GEDULD – ER GIBT AUCH DIR
DAS DEINE
Roman von Leni Behrendt
Oh, wie blind macht manches Mal die Liebe. Lars Ansholm mußte es
schmerzlich erfahren. Er erkannte nicht die tiefe, reine Zuneigung, die
ihm Karen, seine Jugendgespielin, scheu und heimlich entgegenbrachte.
Ihn betörte der Talmiglanz einer raffinierten Frau, die er zu lieben
glaubte. Vier schlimme Jahre lebte er an ihrer Seite; dann verließ sie ihn,
ließ Mann und Kind allein in der großen Villa zurück. Eines Tages führt
ein Zufall Karen und Lars wieder zusammen. Karen ist tief erschrocken
über das Schicksal, das Lars widerfuhr. Da kommt ihm eine Idee: er
möchte Karens Mutter bitten, seinem verwaisten Hause vorzustehen.
Karen ist dieser Gedanke gar nicht lieb. Doch das Mitleid ist stärker. So
siedeln die beiden Frauen zu Lars über. Wie Bruder und Schwester leben
Karen und Lars nebeneinander her. Doch wer näher hinsieht, spürt die
innere Spannung, die die beiden Menschen umgibt. Da tritt ein Ereignis
ein, das alles zum Guten wenden könnte: Lars bittet Karen, seine Frau zu
werden. Liebt er Karen? Sie weiß es nicht. Es wird eine seltsame
Hochzeitsreise, die die beiden jungen Menschen in die Welt führt. Lars
erfüllt Karen jeden Wunsch, und doch steht eine unsichtbare Wand
zwischen ihnen. Wird sie jemals fällen?
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Printed in Germany.
Mit einem Blick auf das Tachometer stellte der Mann am
Steuer fest, daß er bereits fünfhundert Kilometer
dahingerast war, ohne auch nur eine Pause einzulegen.
Kein Wunder, daß er ermüdet war, dazu quälten ihn
Hunger und Durst.
Also machte er in der nächsten Stadt Rast, obwohl es ihn
wie mit tausend Banden zu seinem Töchterchen zog. Doch
der Mann war vernünftig genug, um sich zu sagen, daß es
besser war, das Wiedersehen mit seinem Liebling auf ein
oder auch zwei Stunden hinauszuschieben, als ihn
überhaupt nicht mehr wiederzusehen. Durch Übermüdung
am Steuer war schon manch ein tödlicher Unfall
heraufbeschworen worden.
Nachdem er den Wagen auf einem Parkplatz der
mittelgroßen Stadt untergebracht hatte, begab er sich auf
die Suche nach einem Lokal. Ausgerechnet dann, als er die
weite Reise antreten mußte, erkrankte sein Chauffeur, so
daß er gezwungen war, allein zu fahren, und ohne
Ablösung war eine so weite Fahrt in einer Tour einfach
nicht zu schaffen.
Fröstelnd klappte er den Kragen des Mantels hoch; denn es
war empfindlich kühl, zumal ein scharfer Nordost durch
die Straßen fegte.
Kein erstklassiges Lokal, das der verdrießliche Mann fünf
Minuten später betrat. Doch das störte ihn nicht,
Hauptsache, er bekam etwas zu essen.
Zuerst einmal galt es, in dem fast völlig besetzten Lokal
einen annehmbaren Platz zu finden. Langsam schritt er
durch die Reihen der Tische, die mehr oder weniger belegt
waren – bis er dann stutzend den Schritt verhielt. Die junge
Dame dort an dem kleinen Tisch – sollte das etwa -?
Jawohl, sie war es, die er gleich darauf aufs höchste
überrascht begrüßte.
»Guten Abend, Karen? Ja, wie kommst du denn hierher?«
»Die Frage müßte ich eigentlich an dich stellen«, gab sie,
von der unerwarteten Begegnung nicht minder überrascht,
zurück. »Ich lebe schließlich in dieser Stadt – aber du-?«
»Ich befinde mich auf der Durchreise. Darf ich Platz
nehmen?«
»Bitte sehr.«
»Danke. Ich hatte vor, bis nach Hause durchzufahren, aber
ich schaffte es nicht. Bin müde und hungrig. Daher mußte
ich notgedrungen eine Pause einlegen und geriet in dieses
Lokal. Ißt man hier gut?«
»Wenn dir eine solide Kost genügt – ja.«
»Bei meinem Hunger kann sie gar nicht solide genug sein«,
griff er zur Speisekarte, wählte rasch, und was der Ober
dann servierte, war schmackhaft und reichlich, man konnte
schon dabei satt werden.
Während der ausgehungerte Mann aß, wurde nicht
gesprochen, und Karen Velde konnte sich ihren Gedanken
hingeben, sie ungestört in die Vergangenheit schweifen
lassen.
Fünf Jahre hatte sie ihn nicht gesehen, der vorher in ihrem
Leben gewesen war, solange sie denken konnte. Obwohl er
acht Jahre mehr zählte, hatte er es nicht unter seiner Würde
gehalten, dem Nachbarstöchterlein Spielkamerad und
Führer zu sein.
Lars Ansholm, der Sohn des reichen Fabrikbesitzers, weilte
mehr in dem gemütlichen Häuschen des Landrichters
Velde als in der feudalen Villa, weil seine Eltern, elegante
Gesellschaftsmenschen, keine Zeit für ihr einziges Kind
hatten. Zwar sahen sie es nicht gern, daß ihr Sohn sich als
liebsten Spielkameraden ein so kleines Mädchen erwählte,
ließen jedoch aus Bequemlichkeit ihn gewähren.
Das Gärtchen vor dem Landrichterhaus war klein und
daher zum Spielen ungeeignet. Der Park hingegen war
groß, also tummelte man sich darin mit Vorliebe. Und
damit die Nachbarskinder rasch zueinander gelangen
konnten, schnitt der gutmütige Gärtner ein Loch in die
Buchenhecke, durch die es sich bequem schlüpfen ließ.
So wurde denn der weitläufige Park für die
Unzertrennlichen zum Kinderparadies. Später bot er ihnen
einen idealen Tennisplatz und auch andere
Sportmöglichkeiten. Karen lernte auf dem Weiher
Schlittschuh laufen, lernte fechten, sogar reiten, das ihr der
treue Kamerad auf der Reitbahn im Park beibrachte. Auf
seinem Pferd natürlich, denn ein eigenes konnten und
wollten die Eltern ihrer Tochter nicht anschaffen, weil
ihnen erstens das Geld dazu fehlte und sie es außerdem für
Luxus hielten.
Die Jahre eilten dahin, und als Lars nach dem Abitur in
einer fernen Stadt die Universität bezog, ließ er ein
bitterlich weinendes kleines Mädchen zurück. Zwar kam er
als Student zwischendurch nach Hause, sprach dann
selbstverständlich auch jedesmal im Landrichterhaus vor,
aber es war der alte Lars nicht mehr. Wohl war er nach wie
vor nett zu der einstigen Spielgefährtin, nahm sie jedoch
nicht mehr ernst, was sie bitter kränkte.
Nachdem er sein Studium beendet hatte, ging er auf Reisen
und brachte ein Jahr später seine Braut von dort mit. Ach,
was waren das doch für heiße Schmerzen, welche die nun
siebzehnjährige Karen Velde erleiden mußte, in deren
Herzen die erste schwärmerische Liebe erblüht war. Nein,
das hielt sie einfach nicht aus! Entweder brachte sie sich
um, oder sie ging ins Kloster.
Und als das verzweifelte junge Menschenkind kaum noch
aus und ein wußte in seiner Herzensnot, griff das Schicksal
ein. Der Landrichter wurde in eine andere Stadt versetzt,
und als man in der Villa Ansholm Hochzeit hielt, war er
mit Weib und Kind bereits nach dem neuen Wohnort
verzogen.
»Ja, sag mal, Karen, träumst du mit offenen Augen?« riß
eine Männerstimme sie aus ihren Gedanken. »Ich habe
dich schon zweimal etwas gefragt – «
»Entschuldige – «, unterbrach sie ihn mit verlegenem
Lächeln. »Ich mochte dich bei deiner Mahlzeit nicht stören.
Was wolltest du wissen?«
»So allerlei.«
»Dann frage, ich bin ganz Ohr.«
Er wartete jedoch, bis der Ober den Mokka gebracht und
den Tisch abgeräumt hatte, dann fragte er schroff:
»Warum bist du damals mit deinen Eltern so sang- und
klanglos verschwunden?«
»Weil es zwei Tage vor deiner Hochzeit war.«
»Und da konntet ihr nicht noch die Hochzeit mitmachen,
wie es sich für so gute Freunde gehört hätte?«
»Nein, das konnten wir nicht, da mein Vater in einer
Woche seinen neuen Dienst antreten mußte. Außerdem
waren wir ja gar nicht eingeladen.«
»Was sagst du da?« horchte er überrascht auf.
»Daß wir nicht eingeladen waren.«
»Aber ich hatte doch dich und deine Eltern als erste auf die
Gästeliste gesetzt, allerdings die Einladungen nicht selbst
geschrieben und verschickt.«
»Dann wird es ein Versehen gewesen sein«, fiel sie ihm
rasch ins Wort und bemerkte mit Unbehagen, wie sich
seine Miene verdüsterte.
»An ein Versehen glaube ich nicht«, versetzte er knapp.
»Jetzt nicht mehr. Jedenfalls -
Na, lassen wir das. Erzähle, wie es dir und deinen Eltern
ergangen ist.«
»Mutti geht es gut. Vater ist seit zwei Jahren tot.«
»Das tut mir aber leid«, entgegnete er betroffen. »Wie
konnte das kommen? Er war doch noch gar nicht so alt.«
»Mitte Fünfzig«, erwiderte sie leise, während sich ihre
Augen mit Tränen füllten. »Eine verschleppte Grippe raffte
ihn in wenigen Tagen dahin. Nach dem Begräbnis klappte
Mutti zusammen und bekam ein böses Nervenfieber, bei
dem sie mit knapper Not dem Tod entkam. Das war alles
nicht leicht für mich, zumal ich niemand hatte, der mir zur
Seite stand.«
»Soso – «, lachte er kurz auf. »Dich an deinen alten
Kameraden Lars zu wenden, fiel dir wohl gar nicht ein,
wie? Na ja, wenn man von ihm nicht einmal zur Hochzeit
eingeladen wird – aber erzähle nur weiter. Verheiratet bist
du nicht, da ich keinen Ehering bemerke. Also was treibst
du?«
»Ich bin Angestellte im Reisebüro und bewohne mit
meiner Mutter zusammen eine nette Dreizimmerwohnung.
Da sie Pension erhält und auch ich verdiene, haben wir ein
ganz gutes Einkommen. Gesund sind wir auch, also
können wir nicht klagen.«
»Und warum ißt du denn im Lokal?«
»Das tu ich nur, wenn Mutti verreist ist, was allerdings
selten geschieht. Gestern fuhr sie zu einer alten Bekannten,
die durchaus ihren Sohn mit mir verheiraten will und sie
zur soundsovielten Unterredung bat. Sie fuhr nicht gern,
aber die andere ließ nicht locker.«
»Hm – da kann man wohl bald zur Verlobung gratulieren?«
»Möglich«, entgegnete sie gleichmütig. »Er ist das, was man
einen netten Kerl nennt, und ich mag ihn gern.«
»Meinst du, daß ein nur Gernhaben zur Ehe genügt?«
»Ja – «, kam es knapp zurück. »Denn solche Ehen halten
größtenteils besser als die sogenannten Liebesheiraten.«
»Da hast du recht«, sprach er in einem Ton, der mit
Bitterkeit durchtränkt war. »Denn auch ich habe aus Liebe
geheiratet – hielt das Gefühl jedenfalls dafür – und bin nun
nach viereinhalbjähriger Ehe geschieden.«
»Aber Lars, wie konnte das geschehen?« fragte sie
erschrocken, und er hob resigniert die Achsel.
»Sie war eine leichtfertige, ungetreue Gattin und eine
miserable Mutter, die ihr fieberndes Kind allein ließ, um
mit ihrem Galan – na ja – näher möchte ich mich nicht
auslassen, da der Ekel in mir hochsteigt. Als die
Kinderschwester, die Ausgang hatte, spät abends
zurückkehrte, fand sie das Kind im höchsten Fieber vor. Sie
rief den Arzt, der Junge kam sofort ins Krankenhaus, wurde
noch in der Nacht am Blinddarm operiert – doch zu spät.
Am Morgen war er tot.«
Das letzte klang wie ein Stöhnen, und Karen hatte das
Gefühl, als müßte ihr Herzschlag aussetzen. Blaß vor
Schreck starrte sie den Mann an, der so fest die Zähne
zusammenbiß, daß die Wangenmuskeln spielten. Jedes
Trostwort erschien ihr so leer, so phrasenhaft, jede Frage
konnte die blutende Wunde schmerzhaft berühren.
Also wartete sie ab, bis er weitersprechen würde, was dann
auch nach einem fast lähmenden Schweigen geschah. Er
sprach wie zu sich selbst, und das Mädchen mußte
angestrengt hinhören, damit es alles verstand, was da so
erbittert über die harten Männerlippen kam:
»Daß sie keine liebevolle Mutter war, wußte ich längst, aber
daß sie ihr krankes Kind im Stich lassen könnte, um ihren
Schändlichkeiten nachzugehen, für so skrupellos hätte ich
sie dennoch nicht gehalten. Sonst hätte ich auch die
Geschäftsreisen unterlassen, von denen ich ohnehin nur
die wichtigsten unternahm, hätte auch dorthin meine
Vertreter geschickt. Was ich dabei hätte verlieren können,
wäre Geld gewesen – was ich aber jetzt verlor – «
Wieder stöhnte er auf, und Karen hatte das Gefühl, als
stülpe sich ihr der Magen um. Doch schon sprach der
Mann weiter:
»Da die Kinderschwester meine Reiseroute nicht kannte,
ließ sie mich durch den Rundfunk verständigen, daß ich
auf schnellstem Wege nach Hause zurückkehren sollte. Ich
tat’s und habe meinen Jungen trotzdem nicht mehr lebend
wiedergesehen.«
»Und was sagte deine Frau zu alledem?« fragte Karen so
mühsam, als ob ihr ein Kloß im Halse steckte.
»Weiß ich nicht«, kam es verbissen zurück. »Sie soll, als ich
bereits zu Hause war, dort aufgetaucht und wieder
verschwunden sein. Wahrscheinlich hatte sie Angst vor der
Abrechnung, nach der mir in den schlimmen Tagen
übrigens gar nicht der Sinn stand, später allerdings, aber da
trat sie mir wohlweislich nicht mehr unter die Augen.
Ersuchte mich schriftlich, die Scheidung einzureichen, die
dann auch rasch erfolgte.
Doch nun entschuldige mich bitte. Ich möchte zu Hause
anrufen und mich nach dem Befinden meiner kleinen
Tochter erkundigen.«
»Du hattest zwei Kinder?« fragte Karen überrascht, und da
erhellte sich sein umdüstertes Antlitz ein wenig.
»Gottlob – ja. Hoffentlich bleibt mir wenigstens dieses
Kind erhalten, aber davon spreche ich später.«
Er eilte davon, und Karen preßte die Fingerspitzen gegen
die Schläfen, als könnte sie damit die Gedanken bannen,
die hinter ihrer Stirn wie aufgescheuchte Vögel
durcheinanderschwirrten. Es war aber auch kaum zu
fassen, was sie soeben erfahren hatte - Lars Ansholm, der
schwärmerisch geliebte Heros ihrer ersten
Jungmädchenjahre! Glücklich hatte sie ihn gewähnt – und
nun? Betrogen von der Frau, die er aus Liebe erwählte,
durch ihre Leichtfertigkeit seinen Sohn und Erben verloren,
das war ja so ziemlich das Ärgste, was einem Menschen
passieren konnte.
Und was meinte er damit, daß ihm hoffentlich seine kleine
Tochter erhalten bliebe? Das bekam sie zu hören, als er
zurückkam.
»Alles in Ordnung«, sagte er, sich aufatmend niederlassend.
»Endlich ist das Zähnchen durchgebrochen, das meinem
kleinen Mädchen so arg zu schaffen machte.«
»Wie alt ist das Kind?«
»Etwas über ein Jahr, doch viel zu zart für das Alter. Ich
lebe in ständiger Angst, daß es gar nicht aufwächst.«
»Aber du hast doch deine Mutter im Haus.«
»Eben nicht. Sie hat nach dem Tod meines Vaters einen
Ausländer geheiratet und lebt mit ihm in Südamerika -
Eigentlich ein Skandal, daß wir, die wir einst ein Herz und
eine Seele waren, fünf Jahre lang nichts mehr voneinander
hörten und immer weiter nichts gehört hätten, wenn wir
nicht hier durch Zufall zusammengekommen wären. Und
nur durch ein Mißverständnis, das andere
heraufbeschworen. Denn ich trug gewiß nicht daran die
Schuld, daß du und deine Eltern nicht zur Hochzeit
geladen wurdet. War über euer so sang- und klangloses
Verschwinden noch großartig gekränkt. Trug es euch so
nach, daß ihr für mich erledigt wart. Wo ihr doch viel mehr
Grund hattet – «
»Ach laß das doch, Lars«, winkte sie hastig ab. »Das
Mißverständnis hat sich jetzt ja aufgeklärt. Wann starb dein
Vater?«
»Vor vierzehn Monaten. Ein halbes Jahr später heiratete
meine Mutter wieder, und vor fünf Monaten wurde ich
geschieden.«
»Du Armer, dann hast du ja so allerlei hinter dir.«
»Kann man wohl sagen. Und was das liebe Schicksal
weiterhin für mich in Bereitschaft hält, mag der Himmel
wissen.
Doch nun muß ich weiter, so gern ich auch noch bliebe.
Aber vorher bringe ich dich nach Hause. Ich hole nur rasch
meinen Wagen.«
»Wo hast du ihn untergestellt?«
»Auf dem Parkplatz unweit einer Kirche.«
»Dann brauchst du das Auto erst gar nicht zu holen, ich
wohne nämlich auf dem Weg dorthin. Also können wir
zusammen gehen.«
Nachdem er gezahlt hatte, brachen sie auf. Drei Minuten
später hatte Karen das Haus erreicht, wo sie mit ihrer
Mutter in der ersten Etage wohnte --
»Da wären wir«, zwang sie sich zu einem frischen Ton.
»Gehab dich wohl, Lars.«
»Nichts da, mein Kind«, versetzte er schroff. »So leicht laß
ich mich denn doch nicht abschieben. Du wirst schon
noch von mir hören. Straße und Hausnummer?«
»Lindenstraße neun.«
»Danke – auf Wiedersehen.«
Ein fester Händedruck, dann ging er rasch davon, und
Karen sah der hohen Gestalt nach, bis sie um die Ecke bog
und somit ihren Augen entschwand.
»Jetzt weißt du Bescheid, Mutti«, schloß Karen Velde ihren
Bericht. »Was sagst du nun dazu?«
»Daß Lars mir in der Seele leid tut«, entgegnete die zierliche
Frau mit dem feinen Gesicht und den klarblauen Augen,
die so viel Güte austrahlen konnten. »Da ist also
eingetroffen, was unser guter Papa befürchtete, nachdem
Lars uns seine Braut vorgestellt hatte. Er meinte, daß ein so
puppenhaftes Geschöpf niemals eine pflichtbewußte, treue
Gattin und eine gute Mutter werden könnte. Nannte Lars
einen Narren, dem bald die blindverliebten Augen
aufgehen würden. Aber wie er nun für seine Torheit büßen
muß, das ist denn doch zu hart. Armer Kerl, wenn man
ihm nur helfen könnte.«
Dazu sollte sie schon eine Woche später Gelegenheit
haben. Es war an einem Sonntagnachmittag im November,
der seinem Namen alle Ehre machte. Draußen regnete es
und stürmte, doch in dem Wohngemach war es mollig
warm. Karen hatte sich wie ein Kätzchen im Sessel
zusammengerollt und las, ihre Mutter stichelte an einer
Handarbeit. Der Regen klatschte gegen die Scheiben, in der
oberen Wohnung weinte ein Kind. Von der nahen Kirche
holte die Uhr zu vier Schlägen aus, und fast gleichzeitig tat
es die Standuhr im Zimmer. Kaum waren die Schläge
verhallt, schrillte die Flurglocke aufdringlich laut, die
beiden Menschen damit aus ihrer sonntäglichen
Geruhsamkeit reißend. Ärgerlich hob Karen den Kopf.
»Mach nicht auf, Mutti.«
»Gern käme ich deinem Wunsch nach«, erhob diese sich
seufzend. »Aber man kann nicht wissen, ob der
Einlaßbegehrende nicht doch von Wichtigkeit ist.
Lars – du?« hörte das Mädchen gleich darauf den
überraschten Ruf der Mutter. »Ja, Junge, welcher Wind weht
dich denn her? Tritt ein.«
»Danke, Tante Malve. Ich darf dich doch noch so nennen?«
»Na, wie denn sonst?« fragte sie verwundert zurück, und
verlegen wich er ihrem Blick aus.
»Weil wir doch – durch ein Mißverständnis – Karen hat dir
davon – erzählt-«
»Junge, du stotterst ja!« unterbrach sie ihn lachend. »Nun
komm schon weiter.«
Sie betraten das Wohnzimmer, wo Karen sich indes aus
ihrer bequemen Lage hochgerappelt hatte und in die
abgestreiften Schuhe geschlüpft war. Freundlich begrüßte
sie den unverhofften Gast, der sich in dem behaglichen
Raum umsah.
»Schön habt ihr es hier«, bemerkte er mit tiefem Seufzer.
»Da könnte man fast neidisch werden.«
»Du hast es nötig«, bemerkte das Mädchen trocken. »Dein
Palast ist nämlich gar nichts dagegen. Hast du schon Kaffee
getrunken?«
»Nein-«
»Dann will ich dir dazu verhelfen.«
Sie ging, und die Zurückbleibenden nahmen Platz. Prüfend
schaute Frau Malve in das Gesicht des Mannes, dessen
versorgter Ausdruck sie beunruhigte. Daß ihn etwas quälte,
war unverkennbar, allein sie wollte nicht fragen. Wenn er
Vertrauen zu ihr hatte, würde er schon sprechen.
Also begann sie mit einem nichtssagenden Gespräch,
worauf er nur knappe Antwort gab. Wie in sich versunken
saß er da, und so hatte die Hausherrin denn Gelegenheit,
ihn ungestört zu mustern.
Als sie den Napfkuchen auf den Tisch stellte, umzuckte ein
Lächeln den Männermund –
»Ist er immer noch von alter Güte, Tante Malve?«
»Will ich meinen. Hau tüchtig ein, wie du es als Junge
tatest.«
Wenn er auch nicht gerade so viel schaffte, ließ er sich doch
das köstliche Gebäck gut munden. Der Kaffee schmeckte
ihm vorzüglich. Als er gesättigt war und zur Zigarette griff,
schmeichelte er der Hausfrau keineswegs, als er sagte:
»So gut hat mir ein Kuchen schon lange nicht mehr
geschmeckt.
Ich möchte dich ja um das Rezept bitten, Tante Malve, aber
ich bin nicht sicher, ob der Köchin das Gebäck genauso gut
gelingt wie dir. Sie taugt nämlich nicht viel. Ich werde sie
wohl auch entlassen müssen, wie ich die Hausdame und
die Kinderpflegerin entließ -
Und nun möchte ich dich bitten, Tante Malve, in mein
Haus zu kommen und dort nach dem Rechten zu sehen.
Ich habe ja sonst niemand, den ich mit diesem Amt auf Ehr
und Glauben betrauen könnte.«
»Ja, Junge, wie denkst du dir das eigentlich«, entgegnete sie
nach bedrückendem Schweigen. »Ich muß doch hier meine
Tochter versorgen.«
»Kann sie nicht mitkommen? Das Haus ist doch so groß.«
»Und ihre Stellung hier?«
»Sie arbeitet dann einfach in meinem Betrieb. Was meinst
du dazu, Karen?«
»Daß mich das in eine schiefe Lage bringen würde. Denn
die andern Angestellten würden ja gar nicht wissen, wie sie
sich zu mir stellen sollten. Ich wohne im Hause des Chefs,
mit dem ich mich sogar duze, ohne mit ihm verwandt zu
sein – wie stellst du dir das eigentlich vor?«
»Bestimmt nicht so kompliziert, wie du es zu tun scheinst.
Daß du in meinem Hause wohnst, dabei wird kein
vernünftiger Mensch etwas finden, weil ja deine Mutter
auch dort lebt. Und daß du in meinem Betrieb arbeitest,
geht keinen etwas an, da ich mein eigener Herr bin und
einstellen kann, wer mir paßt. Noch etwas?«
»Ja, ich fühle mich in meiner Stellung so wohl, daß ich sie
nicht aufgeben möchte.«
»Ja, dann weiß ich nicht, was werden soll«, sagte er müde.
»Hatte ich doch meine ganze Hoffnung auf eure Hilfe
gesetzt. Hausdame und Kinderschwester würde ich
natürlich ohne weiteres bekommen, aber ich kann die
fremden Menschen doch nicht ohne jede Aufsicht lassen.
Und ich selbst kann unmöglich zu Hause sitzen, dafür bin
ich dem Werk zu notwendig.
Einen Schlendrian im Hause würde ich schon hinnehmen
– aber es geht um mein Kind, das in seiner Zartheit
sorgfältigster Pflege bedarf. Ich habe es jetzt zu den
Gärtnersleuten gegeben, den einzigen Menschen, denen ich
von den Hausangestellten trauen kann.
Sie sind es auch gewesen, die mich auf die Mißstände
aufmerksam machten und mir rieten, doch mal von einer
meiner Geschäftsreisen überraschend nach Hause zu
kommen. Ich tat’s und fand eine ausgelassen feiernde
Gesellschaft vor, die es sich in meinen Zimmern gemütlich
gemacht hatte, aus meiner Speisekammer dinierte, meinen
Wein trank, meine Zigaretten rauchte und nach der Musik
meiner Schallplatten tanzte. Da warf ich die Bagage hinaus,
außer Köchin und Diener, die nicht dabei waren, weil sie
Ausgang hatten. Bin also gezwungen, die Posten neu zu
besetzen. Was ich jedoch ins Haus bekomme, mag der
liebe Himmel wissen.«
Nach dieser trostlosen Ausführung war es erst einmal
beklemmend still. Mitleidig sahen Mutter und Tochter auf
den Mann, der jetzt den Kopf in die Hand stützte und vor
sich hin brütete.
»Na, Muttilein, gib schon deinem guten Herzen einen Stoß.
Ich sehe dir doch an, wie leid Lars dir tut. Erbarme dich
seiner. Um mich brauchst du dir keine Sorgen zu machen,
ich komme schon zurecht.«
»Kind, stelle dir das nicht so einfach vor, so verwöhnt wie
du durch meine Betreuung bist. Daher möchte ich dich
nicht im Stich lassen – möchte wiederum auch Lars helfen
– wenigstens so lange, bis in seinem Hause alles geregelt
ist. Denn für immer dort zu bleiben, dazu werde ich mich
wohl kaum entschließen können. Aber vorläufig – ich weiß
wirklich nicht, was ich machen soll.«
»Lars seine Bitte erfüllen, geliebte Mutz. Und damit du dir
um mich nicht zu große Sorgen machst, finde ich mich
zum Wochenende bei euch ein. Zufrieden?«
»Bleibt mir wohl nichts anderes übrig. Also, Lars, was ich
für dich tun kann, das soll geschehen.«
»Dafür werde ich dir immer Dank wissen, Tante Malve«,
entgegnete er freudig. »Jetzt kann ich wieder getrost in die
Zukunft schauen.«
Es war einige Tage später, als Lars Ansholm so richtig
abgespannt über das Fabrikgelände dem Herrenhaus
zuging, das in vornehmer Abgeschiedenheit inmitten des
Parkes lag. Hier merkte man nichts von dem Hasten und
Treiben des Betriebes, hier herrschte feiertägliche Stille.
Als dürfte es keine Minute versäumen, sprang Lars elastisch
Schrittes die Freitreppe hinauf, durchquerte die Halle und
stand dann in dem weiten Gemach, wo Frau Malve ihm
lächelnd entgegensah.
»Nanu, Lars, so eilig? Was ist dir denn widerfahren?«
»Etwas Erfreuliches, Tante Malve«, neigte er sich über die
feine Frauenhand, sie schmeichelnd mit den Lippen
berührend. »Seitdem du da bist, freue ich mich jedesmal
auf das Nach-Hause-Kommen.«
Er ließ sich ihr gegenüber in den Sessel sinken, steckte eine
Zigarette in Brand und sagte versonnen:
»Kaum zu glauben, was ein Mensch durch seine Gegenwart
allein zuwege bringen kann. Denn soweit ich feststelle, ist
in diesem Zimmer nichts verändert worden, ist alles so
geblieben, wie es vorher war. Und doch ist es darin anders,
so behaglich, so traut. Du gehörst eben zu den Menschen,
die Harmonie ausströmen.«
»Stopp ab, mein Sohn!« unterbrach sie ihn lachend. »Sonst
werde ich noch eitel auf meine alten Tage. Aber froh bin
ich schon, daß du dich unter meinem Regiment wohl
fühlst, das ich offen gestanden mit Bangen antrat – denn
ich habe ja noch nicht einen so großen Haushalt geführt.«
»Und hast doch sofort die Führung straff am Zügel gehabt,
hast in wenigen Tagen Ordnung in die Verwahrlosung
gebracht. Wie steht es eigentlich mit der Köchin, hast du sie
behalten?«
»Ja, sie gibt sich die größte Mühe, mich zufriedenzustellen,
die beiden neu eingestellten Mädchen lassen sich auch gut
an, gleichfalls die Kinderpflegerin. Wenn sie so bleiben,
können wir zufrieden sein.«
»Und unser hochherrschaftlicher Diener?« fragte er
lachend.
»Der ist über jeden Zweifel erhaben.«
»Reizend, wie du das sagst, Tante Malve. Du bist doch
immer noch eine der charmantesten Frauen, die ich
kenne.«
»Hilf, Himmel, jetzt folgt bestimmt noch eine
Liebeserklärung!« wehrte sie in komischem Entsetzen.
»Mein lieber Freund, ich bin der Fünfzig nahe und habe
eine zweiundzwanzigjährige Tochter.«
»Sagt noch gar nichts«, tat er großartig. »Die paar Jährchen
Altersunterschied zwischen uns sind gar nicht so schlimm.
Doch nun mal Scherz beiseite. Wie steht es mit Hilkes
Magenverstimmung?«
»Die ist gottlob behoben, die Gärtnersleute hatten ihren
kleinen Pflegling überfüttert. Doch überzeuge dich selbst.«
Wenig später betraten sie ein entzückendes Kinderzimmer,
in lichtgrünen Farben gehalten. Auf einem Stuhl saß die
Kinderpflegerin in ihrer schmucken Tracht. Sie war gerade
dabei, das ihr anvertraute Kind auszukleiden, zu dem der
Vater nun trat und zärtlich über das Köpfchen streichelte,
auf dem sich blonde Löckchen ringelten. Besorgt schaute er
auf das Dinglein, an dem alles so zerbrechlich war.
Durchsichtig zart das Gesichtlein, die blauen Augen darin
übernatürlich groß.
»Muß ich um mein Kind Angst haben, Schwester Meta?«
fragte er bang, doch lächelnd winkte sie ab.
»Nein, Herr Doktor, dazu haben Sie keine Veranlassung.
Die Kleine ist organisch gesund, wie der Arzt, der sie
gestern gründlich untersuchte, feststellen konnte. Sie ist nur
infolge miserabler Behandlung zurückgeblieben, aber das
kriegen wir schon langsam hin, nicht wahr, mein Schatz?«
Zutraulich lachte das sonst so scheue Baby die Pflegerin an,
ein Zeichen, daß es sich rasch an sie gewöhnt hatte. Sie war
aber auch sehr sympathisch, diese Schwester, die das vierte
Jahrzehnt bereits überschritt. Es ging etwas ungemein
Sauberes von ihr aus, etwas Beruhigendes,
Vertrauenerweckendes. Das Gesicht konnte man nicht
gerade mit hübsch bezeichnen, bis auf die Augen mit dem
guten, klaren Blick, und die warme Stimme nahm sofort
gefangen.
»Mit der Wahl dieser Pflegerin scheinen wir Glück
bewiesen zu haben«, sagte Lars froh, als er an der Seite der
zierlichen Frau ins Wohnzimmer zurückkehrte. »Aber dafür
hast du sie ja auch ausgesucht, Tante Malve, und deine
Menschenkenntnis ist mir bekannt.«
»Überschätze die bitte nicht, ich habe mich schon
manchmal geirrt. Nun, warten wir ab, indes werde ich auf
Posten sein – «
In dem Moment schlug die Glocke des Fernsprechers an.
Frau Velde hob den Hörer ab und sagte gleich darauf
erfreut:
»Guten Abend, mein Kind. Dein liebliches Organ zu
vernehmen ist Musik für mein Ohr-«
Dann lauschte sie der Stimme am andern Ende, und was
sie da hörte, ließ sie unwillig die Brauen zusammenziehen.
Ihre Stimme klang mahnend –
»Karen, das gefällt mir nicht. Du weißt, wie ich über
derartige Ausflüge denke. Lehne freundlich aber
entschieden ab. Hast du bereits getan? Dann sind wir uns
ja wieder einmal einig, mein Herzchen. Erhieltst du
meinen Brief, in dem ich dich bat, einige Sachen von mir
mitzubringen, wenn du hierher kommst? Wird besorgt?
Das ist fein. Sieh zu, daß du schon zum Kaffee eintreffen
kannst. Natürlich zwickt mich die Sehnsucht, du Speilzahn.
Also dann auf Wiedersehen, Marjellchen.« Sie legte den
Hörer auf und sprach nun erklärend zu Lars: »Ein junger
Mann, der Karen hartnäckig umschwärmt, hat bei ihr
angerufen und sie übers Wochenende zu einem Ausflug
eingeladen, was ich höchst merkwürdig finde. Denn
solange ich zu Hause war, hat er ein derartiges Ansinnen
noch nicht an sie gestellt.«
»Weißt du das denn so genau, Tante Malve?«
»Natürlich weiß ich das«, gab sie erstaunt zurück. »Sonst
hätte Karen es mir bestimmt gesagt.«
»Hm – na ja. Was ist das übrigens für ein Mann?«
»Der Sohn einer alten Bekannten von mir. Jungenhaft,
unkompliziert -«
»Und bis über beide Ohren in Karen verliebt«, warf er
trocken ein, und sie lachte.
»Kann man wohl sagen. Er möchte sie am liebsten vom
Fleck weg heiraten.«
»Und weshalb tut er es nicht?«
»Weil er sein Studium noch nicht beendet hat. Wohl ist er
so gestellt, daß er sich die Heirat leisten könnte, aber die
Frau eines Studenten zu werden lehnt Karen entschieden
ab.«
»Und du etwa nicht, Tante Malve?«
»Ich schon ganz und gar. Aber was würde mir das nützen,
wenn Karen anderer Ansicht wäre? Wohl kann ich sie zu
beeinflussen versuchen, aber verbieten kann ich ihr nichts
mehr. Denn sie ist mündig und daher meines
Bestimmungsrechts entwachsen. -
Doch gottlob hat sie bisher immer noch das getan, was ich
wünschte. Wenn sie manchmal dabei auch ihr
eigenwilliges Köpfchen aufsetzte, kam sie jedoch bald zur
Vernunft und sah ein, daß ich recht hatte. Bleibt das so,
kann ich ganz zufrieden sein.«
»Wie gelangt Karen denn hierher?«
»Mit dem Bus, der direkte Verbindung hat. Also kein
Problem.«
»Schade, ich hätte sie gern abgeholt, doch es hat sich für
morgen nachmittag ein Herr angesagt, mit dem ich
persönlich verhandeln muß. Aber ich werde dem
Chauffeur Bescheid sagen – «
»Nein, Lars, laß das bitte«, ließ sie ihn nicht ausreden. »Du
würdest Karen damit nur verärgern. Sie liebt es nämlich
nicht, wenn für sie eine Extrawurst gebraten wird, da fährt
sie lieber mit dem Bus. - Und nun komm, folgen wir dem
Ruf des Gongs. Wenn du genauso hungrig bist wie ich,
wird dir das Abendessen gut munden.«
*
Am nächsten Tag um die Kaffeezeit erschien dann Karen,
freudig von der Mutter begrüßt.
»Da bist du ja, mein Liebes! Laß dich anschauen – hast
dich eigentlich gar nicht verändert.«
»Wie sollte das in den wenigen Tagen wohl möglich sein«,
lachte sie amüsiert, die frisch und munter dastand. »Selbst
verhungert könnte ich dann noch nicht sein. Beruhige dich,
ich laß mir nichts entgehen. Und nun erzähle, wie es dir
ergangen ist. Hast hier wohl ein nettes Tohuwabohu
vorgefunden, wie?«
»Wenn auch nicht gerade das, aber Unordnung gab es
schon und gibt es zum Teil auch heute noch. Denn in fünf
Tagen kann man unmöglich das ganz in Ordnung bringen,
was in Jahren vernachlässigt worden ist.«
»Bist du etwa ohne Dienerschaft?«
»Gottlob nicht. Köchin und Diener fand ich vor, zwei
Mädchen und die Kinderpflegerin, die ich einstellte,
konnten sofort ihren Dienst antreten. Und nun wollen wir
mal ein gemütliches Kaffeestündchen abhalten, wie es sich
für den Sonnabendnachmittag gehört.«
Sie suchten den kleinen Raum auf, wo man nach dem
Mittagessen den Mokka zu trinken pflegte. Im Kamin
prasselten die Scheite, auf dem niederen Tisch zwischen
den tiefen Sesseln brodelte die Kaffeemaschine.
»Hier ist gutsein, hier laßt uns Hütten bauen«, ließ Karen
sich zufrieden in die Polster sinken. »Wo steckt übrigens
Lars?«
»Der hat eine wichtige Verhandlung. Daher konnte er dich
nicht von zu Hause abholen, wie er es gern gemocht,
wollte jedoch den Chauffeur schicken.«
»Das soll er ja bleiben lassen!«
»Warum denn gleich so schroff, mein Kind?«
»Ach, weiß du, Mutti, ich möchte nun einmal keine
Extrawurst gebraten haben.«
»Das sagte ich ihm bereits, und zwar mit Absicht. Denn
läßt er dich erst einmal abholen oder tut es gar selbst, dann
fühlt er sich verpflichtet, daß es zur Gewohnheit wird.
Denn du gedenkst doch jedes Wochenende hier zu
verleben?«
»Ja, Muttilein. Es ist so einsam ohne dich in unserer bisher
so behaglichen Wohnung.«
»Na laß nur, Kind, das ist ja kein Dauerzustand. Sofern hier
alles in Ordnung ist, komme ich wieder nach Hause
zurück.
Und nun erzähle, wie Artur Grommert dazu kam, dich
übers Wochenende zu einem Ausflug einzuladen. Wußte
er, daß ich nicht zu Hause bin?«
»Wahrscheinlich, sonst hätte er wohl kaum die Courage
dazu gehabt. Als ich mit einem glatten Nein antwortete,
meinte er erbost, daß ich doch gar zu prüde sei. Was wäre
bei so einem Ausflug schon dabei. Fast alle Kommilitonen,
die über einen Wagen verfügten, führen mit ihren Mädchen
übers Wochenende fort. Als ich ihm den Rat gab, sich auch
so ein Mädchen zu suchen, brummelte er etwas
Unverständliches und hängte dann ab. Hoffentlich bin ich
ihn jetzt endlich los, diesen hartnäckigem Burschen.
Lars – du -?« unterbrach sie sich erfreut. »So bald habe ich
dich nicht erwartet. Kommst gerade zum Kaffeestündchen
noch zurecht.«
»Darum habe ich mich auch so beeilt, Tante Malve. Grüß
Gott, Karen! Hat man dich in dem überfüllten Bus auch
nicht zerquetscht?«
»Wie du siehst – nein«, reichte sie ihm vergnügt zur
Begrüßung die Hand. »Ich hatte sogar einen Sitzplatz
erwischt. Zwar etwas eng, aber immer noch besser schlecht
gesessen als gut gestanden.«
Mit dem fröhlichen Lachen, das Karen Velde so liebenswert
machte, ging sie zu dem Eckschrank, in dem auch Tassen
standen. Nahm eine heraus, ließ sie unter dem Kran der
Kaffeemaschine vollaufen und reichte sie dem Hausherrn,
der sie lächelnd betrachtete.
»Du scheinst hier noch ganz gut Bescheid zu wissen, fühlst
dich immer noch wie zu Hause.«
»Na du, das habe ich nie getan«, schnitt sie eine Grimasse.
»Dafür war mir alles zu sehr kalte Pracht.«
»Kannst ja Wärme hineinbringen«, achselzuckte er, doch
sie winkte nonchalant ab.
»Dazu fehlt mir das sonnige Gemüt, das meine Mutz mir
leider nicht vererbt hat – «
»Aber auch nicht das flinke Zünglein«, warf diese lachend
ein, und amüsiert tat der Mann mit.
»Mit dem hat sie mich immer mundtot gemacht und trug
somit nach jeder Plänkelei den Sieg davon. Allerdings
gebrauchte sie dabei auch die spitzen Krallchen, die jetzt
hoffentlich stumpf geworden sind.«
»Der Illusion gib dich nur nicht hin«, blinzelte sie ihm zu,
dabei mit ihren gesunden Zähnen in einen Mandelkuchen
beißend, daß es nur so knackte. »Die Krallchen haben mir
stets Respekt verschafft und würden es bei Gelegenheit
auch heut noch tun. Sieh mich nicht so strafend an,
geliebte Mutz. Bist doch auch der Ansicht, daß man sich
seiner Haut wehren muß.«
»Natürlich bildlich genommen, du Erzschelm. Lars muß ja
Angst vor dir kriegen.«
»Könnte ihm gar nichts schaden.«
»Gibt’s auf, Tantchen«, lachte er belustigt. »Da kommst du
doch nicht mit. Aber für ein Reisebüro ist diese
Zungenfertigkeit ganz gut angebracht.«
»Und wie!« lachte sie hellklingend. »Damit schicke ich die
Menschen dahin, wo ich will. Magst du das mal
versuchen?«
»Gott bewahre mich!« hob er in komischem Entsetzen die
Hände. »Da würde ich wahrscheinlich statt an der Nordsee
an der Südsee landen. Aber zur Strafe müßtest du mit.«
»Strafe nennst du das?« blitzte sie ihn übermütig an.
»Entzückt würde ich sein.«
»Du, ich nehme dich beim Wort!«
»Ach nein – «, wurde sie nun doch kleinlaut, was die
andern beiden amüsierte Blicke tauschen ließ. Rasch
wechselte die Mutter das verfängliche Thema, und schon
war das kecke Persönchen wieder obenauf. Es lachte und
schwatzte, schien zu einer ernsthaften Unterhaltung keine
Lust zu haben.
Dann äußerte sie den Wunsch, die kleine Tochter des
Hauses kennenzulernen. Also begab man sich ins
Kinderzimmer, wo das Geschöpfchen von Kissen gestützt
im Kinderstühlchen saß und mit bunten Bauklötzen
spielte. Schwester Meta hockte auf einer Fußbank daneben
und strickte. Es war ein Bild zufriedener Behaglichkeit.
Nachdem man Karen mit der Schwester bekannt gemacht
hatte, trat sie zu der Kleinen, die sie mit den großen
Blauaugen mißtrauisch musterte.
»Guten Tag, Hilke, gibst du mir dein Händchen?«
Nein, sie wollte nicht, und das Mädchen ließ sie gewähren.
»Nun, wie findest du sie?« fragte der Vater des Kindes
gespannt.
»Deiner Beschreibung nach habe ich mir Hilke als
erbarmungswürdiges Elendsbündel vorgestellt«, bekannte
sie freimütig. »Nun bin ich natürlich angenehm überrascht.
Wohl ist das Kind zart wie ein Porzellanpüppchen, aber
krank sieht sie nicht aus.
Das heißt, soweit ich was von Kindern verstehe«, schränkte
sie ihr Urteil ein. »Ich habe mit solch’ Kleinzeug nämlich
noch nichts zu tun gehabt.«
»Und haben trotzdem einen Blick dafür«, warf die
Kinderschwester lächelnd ein. »Es sind ja nicht alle Kinder
krank, die einen zarten Eindruck machen.
Doch nun wollen wir mal zeigen, was wir gelernt haben,
nicht wahr, mein Schatz?« hob sie das Baby hoch, das sein
Köpfchen an die Wange der Betreuerin schmiegte, die nun
auf Ansholm zeigte.
»Wer ist das, Hilkelein?«
Schweigen -
»Aber Liebchen, du hast es eben noch gewußt. Sag’s doch
dem Papi.«
»Api.«
Da war es nun gesprochen, das erste Wort. Wohl
verstümmelt, doch für dieses Geschöpfchen immerhin eine
Leistung und für dessen Vater beglückend. Es gab nun
kaum einen Tag, wo der kleine Mund, der bisher immer
nur gelallt, nicht ein neues, verständliches Wort formte.
Und da das schwächliche Dinglein sich auch körperlich
zusehends erholte,’ durfte der Vater endlich aufatmen.
Nach menschlichem Ermessen würde ihm dieses Kind, um
das er sich so sehr gesorgt hatte, erhalten bleiben.
Ein lauschiges Zimmerchen, das Frau Velde für ihre Tochter
bestimmt hatte. Diese war schon deshalb davon begeistert,
weil es neben dem Schlafzimmer der Mutter lag. Da konnte
man abends noch so nett plauschen, genauso wie zu
Hause. Und nach der tagelangen Trennung gab es
besonders viel zu erzählen, hauptsächlich unter vier Augen.
Eben kam Karen aus dem kleinen Bad, das sich dem
Schlafzimmer der Mutter anschloß. Setzte sich zu ihr aufs
Bett und schwatzte munter drauflos. Erzählte ihre kleinen
Erlebnisse im Betrieb und kam dann auch auf den Mann zu
sprechen, der ihr so großzügig Gastfreundschaft gewährte.
Nachdenklich meinte sie:
»Weißt du, Mutz, Lars ist mir in den fünf Jahren fremd
geworden. Ich kann mir einfach nicht vorstellen, daß ich
mit ihm noch einmal so vertraut werden könnte wie früher.
Das kommt wohl daher, weil er sich sehr verändert hat.«
»Hat er, Karen, sogar sehr. Aber schließlich ist er älter
geworden, ist Herr eines großen Werkes, hat Schweres
mitgemacht und sorgt sich jetzt noch um sein Kind. Das
alles zusammen geht an einem Menschen nicht spurlos
vorüber. Du bist ja auch nicht mehr der unbekümmerte
Backfisch von einst, und ich bin keine junge Frau mehr,
sondern eine würdige Matrone.«
»Genauso habe ich mir eine solche immer vorgestellt«,
lachte das Mädchen übermütig dazwischen. »Geliebte
Mutz, so wenig wie aus mir eine verschrobene Jungfer
werden könnte, wird aus dir eine würdige Matrone. Und
nun entschwinde ich, mein Bettzipfel winkt energisch.
Gute Nacht, du beste und liebste aller Mütter, ich bin sehr
stolz auf dich.«
Ein zärtlicher Kuß, dann enteilte sie und kaum daß sie im
Bett lag, wechselte sie hinüber ins Traumland, das ihr
Bilder vorgaukelte, die so kraus und bunt waren, wie eben
nur Traumbilder sein können und die den Träumenden
beglücken oder quälen.
Bei Karen Velden schien letzteres der Fall gewesen zu sein,
denn sie erwachte mit tränenüberströmtem Gesicht, das
Herz lag ihr schwer wie ein Stein in der Brust. Doch so
angestrengt sie auch darüber nachdachte, was sie im Traum
wohl so gepeinigt haben könnte, sie konnte sich einfach
nicht darauf besinnen.
»Na proste Mahlzeit«, brummte sie verdrossen. »Wenn es
stimmen sollte, daß das, was man in der ersten Nacht unter
fremdem Dach träumt, in Erfüllung geht, dann kann ich
mich ja auf allerhand gefaßt machen. Aber wiederum heißt
es doch: Träume sind Schäume, drum erwache und lache –
also tu ich es mal gleich zur Probe.«
Das frischfröhliche Lachen lockte die Mutter aus dem
Nebenzimmer herbei, das sie gerade betrat.
»Ja, was amüsiert dich denn so?« fragte sie kopfschüttelnd.
»Du bist doch wahrscheinlich eben erst erwacht.«
»Siehst du, darüber freu ich mich ja so; denn der Traum
war grausig. Wie ich sehe, bist du bereits angekleidet. Ist es
denn schon so spät?«
»Immerhin fast zehn Uhr. Wenn du noch Wert auf
Frühstück legst, erhebe dich, sonst mußt du bis zum
Mittagessen warten.«
»Ist Lars schon auf?«
»Schon ist gut. Mein liebes Kind, du vergißt wohl, daß er
der Chef eines Werkes ist und daher ständig auf Posten sein
muß.«
»Aber heute ist doch Sonntag.«
»Trotzdem mußte er fortfahren. Ob er heute noch
zurückkommt, ist fraglich.«
»Ach du meine Güte! Da bin ich aber froh, nur eine kleine
Angestellte zu sein. Da habe ich bestimmt ein
angenehmeres Leben als so ein großmächtiger Chef, der
nichts weiter ist, als der Sklave seines Unternehmens. Das
heißt, sein Geld möchte ich schon haben, nur seine Arbeit
nicht.«
»Könnte dir so passen«, besah sich die Mutter lächelnd ihr
Töchterlein, das sich da so frisch und rosig in dem weichen
Pfühl rekelte. »Nun aber hurtig aus den Federn, du
Faultierchen! In spätestens zwanzig Minuten erwarte ich
dich unten zum verspäteten Frühstück.«
Mit einiger Verspätung erschien Karen denn in dem
lauschigen Zimmerchen, wo das versprochene Frühstück
sie erwartete, dem sie mit gesundem Appetit zusprach.
Dann legte sie sich faul im Polster zurück und sagte
versonnen:
»Wie schön das hier ist, Mutti, behaglich und traut. Aber
auch nur, weil du darin weilst. Dafür wirkt unser kleines
Heim jetzt kahl und leer. Ich graule mich richtig, dorthin
zurückzukehren.«
Jetzt wäre für die Mutter der richtige Moment gewesen, der
Tochter nahezulegen, nach hier überzusiedeln, wie Lars
Ansholm es ihr angeboten hatte. Doch sie wollte das
Mädchen nicht dazu überreden, es sollte aus sich selbst
heraus entscheiden.
Außerdem wußte Frau Malve nicht, wie Lars jetzt darüber
dachte. Die Hauptsache war ihm wohl gewesen, sie in sein
Haus zu bekommen. Da er das erreicht hatte, legte er auf
die Übersiedlung ihrer Tochter wahrscheinlich keinen Wert
mehr. Also ließ sie die Angelegenheit unberührt und sagte
tröstend:
»Das ist ja nur vorübergehend, mein Kind. Sofern ich eine
passende Hausdame gefunden und eingearbeitet habe,
kehre ich wieder nach Hause zurück.«
Allein, so einfach ging das nicht. Denn Lars war jetzt viel
unterwegs, und wenn er sich mal eine Ruhepause gönnte,
war er so abgespannt, daß Frau Malve ihm nicht mit
häuslichen Belangen kommen wollte. Zumal er immer
wieder versicherte, wie schön für ihn jetzt jedesmal das
Nachhausekommen wäre.
Ihr selbst eilte es auch nicht, aus dem Hause zu kommen,
wo alles so komfortabel, so großzügig war. Wo sie walten
konnte, wie es ihr beliebte und warmen Dank dafür
erntete. Außerdem hatte sie Freude an der kleinen Hilke,
die rasch vorankam und mit jedem Tag goldiger wurde.
Also hätte Frau Malve zufrieden sein können, wenn nicht
die Sorge um Karen gewesen wäre. Und dabei wußte sie
noch nicht einmal, daß die Tochter, die nie ein Geheimnis
vor ihr gehabt, ihr jetzt so manches verschwieg, um sie
nicht zu beunruhigen.
Da war erst einmal der neueingestellte Leiter des
Reisebüros, der das junge Mädchen schikanierte, weil es
ihm auf seine plumpe Annäherung hin gewissermaßen die
kalte Schulter zeigte, und als er darauf nicht reagierte, aus
Notwehr sogar »schlagfertig« werden mußte. Das brachte
den eitlen Geck natürlich in Rage, ließ ihn Rache brüten.
Und wie heißt es doch so treffend: Wer den Hund schlagen
will, findet den Stock.
Genauso hier. Obwohl die Angestellte tüchtig und
pflichtbewußt war, fand ihr Vorgesetzter immer etwas, um
sie zu schikanieren.
Dazu das Grinsen der andern Angestellten, nein, lange
ertrug die empfindsame Karen Velde das alles nicht. Bis
zum Jahresschluß wollte sie wegen der Gratifikation noch
aushalten, dann jedoch ihre Kündigung einreichen.
Das waren die Unerquicklichkeiten im Dienst, weitere
bereitete ihr Artur Grommert. Zuerst rief er jeden Abend
an, und als Karen sich das energisch verbat, erschien er
eines Abends persönlich. Eben war sie nach Hause
gekommen, bei dem naßkalten Wetter durchgefroren, im
Dienst verärgert und hungrig, so traute sie denn ihren
Augen kaum, als sie beim Öffnen der Tür Arturchen stehen
sah. Kein Wunder, daß ihr da sozusagen der Hut hochging.
»Was willst du hier?!« herrschte sie ihn an. »Du weißt doch,
daß meine Mutter nicht zu Hause ist.«
»Die will ich ja auch gar nicht sprechen«, erklärte er
unverfroren. »Sondern dich – «
Weiter kam er nicht; denn die Tür schlug ihm vor der Nase
zu. Wutentbrannt stürmte er davon, während Karen sich
zitternd vor Aufregung an die Wand lehnte.
Das hatte ihr gerade noch gefehlt! Was machte sie bloß,
wenn der unverschämte Mensch die Besuche wiederholte.
Jetzt wurde es wirklich Zeit, daß die Mutter nach Hause
kam. Beim nächsten Wochenende wollte sie darüber
sprechen, was sie so ängstigte und verdroß.
Und doch tat sie es nicht, als sie hörte, daß Lars für
ungefähr zwei Wochen verreist war. Da konnte die
Repräsentantin des Hauses hier unmöglich alles im Stich
lassen und mit der Tochter nach Hause zurückkehren.
Hätte die Mutter ihr jetzt den Vorschlag gemacht, die
Stellung aufzugeben und hierher zu kommen, Karen hätte
sofort eingewilligt.
Aber kein Wort davon fiel, und anbieten mochte sich das
eigenwillige Mädchen nicht.
So gab sie sich denn alle Mühe, der Mutter eine heitere
Miene vorzumimen und fuhr am Montag früh wieder ab,
ohne sich ausgesprochen zu haben. Zu ihrem Pech hatte
der Bus noch Verspätung, und dem Leiter des Reisebüros
war es ein Vergnügen, die verhaßte Angestellte abzurüffeln.
Karen biß sich auf die Zunge, damit ihr nur kein heftiges
Wort entschlüpfte, rechnete nach, wie lange sie das
Widerwärtige noch ertragen mußte. Zwei Wochen noch,
darunter gab es ein Wochenende, die Weihnachtsfeiertage,
Silvester, und dann wurde gekündigt. Sie sah gar nicht ein,
warum sie auf die Gratifikation verzichten sollte. Also die
Ohren steif gehalten und die Zunge im Zaum.
Ganz besonders liebenswürdig fertigte das charmante
Mädchen die Kunden ab. Ließ den Mund lachen, die Augen
strahlen, und blieb dabei ganz Dame. Entzückt lauschte
man der weichen Stimme, ließ sich gern von ihr beraten.
Selbst der cholerische Herr wurde freundlich und zog
zufrieden mit einem bunten Prospekt ab.
So ging es weiter, bis Karen sich endlich auf den Heimweg
machen konnte. Müde betrat sie die Wohnung, die ihr
ohne die Mutter so verödet vorkam, hob den Brief auf, der
durch den Türschlitz auf die Erde gefallen war. Unwillig
zog sie die Stirn kraus, als sie den Absender las – na, von
dem konnte nichts Gutes kommen.
Was dann auch der Fall war. In süffisanter Art erklärte ihr
Artur Grommert, daß er nun nicht länger mit der
Verlobung warten wollte. Weihnachten würde sie
stattfinden und damit holla!
»Mein lieber Freund«, murmelte sie halb erheitert, halb
erbost. »Eher geht ein Kamel durchs Nadelöhr, als daß ich
mich mit dir verlobe. Das will ich dir mal gleich
nachdrücklich klarmachen.«
Damit riß sie das Briefblatt mittendurch, steckte es in einen
Umschlag, adressierte ihn, und morgen früh kam der Wisch
in den Kasten. Wenn der Unverschämte sie dennoch nicht
in Ruhe ließ, war er der abgebrühteste Patron unter der
Sonne.
Allein ganz wohl war ihr bei der ganzen Sache doch nicht,
und sie fuhr erschrocken zusammen, als am übernächsten
Morgen der Fernsprecher anschlug.
Ob sie den Hörer überhaupt abhob? Aber warum nicht, es
konnte ihr dabei ja nichts passieren.
Gleich darauf sollte sie erfahren, wie gut es war, sich
gemeldet zu haben. Denn es war nicht Artur Grommert,
der am anderen Ende sprach, sondern der Diener aus dem
Ansholmhaus. Und der teilte ihr mit, daß die gnädige Frau
erkrankt sei. Schon gestern fühlte sie sich nicht ganz wohl
und hätte jetzt Schüttelfrost und hohes Fieber. Der Herr
wäre nicht zu Hause, und man wüßte sich nicht zu helfen.
Ob das gnädige Fräulein nicht herkommen könnte.
»Natürlich komme ich«, erklärte Karen kurz entschlossen.
»Mittags bin ich da. Ist der Arzt schon verständigt?«
»Sehr wohl, gnädiges Fräulein.«
»Geht in Ordnung – Ende.«
Sie legte auf und kleidete sich an in fliegender Hast. Mutti
ist krank, nichts anderes konnte, sie denken. Vergessen war
Artur Grommert, vergessen waren die Widerwärtigkeiten im
Reisebüro.
Das alles war jetzt so nichtig, die Hauptsache war ihre
geliebte Mutz. Sie mußte zu ihr und wenn es galt, Himmel
und Hölle in Bewegung zu setzen!
Nun, so arg wurde es gerade nicht, aber einen Kampf gab es
schon. Und zwar mit dem aufgeblasenen Herrn, den die
Angestellte um einige Tage Urlaub bat. Zuerst sah er sie
nicht gerade geistreich an, doch dann tobte er los:
»Sind Sie denn irrsinnig geworden? So kurz vor
Weihnachten, wo es hier turbulent zugeht, wollen Sie
Urlaub haben – Sie, meine tüchtigste Kraft?«
Das hatte er natürlich nicht betonen wollen, es war ihm
nur in seinem Ärger entschlüpft. Wütend über sich selbst
knurrte er wie ein gereizter Kettenhund:
»Am liebsten möchte ich Sie fristlos entlassen, Sie
anmaßende Person – «
»Danke, ich habe davon Kenntnis genommen«, unterbrach
das Mädchen ihn kalt, wandte sich ab und griff nach dem
Mantel.
Eine gute Stunde später trat sie dann an das Bett der Mutter
und sah angstvoll in das fieberheiße Gesicht. »Mutti, liebe
Mutz«, sagte sie tränenerstickt. »Tut dir etwas sehr weh?«
»Jetzt nicht mehr, nachdem mir der Arzt eine Spritze gab.
Er meinte, daß ich mir eine gediegene Grippe zugelegt
hätte, was mir so kurz vor Weihnachten gar nicht paßt. Es
sind so allerlei Vorbereitungen zu treffen – «
»Das laß nur meine Sorge sein, Muttichen«, beschwichtigte
Karen, die ja so froh war, die Kranke verhältnismäßig
munter zu finden. »Ich bleibe hier und werde dich würdig
vertreten.«
»Hast du denn Urlaub bekommen?«
»O ja – «, entgegnete sie abgewandten Blickes, weil es doch
so schwer war, die Mutter zu belügen. Doch die Wahrheit,
daß man sie fristlos entlassen hatte, durfte sie jetzt auf
keinen Fall erfahren, die hätte sie erregt.
»So, geliebte Mutz, jetzt werde ich dich mal zünftig
pflegen«, tat sie munter, während sie dem Koffer eine
weiße Kittelschürze entnahm. »Hat der Arzt dir etwas
verschrieben?«
»Doch, so allerlei. Der Diener hat es bereits aus der
Apotheke geholt, auf dem Tisch liegt es. Da Grippe
ansteckend ist, fürchte ich nun, Klein-Hilke zu gefährden.
Am besten wäre, ich käme ins Krankenhaus.«
»Na, das fehlte gerade noch«, winkte Karen entschieden ab.
»Ich werde uns beide hier so isolieren, daß wir keinen
gefährden können. Wann kommt Lars zurück?«
»Den Tag vor Weihnachten, wie er mir gestern mitteilte.
Hoffentlich bin ich bis dahin wieder gesund.«
»Wir wollen hoffen und Gott geb’s«, meinte die Tochter
skeptisch und ging dann mit Energie daran, den an sie
gestellten Forderungen gerecht zu werden. Da die
Krankheit der Mutter einen gutartigen Verlauf nahm,
konnte Karen sie beruhigt auf ein oder auch zwei Stunden
allein lassen, um die Weihnachtseinkäufe zu machen, die
Frau Malve auf einem Zettel verzeichnet hatte. Die Bäckerei
wurde von der Köchin erledigt, also konnte man
zuversichtlich dem Weihnachtsabend entgegensehen.
Es war zwei Tage vor dem Fest, als Karen von einem
Einkauf zurück zum Ansholmhaus ging. Wie ein
Weihnachtsmann kam sie sich vor mit all den baumelnden
Päckchen. Hurtig schritt sie aus; denn es war empfindlich
kalt. Wenn nun noch mehr Schnee fiel, gab es ein echtes
Weihnachtswetter.
Es war eine vornehme Straße, in die das Mädchen jetzt
einbog. Keine Geschäfte gab es da, die schlossen mit einer
Konditorei ab, die sich in einem Eckgebäude befand.
Und Karen Velde traute ihren Augen kaum, als aus der Tür
dieser Konditorei Artur Grommert trat und mit langen
Schritten auf das Mädchen zueilte.
»Guten Tag«, grüßte er barsch, als sie vor Überraschung
stehenblieb. »Hast mich lange genug warten lassen.«
»Na, nun wird’s Tag«, entgegnete sie verblüfft. »Warum
wartest du denn auf mich?«
»Weil ich dich sprechen muß.«
»Hast du den Brief nicht erhalten?«
»Ja. Und für diese Unverschämtheit wirst du mir
Rechenschaft ablegen.«
»Und wenn ich das nicht tu?«
»Dann werde ich dich dazu zwingen.«
»Da bin ich aber gespannt«, besah sie sich neugierig den
schmucken jungen Mann, der ein Gesicht machte, als
wollte er sie fressen. »Wie weißt du überhaupt, daß ich hier
in der Nähe wohne?«
»Durch meine Mutter«, gab er widerwillig Auskunft. »Die
weiß nämlich, wo die deine sich zur Zeit aufhält. Dich
glaubte ich allerdings nach wie vor in eurer Wohnung. Als
ich die aufsuchte und wie irrsinnig klingelte, erklärte mir
die Nachbarin, daß du verreist wärest, was logischerweise
nur nach hierher sein konnte.«
»Allerdings«, versetzte sie kurz, sich wieder in Bewegung
setzend. Die Hoffnung, daß er zurückbleiben würde,
erfüllte sich nicht, er blieb beharrlich an ihrer Seite. In
seinem hübschen Gesicht stand ein Trotz, wie ihn
aufsässige Jungen haben, die nicht ihren Willen
bekommen.
»Nun sag mir bloß um alles in der Welt, warum du dich an
meine Fersen heftest«, wurde Karen nun langsam unwillig.
»Zum Toggenburger hast du doch wahrlich kein Talent.«
»Ach was, Beharrlichkeit führt zum Ziel.«
»Aha! Mein lieber Artur Grommert, das Ziel, das du dir
gesteckt hast, wirst du nie erreichen. Du hast dich ja nur
deshalb darin verbissen, weil du nicht haben sollst, was du
dir in deinen Dickkopf gesetzt hast.«
»Den Dickkopf hast du, nicht ich.«
»Na schön, streiten wir uns nicht. Sehen wir lieber zu, daß
wir uns friedlich trennen.«
»Fällt mir gar nicht ein.«
»Wie ein vertrotzter Junge«, lächelte sie nachsichtig, was
seine miserable Laune durchaus nicht besserte. »Man merkt
dir die milde Erziehung an, die deine in dich vernarrte
Mutter dir zuteil werden ließ.«
»Deine Mutter ist wohl weniger in dich vernarrt, nicht
wahr?«
»Na du, die läßt mir bestimmt nicht allen Willen – und
anbeten tut sie mich schon gar nicht. Nun sei endlich
friedlich, du Heißsporn. Schlag dir mich aus deinem harten
Schädel und lach dir ein nettes Mädchen an. Ein Kerl wie
du, gutaussehend, vermögend, mit einer aussichtsreichen
Zukunft, kann doch an jedem Finger zehn haben, wie es so
nett heißt. Ich paß nicht zu dir, sieh das doch endlich ein.«
Inzwischen waren sie beim Ansholmhaus angelangt, und
Karen streckte dem jungen Mann die Hand hin.
»Hier wohne ich, leb wohl. Ich wünsch dir alles, alles
Gute.«
Er nahm die Hand nicht, ließ seine Augen über das feudale
Haus schweifen, das durch die kahlen Bäume gut sichtbar
war. In einem Ton, der dem Mädchen das Blut ins Gesicht
trieb, sagte er langsam:
»Nun verstehe ich, warum du deine Gunst von mir
abgewandt hast. Der hochnoble Herr in dem pompösen
Kasten kann dir natürlich mehr bieten, als ich es jemals
könnte.«
»Jetzt ist es aber genug!« unterbrach Karen ihn empört.
»Weißt du, was du bist, Artur Grommert – gemein! Ich bin
froh, daß du deinen wahren Charakter gezeigt hast, sonst
wäre ich am Ende doch noch auf dich – reingefallen.«
Einen Druck auf den Knopf, die Pforte öffnete sich, fiel
hinter dem enteilenden Mädchen zu, und der anmaßende
junge Mann stand da.
»Lars – du? Wann bist du denn gekommen?«
»Vor ungefähr zehn Minuten. Was Richard mir da erzählte,
hat mich nicht wenig erschreckt. Wie geht es, Tante Malve?«
»Es geht schon wieder!« rief diese ihm zu. Doch als er ins
Zimmer treten wollte, hielt Karen ihn zurück.
»Tu es lieber nicht, Lars, Mutti hat Grippe.«
»Na und? Du nimmst doch nicht etwa an, daß ich mich vor
Ansteckung fürchte?«
»Das nicht, es geht hier um Hilke. Sie darf nicht gefährdet
werden. Daher habe ich angeordnet, daß niemand aus dem
Hause dieses Zimmer betritt und du darfst es auch nicht.«
»Na schön, du niedlicher Zerberus. Bleibst du hier so
eingekapselt oder läßt du dich auch unten mal blicken, zu
den Mahlzeiten und so?«
»Bisher habe ich es nicht getan. Aber nun du da bist, soll es
geschehen.«
»Na denn – bis nachher. Mach’s gut, Tante Malve!«
»Soll geschehen!« kam es munter zurück. »Ich freu mich,
daß du dich dem Befehl des energischen Persönchens
beugen mußt, das mich nicht zu knapp tyrannisiert hat
und es auch jetzt noch tut.«
So war er denn verabschiedet und ging zu seiner kleinen
Tochter, die ihm zur Begrüßung entgegenlachte. Er hatte
das Kind zwei Wochen nicht gesehen, in denen es sich
prächtig erholt hatte.
»Kleinchen, du bist ja kaum wiederzuerkennen«, sagte er
erfreut. »Mein Kompliment, Schwester Meta.«
»Das gebührt nicht mir, Herr Doktor, sondern Hilke«,
wehrte sie bescheiden ab. »Sie ist ein dankbares
Pflegeobjekt, reagiert auf alles wunderbar.«
»Das merkt man. Ich sehe da so etwas im Mündchen
blitzen, hat sie etwa mehr Zähnchen bekommen?«
»Jawohl, drei Stück und ohne viel Trara. Zeig doch mal
dem Papi die Beißerchen, Hilkelein.«
Doch das goldige Dinglein dachte nicht daran. Preßte den
kleinen Mund zusammen und sah den Vater mit
schiefgelegtem Kopf an.
»Na, du kokettierst ja schon ganz nett«, lachte der Vater
und hielt dem Töchterlein ein Plüschtier hin, nach dem es
jauchzend griff und für die nächste halbe Stunde der
Umwelt verloren war; denn alles an dem neuen Spielzeug
mußte genau untersucht werden.
»Sie wissen doch sicher schon, Herr Doktor, daß Frau Velde
von der Grippe gepackt war?« erkundigte Meta sich, und er
nickte.
»Ja, Richard erzählte es mir, als ich ankam. Die Nachricht
hat mich natürlich erschreckt, aber nun ich weiß, daß die
Kranke wieder ganz munter ist, bin ich einigermaßen
beruhigt.«
»So haben Sie Frau Velde bereits begrüßt?«
»Durch den Türspalt. Das Zimmer durfte ich nicht betreten,
das verwehrte mir die holde Samariterin.«
»Ja, sie ist sehr energisch«, lachte die Schwester. »Alle aus
dem Hause fertigt sie an der Tür ab.
Was waren wir bloß froh, als Fräulein Velde hier einige
Stunden später erschien, nachdem Richard sie von der
Erkrankung ihrer Mutter fernmündlich in Kenntnis gesetzt
hatte. Ich hätte die Kranke gern gepflegt, doch mit
Rücksicht auf Hilke mußte ich leider davon absehen.«
»Ist die Krankheit plötzlich aufgetreten?«
»Plötzlich gerade nicht. Schon einen Tag vorher fühlte Frau
Velde sich nicht ganz wohl und erwachte am nächsten
Morgen mit hohem Fieber. Der Arzt, den wir gleich
herbeiriefen, befürchtete eine Lungenentzündung, welche
die sofort verabreichte Spritze dann gottlob nicht zum
Ausbruch kommen ließ.«
»Und ich hatte von dem allen keine Ahnung«, sagte der
Mann bedrückt. »Warum haben Sie mich nicht verständigt,
Schwester Meta? Meine Reiseroute war Ihnen doch
bekannt.«
»Fräulein Velde wünschte das nicht, Herr Doktor. Sie
sollten Ihre Reise nicht unterbrechen.«
»Was ich selbstverständlich sofort getan hätte. Gott sei
Dank ist ja alles gutgegangen, und wir können morgen
frohe Weihnacht feiern. Oder sind keine Vorbereitungen
dazu getroffen?«
»Doch, Herr Doktor. Frau Velde hatte vor ihrer Erkrankung
bereits die meisten Einkäufe gemacht, und die noch
fehlenden hat ihre Tochter erledigt. Für die
Weihnachtsbäckerei sorgte die Köchin, und somit ist alles
in schönster Ordnung.«
»Das freut mich. Und auf deine strahlenden Augen
morgen, mein Kleines, freue ich mich besonders.«
Er strich dem beschäftigten Kind zärtlich über das
Köpfchen und ging dann ins Wohnzimmer, wo sich kurze
Zeit darauf auch Karen einfand. Forschend betrachtete er
sie und sagte dann langsam:
»Siehst blaß und müde aus. War wohl zu viel für dich,
wie?«
»Ein bißchen schon«, gab sie zu, sich ihm gegenüber
niederlassend. »Aber nun ist ja alles überstanden. Mutti
wird morgen zur Bescherung sogar für eine Stunde
aufstehen dürfen, wie der Arzt durchblicken ließ. Wie
fandest du Hilke? Ich habe sie nämlich schon fast zwei
Wochen nicht mehr gesehen.«
»Dann wirst du bei ihrem Anblick genauso erstaunt sein,
wie ich es war. Kaum zu glauben, was die sechs Wochen
sorgsamer Pflege aus dem verkümmerten Geschöpfchen
gemacht haben. Es ist jetzt fast schon so weit wie andere
Kinder seines Alters.
Hm, ja – wie ich von Schwester Meta hörte, hast du dich
um die Weihnachtseinkäufe gekümmert. Dafür danke ich
dir, Karen. Es wäre doch zu traurig gewesen, hätte die
Dienerschaft ohne Weihnachtsbescherung bleiben müssen.
Hat das Geld, welches ich Tante Malve für die Einkäufe
hinterließ, auch gelangt?«
»Gerade so. Ich gab alles aus, obgleich die Summe reichlich
bemessen war. Habe ich dein Portemonnaie damit sehr
geschädigt?«
»Es kann’s vertragen, du Speilzahn. Machte dir der Einkauf
Mühe?«
»Gar nicht, Spaß hat er mir gemacht. Was meinst du wohl,
wie schön es ist, anderer Leute Geld auszugeben.«
»Kann ich mir denken«, besah er sich schmunzelnd sein
reizendes Gegenüber, an dem alles voll natürlichem
Charme war. So ohne jede Koketterie, in der die meisten
Frauen ja groß sind, wie dieser reiche, blendend
aussehende Mann es immer wieder erfahren mußte.
»Sag mal, Karen, was wünschst du dir eigentlich zu
Weihnachten?« fragte er interessiert, und schon zählte sie
auf:
»Eine Villa, ein Auto, ein Reitpferd, Pelze, schöne Kleider,
Schmuck, eine Reise nach Honolulu, eine zu den Eskimos
– ach, ich wünsche mir alles das, was ich nicht bekommen
kann.«
Über den Schluß war er denn doch verblüfft, doch dann
lachte er amüsiert.
»Da gebe ich dir den guten Rat, einen Krösus zu heiraten.«
»Wenn mich einer mag, mit dem größten Vergnügen. Und
nun muß ich nach meiner Rekonvaleszentin sehen, sonst
macht sie mir noch Dummheiten.«
Ihm lieblich zulächelnd, wirbelte sie ab mit dem
fröhlichen Singsang: Morgen, Kinder, wird’s was geben.
Und was es alles gab. Mutter und Tochter hatten gut
gewählt, das merkte man bei der Bescherung an den
zufriedenen Gesichtern der Beschenkten. Doch am meisten
freute sich wohl die kleine Hilke, die inmitten ihres
Spielkrams saß und so aufgeregt plapperte, daß man über
das drollige Kauderwelsch lachen mußte. Warm zugedeckt
lehnte Frau Malve in einem Sessel und freute sich mit den
Fröhlichen.
Auf dem Tischchen, das neben ihr stand, lagen ihre
Geschenke. Die meisten stammten von dem Hausherrn,
der sie von seiner Reise mitgebracht hatte. Ein kostbarer
Seidenstoff, ein Leuchter, von wunderbarer alter Arbeit, in
dem jetzt Kerzen brannten, eine flauschige Decke und eine
Vase aus funkelndem Rubinglas, alles mit Liebe gewählt
und bestimmt nicht billig. Frau Malve freute sich sehr
darüber, aber sie freute sich ebenso über die Gaben der
Tochter, die ihr schmales Portemonnaie dabei nicht
geschont hatte.
Sie allerdings das ihre auch nicht, wie der reiche
Gabentisch der Tochter bewies. Wünsche waren da
abgelauscht, nach Möglichkeit erfüllt und verursachten
jubelnde Freude.
Die Geschenke dagegen, die der einstige Kindheitsgefährte
ihr von der Reise mitgebracht hatte, machten das Mädchen
beklommen. Der kunstvoll geschnitzte Elfenbeinkasten,
der Handspiegel darin, besetzt mit glitzernden Steinen, das
bemalte Halstuch leicht wie ein Hauch, das entzückende
Handtäschchen aus Goldstreifen geflochten mit der
brillantbesetzten Schließe, war alles zusammen bestimmt
ein Vermögen wert. Unsicher sah sie zu dem großzügigen
Spender auf.
»Lars, das ist doch viel zu kostbar für mich. Das gebührt
einer verwöhnten Frau, aber doch nicht einer bescheidenen
Angestellten.«
»Bist du das? Ach, sieh doch mal an. Es tut mir leid, daß ich
– «
»Lars, so war das doch nicht gemeint«, unterbrach sie ihn
hastig. »Aber schau mal, meine Geschenke für dich sind
doch dagegen – «
»Mit dem Herzen gewählt und bereiten daher Freude,
gleichfalls die von Tante Malve. Also dürften wir quitt sein.
Noch etwas?«
»Nein, jetzt nicht mehr«, lachte sie ihn strahlend an und
beäugte sich dann im Spiegel. »Nun hat mein Spiegelbild
wenigstens einen kostbaren Rahmen.«
»Das Original des Bildes kann sich doch wahrlich nicht
beklagen.
Denn der Rahmen, den die Natur ihm so verschwenderisch
mitgab – «
»Aha, jetzt hat dein Wörterbuch ein Loch«, lachte sie ihn
aus, als er schmunzelnd schwieg. Sie war überhaupt von
einem Übermut, daß sie die andern damit mitriß. So
herrschte denn eine Fröhlichkeit, wie sie zum
Weihnachtsfest gehört.
Und wie der Herr Hausherr eines noch nie mitgemacht
hatte. Nicht mit seinen Eltern und schon gar nicht mit
seiner Frau. Erstere waren zu steif gewesen, um Fröhlichkeit
um sich her zu verbreiten, und letztere hatte immer
gemault, weil sie mit ihren Gedanken nie zufrieden war,
obgleich sie stets überreichlich bemessen waren. Das
verdarb ihr die Laune und den andern mit.
Nein, er wollte nicht mehr daran denken. Durfte auch den
Schmerz um den Verlust seines Sohnes nicht über sich Herr
werden lassen, der heute ganz besonders in der Wunde, die
noch längst nicht vernarbt war, brannte.
Als er heute vormittag zu dem kleinen Grab gegangen war,
das an einer verschwiegenen Stelle im Park lag, hatte er
seinen Augen kaum getraut, als er das
Weihnachtsbäumchen sah, das dort glitzernd stand,
inmitten eines Kranzes von Christrosen.
Wer hatte da so lieb seines toten Kindes gedacht? Tante
Malve hätte er das schon zugetraut, aber die hatte doch im
Bett gelegen, als er zu dem Grab ging. Konnte es also nur
Karen Velde gewesen sein, das frischfröhliche
Menschenkind mit dem warmen Herzen und dem
eigenwilligen Köpfchen.
Neben Frau Malve sitzend, sah der Mann lächelnd zu, wie
das große Mädchen neben dem kleinen zwischen dem
bunten Spielkram saß. Ihr Lachen mischte sich mit dem
Jauchzen des Kindes und gab einen herzfrohen Klang. An
dem Baum brannten die Kerzen, das leichte Flitterwerk
klirrte leise. Ein Duft von Tannen, Wachs und
Pfefferkuchen durchschwängerte den weiten Raum. Das
alles zusammen schuf eine Atmosphäre, die sich dem
Menschen von Kindheit an einprägt in Herz und Hirn.
Zuerst zog sich die Dienerschaft zurück, dann mußte das
müdegespielte Kind ins Bettchen, und auch für die
Rekonvaleszentin wurde es Zeit, da gab es kein Pardon.
So saßen denn an der Abendtafel, die Karen festlich
geschmückt hatte, sie selbst neben dem Hausherrn und
Schwester Meta. Nach dem Essen trank man im
Wohngemach die vorzügliche Weihnachtsbowle, von der
Karen der Mutter ein Glas ans Bett brachte.
»Sie hätte gern noch mehr getrunken, aber sie kriegt
nichts«, erklärte sie kategorisch, als sie zurückkehrte. Sie
selbst jedoch ließ sich das köstliche Getränk so gut
munden, bis Lars lachend Einhalt gebot.
»Stopp ab, du niedlicher Säufer! Sonst spielst und singst du
noch anstatt der lieben alten Weihnachtsweisen zünftige
Trinklieder.«
»Ich soll musizieren? Das kann ich nicht. Meine Finger sind
lahm und meine Kehle ist rauh. Schwester Meta wird mich
würdig vertreten.«
»Ich bin ganz unmusikalisch«, entgegnete sie lächelnd, die
an dem munteren Mädchen ihre helle Freude hatte.
Wie kaum eine andere liebte sie die Fröhlichkeit, nach der
sie von jeher gelechzt hatte. Denn in ihrem Elternhaus
hatte es nie Frohsinn gegeben. Den unterband die
mürrische Stiefmutter und der dem Trunk verfallene Vater.
Dann kam die sehr schwere Lehre im Säuglingsheim, wo es
wahrlich nichts zu lachen gab, da man sie fast
ausschließlich auf die Krankenstation der Säuglinge
schickte. Bei so viel Jammer kann einem nun wirklich das
Lachen vergehen, und eine unglückliche Liebe nahm es ihr
ganz und gar.
Nun, das war schon länger als ein Jahrzehnt her, aber
immer noch klang es, was ihr einst so weh getan, wie eine
bittersüße Melodie. Als man sie gerade damals auf
Privatpflege schickte, kehrte sie nicht mehr ins
Säuglingsheim zurück, wo der junge Arzt, der ihr so sehr
den Kopf verdreht hatte, angestellt war.
So wurde sie denn Säuglingsschwester in Familien, die sich
eine solche leisten konnten. Aber so gut wie in diesem
Hause hatte es ihr noch nirgends gefallen, noch nirgends
war ihr ein Kind so ans Herz gewachsen, wie die kleine
Hilke Ansholm. Noch nie in ihrem Leben hatte sie ein so
frohes Weihnachtsfest verlebt wie heute. Hier würde sie
auch bestimmt das Lachen lernen, angesteckt von dem
mutwilligen Mädchen, das in seiner süßen Beschwipstheit
einfach unwiderstehlich war.
Auch die alten Weihnachtslieder bekam man noch zu
hören. Spielerisch glitten die schlanken Finger über die
Tasten des kostbaren Flügels, warm flutete die Stimme
durch das trauliche Gemach. Und ebenso harmonisch, wie
der Weihnachtsabend begann, nahm er auch ein Ende.
In so trauter Harmonie vergingen auch die Feiertage, Frau
Malve fühlte sich so wohl, daß sie am zweiten Festtag,
abgesehen von einem Mittagsschlaf, außer Bett sein
konnte.
»Na, Mutz, du hast dich wacker gehalten«, sagte Karen, ihre
in dem weichen Pfühl ruhende Patientin a.D. kritisch
betrachtend. »Hoffentlich hast du dich nicht
überanstrengt.«
»Keine Spur, ich fühle mich mopsfidel«, kam es vergnügt
zurück. »Schon deshalb, weil ich morgen meinen Zerberus
loswerde. Wann fährt der Bus?«
»Er fährt – ach, Muttilein, ich muß dir was gestehen«,
senkte sich der flimmernde Mädchenkopf verlegen. »Aber
rege dich bitte nicht dabei auf.«
»Kind, was ist denn passiert?« wurde die Mutter
ungeduldig. »Nun sprich schon – «
Da begann Karen mit dem Bericht. Als er beendet war,
sagte Frau Malve tröstend:
»Unter den Umständen hättest du sowieso nicht länger
bleiben können, mein Kind. Und wer weiß, welchen
Schikanen du nach der Kündigung ausgesetzt gewesen
wärest. Da ist dieser plötzliche Fortgang entschieden besser
für dich. Um die verlorene Weihnachtsgratifikation laß es
dir nicht leid tun, so nötig bedarfst du des Geldes nicht.«
»Gott sei Dank, daß du alles so ruhig auffaßt, Mutti. Ich
fürchtete schon, du würdest dich erregen und dir damit
schaden. Aber jetzt bin ich froh, alles vom Herzen herunter
zu haben, was ich dir wegen deiner Krankheit verschweigen
mußte. Es war nicht leicht, dir und den andern ein frohes
Gesicht zu zeigen, wo ich jetzt doch stellungslos bin.«
»Karen, wer wird denn so verzagt sein. Wir werden schon
nicht verhungern, auch wenn du eine Zeitlang ohne
Stellung sein solltest. Bleibe ruhig solange hier – «
»Aber Mutti, das kann ich doch nicht«, hob sie ruckartig
das Gesicht. »Was würde Lars dazu sagen?«
»Das werden wir erfahren, wenn ich mit ihm gesprochen
habe. Vielleicht kommt er auf das Angebot, dich in seinem
Betrieb zu beschäftigen, zurück. Was mir sehr lieb wäre,
weil ich dich dann nicht herzugeben brauchte und mich
nicht länger um dich sorgen müßte. Denn eine passende
Hausdame finden, wird nicht so einfach sein.
Unter uns gesagt habe ich mich bereits darum bemüht und
mit drei Damen in Verbindung gestanden. Aber sie waren
nicht das, was ich mir vorstellte. Sollte sich doch eine
finden, ist es fraglich, ob sie Lars zusagt, und im Stich
lassen möchte ich ihn auch nicht.«
»Das würde auch gar nicht zu dir passen, Muttichen. Zwar
bist du mir nötig, aber noch nötiger bist du hier. Wenn du
meinst, daß Lars auf sein Angebot zurückkommen könnte,
dann nehme ich es an. Nur überreden darfst du ihn dazu
nicht, das mußt du mir versprechen.«
»Ohne weiteres tu ich das, weil es mir nämlich selbst nicht
paßt, dich ihm sozusagen anzubieten.«
»Hat er denn sein damaliges Angebot dir gegenüber nicht
mehr erwähnt?«
»Nein. Wahrscheinlich hat ihn deine strikte Ablehnung
verletzt.«
»Aber er machte mir den Vorschlag doch nur deshalb, um
dich in sein Haus zu bekommen. Da er annahm, daß du
nicht zu bewegen sein würdest, mich allein zu Hause zu
lassen. Nun du es doch tatest, war die Angelegenheit für
ihn erledigt.«
»Das nehme ich auch an. Nun, wir werden ja sehen. Ich
spreche gleich morgen mit ihm.«
Dazu sollte sich jedoch erst am Abend Gelegenheit bieten.
Karen, die ja wußte, was die Mutter vorhatte, zog sich
gleich nach dem Essen zurück, Schwester Meta tat es
gleichfalls, und so saß denn Frau Malve mit dem
Hausherrn im Wohnzimmer allein. Sie wußte nicht, wie sie
beginnen sollte – denn leicht war es für sie nicht, was sie zu
sagen hatte, doch schon kam er ihr zu Hilfe.
»Wie kommt es, daß Karen noch hier ist. Hat sie denn
längeren Urlaub?«
»Nein, Lars, den hat sie nicht«, wurde sie verlegen. »Sie ist –
fristlos entlassen.«
Ehe er etwas darauf erwidern konnte, sprach sie hastig
weiter, und interessiert hörte er zu. Als sie mit dem Bericht
zu Ende war, sagte er gelassen:
»Ist das alles, Tante Malve?«
»Na, was denn sonst?« fragte sie verwundert zurück. »Du
nimmst doch nicht etwa an, daß Karen sich im Dienst
etwas zuschulden kommen ließ? Ich gehöre nicht zu den
Müttern, die alles, was die Töchter tun, blindlings
gutheißen, aber in diesem Fall konnte Karen nicht anders
handeln. Oder bist du anderer Ansicht?«
»Nur insofern, daß sie gleich nach der ersten Belästigung
dieses unverschämten Kerls hätte die Konsequenzen ziehen
und kündigen müssen.«
»Leicht gesagt, Lars. Du wirst ja auch wissen, daß es für die
Mädchen nicht einfach ist, eine Stelle zu finden, weil das
Angebot weit größer ist als die Nachfrage.«
»Zugegeben. Aber Karen hätte sich um eine neue Stelle erst
gar nicht zu bemühen brauchen, die hatte sie
gewissermaßen schon in der Tasche. Du warst doch dabei,
als ich ihr anbot, in meinem Betrieb zu arbeiten, kennst
also auch die Begründung, mit der sie ablehnte. Sie fühlte
sich eben in ihrer Stellung so wohl, daß sie diese nicht
aufgeben mochte.«
»Was auch stimmte, da sie damals einen andern
Vorgesetzten hatte. Ein feiner alter Herr, den ich persönlich
kannte und der immer wieder betonte, daß Karen seine
beste Kraft wäre. Leider gab er krankheitshalber den Posten
auf, und ein anderer trat an seine Stelle.«
»Wann war das?«
»Ende November.«
»Sprach Karen dir gegenüber nie von den
Widerwärtigkeiten, die sie auszustehen hatte?«
»Nein, sie wollte mich wohl damit nicht beunruhigen. Von
der Entlassung hörte ich erst gestern abend. Es ist ihr gewiß
nicht leichtgefallen, sie mir so lange zu verschweigen. Doch
da ich krank war, tat sie es aus der Angst heraus, mich
aufzuregen.«
»Hm – aber mit mir hätte sie wohl darüber sprechen
können.«
»Das war ihr zu peinlich und ist es auch noch. Daher
spreche ich ja mit dir und möchte dich bitten, ihr solange
Gastfreundschaft zu gewähren.«
»Von Gastfreundschaft kann gar nicht die Rede sein«,
winkte er kurz ab. »Karen bleibt hier, wird im Werk
arbeiten, wo sie unter meinem Schutz steht. Sie ist viel zu
hübsch und wird daher Belästigungen ausgesetzt sein,
wohin sie auch kommen mag. Das kenne ich, habe Ärger
genug damit gehabt. Daher stelle ich prinzipiell keine
schönen Mädchen mehr ein, immer nur mittelmäßige, am
liebsten häßliche. Und da ich es mit den männlichen
Angestellten auch so halte, ist einigermaßen Ruhe im
Betrieb.
Übrigens ist für Karen eine Stelle bereits frei, da die
Sekretärin des ersten Prokuristen wegen Heirat am
Jahresende ausscheidet.«
»Meinst du, daß sie diesem Posten gewachsen wäre?«
»Ja, warum denn nicht? Soviel ich weiß, besitzt sie die
erforderliche Vorbildung.«
»Das schon. Nur daß in einem Reisebüro die Arbeit eine
ganz andere ist.«
»Dann lernt sie eben um, intelligent genug ist sie dazu. Ob
sie nun will oder nicht, sie muß, damit du sie hier hast und
nicht ständig in Sorge zu sein brauchst, wie sie zu Hause
allein zurechtkommt. Oder willst du abstreiten, daß du
besorgt um sie warst?«
»Nein, Lars. Mir war es immer gräßlich, wenn sie nach dem
Wochenende in aller Herrgottsfrühe bei Wind und Wetter
zum Omnibus gehen mußte.«
»Das hat mir wahrlich nicht gepaßt, Tante Malve. Ich hätte
sie ohne weiteres am Sonnabendnachmittag abholen und
am Montag früh wieder zurückbringen lassen, auch wenn
ich mit dem Chauffeur unterwegs war. Im Werk gibt es
auch andere Wagen genug. Aber sie lehnte es ab, und mich
aufzudrängen ist nicht meine Art. Also bitte sehr, immer
wie jedem schön ist. Die Quittung für ihren Eigensinn hat
sie ja gekriegt. Hoffentlich zieht sie daraus eine Lehre.«
»Nun, wozu hast du dich entschlossen?« fragte der
Fabrikherr das Mädchen, als er am andern Tage seiner
ansichtig wurde. »Willst du im Werk arbeiten?«
»Ja, Lars – aber wirklich arbeiten.«
»Was hast du dir wohl sonst gedacht?« fragte er erstaunt.
»Sinekuren habe ich keine zu vergeben. Du wirst sogar den
andern Angestellten mit gutem Beispiel vorangehen
müssen.«
»Werde ich schon«, brummte sie, der dieser kurz
angebundene Ton so gar nicht paßte. »Ich werde mir
bestimmt nichts schenken lassen.«
»Dann sind wir uns ja einig. Am zweiten Januar trittst du
deinen Dienst an.«
»Etwas freundlicher hätte er mir das alles auch sagen
können«, war sie aufgebracht, als sie der Mutter von der
Unterhaltung erzählte. »Damit hätte er seiner Würde nichts
vergeben. Ach, Mutti, ich habe Angst. Wie wird das bloß
werden.«
»Wie töricht, mein Kind. Du brauchst ja nichts weiter, als
deine Pflicht zu tun.«
»Ich werde aber nicht das leisten können, was von mir
verlangt wird.«
»In der ersten Zeit nicht, da du dich erst einarbeiten mußt.
In Lars respektiere stets den Chef, auch wenn du einmal
mit ihm allein sein solltest.«
»Muß ich ihn womöglich gar mit Sie ansprechen?« fuhr sie
auf, und die Mutter entgegnete gelassen:
»Du wirst abwarten, wie er dich anspricht. Übrigens sagte
er mir, er wird dafür sorgen, daß der Leiter des Reisebüros
entlassen wird.
So ein Individuum wäre es nicht wert, einen leitenden
Posten zu bekleiden. So was müßte überhaupt aus allen
Betrieben ausgemerzt werden, dann hätten die anständigen
Angestellten endlich Ruhe vor solchen Kreaturen. Du
siehst, Lars fackelt nicht lange. Er sagt nicht viel, er
handelt.«
»Na, dem aufgeblasenen Geck gönne ich das von ganzem
Herzen. Aber sonst – ach, Mutti.«
»Ach, Karen! Du hast gar keinen Grund, so tief zu seufzen.
Sei froh, daß du dir keine Stelle suchen mußt, daß sie dir
gewissermaßen in den Schoß fällt. Was meinst du, wie viele
Mädchen glücklich wären, einen solchen Posten zu finden.
Ich wiederum bin glücklich, dich in Lars’ Betrieb gut
aufgehoben zu wissen und dich bei mir behalten zu
dürfen.«
»Darüber bin auch ich froh, Mutti. Denn schön war es
wahrlich nicht ohne dich zu Hause. Wie verwaist kam ich
mir vor, wenn ich die öde Wohnung betrat. Na ja – an das
andere werde ich mich schon gewöhnen.«
»Endlich bist du vernünftig«, atmete die Mutter auf. »Und
nun möchte ich mein Mittagsschläfchen halten, um das du
mich fast gebracht hast.«
»Tatsächlich – «, senkte sich der Mädchenkopf beschämt.
»Komm, Muttichen. Leg dich auf den Diwan und verschlafe
ruhig den Kaffee.«
Eifrig war sie um Frau Malve bemüht, die es sich lächelnd
gefallen ließ. Mochte Karen auch ihre Fehler haben, aber
warmherzig war sie und vor allen Dingen eine liebevolle
Tochter.
»So, geliebte Mutz«, erklärte sie vergnügt. »Nun du so gut
untergebracht bist, werde ich einen Spaziergang machen.
Schlaf indes schön, laß dir durch niemand und nichts
deine Ruhe rauben.«
Einen zärtlichen Kuß auf die Wange, dann ging sie nach
ihrem Zimmer, schloß leise die Tür und zog den
Pelzmantel an, den die Mutter ihr zu Weihnachten
geschenkt hatte. Beileibe kein Nerz oder eine sonst so
sündhaft teure Angelegenheit, aber er war schick, mollig
und erfüllte somit völlig seinen Zweck. So richtig stolz
beäugte sie sich im Spiegel, fand sich fesch, drückte ein
kokettes Mützchen auf die schimmernden Locken, griff
nach den Handschuhen und verließ leise das Zimmer.
Wie still es in der weiten Halle war, so richtig beängstigend
still. Ein gar zu großes Haus für so wenige Personen,
dreimal so viele hätte es bequem beherbergen können.
Der Lars mußte doch unverschämt viel Geld haben, um so
einen feudalen Kasten mit allem Drum und Dran erhalten
zu können – schoß es ihr durch den Sinn. Dann die Werte,
die darin stecken, sein großes Unternehmen.
Und doch ist er ein armer Mann, der keine rechte Freude
an allem hat. Er scheint sogar unglücklich zu sein. Nicht,
daß ihm die Frau durchging, aber daß er seinen Sohn
verlor. Dessen Tod würde er wohl nie verwinden.
Ein Glück, daß ihm sein Töchterchen erhalten bleibt, das er
bereits aufgegeben hatte. Und daß er die Mutti hier hat, der
er so blindlings vertrauen kann. Mir paßt es zwar gar nicht,
von dem hohen Herrn als Anhängsel geduldet zu sein,
doch ich werde mich nolens volens damit abfinden
müssen.
Ein abgrundtiefer Seufzer schloß diese Betrachtungen.
Indes hatte sie die Portaltür erreicht und trat hinaus ins
Freie. Es war ganz nett kalt, der Schnee knirschte unter den
Füßen. Aber das machte dem Mädchen nichts aus. Steckte
es doch in dem warmen Pelzmantel, dessen Kragen
hochgeklappt die Ohren bedeckte.
Wohin nun, zur Stadt oder in entgegengesetzte Richtung?
Beides nicht, sondern durch den Park. Vielleicht war die
Pforte unverschlossen, die zum Fabrikgelände führte und
durch die der Herr vom Ganzen zu gehen pflegte, damit
einen Umweg ersparend. Allein die Pforte war
verschlossen, und die hohe Mauer gab keine Sicht –
schade!
Doch da fiel ihr der große Stein ein, den einst der
freundliche Gärtner für den Sohn des Hauses dicht an die
Mauer geschafft hatte; denn dem war wie allen anderen
Unbefugten das Betreten des Geländes streng verboten.
Aber wenn man auf den Stein kletterte, konnte man alles
bestens übersehen, das wußte die Spielkameradin des
Knaben Lars aus Erfahrung.
Sie fand den Stein, kletterte hinauf, und da sie in den
Jahren ein gutes Stück gewachsen war, brauchte sie sich
nicht wie als Kind auf die Fußspitzen zu stellen, um gerade
so die Augen freizubekommen, bis zur Schulter ragte sie
über die Mauer hinweg.
Und dann staunte sie über die Veränderungen, die da vor
sich gegangen waren. Das Gelände bedeutend vergrößert,
mehr Hallen errichtet, allerlei neue Gebäude, Schuppen,
Garagen und anderes mehr. Schwindelnd hohe
Schornsteine ragten empor, das schmucke Haus mit den
vielen großen Fenstern war auch neu, wahrscheinlich das
Verwaltungsgebäude, alles in allem ein riesenhafter
Komplex, wie er vor Jahren noch nicht gewesen war.
Beklommen schaute das Mädchen Karen umher.
Hochachtung stieg in ihr auf zu dem Mann, dem das alles
gehörte. Und was würde sie in einigen Tagen dort sein?
Nichts weiter als eine kleine Angestellte, welcher der
großmächtige Chef in seinem prunkvollen Haus
Wohnrecht gewährte, weil er deren Mutter als
Repräsentantin dringend benötigte.
Mißmutig ging Karen ins Haus zurück. Als sie an der
Abendtafel mit dem Hausherrn zusammentraf, musterte sie
ihn zwar verstohlen, aber so genau, als sähe sie ihn heute
zum erstenmal.
Nein, das war der Lars nicht mehr, der ihr als Kind und als
Jungmädchen so vertraut gewesen. Den sie so
schwärmerisch liebte mit der ganzen Inbrunst eines eben
erwachten Herzens. Der da saß, war ein einflußreicher
Industrieller mit dem Gebaren des Herrenmenschen, den
man wohl achten aber nicht lieben konnte, weil man an
ihm gemessen so ein einflußloses Nichts bedeutete.
Am liebsten hätte Karen Velde ihre Mutter flehentlich
gebeten, mit ihr nach Hause zurückzukehren. Aber da sie
wußte, daß dieses nicht anging, wenigstens nicht in
absehbarer Zeit, schwieg sie, um die Mutter nicht zu
beunruhigen. Mochte denn das Schicksal seinen Lauf
nehmen. Sie wollte versuchen, ohne viel Trara mit ihm
fertig zu werden.
Am zweiten Januar trat Karen Velde dann ihren Dienst an.
An der Seite des Chefs ging sie durch den Park, und als er
die Pforte aufschloß, sagte er mahnend:
»Ich werde dir den zweiten Schlüssel dazu geben, damit du
auch ohne mich hier hindurch kannst. Vergiß bitte nicht,
immer gleich hinter dir abzuschließen, damit kein
Unbefugter den Park betreten kann.«
»Ich werde es nicht vergessen, Lars – oder muß ich jetzt
anders sagen?«
»Wie zum Beispiel?«
»Nun, so – wie dich deine andern Angestellten nennen – «
»Aha! Weißt du, was du bist, Karen Velde? Ein dummes
Ding, das sich von Äußerlichkeiten einschüchtern läßt. Für
mich bist du keine Angestellte, sondern die Tochter der
Frau, die ich wie eine wirkliche Mutter liebe und verehre.
Der ich unendlich dankbar bin, daß sie sich meines
verwaisten Hausstandes so selbstlos annahm, mir mein
Heim traut und behaglich macht und sich liebevoll um
mein Kind kümmert. So, nun weißt du Bescheid. Komm
mir nie mehr mit solchem Unsinn.«
Schweigend schritten sie nun über das Gelände, wo die
Arbeit ihr ehernes Lied sang. In den Hallen dröhnte und
klirrte es, in den Schmelzöfen lohte es rot. Aus allen
Gebäuden klapperte, surrte, brummte es, draußen
knatterten und hupten die Laster. Karen wurd es ganz wirr
von all dem Lärm.
Ahnungslos, was für ein Aufsehen sie erregte, ging Karen
neben Lars dem Verwaltungsgebäude zu. Scheu sah sie zu
den Fenstern hoch. Hinter welchem würde sie arbeiten und
welcher Art würde ihre Arbeit sein?
Ihr zitterten doch tatsächlich die Beine, als sie die Stufen
zum Portal hinaufstieg, durch die Vorhalle ging in den
Fahrstuhl hinein. Einen Druck auf den bestimmten Knopf,
der Lift setzte sich in Bewegung und hielt im ersten Stock.
Und dann wurde alles viel einfacher, als sie fürchtete. In
dem Zimmer, das man zuerst betrat, lachte ihr eine Dicke
entgegen, der die Gemütlichkeit sozusagen aus allen
Nähten lugte.
»Guten Morgen, Frau Urbig«, grüßte der Chef munter.
»Hier bringe ich Ihnen Ihr neuestes Opfer. Stopfen Sie das
gleißende Köpfchen nicht gar zu voll mit unserer Materie;
denn Stahl und Eisen sind sehr harte Gegenstände.«
»Daher ist mein Schädel auch im Laufe der Jahre so hart
geworden«, kam es vergnügt zurück. »Gott zum Gruß,
Fräulein Velde. Sie haben sich aber mal fein
herausgemacht.«
»Kennen Sie mich denn?« fragte Karen verwundert.
»Na und ob«, lachte die Dicke behaglich. »Ich kannte Sie
bereits, als Sie mit dem Knaben Lars durch den Park
tollten. So lange laß ich mich schon von der Firma
Ansholm ausnutzen.«
Dabei blinzelte sie dem Chef verschmitzt zu, der
schmunzelnd meinte:
»Scheint Ihnen aber ganz gut bekommen zu sein.«
»Ach, Sie meinen das da, Herr Doktor? Ist alles nur
Kummerspeck.«
Lachend zog er Karen ins nächste Zimmer hinein, wo sie
wieder etwas Molliges empfing, aber diesmal in
Maskulinum. Ein Herr, fast so breit wie lang, mit
respektabler Glatze und verschmitzten Äuglein.
Und nun mußte Karen Velde staunen aufs neu; denn auch
hier war sie bekannt.
»Ach, sieh da, die kleine Karen«, lachte er über das ganze
Vollmondgesicht. »Ja, ja, aus Kindern werden Leute – und
was für Leute! Verflixt, das ist ja die reinste Augenweide!«
»Nun machen Sie mir das arme Mädchen nicht vollends
kopfscheu«, lachte sein Chef. »Es glaubt nämlich, hier
fremd zu sein und mußte bereits von Frau Urbig erfahren,
daß diese es schon als Kind kannte, wie Sie ja auch, Herr
Gröhne. Was ja kein Wunder ist, da Sie beide Getreue
schon seit mehr als zwei Jahrzehnten in der Firma tätig
sind. Nehmen Sie sie also hin, Ihre Sekretärin in spe.«
»Mit dem größten Vergnügen, Herr Doktor«, kam es
schmunzelnd zurück. »Sooo eine Sekretärin habe ich mir
schon lange gewünscht. Potz Stahl und Eisen, da wird
meine eifersüchtige Alte aber Augen machen.«
Jetzt konnte Karen nicht länger ernst bleiben. Hellklingend
lachte sie heraus und sich damit dem guten Dicken in das
warme, treue Herz hinein. Gar nicht mehr ängstlich ging
sie in das Vorzimmer zurück, wo wiederum die gute Dicke
das Küken unter ihre betulichen Gluckenflügel nahm.
»So, Kindchen«, begann sie gemütlich, nachdem der Chef
gegangen war. »Nehmen Sie an dem gegenüberstehenden
Schreibtisch Platz, und erzählen Sie mir dann Auge in
Auge, was Sie alles schon wissen. Was für Ausbildung, wo
bisher gearbeitet und so weiter.«
Karen Velde war klug genug, um nicht auch in den
vertraulichen Ton zu verfallen. Artig, wie es sich einer
Vorgesetzten gegenüber gehörte, gab sie Auskunft:
»Ich machte das Abitur.«
»Wie abgeschlossen?«
»Mit gut.«
»Aha! Warum nicht studiert?«
»Weil gerade da mein Vater starb und die Pension meiner
Mutter zu einem Studium für mich nicht ausreichte.
Zumindest hätte sie sich sehr einschränken müssen, und
das wollte ich nicht. Wollte überhaupt nicht so recht
studieren.«
»Warum dann das Abitur?«
»Mein Vater wünschte es.«
»Vernünftig von dem Herrn. Was man nämlich gelernt hat,
geht einem nicht verloren. Nun weiter.«
»Weiter zwei Jahre Höhere Handelsschule. Anschließend
arbeitete ich bei einem Rechtsanwalt, doch leider starb der
alte Herr bald. Ich gab meinen Dienst schon nach einem
Monat auf.«
»Aha! Dann arbeiteten Sie –?«
»In einem Reisebüro. Dort wurde ich am vierzehnten
Dezember fristlos entlassen, weil ich um Urlaub bat, um
nach meiner erkrankten Mutter zu sehen, die jetzt im
Hause des Herrn Doktor Ansholm wohnt. Das ist alles,
Frau Urbig.«
»Hm. Da werden Sie völlig umlernen müssen, Fräulein
Velde. Denn wir wälzen hier keine Straf- und
Scheidungsakten, haben auch nichts mit Reiselustigen zu
tun, sondern mit Stahl und Eisen.«
»Das weiß ich ja«, senkte sich kleinlaut der flimmernde
Mädchenkopf. »Daher kann ich auch nie den Posten einer
Sekretärin ausfüllen, wie Herr Doktor Ansholm ihn für
mich bestimmte. Ich werde versagen.«
»Nicht, wenn ich Sie dazu ausbilde«, lächelte die
gewichtige Dame. »Sie müssen wissen, daß ich hier so
etwas wie ein Mädchen für alles bin, da einspringen muß,
wo ich gerade gebraucht werde. Sie wären also die erste
Sekretärin nicht, die ich ausbilde oder ausbilden wollte;
denn die meisten haben gestreikt.«
»Warum denn das?« hob Karen den Kopf und sah ihr
Gegenüber offen an. »Waren die denn – «
»Zu dumm, zu faul oder zu aufsässig«, kam es freundlich
zurück. »Und so was^geht mir auf die Nerven.«
»Ach, du lieber Gott!« entfuhr es Karen so erschrocken, daß
die andere lachen mußte.
»Na, na – man nicht so ängstlich, sprach der Hahn zum
Regenwurm. Fressen werde ich Sie bestimmt nicht – aber
auch nicht schonen.«
Was dann auch nicht geschah. Karen mußte sich sehr
anstrengen, wollte sie alles begreifen, was ihr da deutlich
aber auch knapp erklärt wurde. Fragen mochte sie nicht,
das ließ ihr Ehrgeiz nicht zu. Da schlug sie lieber in den
Fachschriften, die sie sich besorgt hatte, am Abend nach,
bis sie das gefunden hatte, was sie suchte. Übte sich in
Stenographie, war überhaupt von einem verbissenen Eifer.
Die Mutter ließ sie gewähren, doch nur bis elf Uhr. Dann
mußte die Tochter unweigerlich ins Bett, damit sie acht
Stunden Schlaf bekam.
Was Frau Malve auch herzlich gern bei dem Fabrikherrn
getan hätte, der sich so richtig abhetzte. Wenn er nicht auf
Reisen war, hatte er Konferenzen, geschäftliche
Unterredungen und so fort. Kam größtenteils erst nach
Mitternacht ins Bett und war morgens früh schon wieder
auf den Beinen.
»Lars, du machst dich langsam aber sicher kaputt«,
betrachtete Frau Velde kopfschüttelnd den Mann, als er
sich am Sonntag mal eine Ruhepause gönnte und ihr
abgespannt gegenübersaß. »Mußt du denn, der ein Heer
von Mitarbeitern beschäftigt, alles allein tun?«
»Wenn ich das könnte, wäre ich ein überirdisches Wesen«,
entgegnete er müde. »Aber mich um alles kümmern, das
steht in meiner Menschenkraft – «
»Mit der du Raubbau treibst«, warf sie trocken ein. »Wenn
das so weitergeht, wirst du bald auf der Nase liegen und
mußt dann alles deinen Mitarbeitern überlassen.«
»Bis es soweit ist, dauert es schon noch eine Weile«, blieb
er ungerührt. »Ich halte eine gute Portion aus.
Umwälzungen, die wir unbedingt vornehmen mußten,
bringen nun mal viel Arbeit, die jedoch in Kürze geschafft
ist. Dann ruhe ich mich gründlich aus.«
»Und ich muß zu dem oft angewandten Ausspruch greifen:
Die Botschaft hör ich wohl – na, werden wir leben, werden
wir sehen.«
Es war am ersten Februar, also einen Monat nach dem
Eintritt Karen Veldes in die Stahl- und Eisenwerke der
Firma Ansholm. Sie hatte in den Wochen so viel gelernt,
daß ihr die Materie schon längst nicht mehr ein Buch mit
sieben Siegeln war. Sie kam bei dem Diktat, zu dem sie ab
und an beim Prokuristen zugelassen worden war, fast
mühelos mit und erledigte dann die Briefe selbständig,
wobei ihr kaum ein Fehler unterlief.
Heute hatte sie ein großes Geschäftsbuch vor sich, in dem
sie etwas zu suchen schien. Karen schrieb Briefe, wobei die
Finger nur so über die Tasten der Maschine flitzten. Sie war
so emsig dabei, daß sie zusammenfuhr, als der
Fernsprecher surrte. Doch dann griff sie rasch zum Hörer,
meldete sich, horchte auf die Stimme am andern Ende und
sagte gedehnt: »Ich -? Liegt da kein Irrtum vor?
Ausdrücklicher Befehl? Gut, ich komme.«
Sie legte auf und erklärte der ihr gegenübersitzenden Dame
kurz:
»Ich bin zum Chef befohlen. Stenogrammblock ist
mitzubringen.«
»Wer hat das gesagt?«
»Eine weibliche Stimme. Ich bin doch entschuldigt, Frau
Urbig?«
»Selbstverständlich, Kindchen. Wenn der hohe Chef
befiehlt, hat man die Beine in die Hand zu nehmen.«
So griff Karen dann zu Block nebst Stift und eilte davon.
Nur gut, daß sie bereits wußte, wo das »Allerheiligste« sich
befand, sonst hätte sie sich in dem Labyrinth von Gängen
bestimmt verirrt.
Während sie leichtfüßig dahinschritt, dachte sie darüber
nach, was wohl den Chef dazu bewogen haben mochte,
gerade sie zum Diktat zu befehlen. Denn soviel sie wußte,
hatte er außer einer tüchtigen Sekretärin noch ein junges
Mädchen zu deren Unterstützung. Da konnten doch
unmöglich beide zu gleicher Zeit unpäßlich geworden sein,
es herrschte doch keine Epidemie. Außerdem gab es hier
eine Menge anderer weiblicher Kräfte, die viel besser
eingearbeitet waren als sie.
Doch dann tagte es plötzlich in ihrem Hirn. Ganz einfach,
er wollte sich persönlich davon überzeugen, wieviel sie in
dem einen Monat bei Frau Urbig gelernt hatte. Na schön,
mochte er, das war schließlich sein gutes Recht.
Allein, so gleichmütig war sie nicht, wie sie es sich einreden
wollte. Herzklopfen nannte man das, was sie in ihrer Brust
spürte. Ärgerlich über sich selbst klopfte sie recht laut, trat
ein und bemerkte zwei Weiblichkeiten, die sich an
zusammengestellten Schreibtischen gegenübersaßen,
genauso wie sie und Frau Urbig. Ein rasches, verstohlenes
Signalement: eine schon älter, die andere jung – aber beide
häßlich.
»Bitte, Fräulein Velde, Sie können eintreten«, sagte die
Chefsekretärin verbindlich. »Sie werden von Herrn Doktor
erwartet.«
Dabei drückte sie auf einen Knopf, der unter der
Schreibtischplatte versteckt angebracht war. Die schwere,
gepolsterte Tür zum »Allerheiligsten« öffnete sich
geräuschlos und schloß sich hinter dem eingetretenen
Mädchen gleich wieder.
Das war Karen Velde nichts Neues, dieselbe Tür befand sich
auch zu dem Zimmer des ersten Prokuristen und anderer
Herren, die einen wichtigen Posten im Werk einnahmen
und über eine Sekretärin verfügten, die im Vorzimmer saß.
Es war ein weites Gemach mit schweren, dunklen Möbeln,
in dem Karen nun stand. Riesige Schränke, wuchtige
Klubsessel, ein mächtiger Schreibtisch mit herrlicher
Schnitzarbeit, der dicke Teppich und andere Dinge mehr,
die in das Zimmer eines Mannes gehören, der
repräsentieren muß.
Und der Mann selbst? Karen hatte das Gefühl, als sähe sie
ihn heute zum erstenmal. Kühl und unnahbar saß er hinter
dem Schreibtisch, selbst die Stimme erschien ihr fremd, die
nun sprach:
»Nimm an dem Tischchen dort Platz, Karen, ich möchte dir
zwei Briefe diktieren.«
Sie tat wie ihr geheißen und geriet dann in einen Wirbel,
daß sie dabei fast das Atmen vergaß. Knapp und klar fiel
jedes Wort, ohne jede Stockung. Die Finger flitzten genauso
schnell über den Block wie die Zunge über die Lippen.
Einige Locken lösten sich und fielen in das heiße Gesicht.
Wenn es zu viele waren, wurden sie mit einer ärgerlichen
Kopfbewegung nach hinten geworfen, ohne daß die Finger
dabei stoppten. Karen war so in Fahrt, daß sie erstaunt
aufsah, als die Männerstimme schwieg. Doch nur einige
Herzschläge lang, dann sprach sie schon wieder. Und was
sie da sagte, war dem Mädchen ärger als das schwierige
Diktat:
»Setz dich hieran die Maschine und schreibe die beiden
Briefe.«
Na, proste Mahlzeit, das konnte ja gut werden! Sie hatte
sich nämlich eingebildet, die Briefe an ihrem Schreibtisch
erledigen zu können, und zwar dann, wenn Frau Urbig
beim Prokuristen war. Da konnte sie denn in aller Ruhe die
Krakelei entziffern, die sie in der Eile hingeworfen hatte.
Und nun sollte sie hier, unter den Augen des
großmächtigen Chefs, auf der Schreibmaschine
herumstümpern? Bei dem Gedanken wurde es ihr heiß und
kalt zugleich.
»Nun, Karen, worüber grübelst du denn nach?« fragte der
Mann unvermittelt das Mädchen, das müßig dasaß. »Ist dir
etwas nicht klar? Dann brauchst du mich ja nur zu fragen.«
Und mir damit eine Blöße geben – setzte sie in Gedanken
hinzu. Ich habe nun endlich begriffen, daß ich ein Prüfling
bin und daher in keiner Hinsicht versagen darf.
»Ich komm schon zurecht«, erklärte sie kurz, nahm an der
Maschine Platz und flehte alle Heiligen an, daß sie ihr
beistehen mögen.
Und dann ging alles besser, als sie befürchtet hatte. Der
Herr des großen Unternehmens hatte ja schließlich anderes
zu tun als geruhsam zuzusehen, wie eine kleine Tippse
schrieb. Denn mit dem Moment, wo er seiner Sekretärin
durchsagte, daß die Leitung frei wäre, hörte das Surren im
Apparat nicht mehr auf. Da wurden Fragen beantwortet,
Befehle erteilt und anderes mehr. Also fiel es gar nicht auf,
wenn die Maschine mal langsamer klapperte. Karen
wunderte sich selbst, wie gut sie sich in dem
schnellgeschriebenen Stenogramm zurechtfand. Die
üblichen Worte machten ihr gar keine Schwierigkeit, nur
bei den Fachausdrücken ging es nicht so glatt.
Doch dann war das schwere Werk geschafft. Aufmerksam
las Karen das Geschriebene durch. Sauber war es, vertippt
auch nicht, Fehler konnte sie keine entdecken, also es dem
Gestrengen mit Zuversicht vorgelegt.
»Danke – «, sagte er flüchtig. »Du kannst jetzt gehen.«
Was Karen mit Freuden tat. Als sich die gepolsterte Tür
hinter ihr schloß, hatte sie das Gefühl, einem Kerker
entronnen zu sein.
Schmunzelnd betrachtete die Dicke das Mädchen, das sich
aufatmend am Schreibtisch niederließ.
»Sie sehen ja so echauffiert aus, Herzchen, war’s denn so
schlimm?«
»Mir hat’s gelangt, Frau Urbig. In der Haut der
Chefsekretärin möchte ich nicht stecken.«
»Nanu, die fühlt sich darin doch recht behaglich, lobt ihren
Chef bis übern grünen Klee.«
»Dann muß sie ein Phänomen sein.«
»Und Sie meinen, daß aus Ihnen nie eines werden
könnte?«
»Um Gottes willen – nein!« kam es so entsetzt zurück, daß
die Dicke lachen mußte.
»Kleingläubige, warum zweifelst du.«
»Jetzt lachen Sie mich auch noch aus«, brummte Karen.
»Naja, wer den Schaden hat -. Andere Menschen wissen
wenigstens, wenn ihnen ein Examen bevorsteht, doch ich
armes, ahnungsloses Wurm – na schön, dulde ich und
leide.«
»Karen Velde, was sind Sie doch für ein prachtvolles
Menschenkind«, sagte jetzt Frau Urbig voll Wärme. »Andere
Mädchen an Ihrer Stelle würden auf das
Freundschaftsverhältnis, in dem Sie zu dem Chef stehen,
gehörig pochen und sich alle möglichen Vorteile
verschaffen. Sie jedoch wollen den anderen Angestellten
nichts voraus haben, nehmen sich auch nicht das kleinste
Vorrecht heraus. Da kann man nur sagen: Hut ab.
Ja, ja, sehen Sie mich nur so groß an, einmal mußte ich
Ihnen das sagen. Nicht als Vorgesetzte, sondern als Mensch
zu Mensch. Sie sind mir die liebste von allen gewesen, die
ich jemals ausbilden durfte. Wenn es nach mir ginge,
würde ich von diesem Platz nicht weichen, würde immer
mit Ihnen zusammenarbeiten, aber leider muß ich wieder
wandern.«
»Sie wollen mich verlassen?« fragte Karen erschrocken.
»Was soll ich denn bloß anfangen ohne Sie?«
»Was eine Sekretärin so anfängt, Herzchen.«
»Das kann ich ohne Ihre Hilfe ja gar nicht sein.«
»Ich weiß das besser, Kindchen – «
Weiter konnte sie nicht sprechen, weil sie vom Chef
angerufen wurde, der einen Sonderauftrag für sie hatte.
Dazu mußte sie sofort eine kleine Reise antreten, und
Karen blieb sich allein überlassen, war ganz allein auf sich
gestellt. Doch sie ließ die Bangigkeit erst gar nicht in sich
aufkommen. Frau Urbig hatte sie vortrefflich geschult, und
wenn sie mal etwas verkehrt machen sollte, würde ihr der
Prokurist nicht gleich den Kopf abreißen.
Mit dieser Zuversicht ging sie ans Werk, und siehe da, es
klappte ausgezeichnet. Von Tag zu Tag wurde sie immer
sicherer, und nach zwei Wochen gab sie den anderen
Sekretärinnen in nichts mehr nach.
Der Herr vom Ganzen war natürlich über alles bestens
unterrichtet. Doch da er wußte, wie vernarrt Frau Urbig
sowie der Prokurist in Karen waren, glaubte er deren
Lobeshymnen nicht so recht.
Nun, einen Beweis von der Unbestechlichkeit der jungen
Sekretärin sollte er eines Tages bekommen. Es war zwar
nicht üblich, daß der Chef die Prokuristen aufsuchte,
sondern sie zu sich kommen ließ, doch da Gröhne sich
beim Beschneiden eines Hühnerauges den Zeh verletzt
hatte, wollte er dem Mann nicht zumuten, daß er zu ihm
gehumpelt kam, sondern suchte ihn wegen einer
dringenden Unterredung selber auf. Als er im Vorzimmer
erschien, sah die Sekretärin verwundert von ihrer Arbeit
auf. Nanu, der Chef erschien höchstpersönlich?
Diese Frage stand so deutlich auf ihrem Gesicht
geschrieben, daß Ansholm nur mit Mühe ein amüsiertes
Lächeln unterdrücken konnte. Doch er blieb ernst und
sagte kurz:
»Melde mich dem Prokuristen.«
Achselzuckend zeigte sie auf das rote Licht über der Tür.
»Wie du siehst, geht es jetzt nicht.«
»Du vergißt wohl, daß ich der Chef bin«, sprach er
absichtlich scharf, doch sie ließ sich nicht beirren.
»Das habe ich noch nie getan und werde es auch nicht tun.
Aber Vorschrift bleibt nun mal Vorschrift, die der Chef
erlassen hat.«
»Wer befindet sich denn beim Prokuristen?«
»Soviel ich weiß, niemand.«
»Dann melde mich – aber sofort.«
»Bedaure.«
Damit tippte sie weiter, und ihm blieb nichts anderes
übrig, als sich zu setzen. Ins Zimmer konnte er nicht, die
Tür konnte nur mit einem Druck auf den verborgenen
Knopf geöffnet werden.
Ist doch bloß gut – dachte Karen befriedigt. Wenn die Tür
sich öffnen ließe, würde der hohe Herr in Anbetracht seiner
Macht hindurchmarschieren, was doch nun einmal
verboten ist. Er duldete so etwas bei sich ja auch nicht, und
was dem Chef recht ist, ist dem Prokuristen billig – basta!
Das rote Licht erlosch, und sofort folgte die Anmeldung:
»Herr Doktor Ansholm möchte den Herrn Prokuristen
sprechen.«
Die Tür öffnete sich, schloß sich, und die Sekretärin ging
als Siegerin hervor.
»Aha, daher das rote Licht. Was macht denn die kranke
Zehe?«
»Benimmt sich schon ganz ordentlich. Die Wunde hat zu
eitern aufgehört und schließt sich langsam. Aber deshalb
hätten Sie sich nicht zu mir zu bemühen brauchen, Herr
Doktor. In dem weichen Schuh, den ich trage, kann ich
ganz gut gehen.«
»Was aber durchaus nicht notwendig ist, da meine Füße
gesund sind.
Übrigens scheint der reizende Zerberus im Vorzimmer
tatsächlich unbestechlich zu sein«, fuhr er lachend fort. »Er
ließ mich ganz respektlos warten, bis das rote Licht über
der Tür verschwunden war.«
»Darüber wundere ich mich gar nicht«, schmunzelte
Gröhne. »Selbst des Teufels Großmutter würde nur über
ihre Leiche bei mir eindringen können. Sie sagt sich eben:
Dienst ist Dienst und Schnaps ist Schnaps.«
Jawohl, der Ansicht war sie. Im Dienst hatte Lars Ansholm
für sie nichts weiter zu sein als der Chef, privat durfte sie
ihm dann freundschaftlich begegnen.
Allein eine gewisse Hemmung blieb, obgleich er zu Hause
nie vom Dienst sprach. Sie konnte in seiner Gegenwart
einfach nicht mehr so recht aus sich herausgehen, was er
gar nicht merkte, weil auch zu Hause geschäftliche Dinge
in seinem Kopf herumspukten.
»Junge, du hörst mir ja gar nicht zu«, mahnte Frau Malve,
als sie über eine wirtschaftliche Angelegenheit sprach, zu
der sie seine Zustimmung brauchte. Er griff nach ihrer
Hand, streifte sie zärtlich mit den Lippen und sagte
beschämt:
»Verzeih, Tante Malve, ich habe meinen Kopf so voll.«
»Daß er dir eines Tages platzen wird«, warf sie trocken ein.
»Doch da ich eingesehen habe, daß Vorhaltungen nichts
nützen, laß ich sie bleiben. Werde denn durch Schaden
klug. Aber vorher sag mir noch, ob ich einen neuen
Küchenherd anschaffen soll oder nicht.«
»Tante Malve, bitte, das mußt du doch besser wissen als
ich. Ich habe davon so gar keine Ahnung.«
»Das wohl nicht, aber du mußt den Herd bezahlen. Kleine
Sachen schaff ich vom Wirtschaftsgeld an, das reich
bemessen ist, aber der teure Herd geht über meinen Etat.«
»Dann wird der eben erhöht.«
»Ach, mit dir ist ja nicht zu reden«, wurde sie nun ärgerlich.
»Ein bißchen mehr Interesse für die häuslichen Belange
müßtest du schon aufbringen.«
»Wozu, ich habe ja dich, du beste aller Hausfrauen.«
»Woher willst du wissen, daß ich es bin? Du bist doch nur
Gast in deinem eigenen Hause. Meines Bleibens ist hier
nicht immer, Lars, bitte das zu bedenken. Und wenn du
eine Hausdame hast – «
»Tante Malve, jetzt machst du mir richtig angst«,
unterbrach er sie bestürzt. »Du wirst es mir doch nicht
antun und in dein Heim zurückkehren?«
»Wenn auch nicht heut’ oder morgen, einmal jedoch wird
es sein müssen.«
»Aber warum denn. Fühlst du dich hier nicht wohl? Fällt
dir die Führung des Hausstandes zu schwer? Dann sollst du
eine Hilfe haben.«
»Warum nicht gar eine Gesellschafterin«, mußte sie nun
lachen, und da war er wieder obenauf.
»Tante Malve, ist es nun hübsch von dir, mir so einen
Schreck einzujagen?« fragte er vorwurfsvoll. »Was sollte ich
hier wohl anfangen ohne dich, du bist doch mein ganzer
Halt.«
» Den braucht ein so gefestigter Charakter, wie du es bist,
nicht.«
»Im Hause schon. Schau mal, Tante Malve, du hast nun
doch deine Tochter hier, die sich auf ihrem Posten so
erstaunlich gut eingearbeitet hat. Wenn du gingest, würde
sie natürlich mit dir gehen. Müßte sich eine neue Stelle
suchen und wer weiß, wohin sie dann gerät.«
»Ach, von der Seite kommst du mir nun-«, dehnte sie. »Ich
habe nicht gewußt, wie gerissen du sein kannst. Vielleicht
behauptest du gar noch, daß Karen dir in dem Betrieb
genauso unentbehrlich ist, wie ich es in deinem Hause
bin?«
»Wenn auch nicht gerade unentbehrlich, so ist sie dennoch
eine gute, zuverlässige Kraft in meinem Mitarbeiterstab. Du
brauchst gar nicht verlegen zu werden, Karen, ich spreche
hier kein Lob aus, sondern eine Tatsache. Gröhne ist direkt
begeistert von deiner Arbeit.«
»Daher hat er mich auch gestern berüffelt«, brummte sie,
und er lachte.
»Tatsächlich, hat er das? Du, da muß ihm aber seine kranke
Zehe arg zu schaffen gemacht haben.«
»Tat sie auch. Aber nur deshalb, weil er auf der kaum
geheilten Wunde keinen Verband mehr trug und der
Strumpf so scheuerte, daß er ihn ausziehen mußte. Er hielt
ihn gerade in der Hand, als ich ins Zimmer trat, um ihm
ein dringendes Schreiben zur Unterschrift vorzulegen. Den
nackten Fuß versteckte er schamhaft unterm Schreibtisch.
Dann schnauzte er, ob ich vielleicht farbenblind wäre und
das rote Licht für himmelblau halte. Als ich dann stumm
auf die Tür zeigte, wo weder die eine noch die andere Farbe
sichtbar war, weil er vergessen hatte, das rote Licht
einzuschalten, brummte er etwas, das wohl eine
Entschuldigung sein sollte. Er unterschrieb, ich
entschwand, kehrte jedoch gleich darauf zurück und legte
ihm milde verzeihend ein Päckchen Hansaplast vor die
staunenden Augen und entschwand dann endgültig. Und
nun sagt mir bloß, daß ich keine feurigen Kohlen auf sein
Haupt sammelte.«
Sie hatte das alles so trockenen Tones erzählt, daß die
beiden Zuhörer herzlich lachten.
»Wie ging es weiter?« wollte die Mutter wissen.
»Gar nicht ging es weiter, wir schwiegen uns beide
gegenseitig aus. Wohl war er etwas verlegen, als ich wieder
auftauchte, doch ich ging mit Nonchalance darüber
hinweg.«
»Und hast nun noch ein Steinchen mehr bei ihm im Brett«,
fuhr Lars schmunzelnd fort. »Mädchen, verdreh mir dem
alten Knaben nicht vollends den Kopf, sonst kriegst du es
mit seiner Alten zu tun. Und wo die hinhaut, wächst
bestimmt kein Gras mehr.«
Es war an einem Sonntagnachmittag. Karen saß im
Wohnzimmer auf dem Teppich und spielte mit der kleinen
Hilke. Schwester Meta hatte ihren freien Tag, Frau Malve
befand sich in ihrem Zimmer, um dringende Briefschulden
zu erledigen, auch der Hausherr saß in seinem Zimmer in
Arbeit vertieft, und Karen war Kindermädchen. So richtig
ausgelassen tollten das große und das kleine Mädchen
herum, bis sie beide schachmatt eine Ruhepause einlegten,
die jedoch nicht lange währte. Denn Hilke entdeckte den
Ball auf der Erde, kroch eilfertig auf ihn zu und rollte ihn
jauchzend der Spielgefährtin hin. Dann wartete sie ab, bis
die lustigbunte Kugel zu ihr zurückrollen würde, doch
Karen lachte sie aus.
»Das könnte dir so passen, du kleiner Faulpelz. Komm, hol
ihn dir.«
»A – en -!« sprudelte es zuerst über das rote Mündlein,
dann verzog es sich zum Schnippchen, doch die A-en ließ
sich nicht erweichen, warf den Ball auf und nieder und
lockte so das Kind herbei. Wieder kroch es über den
Teppich, bis es sein Ziel erreicht hatte, streckte die molligen
Patschen aus und kommandierte:
»Haben!«
»Daraus wird nichts. Steh auf, dann kriegst du ihn.«
Das paßte dem reitenden Persönchen nun gar nicht. Doch
da es wußte, daß man durch trotziges Schreien nichts
erreichen konnte, resignierte es, umklammerte die
ausgestreckte Mädchenhand, zog sich daran hoch und
stand nun auf den drallen Beinchen.
»Aha, warum denn nicht gleich so – «
Weiter kam sie nicht. Denn der kleine Schelm hatte sich
losgelassen, in Karens Lockenpracht gepackt und die
Fingerchen darin verkrallt. Das gab nun bei dem großen
Mädchen lachenden Protest und bei dem kleinen helles
Jauchzen, das bis zu dem stillen Zimmer drang, in dem
sein Vater am Schreibtisch arbeitete.
Ein Lächeln umzuckte den hartgeschnittenen
Männermund. Wenn seine Kleine so jauchzte, dann war sie
bestimmt mit der übermütigen Karen zusammen. Er riß
sich los von der Arbeit grauer Pflicht, ging ins
Wohnzimmer hinüber und sah schmunzelnd zu, wie die
ungleichen Mädchen auf allen vieren krochen und nach
dem Ball haschten, der immer wieder davonrollte. Dabei
vollführten sie einen lustigen Spektakel. Als Karen merkte,
daß die Kleine müde wurde, ließ sie sich längelang
hinfallen, und schon hatte Hilke den Ball.
»Da«, zeigte sie triumphierend auf das bunte Spielzeug.
»Hat ihn!«
»Nun ist die Tante traurig«, stützte Karen die Ellbogen auf
den Teppich, legte das Kinn auf die Handballen und verzog
das Gesicht. »Die Tante wird gleich weinen.«
»ßnell, tu – «, blieb das Persönchen ungerührt, und da
konnte der Vater ein herzliches Lachen nicht mehr
zurückhalten. Zwei blaue Augenpaare starrten zuerst
überrascht zu ihm hin, dann sprang Karen auf und sah den
lachenden Mann verwirrt an.
Entzückend schaute sie aus mit dem zerzausten Haar und
den heißen Wangen, so richtig jung und süß. Kein Wunder,
daß der Mann sich zuerst an dem reizenden Anblick
ergötzte, bevor er schmunzelnd sprach:
»Aber Fräulein Sekretärin, wie unseriös.«
»Ich bin ja nicht im Dienst«, schnappte sie ein, fuhr sich
mit ihren Fingern in die Lockenpracht, schüttelte sie dann,
bis sie wie gleißende Goldfäden das feine Gesicht umflirrte,
zupfte das Kleid zurecht und war wieder ganz Dame.
»Papi – «, plapperte das Kind aufgeregt. »Hat ihn – hat ihn -
!«
»Was hast du denn, mein Süßes?«
»Da –!«
»Wie heißt das denn?«
»All.«
»Nun, für den Hausgebrauch langt’s«, griff er sich sein jetzt
so goldiges Töchterchen mitsamt dem Ball. »Ist’s schön bei
Tante Karen?«
»Tattanis – A – en.«
»Na schön, auch so. Was gibt’s denn?«
»Ein Herr Grommert wünscht das gnädige Fräulein zu
sprechen«, meldete der Diener. Doch bevor der Hausherr
noch seinem Erstaunen Ausdruck geben konnte, sagte
Karen hastig:
»Ist gut, Richard, ich komme.«
Weg war sie, um dem dreisten Mann keinen guten
Empfang zu bereiten. Böse sah sie ihn an, der nun doch
betreten in der Halle stand.
»Du bist weiß Gott der frechste Mensch, der mir jemals
vorgekommen ist«, sagte sie schroff. »Wie kannst du es
wagen, hier einzudringen!«
»Weil ich dich unbedingt sprechen muß und anders nicht
deiner habhaft werden kann«, verteidigte er sich wie ein
trotziger Junge. »Du bist doch hier nicht im Kloster.«
»Wenn es gilt, deinen verbohrten Kopf durchzusetzen,
würde dich selbst ein Kloster davon nicht abhalten«, sagte
sie verächtlich. »Genügt es immer noch nicht, daß ich
deine Briefe zurückgehen ließ?«
»Das war eine Unverschämtheit!« brauste er auf. »Ich werde
mich bei deiner Mutter über dich beschweren!«
»Ach, sieh mal an, Bübchen will petzen.«
»Karen, wenn du jetzt nicht aufhörst«, legte er los, doch
schon wurde er unterbrochen.
»Das möchte ich liebend gern. Doch dazu mußt du erst
einmal verschwinden.«
»Und wenn ich das nicht tu?« höhnte er.
»Dann wäre ich gezwungen, den Herrn des Hauses
herbeizurufen.«
»Ist schon geschehen«, kam es von der Wohnzimmertür
her, durch die Ansholm eben trat. Einen Blick auf den
unerwünschten Besucher, dann umzuckte ein ironisches
Lächeln den Männermund.
»Suchen Sie etwa wieder Herrn Meier in diesem Haus? Ich
sagte Ihnen doch schon einmal, daß er hier nicht wohnt.«
»Aber Fräulein Velde wohnt hier«, versuchte der störrische
junge Mann dem ironischen Blick fest zu begegnen, was
jedoch nicht gelang. Seine Augen irrten ab und suchten
wütend das Mädchen, dem das alles höchst unangenehm
war.
»Nun sagen Sie schon, mein Herr, was Sie von Fräulein
Velde wollen«, begann Ansholm noch ganz gemütlich,
doch eine unwirsche Handbewegung unterbrach ihn.
»Das geht Sie gar nichts an.«
»Meinen Sie. Aber da Fräulein Velde unter meinem Schutz
steht, geht mich alles an, was sie betrifft.«
»Die junge Dame braucht Ihren Schutz nicht«, kam es
bissig zurück. »Sie steht unter meinem. Ich will sie
heiraten, genügt Ihnen das?«
»Nein. Zuerst muß ich wissen, wie Fräulein Velde sich dazu
stellt. Nun, Karen?«
»Ich denke gar nicht daran!« verwahrte sie sich empört. »Er
soll mich mit seinen dummdreisten Heiratsanträgen
endlich in Ruhe lassen!«
»Das dürfte nun wiederum Ihnen genügen, mein Herr«,
wurde Ansholms Ton jetzt scharf. »Also belästigen Sie die
junge Dame nicht weiter.«
»Und wenn ich das doch tu?« trotzte der große Junge.
»Dann müßte ich von meinem Hausrecht Gebrauch
machen.«
Ganz ruhig war das gesagt, doch in den blauen
Männeraugen blitzte es warnend auf, der hohen Gestalt
entströmte etwas Eisiges. Und da das verzögerte
Muttersöhnchen alles andere als mutig war, bekam es bei
der drohenden Haltung des andern denn doch Angst vor
der eigenen Courage. Also setzte der liebe Artur seine
langen Beine in Bewegung, drehte sich hastig um, ob er
nicht gar verfolgt werde, und entschwand.
»Je größer die Klappe, um so größer die Feigheit«, sagte Lars
lachend. »Das hat dieses Bürschchen wieder einmal
bewiesen. War das etwa der junge Mann, den du auf
Wunsch der beiderseitigen Mütter heiraten sollst?«
»Meine Mutter laß bitte aus«, entgegnete Karen gereizt.
»Die ist nicht so geschmacklos, ihrer Tochter den Mann
aussuchen zu wollen. Wo ist übrigens Hilke geblieben?«
»Sie befindet sich im Wohnzimmer unter Richards Obhut.«
»Dann hat er sicher alles mit angehört.«
»Wie du siehst, habe ich die Tür geschlossen. Nun sei mal
nicht so ungemütlich, sondern hübsch zufrieden, daß ich
dir zu Hilfe kam. Sonst wärst du den hartnäckigen Freier
nicht so schnell losgeworden.«
»Freier, wenn ich das schon höre«, brummte sie, an seiner
Seite dem Wohnzimmer zuschreitend. »Ein trotziger Junge
ist er, dem an mir selbst nichts liegt, sondern nur daran,
seinen Willen durchzusetzen.«
Indes hatten sie das Zimmer erreicht, wo der würdevolle
Diener alles mögliche anstellen mußte, um das kleine
ungnädige Fräulein zu beschwichtigen. Er war von Herzen
froh, aus seiner prekären Lage befreit zu werden.
»Na, Richard, das war wohl ein schwieriges Amt«, meinte
sein Herr lachend. »Ja, ja, uns Männern machen selbst die
jüngsten Damen schon zu schaffen.«
»Kann man wohl sagen«, glättete der Mann resigniert sein
Haar und zog die Jacke glatt. »Die gehen einem im
wahrsten Sinne des Wortes an Kopf und Kragen.«
Schmunzelnd sah Ansholm ihm nach, wie er, wieder ganz
Würde, dahinschritt. Hilke jedoch hockte auf Karens Arm
und machte ein so scheinheiliges Gesicht, als könnte sie
kein Wässerchen trüben. Jetzt strebte sie zum Vater hin, der
sie nahm, sich mit ihr setzte und nach etwas Ausschau
hielt, womit er den kleinen Quälgeist beschäftigen konnte.
Doch schon griffen die molligen Patschen verlangend nach
dem Seidentuch, das in Papis Rock so lustig lockte.
»Da, nimm schon«, reichte der Vater dem Töchterlein das
gute Stück hin, das sofort ans Naschen gedrückt wurde.
»Na, hör mal, dazu ist es gerade nicht da«, mußte Lars
lachen. »Na, meinetwegen, damit du wenigstens solange
Ruhe gibst, bis mir die Tante erzählt hat, was ich gern
wissen möchte. Oder magst du nicht darüber sprechen,
Karen?«
»Warum nicht«, zuckte sie die Achseln und gab dann
wahrheitsgemäß wieder, was alles der hartnäckige junge
Mann sich geleistet hatte. Als alles gesagt war, stellte Lars
die Frage:
»Weiß Tante Malve von alledem?«
»Nur, daß er mich zum erstenmal übers Wochenende zu
einem Ausflug einlud, habe ich ihr gesagt. Das weitere
verschwieg ich ihr absichtlich, weil ich sie nicht
beunruhigen wollte.«
»Ist er denn schon einmal hier gewesen?«
»Ja, aber nur bis zum Gartentor. Er lauerte in der
Konditorei und stellte mich zur Rede, als ich von einem
Weihnachtseinkauf nach Hause zurückkehrte. Zuerst
versuchte ich, ihn zu beschwichtigen, doch als er
unverschämt wurde, ließ ich ihn brüsk vor dem Tor
stehen.«
»Und da stand er noch, als ich von meiner Reise
zurückkehrte. Auf meine erstaunte Frage, was er hier zu
suchen hätte, gab er an, Herrn Meier zu suchen. Da der hier
in der Straße wohnt, gab ich Auskunft, und der junge Mann
trollte sich. Nun erzähle bitte weiter.«
»Ich nahm an, daß die Abfuhr, die ich ihm damals erteilte,
genügen würde, doch mitnichten. Er bombardierte mich
mit Briefen, die ich alle zurückgehen ließ. Daß er es
dennoch wagte, hierher zu kommen, zeugt von einer
beispiellosen Abgebrühtheit.«
»Oder seine Liebe ist so groß.«
»Ach was – «, winkte sie verächtlich ab. »Mit Liebe hat das
wahrlich nichts zu tun. Seine Mutter, die ihren Einzigen
förmlich anbetet, hat ihm von jeher den Willen gelassen,
und nun versucht er, ihn auch bei andern durchzusetzen.
Im Grunde genommen liegt ihm gar nichts daran, daß ich
seine Frau werde, ihn reizt nur mein Widerstand.«
»Ich höre was von Widerstand«, trat Frau Malve hinzu.
»Wer bringt dir denn den entgegen?«
»Mir niemand«, entgegnete sie zögernd. »Aber – ach, Mutti,
du bist ja jetzt gesund und hast mich außerdem bei dir,
kannst somit in Ruhe anhören, was ich dir bisher
verschwieg.«
Doch damit war Hilke nicht einverstanden. Sie hatte das
Seidentüchlein genügend untersucht, warf es weg und
verlangte nach einer anderen Beschäftigung. Da trat wie ein
guter Engel Schwester Meta ins Zimmer, um ihren kleinen
Pflegling zur abendlichen Abfütterung zu holen. Zwar war
sie dazu nicht verpflichtet, durfte an ihrem freien Tag bis
Mitternacht wegbleiben, machte jedoch davon nie
Gebrauch. Ging erst nach dem Mittagessen und war gegen
Abend wieder zurück. Empfand es beglückend, als Hilke
ihr ungeduldig entgegenstrebte.
»Da haben wir unsern kleinen Schatz ja wieder«, nahm sie
das Kind freudig auf den Arm. »Hast du den lieben Tanten
auch arg zu schaffen gemacht?«
»A-en – All – «, plapperte die Kleine aufgeregt, und siehe
da, Meta verstand es.
»Hat sie dir den Ball nicht gegeben?«
»Hat ihn – hat ihn«, nickte das lockige Köpfchen. »Nu
haben!«
Sie bekam den Ball, drückte ihn an die kleine Brust, das
Däumchen der anderen Hand fuhr in den Mund, und so
war das Persönchen restlos zufrieden. Gutwillig ließ es sich
wegtragen, und kaum, daß die Pflegerin mit ihrer süßen
Last verschwunden war, sagte Frau Malve beunruhigt:
»Nun sprich, Karen. Ich fürchte, daß ich nichts Erfreuliches
zu hören bekommen werde.«
Als sie es wußte, war sie nicht wenig entrüstet.
»Da hat es der unverfrorene Bursche tatsächlich gewagt,
dich bis hierher zu verfolgen. Ich werde seiner Mutter
schreiben, daß sie ihm mal gehörig den Kopf zurechtsetzt.«
»Ach, Mutti, du glaubst doch nicht etwa im Ernst daran,
daß sie es tut? Dafür ist sie doch viel zu vernarrt in ihn. Sie
würde die Schuld nicht dem Herzenssöhnchen geben,
sondern mir. Denn der kriegt es fertig, zu behaupten, daß
nicht er mich belästigt, sondern ich ihn.«
»Kind, ich bin direkt entsetzt über dein Urteil. Wohl habe
ich Artur nie für einen besonders wertvollen Menschen
gehalten, aber daß er so gewissenlos sein könnte, will mir
trotzdem nicht in den Sinn.«
»Du hast ihn auch nicht so erlebt wie ich, Mutti. Er hat dir
immer das brave Bübchen vorgemimt, wie seiner Mutter
auch. Vielleicht wäre ich gar auf ihn hereingefallen, wenn
er sich nicht so entpuppt hätte, wie er wirklich ist:
Rücksichtslos bis zum äußersten, wenn es gilt, seinen
Willen durchzusetzen.«
»Den Eindruck habe ich auch«, schaltete sich Lars ein. »Ich
glaube kaum, daß er nach der Abfuhr, die ich ihm erteilte,
Karen in Ruhe lassen wird.«
»Lars, du machst mir angst«, sagte Frau Malve erschrocken.
»Vielleicht lauert er Karen gar auf, wenn sie nachmittags
aus dem Dienst kommt. Dann ist es um diese Jahreszeit
immer schon dunkel.«
»Nun, nun, so schlimm ist er nun auch wieder nicht«, fiel
Ansholm beschwichtigend ein. »Soweit ich den Burschen
beurteile, ist er nicht schlecht, nur in seinem Willen
verbohrt. Dazu ist er noch feige und wird schon deshalb
nichts tun, was das Licht scheut.«
»Ganz meine Meinung. Also, geliebte Mutz, mach dir keine
Sorgen, ich laß mich schon nicht entführen«, versprach
Karen lachend, doch das Lachen fand bei der Mutter keinen
Widerhall.
»Eigentlich müßte ich dir böse sein, mein Kind, weil du
mir das alles bisher verschwiegen hast«, sagte sie
bekümmert. »Ich war immer so stolz darauf, daß meine
Tochter kein Geheimnis vor mir hatte…«
»Aber Mutti, stemple es bloß nicht zur Tragik. Daß ich dir
diese dumme Angelegenheit verschwieg, geschah gewiß
nicht aus Mangel an Vertrauen, sondern zuerst einmal, um
dich nicht zu beunruhigen, dann warst du krank und
durftest nicht erregt werden. Später allerdings hätte ich es
dir sagen müssen, doch offen gestanden hielt ich es für
belanglos. Es geschah ja auch nichts anderes, als daß er mir
schrieb. Und da die Briefe prompt zurückgingen, nahm ich
an, daß er dieses für ihn so unwürdige Spiel aufgeben
würde. Daß er es aber wagen würde, hier einzudringen, um
mich zur Rede zu stellen, damit habe ich weiß Gott nicht
gerechnet.«
»Wieviel Briefe waren es denn?« erkundigte sich Lars
Ansholm.
»Ein halbes Dutzend bestimmt, wenn nicht mehr.«
»Darf ich dir einen Vorschlag machen?«
»Bitte.«
»Sollte von dem zähen Gesellen wieder ein Brief kommen,
dann gib ihn mir. Ich mache auf dem Kuvert den Vermerk:
Im Auftrage Fräulein Veldes zurück – setze meinen Namen
darunter, stecke den Brief in einen Umschlag mit
Firmenstempel – einverstanden?«
»Mit dem größten Vergnügen. Und wenn das nicht hilft,
hilft gar nichts mehr.«
Es schien jedoch die Abfuhr geholfen zu haben, die Artur
Grommert sich bei Lars Ansholm geholt hatte. Er schrieb
jedenfalls nicht mehr und geriet so in Vergessenheit.
Die junge Sekretärin hatte auch wahrlich an anderes zu
denken, als an so einen aufdringlichen Burschen. Es gab so
viele Aufträge für das Werk, daß auf Hochtour gearbeitet
werden mußte, in den weiten Hallen sowie in den Büros.
Eine Sensation bedeutete allen die Maschine, die zur
Notwendigkeit geworden war. Ein Wunder an Technik
sollte sie sein, wovon jeder einzelne sich gern überzeugt
hätte, allein die Halle, wo der Aufbau stattfand, war stets
verschlossen.
Eines Tages war es dann soweit, daß die Maschine
ausprobiert werden sollte. Gespannt standen Ingenieure
und Meister um den Koloß, und daß der Herr vom Ganzen
nicht fehlte, war selbstverständlich, und gerade er bekam
ein schweres Eisenstück an den Kopf.
Wie das geschehen konnte, war allen ein Rätsel. Sabotage
ganz ausgeschlossen. Die Maschine lief vorschriftsmäßig,
das Eisenstück gehörte nicht dazu.
Natürlich würde man Untersuchungen anstellen, doch
zuerst galt aller Interesse dem Chef, der langgestreckt dalag;
aus der Wunde oberhalb der Schläfe tropfte unaufhörlich
Blut. Das Gesicht hatte eine grünlich-weiße Färbung, die
Augen waren geschlossen, die Lippen verkrampft.
Einer der Herren zog seine Jacke aus, rollte sie zusammen,
legte einige saubere Taschentücher, die er rasch
einsammelte, auf das Bündel und schob es dem Verletzten
vorsichtig unter den Kopf. Dabei öffnete er die Augen,
murmelte den Namen Karen und fiel dann wieder in
Bewußtlosigkeit zurück.
»Holt mal schnell Fräulein Velde«, sagte der vor dem
Verunglückten kniende Mann hastig. Keiner rührte sich,
keiner wollte dem Mädchen die Schreckensnachricht
überbringen, die sich jedoch bereits wie ein Lauffeuer im
Werk verbreitet hatte. Und zwar durch einen Meister, der
zur Telefonzentrale gerast war, um den Werksarzt
herbeirufen zu lassen. In seiner Kopflosigkeit hatte er ganz
vergessen, daß es ja auch in der Halle einen Apparat gab.
So erfuhren erst einmal die Telefonfräuleins von dem
Unfall und gaben die Nachricht an die Büros weiter, in
denen bald alles in Aufruhr stand.
Nur eine Angestellte war ahnungslos – die Sekretärin des
ersten Prokuristen. Doch dem hatte man inzwischen auch
durchgesagt, daß er Fräulein Velde sofort nach Halle zwei
schicken sollte, es wäre sehr eilig.
So blieb an dem armen Gröhne hängen, was die andern
von sich schoben. Mit weichen Knien ging er ins
Vorzimmer, wo die Sekretärin emsig schrieb. Flüchtig sah
sie auf – in ein entfärbtes Gesicht.
»Um Gottes willen, Herr Prokurist!« sagte sie erschrocken.
»Wie sehen Sie denn aus – ist am Ende etwas passiert?«
»Ja, Fräulein Velde – «, würgte er hervor. »Der Chef hatte in
Halle zwei einen Unfall. Er murmelte Ihren Namen – «
Aber da war sie auch schon auf und davon. Lief über
Korridore und Treppen, über das riesige Fabrikgelände,
hinein in die Halle zwei. Sie sah nicht die Männer, die
herumstanden und ihr schweigend Platz machten. Sie sah
nur den einen Mann, der wie tot dalag. Fest preßte sie die
Knöchel der Finger zwischen die Zähne, um so einen Schrei
des Entsetzens zu unterdrücken. Todblaß, an allen Gliedern
bebend, sank sie vor dem Verletzten in die Knie.
»Lars – «, stöhnte sie qualvoll auf. »Lars – bitte!«
Dieser beschwörende Ton ließ den Männern, die gewiß
durchweg nicht rührselig waren, die Augen feucht werden.
Er drang sogar in die Bewußtlosigkeit des Verunglückten,
der die Augen aufschlug, in das über ihn geneigte
Mädchengesicht starrte und mühsam die Worte formte:
»Karen – verlaß Hilke nicht – du nicht und Tante Malve –
Bestimmungen liegen beim Notar – «
Damit war seine Kraft erschöpft, er sank wieder in
Bewußtlosigkeit zurück. In dem Moment trat der Arzt
hinzu, und schon umfaßten zwei Arme das kniende
Mädchen, zogen es empor und setzten es auf einen Stuhl.
Wie abwesend sah Karen in Gröhnes Gesicht, über das die
Tränen liefen.
Nachdem der Arzt den Verband angelegt hatte, richtete er
sich auf und sah durch seine schaffen Brillengläser die
stummen Zuschauer prüfend an, bis er Karen entdeckt
hatte, die ihn mit angstgeweiteten Augen anstarrte. Dem
Werksarzt war sie natürlich bekannt, er wußte wie alle
anderen im Werk auch, daß sie mit ihrer Mutter im Hause
des Chefs wohnte. Somit stand er von allen hier dem
Mädchen am nächsten, und rasch trat der Mediziner auf es
zu.
»Na, na, gnädiges Fräulein, wer wird denn so zittern«,
sprach er beschwichtigend auf sie ein. »Wohl sind
Kopfwunden nie ungefährlich, hauptsächlich dann nicht,
wenn sie so dicht über der Schläfe liegen. Einige Zentimeter
tiefer, und es wäre vorbei gewesen. Danken wir also dem
Herrgott, daß er die Hand des Todes abwehrte.«
»Und wird unser Chef auch leben bleiben?«
»Das hoffe ich stark. Nur weiß ich nicht, ob man dem
Verletzten den Transport ins Krankenhaus zumuten darf.
Der Weg bis zu seinem Hause ist weit kürzer und daher
ungefährlicher. Hätte er dort die notwendige Pflege und
Aufsicht?«
»Aber Herr Doktor, das bedarf doch keiner Frage. Meine
Mutter ist da und ich auch. Dann die Kinderschwester, die
in Krankenpflege ausgebildet ist. Außerdem können Sie
noch eine Pflegerin besorgen – genügt das?« schloß sie mit
einem schwachen Lächeln, und er schmunzelte.
»Das ist allerdings ein fürstliches Aufgebot. Beordern Sie
die Samariter mit der Trage her«, wandte er sich an einen
der Männer, der aufgeregt davonlief. Nun erhob auch
Karen sich.
»Ich muß meine Mutter vorbereiten, damit sie nicht einen
zu großen Schreck kriegt – «
»Halt, Fräulein Velde, ich bringe Sie mit dem Wagen hin!«
rief Gröhne der Davonlaufenden nach, doch schon schlug
die Hallentür hinter ihr zu.
Zutiefst erschrocken sah Frau Malve auf ihre Tochter, die
vor ihr stand – verstört, verweint, atemlos vom schnellen
Lauf.
»Kind, was ist denn geschehen? Hat etwa Grommert – «
»Wenn es das nur wäre! Ach, Mutti, Mutti -!«
»Mädchen, spanne mich doch nicht so auf die Folter! Ist
etwas im Werk passiert?«
»Ja, Muttilein – ja – Lars ist verunglückt.«
»Großer Gott!« wurde die Mutter jetzt todblaß. »Lebt er
noch?«
»Ja – «, ließ Karen sich erschöpft in einen Sessel sinken,
bedeckte das Gesicht mit den Fingern, durch die Tränen
tropften. »Beim Anlassen der neuen Maschine flog ihm ein
Eisenstück an den Kopf – dicht über der Schläfe. Die
Wunde ist tief – ist gefährlich – «
»Wer sagte das?«
»Der Werkarzt. Sie bringen Lars her, weil ein Transport zum
Krankenhaus ihm schaden könnte.«
»So arg ist es also«, flüsterte Frau Malve mit bebenden
Lippen. »Wer bringt ihn?«
»Die Samariter.«
»Dann komm, mein Herzchen, bereiten wir in seinem
Schlafzimmer alles vor.«
Sie waren gerade damit fertig, als die Männer mit der Bahre
eintraten, begleitet von dem Arzt, der den Transport
beaufsichtigte. Als Frau Malve den Verletzten sah, wollten
ihr die Beine den Dienst versagen, doch schon umfaßte der
Arzt die schwankende Gestalt.
»Herr Doktor – lebt er überhaupt noch?«
»Gewiß, gnädige Frau. Es sieht ärger aus, als es ist. Bei
sorgfältiger Pflege wird er schon wieder gesund werden.«
»Daran soll es bei Gott nicht fehlen«, raffte sie sich wieder
auf. »Komm, Karen, warten wir unten, bis der Kranke
gebettet ist. Wir sprechen Sie doch noch, Herr Doktor?«
»Selbstverständlich, gnädige Frau. Wir müssen ja noch so
allerlei bereden.«
In der Halle stand Schwester Meta nebst der gesamten
Dienerschaft – schreckensbleich. Wenn der Verletzte ihnen
auch nicht so viel bedeutete wie Mutter und Tochter, so
hatten sie doch in seinem Haus eine angenehme Stellung.
Die zu verlieren machte sie bang. Meta wollte die Stimme
kaum gehorchen, als sie fragte: »Gnädige Frau, was ist mit
dem Herrn Doktor – wird er leben – leben -?«
»Der Arzt hat Hoffnung, und so müssen auch wir denn
hoffen.«
Unterdrücktes Schluchzen wurde hörbar, das Frau Malve an
Herz und Nerven zerrte. Sie zog die Tochter mit ins
Wohnzimmer, wo sie erschöpft Platz nahmen. Zuerst war
es zwischen ihnen beklemmend still, dann sagte die Mutter
leise:
»Erzähle mir Näheres, mein Kind. Wie erfuhrst du von dem
Unglück?«
»Durch Herrn Gröhne. Ich lief so schnell ich konnte nach
Halle zwei, wo die neue Maschine steht. Da sah ich Lars
liegen. Als ich ihn anrief, schlug er die Augen auf – sie
waren so leer – es war furchtbar.«
»Hat er gesprochen?«
»Das ist es ja eben«, schluchzte das Mädchen hart auf. »Er
stammelte unter größter Anstrengung hervor, daß du und
ich Hilke nicht verlassen sollen. Bestimmungen sind
getroffen, sie liegen beim Notar. Dann fiel er wieder in
Bewußtlosigkeit zurück.«
»Gäbe Gott, daß wir von den Bestimmungen nie Gebrauch
machen müßten«, sprach Frau Malve mit tränenerstickter
Stimme. »Wenn doch der Arzt bald kommen möchte, das
Hangen und Bangen ist unerträglich.«
Und doch mußten sie es ertragen, noch eine halbe Stunde
lang, in der kaum ein Wort gesprochen wurde. Was sollten
sie auch reden, alles andere war jetzt ja so unwichtig – nur
der Kranke allein war wichtig.
Angstvoll sahen sie dem Arzt entgegen, als er eintrat. Ein
schneidiger Mann im besten Alter. Der Durchzieher auf der
Wange zeigte den einstigen Corpsstudenten. Seine Miene
war wohl ernst, aber nicht bekümmert. Nach Aufforderung
Frau Malves ließ er sich nieder und lehnte die Zigaretten
ab, die sie ihm in dem goldgetriebenen Kästchen zuschob.
»Danke, gnädige Frau, ich bin Nichtraucher. Also, meine
Damen, bedenklich ist die Verletzung schon, aber nicht
bösartig. Ich habe die Wunde genäht und hoffe, daß sie
ohne Komplikationen heilen wird. Die
Gehirnerschütterung, die ich zuerst befürchtete, scheint
auszubleiben, obgleich Herr Doktor Ansholm beim Fall
mit dem Hinterkopf auf die Fliesen schlug, wie man mir
erzählte. Es wäre gut, eine geübte Krankenpflegerin zu
besorgen, damit der Verletzte unter fachmännische
Betreuung kommt. Geht das, gnädige Frau?«
»Selbstverständlich, Herr Doktor. Können Sie eine
besorgen?«
»Jawohl, sogar eine von den Besten. Ich werde mich gleich
mit ihr in Verbindung setzen. Hoffentlich macht sie mir
keinen Strich durch die Rechnung und befindet sich bereits
auf Pflege.«
»Ist der Kranke jetzt allein?«
»Ja. Obwohl er nach der Spritze wohl stundenlang ruhig
sein wird, wäre es doch gut, wenn jemand bei ihm bleibt,
bis die Pflegerin kommt.«
»Ich gehe sofort zu ihm, Herr Doktor.«
»Das ist lieb, gnädige Frau. So darf ich mich denn
verabschieden.«
Als er gegangen war, sagte Karen:
»Ich gehe ins Werk, Mutti. Dort habe ich wenigstens Arbeit,
die mich ablenkt. Hier tatenlos herumzusitzen halte ich
nicht aus.«
»Warte doch erst das Mittagessen ab.«
»Wozu? Ich würde ja doch an jedem Bissen würgen. Wenn
ich Hunger kriegen sollte, laß ich mir einen Imbiß aus der
Kantine holen. Sage mir bitte sofort Bescheid, falls sich
Lars’ Zustand verschlechtern sollte. Nach Dienstschluß
komme ich zurück.«
Schweren Herzens ließ die Mutter sie gehen. Aber sie hatte
ja recht. Warum sollte sie allein sitzen und den quälenden
Gedanken ausgeliefert sein.
Sie begab sich nun zu dem Kranken, der ruhig dalag. Sein
Gesicht war fast so weiß wie die Binde. Lebte er überhaupt
noch? Doch, er atmete, Gott sei Dank.
Suchend sah sie sich nach einer Sitzgelegenheit um. Wohl
gab es im Zimmer zwei Stühle, die für die Dauer jedoch zu
unbequem waren. Also besorgte sie sich einen Sessel, von
denen es in den Fremdenzimmern genug gab, stellte ihn so
ans Bett, daß sie den Kranken sehen konnte.
Wenn er sich doch nur einmal bewegen würde, aber
regungslos lag er da. Angst umkrallte ihr Herz, was werden
würde, wenn der Mann von hinnen schied, auf dessen
Schultern so große Verantwortung lag. Wer würde die
übernehmen? Die Mutter etwa, die neben Hilke seine
gesetzliche Erbin war? Nein, dazu war diese mondäne Frau
nicht fähig. Außerdem lebte sie mit ihrem Mann in
Amerika. Also würde das Werk, an dem der Besitzer mit
ganzem Herzen hing, verkauft und der Erlös geteilt werden.
Hilke – dachte Frau Malve erschrocken. Du Kleinod deines
Vaters, was würde dann dein Schicksal sein?
Nun fiel ihr ein, was der Verletzte zu Karen gesagt, aber das
Kind hatte ja noch eine Mutter. Zwar hatte diese es bei der
Scheidung vollständig an den Vater abgetreten, wenn er
aber starb –
Bei diesem Gedanken wurde es Frau Malve siedend heiß.
Sie trat ans Fenster, öffnete es einen Spalt und atmete tief
die kalte Winterluft ein. Noch lag der Schnee dick und fest,
doch gewiß nicht für lange; denn der März nahte. Durch
die kahlen Bäume konnte sie das Werk sehen mit seinen
riesigen Anlagen. Und der Mann, dem das alles gehört,
ruhte auf seinem Lager: todwund -
»Lieber Gott, laß den Lars doch leben«, betete die Frau in
ihrer Angst und Not. »Er ist doch so vielen Menschen
notwendig und hat ein hilfloses Kind.«
Ein Geräusch ließ sie herumfahren. Sollte der Kranke etwa
erwacht sein? Sie schloß das Fenster und trat an das Bett,
doch Lars lag nach wie vor regungslos da. Gespannt
lauschte sie und vernahm nun ein Klopfen. Als sie die Tür
öffnete, stand der Diener davor, sah sie mit seinen guten
Augen bekümmert an. Er war zwar kein Erbstück der
Familie, diente seinem Herrn erst einige Jahre, aber mit
rührender Treue.
Für die damaligen Mißstände im Ansholmhaus konnte er
nichts, weil er lange Zeit im Krankenhaus lag, sonst hätte
diese Lotterei erst gar nicht einreißen können. Erst einige
Tage danach, da sein Herr das Haus gewissermaßen
reingefegt, kehrte Richard in seinen Dienst zurück, und sein
Vertreter, der genauso war wie die andern Kreaturen, wurde
entlassen, so daß von dem alten Stamm nur die Köchin
blieb.
»Nun, Richard, was gibt’s?« fragte Frau Malve.
»Gnädige Frau, ich möchte fragen, ob ich das Mittagsmahl
anrichten soll.«
»Nein – «, winkte sie müde ab. »Ich kann jetzt nichts essen.
Meine Tochter ist im Werk, bliebe nur Schwester Meta, der
Sie das Essen in ihrem Zimmer servieren können.«
»Sehr wohl, gnädige Frau. Darf ich fragen, wie es meinem
Herrn geht?«
»Er liegt nach der Spritze ruhig da. Wir können weiter
nichts tun als abwarten.«
Da schlich er betrübt von dannen, und Frau Malve setzte
sich in den Sessel. Nun begann das Warten, das quält und
zermürbt.
Vier Stunden hatte der Arzt gebraucht, um der erwünschten
Pflegerin habhaft zu werden. Nun betrat er mit ihr das
Krankenzimmer und stellte sie Frau Malve vor, die sofort
Gefallen an ihr fand. Etwas Mütterliches ging von der
rundlichen Gestalt aus, etwas ungemein Beruhigendes. Aus
einer großen Tasche, die unerschöpflich zu sein schien,
holte sie eine weiße Kittelschürze, weiche Hausschuhe, die
sie mit den festen Lederschuhen vertauschte, die Brille
wurde hervorgekramt, ein Buch, Rätselhefte nebst Gummi,
Patiencekarten, ein Strickzeug, eine Rolle Pfefferminzdrops
und zuletzt ein Rahmen mit einer komplizierten
Seidenstickerei.
»Das muß ich alles haben«, erklärte sie den beiden, die ihr
andächtig zuschauten, »denn ohne Beschäftigung darf ich
nicht sein. Das macht träge und müde, was ich mir beim
besten Willen nicht leisten kann. Wenn ich einen breiteren
Sessel bekommen könnte, wäre ich dankbar, gnädige Frau.
Ich fürchte nämlich, wenn ich mich in das Sesselchen
klemme, daß es an mir hängen bleibt, wenn ich aufstehe.«
»Selbstverständlich sollen Sie einen andern Sessel haben,
Schwester Hedwig«, lächelte Frau Malve, die immer
größeren Gefallen an der Pflegerin fand. »Ich bitte Sie,
immer Ihre Wünsche zu äußern, die man Ihnen gern
erfüllen wird.«
»Ja? Das ist aber lieb. Dann bitte ich gleich um einen Topf
Kaffee, so heiß wie die Hölle, so süß wie die Liebe und so
schwarz wie die Nacht. Als Beigabe noch etwas zum
Knabbern. Und nun bitte ich um die Vorschriften, Herr
Doktor.«
»Wie finden Sie übrigens den Kranken, Schwester?«
»Gar nicht mal so übel. Den kriegen wir schon wieder
hoch.« Diese Zuversicht der erfahrenen Pflegerin übertrug
sich auf Frau Malve, sie wurde ruhiger. Sorgte dafür, daß
die Schwester alles nach Wunsch bekam und ging dann in
das Kinderzimmer, wo die kleine Hilke ihr entgegenlachte.
»Wie gut, daß du von dem allen nichts weißt«, strich sie
zärtlich über das Blondköpfchen. »Gott möge dir gnädig
sein, du süßes Kind.«
»Geht es dem Herrn Doktor immer noch nicht besser?«
fragte Meta leise, und die andere schüttelte bekümmert den
Kopf.
»Nein. Er hat sich in den Stunden, da ich bei ihm war,
nicht gerührt. Was ich für Angst ausgestanden habe, das
ging schon fast über meine Kräfte. Und doch mußte ich
durchhalten, bis der Arzt mit der Pflegerin erschien.«
»Wie ist die Schwester denn?« fragte Meta gespannt und
nickte nach der Schilderung beifällig.
»Dann ist der Kranke gut aufgehoben, gnädige Frau. Vor
allen Dingen ist sein Befinden nicht hoffnungslos, sonst
hätte sich die Pflegerin bestimmt nicht so gemütlich
eingerichtet, sondern wäre scharf auf Posten gewesen.«
In dem Moment trat Karen ein, müde und blaß.
»Ach, hier bist du, Mutti. Ich suchte dich im
Krankenzimmer, wo mich eine Schwester an der Tür
abfertigte. Sie war so kurz angebunden, daß ich gar nicht
zu fragen wagte, wie es Lars geht.«
»Es ist noch keine Änderung eingetreten, doch Arzt sowie
Pflegerin sind zuversichtlich. Siehst erschreckend blaß aus,
mein Kind, ist dir nicht gut?«
»Besonders nicht. Das kommt wohl von dem Schreck, der
immer noch in mir nachklingt. Außerdem wurde ich
andauernd von den Werkangestellten angerufen, die wissen
wollten, wie es Lars geht. Bis Gröhne den Apparat
durchstellen ließ, da hatte ich endlich Ruhe.«
»Am besten ist, du gehst zu Bett – «
»Was soll ich da, mich herumwälzen? Schlafen kann ich ja
doch nicht.«
Nein, das konnten alle Bewohner des Hauses nicht, dafür
waren sie zu aufgewühlt. Im Wohnzimmer saßen Mutter
und Tochter nebst Schwester Meta, in der Küche die
Dienerschaft. Wenn man sprach, geschah es nur im
Flüsterton.
Nach Mitternacht begann man sich dann allmählich
zurückzuziehen. Von Müdigkeit übermannt, verfiel man in
einen unruhigen Schlaf, und so war es Schwester Hedwig
allein, die in dem weiten Hause wachte. Das heißt, so
zwischendurch machte sie in dem bequemen Ohrensessel
ein Nickerchen, weil sie wußte, daß sie bei dem leisesten
Geräusch sofort wach würde.
So geschah es gegen Morgen, als der Kranke sich zu regen
begann. Sofort war sie hellwach, stand auf und beugte sich
gespannt über ihn.
»Herr Doktor, hören Sie mich?«
»Ja – «, kam es leise wie ein Hauch.
»Wollen Sie trinken?«
»Bitte-«
Durstig leerte er das halbgefüllte Glas, das die Pflegerin
ihm an die gesprungenen Lippen hielt.
»Ist es nun besser?«
»Danke – «
»Haben Sie Schmerzen?«
»Nein – ich bin nur so schrecklich müde.«
»Dann schlafen Sie man schön, Herr Doktor, ich paß schon
auf.«
Die letzten Worte drangen schon nicht mehr in sein
Bewußtsein, doch die Schwester war zufrieden. Zeugte das
kurze Erwachen davon, daß sich die Bewußtlosigkeit
langsam verlor. Sie griff nach dem Puls, der schon wieder
ganz ordentlich ging, also war das befürchtete Wundfieber
nicht eingetreten. Somit konnte sie ihr Nickerchen beruhigt
fortsetzen.
Am Morgen war sie denn ganz gut zuwege. Sie ging
hinüber in das Badezimmer, das man ihr zugewiesen hatte,
duschte ziemlich kalt und fühlte sich danach so frisch, als
hätte sie die ganze Nacht geschlafen.
Wie spät war es? Sieben Uhr. Nun, dann konnte man schon
sein Frühstück verlangen, das zu ihrer Zufriedenheit ausfiel.
Hauptsächlich der Kaffee war so ganz nach ihrem
Geschmack. Sie trank ihn gerade mit Behagen, als der Arzt
eintrat.
»Guten Morgen, Schwester Hedwig«, grüßte er verhalten.
»Sie tafeln hier in aller Seelenruhe, sehen frisch und
munter aus, während ich unausgeschlafen bin.«
»Was haben Sie denn gemacht, gebummelt?«
»So was tu ich doch nicht, Schwesterchen.«
»I bewahre, Sie sind die Unfehlbarkeit in Person«, blinzelte
sie ihm vergnügt zu. »Was haben Sie denn sonst in der
Nacht gemacht. Etwa im Bett gesessen und die Kissen
geschont?«
»Na, warten Sie bloß, Sie Speilzahn!« drohte er ihr mit
unterdrücktem Lachen. »Ich habe auf Ihren Anruf gewartet
und konnte daher nicht richtig schlafen. Wie hat sich der
Kranke verhalten?«
»Ruhig. Für einige Augenblicke erwachte er, ich gab ihm zu
trinken, dann erklärte er schrecklich müde zu sein und war
sofort wieder weg.«
»Schon viel wert. Wie ist die Temperatur?«
»Etwas erhöht. Wollen Sie ihm eine Spritze geben?«
»So für alle Fälle.«
»Das wird er Ihnen aber übelnehmen.«
Tatsächlich zuckte der Kranke zusammen, als ihm die
Spritze ins Fleisch fuhr. Dann öffnete er die Augen,
erkannte den Arzt und brummte ungehalten:
»Erlauben Sie mal, Doktor – ich will schlafen.«
»Ich wüßte nicht, welch einen größeren Gefallen Sie mir
tun könnten«, schmunzelte der Arzt. »Gute Nacht,
angenehme Ruhe.
Na, das ist vielleicht ein Prachtkerl«, flüsterte er der
Schwester zu. »Wo andere uns mit dieser Wunde wer weiß
was zu schaffen machen würden, ist er wahrscheinlich
schon über das Ärgste hinweg. Aber trotzdem ist immer
noch äußerste Vorsicht geboten. Machen Sie es gut,
Schwester Hedwig.«
»Worauf Sie sich verlassen können, Doktorchen.«
Lachend sahen sie sich an und verabschiedeten sich mit
einem Händedruck, der ihre gegenseitige Wertschätzung
erkennen ließ.
Es vergingen nun Tage, die keine wesentliche Änderung
brachten. Doch früher als erwartet kam die Krise, die allen,
die um den Kranken bangten, das Herz erzittern ließ. Der
Arzt, den Schwester Hedwig am Spätabend um sein
Kommen bat, erschien überraschend schnell.
»Hallo, Hedwig, ist es schon soweit?«
»Natürlich, wir fackeln hier nicht lange. Am besten ist, Sie
bleiben die Nacht hier.«
Und dann saßen zwei Menschen an dem Bett, der
erfahrene Arzt und die nicht minder erfahrene Schwester,
die den Kranken nicht einen Augenblick aus den Augen
ließen. Hielten vor Spannung den Atem an, als ihr Patient
sich zu regen begann. In das bleiche Gesicht trat langsam
Farbe, wurde dann heiß und rot. Schweiß brach aus allen
Poren, unruhig tasteten die Hände über die Decke. Der
Kopf bewegte sich, ein Stöhnen brach aus des Mannes
Brust – und dann schlug er die Augen auf. Zuerst war der
Blick noch abwesend, wurde dann immer klarer und
erfaßte mit Bewußtsein die beiden Menschen, die über den
Kranken gebeugt standen.
»Nanu – «, klang die Stimme wohl matt aber gut
verständlich. »Was wollt ihr denn hier – ach so, ja – mein
Kopf – «
»Tut er weh?« fragte der Arzt gespannt.
»Nur wenn ich ihn bewege – wo ist Tante Malve?«
»Wollen Sie die Dame sprechen?«
»Ja – bitte – «
Schon eilte die Pflegerin mit einer Behendigkeit davon, die
man der rundlichen Gestalt nicht zugetraut hätte. Stand
gleich darauf in dem Schlafzimmer Frau Malves, die wach
im Bett lag.
»Schwester Hedwig – um Gottes willen – was gibt’s?«
»Etwas Erfreuliches, gnädige Frau. Der Kranke ist bei
Bewußtsein und möchte Sie sprechen.«
Mit einem Satz war sie aus dem Bett, warf mit bebenden
Händen das Morgenkleid über, schlüpfte in die
Pantöffelchen und lief zum Krankenzimmer. Beugte sich
angstvoll über den Mann, der ihr zulächeln wollte, doch
dabei schmerzhaft das Gesicht verzog.
»Lars, mein guter Junge«, sagte sie mit schwankender
Stimme. »Wie geht es dir?«
»Ganz gut, Tante Malve. Nur die Glieder sind so schwer wie
Blei.«
»Das gibt sich wieder. Hast du einen Wunsch?«
»Ja – laß mich nicht allein – «
»Das tu ich nicht, Lars, du kannst ganz ruhig sein.«
»Wie schön«, klang es schon undeutlich, und dann hoben
regelmäßige Atemzüge des Schlafenden Brust.
»Na also – «, nickte der Arzt zufrieden. »Den haben wir
nach menschlichem Ermessen durch. Und soweit ich
diesen Prachtkerl kenne, wird er sich gesundschlafen.«
Was dann auch geschah. Drei Tage und drei Nächte schlief
der Kranke so fest, daß er nicht einmal richtig wach würde,
wenn der Arzt den Verband wechselte oder die Schwester
ihm die nötige Nahrung einflößte.
Und dann, an einem Spätnachmittag, streckte sich der
Kranke, gähnte herzhaft und ward dem Leben endgültig
wiedergegeben.
»Da hätten wir ja unseren bildhübschen Mann wieder.«
»Schwester, Sie müssen mich wohl für recht gesund halten,
weil Sie mich ungestraft ärgern dürfen«, mußte er
widerwillig lachen, und seelenruhig kam es zurück:
»Damit das gestockte Blut wieder so recht in Wallung
kommt.«
Als es klopfte, ging sie zur Tür, nahm Richard das Tablett
ab, und dann begann die schwierige Fütterung, wobei die
Pflegerin jedoch nicht lange fackelte. Wenn der störrische
Patient nicht den Mund aufmachen wollte, hielt sie ihm
einfach die Nase zu, und schon mußte er brav schlucken.
»Gut geschmeckt, nicht wahr?« fragte sie hinterher
scheinheilig. »Aber damit wollen wir es auch genug sein
lassen. Bauch voll, Teller leer, gibt nichts mehr.«
»Sagen Sie mal, wer hat Sie Tyrannin eigentlich auf mich
gehetzt?« fragte er interessiert, und sie lachte.
»Kein Geringerer als der Arzt Ihres Werkes, Herr Doktor
Ansholm. So, und nun wollen wir uns wieder hübsch
flachlegen, und dann steht einem ausgiebigen Schläfchen
nichts mehr im Wege.«
»Zuerst eine Zigarette.«
»Ach herrje, was vernehmen da meine rosigen Ohren.
Vielleicht auch einen steifen Grog dazu, hm?«
»Schwester, Sie sind – ein Scheusal – «, tropften die Worte
schon schlaftrunken von den Lippen, und lächelnd schaute
die Pflegerin auf den friedlichen Schläfer nieder. Dann
klingelte sie und beauftragte den Diener, Frau Velde
herzubitten.
»Aber sagen Sie der Dame, daß es sich um etwas
Erfreuliches handelt«, schärfte sie ihm ein. »Denn Angst hat
sie wahrlich genug ausgestanden.«
Einige Minuten später erschien Frau Malve, und ihr erster
Blick fiel auf den Schläfer. Wohl war das Gesicht noch
eingefallen, zeigte jedoch einen Hauch von gesunder Farbe,
stach schon erheblich von der weißen Stirnbinde ab.
»Na, gnädige Frau, ist das nun ein erfreulicher Anblick oder
nicht – «
»Kann man wohl sagen. Schläft er immer noch oder schon
wieder?«
»Letzteres. Er erwachte ganz manierlich, verlangte ein
Kotelett, mußte dafür brav ein Süppchen schlucken, weil
ich ihm die Nase zuhielt. Als ich ihm zur verlangten
Zigarette noch einen steifen Grog anbot, nannte er mich
ein Scheusal und wechselte hinüber ins Land der Träume.«
Da lachte Frau Malve nach zwölf Tagen das erste Mal
wieder, und der Abglanz dieses Lachens spiegelte sich noch
in ihren Augen, als sie das Wohnzimmer betrat, wo auch
die Tochter soeben angekommen war.
»Mutti, du bist ja so froh. Darf ich wissen warum?«
Sie erzählte es ihr und schloß lachend:
»Solche Schliche wird die Schwester noch oft anwenden
müssen. Denn Lars ist sowieso kurz angebunden und wird
als Rekonvaleszent wahrscheinlich unausstehlich sein.«
Das stimmte, doch an der stoischen Ruhe der Pflegerin
prallte alles ab. Daher ging sie nach jedem heißen Streit
stets als Siegerin hervor.
Es kam auch der Tag, an dem ihr schwieriger Patient
aufstehen konnte. Unweigerlich mußte er in den
Ohrensessel hinein, den sie ans Fenster gestellt hatte.
»Warum denn nicht gar in einen Rollstuhl«, sagte er bissig,
war dann jedoch froh, als er saß. Trank auch von dem
stärkenden Wein, den sie ihm reichte, machte dazu aber
ein Gesicht, als ob er Galle schlucken müßte. »Scheußlich
schmeckt das Zeug. Geben Sie mir einen Kognak.«
»Wir haben nur Weinbrand.«
»Schwester, Sie werden mich noch einmal so ärgern, bis ich
platze.«
»Bei Ihnen gibt’s nichts zu platzen, Herr Doktor, da ist
vorläufig noch alles Haut und Knochen.«
»Das kommt davon, weil Sie mich mit so labbrigem Zeug
füttern. Geben Sie mir Eisbein mit Sauerkraut.«
»Aber, aber, wo doch die Schweine so im Preis gestiegen
sind«, meinte sie vorwurfsvoll, und da mußte er denn doch
lachen.
»Müssen Sie gräßliche Person denn immer das letzte Wort
haben?«
»Wohl mir. Denn: Ein edler Mann wird durch ein gutes
Wort der Frauen weit geführt. Bitte sehr, können Sie in
Goethes ›Iphigenie‹ lesen.
Aber wie wär’s denn mal mit einem guten Wort aus
jüngerem Frauenmund, hm? Fräulein Velde wartet nämlich
schon längst darauf, von dem hohen Chef empfangen zu
werden.«
»Na hören Sie mal, da käme ich ja vom Regen in die
Traufe. Denn das Zünglein der jungen Dame ist noch
schärfer geschliffen als das Ihre.«
»Also streithafte Jungfrau?«
»Nein, spitzfindige. Außerdem weilt sie um diese Zeit im
Werk.«
»Aber nicht am Sonntag. Den haben wir nämlich heute.«
»Sagen Sie mal, Schwester Hedwig«, sah er sie prüfend an.
»Sie erinnern mich sehr an eine Frau Urbig, die eine
Sonderstellung in meinem Betrieb einnimmt. Ihr
Aussehen, Ihre ganze Art, direkt erstaunlich. Sind Sie
vielleicht mit der Dame verwandt?«
»Kann man wohl sagen. Ich bin nämlich ihre
Zwillingsschwester.«
»Na also! Hat mein Blick sich doch nicht getäuscht.«
»Was bei einem Mann wie Sie nicht verwunderlich sein
dürfte.«
»Wie meinen Sie das schon wieder?« sah er sie mißtrauisch
an, und spitzbübisch gab sie den Blick wieder.
»Durchaus seriös. Wie könnte ich was wagen, so einem
großmächtigen Herrn – «
»Nun hören Sie bloß auf«, unterbrach er sie lachend. »Sie
tyrannisieren den großmächtigen Herrn durchaus
respektlos. Und nun beordern Sie Fräulein Velde her.«
So stand denn Karen kurz darauf im Zimmer mit
lachendem Gesicht. Es war, als ob ein Sonnenstrahl
hineingehuscht wäre, so leuchtete alles an dem jungen
Menschenkind. Das Haar gleißte und die Augen strahlten,
als steckten hinter ihnen tausend Kerzen.
»Lars, du bist schon auf? Wie schön! Laß dich mal
anschauen – na, blaßschnäbelig siehst du schon noch aus.«
»Das kommt von dem miserablen Essen«, beklagte er sich.
»Nichts als Babyfutter bekomme ich. Ein Wunder, daß man
die Flasche mit dem Sauger fortläßt.«
»Du Armer!« lachte sie, sich auf das Fußstühlchen setzend,
das neben dem Lehnsessel stand. »Was ist da in dem Glas
drin. Etwas Himbeersoße, übriggeblieben vom
Babypappchen?«
»Na, sagte ich es nicht, daß dieses Zünglein noch schärfer
geschliffen ist als das Ihre, Schwester Hedwig?« rang er in
so komischer Verzweiflung die Hände, daß die Damen hell
herauslachten -
»Es gibt ja auch genug Schleifmaschinen in der Fabrik – «
»Apropos Maschine«, unterbrach er sie lebhaft. »Läuft sie
gut?«
»Tadellos. Sie ist wirklich ein Wunder der Technik. Alle, die
mit ihr zu tun haben, sind begeistert.«
»So stammte das Eisenstück nicht von ihr?«
»Lars, bitte – sprich jetzt nicht davon.«
»Warum denn nicht?«
»Du könntest dich dabei aufregen.«
»Aber keine Spur. Kannst ruhig darüber sprechen.«
»Nein – es stammt nicht von der Maschine, wie eine
Nachprüfung ergab. Es muß herumgelegen haben und
irgendwie von der Maschine erfaßt worden sein.«
»Dann ist es ja gut, daß es keinem andern an den Kopf
flog«, bemerkte er trocken. »Wie sieht es sonst drüben aus?«
»Alles in schönster Ordnung. Man wetteifert förmlich,
gerade in deiner Abwesenheit vorzügliche Arbeit zu
leisten.«
»Na schön. Wie geht es Hilke?«
»Die wird von Tag zu Tag niedlicher. Steht schon fest auf
den drallen Beinchen und wird wohl bald laufen. Doch
nun muß ich gehen, sonst wirft Schwester Hedwig mich
noch hinaus.«
»Warum?«
»Du mußt ins Bett zurück.«
»Wie weißt du das?«
»Weil du schon halb schläfst. Mach’s weiter gut, Lars,
morgen besuche ich dich wieder.«
Fort war sie, und die Pflegerin trat in Aktion.
»Herr Doktor, husch husch ins Körbchen!«
»Sie können den Feldwebelton weglassen, ich sträube mich
ja gar nicht gegen Ihren Befehl. Wie kann ein Mensch nur
so schlappmachen. So krank war ich doch gar nicht.«
»Ihre Mitmenschen sind da anderer Ansicht. Kommen Sie,
Herr Doktor, stützen Sie sich auf mich, ich halt’s schon
aus.«
Die Pausen zwischen Bett und Lehnstuhl wurden immer
länger, und nach dreiwöchiger Pflegezeit konnte Schwester
Hedwig, mit herzlichem Dank und reichen Geschenken
versehen, ihr Bündel schnüren. Es gab hier keine Arbeit
mehr für sie.
Nun bekam der Genesene vom Arzt noch eine Woche
»Schonzeit« zudiktiert, gegen die er sich gar nicht sträubte.
Recht merkwürdig bei dem Mann, der so mit seinem Werk
verwachsen war, ihm nicht ungeduldig zuzustreben.
Er war überhaupt still und bedrückt, was Frau Malve
bekümmerte. Als sie mit dem Arzt darüber sprach, der noch
jeden zweiten Tag nach seinem »Patienten a. D.« sehen
kann, meinte er achselzuckend:
»Ja, gnädige Frau, da bin auch ich am Ende meiner
Weisheit. Körperlich jedenfalls ist Herr Doktor Ansholm in
Ordnung, die Wunde ist tadellos verheilt, die Organe sind
gesund – also muß psychisch etwas bei ihm nicht intakt
sein. Sondieren Sie doch mal, vielleicht bekommen Sie
heraus, was ihn quält.«
Nein, sie bekam es nicht heraus, so große Mühe sie sich
gab.
»Sprich du doch mit ihm, Karen«, bat sie diese, als sie nicht
mehr aus noch ein wußte. »Er muß doch irgend etwas
haben, was ihn bedrückt.«
»Na schön – «, seufzte das Mädchen. »Ich will es versuchen,
aber viel verspreche ich mir davon nicht.«
Die Gelegenheit zu einer Unterredung sollte sich bereits am
andern Tage bieten, als Karen gegen Abend vom Dienst
nach Hause kam. Es war so dämmrig in dem Gemach, daß
sie den Mann im Sessel nur undeutlich erkennen konnte.
»Nanu, Lars, seit wann findest du denn Gefallen an der
Uhleflucht?« fragte sie lachend, obwohl ihr gar nicht zum
Lachen zumute war. »So alt bist du noch nicht, um dich im
dämmernden Gemach Erinnerungen hinzugeben. Wo ist
Mutti?«
»Sie macht in der Stadt Besorgungen«, kam es müde
zurück. »Setz dich bitte zu mir, ja?«
»Aber nicht ohne Licht, mein Lieber. Diese Düsternis geht
mir auf die Nerven.«
Sie schaltete eine Ständerlampe ein, die nun ihr mildes
Licht verströmte, nahm dem Mann gegenüber Platz und
sagte leise:
»Lars, dich quält doch etwas. Willst du mir nicht sagen, was
es ist?«
»Ich möchte schon, Karen – aber ich fürchte, daß du mich
nicht verstehen wirst.«
»Das käme immerhin auf einen Versuch an.«
»Na schön – «, seufzte er tief und schwer. »Ich bekam vor
acht Tagen einen Brief von meiner geschiedenen Frau.«
»Ach du lieber Gott«, war sie nun doch erschrocken. »Was
will sie denn von dir?«
»Sie hat irgendwie von meiner Krankheit erfahren und
behauptet, qualvolle Sorge um mich und Hilke zu haben.
Wenn ich nun meiner Verletzung erlegen, was wäre aus
dem Kind geworden. Fremde Menschen hätten sich seiner
bemächtigt, und sie, die Mutter, die dieses Kind in
Schmerzen gebar, hätte das machtlos dulden müssen, weil
sie in Augenblicken der Angst so kopflos war, ein
Schriftstück zu unterschreiben, laut dem sie an dem
›goldigen Liebling‹ keinen Teil mehr haben durfte. Ich
sollte doch Erbarmen haben und diesen ›blöden Wisch‹
annullieren. Sie hätte so große Sehnsucht nach ihrer süßen
Tochter und auch nach mir. Daher sollte ich noch einmal
barmherzig sein und sie wieder in Gnaden aufnehmen. Sie
wäre in ihrer zweiten Ehe so unglücklich geworden, daß sie
am liebsten ihrem verpfuschten Leben ein Ende machen
möchte. Dann folgten Phrasen von Reue, Buße, demütiger
Dankbarkeit und dergleichen widerliche Dinge mehr. Und
das alles von einer Frau, die ich zutiefst verachte. Was sagst
du nun dazu, Karen?«
»Ja, Lars – da ist schwer was zu sagen«, begann sie
vorsichtig. »Sie ist immerhin die Mutter deiner Kinder – «
»Darauf habe ich gewartet«, lachte er hart dazwischen.
»Bevor ich noch einmal mein Kind diesem gewissenlosen
und ehrlosen Weib überlasse, bringe ich es lieber um – «
»Großer Gott, Lars, du bist wohl nicht recht gescheit!
Warum überhaupt diese Aufregung. Du lebst ja und kannst
dein Kind weiter behüten.«
»Das schon – «, erwiderte er niedergedrückt. »Aber mein
Unfall hat mir bewiesen, wie schnell ein Menschenleben
ausgelöscht sein kann. Zwar habe ich vorsorglich mein
Testament gemacht und darin Tante Malve als Hilkes
Vormund bestimmt. Aber soweit ich meine geschiedene
Frau kenne, würde sie sich skrupellos hier einnisten und
Tante Male sowie auch dir das Leben zur Hölle machen.
Daher muß ich Vorkehrungen treffen, die euch dazu
berechtigen, den Parasiten zu vertreiben und zwar kraft des
Gesetzes. Das geht aber nur, wenn du – meine Frau wirst.«
Nach diesen schwerwiegenden Worten war es zuerst einmal
beängstigend still. Karen war bis in die Lippen erblaßt und
starrte den Mann an, als hätte er irr gesprochen.
»Lars -*- weißt du überhaupt, was du da von mir
verlangst?« kam es endlich mühsam von ihren Lippen. »Ich
kann doch nicht – «
»Sag lieber, du willst nicht«, warf er unendlich bitter ein.
»Weil du einen andern hast, den du liebst.«
»Den andern gibt’s nicht«, fand sie langsam ihre Fassung
wieder, und er atmete hörbar auf.
»Damit wäre schon ein Problem gelöst. Nun weiter: Bin ich
dir zuwider, Karen?«
»Wie kommst du darauf?« fragte sie erstaunt zurück. »Du
hast doch wahrlich nichts an dir, das eine Frau abstoßen
könnte.«
»Danke, das war ein gutes Wort. Willst du nicht noch eins
dazu sagen und zwar – ja -?«
»Lars, du mußt mir doch wenigstens eine Bedenkzeit
lassen.«
»Dann weiß ich schon Bescheid.«
»Gar nichts weißt du – «, wurde sie nun ärgerlich. »Du
tappst herum wie ein Elefant im Porzellanladen und
wunderst dich, wenn es Scherben gibt.«
»Karen, du bist grausam. Laß uns die Unterredung
beenden. Gib mir morgen Bescheid, wie du dich
entschlossen hast.«
Er stand auf und ging davon. Müde war seine Haltung,
etwas ungemein Trostloses drückte sie aus. Karen hätte
weinen mögen, so miserabel war ihr zumute. Wohl tat der
Mann ihr leid, aber die Bitterkeit in ihr war noch stärker.
So waren nun die Männer. Sie schritten achtlos über ein
blutendes Mädchenherz hinweg, weil es für sie wertlos war.
Ließen pures Gold liegen und griffen nach Talmi, weil es
doch so schön glitzerte.
So wurde denn das Mädchen in seinen Gefühlen hin und
her gezerrt. Bitterkeit kämpfte gegen Gerechtigkeitssinn,
verschmähte Liebe gegen Mitleid. In diesem Zwiespalt fand
sie die Mutter, die ahnungslos eintrat.
»Du bist allein, Karen? Wo ist Lars?«
»Er hat sich zurückgezogen.«
»Ist ihm denn nicht gut?«
»Ich weiß nicht.«
»Kind, das klingt ja so kläglich. Wie siehst du überhaupt
aus, blaß und verstört – «
»Mutti, ach, Mutti!« brach es aus ihr heraus. Alles bekam
sie zu hören, was sich in der letzten Stunde ereignet hatte.
Das machte der Mutter denn doch die Knie weich, rasch
ließ sie sich in den Sessel sinken.
»Also das ist es, was Lars bedrückt – «, dehnte sie. »Aber
weißt du, Karen, ich habe so was Ähnliches geahnt. Denn
seine flehende Bitte, Hilke nicht zu verlassen, seine
Erwähnung, daß Bestimmungen darüber beim Notar
liegen, das mußte schon einen schwerwiegenden Grund
haben. Was wirst du tun?«
»Wenn ich das nur wüßte. Einesteils tut Lars mir leid,
andererseits habe ich keine Lust, als Lückenbüßer
einzuspringen.«
»Karen, welch ein hartes Wort«, rügte die Mutter. »Verbohr
dich nur nicht in falschen Annahmen.«
»Du sähest es natürlich gern, wenn ich seinen Vorschlag
annähme?« forschte sie, doch offen hielt die Mutter dem
inquisitorischen Blick stand.
»Ja, mein Kind, das würde mich freuen. Einen besseren
Ehemann könntest du ja gar nicht kriegen.«
»Ach so, weil er reich ist – «
»Karen, werde nicht ungezogen«, warf sie mahnend
dazwischen. »Du mußt mich hinlänglich kennen, um zu
wissen, daß ich meinem Kinde nie zureden würde, sich zu
verkaufen. Dann hätte ich es schon tun können, als der
gutsituierte Grommert sich um dich bewarb. Ich rede dir
überhaupt nicht zu, mach, was du willst.«
»Wen soll ich denn um Rat fragen, wenn nicht meine
Mutter?«
»Dein Gewissen.«
Und dein Herz – hätte sie hinzufügen mögen, was sie
jedoch nicht für ratsam hielt. Mochte Karen ruhig weiter
annehmen, daß sie um ihre damalige Liebe zu Lars
Ansholm nichts wußte.
»Mutti, wenn ich mich dazu entschließen könnte, Lars’
Frau zu werden, würdest du dann für immer hier bleiben?«
»Wenn es ihm recht ist, dann gern.«
»Ach, weißt du, Mutti, ich werde ja doch nicht nein sagen
können«, verriet sie kläglich, was der andern ein Lächeln
entlockte. Denn daß die Liebe so ganz und gar verlöscht
sein sollte, daran glaubte sie nicht so recht. Der Antrag des
einst so schwärmerisch geliebten Mannes hatte vielleicht
schon genügt, um das Fünkchen aus der Asche zu heben.
»Und warum glaubst du es nicht zu können?« fragte sie
forschend.
»Weil das Gewissen keine Ruhe geben würde.«
»Na, Gott sei Dank, endlich bist du wieder mein
warmherziges Kind. Schau mal, Karen, ich habe deinen
Vater auch nicht aus Liebe geheiratet – «
»Wirklich, Mutti? Das ist mir aber neu. Hattest du denn
einen andern lieb?«
»Ja – ich war mit ihm verlobt. Aber bald darauf starb er.«
»Armes Muttilein.«
»Du braucht mich gar nicht zu bedauern, mein Herzchen.
Ich weiß nicht, ob ich mit dem andern eine so glückliche
Ehe geführt hätte wie mit deinem Vater. Seine
Ritterlichkeit, sein zartes Werben nahm mich so gefangen,
daß ich den andern beschämend schnell vergaß, zumal ich
noch durch Zufall erfuhr, daß er gar nicht der Heros
gewesen war, den ich junges, unerfahrenes Ding in ihm
angebetet hatte.«
»Woran starb er?«
»Herzschlag.«
»Was, so ein junger Mensch?«
»Auch denen kann es passieren, wenn sie sich sehr erhitzt
in eiskaltes Bergwasser stürzen.«
»O Mutti, das war wohl ein herber Schlag für dich.«
»Will ich meinen. Aber wie du siehst, ist mir das Herz nicht
gebrochen. Das bricht überhaupt nicht so leicht, wie die
Menschen es sich einreden, das kann eine ganze Menge
vertragen.
Doch nun genug der alten Geschichten, sprechen wir über
die Gegenwart. Laß Lars nicht so lange auf deinen
Entscheid warten. Bedenke, daß er eine schwere Krankheit
hinter sich hat und daß seine Nerven angegriffen sind.
Wiederum überstürze nichts. Denn wie du dich auch
entscheiden magst, es gibt so oder so für dich kein Zurück.«
»Gnädige Frau, es ist angerichtet«, meldete der Diener. »Der
Herr Doktor läßt sich entschuldigen.«
So saßen denn die drei Damen allein an der Abendtafel,
doch nur eine ließ es sich gut schmecken, Schwester Meta.
Die andern beiden mußten sich bemühen, überhaupt
etwas zu essen und auch ein Gespräch zu führen, damit
Meta und der servierende Diener nicht stutzig wurden.
Karen saß wie auf Nadeln, und kaum, daß die Tafel
aufgehoben war, zog sie die Mutter rasch ins Wohnzimmer
und raunte ihr zu:
»Mutti, ich kann es nicht länger verantworten, Lars in
Ungewißheit zu lassen. Ob es verkehrt ist, was ich jetzt tun
will, weiß ich nicht – aber ich kann nicht anders.«
»Wozu hast du dich entschieden?«
»Für ein Ja.«
»Dann geh mit Gott, mein Kind.«
Beunruhigt sah sie der Tochter nach, die es jetzt gar nicht
mehr eilig zu haben schien. Sehr langsam ging sie davon,
durch die weite Halle zu der breiten Flügeltür, hinter der
das Arbeitszimmer des Hausherrn lag. Dort mußte sie
zuerst einmal die Hand auf das hartschlagende Herz
pressen, bis es sich einigermaßen beruhigt hatte. Dann gab
sie sich einen Ruck, und lauter, als sie gewollt, klopfte der
Fingerknöchel gegen das Holz. Von innen ein kurzes
»Herein!« – sie kam ihm nach und stand nun in dem Raum
mit den schweren, dunklen Möbeln.
»Karen, du -?« sprang der Mann überrascht vom
Schreibtisch und ging der grazilen Gestalt entgegen.
»Mädchen, was soll das bedeuten?«
»Ach, Lars – «, zupfte sie verlegen an ihren Fingern. »Ich
bekam es einfach nicht fertig, dich bis morgen auf meine
Antwort warten zu lassen.«
»Und wie lautet sie?«
»Ja.«
»Gott sei Lob und Dank!« lachte er befreit auf. »Die
Stunden des Hangens und Bangens waren gräßlich.«
Er machte eine Bewegung, als wollte er sie in die Arme
schließen, trat jedoch einen Schritt zurück, als er sie
zusammenzucken sah.
»Hab’ keine Angst, Karen«, sagte er leise. »Ich werde dich zu
nichts zwingen. Werde mir nicht nehmen, was du mir nicht
selbst gibst. Ich hoffe jedoch, daß du dich mit der Zeit an
mich gewöhnen wirst.«
»Ja, Lars – «, entgegnete sie wie ein artiges kleines Mädchen.
»Wirst du jetzt auch nicht mehr so niedergeschlagen sein?«
»I bewahre«, lachte er froh. »Dazu habe ich ja keine
Veranlassung mehr. Wollen wir jetzt zu unserer Mutti
gehen?«
»O ja, sie wird schon ungeduldig unserer harren.«
»Na also«, meinte Frau Malve trocken. »Da haben wir
endlich unsern alten Lars wieder. Junge, deine Bedrücktheit
hat mich nicht wenig bekümmert.«
»Muttichen – «, lachte er sie an, griff nach ihren Händen
und streifte sie schmeichelnd mit den Lippen. »So bist du
mit deinem Schwiegersohn zufrieden?«
»Tu nur noch so scheinheilig, du langer Schlingel. Du weißt
ganz genau, daß ich mir immer einen Sohn gewünscht
habe wie dich.«
»Und nun mit ihm Kult treiben wirst auf Kosten der
Tochter«, war Karen ganz gottergeben.
»Dafür treibe ich Kult mit dir«, Versprach der neugebackene
Bräutigam schmunzelnd. »Wollen wir in drei Wochen
heiraten?«
»Etwas sprunghaft das Thema, aber immerhin zu kapieren.
In Gottes Namen denn. Gegen zwei so Starkverbündete
sich aufzulehnen, wäre töricht.«
»Du hast’s nötig«, lachte die Mutter. »Gib ihr Sekt zu
trinken, Lars, damit sie die elegischen Anwandlungen
vergißt.«
»Ein vortrefflicher Gedanke, Mutz. Wollen wir unsern
Richard gleich beordern.«
Der
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staunte nicht schlecht über seinen Herrn, als er das
prickelnde Getränk brachte und die Gläser füllte. Tagelang
hatte er herumgesessen wie ein Mensch, der Kummer hat,
war heute nicht einmal zur Abendtafel erschienen – und
sprühte jetzt nur so vor guter Laune. Was mochte ihm nur
Erfreuliches widerfahren sein.
Darauf kam der Gute trotz allen Grübelns nicht. Wie sollte
er auch. Wie ein Brautpaar hatten die beiden sich wahrlich
nicht benommen.
Und taten es auch jetzt nicht. Benahmen sich genauso wie
immer, auch als der Sekt sie benebelt hatte. Allerdings
waren sie lustig, fast übermütig, doch von Verliebtheit auf
beiden Seiten keine Spur.
»Wie ist es nun, Herr Chef?« blinzelte Karen ihn eben an.
»Darf ich mich morgen im Betrieb als deine Brau wichtig
tun?«
»Das würde ich dir nicht raten«, besah er sich schmunzelnd
das leichtbeschwipste Persönchen. »Du wirst hübsch
bescheiden im Vorzimmer sitzen, Fräulein Sekretärin.
Denn ich möchte die Verlobung noch nicht an die große
Glocke hängen. Oder liegt dir viel daran?«
»Durchaus nicht. Meinetwegen kann sie ganz verschwiegen
werden. Stellen wir sie nach der Hochzeit vor die
vollendete Tatsache.«
»Das geht nicht, Karen. Damit würden wir unsere Leute vor
den Kopf stoßen. Denn alles, was uns betrifft, nehmen sie
sehr wichtig. Würden uns bitter gram sein, wenn wir sie um
die Feier brächten.«
»Du willst doch nicht gar die Hunderte von Menschen hier
einladen?« fragte sie so entsetzt, daß er lachen mußte.
»Natürlich nicht, du Dummchen. Die Feier wird in den
Festräumen des Werkes veranstaltet, wo wir uns allerdings
kurz sehen lassen müssen. Zieh bloß kein Schnutchen, es
geht nicht anders. Bevorzugung verpflichtet.«
»Kompliziert ausgedrückt, aber immerhin verständlich«,
amüsierte Frau Malve sich. »Nun möchte auch ich einmal
zu Wort kommen. Wie denkst du dir die Hochzeit
überhaupt, Lars. Soll sie im großen Stil aufgezogen werden
oder ganz klein gehalten sein?«
»Das zu bestimmen überlasse ich Karen.«
»Ich bin für unsere Dreisamkeit. Denn Hilke zählt ja noch
nicht.«
»Da sprichst du mir direkt aus der Seele und unserer Mutti
wahrscheinlich auch. Ich weiß noch von früher, daß sie nie
für Klimbim war, wie sie sich ausdrückte. Also soll er ihr
auch jetzt erspart bleiben. Später wird sie allerdings dran
glauben müssen, und zwar, wenn wir Gesellschaften geben.
Ohne Frau konnte ich mich davor drücken, aber wenn eine
Herrin hier repräsentiert, geht das in meiner Stellung nicht.
Da hat man eben seine bestimmte Gesellschaftsfron. Und
von dem ganzen Klimbim wird meine Schwiegermutter
sich ja nicht ausschließen können.«
»Und wie ich das kann! Ich brauche ja nur in mein kleines
Heim zurückkehren.«
»Mutti, das wirst du uns doch nicht antun!« wehrte er
erschrocken. »Ach was, wir lassen sie einfach nicht weg,
Karen.«
»Kommt gar nicht in Frage, geliebte Mutz. Wir gehören
zusammen wie Sonne, Mond und Sterne.«
»Da bin ich aber neugierig, wozu du dich zählst«, sagte sie
lachend. »Zur Sonne womöglich?«
»Na, was denn sonst«, schlug sie sich selbstgefällig an die
Brust. »Ich strahle wie die goldene Sonne, du leuchtest hell
wie der Abendstern und Lars scheint blank wie der Mond.«
Sie war einfach unwiderstehlich in ihrem Übermut, und
Frau Malve fing einen Blick des Schwiegersohnes auf, mit
dem er seine bezaubernde Braut betrachtete. Also schien
seine Werbung nicht allein aus den angeführten Gründen
erfolgt zu sein. Nun würde es an ihm liegen, sich das
Herzchen zurückzugewinnen, über das er einst so achtlos
hinwegschritt. Wenn ihm das gelang, war ihr nicht bange
um sein und ihrer Tochter Eheglück.
Am nächsten Morgen gab es im Werk große Freude, der
Chef war wieder da. Und wenn nicht die rote Narbe
oberhalb der Schläfe gewesen, wäre niemand auf den
Gedanken gekommen, daß dieser Mann vor vier Wochen
von dem Tod gezeichnet worden war, so frisch sah er aus,
so richtig energiegeladen.
Es gab für ihn viele Hände zu schütteln, in viele frohe
Gesichter zu sehen, viele freudige Beteuerungen
anzuhören, bis er endlich sein Zimmer aufsuchen konnte,
wo auf dem Schreibtisch ein großer Blumenkorb prangte.
Dem verehrten Chef zur Genesung von der treuen
Belegschaft – stand auf einem Kärtchen. Als er das
Angebinde näher in Augenschein nahm, fiel ihm ein
Veilchensträußchen auf, das dicht an den Rand geklemmt
lag. Um ihm mehr Platz zu verschaffen, zog er es heraus
und bemerkte nun den Zettel, der um die Stiele gebunden
war.
So bescheiden wie die kleine Sekretärin – las er
schmunzelnd. So ein verflixter kleiner Speilzahn! Na warte,
mein Herzchen, das Zähnchen ziehe ich dir schon noch.
Ahnungslos dessen, was ihr bevorstand, saß »die kleine
Sekretärin« im Vorzimmer und war momentan arbeitslos.
Denn Gröhne befand sich beim Chef, um Bericht zu
erstatten, hatte also keine Zeit gehabt, seine Sekretärin mit
Arbeit zu versorgen. So saß diese denn da und rauchte
gedankenvoll eine Zigarette, als sich die Tür öffnete und
eine respektable Gestalt sichtbar wurde.
»Frau Urbig!« sagte Karen freudig überrascht. »Wie nett,
daß Sie sich mal sehen lassen. Der Prokurist ist aber nicht
zu sprechen, der befindet sich beim Chef zum Rapport.«
»Ich will ja auch gar nicht zu ihm, Kindchen, sondern zu
Ihnen, habe eine Bitte an Sie. Schauen Sie mal meine Hand
an, damit kann ich doch nicht schreiben, nicht wahr?«
»Allerdings – «, sah Karen betroffen auf den Verband. »Ist
die Hand sehr verletzt?«
»Na, mir langt’s. Das scharfe Messer ging statt ins Brot in
den Handballen, so ein verflixtes Ding.«
Dabei blinzelte sie das Mädchen so vergnügt an, daß es
lachen mußte.
»Richtig so, immer nur andern die Schuld geben, nur nicht
sich selbst. Was kann ich für Sie tun?«
»Einen Brief schreiben, der eilig ist. Sie sind nämlich der
einzige Mensch, Herzchen, den ich damit betrauen kann.
Ich muß nämlich einem Freier abschreiben. Na, na, nun
verbeißen Sie man das Lachen nicht, platzen Sie ruhig
damit heraus. Ich habe es auch getan, als ich mir vorstellte,
wie nett ich meinen Ehegemahl auf den Schoß nehmen
könnte, wenn ein Kummer sein Herz zerreißt oder Ärger
seine Stirn umwölkt; denn das Männchen wiegt kaum
einen Zentner.«
Jetzt platzte Karen wirklich mit dem Lachen heraus.
»Darf ich wissen, wer das ist, Frau Urbig?«
»Wird sich nicht umgehen lassen, da Sie ja seine Adresse
schreiben müssen. Es ist der Abteilungsleiter Gustav
Geimer. Besitzt eine nette Wohnung in der Werksiedlung,
ein kleines Kapital, drei noch kleinere Kinder, eine liebe
Schwiegermutter, ein Autochen, in das ich nicht
hineinpasse, eine gute Stube, ein verstimmtes Klavier –
bloß eine Frau hat er nicht, die ist vor einigen Monaten
gestorben. Na ja, alles schön und gut, bloß sein Name
gefällt mir nicht ganz, darin ist das M zuviel. Sonst würde
er offiziell Geier heißen, wie er sowieso allgemein genannt
wird, von wegen seiner Nase und seiner Giftigkeit.«
»Hören Sie bloß auf!« wollte Karen sich ausschütten vor
Lachen. »Ich kann nicht mehr.«
»Sehen Sie, so ging es mir gestern abend, als ich zu Hause
den Brief mit dem ehrenvollen Antrag vorfand. Er hat mich
so erschüttert, daß ich statt ins Brot in meine Hand schnitt.
Da ich nun nicht schreiben kann, den bangenden
Freiersmann aber nicht so lange auf die Antwort warten
lassen möchte, bis meine Pfote heil ist, werden Sie den
Brief für mich schreiben, ja?«
»Aber mit dem größten Vergnügen.«
Rasch spannte Karen einen Bogen ohne Firmendruck in die
Maschine und sah die fidele Dicke an.
»Also denn man zu, schreiben Sie, Herzchen – «
Es wurde ein kurzes Schreiben, sachlich gehalten. Als
Grund der Absage gab Frau Urbig an, daß es nicht ratsam
wäre, eine um sechs Jahre ältere Frau zu heiraten, die
außerdem noch asthmatisch wäre, von wegen Korpulenz
und so. Sie würde ihm ja doch bald wegsterben, also wozu
da erst heiraten. Er bekäme bestimmt eine weit bessere
Frau, wozu sie ihm alles Gute wünsche. Mit freundlichem
Gruß.
»Na, dann geben Sie man das Dokument her, damit ich es
schwungvoll unterschreibe mit meiner lädierten Pfote.«
Nachdem es geschehen war, steckte sie den wichtigen Brief
in den Umschlag, klebte ihn zu und versenkte ihn in ihrer
großen Handtasche.
»Behüt dich Gott, es war so schön gewesen«, sprach sie
dabei elegisch und lachte dann mit dem Mädchen um die
Wette.
»Der Arme«, sagte Karen. »Er wird bestimmt sehr enttäuscht
sein.«
»Bedauern Sie bloß die Männer nicht, Herzchen, die sind
es nicht wert – bis auf einige Ausnahmen.«
»Und die wären?«
»Na, unser Chef. Das ist ein Prachtkerl, der knickt man so
die Frauenherzen wie Streichhölzer. Sogar mein Zwilling
Heta ist, seit sie ihn pflegte, in heißer Liebe zu ihm
entbrannt, sie, die ihr Herz solange bewahrte. Jetzt weint
sie sich die Augen rot und macht Gedichte, die sich so
schön reimen: Der Liebe bitteres Weh, mein süßer Schatz
ade. Na ja, wer liebt diesen Heros nicht – ich tu es ja auch.
Aha, da ist ja auch der Herr Prokurist. Sie brauchen mich
gar nicht aus Ihren heiligen Hallen zu vertreiben, ich gehe
schon von selbst.«
Weg war sie, und Gröhne sah ihr schmunzelnd nach.
»Die Möwen sehen alle aus, als ob sie Emma hießen. Ob
sich Christian Morgenstern die Möwen so vorgestellt haben
mag wie unsere Emma?«
»Ich glaube nicht«, lachte Karen. »Aber ein gutes Tierchen
ist sie schon.«
»Stimmt. Was wollte sie hier?«
»Sie bat mich, einen eiligen Brief für sie zu schreiben, da sie
sich ihre Hand verletzt hat.«
»War das Schreiben persönlich?«
»Ja. Es handelte sich um eine Absage, die noch heute
abgeschickt werden muß.«
So, mein neugieriger Herr – dachte sie amüsiert. Ich habe
dir die Wahrheit gesagt. Nun frag bloß nicht, wem die
Absage galt, dann muß ich dir allerdings ein Märchen
erzählen.
Allein davor sollte sie bewahrt werden, er kugelte ab nach
seinem Zimmer, wo er gleich darauf die Sekretärin zu sich
beorderte.
»Denken Sie nur, Fräulein Velde, ich habe ein Lob von
unserm Chef gekriegt«, berichtete er freudestrahlend. »Weil
ich ihn so gut vertreten habe. Das ist wenigstens ein Chef,
der gute Leistungen anerkennt. Wenn ich so an andere
denke. Doch nun wollen wir an die Arbeit gehen.
Schreiben Sie – «
Und die Sekretärin schrieb. Unermüdlich flitzte der Stift
über den Block; denn das Stenogramm machte ihr schon
längst keine Schwierigkeiten mehr. Da konnte der Prokurist
auch noch so schnell diktieren, sie kam stets mit.
»So, Fräulein Velde, das hätten wir wieder einmal gut
hingekriegt«, rieb er sich schmunzelnd die Hände. »Sie sind
eine prima Sekretärin, das habe ich auch heute dem Chef
gesagt.«
Wenn du wüßtest, wie bald du mich hergeben mußt –
dachte sie belustigt. Wirst schon noch Augen machen,
genauso wie die andern alle.
»Der gute Gröhne war heute vielleicht des Lobes voll über
seine Sekretärin«, sagte Lars lachend, als man sich nach
Dienstschluß im Wohnzimmer zusammenfand. »Das wird
schon ein Wehklagen geben, wenn er dich gegen Fräulein
Wenschke eintauschen muß.«
»Aber die ist doch häßlich wie die Nacht.«
»Eben – damit seine eifersüchtige Alte keine schlaflosen
Nächte mehr hat.«
»Und wo wirst du mich hinstecken, Lars?«
»Dich?« gegenfragte er erstaunt. »Du wirst doch in Kürze
meine Frau und gehörst ins Haus.«
»Aber Lars, was sollte ich hier wohl anfangen. Mutti
versorgt doch alles tadellos, so daß ich übrig bin.«
»Als meine Frau – «, bemerkte er trocken. »Bescheidenheit
ist eine Zier.«
»Lars?«
»Hm?«
»Könnte ich nicht weiter Sekretärin bleiben?«
»Bei dem Prokuristen etwa?«
»Wäre das denn so schlimm?«
»Karen, du scheinst keine Ahnung zu haben, welch eine
Persönlichkeit du als meine Frau sein wirst. Das klingt zwar
überheblich, ist aber nun mal so. Stell dir mal vor, was für
Hemmungen Gröhne dir gegenüber haben würde.«
»Das ist doch Unsinn!«
»Meinst du, aber die im Werk sind anderer Ansicht.«
»Sei doch nicht so kurz angebunden«, wurde sie nun
ärgerlich. »Zum Luxusweibchen habe ich kein Talent.«
»Und du sei nicht so ungezogen«, schaltete sich jetzt die
Mutter ein. »Hast du eine Ahnung, wie viele Mädchen ihren
Beruf aufgeben würden, um nur Hausfrau zu sein? Dazu
noch unter so glänzenden Verhältnissen. Schäm dich mal!«
»Ja, Muttilein, ja – «, senkte sich das heißerrötete Gesicht.
»Aber ich arbeite im Werk doch so gern. Könnte ich nicht
deine Sekretärin werden, Lars?«
»Das nicht – aber meine Mitarbeiterin.«
»Dafür bin ich viel zu dumm.«
»Da muß ich zum zweitenmal den Ausspruch von der
Bescheidenheit anwenden. Du mit deinem gescheiten
Köpfchen, der raschen Auffassungsgabe, mit der du selbst
der anspruchsvollen Frau Urbig imponiert hast.«
»Ach ja, die dicke Möwe Emma«, lachte Karen und erzählte
dann das spaßige Erlebnis mit ihr. Brachte alles so drollig
vor, daß die andern beiden nicht aus dem Lachen
herauskamen.
»Seht doch mal einer den Geimer an – «, dehnte Lars. »So
viel Schneid hätte ich ihm bestimmt nicht zugetraut.
Ausgerechnet unsere gute Emma hat er aufs Korn
genommen. Ich kann mir denken, wie sie darauf reagiert
hat mit ihrem trockenen Humor.«
»Es war köstlich«, lachte Karen. »Als sie gar noch von ihrem
verstorbenen Mann erzählte und hinterher von ihrer
Zwillingsschwester Hedwig, die verliebt in dich wäre und
sogar Gedichte verfaßt, da wäre es fast um mein Zwerchfell
geschehen. Da siehst du, was für ein vielgeliebter Mann du
bist. Selbst die phlegmatischen Zwillinge hast du mit
deiner Unwiderstehlichkeit betört. Von der andern
Weiblichkeit ganz zu schweigen.«
»Bist du nun endlich fertig?«
»Ja. Wie ist es nun, darf ich hoffen?«
»Worauf?«
»Auf meine neue Anstellung?«
»Schön, es sei. Aber nur halbtags.«
»Danke, besser als gar nichts. Ich bin immer bereit, mich
den Wünschen meines Herrn zu fügen.«
»Das walte Gott.«
Das gab im Werk eine Sensation, als der Chef der
Belegschaft seine in vier Tagen stattfindende Hochzeit mit
Fräulein Velde verkündete. Die Neunmalklugen
behaupteten, das ganz genau gewußt zu haben, andere
hatten es geahnt und noch anderen kam es überraschend.
Aber keiner von allen war darunter, der an der Heirat des
Chefs etwas zu beanstanden hatte, eine bessere Wahl hätte
er ja gar nicht treffen können. Nun: Vox populi vox Dei –
Volkes Stimme, Gottes Stimme.
»Nun, wie war’s?« fragte Karen, die seit dem Tage nicht
mehr Dienst machte, den Verlobten. »Wie wurde deine
Verkündung aufgenommen? Hat man dich nicht
gesteinigt?«
»Hast du eine Ahnung! Hochleben ließ man mich.«
»Was sagte Gröhne?«
»Der war natürlich traurig, seine prima primissima
Sekretärin hergeben zu müssen. Als ich ihm sagte, wer
deine Nachfolgerin sein würde, meinte er gottergeben: Sie
ist nicht schön, aber selten. Unser liebes Dickchen Emma
hätte mich vor Freude fast umarmt: Herr Doktor, Sie sind
ein Mann – erzählte sie mir damit nichts Neues, aber es
kommt immer auf die Betonung an.
Doch nun was anderes, das in unsere fröhliche Stimmung
zwar nicht hineinpaßt, aber nicht verschwiegen werden
darf.«
Damit zog er eine mehrmals gefaltete Zeitung aus der
Tasche, reichte sie Karen und zeigte auf die rotumrandete
Stelle.
»Lies das bitte.«
»O Gott«, sagte das Mädchen erschrocken, nachdem es die
kurze Notiz gelesen hatte und an die Mutter weitergab, die
nun auch davon Kenntnis nahm, daß eine Frau Vicky
Berbst in Spanien von einem Südländer niedergestochen
wurde. Der Unbekannte wäre wie vom Erdboden
verschwunden, die junge Deutsche hinterläßt einen
trauernden Gatten.
»Wie schrecklich«, sagte Frau Malve leise. »Was mag wohl
das Motiv zu dieser Tat gewesen sein?«
»Wahrscheinlich Eifersucht«, entgegnete Lars
achselzuckend. »Das kommt davon, wenn man es nicht
lassen kann, ständig mit dem Feuer zu spielen.«
Danach herrschte Schweigen, bis Karen ihren spontan
gefaßten Entschluß lautwerden ließ.
»Sag mal, Lars – nun deine geschiedene Frau nicht mehr
unter den Lebenden weilt, hast du doch keinen Grund
mehr, wieder zu heiraten.«
»Wie bitte?« fragte er, als hätte er nicht recht gehört. »Willst
du das Gesagte wiederholen?«
»Warum nicht?« schnellte der Kopf in den Nacken. »Ich
meine, daß deine Heirat sich jetzt erübrigt. Wenigstens mit
mir, die ich dir ja doch nur Mittel zum Zweck war – «
»Karen -!« rief die Mutter erschrocken dazwischen, doch
schon legte der Schwiegersohn beruhigend seine Hand auf
die ihre. Unter halbgeschlossenen Lidern hervor musterte
er seine Braut mit einem Blick, der seinem Gesicht etwas
Sarkastisches gab.
»Ach, sieh mal an, daher weht der Wind. Mein liebes Kind,
ich mach mich nicht gern lächerlich. Schon gar nicht vor
meinen Angestellten, denen ich vor einer Stunde
verkündete, daß ich in vier Tagen heiraten werde, und sie
beauftragte, im Werk ein Fest zu veranstalten, das ihr Fest
sein soll. Da hat man mir jubelnd gedankt, mich
hochleben lassen und anderes mehr. Nun soll ich sie
womöglich wieder zusammentrommeln, mich vor sie
hinstellen und mit den Händen in den Hosentaschen
nachlässig erklären: Ach, wißt ihr, Kinder, ich habe mir die
Sache anders überlegt. Denn die Gründe, die mich quasi zu
einer Heirat zwangen, sind beseitigt. Also sehe ich nicht
ein, warum ich jetzt noch heiraten sollte.«
»Hör bloß auf, du bist abscheulich!«
»So – und wie soll ich dich dann wohl bezeichnen? Meine
liebe Karen, aus welchen Gründen ich dich auch bat, meine
Frau zu werden, steht jetzt nicht zur Debatte. Entscheidend
ist das Ja, das du mir gabst«, wurde seine Stimme nun
schneidend scharf. »Und das bleibt, da hilft dir kein Gott.«
Er stand auf, ging hinaus, und Karen sah ihm trotzig nach.
»Sei bloß still, Mutti«, klang nun auch der Trotz in ihrer
Stimme. »Ich weiß auch so, was du mir sagen willst, weil
du auf Lars’ Seite stehst und ihm somit recht geben wirst.«
»Das er auch hat«, fiel die Mutter so böse ein, wie die
Tochter sie kaum jemals gesehen hatte. »Was bildest du dir
eigentlich ein, du dummes Ding! Nimmst du etwa an, daß
du ein so schwerwiegendes Ja einfach widerrufen kannst?
Was für Gründe es auch sein mögen, aus denen Lars um
dich gefreit, du hast seine Werbung angenommen – «
»Mutti, sei doch nicht so böse. Ich habe doch weiter nichts
getan, als Lars darauf aufmerksam gemacht, daß für ihn
durch den Tod seiner geschiedenen Frau die Notwendigkeit
wegfällt, wieder zu heiraten. Ich habe dir von der
Notwendigkeit doch erzählt, habe sie auch eingesehen. Um
ihm zu helfen, nahm ich den Vorschlag an, seine Frau zu
werden. Um ihm einen Gefallen zu tun, wollte ich nun
diese unsinnige Angelegenheit – warum siehst du mich
denn so merkwürdig an?«
»Weil deine Einstellung merkwürdig ist, meine liebe Karen.
Du hast ja erfahren, wie er auf deine ›Gefälligkeit‹ reagierte,
laß dir das zur Warnung dienen. Vergiß nie, daß du mit
Lars nicht so umspringen kannst, wie du es mit Artur
Grommert tatest. Der ist ein laxer Junge – der andere
jedoch ein Mann mit Ehrbegriffen. Geh jetzt zu ihm und
entschuldige dich für deine Unbedachtsamkeit, die, wie ich
hoffe, nichts weiter als eine war.«
»Mutti, weißt du überhaupt, was du da von mir verlangst?«
»Was ich von dir verlangen muß. Wenn du den Mut hast,
zu beleidigen, dann mußt du auch den Mut haben, die
Konsequenzen dafür zutragen.«
Karen Velde hatte zwar davon gehört und auch gelesen,
daß der Mensch bei einem schweren Gang das Gefühl hat,
als schleppe er Blei an den Füßen, aber mitgemacht hatte
sie es noch nicht. Aber so ist es ja bei allem im Leben, was
dem Menschen nicht selbst widerfahren ist, das kann er
auch nicht mitfühlen. Er kann auch so leicht weh tun, aber
um Verzeihung bitten fällt doch gar so schwer. Wie sagt
Freiligrath so treffend: O Gott, es war nicht bös gemeint,
der andere aber geht und klagt.
Nun, klagen tat ein Mann wie Lars Ansholm natürlich
nicht, der würgte alles still herunter. Er gehörte aber auch
nicht zu den Menschen, die mildverzeihend die Hand
streicheln, die soeben nach ihnen schlug.
Also sah er dem Mädchen gar nicht freundlich entgegen,
das nun vor seinem Schreibtisch stand, den Blick gesenkt,
den Mund wie zum Weinen verzogen. Er wußte wohl,
warum sie hergekommen war. Wußte auch, daß es nicht
aus eigenem Antrieb geschah, sondern auf Befehl der
Mutter, dieser prachtvollen Frau, die nicht zu den
vernarrten Müttern gehörte, die alles an dem einzigen
Abgott gutheißen und selbst für die ärgsten Sünden noch
eine Entschuldigung finden.
»Lars?«
»Bitte?«
»Lars – ich war unbedacht.«
»Schon viel wert, wenn du das überhaupt einsiehst.«
»Ich sehe es ein – verzeih mir.«
»Und wenn ich das nicht tu?«
»Dann – ach, Lars – Mutti schickt mich – «
»Nun, du hast wenigstens den Mut zur Wahrheit. Hättest ja
auch sagen können, daß du aus eigenem Antrieb
hergekommen bist.
Na egal. Ein Zurück gibt es jetzt für uns nicht mehr, den
Eklat kann ich mir in meiner Stellung nicht leisten. Meine
ganze Bitte an dich ist, daß du dich zum Hochzeitstag zu
den beiden Trauungen bereit hältst. Eine andere Bitte habe
ich nicht – jetzt nicht mehr.«
»Ich werde bereit sein, Lars.«
»Danke, Karen.«
Damit war sie entlassen und ging ins Wohnzimmer zurück,
wo die Mutter in einem Modeheft blätterte. Prüfend sah sie
in das vertrotzte Mädchengesicht.
»Alles in Ordnung?«
»Ja.«
»Dann sei froh. Schau mal dieses hübsche Kostüm an, wäre
das nicht etwas für dich?«
»Aber Mutti, du hast mir doch schon so viele Sachen
angeschafft, daß ich auf Jahre hindurch versorgt bin.«
»Für die Aussteuer gehört sich das auch so, mein Kind, da
darf man nicht knausern.«
»Woher hast du überhaupt das viele Geld?«
»Immer jeden Monat etwas klammheimlich zurückgelegt
für die Aussteuer meiner Einzigen. Dazu habe ich, seitdem
ich hier bin, kaum etwas von meiner Pension gebraucht,
weil hier der Lebensunterhalt für uns beide fortfällt. Lars
wollte mir sogar noch eine Vergütung zukommen lassen,
was ich entschieden ablehnte. Ich bat ihn auch, dich nur
nach Tarif zu besolden, und taktvoll wie er ist, hat er sich
nach meinem Wunsch gerichtet.«
»Trotzdem kann ich mit meinem Gehalt zufrieden sein;
denn die Ansholmwerke zahlen gut.«
»Habe ich gemerkt an deinem Sparguthaben.«
»Davon kann ich doch nun zu meiner Aussteuer – «
»Nichts da, mein Kind, behalte es als Notgroschen. Was ich
habe, langt gut hin, auch noch zu diesem reizenden
Kostüm.«
»Wo willst du das so kurz vor der Hochzeit
herbekommen?«
»Bitte sehr – «, zeigte sie auf die Firma des ersten
Modesalons der Stadt. »Ein Anruf und du kriegst es morgen
ins Haus gebracht.«
Genauso geschah es. Als man nämlich nach dem
Abendessen beisammensaß, sagte der Hausherr
unvermittelt: »Was für einen Wunsch hast du betreffs der
Hochzeitsreise, Karen?«
Fast hätte sie den Apfel, in den sie gerade beißen wollte,
fallen lassen, so überraschend kam ihr die Frage. Von einer
Hochzeitsreise war nämlich noch nicht die Rede gewesen.
Sie wollte schon eine abweisende Antwort geben, als sie
einen warnenden Blick der Mutter auffing.
»Diese Frage überrascht mich, Lars«, entgegnete sie
verlegen, den Apfel dabei in den Händen drehend. »Eine
Hochzeitsreise war doch gar nicht vorgesehen.«
»Das wohl nicht. Doch ich habe mir überlegt, daß ich
dabei das Angenehme mit dem Nützlichen verbinden
könnte, nämlich ausländische Kunden zu besuchen.«
»Ach, so ist das«, bemühte sie sich, sachlich zu bleiben.
»Bitte sehr, entführe mich, wohin du willst. Ich kenne ja
noch so gut wie gar nichts von der Welt, werde mich daher
an all dem Niegeschauten erfreuen.«
»Ausgezeichnet. So gilt es?«
»Es gilt.«
So kam es denn, daß Karen gegen die Anschaffung des
Kostüms nichts mehr einzuwenden hatte, weil sie es auf
der Reise gut gebrauchen konnte. Sie muckte auch nicht
auf, als die Mutter noch zwei Nachmittagskleider aus dem
Salon erwarb. Da man dort Karens Maße hatte, paßte alles
wunderbar. Jedenfalls war die ganze Garderobe so, wie sie
einer Frau Ansholm zukam, darauf hatte Frau Malve streng
geachtet. Zwar besaß sie jetzt kein Guthaben mehr, aber
dafür die Genugtuung, ihrer Tochter eine kleine aber
elegante Ausstattung mitgeben zu können.
Als der Bräutigam die Braut zur standesamtlichen Trennung
abholte, schaute er überrascht auf das bezaubernde
Menschenkind. Daß Karen schön war, wußte er natürlich
längst, aber diese Schönheit kam jetzt erst so richtig zur
Geltung, nun sie den passenden Rahmen hatte.
Als Trauzeugen fungierten Frau Urbig und Herr Gröhne.
Der Fabrikherr hatte sie mit der Begründung gewählt, weil
sie am längsten im Werk tätig waren und brach damit von
vornherein dem Neid die Spitze ab. Die Bevorzugten waren
natürlich mächtig stolz und strahlten nur so vor Eleganz.
Sie nahmen an dem Gabelfrühstück teil, das nach dem
Zeremoniell gereicht wurde und das ziemlich schweigsam
verlief. So waren sie ganz froh, als sie sich verabschieden
konnten.
Besorgt sah die Mutter auf ihr Kind, dem sie beim
Ankleiden zur kirchlichen Trauung behilflich war. »Ist dir
nicht gut, Karen? Du bist so blaß und still.«
»Kein Wunder«, kam es brummend zurück. »Ich
unterschreibe in einem feierlichen Raum ein Stück Papier,
und wenn ich hinausgehe, heiße ich plötzlich ganz anders.
Da muß es einem doch unheimlich werden.«
»Ach, du Kindskopf!« lachte die Mutter herzlich. »So ergeht
es doch allen weiblichen Wesen, die heiraten. Mädchen,
was machst du da! Du ziehst dir doch das Kleid verkehrt
an.«
»Frau – wenn ich bitten darf«, warf sie sich in Positur.
»Wenn schon, denn schon.«
Wenn der Industrielle Ansholm gewünscht hatte, seine
Hochzeit so unauffällig wie möglich zu gestalten, so sorgte
schon die Belegschaft des Werkes dafür, daß sie zum
mindesten um die Kirche herum Aufsehen erregte. Denn
den Weg von der Straße bis zum Gotteshaus bildeten sie
für »ihr Brautpaar« Spalier. Weißgekleidete kleine Mädchen
mit allerliebsten Kränzen im Haar gingen blumenstreuend
voran. Und kaum hatte das Paar die Kirche betreten,
drängten die Draußenstehenden nach, um die Plätze
einzunehmen, die von den Kollegen für sie freigehalten
wurden.
So war denn die Kirche brechend voll, zumal noch
neugierige Straßenpassanten hinzukamen, um sich die
Trauung des stadtbekannten Ansholm nicht entgehen zu
lassen. Sah der blendend aus in dem eleganten Frack, so
richtig vornehm.
Und die Braut erst, das war ja Dornröschen in Person. So
ein wunderbares Brautpaar bekam man wirklich nicht oft
zu sehen.
Dann die Trauung, wie war die bloß feierlich, da mußte
man ein Tränchen zerdrücken, ob man wollte oder nicht.
Die Orgelmusik, die hellen Kinderstimmen, die vom Chor
erklangen, ja, das war wieder einmal eine Hochzeit, wie sie
sein soll.
Als das Brautpaar aus der Kirche trat, wurde es geknipst von
allen Ecken und Enden und war froh, als es wieder in der
Kutsche saß. Karen war von dem allen so benommen, daß
sie erst zu sich kam, als sie die Stille des Hauses umfing.
Allein die Überraschungen sollten noch nicht zu Ende sein.
Draußen klang Musik auf, und als Ansholm an das Fenster
trat, bemerkte er die Werkskapelle mit zwei Abgeordneten,
die ihm nun zujubelten. Er winkte und wandte sich
lachend ins Zimmer zurück.
»Sie kommen uns abholen. Zieht die Mäntel an, draußen
ist es kühl.«
»Soll ich etwa auch mit?«
»Natürlich, Mutti, du gehörst doch zu uns.«
Voran die Musikkapelle, dann das Brautpaar, hinterdrein
Frau Malve von einem schneidigen Herrn galant geführt, so
hielt man Einzug in dem festlich geschmückten Saal, von
den vielen Menschen jubelnd empfangen. Man mußte viele
Hände drücken, viel Bewunderung entgegennehmen und
mit vielen anstoßen – bis man denn endlich ins Haus
zurückkehren konnte, wo man noch der Ovation der
Dienerschaft ausgesetzt war. Dann hatte man es endgültig
geschafft.
»Nun entführe mich, wohin du willst, mein Herr Gemahl.
Wo du hingehst, da will ich auch hingehen.«
»So ganz demütig’ Weib, das hab’ ich gern«, klang in seiner
Stimme ein ironischer Ton mit. »Wollen wir denn dem
Glück in die Arme sinken.«
Ein halbe Stunde später kam der Abschied, zuerst von
Hilke, dann von der Mutter, die leise sagte: »Zieht mit Gott,
Kinder. Genießt unbekümmert eure Flitterwochen, ich paß
schon auf, daß hier alles in Ordnung geht. Kehrt gesund
und froh wieder.«
Dankesworte an die gütige Frau, herzliche Umarmung.
Dann saß das junge Paar in dem nagelneuen, respektablen
Auto, das von dem Chauffeur in schmucker Livree gesteuert
wurde. Karen kuschelte sich in das weiche Polster, hielt die
Augen geschlossen und dachte darüber nach, wie einfach es
doch eigentlich ist, das Leben eines Menschen zu ändern.
Heute früh war sie noch ein junges Mädchen wie tausend
andere, jetzt war sie die Frau des Industriellen Ansholm,
der ein großes Werk sein eigen nannte. Unter dessen Befehl
so viele Menschen standen – und sie auch, weil das
Befehlen nun einmal in seiner Herrennatur lag.
Sie schrak zusammen, als ihre linke Hand ergriffen und ein
Ring auf den Finger geschoben wurde.
»Mein Hochzeitsgeschenk«, raunte eine Stimme dicht an
ihrem Ohr, da man wegen des Chauffeurs nicht laut
sprechen konnte, wenigstens nichts Intimes. »Wirst du ihn
immer tragen?«
»Ja – «, kam es flüsternd zurück. »Obwohl er für den
täglichen Gebrauch zu kostbar ist.«
»Wie willst du das wissen? Du kannst den Ring doch nicht
im Dunklen sehen.«
»Aber fühlen. Ich danke dir, Lars.«
»Danke mir nicht, Karen. Wer zu danken hat, bin ich.«
Dann war es wieder still zwischen ihnen. Leise brummte
der Motor, nahm mühelos Strecke um Strecke. Dörfer
huschten vorüber, kleinere Städte, man saß im Polster so
weich und bequem. Wie schön hätte alles sein können –
wenn -
Und dieses Wenn stand zwischen den beiden Menschen,
die doch so dicht nebeneinandersaßen, wie eine Mauer,
hinter der man den Weg nicht sehen konnte, der in die
Zukunft führte. War er mit Dornen und Disteln umsäumt
oder mit süßduftenden Rosen –?
Ach was – dachte die junge Frau aus diesem Gedankengang
heraus, sich innerlich einen Ruck gebend. Was hilft da alles
Grübeln und Zagen. Was mir bestimmt ist, dem entgehe
ich ja doch nicht. Wie sagt Flemming: Was willst du viel
sorgen auf morgen? Der Eine steht allen für – er gibt auch
dir das Deine.
»Also – «, dachte sie jetzt laut. »Irgendwie wird’s schon
werden.«
»Was denn?« fragte der Mann an ihrer Seite verwundert.
Doch die Antwort, die er darauf bekam, machte ihn nicht
klüger:
»Werde, was du noch nicht bist, bleibe, was du jetzt schon
bist. In diesem Bleiben und Werden liegt alles Schöne auf
Erden – sagt Grillparzer.«
Da mußte er denn doch lachen.
»Was bist du doch bloß für ein reizender Tollkopf. Ich
glaube, in deiner Gesellschaft kann es einem nie langweilig
werden.«
»Wir wollen’s wünschen und Gott geb’s. Darf ich fragen,
wohin die Reise eigentlich geht?«
»Wohin soll sie denn gehen, hm?«
»Da muß ich mal in meinem Poetenschatzkästchen
nachkramen. Also: Kennst du das Land, wo die Zitronen
blühn – fern im Süd das schöne Spanien – das Land der
unbegrenzten Möglichkeiten – das Land der tausend
Wunder – mein Herz ist wie ein Wikingschiff und segelt
nordenwärts – kurz und gut, die ganze Erde möchte ich
umkreisen. Mit der Eisenbahn, im Auto, per Flugzeug, zu
Schiff. Ich möchte auf Eseln reiten, auf Elefanten, auf
feurigen Pferden – du, Lars, was ist übrigens aus deinem
›Goldchen‹ geworden?«
»Bißchen sprunghaft das alles, meine Verehrteste, aber
immerhin aufschlußreich. ›Goldchen‹ ist vor ungefähr
einem Jahr an Altersschwäche eingegangen.«
»O wie schade! Tat es dir leid?«
»So leid, daß ich mich immer noch nicht entschließen
kann, ihm einen Nachfolger zu geben.«
»Sei man still, den bekommst du von mir. Ich spare fortan
jeden nur entbehrlichen Pfennig zusammen.«
»Oho! Wie hoch muß dann wohl dein Nadelgeld
bemessen sein.«
»Nadelgeld?« dehnte sie. »Ach so, ja. Du, darauf verzichte
ich großmütig. Mir langt das Gehalt für meine Arbeit in
den Ansholmwerken«, schlug sie sich stolz an die Brust,
und er lachte.
»Dann werde ich wohl auf den versprochenen Ersatz
warten müssen, bis ich alt und grau bin. Nun nehmen Sie
mal Haltung an, Frau Karen Ansholm. Wir fahren gleich
vor das Portal des Hotels, das uns diese Nacht beherbergen
wird.«
»Warum denn das?«
»Komische Frage. Bist du denn gar nicht müde von der
Anstrengung des Tages?«
»Ein bißchen schon.«
»Also. Nur nichts übereile, immer eile mit Weile. Du
kommst schon noch in die Länder deiner Wünsche. Ich bin
neugierig, wann du genug davon haben wirst.«
»Darauf kannst du lange warten.«
»Na schön – das Warten soll mich nicht verdrießen.«
Wohl war Karen Velde als Kind und auch als junges
Mädchen mit ihren Eltern jedes Jahr verreist. Immer dann,
wenn der Vater seinen Urlaub und sie ihre Schulferien
hatte. Man war auch nicht so schlecht gestellt, um auf der
Reise mit jeder Mark geizen zu müssen. Konnte sich
wiederum aber auch nicht die teuersten Hotels leisten, wie
zum Beispiel dieses, das sie an der Seite des Gatten betrat.
Der Name Ansholm schien hier einen guten Klang zu
haben, wie die Beflissenheit bewies, mit der man dessen
Träger allgemein entgegenkam. Um die Schlüssel der
vorbestellten Zimmer bemühte sich sogar der
Empfangschef persönlich, wünschte mit vielen Bücklingen
viel Glück dem jungen Paar. Begleitete es bis zum Lift, der
es zur ersten Etage brachte, wo die Zimmer lagen.
Du meine Güte – dachte Karen beklommen, als sie neben
Lars über die dicken Teppichläufer des Korridors schritt.
Nehmen die »Ehrenzeigungen« heute denn gar kein Ende?
»So, kleine Frau, hier ist dein Zimmer«, schloß der Gatte
die Tür auf und öffnete sie einladend. »Tritt ein und mach
dich zum Abendessen schön.«
»Weißt du, Lars, ich habe eigentlich gar keinen Hunger.«
»Trotzdem wirst du etwas genießen. Wenn du fertig bist,
klopf an die Verbindungstür. Ich erwarte dich dann hier
draußen, um dich zu führen.«
Damit ließ er sie allein, und ihr erster Blick fiel auf den
Rosenstrauß, der auf dem Tisch prangte. Lars stand auf dem
Kärtchen, das in den Blumen steckte, nichts weiter als Lars.
Sie drückte das heiße Gesicht in die rotglühende Pracht,
fuhr wie bei einem Unrecht ertappt herum, als es klopfte
und ein Hotelangestellter erschien, der den Koffer brachte.
Nachdem er ihn abgestellt hatte, verschwand er diskret.
Karen sah sich in dem Zimmer um – alles sehr schön und
bestimmt sehr teuer. Sie kramte in ihrer Handtasche nach
dem Schlüssel, schloß den Koffer auf, suchte daraus hervor,
was sie für passend erachtete. Viel lieber wäre sie ja zu Bett
gegangen, doch sie hatte jetzt einen Willen über sich, dem
sie sich nicht widersetzen durfte. Komisch war das, aber sie
würde sich schon daran gewöhnen.
Als sie nach dem Kleid griff, das so seidenglänzend lockte,
fiel ihr Blick auf das Kleinod an ihrer Hand.
Richtig, der Ring, den hatte sie total vergessen. Neugierig
nahm sie ihn in Augenschein. Ein herrlicher Smaragd, von
kleinen Brillanten umsäumt. Durchaus nicht protzig
wirkend, aber er hatte es in sich.
Zwar besaß Karen einen Ring, der an diesem gemessen
mehr als bescheiden war. Nun, dem Fräulein Velde hatte er
genügt, der Frau Ansholm jedoch durfte er nicht genügen.
An der mußte alles kostbar sein, um den kostbaren Namen
zu repräsentieren: Naja: Glücklich ist, wer vergißt, was
nicht mehr zu ändern ist.
Nach diesem Seufzer begann sie mit der Toilette. Wenn es
nach ihr gegangen, wäre sie in dem Kostüm geblieben, „das
in seiner Eleganz durchaus zu Karen Ansholm paßte. Die
durfte aber tagsüber nicht in demselben Kleid
herumlaufen, wie Karen Velde es tat. Für diese feine Dame
war sogar schon ein Mädchen eingestellt, das diese
bedienen mußte. Nun, der Herr wünschte es, die Sklavin
fügte sich – jawohl!
»Lars, ich bin fertig«, klopfte sie an die Verbindungstür,
wartete seine Antwort ab und traf mit ihm auf dem
Korridor zusammen. Gespannt wartete sie darauf, daß er
ihr etwas Nettes über ihr Aussehen sagen würde, doch er
sah sie nur flüchtig an und nickte.
»Ganz die Tochter ihrer charmanten Mutter.«
»Doch wenigstens etwas«, brummte sie, und er sah sie
erstaunt an.
»Nanu, hast du etwa eine Schmeichelei von mir erwartet?
Dann muß ich dich leider enttäuschen, mein Kind. Ich
schmeichele nämlich einer Frau prinzipiell nicht, das
verdirbt den Charakter. Nun komm, ich habe Hunger.«
»Was habe ich doch bloß für einen galanten Ehemann«,
spottete sie, und er lachte.
»In der Ehe hört die Galanterie auf. Die hat ein Ehemann
dann nicht mehr nötig.«
»Soso. Und was bedeutet der Rosenstrauß in meinem
Zimmer?«
»Die Macht der Gewohnheit.«
»Behalte die nette Gewohnheit nur bei. Dafür will ich dir
himmlische Rosen ins irdische Leben flechten.«
»Na warte, dein spitzes Zünglein stutze ich dir schon
noch.«
Indes hatten sie den Speisesaal erreicht, wo der Kellner sie
zu einem kleinen Tisch führte, auf dem ein Rosenstrauß
stand.
»Ist aber nicht von mir«, beeilte er sich zu versichern, wobei
es in seinen Augen lachend aufblitzte. »Soweit erstreckt sich
meine Gewohnheit denn doch nicht. Das da ist eine der
Hoteldirektion für Neuvermählte.«
Damit fand das Geplänkel ein Ende, weil der Ober die
Speisen servierte, die aus erlesenen Delikatessen bestanden.
Trotzdem aß Karen sehr wenig. Trank auch nur ein Glas
von dem alten schweren Wein, nach dem sie so müde
wurde, daß sie nur mit Mühe ein Gähnen unterdrücken
konnte.
»Lars, bitte – morgen ist auch ein Tag.«
»Hast recht, gehen wir also.«
So müde war Karen, daß sie gar nicht merkte, wie man ihr
nachsah, als sie an der Seite des hochgewachsenen Mannes
durch den Saal schritt. Aber Lars bemerkte die
bewundernden Blicke aus Männeraugen und quittierte die
der Weiblichkeit für seine Person mit einem ironischen
Lächeln. Vor der Tür zu Karens Zimmer zog er ihre Hand
an die Lippen.
»Armes kleines Mädchen, du kannst dich vor Müdigkeit ja
kaum noch auf den Beinen halten. Gute Nacht, schlaf
wohl, so lange du magst.«
»Was ich prompt besorgen werde. Gute Nacht.«
Die Tür fiel hinter ihr zu, gegen die sie sich aufatmend
lehnte. Dann warf sie rasch die Kleider ab, schlüpfte ins
Bett und schlief sofort ein.
Und nun begann für Karen Ansholm ein Leben voller
Freude. Alles, was sich ihr bot, nahm sie mit Begeisterung
auf. Plätscherte in den Fluten der Vergnügungen wie ein
Fischlein im Wasser. Freute sich über alles, auch über die
Bewunderung der Männer. Ließ sich von ihnen
umschwärmen, aber immer nur so weit, daß ihre
Frauenehre dabei hochgehalten wurde.
Da der Gatte das wußte, ließ er sie gewähren. Mochte sie
sich in der sogenannten großen Welt ruhig tummeln nach
Herzenslust, eines Tages würde sie schon davon genug
kriegen.
Allein bis es soweit war, nahm sie alles begeistert auf. Die
Fahrten im Expreß, die per Flugzeug, das Leben in den
Hotels, die Feste, die Ausflüge, selbst die geschäftlichen
Besuche des Gatten, zu denen er sie stets mitnahm. An
allem hatte sie ihre Freude, lebte so richtig unbekümmert
in den Tag hinein.
Bis sie dann doch einmal aus dieser Sorglosigkeit gerissen
wurde. Und zwar, als sie da unten im Süden in eine
Gesellschaft geriet, in der die Umgangsformen sehr zu
wünschen übrigließen. Nur mit knapper Not entkam sie
dem Tänzer, der sie ganz ungeniert zu küssen versuchte.
Und auch nur dadurch entkam sie ihm, weil Lars plötzlich
dastand und sie von dem Unverschämten fortzog. Zuerst
wollte der sich mausig machen, als er jedoch die drohende
Haltung des andern sah, zog er es lieber vor, sich
schleunigst zu verdrücken. Karen hinfegen wurde von einer
nervigen Männerhand aus dem Kreis der Tanzenden
gezogen, bevor diese noch so recht begriffen hatte, was
überhaupt geschehen war.
»Komm -!« herrschte Lars sie an, als sie sich umsehen
wollte. »Ich habe keine Lust, mich mit so minderwertigen
Subjekten einzulassen und am Ende gar ein Messer
zwischen die Rippen zu kriegen.«
Schweigend legten sie den Weg zum Hotel zurück. Doch
nicht wie sonst verabschiedete Lars die Gattin vor ihrem
Zimmer, sondern trat hinter ihr ein und schloß
nachdrücklich die Tür. Scheu sah sie zu ihm auf.
»Ich danke dir, Lars«, sagte sie leise. »Was wäre wohl
geschehen, wenn du mich nicht von dem dreisten Burschen
befreit hättest.«
»Dann hätte er dich unter dem Gejohle der Zuschauer
geküßt«, bemerkte er trocken. »Denn so mit allen Wassern
der großen Welt gewaschen bist du noch lange nicht, um
dich mit Raffinesse allein aus einer solchen Affäre zu
ziehen. Da mußt du noch sehr viel lernen, meine liebe
Karen.«
»Das hat aber bisher noch niemand gewagt.«
»Weil du dich bisher unter anständigen Menschen bewegt
hast. Aber du wolltest doch außerhalb dieser Kreise Land
und Leute kennenlernen, und da ich beflissen bin, dir
jeden Wunsch zu erfüllen so auch diesen.«
»Lars, sei doch nicht so ironisch. Ich verlange ja gar nicht,
daß du mir jeden Wunsch erfüllst, du hast es doch aus dir
selbst heraus getan.«
»So bin ich wenigstens zu etwas gut. Ich komme mir schon
wie ein Bernhardiner vor, der ein verzogenes, kokettes
Schoßhündchen bewachen muß.«
»Lars, du bist abscheulich!« funkelte sie ihn empört an.
»Warum hast du mir denn nie gesagt, was dir an mir
mißfällt. Was soll ich da weiterreden, du nimmst mich ja
doch nicht ernst. Immer dieses onkelhaft nachsichtige
Lächeln, wie bei einem unmündigen Kind. Ich bin doch
schließlich deine Frau.«
»Ach, sieh mal an – «, besah er sie sich so unter
halbgeschlossenen Lidern hervor. »Besinnst du dich auch
einmal darauf?«
»Lars, deine Art ist manchmal wirklich schwer zu ertragen«,
war sie nun dem Weinen nahe. »Ich werde einfach nicht
klug aus dir. Laß uns nach Hause fahren.«
»Nanu, so bald schon? Wer wollte denn die ganze Erde
umkreisen, hm? Vorläufig sind wir über den Süden noch
gar nicht hinausgekommen. Das Land der unbegrenzten
Möglichkeiten steht noch aus, das Land der tausend
Wunder, und dein Herz war auch noch kein Wikingschiff.
Willst du da nicht wenigstens die Segel setzen?«
»Das allein kann mich noch reizen.«
»Also leite ich dazu alles in die Wege.«
So nahm man denn Kurs auf den Norden. Allerdings nicht
im Wikingschiff, sondern auf einem Luxusdampfer. Da war
es sehr komfortabel, sehr bequem, sehr teuer. Daher
konnten sich so eine Reise nur Menschen leisten, die auf
der Sonnenseite des Lebens standen, wenigstens soweit es
ihr Portemonnaie betraf.
Da Karen auf dem Schiff ja nicht heute hier, morgen da
sein konnte wie auf dem Land, nicht heute diesen, morgen
jenen Menschen kennenlernte, sondern immer mit
denselben zusammenkam, auf bestimmten Raum
beschränkt, konnte ihr das nicht mehr entgehen, was ihr
im Trubel der vergangenen Wochen entgangen war – wie
der Gatte von der Weiblichkeit umschwärmt wurde. Wo
seine hohe Gestalt auch auftauchen mochte, sie zog die
holde Weiblichkeit an wie die Motten das Licht. Sein
lachender Blick, seine sonore Stimme, sein ironisches
Lächeln, überhaupt seine ganze weltmännische Art, gepaart
mit galanter Ritterlichkeit, verlieh ihm ein Fluidum, dem
sich selbst ältere Damen nicht entziehen konnten.
So kann er also sein – dachte Karen erbittert. Mich nimmt
er hin wie etwas, das man notgedrungen neben sich dulden
muß, doch bei den andern entwickelt er seinen ganzen
männlichen Charme. Aber ich bin ja auch nur seine Frau,
die er nicht aus Liebe freite.
Wohl hätte sie sich revanchieren können, an Bewunderern
fehlte es ihr wahrlich nicht; denn sie war den Männern das,
was Lars den Frauen war. Ab und zu versuchte sie es auch,
ihn eifersüchtig zu machen, doch als er darauf gar nicht
reagierte, verlor es für sie den Reiz.
Es kam nun ein stürmischer Tag, an dem Karen das
widerfuhr, was sie bisher nur vom Hören kannte. Ihr wurde
sterbenselend zumute. Es gelang ihr noch knapp, in ihre
Kabine zu kommen, als sie auch schon Neptun den Tribut
zahlen mußte. Wie ein kleines Kind nach der Mutter, so rief
sie angstvoll nach der Stewardeß, die dann auch erschien
und der Seekranken Hilfe leistete, so gut sie es vermochte.
»Mein Gott, ich muß ja sterben!« stöhnte die Geplagte in
einer Atempause, was der Betreuerin ein Lächeln entlockte.
»Da würde es aber auf dem Schiff viele Tote geben, gnädige
Frau. Denn mit wenigen Ausnahmen geht es allen
Passagieren genauso wie Ihnen.«
»Auch meinem Mann?«
»Nein, der Herr Gemahl gehört zu den wenigen
Ausnahmen. Soll ich ihn rufen?«
»Lassen Sie das ja bleiben! Er darf mich so auf keinen Fall
sehen.«
»Kann ich verstehen«, nickte das adrette Mädchen. »Nur
unverzagt, gnädige Frau. Wenn alles raus ist, wird es Ihnen
bestimmt besser werden. Und nun entschuldigen Sie mich,
bitte, ich habe noch andere zu betreuen.«
Weg war sie. Und gerade als Karen sich stöhnend in die
Kissen zurücksinken ließ, hörte sie vor ihrer Kabinentür ein
Lachen, wie es nur einem auf dem Schiff gegeben war, so
dunkel, so mitreißend froh. In das hinein klang ein
anderes, hell wie ein Glöcklein, und so lachte nur die
glutäugige Südamerikanerin, die den blonden Deutschen
auf Schritt und Tritt verfolgte. Empört fuhr Karen auf –
doch das hätte sie nicht tun sollen. Es ergoß sich wieder
das, was doch so gräßlich war.
Natürlich mußte sich in dem Moment die Tür öffnen und
eine Männerstimme nach ihrem Ergehen fragen. War es
vielleicht ein Wunder, daß die Geplagte mit aller Kraft, die
ihr noch zu Gebot stand, schrie, er solle schleunigst die Tür
von draußen zumachen? Bei Gott, ein Wunder war das
nicht.
Aber Wunder wirkten die Tabletten, welche die Stewardeß
der Kranken bald darauf eingab.
»Ganz ruhig liegen, gnädige Frau«, empfahl sie dringend.
»Damit sie nicht wieder hochkommen. Wenn sie im Magen
bleiben, helfen sie bestimmt.«
Nun, sie blieben und halfen. Ließen die Erschöpfte
hinüberduseln ins Land der Träume, wo es keinen Mann
gab, der sie ohne Liebe gefreit, keine ihn umschwärmenden
Frauen, hauptsächlich keine so glutäugigen und keine
Seekrankheit. So fest war der Schlaf, daß die
Schlummernde gar nicht merkte, wie sich ein blonder
Männerkopf durch die Tür steckte und wie sich dann der
Körper vorsichtig nachschob. Lächelnd schaute der Mann
auf seine Frau, die so rührend dalag wie ein müdegeweintes
Kind. Er wußte ja, daß diese Krankheit nicht zum Tode
führte und machte sich daher auch keine Sorgen. Als er im
Gang auf die Stewardeß stieß, steckte er ihr blitzschnell
einen beachtlichen Schein in die Tasche ihres weißen
Kittels.
»Geben Sie bitte gut auf meine Frau acht und sagen Sie ihr
nicht, daß ich nach ihr gesehen habe. Sie ist nämlich sehr
sensibel – nun, Sie verstehen mich schon.«
»Und wie, Herr Doktor!« lachte die dunkellockige Maid ihn
so strahlend an, daß er nur mit Mühe ein Lächeln
unterdrücken konnte. »Ich werde auf die Frau Gemahlin
achten wie auf mein liebstes Kind.«
Mehr konnte man nun wirklich nicht verlangen. Beruhigt
ging der Mann auf Deck, wo sich nur einige Passagiere
aufhielten. Darunter auch die glutäugige Schöne, die dem
Mann mit ihrer hartnäckigen Verfolgung langsam auf die
Nerven zu fallen begann. Derartige Typen waren ihm
wohlbekannt von seinen vielen Reisen her und machten
schon längst keinen Eindruck mehr auf ihn; gegen solche
Reize war er gefeit.
Genauso wie gegen die Seekrankheit, von der er auf seiner
ersten Reisen allerdings auch nicht verschont geblieben
war. Doch nachdem ihm ein alter Seebär einige wertvolle
Winke gegeben, konnte sie ihm nichts mehr anhaben.
Lars Ansholm gehörte nicht zu den Menschen, die dem
andern Schlechtes wünschen. Aber dieser aufdringlichen
Schönen wünschte er denn doch, daß sie aus einem
bestimmten Grund möglichst schnell verschwinden möge.
Und siehe da, sein Wunsch wurde erfüllt. Bevor sie ihn
noch mit ihrem Sirenengesang überfallen konnte, verfärbte
sich ihr Gesicht, wurde grünlichweiß. Beide Hände auf den
Magen pressend, wankte sie davon, nicht mehr schön wie
die Sünde, sondern wie ein Häuflein Unglück
anzuschauen.
Gott sei Dank, die bin ich los – dachte der Mann herzlos
und stellte sich an die Reling, immer tief Luft holend. Ein
herrliches Naturschauspiel bot die brüllende See schon,
aber es war doch besser, wenn er die Kabine aufsuchte.
Denn der Himmel wurde immer dunkler. Das Heulen des
Sturms klang wie Höllengelächter.
Doch das Schiff war stark und gut, war nicht so leicht zu
erschüttern. Mit dem beruhigenden Gefühl suchte er seine
Kabine auf, öffnete die Verbindungstür und trat leise an das
Bett seiner Frau, die unruhig zwar, aber immerhin schlief.
Da schlich er wieder davon, ließ jedoch die Tür angelehnt
für alle Fälle, nahm zwei Tabletten – auch für alle Fälle –
und begab sich dann zur Ruhe.
Am nächsten Morgen war der Himmel so unschuldig blau,
als gäbe es keine andere Farbe für ihn, und die See war so
zahm, wie sie eben nur sein konnte. Noch lagen die
Passagiere, die sich allesamt einbildeten, nur mit knapper
Not dem Tod entronnen zu sein, schachmatt in ihren
Betten. Allmählich fanden sie sich dann langsam ein, doch
Karen war nicht darunter, was den Gatten, der sich an Deck
auf einen Liegestuhl gestreckt hatte, nun doch beunruhigte.
Er suchte nach der reizenden Stewardeß, fand sie nach
manchem Hin und Her und ließ sich von ihr über den
Zustand der Frau Gemahlin beruhigen. Nein, krank wäre
sie nicht mehr, hätte sogar schon Diätkost zu sich
genommen, aber aufstehen mochte sie nicht. Vielleicht,
daß der Herr Gemahl doch persönlich nach ihr sähe.
Das tat er denn auch, obgleich die Gattin, die holde, ihn
gar nicht freundlich empfing.
»Was willst du, laß mich in Ruhe!«
»Hm – «, setzte er sich zu ihr aufs Bett und sah sie prüfend
an. »Wohl siehst du noch nicht frisch und rosig aus, aber
lange nicht mehr so käsig wie gestern.«
»Wie willst du das wissen?« fragte sie mißtrauisch, und
harmlos erfolgte die Antwort:
»Die Stewardeß sagte es mir. Ich würde dir raten,
aufzustehen.«
»Ich will nicht!«
»Dann laß es bleiben.«
Er ging, und Karen sah ihm erbittert nach. Er hielt es noch
nicht einmal für nötig, Besorgnis zu heucheln, so
gleichgültig war sie ihm.
Und nun war der Augenblick da, wo sie ernstlich über ihre
Ehe nachzudenken begann. Was sollte bloß daraus werden,
wenn Lars aus seiner Reserve überhaupt nicht herausging.
Sie verlangte ja keine Liebe von ihm, aber zugänglicher
könnte er schon sein, sich nicht wie mit einem Panzer
umschließen.
Plötzlich fiel ihr etwas ein, das ihr fast den Atem stocken
ließ vor Schreck. Wie hatte er doch damals gesagt, als sie
sich bei ihm entschuldigen ging: Meine Bitte ist, daß du
dich am Hochzeitstag zu den beiden Trauungen bereit
hältst. Eine andere Bitte an dich habe ich nicht – jetzt nicht
mehr.
Zuerst war sie betroffen, doch dann stieg Trotz in ihr auf.
Nun gut, mein Herr Gemahl, ganz nach Belieben.
Wahrscheinlich war es ihm ganz recht, daß sie hier lag,
damit er sich ungehindert von der Weiblichkeit anbeten
lassen konnte. Aber so leicht sollte es ihm denn doch nicht
gemacht werden!
Mit einem Ruck fuhr sie im Bett hoch, mußte sich jedoch
wieder zurücksinken lassen, weil ihr übel wurde. Ein
scheußliches Gefühl. Sie kam sich so erbarmungswürdig
vor, so verlassen von Gott und den Menschen. Wenn doch
Mutti hier wäre. Die würde sie hier nicht so allein liegen
lassen.
Träne um Träne lief über das blasse Gesicht. So fand sie die
Stewardeß, als sie nach ihrer Schutzbefohlenen sehen kam.
»Aber gnädige Frau, wer wird denn weinen «, sagte sie mit
zärtlichem Vorwurf. »Das Ärgste ist ja jetzt überstanden.
Wollen Sie nicht aufstehen und an Deck gehen? Die frische
Luft wird Ihnen bestimmt guttun.«
»Ich habe es versucht, aber mir wurde übel.«
»Dann versuchen wir es noch einmal. Doch zuerst trinken
Sie dies hier, aber mit einem Schluck.«
Also tat Karen es. Schmeckte das Zeug gräßlich, aber es
half, zusehends wurde ihr besser. Langsam richtete sie sich
auf, stützte sich rücklings auf die Hände, verharrte so ein
Weilchen und ließ sich dann von ihrer Betreuerin aus dem
Bett helfen und ankleiden. In einen flauschigen Mantel
gehüllt, ließ sie sich von dem Mädchen fürsorglich an Deck
führen, streckte sich in den Liegestuhl und wurde warm
eingepackt.
Jetzt bekam sie auch wieder Interesse für ihre Umgebung
und bemerkte den Gatten, der an der Reling lehnte und
durch das Glas hinausschaute in die unendliche Weite des
Meeres. Karen erhob sich, stellte mit Genugtuung fest, daß
sie schon wieder ganz ordentlich auf den Beinen stand und
trat neben Lars, der sie erst bemerkte, als sie eine Bewegung
machte. Er nahm das Glas von den Augen, musterte die
neben ihm Stehende flüchtig und sagte dann gleichmütig:
»Da bist du ja. Alles wieder in Ordnung?«
»Ja.«
»Das freut mich.«
Schon sah er wieder durch das Glas, das Karen ihm am
liebsten weggerissen hätte. Doch gewohnt, sich zu
beherrschen, zwang sie ihre Empörung nieder.
Was war nur plötzlich in ihn gefahren! Wohl hatte er sich
da unten im Süden auch nicht viel um sie gekümmert,
hatte sie tun lassen, was ihr beliebte. Aber seitdem sie auf
dem Schiff waren, kümmerte er sich gar nicht mehr um sie,
selbst bei ihrer Unpäßlichkeit nicht.
Das heißt, morgens war er in ihrer Kabine gewesen, wo sie
ihn allerdings kurz abfertigte – aber das hatte sie nicht zum
erstenmal getan.
Scheu ging ihr Blick an ihm hoch, der da neben ihr stand,
so sicher, so unbeirrt, als könnte ihn nichts auf der Welt
erschüttern. Das Haar, vom Wind zerzaust, gab seinem
markanten Gesicht etwas Kühnes, Verwegenes. Wie ein
harter Strich wirkte der Mund, das Kinn war fest und
kantig.
Mein Gott, ich liebe ihn ja – dachte Karen erschrocken. Ich
liebe ihn wieder – habe überhaupt nie aufgehört, ihn zu
lieben. Was ich überwunden geglaubt, war nur verschüttet
gewesen, aber nicht ausgerottet.
Diese Erkenntnis war so furchtbar, daß sie nur mit Mühe
ein Stöhnen unterdrücken konnte. Denn Gegenliebe hatte
sie von ihm nicht zu erwarten. Er hatte ihr ja schon einmal
bewiesen, wie gleichgültig sie ihm war, sonst hätte er nicht
die andere erwählt.
Ihr wurde wieder so sterbensweh. Aber das kam diesmal
nicht vom Magen, sondern vom Herzen, in dem die
Wunde so jäh aufgerissen war, die sich in fast sechs Jahren
langsam geschlossen hatte.
Also habe ich ihn doch aus Liebe gefreit – dachte sie
traurig. Ich habe das nur nicht gewußt. Glaubte mich so
sicher und nun –?
Und gerade, als sich ihre Augen mit Tränen füllten, nahm
er das Glas von den seinen und sah sie prüfend an.
»Du weinst doch nicht womöglich, Karen?«
»Nein – «, beeilte sie sich zu versichern. »Mir tränen die
Augen vom Wind.«
»Dann setz die Schutzbrille auf.«
»Ja – gewiß. Wie leer es hier ist, kaum ein Passagier zu
sehen.«
»Sie sind alle ziemlich angeschlagen, doch mit der Zeit
rappeln sie sich wieder hoch. Wirst du an der Tafel das
Mittagsmahl einnehmen können?«
»Nein, ich bin auf Diät gesetzt. Also werde ich in der
Kabine essen.«
»Dann entschuldige mich. Höchste Zeit, daß ich mich
umkleide. So kann ich mich nicht an die Tafel setzen.«
Nein, das konnte er nicht, obwohl ihn die lange weiße
Hose und der gleichfalls weiße Pullover mit Rollkragen
vorzüglich kleideten.
»Kommst du mit?«
»Nein, ich bleibe noch ein wenig. Die herbe Luft tut mir
wohl.«
»Dann bis nachher.«
Einen flotten Schlager pfeifend, ging er davon – und Karen
sah ihm weinend nach. Doch gleich darauf riß sie sich
zusammen, sah sich scheu nach allen Seiten um.
Gottlob, es war niemand in der Nähe, sie stand allein an
der Reling. Die meisten Passagiere waren wohl nicht auf
Deck im wahrsten Sinne des Wortes und die andern
kleideten sich zur Mittagstafel um. Auch für sie wurde es
Zeit, ihre karge Kost einzunehmen. Da nahte bereits die
Stewardeß, lachend über das ganze Gesicht.
»Die gnädige Frau schon wieder auf den Beinen? Das ist
aber schön. Ihren Leidensgenossen geht es größtenteils
noch nicht so gut, sie sind oder tun alle sehr wehleidig.
Wie steht es mit dem Appetit?«
»Der ist mäßig.«
»Nun, viel gibt es heute sowieso noch nicht. Ich versorge
Sie sofort, gnädige Frau.«
Sie eilte davon, und langsam folgte Karen ihr. Nach dem
frugalen Mahl überlegte sie, was sie nun beginnen sollte.
Lars unter die Augen treten konnte sie nicht – jetzt noch
nicht. Da mußte sie erst Abstand zu dem gewinnen, was sie
heute aufgerüttelt hatte bis zum tiefsten Herzensgrund.
Andern konnte sie nichts, das war ihr klar. Aber sich mit
dem abfinden, was sich nicht ändern ließ, das mußte ihr
gelingen.
Also nicht grübeln, nicht klagen. Hübsch geduldig sein und
Gott vertrauen: Er gibt auch dir das Deine.
Nach einer gutdurchschlafenen Nacht war Karen wieder die
alte, frohgemut und guter Dinge. Den Gatten mied sie
allerdings so viel wie möglich, was sich auch gut machen
ließ, da die Passagiere wieder wohlauf waren und das Deck
sowie die Gemeinschaftsräume füllten. Außerdem gab es
auf dem großen Schiff allerlei Möglichkeiten, sich zu
vergnügen, so daß man sich leicht aus dem Weg gehen
konnte. Im Speisesaal saß Karen so, daß sie Lars den
Rücken zudrehte, und so blieb es ihr erspart, mit ansehen
zu müssen, wie die Weiblichkeit ihn anhimmelte.
Um so mehr konnte Lars die Gattin beobachten und somit
zur Kenntnis nehmen, wie die Männerwelt dieser wirklich
bezaubernden Frau huldigte, ohne jedoch dabei aus der
Rolle zu fallen. Mochte Karen sich also vergnügen, damit
war es sowieso bald vorbei. Wenn sie das Schiff verließen,
mußten sie unverweilt nach Hause, weil man im Werk zu
dringend seiner benötigte, wie der Prokurist in seinen
Berichten immer wieder betonte. Das sagte er Karen aber
erst, als sie in Oslo waren und im Hotel zu Abend aßen.
»Es geht nun mal nicht anders«, sprach er gereizt weiter, als
sie zu seiner Eröffnung schwieg und sich intensiv mit dem
gefüllten Apfel beschäftigte, der auf ihrem Teller lag. »Wir
sind sechs Wochen unterwegs, genügt dir das immer noch
nicht?«
»Wer sagt dir denn, daß es mir nicht genügt?« sah sie ihn
groß an. »Ich fahre sogar gern nach Hause.«
»Na, Gott sei Dank«, atmete er auf. »Ich fürchtete schon, du
würdest mir eine Szene machen.«
»Als ob ich das schon jemals getan hätte und es jemals tun
würde«, entgegnete sie achselzuckend. »Zu der Sorte von
Frauen gehöre ich denn doch nicht. Du hast mir lange
genug deine kostbare Zeit geopfert, wofür ich dir danke.
Ich habe viel Schönes zu sehen bekommen, habe so richtig
unbekümmert das alles genossen, aber ewig kann es nun
einmal nicht währen. Meinetwegen können wir sofort
aufbrechen.«
»Na, so schnell nun auch wieder nicht-«, dehnte er. »Ich
muß ja für die Reise erst alles in die Wege leiten. Indes
sehen wir uns das schöne Oslo an.«
»Na schön«, gab sie nach, obgleich ihr das gar nicht
behagte. Sie fühlte sich jetzt so unsicher ihm gegenüber,
fürchtete sich vor dem Alleinsein mit ihm. Denn hier
konnte sie ihm ja nicht so ausweichen wie sie es in letzter
Zeit tat, würde ständig mit ihm Zusammensein müssen.
Doch dann ging alles besser, als sie befürchtet hatte.
Gemächlich bummelte man durch die schöne nordische
Stadt, die Lars längst kannte und wodurch er der Gattin ein
guter Führer sein konnte. Müde von all dem Schauen und
Bewundern kam Karen in das Hotel zurück, und als der
Gatte ihr den Vorschlag machte, eine Festlichkeit zu
besuchen, lehnte sie ab.
»Danke, ich habe dazu keine Lust.«
»Nanu, schon so bald des Treibens müde?«
»Ja. Ich begreife mich einfach nicht, daß ich an dem Trubel
so großen Gefallen finden konnte. Es tut mir leid, mich
nicht mit anderen Dingen beschäftigt zu haben, wie zum
Beispiel hier.«
»Das kannst du immer noch«, meinte er gutmütig. »Wir
werden noch so manche Reise machen, allerdings
geschäftlich, wo du als meine Sekretärin dich nützlich
machen kannst.«
»Dann wäre ich wenigstens zu etwas nütze«, entfuhr es ihr
unbedacht, und er sah sie erstaunt an.
»Möchtest du mir das nicht näher erklären?«
»Nein – ich bin müde.«
»Schade, ich hätte gern noch so ein bißchen gebummelt.«
»Lars, bitte – «
»Na ja, schon gut«, winkte er verstimmt ab. »Gehen wir
also schlafen.«
Am nächsten Morgen ging es denn heimwärts. Der
Chauffeur, der sie vom Flugplatz abholte, lachte über das
ganze Gesicht, als er die Reisenden in strammer Haltung
begrüßte.
»Na, Köppke, Ihrer strahlenden Miene nach zu urteilen ist
zu Hause alles in Ordnung?«
»Jawohl, Herr Doktor, wir sind alle brav gewesen.«
»Das freut mich«, lachte sein Herr. »Und nun bringen Sie
uns hübsch nach Hause.«
Eine gute Stunde später hatten sie ihr Ziel erreicht und
wurden von Frau Malve freudig empfangen. Als Richard
ihnen die Sachen abnahm, machte er gar kein
vorschriftsmäßiges Dienergesicht und was da an der Hand
der Schwester so eifrig tappelte, war Klein-Hilke, die ein
Sträußchen in dem dicken Patschchen hielt.
»Mädchen, du kannst ja laufen!« sagte der Vater beglückt,
das reizende Persönchen hochhebend und durch die Luft
schwenkend. Doch es strebte ungeduldig nach unten, und
kaum hatte es festen Boden unter den Füßen, lief es auf
Karen zu und hielt ihr das Sträußchen hin.
»Das hast.«
»Aber Hilke, wie sollst du denn sagen«, lachte Meta gleich
den andern. »Wie heißt das?«
»Mami – da hast.«
»Danke, Hilkelein«, nahm sie die Blumen. Als sie jedoch
nach der Spenderin greifen wollte, entwischte sie ihr zu der
Pflegerin hin, die sie auf den Arm hob. Von diesem
sicheren Platz aus beäugte sie die Angekommenen, die ihr
in den sechs Wochen entfremdet waren. Als sich das
Mündchen gar zum Weinen verzog, ging die Schwester mit
ihr davon.
»So, Kinder, jetzt laßt euch mal richtig anschauen«, sagte
die Mutter froh. »Also prächtig seht ihr aus. Da brauch ich
erst gar nicht zu fragen, wie es euch ergangen ist.«
»Diese Frage pflegt bei heimgekehrten Hochzeitsreisenden
auch nicht üblich zu sein«, schmunzelte der
Schwiegersohn. »Und wie ist es dir ergangen, Muttichen?«
»Langweilig ist es mir nicht geworden, da es so allerlei zu
erledigen gab. Kommt nun endlich weiter.«
Man ging ins Wohnzimmer, wo in Vasen und Schalen
Blumen prangten. Die Terrassentür war geöffnet, durch die
Karen trat und entzückt auf die verschwenderische Pracht
schaute. Weit breitete sie die Arme aus, als wollte sie alles
umfassen, was da im Park grünte und blühte.
»Lars, komm, sieh dir das bloß hier mal an!« rief sie über
die Schulter hinweg ins Zimmer. »Was wir auch Schönes
gesehen haben mochten, das verblaßt gegen diese
Schönheit hier.«
»Immer dasselbe«, lachte die Mutter. »Man verreist
eigentlich nur, um nach der Rückkehr festzustellen: Tohuus
ist tohuus. Ich kann mir auch nicht vorstellen, daß es
irgendwo schöner sein könnte als bei uns, wo jetzt alles in
Maienblüte prangt. Aber: Wo sich Herz und Auge laben,
muß der Magen auch was haben. Also macht euch frisch,
und vereint euch dann zum köstlich bereiteten Mahle.«
»Wie kann man bloß so prosaisch sein«, brummte Karen,
ließ sich jedoch gutwillig von der Mutter mitziehen, die
ihre Tochter zurückhielt, als diese ihr altes Zimmer betreten
wollte.
»Halt, mein Herzchen, da hast du nichts mehr zu suchen.
Begib dich gefälligst in die ehelichen Gemächer.«
Dann öffnete sie einladend eine Tür.
»Bitte sehr. Tritt ein, bring Glück hinein.«
Langsam schritt Karen über die Schwelle in einen
wunderhübschen kleinen Salon hinein, der auf den
höchsten Ansprüchen genügen mußte. Der dicke Teppich,
die Polster, die Möbel, alles in lichten Farben gehalten.
Entzückend war der Schreibtisch mit dem Aufsatz, die
Griffe an den Schüben gleißten wie Gold.
Sogar einen Kamin gab es, auf dessen Marmorsims eine
allerliebste Uhr unter einem Glassturz eilfertig tickte.
Ferner gab es eine kleine Bar und einen Eckschrank, hinter
dessen spiegelnder Scheibe Porzellan und Kristall stand.
Duftige Gardinen an den Fenstern, einige sehr hübsche
Bilder und auf dem Fenstertritt ein Sessel mit einem
reizenden Nähtischchen davor.
»Du, das ist noch nicht alles«, zog die Mutter die im
Schauen Versunkene in ein Schlafgemach hinein. Ein
trautes Nestchen, zartgrün gehalten, duftig, mollig und
irgendwie verträumt. Das breite, seidengepolsterte Bett mit
der glänzenden Daunendecke, den hauchfeinen
Spitzenkissen, der Diwan mit dem weißen, flockigen Fell,
zauberhaft schön war das alles. Hinter den beiden
schmalen Türen lagen Ankleidezimmer und Bad. Ersteres
so recht kosig, letzteres blitzend in Kacheln und Chrom.
»Was sagst du nun zu deinem Nestchen, hm?«
»Ach Mutti«, kam die Antwort kläglich. »Das ist ja viel zu
schön, um wahr zu sein. Hast du etwa?«
»Kind, wo denkst du hin. Ich bin doch kein Krösus. Dem
da gebührt der Dank, der alles bis ins kleinste nach einer
Zeichnung bestimmte. Ich war nur die Ausführende. Hab’
ich alles recht gemacht, mein Sohn?«
»Und wie, Muttchen«, nickte er ihr herzlich zu. »Der
Umbau muß nicht einfach gewesen sein. Eigentlich
rücksichtslos von mir, dir das alles aufgebürdet zu haben.«
»So arg war es gar nicht, Lars. Die Wand ausbrechen und
die Tür einfügen war ein Kinderspiel. Der Kamin machte
allerdings mehr Scherereien. Aber wie du siehst, hat sich
alles glänzend gelohnt.«
Als die Mutter gegangen war, trat Karen zögernd auf Lars
zu, der abwartend dastand. Röte und Blässe wechselten auf
dem zarten Antlitz in jäher Folge, die Augen spiegelten
rührende Hilflosigkeit wider, die Handflächen rieben
gegeneinander.
»Wenn dir der Dank so schwerfällt, dann sollst du dich
nicht dazu zwingen«, ließ eine sonore Stimme sie
zusammenzucken. »Du sollst dich überhaupt zu nichts
zwingen, sollst immer nur das tun, was dein Herz gebietet.
Ich bin, das merke dir gut, entweder für ganz – oder gar
nicht.«
Ehe die verstörte junge Frau noch antworten konnte, fiel
die Glastür hinter ihm zu, welche die Schlafzimmer der
Gatten trennte. Die ins Glas geschliffenen Blumen
strömten eine Kälte aus, als wären sie aus Eis.
Unwillkürlich schauerte Karen zusammen.
Tu immer nur das, was dein Herz gebietet – hatte er gesagt.
Also müßte sie jetzt die eisige Glasmauer durchdringen, zu
dem dahinter weilenden Mann gehen und ihm ihr Herz in
die Hände geben. Und dann? Almosen würde er ihr dafür
bieten, mit herablassender Freundlichkeit zugeworfen.
Nun, vielleicht kam einmal der Tag, wo sie sich auch damit
begnügte, aber noch war es nicht soweit – noch nicht.
Noch konnte sie über ihr forderndes Herz gebieten.
Solange ihr das gelang, wollte sie sich genauso abwartend
verhalten wie er. Was er ihr hier geschaffen hatte, sagte ihr
nichts. Sie war seine Frau und mußte den passenden
Rahmen haben.
Und die Blumen, mit denen die Räume geschmückt waren?
Die konnte ja auch die Mutter zur Begrüßung hineingestellt
haben.
Ein Geräusch von nebenan ließ sie aufhorchen. Nun hörte
sie genau, daß Lars pfiff. Es war die Melodie eines alten
Liedes, dessen Text die lauschende Karen unwillkürlich
mitsprach: »Das Warten soll mich nicht verdrießen, ich
weiß genau, du kommst zu mir, ich darf dich in die Arme
schließen und darf dich lieben für und für – «
Frechheit – dachte die junge Frau empört. Pfeift ganz
gemütlich vor sich hin, während ich mich mit
unerquicklichen Gedanken herumplagen muß.
Ich weiß genau, du kommst zu mir.
Na denn, warte nur – ich tu es nämlich auch. Wollen doch
mal sehen, wer dabei beharrlicher ist.
Tohuus ist tohuus. Beglückt empfanden die Heimgekehrten
die sie umschließende Traulichkeit, die Frau Malve so
wunderbar um sich her zu verbreiten verstand. Nach dem
festlichen Abendessen saß man auf der Terrasse bei einem
guten Tropfen. Die Mailuft war warm und mild. Süß zog
der Duft von den blühenden Blumen und Sträuchern zu
den drei Menschen hin. Von der Werksiedlung her flatterte
Lachen, tönte Gitarrenmusik und Gesang. Es war wohl
Zufall, daß nun das schlichte Liedchen aufklang, das Karen
so geärgert hatte.
Das Warten soll mich nicht verdrießen – und tatsächlich,
Lars Ansholm summte die Weise mit, so richtig
stillvergnügt. Und nun sagte gar die Mutter zu allem
Überfluß lachend:
»Das Liedchen kenn ich. Das sang mein Vater immer
Muttchen vor, wenn sie mal böse auf ihn war und ihm kein
gutes Wort geben wollte. Er sang es so inbrünstig falsch,
daß mein gutes Mamachen lachen mußte und schon war
mein fideler Papa wieder obenauf. Es wundert mich, daß
die jungen Leute so ein altes Lied heute überhaupt noch
singen. Derartige Weisen sind doch längst in Vergessenheit
geraten.«
»Aber nicht bei solchen Menschen, die eine Großmutter im
Hause hatten«, sagte Lars. »Die hat ihren Enkelchen die
trauten Weisen als Wiegenlied gesungen, weil sie ja keine
andern kannte. Jedenfalls gibt es im Werk manch einen,
der sie zu der Arbeit pfeift oder gar singt, was ich gar zu
gern höre. Denn gerade in diesen schlichten,
anspruchslosen Liedchen steckt mehr Weisheit und Gemüt
als in denen der Dichter und Komponisten, von denen
Heine sagt:
Ach, wenn sie nur Herzen hätten.
Herzen in der Brust und Liebe,
warme Liebe in dem Herzen,
ach, mich tötet ihr Gesinge
von erlognen Liebesschmerzen -
Nun, die in den alten Liedern sind bestimmt nicht erlogen,
Da hat derjenige, der sie schuf, diese Schmerzen selbst
erfahren in all ihrer Höhe und Tiefe. Daher gehen diese
Liedchen so zu Herzen, weil sie vom Herzen kommen.«
Überrascht hatte Karen dem allen zugehört. Nie hätte sie
gedacht, daß dieser nüchterne, kühle Geschäftsmann auch
gemütvoll empfinden und den alten Liedern Geschmack
abgewinnen könnte.
Aber was er da von Liebesschmerzen sprach, na, die kannte
er bestimmt nicht aus Erfahrung. Er hatte ja die Frau seiner
Liebe bekommen, ohne vorher um seine Liebe leiden zu
müssen. Und als dann die große Enttäuschung kam, wurde
aus der Liebe Verachtung.
Wahrscheinlich war er gar nicht dazu fähig, einen
Menschen zu lieben so recht aus Herzensgrund. Höchstens
seine Tochter, aber die war ja auch Blut von seinem Blut.
Und nun wurde sie gar noch Mitarbeiterin des Gatten,
allerdings nur halbtags. Wenn jedoch Dringendes zu
erledigen war, blieb sie auch länger.
Wie an diesem Spätnachmittag. Karen war in ihre Arbeit so
vertieft, daß sie die Blicke des Gatten nicht fühlte, mit
denen er sie schon eine Weile musterte. Schaute erst auf, als
er sie ansprach.
»Ja – bitte?«
»Karen, ich habe hier ein Schreiben, das ich ungern von der
Sekretärin beantworten lassen möchte. Derartige Sachen
erledigt sonst immer Frau Urbig, doch die ist unterwegs.
Willst du für sie einspringen?«
»Wenn ich dafür nicht zu dumm bin, von Herzen gern,
verehrter Chef.«
Eifrig suchte sie Stenoblock nebst Stift hervor, setzte sich
zurecht und war ganz aufmerksame Sekretärin.
Zuerst diktierte der Mann flott, doch dann wurden seine
Gedanken abgelenkt. Und zwar durch die eifrige
Schreiberin, die von dem Schein der untergehenden Sonne
beleuchtet wurde. Das Haar gleißte, rosig war das Gesicht
angehaucht, weich schmiegte sich das Kleid um die
biegsame Gestalt, die Beine waren lang und schlank,
feingefesselt wie bei einem Rehlein.
»Sie ist wirklich wert, daß sie die Sonne bescheint, weil sie
selbst so sonnenklar ist«, dachte er laut, und schon hob sie
den Blick. Zwei blaue Augen, in denen sich die
Sonnenstrahlen verfangen zu haben schienen, sahen den
Mann verdutzt an.
»Na hör mal, Lars, eben diktiertest du von dunklen
Machenschaften, die nun wert sein sollten, daß sie die
Sonne bescheint. Soll ich das wirklich schreiben?«
»Natürlich nicht«, zwang er sich zu einem Lachen. »Ich las
den Satz gerade hier.«
»Ach so«, tat sie ihm den Gefallen, ihn zu unterbrechen.
»Ihre Unaufmerksamkeit muß ich rügen, Herr Doktor
Ansholm. Sie haben bei einem Diktat nicht auf eine
Illustrierte zu schielen, sondern konzentriert Ihre Sekretärin
anzusehen.«
»Auch das noch«, brummte er, was sie zum Glück nicht
verstand. Dann nahm er sich zusammen und konzentrierte
sich beileibe nicht auf die Sekretärin, sondern auf das
Diktat.
Als er fertig war, setzte Karen sich an die Schreibmaschine
und ließ die Finger über die Tasten flitzen. Da sie die
Augen auf den Stenoblock gerichtet hielt, konnte der Mann
sie ungestört weiter betrachten, was er sonst möglichst
unterließ.
Wie ein artiges Mädchen mutete sie an, das eifrig bemüht
ist, Schularbeiten zu machen. Wenn sie über ein Wort
angestrengt nachdenken mußte, zog sich das feine Naschen
kraus, die Zunge fuhr blitzschnell über die Lippen, was
allerliebst aussah. Kein Wunder, daß dem Mann heiß unter
der seidenen Hemdbrust wurde.
Und dann gelang es ihm gerade noch, seinen Blick von
dem bezaubernden Bild zu lösen, als sie aufstand und
nicht dem Gatten, sondern dem Chef das Schreiben
vorlegte. Er prüfte es, unterschrieb, sie kuvertierte es und
blies dann die Wangen auf.
»Puh, ganz heiß ist mir geworden vor Angst, mich mit
meinem Geschreibsel zu blamieren.«
»Du hast’s nötig«, lachte er. »Und nun wollen wir uns auf
den Weg machen, damit wir zum Abendessen nicht zu spät
kommen. Unsere Mutti wird schon denken, ich halte mit
meiner Sekretärin ein Schäferstündchen ab.«
Als sie den Weg zum Park einbogen, stolperte Karen, doch
schon verhinderten zwei Männerarme den Fall, indem sie
sich fest um den grazilen Körper legten. Doch nur einen
Moment, dann war sie wieder frei und sah verwirrt zu dem
Mann hoch, der trocken bemerkte:
»Seit wann stolperst du denn über deine eigenen Füße, du
kleiner Tolpatsch. Komm, faß mich unter.«
»Nein.«
»Na denn nicht.«
Im Park kamen sie an einem großen Lindenbaum vorbei,
unter dem der treue »Goldchen« ruhte. Karen brach einen
Fliederzweig und steckte ihn zwischen die Efeuranken.
»Schade um dich, mein ›Goldchen‹«, sagte sie traurig.
»Warst so ein lieber Kerl, hast mich nicht ein einziges Mal
abgeworfen. O schöne Zeit!«
»Bist du seitdem nicht mehr geritten?«
»Nein, wie sollte ich wohl dazu kommen. So viel, um mir
ein Reitpferd halten zu können, verdiente mein Vater
wahrlich nicht. Außerdem bot sich in der Stadt dafür keine
Gelegenheit.
Übrigens – was ich dich schon immer fragen wollte, es
jedoch immer wieder vergaß: Wie kommt es, daß Gröhne
in meinem früheren Elternhaus wohnt. Als wir wegzogen,
verkaufte es mein Vater doch an seinen Nachfolger.«
»Der nach einigen Jahren starb. Da die Witwe zu ihrer
verheirateten Tochter zog, stand das Haus zum Verkauf, das
ich dann für den Prokuristen erwarb. Das war weit
einfacher als ein Bau, den ich hätte errichten lassen
müssen. Tut es dir weh, Fremde in dem Haus zu wissen, wo
du deine Kindheit und erste Jungmädchenzeit verlebtest?«
»Mir nicht – aber ich denke an Mutti.«
»Mit ihr habe ich schon längst darüber gesprochen.«
»Und was sagte sie?«
»Daß sie in dem Haus nicht mehr wohnen möchte, weil
dein Vater darin fehlen würde. Sie muß ihn sehr geliebt
haben.«
»Das hat sie«, bekräftigte Karen. »Obwohl sie ihn nicht aus
Liebe freite, wie sie mir vor einiger Zeit erzählte.«
»Tatsächlich?« fragte er überrascht. »Hatte sie denn einen
anderen lieb?«
»Ja. Ihren ersten Verlobten, der jedoch starb. Aber die ganze
Art ihres späteren Gatten hat in ihr eine so tiefe Liebe
erweckt, wie sie eine solche für den andern nie empfand.
Sie behauptet, daß sie mit ihm nie hätte eine so glückliche
Ehe führen können wie mit meinem Vater.«
»Er war aber auch ein prachtvoller Mensch«, nickte Lars
versonnen. »Ich hing an ihm mehr, als an meinem Vater.«
»Du, Lars –?«
»Hm?«
»Stehst du denn mit deiner Mutter gar nicht in
Verbindung?«
»Jetzt nicht mehr.«
»Wie soll ich das verstehen?«
»Daß sie mir auf meine Vermählungsanzeige hin einen
Brief schrieb, den ich durchriß und ihr zurückschickte.«
»Großer Gott, Lars.«
»Warum denn so entsetzt? Auf Unverschämtheiten ist das
die beste Antwort.«
»Sie ist doch deine Mutter.«
»Aber was für eine.«
Mittlerweile hatten sie das Haus erreicht, wo aus einigen
Fenstern traulicher Lichtschein fiel. Dahinter wartete die
Frau, die eine liebevolle, gütige Mutter war.
»Lars, du hast jetzt ja Mutti«, sagte Karen leise. »Die liebt
dich wie einen richtigen Sohn.«
»Und das macht mich glücklich. Unsere geliebte Mutz.«
»O wie schön!« lachte Karen und lief ihm davon,
geradenwegs ins Wohnzimmer hinein, wo die Mutter ihr
lachend entgegensah.
Am nächsten Sonnabend, der am Nachmittag dienstfrei
war, klappte Karen die Bücher mit Nachdruck zu.
»Feierabend, gestrenger Chef! Heute werden keine
Überstunden gemacht.«
»Mir ganz aus der Seele gesprochen. Lösen wir uns von
Stahl und Eisen, wenden wir uns der lieblichen Natur zu,
über die heut und morgen der Götterknabe Mai noch sein
zärtliches Zepter schwingt. Wie wäre es nach dem
Mittagessen mit einem netten Ausflug?«
»Genehmigt. Wohin befehlen der hohe Herr?«
»Nicht so neugierig sein.«
»Ich bin es aber. Nun komm schon.«
»Erst wenn sich der Strom verzogen hat.«
Sie traten ans Fenster und schauten hinab, wo es vor
Menschen nur so wimmelte, die eilig ihren Gefährten
zustrebten. Da gab es Fahrräder, Motorräder,
Personenautos und Omnibusse, welche die Auswärtigen
heimfuhren.
»Es sind doch eine Menge Auswärtige bei uns beschäftigt«,
sagte der Herr vom Ganzen. »Ich werde die Werksiedlung
erheblich erweitern müssen. Was meinst du dazu, Karen?«
»Ich?« fragte sie verwundert. »Ich habe bei deinen
Entschlüssen, die das Werk betreffen, weder dafür noch
dagegen zu sein.«
»Irrtum, mein Kind, du als meine engste Mitarbeiterin hast
Mitbestimmungsrecht. Wie ist es, wird gebaut oder nicht?«
»Das nennt man einem die Pistole auf die Brust setzen«,
lachte sie ihn lieblich an. »Hast du überhaupt das viele
Geld zu dem Bau?«
»Beruhige dich, du ängstliches Gemüt, ich hab’ es – auch
noch so viel darüber hinaus, daß ich dir selbst
unvernünftige Wünsche erfüllen könnte. Aber du hast ja
leider keine, nicht einmal vernünftige.«
»Na, hör mal, was sollte ich mir wohl noch wünschen, die
ich alles im Überfluß habe. Darüber hinaus wären es
wirklich unvernünftige Wünsche, und ich gehöre nicht zu
den Frauen, von denen ein Sprichwort sagt: Eine Frau kann
im Fingerhut mehr aus dem Hause schaffen, als der Mann
im Eimer hineinträgt – wäre dir so eine Frau recht?«
»Nein, aber meine Frau ist mir recht. Wie ich sehe, ist die
Bahn frei, also hurtig!«
Als Karen den gewohnten Weg zum Park einbiegen wollte,
faßte Lars ihren Arm und zog sie weiter geradeaus, bis er
vor einem Stall den Schritt verhielt. Er öffnete die Tür, und
fassungslos starrte die junge Frau auf die beiden Pferde, die
nun den Kopf nach ihnen wandten und sie eingehend
beäugten.
»Nun komm schon zu dir, Karen. Das sind unsere
Reitpferde, ist das denn so schwer zu begreifen?«
»Na hör mal«, wurde sie langsam mobil. »Du verlangst
wahrlich viel von deinen Mitmenschen. Reitpferde, du
lieber Himmel, das ist doch viel zu schön, um wahr zu
sein. Gehört mir eins davon wirklich?«
»Jawohl, der Fuchs.«
»Den muß ich ganz schnell mal begrüßen.«
»Nicht jetzt«, hielt er sie zurück. »Wir müssen zu Tisch.
Hinterher kannst du sogar einen Ritt wagen.«
Schade, daß der Betreuer der Pferde dabei war, sonst wäre
Karen dem Gatten vor lauter Freude um den Hals gefallen.
Aber das liebe Schicksal gestattete das noch nicht, das
wollte die beiden Menschenkinder immer noch an der
Strippe zappeln lassen.
Da der Mann sie genierte, unterließ Karen den impulsiven
Dank. Sie dankte überhaupt nicht, sondern lief wie ein
freudiges Kind nach Hause, rief der Mutter eine wirre
Erklärung zu und setzte die Treppe hinauf, um sich zum
Mittagessen umzukleiden.
Allein dazu sollte sie noch nicht kommen. Erst mußte die
zweite Überraschung, bestehend aus einem schmucken
Reitdreß, angestaunt werden. Am liebsten hätte sie ihn
gleich angezogen, aber so konnte sie nicht an der
Mittagstafel erscheinen. Also zog sie ein besonders
hübsches Kleid an und erschien unten wie das sprühende
Leben.
»Mutti, was sagst du bloß dazu?« fragte sie freudestrahlend.
»Wozu denn?« fragte diese scheinheilig zurück.
»Ich sagte es dir doch, bevor ich nach oben ging.«
»Ging ist dafür wohl nicht die richtige Bezeichnung«, kam
es lachend zurück. »Sagen wir lieber: nach oben raste. Daß
du noch einmal vor Freude aus dem Häuschen geraten
könntest, hätte ich kaum für möglich gehalten. Als Kind
und als ganz junges Mädchen passierte dir das schon öfter
einmal, aber seitdem du erwachsen bist, sind deine
Gefühle wohltemperiert.«
»Die Früchte deiner Erziehung, geliebte Mutz«, blitzte sie
diese an. »Du hast mir immer vorgepredigt, seine Gefühle
nicht unbeherrscht zur Schau zu tragen. Also müßtest du
meinen heutigen Gefühlsausbruch eigentlich rügen.«
»Gib es auf, Muttichen«, lachte Lars. »Dein Töchterlein ist
dir über. Aber tröste dich, mir ist es das manchmal auch.«
»Na, nun wird’s Tag«, sah Karen ihn verblüfft an. »Ich dir
über, das glaubst du wohl selbst nicht. Doch mit dir jetzt
darüber zu diskutieren, danach steht mir nicht der Sinn.
Essen wir lieber, damit ich mich in meinen Reitdreß
stürzen kann.«
Was dann auch nach dem Essen geschah. Dann erschien sie
unten wieder elegant, charmant, so eine rechte
Augenweide. Wie angegossen saß die Reithose, die
Stiefelchen blitzten. Eine kurzärmelige weiße Bluse,
Stulpehandschuhe aus weichem Wildleder, eine Gerte mit
goldenem Knauf, das gleißende Gelock mit einem
Seidenband überm Scheitel zusammengebunden. So stand
sie da – eine fesche Reiterin.
Aber auch der Reiter konnte sich sehen lassen, sein
prachtvoller Wuchs kam in dem Dreß so richtig zur
Geltung. Der Rollkragen des weißen Pullovers ließ das
rassige, gebräunte Antlitz noch dunkler erscheinen, aus
dem die blauen Augen blitzten, wunderbar gepflegt war das
volle, blonde Haar. Eine blendende Erscheinung, wie man
sie nicht oft sah.
Froh betrachtete die Mutter ihre beiden »Kinder«, auf die
sie so stolz war und mehr noch liebte. Und gewiß nicht
allein um ihres Aussehens willen, sondern auch wegen
ihres Charakters, dessen Grundzüge vornehme Gesinnung
und klare, unbestechliche Anständigkeit waren. Zwei
Elitemenschen, die so wunderbar zueinander paßten und
doch nicht zueinander finden konnte.
Denn daß in dieser Ehe nicht alles stimmte, darüber gab es
für Frau Malve keinen Zweifel. So benahm sich kein
jungverheiratetes Paar, das sich liebte. Zwar hatte es die
sogenannten Flitterwochen außerhalb in Zweisamkeit
verlebt, aber ein Abglanz davon hätte immer noch da sein
müssen, trotz aller Zurückhaltung, die man sich andern
gegenüber auferlegte.
Frau Malve hütete sich wohl, auch nur ein Wort über ihre
Beobachtung lautwerden zu lassen. Wenn einer von beiden
ihr etwas zu sagen hatte, würde er schon den Weg zu ihr
finden.
Jetzt sah sie ihnen nach, wie sie das Zimmer verließen,
Karen rasch, Lars gemächlicher. Im Park fing sie an zu
laufen und gab ihrem Pferd schon Zucker, als der Gatte
hinzukam.
»Schau mal, Lars, er ist schon ganz zahm«, sagte sie eifrig,
und er lachte.
»Kunststück! Wenn die Männer von zarter Hand
Zuckerchen kriegen, sind sie immer zahm, nicht wahr,
Rillert?«
Das galt dem Betreuer der Pferde, der den Mund zu breitem
Grinsen verzog.
»Kann schon so stimmen, Herr Doktor. Gesattelt sind die
prima Gäule, soll ich sie ’rausführen?«
»Ja.«
»Dann muß die gnädige Frau aber erst Platz machen, sonst
gibt’s Hühneraugen auf den Zehchen.«
»Nur ja nicht!« enteilte Karen rasch und sah dann
aufmerksam zu, wie der Mann die Pferde aus dem Stall
führte, beäugte sie von allen Seiten.
»Du, Lars – «, zog sie ihn aufgeregt am Ärmel. »Mein Pferd
– wie heißt es überhaupt.«
»Goldchen.«
»O wie schön! Es sieht auch fast so aus wie das andere
›Goldchen‹. Die weiße Zeichnung der Beine, die weiße
Blesse, der lange Schwanz. Ach, Lars, was hast du mir mit
dem Geschenk bloß für eine Freude gemacht. Und wie
heißt dein Pferd?«
»Edling.«
»Auch ganz hübsch. Darf ich jetzt reiten?«
»Bitte sehr.«
Ehe sie es sich recht versah, saß sie im Sattel, und nun
bekam sie denn doch Angst vor der eignen Courage. Es
waren ja auch zehn Jahre her, als sie zum letztenmal ritt.
»Nun, wird es gehen?« sah Lars sie forschend an.
»Ich glaube schon – «
»Na, du, zuversichtlich klingt das gerade nicht. Ich glaube,
so wird das nichts, ich werde doch lieber das Pferd an die
Longe nehmen. Brauchst dich nicht so scheu umzusehen,
es sieht uns außer Rillert niemand zu, weil ja keiner im
Werk ist. Deshalb habe ich zu deinem Debüt auch den
Sonnabendnachmittag gewählt. Du weinst doch nicht
etwa? Aber Karen!«
»Ich habe mich so auf den Ritt gefreut und nun versage ich
so kläglich.«
»Wird schon wieder werden«, tröstete er, doch sie schüttelte
den Kopf.
»Ich schäme mich vor Rillert. Hilf mir bitte aus dem Sattel.«
So endete denn das Debüt mit einem Fiasko – aber es
stachelte auch den Ehrgeiz Karens auf. Mit verbissenem
Eifer ging sie an die Übungen heran, die stets im Park
stattfanden. Eine Stunde vor Dienstbeginn, eine nach
Dienstschluß, diese Zeiten wurden streng eingehalten. Der
erbarmungslose Reitlehrer gab seiner Schülerin in nichts
nach, und der Erfolg war, daß man bereits nach einer
Woche den ersten Ritt ins Freie wagen konnte.
Sie war ja auch keine Anfängerin mehr, hatte als Kind sogar
schon recht gut im Sattel gesessen. Das machte sich nun
bemerkbar.
In den ersten Wochen schien es für Karen kaum etwas
anderes zu geben als die Ritte. Selbst in ihrer Arbeit machte
sich das bemerkbar – doch der nachsichtig »Chef« ließ sie
lächelnd gewähren. Es würde schon der Tag kommen, wo
der jetzt so fanatischen Reiterin die Ritte zur Gewohnheit
wurden, und zwar zu einer lieben Gewohnheit, die sie
jedoch nicht alles andere darüber vergessen ließ.
Tatsächlich ließ der fast krankhafte Eifer allmählich nach.
Wohl ritt Karen nach wie vor zweimal am Tag eine Stunde,
aber ohne jede Verbissenheit, nur aus Freude. Sie arbeitete
auch wieder so gewissenhaft wie zuvor, hatte auch wieder
Interesse für ihre Umgebung und die Mutter, die sich
bereits Sorge um ihre verbohrte Tochter gemacht hatte,
konnte wieder aufatmen.
Als sie an einem Nachmittag mit dem Schwiegersohn auf
der Terrasse saß und aus dem Park Karens Lachen,
vermischt mit dem Jauchzen Hilkes hörte, sagte sie froh:
»Gott sei Dank, Karen scheint wieder normal zu werden.
Ich habe deine Geduld bewundert, mein Junge, mit der du
diesem Spleen nachgabst.«
»Es blieb mir ja nichts anderes übrig, wenn ich ein Unglück
verhüten wollte«, entgegnete er achselzuckend. »Es wäre
unweigerlich geschehen, wenn ich das Pferd nicht so straff
an der Kandare gehabt hätte. Außerdem sagte ich mir, daß
so blinder Eifer nicht lange anhalten kann, was dann auch
der Fall war. Wohl hat sie immer noch Freude an den
Ritten, aber nur Freude, ohne die Lerngier -
Allerdings hat sie es in überraschend kurzer Zeit geschafft,
sitzt im Sattel schon ganz ordentlich, und den letzten
Schliff wird ihr die Übung geben.«
»Was bist du doch für ein prachtvoller Mensch«, sagte die
Mutter warm. »In bessere Hände hätte ich mein Kind ja
niemals geben können, als in die deinen, mein lieber
Junge. Ich danke Gott dafür jeden Tag aufs neu.«
»Nun, nun, Muttichen«, stieg ihm die Röte der Verlegenheit
ins Gesicht. »Ich glaube, du überschätzt mich. Ich habe ja
auch meine Fehler, mit denen Karen fertig werden muß.«
»Ich wüßte zwar keine-----aber sieh dir das mal an«,
unterbrach sie sich lachend, auf die reizende Gruppe
zeigend, die näherkam. »Selbst im Spiel muß das verdrehte
Ding ein Pferdchen meistern, und wenn es auch nur ein
zweibeiniger süßer Tolpatsch ist.«
Es war auch tasächlich einer, der da in die rote Pferdeleine
mit lustigen Glöcklein gespannt auf strammen Beinchen
über den Rasen tolpatschte. Die Leine hielt die Mami, die
einen großen Platz in dem zärtlichen Kinderherzchen
einnahm. Sie konnte aber auch so lustig spielen wie kein
anderer.
»Prrr -!« gebot der Kutscher an der Terrasse Halt. Das
»Pferdchen« wurde ausgespannt und auf den Arm gehoben,
wogegen das müdegetollte Kind sich gar nicht sträubte. Das
Däumlein fuhr in das Schnäbelein, das blonde
Lockenköpfchen schmiegte sich an ein hellbraunes, und
zufrieden blinzelten die schlafmüden Äuglein in die Welt.
»Wir sind beide erledigt«, ließ Karen sich mit ihrer süßen
Last auf der Terrasse nieder. Rot und heiß war ihr Gesicht,
die Augen strahlten. Zärtlich hielt sie das Kind des Mannes,
der beglückt auf das holde Bild schaute, das Schwester
Meta, die dem Gespann getreulich gefolgt war, zerstörte,
indem sie das schlafmüde Kind von dem warmen
Plätzchen hob und davonging.
»Unsere Tochter hat vielleicht ein Temperament«, lachte
Karen, keine Ahnung davon habend, wie das »unsere« den
Vater des Kindes freute. »Die kann einen so richtig in Atem
halten, genauso wie mein ›Goldchen‹. Wie ist es, Lars,
wollen wir nach dem Abendessen noch reiten?«
»Nein, das wollen wir nicht. Du hast die beiden täglichen
Ritte bereits hinter dir.«
»Das schon. Aber schau mal, so ein herrliches Wetter! Lockt
das nicht?«
»Genausowenig wie dein lockendes Circenlächeln.«
»Du bist!« fuhr sie hoch, doch schon sprach die Mutter
mahnend dazwischen:
»Ei, Karen, besinn dich darauf, was ich dir einmal sagte.
Übrigens erhielt ich heute von Frau Grommert einen Brief,
in dem sie mir die Verlobung ihres Sohnes mitteilt und
ihre Schwiegertochter bis übern grünen Klee lobt. Ein ganz
entzückendes Menschenkind wäre es, schön, wohlerzogen
und auch vermögend. In Artur sähe sie ihren Abgott, was
bei so einem Prachtmenschen nur natürlich ist, und auch
sie wäre seine erste und große Liebe.«
»Du liebes bißchen!« lachte Karen hellklingend auf. »Hat
die Frau ein kurzes Gedächtnis! Denn so wie du mir
erzähltest, geliebte Mutz, schrieb sie dir nach meiner
Hochzeit einen Jammerbrief, daß ich mit meinem
schnöden Verrat ihrem Arturchen das Herz gebrochen
hätte.«
»So hat es die andere wieder geleimt«, lachte die Mutter
lustig mit. »Fragt sich nur, ob ein geleimtes Herz nicht
ebenso hohl klingt wie ein geleimter Topf.«
Amüsiert hörte Lars dem allen zu. Wie glücklich konnte er
doch sein, zwei so prachtvolle Frauen in seinem Leben zu
haben. Wenn nur noch – ja, wenn nur noch, aber Geduld
und unverzagt: ER gibt auch dir das Deine.
Einige Tage später bekam Ansholm einen Anruf, den er
unwillig aufnahm.
»Davon hätte ich einige Tage früher in Kenntnis gesetzt
werden müssen. Schließlich habe ich hier einen Betrieb,
von dem ich nicht Hals über Kopf wegkann – «
Dann lauschte er der Stimme am anderen Ende, machte
noch einige ärgerliche Einwendungen und versprach dann
barsch sein Kommen. Unsanft legte er den Hörer auf.
»Das hat mir gerade noch gefehlt«, sagte er zu Karen.
»Ausgerechnet jetzt, wo ich hier unabkömmlich bin, setzen
sie von heut’ auf morgen eine Konferenz an. Aber da hilft
alles nichts, hin muß ich, die Sache ist wichtig. Ruf bitte zu
Hause an, daß Richard mir den Koffer für vier Tage packt,
der Chauffeur holt ihn ab.«
Karen gab den Befehl durch und fügte eigenmächtig hinzu,
daß der Chauffeur außer dem Koffer auch einen Imbiß
mitbringen sollte, was Lars jedoch gar nicht hörte, weil er
indes den Prokuristen herbeorderte.
Es folgten nun allerlei Besprechungen. Nachdem Gröhne
gegangen war, erschien Frau Urbig, die auch ihre
Informationen bekam. Den Imbiß nahm Karen dem
Chauffeur an der Tür ab, richtete ihn auf einem Tablett an
und stellte es auf den Schreibtisch. »Iß zwischendurch,
Lars, damit du wenigstens etwas in den Magen bekommst.«
»Lieb von dir, Karen«, dankte er flüchtig und trank den
heißen, starken Kaffee, der ihn sichtlich erfrischte. Aß auch
von den mundgerechten Bissen, ohne dabei sein Gespräch
mit Frau Urbig zu unterbrechen. Dann wurde auch sie
entlassen, und Karen kam an die Reihe.
»Erledige das, was du in Arbeit hast. Wenn du damit fertig
bist, findest du dort in der Mappe genügend Beschäftigung.
Verflixt, schon reichlich spät«, stellte er mit einem Blick auf
die Uhr fest. »Mach’s gut, Karen. Grüß unsere Mutti und
Hilke. In spätestens vier Tagen bin ich wieder bei euch.«
Ein flüchtiger Handkuß, er eilte davon, und die junge Frau
sah ihm erbittert nach. Gewiß, er hatte es eilig, aber ein
bißchen herzlicher hätte der Abschied trotzdem sein
können.
Niedergeschlagen nahm sie am Schreibtisch Platz und
versuchte zu arbeiten. Allein es ging nicht, die Gedanken
schweiften ab. Ihr wurde weh ums Herz, wenn sie den
leeren Platz am andern Schreibtisch sah. Nein, sie hielt es
hier nicht aus, sie ging nach Hause. Morgen wollte sie
wieder arbeiten, heute war ihr das unmöglich.
Freundlich grüßend ging sie durch das Vorzimmer, wo man
ehrfurchtsvoll ihren Gruß erwiderte. Genauso wie in den
Gängen, durch die Angestellte geschäftig eilten. Überall,
wohin sie auch kam, wurde sie als Gattin des Chefs
respektiert.
Als sie über das Fabrikgelände ging, zögerte sie, ob sie nicht
ausreiten sollte; denn es war bis zum Mittagessen noch eine
Stunde. Verboten hatte Lars ihr das Reiten nicht, also
konnte sie es beruhigt tun. Doch sie hatte jetzt keine Lust,
vielleicht am Nachmittag zur gewohnten Stunde.
Im Park stieß sie auf Hilke, die von ihrem Anblick entzückt
war.
»Mami, Hottehüh!«
»Jetzt nicht, mein kleiner Schatz«, hob sie das Kind auf den
Arm und küßte es zärtlich. »Ich soll dich vom Papi grüßen,
er ist weggefahren.«
»Defahren – wo?«
»Weit weg.«
»Tommt wieder«, meinte das Persönchen zuversichtlich,
»ßie triegt denn was.«
»Ach, so eine bist du«, ließ Karen sie auf die Erde gleiten.
»Und wenn der Papi dir nichts mitbringt?«
»Dann ßreit ßie!«
»Na, die hat sich vielleicht entwickelt«, sagte Karen lachend
zu der gleichfalls lachenden Meta. »Handelt nach der
Devise: Und bist du nicht willig, so brauch ich Gewalt.«
»Und erreicht damit auch alles, gnädige Frau. Das heißt, sie
hat es erreicht. Denn ich laß dem Trotzköpfchen jetzt
nichts mehr durchgehen.«
»Recht so, Schwester Meta. Liebhaben wollen wir den
goldigen Schelm, aber übern Kopf wachsen darf er uns
dennoch nicht.«
Als sie sich zum Gehen wandte, schob sich ein weiches
Patschchen in ihre Rechte, und zufrieden trollte das Kind
neben ihr her. Auf der Terrasse gab es noch ein
Zwischenspiel mit der Omi, dann entschwand das
ungleiche Paar. Während Karen Platz nahm, fragte die
Mutter:
»Ist Lars schon fort?«
»Ja. Ganz unerwartet wurde er zu einer Konferenz
einberufen, so daß er Hals über Kopf abfahren mußte.«
»Hat er wenigstens etwas gegessen?«
»Gegessen nicht viel, nur den Kaffee getrunken bis zum
letzten Tropfen.«
»Wann kommt er zurück?«
»In vier Tagen.«
»Nun, das ist ja nicht lange.«
Nicht lange – dachte Karen traurig. Nicht lange – und doch
eine halbe Ewigkeit.
Am Abend rief Lars an, erkundigte sich, ob alles in
Ordnung wäre. Karen, die das Gespräch entgegennahm,
bejahte und stellte dann belanglose Fragen, um nur
möglichst lange seiner Stimme zu lauschen. Bildete sie es
sich nur ein, oder schwang tatsächlich ein zärtlicher Ton
darin mit? Sie war ja närrisch. Wie sollte er wohl dazu
kommen.
Am nächsten Abend erwartete sie sehnsüchtig seinen Anruf,
der denn auch kam, aber den darauffolgenden Abend blieb
er aus. So richtig enttäuscht ging Karen zu Bett, schlief
schlecht und fühlte sich am Morgen elend. Nachdem sie
fast kalt geduscht hatte, wurde ihr besser, und der starke
Kaffee tat ihr so richtig gut.
Den Vormittag über arbeitete sie fleißig; ehe sie es sich
versah, war Mittag. Nun noch eineinhalb Tage, dann war
Lars wieder da.
Hoffentlich rief er abends an.
Nachmittags konnte sie sich auf die Arbeit nicht so recht
konzentrieren. Es war ein sehr heißer Junitag. Im Zimmer
brütete die Hitze, die selbst der Ventilator nicht
verscheuchen konnte. Aber im Wald drüben, da mußte es
herrlich kühl sein.
Verlangen stieg in Karen auf, dorthin zu reiten. Wohl
unterdrückte sie es, doch es kam wieder, ließ sich zuletzt
nicht mehr abwehren.
Warum zögerte sie eigentlich? Lars hatte es ihr ja nicht
verboten, ohne ihn zu reiten. Sie wollte sich ja auch nicht
weit weg wagen, nur so ein Stückchen in den kühlen Wald
hinein.
So ging sie denn zum Pferdestall, wo Rillert zufällig
zugegen war. Denn die Pferde betreute er nur so nebenbei,
sein Hauptamt war, das Fabrikgelände sauberzuhalten. Da
er vom Land stammte, hatte er mit Freuden die Pflege der
Pferde übernommen. Ihm machte das Spaß, und es brachte
auch noch einen Nebenverdienst, den er gut gebrauchen
konnte.
Die Stalltür war weit geöffnet, der Ventilator summte, also
konnten die Pferde es schon aushalten.
»Satteln Sie ›Goldchen‹«, sagte Karen zu dem Mann
freundlich. »Ich ziehe indes den Reitdreß an.«
»So ist’s recht, gnädige Frau. Reiten Sie man in den Wald,
da ist es hübsch kühl. Siehst du, ›Goldchen‹, jetzt kannst
du laufen. Und du, ›Edling‹,sei man still. Dich nehm ich an
die Longe, da kannst du im Schatten galoppieren.«
»Das nennt man Gerechtigkeit«, lachte Karen. »Denn bis
nachher.«
Zu Hause traf sie die Mutter nicht an. Die gnädige Frau
wäre mit der Schwester und Hilke unten am See, gab der
Diener Auskunft.
Eine Viertelstunde später erschien Karen wieder bei Rillert,
der das gesattelte Pferd auf und ab führte. Aus dem Stall
kam empörtes Wiehern.
»Jaja, du kommst auch gleich dran«, sprach der Mann zu
dem braunglänzenden Prachtkerl hin. »Laß man den da
mit seinem Frauchen ruhig abreiten.«
Was denn auch geschah. War das eine Lust, so
dahinzureiten. Nicht zu schnell, aber auch nicht zu
langsam, so den richtigen Trab.
Von dem Fabrikgelände führte ein Weg direkt zum Wald,
zu beiden Seiten wogte üppiges Getreide. In wenigen
Minuten war der Wald erreicht, tief zog Karen die würzige
Luft ein.
Ja, hier war es schön, so richtig kühl und erfrischend.
»Goldchen« schien das auch zu gefallen, munter trabte er
dahin.
Das Frauchen dagegen fühlte sich nicht so wohl in ihrer
Haut. Es war so beängstigend still um sie her, kein Lüftchen
schien sich zu regen, die Wipfel der hohen Bäume
bewegten sich kaum. Der Himmel über ihr war nicht mehr
so leuchtend blau, sondern Wolkenverhangen. Dazu wurde
es im Wald immer dunkler.
Da drehte die Reiterin um und bemerkte angstvoll, wie das
Pferd unruhig zu werden begann. Die Ohren spielten, die
Nüstern blähten nervös – doch dann bäumte es hochauf
vor dem Keiler, der plötzlich aus dem Dickicht brach, über
den Weg setzte und im gegenüberliegenden Dickicht
verschwand.
Und dann raste der erschreckte »Goldchen« davon, daß die
Hufe nur so flogen. Die entsetzte Reiterin zog die Kandare
immer fester, doch das aufgeregte Pferd preschte weiter wie
taub und blind.
»Lars!« schrie Karen angstgefoltert. »Lars – so hilf mir
doch!«
In ihrer Not kam es ihr nicht zum Bewußtsein, daß der
Gerufene ja gar nicht helfen konnte, weil er weit weg war.
Aber es konnte wohl einmal ein Wunder geschehen -
Die Sekretärin und ihre Gehilfin waren nicht wenig
überrascht, als der Chef ganz unerwartet das Vorzimmer
betrat; denn er wurde allgemein erst morgen erwartet.
»Guten Tag, meine Damen, alles in Ordnung?« grüßte er
gutgelaunt. Wartete jedoch keine Antwort ab, ging
unverweilt nach seinem Zimmer, sah sich suchend um und
fragte erstaunt:
»Ist meine Frau denn nicht da?«
»Die gnädige Frau ging vor ungefähr einer Stunde fort, Herr
Doktor«, gab die Sekretärin höflich Auskunft. »Dann sah
ich vom Fenster aus, wie sie abritt, dem Wald zu.«
»Um Gottes willen«, murmelte er blaß bis in die Lippen.
»In Kürze kann ein Gewitter losbrechen.«
Weg war er, und die Zurückbleibenden sahen sich
erschrocken an.
»Himmel, wie sah bloß der Chef aus«, flüsterte das junge
Mädchen verstört. »Weiß wie die Wand. Man sah direkt,
wir er die Zähne zusammenbiß, als ob ihm etwas
schrecklich weh täte. O Gott, o Gott – «
»Jammern Sie nicht!« fuhr die Sekretärin sie an. »Mir ist der
Schreck schon so genug in die Glieder gefahren.«
Sie trat ans Fenster, die Gehilfin folgte ihr – und dann
sahen sie ihren Chef über das Gelände laufen, bis er die
Stelle erreicht hatte, wo Rillert den Braunen an der Longe
laufen ließ.
»Los, den Sattel!« rief sein Herr ihm zu, und schon rannte
er davon, als wäre der Böse hinter ihm drein. Außer Atem
kam er gleich wieder zurück, legte mit zitternden Händen
den Sattel auf, wobei der Chef ihm half. Dann zog Lars
seine Jacke aus, warf sie dem Mann zu, schwang sich in den
Sattel und fort ging’s wie die wilde Jagd.
Die Sekretärin und ihre Gehilfin waren nicht die einzigen,
die den Vorgang vom Fenster aus beobachtet hatten. Auch
an andern Fenstern des Verwaltungsgebäudes, so wie an
denen der Hallen standen Menschen und hielten vor
Spannung den Atem an. Großer Gott, wenn ihrem Chef
etwas passierte! Der braune Racker war alles andere nur
kein Lamm, und der Reiter hatte weder Sporen noch Gerte.
Einfach im Straßenanzug war er abgeprescht, warum
überhaupt das alles?
Die es wußten, sagten es den andern, und nun stand man
da und wartete bangen Herzens auf das, was kommen
sollte.
Indes ritt Lars dahin, daß die Erde unter den Pferdehufen
nur so flog. Gottlob dauerte dieser waghalsige Ritt nicht
lange, denn am Ausgang des Waldes raste ihm »Goldchen«
entgegen. Eine harte Faust griff in die Zügel – und schon
stand das Pferd wie festgewachsen da. Es war schwer zu
sagen, wer mehr zitterte, der Fuchs oder die Reiterin. Ehe
sie die klappernden Zähne noch auseinander bekam,
herrschte der Mann sie an:
»Sitz nicht da wie ein flatternder Lappen, nimm Haltung
an. In jeder Minute kann das Gewitter losbrechen, wir
müssen bis dahin von den Pferden sein – sonst gnade uns
Gott! Ich gebe ›Goldchen‹ den Kopf frei – also aufgepaßt!«
Und schon preschten die Pferde davon. Der Himmel war
fast’ schwarz, hie und da zuckte ein Blitz auf, der Donner
grollte beängstigend nah. Doch bevor der Sturm losbrach,
der einem Gewitter voranzubrausen pflegt, hatten die
kühnen Reiter das Fabrikgelände erreicht. Am Tor nahm
Rillert die zitternden Tiere in Empfang, und die beiden
Menschen liefen Hand in Hand davon.
Da brach auch schon das Toben los, so daß sie sich nur
noch taumelnd vorwärtsbewegen konnten. Grelle Blitze
durchzuckten das schwarze Gewölk, der Donner knatterte,
schon fielen die ersten Tropfen. Doch da hatten die beiden
Menschen das Portal erreicht – gerade noch im letzten
Augenblick.
»Verschnauf dich erst ein wenig«, gebot der Mann seiner
Frau, die nach Atem ringend dastand, beide Hände auf das
hartklopfende Herz gepreßt.
Auch der Mann atmete schwer. Schweißtropfen liefen ihm
über das Gesicht, die er mit dem Taschentuch abwischte.
»Ist dir nun besser?« fragte er kurz.
»Ja – «
»Dann komm.«
Die Beine zitterten ihr so, daß sie kaum gehen konnte, aber
tapfer riß sie sich zusammen. Der Lift fuhr die beiden
hoch, gleich darauf durchschritten sie das Vorzimmer,
verschwanden im »Allerheiligsten«.
Und draußen tobte das Unwetter in entfesselter Kraft. Blitz
auf Blitz, Schlag auf Schlag, es schien, als wären alle Teufel
losgelassen. Es war so dunkel im Zimmer, daß man die
Gegenstände darin kaum erkennen konnte.
Karen fürchtete sich unsäglich. Sie kauerte sich in einen der
schweren Sessel, drückte das Gesicht in die Seitenlehne und
zitterte an Leib und Leben.
Wenn Lars sie doch jetzt in die Arme nehmen wollte – aber
er dachte nicht daran. Er stand am Fenster und schaute sich
das Naturspiel an. Der Himmel war jetzt schwefelgelb, die
Blitze wurden immer seltener, der Donner grollte immer
ferner – und dann war das Unwetter so plötzlich
verschwunden, wie es eingesetzt hatte. Es wurde immer
heller, und als Karen zaghaft den Kopf hob, blinzelte sie in
das unerwartete Licht.
Es war kein freundlicher Blick, mit dem sie der Mann
musterte, der schweigend vor ihr verharrte. Nervös setzte
sie sich zurecht und sagte trotzig:
»Du siehst mich an, als ob ich die ärgste Verbrecherin wäre.
Dabei habe ich weiter nichts getan, als auszureiten.«
»Aber ohne mich«, entgegnete er hart. »Und somit ohne die
Aufsicht, die du noch verflixt nötig hast.«
Der flimmernde Kopf flog in den Nacken, furchtlos sahen
die blitzenden Augen in das finstere Gesicht.
»Ich bin sattelfest, das hast du mir selbst zugestanden. Es
wäre auch alles gutgegangen, hätte nicht ein über den Weg
setzender Keiler ›Goldchen‹ erschreckt. Trotzdem habe ich
mich im Sattel gehalten«, setzte sie triumphierend hinzu.
»Warum also dieser Lärm um nichts?«
»Um nichts – «, wiederholte er, und es klang ein Ton in
seiner Stimme mit, der sie aufhorchen ließ. »Ich eile auf
schnellstem Wege nach Hause, um meine Frau mit meinem
verfrühten Kommen zu überraschen und muß erfahren,
daß sie ausgeritten ist – allein – bei drohendem Gewitter.«
»Als ich abritt, war strahlender Sonnenschein. Wie konnte
ich ahnen – «
»Eben, du ahnst überhaupt nichts.«
Es klang so merkwürdig, daß sie seltsam davon berührt
wurde. Scheu sah sie in das blasse Männergesicht, in dessen
Augen ein Ausdruck stand, der sich schwer deuten ließ.
Etwas wie heißer Groll spiegelte sich darin, etwas wie
Schmerz und wehe Trauer – und das gab ihr einen Stich ins
Herz. Sie senkte den Kopf und sagte leise:
»Lars, sei mir nicht mehr böse.«
»Böse?« lachte er hart auf. »Wenn es das nur wäre – aber
laß nur, es hat ja alles keinen Zweck.«
Es klang so mutlos, daß ihr die Tränen kamen.
»Lars, bitte – ich kann dich nicht so sehen«, flehte sie.
»Wenn ich gewußt, welche Folgen der Ritt haben würde,
hätte ich ihn bestimmt unterlassen. Mir war gleich nicht
ganz wohl dabei. Die unheimliche Stille im Wald, die
zunehmende Finsternis darin, dann der Keiler, das
durchgehende Pferd – . ach, Lars, ich habe ja meine Strafe
weg.«
»Gut, daß du es einsiehst.«
»Lars, sei doch nicht so unversöhnlich«, kamen ihr nun
schon die Tränen. »In meiner Angst und Not habe ich laut
nach dir gerufen, obwohl ich doch wußte, daß du mich gar
nicht hören konntest. Aber das Wunder geschah. Du warst
plötzlich da in meiner größten Not. Wie kann ich dir nur
danken?«
»So, wie es dein Herz befiehlt.«
»Dann – ja dann – «
Dann hatte er plötzlich seine schluchzende Frau am Hals,
das Gesicht drückte sich gegen seine Schulter.
»Lars, ich habe mich doch so auf deine Rückkehr gefreut –
habe so große Sehnsucht nach dir gehabt.«
Da war es gesagt, worauf der Mann gewartet hatte, lange,
bange Wochen, mal voll Zweifel, dann wieder voll
Zuversicht. Doch er wollte sich ihr nicht nähern, aus sich
selbst heraus sollte sie ihm sagen, was ihn jetzt so unsagbar
beglückte. Fest schlossen sich die Arme um den weichen
Körper, an ihrem Ohr raunte es:
»Willst du mir das noch einmal sagen? Aber dazu mußt du
dein Köpfchen heben.«
»Lars – «, sagte sie kläglich. »Wenn du mich auch nicht
liebst, das ist mir jetzt egal. Meine Liebe kann ich nicht
mehr länger verbergen.«
Das letzte klang wie ein Hauch, und dennoch hatte es der
Mann verstanden. Die Arme lösten sich, die Hände
umspannten das Gesichtchen zärtlich und weich, und dann
preßten sich seine Lippen auf den lockenden, jungroten
Mund. Immer wieder, unersättlich – alles mußte er
nachholen, was ihm in zehn Wochen verwehrt worden
war.
»Lars – aber das ist doch gar nicht möglich«, kam es
stotternd, als sie wieder frei atmen konnte. »Du liebst mich
doch nicht etwa?«
»Ich erlaube mir, Liebchen«, lachte er mitten in ihre
ungläubigen Augen hinein. »Ich müßte ja aus Stein sein,
wenn ich so viel Schönheit, so viel Charme und so viel
mädchenhafter Süße widerstanden hätte.«
»Einmal hast du es schon getan«, bekannte sie leise.
»Damals, als du mich unbeachtet ließest und die andere
nahmst. Das hat sehr weh getan, Lars.«
»Karen!« sagte er betroffen, ihr Gesicht zu sich
emporhebend, über das dicke Tränen liefen. »Du hast mich
schon immer liebgehabt?«
»Solange ich denken kann. Als du mich verschmähtest – «
»Karen, welch ein häßliches Wort!«
»Aber es ist doch so«, beharrte sie. »Damals habe ich
wahnsinnig darunter gelitten. Aber da ich nicht ein Mensch
bin, der in Jammer versinkt, gelang es mir, diese unselige
Liebe aus dem Herzen zu reißen mit Sumpf und Stiel, wie
ich annahm. Viel trug dazu bei, daß ich dich aus den
Augen verlor – fünf Jahre lang.
Doch dann warst du wieder da, so unglücklich, wo ich dich
doch glücklich wähnte. Du tatest mir so leid, ich habe dir
geholfen – aber lieben, nein, das wollte ich dich nicht
mehr. Wollte nicht noch einmal diese heißen Schmerzen
erdulden, die ich um meine verschmähte Liebe litt. Ich
habe dagegen angekämpft, aber es half alles nichts. Die
Liebe, die ich verlöscht glaubte, flammte wieder auf, heißer
denn je zuvor.
Und du warst so kühl, so reserviert«, klagte sie. »Wie sollte
ich wohl darauf kommen, daß auch du mich liebst. Es war
alles so schwer, Lars.«
»Um Gott, du armes Kind«, sagte er erschüttert. »Was hast
du alles um mich erdulden müssen. Und dabei hätte nur
ein kleines Entgegenkommen von dir genügt.«
»Das konnte ich nicht, Lars. Ich wollte dich ganz oder gar
nicht.«
»Kann ich verstehen – mir ging es nämlich genauso, darum
habe ich mich dir nicht genähert. Aber nun ist alles gut,
nicht wahr?«
»Ja – jetzt bin ich glücklich.«
Für dieses beseligende Geständnis mußte er sie wieder
küssen. Tat es so ausgiebig, bis sie sich energisch
freimachte.
»Du, Luft zum Atmen mußt du mir schon lassen.«
»Feinsliebchen, ich habe doch sooo viel nachzuholen. Du
bist so süß, so zauberhaft schön. Ich kann es noch gar nicht
fassen, daß so viel Holdseligkeit mir gehören soll.«
In dem Moment surrte der Apparat. Lars hob den Hörer ab,
meldete sich und hörte dann die Stimme seiner
Schwiegermutter:
»Gott sei Dank, Junge, daß ich deine Stimme höre. Ich
habe mir schon wieder Sorgen gemacht, es ist doch schon
so spät – «
»Wir kommen, Muttichen, wir kommen – und wie wir
kommen!«
»Ja, sag mal, Lars, bist du etwa berauscht?«
»Jawohl, geliebte Mutz, vor Glück. Gleich sollst du dich
davon überzeugen.«
»Na endlich – «, sagte die Mutter gerührt, als sie in die
glückstrahlenden Gesichter sah. »Lange genug hat es
gedauert – hauptsächlich für Karen – fast sechs Jahre – «
»Mutti, du weißt?« fragte Karen betroffen -
»Natürlich, mein Kind, Mutteraugen sehen scharf. Du warst
so tapfer, aber wahre Liebe läßt sich nicht ausrotten, die
klebt im Herzen zäh wie Pech. Mir hat das alles so weh
getan, mein geliebtes Kind, aber jetzt bin ich glücklich.«
Schon fühlte sie sich von vier Armen umschlungen und auf
die Wangen geküßt. Gerührt streichelte sie über die Köpfe
der beiden Menschen, die ihr Herz so zärtlich umschloß.
Doch dann lachte sie und gab dem Schwiegersohn einen
Nasenstüber.
»Nun, mein Sohn, wie war das denn: Das Warten soll mich
nicht verdrießen, ich weiß genau, du kommst zu mir – ist
sie wirklich gekommen?«
»Ja – ich tat es«, lachte Karen so recht von Herzen froh.
»Aber auch mein Warten hat sich gelohnt. Ich setzte meine
ganze Hoffnung auf diese Verheißung:
Was willst du viel sorgen auf morgen? Der Eine steht allen
für er gibt auch dir das Deine.«
-ENDE-