„Gut!“, erwiderte der. „Sehr gut.“
Wieder ließ er seinen Blick über den schlafenden Daniel schweifen. „In
diesem Jungen, mein lieber Morten, steckt ein großer Wissenschaftler.“
Vierstein antwortete nicht. Er klopfte nur gegen die Glasflasche mit dem
Gift, dann sah er seinen Auftraggeber nachdenklich an.
„Eine Schande!“, sprach Trabas weiter. „Aber wir werden uns nicht erlauben
können, ihn laufen zu lassen, auch wenn er dich nicht erkannt hat.“
Vierstein verstand sofort, worauf Trabas hinauswollte. „Er weiß zu viel.“
Trabas nickte.
„Viel zu viel ...“
Traurig schaute Luzy Onkel Ursli beim Packen zu.
Heute Morgen hatte er es seinem Campinggast gesagt: Er musste nach
Griechenland zurück, wo er lange gelebt hatte. Dort hatte es ein schweres
Erdbeben gegeben und Delphis Heimatdorf war zerstört worden. Die meisten
Häuser waren eingestürzt, und nun fehlte es an Geld, um sie neu aufzubauen.
Häuser, Schulen, Läden, alles lag in Trümmern. Im Schutt eines Stalls hatte
man sogar Delphis Neffen gefunden – tot!
Luzy kamen wieder die Tränen, als sie daran dachte, und sie kraulte Delphi
zwischen den Augen.
Doch auch was sie selbst betraf, machte Luzy traurig. Sie hatte sehr gern hier
im Garten, im Zelt, geschlafen. Onkel Urslis Freundlichkeit vermittelte ihr,
121/246
dass sie durchaus ein nettes Mädchen war und auf keinen Fall diese furcht-
bare Verräterin, die die anderen in ihr sahen.
Aber jetzt baute er seinen Wigwam ab und räumte seine Sachen in die Kof-
fer, denn er wollte nach Griechenland gehen und dort seinen Freunden
helfen.
Luzy seufzte. Der Gedanke, zurück ins Haus Anubis und zu Nina ins Zimmer
zu ziehen, war zwar nicht mehr ganz so schrecklich wie vor zwei Tagen.
Aber es schien trotzdem nicht das Richtige zu sein.
Als Onkel Ursli jetzt anfing, Luzys Schlafsack zusammenzurollen – er wollte
ihn mitnehmen, vielleicht wurde er in Griechenland gebraucht –, wünschte
sich Luzy, er würde länger bleiben. Oder dass sie bei ihm bleiben könnte.
Auf einmal hatte sie den rettenden Einfall. „Ich hab ’ne super Idee! Ich kön-
nte doch mitgehen!“, platzte es aus ihr heraus.
Onkel Ursli hielt kurz inne, als Luzy stockte, und wandte sich zu ihr um.
„Reden ist oft eine größere Kunst als Schweigen“, lächelte er. „Also rede.“
„Ich komme mit! Ich kann helfen. Ich kann ... Steine tragen. Oder Holz
schichten. Oder was Warmes stricken.“ Sie unterbrach sich. Luzy Schoppa
und stricken? Sie musste bei diesem Gedanken lachen. „Na ja, das vielleicht
nicht. Aber alles andere.“
Onkel Urslis Lächeln wurde ein wenig traurig. „Das ist sehr liebenswürdig
von dir, nur …“
Doch Luzy hatte an der Vorstellung Gefallen gefunden, beim Wiederaufbau
von Delphis Dorf dabei zu sein. „Ich helfe! Ich komme mit!“
Ursli schüttelte den Kopf.
Luzy sank im Schneidersitz auf den Boden und blickte Ursli an.
„Warum kann ich nicht mit? Ich werd nicht im Weg rumstehen. Außerdem
bin ich fleißig, hilfsbereit, genügsam, freundlich, großzügig ... und: Hatte ich
fleißig schon?“
Ein wenig verlegen räumte Ursli weiter seine Habseligkeiten in die Taschen.
„Du hast ein großes Herz!“, meinte er anerkennend. „Ich spüre, dass du es
ernst meinst.“
„Und warum kann ich dann nicht mit?“
122/246
„Deine Hilfe wird hier gebraucht“, erklärte Ursli. Delphi meckerte
zustimmend.
Für Luzy klang das wie eine Ausrede. „Klar“, meinte sie sarkastisch. „Die
wollen mich alle hier.“
Wieder gab Delphi ein leises „Bääh!“ von sich.
Ursli nickte zustimmend. „Delphi findet auch, du solltest hier helfen, nicht im
Dorf. Herrn Altrichter zum Beispiel.“
Luzy stutzte. „Wie kann ich denn Herrn Altrichter helfen?“
„Die anderen sagen, er verliert seinen Job, wenn nicht etwas Großes in der
Schule passiert. Etwas, worüber Zeitungen und Fernsehen im ganzen Land
berichten“, erläuterte Ursli. „Wenn du wirklich helfen willst, dann findest du
einen Weg.“
Zeitungen. Das Wort brachte in Luzy eine Saite zum Klingen. Sie sprang auf.
„Die Schülerzeitung!“, rief sie aufgeregt. „Man könnte ...“
Sie schnappte sich ihre Schultasche, verabschiedete sich von Ursli und
machte sich auf den Weg in die Schule.
Zur Redaktion der Schülerzeitung!
123/246
20
DER ANRUF
Wieder war da diese weiße Watte, die ihm vor den Augen und in den Ohren
klebte. Und aus der er sich nur schwer befreien konnte. Allerdings ging es
von Mal zu Mal schneller.
Als Daniel die Augen aufschlug, kehrten auch seine anderen Sinne zurück. Er
stellte fest, dass er immer noch in diesem seltsamen Krankenzimmer lag, das
so gar nicht nach Krankenhaus aussah. Die Tür war geschlossen, davor hörte
er gedämpfte Laute. War es eine Stimme?
Er fand es anstrengend, darüber nachzudenken.
Ein verführerischer Duft drang in seine Nase. Daniel wandte den Kopf und
entdeckte eine Schüssel Haferbrei, die jemand auf einem Tischchen neben
dem Bett abgestellt hatte. Eigentlich war das ja nicht seine Lieblingsspeise,
aber er hatte mächtig Appetit und durfte sich das auf keinen Fall entgehen
lassen.
Er wollte sich gerade über das Essen hermachen (was sich als sehr
kräftezehrend herausstellte), als er neben dem Teller seinen Rucksack ent-
deckte, aus dessen Seitentasche etwas Schwarzes ragte.
Sein Handy!
Schnell waren die Haferflocken vergessen. Stattdessen griff er nach dem
Telefon und rief im Haus Anubis an.
Es klingelte.
„Hallo, hier ist das Haus Anubis!“
Daniel wollte antworten, doch es kam kein Ton aus seiner trockenen Kehle.
Er schluckte.
„Hallo? Wer ist da?“
„Delia?!“, brachte Daniel schließlich krächzend hervor. „Delia, ich bin’s,
Da…“
In diesem Moment öffnete sich die Tür. Schneller, als Daniel in seinem Zus-
tand denken konnte, trat ein Mann mit weißem Kittel und Mundschutz neben
sein Bett und nahm ihm entschieden das Telefon aus der Hand.
Kopfschüttelnd sah der Mann, wahrscheinlich ein Arzt, auf Daniel hinab.
„Du darfst …“, begann er heftig. „Du kannst hier nicht telefonieren“, fügte er
ruhiger hinzu, schaltete das Handy ab und steckte es in seine Kitteltasche.
Daniel war völlig niedergeschlagen. Er schloss die Augen und ließ sich ins
Kissen zurücksinken.
Er spürte kaum, wie der Arzt ihm langsam half, den Haferschleim
aufzuessen.
Fassungslos starrte Delia den Hörer an.
War das gerade Daniel gewesen? Nein, das konnte nicht sein!
„Delia! Wo bleibst du denn? Ihr müsst in die Schule!“, hörte sie Rosie von
unten rufen.
Langsam legte sie den Hörer auf. Sie war wohl noch nicht ganz wach! Kein
Wunder, an diesem Morgen ging ja auch alles schief. Überall war sie zu spät:
beim Aufstehen, beim Anziehen, im Bad, beim Frühstück und nun auch noch
das. Das hatte man davon, wenn man nett sein und ans Telefon gehen wollte!
„Delia! Nun komm endlich!“
Delia riss sich zusammen und verließ Victors Büro, um mit den anderen in
die Schule zu gehen. Aber sie blieb unaufmerksam. Erst als sie mit Felix an
den Schulspinden stand und der mit der rechten Hand vor ihrem Gesicht her-
umwinkte, nahm sie ihre Umwelt wieder wahr.
„Was ist denn nur mit dir los?“, fragte er ein wenig ungeduldig.
„Du warst doch am Telefon, ist dir da ein Geist begegnet?“, wollte jetzt auch
Nina von der anderen Seite wissen.
Delia sah ihre beiden Freunde an. „So in der Art!“, platzte sie schließlich
heraus. „Das am Telefon war Daniel!“
Nina riss die Augen auf. Selbst Felix fiel dazu nichts ein.
„Daniel?“, hauchte Nina schließlich. „Das kann doch nicht sein!“
„Echt!“, bekräftigte Delia. „Ich schwör’s!“
„Und was hat er gesagt?“, fragte Felix.
125/246
„Nichts“, erwiderte sie. „Nur: Delia, ich bin’s, Da… Dann war die Ver-
bindung futsch. Aber es war Daniel! Ich schwör’s! Auf Hektor und Ölie!“
Felix und Nina wechselten einen Blick.
„Okay“, meinte Felix. „Die Hamster sind ihr heilig. Es muss stimmen.“
Doch Nina war nicht so leichtgläubig. „Ich ... Delia! Weißt du, wie’s mir ge-
ht, wenn du alle fünf Minuten mit so was ankommst?“
Diese Worte schienen in Felix auch wieder Zweifel hervorzurufen. „Wie soll-
te Daniel an ein Telefon kommen?“ Er runzelte die Stirn. „Okay, Daniel“,
sprach er mit veränderter Stimme weiter. „Du darfst dein Handy behalten,
aber ruf deine Freunde nicht an. Befehl von mir, dem Entführer!“
Delia ließ verzweifelt den Kopf hängen. „Ich weiß auch nicht.“
Nina drückte entschlossen ihren Spind zu.
„Vielleicht ist es ein schlechter Scherz von jemandem“, sagte sie.
„Klar, oder es war einer von den anderen tausend Daniels, die ich kenne!
Oder es war unser Daniel!“, erwiderte Delia gereizt.
„Bist du dir ganz und gar hundertprozentig sicher, dass es Daniel war und du
dich nicht geirrt hast?“, wollte Nina wissen. Sie sah Delia in die Augen.
„Dann – und nur dann! – sag mir das jetzt.“
Delia erwiderte den Blick. Sie war zu neunundneunzig Prozent sicher, aber
was, wenn das eine übrige Prozent eintrat? Dann hatte sie Nina falsche
Hoffnungen gemacht, und das war grausam. Die Antwort blieb ihr im Halse
stecken, sie brachte keinen Ton heraus.
Nina nickte noch einmal kurz. Das hatte sie sich gedacht. Sie wandte sich ab
und ging zu Frau Engels Französischstunde.
Delia schaute ihr hinterher und biss sich auf die Lippen.
„Es war Daniel!“, sagte sie leise.
Zufrieden verstöpselte Magnus das Reagenzglas, das er im Chemieunterricht
geklaut hatte. Darin befand sich nun eine hellrote Flüssigkeit – und es sah
genauso aus, wie Felix ihm gestern die kleinen Fläschchen beschrieben hatte,
die man nach einer Prüfung im Kellerlabyrinth bekam.
126/246
Er huschte lautlos aus seinem Zimmer, um nicht von Rosie, die in der Küche
hantierte, erwischt zu werden, und lief die Treppe hinauf zum Dachboden,
wo, wie er wusste, Felix und Delia auf ihn warteten. Und Luzy.
Magnus war fest entschlossen, Daniels Auftrag anzunehmen. Die Träne der
Isis musste gefunden werden – und zwar vor Zeno Trabas und Victor! Und
dazu brauchte er die anderen. Auch Luzy. Die besonders! Wenn Nina nicht
mehr mitmachen wollte, dann war das eben so. Es war ihre Entscheidung. Sie
hatte ihm sogar ihr Horusauge gegeben, so ernst war es ihr. Doch Magnus
würde weitermachen. Mara zuliebe.
Als er die Tür zur Dachkammer öffnete, bot sich ihm ein Bild, über das er
grinsen musste: Felix stand in der Mitte des Zimmers und hielt Delia und
Luzy mit beiden Händen davon ab, sich gegenseitig an die Gurgel zu sprin-
gen. Die beiden waren völlig aufgewühlt und stritten, was das Zeug hielt.
„Was denkst du dir eigentlich?“, wollte Delia lautstark wissen. „Dass du ein-
fach so zurückkommen kannst? Das war beim letzten Mal schon ’ne doofe
Idee!“
„Ich bin bestimmt nicht wegen dir hier!“, informierte Luzy ihr Gegenüber in
pampigem Tonfall. „Deinetwegen wäre ich eigentlich lieber nicht
gekommen!“
„Dann geh doch!“, schimpfte Delia. „Ich bin nicht die Einzige, die dich nie
mehr sehen will!“
„Aber ich will sie sehen!“, mischte Magnus sich ein. Ihm tat Felix leid, der
zwischen Delia und Luzy stand und sie mit aller Kraft daran hinderte, sich
die Augen auszukratzen.
Magnus sah in die Runde. „Wenn wir uns jetzt alle ein wenig beruhigen,
dann erkläre ich alles.“
„Keine Sekunde zu früh, Alter!“, sagte Felix halblaut und rieb sich die
Ohren.
Aber Delia gab nicht nach. „Ich will diese Lügnerin keine Sekunde länger im
Zimmer haben.“
„Doch!“, gab Magnus zurück. „Das willst du, denn wir können die Träne der
Isis nicht ohne das Minihaus finden. Und wer hat das?“
„Ich weiß es! Morten!“, schrie Felix dazwischen.
127/246
Magnus nickte. „Und wer ist die Einzige, die in Mortens Nähe kommen
kann?“
Wieder antwortete Felix, während sich die beiden Mädchen immer noch
giftige Blicke zuwarfen. „Luzy!“
Luzy wandte sich Magnus zu, als sie ihren Namen hörte. „Da mach ich nicht
mit!“, erklärte sie rundheraus. „Ich will diesen ... Verbrecher nie
wiedersehen!“
„War ja klar“, motzte Delia. „Wochenlang triffst du dich mit ihm, nur, wenn
es uns helfen kann, kneifst du.“
Luzy schnitt Delia eine Grimasse. „Ich hab gar nichts mehr, was Morten
interessiert.“
„Nein!“, ging Magnus dazwischen. „Aber ich.“
Er hielt das Reagenzglas mit der roten Erdbeerlimonade hoch, das er in
seinem Zimmer vorbereitet hatte.
Delia, Felix und Luzy starrten ihn überrascht an.
„Du hast das nächste Fläschchen?“, wollte Delia wissen.
„Nein. Das ist Limonade“, erklärte Magnus. „Aber das weiß Morten ja nicht.
Unter den Verschluss kleben wir einen kleinen Sender. Luzy gibt es Morten,
und wir wissen, wohin er geht.“
Felix schlug Magnus begeistert auf die Schulter. Sein bester Freund! „Man
nennt ihn Bond!“, verkündete er stolz. „Magnus Bond!“
Die Mädchen zögerten.
„Was, wenn Morten den Plan durchschaut?“, fragte Luzy.
Langsam begann Magnus ungeduldig zu werden. „Dass wir uns die Frage
überhaupt stellen müssen, liegt nur an dir“, machte er Luzy klar. „Er wird ihn
nicht durchschauen. Ich werde einfach alles tun, um Mara zu retten!“
Delia gefiel das ganz und gar nicht. Alles hing von Luzy ab, dabei hatte die
den Club verraten!
„Warum macht Mara eigentlich nicht selbst mit?“, sagte sie zu Magnus.
„Gute Frage, das wüsste ich auch gern!“ Es war Mara, die diese Frage stellte.
Magnus fuhr herum und starrte die Freundin an. „Das ... ist nicht so, wie es
aussieht!“, versicherte er schnell.
128/246
„Aha.“ Mara machte einen Schritt ins Zimmer hinein. „Ihr besprecht also
nicht, wie ihr an die Träne der Isis herankommen wollt?“
Die anderen schüttelten einheitlich den Kopf.
„Worüber redet ihr denn dann? Darüber, wie ihr Victor zu vollerem Haar ver-
helfen wollt?“
„Ja, genau!“, antwortete Delia und nickte heftig mit dem Kopf.
Mara sah nun so wütend aus, dass Magnus die Flucht nach vorn antrat.
„Mara, ich hatte keine Wahl!“, meinte er entschuldigend.
„Du hast mich angelogen!“, stieß Mara hervor. „Und man hat immer eine
Wahl. Du hast dich eben fürs Lügen entschieden!“
Magnus schwieg betroffen. Verstand Mara denn nicht, dass er sich Sorgen
machte? Sie war in viel größerer Gefahr, wenn sie bei diesen Plänen
mitmachte!
„Ich will dabei sein!“, erklärte Mara fest entschlossen.
„Warum eigentlich nicht?“, fragte Luzy. „Sie kann ...“
„Kümmre du dich um deinen Kram!“, fuhr Magnus zornig auf. „Ich hab nur
zwei Worte für Mara: zu gefährlich!“
„Unsinn!“, gab seine Freundin zurück und wies auf Felix und Delia. „Wenn
die beiden mitmachen, dann kann es doch ... also ...“
Sofort waren Felix und Delia beleidigt. „Hey!“
Aber Mara ließ sich nicht ablenken. Sie baute sich vor Magnus auf und stem-
mte die Hände in die Hüften. „Was bin ich denn für dich? Die liebe kleine
Freundin, die brav in ihrem Zimmer hockt und wartet, bis der starke, schlaue
Magnus alles wiedergutmacht?“
Magnus schwieg schuldbewusst. Er wandte den Blick ab. Ja, genauso hatte er
sich das eigentlich vorgestellt. So, wie Mara das allerdings sagte, klang es
ziemlich ... albern.
„Also, wo sie recht hat ...“, meinte Delia.
Magnus warf ihr einen bösen Blick zu. Sie schwieg sofort.
„Nein“, erklärte er dann kühl und bestimmt zu Mara. „Mein Entschluss steht
fest.“
129/246
Mara sah ihn an, als würde sie in seinem Gesicht etwas suchen, was ihr sagte,
dass er es nicht so ernst meinte, wie es klang. Vergeblich. Er würde nicht
nachgeben.
Sie wandte sich ohne ein weiteres Wort um und verließ den Dachboden.
130/246
21
UND WIEDER EIN OPFER
Vorsichtig strich Nina über das Foto von Daniel.
Eigentlich hatte sie sich hier in der Küche ein Glas Saft holen wollen, doch
dann war ihr dieses Bild aufgefallen, das jemand mit einem Magneten zu den
anderen auf dem Kühlschrank gepinnt hatte. Wahrscheinlich Rosie, die es
nach der Feier behalten hatte.
Es war eine besonders schönes Aufnahme von Daniel, wie Nina fand. Er
lächelte darauf fröhlich in die Kamera. „Ich wünschte, Fotos könnten
sprechen. Denn ich weiß nicht mehr, was ich machen soll“, murmelte sie.
„Wie ich dich suchen soll. Oder wo. Die anderen haben irgendetwas vor, ich
glaube, sie treffen sich mit Magnus in Delias Dachkammer. Sie wollen weiter
nach der Träne suchen. Für Mara.“
Bei dem Gedanken daran runzelte Nina die Stirn. „Was die anderen machen,
ist falsch. Es ist zu gefährlich! Und ich mache nicht mit dabei.“
Sie nahm das Bild vom Kühlschrank ab und ging hinüber zu dem Tisch bei
den Hängeschränken, in denen die Gläser standen. Dort legte sie es ab und
nahm ein Saftglas aus dem Regal.
„Hallo, Nina!“
Nina erschrak. Als sie aber sah, wer gerade zur Hintertür hereingekommen
war, atmete sie erleichtert auf: Onkel Ursli. Er hielt eine große, kugelförmige
Glasvase in der Hand. Sie war bis zum Rand mit Wasser gefüllt. Darin
schwamm ein Goldfisch, der sie mit großen Augen anstarrte.
„Was ist das denn?“, fragte Nina freundlich. „Ein übersinnlicher Fisch?“
Täuschte sie sich, oder wirkte der Onkel verlegen?
„Nein“, sagte er. „Das ist ein ganz normaler Goldfisch. Ein Geschenk für
Rosie.“
„Wofür?“, wollte Nina neugierig wissen.
Behutsam stellte Onkel Ursli das Glas auf den Arbeitstisch in der Mitte der
Küche. „Es ist ein Abschiedsgeschenk. Es soll Rosie ein wenig trösten, weil
sie nicht mitkommen kann.“
„Rosie will mit in die Schweiz?“
„Ja und nein ... Sie will schon mitkommen“, druckste Onkel Ursli herum.
„Aber Delphi und ich gehen nach Griechenland. Eine lange Geschichte!“
Er wies auf das Bild von Daniel, das immer noch neben Nina lag. „Ein hüb-
scher Junge, dein Freund. Schöner Schnurrbart!“
Nina blickte auf das Foto hinab. Ein wenig Sojasoße war aus einer
umgekippten Flasche auf dem Regal darübergetropft. Jetzt sah es so aus, als
hätte Daniel einen dunklen Bart. Sie musste lachen. „Das ist nur ein Fleck!“
Nina stellte die Flasche auf und wischte das Bild mit einem Tuch sorgfältig
ab.
„Da sieht man es“, sagte Onkel Ursli. „Nichts ist, wie es scheint. Merk dir
das!“
Er schaute Nina freundlich an, dann ging er hinaus in den Garten.
Verblüfft blickte Nina ihm hinterher. Das war ja fast dasselbe, was Sarah ihr
vor zwei Tagen im Traum gesagt hatte.
Sie sah das Bild von Daniel noch einmal genauer an.
Nichts ist, wie es scheint, das weißt du doch, oder?, erklang Sarahs Stimme
in ihrem Inneren.
Aber Nina wollte nicht mehr auf Sarah hören. Ihr Entschluss stand fest.
Sie holte gerade die Orangensaftflasche aus dem Kühlschrank, als die Tür
aufflog und Delia hereinstürmte. Sie hatte ihren Mülleimer unter dem Arm
und war offenbar auf dem Weg zu den Mülltonnen draußen. Sie hielt inne,
als sie Nina entdeckte, und stellte den Eimer auf den Boden.
„Dich suche ich!“, trompetete sie. „Wir müssen reden!“
Irritiert warf Nina einen Blick auf Delias vollen Papierkorb. „Über den
Mülleimer?“
Delia verdrehte die Augen. „Über Daniel! Ich weiß, du kannst es nicht mehr
hören, aber ich muss einfach drüber reden, und du bist meine beste
Freundin.“
132/246
„Wir können gern über Daniel reden“, sagte Nina.
„Aber ...“ Sie hob die Hand. „Wir reden nicht über seltsame Telefonate!“
Delia hätte fast mit dem Fuß aufgestampft. „Ich bin nicht verrückt! Ich weiß
genau, dass ich ihn gehört hab!“
Nina wandte sich ab und goss sich Orangensaft in ihr Glas.
„Nina“, meinte Delia drängend. „Es könnte doch sein: eine Verschwörung,
bei der alle mitspielen, nur damit wir denken, dass alles in Ordnung ist, nur:
In Wirklichkeit ist alles ganz anders!“
Nina zuckte zusammen. Schon zum dritten Mal hatte sie diesen Satz gehört.
Übersah sie wirklich etwas? Bedachte sie irgendeinen Punkt nicht?
Doch so sehr sie auch nachdachte, sie hatte keine Vorstellung davon, was das
hätte sein können.
Sie starrte ihr Trinkglas an. „Du vermisst Daniel auch ganz doll, oder?“,
fragte sie.
„Ja“, bestätigte Delia. „Aber darum geht’s nicht. Kann es nicht sein, dass ...?“
„Dass das Krankenhaus und die Polizei zur Verschwörung gehören? Und vi-
elleicht auch der Präsident der Vereinigten Staaten? Delia!“ Nina verdrehte
die Augen. An solche albernen Verschwörungstheorien glaubte nun wirklich
kein Mensch! Sie trank einen Schluck, um zu zeigen, dass sie auf Delias
wirre Gedankengänge nicht hereinfiel.
„Was macht ihr denn hier?“
Delia und Nina zuckten zusammen. Mit Victor hatten sie gar nicht gerechnet!
Der Hausverwalter sah böse drein. Diesmal trug er nicht wie gewohnt seinen
blauen Arbeitskittel, sondern eine Lederjacke. Er ging an ihnen vorbei zum
Hintereingang. „Was ist?“, fragte er mit strenger Stimme. „Habt ihr keine
Hausaufgaben zu machen?“
„Wo wollen Sie denn hin, Herr Rodemer?“, rief Delia unschuldig.
„Das geht dich gar nichts an!“, giftete Victor. „Ich habe zu tun!“
Damit verschwand er.
Delia war erleichtert. „Victor ist weg! Sehr gut“, freute sie sich und ließ Nina
einfach stehen.
Nina seufzte. Da wollten die anderen wohl in den Keller. Nun gut, sollten sie.
Nina würde nicht mitgehen.
133/246
Aber den Mülleimer hatte Delia natürlich stehen lassen ...
„Worauf wartet ihr?“
Magnus sah Delia und Felix ungeduldig an. Beide standen vor der zerbor-
stenen Wand im Keller und zögerten, mit ihm durch das Loch zu klettern.
Jeder von ihnen hatte ein Horusauge, Victor war nicht im Haus. Hätte es eine
bessere Gelegenheit geben können, sich die Prüfung der Isis anzuschauen?
Wahrscheinlich bekamen sie die Träne der Isis, sobald sie die bestanden hat-
ten, und dann war Mara gerettet.
Delia schüttelte den Kopf. „Wir können nicht einfach so die Prüfung machen!
Ohne Vorbereitung und so.“
Felix nickte eifrig. „Stimmt! Daniel hat immer das Rätsel gelöst, bevor wir
eine Prüfung gemacht haben!“
Magnus war genervt. „Darum geht’s doch gar nicht. Wir wollen sie ja nur
anschauen!“
Er legte die Hand auf Delias Rücken und schob sie voran, sodass sie gegen
Felix prallte.
Der drehte sich grinsend um. „Oh, Delia! Komm ruhig näher, mein Schatz!“
Wenn er allerdings gedacht hatte, dass Delia das lustig fand, wurde er eines
Besseren belehrt. Sie boxte ihm nur ärgerlich auf den Oberarm.
„Au!“, jammerte Felix wehleidig.
Aber Magnus brachte ihn mit einem Blick zum Schweigen.
Vorsichtig machte Felix sich nun auf den Weg. Delia und Magnus folgten
ihm durch die dunklen Gänge des Labyrinths den Pfad entlang, der ihnen
bereits zur Genüge bekannt war: die Kacheln, die Pendel über dem Abgrund,
der Handstein.
Und hinter der nächsten Biegung war sie: die Prüfung der Isis. Felix kannte
sie schon, doch Delia und Magnus fielen beinahe die Augen aus dem Kopf,
als sie im grünlichen Dämmerlicht die große Bambusorgel sahen.
„Wow!“, entfuhr es Delia schließlich. „Ist ja irre!“
Sie lief an den Orgelpfeifen entlang, von denen eine größer war als die an-
dere. Als sie an der letzten Pfeife vorbeigegangen war, änderte sich die Farbe
134/246
des düsteren Lichts, mit dem alles beleuchtet war. Und da war es: das nächste
Fläschchen!
Die beiden Jungen folgten ihr behutsam.
„Sieht aus, als ob man einfach hindurchlaufen kann. Kein Gitter, kein Fels
...“
Kaum war Delia bis auf wenige Schritte an die schmale Phiole herangekom-
men, rissen Magnus und Felix sie erschrocken zurück.
Vor ihnen fuhren mehrere grelle Lichtstrahlen aus der Decke nach unten und
versperrten ihnen den Weg.
„Pass auf“, warnte Magnus.
Aber Delia schüttelte seine und Felix’ Hand einfach ab. „Vielleicht muss man
sich drunterstellen? Wie im Solarium!“
Sie wollte schon mitten in die Strahlen hineingehen, als Magnus sie erneut
packte und mit sich zerrte.
„Mach erst mal gar nichts!“, fuhr er sie an. „Du weißt: Zu viel Solarium tut
dir nicht gut.“
Delia seufzte ärgerlich, gab aber nach.
Magnus zog die Karte aus der hinteren Tasche seiner Jeans. „Wir sollten erst
mal lesen, was da über die Prüfung steht“, sagte er, hockte sich im Sch-
neidersitz auf den Boden und entfaltete die Karte. Delia und Felix machten es
ihm nach. Magnus beugte sich ein wenig dichter über das Pergament und
begann zu entziffern, was da über die Prüfung der Isis stand.
„Zu klein, ich kann’s nicht lesen. Hat vielleicht jemand ...?“
Als hätte er Magnus’ Gedanken gelesen, zog Felix eine Lupe hervor und
reichte sie ihm.
„Danke!“ Er wandte sich wieder der Karte zu. „Es reimt sich. Irgendetwas
mit Symphonie. Mach groß, was vorher ganz klein. Für die ... Noten des
Lieds, färb das Weiße rot ein. Häh?“
Magnus schaute die anderen fragend an. „Wo ist denn da die Logik?“
Delia sprang auf. „Männer!“, erklärte sie verächtlich. „Habt ihr gar kein Ge-
fühl für Poesie?“ Sie ging hinüber zur Orgel.
„Was machst du?“, wollte Felix besorgt wissen.
„Ein Lied spielen“, erwiderte sie. „Steht doch da.“
135/246
Bevor Magnus und Felix Nein schreien konnten, hatte Delia bereits eine der
Tasten berührt.
Sie zuckte zusammen, als hätte sie einen elektrischen Schlag bekommen, und
sackte auf der Stelle zu Boden. Ihre Haare standen in alle Richtungen ab.
„Delia!“ Magnus kniete neben ihr nieder.
Flatternd öffneten sich ihre Augenlider. Sie sah Magnus eindringlich an.
„Ich liebe dich!“, hauchte sie bei seinem Anblick. Dann wandte sie sich Felix
zu, der sie irritiert anstarrte. „Und dich liebe ich auch!“
„Ja“, erwiderte Felix prompt. „Geht mir auch so, ich liebe mich auch!“
Magnus zog eine Grimasse. „Hilf mir mal!“ Er machte Anstalten, Delia vom
Boden aufzuheben.
Unwillkürlich packte Felix mit an. „Und jetzt?“
„Tragen wir sie in ihr Bett!“
Felix stöhnte. Delia tragen? Bis ganz auf den Dachboden hinauf? Doch Mag-
nus ließ nicht locker. Mit vereinten Kräften hievten sie Delia in ihre Mitte.
Dass ihr dabei auf halbem Wege in der Eingangshalle das Horusauge vom
Hals rutschte und auf den schwarz-weißen Fliesen liegen blieb, bemerkte
keiner der drei.
Auch nicht, dass Victor aus dem Wohnzimmer geschlichen kam – kaum dass
sie die Treppe hinaufgegangen waren – und das Amulett mit hämischem
Grinsen an sich nahm ...
136/246
22
MARA IN GEFAHR
Ächzend ließ Magnus Delia von seiner Schulter aufs Bett fallen. Mann, war
die schwer! Er wischte sich den Schweiß von der Stirn. Felix war hinter ihm
hereingeschlendert und setzte sich nun auf den Stuhl vor Delias Schreibtisch.
„Na, vielen Dank auch, Supervolltrottel!“, schnaubte Magnus.
Felix machte ein unschuldiges Gesicht. Er wollte gerade erklären, dass er seit
der Prüfung mit den Gewichten und den Kacheln eben genau wusste, wie viel
Delia wog, als die Tür aufging und Nina hereinstürmte.
„Ich habe euch die Treppe hinaufgehen hören, ist alles ...?“
Ihr Blick fiel auf Delia, die mit offenen Augen und völlig strubbeligen Haar-
en so auf dem Bett lag, wie Magnus sie hingelegt hatte.
„Was ist passiert?“, fragte Nina die beiden Jungen so streng, dass sie kurz
zusammenzuckten.
Betont lässig hob Magnus die Schultern. „Elektroschock.“
Nina war entsetzt. „Was!? Wie das?“
Magnus und Felix wechselten einen kurzen Blick.
„Frisierstab“, meinte der eine.
„Finger in der Steckdose“, meinte der andere.
Doch Nina kannte ihre Freunde ganz gut. „Ihr wart im geheimen Gang!“,
sagte sie anklagend. „Seid ihr denn übergeschnappt? Muss es wirklich noch
mehr Opfer geben?“
Felix war zerknirscht. Sie hatte ja recht. „’tschuldige.“
„Nein!“, widersprach Magnus. „Wir entschuldigen uns nicht! Was hast du
denn erwartet, als du mir das Horusauge gegeben hast? Dass ich es an die
Wand hänge? Wir machen das nicht, weil’s uns da unten so gut gefällt, wir
haben keine Wahl!“
„Klar gibt es eine Wahl!“, gab Nina aufgebracht zurück. „Und die heißt auf-
hören! Jetzt!“
Damit setzte sie sich an Delias Seite und strich ihr ein paar Haarsträhnen aus
dem Gesicht.
Delia spürte das und setzte sich halb auf.
„Delia?“, fragte Nina. „Alles okay?“
Statt einer Antwort grinste Delia die Freundin breit an. „Ich liebe dich! Ich
hab mich noch nie so gut gefühlt!“
„Okay, das sind doch schöne Neuigkeiten, oder?“, wagte Felix Nina
anzusprechen.
Aber die blieb kühl. „Ihr könnt jetzt gehen“, sagte sie kurz angebunden. „Ich
bleibe heute Nacht bei ihr.“
Magnus und Felix machten sich schnellstmöglich auf und davon.
Die Isomatte neben Delias Bett war ganz schön unbequem.
Nina drehte sich zum hundertsten Mal, seit sie das Licht gelöscht hatte, um
eine gemütliche Schlafposition zu finden. Und so wütend sie auf Felix auch
war, weil er nicht besser auf Delia aufgepasst hatte, ihre Achtung wuchs: Das
hatte er wochenlang mitgemacht! Er musste Delia wirklich sehr mögen.
„Nina!“
Mit einem Ruck fuhr Nina hoch. War das Delia? Sie sah aufs Bett. Nein, die
Freundin lag mit geschlossenen Augen und seliger Miene da und atmete tief
und regelmäßig. Dann fiel ihr Blick auf einen seltsamen Lichtschimmer, der
sich mitten auf dem Dachboden gebildet hatte.
Es war Sarah.
„Du darfst nicht aufgeben, Nina. Nicht jetzt! Du musst nach der Träne
suchen.“
Am liebsten hätte Nina vor Wut aufgeschrien. Erst Felix, dann Mara, dann
Daniel und nun auch noch Delia! War Sarah erst glücklich, wenn sie alle
miteinander im Krankenhaus lagen?
Ohne sie. Sarah musste das endlich einsehen.
„Nein, ich will nicht mehr!“, stieß sie zornig hervor.
138/246
„Die Kraft des Bösen, sie wächst. Du bist die Einzige, die sie aufhalten
kann.“
Das war Nina herzlich egal. Sollte doch jemand anders die Welt retten. „Es
ist zu viel passiert. Das darf so nicht weitergehen!“
Entschlossen drehte sie sich um und schloss die Augen.
Aber Sarah ließ nicht locker. „Du musst über die Blutlinie von Amneris
wachen, das ist dein Schicksal.“
Widerwillig setzte Nina sich auf und wollte Sarah gerade ein weiteres Nein!
entgegenschleudern, als die eine dünne Kette von ihrem Hals nahm und sie
um Nina legte. Ein kleiner, kunstvoll gearbeiteter Schlüssel hing daran. Nina
strich bewundernd darüber.
„Nimm den Schlüssel. Er wird dich bei der Suche nach der Träne beschützen.
Er kann auch dem Sonnenlicht widerstehen.“
„So wie ... das Horusauge?“
„Das brauchst du nicht mehr. Pass gut auf den Schlüssel auf. Und bitte ... gib
nicht auf, Nina. Der Schlüssel zur Vergangenheit ist das Tor zur Zukunft!“
Sarah warf Nina einen ernsten Blick zu. Dann wich sie zurück.
„Das Tor zur Zukunft?“, wiederholte Nina. „Was heißt das? Sarah?“
Aber Sarah verschwamm. Für eine Sekunde hatte Nina das Gefühl, dass der
Geist ihr noch etwas sagen wollte, dann war er plötzlich verschwunden.
„Sarah?“
Im nächsten Augenblick schreckte sie auf. Auf dem Dachboden war es
dunkel. Erleichtert seufzte Nina auf. Es war nur ein Traum gewesen, sonst
nichts.
Als sie nach der Wasserflasche griff, die immer neben ihrem Bett stand,
spürte sie, dass an ihrem Hals etwas baumelte. Ihr Horusauge hatte sie doch
Magnus gegeben!
Verwirrt griff sie danach. Es war ein kleiner, kunstvoll gearbeiteter Schlüssel.
Genau wie der, den Sarah ihr gegeben hatte.
Wütend warf Mara die Tür zur Mädchentoilette hinter sich zu. Wie konnte
Magnus es nur wagen, so mit ihr umzugehen!
139/246
Gerade hatte er sie gebeten, sich wieder mit ihr versöhnen zu dürfen. Er schi-
en sie wirklich zu vermissen – im gleichen Maße, wie Mara ihn auch vermis-
ste. Sie hatte ihn in den letzten Tagen gemieden, denn der Gedanke, dass er
da etwas trieb, an dem sie keinen Anteil hatte, machte sie zornig. Wer gab
ihm das Recht, sie in dieser Sache, in der es hauptsächlich um sie ging, aus-
zuschließen? Am liebsten hätte sie ihm den ganzen Tag den Marsch geblasen,
aber das ging ja schlecht. Und überzeugt hätte es ihn wohl auch nicht.
Also ignorierte sie ihn, und nun hatte er sie – das waren noch keine zehn
Minuten her! – deshalb kindisch genannt! Sie stellte sich vor eines der
Waschbecken und starrte sich selbst im Spiegel an. „Mir reicht’s!“, sagte sie
laut. „Niemand geht so mit mir um!“
Sie stürmte in eine der Kabinen und knallte auch hier die Tür hinter sich zu.
„Was glaubt der, wer er ist?“, murmelte sie aufgebracht.
Im nächsten Moment riss sie vor Grauen die Augen auf. Jemand hatte ihren
Fußknöchel gepackt! Eine Männerhand, ganz klar, hatte sich unter der Wand
zur nächsten Kabine hergeschoben und hielt nun ihr Gelenk oberhalb des
Turnschuhs fest umklammert. Eine weitere Hand näherte sich – und die hielt
eine Spritze in den Fingern, wie man sie für Blutabnahmen verwendete.
Mara schrie auf und versuchte, sich loszureißen. Vergeblich. Die Finger mit
der Spritze näherten sich unaufhaltsam.
Maras Angst verwandelte sich mit einem Mal in Wut. Glaubte heute eigent-
lich jeder, dass er mit ihr machen konnte, was er wollte?
Mit aller Kraft trat sie mit dem freien Fuß dem Unbekannten auf die Finger.
Erschrocken schrie er auf. Die Hand mit der Spritze verschwand, und auch
der feste Griff um ihren Knöchel lockerte sich.
Plötzlich war Lärm auf dem Flur zu hören. Zwei Mädchen offenbar, sie ka-
men auf die Mädchentoilette zu! Die Hand, die ihren Fuß umklammerte, löste
sich, Mara hörte eine Kabinentür so fest zuschlagen, dass die Trennwand
wackelte, dann eilige Schritte, die in der Ferne verklangen.
War der Unbekannte verschwunden?
Sie lehnte sich mit geschlossenen Augen an die Kabinenwand und versuchte,
ihren Atem zu beruhigen. Als ihr Herz nicht mehr ganz so schnell pochte,
140/246
öffnete sie vorsichtig die Tür ihrer Kabine und spähte um die Ecke. Alles war
still. Sie schlich hinaus und sah in die Nachbarkabine.
Leer. Keine Spur von jemandem, geschweige denn einem Unbekannten.
Mara schauderte. Bloß weg von hier und ab in die Mathestunde. So langwei-
lig das Fach auch war, dort würde sie jedenfalls vor diesem unheimlichen
Fremden sicher sein.
Vierstein fluchte.
Er hatte geahnt, dass das nicht leicht werden würde! Warum bestand Zeno
Trabas nur darauf, Mara Minkmar eine Blutprobe abzunehmen? Sie wussten
doch längst, dass sie die Auserwählte war!
Aber Trabas wollte es unbedingt, um sicherzugehen.
Wenn Vierstein ehrlich zu sich selbst war, musste er zugeben, dass in letzter
Zeit einiges schiefgelaufen war. Diese Sache mit Daniel, die Tatsache, dass
Luzy keine Lust mehr hatte zu spionieren und er daher niemanden mehr
hatte, der die Prüfung unten im Kellerlabyrinth für ihn machte, dann dieser
unselige Anruf von Daniel ...
Vierstein schnaubte. Hastig verließ er die Schule und war erleichtert, dass ihn
niemand bemerkte, während er über den Schulhof hin zu seinem Bus eilte.
Wie es aussah, musste er sich etwas Neues einfallen lassen, um ein für alle
Mal zu klären, ob Mara die Auserwählte war oder nicht. Nur – was konnte
das sein?
In diesem Augenblick klingelte sein Handy. Genervt zog er es aus der Tasche
und schaute nicht einmal aufs Display, bevor er dranging. Sicher war es Tra-
bas, der nicht abwarten konnte, dass Vierstein Neuigkeiten berichtete.
„Ja?“, knurrte er unfreundlich.
Dann hellte sich seine Miene mit einem Mal auf.
„Luzy! Dass du mich noch einmal anrufst ...!“
141/246
23
DELIA UND DIE LIEBE
Nina staunte.
Delia verputzte ihr Frühstück mit großem Appetit, obwohl sie sich vorher
nicht einmal gekämmt oder geschminkt hatte! Und sogar, ohne darüber zu
jammern, dass Butter Gift für die Figur war. Ihr schien es einfach nur zu
schmecken.
„Die Brote sind super!“, erklärte sie mit vollem Mund.
Am Morgen hatte Nina noch ein schlechtes Gewissen gehabt, weil sie – nur,
um bei Delia zu bleiben – diese Woche schon zum zweiten Mal nicht in die
Schule gegangen war. Doch jetzt war Delia so merkwürdig gelaunt. Irgendet-
was stimmte hier nicht.
Besorgt warf Nina der Freundin einen Blick zu.
Die strahlte nach wie vor wie ein Honigkuchenpferd. „Nina, du bist die aller-
liebste Freundin, weil du diese Butterbrote für mich gemacht hast. Wenn alle
so nett zueinander wären, die Welt wäre ein schönerer Ort! ... Was hast du
da?“
Neugierig legte Delia das Käsebrot auf den Teller zurück und beäugte
gespannt Ninas Anhänger. Den Schlüssel. „Ist der neu?“
Gerade wollte Nina zu einer Erklärung ansetzen, als sich die Tür öffnete.
„Gott sei Dank! Ihr seid okay!“, platzte es aus Mara heraus, noch bevor sie
ganz im Zimmer war.
„Nina ist nicht nur okay! Sie ist meine allerallerallerbeste Freundin. Und du
bist natürlich auch total lieb, Mara!“, lächelte Delia.
Verwirrt starrte Mara sie an.
„Wie kommst du darauf? Warum sollten wir denn nicht okay sein?“, lenkte
Nina ab.
„Mara wurde in der Schule angegriffen!“, erklärte Magnus und ließ sich mit
grimmigem Gesichtsausdruck auf Delias Schreibtischstuhl sinken. „Wir den-
ken, es war Morten.“
Nina sprang erschrocken auf.
Sogar Delia schien aus ihrem Elfenbeinturm ganz plötzlich wieder auf der
Erde angekommen zu sein. „Angegriffen? Wer? Was? Warum? Geht es dir
gut? Soll ich was für dich tun? Tee kochen? Oder Plätzchen backen?“
Erneut schüttelte Mara den Kopf. Was war denn mit Delia los? So fürsorglich
kannte sie die Freundin gar nicht!
„Was machst du denn hier?“, fragte Nina auf einmal.
Mara und Magnus fuhren herum.
Luzy stand in der Tür.
„Ich hab’s getan! Ich hab eine Verabredung mit Morten.“
„Wann?“, wollte Magnus beunruhigt wissen.
Luzy runzelte die Stirn. „Jetzt gleich. Du wolltest eine Verabredung, und die
hast du!“
Magnus gefiel das nicht. „Aber wir haben gar keinen Sender!“
Luzy verschränkte die Arme vor der Brust. „Dir kann man es wohl nicht
recht machen!“
„Kein Streit“, rief Delia vom Bett aus dazwischen. „Das ertrage ich nicht!
Wir geben uns nun alle die Hand.“
Doch außer einem knappen Blick von Nina reagierte niemand auf diese
merkwürdige Bitte.
„Ohne Sender können wir die ganze Sache vergessen“, erklärte Magnus
entschlossen.
„Und das wäre nicht einmal die schlechteste Idee!“, warf Nina ein. „Der Plan
ist viel zu gefährlich. Ohne Vorbereitung …“
„Super-Felix ist da!“
Luzy, Nina und Magnus unterbrachen ihren Streit und sahen zur Tür. Da
stand Felix und trug einen großen Metallkoffer vor sich her. Schnaufend
stellte er ihn ab.
143/246
„Ich hab hier eine Lieferung für das Haus Anubis. Ein bleischwerer Emp-
fänger und der dazugehörige Sender. Sie müssten nur einmal hier
unterschreiben.“
Er hielt Magnus einen imaginären Zettel unter die Nase.
„Gute Arbeit, Felix!“ Magnus’ Augen leuchteten. „Damit kriegen wir das
Minihäuschen zurück!“
Alle waren erleichtert und klopften Felix auf die Schulter. Jetzt konnte Mag-
nus’ Plan wirklich gelingen!
Selbst Delia klatschte verzückt in die Hände. „Sie holen das Häuschen, sie
holen das Häuschen!“, sang sie begeistert. „Nina, bitte, mach wieder mit!“
Nina hielt einen Moment inne, dann schüttelte sie den Kopf. „Sorry. Ich
finde, das ist ein Fehler“, sagte sie schließlich. Damit wandte sie sich ab und
ging mit entschlossenen Schritten zur Tür hinaus.
Ein wenig betreten schauten die anderen hinter ihr her.
Alle außer Felix, der bereits den kleinen Sender aus einem Beutel geholt
hatte und ihn nun unter dem Stöpsel des Reagenzglases befestigte, das Mag-
nus vorbereitet hatte.
Zufrieden betrachtete er sein Werk. „Echtes Hightech für den Spion der
Zukunft!“, murmelte er.
Magnus begutachtete die Phiole mit der rötlichen Flüssigkeit. „Also, noch
mal der Plan. Luzy gibt Morten das Fläschchen. Auf dem Empfänger sehen
Felix und Delia, wohin er geht, und geben es mir durch.“
„Und was ist mit Mara?“ Delia sah lächelnd zu ihrer Freundin hinüber.
„Ich bleib hier“, erwiderte die. „Es ist, glaube ich, nicht die beste Idee, wenn
ich mitkomme ... Bitte, sei vorsichtig. Und viel Erfolg!“, fügte sie leise an
Magnus gewandt hinzu.
Der beugte sich zu ihr, um ihr einen Kuss zu geben. Danach verschwand er
mit Luzy im Schlepptau und ließ die anderen am Empfänger zurück.
Als Felix das altmodische Funkgerät einschaltete, war ein lautes und
vernehmliches Fiepen zu hören.
Felix grinste zufrieden und breitete eine Landkarte von der Stadt und der
Umgebung vor sich aus. Dann verglich er die Koordinaten, die ihm der
Sender gab, mit den Planquadraten auf der Karte und nickte.
144/246
Die Jagd konnte beginnen!
Doch das stellte sich als gar nicht so einfach heraus.
Felix hätte bereits genug damit zu tun gehabt, aus den Daten, die das
Funkgerät bei jedem Ping neu durchgab, die Koordinaten zu berechnen. Das
allerdings zu tun, während Delia neben ihm saß und ihn ganz offen anhim-
melte, war wirklich irritierend! Zugegeben, er hatte sich schon immer gewün-
scht, dass Delia ihn toll fand, aber es nun so real zu erleben, machte ihm re-
gelrecht Angst. Seit diesem Stromschlag, den die Bambusorgel ihr verpasst
hatte, war sie wirklich komisch geworden.
„Unglaublich, wie du das alles machst!“, hauchte sie und sah ihn mit großen
Augen an. „Ich fühl mich echt total sicher!“
Für einen Moment wusste Felix nicht, wie er darauf reagieren sollte. „Äh, ja,
danke“, murmelte er. „Ist gar nicht so schwierig, keine Sorge.“ Er rechnete
weiter.
Magnus musste schließlich wissen, wohin es ging. „Felix? Luzy hat Morten
das Fläschchen gegeben, er fährt gerade mit einem Transporter weg. Kannst
du sehen, in welche Richtung er fährt? Over!“
Konzentriert versuchte Felix, die neuen Daten, die gerade wieder mit einem
Ping auf der Anzeige erschienen waren, für Magnus in Koordinaten
umzurechnen.
„Ähm ... 34 Grad. Also, ich meine, er fährt jetzt in südwestliche Richtung,
over!“
„Nicht schlecht! Danke dir! Over!“, meinte Magnus.
Felix fuhr den Weg auf der Karte nach. Ja, das musste stimmen! Behutsam
schob er Delias Hand, die seine Schulter beinahe schmerzhaft drückte, bei-
seite, als auf einmal die Tür aufsprang.
Es war Nina.
Sie sah ein wenig verlegen aus. „Na ja ... ich hab’s mir überlegt. Könnt ihr ...
Hilfe gebrauchen?“
Delia stand auf, lief zu Nina hinüber und umarmte sie. Felix hätte am liebsten
das Gleiche getan – ohne Nina war der Club einfach nicht dasselbe! –, doch
145/246
in diesem Moment fiepte und knackte das Funkgerät, als hätte es keine Ener-
gie mehr. Es gab noch ein Knistern von sich, dann war es stumm.
Entgeistert schlug Felix mit der flachen Hand auf den altmodischen Funkem-
pfänger. Prompt quoll Rauch aus den Ritzen des Gehäuses.
Nina und Delia stürzten auf Felix zu und starrten das Gerät ängstlich an.
„Oh nein!“ Felix war verzweifelt.
„Felix, in welche Richtung muss ich jetzt? Ich sehe den Transporter nicht
mehr! Over!“
Fieberhaft versuchte Felix, den Empfänger zum Leben zu erwecken, und
drückte sämtliche Schalter und Hebel.
Vergeblich.
„Was ist denn nun, Felix? In welche Richtung muss ich? Over.“
Entsetzt starrten die drei Sibunas auf das Funkgerät.
Es war still, doch in dieser Lautlosigkeit erklang auf einmal ein schüchternes
Ping.
Das Gerät! Es war wieder da.
Felix unterdrückte einen Jubelschrei. „Es funktioniert! Nur der Punkt bewegt
sich nicht. Morten muss stehen geblieben sein.“
Delia strahlte und hob beide Daumen.
Erneut begann Felix hastig zu rechnen. „Magnus? Er ist ungefähr einen Kilo-
meter nach Ostnordost, dann über das Feld, was da sein müsste, und 500
Meter Nordnordwest. Danach musst du …“
„Ostnordwest … was?“, tönte es verständnislos aus dem Walkie-Talkie.
Nina nahm Felix das Gerät aus der Hand. „Magnus, wo bist du jetzt? Over.“
„Ungefähr zwei Kilometer die Straße lang, wo Luzy mit Morten verabredet
war. Bist du das, Nina?“
„Ja, bleib, wo du bist. Laut Karte ist da ein Schloss! Ich komme zu dir und
führe dich zu Vierstein. Over.“
Nina schnappte sich den Zettel, auf dem Felix die Koordinaten errechnet
hatte, und hastete zur Tür. Dort drehte sie sich um.
Felix sah Nina verblüfft an. Delia dagegen warf er einen glücklichen Blick
zu.
Nina musste lächeln. „Sibuna!“, sagte sie und schlüpfte aus der Tür.
146/246
Felix seufzte erleichtert. Das war noch einmal gut gegangen! Wie schön, dass
Nina wieder dabei war. Delia schien das auch zu finden, denn sie fiel Felix
ohne Vorwarnung um den Hals.
Und diesmal ließ Felix sich die Umarmung gerne gefallen!
Missbilligend schaute Victor sich in seinem Kellerlabor um.
Er hatte lange nicht mehr aufgeräumt, es war wirklich an der Zeit, eine
größere Putzaktion zu starten. Besonders, wo doch ständig diese Rasselbande
hier durchlief! Am Ende kam dann auch noch Rosie herunter und wollte den
Mopp schwingen! An die Kinder war er ja mehr oder weniger gewöhnt. Den-
noch hatte er den Verdacht, dass sie immer wieder in seinen Sachen
herumschnüffelten!
Er machte sich daran, sein Werkzeug in den Regalen zu verstauen und all die
Schräubchen und Drähte vom Boden aufzuheben, die dort herumlagen. Viel-
leicht fiel ihm dabei auch eine Methode ein, wie er noch einmal in Trabas’
Schloss hineinkam.
Als er sich niederkniete, um auch unter dem Schreibtisch alles aufzuheben,
fiel sein Blick auf den halb blinden Spiegel, der sich schräg hinter der
Werkbank befand.
Er erstarrte.
„Corvuz!“
Der ausgestopfte Rabe, den sein Vater vor einigen Wochen mit sich in die
verborgene Welt hinter dem Spiegel genommen hatte, lag auf dem Boden wie
ein Häufchen Elend. Das sonst so glänzende Gefieder war struppiger denn je.
Unwillkürlich griff Victor nach dem Tier. Natürlich vergeblich. Seine Finger
stießen an kaltes Glas.
„Noch ein Tag ohne das kleine Häuschen ...“, stöhnte eine tiefe Stimme.
„Noch ein Tag, und ich bin für immer ... verschwunden. Ich ... und dein
dreckiger Vogel!“
Entsetzt blickte Victor auf Corvuz hinab, der dalag, als sei er tot. Der Rabe
verschwand langsam.
147/246
Auch Victor Senior im Spiegel wurde immer blasser, imitierte allerdings
noch das Zwitschern eines Vogels. Es verhallte nach und nach, bis nichts
mehr im Spiegel zu sehen war.
„Nein!“ Verzweifelt sah Victor auf die dunkle Glasscheibe. Er wollte Corvuz
unbedingt wiederbekommen!
Er musste in das Schloss einbrechen und das Modellhaus finden. Und zwar
heute!
Victor lauschte. Es war verdächtig still im Haus. Dabei war es gerade mal
kurz nach dem Abendessen. Rosie war sicher draußen bei diesem Aussteiger,
der neuerdings im Garten lebte. Es schien, als habe die Schlangenbrut heute
beschlossen, still und ruhig zu bleiben.
Nun, dann konnte er sich ja auf seine neue Aufgabe konzentrieren.
Und er hatte auch schon eine Idee, wie er die Tür des geheimnisvollen Wass-
erschlosses knacken konnte!
148/246
24
ZENO TRABAS GEHEIMWAFFE
Morten Vierstein gab sich keine Mühe, leise zu sein. Er klopfte auch nicht an,
als er Zeno Trabas’ Zimmer betrat. Er achtete nicht einmal auf den Sohn des
alten Herrn, der neben dem Nachttisch des Krankenbettes stand, Tabletten in
eine Portionsdose füllte und ihn mit ausdruckslosem Gesicht ansah.
Vierstein wandte den Blick demonstrativ ab und setzte sich zu Trabas ans
Bett.
„Unser Ziel rückt näher“, flüsterte er.
Trabas öffnete die Augen. Vierstein zog es das Herz zusammen, als er be-
merkte, wie schwach sein Auftraggeber war. Wut über den feinen Herrn
Sohn, der neben ihnen stand, breitete sich in ihm aus.
Doch dann konzentrierte er sich wieder auf das Wesentliche und legte Trabas
das Fläschchen, das er zuvor von Luzy bekommen hatte, in die Hand.
Auf Trabas’ Gesicht erschien ein glückliches Lächeln. „Wir sind nahe dran.
So nah!“, wisperte er heiser. „Hast du das gehört, mein Sohn?“
Er hob den Kopf und blickte den jungen Mann an, der jetzt die Tabletten-
packung, die er in der Hand hielt, sinken ließ. Er lächelte ebenfalls, wenn
auch nicht so begeistert wie sein Vater.
„Nun bist du an der Reihe, mein Sohn“, sagte Zeno Trabas. „Sind deine
Sachen gepackt?“
Der junge Mann ließ den Kopf hängen. Als Vierstein zu ihm hinsah, be-
merkte er, dass seine Finger zitterten.
Trabas schien das ebenfalls aufzufallen. Er schloss kurz die Augen. „Es tut
mir leid, dass ich dich in die Höhle des Löwen schicken muss. Die Sache ist
nicht ungefährlich.“
Das kann man wohl sagen, dachte Vierstein sarkastisch, doch er sagte nichts
und überließ das dem Jungen.
„Ich weiß“, murmelte der jetzt, als sei er von dem Plan, den sein Vater ans-
prach, nicht so recht überzeugt. Trotzdem setzte er sich auf Trabas’ andere
Seite ans Bett. Er ignorierte Vierstein dabei genauso wie der ihn.
„Und du willst das dennoch für mich tun?“ Er sah seinem Sohn direkt ins
Gesicht.
Der hob den Kopf. „Ja, Vater!“, antwortete er.
Vierstein musste zugeben, dass dieses Ja wirklich von Herzen kam.
Trabas nahm die Hand des Jungen. „Danke, Vincent“, meinte er dann. In
seiner Stimme klang große Vertrautheit, was Vincent Trabas mit einem klein-
en Nicken zurückgab.
In diesem Moment ertönte ein lauter Knall und die Erde bebte.
Erschrocken griff Magnus nach Ninas Schulter, als er die dumpfe Explosion
hörte.
„Das kam vom Schloss!“, wisperte er.
Beide eilten durch den Kastanienhain zum Schloss hinüber, das sie gerade
entdeckt hatten.
Hinter ihnen kam Luzy angerannt. „Was ist denn hier los?“, fragte sie
entsetzt.
„Da!“, rief Nina und wies auf eine schemenhafte Gestalt, die durch den Park
hastete und durch das Loch, das einst eine Tür gewesen war, verschwand.
Wenn sie nicht kilometerweit vom Haus Anubis weg gewesen wäre, hätte sie
trotz der Entfernung schwören können, dass es Victor war! „Da ist jemand
reingelaufen!“
„Klar“, antwortete Magnus. „Das wird Morten Vierstein sein.“
„Der sprengt wohl kaum seine eigene Tür auf!“, widersprach Nina. „Da ist
noch jemand, der ins Schloss will. Nicht nur wir!“
Magnus schaute sie verständnislos an.
Bevor Nina mehr erklären konnte, rannte Luzy los.
„Schnell! Wir müssen uns beeilen!“, sagte sie laut.
Magnus und Nina tauschten einen kurzen Blick, dann folgten sie Luzy. So
leise wie möglich und ohne ein Wort zu wechseln huschten die drei durch die
150/246
aufgesprengte Tür ins Schloss.
Sie mussten gar nicht lange suchen.
Schon im Erdgeschoss fanden sie ein Zimmer, das nicht gerade ordentlich
war und wirkte, als würde hier ein Diener des Besitzers wohnen. Überall
standen ausrangierte Möbel oder alter Plunder herum. Es sah ein wenig aus
wie im Lagerraum des Antiquitätenladens von Daniels Onkel Per Marrant.
Ein idealer Ort, um das Häuschen zu verstecken!
Nina schaute sich stirnrunzelnd um, während Luzy und Magnus anfingen,
sich in den Sachen nach dem Haus umzusehen.
„Hier hat bereits jemand gesucht“, murmelte sie.
Magnus warf ihr einen wissenden Blick zu. „Dann ist hier auch was
Wichtiges. Bestimmt das Haus!“ Er machte sich mit noch mehr Elan daran,
jeden Gegenstand zu untersuchen.
Luzy dagegen war von Ninas Worten verunsichert. „Oder es war hier.“
Nina zog das Walkie-Talkie aus der Tasche und rief Felix an.
Als nicht sofort eine Antwort kam, stellte Luzy sich neben sie. „Felix!“
„Felix hier!“
Das klang hektisch, doch Nina beschloss, dass sie keine Zeit hatte, sich
darüber Gedanken zu machen. „Felix, wo ist Morten?“
„Der? Der hat sich nicht bewegt!“
„Dann weiß er nicht, dass hier alles durchsucht wurde!“, meinte Nina.
Beide fuhren herum, als sie plötzlich ein Geräusch hörten. Etwas fiel von
einem kleinen Tisch herunter, danach rannte jemand aus dem Zimmer.
Gerade konnte Nina noch erkennen, dass derjenige einen großen Gegenstand
unter den Arm geklemmt hatte und offenbar keine Haare hatte!
Entsetzt tauschte sie einen Blick mit Luzy und Magnus. Alle drei liefen los,
hinter dem Flüchtenden her, aber in der Tür rannte Nina, die den Freunden
voranging, in jemand anderen hinein, der gerade aufgetaucht war.
„Ihr wollt schon wieder gehen?“, schnarrte der Unbekannte. „Wir hatten
bisher gar keine Zeit, uns zu unterhalten!“
151/246
Entsetzt prallte Nina zurück. Diese Stimme! Diesen Typen kannte sie doch!
Dieses Kapuzenshirt, die Lederjacke – es gab keinen Zweifel: Der Krim-
inalkommissar aus dem Krankenhaus stand vor ihr!
„Morten!“, schrie Luzy erschrocken und bestätigte damit Ninas schlimmste
Befürchtungen.
„Sie sind der Polizist aus dem Krankenhaus!“, stieß Nina hervor. „Sie haben
uns reingelegt.“
Morten Vierstein grinste bösartig und legte seine rechte Hand aufs Herz. „Ich
wollte schon immer mal Polizist sein. Ein Kindheitstraum! Ihr versteht doch
Spaß, oder?“
Das Lächeln verschwand mit einem Schlag von seinem Gesicht. „Wenn ihr
irgendjemandem davon erzählt, dann hat Daniel nichts mehr zu lachen!“
Magnus, Luzy und Nina schwiegen schockiert. Luzy hatte recht gehabt,
dieser Mann hatte Daniel entführt. Und er kannte keine Skrupel!
Vierstein ging auf einen kleinen Tisch zu. Die Fläche war leer. Ein paar
Sekunden starrte er auf den Tisch, danach wandte er sich drohend den drei
Eindringlingen zu.
„Das Haus! Wo ist das Miniaturhaus?“, fragte er. „Ich zähl jetzt bis drei und
... ihr wollt nicht wissen, was dann passiert. Eins.“
Nina streckte entschlossen das Kinn vor. „Wir haben es nicht.“
„Zwei!“
„Ich hab’s!“, schrie Luzy plötzlich. „Hier, in meiner Tasche.“
Verwirrt drehten Nina und Magnus sich zu ihr um.
Vierstein dagegen trat eilig auf sie zu und streckte die Hand aus.
„Los!“, schrie Luzy, ließ die Tasche fallen und rannte davon.
Vierstein stürzte sich sofort darauf und nahm die Verfolgung auf, als sie
bereits zum Haupttor des Schlosses hinausgeeilt waren.
Alle drei hörten erst auf zu rennen, als sie im Haus Anubis angekommen und
die Haustür hinter sich zugeschlagen hatten.
Erleichtert sahen sich Magnus, Luzy und Nina an.
152/246
Sie hatten es geschafft! Sie waren Vierstein entwischt.Aber sobald sie zu
Atem gekommen waren und sich etwas beruhigt hatten, wurde ihnen klar,
dass die Abenteuer noch kein Ende hatten.
Aufgeregtes Stimmengewirr klang aus dem Wohnzimmer.
Nina wechselte mit den anderen beiden einen besorgten Blick. Was wohl nun
wieder passiert war ...
Sie gingen gemeinsam ins Wohnzimmer und fanden zu ihrer Überraschung
die restlichen Bewohner des Hauses Anubis dort vor. Und das inmitten einer
Riesenmenge von altem Zeug, sodass der sonst so gediegene Raum wirkte
wie ein Secondhandladen.
Delia lief zu Felix und lächelte wie ein Honigkuchenpferd, während Char-
lotte und Kaya darüber stritten, warum hier eine alte Badehose von Kaya
herumlag.
Und da war auch Victor! Er stand neben Rosie und Onkel Ursli!
Nina runzelte die Stirn. Dann war er es doch nicht gewesen, den sie vorhin
beim Schloss gesehen hatte? Sie bezähmte ihre Neugier fürs Erste, denn in
diesem Moment kam Delia auf sie zugestürzt.
„Nina, stell dir vor!“, rief sie. „Wir machen eine Versteigerung!“
„Eine Versteigerung?“ Nina verstand nur Bahnhof.
„Die Versteigerung für Delphis Dorf“, murmelte Luzy.
„Genau die!“, krähte Delia fröhlich. „Und je mehr Sachen wir haben, desto
bekannter wird unsere Hilfsaktion! Das ist genau, was die Schulrätin wollte:
eine große Aktion, die unsere Schule bekannt macht, damit Herr Altrichter
bleiben kann. So ist jedem geholfen, ist das nicht wunderschön?“
Delphi, die kleine Ziege, schien das ebenfalls wunderschön zu finden. Sie
meckerte laut. Onkel Ursli und Rosie griffen gleichzeitig nach ihr – nicht,
dass Delphi aus lauter Nervosität einige der Sachen hier anknabberte! –, doch
die Ziege war schneller. Sie schlüpfte zwischen Rosie und Ursli davon.
Lachend richteten sich die beiden auf.
Plötzlich wurde es ganz still. Delia hob die Hand vor den Mund, als Ursli
Rosies Hände in seine nahm.
„Liebe Rosie“, stammelte er. „Darf ich ... darf ich Sie was fragen?“
153/246
„Was ... was wollten Sie denn fragen?“, entgegnete Rosie. Ihre Apfelwangen
waren noch roter als sonst und strahlten mit den rosa Filzrosen in ihrem Haar
um die Wette.
Ursli musste schlucken. Er bückte sich und nahm eine große Muschel, die um
Delphis Hals gebunden war. Dann hob er sie vor sein Gesicht und öffnete sie.
Ein Ring mit einer großen Perle lag darin. „Ich ... ich wollte ... Liebe Rosie,
möchtest du meine Frau werden ...?“
„Ja!“, quiekte Rosie begeistert. „Ja, ja, ich will!“ Sie fiel Ursli um den Hals.
Alle klatschten begeistert. Ursli hatte sich getraut und Rosie einen Heiratsan-
trag gemacht! Der Jubel wollte kein Ende nehmen.
Nur Victor stand da wie vom Donner gerührt und sprach kein Wort. Selbst
als alle die Verlobten umarmten und ihnen gratulierten, blieb er stehen, als
sei er festgewachsen. Danach drehte er sich auf der Stelle um, stürmte hinaus
und in den Keller. Die Tür warf er lautstark hinter sich zu.
Der allgemeine Trubel und die Glückwünsche waren noch in vollem Gange,
als Rosies Blick auf die Tür fiel. Alle drehten sich um, der Jubel erstarb.
Beim Anblick desjenigen, der da stand, war es Nina, die zur Salzsäule
erstarrte.
Im Türrahmen stand Vincent!
„Hallo“, grüßte er etwas verlegen. Als er Nina bemerkte, lächelte er
entschuldigend. „Tut mir leid, dass ich neulich so plötzlich weg bin.“
Nina wusste nicht, was sie sagen sollte.
Delia wusste es dafür umso besser: Sie rannte auf Vincent zu und umarmte
ihn. „Wie schön, dich zu sehen! Komm, lass dich drücken!“
„Ach ja!“, fiel es Rosie plötzlich ein. „Das hatte ich in dem Trubel ganz ver-
gessen. Vincent wird vorübergehend hier wohnen.“
„Meine Eltern machen eine Weltreise“, murmelte Vincent.
„Na, dann zeigt Vincent mal das Haus“, lächelte Rosie und zog Ursli mit
einem verliebten Blick in die Küche.
154/246
25
UND RAUS BIST DU
„Rosie und Ursli, wer hätte das gedacht!“ Delia ließ sich mit einem seligen
Lächeln auf ihr Bett fallen. „Und Vincent wohnt bei uns!“
Nina setzte sich mit gerunzelter Stirn neben sie.
Auch Felix, Magnus, und Luzy waren hereingekommen. Immerhin musste
der Club die Ereignisse des Abends besprechen. Rosies und Urslis bevor-
stehende Hochzeit und Vincents Einzug ins Haus Anubis waren bei Weitem
nicht das Wichtigste der Geschehnisse. Langsam kehrten die Gedanken
wieder zum Schloss zurück – und zu der Tatsache, dass der Kommissar, der
Daniels Entführung bearbeitet hatte, gar kein Kommissar war.
„Könnt ihr das fassen?“, fragte Nina. „Morten ist der Polizist!“
Magnus nickte düster. „Die echte Polizei hat von Daniels Entführung wahr-
scheinlich nie etwas erfahren.“
„Dann husch, husch, ab zur echten Polizei!“, sagte Felix und zog Delia mit
hoch.
Nina hielt sie auf. „Wartet! Er hat gesagt, er tut Daniel was an, wenn wir je-
mandem davon erzählen.“
„Und das glaubt ihr?“ Delia konnte nicht fassen, dass ein Mensch so nieder-
trächtig sein konnte.
Doch Luzy, Nina und Magnus waren sich einig. „Ja!“, riefen sie gleichzeitig.
Delia und Felix sahen sich ratlos an.
„Fest steht, irgendeiner hat das Minihaus. Es ist nicht Morten, sonst hätte er
nicht geglaubt, dass wir es haben“, fasste Magnus die Ergebnisse ihrer
Bemühungen heute Abend noch einmal zusammen. „Und wo wir schon mal
bei schlechten Neuigkeiten sind ...“
Er brachte seinen Satz nicht zu Ende und blickte Luzy eindringlich an.
„Sieht ganz so aus, als bräuchten wir dich nicht mehr“, erklärte Magnus kalt.
„Und jetzt hau ab, du gehörst nicht mehr zum Club.“
„Magnus, du bist ungerecht“, entgegnete Nina sofort. Sie bemerkte, dass
Luzy sich bei Magnus’ harten Worten auf die Lippe biss. „Luzy hat uns
gerade gerettet.“
Magnus zuckte nur mit den Achseln. „Das Minihaus ist weg, und keiner
weiß, wer es hat … Danke für deine Hilfe!“, fügte er sarkastisch an Luzy ge-
wandt hinzu.
Nina und Delia wollten wieder protestieren, doch Magnus duldete keinen
Widerspruch. Und auch Luzy schien das Gerangel unwürdig zu finden.
„Ich geh ja schon! Ich bin ein für alle Mal raus aus dem Club. Ich hab
verstanden.“
Damit sprang sie auf und lief hinaus.
„Prima“, sagte Magnus und stand auf. „Wollt ihr weiter vor euch hintrauern
oder gehen wir und erzählen Mara, was passiert ist?“
„Aber ist die Person, die das Minihaus hat, die gleiche, die hinter mir her
ist?“, wollte Mara wissen. Sie hatte mit offenem Mund den Abenteuern
gelauscht, die die anderen erlebt hatten.
„Wir finden schnell die Träne, dann hat der Spuk ein Ende“, versuchte Mag-
nus sie zu beruhigen.
„Ohne dass wir das Rätsel gelöst haben?“, entgegnete Nina. „Hast du ver-
gessen, was beim letzten Mal passiert ist?“
In diesem Moment sprang die Tür auf. Delia kam mit einem Riesenberg ihrer
Kleider im Arm hereingestürmt. „Ich helfe bei der Benefizversteigerung mit!
Ich spende das alles für einen guten Zweck!“ Sie strahlte so sehr, dass sie zu
leuchten schien.
Nina seufzte und zeigte auf Delia. „Das ist passiert, erinnerst du dich?“
Magnus war überzeugt. „Okay. Dann gib mir mal das Rätsel.“
Gemeinsam mit Felix beugten sie sich über die Karte. Delia hatte ihre
Kleider einfach auf den Boden fallen lassen und sah ihnen zusammen mit
Mara über die Schulter.
156/246
„Mach groß, was vorher ganz klein. Für die Noten des Lieds färb das Weiße
rot ein“, las Magnus vor. Unter dem Vers waren noch ein paar Hieroglyphen
zu sehen, so, als hätte jemand den Zettel verzieren wollen.
Nina fragte sich, ob die ägyptischen Schriftzeichen an dieser Stelle etwas zu
bedeuten hatten, aber sie konnte sich keinen Reim darauf machen.
Alle starrten sich ratlos an.
Doch nach ein paar Sekunden fiel bei Nina der Groschen. „Die Lupe! Gib
mir mal die Lupe.“
Sie schnappte sich das Vergrößerungsglas, das Felix ihr reichte, und hielt das
Glas, das rot gefärbt war, vor Delias Auge. Durch die Linse wirkte es auf ein-
mal um ein Mehrfaches vergrößert.
„Mach groß, was vorher ganz klein“, zitierte Nina.
Dann hielt sie die Lupe vor Felix’ Mund. Durch das gefärbte Glas sah es auf
einmal so aus, als seien seine Zähne rot geworden.
„Für die Noten des Lieds färb das Weiße rot ein“, sprach sie weiter.
Delia musste kichern.
Magnus grinste und nahm sich die Karte, um sie zusammenzufalten. „Heute
Abend holen wir uns das Fläschchen“, sagte er.
„Und wie kommt ihr an Victor vorbei?“, fragte Mara.
Alle sahen sich verwirrt an. Daran hatte keiner gedacht.
Mara lächelte. „Ich weiß es. Victor wird uns helfen!“
Die Haustür schlug hinter Victor zu, und Rosie ging mit zufriedener Miene in
die Küche zurück, wo Mara und Ursli auf sie warteten.
Magnus, Nina und Felix grinsten sich an. Maras Plan war voll aufgegangen!
Jetzt saß sie mit gut gespielter Leidensmiene in der Küche, ließ sich von
Rosie verwöhnen, deren Liebling sie war, und wartete darauf, dass Victor
von der Einkaufstour mit dem ganz besonderen Kräutertee wiederkam, den
die Haushälterin – davon hatte Felix sich vorher heimlich überzeugt – ganz
bestimmt nicht mehr im Vorratsschrank hatte.
Das konnte eine Weile dauern. Und der Club hatte freie Bahn im
Kellerlabyrinth!
157/246
Vorsichtig, damit Rosie sie nicht erwischte, schlüpften die drei Clubmit-
glieder durch die Kellertür ins Labor hinunter. Im Labyrinth selbst fühlten sie
sich einigermaßen sicher.
Alles war wie immer: Kacheln, Pendel, der Handstein.
Als sie bei der Bambusorgel ankamen, sah Nina sich um. „Komisch, dass
hier kein Gitter ist“, murmelte sie beim Anblick des grünlich beleuchteten
Rauchbrunnens, in dem sich das Fläschchen befand.
„Wart’s ab“, erwiderte Magnus, schwenkte seine Taschenlampe und trat be-
hutsam einen Schritt vor. Kaum hatte er das getan, schossen aus der Decke
Lichtstrahlen hervor, die sich wie ein Gitter aus Sonnenstrahlen vor dem
Brunnen mit dem Fläschchen legten.
Nina erschrak und wich einen Schritt zurück.
Dann nahm sie sich zusammen und zog die Lupe aus der Tasche, um die
Lichtstrahlen durch die rote Linse hindurch zu betrachten. Kein Ergebnis.
Sie ging zur Bambusorgel hinüber. „Mach groß, was vorher ganz klein“,
wisperte sie. „Für die Noten des Lieds färb das Weiße rot ein.“
Nina hielt die rote Lupe über die Tasten der Bambusorgel.
„Schaut mal!“, sagte sie aufgeregt.
Magnus und Felix beugten sich über ihre Schulter. Unter dem Glas der Lupe
waren auf den Tasten Hieroglyphen zu sehen!
„Und was heißt das?“, wollte Felix wissen.
Magnus stutzte. Das waren doch die gleichen Hieroglyphen, die er auf der
Karte gesehen hatte, unter dem Rätsel! Er zog die Karte aus der Tasche und
faltete sie auf.
„Hier stehen sie! Nur in einer anderen Reihenfolge“, sagte er aufgeregt.
„Es sind Noten!“, rief Nina aus.
„Schulnoten?“ Felix verstand nur Bahnhof. „Banknoten?“
„Die Noten einer Melodie“, erklärte Nina und wies auf die erste der Hiero-
glyphen unter dem Rätsel, über die sie sich vorher am Abend so gewundert
hatte. „Wo steht diese hier?“
Magnus suchte an den Tastenstäben der Orgel nach dem Skarabäuszeichen.
„Hier ist sie!“
„Dann müssen wir diese zuerst drücken!“, fand Nina.
158/246
Magnus tat es.
Ein wunderschöner Ton hallte durch die ganze Höhle. Einer der Lichtstäbe,
die das Fläschchen vor neugierigen Fingern schützte, verschwand.
„Es funktioniert!“ Nina grub sich die Nägel in die Handfläche vor Anspan-
nung. Sie wünschte sich plötzlich, Daniel wäre hier.
Magnus verglich die Zeichen auf der Karte mit denen auf der Tastatur und
drückte eine weitere Taste. Erneut ertönte einer dieser wundervollen Klänge,
die ein herrliches Echo warfen, und noch einer der Lichtstrahlen verschwand.
Obwohl Felix ein wenig ängstlich war und Nina und Magnus immer wieder
zu warnen versuchte, hatten sie es schließlich geschafft: Die Melodie war
gespielt worden, und alle Lichtstrahlen waren in der Decke verschwunden.
Der Weg zu der kleinen Phiole war frei!
„Da!“, rief Nina Magnus zu. „Wir haben es geschafft, schnell! Nimm dir das
Fläschchen!“
Plötzlich musste sie husten.
Was war denn jetzt los? Überall, aus den Ritzen, den Gängen schien dichter,
weißer Rauch zu quellen und hüllte sie binnen Kurzem von allen Seiten ein.
Schon nach ein paar Sekunden konnte Nina kaum mehr die Hand vor den
Augen erkennen. Dennoch glaubte sie, einen Schatten vor sich durch die
Nebelschwaden huschen zu sehen. „Wer ist das?“
„Ich nicht!“, erwiderte Felix. „Und Magnus auch nicht, den halte ich grade
fest!“
„Das bin ich nicht!“, entgegnete Magnus prompt.
Nina hörte ein Poltern rechts von sich, als sei jemand in die Bambusorgel
gelaufen, dann erklangen Schritte, die sich von ihr entfernten.
„Felix?“, flüsterte sie ängstlich. „Magnus?“
Sie wedelte mit der Hand vor dem Gesicht herum, um den Rauch zu ver-
treiben, und hustete erneut.
„Keine Panik, wir stehen direkt bei dir!“, hörte Nina Magnus’ Stimme neben
sich. Sie blinzelte. Der Rauch schien sich langsam zu verziehen, denn Mag-
nus’ Konturen schälten sich aus dem Qualm heraus.
„Alles okay?“, fragte er in die Runde.
159/246
Doch Nina wies nur erschrocken zu dem kleinen Brunnen, in dem das
Fläschchen gestanden hatte.
Es war fort.
Hämisch grinsend hob Victor Senior das Minihaus aus der alten Weinkiste, in
der er es versteckt hatte.
Endlich ging einmal alles nach Plan! Die Haus-Anubis-Miniversion war
wieder hier. So hatte er in dieser Welt nach langer Zeit wieder Gestalt anneh-
men können – auch wenn der Umstand, dass es ausgerechnet sein unfähiger
Sohn gewesen war, der das Haus herangeschafft hatte, ein Wermutstropfen
im Kelch war.
Aber immerhin hatte er den Rest selbst erledigen können: Dank einer Rauch-
bombe war es ihm gelungen, diese lästigen Kinder bei der Prüfung der Isis
auszutricksen und ihnen das Fläschchen mit der Flüssigkeit vor der Nase
wegzuschnappen!
Mit einem bösartigen und triumphierenden Lächeln stellte er das Minihaus
auf die Werkbank seines Sohns. Sollte der hinter dem Spiegelglas ruhig zuse-
hen, wie man es richtig machte!
„Vater?“, erklang es etwas schüchtern von der Seite.
Doch Victor Senior antwortete nicht. Er wollte den Moment auskosten. Das
Fläschchen war rasch entkorkt und die Flüssigkeit darin in den Schornstein
des Modellhauses gegossen.
„Es passiert nichts!“, war Victors Stimme aus dem Spiegel zu hören.
Victor Senior runzelte die Stirn. „Du redest zu viel“, sagte er. In diesem Au-
genblick begann sich Rauch aus dem Schornstein des Minihauses zu
kräuseln. Es klackte, das Dach sprang auf. Als Victor Senior es aufklappte,
kam eine winzige Statue zum Vorschein. Eine Büste, die aussah, als sei sie
aus glänzendem Gold. Victor Senior hielt sie zunächst ins Licht, dann seinem
Sohn vor die Nase.
Victor nickte langsam. „Ich sage dir gern, wo die ist. Sobald ich hier raus bin
und Corvuz in meinen Händen halte!“
Nun wurde es Victor Senior zu bunt. Glaubte sein Sohn vielleicht, er könne
ihn erpressen? Er holte ein großes Laken und warf es über den Spiegel.
160/246
„Ich brauche deine Hilfe nicht“, knurrte er böse. „Ich finde sie schon selbst!“
Als er sich auf den Weg in die oberen Stockwerke machte, um die Büste zu
holen, achtete er nicht mehr auf die Proteste seines Sohnes.
Der hatte seine Schuldigkeit getan. Jetzt konnte er in der Welt hinter den
Spiegeln verschimmeln ...
161/246
26
VERSTECKSPIEL
So, das war die letzte Kiste!
Ächzend zog Delia die Tür zu ihrem und Ninas Zimmer zu. Endlich war sie
dieses schreckliche Dachzimmer los! Wenigstens etwas, wofür dieser Vin-
cent nützlich war. Weil sonst kein Zimmer mehr frei war, hatte Vincent von
Victor und Rosie die Dachstube zugewiesen bekommen. Delia schlief nun
erneut mit Nina in einem Raum. Luzy, die sich mit Charlotte wieder vertra-
gen hatte, würde in der nächsten Zeit auf einer Matratze in Maras und Lottes
Zimmer übernachten.
Delia rieb sich stöhnend die Schläfe. Auch das noch, jetzt hatte sie Kopfweh
von der ganzen Schlepperei bekommen! Sie zuckte zusammen, als ihre
Finger die linke Augenbraue berührten. Dort war sie gestern über ihren
Klamottenberg auf den Boden gestürzt. Glücklicherweise!, dachte sie, denn
die anderen hatten ihr erzählt, dass sie die Sachen eigentlich gar nicht wegen
des Umzugs aus dem Schrank geholt hatte, sondern weil sie sie für die
Wohltätigkeitsveranstaltung in der Schule zugunsten von Delphis zerstörtem
Dorf hatte spenden wollen!
Als sie daran dachte, schauderte sie. Sie konnte sich an die vergangenen Tage
gar nicht erinnern. Doch was die anderen ihr bisher erzählt hatten, war auch
so grässlich, dass sie gar keinen Wert auf die Erinnerung legte. Nicht nur,
dass sie ihre ganzen wunderschönen, geliebten Kleider einfach so hatte
weggeben wollen (was war da wohl in sie gefahren!?), auch Felix sah sie
seitdem vorwurfsvoll an, als würde er jeden Moment erwarten, dass sie ihn
bewunderte – oder gar küsste!
Delia schüttelte sich bei dem Gedanken daran.
Aber nun war wieder alles beim Alten. Na ja, fast, immerhin hatten sie einen
neuen Mitbewohner. Und dem traute Delia nicht. Im Moment hatte sie
allerdings keine Zeit, darüber nachzudenken – die anderen waren bereits auf
dem Weg zur Schule, und wenn Delia sich keine Standpauke von Frau Engel
anhören wollte, weil sie zu spät zur Deutschstunde kam, musste sie sich beei-
len. Sie schnappte sich ihre Schultasche und hastete die Treppe hinunter.
Delia wollte gerade die Eingangstür hinter sich zuziehen, als ihr jemand auf-
fiel, der an der Klinke der Kellertür herumfummelte. Sie spähte vorsichtig
über die Schulter zurück.
Das war doch Vincent.
In diesem Moment klingelte sein Handy.
Delia duckte sich, als Vincent dranging. „Hallo? Hat es geklappt? Mit
Daniel?“
Sie glaubte ihren Ohren nicht trauen zu können. „Daniel!“
Was hatte Vincent denn mit Daniel zu tun? Sie überlegte kurz, was sie jetzt
tun sollte, als Vincent sich zu ihr wandte – und ihr direkt in die Augen sah!
Hastig schlug Delia die Eingangstür zu und raste in die Schule.
Sie konnte kaum abwarten, den anderen davon zu erzählen.
In der Schule rannte sie sofort zur Sitzecke. Zum Glück hatte es noch nicht
zur Deutschstunde geklingelt! Nina, Magnus und Felix saßen dort und unter-
hielten sich.
„Vincent!“ Delia stellte sich vor den dreien auf.
„Äh, nein“, sagte Felix prompt. „Ich bin Felix – du darfst aber auch Super-
Felix sagen! – und das sind Nina und Magnus.“
Delia war so schnell geradelt und dann durch die Schulgänge gelaufen, dass
sie ganz außer Atem war. „Vincent ... am Telefon. Er hat von ...“
„Hallo!“
Delia fuhr herum. Vincent! In diesem Moment ertönte der Schulgong.
„Gerade rechtzeitig“, lächelte Nina bei Vincents Anblick.
„Delia, was war denn gerade los im Hausflur?“, wollte Vincent wissen.
Delia warf ihm einen giftigen Blick zu. „Das weißt du doch genau. Du hast
am Telefon über Daniel gesprochen!“
In diesem Moment kam Herr Altrichter und nahm Vincent mit sich. Er
brauchte noch seine Adresse und ein paar andere Informationen, um ihn in
der Schule anzumelden.
163/246
„Man kann ihm nicht vertrauen!“, zischte Delia.
Nina schob trotzig das Kinn vor. „Ich will hören, was er dazu zu sagen hat!“
„Mir ist das egal“, warf Magnus ein und zog Nina mit hoch. „Wir machen
heute Abend mit der nächsten Prüfung weiter!“
Nina war sofort abgelenkt und folgte Magnus in Richtung Klassenzimmer.
„Ohne Aufgabe, was soll das bringen?“ Diskutierend gingen die beiden
davon.
„Felix, du glaubst mir doch, oder?“, wandte sich Delia an den Freund.
Felix zuckte verlegen mit den Achseln und folgte Magnus und Nina.
Frustriert blieb Delia zurück. Dann nickte sie grimmig. Sie würde schon
herauskriegen, was Vincent verbarg.
Auch wenn sie jetzt erst das Ende des Unterrichts abwarten musste!
Der Kies auf der Auffahrt flog nach allen Seiten weg, als Delia mit aller Kraft
bremste.
Sie stellte das Rad hinter eine der exakt geschnittenen Koniferen und lugte
dahinter hervor. Mit gerunzelter Stirn beobachtete sie Vincent dabei, wie er
das prachtvolle Schloss betrat.
„Und?“, maulte es eine Sekunde später halblaut an ihrem Ohr. „Dann lebt
dieser Vincent eben in einem Schloss. Noch lange kein Grund, ihm
hinterherzuspionieren.“
Delia wandte sich um und legte den Zeigefinger auf den Mund. „Das ist das
Schloss!“, wisperte sie zurück. „Das Schloss, in dem Nina, Luzy und Magnus
gestern waren! Nun wissen wir’s!“, fügte sie zornig hinzu. „Man kann ihm
nicht vertrauen!“
„Dann können wir ja jetzt los“, fand Felix.
„Nein. Vielleicht ist Daniel da drin!“, widersprach Delia. „Wir gehen jetzt
rein.“
Ohne eine Antwort abzuwarten, huschte Delia zur Eingangstür. Sie war
verschlossen.
Felix wollte schon wieder gehen, aber Delia hielt ihn am Ärmel seiner Jacke
fest.
164/246
„Da oben!“, flüsterte sie und wies auf ein Fenster, das etwa zwei Meter hoch
über dem Boden offen stand. Darunter lag eine lange Holzleiter, die wohl ein
Gärtner vergessen hatte.
„Du musst nur die Leiter raufklettern!“, erklärte Delia fest entschlossen.
Felix ächzte, als er versuchte, das schwere Ding anzuheben. „Ich bin Super-
Felix, nicht Superman! Hilf mal mit!“
Maulend bequemte sich Delia, mit anzufassen, doch dann war es kein Prob-
lem, durch das Fenster ins Schloss zu gelangen. Düstere Gänge erstreckten
sich vor ihnen. Dieser Flügel wirkte nicht gerade bewohnt!
„Da lang!“, zischte Delia.
Vorsichtig huschten sie einen Flur entlang und eine Treppe hinunter ins
Erdgeschoss. Ja, in diesen Korridoren sah es schon eher danach aus, als wäre
hier jemand zu Hause!
Auf einmal erklangen Schritte vor ihnen.
Hastig kroch Delia in einen schmalen Schrank, der im Flur stand. Felix
schaute sich panisch um, aber es war kein Platz mehr für ihn! Er stellte sich
in seiner Verzweiflung neben eine alte Ritterrüstung und nahm die gleiche
Haltung ein wie sie.
Delia kniff die Augen zusammen und blickte den Gang entlang. Der Un-
bekannte kam immer näher. Bald konnte Delia erkennen, wer es war: Morten
Vierstein!
Und er würde Felix entdecken, ganz sicher!
Doch die Schritte verklangen – Vierstein war vorher in ein Zimmer abgebo-
gen. So behutsam wie möglich kletterte Delia aus dem Schrank und zog Felix
weiter mit sich.
Gemeinsam schlichen sie sich an das Zimmer heran, aus dem Vierstein
gekommen war. Sie schoben die angelehnte Tür ein wenig auf und sahen, wie
sich jemand über einen Kranken in einem Bett beugte.
Vincent!
Als er sich aufrichtete, gab er gleichzeitig den Blick auf den Kranken frei.
Delia hätte beinahe aufgeschrien, als sie erkannte, wer da lag.
Es war Daniel.
165/246
Daniel!
Sie hatte recht gehabt und ihn gefunden! Was sollte sie nur tun? Die Polizei
rufen? Nina? Oder Rosie? Tausend Gedanken gingen Delia gleichzeitig durch
den Kopf, doch bevor sie auch nur einen der Pläne in die Tat umsetzen kon-
nte, schloss sich die Tür vor ihrer Nase mit einem Knall.
Sie und Felix fuhren herum.
Morten Vierstein stand hinter ihr, der falsche Polizist!
„Oh, hab ich euch erschreckt?“, fragte er mit unechtem Bedauern in der
Stimme.
Felix nickte. Delia schüttelte den Kopf.
„Wir wollten ...“ Fieberhaft suchte Delia nach einer Ausrede. „Wir wollten
zur Polizei – zu Ihnen, denn ... wir haben was rausgefunden. Über Daniel.“
Sie sah Felix Hilfe suchend an. Dem fiel aber nichts weiter ein.
„Er liegt nämlich da im Zimmer“, erklärte er und wies mit dem Daumen auf
die jetzt geschlossene Tür.
Vierstein verzog den Mund zu einem hässlichen Lächeln. „Vielen Dank“,
sagte er höhnisch. „Das sind ja unglaubliche Neuigkeiten.“
„Bitteschön!“, strahlte Delia. „Na dann ... Wiedersehen!“
Hastig wollte sie mit Felix an Vierstein vorbei ins Freie laufen, doch der
stellte sich ihnen in den Weg. Er packte sie beide an den Armen und zerrte
sie in einen Raum genau gegenüber von Daniels Krankenzimmer. Gerade als
Delia sich umdrehen wollte, um zu protestieren, schlug die Tür vor ihr zu.
Ein Schlüssel drehte sich im Schloss.
Sie waren eingesperrt.
„Vincent!“
Lautes Husten erklang hinter ihm. Vincent schreckte hoch. Gerade hatte er
dem schlafenden Daniel versichern wollen, dass Delia und Felix nichts ges-
chehen würde. Doch seinem Vater gegenüber wollte er nicht zugeben, wie
leid Daniel ihm tat. Genau wie Nina. Und jetzt auch noch Delia und Felix!
Die Bewohner des Hauses Anubis waren zu ihm so nett gewesen – sie
mussten sich von ihm völlig verraten vorkommen. Das Mindeste, was er tun
konnte, war, dafür zu sorgen, dass keinem von ihnen etwas zustieß.
166/246
Er stand auf und wandte sich dem Hereingekommenen zu. „Was ist los,
Papa?“
„Das frage ich dich!“
„Ich weiß nicht, ich habe Delia und Felix im Gang gehört“, sagte Vincent un-
sicher. „Papa, ich habe gar nicht gemerkt, dass sie mir gefolgt sind!“
„Ich glaube dir“, keuchte Trabas, der sich schwer auf einen Stock stützte.
„Aber du hast alles in Gefahr gebracht! ... Wir müssen uns beeilen.“
Er rang keuchend nach Luft.
Mitleid breitete sich in Vincent aus. Er half seinem Vater, näher an Daniels
Bett heranzukommen. „Was ... hast du mit ihnen vor?“
Trabas winkte ab. „Mit dem Jungen und dem Mädchen? Sie dürfen gehen,
wenn alles vorbei ist.“
Er beugte sich hinab und zog langsam am Schlauch, der aus Daniels Arm in
den Rundkolben führte. „Endlich! Das Gift – es ist vollständig aus Daniels
Körper entfernt. Zeit für den nächsten Schritt.“ Er nahm den Rundkolben auf
und reichte ihn Vincent. „Wir müssen unauffällig vorgehen. Du gibst Mara
das Gift, ohne dass sie es bemerkt. Sobald es seine volle Wirkung entfaltet,
bringst du sie her.“
Zeno Trabas sah seinen Sohn eindringlich an. „Du weißt, warum wir das
tun!“
Vincent senkte den Blick. „Das ewige Leben“, murmelte er.
Trabas nickte. „Wir oder sie. Mara muss sterben.“
167/246
27
GERETTET!
Delia ärgerte sich. Das konnte doch nicht wahr sein! Wieso hatte sie sich aus-
gerechnet hier, in der Höhle des Löwen, so übers Ohr hauen lassen?
„Ich weiß, nur kleine Kinder sagen: Ich hab’s ja gleich gesagt“, knurrte sie
Felix an, der sich mit wehleidiger Miene den Fuß hielt. Er hatte wie ein Kick-
boxer die Tür eintreten wollen. „Aber“, so fuhr sie mitleidlos fort, „ich hab’s
ja gleich gesagt! Gesagt, gesagt, gesagt! Und jetzt sei nicht so ein
Jammerlappen!“
„Kein Jammerlappen!“, äffte Felix sie ärgerlich nach. „Darf ich dich mal an
dein Gejammer erinnern, als dein Vater dir die Kreditkarte gesperrt hat?“
Delia schnitt ihm eine Grimasse. Dann allerdings stutzte sie. Kreditkarte?
Eine Kreditkarte!
Sie quiekte auf vor Freude, zerrte ihr Portemonnaie aus der Tasche und da-
raus die Kreditkarte, die ihr Vater ihr überlassen hatte. Sie hielt das
Plastikkärtchen unter Felix’ Nase.
„Los, Super-Felix! Mach die Tür damit auf!“, sagte sie und schob Felix an
die Tür. „Ich wette, für Horatio Caine aus CSI ist das eine leichte Übung!“
Grummelnd machte Felix sich an die Arbeit. Und wirklich – kaum eine
Minute später klickte es leise.
Die Tür ging tatsächlich auf!
„Ich hab’s geschafft!“, rief Felix mit gedämpfter Stimme. „Ich hab’s
geschafft!“
Delia knuffte ihn in die Rippen. „Pssst! Ich kann nicht glauben, dass du
meine Kreditkarte kaputt gemacht hast!“
Felix richtete sich auf und streckte die Brust heraus. „Aber dafür hab ich dich
gerettet!“
Ohne ein weiteres Wort zog Delia ihn in das gegenüberliegende Zimmer und
schloss leise die Tür hinter sich. Daniel war immer noch hier, doch die ander-
en waren fort. Er lag reglos in seinem Bett und hatte die Augen geschlossen.
Delia überlegte. Was sollten sie tun? Die Polizei – diesmal die echte! – an-
rufen? Nina? Würde Felix Daniel zur Not tragen können?
Auch Felix schien sich zu fragen, was sie tun konnten. Er beugte sich über
Daniels entspanntes Gesicht. „Lebt er noch?“, fragte er leise.
Plötzlich riss Daniel die Augen auf. „Felix!?“
Felix zuckte zusammen und sprang einen Schritt zurück.
„Daniel!“ Delia warf ihm die Arme um den Hals. „Du bist es wirklich!“
Daniel war über das Wiedersehen mindestens genauso glücklich wie Delia
und Felix.
„Ich hab mich noch nie so gefreut, jemanden zu sehen!“, lachte er und nahm
die beiden in die Arme. „Und wie geht es Nina, ist sie …?“
In diesem Augenblick erklangen Schritte draußen vor der Tür.
Alle drei erstarrten, aber die Schritte entfernten sich schließlich wieder.
Erleichtert atmeten Daniel, Delia und Felix auf.
„Nichts wie weg hier“, erklärte Delia.
Daniel nickte. Doch kaum war er aufgestanden, wurde Delia und Felix klar,
dass es nicht leicht sein würde, zu fliehen. Daniel war sehr schwach. Als er
neben dem Bett stand, gaben seine Knie nach. Schnell griffen Felix und Delia
zu. Jeder schnappte sich einen von Daniels Armen und zog ihn über die
Schulter, danach schleppten sie ihn auf den Gang hinaus.
Sie waren bereits in der Nähe der Eingangstür, als in der Ferne ein Pfeifen zu
hören war, dann das Klingeln eines Handys.
„Hallo?“
Es war Vincent! Felix und Delia starrten sich erschrocken an. Schnell zerrte
Delia Daniel in Richtung des Schranks, in dem sie sich zuvor einmal ver-
steckt hatte. Felix folgte ihr notgedrungen. Sie hatten gerade noch Zeit, die
Tür heranzuziehen, als Vincent auch schon nähergekommen war.
Er lauschte eine Weile ins Telefon, dann antwortete er. „Ja, ich weiß“, sagte
er leise. Er drückte das Gespräch weg und blickte sein Handy traurig an.
169/246
„Es tut mir leid, was ich mit Mara machen muss“, murmelte er. „Aber es gibt
keine andere Möglichkeit.“
Delia konnte kaum glauben, was sie da hören musste. Hatte er etwa ein
schlechtes Gewissen? Na, das konnte er ja wohl haben, wenn er Mara etwas
antun wollte!
Sie wechselte einen besorgten Blick mit den beiden Freunden und sah zu, wie
Vincent den Gang entlang in einen anderen Flügel des Gebäudes ging.
Hastig stieß Delia die Tür auf, kaum dass Vincent um die Ecke verschwun-
den war. Zum Eingangstor war es nicht mehr weit. Sie mussten nur zu ihren
Rädern, die sie am Eingang des Parks hinter den Koniferen deponiert hatten.
Daniel würde auf Felix’ Gepäckträger mitfahren können.
„Wir sind frei, wir haben’s geschafft“, jubelte Felix, als sie durch das Tor
nach draußen getreten waren.
„Das ging eigentlich ganz einfach!“, grinste Delia breit.
„Zu einfach!“, sagte Daniel angestrengt.
Delia warf ihm einen beunruhigten Blick zu. Hoffentlich konnte sich Daniel
auf Felix’ Gepäckträger halten, so schwach, wie er war!
Sie hatten die halbe Strecke zu ihren Rädern zurückgelegt, als in der Ferne
auf einmal Rufe und Hundegebell zu hören waren.
„Schneller!“, drängte Delia.
„Felix, hier entlang!“, rief Daniel. Er stolperte ständig.
Das Hundegebell kam immer näher.
Delia schlug die Hände vors Gesicht. Gleich würde der Hund sie erreicht
haben!
„Ringo! Hierher!“
Die Stimme ließ sie die Hände von den Augen nehmen. Felix und Daniel
standen jetzt neben ihr und starrten ebenfalls zu der Stelle zurück, von der die
Stimme und das Hundegebell kamen.
Dort, ein paar Meter vor dem Eingang zum Schloss, stand Vincent und hielt
einen großen, weißen Hund am Halsband fest. Er sah genau in die Richtung
der drei.
„Was ist hier los? Ich habe den Hund gehört!“, rief Vierstein im
Schlossinnern.
170/246
„Ich auch!“, erwiderte Vincent, ohne Delia, Daniel und Felix aus den Augen
zu lassen. „Aber es war falscher Alarm!“
Und dann tat er etwas, womit sie nie gerechnet hätten.
Er winkte ihnen hastig zu, sie sollten gehen.
Delia und Felix ließen sich das nicht zweimal sagen. Sie setzten Daniel auf
Felix’ Gepäckträger und radelten durch den Park davon.
Endlich! Victor Senior konnte es kaum noch abwarten und schloss schnell
die Kellertür hinter sich ab. Endlich hatte er die Büste in der Hand! Es war
gar nicht so einfach gewesen, sie im Haus Anubis zu finden, immerhin hatten
diese Gören das Internat auf den Kopf gestellt, um Krimskrams für ihre
dumme Versteigerung aufzutreiben.
Der Sinn und Zweck der Versteigerung leuchtete ihm nicht ein. Was ging ihn
denn ein dreckiges Bergdorf in Griechenland an! Griechenland war weit weg,
doch die Träne der Isis und das ewige Leben waren jetzt schon ganz nah! Er
hatte überhaupt keine Gewissensbisse gehabt, diesen zwei naiven Mädchen
die Büste von ihrem Stand in der Schule zu stehlen. Nur dumm, dass ihn eine
der beiden, die mit dem roten Kleid mit den weißen Herzchen, dabei erwischt
hatte. Um bei dem Geschrei, das sie veranstaltet hatte, nicht aufzufallen, hatte
er die Büste schließlich sogar kaufen müssen! Und dennoch hatte diese
freche Rothaarige, diese Luzy, sie ihm danach wieder abgenommen. Sie hatte
darauf bestanden, dass die Statue versteigert würde. Sobald er die Träne hatte
und nicht mehr in die düstere Welt hinter den Spiegeln zurückkehren musste,
würde er im Haus Anubis neue und strenge Regeln einführen!
Diese dumme kleine Göre hatte wirklich gewagt, ihm nicht zu gehorchen und
ihm obendrein zu misstrauen! Er hatte sich das Ding dann einfach vom Stand
genommen, als keiner hinsah, aber hier zu Hause war er von Rosie erwischt
worden, die glaubte, er habe sie den Kindern aus reiner Herzensgüte
abgekauft. So weit kam es noch!
Ihm war nichts weiter übrig geblieben, als in der Nacht heimlich in Luzys
Zimmer zu schleichen und sie erneut mitgehen zu lassen.
Doch nun gehörte die Statuette ihm, war hier im Keller in Sicherheit und
stand vor ihm auf der Werkbank!
171/246
Er drehte und wendete die Büste und betrachtete sie von allen Seiten. Nir-
gendwo schien eine Öffnung zu sein. Er schüttelte sie. Es war auch nichts
darin, jedenfalls schien es so.
„Läuft es nicht nach Plan?“ Die Stimme aus dem Spiegel klang nicht gerade,
als würde der Sprecher das bedauern.
Victor Senior schnaubte. Jetzt wurde sein Sohn auch noch frech!
„Wo ist die Aufgabe?“, knurrte er und fummelte weiter an dem Gipskopf her-
um – vergeblich. Mit einem ärgerlichen Ausruf warf Victor Senior das Ding
kurzerhand auf den Boden, wo es in tausend Stücke zersprang. Doch auch,
als er die Scherben durchsuchte, war nichts Auffälliges oder Ungewöhnliches
zu entdecken. Nur Bruchstücke aus vergoldetem Gips.
„Sie ist nicht drin!“, rief er wütend. Er stellte sich vor den Spiegel und blickte
seinem missratenen Sprössling direkt ins Gesicht. „Du sagst mir sofort, wo
diese Karte ist, oder du bleibst für immer im Spiegel!“
Aber sein Sohn sah ihn nur ausdruckslos an und schwieg.
Langsam glitt Nina aus der Traumwelt in die Realität zurück. Doch sie wollte
noch nicht aufwachen. Sie hatte so schön geträumt.
Daniel war wieder bei ihr gewesen! Es war wunderbar, ihn bei sich zu haben
und zu spüren, dass er zu ihr gehörte. Und sie wusste genau, wenn sie jetzt
aufwachte, würde Daniel wieder fort sein. Sie würde wie immer in die Schule
gehen und ohne ihn auskommen müssen.
„Nina, hey!“
Nina musste mit geschlossenen Augen lächeln. Daniels Stimme war leise und
drang kaum durch das wohlige Schlaf-Traum-Gefühl hindurch, in dem sie
sich immer noch befand. Sie vergrub sich tiefer unter ihrer Decke, in der
Hoffnung, dass Daniel dort im Traum auf sie wartete.
„Bitte wach auf, Nina!“
„Nein“, murmelte Nina verschlafen. „Wenn ich meine Augen aufmache, bist
du wieder verschwunden.“
„Diesmal nicht, versprochen!“, klang es neben ihrem Ohr.
Etwas strich über ihr Haar. Das fühlte sich so wirklich an! Sie griff danach
und spürte zu ihrer Überraschung echte Finger. Ohne die Augen zu öffnen,
172/246
tastete sie nach Daniels Kopf. Wenn seine Hand wirklich auf ihrem Haar lag,
dann musste doch sein Gesicht ... und ja, da waren sie: Lippen, Wangen,
Nase – Nina kniff zu. Es fühlte sich echt an, aber wie echt waren sie
wirklich?
Ein leiser Aufschrei ertönte. „Au!“
Nina fuhr auf. Echter ging es nicht! Und sie hatte recht gehabt! Vor ihr saß
Daniel, ihr Daniel. Er lächelte sie an und rieb sich die Nase!
„Daniel!“ Nina schlang die Arme um ihn. Und er löste sich tatsächlich nicht
in Luft auf!
Eine Weile saßen sie so da, bis Daniel sie langsam von sich zu schieben ver-
suchte. Nina wollte ihn gar nicht mehr loslassen.
„Nina, ich krieg keine Luft ...!“
Sie gehorchte auf der Stelle und starrte ihn fassungslos an. „Daniel! Geht’s
dir gut?“, fragte sie aufgeregt. „Bist du krank – oder verletzt? Du hast bestim-
mt Hunger! Wo warst du die ganze Zeit? Und wie geht’s dir überhaupt?“
Noch einmal zog Daniel sie in die Arme, um ihr zu zeigen, dass alles in Ord-
nung war.
„Alles ist gut!“, murmelte er.
Nina konnte nicht anders, als ihm das zu glauben.
Jetzt war wirklich alles wieder gut!
173/246
28
EIN SCHLÜSSEL FÜR JEDES SCHLOSS
„Magnus! Felix!“
Die beiden Jungen hatten sich gerade für die Schule angezogen, also waren
sie nicht allzu überrascht, als Nina an ihre Zimmertür klopfte und den Kopf
hereinstreckte.
„Oh, zum Glück, ihr seid wach!“ Sie schlüpfte ins Zimmer. Die Tür hielt sie
dabei fest. „Magnus, setz dich mal!“
Magnus verschränkte die Arme und blieb stehen. Er ließ sich gar nichts
sagen!
„Wie du willst“, grinste Nina und versetzte der Tür einen kleinen Stoß.
Als Magnus sah, wer da hereinkam, klappte sein Unterkiefer herunter. Er
stolperte einen Schritt rückwärts und fiel mit dem Hosenboden auf sein Bett.
„Ha“, meinte Felix zufrieden. „Sie hat’s gesagt!“
Magnus starrte weiter den gerade Hereingekommenen mit offenem Mund an.
„Daniel!?“
Kaum hatte er begriffen, dass der Freund zurückgekehrt war, stand er auf und
umarmte ihn.
„Hey, Kumpel, schön, dich zu sehen!“, sagte er dann.
„Daniel!“, erklang es jetzt noch einmal wie ein Echo aus der Tür.
Mara und Delia waren hereingekommen. Eigentlich hatte Mara Magnus zum
Frühstück abholen wollen, denn heute wollte sie wieder in die Schule gehen.
Daniel wandte sich zu ihr, um sie zu begrüßen. In diesem Moment schloss
Mara die Augen und sank zu Boden. Sie hatte das Bewusstsein verloren!
Mit wenigen Schritten war Magnus bei ihr, hob sie auf und bugsierte sie auf
sein Bett. Sanft legte er ihr eine Hand auf die Stirn.
„Was ist mit ihr?“, wollte Delia wissen. „Ist sie krank?“
„Sie hat Fieber!“, antwortete Magnus besorgt. „Das ist nicht nur, weil Daniel
wieder da ist. Das ist doch kein Zufall!“
Daniel schluckte, bevor er etwas sagte. „Vielleicht war es Vincent.“
„Aber er hat uns vor dem Bluthund gerettet!“, rief Delia aus.
„Kann schon sein“, meinte Magnus. „Aber wenn er Mara irgendwas angetan
hat, dann ...!“
„Hört mal zu! Ich war krank, weil ich das Gift in meinem Körper hatte. Das
Gift, das eigentlich für Mara bestimmt war“, erklärte Daniel. „Morten und
Trabas haben es meinem Körper entzogen, deshalb war ich bei ihnen. Und
gestern haben sie es Vincent gegeben, damit er es ...“ Er stockte.
Delia und Felix sahen einander an. Das hatte Vincent also gemeint, als er
gesagt hatte, es täte ihm leid, was er Mara antun müsse!
Magnus nickte langsam. „Er hat gestern Abend den Apfelsaft für Mara ver-
schüttet und ein neues Glas geholt. Ich hätte es wissen müssen!“
Er stand auf und fegte wütend die Gegenstände von seinem Schreibtisch.
„Juhu! Frühstück ist fertig!“ Rosies Stimme hallte durch den Gang. „Wo seid
ihr denn alle? Ein bisschen Beeilung, meine Süßen, Ihr seid spät dran!“
Bedrückt schloss Magnus seinen Schulspind auf, um die Bücher für die näch-
ste Stunde herauszuholen, sie hatten Geschichte bei Frau Engel. Ausgerech-
net heute musste er ein Referat über die Französische Revolution halten! Das
passte ihm überhaupt nicht.
Als er das Heft mit seinen Notizen hervorziehen wollte, fiel ihm etwas in die
Hände: ein großes, zusammengefaltetes Stück Pergamentpapier.
Die Karte vom Kellerlabyrinth! Die hatte er doch an diesem Morgen noch ge-
sucht. Daniel hatte sie haben wollen, um die Prüfung für heute Abend
vorzubereiten. Magnus glaubte, sich genau erinnern zu können: Er hatte die
Karte unter sein Kopfkissen gesteckt. Beim Aufwachen war sie nicht mehr
dort gewesen, und er und Felix hatten sie nicht finden können.
Und nun war die Karte auf geheimnisvolle Weise hier im Schulspind auf-
getaucht. Hatte er sie gestern doch mit in die Schule genommen?
„Aaalter, hallo!“ Magnus hörte jetzt erst, dass Felix gegen die metallene
Spindtür klopfte.
175/246
Magnus zog die Karte zwischen seinen Unterlagen hervor und hielt sie Felix
wortlos unter die Nase.
„Wie kommt die denn da rein?“, wollte Felix neugierig wissen. „Haben wir
die vorhin nicht gesucht?“
„Keine Ahnung“, sagte Magnus. Verstört entfaltete er die Karte. War es
wirklich die echte?
„Die nächste Aufgabe! Sie ist drauf!“ Felix grinste.
Verstohlen blickte Magnus sich um, legte das Pergament zusammen und
steckte es weg. Dann packte er Felix am Arm und zog ihn mit sich. „Los, lass
uns die anderen suchen!“
Sie bemerkten nicht, dass Luzy um die Ecke spähte und ihnen
hinterherschaute.
Sie sah fröhlich dabei aus.
Als Magnus und Felix im Aufenthaltsraum verschwunden waren, lächelte sie
zufrieden, als sei ihr ein geheimer Plan gelungen.
Schnell waren Delia, Daniel und Nina zusammengetrommelt.
Die drei hatten sich in die Sitzecke zurückgezogen und besprochen, warum
Vincent und Trabas Mara wohl so unbedingt vergiften wollten. Doch dass
Magnus die Karte und obendrein die neue Aufgabe gefunden hatte, war bei-
nahe der größere Knüller. So konnten sie gleich zwei Fliegen mit einer
Klappe schlagen!
Jetzt saßen sie um einen der Tische herum und blickten neugierig auf die
neue Aufgabe, die einfach so auf der Karte erschienen war.
Delia konnte das noch gar nicht fassen. „Bist du ganz sicher, dass du sie nicht
selbst in das Schließfach gelegt hast?“
„Moment!“ Magnus griff sich an die Schläfe und tat so, als müsse er sich
sehr konzentrieren. „Ich hab die Karte unter meinem Kissen hervorgeholt, bin
in die Schule gefahren, hab die Aufgabe draufgeklebt, sie in den Spind
gelegt, dann bin ich wieder nach Hause ... und hab das alles vergessen!“
Delia und Felix starrten ihn mit offenem Mund an.
„Wirklich?“, wollte Felix wissen.
176/246
Magnus konnte es kaum glauben. „Oh Mann“, stieß er nach einer Pause her-
vor. „Ihr beiden seid so bescheuert!“
Delia und Felix verzogen das Gesicht und antworteten nicht.
„Lasst uns die Aufgabe mal ansehen“, lenkte Nina ab und unterdrückte ein
Grinsen.
„Die Prüfung des Seth. Der Weg ist frei für die, die ihre Furcht überwinden“,
las Daniel vor.
Ratlos sahen die anderen sich an. Wieder ein Rätsel. Auch wenn sie das mit-
tlerweile gewohnt waren, frustrierte es doch immer aufs Neue.
„Der Weg ist frei“, ergriff Magnus schließlich das Wort. „Prima, dann kann
es ja losgehen.“
„Der Weg“, wiederholte Delia. „Der Weg wohin?“
„Zur Träne wahrscheinlich“, vermutete Nina. „Aber ich würde doch gern
wissen, wer uns geholfen hat.“
„Egal, spielt keine Rolle“, sagte Magnus entschlossen. „Wir machen die Prü-
fung. Gleich nach der Schule.“
Eigentlich wäre Nina lieber gewesen, sie hätten sich erst etwas genauer mit
dem Rätsel befasst, das ihre neue Aufgabe war, bevor sie in den Keller gin-
gen. Aber Magnus hatte es eilig gehabt.
Und das konnte Nina verstehen. Denn als sie nach der Geschichtsstunde ins
Haus Anubis gekommen waren, hatte Rosie berichtet, dass es Mara
schlechter ging als heute Morgen. Das Fieber war nicht gesunken, sie schlief
die ganze Zeit und warf sich unruhig auf dem Bett hin und her.
Wenn es stimmte, was Daniel und die anderen Vincent hatten sagen hören ...
Vincent war heute nicht in der Schule gewesen, vielleicht war er ja hier ins
Haus Anubis gekommen und hatte Mara noch eine Portion von dem Gift
gegeben!
Nina dachte an die Freundlichkeit zurück, mit der Vincent immer auf sie
zugegangen war.
Nein. Sie konnte sich das nicht vorstellen. Doch Magnus’ Angst kannte sie
gut aus eigener Erfahrung.
177/246
Und jetzt, wo Daniel zurück war, war sie auch zuversichtlich, dass sie es
schaffen konnten, die Träne der Isis zu finden. Sie mussten los!
Leise huschten Nina, Daniel, Magnus, Delia und Felix in den Keller hinunter.
Victor war beschäftigt, er baute im Garten eine kleine Gartenlaube für Rosies
Hochzeit. Sie hatten nichts zu befürchten. Delia blieb in der Eingangshalle
zurück, um Wache zu halten. Sie hatte ihr Horusauge verloren und konnte de-
shalb nicht durch die Wand in der geheimen Kammer.
Ausgerüstet mit Sarahs Schlüssel und drei Horausaugen liefen sie zu viert an
all den bestandenen Prüfungen vorbei, zuletzt an der Bambusorgel. Danach
ging es wie immer durch ein Stück des geheimen Gangs, bis Magnus urplötz-
lich stehen blieb.
„Aua!“ Er rieb sich die Stirn.
Erst jetzt erkannte Nina, dass Magnus gegen eine Wand gelaufen war, die
den weiteren Weg versperrte. Glatt und dunkel ragte sie vor ihnen auf.
Daniel trat vor und strich über den festen Stein. Als er mit der Taschenlampe
an den Rändern entlangleuchtete, wurde klar: Hier kamen sie nicht weiter.
„Wir können nicht vorbei“, erklärte er.
„Und auch nicht durch“, witzelte Felix. „Nichts ist härter als Magnus’ Kopf!“
Frustriert und wütend schlug Magnus mit der Faust gegen die Wand. Dann
lehnte er sich erschöpft mit dem Rücken dagegen und sank zu Boden.
„Das war’s“, murmelte er traurig und nahm den Kopf in die Hände. „Es ist
vorbei. Mara ...“
Doch Nina stand noch vor der Wand. Sicher war sie nur Teil der Prüfung!
Das war schon oft so gewesen. Die Lösung war bestimmt irgendwo vor ihrer
Nase ... Unwillkürlich griff sie nach dem Anhänger an ihrer Kette. Den
Schlüssel, den Sarah ihr gegeben hatte.
„Der Schlüssel zur Vergangenheit ist das Tor zur Zukunft“, murmelte sie.
Daniel sah auf. „Was hast du gesagt?“
„Der Schlüssel zur Vergangenheit ist das Tor zur Zukunft, hat Sarah gesagt!“,
wiederholte Nina aufgeregt. Sie nahm die Kette mit dem Schlüssel ab. „Viel-
leicht ist das die Lösung!“
Daniel sprang auf. „Aber da ist kein Schloss!“, sagte er.
178/246
Einer Eingebung folgend drückte Nina den Schlüssel fest gegen die undurch-
dringliche Wand.
Und die begann prompt zu leuchten! Ein Schlüsselloch erschien.
Nina lächelte Magnus zu und steckte ihren Schlüssel in das Schlüsselloch. Er
passte!
Das Licht wurde stärker, es rumpelte, und die Wand glitt fort, als würde die
unsichtbare Hand eines Riesen sie beiseiteschieben.
Der Weg war frei, und alle konnten hindurchgehen.
Keiner bemerkte, dass Victor Senior, das Modell des Hauses Anubis unter
dem Arm, ihnen heimlich folgte.
179/246
29
AUS UND VORBEI
Hätte man Nina gefragt, wie lange sie schon diesen finsteren Gang entlan-
gliefen, sie hätte es nicht gewusst.
Bisher hatte es in den Gängen zwischen den Prüfungen immer ein wenig
Licht gegeben. Doch hier war es stockfinster, überall hingen Spinnweben,
alte Baumwurzeln ragten aus den Felswänden und bewiesen, dass sie sich
nicht mehr unter dem Haus Anubis, sondern unter dem Garten befanden. Der
Korridor schien nirgendwo hinzuführen.
Sie wurde unsicher.
Was, wenn das alles nur ein Irrtum war? Vielleicht war es ja ganz anders und
Winnsbrügge-Westerling ließ sie hier ins Leere laufen.
„Ganz schön weit bis zur Seth-Prüfung, oder?“, stellte Nina schließlich klar.
Daniel nickte nur.
Immer wieder waren Gepolter und Schritte hinter ihnen zu hören, so als
würde ihnen jemand heimlich folgen und dabei ständig gegen die Höhlen-
wände laufen.
Nina schauderte.
Eine Weile sagte niemand etwas. Sie stolperten müde weiter, bis Felix
schließlich das Wort ergriff: „Laufen wir hier bis nach Ägypten, oder was?“
„Da kann was nicht stimmen“, meinte Nina.
„Wir müssten längst da sein“, bestätigte Daniel.
Felix versuchte es mit einem Witz. „Vielleicht hätten wir nach dem Weg fra-
gen sollen!“, erklärte er, doch es klang nicht lustig.
„Hast du Angst, du kriegst Blasen?“, fragte Magnus ungeduldig.
„Angst!“, rief Daniel plötzlich. „Natürlich, das ist es!“
„Was ist was?“, wollte Magnus wissen.
„Der Weg ist frei für die, die ihre Furcht überwinden“, zitierte Daniel.
Nina verstand als Erste. Sie musste lächeln. „Du hast recht.“
Daniel drehte sich zu Magnus und Felix um. „Wir sind schon mitten drin in
der Prüfung.“
„Wir müssen nur weitergehen und keine Angst haben“, erklärte Nina.
„Keine Angst haben?“, meinte Felix. „Was für eine Loser-Prüfung! Das ist
die einfachste von allen.“ Damit schritt er an den anderen vorbei. Doch kaum
war er um die Ecke gebogen, schrie er auch schon laut auf.
Nina, Daniel und Magnus befürchteten das Schlimmste und eilten ihm
hinterher.
Felix stand mit weit aufgerissenen Augen vor einem Tisch voller
Süßigkeiten.
„Felix? Alles klar mit dir? Seit wann magst du denn keine Süßigkeiten
mehr?“, fragte Magnus verwirrt.
Felix sah aus, als müsste er sich übergeben. „Essen?“ Er starrte auf eine
Schüssel mit schleimigen Regenwürmern. „Das sind doch alles schleimige
Würmer und keine Süßigkeiten! Voll eklig!“
„Das ist nur deine Furcht“, argumentierte Daniel.
Felix schaute ihn zweifelnd an und wandte den Blick wieder den Schüsseln
zu. „Ich esse keine Würmer!“, presste er hervor.
„Wir können erst weiter, wenn du deine Angst überwunden hast!“, drängte
Nina. „Das da sind Chips. Und das sind Gummibärchen!“
Felix kniff die Augen zusammen und schluckte.
Magnus schob ihn zum Tisch. „Mach schon! Für Mara!“
Felix würgte ein letztes Mal und fasste in eine Schüssel. Voller Abscheu
schob er sich einen Wurm in den Mund.
Doch dann kaute er begeistert. „Erdnussflips!“, rief er. Er öffnete die Augen
und wollte noch einmal tief in die Schale greifen, aber der Tisch war bereits
verschwunden.
Wieder gingen sie eine Weile durch die Gänge, bogen manchmal ab, mal
nach links, mal nach rechts. Nina verlor jedes Zeitgefühl und wünschte sich,
die Prüfung wäre zu Ende.
181/246
Plötzlich blieb Daniel stehen und sah Nina an. „Es ist wahrscheinlich nicht
der richtige Moment, das zu sagen, aber wenn wir hier lebend rauskommen,
werde ich Schluss machen.“
Was redete Daniel da nur?
Eine kalte Hand griff nach Ninas Herzen. Das war das Schlimmste, was sie
sich vorstellen konnte – Daniel liebte sie nicht mehr! Warum sagte er das
gerade jetzt? Was war denn nur in ihn gefahren?
Sie musste sich vergewissern, dass er es ernst meinte. „Wie bitte?“, fragte sie.
Daniel schüttelte den Kopf. Seine Stimme klang hart und kalt. „Ich hatte viel
Zeit zum Nachdenken im Schloss“, sprach er weiter. „Es hat einfach keinen
Sinn mehr.“
Nina spürte, wie sie ganz starr vor Schreck wurde. Sie wusste nicht, was sie
sagen sollte.
„Nina!“
„Hörst du mich? Was immer gerade passiert, es ist nicht real!“
Nina fuhr herum. Felix und Magnus redeten aufgeregt auf sie ein. Das war
nicht echt? Daniel hatte also nicht mit ihr Schluss gemacht? Aber er stand
doch leibhaftig vor ihr und hatte es gesagt!
Sie drehte sich zu ihrem Freund um.
„Es ist aus!“, entgegnete er. Sein Gesicht sah noch unbeteiligter aus als
zuvor.
Nein, sie irrte sich nicht. Er machte Schluss mit ihr!
„Hör nicht auf ihn!“, rief Magnus. „Ich glaube, er denkt, du sagst ihm das
Gleiche! Aber ihr müsst euch vertrauen, ihr seid doch Nina und Daniel!“
Die Furcht überwinden. Wir müssen nur weitergehen und keine Angst haben.
Magnus hatte recht. Sie musste ihre schlimmste Furcht überwinden und Ver-
trauen haben! Dann war der Weg frei.
Nina kniff die Augen zusammen. Sie wollte Daniel vertrauen. Er würde nicht
einfach so Schluss machen.
Als sie die Augen wieder öffnete, schaute Daniel sie besorgt an und kam auf
sie zu, um sie in die Arme zu nehmen.
Erleichtert schmiegte sie sich an ihn. Sie war so froh, dass alles nicht real
gewesen war!
182/246
„Gut!“, grinste Magnus. „Das hätten wir!“
Energisch ging er weiter. Plötzlich tauchte Zeno Trabas in einem Spiegel vor
ihm auf.
„Hallo, Magnus!“, höhnte der alte Mann. „Hast du mich vermisst?“
Magnus ließ sich nicht beeindrucken und verschränkte die Arme vor der
Brust. „Du bist nicht echt“, erklärte er gelassen.
„Das behaupte ich ja auch gar nicht“, erwiderte der falsche Zeno. „Aber das
hier ist echt.“
Das Bild von Zeno Trabas verschwand und gab den Blick auf eine andere
Szene frei: die sterbende Mara in einem Krankenbett und daneben ein Arzt,
der resigniert den Kopf schüttelte.
Magnus lief es eiskalt über den Rücken. „Nein!“ Magnus versuchte, die
Tränen zurückzuhalten. „Mara! Das ist noch nicht passiert!“
„Hey, Alter, komm zu dir!“, schrie Felix und schüttelte Magnus an der
Schulter.
„Nein! Mara!“ Magnus ballte die Hand zu einer Faust und hob den Arm.
„Magnus, nicht!“, rief Nina.
Doch Magnus ignorierte sie. „Ich fall nicht drauf rein!“, brüllte er und zer-
schlug den Spiegel, sodass er in tausend Scherben zersprang.
Schwer atmend stand er vor den Glassplittern. Er wagte es kaum, den Kopf
zu heben.
Hatte er die Prüfung wirklich bestanden?
„Seht mal, da!“ Daniel war die Aufregung anzuhören.
Erst erschrak Nina ein wenig, als sie sah, dass sie erneut vor einer Wand
standen. Auf der einen Seite erleichtert, dass sie es hinter sich hatten, auf der
anderen beunruhigt, trat sie näher.
Da! Ein winziges Licht erschien genau vor ihr in einem der Steine. War da
ein Loch? Je länger Nina daraufstarrte, desto größer schien es zu werden.
Verwundert strich sie mit ihrem Finger leicht über das Licht. Vielleicht war
da ein Loch, am Ende sogar ein Schlüsselloch, in das Sarahs Schlüssel
passte!
Aber etwas anderes geschah.
183/246
Ein Scharren und Kratzen erklang, als würden Steine aufeinander schaben. Es
wurde lauter. Gleichzeitig wurde das Licht greller und greller, bis sich alle
die Hände vor die Augen halten mussten.
Doch als es nachließ, erkannte Nina, dass sich die Ziegelsteine ausein-
andergeschoben und einen Durchgang freigegeben hatten. Staunend trat sie
hindurch. Die anderen folgten ihr – und dann hatten sie es geschafft.
„Da vorn“, murmelte Daniel. „Das ist die Statue der Isis!“
Das Standbild der altägyptischen Göttin thronte in der Mitte eines rechtecki-
gen schlichten Raums aus Sandsteinquadern, ähnlich dem Grabmal der Am-
neris, das sie in Ägypten besucht hatten. Sie hatte eine Hand ausgestreckt, als
wollte sie jeden begrüßen, der seinen Weg durchs Labyrinth bis hierher
gemacht hatte.
In der Hand hielt sie ein Tablett. Darauf stand eine Flasche, die aussah wie
ein tischtennisballgroßer Diamant in Form eines Tropfens.
„Das muss die Träne sein!“, sagte Magnus und trat vor.
„Vorsichtig!“, warnte Nina.
Magnus ging langsam und ehrfürchtig auf das Tablett zu, das Isis hielt. Als er
dicht davor stand, nahm er die funkelnde Träne langsam an sich. Nina fiel
auf, dass er nicht zitterte. Er drehte sich um und kehrte zu ihnen zurück.
„Wir haben es geschafft!“, wiederholte er immer wieder. „Wir haben es
geschafft!“
Felix, Nina, Daniel und Magnus fielen sich erleichtert in die Arme und ju-
belten laut.
Bis ihnen eine Stimme an die Ohren drang.
„Nein“, korrigierte sie hämisch. „Ich habe es geschafft.“
Victor Senior musste grinsen.
Er stellte die Modellversion des Hauses Anubis ab, sodass er beide Hände
freihatte, um die Träne der Isis an sich zu nehmen.
Jetzt würde er diesen dummen Kindern zeigen, dass es nicht reichte, schlau
zu sein. Man musste auch die Entschlossenheit besitzen, sich zu nehmen, was
man wollte. Er ging auf den groß gewachsenen Bengel zu, der die Träne in
184/246
der Hand hatte, und gab sich Mühe, möglichst bedrohlich auszusehen. „Her
damit!“
Aber dieser Magnus – oder wie er hieß – hielt die Träne mit beiden Händen
fest. Und nun kamen auch das Mädchen und ihr Freund, die Anführer dieser
Schlangenbrut, nach vorn und stellten sich vor Magnus!
„Da müssen Sie erst an uns vorbei!“, sagte die Kleine vorlaut.
„Heute ist mein Glückstag“, grinste Victor Senior bösartig. Er trat auf das
Pärchen zu, das sich vor die anderen beiden gestellt hatte, und drängte sie
auseinander.
Dann geschah etwas Unerwartetes: Der frechste Junge von allen warf sich
ihm an den Hals, als wollte er ihn umarmen!
Für einen Moment war Victor Senior irritiert. Als Felix „Lauf, Alter!“ rief,
schnaubte er verächtlich.
Der Junge mit der Träne gehorchte auf der Stelle und wollte an ihm und Felix
vorbeilaufen, doch Victor Senior war schneller. Er schubste Felix von sich
fort, Magnus entgegen. Beide gingen zu Boden und ließen die Träne fallen.
Rasch klaubte Victor Senior sie vom Boden auf. Jetzt gehörte sie wirklich
ihm, die Träne der Isis! Er hatte gewonnen!
Fasziniert starrte er die Träne an. Es war, das konnte er nun sehen, eine kleine
Phiole, die mit einer klaren Flüssigkeit gefüllt war. Er bedachte die vier
enttäuscht aussehenden Kinder vor ihm mit einem höhnischen Blick.
„Das ewige Leben!“, stieß er begeistert hervor.
„Ewig hat schon mal länger gedauert!“, schrie jemand.
Das war hinter ihm! Victor Senior wirbelte herum und sah dieses unver-
schämte, rothaarige Mädchen hinter sich stehen, das ihm die Büste nicht hatte
geben wollen. Sie hatte das Minihaus hoch über den Kopf gehoben und trug
die Schweißerbrille seines Sohns! Als er sie anschaute, grinste sie breit.
Sie wollte doch nicht etwa ...?
„Nein!“, schrie er, aber Luzy hatte das Haus bereits mit aller Kraft auf den
Boden geworfen. Mit einem lauten Krach zerbrach die Miniversion des
Hauses Anubis, und Victor Senior hatte das Gefühl, ein Baseballschläger sei
auf seinen Kopf niedergegangen. Er krümmte sich und drückte die Träne an
seine Brust, um sie ja nicht fallen zu lassen.
185/246
Eins war allerdings klar: Er musste wieder hinter den Spiegel! Nur dort war
er sicher, nur dort würde ihm der Kopf nicht so wehtun. Mühsam rappelte er
sich auf und hastete in den dunklen Gang hinein.
Er wusste nicht, wie lange er durch die Dunkelheit gestolpert war – beinahe
wäre er auf dem schmalen Steg bei den Pendeln ausgerutscht und in den Ab-
grund gefallen –, als er sich auf einmal im Vorraum zur Kammer des Anubis
wiederfand.
Es war nicht mehr weit! Er schleppte sich weiter, immer eine Hand an der
Schläfe, so waren die Kopfschmerzen besser auszuhalten.
Er war kaum durch das Loch in das Kellerlabor seines Sohns gekrochen, als
sich ihm jemand in den Weg stellte. Er konnte nicht erkennen, wer es war. Er
– oder sie? – trug rosa. Vielleicht dieses alberne, blonde Mädchen. Victor
Senior war das eigentlich auch egal.
„Oh!“, stammelte sie bei seinem Anblick. „Äh, ich bin bei Ihnen im Keller,
weil ...“
„Zur Seite!“, stieß er hervor und wollte sie fortschubsen. Doch seine Knie
gaben nach. Irgendwie verstand er auch, dass er so schwach war, weil diese
Luzy das Minihaus zerstört hatte. Er konnte gerade noch stöhnen: „Der
Spiegel!“
Dort vorn war er! Victor Senior nahm all seine Kraft zusammen und taumelte
auf den halb blinden Spiegel zu.
„Halt ihn fest, Delia!“, schrie plötzlich jemand hinter ihm. „Er hat die
Träne!“
Sie gehorchte sofort und packte ihn, aber Victor Senior riss sich mit einem
Knurren los. Glücklicherweise hielt ihn das Mädchen nicht besonders fest.
Kurz vor dem Spiegel blieb er noch einmal stehen. Er drehte sich um und
schrie den entsetzten Kindern ins Gesicht: „Ihr seid zu spät! Mit der Träne
brauche ich das Häuschen gar nicht mehr!“
Mit diesen Worten berührte er den Spiegel.
Es blitzte, und Victor Senior war verschwunden.
186/246
30
VICTOR MAL ZWEI = ?
Magnus war der Erste, der seine Sprache wiederfand.
„Was ... war das?“
Luzy war die Einzige, die antwortete. Die anderen starrten noch völlig verd-
attert auf ihren Hausverwalter, der verzweifelt auf dem Boden hockte und
nicht aufzusehen wagte.
„Das war Victors Vater“, erklärte Luzy. Sie wies auf das Häufchen Elend im
blauen Kittel vor ihnen. „Und das ist sein Sohn Victor. Unser Victor.“
„Dann warst du das!“, meinte Nina. „Das Häuschen, die Karte ...! Woher
weißt du das alles?“
„Ich weiß so einiges“, entgegnete Luzy. „Euch kann man ja nicht alleine
lassen.“
Daniel grinste. „Du gehörst zum Club, egal, was passiert ist.“
„Aber Moment mal!“, unterbrach Delia. „Heißt das jetzt, es gibt zwei
Victors?“
Felix verdrehte die Augen. „Als ob einer allein nicht genug wäre.“
Magnus hatte keine Lust mehr auf Erklärungen. Er ging zum Spiegel hinüber.
„Von mir aus kann’s hundert Victors geben“, murmelte er. „Ich will die
Träne.“ Er tastete das Glas ab. Irgendwie musste man doch dahintergelangen
können!
„Da kommst du nicht durch“, murmelte Victor vom Boden aus. „Das kann
nur er. Die Träne ist weg!“
„Heißt das ...?“
Der Hausverwalter nickte niedergeschlagen. „Mara ist verloren.“
Magnus wurde weiß wie ein Bettlaken.
Delia schien das nicht zu kümmern. „Mach dir keine Sorgen“, sagte sie mit
einem verschmitzten Lächeln.
„Mach dir keine Sorgen?“, schrie Magnus. „Meine Freundin muss sterben, du
blöde Kuh!“
„Das müssen wir alle irgendwann“, erklärte Delia seelenruhig. „Aber nicht
jetzt.“
Sie nahm Magnus an der Schulter und schüttelte ihn sanft. „Magnus!“ Sie
hielt einen Gegenstand hoch, den sie in der Hand hielt.
Es war die Träne!
„Wie hast du ...?“ Magnus konnte es noch nicht begreifen.
„Hab mal einen Onlinekurs im Taschendiebstahl gemacht, um mein Taschen-
geld aufzubessern … Hey!“, lachte Delia beim Anblick der verdutzten
Gesichter um sie herum. „Das war ein Witz.“
Felix grinste breit. Nina hätte schwören können, dass Stolz in seinem Blick
lag. „Delia ist genial, genial, genial!“, sang er zufrieden vor sich hin.
Das schien auch den Hausverwalter zu beflügeln. Er stand auf und riss Delia
die Träne aus der Hand. Danach stellte er sich vor den Spiegel, achtete aber
sorgsam darauf, ihn nicht zu berühren.
Magnus wollte sich auf ihn stürzen, doch Luzy hielt ihn zurück.
„Vater?“, fragte Victor drohend. „Ich habe die Träne!“
Hinter der Schmutzkruste auf dem Spiegel erschien jetzt verschwommen eine
Gestalt. „Victor, du Versager! Die Träne gehört mir, den Rodemers!“
„Du hältst mich für einen Nichtsnutz? Eine Niete?“ Victor hielt die Träne
hoch.
„Was denn sonst!“, schrie Victor Senior wütend. „Wenn du mir die Träne
nicht sofort gibst, bist du nicht mehr mein Sohn!“
Victor antwortete nicht. Stattdessen hob er eine Schraubzwinge aus Stahl
vom Boden auf. „Weißt du was, Vater? Das ist mir ganz egal.“
Mit diesen Worten schlug er den Spiegel ein. Es krachte und klirrte so laut,
dass es das verzweifelte „Neeeeiiiin!“ von Victors Vater beinahe übertönte.
Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, bis das Geräusch des zersplitternden
Glases verebbte.
„Einen Vater wie dich braucht kein Mensch“, schrie Victor Rodemer wütend
heraus und drückte Luzy überraschenderweise die Träne in die Hand.
Delia, Magnus, Daniel, Nina und Felix starrten ihn fassungslos an.
188/246
„Was steht ihr hier noch rum?“, wollte Victor schließlich wissen. „Lauft zu
Mara! Und beeilt euch!“
Vielleicht das erste Mal gehorchten alle aufs Wort. Nur Luzy umarmte Victor
fest, bevor sie den anderen folgte.
Victor blieb allein zurück und sah ihnen mit gerunzelter Stirn hinterher. Dann
bückte er sich und zog etwas aus den Spiegelscherben. Etwas Schwarzes,
Struppiges. Vorsichtig stellte er es auf seine Werkbank und strich die
Glassplitter fort.
„Weißt du, Corvuz, mein nobler, gefiederter Freund“, sagte er brummig.
„Manchmal ist sie ganz in Ordnung, die Schlangenbrut.“
Magnus rannte, gefolgt von den anderen, die Treppe hinauf durch den Flur
und riss die Tür zu Maras Zimmer auf. Er konnte gar nicht erwarten, seiner
Freundin zu erzählen, dass nun alles gut war!
„Mara?“, rief er laut. „Stell dir vor, wir haben die ...“
Doch Maras Bett war leer.
Magnus riss fassungslos die Decke fort, als hätte sie sich nur darunter ver-
steckt. „Wo ist sie!?“
Delia und Felix waren nun auch herangekommen.
„Vielleicht geht sie spazieren“, schlug Felix vor.
„Mit vierzig Grad Fieber!?“ Magnus war außer sich. „Trabas! Der steckt
dahinter!“
Nina versuchte, Magnus zu beruhigen. „Das wissen wir nicht.“ Sie warf
Delia einen bedeutungsvollen Blick zu. Die nahm die Träne der Isis und ver-
staute sie sorgfältig in ihrer Handtasche. Das hatte ihnen gerade noch gefehlt,
dass die Träne vor lauter Panik verloren ging!
Aber Magnus ließ sich nicht beirren. „Kommt mit!“ Er ging mit großen Sch-
ritten zur Tür.
Daniel hielt ihn auf. „Was hast du vor?“
„Na was wohl“, meinte Magnus mit gereizter Stimme. „Ich will ins Schloss!“
„Jetzt mal ganz ruhig“, versuchte Daniel abzuwiegeln.
„Ruhig?“, unterbrach ihn Magnus. „Mara ist …“
189/246
„Wir wissen nicht, wo Mara ist“, erklärte Daniel sehr bestimmt. „Und wenn
du dich nicht beruhigst, finden wir das auch nicht raus!“
„Vielleicht ist sie einfach unten bei Rosie“, sagte Delia.
Daniel legte Magnus die Hand auf die Schulter. „Wir finden sie. Wir gehen
erst mal runter in die Küche.“
Magnus nickte düster und ließ sich von den anderen mitziehen.
Doch Mara war nicht bei Rosie. Die Haushälterin hatte nicht die geringste
Ahnung, wo Mara war, und nahm an, sie würde ganz normal im Bett liegen
und schlafen. Sofort waren Magnus’ Wut und die Sorge, die Daniel ihm
gerade hatte ausreden können, wieder voll da.
Während die anderen sich von Rosie überreden ließen, die verschiedenen
Torten zu probieren, die sie als ihre Hochzeitskuchen in Erwägung zog,
verzog sich Magnus, so schnell er konnte, in sein Zimmer. Rosie glaubte die
fadenscheinige Entschuldigung, er möge keinen Kuchen, zwar nicht so recht,
doch sie nahm sie hin, als sie sah, wie gut es den anderen schmeckte.
In seinem Zimmer zog Magnus sich einen schwarzen Rollkragenpulli an und
durchwühlte seinen Schrank nach allem möglichen Zeug, das ihm helfen
konnte, ungesehen in Trabas’ Schloss hinein- und wieder hinauszugelangen.
Nach einer Weile kam Felix herein. Ächzend ließ er sich auf sein Bett fallen.
„Kirschkuchen, Streuselkuchen, Mohnkuchen, Sahnetorte, Linzer Torte –
und dann noch Torte Hawaii, Torte Denise, Torte …“ Er wurde davon unter-
brochen, dass etwas auf sein Gesicht fiel. Etwas Dunkles. Er zog es sich vom
Gesicht und starrte verdutzt darauf.
„Ein schwarzer Pulli? Wir gehen im Partnerlook? ... Willst du mir was sagen,
Alter?“
„Zieh den an, heute Nacht holen wir Mara zurück. Koste es, was es wolle.“
Felix konnte es nicht fassen. „Allein?“
„Nein, du kommst mit!“
„Na, und die anderen?“
Magnus rümpfte verächtlich die Nase. „Die essen Kuchen. Was ist
wichtiger?“
190/246
Felix war klar, dass Magnus keine Antwort auf diese Frage erwartete. Sein
Freund schnappte sich nur seinen fertig gepackten Rucksack und öffnete die
Tür, um in den Gang hinauszuspähen. Er winkte Felix zu.
Der seufzte. Eine gute Idee war das sicher nicht. Aber er folgte Magnus
trotzdem. Denn es sah ganz so aus, als würde dieses Abenteuer jemanden mit
Köpfchen brauchen!
„Der Köter soll nicht bellen!“, murmelte Felix. „Nicht bellen. Nur nicht
bellen!“
Er blieb angespannt stehen und lauschte. Sie hatten das Schloss durch den
Park fast erreicht. Nur noch ein paar Meter, dann kamen sie an ein offenes
Fenster!
Und als hätte Ringo, Vincents Hund, es gehört, erklang plötzlich Hundege-
bell in der Ferne!
Felix schrie leise auf und wandte sich zum Gehen. „Alter, weg hier!“
Aber Magnus hielt ihn fest und zog eine Frischhaltedose aus der Tasche. Er
öffnete sie, nahm ein großes, rohes Fleischstück heraus, das er aus Rosies
Küche hatte mitgehen lassen, und warf es dem heranrasenden Ringo hin. Der
hörte sofort auf zu bellen und ließ sich den unverhofften Leckerbissen gut
schmecken.
Ohne weitere Umstände packte Magnus Felix am Arm und zog ihn zu dem
offenen Fenster. Er wollte nicht mehr hier sein, wenn jemand kam, um
nachzusehen, warum Ringo angeschlagen hatte!
Ins Schloss einzusteigen war danach ein Kinderspiel. Durch diesen Erfolg er-
mutigt, war es jetzt Felix, der voranging.
„Wahrscheinlich hat er Mara im gleichen Zimmer versteckt, in dem auch
schon Daniel gelegen hat“, flüsterte Magnus. „Immerhin sind da auch all die
Geräte. Weißt du noch, wo das war?“
Felix nickte und wies auf eine Tür am anderen Ende des Gangs. „Da drüben.“
Er schlich sich in die gezeigte Richtung, doch bevor er die Klinke herunter-
drückte, blieb er irritiert stehen. „Nein, es war gar nicht diese hier. Es war die
da.“
Er zeigte auf eine Tür, an der sie gerade vorbeigegangen waren.
191/246
„Oder?“, fragte er verunsichert. Irgendwie sahen die alle gleich aus!
„Es ist genau die!“, sagte plötzlich eine Stimme hinter den beiden.
Magnus und Felix fuhren herum. Morten Vierstein stand vor ihnen und
grinste gemein.
Der große Mann packte sie am Kragen und schob sie so heftig ins erstbeste
Zimmer, dass sie beinahe gestolpert und gefallen wären. Und bevor sich einer
von ihnen aufrappeln und gegen die rüde Behandlung wehren konnte, schlug
die Tür hinter ihnen zu.
Ein Schlüssel drehte sich im Schloss. Sie waren eingesperrt.
192/246
31
DIE ZEIT WIRD KNAPP
Es sah aus, als hätte jemand eingebrochen.
Pullis, Golfmagazine, Modellautos, Boxershorts mit Totenköpfen darauf und
alle möglichen Scherzartikel lagen in Magnus’ und Felix’ Zimmer überall auf
dem Boden verstreut.
Die Jungs waren nirgendwo zu sehen.
Nina konnte kaum glauben, dass die beiden Freunde eine solche Unordnung
machen konnten. Besonders Magnus.
„Ich hab das Gefühl ...“
„... dass hier mal dringend aufgeräumt werden muss?“ Delia beendete Ninas
Satz mit gerümpfter Nase.
„Nein“, korrigierte Daniel. „Dass die beiden alleine los sind.“
Delia riss die Augen auf. „Zum Schloss? Letztes Mal sind wir da kaum
lebend rausgekommen.“
„Und das nur dank Vincent“, fügte Nina hinzu. „Vielleicht können wir ihn ja
anrufen.“
Daniel schwieg, doch Delia protestierte lautstark. „Nein, nein, nein, nein!“
„Aber ...“, versuchte Nina zu widersprechen.
Delia unterbrach sie sofort. „Nina, er hat uns angelogen und Mara vergiftet.“
Hilfe suchend wandte Nina sich an Daniel. „Was hältst du von Vincent?“
„Er war immer nett zu mir“, erwiderte Daniel vorsichtig. „Ich verstehe nur
nicht, warum er alles tut, was Trabas sagt. Ich glaube, da steckt mehr dah-
inter. Solange er auf Trabas hört, können wir ihm nicht vertrauen.“
Nina senkte den Kopf. Als sie ihn wieder hob, sah sie sehr entschlossen aus.
„Es hilft nichts. Wir müssen selbst ins Schloss.“
„Okay.“ Delia war sofort einverstanden.
Auch Daniel stand auf.
Nina erkannte sofort, dass es keine gute Idee gewesen wäre, ihn mitzuneh-
men. Sanft schob sie ihn zurück aufs Bett. „Du gehst nirgendwohin. Du
musst dich ausruhen.“
Als er protestieren wollte, schüttelte sie den Kopf. „Tu’s für mich, okay? Du
bist zu schwach, um wegzurennen, falls das nötig ist.“
Daniel stimmte ihr zu. Nina hatte recht. Er war wirklich immer noch sehr
müde.
„Und jemand muss auf die Träne aufpassen!“, fügte Delia hinzu und drückte
ihm die glitzernde Phiole in die Hand.
„Seid vorsichtig!“, rief Daniel den beiden Mädchen hinterher.
„Eigentlich ist Ringo ein sehr lieber Hund!“ Die tierliebe Nina lächelte selb-
stvergessen beim Gedanken daran, wie sich der angeblich so wilde Hund von
ihr hatte streicheln lassen. „Er konnte kaum genug davon bekommen, zwis-
chen den Ohren gekrault zu werden!“
Delia sah skeptisch aus. Alle Hunde, die größer waren als ihre Handtasche,
waren ihr suspekt. „Er hatte ja auch ein fettes Stück Fleisch zum Zerfetzen!“,
erwiderte sie so leise wie möglich.
Sie folgte Nina, die in alle Zimmer schaute, die auf diesem Gang lagen.
„Wo sind die Jungs bloß?“, fragte Delia, doch in diesem Moment stupste
Nina sie in die Seite und wies auf eine Tür, die nur angelehnt war. Ein
Lichtschein drang aus dem Türspalt auf den Flur.
Lautlos schlichen die Mädchen näher. Sie konnten bis auf den Gang hinaus
hören, dass sich im Zimmer jemand unterhielt.
„Wieso plötzlich diese Fragen?“, wollte eine zittrige, alte Stimme wissen.
Nina blickte Delia erschrocken an. Zeno Trabas!
„Ich mein ja nur, muss Mara wirklich ...?“
Nina riss die Augen auf. Delia nickte bestätigend. Das war Vincent!
Jetzt klirrte etwas, als würde Glas an Glas stoßen. Als Nina behutsam um die
Ecke lugte, sah sie ein Bett in der Mitte des Raums.
Und in diesem Bett lag Mara!
194/246
Das Klirren rührte daher, dass Trabas eine Ampulle mit Gift – sie erkannte es
an dem Totenkopf auf der Flasche! – vom Regal genommen hatte. Er zog
eine Spritze mit der Flüssigkeit auf und ging zu Mara hinüber.
„Ja, sie muss sterben!“, beantwortete Trabas Vincents Frage und stieß die
Nadel in den Infusionsbeutel, der über Maras Bett hing. „Du hast die ganze
Zeit gewusst, dass es darauf hinausläuft.“
„Da hab ich sie noch nicht gekannt.“ Vincents Stimme war kaum zu hören.
Trabas wandte sich um. „Willst du, dass ich stattdessen sterbe?“
Nina zog sich schnell in den Schatten der halb offenen Tür zurück, sodass
Trabas sie nicht sehen konnte.
Und der redete weiter. „Willst du wirklich deinen eigenen Vater opfern?“
Nina hielt vor Überraschung die Luft an und schaute in Delias aufgerissene
Augen.
Vincent war Zeno Trabas’ Sohn!
Magnus war genervt. Das war ja wirklich toll gelaufen. Kaum hier angekom-
men, waren sie eingesperrt worden! Wie ein Tiger ging er in diesem komis-
chen Zimmer, das ein wenig nach Bibliothek aussah, auf und ab und wartete
darauf, dass Felix seinen Trick mit der Karte wiederholte, der ihn das letzte
Mal aus einem verschlossenen Zimmer herausgeholt hatte.
Doch Felix’ Schülerausweis schien nicht so gut dafür geeignet wie die Kred-
itkarte von Delias Vater.
„Ich hab’s gleich!“, murmelte Felix. Vor lauter Konzentration war in seinem
Mundwinkel die Zungenspitze zu sehen.
Stirnrunzelnd schaute Magnus zu, wie sein bester Freund mit der Karte am
Türrahmen herumfummelte. Toll!, dachte er wieder. Bei dieser Super-
blondine hat er es gleich geschafft. Aber bei mir lässt er sich Zeit.
Schließlich wurde es ihm zu bunt. „Zur Seite!“, rief er grimmig und wollte
schon Anlauf zu einem Karatetritt nehmen, der Jackie Chan alle Ehre
gemacht hätte, als sich die Tür öffnete. Felix konnte gerade noch
zurückweichen.
Es war Morten Vierstein. „Kann ich dir irgendwie helfen?“, fragte er nach
einem irritierten Blick.
195/246
„Ich will Mara sehen!“, forderte Magnus.
„Du machst, was ich will!“, gab Vierstein zurück. „Nicht andersrum.“
„Und was wollen Sie?“, fragte Magnus.
„Die Träne! Im Tausch für Mara.“
„Okay“, mischte sich Felix ein. „Wir gehen sie holen. Und Mara nehmen wir
gleich mit.“
Doch darauf fiel Vierstein nicht herein. „Erst die Träne, dann Mara.“
„Abgemacht!“, rief eine helle Stimme dazwischen.
Es war Nina! Und Delia war hinter ihr! Magnus war erleichtert, die beiden zu
sehen. Und sie hielt eine kleine Phiole hoch, die aussah ... wie einer von Deli-
as hundert Parfümflakons.
Magnus schaute zu Vierstein hinüber. Ließ er sich wirklich so leicht
überlisten?
Bestimmt! Er wusste ja gar nicht, wie die Träne der Isis in Wirklichkeit
aussah.
Vierstein grinste überlegen. „Warum sollte ich eine Abmachung eingehen für
etwas, was ich mir einfach nehmen kann?“
„Das wäre nicht ehrlich!“, sagte Delia aufgebracht.
Vierstein kam langsam auf Nina zu. „Bu-hu!“, machte er.
„Halt, keinen Schritt näher, sonst zerstöre ich die Träne!“, warnte Nina.
Vierstein ließ sich nicht beeindrucken und ging weiter auf Nina zu. „Dann
könnt ihr Mara nicht retten.“
„Stopp! Ich warne Sie!“, schrie Nina, doch Vierstein blieb nicht stehen.
Da tat Nina etwas Unerwartetes: Sie warf das Fläschchen mit aller Kraft auf
den Boden. Es zersprang mit einem Klirren in tausend Scherben.
„Nein!“ Vierstein kniete sich sofort hin und versuchte vergeblich, ein wenig
der Flüssigkeit mit ein paar größeren Scherben zu retten.
Nina winkte Felix und Magnus zu. Nichts wie weg hier!
Alle vier rannten, so schnell sie konnten, aus dem Schloss.
Hinter ihnen schrie Morten Vierstein vor Wut.
Die Tür flog auf und prallte mit lautem Knall an den Schrank.
Daniel schreckte hoch. Was war denn jetzt los?
196/246
Dann sah er, dass Nina, Magnus, Felix und Delia zur Tür hereinstürmten.
Und Magnus war schrecklich aufgeregt.
„Warum sind wir ohne Mara gegangen?“, wollte er zornig wissen. „Wir hät-
ten sie retten können.“
Nina wandte sich um. „Wie denn?“, fragte sie zurück. „Trabas und Vincent
waren in ihrem Zimmer!“
„Was ist denn los?“ Daniel verstand nur Bahnhof.
„Nein, nein, schlaf nur weiter“, meldete sich Magnus bissig zu Wort. „Meine
Freundin liegt ja auch nur im Koma und wurde entführt!“
„Daniel lag selbst im Koma!“, gab Nina ärgerlich zurück. „Wir haben etwas
erfahren“, erzählte sie zu Daniel gewandt. „Vincent ist der Sohn von Trabas!“
„Das erklärt, warum er auf Trabas hört“, stellte Daniel fest. „Für seinen Vater
würde man alles tun.“
Magnus nickte langsam. Ja. Das wusste er aus eigener Erfahrung. Er hatte
ebenfalls einmal alles aufs Spiel gesetzt, um seinem Vater in der Not zu
helfen.
„Wir werden Mara retten, sobald wir einen Plan haben“, sagte Daniel bestim-
mt und zog die Träne unter seinem Kopfkissen hervor.
„Iiih, die ist ja ganz schmutzig!“, ließ sich Delia vernehmen.
Nina nahm sie und hielt sie ins Licht. „Sie ist ganz trüb!“
Die anderen schwiegen und dachten an den Glanz, den die Phiole noch vor
ein paar Stunden gehabt hatte. Ein Glanz, der jetzt beinahe ganz verschwun-
den war.
Das konnte nichts Gutes bedeuten ...
„Und du bist sicher, dass wir hier etwas über die Träne finden?“, wollte Mag-
nus leise wissen.
Daniel öffnete entschlossen die Tür zu Victors Kellerlabor. „Ja, bin ich. Ich
hab da vor Ewigkeiten mal was im Regal gesehen.“
Nina schaute besorgt die Treppe zum Hausflur hoch. „Was, wenn Victor uns
erwischt?“
Daniel winkte ab. „Der ist oben und hilft Rosie, die Musik für ihre Hochzeit
mit Ursli auszusuchen.“
197/246
Er ging zum Regal und zog ein dickes, uralt aussehendes Buch daraus hervor.
Vorsichtig wischte er den Staub davon ab.
Daniel lief zum Tisch hinüber und schlug es auf. Doch als Magnus sich
neben ihn stellen wollte, ließ er das nicht zu. „Nein.“
„Und warum nicht?“, wollte Magnus angriffslustig wissen.
„Weil du kein Latein kannst!“, gab Daniel trocken zurück.
Dagegen war nichts zu sagen.
Daniel blätterte die Seiten des Buchs auf der Suche nach einem passenden
Eintrag um. Plötzlich hielt er inne.
„Hast du etwas gefunden?“, fragte Nina aufgeregt.
„Hier steht was“, murmelte Daniel. „Die Träne wird dunkler. Sie verbietet,
nein bietet erst dann das ewige Leben, wenn sie dunkel – schwarz! – ist.“
„Und wann wird sie schwarz?“, wollte Nina wissen.
„Wenn die Letzte der Blutlinie ... nicht mehr atmet.“
„Also wenn Mara ...“, sagte Magnus tonlos.
Keiner beendete den Satz.
„Das heißt aber, dass Mara noch lebt, solange die Träne nicht schwarz ist“,
erklärte Nina bestimmt.
Daniel zog die Phiole aus der Tasche und betrachtete sie nachdenklich. Sie
war trüb, vielleicht sogar trüber als zuvor, doch sie war auf keinen Fall
schwarz.
Magnus schien einen Moment mit sich zu hadern, dann hob er den Kopf und
wandte sich Nina zu. „Ruf Vincent an. Wir geben ihm die Träne.“
Entgeistert schauten Nina und Daniel zu ihm hin.
„Er vertraut dir!“, erklärte Magnus. „Wir legen ihn rein. Du tust so, als ob du
ihm die Träne gibst, damit wir ins Schloss können.“
Nina zögerte. „Ich möchte ihn aber nicht verraten“, entgegnete sie dann.
„Er hat dafür gesorgt, dass Mara entführt werden konnte, und hat sie ver-
giftet!“, stieß Magnus hervor. „Zu dir ist er nur nett, weil er weiß, dass du da-
rauf hereinfällst.“
„Ich fürchte, er hat recht“, bestätigte Daniel.
Nina ließ den Kopf hängen. Lag sie wirklich falsch? Vincent wollte seinem
Vater helfen, das wusste sie. Es lag auf der Hand, dass man lieber seinen
198/246
Vater als eine Wildfremde rettete. Sicher sahen Magnus und Daniel das
richtig.
Traurig zog sie ihr Handy hervor und tippte Vincents Nummer ein.
199/246
32
TU DAS RICHTIGE
Nina schreckte auf.
War sie noch im Bett? Es war stockdunkel. Sie hatte unruhig geschlafen,
denn das schlechte Gewissen, Vincent belügen und hinters Licht führen zu
müssen, plagte sie auch im Traum.
Eine Sekunde lang fragte sie sich, was sie wohl geweckt hatte, dann sah sie
den schimmernden Fleck in ihrer Zimmerecke, der sich verdichtete und im-
mer deutlicher wurde.
Sarah.
Nina lief ein Schauder über den Rücken.
„Nina, hab keine Angst!“, wisperte Sarah und stand einen Wimpernschlag
später direkt neben Ninas Bett. „Freundschaft und Vertrauen, Nina!“,
flüsterte sie. „Nur damit kannst du Mara retten.“
„Vertrauen?“ Nina verstand gar nichts. Doch es klang gut, denn das war et-
was, woran sie selbst ganz fest glaubte. „Wem soll ich vertrauen?“
„Freundschaft und Vertrauen!“, wiederholte Sarah, so als benötigte Nina
keine Erklärung für etwas so Grundlegendes.
Im nächsten Augenblick wachte Nina auf. Es war früher Morgen.
Wieder war Sarahs Erscheinen nur ein Traum gewesen.
Aber ein guter, dachte Nina. Sie war ein wenig erleichtert, denn nun lag ihr
Weg klarer vor ihr.
Die Hochzeitsvorbereitungen waren in vollem Gange.
Victor hatte die Laube fertig gebaut, Charlotte und Luzy trugen die Kleider
für die Brautjungfern, und selbst Nina hatte es geschafft, zwischen den
Clubaktivitäten den Blumenschmuck zu organisieren.
Es konnte geheiratet werden! Doch Nina war beim Jawort von Rosie und
Ursli nicht bei der Sache, auch wenn Rosie in ihrem Hochzeitskleid hin-
reißend aussah. Nina hatte heute Morgen nach dem Traum von Sarah Vincent
angerufen und das vereinbarte Treffen vorverlegt. Sarah hatte bisher immer
recht gehabt – und deshalb war Nina sicher, dass sie Vincent vertrauen
musste.
Sie würde ihm die Träne geben und nicht nur so tun, als ob – so wie Magnus
es vorgeschlagen hatte. Freundschaft und Vertrauen! Und sie wusste tief in
ihrem Herzen, dass sie Vincent vertrauen konnte. Er würde das Richtige tun
und Mara nicht sterben lassen.
Als der erste Jubel über das Jawort Onkel Urslis und Rosies vorbei war, hielt
Nina es nicht mehr aus. Um ihren Plan durchzuziehen, musste sie ihn vor den
anderen geheim halten, und das fiel ihr schwer. Aber sie wusste, sie würde
Daniel und Magnus nicht erklären können, warum sie Vincent die Träne
geben würde.
Geben musste.
Heimlich schlich sie sich davon.
Sie warf einen letzten Blick auf Daniel, der sie fragend anschaute.
Entschuldigend lächelte sie ihn an und lief aus dem Garten.
Er vertraut mir auch, dachte sie schuldbewusst. Und dabei würde sie jetzt
genau dieses Vertrauen enttäuschen.
Als sie beim vereinbarten Treffpunkt ankam, war Vincent bereits da und trat
ungeduldig von einem Bein aufs andere.
„Nina!“, begrüßte er sie. „Wenn wir Mara retten wollen, musst du mir die
Träne geben. Es geht ihr wirklich schlecht.“
Nina sah ihm ins Gesicht. Verlegen wich er ihrem Blick aus.
„Versprichst du also, Mara zu retten?“, fragte sie geradeheraus.
Er zögerte. „Ich verspreche zu tun, was ich tun muss“, sagte er dann.
„Also rettest du Mara?“ Nina ließ nicht locker. „Wenn man Freunden etwas
verspricht, dann muss man das auch halten, daran glaube ich ganz fest!“
Vincent hob den Kopf und nickte vorsichtig.
Langsam griff Nina in ihre Tasche. Als sie die Hand wieder hervorzog, lag
die Phiole auf ihrer Handfläche.
201/246
Vincent nahm sie dankbar an sich. Er wandte sich um und rannte in Richtung
Schloss davon.
Nina sah ihm hinterher und wartete auf das schöne Gefühl, das Richtige get-
an zu haben.
Aber das kam nicht.
Als Nina den Garten des Internats wieder betrat, war die Hochzeitsfeier in
vollem Gange. Alle schienen zufrieden und glücklich, sogar Victor tanzte mit
Urslis Schwester Reni, die extra zu Besuch gekommen war, einen Walzer!
Doch Nina hielt sich nicht bei den anderen auf. Keiner vom Club war unter
den Tanzenden und den anderen fröhlichen Gästen. Sicher hatten sie ent-
deckt, dass die Träne nicht mehr da war! Nina biss sich auf die Lippen. Fre-
undschaft und Vertrauen, das galt für den Club ja noch viel mehr als für Vin-
cent! Sie wollte die anderen keine Sekunde länger anlügen. Sie musste sofort
erklären, was sie getan hatte, und auch, warum sie es getan hatte.
Sie fand ihre Freunde in Felix’ und Magnus’ Zimmer.
„Wo sind dann Nina und die Träne? Weißt du das?“, rief Magnus gerade.
„Du kannst sie selbst fragen, wo die Träne ist“, sagte Felix. Er hatte Nina als
Erster gesehen.
Magnus, der auf dem Bett gesessen und das Gesicht in den Händen vergraben
hatte, sprang auf und stellte sich direkt vor Nina. „Nina, bitte!“, flehte er
drängend. „Sag, dass du Vincent nicht die Träne gegeben hast. Bitte!“
Nina schluckte und konnte nicht antworten. Sie warf einen kurzen Blick zu
Daniel.
„Sie hat es getan“, bestätigte er.
Magnus sank verzweifelt auf sein Bett zurück. Ninas Schuldgefühle wurden
noch stärker, als sie ihn so sah.
„Nina, wie konntest du das tun?“, fragte Delia entgeistert, die neben Felix
stand.
„Vincent wird Mara retten“, entgegnete Nina, so fest sie konnte. „Ich bin mir
ganz sicher, er hat es mir versprochen.“
Sie glaubte wirklich daran, doch jetzt, wo sie es sagte, klang es sogar für ihre
Ohren sehr naiv.
202/246
„Kann ja sein, dass ich meine Fehler habe“, fuhr Magnus auf. „Aber ich
würde dich niemals so verraten. Warum tust du das?“
„Als ob ich das für mich getan hätte!“, verteidigte sich Nina. „Und klar will
ich Mara retten! Mehr als alles andere! Freundschaft und Vertrauen. Das hat
Sarah im Traum zu mir gesagt.“
„Na, da bin ich ja beruhigt!“, erwiderte Magnus sarkastisch. Er stand auf und
holte sich eine Jacke aus seinem Schrank.
„Was hast du vor?“, wollte Daniel wissen.
„Ich gehe zum Schloss. Und alle, denen Mara wichtiger ist als Vincent, kom-
men mit.“
Delia und Felix folgten ihm. Daniel und Nina blieben allein zurück.
„Was genau hat er denn gesagt?“, wollte Daniel wissen.
„Vincent? Dass er tun wird, was er tun muss“, antwortete Nina.
„Ich fürchte, das heißt in seinem Fall, er wird seinen Vater retten.“ Damit
ging auch Daniel hinter den anderen her.
Nina seufzte unglücklich. Sie konnte nur hoffen, dass alles gut ausging.
Sie waren beinahe durch den Garten, an der Hochzeitsfeier vorbei, als Victor
den Club aufhielt.
„Nanana!“, brummte er und stellte sich Magnus in den Weg. „Das ist Rosies
Hochzeit, und ihr bleibt bis zum Schluss.“
„Nein!“, sagte Magnus einfach.
Victor sah jeden von ihnen der Reihe nach an.
„Ist es ... so ernst?“, fragte er und schaute zu Felix und Delia, die beide ihren
besten Dackelblick aufgesetzt hatten.
Leise stimmte Magnus zu. Man konnte ihm den Kloß im Hals ansehen.
„Okay“, knurrte Victor. „Dann ab mit euch. Und hört mal: Bringt Mara
zurück, ja?“
Die Sibunas waren verwundert. Kam das wirklich aus Victors Mund? Seit er
das Spiegelbild seines Vaters zerstört hatte, war Victor ein viel freundlicherer
Mensch geworden.
Leise betrat Vincent das Zimmer, in dem Mara lag.
203/246
Sein Vater saß neben ihr. Morten Vierstein hatte einen Sessel neben Maras
Krankenbett gestellt, sodass Zeno Trabas es sich darauf hatte bequem
machen können. Im Regal dahinter standen drei Rundkolben. Nur in einem
davon war ein Rest der trüben Flüssigkeit, die aus Daniels Körper destilliert
worden war. Die anderen waren leer.
Sanft berührte Vincent die Schulter seines schlafenden Vaters.
„Vincent ...!“, murmelte Trabas.
„Papa, alles in Ordnung mit dir?“
Trabas lächelte schwach. „Wenn du die Träne hast, schon.“
„Hier.“ Vincent hielt Trabas die Träne hin. Sie war sehr trüb geworden, bei-
nahe schwarz. Nur ein ganz schwaches Schimmern verriet, dass noch ein
wenig des Gifts in Maras Körper fehlte.
Trabas’ Atem ging schneller. Er musste husten.
„Endlich!“, sagte er leise. „Ich bekomme das ewige Leben. Zusammen mit
meinem Sohn. Das hast du gut gemacht, sehr gut.“ Wieder schüttelte ihn der
krampfartige Husten.
„Mara ist bereit für das letzte Gift. Gib du es ihr“, keuchte er, als er zu Atem
gekommen war.
„NEIN!“
Vincent und Zeno Trabas fuhren herum.
Magnus stand in der Tür! Und hinter ihm Nina, Daniel, Felix und Delia!
Erschrocken starrte Trabas erst die Bewohner des Hauses Anubis, dann sein-
en Sohn an. Doch der sah nur eine: Nina.
„Wie konntest du das tun?“, fragte sie. Ihre Stimme klang zutiefst verletzt.
Vincent schwieg. Er wusste nicht, was er sagen sollte.
„Wie tapfer“, meinte Trabas spöttisch zu Magnus. „Er will seine Freundin
retten!“
„Wollen Sie uns aufhalten?“, wollte Magnus angriffslustig wissen.
„Ich?“ Trabas lachte auf. „Nein.“ Er wies mit dem Finger auf den, der gerade
hinter dem Club der Alten Weide hereingekommen war. „Das kann Morten
zusammen mit Ringo viel besser!“
„Das schaffe ich schon ganz allein“, sagte Morten Vierstein mit einem
falschen Lächeln. „Aber Ringo hat auch keine Angst vor euch!“
204/246
Er ließ Ringo ein Stück Leine. Knurrend ging der Hund einen Schritt auf die
Gruppe zu.
„Los, raus hier“, meinte Vierstein grimmig. Das Lächeln war von seinem
Gesicht verschwunden. „Schön langsam.“
Alle folgten ihm widerwillig.
Nur Nina wandte sich noch einmal zu Vincent um. „Wie konntest du das
tun?“, fragte sie. Die Enttäuschung in ihrer Stimme war nicht zu überhören.
„Du hast gesagt, wir sind Freunde!“
Vierstein führte sie und die anderen hinaus, und Vincent brachte es nicht
übers Herz, ihr hinterherzusehen.
„Na, super!“
Die Tür schlug mit einem lauten Knall hinter ihnen zu.
Noch nie hatte Nina sich so hilflos gefühlt. Sie lehnte sich verzweifelt an die
Wand und sank zu Boden.
„Glückwunsch, Nina!“, sagte Magnus mit allem Hohn, den er in seine
Stimme legen konnte. „Du hast es geschafft.“
Nina war elend zumute. Sie hatte auf einen Traum gehört, und jetzt war Mara
beinahe tot!
„Magnus, es reicht!“, mischte Daniel sich ein und stellte sich schützend vor
Nina.
„Okay“, knurrte der. „Ich hab sowieso Besseres zu tun. Zum Beispiel
ausbrechen.“
„Mit der Karte geht es nicht!“, verkündete Felix, der mit gerunzelter Stirn vor
dem Schlüsselloch in der Tür hockte. „Ist ein anderes Schloss diesmal. Sieht
aus wie das von einer Geheimdienstzentrale!“
„Dann müssen wir die Tür eben aufbrechen!“, erklärte Magnus und zerrte
Felix an der Schulter hoch. „Auf drei!“
Daniel sah ihn skeptisch an. „Die Tür ist massiv. Keine Chance!“
Magnus interessierte das gar nicht. „Und wenn wir uns die Schultern brechen
– wir kommen hier raus!“
Jetzt wurde es Delia zu bunt. „Deine Idee ist schwachsinnig!“, schimpfte sie.
„Hast du eine bessere?“, wollte Magnus zornig wissen.
205/246
„Zufällig schon!“, erwiderte Delia. Sie winkte, und alle setzten sich neugierig
um sie herum. Ausgerechnet Delia hatte eine Idee?
Aber sie ließ sich nicht beirren und erklärte ihren Einfall ausführlich.
„Kapiert?“, fragte sie, als sie am Ende der Erläuterungen angekommen war.
Magnus und Daniel sahen skeptisch drein.
Doch schließlich zuckte Magnus mit den Achseln. Man konnte Delias
Vorschlag immerhin ausprobieren. Besser, als sich womöglich eine Schulter
zu brechen, war es allemal. „Könnte funktionieren“, meinte er. „Obwohl die
Idee von Barbie ist!“
Felix dagegen war völlig begeistert. „Delia ist genial, Delia ist genial!“, sang
er leise vor sich hin.
Delia strahlte.
„Moment noch“, meinte Nina plötzlich.
„Was denn, willst du den Plan zuerst mit Vincent besprechen?“, sagte Mag-
nus bissig.
„Was ich getan habe, habe ich für Mara getan“, erklärte Nina leise, aber mit
fester Stimme. „Ich dachte, dass Sarah es so gemeint hat. Ich ... es tut mir
schrecklich leid. Wenn ich mit Mara tauschen könnte, würde ich es tun.
Sofort.“
Magnus seufzte. „Ich weiß“, erwiderte er nach einigem Zögern. „Du tust alles
für andere, deshalb vertraust du auch allen so schnell.“
„Deshalb ist Nina eben Nina“, lächelte Daniel.
„Na gut!“, rang Magnus sich schließlich ab. „Mir tut’s auch leid!“
Nina legte die Hand vors linke Auge. „Sibuna?“
Alle machten es ihr nach. „Sibuna!“
„Dann los“, befahl Delia.
206/246
33
REINGELEGT!
Der Schrei, der durch die Gänge von Zeno Trabas’ Schloss hallte, war
markerschütternd.
Vincent fuhr auf. Er hatte an Maras Bett gesessen und nach den passenden
Worten gesucht, um sich bei ihr zu entschuldigen.
Vergeblich. Nichts war ihm eingefallen, was seine Tat hätte rechtfertigen
können.
Der Schrei klang fürchterlich. Vincent lief ein Schauer über den Rücken. Je-
mand war in höchster Not!
Delia!, fuhr es ihm durch den Kopf. Irgendetwas muss passiert sein!
Eilig rannte er durch die Gänge zu dem Zimmer, in das Morten Vierstein die
fünf Clubmitglieder gesperrt hatte. Glücklicherweise hatte er selbst einen
Schlüssel und musste nicht erst Vierstein suchen, um ihn um seinen zu bitten!
Als er aufsperrte, stockte Vincent der Atem. Nina lag leblos und mit
geschlossenen Augen auf dem Boden, Daniel und Delia knieten neben ihr,
hielten ihre Hand und strichen ihr das Haar aus dem blassen, herzförmigen
Gesicht. Felix kniete mit schockiertem Gesicht an der Seite.
„Was ist passiert?“, wollte Vincent wissen.
Delia schluchzte auf, Tränen liefen ihr über die Wangen. „Sie haben sich
gestritten, Nina und Magnus! Er hat sie an die Wand geschubst!“ Panik klang
in ihrer Stimme.
„Was!?“ Vincent konnte es nicht fassen. Wie konnte Magnus nur so gemein
sein!
„Voll brutal!“, bestätigte Felix eifrig. „Ich hab was knacksen gehört!“
„Warum tut ihr denn nichts!?“ Vincent begann, in seiner Tasche nach seinem
Handy zu graben. Sie mussten einen Krankenwagen rufen!
„Findest du das lustig, oder was?“, wollte er irritiert von Daniel wissen, der
ihn lächelnd ansah.
Zu Vincents grenzenloser Überraschung richtete Nina sich jetzt auf und
blickte ihm direkt in die Augen. „Buh!“, machte sie.
Langsam dämmerte ihm, dass Nina und die anderen ihn hereingelegt hatten!
Er konnte nicht fassen, dass ausgerechnet Nina etwas so Hinterhältiges getan
haben konnte. Dazu war sie viel zu nett!
Felix und Delia waren aufgesprungen und rannten zur Tür.
Aber Vincent war schneller. Mit einem Satz stand er zwischen Felix, Delia
und dem Ausgang und schubste sie zurück. Dann warf er ihnen die Tür vor
der Nase zu.
„Guter Versuch!“, rief er so laut, dass die Gefangenen es hören mussten, und
lehnte sich erleichtert gegen die Tür.
Nicht auszudenken, was sein Vater oder Vierstein gesagt hätten, wenn die
Anubis-Bewohner noch einmal wegen ihm freigekommen wären! Aber er
hatte ihre List rechtzeitig durchschaut.
Erst als er wieder zu Atem gekommen war, fiel ihm auf, dass er Magnus
während dieser Schmierenkomödie gar nicht gesehen hatte.
Eine kalte Hand griff nach seinem Herzen. Die Tür hatte die ganze Zeit offen
gestanden! Was, wenn Magnus entkommen war, während er, Vincent, vor
Nina gehockt hatte? Dann konnte er vielleicht Mara ... Nein, das durfte nicht
passieren!
Vincent rannte los, um das Schlimmste zu verhindern.
Magnus wusste, er hatte nicht viel Zeit. Delias Plan hatte ihm einen Vor-
sprung verschafft, allerdings musste er Mara schnell finden – und dieses
Schloss hatte so viele Gänge und so viele Zimmer!
Er hatte Glück. Da, vor ihm, drei Türen weiter, schimmerte jetzt ein
Lichtschein in den Korridor, der immer größer wurde. Der Eingang zu dem
Raum dort wurde geöffnet. Und heraus kam Zeno Trabas! Rasch verbarg
Magnus sich hinter einer Standuhr, damit der ihn nicht bemerkte.
Trabas stützte sich schwer auf einen Stock und sah sich um, bevor er die Tür
wieder schloss.
208/246
„Es ist vollbracht!“, murmelte er so, dass Magnus es gerade eben noch hören
konnte.
Kaum war Trabas verschwunden, schlich Magnus sich an den Raum heran.
Als er behutsam die Tür öffnete und einen Blick hineinwarf, zog es ihm das
Herz zusammen.
In dem Regal neben Maras Bett standen jetzt drei leere Rundkolben. Nichts
von dem Gift war mehr übrig. Magnus spürte, wie panische Angst in ihm
hochkroch.
War er zu spät? War schon alles Gift in Maras Körper? Zeno Trabas hatte es
gerade gesagt: Es ist vollbracht!
Eilig hastete Magnus zu Maras Bett. Sie lag völlig leblos und, sofern man das
bei ihrer Hautfarbe sagen konnte, auch sehr blass zwischen den weißen
Laken. Er packte sie an den Schultern und schüttelte sie vorsichtig.
„Mara!“, rief er drängend.
Doch sie antwortete nicht.
Er legte ihr die Hand auf Stirn und Wangen. Sie war ganz kalt, ein leichter
Schweißfilm lag auf ihrer Haut. An ihrem Handgelenk konnte er keinen Puls
ertasten.
Sie musste tot sein.
„Bin ich zu spät?“, flüsterte Magnus ängstlich. Plötzlich konnte er seine
Tränen nicht mehr zurückhalten. „Es tut mir so leid!“, schluchzte er. „Ich
liebe dich, Mara – und das wird sich niemals ändern!“
Weinend brach er neben dem regungslosen Körper seiner Freundin zusam-
men. Er bemerkte nicht, dass Vincent im Türrahmen stand und sich bei
seinem Anblick auf die Lippen biss.
Zeno Trabas und Morten Vierstein hatten die Sibunas auf Vincents Bitten hin
einfach so gehen lassen.
Nina konnte sich nicht darüber freuen. Diese beiden Verbrecher hatten sie
kurzerhand aus dem Schloss geworfen, ohne sie erneut einzusperren oder
ihnen zu drohen – aber das war auch kein Wunder, denn nun hatten sie er-
reicht, was sie wollten. Daniel, sie und Magnus wurden nicht mehr geb-
raucht. Sie konnten nichts mehr tun.
209/246
Mara war tot.
Nina hätte heulen können. All die Mühen, die sie gehabt hatten, die Prüfun-
gen, Daniels Vergiftung und seine Schmerzen – all das war vergeblich
gewesen. Mara war dennoch gestorben.
Magnus war am Boden zerstört.
Nina wusste, dass die anderen versuchten, ihr nicht die Schuld dafür zuzu-
weisen, doch sie konnte nicht anders, als sich schrecklich zu fühlen. Sie hatte
Vincent vertraut, und er hatte sie verraten. Wenn sie die Träne behalten hät-
ten, dann hätten sie Mara retten können. Aber Nina hatte geglaubt, es besser
zu wissen. Besser zu wissen, was Freundschaft und Vertrauen bedeuteten.
Nur sie war schuld, jawohl.
Traurig starrte Nina in die Dunkelheit. Delia schlief ruhig im Bett neben ihr,
Nina dagegen konnte kein Auge zutun.
Sie war schuld am Tod eines Menschen. Ihrer Freundin! Weil sie dem
Falschen vertraut hatte.
Nie wieder würde sie ruhig schlafen können.
Stirnrunzelnd schaute Trabas auf seinen Sohn hinab.
Er wirkte wirklich so, als würde ihm das Mädchen in dem Krankenbett vor
ihm leidtun. War er selbst, Zeno Trabas, nicht viel schlimmer dran?
Dann fiel sein Blick wieder auf die Phiole, die er in der Hand hielt. Sie war
ganz trüb geworden, beinahe schwarz und schimmerte kaum noch. Er dachte
an die Kinder zurück. Sie hatten geglaubt, dass Mara Minkmar tot sei, und
Trabas hatte sie in dem Glauben gelassen. Es machte keinen Unterschied.
Mara Minkmar würde schon sehr bald am Gift gestorben sein.
Schließlich beschloss er, dass es genug war, und richtete sich mühsam auf
seinen Stock gestützt auf. „Ich bin zu schwach, um hier zu warten“, sagte er
mit zittriger Stimme. „Ich muss mich hinlegen.“
Bevor er zur Tür ging, blieb er kurz neben Vincent stehen und legte ihm eine
Hand auf die Schulter. „Es ist noch nicht so weit. Noch ist die Träne nicht
ganz schwarz, das bedeutet, dass die Letzte der Blutlinie nicht tot ist. Ruh
dich auch kurz aus. Morgen bekommen wir unseren Lohn. Das ewige
Leben!“
210/246
Damit ging er und ließ Vincent allein.
Vincent sah weiterhin auf Maras leblose Gestalt in den weißen Laken. Es war
ein schwacher Trost, dass sie noch lebte. Denn die Träne war im Besitz
seines Vaters. Die anderen würden Mara damit nicht mehr retten können.
Vielleicht war es wirklich gut, dass sie glaubten, sie sei schon gestorben.
Nina hatte keine Ahnung, wie lange sie in die Nacht gestarrt hatte.
Es war unheimlich still im Haus, so still, dass Nina sogar die Standuhr unten
in der Eingangshalle ticken hörte. Sie blickte zu Delia hinüber, die seelen-
ruhig schlief. Ein wenig beneidete Nina die Freundin, dann schüttelte sie den
Kopf.
„Meine Schuld“, wisperte sie. „Alles meine Schuld.“
„Nein, Nina.“
Die Stimme war so leise, dass Nina sie kaum hören konnte. Dennoch wusste
Nina sofort, wer es war.
„Sarah! Bin ich doch eingeschlafen?“
„Ist das wichtig?“
„Ich darf nicht schlafen. Nicht nach dem, was ich Mara angetan habe.“
„Dein Herz ist am rechten Platz!“, hauchte Sarah. „Du wolltest Mara retten.
Und das kannst du immer noch!“
„Aber ...“, stammelte Nina. „Mara ist ...“
Sanft schüttelte Sarah den Kopf. „Nein, Nina, Mara lebt! Die Träne, sie ist
noch nicht ganz schwarz. Du musst nur schnell sein.“
Nina dachte einen Moment nach. Natürlich wollte sie Mara retten, wenn das
möglich war!
„Was soll ich tun?“, fragte sie entschlossen.
„Freundschaft ist der Schlüssel“, erwiderte Sarah. Sie streckte Nina eine
Hand entgegen, auf den Fingern lag eine Ampulle mit einer Flüssigkeit darin.
„Gegengift!“, sagte Sarah.
Als Nina die Hand danach ausstreckte, schüttelte der Geist den Kopf. „Gib es
der richtigen Person. Der richtigen Person, Nina!“, wiederholte sie
eindringlich.
211/246
Etwas zögernd nahm Nina die Ampulle und sah darauf hinab. Was meinte
Sarah nur? War Mara nicht die richtige Person?
Als sie aufblickte, um den Geist zu fragen, was er meinte, war dieser
verschwunden.
Nina blinzelte. War das wieder nur ein Traum gewesen? Es war immer noch
dunkel. Sie stand auf und kniff sich fest.
„Autsch!“ Nun war es sicher. Sie war wach – und hielt in ihrer Hand das
Gegengift!
Nina schoss aus dem Bett, rannte zu Delia hinüber und rüttelte sie an der
Schulter.
„Aufwachen!“, rief sie eindringlich, als Delia nur schlaftrunken brummte.
„Sarah war hier! Wir können Mara noch retten! Aber nicht mehr lange! Wir
müssen zurück ins Schloss!“
Behutsam kletterten Magnus, Nina und Daniel durch die Luke in den Keller-
raum des Schlosses.
„Das ist ja das Zimmer, in dem wir eingesperrt waren“, stellte Magnus fest,
als er sich umsah.
„Dann fällt es uns sicher leicht, Maras Zimmer wiederzufinden!“, freute sich
Nina.
Als Letzter sprang Daniel auf den Boden des Raums. „Ich hoffe nur, dass
Delia und Felix etwas Gescheites einfällt.“
Nina nickte nachdenklich. Der Plan war, dass Felix und Delia Morten Vier-
stein lange genug ablenkten, sodass Magnus und die anderen Mara finden
und ihr das Gegengift geben konnten.
Magnus konnte es kaum erwarten. Schon bald würde er Mara wiederhaben!
„Moment mal“, flüsterte Daniel, als Magnus die Tür öffnete und hinaus-
spähte. „Wie lautet der Plan?“
„Ich geb Mara das Gegengift“, erwiderte Magnus prompt.
Nina schüttelte den Kopf. „Ich bin mir sicher, wir sollen das Gegengift nicht
Mara geben“, sagte sie. „Sarah hat zweimal gesagt, wir sollen es der richtigen
Person geben. Damit kann sie nicht Mara gemeint haben. Das wäre viel zu
offensichtlich.“
212/246
„Wäre Ringo, der Hund, unoffensichtlich genug?“, fragte Magnus
sarkastisch.
„Wenn Mara das Gegengift bekommt und es ist nicht für sie bestimmt, dann
war alles umsonst!“, hielt Nina dagegen.
Doch Magnus ließ sich nicht beeindrucken. „Wenn wir’s ihr nicht geben, war
auch alles umsonst!“
Nina biss sich auf die Lippen. Dagegen war wenig zu sagen.
Magnus hielt kurz inne, dann schlich er auf den Gang hinaus und die Treppe
hinauf ins Erdgeschoss.
213/246
34
KAMPF UM DIE TRÄNE
Daniel und Nina folgten Magnus vorsichtig hinauf ins Erdgeschoss des
Schlosses. Dort war das Zimmer, in dem Mara untergebracht war. Und
richtig, am Ende des Korridors musste der Haupteingang sein. Stimmen war-
en von dort zu hören.
Als Nina genauer lauschte, erkannte sie Felix, Delia und Morten Vierstein.
Und Delia schien ihr Bestes zu geben: Gerade rief sie, statt Vierstein
eingeschüchtert zu antworten, laut: „Iiih, Sie haben ja Haare in der Nase!“
Wäre die Situation nicht so ernst gewesen, Nina hätte laut auflachen müssen.
Doch nun knallte die Eingangstür hörbar zu. Schritte näherten sich.
Hastig versteckten sich Nina, Magnus und Daniel hinter einem Schrank. Sie
waren sicher, Vierstein würde zuerst in Maras Zimmer gehen. Bestimmt war-
en Zeno Trabas und Vincent dort, um zu sehen, wann sie die Flüssigkeit in
der Träne trinken konnten – denn das durften sie ja erst, wenn sie schwarz
war. Und Mara tot.
Und richtig. Als Vierstein mit Ringo herankam, hielt er zielstrebig auf Maras
Zimmer zu und ging hinein.
Zu Ninas Freude ließ er die Tür offen stehen, sodass sie mithören konnten,
was gesprochen wurde.
„Der Junge hat die Seiten gewechselt!“, sagte Vierstein laut. „Er will Mara
retten!“
Anerkennend sahen sich Magnus, Daniel und Nina an.
Ein toller Plan, Misstrauen zwischen den Feinden zu säen! Delia war wirklich
eine gute Menschenkennerin. Es war genau das Richtige, Trabas und Vincent
gegeneinander aufzubringen. Langsam schlichen sich die drei näher an das
Krankenzimmer heran.
„Was!?“ Trabas konnte offenbar nicht fassen, was Morten Vierstein erzählte.
„Ist das wahr, Vincent?“
„Ich ... ich weiß gar nicht, wovon Morten da redet“, stammelte der.
„Er hat die anderen angerufen, diese Blonde hat es selbst gesagt!“, unterbrach
Vierstein.
„Ich hab niemanden angerufen!“, protestierte Vincent empört.
„Warum stehen Barbie und ihr Clown-Freund denn sonst vor der Tür?“, woll-
te Vierstein wissen.
„Weiß ich doch nicht!“
Nun wurde es Trabas zu viel. „Lass ihn los!“, herrschte er Vierstein an. „So-
fort ... Und du, mein lieber Sohn, ich würde dir gerne glauben. Aber in letzter
Zeit muss ich mich oft über dein Verhalten wundern.“
„Man kann ihm nicht vertrauen!“ Vierstein war offenbar sehr wütend
darüber, dass Trabas seinem Sohn so viel durchgehen ließ, und stürmte aus
dem Zimmer.
„Er ist mein Sohn“, rief Trabas ihm hinterher. „Und ich werde ihm bis ans
Ende aller Zeiten vertrauen! Bist du mein Vertrauen wert, Vincent?“
Vincent antwortete seinem Vater nicht sofort. Als Nina um die Ecke lugte,
sah sie, dass er nickte.
„Das Mädchen muss sterben“, erklärte Trabas. „Damit ich leben kann. Damit
wir beide unsterblich werden und immer zusammenbleiben können, genau,
wie deine Mutter es wollte! Sprich mir nach, Vincent: Das Mädchen muss
sterben.“
Es kostete Vincent sichtlich Kraft, seinem Vater zu gehorchen. „Das Mäd-
chen muss sterben“, murmelte er kaum hörbar.
Zeno Trabas schaute zufrieden auf die Phiole in seiner Hand hinab.
Nina erschrak, als sie seinem Blick folgte. Die Träne war beinahe ganz
schwarz, und selbst von ihrem Standpunkt aus war zu erkennen, dass die
Flüssigkeit darin zu brodeln begonnen hatte. Hoffentlich waren sie noch nicht
zu spät!
„Steh auf, Junge“, sagte Trabas nun und gab Vincent die Träne. „In wenigen
Augenblicken werden wir unsterblich!“
215/246
Aber Vincent brachte es nicht über sich. Er entkorkte das Fläschchen, dann
zögerte er.
„Trink!“, forderte Trabas ihn erneut auf. „Du hast dich doch für mich
entschieden, oder?“
Vincent stimmte ihm wortlos zu. Er holte Luft und setzte die Phiole an die
Lippen.
Nina hielt es nicht mehr aus. „Nein, Vincent! Bitte nicht!“, schrie sie und
platzte ins Zimmer. Magnus und Daniel folgten ihr. Nina stellte sich vor Vin-
cent auf und blickte ihm direkt ins Gesicht.
„Willst du das wirklich? Du willst nicht, dass Mara stirbt, aber wenn du
trinkst, müsstest du für immer damit leben, dass sie wegen dir starb. Könntest
du das? Mit dieser Schuld? Für ewig?“
Vincent sah Nina an. Langsam ließ er die Träne der Isis sinken. Nina hatte
recht. Das konnte er auf keinen Fall auf sich nehmen!
„Du musst das nicht tun“, sprach Nina weiter. „Ich bitte dich, tu das Richtige,
und wir bleiben für immer Freunde!“
Plötzlich war ein ärgerliches Knurren zu hören.
Bevor Nina und Magnus, der neben ihr stand, eingreifen konnten, schoss Tra-
bas mit ungeahnter Energie vor und riss seinem Sohn die Phiole aus der
Hand.
„So oder so – ihr seid zu spät!“, rief er und setzte nun seinerseits die Träne an
seine Lippen.
Geistesgegenwärtig riss Magnus nun die Ampulle mit dem Gegengift aus der
Tasche und hielt sie Trabas unter die Nase.
„Wenn ich Sie wäre, würde ich das nicht tun!“, sagte er laut.
Trabas starrte auf das kleine Fläschchen. „Was ist das?“
„Als ob Sie das nicht wüssten“, erwiderte Magnus. „Das letzte Gift für
Mara!“
Trabas war fassungslos. „Das kann nicht sein. Sie hat alles bekommen!“
„Ach ja? Vielleicht hab ich ja was ausgetauscht“, gab Magnus zurück.
„Die Träne ist schwarz. Sie ist wahrscheinlich längst tot.“
„Da!“ Nina unterbrach die beiden und wies auf Mara. Sie stöhnte leise und
bewegte einen Finger.
216/246
Auf Magnus’ Gesicht breitete sich ein Lächeln aus.
„Mara lebt!“, wandte er sich erneut an Zeno Trabas. „Sie hat ja noch nicht
das ganze Gift bekommen. Wenn Sie die Träne jetzt trinken, war alles
umsonst.“
Nina sah genau, wie die Träne brodelte, aber dennoch wieder etwas heller zu
werden schien.
Trabas sprang auf. „Gib das her!“, sagte er, doch Nina stellte sich mit Daniel
rasch vor Magnus. Trabas schubste sie einfach fort und ging weiter auf Mag-
nus zu. Doch diesmal war Daniel schneller. Er riss Trabas, der sich Magnus
bedrohlich näherte, die Träne der Isis einfach aus der Hand. Trabas ver-
suchte, ihn festzuhalten, und prompt ließ Daniel die Phiole fallen. Sie flog
durch die Luft, auf Maras Bett. Nina, die sich mit Vincents Hilfe aufgerappelt
hatte, griff danach, bevor jemand anders sie nehmen konnte.
In diesem Moment kam Morten Vierstein herein.
„Die Träne!“, schrie Zeno Trabas in panischer Angst. „Nina hat sie!“
Vierstein ging mit langen Schritten auf sie zu. Und diesmal war es Vincent,
der eingriff und ihm ein Bein stellte! Vierstein schlug der Länge nach auf den
Boden.
„Los, raus!“, schrie Daniel.
Nina gehorchte sofort und war mit ein paar Schritten an der Tür.
Nur Magnus zögerte. „Ich geh hier nicht weg. Mara!“
„Ohne Träne tun sie ihr nichts!“, rief Nina. „Und sie wird heller. Komm!“
Magnus warf einen schnellen Blick auf Vierstein, der langsam auf die Beine
kam. Er nickte und machte sich mit den anderen aus dem Staub.
Für einen Moment hatte Vincent sich großartig gefühlt. Er hatte Nina ge-
holfen, und Mara war fürs Erste gerettet.
Doch als er jetzt wieder vor dem Krankenbett saß, in das er und Vierstein
seinen Vater nach dem Kampf gebracht hatten, fühlte er sich genauso elend
wie zuvor. Beinahe hoffnungslos sah er auf Zeno Trabas hinab. Gut, dass
wenigstens Vierstein nicht im Zimmer war. Vincent wusste genau, wie sehr
der ihn hasste und wie gern er selbst an Vincents Stelle gewesen wäre.
Trotzdem. Viersteins finsteren Blick hätte er nicht auch noch ertragen.
217/246
„Papa!“, murmelte Vincent verzweifelt und nahm die dünne Hand seines
Vaters. „Es tut mir leid. Ich ...“
„Ich weiß“, hauchte Trabas schwach. „Du bist zu gut. Du willst niemanden
opfern. Auch wenn es mich mein Leben kostet.“
Vincent fühlte einen Stich in der Herzgegend. Es klang schrecklich, nicht
alles tun zu wollen, damit der eigene Vater weiterleben konnte!
„Sag mir, was ich tun muss!“, bat er. „Ich tue alles.“
„Die Träne, Vincent!“ Trabas musste husten. „Und die Giftampulle von Mag-
nus.“ Schon die wenigen Worte waren ihm zu viel gewesen. „Aber was küm-
mert dich ein alter Mann ...?“
Am liebsten wäre Vincent in Tränen ausgebrochen.
Er hatte keine Ahnung, wie er an diese Dinge herankommen sollte ...
„Los! Wer sucht was?“
Magnus klatschte im Computerraum der Schule in die Hände wie ein Motiva-
tionstrainer. Vor ihm saßen Felix, Daniel, Nina und Delia vor je einem Com-
puter und suchten nach Informationen zu der Träne der Isis und dem Gegen-
gift, das Nina von Sarah erhalten hatte.
Magnus war klar, bevor sie erneut ins Schloss gingen und einen Versuch un-
ternahmen, Mara zu retten, mussten sie erst herausfinden, was es mit dem
Gegengift auf sich hatte. Da war er mit den anderen ausnahmsweise einig!
Immerhin wurde die Träne der Isis immer heller – und das, obwohl Mara
bereits das ganze Gift erhalten hatte. War das Gegengift am Ende für jemand
anderen als seine Freundin?
Magnus trat hinter Delia, um zu sehen, ob sie schon etwas herausgefunden
hatte.
„Ich schau mir Clips über Rettungsaktionen an“, verkündete sie. Ihre Augen
wurden groß. „Wow! Wir brauchen einen Hubschrauber!“
Magnus seufzte. Das würde kaum weiterhelfen.
„Und du, Felix?“
Felix drückte wie wild auf den Pfeiltasten des Keyboards herum. „Ich spiel
super Deep Space Commander und bin kurz davor, den Galaxy-Star-
218/246
Endgegner zu … Mist!“ Er hielt enttäuscht inne, als der Bildschirm plötzlich
schwarz wurde. Sein bester Freund hatte den Stecker gezogen!
„Hat denn keiner was Vernünftiges gefunden?“, wollte Magnus genervt
wissen.
„Ich hab was!“, rief Nina, die auf der gleichen Homepage wie Daniel suchte
– einem alten Bericht über ägyptische Mythen.
„Das Gegengift hat wirklich mit der Träne zu tun!“, sagte sie aufgeregt.
Daniel beugte sich zu ihr und las laut die Stelle vor, auf die Ninas
Zeigefinger wies. „Der die Träne begehrt, kann durch das Gegengift Erlösung
finden.“
„Der die Träne begehrt ...“, wiederholte Nina. „Das ist Trabas!“
„Ich dachte, die Träne rettet Trabas?“, fragte Delia verständnislos.
„Ja, aber um welchen Preis?“, gab Daniel zu bedenken. „Er ist unsterblich
und hat Mara auf dem Gewissen.“
„Mit dem Gegengift wird er einfach nur gesund“, schlug Nina vor.
„Na ja, gesund“, warf Felix ein. „Er ist ja alt und grau. Und kriegt Mara dann
die Träne?“
„Unsterblich werden kann sie nicht, das bewirkt die Träne nur, wenn der let-
zte Nachfahre von Amneris tot ist. Und das ist ja Mara“, sagte Daniel
nachdenklich. „Wahrscheinlich wird die Träne sie nur heilen.“
„Trabas retten ...!“, rief Magnus ungehalten. „Spinnt ihr? Das ist alles viel zu
unsicher! Es geht um …“
„Mara!“, unterbrach Nina ihn energisch. „Wissen wir! Sarah hat gesagt, dass
wir das Gegengift der richtigen Person geben müssen. Und das ist Trabas,
ob’s dir passt oder nicht!“
„Vielleicht können wir tauschen?“, schlug Delia vor.
„Gegengift gegen Mara!“
Magnus tippte sich an die Stirn. „Ich mach doch keinen Deal mit Trabas! Wir
retten Mara. Das ist unser einziges Ziel“, erklärte er resolut. „Ist mir egal,
was mit Morten, Trabas und Vincent ... oder diesem Köter passiert!“
Seine Stimme duldete keinen Widerspruch.
219/246
Nina schwieg. Ihrer Ansicht nach steckten sie in einer Sackgasse. Und ein
neuer Plan musste her. Woher der allerdings kommen sollte – sie hatte keine
Ahnung.
220/246
35
FREUNDSCHAFT UND VERTRAUEN
Ein neuer Plan kam schließlich von einer Seite, die Nina nie erwartet hätte.
Am nächsten Tag nach der Schule ging Nina wie immer zu ihrem Fahrrad.
Den ganzen Morgen hatte sie im Unterricht darüber nachgedacht, wie man
Mara befreien konnte – ohne Zeno Trabas sterben zu lassen. Denn dass der
alte Mann Angst vor dem Tod hatte, schien klar auf der Hand zu liegen. Und
das tat ihr leid. Wer wollte schon gerne sterben?
Die Lösung war eigentlich ganz einfach: Trabas konnte gesund werden und
Mara konnte gerettet werden, denn jetzt hatten sie ja die Träne und das Ge-
gengift. Hing Trabas denn wirklich so sehr am ewigen Leben? Hatte er nicht
einfach nur Angst vor dem Sterben?
Für Nina war das offensichtlich, allerdings hatten ihr die Ereignisse gestern
gezeigt: Für Vincent und seinen Vater lagen die Dinge ganz anders.
Seufzend beugte Nina sich zu ihrem Fahrradschloss hinunter. Vielleicht kam
sie ja zu einer Lösung, wenn sie das alles noch einmal mit Daniel besprach.
Auf einmal fiel ein Schatten auf Nina. Als sie sich umwandte, stand Vincent
vor ihr.
Sie erstarrte. Was wollte der denn hier? Der traute sich ja was!
Vincent sah die Verachtung in Ninas Augen und wich ein wenig zurück.
„Du brauchst keine Angst zu haben“, flüsterte er.
„Ja, kann ich mir denken, ich bin ja auch nicht Mara“, erwiderte Nina kühl.
„Ich will Mara retten“, sagte er hastig. „Wirklich!“
Nina biss sich auf die Lippen. Für wie dumm hielt er sie eigentlich? „Ich
muss los.“ Sie nahm ihr Rad und schwang sich darauf, doch er hielt es am
Gepäckträger fest.
„Wenn du jetzt wegfährst, wird Mara sterben“, rief er.
Das klang ernst. Nina wandte sich um. „Ich würde dir ja gern glauben, aber
du hast mich ausgenutzt!“, erklärte sie. „Und Mara wäre fast gestorben!“
Vincent senkte den Kopf. „Das tut mir so leid!“
„Das glaub ich dir sogar“, meinte Nina. „Allerdings reicht das nicht.“
„Ich wollte dich nicht verraten!“ Vincent gab nicht auf. „Aber ... mein Vater!
Ich musste ihm einfach helfen!“
Nina stieg vom Rad ab und schaute ihm direkt in die Augen. „Und jetzt willst
du ihn sterben lassen? Das soll ich dir glauben?“
„Ja … Nein.“ Vincent schien verwirrt. Er sank an die nahe Mauer und nahm
die Hände vors Gesicht. „Was auch immer passiert, Mara soll nicht sterben!
Ich bin kein Mörder! Aber hättest du nicht das Gleiche getan, wenn jemand
todkrank ist, den du liebst?“
Nina dachte an die schlimme Zeit, in der ihre Oma im Krankenhaus gelegen
hatte und beinahe gestorben wäre. Die schrecklichen Momente, in denen
Daniel im Koma gelegen hatte ... Vincents Frage war berechtigt. Sie hätte
damals alles dafür gegeben, ihre Liebsten zu retten.
Doch dann schüttelte sie entschlossen den Kopf.
„Man darf ein Leben nicht gegen ein anderes eintauschen“, erklärte sie. „Es
gibt immer auch Menschen, die den anderen lieben.“
„Das versteh ich jetzt“, murmelte Vincent, ohne aufzublicken. „Zu spät ...“
Nina schwieg und betrachtete ihn. Er wirkte wie ein Häufchen Elend.
Ihr Herz schmolz. Auf einmal war sie ganz sicher: Niemand sollte so leiden
müssen, wie es Vincent gerade tat.
„Wenn du wirklich helfen willst, ist es vielleicht noch nicht zu spät!“, sagte
sie weich. „Komm mit. Wir reden mit den anderen.“
Wir reden mit den anderen.
Nina starrte auf Vincent nieder, der neben ihr auf ihrem Bett saß. Das hatte
Nina vorhin versprochen. Und nun sah es aus, als könne sie das nicht halten.
Delia saß ihr gegenüber auf ihrem Bett und hatte ihre finsterste Miene aufge-
setzt. Nina wusste genau, die Freundin war ihr so böse wie nie zuvor. Daniel
stand mit verschränkten Armen in der Mitte des Zimmers. Sein Gesichtsaus-
druck war ebenfalls mehr als skeptisch.
222/246
„Ich weiß, wie merkwürdig euch das vorkommen muss, dass ich ihm schon
wieder ...“
„Merkwürdig?“, giftete Delia. „Das ist dumm! Wie kannst du nur noch mal
auf diesen Lügner reinfallen?“
Vincent hob vorsichtig die Hand. „Darf ich …?“
„Nein! Du darfst gar nichts!“, schimpfte Delia. Sie wandte sich an Daniel.
„Schmeißt du ihn raus oder soll ich?“
„Stell dir einfach mal vor, dass er uns helfen will!“, argumentierte Nina.
Langsam begann sie, sich über Delia zu ärgern.
„Will! Er! Aber! Nicht!“, erklärte die halsstarrig.
„Ich glaub nicht, dass er seinen Vater plötzlich aufgibt“, unterbrach Daniel
die Streiterei. „Nicht, wenn es drauf ankommt.“
„Muss es gar nicht!“, erklärte Nina. „Dazu ist ja das Gegengift da!“
„Und wenn wir das doch noch für Mara brauchen?“, hielt Delia dagegen.
„Immerhin wollen wir sie retten – und nicht Trabas!“
Nina starrte die Freundin böse an. „Manchmal benimmst du dich echt, als ob
du keine Gefühle hättest“, sagte sie.
„Okay, okay, das reicht!“, mischte Daniel sich ein. Er wandte sich an Vin-
cent. „Woher sollen wir wissen, dass du es diesmal wirklich ernst meinst?“
„Hast du einen Lügendetektor hier?“, fragte Vincent. „Ich weiß nicht, wie ich
es sonst beweisen soll.“
In diesem Moment klopfte es.
„Herein!“, rief Delia ungehalten. Dann fiel ihr Blick auf Vincent. „Ups!“ Sie
schlug sich mit der Hand vor den Mund. „Nein, lieber nicht!“, schrie sie
entsetzt.
Doch es war zu spät. Die Tür ging auf, und Magnus und Felix kamen herein.
Beide erstarrten, als sie Vincent sahen.
„Hat er Nina schon wieder bequatscht?“, meinte Magnus verächtlich, als er
seine Sprache wiederfand.
„So ist es nicht“, begann Vincent.
Magnus ließ ihn nicht ausreden. „Verschwinde! Niemand hier mag dich,
nicht mal Nina, die ist einfach nur zu nett, um das zuzugeben. Du bist sow-
ieso nur wegen des Gegengifts hier!“
223/246
Vincent schaute ihn verständnislos an. „Welches Gegengift denn überhaupt?
Davon hat Nina gerade auch gesprochen.“
Magnus kniff die Lippen zusammen. „Das geht dich nichts an“, entgegnete
er.
Nina trat zwischen die beiden. „Mit dem Gegengift kann dein Vater gerettet
werden. Das haben wir gerade erst erfahren. Wenn dein Vater es trinkt, wird
er zwar nicht unsterblich, aber wieder gesund.“
Vincents Miene hellte sich auf. Das war ja großartig! Gab es tatsächlich
Hoffnung für seinen Vater?
Magnus gefiel diese Wendung des Gesprächs überhaupt nicht. Er packte
Felix am Arm und zerrte ihn mit sich. „Macht doch, was ihr wollt!“, knurrte
er und verließ Ninas Zimmer.
Ihm war egal, dass Nina sich ganz offenbar über ihn ärgerte!
Furchtsam schaute Felix sich um, als Magnus die Hand auf die Türklinke
zum Schlosseingang legte. Es würde ungefähr in einer Stunde hell werden,
am östlichen Horizont erschienen die ersten roten Wolkenstreifen.
„Bist du sicher, dass es eine gute Idee war, ohne die anderen herzukom-
men?“, wollte er von Magnus wissen. „Was, wenn gleich Ringo kommt und
uns verbellt?“
„Der kommt nicht, das Vieh schläft“, sagte Magnus kategorisch. Er drückte
die Klinke hinunter und konnte sein Glück kaum fassen. Es war nicht
abgeschlossen! Er grinste schief, als er ins Innere schlüpfte und den wider-
strebenden Felix mit sich zog.
„Entweder haben wir extrem viel Glück oder hier stimmt was nicht. Wie dem
auch sei – davon lassen wir uns nicht aufhalten“, erklärte er entschlossen.
Felix wirkte nicht, als hielte er das für eine gute Idee.
„Nein!!“ Magnus wurde blass. Das Zimmer, in dem Mara vorgestern gelegen
hatte, war leer! Kein Bett, keine Maschinen. Nur das Regal mit den leeren
Giftampullen. „Nein! Nein! Nein!“, schrie Magnus frustriert.
„Wo ist Mara?“, fragte Felix verblüfft in den Raum hinein.
224/246
Magnus hielt sich verzweifelt die Hände vors Gesicht. „Woher soll ich das
wissen?“
„Hier seid ihr!“, rief eine helle Stimme. „Zum Glück haben wir euch
gefunden!“
Felix wirbelte herum und sah zu seiner Erleichterung Nina, Daniel und Delia
auf der Schwelle stehen. Zu fünft dachte es sich eben wesentlich leichter als
nur zu zweit!
Auch Magnus hatte nun gesehen, dass die anderen drei Clubmitglieder
hereingekommen waren – und Vincent im Schlepptau hatten. Sofort stürzte
er auf den hochgewachsenen Jungen zu und packte ihn am Kragen.
„Sag schon! Wo sind alle hin?“
Daniel griff sofort ein. „Magnus, ganz ruhig, lass ihn los. Das bringt doch
nichts.“
„Hast du eine Ahnung, wo sie sein könnten?“, wollte Nina von Vincent
wissen.
Der schüttelte ratlos den Kopf. „Nein. Wirklich nicht.“ Dann schien ihm eine
Idee zu kommen. Er zog sein Handy hervor und hielt es den anderen unter
die Nase. „Vielleicht kann ich es rausfinden.“
Ein paar Sekunden waren alle still. Sollten sie Vincent wirklich vertrauen?
Keiner wagte so recht, der Erste zu sein, der das tat.
Es war Magnus, der das Schweigen brach. „In Ordnung, leg los!“, sagte er
nach einer Pause.
Vincent drückte ein paar Tasten auf seinem Handy. „Hallo, Papa? ... Ja, bin
ich. Mit der Träne! ... Aber warum sagst du mir nicht einfach, wo ihr ...?“ Er
wurde unterbrochen.
Nina, die neben ihm stand, konnte hören, dass die Stimme am anderen Ende
der Leitung sehr laut wurde.
Vincents Blick senkte sich. „Okay.“ Es klang, als würde er aufgeben. „Bis
dann.“
Er beendete das Gespräch.
„Was hat dein Vater gesagt?“, drängte Daniel.
„Ich soll Morten treffen“, erwiderte Vincent. „Der nimmt mich mit zu dem
neuen Versteck.“
225/246
„Na toll“, knurrte Magnus. „Und jetzt?“
„Wenn du gehst, dann ohne die Träne“, entschied Delia kurzerhand. „Nur
damit das klar ist!“
Magnus sah sie an. „Hätte nicht gedacht, dass ich das mal so sage: Delia hat
absolut recht. Aber wenn du das für Mara tust, ist alles vergessen“, fügte er
nach einigem Zögern hinzu. „Aber erst dann.“
Daniel und Felix stimmten zu.
Vincent zuckte ein wenig zusammen, als er bemerkte, dass auch Nina ihn
anschaute.
„Tut mir leid“, sagte Nina.
„Okay“, meinte Vincent. „Ich schaff es auch ohne. Habt ihr vielleicht ir-
gendeine Tasche für mich?“
Alle blickten an sich herab. Niemand hatte eine dabei.
Nur Delia hielt nach wie vor ihr rosa Handtäschchen fest umklammert. Und
sie umfasste sie noch fester, als sie die auffordernden Blicke der anderen be-
merkte. „Die kann ich dir nicht geben!“, meinte sie ängstlich, als wollte man
ihr das Liebste wegnehmen, was sie hatte. „Ich liebe sie über alles!“
„Bitte, Delia, gib sie Vincent!“, bat Daniel ruhig.
Mit weinerlich verzogenem Gesicht leerte Delia ihre Tasche aus. Die anderen
staunten, wie viel Platz darin war. Delias Mantel- und Hosentaschen reichten
nicht aus, um all die Cremes, Kaugummis, Schminksachen und anderen
Kleinigkeiten aufzunehmen, also begann sie, Nina, Daniel und Felix den rest-
lichen Krimskrams in die Hand zu drücken.
„Wehe, ihr verliert was!“, drohte sie und streckte Vincent schließlich mit
einem Ruck die leere Tasche hin. „Das gilt besonders für dich! Wofür
brauchst du sie denn?“
„Werdet ihr sehen“, murmelte Vincent mit skeptischem Blick.
„Wir warten zu Hause auf deine Nachricht“, erklärte Daniel. „Schick uns eine
SMS, sobald du weißt, wo Mara ist.“
„Und erzähl deinem Vater vom Gegengift“, fügte Nina hinzu. „Vielleicht
wird dann alles gut ...!“
226/246
36
DIE LETZTE CHANCE
Nervös stand Vincent am Straßenrand.
Wo blieb nur Morten Vierstein? Vincent wusste, dass der Helfer seines
Vaters ihm misstraute. Und er konnte nur hoffen, dass er seinen Vater nicht
mit diesem Misstrauen angesteckt hatte. Auch wenn Vincent das verstanden
hätte, nachdem er Zeno Trabas das letzte Mal verraten hatte.
Er überlegte bereits, ob er seinen Vater ein weiteres Mal anrufen sollte, als er
ein entferntes Motorbrummen hörte. Am Ende der Allee erschien ein schwar-
zer Bus.
Vierstein!
Der Bus hielt mit quietschenden Reifen an. Vierstein öffnete die Tür. „Hast
du die Träne?“
Vincent nickte.
„Und das letzte Gift? Das, was diese Bande ausgetauscht hat?“
Vincent musste kurz überlegen. Ihm fiel ein, dass Vierstein sicher die Am-
pulle mit dem Gegengift meinte, von der Magnus behauptet hatte, es sei das
letzte Gift, was zu Maras Tod noch fehlte.
„Oh ja!“, sagte er. „Auch das. Hier!“ Er hielt die Tasche hoch.
Vierstein warf der rosa Tasche einen irritierten Blick zu. Doch dann schob er
Vincent ohne ein weiteres Wort in den hinteren Teil des Busses, der
abgedunkelte Fenster besaß, und schloss die Tür.
„Wo geht’s hin?“, rief Vincent.
Vierstein lachte nur böse. „Das wirst du schon sehen!“
Verwirrt schaute Vincent sich um, als er den Raum betrat.
„Warum hast du mir denn nicht gesagt, dass ihr immer noch im Schloss
seid?“, fragte er Morten Vierstein vorwurfsvoll. „Das wäre viel einfacher
gewesen!“
Vierstein tippte sich bedeutungsvoll an die Stirn. „Damit du deine neuen be-
sten Freunde mitbringst? Für wie doof hältst du mich?“
Das hätte Vincent diesem unverschämten Kerl gerne genauer erklärt. In
diesem Moment allerdings erklang das wohlbekannte Husten seines Vaters
aus einem der beiden Betten, die in diesem Raum standen.
Sofort stürzte Vincent auf seinen Vater zu, setzte sich an sein Bett und nahm
seine Hand.
„Mein Junge!“, krächzte Trabas. „Hat es geklappt? Bitte sag, dass du mein
Leben retten willst!“
Es klang jämmerlich. Vincent schnürte es die Kehle zu. Er konnte nicht
antworten.
Vierstein riss der Geduldsfaden. „Gib her! Höchste Zeit, das hier zu Ende zu
bringen!“, schimpfte er. Er zerrte Vincent die rosa Tasche aus der Hand und
öffnete sie.
Doch ein Blick ins Innere ließ ihn erstarren. Es war nichts darin zu finden,
nur Steine und ein paar Zweige aus dem Wald.
Zornig warf Vierstein die Tasche auf den Boden. „Das Lieblingssöhnchen!“,
rief er wütend. „Ein Verräter!“
Zeno Trabas riss die Augen auf und schaute abwechselnd von Vierstein zu
Vincent. „Nein, das ist nicht ...“
„Papa!“, unterbrach Vincent. „Ich habe eine Lösung für alles!“
Trabas sah ihn merkwürdig an. „Was willst du mir sagen?“
„Das Gift, von dem Magnus letztes Mal gesprochen hat – es ist ein Gegengift
und es macht dich gesund. Verstehst du nicht? Du könntest gesund werden,
wenn du es nimmst, und sie kriegen Mara. Und allen ist geholfen.“
Es klang so einfach, fand Vincent. Sein Vater wäre gesund. Viele schöne
Jahre würden vor ihm und Papa liegen, die sie gemeinsam genießen konnten.
Ohne, dass sie den Tod eines unschuldigen Mädchens auf dem Gewissen
hatten!
„Aber ...“, keuchte Trabas. „Die Träne! Sie macht mich unsterblich!“
228/246
„Papa, du wirst gesund – und Mara auch. Kannst du dafür nicht auf ein
ewiges Leben verzichten?“
„Ich will die Träne!“, ereiferte sich Trabas. Wieder schüttelte ihn ein Husten-
krampf. „Ich will ... unsterblich ...“ Er konnte den Satz nicht zu Ende
bringen.
Vincent hatte genug gehört. Enttäuscht wandte er sich ab.
„Ich verstehe“, murmelte er. „Sonst kann ich dir nichts anbieten.“
Als er ein letztes Mal seinen Vater ansah, erschrak er.
Kalt starrte Zeno Trabas ihn an. „Nimm ihn mit!“, sagte er zu Vierstein.
Der grinste höhnisch, packte Vincent und zerrte ihn in den Raum nebenan.
„Endlich sieht dein Vater es auch. Du bist ein Versager und Verräter!“, zis-
chte er.
„Sprich mit meinem Vater!“, versuchte Vincent Morten Vierstein erneut zu
überzeugen. „Wenn er das Gegengift nicht nimmt ...“
Viersteins verächtliche Miene wurde nur härter. „Weißt du, was er mir zahlt,
wenn ich ihm die Träne besorge? Viel.“ Er lachte leise. „Sehr viel! Von mir
bekommt er nur die Träne, sonst nichts.“
Damit wandte er sich um und ging.
Resigniert hörte Vincent, dass Vierstein das Schloss zusperrte. Vielleicht
hatte er sich wirklich damit abzufinden, dass sein Vater sterben musste!
Ihm fiel sein Handy ein.
Eine Chance gab es noch.
Der Club hatte beschlossen, im Haus Anubis auf Vincents Anruf zu warten.
Also saßen alle gelangweilt auf Stühlen, Daniels Bett oder am Fenster herum
und hofften, dass Magnus’ Handy bald klingelte.
Die Minuten zogen dahin.
Zu Beginn hatte zumindest Felix etwas zu tun gefunden: Um einen besseren
Empfang zu haben, hatte er Magnus’ Handy an einen Besenstiel gebunden,
damit er das Gerät ins Freie halten konnte. Nun langweilte er sich genauso
wie die anderen und wartete darauf, dass die Zeit verging.
229/246
Während Nina und Daniel sich leise miteinander unterhielten, starrten Mag-
nus, Delia und Felix mittlerweile die Wand an und hofften, dass sich Vincent
möglichst demnächst meldete.
Besonders Magnus konnte nicht mehr sitzen bleiben. Er wanderte wie ein Ti-
ger im Käfig auf und ab.
„Dauert’s noch lange?“, nuschelte Felix. Er hielt den Besen mit dem Handy
daran nach wie vor aus dem Fenster und hatte das Kinn in die Hand gestützt.
„Jammer nicht immer rum!“, erwiderte Delia und zog eine Grimasse. Sie
schaute auf ihre Armbanduhr. „Oh! Wir warten echt schon ’ne Ewigkeit!“
„Zu lange!“, knurrte Magnus.
Nina sah besorgt zu Daniel. „Könnte ihm etwas passiert sein?“
„Pfff!“, machte Magnus. „Was denn?“
Nina zuckte mit den Achseln. „Keine Ahnung!“
„Okay“, sagte Daniel. „Wir müssen uns überlegen, was wir tun, wenn er sich
nicht …“
In diesem Moment piepte das Handy.
Felix war so erschrocken, dass er den Besen beinahe fallen ließ, doch Mag-
nus nahm ihm den Stiel aus der Hand. Fast hätte er Delia dabei erschlagen.
Ohne darauf zu achten, rupfte er das Handy hastig vom Besenstiel, um die
SMS aufzurufen.
„Hat nicht geklappt. Bin gefangen im Schloss“, las er vor.
Felix verstand nur Bahnhof. „In welchem Schloss?“
„In dem Schloss?“, fragte Magnus. „Kann das sein?“
Daniel und Nina tauschten einen Blick.
„Haben die sich bloß versteckt?“, überlegte Nina.
„Wir haben nicht überall nachgesehen“, antwortete Daniel. „Könnte also
sein. Mit Trabas und Mara zusammen kommt man auch nicht weit.“
„Er ist gefangen“, sagte Nina besorgt. „Vielleicht hat ihn jemand gestört, vi-
elleicht ist er in Gefahr!“
Daniel nickte nur.
„Und was machen wir jetzt?“, wollte Delia wissen.
Magnus sah entschlossen in die Runde. „Haben wir eine Wahl? Wir gehen
zum Schloss!“, erklärte er. „Sibuna!“ Er hielt die linke Hand aufs linke Auge.
230/246
Die anderen machten es ihm nach und brachen auf.
Nina war die Letzte, die mit Felix’ Hilfe durch die altbekannte Luke in den
Schlosskeller schlüpfte. Die anderen warteten bereits auf sie.
Felix und Delia hielten einander fest. Beide hatten anscheinend schreckliche
Angst vor Ringo, dem Schäferhund.
„Bitte kein Ringo, bitte kein Ringo, bitte kein Ringo“, murmelte Felix so
lange vor sich hin, bis auch Delia schließlich mit einstimmte: „Bitte kein
Ringo ...“
Bevor Magnus, gereizt wie er war, losschreien konnte, stellte Nina sich vor
die beiden. „Es reicht!“, sagte sie energisch. „Hier ist kein Hund. Ihr sucht
oben.“
Delia nahm sich zusammen. „Und was macht ihr?“, wollte sie wissen.
„Wir suchen hier unten im Keller.“
„Hast du Träne und Gegengift?“, wandte Nina sich sachlich an Magnus.
„Ja“, bestätigte der. „Ich gebe die Sachen nicht her. Da müsste Ringo mich
schon komplett auffressen!“
Nina seufzte kurz, als Felix zusammenzuckte.
Delia nahm ihn am Arm. Dann zog sie ihn in den Korridor hinaus.
„Den Schrank kenn ich!“, murmelte Delia ein paar Treppen, Gänge und Eck-
en später. „Da haben wir uns versteckt. Und dahinten ist die Tür zu dem
Raum, in dem Morten uns eingesperrt hat, als wir Daniel gefunden hatten!
Hier ist Vincent bestimmt auch!“
Sie holte tief Luft, um nach Vincent zu rufen.
Felix hielt ihr im letzten Moment den Mund zu. „Was machen wir, wenn
Morten wusste, dass wir denken, dass Vincent hier gefangen ist?“, zischte er.
„Dann ist da nicht Vincent, sondern Ringo!“
Delia erschrak. „Oh nein! Meinst du echt?“
Felix schlich sich leise an die Tür und legte sein Ohr gegen das Holz.
„Delia?“, erklang es dumpf dahinter. „Felix?“
231/246
„Das ist Vincent!“, sagte Delia aufgeregt. Sie sah an der Tür hinunter. Und
wirklich, ausnahmsweise hatten sie Glück – der Schlüssel steckte! Eilig dre-
hte Delia ihn um, und Vincent stürmte heraus.
„Wo sind die anderen?“, fragte er atemlos.
„Die suchen Mara im Keller“, antwortete Felix.
Vincent ballte aufgeregt die Fäuste. „Morten ist unten! Sie laufen ihm direkt
in die Arme!“
Er rannte los. „Kommt!“, rief er Felix und Delia über die Schulter zu. „Wir
müssen ihnen helfen!“
Delia lief ihm hinterher und legte ihm die Hand auf den Arm. „Vincent?“
Er blieb stehen und blickte sie ungeduldig an.
„Ich vertraue dir jetzt!“, sagte sie einfach.
Er lächelte dankbar und nickte.
Dann lief er weiter.
Delia packte Felix am Arm und folgte Vincent.
232/246
37
DIE RETTUNG
Daniel schlich den anderen voran durch den Gang.
„Warum kennst du dich hier so gut aus?“, wollte Magnus wissen. „Du hast
die ganze Zeit über im Bett gelegen, als du hier warst.“
„Das ist ein Barockschloss, und die haben alle einen ähnlichen Grundriss“,
erklärte Daniel geduldig.
Wie so oft fühlte Magnus sich in Daniels Gegenwart ein wenig dumm.
Verlegen wandte er sich der nächstbesten Tür zu.
„Nein, warte.“ Daniel hielt ihn zurück. „Da geht es zu den Verliesen. Trabas
und Morten sind bestimmt dort!“
„Falsch!“, knurrte es hinter ihnen. Und das gleich zweifach!
Als Nina, Magnus und Daniel sich umdrehten, stand dort Morten Vierstein
und blickte sie böse an. Ringo, den Schäferhund, hatte er am Halsband
gepackt.
Wie angewurzelt standen die drei da und überlegten, was sie tun konnten, als
Vierstein Magnus am Arm packte und ihm die Ampulle mit dem Gegengift
aus der Tasche zog.
„Hey!“ Magnus wehrte Vierstein ab, griff gleichzeitig in die andere Tasche
und warf Daniel etwas zu, was dieser geschickt auffing.
Die Träne!
„Her damit!“, rief Vierstein.
Daniel schüttelte den Kopf.
Vierstein trat einen Schritt vor und packte Nina von hinten. Er verdrehte ihr
schmerzhaft den Arm. „Oder willst du, dass deiner Freundin was passiert?“
Daniel schluckte. Nein, er durfte nicht zulassen, dass Nina etwas geschah.
Mit großen Augen schaute sie ihn an, als er Vierstein zögernd die Träne
hinhielt.
In diesem Moment erklangen Laufschritte den Gang entlang. Sie kamen in
ihre Richtung!
Erleichtert seufzte Magnus auf. Vincent, Delia und Felix!
„Morten!“, schrie Vincent zornig. „Lass sie los!“
Damit hatte Vierstein nicht gerechnet. Für einen Moment war er abgelenkt.
Magnus nutzte das und riss Nina an sich.
Daniel reagierte sofort und zog seine Hand mit der Träne wieder zurück.
Doch Vierstein hatte sich schnell gefasst. Als er sah, dass Nina ihn angriff-
slustig betrachtete, griff er schnell in seine Tasche.
„Suchen Sie das hier?“, fragte Nina schnippisch und hielt die Ampulle mit
dem Gegengift hoch, die sie ihm heimlich aus der Tasche genommen hatte.
„Ihr gebt mir sofort das Gift und die Träne, sonst ...“ Nun erst erkannte er,
dass der Club ihn umzingelt hatte und immer näher auf ihn zukam.
„Oder was?“, wollte Magnus wissen. Er musste grinsen. „Zählen Sie doch
mal nach! Sechs gegen einen! Ich weiß, was wir mit Ihnen machen ...!“
Zu sechst war es wirklich einfach gewesen, Morten Vierstein zu packen, ins
nächste Zimmer zu zerren und ihn auf einem Stuhl zu fesseln und zu knebeln.
Ringo hatte das zuerst mit aufgeregtem Bellen begleiten wollen, doch ein
scharfes „Platz!“ von Vincent hatte ihn zur Räson gebracht. Er legte sich brav
auf den Boden und ließ sein Herrchen nicht mehr aus den Augen. Sein
Hecheln wirkte, als wollte er ihn sogar um Verzeihung bitten, dass er so frech
gewesen war, fand Nina.
Allerdings blieb wirklich keine Zeit, sich um den Hund zu kümmern. Sie
mussten Mara und Zeno Trabas retten!
Eilig hasteten sie weiter den Korridor entlang, bis sie schließlich das Zimmer
fanden, in dem sowohl Mara als auch Trabas in ihren Krankenbetten lagen.
Beide rührten sich nicht und hatten die Augen geschlossen. Es war totenstill.
„Wir sind zu spät!“ Vincents Stimme klang brüchig.
Magnus stürzte sofort auf das Bett von Mara zu. Sehr blass lag sie zwischen
den weißen Laken und wirkte, als hätte sie sich nicht gerührt, seit Magnus sie
das letzte Mal gesehen hatte. War sie am Ende schon tot? Er fühlte ihren
Puls. Er war kaum zu spüren.
234/246
„Mara!“ Magnus packte sie an den Schultern. „Mara! Hörst du mich? Mara!“
Sie öffnete nicht einmal die Augen.
Ein leises Husten war zu hören.
Es kam von dem anderen Bett, an das Vincent sich gesetzt hatte. Er hatte die
Hand seines Vaters in die eigene genommen.
„Papa!“
Schwach drückte Zeno Trabas Vincents Finger. „Leb wohl, mein Junge ...“,
hauchte er und schloss langsam die Augen.
„Nein!“ Vincent schrie auf. „Papa!“
„Magnus!“, rief Daniel.
Der wandte sich um und fing rasch die Träne auf, die Daniel ihm zuwarf.
Magnus zog den Stöpsel aus der Phiole, nahm Mara in den Arm und hielt ihr
die Träne an den Mund. Ein wenig von der Flüssigkeit rann über Maras
Lippen.
Doch sie rührte sich nicht.
„Mara?“ Magnus spürte, wie eine kalte Hand nach seinem Herzen griff.
„Mara! ... Sie wacht nicht auf!“, stellte er ängstlich fest. Er strich Mara sanft
über das Gesicht und tastete dann nach ihrem Handgelenk.
Aber ihr Puls wurde nicht stärker. Er hatte nicht einmal das Gefühl, dass sie
atmete.
Nina fiel das Gegengift ein. Vielleicht ...
„Magnus!“, betonte sie lautstark. „Das Gegengift! Es ist für Trabas bestimmt!
Wir müssen es ihm geben!“
Magnus schien kaum zuzuhören. Nach einigen Sekunden schüttelte er lang-
sam den Kopf.
„Magnus! Das Gegengift!“, drängte Nina.
Wieder schüttelte er den Kopf, ohne den Blick von Mara zu lassen. „Es ist
seine Schuld. Keine Mara, keine Träne!“
Nina schwieg. Was hätte sie auch sagen können? Sie konnte Magnus so gut
verstehen! Er hatte das verloren, was ihm das Liebste auf der Welt war. Ihr
fiel nichts ein, was ihn hätte überzeugen können, ausgerechnet Trabas zu
retten.
Auf einmal war ein Schluchzen zu hören. Nur leise.
235/246
Es war Vincent. Er hatte die Hand seines Vaters an seine Wange gedrückt,
denn Zeno Trabas holte ein letztes Mal tief Luft. Dann lag er reglos da.
Wieder schluchzte Vincent auf.
Felix hielt es nicht mehr aus. „Alter!“, sagte er eindringlich zu Magnus.
„Überleg mal. Was hätte Mara getan?“
Magnus seufzte auf.
Nina konnte sehen, dass er sich selbst einen Ruck gab. Schließlich nickte er
Vincent zu, der ihn mit tränenüberströmtem Gesicht ansah, und warf ihm das
Fläschchen mit dem Gegengift zu.
Dankbar fing Vincent es auf und ließ die Flüssigkeit in den Mund seines
Vaters laufen.
Es wurde still.
Delia legte einen Arm um Felix, so gespannt war sie.
Daniel und Nina umarmten sich ebenfalls. „Wir haben die Träne der richtigen
Person gegeben, wie Sarah gesagt hat“, wisperte Nina, sodass nur Daniel es
hören konnte. „Mara ist noch nicht verloren!“
Es war lange Zeit ruhig im Zimmer.
Schließlich legte Vincent die Finger seines Vaters, die er so lange gehalten
hatte, aufs Laken zurück. Er wischte sich die Tränen aus dem Gesicht und
ging nach einem letzten Blick auf Trabas hinüber zu Magnus, der immer
noch weinend an Maras Bett saß.
„Es tut mir leid, wirklich“, entschuldigte er sich leise, aber mit fester Stimme.
„Ich wollte das nicht. Sie war ... sie hat ... das nicht verdient.“
Nina konnte sehen, wie schwer Vincent diese Worte über die Lippen kamen.
Magnus antwortete nicht sofort.
Schließlich streckte Vincent die Hand nach ihm aus. Er musste sie Magnus
eine ganze Weile hinhalten, doch schließlich ergriff Magnus Vincents Finger.
Beide schüttelten sich langsam die Hand.
Nina musste blinzeln. Sie war erleichtert. Es hatte in der letzten Zeit so viel
Hass zwischen ihnen allen gegeben! Es wäre schön gewesen, wenn diese
beiden, die so viel verloren hatten, sich gegenseitig verzeihen würden.
Ihr Blinzeln wurde stärker. So, als würde sie geblendet.
236/246
Und dann sah sie es. Die leere Träne der Isis, die Magnus achtlos hatte zu
Boden fallen lassen, hatte begonnen, hell zu strahlen. Nina ging hinüber und
hob sie auf.
Eine strahlende Träne, das bedeutete, dass die Auserwählte ...
Die Träne erlosch. Als Nina aufblickte, bemerkte sie, dass Magnus und Vin-
cent sich losgelassen hatten.
Freundschaft und Vertrauen, schoss es durch Ninas Kopf. Vielleicht, wenn
sie alle ...
„Freundschaft und Vertrauen!“, rief sie aufgeregt. „Wir müssen es zeigen!“
Keiner rührte sich. Alle starrten Nina nur verblüfft an.
Delia war die Erste, die begriff, was Nina meinte. Sie umarmte Felix schnell.
„Du bist so nervig, aber du bist trotzdem mein bester Freund!“, sagte sie.
Die Träne in Ninas Hand leuchtete stärker, wie eine Dimmerlampe, die je-
mand hochgedreht hatte.
Schnell gaben sich Magnus und Vincent wieder die Hand. Beide schauten
sich hoffnungsvoll an.
„Sind wir auch Freunde?“, wandte Nina sich an Daniel.
Er lächelte. „Seit wir uns das erste Mal gesehen haben. Und das werden wir
auch immer sein, egal, was sonst zwischen uns passiert.“ Er umarmte sie, und
obwohl Nina die Träne umklammert hatte, wurde sie nun so hell, dass alle
die Hände vor die Augen legen mussten.
Das Licht wurde noch intensiver, dann erlosch es so plötzlich, dass Nina die
Phiole überrascht fallen ließ.
Es wurde wieder still im Raum.
Bis Magnus einen leisen Schreckenslaut von sich gab. Jemand hatte seine
Hand genommen!
Und es war nicht Vincent, denn der war einen Schritt zurückgetreten.
Als Magnus hinabsah, erkannte er, dass sich milchkaffeebraune Finger auf
seine Hand gelegt hatten.
„Was ist denn los?“, fragte eine bekannte Stimme, wenn auch sehr schwach.
Magnus starrte auf seine eben noch reglose Freundin. Sie lächelte ihn glück-
lich an, als wäre sie gerade aus einem tiefen, erholsamen Schlaf aufgewacht.
Er jubelte auf und nahm sie fest in die Arme.
237/246
Nina, Daniel, Felix und Delia umarmten sich ebenfalls.
Delia musste immer wieder zu Mara und Magnus hinsehen, so schön waren
die beiden in ihrer Freude anzusehen.
Sie wischte sich über die Wangen. „Warum hab ich nur kein wasserfestes
Make-up genommen!“, schimpfte sie lachend mit sich.
„Vincent?“, erklang es leise aus der anderen Ecke des Zimmers.
Vincent zuckte zusammen, als sein Vater ihn rief. Überglücklich stürzte er
einen Augenblick später auf ihn zu.
Nina spürte, wie ihr vor lauter Glück der Kopf leicht wurde. Mara war wieder
gesund, und Zeno Trabas ebenfalls. Auch wenn er so schlimme Dinge getan
hatte, sie war froh, dass er geheilt war. Und dass Vincent, der immerhin ein
Freund war, nicht um seinen Vater trauern musste.
Trabas bedeutete Vincent, er solle ihm aufhelfen, und vorsichtig kamen beide
auf die anderen zu.
Vincent stützte seinen Vater und hielt ihn fest.
„Es tut mir leid“, murmelte Trabas und sah zu Mara und Magnus hinüber, die
sich gar nicht mehr loslassen wollten. „Ich war wie besessen! Ewig leben,
aber um welchen Preis! Was war das für eine dumme, dumme Idee!“
Er lachte kurz, als könne er es selbst nicht glauben. Er wandte sich an Vin-
cent. „Mein Sohn, hältst du noch zu mir, nach allem, was ich getan habe?“
Vincent nickte. „Das tu ich.“
Zeno Trabas senkte den Kopf. „Ich werde zur Polizei gehen und alles
gestehen“, beschloss er.
Die anderen schwiegen betreten.
„Wir werden aussagen, was passiert ist“, sagte Daniel schließlich. „Sie kom-
men wohl eine Zeit lang ins Gefängnis.“
„Ich weiß“, erwiderte Trabas leise und zog Vincent ein wenig näher an sich.
„Ich bin stolz auf dich, Papa“, murmelte Vincent und erwiderte die Umar-
mung. „Wir werden der Polizei sagen, dass du es bereust.“
Und ich bin stolz auf dich, Vincent. Ohne dich hätten wir es nicht geschafft,
dachte Nina. Gerade, als sie es laut aussprechen wollte, um Vincent damit zu
trösten, flog die Tür mit einem lauten Knall auf.
238/246
38
ENDE GUT, ALLES GUT
Es war Morten Vierstein!
„Wenn ihr mich fesseln wollt, macht es nächstes Mal richtig!“, rief er zornig.
Magnus war aufgesprungen und hatte sich schützend vor Maras Bett gestellt.
„Na gut!“, meinte er entschlossen. „Jetzt sind wir sogar acht gegen einen!“
„Trotzdem seid ihr zu spät!“, gab Morten prompt zurück. Er schoss vor, in
Ninas Richtung, blieb dann aber stehen und hob etwas vom Boden auf.
Nina stockte der Atem. Die Träne! Und es war sogar noch ein wenig
Flüssigkeit darin! Aber ... würde dieser winzige Tropfen wirklich das ewige
Leben bringen? Mara war quicklebendig!
Vierstein schien das nicht zu kümmern. Er setzte die Phiole an die Lippen
und schüttelte sie ein wenig. Er stand so nah, dass Nina den einzelnen Trop-
fen sehen konnte, der aus der Träne in Mortens Mund rann.
„Jetzt bin ich unsterblich!“, sagte er und lachte höhnisch, während die ander-
en ihn entsetzt anstarrten. „Und ihr könnt nichts dagegen tun!“
In diesem Moment begann die Phiole in seiner Hand rot zu leuchten. Es war
ein giftiges und böses Rot, das beinahe blutig aussah.
Nina schrie leise auf und drückte sich enger an Daniel, als Rauch aus dem
leeren Fläschchen zu quellen begann.
Delia versteckte sich hinter Felix.
„Was? Nein!“ Morten Vierstein fasste sich an die Kehle. „Nein! Nein!“
Immer mehr Rauch quoll aus der Träne, so viel, dass Nina beinahe das Ge-
fühl hatte, husten zu müssen. Schnell war Vierstein vollständig von Qualm
eingehüllt, der rot glomm. Er war nicht mehr zu erkennen. Seine Schreie
dagegen waren auch weiterhin zu hören, doch plötzlich rissen sie unverse-
hens ab.
Es wurde still. Totenstill.
Der Rauch verschwand nur langsam.
Keiner sprach ein Wort, bis sich auch der letzte Nebel verzogen hatte.
„Was ... was war das?“, piepste Delia schließlich.
„Das passiert, wenn man nicht bereit ist für die Träne“, erklärte Daniel mit
ernster Miene. Er trat einen Schritt vor und hob die gläserne Phiole auf, die
ganz unschuldig auf dem Boden lag.
Nina und die anderen beugten sich darüber.
Sie sah so aus wie vorher, wie ein geschliffener Diamant. Es gab allerdings
einen Unterschied: In dem hellen, klaren Glas war eine kleine Figur zu sehen,
ähnlich wie eine Gravur.
„Ein Mensch ...“, meinte Nina unsicher.
Es war Vierstein.
Lange sagte keiner ein Wort.
„Ist es jetzt vorbei?“, brach Mara endlich das Schweigen.
„Ja!“, erwiderte Daniel und nahm Nina in den Arm. „Es ist vorbei.“
Überall standen Koffer und Taschen.
Im Wohnzimmer war kaum noch Platz, denn alle hatten sich zum Abschied
von Charlotte und Luzy versammelt. Die Sorge um Mara hatte Nina und
Delia beinahe vergessen lassen, dass die beiden für ein Jahr in Amerika zur
Schule gehen wollten!
Einerseits wurde Nina ganz traurig bei dem Gedanken. Gerade erst hatten sie
sich mit Luzy versöhnt, da fuhren sie und Charlotte auch schon wieder weg –
und gleich für so lange! Nina konnte das Gefühl nicht abschütteln, dass dies
ein Abschied für immer war.
Und auch Onkel Ursli wollte heute abreisen. Er wollte nicht nach Amerika,
sondern nach Griechenland, zu seinen Freunden in Delphis Dorf. Auch das
konnte Nina gut verstehen, und dennoch bedrückte sie der Gedanke, der im-
mer freundliche Ursli würde morgen nach Schulschluss nicht mehr im Garten
sein. Erst jetzt wurde Nina so richtig klar, wie gut seine Anwesenheit dem
Haus in den vergangenen, aufregenden Wochen getan hatte.
Nun, wenigstens blieben Delia und Daniel hier!
240/246
Dankbar drückte Nina Daniels Hand, während Delia aufgeregt um Charlottes
und Luzys Gepäck herumschwirrte und kontrollierte, ob Klamotten für jede
Gelegenheit darin waren.
„Tadaaa! Amerikanisches Frühstück!“ Die fröhliche Frauenstimme mit dem
leicht schweizerischen Akzent kam aus dem Türrahmen zur Küche. Es war
Urslis Schwester Reni, die sich – sehr zu Ninas Erstaunen – in Victor verliebt
hatte.
Sofort stürzte Felix sich auf den Stapel Pancakes mit Ahornsirup und den
Haufen Donuts, den Reni auf einem Tablett hereintrug und auf dem Wohnzi-
mmertisch zwischen Kakao und Orangensaft abstellte. Auch Nina und Daniel
lief bei diesem Anblick das Wasser im Mund zusammen. Und Delia ver-
schwendete keinen Gedanken an ihre Figur, sondern griff ebenfalls herzhaft
zu.
Sogar Rosie war beeindruckt. Vorgestern erst hatte Reni versucht, ihr zu zei-
gen, dass sie – falls Rosie wirklich mit Ursli nach Griechenland gehen wollte
– durchaus in der Lage war, für alle im Internat zu sorgen. Natürlich war
prompt alles schiefgegangen, was schiefgehen konnte.
„Das sieht ja wunderbar aus!“, sagte Rosie anerkennend. „Und es brennt
nicht!“
Reni nickte strahlend. „Ja, Victor hat aufgepasst.“
Hinter ihr schob sich stolz der Hausverwalter durch die Küchentür. Er hatte,
um sein Gesicht zu wahren, die Augenbrauen ein wenig zusammengezogen,
trotzdem war ein kleines Lächeln um seine Lippen herum zu sehen. Im Arm
trug er einen Feuerlöscher.
Reni tätschelte ihm die Schulter. „Ich glaub, du kannst ihn jetzt weglegen“,
flüsterte sie, als sie sah, wie sich alle auf ihr Frühstück stürzten.
Onkel Ursli beugte sich zu seiner Ziege hinab, die meckernd neben ihm
stand. „Du hast es geschafft!“, murmelte er mit einem Seitenblick auf seine
frisch angetraute Ehefrau. „Das Glück ist ins Haus Anubis eingezogen!“
Rosie schaute die beiden zärtlich an, dann fiel ihr Blick auf die Kinder, Reni
und Victor, die einträchtig um den Tisch herumsaßen und mit großem Appet-
it frühstückten.
241/246
„Ich komme mit nach Griechenland!“, schrie sie auf einmal aus
Leibeskräften.
Erst war es für einige Sekunden totenstill.
Erschrocken legte Rosie eine Hand auf den Mund. Konnte sie wirklich alle
hier zurücklassen und in die Fremde gehen?
Doch als plötzlich alle mit lautem Jubel aufsprangen, um sie und Ursli zu
beglückwünschen und Mara Rosie sogar in die Arme schloss, begann sie
erneut, sich zu freuen. Vielleicht wurde am Ende alles gut!
Selbst Victor rang sich – nach Renis Stupser in die Rippen – ein Grinsen ab.
„Dann sind wir also jetzt ein ...“, er musste sich räuspern, „... ein Paar?“
Statt einer Antwort gab Reni ihm einen Kuss.
Charlotte und Luzy waren die Ersten, die sich von Rosie und Ursli und den
Gratulanten abwandten. Ein wenig ratlos standen sie vor dem Berg Gepäck.
„Wo sind denn unsere Freunde?“, fragte Luzy.
„Sind sie eigentlich noch unsere Freunde?“, überlegte Charlotte. „Vielleicht
sind sie sauer! Die Zusage kam so plötzlich. Vor drei Tagen hieß es, wir
müssen warten. Und vorgestern kam der Brief, dass wir doch fahren dürfen!“
In diesem Moment trat Herr Altrichter hinter die beiden Mädchen und legte
die Hände auf ihre Schultern. „Alea iacta est!“, zitierte er Cäsar. „Bitte, passt
im Flugzeug gut auf die beiden auf, ja?“
Luzy und Charlotte sahen sich verwundert an. Sprach Herr Altrichter mit
ihnen? Auf wen sollten sie denn gut aufpassen?
„Im Flugzeug?“, fragten sie gleichzeitig.
In diesem Moment schoben sich Kaya und Max herein, beide mit einem
großen Rucksack auf dem Rücken.
„We’re going to America!“, verkündete Max stolz auf Englisch. „Wir gehen
nach Amerika!“
„Yeah“, rief Kaya stolz. „The United States of America ... ähm, Baby!“
Nina musste kichern. An seinem Englisch würde Kaya wirklich arbeiten
müssen!
Charlotte und Luzy waren so platt, dass ihnen die Worte fehlten. Es war
Charlotte, die die Sprache als Erste wiederfand. „Die Wahrscheinlichkeit,
242/246
dass so was passiert“, dozierte sie und rechnete schnell nach, „liegt bei null
Komma nullnullnullnulleins Prozent!“
„Ich habe meine Verbindungen ein wenig spielen lassen!“, erklärte Herr Al-
trichter großzügig und zwinkerte Max und Kaya zu. Keiner hörte das im neu
ausbrechenden Jubel so richtig.
Nur Frau Engel, die hinter ihm stand und sich die Augen mit einem Taschen-
tuch abtupfte, versicherte ihm, wie stolz sie auf ihn sei und dass er alles ganz
großartig organisiert hätte.
Draußen hupte es.
„Das Taxi!“ Rosie kämpfte mit den Tränen. Abschiede gingen ihr immer so
nah! „Raus mit euch!“
Alle halfen, die Koffer hinauszutragen, und kamen mit, um dem Taxi mit den
vier Freunden hinterherzuwinken. Das taten sie so lange, bis es nicht mehr zu
sehen war.
„Ich kann nicht glauben, dass sie wirklich weg sind!“, meinte Delia und
musste schlucken, um ihre Tränen zurückzuhalten.
Felix legte tröstend den Arm um sie. „Ich werd immer bei dir bleiben,
Baby!“, versicherte er. „Kuss?“, fragte er und wies mit einem Zeigefinger auf
seine Wange.
Nina hielt den Atem an. Würde Delia endlich nachgeben? Nina fand, die
beiden gehörten einfach zusammen. Sie wechselte einen verschwörerischen
Blick mit Daniel.
Und tatsächlich, Delia gab nach! „Na gut“, sagte sie hoheitsvoll. „Aber nur,
weil heute so ein besonderer Tag ist.“ Sie stellte sich auf die Zehenspitzen,
um Felix auf die Wange zu küssen.
Doch der drehte im letzten Moment den Kopf und küsste sie auf den Mund.
Delia wollte schon anfangen, zu protestieren, als Nina dazwischenplatzte.
„Seht mal!“ Ihre Stimme zitterte ein wenig.
„Was ist denn?“, wollte Daniel beunruhigt wissen.
Auch Delia und Felix vergaßen ihr Gerangel.
Nina wies auf die dunkle Ecke in der Eingangshalle, in der sich die Tür zum
Turmzimmer befand. Ein grauer, blasser Fleck bildete sich dort und
243/246
verdichtete sich. Er nahm immer deutlichere Form an, bis schließlich die
Gestalt einer älteren Frau erschien. Sie lächelte.
„Ist das ...?“ Delia wagte kaum, es auszusprechen.
„Ihr seht sie auch?“, fragte Nina. „Das ist Sarah. Sarah Winnsbrügge-
Westerling!“
Ein paar Sekunden war es still. Mara drängte sich ein wenig dichter an
Magnus.
Der Geist löste sich langsam aus seiner Ecke und schwebte mit erhobener
Hand auf die sechs Clubmitglieder zu.
Felix fasste sich als Erster ein Herz und wollte Sarahs Hand ergreifen.
„Guten Tag!“
Doch seine Finger glitten durch ihre hindurch, als bestünden sie aus Nebel.
„Ich glaube, sie will irgendwas!“, meinte Delia.
„Die Träne!“, antwortete Nina.
Daniel, der neben ihr stand, fasste in seine Tasche und zog die leere Phiole
daraus hervor. Er reichte sie Sarah.
Sarah nahm sie und lächelte alle der Reihe nach an.
„Das habt ihr gut gemacht“, sagte sie schließlich. Ihre Stimme klang warm
und schien sowohl durch die Eingangshalle als auch durch ihre Köpfe zu
hallen.
Man konnte ihr anhören, wie froh sie darüber war, den Club vor sich versam-
melt zu sehen. „Freundschaft und Vertrauen!“, sprach sie weiter. „Es gibt
nichts Wichtigeres, vergesst das nie.“
Alle sahen sich an und nickten stolz.
„Lebt wohl!“, verabschiedete sich Sarah und winkte zum Abschied. Sie
wurde allmählich blasser und war schließlich verschwunden, als hätte es sie
nie gegeben.
Nina holte tief Luft. „Ein letztes Mal Sibuna?“, rief sie ihren Freunden zu.
„Sibuna!“, antworteten alle gleichzeitig. Sie wussten, dass es das Schönste
war, gute Freunde zu haben, und dass sie sich auch in Zukunft immer aufein-
ander verlassen konnten.
244/246
In der Serie Das Haus Anubis erscheinen bei dotbooks auch die folgenden
eBooks:
Das Haus Anubis: Der geheime Club der Alten Weide
Das Haus Anubis: Das Geheimnis des Grabmals
Das Haus Anubis: Der geheimnisvolle Fluch
Das Haus Anubis: Die Auserwählte
Das Haus Anubis: Das Geheimnis der Winsbrügge-Westerlings
Das Haus Anubis: Pfad der 7 Sünden
***
Wenn Ihnen dieser Roman gefallen hat, empfehlen wir Ihnen gerne weiteren
Lesestoff aus unserem Programm. Schicken Sie einfach eine eMail mit dem
Stichwort Haus Anubis an:
@Created by