Aleksandr Vatlin Terror und Widerstand unter den Bedingungen des Totalitarismus – die sowjetische und die deutsche Erfahrung

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Aleksandr Vatlin

Terror und Widerstand unter den Bedingungen des
Totalitarismus – die sowjetische und die deutsche
Erfahrung



Unter Widerstand verstehen wir im allgemeinen eine bewußte Nichtbefol-
gung von Regeln, die vom politischen Regime aufgestellt worden sind. In
diesem Sinne kann man auch von Widerstand unter den Bedingungen der
Demokratie sprechen – Verweigerung des Armeedienstes, das Nichtbezah-
len von Steuern, sogar herausfordernde Bekleidung und provozierendes
Verhalten. Doch die Demokratie bietet den Menschen weit mehr Chancen
für die Beteiligung am politischen Prozeß, der Staat selbst lädt seine Bürger
ein, die Verantwortung für das, was geschieht, mit zu übernehmen.
Unter den Bedingungen der modernen Diktatur, die sich durch ideologi-
sche Unfehlbarkeit tarnt und bestrebt ist, den Typus eines „neuen Men-
schen“ zu schaffen, ist der Rahmen für das „schöpferische Verhalten“ von
oben vorgegeben und außerordentlich begrenzt. Um so breiter wird das
Spektrum des Nonkonformismus, oder wie die Politologen sagen, des Pro-
testverhaltens. Im klassischen Modell des Totalitarismus fehlt praktisch das
Problem des Widerstandes. Die Opponenten sehen darin zurecht die „Achil-
lesverse“ dieses Modells, sind aber bisher nicht in der Lage, eine positive
Alternative vorzuschlagen.
Die stalinistische Sowjetunion von Mitte der dreißiger bis Mitte der fünf-
ziger Jahre verkörperte das Totalitarismus-Modell besonders deutlich. Auf
diese Periode bezieht sich der im Vortrag verwendete Begriff „Stalinismus“,
der in der Fachliteratur auch umfassender verwandt wird. Man kann von
der Spezifik des Widerstandes gegen den Stalinismus sprechen, aber im
Großen und Ganzen war der Widerstand umfassender und war gegen die
Einparteiendiktatur gerichtet, d.h. es war ein antikommunistischer
Widerstand. Aus diesem Grunde werde ich im Vortrag den Rahmen der
dreißiger-fünfziger Jahre von Fall zu Fall verlassen, um den Widerstand in
einen breiteren Kontext einzubinden und seine Dynamik zu zeigen.

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Wo verlaufen die Grenzen des Widerstandes? Daß die öffentliche Mei-
nung in Deutschland sehr feinfühlig auf diese Frage reagiert, ist allgemein
bekannt. Die Debatten über die Ausstellung 1994 und das „integrale Modell
des Widerstandes“ haben das gezeigt.

1

Mir imponiert diese „integrale“

Konzeption, weil die Ansichten der russischen Gegner des kommunisti-
schen Regimes noch weniger als die der deutschen auf einen allgemeinen
Nenner zurückgeführt werden können.
Rufen wir uns die Bewegung der Weißen in Erinnerungen, denen durch-
aus keine Sympathie für die Demokratie nachgesagt werden kann, erinnern
wir uns an die Losung des Kronstädter Aufstandes: „Für die Sowjets, aber
ohne Kommunisten“, erinnern wir uns an die Opposition innerhalb der
KPdSU(B), die für einen Sozialismus ohne Stalin eintrat. Man kann lange
darüber streiten, wer hier ein schlechter Gegner und wer ein guter Verbün-
deter der neuen Macht war. Solange die neue Macht mit der Partei identifi-
ziert wurde, kann man in den Widerstand alle diejenigen einbeziehen, die
gegen die ideologisierte Parteidiktatur auftraten. Nachdem die Macht mit
Stalin identifiziert wurde, kann man zum Widerstand auch die Opposition
innerhalb der KPdSU(B) zählen, die gegen das Regime der persönlichen
Macht kämpfte, und sei es auch unter dem Banner eines anderen, „reinen
Kommunismus“. In Rußland ist der Begriff des Widerstandes wegen der
Langlebigkeit der Diktatur also mehr dynamisch und konkrethistorisch be-
dingt.
Das spiegelt sich auch in der Quellenlage wider. Die kurze Dauer des
„Dritten Reiches“ hat dazu geführt, daß in Deutschland bereits seit Ende der
vierziger Jahre Dokumente und Memoiren von Teilnehmern am antifaschis-
tischen Widerstand veröffentlicht wurden. Bei uns sind die Erinnerungen
jener, die einen antikommunistischen Kampf führten und Opfer der Repres-
salien in der Zwischenkriegszeit wurden, die Ausnahme. Die bloße Nieder-
schrift des Erlebten in unzensierter Form konnte den Verfasser wieder in
den Gulag bringen. Die Reaktion der Staatsmacht auf die Tätigkeit Solženi-
cyns, der gewissermaßen körnchenweise Angaben über den „Archipel“ zu-
sammentrug, ist allgemein bekannt. Jetzt hat die Organisation „Memorial“
diese Arbeit auf sich genommen, aber wie viele gibt es noch, die in der La-

1

20. Juli 1944. Der Streit um den 50. Jahrestag. In: Rheinischer Merkur, 24. Juni 1994, S.

3. Siehe auch: P. Steinbach, op.cit., S. 290 ff.

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ge sind, zu erzählen, wie ihr Schicksal in den zwanziger-dreißiger Jahren
gebrochen wurde? Aber auch auf den Überlebenden lastet die erlebte Angst
und die Weigerung der russischen Gesellschaft, sich mit ihrer sowjetischen
Vergangenheit zu beschäftigen.
Mein Vorwort möchte ich mit dem Hinweis auf die aktuelle, aber unter-
schiedliche politische Bedeutung dieses Themas für unsere beiden Länder
abschließen. Im Schlußwort kann ich dann ausführlicher darauf eingehen.
Im heutigen Deutschland hat sich der demokratische Konsens in einer
positiven und ganzheitlichen Beurteilung des Widerstandes gegen den Na-
tionalsozialismus „als Menschenrechtsbewegung, wo dafür Verfassungsmit-
tel fehlen, wo statt Gesetz die Willkür regie

r

t“,

2

durchgesetzt. Es überwiegt

eine breite Sicht auf den Widerstand unter Bedingungen des Totalitarismus,
einen Widerstand, der „bewußte politische Opposition, gesellschaftliche
Verweigerung und weltanschauliche Dissidenz“

3

in sich einschließt. Auffas-

sungen, nach denen Akteure des Widerstandes als Agenten ausländischer
Geheimdienste oder als Vaterlandsverräter anzusehen sind, sind längst nicht
mehr Gegenstand wissenschaftlicher Debatten.
Anders in Rußland. Hier gibt es nicht einmal einen minimalen Konsens
in der Einschätzung der sowjetischen Periode der russischen Geschichte –
für die einen bleibt sie ein mutiges gesellschaftliches Experiment, für die
anderen ein Betriebsunfall oder eine gottgesandte Prüfung für die Völker
des russischen Reiches. Deshalb verspricht die Akzeptanz oder Ablehnung
des Terminus Widerstand gegen das Regime und seine Bewertung ein Feld
zugespitzter Debatten zu werden, die im Rußland von heute natürlich auch
eine politische Färbung haben. Bis jetzt gibt es keine wissenschaftlichen
Arbeiten zu diesem Thema, es ist eher ein Stoff für Politiker und Publizis-
ten. Die Fragen, was mit Lenins Leiche geschehen soll oder welche Worte
zu welcher Melodie in der russischen Nationalhymne passen, sind für sie
immer noch wichtiger, als die Suche nach Splittern des von Lenin geschaf-
fenen Systems in einem jeden von uns.
Daraus ergibt sich die Fragestellung des Vortrages. Mein Anliegen ist
nicht, die Geschichte dessen zu erzählen, was noch unlängst von der offi-

2

Steinbach, Peter: Widerstand im Widerstreit. Der Widerstand gegen Nationalsozialis-

mus in der Erinnerung der Deutschen. München 1994.

3

Loewenthal von, Richard / Muehlen von zur, Patrik (Hrsg.): Widerstand und Verweige-

rung in Deutschland 1993 bis 1945. Berlin – Bonn 1984, S. 14.

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ziellen Historiographie und dem Strafgesetzbuch als „antisowjetische Tä-
tigkeit“ bezeichnet wurde. Ich möchte Ihnen einige Forschungsergebnisse
meiner russischen Kollegen zu Einzelfällen der Widerstandstätigkeit vor-
stellen und die Ergebnisse der deutschen Geschichtsschreibung auf unsere
Vergangenheit projizieren. Auf diese Weise läßt sich überprüfen, ob die im
Westen anerkannten Modelle auf Rußland passen, ob man von allgemeinen
Wesenszügen des Widerstandes gegen die totalitären Regime sprechen kann
und welche nationalen Besonderheiten des Widerstandes es gibt. Auch die
Frage, wieweit die Erfahrung des antikommunistischen Widerstandes heute
und in der nächsten Zukunft eine positive Rolle bei der Etablierung des
demokratischen Selbstbewußtseins und der neuen politischen Kultur der
Bevölkerung Rußlands spielen könnte, darf in diesem Kontext nicht außer
Acht gelassen werden.
Wozu ich nicht imstande bin, sage ich auch gleich – ich bin vor allem
nicht imstande, meinen Vortrag mit einem noch so gerafften Überblick über
die neueste russische Literatur zum Thema „Widerstand im Rußland des
XX. Jahrhunderts“ zu beginnen. Es gibt sie kaum. Daher möchte ich mich
darauf beschränken, eine Reihe von Mythen zurückzuweisen, die eine weite
Verbreitung in der öffentlichen Meinung und in der Parteipropaganda – und
das nicht zuletzt mit Hilfe von Berufshistorikern – gefunden haben.
Mythos Nr. 1. In der UdSSR gab es keinen organisierten Widerstand ge-
gen das politische Regime, mit Ausnahme des Kampfes der Ausbeuterklas-
sen um ihre Existenz – ein Kampf, dessen Ausgang im Ergebnis des Bür-
gerkrieges und der Stalinschen Kollektivierung entschieden wurde. Die er-
rungene Homogenität der sowjetischen Gesellschaft machte jede Erschei-
nungsform von gesellschaftlichem Protest überflüssig und die eigentlichen
Urheber des politischen Protestes, wie ihn z.B. die Dissidentenbewegung
verkörperte, waren die westlichen Geheimdienste. In abgewandelter Form
geistert diese Konzeption durch die Zeitungen der kommunistischen Oppo-
sition, der verbreitetste Ausdruck kommt in der These zum Ausdruck, daß
„Gorbačev ein CIA-Agent“ ist. Es erübrigt sich fast darauf hinzuweisen,
daß hier der Begriff „Widerstand“ völlig unangebracht ist und wenn er ü-
berhaupt verwendet wird, dann nur mit negativem Vorzeichen.
Mythos Nr. 2. Widerstand als gesellschaftlich relevante Größe ist unter
Bedingungen des „Hochstalinismus“ unmöglich, aus dem Protest Einzelner
wurde in jenen Jahren nichts Größeres. Der Widerstand „begibt sich“ aus-

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schließlich in die Emigration und kehrt erst nach einer teilweisen Liberali-
sierung des Regimes im Zuge der Chruščevschen Reformen wieder (als
Dissidentenbewegung) in die UdSSR zurück. Solche Auffassungen sind für
Publizisten typisch, die den Vereinen der Opfer politischer Repressalien
nahestehen und in der Regel die Unschuld dieser Opfer unterstreichen.
Doch eine solche Position hat nur bei einer engen, ausschließlich politi-
schen Bestimmung des Widerstandes ihre Berechtigung. Gerade in der Pe-
riode des Stalinismus lohnt es sich, die Aufmerksamkeit auf die massenhaf-
ten Erscheinungsformen des Widerstandes zu richten. Indem der Stalinsche
Apparat an jedes Mitglied der Gesellschaft immer rigidere Forderungen
stellte, dehnte er den Rahmen nonkonformistischen Verhaltens aus.
Mythos Nr. 3. Der Widerstand der Gesellschaft, nunmehr im um-
fassendsten Sinne des Wortes, hat zum Zusammenbruch der Einparteiendik-
tatur in der UdSSR geführt. So spricht man in der Regel in den brüchigen
Reihen der Verteidiger der Perestrojka, wo man immer noch meint, westli-
che Demokratie und Leninschen Sozialismus vereinen zu können. Die libe-
ralen Westler, die in unserer jüngsten Vergangenheit keine Stütze für ihre
Programme finden, bedienen sich dieses Mythos, um die Dissidentenbewe-
gung zu preisen. Meiner Meinung nach war das Ende der KPdSU das Er-
gebnis des mißlungenen Versuches einer Reihe von Parteiidealisten, das
System zu erneuern, eines Versuches, dessen sich die Pragmatiker aus der
Partei bedienten, um in historisch kürzester Frist unermessliche Macht und
Eigentum neu zu verteilen.
Die wirkliche Geschichte des Widerstreits von Staat und Gesellschaft,
Ideologie und Moral, deren wesentlicher Aspekt eben der Widerstand ist,
bleibt außerhalb des Kraftfeldes dieser Mythen.
Um zum Verständnis des Widerstandes in unserem Jahrhundert zu gelan-
gen, muß man bei Gewaltherrschaft und Terror der modernen Diktaturen
anfangen. Die für Anhänger des Totalitarismusmodells so wichtige Ideokra-
tie nähert Stalinismus und Nationalsozialismus einander an, negiert die
Rechtssicherheit der Persönlichkeit und bringt ein positives Verhältnis zur
Gewalt zur Erringung „höchster Ziele“ hervor. Hieraus resultiert der prä-
ventive Charakter ihres Kampfes gegen den potentiellen Widerstand – in
die Konzentrationslager, die weder eine Erfindung der Bolschewiki noch
der NSDAP waren, wurden Menschen bestimmter nationaler oder gesell-

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schaftlicher Kategorien oder politischer Auffassungen ohne Feststellung
persönlicher Schuld verbracht.
Die Frage, auf die die russischen Historiker seit Glasnost’ und Perestroj-
ka eine Antwort suchen, bleibt immer ein und dieselbe: warum war das rus-
sische Volk so gleichgültig gegenüber der ihm angetanen Gewalt, warum
sah es in der Gewalt das Recht der Macht, warum fand es sich damit ab und
förderte sogar noch die Gewalt (die Denunziation war in Rußland stets eine
Form der Verbindung von Führern und Volk). Im Ergebnis entstand eine
spezifische Typologie der Gewalt, in der Rußland ein besonderer Platz zu-
kam. Jahrhundertlang herrschte hier eine provokatorisch-bewachende Ge-
walt, die die Normen und die Ideologie der traditionellen Gesellschaft kon-
servierte.
Sowohl die historischen Traditionen als auch die in den Jahren der kom-
munistischen Herrschaft bewußt kultivierte Unwissenheit der Bevölkerung
in Rechtsfragen erleichterten die repressive Tätigkeit des Staates gegenüber
den eigenen Bürgern. Zur ständigen Praxis gehörte die Verabschiedung ge-
heimer, „nicht für die Veröffentlichung in der Presse“ vorgesehener Geset-
ze. Im Ergebnis dessen „bildete sich in der sowjetischen Gesellschaft eine
spezifische Auffassung des Begriffs ‚Recht‘ heraus. Im Massenbewußtsein
wurde Recht nicht mit der Verfassung oder mit dem Gesetz und erst recht
nicht mit natürlichen Rechten des Menschen, sondern mit der konkreten
Tätigkeit dieser oder jener über die Einhaltung des Rechts wachender Insti-
tutionen gleichgesetzt.“

4

Im „Dritten Reich“ erfolgte die Verankerung der Anerkennung des Ter-
rors als legitimer Funktion der Macht im gesellschaftlichen Bewußtsein auf
andere Weise. Das Regime nutzte die Rechtshörigkeit der Deutschen aus, in
diesem Falle war es nicht die Angst vor dem Staat, sondern die Angst, den
Staat zu verlieren. Die Weimarer Republik erschien vielen konservativen
Publizisten als Periode des Zerfalls nicht nur gesellschaftlicher Werte, son-
dern auch gesellschaftlicher Strukturen: Versailles schien den Deutschen
ihren vollwertigen Staat zu nehmen, sie schutzlos der feindlichen Welt aus-
zusetzen.
In der Sowjetunion war das Abgleiten in den Totalitarismus nicht vor-
programmiert. Erst Anfang der dreißiger Jahre war die Möglichkeit der

4

Kantor, Vladimir: Fenomen russkogo evropejca. Moskau 1999, S. 100.

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„Normalisierung“ des Regimes, seiner Umwandlung in eine „autoritär-
konservative Diktatur“ vom Typus der zaristischen Selbstherrschaft endgül-
tig verspielt. Das Zusammenfallen von drei Faktoren: des wirtschaftlichen
Rucks, der Mobilisierung des Parteiapparates und der spezifischen Auffas-
sung vom Marxismus führte zur Stalinschen „Kollektivierung“ der Land-
wirtschaft, die einen Bürgerkrieg neuer Art auslöste, diesmal zwischen den
Städten und dem Lande.
Auf den entschiedenen Widerstand der Bauernschaft mußte Stalin mit
taktischen Zugeständnissen reagieren. In strategischer Hinsicht trat er aber
die Flucht nach vorn an, er begann mit der administrativen Modernisierung
des Landes, deren ungewöhnliches Tempo ohne eine Aktivierung der Ter-
rormaschinerie nicht möglich gewesen wäre. Anfang der dreißiger Jahre
kommt es in den Terrororganen (OGPU) zu einer Neubewertung des politi-
schen Protestes. Der Widerstand oder gesellschaftliche Verweigerung als
Grund für die Verfolgung wurde ab diesem Zeitpunkt zunehmend ver-
fälscht, Repressalien bekamen einen präventiven Charakter. Das ist vorläu-
fig nur eine Hypothese. Sie kann nur nach Auswertung eines gewaltigen
Massivs von Strafsachen und Untersuchungsakten der OGPU dieser Perio-
de bestätigt oder verworfen werden.
Für die Hypothese spricht der viel zitierte Satz von Stalin vom 25. Sep-
tember 1936, daß die Organe der Staatssicherheit sich bei der Entlarvung
von antisowjetischen Verschwörungen um vier Jahre verspätet haben. Was
spielte sich im Sommer und Herbst 1932 im Lande ab, was veranlaßte Sta-
lin, sich für ein politisches Regime zu entscheiden, das sich auf unum-
schränkten Terror gründete? Die forcierte Schaffung von Kolchosen führte
in den fruchtbarsten Gebieten des Landes zu Lebensmittelmangel, eine
schreckliche Hungersnot war die Folge.
Eine Besonderheit des Widerstandes in Sowjetrußland, vor allem auf
dem Lande, war, daß seine Formen nach der Unterdrückung der Massen-
aufstände vom Winter und Frühjahr 1930 nicht von kriminellen Handlun-
gen zu unterscheiden waren. Die Bauern haben selten lokale Parteifunktio-
näre ermordet, sie haben aber das Kolchoseigentum ständig gestohlen und
unbrauchbar gemacht. Nachdem der Staat sie ausgeraubt hatte, griffen sie
die alte Leninsche Losung „Raubt das Geraubte“ auf. Außerdem war hier
das spezifische russische Gefühl von Gerechtigkeit im Spiel: was andere
dürfen, darf ich auch.

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Die darauf folgende Geschichte der UdSSR hat gezeigt, daß man nicht
gegen diesen Stereotyp kämpfen kann. Dieser Diebstahl „im kleinen“ war
sowohl ein Protest gegen die eigene Armut als auch ein Protest gegen das
System, das dem Menschen nicht die Möglichkeit bot, sich zu „bereichern“.
Unter Brežnev hörte man sogar auf, die Diebe als das zu bezeichnen, was
sie eigentlich waren und erfand einen neuen Begriff „nesuny“ – also jene,
die etwas wegtragen. Parteikomitees und Satirezeitschriften kämpften ver-
geblich gegen die „nesuny“. In den dreißiger Jahren überraschten die Di-
mensionen der „Verschleuderung von Staatseigentum“ den Staat und zeug-
ten davon, daß der „neue Mensch“ nicht entstanden war.
Gegen diese Art Widerstand war das nationalsozialistische Regime durch
den Verzicht auf radikale sozialökonomische Umgestaltungen gefeit. Auf
das Problem der Zwangsarbeit in den Konzentrationslagern gehe ich an die-
ser Stelle nicht ein, in den dreißiger Jahren spielt sie keine wesentliche Rol-
le im Wirtschaftsleben des Staates. In Deutschland beginnt die politische
Polizei sich mit Wirtschaftsverbrechen erst in den Kriegsjahren zu beschäf-
tigen.
Der „Große Terror“ wurde zum Schlußakkord des Kampfes der totalitä-
ren Macht gegen den gesellschaftlichen Widerstand, d.h. gegen das Streben
einzelner Menschen, eine der Macht unzugängliche Nische des Privatlebens
zu erhalten, das Recht auf eine andere Meinung zu bewahren, auch wenn
man sie nicht öffentlich zum Ausdruck brachte, und den von oben aufge-
zwungenen Werten und Verhaltensmustern zu entgehen. Im Unterschied
zum politischen Protest, der auf den Widerstand gegen das System gerichtet
ist und deshalb offensiven Charakter hat, handelt es sich beim gesellschaft-
lichen Widerstand um die Reaktion des Individuums auf Lüge und Gewalt-
anwendung. Gesellschaftlicher Widerstand bedarf keiner Organisation, kei-
ner Führer und keiner Ideologie – seine Ideale sind jedem immanent. Aber
ohne Stütze auf gesellschaftlichen Widerstand sind keine – und erst recht
nicht gewaltsame – Versuche des Sturzes totalitärer Regime möglich.
Rußland hat - was den gesellschaftlichen Widerstand betrifft - im Unter-
schied zu den führenden Staaten Europas, die die revolutionäre Epoche des
Abschieds vom Ancien régime durchgemacht hatten, nur ungenügende Er-
fahrungen sammeln können. Die Reaktion der Russen auf die Unterdrü-
ckung durch die Staatsmacht war stets eine extreme: entweder Aufruhr oder
Resignation. So gesehen kam der politische Widerstand gegen die zaristi-

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sche Selbstherrschaft und gegen den Stalinismus den europäischen Erschei-
nungsformen nahe – aber erfaßte, mit Ausnahme der vor- und postrevoluti-
onären Periode 1905-1921, nur eine Minderheit der Bevölkerung.
Auffällig ist die Kontinuität der Formen des Protestes in der Zeit der
„weißen“ und der „roten“ Diktatur. Hier ist vor allem die führende Rolle
der Emigration zu nennen. In der Emigration wurde der parteipolitische
Kampf geführt, reiften die Kader des „zukünftigen Rußland“ heran. Ohne
Emigration kann man sich jenen Krieg auf dem Gebiet der Information
nicht vorstellen, den Staatsmacht und Bevölkerung gegeneinander führten.
Besonders riskant war die Übermittlung und Weitergabe von Informatio-
nen in den Westen, an die Presse der Emigranten. Die in dem in Berlin er-
scheinenden trotzkistischen Bulletin der Opposition und im Sozialističeskij
Vestnik,
dem Organ der Auslandsleitung der Menschewiki, veröffentlichten
Berichte aus Rußland sind bekannt. Dem Aussagewert der Information nach
stammte diese aus der Führungsschicht der sowjetischen Nomenklatura. In
diesem Falle wäre es interessant, die Parallelen zur deutschen Ausgabe der
SOPADE herauszuarbeiten. Nach dem Krieg kamen die Briefe an ausländi-
sche Rundfunksender hinzu.
Es erübrigt sich, von der Perspektivlosigkeit des Kampfes gegen das un-
kontrollierte Wissen im Informationszeitalter, in dem der technische Fort-
schritt auf der Seite der Bürger ist, zu sprechen. Die neuen Massenmedien
schlugen Bresche um Bresche in den Eisernen Vorhang. Man kann sogar
sagen, daß „realer Sozialismus“ eher von Kurzwellenempfängern als von
Panzerkreuzern ruiniert wurde. Man kann sich schlecht vorstellen, wie ein
totalitäres Regime sich mit Fernsehschüsseln oder Internetanschlüssen zu-
recht finden könnte.
Man muß auch berücksichtigen, daß mit der Zeit sowohl das Selbstbe-
wußtsein der Teilnehmer dieser oder jener Form des Widerstandes als auch
die Reaktion der Staatsmacht darauf sich ändert. So reagierte das bolsche-
wistische Regime in den zwanziger Jahre gelassen auf Streiks in Staatsbe-
trieben, es sah in den Streiks eine unvermeidliche Folgeerscheinung der
„Engpässe“ in der Volkswirtschaft und eine Reaktion auf die Willkür der
örtlichen Administration. Der Führer der sowjetischen Gewerkschaften Mi-
chail Tomskij bemerkte auf dem Plenum des ZK 1928 voller Ironie, daß die
Arbeiter in Rußland mehr Streiks gewinnen, als ihre Kollegen im Ausland.
Die Teilnehmer am Streik in Novočerkask 1962 (auf dem Höhepunkt des

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Chruščevschen „Liberalismus“) wurden hingegen vom Militär zusammen-
geschossen, obwohl sie gegenüber der Stadtleitung ausschließlich ökonomi-
sche Forderungen erhoben.
Die angesammelte „Kritische Masse“ von Forschungsergebnissen in ver-
schiedenen case studies erlaubt fundierte Vergleiche in der Geschichte der
Stalinschen und der nationalsozialistischen Diktatur. Vor allem fällt die
unterschiedliche Dynamik des politischen Widerstandes auf: in Deutschland
nahm er zu, als deutlich wurde, daß der Weltkrieg nicht gewonnen werden
kann, in Sowjetrußland war er in der Etappe der Herausbildung des Re-
gimes und in der Zeit des Bürgerkrieges am größten.
Dann ebbte er ab, die Wortführer wurden vom bolschewistischen Staat
ins Exil abgedrängt. Während das Stalinsche Regime den ideologischen
Druck in den Kriegsjahren reduzierte und es vermochte, das Volk unter der
Losung „Die Mutter-Heimat ruft!“, zu mobilisieren, verstärkten die Natio-
nalsozialisten den Druck auf das Volk. Die Verwirklichung des Programms
der Vernichtung der europäischen Juden, die Zunahme der Zahl der Häft-
linge in den Konzentrationslagern führten aber zum gleichen Ergebnis: Alle
Ressourcen der Gesellschaft waren mobilisiert und die Gesellschaft unter-
stützte bis zum letzten Moment das Regime und den von ihm entfesselten
Krieg.
Wenn man die Dynamik des staatlichen Terrors unter Bedingungen des
Stalinismus und des Nationalsozialismus vergleicht, ist es sehr schwer, Pa-
rallelen zwischen den Perioden, in denen sich beide Staaten im Krieg be-
fanden, zu ziehen. Was die Vorkriegszeit betrifft, die sechseinhalb Jahre des
„Dritten Reiches“, so gibt es hier mehr Berührungspunkte zur innenpoliti-
schen Situation im Rußland der Neuen Wirtschaftspolitik (NÖP), also in
den zwanziger Jahren, als in der Zeit des siegreichen Stalinismus. Ich meine
damit die Einrichtung der Einparteiendiktatur und die Absage an Zuge-
ständnisse aller Art gegenüber den „Mitläufern“, die Isolierung realer politi-
scher Gegner in Konzentrationslagern mit gleichzeitigen wirtschaftlichen
Zugeständnissen gegenüber der Mehrheit der Bevölkerung. Jene Parteifüh-
rer, die nicht den Kurs der Mehrheit im Politbüro teilten, waren dem ideo-
logischen Rufmord ausgesetzt, mußten aber nicht um ihr Leben fürchten.
Man wird problemlos analoge Prozesse im „Dritten Reich“ finden. Nur was
die „Nacht der langen Messer“ betrifft, ist Hitler Stalin zuvorgekommen.

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Stalin bediente sich später zur Abrechnung mit innenparteilichen Rivalen
der Schauprozesse.
Die im Verlauf des Historikerstreits in Deutschland benannten Parallelen
zwischen der Entkulakisierung in der Sowjetunion und der Verfolgung der
Juden durch die Nationalsozialisten scheinen mir im Gegenteil an den Haa-
ren herbeigezogen. In diesem Falle sind nur die Maßstäbe und z.T. die
Technologie der Repressalien vergleichbar. Es wäre aber ein Fehler, den
Sinn der Arbeit des Historikers auf die Lösung mathematischer Operationen
zu reduzieren. Die Debatte um das Schwarzbuch des Kommunismus hat dies
ein weiteres Mal mit aller Deutlichkeit gezeigt. Ohne etwas wissenschaft-
lich Neues beigesteuert zu haben, verlagerten die Autoren den Akzent von
der Relativierung der nazistischen Verbrechen auf die frontale Beschuldi-
gung des Kommunismus in unserem Jahrhundert.
Auch die Möglichkeiten des Vergleichs des Holocaust mit dem „Großen
Terror“ sind begrenzt. Der eng gesetzte zeitliche Rahmen der Operationen
und ihre Ausrichtung auf die Herbeiführung einer Endlösung sind ver-
gleichbar. Im Sommer 1935 hob Stalin hervor, „daß den letzten Vertretern
der sterbenden Ausbeuterklassen nichts anderes bleibt, als vor ihrem Tode
noch einmal ihren Unfug zu treiben“.

5

Es genügt ihnen den Garaus zu ma-

chen – sofort lebt es sich fröhlicher, lebt es sich besser.
Man muß zwischen den Ergebnissen und den Folgen beider Prozesse
unterscheiden. Das konkrete Ergebnis wurde erreicht, aber in strategischer
Hinsicht war es ein Schritt des Regimes in Richtung auf den Abgrund hin.
Als er die Massenvernichtung der Juden befahl, nahm Hitler bewußt die
Verschlechterung seiner Chancen im Krieg in Kauf, denn der Holocaust
hatte weder einen Sinn für die Sicherung des Hinterlandes noch für die
Steigerung des Kampfeswillens der Deutschen. Stalin wollte die Verteidi-
gungsfähigkeit des Landes erhöhen, als er im Zuge der Massenrepressalien
die „Fünfte Kolonne“ vernichtete, also diejenigen, die von der Macht belei-
digt worden waren und in der Tiefe ihrer Seele von einer Revanche träum-
ten. Das Ergebnis ist bekannt – demographische Verluste, eine der besten
Kader beraubte Armee und eine demoralisierte Bevölkerung.
Man wollte das Beste – aber das Ergebnis war so wie immer. Dieser, im
heutigen Rußland oft verwendeten Formel liegt ein Moment zugrunde, das

5

RGASPI, fond 17, opis` 2, delo 547, list 67.

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die Stalinsche Willkür zwar nicht rehabilitiert, aber es möglich macht, den
Unterschied zum nationalsozialistischen Modell herauszuarbeiten. Die phy-
sische Vernichtung der Menschen ist in der kommunistischen Ideologie eine
„außerordentliche Maßnahme“, das trifft auch auf das Jahr 1937 zu. Die
Führung macht den Repressalien ein Ende, als sich die Bevölkerung über
deren Ausmaße klar wird. Im Nationalsozialismus, wo der Kampf ums
Überleben herrscht, ist der Tod des Schwächeren, sei es ein Einzelner, ein
Volk, eine Rasse oder ein Staat – eine normale und sogar wünschenswerte
Erscheinung. Hier gibt es keine moralischen Grenzen für die Vernichtung
der Menschen, die in der vom Regime aufgestellten Hierarchie sich auf
niedrigeren Stufen befanden.
Aber wenden wir uns weniger spekulativen Vergleichen zu. Die Verdrän-
gung der „Ehemaligen“ (so wurden Vertreter der vorrevolutionären Ober-
schicht im sowjetischen Staat genannt) aus allen Bereichen des gesellschaft-
lichen Lebens und der Kultur, aus dem Staatsapparat und der Wirtschaft in
den Jahren der NÖP hat Ähnlichkeiten mit der Praxis der Judenverfolgung
bis zur „Kristallnacht“.
Im gesellschaftlichen Bewußtsein der Massen in der UdSSR erfahren
diese Repressalien buchstäblich eine biologische Auslegung: „ihr adeliges
Geschlecht ist vollständig auszurotten, damit es im Volke kein blaues Blut
mehr gibt“. Es ist interessant, daß sogar die Führer der bolschewistischen
Partei nicht abgeneigt waren, sich mit solchen „Ehemaligen“ zu liieren. In
den Jahren der NÖP war die Eheschließung von „Aufsteigern“ aus dem
Proletariat mit „ehemaligen“ Adligen keine Seltenheit. In diesem Zusam-
menhang fallen einem die häufigen Skandale im „Dritten Reich“ wegen den
Beziehungen seiner Führer zu Schauspielerinnen nichtarischer Abstam-
mung ein. 1935 wird ein solcher Skandal – nur diesmal mit klassenmäßi-
gem Hintergrund – sogar auf einem Plenum der KPdSU(B) zur Sprache
gebracht. Es ging um die Beziehungen von höchsten Parteiführern zu Tän-
zerinnen des Bol’šoj – Balletts, die keineswegs aus den unteren Volksgrup-
pen abstammten.
Nach der „Kristallnacht“, die gewissermaßen den Staffelstab vom „Gro-
ßen Terror“ übernimmt (in Moskau werden Ežovs Anhänger verhaftet und
im ZK der KPdSU(B) der Beschluß über die Verletzung der sozialistischen
Gesetzlichkeit durch die Organe des NKVD vorbereitet), geht die Möglich-
keit der Parallelen rapide zurück. Im Unterschied zum deutschen Szenario

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läßt sich Stalin nicht darauf ein, der „Volksinitiative“ bei der Verwirkli-
chung der Repressalien freien Lauf zu lassen. Während der zahlreichen
Meetings ist stets nur von Schauprozessen die Rede, während die Maßstäbe
des tatsächlichen Terrors sorgfältig vor der Bevölkerung geheim gehalten
werden.
Der Erste, der auf diese Besonderheit hingewiesen hat, war Aleksandr
Solženycin. Sein Archipel Gulag, selbst ein Akt des Widerstandes, erzählte
von den konkreten Erscheinungsformen des Widerstandes in der Freiheit,
während der Untersuchung und in den Lagern. Für viele Menschen meiner
Generation wurde das Buch zu einer Art Lackmuspapier, das die Bestim-
mung, was gut und was schlecht ist, gestattete. Ohne den „Großen Terror“
von 1937-1938 wäre der Zusammenbruch des kommunistischen Systems in
der UdSSR schmerzhafter und weitaus blutiger ausgefallen oder hätte einen
Weg eingeschlagen, der der chinesischen Entwicklung nahekommt. Indem
sich Stalin durch den Terror vor dem Widerstand der Massen schützte, legte
er eine Zeitzünderbombe unter das gesamte politische System, da er es in
den Augen der nachfolgenden Generationen diskreditierte.
Neben einer Vielzahl „weißer Flecken“ in der Geschichte des anti-
kommunistischen Widerstandes gibt es eine Reihe von Gebieten, für die
bereits eine Quellen- und historiographische Basis geschaffen worden ist.
Auf eines davon möchte ich ausführlicher eingehen - auf den Widerstand
gegen Repressalien während der Untersuchung und im Gulag. Diesem
Thema waren einige internationale Konferenzen gewidmet, die von Gesell-
schaften der Opfer politischer Repressalien in der UdSSR organisiert wor-
den waren. Klammert man den Rassenterror aus, so ist die Relation von
verfolgten Teilnehmern am Widerstand und einfach unschuldigen Men-
schen in der UdSSR Stalins und im Deutschland Hitlers entgegengesetzt.
Während die Gegner des „Dritten Reiches“ ihrer Tätigkeit in Freiheit nach-
gingen und ihnen in der Gestapohaft die „Stunde der Wahrheit“ schlug, so
fand sich die überwiegende Mehrheit der sowjetischen Bürger in der Lub-
janka nicht wegen wirklich begangener Straftaten wieder. Für die deutschen
Antifaschisten endete mit der Verhaftung in der Regel ihre Mitwirkung an
der Widerstandsbewegung. Für die Mehrheit der sowjetischen Menschen
war die Verhaftung der Ausgangspunkt bewußten Widerstandes gegen das
Regime.

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Wenn ein Mensch in eine der zahlreichen Lubjankas geriet, wurde er so-
fort mit der Verlogenheit des Systems konfrontiert, eines Systems, das ab
jetzt gegen ihn persönlich gerichtet war. Völlig aus der Bahn warf ihn die
Tatsache, daß in der Verhörzelle „sowohl der Vertreter der Staatsmacht als
auch der Untersuchungshäftling erklärten, Mitglieder einer und derselben
Partei zu sein, eine und dieselbe Politik zu vertreten, einer und derselben
Regierung und sogar einem und demselben Menschen – dem Führer der
Partei ergeben zu sein“ (Zitat aus Erinnerungen von Evgenij Gnedin, Sow-
jetdiplomaten, der 1937 verhaftet worden war, den Gulag aber überlebte).

6

In den Jahren des Massenterrors wurden die Verhafteten aufgefordert, ein
bereits vorhandenes Verhörprotokoll zu unterschreiben, das eine ausführli-
che Beschreibung ihrer „antisowjetischen Tätigkeit“ enthielt. Die einfache
Verweigerung der Unterschrift, die bloße Ablehnung der Lüge, die der
Repräsentant der Staatsmacht zur Wahrheit erklärte, war bereits ein Akt des
Widerstandes. Um so mehr, weil darauf psychische und physische Folter
folgten, die den Methoden der mittelalterlichen Inquisition in nichts nach-
standen. Die Zeugnisse jener, die diese Kreise der Hölle durchliefen, sind
erschütternde Dokumente. Wer mit den Untersuchungsakten der Opfer des
„Großen Terrors“ arbeitet, ist ständig mit ihnen konfrontiert. Und jedes Mal
ist man aufs Neue geschockt – es ist unmöglich, sich daran zu gewöhnen.
Hier ist ein Auszug aus einem solchen Dokument. Es handelt sich um die
Beschwerde des verhafteten Finnen Vajno Karttunen, eines Funktionärs aus
der Karelischen Autonomen Republik, die er am 3. Oktober 1938 an das
ZK der KPdSU(B) richtete.

„Ich war mehr als 30 Tage zum Verhör, bei dem ich stehen mußte, wobei ein
Verhör 23 Tage ohne Unterbrechung dauerte, schlafen durfte ich nicht [...] Nach-
dem der Leiter der Untersuchungsstelle ‚Peski’ Kogan mir mit seinen schweren
Stiefeln auf die Zehen trat, mich in die Brust boxte und mich am Bart durch die
Zelle zerrte, erklärte ich ihm, daß die Anwendung von physischer Gewalt zu
nichts führt und fragte ihn, was er von mir wolle, ob es nicht möglich wäre, sich
über den Ausgang der Untersuchung zu einigen, ohne mir körperliche Schmerzen
zu bereiten. Ich sagte ihm, daß ich Kommunist, Bolschewik bin und bleiben wer-
de und der Partei bis zum letzten Blutstropfen ergeben bin. Darauf antwortete er
mir: ‚Wenn in dir noch etwas von einem Kommunisten übrig ist, dann mache die

6

Gnedin, Evgenij: Vychod iz labirinta [Der Ausweg aus dem Labyrinth]. Moskau 1994,

S. 42.

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für uns notwendigen Aussagen (du mußt dich nicht quälen, wir haben Kraft ge-
nug, dich zu zwingen) im Interesse unserer Partei, der Sowjetmacht und Millionen
von Menschen.‘ Ich war mit seinem Vorschlag einverstanden und schlug der Un-
tersuchungsführung vor, ein Protokoll beliebigen Inhalts zu verfassen, das dem
Schutz der KPdSU(B), der Sowjetmacht und Millionen von Menschen dient und
dieses Protokoll unterschrieb ich dann.“

7


Wo physische Gewalt ohnmächtig blieb, wirkte moralischer Druck, die Auf-
fassung, daß das Parteiinteresse über allem stand. Arthur Koestler vermoch-
te es dank seines Talents und der Kenntnis der Stalinschen Kader den Pro-
zeß der Präparierung der Opfer zu beschreiben, ohne selber in die „Fänge
des NKVD“ geraten zu sein. Die Arbeit mit den Untersuchungsakten der
OGPU-NKVD der dreißiger Jahre zeigt, daß die Verhörführung à la Ru-
bašev zu den effektivsten Methoden der Falsifizierung der Untersuchung
gehörte.
Aber auch die während der Verhöre gebrochenen Menschen versuchten,
als sie wieder in der Zelle waren, erneut Widerstand zu leisten, indem sie an
das ZK der Partei und die Führung des NKVD Bittschrift um Bittschrift
richteten, in der Hoffnung, daß früher oder später „die Angelegenheit da
oben geklärt wird“. Wichtig ist der Hinweis auf die Zeit zwischen der Ver-
haftung und dem ersten Verhör, in dem der Angeklagte „gestand“. Gewöhn-
lich wurden bei den Vernehmungen, in denen der Häftling nicht gestand,
seine Schuld leugnete, keine Protokolle geführt.
Die offizielle unvollständige Statistik des Innenministeriums der UdSSR
vom Dezember 1953 nannte für die Jahre 1921 bis 1953 fast 4,5 Millionen
wegen konterrevolutionärer Verbrechen verhaftete Sowjetbürger, von denen
ca. 800.000 erschossen worden sind.

8

Die meisten kamen in Besserungsar-

beitslager, wurden zu kostenloser Arbeitskraft, deren Aufgabe es war, den
Erfolg des sozialistischen Aufbaus zu gewährleisten. Die Jahre im Gulag
waren für viele nicht nur ein Kampf ums Überleben, sondern auch die Fort-
setzung des Widerstandes. Während des Transportes versuchten die Häft-
linge aus den Eisenbahnwagen heraus Manifestationen zu organisieren, in
den Lagern schufen sie alternative Verwaltungsgremien, schrieben kollekti-
ve Briefe des Protestes nach Moskau. In den Baracken fand man immer

7

GARF. Fond 10035, d.p. 22202, l. 75-76.

8

Ebenda, fond 9401, opis’ 1, delo 4157, list 201-205.

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wieder Flugblätter und „konterrevolutionäre Inschriften“, zu Feiertagen
hängten die Häftlinge Losungen wie „Unser Blut, das Blut der Bolschewiki,
macht Stalin zu Gold“ aus.

9

Bis 1937 waren Hungerstreiks eine wirksame Form des Protestes gegen
die unmenschlichen Haftbedingungen in den Gefängnissen. Im Zuge der
Vorbereitung auf den Massenterror wurden Listen der „Initiatoren verschie-
dener Arten von absichtlicher Verzögerung der Arbeit und Obstruktion“
erstellt und die Häftlinge ein zweites Mal verurteilt – diesmal nach der ers-
ten Kategorie. Nach dem Krieg nimmt der Widerstand aktivere Formen an,
eine Welle von Aufständen durchzieht den Gulag und in einigen Lagern
kämpfen die Häftlinge gegen die Armee. Der Aufstand in Kengir 1954 dau-
erte über einen Monat, im Lager wurden Selbstverwaltungsorgane geschaf-
fen, Gottesdienste durchgeführt und die Freizeit organisiert.

10

In der Regel

wurde dieser Widerstand in Blut ertränkt. Fast alle am bewaffneten Wider-
stand im Workutlag im Winter 1942 beteiligten Häftlinge wurden umge-
bracht. Bei der Unterdrückung des Aufstandes in Noril’sk im Sommer 1952
kamen mehr als 1.000 Häftlinge ums Leben.
Mit eigenen politischen Lösungen (mit Ausnahme der Forderung nach
eigener Amnestie) traten die Teilnehmer am bewaffneten Widerstand im
Gulag der Nachkriegsjahre nicht hervor, bei ihnen war auch der Prozentsatz
krimineller Häftlinge sehr hoch. Sowohl die Dokumente des NKVD als
auch die Erinnerungen von Häftlingen, die an den Aufständen beteiligt wa-
ren, bedürfen kritischer Prüfung durch die Historiker. Bis auf den heutigen
Tag gibt es keine Angaben über das Verhältnis politischer und krimineller
Häftlinge unter der Gulagbevölkerung. Hinzu kommt, daß 1937-1938 viele
Kleinkriminelle nach Artikel 58 im Strafkodex der RSFSR („gegenrevoluti-
onäre“ Tätigkeit) verurteilt wurden.


Kriminelle in Butovo und Plötzensee – Opfer oder
Verbrecher

9

Chotelos’ by vsech poimenno nazvat’...“. Po matelrialam sledstvennych del i lagernych

otčetov Gulaga. Moskva 1993, S. 122.

10

Volja. Žurnal uznikov totalitarnych sistem. 1994, Nr. 2-3, S. 307-370.

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Ein weiterer Aspekt, in dem russische Forscher wichtige Ergebnisse vor-
weisen können, ist die soziale, nationale und weltanschauliche Zugehörig-
keit der Opfer politischer Repressalien, von denen ein Teil zu den Akteuren
des antikommunistischen Widerstandes gehörte. Auch hier bieten sich inte-
ressante Vergleiche an. Nach der Machtübernahme Hitlers gehen die
Konservativen in die innere Emigration, die Vertreter der Arbeiterparteien
ins Exil. In der UdSSR ist das Gegenteil der Fall. Die linke Opposition
blieb im Land, die „Ehemaligen“ führten ihren Kampf aus der Emigration.
In den ersten Jahren garantierte die Sowjetmacht ihren einstigen
Kampfgefährten aus dem sozialistischen Lager sogar besondere
Haftbedingungen – die sogenannte politische Isolation. So forderten z.B.
die im Suzdaler Gefängnis inhaftierten Sozialrevolutionäre, daß man sie
getrennt nach Parteifraktionen zum Hofgang führt.

11

In der Ausreise sahen

viele politische Gefangene, besonders solche, die das Zuchthaus in der
Zarenzeit hinter sich hatten, einen Akt der Feigheit. Trockij wurde 1929 mit
Gewalt ausgewiesen. Später bot übrigens auch die Emigration keine

Garantie vor Übergriffen des NKVD.

Nachdem die Bolschewiki den „bürgerlichen Staatsapparat“ zerschlagen
hatten, nahmen sie ihren Gegnern jene Institutionen, die, wie später in
Deutschland, als Herde des Widerstandes dienen konnten. Es geht um die
Armee, das Außenministerium usw. Trotzdem versuchten die „bürgerlichen
Spezialisten“ oder, wie sie auch genannt wurden, die „Mitläufer“, bis An-
fang der dreißiger Jahre immer wieder, Einfluß auf den Kurs der regieren-
den Partei zu nehmen. Die kurze Geschichte der Zeitschrift Ėkonomist, die
1922 in Petrograd erschien, ist in diesem Zusammenhang symptomatisch.
In der Redaktion arbeiteten Wissenschaftler von Weltruf wie Pitirim Soro-
kin, Nikolaj Kondrat’ev und Eugen Tarle mit. Sie stellten nicht den Mar-
xismus als Ganzes in Frage, warnten aber vor den fatalen Folgen der totalen
Vergesellschaftung der Wirtschaft, und schlugen statt dessen ihren eigenen
„genossenschaftlichen Weg zum Sozialismus“ vor. Eine große Gruppe der
„Mitläufer“ arbeitete in der Staatlichen Plankommission und wehrte sich
lange Zeit erfolgreich gegen die Einführung der Direktivplanung.

11

Siehe: „Chotelos’ by vsech poimenno nazvat’...”, a.a.O., S. 99.

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Subjektiv zählten sich diese Menschen nicht zu den Akteuren des Wider-
standes, ihre Zusammenarbeit mit der neuen Macht resultierte aus der Theo-
rie der „kleinen Schritte“ und der Tradition der Zemstvo-Bewegung am An-
fang des Jahrhunderts. Aber sie stellten die ernstzunehmende Gefahr der
Existenz einer anderen Meinung dar, die in der Lage war, die Stützen des
ideokratischen Systems ins Wanken zu bringen. Sie alle sollten verfolgt,
ausgebürgert oder 1930 der Beteiligung an fiktiven antisowjetischen Orga-
nisationen angeklagt werden. Die Arbeiter unterstützten alles in allem die
gegen die Spezialisten gerichtete Politik (speceedstvo), weil sie sich davon
eine Verbesserung ihrer sozialen Lage und den Aufstieg auf der Karrierelei-
ter erhofften. Wenn wir uns jetzt der Situation im Dritten Reich zuwenden,
wird es offensichtlich, daß der nationalsozialistische Terror die bestehende
soziale Zusammensetzung der deutschen Bevölkerung nicht in Frage stellte,
eher umgekehrt, die sich schnell verändernden Klassen der industriellen
Gesellschaft zur ständischen Struktur der Volksgemeinschaft stabilisieren
wollte.
Ein weiterer Unterschied hat bis heute nicht die Aufmerksamkeit der
Forscher auf sich gezogen: ich meine die nationale Färbung des Widerstan-
des. In der UdSSR war dieser schon deswegen ausgeprägter als in Deutsch-
land, weil der Widerstand hier – vor allem im Baltikum und im Nordkauka-
sus – Elemente des nationalen Befreiungskampfes einschloß. In der histori-
schen Forschung der früheren Sowjetrepubliken, die jetzt zu selbständigen
Staaten geworden sind, werden solche nationalen Bewegungen übermäßig
glorifiziert, obwohl sie in sich auch rückgewandte Merkmale getragen ha-
ben. Ein Beispiel der patriarchalisch bestimmten Basmači-Bewegung in
Mittelasien genügt wohl.
Auch das Spektrum der gesellschaftlichen Verweigerung in der Stalin-
schen Sowjetunion war breiter. Ein bedeutender Teil der gesellschaftlichen
Institutionen wurde im Verlauf der zwanziger und dreißiger Jahre zu „anti-
sowjetischen“ erklärt, was deren aktive Mitarbeiter automatisch in die Rei-
hen der Regimegegner führte. Oft handelte es sich um völlig unschuldige
Organisationen wie die Verbrauchergenossenschaften (ihnen wurden nicht
aus Lohnarbeit stammende Einkünfte zur Last gelegt), Hobbyfunker (ihnen
wurde Verbindung zum Ausland vorgeworfen), Zirkel zum Erlernen von
Esperanto. Da sich auch Trockij für die Schaffung einer proletarischen
Sprache eingesetzt hatte, wurde 1937 den russischen Mitgliedern der Inter-

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nationalen Esperanto-Gesellschaft ein ganzer Strauß von Anklagen entge-
gengehalten: trotzkistische Tätigkeit, antisowjetische Propaganda, Spionage
und Vorbereitung von Terroranschlägen.
Alles, was irgendeine Beziehung zum Ausland hatte, wurde vom totalitä-
ren Staat als feindlich angesehen, als etwas, was sein Monopol auf Informa-
tion, sein „Recht auf Wahrheit“, unterlief. Den Stalinismus zeichnete der
Haß auf alles Ausländische aus, dessen Höhepunkt in die Nachkriegsjahre
fiel. Diese Ablehnung des „Fremden“ ging soweit, daß das Gesetz Ehe-
schließungen von Sowjetbürgern mit Ausländern verbot. Letztere gehörten
nicht zuletzt deshalb zu der „Risiko-Gruppe“, weil ihre Lebensweise viel
von dem enthielt, was in der UdSSR als Nonkonformismus oder als anti-
sowjetisch galt. Das betraf sogar die Kommunisten. Deutsche Emigranten
z.B., wie die aus der „Gruppe um Wollenberg“, hörten ausländische Sender,
erhielten Post aus dem Ausland und bewahrten die Werke von Trockij auf.
In den Erinnerungen von Herbert Wehner gibt es eine vielsagende Stelle, in
der er beschreibt, wie er in seinem Zimmer im Hotel Lux jene Bücher aus-
sortiert, die als antisowjetisch gelten können, und sich dann aufmacht, um
sie in der Moskwa zu versenken.
Wenn wir die Struktur des Widerstandes nach dem Alter seiner Teilneh-
mer erforschen, so fällt auf, wie groß der Anteil der studentischen Jugend
war. Die Tätigkeit der „Weißen Rose“ in Deutschland ist hier ein Beispiel.
Auch im Stalinismus galt die jüngere Generation als besonders verdächtig.
Mit diesem „Kontingent“ beschäftigten sich besondere Abteilungen der
Hauptverwaltung Staatssicherheit des NKVD, die ein weitverzweigtes Netz
von Informanten unter Dozenten und Studenten an Hochschulen und in ein-
fachen Schulen hatten.
Der Höhepunkt der Repressalien gegen die Studentenschaft fällt in die
Nachkriegsjahre. Die Namen der von den Organen entlarvten „antisowjeti-
schen Jugendorganisationen“ sprechen für sich: „Kommunistische Partei
der Jugend“, „Kommune“, „Für Sozialismus“ usw. Stärker verbreitet war
die passive Abkehr von der Politik, gegen die der repressive Mechanismus
nichts vermochte. Die jungen Leute reagierten empfindlicher auf die Verlo-
genheit der offiziellen Propaganda und suchten nach einer Nische, in der
diese Propaganda sie nicht erreichen konnte. Richard Loewenthal schrieb
unter Bezug auf eine solche Verweigerungshaltung der Jugend im National-
sozialismus: „Hier in die freie Natur, aber ohne zu marschieren, dort auf

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den Tanzboden oder auch ins Konzert. Was sie gemeinsam hatten, war eben
die Verweigerung dessen, zu dem sie hatten erzogen werden sollen.“

12

Leonid Krasnopevcev, Führer einer „antisowjetischen Gruppe“ von Stu-
denten und Dozenten der historischen Fakultät der MGU, die 1958 verhaf-
tet wurden, schildert fast mit den gleichen Worten die Situation der Jugend-
lichen in der UdSSR.

„Die Repressalien des Staates, die ständigen Pogrome in der Wissenschaft, der
Kunst und sogar in den Parteiorganisationen der Hauptstadt, die mit herausfor-
derndem Zynismus durchgeführt wurden, sinnlose außenpolitische Abenteuer a la
Korea, alles das ließ der Jugend Ende der vierziger, Anfang der fünfziger Jahre
keine Wahl [...] Die Befreiung der Jugend vom Bolschewismus war eine mächtige
und vielschichtige Bewegung und nahm die unterschiedlichsten Formen an. Alle
Seiten des Stalinschen Nachkriegsverhaltens wurden abgelehnt, von den weiten
Hosen, Jacketts mit Schulterpolstern und der Bürstenhaarschnitt bis zur Kunst des
Sozialistischen Realismus. Der Hang zur westlichen Kultur, Lebensweise und
zwischenmenschlichen Beziehungen nahm zu.“

13


Der gesellschaftliche Widerstand der Nachkriegsjahre wird bisweilen zu
sehr auf den Sieg der UdSSR im Krieg zurückgeführt. Gewiß gab es das
Element der „inneren Befreiung“ und der Bekanntschaft mit Europa. Aber
das war nicht das Entscheidende. Viel größeren Anstoß gab die Entlarvung
der Stalinschen Verbrechen, die viele Sowjetbürger zur Suche nach dem
anderen, wahren und richtigen Sozialismus motiviert hat. Chruščev verän-
derte auch den staatlichen Umgang mit dem gesellschaftlichen Widerstand,
an die Stelle des flächendeckenden Terrors tritt die „normale“ Praxis der
individuellen politischen Verfolgung. Ab jetzt sind die Spielregeln auf die-
sem Gebiet durchsichtig und klar, die Entscheidung zum Andersdenken und
Dissidententum wird rationell. Es beginnt ein anderes Kapitel des Wider-
standes, wo wiederum die Emigration die führende Rolle übernimmt. Die-
ses Kapitel ist uns dank Erinnerungen und Samizdat-Literatur viel besser
bekannt. Was hier fehlt, ist wiederum die vergleichende Analyse, diesmal
mit der Praxis der Dissidentenbekämpfung in der DDR, die dank der Öff-

12

Loewenthal, Richard / von zur Muehlen, Patrick (Hrsg.): Widerstand und Verweige-

rung in Deutschland 1933 bis 1945. Berlin – Bonn 1985, S. 21.

13

„Delo“ molodych istorikov 1957-1958. In: Voprosy istorii, 1994, Nr. 4, S. 107.

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nung der Stasi-Akten viel besser erforscht ist, als die Praxis des KGB zu
den Andropov-Zeiten.
Kehren wir zum Ausgangspunkt zurück, zu den politischen Schlußfolge-
rungen,
die sich für das heutige Rußland aus der vergleichenden Analyse
des Widerstandes in modernen Diktaturen ergeben. Das Fehlen eines Kon-
senses in der Einschätzung unserer Vergangenheit ist eine Folge des „wei-
chen Ausstiegs“ aus dem Totalitarismus, der sich über Jahrzehnte hinzog.
Wir hatten weder eine Kapitulation wie 1945, wir wurden nicht geschluckt
wie die DDR 1990. In den Jahren der Perestrojka hörte der Widerstand ge-
gen das Regime auf, eine strafbare Tat zu sein, und Millionen von Men-
schen gingen auf die Straße, um zum Ausdruck zu bringen, was sie nicht
mehr wollten. Das positive Programm war viel schwächer vertreten, alle
wollten einfach leben wie im Westen, „frei und reich“. Dann kam das Jahr-
zehnt der bitteren Enttäuschungen. Die unbewältigte Sowjetvergangenheit
trug dazu nicht wenig bei.
Zum einen gehört eine klare und ausgewogene Einstellung zur eigenen
Vergangenheit zum Bestandteil der politischen Kultur des postsowjetischen
Rußland. Zum anderen kann man ohne eine solche Einstellung die konkre-
ten Probleme der Gegenwart unmöglich lösen. Ich kann ein recht merkwür-
diges Beispiel nennen: die Rehabilitierung der sowjetischen Kundschafter,
die in den letzten Jahrzehnten zum Gegner übergelaufen sind. Wer sind sie,
Vaterlandsverräter oder Kämpfer gegen das System? Jeder der Überläufer
hat erklärt, „die Freiheit gewählt“ zu haben. Ist das – mit Blick auf die heu-
tige russische Gesetzgebung – eine hinreichende Begründung für Straffrei-
heit oder sind hier Parallelen zur „Abstimmung mit den Füssen“, wie es in
der DDR der Fall war, unzulässig?
Ein großes Feld des gesellschaftlichen und politischen Diskurses ist mit
dem fortdauernden Prozeß der Rehabilitierung der Terroropfer verbunden.
Die Widerstandskämpfer erhalten dabei keinen Vorrang. Es entsteht aber
die Frage, ob es richtig ist, daß die russische Gesetzgebung einen Geistli-
chen, der wegen seiner Predigten gelitten hat, und einen Untersuchungs-
richter des Ežovschen NKVD, der verhaftet wurde, nachdem Stalin den
„Großen Terror“ gestoppt hatte, gleichermaßen zu den Opfern politischer
Repressalien zählt. Nivelliert denn die gefälschte Anklage, die beiden aus-
gehändigt wurde, ihre Haltung gegenüber dem politischen Regime, hebt sie
den Unterschied zwischen Widerstand und aktiver Beteiligung am Terror

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auf? In den neunziger Jahren haben sich zahlreiche Angehörige von umge-
brachten Mitarbeitern des NKVD mit der Forderung an die Staatsanwalt-
schaft gewandt, ihre Vorfahren zu rehabilitieren. Wenn auch im Falle von
Ežov oder Berija der Antrag mit fadenscheinigen juristischen Begründun-
gen abgelehnt wurde, so trifft das nicht auf ihre Handlanger zu, die automa-
tisch von der Anschuldigung, Trotzkisten oder Spione gewesen zu sein,
freigesprochen und in die Liste der Opfer des Stalinismus aufgenommen
werden. Dies ungeachtet der Tatsache, daß sie für die Leiden und für den
Tod unzähliger Menschen verantwortlich waren.
Ich möchte unterstreichen, daß auch wir, die Berufshistoriker, einen nicht
geringen Anteil der Verantwortung dafür tragen, daß die russische Gesell-
schaft an der Jahrtausendschwelle das Interesse an der eigenen Vergangen-
heit verloren hat. Die Wirklichkeit scheint den noch Lebenden viel schlim-
mer zu sein als die Entbehrungen der ersten Fünfjahrpläne. Nach der Hoch-
konjunktur der Perestrojka-Zeit sind die Historiker der Sowjetperiode, ab-
gesehen von einzelnen Ausnahmen, buchstäblich in die innere Emigration
gegangen. Die Kultur des wissenschaftlichen Streits ist verschüttet, For-
schungsthemen hängen von denen ab, die sie bezahlen können. Bisher gibt
es keine einzige allgemeine analytische Arbeit über den antikommunisti-
schen Widerstand in der UdSSR. Die Menschenrechtsorganisation „Memo-
rial“, die sehr viel auf diesem Gebiet leistet, ist hier mit Blick auf ihre wis-
senschaftliche Kapazität überfordert.
Es fällt mir schwer, zu erklären, warum das wissenschaftliche Interesse
nicht nur in Rußland, sondern auch im Westen so stark auf das Problem des
„Großen Terrors“ von 1936 bis 1938 fixiert ist, in dem doch überwiegend
unschuldige Menschen verfolgt wurden, jene Perioden hingegen fast über-
sieht, in denen die politische Polizei gegen tatsächliche Gegner des Partei-
regimes kämpfte. Hier gibt es aber weit mehr Material zum Thema „Wider-
stand“, weit mehr Beispiele, die zur demokratischen Erziehung der Russen
beitragen könnten.
Bislang bildet das bewußte Vergessen eine Art von Ersatz-Bewältigung
der kommunistischen Vergangenheit und trägt damit zur Besinnung der po-
litisch aufgeheizten russischen Bürger bei. Ganz anders in Deutschland, wo
der wunde Punkt der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus die
Urquelle der demokratischen Nachkriegskultur bildete. Hier wäre aber ein-
fache Nachahmung falsch und unfruchtbar, obwohl der Slogan „Vom Wes-

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ten lernen, heißt siegen lernen!“ im modernen Rußland an seiner Popularität
kaum eingebüßt hat.
Zwar kommt keiner mehr auf die Idee, einen Schauprozeß gegen die
KPdSU nach dem Vorbild des Nürnberger Tribunals zu organisieren, wie es
zunächst diskutiert wurde, aber die Neigung zur Übernahme fertiger Rezep-
te ist immer noch vorhanden. Vergleiche der tragischen Momente der russi-
schen und deutschen Geschichte können letztendlich nur beweisen, daß es
sich eigentlich um verschiedene Geschichten handelt, die voneinander nicht
abzuleiten sind. Und so sind Anregungen, die von außen kommen, will-
kommen. Der Ausweg aus der heutigen geistigen Misere muß aber in Ruß-
land selbst gefunden werden.

(

Übersetzung: Wladislaw Hedeler)


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