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DAS HÄSSLICHE ENTLEIN 

Roman von Leni Behrendt 

 

 

 

Herzlos hat sich die eitle, oberflächliche Frau von Barnim 
von ihrer jüngeren Tochter abgewendet, hat das »häßliche 
Entlein« vernachlässigt und alle ihre Mutterliebe der hüb-
schen, reizvollen Fee geschenkt, die sie zu einem egoisti-
schen, verwöhnten Geschöpf heranzieht. Eine alte Tante 

erbarmt sich Gudruns, und bei ihr wächst das Kind nun 
auf. Freilich, ein häßliches Entlein bleibt es, auch als es ein 

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junges Mädchen geworden ist. In unmöglichen, altmodi-
schen Kleidern, mit Riesenbrille und schauderlicher Frisur 

läuft die Studentin Gudrun herum, zum Gespött ihrer Um-
gebung. Und dieses Mädchen wird plötzlich Braut und 
bald darauf die Frau eines Mannes, der weit und breit we-
gen seiner überragenden Persönlichkeit und seines fabel-
haften Aussehens beliebt und berühmt ist! Was steckt da-
hinter? Vergebens zerbricht sich alle Welt die Köpfe, um 
hinter das Geheimnis zu kommen. 

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Wir verwenden Papier, das bis zu 70% aus Altpapier besteht. Das ist unser Beitrag 

zum Umweltschutz. 
Diese Ausgabe erscheint alle 4 Wochen im Martin Kelter Verlag (GmbH & Co.), 
Mühlenstieg 16-22,2000 Hamburg 70, Postfach 70 10 09, 

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che Mehrwertsteuer enthalten. 

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Für unaufgefordert eingesandte Manuskripte übernimmt der Verlag keine Ge-
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Abgebildete Personen auf dem Umschlag stehen in keinem Zusammenhang mit 
dem Roman. 
Diese Ausgabe darf weder in Leihbüchereien verliehen noch in Lesezirkeln geführt 

oder zum gewerbsmäßigen 
Umtausch bzw. Wiederverkauf verwendet werden. 
Printed in Germany. 

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»Schalk, alter scheinheiliger Schwerenöter, wirst du wohl!« 
drohte Graf Hellmarck seinem Dackel, der sich ein Vergnü-

gen daraus machte, dem Stallburschen, der den Schnee von 
dem breiten Kiesweg fegte, mit bewundernswerter Aus-
dauer und unnachahmlichem Geschick an den Hosenbo-
den zu springen und seine scharfen Zähne daran zu erpro-
ben. 
Langsam, die krummen Beine wie im Tanzschritt überei-
nandersetzend, begab er sich zu Herrchen, der ihm lachend 
die langen Ohren zauste, und sah ihm treuherzig in die 
Augen, wie der bravste, harmloseste Hund von der Welt. Er 
blieb auch sittsam an Herrchens Seite und sah so aufmerk-
sam zu ihm auf, als verstände er jedes Wort der Unterre-
dung, die Herrchen mit dem Förster hatte. 

Doch das nur scheinbar – denn in Wirklichkeit schielte er 
zu seinem Feind hin, dem er den Fußtritt, den er vor Wo-
chen von ihm erhalten, immer noch nicht vergessen konn-
te. Darum ließ er keine Gelegenheit vorübergehen, sich für 
diese ihm angetane Schmach zu rächen. 
Und nun war eine wundervolle Gelegenheit dazu. Herr-
chen war bei ihm, und der schlaue Dackel wußte genau, 
daß niemand es wagen durfte, ihm etwas zuleide zu tun, 
wenn er auch noch so frech war. Außerdem konnte der 
Stallbursche auf seine Angriffe nicht so achten: unter den 
Augen des Herrn mußte seine Aufmerksamkeit der Arbeit 
gelten, die nicht eben leicht war. 

Denn tagelang hatte es ununterbrochen geschneit. Türme, 
Erker und Simse des feudalen, ehrwürdigen Schlosses Ho-
henwerth hatten blendend weiße Käppchen auf. Doch auf 
dem breiten Weg, der vom Schloß zu dem kunstvoll gear-
beiteten schmiedeeisernen Tor führte, durch das man auf 
die schnurgerade Allee zu sehen vermochte, konnte der 
Schnee nicht geduldet werden, und es war Arbeit der Stall-
burschen, ihm zu Leibe zu gehen. 
Graf Hellmarck wandte sich wieder dem Förster zu, der 
genauso wie sein Herr über den gerissenen Schalk, der we-
gen seiner Streiche bekannt war, herzlich gelacht hatte. Der 

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Förster setzte seinen Bericht fort, dem der Gebieter interes-
siert lauschte. 

Ruhig, lässig, stand der Graf vor dem Förster, der immer 
erregter wurde, je länger er sprach. 
»Ja, mein lieber Förster«, entgegnete er mit seiner dunklen, 
herrischen Stimme, als der Förster seinen Bericht beendet 
hatte, »da nützt uns alle Empörung nichts. Herr Kose hat es 
leicht, unverschämt zu sein, er nützt eben meine Zwangsla-
ge aus. Jedenfalls bleibt keine andere Wahl, – wir müssen 
das Holz für den Preis abgeben, so leid es mir auch tut.« 
Es zuckte in dem wetterharten Gesicht des Försters, und 
sein Herr legte ihm die Hand auf die Schulter. 
»Lieber Förster, ich weiß, es tut Ihnen weh – genau wie mir 
– doch die Verhältnisse sind stärker als wir. Wir müssen 

unsere lieben alten Baumriesen fällen. Vielleicht ist es Ih-
nen ein Trost, wenn ich es Ihnen überlasse, den Wald an 
den Stellen zu holzen, die es vertragen können. Die Bäume 
stehen stellenweise wirklich sehr dicht. Und dann können 
Sie ja wieder neu anpflanzen.« 
»Ach ja, das ist noch ein Trost in all dem Jammer! Dieser 
Kerl, dieser Kose -!« ergrimmte sich der Förster. 
»Schelten Sie mir diesen patenten Mann nicht!« lachte der 
Graf. »Wenn der nicht wäre und uns immer wieder Geld 
gäbe, dann könnten wir schon heute einpacken, dann wüß-
te ich nicht, wovon ich im Januar die Wechsel bezahlen 
sollte.« 

»Wird schon wissen, weshalb er es tut«, knirschte der För-
ster immer ingrimmiger. 
»Na ja, aus lauter Menschenfreundlichkeit gewiß nicht, 
mein Getreuer. Doch er oder ein anderer – das ist schließ-
lich egal – « 
Er wandte sich um und sah einem Auto entgegen, das soe-
ben durch das schmiedeeiserne Tor fuhr und sich einen 
Weg durch den Schnee bahnte. Vor dem Portal des Schlos-
ses hielt es, und eine Dame entstieg ihm. 
Die Hüte der beiden Herren flogen hoch. Sie dankte und 
zögerte einen Augenblick, ob sie sie begrüßen sollte. Doch 

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dann bemerkte sie den Blick des Försters, der sie mit un-
verhohlener Abneigung musterte, stieg die Freitreppe em-

por und verschwand im Schloß. 
Die Blicke des Försters waren dem Grafen nicht entgangen, 
und ein amüsiertes Lächeln huschte über sein Gesicht. 
Dann sprachen sie wieder über geschäftliche Dinge, die 
äußerst schwierig zu erörtern waren. Denn das stolze, 
prächtige Hohenwerth, das schon seit Jahrhunderten im 
Besitz der Grafen Hellmarck war, entglitt langsam, aber 
unaufhaltsam den Händen dieses letzten Hellmarck. Und 
so mußte man zu retten suchen, was noch zu retten war, 
um wenigstens den Termin, an dem dieser letzte Sproß 
eines alten, stolzen Rittergeschlechts von dem Erbe seiner 
Väter weichen mußte, hinauszuschieben. 

Während der Graf und sein Förster hin und her berieten, 
wie sie am zweckmäßigsten die Holzung des Waldes vor-
nehmen sollten, ließ sich die Dame, die soeben das Auto 
verlassen hatte, in der Halle des Schlosses von dem Diener 
den Pelz abnehmen und eilte zu den Gemächern ihrer 
Tochter, der jungen Herrin von Hohenwerth. 
Diese lag in ihrem Boudoir auf dem Diwan und las in ei-
nem Buch. Sie war ein allerliebstes, puppenhaftes Geschöpf 
mit einem niedlichen Kindergesicht, blauen Augen und 
winzigen Händen und Füßen. 
Sehr elegant, sehr verwöhnt, eigenwillig, launenhaft, ober-
flächlich, verschwenderisch – so ein echtes, rechtes Luxus-

weibchen. 
Beim Eintritt Frau von Barnims, ihrer Mutter, sah sie von 
ihrem Buch auf und gähnte laut und ungeniert. Die Erre-
gung der Mutter entging ihr nicht, und sie musterte sie 
neugierig. 
»Was hast du denn, Ma?« fragte sie, in der Hoffnung, eine 
Neuigkeit zu erfahren, nach der sie geradezu lechzte. Es 
passierte so wenig, so absolut gar nichts in dem öden, 
langweiligen Hohenwerth. 
Die Mutter ließ sich in einen der zierlichen Sessel sinken 
und schaute so kläglich drein, daß die Tochter unange-

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nehm berührt wurde. Eine Neuigkeit brachte die Mutter 
zweifellos – doch war sie unangenehmer Art? 

»Püppchen – o, mein armes Püppchen – wir sind verlo-
ren!« sagte die Mutter in tragischem Tonfall, der lächerlich 
wirkte. »Denk dir, die Testamentseröffnung hat soeben 
stattgefunden. Ich wurde überhaupt nicht zugelassen, was 
mir gleich sehr sonderbar erschien. Ich ging also zu Rönner 
– ich dachte, mich rührte der Schlag bei der Mitteilung, die 
er mir machte! Hermine ist gar nicht reich gewesen; sie hat 
eben nur so viel besessen, um von den Zinsen notdürftig 
leben zu können. Und dann noch die Niedertracht dieser 
scheinheiligen Person! Denk dir nur, den einen Teil dieses 
Vermögens hat sie dem Diener und der Dienerin vererbt, 
ihr Haus mit allem Mobiliar der Stadt für wohltätige Zwek-

ke geschenkt. Gudrun ist also so gut wie enterbt, hat gerade 
nur so viel, um ihr Studium zu Ende führen zu können. 
Und dazu habe ich dieser Person mein Kind überlassen, 
mein kleines häßliches Entlein! Hermine galt doch immer 
für reich – und nun dies.« 
Die junge Gräfin hatte sich aus ihrer bequemen Stellung 
aufgerichtet und sah die Mutter entsetzt an. 
»Und was nun, Ma?« fragte sie ratlos. 
»Ja, Püppchen, das weiß ich auch nicht. Bernulf darf auf 
keinen Fall etwas von deinen Schulden erfahren, und wir 
müssen Gudrun dazu bringen, dir die Summe vorzustrek-
ken, die du benötigst. Wir können ihr das Geld ja allmäh-

lich wieder zurückgeben. Bernulf muß eben dein Nadelgeld 
erhöhen, das sowieso schäbig genug ist; sonst hättest du es 
doch nicht nötig, Schulden zu machen, nur um dich eini-
germaßen standesgemäß kleiden zu können.« 
Die Gräfin wollte etwas darauf erwidern, doch die Mutter 
legte den Finger an die Lippen. Denn im Nebenzimmer 
wurde eine Tür geschlossen, und gleich darauf betrat der 
Schloßherr das Zimmer der Gattin »Guten Tag, Mama«, 
sagte er und machte eine knappe Verbeugung zu der 
Schwiegermutter hin. Dann suchte sein Blick die Gattin, 
wurde hart und streng. 

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»Du bist noch nicht angekleidet, Fee – um zwölf Uhr?« 
»Aber Bernulf, das Kind – « 

Der unwillige Blick des Grafen ließ Frau von Barnim ver-
stummen. Diese elegante, für ihr Alter noch überraschend 
gut aussehende Frau fürchtete niemand sonst als ihren 
Schwiegersohn. Und dabei war er doch immer höflich zu 
ihr, von einer farblosen, korrekten Höflichkeit, die ihr auf 
die Nerven ging und bei der sie nie wußte, woran sie war. 
»Warum bist du noch nicht angekleidet, Fee?« wiederholte 
der Graf seine Frage. »Warum liegst du um die Mittagszeit 
in diesem ungewaschenen, ungepflegten Zustand in diesem 
entsetzlich unordentlichen Zimmer herum und schlägst 
deine Zeit mit der Lektüre zweifelhafter Romane tot?« 
»Ich fühle mich immer noch nicht wohl«, schmollte die 

kleine Frau, und ihre Augen füllten sich mit Tränen. 
»Das ist keine Entschuldigung«, herrschte der Gatte sie an. 
»So schwach kannst du nicht sein, daß du dich nicht ein-
mal waschen, dir die Haare nicht kämmen kannst. Brauchst 
es nicht einmal allein zu tun, hast die Zofe zu deiner Be-
dienung. Und hast einen ganzen Dienertroß, der wohl da-
zu imstande sein dürfte, deine Gemächer in Ordnung zu 
halten. Du weißt doch, wie verhaßt mir dies alles ist.« Da-
bei deutete er mit einer kreisenden Handbewegung auf die 
beispiellose Unordnung, die in dem Zimmer herrschte. 
»Mich packt jedesmal ein Grauen, wenn ich deine Räume 
betreten muß.« 

»Aber Bernulf, dafür darfst du Püppchen doch nicht ver-
antwortlich machen«, wagte Frau von Barnim einzuwen-
den. »Die Dienerschaft ist so minderwertig, daß man wirk-
lich nichts mit ihr anfangen kann. Und Püppchen kann 
sich doch nicht mit den Leuten herumärgern, darf sich 
doch nicht aufregen. Hast du denn ganz vergessen, was sie 
vor einigen Wochen gelitten hat?« 
»Na ja, gewiß, ich verlange doch keine Kraftanstrengung 
von Fee«, sagte der Graf, immer unwilliger werdend. »Au-
ßerdem ist das Kind vier Wochen alt. In der Zeit haben 
andere Frauen sich so weit erholt, daß sie nicht zerzaust 

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den ganzen Tag auf dem Diwan herumliegen müssen.« 
»Du kannst andere Frauen doch auch nicht mit meinem 

zarten, süßen Püppchen vergleichen«, entgegnete die Mut-
ter gereizt, erschrak jedoch sofort über ihre Kühnheit. Sie 
atmete erleichtert auf, als der Graf die Achseln zuckte und 
das Zimmer verließ, eilte zu der Tochter hin und strich ihr 
zärtlich über das Wuschelköpfchen. 
»An welchen Barbaren das Schicksal dich gekettet hat!« 
klagte sie. »Du hättest doch lieber den reichen Grolle heira-
ten sollen. Er ist nicht so schön und vornehm wie dein 
Mann, doch er hätte dich besser zu würdigen verstanden.« 
Die kleine Frau, die sich selbst sehr bedauernswert vorkam, 
weinte einige Minuten herzzerbrechend an der Mutter 
Brust. Doch dann richtete sie sich plötzlich auf. 

»Ma – wenn Bernulf von den Schulden erfährt, dann läßt er 
mich bestimmt nicht nach St. Moritz fahren!« 
»Fertig bekommt er es schon«, bestätigte die Mutter, »dar-
um darf er auf keinen Fall etwas erfahren. Wir werden Gud-
run schon herumkriegen, daß sie uns das Geld gibt. Über-
haupt – diese Geheimniskrämerei wegen der lumpigen 
paar tausend Mark! Und Bernulf ist schuld; warum hält er 
dich so knapp? Er hat sich in letzter Zeit sehr verändert; in 
der ersten Zeit eurer Ehe war er viel großzügiger. Ich glau-
be, er steht kurz vor dem Bankrott.« 
»Meinst du wirklich, Ma?« fragte die kleine Frau, und ihre 
Augen weiteten sich vor Entsetzen. »Aber was dann? Ein 

Leben in Armut kann ich nicht ertragen!« 
»Ich weiß das ja, mein Püppchen«, tröstete die Mutter. 
»Deswegen mache dir nur keine Kopfschmerzen, wir wer-
den schon einen Ausweg finden. Meine größte Sorge ist 
jetzt Gudrun. Wenn sie womöglich auf die Idee kommen 
sollte, bei mir leben zu wollen – dieses häßliche Entlein! 
Für die kriege ich nie einen Mann und habe sie dann mein 
Leben lang auf dem Hals!« 
»Ach, das wollen wir ihr schon ausreden«, meinte Fee zu-
versichtlich. »Ob sie immer noch so häßlich ist? Ich habe 
sie jahrelang nicht gesehen.« 

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»Püppchen, ich sage dir, unmöglich sieht sie aus. Und an-
gezogen – eine Vogelscheuche ist gar nichts dagegen – ganz 

nach Hermines Muster. Der reinste Studentenschreck!« 
»Weißt du, Ma, du machst mich direkt neugierig auf meine 
Schwester.« 
Und nun bekam Fee plötzlich Lust, sich anzukleiden. So 
erhob sie sich und gab der Mutter zu verstehen, daß sie 
ihren Besuch nicht länger ausdehnen möchte. Bat sie noch, 
dafür zu sorgen, daß Gudrun nach Hohenwerth käme. 
»Wo hält sie sich überhaupt auf?« 
»Bei dieser unausstehlichen Röstel«, entgegnete Frau von 
Barnim nervös. »Die Person wird sie kaum allein nach Ho-
henwerth lassen, wird sicherlich mit ihr kommen, so daß 
man kein Wort ungestört mit Gudrun sprechen kann. 

Kannst du denn nicht auf Bernulf einwirken, daß das Thea-
ter, das er mit dieser scheinheiligen alten Jungfer macht, 
aufhört?« 
»Na, versuch du es doch«, riet ihr die Tochter wütend. Der 
Name Röstel wirkte auf die kleine Frau ungefähr so wie ein 
rotes Tuch auf einen Stier. Die Mutter hatte ihr wirklich die 
Laune verdorben. Diese kannte ihr verhätscheltes Töchter-
lein nur zu gut und hielt es daher für ratsam, sich schleu-
nigst aus dem Staub zu machen. 
Frau von Barnim gelang es wirklich, Gudrun am nächsten 
Tag nach Hohenwerth zu bringen. Sie traf die Tochter auf 
der Straße des Städtchens, in dem auch sie wohnte, und 

erzählte ihr, wie große Sehnsucht Fee nach ihr hätte; daß 
sie jedoch nicht zu ihr kommen könne, da sie sich immer 
noch nicht von der Geburt des Kindes erholt habe. 
»Entlein, wie nett, daß du kommst! Willkommen auf Ho-
henwerth!« rief sie mit ihrer hellen Stimme. 
Gudrun war wie betäubt. Sie hatte noch nie Gelegenheit 
gehabt, etwas so Herrliches zu schauen wie in den letzten 
Minuten. Ihr Blick ging im Zimmer der Schwester umher, 
und das war eigentlich die erste Enttäuschung, die sie erleb-
te, seitdem ihr Fuß Hohenwerth betreten. Dieser Raum 
paßte nicht zu der feudalen Pracht des Schlosses. Er war 

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wohl auch luxuriös, gewiß – doch er paßte nicht. Graf 
Hellmarck war für dieses Gemach nicht verantwortlich zu 

machen, denn Fee hatte die Einrichtung mit in die Ehe 
gebracht. Die Mutter hatte sich Geld dazu geliehen, um die 
Tochter ausstatten zu können – das der Graf später zurück-
zahlen mußte, weil Frau von Barnim dazu nicht in der Lage 
war. 
Gudrun konnte die Herzlichkeit der Schwester nicht erwi-
dern, sie blieb stumm und steif. Etwas Hochmütiges lag in 
ihrem Gebaren, was Fee unglaublich ärgerte. Was dieses 
häßliche Entlein dachte! Leider mußte sie ja jetzt Herzlich-
keit und Liebenswürdigkeit vortäuschen. 
Doch nachher, wenn sie erst das Geld hatte, wollte sie ihr 
diesen Hochmut schon austreiben. 

Eigenhändig holte Fee Erfrischungen herbei, was bei ihrem 
sonstigen Phlegma anerkennenswert war, und nötigte die 
Schwester immer wieder, etwas zu genießen. Doch Gudrun 
konnte es beim besten Willen nicht, die Kehle war ihr wie 
zugeschnürt, und das scharfe, aufdringliche Parfüm, das 
sich in dem Raum unangenehm bemerkbar machte, be-
nahm ihr fast den Atem. Dazu war ein unerklärliches 
Angstgefühl in ihr. 
»Iß doch etwas, Entlein«, bat Fee mit ihren süßesten Tönen, 
»sonst muß ich annehmen, daß es dir bei mir nicht gefällt. 
Bernulf kann dich leider nicht begrüßen, er ist in die Stadt 
gefahren.« 

Das Angstgefühl in Gudrun wurde immer stärker. Sollte 
man ihretwegen solche Umstände machen? 
O nein, Gudrun war zu klug, das anzunehmen. 
Und da kam auch schon die Erklärung für das ungewohnte 
Entgegenkommen von Mutter und Schwester. Das Mäd-
chen atmete ordentlich erleichtert auf, daß es jetzt wußte, 
was man wollte. 
Also Geld sollte sie geben -! 
Selbstverständlich, das hätte sie längst wissen müssen. Ob 
der stolze, vornehme Schloßherr von Hohenwerth wohl 
darum wußte, daß seine Frau und seine Schwiegermutter 

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ein alleinstehendes Mädchen, das sich durchs Leben schla-
gen mußte, um das kleine Vermögen prellen wollten, das 

ihre Adoptivmutter ihr hinterlassen hatte? 
»Sieh mal, mein Entlein, ihr seid doch Schwestern«, ließ 
Frau von Barnim ihre Überredungskunst spielen. »Glaub 
nur, Püppchen würde dich nicht im Stich lassen, wenn du 
dich in der gleichen verzweifelten Lage befändest wie sie 
augenblicklich. Was sind für dich lumpige zwanzigtausend 
Mark? Eine Bagatelle – « 
Gudruns eigentümlicher Blick ließ sie schweigen. Und nun 
sprach das Mädchen – ruhig, sachlich. 
»Zwanzigtausend Mark kann ich euch leider nicht zur Ver-
fügung stellen, selbst wenn ich es wollte. Mutter Hermine 
hat mir wohl ein kleines Vermögen hinterlassen, doch ich 

darf vorläufig nur die Zinsen davon verbrauchen. Bis zu 
meinem dreiundzwanzigsten Geburtstag – oder bis zu 
meiner eventuellen Heirat, falls die früher stattfinden soll-
te. Dann allerdings kann ich auch über das Vermögen frei 
verfügen.« 
»So heirate doch schnell, Entlein!« riet ihr die oberflächli-
che, gedankenlose Fee. Doch da lachte Gudrun auf; unend-
lich amüsiert klang ihr Lachen. 
»Nein, liebe Fee, so groß ist meine Opferfreudigkeit denn 
doch nicht. 
Und was würde dir meine Heirat nützen? Dann brauchte 
ich doch das Geld, um mir eine Aussteuer anzuschaffen, 

und könnte dir die zwanzigtausend Mark ebensowenig zur 
Verfügung stellen wie jetzt, denn viel mehr macht nämlich 
mein ganzes Vermögen nicht aus.« 
Das mußte die kleine Frau allerdings einsehen. Sie seufzte 
schwer und sorgenvoll. 
»Hör mal, Entlein, du wirst dich doch nicht damit zufrie-
dengeben, daß Hermine ihren Dienern das Geld und der 
Stadt das Haus vermacht hat?« fragte die Mutter. »Du bist 
doch die alleinige Erbin und kannst dieses unsinnige Te-
stament anfechten.« 
»Warum?« entgegnete Gudrun gelassen. »Mutter Hermine 

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wird schon gewußt haben, warum sie es tat, und mir steht 
nicht das Recht zu, ihre letztwilligen Verfügungen anzu-

fechten. Die beiden Diener haben Jahrzehnte für sie gear-
beitet, waren ihr treu ergeben- und erhielten einen wahren 
Hungerlohn. Da ist es nur richtig von Mutter Hermine, daß 
sie Albert und Emma im Testament bedacht hat. Und das 
Häuschen hat für mich keinen Wert. Die Stadt hat viel bes-
sere Verwendung dafür; man hat irgendein Stift daraus ge-
macht.« 
»Nenne dieses alte Greuel nicht Mutter, ich kann das nicht 
hören!« schrie Frau von Barnim erbost. 
»Und warum nicht?« fragte Gudrun ruhig. »Sie war doch 
meine Mutter. Was ich bin und habe, – alles hat sie aus mir 
gemacht.« 

Diese Ruhe brachte die Mutter zur Raserei. 
»Aus dir gemacht – hahaha – du häßliches, häßliches Ent-
lein!« 
»Halt!« 
Die Köpfe schnellten herum, und alle drei sahen den 
Schloßherrn. Er hatte sich gegen den Türpfosten gelehnt, 
die Arme über der Brust verschränkt. Sie sahen, wie die 
seine Stirn bedeckende Röte sich langsam verlor und die 
dicken Adern an seinen Schläfen zurückgingen. Doch das 
kalte Glitzern in seinen Augen blieb, und nicht minder die 
drohende Haltung. 
»Bernulf – du!« stammelte Frau von Barnim mit bebenden 

Lippen und ließ sich auf den Diwan sinken, auf dem Fee 
bereits kauerte, Angst und Entsetzen in den Augen. 
Nicht oft hatte sie den Gatten so gesehen, doch jedesmal 
hatte sie Entsetzen gepackt. 
»Was geht hier vor?« 
Seine Stimme klang ruhig, doch so drohend, so eisig, daß 
selbst Gudrun erschauerte. 
»Was geht hier vor?« 
Noch herrischer, noch drohender waren jetzt seine Worte. 
Es war gar nicht möglich, zu antworten, sie konnten es ein-
fach nicht. 

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»Dann will ich es euch sagen«, klang die schreckliche 
Stimme wieder auf. »Ich stehe nämlich schon eine ganze 

Weile hier. Ihr wart so vertieft in euer Gespräch, daß ihr 
mich nicht bemerktet. Nicht einmal den Mut zur Wahrheit 
habt ihr – pfui Teufel! Und so etwas ist nun meine Frau, 
die Mutter meines Kindes!« Das letzte klang wie ein Stöh-
nen. 
»Habt ihr wirklich weder Ehr- noch Schamgefühl?« fuhr er 
fort. »Einem Mädchen, das allein auf der Welt steht, sein 
Geld abnehmen zu wollen und es zu schmähen, wenn es 
nichts geben kann!« 
Stille – bedrückende Stille. 
Und dann wieder die Stimme, jetzt unendlich müde. 
»Noch ein letztes Mal will ich eure Schulden bezahlen. Legt 

die Belege auf meinen Schreibtisch. Doch ich sage euch, es 
ist das letzte Mal!« 
Wie zwei verprügelte Hunde duckten Fee und ihre Mutter 
sich bei diesen Worten. Dann wandte der Graf sich an 
Gudrun, die unbeweglich dastand, den Kopf tief gesenkt. 
»Kommen Sie, Gudrun, Traude wartet auf Sie. Das ist auch 
der Grund, weshalb ich Sie hier suchen kam – und so nette 
Sachen hören mußte. Ich bin Traude in der Stadt begegnet, 
und da ich erfahren hatte, Sie seien nach Hohenwerth ge-
fahren, brachte ich Traude mit.« 
Gudrun folgte ihm. Es ging durch zahlreiche prunkvoll 
ausgestattete Zimmer, deren Einrichtung sonst eine Au-

genweide für Gudrun gewesen wäre. Doch jetzt ging sie 
achtlos daran vorüber; sah immer noch die kalten, glit-
zernden Augen vor sich, hatte den Klang der herrischen, 
eiskalten Stimme im Ohr. 
In dem Besuchszimmer wäre sie Traude Röstel fast in die 
Arme getaumelt. 
»Aber Gudrun, mein Entlein!« rief diese erschrocken. »Was 
hast du nur?« 
Ihr Blick flog zu dem Grafen hin, der in einem Sessel lehn-
te und eine Zigarette in Brand steckte. Sie kannte den Ber-
nulf doch! Seine Ruhe täuschte sie nicht, diese Ruhe, die 

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alles zu verdecken schien, was in ihm gärte und tobte. 
»Ihr habt euch doch nicht etwa gezankt?« fragte sie mit 

einem Blick auf Gudrun und den Grafen. Und da mußte er 
lachen. 
»Liebe Traude, ich sehe meine Schwägerin heute zum ers-
tenmal.« 
»Ach ja, richtig. Aber wollt ihr mir nicht sagen –?« 
»O nein, Traude, zerbrich dir dein gescheites Köpfchen 
nicht über Sachen, die dich nichts angehen.« 
»Nun seht doch einer diesen frechen Bengel!« rief Traude 
entrüstet, doch ihre Augen lachten. »Und so was hat man 
nun in der Jugend betreut und verhätschelt!« 
Nun mußte auch Gudrun lachen, und die Situation war 
gerettet. Der Graf und Traude plauderten miteinander, 

während Gudrun wie ein Häufchen Unglück in ihrem Ses-
sel kauerte. Zum Erbarmen elend sah sie aus, blaß und 
hager das Gesicht, das fein geschnitten war und das eine 
Intelligenzbrille besonders großen Formats halb verdeckte, 
die ihm ein beinahe groteskes Aussehen gab. Das straff 
zurückgekämmte, in einem Netz von vorsintflutlicher Fas-
son steckende Haar mußte entschieden mit Klettenwurzelöl 
behandelt sein, um es so fettglänzend, so strähnig zu ma-
chen. 
Und dann diese einfach unglaubliche Kleidung! Die 
schwarze Bluse aus billigem Stoff war hochgeschlossen. 
Fehlte nur noch die riesengroße Brosche aus Email, mit 

Blumen bunt bemalt – und eine Dame des vorigen Jahr-
hunderts war fertig. Der Graf hätte wetten mögen, daß der 
lange Rock Stoßkante und Plüschborte aufwies, wie sie 
unsere Großmütter an den Röcken trugen. Und die 
Strümpfe waren sicherlich aus gefärbter Schafwolle ge-
strickt, warm und haltbar. 
Unglaublich, daß man ein junges Mädchen so zur Vogel-
scheuche machen konnte! Wie lange dauerte es, dann war-
en die schönsten Jugendjahre dahin, und das arme, be-
dauernswerte Geschöpf wurde eine alte, verbitterte Jungfer, 
wie ihre verstorbene Adoptivmutter es gewesen war. 

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Der Graf kannte die traurige Geschichte dieses Mädchens; 
er hatte sie durch seinen Schwager Gero von Barnim erfah-

ren. Frau von Barnim, diese vergnügungssüchtige, ober-
flächliche Weltdame, hatte selbstverständlich weder Zeit 
noch Interesse für ein Baby. Eines mußte man ja haben, 
das sah sie ein. Und so liebte sie ihr erstgeborenes Kind, 
das niedliche, zartgliedrige Püppchen, denn auch mit wah-
rer Affenliebe. Damit war alles, was an guten und weichen 
Gefühlen in ihr war, vollkommen verausgabt, und für ih-
ren Sohn, der ein Jahr später geboren wurde, blieb nichts 
mehr an Mutterliebe übrig. Doch sie ließ ihn noch gnädig 
gelten, es war immerhin ein Junge, auf den man später viel-
leicht stolz sein konnte. Damit war ihr Interesse für ihn 
erschöpft. 

Ihr Entsetzen war grenzenlos, als drei Jahre später noch ein 
Mädchen geboren wurde – und gar noch ein ganz beson-
ders schwaches, kümmerliches. 
»O dieses häßliche, häßliche Entlein!« hatte die Mutter 
ausgerufen, als man ihr das neugeborene Kind in den Arm 
legte. »Wie komme ich zu diesem häßlichen Kind? Und es 
ist auch noch ein Mädchen!« 
Ihr vergöttertes Püppchen war ein allerliebstes Kind, der 
Junge war auch hübsch – und nun dieses häßliche Baby? 
Sie mochte das Baby überhaupt nicht sehen, überließ es 
fremden Händen, nannte es nie anders als häßliches Ent-
lein, so daß das Kind diesen Namen behielt und nie anders 

genannt wurde. Das Kind war eben häßlich, und keiner 
nahm sich die Mühe, es genauer anzusehen. Es lebte still 
für sich, erhielt das nötige Essen, trug die abgetragenen 
Kleider der Schwester, machte sich so unsichtbar wie mög-
lich und fiel niemand zur Last. Stundenlang konnte die 
Kleine in einem Winkel sitzen und mit der abgelegten 
Puppe der Schwester spielen. Nie durfte sie in das Besuchs-
zimmer kommen, während das verhätschelte Püppchen, 
um das sich das ganze Haus drehte, aufgeputzt den Gästen 
vorgezeigt wurde – ein echtes Paradekind, auf das die Mut-
ter ungeheuer stolz war, während sie sich der jüngsten 

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Tochter schämte. 
So vergingen vier Jahre, als eine entfernte Verwandte, Fräu-

lein Hermine von Barnim, zu Besuch kam. Ein unliebens-
würdiges, verbittertes Fräulein, das die Gabe besaß, sich 
geradezu unglaublich lächerlich zu kleiden. Bei ihrer Frage 
nach den Kindern wurde ihr zuerst das Püppchen vorge-
führt, das sie aber kaum ansah, weil es ihr wie ein aufge-
putzter kleiner Affe vorkam. 
»Habt ihr nicht auch einen Jungen?« hatte sie gefragt, wo-
rauf Gero präsentiert wurde. Man behandelte diesen Gast 
mit großem Respekt, denn man dachte an das Geld, das 
man später vielleicht erben konnte. 
Gero fand bedeutend mehr Gnade vor den Augen des Fräu-
leins, das einen scharfen, durchdringenden Blick hatte. 

Und dann kam die Frage nach dem dritten Kind. Frau von 
Barnim sträubte sich heftig, der Tante die Kleine zu brin-
gen, doch es nützte ihr nichts, Fräulein Hermine bestand 
auf ihrem Willen. 
So wurde denn das kleine, häßliche Entlein herbeigeholt. 
Schüchtern kam das Kind ins Zimmer, stand stumm und 
steif da und musterte die fremde Frau mit großen, ängstli-
chen Augen. In den abgelegten, ihr viel zu großen Kleidern 
der Schwester, eine zerzauste Puppe fest an die kleine Brust 
pressend, so stand sie vor Fräulein Hermine, die sie lange 
ansah. 
»Gib mir das Kind, Daisy«, hatte sie gesagt, und Frau von 

Barnim wäre fast vom Stuhl gefallen vor Schreck. 
»Aber mit tausend Freuden, liebe Hermine!« hatte sie geru-
fen und sah schon im Geiste Millionen durch ihre Hände 
rollen, die ihr häßliches Kind später erben würde. Vorläufig 
war allerdings nichts zu erhoffen, denn Fräulein Hermine 
war sehr sparsam – geizig nannte es Frau Daisy. 
»Selbstverständlich mußt du mir alle Rechte an das Kind 
abtreten«, hatte Fräulein Hermine gesagt, »ich will es ganz 
für mich allein haben, mir in ihm eine Stütze für mein Al-
ter erziehen und einen brauchbaren Menschen aus der 
Kleinen machen. Das Kind verkümmert bei dir ja doch 

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nur.« 
Frau Daisy hatte die scharfen Worte hinuntergeschluckt, 

was wirklich eine Leistung für sie war. Die Millionen lock-
ten doch zu sehr, ihnen zuliebe konnte man schon etwas 
einstecken. 
So war das kleine Entlein mit der Tante gegangen. 
Die menschenscheue, verbitterte Hermine von Barnim hü-
tete ihr Töchterchen wie ein Zerberus und wußte es stets zu 
verhindern, daß die Kleine mit Eltern und Geschwistern 
zusammenkam. Ließ sich das einmal nicht vermeiden, 
dann wich sie nicht von des Kindes Seite. 
So hatten die Eltern ihr Kind und Fee und Gero ihr Schwe-
sterchen nur einige Male gesehen. Jedesmal, wenn Frau 
Daisy die verschüchterte, stocksteife Kleine in ihrer vorsint-

flutlichen Kleidung erblickte, war sie von Herzen froh, die-
ses Kind fortgegeben zu haben. 
An alles das dachte der Graf, während seine Blicke immer 
wieder zu der regungslosen Gestalt im Sessel hinflogen. 
Der feine Ästhet, dem alles Unschöne einen fast körperli-
chen Schmerz bereitete, fühlte grenzenloses Mitleid mit 
dem bedauernswerten Kind. 
Ganz unerwartet hob Gudrun den Kopf und sah ihm in die 
Augen. Was sie darin las, war ihr nichts Neues. Mitleid! – 
Sie sah es ja nicht zum erstenmal. 
Was galten ihr die Menschen, die ihren Nächsten nach dem 
Äußeren beurteilten? Sie wußte es ja, daß sie das häßliche 

Entlein war, und sogar ihre Kollegen und Kolleginnen auf 
der Universität nannten sie so, wenn sie von ihr sprachen. 
Doch merkwürdig, die Blicke des Grafen reizten sie tief. 
Also auch er war ein Mensch wie alle anderen – beurteilte 
seinen Mitmenschen nach der äußeren Hülle. 
Ganz plötzlich übergoß sich das hagere Gesichtchen mit 
heißer Glut, der Kopf schnellte in den Nacken. 
Und da schaute der Graf interessiert auf. An wen hatte ihn 
dieses merkwürdige Mädchen soeben erinnert? 
Halt, nun hatte er es! Die Barnim hatten von einer Groß-
mutter her fürstliches Blut in den Adern. Das Bild dieser 

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fürstlichen Frau, die gleichfalls den Namen Gudrun geführt 
hatte, war der Stolz der Familie, hatte einen Ehrenplatz 

bekommen und wurde jedem Besucher mit Stolz gezeigt. 
Dieser Ahne hatte soeben Gudrun geglichen. Es war aller-
dings vermessen, das Mädchen mit der Schönheit auf je-
nem Bild zu vergleichen, doch irgend etwas hatte sie von 
dieser Ahne, das stand fest. 
Und dann führte sie auch den Namen Gudrun – wie 
merkwürdig das war! Gerade dieses von den Eltern verach-
tete Kind nach der verehrten Ahne zu benennen? Er wollte 
Gero einmal fragen, wie das eigentlich zusammenhing. - 
Traude Röstel mahnte zum Aufbruch, und der Graf hielt sie 
nicht zurück. 
»Wann reisen Sie wieder ab, Gudrun?« erkundigte er sich 

bei der Schwägerin. 
»Nach Neujahr.« 
»Das wird wohl kaum gehen, mein Herz«, warf die resolute 
Traude ein. »Du wirst bei mir bleiben, und ich werde dich 
zuerst hochpäppeln. Zum Erbarmen elend sieht die Krabbe 
aus! Ihre Adoptivmutter hätte auch etwas anderes tun kön-
nen, als dieses zarte, sensible Kind zu diesem anstrengen-
den Studium zu zwingen. Ich an Gudruns Stelle würde auf 
die paar tausend Mark pfeifen und den Krempel aufgeben.« 
»Wie soll ich das verstehen? Hat Fräulein von Barnim das 
Studium für Gudrun gewünscht?« erkundigte sich der Graf. 
»Ich bin vorläufig nämlich nicht im Bilde.« 

»Gewünscht? Gezwungen hat sie sie dazu!« erboste sich 
Traude. »Und wenn sie das Studium nicht vollendet, gehen 
ihr die fünfundzwanzigtausend Mark, von deren Zinsen sie 
leben muß, flöten. Allerdings – wenn sie krank wird oder 
heiratet, braucht sie das Studium nicht zu vollenden. Also 
wünschen wir, daß sich für dieses Kind schleunigst ein 
Mann findet.« 
Nun lachte Gudrun auf. Es war ein Lachen, das ganz und 
gar nicht zu ihrer Person paßte – so weich und süß und 
köstlich frisch war es, daß der Graf sie ganz erschrocken 
ansah. 

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»Wunderst du dich, daß dieses Kind lachen kann, Bernulf?« 
fragte Traude in ihrer trockenen Art. »Weißt du, ich wunde-

re mich eigentlich auch darüber. Doch nun wollen wir end-
lich aufbrechen. Du hast mir einen Strich durch meine 
Vormittagsarbeit gemacht, du Ausreißer«, wandte sie sich 
an Gudrun. »Als ich nämlich hörte, daß deine Frau Mama 
dich nach Hohenwerth entführt habe, hielt ich es für bes-
ser, als Verstärkung zu erscheinen. Und nun auf Wiederse-
hen, Bern. Doch halt, nein, wir haben uns das Prinzeßchen 
ja noch gar nicht angesehen. Ist's erlaubt?« 
Der Graf führte sie ins Kinderzimmer. Mit einer Behutsam-
keit, wie man sie diesem Mann gar nicht zugetraut hätte, 
hob er seine kleine Tochter aus dem Bettchen und hielt sie 
den Damen hin. 

Traude Röstel sah verlegen auf das Spitzenbündel nieder. 
»Bißchen klein«, meinte sie vorsichtig. 
»Aber Traude, mein Kleinchen ist doch kein Riesenbaby!« 
entrüstete sich der Graf. Und nun blitzte es in den dunklen 
Augen Traudes humorvoll auf. 
»Ja, mein lieber Bern, was soll ich da bewundern? Für die 
Eltern mag so ein Wurm ja der Urquell aller Freuden sein. 
Doch ein fremder Mensch, der nicht durch die Brille der 
Elternliebe sieht, – nimm's mir nicht übel, Bern – « 
Nun drohte ihr der Graf und legte sein Töchterchen zurück, 
mit lachender Entrüstung bedauernd, daß er sein Kleinod 
so unverständigen Augen überhaupt preisgegeben. 

Er führte die Damen in die Halle und nahm ihnen das Ver-
sprechen ab, am ersten Weihnachtsfeiertag Hohenwerth 
ihren Besuch abzustatten. 
Am ersten Weihnachtsfeiertag, um die Kaffeestunde, trafen 
Traude und Gudrun in Hohenwerth ein. Sie fanden die 
Schwiegermutter des Grafen, seinen Schwager Gero von 
Barnim und dessen Frau vor. 
Gero von Barnim, der fünfundzwanzig Jahre zählte, war 
dem Grafen bei der Verwaltung seiner Güter eine große, 
zuverlässige Stütze. Ein offener, unkomplizierter Charakter, 
tüchtig als Mitarbeiter, treu und selbstlos als Freund. Er 

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hatte nicht die faszinierende Erscheinung des Grafen, 
machte jedoch mit seiner mittelgroßen Gestalt, dem hüb-

schen, etwas zu weichen Gesicht und den treuherzigen 
blauen Augen ebenfalls einen durchaus vornehmen Ein-
druck. 
Entzückend war seine kleine Frau, mit der er seit einem 
Vierteljahr ganz unvernünftig glücklich verheiratet war, wie 
er selbst behauptete. Sie begrüßten Gudrun mit Herzlich-
keit. 
Frau von Barnim konnte es Gudrun nicht verzeihen, daß 
sie sie so schnöde im Stich gelassen hatte und das Geld 
nicht gab, das sie von ihr erwartete. Ihre Begrüßung fiel 
daher sehr kühl aus, und die von Fee nicht minder. 
Es wollte in dem kleinen Kreise keine Gemütlichkeit auf-

kommen. Die verhätschelte Fee konnte dem Gatten noch 
immer nicht die Szene von neulich verzeihen. 
Und wenn sie an den gestrigen Heiligabend dachte – wie 
kalt war er da gewesen, wie unpersönlich! Er hatte ihr ja 
alle Wünsche erfüllt, hatte ihr sogar die Reise nach St. Mo-
ritz bewilligt, ihr die ganze Ausrüstung dafür geschenkt – 
zum Dank für das Töchterchen. 
Nun unterhielt er sich mit Traude Röstel und legte einen so 
liebenswürdigen Ton in die Unterhaltung, wie er ihn ihr 
gegenüber niemals anschlug. 
Wie sie diese Person haßte! 
Es war kaum glaublich, daß der kalte, herzensarme Bernulf 

an jemand so hängen konnte wie an dieser Kindheitsge-
spielin. Traudes Vater war Güterdirektor beim alten Grafen 
Hellmarck gewesen und hatte in einem Beamtenhaus auf 
Hohenwerth gelebt. So wurde denn der kleine Graf Bernulf 
und die um drei Jahre ältere Traude unzertrennliche Spiel-
gefährten. 
»Nun, Gräfin, was hat der Weihnachtsmann gebracht?« 
Fee wußte nicht recht, ob sie eine kühlhöfliche Antwort 
geben oder ob sie ihre Geschenke aufzählen sollte. Sie ent-
schloß sich für das letzte; mochte diese abscheuliche Per-
son doch wissen, was alles sie bekommen hatte. 

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So zählte sie denn vielerlei luxuriöse, nichtige Dinge auf, 
an denen ihr Herz nun einmal hing und die sie sich bren-

nend gewünscht hatte. 
»Doch die Hauptsache ist eine vierwöchige Reise nach St. 
Moritz«, schloß sie triumphierend. 
Sie sah sich im Kreis um, um sich an der Wirkung dieser 
Eröffnung zu weiden. Doch Bewunderung las sie eigentlich 
nur in den Augen ihrer Schwägerin, der entzückenden Ilse-
Dore. 
»Da kannst du dich aber freuen, Fee!« sagte diese neidlos. 
»Aber fällt es dir nicht schwer, von deinem Baby fortzuge-
hen? Es ist doch in dem Alter, in dem man so kleine Kinder 
nicht gern fremden Händen überläßt. Und dann ist Baby 
auch ganz besonders zart – « 

Ilse-Dores Worte riefen bei Fee und ihrer Mutter tiefste 
Empörung hervor. Und wären beide Damen nicht zur 
Rücksichtnahme gezwungen gewesen – o weh, arme Ilse-
Dore! 
Denn Frau von Barnim fürchtete neuerdings nicht nur den 
Grafen, sondern auch ihren Sohn, der wie ein gereizter 
Tiger werden konnte, sofern man seiner geliebten Frau 
auch nur mit einem Wort zu nahe kam. 
So zwang denn die Mutter ihre Empörung nieder und ant-
wortete an Stelle der Tochter – allerdings sehr von oben 
herab; das konnte sie sich immerhin leisten. 
»Liebes Kind, das kannst du doch unmöglich beurteilen«, 

sagte sie voll Würde. »Ich glaube nicht, daß du imstande 
sein wirst, dein Baby , einmal so zu betreuen, wie eine erste 
Pflegerin aus einem erstklassigen Institut es kann.« 
Ilse-Dore hätte viel darauf antworten können, doch sie 
hielt es für besser zu schweigen. Die Stimmung war ohne-
hin schon ungemütlich genug. 
Das fand auch Traude Röstel und beschloß daher, einen 
anderen Ton in diese eisige Atmosphäre zu bringen. Sie 
ahnte jedoch nicht, daß sie mit der Frage, die sie nun an 
den Grafen stellte, einen Mißgriff machte. 
»Was hat dir denn der Weihnachtsmann gebracht, Bern?« 

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»Nichts«, war die knappe Antwort. 
»Nichts?« rief Traude verblüfft, und ihr Ton sprach Bände. 

Dadurch fühlte sich Fee selbstverständlich getroffen. 
»Sie brauchen gar nicht so erstaunt zu fragen, Fräulein Rö-
stel«, sagte sie gereizt. »Wovon soll ich etwas schenken? 
Bernulf hält mich in letzter Zeit so knapp, daß es eine 
Schande ist! Er hätte mir nur das Geld zu geben brauchen, 
das er für die Leutebescherung vergeudet hat, dann hätte er 
die schönsten Geschenke haben können. Und ich – habe 
ich ihm denn nicht genug geschenkt – ist denn das Baby 
nichts?« 
»Ach so, Bern, da hast du also deine Geschenke schon auf 
Jahre voraus«, meinte Traude trocken. Selbst auf die Gefahr 
hin, die puppenhafte Gräfin immer mehr zu reizen – diese 

Bosheit konnte sie sich nicht verkneifen. 
»Aber Fräulein Röstel – doch nicht unser Püppchen är-
gern«, sagte Frau von Barnim vorwurfsvoll. 
Schon liefen die hellen Tränen aus den blauen Augen. An 
der Mutter hatte man, gottlob, einen starken Schutz, da 
konnte man sich schon einmal gehen lassen. 
»Ja, was soll ich denn?« rief sie mit ihrer hellen Stimme 
erbittert. »Ich sage doch, daß ich kein Geld habe! Warum 
mußte diese kostspielige Leutebescherung sein? Hätte ich 
das Geld zur Verfügung gehabt, dann hätte ich Bernulf 
selbst seinen größten Wunsch erfüllen und ihm eine Reit-
gerte schenken können – als Ersatz für seine verlorene, tief 

betrauerte – « 
Sie hielt inne, denn gar zu drohend war der Blick des Gat-
ten. 
»Liebes Kind«, sagte er gelassen, »deine Erregung ist ebenso 
unnötig, wie sie unschön ist. Du mußt es mir schon über-
lassen, ob ich etwas, das ich tue, für richtig halte oder 
nicht. Meine verlorene Reitgerte kannst du mir nie ersetzen, 
und zwar aus dem einfachen Grund nicht, weil sich so lie-
be Andenken nun einmal nicht ersetzen lassen. So – und 
damit wollen wir das unerquickliche Thema beenden.« 
Doch da fragte Gudrun ganz unerwartet: 

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»Wie sah die Gerte aus, Graf Hellmarck?« 
»Du hörst es doch, Gudrun, Bernulf spricht nicht gern dar-

über!« rief Fee immer gereizter. 
Der Graf sah sie erstaunt an, und er umgab sich mit einem 
Hauch eisiger Ablehnung. Man merkte, wie widerwillig 
ihm die Worte, die die Höflichkeit ihm abrang, von den 
Lippen kamen: 
»Die Gerte selbst unterschied sich durch nichts von ande-
ren Gerten. Jedoch der Knauf war eigenartig. Ein Pferde-
kopf aus altem Gold, als Augen wundervolle, leuchtende 
Saphire. Vielleicht war die Gerte nicht einmal sehr wertvoll; 
ich weiß es nicht – doch mir war sie ein liebes, unersetzli-
ches Andenken.« 
»Warum willst du das denn wissen, Gudrun? Willst du Ber-

nulf etwa eine Gerte schenken?« fragte Fee höhnisch. 
»Vielleicht«, war die gelassene Erwiderung. 
Es wollte keine Gemütlichkeit aufkommen, immer wieder 
gab es Reibereien. Die Falte auf des Schloßherrn Stirn ver-
tiefte sich. 
»So, Traude, wirst du uns nun erzählen, was dir der Weih-
nachtsmann gebracht hat?« wandte er sich an die Kind-
heitsgespielin. 
»Oh, mir?« sagte diese lachend, »darauf kommst du im 
Leben nicht, Bern!« 
»So – das sollte mich wundern. Ist es etwas so Ausgefalle-
nes?« 

»Na, es geht. – Nicht, Entlein?« 
Diese nickte lächelnd. 
»Nun, Bern, ich will gnädig sein und dich nicht lange raten 
lassen. Also – einen Bräutigam!« 
Sie lachte Tränen über sein verblüfftes Gesicht. 
»Glaubst du mir nicht, Bern?« rief sie übermütig. 
»Ja – aber warum denn?« 
»Warum ich einen Bräutigam habe?« lachte Traude, sich 
schüttelnd. »O Bern, Bern! Selbstverständlich zum Heira-
ten!« 
»Ja, gewiß – aber wer ist es?« fragte er, immer noch ver-

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blüfft. 
»Rönner.« 

»Der Justizrat Rönner?« 
»Ja. – Gefällt er dir nicht?« 
»Das schon. Doch Traude, das hättest du eigentlich schon 
viel früher haben können – du kennst ihn doch schon 
mindestens zehn Jahre?« 
»Das konnte ich eben nicht früher haben, mein Jungchen. 
Willst du mir nicht gratulieren?« 
»Welche Frage, Traude! Meinen herzlichsten Glück-
wunsch!« 
Er zog ihre Hände an die Lippen – immer wieder. 
»Das kommt mir zu überraschend, Mädel, man hat ja gar 
nicht mehr zu hoffen gewagt! Warum brachtest du deinen 

Verlobten nicht mit?« 
»Er kommt später einmal. Heute hatte er eine dringende 
Familiensitzung, bei der ich überflüssig war.« 
Nun gratulierten auch die anderen. Fee tat es zwar sehr 
widerwillig, es blieb ihr jedoch nichts anderes übrig. 
Wie Bernulf Traude angestrahlt, ihr die Hände geküßt hat-
te, – so war er zu ihr nie – nicht mehr! 
Traude merkte es sehr wohl, wie widerwillig die Gräfin ihr 
die Hand entgegenstreckte, und sie konnte ein amüsiertes 
Lächeln nicht unterdrücken. Recht kräftig schüttelte sie das 
Händchen^ das wie eine Kleinkinderhand in ihrer kräftigen 
lag. Noch größer, noch massiver wirkte ihre Gestalt neben 

der puppenhaften Frau. Das Puppengesicht, die blauen 
Augen, der Wuschelkopf – alles an sich ganz allerliebst. 
Doch über den Geschmack läßt sich streiten, und Traude 
Röstels Geschmack war Fee nun einmal ganz und gar nicht 
– in keiner Beziehung. 
Der Diener öffnete die Flügeltüren und meldete, daß der 
Kaffee serviert sei. So gingen alle Anwesenden ins Früh-
stückszimmer. Der Graf hatte angeordnet, der Kaffee solle 
dort getrunken werden. Und es stellte sich bald heraus, daß 
er damit das Richtige getroffen hatte. Schon allein das ge-
mütliche Zimmer mußte besänftigend auf die Gemüter 

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wirken, die heute gar so kriegerisch gestimmt waren. 
Dazu war der Kaffee vorzüglich. Kein Wunder, daß die all-

gemeine Stimmung friedlich war, wenigstens solange man 
mit Essen und Trinken beschäftigt war. 
Danach ging man wieder in den kleinen Salon zurück und 
merkte dort erst, daß Gudrun nicht mitgekommen war. 
Traude Röstel vermochte es sich nicht zu erklären, wo das 
Mädchen geblieben sein könnte, und wurde unruhig. 
Nach ungefähr einer Stunde trat die Vermißte ein. 
»Gudrun, Liebling, wo steckst du nur?« rief Traude erregt, 
und das Mädchen lachte sie aus. 
»Traude, du Gute, deine Aufregung verstehe ich nicht. 
Wenn ich in der großen Stadt, in der ich nun schon jahre-
lang lebe, noch nicht verlorengegangen bin, werde ich es 

hier ganz gewiß nicht.« 
»Da hast du wieder einmal recht«, gab Traude verlegen zu. 
Gudrun näherte sich dem Schloßherrn, stand vor ihm, oh-
ne Spur von Verlegenheit. 
»Ich wollte Ihnen nur Ihr Eigentum wiedergeben, Graf 
Hellmarck.« Dieser wagte nicht, sich zu rühren, sondern 
starrte nur auf die Reitgerte, die Gudrun ihm entgegenhielt. 
Die anderen waren hinzugetreten und nicht weniger ver-
wundert als der Graf. Es herrschte tiefe Stille, die endlich 
Gudruns weiche Stimme unterbrach: 
»Wollen Sie die Reitgerte nicht nehmen, Graf Hellmarck?« 
Nun kam Leben in die Gestalt des Schloßherrn. Er ergriff 

die Gerte und drehte sie nach allen Seiten. 
»Wo haben Sie sie her? – Ich kann es gar nicht fassen«, 
murmelte er. 
»Sie staunen, Graf Hellmarck! Was für Zufälle es doch im 
Leben gibt! Gerade ich mußte diese Gerte im Wald finden, 
als ich vor ungefähr einer Woche mit den Skiern unterwegs 
war. Ich hätte sie gar nicht gesehen, wäre ahnungslos daran 
vorübergeglitten, wenn ich nicht gestürzt wäre. Und gerade 
an der Stelle, wo ich lag, ragte die Gerte aus dem Schnee 
hervor, muß also schon längere Zeit dagelegen haben. – 
Die Kostbarkeit und Eigenart dieses wundervollen Stückes 

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rief mein Interesse an dem Besitzer hervor. Doch irgendein 
Gefühl hielt mich davon ab, sie einem Fundbüro zu über-

geben, obgleich ich damit ein Vergehen beging. Das Wap-
pen wies aus, daß die Gerte einem Edelmann gehören 
mußte. Doch das ist nicht Ihr Wappen, Graf Hellmarck!« 
»Da haben Sie recht, Gudrun. Die Gerte drückte mir mein 
sterbender Freund, der bei einem Ritt verunglückte, in die 
Hand. Daher ist sie mir auch so lieb und wert«, sagte er 
leise. 
»Oh, dann freue ich mich um so mehr, daß ich Ihnen das 
wertvolle Stück wiederbringen konnte«, entgegnete Gud-
run. 
»Jedenfalls danke ich Ihnen von ganzem Herzen.« 
Er zog ihre Hände an die Lippen. – Da meldete sich Gero: 

»Gudrun, Bernulf – Kinder – ihr nennt euch Sie? Das ist 
mir einfach unverständlich. Wenn ihr euch auch fremd seid 
– leider – so ist dennoch nichts daran zu ändern, daß ihr 
Schwager und Schwägerin seid, euch also duzen müßt. 
Oder liegt das etwa an dir, Schwesterchen?« 
Nun mußte Gudrun lachen, zögerte noch einen Augenblick 
und streckte dem Grafen dann die Hand hin. 
»Mir ist es recht«, sagte sie unsicher. 
»Und mir schon lange, kleine Schwägerin! Ich danke – dir.« 
»Und hier ist noch jemand, der ein Du von dir beans-
prucht, Entlein«, ließ sich Gero wieder vernehmen und 
schob seine Frau der Schwester zu. Ilse-Dores schöne Au-

gen hingen an Gudrun mit bittendem Blick. 
»Aber gern«, sagte das Mädchen, indem es die Hände der 
Schwägerin ergriff, »ich glaube, dich kann ich liebhaben, 
Ilse-Dore.« 
In den nächsten Tagen herrschte auf Schloß Hohenwerth 
ein wüstes Durcheinander. Die junge Gräfin stellte alles auf 
den Kopf und hetzte die Dienerschaft mit den unsinnigsten 
Befehlen hin und her. So atmeten alle erleichtert auf, als sie 
gleich nach Neujahr sich anschickte, die Reise nach St. Mo-
ritz anzutreten. 
Der Gatte brachte sie zur Bahn, suchte ihr ein Abteil aus, 

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kaufte ihr Bücher und Näschereien. Sie sah ihm stumm zu, 
und als er sich umwandte, umarmte sie ihn. 

»Bernulf, du bist so gut zu mir – und doch zürnst du mir 
immer noch«, schluchzte sie. Er kannte das zur Genüge, 
hatte zu oft erfahren müssen, daß die Tränen bei seiner 
Frau sehr locker saßen und nicht tragisch zu nehmen war-
en. 
»Ich zürne dir nicht mehr, Fee«, sagte er freundlich, doch 
mit einer Spur von Ungeduld. »Fahre nur freien Herzens, 
und amüsiere dich gut.« 
»Du weißt, Bernulf, daß ich nicht froh sein kann, wenn du 
nicht bei mir bist! – Ich sehne mich dann so schrecklich 
nach dir.« 
Seine Mundwinkel zogen sich nach unten – geringschätzig, 

voll beißender Ironie. 
»So? Nun, dann gebe ich dir den einen guten Rat, mein 
Kind: Bleib hier, – dann brauchst du dich nicht nach mir 
zu sehnen.« 
Erschrocken sah sie ihn an. 
»Aber nein, Bernulf – ich sagte ja nur – ich meinte – ach ja, 
das meinte ich,- vielleicht kannst du mich begleiten?« stot-
terte sie in höchster Angst, daß sie auf die Reise verzichten 
mußte. 
»Fee, ich habe andere Sorgen, als in St. Moritz dem lieben 
Gott den Tag zu stehlen und mich zu amüsieren.« 
»Wie du manchmal bist!« schmollte sie. In den ersten Wo-

chen ihrer Ehe hatte der Gatte das sehr niedlich gefunden 
und hatte ihr jeden Wunsch erfüllt. Doch sie hatte es zu oft 
versucht – jedenfalls reagierte er schon lange nicht mehr 
darauf; nun konnte sie schmollen, so viel und so oft sie 
wollte. 
»Nicht ein bißchen lieb und nett bist du zu mir!« beklagte 
sie sich. 
»So, bin ich das nicht?« entgegnete er zerstreut, indem er 
ihre Arme von seinem Nacken löste. »Das mußt du nicht so 
tragisch nehmen, Fee, ich habe viel im Kopf. Übrigens, was 
ich noch fragen wollte: Ist Baby bei der Pflegerin auch wirk-

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lich gut aufgehoben?« 
»Aber Bernulf, welche Frage! Glaubst du, ich würde reisen, 

wenn ich mein Kind nicht in besten Händen wüßte?« 
»Na ja, gewiß. Doch man hört überall von anderen Müt-
tern, daß sie sich von einem so kleinen Kind ohne Grund 
nicht trennen würden.« 
»Ach so, nun fängst du so an!« rief sie, während ihr die 
Tränen in die Augen schossen. »Du willst mir noch in letz-
ter Minute die Reise vergraulen, willst wohl gar – « 
»Aber nein, nein – um Himmels willen nicht!« unterbrach 
er sie ungeduldig. »Fahre in Gottes Namen und amüsiere 
dich!« 
Sie beruhigte sich auch auffallend schnell. 
»Nun muß ich das Abteil verlassen, Fee; es ist nur noch 

eine Minute bis zur Abfahrt des Zuges. Also, Fee – auf Wie-
dersehen – melde dich bald.« 
Er verbeugte sich und eilte davon. 
Auf dem Marktplatz des Städtchens stieß er auf Traude Rö-
stel und Gudrun. 
»Ah, sieh da, unser Freund Bern«, sagte Traude vergnügt. 
»Woher des Wegs?« 
»Ich habe meine Frau zur Bahn gebracht und habe noch 
allerlei zu erledigen.« 
»Also Strohwitwer. Da würde ich dir den guten Rat geben, 
deine geschäftlichen Angelegenheiten rasch zu erledigen 
und den Rest des Tages in unserer Gesellschaft zu verbrin-

gen. Wenn dich jedoch die Öde deines Heims lockt – « 
»Traude, du Spottvogel!« sagte er lachend. »Mit dem größ-
ten Vergnügen finde ich mich bei dir ein, sobald ich fertig 
bin.« – 
Er kam gerade zum Abendessen zurecht und wurde von 
Traude herzlich empfangen. Dr. Rönner, Traudes Verlobter, 
war ebenfalls zugegen und nahm die Glückwünsche des 
Grafen frohgelaunt entgegen. Hellmarck kannte und 
schätzte diesen tüchtigen, angesehenen Anwalt schön seit 
den zehn Jahren, die er im Städtchen weilte. Er wunderte 
sich immer wieder, daß die Herzen der beiden famosen 

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Menschen sich nicht schon früher gefunden hatten. 
Es wurde ein sehr gemütliches Mahl. Traude besaß aber 

auch eine ganz besondere Gabe, Wärme und Traulichkeit 
um sich zu verbreiten, das hatte Graf Hellmarck schon als 
wilder Knabe empfunden und sich gern von ihr verhät-
scheln lassen. 
Wenn er dagegen an die Ungemütlichkeit seines eigenen 
Heims dachte.- Nein, er wollte sich heute die Laune nicht 
verderben. 
Die Stunden verrannen wie im Flug, und es war spät, als 
die beiden Herren sich verabschiedeten. Graf Hellmarck 
mußte versprechen, während seiner Strohwitwerschaft 
recht oft zu kommen, was er auch sehr gern tat. 
Traude gab den Herren noch bis zum Portal der Villa das 

Geleit, dann eilte sie in das Wohnzimmer zurück. Gudrun 
kauerte in einem Sessel, und Traude ging zu ihr, umfaßte 
ihre Schulter und sah ihr mit zärtlichem Blick in die Augen. 
»Du siehst wieder miserabel aus, Entlein. Ich habe dich den 
ganzen Abend über nicht ein einziges Mal sprechen hören.« 
»Man muß schweigen, wenn kluge Leute reden.« 
»Du hast es nötig, meine Kleine! Ich glaube, das Baby ist 
heute kaum noch imstande, sich allein zu entkleiden.« 
Sie brachte Gudrun nach oben. Gudrun hatte ihr eigenes 
Zimmer in der Villa der Freundin und konnte es zu jeder 
Zeit beziehen. 
»Was ich schon lange wissen wollte, Traude: Wie steht Ber-

nulf wirtschaftlich – hast du eine Ahnung?« 
»Ja, Kindchen, das ist eine böse Sache. Vor Jahren war er 
ein reicher Mann. Doch die heutigen Verhältnisse sind für 
einen Landwirt alles andere als rosig. Dann hat er viel ge-
baut, verschönert, alles nach dem neuesten Stil eingerich-
tet, die modernsten Maschinen angeschafft. Das hält selbst 
der größte Geldbeutel auf die Dauer nicht aus, wenn die 
Einnahmen im Vergleich zu den Ausgaben gleich Null sind. 
Und im letzten Jahr – doch sag, Entlein, stehen dir Eltern 
und Schwester nahe?« 
»Das kannst du nicht von mir verlangen, Traude.« 

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»Tu'  ich  auch  nicht,  mein  Herz.  Also,  siehst  du  –  deine 
Schwester Fee ist das echte, rechte Luxusweibchen, und 

dein Schwager Bernulf ist der vornehmste, ritterlichste 
Mann, der sich nicht lumpen läßt. Jedenfalls sieht es traurig 
aus in Hohenwerth. Noch einige unvorhergesehene Ereig-
nisse, vielleicht eine Mißernte – und Bernulf ist erledigt.« 
»Dann verstehe ich Fees kostspielige Reise nicht, Traude.« 
»Das glaube ich dir, mein Herz, die wird kein vernünftig 
denkender Mensch gutheißen können. Doch siehst du, Fee 
hat ihm das Mädchen geschenkt, die Reise war schon lange 
ihr Wunsch – na also! Ich will mich gar nicht wundern, 
wenn die Frau Mama bald nachreist, selbstverständlich 
nicht von ihrem Geld.« 
»Unglaublich – dann ist Bernulf ein Schwächling!« 

»O nein, mein Herz, das ist er ganz und gar nicht. Er ist nur 
ein Mann, dem Jammern und Klagen ein Greuel sind.« 
»Noch eine Frage, Traude: Nutzt auch Gero Bernulf aus?« 
»Nein, Gudrun, ganz gewiß nicht. Der patente Junge hat 
nichts, auch gar nichts von seinen Eltern – genausowenig 
wie du. Er wird von Bernulf besoldet, anständig sogar, wie 
es sich für seine verantwortungsvolle Stellung gehört.« 
»Du scheinst Bernulf sehr zu schätzen?« 
»Ja, Gudrun, das muß jeder, der ihn kennt. Er ist der vor-
nehmste, hochherzigste Mann, den ich kenne. Und daher 
ist es ein Jammer, daß er eine solche Puppe als Gattin er-
wählt hat. Er wird diese Ehe durchs Leben schleppen müs-

sen, weil das Kind da ist. Und soweit ich Bernulf kenne, 
wird er um des Kindes willen die Ehe ertragen. Doch nun 
schlaf endlich, Entlein, sonst siehst du morgen noch elen-
der aus als sonst.« 
Sie küßte die Freundin herzlich und seufzte dabei schwer. 
Gudrun lachte, denn sie wußte genau, daß dieser Seufzer 
ihrer körperlichen Verfassung galt, die dieser treuen Freun-
din viel Kummer bereitete. 
»Laß gut sein, Traudelein«, sagte sie, schon halb im Schlaf. 
»Eines Tages werde ich so auf der Höhe sein, daß du mich 
händeringend zum nächsten besten Entfettungskurinstitut 

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schleifen wirst.« 
»Wollen es hoffen«, lachte Traude und ging in ihr Schlaf-

zimmer. 
Schon eine ganze Weile beobachtete Graf Hellmarck von 
seinem Gaul aus die Skiläuferin, die sich auf der Waldwiese 
tummelte. Wer mochte sie sein? Soviel Schneid und Grazie 
sah man selten. 
Nun kam sie endlich näher, und sein Erstaunen kannte 
keine Grenzen, als er in ihr seine Schwägerin Gudrun er-
kannte. Eine solche Verblüffung spiegelte sich auf seinem 
Gesicht, daß sie hellauf lachte. 
»Guten Tag, Bernulf! Du schaust mich ja an wie ein Wesen, 
das dir nicht ganz geheuer erscheint«, sagte sie spöttisch. 
»Tatsächlich, Gudrun, mir erscheint es auch wie ein Wun-

der, daß du eine so hervorragende Skiläuferin bist.« 
»So – bin ich das?« fragte sie achselzuckend und ein klein 
wenig von oben herab. »Das weiß ich nämlich selbst noch 
nicht. Ich finde Freude an diesem Sport, und es ist mir die 
Hauptsache, daß ich nicht ewig auf der Nase liege. Wie ich 
ihn sonst ausübe – hervorragend oder nicht –, das fällt für 
mich nicht ins Gewicht.« 
»So wenig eitel bist du, Schwägerin?« 
»Ich – eitel?« Eine grenzenlose Verachtung lag in den Wor-
ten. 
Er sah sie scharf an und mußte feststellen, daß sie wieder 
einmal so unvorteilhaft wie nur irgend möglich aussah. 

Der wollene Anzug, der von ungeübter Hand aus mißfarbi-
ger Wolle gestrickt war, sah verboten aus. Und dann die 
unschöne Schneebrille, die das hagere Gesicht noch mehr 
verdeckte, als die »Intelligenzbrille« es für gewöhnlich tat! 
Wieder trat ein mitleidiger Ausdruck in seine Augen – und 
wieder flog Gudruns Kopf in den Nacken. 
»Ich muß eilen, damit ich zum Mittagessen zurück bin. Auf 
Wiedersehen, Bernulf.« 
»Schade! Willst du nicht mit mir nach Hohenwerth kom-
men und mir einsamem Mann einige Stunden schenken – 
oder schickt sich das nicht?« 

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»Nicht schicken?« Sie lachte spöttisch und amüsiert auf. 
»Nein, so zurückgeblieben bin ich nicht, Bernulf.« 

»So komm, Gudrun, ich bitte dich herzlich darum.« 
»Nun gut, ich komme mit dir«, entgegnete sie kurz ent-
schlossen. »Doch ich muß von Hohenwerth aus Traude 
benachrichtigen, sonst ängstigt sie sich um mich.« 
»Das ist selbstverständlich, Gudrun. Du ißt bei mir zu Mit-
tag, trinkst mit mir den Nachmittagskaffee, und dann fahre 
ich dich zur Stadt zurück. Einverstanden, Schwägerin?« 
»Ja – das heißt – « 
»Nichts heißt – sei keine Spielverderberin, Gudrun!« 
»Bin ich ja auch gar nicht. Ich wollte dir nur den Vorschlag 
machen, daß wir Traude bitten könnten, nach Hohenwerth 
zu kommen.« 

»Ach ja, das ist eine famose Idee. Daß ich nicht selbst dar-
auf kam!« 
Unter lebhaften Gesprächen erreichten sie das Schloß. Der 
Diener wies Gudrun ein Zimmer an, in dem sie sich zu-
rechtmachen konnte, so gut es bei der Sportkleidung eben 
ging. Als der Graf kurz vor dem Mittagessen noch ins Kin-
derzimmer eilte, um nach seinem Töchterchen zu sehen, 
fand er Gudrun schon dort vor. Sie stand über das Baby-
bettchen gebeugt und war in den Anblick des Kindes ver-
sunken. Eben ergriff sie das Händchen der schlafenden 
Kleinen und drückte behutsam einen Kuß darauf. 
»Armes Kleines«, murmelte sie. 

»Warum >armes Kleines<?« fragte der Graf. 
Gudrun schwieg. Und nachdem der Schreck, den sein 
unerwartetes Erscheinen ihr verursacht hatte, überwunden 
war, trat wieder der abweisende Zug in ihr Gesicht, den 
man so gut an ihr kannte. 
»Wollen wir nicht ins Speisezimmer gehen? Ich habe schon 
den Gong gehört«, sagte sie in ihrer hochmütigen Art, die 
ihn unerklärlicherweise immer wieder reizte. Er nickte 
stumm, trat noch einen Augenblick an das Bett seines 
Töchterchens und folgte Gudrun ins Speisezimmer. 
Ihre Gesellschaft bot ihm nicht die Zerstreuung, die er er-

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wartet hatte. Sie war schweigsam wie immer, ließ ihn allein 
sprechen und wirkte mit ihrer hochmütigen, gelangweilten 

Ruhe einschläfernd. Es wurde auch nicht besser, als sie 
nach dem Essen in dem kleinen Salon den Kaffee tranken, 
und so atmete der Graf förmlich auf, als Traude kam. 
Sofort war Leben in dem kleinen Gemach, die Unterhal-
tung wurde lebhaft und rege. 
Traude erkundigte sich nach dem Ergehen des Kindes, und 
man begab sich auf ihre Bitte ins Kinderzimmer. 
Das Baby lag in seinem Bettchen und schrie – nein, wim-
merte kläglich, die Pflegerin war nirgends zu entdecken. 
Traude hob das Kind empor und wischte die Schweißtrop-
fen von dem flaumigen Köpfchen. Als sie mit ihrem Finger 
dem Mündchen des Babys nahekam, schnappte es danach 

und sog sich gierig daran fest. 
»Hunger hat das arme Wurm«, stellte Traude fest. »Wahr-
haftig, bei den paar hundert Kühen in Hohenwerth werden 
sie das Kind bei lebendigem Leib verhungern lassen.« 
Der Graf hatte einen Diener beauftragt, die Pflegerin her-
beizurufen, und diese trat nun ein, voller Angst und tief 
erschrocken, allerlei Entschuldigungen stammelnd, die der 
Gebieter kurz abschnitt. 
»Wo waren Sie?« herrschte er sie an. 
»Ich – ich – wollte – ich sollte – « 
»Nichts anderes sollen Sie, als bei dem Kind bleiben!« 
»Herr Graf – ich wollte doch wirklich nur – « 

»Hören Sie auf!« fuhr er sie so hart an, daß sie zusammen-
zuckte. »Sorgen Sie dafür, daß Baby eine Flasche be-
kommt.« 
»Aber – Baby hat doch eben – getrunken«, stotterte sie. 
»Dann sehen Sie mal gefälligst, wie das Geschöpfchen sich 
am Finger des gnädigen Fräuleins festsaugt.« 
»Das – das tun kleine Kinder immer. Baby ist noch so 
klein, es muß die Mahlzeiten ganz nach Vorschrift be-
kommen, weil der Magen des Kindes noch nicht so auf-
nahmefähig ist, daß – « 
»Hören Sie, bitte, auf«, unterbrach Traude sie unwillig. »Ih-

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re ganzen neuzeitlichen Einrichtungen sind für die Katz! 
Ich kenne die verrückten Methoden der Säuglingspflege. 

Stehen Sie nicht da, als ob Sie vom Himmel gefallen wären, 
besorgen Sie dem Kind eine Mahlzeit!« 
Das ließ die Pflegerin sich nicht zweimal sagen. Sie hastete 
eiligst davon, um nur aus dem Zimmer zu kommen. In 
erstaunlich kurzer Zeit kam sie mit der Milchflasche zu-
rück, die Traude ihr aus der Hand nahm und an das Auge 
hielt. 
»Zu heiß«, stellte sie fest, »halten Sie die Flasche in kaltes 
Wasser.« 
»Aber das Thermometer zeigte den richtigen Grad.« 
»Tun Sie, was ich Ihnen gesagt habe«, verlangte Traude un-
willig. »Ihr mit eurer Weisheit und euren sämtlichen Ther-

mometern könnt euch vergolden lassen. Ich habe ein sol-
ches Baby heute zum erstenmal in Händen, doch mein 
angeborener Mutterinstinkt sagt mir mehr, was zu tun ist, 
als eure jahrelange Fachweisheit. So, nun geben Sie dem 
Kind mal trockene Windeln. Oder muß es etwa auch so 
lange naß daliegen, wie das Lehrbuch der Säuglingspflege 
es vorschreibt?« 
Die Pflegerin hielt es für ratsam, ihre Weisheit für sich zu 
behalten, und beeilte sich, den Wünschen der resoluten 
Dame nachzukommen. 
Bald lag das Kind trocken und satt in seinem Bettchen, ei-
nen zufriedenen Ausdruck auf dem elenden Gesichtchen. 

Traude wandte sich noch einmal an die Pflegerin, die 
schon zusammenzuckte, wenn sie sie nur ansah. 
»Soviel ich beurteilen kann, müßte Baby wohler sein. Wie-
gen Sie es jeden Tag?« 
»Ja, gnädiges Fräulein.« 
»So – und wiegt die Kleine soviel, wie die Tabelle Ihres 
hervorragenden Buches es verlangt?« 
»Nein, leider nicht – sie gedeiht nicht so – doch das liegt an 
ihrer ganzen Konstitution.« 
»Aha, da haben wir die Bescherung! Ein sicheres Zeichen, 
daß das Kind nicht satt wird. Leuchtet es ihnen nicht ein, 

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daß man einen Säugling individuell und nicht nach dem 
Buchstaben behandeln muß?« 

»Aber ich bin doch in einem wirklich erstklassigen Institut 
gewesen und habe dort gelernt.« 
»Na ja – eben.« 
Traude sah ein, es lohnte sich wirklich nicht, mit dieser 
verbohrten Pflegerin noch ein vernünftiges Wort sprechen. 
Sie trat noch einmal an das Bettchen des Kindes, deckte es 
mit sanften Händen zu und verließ das Zimmer, von Gud-
run und dem Grafen gefolgt. 
In dem kleinen Salon herrschte minutenlang bedrückende 
Stille, dann sagte Traude: 
»Bern – du mußt einsehen, daß es mit dem Kind nicht so 
weitergehen kann. Die Person bringt das arme Wurm ja 

noch auf den Friedhof!« 
Mit hastiger Gebärde warf der Graf das Streichholz, mit 
dem er eine Zigarette entzündet hatte, in den Aschenbe-
cher. 
»Selbstverständlich sehe ich das ein«, entgegnete er. 
»Bern, du hättest es einfach nicht gestatten dürfen, daß 
deine Frau verreist; sie hätte diese Vergnügungsreise bis 
zum nächsten Winter verschieben können. Dann ist das 
Kind größer.« 
»Glaubst du etwa, daß Fees Anwesenheit dem Kind nützen 
würde? Die Male sind zu zählen, die sie im Kinderzimmer 
war. Selbst als sie abfuhr – ach, laß nur, Traude.« 

Er warf die Zigarette fort, sprang auf und durcheilte das 
Zimmer mit langen, unruhigen Schritten. 
»Dann allerdings«, sagte Traude, und es würgte sie etwas in 
der Kehle. »Und hast du niemand, Bern, dem du Baby an-
vertrauen kannst?« 
»Nein. In den ersten Wochen kümmerte sich Ilse-Dore viel 
um das Kind. Sie sagte mir auch, daß die Pflegerin nicht 
zuverlässig sei. Doch nun ist ihre Mutter erkrankt, und sie 
ist schon seit einer Woche fort, um diese zu pflegen. Ich 
sehe nach dem Kind, so oft es mir möglich ist. Doch ich 
verstehe nichts von der Säuglingspflege, kann daher der 

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Pflegerin keine Vorschriften machen.« 
»Wann kommt deine Frau zurück?« 

»Nächste Woche sind die vier Wochen Urlaub um. Doch 
ich glaube nicht, daß sie kommt. Sie amüsiert sich in St. 
Moritz köstlich.« 
»Und ihre Mutter?« 
»Ist seit zwei Wochen auch dort. In voriger Woche war Fee 
ein Jahr verheiratet; den Tag konnte sie doch unmöglich 
ohne Mutter begehen.« 
»Aber Bern!« 
»Laß  nur,  Traude«,  winkte  er  ab,  »mir  sind  Weibertränen 
und Weiberklagen ein Greuel – ich will meine Ruhe ha-
ben!« 
Traude wechselte mit Gudrun einen schnellen Blick, und 

diese erinnerte sich sofort an das, was die Freundin neulich 
gesagt hatte – genauso hatte sich alles zugetragen! Minu-
tenlang herrschte Stille. Traude schien angestrengt über 
etwas nachzudenken, und der Graf war an das Fenster ge-
treten und starrte hinaus. 
»So kann es wirklich nicht weitergehen, Bern«, klang nach 
einer Weile Traudes bedrückte Stimme auf. »Ich werde Ba-
by zu mir nehmen, und du kannst es sehen, so oft du 
willst.« 
Nun fuhr der Graf herum. Ein frohes Leuchten trat in seine 
Augen, das jäh wieder erlosch. 
»So schön das wäre, Traude – aber das kann ich nicht an-

nehmen! Du willst doch bald heiraten und hast keine Zeit, 
dich mit einem fremden Kind zu beschäftigen?« 
»Erstens ist mir das Kind nicht fremd, – weil es dein Kind 
ist, Bern. Und dann bleibt mir noch recht viel Zeit, um 
mich um Baby zu kümmern. Wenn ich es dir anbiete, dann 
verantworte ich es schon. Wenn Gudrun und ich auch kei-
ne geprüften, in einem erstklassigen Institut ausgebildeten 
Säuglingspflegerinnen sind, so werden wir das Kind den-
noch mit Verständnis und Liebe hegen und pflegen, und 
das ist, meiner Ansicht nach, mehr wert als Fachweisheit 
und alle Bücher der Welt. Gudrun, du tust doch Bern und 

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mir den Gefallen und schiebst deine Abreise hinaus und 
hilfst mir, dein Nichtchen zu betreuen?« 

»Aber von Herzen gern, Traude!« 
»Na, siehst du, Bern, das wird wunderschön gehen. Die 
Perle von einer Kinderpflegerin kann übrigens mitkom-
men; sie mag ja brauchbar sein, wenn man ihr gehörig auf 
die Finger guckt und sie immer gewärtig sein muß, daß 
Gudrun oder ich zu jeder Tages- und Nachtzeit im Kinder-
zimmer erscheinen können. Bist du einverstanden, Bern?« 
Er sagte nichts, beugte sich nur über ihre Hände und drück-
te sie an die Lippen. Sie streichelte über seinen gesenkten 
Kopf mit unendlich zarter Gebärde. Und als er sich wieder 
aufrichtete, sah er Tränen in ihren Augen, die das Mitleid 
mit ihm ihr erpreßt hatte. 

»Armer Junge«, murmelte sie, »du hast bei Gott ein besseres 
Los verdient!« 
Doch dann erhob sie sich schnell und verabschiedete sich, 
obgleich der Graf sie noch zu halten versuchte. Es gab alle 
Hände voll für sie zu tun, denn ihr Haushalt war auf einen 
solchen kleinen Gast nicht eingerichtet. Und sie wollte 
Baby so schnell wie möglich zu sich holen, morgen nach-
mittag noch. 
»Du sollst einmal sehen, Bern, wie unser Kleinchen gedei-
hen wird!« sagte sie eifrig. »Ich freue mich sehr auf unser 
Pflegetöchterchen; du auch, Entlein?« 
Diese nickte stumm; sie vermochte ihre Freude nicht so zu 

zeigen, wie Traude es tat. 
Am nächsten Vormittag mußte Graf Hellmarck zu einer 
dringenden Besprechung in die Stadt. Bevor er fortfuhr, 
ging er noch einmal in das Kinderzimmer, um nach Baby 
zu sehen. Es schlief, und die Pflegerin saß handarbeitend 
am Fenster. So war er beruhigt und schärfte dem Mädchen 
noch einmal ein, das Kind nicht allein zu lassen. 
Die Sitzung dauerte länger, als er angenommen hatte, und 
ohne sich noch aufhalten zu lassen, fuhr der Graf nach 
Hohenwerth zurück, wo er sich sofort ins Kinderzimmer 
begab. 

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Es war wieder einmal leer und die pflichtvergessene Pflege-
rin über alle Berge. 

Heute schien die Kleine wenigstens satt zu sein, sie schrie 
nicht so jämmerlich wie sonst immer um diese Stunde. 
Leise näherte er sich dem Bettchen, um das Kind nicht zu 
wecken. 
Doch was war das? 
Er riß das Kind empor. Die Milchflasche fiel auf den Tep-
pich – Köpfchen und Arme hingen herunter – das Ge-
sichtchen war blau angelaufen – die Augen aus den Höhlen 
getreten. 
Tot – erstickt an der Flasche, die man ihm gereicht hatte! 
Er schüttelte das Kind, faßte es bei den Füßen, so daß der 
Kopf nach unten hing. Doch es rührte sich nicht, nur ein 

Milchstrahl schoß aus dem geöffneten Mund. 
Minutenlang arbeitete er in wilder Verzweiflung. 
Doch umsonst – sein kleiner Liebling, dem die ganze Zärt-
lichkeit seines Herzens gehörte, war und blieb tot. 
Mit einer unendlich müden Bewegung, die nur zu sehr sei-
nen verzweifelten Schmerz verriet, legte er das Kind in das 
Bettchen zurück. 
Ließ sich dann in den nächsten Sessel fallen, und ein lauter 
Aufschrei entrang sich seiner Brust. 
Und dann rüttelte und schüttelte ihn ein Schluchzen, von 
dem sein ganzer kraftvoller Körper hin und her geworfen 
wurde. 

Dann saß er lange, den Kopf in den Händen vergraben, nur 
ab und zu aufstöhnend wie ein zu Tode getroffenes Tier. 
Ein leiser, weher Schrei ließ ihn aufschrecken. Er fuhr he-
rum und starrte auf Gudrun, die starr vor dem Babybett-
chen stand und auf das tote Kind schaute. 
»Bern! Mein Gott – Bern!« rang es sich endlich von ihren 
Lippen. Es war ein Aufschrei, so erschüttert und weh, daß 
selbst der in seinen Schmerz versunkene Mann unwillkür-
lich zusammenfuhr. Er wollte dem jungen Mädchen zulä-
cheln, brachte es jedoch nur zu einer verzerrten Grimasse. 
Sobald Gudrun ihr erstes Entsetzen überwunden hatte, sah 

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sie ein, daß sie diesem verzweifelten Mann nicht mit Fra-
gen kommen durfte. 

Zu helfen war dem Kind nicht mehr. 
Gudrun biß auf ihr Taschentuch, um ihr Schluchzen zu 
unterdrücken, und schlich lautlos aus dem Zimmer. In der 
Tür sah sie noch einmal zu dem Grafen, der schmerz ver-
sunken dasaß und nichts sah und hörte. 
Unten in der Halle des Schlosses stieß sie auf die gesamte 
Dienerschaft, die stumm aneinandergedrängt dastand und 
vor Entsetzen zitterte. Gudrun eilte an das Telefon und rief 
Traude herbei. 
In unglaublich kurzer Zeit war Traude in Hohenwerth, und 
als sie die verstörten Leute und die angstzitternde Gudrun 
sah, schossen ihr die Tränen in die Augen. Sie wandte sich 

an den Hausmeister, der sich bemühte, klare Antworten zu 
geben. 
Was er wußte, war nicht viel. Die Pflegerin war laut 
schreiend aus dem Kinderzimmer gestürzt und hatte sich 
an den Hals ihres Liebsten, der gerade beim Mittagessen im 
Dienerzimmer saß, geworfen. Halb wahnsinnig vor Angst, 
hatte sie hinausgestammelt, was geschehen war, und da 
hatte sie der viel jüngere Gärtnerbursche, der das heiratstol-
le Mädchen nur immer zum Narren gehalten, schaudernd 
von sich gestoßen. Und in ihrer Angst und Not hatte sich 
die Pflegerin in den tiefen Weiher des Parkes gestürzt. 
Die Pflegerin hatte ihre erbärmliche Pflichtverletzung mit 

dem Tod gesühnt. Das war für den Mann, der seinen klei-
nen Liebling in tiefstem Herzen betrauerte, freilich nur eine 
geringfügige Genugtuung. 
»Fee muß benachrichtigt werden, Bernulf«, wagte Gudrun, 
ihn an das Nächstliegende zu erinnern. 
»Ach ja – gewiß.« 
Wie aus Erz gegossen war sein Antlitz, hart und kalt, als er 
am Telefon stand und das Telegramm für die Gattin durch-
sprach. 
Spät abends kam die Rückantwort: 
 

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fee außer sich vor schmerz – kann reise nicht gleich antreten, da 
zusammengebrochen – mama. 

 
Der Graf biß die Zähne zusammen, daß es knirschte, und 
seine Hand schloß sich so fest um den Hörer des Telefons, 
durch den der Text der Depesche mitgeteilt wurde, als wol-
le er ihn zermalmen. 
Traude und Gudrun, die sich erboten hatten, bis nach dem 
Begräbnis des Kindes bei ihm zu bleiben und mit ihm im 
Arbeitszimmer saßen, konnten sich ungefähr denken, wel-
chen Inhalt das Telegramm hatte. 

Und wirklich mußte das Kind ohne Beisein der Mutter be-
graben werden. Dieser Vorfall empörte die Menschen tief, 
und ihr Mitleid und ihre Sympathie galten allein dem Gra-
fen, der unbeweglich und hochaufgerichtet an der kleinen 
Gruft stand. 
Noch an demselben Abend schrieb der Graf einen kurzen 
Brief an seine Frau, der vielleicht nicht sehr zart und höf-
lich ausgefallen war. Nach einigen Tagen schon kam die 
Antwort. Nicht Fee schrieb, sondern die Mutter: 
 
Lieber Bernulf! 
Du hast eine nette Art, Briefe zu schreiben – kurz, hart, befeh-
lend – als wenn ein erbarmungsloser Richter sie schreibt. Ich 
weiß genau, was meinem armen, bedauernswerten Püppchen 
blüht, wenn es nach Hohen wenn zurückkehrt. Deshalb werde 
ich nicht gestatten, daß sie es tut. Mein zartes, sensibles Kind 
würde an Deiner Seite zugrunde gerichtet werden. Gott sei 
Dank gibt es noch Männer, die ihre süße Schönheit und ihr 
anschmiegsames, sonniges Wesen mehr zu schätzen wissen als 
Du. Du hast sie nie zu würdigen verstanden, Du bist ein Mann 
ohne Ritterlichkeit und Lebensart bist ein roher, ungeschliffener 
Barbar!
 
Ich will auch nicht, daß mein an Luxus gewöhntes Kind Dein 
Bettelleben weiter mit Dir teilen soll. Mein Püppchen ist für 
Luxus geboren, kann nur in der Sonne leben.
 
Hier ist nun ein Mann, der ihr ein Leben voll Liebe, Reichtum 

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und Freude bieten kann – und dieser Mann vergöttert mein 
Liebchen.
 
Später wirst du noch mehr von mir hören. 
 
Daisy von Barnim.
 

 
»Noch mehr?« sagte eine zürnende Stimme, und eine Hand 
legte sich auf die des Grafen, der den Brief mittendurch 
reißen wollte, und hielt sie fest. 
Er fuhr herum und sah in Traudes empörtes Gesicht. 
»Das darfst du nicht tun, Bern«, sagte sie sehr ernst. »Du 

wirst es vermutlich sehr verwerflich finden, was ich dir jetzt 
eröffne – ich habe dir nämlich über die Schulter gesehen 
und die allerliebste Epistel mitgelesen. Ich stehe auf dem 
Standpunkt, daß ich auf Grund unserer Jugendfreundschaft 
berechtigt bin, meine Nase in deine Angelegenheiten zu 
stecken. Und da mir deine Verschlossenheit und Unzu-
gänglichkeit zur Genüge bekannt sind, so weiß ich, daß ich 
diesen Brief nie zu lesen bekommen hätte. So war ich ge-
zwungen, zu diesem wenig schönen Mittel zu greifen.« 
Traude sah ein leichtes Lächeln auf dem düsteren Antlitz 
des Mannes – das erste nach dem Tod seines Kindes. 
»Nun sage einmal, Bern, warum wolltest du den Brief, die-

ses Geständnis einer schönen Seele, vernichten? Damit du, 
wenn es zur Scheidung kommt, nichts gegen diese beiden 
raffinierten Weiber in Händen hast – damit sie es so dre-
hen können, daß dir die Schuld zugeschoben wird?« 
»Liebe Traude«, entgegnete der Graf bitter, »wer die Schuld 
trägt, ist hier vollständig Nebensache. Ja – wenn das Kind 
noch lebte und ich um dessen Besitz kämpfen müßte!« 
»Nun, das hättest du auf keinen Fall zu tun brauchen«, gab 
Traude spöttisch zurück. »Denn nach allem, was wir bisher 
erlebt haben, hätte dir diese Mutter das Kind mit tausend 
Freuden überlassen.« 
Sekundenlang herrschte tiefes, bedrückendes Schweigen, 

dann sagte der Graf – und es klang seltsam müde und ton-
los: 

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»O ja, ich muß schließlich noch froh sein, daß das Kind tot 
ist. Denn Kinder sind immer am meisten zu bedauern, 

wenn die Eltern sich scheiden lassen.« 
»Und soweit ich dich kenne, mein lieber Bern, hättest du 
um des Kindes willen deine trostlose Ehe weiter ertragen. 
So herzlos es auch klingen mag, lieber Junge – das Kind ist 
gut aufgehoben.« 
Er zuckte zusammen, und sie strich ihm begütigend über 
den tiefgesenkten Kopf. 
»Ich kenne Männer deiner Art, Bern«, sagte sie leise. »Derg-
leichen Bitternisse des Lebens werfen sie noch lange nicht 
um, schmieden ihnen Herz und Nerven zu Stahl und Eisen. 
Es schneidet ja nicht ins Mark, Bern. Du hast deine Frau in 
Wahrheit nie geliebt – eine vorübergehende Verliebtheit 

war es, die dich sie erwählen ließ. Du warst ihrer doch 
schon nach den ersten Wochen der Ehe überdrüssig, das 
wirst du nicht abstreiten können. Sei froh, daß du sie los-
wirst. Den Tod des Kindes wirst du auch verwinden, lieber 
Freund, dafür lasse nur die Zeit sorgen, die schon tiefere, 
schmerzhaftere Wunden vernarbt hat. Jedenfalls ist es ein 
Glück für dich, daß du diese unmögliche Frau auf so leich-
te Art losgeworden bist.« 
Traude Röstel war Frau Rönner geworden. Vor einigen 
Stunden hatte die Trauung stattgefunden, und die Gäste 
saßen in dem Heim des jungen Paares gemütlich beisam-
men. Graf Hellmarck und Gero von Barnim hatten als 

Trauzeugen fungiert; außer ihnen waren noch Ilse-Dore 
und Gudrun anwesend. 
»Gudrun, du kommst doch auch zu meiner Geburtstags-
feier?« fragte die Schwägerin. 
»Bedaure sehr, Ilse-Dore, aber übermorgen bin ich nicht 
mehr hier.« 
»Willst du verreisen?« fragte Ilse-Dore verwundert. 
»Ja, ich nehme mein Studium wieder auf«, entgegnete Gud-
run in ihrem gewöhnlichen Ton, der immer etwas Gleich-
gültiges und Gelangweiltes an sich hatte. 
»Aber Gudrun, du willst ganz allein in die Welt hinaus?« 

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wagte Ilse-Dore schüchtern einzuwenden. Gudrun sah sie 
an, und es lag unverhohlener Spott in ihrem Blick. 

»Hamburg ist nicht weit weg, Ilse-Dore. Und unter den 
Menschen, die da wohnen, bin ich nicht allein. Doch wir 
wollen dieses Gespräch lieber fallen lassen, wollen die jun-
ge Frau an ihrem Ehrentag nicht ärgern. – Auf dein Wohl, 
Traude«, sagte sie mit ihrem weichen Lachen, das man sel-
ten von ihr hörte, und hielt der Freundin das Glas entge-
gen. 
»Du bist ein unzugängliches Kind, Entlein!« entgegnete 
Traude mit tiefem Seufzer. »Sie hat es sich nun einmal in 
ihr eigenwilliges Köpfchen gesetzt, daß sie uns stört, daß 
ich in meiner jungen Ehe keine Gesellschafterin gebrau-
chen kann.« 

»Und habe ich da nicht recht?« rief Gudrun, immer noch 
lachend. 
Allerdings, man mußte ihr recht geben, wenn man es auch 
nicht aussprach. Sie hatten alle Mitleid mit dem einsamen 
Kind, doch keiner wagte es, ihr das zu bekunden. Sie hatte 
nämlich eine so hochmütige, abweisende Art, einen fühlen 
zu lassen, daß sie kein Mitleid brauchte. 
Die Gäste brachen bald auf; sie wollten das junge Paar 
nicht länger stören. 
»Dann sehen wir dich also nicht mehr wieder, Entlein?« 
fragte der Bruder, als er sich von Gudrun verabschiedete. 
»Nein, Gero, ich fahre morgen.« 

»Und wo wohnst du in Hamburg?« 
»Irgendwo; ich weiß es selbst noch nicht, hoffe jedoch, 
mein altes Quartier wiederzubekommen. Wir werden uns 
schon bald wiedersehen, denn zu den Ferien finde ich 
mich immer wieder in diesem Friedenshafen ein – voraus-
gesetzt, daß Traude mich noch haben will.« - 
»Weiß der Kuckuck, man kann aus dem Mädel nicht klug 
werden«, sagte Gero, als er auf der Heimfahrt dem Schwa-
ger und Ilse-Dore im Schlitten gegenübersaß. »Mir ist im 
Leben noch kein Mädchen begegnet, das so rätselhaft ist 
wie unser Entlein.« 

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»Ja, was ist denn hier los?« unterbrach er sich erstaunt, als 
der Schlitten vor der Freitreppe des Schlosses hielt. »Die 

ganze Zimmerflucht ist ja erhellt?« 
»Was wird es schon sein?« meinte der Graf mit unerschüt-
terlicher Ruhe und einer Ironie, die Gero und Ilse-Dore 
aufhorchen ließ. »Es sind die Zimmer der Herrin des Hau-
ses, die erhellt sind – wahrscheinlich ist Fee von ihrer Ver-
gnügungsreise zurückgekehrt.« 
»Bernulf!« 
»Schrei nicht so, Gero. Hast du etwas anderes erwartet? Ich 
nicht.« 
»Frau Gräfin zu Hause?« fragte er in der Halle den Diener 
so ruhig, als wüßte er von der Ankunft der Gattin. 
»Sehr wohl, Herr Graf.« 

Er stieg die teppichbelegte Marmortreppe zum ersten 
Stockwerk hinauf, und Gero und Ilse-Dore folgten ihm wie 
betäubt. 
Und richtig, als sie das Arbeitszimmer des Grafen betraten, 
fanden sie Fee und ihre Mutter darin vor. 
»Soll ich nicht lieber hier warten?« fragte Ilse-Dore schüch-
tern den Gatten. Doch er ergriff ihre Hand mit festem 
Druck. 
»Komm nur, Mäuschen. Je mehr Zeugen Bernulf hat, desto 
besser ist es für ihn.« 
Da nickte sie nur und ging mit. 
»Guten Abend«, sagte der Graf, als er das Zimmer betrat. 

»Nun?« 
Er stellte sich vor Gattin und Schwiegermutter hin, erbar-
mungslosen Spott in den kalten, blitzenden Augen. Und 
diese Augen brachten Frau von Barnim um ihre künstlich 
aufrechterhaltene Ruhe. Die Worte, die sie bebend hinaus-
stieß, überschlugen sich infolge ihres schlechten Gewissens. 
»Du brauchst uns gar nicht so anzusehen! Püppchen ver-
trägt einen solchen Blick nicht – sie hat absolut nichts Bö-
ses getan – wahrhaftig nicht – Püppchen läßt sich auch 
nicht scheiden – nein, nein!« kreischte sie so heftig, daß 
ihre Stimme sich überschlug. Kreideweiß war ihr Gesicht, 

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das seltsam alt und verfallen aussah. 
»Braucht Fee einen Vormund?« klang die Stimme des Gra-

fen auf, klang doppelt eisig nach dem Schwall der sich 
überhastenden Worte seiner Schwiegermutter. 
»Püppchen hat Angst vor dir – große Angst!« weinte sie laut 
und zeigte auf die Tochter, die zitternd in einem Sessel 
kauerte und ihn aus angstgeweiteten Augen ansah. 
»Und will trotz dieser Furcht weiter meine Gattin bleiben?« 
»O Bernulf, das Kind liebt dich doch so sehr – sie kann 
ohne dich nicht leben; nicht wahr, Püppchen?« schluchzte 
die Mutter herzzerbrechend. 
»Die reinste Komödie!« knirschte Gero, der sich mit Auf-
bietung aller Kraft beherrschte. Mit einem Satz war er an 
des Grafen Seite, doch der schob ihn sanft zurück. 

»Ruhig bleiben, Gero!« sagte er scharf. Dann wandte er sich 
wieder Fee und deren Mutter zu. Das Blitzen seiner Augen 
ließ erkennen, daß er nicht so ruhig war, wie er sich gab. 
»Tut mir wirklich leid, daß der Mann, der Fees Vorzüge so 
sehr zu schätzen weiß, andern Sinnes geworden ist«, sagte 
er mit tiefster Ironie. 
»Du mußt nicht glauben«, fuhr Frau von Barnim auf, »daß 
dieser wirklich reizende Mensch Püppchen nicht mehr lieb-
te. Er mußte nur abreisen.« 
»Weil er erstens verheiratet ist – und weil er zweitens mich 
und meine Geschicklichkeit im Schießen fürchtet. Es ist 
nämlich kein angenehmes Gefühl, so ein metallenes Ding 

zwischen die Rippen zu kriegen.« 
»Waaas – waaas?« Frau von Barnim schnappte nach Luft 
wie der Fisch auf dem Trockenen. »Er ist – er ist – ver… 
hei… ratet?« 
»Leider, und noch dazu glücklicher Vater von vier hoff-
nungsvollen Sprößlingen. Seine Frau ist nett und reizend, 
viel zu schade für diesen dunklen Ehrenmann.« 
»Ja – aber woher weißt du –?« 
Mit einem Gemisch von Mitleid und Verachtung sah der 
Graf auf die vernichtete Frau nieder, die diese Eröffnung 
wie ein Keulenschlag getroffen hatte. Wieviele stolze Pläne 

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gingen in diesem Augenblick in Trümmer! Der Blick, mit 
dem sie zu dem Grafen aufsah, war wie der eines geprügel-

ten Hundes. Doch das störte seine Ruhe durchaus nicht; 
auf Derartiges war er gefaßt gewesen. 
»Wozu gibt es Detektive?« meinte er sachlich. »Aber ich 
brauchte nicht einmal einen zu bemühen, denn zufälliger-
weise weilte ein guter Bekannter von mir ebenfalls in St. 
Moritz und ist sogar noch dort. Und dieser liebenswürdige 
Herr war der Ansicht, daß Vorsicht immer besser sei als 
Nachsicht und daß es gut wäre, ich hätte ein wachsames 
Auge auf meine Frau. So war ich also schon unterrichtet, 
bevor der liebenswürdige Brief kam, der meinen Charakter 
so glänzend kennzeichnet. Durch diesen Herrn weiß ich 
auch, daß Fee an dem Tag, der ihr die Nachricht vom Tod 

ihres Kindes brachte, gesund und guter Dinge war, sich mit 
ihrem Verehrer ein Stelldichein gab und daher unabkömm-
lich war und nicht an das Totenbett ihres Kindes eilen 
konnte!« 
Bei den letzten Worten war seine Stimme hart und schnei-
dend geworden, die Gelassenheit war von ihm abgefallen. 
Wie ein erbarmungsloser Richter stand er vor den beiden 
Frauen, die das Entsetzen fast erstarren ließ. Die Augen 
flammten in seinem blassen Gesicht, in dem jeder Muskel 
gestrafft war. 
Hart und scharf fiel Wort auf Wort: 
»Der Tod des Kindes, durch die Pflichtvergessenheit der 

Mutter verursacht.« 
»Du willst Püppchen doch nicht etwa für den Tod des Kin-
des verantwortlich machen?« schrie die Mutter, außer sich 
vor Angst und Entsetzen. »So viele Mütter verreisen und 
überlassen ihre Kinder zuverlässigen Pflegerinnen!« 
Eine Handbewegung des Grafen, drohend und gebieterisch 
zu gleicher Zeit, ließ die empörte Frau schweigen. 
»Es hat keinen Zweck, mit euch über irgend etwas zu strei-
ten – mein Kind ist tot.« 
Hier schwieg er für den Bruchteil einer Sekunde, um etwas 
hinunterzuschlucken, das ihm in der Kehle saß. Doch dann 

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sprach er weiter, kalt, hart, sachlich. 
»Fee wird nach kurzer Zeit frei sein. Sie kann sich also ei-

nen andern Mann wählen, der sie besser zu würdigen ver-
steht als ich. Das ist alles, was ich in dieser Angelegenheit 
zu sagen habe.« 
»Und – und wovon soll Püppchen leben?« 
Frau von Barnims Stimme winselte, und der Graf wandte 
sich mit einem unbezwingbaren Ekelgefühl ab. Er sah Gero 
an, der in seinem Sessel saß und nur mit größter Anstren-
gung seinen Zorn meisterte. Oh, hätte Bernulf ihm nur 
freie Hand gelassen! 
»Du wolltest mir doch das Geld geben, Gero?« 
»Nein, das Geld gebe ich dir nicht!« weigerte er sich. 
»Tu, was ich dir gesagt habe, Gero«, sagte der Graf mit 

scharfer Stimme. Da gehorchte Gero und zählte das Geld 
auf den Tisch, das zur Einlösung eines Wechsels bestimmt 
gewesen war. Seine Zähne knirschten, so fest biß er sie zu-
sammen. 
»Das ist alles, was ich habe«, sagte der Graf und reichte das 
Geld Frau von Barnim, die hastig danach griff. »Wenn es 
mir möglich ist, werde ich Fee eine kleine Rente zahlen, 
doch es ist anzunehmen, daß ich es nicht kann. So – ich 
glaube, wir haben uns nichts mehr zu sagen.« 
»Gero, ich verreise auf kurze Zeit«, sagte Graf Hellmarck 
einige Tage später zu seinem Schwager. »Und zwar nicht 
geschäftlich, sondern zu meinem Vergnügen. Die Sache 

hier ist so vollkommen verfahren, daß mich einige hundert 
Mark mehr oder weniger nicht retten können. Ich fange an, 
nervös zu werden, und das ist kein gutes Zeichen. Ich will 
wenigstens mal für einige Tage aus der Misere heraus.« 
»Ja, reise nur, Bern, ich an deiner Stelle täte es auch. Wenn 
du wiederkommst, bist du vielleicht hoffnungsfroher.« 
»Hoffentlich.« 
Und so fuhr Graf Hellmarck fort. Er hatte sich vorgenom-
men, wenigstens einige Tage wieder so zu leben, wie er es 
von früher gewohnt war. 
Der Hoteldirektor, der den vornehmen Gast kannte, kam 

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ihm entgegen und geleitete ihn persönlich zu den Zim-
mern, die er für passend hielt. 

Der Graf nahm ein Bad, kleidete sich sorgfältig um und 
ging hinunter, um zuerst in aller Ruhe zu speisen. Den 
Mokka trank er im Cafe des Hotels und hörte dabei einer 
guten Kapelle zu. Doch lange hier zu sitzen, dazu fehlte 
ihm die Ruhe. So suchte er die Straßen auf, in denen um 
diese Tageszeit reger Verkehr herrschte. Das Hasten und 
Treiben der großen Stadt machte ihm Vergnügen. Er 
schlenderte langsam dahin, ließ sich stoßen und schieben 
und gab manchen Blick schöner Augen zurück, die dem 
vornehmen Mann, dessen Erscheinung selbst in diesem 
Getriebe auffiel, mit Bewunderung folgten. 
Er landete im Alhambracafe. Als er die Treppe emporstieg, 

sah er schon durch die Spiegel des Treppenhauses, daß das 
Cafe stark besucht war. Es war ein Elitenachmittag, und die 
Paare tanzten nach der vorzüglichen Musik. Der Graf woll-
te sich ein ungestörtes Plätzchen suchen, doch das war hier 
unmöglich. 
So nahm er denn den Platz, den der Ober ihm dienstbeflis-
sen anbot. Und kaum, daß er saß, wurden auch schon die 
Damen um ihn herum aufmerksam. Es begann ein Kreuz-
feuer von Blicken, das den Grafen eine Weile amüsierte. 
Dann ließ er seine Augen weiterschweifen, und seine Auf-
merksamkeit galt bald einem Tisch, an dem Studenten und 
Studentinnen in bunter Reihe saßen. Es war eine lustige 

Gesellschaft. Harmlos vergnügt, dem Ober nicht gerade 
sehr willkommen, da die Ebbe ihres Geldbeutels ihnen 
nicht gestattete, viel zu verzehren. 
Graf Hellmarck beobachtete sie mit Vergnügen. Doch 
plötzlich stutzte er und beugte sich vor, um besser sehen zu 
können, denn die eine Gestalt kam ihm seltsam bekannt 
vor. 
Und dann blitzte es in seinen Augen überrascht auf. 
Richtig, – das war Gudrun, das häßliche Entlein! 
Mit der ihr eigenen Lässigkeit saß sie unter ihren Kollegen 
und Kolleginnen und hatte den üblichen gelangweilten 

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Ausdruck im Gesicht. Wie eine Gouvernante sah sie aus, 
die das Benehmen ihrer Zöglinge zwar »shocking« findet, es 

aber resigniert längst aufgegeben hat, ihnen Schliff beizub-
ringen. 
Es waren hübsche, frische Mädel unter den Studentinnen, 
fast alle kennzeichnete ein Gemisch von Verwegenheit und 
Intelligenz. 
Gudrun schien man mit einer Art von Scheu zu betrachten; 
niemand wagte, sie zu necken, sondern man kam ihr all-
gemein sehr höflich entgegen. Sie schien nicht sehr beliebt 
zu sein, und der Graf hatte das Empfinden, als ob sie in 
diesem Kreis störend wirkte. Eben wandte sich ein junger 
Mann an sie, der äußerlich gut zu ihr paßte. Und als die 
Musik einen Augenblick schwieg, fing der Graf einige Brok-

ken der Unterhaltung der beiden auf – Fachausdrücke, la-
teinische Namen. 
Zwei der frischen Mädel standen auf, schlenderten Arm in 
Arm durch das Lokal und tuschelten mit unterdrücktem 
Gekicher. 
»Hat heute wieder ihre gelehrte Ader, unser häßliches Ent-
lein«, hörte Bernulf sie sagen, als sie an seinem Tisch vor-
beigingen. Dann hatten sie den Grafen entdeckt und lä-
chelten ihn süß und kokett an. 
Doch dieser hatte augenblicklich kein Interesse für sie. Ihn 
hatte plötzlich das Verlangen erfaßt, in die lustige Gesell-
schaft dort hineinzuplatzen. Er war neugierig, was Gudrun 

dazu sagen würde. 
Und er zögerte auch nicht lange. Als die Musik einen Tango 
spielte, ging er kurz entschlossen auf den Tisch zu. 
Die lustige Unterhaltung stockte sofort. Alle sahen zu dem 
vornehmen Fremden auf. Die Augen der Mädchen weiteten 
sich vor Entzücken; sie nahmen an, daß er ein Kavalier sei, 
der eine von ihnen zum Tanz führen wollte. 
Gudrun stockte mitten in einer lebhaften Debatte, die sie 
mit ihrem Nachbarn ausfocht. 
»Gudrun – « 
Da fuhr sie auf, und langsam wich ihr beim Anblick des 

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Grafen das Blut aus dem Antlitz. 
»Gudrun, Entlein, habe ich dich erschreckt?« fragte er be-

dauernd, indem er ihre Hände an die Lippen zog. Und nun 
hatte sie sich auch schon wieder in der Gewalt. 
»Guten Tag, Bernulf. Du kannst wohl meine Überraschung 
nicht begreifen?« 
»Doch, das kann ich, Gudrun. Ich wollte dich zwar überra-
schen, aber erschrecken wollte ich dich nicht. Willst du 
mich nicht bekannt machen?« 
Und nun folgten Namen, die dem Grafen begreiflicherwei-
se höchst gleichgültig waren. Als die andern hörten, daß er 
ein Graf war und Gudrun ihn duzte, gab es zu allerlei Ver-
mutungen Anlaß. Man wußte ja, daß das häßliche Entlein 
aus vornehmem Hause stammte, und wenn dieser stolze 

Mann gar ein Verwandter von ihr war – dann… 
Jedenfalls stieg sie in den Augen ihrer Kolleginnen gewaltig. 
»Gudrun, willst du diesen Tango mit mir tanzen?« fragte 
der Graf. 
»Ich kann gar nicht tanzen, Bernulf.« 
»Wenn ich dich führe, kannst du es schon – ich bitte dich 
darum, Gudrun.« 
»Meinetwegen, doch du wirst keine reine Freude haben.« 
Das konnte er nicht finden; ganz wundervoll paßte sie sich 
seiner Führung an. 
»Wenn man da nicht an den Zufall glauben soll«, plauderte 
der Graf bei den ruhigen Schritten, »dann weiß ich nicht, 

wie ich unsere Begegnung nennen soll. Ausgerechnet hier 
muß ich dich treffen, Gudrun!« 
»Das ist doch weiter nicht wunderbar, Bernulf«, lachte sie. 
»Dies ist eine vielbesuchte Stätte, an der man sich treffen 
muß, wenn man sie oft besucht. Doch* willst du etwa mit 
allen Mädels tanzen, die mit mir am Tisch sitzen?« 
»Ich denke gar nicht daran, Entlein. Wieviele sind es über-
haupt? -Sechs Stück – da hätte ich ja allerlei Arbeit, bis ich 
mit ihnen getanzt hätte. Nein, heute tanze ich nur mit dir.« 
»Du bist ja so vergnügt, Bernulf; geht es dir jetzt so gut?« 
erkundigte sich Gudrun. 

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»Im Gegenteil, Entlein, miserabler denn je. Doch ich bin 
nach Hamburg gekommen, um mal >Ferien vom Ich< zu 

feiern, und, wie du siehst, habe ich bereits damit begon-
nen. In Hohenwerth verlernt man tatsächlich Lachen und 
Fröhlichsein. Ich mag gar nicht daran denken, Entlein.« 
Das ungleiche Paar erregte bald Aufsehen. Dieser elegante 
Weltmann, dem die vornehme Abstammung geradezu auf 
der Stirn geschrieben stand, und dieses Mädchen in der 
lächerlichen Kleidung. Aus vornehmem Haus mußte auch 
sie stammen, denn ein gewisses Etwas, das in ihrer Erschei-
nung lag, ließ ihre vorsintflutliche Garderobe vergessen 
und die große Dame in ihr sehen. 
Dann wollte Gudrun nach Hause und verabschiedete sich 
von ihren Kollegen und Kolleginnen, die sie mit scheelen 

Blicken ansahen. 
»Da bin ich deinetwegen gehörig in Ungnade gefallen«, 
sagte sie vergnügt, als sie an Bernulfs Seite den Steindamm 
hinaufging, »weil ich dich nicht dazu gebracht habe, mit 
ihnen zu tanzen.« 
»Na, wenn schon, Entlein«, meinte der Graf und nahm 
ihren Arm. »Wohnst du weit?« 
»Nein, in einem der nächsten Häuser. Doch ich will zuerst 
noch Einkäufe für mein Abendessen machen.« 
»Das laß bitte bleiben, Gudrun. Wir essen beide irgendwo 
zu Abend, einverstanden?« 
»Nein, Bernulf, du kannst deine Zeit viel besser ausnutzen, 

als den Abend mit mir zu verbringen. Du bist doch ge-
kommen, um dich zu amüsieren.« 
»Kann ich das in deiner Gesellschaft etwa nicht? Sei nicht 
so unzugänglich, Gudrun, und setz nicht wieder dein 
hochmütiges Gesicht auf! Eben warst du noch so nett.« 
»Dann muß ich mich erst noch etwas zurechtmachen«, 
meinte sie zögernd. »Hier wohne ich übrigens. Willst du 
auf mich warten? Ich werde mich beeilen.« 
»Im Gegenteil, Gudrun, ich will mir dein Heim ansehen. 
Bei einem andern Mädchen müßte ich ja wohl noch fragen: 
oder schickt sich das nicht? Doch bei euch modernen, 

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selbständigen Mädchen hat sich dergleichen wohl über-
lebt.« 

»Wenn ich mich umziehe, mußt du sowieso hier warten – 
ich habe nämlich nur ein Zimmer«, sagte sie, während 
Purpurröte ihr zartes Antlitz übergoß. 
»Na schön, dann gehe ich hinunter. Doch zuerst sollst du 
mir dein Heim zeigen.« 
»So komm, du Quälgeist.« 
Sie betrat vor ihm das Haus, stieg drei Treppen hinauf und 
öffnete ein Zimmer, das einen separaten Eingang hatte. 
Das Licht flammte auf, und der Graf befand sich in einem 
schmalen Gemach, das nur notdürftig möbliert war. Ein 
Bett, zwei Stühle, ein altmodischer Kleiderschrank und ein 
Tisch, der mit Büchern bedeckt war. In einer Ecke war ein 

Vorhang aus billigem Kattun angebracht, der wohl Sachen 
verbergen mußte, die unsichtbar bleiben sollten. Über dem 
Bett hing ein Bild – das einzige Bild in dem Zimmer – und 
des Grafen Blick haftete darauf. 
Das Bildnis einer Frau. Eckige, unschöne Züge, ein Mund, 
der fest zusammengepreßt war und wie ein schmaler Strich 
wirkte. Er gab dem Gesicht etwas Verbissenes. Dazu ein 
Paar kalte Augen, die einen durch und durch zu sehen 
schienen. 
»Meine Adoptivmutter«, sagte Gudrun erklärend. »Doch 
willst du nicht Platz nehmen? Ich glaube, so viel Zeit ha-
ben wir noch, um eine Tasse Tee zu trinken. Sonst würde 

ein Aufenthalt hier ungemütlich sein, zumal, da das Zim-
mer ungeheizt ist.« 
»Wird es denn nicht jeden Tag geheizt?« 
»Nein, jeden zweiten Tag.« 
»Sag mal, du armes Mädel, hier also verbringst du deine 
schönsten Jugendjahre – zwischen diesen Wänden. Und 
büffelst noch dazu?« 
»Was willst du? Mutter Hermine war es, die mir dieses 
Zimmer selbst aussuchte – und aus Pietät behalte ich es. Es 
bleibt mir ja auch keine andere Wahl. Denn mit den Mit-
teln, die mir zur Verfügung stehen, kann ich mir kein ande-

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res Quartier leisten.« 
»Und findet sich denn kein Mensch, der zu diesen kargen 

Mitteln zuschießt? Weiß Traude, wie du hier haust?« 
»Selbstverständlich! Doch nimmst du etwa an, daß ich – « 
Sie errötete unter seinem mitleidigen Blick und warf den 
Kopf in den Nacken. 
»Ich mag nicht von Almosen leben«, sagte sie schroff und 
hochmütig. »Außerdem teile ich die Ansicht Mutter Her-
mines, daß es einem Menschen durchaus nichts schaden 
kann, wenn er auch die Schattenseiten des Lebens kennen-
lernt. Dann wird er ein behagliches Leben, wenn es ihm 
später vielleicht beschieden ist, um so mehr zu schätzen 
wissen.« 
Sie wandte sich ab und hantierte mit einem Spirituskocher, 

den sie hinter dem Vorhang hervorholte, und es dauerte 
nicht lange, so stand vor ihm ein Glas mit dampfendem 
Tee. Dann holte sie noch ein Körbchen mit Gebäck hinter 
dem Vorhang hervor. 
»Bitte, bediene dich, Bernulf – ich gebe, wie ich es habe.« 
»Aber selbstverständlich, Gudrun, besten Dank. Und nun 
noch eine Frage – aber nimm sie nicht wieder ungnädig auf 
– wie lange dauert dein Studium noch?« 
Ihr Blick verfinsterte sich auffallend, und nur widerwillig 
gab sie Antwort. 
»Unter Umständen noch recht lange – denn ich bin nicht 
begabt.« 

»Und wer zwingt dich denn dazu?« 
»Mutter Hermine selbstverständlich. Das heißt – wenn ich 
es körperlich nicht schaffe, kann ich es aufgeben. Doch was 
soll ich beginnen? Mir ist alles andere ebenso schrecklich 
wie dieses Studium.« 
»Wie alt bist du, Gudrun?« 
»Zweiundzwanzig. Es wäre also langsam Zeit, mit meinem 
Studium fertig zu werden. Vorläufig jedoch ist kein Gedan-
ke daran.« 
»Fällt dir denn das Lernen schwer?« 
»Nein, bis zum Abitur schaffte ich es spielend. Doch nun – 

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aber wozu noch viel darüber reden, es nützt ja doch 
nichts.« 

»Bringst du dem, was ins Fach der Hausfrau schlägt, nicht 
mehr Interesse entgegen?« 
»Ja, das wäre vielleicht noch das einzige, wofür ich mich 
eignen würde.« 
»So rate ich dir, eine Hausfrauenschule zu besuchen, dich 
im Hauswesen heranzubilden.« 
»Und dann alten, alleinstehenden Herren die Wirtschaft zu 
führen«, warf sie ironisch ein. 
»Vielleicht heiratest du.« 
Nun lachte sie amüsiert auf. 
»Weißt du was, Bernulf, – strenge deinen Verstand nicht 
unnötig an. Mein Weg ist klar vorgezeichnet. Trink deinen 

Tee, und laß dir durch diese Umgebung deine gute Laune 
nicht verderben.« 
Nun plauderten sie von allem möglichen und tranken ih-
ren Tee. Der Graf war erstaunt, wie vorzüglich er schmeck-
te. Gudrun sah es und lächelte. 
»Das ist der einzige Luxus, den ich mir leiste – guten Tee 
oder guten Kaffee. Wenn ich hier so allein sitze und büffe-
le, brauche ich Anregung.« 
»Du hättest doch lieber bei Traude bleiben sollen, Gud-
run.« 
»Was soll ich bei ihr? Ich bin da so überflüssig wie irgend 
möglich. Solange sie allein war, konnte sie meine Gesell-

schaft gebrauchen, doch nun hat sie einen Mann, den sie 
über alles liebt. Sie schreibt zwar in jedem Brief, daß sie 
mich sehr vermißt, aber das glaube ich ihr einfach nicht. 
Doch nun muß ich dich leider hinauswerfen. Denn wenn 
wir zum Abendessen noch irgendwo hingehen wollen, 
wird es Zeit; ich habe nachher noch zu arbeiten.« 
»Da hört doch alles auf, Gudrun; wenigstens am späten 
Abend solltest du dir Ruhe gönnen!« 
»Und wenn du noch so entrüstet bist, mein Lieber, es nützt 
alles nichts. Sei also so gut und warte unten auf mich, ich 
werde mich beeilen.« 

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Es dauerte auch wirklich nicht lange, da erschien sie. Er 
führte sie in ein vornehmes Restaurant, von dem er wußte, 

daß man dort gut speiste. 
Gudrun stach in ihrer Kleidung sehr von den anderen Da-
men ab, die in dem Lokal weilten. Daß sie sich umgeklei-
det hatte, war wirklich nicht zu merken. Sie trug ein 
schwarzes Kleid wie immer. Mancher verwunderte Blick 
ging zu dem ungleichen Paare hin. 
Gudrun aß wenig, alkoholische Getränke wies sie zurück. 
Es begann dem Grafen in ihrer Gesellschaft allmählich 
langweilig zu werden, und sie merkte es wohl. Sie erhob 
sich auch bald. 
»Willst du schon gehen, Gudrun?« 
»Ja, du Armer hast dich jetzt lange genug geopfert«, erwi-

derte sie gelassen. »Es wird für dich, der du hergekommen 
bist, um dich zu amüsieren, ein besseres Vergnügen geben, 
als dich in meiner Gesellschaft zu langweilen.« 
In der Tat – nun war sie ganz Dame, als sie den Ober he-
ranwinkte und ihren Mantel verlangte – diesen Mantel, der 
ebenso unmöglich war wie ihre sonstige Kleidung. Und der 
Ober, der bisher mit einem Gemisch von Mitleid und Spott 
auf diese Dame gesehen, wurde plötzlich sehr devot. 
Dem Grafen entging das durchaus nicht, und er amüsierte 
sich köstlich darüber. »Die fürstliche Ahne herauskehren« 
nannte er es bei sich, wenn Gudrun so war wie jetzt. Und 
gleichzeitig mußte er feststellen, daß ihm in seinem beweg-

ten Leben noch nie ein so rätselhaftes weibliches Wesen 
begegnet war wie Gudrun. 
Es war spät, als Graf Hellmarck am nächsten Morgen er-
wachte. 
Er stand auf, reckte und streckte behaglich die schlanken, 
kräftigen Glieder. Er nahm ein Bad und ließ das wohltem-
perierte Wasser über die Glieder rieseln. Erfrischt und er-
quickt kleidete er sich an und ging zum Frühstück. 
Dabei überlegte er, was er unternehmen könnte, um den 
Tag angenehm zu verbringen. Und da fiel ihm der Masken-
ball ein. Er bat den Direktor zu sich und verhandelte mit 

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ihm wegen einer Einlaßkarte. 
Eine Stunde später war er im Besitz der Karte. Ob er nicht 

zu Gudrun ging und sie überredete, das Fest mit ihm zu 
besuchen? 
Er verwarf den Gedanken. Doch sehen wollte er nach ihr, 
und so fuhr er zu ihrer Wohnung, in der er sie aber nicht 
antraf. Die Frau, die ihr das Zimmer vermietet hatte, kam 
auf sein Klopfen herbei und musterte den vornehmen 
Fremden mit unverhohlener Neugierde. 
»Fräulein von Barnim ist nicht zu Hause, sie ist um diese 
Zeit immer im Kolleg. Soll ich etwas bestellen?« 
»Ja, bestellen Sie einen Gruß von – dem Hohenwerther 
Schwager. Wann kommt sie zurück?« 
»Das ist ganz verschieden, mein Herr, drei Uhr wird es je-

doch immer.« 
»Ich danke Ihnen.« Der Graf zog den Hut und stieg die 
Treppe hinunter. 
Also das war das Leben, das Gudrun führte. Bis in den 
Nachmittag Wissenschaft, dann eine kurze Pause, die sie 
wahrscheinlich dazu verwandte, um sich ihr kärgliches 
Mittagessen zu bereiten – dann wieder studieren bis in die 
Nacht. 
Armes, bedauernswertes Geschöpf! - 
Den Rest des Tages verbrachte Graf Hellmarck in ange-
nehmster Weise, und abends besuchte er den Maskenball. 
Lockende, einschmeichelnde Musik überall, jubelndes La-

chen, Hirten, Gekose empfing ihn, als er den geschmückten 
Saal betrat. Er fühlte sich von weichen Armen umfangen, 
mitgerissen in tolle Wirbel. 
Allzu gut gefiel der Mann im seidenen Domino, unter dem 
ein eleganter Frack sichtbar wurde, den weiblichen Masken. 
Graue, blaue, schwarze und braune Augen strahlten ihm 
entgegen. Und gar manche dieser Masken war gewillt, den 
stolzen Unbekannten für ein paar tolle Stunden an sich zu 
fesseln und mit ihm zu flirten. 
Plötzlich gab es ein jubelndes Hallo, und eine ganz entzük-
kende Pierrette kam quer durch den Saal gelaufen, direkt in 

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seine Arme hinein. Sie hatte es nämlich gewagt, einer 
männlichen Maske, die, ihres heftigen Protestes nicht acht-

end, sie hatte küssen wollen, eine Ohrfeige zu versetzen. 
Das hatte einen tollen Jubel ausgelöst, und man war ihr 
nachgestürmt, um die schlagfertige Kleine einzufangen. 
Nun schmiegte sie sich zitternd an die Brust des Grafen, der 
sie fest in seine Arme schloß. Er hatte Mühe, sich die la-
chenden, jubelnden Masken vom Leib zu halten. 
»Nun erst mai Ruhe, meine Herren«, sagte er mit seiner 
gebietenden Stimme, die alle unwillkürlich einen Schritt 
zurücktreten ließ. »Was hat die Maske hier sich zuschulden 
kommen lassen?« 
»Sie hat den >Don Juan< geohrfeigt«, rief es jubelnd durch-
einander, »und der verlangt süße Rache von ihren Lippen.« 

»Und warum hat sie das getan?« 
»Er wollte sie küssen!« 
»Hat sie ihm Veranlassung dazu gegeben, daß er das wagen 
durfte?« 
»Kein Gedanke, gewehrt hat sie sich!« 
»Nun, dann ist die Pierrette in ihrem Recht. Denn hier darf 
man nur diejenigen küssen, die sich – küssen lassen«, sagte 
der Graf lachend. 
Das reizte den geohrfeigten Don Juan. 
»Mag die prüde Pute dann doch zu Hause bleiben und 
nicht auf einen Maskenball gehen«, sagte er ärgerlich. »Hier 
herrscht Maskenfreiheit.« 

»Aber nur, so weit es sich mit guter Erziehung vereinbaren 
läßt, meine Herren, nicht wahr?« 
»Kinder, wir wollen die reizende Kleine dem Domino über-
lassen«, riet ein Jockei, »sie steht ihm wirklich gut zu Ge-
sicht.« 
Alle gaben ihm lachend recht, und damit war der Streit 
geschlichtet. 
»Komm, ich bin netter«, verhieß eine Spanierin dem ge-
kränkten Don Juan, »ich passe auch viel besser zu dir als 
dieses Narrenkind.« 
So ließ er sich denn gnädig trösten und tanzte mit ihr da-

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von, und die anderen schlossen sich ihm an. 
Jetzt erst kam der Graf dazu, sich die Kleine, die so ver-

trauensvoll bei ihm Schutz gesucht, näher zu betrachten. 
Ein Pierrettenröckchen aus tiefroter, glänzender Seide, 
gleichfarbige Schuhe und Strümpfe an den wundervoll 
geformten Beinen, eine volle, schneeige Halskrause und 
von gleicher Farbe die hohe Mütze. 
Alles sehr einfach – und doch sehr eigenartig wirkend, 
dank der entzückenden, graziösen Gestalt der Trägerin. 
Schultern und Arme waren wie Blütenblätter so zart und 
fein. Und wie Goldgespinst war das Lockenhaar, das unter 
der Mütze hervorquoll. 
Dem schönheitsdurstigen Grafen ging das Herz auf bei so 
viel Süße. Gar zu gern hätte er auch das Gesicht seines 

Schützlings gesehen, aber da mußte er bis zur Demaskie-
rung warten. Er zweifelte jedoch keinen Augenblick daran, 
daß es ebenso reizend war wie das ganze Persönchen. 
»Komm, mein leichtsinniges Kind, nun sollst du zuerst mal 
ruhig werden.« 
Er führte sie an ein stilles Plätzchen und gab dem Ober den 
Auftrag, eine Flasche Sekt zu bringen. Er holte der Pierrette 
einen Korbsessel herbei, in den sie sich erschöpft fallen 
ließ. 
»Bist du allein hier, mein Kind?« 
Sie nickte stumm. 
»Dann darfst du nicht so keck sein und verliebte Herren 

ohrfeigen, mein rebellisches Mädchen.« 
Der Ober eilte mit dem Sekt herbei, entkorkte die Flasche, 
füllte die Kelche und zog sich zurück. Der Graf reichte der 
Pierrette einen Kelch, den sie in einem Zug leerte. 
»Noch einen?« fragte der Graf. 
Sie nickte und leerte das zweite Glas ebenso schnell. 
»Das ist ja aber eine Leistung, Kindchen«, wunderte er sich. 
»Noch ein Gläschen gefällig?« 
Sie schüttelte den Kopf, sich tiefer in den Sessel schmie-
gend. Doch damit war der Graf nicht einverstanden, er for-
derte sie zum Tanz auf. 

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Ein nie geahntes Gefühl überkam ihn, als er die grazile 
Gestalt im Arm hielt. Der genossene Sekt jagte ihm das Blut 

schneller als sonst durch die Adern, und er drückte die fei-
ne Gestalt an sich – ganz fest. 
Noch nie hatte er einen solchen Genuß beim Tanzen emp-
funden. Die phantastische Umgebung, das gedämpfte 
Licht, die zärtliche, einschmeichelnde Musik, dazu dieses 
wunderfeine Mädchen im Arm – alles das hatte für ihn 
etwas Unwirkliches, Märchenhaftes. 
Wenn ihm seine Tänzerin von anderen Männern entrissen 
werden sollte, hielt er sie mit stählernem Arm fest. So gab 
man es auf und ließ dieses Paar ungeschoren. 
Lange – lange tanzten sie, bis die Pierrette zeigte, daß sie 
müde sei. Da führte er sie in ein Zimmer, das zu einem 

blühenden Garten umgestaltet war. Eine eigenartige Be-
leuchtung täuschte Sonnenlicht vor, so daß die künstli-
chen, schneeigen Blütenbäume echt zu sein schienen. Am 
schönsten waren die lauschigen Lauben, die sich längs der 
Wände hinzogen, ein rechtes Versteck für verliebte Leute. 
Es flüsterte und wisperte auch an allen Ecken und Enden, 
und überall, wo der Graf hineinlugte, erblickte er zärtliche 
Pärchen. 
Endlich fand er eine freie Laube und schlüpfte mit seiner 
Pierrette hinein. Ließ sich mit ihr auf die Bank nieder, zog 
sie auf seinen Schoß. 
Und schon fanden sich ihre Lippen. 

Er küßte sie heiß, toll, durstig – wie er wohl noch nie in 
seinem Leben eine Frau geküßt hatte. Wie in einem Taumel 
war er. Ein Glücksgefühl erfüllte ihn, das ihm fast die Brust 
zersprengte. 
»Wer bist du, wunderholdes Kind?« raunte er ihr ins Ohr. 
»Willst du nicht deine Maske abnehmen?« 
Sie schüttelte den Kopf in heftiger Abwehr und hob die 
Hände zu ihr auf mit so flehender Gebärde, daß er nicht 
weiter in sie drang. E drückte sein Gesicht in ihr seidenwei-
ches, duftiges Gelock, von dem die Mütze schon längst 
gefallen war. 

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»Noch eine Stunde, dann sehe ich sowieso dein Gesicht«, 
flüsterte er ihr ins Ohr, »du süßes Mädel!« 

Er fühlte ihren Herzschlag – fühlte, wie er mit dem seinen 
Takt hielt. Das schimmernde Köpfchen lag an seiner Schul-
ter, so vertrauensvoll so selbstverständlich, als gehöre es für 
Zeit und Ewigkeit dahin. Ein feiner, berauschender Duft 
stieg aus dem Haar, der ihm die Sinne verwirrte. Er befand 
sich in einer so wundersamen Stimmung wie noch nie in 
seinem Leben. 
Immer wieder küßte er das Mädchen, preßte es an das wie 
rasend schlagende Herz, daß sie leise aufstöhnte. 
Die Stunde der Demaskierung kam heran. Der Graf riß 
seine Maske ab. 
»Nun auch du, mein zaubersüßes Kind!« verlangte er stür-

misch. 
»Zuerst einen Schluck Wein«, flehte sie, »ich verschmachte 
fast.« 
Wirklich – sie sah sehr erschöpft aus, und da stürmte er 
davon, kam in ganz kurzer Zeit wieder, eine Flasche und 
zwei Gläser in der Hand. 
Doch seine Maske war verschwunden! 
Er stellte Flasche und Gläser auf den Tisch und ließ sich auf 
die Bank fallen – unendlich müde war die Bewegung. Mit 
beiden Fäusten trommelte er gegen seine Stirn. 
»O, ich Esel!« knirschte er ingrimmig. 
Dann sprang er auf, rannte in den Saal, spähte überall um-

her, doch seine Pierrette war nirgends zu sehen. 
Noch einige Tage hastete Graf Hellmarck von Vergnügen zu 
Vergnügen, immer noch nicht die Hoffnung aufgebend, 
seine schöne Unbekannte in einem der Vergnügungslokale 
zu treffen. Jedesmal gab es dann eine Enttäuschung, über 
die ihm andere Frauen hinweghelfen mußten. 
Und dann war er endlich des Treibens müde. Da besann er 
sich auch wieder auf Gudrun, die er in dem tollen Wirbel 
der Vergnügungen ganz vergessen hatte. 
Er suchte sie an einem Nachmittag auf und traf sie in ihrem 
schmucklosen Heim bei der Arbeit. Der Tisch in der Mitte 

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des Zimmers war mit Fachschriften und Büchern bedeckt. 
Vor dem Fenster stand ein kleinerer Tisch mit einem Zei-

chenbrett, und an ihm saß Gudrun und skizzierte. 
Sie war gar nicht überrascht, als der Graf eintrat. 
»Nun, Bernulf, hast du wirklich nichts anderes vor, als 
mich in meiner Klause aufzusuchen?« 
»Ich komme, dich zu einem kleinen Bummel abzuholen. 
Bist du aufgelegt dazu?« 
»Eigentlich nicht, ich wollte diese Arbeit heute noch been-
den.« 
»Wenn ich abgereist bin, kannst du büffeln, soviel du 
willst.« 
»Nun, dann muß ich ja wohl! Du scheinst eigens gekom-
men zu sein, um das häßliche Entlein auszuführen«, sagte 

sie mit einer Ironie, die ihn reizte. 
»Immer, wie jemand es auffaßt«, meinte er achselzuckend. 
Dann zeigte er auf einen Brief mit Trauerrand, der auf dem 
Tisch lag. 
»Was hast du denn da – ist jemand gestorben?« 
Verwundert sah er, wie tief sie erblaßte und hastig an den 
Tisch eilte. Nun blieb sein Blick an der Aufschrift des Brie-
fes haften. 
»Das ist doch meine Adresse, mein Name?« 
Doch da hatte Gudrun schon den Brief ergriffen und suchte 
ihn hinter dem Rücken zu verbergen. 
»Gudrun, was soll das? – Gib mir sofort den Brief, der mei-

ne Adresse trägt!« herrschte er sie an. »Wie bist du über-
haupt in seinen Besitz gelangt?« 
Sie stand vor ihm, hochaufgerichtet, keinen Blutstropfen in 
dem zarten Antlitz. 
»Bernulf, ich bitte dich – laß mir den Brief«, flehte sie. 
»Nein, ich verlange ihn von dir«, sagte er befehlend. »Die 
Sache scheint mir höchst sonderbar. Gib mir den Brief, 
Gudrun!« 
Er ging auf sie zu. Doch da war sie auf den Tisch gesprun-
gen, so daß die Bücher zur Erde polterten. Und, die Arme 
hochwerfend, riß sie den Brief in Fetzen, daß sie nur so im 

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Zimmer umherflogen. 
»So«, sagte sie, tief aufatmend, und stieg vom Tisch hinun-

ter. 
Furchtlos sah sie den Mann an, der in unheimlicher Ruhe 
vor ihr stand. Kein Muskel zuckte in dem harten Gesicht. 
Unwillkürlich senkte sie den Blick vor dem Funkeln seiner 
Augen. 
»Gudrun – ich will endlich wissen, was das zu bedeuten 
hat!« 
Sie strich sich mit zitternder Hand das Haar aus der Stirn. 
»Fee ist tot.« 
Sie sah, wie er zusammenzuckte, und wie ihm langsam, 
ganz langsam das Blut aus dem Antlitz wich. Er ließ sich 
mit einer unendlich müden Bewegung auf einen Stuhl fal-

len und starrte vor sich hin. 
»Bern, lieber Bern, ich erhielt diesen Brief gestern früh. 
Mutter schrieb mir von Fees Tod.« 
»Dann will ich den Brief lesen, der diesen Tod anzeigt.« 
»Bernulf«, flehte sie, und die Zähne schlugen ihr vor Erre-
gung aufeinander, »Bernulf, warte, bis du zu Hause bist, 
dort wirst du alles erfahren!« 
»Nein, ich will den Brief lesen. Will auch wissen, wie du zu 
dem an mich adressierten Brief kamst!« 
»Ich habe den Brief nicht mehr!« 
»So – und was ist das?« 
Unter den Papieren auf dem Tisch ließ sich die Ecke eines 

Briefes erkennen, der gleich dem soeben vernichteten 
schwarz umrandet war. Schon zog Gudrun ihn unter den 
Papieren hervor. Doch der Graf erkannte ihre Absicht. Sei-
ne Hand umspannte ihr Handgelenk mit eisernem Griff, 
und er sah mit spöttischem Lächeln, wie sie sich unter sei-
nen Händen wand. 
Doch sogleich gab sie den Brief nicht her, es folgte erst ein 
erbitterter Kampf – dann aber hielt der Graf das Schreiben 
in den Händen. 
»Man muß in diesem Augenblick vergessen, daß du aus 
edlem Geschlecht stammst«, sagte sie wegwerfend und 

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strich über die schmerzenden Handgelenke. 
Der Graf zog das Schreiben aus dem Umschlag und las: 

 
Liebe Gudrun, mein geliebtes Kind! 
Nun bist Du mein einziges Töchterchen. Oh, mein Kind, mein 
Herz blutet aus tausend Wunden – denn Püppchen, mein Püpp-
chen ist tot! Gudrun – kannst Du das fassen?
 
Ich ging mit dem lieben Kind wieder nach St. Moritz – sie war 
ja so unglücklich! Zu ihrer Zerstreuung unternahm sie eine Bob-
fahrt mit drei Herren – und von dieser kehrte sie nicht mehr 
lebend zurück. Während die anderen mit Verletzungen davon-
kamen, mußte mein Püppchen das Leben verlieren.
 
Mein armes, lebensfrohes Kind! Und wer ist schuld – wer trieb 
sie wieder nach St. Moritz? Oh, wie ich diesen Mann hasse! 
Aber er soll einen Brief von mir erhalten – bei Gott – in dem 
will ich ihm meine Verachtung ins Gesicht schleudern!
 
Für die Überführung muß er selbstverständlich aufkommen; die 
Ehe ist ja noch nicht rechtskräftig geschieden. Doch für die 
Schulden, die Fee gemacht hat, braucht der Lump nicht aufzu-
kommen. Da hat er sich gesichert. Und mein Püppchen brauchte 
doch Toiletten in diesem mondänen Ort, sie konnte doch nicht 
in Sack und Asche gehen.
 
Ich weiß, mein geliebtes Kind, Du wirst Deine verzweifelte Mut-
ter, die mit Fees Tod alles verloren hat, nicht umsonst bitten 
lassen. Du brauchst vorläufig doch nicht alles Geld, das Dir 
Hermine hinterlassen hat. Und bald wirst Du eine anerkannte 
Ärztin sein und Geld in Hülle und Fülle haben. Sei barmherzig, 
mein geliebtes Kind, und gib Deiner gramgebeugten Mutter die 
Summe, die ja nur eine Bagatelle für Dich ist. Ich weiß, ich 
bitte Dich nicht umsonst.
 
Bei Fees Begräbnis sehen wir uns ja wieder. O mein armes, ar-
mes Püppchen! 

 
Viele Grüße und Küsse 
Deine Mutter.
 
 

Nachdem der Graf den Brief gelesen hatte, saß er unbeweg-

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lich da. »Bernulf!« 
Er sah zu ihr auf, verständnislos war sein Blick, so daß 

Gudrun laut aufweinte. Das brachte ihn wieder zu sich, 
und er erhob sich. 
»Nun, kleines Mädchen, du zitterst ja am ganzen Körper«, 
sagte er beschwichtigend. Sein Blick haftete an den roten 
Flecken, die sich an den Handgelenken scharf von der zar-
ten Haut abzeichneten. 
»Tut es sehr weh?« fragte er mit tiefer, weicher Stimme. Er 
erfaßte, trotz ihres Sträubens, ihre Hände und küßte die 
roten Flecke an den Handgelenken. 
»Laß doch den Unsinn«, sagte sie schroff und suchte sich 
von ihm loszureißen. 
Es gelang ihr auch. 

Als sie, hochaufatmend, von ihm fortstrebte, musterte er sie 
mit einem spöttischen, unter halbgeschlossenen Lidern 
hervorkommenden Blick. 
»Vielleicht erklärst du mir nun endlich – « 
»Nichts erkläre ich dir!« erwiderte sie mit einer Heftigkeit, 
wie er sie dem sonst so gelassenen Mädchen niemals zuget-
raut hätte. 
»So, na – aus unserm Bummel kann ja nun leider nichts 
werden, ich fahre heute nach Hause. Kommst du auch zum 
Begräbnis?« 
»Nein. Doch noch eines, Bernulf: um die Überführung, das 
Begräbnis, die Schulden, – darum brauchst du dich selbst-

verständlich nicht zu kümmern! Fee war ja eigentlich gar 
nicht mehr deine Frau.« 
Er sah sie mit einem Blick an, vor dem sie den ihren nie-
derschlug. 
»Nein, mein Kind, dieses Letzte zahle ich!« 
»Aber Bernulf!« 
»Kein Aber, kleines Mädchen. Und nun leb wohl. Irgendwo 
und irgendwann werden wir uns wiedersehen.« 
Er zog ihre Hände an die Lippen und ging. 
Öde und Ungemütlichkeit empfing ihn in Hohenwerth. 
Der Graf ging in sein Arbeitszimmer und rief Gero telefo-

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nisch zu sich. Er kam sofort und war traurig und bedrückt. 
»Bernulf, wie schrecklich ist das alles! Wenn ich dir erzäh-

len werde – « 
»Nicht nötig. Ich weiß schon alles.« 
»Woher denn?« 
»Von Gudrun. Ich sprach sie heute nachmittag und ent-
deckte auf dem Tisch ihres Zimmers einen an mich adres-
sierten Brief.« 
Gero zuckte zusammen, und der Graf sah ihn scharf an. 
»Weißt du von diesem Brief, Gero?« 
»Ja!« 
»So – na, dann wirst du wohl die Güte haben, mir zu sa-
gen, was das zu bedeuten hat. Gudrun weigerte sich hart-
näckig, mir Aufklärung zu geben.« 

»Hast du den Brief gelesen?« 
»Nein, Gudrun zerriß ihn vor meinen Augen.« 
»Ah – das ist gut!« atmete Gero auf. 
»Ich habe aber den an Gudrun adressierten Brief gelesen, 
der gleichfalls von deiner Mutter stammte.« 
»Auch Gudrun hat einen Brief bekommen?« fragte Gero 
verwundert. »Was stand darin?« 
»So allerlei nette Sachen, wie man sie eben von deiner Mut-
ter gewohnt ist. Jedenfalls sollte Gudrun Geld geben, um 
die Schulden der toten Schwester zu bezahlen.« 
Sekundenlang war es still. – Dann Geros Stimme: 
»Pfui Teufel!« 

»Na ja, nachdem du deinem Herzen Luft gemacht hast, 
wirst du mir wohl auch erklären können, wie ein an mich 
adressierter Brief in Gudruns Hände kam.« 
»Also, das war so: Meine Mutter schrieb mir einen Brief, in 
dem sie mir Fees Tod mitteilte. Ich glaube, er wird den glei-
chen Inhalt haben wie der an Gudrun gerichtete. Nachdem 
du ein Exemplar davon gelesen hast, wirst du ja Bescheid 
wissen – hm, ja – daß meine Mutter in bezug auf dich ihre 
Worte nicht gerade gewählt hat. Und als ich dann unter 
deinen Postsachen, die ich deinem Wunsch gemäß erledi-
gen mußte, einen schwarzumrandeten Brief von meiner 

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Mutter Hand fand, hielt ich es für besser, wenn du den 
nicht lesen würdest. Derselben Meinung war auch Ilse-

Dore. Nun hat meine Mutter mir geschrieben, daß sie in 
Hamburg Aufenthalt hat, und sie will Gudrun besuchen. 
So schickte ich Gudrun den Brief, damit sie ihn meiner 
Mutter wiedergeben und ihr ins Gewissen reden sollte. Ihr 
Einfluß wird ja entschieden größer sein als meiner, da sie 
das verlangte Geld wohl geben wird und nicht ich – da ich 
es nicht habe. Daß du nun ausgerechnet zu Gudrun gehen 
und den Brief finden mußtest, das ist Pech.« 
»Nun ist mir alles klar«, sagte der Graf gelassen. »Du bist 
ein guter Junge, Gero, doch die Mühe hättest du dir erspa-
ren können. Ich bin wirklich nicht so zartbesaitet, wie du 
annimmst – Worte, die eine hysterische Frau schreibt, hät-

ten mich nicht umgeworfen. Ich fühle mich an Fees Tod 
nicht im geringsten schuldig. Hast du eine Ahnung, was in 
dem Brief stand?« 
»Nein, ich habe ihn nicht geöffnet. Hat Gudrun ihn gele-
sen?« 
»Keinesfalls, der Brief war geschlossen, das sah ich deut-
lich.« 
»Na, darum«, atmete Gero auf, »das hätte ich auch dem 
Entlein nicht zugetraut, daß sie fremde Briefe liest.« 
»Sag mal, warum ließest du mir eigentlich keine Nachricht 
zukommen?« 
»Dich geht die Geschichte doch gar nichts an, Bernulf; jeder 

Mensch weiß, daß du mit Fee in Scheidung lagst. Mutter 
will sie ja auch gar nicht hier begraben lassen, sondern auf 
dem Friedhof in der Stadt. So viel Schamgefühl scheint sie 
denn doch noch zu haben, um sich zu sagen, daß sie sich 
in Hohenwerth nicht mehr blicken lassen kann. Und wahr-
scheinlich wird sie an den ersten Tagen an dem Grab ihr 
Bett aufstellen.« 
»Aber Gero!« schalt der Graf, mußte jedoch wider Willen 
lachen. 
»Na, weißt du, Bernulf, du verlangst doch nicht etwa, daß 
die ganze Sache mir noch leid tun soll?« 

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»Fee war deine Schwester.« 
»Ach was, Mutters Marionette war sie. Die zog am Stripp-

chen, und Fee tanzte. Du weißt nicht alles, was ich weiß, 
Bernulf – und das ist gut.« 
Wieder war es Winter geworden. 
Graf Hellmarck lebte still und sehr zurückgezogen in Ho-
henwerth, arbeitete und schuftete mit schier übermenschli-
cher Anstrengung, um sich noch einige Zeit über Wasser 
halten zu können. 
Gero stand dem Schwager treu und unermüdlich zur Seite, 
kämpfte mit ihm zusammen zäh und verbissen um Ho-
henwerth. In diesen Tagen der Sorge schlossen sich die 
beiden Männer immer fester aneinander an. 
Eines Tages hieß es, der Graf sei im Wald verunglückt. 

Während er einer Abholzung beiwohnte, sei er von einem 
fallenden Baum getroffen worden und liege nun in der 
Klinik. 
Diese Neuigkeit stand auch in dem Brief, den Gudrun eines 
Tages von Traude erhielt. 
»Schwer krank war unser Bern«, schrieb sie, »doch nun ist 
die Gefahr so gut wie vorüber. Morgen verläßt er die Klinik, 
aber er ist noch durchaus Rekonvaleszent. Und wenn er 
nicht die nötige Pflege hat, wird er schwerlich wieder zu 
Kräften kommen. Die Dienerschaft ist in Hohenwerth 
schlechter als anderswo, und da sie weiß, daß der Herr ihr 
nicht auf die Finger sehen kann, geht alles drunter und 

drüber. Ilse-Dore und ich tun ja unser möglichstes, doch 
das Rechte ist das nicht. Und so bin ich in großer Sorge um 
Bern.« 
Noch lange, nachdem Gudrun den Brief gelesen hatte, saß 
sie regungslos da. Als sie sich endlich aufraffte, lag ein ent-
schlossener Ausdruck in ihren Augen. 
Zwei Tage später traf sie mit Diener und Dienerin, die ihrer 
Adoptivmutter lange Jahre hindurch treue Dienste geleistet, 
in Hohenwerth ein, als wäre es das Selbstverständlichste 
von der Welt. 
Ohne auf den Protest der verblüfften Dienerschaft zu acht-

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en, nahm sie die Zügel in die Hand und erklärte mit der ihr 
eigenen Ruhe, daß jeder sich auf der Stelle als entlassen 

betrachten könne, der sich ihren Befehlen nicht fügen wür-
de. 
Das gab den Leuten zu denken, und als sie gar sahen, daß 
die energische Herrin Ernst machte, daß zwei Mädchen das 
Schloß verlassen mußten, fügten sie sich ohne Murren. 
Am erstauntesten war der Graf, als Gudrun plötzlich zu 
ihm ins Zimmer trat. 
»Gudrun – du?« 
»Ja, ich«, entgegnete sie gelassen und drückte ihn, der an-
gekleidet auf dem Diwan lag und sich zu ihrer Begrüßung 
erheben wollte, mit erstaunlicher Kraft auf seine Lagerstatt 
zurück. 

»Ich möchte nur feststellen, ob man dir etwas zu essen ge-
bracht hat. -Nein? Das sieht den Leuten ähnlich!« 
Bald darauf brachte sie ihm eine ebenso kräftige wie 
schmackhafte Brühe. Er konnte sich immer noch nicht von 
seinem Staunen erholen. 
»Woher weißt du, daß ich krank bin?« 
»Von Traude. Leider schrieb sie mir reichlich spät über die-
se Angelegenheit, sonst wäre ich schon früher gekommen. 
Du mußt doch jemand haben, der dich pflegt, damit du 
wieder zu Kräften kommen kannst.« 
»Und da erschien es dir selbstverständlich, daß du diejeni-
ge seist?« 

»Warum nicht? Ein wenig verstehe ich schon von dem 
Kram, sonst wäre das viele Geld ja umsonst ausgegeben 
worden.« 
»Und wie soll ich dir das jemals danken, Gudrun?« 
»Gar nicht. Du sollst dir in erster Linie nicht den Kopf zer-
brechen, sondern alles hinnehmen, was dir geboten wird. 
Wenn du wieder ganz gesund bist, können wir weiter über 
diesen Punkt sprechen.« 
»Wo ist das gnädige Fräulein, Albert?« 
»Das gnädige Fräulein ist im kleinen Terrassenzimmer, 
Herr Graf.« Eilig durchschritt der Graf die weiten Räume, 

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bis er in das kleine Terrassenzimmer gelangte. Gudrun 
weilte mit Vorliebe darin, hatte es zu ihrem Lieblingsauf-

enthalt gemacht. 
Sie saß in einem tiefen Sessel und hatte sich so sehr in ein 
Buch vertieft, daß sie den Grafen gar nicht eintreten hörte. 
Als er ihr das Buch aus der Hand nahm, schrak sie auf. 
»Wieder eine Fachschrift, Gudrun?« sagte er unwillig. »Laß 
doch endlich den ganzen Gelehrtenkram!« 
»Warum?« meinte sie gelassen. »Ich bin wirklich schon zu 
alt, um mir über meine Lektüre Vorschriften machen zu 
lassen.« 
»Mein Gott – ja.« 
Er warf sich in einen Sessel, und sie merkte, daß er sehr 
gereizt war. 

»Gudrun, man hatte es beinahe schon vergessen, daß du 
eine Mutter hast.« 
»Na – und?« 
»Nun bringt sie sich wieder einmal nett in Erinnerung. – 
Sie hausiert mit der Neuigkeit, daß ihre Tochter und Graf 
Hellmarck -. Jedenfalls pfeifen es die Spatzen von den Dä-
chern, und du bist kompromittiert.« 
»Seit wann gibst du so viel auf das Gerede der Leute?« frag-
te sie spöttisch. Sie hatte ihre Gelassenheit keineswegs ver-
loren. 
»Auf das Gerede der Leute gebe ich nichts, solange es mich 
betrifft. Doch hier geht es um dich, Gudrun!« 

»Dann ist es am einfachsten, wir stopfen die Klatschmäuler, 
indem ich Hohenwerth verlasse.« 
»Du meinst doch nicht etwa, daß ich das zuließe?« rief er 
erregt. »Nein, bis jetzt weiß ich immer noch, was ich zu tun 
habe. Durch mich bist du in dieses Gerede gekommen, und 
daher halte ich es für meine Pflicht, dich zu meiner Frau zu 
machen.« 
Nun fielen Gelassenheit und lächelnde Ruhe von Gudrun 
ab. Sie sprang auf und umfaßte die Tischkante so fest, daß 
die Knöchel an ihren Händen weiß wurden. Langsam wich 
jeder Blutstropfen aus dem zarten Antlitz. 

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»Bernulf – bist du von Sinnen!« sagte sie mit zuckenden 
Lippen. »Das ist übertriebenes Pflichtgefühl, mein Freund. 

Man korrigiert nicht das Geschwätz geifernder Klatschmäu-
ler mit seiner Person. Für dich kommt nur eine reiche Frau 
in Frage, damit du auf dem Erbe deiner Väter bleiben 
kannst.« 
»Was ich brauche, ist eine Frau, die Seite an Seite mit mir 
den Kampf mit dem Leben aufnimmt. Sieh, ich hätte nie 
den Mut gehabt, eine Frau an mich zu ketten und sie in das 
traurige Leben hineinzuziehen, das das Schicksal mir nun 
einmal bestimmt hat. Ich habe ihr nichts zu bieten! Doch 
du siehst, die Verhältnisse sind stärker als man selbst und 
zwingen den Menschen zu Entschlüssen. 
Darum sträube dich nicht, Gudrun, und nimm meine Wer-

bung an. Soviel in meiner Macht steht, will ich für dich 
sorgen. Will, wenn die Herrlichkeit hier zu Ende ist, dich 
sicherzustellen versuchen. Ich habe dich kennengelernt, – 
du bist die Frau, die zu mir paßt.« 
Sie stand noch immer vor ihm, und noch immer war ihr 
Antlitz marmorweiß. Sie schien seine Gegenwart vergessen 
zu haben; sie rührte sich nicht. Als er sie nach Minuten 
anrief, hob sie endlich den Kopf. Und den Blick, der durch 
die Brillengläser auf ihn gerichtet war, wußte er nicht zu 
deuten. Rätselhaft war er wie das ganze Mädchen. 
»Nein, Bernulf, ich nehme deine Werbung nicht an«, sagte 
sie mit einer Stimme, die nicht ganz klar klang, »das wäre 

ein Frevel. Ich werde noch heute zu Traude ziehen und 
werde dem Klatsch die Stirn zu bieten wissen.« 
»Und ich, Gudrun, ich soll wieder hier allein hausen wie 
früher – soll wieder neben meinem Ärger draußen auch 
noch den Ärger im Haus haben? Denn solche Perlen wie 
Albert und Frau Emma – « 
»Die bleiben hier, wenn ich sie darum bitte«, warf Gudrun 
hastig ein. »Sei doch vernünftig, Bern, ich meine es doch 
gut mit dir!« 
»So? Davon merke ich herzlich wenig. Doch ich sehe 
schon, Gudrun, auch du bist eine Egoistin wie alle Frauen. 

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Du scheust dich vor einem Leben an meiner Seite, weil es 
ein Leben voll Entbehrungen sein wird.« 

»Nimm es an«, erwiderte sie achselzuckend, »es ändert 
nichts an meinem Entschluß, daß ich heute noch zu Trau-
de gehe. Ich bin überhaupt an allem schuld. Ich kam unge-
rufen zu dir und setzte mich so dem Gegeifer der Klat-
schmäuler aus.« 
»Gudrun, du bist erbarmungslos gegen dich selbst!« 
»Das muß man auch sein, Bern. So, und nun werde ich 
Albert und Emma Bescheid geben. Und dann bitte ich dich 
noch einmal: sei vernünftig, Bernulf! Denk an Hohen-
werth, das schon Jahrhunderte im Besitz der Hellmarck 
ist.« 
Sie streckte ihm die Hand hin, doch er rührte sich nicht. 

»Bern – du bist mir böse?« 
»Ja, Gudrun.« 
»Gut, so sei es. – Eines Tages wirst du mir diese Stunde 
danken. Ich kann und will deine Ritterlichkeit, die dich 
dazu treibt, um mich zu werben, nicht ausnutzen. Denk 
daran, wieviel dir durch Mitglieder meiner Familie angetan 
worden ist!« 
»Himmel, was bin ich doch für ein eingebildeter Kerl!« 
verhöhnte er sich selbst. »Wenn mir einer das gesagt hätte, 
daß ich noch mal in meinem Leben einen regelrechten 
Korb bekommen würde!« 
Ein leichtes Lächeln huschte über ihr blasses Gesicht. 

»Und gar noch von einem häßlichen Entlein, Bern!« 
Sie winkte ihm freundlich zu und verließ das Zimmer. 
Traude nahm sie freudig auf. Doch als sie die Veranlassung 
zu ihrem Kommen hörte, wurde sie recht unwillig. 
»Gudrun, das hättest du nicht tun sollen. Bern weiß ganz 
genau, was er an dir hat. Ritterlichkeit allein kann es also 
nicht gewesen sein, was ihn den Entschluß fassen ließ, um 
dich zu werben. Es herrschen doch ganz andere Zustände 
in Hohenwerth, seitdem du dort das Zepter schwingst. 
Wenn du auch keine – « 
Sie hielt erschrocken inne und errötete bis zum Haar. 

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»Sprich nur weiter, Traude – wenn ich auch keine Schön-
heit bin – « 

Doch da war Traude schon bei ihr und verschloß ihr den 
Mund mit der Hand. 
»Entlein – du weißt doch, wie ich es meine!« bat sie herz-
lich. 
»Aber Traude, ich weiß ganz genau, wie ich aussehe, ich 
habe doch zwei Augen im Kopf. Ich bin keine Frau für Ber-
nulf – viel weniger noch, als Fee es war. Wenn ich wenig-
stens reich wäre!« 
»Dann hätte Bern dir keinen Antrag gemacht, das weißt du 
so gut wie ich, Gudrun.« 
»Na, dann ist ihm nicht zu helfen.« 
Einige Tage später war Gudruns dreiundzwanzigster Ge-

burtstag, und Traude hatte Bernulf, Ilse-Dore und Gero 
dazu gebeten. Als Gudrun morgens zum Frühstück kam, 
fand sie einen Geburtstagstisch vor, daß ihr vor Rührung 
die Tränen in die Augen traten. 
»Traude – der ist doch viel zu schön für mich!« 
»Ansichtssache«, meinte diese trocken. »Jedenfalls gratulie-
re ich dir von ganzem Herzen, mein Entlein.« 
»Ich gleichfalls«, schloß Dr. Rönner sich schmunzelnd an. 
»Und wenn du dich gestärkt und die Sachen, die Traude 
mit so vieler Liebe für dich ausgesucht, bewundert hast, 
dann möchte ich dich zu einer Unterredung in mein Zim-
mer bitten, meine Kleine. Traude, mein Herz, du sorgst 

wohl dafür, daß niemand uns stört?« 
»Puh – wie feierlich!« lachte die junge Frau. »Nimm dich in 
acht, Entlein, es gibt eine Standpauke erster Güte!« 
Und so ähnlich mußte es auch gewesen sein. Denn als 
Gudrun eine Stunde später aus dem Zimmer des Hausherrn 
kam, sah man, daß sie geweint hatte. Und auch der Justiz-
rat war bewegt. 
Gudrun war noch stiller, noch blasser als sonst und blieb 
es auch, als die Gäste kamen. 
»Du bist gar kein Geburtstagskind«, stellte Gero fest. »Mä-
del, sei doch nicht so schwerblütig, lach doch und freu dich 

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deines Lebens. Dreiundzwanzig Jahre ist doch kein Alter 
zum Trübsalblasen!« 

Gudrun lächelte. Es war ein seltsam wehes Lächeln, das alle 
betroffen machte. 
Graf Hellmarck war ihr gegenüber sehr reserviert. Er hatte 
ihr einen wundervollen Strauß gebracht, mattrosa und 
weiße Nelken – keine Rosen. 
Als Gudrun ihn einen Augenblick allein sprechen konnte, 
bat sie ihn um eine Unterredung. Er war so erstaunt, daß 
sie unter seinem Blick den Kopf zur Seite wandte. 
»Aber selbstverständlich, Gudrun, bestimme über mich.« 
»Dann komm bitte nach dem Abendessen in Onkel Erichs 
Arbeitszimmer«, sagte sie hastig. Sie war während des Mah-
les von einer Unruhe, die selbst der harmlosen Ilse-Dore 

auffiel. Und kaum hatte Traudel die Tafel aufgehoben, 
nickte Gudrun dem Grafen unauffällig zu und ging ihm 
voran in das Arbeitszimmer des Hausherrn. 
Sie hatte es kaum betreten, da klopfte es, und der Graf trat 
ein. 
»Bitte, Gudrun, ich stehe zu deiner Verfügung.« 
»Ich danke dir, Bernulf.« 
Mit einer leichten Geste wies sie ihm einen Sessel an und 
setzte sich ihm gegenüber. Sie war so blaß, daß er erschrak. 
»Gudrun, fühlst du dich nicht wohl?« 
»Doch, danke«, es klang kühl, beinahe abweisend. »Ich will 
dich auch nicht lange aufhalten.« 

Sie brach ab, starrte sekundenlang vor sich hin, und der 
Graf sah deutlich, daß sie mit sich kämpfte. Doch dann 
warf sie den Kopf in den Nacken. 
»Bernulf, ich habe mir die Sache überlegt. Ich möchte dei-
nen Antrag annehmen – sofern du noch Wert darauf legst.« 
Nun war es heraus, und ein Seufzer entfloh ihren zucken-
den Lippen. 
Der Graf sprang auf, beugte sich über ihre Hände. 
»Also doch, Gudrun – das freut mich wirklich!« 
Sie schien nicht zu glauben, was er sagte; der Blick, mit 
dem sie zu ihm aufsah, verriet es nur zu deutlich. 

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»Um eines muß ich dich bitten, Bernulf: daß du in der Ehe 
ebenso aufrichtig bleibst wie in den Wochen unseres bishe-

rigen Zusammenseins – daß sich überhaupt nichts zwi-
schen uns ändert.« 
»Wir wollen jetzt keine Bedingungen stellen, mein Mäd-
chen. Wenn wir erst verheiratet sind, sieht alles ganz anders 
aus. Ich bin von Herzen froh darüber, daß du wieder nach 
Hohenwerth kommst; es ist dort einfach kein Leben ohne 
dich. Nur eines quält mich: daß ich dir so gar nichts bieten 
kann.« 
Sie winkte ab, mit einer unendlich müden Gebärde, und 
erhob sich. 
»Mache dir keine Sorgen, Bernulf, ich bin weder verwöhnt 
noch anspruchsvoll.« 

Sie errötete ganz ohne Grund und wandte den Kopf zur 
Seite. Da trat er zu ihr und umfaßte ihre Schultern. Doch 
sie zuckte so heftig zusammen, daß er den Arm sofort sin-
ken ließ und zurücktrat. 
Sekundenlang war es so still, daß einer des andern Herz-
schlag zu hören glaubte. Dann bot er ihr den Arm. 
»Komm, Gudrun, wir wollen uns als neugebackenes Braut-
paar den staunenden Gästen vorstellen.« 
Die Gastgeber überraschte die Verlobung nicht sonderlich, 
um so mehr war das bei Ilse-Dore und Gero der Fall. Mit 
einem Jubellaut flog sie der Schwägerin um den Hals. 
»Gudrun, ist das schön!« lachte und weinte sie durchei-

nander. 
Gero jedoch schien nicht so entzückt zu sein; sein Glück-
wunsch war kaum herzlich zu nennen. Es hatte sich seiner 
eine Verlegenheit bemächtigt, die schwer zu deuten war. 
Gudrun war wohl die einzige, die den Grund dieser Verle-
genheit ahnte, und noch an demselben Abend fand sie ihre 
Ahnung bestätigt. 
Der Hausherr ließ es sich nicht nehmen, höchst eigenhän-
dig die Verlobungsbowle anzusetzen. Sie wußten alle aus 
Erfahrung, wie köstlich seine Bowle mundete. So schauten 
sie mit Interesse zu, um ihm das Geheimnis ihrer Berei-

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tung, das er so sorgsam hütete, abzugucken. Doch er mach-
te alles so flink und geschickt, daß sie unmöglich die Zuta-

ten feststellen konnten. 
So waren sie alle gut aufgehoben, und Gudrun stahl sich 
aus dem Eßzimmer, durchquerte den Salon und flüchtete 
in das danebenliegende Eckzimmerchen. Sie trat an das 
Fenster, preßte die Stirn gegen die Scheiben und starrte 
hinaus. Die Gedanken kreisten in ihrem Kopf wie verfloge-
ne Vögel. 
Plötzlich schrak sie auf; im Nebenzimmer wurden Stim-
men laut, die sie als die des Grafen und ihres Bruders er-
kannte. Obgleich sie leise sprachen, verstand Gudrun jedes 
Wort. 
»Du scheinst über meine Verlobung nicht übermäßig er-

freut zu sein«, hörte sie den Grafen sagen. 
»Nein, Bernulf, ich sage es dir ehrlich. Weiß ich doch, daß 
du dich opferst. Daß du Gudrun nur deine Hand geboten 
hast, um allem Gerede die Spitze abzubrechen und Gudrun 
zu rehabilitieren. Doch das hättest du nicht tun dürfen, 
Bernulf! Gudrun ist keine Frau für dich, und du wirst mit 
ihr ebenso wenig glücklich werden, wie du es mit Fee war-
st.« 
»Was hast du an Gudrun auszusetzen?« 
»Gar nichts, Bernulf. Sie ist ein selten lieber, prächtiger 
Kerl, nur keine Frau für dich. Du Schönheitsfanatiker und 
unser – häßliches Entlein! Sag selbst, Bernulf, ist das nicht 

zum Lachen?!« 
»Gar nicht, denn ich brauche eine Frau wie Gudrun. Ich 
schätze und achte sie hoch – und das ist für mich genug. 
Unsere Ehe wird sich harmonisch gestalten, daß ich mich 
in ihr sehr wohl fühlen werde.« 
Jetzt wurden die Stimmen der andern laut, die den Salon 
betraten. Gudrun lehnte noch immer am Fenster – regungs-
los. Doch nun raffte sie sich auf. Ihre Abwesenheit mußte 
auffallen, und ihr lag daran, die Aufmerksamkeit heute so 
wenig wie möglich auf sich zu lenken. 
Es war ganz die gelassene Gudrun, die kurz darauf mit den 

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andern anstieß. Und als sie erst einige Gläser der köstlichen 
Bowle getrunken hatte, wurde sie sogar vergnügt und ge-

sprächig, wie niemand sie je zuvor gesehen. Die Blicke des 
Verlobten, die mit rätselhaftem Ausdruck auf ihr ruhten, 
störten sie nun nicht mehr. 
Ilse-Dore, die sich einen allerliebsten Schwips angeprostet 
hatte, war ausgelassen und fidel. Immer wieder beteuerte 
sie Gudrun, wie sehr sie sich freue, daß sie Bernulfs Braut 
sei. 
»Guten Tag, Herr Graf! Sie müssen vorläufig mit unserer 
Gesellschaft vorlieb nehmen, denn Gudrun macht einige 
Besorgungen«, sagte Dr. Rönner schmunzelnd und wies 
dem Gast einen bequemen Sitz am Teetisch an. 
»So überraschend?« 

»Sie erhielt heute einen Brief von Tante Rita, einer entfern-
ten Verwandten ihrer Adoptivmutter. Diese charmante 
Frau, ganz das Gegenteil von Hermine Barnim, ist wohl die 
einzige Verwandte, mit der das verbitterte Fräulein eine Art 
Freundschaft hielt. Frau Brandt hat Gudrun nach Berlin 
eingeladen, um sie noch einmal bei sich zu haben, bevor 
sie ihr durch die Ehe ganz entgleitet.« 
»Und wenn ich damit nicht einverstanden bin?« 
»Lieber Freund, hast du eine Ahnung von dem Eigenwillen 
deiner Braut!« lachte Traude. »Versuch du dein Heil, sie 
von dieser Reise abzubringen – ich strecke die Waffen. Bit-
te, zeig, was du kannst, da kommt sie.« 

Sie deutete auf Gudrun, die soeben das Zimmer betrat und 
ob der Worte ihrer Freundin erstaunt war. 
»Habe ich nicht gesagt, Entlein, daß dieser Tyrann mit dei-
ner Reise nicht einverstanden sein würde? Sieh ihn dir an, 
dann wirst du wissen, daß er darüber mehr als unwillig ist.« 
Gudrun begrüßte den Grafen mit gewohnter Gelassenheit. 
Sie hatte sich in der einen Woche, die seit ihrem Verlo-
bungstag verstrichen, nicht verändert. 
»Du wirst nicht nach Berlin fahren«, ließ sich die scharfe 
Stimme des Verlobten vernehmen. 
»Warum nicht?« 

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»Weil ich es nicht wünsche!« 
Sie sah zu ihm auf. Es zuckte um ihre Lippen, spöttisch, 

belustigt. 
»Ich fahre zu Tante Rita, der Freundin und Verwandten 
meiner Adoptivmutter. Abgesehen davon, daß ich sehr gern 
zu dieser Frau gehe, fühle ich mich auch dazu verpflichtet. 
Sie hat mir ein Verlobungsgeschenk von nicht weniger als 
hunderttausend Mark gemacht, und da gehört es sich, daß 
ich mich bei ihr persönlich bedanke.« 
Diese Eröffnung schien den Grafen alles andere als zu er-
freuen. 
»Wie kommt die Dame zu diesem Geschenk? Sie hat sich 
doch nicht um dich gekümmert, als du einsam warst?« 
Unter dem forschenden, durchdringenden Blick des Ver-

lobten wandte Gudrun den ihren zur Seite, und ihre Stim-
me zitterte leicht, als sie antwortete: 
»Wie konnte sie das, da Mutter Hermine mich eifersüchtig 
vor jedem Menschen hütete? Sie hat mich zu sich eingela-
den, so oft sie uns besuchte, doch Mutter Hermine erlaubte 
nicht, daß ich auch nur auf Tage von ihr ging. Am Begräb-
nistag der Mutter bot mir Tante Rita an, als ihre Gesell-
schafterin mit ihr nach Berlin zu gehen. Ich lehnte ihr 
Anerbieten ab – genauso, wie ich es bei Traude tat. Ich 
wollte mir Mühe geben, den Wünschen meiner Adoptiv-
mutter nachzukommen, Soweit es in meinen Kräften 
stand.« 

»Schön. Doch ich weiß immer noch nicht, was für eine 
Persönlichkeit diese Frau Brandt ist. Ich glaube, da verlasse 
ich mich am besten auf Ihr Urteil, Herr Justizrat.« 
»Frau Brandt ist eine kluge, charmante Dame, zu der Gud-
run ruhig reisen und von der sie auch das großzügige Ge-
schenk getrost annehmen kann. Denn in Frau Brandts ers-
ter Ehe, als es ihr sehr schlecht ging, hat Hermine von Bar-
nim ihr eben diese hunderttausend Mark geliehen. Das ist 
mir bekannt, da ich Hermines Anwalt war und auch ihr 
Vermögen verwaltete. Durch ihre zweite Heirat ist Frau 
Brandt eine reiche Frau geworden, und ich halte es nur für 

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anständig, wenn sie das Geld, das sie an Hermine ja nicht 
mehr zurückzahlen kann, Gudrun übereignet.« 

Graf Hellmarcks Blick ging zu der Braut hin, die schwei-
gend dasaß, den Kopf gesenkt. 
»Liegt dir denn soviel an der Reise, Gudrun?« 
»Ja, Bernulf – ich habe mich wirklich darauf gefreut.« 
»Gut, dann will ich mich fügen, obgleich ich diese Reise 
nicht gern sehe. Du sollst deine Gesundheit kräftigen, und 
das kannst du in dem unruhigen Berlin bestimmt nicht. 
Wann gedenkst du zu fahren?« 
»Morgen nachmittag«, atmete sie auf. 
So fuhr Gudrun am nächsten Tag. Der Graf brachte sie zur 
Bahn und umsorgte sie. Rönners hatten sich schon zu Hau-
se von ihr verabschiedet, und so war sie mit dem Verlobten 

allein. 
Graf Bernulf blieb bis zur letzten Minute bei ihr im Abteil. 
Der Stationsvorsteher gab schon das Zeichen zur Abfahrt, 
da verabschiedete er sich erst. Er zog Gudruns Hände an 
die Lippen mit weicher, huldigender Gebärde. 
»Glückliche Reise, Entlein – und schreib sofort.« 
Es gefiel Gudrun gut, das bewiesen die Briefe, die sie nach 
vierwöchigem Aufenthalt in Berlin an Traude schrieb. 
»Das Mädel wird doch keine Dummheiten machen und 
zum festgesetzten Hochzeitstermin nicht zurück sein?« äu-
ßerte Traude ihre Besorgnis dem Gatten gegenüber. »Dann 
gibt es eine Tragödie. Bernulf ist nicht der Mann, der in 

ernsten Dingen mit sich spaßen läßt. Ich werde ihn heute 
besuchen; vielleicht hat Gudrun ihm geschrieben, wann sie 
zurückkommt. Begleitest du mich, Liebster?« 
»Nein, Schatz, leider ist es mir nicht möglich, ich stecke bis 
über beide Ohren in Arbeit. Fahr du nur allein, und bring 
gute Nachricht mit.« 
So suchte Traude den Grafen in Hohenwerth auf. Sie wuß-
te, er freute sich über ihren Besuch, obgleich sie herzlich 
wenig davon zu spüren bekam. Er war finster und schweig-
sam, war noch unzugänglicher und verschlossener denn je. 
»Hast du gute Nachricht von Gudrun?« wagte Traude sich 

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zu erkundigen. Noch finsterer wurde sein Gesicht, noch 
ablehnender seine Haltung. 

»Nachricht – nein. Gestern erschien ein Möbelhändler aus 
Berlin, der wohl Auftrag bekommen hat, die bei ihm ge-
kauften Sachen persönlich an Ort und Stelle zu bringen. Er 
hat seine Sache wirklich gut gemacht, hat ein kleines Reich 
geschaffen, das selbst die verwöhntesten Ansprüche zufrie-
denstellen müßte. – Nun, Fritz, was bringen Sie?« wandte 
er sich an den Diener, der soeben eingetreten war und dem 
Grafen auf silbernem Tablett drei Visitenkarten überreichte. 
»Josef Kose – Amelie Kose – Elvira Kose – hm, führen Sie 
die Herrschaften in den Empfangssalon, Fritz.« 
»Sehr wohl, Herr Graf.« 
Der Diener verschwand, und der Graf sah zu Traude hin, 

deren Augen mit entsetztem Ausdruck an ihm hingen. 
»Herr Kose?« rang es sich endlich von ihren Lippen. 
»Ja! Du hast dich nicht verhört. Der Herr kommt ab und zu 
her, um sich zu überzeugen, wie lange es noch dauern 
kann, bis er hier als Gebieter einziehen wird. Heute bringt 
er sogar Frau und Tochter mit.« 
»O mein Gott, Bern – du kannst dabei so ruhig sein?« 
»Was würde mir alle Unruhe nützen, Traude?« 
Er wandte sich hastig ab, und doch sah Traude den Aus-
druck düsterer Qual über sein hartes Antlitz huschen. 
»Kommst du mit hinüber, Traude?« 
»Ja, Bern, diese Familie interessiert mich.« 

Im Empfangssalon kam ihnen der Herr entgegen, der über 
kurz oder lang Eigentümer dieser Herrschaft sein würde, 
die sich schon seit Jahrhunderten in dem Besitz der Grafen 
Hellmarck befand. Ein Durchschnittsmensch von unter-
setzter Figur und wohlwollendem Wesen. Traudes Blick 
ging von der nichtssagenden Gestalt des Besuchers zu der 
hohen, ritterlichen des Grafen hin. 
Ihr tat das Herz so weh, daß sie Mühe hatte, ihre Tränen 
zurückzudrängen; doch sie spürte den Blick der Damen, 
der sie traf. Sie bot all ihre Energie auf, sich zu beherrschen. 
Frau Amelie Kose, der auch die kostbarste, exklusivste Toi-

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lette kein vornehmes Aussehen zu geben vermochte, reichte 
ihr die Hand mit einer wohlwollenden Geste, die bei dieser 

Frau geradezu lächerlich wirkte. 
Dann fühlte Traude den Händedruck Fräulein Koses, die 
ihr beinahe die Hand aus dem Gelenk riß. Eine trainierte, 
begeisterte Sportdame, elegant, überraschend hübsch sogar. 
Ihre hellbraunen Augen hingen an dem Grafen, und Trau-
de konnte sich ungefähr denken, wie gut er ihr gefiel. O ja, 
das sicherlich temperamentvolle Mädchen war nur zu gut 
zu verstehen. 
»Sie sind uns doch nicht böse, lieber Graf, daß wir Sie 
unangemeldet überfallen?« fragte Elvira, indem sie dem 
Schloßherrn die Hand entgegenstreckte, über die er sich 
mit kalter Höflichkeit neigte. 

»Gnädiges Fräulein – wie sollte ich wohl!« 
O ja, diese dunkle, sonore Stimme enttäuschte nicht – und 
Fräulein Koses Schicksal war mit diesem Augenblick besie-
gelt, das bewies der flimmernde Blick, mit dem sie zu ihm 
aufsah. 
Fräulein Elvira hatte in ihrem Benehmen nichts Auffallen-
des an sich, was wohl die sorgfältige Erziehung in verschie-
denen Pensionaten des In- und Auslandes bewirkt haben 
mochte. Auch die Eltern machten nicht gerade den Ein-
druck von Protzen, nahmen sich in der Umgebung von 
Hohenwerth aber dennoch als nicht ganz hierhergehörend 
aus, weil Vornehmheit sich eben nicht erlernen ließ. 

»Wollen Sie uns das Schloß zeigen, Graf Hellmarck?« fragte 
Elvira und lächelte zu ihm hin. 
»Bitte sehr.« 
Herr Kose hielt vor Staunen über alle die Pracht, die er zu 
sehen bekam, die Hände über dem Bauch gefaltet. Was er 
hier sah, überstieg seine Erwartung. Daß Hohenwerth eine 
selten prächtige Herrschaft war, hatte er gewußt, darum war 
er auch so scharf auf diesen Besitz. Doch diese Pracht hatte 
er sich nicht träumen lassen. Und dabei war alles tadellos 
erhalten, nicht so wie bei vielen anderen Gütern, deren 
Besitzer vor dem Bankrott standen. Da mußte er aufpassen, 

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daß ihm diese einzigartige Herrschaft nicht doch noch 
durch die Lappen ging! Obgleich das eigentlich kaum noch 

zu befürchten war. Diese stolzen Aristokraten von der Art 
des Grafen Hellmarck waren alles andere als Geschäfts-
männer – und er hielt ihn ja so fest in der Hand. 
Die Person des Grafen letzten Endes auch – denn Elvira 
pflegte durchzusetzen, was sie wollte! 
Als sie dem Grafen die Hand zum Abschied reichte, strahl-
ten ihre Augen in die seinen mit selbstvergessenem Blick. 
»Pa, diesen Mann muß ich haben!« sagte sie erregt, als sie 
an des Vaters Seite im Auto saß. 
»Den kriegst du auch, mein Schnuckelchen«, entgegnete 
der Vater mit seinem behaglichsten Lachen. »Der sitzt viel 
zu tief in der Tinte, als daß er jemals wieder herauskrab-

beln könnte. Wenn er sein schönes Hohenwerth behalten 
kann und als Beigabe noch eine Frau bekommt wie dich, – 
na, den Mann möchte ich sehen, der da nicht mit beiden 
Händen zugreift!« - 
Am Vorabend ihrer Hochzeit kehrte Gudrun endlich aus 
Berlin zurück. Ganz überraschend traf sie ein, und der Die-
ner meldete Rönners, die schon in tiefer Sorge waren, ihre 
Ankunft. 
Traude war über das sonderbare Verhalten der Freundin 
empört. Doch ihre Empörung ging in grenzenlose Verblüf-
fung über, als Gudrun vor ihr stand. 
Das sollte Gudrun sein – das häßliche Entlein? Diese schö-

ne, vornehme, elegante Dame? 
»Dein Gesicht spricht Bände, Traudelein!« lachte Gudrun, 
indem sie die Hände der Freundin ergriff und sie schüttelte. 
»Und du, Onkel Erich?« 
Sie wandte sich dem Hausherrn zu und lachte noch mehr. 
»Schade, daß Tante Rita das nicht sehen kann«, bedauerte 
sie, »die hätte ihre helle Freude daran gehabt. Ihre Entrü-
stung hättet ihr sehen sollen, als sie mich auf dem Bahnhof 
empfing. Kaum, daß sie mich etwas ruhen ließ, da schleifte 
sich mich auch schon von einem Schönheitssalon zum 
andern. Nun ja, wie ihr seht, Kleider machen Leute – und 

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ein wenig Aufmachung – alles! Davon lassen die Menschen 
sich nun bestechen«, meinte sie plötzlich sehr ernst, und 

etwas wie Verachtung klang in ihrer Stimme. 
Doch bald lachte sie wieder; sie schien mit ihrer eleganten 
Hülle auch einen ganz andern Menschen angezogen zu 
haben. ' Traude schüttelte nur immer wie den den Kopf 
und konnte es nicht begreifen, daß dieses entzückende 
Mädchen Gudrun, das häßliche Entlein, sein sollte. 
Weich und seidig umbauschte eine helle, duftige Locken-
fülle das süße, blütenzarte Gesicht. Die sorgfältig gewählte 
Kleidung brachte die gertenschlanke, graziöse Gestalt 
prachtvoll zur Geltung. 
Da konnte überall nachgeholfen sein, gewiß. Doch die Au-
gen, diese wunderbaren Augen mit ihrem weichen, tief-

dunklen Blau? 
Man konnte doch Augen nicht ändern! 
Rätselhaft war das alles – so rätselhaft wie das ganze Mäd-
chen. 
»Traude, wirst du so freundlich sein und meiner Zofe für 
diese Nacht Unterkunft gewähren?« bat Gudrun. »Tante 
Rita hat sie für mich ausgesucht, und ich mußte sie mit mir 
nehmen. Wahrscheinlich soll sie Tante Ritas Werk an mir 
fortsetzen.« 
»Gewiß, Entlein – doch halt, das dürfte man ja jetzt nicht 
mehr sagen, denn aus dem häßlichen Entlein ist nun tat-
sächlich ein Schwan geworden. Alle Achtung, Gudrun, die-

se Tante Rita und fünf Wochen Berlin haben Wunder ge-
wirkt! Weiß Bern, daß du hier bist?« 
»Nein«, meinte sie mit einer Gleichgültigkeit, als ginge sie 
die Frage nichts an. »Ich bin ja morgen hier, das ist die 
Hauptsache.« 
»Du hast dich unglaublich benommen, Entlein«, zürnte 
Traude. »Andere Bräute schreiben sich die Finger wund, 
wenn sie von ihrem Verlobten getrennt sind. Du hast es 
kaum zu einem Brief gebracht. Und wo er dich doch schon 
so ungern reisen ließ! Kannst du seine Unruhe denn gar 
nicht verstehen?« 

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»Nein«, war die seelenruhige Erwiderung. »Aber sei nicht so 
ungemütlich, Traude, ich sitze ja unversehrt vor dir.« 

Traude eilte ans Telefon und meldete Graf Hellmarck, daß 
die verlorengegangene Braut eingetroffen sei. Von deren 
Veränderung schwieg sie jedoch. Ob er nicht herüberkom-
men wolle, forderte sie ihn auf. Allein er wollte nicht, und 
sie drang auch nicht weiter in ihn; sie wußte, wie verärgert 
er über Gudruns Schweigen war. 
Diese hielt es auch für selbstverständlich, daß er nicht kam, 
nachdem sie erfahren hatte, wie er ihr Schweigen aufge-
nommen hatte. Und der sogenannte Polterabend, der 
manchmal mehr gefeiert wird als die Hochzeit, ging still 
vorbei. 
Am nächsten Tag war Gudrun zur Zeit angekleidet und 

wartete auf den Verlobten. Sie war bestimmt nicht wieder-
zuerkennen, wie sie so am Fenster lehnte. Ein dunkelblaues 
Taftkleid von raffinierter Einfachheit umschloß die graziöse 
Gestalt und gab ihr etwas ungemein Vornehmes. Ein breit-
randiger Hut, unter dem die schimmernden Ringellocken 
hervorquollen, beschattete das süße Antlitz, machte es 
noch zarter und feiner. Die Ähnlichkeit mit der fürstlichen 
Ahne war jetzt unverkennbar. 
Das fand auch der Verlobte, der sie zur standesamtlichen 
Trauung abholen kam. Sekundenlang stand er wie gebannt 
an der Tür, und erst Gudruns Stimme brachte ihn wieder 
zur Besinnung. 

»Guten Tag, Bernulf – « 
Da trat er zu ihr, zog ihre Hände an die Lippen. 
»Gudrun, wie ist das möglich?« 
Zornig war die Bewegung, mit der sie ihre Hände aus den 
seinen riß, und zornig war der Blick, mit dem sie ihn an-
sah. 
»Selbstverständlich, ich hatte es vergessen – du bist ja auch 
einer von denen, die den Menschen nach seiner äußeren 
Hülle beurteilen, aber auf Herz und Seele keinen Wert le-
gen!« 
»Etwas anderes kannst du von einem Mann nicht verlan-

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gen, mein eigenwilliges Kind«, entgegnete er gelassen. Er 
hatte sich von seiner Überraschung schon wieder erholt. 

»Ein Mann läßt sich nun mal gern wegen einer schönen 
Frau beneiden.« 
Verschlossen und undurchdringlich war Bernulfs Gesicht. 
Gudrun konnte nicht feststellen, ob seine Worte ernst oder 
ironisch gemeint waren. 
Sie legte die Fingerspitzen auf seinen Arm, den er ihr bot. 
Wie zwei Feinde gingen sie nebeneinander her, nicht wie 
zwei Menschen, die in wenigen Minuten ein starkes, unlös-
liches Band verbinden sollte. 
Dann hatte Gudrun noch der Verblüffung Geros standzu-
halten, der mit dem Justizrat als Trauzeuge mit ihnen zum 
Standesamt fuhr. Er war über die seltsame Veränderung der 

Schwester nicht weniger überrascht als alle anderen. 
Gudrun erbitterte das geradezu. In ihrem ersten Zorn wäre 
sie am liebsten in ihre alte Hülle geschlüpft und wieder das 
häßliche Entlein geworden. Doch da fiel ihr Tante Rita ein 
und was alles sie dieser versprochen hatte. 
Nach der standesamtlichen Trauung nahm man bei Rön-
ners ein exquisites Frühstück ein, und dann fuhren die jun-
gen Gatten nach Hohenwerth, wo die Zofe ihre Herrin 
schon mit Ungeduld erwartete. Und diese Zofe, die Tante 
Rita mit Erfahrung und Kennerblick für Gudrun ausgesucht 
hatte, war eine Meisterin in ihrem Fach. Sie ließ ihre junge 
Herrin nicht eher aus den Fingern, als bis sie mit ihrem 

Werk zufrieden war. 
Mit stolzem Lächeln betrachtete sie die Braut, die in dem 
märchenhaften Hochzeitsstaat traumhaft schön war. Scha-
de, daß Frau Brandt diese Braut nicht sehen konnte, – ihre 
Erwartung wäre weit übertroffen worden, dachte be-
dauernd das Mädchen, das diese lebenskluge, charmante 
Frau sehr verehrte. 
Und wer Gudrun früher gekannt hatte, den mußte ihr Anb-
lick in der Tat überwältigen. 
In den Augen des Gatten leuchtete es auf, als er zur Trau-
ung

 

kam. Er nahm die zitternden Finger, die sich knapp auf 

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seinen Frackärmel gelegt hatten, zog die Hand durch seinen 
Arm und hielt sie mit sanftem Druck fest, als sie sie ihm 

entziehen wollte. 
Nun traten die beiden vor den Altar der kleinen Schloßka-
pelle von Hohenwerth. Es war ein wunderschönes Bild, wie 
das junge Paar so dahinschritt. Die hohe, ritterliche Gestalt 
des Grafen, der das Schwarz des Frackes etwas Ernstes, Dü-
steres gab – und an ihn geschmiegt die Braut im schneeigen 
Hochzeitskleid, dessen lange Schleppe wie eine duftige 
Wolke hinter ihr herwogte. 
Ilse-Dore konnte es noch immer nicht fassen, daß das wirk-
lich Gudrun, das häßliche Entlein, sein sollte, die da mit 
dem Grafen vor den Altar trat. 
Auf die Trauung folgte das Hochzeitsmahl. Die Tafel war 

festlich geschmückt, das Essen auserlesen und tadellos. 
Sonst war in dem weiten Schloß nichts davon zu merken, 
daß Hochzeit gefeiert wurde. Kein verschwenderischer 
Schmuck, keine glänzende Hochzeitsgesellschaft, Ilse-Dore 
und Gero, mehr Gäste waren nicht geladen. 
Auch die Stimmung war alles andere als festlich, war unfrei 
und gedrückt. 
Graf Hellmarck war wohl der schweigsamste von allen. Er 
saß in seinen Sessel zurückgelehnt, seine Gedanken schie-
nen weit fort zu sein. Ab und zu ging sein Blick zu seinem 
jungen Weib hin, und dann huschte jedesmal ein Lächeln 
über seine ernsten Züge. 

»Nun erzähl uns erst einmal ausführlich, warum Tante Rita 
nicht zu deiner Hochzeit gekommen ist, Entlein«, sagte 
Traude. »Tut es dir nicht leid, daß sie nicht hier ist?« 
»Das schon«, gab die junge Gräfin zu. »Und doch liegt das 
Bedauern wohl noch mehr auf ihrer Seite, denn sie hatte 
sich auf die Hochzeit wirklich gefreut. Leider ist sie er-
krankt. Nicht schwer, aber doch genug, um die Reise nicht 
wagen zu können. Sobald sie gesund ist, will sie mich be-
suchen, und darauf freue ich mich sehr. Hoffentlich bringt 
sie Bubi mit.« 
»Hat Frau Brandt einen kleinen Sohn«, wunderte sich der 

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Justizrat. »Das wußte ich nicht.« 
»Na, klein ist er nun gerade nicht«, lachte Gudrun, »er ver-

fügt sogar über eine recht respektable Größe – einhundert-
fünfundachtzig Zentimeter oder so ähnlich. Und ihr rechter 
Sohn ist es auch nicht, sondern der ihres zweiten, verstor-
benen Gatten. Doch sie liebt ihn wie ihren Sohn und er sie 
wie seine Mutter. Ein prächtiger Junge, lustig und über-
schäumend. Man muß ihm gut sein, ob man will oder 
nicht. Es gab mal so etwas wie eine Liebelei zwischen ihm 
und Elvira Kose. Das ist aber eine längst abgetane Ge-
schichte. Heute lacht er sie aus, wo und wie er kann, und 
nennt sie eine angeschossene Krähe<.« 
»Woher kennst du denn Fräulein Kose?« ließ sich die 
Stimme des Grafen vernehmen. 

»Ich lernte sie in Berlin kennen«, erwiderte Gudrun. »Ich 
erzählte schon Traude und Onkel Erich von dem seltsamen 
Zusammentreffen. Jedenfalls warten die Leutchen ihrer 
Bekanntschaft auf die Verlobung der vielumschwärmten 
Elvira Kose mit dem – Grafen Hellmarck.« 
»Ah, das ist allerdings interessant«, erwiderte der Graf amü-
siert. »Und du hieltest es nicht für nötig, sie über diesen 
Irrtum aufzuklären?« 
»Gott bewahre!« lachte Gudrun vergnügt. »Sie konnte so 
nett schwärmen – wie ein Mädchen des vorigen Jahrhun-
derts und nicht wie ein Kind unserer Zeit, als das sie sich 
gar zu gern aufspielt. Bubi gab ihr das auch einmal mit 

aller ihm eigenen Unverfrorenheit zu verstehen, und nur 
mit Mühe entging er der Rache dieser sportgestählten Fäu-
ste. Ach, es war manchmal zu nett«, schloß sie mit einem 
leisen Seufzer. 
»Deshalb bliebst du auch, bis es wirklich nicht mehr länger 
ging«, meinte Gero verständnisinnig. »Wir dachten schon, 
du würdest die Hochzeit schwänzen.« 
Nun lachten alle, und die Stimmung begann sich zu bele-
ben. Gero wurde ganz übermütig und stieß mit Gudrun auf 
das häßliche Entlein an, das doch noch ein Schwan gewor-
den sei. 

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So trennte man sich in gehobener Stimmung und später, 
als beabsichtigt war. 

Auch Gudrun verabschiedete sich von dem Gatten und zog 
sich in ihre Gemächer zurück. 
Die Zofe, die sich immer noch nicht beruhigen konnte, daß 
das vornehme Paar keine Hochzeitsreise machte, kleidete 
die Herrin mit flinken Händen aus und warf ihr ein traum-
haft schönes Morgenkleid über, das die Gräfin noch nie 
gesehen hatte. 
»Was ist das für ein Kleid, Ella?« fragte sie verwundert. 
»Das hat mir die gnädige Frau noch kurz vor der Abreise für 
Frau Gräfin mitgegeben«, antwortete das hübsche, frische 
Mädchen mit spitzbübischem Lächeln. »Und gnädige Frau 
bestimmte auch, daß Frau Gräfin das Kleid heute tragen 

sollten.« 
»Na schön«, lachte die junge Herrin. »Und nun gehen Sie 
hinunter, Ella, und nehmen an der Hochzeitsfeier teil, die 
Frau Emma für die Dienerschaft gerichtet hat.« 
Das Mädchen verschwand knicksend, und Gudrun sah sich 
zunächst einmal im Ankleidezimmer um. 
Dann betrat sie das Schlafzimmer. 
Sie erblaßte tief, als sie den Gatten in der Tür stehen sah. 
Und diese Blässe wich langsam einer flammenden Röte, die 
ihr bis in die Stirn kroch. 
Der Graf wandte sich ab, um das amüsierte Lächeln vor ihr 
zu verbergen, das über sein Gesicht huschte. Sie sah es aber 

doch und wurde ganz eisige Ablehnung. 
»Wünschest du etwas von mir, Bernulf?« 
»Ich möchte mit dir den angebrochenen Abend verbringen. 
Oder ist das zuviel verlangt?« 
»Bitte.« 
Sie wies mit einer leichten Handbewegung ins Teezimmer, 
rückte ihm einen Sessel zurecht und nahm ihm gegenüber 
Platz. Seine Blicke hingen unausgesetzt an ihr, so daß sie 
unwillig zu werden begann. 
»Nun erkläre mir nur eines, Gudrun: Wie ist es möglich, 
daß du so vollständig verändert aus Berlin zurückgekehrt 

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bist?« 
»Verändert bin ich gar nicht«, erwiderte sie abweisend, »ihr 

seht mich nur mit veränderten Augen an. Soll ich mir wie-
der meine alte Kleidung anziehen und – « 
»Um Gottes willen!« unterbrach er sie so entsetzt, daß sie 
wider Willen lachen mußte. »Da sieht man immer mehr, 
wie sehr Mutter Hermine sich an dir versündigt hat, indem 
sie dich zur kleinen Vogelscheuche werden ließ.« 
»Mutter Hermine hat es ganz gewiß nicht schlecht gemeint. 
Sie teilte meinen Standpunkt, daß man einen Menschen 
wegen seiner inneren Werte, nicht aber wegen seines Äuße-
ren schätzen sollte. Was nützt eine schöne Hülle, wenn der 
Kern nichts taugt? Wenn man mit einem solchen Men-
schen leben muß, wird man über seinen Niedrigkeiten und 

Bosheiten das schöne Äußere bald vergessen.« 
»Da hast du recht, Gudrun – und doch – « 
Sein Blick hing grübelnd und sinnend an ihr, als müsse er 
sich angestrengt auf etwas besinnen. Doch dann fuhr er aus 
seiner Versunkenheit auf und lächelte ihr zu. 
»Weißt du, du erinnerst mich in deiner neuen Hülle sehr 
an eine Frau, mit der ich einige Stunden, die bisher die 
schönsten meines Lebens waren, verlebt habe«, sagte er 
lebhaft. »Ich habe diese Frau nur in einer Maske gesehen, 
doch sie fesselte mich so sehr wie keine andere je zuvor.« 
»Und das erzählt der Gatte seiner Frau, die ihm eben anget-
raut ist!« protestierte Gudrun mit schelmischem Lächeln, 

das ganz neu an ihr war, sie aber geradezu unwiderstehlich 
machte. Der Graf sah sie zuerst verblüfft an. Doch dann 
lachte er auf, so jungenhaft froh und herzlich, wie sie es 
noch nie von ihm gehört hatte. 
»Tatsächlich, Gudrun, ich bin verwildert. Du wirst Mühe 
haben, einen Menschen aus mir zu machen, dessen Um-
gangsformen einigermaßen erträglich sind. Ein beneidens-
wertes Los wirst du sowieso nicht an meiner Seite haben«, 
meinte er auf einmal ernst. »Ich kann dir leider nicht den 
Rahmen geben, den deine bisher so ungeahnte taufrische 
Schönheit verlangt. Hätte ich gewußt, daß du dich noch 

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einmal so entfalten könntest, hätte ich nie den Mut gehabt, 
dich an mich armseligen Bettler zu fesseln.« 

»Bern, ich habe doch ein Vermögen, das mich unabhängig 
von dir macht«, sagte sie leise. 
»Ja, eben!« Es gab einen knirschenden Laut, so fest biß er 
die Zähne zusammen. »Ich muß meine Frau von fremden 
Leuten beschenken lassen. Und was sind hunderttausend 
Mark, Gudrun? Ich weiß doch, was Fee gebraucht hat.« 
»Bern, ich bitte dich, mach dir doch nicht meinetwegen 
Sorge«, bat sie. »Auch dir wird es eines Tages wieder besser 
gehen, und dann kannst du mich verwöhnen, soviel du 
magst. Doch wir wollen uns in dieses unerquickliche The-
ma nicht verrennen; wir wollen lieber sehen, ob die Mam-
sell uns nicht einen schönen Mokka brauen kann, der un-

sern erlahmten Kräften wieder auf die Beine hilft. Ja?« 
Er nickte nur und sah sie mit einem Blick an, vor dem sie 
den ihren niederschlug, verwirrt und tief errötend. Sie rief 
die Zofe herbei, erteilte ihr den Auftrag für Frau Emma, 
und bald dampfte der köstliche braune Trank in den 
hauchdünnen Schälchen. 
Sie bediente ihn mit freien, graziösen Bewegungen, die ihr 
eigen waren, seitdem sie in die neue Hülle geschlüpft war. 
Dann nahm sie wieder ihm gegenüber Platz. 
»Sag, Bernulf, weißt du etwas über meine – hm – Mutter?« 
fragte sie plötzlich. 
»Ja. Sie ist vor ungefähr drei Wochen mit einem Amerika-

ner als seine Hausdame über den großen Teich gefahren. 
Hoffentlich bleibt sie dort.« 
»O ja, das wäre zu wünschen«, atmete sie erleichtert auf. 
»Ist es nicht furchtbar, Bern, wenn man eine Mutter hat, 
derer man sich schämen muß?« 
»Du bist ja nun losgelöst von dieser Frau. Doch ehe ich es 
vergesse – ich habe eine kleine Aufmerksamkeit für dich.« 
Er zog aus der Tasche der Hausjoppe, mit der er vorhin den 
Frack vertauscht hatte, ein flaches Kästchen hervor und 
hielt Gudrun ein Armband hin, nach dem sie entzückt griff. 
»Oh, Bern – das ist ja wunderschön!« 

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»Es stammt aus der Schmuckschatulle meiner Mutter«, sag-
te er leise. »Die Sachen, an denen sie nicht hing, habe ich 

verkauft. Doch von einigen Sachen, die ihr selbst teuer 
waren, konnte ich mich nicht trennen.« 
»Und nun schenkst du mir eines jener wertvollen Stücke, 
Bern?« 
»Gewiß, wo wäre es denn angebrachter? Komm, wollen wir 
einmal versuchen, wie es an deinem Arm aussieht.« 
Sie reichte ihm den Arm, um den er das Armband schloß. 
Es war eine kunstvolle Arbeit, eine aus Goldfäden vielfach 
gegliederte Kette, mit einem eigenartigen Schloß aus klei-
nen Brillanten und Smaragden. Das Schloß konnte nur von 
einem Eingeweihten geöffnet werden, und so war das kost-
bare Stück am Arm seiner Besitzerin sicher. 

»So, nun bist du durch diese Kette an mich geschmiedet«, 
scherzte der Gatte. Doch es lag ein Ausdruck in seinen Au-
gen, der zu dem Scherz nicht passen wollte. 
»Dieses Armband schenkte mein Vater meiner Mutter zu 
ihrem Hochzeitstag – und ihre Ehe war wohl eine der 
glücklichsten und idealsten, die es jemals gegeben hat.« 
Seine Stimme zitterte, und Gudrun, nicht wagend, den 
Blick zu heben, murmelte kaum vernehmlich ihren Dank. 
Doch dann wandte sie sich hastig ab und eilte hinaus. Und 
als sie nach kurzer Zeit zurückkehrte, hatte sie ihre Gelas-
senheit wiedergefunden. 
»Wie gut, daß auch ich dir nicht mit leeren Händen gege-

nüberstehe, Bernulf«, sagte sie verlegen und nestelte an 
einer Seidenschnur, die ein flaches Kästchen umschloß. Sie 
entnahm dem Kästchen eine goldene Armbanduhr. 
»Ich habe gesehen, daß deine Uhr schon recht abgenutzt 
ist«, lächelte sie zu ihm auf, indem sie sich mühte, einen 
frischen Ton in ihre bebende Stimme zu legen. »Ich sah 
diese Uhr in Berlin, und sie gefiel mir so gut«, setzte sie 
entschuldigend hinzu, als sein Blick noch immer mit selt-
samem Ausdruck auf ihr ruhte. Sie trat nahe an ihn heran, 
ergriff seinen Arm, den er leicht auf die Sessellehne gestützt 
hatte, und befestigte die Uhr am Handgelenk. 

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Dann fühlte sie ihre Hände ergriffen und hörte seine 
Stimme, so weh, so aus tiefster Brust kommend: 

»Gudrun, mein Entlein – ich kann dir nicht so danken, wie 
ich es möchte, ich finde ganz einfach nicht die Worte dafür. 
Nur laß dir sagen – seit meiner Mutter Tod ist dies das erste 
Geschenk, das man mit Verständnis und – «,hier senkte 
sich seine Stimme zum Flüsterton, »vielleicht gar mit ein 
wenig – Liebe für mich ausgesucht hat.« 
Sie fühlte seinen heißen Atem über ihrer Stirn und strebte 
von ihm in weg. 
Da wandte er sich ab. 
»Du wirst müde sein, Gudrun«, sagte er mit einer Stimme, 
die nicht ganz klar war. »Es ist am besten, du begibst dich 
zur Ruhe. So ein Hochzeitstag ist immer anstrengend.« 

Er zog ihre Hände an die Lippen. 
»Schlaf sanft und süß, Gudrun!« 
Dann drehte er sich um und verließ das Zimmer. 
Gräfin Hellmarck war wirklich nicht so beneidenswert, wie 
viele Frauen und Mädchen es annahmen. Sie neideten ihr 
den ritterlichen, interessanten Gatten – doch an seine zer-
rütteten Vermögensverhältnisse dachten sie nicht. 
Die junge Gräfin bekam ihren Gatten kaum zu sehen. Er 
steckte so tief in der Arbeit, daß er unter der Bürde fast zu-
sammenbrach. Das zähe erbitterte Ringen um Hohenwerth 
hatte jetzt erst recht begonnen. Die Arbeiten der Frühjahrs-
bestellung mußten bestritten werden, Wechsel wurden fäl-

lig, unvorhergesehene Ausgaben kamen. Von dem Verfall 
der Wirtschaftsgebäude, der allerdings vorläufig erst den 
kritischen Augen des Gebieters bemerkbar wurde, gar nicht 
zu reden. Doch an eine Reparatur konnte nicht gedacht 
werden, denn das Geld dafür fehlte. 
In diese trübe, sorgenvolle Zeit fiel der Besuch Frau Brandts 
und ihres Stiefsohnes Peter. 
Und nun kam Leben in das Schloß. Die lebenslustige Frau 
und der nicht minder lebenslustige Sohn sorgten schon 
dafür. Auch Gudrun vergaß mitunter ihr trostloses Leben 
und konnte über manchen drolligen Einfall Peters herzlich 

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lachen. 
»Weißt du, Entlein, vor deinem finsteren Ehegemahl habe 

ich heillosen Respekt«, bekannte er der Gräfin, die er wie 
eine Schwester liebte. »Und das hat mich bewogen, ihn zu 
bitten, mich als Eleve auf Hohenwerth anzunehmen.« 
Noch an demselben Tag trug er dem Grafen seine Bitte vor, 
über dessen düsteres Antlitz ein schattenhaftes Lächeln 
huschte, als er den frischen, langen Jungen vor sich sah, 
dem Lebenslust und Jugendübermut aus den Augen strahl-
te. 
»Also, Sie wollen Landwirt werden, Herr Brandt?« 
»Mit tausend Freuden, Herr Graf; das ist der einzige Beruf, 
der mich interessiert.« 
»Wie alt sind Sie, Herr Brandt?« 

»Zweiundzwanzig Jahre, Herr Graf – für einen Lehrling ein 
reichlich altes Semester. Ich will später vielleicht Landwirt-
schaft studieren, halte es jedoch für richtig, erst praktisch 
tätig zu sein.« 
»Ohne Zweifel. Haben Sie Ihr Abitur gemacht, Herr 
Brandt?« 
»Ja!« 
»Hm.- Doch noch eine Frage, die wichtigste wohl: Haben 
Sie hinreichendes Vermögen, um sich später ein Gut kau-
fen zu können – und noch etwas übrigzubehalten?« 
»Ich nicht«, entgegnete Peter offen, und es lag ein treuher-
ziger Ausdruck in seinen Augen, der dem Gesicht etwas 

Knabenhaftes gab. »Aber meine Mutter hat es. Sie ist eine 
kluge Frau, Herr Graf, und sie duldet, daß ich Landwirt 
werden will, unterstützt es geradezu.« 
»Nun, wenn das nötige Kapital vorhanden ist und Sie au-
ßerdem noch Lust und Liebe zu dem Beruf haben, dann 
will ich Ihnen weiter nicht abreden.« 
Er wandte sich kurz ab. Und doch hatte Peter das qualvolle 
Zucken in seinem Gesicht gesehen. 
Leise verließ er das Zimmer und eilte zur Mutter, die bei 
seinem stürmischen Eintritt heftig zusammenfuhr. 
»Bengel, deine Manieren!« 

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»Sind hanebüchen – ich weiß schon, verehrte alte Dame. 
Doch schilt jetzt nicht, mir ist nämlich so zumute, als hätte 

man mir die Eingeweide geklaut.« 
»Aber Peter!« lachte die Mutter hellauf. Doch sie wurde 
gleich wieder ernst, als sie das klägliche Gesicht ihres lan-
gen Jungen sah. 
»Wo fehlt es, mein Schlingel – hm?« 
»Mutter«, antwortete er gedämpft, »Mutter, hast du so viel 
Geld, um mir ein Gut kaufen zu können?« 
Die Mutter war auf alles mögliche gefaßt, aber diese Frage 
überraschte sie doch. 
»Wie kommst du plötzlich darauf?« 
»Ich habe in den drei Wochen unseres Hierseins gelernt, 
daß der Mensch kein Luxusgeschöpf ist. Ich will arbeiten. 

Und so bat ich den Grafen, mich als Volontär in Hohen-
werth einzustellen. Er fragte nun allerlei, und auch danach, 
ob ich mir später ein Gut kaufen könnte; sonst würde er 
mir entschieden abraten, Landwirt zu werden.« 
»Peter, du weißt doch, daß du dein eigenes Vermögen be-
sitzt. Dein Vater hat es allerdings so festgelegt, daß es erst 
nach Vollendung deines fünfundzwanzigsten Jahres zu 
deiner Verfügung steht.« 
»Ach, was weiß ich viel, ich habe doch bis jetzt in den Tag 
hineingelebt. Warum hat Vater das Kapital so festgelegt?« 
»Er kannte uns unpraktische Leutchen«, lachte die Mutter, 
»und wollte wahrscheinlich verhüten, daß wir eine 

Dummheit begingen und ein Gut kauften, bevor du in der 
Lage wärest, es bewirtschaften zu können. Mit fünfund-
zwanzig Jahren ist man nicht mehr so unvernünftig wie mit 
achtzehn, denn so alt warst du, als das Testament aufge-
setzt wurde.« 
»Da hätte Vater dir doch mehr vermachen sollen, Mutti.« 
»Ich habe, was ich brauche, Peter, und noch etwas darüber. 
Und dein Vermögen reicht zu einem Gut, wenn du dir spä-
ter eines kaufen willst. Ich verstehe nur immer noch nicht, 
wie du dich plötzlich über deine Zukunft so erregen 
kannst, wo du bisher doch noch niemals ernstlich an sie 

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gedacht hast.« 
»Das ist es nicht allein. Ich erzählte dir doch eben, daß ich 

mit dem Grafen sprach. O, Mutter – der Mann leidet so 
sehr und verschließt das Leid in sich. Er ist zu stolz, um…« 
»Ja, ich kann es auch kaum noch mitansehen«, sagte sie mit 
einer Stimme, in der die Tränen saßen. »Doch was soll man 
da machen?« 
»Mutter – kannst du ihm nicht eine größere Summe vor-
strecken?« 
»Wenn das nur ginge, Bubi! Du rechnest nicht mit dem 
Stolz dieses Aristokraten.« 
»Du schenkst ihm doch nichts, Mutter.« 
»Doch, Peter, jede Summe, die man in dieses Faß ohne 
Boden wirft, ist verloren. Wenn ich mein Geld zusammen-

scharrte, vielleicht eine Hypothek aufnähme, könnte ich 
Hohenwerth sogar erwerben. Doch was würde das dem 
Grafen nützen? Du glaubst doch nicht etwa, daß ein Mann 
wie er auf dem Erbe seiner Väter den Verwalter spielen 
würde!« 
Er schüttelte stumm den Kopf. 
»Na, siehst du. Versuchen werde ich es, mein Junge, denn 
auch mir tut der Mann bitter leid. Vielleicht haben ihn die 
Sorgen so mürbe gemacht, daß sein Stolz gebrochen ist. 
Dann allerdings wäre ihm zu helfen.« 
Doch der Stolz war noch nicht gebrochen, das mußte die 
hochherzige Frau bald erkennen, als sie den Grafen einige 

Tage später aufsuchte und ihm in taktvollster Weise ihre 
Hilfe anbot. 
»Gnädigste Frau, es ist mir eine große Ehre, doch ich muß 
Ihr wirklich großmütiges Anerbieten leider ablehnen«, sag-
te er mit bitterem Lächeln. »Mir ist nicht mehr zu helfen. Es 
ist alles nur noch ein Hinhalten.« 
»Und Gudrun?« 
Er wandte sich ab und schluckte so heftig, als müsse er et-
was hinunterwürgen. Als er sich wieder seinem Gast zu-
wandte, war sein Gesicht undurchdringlich wie immer. 
»Gudrun wird sich dann entscheiden müssen. Sie hat ja ihr 

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kleines Vermögen – hat Traude, hat Sie, gnädige Frau, das 
ist mir eine Beruhigung. Jeden Tag bereue ich es mehr, sie 

an mich gefesselt zu haben. Doch als ich sie um ihre Hand 
bat, war sie ein Menschenkind, das es als meine Frau im-
mer noch besser hatte als in ihren damaligen Verhältnissen. 
Allein jetzt, mit ihrer taufrischen Schönheit, könnte sie ein 
anderes Los vom Schicksal verlangen.« 
»Und doch wünscht unser Entlein sich kein anderes Los, 
Herr Graf. Nur die Angst und Sorge um Sie läßt sie nicht 
froh werden, und – « 
Sie hielt erschrocken inne, denn ein unendlich bitteres La-
chen brach aus des Grafen Brust. 
»Angst und Sorge!« 
»Ja, Angst und Sorge, Graf Hellmarck«, entgegnete sie leise. 

»Wie vermöchte ein so warmherziges Menschenkind wie 
unser Entlein, das keinen Menschen traurig sehen kann, es 
ruhig mit anzusehen, wie der eigene Gatte leidet.« 
»Also so wenig kann ich mich beherrschen!« 
»Wollen Sie wirklich mein Anerbieten nicht annehmen, 
Graf?« fragte sie. 
»Tausend Dank, gnädige Frau. Ich könnte es nicht verant-
worten, wollte ich Ihre Hochherzigkeit in solcher Weise 
ausnutzen und Sie um das Geld bringen, das Sie ja doch 
nur in ein Danaidenfaß werfen würden«, erwiderte er so 
fest, daß sie einsah, jedes weitere Wort in dieser Angele-
genheit würde vergeblich sein. 

»Weißt du, Gero, ich mag nicht mehr nach Hohenwerth 
gehen«, klagte Ilse-Dore eines Abends dem Gatten. »Bisher 
war Gudrun wenigstens noch zugänglich, doch seit einigen 
Wochen scheint auch sie die Sprache verloren zu haben. 
Wie der fidele Peter es da aushält, kann ich nicht begreifen. 
Und dabei sieht es in Hohenwerth doch jetzt viel besser 
aus als früher, die gute Ernte ist unter Dach und Fach. – 
Auch du bist kaum noch zu genießen, Gero.« 
»Ilse-Dore, denkst du, ich hätte keine Sorgen?« fragte er 
leise. »Wenn Bernulf von Hohenwerth fort muß, können 
wir auch nicht länger hier bleiben. Oder soll ich etwa die-

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sem vortrefflichen Herrn Kose das Gut verwalten?« 
Sie schmiegte sich fest an ihn. 

»Das lasse ich mir gefallen!« rief eine lachende Stimme von 
der Tür her, und als sie herumfuhren, winkte Peter ihnen 
vergnügt zu. 
»Ich habe geklopft, dreimal, viermal – doch verliebte Leute 
hören und sehen ja nichts. Schämt euch – ein so altes Ehe-
paar und noch so zärtlich!« 
»Neid, weiter nichts als blasser Neid, mein Lieber«, lachte 
Gero und schüttelte ihm die Hand. »Was führt Sie zu so 
später Stunde zu uns?« 
»Die Sehnsucht sicherlich nicht«, war die vergnügte Erwide-
rung. »Stecken Sie nur mal die Nase zum Fenster hinaus, 
dann werden Sie es wissen. In fünf Minuten haben wir 

nämlich ein Gewitter, das sich sehen lassen kann. Und da 
ich nicht pudelnaß werden will – « 
»Gewitter? Das ist gut«, nickte Gero befriedigt. »Die Hitze 
in den letzten Tagen war kaum noch zu ertragen. Jetzt wird 
es wenigstens Abkühlung geben. Wie gut, daß wir den 
größten Teil der Ernte geborgen haben. Wir haben aber 
auch geschafft in diesem Sommer!« 
»Ihr seid beide ganz schmal geworden bei der Rackerei«, 
bedauerte Ilse-Dore. »Es war manchmal wirklich ganz un-
menschlich. Wenn Bernulf euch beide nicht gehabt hätte!« 
»Na also – schlagen Sie sich an die Brust, verehrter Freund«, 
lachte Peter. »Wir zwei Helden!« 

»Ach, ich bin lieber für greifbares Lob. Ich möchte lieber 
etwas, womit man die Kehle anfeuchten – eventuell sogar 
sich die Nase begießen kann«, blinzelte Gero zur Gattin 
hin, die ihm neckend in den blonden Schopf fuhr. 
»Ausnahmsweise will ich eine Flasche bewilligen, weil ihr 
so fleißig wart.« 
Bald funkelte der Wein in den geschliffenen Gläsern. Und 
die drei Menschen, die hier gemütlich beieinandersaßen, 
kümmerten sich nicht um das Gewitter, das losgebrochen 
war. 
»Das prasselt ganz anständig«, meinte Gero und schmiegte 

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sich tiefer in den Sessel. »Wenn das Unwetter nicht bald 
nachläßt, müssen Sie bei uns übernachten, Peter.« 

»Aber mit dem größten Vergnügen! Sie haben es hier ei-
gentlich sehr mollig, hausen hier wie ein kleiner Fürst.« 
»Ja, ich lebte bisher gut und sorgenfrei. Habe sogar noch 
Ersparnisse gemacht. Bernulf hat anständig besoldet, und 
auch jetzt noch zahlt er mir mein volles Gehalt. Jammer 
und Schande, daß das Schicksal mit diesem wirklich vor-
nehmen Kerl so arg verfährt!« 
»Daß er aber auch so stolz ist und sich nicht helfen lassen 
will«, sagte Peter, tief bekümmert. 
»Wenn Hilfe einen Zweck hätte, dann würde er sie viel-
leicht nicht verschmähen«, meinte Gero. »Doch es ist ja 
alles zwecklos; auf keinen Fall kann er sich noch lange hal-

ten. Die gute Ernte, die ihm einen anständigen Batzen ein-
bringen wird, hilft ihm auch nicht über den Berg. Er kann 
sich vielleicht noch den Winter über halten. Wenn dann 
aber die Frühjahrsbestellung kommt und immer nur in die 
Wirtschaft hineingesteckt werden muß und nichts heraus-
geholt werden kann, dann wird die Herrlichkeit zu Ende 
sein. Soviel verstehen Sie doch auch schon von der Land-
wirtschaft, nicht wahr?« 
»Gewiß. Ich habe schon über alles das mit meiner Mutter 
gesprochen, der das Schicksal dieses vornehmen Mannes 
genauso am Herzen liegt wie uns. Sie könnte sogar Ho-
henwerth erwerben. Doch damit wäre dem Grafen nicht 

geholfen; ich glaube kaum, daß er dann noch länger dort 
bleiben würde.« 
»Das wäre auch das letzte, was man ihm zumuten könnte«, 
erwiderte Gero gepreßt. 
»Na – und es wäre für meine Mutter und mich auch keine 
große Freude, würden wir uns in das leergewordene Nest 
setzen. Soll man sich da auf dem feudalen Besitz breitma-
chen und mitansehen, wie der Graf, der ein heiliges Recht 
auf diese Scholle hat, wie ein Bettler von dannen ziehen? 
Doch ich kann mir nicht helfen, – ich warte immer noch 
auf ein Wunder, das dem Grafen dazu verhilft, Hohen-

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werth behalten zu dürfen.« 
Sie fuhren auf, denn ein Splittern und Krachen erscholl, als 

ob ihnen das Dach über dem Kopf zerbräche. 
»Das hat hier in der Nähe eingeschlagen«, rang es sich von 
Geros Lippen. Schon war er aufgesprungen und zur Tür 
hinaus, Ilse-Dore und Peter hinterdrein. 
Draußen herrschte tiefe Dunkelheit, die nur ab und an 
zuckende Blitze erhellten. Der Donner klang schon ferner, 
das Gewitter begann sich zu verziehen. 
Sie wollten sich gerade wieder dem Haus zuwenden, als 
Gero Peters Arm umschloß. Seine Rechte zeigte nach 
Osten. 
Hell leuchtete es am Horizont, den Himmel blutrot über-
strahlend, – Feuer! 

»Mein Pferd!« brüllte Gero über den Hof, so daß die 
Knechte, die neugierig in den Stalltüren standen, erschrok-
ken zusammenfuhren. 
»Für mich auch eins!« schrie Peter. 
Einige Minuten später rasten beide davon. 
Und noch ein Reiter jagte vom entgegengesetzten Ende auf 
Hohenwerth zu: Graf Hellmarck. 
Ihm schwanden die Sinne fast, als er auf den Hof sprengte. 
Die Scheune, die das meiste Getreide barg, brannte lichter-
loh. Schon begann auch der Stall, der im Rechteck daran-
stieß, Feuer zu fangen. 
»Das Vieh von den Ketten!« hallte die herrische Stimme des 

Gebieters über den Hof. Er wollte zur Brandstätte eilen, 
besann sich jedoch und stürmte zum Schloß. 
»Wo ist Frau Gräfin?« fragte er. 
Niemand wußte es. 
»Ja, habt ihr denn nicht auf eure Herrin geachtet?« Mit 
rücksichtsloser Bewegung stieß er die ihm Zunächststehen-
den zur Seite und stürmte mit Riesenschritten die Freitrep-
pe hinauf. Nahm dann die Stufen mit mächtigen Sätzen 
und stand gleich darauf in dem Schlafzimmer der Gattin. 
Gott sei Dank, da lag sie auf dem Diwan, totenblaß zwar – 
doch sie lebte! 

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Albert und Emma bemühten sich um sie. Als der Gatte sich 
über sie beugte, schlug sie die Augen auf und lächelte ihn 

an; unendlich weh war das Lächeln. Einen Augenblick 
schien es, als wollte er sie an sich reißen – doch dann be-
sann er sich und streichelte ihr nur die Wange. 
»Ruhig, Gudrun – ruhig!« 
Dann wandte er sich kurz ab. 
»Bleiben Sie bei der Gräfin«, bat er die beiden Alten und 
stürmte hinaus. 
Nun stand auch schon der Stall in hellen Flammen. 
Der Graf steckte sich das Taschentuch in den Mund, drang 
in den brennenden Stall und zerrte mit übermenschlicher 
Kraft das Vieh heraus. Er erhielt jetzt auch Hilfe durch Gero 
und Peter. 

Die Not der Stunde verlieh den drei Männern Riesenkräfte. 
Als das Dach des brennenden Stalles zusammenbrach, war 
wenigstens nicht das Leben eines Tieres zu beklagen. 
Der Graf wischte sich mit zitternder Hand das Blut von der 
Stirn, das aus einer Wunde sickerte. Er hatte den Kampf mit 
dem störrischsten der Stiere zu bestehen gehabt und dabei 
die Verletzung da vorgetragen. Kleine Verletzungen gab es 
auch bei Gero und Peter. Doch keiner hatte Zeit, darauf zu 
achten. Alle Augen hingen an der Scheune, die immer noch 
brannte. 
Außer der Gutsspritze arbeiteten noch einige Dorfspritzen, 
und nun waren die Leute dabei, die übrigen Gebäude zu 

schützen, damit diese nicht auch noch von den Flammen 
ergriffen wurden. 
»Ich will dabei sein, wenn das Vieh in den Ställen verteilt 
wird«, wagte Peter vorzuschlagen. Doch der Graf winkte ab. 
»Das machen die Schweizer, Peter. Sie sind dabei wirklich 
überflüssig. Für Sie war das heute Leistung genug; nun sol-
len Sie sich erst einmal stärken.« 
Die umsichtige Frau Emma hatte ein vorzügliches Mahl 
bereitet und auch etwas Trinkbares nicht vergessen. 
»Laßt es euch gut schmecken«, forderte der Schloßherr Ge-
ro und Peter auf. »Ich will nur schnell nach Gudrun sehen, 

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dann komme ich auch.« 
»Ach, richtig, Gudrun – wo ist sie?« fragte Gero. 

»Ich konnte erst nur flüchtig nach ihr sehen, sie lag halb 
ohnmächtig in ihrem Zimmer.« 
Er eilte in das Schlafgemach der Gattin. Sie lag noch immer 
auf dem Diwan, und Frau Emma saß bei ihr und hielt ihre 
Hand. Mit behutsamen Schritten kam der Graf näher. 
»Schläft sie?« flüsterte er. 
»Ja. Sie hat sich bei dem Schlag zu Tode erschrocken«, flü-
sterte Frau Emma zurück. »Sie fürchtet sich so sehr vor Ge-
wittern, hat es schon als Kind getan. Darum lief ich auch 
schleunigst zu ihr, da ich doch wußte, daß Herr Graf nicht 
zu Hause waren.« 
Des Schloßherrn Blick hing an Gudrun, die wie eine Blume 

dalag, die ein rauher Sturm gestreift. Wie Marmor war das 
zarte Antlitz, und unter den tiefgesenkten Wimpern lagen 
blaue Schatten. Sie schlief den Schlaf tiefster Erschöpfung. 
Graf Hellmarck hatte sein junges Weib noch nie so schön 
gesehen wie in diesem Augenblick. Es zuckte in seinem 
Gesicht; er wandte sich schweigend ab, trat an das Fenster 
und starrte in die Dunkelheit hinaus. Als er wieder an den 
Diwan herantrat, lag etwas unendlich Müdes, Hoffnungslo-
ses in seinen Bewegungen. 
»Macht es Ihnen viel aus, hier zu übernachten, Frau Em-
ma?« 
»Bewahre, Herr Graf, ich wollte sowieso hierbleiben.« 

»Das würde mich sehr beruhigen, Frau Emma. Sie können 
sich ja von der Zofe ablösen lassen, wenn Frau Gräfin sehr 
unruhig sein sollte.« 
»Zofe?« fragte Frau Emma verwundert. »Die ist doch schon 
seit Monaten fort, Herr Graf.« 
Er biß sich auf die Lippen. 
»Gewiß, gewiß«, entgegnete er mit rauher Stimme, »man 
wird vergeßlich, Frau Emma.« 
Er nickte ihr zu, verließ das Zimmer und begab sich zurück 
zu Gero und Peter. 
»Wie geht es Gudrun?« fragten sie wie aus einem Mund. 

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»Sie schläft.« 
»Das beste, was sie tun kann«, meinte Peter trocken. »Herr 

Graf – vielleicht hilft die Versicherung?« 
»Nein, mein Junge, Stall und Scheune waren nur niedrig 
versichert. Ich war einfach nicht in der Lage, der Versiche-
rung eine hohe Prämie zu zahlen.« 
»Bernulf, das wußte ich ja gar nicht!« fuhr Gero auf. »Auch 
ich nahm an, daß die Versicherung dir etwas auf die Beine 
helfen würde. Das ist ja dann – « 
»Das Ende – ja.« 
»Oh, dann wird Herr Kose nicht lange auf sich warten las-
sen«, stieß Peter grimmig hervor. 
»Das meine ich auch. Na – Prost, Jungens, nun heißt es 
eben, die Zähne zusammenbeißen.« 

Und wirklich war schon am nächsten Tag Herr Kose da. 
Allein, ohne Fräulein Tochter. Er fand die Herren in des 
Grafen Zimmer und begrüßte sie mit seinem wohlwollend-
sten Lächeln. 
»Muß doch wieder einmal kommen und sehen, wie es 
geht, lieber Graf.« 
»Sagen Sie, Herr Kose, woher haben Sie eigentlich die 
Nachricht von dem Brand?« fragte der Graf gelassen. 
»Brand? Brand?« meinte Herr Kose mit gutgespielter Ver-
wunderung. »Wo hat es denn gebrannt?« 
»Scheune und Stall.« 
»Getreide und Vieh verbrannt?« 

»Getreide ja, Vieh nicht – Gott sei Dank.« 
»So -. Hm – na ja, mein lieber Graf, da müssen wir uns nun 
wohl langsam auseinandersetzen. Sie wissen, daß mir die 
Herrschaft Hohenwerth eigentlich schon gehört?« 
»Leider!« 
»So müssen wir das Gut abschätzen lassen. Ich glaube, Ih-
nen wird nicht viel übrigbleiben, mein lieber Graf.« 
»Das glaube ich auch.« 
»Ja – hm, ich habe nämlich alle Wechsel aufgekauft.« 
»Ist mir bekannt.« 
»Na, dann vollzieht sich ja die Übergabe ganz einfach.« 

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Ein verstohlener Blick ging zu dem Grafen hin, der so lässig 
wie nur je in einem Sessel lehnte. 

Und der andere, dieser Herr von Barnim, sah vollends aus, 
als ob er Menschen fressen könnte! 
Angesichts so viel eisiger Ablehnung sollte er sprechen? Er 
war von seiner Tochter mit einer Mission betraut, die sehr 
delikat war. 
Der reiche Herr Kose fühlte sich nicht sehr behaglich. Er 
hatte das Gefühl, als wäre ihm der Kragen zu eng. Doch er 
dachte an seine vergötterte Tochter daheim, fürchtete ihren 
Zorn, ihre Enttäuschung, ihre Verzweiflung und nahm dar-
um allen Mut zusammen. Es war wohl am besten, wenn er 
gleich auf sein Ziel lossteuerte und nicht lange erst herum-
redete. 

»Ja, mein lieber Graf – hm – das ist so 'ne Sache – hm – Sie 
könnten nämlich Hohenwerth behalten – hm – wenn, ja, 
wenn ich eine Bedingung stellen dürfte.«»Und die wäre?« 
»Meine Tochter – wie Mädels nun einmal sind – sie hat 
sich unsterblich in Sie verliebt.« 
»Ist mir eine außerordentliche Ehre.« 
So viel Ironie gegenüber mußten dem armen Kose unwei-
gerlich die Worte im Hals steckenbleiben. Es dauerte Se-
kunden, ehe er weitersprechen konnte. 
»Na, kurz und gut – meine Tochter begehrt Sie zum Gat-
ten«, platzte er heraus. 
»Herr Kose, selbst mit einem Geldbeutel, wie er Ihnen ge-

hört, kann man nicht alles erreichen, man kann sich nicht 
einen Mann einfach – kaufen. Das bestellen Sie wohl Ih-
rem Fräulein Tochter.« 
»Aber, meine Güte, Graf, warum gleich so eklig werden?« 
erwiderte Herr Kose verletzt. »Das ist doch ein annehmba-
rer Vorschlag, den ich Ihnen mache. Was wollen Sie anfan-
gen, wenn Sie von Hohenwerth fortgehen müssen?« 
»Das soll Ihre Sorge nicht sein, Herr Kose.« 
»Selbstverständlich nicht. Aber wenn es Ihnen so gut gebo-
ten wird, daß Sie das gewohnte Herrenleben weiterfuhren 
können, würde ich an Ihrer Stelle doch zugreifen«, sagte er 

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fast bittend. »Von Ihrer Frau können Sie sich doch mit 
Leichtigkeit scheiden lassen.« 

Er hielt verblüfft inne, denn der Graf eilte zur Tür, drückte 
auf den Klingelknopf – und wie aus der Erde gewachsen 
stand der Diener im Zimmer. 
»Begleiten Sie Herrn Kose zu seinem Wagen, Albert.« 
Und dann mit einer knappen Verbeugung zu dem unange-
nehmen Besucher hin: 
»Guten Tag, Herr Kose – gute Heimfahrt.« 
Herr Kose meinte es doch gut mit diesem Grafen, der wie 
die personifizierte Arroganz vor ihm stand. Er hatte sich 
wirklich schon mancherlei von ihm bieten lassen – doch 
was zuviel ist, ist zuviel – er hatte schließlich auch eine 
Galle! 

»Hören Sie, mein Herr, Sie haben wohl den Verstand verlo-
ren?« schrie er, krebsrot vor Zorn. »Was bilden Sie sich ei-
gentlich ein – wer sind Sie – was sind Sie – « 
Weiter hörte man nichts von ihm. Denn Albert hatte den 
fauchenden, gestikulierenden Herrn beim Arm gefaßt und 
zog ihn seelenruhig hinter sich her. 
»Melden Sie mich dem Herrn Grafen.« 
»Sehr wohl, Herr Justizrat.« 
Albert verschwand im Zimmer seines Herrn, kam sofort 
zurück und öffnete die Tür für den Gast. 
»Guten Tag, Herr Justizrat«, rief der Graf ihm entgegen, 
»was bringen Sie Schönes?« 

»Ob es etwas Schönes ist, weiß ich nicht, Herr Graf; es wird 
ganz darauf ankommen, wie Sie es auffassen.« 
»Bitte, nehmen Sie Platz.« 
Rönner ließ sich in einen Sessel nieder, und der Graf setzte 
sich in den gegenüberstehenden, den Besucher erwartungs-
voll ansehend. 
»Nun ist es also soweit«, leitete der Anwalt die Unterredung 
ein. 
»Ja, Herr Justizrat. Und ich bedaure es nicht einmal allzu 
sehr – es war zuletzt nichts als eine Quälerei ohne Ende. 
Sie wissen doch: Lieber ein Ende mit Schrecken als ein 

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Schrecken ohne Ende.« 
»Und was gedenken Sie nun zu beginnen, Herr Graf?« 

»Ich werde nach Afrika gehen. Mein Schwager und seine 
Frau begleiten mich.« 
»Und Gudrun?« 
»Bleibt hier. Wenn ich mir dort eine Existenz geschaffen 
habe, kann sie nachkommen – das heißt, wenn sie will. 
Andernfalls kann sie sich als frei betrachten. Sie hat ihr 
kleines Vermögen. Ich selbst gedenke immerhin noch et-
was aus Hohenwerth zu retten, das sie dann auch haben 
soll. Davon kann sie eine Zeitlang gut leben. Und schließ-
lich – eine so schöne Frau bleibt nicht lange unverheiratet.« 
»Und das wäre Ihnen recht, Herr Graf?« 
»Recht? Herr Justizrat, ich bin ein Bettler und darf keine 

Ansprüche stellen. Ich muß mit allem zufrieden sein.« 
»Herr Graf, wollen Sie mich bitte anhören?« 
»Bitte.« 
»Herr Graf, Ihnen kann geholfen werden. Das heißt – wenn 
Sie wollen.« 
»Wollen Sie mir Märchen erzählen, Herr Justizrat?« 
Der Anwalt ließ sich durch diese Ironie nicht einschüch-
tern. 
»Es ist wie ein Märchen, gewiß. Doch glauben Sie mir, es 
geschehen im Leben mehr Wunder, als wir beide ahnen. 
Also: In Amerika lebt ein guter Bekannter von mir, der vor 
Jahren hinüberging, um eine Erbschaft anzutreten. Er fühlt 

sich jedoch nicht wohl dort, will langsam seine Verpflich-
tungen lösen und dann nach Deutschland zurückkehren. Er 
schwärmt für das Landleben und möchte seine eigene 
Scholle besitzen. Da hat er nun gehört, daß bei uns die 
schönen, großen Güter eines nach dem anderen zur Ver-
steigerung kommen. Hat mich also gebeten, eines für ihn 
zu erwerben. So bin ich auf den Gedanken gekommen, 
eventuell Hohenwerth…« Er machte eine kleine Pause und 
fuhr dann fort: »Hätten Sie etwas dagegen einzuwenden, 
Herr Graf?« 
»Ich? Nein.« 

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Es war ohnehin nicht leicht, mit diesem stolzen, unbeug-
samen Mann zu verhandeln. Doch dieser schroffe, abwei-

sende Ton erschwerte alles erheblich. 
Sekundenlang sah Rönner sinnend vor sich hin. Dann 
blickte er auf, dem Grafen geradewegs in die kalten, grauen 
Augen. 
»Herr Graf, nun werden Sie beweisen müssen, was stärker 
in Ihnen ist: der Stolz oder die Heimatliebe. Wenn ich Ho-
henwerth für Herrn Hörther erwürbe – es kann Jahre 
dauern, bis er mit seinen Verbindlichkeiteiten da drüben 
fertig ist. Es wäre also ein Aufschub für Sie – Sie könnten 
noch Jahre in Hohenwerth bleiben und – « 
»Und der Verwalter dieses Herrn Hörther werden, nicht 
wahr?« unterbrach der Graf ihn, bitter auflachend. »Soll 

also die Scholle, auf der meine Vorfahren seit Jahrhunder-
ten voll Stolz gesessen, für einen anderen verwalten. Ge-
wiß, es wäre durchaus nichts Außergewöhnliches. Wieviele 
in meiner Lage würden mit Freuden nach einem solchen 
Posten greifen! Ich bewundere diese Leute, doch ich kann 
es ihnen nicht gleichtun. Besorgen Sie mir eine Verwalter-
stelle auf dem Mond, Herr Justizrat, ich würde danach grei-
fen – doch nicht in Hohenwerth.« 
So hart und fest, so unbeugsam war das gesprochen, daß 
Rönner einen tiefen Seufzer nicht unterdrücken konnte. 
Der Graf hörte ihn und lächelte, seine Hand mit bittender 
Gebärde auf die des Anwalts legend. 

»Sie meinen es gut mit mir, Herr Justizrat, ich erkenne es 
an. Ich bin froh, daß ich noch so treue Freunde in meiner 
Not habe. Doch wenn Sie meine Lage von allen Seiten be-
leuchten, müssen Sie selbst sagen, daß mir nicht zu helfen 
ist. Ich würde niemals den Gedanken loswerden, daß ich 
über kurz und lang ja doch von Hohenwerth scheiden 
müßte. Und das würde Nerven kosten, die ich für den Exi-
stenzkampf, der meiner wartet, nötig brauche. Ich muß 
mich eben mit dem Gedanken trösten, daß es vielen eben-
so geht wie mir. – Und nun bitte ich Sie herzlich, Herr Ju-
stizrat, sparen Sie sich Ihre wirklich gutgemeinten Worte? 

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Sie verschwenden sie doch nur an einen Unwürdigen, der 
Ihr freundliches Bemühen schlecht zu schätzen weiß.« 

Der Anwalt erhob sich; er war sehr niedergedrückt und 
bekümmert. 
»Herr Graf, ich will Ihre Antwort auf meinen Vorschlag 
noch nicht als endgültig betrachten; ich werde in einigen 
Tagen noch einmal vorsprechen. Vielleicht haben Sie sich 
dann alles anders überlegt.« 
»Vielen Dank, Herr Justizrat. Ich glaube nicht, daß ich in 
einigen Tagen anderen Sinnes geworden bin. Es müßte 
denn etwas geschehen, das mich zu dieser Sinnesänderung 
zwingt.« 
Er verabschiedete den Justizrat und vertiefte sich wieder in 
seine Arbeit. Es gab viel zu regeln in den beiden Wochen, 

die Herr Kose ihm Frist gelassen hatte. 
Als die Gatten sich nach dem Abendessen in dem kleinen 
Salon gegenübersaßen, fragte Gudrun: 
»Onkel Erich war doch heute bei dir. Ich weiß um den Vor-
schlag, den er dir unterbreiten wollte. Hast du ihn ange-
nommen?« 
»Nein. Ich habe seinen Vorschlag nicht angenommen, da 
ich hier nicht noch einmal von vorn beginnen will«, ent-
gegnete er so hart, daß sie zusammenzuckte. 
Sie erwiderte nichts darauf. Sie senkte nur den Kopf und 
erhob sich bald, um dem Gatten gute Nacht zu wünschen. 
Die Hand, die sie ihm reichte, war eiskalt. 

Er sah sie forschend an. 
»Gudrun, glaub mir, auch für dich ist es besser, wenn ich 
von hier gehe.« 
Sie fuhr herum, als wolle sie etwas sagen, wandte sich dann 
jedoch wieder ab, und verließ das Zimmer. 
Der Graf ging in sein Arbeitszimmer, doch es wollte heute 
mit der Arbeit durchaus nichts werden. Er verfiel in ein 
quälendes, zermürbendes Grübeln, und so suchte er bald 
sein Schlafgemach auf. 
Kaum hatte er das Zimmer betreten, da horchte er auf. Das 
Schlafzimmer der Gattin grenzte daran, und durch die ge-

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schlossene Tür hörte er ein Schluchzen, so verzweifelt und 
weh, wie er es noch nie von einem Menschen gehört hatte. 

Einen Augenblick zögerte er, dann ging er zu Gudrun hi-
nein. Sie hörte ihn nicht, schluchzte herzzerbrechend in die 
Kissen, schien aufgelöst zu sein in Schmerz und Pein. 
Der Graf beugte sich zu ihr nieder, umfaßte ihre Schulter. 
Sie fuhr auf, starrte ihn an – doch gleich preßte sie wieder 
das Gesicht in die Kissen und weinte noch fassungsloser als 
vorher. 
»Aber Gudrun, was hast du denn? Ich kann dieses entsetzli-
che Weinen nicht hören!« 
Als ihre Tränen noch immer nicht versiegten, ließ er sich 
auf den Bettrand nieder, zog sie in seine Arme und drückte 
ihr Köpfchen fest an seine Brust. 

»Bernulf – geh nicht fort! Bitte – nein!« flehte sie. »Oder 
nimm mich mit – laß mich nicht allein!« 
Sie richtete sich auf und streckte ihm die Hände entgegen. 
»Bern – lieber, lieber Bern!« stammelte sie. 
Da riß er sie an sich und preßte mit lautem Aufstöhnen 
sein Gesicht auf ihr Haar. Er brauchte Minuten, um sich zu 
fassen. Dann umspannte er ihr Gesicht mit beiden Hän-
den, so fest, daß sie leise aufschrie. 
»Gudrun – weißt du auch, daß du Hoffnungen in mir er-
weckst, die dir verhängnisvoll werden können?« 
»Nichts kann mir verhängnisvoll werden, wenn du bei mir 
bist«, rang es sich von ihren Lippen. »Es ist selbstverständ-

lich, daß die Frau mit ihrem Mann geht, Ilse-Dore tut es 
doch auch.« 
»Ilse-Dore liebt ihren Mann.« 
»Nicht mehr als – « 
Sie errötete über und über und versuchte den Kopf abzu-
wenden. Doch wie mit Eisenklammern hielt er ihn fest, 
ganz nah war ihr sein Gesicht. 
»Gudrun, sprich weiter«, verlangte er rauh. Aber sie sprach 
nicht, sie sah ihn nur an mit einem Blick, der ihn um seine 
Beherrschung brachte. 
Wieder riß er sie in seine Arme, küßte sie innig. 

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»Du läßt mich nicht allein?« bettelte sie, als er sie wieder 
aus den Armen ließ. 

»Nein, Entlein, nein – wenn du mich liebhaben willst – « 
»O Bern!« 
Aufjauchzend warf sie die Arme um seinen Hals. 
»Wenn ich imstande bin, dich mit meiner Liebe zu halten, 
dann wirst du schwerlich von mir gehen können. Doch ich 
fürchte, so viel Liebe, wie ich sie für dich im Herzen trage, 
könnte dir lästig werden.« 
»Deine Liebe? Liebling, was für ein Unsinn! Doch was be-
wegt dich jetzt, mir deine Liebe, die du bisher so geschickt 
verbargst, zu gestehen?« 
»Die Angst, dich zu verlieren, mein Liebster!« 
»Dann sei diese Angst gesegnet, Gudrun. Die Liebe zu dir, 

die mich wie ein Fieber überfallen, mich gerüttelt und ge-
schüttelt hat, vertausendfachte meine Verzweiflung wäh-
rend der letzten Wochen. Aber nun sieht alles viel lichter 
und klarer aus, da ich einen Menschen habe, für den zu 
schaffen und zu leben es sich lohnt.« 
»Bern, du hättest doch nicht -?« fuhr sie entsetzt auf. 
»Nicht heute und morgen, mein Lieb, auch nicht durch 
eigene Hand. Doch in Afrika ist einem dazu schon Gele-
genheit geboten.« 
»Meine Ahnung«, flüsterte sie, in tiefster Seele erschüttert. 
Dann warf sie wieder die Arme um seinen Hals und umfaß-
te, ihn so fest, als müsse sie ihn halten und schützen für 

alle Zeit. 
Justizrat Rönner war auf das höchste überrascht, als Graf 
Hellmarck am nächsten Tage bei ihm erschien, ihm seine 
Sinnesänderung mitteilte und ihn bat, Hohenwerth für 
Herrn Hörther zu erwerben, damit er als Verwalter weiter 
darauf leben könne. 
Was mochte diese plötzliche Sinnesänderung bei einem 
Mann von solcher Charakterfestigkeit bewirkt haben, bei 
einem Menschen, der alles andere war als schwankend in 
seinen Entschlüssen? 
Verstohlen glitt des Juristen Blick zu dem Gast, der an-

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scheinend vollkommen ruhig ihm gegenübersaß, durch 
nichts seine innere Erregung oder Bewegung verratend. 

Und doch war in dem Antlitz des Grafen ein Zug, der dem 
Anwalt, der diesen ungewöhnlichen Mann schon mehr als 
zehn Jahre kannte, fremd erschien. Auch in den immer so 
kalten, grauen Augen leuchtete es heute ab und zu hell auf 
– und immer gerade dann, wenn Gudruns Name fiel. 
Da wußte der kluge Mann Bescheid und schmunzelte ver-
stohlen in sich hinein, als er daran dachte, daß es der sü-
ßen, feinen Gudrun nun doch gelungen war, diesen gewiß 
nicht leicht zu erobernden Mann ganz für sich zu gewin-
nen. Wie tief und groß mußte seine Liebe sein, daß er ihr 
zuliebe als Verwalter auf Hohenwerth bleiben wollte! Ach 
ja, nun war der Justizrat hoffnungsfroh, nun mußte alles 

gut werden – alles! 
»Werden Sie dann alles in die Wege leiten, Herr Justizrat?« 
fragte der Graf. »Viel Zeit haben wir nicht zum Überlegen, 
wenn Herr Kose uns nicht doch noch zuvorkommen soll. 
Denn ich glaube bestimmt, daß er nicht lange fackeln wird. 
Aber noch eine Frage, Herr Justizrat: Darf auch mein 
Schwager seinen Posten behalten?« 
»Selbstverständlich, Herr Graf. Herr von Barnim ist in Ho-
henwerth nötig, und Hörther wird ihn noch bitten, zu 
bleiben. Dem Mann liegt doch daran, sein Gut in gutem 
Zustand vorzufinden, wenn er sich dermaleinst darauf nie-
derlassen wird. Und dazu gehört eine erstklassige Verwal-

tung, wie Hohenwerth sie bisher gehabt hat. Vielleicht darf 
ich mit Ihnen kommen, Herr Graf,  damit ich Herrn von 
Barnim kontraktlich festlegen kann? Ich möchte heute 
noch die Belege absenden.« 
Sie trafen Gero in trübseliger Stimmung an. Und Ilse-Dore 
war noch viel trübseliger. Sie hatte es sich so leicht gedacht, 
auszuwandern. Aber da es nun soweit war, schien ihr aller 
Mut und alle Zuversicht abhanden gekommen zu sein; sehr 
kleinlaut war sie und gedrückt. 
Trotz des Bemühens, tapfer zu bleiben, weinte sie. Da griff 
Graf Hellmarck ein. 

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»Ilse-Dore, komm her, setz dich neben den Herrn Justizrat. 
Und du, Gero, auf die andere Seite. Der Herr Justizrat will 

euch nämlich ein Märchen erzählen.« 
»Dafür habe ich jetzt das größte Interesse«, brummte Gero, 
ließ sich jedoch gehorsam an des Anwalts Seite nieder. 
Und was er zu hören bekam, das ließ ihn aufhorchen. Zu-
letzt wagte er kaum noch zu atmen, um sich nur nicht ei-
nes der schönen Worte entgehen zu lassen, die von den 
Lippen des Justizrats kamen. 
Er durfte hierbleiben, konnte mit dem verehrten Schwager 
weiter zusammenarbeiten? Alles sollte bleiben wie bisher, 
nur daß Hohenwerth den Besitzer wechselte, der in Ameri-
ka weilte – und Jahre würde es dauern, bis er sich hier nie-
derließ? . 

Das war wirklich wie ein Märchen! 
Das sagte er auch dem Justizrat, und der lachte. 
»Es klingt so, Herr von Barnim. Doch dieses Märchen ist 
ausnahmsweise einmal wahr.« 
Sekunden brauchte Gero, um sich zu fassen. Doch dann 
brach ein heller Jubelschrei aus seinem Mund. Ihm war, als 
fielen Fesseln von ihm ab, die ihn lange schmerzlich ge-
drückt hatten. 
Graf Bernulf war es, als falle es ihm auf einmal weniger 
schwer, das Opfer zu bringen, künftighin als Verwalter auf 
Hohenwerth zu bleiben. 
Und noch einer war beinahe außer sich vor Freude, als er 

vernahm, wie die Würfel gefallen waren: Peter! 
»Daß Sie sich dazu entschlossen haben, Herr Graf!« sagte er 
mit einer Stimme, in der die Tränen saßen. »Das macht 
Ihnen sobald keiner nach.« 
Ein Opfer hatte Graf Bernulf dem eigenen Stolz gebracht. – 
Aber war es wirklich ein Opfer, oder galt es ihm noch da-
für? Manchmal zweifelte er daran, wenn Gudrun sich in 
seine Arme schmiegte und ihre Augen ihn anstrahlten. 
Dann war alles ganz still in ihm, und gewaltsam zwang er 
den Gedanken nieder, was werden sollte, wenn Herr Hör-
ther eines Tages in Hohenwerth erscheinen würde, um… 

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Nein, nein! Nicht darüber nachsinnen, vielmehr alles hin-
nehmen, wie es kam, nur das berauschende Glück ausko-

sten, das ihm die Liebe seiner jungen Frau bescherte. 
Nun begann auf Hohenwerth ein friedliches, freudenvolles 
Leben. Hauptsächlich für die Gatten, die sich von Tag zu 
Tag inniger aneinanderschlossen. Die Liebe füllte den Gra-
fen so sehr aus, daß der Gedanke, doch noch einmal von 
der Heimat zu müssen, nichts Bedrückendes mehr für ihn 
hatte. Wußte er nun doch, daß Gudrun mit ihm ging, wo-
hin er sie auch führen würde. 
Herr Hörther dachte anscheinend nicht daran, jetzt schon 
nach Hohenwerth zu kommen. Die Abwicklung seiner Ge-
schäfte würde mindestens noch zwei Jahre in Anspruch 
nehmen, hatte er dem Justizrat mitgeteilt. Er hatte dem 

Grafen ein so hohes Gehalt ausgesetzt, daß dieser es an-
fänglich gar nicht annehmen wollte. Doch Rönner machte 
ihm klar, daß diese Summe für den reichen Hörther eine 
Lappalie sei und daß er als gewiegter Geschäftsmann jede 
Leistung richtig einzuschätzen wisse. 
So fügte der Graf sich und war bemüht, durch tüchtige, 
gewissenhafte Arbeitsleistung sein Gehalt zu verdienen. 
Auch Geros Gehalt war aufgebessert worden, was diesen in 
einen wahren Freudentaumel versetzt hatte. 
Graf Hellmarck lebte ausschließlich seiner Arbeit und sei-
ner Frau. Einfach unwiderstehlich war sie, und ihre holde 
Schönheit hätte überall glänzende Triumphe gefeiert, wenn 

der Gatte sie ausgeführt hätte. Doch er dachte gar nicht 
daran; warum sollte er sich unnötige Eifersuchtsqualen 
schaffen? Zudem verlangte es Gudrun gar nicht nach rau-
schenden Festen, sie lebte lieber still und zurückgezogen. 
In letzter Zeit hatten die Gatten nur Peter zu ihrer Gesell-
schaft. Denn der Storch hatte gute Arbeit geleistet, war zu-
erst bei Rönners eingekehrt und dann bei Barnims. Es war-
en kräftige Buben, die in den Wiegen strampelten, und sie 
nahmen die beglückten Eltern so vollständig in Anspruch, 
daß sie jede freie Minute bei den winzigen Tyrannen ver-
brachten. 

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Nun wurde Graf Hellmarck und Gudrun auch die Verzweif-
lung klar, in der sich Ilse-Dore und Gero befunden hatten, 

als sie gerade zu der Zeit von der Heimat fort sollten, wo 
das kleine Wesen sich bemerkbar zu machen begann. - 
Im Februar fuhr der Graf geschäftlich nach Hamburg, und 
Gudrun begleitete ihn. Die Wintersaison war gerade in vol-
lem Gang. Und an einem Morgen, als die Gatten im Hotel 
beim Frühstück saßen, reichte Gudrun Bernulf die Zeitung. 
»Schau mal, Liebster, der Maskenball findet wieder statt, an 
dem du vor zwei Jahren teilnahmst. Hast du nicht Lust, ihn 
zu besuchen? Vielleicht siehst du die Frau wieder, von der 
du an unserem Hochzeitstag zu schwärmen anfingst?« setz-
te sie mit einem schelmischen Lächeln hinzu, das sie gera-
dezu unwiderstehlich machte. Der Gatte betrachtete sie 

entzückt. 
»Entlein, nimm dich in acht; wenn du noch länger so lä-
chelst, dann küsse ich dich hier vor allen Leuten«, flüsterte 
er ihr verliebt zu. 
»Oh – das wäre allerdings kompromittierend für beide Tei-
le. Laß uns ein weniger gefährliches Thema anschlagen. 
Weißt du noch, wie du mich damals besuchtest?« 
»O ja, so etwas vergißt sich nicht so leicht, mein Herz. Da-
mals hatte ich allerdings noch keine Ahnung, daß sich das 
häßliche Entlein zu einem stolzen Schwan entwickeln 
würde. Doch auch in deiner wenig schönen Hülle hast du 
mich betört, du gefährliches Kind; meine Gedanken be-

schäftigten sich mehr mit dir, als mir lieb war.« 
»Trotz deiner Maskenliebe?« 
»Gudrun, ich warne dich!« 
»Ach so – sonst küßt du mich?« meinte sie scheinheilig, 
hielt es dann jedoch für ratsam, erlöst und gesittet zu wer-
den. Denn das gefährliche Flimmern in den Augen des Gat-
ten war ihr nicht unbekannt. 
»Wirst du den Maskenball besuchen, Liebster?« 
»Wenn du Wert darauf legst, Entlein.« 
»Wer sagt denn, daß ich dich begleiten will?« 
»Na, das wird ja immer besser!« empörte er sich. »Du hast 

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es dir wohl sehr nett gedacht, mich loszuwerden, damit du 
dich auf eigene Faust amüsieren kannst?« 

»Oh,  bist  du  ein  kluger  Mann!  Doch  mach  um  Himmels 
willen ein anderes Gesicht, Bern! Ich will ja auch ganz brav 
sein und mit dir kommen.« 
»Bleibt dir auch keine andere Wahl, mein Herzblatt. Ich 
werde mich wieder an den Direktor wenden, damit er uns 
Karten besorgt.« 
Drei Tage später fand der Maskenball statt, und der Graf 
hatte alle List spielen lassen, um von Gudrun zu erfahren, 
welches Kostüm sie tragen würde. Doch sie lächelte nur 
und schwieg. 
So verfiel er denn auf etwas, was nicht gerade recht, in die-
sem Fall jedoch erlaubt war. 

Er unterhielt sich mit der Zofe Ella, die schon längst wieder 
bei der Gräfin Dienst tat und die ihre Herrin auch begleitet 
hatte. Er trieb sie mit Kreuz- und Querfragen dermaßen in 
die Enge, daß sie ihm schließlich das Kostüm der Gräfin 
verriet. 
Schäferin – rosa Seide – weiße Perücke – recht eigenartig 
wirkend und daher nicht zu verkennen. 
Er erkannte sie im Ballsaal auch sofort, obgleich sie nicht 
die einzige anwesende Schäferin war. Er selbst erschien 
wieder als Domino, so unauffällig wie nur möglich – und 
erregte trotzdem Aufsehen, wo er sich nur blicken ließ. Von 
allen Masken interessierte ihn begreiflicherweise am mei-

sten die rose Schäferin, die sich fern von ihm hielt und ihm 
immer wieder entschlüpfte, so oft er sie zu fangen versuch-
te. 
Endlich gelang es ihm doch, und er hielt sie im Arm, sie 
fest an sich drückend. Durch die Maske brannten seine 
Blicke auf sie nieder. 
»Nun, mein Entlein – erkannt!« sagte er mit leisem Lachen. 
Sie strebte von ihm fort, doch er hielt sie fest. 
Dann weiteten sich seine Augen – er schaute, schaute – als 
sähe er nicht recht. 
Drüben in dem dicksten Gewimmel tauchte eine ihm be-

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kannte Maske auf. 
Die rotseidene Pierrette! 

Genauso hatte die ausgesehen, die er vor zwei Jahren im 
Arm gehalten hatte. Sie mußte es sein. 
Vergessen war die schöne Schäferin – seine Augen hingen 
wie gebannt an der seltsamen, so ungemein geheimnisvoll 
wirkenden Pierrette. Sein ganzes Ich stand auf einmal in 
Flammen. Er war so erregt, daß es ihm fast den Atem raub-
te. 
Erst als sich die Schäferin bewegte, schrak er auf. 
Ja, war er denn wahnsinnig? Er hielt seine heißgeliebte Frau 
im Arme und konnte das auch nur eine Sekunde vergessen! 
Er wollte sie an sich pressen, doch sie entschlüpfte ihm. Sie 
hatte wohl das seltsame Gebaren des Gatten bemerkt, viel-

leicht auch die heißen, brennenden Blicke gesehen, die 
eine andere suchten, und war nun gekränkt. 
Und hatte ja auch allen Grund dazu! 
Er bahnte sich rücksichtslos einen Weg durch die tanzen-
den Paare und eilte der Schäferin nach. Doch auf halbem 
Weg kam ihm die Pierrette entgegen. Ein kurzes Zögern, 
Besinnen – auch sie hatte ihn erkannt. Sie kam zu ihm, 
schmiegte sich in seine Arme. Doch mit brutalem Griff 
befreite er sich von ihr. Seine Blicke irrten suchend umher 
– die Schäferin war nirgends mehr zu sehen. 
Er hatte plötzlich einen bitteren Geschmack auf der Zunge, 
und die Kehle war ihm wie ausgebrannt. Ohne die Pierrette 

eines einzigen Blickes zu würdigen, durcheilte er den Saal, 
durchsuchte die Nebenräume, immer nach der Schäferin 
Ausschau haltend, die die Erde verschluckt zu haben 
schien. Als er sie auch in den Nebenräumen nicht fand, gab 
er verstimmt das Suchen auf. 
Er hatte das Bedürfnis, einen Augenblick allein zu sein und 
sich zu sammeln, und suchte darum nach einem ruhigen 
Plätzchen. Endlich fand er ein Zimmer, das im Augenblick 
leer war. 
Tief aufseufzend ließ er sich auf das Sofa fallen. Ihm war 
miserabel zumute. 

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War er nicht ein erbärmlicher, elender Kerl? Sich von einer 
Frau, die er nicht einmal kannte, so aus der Ruhe bringen 

zu lassen – so unbeherrscht zu sein! 
Doch soviel er sich auch schalt, sich verachtete – sein gan-
zes Sein schrie förmlich nach dieser rätselhaften Pierrette. 
Das Bild der Schäferin war vollständig verblaßt, war für ihn 
nur noch wie ein Schemen. 
Er stürzte den Sekt, den ihm der Diener brachte, hinunter, 
Glas um Glas. 
Ein so böses Gewissen hatte er noch nie in seinem Leben 
gehabt; so elend wie im Augenblick hatte er sich kaum je-
mals gefühlt. Wie Gudrun sich wohl zu der Sache stellen 
würde? Denn sein Betroffensein bei dem Anblick der Pier-
rette konnte ihr unmöglich entgangen sein. Und daß sie 

sich verletzt und gedemütigt fühlen würde, war nur zu be-
greifen. 
Da hatte er nun geglaubt, er liebe seine Frau mit jeder Faser 
seines Herzens – und dennoch… 
Nein, diese Erkenntnis war einfach nicht zu ertragen! 
Er sprang auf, stürzte noch ein Glas Sekt hinunter und ging 
zur Tür. Er mußte die Schäferin suchen, bis er sie fand. 
Vielleicht war alles nur halb so schlimm, wie es ihm er-
schien. Gudrun war eine vernünftige Frau. Und er wollte 
alles aufbieten, um sie zu versöhnen. 
Doch als er durch die Tür gehen wollte, prallte er zurück. 
Da lehnte die Pierrette am Türpfosten, ruhig, lässig, die 

Arme über der Brust verschränkt. Hatte ihn also die ganze 
Zeit beobachtet. Er wollte an ihr vorbei, doch da kam Le-
ben in ihre Gestalt. Ehe er sich zur Wehr setzen konnte, 
hatte sie ihn in das Zimmer zurückgedrängt, die Tür abge-
schlossen und den Schlüssel in den Ausschnitt ihres Kleides 
gesteckt. 
»So, Sie ungalanter Ritter«, kicherte sie hoch und piepsend, 
»nun sind Sie gefangen. Und nun wollen wir wieder so 
süße, unvergeßliche Stunden verleben wie vor zwei Jah-
ren.« 
»Nein, mein holdes Kind«, entgegnete er mit tiefster Ironie. 

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»Sie werden mir vielmehr den Schlüssel geben, werden ein 
schönes Knickschen machen und mich gehen lassen – und 

selbst hübsch brav zum Herrn Gemahl zurückkehren.« 
»O nein, das werde ich nicht!« lachte sie hoch und schrill. 
Und ehe dei* Graf sich dessen versah, hing sie auch schon 
an seinem Hals, drängte ihn auf das Sofa und kletterte auf 
seinen Schoß. Er versuchte, sich zu erheben, doch der 
reichliche Genuß des Champagners hatte seine Kräfte ge-
schwächt. Außerdem schien das schöne Kind erstaunlich 
kräftig zu sein. 
Immer enger schmiegte sie sich an ihn, hob die Spitzen 
ihrer Maske, die den Mund verdeckten, und preßte ihre 
Lippen auf die seinen in heißem, leidenschaftlichem Kuß. 
Ein ihm bekannter, sinnverwirrender Duft umschmeichelte 

ihn und trug viel dazu bei, daß sein Widerstand schwächer 
wurde. Doch nicht lange, dann siegte sein Ehrgefühl. Er 
sprang auf, befreite sich kurzerhand aus der Umschlingung 
der Pierrette und stellte sie wie eine Puppe auf die Erde. 
Vollständig ernüchtert war er und fühlte deutlicher denn je, 
daß er allen Verlockungen gegenüber standhaft bleiben 
müsse, wollte er ein reines Gewissen behalten. 
»Schließen Sie die Tür auf!« herrschte er die Pierette an. 
Doch sie wollte nicht, sondern kicherte nur. 
»Erst den Schlüssel haben!« 
»Wenn Sie ihn mir nicht freiwillig geben, so zwingen Sie 
mich, etwas zu tun, was gegen Erziehung und Ritterlichkeit 

verstößt«, sagte er hart und zeigte auf den Ausschnitt ihres 
Kleides. Da holte sie hastig den Schlüssel hervor, versteckte 
ihn jedoch hinter ihrem Rücken. Er trat zu ihr und versuch-
te, den Schlüssel ihrer Hand zu entwinden. Sie gab ihn 
jedoch nicht her – und so entstand ein heftiger Kampf. 
Die Art, wie sie sich gegen ihn wehrte, kam ihm seltsam 
bekannt vor. 
Und ganz plötzlich sah er ein Zimmer vor sich, in dem er 
schon einmal mit einer Frau einen Kampf bestanden. Da-
mals war das Ringen um einen Brief gegangen! 
Da gab er ihre Hände frei, trat einen Schritt zurück, und 

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sein scharfer, durchdringender Blick ging zu ihr, sog sich 
förmlich an ihr fest. 

Diese unvergleichliche Nackenlinie, die blütenzarten Schul-
tern und Arme, die ganze grazile Gestalt mit der lässigen 
Haltung - 
Mit einem Satz war er bei ihr – ein Griff, und er hielt die 
Maske in der Hand. 
»Gudrun!« 
Sie stürzten sich in die Arme, küßten sich heiß. Er hob sie 
auf die Arme, trug sie auf das Sofa, setzte sich und nahm 
sie auf den Schoß. 
»Nun hör einmal – du arger Schelm!« 
Da lachte sie – frisch und überschäumend klang das La-
chen. 

»Oh, du armer Liebster, du hast mir zuletzt schon leid ge-
tan. Nun habe ich gesehen, wie es ist, wenn du dich in der 
Klemme befindest. Ehrgefühl und Liebe – was für ein hei-
ßer Streit das war! Doch das Ehrgefühl siegte. Man wollte 
durchaus zur schönen Schäferin zurück, obgleich sie einen 
nicht im geringsten interessierte. Du dummer, süßer, lieber 
Liebster! Hast du nun erfahren müssen, daß Liebe unbe-
stechlich ist, daß dieses Gefühl nicht trügen kann! Die 
Pflicht trieb zur Schäferin – das Herz zur Pierrette!« 
Sie war nun ganz ernst geworden, und den eben noch so 
strahlenden Blick verdunkelten Tränen. 
»Liebstes, Süßes, Angebetetes – du weinst doch nicht gar?« 

rief er bestürzt. 
»Ja, Liebster – aber vor Glück«, entgegnete sie leise. »Nun 
weiß ich, daß deine Liebe wirklich echt ist – deine große, 
heiße, unbestechliche Liebe!« 
Sie schmiegte sich an ihn und lag sekundenlang ganz still 
an seinem Herzen, das wie rasend klopfte. Und als sie end-
lich den Kopf hob, strahlten ihre Augen heller denn je, und 
das Schelmenlächeln ihres Mundes war auch wieder da. 
Da küßte er sie, daß ihr beinahe der Atem verging. 
»Und nun gebeichtet, du gefährliches Hexchen!« forderte 
er. »Ella verriet mir doch das Kostüm, das du tragen woll-

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test.« 
»Die Schäferin«, lachte sie hellauf. »Das war ein Trick, Lieb-

ster. Ich ahnte nämlich, daß du dich bei Ella nach meinem 
Kostüm erkundigen würdest, und so planten wir beide eine 
kleine Intrige.« 
Bern klatschte sich mit der flachen Hand vor die Stirn und 
schlug den Blick zum Himmel auf. 
»Ach, ich Esel – ich Esel!« 
Er küßte sie wieder. 
Doch ganz plötzlich ließ er sie los und schob sie mit den 
Armen fort, so weit er konnte. 
»Dann warst du gar an dem Abend vor zwei Jahren – « 
»Die rote Pierrette, jawohl!« lachte sie übermütig. 
»Du hast doch aber damals in deinem miserablen Zimmer 

gesessen, Totenköpfe und anderes gruseliges Zeug gezeich-
net?« 
»Das nahmst du an, Bern – und das war gut. Ich liebte dich 
schon damals«, gestand sie, und heiße Glut übergoß ihr 
süßes Antlitz. »Und da keine Aussicht vorhanden war, daß 
ich dich jemals für mich erringen könnte, ich aber wußte, 
daß du die – große Liebe meines Lebens warst – so war ich 
fest entschlossen, mir einige süße, köstliche, unvergeßliche 
Stunden zu stehlen, wovon ich dann später zehren wollte. 
Und wie gut mir das gelungen ist, weißt du.« 
»Aber Kind, herzliebstes – wie war es dir nur möglich, dich 
an dem Abend so sehr zu verwandeln – und dann am 

nächsten Tag wieder das häßliche Entlein zu werden?« 
»Das war eine Kleinigkeit. Ich überließ mich an dem Abend 
einfach den Künsten eines Schönheitsinstituts.« 
»Und hattest den Mut, wieder in deine alte, häßliche Hülle 
zurückzuschlüpfen?« 
»Leicht ist es mir nicht gefallen, Bern. Aber Mutter Hermine 
wünschte, ich sollte mein Studium beenden. Es war freilich 
ein wenig grausam. Sie meinte es aber gut mit mir. Sie hat 
mich auf ihre Art geliebt, und daher waren mir ihre Wün-
sche heilig. Welches Aufsehen würde es zudem erregt ha-
ben, wäre ich so verändert ins Kolleg gekommen?« 

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»Alle Studenten hätten sich in dich verliebt.« 
»Das war aber gar nicht nötig«, entgegnete sie ernst. »Spä-

ter, als ich mit dir verlobt war und mehr als einmal mit 
anhören mußte, wie sehr man dich deiner Braut wegen 
bedauerte, entschloß ich mich, meine Hülle endgültig ab-
zuwerfen. Ich lud mich zu Tante Rita ein, und die schlug 
die Hände über dem Kopf zusammen, als sie meiner an-
sichtig wurde. Sie fand mich sehr willig, als sie dann ener-
gisch begann, mich umzumodeln.« 
»Das dürfte ihr nicht allzu schwer gefallen sein«, sagte er 
zärtlich. 
»Das sagte Tante Rita auch«, gab Gudrun lachend zu. 
»Doch hör den schönen Tango! Wollen wir tanzen?« 
»Mit dem größten Vergnügen, Herzlieb.« 

Graf Hellmarck saß Justizrat Rönner in dessen Arbeitszim-
mer gegenüber. Sie sprachen über geschäftliche Dinge, und 
zum Schluß meinte der Graf: 
»Es ist für mich ein recht schweres Arbeiten, Herr Justizrat, 
da ich Herrn Hörther nicht kenne und daher auch nicht 
weiß, wie er über manches denkt. Es sind oftmals schwer-
wiegende Entscheidungen zu treffen, und ich muß mir 
doch allemal, sozusagen, den Rücken decken. Ich habe ihm 
schon mehrere Briefe geschrieben, doch er antwortet mir 
mit keiner Silbe. Sie haben doch die Briefe, die ich Ihnen 
an Herrn Hörther übergab, weiterbefördert?« 
»Selbstverständlich«, erfolgte die Antwort mit merkwürdi-

ger Hast. Rönners rechte Hand spielte mit dem Brieföffner, 
die linke trommelte auf die Schreibtischplatte. Er schien 
sehr unruhig und nervös zu sein, so daß der Graf ihn ganz 
erstaunt ansah. Da warf er den Brieföffner zur Seite, reckte 
seine Gestalt im Schreibtischsessel hoch und sagte: 
»Ich glaube, Sie nehmen Ihre Pflichten als Verwalter viel zu 
schwer, Herr Graf. Herr Hörther hat keine Ahnung vom 
Gutsbetrieb, da kann er Ihnen auch keine Vorschriften ma-
chen. Sein Wunsch ist, daß Sie nach eigenem Ermessen 
handeln, Sie haben unbeschränkte Vollmacht.« 
»Die kann mir nichts nützen, da ich nicht weiß, wie weit-

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gehend sie ist. Es sind zum Beispiel kostspielige Reparatu-
ren an den Wirtschaftsgebäuden nötig, und ein Jungvieh-

stall muß auch gebaut werden. Das sind alles Sachen, die 
ich ohne Herrn Hörthers Zustimmung kaum unternehmen 
kann. Es handelt sich in diesem Fall um Objekte, die Tau-
sende erfordern.« 
»Aber Herr Graf, bei einem vielfachen Millionär wie Hör-
ther spielen ein paar Tausende wirklich keine Rolle. Er will 
Hohenwerth in tadellosem Zustand haben, und da wird er 
sich denken können, daß das nicht ohne Ausgaben abge-
hen kann«, sagte der Justizrat fast bittend. »Machen Sie sich 
doch nicht immer solche Gedanken! Besser als Sie kann 
kein Mensch Hohenwerth verwalten.« 
»Naja, gewiß«, entgegnete Hellmarck und erhob sich. »Ich 

verstehe nur nicht, Herr Justizrat, daß Sie die schwierige 
Lage, in der ich mich befinde, nicht erkennen wollen. Ich 
will Sie aber nicht länger aufhalten. Vielleicht mache ich 
mir wirklich mehr Sorgen, als nötig sind.« 
»Ganz meine Meinung, und Herr Hörther würde nicht an-
ders denken; es ist wirklich alles in schönster Ordnung«, 
tröstete der Justizrat. 
»Wollen's hoffen.« 
Die Herren schüttelten sich die Hände, und der Graf kehrte 
mißmutiger nach Hohenwerth zurück, als er von dort fort-
gefahren war. Er fand Gudrun in ihrem Wohnzimmer; der 
Bruder war bei ihr. Bei des Schwagers Eintritt sprang dieser 

auf und eilte ihm entgegen. 
»Ich bin hier, um dich und Gudrun um die Patenschaft bei 
unserem Jungen zu bitten. Du bist doch einverstanden?« 
»Aber gewiß, gern – das heißt, wann soll die Taufe sein?« 
»Das wollte ich auch schon fragen«, lachte Gudrun. »Wenn 
sie nur nicht mit der des kleinen Rönner auf einen Tag fällt 
– denn bei Justizrats haben wir das gleiche Ehrenamt zu 
versehen.« 
»O Himmel!« rief Gero lachend. »Das hätte ja eine schöne 
Bescherung geben können! Lassen wir also dem kleinen 
Rönner den Vorzug, und taufen wir unseren Bengel später.« 

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Graf Hellmarck ließ sich in einen Sessel fallen und erkun-
digte sich nach Ilse-Dores Ergehen, die sich von der Geburt 

des Kindes noch immer nicht erholen konnte. 
»O danke, es geht ihr schon viel besser«, entgegnete Gero 
froh. »Ihr müßt entschuldigen, wenn sie sich hier nicht 
blicken läßt, sie hat jetzt nur noch Augen und Ohren für 
ihren Sohn. Ich kann ein Liedchen davon singen.« 
»Nun, das kann dir wirklich nichts schaden«, neckte Gud-
run. »Du warst wirklich schon reichlich arrogant und bilde-
test dir ein, deine Frau sei ausschließlich für dich da.« 
»Ist sie auch«, behauptete er. »Frag nur Bernulf, ob er nicht 
derselben Meinung ist.« 
Sie sahen zum Grafen hin, doch der hatte kein Verständnis 
für ihre Neckerei. 

»Bern, was hast du nur? Schon seit Tagen bist du mißge-
stimmt.« 
»Das hartnäckige Schweigen des Herrn Hörther macht 
mich einfach rasend. Vier Briefe habe ich ihm geschrieben 
– aber er antwortet einfach nicht.« 
»Das finde ich auch recht sonderbar«, gab Gero zu. »Es lie-
ße sich viel leichter wirtschaften, wenn wir nicht immer im 
Dunkeln zu tappen brauchten. Wirst du eigentlich mit dem 
Bau des Stalles beginnen, Bernulf?« 
»Nicht eher, als bis ich Herrn Hörthers Zustimmung habe. 
Ich komme soeben vom Justizrat und habe mit ihm über 
die Angelegenheit gesprochen. Er nimmt alles sehr leicht 

und weist mich immer wieder auf die Vollmacht hin, die 
ich von Herrn Hörther habe. Ich werde noch einmal an ihn 
schreiben; bekomme ich dann wieder keine Antwort, so 
weiß ich überhaupt nicht, was ich von der ganzen Sache 
halten soll.« 
»Ach ja, das tu nur«, rief Gudrun. »Ich muß sowieso zu 
Rönners fahren, da kann ich den Brief gleich mitnehmen.« 
Sie nickte den Herren zu und verließ sie; auch Gero verab-
schiedete sich. 
Graf Hellmarck ging in sein Arbeitszimmer und schrieb 
den Brief. Er gab dem saumseligen Herrn zu verstehen, daß 

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er sein Amt als Verwalter niederlegen müsse, falls er keine 
Nachricht auf diesen Brief erhielte. Er wäre nicht mehr im-

stande, die Verantwortung für den großen Betrieb allein zu 
tragen. 
Diesen Brief nahm Gudrun an sich, um ihn dem Justizrat 
auszuhändigen. 
Rönner hatte dem Grafen klargemacht, daß es von Vorteil 
sei, wenn die gesamte Korrespondenz über ihn an Herrn 
Hörther gelange. Seine – Rönners – Sendungen öffne der 
Millionär persönlich, alles andere aber hätten seine Beam-
ten und Sekretäre zu erledigen. 
Mit der Zeit war Hellmarck der Gedanke gekommen, ob 
der Weg, auf diese Weise mit Herrn Hörther zu verkehren, 
wirklich der richtige sei. Verloren seine Briefe als Beilagen 

zu denen des Justizrats für den Empfänger nicht an Ge-
wicht und Bedeutung? 
Das kam dem Grafen auch jetzt wieder in den Sinn, und es 
fiel ihm ein, ob es nicht ratsam sei, dem ersten Schreiben 
ein zweites, direkt an den Amerikaner gerichtetes folgen zu 
lassen. 
Gedacht, getan! So ging denn noch ein zweiter Brief in die 
Welt hinaus, und zwar eingeschrieben. 
Mit Ungeduld wartete Graf Bernulf auf eine Antwort. 
Diese traf auch nach zwei Wochen ein. Doch der Inhalt 
dieses Schreibens war ein ganz anderer, als der Graf erwar-
tete hatte. 

Er raste zur Stadt. Ohne Rücksicht darauf, daß die Sprech-
stunde des Justizrates, die er sonst stets eingehalten hatte, 
zu Ende war, ließ der Graf sich bei diesem melden. Sofort 
wurde er in das Zimmer des Justizrates geführt. 
Die Augen der beiden Männer tauchten ineinander. 
Die des Grafen verrieten Hochmut und Kälte, die Rönners 
Sorge und Bestürzung. 
Der Graf folgte der Aufforderung des Hausherrn, Platz zu 
nehmen, nicht, sondern blieb hochaufgerichtet vor ihm 
stehen, ihm den Brief hinreichend, den er von Herrn Hör-
ther erhalten hatte. 

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Rönner las die kurzen, sachlichen Zeilen des Millionärs, 
der über das Schreiben des Grafen sehr erstaunt war. Ja-

wohl, er hatte Justizrat Rönner beauftragt, ein Gut für ihn 
zu erwerben, doch von einer Herrschaft Hohenwerth – und 
gar noch von einem Grafen Hellmarck als Verwalter – habe 
er nie etwas gehört. Es müsse ein Irrtum sein, der sich si-
cherlich aufklären lassen würde. 
Mit verlegenem Lächeln reichte Rönner dem Grafen den 
Brief zurück. 
Eine Weile herrschte beklemmendes Schweigen. 
»Sie werden vielleicht die Güte haben, mir endlich rück-
haltlose Aufklärung zu geben, Herr Justizrat«, klang des 
Grafen Stimme drohend auf. 
»Wollen Sie nicht doch lieber Platz nehmen?« bat der An-

walt. »Es spricht sich dann besser.« 
Hellmarck zögerte einen Moment, doch dann nahm er den 
Stuhl, den Rönner ihm anbot. 
»Graf, wohl noch nie in meinem Leben befand ich mich in 
einer so schwierigen Lage wie jetzt«, begann der Justizrat. 
»Ich – vielmehr wir – haben Sie täuschen wollen – haben 
jedoch nicht mit Ihrer Klugheit, Ihrer Gewissenhaftigkeit 
gerechnet. Das Erstaunen in Herrn Hörthers Brief ist echt: 
er ist wirklich nicht der Besitzer von Hohenwerth.« 
Der Graf wollte aufspringen, zwang sich jedoch mit aller 
Kraft zur Ruhe. 
»Wohl beauftragte Hörther mich, ein Gut für ihn zu erwer-

ben, doch das ist vorläufig noch nicht geschehen.« 
»Und meine Briefe, wohin sind die gegangen?« 
Rönner entnahm seinem Schreibtisch fünf Briefe, die er vor 
den Grafen hinlegte. Sie waren sämtlich ungeöffnet. 
»Interessant – in der Tat«, sagte der Graf ironisch. »Darum 
also wurde mir zugeredet, die Briefe doch durch Sie beför-
dern zu lassen, Herr Justizrat. Doch wenn Herr Hörther 
nicht mein Wohltäter ist – wer hat mir dann die ungeheure 
Summe zur Verfügung gestellt?« 
»Ihre Gattin.« 
Der Graf sprang auf und starrte dem Anwalt ins Gesicht, als 

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spräche dieser irre. 
»Gudrun?« rang es sich von seinen Lippen. 

»Ja.« 
Die Adern auf des Grafen Stirn schwollen an, die Fäuste 
ballten sich, daß ihm die Fingernägel in die Handflächen 
drangen; sein Atem ging mühsam und schwer. 
»Und wer gab Ihnen das Recht, mich in solcher Weise zu 
täuschen – mich so zu betrügen, Herr Justizrat?« stieß er 
zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. 
»Betrügen? Das ist wohl nicht der richtige Ausdruck, Graf. 
Und was mich – oder sagen wir besser – was Ihre Gattin zu 
dieser Täuschung zwang? Die Liebe zu Ihnen, Graf!« 
»Die Liebe?« 
Rönner wandte sich ab. Er trat an das Fenster und starrte 

hinaus. Er wollte dem Grafen Zeit lassen, sich zu fassen. 
Wie lange sie beide so verweilten, hatten sie selbst kaum zu 
sagen gewußt. 
»Ich glaube, wir haben uns wohl nichts mehr zu sagen, 
Herr Justizrat.« 
Dieser fuhr herum. Hellmarck stand in der Mitte des Zim-
mers, wie aus Stein gemeißelt das Antlitz, mit einer unna-
türlichen, unheimlichen Ruhe. Eine korrekte Verbeugung, 
und er wollte das Zimmer verlassen. Da war der Justizrat 
schon an seiner Seite und umfaßte seine Arme mit eiser-
nem Griff. 
»Nein, Graf, so lasse ich Sie nicht von mir – ich habe Ihnen 

noch mancherlei zu sagen. Nehmen Sie wieder Platz, ich 
bitte Sie darum. Sie vergeben sich wirklich nichts, wenn Sie 
es tun. Jeder Mensch darf sich rechtfertigen!« 
Hellmarck wollte sich zuerst schroff abwenden, doch als er 
Rönners bittende, gütige Augen sah, ließ er sich in einen 
Sessel fallen und stützte den Kopf in die Hand. 
Der Anwalt erschrak über das Aussehen des Grafen – er 
schien um Jahre gealtert zu sein. 
»Herr Justizrat, wollen Sie mir, bitte, erklären? Gudrun ist 
doch nicht vermögend.« 
Rönner war froh, daß der Graf überhaupt wieder sprach, 

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und war gern bereit, jede Auskunft zu erteilen. 
»Das nahmen alle an, Herr Graf – selbst Gudrun. Hermine 

von Barnim hat nämlich zwei Testamente hinterlassen. Das 
eine wurde bald nach ihrem Tod geöffnet, das zweite an 
Gudruns dreiundzwanzigstem Geburtstag. Hermine über-
gab es mir mit der Weisung, daß es an diesem Termin oder 
an Gudruns Hochzeitstag, falls der früher fallen sollte, ge-
öffnet würde. Fräulein Hermine war nämlich welterfahren 
und klug; sie kannte die Verwandten ihrer Adoptivtochter, 
kannte Frau von Barnims Habgier und ihrer Tochter Fee. 
Sie kannte aber auch Gudruns mitleidiges Herz und wußte, 
wie sie sich prellen und ausnutzen lassen würde. Und das 
war keineswegs nach Hermines Sinn. So entstand das erste 
Testament, in dem Gudrun fünfundzwanzigtausend Mark 

erbte und, dem Wunsch der Adoptivmutter gemäß, ihr 
Studium beenden sollte. Sie wollte das Mädchen auf diese 
Weise zwingen, etwas zu lernen, auf eigenen Füßen zu ste-
hen, die Schattenseiten des Lebens kennenzulernen – und 
erst dann eine reiche Erbin zu sein. Dann würde sie auch 
das Geld zu schätzen wissen und es nicht leichtfertig ver-
schleudern. So bestimmte sie Gudruns dreiundzwanzigsten 
Geburtstag für die Eröffnung des zweiten Testaments, in 
der Annahme, daß die dann bereits ihr Studium beendet 
haben würde. Gudrun selbst wußte nichts von diesem 
zweiten Testament, und ich war selbstverständlich zum 
Schweigen verpflichtet.« 

»Ah so – nun bin ich im Bilde, warum Gudrun sich gerade 
an ihrem Geburtstag entschloß, meine Braut zu werden, 
nachdem sie einige Tage zuvor meine Werbung glatt abge-
wiesen hatte«, sagte der Graf tonlos. 
»Selbstverständlich! Sie hielt sich bis dahin für mittellos. 
Die paar tausend Mark, die sie besaß, spielten, wie die Ver-
hältnisse lagen, wirklich keine Rolle. Sie bildete sich ein, 
Ihnen eine Fessel zu sein, wenn sie die Werbung, zu der 
Ihre Ritterlichkeit Sie zwang, annehmen würde. Denn ihrer 
Ansicht nach kam nur eine reiche Frau für Sie in Frage. Als 
sie jedoch erfuhr, wie reich sie war, nahm sie Ihre Werbung 

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an. Sie war nun in der Lage, Ihnen zu helfen – und auch 
gleichzeitig mancherlei gutzumachen. Denn es waren im-

merhin Gudruns Blutsverwandte, von denen Sie zugrunde 
gerichtet worden sind, Graf.« 
Er hielt erschrocken inne, denn der Graf war plötzlich auf-
gesprungen. 
»Danke – es genügt mir«, sagte er hart und schroff. »Alles 
weitere wird Gudrun mir sagen können.« 
Gudrun saß am Flügel, als der Graf bei ihr eintrat. Eine 
süße, zärtliche Weise klang unter ihren Händen auf. Sie 
legte den Kopf zurück, schloß die Augen und lächelte vor 
sich hin. 
»Hör auf!« herrschte er sie an. 
Da fuhr sie erschrocken hoch – sah auf, hinein in die zür-

nenden, flammenden Augen des Gatten. Sie wich vor sei-
nem Blick zurück. 
»Nun ja – so sieht das böse Gewissen aus!« lachte er auf. So 
rauh, so höhnisch klang sein Lachen, daß Gudrun zusam-
menfuhr. 
Sein Blick ruhte auf ihr – Zorn, Schmerz und tiefe Bitterkeit 
lagen darin. Ihr zog sich das Herz zusammen vor Schreck 
und Angst. 
Er reichte ihr Hörthers Brief. 
Ein Blick in seinen Inhalt, und sie wußte alles. 
Bernulf war bei Rönner gewesen, und der hatte sich genö-
tigt gesehen, mit der vollen Wahrheit nicht länger zurück-

zuhalten. 
Sie hatte mit dem Justizrat ausgemacht, den Schleier zu 
lüften, falls das Geheimnis sich nicht länger bewahren lie-
ße. 
Und nun? 
Das Zimmer drehte sich vor ihren Augen. 
»Bern – lieber Bern!« rang es sich von ihren Lippen, qual-
voll und weh. 
Doch er hörte den Ton heißer Herzensangst nicht, wollte 
ihn nicht hören. 
»Laß das Getue!« herrschte er sie an. »Rechtfertige dich, 

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wenn du kannst. Ein unerhörter Betrug ist begangen wor-
den!« 

»Bern – mein Gott, Bern!« schrie sie auf. »Alles geschah 
doch nur aus Liebe zu dir!« 
Er biß die Zähne so fest zusammen, daß die Wangenmus-
keln hervortraten. 
»Liebe! Nimm dieses Wort nicht in den Mund – entweihe 
es nicht! Man spinnt nicht Lug und Trug um den Mann, 
den man liebt! Man setzt ihn nicht in den Augen der Men-
schen herab! Demütigt ihn nicht!« 
»Aber Bern, so werde doch ruhig! Du weißt ja nicht, was du 
sprichst!« flehte sie in ihrer Angst und Not. »Es weiß nie-
mand darum als Onkel Erich allein – Mutter Hermines 
Testament verpflichtete ihn doch zum Schweigen. Nicht 

einmal Traude weiß davon.« 
»Schweig! – Ich kann dir kein Wort mehr glauben!« fuhr er 
sie an. »Ein Mensch, der solcher Verstellung fähig ist – « 
Er sprach nicht weiter, denn Gudrun hatte sich hoch aufge-
richtet und sah ihn mit einem so stolzen Blick an, daß er 
einen Schritt zurückwich. 
»Halt, Bern – laß es genug sein«, sagte sie mit müder, ton-
loser Stimme. »Du liebst mich wohl doch nicht so, wie ich 
angenommen habe, sonst könnte der Gedanke, Geld von 
deiner Frau genommen zu haben, deinen Stolz nicht in 
solcher Weise verwunden.« 
Sie schleppte sich zu einem Sessel und ließ sich hineinfal-

len. 
»Warum hast du mir an unserem Verlobungstag nicht ge-
sagt, daß du reich bist, Gudrun?« 
»Weil dann unsere Verlobung nie zustande gekommen 
wäre, Bern. Ich kannte deinen Stolz, deine Meinung über 
die reiche Frau – « 
»Und darum hieltest du es für richtiger, dich mit dem Ju-
stizrat zusammenzutun und mich, im Verein mit ihm, zu 
betrügen?« 
»Wenn du es so nennen willst – ja! Gut, ich betrog dich. 
Doch wenn du Onkel Erich in dieser Angelegenheit er-

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wähnst, so möchte ich dich bitten, nicht von Betrug zu 
sprechen. Sein gutes Herz allein war es, was ihn zu dieser 

Täuschung greifen ließ. Er hatte meine Herzensnot erkannt 
und war der einzige, der mir zu helfen vermochte. Wir 
nahmen an, daß es dich, wenn du mich erst richtig kann-
test – und liebtest – nicht bedrücken würde, von deiner 
Frau Geld anzunehmen. Und was bedeutet zwischen uns 
Geld und Geldeswert? – Ich liebe dich.« 
»Laß das!« schnitt er ihr das Wort ab. »Deine Gefühle sind 
hier unwichtig. Rede nicht so viel darum herum, sag lieber, 
daß dein Stolz, dein übertriebenes Ehrgefühl – was weiß 
ich – darunter litt, daß du mir etwas schuldig zu sein glaub-
test. Es waren immerhin Blutsverwandte von dir, die mich 
langsam an den Bettelstab brachten; und da hieltest du es 

für erforderlich, gutzumachen. 
Es klappte ja auch alles wunderschön – bis der Brand im 
Sommer und mit ihm das Ende kam. Als du sahst, daß ich 
meine Auswanderungspläne wahr machen wollte, wurde 
diese schändliche Intrige mit dem Justizrat in Szene gesetzt. 
Doch du sollst dich getäuscht haben, mein Kind – ich bin 
nicht durch Lug und Trug zu gewinnen. So, das ist alles, 
was ich dir zu sagen habe.« 
Eine förmliche Verbeugung, und er verließ das Zimmer. 
Jetzt erst sah Gudrun, wie gewagt das gefährliche Spiel ge-
wesen war. Ach, sie hatte ihn nicht genügend gekannt, die-
sen unbeugsamen, unerbittlichen Mann! 

Wenn er wenigstens einsehen wollte, daß ihre Liebe sie zu 
dieser Täuschung getrieben hatte! Doch das war es ja gera-
de, was er am meisten anzweifelte. 
Wenn sie noch einmal zu ihm ging und ihn bat – so recht 
von Herzen bat? Er mußte verzeihen, er liebte sie doch! 
Oder mußte sie auch an seiner Liebe zweifeln, wie er an der 
ihren? 
Nein und tausendmal nein! So konnte sich kein Mann ver-
stellen, konnte unmöglich so heiße, leidenschaftliche Liebe 
heucheln – und gar noch ein Mann seines Schlages! 
Sie erhob sich so hastig, als dürfte sie keine Sekunde mehr 

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versäumen, und ging in sein Arbeitszimmer. 
Er saß am Schreibtisch und war so vertieft, daß er ihr Ein-

treten überhörte. Sie trat näher heran und sah, was ihn 
fesselte: Eine Landkarte! 
Da stieg Angst in Gudrun auf – heiße, wilde Angst. 
»Bern!« 
Er fuhr auf und starrte sie an, die vor ihm stand und ihm 
die Arme entgegenstreckte. 
»Bern, was hast du vor? Du willst doch nicht – die Heimat 
verlassen?« 
»Ja. Oder hast du etwa angenommen, daß ich nach allem 
Vorgefallenen in Hohenwerth bleiben würde?« 
»Und warum nicht, Bern?« 
»Weil es mir nicht gehört. Daß ich der Verwalter des ver-

meintlichen Herrn Hörther wurde, war schon nicht erhe-
bend für mich. Doch der Verwalter meiner Frau zu sein, 
finde ich im höchsten Grade – geschmacklos.« 
»Bern, es ließe sich eine Einigung finden. Sei doch nicht so 
entsetzlich unzugänglich, du wütest ja gegen dich selbst! 
Du weißt ebensogut wie ich, daß du es nicht ertragen 
kannst, von der Heimat zu scheiden, an der du mit jeder 
Faser deines Herzens hängst.« 
»Das vertrage ich eher als das Bewußtsein, dein Verwalter 
zu sein, verlasse dich darauf.« 
»Bern, warum gebrauchst du immer dieses häßliche Wort? 
Es verfehlt vollständig seinen Zweck. Mich willst du damit 

quälen- und quälst dich selbst am allermeisten. Sei doch 
nicht so unversöhnlich! Bist du wirklich fest entschlossen, 
von hier fortzugehen?« 
»Ja!« 
Das klang so hart, so unbeugsam und fest, daß Gudrun 
einsah, jedes weitere Wort würde umsonst gesprochen sein. 
Sie näherte sich langsam der Tür. Dort wendete sie sich 
noch einmal zu ihm zurück, in der Hoffnung, er werde sie 
zurückhalten. 
Er stand da, hochgestrafft, und sah ihr nach mit düsterem 
Blick. 

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Da neigte sie den Kopf und verließ das Gemach. - 
Als Gudrun am anderen Morgen das Frühstückszimmer 

betrat, fand sie nur Peter vor. 
»Nun, solo?« begrüßte sie ihn freundlich. 
»Da der Schloßherr auf und davon ist – « 
Gudrun zuckte zusammen, und da wußte Peter, daß sie 
von der Reise des Gatten nichts wußte. Also war die Ver-
stimmung, die zwischen den Gatten herrschte, ernsthafter 
Art. Der Graf hatte heute morgen ausgesehen, als habe er 
eine schwere Krankheit hinter sich. Und auch Gudrun war 
jämmerlich elend und teilnahmslos. 
Peter verging der Appetit, und er war bald ebenso schweig-
sam wie die ihm gegenübersitzende Gräfin, hinter deren 
weißer Stirn es fieberhaft arbeitete. 

Langsam reifte ein Plan in ihr. 
Gudrun saß beim Ehepaar Rönner, und alle drei waren in 
gedrücktester Stimmung. 
»Daß der Graf ein Mann von Charakter ist, habe ich ge-
wußt«, sagte der Justizrat gepreßt. »Doch daß er so unbeug-
sam ist und sich von dir nicht halten lassen will, Entlein, 
das überrascht mich. Er liebt dich doch mit seinem ganzen, 
ungestümen Herzen.« 
»Ach, Onkel Erich, ich zweifle an seiner Liebe«, entgegnete 
Gudrun leise. »Wenn er von mir gehen kann – « Sie 
schwieg, unfähig, weiterzusprechen. 
»Und was wirst du nun beginnen, Entlein? Wirst du warten, 

bis er zurückkommt, und dann noch einmal versuchen, ihn 
umzustimmen?« 
»Nein«, sagte Gudrun fest. »Ich habe getan, was ich tun 
konnte, habe mich gedemütigt – habe mich und mein Geld 
angeboten. Das einzige, was zu tun mir übrigbleibt, ist, von 
Hohenwerth zu gehen, damit er bleiben kann.« 
»Aber Gudrun – dieses ungeheure Opfer!« sagte Traude 
tränenerstickt. 
»Ja«, Gudrun zog die Schultern mit einer Bewegung hoch, 
die ihre ganze Mutlosigkeit ausdrückte. »Liebe muß Opfer 
bringen können – und meine ist so groß, daß sie selbst 

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dieses Opfers fähig ist, damit ihm geholfen wird.« 
Traude weinte leise, und der Justizrat räusperte sich. 

»Es tut mir unbeschreiblich weh, Onkel Erich, daß du in 
ein so falsches Licht gekommen bist«, nahm Gudrun wie-
der das Wort. »Du wolltest doch nur helfen! Und nun ern-
test du solchen Dank.« 
»Entlein, darüber beunruhige dich nicht«, lächelte der Ju-
stizrat. »Mir ist die Hauptsache, daß ich ein reines Gewis-
sen habe. Dein Gatte nennt es Betrug – doch der geschah ja 
nur, um ihm zu helfen, ihn glücklich zu machen. Das wird 
er auch einmal einsehen. Du darfst die Hoffnung nicht 
verlieren.« 
»Derselben Meinung bin auch ich«, sagte Traude. »Nur ei-
nes quält mich, Entlein, – du in dieser traurigen Verfassung 

unter fremden Menschen!« 
»Ich gehe zu Tante Rita.« 
»Eines steht fest, Entlein: von uns bekommt dein Gatte 
deine Adresse nicht«, sagte der Justizrat entschieden. »Mag 
er sich nur um dich bangen, das kann ihm nicht schaden. 
Und was meine Hilfe für dich anbetrifft, so beunruhige 
dich nicht. Wenn derselbe Fall noch einmal an mich he-
ranträte, ich würde wieder genauso handeln!« 
Es gab einen sehr herzlichen Abschied, und Gudrun ver-
sprach, oft zu schreiben. Nicht ganz so niedergeschlagen, 
wie sie in die Stadt gefahren war, kehrte sie nach Hohen-
werth zurück, bereitete in aller Stille ihre Reise vor und 

fuhr am nächsten Tag nach Berlin. 
Frau Brandt war über den Besuch entzückt, bemerkte aber 
sofort, daß irgend etwas Gudrun niederdrückte. Sie ließ 
sich jedoch nichts merken, sondern plauderte frisch darauf-
los. Erst zu Hause, als Gudrun erfrischt das Zimmer der 
Hausfrau betrat, zog diese sie zu sich auf das Sofa, ergriff 
ihre Hände und sah ihr prüfend in die Augen. 
»Nun mal gebeichtet, Entlein, wo fehlt's?« 
Tante Rita war bestürzt über das, was sie vernahm. 
»Willst du mich für unabsehbare Zeit Hei dir behalten, 
Tante Rita?« fragte Gudrun beklommen. 

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»Aber selbstverständlich, Entlein, das ist doch keine Frage! 
Du bist bei mir geborgen und kannst in Ruhe abwarten, 

wie Bern sich weiter verhalten wird.« 
Die junge Gräfin war von Herzen froh, daß sie zu dieser 
klugen, warmherzigen Frau gegangen war. Hier fand sie 
Verständnis für ihr Leid. 
Frau Brandt sorgte dafür, daß ihr Gast nicht allzuviel zum 
Grübeln kam. Sie hatte immer irgend etwas vor und war 
bei allem so sehr bei der Sache, daß Gudrun von ihrem 
Eifer angesteckt wurde. 
Eines Tages, als Gudrun mit Frau Brandt in einem Cafe saß, 
sah sie ihre Mutter. Sie saß an einem Tisch allein – fesch, 
vornehm, elegant und durchaus ihrer annähernd fünfzig 
Jahre spottend. Sie hatte sich gut gehalten und sah minde-

stens zehn Jahre jünger aus, als sie war. 
Nicht nur Gudrun hatte die Mutter erkannt, sondern auch 
Frau Brandt. Die alte Dame fühlte sich ernstlich beunruhigt 
durch Frau von Barnims Anwesenheit in Berlin. Wo kam 
sie überhaupt her? Sie war doch nach Amerika gegangen. 
Von dieser Frau konnte unmöglich Gutes kommen! 
Die beiden Damen wollten eben aufstehen, als unerwartet 
eine Bekannte der Frau Brandt eintrat und auf diese zueilte. 
Sie begrüßte Frau Rita lebhaft und nannte auch die junge 
Gräfin bei ihrem Namen. 
Unwillkürlich horchte Frau von Barnim auf, und sofort 
begann eine noch eingehendere Musterung; eine wahre 

Tortur für Gudrun. 
Kaum hatte die andere Dame den Tisch verlassen, so kam 
Frau von Barnim bereits herüber. 
»Guten Tag, meine Damen. Ich wollte nur fragen, – sind 
Sie – ich meine Sie, junge Frau, vielleicht meine Tochter 
Gudrun?« 
Nun erfaßte Gudrun doch das Komische der Situation, und 
sie mußte trotz ihres Unbehagens auflachen. 
»Ja, das bin ich.« 
Es folgte eine wortreiche und rührende Begrüßungsszene 
von Seiten der Mutter, deren Tränen auf einmal reichlich 

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flossen. 
»Das sind Freudentränen, Frau…« 

»Brandt«, stellte Gudrun kurz vor. 
»Danke -. Ja, – Freudentränen. Sind Sie schon einmal in 
Amerika gewesen und haben Ihre Kinder zurücklassen 
müssen, Frau Brandt?« 
Das konnte diese mit gutem Gewissen verneinen. 
»Dann wissen Sie auch nicht, wie das ist«, seufzte sie und 
nahm unaufgefordert am Tisch Platz. Dann betrachtete sie 
Gudrun sehr eingehend. 
»Kindchen, ich kann es kaum fassen, daß du meine Tochter 
sein sollst. Wie ist bloß eine solche Verwandlung möglich!« 
sagte sie aufgeregt. »Du bist ja direkt eine Schönheit – bist 
ja schöner, als Püppchen es war! Was Dick wohl sagen wird 

bei deinem Anblick? Er wird Feuer und Flamme sein!« 
»Dick – wer ist denn das?« erkundigte Gudrun sich. 
»Mein ältester Stiefsohn.« 
»Stiefsohn?« 
»Nun, warum nicht?« entgegnete die Mutter in einem Ton, 
als müsse sie sich verteidigen. »Ich ging doch vor einem 
Jahr mit einem Amerikaner in dessen Heimat – als seine 
Hausdame, weißt du – und da hat Mr. King, der Witwer 
war, mich geheiratet. Ist das etwa schlimm?« 
»Aber gar nicht«, gab Gudrun zu. »Allem Anschein nach 
geht es dir gut.« 
»Herrlich geht es mir!« rief sie begeistert, so daß ein Herr 

am Nebentisch von seiner Zeitung hochfuhr und sie ers-
taunt musterte. 
»Mein guter Edward ist der beste, rücksichtsvollste Gatte, 
den man sich denken kann. Ganz anders, als dein Vater 
war, mein Kind, ganz Gentleman. Und meine beiden Stief-
söhne verehren mich, sind geradezu stolz auf ihre Stiefmut-
ter. Es sind wirklich liebe Jungen, du wirst dich blendend 
mit ihnen vertragen.« 
»Wie sollte ich dazu kommen, die Herren kennenzulernen 
– oder sind sie etwa auch hier?« 
»Nein, sie sind zu Hause, doch du kommst selbstverständ-

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lich mit mir nach Amerika«, eröffnete sie der Tochter mit 
einer Bestimmtheit, als wäre es das Natürlichste der Welt, 

daß sie mit ihr ginge. 
»Und Graf Hellmarck, was würde der wohl dazu sagen?« 
warf Frau Brandt, die sich köstlich amüsierte, ein. 
»Ach, der-«, eine wegwerfende Handbewegung, »dem kön-
nen nur Vorteile daraus erwachsen. Ich bin nämlich hier, 
um meine Kinder mit mir nach Amerika zu nehmen. Von 
einem Freund meines Mannes erfuhren wir, wie schlecht es 
Graf Hellmarck geht. Hörther will nämlich ein Gut in 
Deutschland erwerben und hat Justizrat Rönner beauftragt, 
ihm bei einer Versteigerung eins zu kaufen. Jedenfalls er-
hielt er von Hellmarck einen Brief, in dem er sich als Ver-
walter anbot. Hörther hat selbstverständlich keine Ahnung, 

daß der Graf mein Schwiegersohn ist, und gab diese Sache, 
die ihn sehr amüsierte, bei einer Gesellschaft zum besten. 
Ich war außer mir, konnte mich gar nicht beruhigen, und 
da wußte mein guter Edward wieder Rat. Er versprach mir, 
Hohenwerth zu kaufen. Hellmarck kann dann als Verwalter 
darauf bleiben. Doch nur unter der Bedingung, daß er dich 
freigibt, Entlein.« 
Gudrun war mit steigendem Entsetzen den Eröffnungen 
der Mutter gefolgt. Bei den letzten Worten erblaßte sie bis 
in die Lippen. Frau Rita sah beunruhigt zu ihr hin, und es 
stand bei ihr fest, daß sie dieser Unterhaltung ein Ende 
machen müsse. 

»Es ist schon spät, Entlein, wir müssen eilen. Entschuldigen 
Sie uns, bitte«, wandte sie sich an Frau King, »über die An-
gelegenheit können wir morgen bei mir in aller Ruhe wei-
tersprechen. Ich hoffe, daß Sie mein Gast sein werden?« 
»Von Herzen gern, liebe Frau Brandt. Zuerst werde ich mal 
die Sache mit Hellmarck regeln und für meinen Mann vor-
bereiten.« 
»Und wann gedenken Sie nach Hohenwerth zu fahren?« 
»In den nächsten Tagen.« 
»Dann darf ich Sie also morgen bei mir erwarten?« 
»Mit dem größten Vergnügen.« - 

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»Tante Rita, sag – ist das alles nicht entsetzlich?« stöhnte 
Gudrun, als sie an Frau Brandts Seite im Auto saß. »Was für 

Zufälle gibt es doch im Leben! Ausgerechnet zu den Be-
kannten meiner Mutter muß dieser Hörther gehören. Mir 
ist elend zum Sterben – wie gräßlich ist doch das ganze 
Leben!« 
»Und das sagte eine so schöne, reiche, gesunde Frau!« 
schalt die Tante. »Das Leben ist nicht immer rosig. Wir dür-
fen selbstverständlich nicht müßig dasitzen, müssen ver-
hindern suchen, daß deine Mutter nach Hohenwerth fährt 
und dem ohnehin schon verzweifelten Mann allerlei Rau-
pen in den Kopf setzt.« 
»Aber wie soll man das verhindern?« rief Gudrun verzwei-
felt. 

»Das werde ich dir morgen sagen, Entlein. Zuerst muß ich 
wissen, was deine Mutter eigentlich vorhat. Wir werden ihr 
morgen sagen, daß du reich bist und Hohenwerth schul-
denfrei ist. Dann wird sie den Gedanken fallen lassen, dei-
nen Gatten aufzusuchen.« 
Doch zu dieser Aufklärung kam es nicht, denn sie warteten 
am nächsten Tage vergeblich auf Frau King. 
Als Graf Hellmarck von seiner zweiwöchigen Reise zurück-
kehrte, war er sehr erstaunt, Peter Brandt auf dem Bahnhof 
zu treffen. 
»Guten Tag, Peter, das ist aber nett, daß Sie mich hier emp-
fangen! Doch Sie machen eigentlich gar kein Empfangsge-

sicht, sondern eher eines, als hätten Sie in den berühmten 
sauren Apfel gebissen. Und wo ist mein braver Albert?« 
»Ich bin allein mit dem Dogcart hier«, entgegnete Peter 
verwirrt. 
»Ja, warum das?« fragte der Graf verwundert. Allein da traf 
ihn ein bittender Blick aus Peters ehrlichen, blauen Augen, 
daß er nichts weiter sagte, sondern diesem zum Wagen 
folgte. Sie waren schon eine ganze Strecke gefahren, als 
Peter zu sprechen begann: 
»Herr Graf, es war nicht unüberlegt gehandelt, daß ich al-
lein zum Bahnhof kam. Ich wollte damit verhüten, daß 

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dem Herrn Grafen die Nachricht – « Er wurde verlegen und 
räusperte sich. 

»Und -?« 
»Gudrun ist fort«, platzte Peter heraus. »Hier habe ich auch 
gleich den Brief mitgebracht, den Frau Emma in Gudruns 
Zimmer fand.« 
Er reichte dem Grafen ein Schreiben, das Gudruns Schrift-
züge trug. 
»Danke, Peter, Sie sind ein guter, aufmerksamer Junge«, 
lobte der Graf und steckte den Brief ein. 
Auf Hohenwerth angekommen, ging er in sein Zimmer, 
warf sich in einen Sessel und öffnete Gudruns Brief. 
 
Lieber Bern! 
Da ich einsehe, daß ein Zusammenleben zwischen uns vorläufig 
unmöglich ist, verlasse ich Hohenwerth, damit Du nicht ge-
zwungen bist, die Heimat zu verlassen, an die Du ein heiliges 
Recht hast. Ich hoffe, daß dadurch alle Schwierigkeiten gelöst 
sind und Du weiter Hohenwerth der Herr sein wirst, den es 
notwenig braucht. Gudrun.
 

 
Nichts weiter – kühl und sachlich. Sie stellte ihn einfach 
vor die vollendete Tatsache und wollte ihn auf diese Weise 
zwingen, seinen Auswanderungsplan zum zweiten Mal 
über den Haufen zu werfen. Durch ihre Flucht glaubte sie 
ihn halten zu können. 
In Sinnen verloren starrte er lange Zeit vor sich hin. 
Hohenwerth – die Heimat, was galt ihm das alles noch? 
Bei der Abendtafel bemühte sich Peter, ein ruhiges Gesicht 
zu zeigen. Aller Übermut war aus seinen blauen Augen 
gewichen. Der sonst so lebenssprühende Junge war traurig 
und bedrückt, schob die Speisen auf dem Teller hin und 

her und genoß kaum etwas davon. Er, der sonst über einen 
so gesegneten Appetit verfügte, daß er deswegen schon 
manche Neckerei hatte einstecken müssen. 
»Peter, lassen Sie sich nicht den Appetit verderben«, ermun-
terte der Graf ihn lächelnd. »Sie stehen doch auf dem 

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Standpunkt: Essen und Trinken hält Leib und Seele zu-
sammen.« 

Peter antwortete nichts darauf. Alle Schlagfertigkeit schien 
ihm abhanden gekommen zu sein. 
Gleich nach dem Essen erschien Gero. 
»Sag mir, Bernulf, was schreibt Gudrun – wohin ist sie ge-
reist?« fragte er. 
»Sie schreibt nicht viel. Nur, daß sie Hohenwerth verläßt, 
um mich nicht zu – vertreiben. Wohin sie sich begeben 
hat, Weiß ich nicht.« 
»Und nun wirst du doch bleiben, Bernulf?« 
»Nein. Gudruns Flucht ändert nichts an meinen Entschlüs-
sen. Ich war bei einem früheren Kameraden, der mir schon 
lange versprochen hat, mich mit der Verwaltung seiner 

Farm zu betrauen, sofern ich von Hohenwerth fort müßte. 
Das Schiff geht in etwa zehn Tagen. Du brauchst deshalb 
nicht so zu erschrecken, Gero«, beruhigte er den Schwager 
lächelnd, als er sah, daß diesem das Blut langsam aus dem 
Antlitz wich. 
»Du wirst ja nicht davon betroffen. Für dich ist ja nun alles 
bedeutend besser; du stehst in den Diensten deiner Schwe-
ster.« 
Gero fuhr auf, doch der Graf winkte ungeduldig ab. 
»Kein Wort, Gero! Du wirst nicht so unvernünftig sein und 
mit mir gehen wollen, nur weil du es mir einmal verspro-
chen hast. Du gabst mir dieses Versprechen unter ganz an-

deren Voraussetzungen. Denke an Frau und Kind! Du dar-
fst sie nicht in unsichere Verhältnisse bringen und in Ge-
fahren, deren Größe man nicht einmal ahnt.« 
»Und du? – Gibt es für dich keine Gefahren?« 
Der Graf lächelte; es war ein seltsam wehes, bitteres Lä-
cheln. 
»Ich bin ja niemand Rechenschaft schuldig.« 
»So?« fuhr Gero auf. »Hast du nicht auch eine Frau? Küm-
mert es dich gar nicht, daß sie sich um dich zu Tode ängsti-
gen wird?« 
»Warum so überschwenglich?« spottete der Graf. 

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»Ja, gewiß, spotte du nur immer weiter!« rief Gero, aufs 
tiefste erregt. »Zieh dir die Binde immer fester vor die Au-

gen, damit du ja nichts siehst! Eines Tages wirst du es bitter 
bereuen, so starrköpfig gewesen zu sein – und so unver-
söhnlich. Mag Gudruns Schuld noch so groß sein, mag sie 
auch noch so schwer gefehlt haben – sie hat alles nur aus 
grenzenloser Liebe zu dir getan.« 
»Ich erkenne, du verstehst mich nicht«, entgegnete der Graf 
gelassen. 
»Nein, ich verstehe dich wirklich nicht!«. 
»Deshalb Schluß. Ich werde dir schreiben.« 
»Du glaubst doch nicht etwa, daß ich dich allein reisen 
lasse?« erwiderte Gero, der sich Mühe gab, ruhig zu wer-
den. »Auch unter den veränderten Verhältnissen werde ich 

mein Versprechen, mit dir zu ziehen, nicht brechen.« 
Der Graf merkte, wie ernst es der Schwager meinte, und 
seine Gelassenheit wich einer tiefen Erregung. 
»Mach keine Geschichten, Gero!« herrschte er ihn an. »Du 
sprichst von meiner Starrköpfigkeit – deine ist bedeutend 
schlimmer. Es ist unnötig, daß ich darüber noch Worte 
verliere.« 
So viel Mühe er sich auch gab, eine harmlose Plauderei in 
Gang zu bringen, die Stimmung blieb traurig und bedrückt. 
Gero verabschiedete sich bald, und auch Peter zog sich 
zurück. 
Es war eine Woche später. Eines Morgens, als der Graf vom 

Feld kam und die Halle des Schlosses betrat, überreichte 
der Diener Fritz ihm eine Visitenkarte, die er kopfschüt-
telnd betrachtete. 
»Mrs. Daisy King, New York – wer ist denn das?« wunderte 
er sich. 
Fritz wußte es auch nicht und berichtete nur, daß Herr von 
Barnim zufällig dagewesen wäre und die Dame in den Sa-
lon begleitet hätte. 
Der Graf kleidete sich schnell um und begab sich in den 
Empfangssalon. Er war nicht wenig überrascht- und alles 
andere als angenehm – als er seine Schwiegermutter vor-

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fand. Die Unverfrorenheit dieser Frau war bewunderungs-
würdig! Sie wagte es, nach allem, was zwischen ihnen vor-

gefallen war, noch einmal, Hohenwerth zu betreten? 
Strahlend, mit ausgestreckten Händen, eilte sie dem 
Schloßherrn entgegen. Er begrüßte sie mit äußerster Reser-
ve, bat sie, Platz zu nehmen. 
»Du bist über meinen Besuch wohl sehr überrascht?« fragte 
sie, und er konnte das beim besten Willen nicht abstreiten. 
»Ich bin nämlich in geschäftlicher Angelegenheit hier«, 
leitete sie die Unterredung ein. »Ich war eben dabei, Gero 
alles auseinanderzusetzen.« 
Graf Hellmarcks Blick suchte den Schwager, der starr und 
steif in seinem Sessel saß. 
»Lieber Bernulf, ich bringe dir nämlich Rettung«, lächelte 

Frau King liebenswürdig. 
»So -.« Es klang nicht ganz überzeugt. »Da bin ich aber 
neugierig.« 
»Du weißt sicherlich noch nicht, daß ich wieder geheiratet 
habe?« 
»Nein, woher sollte ich das wissen? Also daher der unbe-
kannte Name.« 
»Bernulf, glaubst du an einen Zufall oder an Bestimmun-
gen?« fragte sie so unvermittelt, daß der Graf sie überrascht 
ansah. 
»Mit der Frage habe ich mich wirklich noch nicht beschäf-
tigt«, gab er zur Antwort. »Aber bist du etwa hergekommen, 

um dich mit mir über okkulte Dinge zu unterhalten?« 
»Es ist wirklich eine delikate Angelegenheit«, meinte sie 
zögernd. »Na, kurz und gut – ich kenne Herrn Hörther.« 
Sie sah, wie er zusammenzuckte, und faßte Mut. Denn nun 
erkannte sie, daß sie ihn an einer empfindlichen Stelle ge-
troffen hatte. Somit würde es leichter sein, mit ihm zu ver-
handeln, als wenn er in seiner hochmütigen Überheblich-
keit verharrte. 
»Er ist ein guter Freund unseres Hauses, und wir erfuhren 
von ihm, daß du eine Verwalterstelle suchst«, sagte sie, und 
ihr Blick ging lauernd zum Grafen hin, um die Wirkung 

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ihrer Worte festzustellen. Doch wer konnte aus diesem 
Menschen klug werden? 

»Diese Eröffnung brachte meinen Mann und mich auf eine 
gute Idee«, sprach sie hastig weiter. »Wir haben uns ent-
schlossen, Hohenwerth zu kaufen. Eine Bedingung stellen 
wir allerdings: du mußt Gudrun freigeben, kannst aber 
dafür als Verwalter auf Hohenwerth – « 
Sie hielt erschrocken inne, denn Gero sprang auf und stand 
vor ihr, sie mit einem so wilden Blick ansehend, daß sie 
unwillkürlich zurückwich. 
»Mama, schämst du dich nicht?« schrie er. 
»Aber Gero, Junge, warum soll ich mich denn schämen?« 
entgegnete sie konsterniert. »Bernulf kann dabei doch nur 
gewinnen. Und für Gudrun habe ich eine fabelhafte Partie, 

den Sohn meines Mannes. Der wird hingerissen sein, wenn 
er sie sieht. Sie hat sich wirklich herausgemacht, sie ist 
nicht mehr wiederzuerkennen. Ich traf sie zufällig in Berlin 
einen Cafe.« 
»Sag mal, Mama, mit wem war Gudrun zusammen?« er-
kundigte sich der Graf anscheinend beiläufig, doch Gero 
entging es nicht, wie gespannt er auf die Antwort wartete. 
Und es war ja auch kein Wunder, denn er würde nun erfah-
ren, wo die Gattin überhaupt weilte. 
»Sie war mit einer Frau Brandt zusammen«, antwortete Frau 
King. »Fesche Frau, ganz große Dame. Sie lud mich zu sich 
ein, und ich sagte auch zu. Doch die Reise nach hier war 

mir wichtiger; ich möchte alles so schnell wie möglich ge-
regelt haben.« 
»Sag mal, Mama«, nahm Gero das Wort, »du sprichst da-
von, Hohenwerth zu kaufen. Wenn es aber nun überhaupt 
nicht verkäuflich ist?« 
»Das laß nur Sorge meines Mannes sein«, entgegnete sie 
siegessicher. »Das wäre das erste Geschäft, das er nicht 
machte. Soviel ich weiß, hat ein Herr Kose in Berlin Ho-
henwerth in der Hand.« 
»Hatte, Mama«, betonte Gero. »Bis – ja, bis Bernulf ihm das 
Geld auf Heller und Pfennig zurückzahlte. Folglich gehört 

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es nun ihm, und ich glaube nicht, daß er ohne Not das 
Erbe seiner Väter an einen Amerikaner verkaufen wird. 

Nicht wahr, Bernulf?« 
Dieser nickte lächelnd; er bekam allmählich Sinn für das 
Komische der Situation. Frau King jedoch lächelte durch-
aus nicht, sah vielmehr ihren Sohn an, als zweifelte sie 
ernstlich an seinem Verstand. 
»Willst du mir nicht erklären –?« fragte sie unsicher. 
»Da ist weiter nichts zu erklären, Mama, als daß Hohen-
werth nicht verkäuflich ist. Es ist Bernulfs schuldenfreies 
Eigentum.« 
»Hat er in der Lotterie gewonnen?« 
»Das müßte ja ein Riesengewinn gewesen sein«, lachte Ge-
ro auf, »um Hohenwerth bezahlen zu können. Etwas hat 

sich allerdings ereignet, gewiß – Bernulf hat eine Erbschaft 
gemacht.« 
Nun war die Mutter erschlagen, und ihr zu dem Sohn hin-
gehender Blick war hilf- und ratlos. Jetzt nahm der Graf das 
Wort, der die Verblüffung dieser so selbstbewußten Frau 
mit Ergötzen beobachtet hatte. 
»Gero bleibt nicht ganz bei der Wahrheit«, widersprach er 
lächelnd. »Nicht ich habe geerbt, sondern Gudrun.« 
»Als wenn das nicht dasselbe wäre!« warf Gero hastig ein. 
Doch der Graf winkte unwillig ab. Er mußte aber gleich 
wieder lächeln, als er sah, wie das Gesicht der Mutter im-
mer länger wurde. 

»Da steht mir der Verstand still«, behauptete sie resigniert. 
»Gudrun geerbt? Wen, um Gottes willen, soll sie denn be-
erbt haben?« 
»Ihre Adoptivmutter.« 
Nun sagte sie gar nichts mehr, sondern winkte nur mit der 
Hand. 
»Hör mal zu, Mama«, sagte Gero. »Frau Hermine hat näm-
lich zwei Testamente hinterlassen. Das erste wurde gleich 
nach ihrem Tod geöffnet, davon weißt du ja, das zweite 
aber erst an Gudruns dreiundzwanzigstem Geburtstag. Und 
daraus erfuhr sie, daß sie eine reiche Erbin ist.« 

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»Diese falsche Katze!« empörte sich die Mutter. »Nun ist 
mir alles klar! Das erste Testament war nur deshalb so ab-

gefaßt, damit für uns nichts abfallen sollte. Vielleicht lebte 
mein Püppchen noch – « 
Sie schwieg und schluckte ganz erbärmlich an den aufstei-
genden Tränen. Die Situation schien tragisch werden zu 
wollen; das mußte verhindert werden. 
»Aber Mama, was hat Fees Tod mit dem Geld zu tun?« be-
schwichtigte Gero sie. »Sie wäre genauso verunglückt, wenn 
sie eine reiche Erbin gewesen wäre.« 
Das mußte die Mutter einsehen. Und zudem – ihr Schmerz 
um den toten Liebling war ja schon halb überwunden. Die 
glänzenden Verhältnisse, in denen sie jetzt lebte, hatten sie 
über vieles getröstet. 

»Du siehst also, Mama, daß aus unserer Amerikareise vor-
aussichtlich nichts werden wird«, meinte Gero. Doch das 
sah die Mutter ganz und gar nicht ein. 
»Du wärest sehr dumm, Gero, wenn du dir diese Chance 
entgehen ließest. Du hast doch von Gudruns Reichtum 
nichts. Willst du dein ganzes Leben als Verwalter zubrin-
gen?« 
»Ich fühle mich so glücklich dabei, daß ich mir kein ande-
res Leben wünsche. Und zum Glücklichsein gehören für 
mich in erster Linie meine Frau und mein kleiner Junge.« 
»Junge, du hast -?« 
»Einen reizenden kleinen Bengel, Mama.« 

»Das ist allerdings fatal«, meinte die liebevolle Großmutter. 
»Um Gottes willen, verrate das ja nicht meinem Mann und 
den Söhnen, dann verliere ich allzuviel in ihren Augen! 
Großmütter gehören nun mal zum alten Eisen.« 
»Na also«, sagte Gero schadenfroh, »das ist für mich schon 
ein Grund, deinen neuen Angehörigen nicht unter die Au-
gen zu treten. Denn meinen Jungen kann ich beim besten 
Willen nicht verleugnen. Ich bitte dich, Mama, einen sol-
chen Prachtbengel! Ich bin unbeschreiblich stolz auf ihn!« 
»Gero, hör auf!« unterbrach die Mutter ihn nervös. »Ich 
sehe schon, du kannst nicht mit mir nach Amerika. Doch 

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Gudrun muß es auf alle Fälle. Oder – oder hat sie gar auch 
ein Baby?« 

»Noch nicht«, antwortete Gero, »doch was nicht ist, kann 
noch werden. Wir wollen uns jedenfalls Mühe geben, daß 
du bald eine mit Enkeln gesegnete Großmutter wirst. Und 
deine beiden Stiefsöhne werden hoffentlich auch ihr mög-
lichstes dazu beitragen.« 
Gero sah mit Entzücken, wie eilig die Mutter es plötzlich 
hatte, wie sie aufstand und sich verabschiedete. 
Ilse-Dore eilte dem Gatten entgegen, der soeben vom Feld 
kam, schmiegte sich in seinen Arm und drückte das Gesicht 
an seine Brust. 
»Ilse-Dore, Liebling, du hast geweint?« fragte er bestürzt. 
»Ach, Gero, das ist alles so schrecklich! Eben war Traude 

Rönner hier. Denk dir nur, deine Mutter ist nicht abgereist, 
wie wir annahmen, sie hat zuerst alle ihre Bekannten in der 
Stadt aufgesucht, um über Bernulfs und Gudruns Ehe Nä-
heres zu erfahren. Nun kannst du dir ja ungefähr denken, 
was man ihr alles erzählt haben mag. Jedenfalls ist sie auch 
bei Traude gewesen, hat sich über Bernulf tief empört und 
ist fest entschlossen, Gudrun mit sich nach Amerika zu 
nehmen.« 
»Und darum weinst du, kleiner Hasenfuß?« lachte der Gat-
te sie aus. »Gudrun ist gerade die Frau, die sich ohne weite-
res nach Amerika schleppen läßt!« 
»Das ist gar nicht unwahrscheinlich, Gero. Bedenke nur, 

wie unglücklich sie ist. In solcher Verzweiflung tut man 
leicht etwas, was einem sonst niemals einfallen würde.« 
»Ach, du kleines Dummchen!« lachte Gero und drückte sie 
an sich. »Paß mal auf: Gudrun ist in Berlin, und Bernulf 
weiß es jetzt.« 
»Ach so – du meinst, daß sich alles einrenken wird?« 
»Ich hoffe es stark, mein Herz.« 
Nach dem Mittagessen fuhr Gero wieder nach Hohen-
werth, um die Instruktionen des Grafen entgegenzuneh-
men. Er begleitete ihn zur Bahn. Und als er ihm zum Ab-
schied die Hand reichte, hätte er ihm fast einen Gruß an 

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Gudrun aufgetragen. Doch er besann sich noch und war 
von Herzen froh, die Dummheit nicht begangen zu haben. 

Diesen Mann mußte man wie einen Schwerkranken be-
handeln. Und hätte er geahnt, daß man mit seinem Besuch 
bei Gudrun rechnete, würde er ihn bestimmt unterlassen. 
Es kostete den Grafen in der Tat große Überwindung, sich 
zu diesem Besuch zu entschließen. Doch die Sehnsucht, 
Gudrun wiederzusehen, war stärker als alles andere. 
Zuerst erledigte er alle geschäftlichen Dinge und schickte 
dann einen Hotelboy zu Frau Brandt mit der Anfrage, 
wann ihr sein Besuch genehm sei. Der Junge brachte den 
Bescheid, daß der Graf sich zu einer heute abend stattfin-
denden kleinen Gesellschaft einfinden möge. 
Frau Rita erwartete ihn schon und teilte ihm mit, Gudrun 

sei ahnungslos, und sie selber freue sich auf die Überra-
schung. 
»Möchten Sie sie ungesehen beobachten, Graf?« fragte sie. 
Als er nickte, führte sie ihn in die Festzimmer. 
»Da ist sie«, zeigte die Hausfrau auf Gudrun, die soeben im 
Arm eines Kavaliers vorüberglitt. »Lassen Sie sich noch 
nicht sehen, wir wollen sie erst eine Weile beobachten! Das 
wird ein Hauptspaß!« 
Sie zog den Grafen in eine Nische, in der bequeme Sessel 
standen. 
»Hierher flüchte ich mich immer, wenn ich einen Augen-
blick allein sein will, um mich davon zu überzeugen, ob 

meine Gäste sich behaglich fühlen«, flüsterte sie dem Gra-
fen zu. 
Er hörte kaum auf sie. Sein Blick hing wie gebannt an Gud-
run, die ihm noch nie so schön erschienen war wie heute. 
»Ist sie nicht bezaubernd, entzückend?« flüsterte Frau Rita 
ihm zu, nicht ahnend, wie es im Innern ihres Gastes aus-
sah. 
Die Musik verstummte. Es war Tanzpause. – In unmittelba-
rer Nähe der beiden Lauscher stand Gudrun, sich angeregt 
mit einem Herrn unterhaltend. 
Es flimmerte Bernulf vor den Augen, als er ihre süße, wei-

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che Stimme hörte; er stöhnte auf vor seelischer Qual. Er 
hatte ganz vergessen, daß die Gastgeberin sich an seiner 

Seite befand. 
»Graf – was haben Sie?« 
Er hörte nicht Frau Ritas beschwörende Stimme, sah nicht 
ihren angstvollen, besorgten Blick. Er war wie betrunken. 
Fort von hier – nur fort! Er hatte ja kein Recht mehr auf 
dieses sinnbetörende Geschöpf. Sollte er so charakterlos 
sein und sie bitten, mit ihm nach Hohenwerth zurückkeh-
ren? Sollte er dort leben als der Mann seiner Frau? 
Er sprang so plötzlich auf, daß Frau Rita einen leisen 
Schreckensschrei ausstieß. 
»Haben Sie Dank, gnädige Frau«, stammelte er, »doch ich 
muß mich empfehlen, ich habe etwas Dringendes zu erle-

digen, das keinen Aufschub duldet.« 
»Sie wollen fort?« rief Frau Brandt bestürzt. »Was wird Gud-
run dazu sagen?« 
»Sie soll nicht erfahren, daß ich hier gewesen bin. Das ver-
sprechen Sie mir bitte, gnädige Frau!« 
»Wie kann ich das versprechen!« 
»Ich bitte dringend darum. Ich kann Gudrun nicht spre-
chen, jetzt nicht – ich werde ihr schreiben.« 
»Gut, ich verspreche Ihnen, Gudrun nichts zu sagen«, erwi-
derte sie leise und fest. »Doch auch Sie müssen mir etwas 
versprechen, Graf: keine Dummheit zu machen.« 
Sie begleitete ihn zum Portal und kehrte schweren Herzens 

zu ihren Gästen zurück. 
So  beunruhigt  wie  heute  hatte  Frau  Rita  sich  selten  in  ih-
rem Leben gefühlt. Und so sehr sie sich auch beherrschte, 
Gudrun merkte dennoch, daß sie anders war als sonst. Sie 
huschte darum vor dem Schlafengehen noch einmal in ihr 
Schlafgemach. 
»Tante Rita, quält dich etwas?« fragte sie. 
»Ich bin müde, Kindchen, – ein sicheres Zeichen, daß ich 
alt werde«, lachte die Tante, doch das Lachen klang nicht 
ganz frei. 
Am nächsten Morgen, als die Damen beim Frühstück sa-

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ßen, wurde die junge Gräfin vom Diener ans Telefon gebe-
ten. 

»Wer will mich denn sprechen?« fragte sie erstaunt. 
»Herr von Barnim, Frau Gräfin.« 
Sofort sprang Gudrun auf, eilte an den Apparat. Frau Rita 
folgte ihr. 
»Hier Gudrun Hellmarck.« 
»Gottlob, daß ich dich erreichen konnte«, kam es vom an-
deren Ende. »Du mußt sofort nach Hohenwerth zurück-
kommen, Gudrun – du mußt! Laß um Himmels willen 
allen Stolz beiseite – Bernulf packt seine Sachen. Ich erkläre 
dir alles später – du kommst doch?« 
»Ja, Gero, ich komme.« 
Dann hängte sie auf und umklammerte die Schreibtisch-

platte mit beiden Händen und stand minutenlang regungs-
los da. Als sie sich der Tante zuwandte, war sie so blaß, daß 
Frau Brandt erschrak. 
»Tante Rita, ich muß auf schnellstem Wege nach Hohen-
werth – Bern will fort.« 
Der Abschied von der Tante war kurz und herzlich; sie 
mußte Gudrun versprechen, recht bald nach Hohenwerth 
zu kommen. 
Endlich war sie am Ziel. Kaum hielt der Zug auf der Stati-
on, sprang sie aus dem Abteil und gab dem ihr entgegenei-
lenden Albert Bescheid, sich mit Ella um das Gepäck zu 
kümmern. 

Dann streckte sie Gero die Hände entgegen. 
»Wo ist Bern?« 
»Er will mit dem Abendzug fort.« 
»Dann haben wir noch – « 
»Noch zwei Stunden Zeit, ja.« 
Es flimmerte ihr vor den Augen, und sie biß die Zähne fest 
zusammen. 
»Rasch, Gero, du erzählst mir alles während der Fahrt.« 
Zuerst schwiegen sie, denn Gero mußte auf den Verkehr 
achten. Doch auf der Chaussee hatten sie freie Bahn, und 
Gero erzählte: 

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»Ganz zufällig kam ich heute nach Hohenwerth, denn ich 
hatte keine Ahnung, daß Bernulf schon von seiner Reise 

zurück ist. Ich fand ihn beim Packen, und auf meine ers-
taunte Frage gab er mir zur Antwort, er müsse eilen, wenn 
er das Flugzeug erreichen wollte. Es ging früher, als er an-
genommen hatte. Auf meine Bitten hatte er nur beleidi-
gendes Schweigen oder schroffe, eisige Ablehnung. Da 
wußte ich mir keinen Rat und rief dich an.« 
»Und das danke ich dir, Gero; wie sehr, kann ich dir gar 
nicht sagen!« 
»Ich kann es immer noch nicht begreifen, Gudrun, daß du 
ihn überhaupt von dir ließest. Er hat dich doch in Berlin 
besucht – geht denn dein Stolz über deine Liebe?« 
»Ich habe nichts von seinem Besuch gewußt, erst heute 

habe ich davon erfahren. Er wollte mich überraschen – 
doch er hat mich nur aus der Ferne gesehen und ist dann 
wieder gegangen, ohne mich gesprochen zu haben.« 
»Ah so«, sagte Gero, und dann schwiegen sie. 
»Weiß Bernulf von meinem Kommen?« fragte Gudrun, als 
sie in die breite Allee einbogen, die zum Schloß führte. 
»Nein. Peter hat mir versprochen, sich möglichst unauffäl-
lig an ihn heranzuschlängeln und ihn auf keinen Fall abrei-
sen zu lassen – und wenn er Himmel und Hölle in Bewe-
gung setzen sollte. So erbot er sich, Bernulf zur Bahn zu 
fahren, was diesen zu erfreuen schien. Peter wollte jedoch 
eine kleine Panne in Szene setzen – wollte ohne Benzin 

fahren – na ja – dann hätten sie eben den Zug versäumt. 
>Zeit gewonnen, alles gewonnen<, hieß es für uns, und 
daß du ihn noch sprichst – davon erwarten wir alles.« 
Nun hielt das Auto vor dem Schloß. Gudrun drückte dem 
Bruder schnell die Hand und eilte die Freitreppe empor. 
In der Halle erwartete sie Frau Emma, der bei der Herrin 
Anblick die Tränen aus den Augen stürzten. 
»Gute Emma«, sagte die Gräfin gerührt und streichelte die 
rundliche Wange der treuen Frau. »Wo ist der Herr Graf?« 
»In seinem Zimmer, Frau Gräfin.« 
Gudrun nickte ihr zu und eilte weiter. 

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Leise betrat Gudrun das Arbeitszimmer des Gatten, schloß 
lautlos die Tür und legte die Hand auf den Mund, um ihre 

raschen, gepreßten Atemzüge zu unterdrücken. 
Da saß nun der Mann, den sie mehr liebte als sich selbst, 
für den sie jede Demütigung auf sich nehmen wollte, wenn 
er sich nur halten ließ, nur bei ihr blieb! 
Er saß am Schreibtisch und schrieb. Leise schlich sie sich zu 
ihm und sah ihm über die Schulter. Eben adressierte er 
einen Brief. Es war ein Brief an sie – ein Abschiedsbrief. 
Ihr war, als gehe ein Schwert durch sie hindurch. 
»Bern – du darfst nicht von mir gehen!« schrie sie auf und 
umschlang ihn mit beiden Armen. »Und wenn du durch-
aus gehen willst – und mußt – dann nimm mich mit!« 
Es zuckte in seinem Gesicht, und er konnte vor Erregung 

nicht sprechen, doch sie deutete sein Schweigen falsch. 
»Bern!« schrie sie wieder – noch leidenschaftlicher, noch 
angstvoller. 
Unter diesem Aufschrei sollte er Ohr und Herz verschlie-
ßen? 
Vergessen war augenblicklich alles, was sie von ihm trenn-
te. Er sah nur sie, – sah ihre süße, betörende Schönheit. 
Da riß er sie in seine Arme. 
»Ach, laß das doch jetzt!« stammelte er unter heißen Küs-
sen. »Ich weiß nicht, ob ich gehen will – ich weiß nur, daß 
ich dich wiederhabe – daß du bei mir bist – Süßeste, Ge-
liebte.« 

Glückzitternd schmiegte sie sich an seine Brust. Ach, nun 
war ja alles wieder gut! 
Alles? – Mit einem Mal war wieder alle Glückseligkeit da-
hin, und nur zitternde, fiebernde Angst erfüllte sie, daß er 
doch noch von ihr gehen könnte. Es hatte sich ja nichts 
geändert, er war doch nicht reicher geworden, mußte neh-
men von dem, was ihr gehörte. 
Sie machte sich von ihm los, richtete sich empor und sah 
ihm tief in die Augen. 
»Bern – hast du mich lieb?« 
»Das kannst du fragen – jetzt – in dieser Stunde?« 

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»Muß ich nicht, Liebster? Weiß ich doch nicht, ob du bei 
mir bleiben willst – ob du so viel Liebe aufbringen kannst 

– « 
Erschüttert wandte er das Antlitz zur Seite. 
»Bern«, sagte sie vorwurfsvoll, »soll ich mich immer mehr 
vor dir demütigen?« 
Er fuhr herum. 
»Sprich doch dieses unerhörte Wort nicht aus, Herzliebste!« 
»Doch, ich muß es«, beharrte sie. »Was ist es denn anders 
als Demütigung, wenn ich mich dir immer wieder – anbie-
te?« 
»Süße – ich bitte dich!« stöhnte er. »Nichts mehr davon! 
Du bist jetzt bei mir, ich habe und halte dich – ich will an 
nichts denken als nur an dich. Will dir sagen, daß ich dich 

bis zum Wahnsinn liebe – dich anbete!« 
»Und willst doch von mir gehen – willst mich allein lassen 
in Jammer und Not – Bern! Ich verstehe dich besser, als du 
denkst, ich weiß, wie schwer es einem Mann deiner Art 
fallen muß, von anderen abhängig zu sein. Doch sind wir 
nicht fest miteinander verbunden, Liebster, so fest, daß es 
zwischen uns kein Mein und Dein gibt? Dein Stolz treibt 
dich von hier, von mir fort! Aber sag, hättest du im fernen 
Land wirklich vor deinem Gewissen Ruhe, wenn du dir 
sagen müßtest, du hättest deinem Stolz zuliebe einen Men-
schen hineingejagt in Qual und Herzensnot? Wenn du das 
kannst – dann – dann hat es keinen Zweck, daß ich noch 

weitere Worte verschwende. Aber sprich mir dann nicht 
mehr von Liebe – ich kann es dir nicht glauben.« 
Sie ließ die Arme von seinem Nacken sinken – unendlich 
mutlos war die Bewegung. Ihr Herz war bis zum Rand ge-
füllt mit Bitterkeit und Schmerz. Ihr dunkler, weher Blick 
hing an dem Mann, der regungslos an ihrer Seite saß, das 
Haupt in die Hände gestützt. An dem Beben, das ab und zu 
seine kraftvolle Gestalt erzittern ließ, merkte sie, wie erregt 
er war, wie aufgewühlt sein Inneres sein mußte. Sie wußte, 
hier rangen Stolz und Liebe miteinander in erbittertem 
Kampf – und die nächsten Minuten würden die Entschei-

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dung bringen. 
Lange, lange saß er schweigend da. Als er ihr endlich das 

Antlitz zuwandte, war das Gequälte daraus verschwunden, 
und es lag klare Entschlossenheit  darin.  Er  neigte  sich  zu 
Gudrun hin, nahm ihr tränenfeuchtes Antlitz zwischen 
seine Hände. Weich, zart, fast andachtsvoll war die Gebär-
de. Tief sah er ihr in die angsterfüllten Augen. 
»Sei nur ruhig, du mein Abgott«, sagte er mit tiefer Bewe-
gung. »Ich gehe nicht von dir. Ich habe in diesen Minuten 
erkennen müssen, daß ich ja gar nicht von dir gehen kann. 
Du bist ein Stück meiner selbst, und ich müßte verbluten, 
wollte ich mich von dir reißen. Das ist mir soeben klarge-
worden.« 
Fast andächtig küßte er ihre Augen, die zunächst noch za-

gend zu ihm aufsahen, dann jedoch mit jedem Herzschlag 
strahlender wurden. 
»Liebster, jetzt kann ich erst von Herzen glücklich sein, 
ganz unvernünftig glücklich!« jauchzte sie auf. »Zuerst war 
es doch kein reines Glück, weil ich immer vor der Stunde 
bangen mußte, die die Aufklärung bringen würde. Täglich 
und stündlich zitterte ich davor, wie du die Täuschung auf-
nehmen würdest. Doch nun habe ich kein Geheimnis 
mehr vor dir.« 
»Gottlob, mein Lieb! Ich bitte dich herzlich, niemals mehr 
eines vor mir zu haben. Denn alles, was dich betrifft, geht 
auch mich an, und daher werde ich für alles Verständnis 

haben.« 
»Und wirst du nie bereuen, daß du dich entschlossen hast, 
bei mir zu bleiben?« 
»Nein, du Süße. Die Entscheidung ist mir nicht leicht ge-
worden. Sie hat mir mehr zu schaffen gemacht als irgend 
etwas anderes in meinem Leben. Doch nun sie gefallen ist, 
ist alles klar und ausgeglichen in mir, wo zuerst ein wüstes 
Chaos war. Ich bin schwerfällig in meinen Entschlüssen, 
doch sind sie einmal gefaßt, gibt es keine Rückfälle mehr 
für mich. Mir blieb auch wirklich keine andere Wahl, denn 
wenn ich weiterleben will, dann brauche ich dich; du bist 

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mir notwendig zum Leben wie Sonne und Licht. Doch nun 
mußt du mir noch erzählen, woher du so unerwartet 

kamst.« 
Sie schilderte ihm alles, und ihm wurden die Augen feucht. 
»Abgott du – Kleinod mein«, sagte er bebend. »Diese Liebe 
habe ich ja gar nicht verdient!« 
Er küßte sie zuerst sanft und leise und dann immer heißer. 
Sie vergaßen alles um sich her in ihrer jauchzenden Glück-
seligkeit. - 
Währenddessen wartete Peter mit Gero in seinem Zimmer. 
Peter lief mit langen Schritten von einer Ecke zur anderen. 
Wieder einmal zog er die Uhr, wie schon so oft in der letz-
ten Stunde. 
»Fünfzig Minuten – hm – man müßte annehmen, daß sie 

sich versöhnt haben, sonst hätte Gudrun längst ihre Gemä-
cher aufgesucht. Meinen Sie nicht auch, Herr von Barnim?« 
»Ich habe es gar nicht anders angenommen«, lachte der 
behaglich, »und ich verstehe Ihre Unruhe nicht, lieber 
Freund. Meine Hauptsorge war es, Gudrun hierherzube-
kommen. Daß dann alles gut werden müßte, habe ich 
nicht einen Augenblick bezweifelt. Diese beiden Menschen 
sind ja viel zu sehr miteinander verwachsen, als daß sie 
sich voneinander losreißen könnten. Ich mache den Vor-
schlag, wir gehen an unsere Arbeit. Vor dem Abendessen 
bekommen wir die beiden doch nicht zu Gesicht.« 
Und er hatte recht, sie erschienen erst bei der Abendtafel. 

Gudrun begrüßte Peter, der angesichts ihrer strahlenden 
Miene sofort seinen alten Übermut wiederfand. 
»Tag, Entlein«, meinte er gönnerhaft. »Scheint dir in Berlin 
ja ausgezeichnet gefallen zu haben, daß du uns be-
dauernswerte Männer so lange allein lassen konntest.« 
Als sie an der Tafel saßen, musterte er sie immer wieder mit 
kritischen Blicken. 
»Schöner bist du auch noch geworden. Na, was das einmal 
werden soll!« 
Er machte ein bekümmertes Gesicht, als sei er für all die 
Schönheit verantwortlich, und als würde man ihn deswe-

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gen einmal zur Rechenschaft ziehen. Er verzog auch keine 
Miene, als die anderen lachten. 

»Deine Mutter läßt dich grüßen, Bubi.« 
»Danke. Sonst weiter nichts?« 
»Sie wird uns in allernächster Zeit in Hohenwerth besu-
chen.« 
»Famose alte Dame«, meinte er anerkennend. »Doch weißt 
du, Entlein, du brauchst nur die Nase in Hohenwerth hi-
neinzustecken, gleich kocht die vortreffliche Frau Emma 
besser. So gut wie heute war das Essen in deiner Abwesen-
heit niemals.« 
»Oh, Bubi«, lachte Gudrun, »du wirst einmal einer von den 
Ehemännern werden, bei denen die Liebe durch den Ma-
gen geht.« 

»Ich meine, man muß die Feste feiern, wie sie fallen«, 
schlug Peter vor, als man nach dem Abendessen in dem 
traulichen Teezimmer der Gräfin saß. »Und so halte ich es 
für erforderlich, daß wir einer silberhalsigen Flasche eben 
diesen Silberhals brechen.« 
Das gräfliche Paar fand den Vorschlag ganz ausgezeichnet, 
Gero jedoch winkte ab. 
»Es ist für mich höchste Zeit, daß ich nach Hause komme, 
ich habe mich sowieso über Gebühr vertrödelt.« 
»Vertrödeln nennt es dieser ungeschliffene Mensch, wenn 
es ihm vergönnt ist, den Abend in unserer Gesellschaft zu 
verbringen und noch nicht einmal auf dem Trockenen zu 

sitzen!« räsonierte Peter kopfschüttelnd. »Doch ich weiß, 
das Pantöffelchen der Eheliebsten winkt«, meinte er dann 
verständnisinnig. 
»Frecher Kerl!« entrüstete Gero sich lachend. »Wie der 
spricht – als hätte er Erfahrung.« 
»Na, und wie ich Erfahrung habe!« verteidigte Peter sich. 
»So ein nettes Pantöffelchen ist mir schon mal an den Kopf 
geflogen, und zwar von der liebreizenden Elvira. Als ich sie 
eines Vormittags zum Tennisspiel abholte, da sauste mir so 
ein nettes Dings aus rosa Samt und mit weißem Pelz ver-
brämt an den Kopf. Warum? Weil ich am Abend vorher 

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nicht genug mit ihr getanzt hatte und sie sich auf irgendei-
ne Art rächen mußte.« 

»Deiner Elvira bin ich übrigens oft begegnet«, erzählte 
Gudrun lachend. »Sie spielt eine große Rolle in der Gesell-
schaft.« 
»Nur, daß diese Rolle sich immer sehr schnell >abrollt<«, 
meinte Peter ungerührt. »Ich war stets der Ansicht, daß 
man nach Goldfischen angelt, daß dieser Goldfisch selbst 
die Angel auswirft. Doch wenn man das holde Kind erst ein 
wenig näher kennt, – da wendet sich der Gast mit Grausen. 
Ich spreche aus Erfahrung, da auch ich einmal an dieser 
Angel gezappelt habe«, gab er freimütig zu. »So ungefähr 
zwei Wochen dauerte die Herrlichkeit – kurz, aber stür-
misch! Und wer steht augenblicklich in ihrer Gunst?« 

»Ein Herr Schwer.« 
»Ach so, dieses Männchen, das seinen Namen sehr zu Un-
recht trägt, da es nicht einmal einen Zentner wiegt«, meinte 
Peter verständnisvoll. »Das Männeken ist eine abgelegte 
Sache Elviras, wird aber immer wieder vorgeholt, wenn sie 
in Verlegenheit ist, und wird dann in die Ecke gestellt, 
wenn sie einen neuen Schwarm hat.« 
»Warum heiratet dieses reiche und hübsche Mädchen ei-
gentlich nicht?« wollte Gudrun wissen. »Umschwärmt wird 
sie doch genug, und an der Auswahl fehlt es ihr wahrhaftig 
nicht.« 
»Das alte Lied«, sagte Peter elegisch. »Was sie kriegt, das 

will sie nicht, und was sie will, das kriegt sie nicht«, sang er 
in so falschen Tönen, daß alle um Gnade flehten. 
»Wie soll ich denn anders singen?« beklagte er sich. »Bei 
der trockenen Kehle! Ein perlender Tropfen wirkt bei mei-
nen Stimmbändern Wunder.« 
»So lassen Sie uns dieses Wunder nur hören«, lachte der 
Graf. »Bestellen Sie bei Albert einen >perlenden Tropfen< 
wie Sie sich so nett ausdrücken.« 
Das ließ Peter sich nicht zweimal sagen, und bald stießen 
sie auf das Glück von Hohenwerth an. Einen Augenblick 
war es, als wolle eine ernste Stimmung aufkommen, doch 

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Peter sorgte schon dafür, daß es anders wurde. Er war voll 
so drolliger Einfälle, daß man aus dem Lachen nicht he-

rauskam und Gero das Nachhausefahren vergaß. 
»Da setzt es heute abend noch was«, behauptete Peter, als 
man sich endlich trennte. »Wenn Sie einen Beistand brau-
chen, Herr von Barnim, ich stehe zur Verfügung.« 
»Komm morgen wieder, Gero, und bringe Ilse-Dore mit«, 
bat Gudrun. »Wir werden auch Rönners Bescheid sagen.« 
»Ob der Justizrat deiner Einladung Folge leisten wird?« 
zweifelte der Graf, als er Gudrun allein gegenübersaß. 
»Auf alle Fälle«, entgegnete Gudrun zuversichtlich. »Onkel 
Erich trägt dir nichts nach, Bern, er ist ein durch und durch 
guter und edler Mensch. Und er weiß so gut wie ich, daß 
du uns mit Recht zürntest. Doch er bereut diese Täuschung 

nicht und behauptet, daß er wieder genauso handeln wür-
de, wenn er noch einmal in die gleiche Lage käme. Er kann-
te meine grenzenlose Verzweiflung, Bern.« 
Und da war er auch schon bei ihr und riß sie in seine Ar-
me. 
»Sprich nicht mehr davon, mein Abgott! Laß uns die trau-
rige Zeit vergessen und nur noch wissen, wie glücklich uns 
unsere Liebe macht!« 
 
-ENDE-