Ritter Roland 27 Günther Herbst Das Duell um die Grafentochter

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Das Duell um die

Grafentochter

von Günther Herbst

scanned by : horseman

kleser: Larentia

Version 1.0

Als Ritter Roland die Jungfer erblickte, war er sofort
hingerissen. Ihre Anmut und ihre Grazie ließen an eine
Fee denken, die geradewegs aus dem Märchenland kam.
Sie hatte das Gesicht eines Engels und lange blonde
Haare, die wie gesponnenes Gold wirkten. Und was ihre
Gestalt anging ... Roland konnte sich nicht erinnern,
jemals vollendetere Formen gesehen zu haben.

Sie sehen und auf sie zugehen, waren eins für den Ritter

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mit dem Löwenherzen. Galant verbeugte er sich vor ihr
und lächelte sein strahlendstes Lächeln. »Ist es
erlaubt...?«

Weiter kam er nicht. Eine schwere Hand legte sich auf

seine Schulter, und eine dröhnende Stimme sagte:
»Finger weg von meiner Braut, Hundsfott, oder ich
schlage dir den Schädel ein!«

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Hundsfott!

Für ein paar Augenblicke stand Roland ganz starr, ganz

unbeweglich da. Dann drehte er sich langsam um.

Ein riesiger, ungemein breitschultriger Mann stand vor ihm.

Mächtige Muskeln spannten das Kettenhemd, das er trug. Ein dichter
schwarzer Bart machte sein Gesicht fast unkenntlich. Böse funkelnde
Augen blickten Roland unter buschigen Brauen an.

Keine Frage, der Mann sah gefährlich aus. Er war die Gestalt

gewordene Gewalt. Die meisten wären diesem Koloß tunlichst aus
dem Wege gegangen und hätten sich gehütet, einen Zwist mit ihm zu
beginnen. Nicht so jedoch Roland. Der Mann, der ihn einschüchtern
wollte, mußte erst noch geboren werden.

Furchtlos blickte er seinem Gegenüber in die Augen. »Habt Ihr

soeben Hundsfott zu mir gesagt?« fragte er schleppend.

»In der Tat«, grollte der Schwarzbärtige. »Hundsfott, das war es,

was ich sagte!«

Der Ritter mit dem Löwenherzen nickte langsam. »Ich dachte

schon, ich hätte mich vielleicht verhört. Aber da dies nicht der Fall
ist ...« Er holte aus, klatschte dem Mann seine flache Hand ins
Gesicht. »Nehmt dies als meine Antwort, Bube!«

Der Schwarzbärtige fuhr zurück, als habe ihn eine Natter gebissen.

Es war wohl nicht so sehr die Wucht des Schlags, die ihn dazu
veranlaßte. Vielmehr hatte ihn gewiß die Maulschelle an sich
erschüttert. Für einen Mann vom Stande gab es nichts
Schimpflicheres, als von einem anderen geohrfeigt zu werden. Noch
dazu wenn Damen anwesend waren und Zeugen des Geschehens
wurden.

Und es war nicht nur das blonde Mädchen gegenwärtig, das er als

seine Braut bezeichnet hatte. Im großen Festsaal von Schloß Camelot
drängten sich die Herzöge, Grafen, Ritter und ihre Damen. Es gab
sicherlich nicht wenige, die den Vorfall beobachtet hatten. Und
inzwischen waren auch diejenigen aufmerksam geworden, die sich
bisher anderweitig beschäftigt hatten. Es waren an die 200 Augen,
die sich jetzt auf die beiden Widersacher richteten. Man hätte eine

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Feder fallen hören können, so still war es im Festsaal geworden.
Niemand sagte ein Wort.

Auch der schwarzbärtige Riese sagte zunächst nichts mehr.

Rolands Ohrfeige schien ihm regelrecht die Sprache verschlagen zu
haben. Seine fleischigen Nasenflügel bebten, und in seinen Augen
funkelte es geradezu mörderisch.

Roland kannte den Mann nicht. Er hatte ihn noch nie auf Camelot

oder sonst irgendwo gesehen. Aber es handelte sich zweifelsohne um
einen Angehörigen des adligen Standes. Das Wappen auf seiner
Brust, zwei gekreuzte Klingen über einem Aar, zeigten das ganz
deutlich an. Aber adlig hin, adlig her, der Mann hatte ihn Hundsfott
genannt. Und das durfte sich kein Ritter, kein Graf und auch kein
König erlauben.

Schließlich fand der Schwarzbärtige die Sprache wieder. »Du ...

hast es gewagt, mich zu ohrfeigen, Bube«, stieß er hervor. Seine
Stimme klang dabei so, als könne er immer noch nicht fassen, was
ihm widerfahren war.

Gleichmütig nickte Roland. »Und wenn Ihr mich noch einmal

Bube nennt, werde ich mich nicht scheuen, auch Eurer anderen
Wange meine Hand zu spüren zu geben!«

»Das würdest du wagen, Bube?«
»Aber gewiß!«
Und ehe sich der hünenhafte Mann versah, hatte Roland zwei

Schritte nach vorne gemacht. Blitzschnell zuckte seine Linke nach
oben.

Klatsch! machte es.
Jedermann im Festsaal hielt den Atem an. Die Blicke aller fraßen

sich an dem Geohrfeigten fest.

»Ich hatte Euch gewarnt, Freund«, sagte der Ritter mit dem

Löwenherzen und trat wieder zurück.

Er sah ganz kurz auf den Stein des Anstoßes - die blonde Jungfer.

Irrte er sich, oder konnte er in ihren Zügen tatsächlich so etwas wie
Bewunderung lesen? Es wäre ihm eine große, eine sehr große Freude
gewesen.

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»Das ... ist ... zuviel!«
Die Worte des Schwarzbärtigen fielen schwer wie Steine. Sein

Gesicht war ausdruckslos wie eine Maske. Ruckartig fiel seine Hand
auf den Knauf des Schwertes.

»Diese Beleidigung kann nur mit Blut abgewaschen werden!«
Im nächsten Augenblick hielt er das Schwert in der Faust. Es war

ein mächtiges Schwert, breit und wuchtig. Die meisten Männer
hätten Mühe gehabt, es mit ausgestreckter Hand zu halten, ohne es
dabei ins Zittern geraten zu lassen. Dieser Mann jedoch handhabte es
so leicht wie einen Hirschfänger.

»Zieh deine Waffe, Bube!« grollte er. »Niemand soll Jean de

Villiers nachsagen, er hätte einem Wehrlosen den Schädel vom
Rumpf getrennt!«

Jean de Villiers hieß der Hüne also. Das sagte Roland nichts. Dem

Klang nach handelte es sich um einen welschen Namen.
Wahrscheinlich kam der Hüne auch aus den welschen Landen, was
der Grund dafür sein mochte, daß Roland ihm nie begegnet war.

Wie dem auch war, der Tag, an dem Roland einer Forderung aus

dem Wege ging, würde niemals kommen. Er zögerte keine Sekunde
und zückte sein Schwert ebenfalls.

»Wohlan denn, Freund«, sagte er lächelnd. »Mir scheint, es ist an

der Zeit, Euch das große Maul zu stopfen!«

Jetzt löste sich das große Schweigen im Festsaal. Ein Raunen und

Flüstern hob an, und es wurde auch so mancher erstickte Aufschrei
aus erschrockener Damenkehle laut.

Auch das blonde Mädchen war sichtlich erschrocken. Sie blickte

von einem zum anderen und schluckte. Ein paarmal setzte sie an, um
etwas zu sagen, fand aber wohl nicht die richtigen Worte.

»Ich ... bitte Euch, Ihr Herren«, preßte sie schließlich hervor. »Ihr

werdet Euch doch nicht wegen mir schlagen!«

Es war nicht Rolands Art, einer Dame keine Beachtung zu

schenken. Diesmal jedoch mußte er die Gebote der Höflichkeit
mißachten. Er durfte seinen Widersacher nicht aus den Augen lassen,
durfte sich nicht von ihm überraschen lassen. Jean de Villiers sah es

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genauso. Auch er beachtete das Mädchen nicht, konzentrierte sich
ganz auf den Ritter mit dem Löwenherzen.

Dann aber griff eine andere Dame ein. Eine Dame, deren Wort sehr

viel Gewicht hatte auf Schloß Camelot.

»Halt!«
Niemand anders als Ginevra, die Königin, war es, die den Kampf

verhindern wollte. Majestätisch trat sie auf die beiden Widersacher
zu, mit gebieterisch erhobener Hand. Die Umstehenden wichen zur
Seite, um ihr Platz zu machen.

Aber der schwarzbärtige Hüne ließ sich auch durch sie nicht

beeindrucken. Er bedachte die Königin mit einem finsteren Blick.
»Bei allem Respekt, mischt Euch nicht ein. Dies ist eine
Angelegenheit der Ehre!«

Einmal mußte Roland de Villiers recht geben. Er nickte beifällig.
Die Königin jedoch blieb hartnäckig. »In den Räumen von

Camelot wird nicht gekämpft. Ich verbiete es!«

»Doch!« widersprach der Schwarzbärtige unerschütterlich. »Dieser

Hundsfott hat mich geohrfeigt und mich dadurch unverzeihlichem
Schimpf ausgesetzt. Dafür muß er sterben!«

»Und er hat mich, wie Ihr selbst hören konntet, einen Hundsfott

gescholten«, warf Roland ein. »Entweder nimmt er dies zurück und
bittet mich in aller Form um Verzeihung oder ... «

»Um Verzeihung bitten?« Der Hüne lachte röhrend. »Ein Jean de

Villiers bittet nicht einmal Gott um Verzeihung!«

Wieder wollte Ginevra etwas sagen, aber nun war es König Artus

selbst, der ihr Einhalt gebot. »Laß den Dingen ihren Lauf, liebwerte
Gemahlin«, sagte er und legte ihr sacht eine Hand auf die Schulter.
»Auch ich würde es höchst ungerne sehen, wenn sich für einen
tapferen Mann das Schicksal erfüllt. Aber unter den obwaltenden
Umständen muß in der Tat der Ehre Genüge getan werden.« Er
nickte den beiden Widersachern zu. »So lasset denn die Waffen
sprechen.«

»Danke, Majestät«, sagte Roland. Es wäre ihm zuwider gewesen,

gegen den Willen seines Gebieters handeln zu müssen. Nun jedoch

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war er dieser Sorge enthoben.

Dann begann der Kampf ...
Jean de Villiers machte den Anfang. Ansatzlos ließ er seinen

rechten Arm nach vorne fliegen. Aber Roland war auf der Hut. Sein
Schwert zuckte hoch und blockte die Waffe des Gegners ab. Er
wurde jedoch zwei Schritte zurückgetrieben, so mächtig war der
Schlag des schwarzbärtigen Hünen gewesen.

Sofort setzte de Villiers nach. Links, rechts, links, rechts - seine

Hiebe kamen schnell wie Blitze. Und auch ihre Wucht entsprach der
Urgewalt eines mörderischen Unwetters. Roland mußte seine ganze
Geschicklichkeit aufbieten, um nicht von vornherein entscheidend
ins Hintertreffen zu geraten. Es gelang ihm mit Mühe und Not, die
stürmischen Attacken seines Widersachers zu parieren. Er konnte
allerdings nicht vermeiden, daß er weiter und weiter zurückweichen
mußte.

Die umstehenden Herrschaften beeilten sich, zur Seite zu springen.

Auch König Artus und seine Gemahlin nahmen respektvoll Abstand.

Wieder griff der schwarzbärtige Recke an. Ein grimmiges Lächeln

lag auf seinen Zügen, während in seinen Augen der Haß brannte.

»Gleich habe ich dich, Hundsfott!« stieß er hervor.
Das schwere Schwert drang wie ein Rammbock auf den Ritter mit

dem Löwenherzen ein. Und abermals kam Roland nur dazu, sich zu
verteidigen. Bis jetzt hatte er noch keinen einzigen Angriffsschlag
verteilen können. Den Knauf seines Schwerts mit beiden Händen
umspannend, wehrte er auch diesen Angriff ab.

Dann spürte er in seinem Rücken die Wand. Noch weiter zurück

konnte er nicht.

Jetzt sah Jean de Villiers den Sieg dicht vor Augen.
»Stirb, Hundsfott!« keuchte er und schlug zu.
Aber er hatte sich zu früh gefreut. Roland parierte den

mörderischen Schlag nicht mit seiner Klinge, sondern duckte sich
geschwind. De Villiers Schwert schwirrte über ihn hinweg, so dicht,
daß seine Haare ins Flattern gerieten. Putz- und Steinsplitter wurden
hochgewirbelt, als der Stahl gegen die Wand krachte.

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Roland tauchte unter dem Arm seines Gegners hindurch und stand

im nächsten Augenblick seitlich neben ihm.

Und nun ging er zum Angriff über. Mit einem wuchtigen Stoß

zielte er auf die Brust des Schwarzbärtigen. In allerletzter Sekunde
schaffte es Jean de Villiers, seine Waffe wieder in Position zu
bringen und Rolands Schwert zur Seite zu schlagen. Aber der Ritter
mit dem Löwenherzen war jetzt der Mann, der das Geschehen
bestimmte. Er hatte die Rolle des Verteidigers abgelegt und war nicht
gewillt, sich wieder in sie hineindrängen zu lassen. Nun deckte er
seinen Gegner ein, mit Stößen, wuchtigen Hieben und gekonnten
Finten, denen sofort wieder eine gekonnte Attacke folgte.

Schnell geriet de Villiers in Schwierigkeiten. Er war ein

vorzüglicher Schwertkämpfer. Er hatte das Auge eines Falken und
die sichere Hand eines Bogenschützen. Und was die Kraft anging,
hätte er es auch mit einem Bären aufnehmen können. Aber natürlich
war er mit seinem riesigen, schweren Körper nicht außergewöhnlich
schnell auf den Beinen. Roland, ebenfalls groß und kräftig, aber bei
weitem nicht so massig, war schneller, erheblich schneller als sein
Widersacher. Leichtfüßig ging er nach vorne und trieb den
Schwarzbärtigen vor sich her.

De Villiers keuchte. Schweißtropfen waren ihm auf die Stirn

getreten. Sein Gesicht hatte sich verzerrt. Die Drohungen, die er noch
vor wenigen Augenblicken von sich gegeben hatte, waren
verstummt. Er hatte genug damit zu tun, am Leben zu bleiben.

Es konnte eigentlich nicht mehr lange dauern, bis das Gefecht ent-

schieden war. Über den Sieger gab es unter den Zuschauern kaum
Meinungsverschiedenheiten. Nur einige wenige hätten noch ein
Goldstück auf den Schwarzbärtigen gesetzt.

Da jedoch widerfuhr dem Ritter mit dem Löwenherzen ein

Mißgeschick. Die Edelholzplatten des Festsaals waren von der
Dienerschaft mit großer Sorgfalt geputzt und gewienert worden. An
einer Stelle waren sie so glatt, daß Roland unglücklich darauf
ausrutschte. Augenblicklich geriet er ins Straucheln.

Das nutzte Jean de Villiers sofort. Zum ersten Mal kam er wieder

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dazu, seinerseits einen Angriffsschlag zu führen. Und das tat er dann
auch. Er führte ihn mit einer solchen Kraft, daß Roland ihn zwar
abwehren konnte, dabei aber noch mehr aus dem Gleichgewicht
gebracht wurde. Fast wäre er zu Boden gestürzt. Im letzten Moment
konnte er sich noch mit dem linken Knie abfangen.

Seine Situation war jedoch nach wie vor überaus bedrohlich. Der

Schwarzbart stand über ihm, sein Schwert mit beiden Fäusten
umklammernd. Schon fuhr die Klinge auf Roland hinunter.

Der Hieb wäre dazu angetan gewesen, den Stamm eines Baumes

durchzuhauen. Wenn er getroffen hätte! Aber er traf nicht, weil sich
Roland gedankenschnell zur Seite geworfen hatte.

Jean de Villiers konnte den Schlag nicht mehr abbremsen. Die

Klinge traf die Holzplatten des Fußbodens, traf sie mit einer
derartigen Wucht, daß sie mehrere Zoll tief in das Holz eindrang. Der
Schwarzbärtige wollte sein Schwert wieder hochreißen. Aber das
gelang ihm nicht, so sehr er sich auch mühte. Der Fußboden gab die
Waffe nicht frei, hielt sie unerbittlich fest. De Villiers mochte daran
zerren und reißen, wie er wollte, er bekam sie nicht frei.

Nun hatte Roland gewonnenes Spiel. Es wäre ihm ein Leichtes

gewesen, seinen Gegner mit dem nächsten Schwerthieb in den Tod
zu schicken. Aber das tat er nicht. Er wäre sich wie ein Schlächter
vorgekommen. Deshalb beschränkte er sich darauf, dem
Schwarzbärtigen die Schwertspitze auf die Brust zu setzen.

De Villiers wußte, daß er verloren hatte. Er ließ den Knauf seiner

steckengebliebenen Waffe los und machte ein ergebenes Gesicht.

»Stoßt zu«, sagte er gepreßt. »Mein Leben gehört Euch.«
Roland schüttelte den Kopf und lächelte. »Ich will Euer Leben

nicht. Aber ich will etwas anderes.«

Roland warf einen Blick in das weite Rund. Die Blicke aller

Anwesenden ruhten auf ihm. Auch die des blonden Mädchens, um
das der ganze Zwist gegangen war.

»Ihr habt mich einen Hundsfott genannt«, sagte Roland.

»Entschuldigt Euch dafür!«

»Ich entschuldige mich niemals ... Hundsfott!« Finster blickte ihn

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der Schwarzbärtige an. »Und nun tötet mich endlich!«

Erregtes Gemurmel erhob sich im Festsaal. Empörte Rufe wurden

laut. Aber so manch einer war auch beeindruckt von der
ungebrochenen Trotzigkeit des Mannes.

Auch Roland gehörte zu denen, die beeindruckt waren. Angesichts

des sicheren Todes noch immer seinen Stolz zu bewahren, verdiente
Anerkennung. Aber Roland war es sich selbst schuldig, den
Besiegten nicht gänzlich ungeschoren davonkommen zu lassen.
Schließlich konnte er sich nicht ungestraft beleidigen lassen.

Schnell zog er sein Schwert zurück, nahm es in die linke Hand und

versetzte de Villiers abermals eine schallende Backpfeife.

»Und nun geht!« sagte er ganz ruhig.
Jean de Villiers ging.
Einen Augenblick lang sah es so aus, als ob ihm die blonde junge

Frau folgen wollte. Aber das tat sie dann noch nicht. Statt dessen
schenkte sie Roland ein unsicheres Lächeln.

Und da wußte Roland, daß er einen seiner wertvollsten Siege

errungen hatte.

*

Übermütig gab Anja von Kronburg ihrem Pferd die Hacken zu
spüren. Der Braune wieherte und ging folgsam in einen scharfen
Galopp über. So schnell, daß Anjas Begleiter sofort den Anschluß
verloren.

Die Grafentochter lachte heiter. Es bereitete ihr diebisches

Vergnügen, die Ritter ein wenig zu necken, die ihr Vater ihr als
Begleitschutz mitgegeben hatte. Sie hielt diesen Begleitschutz für
völlig überflüssig. Was sollte bei einem Ausritt in die burgnahen
Wälder schon passieren?

Aber das Lachen verging ihr. Urplötzlich brach eine wilde

Reiterhorde aus dem Unterholz hervor. Augenblicklich war sie von
allen Seiten umringt.

Erschrocken schrie sie auf. Sie versuchte, eine Lücke in den

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Reihen der Männer zu finden, aber das gelang ihr nicht. Einer der
Kerle fiel ihr in die Zügel und brachte den Braunen mit einem
kräftigen Ruck zum Stehen.

Johlendes Lachen und kehlige Wortfetzen, von denen sie keinen

einzigen verstehen konnte, drangen auf sie ein. Wohin sie auch
blickte, sie sah in grinsende, lüsterne Männergesichter. Die Kerle
hatten struppige Bärte und wüste Haare, und ihre Augen sahen
irgendwie ganz seltsam aus. Bekleidet waren sie mit zottigen Pelzen
und schreiend bunten Pluderhosen. Sie saßen auf kleinen, wild
blickenden Pferden, mit denen sie förmlich verwachsen zu sein
schienen. Anja von Kronburg wußte auf Anhieb, wen sie da vor sich
hatte.

Tataren!
Mit Schaudern dachte sie daran, was sie von diesen wüsten

Gesellen schon alles gehört hatte. Sie hackten zugefrorene Flüsse
auf, um darin zu baden, aßen das Fleisch roh und tranken so viel
Kartoffelbrand, daß ein Christenmensch davon erblindet wäre. Ihre
größte Freude war es, Hütten und Häuser in Brand zu setzen,
besiegten Feinden die Bäuche aufzuschlitzen oder die Kehle
durchzuschneiden und unschuldige Mädchen zu schänden und
anschließend grausam zu Tode zu quälen.

Und nun war ausgerechnet sie, die wohlbehütete Tochter des

Grafen der Grenzmark Kronburg, in die Klauen dieser Unmenschen
geraten!

Hilfesuchend blickte sie sich nach den Getreuen ihres Vaters um,

die sie schützen sollten. Wo blieben die Ritter nur? Eigentlich
müßten sie inzwischen längst zur Stelle sein, denn so weit hatte sie
sich doch gar nicht von ihnen entfernt. Ob die Männer die Gefahr
gewittert und schnöde die Flucht ergriffen hatten?

Nein, da kamen sie. Anja hörte das Hufgetrappel ihrer Pferde und

ihre Rufe. Wenige Augenblicke später tauchten sie zwischen den
Bäumen auf, die den Waldweg säumten. An der Spitze ritt der alte
Kuno, ein in die Jahre gekommener Kämpe, dem ihr Vater vertraute
wie einem leiblichen Bruder.

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Jetzt wurden Kuno und die beiden anderen Ritter der Tatarenhorde

ansichtig. Ruckartig zügelten sie ihre Reittiere.

Die Barbaren aus dem Osten hatten die gräflichen Getreuen

ebenfalls gesehen. Aber sie ließen sich dadurch nicht beunruhigen.
Das Gegenteil war der Fall. Sie schleuderten den drei Rittern
höhnische Zurufe entgegen und lachten gröhlend. Nein, sie hatten
wahrlich keine Furcht vor den Begleitern der Grafentochter.

Kuno und seine Gefährten zögerten. Sie waren sichtlich

unschlüssig, was sie jetzt tun sollten. Schließlich faßte sich der
Grauhaarige ein Herz und' lenkte sein Pferd ein paar Schritte nach
vorne.

»Gebt das Mädchen frei!« rief er mit lauter, fordernder Stimme.
Rauhes, gemeines Gelächter war die Antwort. Der Tatar, der Anjas

Reittier festhielt, beugte sich im Sattel vor und legte besitzergreifend
seinen freien Arm um ihre Hüfte.

Das ließ sich die Grafentochter nicht gefallen. Sie packte den

Unterarm des Kerls und kratzte ihn so kräftig, daß Blutstropfen
hervortraten.

Wütend ließ sie der Barbar los. Dann versetzte er ihr eine

schallende Ohrfeige, die sie beinahe aus dem Sattel geschleudert
hätte. Er begleitete seine rohe Tat mit einigen Zischlauten, die aus
der Kehle eines wilden Tiers zu kommen schienen.

Anja von Kronburg wimmerte laut.
Ritter Kuno, der treue Alte, konnte es nicht mit ansehen. Er riß sein

Schwert aus dem Gehenk und ließ sein Pferd vorwärts stürmen. Mit
der erhobenen Waffe sprengte er auf die Barbarenbande los.

Es war das Beginnen eines Mannes, der das Unmögliche wagte.

Drei der Tataren lösten sich von den anderen, trieben ihre Reittiere
dem Ritter entgegen. Gleichzeitig zückten auch sie ihre Schwerter.
Mit einem tückischen Grinsen auf den abstoßenden Zügen erwarteten
sie den mutigen Angreifer.

Bevor er heran war, blickte sich Kuno noch einmal kurz nach den

anderen beiden Rittern um.

»Kommt und kämpft!« rief er ihnen zu.

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Aber die beiden zauderten. Anja von Kronburg sah, wie sie einen

Blick tauschten, einen Blick, der voller Angst und Zagen war. Sie
blieben, wo sie waren.

Feiglinge! dachte die Grafentochter. Wenn es ihr gelingen sollte,

ihre Freiheit wiederzugewinnen, würde sie dafür sorgen, daß die
beiden zur Rechenschaft gezogen wurden. Ehrlose Kerle wie sie
verdienten es, von den Burgzinnen gestürzt zu werden.

Der alte Kuno war jetzt nur noch wenige Pferdelängen von den

drei Tataren entfernt. Wilde Entschlossenheit stand in seinem
zerfurchten Gesicht geschrieben. Mit nerviger Faust umklammerte er
den Knauf seines Schwerts.

Jetzt war er heran ...
Mit einem mächtigen Hieb drosch er auf den ersten der Barbaren

ein. Aber der Reiter aus dem Osten hatte aufgepaßt. Im richtigen
Augenblick war seine Klinge oben und parierte die Attacke des
Ritters.

Und schon war Kuno in Not. Die beiden anderen Tataren drangen

auf ihn ein. Den Schwerthieb des einen konnte er in allerletzter
Sekunde abducken. Der Stoß des zweiten jedoch kam durch. So
wuchtig war der Angriff, daß Kunos Brünne aufgeschlitzt wurde. Die
Klinge zog einen blutigen Streifen über die Brust des alten Ritters.

Nur mit Mühe konnte sich Kuno im Sattel halten. Sein Gesicht war

schmerzverzerrt, und er schwankte wie jemand, der zu tief in den
Weinbecher geblickt hatte.

Und wieder griffen die Tataren an. Heftig riß Kuno an den Zügeln,

um ihnen auszuweichen. Schnaubend ging sein Pferd in der
Hinterhand hoch. Das rettete ihn zunächst. Die wilden Schwerthiebe
seiner barbarischen Gegner gingen fehl.

Aber da war noch der dritte Tatar. Er hatte einen Bogen

geschlagen, machte sich jetzt von hinten an Kuno heran. Ein
mörderischer Schlag traf den alten Ritter in den Rücken. Seine
Rüstung verhinderte, daß er in zwei Stücke gehauen wurde. Aber die
Wucht des Hiebes war so groß, daß er sich nicht mehr auf dem
Rücken seines Reittiers zu halten vermochte. Kopfüber stürzte er auf

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den Boden.

Das war sein Ende. Bevor er wieder auf die Füße kam, waren die

Tataren über ihm. Ihre Schwerter wirbelten so schnell, daß Kuno
keine Abwehrmöglichkeit mehr blieb.

Der alte Ritter starb. Er starb als ein Mann, der seine Pflicht

getreulich bis zum letzten Atemzug getan hatte.

Anja von Kronburg stöhnte tief auf und wandte den Kopf zur Seite.

Sie konnte den Anblick des Toten, der für sie sein Leben hingegeben
hatte, nicht ertragen.

Auch für die beiden ritterlichen Begleiter Kunos war der Anblick

zu viel. Sie stießen einen heiseren Schrei aus und rissen ihre Pferde
herum. Dann stoben sie in wilder Flucht davon. In Sekundenschnelle
waren sie zwischen den Bäumen verschwunden.

Die Tataren lachten voller Hohn. Sie verfolgten die Fliehenden

nicht, denn sie hatten ihr Ziel bereits erreicht. Anja von Kronburg,
die Tochter des Markgrafen, war ihre Gefangene.

*

»... kämpften wir wie die Löwen, aber die Übermacht war zu
gewaltig. Fünf von ihnen konnten wir erschlagen. Dann jedoch
mußten wir uns zurückziehen.«

Mit böse funkelnden Augen blickte Graf Leander von Kronburg

die beiden Ritter an, die abgehetzt und niedergeschlagen vor ihm
standen.

»Ihr habt es gewagt, meine Tochter im Stich zu lassen, die ich in

eure Obhut gab?« stieß er hervor. »Dies also ist der Treueid, den ihr
mir schwort.«

Heftig schüttelte einer der beiden Ritter den Kopf. »Ihr tut uns

bitter unrecht, Herr! Niemals wäre uns der Gedanke gekommen, aus
freien Stücken das Weite zu suchen. Wir hätten weiter gekämpft, bis
uns die Schwerter der Tataren ins Herz gefahren wären, aber... .«

»Aber?« fragte der Graf scharf. Zornesfalten standen ihm auf der

Stirn, während in seinen Augen gleichzeitig der Schmerz über den

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Verlust seiner einzigen Tochter brannte.

»Kuno hat uns befohlen, die Stätte des Kampfes zu verlassen«,

sagte der Ritter. »Er wollte, daß die Kunde von dem schrecklichen
Geschehen nicht verloren geht. Er wollte, daß wir Euch Bescheid
sagen, Herr.« Mit gesenktem Kopf blickte der Ritter auf die grauen
Steine des Burghofs zu seinen Füßen.

Wie von selbst legte sich die rechte Hand des Grafen auf den Griff

seines Schwerts. Er schien gewillt, den beiden Rittern jenes
Schicksal zu bereiten, dem sie sich durch die Flucht vor den
Barbaren aus dem Osten entzogen hatten. Bevor er die Waffe jedoch
wirklich zog, fanden die beiden unglückseligen Ritter einen Fürspre-
cher.

»Haltet ein, Graf Leander«, sagte Freiherr Helferich, der neben

dem Burgherrn stand. »Mir scheint, der brave Kuno hat eine weise
Entscheidung getroffen. Wenn auch diese beiden erschlagen worden
wären ... Wie hätten wir jemals erfahren sollen, was aus Eurer holden
Tochter geworden ist? Hättet Ihr geahnt, daß es Tataren waren, die
sie in ihre Gewalt brachten, Graf?«

Schweratmend ließ Graf Leander seine Rechte wieder sinken.

Langsam nickte er. Er mußte sich selbst gegenüber eingestehen, daß
der Schmerz wohl sein klares Urteilsvermögen etwas getrübt hatte.
Es war einiges an dem, was die beiden Ritter und der Freiherr sagten.
In der Tat wäre er kaum auf den Gedanken gekommen, daß Tataren
seine Tochter geraubt hätten. Vor Jahren noch zogen die Horden des
Khans sengend und plündernd durch die Mark Kronburg und die
benachbarten Lande. Dann aber, nachdem es mehrere blutige
Schlachten zwischen den wilden Reitern aus dem Osten und den
Ritterheeren des Abendlandes gegeben hatte, war es zu einer Art
stillen Einverständnisses gekommen. Die Tataren stellten ihre
mörderischen Übergriffe ein, und die Krone nahm es hin, daß der
Khan jenseits der Grenzen sein erobertes Reich festigte.

Nun jedoch?
Nun hatten die Tataren das Stillhalteabkommen gebrochen. Und

ausgerechnet Anja, seine heißgeliebte Tochter, mußte als erste

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darunter leiden.

Wie ein Lauffeuer hatte sich die böse Nachricht auf der Kronburg

verbreitet. Überall standen die Bewohner, Edelleute und Gesinde
gleichermaßen, zusammen und redeten mit betroffenen Mienen
aufeinander ein.

Besonders Marika, die Gräfin, war ganz außer sich. Die Jahre

hatten ihr ihre einstige Schönheit genommen. Aber das Temperament
ihrer magyarischen Ahnen war ungebrochen.

»Unternimm etwas, Leander!« schrie sie mit blitzenden Augen und

stampfte dabei mit den Füßen auf wie ein ungebärdiges Pußtapferd.
»Bring mir meine Tochter zurück!«

Grimmig sah der Graf sie an. »Was soll ich tun? Mich aufs Pferd

setzen und den Entführern Anjas nachreiten?«

»Warum nicht? Du verfügst über genug Getreue, um mit einem

räuberischen Barbarentrupp fertig werden zu können!«

»Glaubst du, die Kerle warten auf uns? Mit Sicherheit haben sie

längst wieder die Grenze überschritten und sind in ihr eigenes Reich
zurückgekehrt. Und dort hätten wir es nicht mit einer kleinen Horde,
sondern mit der geballten Macht des Khans zu tun.«

»Ah, ich sehe schon«, sagte die Gräfin verächtlich. »Die Furcht

verzehrt dich und hat dein Herz zu dem eines Hasen werden lassen!«

Leander von Kronburg nahm seiner Gemahlin diese barschen

Worte nicht übel. Der Schmerz sprach aus ihr, und das entschuldigte
alles. Er sollte das Herz eines Hasen haben? Nein, gewiß nicht. Oft
schon hatte er im harten Kampf seinen Mann gestanden und niemals
war er einem Gegner aus dem Weg gegangen. Aber auch an ihm
hatte der Zahn der Zeit unerbittlich genagt. Er war ein alter Mann
geworden. Die Kraft war aus seinen Gliedern gewichen, und seine
Sinne hatten sich im Lauf der Jahre getrübt. Es wäre ein
aussichtsloses Unterfangen, wenn er selbst ins Tatarenreich ziehen
würde.

Wen sonst aber sollte er aussenden, um sein Kind zu retten, sofern

es überhaupt noch zu retten war? Wenn er im Geiste die Reihen
seiner Getreuen durchging, fiel ihm kein einziger ein, den er mit

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dieser Aufgabe betrauen konnte. Es war ein Mann gefragt, der nicht
nur Mut und Kampfkraft besaß, sondern auch über eine gehörige
Portion Schläue verfügte. Eine offene Feldschlacht kam nicht in
Frage. Dazu waren die Tataren in ihrem eigenen Reich viel zu
mächtig. Nur mit listenreichem Vorgehen und einem überraschenden
Handstreich mochte es gelingen, Anja wieder aus den Klauen der
Barbaren zu befreien.

Freiherr Helferich schien seine Gedanken zu erraten. »Ihr fragt

Euch, wer Eure Tochter retten könnte, Graf?«

Der Burgherr nickte bedrückt.
»Ich wüßte einen Mann, der das Wagnis auf sich nehmen würde«,

sagte der Freiherr.

»So, wen meint Ihr?«
»Mich!« antwortete Helferich mit entschlossener Stimme.
»Ihr wollt...« Graf Leander sah den breitschultrigen Mann mit den

etwas klobigen Gesichtszügen mit gerunzelter Stirn an.

»Ja«, bekräftigte der Freiherr. »Ihr wißt, welche Gefühle ich für

Eure Tochter hege. Um ihretwillen würde ich gar in die Hölle ziehen
und es dort selbst mit dem Teufel höchstpersönlich aufnehmen!«

Ein sinnender Ausdruck trat in die Züge des Grafen. Ja, er wußte in

der Tat, daß Helferich ein Auge auf seine Tochter geworfen hatte.
Seit längerer Zeit schon warb er um Anja. Es war seine erklärte
Absicht, sie zur Frau zu gewinnen. Aber Leander hatte so seine
Zweifel, ob dieses hartnäckige Werben aufrechter Liebe entsprang.
Niemals war er den Gedanken los geworden, daß es dem Freiherrn
mehr darum ging, durch eine Heirat mit Anja sein Nachfolger als
Graf von Kronburg zu werden. Deshalb hatte er auch bisher
Helferichs Anträge stets abschlägig beschieden. Jetzt jedoch wurde
er in seiner Ansicht schwankend.

Er bedachte den Freiherrn mit einem prüfenden Blick. Zweifellos

war Helferich ein Mann, dem es an Mut und Kampfkraft nicht
gebrach. Auf dem Turnierplatz hatte er sich stets als einer der Besten
erwiesen. Beim Kampf gegen die aufständischen Slawen war er es
gewesen, der den Anführer der Rebellen im Zweikampf bezwungen

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und die Erhebung dadurch beendet hatte. Und auch was die Schärfe
seines Verstandes anging, konnte er sich mit jedem messen.
Vielleicht war er wirklich der einzige in der Mark Kronburg, der
etwas zur Rettung Anjas tun konnte.

»Nun, was sagt Ihr, Graf?« Erwartungsvoll blickte Helferich den

Burgherrn an.

Aber noch zögerte der Graf. Er war sich völlig im klaren darüber,

welche Folgen es nach sich ziehen würde, wenn es dem Freiherrn
tatsächlich gelingen sollte, seine Mission erfolgreich abzuschließen.
Es würde sich kaum vermeiden lassen, ihm Anja zur Frau zu geben,
falls er sie den Händen der Tataren entrissen hatte. Das Gebot der
Ehre verlangte es in einem solchen Fall, einem Mann den Lohn zu
geben, den er sich unter Einsatz seines Lebens mehr als redlich
verdient hatte.

Dem Freiherrn entging sein Zögern nicht. Eine Falte des Unmuts

erschien auf seiner Stirn.

»Haltet Ihr mich nicht für würdig, die Aufgabe zu erfüllen, Graf

Leander?« fragte er offen heraus.

Der Burgherr verzog den Mund. »Es ist keine Frage der Würde,

Freiherr. Es ist ...«

»Ja? Sprecht ganz offen mit mir, Graf!«
Es war dem Grafen nicht möglich, das zu sagen, was er dachte.

Niemand würde angesichts der trostlosen Situation Anjas
Verständnis dafür aufbringen, wenn er nicht auf Helferichs
Vorschlag einging. Schließlich wußte jedermann, daß der Freiherr
wirklich derjenige war, dem man die Befreiung seiner Tochter
zutrauen durfte.

Langsam nickte er. »So sei es«, sagte er. »Wenn Ihr mir meine

unglückliche Tochter zurückbringt,

ist Euch meine ewige

Dankbarkeit gewiß.«

Alle Umstehenden begriffen sofort, wie diese Worte zu verstehen

waren. Als erster natürlich der Freiherr selbst. Ein befriedigtes
Lächeln huschte über seine groben Züge.

»Ihr werdet nicht bereuen, mir Euer Vertrauen geschenkt zu haben,

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Graf«, sagte er. »Ich bringe die holde Jungfer zurück. Es sei denn,
ich finde vorher den Tod. Das schwöre ich bei allem, was mir heilig
ist!«

»Wann werdet Ihr aufbrechen?« »Noch heute hefte ich mich an die

Spuren der Barbaren«, versprach Helferich mit fester Stimme.

*

Roland konnte getrost von sich behaupten, daß er einiges von der
Minne verstand. Als fahrender Ritter war er durch viele Lande
gekommen und hatte dabei Frauen aus allen Schichten
kennengelernt. Hochgestellte Damen aus den vornehmsten
Adelsgeschlechtern waren darunter gewesen, aber auch Töchter des
einfachen Volkes. Sie alle hatten ihre Vorzüge gehabt. Von wild
lodernder, unersättlicher Leidenschaft bis hin zur stillen Hingabe,
Roland hatte die Liebe in allen ihren Spielarten erlebt und genossen.

Eine Frau wie Mylene de Roncourt jedoch war ihm nur höchst

selten begegnet. Sie war nicht nur schön wie eine prächtige Blume,
die man sich zu pflücken scheute. Sie besaß auch Seele. Und nicht
zuletzt das war es, was den Ritter mit dem Löwenherzen regelrecht
gefangennahm. Bisher war es meistens so gewesen, daß er die
Damen schnell wieder vergessen hatte, nachdem sie einmal sein
geworden waren. Bei Mylene sah das jedoch ganz anders aus. Jeden
Tag, den er mit ihr zusammen war, jede Nacht, die er mit ihr
verbrachte, banden ihn nur noch fester an sie. Es führte kein Weg
daran vorbei - Roland hatte sich unsterblich in das Mädchen mit dem
blonden Haar verliebt.

Wie Jean de Villiers kam sie ebenfalls aus den welschen Landen.

Sie war die Tochter eines Adligen, der es nie zu großem Ruhm und
Vermögen gebracht hatte. Gegen ihren Willen war sie von ihrem
Vater mit dem reichen und in seiner Heimat hochangesehenen de
Villiers verlobt worden. Als ihr Bräutigam dann als Gesandter seines
Landesherrn an den Hof von König Artus gekommen war, hatte sie
ihn begleitet. Und sie war auf Camelot zurückgeblieben, als Jean de

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Villiers blamiert und gedemütigt wieder von dannen gezogen war.
Selbstverständlich hatte Artus nichts gegen ihr Bleiben einzuwenden
gehabt und sie in den Kreis seiner Hofdamen aufgenommen.

Und der König schien sogar Vergnügen daran zu haben, daß sie

seinem tapfersten Ritter den Kopf verdrehte. Eigentlich wäre es
längst an der Zeit gewesen, daß Artus Roland einen neuen Auftrag
gab. Fünfzig Aufgaben mußte er erfüllen, um sein großes Ziel, Ritter
der berühmten Tafelrunde zu werden, erreichen zu können. Einen
Teil dieser Aufgaben hatte er bereits erfolgreich hinter sich gebracht.
Aber es fehlten noch ein paar Dutzend, um das halbe Hundert
vollzumachen. Als Roland seinen Gebieter kürzlich darauf
angesprochen hatte, war die Antwort des Königs nur ein
vielsagendes Lächeln und eine launige Bemerkung über die
Schönheit Mylenes gewesen.

Aber dann waren die schönen Tage in der Gesellschaft des blonden

Mädchens schließlich doch gezählt. König Artus ließ den Ritter mit
dem Löwenherzen zu sich rufen.

»Kennst du die Tataren, Roland?« erkundigte er sich.
»Nur dem Namen nach«, antwortete der Ritter. »Begegnet bin ich

bislang keinem einzigen von ihnen. Aber ich wäre durchaus begierig
darauf, diesem Mangel abzuhelfen.«

»Warum?«
»Nun, man sagt, daß die Tataren die mutigsten Kämpfer der Welt

sind. Ich hätte nichts dagegen, meine Kräfte mit dem Besten der
Barbaren zu messen.«

König Artus lächelte. »Ich könnte mir vorstellen, daß du dazu sehr

bald Gelegenheit bekommst.«

Roland hob die Brauen. »Sind neue Kämpfe mit den Horden des

Khans ausgebrochen?«

»Davon ist mir nichts bekannt«, gab der König zur Antwort.

»Soweit ich weiß, haben die Tataren in der letzten Zeit die Grenzen
zu unseren Landen nicht mehr überschritten.«

»Aber Sie sagten doch ...«
»Ich wollte dich aus einem anderen Grund zu den Männern von

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Tugrik Khan schicken«, unterbrach ihn Artus. »Die Tataren sollen
nicht nur die besten Kämpfer sein. Sie sollen auch die besten Pferde
besitzen. Pferde, die ganz anders sind als die unseren. Ich möchte,
daß du eins dieser Pferde nach Camelot bringst.«

Roland nickte entschlossen. »Ich werde Ihnen das beste Pferd

bringen, das es im ganzen Tatarenreich gibt.«

Artus lachte auf. »Und wenn dieses dem Khan selbst gehört?«
»Dann muß sich der Tatarenfürst leider einen neuen Gaul

besorgen. Ich würde mich nicht scheuen, ihm sein Reittier unter dem
Hintern wegzuziehen!«

Roland wußte, daß der König ein großer Pferdefreund war. Die

Zucht von Camelot war weithin berühmt. Und er konnte sich sehr gut
vorstellen, daß tatarisches Blut der Zucht zum Vorteil gereichen
würde.

»Eins möchte ich klarstellen«, sagte der König. »Es mag sein, daß

du mit den Tataren in Handgemenge verwickelt wirst. Heißes Blut
fließt in ihren Adern, und sie lieben uns Abendländer nicht
sonderlich. Dennoch sollst du sie nicht herausfordern. Man muß ein
Pferd nicht unbedingt gewaltsam in seinen Besitz bringen. Man kann
es auch kaufen. Ich werde dir genug Geld mitgeben, um damit eine
ganze Herde zu erwerben. Du verstehst, was ich damit sagen will,
Roland?«

»Ja, mein König«, nickte Roland.
Der König entließ ihn.
Und Roland bereitete sich darauf vor, fürs erste Abschied von

Mylene de Roncourt zu nehmen.

*

»Ich wünsche Euch viel Glück, Helferich!«

Graf Leander von Kronburg streckte dem Freiherrn seine Rechte

entgegen. Helferich nahm sie und schüttelte sie kräftig.

»Das Glück kann ich brauchen«, sagte er. »Ansonsten aber werde

ich alles tun, was in meiner Macht steht.«

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Er wandte sich der Gemahlin des Burgherrn zu, die wie alle

anderen auf den Burghof gekommen war, um den Retter ihrer
Tochter zu verabschieden.

»Grämt euch nicht, Gräfin Marika«, sagte er zuversichtlich. »Bald

werdet Ihr die Jungfer Anja wieder in Eure mütterlichen Arme
schließen können.«

Und nach einer kurzen Pause: »Und mich dazu, hoffe ich!«
Die Gräfin nickte heftig. »Wenn Ihr Anja zurückbringt, seid Ihr

mir als Schwiegersohn hochwillkommen. Nicht wahr, Leander?«

»Ja«, sagte der Graf, »so soll es sein.«
Nach wie vor war er wenig davon begeistert, den ehrgeizigen

Freiherrn als seinen Nachfolger hinnehmen zu müssen. Aber er
wußte, daß es nach Lage der Dinge keine andere Möglichkeit gab.
Außer Helferich war niemand da, der etwas für Anja tun konnte. Der
Freiherr hatte sich inzwischen die Stelle, an der es zu dem Überfall
gekommen war, angesehen. Wie er sagte, hatte er auch schon Spuren
gefunden, denen er folgen konnte. So blieb nur zu hoffen, daß seine
Taten mit seinen Versprechungen Schritt halten würden.

Nun waren der Worte genug gewechselt. Helferich schritt auf sein

bereits gesatteltes Pferd zu und nahm die Zügel aus der Hand eines
Knappen entgegen. Er winkte den Umstehenden noch einmal zu,
schwang sich dann in den Sattel.

Und stürzte im nächsten Augenblick schwer auf die Pflastersteine

des Burghofs!

Graf Leander und einige andere waren sofort an seiner Seite.
»Was, bei allen Heiligen, war das?«
Die Frage beantwortete sich schnell von selbst. Ein Blick auf

Helferichs Pferd genügte, um zu erkennen, daß der Sattel ganz schief
hing. Offenbar war ein Gurt gerissen und hatte den Fall verursacht.

Der Freiherr war sich der Peinlichkeit der Szene sehr bewußt. Ein

Mann, der ausziehen wollte, um es mit den Tataren aufzunehmen,
fiel ganz einfach nicht von seinem Pferd! Daß es sich um einen
unglückseligen Zufall handelte, der letzten Endes jedem hätte
widerfahren können, war nur ein schwacher Trost für ihn.

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Er zwang sich zu einem Lächeln, wollte sich dann wieder auf die

Füße stellen. Als er sich dabei mit dem rechten Arm abstützte,
durchzuckte ihn ein wilder Schmerz. Der Arm knickte ihm weg, und
er lag abermals flach auf den Steinen.

Das erstaunte Murmeln der Umstehenden klang in seinen Ohren

wie gellendes Hohngelächter. Unwillig wehrte er die beiden
Knappen ab, die ihm beim Aufstehen behilflich sein wollten. Er
schaffte es auch aus eigener Kraft. Aber der rechte Arm ...

Helferich konnte nicht vermeiden, daß ein schmerzhaftes Zucken

über sein Gesicht huschte.

Dieses Zucken entging dem Burgherrn nicht. »Was habt Ihr,

Helferich? Ihr seid doch nicht etwa ... verletzt?«

Der Freiherr betrachtete seinen Arm, der in einem seltsamen

Winkel vom Körper abstand. Oberhalb des Ellenbogen spürte er
einen dumpfen, scharfen Schmerz.

»Ich befürchte das ... Schlimmste«, sagte er gepreßt. »Wenn mich

nicht alles täuscht, dann ist der Arm gebrochen.«

»Das darf doch nicht wahr sein!« rief Graf Leander erbittert.

»Versucht, den Arm zu bewegen!«

Helferich hob den Arm, schwenkte ihn hin und her. Der Schmerz

brachte ein Stöhnen über seine Lippen.

»Vielleicht nur ein bißchen verstaucht«, sagte der Graf hoffnungs-

voll. Wenn der Arm tatsächlich gebrochen war ... Teufel auch, mit
einer solch schweren Behinderung konnte es der Freiherr unmöglich
mit den Tataren aufnehmen. Und wenn er es nicht tat...

Helferich wollte Gewißheit und fing an, Brünne und Kettenhemd

abzulegen. Allein war er dazu nicht in der Lage. Er brauchte die
Hilfe von zwei Knappen.

Dann lag sein sehniger, kräftiger Arm frei. Und es bedurfte nicht

der fachlichen Beurteilung durch einen Heilkundigen, um zu
erkennen, wie die Dinge standen.

Der Arm war ohne jeden Zweifel gebrochen...

*

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Roland unternahm die Reise in die östlichen Regionen nicht zum
ersten Mal. Vor gar nicht allzu langer Zeit hatte er eine Wallfahrt
nach Böhmen begleitet und dortselbst einen harten Kampf gegen
einen verbrecherischen Grafen geführt.

Auch seine beiden Begleiter, die treuen Knappen Louis und Pierre,

waren auf der Wallfahrt dabei gewesen. Und wie damals führte
Pierre auch jetzt wieder fortwährend laute Klagen über die Mühsal
und den Strapazenreichtum der langen Reise im Munde. Pierre war
ein untersetzter, zur Fettleibigkeit neigender Bursche. Er besaß einen
ausgeprägten Hang zur Gemütlichkeit und hätte am liebsten Schloß
Camelot niemals verlassen.

Daß er es dennoch immer wieder tat, sprach für die Treue und

Ergebenheit, die er Roland entgegenbrachte. Was dies betraf, stand
ihm Louis kein bißchen nach. Auch er wäre jederzeit bereit gewesen,
sich für seinen Herrn in Stücke hauen zu lassen. Vom Äußeren her
war er das genaue Gegenteil von Piere. Schlank, dabei aber durchaus
kräftig, drahtig, von heißblütigem, mitunter etwas über die Stränge
schlagendem Temperament. Bevor er sich Roland als Knappe
anschloß, war er der Anführer einer Räuberbande gewesen. In dieser
Eigenschaft hatte er alle Schliche des Kriegshandwerks gelernt. Und
da es ihm weder an Mut noch an Schläue gebrach, hätte sich Roland
kaum einen besseren Gefährten wünschen können. Das bedeutete
aber keineswegs, daß er etwa mit Pierre unzufrieden gewesen wäre.
Der dickliche Knappe hatte zwar den Mut nicht gepachtet, aber wenn
es darauf ankam, stand er sehr wohl seinen Mann. Und was ihm an
purer Kampfkraft vielleicht fehlen mochte, verstand er stets durch
Listigkeit und überraschende Einfälle zu ersetzen.

Trotz Pierres ständigen Lamentierens verlief die Reise ohne

größere Probleme. Der Name >Roland< war mittlerweile in allen
Landen bekannt, und so brauchten sich der Ritter mit dem
Löwenherzen und seine Begleiter unterwegs über mangelnde
Gastfreundschaft nicht zu beklagen. Fast immer fanden sie in einer
Burg oder in einem Gasthof ein gutes Essen und ein weiches
Nachtlager. Innerhalb einer Zeitspanne, die sie selbst überraschte,

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erreichten sie die Grafschaft Kronburg.

»Kronburg ist eine der Grenzmarken, nicht war?« sagte Louis, der

in seinem wildbewegten Leben schon weit herumgekommen war.

Roland nickte. »Ja. Jenseits der Grenzen beginnt der

Herrschaftsbereich der Tataren.«

Unwillkürlich schüttelte sich Pierre. »Tataren! Schon wenn ich das

Wort höre, läuft es mir kalt den Rücken hinunter.«

»Alter Angsthase«, sagte Louis verächtlich. Er lächelte, als er

fortfuhr: »Obgleich mir an deiner Stelle im Tatarenreich auch nicht
allzu wohl wäre!«

»Wieso?« Pierres Stimme klang alarmiert.
»Nun«, sagte Louis gedehnt, »wenn ich richtig informiert bin,

pflegen die Barbaren ihr Fleisch am Spieß zu rösten - in ganzen
Stücken! Ich könnte mir vorstellen, daß ihnen bei einem Mann von
deinem Kaliber das Wasser im Munde zusammenläuft.«

Der entrüstete Aufschrei Pierres veranlaßte Roland zu einem

Grinsen. Er war es gewohnt, daß sich seine beiden Knappen
fortwährend neckten, wobei sie manchmal recht grob zu Werke
gingen. Er wollte nicht leugnen, daß er des öfteren seinen Spaß daran
gehabt hatte. Die Hasenfüßigkeit Pierres forderte natürlich dazu
heraus.

Louis wurde wieder ernst. »Werden wir die Grenze heute noch

überschreiten?« erkundigte er sich.

Roland wiegte den Kopf hin und her, schüttelte ihn dann. »Ich

glaube, wir sind gut beraten, wenn wir zuvor ein paar Erkundigungen
einholen. Die Menschen hier in der Grenzmark hatten gewiß schon
des öfteren Kontakt mit den Barbaren und können uns nützliche
Ratschläge geben.«

»Warum suchen wir nicht die Burg des Markgrafen auf?« schlug

Louis vor, der natürlich gleich wieder an ein weiches Lager dachte.

Der Ritter mit dem Löwenherzen fand den Gedanken trotzdem gut.

Der Markgraf mochte in der Tat der rechte Mann sein, ihnen mit Rat
und Tat zur Seite zu stehen.

Als sie wenig später an einem Feld vorbeikamen, auf dem fleißige

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Bauern arbeiteten, erkundigten sie sich nach der Kronburg. Sie
brachten in Erfahrung, daß der Sitz des Landesherrn nicht weiter als
zwei gute Reitstunden entfernt war. Sie würden keine
Schwierigkeiten haben, ihr Ziel noch vor Einbruch der Dunkelheit zu
erreichen. Zügig ließen sie ihre Reittiere wieder ausschreiten.

Anderthalb Stunden später lag die Kronburg vor ihnen.

*

Die Gastfreundschaft des Markgrafen ließ nichts zu wünschen übrig.
Während Pierre und Louis im Ritterhaus Aufnahme gefunden hatten,
ließ es sich der Burgherr nicht nehmen, Roland an seine eigene
Abendtafel zu bitten.

Außer dem Grafen, einem nicht mehr jungen und schon recht

gebrechlich wirkenden Mann, waren beim Mahl auch seine
Gemahlin und ein paar ausgewählte Getreue. Aber obwohl sich alle
Einheimischen Mühe gaben, ihrem Gast mit Freundlichkeit und
Herzlichkeit zu begegnen, spürte Roland doch, daß ein Schatten über
der Tafel lag. Irgend etwas schien Graf Leander und die Seinen
schwer zu bedrücken. Die Höflichkeit gebot es Roland jedoch, keine
aufdringlichen Fragen zu stellen. Auch die Kronburger wahrten die
höfische Form. Niemand drang in Roland, um Ziel und Zweck seiner
Reise in Erfahrung zu bringen. Sie warteten darauf, daß der Besucher
von sich aus zu erzählen begann.

Und das tat der Ritter mit dem Löwenherzen dann schließlich auch.

Da er nicht das geringste zu verbergen hatte, berichtete er getreulich,
mit welcher Weisung ihn sein Gebieter König Artus in den Osten
geschickt hatte.

Seine Worte erzielten eine etwas überraschende Wirkung.

Sekundenlang sagte keiner der Anwesenden etwas.

Roland runzelte die Stirn. »Ist es so außergewöhnlich, daß jemand

ins Reich der Tataren ziehen will?«

»In der Tat«, bestätigte Graf Leander. »Zwischen den Untertanen

des Khans und uns herrschen nicht gerade freundschaftliche

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Beziehungen. Insbesondere wir Kronenburger haben Anlaß ...« Er
hielt inne und blickte Roland prüfend ins Gesicht. »Gestattet Ihr mir
eine Frage, bevor ich weiterspreche?«

»Gewiß doch!«
»Seid Ihr der Ritter, den man den mit dem Löwenherzen nennt?«
Roland nickte. »Diesen Beinamen hat man mir verliehen, ja.«
»Derjenige, der den letzten Lindwurm bezwang, und der blutigen

Gräfin das teuflische Handwerk legte?«

»Nämlicher bin ich.«
Die Gräfin Marika klatschte plötzlich in die Hände und lachte mit

einer Fröhlichkeit, die so gar nicht zu ihrer bisherigen
Leichenbittermiene passen wollte.

»Dann seid Ihr ja ein echter Held!«
Dazu konnte Roland nur die Achseln zucken. Als Held bezeichnet

zu werden, machte ihn beinahe verlegen. Aber er wollte auch nicht
ableugnen, daß ein Gefühl des Stolzes in ihm aufstieg. Welchen
jungen Recken hätte es nicht gefreut, wenn seine Taten Ruhm und
Achtung ernteten?

»Ihr könnt es natürlich nicht wissen, Ritter Roland«, fuhr der Graf

fort. »Aber wir haben derzeit hier auf der Kronburg einen echten
Bedarf an Helden!«

»Inwiefern?« Roland lachte. »Treibt auch hier noch ein Lindwurm

sein Unwesen?«

»Wenn es nur das wäre«, seufzte der Graf. »Ich und meine

Gemahlin, wir haben ganz andere Sorgen.«

Und dann erzählte er, erzählte von dem mörderischen Überfall der

Tatarenhorde und der Verschleppung seiner Tochter, erzählte von
dem Mißgeschick, das den einzigen möglichen Retter befallen hatte,
und erzählte von dem schier unerträglichen Kummer, der ihn und die
Gräfin beinahe auffraß.

Er kam zu dem Schluß: »... und da Ihr ohnehin zu den Tataren

wollt, da dachte ich ...«

»... daß ich mich ein wenig nach Eurer unglücklichen Tochter

umsehe«, vervollständigte der Ritter mit dem Löwenherzen.

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»Ja, ja, ja!« rief die Gräfin. Sie war von ihrem Stuhl

aufgesprungen. »Werdet ihr es tun, Ritter?«

Roland brauchte nicht eine einzige Sekunde zu überlegen. Für ihn

war die Rettung des verschleppten Mädchens nicht nur eine
Gefälligkeit, sondern auch eine Verpflichtung.

»Ja«, sagte er mit fester Stimme, »ich werde es tun!«
Gräfin Marika schien gewillt, ihm um den Hals zu fallen. Und

wenn der mit Speisen vollgestellte Tisch nicht dazwischen gewesen
wäre, hätte sie es wahrscheinlich auch getan.

Da jedoch erhob sich überraschend Widerspruch am Tisch.
»Ich weiß nicht, ob es weise ist, diesen jungen Mann mit der

Rettung der Jungfer Anja zu betrauen«, sagte der etwas
grobschlächtige Mann, der links von Graf Leander saß.

Roland blickte den Sprecher mit leicht zusammengekniffenen

Augen an. Er hatte vorhin, als ihm die anwesenden vorgestellt
worden waren, seinen Namen nicht richtig verstanden. Aber er ahnte
schon, um wen es sich handelte. Die Tatsache, daß der
Grobschlächtige seinen rechten Arm in einer Binde trug, sagte
eigentlich alles.

Die Augen aller richteten sich auf den Mann.
»Was meint Ihr, Freiherr Helferich?« fragte der Graf. Der

befremdete Unterton in seiner Stimme war nicht zu überhören.

»Ich meine, daß das Abschlachten eines Lindwurms wenig über

die wahren Fähigkeiten eines Mannes aussagt«, gab der
Grobschlächtige zur Antwort. »Und die Unschädlichmachung einer
blutgierigen Götzenpriesterin auch nicht!«

Roland lächelte spöttisch. »Ich zweifle nicht daran, daß auch Ihr

diese Taten leicht vollbracht hättet, mein Herr. Zumindest mit dem
Munde!«

Helferich fuhr hoch. »Was wollt Ihr damit sagen, Ritter?«
»Daß es vielleicht angebracht wäre, wenn Ihr zunächst einmal

lernt, wie man sich auf dem Rücken des eigenen Pferdes hält«, sagte
Roland freundlich.

Der Grobschlächtige lief rot an im Gesicht. »Wenn Ihr ein paar

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Tage später gekommen wärt und ich meinen Arm wieder richtig
gebrauchen könnte, dann würde ich Euch für diese Frechheit den
Schädel spalten!«

»Das hat mir kürzlich bereits ein anderer angekündigt«, erwiderte

Roland, der sich noch lebhaft an den Zweikampf mit Jean de Villiers
erinnerte. »Jetzt hat er sich in die Einöde zurückgezogen und
versucht dort, seine Schmach zu vergessen. Schätzt Euch glücklich,
daß Ihr Euren Arm in der Schlinge tragt.«

Wütend wandte sich der Freiherr an den Grafen. »Ihr gestattet, daß

mich dieser junge Flegel verhöhnt und beleidigt?«

Graf Leander machte eine vieldeutige Handbewegung. »Mir

scheint, daß Ihr der erste wart, der unhöfliche Worte sagte.«

»Ich hatte nur Euer Bestes im Auge, Graf! Und das Beste Eurer

unglücklichen Tochter! Glaubt Ihr wirklich, daß ein Pferdedieb der
richtige Mann für Euch ist?«

»Pferdedieb!« Roland holte tief Luft.
»Wer ein Tatarenpferd in seinen Besitz bringen will, kann es nur

stehlen«, sprach der Freiherr weiter. »Und wenn ihm dies gelungen
sein sollte, dann hat er so viel damit zu tun, sich in Sicherheit zu
bringen, daß ihm für alles übrige keine Zeit mehr bleibt. Wie sollte er
sich da um Eure Tochter kümmern?«

»Dies laßt gefälligst meine Sorge sein!« warf Roland mit wütender

Stimme ein.

Helferich ging nicht auf ihn ein, blickte unverwandt den Burgherrn

an. »Glaubt mir, Graf Leander, es sind nur lautere Beweggründe, die
mich veranlassen, so zu sprechen. Wartet noch ein paar Tage. Dann
ist mein Arm wieder so weit hergestellt, daß ich ein Schwert halten
kann. Unverzüglich werde ich mich dann auf den Weg machen
und...«

»Nein!« fuhr Gräfin Marika mit schriller, aufgeregter Stimme

dazwischen. »Wir haben ohnehin schon viel zuviel Zeit verloren.
Jeder weitere Tag, der vergeht, macht eine Befreiung Anjas immer
zweifelhafter. Und darum ...«

»... sollte allerschnellstens etwas geschehen«, sagte Graf Leander.

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Er blickte Roland an. »Ich kenne Euch zwar nicht näher, Ritter, aber
ich habe vollstes Vertrauen zu Euch. Ein Mann, der in den Diensten
eines Herrschers wie König Artus steht und in jungen Jahren schon
solchen Ruhm erworben hat wie Ihr, der sollte auch mit den Tataren
fertig werden können.«

»Ich danke Euch, Graf«, sagte Roland. Dann beschäftigte er sich

wieder mit dem Hirschbraten auf seinem Teller, der leider schon kalt
geworden war.

Als er wenig später aufschaute, sah er, wie der Blick des Freiherrn

voller Haß auf ihm ruhte. Unwillkürlich wurde er abermals an Jean
de Villiers erinnert. Aber er ließ sich dadurch den Appetit nicht
verderben und langte anschließend wieder kräftig zu.

Während des Essens wurde nicht mehr allzuviel gesprochen. Alle

Anwesenden hingen ihren eigenen Gedanken nach. Nachdem die
Tafel aufgehoben war, gab es jedoch noch genug Gelegenheit für
Roland, allerlei Erkundigungen einzuholen.

Bei diesen Gesprächen war allerdings der Freiherr Helferich nicht

mehr dabei.

*

Der Freiherr Helferich war anderweitig beschäftigt.

In dem Gemach, das ihm während seines Aufenthalts auf der

Kronburg zugeteilt worden war, hatte er eine wichtige Unterredung
mit seinem Knappen Eginolf. Eginolf war ein junger Bursche, der
ärmlichsten Verhältnissen entstammte. Seine Ergebenheit gegenüber
dem Freiherrn kannte keine Grenzen. Der Herr Helferich hatte ihn
von der Fronarbeit im Erzbergwerk befreit und ihm versprochen, ihn
eines Tages zum Ritter schlagen zu lassen. Um dieses große Ziel zu
erreichen, war Eginolf bereit, alles zu tun, was sein Herr von ihm
verlangte. Alles! Der Knappe wäre auch nicht zurückgeschreckt,
wenn ihm Helferich befohlen hätte, den König selbst zu ermorden.
Der Freiherr schätzte sich glücklich, einen so treuen Helfer zu haben,
besonders wenn es um Dinge ging, die durchaus unehrenhaft waren.

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Zwar lag ihm wenig daran, den König umzubringen. Aber es gab da
eine andere Person ...

Eginolf ahnte schon, was sein Herr mit ihm in aller Heimlichkeit

besprechen wollte.

»Ich habe gehört, was an der Tafel des Grafen erörtert wurde«,

sagte er. »Es ist ganz und gar nicht in Eurem Sinne, nicht wahr,
Herr?«

»Du hast es erfaßt«, knurrte Helferich böse. »Dieser unselige Ritter

Roland ist genau zum falschen Zeitpunkt auf die Kronburg
gekommen. Ein paar Tage früher oder später, und er hätte keine
Gelegenheit bekommen, sich einzumischen. So jedoch...« Der
Freiherr stieß einen Fluch aus, der einen Heiden erschreckt hätte.

Eginolf nickte verständnisvoll. Er kannte das Spiel, das sein Herr

spielte, nur allzu gut. Schließlich hatte er selbst seinen Teil dazu
beigetragen.

»Ist dieser Roland wirklich ein so großer Held, wie man sich

erzählt?« wollte er wissen.

Helferich nickte mit finsterer Miene. »Ich fürchte, ja! Er hat nicht

nur den Drachen erschlagen und die Zauberin entlarvt, sondern noch
andere Ruhmestaten an sein Banner geheftet. Er war es auch, der
dem Kloster zum Schwarzen Stein sein geraubtes Heiligtum
zurückbrachte. Mit diesem Roland scheint der Teufel
höchstpersönlich im Bunde zu sein!«

»Dann wird es nicht einfach werden, ihn daran zu hindern, die

Wahrheit herauszufinden.«

»Das darf nicht geschehen!« Helferich ballte die Fäuste. »Roland

muß. sterben!« Vielsagend blickte er seinen Getreuen an.

Eginolf begriff sofort, was der Blick zu bedeuten hatte. Er sollte

der Mann sein, der den Ritter mit dem Löwenherzen beseitigte. Dazu
war er auch durchaus bereit. Nur über das >Wie< war er sich ganz
und gar nicht im klaren.

»Es wird nicht einfach werden ...«
»Das sagtest du schon einmal«, fiel ihm Helferich ärgerlich ins

Wort. »Auch ich weiß, daß es sinnlos wäre, wenn du den Roland

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irgendwie herausforderst und ihm im Kampfe gegenübertrittst. Er
hätte dich besiegt, noch bevor du die Hand gegen ihn erheben
könntest.«

Der Knappe war etwas erleichtert. Er hatte schon befürchtet, daß

sein Herr einen Zweikampf von ihm verlangen würde. Aus diesem
bitteren Krug mußte er also nicht trinken.

»Dann kommt nur ein ... Meuchelmord in Frage«, stellte er wie

selbstverständlich fest.

»So ist es«, pflichtete ihm der Freiherr bei. »Aber selbst dabei ist

höchste Vorsicht geboten. Dieser Roland ist mit allen Hunden
gehetzt. Wenn er den Braten riecht ...«

Sinnend blickte Eginolf vor sich hin. »Besteht Ihr darauf, daß ich

die Tat selbst begehe?« fragte er dann.

»Ich dachte an dich, weil du ein zuverlässiger und geschickter

Mann bist«, schmierte ihm sein Herr Honig ums Maul.

»Ich weiß Euer Vertrauen zu schätzen«, erwiderte der Knappe.

»Aber wenn auch jemand anders ...«

»Kennst du jemanden?«
Eginolf machte eine bejahende Kopfbewegung. »Ich kenne

jemanden, der mir ebenso ergeben ist wie ich Euch, Herr. Und da
dieser jemand weitaus eher Gelegenheit bekommen könnte, sich
unauffällig an den Ritter heranzumachen ... Ihr versteht, was ich
sagen will, Herr?«

»Durchaus, mein Freund«, sagte Helferich. »Durchaus!«

*

Roland war mit den Gesprächen des Abends überaus zufrieden. Er
wußte jetzt weitaus mehr über die Tataren und ihre Gewohnheiten als
vorher. Diese neuen Kenntnisse würden ihm eine große Hilfe sein,
wenn er erst mal im Reich der Barbaren war. Das hoffte er jedenfalls
mit großer Zuversicht.

Er hatte gut gegessen und auch einiges von dem guten Wein

getrunken, den Graf Leander kredenzte. Und da auch der lange Ritt

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nicht spurlos an ihm vorübergegangen war, fühlte er sich
rechtschaffen müde. Er freute sich auf das Bett.

Die Gästekammer war groß und geräumig. Ein breites Lager, ein

Bärenfell auf den Steinplatten des Fußbodens, eine große eherne
Schüssel, bis zum Rand mit Wasser gefüllt. Auf Camelot bot man
den Besuchern zweifelsohne einiges mehr. Aber der Ritter mit dem
Löwenherzen war nicht verwöhnt und stellte keine großen
Ansprüche an die Dinge des alltäglichen Lebens. Er sah nicht den
geringsten Grund zur Klage.

Flugs legte er seine Oberkleidung ab und trat mit nackter Brust an

die Waschschüssel heran. Während er den Kopf hineintauchte, war
ihm so, als hätte er ein Geräusch gehört. Prustend hob er den Kopf
aus der Schüssel.

Ja, da war es wieder. Irgend jemand hatte an die Tür der

Schlafkammer geklopft.

»Wer ist da?« fragte Roland, während ihm das eiskalte Wasser

über den Oberkörper rann.

»Ich bin es«, antwortete eine Frauenstimme. »Maria Elena.«
Roland kannte keine Maria Elena. Aber das machte nichts. Frauen

gegenüber war er immer höflich und zuvorkommend. Und die
Frauenstimme draußen auf dem Gang hatte sich sehr angenehm
angehört.

»Tretet ein«, rief er.
Die Tür öffnete sich. Eine junge Frau trat über die Schwelle und

machte die Tür hinter sich wieder zu.

Roland hatte sie während seines kurzen Aufenthalts auf Kronburg

noch nicht gesehen. Sie hatte ein rundliches Gesicht,
kurzgeschnittene braune Haare und große dunkle Augen. Im
landläufigen Sinne war sie recht hübsch. Auch ihren Körper brauchte
sie nicht zu verstecken. Und das tat sie auch nicht, denn das leichte,
dünne Kleid, das sie trug, zeigte eine ganze Menge davon. Der volle
Busen quoll aus dem herzförmigen Ausschnitt beinahe heraus, und
die drallen Beine lugten verlockend unter dem kurzen Saum hervor.

Schnell war sich Roland im klaren darüber, daß das Mädchen nicht

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zu den Frauen vom Stande zählte. Sie gehörte dem Gesinde an und
war offenbar gekommen, um ihm irgend etwas zu bringen oder auch
nur auszurichten.

»Ja?« fragte er und lächelte.
Das Mädchen antwortete nicht sofort. Sie stand immer noch an der

Tür und starrte ihn mit großen Augen an. Mit offenkundiger
Bewunderung glitten ihre Blicke über seinen hochgewachsenen,
breitschultrigen Körper, über seine prallen Muskeln und seine
starken, männlichen Sehnen.

»Ihr seid fürwahr ein Held, Ritter Roland«, sagte sie nach einer

ganzen Weile.

»So, bin ich das?« Roland verstärkte sein Lächeln. »Woher willst

du das denn so genau wissen, mein Kind?«

»Nur Helden können so prächtig gebaut sein, wie Ihr es seid«,

sagte das Mädchen und starrte ihn immer noch wie gebannt an.

Diese ungeschminkte Verehrung wollte ihm gar nicht gefallen. Er

kam sich beinahe so vor wie der Tanzbär einer Gauklertruppe, der
von allen Seiten begafft wurde.

»Was willst du, Maria Elena?« fragte er nicht mehr ganz so

freundlich wie zuvor.

»Könnt Ihr Euch das nicht denken, Herr Ritter?« Das Mädchen trat

näher, wiegte sich dabei aufreizend in den Hüften. Ihre vollen Brüste
wippten.

Roland kniff die Augen leicht zusammen.
»Es war schon immer mein sehnlichster Wunsch, mit einem echten

Helden zu schlafen«, sagte das Mädchen. »Und nun kann mein
Wunsch endlich in Erfüllung gehen.«

»So?« Roland konnte nicht verhehlen, daß er unangenehm berührt

war. Üblicherweise suchte er sich die Frauen aus, mit denen er die
Minne pflegen wollte. Dieses Mädchen hatte gewiß ihre Reize, aber
er fühlte sich dennoch nicht sonderlich von ihr angesprochen. In
Gedanken hatte er immer noch die herrliche Gestalt Mylene de
Roncourts vor sich. Neben der prächtigen Blume verblaßte die junge
Frau, die jetzt vor ihm stand, zu einem unscheinbaren Pflänzchen.

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Zwar hatte er

Mylene keineswegs unerschütterliche Treue

geschworen, aber er wollte die süße Erinnerung an sie auch nicht
durch ein überflüssiges, schales Abenteuer trüben. Außerdem wollte
er, bevor er ins Reich der Tataren aufbrach, noch einmal ausgiebig
schlafen.

Das Mädchen war zwei Schritte vor Roland stehen geblieben. Sie

sah ihm wohl an, daß seine Bereitschaft, sie mit in sein Bett zu
nehmen, nicht allzu groß war.

»Gefalle ich Euch nicht, Ritter Roland?« fragte sie und ließ die

Mundwinkel dabei leicht nach unten sinken.

Es lag nicht in Rolands Natur, grob und unhöflich zu den

Vertreterinnen des schönen Geschlechts zu sein. Und schon gar nicht
wollte er sie vorsätzlich verletzen, gleichgültig ob sie nun von
vornehmen Geblüt waren oder im Gesindehaus lebten.

»Doch, doch«, sagte er, »du bist ein sehr hübsches Mädchen. Es ist

nur...«

»Ja?«
»Ich habe einen anstrengenden Tag hinter mir und einen noch

anstrengenderen vor mir. Ich bin ganz einfach müde!«

Da tat das Mädchen etwas Unerwartetes. Mit beiden Händen

packte sie den Ausschnitt ihres Kleides und riß heftig daran. Der
Stoff zerriß wie Pergament und hing in losen Fetzen herunter. Unter
dem Kleid trug sie kein Leibchen, kein Mieder, nur ihren blanken
Busen. Einen sehr ansehnlichen Busen, wie Roland zugeben mußte.
Die Spitzen waren aufgerichtet und schimmerten wie Rosenknospen.

»Nun, Herr Ritter, seid Ihr immer noch müde?« Siegessicher

lächelte ihn das Mädchen an.

Fast wäre Roland schwankend geworden. So viel geballte

Weiblichkeit - da fiel es einem echten Mann schwer, nicht auf die
Stimme seines Bluts zu hören. Aber der Ritter mit dem Löwenherzen
gewann den Kampf gegen sich selbst. Der Teufel sollte ihn holen,
wenn er sich auf diese Weise von einem Weib unterkriegen ließ.

»Es ist besser für dich, wenn du gehst, mein Kind«, sagte er mit

abweisender Stimme. Dann tat er so, als ob das Mädchen gar nicht

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mehr da sei und tauchte den Kopf wieder in die Schüssel.

Als er wieder hochkam, war ihm Wasser in die Augen getreten. Er

sah seine Umgebung nur leicht verschwommen. Die junge Magd war
immer noch da. Und sie hielt jetzt etwas in der Hand. Was es war,
konnte er allerdings auf Anhieb nicht erkennen. Als ihre Hand
plötzlich auf ihn zuschoß, war es mehr ein Reflex, der ihn zur Seite
weichen ließ.

Das war sein Glück!
Der Gegenstand, den das Mädchen in der Hand hielt, streifte ihn

lediglich. Aber dieses Streifen genügte, um ihn einen jähen Schmerz
an der linken Schulter spüren zu lassen.

Und wieder drang das Mädchen auf ihn ein. Ein heiserer Laut kam

dabei über ihre Lippen, der Roland unwillkürlich an eine Wölfin
erinnerte, die für ihre Jungen kämpfte.

Noch immer konnte der Ritter mit dem Löwenherzen nicht richtig

sehen. Als er zugriff, um die Hand des Mädchens zu packen, griff er
glatt daneben. Aber er wurde wenigstens nicht abermals getroffen.
Die Hand der jungen Frau fuhr an ihm vorbei.

Nun aber reichte es Roland. Der Schmerz an der Schulter hatte ihn

wütend gemacht. Blitzschnell wischte er sich das Wasser aus den
Augen. Sein Blick wurde wieder klar.

Und als das Mädchen zum dritten Mal auf ihn losging, war er auf

der Hut. Er sah jetzt auch, was sie da in der Hand hielt. Es war ein
Messer, ein langes und sehr, sehr spitzes Messer. Kein Wunder, daß
der Kratzer an seiner Schulter brannte wie Feuer.

Wieder kam das Messer. Das Mädchen meinte es ernst, zielte

genau auf sein Herz. Aber sie hatte jetzt nicht mehr den Hauch einer
Chance, ihm gefährlich zu werden. Roland fing ihren Arm ab. Dann
ein leichtes Verdrehen des Handgelenks, und das Messer polterte
scheppernd auf den Fußboden.

Trotzdem gab sich das Mädchen noch nicht geschlagen. Ihre freie

Hand flog ihm mitten ins Gesicht. Mit den Fingernägeln fuhr sie ihm
schmerzhaft über die Wange. Zornig spürte Roland, wie die Haut
aufgerissen wurde.

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Jetzt langte es ihm endgültig. Er packte auch die andere Hand des

Mädchens, das immer noch heisere Wolfstöne von sich gab. Voller
Wut schüttelte er sie wie eine Ährengarbe. Dann gab er ihr einen
Stoß, der sie auf das breite Bett schleuderte.

Breitbeinig baute er sich vor dem Lager auf und stemmte die Arme

in die Hüften.

»Warum tust du das, unglückseliges Weib?« fuhr er sie an. »Bist

du von Sinnen?«

Mit blitzenden Augen sah das Mädchen zu ihm hoch. Ihre nackten

Brüste wogten, so schwer ging ihr Atem. Eine hektische Röte
überzog Gesicht und Teile des Oberkörpers.

»Ihr ... Ihr habt mich verschmäht«, zischte sie. »Ihr habt mich

verschmäht, nur weil ich eine Niedriggeborene bin! Wäre die Jungfer
Anja zu Euch gekommen, hättet ihr sie längst wie ein geiler Bock
bestiegen!«

Die Ausdrucksweise des Mädchens gefiel ihm nicht. Besonders

mißbilligte er, daß sie die unglückliche Grafentochter ins Spiel
brachte.

»Du solltest dich schämen«, sagte er. »Deine Herrin auf diese

häßliche Art und Weise zu schmähen ...«

»Ich hasse sie!« zischte Maria Elena böse. »Anja hier, Anja da -

alle sprechen nur von ihr, als sei sie der wichtigste Mensch in der
ganzen Mark. Dabei ist sie hochmütig und grausam! Wenn die
Tataren eine wie mich verschleppt hätten, würde niemand ein Wort
darüber verlieren. Aber ich bin ja auch nur eine erbärmliche
Dienstmagd, die man behandeln kann wie ein Stück Dreck!«

Plötzlich fing sie an zu schluchzen. Tränen flossen ihr über die

geröteten Wangen.

»Ich ... bin verloren«, flüsterte sie. »Wenn Ihr dem Grafen sagt,

was ich getan habe ... Er wird mich auspeitschen und anschließend
hinrichten lassen.«

Ein Weinkrampf schüttelte sie, als sie den Kopf in den Händen

verbarg und sich auf dem Bett zusammenkrümmte wie ein krankes
Tier.

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Plötzlich tat sie Roland leid. Gut, sie hatte versucht, ihn

umzubringen. Aber in gewisser Weise verstand er sie sogar. Er kam
selbst aus kleinen Verhältnissen und wußte wie es war, wenn man
verschmäht und zurückgestoßen wurde. Daß er sie nicht
zurückgewiesen hatte, weil er sie verachtete, sondern andere Gründe
gehabt hatte, konnte sie nicht wissen. Sie fühlte sich verletzt, und in
einer solchen Verfassung tat man manchmal Dinge, die man später
bedauerte.

»Mach dir keine Sorgen«, sagte Roland beruhigend. »Ich werde

dem Grafen nichts sagen. Ihm nicht und auch keinem anderen.«

Aus tränenverhangenen Augen sah sie zu ihm hoch. »Wirklich

nicht? Ihr versprecht es?«

»Ich verspreche es!«
Sekundenlang blieb sie fast reglos auf dem Bett liegen, wischte

sich nur schluchzend die Tränen aus den Augen. Dann sprang sie
plötzlich auf und stürzte auf ihn zu.

Schon dachte Roland, daß sie einen neuerlichen Anschlag im Sinne

führte. Aber das lag nicht in ihrer Absicht. Sie ergriff nur seine Hand
und drückte ihr einen Kuß auf.

»Ich danke Euch, Herr Ritter«, hauchte sie. »Ich danke Euch von

ganzem Herzen. Dann huschte sie auf schnellen Füßen zur Tür und
hatte den Raum Augenblicke später verlassen. Kopfschüttelnd
blickte Roland ihr nach. Der Zorn, der ihn gerade noch erfüllt hatte,
war verflogen. Und da auch der kleine Schnitt an der Schulter nicht
mehr blutete, beschloß er bei sich, den Zwischenfall schnell zu
vergessen. Wenig später lag er auf dem Nachtlager und schlief
alsbald ein.

*

Gähnend wälzte sich der Knappe Eginolf im Heu. Er überlegte, ob

er sich nicht auf die Seite rollen und ein bißchen schlafen sollte. Es
würde wohl noch eine Weile dauern, bis Maria Elena kam.
Üblicherweise traf er sich hier in der Futterkammer mit der

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Küchenmagd, um sich an ihrem drallen Körper zu erfreuen. In dieser
Nacht jedoch ging es ihm um etwas anderes. Er erwartete eine
Vollzugsmeldung von dem Mädchen. Und Gott mochte ihr gnädig
sein, wenn sie ihn enttäuschte. Daß Maria Elena ihr Bestes tun
würde, um seinen Auftrag auszuführen, bezweifelte er eigentlich
nicht. Sie machte alles, was er sagte, denn sie liebte ihn und war fest
davon überzeugt, daß er sie eines Tages heiraten und aus ihrem
kläglichen Dienstbotendasein befreien würde. Das hatte er ihr
versprochen, aber er dachte nicht im Traum daran, sein Versprechen
zu halten. Bald würde Freiherr Helferich dafür sorgen, daß er zum
Ritter geschlagen wurde. Und was sollte er dann mit einer
Küchenmagd als Eheweib? Einem Ritter gebührte schließlich eine
Gemahlin, die aus edlerem Geblüt stammte. Eginolf war nahe daran,
einzunicken, als er das leise Quietschen der Kammertür hörte. Sofort
war er wieder hellwach. Kam Maria Elena bereits - so schnell schon?
»Eginolf?«

Ja, sie war es. Der Knappe meldete sich, und wenig später war das

Mädchen an seiner Seite. Wie immer drängte sich Maria Elena gleich
in seine Arme, denn sie war ganz wild darauf, von ihm berührt zu
werden.

Gleich stellte er fest, daß ihr Kleid in Fetzen am Leibe hing und sie

halb nackt war.

Eginolf lachte auf. »Der Herr Ritter war wohl noch sehr

leidenschaftlich, bevor ihn das Schicksal ereilte, was?«

Maria Elena antwortete nicht.
»Nun?« drängte der Knappe.
»Der Ritter Roland lebt noch«, sagte das Mädchen leise.
Gepreßt atmete Eginolf die Luft aus. »Du hast also nicht

versucht...«

»Doch, doch, ich habe es versucht, aber ...»Maria Elena berichtete,

wie der Ritter Roland sie zunächst zurückgestoßen und ihr dann das
Messer aus der Hand gewunden hatte. Zorn wallte in Eginolf hoch.
Mit der linken Hand packte er das Haar des Mädchens und versetzte
ihr mit der anderen mehrere schallende Ohrfeigen, die ihren Kopf hin

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und her fliegen ließen. »Du miese kleine Schlampe«, zischte er. »Bist
du zu dämlich, einen Mann ins Bett zu kriegen? Wenn dir das
gelungen wäre, hättest du bestimmt keine Schwierigkeiten gehabt,
ihm im passenden Augenblick das Messer in die Rippen zu jagen!«

Das Mädchen fing an, herzzerreißend zu weinen. Aber das rührte

Eginolf nicht im mindesten. Er zog ihr roh den Kopf in den Nacken.
»Hast du ihm gesagt, daß ich dir aufgetragen habe, ihn zu töten?«

»Nein, nein!«
»Sondern?«
»Ich habe ihm etwas vorgespielt«, antwortete Maria Elena

schluchzend. »Ich habe so getan, als habe er mich furchtbar gekränkt.
Und dafür wollte ich mich angeblich rächen.«

»Und diesen Unsinn hat er geglaubt?«
»Ja, wirklich!«
Eginolf fühlte sich ein bißchen erleichtert. Wenigstens wußte der

Ritter Roland noch nicht, daß er der Anstifter des Mordanschlages
war. Noch nicht! Wenn Graf Leander Maria Elena aber erst einmal
einer hochnotpeinlichen Befragung unterzog, würde sie gewiß mit
der Wahrheit herausrücken. Das durfte natürlich unter gar keinen
Umständen geschehen.

Das Mädchen schien seine Gedanken zu ahnen. »Du brauchst

wirklich nicht zu befürchten, daß der Schatten eines Verdachts auf
dich fällt, Geliebter«, sagte sie. »Der Ritter Roland hat mir
versprochen, zu niemandem über das Geschehen in seiner
Schlafkammer zu sprechen.«

»Versprochen«, wiederholte der Knappe verächtlich. »Was sind

schon Versprechen? Wenn du wüßtest, was ich schon alles ...« Er
merkte, daß er im Begriff war, etwas Unbedachtes zu sagen, und
machte schleunigst den Mund zu.

Aber Maria Elena war auf einmal hellhörig geworden. »Du... du

glaubst nicht an die Heiligkeit des Versprechens, Eginolf?«

»Doch, doch, natürlich«, antwortete erschnell.
»Ich glaube dir nicht. Du hast mir auch versprochen, mich zur Frau

zu nehmen. In Wirklichkeit aber denkst du gar nicht daran!«

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Eginolf biß sich auf die Lippen. Verdammt, sie war drauf und dran,

ihn zu durchschauen. Und wenn sie erst einmal diesen Punkt erreicht
hatte, war es auch mit ihrer Ergebenheit vorbei. Dann würde sie
wahrscheinlich wirklich zeigen, zu was eine enttäuschte und
gekränkte Frau fähig war. Nach dem Geschehen der heutigen Nacht
hatte sie ihn in der Hand. Er mußte etwas tun, um die Gefahr
abzuwenden.

»Aber, aber«, sagte er begütigend, »wie kannst du nur so reden,

meine Liebe?« Er legte zärtlich den Arm um sie und zog sie an sich.
»Natürlich werde ich dich heiraten. Ich liebe dich doch!« Er
liebkoste ihren Busen, weil er wußte, daß sie das besonders gern
hatte.

Viel erreichte er damit jedoch nicht. Maria Elena versuchte sogar,

sich aus seiner Umarmung zu befreien.

»Nein, du liebst mich nicht«, meinte sie beinahe tonlos. »Wenn ein

Mann eine Frau wirklich liebt, dann schlägt er sie nicht. Du aber hast
mich gerade geschlagen. Laß mich los!«

So hatte sie noch nie mit ihm gesprochen. Er begriff, daß in ihrem

Herzen etwas gerissen war - das Band, das ihn mit ihr verband. Und
er begriff auch, daß es ihm nur schwerlich gelingen würde, dieses
Band wieder zu knoten. So gab es denn nur noch eine einzige
Möglichkeit, aus der fatalen Lage wieder herauszukommen.

»Nein«, sagte er gedehnt, »ich werde dich nicht loslassen, Maria

Elena.« Er nahm auch noch den anderen Arm zu Hilfe und hielt sie
ganz fest. »Eginolf ...«

Seine Hände glitten über ihre vollen Brüste, krochen zu den

Schultern hinauf.

Schade, dachte er, sie war ein Mädchen gewesen, an dem ein Mann

wirklich seinen Spaß haben konnte. Schon jetzt wußte er, daß er sie
vermissen würde. Aber nach Lage der Dinge ...

Seine Hände legten sich jetzt um ihren Hals, verharrten dort.
»Eginolf, was ... tust. .. du?«
Der Knappe antwortete nicht. Mit starren Augen blickte er in die

Dunkelheit, während sich seine Finger verhärteten und zudrückten.

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»Egi ...•«
Die Stimme des Mädchens brach ab, ging in ein ersticktes,

qualvolles Röcheln über. Verzweifelt versuchte sie, sich seinem
gnadenlosen Griff zu entziehen. Aber es gelang ihr nicht. Ihre
Bewegungen wurden schwächer und schwächer, die Töne, die über
ihre Lippen kamen, leiser und leiser.

Schließlich war nichts mehr. Ganz still, ganz lautlos lag Maria

Elena in den Armen ihres Mörders. Eginolf wartete noch ein paar
Augenblicke. Langsam wich die Starre aus seinen Augen. Er ließ das
Mädchen aus seinen Händen gleiten und stand auf. Dann klaubte er
mehrere Heubündel zusammen und begrub die Tote darunter.
Irgendeinem Stallknecht stand in den nächsten Tagen

eine

unangenehme Überraschung bevor.

Aber auch ihm stand noch etwas äußerst Unangenehmes bevor. Er

mußte seinem Herrn eingestehen, daß er einen bedauerlichen
Mißerfolg erzielt hatte...

*

Am anderen Morgen erwartete Roland eine Überraschung. Als er an
die gräfliche Tafel trat, an der er natürlich auch jetzt wieder zu Gast
war, trat ihm lächelnd ein Mann entgegen. Das Lächeln war etwas
bemüht, ja, sogar etwas gequält, aber es war da.

»Auf ein Wort, Ritter Roland!«
Der Ritter mit dem Löwenherzen verhielt seinen Schritt, lächelte

ebenfalls.

»Ja, Freiherr Helferich?«
»Ich wollte Euch sagen, daß mir meine unfreundlichen Worte von

gestern abend leid tun.«

Rolands Lächeln verstärkte sich. »Wollt Ihr damit sagen, daß Ihr

Euch bei mir entschuldigt?«

Die Mundwinkel des Freiherrn zuckten. Deutlich war ihm

anzusehen, wie schwer es ihm fiel, gute Miene zum bösen Spiel zu
machen.

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»Wenn Ihr Wert darauf legt, dann ... entschuldige ich mich«, sagte

er leicht stockend.

Roland nickte. »Gut denn, vergessen wir unsere kleine

Meinungsverschiedenheit.« Er nickte dem grobschlächtigen Mann
zu, verbeugte sich vor dem Grafen und seiner Gemahlin und nahm
am Tisch Platz.

Er konnte nicht sagen, daß ihm Helferich durch seine

Entschuldigung wesentlich angenehmer geworden war. Nicht einen
Augenblick zweifelte er daran, daß diese Entschuldigung keineswegs
der Überzeugung des Freiherrn entsprach. Er hatte sich dazu zwingen
müssen. Wahrscheinlich deshalb, weil es ihm von Graf Leander
nahegelegt worden war. Aus freien Stücken hätte sich dieser trotzige
Mann bestimmt nicht selbst derartig erniedrigt.

»Habt Dir wohl geruht, Ritter Roland?« erkundigte sich die Gräfin

Marika.

»Gewiß, ich habe ganz ausgezeichnet geschlafen.«
Er sagte nichts von der Attacke des Mädchens Maria Elena.

Schließlich hatte er versprochen, Stillschweigen zu bewahren. Und
den Kratzer an seiner Wange würde wohl niemand zur Kenntnis
nehmen.

»Freut mich, dies zu hören«, lächelte die Burgherrin. Sie schob

Roland einen Laib Brot und ein großes Stück Schinken hinüber.
»Langt kräftig zu. Damit ihr groß und stark bleibt!«

Der Graf bedachte seine Gemahlin mit einem mißbilligenden

Seitenblick. Zu offensichtlich waren ihre Gründe, aus denen sie sich
um das Wohlergehen des Ritters kümmerte. Er sah Roland an.

»Wann gedenkt Ihr, aufzubrechen?« fragte er.
»Noch in dieser Stunde«, sagte der Ritter mit dem Löwenherzen.

»Meine beiden Knappen sind bereits dabei, die letzten
Vorbereitungen zu treffen.«

Leander nickte. »Ich habe heute morgen noch einmal mit Freiherr

Helferich über Euren Ritt ins Tatarenreich gesprochen.«

»Ach, ja?« Roland biß herzhaft in den Schinken. Er war ganz

hervorragend. Offenbar hatte die Gräfin das beste Stück für ihn

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aufbewahrt. Ihm war das durchaus recht.

»Ich würde alles dafür geben, wenn ich Euch begleiten könnte«,

ergriff Helferich jetzt das Wort. »Aber leider ...»Er schwieg mit
verbissener Miene. »Ich weiß«, sagte Roland. »Der Arm, der Arm.«

»Ich könnte sehr zum Gelingen der Mission beitragen«, fuhr der

Freiherr fort. »Mein Wohnturm liegt unmittelbar an der Grenze zum
Tatarenreich, und es ist mehr als einmal vorgekommen, daß ich die
Grenze auch überschritten habe. Ich kenne mich also ein bißchen im
Reich der Barbaren aus.«

»Tja«, machte Roland. »Jemand, der über gewisse Kenntnisse des

Landes verfügt, wäre mir schon willkommen, aber ...« Er machte
eine bedauernde Handbewegung,. die allerdings nicht unbedingt
aufrichtig war. Er konnte sehr gut auf die Begleitung Helferichs
verzichten. Seine Wertschätzung von dem grobschlächtigen Mann
war nur gering.

»Dennoch könnte ich Euch helfen«, sprach Helferich weiter. »Ich

habe einen Knappen, der mich stets ins Tatarenreich begleitete. Auch
er ist mit Land und Leuten ein bißchen vertraut. Wenn Ihr seine
Dienste in Anspruch nehmen wollt...«

»Danke, das wird nicht nötig sein«, wehrte Roland ab. »Ich komme

schon allein zurecht.« Er dachte an die alte Weisheit, daß das
Gescherr nicht besser war als der Herr.

Eine Unmutsfalte erschien auf Helferichs Stirn, als er dem Grafen

einen stummen Blick zuwarf.

»Ich finde den Vorschlag des Freiherrn eigentlich recht gut«, sagte

der Burgherr auch gleich. »Der Knappe Eginolf ist ein braver
Bursche. Ich bin ganz sicher, daß er Euch sehr nützlich sein könnte.«

»Zumal er auch gewisse Kenntnisse von der Sprache der Tataren

hat«, warf Helferich noch ein.

Roland überlegte. In der Tat, über diesen Punkt hatte er sich

eigentlich noch gar keine ernsthaften Gedanken gemacht. Er selbst
kannte kein einziges Wort der Tatarensprache, so daß es
zwangsläufig zu Verständigungsschwierigkeiten kommen mußte.
Jemand, der diesem Mangel abhelfen konnte, war unter Umständen

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wirklich Gold wert.

»Nun, was meint Ihr, Ritter Roland?« Warum eigentlich nicht?

dachte der Ritter mit dem Löwenherzen. Wenn dieser Knappe sich
als unbotmäßig erweisen sollte, konnte er ihn jederzeit zum Teufel
schicken. Und außerdem waren da ja auch noch Pierre und Louis, um
dem Burschen notfalls die Flötentöne beizubringen.

»Einverstanden«, nickte er nach einer kurzen Weile. »Der Knappe

soll mir recht sein.«

»Ich freue mich sehr, daß es mir vergönnt ist, Euch hilfreich zu

sein«, sagte der Freiherr Helferich und lächelte.

*

»Dort drüben beginnt das Reich der Tataren!«

Der Knappe Eginolf hielt sein Reittier am Ufer des Flusses an und

deutete zur anderen Seite hinüber.

Viel war nicht zu sehen. Eine Kette dicht stehender Bäume, die

unweit vom Wasser standen, säumte das gegenüberliegende Ufer.
Die grelle Mittagssonne stand über der Landschaft und tauchte sie in
flimmerndes Licht. Bewegung war kaum auszumachen. Lediglich ein
paar Vögel kreisten über dem schmalen Streifen, der zwischen Fluß
und Wald lag. Es war ein Bild tiefen Friedens, das in nichts darauf
hindeutete, daß das Land von blutrünstigen Barbaren bewohnt
wurde.

»Gibt es irgendwo eine Brücke?« erkundigte sich der Ritter mit

dem Löwenherzen.

Eginolf schüttelte den Kopf. Er war ein mittelgroßer, stämmiger

Bursche mit widerspenstigem, dunklen Lockenhaar. Sein Gesicht
war recht grob geschnitten und erinnerte in gewisser Weise an seinen
Herrn. Die Augen standen dicht beieinander und riefen den Eindruck
hervor, als würden sie ständig einen ganz bestimmten Punkt in der
Ferne fixieren. Insgesamt sah er nicht wie ein Mann aus, dem man
unbedingtes Vertrauen entgegenbringen konnte. Bisher jedoch hatte
er sich durchaus als geschickt und umsichtig erwiesen. Und auch an

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dem erforderlichen Respekt Roland gegenüber ließ er es nicht fehlen.

Pierre stöhnte auf wie ein gequältes Tier. »Wenn keine Brücke da

ist... Soll das etwa bedeuten, daß wir den Fluß schwimmend
überqueren müssen, Eginolf?«

»Ganz so anstrengend wird es nicht werden«, gab der Knappe des

Freiherrn Helferich Auskunft. »Es gibt hier ganz in der Nähe eine
Furt, die uns den Übergang ermöglicht.«

»Dem Himmel sei Dank«, freute sich Pierre. »Ich habe nämlich

schon immer Schwierigkeiten mit dem Schwimmen gehabt.«

»Das hätte ich nicht gedacht«, sagte Eginolf und machte ein betont

erstauntes Gesicht.

»Wieso nicht?«
»Ich dachte immer, Fett schwimmt von selbst oben.«
Pierre prustete vor Entrüstung. »Was fällt dir ein, du häßlicher

Querschädel? Ich habe es nicht nötig, mich von einem wie dir
beleidigen zu lassen. Wenn du glaubst...«

»Schluß mit dem Gezeter«, griff Roland ein. »Wir haben Besseres

zu tun, als hier alberne Händel auszutragen. Wo ist die Furt,
Eginolf?«

»Ich reite voran, Ritter Roland!«
Der Knappe setzte sein Pferd wieder in Bewegung, und die

anderen folgten ihm. Es ging etwa noch eine halbe Meile am Fluß
entlang. Dann machte Eginolf wieder halt.

»Hier ist es!«
Auf den ersten Blick war zu erkennen, daß der Fluß an dieser

Stelle keine große Tiefe erreichte. Deutlich schimmerte der sandige
Grund durch das Wasser hindurch. Roland machte den Anfang und
lenkte seinen Samum in den Fluß hinein. Louis und Eginolf kamen
direkt hinter ihm. Nur Pierre zögerte ein bißchen, schloß sich dann
aber auch an.

Ganz so leicht ging der Übergang allerdings doch nicht vonstatten.

Nach wenigen Schritten schon reichte der Wasserspiegel den Pferden
bis über den Bauch. Auch machte sich die Strömung sehr
unangenehm bemerkbar. Etwa in der Mitte des Flusses verlor

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Samum den Kontakt mit dem Boden vollkommen. Sofort machte das
Tier Schwimmbewegungen. Und wenig später fanden die Hufe
wieder festen Halt. Von da an wurde es einfacher. Die Strömung ließ
nach, und der Fluß wurde zusehends flacher. Es dauerte nicht mehr
lange, bis Roland das andere Ufer erreichte. Die anderen drei
brauchten ein wenig länger, schafften es aber ebenfalls. Die
Gefahrenstelle in der Flußmitte hatte auch ihnen nichts anhaben
können.

»So sind wir also im Tatarenland«, sagte Louis und blickte sich

nach allen Seiten um. »Sieht auch nicht anders aus als bei uns.«

Roland lachte auf. »Was hast du erwartet - Leichen, die mit

aufgeschlitzten Bäuchen am Flußufer liegen?«

»Nein, das wohl nicht. Aber ich hätte nicht gedacht, daß wir so

ohne weiteres hier eindringen könnten.«

»Das Reich der Tataren ist groß, sehr groß sogar«, warf Eginolf

ein. »Es erstreckt sich über eine gewaltige Fläche. Die Barbaren
können nicht überall gleichzeitig sein. Wir werden ihre
Bekanntschaft noch früh genug machen.«

Roland nickte und lenkte sein Pferd dem Waldrand entgegen.

*

Seit Stunden ritten Roland und seine drei Begleiter nun durch das
Land der Tataren, und bisher war ihnen noch keine Menschenseele
begegnet. Wenn Tataren überhaupt Seelen besaßen, hieß das.

Sie hatten den Wald durchquert, der sich am Fluß hinzog, und

hatten dann flacheres Gelände erreicht. Eine schier endlose Ebene
dehnte sich vor ihnen. Fußhohes Gras, so weit das Auge reichte, nur
gelegentlich unterbrochen von kleineren Baumgruppen, die
überwiegend aus Pappeln und Akazien bestanden.

Die Ortskenntnisse des Knappen Eginolf hatten sich mittlerweile

als recht bescheiden entpuppt. Jedenfalls war es ihm bisher nicht
gelungen, sie zu einem Tatarenlager zu führen. Und er schien auch
nicht die geringste Ahnung zu haben, wo ein solches zu finden war.

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»Ihr müßt das verstehen, Ritter Roland«, sagte er entschuldigend.

»Die Landschaft sieht hier überall gleich aus. Da ist es nahezu
unmöglich, sich eine markante Stelle zu merken. Und selbst wenn
ich ganz genau wüßte, wo wir uns hier befinden, würde es uns kaum
etwas nützen.«

»Wieso nicht?«
»Die Tataren sind kein seßhaftes Volk. Sie bauen keine Städte und

Dörfer, wie wir das tun. Ackerbau ist ihnen nahezu unbekannt. Sie
ziehen mit ihren Viehherden ruhelos umher und sind mal hier, mal
dort. Für ein paar Tage schlagen sie ihr Zeltlager auf, und dann
machen sie sich bereits wieder auf ihren ziellosen Weg. Sagt selbst,
woher soll ich wissen, wo sich gerade eine ihrer Horden aufhält?«

»Ich weiß gar nicht, warum wir dich überhaupt mitgenommen

haben«, knurrte Pierre unfreundlich. »Du bist nur dafür gut, uns
unsere Vorräte wegzufressen.«

»Das ist deine einzige Sorge, was?« Eginolf blickte ihn böse an.

»Wenn du dir nur ständig den Wanst vollschlagen kannst, dann ist
alles in bester Ordnung.«

»Ich habe dir schon einmal gesagt ...«
Roland hörte nicht länger zu, ließ sein Pferd ausschreiten. Das

ständige Streiten zwischen Pierre und dem Knappen Helferichs
konnte er langsam nicht mehr hören. Pierre hatte schon immer ein
großes und auch ziemlich loses Mundwerk gehabt und pflegte sich
auch mit Louis oft herumzuzanken. Zwischen ihm und Louis war es
jedoch nie zu einem echten Zerwürfnis gekommen, denn ihr Gezerre
hatte stets einen freundschaftlichen Hintergrund. Mit Eginolf aber
stritt er sich ernsthaft. Es konnte nicht mehr lange dauern, bis die
beiden handgreiflich gegeneinander wurden. Mehr und mehr sah er
ein, daß es wohl doch ein Fehler gewesen war, Eginolf nicht auf der
Kronburg gelassen zu haben.

Weiter und weiter ritten die vier Männer. Langsam neigte sich der

Tag seinem Ende entgegen. Die Sonne, ein riesiger roter Ball,
schickte sich an, bald hinter dem Horizont zu versinken. Ein leichter
Wind war aufgekommen und brachte das hohe Gras allerorts zum

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Schwanken.

Louis, der unmittelbar neben Roland ritt, griff plötzlich in die

Zügel seines Reittiers.

»Was ist los?« fragte Roland. Er wußte, daß der ehemalige

Räuberhauptmann die Augen eines Luchses hatte. Oft schon war es
so gewesen, daß er etwas erspäht hatte, von dessen Gegenwart die
anderen noch gar nichts ahnten.

»Dort vor uns scheint eine Ansiedlung zu liegen«, gab der Knappe

zur Antwort.

Roland legte eine Hand vor die Augen, um besser sehen zu

können. Und er erkannte tatsächlich etwas. Noch ziemlich weit
entfernt drängten sich einige größere dunkle Punkte zusammen, bei
denen es sich sehr wohl um Häuser handeln mochte.

Oder um Zelte!
Roland winkte den Knappen Helferichs an seine Seite. »Kennst du

diese Ansiedlung dort?«

Eginolf blickte angestrengt in die Richtung der dunklen Punkte,

schüttelte dann den Kopf. »Ich weiß nicht«, sagte er. »Aber wir
können nicht ausschließen, daß es sich um ein Tatarenlager handelt.
Wenn wir noch ein Stück näher heranreiten würden ...«

»Zu nichts zu gebrauchen«, murmelte Pierre anzüglich.
Die vier Männer setzten ihre Pferde wieder in Bewegung. Langsam

und vorsichtig ritten sie weiter.

Bald war mehr zu erkennen. Ja, es handelte sich ohne Zweifel um

Häuser.

Um eine ganze Reihe von Häusern sogar. Es schien ein Dorf zu

sein, das sich praktisch nicht von denen auf der anderen Seite der
Grenze unterschied. Nur eins fehlte offensichtlich: die Kirche, die in
jedem christlichen Dorf den Mittelpunkt bildete.

»Immer noch keine Erinnerung?« fragte Roland den Getreuen des

Freiherrn Helferich.

Der schüttelte abermals den Kopf.
»Hast du nicht gesagt, daß die Barbaren keine Häuser bauen?«

wunderte sich Louis. »Wenn das keine sind, dann will ich ab sofort

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Adelheid heißen!«

Noch vorsichtiger als zuvor schoben sich die vier Männer der

Ansiedlung entgegen. Ein Grund für diese Vorsicht war bisher
allerdings nicht ersichtlich. Nichts rührte sich in dem Dorf vor ihnen.
Und bis auf das Zirpen der Insekten und das leichte Trappern der
Pferdehufe war auch kein Laut zu vernehmen.

Dann schließlich waren sie so nahe heran, daß sie Einzelheiten

wahrnehmen konnten. Die Häuser, auf die sie freies Blickfeld hatten,
waren samt und sonders zerstört. Große Löcher klafften in den
Wänden, und die Spuren von Feuer ließen sich überall erkennen. In
diesen Häusern konnte niemand mehr wohnen.

»Jetzt begreife ich«, sagte Eginolf. »Wir haben hier ein Dorf vor

uns, das erbaut wurde, längst bevor die Tataren kamen. Die Barbaren
haben es erobert und niedergebrannt. Die Bewohner sind entweder
geflüchtet oder niedergemetzelt worden. Ich bin sicher, daß wir
zwischen den Trümmern nicht einmal mehr einen räudigen Köter
finden werden.«

Die Worte Eginolfs stellten sich bald als wahr heraus. Als Roland

und seine Gefährten in das Dorf ritten, schlug ihnen eine tiefe
Totenstille entgegen. Lebende Menschen gab es hier gewiß nicht.
Aber es gab auch keine Toten. Sehr bald war klar, daß die Zerstörung
des Dorfes schon eine recht lange Zeit zurückliegen mußte. Nicht nur
Feuer und Keule hatten ihre schrecklichen Spuren hinterlassen,
sondern auch die Zeit. Unkraut, Pilze und Moose hatten sich überall
auf und zwischen den Trümmern ausgebreitet. Wind und Wetter
hatten ein übriges getan und den Verfall beschleunigt. Wenn es
Leichen gegeben hatte, woran man nicht zweifeln konnte, dann
waren sie längst vermodert. Selbst die Ratten, bei derartigen
Anlässen immer sogleich zur Stelle, hatten längst wieder das Weite
gesucht.

»Also immer noch keine Tataren«, sagte Roland.
»Was sehr bedauerlich ist«, warf Louis knurrend ein. »Ich würde

diesen Unmenschen wirklich gerne zeigen, was ich von ihnen halte.
Wenn ich an die Greueltaten denke, die sie hier begangen haben

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müssen ... Seht euch nur die Kirche an. Fast kein Stein steht mehr auf
dem anderen.«

In der Tat hatten die Eroberer besonders dem Gotteshaus übel

mitgespielt. Es war fast völlig dem Boden gleichgemacht worden.
Kein Wunder, daß man den Turm aus der Ferne nicht mehr hatte
sehen können.

Roland blickte zum Himmel, der sich mittlerweile mit immer

dunkler werdenden Rosatönen überzogen hatte. In kurzer Zeit würde
die Sonne untergehen.

»Ich würde sagen, wir schlagen hier unser Nachtlager auf«, meinte

er. »Wir suchen uns ein Haus, das noch halbwegs bewohnbar ist.
Dort sind wir jedenfalls besser aufgehoben als in der offenen Ebene.«

Pierre schüttelte sich. »Auf diesem riesigen Friedhof hier schlafen?

Muß das denn sein?«

»Warum nicht?« lachte Louis. »Oder hast du Angst vor den

Geistern der Toten?«

»Unsinn! Es ist ja nur...« Der dickliche Knappe druckste herum,

zuckte dann mit den Schultern. »Meinetwegen, bleiben wir also hier.
An mir soll es nicht liegen.«

Ein Haus zu finden, das der Zerstörungswut der Tataren halbwegs

getrotzt hatte, war gar nicht so einfach. Schließlich aber fanden die
Männer doch ein Gemäuer, bei dem nicht die Gefahr bestand, das es
über Nacht vollends einstürzen würde. Sie befreiten es von überall
herumliegenden Trümmerstücken und verstopften eine klaffende
Lücke im Dach. Dann hatten sie einen trockenen, windgeschützten
Raum zur Verfügung, der sich gar prächtig zur Nachtruhe eignete.

Bevor sie sich jedoch zum Schlafen niederlegten, entzündeten sie

mitten im Raum ein Feuer und bereiteten aus dem mitgeführten
Proviant das Abendessen vor.

Zum Verzehren der Mahlzeit kamen sie nicht mehr. Gänzlich

unerwartet hörten sie draußen Geräusche. Und ehe sie es sich
versahen, standen mehrere bärtige, wüst aussehende Männer vor
ihnen.

Nicht sie hatten die Tataren, sondern die Tataren hatten sie

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gefunden.

*

Schnell wurde ersichtlich, daß es mindestens zehn Tataren waren, die
vor dem halb zerstörten Haus standen. Es handelte sich ausnahmslos
um kräftige, sehnige Männer, was auch ihre Pelzkleidung nicht
verbergen konnte. In den dunklen Gesichtern mit den leicht
geschlitzten Augen lag ein wilder Ausdruck, der auf sofortige
Kampfbereitschaft hindeutete. Und daß sie in einem solchen Kampf
überaus ernste Gegner sein würden, verrieten allein schon die
Waffen, die sie bei sich trugen: Keulen, lange Messer, Schwerter, die
zum Teil eine bösartige Krümmung aufwiesen und mörderische
Wunden verursachen konnten.

Als Louis der Tataren ansichtig wurde, fuhr seine Rechte wie von

selbst zum Gürtel, wo sein Hirschfänger steckte. Er verstand es auch
vorzüglich, mit einem, Schwert umzugehen. Aber dieses schwere
Jagdmesser verwendete er im Kampf am liebsten.

Roland sah seine Bewegung und stieß ihm unverzüglich seinen

Ellenbogen in die Rippen.

»Laß die Waffe, wo sie ist«, zischte er. »Vergiß nicht, daß wir

hergekommen sind, um mit ihnen zu sprechen.«

»Außerdem würden sie uns schneller niedermachen, als ein Rabe

dreimal krähen kann«, bemerkte Eginolf mit verkniffenem Gesicht.

Pierre sagte gar nichts. Er blickte die Barbaren nur mit Augen an,

die keineswegs von Furcht frei waren.

Zögernd ließ Louis seine rechte Hand wieder nach unten sinken. Er

tat es sichtlich ungern, aber das Wort seines Herrn war ihm
unabdingbarer Befehl.

Sekundenlang standen sich die Männer schweigend gegenüber,

hier die Männer des Abendlands, dort die Krieger aus den Tiefen des
barbarischen Ostens.

Einer der Tataren, ein Stück größer und breitschultriger als seine

Gefährten, war es schließlich, der als erster das anhaltende

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Schweigen brach. Er tat es mit lauter, dröhnender Stimme, deren
Worte allerdings völlig unverständlich blieben.

»Was sagt er?« fragend blickte Roland den Knappen des Freiherrn

Helferich an.

Ein angestrengter Ausdruck war in Eginolfs Gesicht getreten. Er

hielt den Kopf ein bißchen schief, um besser hören zu können. Viel
kam dabei jedoch nicht heraus.

»Ich kann den Mann nicht verstehen«, gab er schließlich zu. »Er

muß einen Tatarendialekt sprechen, der ganz anders ist als der, mit
dem ich vertraut bin.«

»Ich sage es ja immer«, raunte Pierre seinem Herrn zu. »Dieser

Bursche ist wirklich zu nichts zu gebrauchen!«

Diesmal mußte ihm der Ritter mit dem Löwenherzen unbedingt

recht geben. Dieser Eginolf war wirklich eine ziemlich taube Nuß.

Der Sprecher der Tataren hatte jetzt aufgehört zu reden. Deutlich

sah man ihm an, daß er eine Antwort erwartete.

»Sag ihm, daß wir als Freunde gekommen sind«, forderte Roland

Eginolf auf. »Das wirst du doch wohl noch fertig bringen, oder?«

»Ich ... will es versuchen.«
Eginolf wandte sich dem breitschultrigen Tataren zu. Mehrmals

setzte er zum Sprechen an. Dann stieß er ein paar Laute aus, die ganz
eigenartig klangen, aber keine erkennbare Ähnlichkeit mit den Tönen
des Barbaren hatten.

Dennoch antwortete der Tatar. Die Worte sprudelten nur so aus

ihm heraus, kehlig und hart.

»Was?« fragte Roland.
Eginolf s Mundwinkel zuckten. »Ich habe den Eindruck, daß der

Kerl mich nicht verstanden hat.«

»Diesen Eindruck habe ich allerdings auch«, erwiderte der Ritter

mit dem Löwenherzen ärgerlich.

»Zu nichts zu gebrauchen«, warf Pierre ein.
Roland nahm die Dinge jetzt selbst in die Hand. Er trat einen

Schritt auf den Breitschultrigen zu.

»Freund«, sagte er und lächelte breit. »Wir Freunde! Du

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verstehen?«

Der Tatar glotzte ihn nur an.
Blöder Hund, dachte Roland. Aber er ließ sich seine Gedanken

nicht anmerken, sondern behielt sein breites Grinsen bei. Wenigstens
das Grinsen mußte der Wilde doch verstehen.

»Freund«, wiederholte er. Dann nahm er seine linke und seine

rechte Hand, legte sie ineinander und schüttelte sie. »Freund!
Begreifst du endlich, du verdammter Mädchenschänder?«

»Ugu?« sagte der Tatar fragend.
»Ugu, ganz recht«, bestätigte Roland in der Hoffnung, daß der

Tatar mit >Ugu< dasselbe meinte wie er.

Jetzt grinste der Barbar ebenfalls.
Er kam auf Roland zu und donnerte ihm seine Rechte auf die

Schulter.

»Ugu!«
Roland war ein kräftiger Mann, der schon einiges vertragen

konnte, ohne mit der Wimper zu zucken. Der Hieb des Tataren
jedoch hätte ihn beinahe zum Winseln gebracht. Außerdem mußte er
sich zusammenreißen, um nicht in die Knie zu gehen.

Na warte, Freundchen, dachte er.
Dann hob er seinerseits die Hand und ließ sie dem breitschultrigen

Mann auf die Schulter krachen.

»Ugu!« sagte er.
Und weil es so schön war, schlug er gleich noch einmal zu, einmal,

zweimal, dreimal.

»Ugu! Ugu! Ugu!«
Der Tatar verzog den Mund. Zwei Tränen traten ihm in die Augen.

Mit Genugtuung stellte Roland fest, daß auch sein Gegenüber alle
Mühe hatte, die Beine gerade zu halten. Dann lachte der Tatar, lachte
so laut, daß die Befürchtung aufkam, die noch verbliebenen Wände
des Hauses könnten doch einstürzen.

Und Roland lachte ebenfalls. Nicht ganz so dröhnend wie der

Barbar, aber doch so kräftig, daß einem die Ohren davon weh tun
konnten. Wenig später fielen auch die anderen Tataren in das

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Gelächter ein. Louis, Pierre und Eginolf blieb nichts anderes übrig,
als schließlich auch noch mitzumachen. Es dauerte fast eine Minute,
bis sich alle Anwesenden wieder beruhigt hatten.

Dann machte der Breitschultrige ein paar Handbewegungen, die

auch ohne Worte für jeden verständlich waren.

Kommt mit uns!
»Mir scheint, wir haben gerade eine Einladung bekommen«, sagte

Roland zu seinen drei Knappen. »Und ich glaube, wir sind gut
beraten, wenn wir dieser Einladung Folge leisten.«

*

Der Weg zum Lager der Tataren war nicht weit. Keine halbe Stunde
dauerte es, bis im Dämmerlicht die Umrisse des kleinen Zeltdorfs
auftauchten.

Nicht nur dem Knappen Pierre wurde es mulmig in der

Magengegend. Auch Roland mußte zugeben, daß er sich in seinem
Leben schon wesentlich wohler gefühlt hatte.

Der Ritt war weitgehend schweigend verlaufen. Was sollten

Christen und Barbaren auch miteinander reden? Sie verstanden ja
ohnehin kein Wort von dem, was die anderen sagten. Eginolf hatte
noch einmal versucht, eine Verständigung herbeizuführen, war dabei
jedoch kläglich gescheitert.. Mehr und mehr kam Roland zu der
Überzeugung, daß der Bursche überhaupt keines Dialekts der
Tatarensprache mächtig war. Er fragte sich nur, warum der Freiherr
Helferich so großen Wert darauf gelegt hatte, ihm seinen Knappen
mitzugeben. Aber das war gegenwärtig ohne Belang. Jetzt ging es
um ganz andere Dinge.

Hatten die Tataren sie wirklich nur mit in ihr Lager genommen,

weil sie freundlich sein wollten? Oder lag es vielmehr in ihrer
Absicht, sie lediglich in Sicherheit zu wiegen, um dann ganz
überraschend über sie herzufallen und sie niederzumachen?

Nach allem, was Roland über die Barbaren gehört hatte, sprach

alles für die zweite Möglichkeit. Die Tataren waren hinterhältig,

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grausam und mörderisch, das hatte man ihm erzählt. Von
Freundschaft und Gastlichkeit war niemals die Rede gewesen. So
etwas paßte ganz einfach nicht zu Männern, die am liebsten
Jungfrauen vergewaltigten und Bäuche aufschlitzten. Roland war
sich im klaren darüber, daß er wachsam sein mußte, sehr, sehr
wachsam.

Immerhin, die Tataren hatten ihm und seinen Gefährten nicht die

Waffen abgenommen. Das war vielleicht doch ein gutes Zeichen und
verlieh Roland zudem ein gewisses Gefühl der Sicherheit. Ein Ritter,
der sein Schwert besaß, war noch lange nicht verloren.

Wenig später war das Lager erreicht. Es war doch größer, als es

aus der Ferne ausgesehen hatte. Mindestens fünfzig, zum Teil recht
große Zelte ließen sich zählen. Sie bildeten ein großes Viereck und
waren mit Pflöcken und Stricken solide im Grasboden verankert
worden. Neben den Zelten befand sich eine Koppel, in der die
berühmten Pferde der Tataren untergebracht waren. Noch weiter im
Hintergrund, ziemlich verstreut, waren weitere Tiere auszumachen.
Das Vieh der Tataren offenbar, das sie bei ihren Zügen durch das
Land ständig begleitete. Ganz augenscheinlich war das Zeltlager
nicht nur für eine Nacht, sondern für eine längere Zeit errichtet
worden.

Sehr schnell lernten Roland und die Knappen auch die anderen

Bewohner des Lagers kennen. Es waren ein ganzer Schwarm von
Männern, Frauen und Kindern in allen Altersklassen. Als die
Ankömmlinge in der Mitte des Lagers haltmachten, kamen sie von
allen Seiten und starrten die vier Fremden an.

Leicht überrascht nahm Roland zur Kenntnis, daß die Blicke vor

allem Neugier und Erstaunen ausdrückten. Mißtrauen, Feindschaft
oder gar Mordlust konnte er nicht feststellen. Langsam begann er
sich zu fragen, ob all das, was man ihm so über die wilden
Reiterhorden aus dem Osten erzählt hatte, wirklich den Tatsachen
entsprach. Wenn er sich die Bewohner dieses Zeltdorfs so ansah,
hatte er diesen Eindruck ganz und gar nicht. Aber, sagte er zu sich
selbst, man soll sich nicht durch den bloßen Augenschein täuschen

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lassen. Schließlich durfte er nicht vergessen, daß es Tataren gewesen
waren, die erst kürzlich die Grafentochter Anja von Kronburg
geraubt und einen tapferen Ritter skrupellos hingemeuchelt hatten. Er
mußte auch weiterhin auf der Hut sein und durfte zu keiner Zeit
leichtsinnig werden.

Ugu - in Ermangelung der Kenntnis eines anderen Namens nannte

Roland bei sich den Breitschultrigen so - saß als erster ab. Sofort
eilte ein junger Bursche herbei und führte sein Pferd weg. Auch die
anderen Tataren sprangen vom Rücken ihrer Pferde. Ugu bedeutete
Roland und den Knappen mit einer Handbewegung, es ihnen gleich
zu tun.

Was blieb den Abendländern übrig? Sie kamen der Aufforderung

umgehend nach.

Ugu rief etwas. Im nächsten Augenblick waren ein paar andere

junge Stammesmitglieder zur Stelle, um sich ihrer Pferde
anzunehmen.

Roland zögerte, die Zügel freizugeben. Ein Ritter, sein Schwert

und sein Pferd gehörten zusammen. Ihm fehlte etwas, wenn er
Samum nicht in unmittelbarer Nähe wußte.

Louis war zwar noch kein Ritter, aber er dachte genauso wie sein

Herr. Auch er hielt die Zügel seines Reittiers nach wie vor in der
Hand und bedachte den jungen Tataren, der nach ihnen greifen
wollte, mit einem finsteren Blick.

Ugu erkannte, wie es den beiden Männern widerstrebte, sich von

ihren Pferden zu trennen. Wahrscheinlich verstand er ihre
Beweggründe sogar, denn es hieß ja, daß auch die Tataren ihre
Pferde sehr liebten und förmlich mit ihnen verwachsen waren. Er
lächelte und deutete zu der Koppel hinüber.

Louis wechselte einen Blick mit seinem Herrn, zuckte dann die

Achseln und ließ die Zügel los. Auch Roland gab seinen Samum in
die Obhut des Jünglings, der neben ihm stand.

Inzwischen hatten andere Dorfbewohner einen regelrechten Ring

um die Fremden gezogen. Es waren fast ausschließlich Kinder und
Frauen, die sie anstarrten wie Wesen aus dem Märchenland.

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Offenbar hatten sie noch nie Menschen mit weißer Haut gesehen.
Vor allem erregte auch Rolands blondes Haar einiges Aufsehen. Eine
junge Frau löste sich sogar aus den Reihen der anderen und trat auf
den Ritter mit dem Löwenherzen zu. Ohne Scheu streckte sie die
Hand aus und fuhr ihm damit durch die Haare. Sie befühlte ein paar
Strähnen und war auch keck genug, ihm ein paar Haare auszureißen.

Roland nahm es geduldig hin. Augenscheinlich war derlei Tun bei

den Barbaren Sitte. Außerdem gefiel ihm das Mädchen. Sie war noch
sehr jung, siebzehn Jahre höchstens, und ausgesprochen hübsch. Im
Gegensatz zu ihren Stammesgenossinnen war die eigenartige
Tatarenfalte an den Augen kaum wahrzunehmen. Und obwohl sie ein
zwar sehr buntes, aber auch sehr grob gewebtes, dickes
Kleidungsstück am Körper hatte, war nicht zu verkennen, daß sich
darunter sehr wohlgerundete Formen verbargen.

Ein paar grobe Worte von Seiten Ugus verscheuchten sie

schließlich. Aber sie ging nicht, ohne Roland noch einen heißen,
vielversprechenden Blick zuzuwerfen.

Auch die übrigen Gaffer wichen ein Stück zurück. Ugu besaß

offenbar großen Respekt bei seinen Leuten.

Jetzt bedeutete ihnen der Breitschultrige, der wohl der Anführer

dieser Tatarenhorde war, ihm zu folgen. Roland und seine drei
Knappen taten es. Er führte sie zu einer Zeltreihe hinüber, sprach
dabei fortwährend auf sie ein. Roland antwortete auch, aber leider
kam dabei keine Verständigung zustande. Aber der Ton war
unbedingt freundlich, vielleicht auch deshalb, weil der Ritter mit dem
Löwenherzen ein paarmal das Wort >Ugu< einflocht.

Wenig später hatte ihnen der Tatarenführer zwei Zelte zugeteilt, in

der sie wohl die Nacht verbringen sollten. Roland bedankte sich
gestenreich. Der Dank war um so angebrachter, als ein paar Tataren
die Zelte vorher räumen und bei irgendwelchen Stammesgenossen
unterkriechen mußten.

Grausam und mordlustig sollten die Tataren sein? Vielleicht. In

jedem Fall aber waren sie gastfreundlich. Der Gedanke, daß Ugu dies
alles nur tat, um sie in eine Falle zu locken, geriet immer mehr in den

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Hintergrund. Wenn die Tataren etwas Böses im Schilde führen
würden, dann hätten sie längst über die Gefährten herfallen können.
Ihre zahlenmäßige Überlegenheit war so groß, daß Roland und die
Knappen kaum in der Lage gewesen wären, mehr als recht
aussichtslosen Widerstand zu leisten.

Die Gastfreundschaft war noch längst nicht erschöpft. Ganz im

Gegenteil, sie fing jetzt erst richtig an. Der Himmel war schwarz
geworden, und der Mond versteckte sich hinter den Wolken.
Dennoch war es hell im Lager. Mehrere große Feuer brannten im
Mittelkreis zwischen den Zelten. Und über diesen Feuern ...

Halbe Ochsen!
Gleich mehrere waren es, die sich an riesigen Bratspießen drehten.

Roland war ein Ritter und gehörte darob dem gehobenen Stand an.
Während das einfache Volk vielleicht zwei oder dreimal im ganzen
Leben einen saftigen Braten zwischen die Zähne bekam, waren er
und seine Knappen wesentlich besser dran. In den Fürstenburgen gab
es meistens reichlich und gut zu essen. Aber Fleisch war auch dort
sehr oft Mangelware oder wurde nur bei besonderen Anlässen auf die
Tafel gebracht. Die Tataren aber konnten es sich an einem ganz
normalen Abend leisten, aus dem vollen zu schöpfen.

Das nannte man Lebensart!
Roland warf einen schnellen Seitenblick zu seinem treuen Pierre

hinüber. Dem dicklichen Knappen fielen fast die Augen aus dem
Kopf. Und er sabberte. Roland konnte es nicht sehen, aber er
zweifelte nicht daran, daß Pierres Hände vor Freßlust zitterten.

Und diese Freßlust konnte er sehr bald mit Herzenslust

befriedigen. Ugu führte sie an eins der Feuer, wo bereits ein paar
Sitzdecken auf sie warteten. Andere Tataren, unter ihnen natürlich
auch Ugu selbst, gesellten sich dazu. Und dann begann das große
Fressen, das für die Barbaren wohl alltäglich, für die Abendländer
jedoch etwas Besonderes war. Mit dem Messer schnitten die Tataren
große Stücke von dem Ochsen ab und hieben ihre Zähne ein, so daß
ihnen der Saft über das ganze Gesicht spritzte. Dabei schmatzten sie,
daß es eine wahre Pracht war. Und sie rülpsten zum Zeichen, wie

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sehr es ihnen schmeckte.

Roland und die Seinen ließen sich nicht lange nötigen. Sie langten

genauso zu wie ihre Gastgeber. Daß die wüste Fresserei mit
höfischen Eßsitten nichts, aber auch gar nichts gemein hatte,
kümmerte sie nicht im mindesten. Roland ertappte sich dabei, daß es
ihm sogar ein besonderes Vergnügen bereitete, noch lauter zu
rülpsen als die Tataren. Das wiederum bereitete Ugu großes
Vergnügen. Er drückte es aus, indem er dem Ritter mit dem
Löwenherzen wieder seine Pranke auf die Schulter krachen ließ. Da
Roland in diesem Augenblick gerade einen dicken Fleischbrocken im
Mund hatte, verschluckte er sich. Auch daran hatten die Tataren,
insbesondere Ugu, großen Spaß. Sie lachten brüllend und hielten sich
dabei die Bäuche.

Es blieb aber nicht allein beim Essen. Auch das Trinken kam nicht

zu kurz. Ganz und gar nicht! Ein paar junge Tataren schafften große
Krüge heran, die bis zum Rand mit einer wasserhellen Flüssigkeit
gefüllt waren. Handgroße Becher wurden ausgeteilt, und dann ging
es los.

Als sich Roland den ersten kräftigen Schluck in den Hals schüttete,

glaubte er, pures Feuer getrunken zu haben, so sehr brannte das
Zeug. Ein scharfer Haferbrand war dagegen so zart wie Ziegenmilch.
Dabei schmeckte das Gesöff eigentlich nach ... nichts.

Roland verkniff es sich, den Mund zu verziehen oder gar zu

husten. Sehr wohl war er sich bewußt, daß ihn die Tataren
beobachteten. Besonders Ugu hatte ihn ganz scharf im Auge.
Mannhaft leerte er den ganzen Becher und tat dabei so, als habe es
ihm ganz vorzüglich gemundet.

»Kuruk?« sagte Ugu in fragendem Ton.
»Kuruk!« antwortete Roland. »Sehr, sehr kuruk!«
Der Tatarenführer sagte noch etwas, winkte dann eins der

Schankmädchen herbei und ließ seinen und Rolands Becher abermals
bis zum Rand vollgießen. Auch Louis und Eginolf ließen sich
nachschenken, während Pierre seinen Becher noch nicht bewältigt
hatte.

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»Mach schon«, raunte ihm Louis zu. »Oder willst du, daß uns diese

Burschen für Memmen halten?«

Tapfer leerte auch der dickliche Knappe seinen Becher, wobei er

nicht verhindern konnte, daß ihm ein paar Schweißtropfen auf die
Stirn traten. Auch er bekam Nachschub.

»Botok«, sagte Ugu und hob grinsend seinen Becher.
»Botok!«
Roland setzte den Becher an die Lippen und stürzte den Inhalt mit

Todesverachtung hinunter. Mit Befriedigung stellte er fest, daß er
sogar etwas schneller fertig war als Ugu. Auch Ugu selbst stellte es
fest. Ein anerkennender Blick traf Roland.

»Kuruk?«
»Kuruk!«
Louis und die anderen Tataren am Tisch hinkten ein wenig

hinterher, hatten es jetzt aber auch geschafft. Das gleiche galt für
Eginolf, der seinen Becher hin und her drehte, um anzuzeigen, daß
sich kein einziger Tropfen mehr darin befand. Allein Pierre mühte
sich noch.

»Ob ich nicht statt dieser Teufelssuppe einen Humpen süffigen

Weins haben kann?« flüsterte er hoffnungsvoll, »Sauf!« zischte
Louis böse.

Mit einer Miene, die zum Gotterbarmen war, tat der dickliche

Knappe seine Trinkpflicht.

Erneut wurden die Becher gefüllt. Erst jetzt bemerkte Roland, daß

das Schankmädchen die Kleine war, die vorhin an seinen Haaren
herumgespielt hatte. Sie blinzelte ihm zu, als wolle sie ihm Mut
zusprechen. Aber Roland war sich nicht sicher. Vielleicht meinte sie
mit ihrem Blinzeln auch etwas anderes.

»Botok!« sagte Ugu.
»Botok!«
Zu seiner eigenen Überraschung merkte Roland, daß das Zeug

anfing, ihm zu schmecken. Es brannte zwar nach wie vor wie Feuer,
aber daran gewöhnten sich Gaumen und Kehle langsam.

»Kuruk«, sagte er, bevor Ugu dazu kam, ihm das Wort

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vorzusprechen. Er streckte verlangend die Hand mit dem leeren
Becher aus.

Sein Arm zitterte kein bißchen.

*

Wieder gelang es Eginolf, den Inhalt seines Bechers unauffällig
neben sich zu schütten. Der Teufel sollte ihn holen, wenn er sich
auch nur noch einen Schluck von dem höllischen Gebräu durch die
Kehle jagte. Wenn er all das tatsächlich getrunken hätte, was er
angeblich getrunken hatte, wäre er längst stockbesoffen. Das aber
konnte er sich nicht leisten, denn er hatte in dieser Nacht noch etwas
vor.

Während er vorgab, schon schwer angeschlagen zu sein,

beobachtete er seine Mitzecher scharf und aufmerksam. Der Knappe
Pierre war bereits erledigt. Er hing mehr auf seiner Decke, als daß er
darauf saß, und er sabbelte irgend etwas vor sich hin. Louis hielt sich
noch ganz gut, aber auch er zeigte schon ziemliche Wirkung.
Dasselbe galt auch für einige der Tataren. Allein der breitschultrige
Anführer der Barbaren und der Ritter Roland machten noch den
Eindruck, einigermaßen klar im Kopf zu sein. Aber auch bei ihnen
konnte es nicht mehr lange dauern, bis sich der Höllenbrand deutlich
bemerkbar machte.

Die Lage sah nicht gut aus für ihn und seinen Herrn, den Freiherrn

Helferich. Roland war drauf und dran, echte Freundschaft mit diesem
Tatarenführer zu schließen. Und wenn sich dann noch jemand fand,
der die Sprachschwierigkeiten zwischen ihnen überbrücken konnte,
würde die Wahrheit vermutlich sehr schnell ans Tageslicht kommen.
Das aber durfte nicht geschehen.

Eginolf hatte auch schon einen Plan geschmiedet, wie er das

Verhängnis abwenden konnte. Zuerst war es seine Absicht gewesen,
abzuwarten, bis Roland völlig betrunken war, und ihn dann mit
einem schnellen Messerstich zu erledigen. Diesen Gedanken hatte er
jedoch inzwischen wieder fallen gelassen. Leute, die so saufen

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konnten wie der Ritter, wurden selbst dann im Handumdrehen
wieder nüchtern, wenn sie voll wie eine Jauchengrube waren. Und
wenn er mit dem ersten Messerstich nicht ganz genau ins Ziel traf ...
Nein, er würde nicht selbst gegen Roland vorgehen. Das war ihm zu
gefährlich. Viel besser würde es sein, wenn ihm die Tataren die
Arbeit abnahmen.

Weiter und weiter ging das wüste Gelage am Feuer. Und nun

waren sehr schnell Opfer zu beklagen. Das erste war der Knappe
Pierre. Er kippte nach hinten über und blieb in verkrümmter Haltung
liegen, die Augen fest geschlossen und laut schnarchend. Eine Weile
später machten auch die ersten Tataren schlapp. Sie mühten sich
schwerfällig auf die Füße und torkelten davon, um in irgendwelchen
Zelten zu verschwinden. Bald waren nur noch wenige Zecher übrig
geblieben: Der Anführer, zwei seiner Stammesgenossen, Louis, der
schnarchende Pierre und er selbst, Eginolf.

Die anderen Feuer waren längst erloschen. Die Tataren, die an

ihnen gesessen hatten, lagen längst auf ihren Schlaflagern. Nur das
Mädchen, das Roland und den anderen Männern die Becher füllte,
hatte sich noch nicht zurückgezogen.

Und gerade dieses Mädchen war es, auf das sich Eginolfs Plan

stützte. Er hatte die Kleine ganz genau beobachtet, hatte gesehen, daß
sie nur Augen für Roland hatte. Begehrliche Augen, die einen ganz
bestimmten Wunsch erkennen ließen. Und auch die Augen des
Ritters hatten immer wieder mit großem Wohlgefallen auf dem
Mädchen geruht. Eginolf war sich ganz sicher, daß nicht nur er diese
gegenseitigen Blicke bemerkt hatte. Wenn sich also zwischen den
beiden etwas abspielte, würden die Tataren bestimmt nicht
überrascht sein. Alles andere ergab sich daraus nahezu zwangsläufig.
Er, Eginolf, brauchte nur den richtigen Zeitpunkt abzuwarten.

Dann würde er handeln.

*

»Bo ... tok!«

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Roland merkte, daß seine Zunge nicht mehr so richtig wollte. Aber

das spielte keine Fiedel. Hauptsache war, daß er noch den Mund
aufbekam, um neuen Fusel hineinzuschütten.

»Bo ... tok!«
Auch Ugus Stimme war nur noch ein Lallen. Die Augen des

Tatarenführers standen ziemlich schräg, und wenn er den Becher
zum Mund führte, verschüttete er regelmäßig die oberste Lage. Aber
auch sein Schluckvermögen hatte die Grenze noch nicht erreicht.

Roland kippte seinen Becher hinunter und rülpste anschließend aus

tiefster Seele. Mit glasigen Augen blickte er auf Ugu, der unmittelbar
neben ihm saß.

»Na, alter ... alter Bauch ... Bauchaufschlitzer, schaffst. .. schaffst

du es nicht... nicht mehr?«

Natürlich verstand der Tatarenführer kein Wort. Aber er ahnte

wohl, was sein Zechkumpan gesagt hatte. Er grinste schief und
machte den Trinkbecher leer.

»Ku ... ruk?«
»Ku ... ruk!«
Roland blickte mit krampfhaft aufgerissenen Augen in die Runde.

Nur noch »Leichen« waren um das Feuer versammelt. Pierre
schnarchte wie ein Murmeltier, Louis war in sich
zusammengesunken und rührte sich kein bißchen und Eginolf starrte
mit leeren Augen ins Feuer, den umgekippten, noch halb gefüllten
Becher neben sich im Gras. Von den Tataren war überhaupt keiner
mehr da. Nur Ugu natürlich.

Der Tatarenführer stammelte irgend etwas und machte eine vage

Handbewegung, wobei er seinen Becher umstülpte, so daß die
Öffnung nach unten zeigte.

Dieser Geste entnahm Roland die Frage, ob er aufhören wolle, zu

trinken. Grinsend schüttelte er den Kopf und hob seinen Becher. »Ku
... ruk!«

Wenn Ugu dachte, daß er aufgeben würde, sah er sich getäuscht.

Ihn trank niemand unter den Tisch. Auch kein Tatar!

Ugu grinste ebenfalls und winkte dem Schankmädchen. Die Kleine

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war sofort zur Stelle und füllte die Becher der beiden Männer erneut.
Dabei kniete sie sich neben Roland und ließ wie unbeabsichtigt ihren
Busen über seinen Arm gleiten.

Roland war diese Berührung alles andere als unangenehm. Er

streckte die freie Hand aus und tätschelte den reizvoll gerundeten Po
der jungen Tatarin. Das Mädchen zuckte keineswegs zurück, sondern
lächelte ihn nur schelmisch an.

Der Tatarenführer sah es und lächelte dazu. Dann aber hob er

schon wieder seinen Becher.

»Botok!«
»Bo ... tok!«
Runter mit dem Zeug!
Roland spürte, wie ihm der Fusel in der Kehle steckenzubleiben

drohte. Er mußte echt würgen, um wieder richtig atmen zu können.

Sein Zechkumpan hatte dieselben Schwierigkeiten. Um ein Haar

hätte er sich erbrochen. Ein paar Augenblicke später jedoch hatte er
den Übelkeitsanflug wieder überwunden.

Er beugte sich zur Seite und legte Roland einen Arm und die

Schulter. Dann sagte er etwas, das Roland zwar unverständlich blieb,
aber sehr freundschaftlich klang.

»Ich ... kann ... dich auch ver ... verdammt gut lei ... leiden, alter

Wit... Wit... alter Witwenmörder«, antwortete er und erwiderte die
Umarmung des Tataren.

Die beiden Männer klopften sich gegenseitig auf die Schulter und

lösten sich dann wieder voneinander.

Roland hob den Becher hoch in die Luft - mit der Öffnung nach

oben. Das Mädchen verstand und goß ein. Auch Ugu bekam seine
Ration.

»Bo ... tok!«
»Botok!«
Roland fing an, Sterne zu sehen. Sie tanzten flimmernd vor seinen

Augen und machten ihn ganz schwindlig. Er mußte die Augen
zukneifen, um sie wieder loszuwerden.

Ugu rülpste und würgte. Und diesmal wurde er seiner

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Schwierigkeiten nicht Herr. Er übergab sich und sah danach aus, als
würde er jeden Augenblick sterben. Mit einer kraftlosen Bewegung
hielt er den Becher in der zitternden Hand. Die Öffnung zeigte nach
unten. Fast bittend blickte er Roland an.

Er dauerte den Ritter mit dem Löwenherzen. Aber es hieß, daß die

Tataren unbesiegbar waren. Und an diesem Abend hatte sich Roland
vorgenommen, dieser Unbesiegbarkeit ein Ende zu setzen. Wenn
nicht mit dem Schwert, dann wenigstens mit dem Trinkbecher. Er
streckte die Hand mit dem Gefäß aus - Öffnung nach oben.

Das Mädchen bedurfte keiner Aufforderung. Sie füllte die Becher

ganz von selbst.

»Bo ... tok!«
»Bo ... Bo ... tok!«
Und wieder runter mit dem Fusel!
Diesmal waren es keine Sterne, die Roland sah. Die Sonne selbst

schien vor seinen Augen zu zerplatzen. Und es dauerte verdammt
lange, bis sie endlich damit fertig war.

Ugu sah keine grell leuchtende Sonne. Bei ihm war die absolute

Finsternis eingekehrt. Er fiel um wie ein naß gewordener Mehlsack
und blieb regungslos auf seiner Decke liegen.

Sofort ließ Roland seinen Becher fallen. Jetzt lag kein Grund mehr

vor, sich an dem Ding festzuhalten. Er hatte gewonnen. Er hatte die
Tataren besiegt!

Das war unbedingt einen Triumphschrei wert. Roland öffnete den

Mund, um ihn auszustoßen. Aber es kam nur ein kraftloses, unsagbar
gequältes Röcheln über seine Lippen.

Das Mädchen, das dicht neben ihm hockte, lachte. Vielleicht ahnte

sie, was in ihm vorging. Sie legte die Hände unter seine Achseln und
bedeutete ihm, daß er aufstehen sollte. Dabei deutete sie mit dem
Kopf zu den Zelten hinüber.

Roland nickte schwerfällig. Ins Zelt, ja. Das war genau der Ort, zu

dem er wollte.

Mit großer Mühe kam er auf die Füße. Wenn ihm das Mädchen

nicht geholfen hätte, wäre er dazu wahrscheinlich gar nicht in der

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Lage gewesen. Und alleine gehen konnte er auch nicht. Wieder war
er auf die Unterstützung der Tatarin angewiesen. Das Mädchen
offenbarte dabei erstaunliche Kräfte. Schwer lastete sein
beträchtliches Körpergewicht auf ihr, aber das machte ihr nicht viel
aus. Sie schleppte ihn in das Zelt, das ihm Ugu Stunden zuvor
zugewiesen hatte.

Schwer ließ sich Roland auf das Fellager fallen. Schlafen - das war

sein einziger Gedanke.

Das Mädchen jedoch hatte ganz andere Gedanken. Schließlich

hatte sie nicht eine halbe Ewigkeit bei den Zechern ausgeharrt, um
sich jetzt etwas vorschnarchen zu lassen. Sie kniete neben dem Ritter
nieder und fing an, ihn seiner Kleidung zu entledigen.

Roland ließ es geschehen. Nicht einmal ungerne, denn die sanften

Berührungen ließen einen angenehmen Schauder in ihm aufsteigen,
der stärker war als seine Trunkenheit. Schlafen?

Gewiß, aber vielleicht doch nicht sofort. Denn zunächst...
Er griff nach der jungen Tatarin, die inzwischen mit ihrer

Entkleidungstätigkeit fertig geworden war. Bereitwillig drängte sie
sich ihm entgegen, als seine Finger nach den Schnüren und Knöpfen
ihres Umhangs suchten. Er stellte sich dabei sehr ungeschickt an.
Einmal weil er das fremde Kleidungsstück nicht kannte. Und
natürlich auch, weil seine Finger nicht ganz so wollten, wie er das
gerne gehabt hätte. Aber das machte alles nichts. Die junge Tatarin
wußte mit ihren eigenen Schnüren um so besser Bescheid und hatte
sie in wenigen Augenblicken selbst gelöst. Mit Leichtigkeit konnte
ihr Roland nun die Kleidung vom Körper ziehen, so daß sie genauso
nackt war wie er.

Es war stockdunkel im Zelt, aber Roland und das Mädchen

brauchten auch kein Licht. Der Ritter mit dem Löwenherzen
erkundete die Körperlandschaft der Tatarin mit seinen Händen und
stellte dabei fest, daß es eine gar prächtige Landschaft war. Herrlich
geformte Hügel, die steil in die Höhe ragten, ein sanft bemoostes Tal,
das eine einzige lockende Versprechung war.

Und auch das Mädchen fand alles, was sie suchte. Hochbefriedigt

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nahm sie zur Kenntnis, daß der abendländische Ritter zu jenen
Männern gehörte, die nach einem wüsten Saufgelage immer noch
Männer waren. Das lange Warten hatte sich für sie gelohnt.

*

Ein befriedigtes Lächeln huschte über Eginolfs Züge, als der Ritter
Roland mit der jungen Tatarin davonwankte. Er hatte sie alle
erfolgreich getäuscht. Jedermann hielt ihn für betrunken. Niemand
ahnte, daß er so nüchtern und klar im Kopf war wie selten.

Hellwachen Auges blickte er dem Ritter und dem Mädchen nach.

Die beiden brauchten eine Weile, bis sie den freien Platz zwischen
den Zelten überquert hatten. Schließlich aber waren sie am Ziel. Sie
verschwanden in Rolands Zelt.

Eginolf triumphierte innerlich. Besser hätten sich die Dinge gar

nicht entwickeln können. Roland und die junge Tatarin befanden sich
allein im Zelt. Louis und Pierre waren so besoffen, daß sie in dieser
Nacht bestimmt nicht mehr zu sich kommen würden. Genau wie der
Tatarenführer, der letzten Endes auch noch völlig zusammen-
gebrochen war, würden sie mit Sicherheit neben dem langsam
niederglimmenden Feuer liegen bleiben und frühestens bei
Sonnenaufgang wieder erwachen. Es war also nicht zu befürchten,
daß einer der beiden Knappen zwischenzeitlich in Rolands Zelt
hineinging. Die Voraussetzungen für das Gelingen seines Plans
wurden immer idealer.

Zunächst behielt er seine scheinbar schlafende Stellung bei und

beobachtete weiterhin seine Umgebung. Die beiden Knappen und der
Tatarenführer rührten sich nicht. Diese drei Männer konnte er
wirklich vollkommen vergessen. Aber auch sonst war in dem ganzen
Zeltdorf nirgendwo eine Bewegung festzustellen. Alle Dorfbewohner
schienen in tiefem Schlaf zu liegen. Mit Ausnahme der beiden in
Rolands Zelt, verstand sich, denn daß sich Roland und das Mädchen
zum Schlafen hingelegt hatten, glaubte er wahrhaftig nicht. Und zum
Vorschein gekommen, war die junge Tatarin auch noch nicht wieder.

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Was sich also im Zelt abspielte... Eginolf grinste bei diesem
Gedanken und war neidisch auf den Ritter mit dem Löwenherzen.
Aber dieser Neid legte sich schnell, wenn er an den morgigen Tag
dachte.

Nach einer Weile kam Bewegung in den Knappen. Vorsichtig

setzte er sich aufrecht. Pierre, Louis und der Tatarenführer nahmen
keine Notiz von ihm. Sie röchelten und schnarchten weiter. Und auch
als Eginolf in geduckter Haltung vom erlöschenden Feuer
wegschlich, hob keiner von ihnen den Kopf.

Wenig später hatte der Knappe Helferichs das Zelt erreicht, in dem

er. Roland und die Tatarin wußte. Niemand hatte ihn unterwegs
gesehen, da war er sich ganz sicher.

Niederkauernd legte Eginolf den Kopf an die Eingangsplane. Die

Geräusche, die er aus dem Inneren hörte, waren ganz eindeutig. Er
hatte den Ritter mit dem Löwenherzen genau richtig eingeschätzt.
Roland mochte zwar stockbesoffen sein. Handlungsunfähig war er
deswegen jedoch nicht. Ganz und gar nicht, wie er im Augenblick
gerade deutlich bewies.

Geduldig wartete der Knappe. Dann endlich, nach einer ganzen

Weile, wurde es ruhiger im Zelt. Und schließlich kam der
Augenblick, dem er entgegengefiebert hatte. Der Zelteingang wurde
zurückgeschlagen, und die junge Tatarin kam zum Vorschein.

Als sie des Knappen ansichtig wurde, war es bereits zu spät für sie.

Sie hatte bei Roland nicht versagt. Das war aber auch der einzige
Unterschied, den es zwischen ihr und Maria Elena gab.

*

»Laß ... mich!«

Unwillig schüttelte Ritter Roland die Hand ab, die ihn rüttelte und

schüttelte. Er wollte weiterschlafen, sonst gar nichts. Aber derjenige,
der da vor ihm stand, gab nicht nach. Schließlich blieb Roland gar
nichts anderes übrig, als hochzufahren. Er stieß einen bösen Fluch
aus, als er seinen Knappen Louis erkannte.

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»Was fällt dir ein?« fuhr er seinen Getreuen an. »Siehst du nicht,

wie müde ich noch bin?«

Louis beachtete seinen Einwand gar nicht. Mit großen, entsetzten

Augen blickte er seinen Herrn an.

»Um des Himmels willen, Ritter Roland, wie konntet Ihr nur so

etwas Entsetzliches tun?«

»Was?« Roland verstand überhaupt nicht, was der Knappe von ihm

wollte. Die Gedanken huschten nur ganz träge, ganz langsam durch
seinen Kopf. Er fühlte sich noch vollkommen benebelt. Hinter seiner
Stirn schien ein bösartiger Zwerg zu sitzen, der ihm immer wieder
mit einem spitzen Schuh ins Gehirn trat.

»Das Mädchen«, flüsterte Louis. »Wie konntet Ihr nur?«
Roland verstand seinen Knappen noch immer nicht. »Was, zum

Teufel, war denn dabei? Die Tatarentochter war sicherlich alt genug,
um ...«

»Gewiß«, fiel ihm Louis ins Wort. »Aber warum mußtet Ihr sie

anschließend umbringen?«

Umbringen?
Das Wort wischte mit einem Mal die Nebel zur Seite, die durch

Rolands Kopf gaukelten.

»Was sagst du da?«
Der Knappe sagte gar nichts, deutete nur mit einer stummen

Gebärde neben seinen Herrn.

Und dann sah der Ritter mit dem Löwenherzen die junge Tatarin.

Verkrümmt und reglos lag sie da, die Kleidung zerfetzt, mit
gebrochenen Augen an die Decke des Zeltes starrend.

Roland war wie vom Donner gerührt. Das ... durfte doch ganz

einfach nicht wahr sein!

Er sprang auf die Füße, starrte fassungslos auf das Mädchen

hinunter. Er wischte sich über die Augen, aber das schreckliche Bild
blieb. Seine Minnegefährtin der Nacht war ohne jeden Zweifel tot.

»Ihr habt sie in Eurer Trunkenheit erwürgt«, sagte Louis. »Deutlich

sieht man noch die Male Eurer Finger am Hals des Mädchens.«

»Unsinn!« entrüstete sich der Ritter Roland. »Wie kannst du mir so

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etwas Ungeheuerliches unterstellen?«

»Ihr ... wart es nicht?«
»Natürlich nicht! Warum sollte ich eine derartig entsetzliche Tat

begehen?«

»Dieser Fusel, den Ihr wie Wasser getrunken habt...«
»Ich habe schon oft sehr viel Fusel getrunken, ohne dabei den

Verstand zu verlieren. Und ich habe ihn auch in dieser Nacht nicht
verloren. Ganz genau kann ich mich an jede Einzelheit erinnern. Als
ich mich zum Schlafen niederlegte, war das Mädchen noch von
blühendem Leben erfüllt.«

»Aber wie ist es dann möglich ...«
»Das weiß ich nicht. Aber ich weiß etwas anderes: ich habe sie

ganz bestimmt nicht umgebracht.« Roland blickte seinen Knappen
mit verengten Augen an. »Oder glaubst du mir etwa nicht?«

Louis antwortete nicht sogleich. »Doch«, sagte er nach einer

ganzen Weile des stillen Überlegens. »Wenn Ihr es mir sagt, dann
glaube ich es in jedem Fall.«

Seine Worte waren kein bloßes Lippenbekenntnis. Er war jetzt

wirklich davon überzeugt, daß sein Herr die Wahrheit sprach. Eine
solch schreckliche Tat... Sie paßte auch ganz und gar nicht zu einem
so aufrechten Mann wie Roland. Aber es hatte trotzdem keinen
Zweck, sich Sand in die Augen zu streuen.

»Machen wir uns nichts vor, Ritter Roland«, sagte er mit ernster

Stimme. »Außer mir - und wahrscheinlich auch Pierre - wird Euch
niemand Glauben schenken.«

Das dämmerte Roland auch langsam. Teufel auch, was für eine

irrsinnige Situation!

»Wir müssen das Mädchen wegschaffen«, sagte Louis.

»Anderenfalls ...«

Bedeutungsschwer ließ er die Worte in der Luft hängen.
Roland wußte nicht, wie er sich entscheiden sollte. Und daran

trugen nicht einmal die Nachwirkungen des Fusels Schuld. Wenn er
die Tote heimlich wegschaffte, bedeutete das soviel wie ein
Schuldeingeständnis. Das widerstrebte ihm zutiefst. Wenn man die

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Tote jedoch in seinem Zelt fand, würde jeder darin einen
unumstößlichen Schuldbeweis sehen. Was sollte er also tun?

Er blickte zum Zelteingang hinüber, der einen Spaltbreit

offenstand. Helles Morgenlicht drang herein. Das Lager war
anscheinend längst erwacht. Die Stimm- und Geräuschkulisse
außerhalb des Zeltes wurde immer lauter.

»Wo sind die anderen?« wollte Roland von seinem Knappen

wissen.

»Eginolf und Pierre haben mit mir zusammen den Rest der Nacht

am Feuer verbracht«, gab Louis Auskunft. »Die beiden liegen auch
jetzt noch wie tot auf ihren Decken.«

»Und Ugu?«
»Ugu?«
»Den Anführer der Tataren meine ich.«
»Er hat es auch nicht bis zu seinem Zelt geschafft und ist am Feuer

eingeschlafen. Als ich aufstand, wurde er allerdings auch gerade
wach.«

»Und wo ist er ...«
Den Rest der Frage konnte sich Roland sparen, denn genau in

diesem Augenblick wurde die Zeltplane zurückgeschlagen, und Ugu
stand im Rahmen. Damit erübrigte sich auch eine Antwort auf die
Frage, was mit der Toten geschehen sollte.

*

Das breite Lächeln des Tataren gefror zu einer Grimasse, als sein
Blick auf das tote Mädchen fiel. Sekundenlang stand er schweigend
da. Dann kam ein böses Grollen aus seiner Kehle. Mit Augen, in
denen ein Gewitter zu toben schien, sah er Roland an. Die Worte, die
er dann sagte, klangen wie Peitschenhiebe.

»Ich war es nicht«, sagte Roland klar und deutlich. »Das mußt du

mir glauben, Ugu!«

»Ugu?« wiederholte der Tatar. Es folgte ein böses Lachen und

weitere harte, peitschenartige Worte. Ganz schnell machte er zwei,

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drei Schritte nach vorne. Dann zuckte ansatzlos seine geballte Faust
nach vorne und krachte in Rolands Gesicht.

Die Wucht des Schlages ließ Roland zurücktaumeln. Er spürte, wie

ihm das Blut aus der Nase schoß. Nur mit großer Mühe gelang es
ihm, sich auf den Beinen zu halten.

Der Tatar spuckte ihm vor die Füße und machte ein angewidertes,

haßerfülltes Gesicht.

Louis' Hand legte sich auf den Knauf seines Hirschfängers. Aber er

zögerte, das schwere Messer aus der Scheide zu ziehen. Natürlich
verstand er den aufrechten Zorn des Barbaren. Andererseits galt es,
seinen Herrn zu verteidigen.

Der Tatarenführer nahm ihm die Entscheidung ab, indem er sich

umdrehte und wortlos das Zelt verließ.

Roland wischte sich das Blut aus dem Gesicht. Auch er sagte kein

einziges Wort.

»Er wird wiederkommen«, sagte Louis leise. »Oder aber seine

Leute schicken.«

»Ja«, nickte Roland. »Es wäre vielleicht ratsam, wenn Ihr Euch

ankleiden würdet«, schlug der Knappe anschließend vor.

Erst jetzt merkte der Ritter mit dem Löwenherzen, daß er fast nackt

war. Die kleine Tatarin hatte ihn zwar ausgezogen, sich aber nicht
die Mühe gemacht, ihm die Kleidung wieder anzulegen. Der
Gedanke an das Mädchen und die Nacht versetzte Roland einen
Stich. Schmerzvoll blickte er auf die Tote hinab. Dann gab er sich
einen Ruck und tat, was ihm Louis gesagt hatte. Es wäre würdelos
gewesen, nackt zu sterben. Und daß das Sterben kurz bevorstand,
bezweifelte er kaum. Aber er war nicht gewillt, sich so ohne weiteres
in sein Schicksal zu ergeben. Ugu und die Seinen mochten nicht
ohne eine gewisse Berechtigung denken, daß er ein feiger, von
finsteren Trieben beherrschter Mädchenmörder war. Er aber wußte,
daß dies nicht stimmte. Und deshalb ...

Da kamen sie bereits. Fünf Tataren waren es, die den Zeltvorhang

zurückrissen und sich drohend im Eingang aufbauten. Jeder einzelne
von ihnen hielt ein Schwert in der Hand.

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Einer von ihnen stieß in barschem Befehlston ein paar gutturale

Worte aus, deren Sinn auch ohne Sprachkenntnisse ganz
unmißverständlich war.

Komm raus, du Schwein! So oder so ähnlich mußte man die

Aufforderung wohl deuten.

»Wenn ihr etwas von mir wollt, dann müßt ihr mich schon holen«,

sagte Roland und zog gleichzeitig sein Schwert.

Auch sein treuer Knappe Louis war zum Kampf bereit, den

Hirschfänger in der Faust.

Dann griffen die Tataren an. Gleichzeitig stürmten sie in das Zelt

hinein, so heftig, daß sie sich gegenseitig behinderten. Das brachte
Roland und Pierre zunächst einen kleinen Vorteil. Fast spielerisch
konnten sie die erste Attacke der Tataren abwehren. Die Klingen der
Barbaren fanden keine Lücke in ihrer Verteidigung. Ja, Roland hätte
sogar Gelegenheit gehabt, seinerseits einen tödlichen Stoß zu führen.
Für einen kurzen Augenblick wandte ihm einer der Barbaren seine
ungeschützte linke Seite zu. Normalerweise hätte der Ritter mit dem
Löwenherzen diese Chance genutzt. Aber dies war keine normale
Situation. Roland konnte sich nicht entschließen, dem Widersacher
seinen kalten Stahl in die Rippen zu bohren.

Die Tataren sprangen zurück. So etwas wie widerwillige

Anerkennung war in ihren Augen zu lesen. Gewiß waren sie es
gewohnt, daß bei einem Kampf fünf gegen zwei schon der erste
Angriff die Entscheidung zu ihren Gunsten brachte.

Ihre zweite Attacke trugen sie weniger ungestüm, dafür aber mehr

mit aufeinander abgestimmten Aktionen vor. Das Zelt war zwar
außerordentlich groß, für einen solchen Kampf jedoch war es
dennoch viel zu eng. Die Möglichkeiten, sich durch einen schnellen
Sprung vor gegnerischen Hieben und Stößen in Sicherheit zu
bringen, blieben gering. Dieser Umstand wirkte sich vor allem für
die Verteidiger aus. Roland und Louis mußten die Klingen ihrer
Gegner an Ort und Stelle parieren, ohne ausweichen oder
zurückgehen zu können. Und so brauchten sie ihre ganze
Geschicklichkeit, um auch dem zweiten Ansturm trotzen zu können.

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Aber es war nur eine Frage der Zeit, bis sich ihr Schicksal erfüllte.

Auf Dauer konnten sie dieses Gefecht nur als Verlierer beenden.

Wieder kamen die Tataren gleichzeitig, von vorne, von links und

von rechts. Rolands Schwert brauchte die Schnelligkeit eines Blitzes,
um alle Blößen abdecken zu können. Ohne Louis tatkräftige Hilfe
wäre er längst ein toter Mann gewesen.

Aber auch so konnte er nicht vermeiden, daß er und sein treuer

Knappe die ersten Blessuren abbekamen. Die Spitze eines
Krummschwerts streifte Roland am Hals und ließ Blutstropfen
hervortreten. Und Louis zog sich eine leichte Stichwunde an der
Hüfte zu, die zwar nicht fatal war, ihn aber doch schon schwer
behinderte. Als die Tataren zum nächsten gemeinsamen Angriff
rüsteten, stand das Ende der beiden Abendländler unmittelbar bevor.

Bevor die Barbaren kamen, tat Roland deshalb etwas gänzlich

Unerwartetes. Sein Schwert hieb nach links, hieb nach rechts. Die
beiden Pflöcke, die die rückwärtige Hälfte des Zeltes stützten,
wurden glatt durchgehauen. Das Zelt stürzte ein und begrub
Angreifer und Verteidiger unter sich.

Ein wildes Durcheinander entstand. Keiner der Kämpfenden

konnte mehr etwas sehen. Sie alle hatten mit der Zeltdecke zu tun,
die schwer auf ihnen lastete und ihre Bewegungsfreiheit
einschränkte.

Wieder wäre es Roland möglich gewesen, dem Kampf eine Wende

zu seinen Gunsten zu geben. Er wußte ganz genau, wo sich Louis
befand. Wenn er also mit dem Schwert wild um sich gehauen hätte,
wären zwangsläufig einer oder gar mehrere der Tataren getroffen
worden. Aber Roland wußte, daß die Tataren fest davon überzeugt
waren, für eine gerechte Sache zu kämpfen. Deshalb brachte er es
nicht über sich, ihnen eine Wunde zuzufügen.

Statt dessen packte er in der Dunkelheit den Arm seines Knappen

und zog ihn mit sich.

»Komm!« zischte er.
Er hatte sich seinen Standort ganz genau gemerkt, war deshalb der

Orientierung nicht verlustig gegangen. So bereitete es ihm wenig

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Schwierigkeiten, sich unter der Zeltplane hindurchzuwinden und ins
Freie zu gelangen. Louis schaffte es ebenfalls.

Aber das Freie war nicht die Freiheit. Sämtliche Tatarenkrieger,

die im Lager anwesend waren, hatten einen Ring um das
zusammengebrochene Zelt gezogen. Und jeder einzelne von ihnen
hielt eine Waffe in der Hand. Der Ring war lückenlos. Es konnte
kein Entkommen für Roland und seinen treuen Knappen geben.

Auch Ugu war dabei. Er trat einen Schritt nach vorne, ein

grimmiges Lächeln auf den Lippen.

Der Tatarenführer deutete auf Pierre und Eginolf, die Roland erst

jetzt sah. Die beiden Knappen wurden von mehreren Tataren
festgehalten, die ihnen ein Messer an die Kehle hielten. Dann zeigte
Ugu auch auf Louis und machte eine Handbewegung, die klar zu
erkennen gab, daß ihr Leben geschont werden sollte. Darauf deutete
er auf Roland selbst. Die anschließende Bewegung war ebenfalls
eindeutig. Es war die allgemein bekannte Bewegung des
Halsabschneidens.

Auch Louis hatte verstanden, was der Tatarenführer sagen wollte.
»Laßt Euch nicht beeindrucken, Ritter Roland«, sagte er wild

entschlossen. »Ich kämpfe an Eurer Seite bis zum letzten Atemzug.«

»Nein«, sagte Roland.
Er wollte nicht, daß Louis seinen letzten Atemzug tat. Und

dasselbe galt auch für Pierre und Eginolf.

Mit einer müden Bewegung ließ er sein Schwert ins Gras fallen

und ging gesenkten Hauptes auf Ugu zu.

*

Genau an der Stelle, an der in der vergangenen Nacht das große
Gelage stattgefunden hatte, spielte sich das Geschehen auch jetzt ab.
Die ganze Tatarenhorde war versammelt, Männer, Frauen und
Kinder. Auch die drei Knappen waren anwesend, ohne allerdings in
das Geschehen eingreifen zu können. Sie wurden von mehreren
Männern umringt, die sie mit vorgehaltenem Schwert zur

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Tatenlosigkeit verurteilten. Und da man ihnen ihre eigenen Waffen
abgenommen hatte, konnten sie sich nicht dagegen auflehnen.

Im Mittelpunkt des Geschehens stand der Ritter Roland. Die

Tataren hatten ihm die Hände auf den Rücken gebunden und sahen
ihn von allen Seiten mit haßerfüllten Blicken an. Aus ihrer Sicht war
dieser Haß wohl verständlich. Der feige, gemeine Mord an ihrer
Stammesschwester mußte solche Gefühle hervorrufen.

Es war ein Palaver vorangegangen, in dem der breitschultrige

Stammesführer die bestimmende Rolle gespielt hatte. Obwohl die
Knappen von all dem Gerede nichts verstanden hatten, war ihnen
doch klar geworden, um was es ging: Der Stammesführer hatte eine
Art Urteil über den Ritter mit dem Löwenherzen gesprochen. Und
wie dieses Urteil ausgefallen war, stand außerhalb jeden Zweifels.
Roland war ein todgeweihter Mann. Den Knappen blieb nichts
anderes übrig, als mit knirschenden Zähnen zuzusehen, wie das
Urteil vollstreckt wurde.

»Was ... haben sie mit ihm vor?« fragte Pierre mit stockender, fast

tonloser Stimme.

Louis, der unmittelbar neben ihm stand, zuckte mit den Schultern.

»Ich weiß es noch nicht. Aber ich fürchte, wir werden jetzt erfahren,
warum man die Tataren überall als blutrünstig und grausam
bezeichnet.«

Ein paar junge Burschen führten jetzt vier Pferde in den Kreis.

Keine besonders großen, aber doch sehr kräftige, etwas zottige
Pferde, denen man Ungestüm und Wildheit auf den ersten Blick
ansah. Die jungen Burschen hatten Mühe, die Tiere ruhig zu halten.

Dann wurden Stricke gebracht, vier an der Zahl. Die Männer, die

Roland festhielten, fingen an, ihm ein Ende jedes Stricks um Arme
und Beine zu schlingen.

Der Knappe Louis stöhnte unterdrückt auf. Er ahnte jetzt, was die

Tataren mit seinem Herrn vorhatten.

Und seine bösen Ahnungen waren nur allzu berechtigt...
Die Tataren legten Roland jetzt auf den Boden. Da auch seine Füße

zusammengebunden waren, konnte er sich praktisch überhaupt nicht

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bewegen, geschweige denn Widerstand leisten. Hilflos mußte er alles
über sich ergehen lassen.

Das erste Pferd wurde herangeführt. Dann befestigte einer der

Tataren den Strick, der sich um Rolands rechtes Bein schlang, am
Hals des Tieres. Schon kam das zweite Pferd.

»Gütiger Himmel«, ächzte Pierre.
Der Strick an Rolands rechtem Arm wurde am Hals des zweiten

Pferds festgemacht.

»Louis!« zischte Pierre.
»Ja, Pierre?«
»Weißt du, was diese Teufel da beabsichtigen?«
»Ja«, antwortete Louis gepreßt. »Gleich werden sie unseren Herrn

auch mit den übrigen beiden Pferden verbunden haben. Dann werden
sie die vier Tiere in verschiedene Richtungen davonjagen, und der
Körper Ritter Rolands ...«

»... wird in vier Teile zerrissen!« beendete Pierre den

angefangenen Satz.

Louis nickte bebend.
»Aber das können wir doch nicht zulassen?« Pierre war rot im

Gesicht angelaufen und machte eine hastige Bewegung.

Sofort spürte er die Spitze eines Krummschwerts an seiner Kehle.

Der Tatar, der ihm das Schwert an den Hals gesetzt hatte, knurrte ein
paar böse, unmißverständliche Worte.

Der Strick an Rolands linkem Bein wurde inzwischen um den Hals

des dritten Pferds geschlungen. Nur noch wenige Augenblicke, dann
würde sich sein Schicksal erfüllen.

Pierre wollte sich nicht damit abfinden. Wild blickte er sich nach

dem Knappen des Freiherrn Helferich um.

»Eginolf, versuche noch mal, mit den Barbaren zu reden. Sag

ihnen, daß Roland dieses Mädchen nicht getötet ...«

Er brach ab, als er das Gesicht des untersetzten Mannes sah. Der

Anflug eines Grinsens war darin zu erkennen. Und in seinen Augen
leuchtete es triumphierend.

Da wußte Pierre auf einmal Bescheid.

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»Louis!«
»Ja?«
»Er ist der Mörder!« schrie Pierre. »Dieses Dreckschwein hat das

Mädchen umgebracht und den Verdacht ganz bewußt auf den Ritter
Roland gelenkt!«

Louis fuhr herum und blickte den Knappen des Freiherrn an. Das

Grinsen auf den Zügen des Mannes war verschwunden. Aber die
Befriedigung, die in seinen Augen stand, war noch immer ganz
deutlich wahrzunehmen.

»Ja«, stieß Louis hervor. »Er war es!«
Eginolf schüttelte den Kopf. »Was erzählt ihr denn da? Warum

sollte ich denn so etwas getan haben?«

»Das weiß ich nicht«, gab Louis scharf zurück.
Er wollte auf den untersetzten Knappen losgehen, kam aber nicht

dazu. Die Tataren neben ihm hielten ihn fest. Einer von ihnen hielt
ihm das Schwert vor die Augen.

»Ihr Narren!« brüllte Louis in ohnmächtiger Wut. »Merkt ihr denn

nicht, was hier gespielt wird? Er ist der Mörder, nicht Ritter
Roland!«

Natürlich verstanden die Krieger kein einziges Wort von dem, was

er sagte. Und deshalb dachten sie auch gar nicht daran, ihn aus ihrer
Umklammerung freizugeben.

Jetzt aber handelte Pierre. Er erkannte, daß die Tataren so mit

Louis beschäftigt waren, daß sie kaum auf ihn achteten. Diese
Gelegenheit nutzte er. Noch ehe es sich die Männer versahen, war er
unter ihnen durchgetaucht und lief los. Aber er kümmerte sich nicht
um Eginolf, sondern rannte zu dem Stammesführer hinüber, der mit
finsterem Gesicht die Hinrichtungsvorbereitungen beobachtete.

Alle waren so überrascht, so daß Pierre sein Ziel erreichte, ohne

aufgehalten zu werden.

Der dickliche Knappe war kein Dummkopf. Er wußte nur zu gut,

daß er nur etwas erreichen konnte, wenn er sich friedlich verhielt.
Deshalb warf der sich vor dem Führer auf die Knie und gab dadurch
zu erkennen, daß er keine Gewalttätigkeit im Sinne hatte.

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Zwei Krieger stürmten auf ihn zu, wollten ihn wegzerren. Aber

Pierre zeigte jetzt, daß er kein Schwächling war. Er schüttelte die
beiden ab und hob mit einer untertänigen Geste die Hände zu dem
Mann empor, den Roland Ugu genannt hatte.

Und sein Tun verfehlte die Wirkung nicht. Als sich die Krieger

abermals auf ihn stürzen wollten, wies Ugu sie mit einer herrischen
Handbewegung zurück. Er hatte erkannt, daß ihm Pierre etwas
Bedeutsames mitteilen wollte.

Ein Schwall von Worten kam aus Pierres Mund, begleitet von

wilden Handbewegungen. Er deutete auf Roland, neigte den Kopf
zur Seite und legte die zusammengefalteten Hände darunter.

»Er hat geschlafen, verstehst du? Er konnte das Mädchen

überhaupt nicht umbringen!«

Dann richtete er einen anklagenden Finger auf den Knappen des

Freiherrn Eginolf.

»Er war es! Er hat das Mädchen getötet!«
Er machte die Bewegung des Halsabschneidens, zeigte dabei

immer wieder auf Eginolf .

»Er war es! Nicht Roland, sondern er!«
Eginolf machte ein betroffenes Gesicht und fing an, lautstark

Widerspruch zu erheben. Er tat es mit schriller, scheinbar entrüsteter
Stimme, der jedoch die falschen Töne nur allzu deutlich anzuhören
waren.

Der Stammesführer verstand kein einziges Wort. Aber er hatte

ganz offenbar sehr wohl begriffen, um was es ging. Und er schien ein
guter Menschenkenner zu sein, der das Falsche und das Wahre zu
unterscheiden vermochte. In jedem Fall standen ihm plötzlich
aufkommende Zweifel deutlich im Gesicht geschrieben.

Er zögerte, dachte nach. Sein Blick ging zu dem gefesselten

Roland hinüber, dann zu Eginolf, schließlich wieder zu Pierre. Und
immer noch sagte er kein Wort.

Unterdessen war auch der Strick am linken Arm des Ritters mit

dem Löwenherzen um den Hals eines Pferdes geschlungen worden.
Die vier Tiere standen bereit. Ein Hieb auf die Hinterhand, und sie

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würden losjagen und den Mann in ihrer Mitte zerreißen.

Händeringend kniete Pierre vor dem Stammesführer.
»Ich bitte um Gande für meinen Herrn«, sagte er flehentlich.

»Roland ist unschuldig!«

Und dann kam der breitschultrige Tatar zu einer Entscheidung. Er

bedeutete seinen Männern, Roland loszubinden ...

*

Stunden waren vergangen. Die Tataren hatten Roland gefesselt in ein
Zelt gebracht und ihn dort liegengelassen. Zwei bewaffnete Krieger
standen vor dem Zelt auf Wachtposten und verhinderten, daß jemand
zu ihm hereinkam. So wußte Roland noch immer nicht, welchem
Umstand er es zu verdanken hatte, daß er noch immer lebte. Er hatte
nur mitbekommen, daß Pierre dem Stammesführer irgend etwas
klargemacht hatte, wobei auch Eginolf eine Rolle spielte. Was das
gewesen war, wußte er nicht, denn er hatte mit dem Gesicht nach
unten im Gras gelegen und nichts von dem gesehen, was um ihn
herum vorgegangen war.

Wie nun alles weitergehen würde - auch davon hatte er nicht die

geringste Ahnung. Er konnte nur hoffen.

Und schließlich gerieten die Dinge in Bewegung. Ugu betrat das

Zelt, in Begleitung einer Frau.

Einer weißen Frau!
Roland war überrascht. Die Frau trug die bunte Kleidung der

Tataren, war aber ohne Zweifel eine Angehörige seines eigenen
Volkes. Eine Gefangene? Diesen Eindruck hatte er nicht.

Wenig später wußte er mehr. Während Ugu hinter ihr stehen blieb,

ging die junge Frau neben ihm auf die Knie. Jetzt, da er ihr Gesicht
unmittelbar vor sich hatte, sah er, daß sie nicht mehr ganz jung war,
sich aber noch einen großen Teil einstiger Schönheit bewahrt hatte.
Mit ernsten Augen sah sie ihn an.

»Wer seid Ihr?«
»Mein Name ist Roland«, sagte der Ritter mit dem Löwenherzen.

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»Ritter Roland. Und wer seid ... Ihr?«

Die Frau lächelte. »Ich heiße jetzt Ugra. Aber einst hörte ich auf

den Namen Sighield.«

»Das ... verstehe ich nicht.«
»Nun, das ist gar nicht so schwer zu verstehen. Es sind einige Jahre

her, da wurde ich bei einem Tatarenüberfall auf die Burg Steinfurt
geraubt. Seitdem lebe ich bei den Tataren - als Eheweib eines
Kriegers.«

»Welch schreckliches Schicksal«, sagte Roland. »Ich bedaure Euch

zutiefst.«

Wieder lächelte die Frau. »Dazu liegt kein Grund vor. Das Leben

bei den Tataren gefällt mir sehr. Es ist ein herrlich freies Leben, in
dem es mir an nichts fehlt. Ich weiß, daß man in Euren Landen nur
Greuelmärchen über die Tataren verbreitet. Aber sagt selbst, hattet
Ihr den Eindruck, daß sie wirklich die Unmenschen sind, als die man
sie hinstellt?«

Roland atmete tief. »Zunächst hatte ich diesen Eindruck nicht. Als

man mich jedoch zwischen die vier Pferde spannte ...«

»Das habt Ihr Euch selbst zuzuschreiben.

Wer eine

Stammesschwester hinmeuchelt...«

»Ich habe sie nicht gemeuchelt!« schrie Roland leidenschaftlich.
»Das sagt Ihr! Timur hat mir anderes berichtet.«
»Timur? Wer ist Timur?«
»Er steht vor euch.« Sie deutete auf den Tatarenführer, den Roland

bisher stets Ugu genannt hatte. »Timur, der Sohn des großen Tugrik
Khan.«

»Der Sohn des ... Großkhans?«
»Ja. Timur wurde von seinem Vater mit dem Befehl über die

Grenzregionen betraut.«

»Ah, dann ist er also für die blutigen Überfälle auf die Mark

Kronburg verantwortlich!«

Die Frau runzelte die Stirn. »Überfälle? Es ist, wie ich schon sagte,

eine Reihe von Jahren her, seit ich bei einem Überfall geraubt wurde.
Seitdem herrscht Frieden an der Grenze. Timur hat sich dem

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Großkhan dafür verbürgt.«

»So? Und wie erklärt Ihr Euch dann den Raub der Grafentochter

Anja von Kronburg?«

»Davon weiß ich nichts. Erzählt mir davon!«
Roland ließ sich nicht lange bitten und berichtete. Sichtlich

erstaunt hörte ihm die Frau zu. Als er zu Ende gekommen war, sagte
sie: »Wartet, dies werde ich sofort an Timur weitergeben.«

»Ihr sprecht die Sprache der Tataren?«
»Gewiß. Warum, glaubt Ihr, hat mich Timur hierher holen lassen?«

Sie wandte sich an den Tataren und redete mit ihm. Das finstere
Gesicht Timurs wurde noch finsterer, als es ohnehin schon war.
Mehrmals gab er der Frau in bösem Tonfall eine Antwort.

Nach einer Weile wandte sich diese wieder Roland zu. »Timur

sagt, daß Ihr schmutzige Lügen erzählt, Ritter! Seit langer Zeit hat
kein Tatar mehr die Grenzen überschritten. Dieses Mädchen, Anja
von Kronburg, kann also gar nicht von den Tataren verschleppt
worden sein!«

»Ich weiß es anders!«
»Woher?«
»Fragt Eginolf, einen meiner Begleiter. Er ist der Knappe des

Mannes, der als Bräutigam der Verschleppten auserkoren wurde.«

Die Frau sprach wieder mit Timur, der danach wild den Kopf

schüttelte und wütende Worte hervorstieß.

»Wenn dieser Eginolf derartiges behauptet, dann lügt er«,

übersetzte die Frau. »Und Timur sagte noch: Wer einmal lügt, der
lügt immer! Vielleicht habt Ihr das Mädchen tatsächlich nicht
getötet, Ritter Roland.«

Timur war unterdessen an den Eingang des Zeltes getreten und

brüllte etwas nach draußen. Dann kehrte er zu Roland und der Frau
zurück und sprach wieder auf sie ein.

»Timur will wissen, was Ihr getan habt, nachdem Ihr das

Lagerfeuer verlassen hattet.« forderte die Frau Roland anschließend
auf.

Der Ritter mit dem Löwenherzen erzählte es ihr. »Wenn es bei den

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Tataren ein todeswürdiges Verbrechen ist, sich mit einer Tochter des
Stammes der Minne hinzugeben, dann ist mein Leben wohl
verwirkt«, sagte er zum Schluß. »Dies hab ich getan, und es dauert
mich nicht. Aber das Mädchen getötet... Nein!«

»Wenn dies alles ist, was Ihr getan habt, dann habt Ihr kein

Unrecht begangen«, antwortete die Frau. »Die Tataren sind ein
sinnenfrohes Volk. Sie würden es als sehr töricht empfinden, wenn
jemand nicht auf die Stimme seines Blutes hört. Ihr braucht also ...«

Die Frau brach ab, denn in diesem Augenblick erschienen mehrere

Männer im Eingang des Zeltes. Mehrere Tataren und ... Eginolf. Der
Knappe des Freiherrn Helferich machte ein ängstliches Gesicht und
blickte verwirrt von einem zum anderen.

Timur trat sofort auf ihn zu und packte ihn am Hals. Dann schrie er

ihn mit dröhnender Stimme an.

»Ich ... verstehe nicht, was du sagst, schlitzäugiger Hund«, preßte

er hervor.

»Schlitzäugiger Hund?« wiederholte die Frau. »Ich weiß nicht, ob

Timur solche Worte gefallen werden!«

Erst jetzt wurde der Knappe auf die Frau aufmerksam. Mit großen

Augen blickte er sie an und erkannte, daß es sich um eine
Abendländerin handelte.

»Ihr... sprecht die Tatarensprache?«
»So ist es, Knappe! Es werden schwere Vorwürfe gegen dich

erhoben. Du hast behauptet, daß die Tataren die Braut deines Herrn
geraubt haben?«

»Ab....« Eginolf gab keine klare Antwort, blinzelte nur irritiert mit

den Augen.

»Ich höre, was du zu sagen hast«, drängte die Frau.
»Ich ... äh ...«
Timur schüttelte ihn, so daß sein Kopf hin und her flog.
»Ja«, sagte Eginolf schnell, »es waren Tataren, die Anja von

Kronburg überfallen haben!«

Die Frau übersetzte dem Sohn des Großkhans seine Worte. Timur

brüllte daraufhin wie ein Bär. Er versetzte Eginolf einen Faustschlag,

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der ihn zu Boden schleuderte.

Timur sagte etwas zu den Männern, die Eginolf hergebracht hatten.

Zwei von ihnen zerrten Eginolf vom Boden hoch und fingen an, ihm
die Kleider vom Leib zu fetzen. Der dritte hatte plötzlich ein Messer
in der Hand und trat damit auf den Knappen zu.

»Timur will die Wahrheit wissen«, sagte die Frau. »Deine

Behauptung ist eine Lüge. Und wer lügt, hat etwas zu verbergen.«

Das nackte Entsetzen stand im Gesicht Eginolfs. »Was ... was

haben sie mit mir vor?«

Die Frau hob und senkte die Schultern. »Wenn du weiter bei deiner

falschen Behauptung bleibst, werden sie dich zwingen, mit der
Wahrheit herauszurücken.«

»Nein!« schrie Eginolf gellend.
Der Mann mit dem Messer setzte dem Knappen die Klinge auf die

Brust, blickte zu Timur hinüber.

Der Stammesführer nickte.
»Wartet!« brüllte der Knappe. »Ich ... ich will alles sagen!«
Die Frau übersetzte, und Timur gebot seinem Stammesbruder mit

einer Handbewegung Einhalt.

Eginolf war völlig am Ende. Das Geständnis sprudelte förmlich

aus ihm heraus. Nein, es waren nicht die Tataren gewesen, die den
Überfall auf Anja von Kronburg und ihre Begleiter unternommen
hatten. Der Freiherr Helferich war der wahre Schuldige. Er hatte
mehrere seiner Männer in Tatarenkleidung gesteckt und die
Grafentochter rauben lassen. Seine Absicht war es gewesen,
anschließend als der große Retter aufzutreten und dadurch die Hand
Anja von Kronsburgs zu erringen. Das Mädchen steckte jetzt in
einem Verlies seines Wohnturms und wähnte sich bei den Tataren.

Und Eginolf gestand noch mehr. Er gab auch zu, daß nicht Roland

der Mörder der jungen Tatarin war, sondern er. Er hatte in der Tat
den Verdacht auf den Ritter mit dem Löwenherzen gelenkt, um ihn
im Auftrag seines Herrn zu verderben und somit am Herausfinden
der Wahrheit zu hindern.

Nachdem die Frau seine Worte übersetzt hatte, herrschte

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sekundenlang tiefes Schweigen im Zelt. Dann trat Timur auf den
Knappen des Freiherrn Helferich zu. Er sagte kein einziges Wort,
hob nur die blanke Faust und schlug zu.

Eginolf starb, ohne auch nur noch einen einzigen Laut von sich zu

geben.

Dann beugte sich der Sohn des Khans zu Roland nieder.

Eigenhändig löste er seine Fesseln.

Die Stricke hatten das Blut in Armen und Beinen des Ritters mit

dem Löwenherzen gestaut. Er war nicht in der Lage, sich sofort aus
eigener Kraft zu erheben. Aber das machte nichts, denn Timur half
ihm auf die Füße. Er umarmte Roland und klopfte ihm auf die
Schultern, nicht wuchtig und krachend wie gewohnt, sondern
beinahe sanft und liebevoll.

»Ugu«, sagte er.

*

Zum ersten Mal seit Jahren überquerte wieder ein Tatarentrupp den
Fluß, der das Reich des Großkhans von den christlichen Ländern
trennte. Aber es waren nicht nur Untertanen des Khans, die dem
Wohnturm des Freiherrn Helferich entgegensprengten. Auch drei
Männer aus dem Abendland waren dabei: der Ritter Roland und
seine beiden Knappen Louis und Pierre. Und auch die einzige Frau,
die die Männer begleitete, hatte das Licht der Sonne zum ersten Mal
auf dieser Seite des Flusses erblickt.

Roland fühlte sich so zufrieden wie selten in seinem Leben. Für

einen Mann, der bereits mit seinem Leben abgeschlossen hatte,
konnte es nichts Schöneres geben, als auf dem Rücken seines Pferdes
zu sitzen und frei durch das Land zu reiten.

Wenn Roland gewollt hätte, hätte er auch auf einem anderen Pferd

reiten können. Timur, den er jetzt mit Fug und Recht als seinen
Freund bezeichnen konnte, hatte ihm das beste Tatarenpferd
geschenkt, das es in seinem Zeltdorf gab. König Artus würde seine
helle Freude daran haben.

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Und Timur hatte noch ein übriges getan. Er hatte Roland

eingeladen, alsbald zurückzukommen. Dann würde er ihn mit an den
Hof des Großkhans, seines Vaters, nehmen, und dort zu seinen Ehren
ein Saufgelage veranstalten. Wie es das Tatarenreich noch niemals
erlebt hatte.

Der Ritter mit dem Löwenherzen blickte diesem Ereignis schon

jetzt mit großer Freude entgegen. Aber noch war es nicht soweit.
Zunächst galt es, die Grafentochter Anja von Kronburg zu befreien
und den Freiherrn Helferich zur Rechenschaft zu ziehen.

Und dann tauchte der Wohnturm des schurkischen Adligen am

Horizont auf. Er lag auf einem kleinen Hügel und wurde ringsum
von einem Wassergraben gesäumt. Der Turm hielt keinen Vergleich
mit der Burg des Grafen von Kronburg aus. Er bestand nur aus einem
einzigen massiven Gebäude, das jedoch trutzig genug war, um auch
einer längeren Belagerung erfolgreich zu widerstehen.

Aber Timur und seine Krieger dachten gar nicht daran, eine

längere Belagerung vorzunehmen. Sie waren ein Reitervolk und
hatten eine ganz besondere Angriffstaktik.

Die Abenddämmerung senkte sich über den Turm Helferichs.

Roland und die Tataren lagerten am Rande des Hügels, weit genug
entfernt, um vor Pfeilschüssen geschützt zu sein. Natürlich war man
im Turm längst auf die Reiterschar aufmerksam geworden. Und der
Freiherr war sicherlich nicht einfältig genug, um die drohende
Gefahr nicht auf Anhieb zu erkennen.

Länger und länger wurden die Schatten. Und als die Dämmerung

dann in den Abend überging, war der Zeitpunkt des Angriffs
gekommen.

In mehreren Gruppen sprengten die Belagerer auf den Turm zu.

Ein Pfeilhagel jagte ihnen entgegen. Aber die Geschosse konnten
keinen Schaden anrichten. Bei den herrschenden Lichtverhältnissen
war es nicht möglich, einen gezielten Schuß abzugeben.

Ganz nahe waren die Reiter jetzt an das Gemäuer herangekommen.

Steinern und scheinbar uneinnehmbar stand der Turm da. Aber er
besaß eine Schwachstelle. Das Turmtor bestand aus Holz. Und dieser

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Umstand sollte Helferich und den Seinen zum Verhängnis werden.

Die Tataren bildeten einen Kreis, der jederzeit in Bewegung war.

So schnell die Füße ihrer Pferde sie tragen konnten, jagten die
Krieger um den Turm herum. Und jedesmal, wenn einer von ihnen
an dem Tor vorbeikam, schleuderte er mit aller Kraft einen Speer
gegen die massiven Bohlen, aus denen das Tor bestand.

Und die wilden Reiter aus dem Reich des Großkhans verstanden

ihr Handwerk. Speer um Speer blieb im Holz haften. Bald schon war
das Tor mit Spießen nur so gespickt.

Die Verteidiger, die über dem Tor in ihren Schußscharten saßen,

konnten nichts dagegen unternehmen. Bald schon waren die Speere
im Holz so zahlreich, daß sie bequem als Leitern benutzt werden
konnten.

Und dann kam der eigentliche Angriff. Die Tataren sprangen aus

den Sätteln und stürmten auf das Tor zu.

Roland und seine Knappen waren mitten unter ihnen.
Schon hatten die ersten von ihnen das Ziel erreicht. Katzengewandt

kletterten sie an den Speeren hoch und strebten den Schußscharten
der Verteidiger entgegen.

Roland hatte eine Burg bisher nie auf diese Weise erstürmt. Aber

das nahm ihm nichts von seinem Angriffsmut. Er hatte keine
Schwierigkeiten, sich mit Hilfe der Speere schnell nach oben zu
arbeiten.

Helferich und seine Getreuen verteidigten ihre Stellung so gut, wie

sie nur konnten. Sie schleuderten Gesteinsbrocken und siedendes
Pech auf die Angreifer hinab. Nicht ohne Erfolg, denn so manch
gellender Schrei verriet, daß einige der Tataren getroffen wurden und
in die Tiefe stürzten. Aber die Lücken, die dadurch gerissen wurden,
waren schnell wieder geschlossen.

Roland war einer der ersten, die die Schießscharten erreichten. Mit

der Linken hielt er sich an der »Leiter« fest, mit der Rechten
schwang er sein Schwert.

Zwei Männer verteidigten die Luke, die er sich ausgesucht hatte.

Der eine versuchte, ihn mit einer Lanze zurückzustoßen. Aber

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Roland gab ihm keine Chance. Mit einem wuchtigen Schwerthieb
hieb er die Lanze in zwei Stücke. Der zweite Mann stellte sich ihm
mit dem Schwert entgegen. Aber auch er konnte nichts gegen den
Ritter mit dem Löwenherzen ausrichten. Roland parierte seine
Schläge, ging dann selbst zum Angriff über. Mit kräftigen Hieben
drang er auf den Getreuen Helferichs ein. Und sehr bald gelang es
ihm, die Deckung des Mannes zu durchbrechen. Ein Stoß, der so
schnell war wie der Blitz, und der Mann brach entseelt zusammen.

Der Weg war frei!
In Sekundenschnelle war Roland in die Schießscharte geklettert.

Und schon im nächsten Augenblick befand er sich im Wehrgang des
Turms.

Mehrere Tataren hatten schon vor ihm das Ziel erreicht. Überall

waren heftige Kämpfe im Gange. Kämpfe, die die Getreuen des
Freiherrn nicht gewinnen konnten, denn sie waren schnell in der
Minderheit.

Roland beteiligte sich nicht an dem Handgemenge. Er suchte nur

einen: Helferich.

Er sah den schurkischen Freiherrn nirgendwo. Aber er konnte sich

schon denken, wo der Halunke war. Mit zusammengepreßten Zähnen
stürmte er den Wehrgang entlang und erreichte die Treppe, die weiter
nach oben, aber auch nach unten führte.

Immer mehrere Stufen auf einmal nehmend, jagte Roland die

Treppe hinunter, dorthin, wo die Verliese des Wohntums liegen
mußten. Fackeln, die in die Wände eingelassen waren, erhellten sein
Weg.

Und er hatte richtig vermutet. Auf einmal hörte er Schritte vor sich.

Keine Frage, da versuchte noch jemand, hastig nach unten zu
gelangen.

Roland flog jetzt die Stufen förmlich hinunter. Und wenig später

sah er den Mann vor sich.

Helferich!
Die Absicht des Freiherrn war klar. Jetzt, da er wußte, daß sein

Spiel verloren war, wollte er sich retten, in dem er die gefangene

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Grafentochter als Geisel nahm. Aber dazu sollte er nicht mehr
kommen. Mit einem gewaltigen Satz schloß Roland zu ihm auf.

Mit verzerrtem Gesicht drehte sich Helferich zu ihm um. Er sah die

Härte in Rolands Augen und wußte, daß er kämpfen mußte. Da er
den rechten Arm noch in .der Schlinge trug, blieb ihm nichts anderes
übrig, als sich mit der linken Hand zu verteidigen.

Es wurde der leichteste Zweikampf, den Roland jemals geführt

hatte. Helferichs Gegenwehr war kläglich. Roland brauchte nur drei
Schwerthiebe, um den Freiherrn zu entwaffnen. Hilflos stand der
Schurke vor seinem Bezwinger.

Aber er bewies eine Mannhaftigkeit, die ihm Roland gar nicht

zugetraut hatte.

»Tötet mich!« sagte er und neigte ergeben den Kopf.
Aber diesen Gefallen tat ihm Roland nicht. Er wollte der

Grafentochter nicht die Befriedigung nehmen, ihren Peiniger auf dem
Richtblock sterben zu sehen.

ENDE

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In 14 Tagen ist es soweit. Der erste Band von Ekkehart Reinkes
großer und langerwarteter Trilogie kommt auf den Markt. Er
heißt:

Roland und der

Meuchelmörder

Haggan vom Hörn, so hieß König Artus' gefährlichster Feind. Er
war der Anführer einer Raubritter-Bande und kannte nur ein Ziel:
Er wollte König Artus töten. - Für ein paar Stunden konnten die
königliche Familie sowie die Bediensteten aufatmen, doch ein
Haggan vom Hörn fand immer einen Trick, seine Gegner zu
überrumpeln, und dann trumpfte er bei einem neuen Angriff nur um
so gefährlicher und brutaler auf. . . Camelot ist verloren!

Liebe Leser, holen Sie sich in 14 Tagen den Band 28 der Ritter-
Roland-Reihe! Er ist der erste Teil einer Trilogie. DM 1,60.


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