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Die Schlacht um 

Camelot 

von Ekkehart Reinke 

scanned by : horseman 

kleser: Larentia 

Version 1.0 

Der Posten am niedergebrannten Wachfeuer spähte 
angestrengt in den Morgennebel. Er weckte seine 
schlafenden Kumpane. »Da kommen zwei!« warnte er.
 

Die Männer sprangen auf, griffen zu ihren Spießen und 

starrten in die weißen Schwaden, aus denen sich zwei 
Gestalten auf derben Bauernpferden lösten.
 

Der größere Reiter hatte struppiges braunes Haar. Von 

seinem Gesicht war nichts zu erkennen. Es wurde von 

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einer schwarzen Maske verdeckt. 

Als sie auf 20 Schritte heran waren, schrie der Posten: 

»Halt! Wer da?« 

Die beiden Reiter ließen sich nicht beirren. Sie kamen 

immer näher. Der kleinere, der schmächtig in den 
Schultern, aber mächtig in der Leibesmitte war, zog sein 
Schwert und stach es steil in die Luft. Einige Strahlen, die 
in diesem Augenblick als Vorhut der Sonne durch den 
Nebel schossen, ließen die Spitze der Klinge rot erglühen. 
»Platz für den schwarzen Ritter!« schrie der Dicke. »Wer 
den Weg nicht freigibt, der stirbt!« 

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Die Posten rührten sich nicht. Ihr Wortführer entgegnete: »Wir sind 
geboren, um zu sterben.« 

»Und der schwarze Ritter«, schrie der Dicke vom Pferd herab, »ist 

geboren, um zu siegen!« 

Diese Antwort verblüffte die Posten über die Maßen. Unschlüssig 

ließen sie die Spieße sinken und rückten etwas auseinander. Sie 
gehörten zu dem Aufgebot des Hauptmannes Leo, das sich »der 
verlorene Haufen« nannte und tatsächlich als Wahlspruch das Wort 
»Geboren, um zu sterben« auf seinen Fahnen geschrieben hatte. 

Ihr Hauptmann, dem sie bedingungslos die Treue hielten, war ein 

tollkühner Haudegen. Er stand im Solde von Haggan, dem 
Gräßlichen, dem Erzfeind des Königs Artus. Nachdem Roland von 
der Bildfläche verschwunden war, machte sich Haggan daran, nach 
Camelot zu ziehen, um das Schloß zu erobern, Artus vom Thron zu 
stoßen und sich selber die Königskrone aufs Haupt zu setzen. 
Hauptmann Leos verlorener Haufen bildete seine Vorhut. 

Der dicke Reiter fuchtelte ungeduldig mit dem Schwert. »Steht 

nicht da wie die Säulenheiligen! Los, führt uns zu eurem 
Hauptmann! Der schwarze Ritter will in seine Dienste treten. Der 
schwarze Ritter ist nicht gewöhnt zu warten. Er ist ein großer 
Krieger. Hauptmann Leo wird vor Freude überwältigt sein.« 

Die Posten berieten sich flüsternd. Nach einer Weile kamen sie zu 

einem Entschluß. »Folgt mir!« forderte einer die beiden Fremden auf 
und schritt voran. Die Reiter schlossen sich an. Nach einer halben 
Meile über verschneite Fußpfade, an kahlem Gehölz vorbei, 
erreichten sie ein verwahrlostes Gemäuer. Hier hatte mal eine Burg 
entstehen sollen. Aber während der Bauarbeiten waren dem Ritter 
die Dukaten ausgegangen, und der Baumeister war unter lauten 
Schmähungen auf und davongeritten. 

Hauptmann Leos Haufen lagerte zwischen halbfertigen Mauern. 

Die Männer saßen um einen riesigen, verbeulten Kessel, der über 
einem freistehenden Herd hing, und schlürften die Morgensuppe. 

Aller Augen hingen an der schwarzen Maske des größeren, 

schlanken, aber kräftig gebauten Ritters. Der Dicke wiederholte mit 

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lauter, etwas schriller Stimme sein Anliegen. 

Hauptmann Leo erhob sich. Er war ein hagerer Bursche mit einem 

von vielen Narben verwüsteten bräunlichen Gesicht. Der Blick, mit 
dem er den Dicken maß, war voll Verachtung. Es war deutlich zu 
sehen, daß er keineswegs von Freude überwältigt war. Als er sprach, 
war es, als krächze ein gewaltiger Rabe, so heiser war seine Stimme. 
»Warum läßt der schwarze Ritter dich reden?« fragte er lauernd. 
»Warum spricht er nicht selber?« 

»Er ist stumm, Hauptmann«, lautete die rasche Antwort. »Von 

Geburt an. Er kann dich verstehen. Aber sprechen kann er nur durch 
meinen Mund.  - Ich lese ihm die Worte von den Lippen. Das ist eine 
große Kunst.« 

Mit offenem Munde starrten die Kumpane des verlorenen Haufens 

die beiden Reiter an. 

»Aber warum zeigt er uns sein Gesicht nicht?« 
Der Dicke senkte den Blick, schlug drei Kreuze und schaute dann 

mit wehleidiger Miene in den nebelverhangenen Himmel. »Das ist 
eine traurige Geschichte, Hauptmann Leo«, antwortete er schließlich. 
»Sie betrifft König Artus. Dieser Herrscher, den Gott verderben 
möge, hat den schwarzen Ritter zutiefst gekränkt. Er erhob plötzlich 
Anspruch auf ein Dorf, das dem schwarzen Ritter gehörte, zeigte 
gefälschte Besitzurkunden vor und ließ den rechtmäßigen Herrn 
verjagen. »Artus, der sogenannte König von Camelot, ist der größte 
Halunke, der je über die Erde wandelte«, sagte Leo mit Überzeugung 
und spie aus, um seine abgrundtiefe Verachtung vor dem Genannten 
zu bezeigen. Versehentlich spuckte er in den Suppenkessel, was 
seine hungrigen Männer nicht im mindesten störte. Sie bedienten 
sich fleißig weiter daraus. 

»Ich freue mich, daß du die Ansicht des schwarzen Ritters teilst, 

Hauptmann«, sagte der Dicke. »Du bist also einverstanden, daß er in 
deine Dienste tritt. Er möchte mit dir als erster in Camelot eindringen 
und persönlich Artus den Todesstoß versetzen.« 

»Wenn er das will«, krächzte Leo, »soll er die Maske abnehmen 

und sein Gesicht zeigen.« 

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»Das geht nicht«, widersprach der Dicke. »Er hat ein feierliches 

Gelübde abgelegt, erst an dem Tage die Maske abzulegen, da König 
Artus besiegt und abgetan ist.« 

»Ich pfeif auf sein Gelübde! Ich will sein verdammtes Gesicht 

sehen, bevor ich mich entscheide!« 

Die Männer schauten unwillig auf ihren Hauptmann, denn für ihre 

abergläubischen Seelen war ein Gelübde etwas Bindendes, 
Unauflösliches. Einer sagte: »Willst du dich in sein Gesicht 
verlieben? Warum prüfst du nicht lieber in der üblichen Weise seine 
Geschicklichkeit, seinen Mut und seine Kraft?« 

Andere stimmten dem Sprecher zu. 
»Na schön«, sagte Leo nach kurzem Besinnen, während ein 

arglistiger Ausdruck auf seinem verwüsteten Gesicht erschien. 
»Dann wisse, schwarzer Ritter: Wer zum verlorenen Haufen gehören 
will, muß drei Prüfungen bestehen.« 

»Nenne sie«, verlangte der Dicke, »und der schwarze Ritter wird 

sie erfüllen!« 

Der arglistige Ausdruck auf Leos Gesicht verstärkte sich. »Hier ist 

die erste Probe. Er muß auf den Händen einmal um das Burggemäuer 
herumgehen!« 

Unwilliges Gemurmel erhob sich. Der Mann, der Leo schon einmal 

widersprochen hatte, protestierte erneut. »Das ist nicht die übliche 
erste Probe, Leo!« 

»Was üblich ist, bestimme ich als euer Hauptmann!« 
Ehe es noch zu einem weiteren Wortwechsel kommen konnte, war 

der schwarze Ritter schon gewandt von seinem Bauernpferd 
geglitten, hatte den Schwertgurt abgeschnallt, ihn seinem Begleiter 
gereicht und stand auf Händen unter den Männern des verlorenen 
Haufens. Das war so schnell vor sich gegangen, daß sie die einzelnen 
Bewegungen kaum mitgekriegt hatten. 

Gespannt beugte sich Leo vor. Er hatte nämlich gehofft, sowie der 

Fremde im Handstand wäre, würde die Maske sein Gesicht 
freigeben. Aber er hatte sich geirrt. Die Maske saß fest und verrückte 
sich um keinen Zoll. 

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Und schon marschierte der schwarze Ritter auf  Händen mit großer 

Leichtigkeit um das Gemäuer. Nicht einmal kam er ins Schwanken. 
Ja, er lief auf Händen so flink wie ein rüstiger Wanderer auf Füßen. 
Zum Schluß erkletterte er sogar das kleine Stück einer Wendeltreppe, 
bevor er mit einem sehenswerten Überschlag wieder auf beiden 
Füßen landete. 

Die Männer spendeten ihm lauten Beifall. Der schwarze Ritter 

dankte mit einer Handbewegung. Nur Leo blickte grämlich drein. 

»Die zweite Probe!« verlangte der Dicke, der nach seinen eigenen 

Worten der Dolmetsch des schwarzen Ritters war. 

»Das ist der Sprung übers Schwert!« verkündete Leo. 
Mehrere Männer erhoben sich und legten ein Schwert mit der 

Klinge nach oben waagerecht auf zwei in den Boden gerammte 
Pfähle, die einem normalen Mann bis an die Brust reichten. Wenn 
der Springer nicht klar über das Schwert hinwegkam, konnte er sich 
erhebliche Verletzungen zuziehen. 

Diesmal zögerte der schwarze Ritter. Er prüfte die Lage und Höhe 

des Schwertes. Dann trat er mehrere Schritte zurück und legte seinen 
Anlauf fest. Und dann lief er an. 

Aller Augen ruhten auf der geschmeidig laufenden Gestalt des 

Vermummten. 

Doch kurz vor dem Absprang hielt er im Lauf inne und wandte 

sich ab. 

Rufe ertönten: »Er hat Angst!« 
»Feigling!« 
Leo lachte höhnisch. 
Der schwarze Ritter aber winkte seinem dicken Begleiter und 

machte ihm irgend etwas durch ein paar energische Bewegungen 
klar. Daraufhin nickte der »Dolmetsch« und rief laut den Männern 
zu: »Der schwarze Ritter erachtet diese Mutprobe für zu gering. 
Rammt noch zwei Lanzen über Kreuz hinter das Schwert! Dann wird 
er springen.« 

Bewegung kam in die Männer. Das war ein Verlangen, so recht 

nach ihrem Herzen. In Windeseile kamen sie ihm nach. Die 

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gekreuzten Lanzenspitzen ragten noch gut drei Handbreit über die 
Schwertklinge. Wer so hoch sprang, mußte die Sprungkraft eines 
Hirsches haben. 

Alle wichen zurück. Die meisten erwarteten ein Schauspiel, das 

blutig enden würde. Noch nie hatte sich einer von ihnen so hoch in 
die Luft geschwungen. 

Diesmal machte es der schwarze Ritter kurz. Nur fünf Schritte 

Anlauf gönnte er sich. Dann sprang er ab. Die Männer johlten. 

Hoch auf schwang sich der schwarze Ritter. Mit angezogenen 

Beinen, die Knie in Brusthöhe, überquerte er die scharfe 
Schwertklinge, stieg noch höher und flog gefahrlos über die 
gekreuzten Lanzenklingen. 

Wenigen Augenblicken betroffener und ungläubiger Stille folgte 

lauter Jubel. Die Männer umringten den kühnen Springer und 
schüttelten ihm die Hände. Er ließ diesen allgemeinen 
Freudenausbruch mit ruhiger Würde über sich ergehen. Dann machte 
er sich frei und gab dem Dicken ein Zeichen. Er hob dabei drei 
Finger der rechten Hand in die Höhe. 

»Der schwarze Ritter verlangt die dritte Probe«, übersetzte sein 

Dolmetsch mit lauter Stimme. 

»Die soll er haben«, krächzte Hauptmann Leo, der mit finsterer 

Miene bei den beiden Lanzen stand. Plötzlich riß er eine aus dem 
Boden und stürzte, die Spitze der Waffe nach vorn gekehrt, auf den 
schwarzen Ritter los. Die Männer raunten untereinander. 

Die scharfe Lanzenspitze war nur noch zwei Fuß vom Kopf des 

schwarzen Ritters entfernt, als der plötzlich von seinem Platz 
verschwand und waagerecht in der Luft lag. Mit den Füßen voran 
flog sein schlanker, muskulöser Körper unter der Lanze auf Leo zu. 
Seine Sohlen krachten wuchtig gegen die Brust des 
vorwärtsstürmenden Hauptmanns. 

Der Hauptmann prallte zurück, als habe ihn ein fallender 

Baumstamm getroffen. Er stürzte schwer auf den Rücken, ließ die 
Lanze fahren und wälzte sich stöhnend am Boden. 

Der schwarze Ritter stand bereits wieder vor ihm, hob die Lanze 

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auf und wartete in geduckter Haltung. 

Es dauerte geraume Zeit, bis sich Leo vom Boden aufraffte. Mit 

blutunterlaufenen, wuttriefenden Augen betrachtete er seinen Feind. 
Dann schlich er vorsichtig näher. Dabei zog er ein langes Messer aus 
dem Wams und hob es zum tödlichen Wurf. 

Der schwarze Ritter ließ es nicht dazu kommen. Er schlug mit der 

Lanze um sich wie mit einem Dreschflegel. Er fühlte sich dazu 
berechtigt, weil ihn Leo ja als erster und ohne Vorwarnung mit dieser 
Waffe angegriffen hatte. Hätte er nicht so rasend schnell reagiert, 
wäre er von ihr durchbohrt worden. 

Der Schaft traf den Hauptmann seitlich am Kopf, etwas über dem 

Ohr. Der Schwung schleuderte den Anführer des verlorenen Haufens 
seitwärts zu Boden, und der Anprall betäubte ihn. Leo zuckte noch 
ein bißchen. Dann blieb er regungslos liegen. Sein Kopf ruhte nicht 
weit von dem Kessel mit der Morgensuppe entfernt, in die er eben 
noch so großspurig hineingespuckt hatte. 

Der dicke Dolmetsch rief: »Wenn das die dritte Probe war, so hat 

der schwarze Ritter sie ebenfalls bestanden!« 

Die Männer ließen ihn kaum ausreden. Wieder umringten sie den 

Maskierten, und wieder drängten sie sich, ihm die Hand zu schütteln. 
Ihren niedergestreckten Hauptmann würdigten sie kaum eines Blicks. 

Alle sprachen durcheinander, erregt, begierig und begeistert. Aus 

den wirren Reden entnahmen der schwarze Ritter und sein Begleiter 
schließlich, daß nicht nur die dritte Probe bestanden worden sei. 
Bedeutenderes war geschehen. 

Durch seinen Sieg über Leo war der schwarze Ritter zum neuen 

Hauptmann der Schar geworden. So wollten es die ungeschriebenen 
Regeln des verlorenen Haufens. Leo aber würde sich nach seinem 
Aufwachen als einfacher Mann unter den anderen Männern 
wiederfinden. Und er hegte keinen Zweifel daran, daß er dieses Los 
ohne Aufbegehren ertragen würde. Wie es schien, war er selber erst 
vor einem Monat auf die gleiche Weise zum Hauptmann 
aufgestiegen. 

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Gegen Mittag kam Leo zu sich. Langsam richtete er sich auf und 
blickte mit blöden Augen um sich. Dann faßte er sich stöhnend an 
den Kopf. Aber trotz seines Brummschädels merkte er an der 
Haltung der Männer im Lager, daß sich seine Lage grundlegend 
verschlechtert hatte. 

Er winkte einen der Männer zu sich. Der schüttelte den Kopf. Leo 

machte einem anderen Zeichen. Der wandte sich brüsk ab. Erst der 
fünfte kam langsam herangeschlurft und ließ sich nach einigem 
Bitten dazu herab, dem immer noch benommenen Exhauptmann zu 
berichten, was sich inzwischen ereignet hatte. 

Leo ließ sich nichts anmerken. »Auch gut«, krächzte er, heiserer 

denn je. »Bin sowieso geboren, um zu sterben.« 

Mühsam stellte er sich auf die Beine, ging an den Brunnen und ließ 

eine Menge Wasser in sich hineinlaufen. Danach erholte er sich 
schnell. 

Eine Stunde später gab der neue Hauptmann das Zeichen zum 

Aufbruch. Der Dicke erklärte der Mannschaft: »Wir reiten acht 
Meilen bis vor das Dorf Mollett, das zu Camelot gehört. In einem 
Birkenwäldchen eine Meile westlich von Mollett verbringen wir die 
Nacht. Bei Tagesanbruch führt euch der schwarze Ritter zum Sturm 
auf das Dorf. Wir nehmen es ein, töten jeden, der sich widersetzt, 
und plündern nach Herzenslust. Aber wir töten keinen, der gutwillig 
ist. Wir wollen uns die Dorfbewohner nicht unnötig zu Feinden 
machen. Denn das Dorf wird für die nächste Zeit unser Hauptquartier 
für erste Vorstöße gegen Schloß Camelot.« 

Die Männer nahmen die kleine Ansprache gut auf. Sie waren lange 

genug untätig gewesen. Es dürstete sie nach kühnen 
Unternehmungen. Die Stelle »plündern nach Herzenslust« wurde mit 
wildem Jubel aufgenommen. 

Dann ritten sie, der Hauptmann an der Spitze, in einer Reihe 

hintereinander. Die Sonne in ihrem Rücken stand schon tief am 
Horizont und färbte den Schnee an vielen Stellen blutrot. 

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Es war eine zusammengewürfelte Schar. Keiner trug die gleiche 

Waffe wie sein Vorder- oder Hintermann. Man sah türkische 
Krummsäbel, schwere Zweihänder, Stoßdegen, Morgensterne, 
Armbrüste, Pfeil und Bogen, Wurfmesser und Katapulte. Keine 
dieser Waffen war ehrlich erworben. Ebensowenig wie eins der 
Pferde, auf denen sie dem Dorf Mollett entgegenritten. 

Die Männer hatten die unterschiedlichsten Schicksale hinter sich. 

Sie kannten Not und Hunger so gut wie Mord und Brand. Es waren 
verkrachte Adlige, entlaufene Sträflinge, Vagabunden, Flüchtige vor 
dem Gesetz, ehemalige Räuber, Mörder und Diebe. 

Die Kälte biß in ihre fadenscheinigen Wämser, und der Wind fuhr 

schneidend durch die vielfach geflickten und doch immer irgendwo 
löchrigen Hosen. Sie hielten die Köpfe gesenkt, um die bärtigen 
Gesichter vor  dem  Ostwind zu schützen. Aber sie waren nicht 
bedrückt. Die Worte des Dicken hatten Hoffnung in ihren elenden 
Seelen entzündet. Der Gedanke an Plünderei, an warme Hütten mit 
knallglühenden Öfen, an dralle Bauernmädel versetzte sie in gute 
Stimmung. 

So hatte ihr neuer Hauptmann keinerlei Mühe, den verlorenen 

Haufen, der 25 Köpfe zählte, beisammenzuhalten. Sie hielten kurzen 
Abstand voneinander, und jeder hing seinen persönlichen Träumen 
von Mollett nach. Wer unterwegs pissen mußte, stieg nicht erst 
umständlich ab, sondern erledigte sein Geschäft gleich vom Pferd 
aus, im Weiterreiten. Manchmal fluchte der Nachfolgende, wenn ihm 
der Wind einen feinen Sprühregen entgegenschlug. Aber sein Ärger 
war schnell vergessen. 

Mollett war nicht mehr als eine Ansiedlung geduckter Hütten. 

Aber für die durchgefrorenen Reiter war es wie eine Verheißung. Sie 
sahen die Strohdächer weit in der Ferne von einer Anhöhe im Wald 
und fühlten so etwas wie Heimweh. Wie glücklich mußte jeder sein, 
der zur Nachtzeit sein Haupt unter so ein Dach betten durfte! 

Ihr Hauptmann, der geheimnisvolle schwarze Ritter, führte sie 

dicht vor dem Waldrand in eine geschützte Mulde. »Hier werden wir 
die Nacht verbringen«, teilte er ihnen durch den Mund seines dicken 

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Begleiters mit. »Jeder kratze sich ein Lager im Schnee! Feuer werden 
nicht angemacht! Die Dorfbewohner würden sie sehen und gewarnt 
sein. Bei Anbrach der Morgendämmerung greifen wir an. Wir 
werden die meisten im Schlaf überraschen. Auch wenn Krieger aus 
Camelot im Dorf sind, werden wir sie besiegen. Ihr seid geboren, um 
zu sterben  - aber ich bin geboren, um zu siegen. Folgt mir und 
gehorcht mir aufs Wort, so werdet ihr den Tod vermeiden und die 
süßen Früchte des Sieges kennenlernen!« 

Dann teilte er vier Männer als Wachen ein und wies ihnen ihre 

Posten am Waldrand an. Er versprach ihnen, daß sie nach zwei 
Stunden abgelöst werden würden. 

Plötzlich entstand stürmische Bewegung vor dem schwarzen 

Ritter. Ein stoppelbärtiger Mann mit einem auffallenden 
Gesichtszinken, der ihm den Beinamen »Scharfnase« eingebracht 
hatte, trieb sein Pferd, das er einem wohlhabenden Kaufmann 
gestohlen hatte, dicht an den Dicken heran. 

»Sag dem schwarzen Ritter...«, begann er. 
Der Dicke unterbrach ihn schroff: »Sag es ihm selber! Er  versteht 

jedes Wort. Er ist nur stumm, nicht taub. Ich sagte es euch. Bist du so 
vergeßlich?« 

»Dann höre, schwarzer Ritter! Dein Plan ist feigherzig und dumm. 

Wir sollen uns hier den Arsch abfrieren, statt das Dorf sofort zu 
stürmen? Wir sollen hungern statt zu fressen? Jetzt müssen wir 
angreifen  - jetzt! Ich will in dieser Nacht meinen Bauch mit 
Bauernspeck und Bauernbrot vollschlagen, in einem Bett auf 
Gänsefedern liegen und auf einer lustigen Bauerndirne reiten. Gib 
den Befehl zum Angriff - jetzt gleich! Sonst...« 

»Was sonst?« fragte der Dicke kalt. 
Scharfnase ließ seinen Gaul einige Schritte zurücktreten. Mit 

geübter Bewegung brachte er seine Waffe in Schwung. Sie war 
ungewöhnlich, aber ungeheuer gefährlich, weil es anscheinend kein 
Gegenmittel gab. Sie bestand aus einem kurzen Eisenstab. An ihr 
befestigt war eine wohl drei Klafter lange geschmeidige Kette, an 
deren vorderem Ende eine schwere Eisenkugel hing. 

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Der verlorene Haufen nannte diese Waffe »Scharfnases 

Todesgruß«. 

Und schon ging Scharfnases Todesgruß auf die Reise! Der Dicke 

wurde von dem Angriff völlig überrascht. Die schwere Eisenkugel 
am vorderen Ende der Kette hätte ihm unweigerlich den Schädel 
zerschmettert, wenn sein Bauernpferd nicht gerade in diesem 
Augenblick vor einer aufflatternden Wachtel gescheut hätte. So flog 
die Kugel drei Handbreit am Kopf des Reiters vorbei. 

Doch im nächsten Augenblick wickelte sich die Kette um den 

wohlgerundeten Leib des ritterlichen Gefolgsmannes und fesselte ihn 
wie eine riesige Schlange. Scharfnase ruckte mit dem Eisenstab, und 
der Dicke purzelte kopfüber in den Schnee. 

»Gib Befehl, daß wir sofort angreifen, Hauptmann!« verlangte 

Scharfnase, »oder du bist der nächste!« 

Drei Männer, darunter auch Leo, stürmten mit ihren Pferde vor und 

gesellten sich zu Scharfnase. Sie mußten sich während des Rittes 
durch den Wald heimlich abgesprochen haben. Auch die drei Männer 
zogen drohend die Waffen: eine Pike, einen Morgenstern und ein 
wuchtiges Schwert. 

Die Maske verbarg den Ausdruck der Verachtung, den der 

schwarze Ritter für diese Männer empfand. Und die einbrechende 
Dunkelheit verhinderte, daß einer der vier Aufrührer den stahlharten 
Ausdruck in den blauen Augen des Maskierten wahrnahm. Was nun 
geschah, geschah ohne Warnung. 

Sein Schwert flog aus der Scheide wie aus eigenem Antrieb. Ehe 

Scharfnase eine Bewegung machen konnte, fiel es auf die Kette 
seines Todesgrußes nieder und zerhieb sie, als wäre sie aus Butter 
geschmiedet. 

Denn das Schwert des schwarzen Ritters war hart wie ein Fels, 

geschmeidig wie eine Bogensehne und scharf wie ein Rasiermesser. 

Ehe auch nur einer Piep sagen konnte, sauste das Schwert noch 

zweimal durch die Luft. Es zerhieb den Morgenstern, so daß seinem 
Besitzer nur ein jämmerlicher Stiel in der Hand verblieb. Und es 
zerschlug ein wuchtiges, aber altersschwaches und schlecht 

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geschmiedetes Schwert. 

Voll Schrecken sah der vierte Aufrührer, der Mann mit der Pike, 

wie sich nun der schwarze Ritter gegen ihn wandte. Er begriff, daß er 
die falsche Seite gewählt hatte. Mit einem Aufschrei warf er sein 
Pferd herum. Er meinte, der schwarze Ritter werde sie alle vier 
wegen ihres Ungehorsams töten, und er floh. 

Doch er kam nicht weit. Sein Hauptmann holte ihn nach fünf 

Galoppsprüngen ein, packte ihn am Kragen und riß ihn aus dem 
Sattel. Schreiend ließ der Mann seine Pike fallen. Er hatte Glück, daß 
er sich nicht selber damit erstach. Es fehlten nur drei Handspannen. 

Inzwischen hatte der Dicke sich von der abgeschnittenen Kette 

befreit. Er sprang auf und stürzte sich auf seinen Peiniger, der immer 
noch mit blödem Gesichtsausdruck seine unbrauchbar gewordene 
Waffe betrachtete. 

Die übrigen Mitglieder des verlorenen Haufens brachen in lauten 

Beifall aus. Jetzt wären sie für ihren neuen Hauptmann durchs Feuer 
gegangen. Nichts imponierte ihnen als körperliche Stärke. 

Der Dicke packte den besiegten Aufrührer an seinen Schultern. 

»Du wolltest doch so gern noch heute abend ins Dorf!« rief er. »He, 
Schafsnase!« Diese Abänderung des ursprünglichen Beinamens 
Scharfnase fand ebenso ungeteilten Beifall der Männer. »Der 
schwarze Ritter und ich unternehmen jetzt einen Erkundungsritt nach 
Mollett, um die Stärke des Gegners und seine Stellungen 
auszuspähen. Du wirst uns begleiten!« 

Mit steifen Bewegungen stieg Schafsnase auf sein Pferd. Er 

bewegte sich wie in Trance. Von der plötzlichen Wendung der Dinge 
hatte er sich noch nicht erholt. 

Bevor sie abritten, rief der Dicke: »Haut euch aufs Ohr! Es bleibt 

dabei: morgen früh greifen wir an! Es könnte euer letzter Schlaf auf 
Erden sein, drum nutzt ihn aus!« 

Die Männer murmelten Zustimmung und machten sich daran, 

Schnee wegzuschaufeln und sich ein kümmerliches Nachtlager zu 
richten. Sie beneideten die drei nicht, die jetzt in die beginnende 
Nacht dem Dorf Mollett entgegenritten. Und sie sahen, daß 

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Schafsnase plötzlich vor Angst zitterte. 

In einem Gebüsch kaum 100 Klafter vor den ersten Hütten von 
Mollett warteten der schwarze Ritter, sein dicker Adjutant und der 
vor Angst zitternde Schafsnase, bis ein Käuzchen schrie. Erst einmal. 
Dann nach einer Pause zweimal. Wieder Pause. Und nun schrie das 
Käuzchen dreimal. 

Der Dicke antwortete mit dem Ruf des Hähers, der ihm jedoch ein 

wenig mißlang. Dennoch schien das Signal verstanden worden zu 
sein. Denn bald nahten zwei Reiter, und der schwarze Ritter trat vor 
das Gehölz und zeigte sich im schwachen Mondlicht. 

Die Ankömmlinge waren niemand anders als der fahrende Sänger 

Volker vom Hohentwiel und der schwarzbärtige Knappe Louis. Mit 
ängstlichen Augen beobachtete Schafsnase, wie sich die vier  Männer 
herzlich begrüßten. Er versuchte, sich im Schutz der Dunkelheit 
davonzustehlen. Doch da schoß der Arm des schwarzen Ritters 
hervor und packte ihn am Kragen. 

Eine Stimme sagte: »Dies ist unser erster Gefangener.« Erst nach 

einer Weile begriff Schafsnase, daß diese klare, klingende Stimme, 
die er noch nie zuvor vernommen hatte, dem angeblich stummen 
schwarzen Ritter gehören mußte! 

Der nahm jetzt den Helm vom Kopf und entledigte sich mit einer 

weiteren Bewegung der struppigen braunen Perücke und der 
schwarzen Maske. Darunter wurden die hellblonden Haare und die 
kühnen, jungen Gesichtszüge des Artus-Ritters Roland sichtbar! 

»Wie steht es auf Camelot?« fragte Roland gespannt. 
»Wir haben dem König reinen Wein über alle Vorgänge 

eingeschenkt«, erwiderte Volker. »Er zeigte sich hocherfreut über 
deine Rettung, bedauert zutiefst seine Irrtümer, sein Zweifeln an dir 
und heißt deinen großartigen Plan für gut!« 

Roland stieß einen tiefen Seufzer aus. Eine Zentnerlast hatte ihm 

Volker mit seinen wenigen Worten von der Seele genommen. Nun 

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konnte er doch noch hoffen, daß sein Schicksal, das ihn in den 
vergangenen Wochen in die tiefsten Tiefen menschlicher Existenz 
geführt hatte, zum Besseren wenden würde. 

Jetzt gehörte König Artus zu den wenigen Menschen auf der Welt, 

die wußten, daß Roland noch am Leben war und ihm unwandelbar 
die Treue hielt. 

Fast alle anderen hielten Roland für tot. Und so war es dazu 

gekommen: 

Vor einiger Zeit hatte ihm der König die schwere Aufgabe gestellt, 

Haggan den Gräßlichen zu ergreifen und gefangen nach Camelot zu 
bringen. Dieser Haggan war ein bärenstarker, überaus schlauer, im 
Waffenhandwerk hochbefähigter, aber moralisch völlig skrupelloser 
und grausamer Raubritter. Es gab kaum ein Verbrechen, das er in den 
letzten Jahren nicht begangen hätte. Mit Brandstiftung und 
Vergewaltigung, Vater- und Brudermord hatte es angefangen. 

Dann sammelte er eine große Bande ebenso verwegener wie 

skrupelloser Männer um sich, die sich die Höllensöhne nannten. An 
ihrer Spitze brandschatzte und plünderte er das Land. Und mit 
diesem Heer, dem keine menschliche Schlechtigkeit fremd war, 
wollte er König Artus bekriegen, Camelot erobern, den König vom 
Thron stoßen und sich selber die Krone aufs Haupt setzen. 

Nach gefährlichen Abenteuern war es Roland gelungen, Haggan 

aufzuspüren und zu überwinden. Doch noch als Gefangener bewies 
Haggan seine große Gefährlichkeit. Mit teuflischen Listen 
überzeugte er Roland davon, daß alle Anklagen gegen ihn das Werk 
neidischer Gegner seien und keine davon wahr sei. 

Roland war tief beeindruckt. Wie hatte man diesem Manne 

Unrecht getan! dachte er. Und sein edles Herz gebot ihm, ihn 
freizulassen. Dafür gab ihm Haggan das große Ritterehrenwort, 
spätestens zehn Tage später freiwillig nach Camelot zu kommen  und 
seine Unschuld nachzuweisen. 

Haggan kam nie. Hohnlachend brach er sein Wort. Lauter denn je 

verkündete er, daß er die Macht im Lande an sich reißen wolle. Seine 
Verbrechen mehrten sich. Roland erkannte, daß er schmählich 

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getäuscht worden war. 

Es erging ihm schlecht. Die Tafelrunde forderte Rolands Kopf. Mit 

blutendem Herzen verurteilte ihn Artus zur schwersten Strafe, der 
Entritterung. Gefesselt wurden ihm Rüstung und Waffen Stück für 
Stück vor allem Volke entrissen und zertrümmert. Danach sollte er 
gehenkt werden. 

Nur einen einzigen Gnadenbeweis empfing Roland. Er durfte den 

Tag seiner Entritterung selber bestimmen. Und da folgte er einem 
Rat, den ihm sein alter Lehrmeister, der Einsiedler Klaus, durch 
Boten zukommen ließ. 

Als Roland den Galgen besteigen sollte, verfinsterte sich die Sonne 

und tauchte den hellen Tag in nächtliche Dunkelheit. Der gelehrte 
Klaus hatte dieses Naturereignis, eine Sonnenfinsternis, 
vorausberechnet. Volk und Ritter aber gerieten in höchste Angst. Ein 
Chaos setzte ein. In der allgemeinen Verwirrung gelang Roland die 
Flucht mit Heide, seiner Geliebten. 

Seine beiden Knappen Louis und Pierre, sein Freund Volker und 

Omar, der Junge aus dem Morgenlande, einst Lieblingssklave 
Haggans, hatten ihm dabei geholfen. Im Lande aber galt Roland für 
tot. »Der Teufel hat ihn geholt«, flüsterten sich die Leute nach dem 
für sie unbegreiflichen Ereignis der Sonnenfinsternis zu. 

Obwohl Roland gesund war und sich in Freiheit befand, war er 

dennoch so gut wie tot. Freiheit? Vogelfrei war er! Jeder, der ihn 
erkannte, hatte das Recht, ihn wie einen tollen Hund 
niederzumachen, und würde wohl noch eine Belohnung dafür 
bekommen. 

Deshalb hatte sich Roland auf seiner Flucht bald von Heide 

getrennt. Und von Samum, seinem unvergleichen feurigen 
Araberhengst. Er wollte die beiden nicht in Gefahr bringen. Dann 
kam ihm die Idee, sich als schwarzer Ritter auszugeben. So würde 
ihn niemand erkennen. Und sein Knappe Pierre hatte sich als überaus 
nützlicher Helfer bei dieser Maskerade erwiesen. 

Mit wenigen Worten schilderte Roland jetzt seinen Freunden die 

Lage des von ihm übernommenen verlorenen Haufens. »Die 

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ausgestellten Wachen, vier an der Zahl, übernehme ich selber. Ich 
weiß genau, wo ich sie antreffe. Sie werden mir als ihrem 
Hauptmann gegenüber kein Mißtrauen haben. Es wird ein leichtes 
für mich sein, einen nach dem anderen mundtot zu machen und zu 
entwaffnen. Dann erwarte ich euch. In der sechsten Morgenstunde 
müßt ihr in der Nähe sein. Die Nacht ist sternklar. Kommt genau aus 
der Richtung des Nordsterns und meldet euch mit dem Ruf der Eule! 
Meine Männer werden tief schlafen. Zu fünft müßten wir ihrer ohne 
Zwischenfälle Herr werden können.« 

Volker und Louis stimmten ihm lebhaft zu. 
In diesem Augenblick ertönte ganz in der Nähe ein 

Schmerzensschrei. Die beiden Ritter und die Knappen fuhren 
alarmiert in die Höhe. Der Gefangene hatte die Gelegenheit benutzt, 
das Weite zu suchen! Nur sein Pferd stand noch da, wo er 
abgestiegen war. 

»Verdammt!« entfuhr es Louis. 
Doch da erscholl fröhliches Gelächter. Und gleich darauf erschien 

Omar, der Junge aus dem Morgenlande. Er stieß den Gefangenen vor 
sich her. Im Sternenlicht blitzte Omars gebogene Messerklinge auf. 
»Wollen wegrennen, diese Mann«, berichtete er grinsend. »Omar ihn 
halten, extraprima.« Man sah, daß er Schafsnase bereits gefesselt 
hatte. 

»Gut gemacht, Omar!« rief Roland und drückte dem Jungen, der 

ihm in den Tagen seiner Befreiung ans Herz gewachsen war, lebhaft 
die Hand. 

»Ja, unser Omar kann mehr als Brot essen«, sagte Louis lachend. 

»Er ist unter meiner Anleitung ein großartiger Kenner des 
Ritterwesens geworden. Los, Omar, erzähle Ritter Roland einmal, 
wie ein echter Ritter sein muß!« 

Omar ließ sich nicht zweimal auffordern. In einwandfreier Sprache 

sagte er den Satz auf, den ihm Louis in vielen Stunden eingebleut 
hatte: »Ein echter Ritter fürchtet weder Tod noch Teufel, aber um so 
mehr sein Eheweib!« 

Alle lachten. 

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Doch es wurde Zeit, daß sich Roland und Pierre auf den Rückweg 

machten. Schafsnase überließen sie der Obhut der Freunde. Der 
ehemalige Aufrührer schlotterte jetzt an allen Gliedern. Er glaubte, 
man wolle ihm ans Leben. Da half auch kein beruhigendes Wort 
Volkers. Der Anblick von Omars Messerklinge hatte dem ehedem so 
prahlerischen Mann den Rest gegeben. 

Vorsichtig näherten sich indessen Roland und sein dicker Knappe 

dem Waldrand. Der Ritter hatte sich wieder mit Perücke und Maske 
unkenntlich gemacht. Jeden Augenblick mußte ein Posten sie 
anrufen. 

Doch nichts geschah. Die Posten hatten ihre Stellungen offenbar 

verlassen! Wahrscheinlich hatte ihnen die Zeit bis zur nächsten 
Ablösung zu lange gedauert. Diese zügellosen Männer, die eher 
wilden Räubern als disziplinierten Kriegern glichen, waren nur 
gehorsam, wenn ihr Hauptmann ständig sein Auge scharf auf sie 
heftete. 

Sie ritten bis zur  Mulde weiter, stiegen ab und schauten sich um. In 

der Dunkelheit waren die einzelnen Männer kaum zu erkennen. 
Unmöglich zu sagen, ob sich die verschwundenen Wachtposten 
darunter befanden oder nicht. Ein Uneingeweihter wäre vermutlich 
an der Mulde vorbeigeritten, ohne zu merken, daß hier überhaupt 
Menschen lagen. Höchstens hätte er den einen oder anderen 
schnarchen hören. 

Aber nicht alle schliefen schon. Während Roland und Pierre sich 

einen Platz am Rande des Lagers suchten, sprach wie aus dem 
Dunkel die Stimme eines Mannes an. »Na, Hauptmann, wie sieht es 
in Mollett aus?« 

Pierre fuhr zusammen. Doch er faßte sich sofort und antwortete 

ohne Zögern: »Wir zählten 60 Krieger aus Camelot. Sie sind auf fünf 
Häuser verteilt. Sie ahnen nichts von unserer Nähe. Wir werden 
morgen früh ein Haus nach dem anderen ausräuchern. Keine Sorge!« 

»Mir ist's gleich, wann und wo ich draufgehe«, sagte der Mann. 

»Wo ist Schafsnase?« 

»Auf Posten.« 

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Der Mann grunzte noch einmal. Dann verstummte auch er. 

Zur vereinbarten Zeit schrie eine Eule fünfmal. Es war die Stunde 
vor der Morgendämmerung, die dunkelste Stunde der Nacht. In der 
Mulde rührte sich nichts. Alle lagen in tiefem Schlaf. Man hörte nur 
gleichmäßiges Atmen. 

Roland stieß Pierre vorsichtig an.  Der Knappe bewegte den Arm, 

um anzuzeigen, daß er wach war. Dann schlich sich Roland 
unendlich behutsam aus dem Rund der Schläfer. Nicht einmal der 
Schnee knirschte. 

Wieder schrie die Eule. Roland ließ sich von ihrem Ton leiten. 

Nach einer Viertelstunde traf er auf seine Freunde. Flüsternd 
verständigte er sie von der Lage. 

Es bedurfte nur weniger Worte. Dann schlichen sie in die Mulde, 

tiefgeduckt, sorgsam die Fußte setzend, ängstlich darauf bedacht, 
keinen der Schläfer zu wecken. Zwischen den hingestreckten 
Männern ertasteten sie mit den Händen die lässig abgelegten Waffen, 
nahmen sie an sich und robbten lautlos davon. Kein einziger wurde 
wach. 

Als es hell wurde, hatten sie die Waffen des verlorenen Haufens 

weit außerhalb der Mulde zusammengebunden und im Buschwerk 
versteckt. Dann umstellten sie die Schlafenden und begannen, mit 
den Schwertern gegen ihre Schilde zu schlagen. Das Geräusch hätte 
Tote aufgeweckt. Verschlafen schälten sich die Männer aus ihren 
schmutzigen Decken und wischten sich die Augen. 

Dann sahen sie es. Auf dem Rand der Mulde standen, mit je zehn 

Schritt Abstand, ihr neuer Hauptmann und sein dicker Dolmetsch. 
Aber da waren noch drei andere Männer, die keiner von ihnen 
kannte! 

Plötzlich rief der Dicke: »Es ist soweit, Männer! Wir ziehen nach 

Mollett! Greift zu den Waffen!« 

Schwerfällig erhoben sich die Männer des verlorenen Haufens. In 

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dieser eiskalten Morgenfrühe  - nach einer Nacht, in der so mancher 
von Alpträumen heimgesucht worden war  - wollte kein Fünkchen 
Begeisterung unter ihnen aufkommen. Das Wort Mollett hatte jeden 
Reiz verloren. Jetzt roch es nicht nach Speis und Trank, nach Wärme 
von Hütten und Mädchenleibern. Jetzt stank das Wort nach Blut, 
Verwundung, Schmerz und Tod. 

Mürrisch bückten sie sich. Wo waren die Waffen? Sie suchten mit 

frostklammen Fingern unter den Decken und tasteten über den 
gefrorenen Schnee. 

Die Waffen waren weg! Sie fluchten, stießen gräßliche 

Schimpfwörter aus und beschuldigten einander gemeinen 
Kameradendiebstahls. 

»Na, Männer, wird's bald?« rief der Dicke, und sie haßten seine 

arrogante Stimme. 

Und dann schrien sie alle durcheinander. »Beim Teufel, ich kann 

meinen Morgenstern nicht finden!«  - »Meine Lanze und mein 
Knüppel sind verschwunden!«  - »Das  ist der Höllenspuk!«  - »Wir 
sind waffenlos!« 

Die rauhen Männerstimmen wehklagten: »... waffenlos!« 
»Ja, das seid ihr!« höhnte der Dicke. »Waffenlos und wehrlos. Ihr 

seid auf Gnade und Erbarmen in unserer Gewalt. Wer sich uns 
widersetzt, ist unwiderruflich des Todes! Und nun seht, wen ihr zum 
Hauptmann gewählt habt, ihr Verblendeten!« 

Alle Blicke richteten sich auf den schwarzen Ritter. Mit 

gemessenen Bewegungen nahm Roland Helm, Perücke und Maske 
vom Haupte. Schneidend fuhr seine helle Stimme über sie  hin und 
ließ sie nachhaltiger erschauern, als der klirrende Frost es zuwege 
brachte. 

»Ich bin Roland, ein Ritter des Königs Artus! Diese drei Männer, 

die ihr nicht kennt, sind meine Gefährten. Sie werden euch jetzt nach 
Schloß Camelot bringen. Ihr werdet  das weiße Schloß eher erblicken, 
als ihr es euch in euren Träumen vorgestellt habt. Aber nicht als freie 
Männer, sondern als Gefangene!« 

Die Männer starrten ungläubig den jungen blonden Ritter an. 

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Allmählich begriffen sie ihre elende Lage. Sie stöhnten und stießen 
ohnmächtige Flüche aus. 

Doch Volker ließ kein langes Jammern zu. Er übernahm das 

Kommando. Er gebot Ruhe, scheuchte die niedergeschlagenen 
Männer zu ihren Gäulen und ließ sie in zwei Reihen Aufstellung neh-
men. Indessen beluden Louis und Pierre  drei Packtiere mit den 
erbeuteten Waffen. 

Dann ritten sie los. Nach Osten, der aufgehenden Sonne entgegen. 

An der Spitze ritt Louis. Volker trieb hinten zur Eile an. Mit einigem 
Abstand folgten Omar und die Packpferde. 

Sie hatten keinerlei Mühe mit den Gefangenen, die abgestumpft 

wirkten und sich widerspruchslos in ihr Schicksal ergaben. Nur einer 
murrte: »Wenigstens hätten sie mich noch eine Bauerndirne 
umarmen lassen sollen!« 

»Prahlhans«, sagte sein Nebenmann. »Eine Dirne, die sich mit 

einem so verlotterten Strauchdieb wie dir einläßt, gibt es auf der 
ganzen Welt nicht!« Plötzlich bemerkte er Schafsnase, dem Omar 
inzwischen die Fesseln abgenommen hatte. »Ach, sieht man dich 
auch mal wieder?« 

»Halt's Maul«, verwies ihn der Mann mit dem auffallenden 

Gesichtszinken, der seine frühere Frechheit wiedergewonnen hatte. 
»Gegen mich seid ihr doch alle Grünschnäbel. Schließlich bin ich 
schon zehn Stunden länger in Gefangenschaft als ihr! Also, wenn 
hier einer was zu sagen hat, dann bin ich es!« 

Von einer kleinen Anhöhe aus sah Ritter Roland nachdenklich der 

lang auseinandergezogenen Schar nach. Irgend etwas war ihm vorhin 
beim Anblick der Gefangenen flüchtig in den Sinn gekommen. Doch 
er bemühte sich vergeblich, es in die Erinnerung zurückzurufen. 
Plötzlich bemerkte er, daß sich Pierre noch neben ihm befand. 

»Willst du nicht mit den anderen reiten?« fragte Roland. 
»Mir ist gerade etwas Seltsames eingefallen, Ritter«, sagte Pierre, 

und seine runden Augen strahlten. »Ich habe während unseres 
ganzen Abenteuers mit dem verlorenen Haufen nicht einmal Hunger 
oder Angst gehabt wie sonst! Könnt Ihr Euch das erklären?« 

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»Wahrscheinlich konntest du vor lauter Aufregung nicht an deinen 

Magen und an deine kostbare Haut denken.« 

»So wird es sein«, meinte Pierre. »Aber jetzt sehne ich mich doch 

mächtig nach den weichen Betten und den fetten Fleischtöpfen von 
Camelot! Ich nehme an, Ihr macht noch einen Abstecher nach 
Mollett?« 

Roland nickte, und Pierre ritt nach einem Abschiedsgruß dem Troß 

nach, der sich ohne Eile durch die Ebene schlängelte. Nun war der 
Ritter allein. Mächtige Gefühlsstürme zogen durch seine Seele. Er 
war nicht mehr vogelfrei! Artus hatte ihn wieder zum Ritter mit allen 
Ehren und Pflichten gemacht! Welch eine Wende! 

Und im Dorfe Mollett harrten Heide und Samum seiner. Nun 

brachte ihnen seine Gegenwart keine Gefahr mehr. Offen durfte er 
überall sein Gesicht zeigen. Wie lästig war es gewesen, sich hinter 
Maske und Perücke zu verbergen und die Rolle des Stummen zu 
spielen! 

Und doch: während alles in ihm brannte, sich in Heides Arme zu 

werfen, ließ ihn ein unbestimmtes Gefühl zögern. Eine trübe Ahnung 
legte sich schwer auf sein Herz. Er wurde nicht klug daraus  - so 
wenig, wie ihm einfallen wollte, was ihn an dem Zug der 
Gefangenen vorhin für einen Augenblick beunruhigt hatte. 

Gewaltsam machte er sich von seinen Stimmungen frei und trieb 

sein Pferd in die Richtung des Dorfes. Das wackere Tier witterte den 
warmen Stall und setzte sich in einen schwerfälligen Galopp. Wie 
herrlich würde es sein, wieder den feurigen Samum unter den 
Schenkeln zu haben! 

Sie ritten gerade durch eine engstehende Baumgruppe. Unter den 

Fichten nistete noch die nächtliche Finsternis. Mitten im 
Galoppsprung überschlug sich der Gaul. Roland wurde kopfüber zu 
Boden geschleudert. 

Als der schwere Leib des Pferdes sich auf ihn legte, vergingen ihm 

die Sinne. Im selben Augenblick krochen drei verwahrloste Männer 
aus den unteren Nadelästen der Bäume auf den Weg. Es waren Leo 
und die beiden anderen Aufrührer. Sie hatten sich aus der Mulde 

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davongeschlichen, als Roland zu seinem nächtlichen 
Zusammentreffen mit Volker unterwegs war. So waren sie der 
Gefangennahme entgangen. 

»Jetzt haben wir ihn!« jubelte Leo. »Der Gaul hat sich das Genick 

gebrochen, soviel steht fest. Der schwarze Ritter scheint aber nur 
bewußtlos zu sein. Rollt das Seil auf!« 

Seine Kumpane gehorchten. Sie hatten vorher ein Seil, an zwei 

Fichten verknotet, so über den dunklen Weg gespannt, daß jedes 
Pferd darüber stürzen mußte. Leo beugte sich über den Ritter. »Ha«, 
rief  er erstaunt, »er trägt keine Maske mehr! Bei allen Teufeln der 
Hölle, dieses Gesicht kenne ich doch! Männer, es ist Roland, der 
Erzfeind unseres Herrn Haggan! Her mit dem Seil! Schnell, wir 
müssen ihn fesseln, daß er kein Glied mehr rühren kann, wenn er 
aufwacht. Am besten binden wir ihn an den Stamm jener Kiefer! 
Welch ein Glück am frühen Morgen! Wenn wir ihn zu Haggan brin-
gen, wird man uns reich belohnen. Männer, ich fange an zu glauben, 
daß wir doch nicht nur zum Sterben geboren sind. Mir ist es, als 
klimperten schon 100 Golddukaten in meiner Tasche. Es wird 
höchste Zeit, daß mir irgendein Weib die Löcher darin zunäht!« 

Als Roland nach Stunden wieder zu sich kam, befand er sich in einer 
erbärmlichen Lage. Sie hatten ihn mit Stricken an die Kiefer 
gebunden. So fest, daß er kein Glied rühren konnte. An vielen Stellen 
doppelt und dreifach. Er hätte eher den Baum entwurzeln, als diese 
Fesseln sprengen können. Er kam sich vor wie angeschmiedet. 

Selbst beim Atemholen drückten die Stricke auf seine Rippen.  Er 

hätte vor Schmerzen schreien können. Jeder Augenblick bereitete 
ihm unnennbare Qual. Aber ihm standen ungezählte Stunden in 
dieser Lage bevor. 

Doch Leo ließ es in seiner niederträchtigen Rachsucht nicht dabei 

bewenden. Unter widerlichen Schmähreden schlug er dem wehrlosen 
Ritter mit der Faust ins Gesicht, bespuckte ihn und prügelte mit 

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einem derben Knüppel auf den gebundenen Körper ein. 

Roland, dem noch vom Sturz mit dem Pferd der Schädel dröhnte, 

kam gar nicht zu klarer Besinnung. Zunächst erkannte er Leo auch 
nicht. Er sah nur einen häßlichen Kerl, der sich wie ein verrückter 
Satan gebärdete. Unter den Schlägen wurde Roland wiederum 
ohnmächtig. 

Danach dachte sich Leo neue Foltern aus. Er fuchtelte mit des 

Ritters eigenen Waffen vor Rolands Augen herum und drohte ihm 
die schrecklichsten Todesarten an. Doch Roland verzog keine Miene. 
Alle Schmerzen und Demütigungen ertrug er mit unbegreiflicher 
Ruhe. 

Doch in seinem Innern raste Verzweiflung. Jetzt fiel ihm 

siedendheiß ein, welchen Eindruck der Gefangenenzug für einen ach 
so flüchtigen Moment in ihm hervorgerufen hatte. Es waren zu 
wenige Männer gewesen ... 

Endlich wurde Leo seines grausamen Spiels müde. Er ließ von 

Roland ab. Seine Kumpane hatten gerade einen Rehbock erlegt, der 
in einem tiefen Schneeloch steckengeblieben war. Jetzt brieten sie 
das Tier am Stock über offener Flamme. In ihrer Gier schnitten sie 
halbgare Fleischstücke ab und stopften sich den Magen damit voll. 

Roland stieg der Duft des Fleischs in die Nase, aber er verspürte 

keinen Hunger. Ihm war übel. Er hatte brennenden Durst. 

»Gib ihm doch Schnee zu fressen!« sagte einer der Männer zu Leo. 
»Nein«, sagte der hart. »Ich will ihn schwach und krank sehen, 

bevor wir ihn zu Haggan bringen. Ich traue ihm nicht. Er ist 
unglaublich stark. Man munkelt, daß er sogar den. Gräßlichen im 
Duell besiegt. Er würde uns, wenn er noch einigermaßen bei Kräften 
ist, unterwegs auch ohne Waffen überwinden.« 

Dann fand der eine noch eine Flasche Branntwein in seinem 

Sattelzeug. Da er keine Lust hatte, mit den Kumpanen zu teilen, 
verdrückte er sich ins Gehölz und nahm dort einen langen Schluck. 
Aber Leo, der seine Augen überall zu haben schien, ertappte ihn und 
nahm ihm die Flasche weg. 

Sie legten sich ans Feuer und ließen die Flasche kreisen. Der 

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ursprüngliche Besitzer durfte allerdings nur selten nippen. »Zur 
Strafe«, sagte Leo, »weil du uns den Stoff vorenthalten wolltest.« 

Unter dem Einfluß des Getränks wurden sie immer ausgelassener 

und grölten viele Male ihr Lieblingslied: 

»Wir sind der verlorene Haufen. Wir kennen nur stechen und 

raufen Und lieben das Sengen und Saufen. Von uns wird niemand 
was erben, Denn wir sind geboren, um zu sterben. Doch dem Feind 
wollen das Fell wir noch gerben!« 

Die Flasche war noch nicht leer, als ihnen allmählich die Augen 

zufielen. Das Gegröle wurde leiser, und nach einem letzten 
Bekenntnis »geboren, um zu sterben«, erstarb jeder Laut. 

Roland kam es vor, als vergingen Ewigkeiten. Sein Geist taumelte 

zwischen klarsichtiger Schärfe und dumpfer Benommenheit. Es 
dauerte geraume Zeit, ehe er die Flüsterstimme in seinem Rücken 
vernahm. 

»Mut, Ritter!« wisperte es. »Machen Fessel kaputt, extraprima!« 
Roland wußte nicht, ob er wach war oder träumte. Aber da schnitt 

wirklich ein Messer an seinen Beinen und Armen entlang, und der 
unerträgliche Druck der Stricke schien nachzulassen. 

Er wußte nicht, daß sein Befreier Omar war. Es war ihm auch 

gleichgültig. Er wollte nur wieder einmal ohne Schmerzen atmen 
können. 

Tatsächlich hatte Omar nach kurzer Zeit gebeten, ihn aus dem 

Gefangenenzug zu entlassen. Den Jungen aus dem Morgenland 
drängte es, seinem Helden, seinem Vorbild, seinem Ritter Roland 
nahezusein. 

Mit Volkers Erlaubnis war er zurückgeritten.  Rolands Spuren im 

Schnee folgend, war er auf den Schauplatz der Folterstätte 
gekommen. Voll Entsetzen verkroch er sich im Gestrüpp der Fichten, 
schlich wie eine Schlange langsam und vorsichtig näher und trat erst 
in Aktion, als die drei Schufte, vom Branntwein überwältigt, stumm 
wurden. 

Omars scharfes Messer arbeitete schnell. Ein Strick nach dem 

anderen fiel herab. Dann war Roland frei. 

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Er wollte einen Fuß vorsetzen, aber alle seine Gliedmaßen 

versagten ihm den Dienst. Zu lange hatten die Fesseln seinen  Körper 
eingeschnürt. Das Blut kreiste nur träge in seinen Adern und 
erreichte nicht mehr alle seine gewohnten Bahnen. So waren Rolands 
Beine wie abgestorben. Schwer fiel er nach vorn in den Schnee. 

Da vergaß Omar alle Vorsicht. Neben Roland kniete er sich in den 

Schnee und rief: »Aufstehen, Ritter! Hier extraprima Freund!« 

Er rüttelte den starren Körper. Aber als er ihn losließ, blieb Roland 

weiterhin bewegungslos liegen. Angst überkam den Jungen aus dem 
Morgenland. Er fühlte nach Rolands Puls und fand ihn nicht. 

Omar zitterte jetzt am ganzen Leibe. Seine Hände flogen. 

Verzweifelt zerrte er an Rolands Schultern und hob den schweren 
Oberkörper hoch. Er starrte in blaue Augen, die keinen Ausdruck 
hatten. Erschrocken ließ Omar los, und Roland fiel wieder dumpf in 
den Schnee. 

Omars Stimme war ein haltloses Schluchzen: »Nicht tot sein, 

Ritter! Nicht tot sein!« 

Aber Roland gab keine Antwort und rührte sich nicht ... 
In seiner furchtbaren Aufregung bemerkte der Junge aus dem 

Morgenlande nicht, daß er seit einiger Zeit beobachtet wurde. Sein 
lautes Rufen hatte den ursprünglichen Besitzer der Brannt-
weinflasche geweckt, der ja am wenigsten von den drei Kumpanen 
getrunken hatte. Unter halbgeschlossenen Lidern sah er Omars 
vergeblichen Bemühungen zu, dem Ritter ein Lebenszeichen zu 
entlocken. 

Sein umnebeltes Gehirn brauchte einige Zeit, um zu begreifen, was 

da vor sich ging. Aber dann sprang er auf und schrie aus 
Leibeskräften, als gelte es, ein ganzes Heer zu alarmieren: »Überfall! 
Wir sind überfallen! Roland ist frei!« 

Seine beiden Mitzecher fuhren aus seligen Träumen hoch und 

blinzelten unangenehm überrascht in die kalte Nachmittagssonne. 
Inzwischen rannte der erste bereits auf die kleine Gruppe unter der 
Kiefer los. Dabei schwang er das Überbleibsel seines zerhackten 
Morgensterns und schrie Zeter und Mordio. 

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Da verließ Omar jeder Mut. Das war zuviel für den Jungen! Er 

raffte sich auf und kehrte der Stätte den schmalen Rücken. Er rannte 
und rannte und rannte. Seine langen, dünnen Kinderbeine schienen 
den Boden kaum zu berühren. Er achtete nicht des Weges. Er wollte 
nur weg von diesen gräßlichen Männern, weg von dieser 
erschreckenden Folterstätte! 

Und Omar rannte vor der Männerwelt davon, für die er noch viel 

zu jung war. Er floh vor Marter und Tod, vor Grausamkeit und 
Heldenmut, solange ihn seine Füße trugen. So legte er einige Meilen 
zwischen sich und die drei Kumpane, die erst gar nicht seine 
Verfolgung aufgenommen hatten, weil sie sich auf Roland stürzten. 

Nur der verhaßte Ritter war ihnen wichtig. Denn  er sollte ihnen so 

viele Golddukaten einbringen, wie sie nie im ganzen Leben gesehen, 
geschweige denn besessen hätten. 

Schließlich sank Omar völlig erschöpft im Hof einer armseligen, 

einsamen Waldhütte zusammen, in der ein alter Häusler mit seiner 
Frau lebte. Die fanden ihn und trugen ihn unter ihr Dach. Sie 
wunderten sich über seine dunkle Hautfarbe, über die fremdartigen 
Gesichtszüge und über das seltsame Geschick, was ihn vor ihre 
Türschwelle getrieben haben mochte. 

Sie betteten ihn auf eine Strohschütte neben dem Ofen und standen 

mit ernsten Gesichtern dabei, als Omar tränenüberströmt in bleiernen 
Schlaf fiel. 

Nur einmal in 20 Stunden fuhr er auf und sprach, ohne es zu 

wissen, den einzigen Satz in der Sprache des fremden Landes, den er 
einwandfrei beherrschte: »Ein echter Ritter fürchtet weder Hölle 
noch Teufel, aber um so mehr sein Eheweib ...« 

Der Häusler und seine Frau hörten es nicht. Sie hätten es auch 

nicht verstanden. 

Das vielstimmige Geschrei unter der Kiefer hatte einen weiteren 
Fremden  angelockt. Douglas Heißblut ritt in seiner glänzenden 

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Rüstung, ein Bild von einem Mann, auf die Lichtung. Was er sah, 
widerte ihn an. 

Drei zerlumpte Männer, deren verwüstete Gesichter deutlich ihre 

niedrige Gesinnung verrieten, prügelten auf einen blonden Jüngling 
ein, der halbtot im Schnee lag. 

Douglas befand sich auf Späherfahrt. Ganz allein, sogar ohne 

Knappen, wollte er dem Feind, Haggan dem Gräßlichen 
entgegenreiten, seine Stärke auskundschaften und vielleicht den 
einen oder anderen Versprengten des verhaßten Gegners zum 
Kampfe stellen, ehe er mit den heißbegehrten Neuigkeiten nach 
Schloß Camelot zurückkehrte. Ruhm wollte er erwerben, und nach 
Taten dürstete sein Herz. 

»Haltet ein!« schrie er die drei Kumpane an, die verwundert zu der 

imponierenden Gestalt des Ritters hoch zu Pferde aufblickten. »Laßt 
den Mann los, oder ich fädle euch auf meiner Lanze auf!« 

Sie gehorchten und schauten betreten zu Boden. Der 

erfindungsreiche Leo fand als erster die Sprache wieder. »Herr, dies 
ist ein sehr schlimmer Bube, dem wir mit Recht heimzahlen, was er 
verbrochen hat.« 

Douglas musterte ihn verächtlich und fragte: »Was ist sein 

Verbrechen?« 

Leo überlegte sehr schnell und platzte dann heraus: »Herr, der 

junge Bube hat, als ich fort war, daheim im Dorf meinem Weib 
Gewalt angetan und sie aufs Bett geworfen!« Seine Kumpane 
staunten über Leos Schlauheit und wähnten, daß der fremde Ritter 
nun befriedigt weiterreiten werde. 

Aber Douglas fuhr Leo zornig an: »Lüge nicht, verkommener 

Strolch! Wenn du wirklich ein Weib hast, was ich bezweifle, dann 
muß es genauso stinkend häßlich sein wie du, und kein junger Mann 
will etwas mit ihr zu tun haben. In Wirklichkeit wolltet ihr drei 
feigen Spitzbuben den Blonden da ausräubern.« 

Leo schlug die Augen nieder und spielte den Demütigen. »Herr, 

wir sind arme Bauern und lauschen jedem Eurer Worte, auch wenn 
sie uns wehtun und uns beleidigen, voll Gehorsam. Es sei, wie Ihr 

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sagt. Wer bin ich denn, daß ich Euch zu widersprechen wagte?« 

Doch dabei griff er unauffällig nach Scharfnases Todesgruß, den er 

inzwischen wieder zusammengeflickt und gebrauchsfertig gemacht 
hatte. Außerdem gab er den beiden Kumpanen geheime Zeichen. 

Die verstanden ihn gut. Sie wandten sich ab und schlenderten 

scheinbar unbeteiligt davon. Kaum aber waren sie aus Douglas' 
Blickfeld verschwunden, da machten sie kehrt und schlichen von 
hinten an den Ritter heran. 

Douglas wollte den Zwischenfall rasch beenden. »Strolch«, sagte 

er zu Leo, »wenn du den Mann in Ruhe läßt und meine Fragen auf 
Treu und Glauben beantwortest, will ich dich gehen lassen. Kennst 
du dich in der Gegend aus?« 

»Zu dienen, Herr.« 
»Sahst du schon Männer Haggans?« 
Leo entschloß sich, das Blaue vom Himmel herunterzulügen. »Die 

Wälder wimmeln von ihnen, Herr. Kehrt um, wenn Euch Euer Leben 
lieb ist! Reitet  Ihr weiter, so werden sie Euch bald einfangen und 
einen Kopf kürzer machen.« 

Unschlüssig betrachtete Douglas das verschlagene Gesicht des 

anderen und wußte nicht, ob er ihm trauen durfte. 

»Gebt mir ein paar Groschen, edler Herr!« bettelte Leo. 

»Eigentlich ist meine Auskunft gut ihre drei Dukaten wert.« 

Schon wollte Douglas in den Beutel greifen, da sah er es in Leos 

Augen verräterisch aufblitzen. Rasch wandte er sich im Sattel um. 
Keinen Augenblick zu früh! Leos Kumpane rannten nämlich mit 
ihren Piken auf den Ritter los. Beinahe hätten sie ihn überrumpelt. 
Jetzt blieben sie wie ertappt stehen. 

Leo aber schwang die tödliche Eisenkugel an der Kette, um sie 

Douglas an den Helm zu schmettern. Doch der war ein Mann 
blitzhafter Reaktionen. Er trieb sein Pferd rücksichtslos auf Leo zu. 
Und der schlaue Exhauptmann kam mit der fremden Waffe nicht 
zurecht. Bei der Drehung geriet er ins Stolpern und stürzte genau in 
Douglas Heißbluts Lanze. Mit durchbohrtem Herzen starb Leo auf 
dem Schauplatz seines letzten hinterlistigen Überfalls. 

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Als die beiden Kumpane Leo fallen sahen, zerstob ihr Mut wie 

Staub im Wind. Sie ließen die Piken fallen und gaben Fersengeld. 
Douglas schenkte ihnen keine Beachtung. Sie waren für ihn nicht 
mehr als menschliches Geschmeiß. Er  wollte schon weiterreiten, da 
erinnerte er sich des Blonden, zu dessen Gunsten er in die Streitigkeit 
eingegriffen hatte. »Wie geht es dir, Junge?« fragte er und warf einen 
flüchtigen Blick auf den Mann, der in schlaffer Haltung 
niedergeschlagen am Boden hockte. 

»Herr ...«, stöhnte Roland. Es war das einzige, was er 

hervorbrachte. Mühsam rang er nach Atem. Er wollte sich Douglas 
zu erkennen geben. Aber die Stimme versagte ihm. 

Der Ritter nestelte eine Lederflasche vom Sattelgurt los und warf 

sie Roland zu. »Das wird dir auf die Beine helfen und dich lehren, 
dich nicht mit drei Strauchräubern zugleich einzulassen!« Dann ritt 
er davon. In die Richtung, wo er Haggans Scharen vermutete. 

Doch nach einstündigem Ritt erwiesen sich Leos Behauptungen als 

elende Lügen. Weit und breit war kein feindlicher Krieger zu sehen. 
Ärgerlich machte sich Douglas auf den Rückweg. Zu gern hätte er 
noch ein ritterliches Abenteuer bestanden. 

Sein Weg führte ihn dort vorbei, wo sich sein Tänzchen mit den 

drei Haderlumpen zugetragen hatte. Er sah den Leichnam Leos und 
hielt nach dem Blonden Ausschau. 

»Hier bin ich, Douglas!« rief eine klare Stimme. Ein 

hochgewachsener Mann erhob sich langsam von dem Baumstumpf, 
auf dem er gesessen hatte, trat auf ihn zu und reichte ihm die 
geliehene Wasserflasche. 

Douglas nahm sie entgegen und fragte: »Du kennst mich?« 
Der Blonde nickte. Noch immer fiel ihm das Sprechen schwer. 

Douglas musterte ihn forschend, und plötzlich durchfuhr ihn das 
Erkennen wie ein Nadelstich. »Jetzt erkenne ich dich auch, so sehr 
du dich verändert hast«, sagte er ernst. »Du bist Roland! Hat dich ein 
Zauberspuk gerettet, als der Tag zur Nacht wurde?« 

»Ich lebe, Heißblut«, erwiderte Roland. »Das mag genügen.« Sein 

Gesicht zeigte die Spuren der furchtbaren Qualen, die er in den 

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letzten Stunden erlitten hatte. Zwar strömte das Blut wieder frei und 
voll durch seine Adern, aber er fühlte sich matt und schwach. 

Douglas richtete sich hoch auf, und seine Stimme war wie aus Erz 

geschmiedet. »Du lebst nur noch, Elender, weil die Hölle dir half. 
Doch nun mache ich deinem Leben ein Ende. Denn du bist vogelfrei, 
und ich werde dich erschlagen wie einen tollen Hund!« Bei diesen 
Worten zog Douglas sein Schwert aus der Scheide. 

»Haltet ein, edler Douglas!« rief Roland flehentlich. »König Artus 

hat den Urteilsspruch für ungültig erklärt und mich wieder zum 
Ritter gemacht!« 

»Das lügst du, Hund! Du stirbst von meiner Hand  - wie dieser 

Wegelagerer, von dem ich dich befreite!« 

»O Douglas, Ihr begeht einen  schrecklichen Irrtum! Wenn Euch 

aber nach meinem Blut dürstet, so gewährt mir wenigstens ein 
ritterliches Duell!« 

»Niemals!« entgegnete Douglas schneidend. »Du hast jedes Recht 

auf Erden und im Jenseits verwirkt. Nicht einmal ein Gebet lasse ich 
dich sprechen, Nichtswürdiger!« Federnd sprang er aus dem Sattel. 
Noch fünf Schritte war er von Roland entfernt, der sich mit Mühe auf 
den Beinen hielt. 

Douglas fühlte sich völlig im Recht. Und nach den Bräuchen seiner 

Zeit war er es auch. Jedes Zugeständnis an Roland hätte für Douglas 
eine Verunreinigung seiner Ritterwürde bedeutet. In seinen Augen 
war Roland ein fluchwürdiger Verbrecher. Er selber, Douglas, hatte 
es im Kampf mit Volker bewiesen, den er bezwang. Volker hatte 
Rolands Sache vertreten  - und vom König bis zum letzten Mann sah 
man im Ausgang dieses Turnierkampfs ein Gottesurteil, das Rolands 
Schuld auf ewig besiegelte. 

Von der neuerlichen Wende aber hatte Douglas eben zum 

erstenmal aus dem Munde Rolands erfahren, dem er natürlich nicht 
glaubte. 

Noch  einmal richtete Roland das Wort an den Ritter, der sich für 

die ausführende Hand der Gerechtigkeit hielt. »Ich sehe, ich kann 
Euer Herz nicht erweichen, Douglas Heißblut. Ich muß mich mit 

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dem Tode abfinden, so schwer es mir fällt, in so früher Jugend zu 
sterben. Doch bitte ich Euch um eine letzte Gnade, die Ihr mir 
bestimmt nicht versagen werdet.« Roland stockte. Er war dessen 
nicht so sicher. 

Douglas sah ihn scharf an und sagte ungeduldig: »Was willst du 

noch von mir erreichen, Elender? Sag es! Ich warte nicht länger.« 

»Tretet nahe an mich heran und schlagt mit aller Kraft zu, damit 

ich nicht unnötig leiden muß! Werdet Ihr mir diesen Wunsch 
erfüllen?« Seine sonst so klare, helle Stimme war zu einem tonlosen 
Flüstern geworden, und seltsamerweise war es diese Veränderung, 
die bei Douglas ein wenig Mitleid hervorrief. 

»Das verspreche ich dir«, sagte er und stellte sich dicht vor Roland 

auf. 

Es dämmerte schon. Die Sonne war hinter den mächtigen 

Fichtenwäldern versunken. Ein Windstoß erhob sich und trieb eisige 
Kälte vor sich her. 

Mit beiden Händen packte Douglas sein wuchtiges Schwert und 

holte zum Schlage aus. »Schließ die Augen, Roland!« sagte er fast 
freundlich. »Gleich ist es vorüber.« 

Aber Roland beachtete den gutgemeinten Rat seines Henkers nicht. 

Er  hob vielmehr den Blick und beobachtete das niedersausende 
Schwert so hingerissen wie das Antlitz einer Geliebten. 

Und dann war alles vorüber. 

Vor dem Aufbruch seiner Truppen nach Schloß Camelot hielt 
Haggan eine große Abschiedsfeier ab. Die Höllensöhne und ihre 
Bundesgenossen verschlangen mehrere gebratene Ochsen, die ihnen 
die Bauern liefern mußten, dazu sechs selbst erlegte Wildschweine 
und Berge von Hühnern. Dazu soffen sie Ströme von Wein und Met. 

Sie erzählten sich Schwanke, wahre Erlebnisse aus ihrer 

abenteuerlichen Vergangenheit und fantasievolle Prahlereien, in 
denen sie sich stärker, mutiger und erfolgreicher darstellten, als sie es 

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je gewesen waren. Je trunkener sie wurden, um so farbiger und 
deftiger wurden ihre Geschichten. Dazu wurden ständig Lieder 
gegrölt, in denen immer wieder die Rede vom Sturm auf ein Schloß 
die Rede war. 

Als man sich mit einiger Verspätung am nächsten Morgen zum 

Abmarsch sammelte, sah man viele gerötete Augen und manchen 
unsicheren Gang. Keiner hatte rechte Lust, sich in den Pferdesattel 
zu schwingen. Da zudem alle eine trockene Kehle und quälenden 
Durst hatten, beschloß man einstimmig eine Nachfeier. Die 
Nachfeier nahm den gleichen Verlauf wie die Abschiedsfeier vom 
vorhergegangenen Abend und war womöglich noch schöner ... 

Der dritte Tag fand die Höllensöhne und ihre Verbündeten 

schmatzend und saufend bei einer eilig improvisierten Schlußfeier. 

Die Schlußfeier wurde, weil sie allen so ausnehmend gut gefallen 

hatte, am vierten Tage mit großem Erfolg wiederholt. 

Am fünften Tage aber sprach Haggan ein Machtwort. »Männer, es 

waren herrliche Feste! Aber so kann es nicht ewig weitergehen! 
Heute abend leeren wir den Scheidebecher!« 

Natürlich gab es nach dem Scheidebecher noch letzte, allerletzte, 

allerallerletzte und zahllose unwiderruflich letzte Scheidebecher. 

Am sechsten Tag wurde dann der Satteltrunk gereicht. Noch 

einmal brieten Hühner und Ochsen über offenem Feuer. Am siebten 
Tag brachen sie wirklich auf. Sie waren guter Dinge, denn Haggan 
hatte ihnen versprochen: »Sobald Camelot in unserer Hand ist, feiern 
wir einen vollen Monat lang  - und alles, was im Schloß Röcke trägt, 
von der Küchenmagd bis zur Königin, gehört euch!« 

Roland wartete, bis Heißbluts Schwert nur noch knapp zwei 
Handspannen von seiner Schädeldecke entfernt war. Dann sprang er 
zur Seite. Es war der Sprung eines verzweifelten Mannes, der alles 
riskiert, um alles zu gewinnen. 

Es war höchste Zeit. Fast hatte er zu lange gewartet. Heiß streifte 

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die herabsausende Klinge noch seine Schulter. Sie fetzte aber nur ein 
Stück Stoff aus seinem Wams und verwundete ihn nicht. 

Douglas konnte den mit voller Wucht geführten Schlag nicht mehr 

abbremsen. Das Schwert fuhr ins Leere. Seine Spitze durchschnitt 
die Schneedecke und krallte sich im hartgefrorenen Erdboden fest. 

Verblüfft zerrte Douglas kraftvoll am Schwertgriff. Doch noch ehe 

er die Waffe aus dem Boden reißen konnte, traf ihn ein 
unwiderstehlich harter Anprall vor die Brust. Roland hatte just diesen 
Augenblick benutzt, ihn anzuspringen. 

Douglas geriet ins Taumeln und mußte den Schwertgriff loslassen. 

Dann verlor er den Stand unter den Füßen und schlug der Länge nach 
auf den Rücken. Roland war sofort über ihm. Er kniete auf seiner 
Brust, und seine Hände, die waffenlos waren, umklammerten die 
Kehle des Gegners. 

Ein erbittertes Ringen setzte ein. Schnell überwand Douglas seine 

anfängliche Überraschung. Schon versuchte er, sich aufbäumend, 
Roland abzuschütteln. 

Und Roland konnte sich nicht lange halten. Die Strapazen und 

schmerzhaften Folterungen, die hinter ihm lagen, hatte ihn zuviel 
Kraft gekostet. Für den bärenstarken Douglas war der Ritter mit dem 
Löwenherzen in seinem jetzigen Zustand kein ebenbürtiger Gegner. 

Doch seine Hände ließen Heißbluts Kehle nicht los, und seine 

Finger schnürten dem Stärkeren die Luft ab. 

Beide stöhnten vor Anstrengung. Roland wußte, daß er nicht lange 

durchhalten konnte. Jeden Augenblick mußten ihn die Kräfte 
verlassen. Verbissen krallte er sich an Heißbluts Kehle. 

Der gab nur noch ein würgendes Röcheln von sich. Er wand sich, 

schlug um sich und warf den Kopf hin und her. Vergeblich! Roland 
ließ nicht los. 

Dann wurde es Douglas schwarz vor Augen. Er röchelte nicht 

einmal mehr. Die Sinne vergingen ihm. Kraftlos fiel sein Kopf zur 
Seite. 

Da endlich lockerte Roland den Griff und richtete sich auf. Er war 

so erschöpft, daß er nur taumelnd hochkam. Danach hielt er sich mit 

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großer Mühe auf den Beinen. Er nahm Heißbluts Schwert und 
verbarg es im Unterholz der Fichten. Dann fand er seine eigenen 
Waffen. Die Lanze, das Schwert. Erleichtert, fast glücklich wog er 
sein gutes Schwert in der Hand. Aus dem Griff schien Kraft in seinen 
Arm zu strömen. Dann stellte er sich vor dem lang hingestreckten 
Douglas auf und wartete, daß er aus seiner Betäubung erwachte. 

Schon brach die Dunkelheit herein. 
Endlich sah Roland die Augenlider des Betäubten zucken. Douglas 

bewegte sich. Ein dumpfes Grollen drang aus Heißbluts mißhandelter 
Kehle. 

Dann schlug er die Augen auf. 
Mit drohend erhobenem Schwert stand Roland breitbeinig über 

dem besiegten Mann. »Keine Bewegung, Douglas! Du bist jetzt in 
meiner Hand!« 

Mit düsterem, verwirrtem Blick starrte Douglas zu ihm hoch. 

Mühsam kamen die Worte über seine zuckenden Lippen: »Du hättest 
mich töten können ...« 

»... und ich werde es noch immer tun, wenn du nicht genau nach 

meinen Worten handelst. Warum sollte ich dich verschonen? Hattest 
du etwa Mitleid mit mir? Warst du nicht gnadenlos?« 

Douglas schloß beschämt die Augen. Er konnte Rolands Blick 

nicht länger ertragen. Hohl klang es vom Boden her: »Stell deine 
Bedingungen!« 

»Es ist nur eine. Bei dem bevorstehenden Feldzug gegen Haggan 

den Gräßlichen sollst du mir ein treuer Waffenbruder sein!« 

Douglas stöhnte gequält. »Waffenbruder eines Vogelfreien ...?'« 
»Ich bin kein  Vogelfreier mehr, Douglas! Begreife das endlich! 

König Artus hat meine Verurteilung aufgehoben und mir alle 
Ritterrechte neuerlich zuerkannt. Wir stehen im gleichen Rang. Und 
mehr noch: Artus billigte meinen großen Plan, wie Haggan zu 
bändigen sei.« 

»Wenn das wahr ist...« 
»Es ist wahr!« 
»Dann will ich, bei Gott, dein treuer Waffenbruder sein. Vergib 

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mir - und verfüge über mich!« 

»Schwöre es!« 
»Ich schwöre es bei allem, was mir lieb ist.« 
»Bei deinen Ahnen, deiner Ehre, deinem Glück.« 
»Ich schwöre es bei meinen Ahnen, meiner Ehre, meinem Glück!« 
»Gut, Douglas. Dann verspreche ich dir, daß ich über alles 

schweigen werde, was in der letzten Stunde geschah.« 

Roland half Douglas beim Aufstehen. Die Männer schüttelten sich 

die Hände. Dann aber mußte sich Roland an Douglas festklammern  - 
sonst wäre er vor Schwäche zusammengebrochen. 

Eine Woche war vergangen. Ohne Widerstand zu finden, konnte 
Haggan mit den Höllensöhnen und ihren Bundesgenossen bis vor 
Schloß Camelot ziehen und dort ein festes Lager  aufschlagen. 
Fluchtartig zogen sich die Männer von Camelot in die Sicherheit 
ihrer festen Mauern zurück. 

Voll Bewunderung betrachteten die Belagerer die weißen Türme 

der riesigen Schloßanlagen. Sie malten sich aus, wie freundlich und 
prächtig es im Innern aussehen mochte. Wie die Bewohner in 
Schönheit und Luxus schwelgten, während sie unter freiem Himmel 
bei grimmiger Kälte kampieren mußten. 

Aber wie sollte man diese waffenstarrenden Mauern bezwingen? 
Bei ihrer Flucht hatte die Schloßmannschaft zwei Wurfmaschinen 

im Stich gelassen, die sie gerade kurz vorher auf einer Anhöhe in 
Stellung gebracht hatte. 

Höhnisch grinsend betrachtete Haggan die Beute und versuchte, 

sich über ihre Funktionsweise klarzuwerden. Es schienen übergroße 
Katapulte zu sein. Weder er noch seine Krieger hatten je ein 
ähnliches Gerät erblickt. 

Schon bald erkannte Haggan, daß etwas Wichtiges nicht vorhanden 

war. Es fehlten die Geschosse, die man mit Hilfe der genialen 
Wurfmaschine gegen die Mauern hätte schleudern können. 

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So genoß er zwar den Triumph, dem Feind wertvolles 

Kriegsmaterial abgenommen zu haben. Nur benutzen konnte er es 
nicht! 

Haggan fluchte. 
Er fluchte so laut und so ausgiebig, daß er dreimal die ehrfürchtige 

Anrede seines Stallknechts überhörte. Erst als der Mann zum 
viertenmal seine Botschaft vortrug, wurde Haggan aufmerksam und 
wandte sich ihm zu. »Was bringst du für Nachrichten?« 

»Herr, ein fremder Ritter ist gekommen, um dir seine 

Unterstützung anzubieten.« 

»Führ ihn zu Lutz von Lutzerath! Der mag entscheiden, ob der 

fremde Ritter uns von Nutzen sein kann oder nicht.« 

»Herr, wenn Ihr meinen bescheidenen Rat hören wollt  - sprecht 

lieber selber mit ihm! Es scheint ein urig starker Herr zu sein, und er 
hat drei mächtige Zauberer im Gefolge!« 

»Drei mächtige Zauberer, sagst du?« Haggans Augen glühten 

erwartungsvoll. Vielleicht konnten die Zauberer ihm helfen, seine 
Probleme zu lösen. »Ich will sie sofort sehen! Sie sollen mir eine 
Probe ihrer Zauberkräfte geben!« 

Wenig später empfing Haggan, umringt von seinen Höllensöhnen, 

den urig starken Ritter und seine drei mächtigen Zauberer. Der Ritter 
hatte rote Haare. In seinen grünen Augen blitzte das Feuer eines 
unbezähmbaren Temperaments, und seine breitschultrige Gestalt 
verriet große Körperkraft. Es war Douglas Heißblut, der hier seine 
Dienste dem Feinde des Königs Artus anbot. Da er noch nie mit 
Haggan und den Seinen zusammengekommen war, durfte er darauf 
vertrauen, daß ihn keiner kannte. 

Und es war Roland, der diesen Plan entworfen und dafür die 

Genehmigung des Königs erhalten hatte. 

»Ich grüße Euch, Haggan, und euch, Höllensöhne!« begann 

Douglas mit seiner ungeduldigen Stimme zu sprechen. Er wies auf 
die drei Männer hinter sich, die morgenländische Gewänder trugen. 
»Diese Zauberer, die mir treu ergeben sind, werden, wenn Ihr es 
wünscht, die Mauern von Camelot niederreißen, den Verteidigern 

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des Schlosses den Mut rauben und ihre kampfbereiten Arme 
lahmen.« 

Die Höllensöhne begannen zu grölen. Einigen hatten die markigen 

Worte gefallen. Sie brüllten ihre Zustimmung heraus. Andere, eine 
etwa gleich starke Gruppe, zweifelten an dem Gehörten und 
verhöhnten den fremden Ritter. 

»Haltet mich nicht für einen Großsprecher und Prahlhans!« rief 

Douglas, nachdem sich der Sturm ein wenig gelegt hatte. »Überzeugt 
euch 

mit eigenen Augen vom überirdischen Können meiner 

Zauberer!« 

Ein hoheitsvoller Wink, und der erste Morgenländer trat vor. Es 

war niemand anders als der Gaukler Funkenmann, der 
Feuerschlucker, der für Roland sein Leben in die Schanze geschlagen 
hätte. Ungesehen hatte er sich eben an einem der vielen Lagerfeuer, 
die auf der weiten Fläche des Heerlagers brannten, mit »Nahrung« 
versorgt. Jetzt öffnete er den Mund, und zum nicht geringen 
Entsetzen der Zuschauer schoß eine lange Feuerschlange daraus 
hervor. 

Sogar Haggan wich betroffen einige Schritte zurück. 
»Ein menschlicher Drachen!« riefen einige Männer. 
Noch dreimal ließ Funkenmann seinen Feuerzauber in die Runde 

züngeln. Dann trat er mit einer Verbeugung zurück, und Douglas 
winkte dem zweiten Morgenländer. 

Nun war die Reihe an Schiebermann, Funkenmanns Kameraden. 

Mit elastischen Schritten ging dieser »Zauberer« auf einen 
Höllensohn zu, den er vorher ins Auge gefaßt hatte, und bat ihn 
durch deutliche Gesten und Zeichen um seine Waffe. Der weigerte 
sich zunächst, das schlanke Schwert, das er irgendwo irgendwann 
von irgendwem erbeutet hatte, herauszurücken. Wer trennt sich 
schon gern von seiner Waffe? Aber seine Kumpane nötigten ihn zur 
Herausgabe des Schwerts. Sie fürchteten nämlich, sonst entginge 
ihnen ein ungewöhnliches Schauspiel. 

Unter allerlei Verrenkungen und Gauklerfaxen schwenkte 

Schiebermann das schlanke Schwert so lange hin und her, bis aller 

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Augen in erwartungsvoller Spannung auf ihm lagen. Dann legte er 
den Kopf weit in den Nacken, und die Höllensöhne hielten den Atem 
an. 

Denn Schiebermann hob das Schwert hoch über seinen Kopf. Den 

Blick zum Himmel gerichtet, öffnete er den Mund und schob die 
schmale, scharfe Klinge ganz langsam in seinen Schlund. 

Bewundernde Rufe erschallten. 
Den Zuschauern fielen fast die Augen aus dem Kopf, als sie die 

Waffe Stück um Stück in Schiebermanns Körper verschwinden 
sahen. Dem Besitzer des wertvollen Schwerts wurde es abwechselnd 
heiß und kalt. Er wußte nicht, ob er mit den anderen Beifall klatschen 
oder wütend protestieren sollte. Aber die allgemeine Begeisterung riß 
ihn mit, und jubelnd sah er die unersetzliche Klinge ganz 
verschwinden. Nur den Griff konnte Schiebermann nicht schlucken. 

Nachdem er sich ausgiebig hatte bestaunen lassen, zog der 

verkleidete Gaukler ganz langsam und mit äußerster Geschicklichkeit 
die Waffe wieder hervor. Zoll um Zoll ließ er den Stahl aus seinem 
Munde wachsen. Zum Schluß schwenkte er das wieder befreite 
Schwert übermütig durch die Luft und reichte es dann höflich dem 
Besitzer, während die ausgelassenen Höllensöhne ihn, dankbar für 
das Spektakel, mit dröhnendem Jubel überschütteten. 

Danach kam der dritte Zauberer! Er hatte ein tiefbraunes Gesicht 

und einen langen, buschigen Zwirbelbart. Weder Hautfarbe noch 
Bart waren echt  - im Gegensatz zu den orientalischen Gewändern. 
Alle fragten sich, welche Wunder der dritte Zauberer ihnen 
vorführen würde. 

Douglas ließ sie nicht lange im Zweifel. »Dieser mächtigste aller 

Zauberer, dessen Name Ali ben Hassan lautet, versteht sich auf die 
Bedienung der beiden Wurfmaschinen. Das hat er mir, der ich seine 
barbarische Sprache beherrsche, eben mitgeteilt.« 

»Das ist wunderbar«, bemerkte Hassan mit unbeweglicher Miene, 

»aber es nützt uns nichts, weil keine Wurfgeschosse vorhanden 
sind!« 

Zum Schein steckten nun Douglas und der dritte Zauberer, der kein 

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anderer als Roland war, die Köpfe zusammen und tuschelten 
miteinander. Die Höllensöhne ließen kein Augen von ihnen. 
Schließlich wandte sich Douglas neuerdings an Haggan und 
berichtete: »Der große Zauberer, dessen Name Ali ben Hassan ist, 
wird für Geschosse sorgen!« 

Haggan lachte befreit. »Das ist allerdings gute Kunde! Ich bin 

gespannt, wie er sie herbeischafft. Ich denke, es werden Steinkugeln 
sein.« 

»O nein«, wehrte Douglas ab. »Mit Steinkugeln, und wären sie 

wuchtiger als Felswände, ist gegen die unermeßlich dicken Mauern 
von Schloß Camelot nichts auszurichten. Ali ben Hassan wird 
neuartige Geschosse bauen, wie sie die Welt noch nie gesehen hat. 
Mit ihnen wird er Camelot sturmreif  machen. Doch braucht er bei 
der Herstellung seiner Zauberkugeln die tatkräftige Hilfe aller Eurer 
Männer.« 

»Sie stehen ihm alle zur Verfügung«, versprach Haggan. »Doch 

möchte ich gern wissen, aus welchem Stoff er die Kugeln gießen 
will. Was ist wuchtiger und urgewaltiger als Felsgestein?« 

»Ich will es dir im Vertrauen sagen, und du wirst zugeben, daß nur 

ein großer Zauberer so erfinderisch sein kann.« Douglas neigte sich 
zu Hassan und flüsterte ihm angelegentlich ins Ohr. 

Und alsbald sahen die Höllensöhne, wie sich ein Leuchten über das 

sonst so finstere Gesicht Haggans des Gräßlichen breitete und wie ihr 
gefürchteter Anführer in ein langanhaltendes Gelächter ausbrach. Die 
Lachlust packte ihren Herrn und Meister derart, daß er sich die 
Seiten halten mußte  und sein schwarzer Vollbart auf und nieder 
wippte. 

Aus diesen Anzeichen schlossen die Höllensöhne, daß der fremde 

Ritter, den sie untereinander Rothaar nannten, dem Gräßlichen 
wahrhaft frohe Kunde mitgeteilt hatte. 

Hinter den dicken Mauern von Camelot  herrschte eine gedrückte 

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Stimmung. Mit angespannten, bleichen Gesichtern schlichen die 
Ritter durch die Gänge. Sorgenvoll berieten die Mitglieder der 
Tafelrunde. Und die Posten auf hohem Ausguck an den Scharten und 
Vorsprüngen der Zinnen spähten klopfenden Herzens ins Lager der 
Aufrührer hinüber. 

Höchste Aufregung hatte das Frauenvolk erfaßt. Alles, was Röcke 

trug im Schloß, von der Küchenmagd bis zur feinsten Hofdame, 
malte sich die schrecklichen Folgen eines siegreichen Sturmangriffs 
aus. 

Man erwog die Möglichkeit, Gift zu nehmen. Nicht so viel, daß 

man gleich ins Jenseits abging, aber doch genügend, um ernstlich 
krank zu werden. Eine kranke Frau würden die nach Liebe 
dürstenden Eroberer wohl in Ruhe lassen, da sie befürchten mußten, 
sich anzustecken. Nach gehöriger Frist würde die Wirkung des Giftes 
nachlassen, und eines Tages würden die Frauen wieder ganz gesund 
sein. 

»Da mache ich nicht mit«, erklärte eine Zofe bestimmt. »Das ist 

mir viel zu unsicher. Wer garantiert mir denn, daß ich wirklich 
wieder ganz genese? Wer bürgt mir, daß ich nicht zuviel Gift 
schlucke und elendiglich eingehe? Nein, da habe ich einen besseren 
Plan.« 

Man bestürmte sie, ihn preiszugeben. 
»Gleich wenn die Feinde einrücken«, sagte die Zofe keck, »mache 

ich einem ihrer Hauptmänner  schöne Augen. Sobald er mich zur 
Freundin nimmt, wird er mich vor den Übergriffen der gemeinen 
Soldaten schützen. Und wie ich hörte, soll so mancher 
Räuberhauptmann sich besser auf die Liebe verstehen als so mancher 
plumpe Ritter!« 

Die zuhörenden Damen zischelten empört und wandten der kecken 

Zofe den Rücken. Aber je lauter sich eine das Maul über die 
»unehrenhafte Person« zerriß, um so mehr dachte sie insgeheim über 
den listigen Plan nach und fragte sich, ob sie im Notfall nicht lieber 
allen zuvorkommen 

und sich gleich den bestaussehenden 

Räuberhauptmann sichern sollte... 

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Für die Belagerer brach eine arbeitsreiche Zeit an. Der Zauberer Ali 
ben Hassan hielt sie auf Trab. Unter seiner Leitung wurden die 
Wurfgeschosse für die großen Katapultmaschinen hergestellt. 

Am ersten Tag machte die Arbeit noch allen Spaß. Man kam aus 

dem Lachen nicht heraus, wenn man sich vorstellte, was man den 
Verteidigern Camelots für eine Suppe einbrockte. Wenn man des 
Zauberers ansichtig wurde, schaute man ihn voll Verehrung an. Um 
auf eine so herrliche Idee zu kommen, mußte man wahrhaftig ein 
mächtiger morgenländischer Zauberer sein! 

Am zweiten Tag machte die Arbeit schon viel weniger Spaß. Denn 

sie stank. Ja, sie stank zum Himmel. Immer öfter trat einer aus der 
Kette, ging ein paar Schritte zur Seite und mußte sich übergeben. 
Zum Teufel mit dem Zauberer und seinen stinkenden Ideen! 

Am dritten Tag kam es beinahe zur Meuterei. Mehr als die Hälfte 

der Männer weigerten sich, bei der Herstellung der Wurfgeschosse 
für das große Katapult weiter mitzuwirken. 

»Wer soll denn diesen Scheißgestank aushalten!« entrüsteten sie 

sich. 

Doch Haggan trieb sie wieder an die Arbeit. Unerbittlich ließ er 

eine neunschwänzige Katze auf die Schultern vom Gestank 
angeekelter, arbeitsunwilliger Männer niedersausen. 

»Beeilt euch!« schrie er. »Je schneller ihr arbeitet, um so eher seid 

ihr fertig!« 

Das leuchtete ihnen ein, und so schaufelten sie, wenngleich  mit 

verzerrten Gesichtern und gerümpften Nasen, eifrig das vom 
Zauberer ausgewählte Material in Jutesäcke und kneteten angewidert 
alles zu runden Bällen. 

»Morgen«, rief Haggan, »morgen ist es soweit! Morgen 

katapultieren wir die Kugeln ins Schloß und räuchern sie aus! Sie 
werden sich sofort ergeben, wenn wir hinterher stürmen!« 

Zufrieden stellte Ali ben Hassan abends fest, daß mehr als 100 

Wurfgeschosse bereitlagen. In seinem morgenländischen Gewand 

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mit dem dichten Gesichtsschleier drang nur wenig von dem 
teuflischen Duft, der die Höllensöhne so rebellisch gemacht hatte. Er 
hätte es sonst auch gar nicht neben den beiden Katapulten aushalten 
können. Die Belagerer jedenfalls erwirkten nach Beendigung der 
Arbeiten von Haggan die Erlaubnis, ihr Camp eine halbe Meile 
entfernt neu aufzuschlagen. Der Gräßliche war sofort einverstanden, 
denn er litt nicht weniger als seine Männer unter dem, was 
keineswegs ein Wohlgeruch Arabiens war. 

In der Nacht brachten Douglas, Roland und die beiden Gaukler die 

Riesenkatapulte in Stellung. Um nicht beim Einatmen der 
verpesteten Luft rund um die 100 Todesbälle ohnmächtig zu werden, 
hatten sie sich die Nasenlöcher mit Tüchern verstopft. 

Der Morgen kam, und die Höllensöhne waren früh auf den Beinen. 

Aus sicherer Entfernung wollten sie miterleben, wie die 
orientalischen Zauberer das Schloß sturmreif schossen. Keiner von 
ihnen hatte schon je zuvor eine Wurfmaschine in Aktion gesehen, 
und so versprach man sich Wunderdinge von ihrer Wirkung. 

Wegen ihrer Unwissenheit entging es ihnen aber, daß die Katapulte 

während der Nacht umgedreht worden waren. Die langen 
Wurfzungen, die riesigen Holzlöffeln ähnelten, würden ihre Bälle 
nicht in Richtung auf das Schloß werfen, sondern in Richtung auf 
Haggans Lager! 

Und schon beluden die »Zauberer« ihr Katapult mit den ersten 

Kugeln, den zusammengenähten Jutesäcken samt ihrem 
verderbenbringenden Inhalt. Dann lösten sie den Haken. In 
Windeseile spulte das Seil ab. Der lange Löffel schnellte hoch und 
schleuderte seine Last in die Luft. 

Die Höllensöhne brachen in Jubel aus. Sie hüpften vor Freude und 

klopften sich gegenseitig auf die Schultern. Nun würde ihre garstige 
Arbeit endlich gerecht belohnt werden! 

Doch ihr Jubel war nur von kurzer Dauer. Denn bald erkannten sie, 

daß die Todesbälle nicht auf Schloß Camelot zuflogen, sondern Kurs 
auf ihr neues Lager nahmen. Statt aber nun die Flucht zu ergreifen, 
solange noch Hoffnung war, davonzukommen, standen sie wie 

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gelähmt und verfolgten mit weitaufgerissenen Augen den 
unerbittlichen Flug der Kugeln. 

Und dann war es bereits zu spät, sich aus dem Staub zu machen. 

Als ihre Lähmung wich, warfen sie sich da, wo sie standen, platt auf 
den Bauch und zogen die Köpfe ein. 

Platsch - platsch - platsch! 
Ringsum landeten die Kugeln. Das Geräusch klang fürchterlich in 

den Ohren. Denn niemand als sie wußte ja besser, welche Wirkung 
das alles haben würde! 

Und es kam genauso, wie sie es sich ausgemalt hatten, als sie noch 

glaubten, die Kugeln seien für die Verteidiger von Camelot 
bestimmt. Die Säcke zerplatzten, und der Inhalt  - dieser garstige, 
stinkende, schreckliche Inhalt 

- flog nach allen Richtungen 

auseinander ... 

Platsch - platsch - platsch! 
Immer neue Kugeln folgten. Manchem landeten sie genau auf dem 

Rücken, und der Ärmste schrie dann vor Grauen. 

Und mehr und mehr Kugeln waren unterwegs, vom Katapult in die 

Lüfte geschnellt. Platsch - platsch - es nahm kein Ende! 

Wie verfluchten sie jetzt den mächtigen Zauberer Ali ben Hassan 

und seine Idee, ihre Kacke, die sie in einer Woche Belagerung 
zusammengeschissen hatten, zur Füllung von Katapultkugeln 
zusammenzutragen! Denn jetzt regneten ihre eigenen Fäkalien 
zentnerweise auf sie hinab. 

Eine Stunde dauerte der Beschuß. Es war die schlimmste Stunde 

seines Lebens für jeden Höllensohn, für Lutz von Lutzerath, den 
Groben Gottlieb und wie die Unterführer Haggans alle hießen. 

Sie meinten, Ewigkeiten seien vergangen, als das grausige Platsch 

- platsch  -platsch endlich nachließ und schließlich ganz aufhörte. 
Doch noch wagte sich niemand zu erheben. Das Gesicht in den 
Schnee gedrückt, lagen sie bewegungslos da. 

Bis Haggan, dem es nicht weniger übel ergangen war, als erster 

aufsprang. Plötzlich war ihm eingefallen: Wenn der Feind nun einen 
Ausfall machte! 

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»Hoch mit euch!« schrie er mit verzerrter Stimme und wischte sich 

mit bloßer Hand die Scheiße aus dem Gesicht. Es blieb beim 
Versuch. Er verschmierte das eklige Zeug nur. Es verklebte ihm Bart, 
Nase und Augenwimpern. »Pfui Teufel!« wimmerte er. 

Langsam folgten sie dem Befehl des Gräßlichen. Sie sahen den 

Nachbarn an und erschraken. Kaum einer war noch 
wiederzuerkennen, so schrecklich hatte der Inhalt der Todesbälle sie 
von oben bis unten bekleckert. 

Gleichzeitig breitete sich ein Geruch aus, der alles bisher Erlebte 

weit übertraf. Es war einfach nicht auszuhalten. Es duftete, röchelte, 
stänkerte zum Erbarmen. Jeder ekelte sich vor dem anderen, und 
jeder ekelte sich am meisten vor sich selber. 

Irgendwer meinte, aus fast zugeklebten Augen Bewegungen aus 

der Richtung von Camelot zu erkennen, und schrie, alles 
Wehgeschrei der bekleckerten Krieger übertönend: »Der Feind greift 
an!« 

Klagende Stimmen antworteten: 
»Wir sind verloren!« 
»Sie werden uns abschlachten!« 
»Rette sich, wer kann!« 
Wer flüchtete zuerst? Wer hielt noch stand? Wessen Mut 

verwandelte sich am gründlichsten in Feigheit? Wer rannte am 
schnellsten davon? 

Niemand hätte eine dieser Fragen zu beantworten vermocht. Doch 

es war nach Beendigung des Beschusses aus den beiden 
Katapultgeräten noch nicht der vierte Teil einer Stunde vergangen, 
da stob Haggans gefürchtetes Heer in wilder Flucht zurück, zurück, 
über Ebene und Wald, über Stock und Stein, über Hügel und Berg, 
über Heide und zugefrorenen Teich, über Bach und Brücke, 
westwärts, südwärts, südwestwärts, halbblind, halbtaub und vor 
Gestank halb im Wahn. 

Es gab keine Freundschaft mehr, nicht einmal Komplizentum. 

Jeder stank selber so erbärmlich, daß er die Nähe des anderen und 
damit zusätzlichen Gestank scheute. Jeder auf sich allein gestellt, 

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rannte das ehedem so kampfstarke Heer davon. 

Einige hatten sogar ihre Waffen auf der Stätte ihrer schmählichen 

Niederlage vergessen. 

Roland und seine Helfer warfen die orientalischen Kleider ab, 
bestiegen ihre Pferde und ritten nach Camelot. Dort war die 
sonderbare Schlacht von Zinnen, Türmen und jedem Auslug 
beobachtet worden. Jubelnd empfing man die wackeren 
Katapultierer. 

Artus, der von Anfang an in den Plan eingeweiht gewesen war, 

stellte in einer einstündigen Zeremonie vor allem Volke Rolands 
Ehre und Würde wieder her. Er verlieh dem Ritter mit dem 
Löwenherzen einen neuen Schild: auf silbernem Grund ein 
schwarzer Löwe mit rotem Herzen. Und die Ritter rüsteten sich mit 
neuerwachtem Mut zum Kampf. Denn natürlich war die wilde Flucht 
des Haggan-Heeres kein endgültiger Sieg. In wenigen Stunden würde 
die Scheiße an Kleidung und Körpern eintrocknen, der Gestank 
vergehen. Sobald sich die Männer gründlich gewaschen und vom 
panischen Schreck erholt hatten, würden sie sich in der Waldburg des 
Groben Gottlieb sammeln und in kurzer Frist so gefährlich sein wie 
zuvor. 

Doch wenigstens schwärmte nun auf Camelot kein Fräulein mehr 

von einem Liebesverhältnis mit einem feindlichen Hauptmann. Die 
Dame, die diesen Plan als erste geäußert hatte, leugnete nun heftig 
ab, sie habe es jemals ernst gemeint, Roland durfte endlich wieder 
Heide in die Arme schließen, seine blonde Geliebte. Nachdem sie 
einige Stunden ungetrübten Glücks verbracht hatten, führte sie ihn in 
den Stall, wo ihn sein Rappschimmel Samum, der herrliche arabische 
Hengst, freudig begrüßte. 

Auch Omar hatte sich wieder eingestellt. Er hatte eine lange 

Fußwanderung hinter sich. Aber alle Strapazen und Ängste waren 
auf einen Schlag vergessen, als er sein Idol, Ritter Roland, bis auf 

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einige Striemen im Gesicht unversehrt vor sich sah. Gerührt über 
seine Anhänglichkeit, schloß Roland den Jungen in die Arme. 

Nach einigem Zögern äußerte Omar den Wunsch, der ihm auf der 

Seele brannte: »Mich wollen Knappe sein von große Bitter Roland.« 

»Aber ich habe doch zwei Knappen«, wehrte Roland ab. 
Da trat Pierre mit hochrotem Kopf vor. »Für dieses eine Mal bin 

ich bereit, zugunsten meines Freundes Omar zurückzutreten. Ich tue 
es schweren Herzens. Der Verzicht fällt mir nicht leicht.« 

Roland wußte nur zu gut, daß Pierre das leichte Leben am Hofe im 

Grunde den Anstrengungen des Ritterdienstes  vorzog, ließ sich aber 
nichts anmerken und sagte: »Da ihr euch einig seid, will ich nicht 
dagegen sein. Es sei also gewährt: Omar soll diesmal mein zweiter 
Knappe sein!« 

Omar machte vor Freude einen Luftsprung und sauste dann davon, 

um allen im Schloß, die er kannte, die große Neuigkeit mitzuteilen. 
Pierre schaute ihm nach und sagte gewichtig: »Was opfert man nicht 
alles für seine Freunde!« Dann entfernte auch er sich. Etwas weniger 
schnell, aber nicht weniger zielbewußt. Er begab sich nämlich in die 
Küche, um dort eine wohlschmeckende Zwischenmahlzeit 
einzunehmen. 

Am Nachmittag wählte die Tafelrunde Douglas Heißblut zum 

Führer der Truppe, die den Kampf gegen Haggan fortsetzen sollte. 
Der Gewählte tauschte einen Blick mit Roland, nickte fast 
unmerklich und sagte: »Ich nehme die ehrenhafte Berufung an, aber 
nur unter einer Bedingung!« 

»Und die wäre?« fragte der Sprecher der Tafelrunde. 
»Roland muß mein Berater sein.« 
»Gewährt!« 
»Er kann jederzeit auf eigene Faust unternehmen, was er für gut 

und richtig hält.« 

Der andere zögerte kurz, ehe er sagte: »Gewährt.« 
»Wenn wir beide verschiedener Ansicht über unser weiteres 

Vorgehen sind, so soll Rolands Ansicht gelten und meine vergessen 
werden.« 

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Diesmal dauerte es lange, ehe der Sprecher der  Tafelrunde 

antwortete. »Gewährt«, sagte er, aber es war deutlich zu hören, daß 
ihm die Sache nicht gefiel. 

Wieder tauschten die beiden Ritter einen Blick, und diesmal nickte 

Roland leicht. So drückte er seinen Dank für Douglas' Treue zu 
seinem Versprechen aus. 

Omar schien bereits sehr viele Bekannte im Schloß zu haben, denn 

er ließ sich den ganzen Tag nicht mehr sehen. Erst am Abend sprach 
er bei Roland vor. Er vergewisserte sich, daß niemand in der Nähe 
war. Dann begann er mit unterdrückter Stimme zu flüstern. »Ritter, 
groß Unglück für Euch! Omar lauschen, wie alt Kerl Wilhelmus zu 
junge Kerl sagen, er sollen Roland ermorden. Bei nächste Kampf von 
hinten ermorden!« 

Roland schüttelte ungläubig den Kopf. »Du mußt dich irren. 

Wilhelmus ist mir sicherlich  nicht wohlgesonnen. Aber niemals 
würde er sich soweit erniedrigen, einen Meuchelmord zu befehlen! 
Und kein Ritter von Camelot würde je einem solchen Befehl 
gehorchen.« 

»Ihr nicht glauben Omar?« Der Junge rang verzweifelt die Hände. 
»Du mußt dich verhört haben! Das ist leicht möglich, weil du 

unsere Sprache noch nicht ganz beherrschst. Es ist die einzige 
Möglichkeit.« 

»Ich nicht beherrschen Sprach? Ich beherrschen extraprima!« Und 

zum Beweis zitierte Omar einmal mehr den Spruch, den ihm Louis 
eingetrichtert hatte: »Ein echter Ritter fürchtet weder Tod noch 
Teufel, aber um so mehr sein Eheweib!« 

Roland lächelte. Dann fragte er, wer denn der junge Kerl gewesen 

sei, mit dem Wilhelmus gesprochen habe. 

»Mich nicht kennen diesem junge Kerl. Aber hören, ihm heißen 

Zang.« 

»Gut«, sagte Roland. »Dieser Zang ist mir wohlbekannt. Er ist ein 

großer Witzbold. Genau wie Wilhelmus. Du darfst nie ein Wort von 
dem glauben, was die beiden miteinander sprechen. Sie machen nur 
Witze.« 

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»Oh, mich so froh!« sagte Omar, und von da an wurde über dieses 

Thema nie mehr gesprochen. 

Aber Roland hatte gelogen, um seinen neuen Knappen zu 

beruhigen. Er kannte Zang überhaupt nicht. Beim Ausritt am 
nächsten Morgen fragte er Louis nach einem Manne namens Zang. 
Unauffällig zeigte ihm Louis den jungen Ritter. Es war ein hagerer 
Bursche, kaum mittelgroß und mit scharfen Zügen in einem fast 
fleischlosen Gesicht. Statt einer Lanze war er mit Pfeil und Bogen 
ausgerüstet. 

»Er ist der beste Bogenschütze des Königs«, sagte Louis voll 

Anerkennung. »Man sagt, sein Pfeil sei bis auf 50 Schritte 
unfehlbar!« 

Drei Tage später erreichten König Artus' Ritter die Waldburg. 
Roland führte den Stoßtrupp. Seine Aufgabe bestand darin, einen 
Angriff auf das große Tor vorzutäuschen und so die Stärke der 
Besatzung erkunden. Danach sollte er sich zurückziehen. 

Aber die Gegenwehr war so schwach, daß Roland rief: »Männer, 

wir stürmen!« 

Im ersten Anlauf sprengte er gemeinsam mit Louis und drei 

verwegenen Rittern das Tor, überritt die Wachen und gelangte auf 
den Hof. 

Unter furchtbaren Flüchen traten den Eindringlingen hier der 

Grobe Gottlieb und eine halbe Hundertschaft von Kämpfern 
entgegen. 

»Ergebt euch!« schrie Roland. 
»Eher laufe ich 100 Meilen nackt durch den Schnee, als daß ich 

mich dir ergäbe!« schrie der Grobe Gottlieb zurück. 

Da war Roland schon vor ihm und hob ihn mit der Lanze aus dem 

Sattel. Wenige Atemzüge später war Rolands kleine Schar mit dem 
zahlenmäßig weit überlegenen Gegner im dichten Handgemenge. 

Lanzen flogen. Klingen schwirrten. 

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Flüche ertönten. Pferde bäumten sich auf. Funken sprühten, wenn 

Stahl auf Stahl traf. Schäfte zerbrachen an Panzern. Scharfe 
Schneiden fuhren durch Harnisch und Brünne. Rufe ertönten. 

»Drauf, Männer, mir nach! Der Sieg ist unser!« 
Schmerzensschreie gellten. Pferde stürzten mit wild keilenden 

Hufen. Reiter sanken todesbleich und stöhnend vom Sattel. Rot 
färbte sich der Schnee. 

Hin und her wogte das Gefecht. Roland und Volker schienen an 

vielen Stellen gleichzeitig zu sein. Und allmählich ließ der 
Widerstand der Waldburger nach. Der Grobe Gottlieb lag irgendwo 
im Hof, und sein Mund, der fast nur Gemeinheiten und 
Verwünschungen von sich gegeben hatte, war für immer 
geschlossen. 

Douglas hatte vor der Burg vergeblich auf die Rückkehr seiner 

Vorhut gewartet. Jetzt drang der  Kampflärm auch bis zu seiner 
Hauptmacht. Unverzüglich befahl er den Angriff. Er wollte Roland 
zu Hilfe kommen. 

Aber als seine Männer in den Hof der Waldburg ritten, war der 

Kampf schon so gut wie entschieden. Das Auftauchen der mächtigen 
Schar gab den Verteidigern der Waldburg den Rest. Nur wenige 
Lanzen flogen noch. Die meisten Feinde versuchten sich in 
Sicherheit zu bringen. Manche sprangen in den Burggraben und 
gingen im eiskalten Wasser unter. Andere flehten um Gnade. 

Im Getümmel achtete niemand auf einen kleinen hageren Mann 

namens Zang. Der legte hinterrücks den Bogen an und sandte seinen 
nie fehlenden Pfeil von der Sehne. Er hatte in einem günstigen 
Augenblick auf Roland gezielt. 

Mit kalten Augen im unbewegten Gesicht verfolgte Zang den Flug 

seines Pfeils. Plötzlich verzerrte ein Wutausbruch seine harten Züge. 
Was war geschehen? 

Er hatte wie immer genau gezielt. Der Pfeil war auf Rolands 

ungedeckten Rücken zugeflogen. Keine Macht der Welt konnte 
seinen Flug noch aufhalten. 

Doch da sprang im Kampfgetümmel ein junger, braunhäutiger 

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Mann in die Schußrichtung. Geschah es aus Zufall? Oder tat er es 
absichtlich? Omar würde es nie mehr verraten. 

Der Pfeil traf ihn, wo er Roland hatte treffen sollen. In den Rücken. 

Und seine Spitze berührte sein Herz. Es  riß ihn von den Beinen. 
Noch ein erstickter Schrei - dann war er still. 

Erst jetzt drehte Roland sich um. Omar lag zu seinen Füßen, der 

Pfeil ragte kerzengerade in die Luft. Der Anblick preßte Roland die 
Seele ab. Mit einer inneren Anstrengung drängte er die Tränen 
zurück, die ihm ins Auge steigen wollten. Wie durch einen Schleier 
sah er in der Ferne einen haßerfüllten Blick, den er aber sogleich 
vergaß. 

Er ließ sich aufs Knie nieder und zog behutsam an dem Pfeilschaft. 

Aber der rückte und rührte sich nicht. Zang pflegte seine Pfeilspitzen 
mit kurzen Widerhaken zu versehen. 

»Omar«, rief Roland. »Was ist mit dir? Hörst du mich?« Er bettete 

den Kopf des Jungen in seine Hände, und sah voll Erschrecken, wie 
seine dunkle Haut aschgrau wurde und verfiel. 

Noch einmal traf ihn ein Blick aus Omars dunklen Augen, der alle 

Verehrung enthielt, die Omar für den Ritter empfand. Noch einmal 
bewegten sich die welk gewordenen Lippen. Roland beugte sich tief 
über ihn, um zu verstehen, was der Mund des Todgeweihten fast 
unhörbar flüsterte. 

Und dann vernahm er zwar geisterhaft schwach, aber doch klar und 

deutlich die Worte, über die sie in glücklichen Zeiten so oft gelacht 
hatten: »Ein echter Ritter fürchtet weder Tod noch Teufel, aber um 
so mehr sein Eheweib!« Der magere, sehnige Körper des Jungen aus 
dem Morgenland zuckte noch einmal, und dann entfloh seine große 
Seele. 

Betroffen und erschüttert stand Roland auf und blickte auf den 

Toten herab. Plötzlich sah er etwas blinken. Aus dem offenen Wams 
Omars hing eine goldene Brosche, die an einer Halskette befestigt 
war. Eine Erinnerung schoß Roland durch den Kopf. 

Hatte nicht Atz von Atzerath eine ähnliche Kette mit Anhänger um 

den Hals getragen? Und Haggan? 

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Mit bedächtiger Hand schob er die Kette unter das Wams und 

schloß die Knöpfe darüber. Dann blickte er von dem Leichnam auf. 
Aber er sah nicht die Mauern der Waldburg und nicht die Ritter, die 
mit Douglas in den Hof strömten. Er sah nicht den grauen Himmel 
und nicht das hagere Gesicht des Meuchelmörders Zang. Er sah 
weder Louis noch Volker, die zu ihm getreten waren und entsetzt den 
Toten erblickten. 

Roland war es, als stehe er allein auf einer mondbestrahlten, 

blumenreichen Wiese. Und er sah Elfen über die dichten Halme 
tanzen. Und hörte ihre feinen, überirdisch schönen Stimmen wispern. 

»Roland«, hörte er sie sagen, »wenn du deine große Aufgabe 

erfüllen willst, laß die Kette nicht in einem düsteren Grab 
verschwinden! Löse sie vom Hals des Toten und nimm sie an dich!« 

Roland fuhr sich mit der Hand über die Augen. Die silberhellen 

Stimmen waren verstummt, und er sah sich wieder unter grauem 
Himmel vor den Mauern der Waldburg und inmitten vieler Ritter, die 
wissen wollten, was geschehen war. 

Mit einer sanften Bewegung griff Roland noch einmal unter Omars 

Wams, streifte die Halskette ab und barg sie unter seiner Rüstung. 

Roland war überzeugt, daß Zang ihn hatte ermorden wollen. Omar 
hatte doch recht behalten. Wie tragisch, daß er durch einen Zufall 
nun selber statt seines ungläubigen Herrn daran glauben mußte! 

Nachdem die Toten begraben waren, verzichtete Roland darauf, 

Zang anzuklagen. Ihm war klar, daß es ihm an Beweisen fehlen 
würde. Aber er nahm sich vor, den häßlichen kleinen 
Pfeileschleuderer von nun an stets im Auge zu behalten. 

Haggans gesamte Streitmacht hatte sich inzwischen nach Burg 

Atzerath zurückgezogen. Die Höllensöhne hatten längst den Schock 
der Beschießung vor Camelot abgeschüttelt und erwarteten voller 
Selbstvertrauen den Angriff der Männer um Douglas Heißblut. 

Auf dem Ritt nach Atzerath hatte Roland es schwer. Alles wurde 

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ihm zuwider. Der Gedanke an des kleinen Omar Tod machte ihn 
schwermütig. Nichts konnte ihn aufheitern. Sorgenvoll beobachteten 
die Kameraden seinen trübseligen Zustand. Doch sie konnten nichts 
daran ändern. Unwillig wies Roland jeden Versuch ab, ein Gespräch 
mit ihm anzuknüpfen. 

Doch weil ihm selber sein Gemütszustand unerträglich wurde, 

dachte er an Abhilfe. Und er erinnerte sich, wie ihn noch immer ein 
Lied seines Freundes, des Minnesängers Volker, auf wundersame 
Weise heiter gestimmt hatte. Ihm kam ein Liedchen in den Sinn, das 
Volker einmal auf Samum, den edlen Araberhengst, gedichtet hatte. 

Es war eine einfache Weise, nicht zu vergleichen mit den prächtig 

schimmernden Melodienbögen, die Volker an festlichen Abenden in 
den großen Hallen der Ritter zu singen pflegte. 

Leise summte Roland das Lied vor sich hin, während Samum unter 

ihm im versammelten Galopp, ohne sich anzustrengen, Meile um 
Meile hinter sich brachte. Und die Wirkung der Weise war 
erstaunlich. Mit jeder Zeile lockerte sich das enge, kalte Band um 
Rolands Herz. 

»Hü-ahopp, mein Samum, hü-ahopp! Wirf die Beine nur keck im 

Galopp! Denn wir reiten noch heut ins Gefecht Für die Ehre, den 
König, das Recht. Wie die Klinge im Morgenlicht blinkt Und mein 
Lied in die Lüfte sich schwingt. So besiegen wir mutig den Feind, 
Solang Liebe und Treue uns eint.  Hü-ahopp, mein Samun, hü-ahopp! 
Munter vorwärts im raschen Galopp!« 

Roland hatte unwillkürlich die letzten Worte mit erhöhter Stimme 

gesungen. Douglas Heißblut, der hinter ihm ritt, verstand deshalb 
jedes Wort. Er trieb sein Pferd voran, bis er auf gleicher Höhe neben 
Roland ritt. »Ich freue mich, Euch bei guter Laune zu finden. In den 
letzten Tagen wart ihr so sauer wie Landbrot. >Munter vorwärts im 
raschen Galopp<  - das  ist der richtige Geist. Morgen werden wir 
Atzerath erreichen. Ich gedenke, die Burg im ersten Ansturm ohne 
langwierige Belagerung zu nehmen - wie Ihr die Waldburg.« 

Roland schüttelte den Kopf. »Davon rate ich Euch ab. Atzerath ist 

mit der kleinen Waldburg nicht zu vergleichen. Ich kenne die starken 

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Befestigungen, die Kampfkraft der Höllensöhne, die Tollkühnheit 
Haggans, die vielen Verteidigungslinien des Baus aus eigenem Erle-
ben. Und dabei kenne ich noch nicht einmal die letzten, tiefsten 
Geheimnisse der Burg.« 

Douglas lachte ärgerlich auf. »Vielleicht habt Ihr den Sturm auf die 

Waldburg gar nicht aus eigenem Antrieb unternommen. Vielleicht ist 
nur Euer Samum mit Euch durchgegangen.« 

Kaum waren die Worte heraus, da taten sie Douglas schon leid. 

Sein Heißblut hatte ihm die Zunge durchgehen lassen. Aber es 
widerstrebte ihm auch, sie zurückzunehmen. So blickte er trotzig 
voraus und wartete auf Rolands Antwort. 

Der hatte wohl gemerkt, was in Douglas vor sich ging, und 

antwortete ruhig: »Ich verzeihe Euch  die Beleidigung, denn ich kann 
nicht glauben, daß Ihr sie ernst meintet.« 

»Lassen wir das auf sich beruhen! Wenn Ihr einen anderen Plan 

habt als ich, so laßt ihn hören!« 

»Ich glaube, daß wir mit Gewalt allein nicht zum Ziele kommen. 

Der verbrecherische Einfallsreichtum dieses Haggan übersteigt alle 
Grenzen. Er würde lachend seinen besten Freund oder seine 
vertrauteste Geliebte opfern, wenn ihm das auch nur den kleinsten 
Vorteil brächte.« 

»Der Mann scheint Euch zu gefallen«, warf Douglas ungeduldig 

ein. »Ihr schwärmt ja geradezu von ihm!« 

Roland schluckte die erneute Beleidigung herunter, obwohl es ihm 

schwerfiel. »Wir müssen seiner Arglist mit einer Gegenlist 
zuvorkommen«, sagte er. 

»Wollt Ihr ihn wieder mit Kacke beschießen?« höhnte Douglas. 
Es war gut, daß Douglas' Pferd in diesem Augenblick vor einem 

Hasen scheute und einen Sprung zur Seite machte. Denn jetzt war 
Rolands lange unterdrückter Zorn so groß geworden, daß er 
womöglich handgreiflich geworden wäre. Eine Pause folgte. Als 
Douglas sein Pferd beruhigt hatte, entwickelte ihm Roland mit 
einfachen Sätzen seinen Plan. 

Douglas hörte kaum zu. Er begriff nur, daß die Sache geraume Zeit 

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dauern würde. »Ich pfeife auf Euren Plan, Roland«, sagte er hart. 
»Wir gehen so vor, wie ich es will!« 

»Augenblick, Douglas. Erinnert Ihr Euch nicht mehr, was Ihr mit 

dem Sprecher der Tafelrunde vereinbart habt?« 

»Mein Gedächtnis ist leer. Oder meint Ihr die Tatsache, daß ich 

zum Heerführer ernannt wurde?« 

Rolands Zorn wuchs. »Ihr habt darauf bestanden, daß ich Euer 

Berater sei.« 

»Wirklich?« 
»Und daß, falls wir über einen Punkt verschiedener Meinung 

wären, meine Meinung befolgt werden müsse.« 

»Das käme ja darauf hinaus, daß in Wirklichkeit Ihr der Anführer 

wärt?« 

Roland zuckte die Achseln. 
Douglas fuhr fort, und seine Stimme war hitzig. »Das mag alles 

sein, aber es ist alter Schnee. Ich brauche mich nicht daran zu halten, 
und ich werde es auch nicht tun. Ich sehe, daß Ihr mich schlecht 
beraten, und darum gebe ich Eurem Rat einen Fußtritt. Es wird so 
geschehen, wie ich es befehle.« 

»Ihr lauft in Euer Verderben, und Ihr reißt Eure Männer mit 

hinein!« warnte Roland ernst. 

»Nein. So ist es nicht. Dem Mutigen gehört die Welt. Dem 

Zauderer entgleitet sie. Ich sage nicht, daß Ihr ein Feigling seid, 
Roland ...« 

»Aber ich sage es!« dröhnte eine Stimme hinter ihnen. »Douglas, 

hört nicht auf den falschen Ratgeber! Führt uns in den Kampf! Wir 
folgen euch, wohin Ihr uns führt!« 

Die beiden drehten sich um und sahen einen hageren kleinen 

Mann, dessen Augen tückisch blinzelten.  Es war Zang, den Roland 
für Omars Mörder hielt. 

Zwei  Tage später preschten die Ritter aus Camelot kurz vor dem 

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Morgengrauen über die weite, deckungslose Ebene zur Burg 
Atzerath. Schon im Vorfeld der Mauern lauerten berittene 
Bogenschützen ihnen auf. Denn Haggan war durch Späher, die als 
harmlose Bauern oder Vagabunden über Land zogen, zu jeder Zeit 
über die Bewegungen des feindlichen Heeres unterrichtet gewesen. 
Und am entscheidenden Morgen hatten die Wachen vor den hohen 
Türmen frühzeitig die schwarzen Schatten über das schimmernde 
Weiß zwischen Bach und Burgmauer herannahen sehen und Alarm 
geschlagen. 

Die Bogenschützen überschütteten die angreifenden Ritter mit 

einem mörderischen Pfeilhagel, der viele Opfer kostete, weil die 
meisten der völlig überraschten Männer aus Camelot noch nicht den 
Helm aufgesetzt hatten. So kam das Heer gleich zu Anfang in große 
Verwirrung. Haggans Bogenschützen aber ließen sich auf nichts 
weiteres ein und zogen sich im schnellsten Galopp in den Schutz der 
Burg zurück. 

Doch  der ehrgeizige, ruhmbegierige und hitzköpfige Douglas ließ 

sich nicht aufhalten. Ohne sich um die Verwirrung in seinen Reihen 
zu kümmern, hetzte er dem Feinde nach. Da er mit den Vordersten 
seines Gefolges kurz nach dem letzten von Haggans Bognern an der 
Zugbrücke eintraf, preschte er gleich darüber hinweg. 

Doch nun geriet er in die nächste Zwickmühle. Sämtliche Tore 

waren dicht verrammelt, und die Waffen der Ritter erwiesen sich als 
wirkungslos gegen Stahltüren, Stahlriegel und Stahlschlösser. Aber 
von den Zinnen herab ergoß sich ein wolkenbruchartiger Regen 
kochenden Wassers und heißen Teers über die unglücklichen 
Gefolgsleute Heißbluts. Die brühheißen Flüssigkeiten schossen ihnen 
in die Fugen und Gelenke der Rüstungen und verbrannten ihnen die 
Haut. Bei vielen waren die Schmerzen so groß, daß sie kampfunfähig 
wurden. 

Zang hielt sich immer dicht hinter Douglas. Er wollte an seinem 

Triumph teilhaben. Nur so glaubte er, einen starken Bundesgenossen 
gegen Roland zu gewinnen, dessen Feindschaft er deutlich spürte. 

Sein Pech war, daß Haggan bald Douglas erspähte, der stets in 

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vorderster Linie kämpfte. Sofort bildete Haggan einen Stoßtrupp von 
zehn seiner besten Männer mit dem Auftrag, ihm Douglas zu 
bringen, tot oder lebendig, aber lieber lebendig. Er wollte es dem 
Mann, der ihm die orientalischen Gaukler angebracht hatte, grausam 
heimzahlen. Geteert und gefedert sollte er in der Kloake der Burg 
einen qualvollen und unrühmlichen Tod sterben. 

Plötzlich sah sich Douglas von allen Seiten umringt. Da war keiner 

der Seinen, der ihm Hilfe brachte. Als erster war Zang feige 
geflohen. Um sein klägliches Versagen zu verschleiern, rief er bei 
seiner überstürzten Flucht allen, denen er begegnete, zu: »Douglas ist 
gefallen. Ich focht bis zuletzt neben ihm. Sterbend flehte er mich an, 
ich solle mich in Sicherheit bringen, weil ich nun Camelots 
wichtigster Krieger sei!« 

Die Nachricht schmetterte alle nieder. Je nach Temperament 

fluchten oder jammerten sie. Doch Roland glaubte Zang nicht. Für 
ihn war dieser kleine Mann der geborene Lügner. Er gab Samum die 
Sporen. In kurzer Zeit hatte er die Zugbrücke erreicht. Hinter einem 
wahren Wald erhobener Waffen sah er Douglas silbernen Helm. 

»Heißblut, halte aus!« schrie er hallend ins Getümmel, »ich 

komme!« Und mit den vier Rittern, die ihm vertrauensvoll gefolgt 
waren, stürzte er sich todesverachtend in den waffenstarrenden Kreis 
der Feinde um Douglas. 

Es wurde ein erbitterter und blutiger Kampf. Es gab Tote und 

Verwundete auf beiden Seiten. Aber die vereinten Kräfte von Roland 
und Douglas brachen schließlich den Widerstand. Noch zwei 
Camelot-Ritter waren bei ihnen, als sie sich freigekämpft hatten und 
zurück über die Brücke jagten, um das freie Feld zu gwinnen. 

Ein letztes Manöver Haggans schlug fehl. Er ließ die Zugbrücke 

hochkurbeln, um die Ritter in den Burggraben zu stürzen. Doch ehe 
die Kurbel in Gang gesetzt wurde, waren die Helden schon in 
Sicherheit. 

Als sie in den schützenden Wald ritten, bat Douglas seinen Retter 

beschämt um Verzeihung. »Ich war verblendet«, gestand er ihm. 
»Nie wieder will ich deinen Mut in Frage stellen. Ohne dich wäre ich 

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jetzt tot oder gefangen der Wut Haggans preisgegeben.« 

Während er ihm erneut und diesmal mit den besten Vorsätzen treue 

Waffenbrüderschaft schwor, schlich Zang heimlich aus dem Lager 
und wurde beim Heer nicht mehr gesehen. 

Nun kamen harte Zeiten. Kaum hatten sie einige Hütten im Wald 
gebaut, so brach der Winter mit voller Kraft herein. Unter neuen 
Schneelasten stürzten die schnell gezimmerten Dächer zusammen. 
Eisiger Wind pfiff durch die kahlen Äste der Eschen, Buchen, Birken 
und Eichen. Überall knackte es im Gehölz - das war die Kälte. 

Die Ritter und Knappen froren zum Steinerweichen. Aber 

jedenfalls litten sie keinen Hunger. Die Jagd war leicht. Denn man 
brauchte kaum 50 Schritte weit durch den tiefen Schnee zu stapfen, 
und man konnte ein entkräftetes Stück Wild schon mit den Händen 
einfangen. Tag und Nacht  brannten die Essensfeuer auf den 
Lichtungen. Dort wärmten sich die Ritter und stärkten sich mit 
Wildbret. 

Ein anderer Teil des Heeres aber war ständig unterwegs. Diese 

Männer bewachten die Zufahrtsstraßen zur Burg und wiesen jeden 
ab, der Lebensmittel dahin bringen wollte. 

Ursprünglich hatte Roland daran gedacht, mit einer ausgewählten 

Schar von Rittern sich im Bauch von bäuerlichen Frachtwagen zu 
verstecken und so ins Innere der Burg zu gelangen. Diesen Plan hatte 
Douglas damals verworfen. Jetzt wäre es  sinnlos gewesen, dieses 
Unternehmen zu versuchen. Denn nun wußte ja Haggan, daß die 
Männer von Camelot ihn belagerten. Mißtrauisch hatte er jeden 
Wagen genau untersuchen lassen, bevor er ihn über die Zugbrücke 
rollen ließ. 

Schon nach kurzer Leidenszeit ließ die Kraft des Winters nach. 

Vorfrühling lag in der milde gewordenen Luft. Niemand brauchte 
mehr zu frieren. Jetzt galt es, mit der Nässe des tauenden Schnees 
fertigzuwerden. Die Knappen putzten täglich die Rüstungen, die 

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sonst viel zu schnell verrostet wären. Regen fiel, und der Boden 
wurde schlammig. 

Auf Burg Atzerath war nach dem Jubel über den ersten Sieg die 

Stimmung bald umgeschlagen. Der Küchenchef warnte: »Wir haben 
nur noch Proviant für eine Woche!« Es galt, den Gürtel enger zu 
schnallen. Aber das fiel den meisten leicht. Viel schlimmer 
empfanden sie den von Tag zu Tag spürbarer werdenden Mangel an 
Wein und Met. Mißmut machte sich breit. 

Haggan zermarterte sich den Kopf über Roland, den er beim 

Kampf auf der Brücke natürlich erkannt hatte. Hatten seine Späher 
ihm nicht berichtet, Artus habe Roland entrittern und danach hängen 
lassen? Irgendwie war Roland entkommen. Es konnte gar nicht 
anders sein. Dieser Ritter war zäh wie eine Katze. Er schien 
mindestens sieben Leben zu haben. 

Haggan ballte wütend die Fäuste. Roland war der einzige Gegner, 

den er fürchtete. Zum erstenmal beschlich den selbstsicheren 
Verbrecher ein unbehagliches Gefühl... 

In dieser Stimmung befand sich Haggan, als ihm die Ankunft eines 

Spähers gemeldet wurde. Der Mann hatte es  verstanden, sich bei 
Nacht durch die Postenkette des Feindes zu schleichen. Haggan ließ 
ihn kommen. 

Mit schlammbedeckten Stiefeln, in ein regennasses Gewand 

gehüllt, trat der Mann ein. »Wo kommst du her?« fragte Haggan 
barsch. 

»Aus Ebersdorf.« 
»Und?« 
»Ich sah dort Rolands Geliebte Heide!« 
Haggan starrte ihn ungläubig an. »Du mußt besoffen gewesen sein, 

Unglückskerl!« 

»Bestimmt nicht, Herr. Ich war nüchtern wie ein Säugling. Sie hält 

sich bei einer Bauernfamilie auf. Ich kenne das Haus!« 

Haggan überlegte. Nervös kraulte er sich den wirren schwarzen 

Vollbart. Wenn der Mann recht hätte ... Aber wie kam Heide nach 
Ebersdorf, das etwa fünf Meilen entfernt lag? 

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Aus Sehnsucht nach Roland natürlich! Sie liebte ihn ja wie eine 

Wahnsinnige, dachte Haggan erbittert. Sie wollte ihm nahe sein. Bei 
günstiger Gelegenheit ins Lager hinüberreiten und ein paar Stunden 
mit ihm verbringen. Sie war das wilde Leben der fahrenden Ritter ja 
gewöhnt. Als Rolands Knappe war sie damals nach Atzerath 
gekommen. Und sogar er, Haggan, war zunächst darauf 
hereingefallen, bis man sie nackt im Bade überraschte. 

Haggans Lippen zuckten. Dann verzog er den Mund zu einem 

gemeinen Grinsen. Es sah so teuflisch aus, daß sein Späher, der ihn 
doch schon in jeder möglichen Stimmung gesehen hatte, bis ins 
Innerste erschrak und nicht mehr wagte, dem Gräßlichen ins Gesicht 
zu blicken. 

»Und du bist dir deiner Sache völlig sicher?« herrschte Haggan ihn 

an. 

Die Stimme ließ den Späher zusammenzucken. »So sicher wie das 

Amen in der Kirche«, flüsterte er erbleichend. 

»Du zitterst ja!« stellte Haggan fest. »Hast du Angst, weil du mich 

angelogen hast?« 

»Nein, Herr, das würde ich niemals wagen! Es ist nur, weil ich bis 

auf die Haut durchnäßt bin ...« 

»Hier, sauf, damit dir warm wird!« Mit heftiger Gebärde stellte 

ihm Haggan seinen eigenen Branntweinkrug hin. Schüchtern nahm 
der Späher einen Schluck. Mit dem Zeug im Magen fühlte er sich 
schon wohler und wagte es, noch einen langen, langen Schluck 
nachzugießen. Alle seine Angst verschwand. 

»Mir ist da eine Idee gekommen«, sagte Haggan und sah ihn scharf 

an, als wolle er ihm bis auf den Grund seiner Seele schauen. »Traust 
du dir zu, mit einem Gefährten zusammen noch einmal nach 
Ebersdorf und zurück zu schleichen - und mit einer Gefangenen?« 

Der Späher begriff. Das Wort von der Gefangenen öffnete ihm die 

Augen. Er schauerte, wenn er sich vorstellte, was Haggan mit der 
schönen Heide anstellen würde. Aber viel schlimmer würde es sein, 
was Haggan ihm antun würde, wenn er ihm nicht zu Willen war. 
Deshalb antwortete er schnell: »In einer Woche, Herr, wenn 

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Neumond ist!« 

Der Regen hörte so plötzlich auf, wie er eingesetzt hatte. In dem 
Wald unweit von Atzerath, wo die Ritter von Camelot hausten, 
begann ein reges Leben und Treiben. Der helle Klang der Äxte 
schnitt durch die Luft. Sägen zerlegten gefällte Bäume. Geschickte 
Handwerker aus dem Troß stellten Balken her, nagelten breite Latten 
aneinander und errichteten im Laufe weniger Tage riesige hölzerne 
Rammböcke. 

Douglas trieb die Arbeiter zur Eile. Mit diesen  Rammböcken 

wollte er versuchen, die Mauern der Burg trotz aller Abwehrwaffen 
zu erklimmen. Er war Feuer und Flamme. Immer wieder beriet er 
sich mit Roland, der den Anstoß zu diesen Arbeiten gegeben hatte. 

Eines Morgens sahen die Posten des Waldlagers und  der Burg 

einen Aufzug, der beide Parteien gleichermaßen in Staunen und 
Aufregung versetzte. Eine Kolonne von fünf farbig bemalten 
Planwagen kam über die Ebene südlich des Baches gefahren und 
machte an einer Stelle, die gleich weit von Waldlager und Burg 
entfernt war, Halt. Den Planwagen entstiegen neben den Kutschern 
noch einige fremdländisch gekleidete Männer, die in Windeseile ein 
großes, langgestrecktes Zelt aufschlugen. 

Auch das Zelt bot einen farbenfreudigen Anblick. Die Augen der 

Posten wurden groß  wie Suppenteller, als sie der bunten Malereien 
auf den Zeltwänden ansichtig wurden. 

Sie stellten ausnahmslos Frauen dar. Junge Frauen. Hübsche 

Frauen. Fast nackte Frauen!« 

Darüber prangte ein großes Spruchband mit riesigen Buchstaben. 

Die Männer, die lesen konnten, mußten ihren weniger gebildeten 
Kameraden wieder und wieder den Text vorlesen, denn die konnten 
nicht genug davon bekommen. Was stand da angeschrieben? 

FREUDE FÜR MÄNNER SCHÖNE FRAUEN SELIGKEIT FÜR 

EINEN DUKATEN! 

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Ein unbewaffneter Mann in fremdartigem, buntem Samtanzug kam 

aus dem Zelt, ging schnurstracks auf die Burg zu, wurde nach 
einigem Hin und Her eingelassen und fand sich binnen kurzem vor 
Haggan dem Gräßlichen, der ihn verächtlich anschaute. »Was willst 
du, Fremdling? Was soll der Aufzug am Bach?« 

»Ihr habt es vermutlich schon erraten Hoheit«, antwortete der 

Mann, der Haggan an einen Papagei erinnerte. »Darum will ich nicht 
lange drumherum reden. Mein Name ist Bastiano. Ich stamme aus 
dem Sonnenland jenseits der Alpen. Ich bringe Freude und 
Seligkeit...« 

»... und schöne Frauen«, ergänzte Haggan. 
»So ist es.« Er unterbrach sich. Ritter Lutz und seine ebenso 

schöne wie arglistige Frau Velma waren eingetreten und setzten sich 
neben Haggan. Bastiano verneigte sich und fuhr dann fort: »Mein 
großes Zelt ist in zwölf Abteilungen getrennt. In jeder sitzt ein 
verführerisches Weibsbild, das sich für einen Dukaten anheischig 
macht, jedem Eurer Krieger eine Stunde des Glücks zu bereiten.« 

»Donner und Sturm!« stieß Lutz hervor und warf einen raschen 

Blick auf sein Weib. Doch aus ihrem unbewegten Gesicht konnte er 
nichts herauslesen. 

»Leider ist Krieg, Bastiano«, sagte Haggan schließlich. »Wenn 

meine Männer die Burg verlassen, werden sie vom Feind 
angegriffen. Die Stunde des Glücks mit einem  deiner Weibsbilder 
würde ein schnelles und blutiges Ende nehmen.« 

»Oh, das ließ sich alles arrangieren, Hoheit. Nach meinen 

Erfahrungen ruhen auch bei erbitterten Feinden die Waffen immer 
bei Einbruch der Dunkelheit. Darf ich Euch meinen Plan erläutern?« 

Bastiano sprach jetzt sehr schnell. Was er vortrug, hörte sich 

gewagt an, schien aber möglich zu sein. Dennoch wollte Haggan 
schon abwehrend den Kopf schütteln, als sich plötzlich Velma zu 
ihm beugte und ihm mehrere Sätze hastig ins Ohr flüsterte. 

Haggan hörte gespannt zu, und zum Schluß breitete sich ein 

teuflisches Grinsen auf seinem Gesicht aus. Er nickte der Frau zu 
und schlug dem Mann im bunten Samt so kräftig auf die Schulter, 

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daß der sich mit Mühe aufrecht halten kann. »Hör genau zu, 
Bastiano! Drei Wochen lang soll jeden Abend Waffenruhe herrschen, 
von der achten Stunde bis Mitternacht. Niemand darf auf dem Weg 
zu deinem Zelt und im Inneren Waffen tragen. Niemand darf dabei 
angegriften werden. Damit sich die beiden Parteien nicht gegenseitig 
ins Gehege kommen, werden meine Männer dein Zelt der Seligkeit 
an ungeraden Tagen aufsuchen, die Männer von Camelot mögen es 
an geraden Tagen tun. Geh nun und versuche dein Glück bei den 
anderen! Wenn sie ebenfalls einwilligen, dann soll die Vereinbarung 
morgen abend in Kraft treten  -20 Abende lang, zehn für uns, zehn für 
den Feind.« 

Bastiano bedankte sich redselig und verabschiedete sich dann, um 

das Lager von Douglas Heißblut aufzusuchen. Er traf ihn zusammen 
mit Roland und Volker. Auch hier trug der papageienhaft gekleidete 
Mann sein Anliegen vor und fügte den Vorschlag Haggans hinzu. 

In einiger Entfernung lauschten mehrere Ritter den erstaunlichen 

Worten. Als Bastiano geendet hatte, brachen sie in lauten Jubel aus. 
Denn mehr als unter den Unbilden des Winters und der Härte 
einzelner Gefechte litten sie unter der erzwungenen Entsagung von 
allen Freuden der Liebe. 

Schließlich waren sie alle kraftstrotzende junge Ritter und keine 

alten Mönche! 

Douglas blieb eigentlich gar nichts anderes übrig, als in das 

Abkommen einzuwilligen. Denn eine Ablehnung hätte unter seinen 
Gefolgsleuten nur böses Blut erregt. 

Doch fragte er Roland und Volker um ihre Meinung. Volker 

antwortete als erster: »Gold für Seligkeit  - das ist eigentlich ein 
ehrliches Geschäft. Wenn mich jemals eine Frau erhörte, so hatte sie 
jedesmal mein Gold verführt.« 

Douglas starrte Volker verblüfft an. Der Minnesänger war als 

Frauenbetörer berühmt. Man sagte, daß er jederzeit an jedem Finger 
zehne haben könne. »Wie?« fragte Douglas. »Ausgerechnet Ihr 
brauchtet Gold, um Frauenherzen zu brechen?« 

Der Minnesänger schmunzelte, und sein Freund Roland sagte: 

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»Volker meint natürlich nicht das Gold der Dukaten, sondern das 
Gold in seiner Kehle!« 

Da lachten sie alle. 
»Und Eure Meinung, Roland? Ihr wißt, ich höre auf Euren Rat.« 
Roland zögerte. Nach all seinen Erfahrungen traute er Haggan 

nicht über den Weg. Aber wahrscheinlich würde es nicht einmal der 
Gräßliche wagen, den Waffenstillstand zu brechen. Seine eigenen 
Männer würden sich gegen ihn erheben ... 

Außerdem hatte Roland just an diesem Morgen durch einen 

Jungbauern ein Brieflein erhalten. Heide schrieb, sie sei in dem nur 
fünf Meilen entfernten Ebersdorf eingetroffen und warte voll 
Sehnsucht auf ihn. Wie durfte er den Kameraden die »Seligkeit« 
verwehren  und selber das unvergleichlich schönere Glück mit seiner 
herrlichen Geliebten genießen? 

»Der einzige Nachteil«, sagte er nach einer Weile«, »liegt darin, 

daß dadurch die Männer der Burg Atzerath Gelegenheit erhalten, ihre 
Lebensmittelvorräte zu ergänzen.  Bisher haben wir das durch unsere 
Postenkette verhindert. Natürlich können wir sie unter den 
Bedingungen des geplanten Waffenstillstandes nicht 
aufrechterhalten. Vier Stunden täglich sind wir machtlos.« 

Douglas fühlte sich unbehaglich, denn die Ritter blickten böse 

drein. »Ihr meint also, wir dürften nicht auf den Waffenstillstand 
eingehen?« 

»Doch«, sagte Roland. »Mir liegt nichts daran zu versuchen, die 

Besatzung von Atzerath durch Hunger zur Kapitulation zu zwingen. 
Das wäre ein unritterliches Vorgehen. Ich möchte sie im Kampf 
bezwingen und nicht, indem ich ihnen die Nahrung sperre. Ich rate 
zum Abkommen. Es wird unsere Männer fröhlich stimmen, und ein 
fröhlicher Kämpfer ist ein zukünftiger Sieger.« 

Ein dröhnender Jubelschrei folgte Rolands Worten. Bastiano 

machte einen Kratzfuß. 

Das einzige Haar in der Suppe war für die Ritter von Camelot, daß 

heute ausgerechnet ein ungerader Tag war ... 

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Am vierten Tag des allabendlichen Waffenstillstands schlenderte 
auch Volker vom Hohentwiel über die neutrale Ebene zu dem Zelt 
der Seligkeiten am Bach. Er hatte allerdings nicht die Absicht, sich 
ein Liebesabenteuer zu erkaufen. Doch hatten ihn die Berichte der 
Kameraden neugierig auf den Betrieb gemacht. 

In der schwach erhellten, mit abgetretenen Teppichen ausgelegten 

»Vorhalle« sah er den Flor der »schönen Frauen« aufgeputzt auf 
kleinen gepolsterten Diwanen hocken, die ebenso bunt waren wie die 
Außenseite des Zeltes und die Kleidung des Herrn Bastiano. 

Gemächlich schlenderte der feurige Minnesänger an den Damen 

entlang und musterte jede freundlich und gelassen. Bei keiner schlug 
ihm das Herz höher. Sie hatten sich zwar sehr verführerisch in 
durchsichtige Gewänder gehüllt, Lippen, Augen und Wangen mit 
großem Aufwand bemalt, aber das Ergebnis war nicht umwerfend. 

Schminke und Puder verbargen dem kundigen Auge Volkers nicht 

die Falten, die Alter und Lebensweise in die einst jugendfrischen 
Wangen gegraben hatten. Müde blickten die Augen, gleichgültig 
oder gierig aus verlebten Gesichtern. Der Anblick erweckte eher 
Volkers Mitleid als seine Begier. 

Dennoch schien Bastianos Geschäft sich gut anzulassen. Die 

Ritter, so lange Zeit jeder weiblichen Gesellschaft entwöhnt, sahen 
großzügig über welke Haut und matte Glieder hinweg. Dukaten 
klimperten. Derbe Scherze wurden ausgetauscht. Zuweilen erhob 
sich eine Dame und führte den, der sie erwählt hatte, in die von 
Bastiano erwähnten Abteilungen des geräumigen Zeltes, die mit 
weiteren Lagerstätten intimerer Art ausgestattet waren. 

Ein kurzer Rundgang genügte Volker. Schon wollte er den 

Heimweg antreten, als ihn ein Blick traf, der nichts von dem matten 
Glanz der übrigen Frauenaugen hatten, sondern ihm wie eine heiße 
Messerklinge ins Herz fuhr. Der Blick kam aus einem betörend 
schönen Köpfchen, das auf einer hoheitsvollen, fast königlichen 
Gestalt saß. Die Lippen des Geschöpfs, das wie eine Erscheinung vor 

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Volker stand, öffneten sich, und eine angenehme Stimme traf sein 
Ohr, aus der er so etwas wie Furcht herauszuhören meinte. 

So begann Volkers schicksalhafte Begegnung, die den gesamten 

Verlauf des Feldzugs gegen Haggan den Gräßlichen von Grund auf 
ändern sollte. 

Heide saß am Fenster der niedrigen Stube und schaute hinaus. Es war 
in dem Bauernhaus in Ebersbach, wo sie Unterkunft gefunden hatte. 
Sie hatte einen Boten zu Roland geschickt, aber der Kerl hatte sich 
nicht wieder gemeldet. 

Sie schaute in den mondlosen Sternenhimmel. Ihr sehnsüchtiger 

Blick fand das Sternbild des Orion, die hell leuchtenden 
Schultersterne, das bescheidenere Gürtelgeschmeide und die beiden 
unteren Sterne. Immer wenn sie traumverloren den Orion anschaute, 
fühlte sie sich ihrem Geliebten besonders verbunden, mochte er auch 
viele Meilen von ihr entfernt sein. 

Dann während ihrer Gefangenschaft auf Atzerath hatten sie in der 

ersten Zeit ihrer jungen Liebe ein Abkommen getroffen. »Wenn uns 
die Waffen oder ein widriges Los trennen, wird jeder von uns des 
Nachts den wilden Jäger Orion, den Geliebten der Eos, betrachten, 
und unsere Blicke und Gedanken treffen sich dann in den tiefsten 
Tiefen des Himmels.« 

Sie war ganz sicher, daß auch Rolands Blicke jetzt auf den Orion 

gerichtet waren. Sie fühlte es, und dieses Gefühl konnte nicht trügen, 
es war so innig! 

Ein Schatten verdunkelte plötzlich den Himmelsausschnitt, den 

Heide vor ihrem Platz am Fenster sah. Sie sah das freundliche 
Gesicht eines ihr unbekannten jungen Mannes, der ihr Zeichen 
machte. Zuerst war sie erschrocken. Aber was sollte ihr hier 
geschehen? Und zudem: er sah so nett aus! 

Sie öffnete das Fenster, aber nur einen Spaltbreit. Die frische 

Nachtluft strömte herein und ließ sie frösteln. 

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»Seid Ihr die Dame des Ritters Roland, die sich Heide nennt?« 

fragte der junge Bursche. Seine Stimme klang angenehm, und sein 
Benehmen war trotz der ungewöhnlichen Umstände von 
außerordentlicher Höflichkeit. 

»Ja«, sagte Heide. 
»Der Ritter schickt mich.« 
»Und seine Botschaft?« fragte Heide voll Ungeduld. 
»Er bittet Euch dringend, zu ihm ins Lager zu kommen!« 
»Zu ihm ... ins Lager?« Heide war verwundert. »Aber ich bat ihn 

doch, mich hier zu besuchen!« 

»Das würde er liebend gern tun, aber er kann das Lager nicht 

verlassen. Denn jederzeit könnten Haggans Männer aus der Burg 
hervorbrechen und angreifen.« 

Bei der Erwähnung Haggans lief Heide ein Schauer über den 

Rücken. »Ist es nicht sehr gefährlich ... für eine Frau ... für mich, im 
Kriegslager zu weilen?« 

»Dort seid Ihr sicherer als hier! Ihr steht unter dem Schutz des 

tapfersten Ritters des Königs Artus.« 

Das leuchtete Heide ein. Dann fragte sie, wieder zögernd: »Aber 

wie finde ich den Weg?« 

»Ich bringe Euch hin. Holt Euer Pferd aus dem Stall, und in einer 

Stunde schließt Ihr Roland in die Arme!« 

Diese Vorstellung erfüllte Heide mit einer Sehnsucht, der sie kaum 

widerstehen konnte. Doch ein Rest von Vorsicht ließ sie noch einmal 
zaudern. »Wie  könnt Ihr mir beweisen, daß Euch wirklich Roland 
schickt?« 

Das Gesicht des jungen Burschen war glatt und unschuldig, als er 

antwortete: »Verzeiht mir, Herrin, ich vergaß! Roland prägte mir ein 
fremdes, aber schönklingendes Wort ein, das ich noch nie gehört 
habe. Ihr aber, Fräulein Heide, sagte er, würdet an diesem Wort 
erkennen, daß die Botschaft wahrhaftig von ihm stammt ... « 

»Wie heißt das Wort?« forschte Heide ungeduldig. »Sagt es 

schnell!« 

»Geduld, ich muß erst überlegen ... Ich werde es doch nicht 

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vergessen haben? Das kann ... das darf nicht sein, wo ich es mir doch 
so oft auf dem Wege in Gedanken vorgesprochen habe ...« 

Heide konnte vor Aufregung kaum noch an sich halten. »Du 

Tölpel, willst du es wohl sagen!« rief sie unbeherrscht. 

»Ja doch, Herrin, nun liegt es mir wieder auf der Zunge. Es heißt... 

Orion, ja, so heißt es, Orion - fremd, aber schönklingend.« 

Vor Freude klatschte Heide in die Hände. »Warte nur, mein lieber 

Bote«, sagte sie schnell versöhnt, und es fehlte nicht viel, und sie 
hätte den Überbringer der Freudennachricht umarmt. »Gleich bin ich 
reisefertig.« Sie schloß das Fenster, ging in die Bauernstube, nahm 
Abschied von ihren Wirtsleuten, die sie gebührend entlohnt hatte, 
zog ihre warme Überkleidung an und trat ins Freie. 

Gleich war  der freundliche junge Mann an ihrer Seite und half ihr, 

das Pferd aus dem Stall zu führen und zu satteln. Als Heide nun die 
wenigen Lichter in den geduckten Hütten des Dorfes und dahinter 
die weite, düstere Leere unter einem Neumondhimmel sah, bekam 
sie  plötzlich wieder Bedenken. Wohl war Orion ihr Kennwort, doch 
konnte der Bote es nicht durch Zufall aufgeschnappt haben? 

»Sag, guter Mann, gab Roland dir nichts Schriftliches mit auf den 

Weg?« 

Der junge Mann faßte sich an die Stirn. »Natürlich, wie konnte ich 

das vergessen! Er gab mir einen Brief für Euch mit.« Er kramte in 
seinen Wams und holte einen verdrückten Umschlag heraus. »Hier 
ist er, Herrin!« 

Sie riß ihm das Schreiben fast aus der Hand. Im Schein einer 

Stallaterne las sie die klare Schrift. 

»So treu wie die Sterne dem Nachthimmel, wie die Blume der 

suchenden Biene und wie das geduldige Moos dem Tau.« 

Seligkeit erfüllte sie. Der letzte Zweifel schmolz. Impulsiv drückte 

sie dem Boten die Hand. Nun wußte sie, daß er von Roland kam. 
Denn diese Worte waren der Treueschwur, den sie ihm vor einigen 
Wochen geleistet hatte. Diese Worte hatten sich unauslöschlich in ihr 
Herz gegraben - und auch in seins. 

Sie saßen auf. Heide drängte zur Eile. Ihr kleiner Zelter war selten 

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so gehetzt worden. Als der Wald sie  aufnahm, mußten sie langsamer 
reiten. Der schmale Weg zwischen den Fichten und Eichen war 
dunkel und holprig. Plötzlich rief der junge Mann sie an: »Halt, 
Herrin!« 

Sie zügelte die Stute. Er ritt dicht neben sie. 
»Was ist?« fragte sie ungeduldig. Nur jetzt keinen Aufenthalt 

mehr! Sie konnte es nicht erwarten, Roland zu sehen. 

»Manchmal strolchen hier Späher des Feindes umher«, flüsterte 

der Mann. 

Im nächsten Augenblick traf ein dumpfer, schwerer Schlag Heides 

Hinterkopf. Ihr Bewußtsein verlöschte, noch ehe sie Schmerz 
verspüren konnte. Sie fiel seitwärts aus dem Sattel. 

Der junge Mann fing sie auf und legte sie vor sich aufs Pferd. 

Dann nahm er den Zelter am Zügel und ritt gemächlich weiter. Er 
hatte keine Eile. Er war ein gewissenhafter Mann. Als Späher hatte er 
oft stundenlang auf einem Fleck liegen und warten müssen. 

Stunden später erwachte Heide aus der Ohnmacht und schlug die 

Augen auf. Da war ihr, als beuge sich ein grauenvolles Gespenst über 
sie. Nochmals vergingen ihr die Sinne. 

Beim zweiten  Erwachen war sie endlich fähig, die Umgebung 

wieder scharf zu erfassen. Aber das Gesicht, in das sie blicken 
mußte, flößte ihr wieder namenloses Entsetzen ein. Denn es gehörte 
dem Mann, den sie auf der Welt am meisten fürchtete und haßte. 

»Willkommen, kleine Blonde!« sagte Haggan der Gräßliche mit 

einer Stimme, die vor Hohn triefte. »Du sollst es gut bei mir haben. 
Küche und Keller der Burg erwarten dich! Vielleicht auch die Betten 
der Höllensöhne. Könnte gut sein, daß ich dich sogar selber mal eine 
Nacht als Bettgenossin nehme. Du bist ein verdammt hübsches 
Luder.« 

»Wo bin ich?« stöhnte Heide. 
»Auf Burg Atzerath, wo du hingehörst.« 
»Aber der Zettel... von Rolands Hand ... mit dem Text...« 
»Von Rolands Hand? Du irrst. Den hat der Burgvogt geschrieben! 

Du kennst ja Rolands Handschrift überhaupt nicht. Als Roland und 

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du vor einigen Wochen schon einmal meine Gäste wart, habe ich 
euch ständig belauschen lassen. So kannte ich alle eure 
Geheimnisse.« 

Und mit gezierter Stimme wiederholte er spöttisch die Worte, mit 

denen er Heide nach Atzerath gelockt hatte: »So treu wie die Sterne 
dem Nachthimmel, wie die Blume der suchenden Biene und wie das 
geduldige Moos dem Tau - du bist ja eine kleine Poetin!« 

Voll Scham und Verzweiflung warf Heide die Hände vors Gesicht. 

Sie konnte das hämische Gesicht nicht länger ertragen. Wimmernd 
warf sie sich zu Boden. 

Haggan legte dem jungen Späher die schwere Hand auf die 

Schulter. »Das hast du gut gemacht, Knabe. Ich bin mit dir 
zufrieden.« Er wandte sich ab. 

Der Gelobte zögerte einen Augenblick. Dann nahm er all seinen 

Mut zusammen und sagte schnell: »Ich habe in der Kälte vor dem 
Fenster der Dame gestanden. Ich ritt durch Nacht und Wald und 
Wind. Nun hätte ich gern ein warmes Süppchen. Herr  - wenn's 
möglich wäre, mit etwas Fleisch drin.« 

Haggan fuhr herum. Sein düsteres Auge blitzte. Dem jungen Mann 

würgte die Angst in der Kehle. War er zu weit gegangen? 

Doch dem Gräßlichen gefiel unvermutet seine Frechheit, und er 

sagte gutgelaunt: »Laß dir von Lutz drei Dukaten geben  - das ist das 
warme Süppchen. Und das Fleisch dazu? Du magst den Zelter der 
Dame fortan dein eigen nennen!« 

Die verschleierte Schöne mit der hoheitsvollen Haltung winkte 
Volker, sich neben ihr niederzulassen. Er tat es und sah sie ebenso 
bewundernd wie neugierig an. Sie paßte wahrlich nicht zu den 
Nachtblüten, die Bastianos Damenflor im Zelte bildeten. 

Hinter vorgehaltenem Fächer flüsterte die Unbekannte ihm eilig 

mit gehetzter Stimme zu: »Wer Ihr auch seid, Ritter, Ihr scheint ein 
Edelmann und Ehrenmann zu sein. Vielleicht wird Euch das 

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Schicksal einer Unglücklichen rühren ...« 

»Sprecht! Was bewegt Euch?« fragte Volker höflich. 
»Bastiano hat mich geraubt! Ich bin keine Dirne wie die anderen 

Frauen.  Ich bin die einzige Tochter wohlhabender Kaufleute zu Trier. 
Die Zeit drängt. Ich kann Euch jetzt nicht erzählen, wie der Unhold 
mich meinen Eltern raubte, in seine Gewalt brachte und mich nun 
hier in diesem Käfig gefangenhält.« 

Schon war der Minnesänger mit dem leicht entflammbaren Herzen 

dem traurigen Blick dieser wunderschönen Augen verfallen. Er 
ergriff die Hand der klagenden Schönen und fragte: »Mußtet ihr 
Bastiano bereits Dienste leisten?« 

Sie erwiderte den leichten Druck seiner Hand. »Nein, Gott sei 

Dank, bisher nicht. Ich wies alle Ritter, die sich mir näherten, ab. 
Und sie bedrängten mich nicht weiter. Aber es kann nur eine Frage 
von wenigen Tagen sein, daß ich notgedrungen zur Dirne werde. Zu 
Euch, Herr Ritter, habe ich Vertrauen. Ich weiß nicht, woran es liegt. 
Schon als Ihr hereinkamt ... auf den ersten Blick ... ahnte ich ... hier 
kommt mein Retter! O bitte, enttäuscht mich nicht!« Und immer, 
stärker und fordernder preßte sie seine Hand. 

Volker fühlte sich nicht wenig geschmeichelt. »Gern will ich alles 

für Euch tun, was in meiner Macht steht, meine Liebe.« 

»Dann gebt mir Euren weiten Mantel, daß ich mich darunter 

verberge, und begleitet mich auf der Flucht!« 

»Ich weiß nicht, was ich lieber täte«, versetzte Volker hilfsbereit. 

Und schon hatte er sich des weiten schwarzen Mantels entledigt, den 
er zu tragen pflegte, wenn er nicht die Rüstung angelegt hatte. Er 
breitete ihn um die Schultern der Frau, zog ihr die Kapuze über den 
Kopf, und nun konnte man bei dem schwachen Licht nicht mehr auf 
die Idee kommen, ein Weib vor sich zu haben. 

Sie erhob sich und zog ihn mit sich fort. Natürlich kannte sie sich 

besser in dem Zelt aus als er. Sie führte ihn durch mit Tüchern 
verhängte kleine und kleinste Räume, klappte dann plötzlich eine 
Leinwand hoch, zerrte ihn mit sich  - und schon standen sie im 
Freien. 

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Flüchtig fragte sich Volker, warum es nicht genügt hätte, mit 

Bastiano zu sprechen. Wenn er die Frau geraubt hatte, würde man 
ihn leicht zwingen können, sie wieder freizugeben. Aber wie 
willenlos folgte der Minnesänger der Schönen, die sich auch hier 
draußen unter dem sternenbedeckten, aber mondlosen Himmel gut 
auszukennen schien. 

Wie mag sie heißen? fragte sich Volker. Bei erster Gelegenheit 

will ich sie fragen. Schon entstand in seinem Herzen eine zarte 
Melodie ... 

Sie zog ihn auf die weite Ebene. Es ging durch Gebüsch. Fern 

hoben sich die dunklen Türme von Atzerath gegen die Sterne ab. 

»Wohin wollt Ihr?« fragte Volker leise. 
»In die Freiheit«, rief sie ekstatisch. 
»Ich bringe Euch in unser Lager«, schlug er vor. »Dort seid Ihr 

sicher. Keiner von beiden bemerkte die drei Gestalten, die ihnen 
nachschlichen. Volker hatte nun die Führung übernommen. Es 
bestand keine Gefahr mehr. Es war um die zehnte Abendstunde an 
einem geraden Tage, und gemäß den Vereinbarungen herrschte 
Burgfriede für beide Parteien. Die Männer von Atzerath durften sich 
in den Stunden bis Mitternacht nicht außerhalb ihrer Mauern 
bewegen. Plötzlich warf sich die Frau Volker in die Arme. Er fühlte 
ihre Hände an seinem Körper. Ihr Gesicht war neben dem seinen. Ihr 
Duft stieg ihm in die Nase. Ihre Wange drückte sich kühl an seine. Er 
schloß die Augen und überließ sich ganz dem Gefühl ihrer Nähe. 
Ebenso unvermittelt stieß sie ihn von sich und schrie mit schriller 
Stimme, die das Trommelfell schmerzen machte: »Zu Hilfe! Er tut 
mir Gewalt an! Das Schwein hat mich überfallen! Zu Hilfe!« 

Fassungslos hörte Volker diese unerhörten Anschuldigungen. Im 

nächsten Augenblick sprangen ihn mehrere Kerle an. Es waren wüste 
Gesellen, die mit ihren Fäusten überall hinschlugen, wo es am 
meisten wehtat. Unter dem ersten Ansturm sank der völlig 
überraschte Volker aufstöhnend in die Knie. Vor seinen Augen 
wallten Nebel. Der Schädel dröhnte. Seine Magengrube krampfte 
sich zusammen. 

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Zwei der wüsten Gesellen verdrehten ihm die Arme auf den 

Rücken. 

Da erwachte Volker aus seiner Erstarrung. Er schüttelte die 

Schmerzen, die wie Wellen durch seinen mißhandelten Körper 
liefen, entschlossen ab und wehrte sich nach Leibeskräften. Er schlug 
und trat um sich. Ach, hätte er doch eine Waffe bei sich gehabt! Aber 
das verboten ja die Vereinbarungen des Burgfriedens. 

Volkers Schläge gingen zumeist ins Leere, denn er konnte seine 

Gegner im Dunkeln nicht sehen. Aber er hörte ihre rauhen Stimmen. 
Er hörte, wie sie sich gegenseitig anstachelten und wie sie ihn 
verhöhnten. Rasende Wut überkam ihn. 

Wie ein Berserker stürzte sich Volker auf die Stimmen. Aber seine 

Schläge erreichten keinen. Die Burschen waren schon ausgewichen 
und fielen erneut hinterrücks über ihn her. 

Doch da nahm der Kampf eine unerwartete Wendung. 
Denn jetzt griffen die drei dunklen Gestalten ein, die hinter Volker 

und der Frau hergeschlichen waren. Es waren Rolands Knappe Louis 
und die Gaukler Funkenmann und Schiebermann. Die Frau aus dem 
Zelt war ihnen nicht  geheuer vorgekommen, und so hatten sie Volker 
vor einem möglichen Hinterhalt bewahren wollen. 

Das Geschrei auf dem Kampfplatz wurde immer lauter. Volker 

wurde hin und hergezerrt. Doch es dauerte nicht lange, und Louis 
beherrschte die Szene. Vor nicht langer Zeit hatte er von einem 
vornehmen Herrn ausgezeichneten Unterricht im Faustkampf und im 
Fechten erhalten. Er hatte keine Lektion vergessen. 

Funkenmann und Schiebermann erging es schlechter. Sie waren als 

Gaukler an Prügeleien nicht gewöhnt. Während Louis spielend mit 
zwei Gegnern fertig wurde und zudem noch Volker aus der 
Reichweite gegnerischer Hiebe brachte, wurden den beiden 
Zirkusmännern die Gesichter zerbeult, daß sie vor Schmerzen laut 
schrien. 

Niemand, nicht einmal Louis, konnte in der Dunkelheit einen 

Gegner so treffen, daß er kampfunfähig wurde. Aber das Gebrüll der 
Kämpfenden drang bis ins Zelt, wo einige Ritter gerade viel 

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erfreulichere Gefechte ausfochten. 

»Ritter von Camelot!« scholl es über die Ebene. »Kommt alle 

herbei!« 

Eine andere Stimme  - es war die von Funkenmann, dem 

Wortgewaltigen  - gellte: »Die Feinde haben den Burgfrieden 
gebrochen!« 

Dieser Ruf wurde ringsum aufgenommen. Es schien, daß sich 

bereits viele Ritter Camelots, durch den Krach angelockt, aus dem 
Zelt entfernt hatten. Überall schrie und lärmte es: »Sie haben den 
Burgfrieden gebrochen! Greift zu den Waffen!« 

Und dieser Ruf pflanzte sich wie eine Staffette bis zu dem Lager 

im Wald fort, wo bald auch der letzte Träumer aus dem Schlaf 
gerissen wurde, wenn es ihm in den Ohren gellte: »Sie haben den 
Burgfrieden gebrochen! Greift zu den Waffen!« 

Beim Überfall auf Volker hatte die geheimnisvolle Schöne aus dem 
Zelt sofort die Flucht ergriffen. Nur noch von fern hörte sie den Lärm 
der Schlägerei, die sie entfacht hatte. Eilends näherte sie sich der 
Burg Atzerath. 

Die Rufe vom Kampfplatz ließen sie erkennen, daß der Überfall 

einen anderen Verlauf genommen hatte, als ihre Absicht gewesen 
war. Darum beschleunigte sie den Schritt und traf so unvermittelt auf 
die Burgwache, daß 

sie beinahe mit einem Posten 

zusammengestoßen wäre. 

Der Mann erkannte sie trotz ihrer seltsamen Gewandung und ließ 

sie ohne Fragen passieren. Ohne Aufenthalt begab sich die Frau, die 
sich in der Burg gut auskannte, zu Haggan dem Gräßlichen, der mit 
einem großen Humpen Branntwein in der Hand vor dem Kamin saß. 

»Schon zurück?« fragte er aufblickend. 
»Ja«, entgegnete sie kurz und schürzte die Unterlippe. 
»Und Volker?« 
Sie riß sich den weiten schwarzen Mantel vom Leib und stampfte 

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wütend mit dem Fuß auf. »Zuerst ging alles glatt. Genau, wie ich es 
geplant hatte. Ich brauchte nicht den vierten Teil einer Stunde, um 
ihn zu einer gemeinsamen Flucht zu überreden. Er hätte mir aus der 
Hand gefressen. Hier, das ist sein Mantel! Er hängte ihn mir über, 
damit ich >unbemerkt< das Zelt verlassen konnte.« 

»Und weiter?« fragte Haggan mit kalten Augen. 
»Diese Tölpel!« schimpfte die Frau. »Sie haben alles verpatzt! 

Wohl überfielen sie den Sänger auf meinen Hilferuf. Aber statt ihn 
schleunigst auf die Burg zu verschleppen, ließen sie sich auf ein 
Handgemenge mit Freunden Volkers ein. Nach allem, was ich hörte, 
wurden sie alsbald überwältigt. Oh, es ist zu dumm!« 

»Reg dich nicht auf, Velma!« gebot Haggan. »Ich werde den 

Tölpeln, falls sie ihr Mißgeschick lebend überstanden haben, die 
Peitsche schmecken lassen. Vielleicht auch den Strick. Aber 
inzwischen ist nichts verloren. Ich habe einen Meisterstreich 
geleistet. Dein Plan war nicht übel, aber voller Löcher und 
Unwägbarkeiten, wie es eben so bei Weiberplänen ist. Meiner war 
kühn erfaßt, schlau ausgelegt und mit eiserner Ruhe in die Tat 
umgesetzt.« 

In diesem Augenblick begann Velma den Gräßlichen, dem sie sich 

doch lange so verwandt gedünkt hatte, zu hassen. Aber sie ließ sich 
nichts anmerken, die listenreiche Frau des Ritters Lutz. 

Haggan öffnete die Tür. In einem Verschlag lag ein menschliches 

Bündel. Man sah golden helles Haar, ein von Natur aus keckes, jetzt 
aber von Tränen überströmtes schmutzbedecktes Gesicht und 
Fesseln, Fesseln überall! 

»Das ist ... das ist ja ... Heide, die Geliebte Rolands?« rief Velma 

überrascht. 

Unter dröhnendem Lachen warf Haggan die Tür zu. »Ja, ich habe 

mir diesen kleinen Wildfang geholt und werde ihn bändigen, bis er 
mir aus der Hand frißt. Nun, Velma, gibst du zu, wie turmhoch der 
Geist  und das Können des Mannes über der List und den eitlen 
Machenschaften der Frau thront?« 

Widerwillig gab sie ihm recht. Dabei vermied sie es, ihn 

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anzusehen. So entging es Velma, daß Haggan ihre schönen Glieder 
mit einem seltsamen Blick abtastete. 

Die 48 Ochsen, die Roland in weiser Voraussicht hatte kaufen lassen, 
waren störrisch wie im Sprichwort. Der nächtliche Lärm verwirrte 
sie. Aber das nützte ihnen wenig. Mit viel Geschrei und noch mehr 
Knüppelhieben trieben die Knappen und Troßjungen sie rasch ins 
Geschirr. 

Je zwölf der massigen Tiere wurden vor eine Belagerungsmaschine 

gespannt. Der Rest schleppte Sturmleitern, Rammböcke und allerlei 
Holz zum Ausbessern beschädigter Geräte hinter sich her. Man hatte 
in den Tagen zuvor eine breite Trasse durch  den Wald gerodet. Auf 
diesem leicht abschüssigen Weg gelangte der Trupp unter 
gewaltigem Krach, den die Troßbuben verübten, schnell an den 
Waldrand. Auf der Ebene ging es dann noch hurtiger vorwärts. 

Das ganze Lager war in Windeseile verlassen. Der Ruf: »Sie haben 

den Burgfrieden gebrochen!« wirkte wie ein anfeuernder Trank. Nie 
zuvor hatte soviel Kampflust unter den Rittern geherrscht. Der Feind 
hatte sie arglistig verraten, einen ihrer Besten, Volker, in eine Falle 
gelockt und jeden ritterlichen Treu und Glauben aufs gröblichste 
verletzt. 

Es zuckte in den Armen, unerhörte Streiche zu führen. Es blitzte in 

den Hirnen, sich im Kampf um die Mauern auszuzeichnen. Es 
wirbelte in den Beinen  - in den Sattel zu springen und dem Pferd die 
Sporen zu geben, war eins. 

Roland und Douglas taten nichts, um die Wut ihres Heeres zu 

bremsen. Beide fühlten: der rechte Augenblick war gekommen! Nie 
wieder würde es eine Stunde geben, in der alle vom gleichen Gefühl 
durchströmt, von gleicher Hitze durchglüht, von gleichem 
draufgängerischen Mut beseelt waren. 

Die beiden setzten sich mit dem geretteten Volker an die Spitze der 

Kämpfer, die über die Ebene den düsteren Türmen von Atzerath 

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entgegenritten. Die langwierige, langweilige Zeit der Belagerung war 
vorbei. Der Sturm begann! 

Alle fühlten sich von schwerer Last befreit. Selbst der Tod, den so 

mancher vor den Mauern erleiden würde, barg keine Schrecken 
mehr. 

Der nächtliche Angriff traf die Verteidiger der Burg in einer 

mißlichen Lage. Noch war der versprochene neue Proviant nicht 
eingetroffen. Vor allem die Fässer waren seit Tagen leer. Hunger 
hatte sie mürrisch und unlustig gemacht. Und die trockene Kehle 
brannte wie Höllenstein. 

Die meisten schliefen. Sie hatten sich vorgenommen, auch den 

kommenden Tag zu verschlafen. Viele hatten sich geschworen, erst 
aufzustehen, wenn frisches Fleisch, satte Hirse und ein erstes 
Fäßchen die Burg erreichten. 

Wer noch wach bei lustlosen Kartenspiel saß, den erreichte die von 

Gang zu Gang geflüsterte Kunde vom heimtückischen Überfall auf 
den waffenlosen Volker und dem mißglückten Versuch, den 
beliebten Ritter gefangenzunehmen. Nur Velmas Rolle blieb 
unbekannt. Das schuf Ärger und verhaltene Wut. Niemand billigte 
das schmähliche Unternehmen. Die Besuche im Zelt waren der 
einzige Lichtblick in der jetzigen schweren Zeit gewesen. Dumpf 
ahnten sie, daß es nach dem Übergriff ein Ende mit diesen fröhlichen 
Ausflügen haben werde. 

Was nützte der eben beim Spiel gewonnene Golddukaten, wenn 

man ihn nicht mehr für SCHÖNE FRAUEN, FREUDE UND 
SELIGKEIT ausgeben konnte! 

Die Posten auf den Wällen und Zinnen vernachlässigten ihre 

Pflicht. Schon seit Tagen spähten sie selten des Nachts ins 
umgebende Dunkel. Lieber ließen sie, sitzend an den Stein gelegt 
und die Pike friedlich über den Knien, die Lider über die müden 
Augen fallen und gaben sich Träumen hin. Sie waren überzeugt, daß 
der Wachdienst bei Nacht unsinnig sei. Wer würde denn nachts eine 
so starke Burg wie Atzerath angreifen? 

In dieser Nacht verließen sie die ihnen angewiesenen Plätze und 

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setzten sich an einer windgeschützten Stelle zusammen. Mit 
vorwurfsvollen Stimmen besprachen sie das Ereignis um Volker. 
Heftig griffen sie die Urheber des schiefgegangenen Streichs an. 
Noch nie war ihr Mut so tief gesunken wie in dieser Neumondnacht 
unter dem matten Licht der unendlichen Sterne. 

Der Wachhauptmann hatte zuerst versucht, sie wieder an die 

vorgeschriebenen Stellungen zu treiben. Aber sie antworteten so 
mürrisch und grob, daß sein Schwung ihn rasch verließ. Im Grunde 
fühlte er genau wie sie. Er war ein echter Höllensohn, und die lange, 
zermürbende Verteidigung einer festen Burg, das ewige, ereignislose 
Durchwachen der Nächte nicht sein Geschäft. 

Das Murren gegen Haggan und Lutz wurde stärker. 
Die beiden großen Herren saßen beim Schein dreier Kienfackeln 

gemütlich am Kamin der Halle. Die Dienerschaft hatten sie 
weggejagt. Velma war aus eigenem Antrieb gegangen und hatte sich 
mißvergnügt in ihre Kemenate zurückgezogen. 

Die Herren öffneten ein letztes Fäßchen, das köstlichen 

Branntwein enthielt. Seit Jahr und Tag hatte Haggan seine Anhänger 
in dem Glauben gelassen, er sei bereit, jede Not und Entbehrung 
getreulich mit ihnen zu teilen. Aber der Aufrührer, Meuchelmörder 
und Todfeind des Königs betrog die Höllensöhne, so oft er den Mund 
auftat. Er und Lutz ließen es, wenn die Mannschaft darbte, sich 
selber an nichts fehlen. 

Genüßlich schlürften sie mit satten Bäuchen das herrliche Getränk. 

Träge plätscherte die Unterhaltung dahin. Einmal richtete Lutz sich 
auf und murmelte: »Sollten wir den braven Wachen nicht ein paar 
Gläschen schicken?« 

Ein empörtes Grunzen Haggans belehrte ihn darüber, daß er etwas 

ungemein Dummes vorgeschlagen habe. 

Haggan füllte ein großes Glas. Dann goß er den fahlgelben 

Branntwein in den Mund, wo er ihn eine Weile über Zunge und 
Gaumen rollen ließ. Endlich schluckte er ihn langsam herunter, bis er 
im Magen ein wohliges Feuer entfachte. 

Seine Augen glänzten vergrößert. Er richtete den Blick auf die 

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Scheite im Kamin, als er sprach: »Hast du gesehen, wie ich mich in 
der Kunst der Waffen vervollkommnet habe? Kein Tag verging, 
ohne daß ich viele Stunden übte. Vom galoppierenden Pferd aus stieß 
ich mit der Lanze schwere Pfeiler um. Eine Stunde lang ließ ich das 
Schwert tanzen und zerschlug harte Schilder und Helme. Stahlhart 
wurden meine Muskeln, wenn ich mit drei Höllensöhnen gleichzeitig 
rang und einen nach dem anderen bewußtlos in eine Ecke warf. Ich 
übte Beine und Lungenkraft, wenn ich die steilsten Treppen der Burg 
im Laufschritt auf und ab lief und nicht ruhte, bis ich sie vielmals 
durchmessen.« 

»Ich sah es  - und staunte. Jetzt kommt dir niemand gleich. Du 

überragst sie alle.« 

»Ganz recht. Drum will ich nur noch warten, bis der Späher mit 

dem versprochenen Vieh zur Burg kommt und unsere Nahrung 
gesichert ist. Dann mach' ich der Belagerung, die schon allzu lange 
währt, ein Ende.« 

»Willst du das Lager derer aus Camelot stürmen lassen?« 
»Nein. Eine große Schlacht wäre dies, unsicher im Ausgang und 

vielleicht verhängnisvoll. Ich verlaß mich lieber nur auf den eigenen 
Arm, den eigenen Stahl, den eigenen Atem. Ich werde Roland zum 
Zweikampf fordern, und dieses Duell soll alles entscheiden! 
Widersteht er meiner Lanze, so töte ich ihn unweigerlich mit dem 
Schwert. Doch auch dann haben wir noch nicht gewonnen.« 

»Jemand aus dem Ritterheer wird Roland rächen wollen.« 
»Das erwarte ich. Es wird Douglas sein. Er ist die leichtere Beute. 

Sein Heißblut treibt ihn ins Verderben. Er überlebt den dritten 
Zusammenstoß mit den Lanzen nicht. Wenn sie auch ihn in den 
Staub sinken sehen und sein Blut über die Ebene fließt...« 

«... wird das Ritterheer den Rückzug antreten?« 
Haggans Auge glühte, als sähe er die Zukunft leibhaftig vor sich. 

»Noch nicht. Sie werden wehklagen. Furcht umnebelt ihre Herzen. 
Unschlüssig stehen sie bei den beiden Toten, die sie für 
unüberwindbar gehalten haben. Aber dann schwingt sich Volker vom 
Hohentwiel in den Sattel und fordert mich zum dritten Kampf.« 

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»Der Sänger?« 
»Ja, der Fiedler, der Buntfink, der Märchenerzähler, der Prahlhans 

und Hurenbock Volker! Er bildet sich ein, auch der Waffen kundig 
zu sein. Vielleicht wußte er sie einmal zu führen. Aber er 
vernachlässigte sie, der leichteren Erfolge auf den Flügeln des süßen 
Gesanges zuliebe. Ich werde ihn vor allem Volke lächerlich machen. 
Ich hol' ihn vom Pferd, ich nehme ihm Stück für Stück seiner Waffen 
und seiner Rüstung, ich werfe ihn zu Boden und hebe ihn wieder 
hoch. Ich ziehe ihn nackt aus und stoße ihn so in den rinnenden Bach 
- und füge ihm bei alldem nicht die kleinste Wunde zu.« 

»Er soll am Leben bleiben?« 
»Das will ich. Er soll zappeln und zittern, jammern und johlen, 

kreischen und kotzen. Ein lebendes Abbild soll er sein dessen, was 
meine Kraft aus jedem Ritter von Camelot machen kann, sobald ich 
sie ihrer beiden einzigen Helden beraubt habe. Dann werden sie auf 
den Knien gekrochen kommen. Dann werden sie, gedemütigt und 
erniedrigt, sich mir auf Gnade und Ungnade ergeben, weil ihnen 
nach diesem Schauspiel selbst der Mut zur Flucht fehlen wird.« 

»Was geschieht dann?« fragte Lutz atemlos,  von der Vision 

hingerissen. »Läßt du sie niedermetzeln?« 

»Nicht einen!« rief Haggan wild. »Töte ich den Ringkampfgegner, 

wenn ich ihm die Luft aus dem Leibe gedrückt habe und er willenlos 
in meinen Armen hängt? Trete ich den Jagdhund, der mir hechelnd 
die Hand leckt? Verstoße ich das Weib, das sich lüstern in mein Bett 
schleicht? So dumm mögen Jünglinge sein. Ich, ein Mann, wie es 
keinen seinesgleichen gibt, sage dir: ich übe Gnade!« 

»Gnade?« 
»Nicht aus Mitleid, Lutz! Mitleid ist mir fremd wie Tropenwind. 

Aus Berechnung. Wer hilflos war, vor mir im Staub lag und sein 
Weiterleben mir verdankt, der ist mir hörig für alle Zeiten. Wenn ich 
Roland erschlagen, Douglas getötet und Volker zum Waschweib 
gemacht habe, gewinne ich auf einen Schlag das Heer der Ritter für 
mich. Und gemeinsam mit den Höllensöhnen und deren liederlichen 
Verbündeten werden sie mir zum Sturm auf das schutzlose Camelot 

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folgen  - und jubeln werden sie, wie sie noch nie gejubelt haben, 
wenn ich ihren König Artus zerschmettere!« 

Lutz sah ihn mit unverhohlener Bewunderung an. »Das ist genial, 

Haggan. Mit Staunen verfolge ich, wie du dich geschunden hast, 
beim Waffenspiel und Körperübung zu jeglicher Tageszeit. Nun 
erkenne ich deinen tiefen Plan. Und schon jetzt grüße ich dich mit 
jenem Namen, unter dem dich bald alle Völker kennen werden ...« 

Haggan senkte den Blick auf Lutz. »Ja«, sagte er leise, in 

sehnlicher Gier, »nenne den Namen!« Erwartungsvoll füllte er sein 
Glas mit der fahlen Flüssigkeit. 

Lutz hob ihm sein Glas entgegen und sagte hingerissen: »Ich grüße 

dich, König Haggan!« 

So verschlafen konnten die Wachen von Burg Atzerath gar nicht 
sein, daß sie das Nahen der Ochsengespanne nicht vernommen 
hätten. Doch sie deuteten die Rufe der Treiber, das Knarren der 
Räder und das Blöken der Tiere falsch. 

Statt Alarm zu geben, fielen sie einander freudig in die Arme. 

»Fleisch!« stöhnten sie wollüstig. »Hier kommt unsere Rettung! 
Heute feiern wir Schlachtfest!« 

Denn sie glaubten, Haggans Späher bringe die langersehnte 

lebende Nahrung im Schütze der Nacht! 

Durch diesen Irrtum konnten die Ritter von Camelot ihre 

Belagerungsmaschinen ungehindert direkt unter den Mauern von 
Atzerath in Stellung bringen. Ja, vermutlich hätten sie sogar freien 
Zutritt über Brücke und Haupttor erhalten, wenn sie ihn nur dreist 
gefordert hätten. Aber sie konnten ja nicht ahnen, daß man sie mit 
dem Späher und seiner Mannschaft Verwechselte! 

So begannen die Ritter ihren Sturm vorsichtiger, als nötig gewesen 

wäre. Das Schwert in der Hand, erklommen die Mutigsten die 
verschiedenen Leitern und Abschnitte der hölzernen Maschinen. 
Verstummt waren nun alle Rufe. Mit gespitzten Ohren horchten sie 

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zur Mauernhöhe hin. Jeden Augenblick waren sie gewärtig, unter 
einen Pfeilhagel oder einen Guß feurigheißen Wassers  oder gar 
Pechs zu geraten. 

Roland ging es zu langsam. So schnell ihn seine Füße trugen, eilte 

er hinauf. Unter ihm dröhnten die Schritte derer, die ihm folgten. 

Auf der obersten Rampe sah sich Roland der Burgmauer 

gegenüber. Ihr Kranz überragte ihn noch um zwei Klafter. Solle alles 
daran scheitern? 

Roland ging tief in die Hocke und federte sich dann plötzlich in die 

Höhe. Die Arme griffen zu den Sternen. Mit den vordersten 
Fingergliedern erwischte er die Mauerumrandung. 

Er stieß die Füße gegen die Mauer und fand winzige Absätze, von 

denen er sich erneut hochstemmen konnte. Nun hatte er schon beide 
Hände auf dem Mauerkragen. Verbissen zog er sich empor. Jetzt 
tauchte sein Kopf über den höchsten Steinen auf ... 

Noch ein Abstoß mit den Füßen, und der tollkühne Ritter wälzte 

sich auf die Zinne! Jeder Nerv in ihm war auf einen Angriff aus dem 
Dunkel gefaßt. Aber mehrere Atemzüge vergingen, ohne daß etwas 
geschah. Man hatte ihn noch nicht entdeckt! 

Vorsichtig richtete Roland sich auf, stellte sich auf die Beine  und 

zog das Schwert. Er horchte in alle Richtungen. Folgten die 
Kameraden? 

Seine Augen versuchten das Dunkel hier oben hoch über der Burg 

zu durchdringen. Wo waren die Wachen? Warum fielen sie nicht 
über ihn her? Warum stürzten sie ihn nicht gleich wieder in die 
Tiefe? Lauerten sie in der Nähe, um ihn lebend in ihre Gewalt zu 
bekommen? 

Der Wind trug Stimmen an sein Ohr. Undeutliches Gemurmel. 

Nicht zu unterscheiden, ob von Freund oder Feind. Kein Wort war 
verständlich. Wo blieben die Freunde? 

Wind fing sich in den Ecken des Befestigungswerks und pfiff 

unheimlich. Im Osten glimmte zaghaft erstes Tageslicht. 

Und da fielen sie über ihn her! 
Von mehreren Seiten zugleich trafen ihn heftige Streiche. Sein 

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Atem flog. Die Rippen schmerzten. Aber die Rüstung widerstand den 
Klingen. 

Ein neuer Schlag, wie von einem Riesen ausgeführt! Der Helm 

bebte und klang wie eine große Glocke. Roland dröhnte der Schädel. 
Benommen trat er ein paar Schritte zurück. Jetzt nahm er die Gegner 
als verschwommene Schatten wahr. 

Ein Schatten nach dem anderen huschte heran, um ihm den 

Gnadenstoß zu versetzen. Aber nun war Roland gewarnt und auf der 
Hut. Sein gutes Schwert war zur Stelle, wenn tödliche Spitzen aus 
der Nacht ihn bedrohten. 

Hin und her zuckte der geisterhafte Totentanz der Kämpfer auf den 

Zinnen von Burg Atzerath! Weißlich kroch Nebel um ihre Füße. 
Funken stoben aus dem Zusammenprall des Metalls. Roland fühlte 
sich im Vollbesitz seiner Kraft. Er spürte, daß seine Schläge 
Wirkung erzielten. Immer größer wurden die Zwischenräume, da 
man ihm Ruhe gönnen mußte. Ihm war, als habe die Zahl der Gegner 
schon abgenommen. 

Und dann die Stimme von unten: »Roland, Eure Hand! Zieht mich 

empor!« 

Er machte einen Ausfall und hörte Schritte, die eilig davonliefen. 

Dann kehrte er zur alten Stelle zurück, ließ sich auf ein Knie nieder, 
beugte sich nach unten und flüsterte: »Packt zu, Freund, wer Ihr auch 
seid!« 

Er stieß gegen die Hand des anderen und packte kräftig zu. So zog 

er einen Ritter Camelots zu sich auf die Zinnen. Wenig später halfen 
sie gemeinsam dem dritten nach oben. 

Und schon mußten sie sich ihrer Haut erwehren. Die Zinnen füllten 

sich allmählich mit Verteidigern, die sich hier besser auskannten als 
die wagemutigen Eindringlinge. Nicht weit entfernt schmetterten die 
atemlosen Töne  einer Trompete in den heller werdenden Himmel. 
Sie klangen gehetzt, aufgeregt und beschwörend. 

Zu Hilfe, ihr Männer von Atzerath, der Feind ist eingebrochen! 

Das war es, was die Trompete verkündete. 

Immer mehr Männer krochen, sich gegenseitig unterstützend, von 

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den Belagerungsmaschinen auf die Mauerzinnen. An allen Enden 
tobten Einzelkämpfe. Hier erwehrte sich ein Ritter aus Camelot, der 
eben den schwankenden Weg nach oben erfolgreich beendet hatte, 
gegen zwei Wachen, die ihn postwendend nach unten befördern 
wollten. Dort kämpfte ein Häuflein Verteidiger gegen einen Vortrupp 
der Ritter. Sie ließen sich eher in Stücke schlagen, als einen Fußbreit 
zu weichen und den Angreifern den Weg ins Innere der Burg zu 
öffnen. 

Und das Blut floß nicht mehr im verborgenen. Aus den dunklen 

Schattenwaren graue Umrisse geworden, und jetzt unterschied das 
Auge durch die schmalen Schlitze herabgelassener Visiere schon 
Farben und Gestalten, Waffen und Bewegungen. Ein glasklarer, 
heller Himmel kündete den Tag an, der über ihrer aller Schicksal 
entscheiden mußte. 

Als das erste Sonnenlicht die Schwerterklingen umspülte, hatten 

die Ritter entscheidende Vorteile gewonnen. Zu langsam hatte der 
Haufen der Höllensöhne aus verdrossenem Schlaf in den Kampf 
gefunden. Zu träge arbeiteten ihre traumumnebelten Hirne, zu steif 
waren die schlaftrunkenen, schlecht ernährten Körper. 

Zu drei Vierteln waren die obersten Zinnen von Atzerath in der 

Hand der Ritter! Und immer neue Helfer erstiegen über die 
hölzernen Maschinen, an denen sie so wacker gebaut hatten, den 
Kampfplatz, bis sie schließlich die Überzahl hatten. 

Gleichzeitig wummerten von unten her die dumpfen Stöße der 

Rammböcke gegen die Tore von Atzerath. Dort führte Douglas 
Heißblut das Kommando. Sie hörten seine erregte, wutglitzernde, 
ungeduldige Stimme deutlich durch allen Kampflärm. 

Spät erschien mit bärenhaften Schritten, von einem Duftkreis 

Branntweins umgeben, Haggan auf dem Kampfplatz. Brennenden 
Auges erkannte er, daß der nächtliche Überfall des Feindes alle seine 
Pläne, die er vor kurzem noch Lutz eröffnet, über den Haufen 
geworfen hatte. Mit Urgewalt warf er sich ins Getümmel, und sein 
Eingreifen gewann den Verteidigern hier und dort eine eben 
verlorene Mauerecke zurück oder warf ein paar zu ungestüme Ritter 

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von den Füßen. 

Aber schon wurde es für Haggan wieder Zeit, sich dem zweiten 

Kampfplatz zuzuwenden und mit gewaltigem Einsatz das zerspitterte 
Haupttor gegen Douglas zu halten! Er schien gleichzeitig an vier 
Stellen zu sein. Und die Höllensöhne glaubten, sie hörten die rauhe 
Stimme ihres Herrn auf geheimnisvolle Weise aus dem Grund der 
Mauern und aus dem fahlen Blau des Himmels zugleich dringen. 

Sie schöpften neuen Mut. Ihre Glieder strafften sich. Sie gewannen 

verlorenen Boden zurück. 

Und wurden doch wieder zurückgeschlagen. Enger und enger 

wurde auf den Zinnen ihr Rückhalt, und immer bedrängter die Lage 
am Haupttor, wo Douglas unermüdlich angriff. 

Niemand sah das genauer als Haggan, dessen kampferfahrenen 

Blick auch der Branntwein nicht hatte trüben können. Im Tosen  der 
Waffen, im Geschrei der Stimmen, im Krachen von Mauern winkte 
er Lutz zu sich und flüsterte ihm einen scharfen Befehl ins Ohr. 

Dessen Gesicht gerann zu einer Maske wie aus Eisen. Er nickte 

und verschwand im Innern der Burg. Als er wieder auftauchte, war es 
weit über den Köpfen der kämpf enden Parteien, auf dem höchsten 
Punkt des Burgfrieds. Er schien bemüht, aller Aufmerksamkeit zu 
erregen. Denn er schwenkte die Arme, und in der rechten Hand hielt 
er eine Stange mit dem weißschwarzen Schachbrettmuster, das in 
jenen Zeiten die Bitte um einen kurzen Waffenstillstand bedeutete. 

Seine Absicht gelang. Einer machte den anderen auf ihn 

aufmerksam, und nach einiger Zeit senkten sich nach und nach die 
Waffen, ohne daß jemand einen Fußbreit Boden preisgab. Da standen 
nun also rings auf den Zinnen Todfeinde, die eben noch erbittert 
miteinander gefochten hatten, ohne Furcht Schulter an Schulter 
nebeneinander und blickten gespannt in die Höhe. 

Lutz aber schrie, daß seine Stimme wie eine Peitsche auf sie 

herabzuckte: »Ich rufe Ritter Roland! Roland, wo seid Ihr? Gebt 
Euch zu erkennen!« 

Maßlos verwundert hob Roland den Arm. Was für eine Arglist 

verbarg sich hinter diesem Manöver? »Hier bin ich!« 

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Lutz drehte sich ein wenig, so daß sein Gesicht Roland zugewendet 

war. »Ich habe eine Botschaft für Euch, Roland!« 

»So sprecht sie schnell aus, damit wir den Kampf fortsetzen 

können!« 

»Gerade das sollt ihr nicht!« entgegnete Lutz schneidend. »Ich 

will, daß Ihr Euren Männern den Befehl zum Rückzug gebt und Euch 
nie wieder hier blicken laßt.« 

Empört schlugen die Ritter von Camelot gegen ihre Schilde. Aber 

Lutz ließ sich nicht beirren. Wiederum verschaffte er sich Gehör. 
Den schwarzweißen Wimpel zum Himmel gereckt, rief er drohend: 
»Roland, wir haben Euer Fräulein Heide in unserer Gewalt! Wenn 
Ihr nicht auf der Stelle die Burg räumt und Euch 20 Meilen 
zurückzieht, werden wir Heide töten, und ihr Blut komme über 
Euch!« 

Wutgeheul aus rauhen Kriegerkehlen antwortete ihm. Roland griff 

mit der Hand nach einem Stein des Zinnengangs. Ein Schwindel 
hatte ihn erfaßt. Er mußte sich stützen. Was war das? Heide, seine 
geliebte Heide, sollte gefangen in Atzerath sein? 

Aber das war unmöglich! Sie lebte sicher auf Camelot! Dort 

wartete sie voll Ungeduld auf seine siegreiche Rückkehr. Es war ein 
Trick. Es war Arglist. Sie sahen ihre Lage als verloren an und 
wollten sich herausschwindeln. 

»Lüge!« donnerte Roland. »Erbärmliche Lüge! Hört nicht auf ihn! 

Die Angst vor unseren Waffen macht ihn zum Lügner!« 

Und schon wollte er seine Männer auffordern, den Kampf 

fortzusetzen, als Lutz' Stimme auf ihn einschlug: »Wenn Ihr an 
meinen Worten zweifelt, Roland, so werde ich Euch Eure Geliebte 
zeigen!« 

Viele Rufe wirbelten nach oben. »Ihr könnt es nicht!«  - »Laßt die 

Waffen entscheiden!«  - »Beendet den Waffenstillstand!«  - »Sie 
wollen nur ihre Haut retten, und jedes Mittel ist ihnen recht!« 

Doch alle verstummten, als Lutz sich niederbeugte und eine 

Frauengestalt zu sich heraufzog. Sie trug ein zerrissenes weißes 
Gewand. Ihre zerwühlten blonden Haare verrieten, daß sie sich heftig 

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gewehrt haben mußte. Aber jetzt hing sie entkräftet, willenlos in den 
Fäusten des Ritters Lutz. 

Ein Zittern durchlief Rolands Gestalt. »Heide«, flüsterte er 

überwältigt. 

Sie war es wirklich. Es blieb kein Zweifel. Sie  war in Haggans 

Gewalt, und der Unhold würde sie unweigerlich umbringen, wenn 
Roland nicht den Rückzug befahl! 

Es war unvorstellbar! Welches Mißgeschick mochte sie in die 

Hände der Feinde geworfen haben? 

Gleichgültig. Gleichgültig alles. Sie war da, in Fleisch und Blut, 

offenbar von Todesangst gepeinigt. Seine Heide! Das liebste, was er 
auf der Welt besaß, wehrlos dem Feinde preisgegeben! 

Aber noch war ja Hoffnung... Sie wollten ihr Leben schonen, wenn 

er von der Burg abließ. Alles lag in seiner Hand. Er allein entschied. 
Leben oder Tod. Sturm oder Rückzug. Glück mit Heide oder ewige 
Trauer. 

Wie festgebannt lagen seine Blicke auf Heides Gesicht. In diesen 

Augen, die er über alles liebte, lag sein ganzes Leben beschlossen. Er 
sah ihre Furcht. Ihr Grauen. Ihr Flehen. 

Wie sollte er sich entscheiden? Was galt höher? Der Befehl des 

Königs Artus? Die Not des Reiches? Oder das Leben einer jungen 
Frau? 

Kein Kampf mit einem starken Gegner hatte Roland je so bis aufs 

äußerste aufgewühlt und beansprucht wie dieser stumme innere 
Kampf um die Entscheidung, auf die jetzt alle rings auf den Zinnen 
warteten. 

Wieviel Zeit verging? Stieg der Sonnenball höher? Roland schien 

es wie eine Ewigkeit, bis er sich entschied, die Ritterpflicht seiner 
Liebe zu opfern. 

Er hatte Mühe, seine Stimme in der Gewalt zu behalten, als er zum 

Burgfried hinauf seine Antwort bekanntgab: »Gebt Heide frei, und 
Ihr habt nie wieder etwas von mir und den Männern, die mir folgen, 
zu befürchten!« 

Wie gelähmt standen die Ritter. Aber niemand widersprach. 

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Niemand wandte sich gegen Roland und gegen seine Entscheidung. 
Alle wünschten sich, daß sie niemals in eine Lage geraten würden 
wie Roland heute, in einen unauflösbaren Zwiespalt der Seele. 

Lutz erkannte, daß Rolands Wort Gewicht haben würde bei den 

Männern von Camelot. Die Geisel Heide hatte sein Atzerath noch 
einmal gerettet. »Sobald der letzte Mann Eures Heeres jenseits der 
Zugbrücke ist«, rief Lutz, »geben wir Heide frei - das schwöre ich!« 

Müde hob Roland die Hand, um seine Männer zurückzuwinken. 
Schon wandten die ersten sich vom Feinde ab. Einige schickten 

sich an, über die Belagerungsmaschinen in die Tiefe zu klettern. Der 
Sturm auf die Burg war vorbei! 

Da brach eine helle, kühn klingende Frauenstimme über sie herein. 

»Freigeben?« rief Heide. »Wer will mich freigeben? Ich bin ja frei!« 

Alle fuhren herum und starrten zum Burgfried empor. Und sie 

sahen, daß Heide sich von dem überraschten Lutz losgerissen hatte. 
Er machte einen Schritt auf sie zu. Er streckte die Linke aus, um sie 
zu packen. Sie wich vor ihm zurück und blieb außerhalb seiner 
Reichweite. Aber nun war sie am äußersten Ende des Burgfrieds 
angekommen. 

Ein Schritt weiter, und sie würde abstürzen. 
»Heide!« rief Roland warnend. 
»Ja, Roland«, erwiderte sie klingend, »ich grüße dich zum 

letztenmal. Laß dich nicht von diesen Verbrechern erpressen! Denn 
mein Leben steht nicht in ihrer Macht. Ich bin frei! Sieh, wie frei ich 
bin!« 

Die Männer fühlten die ungeheure Kühnheit dieser Worte. Die 

Bewunderung nahm ihnen den Atem. Roland spürte, wie ihn der 
eisige Atem des Schicksals streifte. Er wollte Heide Einhalt gebieten, 
er wollte ... 

Doch alles war zu spät. Niemand konnte den hochherzigen 

Entschluß des schönen blonden Mädchens rückgängig machen. 
Niemand konnte ihr mutiges Opfer verhindern. 

Heide warf sich mit dem Kopf voran, die langen hellen Haare 

flatternd, in den Tod, der sie 50 Klafter tiefer empfing. 

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Der Schmerz war so urgewaltig, daß er Roland eine Zeitlang den 
Atem abschnürte. Als er das ohrenbetäubende Wutgeheul seiner 
Landsleute hörte, weitete ein erster Atemzug seine Brust, als wollte 
er ihm die Rippen sprengen. 

Heide, oh Heide ... Warum lag er nicht selber zerschmettert neben 

ihr am Fuß der Burg? Wie konnte er noch weiterleben, da sie tot 
war? Wie durften Haggan und Lutz noch atmen, nachdem sie die 
Blüte der Ritterfräulein umgebracht hatten? 

Der Kampf war schon wieder im vollen Gang, und Roland warf 

sich ins dickste Getümmel. Er focht wie ein Wahnsinniger. Er dachte 
nicht daran, den Streichen der Gegner auszuweichen, sich vor ihren 
Ausfällen zu schützen und sich vor Gefahr in Deckung zu begeben. 

Er warf den Schild von sich. Er öffnete das Visier. Dann zog er 

sogar den Helm vom Kopf. So warf er sich in die Schlacht. Der 
Schmerz hatte ihm jede Fassung geraubt. Ohne sich dessen bewußt 
zu werden, suchte er den Tod. 

Aber sein wütendes Vordringen raubte allen Gegnern den Mut. 

Keiner leistete ihm ernsthaft Widerstand. Wo er auftauchte, wich die 
Front des Feindes. Es war, als schlüge Roland allein die Höllensöhne 
in die Flucht. Da gab es kein Halten mehr. Camelots Ritter stürmten 
in die Breschen, die Roland schlug, während er unbeirrt den Tod 
suchte. 

Roland hatte inzwischen auch den Brustharnisch abgeworfen. 
Und der Tod fand ihn schließlich. Es geschah ganz zuletzt, als die 

Schlacht schon entschieden war. Schreckensbleich ergaben sich 
ringsum schlotternde Höllensöhne den Angreifern. Allen voran 
stürmte Roland. Er durchsuchte Gang um Gang, Stockwerk um 
Stockwerk, Hallen, Ruhegelasse, Wohnräume und Keller. Haggan 
und Lutz bekam er nicht zu Gesicht. 

Es war eine der letzten Lanzen, die ein verzweifelnder Höllensohn 

warf. Die eiserne Spitze traf Rolands ungeschützte Brust. 

Er stürzte wie ein gefällter Baum. 

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Sie waren zu dritt, sie waren in Sicherheit,  und sie ließen es sich 
Wohlsein. Im achteckigen unterirdischen Saal mit dem Naturbad 
tafelten Haggan, Lutz und Velma. Als die Waagschale des Sieges 
sich auf die Seite der Roland-Anhänger neigte, waren sie durch 
geheime Gänge aus der Burg entwichen. 

Auf silbernen Platten prangten goldbraune Hähnchen, weißes 

Kalbfleisch und bunter Salat. In den Gläsern schimmerten goldener 
Met, braunes Bier und stumpffarbener Branntwein. Nur wenige 
Streiche hatten Haggan und Lutz mit den Feind gewechselt, bevor sie 
den Rückzug unter die Erde antraten. 

Jetzt malten sie sich Rolands unermeßlichen Zorn aus. Er hatte die 

Burg Atzerath erobert und war doch der Erfüllung seines Auftrags 
keinen Schritt nähergekommen! Er mußte glauben, sein Erzfeind 
könne sich in Luft auflösen. 

Von erstickenden Lachanfällen unterbrochen, prahlte Haggan: »Ich 

sehe es vor mir, wie er vor Artus erscheint. >Nun, edler Roland<, 
dröhnte Artus, >bringt Ihr mir Haggans Haupt?<  - »Verzeihen Sie, 
nein, o König.<  - >Wie, spottet Ihr meiner?<  - >Er entkam mir.<  - 
>So, er entkam Euch?<  - >Ich meinte schon, ihn erwischt zu haben. 
<  - >Und doch entkam er Euch, sagtet Ihr?<  - >Dafür nahm ich alle 
seine Höllensöhne gefangen.<  - >Doch Haggan entkam Euch  - und 
Lutz natürlich?<  ->So ist es, Majestät.<  - >Zum zweitenmal! Wieviel 
Dukaten zahlte er Euch?<  -»Herr, Sie beleidigen mich!<  - >Zum 
zweitenmal versagtet Ihr. Roland, der König hat Euch zu lange 
getraut. Wachen, ergreift ihn! Entfernt ihn aus meinen Augen! 
Peitscht ihn, schlagt ihn, vierteilt ihn! Es soll hinfort keinen Roland 
mehr geben. Er hat sich lange genug über seinen König lustig 
gemacht und Ränke mit dem gräßlichen Staatsfeind getrieben!«; 
Dabei ahmte Haggan mit großer Kunstfertigkeit die klare, helle 
Stimme Rolands und das tiefe, würdevolle Organ des Königs nach, 
aber so, daß beide Stimmen übertrieben und lächerlich klangen. 

Lutz schlug sich vor Vergnügen auf die Schenkel. »Du bist ein 

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Mordskerl, Haggan. Im Kampf überlistest du jeden Gegner. Am 
Kamin übertriffst du jeden Spaßmacher. Es wird genauso kommen, 
wie du es sagtest. Dieser Sieg war Rolands endgültige Niederlage.« 

»Das will ich meinen, Lutz. In wenigen Tagen, die wir gemächlich 

hier unten tafelnd verbringen, werden die Feinde heimwärts ziehen. 
Ein großer Teil der Höllensöhne wird unterwegs entfliehen. Sobald 
ich wieder auftauche, werden sie mir zulaufen.« 

»Und damit nicht genug!« rief Lutz. »Meine Verwandten werden 

Hilfstruppen stellen. Meine Vettern Gerhilf, Gronau, Herbold, 
Klunker und Jenatsch. Sie bringen ein halbes tausend Männer unter 
Waffen!« 

»Das will ich meinen. Wir ziehen ein Heer zusammen, bei dessen 

Anblick es Artus eiskalt auf seinem Thron werden wird und seine 
Ritter das heulende Elend bekommen!« 

Die beiden Verschwörer ließen die vollen Gläser klingen und 

fuhren fort, den nächsten, den endgültig entscheidenden Feldzug 
gegen ein Camelot zu planen, das über keinen Roland mehr verfügte. 

Velma sprach kaum ein Wort, aber ihre Augen blitzten heiß. Sie 

sah sich auf Ginevras Thron! 

In der Burg beugte sich Volker vom Hohentwiel besorgt über 
Roland, den die letzte Lanze des besiegten Feindes in die Brust 
getroffen hatte. Der Tod hatte Roland gefunden  - und war doch 
betrogen worden. Denn die eiserne Spitze hatte Omars 
geheimnisvolles Medaillon getroffen, das Roland seit Omars 
tragischem Ende um den Hals trug. Von ihm war die Lanze 
abgeglitten und hatte nur eine oberflächliche Fleischwunde 
verursacht. 

Rolands Lider zuckten. Dann schlug er die Augen auf. Sein Blick 

war in Unendlichkeiten gerichtet und hielt nichts. 

»Er lebt!« rief Volker. Die Ritter, die bekommen umherstanden, 

jubelten. Nun erst galt ihnen der Sieg für voll. 

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Es dauerte noch einige Zeit, bis Roland sich aus seiner 

Benommenheit löste und wieder auf den Beinen stand. Seine Hand 
glitt zu dem Medaillon, das den Tod abgewehrt hatte. 

Es war aufgesprungen! 
In der tiefen Höhlung lag ein zusammengefaltetes dünnes Papier 

verborgen. Er zog es heraus, faltete es auf und strich es auf einem 
Marmortisch glatt. 

Volker und Roland beugten sich über das Papier, das mit 

seltsamen, verschlungenen Linien, Pfeilen und Strichen bedeckt war. 
»Wahrscheinlich morgenländische Ornamente«, meinte der Sänger 
schließlich. 

Roland nickte. Er hatte Mühe, klar zu sehen. Die Augen wollten 

ihm noch nicht gehorchen. Fahrig strich er sich mit der  Hand über 
die Stirn. Ornamente? »Aber sie sind so wirr«, wandte er ein. »Man 
entdeckt keine Harmonie.« 

»Das ist wahr. Es bleibt ein Rätsel.« 
Rolands Blick wurde fester. Er entdeckte am Grund des Papiers ein 

Muster, das Regelmäßigkeit aufwies. Eine verschlungene Linie 
führte dahin  - und darüber hinaus. Er zählte lautlos. Das Muster war 
ein Achteck! 

»Volker«, rief er, »es ist ein Plan! Der Plan der unterirdischen 

Gänge, die von der Burg ausgehen! Dieses Achteck hier  - siehst du 
es?  - muß der achteckige unterirdische Salon sein, in dem sie Heide 
und mich gefangen hielten. Die Linie, die dahinführt, markiert den 
Geheimgang. Dies Blatt hat uns der Himmel in die Hände gespielt. 
Ich spüre es, daß Haggan und Lutz dorthin geflüchtet sind. Das Blatt 
löst alle Geheimnisse. Nimm es an dich! Suchen wir mit seiner Hilfe 
den Anfang des Ganges in der Burg!« 

In ehrgeizige, wohlige Zukunftsträume versunken, schmiegte sich 
Velma an ihren Gatten Lutz. Dessen Sinne schäumten auf. Der 
herrliche Körper der Frau erregte ihn immer wieder. Sie machte ihn 

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wild. Ohne an Haggans Gegenwart zu denken, schob er ihr die 
Kleider hoch, und seine Hände suchten nach ihren festen, 
begehrlichen Brüsten. 

Haggan räusperte sich. 
Lutz überhörte das Geräusch und zog Velma enger an sich. In ihrer 

hemmungslosen Leidenschaft vergaßen diese beiden selbstsüchtigen 
Menschen alles um sich her. Sie vergaßen, wo sie sich befanden. 
Wer bei ihnen war. Daß sie eben erst im letzten Augenblick dem 
Zugriff des Feindes entkommen war. 

Eine Zeitlang erfüllte nur Lutzens und Velmas erregtes Atmen den 

unterirdischen Salon. Sie lagen auf dem Diwan und trieben auf den 
Wellen ihrer Raserei. 

Da ließ sie eine rauhe Stimme innehalten. »Ihr möchtet wohl gern 

allein sein, was?« höhnte Haggan. »Steh' ich euch im Wege, ihr 
verbuhlten Katzen? Plötzlich ist euch der liebe Haggan lästig 
geworden, wie?« 

Lutz und Velma waren auseinandergefahren. Mit gierigem Blick 

genoß Haggan den Anblick ihrer unbedeckten Brüste. »Aber der gute 
Haggan geht nicht weg! Was sagt ihr nun? Wo soll er denn auch 
hingehen? Vorläufig sind wir hier Verbannte!« 

Der rüde Ton ließ Lutz nichts Gutes ahnen. Er beeilte sich, den 

Gräßlichen zu besänftigen. »Verzeih, ich habe mich fortreißen 
lassen.« 

»Das tatest du allerdings.« 
»Es war unrecht.« 
»Gut, daß du es einsiehst, Lutz. Wir sind aufeinander angewiesen.« 
»Ganz sicher.« 
»Wir müssen alles miteinander teilen.« 
»Speis und Trank, Waffe und Wehr, Zuflucht und Versteck.« 
Haggan ließ eine Pause vergehen. Dann sagte er lauernd: »Eine 

schöne Aufzählung, Lutz. Aber ist sie vollständig?« 

Lutz erschrak. Wollte der Gräßliche den Streit auf die Spitze 

treiben? In versöhnlichem Tone sagte er, während er Velma losließ, 
die hastig ihren Busen bedeckte: »Was sollte noch fehlen?« 

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»Es will dir nicht einfallen, mein kluger Freund? Wie merkwürdig! 

Da wir in dieser Bedrängnis, mit dem waffenklirrenden, 
raschsüchtigen Feind über unseren Köpfen, für einige Tage 
gezwungen sind, alles miteinander zu teilen ... nun?« 

Ein unangenehmes Gefühl kroch Lutz durchs Gemüt. Stumm 

starrte er Haggan an. 

Der Gräßliche stand auf. Wuchtig stand er vor dem Paar. Er öffnete 

den buschigen Mund und sprach: »Wir sollten auch Velma teilen!« 

Sie zuckte zurück, als habe eine Schlange ihren nackten Arm 

berührt. »Nie!« 

Lutz zwang sich ein gequältes Lächeln ab. »Du scherzest, guter 

Haggan!« 

»Ich bin nicht gerade für Scherze berühmt, Lutz, und ich habe nie 

weniger gescherzt als in diesem Augenblick. Da wir 
unglücklicherweise zwei Männer sind und nur eine Frau bei uns 
haben, müssen wir uns eben abwechselnd mit ihr vergnügen! Ich 
glaube, jetzt bin ich an der Reihe!« 

Zornüberflammt schoß Lutz in die Höhe. »Du vergißt, daß Velma 

mein Eheweib ist!« 

»Und du vergißt, daß ich noch niemals die Regeln, die Menschen 

machten, beachtet habe! Mach  Platz! Laß mich zu Velma auf den 
Diwan!« 

»Das ist zuviel!« schrie Lutz und warf sich mit geballten Fäusten 

in besinnungsloser Wut auf Haggan. Aber der hatte diesen Angriff 
vorausgesehen. Mit der Linken schob er die Fäuste des anderen zur 
Seite. Dann schlang er den rechten Arm um Lutzens Hals und preßte 
mit seiner unmenschlichen Kraft zu. 

Nach kurzer Zeit begann Lutz herzzerreißend zu röcheln. Seine 

Gebeine wurden schlaff. Haggan löste den Griff, und Lutz glitt 
kraftlos auf den Marmorfußboden. Verächtlich schob Haggan das 
menschliche Bündel mit dem Fuß gegen die Wand. »So endet es 
immer, wenn eine Maus meint, sie könne brüllen!« 

Mit versteinertem Gesicht beobachtete Velma, wie er ihren 

besinnungslosen Ehemann in enge Fesseln schlug, so daß sich der 

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Ärmste, sobald er erwachte, nicht mehr würde rühren können. Sie 
bekam eine Gänsehaut, als Haggan sich neben ihr auf dem Diwan 
niederließ und mit veränderter Stimme sagte: »Na, mein Kätzchen? 
Nun wird uns niemand mehr beim Vergnügen stören! Schon lange 
hab' ich dich beobachtet. Ich hab' den Tag kommen sehen, an dem 
wir miteinander schlafen würden. Denn je angestrengter du die große 
Dame spielst, desto weniger kannst du mich täuschen. Du bist und 
bleibst eine Dirne und tust es mit jedem gern!« 

Velma hätte sich gern in ein Mauseloch verkrochen, wenn das 

möglich gewesen wäre. Bis zum letzten Augenblick hoffte sie, 
Haggan würde angesichts ihres offenbaren Ekels vor seinem Körper 
ein Einsehen haben und sie schonen. Doch sie hoffte vergeblich. 
Seine starken Arme packten sie und zogen sie zu sich heran. Sie roch 
angewidert seinen faulen Atem. 

Plötzlich riß sie sich los und hämmerte mit den Fäusten auf seinen 

behaarten Brustkorb. Lachend griff er nach ihren Gelenken und hielt 
sie wie im Schraubstock. Sie begann ihn zu beschimpfen. Sie belegte 
ihn mit Ausdrücken, wie sie der Grobe Gottlieb einst im Munde 
geführt hatte. 

Haggan lachte nur. Er schien eher geschmeichelt. »So hab' ich es 

gern«, sagte er. »Ich liebe es, wenn eine vornehme Dame ihr wahres 
Wesen zu erkennen gibt.« 

Als er sich erneut über sie warf, erwachte Lutz. Entsetzt sah der 

Gefesselte mit an, wie Haggan sein Weib vergewaltigte. 

Je länger sich Roland und Volker in der Plan vertieften, um so 
deutlicher enthüllten sich ihnen die Bedeutungen der verschiedenen 
Zeichen. Roland war es, der in der oberen Ecke links das Symbol des 
Polarsterns entdeckte, und danach wurde es leicht. 

Mit dem Plan in der Hand gingen sie durch die Räume des 

Erdgeschosses, die in Frage kamen, und betasteten die Wände. 
Volker war es, der nach einer knappen Stunde den Mechanismus der 

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Geheimtür auslöste. 

Sie nahmen ihre Waffen an sich, ergriffen zwei brennende Fackeln 

und begaben sich in eine andere Welt. Der Gang führte 
halsbrecherisch steil nach unten. Die Stufen waren roh ausgehauen. 
Keine glich der vorhergegangenen. Der Boden wechselte. Von Fels 
zu Kies, von Lehm zu Moos, von Geröll wiederum zu festem Stein. 
Keine fünf Klafter weit ging es geradeaus. 

In unberechenbarem Zickzack wand sich der geheime Gang, mal 

eng und niedrig, mal  breit und hoch, tiefer und tiefer. Danach stieg er 
eine kurze Zeit an, wurde dann eben, und von nun an mußte man 
scharf aufpassen. Denn alle paar Schritte zweigte ein Nebengang ab. 
Es wurde deutlich, daß es sich um natürliche Höhlen handelte. 
Menschliche  Kraft konnte die Vielzahl der Gänge selbst in 
Jahrzehnten nicht erbaut haben. 

Der erste Burgherr mochte das Geflecht der unterirdischen Straßen 

durch Zufall entdeckt und hier und da einige Verbesserungen 
angebracht haben. Ganz sicher war der achteckige Salon von 
Menschenhand erbaut. Aber auch hier mußte es von altersher eine 
ähnlich geformte Höhlung gegeben haben, die man nur noch 
auszugestalten brauchte. 

Beim Flackerschein der Kerzen studierten die beiden Freunde Mal 

um Mal ihren kostbaren Plan. Flüsternd berieten sie an jedem 
Kreuzweg, welche Fortsetzung die richtige sei. Ohne den Plan hätten 
sie sich bereits rettungslos verirrt, so sinnverwirrend war das System 
der Gänge. 

Es roch nach dumpfer Erde, und das Gestein atmete Kälte aus. Wie 

viele arme Menschen mochten in vergangenen Jahren in diesem 
Irrgarten grauenhaft umgekommen sein? 

Das Fackellicht hatte ihnen beim Hineinleuchten in fragliche 

Abzweigungen dreimal menschliche Skelette gezeigt, deren Schädel 
sie anzugrinsen schienen. 

»Sind wir noch auf dem richtigen Weg?« fragte Volker. Er 

flüsterte unwillkürlich. 

»Wenn ich davon nicht überzeugt wäre, ginge ich nicht einen 

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Schritt weiter«, entgegnete Roland. 

Und wieder wurde es eng und niedrig. Sie mußten die Köpfe 

einziehen und tief in den Knien gebeugt weiterschleichen. 

Und zum erstenmal auf dem langen, unheimlichen Wege hörten sie 

Geräusche, die nicht von ihnen selber stammten ... 

Vor ihnen knackte es im Felsen. Steine scharrten bedrohlich 

gegeneinander. Erde begann zu rutschen. 

Immer lauter krachte es - wie ein Gewitter unter der Erde ... 
»Zurück!« brüllte Volker und packte Roland, der vor ihm ging, am 

Arm. Auch der hatte die Gefahr erkannt. So schnell es in der Enge 
möglich war, schoben sie sich zurück. Sand rieselte schon auf ihre 
Schultern. Mit gewaltigem Getöse, das ihre Ohren furchterregend 
ausfüllte, brach vor ihnen die Decke ein. 

Felsstücke prasselten in den Garig. Auch die Ritter wurden 

getroffen. Ein scharfer Splitter riß Volker ein Ohr blutig. Dann waren 
sie in Sicherheit. 

Sie warteten wohl eine Stunde lang. Dann hatte sich der Staub 

gelegt. Die Fackeln weit vorgestreckt, spähten sie in den Gang, aus 
dem sie geflüchtet waren. 

Das ganze Gewölbe war zusammengestürzt! Felsbrocken jeder 

Größe  - von der Kinderfaust zum übermannshohen Brocken  - 
versperrten den Gang. Es gab kein Durchkommen. Auf viele Klafter 
hin mußte die Höhle versperrt sein. 

Sie zerrten an den Steinen, konnten sie aber nicht einmal um 

Daumennagelbreite verrücken. Die eingestürzten Massen waren so 
fest miteinander verklammert, als hätte sie ein Baumeister errichtet. 

Viele Männer würden wochenlang arbeiten müssen, um einen 

Durchlaß zu schaffen. 

»Verfluchtes Pech!« beklagte sich Volker. »Mußte der Berg 

ausgerechnet jetzt einstürzen? Aber vielleicht ... vielleicht sind 
unsere Feinde jetzt für alle Zeit drunten eingeschlossen und müssen 
verhungern.« 

»Das glaube ich nicht«, widersprach Roland. »Ich denke eher, sie 

haben den Bergrutsch selber ausgelöst, um uns zu verschütten. Wie 

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gut, daß du aufmerksam warst! Um Haaresbreite hätte es uns 
erwischt.« 

Beim Gedanken daran sträubten sich den beiden Rittern noch jetzt 

die Haare. Es war wirklich fast ein Wunder, daß sie nicht 
zerschmettert unter den Gesteinsmassen lagen! 

Langsam und nachdenklich stiegen sie zur Oberwelt auf. Es erwies 

sich, daß sie sich nicht auf ihr Gedächtnis und den angeborenen 
Orientierungssinn verlassen konnten. Oftmals wollten sie nach links 
abbiegen, aber ein Blick auf den kostbaren Plan zeigte ihnen, daß sie 
in Wirklichkeit geradeaus oder gar nach rechts gehen mußten. Der 
Rückweg dauerte dreimal so lange wie der Hinweg. Und das lag 
nicht nur daran, daß es fast ständig steil aufwärts ging. 

Müde und zerschlagen schlüpften sie schließlich durch die 

Geheimtür in das Erdgeschoß der Burg zurück. 

»Es ist klar«, sagte Volker, »daß Haggan und Lutz ihr Versteck in 

dem Augenblick verlassen wollen, da wir den Rückzug nach 
Camelot angetreten haben. Aber wie können sie den verschütteten 
Gang überwinden?« 

Roland heftete die müden, rotgeränderten Augen unverwandt auf 

den Plan, als wolle er ihm das letzte Geheimnis entreißen. Mit der 
Hand fuhr er sich durch das blonde Haar. »Es muß noch einen 
zweiten Ausgang geben«, sagte er leise. »Und ich werde nicht eher 
ruhen, bis ich ihn gefunden habe. Diesmal entgehen mir diese 
Verbrecher nicht!« 

In seinem Innern aber wußte er, daß er aufgeben würde, wenn ihn 

nichts anderes als König Artus' Auftrag und die Aussicht auf 
Mitgliedschaft in der Tafelrunde antriebe. Aber vor seinem geistigen 
Auge brannte unauslöschlich das Bild, wie sich Heide freiwillig in 
den Abgrund stürzte, um ihm die Freiheit zu bewahren, zu handeln, 
wie er wollte. Und lauter als das Getöse des Bergsturzes, lauter als 
1000 Trompeten dröhnte Heides Stimme in seinen Ohren: »Ja, 
Roland, ich grüße dich zum letztenmal!« 

Und die Stimme der Toten zwang ihn, mit leeren Augen, die kaum 

noch sahen, zum wiederholten Mal den Plan der unterirdischen 

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Gänge Punkt für Punkt zu durchforschen. 

In der Seele des Ritters Lutz raste tiefste Verzweiflung. Er war 
betrogen, gefesselt und erniedrigt. Tiefer konnte ein Mensch nicht 
fallen. Er biß sich in ohnmächtiger Raserei die Lippen blutig. 

Dazu peinigten ihn Selbstvorwürfe. Wie hatte er je einem Teufel 

wie Haggan blind und bedingungslos folgen können? Wie hatte er, 
verblendet vom Vorbild dieses Empörers, seine Ritterehre durch den 
Schmutz gezogen! Alles gewagt und alles verspielt! Er fühlte tiefe 
Reue - und unermeßlichen Haß. 

Als Haggan sich an Velma  verging, konnte der Gefesselte nicht 

mehr ruhig bleiben. Er schrie und tobte. Er zerrte an den Fesseln und 
wälzte sich über den Boden auf den Diwan zu, auf dem das 
Schreckliche geschah. 

Der achteckige Salon dröhnte von der verzerrten Wutstimme des 

machtlosen, verratenen Ritters. Mehrmals herrschte Haggan ihn an 
zu schweigen. Aber das vergrößerte nur Lutzens maßlose Wut. Er 
schrie und schrie und schrie, daß es achtfach von den Wänden 
widergellte. 

Haggan stieß mit den Füßen nach ihm. Er ließ von Velma ab, hob 

Lutz an den Stricken empor und ließ ihn aus halber Mannshöhe auf 
den Estrich fallen. Er griff nach einem schweren Pokal und warf das 
Gefäß dem Schreienden an den Kopf. 

Doch er brachte ihn nicht zum Verstummen. 
Haggans Augen rollten erregt. Schaum stand ihm vorm Mund. Wie 

Zweige umstanden die wirren Haare und das Gekräusel des 
schwarzen Barts seinen rotflammenden Kopf. »Schweig!« brüllte er 
den ehemaligen Partner im Verbrechen an. »Wirst du wohl 
schweigen, du Miststück?« 

Als Antwort spuckte ihm Lutz ins  Gesicht und fuhr fort zu 

schreien, als stünde der Weltuntergang vor der Tür. 

Da löste sich die letzte Hemmung in Haggan dem Gräßlichen. Mit 

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einem irren Lachen packte er das Bündel, das einmal Ritter Lutz 
gewesen, und schleppte es unter den Wasserstrahl, der unermüdlich 
Tag und Nacht aus der Decke in die marmorne Badewanne 
plätscherte. Zwei Fuß hoch stand das klare Wasser im Becken. 

Und Haggan tauchte Lutz in das hohe klare Wasser, drückte ihm 

den Kopf gegen den Marmorboden, also daß ihm das Atmen verging. 

Wie eine Furie schoß Velma vom Diwan hoch. Den Ehemann vor 

ihren Augen wie eine Katze ertränken! Mit spitzen Nägeln kratzte sie 
Haggans Hals blutig auf. 

Er mußte Lutz loslassen, so grell war der Schmerz. Zwei Schläge 

versetzte er Velma, und seine harten Hände nahmen ihr das 
Bewußtsein. Mit einem Seufzer fiel sie auf den Diwan zurück, in 
eine gnädige Ohnmacht stürzend. 

Haggan aber wandte sich um, schöpfte Wasser, sprengte es sich 

über den blutigen Hals und keuchte. Dann packte er noch einmal 
Lutz und hielt seinen Kopf grinsend so lange unter Wasser, bis er so 
tot war wie alle Männer, die Haggan seit seines ruchlosen Lebens 
umgebracht hatte. 

»Du wolltest es nicht anders, alter Freund«, murmelte er mit einer 

Kälte in der Stimme, wie sie der eben vergangene Winter nie 
hervorgebracht hatte. 

Dann warf er sich zu Velma auf den Diwan. Nach wenigen 

Augenblicken erkannte er, daß sie das Bewußtsein verloren hatte. 
Angewidert stieß er sie von sich. »Immer dasselbe«, murmelte er 
ärgerlich. »Mit Haggan hält niemand Schritt.« 

Unwillig griff er zur Branntweinflasche und zum geschliffenen 

Glas. Mit untergeschlagenen Beinen saß er wie ein morgenländischer 
Sultan da, schenkte sich ein und trank Glas um Glas der 
bernsteinfarbigen Flüssigkeit. 

Er dachte an Roland, den er vom  Pferd stechen würde. Er dachte 

an Artus, den er mit bloßen Händen zerquetschen würde. Er dachte 
an Ginevra, die er sich zu eigen machen würde. 

Und er trank. 
Trotzdem verging viel Zeit, bis der Gräßliche schläfrig wurde. 

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Noch einmal schreckte ihn langanhaltendes, überlautes Gepolter 
hoch. Ein Grinsen überzog sein Gesicht. »Die Falle«, murmelte er 
hämisch. »Sie sind reingetappt. Jetzt liegen sie unter dem Fels 
begraben, und niemand kann mich finden ...« 

Noch ein Glas! Mit verschwimmenden Augen tastete er die acht 

Ecken seines Zufluchtsortes ab, aus dem er bald, oh so bald zum 
letzten Sturm auf Camelot aufbrechen würde. Noch ein Glas! 

Es war noch nicht ganz leer, als es seinen Fingern entglitt. Den 

Klang des am Boden zerschellenden Glases hörte er nicht mehr. Der 
Gräßliche war eingeschlafen ... 

Viel später erwachte Velma. Ein Blick überzeugte sie, daß Lutz tot 

war und Haggan im Schlaf lag. Dann floh sie. 

Lutz hatte sie in alle Geheimnisse der unterirdischen Gänge 

eingeweiht. Darum wußte sie genau, gegen welchen Stein gegenüber 
dem Wasserfall sie drücken mußte, damit die Wand sich einen Spalt 
öffnete. 

Durch den Spalt huschte Velma. Dunkel erstreckte sich der Gang 

vor ihr. Wie gehetzt eilte sie ihn entlang. Sie achtete nicht der Stöße, 
die sie von vorspringenden Steinen empfing. Sie floh. Nichts war 
schlimmer als Haggans Gesellschaft. 

Mit dem ersten Morgenlicht war Roland im Freien. Den Plan in der 
Hand, wanderte er durch Unterholz, kroch über Felsvorsprünge und 
untersuchte Büsche und Bäume. Von bestimmten Landmarken maß 
er in bestimmter Richtung eine bestimmte Zahl von Schritten ab. 
Dann zog er wieder den Plan zu Rate. 

Seine erwartungsvolle Erregung stieg. Nach einer Stunde fiel ihm 

zum erstenmal der Riesenleib eines entwurzelten Baums ins Auge. 
Der schwarze Stamm hatte im Fallen eine Schneise in den Wald 
geschlagen. Er hatte dutzende kleinerer Bäume im Sturz umgerissen. 
Sein Wurzelwerk ragte bis zur Gipfelhöhe mittlerer Bäume auf. 

Diesem toten Riesen näherte sich Roland mit großer Vorsicht. Es 

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ging langsam. Jeden Schritt vorwärts mußte er sich mit einem 
Schwerthieb durch das festverwobene Unterholz erkämpfen. Als er 
unter die Wurzeln des gefallenen Riesen trat, fand er, was er 
vermutet hatte. Eine kaum zu entdeckende schmale Öffnung im 
Boden! 

Es war der zweite Eingang zum unterirdischen Gewölbe. 
Das Laub, das den Eingang sonst verbarg, war hastig 

beiseitegeräumt. Jemand mußte diesen Eingang eben benutzt haben. 

Roland spähte umher, und da sah er die Frau. Ihre stolze Kleidung 

war jetzt zerrissen, ihr hochmütiges Gesicht von Schmutz und 
Tränen verwüstet, ihre Haltung mutlos. Sie duckte sich angstvoll ins 
Gesträuch. 

Trotz der tiefen Veränderungen erkannte Roland sie sofort. Es war 

Velma, die Betrügerin. Sie hatte ihm übel mitgespielt. Weisgemacht 
hatte sie ihm, daß sie eine königliche Verwandte sei. Und dann 
wusch sie in überzeugender Erzählung Haggan von allen Verbrechen 
rein. Sie brachte es fertig, daß Roland in dem Gräßlichen schließlich 
das arme, bedauernswerte Opfer von Intrigen und tödlichem Neid 
sah. So ließ er den Verbrecher gegen Ehrenwort frei  - und damit 
begann Rolands Elend. 

Doch seltsam, er trug der Frau nichts mehr nach. Fast fühlte er 

Erbarmen, da er sie so abgehärmt und gebrochen am Boden kauern 
sah. 

Ihre Stimme war so matt wie die einer Greisin. »Flieh, Roland!« 

forderte sie ihn auf. »Rette dich! Ich hörte, wie Haggan erwachte und 
mir folgte. Jeden Augenblick muß er da sein.« Und voll Grauen 
deutete sie auf den Eingang zu den Geheimgängen. 

»Aber auf Haggan warte ich ja gerade«, sagte Roland fest. 
»Lauf!« ächzte sie. »Niemand kann ihm widerstehen. Er ist ein 

Abkömmling des Teufels!« Ihre Warnungen wurden leiser. Die 
Worte waren nicht mehr zu verstehen. Jammernd vergrub sie den 
einst so schönen Kopf im faulen Gras des letzten Herbstes. 

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Als der mächtige Leib Haggans an der Erdoberfläche erschien, lag 
ein Ausdruck auf dem schwarzumrahmten Gesicht, als spotte er der 
ganzen Welt. Doch Rolands Anblick überraschte ihn doch. 

»Du hier?« 
»Ich habe auf dich gewartet. Die Stunde der Abrechnung ist 

gekommen.« 

»Abrechnung? Abschlachtung meinst du wohl! Du siehst, ich bin 

ohne Waffen!« 

»Ich hätte jedes Recht, dich niederzumachen«, sagte Roland. 

»Aber ich biete dir einen fairen Kampf.« Er deutete auf ein Stück 
Rasen. »Sieh, dort liegen zwei Schwerter. Wähle dir eins!« 

Haggan zögerte noch. »Ist das eine Falle?« fragte der Gräßliche. 

»Du willst wohl über mich herfallen, wenn ich mich nach dem 
Schwert bücke?« 

Ungeduldig wischte Roland mit der Hand durch die Luft. »Du 

weißt, daß ich zu solchen Listen nicht tauge. Wähle deine Waffe! 
Und dann tritt mir gegenüber wie ein Mann!« 

Haggan ließ Roland nicht aus den Augen, während er schleichend 

dem Rasen näherkam. Plötzlich bückte er sich schnell, ergriff ein 
Schwert, richtete sich sofort auf und führte einen sausenden Lufthieb, 
wie, um es zu erproben. »Nicht übel.« Noch einmal holte Haggan 
aus. Doch jetzt schlug er gegen einen tausendjährigen Granitblock, 
und die Klinge brach mit einem häßlichen Laut knapp unter dem 
Griff ab. 

»Zu leicht für mich!« rief Haggan, warf Roland den nutzlosen 

Griff zu und sagte höhnisch: »Gut für dich!« Dann packte er rasch 
das zweite Schwert und drang auf Roland ein. 

Wieder übertölpelt! dachte Roland bitter. Doch er verzagte nicht. 

Dem ersten Hieb entging er, indem er sich unters Wurzelwerk 
duckte. 

Bevor Haggan erneut zuschlagen konnte, flog Roland ihm 

entgegen, schlang seine Arme um Haggans Leibesmitte und riß ihn 
zu Boden. Auf dem abschüssigen Boden rollten sie, ineinander 
verbissen, talwärts. 

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Im Gestrüpp blieb das Schwert hängen, und nun war Haggan nicht 

mehr im Vorteil. 

Da zog Haggan aus einer verdeckten Lederscheide unterm Gurt 

einen scharfen Hirschfänger. Sein höhnisches Gelächter dröhnte 
zwischen den Felsen. Er wähnte sich schon als Sieger. 

Krachend  schlug Rolands Stiefel gegen die Klinge. Verblüfft 

zuckte Haggan zusammen. Der zweite Tritt traf sein Handgelenk. 
Mit einem Schmerzensschrei öffnete er die Finger. Der Hirschfänger 
fiel ins Gebüsch. 

Haggan bückte sich danach. Da war Roland über ihm. Fäuste 

trafen den Nacken des Gräßlichen. Wie ein verwundeter Stier wollte 
er sich aufbäumen. Doch Roland ließ nicht locker. Drei weitere harte 
Schläge - und Haggan brach zusammen. 

Aufatmend erhob sich Roland und rieb sich die schmerzenden 

Hände. Der Kampf hatte seine letzten Kräfte aufgerieben. Vor seinen 
Augen drehte sich die Welt. Sonnenstrahlen stachen ihm von allen 
Seiten in die Augen. 

Roland schwankte. Er streckte den Arm aus und hielt sich an 

einem Buchenstamm fest. Doch die Beine wollten ihn nicht mehr 
tragen. Die Welt wirbelte unfaßbar schnell um ihn. Er schloß die 
Augen. Müdigkeit überfiel ihn wie ein wildes Tier. 

»Roland!« schrie eine verzerrte Weiberstimme. Velma brüllte ihn 

an: »Aufgepaßt, Roland!« 

Doch Roland wollte sie nicht hören. Der Schlaf lockte ihn. 
»Roo-laand!« 
Wie lästig diese Stimme war! Warum ließ man ihn nicht in 

Frieden? Mit übermenschlicher Anstrengung riß Roland die Augen 
auf. Haggan stand vor ihm. Er hatte sich aufgerafft. Wie einen Dolch 
führte er den Hirschfänger, und die Spitze war nur zwei 
Handspannen von Rolands Brust entfernt! 

Roland sprang hinter den Buchenstamm. Die Klinge rauschte 

unschädlich vorbei. Dann erschien Haggans Hand, die die Waffe 
hielt. Roland biß sich auf die Zähne und packte die Hand des 
Feindes. 

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Sie rangen. Wie eine Waage zitterte die Klinge im Griff der 

Männer auf und ab. Sie stöhnten. Ihre Füße glitten im feuchten Laub 
aus. Höher und höher ragte die Klingenspitze. Roland sah nur noch 
Funken. Doch er hielt eisern fest und bog Haggans Handgelenk, bis 
es fast brach. 

Jetzt zeigte die Klinge nicht mehr auf Rolands Brust, sondern auf 

Haggans Hals. 

Keuchen, Rutschen, letzter Muskeleinsatz. 
Und dann ließ der Gräßliche nach. Seine Kräfte waren am Ende. 

Ein irre klingender Schrei über Gipfel und Dickicht  - dann fuhr die 
Klinge seines Hirschfängers Haggan in den Hals und löschte das 
Leben des Mannes, vor dem ein ganzes Land gezittert hatte. 

Es war zwei Wochen später, als Volker vom Hohentwiel, der 
Minnesänger, an einem der ersten schönen Frühlingsmorgen von 
Schloß Camelot aus in die Ferne ritt. Noch wußte er nicht, wohin 
sein Ritt ihn führen würde. Er folgte seinem Gefühl  - er war und 
blieb ein fahrender Ritter. 

Der Kopf war ihm leicht, aber das Herz lag ihm noch schwer in der 

Brust. Erinnerung drückte. Als die schwindende Nacht endgültig 
dem verheißungsvollen Morgen wich, begann er zu singen. 

Selbst die Vögel verstummten, als wüßten sie, daß sie ihren 

Meister gefunden hatten, Wunderbare Töne drangen aus Volkers 
Kehle und schwebten weit übers Land  - heiter verliebt zunächst, 
dann ernster werdend, schicksalsschwanger und düster zuletzt. 

Das war es, was Volker sang: 
»Roland und Heide  -Wie liebten sich beide! Sie war'n füreinander 

geschaffen. Doch trennten sie meistens die Waffen. Und ist die Erde 
auch unendlich viele Meilen weit, Glück dauert ja nur so kurze 
Zeit...« 

Eine Pause folgte, in der die jungen Birken Atem zu holen 

schienen. Dann sang der vom Hohentwiel die Schlußzeile, einem 

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versöhnlichen Echo gleich: 

»Ach, das Glück dauert nur kurze Zeit!« 
Die unberührte, seidenweiche Morgenluft des Frühlingstages nahm 

Volkers Töne wollüstig auf und trug sie zu den Schläfern in dunklen 
Hütten, zu den Hirten auf freiem Feld, zu den Bürgern hinter 
dumpfen Mauern und hinauf zu den Gitterfenstern der schweigenden 
Burgen. Manche erwachten und vernahmen den betörenden Ton des 
einfachen Verses: 

»Ach, das Glück dauert nur kurze Zeit!« 
Und mit einem Seufzen schliefen sie wieder ein, in dunklen 

Hütten, auf freiem Feld, hinter dumpfen Mauern und vergitterten 
Fenstern. Sie träumten dem Tag entgegen. 

Zum Glück? Zum Tod? 
Wer kann es wissen? 

 

ENDE DER TRILOGIE 

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Liebe Ritter-Freunde,

 

heute habe ich die schwere Aufgabe, Ihnen das vorläufige Ende 
unserer ersten Ritter-Serie bekanntzugeben. Dieser neue Themen-
kreis im Heftroman hat viel Zustimmung gefunden  - aber leider nicht 
genug. Wir wissen nicht, woran es lag, daß Ritter Roland nicht 
mehr Leser fesseln konnte. 
Wir von der Redaktion hätten gern wenigstens die Romane über 
die  50 Aufträge des Ritters bis zu seiner Aufnahme in die 
Tafelrunde veröffentlicht, aber bei der geringen Auflage und dem 
geringen Zuspruch war das unmöglich. 

Von den Lesern meiner Abenteuer-Reihe möchte ich 
mich heute verabschieden. 

Vielen Dank für Ihre Treue! 

Ihr Ritter-Roland-Redakteur 
Hans-Ulrich Steffan