Die Falken von Narabedla
(FALCONS OF NARABEDLA)
von Marion Zimmer Bradley
1.
Irgendwo auf den Klippen über uns hörte ich einen Vogel kreischen.
Ich drehte mich zu Andy um, der knietief im eisigen Strom neben mir stand. „Da hast du
deinen Adler. Vielleicht riecht er den Puma, den ich gestern geschossen habe.“ Ich begann
meine Leine einzuholen, denn ich wußte, was mein Bruder jetzt tun würde. „Hole die
Kamera. Wir werden versuchen, ein paar Bilder zu schießen.“
Wir duckten uns in das niedrige Buschwerk und beobachteten den riesigen Vogel, der in
langsamen Kreisen auf den toten Puma niederging. Andy zitterte vor Erregung und hielt die
Kamera vor die Brust. „Herrjeh“, flüsterte er, „zwei Meter Flügelspannweite, wenn nicht
mehr.“
Der Vogel drehte mißtrauisch den Kopf gegen den Wind und kreischte wieder. Der Adler
roch oder sah uns nicht und schwebte nieder auf den Kopf des toten Puma. Zweimal klickte
Andys Kamera. Der Adler bohrte den Schnabel in seine Beute.
Ein Draht schien rot in meinem Gehirn zu glühen. Der Vogel... Mit einem Sprung verließ ich
meine Deckung und rannte über die kleine Lichtung, die uns von dem Adler trennte, und
meine Hand griff automatisch nach dem Jagdmesser in meinem Gürtel. Andys
Entsetzensschrei war für meine Ohren nur ein Lärm von weither, als der Adler mit
schlagenden Schwingen abstrich, umkehrte und enge, wütende Kreise um meinen Kopf zog.
Ich spürte, wie der scharfe Schnabel drohend näher kam und stieß mein Messer nach oben.
Der Vogel kreischte vor Schmerz, und seine Schwingen klatschten.
Ein roter Nebel hüllte mich ein... Das war schon einmal geschehen. Ich hatte schon einmal so
gekämpft; um mein Leben gekämpft.
Ein hoher Schrei, ein flatternder Schatten — dann war der Adler verschwunden. Andys Hand
griff um meine Schulter und schüttelte mich. Seine wütende, angstvolle Stimme war kaum zu
erkennen. „Mike! Du verdammter Narr! Ist etwas passiert? Du bist ja wahnsinnig!“
Ich blinzelte und strich mir mit der Hand über die Augen. Ich stand auf der Lichtung, und die
Klinge meines Messers war rot vom Blut des Vogels. Ich hörte mich eine sehr törichte Frage
stellen: „Was ist denn eigentlich geschehen?“
Durch den roten Nebel sah ich das Gesicht meines Bruders. „Das würdest du besser mir
erzählen! Mike, was denkst du dir überhaupt? Mir erzählst du, daß ein Adler Menschen
angreift, wenn er sich gestört fühlt. Ich hatte ihn genau im Sucher, und da mußt du wie eine
Fledermaus aus einem Kirchturm schießen und mit dem Messer auf den Adler losgehen! Du
bist total verrückt!“ Ich ließ das Messer aus der Hand fallen. „Ja“, meinte ich nachdenklich,
„dein Bild habe ich ja wohl nun verdorben, Andy. Tut mir leid. Ich wollte nicht...“ Ich kam
mir wie ein richtiger Narr vor. Langsam glitt meines Bruders Hand von meiner Schulter, und
Andy kniete sich ins Gras, um meine Kamera zu suchen. „Ist schon gut, Mike“, antwortete er
leise. „Du hast mich nur zu Tode erschreckt.“
Er stand auf und sah mich fest an. „Ich weiß nicht recht, Mike, was mit dir los ist... Seit einer
Woche benimmst du dich wie ein Irrer. Es geht doch nicht um die dumme Kamera, aber wenn
du mit bloßen Händen einen Adler angreifst...“ Er warf die Kamera weg und rannte den
Abhang hinunter in Richtung Hütte.
Nach ein paar Schritten blieb ich stehen und bückte mich nach den Stücken von Andys
geliebter Kamera. Er mußte sie nach dem Adler geworfen haben, denn ein Tier von dieser
Größe... Warum, zum Teufel, hatte ich so etwas Irrsinniges getan? Und Andy hatte ich
dauernd in den Ohren gelegen, er solle sich von den großen Vögeln fernhalten.
Mein unbändiger Tatendrang war verflogen. Ich kam mir selbst töricht und leichtsinnig vor.
Mich wunderte es nicht, daß Andy mich für verrückt hielt; das dachte ich mir nämlich oft
genug selbst. Ich schob die kaputte Kamera in meine Gerätetasche und nahm mir vor, Andy
bei Gelegenheit eine viel bessere zu schenken. Rasch sammelte ich unsere Angelgeräte ein,
verstaute den heutigen Fang und machte mich auf den Weg zur Hütte. Inzwischen war es
dunkel geworden, und der selbstgebastelte Dynamo, der unsere Hütte mit Licht versorgte,
summte gleichmäßig. Der Duft gebratenen Specks schlug mir entgegen, als ich in das helle
Licht der starken, nackten Birne trat. Andy hatte nicht auf den Fisch gewartet. Er stand am
Herd und drehte mir den Rücken zu.
„Andy...“, sagte ich.
„Schon recht, Mike. Setz dich und iß dein Abendessen.“
„Andy, ich kaufe dir eine andere Kamera.“
„Ich sagte doch, daß es in Ordnung ist. Verdammt, so setz dich doch endlich und iß!“
Er sagte lange kein Wort mehr, aber als ich mich zurücklehnte, um meine Kaffeetasse noch
einmal aufzufüllen, sprang er auf und lief unruhig hin und her.
„Mike“, begann er endlich, „du bist zur Erholung hergekommen. Warum willst du nicht
einmal deine ewige Arbeit von dir wegschieben und dich entspannen?“ Angewidert sah er
über die Schulter zum Arbeitstisch, auf dem ein wirres Durcheinander von Spulen, Magneten
und Drähten herrschte. „Willst du hier vielleicht eine Filiale der General Electric einrichten?“
„Ich kann jetzt doch nicht aufhören“, erwiderte ich ziemlich heftig. „Ich bin einer Sache auf
der Spur. Es kann etwas Großes werden, und wenn ich jetzt nicht weitermache, finde ich es
vielleicht nie mehr!“
„Muß schon sehr wichtig sein“, meinte Andy säuerlich, „wenn es dich irrenhausreif macht.“
Ich zuckte die Achseln. Darüber hatten wir schon so oft gesprochen, seit sie mich aus dem
Regierungslabor hinausgeworfen hatten. Das war unmittelbar vor dem großen Knall.
Vielleicht, dachte ich zornig, steure ich wieder auf einen los. Es war mir egal.
„Setz dich, Andy“, sagte ich. „Du weißt nicht, was dort passiert ist. Nein, ein militärisches
Geheimnis ist es nicht. Als ich meinen Militärdienst hinter mir hatte, war es schon lange
freigegeben.“
Ich nahm einen großen Schluck Kaffee und verbrannte mir dabei den Mund. „Nur für mich
natürlich nicht“, fügte ich bitter hinzu.
Ich hatte damals in einem Regierungslabor an einem neuen Nachrichtenmittel gearbeitet. Da
ich nie fertig wurde, hat es keinen Sinn, in Einzelheiten zu gehen. Es genügt, wenn ich
feststelle, daß damit das ganze Radarwesen so überflüssig geworden wäre wie die
Postkutsche.
Ich hatte einen ganz besonderen supersonischen Kondensator gebaut, bis ich Schwierigkeiten
bekam mit einem magnetischen Spulensatz, der sich nicht richtig wickeln ließ. Als das Ding
in die Luft ging, hatte ich zwar seit drei Nächten nicht mehr geschlafen, aber das war nicht der
Grund, denn wenn ich mich in eine Sache verbissen hatte, brauchte ich keinen Schlaf. Ich war
damals auch ganz normal, ein kleiner Nachrichtenmann, der mit Vorliebe an neuen Sachen
herumpfuschte; damals waren es noch nicht die unpraktischen Kinkerlitzchen, die mich dann
meinen Job kosteten. Man behauptete, ich sei schrecklich überarbeitet, und ich weiß genau,
daß sie dachten, mein Kopf sei nicht mehr in Ordnung. Nun, übelnehmen kann ich es ihnen
nicht, denn ich dachte ähnlich. Das heißt, ich hätte es gerne selbst geglaubt.
*
Begonnen hatte es damals mit einem Kurzschluß im Labor, der sich nicht lokalisieren ließ.
Schock nach Schock traf mich, bis ich ganz benommen war. Aber dann bekam ich die Sache
wieder hin, und ich konnte mir später gar nicht vorstellen, wieso es gerade bei diesem
Schaltkreis zu einem Kurzschluß kommen konnte; der Oszillator mußte irgendwie einen
Defekt haben — das dachte ich wenigstens. Aber ich kriegte noch immer ganze Serien
Niederfrequenzwellen ab, die ich noch niemals gesehen hatte. Es war auch irgend etwas wie
eine Stimme, die aus einem sehr alten, selbstgemachten Kristallempfänger zu kommen schien
— nur gab es kein Radiogerät und keine Sprechanlage im Labor, und außer mir hörte
niemand diese Stimme. Ich war meiner Sache auch nicht ganz sicher, denn in diesem
Augenblick spielten sämtliche Instrumente verrückt. Vierzig Sekunden später knallte ein
Stück der Decke auf den Fußboden, und der Fußboden flog zum Dach hinaus. Sie sagten, sie
hätten mich halb zerquetscht unter einem Balken herausgezogen. Jedenfalls wachte ich in
einem Krankenhaus auf, hatte vier gebrochene Rippen und das Gefühl, ich sei mit
Hochspannung geradezu getränkt.
Im Bericht hieß es dann, ich sei vom Blitz getroffen worden. Etwas mußte man ja schließlich
dazu sagen.
Es dauerte ziemlich lange, bis ich mich erholte. Die Rippen und die anderen Verletzungen
heilten schneller, als es den Ärzten lieb war. Ich fühlte mich im Krankenhaus nicht besonders
unglücklich, hur zitterte ich ständig, wenn ich herumging, und zündete ich mir eine Zigarette
an, dann verbrannte ich mich irgendwie. Das ging viele Wochen so. Was mich störte, war das,
woran ich mich erinnerte, bevor ich aufwachte.
Delirium, hatte man mir erklärt. Aber das konnte nicht stimmen, zog man die Spuren an
meinem Körper in Betracht. Elektrizität hinterläßt nicht diese Art von Verbrennungen, auch
dann nicht, wenn man vom Blitz gestreift wird; und in dieser Ecke unserer guten alten Erde
versieht man die Menschen im allgemeinen nicht mit Brandzeichen.
Leider waren die Male, ehe ich sie jemandem außerhalb des Krankenhauses zeigen konnte,
verschwunden. Sie waren nicht geheilt, nur verschwunden. Der behandelnde Arzt sah
ziemlich verwirrt drein, als ich ihm die Stellen zeigte, wo die Brandmale gewesen waren. Er
hielt nicht mich für verrückt, sondern sich selbst.
Auch ein Psychiater schnüffelte immer herum und versuchte mich mit psychosomatischen
Erklärungen und hochtönenden Worten wie hysterische Stigmata zu beruhigen, aber auch das
war nur für den Bericht wichtig.
Ich wußte ganz genau, daß das Labor nicht vom Blitz getroffen worden war. Auch der Major
wußte es. Das erfuhr ich, als ich mich wieder zur Arbeit meldete. Er redete ununterbrochen,
und seine große Feder malte endlose Kreise über die Seiten seines Logbuches; er sah mich
nicht einmal dabei an.
„Das weiß ich alles, Kenscott. Keine Gewitter in der ganzen Umgebung, keine
Radiostörungen innerhalb von tausend Meilen. Aber...“ und hier schob er sein Kinn energisch
vor „... das Labor war ein Trümmerfeld, und Sie waren ein ziemliches Wrack. Wir brauchen
etwas für den Bericht.“
Das verstand ich selbstverständlich. Was mir ganz und gar nicht paßte, war die Behandlung,
als ich die Arbeit wieder aufnahm. Ich kam in eine andere Abteilung und an ein anderes
Projekt. Meinen Antrag, die Arbeit an diesen Niederfrequenzwellen fortsetzen zu dürfen,
vergaß man; meine Privatnotizen wurden aus meinem Notizbuch gerissen, während ich beim
Mittagessen war, und ich bekam sie niemals wieder zu sehen. Sie benützten die nächste sich
bietende Gelegenheit, mich nach Fairbank, Alaska, zu versetzen, und das war natürlich das
Ende.
Am Tag vor meinem Abflug erzählte mir der Major, was ich wissen mußte. Die Worte sagten
schon ziemlich viel, sein finsterer Blick sprach Bände. „Ich würde alles ruhen lassen,
Kenscott. Hat doch keinen Sinn, sich noch mehr Ärger auf den Hals zu laden. Hintenherum
läßt sich ja sowieso nichts machen. Das nächste Mal ist es nicht nur ein irrer Blitz aus
heiterem Himmel, der Ihnen fast den Kopf abreißt, den verlieren Sie nämlich dann todsicher.
Wir haben uns überschlagen, um herauszukriegen, woher diese blinde Energie kam und
wohin sie wieder verschwand.“
„Dann sind Sie also der festen Meinung, daß es etwas gab!“ Das war wesentlich mehr, als
jeder andere von meinem ehemaligen Projekt zugegeben hatte.
„Inoffiziell, ja.“ Der Major zog die Stirn in Falten, sah mich aber nicht an. Und dann sprudelte
er alles heraus.
„Die ganze Geschichte geht darauf hinaus, daß die Erscheinungen nur auftreten, sobald Sie da
sind, in Ihrer Abwesenheit geschieht nichts, und wir ahnen nicht einmal, ob es ein Schwindel,
ein Poltergeist oder eine übersinnliche Wahrnehmung ist. Egal, was es ist, wir wollen davon
nichts mehr sehen, hören, riechen, spüren oder sonstwie wahrnehmen! Kenscott, über dieses
ganze Forschungsgebiet haben wir ein Riesenplakat GESCHLOSSEN geklebt. Wenn ich Sie
wäre, Kenscott, dann wäre ich froh, daß ich Glück gehabt habe und würde eisern den Mund
halten.“
„Eine Botschaft vom Mars war es ja nun wirklich nicht“, meinte ich ohne zu lächeln, und
auch er hielt meine Bemerkung nicht für einen Witz. Er sah aber recht erleichtert aus, als ich
sein Büro verließ, um meine Schublade auszuräumen.
In Alaska ging es eine Weile ganz gut. Man gab mir einen Schreibtischplatz und
Überwachungsarbeiten und überhörte es nachdrücklich, wenn ich davon sprach, daß ich
wieder praktisch arbeiten wollte. Schließlich schickten sie mich wieder in die Staaten zurück
— mit einer Entlassung und dem Rat, mich gründlich zu erholen.
Andy versuchte ich es so zu erklären: „Sie sagten, ich sei überarbeitet und brauche dringend
Erholung. Vielleicht stimmt es sogar in gewisser Weise. Der Schock hatte etwas Komisches
bei mir bewirkt, mich gewissermaßen aufgerissen, wie es die Elektroschockbehandlung tut,
die man bei katatonisch Kranken anwendet. Ich scheine jetzt sehr vieles zu wissen, was ich
nie gelernt habe. Normale Radioarbeit gibt mir nichts mehr ab. Ich sehe keinen Sinn dahinter.
Ab und zu einmal versucht etwas, einen Sinn hineinzubringen, aber dann gelingt es doch
nicht. Wenn die Leute über Fliegende Untertassen reden, egal, was sie darunter verstehen,
oder wenn sie sagen, der atomare Fallout ändere das Wetter, so war für einige Zeit ein
gewisser Sinn dahinter. Nur, weißt du, hatte ich immer das Gefühl, die Leute müßten ja, um
nur ein Beispiel zu nennen, gar nicht mit Flugzeugen aufsteigen und Silberjodid versprühen,
um das Wetter zu ändern.“ Es fiel mir schwer, die richtigen Worte zu finden für jene vagen
Impressionen, die ich ja selbst nicht zu deuten wußte, die sich auch kaum zusammenfügen
ließen. Er würde mir ja sowieso nicht glauben, egal, was ich ihm auch erzählte. Ich wollte
aber, daß er mir glaubte. Ein Ast kratzte am Fenster der Hütte, und ich sprang nervös auf.
„Es begann an dem Tag, als wir in die Berge kamen. Energie, die von irgendwoher kam,
verfolgte mich. Sie macht mich nicht bewußtlos. Hast du bemerkt, daß ich es dir überlasse,
Lichter an- und auszudrehen? Am Tag unserer Ankunft gab es einen Kurzschluß in meinem
Elektrorasierer. Erinnerst du dich, daß ich fünf Sicherungen brauchte, um eine einzige
auszuwechseln? Sie schlugen alle durch.“
„Ja, daran erinnere ich mich. Wir mußten in die Stadt fahren und neue kaufen.“ Mein Bruder
sah mich verblüfft und ziemlich unbehaglich an. „Mike, hör mal — du machst doch Witze,
was?“
„Ich wollte, es wären Witze“, seufzte ich. „Diese Energie dringt in mich ein, und es passiert
nichts. Ich bin immun.“ Ich zuckte die Achseln, stand auf, ging zum Radiogerät, nahm einen
Stecker und schob ihn in die Steckdose. Dann schaltete ich die Skala ein. „Gib acht“, sagte
ich.
Ein Instrumentenlicht blitzte auf und wurde dunkel; konfuse Statik knisterte im Lautsprecher.
Ich zog die Hand weg.
„Dreh mal auf“, sagte Andy unsicher.
„Ist ja aufgedreht.“ Ich drehte an der Skalenscheibe.
„Versuche eine andere Station“, drängte Andy. Ich drückte einen Knopf nach dem anderen; es
knisterte und knatterte überall. Das Instrumentenlicht blitzte auf und erlosch in einer Reihe
winziger Lichteffekte. „Mittags war der Empfang doch wunderbar“, sagte ich. „Du hast doch
selbst die Pressekonferenz des Präsidenten mitgehört.“ Ich nahm wieder die Hand weg. „So,
jetzt versuchst du es einmal.“
Andy runzelte die Stirn, kam herüber und drückte die Knöpfe. Das Instrumentenlicht brannte
richtig und ruhig, und der Ansager meldete eben den Beginn der Fünften Symphonie von
Beethoven, der Schicksalssymphonie. Und dann dröhnten die majestätischen Akkorde durch
die Hütte: tadadadumm... tadada-DUMM!
Mein Bruder starrte mich an, als die Bläser das Sturmthema aufnahmen. Das Gerät war in
Ordnung. Ich lauschte der Musik.
„Mike, was hast du mit dem Radio angefangen?“
„Ich wollte, das wüßte ich“, seufzte ich und tippte schnell auf den Knopf für die Lautstärke.
Beethoven ging in einem statischen Prasseln unter.
Ich fluchte, und Andy zog sich langsam zurück. Er starrte das Radio an, dann mich und
berührte vorsichtig die Skala. Wieder füllte die Schicksalssymphonie den Raum. Mich
fröstelte. „Vielleicht“, sagte Andy verwirrt und ziemlich erschüttert, „wäre es besser, du
würdest das Ding nicht mehr anrühren.“
Andy ging bald schlafen, aber ich blieb im Wohnraum, rauchte nervös und hätte gerne etwas
zu trinken gehabt, doch dazu hätte ich achtzig Meilen auf schlechten Bergstraßen fahren
müssen. Keiner von uns hatte daran gedacht, daß man das Radio ausschalten konnte, und so
dröhnte noch immer harter Jazz aus dem Lautsprecher. Ich sah meine Notizen durch, ohne sie
aber in Wirklichkeit anzusehen.
Ein Blitz, der kein Blitz war. Narben an meinem Körper, schwärende Male, die der Psychiater
als psychosomatische Erscheinungen zu erklären versuchte. Der Schrei eines Adlers, der um
mich kreist, der in meine Augen zu hacken versucht und zu töten entschlossen ist — und ich
verdiente diesen Tod.
Was war mir in diesem Augenblick in Erinnerung gekommen, als ich den Adler mit einem
Jagdmesser angriff? Ich schloß die Augen und versuchte mich zu erinnern... Ich schob alles
von der Oberfläche weg, um das freizulegen, was darunter war...
Phantasie? War es ein Bild, das meine Phantasie mir vorgaukelte? Eine seltsame Gestalt in
einem weiten Mantel... Zwischen der Gestalt im Mantel und mir eine Frau... eine goldene
Frau...
Goldenes Haar fiel ihr wie Seide um die Schultern; ihre Augen waren golden, weit offen; sie
sahen mich an wie die Augen einer großen Katze. Sie hielt etwas in den Händen.
Vision, Traum, Phantasie — plötzlich war die Gestalt verschwunden, und Andys verschlafene
Stimme kam aus der Alkovennische: „Sag mal, Mike, willst du die ganze Nacht durchlesen?“
„Wenn ich Lust dazu habe“, antwortete ich fast gereizt und begann wieder herumzulaufen.
„Michael! Um Himmels willen, höre doch endlich mit diesem Irrsinn auf und laß mich
schlafen!“ Andy war richtig wütend, und ich ließ mich sofort in den Armstuhl fallen. „Tut mir
leid, Andy. Entschuldige.“
Wo war jener unfaßbare Teil von mir gewesen, als ich stundenlang unter dem Balken im
Labor eingeklemmt lag? Und dann, als ich im Morphiumschlaf im Krankenhaus war? Woher
kamen diese Wunden? Und auf welche Weise verschwanden sie so urplötzlich?
Noch viel wichtiger: Was war die Ursache, daß ein Radiolabor so explodierte? Strom kann
Brände auslösen, und zu starke Radiowellen können Brandwunden erzeugen. Die Elektrizität
kann einen Menschen bewußtlos machen, ihn sogar töten. Aber Elektrizität explodiert nicht.
Und welch seltsame Körperelektrizität hatte ich, die mich gegen jeden normalen Strom
immun machte? Ich hatte es Andy damals nicht erzählt, daß ich den Dynamo im Keller
absichtlich kurzgeschlossen und den ganzen Strom durch meinen Körper geleitet hatte. Ich
lebte noch. Es wäre eine höllische Art gewesen, Selbstmord zu begehen, aber mir war absolut
gar nichts passiert.
Ich fluchte und ließ das Fenster herunterrasseln. Andy hatte recht, und ich sollte besser ins
Bett gehen. Entweder war ich verrückt, oder es war sonst etwas nicht in Ordnung, was ein
normaler Doktor nicht wissen konnte. Es nützte auch nichts, wenn ich bis zum Morgengrauen
hier saß und grübelte. Wenn dieser Irrsinn nicht aufhörte, konnte ich den nächsten Zug nach
Hause nehmen und einen Psychiater aufsuchen, und wenn auch das nichts nützte, dann einen
erstklassigen Elektrofachmann. Jetzt im Augenblick war es das Vernünftigste, schlafen zu
gehen.
Automatisch griff ich nach dem Schalter und knipste das Licht aus. Verdammt! Jetzt hatte ich
den Dynamo schon wieder kurzgeschlossen! Das Radio schwieg, als sei das ganze Orchester
auf einen Schlag tot umgefallen. Sämtliche Lichter in der Hütte gingen aus, aber meine Hand
am Schalter knisterte und glomm in einem grünlichphosphoreszierenden Schein, als die ganze
Elektrizität durch meinen Körper floß. Ich zuckte und zitterte in einem seltsamen Schock, und
ich hörte meine eigenen Zähne klappern.
In meinem Gehirn schien etwas aufzuschnappen. Plötzlich hörte ich eine erregte Stimme
rufen: „Rhys! Rhys! Das ist der Mann!“
2.
„Du bist verrückt“, sagte der Mann mit der müden Stimme.
Ich trieb dahin, schwankte körperlos, schwebte über einem unermeßlichen Abgrund. Aus
einer summenden Ferne wuchsen zwei Stimmen. Die eine war alt und sehr müde.
„Du bist verrückt. Sie werden es erfahren. Narayan wird es ganz bestimmt erfahren.“
„Narayan ist ein Narr“, erklärte die zweite Stimme. Sie war mir auf spukhafte Art vertraut.
Ich hatte sie schon gehört. Wo?
„Narayan ist der Träumer“, sagte die müde Stimme, „und sie werden wissen, wo der Träumer
geht. Aber mache es so, wie du willst. Ich bin alt, und es ist nicht mehr wichtig. Ich will nur,
daß dir und Gamine das erspart bleibt, was kommen muß.“
„Gamine...“ Das war die zweite Stimme. „Du bist alt und auch ein Narr, Rhys. Was bedeutet
mir Gamine?“
Ich schwamm auf den Stimmen dahin. Eine Million gespannter dünner Drähte summte und
sirrte, und mir war, als werde ich von einem riesigen Magneten angezogen, der mich im
Nichts festhielt und mich in eine Art Kraftfeld zog, das unter einem Irgendwo lag. Die
Stimmen verschwanden und ich schwang frei, als sei eine unsichtbare, unfaßbare Stütze unter
mir weggezogen worden; ich fiel, stürzte in einer wirbelnden Bewegung kopfüber in den
Abgrund... Trotz allem wußte ich, daß ich unbeweglich dastand und die Hand am
Lichtschalter der Hütte hatte — und doch fiel ich durch einen unauslotbaren Raum, den es
gar nicht gab...
Mit einem schnappenden Geräusch stießen meine Füße auf festen Boden. Mit einem Schlag
war ich bei hellem Bewußtsein. Der Wind blies mir kalt ins Gesicht: die Wände der Hütte
schienen zu den Sternen geflogen zu sein. Ich stand an einem vergitterten Fenster in der
Spitze eines sehr hohen Turmes im Schoß einer hohen, blauen, lichtflimmernden Nacht. Ein
bestürztes Gesicht und ein müdes, altes unter einer hohen Kapuze huschten an meinen Augen
vorüber, ehe meine Knie nachgaben; im Fallen schlug mein Kopf an die Gitterstäbe des
Fensters.
*
Ich lag irgendwo im Dunkeln. Ich wußte nicht, daß ich Mike Kenscott war. Ein Alptraum
drängender Angst überschwemmte mich. Da war doch etwas, das ich tun sollte; eine
Warnung, die ich zu geben hatte... Und ich hatte entsetzliche Angst.
Die Dunkelheit wurde dünner und blasser. Vage erkannte ich Umrisse und Gestalten. Ich
schwebte durch eine hohe Bogentür in einen schwacherhellten mit blaubrennender
Fluoreszenz erfüllten Korridor hinaus. Mein Atem war unnatürlich laut in dieser Stille, aber
ich hörte keine Schritte. Ich wußte genau, daß ich sehr leise sein und mich am Rand des
Korridors fortbewegen mußte, und gleichzeitig sagte mir etwas Zorniges, Stolzes in mir
selbst, daß ich furchtlos und selbstbewußt ausschreiten sollte.
Der Korridor war sehr lang, doch ich spürte keine Müdigkeit. Zweimal kam ich an seltsamen
Gestalten vorbei, die in Mäntel gehüllt zu sein schienen. Ich wußte, daß sie mich nicht sehen
konnten. Vor einem verriegelten Tor blieb ich stehen, und mein ängstlicher Teil ließ mich in
traumhafter Panik aufhorchen. Dann hob ich die Hände und machte ein paar seltsame
Bewegungen. Geräuschlos schob sich die Tür auf, und ich schritt hindurch.
Der Raum war leer und dunkel; ein großes Fenster gab den Blick in eine sternhelle Nacht frei.
An den Wänden hingen schlaffe, seltsame, beschwingte Formen. Ohne zu zögern, ging ich zur
Wand und hob eines von diesen Dingern herunter...
Ein Mantel? Ein toter Vogel? Ich fühlte Federn, leblose Schwingen. Eine eigenartige Furcht
bemächtigte sich meiner. Etwas von mir schrie: Was tue ich? Aber ohne mich einen
Augenblick dagegen zu sträuben, zog ich das Ding mit den dunklen Federn über meinen
Kopf...
Es war ein merkwürdiger, schwebender, zeitloser Augenblick, als ich körperlos, kaum mehr
als ein winziger Punkt im Bewußtsein, im Raum schwamm. Dann griff ich nach meinem
Körper, fand ihn und bewegte die Füße zu einer niederen Couch. Ich stützte mich mit den
Händen ab und legte mich darauf. Etwas schien an meinem Körper zu ziehen, fast so, als
wolle es mich aus den an mir klebenden Kleidern zerren. Ich wußte irgendwie, daß ich mich
dagegen noch nicht wehren durfte. Dann streckte ich mich aus und holte tief Atem...
Plötzlich war ich draußen und hob mich mit kräftigem Flügelschlag in die Lüfte. Meine Arme
waren riesige Schwingen, und um mich herum waren leerer Himmel und kalte, frische Winde.
Ich flog! Der älteste Menschheitstraum, aber ich träumte nicht. Ich spürte den kalten,
feuchtigkeitsträchtigen Wind. Es war dunkel, und unter mir zeichnete sich Waldland ab. Das
Mondlicht filterte die Farben heraus, aber ganz weit, tief unter mir, sah ich einen hoch
aufragenden Turm und das schwarze Fenster, aus dem ich gekommen war.
Etwas drängte mich; mein Vogelkörper streckte sich zu einer Pfeillinie, und meine Schwingen
breiteten sich zu regelmäßigen Schlägen. Ich flog in östlicher Richtung, sah unter mir Wälder,
Sträßchen und Pfade, ein paar Wohnstätten und Farmland. Der Wind strich an meinem
Gesicht vorbei.
Ich schien seit Stunden zu fliegen, doch Müdigkeit fühlte ich keine. Die Zeit dehnte sich; ich
wußte nicht, waren es Minuten oder Tage. Ich flog über Hügel und Täler, bis unter mir im
allmählich schwächer werdenden Mondlicht schattengleich Zelte und Hütten auftauchten.
Ich drehte gegen den Wind und zog in breiten Spiralen tiefer. Die Dämmerung war nahe, aber
der Vogelkörper kannte keine Müdigkeit, und das Herz schlug wie eine unermüdliche
Maschine. Aber ich — mein ungreifbares ICH — spürte Angst, Erschöpfung und etwas
Bedrohliches. Ich wußte, daß die Dämmerung Gefahr bedeutete, nicht aber, weshalb.
Hinunter. Eine rote Linie am Horizont wurde breiter und schüttete schließlich Farbe über die
grünen Wiesen. Jetzt konnte ich die Zelte deutlich erkennen, auch die Menschen, die in die
Dämmerung traten.
Zu spät! Ich hörte meine Stimme als geisterhaften Falkenschrei. Man hatte mich gesehen.
Unter mir liefen Menschen in Gruppen zusammen, schrien und deuteten nach oben.
„Einer dieser verfluchten Spione!“ Ich sah einen großen, im Dämmerlicht formlosen Mann
ohne Gesicht; er kniete nieder und hob etwas wie einen Bogen vor die Brust. Meine Angst
schlug in Wut um. Wie konnte er es wagen! Mit einer Geschwindigkeit, die den Boden unter
mir zu einem undefinierbaren Etwas machte, schoß ich nach unten. Die Menschen liefen
auseinander, und durch ihr Kreischen hörte ich mein lautloses Gelächter wie einen
gespenstischen Vogelschrei...
Ein Pfeil sirrte mir entgegen; noch einer. Automatisch wich ich ihnen aus, aber Angst und
Staunen wuchsen in mir. Was tat ich hier? Weshalb war ich gekommen? Warum schoß man
auf mich, da ich doch gekommen war, um zu warnen... ?
Wen zu warnen?
Ich sah den Pfeil, versuchte ihm auszuweichen — zu spät! Ich wappnete mich gegen den
Anprall. Der Pfeil stieß in meine Brust, aber ich fühlte keinen Schmerz, nur eine Art Druck;
dann so etwas wie einen Biß und schließlich den peinvollen Schock. Meine Schwingen
erschlafften und fielen zusammen. Ich hörte einen vielstimmigen Schrei von unten, der
Freude, Triumph und Erregung ausdrückte. Und dann fiel ich...
*
Ich lag auf einem schmalen, hohen Bett und wußte nicht, wieviel Zeit vergangen war. Der
Raum hatte Türen und Gitter. Ich sah einen Spiegel in einem geschnitzten Rahmen und den
Deckel einer Truhe. Es war nicht der Raum, in dem ich das Federkleid gefunden — oder
geträumt — hatte. Er war hell vom Sonnenlicht, und auf einer Bank am Rande meines
Blickfeldes saßen zwei Gestalten.
Die eine war ein sehr alter, grauer Mann mit einer hohen Kapuze und einem schweren
Gewand, das dem eines tibetanischen Mönches glich. Das Gesicht hatte ich flüchtig unter der
Kapuze gesehen, und es paßte zu der alten, müden Stimme, die ich gehört hatte, ehe ich in
diesen merkwürdigen Traum hineingetrieben war.
Die andere Gestalt war schlanker, jünger und in silberblaue Seidenschleier • gehüllt. Dort, wo
das Gesicht sein mußte, war ein opalener Fleck, denn durch die saphirblaue Seide schimmerte
Fleisch. Es konnte ein schlanker Junge oder ein junges Mädchen sein. Die Gestalt saß
hochaufgerichtet und bewegungslos da. Ich beobachtete sie lange und neugierig unter
halbgesenkten Lidern. Als ich blinzelte, erhob sie sich und durchschritt eine der zahlreichen
Türen. Fast sofort raschelten Vorhänge und Stoff, und die Gestalt kehrte zurück.
Ich setzte mich auf und stellte die Füße auf den Boden. Das Bett, auf dem ich gelegen hatte,
war höher als ein Krankenhausbett. Das blauverschleierte Wesen gab mir einen Henkelkrug;
ich nahm ihn zögernd.
„Weder Droge noch Gift“, erklärte die Gestalt ein wenig spöttisch, und die Stimme verriet
ebensowenig wie der verschleierte Körper. Es war eine geschlechtslose Stimme, ein weicher
Alt, der ebensogut einer Frau wie einem größeren Jungen gehören konnte. „Trinke und sei
froh darüber, daß es keines von Karamys Gebräuen ist.“
Die Flüssigkeit im Krug sah grünlich aus und hatte einen etwas scharfen Geschmack, den ich
nicht identifizieren konnte, der mich aber an Anis und Knoblauch erinnerte. Dieses Getränk
schien den letzten Rest des Schocks zu beseitigen. Ich gab den Krug leer zurück und sah den
alten Mann im Lamagewand an.
„Bist du... Rhys?“ fragte ich. „Wohin, zum Teufel, bin ich jetzt geraten?“ Das wollte ich
wenigstens sagen, denn ich hörte mir äußerst erstaunt zu, weil ich eine Sprache sprach, die ich
noch niemals gehört hatte, aber tadellos verstand. „In welche der neun Höllen Zandrus wurde
ich jetzt verschlagen?“
Gleichzeitig wußte ich auch, was ich trug. Ich hatte Federn zu sehen gefürchtet — falls ich
noch immer träumte —, doch ich sah keine. Das, was ich anhatte, glich einem altmodischen
Nachthemd, das etwa eine Handbreit über meine Lenden reichte und von tiefroter Farbe war.
Ein rotes Nachthemd, dachte ich angewidert und kletterte aus dem Bett. Wie war ich
überhaupt in ein so komisches Gewand gekommen? Auf keinen Fall hatte ich Lust, mich so
zur Schau zu stellen.
„Vielleicht hat jemand die Freundlichkeit, mir zu erklären, wo ich bin“, sagte ich, „und wie
ich hierherkam.“ „Adric“, antwortete Rhys mit müder Stimme, „versuche doch, dich zu
erinnern. Du bist in deinem eigenen Turm. Man hatte dich wieder in Gewahrsam genommen.
Es tut mir leid.“ Seine Stimme klang mutlos. Ich fühlte Schauer meinen Rücken entlang
rinnen. Der Ausdruck „in Gewahrsam genommen“ hatte mir einen ziemlichen Schlag versetzt.
Ich war also wahnsinnig und irgendwie eingesperrt!
Die geschlechtslose Stimme der blauverschleierten Gestalt warf ziemlich sarkastisch ein: „Da
Karamy den Schlüssel zu seiner Erinnerung hat, Rhys, mußt du es ihm immer wieder
erklären. Uns wird er niemals mehr von Nutzen sein können. Diesmal hat Karamy gewonnen.
Adric, versuche doch, dich zu erinnern. Du bist zu Hause, in Narabedla.“
Das klang fast wie Narrenhaus, und es sah auch so aus — rotes Flanellnachthemd oder nicht.
Ich schüttelte den Kopf. Langsam ging ich zu Rhys und legte ihm eine Faust auf die Schulter.
„Erkläre mir das, bitte: Wer bin ich? Wo bin ich? Du hast mich Adric genannt. Ich bin
ebensowenig Adric wie du!“
„Adric, das ist aber kein Witz mehr!“ Die Stimme der blauen Schleier klang zornig. „Nimm
doch das Restchen Intelligenz zu Hilfe, das Karamy dir noch gelassen hat! Du hast genug
sharig bekommen, um einen tharl damit zu kurieren! Nun, wer bist du?“
Die Bedeutung dieser Worte verstand ich nicht. „Adric“, sagte ich und ließ meine Faust von
der Schulter des alten Mannes gleiten. Nein. Ich war Mike Kenscott. Vergiß das nicht und
klammere dich daran, du bist Michael Warren Kenscott, sagte ich mir. Berghütte.
Anglerferien mit deinem Bruder Andy. Andy! Zweimal zwei ist vier. Der Kreisumfang ist
Radius mal pi. Mike Kenscott. Army-Erkennungsmarke 13-48746. Mein Kopf schien zu
bersten. „Entweder bin ich verrückt oder ihr seid es. Oder wir sind beide normal, und das
Ganze hier ist ein übles Geschäft.“
„Es ist Wirklichkeit“, antwortete Rhys und seine müde Stimme klang mitleidig. „Gamine, er
war sehr weit draußen in der Zeit-Ellipse. So weit habe ich noch niemals geforscht. Adric, du
mußt zu verstehen versuchen. Das war Karamys Werk. Sie schickte dich sehr, sehr weit in die
Zeit hinaus, in eine sehr ferne Vergangenheit, in eine Zeit, da die Welt ganz anders war. Sie
hoffte, du würdest verändert zurückkehren — oder wahnsinnig. Oder sie wollte dich vielleicht
nur bestrafen.“ „Wofür bestrafen? Wer ist...“ Die müden Schultern hoben sich. „Wie soll ich
wissen, was zwischen dir und Karamy ist? Soll ich mich auch darum noch kümmern?“ Seine
Augen schienen nach innen zu sehen. „Ich tat, was ich konnte. Jetzt muß ich zu meinem
eigenen Turm zurückkehren — oder sterben. Ich habe meine Abwesenheit zu lange
ausgedehnt. Gamine, willst du bitte erklären?“
„Natürlich werde ich das.“ In der sexlosen Stimme lag so etwas wie Bewegung. „Geh, Alter.“
Rhys
verließ den Raum, ohne noch einmal zurückzuschauen, ohne Abschiedswort.
Ungeduldig drehte sich Gamine zu mir um. „Wir verschwenden nur Zeit. Narr, sieh dich doch
an.“
Ich ging zu einem Spiegel, der in eine Tür eingelassen war. Über dem roten Nachthemd
suchte ich mein vertrautes Gesicht, aber der Anblick erschütterte mich. Das Gesicht eines
fremden Mannes sah mir aus dem Spiegel entgegen.
Ich klammerte mich an den Spiegelrahmen. Das tat auch der Mann im Spiegel. Aber es war
nicht mein Gesicht. Das Gesicht im Spiegel war schmal wie das eines Adlers, dunkelbärtig,
mit scharfen, grünen Augen. Und der zum Gesicht gehörende Körper sah lang, mager,
muskulös und nicht sehr menschlich aus. Ich kniff die Augen zusammen. Nein, das war nicht
möglich!
Ich öffnete die Augen wieder. Der Mann im roten Nachthemd war noch immer da. Er sah
drein, als sei er ungeheuer verängstigt. Und das stimmte auch.
Vom Fenster aus hoffte ich die mir vertrauten Umrisse der Sierra Madre zu erkennen, die
hundert Meilen weg sein mußte. Aber zwischen mir und den Bergen lag ein unendlich weites
Land, das ich noch nie im Leben gesehen hatte. Oder hatte ich es in jenem Vogeltraum
gesehen? War das ein Traum gewesen?
Die Eisenstäbe, das sah ich jetzt, waren Ziergitter, die sich mit einer leichten Berührung auf
einen hohen, mit blauem Schiefer ausgelegten Balkon öffneten. Ich stand unmittelbar unter
der Spitze eines hohen Turmes. An der Grenze meines Blickfeldes erkannte ich schattenhaft
den Umriß eines anderen Turmes. Die Landschaft unter mir lag in einem seltsamen
rosablassem Licht; der Himmel war mit einer dünnen Wolkendecke überzogen, durch die
vage die Scheibe einer blaßroten Sonne zu erkennen war. Und etwas höher am Himmel stand
— nein, ich träumte ganz bestimmt nicht — eine zweite Sonne von so blendender blauweißer
Helle, daß ich trotz der Wolken die Augen schließen mußte.
Das genügte. Verzweifelt drehte ich mich zu Gamine um. „Wohin bin ich denn geraten? Wo
bin ich? In welcher Zeit? Zwei Sonnen — aber die Berge kenne ich.“
Das verschleierte Gesicht hob sich mir entgegen. Aber es war kein Schleier, eher ein
schimmernder Film, der Gamines Züge nicht erkennen ließ; eine unsichtbare Persönlichkeit
mit einem Körper, jedoch ohne erkennbare Züge. Ja, genau so, als trage eine unsichtbare
Person eine sichtbare, seltsame, seidene Umhüllung. Aber das unsichtbare Fleisch war echt;
kräftige, warme Finger schlössen sich um meine Schulter.
„Du warst wieder in jenen Zeiten vor der zweiten Sonne? Adric, erzähle mir, gab es wirklich
nur eine einzige Sonne — vor jener Sintflut?“
„Warte“, bat ich. „Meinst du damit, ich sei in einer anderen Zeit gewesen?“ Die Erregung
schwand aus Gamines Stimme. „Ach, es ist egal. Es dürfte sowieso unwahrscheinlich sein,
daß du dich erinnern kannst; nein Adric, es war eigentlich so, daß man dich in die Zeit-Ellipse
hinausgeschickt hat. Du mußt mit jemandem in jener anderen Zeit Verbindung aufgenommen
haben. Vielleicht war dieser Kontakt so intensiv und dauerte so lange, daß du nun glaubst, ein
anderer zu sein.“
„Aber ich bin doch nicht Adric!“ fuhr ich auf. Plötzlich fielen mir auch wieder die Worte ein,
die ich gehört hatte, als ich langsam wieder ins Bewußtsein schwamm: Das ist der Mann. Die
Stimme kannte ich nun. Rhys hatte ihn Adric genannt.
„Adric hat mich hierhergesandt. Wie? Vielleicht ist es sein Körper, aber...“
ich sah eine Bewegung in Gamines unbestimmbaren Zügen. „Es konnte niemals bewiesen
werden, daß zwei Geister so ausgetauscht werden können. Adrics Körper — Adrics Gehirn.
Die Gehirnwindungen, die Gedächtniszentren, die Verhaltensweisen — das alles gehört doch
zum körperlichen Gehirn! Du bist Adric. Der Gedanke, du müßtest ein anderer sein, ist eine
Illusion des bewußten Geistes. Aber das wird sich geben, Adric. Du bist zu lange geblieben.“
Ich schüttelte verwirrt den Kopf. Ich war Mike Kenscott. Daran klammerte ich mich
verzweifelt. „Das glaube ich nicht. Wo bin ich?“
Gamine machte eine ungeduldige Bewegung. „Oh, du bist Adric von Narabedla und — wenn
du wieder ganz du selbst bist — Lord des Roten Turmes.“ „Und wer bist du?“ „Erinnerst du
dich nicht?“ „Nein.“
„Ich bin Gamine. Ich bin... eine Zaubersängerin — unter anderem.“
„Das dort draußen sind meine Berge“, sagte ich rauh, „aber ich bin nicht Adric, wer immer
das auch sein mag. Mein Name ist Mike Kenscott, und dieser ganze Hokuspokus hier
interessiert mich nicht. Nimm diesen Schleier ab und zeig mir dein Gesicht.“
„Ich wollte, du wünschtest dir das wirklich“, antwortete sie langsam, leise und mit tiefer,
trauriger Stimme. „Wenn ich glauben dürfte...“
Heiße Wut packte mich; ohne daß ich es beabsichtigte, trat ich einen Schritt vor. „Was
bedeutet dir schon, was ich meine? Welches Recht hast du, für diesen alten Narren Rhys zu
spionieren? Gehe in dein Haus zurück, Zaubersängerin, ehe du entdeckst, daß Karamys
Zauber nicht der einzige ist in Narabedla!“
Bestürzt schwieg ich. Was hatte ich da gewagt? Was hatte ich damit gemeint? Die sexlose
Stimme Gamines klang belustigt. „Das hat Adric gesagt. Wer immer deine Seele besetzt hält,
Adric, du bist und bleibst immer derselbe!“ Die schimmernde Seide knisterte und raschelte,
als Gamine zur Tür ging. „Karamy ist ihrer Sklavin willkommen!“
Die Tür schlug zu und ich war allein. Ich warf mich auf das hohe Bett und konzentrierte mich
verbissen auf Mike Kenscott, indem ich die vagen, verwirrenden Eindrücke ausschloß, die
Adric meinem Bewußtsein aufprägte. Ich hatte Adrics Worte gesprochen, oder es waren
wenigstens nicht meine Worte gewesen. Jedoch — Adric war ich nicht! Niemals würde ich
Adric sein. Ich wagte nicht zum Fenster zu gehen, um nicht diese entsetzlichen beiden Sonnen
sehen zu müssen, und nicht einmal die vertrauten Umrisse der Berge wollte ich sehen, um
nicht glauben zu müssen, daß...
Aber Adrics Erinnerungen ließen sich nicht abweisen; es war das Schuldgefühl einer
vernachlässigten Pflicht, ein entsetztes Gesicht — ein Gesicht, kein vager Umriß eines Nichts
wie unter Gamines blauem Schleier. Erinnerungen an seltsame Jagden, an einen großen
Vogel, der am Sattelknauf hockte und eine rote Falkenkappe trug...
Das komische Nachthemd fiel mir wieder ein, das ich noch immer trug. Ohne irgendwie
nachzudenken, ging ich zu einer Tür und schob sie auf; schnell nahm ich ein paar Kleider
heraus und zog mich an. Seltsam, sie paßten mir; es waren enge Hosen, hohe Gamaschen,
eine spitzenbesetzte Tunika und eine Überjacke. Jedes Kleidungsstück im Schrank hatte
dieselbe Farbe, jenes dunkle Karmesinrot; einige Sachen waren mit Pelz besetzt, andere mit
Gold- und Silberfäden durchwirkt. Lord des Roten Turmes, hatte Gamine gesagt. Ja, so sah
ich aus.
Im Schrank gab es Messer und Schwerter. Ehe ich noch wußte, was ich tat, hatte ich eines um
meine Taille gegürtet. Ich stutzte und beschloß, es dort zu
lassen. Es paßte zu dem ganzen
Kostüm. Und seltsam, ich paßte irgendwie hinein. Ich trat einen Schritt zurück, um mich ganz
im Spiegel zu sehen, als eine andere Tür lautlos zurückgeschoben wurde und ein Mann
eintrat.
Er war jung, und er hätte auf eine etwas feminine Art sogar recht gut ausgesehen, wäre er
nicht so arrogant gewesen. Er war mager, katzenhaft und — das war deutlich sichtbar —
irgendwie mit Adric verwandt — also mit mir, und plötzlich wußte ich seinen Namen.
„Evarin“, sagte ich.
Er bewegte sich so weich, als habe er Katzenpfoten statt Füße. Er war ganz in Dunkelgrün
gekleidet, und der Schnitt seiner Kleidung entsprach dem der meinen. Sein Gesicht flimmerte
irgendwie, als könne er mit einem bloßen Willensakt eine Barriere der Unsichtbarkeit um sich
aufrichten, ähnlich dem Schleier, der Gamines Gesicht verhüllte. Er sah nicht einmal ganz so
menschlich aus wie ich — oder Adric.
„Ich habe Gamine gesehen“, sagte er. „Sie berichtete mir, du seist aufgewacht und so
vernünftig wie je zuvor. Und wir von Narabedla sind nicht so stark, daß wir es uns leisten
könnten, ein zerbrochenes Werkzeug, wie du eines bist, wegzuwerfen. Also willkommen zu
Hause, Bruder!“
Grimm, Adrics Grimm, kochte in mir; es war entnervend, auf einen Mann wütend zu sein, den
ich bewußt noch nie gesehen hatte. Ich trat vorwärts und legte eine Hand auf den Knauf
meines Schwertes. Evarin zog sich geschmeidig zurück.
„Ich bin nicht Gamine“, warnte er mich, „und ich lasse mich auch nicht wie Gamine
mißbrauchen. Vorsicht!“ Aber er griff nicht zu seinem Schwert im Gürtel.
„Dann sei vorsichtig“, brummte ich. Was hätte ich sonst sagen sollen? Evarin lächelte.
„Warum? Man hat dich doch in die Zeit-Ellipse hinausgeschickt, und jetzt bist du nur noch
ein Schatten deiner selbst. Aber zum Streiten bin ich nicht gekommen. Karamy sagt, du sollst
freigelassen werden, und deshalb sind die Türen offen, so daß der Rote Turm kein Gefängnis
mehr ist. Komm und geh, wie es dir beliebt — auf Karamys Geheiß.“ Er verzog seine Lippen
zu einem verächtlichen Grinsen. „Falls du das Freiheit nennen willst.“
„Glaubst du, ich bin wahnsinnig?“ fragte ich langsam.
„Wenn es nicht um Karamy ginge — nein, wahnsinnig warst du nie. Aber was bedeutet das
schon? Ich habe alles, was ich mir wünschen kann. Der Träumer gibt mir eine gute Jagd, ich
habe reichlich Sklaven, die mich bedienen und sonst — nun, ich bin der Spielzeugmacher.
Sonst brauche ich wenig. Aber du...“ Seine Stimme klang verächtlich. „Du, du warst doch
einst so mächtig, und jetzt schwimmst du auf der Zeitwoge, wie Karamy es dir befiehlt, und
dein Träumer wartet auf den Tag, da seine Macht uns alle zerstören kann!“
Düster starrte ich Evarin an; ich verstand nicht, was er meinte, und in all dem Durcheinander
hörte ich nur immer die Worte „Karamy“ und „Träumer“, und doch schienen sie Scham in
mir zu wecken. Waren also Emotionen nur eine normale Reaktion von Nervkontakten im
Gehirn? Waren sie nicht ein notwendiger Bestandteil jener Persönlichkeit, die ich doch war
— also von Mike Kenscott? Oder war ich verrückt und erlebte die Emotionen einer anderen
Person namens Adric? Scham, Bedauern, Angst über das, das ich getan haben sollte, aber
niemals getan — oder vielleicht nur geträumt hatte?
Evarin beobachtete mich, und sein Gesicht verlor ein wenig von der Bitterkeit des Ausdrucks.
Er war kaum mehr als ein Junge. „Der geflohene Falke kann nicht zurückgerufen werden“,
sagte er leise. „Ich kam nur, um dir zu sagen, daß du frei bist.“ Er drehte sich um, zuckte die
Achseln, die ein wenig mißgebildet zu sein schienen, und ging zu einem hohen, vergitterten
Fenster. „Das heißt, wenn du das Freiheit nennen willst.“
Ich folgte ihm zum Fenster. Die Nebel verzogen sich; die beiden Sonnen schienen blendend
hell, und ich mußte meine Augen vom Himmel abwenden. Links von mir sah ich eine Reihe
regenbogenfarbener Türme, sie waren sehr hoch und sahen massiv aus, gleichzeitig aber auch
zierlich, da sie in hohen Spitzen ausliefen. Der nächstliegende Turm war so blau wie
schimmernder Lapislazuli, der nächste smaragdgrün, andere waren golden, flammenfarben
oder violett. Sie standen im Halbkreis um einen waldigen Park, und die vertraute Umrißlinie
der Berge weckte andere Erinnerungen. Der blendende Himmel war nicht blau, sondern
farblos wie Sonnenlicht, das auf Eis fällt. Abrupt drehte ich mich vom Fenster weg.
„Narabedla“, murmelte Evarin. „Die letzte der Regenbogenstädte. Wie lange noch, Adric?“
Ich versuchte die Namen zu erkennen, die er genannt hatte. „Karamy...“, sagte ich zögernd,
aber Evarin hatte die Frage herausgehört.
„Karamy kann warten. Für dich wäre es besser, sie würde ewig warten“, antwortete er
lachend. „Komm mit mir, oder Gamine kehrt zurück. Du willst doch Gamine nicht sehen,
oder?“ Das klang ängstlich, und ich schüttelte den Kopf. Nein. Ganz bestimmt wollte ich
diesen Spuk nicht noch einmal erleben. Er sah erleichtert drein. „Dann komm doch mit. So,
wie ich Gamine kenne, bist du einigermaßen durcheinander — Amnesie. Ich will es dir
erklären. Schließlich“, meinte er ein wenig spöttisch, „für meinen einzigen Bruder kann ich
doch nicht weniger tun, oder?“
Er öffnete die Tür und bedeutete mir mit einer Geste, ich solle vorangehen. Instinktiv zog ich
mich zurück, denn ich wußte ja gar nicht, in welche Richtung ich mich wenden sollte. Er
lachte wieder, ging voran, und ich folgte ihm. Er schritt endlose Treppen hinunter, und ich
wunderte mich, warum ich eigentlich nicht verwirrter oder verstörter war. Ich war ein
Fremder in einer unglaublichen Welt, trug eines anderen Mannes Kleider, wurde bei seinem
Namen genannt und von seinen Freunden — oder Feinden? Wie sollte ich das wissen? —
herumgeführt, und trotzdem war ich von einer fast phantastischen Ruhe wie ein Mensch, der
in einem Traum die unmöglichsten Dinge ausführt. Ich tat einen Schritt nach dem anderen,
überließ mich dem, was Gamine „Gewohnheiten“ genannt hatte und Erinnerungsmuster, die
in den Gehirnwindungen eingebettet sind. Muster? Ich hatte Adrics Körper, vermutlich auch
sein Gehirn. Und dieses Gehirn schien zu wissen, was zu tun war. Nur ein oberflächliches
ICH, ein äußerliches ICH war noch fremd und mit einem Mike Kenscott vermischt.
Der unbewußte Adric führte mich. Ich ließ mich führen, denn ich hielt es für klug, Evarin
gegenüber Adric zu sein.
Wir betraten eine Liftkabine, fuhren nach unten und nahmen mit so atemberaubender
Geschwindigkeit Kurven, daß ich gegen die Wand geworfen wurde. Langsam stieg dann die
Kabine wieder. Ich hatte schon längst jedes Richtungsgefühl verloren. Plötzlich schob sich die
Tür auf, und wir gingen einen langen, schwacherhellten Korridor entlang.
Der Korridor meiner Träume?
Von irgendwoher hörte ich die Stimme eines Jungen oder einer Frau mit einem besonders
vollen Alt. Gamines Stimme. Die Worte verstand ich nicht, aber Evarin blieb fluchend stehen.
Ich glaubte, meinen Namen gehört zu hüben, aber ich wußte es nicht genau. „Was ist das,
Evarin?“
Er rief etwas, doch auch das verstand ich nicht. „Komm mit“, forderte er mich auf. „Das ist
nur die Zaubersängerin, die den alten Rhys in den Schlaf singt. Du hast ihn doch aufgeweckt?
Mich wundert, daß Gamine es erlaubt hat. Der alte Rhys ist seinem letzten Schlaf sehr nahe.
Du wirst ihn wohl bald dorthin senden.“
Was sollte ich darauf antworten? Evarin zog mich wieder in eine Kabine, die sofort mit uns in
die Höhe schoß. Dann standen wir in einem Raum eines anderen Turmes, der
verschwenderisch ausgestattet war. Evarin warf sich auf einen Diwan und bedeutete mir,
seinem Beispiel zu folgen.
„Und jetzt sage mir doch, in welche Zeit dich Karamy geschickt hatte!“ „Karamy?“ fragte ich
tastend. Evarin lachte schallend. „Kann man denn wirklich so verwirrt sein, wie du zu sein
scheinst? Das wäre für Karamy ein erstklassiger Witz! Die Hexe des Goldenen Turmes
zerstört deine Erinnerungen, sogar deine Erinnerungen an sie!“ Er konnte kaum mehr zu
lachen aufhören.
Doch dann wurde er unvermittelt wieder ernst. „Was ich vom Träumer verlange, ist nur, von
den Sprüchen dieser Hexe frei zu werden! Wir in der Regenbogenstadt sollten wenigstens
einander volle Freiheit gewähren. Eines Tages werde ich für sie einen Turm entwerfen, und
dann wird sie erkennen, daß ich ein Mensch bin, mit dem sie rechnen muß. Zandru weiß, wie
wenig ich von einem Träumer erwarte, und ich bin nicht bereit, seinen Preis zu bezahlen.
Aber Karamy ist es egal, was sie bezahlt, und so hat sie“ — er breitete die Arme aus — „über
jeden Macht, nur über mich nicht. Sie hatte sogar die Macht, dich in die Zeit-Ellipse
hinauszuschicken. Ich möchte nur wissen, wer dich zurückgeholt hat!“
Allmählich kam auf spukhafte Art Sinn in die Geschichte. Irgendwie hatte Adric Karamys
Zorn erregt, und Karamy war die Hexe vom Goldenen Turm — was immer das auch zu
bedeuten hatte —, und sie hatte ihn aus seinem Körper hinauskatapultiert. Als man dann
versuchte, ihn zurückzuholen, hatte man — mich erwischt.
Selbstverständlich würde ich das Evarin nicht sagen. Etwas in mir wußte, daß das Bekenntnis
einer Schwäche oder Angst zu einer Katastrophe führen mußte. Ich schüttelte nur den Kopf.
„Nun jedenfalls bin ich wieder da“, sagte ich, „wenn ich mich auch nicht an sehr viel erinnern
kann.“
„An mich erinnerst du dich doch“, antwortete Evarin. „Mich wundert nur, daß sie dir diese
Erinnerung gelassen hat. Karamy mochte mich doch eigentlich nie. Sie traute mir nicht.“
Und damit hat sie recht. Der Gedanke kam aus einem Wissensvorrat, den ich willensmäßig
nicht anzapfen konnte, der aber trotzdem in mir lag. Ich sagte: „Nur an deinen Namen, an
sonst nichts.“
Evarin, das wußte ich nicht, blieb niemals für zehn Minuten derselbe Mensch. Er konnte in
einem Augenblick Freundschaft und Treue beteuern und es sogar ehrlich meinen; zehn
Minuten später war er imstande, mir die Haut vom lebendigen Leibe zu ziehen und es noch
als Witz zu betrachten. Er schien meinen Gedanken zu folgen und lachte. „Nun ja, meinen
Namen weißt du, und das ist schon einiges. Nackt ist der bruderlose Rücken, und das gilt für
mich ebenso wie für dich, Adric! Sage mir, was du vergessen hast.“
Konnte ich meine Verwirrung schildern? Was konnte ich ihm erzählen, da ich für ihn doch
Adric war? Ich mußte Adric sein, denn das war meine einzige Sicherheit, dieser Respekt vor
Adric und dem, was er tun konnte. Was konnte ich als Adric überhaupt tun, wie konnte ich
weiterkommen, ohne etwas zu wissen? Und wie viele Fragen durfte ich stellen, ohne meine
Hilflosigkeit zu verraten?
„Ich hatte meinen Körper für allzulange Zeit verlassen“, antwortete ich schließlich. „Ich kann
mich nicht erinnern.“ Eine Sache muß ich aber unter allen Umständen erfahren: „Was sind die
Träumer?“ fragte ich.
Das war die falsche Frage gewesen; ich wußte es, kaum daß ich sie gestellt hatte. Der
Ausdruck in seinen Augen veränderte sich. Er fühlte sich jetzt sicherer in meiner Gegenwart.
„Zandru, du warst ja wirklich weit weg, Adric! Du mußt bis in die Zeit vor der Sintflut
Zurückgeschickt worden sein!“
Das stimmte. Nur wußte ich nichts über die Sintflut. Ich nickte.
„Nun, unsere Ahnen haben nach der Sintflut die Regenbogenstädte gebaut und den Vertrag
geschlossen, der die Maschinen vernichtete. In den Regenbogenstädten konnten wir, denen
man die Macht anvertrauen durfte, leben und regieren wie immer, aber der Vertrag gab uns
die Sicherheit, daß immer weniger Menschen uns verraten konnten. Natürlich gab es ein paar
Idealisten, die uns vorwarfen, wir führten sie wieder in die Barbarei zurück, aber die haben ja
nie etwas verstanden!“ Evarin schien leidenschaftlich bewegt zu sein. „Wir gaben ihnen doch
nur Sicherheit vor Mächten, die sie mißbrauchten! Jetzt leben sie einfach, wie der
gewöhnliche Mann leben sollte, und mit Künsten und Techniken, die sie niemals beherrschen
lernen, können sie sich nicht mehr befassen.“
Er sah mich an, als erwarte er von mir eine zustimmende Antwort, aber ich sagte nichts.
Evarin stand auf und rannte nervös herum.
„Was die Träumer sind? Das weiß niemand. Sie wissen es ja selbst nicht.
Früher einmal waren es Menschen, oder sie waren wenigstens von Menschenfrauen geboren,
von Menschenmännern gezeugt. Man weiß nicht, was diese Wandlung bewirkt. Von
zehntausend Menschen wird einer als — Monstrum geboren, als Träumer.“
„Mutationen?“ Das murmelte ich so leise, daß Evarin es nicht verstand. Er fuhr fort: „Manche
sagen, die Sintflut selbst und alles, was damit zusammenhing, habe diese Wirkung
hervorgerufen. Andere behaupten, in den Träumern seien die Seelen der toten Maschinen. Sie
sind menschlich, zugleich aber nicht menschlich. Es sind Telepathen. Sie haben Kräfte, die
andere nicht besitzen. Sie können alles kontrollieren — Dinge, Seelen, Menschen. Sie können
Illusionen über den Menschen und über Dinge werfen. Sie kämpfen gegen unsere Herrschaft.“
Er setzte sich und brütete vor sich hin. „Vor einem Dutzend Generationen“, sprach er nach
einer Weile weiter, „ist es einem unserer Leute aus den Regenbogenstädten gelungen, diese
Träumer zu binden. Töten können wir sie nicht, denn sie können sich selbst schützen. Ich
weiß nicht, wie sie das machen, daß die auf sie gerichtete Waffe wirkungslos bleibt. Ein
gegen sie geführter Schlag richtet sich gegen den Angreifer. Aber wir lernten sie zu binden;
im Schlaf sind sie harmlos. Das hätte an sich schon gereicht, aber dann entdeckten wir, daß
wir sie, wenn sie schliefen, zwingen konnten, ihre Macht an uns abzugeben. Und so haben wir
also die Kontrolle über ihre Kräfte, und damit war ihr Zauber gebrochen.“ In seinen Augen
lag ein Anflug von Entsetzen. „Den Preis, den wir zu bezahlen haben, kennst du ja.“
Ich schwieg, denn ich kannte ihn nicht. Evarin sollte weitersprechen. Er schüttelte entschieden
den Kopf, und das Entsetzen schwand.
„So hat also jeder von uns in der Regenbogenstadt einen Träumer, der seine Kraft aufgibt —
für den verabredeten Preis natürlich —, so daß sein Meister volle Handlungsfreiheit hat.
Werden die Träumer dann alt, schwindet auch langsam ihre Kraft, und erst dann kann man sie
töten. Wenn sie sehr schwach sind, ist es sogar besser, sie von Zeit zu Zeit wachzuhalten, aber
nie für zu lange Zeit.“ Er lachte bitter, und plötzlich war sein Gesicht von Wut verzerrt. „Und
du hast einen Träumer verloren!“ schrie er. „Einen Träumer, dessen Kräfte noch nicht einmal
voll entwickelt waren! Vielleicht ist er im Augenblick noch ziemlich harmlos, aber er ist wach
und läuft herum! Eines Tages kommt die Kraft über ihn, und dann zerstört er uns alle.“
Evarins Züge waren nicht mehr arrogant, sondern verzweifelt, voll Angst und Schmerz. „Ein
Träumer“, seufzte er, „und du warst schon eins mit ihm gewesen! Verstehst du jetzt, Bruder,
weshalb wir dir nicht trauen?“
Wortlos stand ich auf und ging zum Fenster. Von hier aus sah ich nicht den kleinen, sauberen
Park hinunter, sondern auf ein weites, wildes Land hinaus. In der Ferne kräuselten sich
seltsame Rauchspuren hinauf in den blendenden Sonnenschein, aber über dem Boden lag ein
wattedicker Nebel. Da und dort schimmerte ein See, waren die dunklen Flecken von Wäldern,
die ragenden Umrisse von Bergen zu erkennen. Ein großer Vogel hing mit ausgebreiteten
Schwingen am Himmel und ließ sich vom Wind treiben.
„Dort unten“, deutete Evarin, „lebt der Träumer und läuft herum. Er wartet nur darauf, daß er
uns alle vernichten kann. Dort unten...“
Den Rest brauchte ich nicht zu hören, denn den kannte ich.
Dort unten ist mein verlorenes Gedächtnis. Dort ist mein Leben. Irgendwo dort unten hatte
ich meine Seele gelassen.
3.
Ich wandte mich vom Fenster ab. „Rhys ist ein Träumer“, sagte ich langsam. „Und was ist
Gamine?“
Evarin nickte, überhörte aber die Frage. „Rhys ist ein Träumer, ja“, antwortete er. „Und er ist
schon sehr alt und wird bald sterben. Deshalb wacht er, deshalb geht er auch herum. Aber
einmal hat er zu uns gehört, und er war der einzige Träumer, der je innerhalb der
Regenbogenstadt geboren wurde. Seiner Sippe tut er nichts zuleide, denn er ist von unserem
Blut.“ Evarin räusperte sich. „Deshalb übernimmt Gamine von ihm an Wissen, soviel sein
alter, müder Geist nur hergeben will.“
„Aber Gamine?“
Evarin zögerte. „Karamy haßt Gamine“, antwortete er schließlich. „Deshalb bekommt
niemand Gamines Gesicht zu sehen. Ich selbst stelle keine Fragen und rate dir, es ebenso zu
halten, außer du wendest dich an Karamy.“ Ein Lächeln huschte um seinen sensiblen Mund.
„Frage doch Karamy“, schlug er fröhlich vor. „Sie wird dir’s sagen.“ Karamy. Ihr Name war
nun so oft gefallen. Die Hexe vom Goldenen Turm. Vielleicht lag ihre Erinnerung auch in
einem tiefen Brunnen, und es konnte derselbe sein, der mir Namen und Identitäten eingab, die
ich nicht kannte. „Warum haßt Karamy aber Gamine?“ fragte ich.
„Mein Bruder, wenn du das nicht weißt, wer soll es dann wissen? Gamine und ich lieben
einander nicht besonders, aber über eines sind wir uns einig: Karamys Sklaven sind eine
monströse Übertreibung, und du bist ein Narr und etwas noch Schlimmeres, wenn du dafür
bezahlst. Karamy ist viel zu machthungrig, als daß sie etwas von ihrer Macht in deine Hände
legen würde. Bis jetzt hat sie jeden Kampf mit dir gewonnen. Warum wärst du sonst in
deinem eigenen Turm gefangen gewesen?“
„Aber jetzt bin ich doch frei“, wandte ich ein.
Er musterte mich neugierig. „Ja. Vielleicht bist du sogar stärker, als ich glaube. Ist das der
Fall, könnten wir beide unsere Kräfte zusammenlegen, wenn du glaubst, Karamy sei zu stark.
Ich kann dir helfen, dein Gedächtnis wiederzufinden.“ Lautlos kam Evarin an meine Seite.
„Schau mal, ich habe dir ein Spielzeug gemacht.“
Er legte einen kleinen, harten Gegenstand in meine Hand, der in silbrige Seide gewickelt war.
Neugierig schlug ich das dünne, blausilberne Material zurück, das Gamines Schleiern glich.
Einen Moment lang sah ich nur eine verwischte Unsichtbarkeit ähnlich der von Gamines
Gesicht durch den Schleier, aber dann erkannte ich eine spiegelglatte Oberfläche, die jedoch
nichts zu reflektieren schien; es war eine kalte, glänzende, wolkige Fläche, die von innen her
glitzerte. Ich beugte mich darüber, um die Schatten genauer zu sehen, die darüber spielten. Es
war seltsam: Durch meine Hand kroch ein Gefühl der Kälte, einer vertrauten, beruhigenden
Kälte. Meine Augen prüften intensiver...
Eine kaum merkliche Bewegung lenkte mich ab; Evarin beobachtete mich gespannt. Ein
Wieder-Wissen brach in meinen Geist. Evarins tödliches Spielzeug! Ich warf das Ding zu
Boden und schleuderte es mit dem Fuß weg. Der verwischte Schimmer schien zu flackern;
einen Augenblick lang sah ich einen winzigen Mechanismus, der mit Edelsteinen besetzt war,
und dann war das Ding wieder schimmerndes, graues Eis. Evarin war fast an die andere Wand
zurückgewichen. Ich sprang ihn an und nahm ihn in einen Zangengriff. „So schlecht ist mein
Gedächtnis auch wieder nicht“, knirschte er. „Verdammt, ich stopfe dir das Ding doch noch in
die Kehle!“
Plötzlich zerrann sein ganzer Körper zwischen meinen Fingern. Ich tat ein paar verblüffte
Schritte zurück, gerade rechtzeitig, als er wieder materialisierte und viel zu nahe neben mir
stand. „Ich gehe ja nur bewacht!“ zischte er. „Mein Träumer wacht nicht!“
Er bückte sich nach dem Spielzeug, doch ich stieß es aus seiner Reichweite und bückte mich
selbst danach. „Das behalte ich“, sagte ich, wickelte das Ding wieder in die blausilberne Seide
und steckte es in die Tasche. Evarin sah mich wütend an, und dann lachte er plötzlich boshaft.
„Nun, es war ein recht guter Versuch“, sagte er und schien sich nicht beruhigen zu können.
„Ja“, antwortete ich böse. „Das bleibt in meiner Tasche, und du •wirst dich eine ganze Weile
nicht unsichtbar machen können. Spielzeugmacher, du verdammte Mißgeburt!“ Ich rannte
durch die Tür und knallte sie hinter mir zu. Nun wußte ich auch, wohin ich zu gehen hatte,
oder wohin ich gehen wollte. Ein blinder Instinkt führte mich durch einen Irrgarten von
Aufzügen, Korridoren und Treppenhäusern. Ich kam an Küchen und Dienstbotenwohnungen
vorbei, die ich kaum ansah, weil ich sie kannte. Wäre ich stehengeblieben, um darüber
nachzudenken, wohin ich gehen wollte, hätte ich mich hoffnungslos verirrt. Endlich stand ich
dann im Freien, und um mich erhob sich der Halbkreis der Türme.
Die beiden Sonnen oben, die rote und die weiße, sandten ein seltsames Licht durch die
beschnittenen Bäume, die doppelte Schatten warfen. Ein ungewöhnlich kleiner Tagmond
lugte über den violetten Turm. Das Gras unter meinen Füßen war richtiges, gewöhnliches
Gras, aber die in abgezirkelten Beeten blühenden bunten Blumen kannte ich nicht; sie waren
riesig groß, fleischig und viel zu grellfarbig. Links und rechts an den Wegen liefen schmale
Gräben entlang. Irgendein Wissen in einem vergessenen Winkel meiner Erinnerung ließ mich
die Gräben sehr sorgfältig umgehen. Ich wußte, daß sie einem wichtigen Zweck dienten.
Schrille Musik drang von weither an meine Ohren, ein wortloser Sirenengesang, der Gamines
Summen glich. Plötzlich wußte ich, daß es die Blumen waren, die sangen. Ja, die singenden
Blumen in Karamys Garten — Adric erinnerte sich des Lotosgesangs. Ein
Willkommensgesang? Oder ein Lied der Gefahr?
Ich war nicht allein im Garten. Männer in gegürteten Kilts, grellfarbig wie die Blumen, liefen
hin und her und erweckten den Eindruck züngelnder Flammen. Die alte Eitelkeit erinnerte
mich daran, daß Karamy trotz all ihrer Sklaven dem Herrn des Roten Turmes zu huldigen
hatte — jetzt und in Zukunft!
Schweigend gingen die Männer an mir vorüber. Sie trugen Schwerter, die wie
Kinderspielzeuge aussahen. Das war ein Heer von Zombies, von unbeseelten Leibern. Sie
salutierten mit abgehackten Bewegungen, als ich vorüberging.
Ein hoher Ton summte plötzlich in den Blumen; ich fühlte, wie diese Zombies sich wie ein
Ballett in eine Reihe fügten, und in ein Nichts verschwanden. Spielzeugsoldaten, einer wie
der andere!
Ich sah einen Mann rennen. Mein Ich aus einer anderen Welt dachte kurz an die
Märchensoldaten der Königin aus Alice im Wunderland. Aber der Mann war kein
Kartensoldat. Er trug dunkle Hosen und ein dunkles Hemd. Das hohe Summen der Blumen —
der Blumen? — wurde zum schrillen Kreischen. Als ich genauer hinsah, bemerkte ich, daß
der Mann eine Pfeife zwischen den Zähnen hielt, deren Ton sich mit dem Gesang der Blumen
zu jenem schrillen Kreischen mischte. Er sprang über einen Graben und blieb neben mir
stehen.
„Adric!“ rief er leise. „Karamy geht herum. Höre dir doch die Blumen an! Ich fürchtete
schon, ich müßte den ganzen Turm nach dir absuchen, und Narayan konnte mich nicht so weit
schützen!“
Er hob die Hand mit der Pfeife und blies einen fließenden Triller. „Aldoney! Wie freue ich
mich, dich zu sehen! Narayan sagte, er wisse, daß du frei bist, aber keiner von uns konnte es
glauben. Er ist draußen vor den Toren und schickte mich zu deiner Hilfe. Komm mit!“
Der Anblick des Mannes tippte an einen jener Lebensdrähte in meinem Gehirn. Narayan. Da
schlug ein Akkord aus Angst oder Drohung und Gefahr an. Ich kannte ihn. Ich wußte auch die
Antwort, auf die er wartete, aber jener kurze Blick in den Spiegel — war es ein Spiegel? —
des Spielzeugmachers hatte eine ganze Kette von Handlungen zur Folge, die ich nicht
kontrollieren konnte. Ich versuchte meine Hand zu einem freundlichen Gruß auszustrecken,
aber zu meinem Entsetzen fühlte ich meine Finger am Knauf meines Schwertes. Und das
Schwert flog wie von selbst aus der Scheide.
Furchtsam zog sich der Mann zurück. „Adric, nein, das Zeichen...“ Er hob eine abwehrende
Hand, krümmte sich vor Schmerz und umklammerte die verletzten Finger. Ich hörte meine
eigene zornige, fast unmenschliche Stimme, durch die Evarins dünnes Gelächter klang:
„Zeichen? Hier hast du dein Zeichen!“
Der Mann warf sich aus meiner Reichweite, aber sein Gesicht zeigte einen Ausdruck
bestürzten Staunens. „Adric, Narayan hat uns geschworen, du seist wieder ganz du selbst.“
Ich mußte Gewalt anwenden, um das Schwert wieder in die Scheide zu schieben; es schien
lebendig zu sein und sich wie eine Schlange zu winden. Ich sah die Wunde an, die ich nicht
hatte schlagen wollen, sah die züngelnden Köpfe der Blumen hinter ihm. Den Mann, der
Narayans Namen auf der Zunge trug, konnte ich nicht töten. Die Blumen bewegten sich,
ließen lange, schnurartige Fühler gegen die verletzte Hand des Mannes schnellen. Ein
würgendes Gefühl saß mir in der Kehle.
„Renne! Schnell, laufe, oder ich kann... !“ schrie ich. Die Blumen kreischten. Der Mann riß
entsetzt die Augen auf und schrie. „Karamy! Aieeeee!“ Er taumelte, stolperte am Rand des
schmalen Grabens. Ich rief ihm eine Warnung zu — zu spät. Er stürzte über den Graben, und
die züngelnden Blumen umfingen ihn kreischend, bis er mit ausgebreiteten Armen zwischen
ihnen lag. Ich hörte noch seinen hoffnungslosen Schrei und wandte mich ab. Allmählich
wurde das schrille Kreischen zu einem sanften, schnurrenden Summen. Dann war wieder alles
ruhig, und die Blüten wiegten sich hinter ihren Gräben im sanften Wind.
Karamy kam in Gold und Feuerfarben den Weg entlang, und ich vergaß sofort den Mann, der
zwischen den Blumen lag. Von der schimmernden Krone ihres Haares bis zu den Sandalen an
den Füßen brannte alles an ihr; bernsteinfarben waren ihre Brauen, und in der Hand hielt sie
einen Stab aus Bernstein. Ihr Lächeln war ein Traum.
Eine Vision, eine Phantasie, die ich in meiner anderen Welt gesehen hatte.
Große Schönheit lahmt alle Gefühle. Ich starrte die Goldene Hexe an, deren schimmernder
Stab die Linien meines Gesichts nachzuziehen schien. Alte Gewohnheit hieß mich die Augen
abwenden.
Karamy lächelte und wandte ihre Katzenaugen dem leblosen Körper zwischen den Blumen
zu. „So? Ich dachte doch, daß ich etwas gehört hatte. Wie kam es denn überhaupt so weit?“
Sie ließ mich nicht aus den Augen, und ihr Stock tanzte dazu. Die Blumen begannen wieder
zu singen, und zwei der Zombiesoldaten schritten geräuschlos durch den Garten. Sie trugen
den Toten weg, und die Musik hörte auf. Karamys Blick hing an etwas, das auf dem Boden
lag. Es war eine Pfeife.
Karamy berührte sie mit einer Sandalenspitze. „Klug“, sagte sie zornig, „aber nicht klug
genug.“ Dann sah sie zu mir empor und breitete ihre schönen Hände aus. „Adric! Adric! Nun
bist du kaum frei, und schon belästigt man dich wieder! Das wolltest du doch gar nicht,
oder?“
Ich antwortete nicht, denn etwas zuckte durch meine Erinnerungen, um den Namen des
Mannes zu finden, den ich zwischen die Blumen hatte geraten lassen.
Karamy trat vor mich hin, so daß ich sie ansehen mußte. Ihre liebliche Stimme flüsterte den
Namen, an den ich mich allmählich gewöhnte.
„Adric, du bist böse? Ich weiß, es war grausam, Evarin in deine Nähe zu lassen, aber was
hätte sonst deinen Zorn bewirken können, der allein nur dich wieder zu dir selbst
zurückführen konnte? Wir brauchen dich, Adric. Narabedla braucht dich. Wir fühlen uns ohne
dich verloren. Du ließest uns allein, um dich mit Rhys und den Sternen einzuschließen! Aber
jetzt bist du zurückgekehrt.“ Ihre Hände griffen um meine Schultern und hielten sie fest.
„Hast du mich auch vergessen? Oder bist du noch immer mein Geliebter?“
Das klang nicht echt. Ich wollte sie schon eine Lügnerin, eine mörderische Teufelin heißen,
aber ich lernte es doch allmählich, meine Schlauheit richtig einzusetzen — die animalische
Schlauheit von Adrics alten Gewohnheiten und eine verzweifelte, in die Falle geratene
Schlauheit, meine eigene, die aus der Furcht vor dieser fremden, gefährlichen Welt geboren
war, deren Spiegel und Blumen lauernder Zauber waren. Und wie sollte ich wissen, was ich
als nächstes tun würde? An meinen Händen war Blut, und wenn Adric eine Geisel zweier
gegeneinander kämpfender Kräfte war, wie sollte ich wissen, was ich zu tun hatte? Ich mußte
mich an der Oberfläche treiben lassen, meinen Ahnungen folgen und sehen, wohin sie mich
führten.
„Wer könnte dich vergessen, Karamy?“ antwortete ich.
Sie war sehr weich, sehr süß und überaus lieblich, als ich sie fest in meinen Armen hielt,
während ich um die Erinnerungen rang, die sich nicht zwingen lassen wollten.
Karamy ließ die Arme sinken, und damit fiel auch der Mantel verführerischer Lässigkeit. „Du
bist immer noch böse, weil ich dich in die Zeit-Ellipse hinausschickte! Weißt du denn nicht,
daß es zu deinem eigenen Besten war? Du hast deine Lektion noch immer nicht gelernt!“
„Wenn ich eine zahme Katze wäre, welchen Wert hätte ich dann für dich?“ erwiderte ich. Ich
wußte, hier lauerte Gefahr, und ich kannte nur eine Möglichkeit, sie unwirksam zu machen.
Es schien Karamy zu gefallen, daß ich sie an mich zog, aber sie blieb auch dann vorsichtig,
als ihre Lippen unter den meinen nachgaben. Belog ich sie, oder spielte sie mein Spiel um
eine Schattierung besser als ich? Und dabei dachte ich noch immer an die gefährlichen,
fleischigen, wiegenden Blumen...
„Jetzt können wir Pläne machen“, sagte sie etwas später. „Zuerst also Gamine.“ Sie warf mir
einen scharfen Blick zu, doch ich wußte, daß meine Miene ausdruckslos blieb. „Gamine“,
fuhr sie fort, „ist immer bei dem alten Träumer. Sie läßt ihn lange wachen. Er ist alt, und er
gehört zu unserer Sippe, aber er wird trotzdem zu mächtig. Wir müssen Rhys aus Narabedla
wegschicken. Gamine kann ja bleiben, oder, wenn sie will, mag sie ihm auch ins Exil folgen.
Aber Rhys hat zu gehen.“
„Rhys muß gehen“, pflichtete ich ihr bei.
„Man sollte ihn töten, aber das läßt Gamine niemals zu“, sagte Karamy. „Nun ja, solange
Gamine mit Rhys verbunden ist, sucht sie nach keinem stärkeren Träumer. Evarin...“ Sie
schnippte mit ihren juwelengeschmückten Fingern. „Sein Träumer schläft tief. Evarin fürchtet
seine eigenen Kräfte. Und seine Spielzeuge — vielleicht können sie uns einmal nützlich
werden. Mein Träumer wird immer stärker, aber er dient mir!“ Das schöne Gesicht trug den
Ausdruck unbarmherziger Wildheit.
„Und dein Träumer, Adric vom Roten Turm, läuft frei in den Wäldern herum. Du wirst ihn
mit meiner Hilfe wieder binden. Ja, und bis dahin wird mein Träumer auch dir dienen. Ich
werde dafür bezahlen, daß du die Macht in die Hände bekommst!“
Fast dieselben Worte, die Evarin gesprochen hatte. Ein Angstschauer überfiel mich und
lahmte mich fast.
„Du bist zurückgekommen, Adric, und wir brauchen dich!“ fuhr Karamy fort. „Heute nacht
noch gehe ich zum Bergfried der Träumer, und du kommst mit. Dann werden wir in die
Wälder gehen, wo dein Träumer ist, und wir werden diese Gefahr für die Regenbogenstadt für
immer ausrotten!“ Ihre wilden Augen brannten. „Dann, Adric, wird nichts und niemand in
Narabedla, ja, in der ganzen Welt, unsere Macht mehr in Frage stellen!“
Gegen meinen Willen spürte ich, wie die Flamme, die sie entzündet hatte, wuchs. Macht,
unbegrenzte, uneingeschränkte Macht und eine schöne Frau mit Zauberkräften in den
Fingerspitzen. Adrics Ehrgeiz brannte in mir wie ein verzehrendes Feuer.
Goldene Hexe! Jetzt wußte ich, wie die Träumer bezahlt wurden, jetzt kannte ich den Preis,
für den sie ihre magischen Kräfte in die Hände der Herren von den Regenbogen legten. Der
kleine Teil von mir, der noch immer Mike Kenscott war, zuckte vor Angst und Ekel zurück;
der Rest akzeptierte die Erinnerung mit einem Achselzucken, und dann sprach Adric aus mir:
„Ich gehe. Ich brauche die Macht so sehr, daß ich sie selbst aus deinen Händen
entgegennehme, Karamy. Und dann gehe ich in die Wälder, in denen der Träumer lebt und
bringe ihn dir zurück.“
Im gleichen Augenblick jedoch, als ich Karamy in meine Arme riß und meinen Mund auf den
ihren preßte, rann ein eisigprickelnder Schauer mein Rückgrat entlang, und meine Augen
verengten sich über ihrem goldenen Kopf.
„Und dann, Karamy“, sagte ich, aber den Satz vollendete ich nur in Gedanken: Und dann,
Goldene Hexe, werde ich auch mit dir abrechnen!
4.
Stundenlang suchte ich nach meiner Rückkehr zum Roten Turm nach einem Schlüssel zu
Adrics mysteriöser Vergangenheit. Dieser Adric verwirrte mich, denn er kam und ging, wie er
wollte, in den Kammern meiner Erinnerungen.
Was ist schon eine Identität? Was ist ein Persönlichkeitsbewußtsein? Ich fühlte mich wie
Mike Kenscott. Ich erinnerte mich an mein Leben als Mike Kenscott, an meine Kindheit, die
Schule, die Armee, an die Arbeit, an Mädchen. Und doch — Evarin, Karamy, der fremde
Mann, den ich den Blumen ausgeliefert hatte, kannten mich als Adric, und ihnen gegenüber
hatte ich nicht als Mike Kenscott gehandelt.
Darüber wollte ich gerne nachdenken, denn sonst überfiel mich wieder diese panische Angst.
Grimmig durchsuchte ich den ganzen Raum. Ich fand seltsame Dinge, jedoch nichts, was mir
wichtig erschien. Wer Adrics Erinnerungen genommen hatte — wer? Karamy? —, der hatte
dafür gesorgt, daß nichts in seiner Umgebung zurückblieb, was das große Rätsel zu lösen
vermocht hätte.
Was ich wußte, war das: Adric war gefürchtet und verhaßt, und die Narabedlaner trauten ihm
nicht — mit einer Ausnahme vielleicht: Evarin, und der nur in einer bestimmten
Gemütsverfassung. Alle Narabedlaner, nur Gamine nicht, hatten etwas zu gewinnen, wenn sie
vorgaben, Adric freundlich gesinnt zu sein. Ich konnte mir nicht darüber klarwerden, ob
Karamys Haltung Liebe war, die Adric nach ihrem Willen formen wollte, oder Rache, die aus
dem gleichen Grund Liebe heuchelte. Ich traute Karamy nicht und war froh, daß Adric so
dachte wie ich.
Der Name Narayan stak wie ein Pfeil in meinem Fleisch. War er Freund? Oder Feind?
Die weiße Sonne war untergegangen, und die rote neigte sich dem Horizont entgegen. Ein
Diener klopfte leise an die Tür und brachte etwas zu essen. Er war keiner der Zombies aus
Karamys Garten, sprach aber mit einem Respekt, der an Angst grenzte. Ich überlegte, ob ich
den Mann ausfragen sollte, verwarf den Gedanken jedoch wieder. Es wäre unvernünftig
gewesen, auch nur einen Menschen in diesem Kaninchenbau an Feindseligkeit ahnen zu
lassen, wie schwach, verwirrt und meiner selbst unsicher ich war. Sie dachten zwar alle, Lord
Adric sei wieder ganz er selbst, und wenn sie sich vor Adric fürchteten, dann hatte ich sicher
eine Weile vor ihnen Ruhe.
Zögernd meldete der Mann, ehe er ging: „Die Lady Cynara möchte zu Ihnen kommen, Lord
Adric. Darf ich sie hereinbringen?“
Wer, zum Teufel, war nun wieder diese Lady Cynara? Adrics Frau vielleicht? Seine Geliebte?
Sonst eine freundlich oder feindlich gesinnte Einwohnerin von Narabedla? Ich hatte jedenfalls
genug Sorgen und wollte sie jetzt nicht sehen. „Nein“, antwortete ich nur, und der Mann
murmelte etwas und verschwand.
Ich saß an dem vergitterten Fenster von Adrics hohem Turm und versuchte Erinnerungen aus
jenem fremden Geist herauszuzwingen, dessen Gefangener ich war. Ob es nun ein Erfolg
meiner Willensanstrengung oder des kurzen Blicks in Evarins Spiegel war, ob die Person
Adric echt war und die von Mike Kenscott nur eine Illusion von Karamys Magie —
allmählich kamen Erinnerungen zurück.
In jenen alten Tagen, ehe die verschwommenen Vermutungen meinen Geist einzunebeln
begannen, war Adric vom Roten Turm ein mächtiger Herr der Regenbogenstadt gewesen.
Diese Erinnerungen waren nicht von der Art, wie sie mein Ich als Mike Kenscott begrüßt
hätte, doch der Adric in mir fand sie durchaus erfreulich.
Wir Herren der Regenbogenstadt waren eine uralte Rasse. Unsere Sippe beherrschte das
ganze Land; nur — wir waren eine sterbende Rasse. Immer weniger Kinder wurden den
Herren der Regenbogenstadt geboren, und diese wenigen Nachkommen waren zum größten
Teil Schwächlinge, die mit den ungeheuren Kräften der gefangenen Träumer niemals
zurechtkommen konnten. Adric, dieser Mann von überwältigendem Ehrgeiz, hatte mit einem
Schlag gegen sie alle Macht in seine Hände genommen. Zu allen Zeiten und in allen Ländern
haben Könige und Diktatoren langsam und methodisch jene ausgerottet, welche ihre Macht zu
beeinträchtigen drohten, und Adric machte es ebenso. Und nun sah man in Narabedla zum
Herrn des Roten Turmes hinauf, damit er regiere. In der Regenbogenstadt wohnten ständig
nur Evarin und Gamine; Evarin spielte mit übler und guter Laune, und Gamine — hatte Adric
je wirklich etwas über sie gewußt? — liebte nur die Weisheit. Die paar anderen außer diesen
beiden stellten Adrics Führungsanspruch nicht in Frage.
Und Karamy! Sie hatte meinen Machtanspruch angezweifelt, und sie war geblieben, um an
meiner Macht teilzuhaben.
Ich hatte die Macht gewollt und hatte sie — unbegrenzt — von einem neu gebundenen
Träumer, der sich nur vage im Schlaf bewegte. Außerhalb von Narabedla huldigte mehr als
die Hälfte der bekannten Welt dem Herrn des Roten Turmes.
Einige Erinnerungen waren reinster Triumph, andere erschienen Adrics zynischem Denken
komisch. Manche der Erinnerungen waren unvorstellbar schrecklich, denn Adric war es von
jeher gleichgültig gewesen, was seine Triumphe kosteten, aber selbst ihm lief ein Schauer
über den Rücken, als er den Preis des Träumers kannte.
Und dann war diesem wilden, unbeugsamen Mann etwas zugestoßen. Ich wußte nicht, was es
gewesen sein konnte. Fließende Bilder zogen durch einen grauen Nebel — ein Kindergesicht
unter blondem Haar, das sich in ungläubiger Angst oder Freude hob: eine fliehende, verhüllte
Gestalt, die sich, als ich zu folgen versuchte, in den Labyrinthgängen meiner Erinnerungen
verlor.
Was immer auch geschehen war, es hatte sich in einem Augenblick ereignet, da Adric von
Blut und Schrecken als Preis seiner Macht abgestoßen war.
Seine magische Kraft — die schlafenden, knapp am Leben gehaltenen Träumer und Mutanten
erzwangen durch ihren Geist die Macht für ihn — verlangte nach Energie, die nur aus einer
Quelle stammen durfte. Und Adric hatte seinen Träumer absichtlich und großzügig für eine
ganze Weile aus dieser Quelle versorgt.
Aus einer Laune heraus hatte ich eines Tages eine für dieses Schicksal bestimmte junge Frau
gerettet. Die folgenden Erinnerungen waren wieder in einen Nebel gehüllt; trotz größter
Anstrengung gelang es mir nicht, diesen Nebel zu durchdringen.
Aber dann war Adrics Macht zusammengebrochen wie ein Triumphbögen, dessen Grundstein
man entfernt hatte. Seine Armeen zerstreuten sich, und er selbst schloß sich in seinem Turm
ein oder wurde dort gefangengesetzt. Seine Erinnerungen wurden ihm gestohlen, und er war
in eine Zeitdimension gegangen oder hinausgeschickt worden, die entweder weit in die
Zukunft oder weit in die Vergangenheit reichte. Dort wirbelte er nun in einer Zeit-Raum-
Dimension, bis er irgendwo in den Abgründen jener anderen Zeiten oder Welten auf den
Mann gestoßen war, den er selbst als Mike Kenscott kannte.
Und da war nun Adric vielleicht entwischt. Er hatte zugegriffen, Mike Kenscott in sein
Spinnwebennetz gezogen und ihn gegen sich ausgetauscht. Es muß die perfekte Flucht aus
einem Leben gewesen sein, das Adric hassen gelernt hatte; einem Leben, das mit zu vielen
Konflikten beladen war, als daß er es hätte ertragen können.
Aber ich war Adric...
Auch dafür gab es eine Erklärung. Der physische Körper konnte sich nicht auswechseln. Ich
hatte Adrics Körper, seine Gehirnwindungen, die synaptisch bedingten Verhaltensformen,
seine Gedächtnisbank. Nur sein EGO, sein“ tiberpersönliche, bewußte Identität, die „Seele“,
wenn man so sagen will, war die Von Mike Kenscott. Körperlich und dem Gehirn nach war
ich Adric.
Und in meiner eigenen Zeit, in meinem Raum, lebte Adric in meinem Körper als Mike
Kenscott, führte dessen Leben und ging durch dessen Emotionen mit den gleichen
Erinnerungslücken und den komischen Schnitzern, die ich hier machte. Nach einer Weile
würde sich da und dort das meiste glätten. Aber ich war gefangen. Da ich Adrics Leben lebte,
wurde er nun immer stärker in mir, bis ich ganz in seine Persönlichkeit geschlüpft war. Und
würde er dann in meiner alten Welt ICH werden?
Andy, dachte ich in einem Aufflackern der Angst, was würde er mit Andy anstellen?
Nichts. Mit meiner Persönlichkeit konnte er Andy nichts Böses tun, so wie ich mit seiner
Persönlichkeit Evarin nicht hassen konnte.
Oder doch? Ich hatte heute mein Schwert gegen einen Mann gezogen, der mich „Freund“
genannt hatte, und ich hatte ihn Karamys Blumen ausgeliefert.
Ich mußte zurückkehren in meine Zeit und Persönlichkeit. Aber wie? Wie war ich
hierhergekommen?
Einmal hatte sich meine Lebensbahn mit der Adrics gekreuzt. Oder wie hatte Gamine gesagt?
Zeit-Ellipse. Das war doch der Tag gewesen, als sie gemeint hatten, der Blitz habe das Labor
getroffen. Achtzehn Stunden lag ich unter dem Balken, später im Drogenrausch im
Krankenhaus, und da mußte sein Leben eine Weile mit dem meinen parallel gelaufen sein.
Doch die Flucht war nicht völlig gelungen. Etwas hatte ihn in seine eigene Welt
zurückgezogen oder getrieben.
Er war dann selbst gegangen oder geholt worden. Diesmal schien es gelungen zu sein. War er
nun in meiner Jagdhütte in den Bergen und fing einen Fluch zum Abendessen? Wühlte er in
meinem Elektromaterial herum? Ich hoffte und wünschte voll Rachsucht, er möge sich ein
paar recht heftige und schmerzhafte Elektroschocks holen.
Nach dem ersten Kontakt war ein Teil von Adric in mir geblieben. Ich erinnerte mich des
Tages, da ich den Adler mit dem Messer angegriffen hatte.
Die rote Sonne glühte wie ein glimmender Holzklotz über den Sierras, als einer von Karamys
Spielzeugsoldaten mit einer Einladung kam. Kraß ausgedrückt, war es eine Aufforderung an
mich, ich solle kommen. Ich hatte immer gedacht, daß diese Zombies — waren es seelenlose
Körper? — nicht sprechen könnten. Ich starrte den großen, stämmigen Burschen an; er hatte
ein einfaches, rundes, sommersprossiges Gesicht, das vor robuster Gesundheit glänzte; Arme
und Brust waren muskulös; nur die Augen erschienen mir leer, der Mund hing schlaff
herunter, und als ich ihn fragte, wohin wir gehen würden, wiederholte er nur ausdruckslos:
„Die Anwesenheit des Lord Adric wird gewünscht.“
Der Bursche blieb unbeweglich stehen, und erst nach einer Weile dämmerte mir, daß er selbst
keinen Willen hatte und nur auf meinen Befehl wartete. Ich hätte ihm ja am liebsten gesagt, er
solle sich zum Teufel scheren, aber ich hätte nicht gewußt, ob er ohne meine Führung diesen
Weg fände; oder ob ich wüßte, wohin ich gehen sollte. Automatisch ging ich zu dem Schrank,
nahm einen dick mit Pelz besetzten roten Mantel heraus und legte ihn mir um die Schultern.
Dann winkte ich dem Soldaten zu; er machte kehrt, und ich folgte ihm durch einen Irrgarten
von Gängen und Treppen zu einem langen Korridor. Ich hörte meine eigenen Schritte hallen
und dann auch noch einen zweiten, der sich meinem Rhythmus einfügte. Gamine stahl sich
aus dem Schatten, ein lautloser, blausilbern verschleierter Geist. Später vernahm ich das leise
Tappen von Evarins Katzenschritten, dann folgte ein Mädchen in einem flammenfarbenen
Federmantel, schließlich ein zwerghafter Mensch in einem mit dunklem Pelz besetzten
Purpurmantel.
Der Korridor stieg leicht an, und an seinem Ende schimmerte ein Licht. Unbewußt war ich in
einen stolzen, weit ausgreifenden Schritt gefallen. Nun schob ich den Soldatensklaven, der die
Kolonne anführte, zur Seite und übernahm selbst die Führung. Und dann öffnete sich vor uns
unvermittelt ein weiter, imposanter Hof.
Über uns glühte die rote Sonne wie ein Gasfeuer. Auf drei Seiten war der Hof von hohen
Säulen eingerahmt, und am gegenüberliegenden Ende führte das Gewölbe eines
Bogenausganges in eine baumbestandene Zufahrt, die sich in weiter, schattenhafter Ferne in
einem Wald verlor. Zwischen zwei Säulen wartete die schlanke, goldschimmernde Karamy.
In ihren Katzenaugen funkelte hungrige Ungeduld. „Du kommst spät!“ „Jetzt bin ich da“,
antwortete ich, „und bereit.“ Wofür bereit? Ich wußte es nicht.
Karamy winkte den anderen Narabedlanern ungeduldig zu. „Adric ist wieder bei uns. Eure
Treue gehört Adric, Kinder des Regenbogens!“
Stumm stand ich neben ihr und wartete. „Lord Idris!“ rief Karamy, und der Zwerg verbeugte
sich ruckartig vor mir. „Willkommen zu Hause, Lord!“
Evarins Gesicht war schlau und boshaft, doch seine Stimme schnurrte seidig. „Es ist mir ein
Vergnügen, dir wieder zu folgen, Bruder.“
Das flammenfarbene Mädchen sagte nichts, sondern machte einen tiefen Knicks, und die
Bewegung glich dem Züngeln einer Flamme. „Adric...“, murmelte sie nur, denn sie war ein
scheues Ding, und ihr dunkles Haar wogte und flog, als habe es Flügel. Sanft berührte ich ihre
Finger, ließ sie aber sofort wieder los, denn Karamys Augen schienen mir zu drohen.
„Du reitest mit uns, Cynara?“ Karamy schien daran wenig Freude zu haben. Das Mädchen in
dem flammendroten Mantel hob das Gesicht, antwortete aber nicht. Gamines Stimme summte
einen wortlosen Triller, dann trat das Mädchen vor Karamy. „Es ist mein Wille, Karamy.
Willst du mein Recht bestreiten?“
Die Spannung lag fast greifbar in der Luft; dann machte Karamy eine wegwerfende Geste.
„Was kümmerst du mich, Gamine, mit deinen Zaubersprüchen? Komme, wenn du willst, und
bringe mit, wen du willst. In diesem Augenblick wird nicht über Rechte gesprochen.“
Der alte Rhys wurde anscheinend nicht erwartet. Von irgendwoher wurden Pferde gebracht.
Pferde in einer Alptraumwelt? Sie sahen aus, wie die Pferde, die ich aus meinem eigenen
Leben kannte. Ich hatte noch niemals auf einem gesessen, aber seltsamerweise war ich mit
einem einzigen Schwung im Sattel mit diesem seltsamen hornförmigen Knauf.
Irgendwie herrschte im Hof trotz der stampfenden Rosse und der Geräusche des Aufbruchs
Grabesstille. Karamy hielt sich in meiner unmittelbaren Nähe. Nachdem alle aufgesessen
waren, hob sie ihren Bernsteinstab. Die letzten Sonnenstrahlen fingen sich in den Prismen und
warfen einen scharfen Strahl reinsten Lichtes in die dunkle Allee. Ein seltsames,
halbvertrautes Gefühl packte mich, und ich hob meinen Arm hoch über den Kopf. „Reitet!“
schrie ich. „Reitet zum Bergfried der Träumer!“
Meile für Meile legten wir unter den dunklen, tiefhängenden Ästen zurück. Hinter uns
dröhnten die Hufe von Karamys Garde, und dazwischen vernahm ich Gamines flötenhafte
Stimme. Der Wind blies durch Karamys goldenes Haar, das sich wie ein schimmernder
Heiligenschein um ihren Kopf legte.
Ich warf einen Blick zurück zu den Regenbogen türmen, die jetzt zu dunklen Umrissen vor
den schwarzen Schatten der Berge geworden waren. Ein winziger Mond warf einen rosa
Schein über den Himmel, und über dem Horizont schob sich eine größere, volle Scheibe
zwischen den Bäumen heraus. Die kalte Luft machte mich frösteln. Von den Hufen der Pferde
stoben Funken auf.
Frost! Und in Karamys Garten hatten die Blumen in tropischer Fülle geblüht!
Einen Augenblick lang war ich wieder Mike Kenscott, ein erschreckter, verstörter Mike
Kenscott, den die Nähe der goldenen Zauberin und die kalte Nachtluft frösteln ließen. Und es
war auch Mike Kenscott, der die Zügel seines Pferdes anzog, um diesem Spuk ein Ende zu
bereiten.
„Was ist?“ fragte Karamy.
„Nichts!“ rief ich zurück und drückte meinem Tier die Absätze in die Flanken.
Guter Gott! Ich war Mike Kenscott, aber Gefangener eines Körpers, der mir nicht gehorchte,
eines Geistes, dessen Gedanken und Gewohnheiten mir fremd waren, einer Seele, die mich
der Vernichtung auslieferte! Ich war Mike Kenscott und ritt durch einen Alptraum
geradewegs in die Hölle!
5.
Auch früher hatte ich schon manchmal Angst gehabt, aber das war jetzt eine panische,
nervenzerfetzende Angst. Ein Feigling bin ich nicht, und einmal hatte ich vor den Nasen der
Vietcongs eine Radarfalle gebaut. Einer realen Gefahr konnte ich durchaus ins Auge sehen.
Aber unter zwei Sonnen und einem Paar seltsamer Monde, umgeben von seltsamen,
spukhaften Leuten, die meiner Ansicht nach nicht menschlich waren — gut, hier war ich also
ein Feigling. Ich bot meinen ganzen Willen auf, um ruhig zu bleiben. Wenn das ein Alptraum
war — nun, er hatte seine — wenn auch geisterhaften Schönheiten.
Aber ich wußte, daß dies kein Alptraum war. Der Frost biß in mein Gesicht, die Hufe
schlugen gegen Steine, und um mich herum waren diese grellen Farben — Träume sind nicht
farbig. Ich war wach, hellwach. Und ich lenkte ein Pferd mit meinen Schenkeln, obwohl ich
nie im Leben auf einem Pferd gesessen hatte...
Zweimal hielten wir kurz an, um die Pferde zu Atem kommen zu lassen, aber noch immer
ritten wir unter den dunklen Bäumen dahin. Der Himmel war dunkel geworden, und blasses,
bläuliches, fluoreszierendes Mondlicht lag über dem Land. Ich lugte durch das dunkle Laub,
denn ich hatte eine vage Hoffnung, die Sterne könnten mir einiges verraten, aber nur der
Große Bär war zu sehen. Die anderen Sternbilder hätte ich sowieso nicht gekannt.
Allmählich ließ ich mich ein wenig zurückfallen, bis ich zwischen Gamine und dem Mädchen
mit dem flammenfarbenen Mantel ritt. Die Zaubersängerin begrüßte mich mit einem
angedeuteten Nicken, aber das Mädchen im Flammenmantel warf die Kapuze zurück. Ich sah
dunkle Augen in einem reinen, süßen, jungen Gesicht. Am liebsten hätte ich diesen
schimmernden Augen zugerufen, daß ich ja gar nicht Adric, der Krieger von Narabedla sei,
sondern nur ein armer Kerl, der Mike genannt wurde.
Dann drang Gamines musikalische Stimme an mein Ohr. „Du scheinst wieder ganz du selbst
zu sein.“
Was sollte ich darauf antworten? Ich schüttelte nur den Kopf.
Seltsam, diese Stimme schien voll Sympathie zu sein. „Wenn deine Erinnerung wiederkehrt,
dann wirst du dich — vielleicht allzu genau — an den Bergfried der Träumer erinnern.“
„Gamine“, fragte ich, „wer ist Narayan?“
Unter den blausilbernen Schleiern spürte ich eine rasche Bewegung, und ein seltsamer
Ausdruck flog über das Gesicht des Mädchens im Flammenmantel. Aber Gamines Stimme
blieb ruhig. „Ich habe noch keinen dieses Namens gesehen. Vielleicht kann Cynara dir
antworten, wenn du sie fragen willst.“
Ich sah das Mädchen an. Cynara? Doch ich stellte die Frage nicht, denn der Name Cynara
hatte plötzlich wieder einen Draht in meinem Gehirn berührt — oder in dem Adrics. Narayan
und Cynara. Wenn ich mich nur erinnern könnte!
Was hätte Cynara gesagt, wenn ich dem Diener erlaubt hätte, sie zu mir zu bringen? War es
jetzt zu spät, etwas zu erfahren? Ich sah wieder das Mädchen an. Nein! Verdammt, ich wollte
Adrics Erinnerungen nicht haben!
Cynara hatte ihr dunkles Pony auf gleicher Höhe mit meinem Pferd gehalten. Schlank und
hoch aufgerichtet ritt sie im Damensitz, als sei sie so geboren. Unter dem flammenfarbenen
Mantel war sie klein, zart und bezaubernd menschlich, das einzige wirklich menschliche
Wesen, das ich in dieser Spukwelt gesehen hatte!
„Habe keine Angst“, sagte Cynara, und ihre Stimme klang tief und süß und sehr leise, so daß
ich kaum die Worte verstehen konnte. „Du mußt nicht gehen. Alles ist vorbereitet.“
„Aber was...“, rief ich, doch sie schüttelte den Kopf und warf mir wegen Evarin, der uns
überholte, einen warnenden Blick zu.
Karamy drehte sich im Sattel um, winkte mir befehlend zu, und ich versuchte, mich dagegen
aufzulehnen. Doch dann drückte ich meinem Pferd die Absätze in die Flanken und ritt vor zu
Karamy.
Der Weg stieg schon eine Weile an, und wir hielten schließlich auf dem baumfreien Gipfel
eines kleinen Hügels. Vor uns lag eine weite Senke von mindestens dreißig Meilen
Durchmesser, die ganz mit dichtem, dunklem Wald bewachsen war. An der tiefsten Stelle des
Tales war eine Lichtung zu erkennen, aus der ein riesiger Turm ragte. Es war keiner der
schlanken, märchenhaften Türme, und er glich auch nicht denen der Regenbogenstadt; es war
eine massive Festung mit breiten, trutzigen Zimmern, die sich uralt und schrecklich in den
monddurchfluteten Himmel schoben.
Der Bergfried der Träumer!
Das ist der Wald, in dem der Träumer herumgeht, flüsterte etwas in mir; oder war es Karamy
gewesen, die gesprochen hatte? Ihre schlanken Hände hielten fest und energisch die Zügel,
und ihr Gesicht war gesammelt und voll Spannung. Ein Teil von mir kannte den Grund ihrer
Spannung, ein anderer Teil wunderte sich darüber. Ich war Mike Kenscott, der sich selbst
beobachtete und nicht wußte, was er als nächstes sagen oder tun würde.
Karamy wandte mir ihr Gesicht zu. „Du mißtraust mir!“ rief sie heftig. „Das fühle ich!
Warum?“
„Habe ich denn Grund, dir zu trauen?“ Ich wußte nicht, ob Adric aus mir sprach oder ob ich
selbst es war, ein mißtrauischer Mike Kenscott.
Ich hatte mit ihrem Zorn gerechnet, aber zu meinem Staunen glitt ein zauberhaftes
Katzenlächeln über ihre Züge, und ihre goldenen Augen schimmerten im Licht. „Vielleicht
nicht“, murmelte sie, und ihr Lachen hatte den Ton einer goldenen Glocke.
Dann wurde sie jedoch unvermittelt heftig. „Adric, wenn du zu grübeln aufhören würdest,
wüßtest du, wie sehr ich dich brauche, wie sehr Narabedla deine Kraft und Stärke braucht!
Höre, Adric, alles hat sich verändert. Die Leute sind rebellisch und trotzig. Ich kann doch
keine Armeen gegen sie führen! Sage doch nur, hatten wir es je nötig, unter Bewachung durch
unsere eigenen Wälder zu reiten?“
Evarin lachte spöttisch. „Erst nimmst du Adric alle Macht, und dann beklagst du dich, daß du
keine starke Hand hast?“ rief er.
„Die Strafe war viel zu gering“, ließ sich die harte Stimme des Zwerges Idris vernehmen, der
sein Pferd nach vorne zog. Er funkelte mich wütend an. „Dich hasse ich, Adric, denn du bist
ein Verräter! Du hast den Träumer befreit und ihn gegen uns aufgehetzt. Ich sage, du
verdientest den Tod!“
„Es war aber, wie du siehst, nicht nötig, daß er starb“, sagte Karamy und sah mich an, als
erwarte sie Hilfe von mir. „Du siehst doch jetzt ein, Adric, daß wir dich wieder zur Vernunft
bringen mußten, um zu retten, was zu retten möglich war.“
„Sie hat recht“, pflichtete Evarin ihr bei. „Unseren privaten Streit können wir später auch
noch austragen. Nun müssen wir gegen eine Rebellion angehen — und gegen einen Träumer.
Wenn die Regenbogenstadt überleben soll, dann müssen wir die Vergangenheit ruhen lassen.
Was Adric in einem Augenblick des Wahnsinns getan hat, kann er jetzt gutmachen. Wenn du
nicht Frieden halten kannst, dann entschließe dich wenigstens zu einem Waffenstillstand.“
„Adric“, flüsterte Karamy, „bringe mich dorthin, wo der Träumer geht.“
Plötzlich wußte ich mit aller Sicherheit, daß ich das tun konnte, weil mich noch etwas mit
dem befreiten Träumer verband. „Die Verbindung ist abgebrochen“, ließ mich eine gewisse
Vorsicht antworten. „Du hast das Band doch selbst durchschnitten! Das habe ich nicht
vergessen.“ Zu meiner Befriedigung erkannte ich eine gewisse Unsicherheit in ihren
Katzenaugen. Der Schuß hatte gesessen, und Karamy hatte also wirklich dieses Band zu
durchschneiden versucht. Sie glaubte auch, es sei ihr gelungen. Jetzt im Augenblick wäre es
ihr lieber gewesen, sie hätte dieses Band für ihre privaten Zwecke verwenden können.
Eine diplomatische Ader hatte diese Frau nicht, denn sie murmelte: „Dieses Band kann
wieder geknüpft werden, das Versichere ich dir.“
Ah! Aber ich wußte, was ich von Karamys Eiden zu halten hatte! „Nun, dann knüpfe es doch
wieder. Aber zähle nicht auf mich, wenn du glaubst, du könntest deine Taten ungeschehen
machen.“
Lange Zeit ritten wir durch den dichten Wald, den ein schmaler, gewundener Pfad
durchschnitt. Adric kannte sein Land, und Mike Kenscott lief ein Schauer über den Rücken.
Hier hatte er gejagt, aber nicht nach vierfüßigem Wild. Karamy schien meine Gedanken zu
lesen, denn sie lachte leise.
„Mein Handgelenk hungert nach einem Falken. Du und ich, wir beide werden hier wieder
jagen.“ Irgendwie erregten mich diese Worte.
Gamines Gesang nahm eine andere Melodie an. Noch immer waren keine Worte zu verstehen,
doch ich wußte, daß sie eine Warnung sein sollte. In meinem Nacken zuckte ein Nerv.
Unvermittelt beschrieb der Pfad eine steile Kurve. Karamy und ich drückten unseren Pferden
die Absätze in die Flanken, sprengten um die erste Biegung, dann um die zweite — und
waren in die Falle gegangen, ehe wir es auch nur ahnten.
Mein Pferd stieß ein verängstigtes Wiehern aus, stieg und trommelte dann mit den Hufen den
Boden. Fluchend und schreiend versuchte ich das Tier zu beruhigen und gleichzeitig Karamy
zu warnen, doch für sie war es zu spät; sie flog in hohem Bogen aus dem Sattel. Die anderen
waren inzwischen fast vor den spanischen Reitern angelangt. Reiterlose Pferde wieherten und
stampften, Flüche, Frauenschreie und das Getrappel eiliger Füße vermischte sich zu einem
höllischen Lärm. Ich sprang aus dem Sattel, warf mich gegen Gamines Pferd, ehe es sich im
Verhau der Falle verfing, und schrie Evarin und Idris eine Warnung zu. Evarin war mit einem
Satz an meiner Seite, und ich riß wie ein Irrer an der Sperre. Doch dann umging ich sie in
einem weiten Bogen. Dahinter war der Pfad offen, und Karamy lag bewegungslos da.
„Gamine! Evarin!“ rief ich. „Hier ist niemand zu sehen, aber Karamy ist verletzt!“
Idris brach auf seinem Pferd durch das dichte Unterholz. „Ist sie tot?“ fragte er.
Ich legte meine Hand auf ihre Brust. „Nein. Das Herz schlägt. Sie ist bewußtlos. Steig ab“,
befahl ich, und Idris rutschte aus dem Sattel. Ich hob die Frau auf, aber sie bewegte nicht
einmal die Lider. Idris berührte meinen Arm. „Lege sie quer über meinen Sattel“, sagte er.
Schwer und schlaff lag sie in meinen Armen, doch sie stöhnte leise, als ich sie über den Sattel
legte. Da tat Idris einen Schrei.
„Was ist?“ fragte ich scharf. „Ich hörte...“
Ich erfuhr nie, was Idris gehört hatte. Sein Kopf verschwand, als habe ihn eine Riesenfaust
abgerissen. Eine harte Hand umklammerte meine Kehle, und in meinem Kopf gingen tausend
Raketen auf einmal los. Ich wußte noch, daß ich ins Unterholz geschleudert wurde und daß
dann ein Elefant auf meiner Brust zu hocken schien. Bevor es völlig schwarz um mich wurde,
war mein letzter Gedanke: „Jetzt wache ich auf!“
6.
Aber das hatte ich nur gedacht. Ich kann nur ein paar Sekunden bewußtlos gewesen sein. Ich
hörte Evarin fluchen, und Idris bellte geradezu vor Wut. Karamy kreischte meinen Namen,
ich versuchte zu antworten, aber die Stahlfinger schnürten mir die Kehle zu. Der Fall oder
was es war, hatte Adric aus mir hinausgeworfen. In meinem Kopf herrschte ein entsetzliches
Durcheinander, aber ich war wenigstens ICH und nur noch ein unschuldiger Zuschauer.
Evarin und Idris standen auf dem Pfad und warfen vorsichtige Blicke ins Unterholz. Über mir
hing das Gesicht eines Mannes, der mich mit dem Gewicht seines Körpers an den Boden
fesselte. Er hatte ungefähr die Formen eines Flußpferdes und ein dazu passendes Gesicht. Ich
wand mich wimmernd, aber das Flußpferdgesicht kam drohend näher.
Im Dickicht erkannte ich zusammengeduckte Gestalten mit Waffen über den Schultern, die
sowohl Pfeil und Bogen wie auch Strahlenwaffen sein konnten — oder beides. Wieder
begann Nebel mein Gehirn zu umhüllen, und das Gewicht drückte mich zu Boden.
Als ich schon glaubte, der Kerl würde mich zerquetschen, bewegte er sich endlich, und dicke,
ungeschickte Finger stopften mir einen Knebel in den Mund. Erleichtert atmete ich tief ein,
als ich von diesem schrecklichen Gewicht erlöst war. Der Dicke erhob sich schnaufend, aber
eine stählerne Spitze kitzelte mich an den Rippen; sie machte drohende Worte überflüssig.
Die Narabedlaner waren ein eng beisammen stehendes Häufchen auf dem Weg. Die
Scharfschützen rund um mich hielten ihre Waffen noch immer im Anschlag, aber der Dicke
wisperte ihnen zu: „Nicht schießen. Hinter ihnen reitet sicher eine Garde drein.“
Ich versuchte einige von Adrics Erinnerungen auszugraben, aber alles, was mir einfiel, war
eine Sache aus meinen Fußballertagen; da hatte mich einer von der Gegenmannschaft so
angerempelt, daß ich drei Meter weit durch die Luft geflogen war. Adric war weg, völlig weg.
Die Narabedlaner unterhielten sieh leise und hatten sich um Gamine geschart, was mich
irgendwie verwunderte. Doch auch dieses Staunen verblaßte, als Evarin sein Schwert zog;
auch er wagte es jedoch nicht, in das Dickicht einzudringen. Cynara hielt Idris fest. „Nein!“
hörte ich sie rufen. „Wenn du dich bewegst, bringen sie ihn um!“
Ich weiß nicht, wer die beiden Reiter waren, die über das Sträßchen schwärmten. Mich zog
man auf die Füße und schleppte mich weg. Hinter mir hörte ich Schreie; Stahl klirrte, farbige
Blitze zuckten, und mir tanzten schwarze Punkte vor den Augen, als ich zwischen zwei
meiner Gefangenenwärter dahintaumelte. Mein Schwert wurde von irgendeinem aus der
Scheide gezogen. Schön, ich hätte ja doch nicht damit umzugehen verstanden, da Adric nicht
mehr von der Partie ist, dachte ich.
Ein drohend auf meine Brust gerichtetes Messer half mir, mit gefesselten Händen in einen
Sattel zu klettern, und dann begann das Pferd unter mir zu rennen. Ich war also sozusagen von
der Bratpfanne ins Feuer geraten, denn ich war mir klar darüber, daß ich kaum eine
Möglichkeit zur Flucht hatte.
Die Geräusche hinter uns erstarben allmählich. Ich hing auf meinem Pferd, und nur Adrics
unbewußte Muskelreflexe hielten mich auf dem Tier. Ich glaube nicht, daß ich überhaupt zwei
zusammenhängende Gedanken zu denken vermochte, aber nach einer Zeit sah ich, daß wir
aus dem Wald herauskamen und offene Feuer vor uns flackerten.
Ich klammerte mich mit einer Hand an den Sattelknauf, hob den Kopf und blickte mich um.
Wir befanden uns in einem lichten, von hohen Bäumen umstandenen Gehölz, das einer alten
Druidentempelstätte glich. Fackeln brannten auf hohen Pfosten, und Wachfeuer flackerten.
Auf der Lichtung standen Zelte, und das Ganze sah aus wie ein Zigeunerlager. Am
entgegengesetzten Ende der Lichtung stand ein weißes Fachwerkhaus mit flachem Dach und
breiten Türen.
Ich schluckte kräftig und rutschte im Sattel herum, denn diesen Platz hatte ich in meinen
Träumen gesehen; ich hatte ihn als Vogel überflogen, und ein Pfeil hatte mich getroffen. In
meiner Brust fühlte ich einen eigenartigen Schmerz, und ich klammerte mich fester an das
Sattelhorn.
Aus allen Zelten quollen Männer und Frauen. Unzählige Sprachen schwirrten an meinem Ohr.
Den Namen „Adric“ hörte ich von Mund zu Mund laufen. Und dann noch einen Namen:
Narayan. Aus einem der größeren Zelte trat ein schlanker, junger, blonder Mann in einem
dunkelbraunen, rauhen Gewand und kam auf mich zu. Die Menge zog sich zurück; der
Blonde gab einem Mann ein Zeichen, der sofort den Knebel aus meinem Mund nahm, meine
Fesseln löste und mir aus dem Sattel half. Erschöpft hielt ich mich am Steigbügel fest.
„Irgendwelche Schwierigkeiten gehabt, Raif?“ fragte der junge Mann.
Mein riesiger Wärter schüttelte den Kopf. „Die scheinen wir ganz ohne jeden Zauber
gefangen zu haben. Sie waren zum Bergfried unterwegs, aber wir haben sie jetzt eine Weile
aufgehalten. Die Hexe hatte allerdings ein paar Dutzend von ihrer Garde dabei.“ Der blonde
junge Mann schüttelte den Kopf. „Nun, ihr seid ja hoffentlich sicher weggekommen. Ihr habt
doch nicht gekämpft?“
„Befehl ist Befehl“, erwiderte der Dicke düster. „Du hast gesagt, wir sollen uns Adric
schnappen und wieder verschwinden. Da ist Adric, und wir sind auch da, und die anderen...“
Er fluchte ganz entsetzlich, und der junge Mann mußte lachen.
„Du kannst noch früh genug nach Herzenslust kämpfen!“ meinte er. Er trat ganz nahe an mich
heran und musterte gelassen mein Gesicht. Dann wandte er sich zu Raif, dem Dicken, um.
„Das ist nicht Adric“, sagte er. „Den Mann hier kenne ich nicht.“
Eigentlich hätte ich mich erleichtert fühlen sollen, aber das tat ich nicht, und ich ahnte nicht,
weshalb es so war. Endlich aber gab es einmal einen Menschen, der den Unterschied
bemerkte. Trotzdem war meine erste Reaktion ein Gefühl zorniger Enttäuschung. Wie wollte
er das wissen? Ich war so wütend, als hätte man mich dabei ertappt, daß ich gestohlene
Kleider trug. Mein dicker Gefangenenwärter war ebenso wütend.
„Wieso meinst du, daß er nicht Adric ist?“ fragte er. „Sag mal, hast du deine Augen in der
Tasche? Wir haben ihn mitten aus seiner verfluchten Kavalkade herausgeholt! Wenn der nicht
Adric ist, dann fresse ich einen Besen. Wer soll es denn sonst sein?“
„Ich wollte, ich wüßte es“, murmelte Narayan. Der ruhige, feste Ausdruck seiner Augen
brachte mich fast aus dem Gleichgewicht. Der Mann war groß, schlank und wunderbar
gebaut, und sein hellblondes Haar war geschnitten wie der Pagenkopf eines mittelalterlichen
Minnesängers. Seine grauen, ernsten Augen waren gleichwohl freundlich. Er gefiel mir,
obwohl er die gleiche Ruhe ausstrahlte, die ich am alten Rhys bemerkt hatte. Fast war ich
schon entschlossen, diesem jungen Mann meine Geschichte zu erzählen, denn ich war
überzeugt, er würde sie glauben. Allmählich erkannte ich Zweifel in seinen Augen, und
seufzend sah er sich im Kreis um. „Adric?“ wandte er sich dann wieder an mich. „Kennst du
mich noch? Oder hat dir Karamy auch diese Erinnerung genommen?“
Ich seufzte auch. Die Wahrheit konnte ich ihm doch nicht sagen, noch weniger aber lügen,
denn ich war zu erschöpft, als daß ich mir etwas Überzeugendes hätte ausdenken können.
Lügen mußte ich aber auf jeden Fall. Nun, aber ich hatte ja eine feine Entschuldigung für
jeden Fehler, den ich machte. „Du bist Narayan?“ fragte ich.
Der Dicke, der sich noch immer an meinem Ellbogen festhielt, sah Narayan finster an, „Laß
ihm nur das nicht durchgehen“, knurrte er. „Ist Brennan zurückgekommen? Nein! Er kennt
die Wege um die Regenbogenstadt, und er hat eine Bewachung bei sich gehabt. Frage doch
Adric, was er mit Brennan angestellt hat!“
Narayan ließ mich keine Sekunde aus den Augen. „Raif“, antwortete er, „Gefahren gibt es
immer. Du darfst keinen Menschen ungerecht beschuldigen. Und selbst Adric ist nicht zu
tadeln, wenn Karamy ihn unter ihrem Zauber hält.“
„Verräter!“ knurrte Raif und spuckte nach mir. Mir fiel vage ein, daß Idris mich ebenso
genannt hatte. Die Männer murmelten miteinander, und mein Körper spannte sich in der nun
schon fast vertrauten mörderischen Wut Adrics. Nein, nicht schon wieder! Ich dachte an das
vertrauensvoll zu mir aufgehobene Gesicht Brennans, fühlte meinen Schwertstreich, hörte
seinen Todesschrei...
Dieser Adric, dachte ich, ist doch das verrückteste Exemplar auf dieser verrückten Welt.
Keiner traut ihm weiter, als er ihn stoßen kann, und man kann es ihnen nicht einmal
übelnehmen.
Ich ließ das Sattelhorn los und tat benommen einen Schritt vorwärts. „Du kannst mich ja
fragen?“ schlug ich zornig vor.
„Wenn du nicht Adric bist, wer, zum Teufel bist du dann?“ fuhr mich der dicke Raif an. „Und
was hast du mit Brennan gemacht?“
Ich schüttelte den Kopf, denn ich war vor Erschöpfung nur noch halb bei Bewußtsein.
Narayan trat einen Schritt auf mich zu. „Hier nicht, Raif“, sagte er und ergriff meinen Arm.
„Tretet zurück, Leute. Und du kommst mit.“
Zögernd machten sie eine Gasse für uns frei, und Narayan führte mich zu dem Haus am Rand
der Lichtung. Raif und ein weiterer Mann folgten uns, und die anderen zogen sich in die Zelte
oder zu ihren Feuern zurück. Ein paar blieben an der Haustür stehen, als wir die Stufen
hinaufgingen.
In einem großen, holzgetäfelten Raum brannte ein helles Feuer. Von dicken Holzscheiten
züngelten die Flammen und schenkten Wärme und Licht. Ich war froh, daß ich zum Feuer
gehen durfte, denn meine Glieder waren steif vom Reiten, und die beißende Kälte hatte mich
nahezu ausgehöhlt.
Eine schlanke Gestalt erhob sich von einem Diwan in der Nähe des Feuers; es war ein
dunkelhaariges, zartes Mädchen, dessen Mantel die Farbe von Flammen hatte. „Cynara!“ rief
ich erstaunt.
„Adric!“ Sie hielt mir beide Hände entgegen, und ich ergriff sie, denn das Mädchen schien der
einzige echte Mensch, das einzige echte Wesen überhaupt in dieser Alptraumwelt zu sein.
Dann warf sie ihre Arme um meinen Hals und drückte sich fest an mich; nicht
leidenschaftlich, nicht sinnlich, eher als wolle sie mich beschützen.
Sie hatte also von dem Überfall gewußt. Aber was tat sie hier? Narayan nahm das Mädchen
an der Schulter. „Cynara“, fragte er, „was tust du hier?“
„Ich... ich bin ihnen in der Dunkelheit entkommen. Gamine weiß es vielleicht“ aber hier
werden sie mich nie linden.“
Er schüttelte den Kopf. „Kleine Schwester, du mußt nach Narabedla zurückkehren. Gäbe es
eine andere Möglichkeit, würde ich es dir nicht zumuten. Es wäre zu gefährlich für uns alle,
wollten wir dich hierbehalten.“ Er winkte dem dritten Mann zu, der mit uns gekommen war.
„Kerrel, du bringst Cynara zu dem Pfad zurück. Aber lasse dich nicht erwischen! Cynara, du
sagst ihnen, du hättest dich im Wald verirrt, oder man habe dich gefangen, und du seist
entkommen.“
„Nein, ich gehe nicht zurück“, erwiderte sie entschieden, doch ihr Mund zitterte. „Was nützt
es, da Adric nun hier ist? Jetzt kann es doch einmal zu einem Ende kommen.“
Sie hielt meine Hand fest, doch ich schüttelte den Kopf. Ich verstand nichts, doch ihr Gesicht
sagte genug. Ich legte meinen Arm um sie und fühlte ihr Zittern. Narayan sah sie an, dann
mich und seufzte schließlich.
„Vielleicht hast du recht. Die Zeit ist gekommen, die uns alles riskieren heißt — entweder um
alles zu gewinnen oder alles zu verlieren.“ Er drehte sich zu den Männern um. „Ich spreche
mit Adric. Allein.“
Raifs dicke Lippen verkniffen sich trotzig. Im Kampf mußte er ein recht unfreundlicher
Gegner sein. „Wenn er Adric ist und Karamys Teufeleien...“ „Ich stand Adric gegenüber, aber
auch Karamy“, unterbrach ihn Narayan und grinste breit. „Raif, verschwinde! Du bist weder
mein Kindermädchen, noch mein Leibwächter.“
Widerstrebend zog sich der Dicke zurück. Cynara ließ meine Hand los und setzte sich wieder
zum Feuer; das tat mir leid, denn wenigstens sie vertraute Adric...
Narayans Lächeln war aufrichtig und freundlich. „Jetzt werden wir uns unterhalten, du und
ich. Du kannst mich ebensowenig töten wie ich dich, also halte ich es für besser, wenn wir
offen zueinander sind. Warum hast du uns wieder verlassen, Adric? Und was hat Karamy dir
diesmal angetan?“
Der Raum drehte sich um mich. Ich streckte eine Hand aus, um nicht zu fallen. Dann schwand
die Benommenheit wieder. Narayans Arm lag um meine Schultern, und die Kraft, mit der er
mich festhielt, erstaunte mich. Er half mir zu einem Sessel. „Man hat dich ziemlich grob
behandelt“, sagte er. „Nun, die Männer hatten natürlich ihre Befehle. Vielleicht waren sie ein
bißchen zu eifrig in deren Ausführung. Und wie ich Karamy kenne, standest du sehr lange
unter dem Einfluß schwerer Drogen.“ Seine Augen musterten mich nachdrücklich. „Du
scheinst nicht sehr glücklich zu sein, daß du wieder hier bist. Aber wenigstens bist du nicht im
Kampf gekommen. Vielleicht können wir uns verständigen. Komm, trink etwas. Und wann
hast du zuletzt gegessen?“
Ich rieb meine Stirn. „Ich kann mich nicht erinnern“, antwortete ich ehrlich. Die Diener hatten
Adric zwar zu essen gebracht, aber ich hatte es nicht angerührt.
„Das dachte ich mir. Du siehst halb verhungert aus. Ja, das ist die Wirkung von sharig; ich
weiß es ja.“ Er ging in den anschließenden Raum und nahm wohl an, ich würde folgen.
Nach den verrückt möblierten Räumen in der Regenbogenstadt war dieser Raum eine
wohltuend normale Küche mit Gegenständen, die denen meiner eigenen Welt glichen. Nun,
welche Möglichkeiten gibt es schon, einen Herd zu bauen, oder einen Tisch?
Der Kühlschrank unterschied sich nur durch eine ovale Tür von den mir bekannten Modellen;
ihm entnahm Narayan einige Lebensmittel und goß eine Flüssigkeit in eine seltsam geformte
Henkeltasse. Er drückte mich auf einen Stuhl und stellte die Sachen vor mich hin. „Hier iß
das“, forderte er mich auf. „Ich kenne doch diese verdammten Drogen. Wenn du gegessen
hast, kannst du klarer denken, und wir haben reichlich Zeit, miteinander zu sprechen.“ Er
bemerkte, daß ich der Henkeltasse einen mißtrauischen Blick zuwarf, lachte und goß sich aus
der gleichen Flasche einen Drink ein. Er setzte sich mir gegenüber und trank langsam. „Fang
nur an! Wenn du glaubst, ich wolle dich vergiften, dann kannst du beruhigt sein. Ich würde
mindestens so lange warten, bis ich weiß, was Karamy ausgekocht hat.“
Er lachte, und ich lachte mit. Gift? Warum sollte man mich vergiften, wenn man mich in den
vergangenen drei Stunden viel leichter mit einem Messer hätte umbringen können? Ich hatte
geglaubt, keinen Hunger zu haben, aber nach dem ersten Bissen wußte ich, daß ich halb
verhungert war. Es war schon achtundvierzig Stunden her — in einer anderen Welt — daß ich
etwas gegessen hatte. Adric mußte, aus meinem Heißhunger zu schließen, noch viel länger
gefastet haben. Ich aß alles restlos auf, was auf dem Tisch stand, und Narayan sah mir
lächelnd zu. Endlich schob ich den leeren Teller weg, er seine Henkeltasse. „Nun“, begann er
dann, „was ist eigentlich geschehen? Du bist Adric — und bist es nicht.“
Jetzt fühlte ich mich besser und kräftiger als je zuvor, seit Adric mich mit Rhys’ Hilfe —
warum? — in diese Welt katapultiert hatte. Narayan schien freundlich zu sein, aber auch
Evarin hatte diesen Eindruck gemacht. Jetzt mußte ich schnell und überzeugend reden, denn
diese grauen Augen musterten mich unablässig.
„Ich weiß nicht recht“, sagte ich schließlich. „Ich erinnere mich nur an ganz wenig, denn
heute früh kam ich erst im Roten Turm zu mir. Ich glaube wenigstens, es war heute. Man
hatte mich befreit. Karamy wollte mich zum Bergfried der Träumer bringen. Dann kamen
deine Leute, und ich wußte nicht, ob man mich gefangen oder gerettet hatte. Ich weiß es noch
immer nicht.“
Ich starrte ihn verständnislos an, er starrte zurück; ich fühlte geradezu den Streit, den er mit
sich selbst führte. Ein vernünftiger, zungenfertiger Adric, dem man wahrscheinlich nicht
vertrauen durfte, war etwas anderes als ein verwirrter, erschütterter, unter Drogeneinfluß
stehender Mann, von dem man die Wahrheit erwarten konnte.
„Ich weiß nicht recht, was ich sagen oder tun soll, Adric“, antwortete Narayan schließlich.
„Früher einmal konnte ich deine Gedanken lesen, jetzt kann ich es nicht mehr. Das Band
zwischen uns ist nicht mehr so stark, wie es einmal war. Das weißt du selbst.“
Ich nickte. Adrics Gedanken schienen unentschlossen nach rückwärts zu schweifen, als habe
Narayan den Schlüssel, um sie aufzuschließen. Dieser Narr, der mich nicht einem scharfen
Verhör unterzog, als er die Möglichkeit dazu hatte! Dieser weiche Narr!
Mit beiden Händen klammerte ich mich an das Bewußtsein von Mike Kenscott. Welches
verrückte Drama wurde jetzt gespielt?
„Was hat Karamy getan?“ fragte Narayan.
Meine Stimme war so ruhig wie die seine. „Sie schickte mich hinaus in die Zeit-Ellipse.“ Das
wußte ich von Rhys und Gamine. „Sie hoffte, ich würde verändert zurückkehren, vielleicht
auch wahnsinnig, oder überhaupt nicht. Ich denke, sie wollte, daß ich dich wieder betrüge.“
„Entschuldige“, murmelte er. „Ich vergaß ganz, daß ich...“ Er schluckte und sah mich an.
„Warum sagtest du ,wieder betrügen?’ Adric, du hast mich doch befreit. Bei allen Höllen,
Adric, sage mir doch, was alles hast du vergessen? Für wen hältst du mich?“
7.
Das Feuer im Wohnraum war niedergebrannt; Narayan fachte es frisch an, setzte sich, streckte
seine Beine der Wärme entgegen und wartete. Ich konnte nicht stillstehen, denn der Gedanke
machte mich nervös, daß ich nicht zu trennen wußte, was meine Erinnerungen waren und was
ich mir aus verschiedenen Dingen zusammengereimt hatte.
Ich versuchte meine Worte zwischen den beiden Persönlichkeiten in meinem Gehirn genau
abzustimmen. Endlich gelang es mir, Adrics Geschichte wenigstens andeutungsweise und mit
einiger Logik zu rekonstruieren und war nicht mehr auf die unzusammenhängenden
Einzelheiten angewiesen. „Adric hat dich befreit“, sagte ich. „Aber ich bin mir dessen nicht
sicher, ob es zu deinem Wohl war, oder ob er damit nur seine eigene Macht gegen die der
anderen in der Regenbogenstadt setzen wollte.“ Ja, das war für mich unverständlich, daß
Adric, dieser harte, grausame Mann einen Träumer befreit haben sollte und damit gegen seine
Sippe und seine eigene Macht verstoßen hatte. Warum? Wüßte ich das, dann hätte ich den
Schlüssel zu allem übrigen. Aber das wußte ich nicht. Ich seufzte.
„Karamy hat dir mit einem Betrug Adric weggenommen“, fuhr ich fort. „Halb irr schickte sie
ihn in den Roten Turm zurück. Karamys Zauber nahm ihm dann seine Erinnerungen und
zerriß das Band zwischen dir und Adric.“
„Nicht ganz“, widersprach Narayan und sah in das Feuer. „Ich wußte es, als du aufwachtest.
Aber ich konnte selbst nicht in die Regenbogenstadt kommen, um dich zu retten. Du weißt,
was dort ist.“
Ich wußte es zwar nicht, doch im Moment erschien mir das unwichtig.
„Karamy nahm Adric Gedächtnis und Macht und schickte ihn zurück nach Narabedla, wo er
träumen konnte. Sie hoffte, er würde der alte Adric sein, wäre er erst zurück. Karamy
fürchtete zwar seine Macht, aber noch mehr brauchte sie diese. Aber es war nicht Karamy...“..
Meine Stimme gehorchte mir nicht mehr recht, denn die blanke Angst, die ich bisher nur
mühsam unterdrückt hatte, verbündete sich nun mit meiner Müdigkeit. „Es war nicht Karamy,
die mich hierherschickte, denn ich bin ebensowenig Adric wie du. Ich bin in Adrics Körper,
ja; ich habe auch einige seiner Erinnerungen, seiner Gedanken, und manchmal bewegt er mich
wie eine Marionette, aber er...“ die Stimme versagte mir plötzlich, und ich wußte, daß ich wie
ein hysterisches Kind redete, aber aufhören konnte ich nicht. „Ich bin nicht Adric! Nein, ich
bin es nicht, und ich gehöre nicht einmal hierher auf diese Welt!“
Narayan sprang auf, und dann lagen seine stählernen Hände auf meinen Schultern und drehten
mich um. „Na gut“, meinte er. „Beruhige dich wieder. Ist schon in Ordnung.“
Ich holte tief Atem. Narayans skeptische Augen ließen mich nicht los, doch er seufzte. Ich
konnte seine Gedanken fast erraten. War er jetzt ehrlich, oder plante er einen neuen Verrat“?
Ich spürte den Hauch einer Berührung an meinem Arm, und dann hielt Cynara meine Hand
und sah mir fest in die Augen. „Ich weiß“, flüsterte sie. „Ich war mir dessen nicht ganz sicher,
aber einmal sah ich deine Augen, die mich aus Adrics Gesicht anblickten.“
Der Zweifel schwand aus Narayans Gesicht. Er nickte. „Ich fühlte, daß du nicht der Adric
warst, den ich kannte, aber ich konnte nicht glauben, daß
Adric, als er zur Probe kam, mir das antun könnte. Für ihn war es vermutlich ein Ausweg, ein
Fluchtweg.“
Er stützte den Kopf in die Hände. „Ja, ein Ausweg“, wiederholte er, und seine Stimme klang
plötzlich alt und müde. „Die Erinnerungen zerbröckeln lassen, in eine andere Welt treten,
einen fremden Mann an seine Stelle setzen. Eine andere Persönlichkeit. Dann kann es einem
ja egal sein, was geschieht.“
Ich schüttelte den Kopf. Innerlich zitterte ich noch immer. „Was wollte Adric mit meinem
Leben?“ fragte ich. Er war doch schließlich ein Lord, ein mächtiger Krieger. Konnte er in die
Welt eines Mike Kenscott treten, der doch nur ein ganz gewöhnlicher Bürger und
Elektrofachmann in einer ganz gewöhnlichen Welt war?
„Es war eine Flucht vor dem Unheil, das er geschaffen hatte“, sagte Cynara bitter. „Und alles
war umsonst! Wir haben nicht Adric bekommen, sondern einen völlig unschuldigen
Fremden.“
Nach langer Zeit sah Narayan auf. „Das ist richtig. Du bist ein Fremder, einer von draußen.
Du schuldest uns nichts. Aber meine Männer halten dich für Adric, und sie denken, du
wurdest von Karamy gerettet und zu uns zurückgebracht. Etwas anderes könnte ich ihnen
niemals glaubhaft erzählen. Oder könntest du es, in Adrics Körper?“
Cynara umfaßte schützend meine Hände. „Sie würden wieder einmal an Karamys Zauber
glauben. Narayan, das geht nicht. Sie würden ihn in Stücke reißen. Sie würden ihn für einen
ihrer Zombies halten.“
„Du schuldest uns nichts“, wiederholte Narayan. „Aber wärest du vielleicht bereit, noch eine
Weile Adric zu bleiben? Sonst...“
„Schön“, sagte ich. „Versuchen will ich’s. Aber was wird hier nun eigentlich gespielt?“
„Das kannst du ja nicht wissen, denn du hast nur einige von Adrics Erinnerungen. Weißt du,
wer ich bin?“
„Nicht genau“, antwortete ich. Sicher, ich erinnerte mich einiger Dinge. Narayan mußte etwa
dreißig Jahre alt sein und entstammte einer ehrbaren Bauernfamilie, die darüber bestürzt war,
einen Träumer als Kind zu haben. Die Eltern waren wie erlöst, als sie ihren Sohn den
Machthabern in der Regenbogenstadt übergeben konnten. Noch als Kind hatte man ihn in
einer erzwungenen Stasis in den Bergfried der Träumer gebracht, und dort hatte er
geschlafen...
„Erinnerst du dich an den alten Träumer, der dem Roten Turm diente?“ fragte Cynara. Ja, an
ihn erinnerte ich mich — oder Adric. Er war alt, sollte bald sterben, konnte Adric nicht mehr
jene Macht vermitteln, nach der ihn gelüstete. Dann wurde er eliminiert.
„Ich schlief im Bergfried der Träumer“, sagte Narayan ruhig. „Man weckte mich auf, band
mich an dich, und dann wurde ich geopfert. Ich lernte meine Macht zu gebrauchen und sie
Adric zu geben.“ In den grauen Augen schwelte Entsetzen. Mir wurde klar, daß Narayan mit
den Erinnerungen an das, was er unter dem Zauber von Narabedla getan hatte, seine
persönliche, ganz private Hölle hatte. „Adric war sehr stark.“
Ja. Adric hatte die Entwicklung des jungen Träumers gefördert ohne Rücksicht darauf, was es
kostete. War es ein Wunder, daß diese Erinnerungen Narayan halb Irr machten? „Nun“, fuhr
er, wieder ruhiger geworden, fort, „eines Tages befreitest du mich — oder Adric, um genau zu
sein. Ich wüßte nie genau, warum. Vielleicht war es ein Moment der Reue gewesen. Und dann
fand ich meine Schwester Cynara wieder.“ Er sah das Mädchen an. Cynara lächelte, als er ihr
die Hand auf die Schulter legte, und es war wieder jenes beschützende Lächeln, das ich schon
kannte, das mich immer wieder staunen ließ. „Ich war wie ein Kind“, fuhr Narayan fort. „Ich
mußte wieder lernen zu leben — sogar die einfachsten Dinge. Allein die Tatsache, daß ich
wieder lebte, beanspruchte monatelang meine ganze Kraft. Ich war machtlos, denn man hatte
mir beigebracht, meine Kraft nur durch das Opfer zu benützen. Und nun mußte ich lernen,
ohne dieses Opfer zu leben. Es war nicht leicht.“
„Warum?“ fragte ich gedankenlos.
Narayans Augen waren wie Eis, aber dann fügte seine Antwort das letzte Glied zur Kette
meiner Erinnerungen. „Will man diese Kraft benützen, dann kostete es menschliches Leben“,
sagte er.
Allmählich begann ich zu verstehen. In meiner eigenen Welt hatte ich von Psikräften gehört,
von Medien, die Dinge taten, welche jenen, die sie nicht verstanden, als Zauber erschienen.
Ich hatte auch gehört, daß solche Kräfte physisch erschöpfend waren, denn sie entzogen dem
Medium alle Energie. Allerdings hatte ich geglaubt, ein Kollaps nach einer Seance sei
Theater. Die Narabedlaner hatten es anscheinend gelernt, diese Psikräfte zu bändigen und
gleichzeitig die Energie, die sie abgaben, gewaltig zu vergrößern. Und das wurde erreicht,
indem man die Träumer mit der Lebenskraft lebender Menschen fütterte.
Mich schauderte bei diesem Gedanken, und ich ließ mich kraftlos auf einen Sitz sinken.
Cynara hielt mich fest.
„Nein, schön ist es wirklich nicht“, sagte Narayan, der mich unablässig beobachtete. „Hätte
ich je einen Zweifel daran gehabt, daß du nicht Adrie bist, dann wäre er jetzt geschwunden.
Du wußtest es wirklich nicht, nein?“
Ich schüttelte den Kopf, denn das Entsetzen hatte mich krank und schwach gemacht.
„Nun, ich habe gelernt, ohne die Lebenskraft der Opfer zu leben. Und dann hat man Cynara
als Opfer ausersehen.“ Zärtlich sah er seine Schwester an. „Adric befreite sie, rettete sie und
gab ihr die Freiheit der Regenbogenstadt Das konnte er tun, denn Evarin war schwach, und
Gamine war es gleichgültig. Selbst die Herren des Regenbogens haben gewöhnliche Leute in
ihrem Gefolge. Nein, keine Spione, aber immer jemanden, der die Verbindung zwischen
Adric und mir herstellt. Und dann war ja noch Rhys da, der alte Träumer.“
Rhys, der einzige Träumer, der je in der Regenbogenstadt geboren war.
„Ja, Gamine ist an Rhys gebunden, aber sie ist ziemlich nachlässig und läßt ihn oft sehr lange
wachen. Rhys und ich, wir sind oft in Kontakt. Ich weiß nicht, wie ich es dir erklären soll,
aber unsere Seelen können miteinander sprechen.“
„Telepathie?“ murmelte ich.
„Nur mit anderen Träumern. Er half mir, als ich lernte, meine Kraft zu gebrauchen. Aber
natürlich rührt er nicht den kleinen Finger gegen Narabedla. Er gehört ja dieser Sippe an.“
Als ich im Elektrokoma lag, hörte ich über einen riesigen Abgrund von Zeit hinweg eine
Unterhaltung mit an; bruchstückweise nur, aber sie fiel mir wieder ein. Sie werden es
erfahren. Narayan wird es ganz bestimmt erfahren. Und dann Adric: Was habe ich mit
Narayan zu schaffen? Adric hatte mit Narayan ein Doppelspiel getrieben, und das wollte ich
auch gerade aussprechen, aber der junge Träumer redete weiter, und mir fiel Rhys ein.
Vielleicht hat Rhys deshalb Adric geholfen, einen Weg aus seiner Welt zu finden, weil dieser
auch Rhys geholfen hatte, aus einem unerträglichen Konflikt zu fliehen. War Adric weg, dann
brauchte Rhys nicht zu wählen zwischen seiner Sippe und seinem Wunsch, die Träumer frei
zu sehen. Vielleicht konnte — ohne Adric — der alte Mann dann den Rest seines Lebens in
Frieden verbringen.
„Wir hatten alle vergessen, daß Adric auch einer von Narabedla war; bis er verschwand, bis
Karamy ihre Hand ausstreckte und ihn zurückholte. Nach Adrics Verschwinden lag die Hand
Narabedlas schwer auf uns. Ohne Adric glaubten wir eine Chance für eine Rebellion zu
haben. Ich habe gearbeitet und geplant, du hast es ja gesehen.“ Er biß sich auf die Lippe.
„Dann erfuhr ich, daß Adric frei war, und ich schickte Brennan zu ihm, um zu hören, weshalb
er nicht zu uns zurückkehrte. Aber Brennan kam nicht mehr wieder.“
Mir war elend zumute, als ich ihm erzählen mußte, was geschehen war. Narayans Gesicht sah
hager aus. „Er war ein tapferer Mann“, sagte er leise. „Er wußte, mit welcher Gefahr er
rechnen mußte, und er nahm sie auf sich. Dir gebe ich keine Schuld. Du hast Adrics Leben,
seine Reflexe, ja fast sogar seine Gedanken aufgenommen, seine Gewohnheiten
weitergeführt. Aber jetzt wird er allmählich schwächer in dir, glaube ich. Und ich hoffe es.
Wer bist du in deiner eigenen Welt?“
Ich hatte gefürchtet, Adric würde in mir immer stärker werden, bis er mich ganz und gar
auslöschte. Hatte Narayan recht? „Mein Name ist Mike Kenscott“, antwortete ich. „Michael.“
„Michael.“ Cynara sprach dieses seltsame Wort langsam aus. Ihre Hand lag noch immer in
der meinen. „Und was bist du? Ein großer Zauberer?“
Ich lachte müde, doch als ich ihr Gesicht sah, hörte ich damit auf. „Nein, Mädchen“, sagte ich
leise. „In meiner Welt gibt es keinen Zauber.“ Zauber? Darüber mußte ich noch nachdenken.
Narayan unterbrach unsere Versunkenheit. „Die Männer werden dich Adric nennen müssen,
und sie werden glauben, Adric sei zurückgekommen. Später vielleicht...“ Er zuckte die
Achseln. Ich sagte nichts, denn ich fürchtete, daß Adric für mich noch lange nicht erledigt war
— oder umgekehrt.
Narayan machte Licht. „Es ist schon spät, und du mußt todmüde sein. Die Narabedlaner
haben wir gelehrt, sich nachts von unseren Wäldern fernzuhalten, und so müßten wir hier
eigentlich ziemlich sicher sein, selbst dann, wenn sie Adric zurückholen wollten. Ehe sie zum
Bergfried der Träumer kommen, können sie nicht viel tun. Wenn wir sie von der Quelle ihrer
Macht abschneiden können...“ Er lächelte und hielt mir mit einer jungenhaften Geste die
Hand entgegen. „Morgen werden wir sehen, was kommt! Michael...“
Ohne zu klopfen trat Raif ein; sein Blick war feindselig. „Ist schon gut, Raif“, sagte Narayan.
„Adric ist zu uns zurückgekehrt.“
Das Flußpferdgesicht grinste befreit. „Tut mir leid, Lord Adric, daß ich dich so grob
behandelt habe. Aber ich hatte meine Befehle.“
„Ich hätte das auch nicht anders gemacht“, erwiderte ich und schlug in seine dargebotene
Pranke.
„Suche ihm einen Platz, wo er schlafen kann“, schlug Narayan vor. Ich folgte Raif eine
Treppe hinauf, schaute noch einmal zu Cynara zurück und betrat einen leeren Raum. Ein
sauberes, jedoch zerwühltes Bett stand da. „Kerrel ist auf Wache“, sagte Raif. „Kommt erst
mittags zurück. Du kannst hier schlafen.“
*
Ich schlief lange und tauchte endlich aus einem wirren Traum auf, in dem ein Vogel und ein
Messer eine Rolle spielten. Andys Gesicht, der blaue Schimmer von Gamines Schleiern, der
angstvolle Schrei einer Frau — ich war froh, daß eine sanfte Stimme mich anrief, daß ich
Cynaras liebliches Gesicht sah, als ich die Augen öffnete. „Michael, aufwachen! Karamy und
Evarin reiten heute, um Adric zu jagen! Um dich zu jagen!“
Noch ziemlich schlaftrunken setzte ich mich auf. Ich verstand nicht einmal, was sie meinte.
Doch dann hörte ich eilige Schritte auf der Treppe, bückte mich und zog meine Stiefel an.
Narayan schob die Tür auf und zog sich eine braune Tunika über den Kopf. „Cynara hat es dir
ja schon gesagt. Ich hatte also recht. Jetzt müssen wir sehr schnell reagieren. Wenn sie eine zu
gute Jagd haben...“ In seinen Augen lag tödliche Müdigkeit. Er lächelte bedrückt. „Die
Träumer rühren sich. Ich bin noch nicht ganz frei davon und muß daher vorsichtig sein.“
Ich verstand. Narayan war noch immer auf den entsetzlichen Hunger der schlafenden Träumer
im Bergfried eingestellt. Damit war ja zu rechnen.
Ich fühlte mich stark und kräftig, und ich konnte wieder denken, wenn auch ab und zu eine
nebelhafte Stelle blieb. Was war eigentlich vergangene Nacht geschehen? Wie war ich zum
Haus des Träumers gekommen? Jetzt brauchte ich sein Vertrauen, und ich schien es zu
besitzen.
Ja, das war besser als Karamys Pläne. Verdammte Karamy! Wie kam sie überhaupt dazu, in
meinem Gedächtnis herumzupfuschen? Aber jedenfalls war es mir mit dieser fremden
Identität gelungen, mich wieder in Narayans Vertrauen zu schleichen.
Und Karamy hatte die Frechheit, mir Evarins Teufelsvögel auf den Hals zu hetzen? Mir,
Adric, dem Herrn des Roten Turmes! Nun, die Lektion, die ich ihr jetzt erteilen würde, vergaß
sie sicher niemals mehr! Dieser verdammte Spielzeugmacher ebensowenig. Oh, Götter des
Regenbogens, welchen Unsinn hatte ich vergangene Nacht geredet?
„Sie sollen nur mit ihren Vögeln kommen“, sagte ich. „Es hat schon einige Zeit kein Opfer
mehr gegeben. Andere Quellen haben sie nicht.“ Der Gedanke machte mich lachen. Karamy,
wird dir heute der Zauber knapp? Mußt du dich des verrückten Tandes des Spielzeugmachers
bedienen? „Wir fangen sie heute nacht am Bergfried der Träumer.“
Was du aber nicht weißt, Narayan, fügte ich voll geheimer Befriedigung in Gedanken hinzu,
ist das, daß du ihnen dort Gesellschaft leistest! Wenn sich meine Rache deiner Kraft gegen
die bedient hat, die sich gegen mich verbündeten, kannst du wieder in dein Haus
zurückkehren. Träume deine Wachträume — bis ich sie zerstreue...
Diesem weichen Narren fiel es nicht ein, sich die Frage zu stellen, ob der Adric von gestern
abend der gleiche war wie der von heute morgen. Wir gingen hinunter und nahmen ein eiliges
Frühstück. Cynara sah den flammenfarbenen Mantel, den sie in der Regenbogenstadt getragen
hatte, griff zornig nach ihm und stopfte ihn in den Kamin. Ihre scheue Schönheit kam in dem
einfachen grauen Kleid auch viel besser zur Geltung. Cynara war nicht Karamy, aber sie war
hübsch — und sie vertraute mir. Ich sprang auf, ging ins Lager hinaus, und Narayan folgte
mir. „Nicht vergessen“, mahnte er mich, „du bist noch immer ein Verräter für sie!“
„Das hätte ich fast vergessen“, erwiderte ich in falscher Demut.
„Ich kenne die Wahrheit, und meinem Wort vertrauen sie“, meinte Narayan lächelnd. Er
nahm meinen Arm und führte mich so zwischen den Zelten durch. Aus den Gesichtern der
Männer schwanden Mißtrauen und Verdacht, als sie uns Arm in Arm dahingehen sahen. „Gib
acht auf ihn!“ rief er Raif zu. „Vielleicht wissen es noch nicht alle.“
„Für diesen Unsinn bleibt keine Zeit“, wandte ich ein. „Raif, hole mir zehn beherzte Männer
zusammen, die sich nicht fürchten, zur Regenbogenstadt mitzukommen.“
Narayan sah erstaunt drein, doch dann sagte er: „Ich gebe die Befehle, die du wünschest,
Adric.“ Ich unterdrückte ein Lächeln. Bald würde ich all das zurückgewinnen, was meine
Dummheit verloren hatte. Der Idiot, dem ich vorübergehend meinen Körper geliehen hatte,
war mir ja ganz nützlich gewesen, denn er hatte mir Narayans Vertrauen zurückgewonnen.
Nun, diese überflüssige Null würde meinen Triumph aber nicht teilen. Auch Narayan nicht.
8.
Ich zog den Mantel enger um mich. Alles an mir prickelte vor Erregung. Ich kniete neben
Raif und Kerrel auf der Baumplattform. Halb unter mir klammerte sich Narayan an einen Ast.
Ich vernahm entfernte Hufschläge und lächelte.
Diese Jagd kannte ich. Evarins Vögel waren vielleicht heute nicht übermäßig folgsam. Eine
Erinnerung aus einer anderen Welt sagte mir, daß ich einen lebenden Raubvogel mit einem
Messer angegriffen hatte, und darüber mußte ich lächeln.
Ich schätzte Möglichkeiten ab. Wer war die Schlinge für mich? Narayan? Nein, er war mein
einziger Schutz, bis ich endlich aus diesem Irrsinn herauskam. Außerdem hatte er gelernt,
seine Kraft ohne Hilfe einzusetzen. Tat er das auf so kurze Entfernung, konnte er mich damit
aussaugen wie eine Spinne ihre Fliegenbeute.
Vielleicht Kerrel. Oder Raif. Gegen den Dicken hegte ich sowieso einigen Groll. Ich zupfte an
Raifs Ärmel. „Warte auf mich“, flüsterte ich und tat, als wolle ich die Plattform verlassen.
Raif ging lächelnd in die Falle. „Hierbleiben, Adric! Narayan hat Befehl gegeben, daß du dich
keiner Gefahr aussetzen darfst. Sie wollen ja nur dich!“
Gut, sehr gut. Er meldete sich freiwillig in den Tod. „Wir wollen ein wenig ausspähen“,
erklärte ich ihm, „und melden, wenn sie kommen.“ Als ob wir das nicht wüßten!
Der Dicke schwang sich auf den Pfad hinunter. Ich hörte seine gedämpften Schritte, die sich
immer mehr entfernten. Ich spürte ein Prickeln, als er Narayans Wahrnehmungskreis verließ.
Ja, wir waren noch immer aneinander gebunden. Wenn ich nur seine Gedanken lesen könnte!
Nein, lieber nicht. Er läse dann ja auch die meinen.
Ein grauenhafter, geradezu höllischer Schrei durchschnitt die Stille. Der Dicke war also
erledigt. „Raif!“ flüsterte Narayan; sein Gesicht war aschfahl. Wir sprangen auf den Pfad
hinunter und rannten vorwärts.
Der Vogelschrei warnte mich. Schnell duckte ich mich. Über meinem Kopf schwebte mit
ausgebreiteten Schwingen ein großer, scharlachroter Falke und stieß auf mich herab. Narayan
schrie. Ich zog blitzschnell eine Falte meines Mantels über den Kopf, riß das Messer aus
meinem Gürtel, legte einen schützenden Arm über meine Augen und stieß mit dem anderen
nach oben. Der Vogel schwankte, hing in der Luft, beobachtete mich mit lebendigen grünen
Augen; auch seine Fänge waren grün.
Ich wußte, wer diesen Vogel hatte fliegen lassen!
Erneut griff der Falke an. Falke? Den hatte kein lebender Vogel aus einem Ei gebrütet, und
ich wußte, wer diese scharlachfarbenen Schwingen geformt hatte!
Ich sah, wie Narayan den pistolenförmigen Elektrostab zog. „Fallen lassen!“ schrie ich.
„Schnell!“
Der Vogel, der in diesem Augenblick Evarins Macht verkörperte, konnte Pistolenfeuer so
leicht umkehren wie Evarin selbst. Er absorbierte die Energie und lud sich damit wieder auf.
Nahm der Falke einen einzigen Tropfen meines Blutes auf, dann war ich der Sklave
desjenigen, der ihn ausgeschickt hatte. Ich stieß mit dem Messer nach oben und zielte
zwischen die Schwingen. Ein paar Männer rannten herbei und zückten die Messer. Der Vogel
kreischte, stieg, verhielt in der Luft und beobachtete uns aus intelligenten grünen Augen. Ein
zweiter, ein dritter Falke schoß über das Sträßchen, und ich hörte das feine Klingeln kleiner
Glöckchen. Drei Vögel mit grünen und goldenen Greifern und in königlich purpurnem
Geschirr hingen bewegungslos über uns in der Luft. Weit hinter uns erkannten wir vor der
untergehenden roten Sonne drei Gestalten auf Pferden, die bewegungslos — wie die Vögel
dort — warteten; Evarin, Idris und Karamy — drei Verräter, die den einen zu fangen
versuchten, der ihnen entwischt war.
*
Sie griffen an. Hinter mir ertönte ein wilder Schrei, und ich wußte, daß einer der Falken Blut
aufgenommen hatte. Der Mann rannte über die Lichtung, taumelte und fiel über einen auf
dem Sträßchen liegenden Mann. Narayan gab einen würgenden Laut von sich, riß seinen
Elektrostab in die Höhe und schoß wie irr auf den gefallenen Mann. „Larno würde niemals zu
ihnen gehen wollen“, keuchte er. „Lieber wollte er tot sein.“
Zornig schlug ich ihm die Waffe aus der Hand. „Du Narr! Sie müssen doch eine Beute
machen!“ Ich hob die Waffe auf. Larno war schon weit weg. Ich fluchte wütend. Was war
schon ein Mann mehr oder weniger?
Rasch sah ich mich um. Die Vögel waren ein Stück abgestrichen. Ich winkte ein paar Männer
heran. „Nicht auf die Vögel schießen“, warnte ich sie. „Die Energie eurer Waffen lädt sie nur
auf. Benützt eure Messer. Schneidet ihre Schwingen durch, damit sie unbeweglich werden.
Und aufpassen!“ Die Falken zogen weite Kreise und stießen wieder herunter. Ich duckte
mich, zog meinen Mantel herauf und schlug mit der beschwerten Kante nach ihnen. Unsere
Männer wehrten sie mit den Messern ab und verscheuchten sie. Dreimal hörte ich diesen
unmenschlichen Schrei, dreimal taumelte einer — kein Mensch mehr — davon und rannte
dann den fernen Hügeln entgegen.
Ich hörte Narayan schreien und drehte mich um. Er rannte auf mich zu und schlug den Vogel
mit den Purpurfängen zurück, der mich mit Schnabel und Schwingen angriff. Die ganze Szene
war von alptraumhafter Unwirklichkeit, und Narayan erschien mir als die einzige Realität.
Mein Messer holte aus, um seinen Hals zu schützen, sein Messer zog dem Falken eine
Schramme quer über den Schnabel, und dann öffneten und schlössen sich die Fänge des
Vogels in zuckender Agonie. Und dann schlugen die Fänge zu und rissen eine tiefe Wunde in
des Träumers Arm. Schon senkte sich der Schnabel, um das Blut aufzunehmen, aber ich warf
mich ungeschützt dazwischen. Im letzten Moment ließ der Vogel von Narayan ab und wandte
sich mir zu. Die Intelligenz des Tieres war nicht die eines Vogels; sie war viel gezielter, und
mein Messer schützte noch Narayan!
Ich griff nach dem sich heftig wehrenden Vogel, denn die Hände des Träumers wurden schon
müde. Ich bekam den Hals zu fassen und drehte so lange, bis ich ihn krachen hörte.
Auf dem Hügel warf die Zwergengestalt von Idris die Arme in die Höhe; dann sank sie wie
ein leerer Sack auf das Hörn ihres Sattels.
Narayan seufzte erleichtert, als wir uns aus dem Knäuel lösten und den toten Vogel auf den
Weg warfen. Wir sahen einander an, als wir das gelbe Blut abwuschen, und er lächelte noch
ein wenig verwirrt und halb im Schock.
Oh, verdammt, den Mann mochte ich ja! Jammerschade um ihn. Ich wünschte fast, ich
brauchte ihn nicht zu Tranceträumen zurückzuschicken.
„Zwischen uns ist jetzt ein Leben“, sagte er ruhig.
Ich zwang mich zu einem Lächeln. „Das ist einer von ihnen. Komm mit!“ rief ich, entriß
einem der Männer ein Schwert, schwang es über meinem Kopf, und das schien mir ganz
natürlich und richtig zu sein. Wie verschüchterte Hühner sammelten sich die Männer um
mich. Die Falken schössen herunter. Aber jetzt hatte mich der Haß erst richtig gepackt, und
ich holte gegen die beiden Ungeheuer aus.
Dann wurde mir klar, daß die beiden Falken tot zu meinen Füßen lagen. Ihr gelbes Blut floß
über die Blätter. Durch einen roten Nebel sah ich Narayans Augen. Sie beobachteten mich,
und in ihren grauen Tiefen hockten Angst und Kummer. Ich zwang mich in ein normales
Benehmen zurück und ließ das Schwert auf die toten Vögel fallen. „Das war’s“, sagte ich nur.
Wir hatten drei oder vier Mann an die Sklaverei der Vögel verloren. Viele hatten
Verletzungen von den Fängen, und Narayan stöhnte vor Schmerz. Er wischte einen Tropfen
gelben Blutes vom Gesicht. „Das Zeug brennt“, sagte er und zog eine Grimasse. Ich lachte.
Das brauchte er mir nicht zu sagen. Wir beide hatten große Brandwunden. Das Zeug, das
Evarin als „Blut“ benützte, war tödlich.
„Du hast mir das Leben gerettet“, flüsterte Narayan. Ich Narr! Warum hatte ich mich nicht
zurückgehalten? Vor menschlichen Angriffen sind die Träumer sicher, aber sie sind außer
Gefecht zu setzen...
Ich hatte Narayan gerettet, ohne zu überlegen, was ich tat. War das Band zwischen uns noch
so stark?
„Bist du verletzt?“ fragte er. „Laß mich deinen Arm sehen.“ Doch ich schob ihn weg.
Natürlich hatte ich Narayan geschützt, denn ich brauchte ihn noch; ich brauchte ihn stark und
unverletzt.
„Schau!“ Einer der Männer deutete nach oben. Sein Gesicht war angstverzerrt. Ein großer
Vogel hing über uns, doch dann schlugen seine Schwingen, die ihn zur Regenbogenstadt
trugen. Einer der Männer legte einen Pfeil auf den Bogen, aber der Vogel flog zu hoch.
Glöckchen und Geschirr schimmerten silberblau. Der Ton der Glöckchen klang wie das
spöttische Echo der Stimme der Zaubersängerin.
Gamine!
9.
Ins Haus zurückgekehrt, nahmen wir eine eilige Mahlzeit ein, versorgten unsere Wunden und
versuchten einen neuen Plan zu machen. Die anderen waren nicht müßig gewesen, während
wir uns der aufdringlichen Vögel erwehrt hatten. Narayans Armee wuchs ständig und
versammelte sich in der großen Landmulde zwischen der Regenbogenstadt und dem Bergfried
der Träumer.
Es waren ungefähr viertausend Mann, die mit uralten Flinten und Gewehren, mit noch älteren
Schwertern, mit Mistgabeln, Sensen und selbst Holzknüppeln bewaffnet waren. Kaum fünfzig
von ihnen besaßen solche Elektrostäbe, wie Narayan einen hatte. Geschickt verbarg ich meine
Befriedigung über diese Marionettenarmee. Und Narayan bildete sich ein, er könne damit
gegen die magische Macht der Regenbogenstadt anstürmen!
Ich fühlte, wie mein Mund sich zu einem bitteren Lächeln verzog. Sie vertrauten auch Adric,
der den Träumer befreit hatte. Sie hatten mir zugejubelt, als ich mich ihnen zeigte. Auch das
war ganz gut. War Narayan erst wieder richtig eingesperrt, dann konnte ich die Macht dieses
Führers benutzen, um das einzureißen, was er aufgebaut hatte.
„Worüber lachst du?“ fragte Narayan. Wir saßen auf den Stufen des Hauses und sahen dem
Lagerleben zu. Seine schläfrigen grauen Augen funkelten in der Tiefe. „Denke daran!“ fuhr er
fort. „Der Fluch der Träumermagie wird von diesem Land genommen, die Tyrannei der
Regenbogenstadt für immer gebrochen. Denke daran, was das bedeutet! Es heißt Leben und
Hoffnung für unzählige Menschen, keine Angst mehr, keine Sklaverei, keine Opfer und
Überfälle, keine bösen Vögel... Aber das weißt du ja nicht; selbst mit Adrics Erinnerungen
kannst du das nicht wissen.“
Mir fiel ein, daß er mich ja noch für Michael Kenscott hielt. Ganz vage erinnerte ich mich
daran, daß Michael Narayan mochte und ihm gegenüber loyal war. Das sind dieselben Narren
und Weichlinge...
Noch verschwommener war die Erinnerung daran, daß ich diesen Traum geteilt hatte, daß er
mir wertvoller erschienen war als das Bewußtsein der Macht. Cynara kam die Stufen herab,
beugte sich zu mir herunter und legte ihre weichen Arme um meine Schultern. Ich zog sie
ganz zu mir herunter, aber gleichzeitig flammte in mir ein Vulkan des Hasses auf, so daß ich
mein Gesicht verbergen mußte. Dieser Mann Narayan war mir ebenbürtig; nein, er war mir
überlegen, und dafür haßte ich ihn, weil ich ihn nicht töten konnte, weil er in dieser Gewißheit
Risiken einging, auf die ich mich nicht einzulassen gewagt hätte, als mir sein ganzer Zauber
zur Verfügung stand. Ich haßte ihn, weil ich wußte, daß sein neuer Machttraum niemanden
leiden machte, und ich haßte ihn, weil ich mir vorstellen konnte, was er mit seiner Macht tun
würde, war er erst einmal sicher im Bergfried der Träumer und mit jener Energie gespeist, die
ihn zwang, alle und alles hemmungslos mir auszuliefern; am meisten haßte ich ihn deshalb,
weil ich so schwach gewesen war, seinen Traum zu teilen...
„Du sagtest einmal, Michael, in deiner Welt gebe es keinen Zauber“, unterbrach Narayan
meine Überlegungen. Nun, soll er sich doch selbst betrügen!
Ich zuckte die Achseln. „Vielleicht würdest du die Kräfte meiner Welt als Zauber bezeichnen
— bis du sie verstehen lernst“, erwiderte ich.
„Die Falkenjagd... Adric sagte mir einmal, daß der Besitzer des Falkens einem Schock
unterliegt, wenn der Vogel zerstört wird“, überlegte Narayan. „Das heißt, daß Idris, Evarin
und Karamy für einige Zeit aktionsunfähig sind. Wenn wir sofort zuschlagen...“
„Deine Pläne sind gut, Narayan“, unterbrach ich ihn. „Nur... sie haben einen Fehler: sie lassen
sich nicht ausführen. Mit einem Sturm auf die Regenbogenstadt kommst du nicht weiter. Es
wäre nicht einmal ein Anfang. Karamys Sklaven könntest du zu Hunderten, zu Tausenden, zu
Millionen töten, nicht aber Karamy. Je mehr Sklaven du. tötest, desto mehr braucht sie als
Ersatz. Du mußt sie im Bergfried der Träumer schlagen. Das ist der einzige verwundbare
Ort.“
Er stellte weder mein Wissen, noch Adrics Erinnerung in Frage. Cynara mußte mich daran
erinnern: „Du darfst nicht vergessen, daß Narayan in seiner Bewegungsfreiheit eingeschränkt
ist. Er kann weder in die Regenbogenstadt, noch in den Bergfried der Träumer gehen, denn
Adric konnte, als er ihn befreite, seinen Talisman nicht finden.“
Narayan nickte. „Mir bleibt also keine Wahl. Ich muß sie auf dem Weg zum Bergfried
angreifen und dort auf mein Glück hoffen.“
„Wofür hast du deine Armee?“ fragte ich grob. „Um Heuschober zu zerstören? Deine Armee
kann mit den Wachen und Sklaven fertigwerden, aber die Narabedlaner müssen im Bergfried
gefangen werden. Das ist die einzige Möglichkeit. Ich gehe an deiner Stelle zur
Regenbogenstadt und nehme sie!“
„Du?“ Narayan und Cynara wandten sich gleichzeitig mir zu, und ich mußte mir Mühe geben,
nicht allzu sicher zu erscheinen. Kenscott mußte ein wenig weicher sein als Adric, denn
gerade diese Weichheit hatte ihm Vertrauen eingebracht. Cynaras Augen glühten. „Ja, und ich
gehe mit dir, falls dein Gedächtnis versagen sollte!“
Noch besser! Das war ja geradezu großartig! Die Regenbogenstadt war leer bis auf den alten
Rhys und vielleicht Gamine, die nicht mit den anderen zur Falkenjagd gezogen war.
Vielleicht war sie an den Kämpfen der Narabedlaner untereinander ganz uninteressiert. Aber
Narayan schien gewisse Zweifel zu haben. „Das hat Adric auch einmal versucht“, meinte er
düster. „Und was geschah? Karamy fing ihn ein und schickte ihn hinaus in die Zeit-Ellipse.“
„Karamy ist doch nicht dort“, wandte ich ein. „Sie und die anderen sind mit deiner Armee
beschäftigt.“ Ich hörte mir fast voll Verachtung ihre Pläne und Vorschläge an. Ja, die
Narabedlaner waren im Bergfried der Träumer sehr verwundbar. War ich erst mit Narayan
dort und hatte dessen Talisman in der Hand, dann brauchte ich mir wegen Evarin, Idris und
den übrigen keine Sorgen mehr zu machen.
Endlich waren wir auf dem Weg durch die Wälder zur Regenbogenstadt. Cynaras Augen
strahlten; in ihrem grauen Kleid sah sie sehr lieblich aus, wenn auch selbstverständlich nicht
so großartig wie in ihrem flammenfarbenen Mantel aus Narabedla. Sie war zauberhaft in
jedem Sinn des Wortes, und ich versprach ihr unbedacht: „Wir werden gewinnen.“ Es machte
mir Spaß, daran zu denken, daß ich sie für den Verlust ihres Bruders entschädigen konnte.
War sie erst wieder an die Regenbogenstadt gewöhnt, vergaß sie sicher alles, was jetzt war,
um eine angenehme und schöne Gefährtin für mich zu sein. Es war gar kein unerfreulicher
Gedanke, dieses Bauernmädchen zur Konkurrenz von Karamy, der Goldenen, zu machen!
Aber würde sie mich dann je wieder mit so viel Vertrauen ansehen?
Ich verwünschte meine blühende Phantasie und grub meinem Pferd die Absätze in die
Weichen.
Nach einer Stunde hatten wir die Stelle erreicht, wo die Allee begann, die zur
Regenbogenstadt führte.
Wir hatten Glück. Auf der Zufahrt war niemand zu sehen, und die Garden standen
wahrscheinlich an jenen geheimnisvollen Wegen, die Adric kannte. Wir ritten geradewegs auf
die Türme zu, und noch ehe die Dämmerung einfiel, banden wir eine halbe Meile vor der
Regenbogenstadt unsere Pferde an. Zu Fuß schlichen wir weiter. „Ich gehe allein hinein“,
sagte ich. „Wenn mir etwas passiert, sollst wenigstens du erhalten bleiben.“
Cynara blieb an meiner Seite. Ich sah sie an und runzelte die Brauen. „Ich komme mit“,
erklärte sie heftig. „Mich kannst du nicht aufhalten!“
So viel Treue mir gegenüber?
Sie konnte mir aber nützlich werden, wenn vielleicht auch nur als Geisel. „Nun, dann komm
mit, aber paß auf. Vielleicht sind alle Schießscharten bewacht, und ich weiß noch nicht
einmal, wie ich es anstellen werde, hineinzukommen.“
„Narayan“, fragte sie, „kannst du helfen?“
Das Gesicht des jungen Träumers lag im Schatten, da wir unter der hohen Außenmauer
standen, doch ich wußte, daß es sehr blaß war. „Vielleicht“, murmelte er fast verschlafen. „Ich
versuche es. Brennan kam über diesen Weg hier.“ Er schüttelte den Kopf, als sei er
benommen.
„Vielleicht versuchst du’s“, meinte ich vorsichtig. „Du weißt doch, ich habe keinen Zauber.“
Langsam bewegten wir uns vorwärts und hielten uns im Windschatten der Wälle. Narayans
Füße schienen unsicher zu sein und unter ihm nachzugeben. Er stolperte. Schnell legte ich
ihm die Hand auf den Arm. „Du kehrst jetzt besser um“, riet ich ihm. „Wir findenden Weg
schon.“
Später brauchte ich Narayan ganz und stark! Dann, wenn er mir gedient hatte!
Cynara sah ihren Bruder besorgt an, doch ich lächelte ihr aufmunternd zu. Narayans Gesicht
war verzerrt. „Ich weiß nicht, weshalb es so ist“, sagte er schwerfällig. „Je näher ich den
Mauern komme, desto... mehr fühle ich... meine Kräfte... schwinden...“
Ich stützte ihn und führte ihn von der Mauer weg. Äußerlich war ich besorgt, innerlich jubelte
ich. Jetzt wußte ich, was ich hatte wissen wollen. Solange ich lebte, hatte kein befreiter
Träumer einen Fuß in die Regenbogenstadt gesetzt; Rhys gehörte ja zur Sippe und war kein
Maßstab. Ich hatte nicht gewußt, wie weit sich Narayan der verbotenen Zone nähern konnte.
Vor Generationen, als die Träumer zum erstenmal die Macht der Regenbogenstadt bedrohten,
hatte es auch einen Spielzeugmacher gegeben, und er hatte entdeckt, wie die Träumer
gebunden werden konnten. Töten konnte man sie nicht. Er hatte in der Regenbogenstadt ein
Gerät gebaut — verwaschene Erinnerungen aus Mike Kenscotts Welt zuckten durch mein
Bewußtsein, Worte wie Vibration und Subsonics —, und dieses Gerät wirkte ausschließlich
auf die Träumer, die an Narabedla gebunden waren. Ein ähnliches Gerät im Bergfried der
Träumer hielt sie in ihrem Tranceschlaf. Solange sie Kinder waren, brachte man die Träumer
in Kontakt mit diesem Gerät und damit in Rapport mit einem der Narabedlaner, so wie
Narayan mit mir.
Die Wirkung dieses Gerätes konnte aufgehoben werden, allerdings nur für kurze Zeit, wenn
man den Talisman einsetzte. Der Narabedlaner hatte also einen Talisman — Zauber?
Vibrationen? —, der seinen Träumer aufwecken konnte, und das geschah zur Zeit des Opfers,
denn dann wurde er mit dessen Lebensenergie gespeist, die seine Kraft auf das Zehnfache
verstärkte, und sie diente dann dem, der geopfert hatte.
War das Zauber?
Narayan rieb sich mit der Hand über die Augen. „Hier geht es recht gut. Näher kann ich aber
nicht kommen, solange du meinen Talisman nicht findest.“
Glaubte er wirklich, ich würde ihm den Talisman ausliefern? Ja, er war ein Narr, der glaubte,
Adric habe ihm nicht nur die Freiheit gegeben, sondern mache ihn nun auch noch frei von der
Regenbogenstadt und vom Bergfried der Träumer, damit er uns alle vernichten könnte!
Unsicher sah Cynara zu Narayan zurück, als wir uns wieder der Außenmauer näherten.
An einer Biegung des Walles gab es ein Türchen, das kaum jemand kannte. Vielleicht war es
nicht einmal bewacht. Vorsichtig näherten wir uns und hielten uns im Schutz des Walles. Das
Türchen war offen. Es schwang an leise quietschenden Angeln hin und her. Dahinter herrschte
schwarze Finsternis. Mit einem Arm hielt ich Cyrana zurück und starrte in das Dunkel. „Es
könnte eine Falle sein, Cynara“, murmelte ich.
Und ich hatte keinen Zauber! Auf Zehenspitzen huschte ich weiter. Vorsichtig trat ich hinein.
Cynara folgte mir. Ihre leisen Schritte klangen unnatürlich laut.
Wir waren in der Regenbogenstadt. Es war ein langer, schmaler, mit Säulen bestandener Hof,
dessen Pflaster aus Alabaster bestand. Ein • langer, dunkler Bogengang führte von ihm weg;
an dessen Ende zeigte sich ein schwacher Lichtfleck. Eine grünschimmernde Wand, der
Smaragdturm, schloß den Hof auf einer Seite ab, und am anderen Ende erhob sich der Blaue
Turm. Die Dämmerung dämpfte die Farben, und schon unser Atem schien als Echo
zurückzukommen.
Ich machte mich auf den Weg zum Roten Turm, und ich fand ihn auch leicht. Wir
überquerten offene Höfe mit Blumengärten, Teichen und Brunnen, hielten uns aber immer im
Schatten der Gebäude, um nicht gesehen zu werden. Jetzt wußte ich, wo ich war. Noch ein
Hof, noch ein Bogengang...
Schließlich erhob sich vor uns der Rote Turm; er schimmerte wie eine verglimmende Kohle.
Im Hof brannten düstere Lichter. Jetzt atmete ich freier. Ich stand auf vertrautem Boden.
Cynara schrie; ich wirbelte herum und zog mein Schwert aus der Scheide. Hinter mir erschien
eine geschlossene Reihe, die den ganzen Hof überspannte. Karamys Garden in goldroten
Uniformen. Die düsteren Lichter fingen sich in den Stahlspitzen der langen Lanzen, die
angriffsbereit auf meine Brust gerichtet waren. Die Gesichter dieser Zombies waren
ausdruckslos, ohne Herausforderung, ohne Kampfgier, ohne Erregung. Mechanisch taten sie
Schritt vor Schritt. Ich tat einen Schritt rückwärts und ließ meine Augen die Reihe
entlanghuschen. Hoffnungslos! Diese Phalanx war nicht zu durchbrechen.
„Schnell!“ rief ich Cynara zu. „In den Turm hinein!“ Ich packte mein Schwert, und die
Lanzenspitzen kamen immer näher...
Einer der Zombies tat einen Luftsprung, griff sich an die Brust, sank zusammen und blieb
liegen. Seine Lanze fiel klappernd zu Boden. Ich warf mein nutzloses Schwert weg und griff
nach der Lanze. Hinter mir stand Cyrana und hatte Narayans langen Elektrostab in den
kleinen Händen. Mit beiden Händen mußte sie das Ding festhalten, um wieder schießen zu
können.
Die Zombies ließen sich nicht aufhalten und rückten weiter vor. Ich schwang die Lanze und
setzte damit zwei von ihnen außer Gefecht. Einem dritten stieß ich die Lanze in die Brust; er
starb lautlos. Ich zog ihm die Lanze aus der Brust und lief die Stufen zum Turm hinauf. An
mir vorbei zischte prasselnd ein weißer Pfeil, und ein weiterer Zombie fiel tot um.
Der Rest der Garde war ratlos. Ich riß Cynara den Elektrostab aus der Hand und schoß. Mehr
als die Hälfte war jetzt tot. Der Rest wandte sich wie auf ein geheimes Signal zur Flucht.
Ich strich mir über die Stirn und sah mich nach Cynara um. Blaß und zitternd stand sie hinter
mir. Ich hatte nicht geahnt, daß sie die Waffe bei sich hatte und sie auch noch zu bedienen
verstand!
„Sie sind weg“, flüsterte sie, „aber sie können zurückkommen. Ich halte hier Wache, solange
du im Turm bist.“
Ich nickte und holte tief Atem. Viel Zeit blieb uns sicher nicht. Karamy hatte sorgfältig alles
weggeräumt, was mir Macht über einen der Träumer geben konnte. Trotzdem mußte ich den
Talisman suchen. Ich ging von Raum zu Raum, durchforschte alle Winkel meines
Gedächtnisses, doch den Talisman fand ich nicht.
Schließlich stand ich ganz oben in der Spitze des Turmes. Es war Adrics Sternenraum.
Dorthin war ich — wirklich erst vor drei Tagen? — katapultiert worden. Ich stand am
Fenster; Adric hatte hier gestanden. Ich verfolgte die Spur meiner Erinnerungen und...
„Kenscott!“ sagte eine Stimme hinter mir. Ich wirbelte herum. Den Mann hatte ich noch
niemals gesehen.
Er sah aus, als komme er aus einer vergessenen Vergangenheit. Solche Wesen hatte ich
gesehen, als ich im Nirgendwo der Zeit-Ellipse geschwommen war. Er war groß, glattrasiert
und sah kräftig aus. Augen und Haare waren von geradezu lächerlicher Farbe, irgendwie
blaßbraun. Er sah zornig aus, wenn sich sein Gesichtsausdruck überhaupt bestimmen ließ.
Aber er sprach klar und ruhig.
„Nun, Michael Kenscott“, sagte er, „du hast meinen Platz sehr schön verwaltet. Vielleicht
sollte ich dir dafür danken. Du hast Karamy recht gut getäuscht, so daß sie mir die Freiheit
gab, und Narayan vertraut mir jetzt sogar. Mit dem Rest werde ich wohl selbst
zurechtkommen.“ Er lachte. „Du bist so sehr ICH, daß du nicht mehr zu wissen scheinst, wer,
du bist. Seid ihr Schwächlinge! Aber ich kann dich wieder in deinen Körper zurückzwingen.“
Der Kerl war verrückt! Er hatte Lord Adric in seinem eigenen Turm beleidigt, und dafür
mußte er, bei Zandrus Bart, bezahlen! Mit einem Wutschrei stürzte ich mich auf ihn, und
meine Finger gruben sich in seinen Hals.
Ich schrie wieder, als seine Stahlfinger nach mir griffen, nach meinem Hals. Ein krampfhafter
Schauer schüttelte meinen Körper. Den kannte ich; er war mir auf schmerzhafte Art vertraut.
Ich stand Adric gegenüber!
Natürlich verstand ich genau, was los war, während ich in halber Benommenheit darum
kämpfte, meinen Todesgriff um meine eigene Kehle zu lockern. Ich war zurück; ich war ICH.
Ich war wieder Mike Kenscott.
Adric ließ mich los und trat schweratmend einen Schritt zurück. „Danke“, sagte er mit jener
harten Stimme, die. solange die meine gewesen war. „Ich hätte es auch nicht besser machen
können, also erwürge ich dich nicht.“
Mit einer raschen Bewegung griff er aus, zielte und schoß auf mich. Ein weißer Pfeil schnellte
mir entgegen.
Ich war überrascht, daß mich nur ein Gefühl der Wärme durchflutete, griff in einem Reflex an
meine Brust und ließ mich auf den Boden fallen. Adric schien etwas in seinen Taschen zu
suchen, griff zwischendurch nach seinem Schwert, um sich zu überzeugen, daß es noch da
war, und brachte schließlich Evarins kleinen Spiegel zum Vorschein. Er war noch in die
blausilberne Seide gewickelt. Atemlos beobachtete ich Adric. Würde er hineinsehen?
Angewidert warf er ihn mir zu. Ich zuckte nicht einmal, als das Ding meine Stirn traf. Ich
fühlte Blut über mein Gesicht tropfen und hörte Adrics festen Schritt, eine knallende Tür —
und dann war er verschwunden.
Bis heute weiß ich nicht, wie ich dem Tod aus Adrics Waffe entkam, aber ich glaube, der
Grund lag darin, daß ich wieder in meinem eigenen Körper war — und in seiner Welt.
Nachdem ich Adric zum erstenmal begegnet war, hatte sich meine Reaktion auf irdische
Elektrizität verändert. In dieser Welt war ich nicht immun dagegen, aber ich konnte sie, ohne
Schaden zu erleiden, absorbieren. Ich wischte das Blut von meiner Schläfe und starrte meine
Hände an.
Cynara wartete auf mich am Fuß des Roten Turmes, wartete auf mich in Adrics Körper! Das
hatte ich ganz vergessen; und auch das hatte ich vergessen, daß ich, von Adrics Erinnerungen
überschattet, gegen Narayan und Cynara intrigiert hatte; und ich wußte doch, wie sehr die
beiden mir vertrauten! Was würde Adric ihr und Narayan antun? Ich griff nach dem Spiegel
und schob ihn in meine Tasche. Eine gespenstische Hast trieb mich an; aus dem Schrank, an
den ich mich erinnerte, suchte ich ein kurzes, scharfes Messer aus. Mit dieser Waffe kam ich
besser zurecht als mit einem Schwert.
Zum Glück erinnerte ich mich an alles, was ich als Adric getan hatte. Aber ich konnte mich
auch daran erinnern, was er getan hatte, als er ich war. Also konnte sich auch Adric an alles
erinnern, was ich mit Narayan geplant hatte!
Oh, diese grauenhafte Vermischung von Persönlichkeiten! Konnte ich mich je wieder darauf
verlassen, daß ich ICH war?
In großen Sprüngen rannte ich die endlosen Treppen des Turmes hinab. Die toten Zombies
lagen noch im Hof herum, aber von Cynara oder Adric konnte ich keine Spur entdecken.
„Cynara!“ rief ich laut.
Ein spukhafter Schrei antwortete mir, und gefährliche Schwingen schlugen klatschend um
meinen Kopf. Ich taumelte und wäre fast gefallen, als einer der mörderischen Falken, ein
blauer, auf mich herabstürzte. Ich drückte mich an die schützende Mauer, doch der Vogel
griff erneut an. Ich zückte mein Messer, und der Vogel schwebte weg. Wieder griff er an, und
seine Edelsteinaugen glitzerten. Plötzlich wurde mir klar, daß er mich dem Blauen Turm
entgegentrieb!
Gamine war nicht mit den anderen zur Falkenjagd gezogen! Langsam und vorsichtig bewegte
ich mich auf den Blauen Turm zu, und der Vogel folgte mir in einigem Abstand.
Versuchsweise tat ich einen Schritt zum Roten Turm, worauf der Falke wieder auf mich
herunterschoß und mich mit den Riesenschwingen dem Blauen Turm entgegentrieb.
Cynara! Was war mit ihr geschehen? Ich versuchte mich nach ihr umzusehen, aber im Nu
steckte ich in einem Wirbel schlagender Schwingen. Atemlos kam ich an den Stufen des
Blauen Turmes an und stieg langsam hinauf. Der Vogel trieb mich zielbewußt zur Treppe.
Einmal holte ich aus und traf ihn mit dem Messer; sein scharfes Blut brannte auf meiner Haut,
aber der Falke hackte nach mir und trieb mich weiter.
„Na, schön, verdammt noch mal“, knirschte ich, duckte mich, rannte unter •den Schwingen
hindurch und die Treppe hinauf. Hinter mir stürzte der Vogel zu Boden und rollte die Stufen
hinunter. Er war tot.
Auf der Treppe blieb ich stehen, um Atem zu holen. Was jetzt? Gamine mochte Adric nicht,
das wußte ich. Aber Adrics Erinnerungen ließen mich jetzt •im Stich; um Gamine herum war
eine verschwommene Leere. Hatte er denn Gamine niemals gesehen?
Konnte Gamine mir gegen Adric helfen?
Was tat Adric jetzt? Ich hatte ihm gut gedient, Narayans Vertrauen gewonnen, ihn in seinem
eigenen Körper befreit, damit er Narayan erneut betrügen und ihn schließlich endgültig
vernichten konnte! Ich hatte den Mann, den er befreit hatte, wieder in seine Hände gespielt!
Aber ich konnte Adric noch immer , nicht aus ganzem Herzen hassen. Drei Tage und drei
Nächte hatte ich in Adrics Körper gewohnt, auch in seinem ; Gehirn. Ich kannte seine Stärken
und seine Schwächen, seine Träume und seine Qualen, seine Wünsche und seine Ängste.
Nein, ich konnte ihn nicht ganz ^verdammen.
i Als er den Träumer befreite, hatte er Gutes getan. Er hatte des Träumers Traum geteilt, der
Narabedla aus der Sklaverei der Regenbogenstadt herausführen wollte. Aber warum hatte er
sich so verändert? War es Karamys teuflischer Zauber? Der Goldenen Hexe von Narabedla
konnte sich kaum ein Mann entziehen.
Ein Schatten huschte durch mein Blickfeld. Gamine stand in ihren Schleiern über mir auf der
Treppe, und ihre spöttische Stimme klang irgendwie amüsiert: „Wie gefällt dir dieser Körper,
Adric? Jetzt bist du endgültig geschlagen! Der Fremde hat sich in deinem Körper mit Narayan
zusammengetan, Adric.“ Ihr kaltes Lachen machte mich frösteln. „Nun sieh zu, was du tun
wirst!“
„Ich bin nicht Adric!“ brüllte ich. „Er ist wieder in seinem eigenen Körper. Er kam zurück
und wird Narayan und Cynara betrügen!“
„Du willst, daß ich dir das glaube?“ fragte Gamine verächtlich.
Ich schüttelte vor Wut meine Fäuste. Cynara und Narayan Adrics Gnade ausgeliefert!
Plötzlich fiel mir die einzige Person ein, die etwas wissen konnte — Rhys.
„Laß mich zu Rhys“, bat ich sie. „Er weiß, daß ich die Wahrheit sage.“
Wie und woher wußte ich das? Gamines spöttisches Lachen fachte meinen Zorn erneut an.
„Verdammt, laß mich endlich durch!“ schrie ich sie an und schob Gamine aus meinem Weg.
Was immer Gamine war — Frau, Mann, Nichtmensch, Hexe oder Roboter —, menschlich
war sie nicht. Stahldrähte schienen sich unter meinen Händen zu krümmen und zu ringeln. Ich
kämpfte erbittert, und dann folgte ich einem plötzlichen Impuls und griff nach der Stelle, wo
Gamines Gesicht hinter den Schleiern sein mußte.
Sie schrie vor Entsetzen und verzweifelter Angst. Nun wußte ich auf einmal, wo ich in diesen
zwei Krankenhauswochen gewesen war, als Adric von der Wucht unbekannter Energien und
Kräfte fast leblos in meinem Körper wohnte. Ein Instinkt sagte mir, ich solle mich
schnellstens Gamines Griff entwinden, und das tat ich. Ich rannte, als sei die Hölle mit
sämtlichen Teufeln hinter mir her.
Ich war fast oben, als ich die Schritte der Zaubersängerin hinter mir vernahm. Ich tat einen
Satz zur Tür an der Treppe, denn ich spürte die Anwesenheit Rhys’ hinter dieser Tür! Ich
warf mich mit dem ganzen Gewicht dagegen, riß an der Klinke — die Tür war versperrt!
Hinter mir vernahm ich Gamines Seidenschuhe; hoffnungslos legte ich eine Hand auf die
Türklinke, die andere auf Adrics Messer. Wenn es keinen anderen Weg gab...
Die Tür ging auf, und ich flog in den Raum. „Nun, Michael Kenscott“, sagte die alte, müde
Stimme. „Du bist ein Narr, aber Gamine ist kein Haar besser als du. Ich wußte, daß du nicht
stark genug warst, um Adric hinauszudrängen, aber versuchen mußte ich es. Natürlich wußte
ich, daß du kommst. Ich weiß auch, wohin Adric gegangen ist. Ich weiß, wo Narayan ist und
was sie planen.“
Wütend stand ich wieder auf. Die ruhige Stimme des alten Träumers und die freundlichen
Runzeln in seinem Adlergesicht versetzten mich in blinden Zorn. Ich ging auf ihn los. „Was,
das wußtest du? Gibt es etwas, das du nicht weißt?“
Gamine war mir gefolgt. Der alte Träumer sah ihr über meine Schulter entgegen. „Ich weiß
nicht“, sagte er betrübt, „ob du sie jetzt aufhalten kannst. Ich ließ es zu weit gehen, denn ich
wollte Frieden haben; und ich hoffte noch immer...“ Er breitete seine Hände zu einer hilflosen
Geste aus. „Ach, es ist ja gleichgültig. Es ist Zeit, Gamine. Du mußt mit Narayan zum
Bergfried der Träumer gehen.“
„Nein!“ widersprach Gamine. „Narayan kann nicht dorthin gehen! Sein Talisman ist zerstört!
Als Adric Narayan befreite, fürchtete er ihn noch, behielt den Talisman zurück, und Karamy
fand und vernichtete ihn.“
Das hatte Adric also gesucht, und ich hatte es nicht geahnt. Hätte ich den Talisman gefunden
und ihn Narayan gegeben, dann wäre der Träumer endgültig frei; frei von diesem Gerät. Mein
Fachwissen erklärte dieses Gerät als die Quelle elektronischer Wellen, die auf das Gehirn des
Träumers abgestimmt waren, so daß er innerhalb des magnetischen Feldes in einen
Tranceschlaf fallen mußte. Der Talisman konnte ganz bestimmte elektronische Vibrationen
dämpfen, so daß Narayan mit ihm sogar in die Regenbogenstadt, selbst in den Bergfried der
Träumer eindringen konnte!
Aber der Talisman war zerstört. Adric, dessen Erinnerungen von Karamys Zauber verwischt
worden waren, wußte es nicht. Ein Teil von Adrics Macht über Narayan war damit
geschwunden. Adric konnte zwar den Talisman nicht behalten, wie er beabsichtigt hatte, aber
Narayan war auf alle Zeiten von wahrer Freiheit ausgeschlossen, und seine Kraft konnte er
niemals uneingeschränkt einsetzen.
War der Talisman ein Vibrationsgerät, das die Kraft des Geistes auffing und konzentrierte?
Vielleicht war „zauberhaft“ oder „zauberisch“ das richtige Wort für eine Kraft, die ich nicht
verstand. Doch der Talisman wirkte nur zwischen dem schlafenden Träumer und den an ihn
gebundenen Narabedlaner, durch den des Träumers Geist die Energie des Opfers aufnahm,
die in Macht für seinen Herrn umgesetzt wurde.
Der alte Rhys hatte den Kopf in die Hände gestützt; nun hob er langsam seine Augen.
„Meiner ist noch da, Gamine. Gib ihm diesen.“
Gamine tat einen entsetzten Schrei, aber Rhys’ Stimme wurde plötzlich scharf wie ein
Peitschenschlag. „Du gibst ihm den Talisman! Ich habe noch Macht genug, es zu erzwingen,
auch bei dir! Spielt es denn noch eine Rolle, was mit mir geschieht? Ich bin alt, Gamine, sehr
alt, und jetzt seid ihr an der Reihe, du und Narayan!“
Gamine schluchzte. Aus den Seidenschleiern der Zaubersängerin kam ein in Isolierseide
eingeschlagener Gegenstand zum Vorschein. Sie wickelte ihn aus. Es war ein winziges
Schwert; kein Dolch, sondern ein richtiges Schwert, nur in Miniaturausgabe — ein Spielzeug.
Es war etwa eine Spanne lang, und der Griff war reich mit blauen Kristallen besetzt. Für den
fliehenden Bruchteil einer Sekunde kreuzte ein fremdes Gedächtnis das meine.
Ein solcher Talisman hatte immer die Form einer Waffe, und es waren die Symbole der in der
Regenbogenstadt wirksamsten Waffen. Evarin hatte auch dieses Spielzeug gemacht, und
Adric hatte ihm dabei zugesehen, als Gamine an den alten Träumer gebunden worden war. Er
war so alt gewesen, daß man ihn aus dem Bergfried der Träumer entlassen konnte, und zudem
gehörte er ja der Sippe der Narabedlaner an. Gamine hatte nie nach Macht gehungert; sie hatte
danach gedürstet, zu Füßen des alten Rhys zu sitzen und seine Weisheit in sich aufzusaugen.
Damit hatte Rhys die Freiheit der Regenbogenstadt erworben.
„Michael muß ihn aus deinen Händen nehmen“, sagte der alte Mann mit freundlicher Stimme.
„Solange du ihn hältst, bin ich an dich gebunden, Gamine. Die Macht muß durch einen
Willensakt übertragen werden. Hat Narayan dann das hier in seinen Händen, ist er frei, dahin
zu gehen, wohin er will, selbst zum Bergfried der Träumer. Gib ihn Michael, Gamine.“ Das
Sprechen schien Rhys ermüdet zu haben. Ich hatte ihm geduldig zugehört, aber meine Augen
hingen an dem kleinen Spielzeug in Gamines Händen. Es glitzerte blau. Es schimmerte. Ein
merkwürdiger Herzschlag schien darinnen hypnotisch zu pulsieren. Auch Rhys sah das
Schwert an. Sein altes Gesicht war angespannt und voll Eifer. „Gamine“, sagte er, „wenn
Adric dich gesehen hat, sich deiner erinnert...“
„Ich will, daß er sich meiner erinnert!“ Das war ein fast jammervoller Aufschrei, und Rhys
seufzte.
„Ich kann nicht sagen, wo und wie dies alles enden wird“, sagte er nach langer Zeit. „Ich bin
kein Narabedlaner. Ich könnte mein eigenes Volk zerstören, vernichten. Gamine ist nicht
gebunden, und du bist es auch nicht, Michael Kenscott. Vielleicht bin ich ein Verräter, aber
als ich geboren wurde, war Narabedla eine schöne, heitere Stadt, die von Verbrechen noch
unbelastet war. Ich habe es miterlebt, wie die Macht wuchs und zum Übel wurde, aber jetzt
muß dem ein Ende gesetzt werden. Gehe und warne Narayan.“
Gamine blieb neben mir stehen; ihr eifersüchtiger, mißtrauischer Blick hing an Rhys. „Laß
mich ruhen, Gamine, und gib ihm den Talisman“, bat der alte Mann mit schwacher Stimme.
„Michael, tritt einen Schritt zurück. Ich will nicht, daß ich an dich gebunden werde.“
Ich verstand nichts und blieb stehen. Gamine schob mich zornig weg. „Da hinüber, du Narr!“
rief sie.
Fast wäre ich dabei gefallen; schließlich stand ich gut drei Meter von der Couch entfernt, auf
welcher sich der alte Rhys in die Kissen gelegt hatte. Eine Hand hatte er auf den Knauf des
Spielzeugschwertes in Gamines Hand gelegt. „Meine arme Stadt“, flüsterte er. „Lebt wohl, ihr
Kinder des Regenbogens. Eure Türme waren einst so schön unter der zweifachen Sonne.“
Er nahm seine Hand weg und legte sie auf ein Kissen. Mit einer heftigen Bewegung warf
Gamine mir den Talisman zu. Ich fühlte einen plötzlichen, stechenden Schock; er war wie ein
elektrischer Stromstoß, der meinen ganzen Körper durchzuckte; auch Gamines verschleierte
Gestalt zuckte. Das Spielzeug in meiner Hand war plötzlich schwer, als sei es aus Blei, und
der vormals so glitzernde Griff war matt und tot. Die Kapuze von Rhys’ Gewand sank über
sein Gesicht.
Gamine griff nach meinem Arm, und ihre stählernen Finger gruben sich fast bis zum Knochen
durch. Sie zog mich aus dem Raum. Durch das Schluchzen der Zaubersängerin hörte ich das
Echo eines Seufzers. Es war Rhys’ Lebewohl.
Dann rannten wir beide die Treppen hinab, über Höfe und durch Bogengänge, und kamen in
jenem Hof wieder heraus, in dem, sich vor zwei Nächten die Kinder des Regenbogens
versammelt hatten, um zum Bergfried der Träumer zu reiten.
Jenseits des Hofes erkannte ich die Gestalt eines Mannes. Seine braune Tunika war zerfetzt,
sein blasses Gesicht mit Schmutz oder Blut verschmiert. Langsam, schwerfällig bewegte er
sich wie durch Treibsand, fiel auf die Knie und richtete sich mühsam wieder auf. Dann sah er
mich, stützte sich mit beiden Händen auf, starrte mich verständnislos an, bewegte seine
Hände... Nach einer Waffe? Zu einer Beschwörung?
Die Zeit reichte nicht für Erklärungen. Ich tat einen Satz, der einem Fußballtorwart Ehre
gemacht hätte; Narayan ging endgültig zu Boden und blieb dort liegen.
Guter Gott, welcher Wille, welche Kraft hatte ihn in die Regenbogenstadt gezogen, in den
Machtbereich jener entsetzlichen Vibrationen, die den Bann über einen Träumer warfen?
Seine grauen Augen waren wie tot vor Schmerz, aber Mißtrauen und hilfloser Haß funkelten
in ihren Tiefen.
„Hör mir zu, Narayan“, sagte ich drängend und hielt ihn an den Schultern fest, „ich gehöre
nicht zu Karamys Männern!“
„Cynara, er hat Cynara gefangen“, murmelte er schwach. „Cynara... Wer bist du?“ Nur
eiserner Wille hielt ihn noch bei Bewußtsein.
„Michael Kenscott.“ Plötzlich wußte ich, was ich zu tun hatte, um meinen guten Willen zu
beweisen. „Hier“, sagte ich, „ich habe Rhys gesehen. Er schickt dir das.“ Ich nahm das
Schwert aus der Tasche, das Gamine mir gegeben hatte.
Seine grauen Augen waren umwölkt, und ich sah, wie schwach er war, aber er nahm das Ding
entgegen. In seiner Hand erwachte es zum Leben. Das kleine, juwelenbesetzte Spielzeug
funkelte, glänzte und schimmerte in blauen, goldenen, roten, flammenfarbenen und opalen
Lichtern. Narayans blasses, erschöpftes Gesicht entspannte sich. Sein Blick wurde klar, und er
erhob sich lebhaft, stark und groß auf die’ Füße. Dann holte er tief und erleichtert Atem.
„Ich bin frei!“ Es klang fast ungläubig. „Frei! Frei!“ Er schüttelte den Kopf und tauchte aus
seiner halbekstatischen Versunkenheit auf. Er schob den Talisman in sein Hemd. „Michael
Kenscott“, sagte er und sah mich an. „Ja, das spüre ich. Als Adric kam, da wußte ich, daß er
sich verändert hatte.“
„Hat er Cynara gefangen?“
Er nickte grimmig. „Ja. Er überraschte mich und schlug mich bewußtlos. Ich kämpfte, doch er
zog mich in den Hof hinein, wo ich machtlos bin. Meine Kraft verließ mich. Cynara hörte
mich schreien; sie kam, um mir zu helfen, und er zerrte sie von mir weg.“
Dann sah er an mir vorbei. Gamine kam in ihren leise raschelnden Schleiergewändern auf uns
zu und blieb zwei Schritte von Narayan entfernt stehen. Alles an mir spannte sich, aber
Narayans graue Augen wurden nur groß und ernst.
„Gamine“, sagte er sehr leise. „Endlich von Angesicht zu Angesicht. Gamine.“
„Rhys ist tot. Aber ich bin hier, Narayan, und die Zeit ist gekommen.“ Gamines weiche, süße
Stimme war kaum vernehmbar, „Ja, die Zeit ist gekommen.“
10.
Mit einem Satz stand ich zwischen der verschleierten Gestalt und dem Träumer. „Ihr könnt
hier doch nicht so stehenbleiben!“ rief ich empört. „Adric hat Cynara entführt!“ Cynara, das
einzige wirklich menschliche Wesen in dieser Welt, hatte mir vertraut, hatte Adric vertraut
und ihn bemitleidet, und er hatte ihr Vertrauen mißbraucht und sie weiß Gott wohin entführt!
„Er wird sie zum Bergfried der Träumer bringen“, sagte Narayan zornig. „Das ist die Rache,
die er versuchen...“ Die Stimme versagte ihm.
„Welchen Vorsprung hat er, Narayan?“
„Ich weiß es nicht genau, denn ich habe keine Ahnung, wie lange ich bewußtlos war. Und
wenn wir reiten wie der Wind, wir kommen zu spät.“ Er schloß die Augen in hilfloser Wut.
„Wir brauchten Vogelschwingen...“
„Ich habe Vogelschwingen!“ rief Gamine. „Die Falken, Narayan! Evarin hat die Vögel hier
zurückgelassen!“
Er schüttelte den Kopf. „Nein, Gamine, das geht nicht. Wenn ich Cynara rette, verliere ich die
einzige Möglichkeit, die Macht von Narabedla zu zerstören. Ich kann nicht... Sie würde es
auch nicht wollen. Wir haben allzuviel riskiert, als daß wir jetzt eines Lebens wegen aufgeben
dürften.“ Grimmig drehte er sich um. „Kommt! Wir reiten zum Bergfried der Träumer.“
Gamine hielt mich fest. „Du, Michael, du kannst Adric aufhalten, Du kannst dich der
Falkenschwingen bedienen!“
„Was? Wieso?“
Ein Schwall von Erinnerungen überschwemmte mich, Erinnerungen, die ich für Träume
gehalten hatte. Adric, der nicht wußte, ob er ein anderer war oder er selbst, kam von der Zeit-
Ellipse zurück, und Mike Kenscott war nur ein betäubtes Atom in seinem Geist. Adric, dessen
Gedächtnis ausgelöscht war, wußte aber aus Instinkt, daß er Narayan warnen mußte, hatte
sich, da er keinen anderen Weg wußte, in den Raum mit den Falken geschlichen, einen Vogel
genommen, ihn geflogen...
Narayan blinzelte mich an. „Wir sehen einen Falken“, sagte er leise. „Raif schoß ihn ab. Also
hat Adric tatsächlich versucht, mich zu warnen; es war kurz ehe Karamy ihn wieder unter ihre
Gewalt brachte.“ Er sah sehr traurig drein. „Michael, Gamine hat recht. Wir beide werden im
Bergfried der Träumer gebraucht, aber du kannst Adric überholen und ihn aufhalten. Fliege
als Falke!“
Ich schien innerlich zu gefrieren. Das war eine Wahnsinnsidee, ein spukhafter Traum! Und
ich war doch eben erst in meinen eigenen Körper zurückgekehrt und wollte ihn, verdammt
noch mal, nicht schon wieder verlassen. Das wollte ich Narayan erklären, aber er wiederholte
nur: „Das ist Cynaras einzige Chance, Michael. Ich habe kein Recht, dich darum zu bitten,
denn du schuldest uns nichts. Cynaras wegen...“
Gamine zog mich einen Gang entlang, den ich aus meinen Träumen zu kennen und doch nicht
zu kennen schien. Eine verzehrende Angst überfiel mich, als ein dunkles Tor sich öffnete und
ich die schlaffen Vogelleiber meines Traumes sah. Ein wenig zögernd und nach dem richtigen
Gefühl aus meinen Träumen tastend, griff ich nach einem Vogelleib und zog ihn herunter. Es
war rotes Flaumzeug, das sich eigentümlich warm anfühlte, nicht kühl und irgendwie trocken
wie Stoff oder Federn. Gamine stand dabei und sagte nichts.
„Was muß ich jetzt tun?“ fragte ich sie. „Adric wußte, wie er sein Bewußtsein transferieren
konnte. Ich weiß es nicht.“
„Ziehe es über deinen Kopf“, antwortete sie ganz leise. „Wie einen Mantel.“
Ich ging offensichtlich ein wenig ungeschickt damit um, denn ich fühlte einen
rasiermesserscharfen Kratzer auf meiner Haut, der von einem der Fänge stammte. Gamine
gab einen ungeduldigen Laut von sich, und ich zog das Federkleid endlich über die Schultern.
Fast sofort hatte ich jenes nicht unangenehme Gefühl, dessen ich mich erinnerte, als werde
mein Kopf zu einem riesigen Gasballon, der mich zur Decke des Raumes schweben ließ. Die
Falkenschwingen breiteten sich aus, schlugen...
Ich hörte noch Gamines Warnruf, aber das erregende Gefühl des Fliegens hatte mich schon
gepackt. Ich flog! Meine Augen waren plötzlich unglaublich scharf, sahen neue Perspektiven.
Ein ungeschickter Zweibeiner duckte sich, riß dann das Fenster auf, und schon ließ ich mich
vom Wind tragen, höher und höher tragen in eine Ekstase des Fliegens...
Mein Leben lang war ich an die Erde gebunden gewesen. Und jetzt hatte ich zum erstenmal
die Freiheit des Traumes, mich in die Luft zu heben und mich vom Wind tragen zu lassen oder
wie eine Wolke im Wind zu stehen.
Die Regenbogentürme wurden spielzeugklein. Ein dicker, dunkler Waldteppich schmiegte
sich an das Gelände dort unten, und weit, ganz weit am Horizont ein dunkler, hoher
Schatten...
Der Bergfried der Träumer! Der Anblick weckte mich aus meiner seligen Trunkenheit. Adric
brachte Cynara in ernste Gefahr, und ich spielte mit dem Wind, ein sorgloser Vogel...
Ich suchte das Land mit meinen Falkenaugen Stück für Stück ab, folgte den Sträßchen und
Wegen, die sich wie weiße Bänder durch die Wälder zogen; Adric hatte sicher die geradeste
Straße gewählt.
Dort! Weiter vorne erkannte ich einen einzelnen Reiter, der auf sein Pferd geduckt
dahinsprengte, und quer über dem Sattel hatte er eine dunkle, schlaffe Gestalt. Adric! Es war
Adric!
Meine Flüche hörte ich wie einen grellen Falkenschrei, aber den nächsten unterdrückte ich,
denn er wäre eine Warnung gewesen. In langgezogenen Spiralen schwebte ich nach unten und
konzentrierte mich ganz auf diesen einzelnen Reiter. Nichtmenschliche Berechnungen
flackerten durch mein Gehirn. Seinen Körper spürte ich als saftige Wärme, spürte die
Bewegung des Pferdes, die mit Muskelkraft den Luftwiderstand überwand, der bloße Nacken
des Mannes zog mich wie ein Magnet an. Zuschlagen. Zustoßen! Bewegungslos hing ich im
Wind und fächerte meine Federn nur so weit auf, daß ich mich der Geschwindigkeit des
Pferdes anpaßte. Ich maß die breiten Schultern mit meinen Vogelaugen, visierte das Ziel an,
die Basis seines Gehirns...
Aber ich wartete eine Spur zu lange. Vielleicht hatte er einen leisen Flügelschlag vernommen,
vielleicht war mein Schatten in sein Blickfeld geraten. Adric richtete sich ruckartig hoch auf
und schrie mir wütende Flüche zu. Vorsichtig wich ich ein wenig zurück, beobachtete ihn,
zielte auf seine Augen.
Seine Reflexe waren blitzschnell, und er kannte dieses Spiel. Eine beschwerte Kante seines
Mantels klatschte gegen eine meiner Schwingen, so daß ich um mein Gleichgewicht zu
kämpfen hatte. Ich fing mich wieder, aber er hatte schon sein Schwert gezogen, das er um
seinen Kopf wirbeln ließ — wie ich es im Traum gesehen hatte.
So konnte ich ihn nicht angreifen. Ich mußte etwas anderes versuchen. Die Gestalt über dem
Sattel bewegte sich und stöhnte. Cynara! Adric fluchte, und seine Augen huschten zwischen
dem Mädchen und meinem gefährlichen Schnabel hin und her. Wenn Cynara ihren Kopf
benützen kann, dann muß es ihr möglich sein, ihn abzulenken...
Da Cynara sich bewegte, war Adric in seiner Bewegungsfreiheit eingeschränkt. Ich schoß
herunter und hörte Cynaras Schrei. Zwischen ihr und Adric kam ich auf, grub meine Fänge
irgendwo ein und schlug mit den Schwingen. Adric beugte sich zu weit zurück; das Pferd
stieg; Cynara glitt vom Pferd und blieb bewegungslos auf dem Pfad liegen. Adric fing sich
wieder und ließ sein Schwert über seinem Kopf kreisen.
Ein schriller, gespenstischer Falkenschrei war ein wütender Fluch von mir. Ich zog mich ein
wenig zurück, suchte nach einer Blöße, traf ihn mit einer Schwinge; ich schlug mit den
Fängen zu. Adric fluchte; an seinem Unterarm sah ich eine lange Schramme. Aber er fing sich
schnell wieder und traf mit seinem Schwert eine meiner Schwungfedern. Schmerz fühlte ich
keinen, nur panische Angst hatte ich, denn ich mußte verzweifelt um mein Gleichgewicht
kämpfen.
Langsam setzte sich Cynara auf. Ihre Augen waren angstvoll auf mich gerichtet. Jetzt mußte
ich trotz meiner verletzten Schwinge alles riskieren! Wie ein Flugzeug zog ich direkt auf sein
Gesicht zu: damit überraschte ich ihn, und er taumelte nach rückwärts. Meine Fänge krallten
sich in seine Wangen, mein Falkenschnabel senkte sich zum tödlichen Streich.
Zu spät sah ich den nadelspitzen Dolch in seiner Hand, die nach oben zuckte. Er traf eine
Schwinge, stieß in mein Herz. Brennendes, giftiges gelbes Blut schoß aus mir heraus. Ich
hörte noch Cynaras Schrei, und dann war ich gewesen...
Mir war übel, und ich zitterte; mit letzter Kraft klammerte ich mich an den Sattel eines
galoppierenden Pferdes. Der Wind schlug mir ins Gesicht, und über mir standen zwei Monde
an einem indigoblauen Himmel. Von den Hufen meines Pferdes stoben Funken auf. Ich holte
keuchend Atem, schwankte, hielt mich gerade noch fest.
Dann wußte ich, daß ich verloren war. Adric hatte den Falken getötet, und ich war wieder
zurück in meinem Körper...
Narayans fahlblondes Haar flog im Wind; er ritt neben mir, und sein Gesicht war ernst und
gesammelt. Gamine an meiner anderen Seite war ein Phantom, ein Spuk in blausilbernem
Gewand.
„Narayan!“ ächzte ich.
Er zügelte sein Pferd. „Du bist wieder zurück? Was ist geschehen? Adric...“
„Mißerfolg“, antwortete ich bitter, und dann erzählte ich. Narayan sah grimmig drein, aber
seine Hand griff um meine Schulter. „Nur Ruhe! Du hast getan, was du konntest, und
vielleicht konntest du ihn doch lange genug aufhalten.“
„Wie kam ich nur hierher?“
„Wir brachten dich mit“, erwiderte Gamine scharf. „Genug geredet! Reite weiter!“
Ich klammerte mich wieder an mein Pferd, und allmählich bekam ich sogar ein gewisses
Gefühl dafür. Dann vernahmen wir in einiger Entfernung plötzlich Schreie, den Klang von
Schwertern und Speeren, einzelne Schüsse, den Schrei eines Falken. Narayan sah verzweifelt
drein.
„Kerrel und seine Leute sind auf die Garde gestoßen! Sie greifen an!“ Ein Falkenschrei
ertönte über Gamines Kopf, und an meinem Rücken spürte ich einen Flügelschlag. Ich holte
abwehrend mit dem Arm aus; mein Pferd stieg, und fast wäre ich aus dem Sattel gerutscht.
Und plötzlich waren ganze Schwärme von Vögeln über uns, goldene, purpurne, grüne, rote,
blaue und flammenfarbene; die Luft war von ihren Flügelschlägen erfüllt. Narayan holte mit
dem Schwert aus; Gamine kauerte im Sattel und ließ eine lange Peitsche zischen; es gelang
ihr, die Vögel damit abzuwehren, doch ein Fang riß an den blausilbernen Schleiern.
Narayan, in einer Hand das Schwert, in der anderen eine Peitsche, schlug um sich, und ich
hörte den Todesschrei eines Vogels; nun hatte ich endlich mein Messer in der Hand und stieß
damit nach oben.
„Der Spiegel!“ schrie Gamine. „Evarins Spiegel! Schnell, sie kommen in hellen Scharen!“
Und das stimmte. Es war ein höllischer Wirbel, aber diese Vögel waren lebende Maschinen,
nicht seelenvolle Vögel, wie der meine gewesen war. Alptraum einer aus den Fugen geratenen
Wissenschaft, die diese Dinge geschaffen und produziert hatte. Und nur Evarin...
Endlich hatte ich den Spiegel gefunden und zerrte die umhüllende Seide weg. Eine
nadelscharfe Kralle riß mir das Handgelenk auf, und nur aus einem Instinkt heraus hob ich
den Spiegel dem Vogel entgegen.
Er taumelte und stürzte herunter. Ein prickelnder Schock lief durch meinen Arm. Ich ließ den
Spiegel fallen und tat einen Satz, um ihn aufzuheben. Das Ding war ein vollkommener
Konduktor; es zog alle Energie aus dem Körper dessen, der hineinschaute. Darum also hatte
Evarin mich — oder Adric — so gedrängt, in ihn hineinzusehen!
Die Vögel hatten kein Gehirn, waren reinste Energie, wenn auch unter der
Persönlichkeitskontrolle der Besitzer. Die Narabedlaner hatten heute keine Zeit zu einer
richtigen Falkenjagd, und Evarin hatte sie nur zu einem letzten, verzweifelten Versuch
freigelassen.
Ich hielt den Spiegel nach oben; aus dem Augenwinkel heraus sah ich die Blitze, die seine
Tiefen durchzuckten, und vor Schmerz krampfte sich mir der Magen zusammen. Ich hielt ihn
schräger, und er zog die Vögel an wie eine Kerze die Motten. Ein Schock nach dem anderen
zuckte durch meinen Arm, aber ein Falke nach dem anderen fiel schlaff herunter!
Eine seltsame Erregung packte mich. Die Energie der Vögel war keine Elektrizität, sondern
eine verwandte Energieform, die von meinen Nerven gierig aufgesogen wurde. Und dann
stürzten die Vögel zu Dutzenden, zu Hunderten schlaff herunter!
Mit einem Schlag ergriffen die restlichen die Flucht. Sie verschwanden in Richtung des
schwarzen Schattens, der am Horizont aufragte.
Der Bergfried der Träumer rief sie zurück...
11.
Dieser Energiestrom hatte mich gestärkt. Jetzt konnte ich allem entgegensehen, was immer
auch kommen würde. Ich schob Evarins Spiegel wieder in eine Tasche, rief Narayan ein Wort
zu und ritt weiter. Gamine folgte uns; ihre blausilbernen Schleier waren nur noch Fetzen. Ich
erkannte blasses, nacktes Fleisch.
Der Kampflärm war nun deutlicher zu hören. Ich vernahm einzelne Schüsse, sah farbige
Blitze. Ein Schauer überlief mich, denn die grauenhafte Falkenarmee war nun sicher wieder
bei Evarin angelangt. Die Rebellen konnten einen Teil davon töten, aber für jeden toten
kamen zwanzig neue nach; neue Sklaven für Narabedla. Was sollte die dürftig bewaffnete
Armee Narayans gegen die Wissenschaft eines Spielzeugmachers ausrichten?
Narayans Gesicht leuchtete blaß vor Erschöpfung. Ich wußte, was er dachte. Seine Männer
kämpften tapfer, aber was war mit seiner Schwester? Unsere Pferde schienen nicht mehr vom
Fleck zu kommen.
Da überlegte ich, welch ein Narr ich doch war, wenn ich in einen Kampf ritt, der mich nichts
anging! Es war ja nicht einmal meine Welt, um die es hier ging. Aber eine andere Stimme in
mir sagte mir, daß ich alles, was ich je besitzen würde, heute gewinnen konnte, denn dies war
die einzige Welt, die ich erlebte, denn meine eigene würde ich niemals wieder zu sehen
bekommen. Niemals! Und Adric konnte, wenn es nach mir ginge, in seiner eigenen Hölle
verschmoren oder verrotten...
In Wirklichkeit flogen unsere Pferde dem Kampf entgegen! Und dann, seltsam, rasten wir
daran vorbei. Wir hatten den Wald verlassen und ritten nun über eine dunkle, hügelige Ebene.
Moos dämpfte die Hufschläge, und gelegentlich huschte ein pelziges Tierchen über unseren
Pfad. Zweimal scheuchte mein Pferd einen Nachtvogel auf, und erleichtert stellte ich fest, daß
es nicht Evarins Vögel waren.
Vor dem baumlosen Horizont stand schwarz und riesig der Bergfried der Träumer. Ich hockte
geduckt im Sattel, und meine Augen versuchten die Dunkelheit zu durchdringen. Plötzlich
spannte sich ein gewaltiger Lichtbogen über den Bergfried. Ein blauer Blitz. Ich hörte
Narayan wie in Todesangst stöhnen. Sein Gesicht war vor Entsetzen verzerrt, gleichzeitig
aber von einer schrecklichen Befriedigung gezeichnet.
„Das Opfer, ich fühle es“, keuchte er. „Noch immer... speist es mich mit Kraft. Michael!“
Seine Stimme war voll unerträglicher Qual. „Wenn ich... je wieder damit beginnen sollte, für
sie... zu arbeiten, dann mußt du mich... erschießen, Michael. Versprich es mir.“
„Oh, Gott!“ stöhnte ich.
„Versprich es mir, Michael! Gamine!“
Gamine sprengte heran. Ich hörte ihre süße, leise Stimme. Wieder zuckte der Bogenblitz über
den Himmel. Narayan grub dem Pferd die Absätze in die Weichen und raste davon.
Die schwarze Silhouette eines Reiters erschien am Horizont. Sein Pferd lahmte, und quer über
seinem Sattel lag etwas Dunkles. Ich fluchte, denn ich wußte, wer diese geduckte Gestalt war.
Sicher, ich hatte Adric aufgehalten, aber jetzt ritt er zum Opfer, und vor sich auf dem Sattel
hatte er Cynara liegen.
Der Rest dieses Alptraumrittes ist ein dunkler Fleck in meiner Erinnerung. Ich weiß erst
wieder, daß wir am Bergfried unsere Pferde zügelten. Von Adric oder Cynara war nichts zu
sehen, von keiner lebenden Person, um genau zu sein. Nur die Bogenblitze zuckten in
Abständen von drei oder vier Sekunden über den Himmel. Narayans Gesicht war wie eine
Totenmaske, und Gamines Atem kam in schluchzenden Stößen. Mein Körper prickelte und
zuckte unter der in der Nacht freigesetzten Energie. Wir glitten von unseren Pferden.
Gamine versuchte vergeblich ihre zerfetzten Schleier in Ordnung zu bringen, und nun sah ich
endlich ein blaues Auge, das so blau war wie der Blitz, der aufflammte und wieder in sich
zusammenfiel.
Unter dem riesigen Turm sahen wir wie Zwerge aus. Er war mindestens hundert Meter hoch.
Gamine umklammerte meinen Arm. „Horch!“ flüsterte sie.
Ich vernahm nur ein tiefes, leises Summen, ähnlich dem Summen eines Bienenvolkes oder
von Hochspannungsdrähten, aber die beiden waren wie vom Schlag gerührt. Narayan suchte
nach seinem Talisman, den Rhys mir für ihn gegeben hatte; als er ihn in der Hand spürte,
entspannte sich sein Gesicht. Er schloß seine Finger darum, machte einen Augenblick lang die
Augen zu und seufzte tief.
Über uns erscholl ein Schrei; Narayan steckte sein Spielzeug wieder ein und rannte um den
Bergfried; Gamine und ich folgten ihm keuchend. Wir bogen um eine Ecke und standen vor
einem steinernen Bogengang. Wir kletterten daran hinauf, duckten uns. Ich griff nach meinem
Messer.
Durch einen verdeckten Bogengang gelangten wir in den Bergfried. Unter uns hörten wir eine
verzweifelte Stimme schreien: „Oh, nein, Adric! Nein! Nein!“ Es war Cynaras Stimme.
Mit vereinten Kräften durchbrachen wir die Glasdecke und schwangen uns nach innen.
Schließlich standen wir auf einem hohen Sims ungefähr drei Meter über dem Boden des
Bergfrieds und sahen auf eine entsetzliche Szene hinunter. Die Goldene Karamy, der Zwerg
Idris und Evarin standen vor einem ganzen Ring von Särgen, deren Kristall von innen heraus
zu glühen schien. Jeder der Narabedlaner hatte ein winziges, juwelenbesetztes Schwert in der
Hand, ein Spielzeug, und in den Särgen...
„Die Träumer!“ schrie Gamine gellend.
Jetzt erst sahen wir, was Adric tat. Im Ring der Särge erhob sich eine Art Bühne, die auf
schauerliche Weise einem Altar glich, und dort standen nackte, leeräugige Sklaven in langen
Reihen. Einer nach dem anderen trat vor, tat einen stöhnenden Seufzer, als das winzige
Schwert aufzuckte, und dann — gab es den Sklaven nicht mehr.
Und Adric schob Cynara vorwärts in den Raum, zwischen den Särgen, zum Opferstein der
Träumer!
Der Anblick ließ mich alle Vorsicht vergessen. Wir sprangen vom Sims herunter und warfen
uns auf die Leiber der lebenden Leichname. Idris bellte einen Befehl; die Sklaven schwärmten
aus und versuchten uns mit ihren Leibern zurückzudrängen. Ich schlug, stieß
und biß um mich, kämpfte mich zur Spitze des Haufens durch und kam frei. Das genügte. Ich
stand auf meinen Füßen und hatte das Messer in der Hand. Hände griffen nach meinen
Beinen; ich schlug, trat, stieß, boxte; meine Stiefel trafen nacktes Fleisch, und ich hörte
brechende Knochen. Dieses Geräusch stülpte mir fast den Magen um, aber jetzt durfte ich
nicht zimperlich sein. Blut lief mir in die Augen. Gamine kämpfte sich frei. Gemeinsam
bahnten wir uns mit den Ellbogen einen Weg.
Da sprang Evarin mich an. Mein Messer traf seine Schulter, stieß nur knapp an seinem Hals
vorbei. Ich fing seinen Talisman auf, als er ihn verlor. Dann standen wir, Narayan, Gamine
und ich, endlich Rücken an Rücken im Kreis der Särge. Evarin und die anderen Narabedlaner
wichen entsetzt zurück.
Denn in den Särgen bewegte sich etwas...
Aber Adric war kein Feigling. Wieder packte er Cynara, und dann warf er das Mädchen in
einem gewaltigen Schwung mitten in den Lichtbogen des Blitzes. Narayan und Gamine
standen wie gelähmt da, aber ich kam frei, tat einen Satz vorwärts, mitten durch den blauen
Blitz hindurch! Und mir geschah nichts. Gar nichts.
Ich spürte nur ein kleines, angenehmes Prickeln, als ich Cynara mitten in der Luft auffing und
sie langsam aus dem Gefahrenkreis herauszog, der sie vernichten konnte. Narayan hob sie aus
meinen Armen und trug sie weg in Sicherheit. Dann schlug Adrics großer, schwerer Körper
gegen mich, meine Faust traf sein Kinn, und ich hörte ihn grunzen, denn wir kamen dem
Zentrum der blauen Energie immer näher.
Nun sprang mir Evarin wie eine Katze auf den Rücken. Die Hitze schoß Nadeln durch meinen
Körper. Aber dann spannte sich ein blauer Bogen von einer Giebelwand zur anderen, ein
schauerlicher Pantherschrei gellte... Und der Spielzeugmacher war verschwunden!
Blaues Licht flammte in den Särgen. Idris und Karamy rannten darauf zu und drückten ihre
Spielzeugschwerter an die Sargdeckel, doch es war zu spät. Die Spielzeuge in Narayans und
Gamines Händen spien blaues Feuer, und Schritt für Schritt zogen sich die Narabedlaner
zurück. Immer weiter...
Wie durch Zauber waren die Särge leer, und drei Männer und eine Frau scharten sich um
Narayan und Gamine. Ihre Gesichter glichen auf verblüffende Art dem Narayans und dem des
alten Rhys. Und nun riß Narayan mit einer weitausholenden Bewegung Gamine die Schleier
vom Gesicht. Ein triumphierender Schrei kam von den Lippen der Zaubersängerin, und im
Mittelpunkt der Mutanten stand Gamine, die Träumerin, die nie geschlafen hatte, die nie
gebunden worden war. Majestätisch stand sie da, eine Frau, schlank, blond und
unbeschreiblich schön. Mir fielen Iris und Osiris ein, als ihre blauen Augen funkelten und ihr
Arm sich hob, um sich aus den zerfetzten Schleiern zu schälen. Die blauen Blitze verblaßten,
und im nächsten Augenblick war der ganze Bergfried der Träumer in zitterndes, glimmendes
Regenbogenlicht getaucht.
Karamy und Idris zogen sich langsam zurück und versuchten in den Schatten zu entkommen.
Nur Adric blieb stehen. Der sah benommen drein; seine Augen hingen an Gamine.
Die Regenbogen verschwanden, und die Energie war nicht mehr zu spüren. Die Träumer
beobachteten die kauernde Karamy, die ihr Gesicht verhüllt hatte; den häßlichen, geduckten
Zwerg, die überglückliche, kniende Cynara und Adric, der Gamine anstarrte, als sei er von
einem Bann erlöst.
„Rhys hatte recht“, sagte Gamine endlich. „Die Zeit ist gekommen. Jetzt ist sie da. Und was
kommt jetzt?“
Die Träumer sahen einander an, doch Gamine schüttelte den Kopf. Ihr langes, blondes Haar
flog. „Nein. Warum sollen sie sterben? Er ist ein alter Mann, ein häßlicher Zwerg und ein
Narr, der sich nie entscheiden konnte.“ Dann sah sie Adric an. „Auch er ist ein Narr, der nie
wußte, was er wollte. Und Karamy. Nein, sie haben jetzt, da wir frei sind, keine Macht mehr.
Nicht einmal die Macht hatten sie, mich zu sehen. Habt Mitleid mit ihrer Schwäche. Wir sind
ja frei.“
Adric richtete sich hoch auf. Entschlossenheit lag um seinen Mund. Er sah Narayan an und
zuckte die Achseln. Dann wandte er sich an Gamine. „Töte mich, wenn du willst“, sagte er.
Es war Narayan, der antwortete. „Nein, Adric. Ich will, daß du siehst, was du vorher gesehen
hast, was dich wegschickte, was dich zum Wahnsinn trieb. Gamine, zeige ihm doch, was er
gesehen hat.“
Langsam trat Gamine auf Karamy zu. „Steh auf, Hexe!“
Karamy stand zögernd auf. In ihren Augen lag keine Hoffnung, in denen Gamines keine
Barmherzigkeit. Zwei Augenpaare, katzengelb und leuchtendblau, maßen einander.
„Hatte ich nicht recht?“ fragte Karamy endlich und hob ihr schönes, kaltes, stolzes Gesicht.
„Ich wußte, daß du uns vernichten würdest, Gamine, daß du unsere Welt zerstörst. Deshalb
wollte ich dich in den Tod jagen, selbst wenn es mein eigenes Leben kostete. Was ich getan
habe, mußte getan werden!“
Gamine lächelte. „Und dabei bleibst du, Karamy? Egal, ob du damit stehst, fällst oder
stirbst?“ Sie wandte sich an die anderen. „Karamy ist schön, nicht wahr?“
Ich glaube, keine Frau auf der Erde war je so schön oder wird je so schön sein wie Karamy
war. Karamy, die Goldene. Stolz, hoch aufgerichtet stand sie da, und ihre Löwenmähne
schimmerte. Sie sah Adric an, und ich erkannte das Verlangen in seinen Augen. Sie breitete
die Arme aus, und Adric ging lächelnd auf sie zu...
„Haltet ihn auf“, befahl Narayan barsch.
Einer der Träumer machte mit der linken Hand eine Bewegung, und Adric wurde von
unsichtbaren Kräften festgehalten.
„Das war Karamys Macht!“ rief Gamine mit heller, hallender Stimme. „Aber seht jetzt die
Illusion, die ihr Träumer um sie warf, um sie zu schützen! Seht!“ Mit dem kleinen Talisman
berührte sich leicht Karamys Haar.
Ein Entsetzensschrei brach aus vielen Kehlen. Karamy, die Goldene, die Erlesene! Es gibt
keine Worte für die Verwandlung, die sich mit ihr vor unseren Augen vollzog. Mir wurde
übel; Cynara schluchzte leise, aber Adric, der wie versteinert dastehen mußte, konnte nicht
wegschauen.
Gamines leises, tiefes Lachen war tödlich. „Und doch sollte ich dankbar sein“, murmelte sie
spöttisch, „denn Karamys Zauber hat meine wahre Gestalt verborgengehalten. Und jetzt bin
ich frei, Karamy, und ich bin eine Träumerin. Soll ich dir meinen Schleier geben, Schwester?
Nein? Geh weg!“ Ihre Stimme war wie ein Peitschenhieb, und das, was einmal die Goldene
Karamy gewesen war, warf die Arme über die eingesunkenen Augen und floh hinaus in die
Nacht. Wir sahen sie niemals wieder...
Das war das Ende der Goldenen Karamy.
*
Wenig später bemerkte ich, daß ich Adric anstarrte und er mich, beide verwirrt, jedoch ohne
Feindseligkeit. Cynara trat neben Adric und legte ihm einen schützenden Arm um die
Schulter.
Ich wandte mich verlegen ab, denn der Mann schluchzte wie ein kleines Kind.
Es war zuviel für mich, zuviel an Erschütterung und Anstrengung, zuviel an Schock und
Geschehnissen. Ich zitterte am ganzen Körper. „Ruhig!“ flüsterte Narayan mir zu, und seine
harte Hand an meiner Schulter bewahrte mich davor, daß ich mich wie ein Tölpel benahm.
„Du hast sehr viel für uns getan“, sagte er. „Ich wollte, wir könnten dir danken; nicht für mich
selbst, sondern für Millionen von Menschen. Vielleicht finden wir einmal eine Möglichkeit,
dich in deine eigene Welt zurückzuschicken. Da aber Rhys und Karamy...“
Adric schien bedrückt, fast eingeschüchtert zu sein, oder demütig vielleicht. Er sah mich an.
„Eines Tages wird es einen Weg geben. Wir müssen ihn finden, aber...“
Ich wußte, was sie meinten. Die Magie der Träumer konnte nicht auf die alte Art benützt
werden, und jetzt war ihre Kraft eine noch unbekannte Größe. „Inzwischen“, fuhr Adric fort,
„... bist du, so scheint mir, an mich gebunden“, ergänzte ich. Wir grinsten einander an. Diesen
Mann konnte ich nicht hassen. Wir kannten einander zu gut. Ohne seinen Zauber...
Er lachte. „Die Regenbogenstadt ist für uns beide groß genug.“
Narayan sah Adric an, dann mich. Gamine trat zu uns. „Narayan, du wirst gebraucht. Ich
kümmere mich um diese beiden.“ Sie deutete auf die erwachten Träumer, die noch ein wenig
benommen herumstanden. „Man muß ihnen sagen, weshalb und wie sie geweckt wurden.
Sklaven müssen befreit werden, Armeen...“
„Ja, das stimmt“, pflichtete Narayan ihr bei, straffte die Schultern und ging zu seinen Leuten.
Ich sah ihm nach und hatte das Gefühl, daß mein einziger Freund hier mich nun verlassen
hatte. Aber es war nicht anders möglich. Narayan gehörte zu jenen Menschen, die eine Welt
aus den Angeln heben oder sie wenigstens umformen können. Aber sein Blick sagte uns, daß
wir daran teilhaben konnten, wenn wir wollten.
Gamine nahm meine Hand und führte mich weg. Ich warf Adric und Cynara einen
bedauernden Blick zu. Cynara war sehr lieblich, sehr menschlich; vielleicht hatte ich gehofft,
daß sie mich eines Tages dafür entschädigen könnte, daß man mich in dieser fremden Welt
festhielt, die nicht die meine war. Aber durfte ich das hoffen, da Adric nun wieder er selbst
war?
Ich stand mit Gamine auf den Stufen des Bergfrieds, und ihre Stimme klang leise und sanft
durch die Dunkelheit: „Der alte Rhys hatte gewußt, daß ich mit den Kräften der Träumer
geboren war, ehe ich noch an ihn gebunden wurde. Er versteckte mich, half mir, hielt mich in
seiner Nähe. Eines Tages entdeckte es Adric. Er machte eine Wandlung durch. Zusammen
befreiten wir Narayan. Dann machte mich Karamy zu dem, was ich war, was du gesehen hast.
Das schmerzte Adric zutiefst. Es wäre mir gelungen, diesen Schmerz zu heilen — mit der Zeit
wenigstens. Aber Karamy behexte ihn. Sie nahm ihm alle Macht und Gedächtnis, all seine
Erinnerungen. Vielleicht wird er sich eines Tages daran erinnern, was ich war.“
„Gamine!“ Das war Adrics Stimme, und im nächsten Augenblick kam er herausgerannt, fing
die Träumerin ein, schloß sie in die Arme und küßte sie. Sie lachten und weinten zusammen.
Cynara folgte ihnen langsam und lächelte befriedigt. Gamine warf mir über Adrics Schulter
einen Blick zu. Adric wußte es also.
Cynaras Stimme war zärtlich und heiter, als wir die beiden in der Glorie der roten Sonne
zurückließen. „Arme Gamine“, sagte sie, „und armer Adric. Ihretwegen paßte ich auf ihn auf,
und Narayans wegen. Sie taten mir beide so leid. Michael, ich weiß... Ich wußte, daß du nicht
Adric warst...“
Cynara war sehr lieblich, sehr menschlich, und ich erinnerte mich daran, daß ich auf unserem
ersten gemeinsamen Ritt in ihre Augen gesehen hatte. Damals hatte ich mich gehaßt, weil ich
Adric sein mußte.
Ich, ein Fremder in einer Welt, an der ich nicht mitgebaut habe...
„Aber das hast du doch!“ erwiderte Cynara leise, und erst jetzt wurde mir klar, daß ich die
Worte laut gesprochen hatte. Ich sah zu Adric hinüber, der Gamine in den Armen hielt, und
die Sonne des neuen Tages war die Dämmerung seines neuen Lebens. Er hatte seine Welt
gefunden.
„Es ist auch deine Welt“, versicherte mir Cynara, nahm meine Hand und führte mich die
Stufen des Bergfrieds hinab und hinein in einen seltsamen Sonnenaufgang.
Ein Schrei löste sich aus den Kehlen der Männer und Frauen, die sich wartend um den Turm
versammelt hatten. Ich holte tief Atem und legte meinen Arm um Cynaras Schultern.
Dann rief ich Adric, auf daß er mein Glück mit mir teilte...
ENDE