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Das Buch bietet einen gedrängten Überblick über die Ge- 
schichte Englands von der angelsächsischen Zeit bis zur Re- 
gierung John Majors. Im Zentrum der Darstellung steht die 
Sozial- und Verfassungsgeschichte, weil sich auf diese Weise 
besonders deutlich machen läßt, wodurch sich die Geschichte 
Englands von der der kontinentaleuropäischen Staaten unter- 
scheidet. Aber selbstverständlich wird auch die politische 
Geschichte behandelt. Ein eigener Abschnitt ist dem Empire, 
seiner Entwicklung zum Commonwealth und dem Prozeß der 
Dekolonisation gewidmet. Die Schlußkapitel behandeln das 
heutige Großbritannien mit seinen spezifischen politischen, 
sozialen und wirtschaftlichen Problemen. Eine ausführliche 
kommentierte Bibliographie ermöglicht selbständige Wei- 
terarbeit. 
 
Hans-Christoph Schröder, 
geb. 1933, ist Professor für Neuere 
Geschichte an der TH Darmstadt. Zahlreiche Veröffentli- 
chungen vor allem zur Geschichte Englands, Nordamerikas 
und zur Revolutionsgeschichte. 
Bei C.H. Beck ist von ihm erschienen: Die Amerikanische 
Revolution (1982); George Orwell. Eine intellektuelle Biogra- 
phie (1988). 

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Hans-Christoph Schröder 

ENGLISCHE 

GESCHICHTE

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Verlag C.H.Beck 

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Ernst-Peter Wieckenberg 

zum 23. März 1995

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Die Deutsche Bibliothek – CIP-Einheitsaufnahme

 

Schröder, Hans-Christoph:

 

Englische Geschichte / Hans-Christoph Schröder. – Orig.-

 

Ausg. – München: Beck , 1995

 

    (Beck’sche Reihe ; 2016 : C. H. Beck Wissen)

 

    ISBN 3406 396992 

NE:GT

 

 
 
 

Originalausgabe 

ISBN 3406 39699 2 

 
 

Umschlagentwurf von Uwe Göbel, München

 

© C. H. Beck’sche Verlagsbuchhandlung (Oscar Beck), München 1995 
Gesamtherstellung: C. H. Beck’sche Buchdruckerei, Nördlingen

 

Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem),

 

aus chlorfrei gebleichtem Zellstoff hergestelltem Papier

 

Printed in Germany 

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Inhalt 

 
 

Vorwort .............................................................................. 7 

 

I. Die mittelalterlichen Grundlagen des englischen 

 

 Staates und der englischen Freiheit ........................... 

  II. Die Ambivalenz der Tudorherrschaft........................ 

21 

 III. 

Das 

revolutionäre 

Jahrhundert ..................................  28 

 IV. Die parlamentarische Monarchie .............................. 

33 

  V. Adel, Bürgertum und Unterschichten........................ 

37 

 VI. Die erweiterte Adelsherrschaft.................................. 51 

  VII. Die Demokratisierung und die Entwicklung zum ..... 

64 

  

Sozialstaat ................................................................. 

 VIII. Vom Empire zum Commonwealth............................ 

78 

  IX. Der Thatcherismus und die Abkehr von der 
  

Konsenspolitik .......................................................... 90 

  X. Frühe Modernität und die Kraft der Beharrung. 
  

Ein 

Rückblick............................................................ 

101 

 
Anmerkungen..................................................................... 105 

Literaturübersicht ............................................................... 118 

Regententabelle.................................................................. 130 

Namen- und Sachregister ...................................................  132 

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Vorwort 

 
 
Diese Arbeit erhebt nicht den Anspruch, mit den bereits vor- 
liegenden, viel umfangreicheren Büchern über die Geschichte 
Englands von Kluxen, Wende, Krieger, Haan und Niedhart in 
Konkurrenz zu treten.

1

 Der Verfasser hofft jedoch, den be- 

sonderen Vorteil genutzt zu haben, den die räumliche Be- 
schränkung der Reihe „C.H. Beck Wissen“ bietet. Sein Be- 
mühen war es, durch die konzentrierte Form der Darstellung 
große Entwicklungslinien und Grundfragen besonders deut- 
lich hervortreten zu lassen und sie durch signifikante Details 
zu illustrieren. 

Danken möchte ich Dorit Kasper für die rasche und um- 

sichtige Fertigstellung des Manuskripts. Meiner Darmstädter 
Kollegin Natalie Fryde danke ich für die Durchsicht des 
Mittelalterteils, Klaus Kastendieck und Karl Rohe für die hilf- 
reiche Kritik an einer früheren Fassung des Manuskripts. 
Mein besonderer Dank aber gilt wieder Ernst-Peter Wiecken- 
berg. Ihm widme ich dieses Buch, das er mit großem Engage- 
ment betreut hat. 
 
Darmstadt, im Juli 1995 

Hans-Christoph Schröder 

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9

I. Die mittelalterlichen Grundlagen 

des englischen Staates und der englischen Freiheit 

 
 
Eine durch schriftliche Überlieferung gesicherte und an den 
fortwirkenden Institutionen erkennbare englische Geschichte 
beginnt mit dem Eindringen der Angelsachsen in England im 
5. und 6. Jahrhundert, das Teil des umfassenden Vorgangs 
der Völkerwanderung gewesen ist. Die Angelsachsen, die sich 
offenbar mit den dort lebenden Kelten zunächst kaum ver- 
mischten, gestalteten die politisch-territoriale Organisation 
des Landes. Sie bildeten Königreiche, von denen im ausgehen- 
den 9. Jahrhundert Wessex die Hegemonie erlangte. Unter 
Alfred dem Großen, der von 871 bis 899 König von Wessex 
war, erfolgte im Zusammenhang mit dem Kampf gegen die 
eingefallenen Wikinger die Zusammenfassung von ganz Eng- 
land außerhalb des von den Dänen besetzten Gebietes im 
Nordosten. Auf einem Silberpfennig der Zeit ist Alfred mit 
dem Titel „Rex Anglorum“ abgebildet. 

Im England des 10. Jahrhunderts bildete sich eine königli- 

che Autorität heraus, die umfassender und intensiver war als 
in irgendeinem anderen zeitgenössischen europäischen Land. 
Ein wichtiges Indiz für die vergleichsweise zentralisierte und 
effiziente englische Verwaltung dieser Zeit ist das einheitlich 
geregelte Münzwesen, das gegen Ende der angelsächsischen 
Periode das fortgeschrittenste in Europa war. Es gab keine 
von Territorialherren geprägte Münzen wie in Deutschland 
und Frankreich. Dabei war die Gestaltung des Münzwesens 
charakteristisch für das nach dem Prinzip des „self- 
government at the king’s command“ gestaltete englische Re- 
gierungssystem mit seiner Zentralisierung  der Zuständigkeiten 
einerseits, seiner Dezentralisierung  und  Delegation  der prakti- 
schen Aufgaben andererseits. Das Münzwesen unterstand 
allein dem König und wurde von ihm kontrolliert; die Prä- 
gung der Münzen erfolgte dagegen in einer Vielzahl von Or- 
ten. Das geschriebene und gesiegelte „writ“ – ein kurzer kö- 
niglicher Befehl, der sowohl in der Verwaltung als auch im

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10

Rechtswesen benutzt wurde – war ebenfalls ein höchst effizi- 
entes, anderswo nicht vorhandenes Instrument der Zentral- 
gewalt und ein Beleg für die Macht des englischen Königtums. 

Ein Grund dafür, daß die Zentralgewalt und das Königtum 

in England so stark waren, ist in der Geographie zu suchen. 
Das Land war vom territorialen Umfang her nicht zu groß, so 
daß seine Zusammenfassung und Verwaltung die damals 
gegebenen Möglichkeiten nicht überstiegen. Obwohl die an- 
gelsächsischen Könige ihre Zeit zumeist im Süden des Landes 
verbrachten – Winchester und London wurden die wichtig- 
sten Zentren des Landes –, waren auch die anderen Landestei- 
le für den König durchaus leicht erreichbar. 

Neben den günstigen geographischen Voraussetzungen 

spielte aber auch die äußere Bedrohung bei der Stärkung der 
Zentralgewalt und der staatlichen Organisation des Landes 
eine wichtige Rolle. Die Einfälle der Wikinger haben durch 
die von ihnen geforderten Tribute ebenso wie durch die von 
ihnen provozierte Abwehrreaktion in diese Richtung gewirkt. 
Die Zahlungen, die den Angelsachsen auferlegt wurden, führ- 
ten 865 zur Erhebung des sog. „danegelds“, welches die erste 
dauerhafte nationale Steuer wurde. Die zentralisierende Wir- 
kung der Verteidigungsanstrengungen wird an dem System 
von mehr als dreißig befestigten Plätzen deutlich, mit denen 
Alfred d. Gr. Wessex umgeben ließ. Diese „burhs“ (ein dem 
deutschen Wort „Burg“ verwandter Begriff, aus dem sich 
später die allgemeine Bezeichnung „borough“ für Städte oder 
Marktflecken entwickelte) mußten jeweils von ihrem Umland 
bemannt und finanziert werden. 

Die Erfüllung solcher, dem örtlichen Bereich zugewiesenen 

Aufgaben setzte eine ausgebildete und funktionierende Lokal- 
verwaltung voraus. Diese ist denn auch über Jahrhunderte 
hinweg  neben  und  komplementär  zu der Macht der Zentral- 
gewalt ein charakteristisches Merkmal der englischen Ge- 
schichte gewesen. Das „Prinzip der Selbstregierung“, das nach 
dem Urteil Rankes in England „von jeher“ viel kräftiger war 
als auf dem Kontinent

1

, wurde in einem relativ gut geordne- 

ten System auf verschiedenen Ebenen wirksam. Die oberste

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11

Ebene bildeten die „shires“, die später „counties“ genannt 
wurden und mit dem Wort „Grafschaften“ ins Deutsche 
übersetzt werden. Bereits gegen Ende des 9. Jahrhunderts war 
das Königreich Wessex in „shires“ unterteilt. Im 10. und 
frühen 11. Jahrhundert wurde diese territoriale Gliederung 
auf ganz England ausgedehnt, das schließlich 37 „shires“ 
umfaßte. Die „shires“ waren ihrerseits in „hundreds“ oder 
„wapentakes“ unterteilt. Die kleinste Einheit der englischen 
Lokalverwaltung war das „vill“ oder „tun“, die Gemeinde. 

Die „shire courts“ waren neben der Monarchie die wichtig- 

ste Institution des angelsächsischen England. Sie traten zwei- 
mal jährlich unter dem Vorsitz von Grafen und Bischöfen 
oder deren Vertretern zusammen. Sie besaßen eine unbegrenz- 
te Fülle von rechtlichen und verwaltungsmäßigen Funktionen. 
Prinzipiell waren alle Freien zur Teilnahme an den „shire 
courts“ verpflichtet. Die weniger bedeutenden Angelegenhei- 
ten wurden von den „hundred courts“ behandelt. Darunter 
gab es noch das „tithing“, eine Gruppe von zehn Männern, 
die füreinander hafteten und sich bei Verfehlungen oder der 
Flucht eines von ihnen vor dem „hundred court“ zu verant- 
worten hatten. Insgesamt besaß das angelsächsische England 
ein für die damalige Zeit bemerkenswert einheitliches Ge- 
richtssystem, in dem zwar nach dem jeweiligen lokalen Recht 
geurteilt wurde, wo der König aber jederzeit eingreifen konn- 
te. Erst um die Mitte des 10. Jahrhunderts erhielten Grund- 
herren („lords“) in größerem Umfang vom König wichtige 
jurisdiktioneile Befugnisse, die jedoch stets als delegierte 
Rechte verstanden wurden. In England hat der Monarch 
grundsätzlich niemals den Anspruch aufgegeben, der direkte 
Herrscher über sein gesamtes Königreich zu sein. 

Die in angelsächsischer Zeit vorgenommene, für Rechtspre- 

chung und Verwaltung maßgebliche, gebietsmäßige Gliede- 
rung des Landes hat offenbar einen Vorgang gefördert, den 
man als Territorialisierung des Lebenszusammenhangs be- 
zeichnen kann. Blutsmäßige Bande traten gegenüber der 
durch das räumliche Zusammenleben und die nachbarschaft- 
liche Gemeinschaft geschaffenen Zusammengehörigkeit zu-

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12

rück. Die Engländer betrachteten sich in vieler Hinsicht eher 
als die Bewohner eines Gebietes und als Mitglieder einer nicht 
durch Verwandtschaft konstituierten lokalen Gemeinschaft 
denn als Angehörige einer Sippe.

2

 Der Individualismus, das 

individuelle Privateigentum und die Kernfamilie haben sich in 
‘England offenbar früher und ausgeprägter entwickelt als an- 
derswo,

3

 da dort wegen der relativ starken territorialen Or- 

ganisation und befriedenden monarchischen Gewalt die 
Schutzfunktion größerer, blutsmäßig miteinander verbunde- 
ner Personengruppen weniger notwendig war. Der Historiker 
W. L. Warren hat darauf hingewiesen, daß die englische 
Sprache kaum Möglichkeiten bietet, über die Kernfamilie und 
über zwei oder drei Generationen hinaus Verwandtschaftsbe- 
ziehungen genau zu beschreiben.

4

 

Die vergleichsweise machtvolle Stellung der englischen 

Monarchie wurde durch die normannische Eroberung im 
Jahre 1066 noch verstärkt. Wilhelm war der Eroberer des 
Landes. Er brachte aus der Normandie das Lehnswesen nach 
England und stärkte seine Königsherrschaft dadurch, daß er 
zugleich oberster Lehnsherr wurde. Er war es in einem radika- 
leren Sinne, als es in der Normandie oder in irgend einem 
anderen Teil Europas der Fall war. Der König war nämlich 
rechtlich gesehen nach der Eroberung bzw. nach der Nieder- 
schlagung der gegen ihn gerichteten Aufstände der alleinige 
Inhaber des gesamten Bodens in England. Es gab keinen Al- 
lodialbesitz, kein volles Eigentum mehr. Die Besitzrechte aller 
Grundherren leiteten sich direkt oder indirekt vom König her. 
Der radikale Utopist Gerrard Winstanley hat später in der 
Englischen Revolution daraus die logische Konsequenz gezo- 
gen, daß mit der Abschaffung der Monarchie auch alle Be- 
sitztitel am Land hinfällig geworden seien. Der Beseitigung 
des Königtums, argumentierte Winstanley, müsse auch die der 
Grundherrschaft folgen.

5

 

England wurde mit dem Jahr 1066 zugleich das am meisten 

und das am wenigsten feudalisierte Land Europas. Es war am 
meisten feudalisiert, insofern dort jeglicher Landbesitz in den 
feudalen Nexus einbezogen war. Es war am wenigsten feuda-

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13

lisiert, weil dort die Macht der Feudalherren gegenüber der 
Zentralgewalt am schwächsten war, eine staatlich-öffentliche 
Gewalt mit ihren Strukturen weiterbestand und die vorrangi- 
ge Treueverpflichtung gegenüber dem König ausdrücklich 
festgehalten wurde. Das feudale System wurde der bestehen- 
den, territorial-nachbarschaftlichen Struktur aufgepfropft, hat 
sie jedoch nicht verdrängt. Der Monarch war der feudale 
Oberherr, gleichzeitig aber auch wie vor ihm der angelsächsi- 
sche König ein Herrscher, der in einer unmittelbaren Bezie- 
hung mit seinen Untertanen verbunden war, die ihm direkt 
unterstanden und Gehorsam schuldeten.

6

 So bestand die all- 

gemeine militärische Gefolgschaftsverpflichtung neben der 
besonderen Pflicht der Vasallen zur militärischen Hilfeleistung 
fort. 

Ein Dokument nicht nur der Macht und des Machtan- 

spruchs, sondern auch der Effizienz des normannischen Herr- 
schaftssystems in England ist das berühmte Domesday Book 
von 1086. Als einer Art von nationalem Kataster ist ihm trotz 
seiner Unvollständigkeit im zeitgenössischen Europa nichts an 
die Seite zu stellen.

7

 Es gelang den normannischen Königen 

Englands auch, einige für Westeuropa bemerkenswert frühe 
Methoden zentraler Verwaltung zu entwickeln. In bezug auf 
das Finanz- und Rechtswesen besaßen sie nach dem Urteil der 
englischen Historikerin Chibnell gegenüber Flandern, Frank- 
reich oder Katalonien einen Vorsprung von mindestens einer 
Generation und standen nicht einmal hinter Sizilien zurück, 
das an die byzantinische Verwaltungstradition anknüpfen 
konnte.

8

 Zu ihren wegweisenden Neuerungen gehörte die am 

Beginn des 12. Jahrhunderts eingeführte regelmäßige, jährlich 
an einem bestimmten Ort stattfindende Abrechnung der kö- 
niglichen Finanzen im „Exchequer“, die mit Hilfe eines leicht 
verständlichen Rechensystems vorgenommen wurde. Der 
französische König hat eine solche zentrale Rechnungslegung 
erst gegen Ende des 12. Jahrhunderts angewandt.

9

 

Auf die normannischen Herrscher (1066–1154) folgte die 

angevinische Dynastie (1154–1272), deren Reich sich nicht 
auf Eroberung, sondern auf dynastische Verbindungen grün-

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14

dete. Es umfaßte neben dem englischen Territorium einen 
großen Teil Frankreichs und hatte seinen Schwerpunkt an der 
Loire. Daß sich die angevinischen Herrscher sehr stark außer- 
halb Englands engagierten, war eine der Ursachen der Magna 
Carta von 1215. König Johann, der zur Finanzierung der 
Kriegführung auf dem Kontinent in England harte Maßnah- 
men angewandt hatte und durch den Ausgang der Schlacht 
von Bouvines in seiner Position geschwächt worden war, sah 
sich bei seiner Rückkehr nach England einer Opposition der 
Magnaten gegenüber. Er unterlag im Kampf mit ihnen und 
mußte die Magna Carta gewähren.

10

 Sie ist, nach ihrer Zu- 

rücknahme durch Johann, in einer entschärften Fassung im 
Jahre 1225 durch Heinrich III. erneuert worden, wurde bis 
zum 17. Jahrhundert insgesamt 32 mal bestätigt oder neu 
bekräftigt und seit dem 13. Jahrhundert wiederholt einer 
größeren Öffentlichkeit bekanntgemacht.

11

 Nicht zuletzt da- 

durch hat sie sich tief in das Bewußtsein der Engländer einge- 
graben. 

Die Magna Carta enthielt unter ihren heterogenen, ganz 

verschiedene Gravamina berücksichtigenden 63 Artikeln 
Punkte, die nur für die Magnaten bedeutsam waren. Darüber 
hinaus gab es jedoch auch Artikel, die schichtenübergreifende 
Relevanz besaßen. Dazu gehörte die Erklärung, daß (ab- 
gesehen von einigen aufgezählten Ausnahmen) keine Steuer 
ohne gemeinsame Beratung des Königreiches erhoben werden 
durfte. Von allgemeiner Bedeutung war vor allem der Rechts- 
schutz, den die Artikel 39 und 40 gewährten: Jeder „über 
homo“ konnte nur durch das rechtmäßige Urteil von seines- 
gleichen aufgrund des Gesetzes des Landes verhaftet, geächtet 
oder verbannt werden. Der König durfte niemandem die 
prompte Gewährung von Recht und Gerechtigkeit versagen. 
Besonders diese beiden Artikel wurden zu unverrückbaren 
Bezugspunkten des englischen Freiheits- und Rechtsdenkens. 

Es ist oft darauf hingewiesen worden, daß die von König 

Johann gewährte Magna Carta nicht völlig singular war, 
vielmehr im zeitgenössischen Europa manches Gegenstück in 
anderen Ländern hatte (z.B. das Privilegio General in Aragon

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15

oder die Goldene Bulle in Ungarn). Fraglos enthielt die 
Magna Carta auch einige allgemeine Grundsätze des mittelal- 
terlichen Europa: das Recht auf die Aburteilung durch sei- 
nesgleichen, das Widerstandsrecht bei Rechtsbrüchen des 
Monarchen, die Ablehnung des Kriegsdienstes außerhalb des 
Landes und vor allem das Prinzip, daß der König in Überein- 
stimmung mit den Gesetzen des Landes handeln müsse. Ein- 
zigartig an ihr war jedoch die Tatsache, daß die Magna Carta 
überständisch  und  überregional  war;

12

 daß die in ihr gewähr- 

ten Privilegien nicht die Form adliger oder provinzieller Im- 
munität und städtischer Unabhängigkeit annahmen, sondern 
allgemeinen  Charakter hatten und auf die generelle Kontrolle 
der Zentralgewalt gerichtet waren. Die eine Trennung der 
Stände transzendierende, allgemeine Gültigkeit der Magna 
Carta hat bereits Leopold von Ranke als etwas ihr Eigentüm- 
liches und als Unterschied gegenüber anderen Rechtserklä- 
rungen der Zeit gesehen. In seiner „Englischen Geschichte“ 
schreibt er: „Auch in anderen Ländern haben sich Kaiser und 
Könige in dieser Epoche zu sehr umfassenden Bewilligungen 
an die verschiedenen Stände herbeigelassen: das Unterschei- 
dende in England ist, daß sie nicht jedem Stande für sich, 
sondern allen zugleich gemacht wurden. Während nun an- 
derwärts jeder Stand für sich selbst sorgte, bildete sich hier ein 
gemeinschaftliches Interesse aller, welches sie auf immer zu- 
sammenband.“

13

 

Diese für die englischen Monarchen letztlich nachteilige Be- 

sonderheit ging paradoxerweise vor allem auf die relativ gro- 
ße Macht des Königtums in England und seine vereinheitli- 
chende Kraft zurück. Die von den königlichen Gerichten 
betriebene Durchsetzung des Common Law als eines Natio- 
nalrechts gegenüber lokalen, regionalen und feudalen Beson- 
derheiten führte dazu, daß auch im Konflikt mit der Krone im 
geringeren Maße als in anderen Ländern partikulare Rechte 
beschworen wurden. Die starke Stellung des Königs und sei- 
ner Gerichtsbarkeit hatten nach dem Urteil der englischen 
Historikerin Susan Reynolds zur Folge, daß es „relativ wenig 
an grundherrlicher Gerichtsbarkeit zu schützen (gab), wäh-

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16

rend ein relativ großer Teil der Bevölkerung häufig und direkt 
den Bedrückungen durch königliche Amtsträger ausgesetzt 
war“.

14

 

Der in der Magna Carta enthaltene Grundsatz, daß keine 

Steuer ohne gemeinsame Beratung des Königreiches erhoben 
werden dürfe, hat überdies zur Herausbildung des englischen 
Parlaments entscheidend beigetragen. Hier ergab sich ein 
weiteres Eigeninteresse des Monarchen an einer repräsentati- 
ven Institution, das zu seinen anderen Interessen an einer 
solchen Versammlung hinzutrat. Denn die Entstehung des 
Parlaments um die Mitte des 13. Jahrhunderts ist zunächst 
und vor allem anderen auf die Bedürfnisse des Königs zurück- 
zuführen. Ihm mußte daran gelegen sein, daß Männer aus den 
verschiedenen Landesteilen ihn einerseits mit Informationen 
versorgten und ihm ihre Beschwerden vortrugen, andererseits 
die Wünsche und Anordnungen des Monarchen bei sich zu 
Hause bekannt machten und seine Politik erklärten. 

Da das englische Parlament aus der „curia regis“ (dem 

Großen Rat des Königs) hervorging, läßt sich sein definitiver 
Beginn, sein historischer Anfang als einer feststehenden Ein- 
richtung, nicht genau bestimmen. Sehr oft wissen wir von 
einem im 13. oder 14. Jahrhundert tagenden Gremium nicht, 
ob es ein Großer Rat oder ein Parlament war. Von entschei- 
dender Bedeutung war jedenfalls die Hinzuziehung von Ver- 
tretern der „shires“ und „boroughs“, die sie offenbar aus- 
schließlich ihrer Unentbehrlichkeit für die Steuerbewilligung 
verdankten. An dem Parlament des Jahres 1290 kann man 
besonders deutlich erkennen, daß dies der Punkt war, von 
dem aus die „Gemeinen“ („commons“) eindrangen. Eine zu- 
nächst nur aus Magnaten bestehende parlamentarische Ver- 
sammlung hatte bereits von April bis Juli getagt und eine 
Fülle von Maßnahmen beschlossen. Zu der vom König ge- 
wünschten Steuer gaben die Versammelten ihre Zustimmung 
jedoch nur, „insoweit sie dazu berechtigt waren“. Diese aus- 
drückliche, von ihnen selber ausgehende Einschränkung des 
Repräsentationsanspruchs der Magnaten machte die Beteili- 
gung von Vertretern der „shires“ und „boroughs“ notwendig,

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17

die dann Mitte Juli zum Parlament hinzustießen. Aus den 
„commons“ als einem zunächst nur aus Gründen der Steuer- 
bewilligung hinzugezogenen ergänzenden Element wurden 
dann im 14. Jahrhundert die eigentlichen Repräsentanten des 
Landes, die man als die wichtigsten Verteidiger seiner Interes- 
sen ansah. 

Der Zusammenhang von Parlament und Besteuerung war 

für die parlamentarische Entwicklung von einer gewissen 
Ambivalenz. Daß Parlamente für die Steuerbewilligung not- 
wendig waren, hat einerseits die Herausbildung der Instituti- 
on Parlament gefördert, weil die Finanznöte der Monarchen 
und zumal die Kriegführung immer wieder zu ihrer Einberu- 
fung zwangen. Andererseits hat es sie aber auch behindert, 
weil Könige, die eine weniger kostspielige Politik verfolgten 
bzw. sich andere Einnahmequellen erschlossen, Parlamente 
vernachlässigen konnten. Statute aus den Jahren 1330 und 
1362 legten zwar fest, daß mindestens einmal jährlich ein 
Parlament stattfinden sollte, wurden aber nur vorübergehend 
beachtet. Die jeweiligen Bedürfnisse der Monarchen gaben 
letztlich den Ausschlag dafür, ob ein Parlament einberufen 
wurde oder nicht. Negativ für die Entwicklung des Parla- 
ments war die Schlüsselstellung des Steueraspekts aber auch 
deshalb, weil die Nichteinberufung bedeutete, daß keine Steu- 
ern zu zahlen waren – also von der Bevölkerung durchaus 
positiv gesehen werden konnte. Hinzu kam, daß wegen der 
Zahlung recht erheblicher Sitzungsgelder an die Abgeordneten 
durch ihre „shires“ und „boroughs“ Parlamente auch unter 
diesem Gesichtspunkt eine finanzielle Belastung bedeuteten. 
Städte, die – etwa durch den Bau von Stadtmauern – finan- 
ziell stark belastet waren, beantragten oft eine vorübergehen- 
de Befreiung von der Repräsentationspflicht. Dieser Faktor 
verlor jedoch in dem Maße an Bedeutung, wie ein Sitz im 
Parlament an Prestige gewann, was bereits im 15. Jahrhundert 
weithin der Fall war. Ehrgeizige oder auf ihr Ansehen bedach- 
te Angehörige des niederen Adels („gentry“) waren gern be- 
reit, auf eigene Kosten die Vertretung der „boroughs“ im 
Parlament zu übernehmen, so daß schließlich bereits am Ende

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18

des Mittelalters ein großer Teil der Städte von Abgeordneten 
aus der „gentry“ „repräsentiert“ wurde und das Parlament in 
seiner Gesamtheit immer mehr einen adligen Charakter er- 
hielt. Zusätzliche Sitze für „boroughs“ sind sogar eigens für 
den Zweck geschaffen worden, die Nachfrage unter dem 
niederen Adel in den Grafschaften zu befriedigen. 

Für die Monarchen lag der Vorzug der Bewilligung von 

Steuern durch das Parlament vor allem darin, daß die Abge- 
ordneten durch ihre Zustimmung die jeweiligen „shires“ oder 
„boroughs“ banden und zur Zahlung verpflichteten. Aller- 
dings konnte es anfangs vorkommen – obwohl in England 
nicht die stark eingeschränkte ständische  Repräsentation, 
sondern die umfassende Repräsentation im Sinne der 1290 
und 1294 vom König ausdrücklich geforderten plena potestas 
galt –,

15

 daß Abgeordnete vor der Gewährung von Geldern in 

den Grafschaften Rückfrage hielten. Es konnte auch gesche- 
hen, daß ein „county court“ beschloß, nur einen Teil des auf 
die Grafschaft entfallenden Steueranteils zu zahlen. Insgesamt 
ist es jedoch eindrucksvoll, wie sehr das Parlament von Eng- 
land bereits im Mittelalter dem Gedanken einer gesamtstaatli- 
chen Gemeinschaft Ausdruck gab. Es entstand, wie Otto 
Brunner formuliert, „seit der Mitte des 14. Jahrhunderts die 
Idee der communitas regni Angliae als Gesamtgenossenschaft 
aller communitates des Königreiches, die tatsächlich England 
sind, da der Feudalisierungsprozeß hier die Amtsbezirke nicht 
zerrissen hatte. Damit hören aber die Abgeordneten der 
communitates auf, ihre communitas zu vertreten. Nun reprä- 
sentieren sie alle insgesamt die communitas regnis Angliae.“

16 

In Frankreich ist dagegen der Gedanke einer Gesamtrepräsen- 
tation erst mit der Umwandlung der Generalstände in eine 
Nationalversammlung im Jahre 1789 verwirklicht worden. 

Zusammenfassend läßt sich sagen, daß sich England schon 

im Mittelalter durch eine relativ starke Staatsgewalt und eine 
– abgesehen von den Grenzgebieten im Westen und Norden – 
vergleichsweise intensive territoriale Integration auszeichnete. 
Der französische Historiker Marc Bloch spricht in seinem 
Buch über die Feudalgesellschaft vom mittelalterlichen Eng-

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19

land als einem „bemerkenswert vereinheitlichten Land“ mit 
einer „starken Verwaltungstradition“.

17

 Es kam dort nicht, 

trotz gewisser Ansätze unter König Stefan im 12. Jahrhundert 
sowie um die Mitte des 13. Jahrhunderts, zur Herausbildung 
einer Territorialherrschaft. Es entstand kein Landesfürsten- 
tum wie in Deutschland. 

Die von der Monarchie ausgehende zentralisierend-verein- 

heitlichende Tendenz kam jedoch nicht nur ihr selber zugute. 
Sie stärkte vielmehr auch, wie gezeigt wurde, das Parlament 
als ihren potentiellen Gegenspieler. Dieses konnte sich später 
im 17. Jahrhundert bei Auseinandersetzungen mit dem König 
im Unterschied zu anderen, bloß ständisch-partikularen Re- 
präsentativversammlungen glaubhaft als Vertretung der Ge- 
samtheit darstellen. Auch hatten die Durchsetzung des Com- 
mon Law als eines Nationalrechts sowie die Anerkennung 
allgemeiner Rechtsgrundsätze durch die Magna Carta zur 
Folge, daß bei Rechtsverletzungen durch die Krone die allge- 
meinen Rechte freier Engländer und keine partikularen Rech- 
te beschworen wurden. Die Stärke oppositioneller Bewegun- 
gen gegen monarchische Übergriffe ist wegen der damit gege- 
benen Möglichkeit einer breiten Identifikation vergrößert 
worden. 

Von der zentralisierend-vereinheitlichenden Prägekraft der 

englischen Monarchie – die auch in der Zeit ihrer vorüberge- 
henden Schwäche während der sog. Rosenkriege des 15. Jahr- 
hunderts nicht gänzlich ausgelöscht wurde – ging eine para- 
doxe Wirkung aus. Die frühe Stärke einer durch die lokale 
Selbstverwaltung abgestützten monarchischen Gewalt und die 
Selbstverständlichkeit gesamtstaatlichen Zusammenhalts ha- 
ben dazu beigetragen, daß in der Folgezeit die für andere 
Monarchien charakteristischen und sie stärkenden Erschei- 
nungen wie ein stehendes Heer und eine große Bürokratie in 
England lange Zeit nicht erforderlich waren und sich erst sehr 
spät herausbildeten. Das geringe Maß an staatlicher Durchor- 
ganisation im England der frühen Neuzeit war möglich, weil 
der englische Staat des Mittelalters vergleichsweise stark 
entwickelt gewesen war. In ähnlicher Weise läßt sich die ge-

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ringe Wirkung der Ideen von Thomas Hobbes in England 
erklären. Der Gedanke von der Notwendigkeit einer unbe- 
schränkten Herrschaft des Souveräns war dort weniger anzie- 
hend, weil die befriedende Kraft der traditionellen Verfas- 
sungsordnung in der Regel groß genug war. Absolutistische 
Lehren konnten in England weniger als Möglichkeiten eines 
Auswegs aus dem Bürgerkrieg, sondern eher als Ursachen 
einer Bürgerkriegssituation erscheinen.

18

 

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21

II. Die Ambivalenz der Tudorherrschaft 

 
 
Während der Herrschaft der Tudors (1485–1603) war die 
Politik der Monarchen vor allem darauf gerichtet, „over- 
mighty subjects“ zu entmachten und eher den niederen Adel 
zu bevorzugen. Der „Königsmechanismus“ (Elias) und die 
Patronage wurden eingesetzt, um möglichst viele Adlige des 
Landes direkt an den Hof zu binden. Die Monarchie verstand 
es überdies, den König zur alleinigen „Quelle von Ehre“ zu 
machen. Das galt auch in dem ganz konkreten Sinn, daß seit 
1530 sein heraldisches Amt allein dafür zuständig wurde, 
Adelswappen zu überprüfen und zu verleihen.

1

 Die Position 

des Monarchen wurde ferner durch die Ordnungspropaganda 
und den Gehorsamskult der Tudors gestärkt, die nicht müde 
wurden, auf die blutig-wirre Zeit der Rosenkriege zu verwei- 
sen und sich als Retter aus der Anarchie sowie als alleinige 
Garanten des inneren Friedens darzustellen. Diese Tendenz 
spiegelte sich während der spätelisabethanischen Zeit auch in 
einigen Dramen Shakespeares wider. 

(Bei der starken Betonung des Ordnungsgedankens und der 

Gehorsamspflicht gegenüber dem Monarchen handelte es sich 
freilich zugleich um eine ideologische Kompensation der phy- 
sischen Schwäche königlicher Gewalt, die dazu zwang, Stel- 
lung und Bedeutung des Monarchen um so mehr hervorzuhe- 
ben. Es gab, abgesehen von einigen Hundert Mann Leibgar- 
den und Festungsbesatzungen, kein stehendes Heer. Auch die 
von der Zentralgewalt besoldete und ihr hauptberuflich die- 
nende Beamtenschaft war zahlenmäßig gering. [Die Regie- 
rungsbürokratie umfaßte unter Elisabeth I. gegen Ende des 
16. Jahrhunderts 1200 Ämterinhaber. Davon verwaltete die 
eine Hälfte die Kronländereien, die andere Hälfte die übrigen 
Zweige der Administration. Damit kam ein königlicher Beam- 
ter auf etwa 3000 Einwohner, während in Frankreich ein be- 
zahlter Beamter auf ungefähr 400 Einwohner kam.

2

 Der Ver- 

gleich ist zwar etwas problematisch, weil in Frankreich wegen 
der dort verbreiteten und in England kaum praktizierten Äm-

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terkäuflichkeit viele dieser Ämter nur Sinekuren waren, die 
der Effektivität der Staatsgewalt nichts hinzufügten. Dennoch 
machen die Zahlen die Schwäche der zentralen Regierungsbü- 
rokratie in England deutlich. 

Die Verwaltung und die Gerichtsbarkeit beruhten im we- 

sentlichen auf den von der Krone zwar eingesetzten, von ihr 
aber nicht besoldeten, sondern ihr Amt unbezahlt ausübenden 
„Justices of the Peace“. Diesen aus dem Adel entnommenen 
Friedensrichtern wurden im Zusammenhang mit dem zuneh- 
menden wirtschaftlich-sozialen Iriterventiomsifrius der Krone 
in einer Zeit drastischer Bevölkerungsvermehrung mit den sie 
begleitenden Ordnungsproblemen immer mehr Aufgaben 
aufgebürdet: Sie waren schließlich für die Anwendung von 
mehr als 300 Gesetzen zuständig. Von der Instandhaltung der 
Brücken und Straßen über die Kontrolle der Armenfürsorge 
und des Lehrlingswesens bis zu Erteilung von Schanklizenzen 
hatten sie eine Fülle von Obliegenheiten wahrzunehmen. Daß 
sich die Zahl der Friedensrichter im 16. Jahrhundert verdrei- 
fachte, läßt sich jedoch nicht allein auf ihre wachsenden Auf- 
gaben zurückführen; denn nur etwa die Hälfte der 
„Commission of the Peace“ war wirklich aktiv. Mindestens 
ebenso wichtig waren das wachsende Prestige und die Anzie- 
hungskraft des Amtes auf den Adel. 

Die Monarchen nahmen Einfluß auf die „Commission of 

the Peace“ in den Grafschaften, indem sie Mitglieder des sich 
zu einer Art Regierung entwickelnden Privy Council sowie 
dem Hof nahestehende Männer in die „counties“ schickten 
und zu Friedensrichtern machten, um die Gesichtspunkte und 
Interessen der Zentralgewalt im örtlichen Bereich zur Geltung 
zu bringen. Sie entsandten auch spezielle Beauftragte mit be- 
sonderen Zuständigkeiten, unter denen die mit militärischen 
Vollmachten versehenen „lords lieutenant“ wegen der ständi- 
gen Kriegführung in den letzten zwei Jahrzehnten der Herr- 
schaft Elisabeths zu einer permanenten Einrichtung wurden 
und an die Spitze der Grafschaftsverwaltung traten. Aber 
obwohl die in dieses Amt berufenen Aristokraten aufgrund 
ihrer militärischen Funktion zahlreiche Befugnisse und Ein-

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23

griffsmöglichkeiten besaßen und in ihrer Person das Prestige 
der Krone symbolisierten, waren sie bei ihrer Tätigkeit doch 
letztlich auf die Kooperation der Friedensrichter angewiesen. 
^Die Grenzen der Zentralgewalt in England werden somit 
selbst unter den starken Monarchen der Tudorzeit deutlich. 
Einerseits bedurfte die Regierung bei der konkreten Verwirk- 
lichung ihrer Anordnungen stets der Mitwirkung der „Justices 
of the Peace“, die in all den Fällen schwer zu erreichen war, 
wo sie deren Interessen oder Ansichten zuwiderliefen. Ande- 
rerseits war auch die Freiheit der Krone bei der Auswahl der 
Friedensrichter stark eingeschränkt. Sie mußte dafür angese- 
hene und einflußreiche Adlige einer Grafschaft auswählen, 
denn nur solche verfügten über genügend Prestige, um ihren 
Entscheidungen Durchsetzungskraft zu verleihenS Einzelne 
unliebsame Adlige konnte die Regierung von der „Com- 
mission of the Peace“ ausschließen, aber letztlich folgte das 
Amt dem Status. Oft war die aus politischen Gründen vollzo- 
gene Absetzung eines Friedensrichters denn auch nur vor- 
übergehend.

3

 

In der Tudorzeit zeigt sich nicht nur am Friedensrichteramt, 

sondern mehr noch in bezug auf das Parlament der eigentüm- 
liche Sachverhalt,

1

 daß die Stärkung der Monarchie in England 

fast immer zugleich eine Stärkung von potentiellen Gegen- 
kräften und alternativen Einflußzentren bedeutete. Die Positi- 
on des Monarchen wurde durch die von Heinrich VIII. voll- 
zogene Loslösung von Rom gestärkt. Sie machte den Monar- 
chen zum Oberhaupt der Kirche. Der Monarchie gelang es 
überdies, sich etwas von deren Heiligkeit anzueignen. Nicht 
nur die Position, sondern auch die Aura des Königtums war 
in England nahezu cäsaropapistisch. Es war kein Zufall, daß 
sich dann sogar chiliastische Erwartungen an den Monarchen 
als den „godly ruler“ knüpften.

4

 Andererseits gewann aber 

durch die „Verstaatlichung“ der Kirche auch das Parlament 
an Bedeutung und Prestige. Eine Schlüsselrolle kam bei die- 
sem Bedeutungszuwachs dem sogenannten Reformationspar- 
lament zu, das 1529 gewählt, aber erst 1536 aufgelöst wurde 
und mit dem König die Trennung von Rom vollzog. Treffend

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24

bemerkt Ranke dazu in seiner „Englischen Geschichte“: „In 
den Tudorprinzipien und Neigungen Heinrichs VIII. lag es 
nicht, daß er das Parlament aufrief; allein für seine kirchliche 
Unternehmung war das unentbehrlich.“

5

 Die Veränderungen 

in der Kirche wurden auf der Grundlage von Gesetzen vorge- 
nommen, denen das Parlament seine Zustimmung gegeben 
hatte. Noch nie zuvor hatte ein englisches Parlament ein so 
riesiges Gesetzgebungsprogramm abgewickelt wie das Refor- 
mationsparlament, und bereits dadurch mußte das Gewicht 
dieser Institution sich vergrößern. Durch die Wichtigkeit der 
bewältigten Aufgabe und die lange Dauer von sieben Jahren, 
in der dieses Parlament (mit Unterbrechungen) tagte, wurde 
ein starkes Selbstbewußtsein und Gefühl der Kontinuität er- 
zeugt. 

Der Jurist Sir John Fortescue hatte bereits im 15. Jahrhun- 

dert die in England bestehende staatliche Ordnung als ein 
„dominium politicum et regale“ bezeichnet und von dem 
französischen System eines „dominium regale“ unterschieden. 
In Frankreich, so Fortescue, sei der König der alleinige Ge- 
setzgeber, in England dagegen könnten Gesetze nur mit Zu- 
stimmung des Parlaments gemacht oder aufgehoben werden. 
Heinrich VIII. hat die Charakterisierung der englischen Ver- 
fassungsordnung durch Fortescue mit seinem Entschluß zur 
Ehescheidung von seiner Frau Katharina von Aragon und 
dem daraus resultierenden Bruch mit Rom ungewollt bekräf- 
tigt. Ausgerechnet dieser „massive Titan von einem Souve- 
rän“ (Lacey Baldwin Smith), der es liebte, sich als starke, 
allein entscheidende Persönlichkeit darzustellen und der mit 
seinen brutalen Zügen den Begriff des Tudor-Despotismus zu 
rechtfertigen scheint, wurde durch die rücksichtslose Durch- 
setzung einer ganz persönlichen Entscheidung zum Förderer 
des Parlaments. 

Hinzu kam, daß nicht nur das Reformationsparlament, 

sondern auch ihm folgende Parlamente an den Veränderungen 
im Bereich der Religion beteiligt waren. Die religiöse Neu- 
ordnung nach der Thronbesteigung Elisabeths I. (1558) er- 
folgte sogar noch eindeutiger auf einer parlamentarischen

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25

Grundlage, als das unter ihrem Vater der Fall gewesen war. 
Sie stellte darüber hinaus eine Entscheidung in Religionsange- 
legenheiten auf rein säkularer Basis dar. Der „Act of Uni- 
formity“ und der „Act of Supremacy“ fanden unter den Bi- 
schöfen im Oberhaus nicht einen einzigen Befürworter. Im 
Unterschied zu den 1530er Jahren, als viele Bischöfe Heinrich 
VIII. in der Religionsfrage unterstützt hatten, wurde die elisa- 
bethanische Kirchenordnung allein von Laien beschlossen. 
Die Kirchenversammlung („convocation“) protestierte sogar 
ausdrücklich gegen sie. Dieser Tatsache kam für die Frage der 
Zuständigkeit des Parlaments große Bedeutung zu. Sir Tho- 
mas Smith führte in seiner Schrift „De Republica Anglorum“ 
um diese Zeit unter den parlamentarischen Kompetenzen 
denn auch ausdrücklich auf, es lege „Formen der Religion 
fest“.

6

 

Daß der durch die Reformation und die Aufhebung der 

Klöster dem Monarchen zufallende ökonomisch-finanzielle 
Gewinn jedoch nicht das Angewiesensein auf Parlamente 
reduzierte, dafür sorgte die Kriegführung Heinrichs VIII. in 
den 1540er Jahren. Ende 1545 war er nahezu bankrott. Bis zu 
seinem Tod waren zwei Drittel des eingezogenen Klosterbesit- 
zes verkauft, wodurch der Adel gegenüber der Monarchie 
ökonomisch gestärkt wurde. Wegen der Preisinflation, der 
mangelnden Flexibilität der Kroneinnahmen bei der Anpas- 
sung an die steigenden Preise und der überproportional ge- 
stiegenen Kriegskosten wurde der Druck auf die Monarchen 
zur Einberufung von Parlamenten eher größer als geringer. 

Obwohl Elisabeth Parlamente nicht schätzte und in ihrer 

fünf undvierzigj ährigen Regierungszeit nur dreizehn einberief 
(in den drei Jahrzehnten vor ihrem Regierungsantritt war das 
Parlament achtundzwanzigmal einberufen worden), konnte 
sie doch aus finanziellen Gründen nicht auf sie verzichten. 
Mit einer Ausnahme bat sie sämtliche von ihr einberufenen 
Parlamente um Steuerbewilligungen. Außerdem ist es ausge- 
rechnet der Einfluß ihrer eigenen Minister gewesen, welcher 
der Institution Parlament zugutekam. Es war die Praktik ihrer 
engsten Berater, die in entscheidenden Fragen oft schwanken-

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26

de oder störrische Königin mit Hilfe eines Parlaments unter 
Druck zu setzen. So zögerte z. B. Elisabeth, einer Hinrichtung 
der sich in ihrem Gewahrsam befindenden Maria Stuart zuzu- 
stimmen, da sie von einem starken Gefühl monarchischer 
Solidarität durchdrungen war. Das bewog ihre Ratgeber, sich 
1586 des Parlaments zu bedienen. Es bedurfte jedoch noch 
einer Verschwörung, an der die schottische Königin tatsäch- 
lich oder angeblich beteiligt war, um die Hinrichtung Maria 
Stuarts am 8. Februar 1587 zu erreichen.

7

 

Selbst wenn die Aussichten für ein Fortbestehen der Insti- 

tution Parlament am Ende des 16. Jahrhunderts nicht ganz 
eindeutig waren, besaß sie doch in einer Zeit, in der anderswo 
Repräsentativversammlungen verkümmerten oder beseitigt 
wurden, in England gute Überlebenschancen. Das Parlament 
hatte aufgrund intensiver und maßgeblicher gesetzgeberischer 
Tätigkeit nicht nur eine festere Stellung erlangt, sondern war 
auch noch stärker mit der englischen Identität verknüpft als 
im Mittelalter. Vor allem aber war im Zusammenhang mit 
der religiösen Neuordnung das Konzept des „King-in- 
Parliament“ entstanden – die „parlamentarische Trinität“ 
(Elton) von König, Oberhaus und Unterhaus, bei der die sou- 
veräne Gewalt des Landes lag. Die Tatsache, daß im 16. 
Jahrhundert parlamentarische „statutes“ eine den königlichen 
Proklamationen eindeutig überlegene Qualität erhielten, 
sprach ebenfalls für seine Unentbehrlichkeit. Sogar Heinrich 
VIII. erklärte 1542, daß er in seinem Königtum niemals höher 
stehe, als wenn er im Parlament mit den Lords und Commons 
zu einem „body politic“ verbunden sei.

8

 

Selbst wenn man jedoch Oberhaus und Unterhaus – wie 

maßgebliche Zeitgenossen es taten – neben dem Monarchen 
als integrale Bestandteile der souveränen Gewalt betrachtete,

blieb immer noch die Frage der Machtverteilung zwischen 
Krone und Parlament ungeklärt. Die Vorstellung von der 
Souveränität des „King-in-Parliament“ ließ offen, wie die 
Kooperation und Harmonie zwischen den in diesem Begriff 
zusammengefaßten Organen dauerhaft gewährleistet werden 
konnte und wo im Konfliktfall das Übergewicht lag. Diese

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Fragen stellten sich angesichts des Grundkonsenses zwischen 
der Königin und den Führungsschichten des Landes und an- 
gesichts des Prestiges der Monarchin, das mit dem Sieg über 
die spanische Armada (1588) seinen Höhepunkt erreichte, 
nicht in akuter Schärfe. Sie deuteten sich jedoch bereits in der 
Spätzeit ihrer Herrschaft an, und die nächsten zwei Jahrhun- 
derte englischer Geschichte wurden von ihnen beherrscht. 

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III. Das revolutionäre Jahrhundert 

 
 
Der elisabethanische Fundamentalkonsens löste sich in der 
Zeit ihrer beiden Stuartnachfolger auf. Unter Jakob I. lag die 
Ursache dafür in hochfahrenden Erklärungen des Königs über 
die Prärogativrechte des Monarchen und einer mit der Spar- 
samkeit Elisabeths kontrastierenden verschwenderischen Aus- 
gabenpolitik, die zum Teil allerdings durch die besonderen 
Bedürfnisse des aus Schottland kommenden Königs nach Ein- 
flußnahme auf den englischen Adel bedingt war. Unter Karl I. 
hatte die Entfremdung zwischen dem Monarchen und den 
Führungsschichten ihren Grund vor allem in einer als krypto- 
katholisch verdächtigten hochkirchlichen Religionspolitik im 
Innern und einer beim Kampf zwischen Katholizismus und 
Protestantismus abseits stehenden Neutralitätspolitik im 
Dreißigjährigen Krieg. Der sich primär an der Frage der Reli- 
gion entzündende Konflikt zwischen dem König und den 
Führungsschichten des Landes führte Karl I. 1629 zu dem 
Entschluß, künftig ohne Parlament zu regieren. Das persönli- 
che Regiment des Monarchen, der zum Ausgleich für die 
entfallenden parlamentarischen Geldbewilligungen zu recht- 
lich fragwürdigen Formen der Besteuerung überging, schien 
auch für England die Phase des Absolutismus einzuleiten. Ein 
1639 ausbrechender Krieg gegen die Schotten, die sich gegen 
ein ihnen aufgezwungenes Gebetsbuch zur Wehr setzten, 
nötigte jedoch den Monarchen, aus finanziellen Gründen 
1640 zweimal Parlamente einzuberufen. Von ihnen ist das 
zweite als sog. „Langes Parlament“ in die englische Geschich- 
te eingegangen. Seine Mehrheit sah sich nach einem Aufstand 
der katholischen Iren im Herbst 1641 veranlaßt, über die 
Sicherung der Eigentumsrechte und der Institution Parlament 
hinauszugehen und aus Mißtrauen gegen die Person Karls I. 
in die unbestrittenen Prärogativrechte des Monarchen einzu- 
greifen, indem man ihm den Oberbefehl über das gegen die 
Iren ins Feld zu führende Heer verweigerte. Dieser „Sicher- 
heitsradikalismus“ führte viele gemäßigte Abgeordnete in das

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29

Lager des Königs, der damit eine eigene „Partei“ erhielt. Bei- 
de Seiten formierten sich für den Bürgerkrieg, der 1642 aus- 
brach. Die Parlamentspartei hatte dabei als legitimatorische 
Basis die bereits im Mittelalter entstandenen Vorstellungen 
von den Rechten freier Engländer und vom Parlament als der 
Repräsentation der Gesamtheit. Was ihrem Handeln entge- 
genstand – der Gedanke der Unantastbarkeit, ja Heiligkeit des 
Monarchen –, wurde einerseits durch eine sehr künstliche 
Unterscheidung zwischen der Person und dem Amt des Kö- 
nigs und andererseits durch eine starke religiöse Schubkraft 
überwunden. Viele der entschlossensten Oppositionellen wa- 
ren überzeugte Puritaner. Sie sahen den Kampf gegen den 
Monarchen in einem religiösen Kontext und argumentierten, 
daß man Gott mehr gehorchen müsse als den Menschen. Die 
Berufung auf den Vorrang und die Souveränität Gottes spielte 
auch bei der nach den Bürgerkriegen erfolgenden Hinrichtung 
des Königs am 30. Januar 1649 eine Rolle. Die offizielle Be- 
gründung des von einem Sondergericht zum Tode verurteilten 
Monarchen war allerdings rein juristisch und säkular. Sie 
lautete, daß er gegen sein eigenes Volk Krieg geführt und den 
Tod von Menschen verschuldet habe. Die öffentliche Anklage, 
die Hinrichtung des Königs und ihre Rechtfertigung waren 
sowohl für die Nationalgeschichte als auch für die Weltge- 
schichte von wesentlicher Bedeutung. Sie vor allem legitimie- 
ren es, in bezug auf diese Jahre von einer Englischen Revolu- 
tion zu sprechen. 

Obwohl nach dem Zwischenspiel einer Republik und einer 

Protektoratsherrschaft unter dem parlamentarischen Heerfüh- 
rer Oliver Cromwell (und seinem Sohn Richard) 1660 mit der 
Rückberufung des ältesten Sohnes Karls I. die Monarchie 
wiederhergestellt wurde, ist doch ihr selbstverständlicher 
Herrschaftsanspruch durch die Revolution erschüttert wor- 
den. „Dem Selbstgefühl jeder Nation“, hat Max Weber kon- 
statiert,  „ist  es  . . .   zugute  gekommen,  wenn  sie  einmal  ihren 
legitimen Gewalten abgesagt hatte, selbst wenn sie, wie in 
England, sie später von Volkes Gnaden zurückrief.“

1

 Die 

Monarchie offenbarte ihre Verwundbarkeit und verlor etwas

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30

von ihrem Nimbus. Ihre Wiederherstellung war überwiegend 
pragmatisch-opportunistisch motiviert. Das läßt sich schon an 
der Tatsache erkennen, daß die Royalisten den geringsten 
Anteil daran hatten. Die Revolution hatte auch dazu beigetra- 
gen, ein von der Person des Königs abgelöstes Verständnis des 
Staates und des Rechtes hervorzubringen. In England unter- 
schied man frühzeitig, spätestens aber seit der Magna Carta, 
zwischen dem König und dem Königreich.

2

 Diese Unterschei- 

dung ist durch die Revolutionszeit, als es einige Jahre keinen 
Monarchen gab und dennoch vielfach der Begriff „Kingdom“ 
als Bezeichnung für das Territorium der Republik beibehalten 
wurde, noch verstärkt worden. Das Königreich hatte sich 
gleichsam vom König emanzipiert. 

Auf der anderen Seite deuteten die Erfahrungen der Zeit des 

Interregnums und die vergebliche Suche nach einem „sett- 
lement“ darauf hin, daß ein Monarch zur Erhaltung von Sta- 
bilität, Rechtssicherheit und traditioneller Herrschaftsstruktur 
offenbar unentbehrlich war. Die Folgewirkungen der Engli- 
schen Revolution waren somit zutiefst widersprüchlich: Einer- 
seits war der Bann des Traditionalismus durch sie gebrochen 
worden; andererseits hatte sie jedoch den Vorzug oder sogar 
die Unverzichtbarkeit traditioneller Institutionen, Verhal- 
tensweisen und Glaubensinhalte als Ordnungsfaktoren de- 
monstriert. Die Abneigung der englischen Elite gegen Thomas 
Hobbes ging, wie Hans-Dieter Metzger gezeigt hat, nicht 
zuletzt darauf zurück, daß er auf sie verzichten zu können 
glaubte und die Stellung des Souveräns allein aus dem Eigen- 
interesse der Menschen herleitete.

3

 

Es bedurfte des direkten Angriffs auf die etablierte angli- 

kanische Kirche von Seiten Jakobs II., des Bruders und Nach- 
folgers Karls II., um eine neuerliche umfassende Entfremdung 
zwischen dem Monarchen und den Führungsschichten des 
Landes herbeizuführen. Der katholische König wollte die 
Gleichberechtigung seiner Religion in England erzwingen und 
griff dabei sogar in revolutionärer Weise in die hierarchische 
Rangordnung der Grafschaften ein, indem er Katholiken und 
Nonkonformisten von geringem gesellschaftlichen Status zu

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31

Friedensrichtern ernannte. Er fand bei der Elite entsprechend 
wenig Unterstützung, als sein Schwiegersohn und Neffe Wil- 
helm von Oranien, der Statthalter und Generalkapitän der 
Niederlande, primär aus außenpolitischen Gründen am 5. 
November 1688 in England landete. Wilhelm wollte sicher- 
stellen, daß die Engländer nicht als Bündnispartner an die 
Seite Frankreichs traten. Aus dieser holländischen Interventi- 
on entwickelte sich jedoch wegen der Kopflosigkeit Jakobs, 
der nach Frankreich floh, ein dynastischer Wechsel. Wilhelm 
und seine Frau Maria, die Tochter des geflohenen Königs, 
wurden gemeinsam die neuen Monarchen Englands. Die von 
einem „Convention Parliament“ ausgearbeitete „Declaration 
of Rights“, die Wilhelm und Maria vor ihrer Krönung am 13. 
Februar 1689 verlesen wurde und deren Beachtung sie nach 
der Krönung zusicherten, berücksichtigte einige der mit den 
bisherigen Stuartmonarchen gemachten Erfahrungen und 
versuchte, ihrer Wiederholung vorzubeugen. Sie konstatierte 
die Unrechtmäßigkeit vom Parlament nicht bewilligter Steu- 
ern. Außerdem wurden in sie das Verbot exzessiver Strafen 
oder Kautionen, das Petitionsrecht sowie das Recht der prote- 
stantischen Untertanen auf Waffenbesitz hineingeschrieben. 
Die Declaration of Rights legte ferner „freie“ Parlamentswah- 
len sowie das Recht der Abgeordneten auf Redefreiheit fest, 
verbot den Monarchen die Suspendierung von Gesetzen und 
untersagte ihnen den Unterhalt eines stehenden Heeres in 
Friedenszeiten ohne Zustimmung des Parlaments.

4

 Damit 

wurde der bis dahin ungewisse Status der Armee geklärt, die 
an das Parlament gebunden wurde. 

Die Declaration of Rights, ein Triennial Act von 1694, der 

Parlamentswahlen im Abstand von drei Jahren vorschrieb, 
und die in der Folgezeit fast ununterbrochene Kriegführung 
gegen Frankreich und Jakob II. machten das Parlament end- 
gültig zu einem integralen Bestandteil des politischen Systems 
in England. Seit 1688, so hat man zu Recht gesagt, bewachte 
das Unterhaus nicht nur die Regierung, sondern es wurde 
selbst zu einem Teil der Regierung.

5

  Die englische Entwick- 

lung verlief darin, nachdem sich in den 1630er Jahren, später

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32

wieder gegen Ende der Regierungszeit Karls II. und unter 
Jakob II. in den 1680er Jahren eine Annäherung an das kon- 
tinentale Muster abzuzeichnen schien, definitiv entgegenge- 
setzt zu der auf dem europäischen Kontinent, wo z. B. in den 
deutschen Territorien seit der Wende vom 17. zum 18. Jahr- 
hundert die Landtage nicht mehr einberufen wurden. 

Wenn man den durch eine holländische Invasion unter ge- 

ringer Teilnahme der Engländer herbeigeführten dynastischen 
Wechsel von 1688/89 als Glorious Revolution bezeichnet, so 
ist die Verwendung des Revolutionsbegriffs allenfalls dadurch 
gerechtfertigt, daß die monarchische Herrschaft ihren Cha- 
rakter veränderte. Sie wurde mehr als zuvor durch Parla- 
mentsgesetze eingehegt und war faktisch bereits in hohem 
Maße parlamentarisch legitimiert. Dieser Charakter verstärk- 
te sich noch durch den Act of Settlement von 1701. Dieses 
Gesetz war vom Parlament verabschiedet worden, nachdem 
das letzte Kind der Königin Anna (einer Schwester Marias) 
verstorben und eine Thronfolge in direkter Linie deshalb nicht 
mehr möglich war. Es regelte die Erbfolge unter Umgehung 
aller katholischen Thronanwärter derart, daß nach dem Tode 
von Königin Anna die Krone auf die Kurfüstin von Hannover 
und deren Erben übergehen sollte. 

Diese parlamentarische Festlegung der Thronfolge blieb 

nicht ohne Einfluß auf die Prärogative und die sakrosankte 
Aura der Monarchie, die weiter in Mitleidenschaft gezogen 
wurden. In den Act of Settlement sind einige Bestimmungen 
hineingeschrieben worden, welche die Kompetenzen künftiger 
Monarchen einschränkten. Sie wurden schon durch die offi- 
zielle Bezeichnung „Gesetz zur weiteren Beschränkung der 
Krone und zur besseren Sicherung der Rechte und Freiheiten 
der Untertanen“ signalisiert, die wohl kaum in einem anderen 
monarchischen Staat des damaligen Europa möglich gewesen 
wäre.

6

 Zu diesen Bestimmungen gehörte, daß fortab Richter 

ihr Amt nur verlieren konnten, wenn sie sich etwas zuschul- 
den kommen ließen. Sie durften nicht mehr nach Gutdünken 
des Monarchen entlassen werden. 

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33

IV. Die parlamentarische Monarchie 

 
 
Mit der Thronbesteigung Georgs I. im Jahre 1715 auf der 
Grundlage des Act of Settlement war England vollends, und 
zwar in einem doppelten Sinne, parlamentarische Monarchie 
geworden. Die Herrschaft der hannoverschen Dynastie in 
England beruhte, wenngleich der Erbfolgeanspruch von ihr 
stark herausgestrichen wurde, eindeutig auf parlamentarischer 
Grundlage; und das Parlament war unentbehrlicher Bestand- 
teil des politischen Systems. Dennoch blieben zwei Fragen 
offen: die nach dem persönlichen Anteil des Monarchen an 
der Regierung und die nach den Formen der Kooperation 
zwischen Regierung und Parlament. 

Die erste Frage stellte unter Georg I. und Georg II. kaum 

ein Problem dar, da diese beiden Monarchen, auf dem engli- 
schen Thron noch unsicher und von den durch Frankreich 
unterstützten Prätendenten der Stuartdynastie bedroht, mehr 
darauf bedacht waren, ihre Position zu behaupten, als eine 
aktive politische Rolle zu spielen. Die zweite Schwierigkeit 
erfuhr eine politische Lösung durch Robert Walpole, der von 
1721 bis 1742 faktisch die Stellung eines Premierministers 
einnahm. Walpole gelang es, das politische System zu stabili- 
sieren und eine Verklammerung zwischen Regierung und 
Parlament herzustellen.

1

 

Die Stabilisierung erfolgte mit Hilfe einer Ächtung der 

Torypartei, die seit ihrer Entstehung Ende der 1670er Jahre 
den Gedanken der strikten Erbfolge vertreten, den Thron- 
wechsel von 1689 und erst recht dann den Wechsel zur 
hannoverschen Dynastie innerlich nur widerstrebend oder 
gar nicht gebilligt hatte. Die von Walpole noch bewußt über- 
triebene Neigung der Tories zum Stuartprätendenten diente 
nach 1715 dazu, sie von der Macht fernzuhalten. England 
war zu Walpoles Zeiten, wie man etwas zugespitzt gesagt 
hat, ein „Einparteienstaat“ (Plumb). Allerdings waren die 
Whigs, die sich auf den Boden der 1688/89 geschaffenen 
Verfassungsordnung und der hannoverschen Dynastie stellten

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34

und deshalb die „natürliche“ Regierungspartei waren, in sich 
nicht geschlossen. 

Die Verbindung zwischen Regierung und Parlament stellte 

Walpole her, indem er nicht nur die Wahlen in den von der 
Regierung kontrollierten Wahlkreisen unmittelbar beeinflußte 
und für die Wahl regierungstreuer Kandidaten sorgte, sondern 
darüber hinaus auch einen großen Teil der übrigen Abgeord- 
neten interessenmäßig an die Exekutive band. Das wurde 
1716 mit der Verlängerung der Legislaturperioden von drei 
auf sieben Jahre erleichtert, wodurch Wahlen sehr viel selte- 
ner wurden als in den vorangegangenen zwei Jahrzehnten. 
Walpole nutzte alles, was die Krone an Ämtern, Würden, 
Kontrakten und Pensionen zu vergeben hatte, um die Legisla- 
tive zu beeinflussen und zu lenken. Er kontrollierte persönlich 
die königliche Patronage, der er viel Zeit und große Aufmerk- 
samkeit widmete und die er rücksichtloser sowie methodi- 
scher einsetzte, als seine Vorgänger es getan hatten. Auch die 
Ernennung der Bischöfe, die im Oberhaus saßen und deswe- 
gen für die Regierung wichtig waren, wurde völlig den politi- 
schen Interessen untergeordnet. Walpole akkumulierte Ab- 
hängigkeiten und Verpflichtungen, so daß er schließlich von 
sich sagen konnte, „von ihm hingen mehr Leute ab als jemals 
zuvor von einem einzigen Menschen“.

2

 Die Beeinflussung des 

Parlaments wurde so systematisch betrieben, daß um die Mit- 
te des 18. Jahrhunderts 40 Prozent der Unterhausabgeordne- 
ten in das Netz der Regierungspatronage einbezogen waren. 
Faktisch bedeutete das, weil gerade die von der Regierung 
unabhängigen Grafschaftsabgeordneten bei den Parlaments- 
sitzungen oft abwesend waren, eine Mehrheit der regelmäßig 
anwesenden Mitglieder des Unterhauses.

3

 Die Stärke des Sy- 

stems des „influence“ und der Regierungspatronage bestand 
darin, daß es sich nahtlos mit einer die gesamte Gesellschaft 
durchdringenden privaten Patronage verband. Es fügte sich in 
die eher vertikal als horizontal gegliederte Gesellschaftsstruk- 
tur mit ihren Abhängigkeits- und Verpflichtungsketten ein. 

Das System Walpoles, das gelegentlich allzu simpel als blo- 

ßer Kauf der Parlamentsmehrheit beschrieben worden ist, war

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35

in Wirklichkeit sehr viel komplizierter und subtiler. Walpole 
war sowohl gegenüber den Monarchen als auch gegenüber 
den Parlamentariern politisch ungemein geschickt. Er nahm 
das Parlament ernst und hat die Abgeordneten niemals ein- 
fach kommandieren können. Seine Macht fand zudem, wie 
sich etwa beim Scheitern einer Akzisevorlage im Jahre 1733 
zeigte, ihre Grenzen am entschieden geäußerten Widerspruch 
der Öffentlichkeit und an dem, was die Engländer für ihre 
ererbten Freiheiten ansahen. 

Daß die Funktionsfähigkeit von Walpoles System außerdem 

an bestimmte Bedingungen geknüpft war und die Unsicherheit 
der hannoverschen Dynastie zur Voraussetzung hatte, erwies 
sich nach der Jahrhundertmitte. Nachdem 1745 der letzte 
große, Panik verbreitende Versuch einer Restauration der 
Stuartdynastie gescheitert war, konnte Georg III. 1760 als in 
seiner Legitimität kaum angefochtener Monarch den Thron 
besteigen. Er war nicht mehr primär mit dem Überleben des 
Hauses Hannover befaßt, sondern wollte die Monarchie wie- 
der wie in den Zeiten der Stuarts zu einem aktiven Faktor in 
der Politik machen. Das Problem der persönlichen Herrschaft 
des Königs geriet vor allem infolge höchst eigenwilliger Mini- 
sterernennungen und eines ohne Erfolgsaussichten hartnäckig 
fortgesetzten Krieges in Amerika in England wieder auf die 
Tagesordnung und machte in den Augen der nunmehr in die 
Opposition gedrängten Whigs die Regierungspatronage zu 
einem gefährlichen Instrument des drohenden königlichen 
Despotismus. 1782 vorübergehend unter Rockingham wieder 
an die Macht gelangt, führten sie unter der Federführung von 
Edmund Burke „ökonomische Reformen“ durch, die zahlrei- 
che, für die Beeinflussung durch „Korruption“ benutzbare 
Ämter abschaffte. Eine Verwaltungsreform unter William Pitt 
setzte kurz darauf dieses Werk fort und schmälerte die mate- 
rielle Grundlage für die von Walpole angewandte Strategie.

Als Ausgleich wirkte zunächst der integrierende Druck des 
1793 begonnenen Krieges gegen Frankreich, der mit dem 
Eintreten des größeren Teils der Whigs unter Portland in die 
Regierung im Jahre 1794 dieser eine so breite Basis verschaff-

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te, wie sie seit langem nicht mehr bestanden hatte. Auf länge- 
re Sicht gewährleistete dann die Schaffung eines modernen 
Pärteiensystems die Kooperation zwischen Regierung und 
Parlament. Die Parteien und die Fraktionsdisziplin schufen die 
Verklammerung, die unter Walpole die Patronage hergestellt 
hatte. 

Das Problem der persönlichen Rolle des Monarchen zeigte 

sich noch 1801 an dem Widerstand Georgs III. gegen den 
Versuch, die Union mit Irland durch die Gewährung politi- 
scher Rechte an Katholiken abzustützen. Der König verhin- 
derte nicht nur die Katholikenemanzipation und zwang damit 
Pitt zum Rücktritt, sondern er nahm ihm sogar das Verspre- 
chen ab, auch in Zukunft dieses Problem nicht wieder anzu- 
schneiden. Die persönliche Rolle des Königs in der Politik 
hätte sogar zu einem besonders gravierenden Problem werden 
können, weil Georg III. sich seit den 80er Jahren einer zu- 
nehmenden Popularität erfreute und ein von der englischen 
Regierung gegen das revolutionäre Frankreich und Napoleon 
systematisch geförderter monarchischer Nationalismus den 
König als Loyalitätsfokus in den Mittelpunkt rückte.

5

 Die 

Gefahren, die darin angesichts des Rollenverständnisses und 
der politischen Versiertheit Georgs III. lagen, schwanden 
jedoch durch seine geistige Erkrankung. Der König, der schon 
vorher mehrmals erkrankt war, wurde von 1810 bis zu sei- 
nem Tode im Jahre 1820 permanent regierungsunfähig. Die 
Despotismusfurcht, die das England des 17. und 18. Jahrhun- 
derts beherrscht hatte – wobei man entweder die Gefahr einer 
direkten königlichen Despotie oder die eines ministeriellen 
Despotismus auf der Grundlage von Regierungspatronage 
drohen sah –, trat im 19. Jahrhundert angesichts des Macht- 
schwunds der Monarchie in den Hintergrund. 

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37

V. Adel, Bürgertum und Unterschichten 

 
 
Verfassungsgeschichtlich betrachtet war England seit dem 
ausgehenden 17. Jahrhundert eine parlamentarische Monar- 
chie. Sozialgeschichtlich gesehen bestand jedoch bis weit ins 
19. Jahrhundert hinein faktisch eine auf nahezu monopolarti- 
gem Grundbesitz beruhende Adelsherrschaft, die durch eine 
stark eingeschränkte, punktuelle politische Partizipation der 
übrigen Bevölkerung legitimiert und modifiziert wurde. Das 
Parlament setzte sich fast ausschließlich aus Adligen zusam- 
men. Der Adel, der beide Häuser des Parlaments besetzte, 
machte – wie Ranke in seinem „Politischen Gespräch“ einen 
der beiden Dialogpartner sagen läßt – „im Grunde den Staat“ 
aus.

1

 Im Oberhaus saß die „aristocracy“. Im Unterhaus saßen 

Angehörige der „gentry“. Ihre Wahl war im lokalen Kontext 
zumeist ein Ritual, in dem sich die führenden ansässigen 
Adelsfamilien ihren gesellschaftlichen Vorrang und ihr Anse- 
hen bestätigen ließen. Dabei erhielt auch das Unterhaus in der 
ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts zunehmend den Charakter 
eines erblichen Repräsentationsorgans. 1715 gab es von den 
558 Abgeordneten 234, deren Väter bereits im House of 
Commons gesessen hatten; 1754 war die Zahl auf 294 ange- 
stiegen.

2

 Manche Unterhaussitze waren auf lange Zeit im 

erblichen Besitz einer Familie. Der Eindruck oligarchischer 
Herrschaft entstand vor allem dann, wenn Adelsfamilien sich 
untereinander arrangierten, auf Gegenkandidaten verzichtet 
wurde und der Wahlakt nur noch eine Akklamation darstell- 
te. Besonders in den Grafschaften luden die dort sehr hohen 
Kosten eines Wahlkampfes zu einer Verständigung zwischen 
rivalisierenden Familien oder Gruppen förmlich ein. 

Innerhalb der Adelsherrschaft spielte die „aristocracy“ im 

18. Jahrhundert eine herausragende Rolle. Sie trug zum Funk- 
tionieren des politischen Systems wesentlich bei. Die Hochari- 
stokraten waren eine Art von intermediärer Gewalt, „power 
brokers“ zwischen der Regierung und den lokal verwurzelten, 
aber oft auch bornierten Angehörigen des niederen Adels. Als

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38

Wahlkreispatrone, die den Wahlausgang in vielen „boroughs“ 
bestimmten, verhalfen sie dazu, der Regierung eine Mehrheit 
zu verschaffen. So gebot etwa der Duke of Newcastle in den 
1720er Jahren über 16 Unterhaussitze, die er ihr zur Verfü- 
gung stellen konnte.

3

 Man schätzt, daß 1715 ein Fünftel der 

Unterhaussitze von Peers kontrolliert wurde. Bis zum Jahre 
1785 verdoppelte sich dieser Anteil.

4

 Insgesamt wird man von 

einer Bündelung und Kanalisierung von „influence“ durch die 
Hocharistokratie sprechen können. 

Wenn man berücksichtigt, daß die „aristocracy“ in den 

beiden vorausgehenden Jahrhunderten einen relativen Bedeu- 
tungsverlust gegenüber der „gentry“ hatte hinnehmen müssen 
und während der Englischen Revolution das House of Lords 
sogar vorübergehend abgeschafft worden war, sind der Wie- 
deraufstieg und die beispiellose Machtkonzentration dieser 
kleinen Gruppe wahrhaft erstaunlich. Es gab während des 
ganzen 18. Jahrhunderts insgesamt wenig mehr als tausend 
Peers, die von 84 Familien gestellt wurden.

5

 Es gelang ihnen, 

fast alle hohen, einträglichen Ämter und Posten zu besetzen – 
selbst in der Kirche, wo der Anteil von Bischöfen nichtaristo- 
kratischer Herkunft zwischen dem frühen 17. Jahrhundert 
und der Zeit Georgs III. von 25 Prozent auf 4 Prozent sank. 
Man hat im Hinblick auf die zumeist sehr lukrativen und oft 
überflüssigen oder wenig arbeitsintensiven Ämter, die von 
Aristokraten monopolisiert wurden, geradezu von einem 
„Magnatenparasitismus“ gesprochen.

6

 Die Einnahmen aus 

diesen Ämtern trugen dazu bei, daß die Hocharistokratie sich 
stärker sozial abschotten konnte als zuvor und die Zahl der 
Eheschließungen mit reichen Erbinnen aus anderen Schichten 
zurückging. In seinen „Thoughts on French Affairs“ vom 
Dezember 1791 konstatierte Edmund Burke, daß die engli- 
schen Aristokratie noch nie so exklusiv gewesen sei und so 
wenige Peers aus dem Handelsbürgertum gekommen seien 
wie um diese Zeit.

7

 

Man sollte jedoch die Stellung der Hocharistokratie nicht 

zu isoliert betrachten. Gerade im Vergleich mit dem euro- 
päischen Kontinent und den dort üblichen starken Abstufun-

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39

gen innerhalb des Adels ist es nicht die Gespaltenheit, sondern 
eher die relative Geschlossenheit der englischen Führungs- 
schichten und ihrer Adelskultur, die ins Auge fällt und 
charakteristisch erscheint. Dabei wurde die Homogenisierung 
von „aristocracy“ und „gentry“ auf der Grundlage des 
Prinzips der Gleichheit aller Gentlemen durch die bessere 
Bildung der Landedelleute ermöglicht. Zwar gab es im nie- 
deren Adel auch gegen Ende des 18. und zu Beginn des 
19. Jahrhunderts eine groteske Unbildung. Gegenüber dem 
frühen 18. Jahrhundert waren in der Bildung der „gentry“ 
jedoch erhebliche Fortschritte gemacht worden. Sie erleich- 
terten es den adligen Führungsschichten Englands, sich primär 
kulturell zu definieren und von den übrigen Schichten ab- 
zusetzen.

8

 

Daß die dominierende Stellung des englischen Adels ange- 

sichts seiner geringen physischen Machtmittel überwiegend 
auf eine kulturelle Hegemonie zurückzuführen ist, darin sind 
sich so unterschiedliche Historiker wie E. P. Thompson und 
J. C .D. Clark einig. Dieser „hegemoniale Stil“ zeichnete sich 
nach Thompson durch ein einschüchterndes Imponiergehabe 
und theatralisches Auftreten aus, die vor allem die Gerichtsta- 
ge charakterisierten. Er zeigte sich aber auch in der Architek- 
tur und in der Landschaftsgestaltung. 

Der Adel stellte seine beherrschende Position in Gesell- 

schaft und Politik architektonisch dar und versuchte, sie der 
Natur als Stempel aufzudrücken. Durch Landschaftsgestal- 
tung, der manchmal ganze Dörfer zum Opfer fielen, wurde 
für Bewohner und Besucher von Country Houses geschickt 
der Eindruck eines grenzenlosen Besitztums geweckt. Das 
„Big House“ entrückte man den Behausungen gewöhnlicher 
Sterblicher; es wurde imposant und dominant gemacht. Seine 
zentrale Bedeutung sollte durch die von ihm in verschiedene 
Richtungen ausgehenden Alleen versinnbildlicht werden. 
Wordsworth hat die adlige Umgestaltung der natürlichen 
Umwelt in dem treffenden Bild wiedergegeben, das ganze 
Land werde in eine Adelslivree gezwängt.

9

 Der Adel mit sei- 

ner Macht wurde gleichsam in die Natur eingelassen; seine

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40

Herrschaft sollte dadurch natürlich und selbstverständlich 
erscheinen. 

Eine der wichtigsten Grundlagen der Adelsmacht in Eng- 

land bestand in der Beteiligung an der lokalen Selbstverwal- 
tung. Sie ermöglichte das Geltendmachen von Hegemonie, die 
Ausübung von Paternalismus und den Nachweis funktioneller 
Notwendigkeit. „Selfgovernment durch Honoratioren (‚Gent- 
lemen’)“ war nach der treffenden Beobachtung von Max 
Weber bis zum letzten Viertel des 19. Jahrhunderts die Signa- 
tur des englischen Staates.

10

 Zwar ging das Engagement der 

adligen Führungsschichten in der Selbstverwaltung der Graf- 
schaften vorübergehend zurück. Es erreichte offenbar in den 
1730er Jahren seinen Tiefpunkt. Grundherren ließen sich 
gern zu dem ehrenvollen Amt eines Friedensrichters ernennen, 
übten es aber vielfach nicht aus und überließen die Arbeit 
den Pfarrern, die immer häufiger als „Justices of the Peace“ 
fungierten. Seit den 1770er und 1780er Jahren nahm man 
aber seine Pflichten wieder ernster.

11

 Grundsätzlich – und 

das ist entscheidend – behielt der englische Adel seine poli- 
tisch-administrativen Aufgaben. Er ließ sich nicht wie der 
französische Adel von der Monarchie in die Funktionslosig- 
keit abdrängen. Er erhielt sich seine Daseinsberechtigung und 
machte sich dadurch weniger angreifbar als der Adel in 
Frankreich. 

Weniger angreifbar als in anderen Ländern wurden Adel 

und Adelsherrschaft in England noch durch eine Reihe weite- 
rer Eigentümlichkeiten, die sie für das Bürgertum ebenso wie 
für die Unterschichten erträglicher machten und ihre Langle- 
bigkeit erklären. Dazu gehört, daß die Grenzen des Adels 
nach unten hin wenig markiert und relativ offen waren. 
Rechtlich gehörten die Angehörigen der „gentry“ ohnehin zu 
den „commoners“, unterschieden sie sich nicht von den Bür- 
gerlichen. 

Gegenüber dem Bürgertum war aber vor allem die Tatsache 

von entscheidender Bedeutung, daß sich die adligen Ober- 
schichten in England seit Beginn der Neuzeit nicht als Krieger, 
sondern kulturell als Gentlemen und ökonomisch als Eigen-

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41

tümer definierten. (Eine Ausnahme bildet allenfalls die Zeit 
der Kriege gegen das revolutionäre und napoleonische Frank- 
reich, in der sich eine stärkere Militarisierung des Adels fest- 
stellen läßt.

12

) Die blutsmäßige Herkunft war weniger wichtig 

als anderswo; es gab in England keine Ahnenprobe. Was dort 
vor allem zählte und Status verlieh, war der Besitz. Der Hi- 
storiker Paul Langford spricht sogar von einer „Eigentümer- 
gesellschaft“, die sich bereits im England des 18. Jahrhunderts 
herausgebildet habe, wobei die Nation durch eine große 
Scheidelinie zwischen Eigentümern und Eigentumslosen ge- 
trennt worden sei. Eine solche Darstellung erscheint etwas 
übertrieben. Sie ebnet die Unterschiede zwischen den ver- 
schiedenen Besitzformen sowie die Statusunterschiede zwi- 
schen adligen und nichtadligen Eigentümern ebensosehr ein 
wie die innerhalb des Adels zwischen „titular aristocracy“ 
und bloßer „gentry“. Unbestreitbar ist allerdings, daß sich 
eine spezifische Eigentumsmentalität entwickelte, die alle 
Bereiche durchdrang und auch vor der Kirche nicht haltmach- 
te. Selbst in ihr wurde von der Pfarre bis hin zum vermietba- 
ren Kirchengestühl alles in Begriffen des Eigentums gefaßt. 
Auch die Funktion des Staates wurde primär im Eigentums- 
schutz gesehen, und so war es denn nur konsequent, daß viele 
staatliche Aufgaben – sogar die Abwehr äußerer Gefahren – 
von privater Seite, durch Zusammenschlüsse und Spenden 
von Besitzenden, erfüllt wurden.

13

 Joanna Innes hat auf die 

wichtige Tatsache hingewiesen, daß die englische Gesellschaft 
des 18. Jahrhunderts nach dem vorwaltenden Selbstverständ- 
nis der Zeitgenossen eine „commercial society“ gewesen ist. 
Der deutsche Englandbesucher Justus Moser hat es seinerzeit 
auf die etwas unfreundliche Formel gebracht: „Der esprit de 
commerce beherrscht den großen Lord, und der Krämer kuckt 
aus dem General.“

14

 

Damit im Zusammenhang stand auch die Brücken zum 

Bürgertum und zur bürgerlichen Erwerbsgesinnung schlagen- 
de Kommerzialisierung der Landwirtschaft und die starke 
Profitorientierung adliger Grundbesitzer, die freilich zumeist 
an dem Prinzip der Prestigemaximierung ihre Grenze fand. 

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42

Bemerkenswert ist überdies, abgesehen von einer relativ 
kurzen Phase des Protests gegen das „monied interest“ gegen 
Ende des 17. und zu Beginn des 18. Jahrhunderts, die Bereit- 
schaft des englischen Adels zu Anerkennung und Berücksich- 
tigung nichtagrarischer Interessen und Eigentumsformen 
sowie seine Flexibilität gegenüber den Erfordernissen wirt- 
schaftlicher Entwicklung. So wurden 1722 die meisten Ex- 
portzölle auf in England hergestellte Produkte abgeschafft 
und die Einfuhrzölle beseitigt oder reduziert, mit denen die 
für deren Erzeugung erforderlichen, importierten Rohstoffe 
belegt worden waren. Der sogenannten „Transportrevolu- 
lion“ des 18. Jahrhunderts, die mit dem Bau von Kanälen und 
Überlandstraßen die Infrastruktur des Landes wesentlich ver- 
besserte, stellte sich der grundbesitzende Adel nicht in den 
Weg. Er hat sie vielmehr sogar aktiv gefördert. Das ökonomi- 
sche Interesse an einem verbesserten Verkehrsnetz und das 
ästhetische Interesse der adligen Grundbesitzer wurden, wenn 
sie aufeinandertrafen, zumeist in der Weise ausgeglichen, daß 
man einem Kanal in Sichtweite eines Herrensitzes eine elegan- 
te Biegung gab oder ihn verschönerte.

15

 

Auch die Industrielle Revolution selber ist von adliger Seite 

nicht behindert worden. Dazu trug die Tatsache bei, daß in 
den neuen Industriegebieten die Grundstückspreise stiegen 
und die Grundherren davon profitierten. Auch wurde die 
Industrialisierung zunächst nur als ein punktueller Vorgang 
wahrgenommen und nicht als ein umwälzender Prozeß, der 
letztlich die Herrschaft des grundbesitzenden Adels in Frage 
stellen mußte. 

Von seiten der neuen industriellen Unternehmer erregte die 

fortdauernde Herrschaft des Adels lange Zeit keinen Anstoß, 
weil er in der erwähnten Weise flexibel und ökonomisch auf- 
geschlossen war und sie ihre Interessen nicht verletzt sahen. 
Außerdem wurde die Ungleichheit der Repräsentation im 
Parlament und die Tatsache, daß bedeutende Städte wie Man- 
chester dort nicht repräsentiert waren, durch verschiedene 
Faktoren ausgeglichen und in ihren negativen Auswirkungen 
abgeschwächt. Die Unterrepräsentation bestimmter Gebiete

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43

wurde zum Teil dadurch gemildert, daß die Abgeordneten 
anderer Landesteile in ihnen wohnten oder Landbesitz hatten 
und dadurch interessenmäßig mit ihnen verbunden waren. 
Auch entsandten Städte, die im Unterhaus nicht repräsentiert 
waren, häufig Beauftragte („agents“) nach London, um ihre 
Interessen zwar nicht im, aber am Parlament vertreten zu 
lassen. Manchester z.B. tat das regelmäßig.

16

 Die Interessen 

nicht im Parlament vertretener Städte oder Gebiete konnten 
schließlich teilweise überdies von den Abgeordneten anderer 
repräsentierter  Städte oder Gebiete mit gleicher oder ähn- 
licher Interessenlage wahrgenommen werden. Der zuletzt 
genannte ausgleichende Effekt ist von den Verteidigern des 
traditionellen Repräsentationssystems häufig betont und 
mit dem Begriff der „virtual representation“ apologetisch 
umschrieben worden. In der Tat wäre es ohne die kompen- 
sierende Wirkung der genannten Faktoren kaum begreiflich, 
daß das unreformierte Parlament in einer Zeit, in der die 
Bedeutung dieser Institution immer größer wurde und sich 
zugleich erhebliche Veränderungen in der Bevölkerungsver- 
teilung und der Wirtschaft vollzogen, noch so lange bestehen 
konnte. 

Daß Industriestädte im Parlament nicht vertreten waren, 

erschien aus der Perspektive der Unternehmer nicht selten 
sogar als ein Vorzug, solange ihre Interessen auf andere Weise 
berücksichtigt wurden. Diese Einstellung, die der mittelalterli- 
chen Haltung nicht unähnlich war – als man sich gelegentlich 
das Privileg verleihen ließ, nicht  im Parlament vertreten zu 
sein –, ist angesichts des oft tumultartigen Charakters von 
Wahlen und ihrer langen Dauer kaum verwunderlich. Zwar 
hatte ein Gesetz von 1696 als Höchstdauer einen Zeitraum 
von 40 Tagen festgelegt, aber das war eine lange Zeitspanne, 
und es ist überdies fraglich, ob man sich immer daran hielt. 
Auch ein Zeitraum von 15 Tagen, der 1785 gesetzlich als 
Höchstdauer für Wahlen festgelegt wurde, konnte wegen der 
damit verbundenen Unruhe und dem Alkoholausschank eine 
sehr lange und unerwünschte Unterbrechung der Arbeitszeit 
darstellen. Den Niedergang der Stadt Taunton mit ihrer

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44

Tuchindustrie führte man sogar darauf zurück, daß dort im 
Jahre 1754 eine besonders erbittert umkämpfte Wahl stattge- 
funden hatte.

17

 

Was die große Mehrheit der Bevölkerung unterhalb des 

Bürgertums anging, die von den Zeitgenossen zumeist als „the 
working poor“ bezeichnet wurde, so gelang ihr gegenüber die 
anhaltende Stabilisierung adliger Herrschaft mit relativ gerin- 
gen Machtmitteln durch eine Mischung von Einschüchterung 
und Nachgiebigkeit vor dem Hintergrund eines erstaunlich 
breiten Korpus gemeinsamer Grundüberzeugungen. Es war 
freilich eine Stabilität mit anarchisch-gewalttätigen Ein- 
sprengseln und einer relativ hohen Toleranz für Unordnung 
auf Seiten der Oberschichten. 

Zu den gemeinsamen Grundüberzeugungen gehörte in er- 

ster Linie die alle Klassen der englischen Gesellschaft verbin- 
dende Vorstellung von den unantastbaren Rechten freier 
Engländer und der libertären Besonderheit der englischen 
Nation. Die nationale „Wir-Identität“ (Elias) wurde vor allem 
über das Bewußtsein gemeinsamer Freiheit hergestellt. Das 
Freiheitsdenken war gepaart mit einem allgemeinen Mißtrau- 
en gegenüber der Macht und einer hohen Empfindlichkeit 
gegenüber allem, was als Verletzung englischer Rechte be- 
trachtet wurde. Es äußerte sich zumeist in Argwohn oder 
Ablehnung gegenüber Veränderungen im Innern, die aufgrund 
einer gemeinsamen politischen Grundhaltung von Angehöri- 
gen von Oberschichten verstanden und beachtet werden 
konnten, selbst wenn sie diese im konkreten Fall nicht teilten. 
Die Rhetorik des „freeborn Englishman“ wurde allerdings 
auch gelegentlich nach außen gekehrt. Libertäre Parolen 
konnten eine aggressive Verwendung finden. So wurde etwa 
die Auseinandersetzung zwischen spanischen Behörden und 
englischen Kapitänen über die Frage des Durchsuchungsrechts 
bei Fahrten nach Südamerika im Frühjahr 1738 von den auf 
einen Konflikt hinarbeitenden Kreisen Englands in das li- 
bertäre Raster eingeordnet. Sie stellten die Differenzen mit 
Spanien als eine Auseinandersetzung zwischen englischer 
Freiheit und ausländischem Absolutismus dar, und die Losung

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45

„keine Durchsuchung“ wurde zu einem freiheitlichen 
Schlachtruf.

18

 Grundsätzlich läßt sich feststellen, daß dieses 

freiheitszentrierte Selbstbewußtsein im England des 18. und 
19. Jahrhunderts eine xenophobe und nationalistische Kom- 
ponente hatte. 

Die Prinzipien „freier Engländer“ und die mit ihnen ver- 

knüpften Vorurteile der Bevölkerung wurden zumeist von den 
Oberschichten entweder geteilt oder berücksichtigt, selbst 
wenn dies umständlich und kostspielig war. So sind z.B. 
Soldaten bis gegen Ende des 18. Jahrhunderts sehr mühsam 
und friktionsträchtig in Wirtshäusern oder Privatquartieren 
untergebracht worden, weil Kasernen mit dem Militarismus 
und dem Verlust der Freiheit assoziiert wurden. (Erst in der 
Zeit der Kriege gegen das revolutionäre und napoleonische 
Frankreich, als man das Heer von einer möglicherweise radi- 
kalisierten Bevölkerung fernhalten wollte, wurden in England 
Kasernen gebaut.

19

) Ebenso unterließ man es, Verbrecher zu 

Strafarbeit oder langen Gefängnisstrafen zu verurteilen, die 
als eine Form der Versklavung angesehen wurden. Auch be- 
fürchtete man, das Gefängnispersonal könnte einem künftigen 
Tyrannen zur Unterdrückung der Nation zur Verfügung ste- 
hen. Lieber externalisierte man das Problem und deportierte 
Verbrecher in die amerikanischen Kolonien, was auch am 
billigsten war und wofür ein Gesetz von 1718 die rechtliche 
Grundlage geschaffen hatte.

20

 Auch der den Engländern so 

verhaßte Militarismus wurde zum großen Teil externalisiert, 
indem man Truppen außerhalb Englands stationierte und 
überdies in Kriegszeiten auf ausländische Hilfstruppen zu- 
rückgriff sowie fremden Fürsten für ihre Kriegführung Subsi- 
dien zahlte. Das Bemühen, den Militarismus in England zu 
vermeiden, förderte ihn in anderen Staaten. 

Bei der Marine, für die man überwiegend auf die eigenen 

Kräfte zurückgreifen mußte, aber die Einrichtung einer Flot- 
tenreserve nach französischem Muster offenbar für unenglisch 
und freiheitsbedrohend hielt, griff man zu dem Mittel des 
Pressens. Mit der Aufgabe des „impressment“ beauftragte 
Abteilungen der Flotte ergriffen in Kriegszeiten auf offener

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46

Straße Seeleute und andere Männer oder holten sie von den 
Handelsschiffen. Für sie galt die berühmte „Freiheit eines 
Engländers“ nicht! Viele von ihnen kehrten niemals mehr 
nach Hause zurück. Man schätzt, daß im 17. und 18. Jahr- 
hundert fast die Hälfte der gepreßten Matrosen auf See 
starb.

21

 

Zu einem ähnlich paradoxen Ergebnis wie der Antimilita- 

rismus führte die alle Schichten der englischen Bevölkerung 
gemeinsame Abneigung gegen eine Polizei, die man als frei- 
heitsbedrohend empfand und als eine militärische Einrichtung 
ablehnte. Der Verzicht auf eine Polizei bedeutete, daß man 
sich einerseits immer mehr auf den Abschreckungseffekt ex- 
trem harter Strafen stützte und andererseits trotz der in Eng- 
land so ausgeprägten antimilitaristischen Gesinnung zur Auf- 
rechterhaltung von Ruhe und Ordnung dann doch sehr rasch 
auf das Heer zurückgreifen mußte. Erst 1829 wurde auf der 
Grundlage eines Metropolitan Police Act von dem damaligen 
Innenminister Robert Peel zunächst für London eine Polizei 
aufgestellt (bei der man im übrigen durch die Art ihrer Be- 
kleidung sorgfältig jede Ähnlichkeit mit dem Militär ver- 
mied).

22

 Obwohl danach die Einrichtung einer Polizei auf 

andere Gebiete ausgedehnt wurde, bezeichnete der englische 
Kriegsminister noch 1891 in einem Memorandum „die effek- 
tive Unterstützung der zivilen Gewalt in allen Teilen des Ver- 
einigten Königreiches“ als erste Aufgabe der Armee.

23

 

Eine weitere, schichtenübergreifende Gemeinsamkeit im 

England des 18. Jahrhunderts war das ausgeprägte Bewußt- 
sein, eine protestantische Nation zu sein. Dabei verband die 
Religion bzw. das religiöse Vorurteil in besonderem Maße 
Ober- und Unterschichten miteinander. Bei ihnen bestand 
vielfach eine Abneigung gegen die außerhalb der anglikani- 
schen Kirche stehenden Nonkonformisten, die zumeist den 
Mittelklassen angehörten. Der Adel hatte sich weitgehend mit 
dem Anglikanismus identifiziert. Die Nonkonformisten waren 
vielen Adligen auch politisch suspekt, weil man sie mit der 
Verantwortung für die Englische Revolution belastete und 
republikanischer Neigungen verdächtigte. Zum Teil wurden

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47

sie zu Beginn des 18. Jahrhunderts von Angehörigen der adli- 
gen Oberschichten auch wegen ihrer Verbindung mit der 
Finanzwelt abgelehnt. Innerhalb der Unterschichten spielte 
dieses Motiv bei der Ablehnung der Nonkonformisten eben- 
falls eine Rolle. Vor allem aber waren sie bei den unteren 
Klassen deshalb verhaßt, weil sie den alten puritanischen An- 
spruch, die Bevölkerung auch gegen deren Willen moralisch 
zu „reformieren“, nie ganz aufgegeben hatten. 

Das wichtigste Bindemittel zwischen Ober- und Unter- 

schichten bildete der soziale Paternalismus des Adels. Er 
konnte von Überzeugung, von Berechnung oder einer Mi- 
schung von beiden bestimmt sein. Was aber auch immer die 
Motive im einzelnen waren – die paternalistische Haltung 
vieler Adliger gab den Unterschichten weithin das Gefühl, daß 
man sich ihrer Nöte annahm. Darüber hinaus gab es in Eng- 
 land die seit Elisabeth gesetzlich vorgeschriebene Armenfür- 
sorge der Gemeinden, die ein gewisses soziales Sicherheitsnetz 
darstellte. Das Poor Law war eine Art von KoUektivpaterna- 
lismus. Selbst ein marxistisch beeinflußter Historiker wie E. P. 
Thompson gelangt zu der Feststellung: „Im allgemeinen wa- 
ren die englischen Armen durch Armengesetze und Wohltä- 
tigkeit vor direktem Verhungern geschützt.“

24

 

Außerdem gab es eine Art irregulärer Partizipation der von 

der förmlichen Teilhabe am politischen Prozeß ausgeschlosse- 
nen Bevölkerungsteile in Gestalt von Tumulten („riots“). Mit 
ihnen ließ sich eine gewisse Berücksichtigung ihrer Belange 
erzwingen. So wie das Bürgertum seine Interessen im Parla- 
ment geltend machen konnte, obwohl viele Städte überhaupt 
nicht repräsentiert waren und es kaum bürgerliche Abgeord- 
nete gab, so konnten auch die ganz überwiegend nicht wahl- 
berechtigten und im Unterhaus über keine Abgeordneten 
verfügenden Unterschichten ihren Interessen Ausdruck verlei- 
hen. Den englischen Staat zur Zeit Walpoles, hat der engli- 
sche Historiker G. M. Trevelyan treffend bemerkt, könne 
man als „aristocracy tempered by rioting“ definieren – als 
eine durch Volkstumulte gemäßigte oder gebremste Adels- 
herrschaft.

25

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48

Im England des 18. Jahrhunderts lassen sich die verschie- 
densten Formen von Krawallen nachweisen. Es gab „riots“ 
gegen hohe Lebensmittelpreise, gegen Gebühren für die Be- 
nutzung von Überlandstraßen, gegen Einhegungen, gegen das 
Pressen von Matrosen für die Marine. Krawalle entstanden 
auch bei Lohnkonflikten, bei der Rekrutierung von Soldaten, 
bei der Verhaftung von Schmugglern und Wilddieben. Es gab 
überdies Tumulte bei Wahlen, die zumeist mit dem Ziel ange- 
stiftet wurden, die Wähler eines Kandidaten vom Wahlakt 
fernzuhalten. Sie konnten aber auch dadurch ausgelöst wer- 
den, daß die Bevölkerung sich auf die eine oder andere Art 
provoziert fühlte. 

„Food riots“ waren am häufigsten und bildeten mehr als 

die Hälfte der Tumulte im England des 18. Jahrhunderts. Sie 
sollten die Behörden und die Besitzenden dazu zwingen, gegen 
Preissteigerungen vor allem bei Getreide, Mehl und Brot vor- 
zugehen und zumal die Kornausfuhr zu verhindern. Sie hatten 
durchaus einen ökonomischen Sinn zu einer Zeit, als England 
Getreide exportierte und sogar staatliche Zuschüsse bei Ge- 
treideexporten gezahlt wurden. Schätzt man doch, daß durch 
die den Grundherren und Farmern zugutekommenden Ex- 
portprämien der Getreidepreis im Inland um bis zu 19 Pro- 
zent erhöht wurde.

26

 

In der Regel verliefen „riots“ nicht chaotisch und undiszi- 

pliniert. Sie waren vielmehr zumeist gut organisiert, verfolg- 
ten überwiegend sehr präzise Ziele, wollten etwas Bestimmtes 
erreichen oder verhindern. Sie sollten den Oberschichten, den 
Friedensrichtern oder auch dem Parlament mit oft symbol- 
trächtigen Handlungen vor Augen führen, was die Akteure als 
unzumutbar empfanden und wo sie auf Unterlassung oder 
Abhilfe bestanden. 

„Riots“ hatten für das bestehende System den Vorteil, als 

Warnsignale von Seiten der Unterschichten zu fungieren und 
Grenzen des Zumutbaren deutlich zu machen. Sie waren 
Ventil und Meinungsumfrage zugleich. Sie gaben den Ober- 
schichten die Möglichkeit, bei der Abhilfe von Beschwerden 
eine paternalistische Rolle zu spielen. Sie vermittelten im Falle

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49

des Erfolges der vom förmlichen politischen Prozeß ausge- 
schlossenen Bevölkerung das Gefühl, ihren Forderungen Gel- 
tung verschaffen zu können und eine Berücksichtigung zu 
finden. 

Der Nachteil der Partizipation durch Krawalle bestand 

darin, daß Protestaktionen einen gänzlich zerstörerischen 
Charakter annehmen konnten. Das geschah bei den sog. Gor- 
don Riots von 1780 in London, die denn auch die Toleranz 
der Oberschichten gegenüber Tumulten ganz erheblich ver- 
minderten. Außerdem hatte die Partizipation durch Krawalle 
für die weitere Entwicklung Englands zwei negative Folgen. 
Zum einen wurde dadurch trotz mancher verbindender ideo- 
logischer Gemeinsamkeiten eine schroffe Zweiteilung der 
englischen Gesellschaft gefördert. Eine Elite, die herrschte und 
im Parlament die Gesetze machte, und die Masse der Bevölke- 
rung, die sich mit Gewalt oder Gewaltandrohung gegen eine 
Verletzung ihrer Rechte und Interessen zur Wehr setzte, stan- 
den sich gegenüber. Die zweite negative Folge der Symbiose 
von Elitehandeln und korrigierender Volksaktion bestand 
darin, daß damit bei den englischen Unterschichten die Per- 
spektive einer konstruktiven Neuordnung blockiert und eine 
rein defensive Mentalität gefördert wurde. 

Sämtliche Historiker, die sich mit den Volksaktionen des 

18. Jahrhunderts beschäftigt haben, verweisen auf deren 
überwiegend defensiven Charakter. Andererseits erblicken 
Forscher, die sich mit den heutigen Problemen Englands be- 
fassen, vielfach eine seiner Schwächen darin, daß es eine Kul- 
tur des Abwehrens und Bewahrens und nicht der aktiven 
Gestaltung besitze. Diese Kultur erscheint besonders bei der 
Arbeiterschaft sehr ausgeprägt. „Es haftet den Werten der 
Arbeiterklasse etwas merkwürdig Passives an“, konstatiert 
Ralf Dahrendorf.

27

 Auch Richard Hoggart, der selber dem 

Arbeitermilieu entstammt, betont, wie stark die Arbeiter von 
einem Defensivreflex bestimmt sind und jedem Wandel ab- 
lehnend gegenüberstehen.

28

 Ebenso hat unlängst Will Hutton 

auf die „Tradition einer rein oppositionellen Arbeiterklassen- 
kultur“ verwiesen, „die nur mit den Bedingungen am Arbeits-

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platz und alten Erinnerungen an den Widerstand gegen Aus- 
beutung“ befaßt ist.

29

 Der Historiker muß sich fragen, inwie- 

weit nicht bereits das Zusammenspiel von agierender  Elite 
und  reagierenden  Unterschichten im 18. Jahrhundert Verhal- 
tensweisen eingeschliffen hat, die bis heute nachwirken. 

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51

VI. Die erweiterte Adelsherrschaft 

 
Die Herrschaft der traditionellen englischen Elite ist gegen 
Ende des 18. Jahrhunderts zwar zunächst von der Französi- 
schen Revolution und einer von ihr in England ausgelösten 
radikalen Bewegung herausgefordert worden; letztlich konnte 
jedoch die um diese Zeit mit den walisischen, schottischen 
und anglo-irischen Führungsschichten zu einer britischen Elite 
zusammenwachsende englische Führungsschicht ihre Stellung 
durch eine insgesamt erfolgreiche Kriegführung sowie den Ab- 
schreckungseffekt einer entgleisten Revolution in Frankreich 
sogar noch festigen. Großbritannien entging überdies trotz 
eines 22 Jahre dauernden Krieges dem Zwang zur „defensiven 
Modernisierung“ (H.-U. Wehler), da es dem Ansturm des 
revolutionären und napoleonischen Frankreich weniger un- 
mittelbar ausgesetzt war als die kontinentaleuropäischen Län- 
der. Auch erlaubte es ihm ausgerechnet seine ökonomische 
Progressivität, an dem alten Militärsystem als dem hervorste- 
chendsten Merkmal des Ancien Regime festzuhalten; seine 
finanzielle Überlegenheit machte es möglich, auf eine Um- 
wandlung des kostspieligen Söldnerheeres mit seiner aufwen- 
digen Logistik zu verzichten.

1

 Die Institutionen des Landes 

erfuhren in dieser Zeit mächtiger Erschütterungen und großer 
Reformen in Europa keine Veränderung. Allenfalls läßt sich 
davon sprechen, daß unter dem Eindruck des Schicksals des 
französischen Adels die Elite ihren Habitus änderte – aktiver, 
religiöser und moralischer wurde.

2

 

Der Reformgedanke, der in England bereits wegen seiner 

Verknüpfung mit der Revolution um die Mitte des 17. Jahr- 
hunderts belastet gewesen war, ist durch die Französische 
Revolution zudem ein weiteres Mal diskreditiert worden. Jede 
Veränderung wurde jetzt suspekt und konnte als revolutionär 
gebrandmarkt werden. Jeder alte Mißstand erschien durch die 
Tradition geheiligt und zur Aufrechterhaltung der Ordnung 
unentbehrlich. Jede abweichende Meinung kam in den Ge- 
ruch „französischer Prinzipien“. 

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52

Der Gedanke einer Reform des Parlaments, um die Sitz- 

verteilung im Unterhaus der Verteilung von Bevölkerung 
und Reichtum im Land anzupassen, hatte in den 70er und 
80er Jahren des 18. Jahrhunderts innerhalb des Adels viele 
Befürworter gehabt. Selbst William Pitt hatte noch nach 
seiner Ernennung zum Premierminister im Parlament 1785 
einen entsprechenden Vorschlag eingebracht. Gegen Ende des 
18. und in den beiden ersten Jahrzehnten des 19. Jahr- 
hunderts war der Reformgedanke bei den Oberschichten 
durch die Ereignisse in Frankreich jedoch weithin diskredi- 
tiert. Eine plebejische Reformbewegung, die sich infolge der 
Wirtschaftskrise nach 1815 entwickelte und deren Haupt- 
forderungen das allgemeine Wahlrecht sowie jährliche Par- 
lamentswahlen bildeten, blieb ebenso erfolglos, wie es die 
radikalen Vereine zu Beginn der 1790er Jahre gewesen waren. 
Sie scheiterte nicht nur an der (relativ maßvollen) Repressi- 
onspolitik des Staates, sondern auch an dem konjunkturellen 
Aufschwung der 1820er Jahre, der ihr den Antrieb wirt- 
schaftlicher Unzufriedenheit entzog. 

Im übrigen ist es auffällig, wie sehr die plebejischen Refor- 

mer nach den napoleonischen Kriegen, ähnlich wie vor ihnen 
schon die demokratischen Levellers während der Englischen 
Revolution und die englischen Radikalen zur Zeit der Fran- 
zösischen Revolution, in der Wahlrechts- und Parlamentsre- 
form ein Allheilmittel erblickten. Selbst die Chartistenbewe- 
gung der 1830er und 1840er Jahre, die sich überwiegend auf 
die Arbeiterschaft stützte und deren „Volkscharter“ von 1838 
das allgemeine Wahlrecht, die geheime Stimmabgabe, gleiche 
Wahlkreise, jährliche Wahlen, Abschaffung der Eigentums- 
qualifikationen für Abgeordnete und Zahlung von Diäten 
forderte, hat trotz einer antikapitalistischen Rhetorik die 
politische Stoßrichtung des älteren Radikalismus im wesentli- 
chen beibehalten. Das englische Volk, spottete der dem Par- 
lamentarismus und dem Wahlakt nicht sonderlich geneigte 
Publizist Thomas Carlyle in seinem 1839 veröffentlichten 
Aufsatz über den Chartismus, erliege seit langem immer wie- 
der der Vorstellung, daß Reformen in diesem Bereich alle

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53

Übel heilen könnten. Für die Engländer sei das Wahlrecht zu 
einer fixen Idee geworden.

3

 

In der Konzentration selbst der überwiegend von sozialer 

Not angetriebenen plebejischen Bewegungen auf eine Reform 
des Parlaments und des Wahlrechts schlug sich einerseits die 
lange Zeit nicht ganz falsche Diagnose nieder, daß wirt- 
schaftliche Übel überwiegend politische Ursachen hatten, 
durch Korruption, überflüssige Kriege und übermäßige Steu- 
ern entstanden, von Monopolisten, Sinekuristen und Finan- 
ziers verursacht wurden. Andererseits sprach daraus aber 
auch ganz offensichtlich dieselbe Parlamentszentriertheit, die 
für die Oberschichten charakteristisch war und die ein 
Merkmal der englischen politischen Kultur darstellt. Diese 
starke Ausrichtung auf das Parlament wird schlaglichtartig 
daran deutlich, daß der während des amerikanischen Unab- 
hängigkeitskrieges amtierende Premierminister Lord North 
bereits als Kind von acht Jahren einen Brief schrieb, in dem er 
auf eine Wahl zum Unterhaus einging. Sie zeigt sich etwa 
auch an der Tatsache, daß bei der berühmten Gründungsver- 
sammlung der Liberalen die Teilnehmer in Willis’s Room am 
6. Juni 1859 gewohnheitsmäßig eine dem Unterhaus entspre- 
chende Sitzordnung herstellten und in der Mitte des Saals ein 
Oval freiließen, obwohl der Raum überfüllt war.

4

 

Das Wirtschaftsbürgertum war an der Agitation für eine 

Parlamentsreform lange Zeit unbeteiligt. In den 1820er Jah- 
ren wurden die Mittelschichten jedoch aktiv. Ihnen gelang, 
was dem plebejischen Radikalismus der Nachkriegsjahre nicht 
gelungen war und was auch später dem Chartismus nicht 
gelingen sollte. Sie erzwangen eine Reform des politischen 
Systems und ihre Aufnahme in die „parliamentary classes“. 
Der plebejische Radikalismus hatte, selbst wenn er sich auf 
politische Reformforderungen beschränkte und sich aus- 
drücklich auf den Boden der Verfassung stellte, stets den Ge- 
ruch einer sozialen Gefahr. Das traf für die bürgerliche Re- 
formbewegung nicht zu, selbst wenn sie mit der Revolutions- 
drohung arbeitete. 

Daß bürgerliche Gruppen in den 1820er Jahren die Forde-

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54

rung nach einer Parlamentsreform erhoben, hatte mehrere 
Gründe. Wichtig war, daß die abschreckende Wirkung der 
Französischen Revolution mit zunehmender zeitlicher Entfer- 
nung nachließ. Die von ihr erzeugte „Reformblockade“ wur- 
de überwunden. Auch war das Selbstbewußtsein des Bürger- 
tums gegenüber den grundbesitzenden Schichten durch seinen 
wachsenden Wohlstand gestärkt worden. Zudem beurteilte 
die nationalökonomische Theorie die Grundeigentümer jetzt 
kritischer. Ricardo konstatierte in der denkbar schroffsten 
Weise: „Das Interesse der Grundherren ist stets dem Interesse 
jeder anderen Klasse der Gemeinschaft entgegengesetzt.“

5

 Am 

wichtigsten war aber, daß die fortschreitende Industrialisie- 
rung das Mißverhältnis zwischen Bevölkerungs- und Reich- 
tumsverteilung auf der einen und der Sitzverteilung im Unter- 
haus auf der anderen Seite immer größer gemacht hatte. Die 
Industriestädte erlebten in den 1820er Jahren ein besonders 
rapides Bevölkerungswachstum. Manchester, Birmingham, 
Leeds und Sheffield erhöhten ihre Einwohnerzahl zwischen 
1821 und 1831 um mehr als 40 Prozent! Das alte Repräsen- 
tativsystem war schließlich für eine große Zahl von Zeitge- 
nossen, die um 1830 die Industrielle Revolution überhaupt 
erstmals als einen umwälzenden und unumkehrbaren Ge- 
samtvorgang erkannten, unerträglich geworden.

6

 

Das Problem bestand jedoch darin, wie man das unre- 

formierte Parlament dazu bringen konnte, sich zu refor- 
mieren. Eine Chance dafür bot die nach einer Phase der 
parteipolitischen Konturenlosigkeit allmählich erfolgende 
Wiederherstellung eines Zweiparteiensystems mit seiner poli- 
tisch-ideologischen Konkurrenz und der Suche nach Wett- 
bewerbsvorteilen gegenüber dem Rivalen. Die Whigs, die 
1797 einen radikalen Reformvorschlag im Parlament einge- 
bracht hatten, deren Reformeifer dann aber erlahmt war, 
nahmen sich der Forderung nach einer Parlamentsreform von 
neuem an. Dazu trug die Tatsache bei, daß sie mit nur zwei 
kurzen Unterbrechungen fast ein halbes Jahrhundert auf die 
Opposition beschränkt gewesen waren und deshalb kaum 
mehr besondere Zuneigung zum alten System empfinden

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55

konnten.

7

 Außerdem waren sie, nachdem der alte Schlachtruf 

vom Kampf gegen den „geheimen Einfluß“ der Krone an 
Überzeugungskraft verloren hatte, auf der Suche nach einer 
neuen politischen Daseinsberechtigung. Sie boten sich ange- 
sichts der Forderungen von bürgerlicher Seite als Partei des 
Klassenkompromisses sowie als ausgleichend-stabilisierendes 
Element zwischen den Kräften der Beharrung und den Kräften 
der Veränderung an.

8

 Eine Parlamentsreform konnte in 

Übereinstimmung mit der Whig-Interpretation der englischen 
Geschichte als eine der für England charakteristischen, gra- 
duellen Korrekturen dargestellt werden, die eine erforderliche 
Adaption an veränderte Bedingungen ermöglichten und die 
Grundprinzipien der Verfassung durch Veränderung ihrer 
„untergeordneten Teile“ aufrechterhielten. 

Nachdem das Parlament bereits 1821 der Gemeinde Gram- 

pound in Cornwall wegen Korruption das Recht auf Reprä- 
sentation aberkannt, ihre beiden Sitze der Grafschaft Yorkshi- 
re zugeschlagen hatte und auch durch die Abschaffung der die 
nichtanglikanischen Protestanten sowie die Katholiken dis- 
kriminierenden Gesetze in den Jahren 1828 und 1829 eine 
Bresche in die alte Ordnung geschlagen worden war, schritt 
die 1830 von dem Whigpolitiker Lord Grey gebildete Regie- 
rung zu einer Reform des Repräsentativ- und Wahlsystems. 
Die Periode zwischen der Einbringung der ersten Fassung der 
Reformbill durch Lord John Russell am 1. März 1831 und 
der Unterzeichnung des Reform Act durch den König am 
7. Juni 1832 war politisch außerordentlich bewegt. Es gab 
eine Parlamentsauflösung mit Neuwahlen, einen vorüberge- 
henden Rücktritt der Regierung Grey, nicht unerhebliche 
Ausschreitungen und Zerstörungen in einigen Teilen des Lan- 
des, zwei Neufassungen der Reformbill und schließlich die 
dem Monarchen abgerungene Bereitschaft zum Pairsschub, 
die das Oberhaus zum Einlenken brachte. Das Ergebnis war 
eine „Halbrevolution“ (Bagehot), die zwar das Repräsentativ- 
und Wahlsystem einschneidend veränderte, aber die gesell- 
schaftliche Machtverteilung im wesentlichen unangetastet 
ließ. 

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56

Der Reform Act von 1832 fügte den etwa 440 000 Wahlbe- 

rechtigten in England und Wales ca. 200 000 hinzu, was eine 
Steigerung von 45 Prozent bedeutete. (Die Vergrößerung der 
Zahl der Wahlberechtigten, die durch ein entsprechendes 
Reformgesetz in Schottland erfolgte, war ungleich höher.) 
18,4 Prozent der erwachsenen englischen Männer waren 
nunmehr stimmberechtigt.

9

 Wählen durften alle diejenigen, 

die ein Haus besaßen oder gemietet hatten, das steuerlich mit 
zehn Pfund im Jahr veranschlagt wurde, und die die Steuern 
dafür selber abführten. Die Unterschichten, die in einigen 
„boroughs“ vor 1832 das Wahlrecht zum Parlament besessen 
hatten, waren nunmehr von der politischen Partizipation ganz 
ausgeschlossen. Das erbitterte diejenigen Teile der Arbeiter- 
schaft, die die bürgerliche Reformbewegung unterstützt hat- 
ten, und bildete ein wesentliches Antriebsmoment für die 
Chartistenbewegung der 1830er und 1840er Jahre. 

Die Neuverteilung der Unterhaussitze durch den Reform 

Act von 1832 bedeutete eine Stärkung des städtisch-bürger- 
lichen Elements bei der Repräsentation. 56 „boroughs“ waren 
im Unterhaus nicht mehr vertreten, dafür wurden 42 neue 
„boroughs“ im Parlament repräsentiert. Diese Umverteilung 
bedeutete jedoch keinesfalls einen überwältigenden Sieg des 
Bürgertums. Das Gewicht der alten ländlichen Führungs- 
schichten wurde in einigen Punkten sogar noch verstärkt. Das 
geschah einerseits durch die Erhöhung der Zahl der (von 
ihnen beherrschten) Grafschaftssitze, andererseits durch eine 
„Reagrarisierung“ der „counties“. „Boroughs“, die eine eige- 
ne Repräsentation erhielten, wurden aus den umliegenden 
Grafschaften herausgenommen, die infolgedessen einen länd- 
licheren Charakter bekamen. Sie waren dadurch der Kontrolle 
durch die „gentry“ stärker unterworfen als vorher. 

Der grundherrliche Einfluß wurde außerdem durch die 

„Chandos Clause“ verstärkt, die der Reformbill hinzugefügt 
worden war. Sie verlieh auch solchen Pächtern, die keine 
langfristigen Pachtverträge besaßen, das Wahlrecht in den 
Grafschaften. Dadurch wurde eine Gruppe, die von den 
Grundbesitzern besonders abhängig war und deren Wahlver-

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57

halten bei der nach wie vor offenen Stimmabgabe kontrolliert 
werden konnte, den Wahlberechtigten hinzugefügt. 

In Anbetracht der erwähnten positiven Auswirkungen des 

Reform Act für die Grundherren läßt sich mit einiger Berech- 
tigung die Ansicht vertreten, daß deren politische Macht 1832 
nicht nur nicht geschwächt, sondern sogar gestärkt wurde. 
Auf jeden Fall wird man von einer Konservierung und Festi- 
gung des bestehenden Herrschaftssystems sprechen können. 
Genau dies lag in der Absicht der Whigs und wurde von ihnen 
auch offen ausgesprochen. Der Historiker Macaulay, ihr re- 
degewaltiger Wortführer im Unterhaus, stellte seine große 
Rechtfertigung der Reformbill vom 2. März 1832 unter das 
zusammenfassende Motto: „Reform, that you may preserve.“ 
Macaulays Rede macht überaus deutlich, daß es das Ziel der 
Reformvorlage war, die Mittelschichten wiederzugewinnen, 
zufriedenzustellen und dauerhaft zu binden, womit sie als 
Stützen der bestehenden Ordnung fungieren konnten.

10

 Hier 

sollte gleichsam im Großen geschehen, was die traditionellen 
Führungsschichten bei einzelnen Bedrohungen von Ruhe und 
Ordnung im Kleinen schon vorher oft praktiziert hatten: die 
Hinzuziehung von Angehörigen des Bürgertums. George Eliot 
läßt denn auch in ihrem Roman „Felix Holt“ einen radikalen 
Arbeiteragitator über die Reformbill sagen, sie sei „nichts 
anderes als das Einschwören von Hilfspolizisten, um die Ari- 
stokraten sicher ihr Monopol behaupten zu lassen.“

11

 Und 

der Führer der plebejischen Reformbewegung nach 1815, 
Hunt, urteilte recht zutreffend, mit der Reformbill sollten die 
Mittelklassen kooptiert, die morschen Institutionen des Lan- 
des gefestigt und die Whigs in die Lage versetzt werden, „die 
Regierung so weit wie möglich auf die alte Weise fort- 
zuführen.“

12

 

Die konservative Intention der Reformvorlage kommt nicht 

zuletzt in der Erwartung der Whigs zum Ausdruck, sie werde 
endgültig oder jedenfalls für eine sehr lange Periode gültig 
sein. Macaulay schrieb 1831 an einen Freund, eine Reform 
des reformierten Parlaments werde hoffentlich erst in der Zeit 
ihrer Enkel nötig werden.

13

 Eine solche Erwartung verkannte,

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58

daß der Wettbewerbsdruck des Parteiensystems, der bereits 
dem Gesetz von 1832 den Weg bereitet hatte, noch ungleich 
wirksamer werden mußte, nachdem der Bann einmal gebro- 
chen war. Tatsächlich rückte dann knapp zwei Jahrzehnte 
nach dem ersten Reform Act „die weitere Demokratisierung 
zu einem Hauptthema des Wettlaufs zwischen den Parteien 
um Zustimmung auf“.

14

 Es kam, nach fehlgeschlagenen An- 

läufen von beiden Seiten, 1867 zu einem zweiten Reform Act, 
der aufgrund der Konkurrenzsituation radikaler ausfiel, als 
die meisten Abgeordneten es wünschten. Er gab in den 
„boroughs“ nicht nur den steuerzahlenden Haushaltsvorstän- 
den, sondern selbst Untermietern das Wahlrecht, wenn sie 
mehr als zehn Pfund Miete im Jahre zahlten. Die Anzahl der 
Wahlberechtigten in England und Wales wurde durch das 
neue Gesetz mehr als verdoppelt.

15

 

Auch der zweite Reform Act bedeutete jedoch nicht das 

Ende der Adelsherrschaft, die erst im letzten Viertel des 
19. Jahrhunderts zu zerbröckeln begann. Regierung und Par- 
lament verloren nur allmählich ihren adligen Charakter (der 
in der Armee und im auswärtigen Dienst am längsten erhalten 
blieb). Die Regierung Grey, die den Reform Act von 1832 
durchgesetzt hatte, war ihrer Zusammensetzung nach die 
aristokratischste Regierung gewesen, die England seit dem 
18. Jahrhundert gehabt hatte. Das 1859 von Palmerston 
gebildete Kabinett setzte sich aus sieben Peers, zwei Söhnen 
von Peers und drei Baronets, aber nur drei Ministern ohne 
Adelstitel zusammen. Noch im Jahr 1867 stellten die Han- 
dels-, Industrie- und Schiffahrtsinteressen nur 122 Abgeord- 
nete im Unterhaus; mehr als 500 Abgeordnete waren dagegen 
Vertreter der grundbesitzenden Schichten. 326 Mitglieder des 
House of Commons waren überdies verwandtschaftlich direkt 
mit der Hocharistokratie verbunden, die im House of Lords 
ohnehin ihr eigenes Repräsentationsorgan besaß.

16

 Auch die 

Parteien behielten noch lange Zeit ihren Adelscharakter, ob- 
wohl sich allmählich moderne Parteibezeichnungen durchsetz- 
ten, aus den Whigs Liberale und den Tories Konservative 
wurden. Die Liberalen waren die Partei, in der nach wie vor

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59

die Mitglieder der großen aristokratischen Whigfamilien den 
Ton angaben. Die Konservativen waren vor allem die Partei 
der „gentry“. 

Die politische Dominanz der Grundbesitzer wurde geradezu 

als Verfassungsmerkmal des Landes betrachtet. Man redete 
von der „territorial constitution“ Englands. Der Konservative 
Politiker Disraeli sprach 1848 von der aristokratischen 
Grundordnung („aristocratic settlement“) des Landes, die es 
zu erhalten gelte. Noch 1864 konnte der Premierminister 
Palmerston schreiben: „Nach unseren gesellschaftlichen Ge- 
wohnheiten und unserer politischen Organisation ist der Be- 
sitz von Land direkt oder indirekt die Quelle von politischem 
Einfluß und politischer Macht.“

17

 

Daß sich ein solches Verfassungsverständnis und die ihm 

entsprechende faktische Dominanz der grundbesitzenden 
Führungsschichten solange behaupten konnten, ist auf eine 
Reihe von Ursachen zurückzuführen. Es war die Folge der 
weiterhin sehr starken ökonomischen Stellung des Adels, einer 
Verringerung der Anstößigkeit adliger Herrschaft, einer Be- 
rücksichtigung von Massenstimmungen durch Angehörige der 
Führungselite sowie des Gefühls der Sympathie für bürgerli- 
che, zum Teil sogar für plebejisch-radikale Forderungen. 

Betrachtet man zunächst das ökonomische Fundament der 

britischen Adelsherrschaft im 19. Jahrhundert, so war diese 
weniger anachronistisch, als man meinen könnte. In ihr spie- 
gelte sich nicht zuletzt die Tatsache wider, daß die Landwirt- 
schaft noch große ökonomische Bedeutung besaß und sich der 
überwiegende Teil des Vermögens in den Händen von 
Grundbesitzern befand.

18

 Die geringe Zahl von Unternehmern 

im House of Commons verwies überdies auf den Vorteil, den 
adlige Muße für eine politische Tätigkeit bot, sowie auf die 
Schwierigkeit für Angehörige des Bürgertums, zugleich im 
Wirtschaftsleben und in der Politik aktiv zu sein. 

Daß die Herrschaft der traditionellen grundbesitzenden 

Schichten weniger angreifbar wurde, war in erster Linie auf 
die Abschaffung der Getreideschutzzölle im Jahre 1846 zu- 
rückzuführen. Der Konservative Premierminister Sir Robert

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60

Peel, der die Initiative zur Beseitigung der „corn laws“ ergriff 
und darüber seine Partei spaltete, wollte ganz bewußt die 
Aristokratie von ihrer gefährlichen Verbindung mit einem 
selbstsüchtig erscheinenden Agrarprotektionismus befreien. 
Sie sollte beweisen, daß sie von übergeordneten Gesichtspunk- 
ten geleitet wurde, sich am nationalen Interesse orientierte 
und der von ihr regierte Staat bereit war, alles in seiner Macht 
Stehende zu tun, um Elend zu lindern.

19

 Unter dem zuletzt 

genannten Aspekt sollte mithin durch eine Politik des Frei- 
handels im Grunde genau das erreicht werden, was die engli- 
schen Führungsschichten im 18. Jahrhundert auf sozialpater- 
nalistischem Weg mit dem Mittel der wirtschaftlichen Regu- 
lierung  
und  Intervention  in Notzeiten erfolgreich praktiziert 
hatten. 

Die herrschaftsbezogenen Argumente Peels verdeutlichen 

die konservative Intention, die mit der Aufhebung der Korn- 
zölle ebenso wie mit der Parlamentsreform von 1832 verbun- 
den war. In beiden Fällen sollte Veränderung primär der Er- 
haltung dienen. Adelsherrschaft sollte weniger anstößig und 
damit gesicherter werden. Tatsächlich bestand nach der Be- 
seitigung der „corn laws“ kaum noch eine größere Animosität 
des städtischen Bürgertums gegen die grundbesitzenden Füh- 
rungsschichten. Zeitgenössische Beobachter wie der Roman- 
cier Anthony Trollope vermerkten vielmehr, wieviel Hoch- 
achtung die meisten Bürgerlichen, die auch für ihre eigene 
Stellung gegenüber den unteren Klassen auf soziale Ehrer- 
bietung angewiesen waren, dem Inhaber eines Adelstitels 
zollten. Die Repräsentanten eines „Unternehmerradikalismus“ 
(Searle), die den Kampf gegen die Kornzölle nur als ersten 
Vorstoß in einer umfassenden Offensive gegen die Adelsherr- 
schaft gesehen hatten, zeigten sich von dem unterwürfigen 
Verhalten des Bürgertums enttäuscht. „Wie sehr wünsche ich 
mir“, schrieb ihr Wortführer Richard Cobden 1862, „ich 
könnte den Kaufmanns- und Industriekreisen etwas Selbstach- 
tung beibringen.“ Von einem Kampf der prosperierenden 
Mittelklassen gegen den „Feudalismus“ erklärte er drei Jahre 
später, könne keine Rede sein. Sie seien im Gegenteil damit

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61

beschäftigt, beim Heraldischen Amt nach Familienwappen zu 
fahnden.

20

 

Flexibilität war für eine Adelsherrschaft im England um die 

Mitte des 19. Jahrhunderts, nach dem Durchbruch einer (wie 
auch immer heute in ihrer Begrenztheit gesehenen) Industriel- 
len Revolution, unumgänglich. Sie beschränkte sich nicht auf 
die Abschaffung der Kornzölle. Die Liberale Partei identifi- 
zierte sich darüber hinaus sogar mit dem Freihandel und stell- 
te sich ganz auf den Boden eines städtisch-industriellen Eng- 
land. Besonders Gladstone, der selbst einer Kaufmannsfamilie 
entstammte, kam als Liberaler Schatzkanzler mit seiner Steu- 
er- und Zollpolitik den materiellen Interessen des Bürgertums 
entgegen. Seine Religiosität und seine Neigung zur Moralisie- 
rung der Politik fanden andererseits eine starke gefühlsmäßige 
Resonanz und verschafften ihm vor allem bei den protestanti- 
schen Nonkonformisten breite Zustimmung. Sein Charisma 
und seine Fähigkeit zur Mobilisierung von Anhängern verwie- 
sen bereits auf das Zeitalter der Massendemokratie. Ähnliches 
läßt sich sogar schon von Palmerston sagen, der ein starkes 
Gespür für nationale Stimmungen besaß. Nach dem Urteil 
von Alexander Herzen war Palmerston der „beste Metereo- 
graph“ in England, der den Temperaturzustand der Mittel- 
schichten stets richtig anzeigte.

21

 Palmerston appellierte wie- 

derholt an den Chauvinismus der Briten und spielte bei den 
plebiszitären Wahlen von 1857 anläßlich eines unbedeuten- 
den Zwischenfalls in China mit Erfolg die nationalistische 
Trumpfkarte aus. Nach dem Tod Palmerstons im Jahre 1865 
hat der Konservative Parteiführer Disraeli diese Strategie von 
ihm übernommen. Die drei genannten Politiker, die sämtlich 
in ihrer Partei eine gewisse Außenseiterstellung einnahmen 
und daher in besonderem Maße auf die Unterstützung einer 
breiteren Öffentlichkeit angewiesen waren, schlugen trotz 
erheblicher Unterschiede ihrer Herkunft, ihrer Persönlichkeit 
und ihrer Standpunkte eine Brücke von der oligarchischen zur 
demokratischen Politik. 

Nicht unwichtig für die anhaltende Dominanz des Adels 

war schließlich auch die Tatsache, daß es seit dem 17. Jahr-

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62

hundert stets gewisse Verbindungen zwischen Angehörigen 
der grundbesitzenden Führungsschichten und Volksbewegun- 
gen gab. Das erklärt sich zum Teil aus einer starken Affinität 
der dem Hof, der Regierung und der Macht im allgemeinen 
mißtrauenden „Country-Ideologie“ mit den verschiedenen 
Spielarten des populären Radikalismus.

22

 Das war aber auch 

darin begründet, daß unter den hannoverschen Königen zu- 
erst die Tories und dann die Whigs jeweils für lange Zeit von 
der Regierung ferngehalten wurden. Das stärkte bei den von 
der Macht ausgeschlossenen Angehörigen des Adels das Miß- 
trauen gegenüber der Zentralgewalt, schärfte ihren Freiheits- 
sinn und begünstigte ihr Werben um die unteren Schichten. 
Alle radikalen Reformbewegungen des 18. und des frühen 
19. Jahrhunderts haben innerhalb der Oberschichten Befür- 
worter gefunden. 

Selbst zur Zeit des Chartismus in den 1830er und 1840er 

Jahren gab es neben der Entschlossenheit zur Herrschaftsbe- 
hauptung auf Seiten der Elite doch auch ein gewisses Quan- 
tum an Verständnis und Sympathie für die Belange der unte- 
ren Schichten, das diese in der Regel von extremen Schritten 
und Verzweiflungstaten abhielt. Paternalistische Tories be- 
kämpften das neue Armengesetz, das die Chartisten so erbit- 
terte und den Anstoß zu ihrer Bewegung gab. Andererseits 
weigerten sich die regierenden Whigs mit ihrem besonders 
ausgeprägten aristokratischen Selbstvertrauen, sich von 
alarmierten Tories zu Kurzschlußhandlungen gegen die Char- 
tisten hinreißen zu lassen. Sie sahen sich als Partei der Freiheit 
und als Verteidiger der Volksrechte. Besondere Sympathien 
für die chartistischen Arbeiter besaß ausgerechnet ein führen- 
der Militär, Generalmajor Sir Charles Napier, der als Befehls- 
haber im Norden Englands die Schlüsselrolle bei der Bekämp- 
fung des militanten Chartismus zugewiesen erhielt. Er ver- 
suchte, jeden Konflikt zu vermeiden. Er hatte aufrichtiges 
Mitleid mit den notleidenden Handwebern und identifizierte 
sich mit der chartistischen Forderung nach dem allgemeinen 
Wahlrecht. 

Oft genug war freilich das Eintreten von Adligen für

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Volksbewegungen eher eine Variante exzentrischen Verhal- 
tens – eine Art von Gourmandise – und hatte mit einer egali- 
tären Neigung ihrerseits nichts zu tun. Der Weber und Dich- 
ter Samuel Bamford fühlte sich auf dem Landsitz eines adli- 
gen Förderers der plebejischen Reformbewegung in den 
Jahren nach 1815 nur als ein „very humble guest“. Die Bar- 
rieren der gesellschaftlichen Rangordnung wurden, wie er 
erkennen mußte, durch die politische Zusammenarbeit nicht 
durchbrochen. Es blieb bestehen, was Bamford ein Gefühl des 
„classism“ nannte und, ähnlich wie später George Orwell, als 
„Fluch Englands und der Engländer und auch der Englände- 
rinnen“ bezeichnete.

23

 

Der Publizist William Hazlitt hat in seinem Essay über 

Lord Byron eine Erklärung für die radikale Haltung mancher 
Adliger geliefert. Er verglich sie mit der eines Mannes, der 
seiner Stellung überdrüssig sei und ein perverses Vergnügen 
daran finde, sich für jemand auszugeben, der er nicht sei. So 
verhalte es sich mit Lord Byrons „Liberalismus“. Daß er 
„Prinzipien der Gleichheit“ prätendiere, hindere ihn nicht, 
sein Privileg als Peer geltend zu machen.

24

 In dem Roman 

„Portrait of a Lady“ von Henry James wird die Protagonistin 
in sehr ähnlicher Weise darüber belehrt, daß der von einigen 
englischen Adligen vertretene Radikalismus sehr theoretisch 
sei und eine Art von Krönung ihres Luxus darstelle: Mit ihren 
„progressiven Ideen“ fühlen sie sich „moralisch, und sie scha- 
den dennoch nicht ihrer Stellung. Sie halten sehr viel von ihrer 
Stellung; laß’ Dir von keinem von ihnen weißmachen, daß es 
nicht so sei. . .“

25

 

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64

VII. Die Demokratisierung 

und die Entwicklung zum Sozialstaat 

 
 
In den 1870er und 1880er Jahren wirkte eine Reihe von Fak- 
toren zusammen, die eine Bresche in die Adelsherrschaft 
schlugen. Die Agrardepression und sinkende Getreidepreise 
raubten ihr die wirtschaftliche, die Einführung des geheimen 
Wahlrechts im Jahre 1872 und die Wahlrechtsreform von 
1884 entzogen ihr die politische Grundlage. Das geheime 
Stimmrecht war für die Grundherren um so nachteiliger, als 
der Franchise Act von 1884 auch den Landarbeitern das 
Wahlrecht gab. Insgesamt wurden durch das dritte Reformge- 
setz etwa 60 Prozent der Männer stimmberechtigt. Das 
Schwergewicht des politischen Systems verlagerte sich vom 
Land auf die Stadt.

1

 Der mit dem Franchise Act verbundene 

Redistribution Act verteilte 138 Sitze neu, wobei Einmann- 
wahlkreise jetzt die Regel wurden. London erhöhte die Zahl 
seiner Abgeordneten von 22 auf 68.

2

 

Die Folgen der dritten Parlamentsreform zeigten sich so- 

gleich in der sozialen Zusammensetzung des Unterhauses. 
Zum ersten Mal bildeten in ihm die Angehörigen der grund- 
besitzenden Schichten nicht mehr die Majorität, und ihr An- 
teil verringerte sich von Wahl zu Wahl immer mehr.

3

 Im letz- 

ten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts stellten die kommerziellen 
und industriellen Klassen eine knappe Mehrheit von Sitzen im 
House of Commons.

4

 Die Frage ist freilich, ob dieser Verän- 

derung noch sehr große faktische Bedeutung zukam, da um 
diese Zeit die grundbesitzende und die wirtschaftsbürgerliche 
Elite ohnehin immer mehr zu einer Einheit zusammenwuch- 
sen und in der Konservativen Partei ihren gemeinsamen politi- 
schen Wortführer fanden. 

Ihre beherrschende Stellung im Oberhaus behielten die 

grundbesitzenden Schichten sehr viel länger als im Unterhaus. 
Am längsten hielten sie ihren überproportionalen Anteil an 
den Regierungen. Es war insgesamt ein sich sehr lange hinzie- 
hender, allmählicher Rückzug von der Macht. Mit subtiler

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65

Ironie hat David Cannadine diesen Prozeß charakterisiert, 
wenn er schreibt: „Im Unterschied zu den anderen großen 
Aristokratien Europas waren die britischen Patrizier nicht 
die Opfer von Bürgerkrieg, bewaffneter Invasion, proletari- 
scher Revolution oder militärischer Niederlage. In angemes- 
sener Übereinstimmung mit ihren eigenen Whigvorstellungen 
über die britische Vergangenheit stieg die um die Mitte des 
19. Jahrhunderts mächtigste Aristokratie allmählich und sacht 
ab...“

5

 

Dem entsprach der Gradualismus bei der Schaffung einer 

politischen Demokratie und der Einführung sozialpolitischer 
Maßnahmen. Beide Ebenen verbanden sich bei dem auf die 
Gesetzgebung von 1884 folgenden, nächsten großen Demo- 
kratisierungsschub, der den entscheidenden Schritt zur Ent- 
machtung des Adels darstellte: der Verabschiedung des Par- 
liament Act von 1911. 

Die Unterhauswahl von 1906 hatte, nach einem Jahrzehnt 

Konservativer Regierungen, zu einem überwältigenden Sieg 
der Liberalen Partei geführt. Die Liberalen hatten offenbar 
aus der Sackgasse, in die sie durch das beharrliche Eintreten 
Gladstones für die Autonomie Irlands („Home Rule“) geraten 
waren, wieder herausgefunden. Sie profitierten davon, daß die 
durch den Burenkrieg um die Jahrhundertwende entfachte 
imperialistische Stimmung einer Ernüchterung gewichen war 
und die Konservative Regierung die Nonkonformisten durch 
ein Schulgesetz aufgebracht hatte, das die Finanzierung kirch- 
licher Schulen aus öffentlichen Mitteln vorsah und damit 
gegen das von ihnen vertretene Prinzip einer Trennung von 
Kirche und Staat verstieß. Die Wahlen von 1906 waren die 
letzten in der englischen Geschichte, in denen eine religiöse 
Frage eine wesentliche Rolle spielte. 

Die Liberalen, die unter dem Einfluß eines sozialpolitisch 

aufgeschlossenen „New Liberalism“ standen, sahen sich trotz 
des großen Wahlerfolgs bei der Verwirklichung ihres Gesetz- 
gebungsprogramms durch die Opposition des ganz überwie- 
gend aus Konservativen Peers gebildeten House of Lords 
behindert. Nachdem das Oberhaus bereits mehrere vom Un-

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66

terhaus verabschiedete Gesetze zurückgewiesen hatte, kam es 
über das vom Liberalen Schatzkanzler Lloyd George 1909 
vorgelegte „Volksbudget“ zum Konflikt. Dieses Budget sah 
zur Finanzierung der Sozialpolitik sowie der wegen der deut- 
schen Flottenrüstung notwendig gewordenen Ausgaben für 
den vermehrten Bau von Schlachtschiffen eine erhöhte Steuer- 
belastung der vermögenden Schichten vor. Besonders die 
Grundherren wurden von neuen Steuern betroffen und fühl- 
ten sich herausgefordert. Der Haushalt wurde vom Oberhaus 
im November 1909 mit 350 gegen 75 Stimmen abgelehnt. Die 
alte grundbesitzende Elite reagierte auf das, was der ehemali- 
ge Liberale Premierminister Lord Rosebery als „soziale und 
politische Revolution ersten Ranges“ bezeichnete, mit einem 
verfassungsrechtlich präzedenzlosen Akt des Widerstandes. 
Denn bis dahin war es üblich gewesen, daß das House of 
Lords bei Finanzgesetzen sein Vetorecht nicht ausübte. 

Nach zweimaligen Neuwahlen im Jahre 1910, deren Er- 

gebnis die Liberale Regierung faktisch in Abhängigkeit von 
den irischen Abgeordneten brachte und damit das Irlandpro- 
blem von neuem aufrollte, wurde 1911 der Parliament Act 
verabschiedet. Er nahm dem Oberhaus die Befugnis, finanziel- 
le Maßnahmen abzulehnen. Darüber hinaus konnte es alle 
anderen Gesetzesvorlagen, an denen das Unterhaus festhielt, 
nur noch um höchstens zwei Jahre verzögern. Daß diese Neu- 
regelung durchging, war vor allem auf die dem neuen Monar- 
chen, Georg V., abgerungene Einwilligung zur Drohung mit 
einem Pairsschub zurückzuführen. Damit wiederholte sich, 
was 1832 beim Zustandekommen des ersten Reform Act 
geschehen war. Die von den Lobrednern des englischen Ver- 
fassungssystems so oft gepriesene Dreiteilung von King, Lords 
und Commons erwies sich in der Tat in entscheidenden Pha- 
sen der Verfassungsentwicklung als ein Stabilitätsfaktor, der 
evolutionären Wandel ermöglichte. 

Im übrigen beschränkte sich der Demokratisierungsschub, 

der mit dem Parliament Act von 1911 bewirkt wurde, nicht 
auf die Beschneidung der Rechte des Oberhauses. Das Gesetz 
verkürzte auch die Legislaturperioden von sieben auf fünf

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67

Jahre. Der Septennial Act von 1716 hatte einst die „Ära der 
Oligarchie“ eingeleitet, der Parliament Act von 1911 war ein 
Markstein auf dem Weg zur Demokratie in Großbritannien. 

Ein weiterer Demokratisierungsschub erfolgte durch den 

Representation of the People Act von 1918. Wie in Preußen 
das Dreiklassenwahlrecht, so war auch in Großbritannien das 
beschränkte Wahlrecht durch den Ersten Weltkrieg unter 
Druck geraten. Auch dort hatte, nach der treffenden Formu- 
lierung des Historikers Peter Clarke, der Krieg Arbeiter in 
Soldaten verwandelt, die den unbestreitbaren Anspruch erho- 
ben, als Bürger betrachtet zu werden.

6

 Im Unterschied zu den 

preußischen Konservativen, die bis zuletzt diesem Anspruch 
widerstrebten, gaben die britischen Konservativen nach.

7

 

Durch den Representation of the People Act von 1918 

wurden nunmehr alle erwachsenen Männer wahlberechtigt. 
Das bis dahin bestehende Wahlsystem hatte einen großen Teil 
der Soldaten, die Empfänger von Armenunterstützung, Be- 
dienstete ohne eine eigene Wohnung, eine bestimmte Katego- 
rie von Untermietern und Söhne ausgeschlossen, die bei ihren 
Eltern wohnten, aber nicht über ein eigenes Zimmer verfüg- 
ten. Die traditionelle Verbindung von Wahlrecht und Eigen- 
tum war durch die drei ersten Reformen rationaler gestaltet 
worden, und man hatte das Eigentumserfordernis vermindert. 
Grundsätzlich war es jedoch nicht aufgegeben worden. Jetzt 
entfiel es gänzlich, wodurch der faktische Ausschluß von 
schätzungsweise 40 Prozent der erwachsenen Männer vom 
Wahlrecht, der sich nicht zuletzt auch aus den Wohnsitzbe- 
stimmungen ergeben hatte, aufgehoben wurde. Zugleich er- 
hielten die meisten Frauen, die älter als 30 Jahre waren, das 
Wahlrecht. Das war für den Reformgradualismus charakteri- 
stisch, der die britische Entwicklung durchweg auszeichnete. 
Erst 1928 wurden auch erwachsene Frauen unter 30 Jahren 
wahlberechtigt. Das allgemeine Wahlrecht, das die britischen 
Oberschichten lange Zeit so gefürchtet hatten, gerade weil 
das Parlament von Westminster im Unterschied zu anderen 
Volksvertretungen das tatsächliche Machtzentrum im politi- 
schen System bildete, war nahezu hundert Jahre nach der

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68

ersten Reformbill in umfassender Weise Wirklichkeit gewor- 
den.

8

 

Damit wurde zugleich die Grundlage für eine Umbildung 

des Parteiensystems und die Voraussetzung für den Durch- 
bruch einer eigenständigen Arbeiterpartei geschaffen. Eine 
solche hat es nach dem Ende der Chartistenbewegung um die 
Mitte des 19. Jahrhunderts nicht mehr gegeben. Es war eine 
„Entradikalisierung“ der englischen Arbeiter erfolgt, die sich 
ganz überwiegend auf die Wahrnehmung ihrer Interessen 
durch gewerkschaftliche Tätigkeit konzentrierten. Sie ist dar- 
auf zurückzuführen, daß einerseits Krone und Parlament eine 
ideologische Hegemonie ausübten, andererseits die herrschen- 
den und besitzenden Schichten freie Lohnvereinbarungen in 
Form des „collective bargaining“ gestatteten.

9

 Politisch hatten 

sich die Gewerkschaften vor allem an die Liberale Partei ange- 
lehnt, die seit dem Auszug der Whigs und der Finanzbour- 
geoisie Mitte der 1880er Jahre überwiegend zu einer Partei 
der unteren Mittelschichten und Arbeiter geworden war. 
Obwohl Ende des 19. Jahrhunderts etwa 75 Prozent der Be- 
völkerung zur Arbeiterklasse gehörten, kam es erst im Jahre 
1900 auf Seiten der Gewerkschaften zu dem Entschluß, der 
Arbeiterbewegung auch ein politisches Standbein zu geben. 
Die mangelnde Bereitschaft der Liberalen, Arbeiter als Kandi- 
daten bei den Unterhauswahlen aufzustellen, und vor allem 
die mangelnde Unterstützung bei der gesetzlichen Absiche- 
rung von Arbeitskämpfen führten zu der Entscheidung, ein 
Labour Representation Committee zu gründen, das dann 
1906 in Labour Party umbenannt wurde. Kleinere sozialisti- 
sche Gruppen wie die 1893 entstandene Independent Labour 
Party Keir Hardies waren an der Gründung beteiligt. Die 
Labour Party gab sich jedoch erst 1918 ein sozialistisches 
Programm und blieb in vieler Hinsicht ein Annex der Ge- 
werkschaften, die mit ihren kompakten Stimmblöcken die 
Parteitage beherrschten. 

Im Unterschied zu den Arbeiterbewegungen anderer Länder 

ist die britische Arbeiterbewegung durch den Ersten Weltkrieg 
trotz der in ihr vertretenen unterschiedlichen Positionen nicht

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69

anhaltend gespalten worden. Vielmehr gelang es ihr auf er- 
staunliche Weise, die Vorteile einer Kooperation im Rahmen 
der Kriegswirtschaft für die Arbeiterschaft zu nutzen und 
zugleich von einer kritischen Haltung gegenüber der Außen- 
und Kriegspolitik zu profitieren, die wegen der starken mora- 
lischen Tradition in England besonders unter Intellektuellen 
großen Anklang fand.

10

 Bei den Wahlen von 1918 erhielt die 

Labour Party 22,7 Prozent der abgegebenen Stimmen. Sie 
löste die Liberale Partei als die wichtigste Partei des Fort- 
schritts ab. 1924 bildete sie dann zum ersten Mal die Regie- 
rung, bei der es sich freilich um ein kurzlebiges Minderheits- 
kabinett handelte. 

Die Angst der Ober- und Mittelschichten vor dem allge- 

meinen Wahlrecht, die den Prozeß der Demokratisierung so 
langwierig gestaltet hatte, war mit dem Representation of the 
People Act von 1918 nicht erloschen, sondern erhielt jetzt 
verstärkt die konkrete Form einer Furcht vor dem Aufstieg 
der Labour Party.

11

 Als Mittel gegen diese Gefahr betrachtete 

man vielfach die Gründung einer großen Sammlungspartei 
oder eine dauerhafte Koalition von Konservativen und Libera- 
len. Die Koalitionsidee war in Gesprächen zwischen führen- 
den Politikern der beiden Parteien angesichts des Problem- 
staus der letzten Vorkriegs jähre bereits vor 1914 erörtert 
worden. Diese Kontakte führten jedoch zu keinem Ergebnis.

12 

1915 kam es dann zu einer Kriegskoalition, wobei zunächst 
der Liberale Asquith als Premierminister weiter amtierte, 
dann aber 1916 durch seinen Parteifreund Lloyd George ver- 
drängt wurde. Die Koalition ist auch nach Kriegsende zu- 
nächst fortgesetzt worden, fand jedoch 1922 durch eine Re- 
volte der Konservativen Hinterbänkler ein Ende. Das Koaliti- 
onskonzept blieb freilich – mit dem Blick auf die Labour 
Party – für manche Politiker das Ideal. 

Die „Sammlungspolitik“ in Gestalt einer förmlichen Koali- 

tion oder in Form einer Parteineugründung erwies sich freilich 
kaum als notwendig. Eine Sammlung wurde von der in der 
Zeit zwischen den beiden Weltkriegen dominierenden Kon- 
servativen Partei im wesentlichen auch allein erreicht. Es

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70

gelang ihr, einen großen Teil der Gesellschaft oberhalb der 
Arbeiterklasse zusammenzufassen (und überdies von vielen 
Arbeitern gewählt zu werden). Diese Zusammenfassung, die 
nach außen hin in der bürgerlichen Einheitsfront gegen den 
1926 über einen Konflikt im Kohlebergbau ausbrechenden 
Generalstreik sichtbar wurde, erfolgte mit der Spitze gegen 
die organisierte Arbeiterschaft. Es entsprach allerdings der 
bereits erwähnten englischen Tradition, daß sich einzelne 
Angehörige der Oberschichten wie der frühere Liberale 
Kriegsminister Haidane und selbst der Sohn des Konserva- 
tiven Premierministers Baldwin der Labour Party zur Ver- 
fügung stellten. Auch geschah die Zusammenfassung nicht in 
der massiv-brutalen Form, wie es im Deutschen Kaiserreich 
mit der Agitation gegen die „Reichsfeinde“ und die „vater- 
landslosen Gesellen“ versucht worden war. Sie erfolgte viel- 
mehr auf die feinere englische Art durch negative soziale 
Stereotypen und in Gestalt der Zurückweisung angeblich 
maßloser, die wirtschaftliche Stabilität gefährdender ökono- 
mischer Ansprüche der Arbeiter.

13

 

Das Ergebnis dieser Strategie war die weitgehende Neutra- 

lisierung des von der Labour Party 1918 erreichten Positions- 
gewinns, so daß die von dieser Partei 1924 und 1929 gebilde- 
ten Regierungen nur Minderheitskabinette darstellten, deren 
Spielraum außerordentlich begrenzt war. Die zweite Labour- 
regierung wurde zudem durch ihre eigene Konzeptionslosig- 
keit gegenüber der Weltwirtschaftskrise gelähmt. Es kam 
1931 über die Frage der Arbeitslosenunterstützung zur Spal- 
tung der Partei sowie zu einer „nationalen“ Koalitionsregie- 
rung mit den Konservativen und einem Teil der Liberalen, in 
welcher der Premierminister Ramsay MacDonald mit einigen 
Labourministern weiter amtierte. Das Schwergewicht dieser 
Koalitionsregierung, die bei den Wahlen von 1931 und 1935 
einen überwältigenden Sieg errang, lag eindeutig bei den Kon- 
servativen. Deren Parteiführer Stanley Baldwin übernahm 
denn auch nach dem Rücktritt MacDonalds 1935 das Amt 
des Premierministers. Ihm folgte zwei Jahre später sein Partei- 
freund Neville Chamberlain. 

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71

Der auf Erhaltung des Friedens um nahezu jeden Preis ge- 

richtete außenpolitische Kurs Chamberlains gegenüber dem 
nationalsozialistischen Deutschland, der gemeinhin mit dem 
Begriff „Appeasementpolitik“ charakterisiert wird, war eben- 
so wie der innenpolitische Kurs seiner Partei nach 1918 in 
hohem Maße von der Absicht bestimmt, das gesellschaftliche 
System und die Machtverteilung in Großbritannien zu erhal- 
ten. Die Außenpolitik Chamberlains wurde nicht zuletzt von 
der Intention geleitet, eine Aufwertung der Arbeiterschaft und 
eine Stärkung ihrer Organisationen, wie sie sich im Ersten 
Weltkrieg vollzogen hatten, zu verhindern.

14

 

Was Chamberlain als unerwünschte Folge eines Krieges 

vorausgesehen hatte, ist tatsächlich eingetreten. Der Zweite 
Weltkrieg hat, noch mehr als der Erste Weltkrieg, die Arbei- 
terbewegung in Großbritannien gestärkt. Der massige und 
selbstbewußte Gewerkschaftsführer Ernest Bevin, der im Mai 
1940 zusammen mit anderen Labourpolitikern in die von 
Winston Churchill geführte und verbreiterte Koalitionsregie- 
rung eintrat, wirkte wie ein Symbol dieser Arbeitermacht. 
Umgekehrt war das Prestige der Konservativen Führungs- 
schicht durch die Appeasementpolitik und ihre das Land an 
den Rand der Niederlage treibende Inkompetenz schwer be- 
einträchtigt. 

Zu den Konsequenzen der neuen innenpolitischen Macht- 

verteilung und des Angewiesenseins auf die Arbeiterklasse im 
Krieg gehörte nicht nur eine Berücksichtigung ihrer aktuellen 
Forderungen in bezug auf Ernährung, Arbeitsbedingungen 
und Sozialleistungen, sondern auch eine veränderte Perspekti- 
ve in Hinblick auf die Nachkriegsordnung. Die Erkenntnis 
war allgemein, daß es nicht einfach zu einer Rückkehr zum 
Status quo ante kommen durfte. Unter dem Einfluß des Krie- 
ges vollzog sich eine Ausweitung des Freiheits- und Demo- 
kratiebegriffs ins Wirtschaftlich-Soziale. Selbst die „Times“ 
erklärte 1940, eine Demokratie, die über das Stimmrecht das 
Recht auf Arbeit vergesse, verdiene ihren Namen nicht.

15

 

Der Zusammenhang zwischen dem Kriegseinsatz der arbei- 

tenden Bevölkerung und dem Versprechen einer besseren

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72

Gesellschaft nach dem Krieg wurde von Bevin in einer Unter- 
hausrede vom 21. Juni 1944 eindrucksvoll dargestellt. Bevin 
schilderte, wie er zusammen mit Churchill nach Nordafrika 
gehende britische Soldaten verabschiedete und dabei von 
ihnen mit einer einzigen Frage konfrontiert wurde: „Ernie, 
wenn wir diese Arbeit für dich getan haben, müssen wir dann 
wieder von der Arbeitslosenunterstützung leben?“ Seine und 
des Premierministers Antwort, so Bevin, sei nein gewesen; und 
diese Antwort müsse nicht nur für diese tapferen Männer, 
sondern auch für „künftige Generationen zu einer Tatsache“ 
gemacht werden.

16

 

Man begann bereits während des Krieges mit Planungen für 

die Nachkriegsordnung. Unter ihnen hat der ein umfassendes 
und einheitliches System der Sozialversicherung entwerfende 
Beveridge Report vom November 1942 die größte Bedeutung 
erlangt. Obwohl er unter einem überaus trockenen bürokrati- 
schen Titel erschien, wurde er sogleich ein Bestseller, von dem 
653 000 Exemplare verkauft wurden. Nicht alle stellten sich 
freilich auf den Boden dieses Berichts. Der Direktor der briti- 
schen Arbeitgeberorganisation erklärte, man sei nicht in den 
Krieg eingetreten, um das Sozialwesen zu verbessern, sondern 
um die Gestapo aus England fernzuhalten. Auch Churchill 
versuchte zunächst, die vom Beveridge Report angeschnitte- 
nen Fragen auf die Zukunft zu verschieben. Er sah sich indes 
angesichts der verbreiteten Enttäuschung über diese Haltung 
gezwungen, im März 1943 in einer Rundfunkrede für eine 
umfassende Sozialversicherung „von der Wiege bis zum Gra- 
be“ einzutreten.

17

 

Meinungsumfragen zeigten jedoch, daß große Teile der Be- 

völkerung solche Zusicherungen von Konservativer Seite mit 
Skepsis betrachteten, und wiesen auf einen Trend innerhalb 
der Wählerschaft zugunsten der Labour Party bereits seit 
Ende des Jahres 1942 hin. Bei den Wahlen vom Juli 1945 
errang die Partei dann – zur Überraschung ihrer eigenen Füh- 
rungsgruppe, die zum Teil sogar die Koalition hatte fortsetzen 
wollen – einen großen Wahlsieg. Labour erhielt 47,8 Prozent, 
die Konservative Partei nur 39,8 Prozent der abgegebenen

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73

Stimmen. Der Wahlerfolg der Labour Party ist ganz überwie- 
gend auf das veränderte Wahlverhalten der Arbeiterschaft 
zurückzuführen. Hatten sich in den 1930er Jahren 50 Prozent 
der Arbeiterwähler für die Konservativen entschieden, so sank 
dieser Anteil jetzt auf 30 Prozent.

18

 Diese Veränderung hatte 

offenbar mit einem grundlegenden Wandel zu tun und stand 
im Zusammenhang mit dem Abbau einer Ehrerbietungshal- 
tung gegenüber den Oberschichten. Passivität, Fatalismus und 
Fügsamkeit waren einer Untersuchung von „Mass Observati- 
on“ aus dem Jahre 1944 zufolge durch den Krieg innerhalb 
der Bevölkerung zurückgedrängt worden.

19

 

Hatte der Erste Weltkrieg zur Einführung einer Demokratie 

in Großbritannien geführt, so führte der Zweite Weltkrieg 
zur Schaffung eines Wohlfahrtsstaates. Die politischen Bür- 
gerrechte wurden im Juli 1945 von den Wählern dazu be- 
nutzt, um sie durch soziale Bürgerrechte zu ergänzen. Dabei 
knüpften die Sozialreformen der Labourregierung an die 
Sozialgesetzgebung der Liberalen Regierung vor dem Ersten 
Weltkrieg an, weshalb man nicht zu Unrecht Lloyd George 
als den eigentlichen Begründer des britischen Wohlfahrts- 
staates bezeichnet hat.

20

 1906 hatte man sich entschlossen, 

in den Schulen freie Mahlzeiten für Kinder kinderreicher 
Familien auszugeben. 1909 wurde eine Altersversorgung für 
sozial Schwache, 1911 eine begrenzte Arbeitslosen- und 
Krankenversicherung eingeführt. Das Neue an dem National 
Insurance Act und dem National Health Service Act der La- 
bourregierung im Jahr 1946 war die Tatsache, daß alle von 
ihnen erfaßt wurden (obwohl es jedem freistand, sich zusätz- 
lich noch privat zu versichern). Durch diese Universalisierung 
wurde das der öffentlichen Unterstützung anhaftende Stigma, 
das vom Armengesetz des Jahres 1834 durchaus beabsichtigt 
gewesen war und geradezu seine raison d’etre gebildet hatte, 
beseitigt. Der 5. Juli 1948 wurde in England zum Tag des 
Wohlfahrtstaates. An ihm trat der staatliche Gesundheits- 
dienst ins Leben, bei dessen Planung der linke Labourpolitiker 
Bevan federführend gewesen war. 

Daß der Terminus Wohlfahrtstaat in bezug auf das von der

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74

Labourregierung geschaffene System kein leeres Wort war – 
selbst wenn sich die Vermögensverteilung kaum änderte und 
die Privatschulen sogar einen bis dahin nicht gekannten Auf- 
schwung erlebten –, das zeigen die Untersuchungen Rowntrees. 
Hatten in York im Jahre 1936 über 30 Prozent der Bevölkerung 
unterhalb der Armutsgrenze gelebt (ein schockierender Befund, 
der 1941 veröffentlicht wurde und den Beveridge Report maß- 
geblich beeinflußte), so waren es 1951 nur noch 2,8 Prozent.

21 

An diesem günstigen Ergebnis, bei dem von Rowntree mögli- 
cherweise die Wirklichkeit etwas zu positiv beurteilt worden 
war,

22

 hatte jedoch nicht nur die Sozialgesetzgebung der Re- 

gierung Attlee, sondern auch die Vollbeschäftigung der Nach- 
kriegsjahre einen wesentlichen Anteil. Das Problem der Ar- 
beitslosigkeit schien beseitigt. Sie sank von 1,7 Prozent im 
Jahre 1946 auf 1,1 Prozent im Jahre 1951.

23

 Die Vollbe- 

schäftigung und der unter Attlee geschaffene Sozialstaat blie- 
ben auch in der langen Phase Konservativer Regierungen 
unter Winston Churchill, Anthony Eden, Harold Macmillan 
und Alec Douglas-Home zwischen 1951 und 1964, trotz einer 
zu dem Ethos der Attleeregierung im Widerspruch stehenden 
starken Betonung des individuellen Konsums, erhalten. Die 
Konservativen konnten dabei auf den sozialpaternalistischen 
Traditionsstrang ihrer Partei zurückgreifen,

24

 der letztlich im 

Paternalismus des Adels und dem Prinzip des „noblesse obli- 
ge“ seinen Ursprung hatte. Zudem hatte Macmillan in den 
30er Jahren zu den wenigen Politikern gehört, die unter dem 
Einfluß der Theorie von Keynes ernsthaft an Plänen zur Be- 
kämpfung der Arbeitslosigkeit mitgewirkt hatten. 1936 hatte 
Macmillan sogar erklärt: „Der Toryismus ist immer eine 
Form des paternalistischen Sozialismus gewesen.“

25

 

Auf die Dauer erwies sich jedoch der 1945 eingeschlagene 

Weg wegen der geringen Leistungsfähigkeit der britischen 
Wirtschaft als problematisch. Es rächte sich, daß die Regie- 
rung Attlee es unterlassen hatte, durch langfristige Planung 
eine Produktivitätssteigerung der Wirtschaft zu gewährleisten 
und durch Einführung der gewerkschaftlichen Mitbestim- 
mung das Arbeitsklima in der Industrie zu verbessern.

26

 Hier

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75

zeigte es sich als nachteilig, daß Großbritannien zu den Sie- 
gernationen gehörte. Denn das führte verständlicherweise zu 
einer gewissen nationalen Selbstzufriedenheit und erschwerte 
die notwendigen Reformen sowie die Revision überkommener 
und eingeschliffener Verhaltensweisen. Es schien zu genügen, 
wenn man die im Krieg bewiesene nationale Solidarität durch 
eine fortschrittliche Sozial- und Vollbeschäftigungspolitik 
honorierte und in die Friedenszeit hinüberrettete. 

Hinzu kam, daß die hohen Militärausgaben eine starke di- 

rekte Belastung darstellten und häufig auch indirekt die Wirt- 
schaft schädigten, indem sie zum Devisenabfluß beitrugen, 
das Pfund unter Druck setzten und die Regierungen zu kon- 
junkturdrosselnden Maßnahmen veranlaßten. Die britischen 
Militärausgaben lagen stets weit über dem, was etwa die 
Bundesrepublik für die Verteidigung aufbrachte. 1950 gab 
Großbritannien sogar einen größeren Anteil seines Bruttoso- 
zialprodukts für die Verteidigung aus als die Vereinigten Staa- 
ten.

27

 Teilweise resultierte das aus den Kosten der Britischen 

Besatzungszone in Deutschland sowie dem Kalten Krieg. 
1950, als ein militärischer Zusammenstoß mit der Sowjetuni- 
on unmittelbar bevorzustehen schien, wurde von der Labour- 
regierung ein gewaltiges Rüstungsprogramm beschlossen. Es 
veranlaßte sie zur Einführung einer Selbstbeteiligung von 
Patienten im staatlichen Gesundheitsdienst, die den Rücktritt 
Bevans sowie einen anhaltenden Bruch innerhalb der Labour 
Party nach sich zog. 

Zum Teil ergaben sich die hohen britischen Militärausga- 

ben jedoch aus dem beharrlichen Festhalten am Groß- 
machtstatus und an imperialen Positionen. Man wird an die 
Warnung Cobdens erinnert, der bereits 1835 auf den Nieder- 
gang Spaniens infolge seines „transatlantischen Ehrgeizes“ 
hingewiesen und die Frage gestellt hatte, ob Großbritannien 
nicht ein ähnliches Schicksal bevorstehe.

28

 Auch Labourregie- 

rungen waren nicht bereit, die britische Großmachtrolle auf- 
zugeben. Die kostspielige Atomrüstung wurde von Attlee und 
seinem Außenminister Bevin mit großer Selbstverständlichkeit 
vorangetrieben. Zudem war man durchaus nicht willens,

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76

mehr imperiale Stellungen zu räumen, als man mußte. War 
man gezwungen, sich zurückzuziehen – wie aus Indien im 
Jahre 1947 –, versuchte man, anderswo strategische Ersatz- 
positionen aufzubauen und in den unabhängig werdenden 
Staaten im Rückgriff auf die Tradition des „informal empire“ 
ohne förmliche Herrschaft weiterhin politischen und wirt- 
schaftlichen Einfluß auszuüben.

29

 Diese relativ flexible Stra- 

tegie der Positionsbehauptung fand die Unterstützung der 
Vereinigten Staaten, die in der Zeit des Kalten Krieges gegen- 
über der Stellung Großbritanniens in Asien und Afrika eine 
positivere Haltung einnahmen als während des Zweiten 
Weltkrieges.

30

 

Seine Devisenprobleme gaben Großbritannien einen beson- 

deren Grund, an den überseeischen Besitzungen in der einen 
oder anderen Form festzuhalten. Man kann sogar sagen, daß 
die ökonomischen Zwänge zur Nutzung und Entwicklung 
überseeischer Gebiete in der Geschichte des Empire noch 
niemals so stark waren wie in den Jahren nach 1945. Auf die 
wirtschaftliche Erschließung der afrikanischen Kolonien, 
deren Unabhängigkeit man noch in weiter Ferne glaubte, 
setzte man innerhalb der Labour Party nach dem Zweiten 
Weltkrieg wegen der Dollarknappheit ganz besonders große 
Hoffnungen. Es läßt sich behaupten, daß die 1945 gebildete 
Labourregierung von den Möglichkeiten einer Nutzung des 
Empire großartigere Vorstellungen hatte als irgendeine andere 
Regierung seit den Tagen, als Joseph Chamberlain Kolonial- 
minister war. Attlee stellte sogar die Frage, ob man nicht 
afrikanische Truppen die traditionelle Rolle der indischen 
Armee als eines Instruments britischer Außenpolitik und 
Kriegführung übernehmen lassen könne.

31

 

Wie wirtschaftliche Zwänge einerseits, Großmachtillusio- 

nen und Furcht vor dem Abstieg andererseits noch lange nach 
dem Ende des Zweiten Weltkrieges eine imperiale Vision 
erzeugen konnten, macht ein Kabinettsmemorandum des 
damaligen Ministers für Wohnungsbau, Harold Macmillan, 
vom Juni 1952 deutlich. In ihm verwies der spätere Konser- 
vative Premierminister auf die Notwendigkeit, wegen der

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77

Wettbewerbsschwäche der britischen Wirtschaft den Handel 
mit dem Sterlingbereich zu intensivieren. Er sah darin jedoch 
zugleich die Chance, die „nationale und imperiale Stärke“ 
Großbritanniens wiederzuerrichten und eine „Vision des ge- 
lobten Landes“ zu eröffnen. Macmillan schloß sein Memo- 
randum mit den Sätzen: „Wir sehen uns im Innern mit einer 
ständigen Intensivierung von Klassenkämpfen und jenem 
Gefühl der Frustration konfrontiert, das zur Ablehnung aller 
bestehenden Institutionen führt; wir werden uns möglicher- 
weise gleichzeitig dem Zerbrechen des Commonwealth und 
unserem Niedergang zu einer zweitrangigen Macht gegen- 
übersehen. Ich sehe keinen Ausweg aus diesen Gefahren als 
die furchtlose Proklamierung einer Politik, die die Massen 
inspiriert sowie ihren Stolz und ihr Vertrauen wiederherstellt. 
Das ist die Alternative – das Abgleiten in einen schäbigen und 
matschigen Sozialismus oder der Marsch in das dritte briti- 
sche Empire.“

32

 Selten ist eine sozialimperialistische Strategie 

so klar und unverhohlen formuliert worden wie in diesem 
Memorandum eines führenden Konservativen Politikers in der 
Endphase des britischen Weltreiches. Selten ist sie aber auch 
so unrealistisch gewesen wie zu diesem Zeitpunkt. 

Handelte es sich bei diesem Appell zum Aufbruch in ein 

drittes britisches Empire mit seiner ausgeprägten sozial- 
imperialistischen Perspektive auch um ein extremes Doku- 
ment imperialen Denkens, so bestand doch zwischen den 
Regierungen der Konservativen und der Labour Party hin- 
sichtlich der Prägekraft der imperialen Tradition letztlich kein 
Unterschied. Der Parteiführer der Labour Party, Gaitskell, 
mobilisierte auf dem Parteitag von 1962 im Kampf gegen den 
Beitritt zur EWG ein historisches Sonderbewußtsein und be- 
schwor dabei unter anderem die Schlachten des Ersten Welt- 
krieges, in denen die Truppen Großbritanniens und seiner 
Dominions gemeinsam gekämpft hatten.

33

 Der opportunisti- 

sche Labourpolitiker Harold Wilson, der 1964–70 und 1974- 
76 Premierminister war, hatte im Grunde nur zwei Überzeu- 
gungen: den Glauben an die Monarchie und den Glauben an 
das Empire.

34

 

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78

VIII. Vom Empire zum Commonwealth 

 
 
Die imperiale Dimension ist für das Verständnis der eng- 
lischen Geschichte wichtiger als für das Verständnis der 
Geschichte irgendeiner anderen Nation seit dem Altertum. 
Dabei erfolgte der Eintritt der Engländer in die Ära der ko- 
lonialen Expansion und der Aufbau ihres überseeischen Em- 
pire erst relativ spät. An der Besitznahme Amerikas im ausge- 
henden 15. und im 16. Jahrhundert waren sie nicht beteiligt. 
(Eine 1586 gegründete englische Niederlassung in Virginia 
war innerhalb weniger Jahre spurlos verschwunden.) An der 
Ausbeutung der amerikanischen Silberschätze nahm England 
nur indirekt teil, wenn elisabethanische Freibeuter spanische 
Städte plünderten und spanische Schiffe kaperten. 

Für die anfängliche Zurückhaltung Englands im kolonia- 

len Bereich lassen sich vor allem zwei Gründe anführen. 
Einerseits hatte man mit Irland gleichsam eine Kolonie vor 
der eigenen Haustür. Man war gegen Ende des 16. Jahr- 
hunderts vollauf damit beschäftigt, dieses Land, über das 
die englische Monarchie seit dem Mittelalter eine prekäre 
Oberhoheit ausübte, zu unterwerfen und zu kolonisieren. 
Andererseits reichten die englischen Kräfte auch für weit- 
gespannte überseeische Unternehmungen kaum aus. Ins- 
besondere waren die Finanzmittel der Krone zu schwach, um 
nach dem Vorbild der spanischen und portugiesischen 
Monarchen Kolonialunternehmungen in eigener Regie durch- 
zuführen, Kolonien durch den Staat zu verwalten und aus- 
zubeuten. Selbst die elisabethanische Seekriegführung gegen 
Spanien vollzog sich zu einem erheblichen Teil in privater 
Form, wobei sich die Monarchin als „Privatunternehmerin“ 
mit einigen ihrer Untertanen zum Zwecke des Profits zu- 
sammentat. Für manche Engländer war die Beteiligung am 
Krieg gegen Spanien (1585–1604), wie bereits die am Hun- 
dertjährigen Krieg gegen Frankreich (1337–1453), vorwiegend 
ein kommerzielles Unternehmen. Der Nachteil dieser Moti- 
vierung war, daß die englischen Befehlshaber eher daran

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79

interessiert waren, spanische Städte zu plündern als spanische 
Schiffe zu versenken. 

Trotz seiner anfänglichen Schwäche verfügte England je- 

doch über zwei Voraussetzungen, die auf längere Sicht seinen 
Aufstieg begünstigten und es spätestens nach dem Ende des 
Siebenjährigen Krieges (1756–63) zur führenden See-, Kolo- 
nial- und Handelsmacht der Welt werden ließen. Vor allem 
profitierte es davon, daß sich nach der Entdeckung Amerikas 
das Schwergewicht in Europa vom Mittelmeer auf den Atlan- 
tik verlagerte.

1

 England rückte damit von der Peripherie ins 

Zentrum eines politisch-kommerziellen Beziehungsgeflechts. 
Eine weitere günstige Voraussetzung stellte die Insellage Eng- 
lands dar. Sie bot als solche zwar keinen zuverlässigen Schutz 
vor einer Invasion. Sie ermöglichte es aber den Engländern, 
sich zur Abwehr von Invasionsversuchen ganz überwiegend 
auf die Flotte zu konzentrieren, die zugleich das Instrument 
weltpolitischer Aktivität darstellte. Das Mittel der Verteidi- 
gung war also ebenso das Mittel des Ausgreifens in die Welt. 

Wie sehr das eine in das andere auch im Bewußtsein der 

Engländer übergehen konnte, macht der von James Thomp- 
son verfaßte und dann von dem Komponisten Arne vertonte 
Vers deutlich, der über mehr als zwei Jahrhunderte hinweg in 
unzähligen Veranstaltungen von Angehörigen aller sozialen 
Schichten als eine Art von patriotischer Nationalhymne ge- 
sungen wurde: „Rule Britannia, Rule the Waves, Britons 
never will be Slaves.“ Die trotzige Versicherung, niemals 
Sklaven werden zu wollen, die Entschlossenheit zur Bewah- 
rung der eigenen Freiheit und Unabhängigkeit, verknüpfte 
sich in diesem Lied in nicht sehr logischer, aber den Eigen- 
tümlichkeiten der englischen Seemachtstellung durchaus 
Rechnung tragender Weise mit dem Herrschaftsanspruch über 
die Weltmeere. 

Die Konkurrenten Englands – zuerst Spanien, dann die 

Niederlande, lange Zeit Frankreich und schließlich Deutsch- 
land – waren aufgrund ihrer geographischen Lage ihm gegen- 
über nicht nur seestrategisch benachteiligt, sondern sie konn- 
ten sich auch niemals so stark auf die Flotte konzentrieren

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80

wie die Engländer. So hat zwar Frankreich im 18. Jahrhun- 
dert mehrmals „Flottenspurts“ eingelegt und seine Seerüstun- 
gen intensiv gesteigert; es mußte aber doch jedesmal wieder 
davon abgehen, weil die Stärke seines Heeres am Ende wich- 
tiger war. In sehr ähnlicher Weise setzte sich die Einsicht in 
die Priorität der Landrüstung letztlich auch in Deutschland 
kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges durch. 

Nur wenn es einer Macht gelungen wäre, die völlige Hege- 

monie über den europäischen Kontinent zu errichten, hätte sie 
ihre ganzen Ressourcen in die Flottenrüstung stecken und die 
maritime Überlegenheit Englands brechen können. Es lag 
daher im englischen Interesse, die Herausbildung einer sol- 
chen Hegemonialstellung zu verhindern und stets über Bun- 
desgenossen auf dem Kontinent zu verfügen, die ein militäri- 
sches Gegengewicht gegen den potentiellen Herausforderer 
bildeten. Die Finanzierung solcher Bundesgenossen bot für 
England die Möglichkeit, das eigene Heer zumeist klein hal- 
ten und sich ganz auf die Seeherrschaft konzentrieren zu kön- 
nen. Diese Ausrichtung bot auch Vorteile für die innere, 
kommerziell-industrielle Entwicklung des Landes, weil sie 
eine Militarisierung der Gesellschaft verhinderte und Kräfte 
für wirtschaftliche Betätigung zur Verfügung stellte. Die Be- 
wahrung einer Gleichgewichtssituation auf dem europäischen 
Kontinent, zu der England seit der Intervention Elisabeths in 
den Niederlanden während der 1580er Jahre immer wieder 
entscheidend beitrug, ermöglichte es ihm, seinerseits im Welt- 
bereich und auf den Meeren eine Hegemonie zu errichten. 
Das wird überaus deutlich daran erkennbar, daß jeder Frie- 
densschluß in Europa zwischen 1697 und 1918, der die fran- 
zösische bzw. die deutsche hegemoniale Herausforderung 
durch Herstellung eines neuen Gleichgewichts bremste oder 
beendete, für England einen Zuwachs im kolonialen Raum 
erbrachte.

2

 Es hat immer wieder Versuche von französischer 

und deutscher Seite gegeben, die öffentliche Meinung Europas 
gegen die von England ausgehende Bedrohung zu mobilisieren 
und dieses als Weltdespoten darzustellen. Das war nie wirk- 
lich erfolgreich, weil einerseits England für die Erhaltung des

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81

europäischen Gleichgewichts erforderlich war, andererseits 
die Seehegemonie insgesamt als weniger drückend empfunden 
wurde als die Hegemonie einer Landmacht.

3

 

Die koloniale Expansion Englands begann in Nordamerika 

mit der Verleihung einer königlichen Charter an die Virginia 
Company im Jahre 1607 und setzte sich auf den westindi- 
schen Inseln fort. 1627 wurde der Barbados Company von 
Karl I. eine Charter verliehen. Die 1600 gegründete East India 
Company, deren Ziel ursprünglich der Handel mit Indonesien 
war, faßte auf dem indischen Subkontinent 1608 in Surat 
Fuß. Dieser Hafen wurde jedoch zunächst nur als Zwischen- 
station für den Handel mit den Gewürzinseln betrachtet. 
Territoriale Herrschaft in größerem Umfang übte die East 
India Company in Indien erst seit den 1740er Jahren aus. 

Obwohl die Kolonialexpansion seit der Mitte des 17. Jahr- 

hunderts in Übereinstimmung mit merkantilistischen Vorstel- 
lungen konzeptionell mit der Flottenmacht und der exklusiven 
Förderung des eigenen Handels zu einem Gesamtsystem ver- 
bunden wurde, blieb sie doch faktisch weitgehend der priva- 
ten Initiative überlassen. Die amerikanischen Kolonien und 
die East India Company verfügten dementsprechend über eine 
weitgehende Autonomie. Nach einem vorübergehenden An- 
lauf in Richtung auf größere Kontrolle und Militarisierung 
während der 1670er und 1680er Jahre wurde von der Regie- 
rung des Mutterlandes erst hundert Jahre später wieder der 
Versuch einer strafferen Regulierung und finanziellen Nut- 
zung des Empire unternommen. Das geschah nach dem Sie- 
benjährigen Krieg, als der britische Kolonialbesitz durch den 
Erwerb von Kanada, Florida und dem Gebiet westlich des 
Mississippi sowie mehrerer westindischer Inseln enorm ange- 
wachsen war. Bei den amerikanischen Kolonisten stieß jedoch 
vor allem der Versuch einer Besteuerung ohne die Zustim- 
mung der Besteuerten oder ihrer gewählten Repräsentanten 
auf heftigen Widerstand.

4

 Es kam im April 1775 zu militäri- 

schen Konflikten zwischen der Miliz von Massachusetts und 
britischen Truppen und Anfang Juli 1776 zur Unabhängig- 
keitserklärung der dreizehn nordamerikanischen Kolonien,

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82

die in ihrem Krieg gegen das Mutterland von Frankreich, 
Spanien und den Niederlanden unterstützt wurden. 

• Die Kriegführung in Amerika demonstrierte die Schwäche 

einer auf sich selbst gestellten Seemacht. Sie offenbarte letzt- 
lich deren Unfähigkeit, ohne fremde Hilfe eine Landmacht – 
die auf dem Meer zu wenig verwundbar war – zu besiegen. 
Die durch eine kombinierte Armee- und Flottenaktion der 
Amerikaner und Franzosen erzwungene Kapitulation briti- 
scher Truppen bei Yorktown im Oktober 1781, die eine Fort- 
führung des Krieges von englischer Seite unmöglich machte, 
war eine Folge der Tatsache, daß die Briten vorübergehend 
sogar die Seeherrschaft in den nordamerikanischen Gewässern 
verloren hatten. 

Für England und seine politische Elite bedeutete der 1783 

mit dem Frieden von Paris beendete amerikanische Unabhän- 
gigkeitskrieg eine erhebliche Einbuße an Prestige und einen 
empfindlichen Rückschlag in der imperialen Entwicklung. Die 
nordamerikanischen Kolonien gingen verloren. Minorca und 
Florida mußten an Spanien, Santa Lucia und Tobago an 
Frankreich abgetreten werden; Ceylon ging an die Niederlan- 
de verloren. Diese Scharte wurde dann jedoch bald durch die 
Kriege gegen das revolutionäre und napoleonische Frankreich 
wieder ausgewetzt. 

Diese Kriege sind von britischer Seite, abgesehen von ihrer 

letzten Phase, ganz überwiegend als koloniale Expansions- 
kriege geführt worden. Fast alle überseeischen Besitzungen 
Frankreichs und der ihm angegliederten Staaten wurden von 
den Briten besetzt. Davon behielten sie nach dem Friedens- 
schluß 1814/15 Malta, die Ionischen Inseln, Trinidad, Toba- 
go, Santa Lucia, Guyana, die Kapkolonie und Mauritius. Die 
Kriegführung und die Kolonialexpansion dieser Zeit trugen 
auch, wie bereits erwähnt, zur Bildung einer einheitlichen 
britischen  Elite und eines britischen Nationalgefühls bei. Be- 
sonders die Schotten, deren Land seit 1603 in Personalunion 
mit England verbunden gewesen war und durch die Union 
von 1707 mit ihm zum Vereinigten Königreich von Großbri- 
tannien verbunden wurde, waren im kolonialen Bereich au-

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83

ßerordentlich aktiv. Ihre Beteiligung rechtfertigt es, von einem 
„britischen Empire“ zu sprechen.

5

 

Durch die weitere koloniale Ausdehnung wurde die seit 

dem Siebenjährigen Krieg erkennbare und letztlich für den 
amerikanischen Unabhängigkeitskrieg verantwortliche Beto- 
nung des Herrschaftsaspekts verstärkt. Das britische Empire, 
das sich in Indien unter der nominellen Regierung der East 
India Company allein zwischen 1798 und 1805 zwei Drittel 
des Subkontinents einverleibte, verlor seinen überwiegend 
maritim-kommerziellen Charakter und wurde in seiner terri- 
torialen Dimension „Bestandteil der nationalen Identität“.

Darin unterschied es sich von dem der Niederlande, die wei- 
terhin überwiegend kommerziell orientiert blieben. 

Am Ende der napoleonischen Kriege hatte das britische Im- 

perium eine vorher nicht gekannte Ausdehnung erreicht. Um 
1820 lebten in diesem, oft als „Second Empire“ bezeichneten, 
Weltreich mehr als 200 Millionen Menschen, etwa ein Viertel 
der Erdbevölkerung.

7

 Der Expansionsprozeß wurde auch 

weiterhin fortgesetzt – vor allem in Indien, wo Militärs und 
Beamte, die formell im Dienst der East India Company stan- 
den, eine sehr eigenmächtige Annexionspolitik betrieben.

8

 Die 

Vorstellung einer britischen Kolonialabstinenz in der ersten 
Hälfte oder im zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts ist falsch. 
Das britische Empire ist auch in der Ära des Freihandels und 
der vermeintlichen Kolonialfeindschaft durch die „men on the 
spot“ ständig erweitert worden. Als dieser Vorgang mit der 
Annexion des Fürstentums Oudh 1857 in Indien einen Auf- 
stand auslöste, kam es in der britischen Öffentlichkeit auch 
bereits zu einer jener hysterischen Massenreaktionen, die man 
gemeinhin erst mit einer späteren Periode assoziiert. Die Un- 
terscheidung zwischen einer vorimperialistischen und einer 
imperialistischen Phase des 19. Jahrhunderts ist in bezug auf 
die tatsächlich erfolgende britische Expansion wenig realitäts- 
adäquat. 

Was sich allerdings veränderte, war die Motivmischung bei 

den einzelnen Expansionsschüben in der Geschichte des Em- 
pire. Hier trat im „Zeitalter des Imperialismus“ seit den

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84

1870er und 1880er Jahren in der Tat ein neues Element hin- 
zu: das Bestreben, durch imperiale Expansion und insbeson- 
dere durch imperialen Zusammenschluß  den relativen Positi- 
onsverlust der britischen Industrie infolge der Entstehung 
neuer Industriestaaten zu kompensieren und den relativen 
Machtverlust auszugleichen, den das Land durch die Konso- 
lidierung bzw. Neugründung großer, bevölkerungsreicher 
territorialer Gebilde wie der Vereinigten Staaten und dem 
Deutschen Reich erfuhr. Man kann in diesem Zusammenhang 
geradezu von einem britischen „Kompensationsimperialis- 
mus“ sprechen. Das kompensatorische Element wird etwa in 
Seeleys Vorlesungen „The Expansion of England“ von 1883 
deutlich, in denen er auf die Steigerung des militärischen Po- 
tentials durch eine engere Verbindung zwischen dem Mutter- 
land und den Kolonien hinwies. Man könne, so der Histori- 
ker Seeley, „allmählich eine Organisation schaffen, durch die 
im Kriegsfall die ganze Kraft des Reiches für uns verfügbar 
wird“.

9

 Von Teilen der Konservativen Partei ist seit der 

Schutzzollagitation Joseph Chamberlains zu Beginn des 
20. Jahrhunderts drei Jahrzehnte lang versucht worden, eine 
engere Verbindung innerhalb des Empire in Form eines 
„imperialen Zollvereins“ herzustellen. Dieser Versuch, der 
der durch die außenpolitische und moralische Isolierung 
Großbritanniens während des Burenkriegs in Südafrika 
(1899–1902) starken Auftrieb erhielt, hat die Konservative 
Partei jedoch in eine schwere Krise gestürzt

10

 und ihr wegen 

der in England sehr starken freihändlerischen Tradition eher 
geschadet als genutzt. Er ist erst auf der Reichskonferenz in 
Ottawa (1932) unter den besonderen Bedingungen der 
Weltwirtschaftskrise in bescheidenem Umfang gelungen. 

Auch die Monarchie erhielt im letzten Viertel des 19. Jahr- 

hunderts eine imperiale Dimension und eine kompensatori- 
sche Funktion,

11

 die an der Erhebung Königin Viktorias zur 

Kaiserin von Indien im Jahre 1876 – fünf Jahre nach der deut- 
schen Kaiserproklamation in Versailles – exemplarisch deut- 
lich wird. Bereits während der Kriege gegen das revolutionäre 
und napoleonische Frankreich hatte sich ein auf den König

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85

Georg III. gerichteter Royalismus entwickelt, der von der 
Regierung als Gegengift gegen die revolutionäre Gefahr be- 
wußt gefördert worden war. Das Ende der Kriegführung und 
die wenig attraktive Persönlichkeit seiner beiden Nachfolger 
hatten jedoch diesen Royalismus wieder zurücktreten lassen. 
Georg IV. war beim Volk höchst unbeliebt. Die Sympathien 
galten vielmehr seiner von ihm getrennt lebenden Ehefrau. 
Wilhelm IV. wurde nur bei seiner Thronbesteigung und Krö- 
nung im Jahre 1831 umjubelt, da man in ihm einen Befürwor- 
ter der Reformbill sah. Die Begeisterung verflog, als der neue 
Monarch die in ihn gesetzten Erwartungen enttäuschte. Selbst 
Queen Viktoria war nach ihrer 1837 erfolgenden Thronbe- 
steigung durchaus nicht sogleich populär. Die Stimmung ge- 
gen die Monarchie erreichte unter ihr sogar einen Höhepunkt, 
als die Königin sich nach dem Tod ihres Mannes, des Prinzen 
Albert, aus der Öffentlichkeit ganz zurückzog und ihren Ver- 
pflichtungen kaum noch nachkam. Zu Beginn der 1870er 
Jahre gab es einen starken Republikanismus in Großbritanni- 
en. In der Folgezeit spielte jedoch die Monarchie im öffentli- 
chen Bewußtsein eine immer größere Rolle. Sie fand wach- 
sende Zustimmung sowie Verehrung und stieß immer weniger 
auf Kritik. Diese Entwicklung hing, ähnlich wie die ihr vor- 
angehende Phase des Royalismus im ausgehenden 18. und 
frühen 19. Jahrhundert, mit einer prekär gewordenen Stellung 
des Landes im Außenbereich sowie möglicherweise auch mit 
einem zunehmenden sozialen Integrationsbedürfnis infolge 
der fortschreitenden Industrialisierung und Demokratisierung 
zusammen. Die immer mehr in Erscheinung tretende, sich mit 
wachsendem Pomp und minutiös geplantem Zeremoniell 
inszenierende Monarchie wurde angesichts dieser Probleme zu 
einem wichtigen Element der Selbstbestätigung, zu einem 
Symbol der Größe und der Einheit des Landes. Sie konnte 
diese Aufgabe um so eher übernehmen, als ihre tatsächliche 
Macht zurückging. Diese wurde, wie der Historiker David 
Cannadine sehr treffend bemerkt hat, „gegen Popularität 
eingetauscht“.

12

 Je prekärer die britische Machtbasis wurde, 

um so stärker hat man die Monarchie als Symbol des Empire

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86

herausgestellt, wurden bei Orden, Auszeichnungen, Feiern 
und Gedenktagen (wie dem 1916 offiziell eingeführten Empi- 
re Day) imperiale Akzente gesetzt.

13

 

Der relative Machtschwund Großbritanniens ergab sich 

nicht nur aus dem Verlust seines Industriemonopols und der 
Entstehung großer territorialer Gebilde auf nationalstaatlicher 
Grundlage, sondern auch aus der Tatsache, daß wegen der 
vor allem durch den Eisenbahnbau verbesserten Kommunika- 
tionswege die Seemacht gegenüber den Landmächten an Posi- 
tionsvorteilen verlor. Nunmehr war es für die Briten kaum 
noch möglich, die von der „blue water school“ so hochge- 
schätzten Landungsunternehmen selbst in dem bis dahin 
praktizierten bescheidenen Umfang bei der Kriegführung in 
Europa durchzuführen. Die Pläne der britischen Marinefüh- 
rung vor dem Ersten Weltkrieg, die eine Landung in Pommern 
vorsahen, waren unrealistisch; sie wurden deshalb von den 
Plänen der Heeresführung völlig beiseitegedrängt.

14

 Überdies 

sah sich England bereits vor 1914 gezwungen, vom Grundsatz 
des „two-power Standards“ abzugehen, wonach die britische 
Flotte stets stärker zu sein hatte als die beiden nächstgrößeren 
Flotten. Nach dem Ersten Weltkrieg war man dann genötigt, 
noch einen Schritt weiter zu gehen. Auf der Konferenz von 
Washington im Jahre 1922 gab sich Großbritannien mit der 
bloßen Parität gegenüber der Flotte der Vereinigten Staaten 
zufrieden. Außerdem akzeptierte es eine vertragliche Limitie- 
rung seiner Flottenstärke und verzichtete unter amerikani- 
schem Druck auf die Fortsetzung des 1902 geschlossenen 
Bündnisses mit Japan.

15

 

In dem Flottenabkommen von 1922 fand der durch den Er- 

sten Weltkrieg beschleunigte Machtverlust Großbritanniens, 
das einen großen Teil seiner Auslandsinvestitionen verloren 
hatte und von den enorm erstarkten Vereinigten Staaten in 
den Schatten gestellt wurde, seinen symbolischen Ausdruck. 
Allerdings wurde dieser Machtvgrlust durch den Sieg über 
Deutschland sowie die Tatsache, daß das britische Empire 
noch erweitert werden konnte und den größten Umfang in 
seiner Geschichte erreichte, in charakteristischer Weise ver-

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87

schieiert.

16

 Er blieb freilich den in den 1930er Jahren führen- 

den britischen Politikern der Konservativen Partei nicht ver- 
borgen. Stanley Baldwin und Neville Chamberlain waren sich 
der Überdehnung der weltweiten Verpflichtungen Großbri- 
tanniens und der Knappheit seiner Ressourcen bewußt. Be- 
sonders der auch gefühlsmäßig von der Massenschlächterei 
des Ersten Weltkrieges traumatisierte Chamberlain sah die 
erheblichen Folgen voraus, die ein Krieg sowohl für die Bin- 
nenstruktur als auch für die Weltstellung seines Landes haben 
mußte. Churchill, der die Appeasement-Politik Chamberlains 
angriff und im Mai 1940 sein Nachfolger als Premierminister 
wurde, erkannte sie nicht. So wie er in Indien die Zeichen der 
Zeit nicht wahrnahm und dem indischen Nationalismus kei- 
nerlei Konzessionen machen wollte, so wenig sah er die pre- 
käre Grundlage der britischen Weltmacht. 

George Orwell hat damals den von ihm durchaus positiv 

beurteilten Widerstandswillen des einfachen Mannes in Eng- 
land gegen den Faschismus auf mangelnde rationale Lagebe- 
urteilung zurückgeführt. Seine Unbeugsamkeit, so Orwell, 
ergebe sich aus mangelnder Einsicht.

17

 Ähnliches läßt sich 

auch von Churchill sagen, wenn er selbst nach dem Zusam- 
menbruch Frankreichs im Unterschied zu Außenminister Hali- 
fax keine wirkliche Bereitschaft zeigte, einen Kompromißfrie- 
den mit Hitler zu suchen.

18

 Allerdings muß man sogleich 

hinzufügen, daß angesichts der Zukunftspläne Hitlers eine 
Verständigung mit ihm stets nur eine vorübergehende hätte 
sein können, so daß unter diesem Aspekt Churchills Haltung 
sich wiederum als durchaus realistisch erweist. Auf jeden Fall 
ging jedoch durch den Zweiten Weltkrieg jene britische 
Weltmachtstellung verloren, die Churchill hatte bewahren 
wollen und an der ihm noch mehr gelegen war als seinen 
Kontrahenten in der Konservativen Partei. Der Sieg gegen 
Deutschland, so haben revisionistische Historiker wie John 
Charmley argumentiert, habe Großbritannien alles gekostet, 
woran Churchill geglaubt habe.

19

 

Das wurde jedoch zunächst nicht deutlich, weil das Land 

wiederum – wie 1918 – Siegermacht war, weil seine indu-

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88

striellen Schwächen wegen der starken Zerstörungen in den 
meisten Industriestaaten nicht sogleich erkennbar waren und 
weil die Liquidierung des Empire sich allmählich und in einer 
das britische Selbstbewußtsein schonenden Form vollzog. Die 
in der Zwischenkriegszeit eingeleitete Umgestaltung des Em- 
pire zu einem Commonwealth of Nations, bei der den Domi- 
nions 1931 im Statut von Westminster als „autonomen Ge- 
meinschaften“ Gleichrangigkeit mit dem Mutterland zuge- 
standen worden war und man nur an der Krone als 
übergeordneter Institution festgehalten hatte, wurde fortge- 
führt. Neben die weißen Dominions traten jetzt asiatische 
Mitgliedsstaaten wie Indien und Pakistan, denen später auch 
afrikanische Staaten folgten. Dabei konnte der Rückzug der 
Metropole von der Herrschaft über diese Gebiete geradezu als 
Sieg erscheinen. Wenn der Präsident des neuen indischen 
Parlaments den Kolonialherren zum Abschied nachrief, die 
Unabhängigkeit seines Landes sei „die Erfüllung der demo- 
kratischen Ideale des britischen Volkes“,

20

 so durfte man sich 

auf britischer Seite der Selbsttäuschung hingeben, die indische 
Unabhängigkeit sei gewollt gewesen und die Krönung des 
eigenen Wirkens. 

Die  politische  Schwäche der britischen Position ist den mei- 

sten Briten wohl erstmals durch das Suez-Abenteuer von 1956 
und das Nachgeben ihrer Regierung unter massivem Druck 
der Vereinigten Staaten klargeworden. Die wirtschaftliche 
Schwäche des Landes ist vor allem durch die Zahlungsbilanz- 
krise von 1964 sowie die Pfundabwertung im Jahre 1967 ins 
allgemeine Bewußtsein gedrungen, nachdem das Versprechen 
einer „neuen weißglühenden technologischen Revolution“ des 
als „Evangelist der Modernisierung“ (Ben Pimlott) auftreten- 
den, 1964 gewählten Labour-Premierministers Harold Wilson 
sich als leere Rhetorik erwiesen hatte. Seit der Zeit wird das 
Problem des „Niedergangs“ und der „englischen Krankheit“ 
diskutiert. Dabei war besonders das 1981 veröffentlichte 
Buch des amerikanischen Historikers Martin J. Wiener „Eng- 
lish Culture and the Decline of the Industrial Spirit 1850- 
1980“ ungemein einflußreich, in dem der Niedergang der

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89

britischen Industrie auf die Verbreitung ländlich-adliger Nor- 
men im Industriebürgertum und insbesondere auf die Public 
Schools zurückgeführt wurde. 

Inzwischen hat sich die „Declinology“ geradezu als eine Art 

von Wissenschaft etabliert. Unlängst ist allerdings von einigen 
Historikern, die sehr unterschiedliche politische und weltan- 
schauliche Positionen vertreten, die Ansicht zurückgewiesen 
worden, in der Entwicklung des britischen Kapitalismus sei zu 
irgendeinem Zeitpunkt des späten 19. oder des 20. Jahrhun- 
derts etwas „falsch“ gelaufen. Sie erscheint ihnen vielmehr als 
durchaus konsequent und folgerichtig. Aus marxistischer 
Sicht wird von Ellen M. Wood die These vorgetragen, Eng- 
land zeige als diejenige Nation, die am frühesten und am 
entschiedensten den Weg des Kapitalismus beschritten, ihn 
bereits auf agrarischer Grundlage und aus dem Innern der 
Gesellschaft hervorgebracht habe, am frühesten und klarsten 
dessen Widersprüche und Schwächen. Der Niedergang der 
britischen Industrie sei durchaus mit der Logik eines Systems 
vereinbar, das grundsätzlich nicht an der Produktion, sondern 
an der Profitmaximierung interessiert sei.

21

 Von Historikern 

wie Cain und Hopkins oder Rubinstein wird andererseits die 
Auffassung vertreten, daß die dem englischen Kapitalismus 
von Anfang an eigentümliche Ausrichtung auf Handel und 
Finanz sich seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert wieder 
stärker geltend gemacht und schließlich voll durchgesetzt 
habe.

22

 Für den „Gentlemankapitalismus“ sei der Industria- 

lismus eher peripher gewesen.

23

 Diese Sicht ist fraglos durch 

die neuere wirtschafte- und sozialgeschichtliche Forschung zur 
Industriellen Revolution nahegelegt worden. Diese hatte 
schon seit einiger Zeit den sehr graduellen und sehr unvoll- 
ständigen Charakter des Industrialisierungsprozesses in Eng- 
land betont.

24

 Rubinstein hat sogar den Thatcherismus als 

Ausdruck der Einsicht interpretiert, daß Großbritanniens 
Stärke im finanziell-kommerziellen Bereich liege und der Ver- 
such einer Wiedergewinnung seiner industriellen Basis chimä- 
risch sei.

25

 

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90

IX. Der Thatcherismus 

und die Abkehr von der Konsenspolitik 

 
 
Das Großbritannien der 1980er Jahre, das von der Konserva- 
tiven Premierministerin Margaret Thatcher geprägt wurde, 
sah das förmliche Ende des politischen Konsenses, der sich im 
Zweiten Weltkrieg angebahnt, in den Jahren nach 1945 eta- 
bliert hatte, aber bereits in den 70er Jahren zu zerbröckeln 
begann. Die Grundlage dieses Konsenses war das Bekenntnis 
zum Wohlfahrtsstaat, zu einer „mixed economy“ und zur 
Vollbeschäftigung gewesen.

1

 Obwohl in fast allen westlichen 

Industrieländern in den ausgehenden 70er Jahren eine Wen- 
dung gegen staatliche Regulierung und Sozialpolitik erfolgte, 
ist jedenfalls innerhalb Europas diese Tendenz in Großbri- 
tannien am doktrinärsten gewesen und am weitesten geführt 
worden.

2

 Mit der Erklärung Margaret Thatchers, daß es so 

etwas wie eine die Individuen und Familien übergreifende 
Gesellschaft überhaupt nicht gebe, kam es sogar zu einer Art 
ausdrücklicher Aufkündigung des im Zweiten Weltkrieg ge- 
schlossenen Sozialvertrags zwischen den Klassen.

3

 Wenn der 

„backlash“ in Großbritannien so besonders heftig war, so ist 
dies auf die 1979 im „winter of discontent“ gipfelnden Kon- 
flikte mit den Gewerkschaften, eine sehr hohe Inflationsrate 
und die intransigente Persönlichkeit Margaret Thatchers zu- 
rückzuführen. 

Aus der Sicht des Historikers läßt sich der Thatcherismus 

freilich auch in ein allgemeines Muster und eine bestimmte 
Konservative Traditionslinie einordnen, erscheint er nicht nur 
als das Produkt einer besonderen Situation und Persönlich- 
keit. Er gehört nämlich zu einem Verlaufstypus, der sich seit 
fast zweihundert Jahren in der britischen Geschichte nachwei- 
sen läßt. Nach jedem der drei großen Kriege, die Großbritan- 
nien seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert durchzustehen 
hatte, ist eine Rhetorik der Klassenversöhnung

4

 und eine 

Politik der sozialen Beschwichtigung früher oder später durch 
eine Sprache der Unerbittlichkeit und eine Politik der sozialen

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91

Härte abgelöst worden. Jedesmal glaubte man, soziale Maß- 
nahmen der Kriegszeit sowie generell das Entgegenkommen 
gegenüber den unteren Klassen für die wirtschaftlichen 
Schwierigkeiten der Nation verantwortlich machen zu können 
und einen härteren Kurs einschlagen zu müssen. Mit dem 
Zurücktreten der äußeren Gefahrensituation und dem Ver- 
blassen der Erinnerungen an das Angewiesensein auf die 
Unterschichten traten stets ökonomisches Kalkül und die 
Klasseninteressen der Besitzenden in den Vordergrund. So 
galt nach 1815 die staatliche Armenfürsorge, und speziell 
das während der großen Teuerungen in der Kriegszeit ein- 
geführte System der Lohnsubventionierung aus der Armen- 
steuer, als unerträgliche wirtschaftliche Belastung und Ursache 
einer Demoralisierung der Bevölkerung. Das neue Armenge- 
setz von 1834 mit seinem Prinzip der „less eligibility“, das die 
Armenunterstützung so unattraktiv wie nur irgend möglich 
machen sollte, versuchte hier, Abhilfe zu schaffen.

5

 Nach dem 

Ersten Weltkrieg hat nicht nur eine deflationäre, einseitig die 
Interessen der City berücksichtigende Finanzpolitik der Arbei- 
terschaft geschadet, sondern selbst ein so humaner und kon- 
zilianter Premierminister wie Baldwin ließ es zur Zeit des 
Generalstreiks von 1926 auf eine Kraftprobe ankommen, die 
offenbar die Arbeiter in ihre Schranken verweisen sollte. Die 
Regierung bestand auf einer bedingungslosen Kapitulation der 
Streikenden.

6

 Wenn Margaret Thatcher als Regierungschefin 

während eines Streiks der Bergarbeiter 1984 von diesen als 
dem „inneren Feind“ sprach, so war das nur ein bewußtes 
oder unbewußtes Echo der während des Generalstreiks von 
1926 erscheinenden, von Churchill herausgegebenen regie- 
rungsamtlichen „National Gazette“. Kein Geringerer als der 
Konservative Expremier Macmillan wies die Premierministe- 
rin darauf hin, daß die Väter dieser Bergarbeiter in zwei 
Weltkriegen gekämpft hatten.

7

 

Der Thatcherismus muß überdies mit einer sehr langen 

Traditionslinie in der Torypartei in Verbindung gebracht 
werden.

8

 So wie die soziale Versöhnungspolitik der Konser- 

vativen im Zweiten Weltkrieg und in der Nachkriegszeit an

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92

einen Torypaternalismus anknüpfen konnte, so stellte die 
harsche Politik Margaret Thatchers die Wiederbelebung einer 
wirtschaftsliberalen und zugleich politisch autoritären Hal- 
tung dar, die im ausgehenden 18. Jahrhundert zunächst durch 
den jüngeren Pitt verkörpert wurde und schon damals eine 
besondere Anziehungskraft auf das Wirtschaftsbürgertum 
ausübte. In der von Peel geführten Torypartei hatte sich ein 
harter und doktrinärer wirtschaftlicher Liberalismus tiefer 
eingegraben als in der Whigpartei. Er setzte sich bei den Kon- 
servativen gegen Ende des 19. Jahrhunderts unter Salisbury 
fort und wurde durch den „Villa-Toryismus“ des um diese 
Zeit vermehrt zur Partei stoßenden vermögenden Bürgertums 
der Vorstädte gesellschaftlich gestützt. Eine solche soziale 
Stützung des diese Tradition fortführenden Neoliberalismus 
der 1970er Jahre stellte die „Entadlung“ (degentrification) der 
Partei dar, die sich damit ihrer Wählerschaft stärker anglich, 
als es jemals zuvor der Fall gewesen war. In den 1980er Jah- 
ren scherzte man, die Partei sei aus den Händen von Grund- 
besitzern in die von Grundstücksmaklern übergegangen.

9

 Mit 

dieser „degentrification“ ist die gesellschaftliche Grundlage 
für jene Wende geschaffen worden, die in der Periode der 
Opposition von 1974 bis 1979 unter dem Einfluß von „Think 
Tanks“ wie dem Centre of Policy Studies und dem Institute of 
Economic Affairs ideologisch vorbereitet wurde. 

Auch der Stil Margaret Thatchers war nicht ohne Vorläufer 

in der britischen Politik. Er imitierte einerseits das heroische 
Pathos eines Winston Churchill und wies andererseits eine 
starke Ähnlichkeit mit dem einiger Imperialisten am rechten 
Rand der Konservativen Partei vor dem Ersten Weltkrieg auf, 
die Großbritannien ihre Politik aufzwingen wollten und von 
dem Erreichen dieses Ziels das Schicksal der Nation abhängig 
sahen. Ein Mann wie Alfred Milner, der als Hoher Kommis- 
sar in Südafrika der Hauptverantwortliche für den Burenkrieg 
gewesen war und nach seiner Rückkehr nach England für die 
imperiale Reichseinheit, Schutzzölle und allgemeine Wehr- 
pflicht kämpfte, wollte das Land ebenso aufrütteln und aus 
einem schlappen Konsens herausreißen wie später Margaret

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93

Thatcher.

10

 Ihn stießen die untergründige Gemeinsamkeit 

zwischen Konservativen und Liberalen und die „gegenseitige 
Parteicourteoisie“

11

 ab, die nach seiner Auffassung die Lö- 

sung der großen nationalen Aufgaben unmöglich machten. 
Margaret Thatcher gehörte wie Milner zu dem Typus des 
„Überzeugungspolitikers“, der ein stark ideologisch geprägtes 
Programm realisieren will und an ihm, wenn auch nicht ohne 
gelegentliche taktische Konzessionen, konsequent festhält. 

Hatte sich unter der Regierung ihres Konservativen Vor- 

gängers Edward Heath, der 1970 mit einem neoliberalen 
Programm angetreten war, dann doch wieder die Tendenz zu 
einer schonend-gemeinschaftsorientierten Politik durchge- 
setzt,

12

 so gab es eine solche, von ihr scharf kritisierte Kehrt- 

wendung („U-Turn“) unter Mrs. Thatcher nicht. Sie lehnte 
vielmehr ausdrücklich die Aufforderung von Heath im Jahre 
1981 ab, zu einer „Konsenspolitik“ zurückzukehren.

13

 Ihr 

kämpferisches Temperament drängte zu einer Politik der 
Konfrontation. Sie besaß eine Überzeugung von ihrer Missi- 
on, den Niedergang Großbritanniens aufzuhalten und rück- 
gängig zu machen. „Nichts ist unmöglich“, erklärte sie. „Der 
Niedergang ist nicht unausweichlich.“

14

 Sie strahlte eine Ge- 

wißheit aus, in dem Kampf zwischen Gut und Böse das Gute 
zu verkörpern, wie sie seit Gladstone kein Premierminister 
mehr besessen hatte. 

Man hat Margaret Thatchers Bestreben, in Großbritannien 

einen Wertewandel zu erzwingen, die Gesellschaft und Wirt- 
schaft des Landes wieder zu dynamisieren und aus einem 
schlaffen Stagnationskonsens herauszureißen, nicht zu Un- 
recht mit dem Begriff einer „Kulturrevolution“ charakteri- 
siert.

15

 Das Ziel war die Schaffung einer „enterprise culture“. 

Die Premierministerin forderte dabei eine Rückkehr zu den 
„viktorianischen Werten“,

16

 wobei sie freilich die philan- 

thropische Seite des Viktorianismus ignorierte. Sie verkannte, 
daß die von ihr beschworenen „Victorian values“ nicht auf 
rücksichtslose Förderung des Individualismus und der Markt- 
gesetze abzielten, sondern im Gegenteil überwiegend ein 
Normensystem propagierten, das der gesellschaftlich auflö-

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94

senden Tendenz von Markt und Wettbewerb entgegenwirken 
und soziale Kohäsion ermöglichen sollte. Die „moralische 
Ernsthaftigkeit“ der Viktorianer war gleichsam das Gegengift 
zum laisser-faire. Am ehesten erinnern die soziale Härte und 
Rücksichtslosigkeit in Margaret Thatchers Politik, ihre Auf- 
fassung von der demoralisierenden Wirkung der Fürsorge für 
die Unterschichten und ihre Erklärung, daß niemand essen 
solle, der nicht arbeite,

17

 an den Geist, der hinter dem New 

Poor Law von 1834 stand.

18

 

Konkret wirksam wurde die Ideologie Margaret Thatchers 

in einer Politik der Privatisierung, die auch Teile der Arbeiter- 
schaft interessenmäßig an die Konservativen band und dazu 
beitrug, daß sie bei den Wahlen von 1987 36 Prozent der 
Arbeiterstimmen erhielten. (Im Süden des Landes, wo die 
Arbeiter materiell besser gestellt und die Arbeitslosenzahlen 
geringer waren als im Norden mit seiner Konzentration der 
„traditionellen Arbeiterklasse“ betrug der Anteil der für die 
Konservative Partei abgegebenen Arbeiterstimmen sogar 46 
Prozent.)

19

 Das ist um so bemerkenswerter, als eine Reihe von 

Gesetzen in den 80er Jahren die Rechte der Gewerkschaften 
einschränkte. Das Fernhalten von Arbeitswilligen bei Streiks 
(„picketing“) und die Einführung eines „closed shop“, bei 
dem nur Gewerkschaftsangehörige in einem Betrieb beschäf- 
tigt werden dürfen, wurden erschwert. Streikaktionen wurden 
an vorausgegangene geheime Abstimmungen der Gewerk- 
schaftsmitglieder geknüpft, Gewerkschaften in bestimmten 
Fällen bei Streiks schadenersatzpflichtig gemacht.

20

 

Praktisch wirksam wurde auch Margaret Thatchers Glaube 

an die Vorzüge der Ungleichheit. Der seit dem Zweiten Welt- 
krieg anhaltende Trend zur Nivellierung der Einkommensun- 
terschiede wurde unter ihrer Regierung umgekehrt. Der Ab- 
stand zwischen Spitzenverdienern und dem am schlechtesten 
gestellten Teil der Bevölkerung vergrößerte sich.

21

 Es bildete 

sich, auf der Grundlage einer nunmehr offenbar wieder weit- 
hin akzeptabel gewordenen und Wahlsiege der Regierung 
nicht mehr verhindernden Massenarbeitslosigkeit, eine neue 
soziale „underclass“.

22

 Die überwiegend von linken Doktrinä-

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95

ren beherrschte Labour Party, von der sich 1981 eine sozial- 
demokratische Richtung abspaltete und die es bei den Wahlen 
von 1983 nur auf 27,6 Prozent der abgegebenen Stimmen 
brachte, mußte ohnmächtig mit ansehen, wie die große Er- 
rungenschaft der Regierung Attlee rückgängig gemacht wurde 
und sich wieder Massenarmut ausbreitete. 1989 wurde gegen 
200 000 Menschen Anklage wegen Vagabundierens erhoben. 
Die Zahl der Familien ohne Wohnung stieg von 56 000 im 
Jahr 1979 auf 128 000 im Jahr 1989. Nach offiziellen Anga- 
ben waren zu diesem Zeitpunkt 370 000 Menschen obdach- 
los.

23

 

Charakteristisch für Margaret Thatchers Abkehr von allem, 

was sie für schädliche Sentimentalitäten hielt, waren auch ihre 
Distanzierung vom Commonwealth und ihr geringes Interesse 
für die verbliebenen kolonialen Besitzungen Großbritanniens. 
Es entbehrt deshalb nicht der Ironie, daß sie ihre erste Wie- 
derwahl dem siegreichen Falklandkrieg des Jahres 1982 gegen 
Argentinien verdankte, obwohl die Besetzung der Inselgruppe 
durch argentinische Truppen auf eine unklare Außen- und 
Militärpolitik ihrer Regierung zurückzuführen war und die 
Argentinier (nach Angaben des damaligen britischen Bot- 
schafters in Washington) offenbar sogar von einem hohen 
Beamten des Außenministeriums dazu ermuntert wurden.

24

 Es 

war die wohl letzte der besonders in der zweiten Hälfte des 
19. Jahrhunderts so häufigen plötzlichen Aufwallungen der 
britischen Öffentlichkeit aufgrund von Vorkommnissen, die 
sich an der sonst überwiegend ignorierten imperialen Peri- 
pherie ereignet hatten. Auf die demagogischste Weise wurde 
von der Premierministerin der Kampf um die ökonomische 
Gesundung des Landes mit dem gegen Argentinien zu der 
Vision eines wiedererstarkten Volkes verbunden. Sie erklärte: 
»Wir haben aufgehört, eine Nation auf dem Rückzug zu sein. 
Wir haben stattdessen ein wiedergefundenes Vertrauen, das in 
den wirtschaftlichen Schlachten zu Hause geboren und in 
8000 Meilen Entfernung erprobt wurde“.

25

 Was die Pre- 

mierministerin verschwieg, war die Tatsache, daß selbst dieser 
Akt zur Demonstration britischer Stärke gegen eine drittran-

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96

gige Macht ohne aktive amerikanische Hilfe nicht möglich 
gewesen wäre. 

Als Margaret Thatcher 1989/90 zu der wahlpolitisch selbst- 

mörderischen Politik überging, in den Kommunen eine ein- 
kommensunabhängige Personensteuer („poll tax“) einzufüh- 
ren, und der zum Teil gewalttätige Widerstand dagegen einen 
Hauch von 18. Jahrhundert nach Großbritannien zurück- 
brachte, da half ihr keine äußere Ablenkung aus der selbstge- 
schaffenen Sackgasse. Die Mehrheit der Fraktion versagte ihr 
die Gefolgschaft und erzwang im November 1990 ihren 
Rücktritt.

26

 Unter dem neugewählten Parteiführer John Major 

konnte die Konservative Partei wider Erwarten sogar die 
darauffolgenden Unterhauswahlen vom April 1992 gewinnen, 
indem sie sich fast als eine Art Oppositionspartei zu Mrs. 
Thatcher darstellte. Die Konservativen, so hat man boshaft 
bemerkt, griffen die Forderung der Labour Party auf, daß es 
Zeit für einen Wechsel sei. 

Inhaltlich  hat John Major die Politik seiner Vorgängerin im 

wesentlichen fortgesetzt, wobei seine Regierung inzwischen 
mit der von Minister Heseltine betriebenen Privatisierung der 
Post Schiffbruch erlitt und jetzt auch die Privatisierung der 
Eisenbahn auf gefährliche Klippen zusteuert. Majors Stil  un- 
terscheidet sich jedoch ganz wesentlich von dem Margaret 
Thatchers. Der neue Regierungschef ist nicht schroff und 
kämpferisch, sondern er ist auf Versöhnen und Heilen ausge- 
richtet. Er versucht auch, die Kluft zu verringern, die sich 
unter seiner Vorgängerin zwischen der Verachtung von per- 
sönlichen Freiheitsrechten einerseits und der Glorifizierung 
der Marktfreiheit andererseits aufgetan hatte. Mit seiner 
„Citizen Charter“ zeigt er sich bestrebt, den öffentlichen 
Dienst transparenter und bürgernäher zu machen. Den Schritt 
zu einer Fixierung von Verfassungsrechten der Bürger gegen- 
über ministeriellen Übergriffen hat er jedoch nicht getan. 
Insofern hat er sich auch in diesem Bereich nicht wirklich von 
seiner Vorgängerin abgesetzt. 

Im Augenblick der Fertigstellung dieses Buches droht die 

durch katastrophal schlechte Wahlergebnisse und Meinungs-

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97

umfragen angeschlagene Konservative Regierung zu scheitern 
und sich die Partei zu spalten, da in ihr auch nach dem Bei- 
tritt des Vereinigten Königreiches zur EWG im Jahre 1973 die 
Auffassungen in bezug auf Großbritanniens Stellung zu Euro- 
pa weit auseinandergehen und in jüngster Zeit der Streit sich 
durch die in Aussicht stehende europäische Währungsunion 
ungemein verstärkt hat. Die Labour Party, die unter ihrem 
neuen Parteiführer Tony Blair die Forderung ihres Parteipro- 
gramms nach Vergesellschaftung der Produktionsmittel auf- 
gab, ist dagegen der Chance einer Regierungsübernahme so 
nahe wie lange nicht mehr. Zwar ist John Major der wach- 
senden Kritik der Euroskeptiker in den eigenen Reihen mit 
einem Präventivschlag entgegengetreten, indem er als Partei- 
vorsitzender zurücktrat. Bei der Neuwahl am 4. Juli 1995 
gelang es ihm, mit 218 von 329 Stimmen der Konservativen 
Unterhausfraktion wiedergewählt zu werden. Diese relativ 
schwache Bestätigung und die ihr folgende Kabinettsumbil- 
dung haben jedoch die Gegensätze innerhalb der Partei nicht 
beseitigt und seine eigene Führungsschwäche nicht behoben. 
Wenn die Konservativen noch etwas zusammenhält, dann ist 
es das Trauma der Parteispaltungen, die sich 1846 aus Peels 
Entscheidung für den Freihandel und 1904 aus Joseph Cham- 
berlains Eintreten für den Schutzzoll ergaben. 

Obwohl die 1979 einsetzende Periode Konservativer Herr- 

schaft an ihr Ende gekommen zu sein scheint, ist es noch zu 
früh, um ein genaues und umfassendes Urteil über ihre länger- 
fristigen Wirkungen abzugeben. Es läßt sich jedoch bereits 
jetzt sagen, daß in den 80er Jahren der soziale Nachkriegs- 
konsens durch eine neue Rücksichtslosigkeit und die Losung 
des „enrichissez-vous“ zerstört wurde. Mit der zunehmenden 
Zerklüftung der Nation

27

 ist das Versprechen der Kriegszeit 

zunichte geworden. Darüber hinaus hat die Ära Thatcher aber 
auch schon jetzt erkennbare politisch-konstitutionelle Folgen 
gehabt. So ist vor allem durch die Entschlossenheit der 
Premierministerin, eine „Revolution von oben“ durchzu- 
führen, die Macht der Zentralgewalt in bedenklicher Weise 
gesteigert worden. Unter ihrer Herrschaft war die Zurück-

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98

drängung des Staates im wirtschaftlichen Bereich mit einer 
Steigerung der Staatsmacht in anderen Bereichen eigentümlich 
verbunden. 

Die Machtkonzentration in den Händen der Regierung 

erfolgte nicht zuletzt auf Kosten der lokalen Selbstverwaltung. 
Die englische Geschichte ist bis weit ins 19. Jahrhundert hin- 
ein durch zwei entgegengesetzte, sich ausbalancierende 
Merkmale charakterisiert gewesen: einerseits durch eine rela- 
tiv frühzeitige und weitgehende Kompetenzzuweisung an die 
Zentralgewalt, andererseits durch eine faktische Dezentrali- 
sierung in Gestalt lokaler Machtträger, auf welche die Zen- 
tralgewalt zur Durchsetzung ihrer Anordnungen angewiesen 
war. Mit dem Zurücktreten der Adelsmacht sowie dem 
Schwinden einer selbstbewußten Bürgerkultur, wie sie sich 
während der Industriellen Revolution im Norden des Landes 
entwickelt hatte, wurden die alternativen Einflußzentren und 
die Gegengewichte gegen die Zentralgewalt schwächer. Sie 
sind durch die bewußt betriebene Entmachtung der Lokal- 
verwaltung unter der Regierung Thatcher noch weiter ge- 
schwächt worden. Seit den Angriffen auf die elisabethani- 
schen Armengesetze sowie der Durchsetzung des New Poor 
Law von 1834 ist in Großbritannien eine Politik der sozialen 
Demontage traditionell mit einem starken Mißtrauen gegen 
die angeblich allzu großzügigen Lokalbehörden und einer 
Tendenz zur Zentralisierung verbunden gewesen. Niemand 
ist dabei jedoch so rücksichtlos und radikal vorgegangen 
wie Margaret Thatcher. In den 1980er Jahren erfolgte in 
England tatsächlich das, was Disraeli in seinem 1845 ver- 
öffentlichten Roman „Sybil or the Two Nations“ beschrieben 
hatte: „ein roher Angriff auf alle lokalen Einflüsse, um eine 
streng organisierte Zentralisation durchzusetzen“.

28

 England 

ist heute faktisch der zentralisierteste Staat Europas gewor- 
den.

29

 

Nach unten hin des Gegengewichts selbstbewußter Lokal- 

gewalten beraubt, durch keine geschriebene Verfassung klar 
eingegrenzt, mit der nicht unerheblichen Macht der Frakti- 
onseinpeitscher („whips“) über die Abgeordneten ausgestattet

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99

und in der Lage, innerhalb der festgelegten Höchstdauer von 
Legislaturperioden den Zeitpunkt von Parlamentswahlen zu 
bestimmen, droht die Exekutive sich zu verselbständigen. Das 
Schreckgespenst des 18. Jahrhunderts – „the overgrown 
executive“ – scheint jetzt zur Wirklichkeit zu werden (wenn 
auch nicht auf dem damals befürchteten Weg der „Korrup- 
tion“ und des „geheimen Einflusses der Krone“). 

Der rücksichtslose Einsatz der zentralen Regierungsgewalt 

zur Durchsetzung einer konservativen „Konterrevolution“ 
(Peter Riddell) hat einer wachsenden Zahl von Briten bewußt 
gemacht, auf welcher prekären Grundlage ihr politisches 
System beruht. Von Margaret Thatcher mit ihrer explizit 
konsensfeindlichen Politik wurde das von einem Historiker 
sehr treffend als „Clubregierung“ bezeichnete, durch infor- 
melle Übereinkunft, ungeschriebene Regeln und Traditionen 
charakterisierte Westminster-Modell in Frage gestellt.

30

 Selbst 

die individuellen Rechte erscheinen nunmehr unzureichend 
geschützt.

31

 Gegen Ende der Ära Thatcher war Großbritanni- 

en der Staat, gegen den die meisten Klagen vor der Europäi- 
schen Gerichtshof für Menschenrechte anhängig waren.

32 

Nach dem Urteil eines englischen Historikers gibt es im Ver- 
einigten Königreich jetzt weniger Schutz gegen den Miß- 
brauch von Macht als in irgendeinem anderen Mitgliedsstaat 
der Europäischen Union.

33

 Das steht in krassem Widerspruch 

zur Tradition eines Landes, das sich am frühesten und stärk- 
sten mit der individuellen Freiheit und dem Recht identifizier- 
te. Der Journalist Anthony Sampson hat den bösen Satz ge- 
prägt: „Während britische Politiker sich der einzigartigen 
Geschichte der Freiheit ihres Landes rühmen, sehen sich ihre 
Wähler dazu gezwungen, in letzter Instanz in Straßburg 
Schutz zu suchen“.

34

 

Das Unbehagen angesichts dieses Zustands führte am 

300. Jahrestag der Glorious Revolution zur Gründung der 
Gruppe „Charter 88“, die u.a eine geschriebene Verfassung 
mit Grundrechtsfixierung und die Unabhängigkeit der lokalen 
Selbstverwaltung durchzusetzen versucht. In diesen Forderun- 
gen schlägt sich die Erkenntnis nieder, daß die lange Zeit auf

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der Grundlage von Adelsmacht bestehenden Sicherungen, 
Kontrollen und Konventionen jetzt durch förmliche konstitu- 
tionelle Garantien und geschriebene Regeln ersetzt werden 
müssen. 

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101

X. Frühe Modernität und die Kraft der Beharrung. 

Ein Rückblick 

 
 
Daß Großbritannien zu den letzten Staaten auf dieser Welt 
gehört, die keine geschriebene Verfassung besitzen, wird von 
den Anhängern der Gruppe „Charter 88“ zu Recht als uner- 
träglicher Mißstand angeprangert. Zugleich verweist diese 
Tatsache jedoch auf einen allgemeinen Grundzug der engli- 
schen Geschichte, der hier abschließend noch angedeutet 
werden soll. 

Es scheint, als habe sich in England in verschiedenen Berei- 

chen frühzeitig eine vergleichsweise moderne Entwicklung 
angebahnt, die in späteren Perioden den Druck zu einer star- 
ken Veränderung oder gar Eliminierung bestehender Institu- 
tionen und Strukturen gering hielt. Das gilt ganz offensicht- 
lich für das Königtum, in dem viele Briten heute zugleich das 
augenfälligste Symbol und die wichtigste Ursache der man- 
gelnden Modernität ihres Landes sehen. Seine frühzeitige 
Beschränkung, seine Zähmung durch Revolutionen und durch 
einen erzwungenen Wechsel der Dynastien sowie schließlich 
seine Umformung in Richtung auf eine parlamentarische 
Monarchie haben ihm einen Lern- und Anpassungsprozeß 
aufgezwungen, der die Institution als solche überleben ließ. 

Ähnliches gilt ganz unzweifelhaft auch für das Parlament. 

Es war bereits im Mittelalter in so hohem Maße repräsentativ 
für den Gesamtstaat und so wenig eine exklusive, besondere 
Privilegien verteidigende Ständeversammlung, daß es durch 
die allmähliche Hinzufügung demokratischer Elemente im 19. 
und 20. Jahrhundert verändert werden konnte, dabei aber 
seinen adlig-grundherrlichen Charakter sehr lange behielt. 

Was von der Monarchie und dem Parlament gesagt werden 

kann, läßt sich auch von der Verfassungsordnung insgesamt 
behaupten. Sie enthielt bereits in der vorkonstitutionellen 
Periode genügend Elemente des modernen Verfassungsstaates, 
um überleben zu können. Die Notwendigkeit einer Einhegung 
der souveränen Gewalt der „Crown-in-Parliament“ durch

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102

eine geschriebene Verfassung und durch die Fixierung von 
Grundrechten wurde (sieht man von den Levellers ab) kaum 
empfunden, weil sie eine starke repräsentative Komponente 
enthielt und weil die seit dem Mittelalter bestehenden Rechte 
durch die Gerichte gesichert erschienen. Die Tatsache, daß die 
Revolution in England bereits um die Mitte des 17. Jahrhun- 
derts in einem noch ganz überwiegend von Adel und Monar- 
chie geprägten Milieu stattfand und die radikalen Energien zu 
einem erheblichen Teil auf die Religion gerichtet waren, ver- 
hinderte trotz des im Januar 1649 erfolgenden Lippenbe- 
kenntnisses des Parlaments zur Volkssouveränität deren 
Durchsetzung. Von den beiden kurzlebigen geschriebenen 
Verfassungen, die England während der Zeit des Interreg- 
nums in den 1650er Jahren gehabt hat, war die erste von der 
Armee oktroyiert, die zweite mit dem Parlament vereinbart 
worden. Keine ging vom Volk aus. Es erfolgte in England 
nicht die Neugestaltung auf der Grundlage des Prinzips der 
Volkssouveränität, wie sie in den 1770er und 1780er Jahren 
in den Vereinigten Staaten geschah. Erst neuerdings ist, wie 
schon erwähnt, angesichts der wachsenden Verselbständigung 
der Exekutive und der absolutistischen Implikationen eines 
„parlamentarischen Monotheismus“ (Mount) die Unzufrie- 
denheit mit dem bestehenden Verfassungszustand groß ge- 
worden. Das Prinzip der Parlamentssouveränität wird als 
pseudodemokratische Fiktion kritisiert, die eine Entwicklung 
Großbritanniens zur modernen Staatsbürgergesellschaft ver- 
hindert. Die „Charter 88“ versucht, den Akt der demokrati- 
schen „Neugründung“ (Hannah Arendt) nachzuholen, den es 
in England nie gegeben hat. 

Beharrung durch partielle Antizipation von Modernität läßt 

sich auch im religiösen und im gesellschaftlichen Bereich fest- 
stellen. Die Gewährung von Toleranz im 17. Jahrhundert 
erklärt es, daß es in England noch heute eine Staatskirche 
gibt. Der Zwang zur Veränderung war, trotz der heftigen 
Proteste der Nonkonformisten gegen die „established church“, 
zu gering. Was den sozialen Bereich angeht, so war die stän- 
dische Gliederung in England so wenig starr und Status so

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103

frühzeitig mit dem Eigentum verbunden, daß die Ständegesell- 
schaft reibungslos in die Klassengesellschaft übergehen konnte 
– in eine Klassengesellschaft freilich, in der das adlig- 
grundherrliche Element bis zum ausgehenden 19. Jahrhundert 
dominant blieb und bis heute ein besonderes Prestige behalten 
hat. Die frühe „Verbürgerlichung“ des englischen Adels, die 
sich in der Markt- und Profitorientierung der Grundherren 
sowie in ihrer Bereitschaft zur Nutzung nichtagrarischer Ein- 
nahmequellen zeigte, gab ihm nicht nur eine starke ökonomi- 
sche Basis, sondern erleichterte ihm auch den Eintritt in das 
„bürgerliche Zeitalter“. Er konnte sich um so besser den 
bürgerlichen Werten anpassen und mit dem Bürgertum ar- 
rangieren. 

Auch daß der Adel in England in seinen unteren Rängen 

traditionell sehr offen und aufnahmebereit war, hat ihn aus 
bürgerlicher Sicht weniger anstößig gemacht als anderswo. 
Nicht zuletzt daraus erklärt es sich, daß Großbritannien noch 
heute ein Oberhaus mit erblichen Peers hat, die dort aus eige- 
nem Recht sitzen, ohne irgendwie gewählt zu sein. Die Re- 
formpläne der jetzigen Labourführung sehen allerdings vor, 
den erblichen Peers das Stimmrecht zu entziehen und schließ- 
lich das Oberhaus ganz mit den Peers auf Lebenszeit zu beset- 
zen, die es dort seit 1958 neben den erblichen Peers gibt. 

Die aufgewiesene Verbindung zwischen einer frühen Her- 

ausbildung moderner Züge und der Lebenskraft älterer Struk- 
turen und Institutionen läßt sich schließlich ebenfalls im Wirt- 
schaftsbereich beobachten. Der Übergang zur kapitalistischen 
Ökonomie vollzog sich in England relativ frühzeitig und unter 
der Herrschaft einer grundbesitzenden Elite. Das gab seiner 
Wirtschaft eine starke Ausrichtung auf die Finanz und den 
Handel, die nach der Erschütterung des Pariser Geldmarktes 
im deutsch-französischen Krieg von 1870/71 und nach dem 
Aufkommen technologisch überlegener industrieller Konkur- 
renz wieder vorherrschend wurde. Die Überlegenheit dieser 
Konkurrenten erklärt sich wiederum vor allem daraus, daß 
der Anteil wissenschaftlicher Forschung an der bereits in der 
zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts einsetzenden Industriel-

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len Revolution in England gering war und diese Tatsache dort 
eine indifferente Haltung in bezug auf die technische Ausbil- 
dung und die Einrichtung von Laboratorien in der Industrie 
gefördert hatte. Auch hier sind die Prägekraft und die hem- 
mende Wirkung eines frühzeitigen Übergangs zu Modernität 
erkennbar. 

England, so kann man zusammenfassen, nahm im Mittelal- 

ter und zu Beginn der Neuzeit so viel von der Moderne vor- 
weg, daß es ihr in mancher Hinsicht auf eigentümliche Weise 
fernbleiben konnte. Der frühe Eintritt in die moderne Welt 
erklärt – neben der geschickten Politik einer Elite, die schwere 
innere Erschütterungen und katastrophale militärische Nie- 
derlagen mit den daraus resultierenden Umbrüchen vermeiden 
konnte – das Defizit an Modernität im heutigen Großbritan- 
nien. 

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105

Anmerkungen 

 
 

Vorwort 

1   Kurt Kluxen, Geschichte Englands, Stuttgart 1991

4

; Peter Wende, 

Geschichte Englands, Stuttgart 1985; Geschichte Englands, Bd. 1: 
Karl F. Krieger, Von den Anfängen bis zum 15. Jahrhundert, 
München 1990; Bd. 2: Heiner Haan u. Gottfried Niedhart, Vom 
16. bis zum 18. Jahrhundert, München 1993; Bd. 3: Gottfried 
Niedhart: Im 19. und 20. Jahrhundert, München 1987. 

 
 

I. Die mittelalterlichen Grundlagen des englischen Staates 

und der englischen Freiheit 

1  Leopold von Ranke, Über die Epochen der neueren Geschichte, 

Darmstadt 1959, S. 118. Zum Englandbild Rankes vgl. Hans- 
Christoph Schröder, Rankes „Englische Geschichte“ und die 
Whighistoriographie seiner Zeit, in: Rudolf Vierhaus (Hrsg.), 
Frühe Neuzeit – Frühe Moderne?, Göttingen 1992, S. 27–47. 

2  H. R. Loyn, Anglo-Saxon England and the Norman Conquest, 

Paperbackausg. London 1981, S. 303. 

3  Diese Auffassung vertritt ganz entschieden Alan Macfarlane, The 

Origins of English Individualism, Oxford 1978. Zu einer sehr 
ähnlichen Ansicht war jedoch bereits der viktorianische Rechtshi- 
storiker Maitland gelangt. Vgl. bes. Frederic William Maitland, 
Domesday Book and Beyond, hrsg. u. eingel. v. J. C. Holt, Cam- 
bridge 1987, S. IXf., 347–350, 352f. Siehe dazu J. W. Burrow, 
Whigs and Liberals, Continuity and Change in English Political 
Thought, Oxford 1988, bes. S. 141 f. 

4  W. L. Warren, The Governance of Norman and Angevin England 

1086–1272, London 1987, S. 3. 

5  Vgl. dazu Hans-Christoph Schröder, Die unvollendete Revolution. 

Das sozialradikale Programm Winstanleys und Babeufs im Kon- 
text revolutionärer Entwicklung, in: Ders. u. Hans-Dieter Metzger 
(Hrsg.), Aspekte der Französischen Revolution, Darmstadt 1992, 
S. 161–181. 

6  Dieses Amalgam wird sehr treffend charakterisiert bei Kurt Klu- 

xen, Englische Verfassungsgeschichte, Mittelalter, Darmstadt 
1987, S. 23. 

7  Vgl. dazu M.T. Clanchy, From Memory to Written Record, Eng- 

land 1066–1307, Paperbackausg. London 1987. 

8  Marjorie Chibnall, Anglo-Norman England 1066–1166, Paper- 

backausg. Oxford 1987, S. 121. 

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106

9   Ebd., S. 126. 
10  Dazu grundlegend J. C. Holt, Magna Carta, Paperbackausg. 

Cambridge 1976. 

11  Vgl. dazu Clanchy, S. 212 ff. 
12  Holt, S. 184. 
13  Leopold von Ranke, Englische Geschichte, Hamburg 1957, Bd. I, 

S. 41. 

14  Susan Reynolds, Kingdoms and Communities in Western Europe 

900–1300, Paperbackausg. Oxford 1986, S. 268. 

15  Vgl. J.G. Edwards, The Plena Potestas of English Parliamentary 

Representatives, in: E. B. Fryde und E. Miller (Hrsg.), Historical 
Studies of the English Parliament, Cambridge 1970, Bd. I, S. 136- 
149; Michael Prestwich, Edward I, London 1988, S. 454ff. 

16  Otto Brunner, Land und Herrschaft, Wien 1959, S. 422. 
17  Marc Bloch, Die Feudalgesellschaft, Frankfurt 1982, S. 326, 397. 
18  Martin Kriele, Die Herausforderung des Verfassungsstaates, 

Hobbes und die englischen Juristen, Neuwied 1970. 

 

II. Die Ambivalenz der Tudorherrschaft 

1  Mervin James, English Politics and the Question of Honour 

1485–1642, Oxford 1978, S. 18. 

2  D. M. Palliser, The Age of Elizabeth: England under the later 

Tudors 1547–1603, London 1983, S. 303. 

3  J. H. Gleason, The Justices of the Peace in England, 1558–1640, 

Oxford 1969, S. 76. P. Clark, English Provincial Society from the 
Reformation to the Revolution: Religion, Politics and Society in 
Kent, 1500–1640, Hassocks 1977, S. 127f., 147, 258. 

4  W. M. Lamont, Godly Rule, Politics and Religion 1603–1660, 

London 1969. 

5  Ranke, Englische Geschichte, Bd. I, S. 114. 
6  Thomas Smith, De Republica Anglorum, hrsg. v. Mary Dewar, 

Cambridge 1982, S. 78. 

7  Christopher Haigh, Elizabeth I, London 1988, S. 106ff., 113–118. 
8  Zitiert nach Michael A. R. Graves, The Tudor Parliaments, Lon- 

don 1985, S. 80. 

9  Vgl. für die zeitgenössische Hochschätzung des Parlaments vor 

allem die 1577 verfaßte Schrift von William Harrison, The 
Description of England, Ithaca 1968, S. 149f. 

 

III. Das revolutionäre Jahrhundert 

1   Max Weber, Deutschlands künftige Staatsform, in: Ders. Gesam- 

melte Politische Schriften, Tübingen 1958, S. 454. 

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107

2  David Starkey, Which Age of Reform?, in Christopher Coleman 

u. David Starkey (Hrsg.), Revolution Reassessed, Revisions in the 
History of Tudor Government and Administration, Oxford 1986, 
S. 21. 

3  Hans-Dieter Metzger, Thomas Hobbes und die Englische Revolu- 

tion, 1640–1660, Stuttgart 1991, bes. S. 246–256. 

4  Der Text ist abgedruckt in: E. N. Williams (Hrsg.), The Eigh- 

teenth Century Constitution, Cambridge 1965, S. 26–29. 

5  John Brewer, The Sinews of Power: War, Money and the English 

State, 1688–1783, London 1989, S. 159. 

6  Das Gesetz ist abgedruckt in: Williams (Hrsg.), S. 56–60. – Die 

Nachfolgeregelung ließ sich sogar im Sinne einer Wahlmonarchie 
interpretieren. 1780 bestritt Charles James Fox – kein plebejischer 
Radikaler, sondern ein Mitglied des aristokratischen Establish- 
ment, der noch wenige Jahre zuvor dem Ministerium angehört 
hatte und bald wieder Minister wurde – in einer Rede, daß Georg 
III. ein „hereditary right“ auf das Königsamt besitze. Das Parla- 
ment habe ihn zum Nachfolger auf dem Thron gemacht, aber ein 
ererbtes Recht auf ihn besitze er nicht: „Er war . . . ein bloß vom 
Volk eingesetztes Geschöpf (the mere creature of the people’s in- 
stituting), und was er an Rechten besaß, das besaß er nur treu- 
händerisch für das Volk, für dessen Nutzen und Wohl“ (zitiert 
nach L. G. Mitchell, Charles James Fox, Oxford 1992, S. 32). 

 
 

IV. Die parlamentarische Monarchie 

1  Im Verfassungsdenken setzte sich freilich das Prinzip der Ver- 

klammerung und Kooperation von Regierung und Parlament nur 
sehr zögernd durch. Noch 1788 konnte Charles James Fox die 
Ansicht vertreten, daß die drei Zweige der Verfassung nicht nur 
unabhängig zu sein hätten, sondern sich geradezu „feindlich“ zu- 
einander verhalten müßten. Andernfalls gehe die politische Frei- 
heit verloren (Mitchell, S. 83 f.). Erst Walter Bagehot hat die Fik- 
tion der Unabhängigkeit ganz fallengelassen und 1867 in seinem 
klassischen Werk über die englische Verfassung „die enge Verbin- 
dung, die nahezu vollständige Verschmelzung der exekutiven und 
legislativen Gewalt“ ausdrücklich als deren „Erfolgsgeheimnis“ 
bezeichnet (Walter Bagehot, The English Constitution, Neudr. 
London 1955, S. 125). Aufschlußreich ist freilich, daß selbst Ba- 
gehot immer noch von einem „secret“ sprach. 

2  Rommey Sedgwick (Hrsg.), Lord Hervey’s Memoirs, Harmonds- 

worth 1984, S. 114. 

3  W. A. Speck, Stability and Strife, England 1714–1760, London 

1977, S. 160. 

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108

4 Zusammenfassend zum Schrumpfen der Regierungspatronage: 

Norman Gash, Aristocracy and People, Britain 1815–1865, Lon- 
don 1979, S. 49 ff. 

5  Linda Colley, Britons, Forging the Nation 1707–1837, New 

Haven 1992, S. 195–236. 

 
 

V. Adel, Bürgertum und Unterschichten 

1  Leopold von Ranke, Die großen Mächte – Politisches Gespräch, 

mit einem Nachwort von Theodor Schieder, Göttingen 1955, 
S. 50. 

2  John Cannon, Aristocratic Century: The Peerage of 18th-Century 

England, Cambridge 1984, S. 114f. 

3  Reed Browning, The Duke of Newcastle, New Haven 1975, 

S. 34, 52. 

4  Cannon, Aristocratic Century, S. 106 f. 
5  Ebd., S. 137. 
6  Roy Porter, English Society in the Eighteenth Century, Har- 

mondsworth 1982, S. 76 f. 

7  Edmund Burke, Further Reflections on the Revolution in France, 

hrsg. v. Daniel E. Ritchie, Indianapolis 1992, S. 215. 

8  J. C .D. Clark, English Society, 1688–1832, S. 103. 
9  Keith Thomas, Man and the Natural World, New York 1983, 

S. 208. 

10  Weber, Gesammelte Politische Schriften, S. 331. Die Gentry hielt 

sich, wie Weber an anderer Stelle bemerkte, „im Besitz der sämtli- 
chen Ämter der lokalen Verwaltung, indem sie dieselben gratis 
übernahm im Interesse ihrer eigenen sozialen Macht“ (Max We- 
ber, Wirtschaft und Gesellschaft, Studienausg. hrsg. v. Johannes 
Winckelmann, Köln 1964, 2. Halbband, S. 1051). 

11  Paul Langford, Public Life and Propertied Englishmen, 1689- 

1798, Oxford 1991, S. 406f. 

12  Vgl. dazu Colley, Britons, bes. S. 178–193. Ein Autor spricht 

sogar von einem neuen „Schwertadel“ in England, der in der lan- 
gen Kriegszeit geschaffen worden sei (C. A. Bayly, Imperial Me- 
ridian, The British Empire and the World, 1780–1830, London 
1989, S. 134). 

13  Langford, S. 114f. 
14  Joanna Innes, Jonathan Clark, Social History and England’s 

,Ancien Regime’, in: Past and Present, No. 115, 1987, S. 165- 
200. Michael Maurer (Hrsg.), O Britannien, Von deiner Freiheit 
einen Hut voll, Deutsche Reiseberichte des 18. Jahrhunderts, 
München 1992, S. 161. 

15  Langford, S. 336. 

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109

16  Ebd., S. 174. 
17  Ebd., S. 271. 
18  Nicholas Rogers, Resistance to Oligarchy: The City Opposition to 

Walpole and his Successors, 1725–47, in: John Stevenson (Hrsg.), 
London in the Age of Reform, Oxford 1977, S. 8; Ders., Whigs 
and Cities, Popular Politics in the Age of Walpole and Pitt, Ox- 
ford 1989, S. 58 f. 

19  Bayly, S. 129. 
20  Vgl. dazu A. Roger Ekirch, Bound for America, The Transpor- 

tation of British Convicts to the Colonies, 1718–1775, Oxford 
1987. 

21  Marcus Rediker, Between the Devil and the Deep Blue Sea, 

Merchant Seamen, Pirates, and the Anglo-American Maritime 
World, 1700–1750, Cambridge 1987, S. 33. 

22  Clive Emsley, The English Bobby: An Indulgent Tradition, in: Roy 

Porter (Hrsg.), Myths of the English, Oxford 1992, S. 115. 

23  Correlli Barnett, Britain and Her Army 1509–1870, Harmonds- 

worth 1974, S. 353. 

24  E. P. Thompson, Customs in Common, London 1991, S. 287. 
25  Zitiert nach David Cannadine, G.M. Trevelyan, London 1992, 

S. 194. Vgl. auch Charles Townshend, Making the Peace, Order 
and Public Security in Modern Britain, Oxford 1993, S. 10. 

26  Pat Hudson, The Industrial Revolution, London 1992, S. 84. 
27  Ralf Dahrendorf, On Britain, London 1982, S. 63. 
28  Richard Hoggart, A Local Habitation, Life and Times: 1918- 

1940, S. 130f. 

29  Will Hutton, The State We’re in, London 1995, S. 137. Vgl. auch 

David Marquand, The Progressive Dilemma, London 1991, S. 22, 
68f. Marquand geht sogar so weit zu behaupten, daß England 
überhaupt niemals eine „Bürgerkultur“ (civic culture), sondern 
stets nur eine „Untertanenkultur“ (subject culture) besessen habe, 
die „keinen oder wenig Raum für ein aktives und partizipa- 
torisches Bürgerverhalten bot“ (S. 215f.). 

 
 

VI. Die erweiterte Adelsherrschaft 

1  Vgl. dazu das wichtige Buch von A..D. Harvey, Collision of Em- 

pipes, Britain in Three World Wars, 1793–1945, London 1992, 
bes. S. 143–162. 

2  Eine solche Veränderung im Habitus der Elite, der den Prestige- 

verlust der 1780er Jahre wieder wettgemacht und ihr eine neue 
Herrschaftslegitimation verschafft habe, betont Colley, bes. 
S. 147–193. 

3  Thomas Carlyle, Chartism, in: Ders., Essays, London 1950, S. 223. 

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110

4  D. G. Thomas, Lord North, London 1976, S. 5. T. A. Jenkins 

(Hrsg.), The Parliamentary Diaries of Sir John Trelawny 1858- 
1865, London 1990, S. 81f. 

5  Zitiert nach Donald Winch, Malthus, Oxford 1987, S. 72. 
6  Roland Quinault, The Industrial Revolution and Parliamentary 

Reform, in: P. K. O’Brien u. R. Quinault (Hrsg.), The Industrial 
Revolution and British Society, Cambridge 1993, S. 196. In Man- 
chester war es nach Read in erster Linie Unzufriedenheit mit der 
Handelspolitik der Toryregierung, die die bis dahin an einer par- 
lamentarischen Repräsentation ihrer Stadt nicht interessierten Un- 
ternehmer ihre Haltung revidieren ließ (Donald Read, Peterloo, 
The jMassacre’ and its Background, Neudr. Clifton 1973, 
S. 177 ff.). 

7  Im Unterschied zum 18. Jahrhundert waren jetzt auch sehr viel 

weniger „close boroughs“ in den Händen von Whigs. Mehr als 
doppelt soviele befanden sich im Besitz von Tories (Jonathan Par- 
ry, The Rise and Fall of Liberal Government in Victorian Britain, 
New Haven 1993, S. 74f.). 

8  Joseph Hamburger, Macaulay and the Whig Tradition, Chicago 

1976, S. 140. 

9  Frank O’Gorman, Voters, Patrons and Parties, The Unreformed 

Electorate of Hannoverian England, 1734–1832, Oxford 1989, 
S. 179 ff. 

10  Thomas Babington Macaulay, Selected Writings, hrsg. v. John 

Clive u. Thomas Pinney, Chicago 1972, S. 165–180. 

11  George Eliot, Felix Holt, The Radical, Harmondsworth 1975, 

S. 396. 

12  John Belchem, ,Orator’ Hunt, Henry Hunt and English Working- 

Class Radicalism, Oxford 1985, S. 224. 

13  John Clive, Not by Fact Alone, Essays on the Writing and Rea- 

ding of History, London 1989, S. 182f. 

14  Willibald Steinmetz, Das Sagbare und das Machbare, Zum Wan- 

del politischer Handlungsspielräume – England 1780–1867, Stutt- 
gart 1993, S. 328. 

15  W. A. Speck, A Concise History of Britain 1707–1975, Cam- 

bridge 1993, S. 89 f. 

16  Gash, Aristocracy and People, S. 347; W.L. Guttsman (Hrsg.), 

The English Ruling Class, London 1969, S. 153 ff. 

17  M. G. Wiebe (Hrsg.), Benjamin Disraeli Letters, vol. 5, Toronto 

1993, S. 118; Jasper Ridley, Lord Palmerston, London 1970, 
S. 512. 

18  Vgl. dazu vor allem W.D. Rubinstein, Men of Property, The Very 

Wealthy in Britain since the Industrial Revolution, London 1981. 

19  Vgl. dazu Norman Gash, Sir Robert Peel, The Life of Sir Robert 

Peel after 1830, London 1986, bes. S. 582, 589f. 

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111

20  Zitiert nach Ian Bradley, The Optimists, Themes and Personalities 

in Victorian Liberalism, London 1980, S. 54; T.A. Jenkins, The 
Liberal Ascendancy, 1830–1886, London 1994, S. 100. Ange- 
sichts der Nachgiebigkeit gegenüber dem Adel innerhalb des Bür- 
gertums nach Aufhebung der Kornzölle spricht ein Historiker 
davon, daß das Jahr 1846 „Triumph für den Freihandel, aber 
Niederlage für die Freihändler’ bedeutet habe“ (G. R. Searle, 
Entrepreneurial Politics in Mid-Victorian Britain, Oxford 1993, 
S. 50). 

21  Alexander Herzen, Aus meinem Leben, Memoiren und Reflexio- 

nen, Bd. III, Berlin 1962, S. 135. 

22  Vgl. dazu Hans-Christoph Schröder, Countryposition und Level- 

lerprogramm, Zur Kontinuität’ politischen Denkens im frühneu- 
zeitlichen England, in: Mentalitäten und Lebensverhältnisse, 
Rudolf Vierhaus zum 60. Geburtstag, Göttingen 1982, S. 121- 
142. 

23  Samuel Bamford, Passages in the Life of a Radical, Neudr. Lon- 

don 1967, S. 219ff. 

24  William Hazlitt, The Spirit of the Age, Or, Contemporary Por- 

traits, Neudr. New York 1983, S. 132f. 

25  Henry James, Portrait of a Lady, New York 1951, S. 101f. 

Zu Winston Churchills Forderung nach einer Abschaffung des 
Oberhauses und einer Aufteilung des aristokratischen Großgrund- 
besitzes während seiner radikalliberalen Phase vor dem Ersten 
Weltkrieg bei gleichzeitiger intensiver Pflege seiner eigenen hoch- 
aristokratischen Verwandtschaftsbeziehungen vgl. David Canna- 
dine, Winston Churchill as an Aristocratic Adventurer, in: Ders., 
Aspects of Aristocracy, New Haven 1994, S. 156. 

 
 

VII. Die Demokratisierung und die Entwicklung 

    zum Sozialstaat 

1  David Cannadine, The Decline and Fall of the British Aristocracy, 

New Haven 1990, S. 40. 

2  Speck, Concise History, S. 101f. 
3  Cannadine, Decline, S. 189. 
4  Malchow, S. 336 f. 
5  Cannadine, Decline, S. 703. 
6  Peter Clarke, A Question of Leadership, Gladstone to Thatcher, 

London 1991, S. 104. 

7  Max Weber kontrastierte im Februar 1918 in einem Artikel der 

„Frankfurter Zeitung“ die provozierende Behandlung der Wahl- 
rechtsfrage durch den „preußischen Klassenlandtag“ mit der 
Tatsache, „daß die aristokratischste Körperschaft der Erde, das

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112

englische Oberhaus, eben jetzt das demokratischste Wahlrecht ir- 
gendeines Großstaats glatt angenommen hat“ (Weber, Gesammel- 
te Politische Schriften, S. 294). Die Ausweitung des Wahlrechts im 
Jahre 1918 war allerdings zum Teil von der Absicht bestimmt, die 
organisierte Arbeiterschaft zu schwächen und das patriotisch- 
konservative Potential weiblicher Wähler zu nutzen. Vgl. dazu 
John Turner, Britisch Politics and the Great War, New Haven 
1992, S. 121, 414f., 417ff., 432, 434f. 

8  Ross McKibbin, The Ideologies of Class, Social Relations in Bri- 

tain 1880–1950, Paperbackausg. Oxford 1991, S. 77. 

9  Vgl. dazu die subtilen Überlegungen bei McKibbin, bes. S. 9, 81. 
10  Vgl.  dazu  A.  J.  P.  Taylor,  The Trouble Makers, Dissent over 

Foreign Policy 1792–1939, Taschenbuchausg. London 1969; 
Marvin Swartz, The Union of Democratic Control in British Poli- 
tics During the First World War, Oxford 1971; J. M. Winter, 
Socialism and the Challenge of War, London 1974. 

11  Vgl. dazu vor allem Maurice Cowling, The Impact of Labour, 

1920–1924, Cambridge 1971. 

12  J. Scally, The Origins of the Lloyd George Coalition, Princeton 

1975; vgl. auch jetzt den allgemeinen Überblick bei G. R. Searle, 
Country Before Party, Coalition and the Idea of National Go- 
vernment in Modern Britain 1885–1987, London 1995. 

13  McKibbin, bes. S. 275, 281 f. 
14  Paul Kennedy, The Realities Behind Diplomacy, Background 

influences on British External Policy, 1865–1980, London 1981, 
S. 297f. Maurice Cowling, The Impact of Hitler, Cambridge 1975. 

15  Robert Pearce, Attlee’s Labour Governments, 1945–51, London 

1994, S. 14. 

16  Vgl. „Times“, 21. 6. 1994. 
17  Paul Addison, The Road to 1945, British Politics and the Second 

World War, Paperbackausg. London 1982, S. 227. – Der Konser- 
vative Politiker Quintin Hogg hatte während der Debatte um den 
Beveridge Report gewarnt: „Wenn ihr dem Volk nicht die soziale 
Reform gebt, dann wird es euch die soziale Revolution geben“ 
(Samuel Beer, Modern British Politics, London 1965, S. 307). 

18  McKibbin, S. 288. 
19  Peter Hennessy, Never Again, Britain 1945–1951, London 1992, 

S. 78. 

20  John Grigg, Lloyd George, in: Paul Barker (Hrsg.), Founders of 

the Welfare State, London 1984, S. 74. 

21  Pearce, S. 53. 
22  John Veit Wilson, Seebohm Rowntree, in: Barker (Hrsg.), S. 82. 
23  Hennessy, S. 450. 
24  Vgl. dazu die Äußerungen Edens und R. A. Butlers bei Beer, 

S. 270 f. 

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113

25  Zitiert nach Beer, S. 271. 
26  Man hat zurecht auf die merkwürdige Tatsache hingewiesen, daß 

die Engländer zur gleichen Zeit in Westdeutschland die Bemühun- 
gen um die Einführung der Mitbestimmung unterstützten 
(Kenneth O. Morgan, Labour in Power 1945–1951, Oxford 
1984, S. 136). 

27  Vgl. die Tabelle bei Alan Sked, Britain’s Decline, Problems and 

Perspectives, Oxford 1987, S. 33. 

28  Richard Cobden, Political Writings, London 1903, S. 21. 
29  Das ist die überzeugende Hauptthese des Buches von John Dar- 

win, Britain and Decolonisation, The Retreat from Empire in the 
Post-War World, London 1988. 

30  Vgl. dazu Wm. Roger Louis und Ronald Robinson, Empire Pre- 

serv’d, How the Americans Put Anti-Communism Before Anti- 
Imperialism,’in: The Times Literary Supplement, 5.5. 1995, 
S. 14 ff. 

31  Robert Holland, The Pursuit of Greatness, Britain and the World 

Role 1900–1970, London 1991, S. 225. Hennessy, S. 216ff. 

32  David Goldsworthy (Hrsg.), The Conservative Government and 

the End of Empire, London 1994, Teil 3, S. 43–50. 

33  John Campbell, Roy Jenkins, London 1983, S. 71. 
34  Philip Ziegler, Wilson, London 1993, bes. S. 215, 219, 432. 
 
 

VIII. Vom Empire zum Commonwealth 

1  Paul M. Kennedy, The Rise and Fall of British Naval Mastery, 

London 1983, S. 17. 

2  Ebd., S. 82. 
3  Das übersah Carl Schmitt, der in der Hinnahme britischer See- 

herrschaft nur eine Folge der geistigen Hegemonie des „großen 
Leviathan“ zu erkennen vermochte – einen Beweis dafür, daß die 
Völker im Banne „englischer Ideen“ standen (Carl Schmitt, Land 
und Meer. Eine weltgeschichtliche Betrachtung, Köln 1981, 
S. 88f.). 

4  Vgl. dazu Hans-Christoph Schröder, Die Amerikanische Revolu- 

tion, München 1982. 

5  Colley, S. 130. 
6  P. J. Marshall, The Eighteenth Century Empire, in: Jeremy Black 

(Hrsg.), British Politics and Society from Walpole to Pitt 1742- 
1789, London 1990, S. 199f. 

7  Bayly, S. 3. 
8  Dazu jetzt ausführlich Stig Förster, Die mächtigen Diener der East 

Indian Company, Ursachen und Hintergründe der britischen Ex- 
pansionspolitik in Südasien, 1793–1819, Stuttgart 1992. 

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114

9   J. R. Seeley, Die Ausbreitung Englands, Berlin 1954, S. 293. 
10  Vgl. dazu jetzt ausführlich und in international vergleichender 

Perspektive E. H. H. Green, The Crisis of Conservatism, The Po- 
litics, Economics and Ideology of the British Conservative Party, 
1880–1914, London 1995. 

11  Die folgende Skizze stützt sich vor allem auf David Cannadine, 

The Context, Performance and Meaning of Ritual: The British 
Monarchy and the .Invention of Tradition’, c. 1820–1977, in: 
Eric Hobsbawm u. Terence Ranger (Hrsg.), The Invention of 
Tradition, Cambridge 1984, S. 101–164. 

12  Ebd., S. 121. 
13  John M. MacKenzie, Propaganda and Empire, The Manipulation 

of British Public Opinion 1880–1960, Manchester 1984, bes. 
S. 3 ff., 221. 

14  Kennedy, Rise and Fall, S. 256 f. 
15  Ebd., S. 275. 
16  Über den tatsächlichen Machtschwund Englands konnte auch die 

Tatsache hinwegtäuschen, daß es wegen des Isolationismus der 
Vereinigten Staaten sowie der vorübergehenden Schwäche 
Deutschlands und Rußlands zunächst der wichtigste Akteur auf 
der internationalen Bühne war. 

17  Vgl. Hans-Christoph Schröder, George Orwell, Eine intellektuelle 

Biographie, München 1988, S. 170f. 

18  John Charmley, Churchill: The End of Glory, A Political Biogra- 

phy, London 1993, S. 398^4-07. In einer unlängst veröffentlichten 
Untersuchung wird versucht, die Bereitschaft von Außenminister 
Halifax zu Kontaktaufnahmen mit Mussolini wegen eines Ver- 
ständigungsfriedens allein mit der Rücksichtnahme auf Frankreich 
zu erklären. Bei den Divergenzen Ende Mai 1940 zwischen Hali- 
fax und Chamberlain auf der einen, Churchill auf der anderen Sei- 
te habe es sich nur um „oberflächliche Differenzen“ gehandelt 
(Sheila Lawlor, Churchill and the Politics of War, 1940–1941, 
Cambridge 1994, bes. S. 73ff., 78 ff., 87). Diese Argumentation 
vermag nicht zu überzeugen. 

19  Charmley, bes. S. 648 f. 
20  Pearce, S. 68. 
21  Ellen Meiksins Wood, The Pristine Culture of Capitalism, London 

1991, S. 165, 167. 

22  P.  J.  Cain  u.  A.  G. Hopkins, British Imperialism: Innovation and 

Expansion, 1688–1914, London 1993; Dies. British Imperialism: 
Crisis and Deconstruction, 1914–1990, London 1993; W. D. 
Rubinstein, Capitalism, Culture, and Decline in Britain, 1750- 
1990, London 1993. 

23  Cain u. Hopkins, Crisis and Deconstruction, bes. S. 299 f. Das Vor- 

handensein von fundamentalen Interessengegensätzen sowie einer

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115

Barriere zwischen Industriellen und „gentlemanly capitalists“ be- 
streitet M. J. Daunton, „Gentlemanly Capitalism“ and British In- 
dustry 1820–1914, in: Past and Present, Nr. 122,1989, S. 119–158. 

24  Dazu kritisch David S. Landes, The Fable of the Dead Horse, or, 

The Industrial Revolution Revisited, in: Joel Mokyr (Hrsg.), The 
British Industrial Revolution, An Economic Perspective, Boulder 
1993, S. 132–170. 

25  Rubinstein, Capitalism, S. 154. 
 
 

IX. Der Thatcherismus und die Abkehr von der Konsenspolitik 

1  Dennis Kavanagh, Thatcherism and British Politics, The End of 

Consensus?, 2. Aufl. Oxford 1990, S. 6. 

2  Zur Einordnung des Thatcherismus in die englische Nachkriegs- 

entwicklung sowie zum Unterschied zwischen ihm und den gleich- 
zeitigen neoliberal-konservativen Politikprogrammen in anderen 
Ländern vgl. Hans Kastendiek, Vom Nachkriegskonsensus zum 
Thatcherismus, in: Hans-Georg Wehling (Hrsg.), Großbritannien, 
Stuttgart 1992, bes. S. 118f. 

3  Die Äußerung Margaret Thatchers in einem Interview mit der 

Zeitschrift „Woman’s Own“ ist zitiert bei Peter Riddell, The 
Thatcher Decade, How Britain has Changed During the 1980s, 
Oxford 1989, S. 171. Zu der Vorstellung eines auf das Jahr 1940 
zurückgehenden „Sozialvertrags“ siehe Beer, S. 215. 

4  Eine solche gab es bereits während der Kriege gegen das revolu- 

tionäre und napoleonische Frankreich. Vgl. dazu Emsley, British 
Society, bes. S. 117f. 

5  Anthony Brundage, The Making of the New Poor Law, London 

1978. 

6  Vgl. dazu Charles Loch Mowat, Britain Between the Wars 1918- 

1940, Paperbackausg. London 1968, bes. S. 325, 329; Martin 
Gilbert, In Search of Churchill, London 1994, S. 257 f.; Paul Ad- 
dison, Churchill on the Home Front 1900–1955, London 1992, 
S. 259–270. 

7  Noel Annan, Our Age, Portrait of a Generation, London, S. 425. 
8  Dieser Traditionsstrang wird etwas zu stark betont in der knap- 

pen Zusammenfassung von Andrew Adonis, The Transformation 
of the Conservative Party in the 1980s, in: Ders. u. Tim Harnes 
(Hrsg.), The Thatcher-Reagan Decade in Perspective, Manchester 
1994, bes. S. 147ff. 

9  Ebd., S. 145. 
10 Vgl. dazu Hans-Christoph Schröder, Imperialismus und antide- 

mokratisches Denken, Alfred Milners Kritik am politischen Sy- 
stem Englands, Wiesbaden 1978. 

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116

11  Weber, Gesammelte Politische Schriften, S. 359. 
12  Vgl. dazu die hervorragende Biographie von John Campbell, 

Edward Heath, London 1993, S. 436–483. 

 
13  Hugo Young, One of Us, A Biography of Margaret Thatcher, rev. 

Taschenbuchausg. London 1990, S. 224. 

14  Zitiert nach Riddell, S. 7. 
15  Kavanagh, S. 294. 
16  Vgl. dazu Raphael Samuel, Mrs. Thatcher’s Return to Victorian 

Values, in: T. C. Smout (Hrsg.), Victorian Values, Oxford 1992, 
S. 20. 

17  Young, S. 139. 
18  Ein Historiker verweist darauf, daß der harsche, Armut und 

Schuld assoziierende Thatcherismus eher vorviktorianische als 
viktorianische Werte wiederspiegelt (Boyd Hilton, The Age of 
Atonement, The Influence of Evangelicalism on Social and Eco- 
nomic Thought 1785–1865, erg. Paperbackausg. Oxford 1991, 
S. 373f., 393). 

19  Young, S. 525. 
20  Kavanagh, S. 235 f. 
21  Young, S. 535. Die zunehmende soziale Ungleichheit in den 

1980er Jahren schlug sogar auf die Sterblichkeitsrate durch 
(Riddell, S. 157f.). 

22  In der Zwischenkriegszeit hatte die Arbeitslosenquote im Durch- 

schnitt 14 Prozent betragen. Von 1941 bis 1970 lag sie bei 1,5 
Prozent. In den 1980er Jahren betrug sie durchschnittlich 10 Pro- 
zent („Times“, 5. 7. 1994). 

23  Martin Pugh, State and Society, British Political and Social Histo- 

ry 1870–1992, London 1994, S. 314. 

24  Vgl. „Times“, 26. 4. 1994. 
25  Young, S. 281. 
26  Wie sehr Wahlüberlegungen bei den Abgeordneten die Haltung 

gegenüber Margaret Thatcher und die Entscheidung für ihren 
Nachfolger bestimmten, verdeutlichen die Tagebucheintragungen 
eines damaligen Ministers (Alan Clark, Diaries, London 1993, 
bes. S. 368 f.). 

27  Vgl. dazu Riddell, S. 149–167. 
28  Benjamin Disraeli, Sybil: Or The Two Nations, London 1968, 

S. 279. Lord Jenkins sprach in bezug auf die Entmachtung der lo- 
kalen Selbstverwaltung unter Margaret Thatcher von „einem 
Grad der Herabwürdigung der Bürger, von dem man sich schwer 
vorstellen kann, daß er irgendeinem anderen demokratischen 
Land hätte aufgezwungen werden können“ (zitiert nach Riddell, 
S. 177). 

29  Anthony Sampson, The Essential Anatomy of Britain, Democracy 

in Crisis, London 1992, S. 148. 

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30  David Marquand, The Unprincipled Society, New Demands and 

Old Politics, Paperbackausg. London 1988, bes. S. 178, 194, 204. 

31  Ebd., S. 197. Bereits 1954 waren zwei amerikanische Politikwis- 

senschaftler in einer Untersuchung über die innere Sicherheit in 
Großbritannien zu der Schlußfolgerung gekommen, daß dort die 
bis dahin so erfolgreiche Sicherung der Freiheit ganz von der Stär- 
ke demokratischer Prinzipien und der Klugheit der Regierenden 
abhänge. Es gebe „keine förmlichen institutionellen Hindernisse 
für die Errichtung eines Polizeistaates“ (zitiert nach Townshend, 
S. 135). Nach dem Urteil zweier Juristen geriet unter Margaret 
Thatcher die bürgerliche Freiheit in England vor allem aufgrund 
der Stärkung der Polizeitgewalt in einen „Zustand der Krise“. Sie 
fordern dieselbe Entschiedenheit im Kampf gegen die Konzentra- 
tion der Macht und für die Erhaltung der „civil liberties“, wie sie 
die Engländer im 17. Jahrhundert gegen den Stuartdespotismus 
gezeigt hätten (K.D. Ewing u. CA. Gearty, Freedom under That- 
cher, Civil Liberties in Modern Britain, Oxford 1990, S. 255, 
275). 

32  Christopher Hitchens, For the Sake of Argument, Essays and 

Minority Reports, London 1993, S. 160. 

33  Marquand, Progressive Dilemma, S. 240. 
34  Sampson, S. 160. 

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118

Literaturübersicht 

 

 

 

Der folgende bibliographische Überblick beschränkt sich im wesentli- 
chen auf die neuere Literatur, die den gegenwärtigen Stand der For- 
schung widerspiegelt und mit deren Hilfe sich ältere Werke ermitteln 
lassen. Genannt werden empfehlenswerte Arbeiten, die der Verfasser 
gelesen und benutzt hat.

 

 
I.  Aus vergleichender Perspektive wird das mittelalterliche England 
behandelt in dem klassischen Werk von Marc Bloch, Die Feudalge- 
sellschaft, Berlin 1982, sowie in der ausgezeichneten Arbeit von 
Susan Reynolds, Kingdoms and Communities in Western Europe 
900–1300, Oxford 1984. Die „englische Einzigartigkeit“ wird the- 
matisiert von Bernard Guinee, L’Occident Aux XIVe et XVe Siecles, 
Paris 1981

2

 (engl. Ausg. unter dem Titel: States and Rulers in Later 

Medieval Europe, Oxford 1985).

 

Gute Überblicksdarstellungen sind: H. P. R. Finberg, The Forma- 

tion of England 550–1042, London 1976; M.  T.  Clanchy,  England 
and its Rulers 1066–1272, Oxford 1983; Anthony Tuck, Crown and 
Nobility 1272–1461, London 1985; /. R. Lander, Government and 
Community, England 1450–1509, London 1980. Regierung und 
Verwaltung Englands im Mittelalter werden in den drei Bänden einer 
„The Governance of England“ betitelten Serie behandelt von H. R. 
Loyn,  
The Governance of Anglo-Saxon England 500–1087, London 
1984;  W. L. Warren, The Governance of Norman and Angevin 
England 1086–1272, London 1987; A. L. Brown, The Governance of 
Late Medieval England 1272–1461, London 1989. Eine gute Einfüh- 
rung in die Entwicklung des mittelalterlichen Parlaments liefern die 
Beiträge in dem Sammelband von R. G. Davies u. /. H. Denton 
(Hrsg.),  
The English Parliament in the Middle Ages, Manchester 
1981, sowie G. L. Harris, King, Parliament and Public Finance in 
Medieval England to 1369, Oxford 1975. Die Beschränkungen, 
denen die englischen Monarchen im Spätmittelalter unterworfen 
waren, beleuchtet die knappe Darstellung von /. R. Lander, The 
Limitations of English Monarchy in the Later Middle Ages, Toronto 
1989.

 

 
II. Die vom Autor für deutsche Leser überarbeitete und ergänzte 
Fassung eines in England bereits 1955 in erster Auflage erschienenen 
Werkes ist Geoffrey R. Elton, England unter den Tudors, München 
1983. Die neueste zusammenfassende Darstellung bietet John Guy, 
Tudor England, Oxford 1988. Ausgezeichnete sozialgeschichtliche 
Darstellungen sind D. M. Palliser, The Age of Elizabeth, England

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119

under the later Tudors, London 1983; Keith Wrightson, English 
Society 1580–1680, London 1982. Wichtige Sammelbände, die neue 
Forschungsansätze und Interpretationen bieten, sind Christopher 
Haigh (Hrsg.), 
The English Reformation Revised, Cambridge 1987; 
Ders. (Hrsg.), The Reign of Elizabeth I, London 1984. In dem zuletzt 
genannten Band betont Elton, daß das Parlament im 16. Jahrhundert 
eine Institution wurde (nicht mehr nur eine Serie von Ereignissen 
darstellte) und der King-in-Parliament seit 1559 der „sovereign la- 
wmaker“ war. Allerdings hebt Elton zugleich die ausschlaggebende 
Rolle der Monarchen sowie die geringe eigenständige Bedeutung von 
Lords und Commons hervor. Diese Akzentuierung findet sich noch 
zugespitzter in G. R. Elton, The Parliament of England 1559–1581, 
Cambridge 1986. Einen ausgezeichneten Überblick über die Diskus- 
sion unter den Historikern und eine Zusammenstellung der wichtig- 
sten Fakten bietet Michael A. R. Graves, The Tudor Parliaments, 
Crown, Lords and Commons, 1485–1603, London 1985. Eine vor- 
zügliche, knappe Darstellung der Zeit Elisabeths, in der die verschie- 
denen Aspekte ihrer Herrschaftsausübung behandelt werden und 
auch auf die Schwierigkeiten eingegangen wird, die sie als Frau zu 
überwinden hatte, gibt Christopher Haigh, Elizabeth I, London 1988.

 

 
III. Relevante Überblicksdarstellungen zur revolutionären Phase der 
englischen Geschichte sind Derek Hirst, Authority and Conflict, 
England 1603–1658, London 1986; Hans-Christoph Schröder, Die 
Revolutionen Englands im 17. Jahrhundert, Frankfurt 1986. Die 
Religionsfrage in ihren verschiedenen Aspekten und das Aufkommen 
des Puritanismus werden dargestellt von Patrick Collinson, The 
Religion of Protestants, The Church in English Society 1559–1625, 
Oxford 1982. Die beste und präziseste Rekonstruktion des Ent- 
fremdungsprozesses zwischen Karl I. und der politischen Nation gibt 
L. J. Reeve, Charles I and the Road to Personal Rule, Cambridge 
1989. Gute Aufsatzsammlungen mit neuen Fragestellungen und Er- 
kenntnissen zur Englischen Revolution sind John Morrill (Hrsg.), 
Oliver Cromwell and the English Revolution, London 1990; Ders. 
(Hrsg.),  
Revolution and Restoration, England in the 1650s, London 
1992. Die Wiederherstellung der Monarchie und die Restauration- 
speriode werden eingehend behandelt von Ronald Hutton, The 
Restoration, Oxford 1985; Ders.,  Charles II, King of England, Scot- 
land and Ireland, Oxford 1989. Für die Glorious Revolution sind her- 
anzuziehen  W. A. Speck, Reluctant Revolutionaries, Oxford 1988; 
Robert Beddard, A Kingdom Without a King, The Journal of the 
Provisional Government in the Revolution of 1688, Oxford 1988.

 

 
IV. Die wichtigste Studie zur politischen Stabilisierung nach der 
Glorious Revolution ist das schmale Buch von J. H. Plumb, The

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120

Growth of Political Stability in England 1675–1725, Harmonds- 
worth 1969. Eine Zusammenfassung der neueren Forschung gibt 
Hans-Christoph Schröder, Die politische Stabilisierung Englands im 
18. Jahrhundert, in: Hanna Schissler (Hrsg.), Schulbuchverbesserung 
durch internationale Schulbuchforschung? Braunschweig 1985, S. 
35–87. Einen knappen, klaren Überblick bietet Jeremy Black, Robert 
Walpole and the Nature of Politics in Early Eighteenth Century 
England, London 1990. Informativ ist auch der Sammelband von 
Jeremy Black (Hrsg.), Britain in the Age of Walpole, London 1984. 
In ihm behandelt in einem besonders lesenswerten Beitrag J. A. 
Downie – der Verfasser einer Swiftbiographie – die Kritik der zeitge- 
nössischen Schriftsteller an Walpole und seinem System. Die außer- 
ordentlich komplizierte und verworrene Geschichte der englischen 
Parteien nach der Glorious Revolution wird ausführlich dargestellt 
von  B. W. Hill, The Growth of Parliamentary Parties 1689–1742, 
London 1976; Ders.,  British Parliamentary Parties 1742–1832, Lon- 
don 1985. Eine gedrängte Zusammenfassung bietet Frank 
O’Gorman,  
The Emergence of the British Two-Party System 1760- 
1832, London 1982. Einen vorzüglichen Überblick über das englische 
Verfassungsdenken vom 15. Jahrhundert bis zum frühen 18. Jahr- 
hundert gibt Wilfried Nippel, Mischverfassungstheorie und Verfas- 
sungsrealität in Antike und früher Neuzeit, Stuttgart 1980.

 

 
V. Eine hervorragende Komprimierungsleistung liefert W. A. Speck, 
A Concise History of Britain 1707–1975, Cambridge 1993. Eine gute 
und zugleich sehr lesbare, ja unterhaltsame sozialgeschichtliche Ein- 
führung gibt Roy Porter, English Society in the Eighteenth Century, 
Harmondsworth 1982. Für das Verständnis der Eigentümlichkeiten 
des englischen Adels und der Langlebigkeit der Adelsherrschaft in 
England ist heranzuziehen Hans-Christoph Schröder, Der englische 
Adel, in: Armgard von Reden-Dohna u. Ralph Melville (Hrsg.), Der 
Adel an der Schwelle des bürgerlichen Zeitalters, Stuttgart 1988, S. 
21–88. Das wichtigste Buch über die Hocharistokratie im England 
des 18. Jahrhunderts ist John Cannon, Aristocratic Century, The 
Peerage of Eighteenth-Century England, Cambridge 1984. Von zen- 
traler Bedeutung für das Verhältnis zwischen „Patriziern“ und 
„Plebejern“ sowie die Vorstellungswelt und das Verhalten der engli- 
schen Unterschichten sind die bahnbrechenden Arbeiten von E. P. 
Thompson. Seine wichtigsten Beiträge wurden, zumeist von Günther 
Lottes hervorragend übersetzt, in einer deutschen Ausgabe zusam- 
mengefaßt in dem Sammelband: Edward P. Thompson, Plebejische 
Kultur und moralische Ökonomie, Frankfurt 1980. Diese Aufsätze 
liegen jetzt auch in einer englischen Ausgabe gesammelt und zum Teil 
erweitert vor (E. P. Thompson, Customs in Common, London 1991). 
Aus der umfangreichen, Thompson teilweise kritisierenden Literatur

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121

über die Volksunruhen seien genannt: Anthony Fletcher u.  John 
Stevenson (Hrsg.), 
Order and Disorder in Early Modern England, 
Cambridge 1985; John Brewer u.  John Styles (Hrsg.), An Ungovern- 
able People, The English and their Law in the Seventeenth and Eigh- 
teenth Centuries, London 1980; John Stevenson, Popular Disturban- 
ces in England 1700–1870, London 1979; Nicholas Rogers, Whigs 
and Cities, Popular Politics in the Age of Walpole and Pitt, Oxford 
1989;  Mark Harrison, Crowds and History, Mass Phenomena in 
English Towns, 1790–1835, Cambridge 1988. Eine gut geschriebene, 
freilich durch einen starken Anti-Whig-Affekt bestimmte und der 
Tradition des Tory-Paternalismus verpflichtete Zusammenfassung 
bietet das Buch des ehemaligen, von Margaret Thatcher ausgeboote- 
ten Konservativen Ministers Ian Giltnour, Riot, Risings and Revolu- 
tion, Governance and Violence in Eighteenth-Century England, Lon- 
don 1992. Zu den Wahlen und ihrem Ritual, in dem die Wähler und 
die  Nichtwähler  wichtige, hochempfindliche Akteure mit eigenen 
Erwartungen und Ansprüchen darstellten, ist grundlegend Frank 
O’Gorman,  
Voters, Patrons and Parties, The Unreformed Electorate 
of Hannoverian England, 1734–1832, Oxford 1989; Ders.,  Cam- 
paign Rituals and Ceremonies: The Social Meaning of Elections in 
England 1780–1860, in: Past and Present, 135, 1992, S. 79–115. 
Unentbehrlich für ein Verständnis des politischen Denkens im Eng- 
land des 18. Jahrhunderts ist H. T. Dickinson, Liberty and Property, 
Political Ideology in Eighteenth-Century Britain, London 1977. Ein 
aufschlußreiches Englandbild, in dem die starke Durchmischung der 
sozialen Schichten in der Hauptstadt, der tumultartige Charakter der 
Wahlen und das durch Argwohn gekennzeichnete politischen Denken 
hervortreten, gibt der Sammelband von Michael Maurer (Hrsg.), 
Britannien, Von deiner Freiheit einen Hut voll, Deutsche Reiseberich- 
te des 18. Jahrhunderts, München 1992.

 

 
VI. Einen sowohl thematisch als auch regional gegliederten sozialge- 
schichtlichen Gesamtüberblick bietet der Sammelband von F. M. L. 
Thompson (Hrsg.), 
The Cambridge Social History of Britain 1750- 
1950, 3 Bde. Cambridge 1990. Ebenfalls klar nach Themen geglie- 
dert ist F. M. L. Thompson, The Rise of Respectable Society, A 
Social History of Victorian Britain, 1830–1900, London 1988. Der 
Einfluß, den die Französische Revolution und die Kriege gegen 
Frankreich auf die britische Elite ausgeübt haben, ist ein Hauptthema 
des Buches von Linda Colley, Britons, Forging the Nation 1707- 
1837, New Haven 1992. David Cannadine betont, daß sich die Ari- 
stokratie im ausgehenden 18. und frühen 19. Jahrhundert in einer 
nahezu als Neubildung zu betrachtenden Weise durch hinzukom- 
menden Reichtum zu stärken und ihre Stellung insgesamt noch unan- 
greifbarer zu machen verstand {David Cannadine, The Making of the

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122

British Upper Classes, in: Ders.,  Aspects of Aristocracy, New Haven 
1994). Der gesellschaftliche und innenpolitische Aspekt der Kriege 
gegen das revolutionäre und napoleonische Frankreich wird behan- 
delt von Clive Emsley, British Society and the French Wars 1793- 
1815, London 1979; den militärischen Aspekt sowie seine finanziel- 
len und logistischen Implikationen erörtert eingehend A. D. Harvey, 
Collision of Empires, Britain in Three World Wars 1793–1945, 
London 1992. Folgende Arbeiten sind für den durch die Französische 
Revolution ausgelösten Radikalismus sowie für die loyalistische 
Gegenbewegung heranzuziehen: H. T. Dickinson, British Radicalism 
and the French Revolution 1789–1815, Oxford 1985; Ders. (Hrsg.), 
Britain and the French Revolution 1789–1815, London 1989; Ders., 
Popular Loyalism in Britain in the 1790s, in: Eckhart Hellmuth 
(Hrsg.),  
The Transformation of Political Culture, England and Ger- 
many in the Late Eighteenth Century, Oxford 1990, S. 503–533; 
Albert Goodwin, The Friends of Liberty, The English Democratic 
Movement in the Age of the French Revolution, London 1979; Gün- 
ther Lottes, 
Politische Aufklärung und plebejisches Publikum, Zur 
Theorie und Praxis des englischen Radikalismus im späten 18. Jahr- 
hundert, München 1979. Die Arbeit von Lottes geht auch ausführlich 
auf die Ideen von Thomas Paine ein. Eine sehr lesbare Biographie des 
Mannes, der sich vom Gegner in einen Anhänger Paines verwandelte 
und durch seine Veröffentlichungen für den populären Radikalismus 
in England höchst bedeutsam wurde, ist Daniel Green, Great Cob- 
bett, The Noblest Agitator, London 1983. Sehr gute, knappe Zu- 
sammenfassungen der plebejischen Reformbewegung finden sich bei 
J.  R. Dinwiddy, From Luddism to the First Reform Bill, Oxford 
1986;  John Belchem, Industrialization and the Working Class, The 
English Experience, 1750–1900, Aldershot 1990. Eine gute Biogra- 
phie, in der die Eitelkeiten der Führer der plebejischen Reformbewe- 
gung und die Reibungen zwischen ihnen dargestellt werden, ist John 
Belchem,  
‚Orator’ Hunt: Henry Hunt and English Working-Class 
Radicalism, Oxford 1985. Den politischen Charakter des Chartismus 
der 1830er und 1840er Jahre sowie seinen engen Zusammenhang mit 
dem älteren „Radicalism“ betont Gareth Stedman Jones, Rethinking 
Chartism, in: Ders.,  Languages of Class, Studies in English Working 
Class History 1832–1982, Cambridge 1983, S. 90–178. Eine zusam- 
menfassende Darstellung des Chartismus, in welcher der Rolle der 
Frauen ein eigenes Kapitel gewidmet ist, gibt Dorothy Thompson, 
The Chartists, London 1984. Das Buch ist engagiert, erscheint aber 
gleichwohl im Urteil vorsichtiger und ausgewogener als das berühmte 
Werk ihres Mannes, E. P. Thompson, The Making of the English 
Working Class, London 1963. Eine wichtige mikrohistorische Studie 
über die Anwendung des alten Armengesetzes, dessen Abschaffung 
im Jahre 1834 einen der Hauptanstöße der Chartistenbewegung

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123

bildete, liefert der deutsche Historiker Thomas Sokoll, Household 
and Family Among the Poor, The Case of Two Essex Communities in 
the Late Eighteenth and Early Nineteenth Centuries, Bochum 1993. 
Nach Sokoll war die Armenfürsorge, jedenfalls in einigen Gemein- 
den, so umfassend, daß man geradezu von einem Wohlfahrtsstaat 
sprechen kann. Diese Erkenntnis zwingt zu der Schlußfolgerung, daß 
das seit dem Buch von T.  H. Marshall, Class, Citizenship, and Social 
Development, London 1963, aus der englischen Geschichte üblicher- 
weise herausgelesene Verlaufsschema „civil rights“, „political 
rights“, „social rights“ nicht ganz aufgeht und etwas modifiziert 
werden muß. Unter dem alten Armengesetz wurden soziale Rechte 
anerkannt und zum Teil gewährt, lange bevor es gleiche politische 
Rechte gab. Der Entzug sozialer Rechte durch das New Poor Law 
von 1834 kann sogar als eine Ursache für die vom Chartismus erho- 
bene Forderung nach gleichen politischen Rechten, d.h. vor allem 
nach dem allgemeinen Wahlrecht, betrachtet werden. Von grundle- 
gender Bedeutung für die Pauperismusdiskussion und die Rezeption 
des Malthusianismus in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts sind 
Rolf Peter Sieferle, Bevölkerungswachstum und Naturhaushalt, Stu- 
dien zur Naturtheorie der klassischen Ökonomie, Frankfurt 1990; 
Gertrude Himmelfarb, The Idea of Poverty, England in the Early 
Industrial Age, London 1984. Himmelfarb geht auch ausführlich auf 
die literarische Kritik am sich herausbildenden Industrialismus ein. 
Zur britischen Industrialisierung in der zweiten Hälfte des 18. und 
der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts liegen jetzt zwei ausgezeichne- 
te zusammenfassende Arbeiten vor, in denen die revisionistische 
Kritik berücktigt, aber an dem Konzept einer Industriellen Revoluti- 
on festgehalten wird: Pat Hudson, The Industrial Revolution, Lon- 
don 1992; Joel Mokyr, The New Economic History and the Indu- 
strial Revolution, in: Ders. (Hrsg.), The British Industrial Revolution, 
An Economic Perspective, Boulder 1993, S. 1–131.

 

Eine Darstellung der Diskussion um die Parlamentsreform seit dem 

ausgehenden 18. Jahrhundert sowie des Zustandekommens der Re- 
form Acts von 1832 und 1867 gibt Willibald Steinmetz, Das Sagbare 
und das Machbare, Zum Wandel politischer Handlungsspielräume in 
England 1780–1867, Stuttgart 1993. An dieser, auf einer breiten 
Quellen- und Literaturkenntnis fußenden, klugen Arbeit stört nur 
etwas der diskursanalytische Ansatz, der den Verfasser wiederholt 
dazu verführt, die Bedeutung von „Sprachhandlungen“ zu überschät- 
zen. Unentbehrlich für das Verständnis des historischen Hintergrunds 
der Parlamentsreform von 1832 ist noch immer die materialreiche 
Studie von John Cannon, Parliamentary Reform, 1640–1832, Cam- 
bridge 1973. Neue Aufschlüsse über die Motive der Whigs bei ihrer 
Reformpolitik gibt das Buch von Peter Mandler, Aristocratic Go- 
vernment in the Age of Reform, Whigs and Liberais 1830–1853,

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124

Oxford 1990. Nach Mandler sahen sie in der Bewältigung des sich 
schließlich zu einer allgemeinen Krise ausweitenden Problems der 
Parlamentsreform eine ihnen wesensgemäße nationale Aufgabe, die 
nicht in dem ihnen weniger zusagenden ökonomischen, sondern im 
konstitutionellen Bereich lag. Ihr Selbstverständnis als einer über den 
einzelnen „interests“ stehenden, die Gesamtheit im Auge habenden, 
politisch konstruktiv wirkenden und volksnahen aristokratischen 
Führungsgruppe wurde dadurch bestätigt. Mandler sieht auch die 
sozialpolitischen Bemühungen der Whigs in den Jahren nach der 
ersten Parlamentsreform im Licht dieses Selbstverständnisses. Daß 
der Einfluß des Adels infolge der Parlamentsreform von 1832 noch 
gestiegen sei, ist die These von D. C. Moore, The Politics of Defe- 
rence, A Study of the Mid-Nineteenth Century English Political 
System, Hassocks 1976. Eine interessante Ergänzung dazu, welche 
ebenfalls die unmittelbare Bedeutung der Wahlrechtsveränderungen 
relativiert, bietet Patrick Joyce, Work, Society and Politics, The 
Culture of the Factory in Later Victorian England, Hassocks 1980. 
Betont Moore das Fortbestehen und die Festigung überkommener 
Ehrerbietungsstrukturen, so hat Joyce in unverkennbarer Anlehnung 
an dessen Konzept der „deference communities“ für die Fabrikstädte 
des Nordens (vor allem in Lancashire) sogar die Neubildung solcher 
Strukturen und einer „politics of influence“ auf der Grundlage der 
Fabrik und des Unternehmerpaternalismus nachgewiesen. Er sieht 
darin die Ursache für die soziale Stabilisierung Englands im dritten 
Viertel des 19. Jahrhunderts nach den unruhigen 1830er und 1840er 
Jahren. Erst mit der Gründung und Ausbreitung der Labour Party sei 
die auf die Unternehmerfamilie und die Fabrik ausgerichtete, durch 
„deference and influence“ geprägte Haltung der Arbeiter überwun- 
den worden. An die Stelle eines paternalistisch bestimmten Wahlver- 
haltens sei ein klassenorientiertes Wahlverhalten getreten – und zwar 
zu einem Zeitpunkt, als der alte Unternehmerpaternalismus ange- 
sichts der Zentralisierung der modernen Industrie, der Ausbreitung 
von GmbHs und der Ausdehnung der Städte an Bedeutung verlor.

 

T. A. Jenkins, The Liberal Ascendancy, 1830–1886, London 1994, 

gibt einen ausgezeichneten Überblick über jene Phase britischer Ge- 
schichte, als Whigs und Liberale das politische System dominierten 
und eine „natürliche“, wenngleich durch die Gegensätze zwischen 
den verschiedenen Gruppen oft genug handlungsgelähmte, Mehrheit 
besaßen. Der hohe Wert dieses schmalen Bandes liegt einerseits in der 
klaren Linienführung, andererseits in den zahlreichen neuen Quellen- 
funden, die dem Leser durch ausführliche Zitate zugänglich gemacht 
werden. Unter den neueren Biographien der herausragenden Politiker 
dieser Periode sind hervorzuheben: Robert Blake, Disraeli, London 
1966, sowie die knappe Portraitskizze von John Vincent, Disraeli, 
Oxford 1990. Eine gut geschriebene, materialreiche Biographie Pal-

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125

merstons bietet Jasper Ridley, Lord Palmerston, London 1970. Die 
modernen Züge an Palmerston betont E. D. Steele, Palmerston and 
Liberalism, 1855–1865, Cambridge 1991. Richard Shannon, Glad- 
stone, Vol. I, 1809–1865, London 1982, ist etwas zu detailliert, 
macht aber Gladstones Tendenz zur Moralisierung politischer Fragen 
hervorragend deutlich. (Sie kommt noch stärker zum Ausdruck in der 
älteren Arbeit von Richard Shannon, Gladstone and the Bulgarian 
Agitation 1876, Hassocks 1975

2

.) Besonders wertvoll durch die 

intensive Auswertung von Gladstones Tagebüchern sind die beiden 
Bände von H.  C. G. Matthew,  Gladstone, 1809–1874, Oxford 1986; 
Ders.,  Gladstone 1875–1898, Oxford 1995. Eine ausgezeichnete 
Biographie ist Nicholas  C.  Edsall,  Richard Cobden, Independent 
Radical, Cambridge, Mass. 1986. Es ist einigermaßen überraschend, 
dort zu lesen, daß Cobden dem englischen Bürgertum ausgerechnet 
das deutsche Bürgertum als Vorbild vor Augen hielt und die Anti- 
Corn Law League zum deutschen Hansebund des Mittelalters in 
Beziehung setzte. Weniger befriedigend ist Keith Robbins, John 
Bright, London 1979.

 

 
VII. Eine ungemein klare, fakten- und perspektivenreiche Zusammen- 
fassung der letzten 120 Jahre britischer Geschichte gibt Martin Pugh, 
State and Society, British Political and Social History 1870–1992, 
London 1994. Allenfalls kann man dem Autor vorwerfen, daß er die 
Brisanz des Irlandproblems vor 1914 unterschätzt, die Situation der 
Liberalen Regierung vor dem Ersten Weltkrieg zu optimistisch beur- 
teilt und überhaupt den Liberalen etwas zu wohlwollend gegenüber- 
steht. Das sind jedoch geringe Einwände gegen ein Buch, das beson- 
ders auch durch die Verknüpfung von politischer Geschichte und 
Sozialgeschichte beeindruckt. Eine ganz hervorragende, regionale und 
lokale Besonderheiten berücksichtigende sozialgeschichtliche Zu- 
sammenfassung bietet Jose Harris, Private Lives, Public Spirit, A 
Social History of Britain 1870–1914, London 1993. Die ökonomi- 
sche Schwächung und das Schwinden der politischen Macht der 
Aristokratie werden eindrucksvoll und detailliert dargestellt von 
David Cannadine, The Decline and Fall of the British Aristocracy, 
New Haven 1990. Den Verfassungskonflikt und die Wahlen von 
1910 behandelt ausführlich Neal Blewett, The Peers, the Parties and 
the People, London 1972. Der historische Hintergrund des irischen 
Problems, das in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg erbitterte 
Auseinandersetzungen auslöste und in Nordirland zu einem Bürger- 
krieg zu führen drohte, wird vorzüglich dargestellt von dem irischen 
Historiker  R. F. Forster, Modern Ireland 1600–1972, Harmonds- 
worth 1989. Der Verfasser erwähnt in seiner revisionistischen Ge- 
schichte für den irischen Nationalismus so unbequeme Tatsachen wie 
die Kriegsbegeisterung der Iren im Jahre 1914. Noch subtiler wird

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126

das höchst komplexe englisch-irische Verhältnis behandelt in der 
Aufsatzsammlung von R. F. Foster, Paddy and Mr. Punch, Connecti- 
ons in Irish and English History, London 1993. Die beste Gesamtdar- 
stellung britischer Geschichte in der Zeit vom Ersten bis zum Zwei- 
ten Weltkrieg ist nach wie vor A. ]. P. Taylor, English History 191— 
1945, Oxford 1965. Einen guten Überblick über Wahlen und Partei- 
en gibt Martin Pugb, The Making of Modern British Politics 1867- 
1939, Oxford 1982. Für ein Verständnis der Klassenverhältnisse 
sowie ihres Zusammenhangs mit der Wahlrechts- und Parteientwick- 
lung unentbehrlich ist die Aufsatzsammlung von Ross McKibbin, The 
Ideologies of Class, Social Relations in Britain 1880–1950, Oxford 
1990. Die sozialen Zielvorstellungen sowie die Stimmungen der 
Kriegszeit und der Nachkriegsperiode werden eingefangen von Paul 
Addison,  
The Road to 1945, British Politics and the Second World 
War, London 1982, und Ders.,  Now the War is Over, A Social Hi- 
story of Britain 1945–51, London 1986. Die Ernüchterung eines 
englischen Schriftstellers, der nach Kriegsausbruch mit einer revolu- 
tionären Erneuerung der britischen Gesellschaft rechnete, sich in 
dieser Erwartung aber bald getäuscht sah, beschreibt Hans-Christoph 
Schröder,  
George Orwell, Eine intellektuelle Biographie, München 
1988. Eine eigenartige, gleichwohl faszinierende Mischung von farbi- 
gem Stimmungsbild und historischer Analyse bietet Paul Hennessey, 
Never Again, Britain 1945–1951, London 1992. Für den Regie- 
rungswechsel des Jahres 1945 und die darauffolgenden drei Jahrzehn- 
te britischer Geschichte (einschließlich der Beatles) sind heranzuzie- 
hen:  Kenneth  O.  Morgan,  Labour in Power, Oxford 1984; De«., 
The People’s Peace, British History 1945–1989, Oxford 1990. Eine 
Sammlung von Portraits der wichtigsten Labour-Führer bietet Ders., 
Labour People, Leaders and Lieutenants, Hardie to Kinnock, Oxford 
1987.

 

 
VIII. Nicht ganz befriedigende Gesamtdarstellungen  der imperialen 
Entwicklung sind T. O. Lloyd,  The British Empire 1558–1983, Ox- 
ford 1984; Lawrence James, The Rise and Fall of the British Empire, 
London 1994. Die diesen Büchern fehlende analytische Kraft und 
begriffliche Schärfe finden sich bei Jürgen Osterhammel, Kolonialis- 
mus, Geschichte – Formen – Folgen, München 1995. Neue Ansätze 
und Fragestellungen zur britischen Kolonialgeschichte des 17. und 
18. Jahrhunderts bietet der sich gegen eine anglozentrische Perspekti- 
ve wendende Sammelband von Bernard Bailyn u.  Philip D. Morgan 
(Hrsg.),  
Strangers within the Realm, Cultural Margins of the First 
British Empire, Chapel Hill 1991. Die Wirtschaft der nordamerikani- 
schen Kolonien Englands und ihr Zusammenhang mit dem Empire 
werden hervorragend dargestellt von John J. McCusker u.  Russell 
R. Menard, 
The Economy of British America 1607–1789, Chapel

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127

Hill 1985. Die Kooperation englischer und nordamerikanischer 
Interessengruppen und das Abbrechen dieser Verbindungen am 
Vorabend der Amerikanischen Revolution werden herausgearbeitet 
von  Alison Gilbert Olson, Making the Empire Work, London and 
American Interest Groups 1690–1790, Cambridge, Mass. 1982. Zur 
Amerikanischen Revolution und ihren Ursachen vgl. Hans-Christoph 
Schröder,  
Die Amerikanische Revolution, München 1982. Das zweite 
britische Empire wird mit starker Betonung des militärisch- 
autoritären Elements skizziert von C. A. Bayly, Imperial Meridian, 
The British Empire and the World 1780–1830, London 1989. Eine 
gute Darstellung der britischen Expansion und des Empire in der 
Hochphase des Imperialismus gibt Bernard Porter, A Short History 
of British Imperialism 1850–1970, London 1984

2

. Einen ausgezeich- 

neten Überblick über die Phase der Dekolonisation bietet John 
Darwin,  
Britain and Decolonisation, The Retreat from Empire in 
the Post-War World, London 1988. Darwin rekonstruiert die ein- 
zelnen Etappen des Rückzugs aus dem kolonialen Bereich und zeigt 
die noch lange bestehenden britischen Illusionen auf. Eine material- 
reiche Studie über die propagandistische Seite des britischen Imperia- 
lismus ist John M. MacKenzie, Propaganda and Empire, The Mani- 
pulation of British Public Opinion 1880–1960, Manchester 1984. 
MacKenzie zeigt, daß die imperialistische Propaganda erst nach dem 
Ersten Weltkrieg ganz eingespielt war und die sie tragenden Institu- 
tionen oder Gruppen voll etabliert waren, als der eigentliche Höhe- 
punkt des Imperialismus bereits überschritten war. Er stellt auch 
besonders die Verbindung zwischen Imperialismus und Monarchis- 
mus heraus.

 

Die wichtigste Studie über die neue Selbstdarstellung der Monar- 

chie und einen populären Monarchismus seit dem letzten Viertel des 
19. Jahrhunderts ist David Cannadine, The Context, Performance 
and Meaning of Ritual: The British Monarchy and the invention of 
Tradition’, c. 1820–1977, in: Eric Hobsbawm u.  Terence Ranger 
(Hrsg.),  
The Invention of Tradition, Cambridge 1984, S. 101–164. 
Seltsamerweise übersieht Cannadine jedoch die von seiner Frau, 
Linda Colley, aufgewiesenen Vorläufer eines volkstümlichen Roya- 
lismus zur Zeit der Kriege gegen das revolutionäre und napoleonische 
Frankreich. Eine scharfe Abrechnung mit der britischen Monarchie, 
die von ihm als entscheidendes Modernisierungshemmnis betrachtet 
wird, findet sich bei Stephen Haseler, The End of the House of 
Windsor, London 1993. Eine Reihe von zeitgenössischen Kommenta- 
ren, die zumeist kritisch sind und unter dem Eindruck der momenta- 
nen Diskreditierung der Monarchie infolge der Ehezwiste in der 
Königsfamilie geschrieben wurden, wurde zusammengestellt von 
Anthony Barnett (Hrsg.), Power and the Throne, The Monarchy 
Debate, London 1994. 

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128

Die sich wandelnden Voraussetzungen der britischen Stellung in 

der Welt werden hervorragend zusammengefaßt durch Paul M. Ken- 
nedy,  
The Rise and Fall of British Naval Mastery, London 1983, und 
Bernard Porter, Britain, Europe and the World 1850–1986: Delusi- 
ons of Grandeur, London 1987

2

. Eine überaus kritische Darstellung 

der britischen Außen- und Weltpolitik, die als Ausweichen vor den 
inneren Problemen des Landes interpretiert wird, gibt Robert Hol- 
land,  
The Pursuit of Greatness, Britain and the World Role, 1900- 
1970, London 1991. Einen Einblick in die restriktiven Bedingungen 
außenpolitischen Handelns und deren Einfluß auf die Leiter der 
britischen Politik in der Zwischenkriegszeit geben die knappen Zu- 
sammenfassungen von Michael Howard, The Continental Commit- 
ment, The Dilemma of British Defence Policy in the Era of Two 
World Wars, Harmondsworth 1974; Keith Robbins, Appeasement, 
Oxford 1988. Das durch den Soldatentod eines ihm sehr nahestehen- 
den Verwandten bedingte persönliche Element in Chamberlains 
Ablehnung des Krieges wird herausgearbeitet von Lary William 
Fuchser,  
Neville Chamberlain and Appeasement, New York 1982. 
Eher zur partiellen Benutzung als zum vollständigen Lesen geeignet 
sind die acht voluminösen Bände der von Randolph S. Churchill 
begonnenen und von Martin Gilbert fortgesetzten großen Churchill- 
biographie (London 1966–1988). Gilbert hat ihnen ein Buch mit 
persönlichen Reminiszenzen an seine detektivische Arbeit für diese 
Biographie und Erinnerungen von Mitarbeitern Churchills folgen 
lassen, das zuweilen das Hagiographische streift (Martin Gilbert, In 
Search of Churchill, A Historian’s Journey, London 1994). Als Ge- 
gengewicht dazu ist empfehlenswert die überscharfe Charakterisie- 
rung Churchills durch David Cannadine, Winston Churchill as an 
Aristocratic Adventurer, in Ders.,  Aspects of Aristocracy, New Ha- 
ven 1994, S. 130–162. Die neueste einbändige Biographie ist Norman 
Rose,  
Churchill, An Unruly Life, London 1994. Wie sehr die Konser- 
vative Unterfraktion auch nach dem Rücktritt Neville Chamberlains 
mit diesem sympathisierte und wie widerstrebend sie sich mit Chur- 
chill abfand, zeigt Andrew Roberts, Eminent Churchillians, London 
1994. Dieses Buch gibt auch interessante Aufschlüsse über die Unter- 
stützung Chamberlains und seiner Appeasementpolitik durch die 
Königsfamilie. Den Innenpolitiker Churchill beleuchtet mit etwas zu 
starker Hervorhebung seines sozialpolitischen Engagements Paul 
Addison, 
Churchill on the Home Front 1900–1955, London 1992.

 

 
IX. Eine kritische Biographie Margaret Thatchers ist Hugo Young, 
One of Us, London 1990. Erste Bestandsaufnahmen der Ära That- 
cher bieten: Peter Riddell, The Thatcher Decade, How Britain has 
Changed During the 1980s, Oxford 1989; Dennis Kavanagh, That- 
cherism and British Politics, The End of Consensus? Oxford 1990

2

;

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Andrew Adonis u.  Tim Harnes (Hrsg.), The Thatcher-Reagan^Decade 
in Perspective, Manchester 1994. Den Versuch einer Beurteilung der 
Politik John Majors unter dem Gesichtspunkt der Kontinuität bzw. 
Nichtkontinuität in bezug auf den Thatcherismus unternehmen die 
Autoren des Sammelbandes von Dennis Kavanagh u.  Anthony Seidon 
(Hrsg.), 
The Major Effect, London 1994.

 

 
X. Die Herausbildung des Konzepts der Parlamentssouveränität 
behandelt  Ferdinand Mount, The British Constitution Now, London 
1992. Mount zeigt, wie es im Zusammenhang mit der Auseinander- 
setzung um Home Rule für Irland durch den Verfassungsrechtler 
Dicey eine äußerste Zuspitzung erfuhr. Eine spannend geschriebene, 
gelegentlich überpointierte Darstellung der Machterweiterung der 
Exekutive im Großbritannien des 20. Jahrhunderts gibt Bruce P. 
Lenman,  
The Eclipse of Parliament, Appearance and Reality in Bri- 
tish Politics since 1914, London 1992. Die Parlamentssouveränität ist 
nach Lenman zu einem rhetorischen Mittel geworden, um die demo- 
kratische Einflußnahme der Briten zu verhindern und dem Führer der 
Parlamentsmehrheit eine kaum beschränkte Machtvollkommenheit 
zu verleihen. Die wirtschaftlichen Nachteile der Konzentration politi- 
scher Macht in Großbritannien betont Will Hutton, The State We’re 
In, London 1995. Hutton behauptet, der „halbmoderne Charakter 
des britischen Staates“ sei eine fundamentale Ursache der wirtschaft- 
lichen und sozialen Probleme des Landes. Er vertritt die sehr ein- 
leuchtende These, daß die Idee der Parlamentssouveränität sich in 
dem für eine langfristige, stabile industrielle Entwicklung nachteiligen 
Konzept der Aktionärssouveränität und der unbeschränkten Unter- 
nehmensführung (ohne Arbeitermitbestimmung) widerspiegele. 
Mount, Lenman und Hutton verweisen in ihrer Kritik an der Parla- 
mentssouveränität und den neoabsolutistischen Tendenzen im heuti- 
gen Großbritannien auf die alte libertäre Tradition Englands, an die 
sie wieder anknüpfen wollen. 

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130

Regententabelle* 

 

Angelsächsische Könige in England (Wessex) 
871–899 

Alfred d. Große 

899–925 

Edward der Ältere 

925–939 Athelstan 
939–946 Edmund 
946–955 Edred 

Angelsächsische und dänische Könige von England 
955–959 Edwy 
959–975 Edgar 
975–979 

Edward d. Märtyrer 

979–1013 Ethelred 
1013–1014 Swegn 

Forkbeard 

1014–1016 Ethelred 
1016 Edmund 

Ironside 

1016–1035 Knut 
1035–1040 Harold 

Harefoot 

1040–1042 Harthaknut 
1042–1066 

Edward d. Bekenner 

1066 Edgar 

Etheling 

(ungekrönt) 

Normannische Könige 
1066–1087 

Wilhelm I. d. Eroberer 

1087–1100 

Wilhelm II. Rufus 

1100–1135 Heinrich 

I. 

1135–1154 Stephan 

Anjou-Plantagenet 
1154–1189 Heinrich 

II. 

1189–1199 

Richard I. Löwenherz 

1199–1216 Johann 

Ohneland 

1216–1272 Heinrich 

III. 

1272–1307 Eduard 

I. 

1307–1327 Eduard 

II. 

1327–1377 Eduard 

III. 

1377–1399 Richard 

II. 

Lancaster 
1399–1413 Heinrich 

IV. 

1413–1422 Heinrich 

V. 

1422–1461 u.  Heinrich VI. 
1470–1471 

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131

York 
1461–1483 Eduard 

IV. 

1483 Eduard 

V. 

1483–1485 Richard 

III. 

Tudor 
1485–1509 Heinrich 

VII. 

1509–1547 Heinrich 

VIII. 

1547–1553 Eduard 

VI. 

1553 Jane 
1553–1554 Maria 
1554–1558 

Philip u. Maria 

1558–1603 Elisabeth 

I. 

Stuart 
1603–1625 Jakob 

I. 

1625–1649 Karl 

I. 

1649–1660 Republik 
 1649–1653 

Commonwealth 

 

1653–1658 

Oliver Cromwell Lord Protektor 

 

1658–1659 

Richard Cromwell Lord Protektor 

 1659–1660 

Commonwealth 

1660–1685 Karl 

II. 

1685–1688 Jakob 

II. 

1688–1689 Interregnum 
1689–1694 

Wilhelm III. und Maria II. 

1694–1702 Wilhelm 

III. 

1702–1714 Anna 

Hannover- Windsor 
1714–1727 Georg 

I. 

1727–1760 Georg 

II. 

1760–1820 Georg 

III. 

1820–1830 Georg 

IV. 

1830–1837 Wilhelm 

IV. 

1837–1901 Viktoria 
1901–1910 Eduard 

VII. 

1910–1936 Georg 

V. 

1936 Eduard 

VIII. 

1936–1952 Georg 

VI. 

1952-heute Elisabeth 

II. 

 

* Quelle: C. R. Chenney (Hrsg.), Handbook of Dates (= Royal Hi- 
storical Society. Guides and Handbooks No. 4), London 1991. 

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132

Namen- und Sachregister 

 
 
Absolutismus 23, 44 

Bagehot, Walter 55, 107 

Act of Settlement 32f. 

Baldwin, Stanley 70, 87, 91 

Adel 17f., 21f., 25, 28, 37, 39ff., 

Bamford, Samuel 63 

  46f., 51f., 59, 61f., 65, 74, 

Bevan, Aneurin 73, 75 

  102f., 111, 120, 124; s.a. Ari- 

Beveridge Report 72, 74, 112 

  stocracy, Aristokratie, Gentry 

Bevin, Ernest 71f., 75 

Adelsherrschaft 37, 40, 47, 51, 

Blair, Tony 97 

  58ff., 64, 120 

Boroughs 10, 16ff., 38, 56, 58, 

Afrika 76 

  110 

Albert, Prinzgemahl 85 

Burenkrieg 65, 84, 92 

Alfred der Große 9f. 

Bürgerkrieg 20, 29, 65, 125 

Altersversorgung 73 

Bürgertum 37f., 40f., 44, 47, 

Amerikanische Revolution 127 

  53f., 56, 57, 59ff., 89, 92, 

Amerikanischer Unabhängig- 

  103, 111, 125; s.a. Mittelklas- 

  keitskrieg 53, 82f. 

  sen, Mittelschichten 

Anglikanische Staatskirche, Ang- 

Burke, Edmund 35, 38 

  likaner 30, 46 

Byron, Lord 63 

Antimilitarismus 46 
Appeasementpolitik 71, 87, 128 

Carlyle, Thomas 52 

Arbeiterschaft, Arbeiterbewe- 

Chamberlain, Joseph 76, 84, 97 

  gung 49, 52, 56, 68ff., 73, 91, 

Chamberlain, Neville 70f., 87, 

 94 

 114, 

128 

Arbeitslosenunterstützung 70, 

Chartismus, Chartisten 52f., 56, 

 72 

 62, 

68, 

122f. 

Arbeitslosenversicherung 73 

Churchill, Winston 71f., 74, 87, 

Arbeitslosigkeit 74, 94, 116 

  91f., 111, 114, 128 

Arendt, Hannah 102 

Clark, Alan 116 

Aristocracy 37ff., 41, 47 

Cobden, Richard 60, 75, 125 

Aristokratie 38, 60, 65, 121, 

Collective bargaining 68 

  125 

Common Law 15, 19 

Armee, Heer 19, 21, 28, 31, 

Commonwealth of Nations 77f., 

  45f., 51, 58, 76, 80, 82, 86, 

  88, 95 

 102 

Counties s. Grafschaften 

Arme, Armut 47, 51, 116 

Country-Ideologie 62 

Armenfürsorge, Armengesetze 

County Courts 11, 18 

  (Poor Laws) 22, 47, 62, 67, 

Cromwell, Oliver 29 

  73, 91, 98, 122f.; s.a. New 

Cromwell, Richard 29 

 Poor 

Law 

Asquith, Herbert 69 

Danegeld 10 

Attlee, Clement 74ff., 95 

Declaration of Rights 31 

Außenpolitik 71, 76, 84, 128 

Dekolonisation 127

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133

Demokratie, Demokratisierung 

Freiheit, Freiheitsrechte 9, 14, 

  58, 64ff., 69, 71, 73, 85 

  23, 31f., 35, 44ff, 62, 79, 99, 

Deutschland 9, 19, 71, 75, 79f., 

  107, 116 

  86f., 112, 114 

Friedensrichter (Justices of the 

Disraeli, Benjamin 59, 61, 98 

  Peace) 22f., 31, 40, 48 

Dominions 77, 88 

Führungsschichten 27f., 30, 39f., 

Dreißigjähriger Krieg 28 

  51, 56f., 59, 60, 62 

East India Company 81, 83 

Gaitskell, Hugh 77 

Eden, Anthony 74, 112 

Generalstreik 70, 91 

Ehrerbietung (deference) 60, 73, 

Gentry 17f., 37ff., 56, 59, 108; 

 124 

 s.a. 

Adel, 

Aristocracy, 

Eigentum 12, 28, 41, 52, 67, 

  Aristokratie 

  103 

Georg I. 33 

Einhegungen (enclosures) 48, 

Georg II. 33 

  101 

Georg III. 35f., 38, 85, 107 

Eliot, George 57 

Georg IV. 85 

Elisabeth I. 21f., 24ff., 28, 47, 

Georg V. 66 

  80, 119 

George, Lloyd 66, 69, 73 

Empire 76ff., 81, 83ff., 88, 

Getreidezölle (corn laws) 59ff., 

 126f. 

 111 

Englische Revolution 12, 29f., 

Gewerkschaften 68, 90, 94 

  38, 46, 52, 119 

Gladstone, William Ewart 61, 

Erster Weltkrieg 67f., 71, 73, 

  65, 93, 125 

  77, 80, 86f., 91f., 111, 125, 

Gleichgewicht, Gleichgewichts- 

 127 

 politik 

80f. 

Europa, europäischer Kontinent 

Glorreiche Revolution 32, 99, 

  9, 12ff., 32, 38, 51, 65, 79f., 

  119f. 

  80, 86, 90, 97f. 

Gordon Riots 49 

EWG 77, 97 

Gradualismus, gradueller 

  

 Wandel 

55, 

65, 

67 

Falklandkrieg 95 

Grafschaften 11, 16ff., 22f., 30, 

Feudalismus 13, 18, 60 

  37, 40, 56 

Flotte, Marine 45, 48, 66, 79ff., 

Grey, Charles, Earl 55, 58 

 86 

Grundbesitz, 

Großgrundbesitz 

Fortescue, Sir John 24 

  37,111 

Fox, Charles James 107 

Grundbesitzer 41f., 56, 59, 92 

Frankreich 13f., 18, 21, 24, 31, 

Grundrechte 99, 102 

  33, 35f., 40f., 45, 51f., 78ff., 
  82, 84, 87, 114f., 121f., 127 

Halifax, Earl of 87, 114 

Französische Revolution 51f., 

Hardie, Keir 68 

  54, 121f. 

Haus Hannover 32f., 35, 62 

Frauen 67, 122 

Hazlitt, William 63 

Freihandel, Freihandelsbewe- 

Heath, Edward 93 

  gung 60f., 83f., 97, 111 

Hegemonie 9, 39f., 68, 80f., 113

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134

Heinrich III. 14 

  10ff., 15, 19, 21ff., 25t., 29, 

Heinrich VIII. 23ff. 

  32ff., 40, 55, 68, 771., 84f., 

Herzen, Alexander 61 

  88, 99, 101f., 107, 119, 127 

Heseltine, Michael 96 

Konsenspolitik 90, 93 

Hitler, Adolf 87 

Konservative, Konservative 

Hobbes, Thomas 20, 30 

Partei 58f., 61, 64f., 69ff., 

Hogg, Quintin 112 

  76f., 84, 87, 90ff., 96f., 112, 

Hoggart, Richard 49 

  121, 128 

Home Rule 65, 129 

Korruption 35, 53, 55, 99 

House of Lords s. Oberhaus 

Krankenversicherung 73 

House of Commons s. 
  Unterhaus 

Labour Party 68ff., 75ff., 95ff., 

Hundertjähriger Krieg 78 

  124 

Hunt, Henry 57 

Labour Representation 

  

 Committee 

68 

Imperialismus 83f., 127 

Laisser faire 94 

Independent Labour Party 68 

Landarbeiter 64 

Indien 76, 81, 83f., 87f. 

Landwirtschaft 41, 59 

Individualismus 12, 93 

Langes Parlament 28 

Industrie 74, 84, 89, 104, 124 

Legislaturperiode 34, 66, 99 

Industrielle Revolution 42, 54, 

Levellers 52, 102 

  61, 89, 98, 104, 123 

Liberale, Liberale Partei 53, 58, 

Informal Empire 76 

  61, 65f., 68ff., 73, 93, 124f. 

Irland 36, 65f., 78, 125, 129 

London 10, 43, 46, 49, 64 

 
Jakob I. 28 

Macaulay,Thomas Babington 57 

Jakob II. 30ff. 

MacDonald, Ramsay 70 

James, Henry 63 

Macmillan, Harold 74, 76f., 91 

Jenkins, Lord 116 

Magna Carta 14ff., 19, 30 

Johann Ohneland 14 

Major, John 96f., 129 

Justices of the Peace s. 

Manchester 42f., 54, 110 

  Friedensrichter 

Milner, Alfred 92f. 

  

Mittelklassen, 

Mittelschichten 

Kanada 81 

  46, 53, 57, 60f., 68f.; s.a. 

Kapitalismus 89, 103 

  Bürgertum 

Karl I. 28f., 81,119 

Moderne, Modernisierung, 

Karl II. 30, 32 

Modernität 51, 88, 101f., 104 

Katholiken 28, 30, 32, 36, 55 

Monarchie s. Königtum 

Keynes, John Maynard 74 

Moser, Justus 41 

Kirchen 23ff., 30, 38,41, 46, 

Mussolini, Benito 114 

 65, 

102 

Koalitionsregierungen 69–72 

Napier, Sir Charles 62 

Kolonien, Kolonialpolitik 45, 

Napoleon 36 

  76, 78–83, 126 

Napoleonische Kriege 41, 45, 

Königtum, Krone, Monarchie 

  52, 82ff., 115, 122, 127

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135

New Poor Law 94, 98, 123 

Reformen, Reformpolitik 35, 

Newcastle, Duke of 38 

  51ff., 55ff, 67f., 75, 123 

Niederlande 31, 79f., 82f. 

Religion 24f, 28, 30, 46, 102, 

Nonkonformismus, Nonkon- 

  119 

  formisten 30, 46f., 61, 65, 

Repräsentation 16f., 18, 29, 37, 

 102 

 42f., 

55f., 

58, 

110 

Normannen 12f. 

Riots (Volksunruhen) 47ff., 121 

North, Lord 53 

Rockingham, Lord 35 

   

Rosebery, Lord 66 

Oberhaus 25f., 34, 37f., 55, 58, 

Rosenkriege 19, 21 

  64ff., 103, 111 

Rowntree, Seebohm 74 

Opposition 14, 35, 54, 65, 92, 

Rußland 114 

 96 

Rüstung, 

Rüstungsausgaben 

66, 

Orwell, George 63, 87 

  75, 80 

 
Pächter 56 

Salisbury, Lord 92 

Palmerston, Lord 58f., 61, 125 

Sampson, Anthony 99 

Parlament 16ff., 23ff., 28f., 

Schmitt, Carl 113 

  31ff., 42f., 47ff., 52ff., 67f., 

Schottland, Schotten, 26, 28, 51, 

  88, 101f., 106f., 118f.;s.a. 

  56,82 

  Oberhaus, Unterhaus 

Schutzzölle 92, 97; s.a. Getreide- 

Parlamentarische Monarchie 33, 

Schutzzölle 

  37, 101 

Seeley, John 84 

Parlamentsreform 52ff., 60, 64, 

Selbstverwaltung 19, 40, 98f., 

 123f. 

 116 

Parteien 36, 58, 69, 120, 126 

Shakespeare, William 21 

Parteiensystem 36, 54, 58, 68 

Shires s. Grafschaften 

Patronage 21, 34ff. 

Siebenjähriger Krieg 79, 81, 83 

Peel, Sir Robert 46, 60, 92, 97 

Smith, Sir Thomas 25 

Peers 38, 58, 65, 103 

Souverän, Souveränität 20, 24, 

Pitt, William (der Jüngere) 35f., 

  26, 29f. 

  52, 92 

Sowjetunion 75 

Politische Kultur 49, 53 

Sozialimperialismus 77 

Polizei 46 

Sozialismus 74, 77 

Privatisierung 94, 96 

Sozialpolitik 66, 75, 90, 124, 

Privilegien 15, 43, 63, 101 

  128 

Protestanten, Protestantismus 

Spanien 44, 75, 78f., 82 

  28, 31, 46, 55, 61 

Staat 9, 19, 30, 32f, 37, 40f, 

Puritaner, Puritanismus 29, 

  45, 47, 52, 60, 65, 76, 78, 82, 

 119 

 98f., 

101, 

111, 

129 

   

Stabilisierung 33, 44, 119, 124 

Radikale, Radikalismus 51f., 60, 

Städte 10, 17f., 42f., 47, 54, 

 62f., 

107, 

122 

 78f, 

92, 

124 

Reformation 25 

Sterblichkeitsrate 116 

Reformationsparlament 23f. 

Steuerbewilligung 16ff., 25, 31

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Steuern 17f., 31, 53, 56, 66 

Wahlen 34, 43, 48, 52, 55, 61, 

Streiks 94; s.a. Generalstreik 

  65f., 68ff., 72, 94ff., 121, 

Stuart, Maria 26 

  125f. 

Stuarts 26, 28, 31, 33, 35, 

Wahlrecht 52f., 56, 58, 62, 64, 

 116 

 67, 

69, 

111, 

123f., 

126 

Suez-Krise 88 

Wahlrechtsreformen 52 

   

–  1832 55ff., 123 

Thatcher, Margaret 90ff., 115f., 

–  1867 58, 123 

 121 

– 

1884 

64f. 

Thatcherismus 89ff., 115f. 

–  1918 67, 69, 111 

Thompson,  James  79 

–   1 9 2 8 6 7  

Thronfolge 32 

Walpole, Sir Robert 33ff., 47, 

Tories, Toryismus 33, 58, 62, 

  120 

  74, 92, 110, 121 

Weber, Max 29, 40, 108, 111 

Triennial Act 31 

Westindische Inseln 81 

Trollope, Anthony 60 

Whigs 33, 35, 54, 57f., 59, 62, 

Tudors 21, 23f. 

  65, 68, 110, 123f. 

  

Wikinger 

9f. 

Unterhaus 26, 31, 34, 37f., 43, 

Wilhelm der Eroberer 12 

  47, 52ff, 64ff, 68, 72, 96f. 

Wilhelm IV. 85 

Unterschichten 37, 40, 46ff., 56, 

Wühlern von Oranien 31 

  91, 94, 120 

Wilson, Harold 77, 88 

  

Winchester 

10 

Vereinigte Staaten 75f., 84, 86, 

Winstanley, Gerrard 12 

  88, 102, 114 

Wohlfahrtsstaat 73, 90, 123 

Verfassung, Verfassungsordnung 

Wordsworth, William 39 

  20, 24, 33, 53, 55, 59, 66, 96, 
  98f., 101f., 107, 120, 125 

Yorktown 82 

Viktoria, Königin 84f. 
Viktorianismus, Viktorianische 

Zentralgewalt 10, 13, 15, 21ff., 

  Werte 93f., 116 

  62, 97f. 

Virginia Company 81 

Zentralisierung 9 

Volkssouveränität 102 

Zweiter Weltkrieg 71, 73, 76, 

Vollbeschäftigung 74f., 90 

  87, 90f., 94, 126 

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