Schröder, Hans Chr Englische Geschichte Beck Wissen

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Das Buch bietet einen gedrängten Überblick über die Ge-
schichte Englands von der angelsächsischen Zeit bis zur Re-
gierung John Majors. Im Zentrum der Darstellung steht die
Sozial- und Verfassungsgeschichte, weil sich auf diese Weise
besonders deutlich machen läßt, wodurch sich die Geschichte
Englands von der der kontinentaleuropäischen Staaten unter-
scheidet. Aber selbstverständlich wird auch die politische
Geschichte behandelt. Ein eigener Abschnitt ist dem Empire,
seiner Entwicklung zum Commonwealth und dem Prozeß der
Dekolonisation gewidmet. Die Schlußkapitel behandeln das
heutige Großbritannien mit seinen spezifischen politischen,
sozialen und wirtschaftlichen Problemen. Eine ausführliche
kommentierte Bibliographie ermöglicht selbständige Wei-
terarbeit.

Hans-Christoph Schröder,
geb. 1933, ist Professor für Neuere
Geschichte an der TH Darmstadt. Zahlreiche Veröffentli-
chungen vor allem zur Geschichte Englands, Nordamerikas
und zur Revolutionsgeschichte.
Bei C.H. Beck ist von ihm erschienen: Die Amerikanische
Revolution (1982); George Orwell. Eine intellektuelle Biogra-
phie (1988).

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Hans-Christoph Schröder

ENGLISCHE

GESCHICHTE

Verlag C.H.Beck

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Ernst-Peter Wieckenberg

zum 23. März 1995

Die Deutsche Bibliothek – CIP-Einheitsaufnahme

Schröder, Hans-Christoph:

Englische Geschichte / Hans-Christoph Schröder. – Orig.-

Ausg. – München: Beck , 1995

(Beck’sche Reihe ; 2016 : C. H. Beck Wissen)

ISBN 3406 396992

NE:GT



Originalausgabe

ISBN 3406 39699 2


Umschlagentwurf von Uwe Göbel, München

© C. H. Beck’sche Verlagsbuchhandlung (Oscar Beck), München 1995
Gesamtherstellung: C. H. Beck’sche Buchdruckerei, Nördlingen

Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem),

aus chlorfrei gebleichtem Zellstoff hergestelltem Papier

Printed in Germany

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Inhalt


Vorwort .............................................................................. 7

I. Die mittelalterlichen Grundlagen des englischen

Staates und der englischen Freiheit ...........................

9

II. Die Ambivalenz der Tudorherrschaft........................

21

III.

Das

revolutionäre

Jahrhundert .................................. 28

IV. Die parlamentarische Monarchie ..............................

33

V. Adel, Bürgertum und Unterschichten........................

37

VI. Die erweiterte Adelsherrschaft.................................. 51

VII. Die Demokratisierung und die Entwicklung zum .....

64

Sozialstaat .................................................................

VIII. Vom Empire zum Commonwealth............................

78

IX. Der Thatcherismus und die Abkehr von der

Konsenspolitik .......................................................... 90

X. Frühe Modernität und die Kraft der Beharrung.

Ein

Rückblick............................................................

101


Anmerkungen..................................................................... 105

Literaturübersicht ............................................................... 118

Regententabelle.................................................................. 130

Namen- und Sachregister ................................................... 132

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Vorwort



Diese Arbeit erhebt nicht den Anspruch, mit den bereits vor-
liegenden, viel umfangreicheren Büchern über die Geschichte
Englands von Kluxen, Wende, Krieger, Haan und Niedhart in
Konkurrenz zu treten.

1

Der Verfasser hofft jedoch, den be-

sonderen Vorteil genutzt zu haben, den die räumliche Be-
schränkung der Reihe „C.H. Beck Wissen“ bietet. Sein Be-
mühen war es, durch die konzentrierte Form der Darstellung
große Entwicklungslinien und Grundfragen besonders deut-
lich hervortreten zu lassen und sie durch signifikante Details
zu illustrieren.

Danken möchte ich Dorit Kasper für die rasche und um-

sichtige Fertigstellung des Manuskripts. Meiner Darmstädter
Kollegin Natalie Fryde danke ich für die Durchsicht des
Mittelalterteils, Klaus Kastendieck und Karl Rohe für die hilf-
reiche Kritik an einer früheren Fassung des Manuskripts.
Mein besonderer Dank aber gilt wieder Ernst-Peter Wiecken-
berg. Ihm widme ich dieses Buch, das er mit großem Engage-
ment betreut hat.

Darmstadt, im Juli 1995

Hans-Christoph Schröder

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9

I. Die mittelalterlichen Grundlagen

des englischen Staates und der englischen Freiheit



Eine durch schriftliche Überlieferung gesicherte und an den
fortwirkenden Institutionen erkennbare englische Geschichte
beginnt mit dem Eindringen der Angelsachsen in England im
5. und 6. Jahrhundert, das Teil des umfassenden Vorgangs
der Völkerwanderung gewesen ist. Die Angelsachsen, die sich
offenbar mit den dort lebenden Kelten zunächst kaum ver-
mischten, gestalteten die politisch-territoriale Organisation
des Landes. Sie bildeten Königreiche, von denen im ausgehen-
den 9. Jahrhundert Wessex die Hegemonie erlangte. Unter
Alfred dem Großen, der von 871 bis 899 König von Wessex
war, erfolgte im Zusammenhang mit dem Kampf gegen die
eingefallenen Wikinger die Zusammenfassung von ganz Eng-
land außerhalb des von den Dänen besetzten Gebietes im
Nordosten. Auf einem Silberpfennig der Zeit ist Alfred mit
dem Titel „Rex Anglorum“ abgebildet.

Im England des 10. Jahrhunderts bildete sich eine königli-

che Autorität heraus, die umfassender und intensiver war als
in irgendeinem anderen zeitgenössischen europäischen Land.
Ein wichtiges Indiz für die vergleichsweise zentralisierte und
effiziente englische Verwaltung dieser Zeit ist das einheitlich
geregelte Münzwesen, das gegen Ende der angelsächsischen
Periode das fortgeschrittenste in Europa war. Es gab keine
von Territorialherren geprägte Münzen wie in Deutschland
und Frankreich. Dabei war die Gestaltung des Münzwesens
charakteristisch für das nach dem Prinzip des „self-
government at the king’s command“ gestaltete englische Re-
gierungssystem mit seiner Zentralisierung der Zuständigkeiten
einerseits, seiner Dezentralisierung und Delegation der prakti-
schen Aufgaben andererseits. Das Münzwesen unterstand
allein dem König und wurde von ihm kontrolliert; die Prä-
gung der Münzen erfolgte dagegen in einer Vielzahl von Or-
ten. Das geschriebene und gesiegelte „writ“ – ein kurzer kö-
niglicher Befehl, der sowohl in der Verwaltung als auch im

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10

Rechtswesen benutzt wurde – war ebenfalls ein höchst effizi-
entes, anderswo nicht vorhandenes Instrument der Zentral-
gewalt und ein Beleg für die Macht des englischen Königtums.

Ein Grund dafür, daß die Zentralgewalt und das Königtum

in England so stark waren, ist in der Geographie zu suchen.
Das Land war vom territorialen Umfang her nicht zu groß, so
daß seine Zusammenfassung und Verwaltung die damals
gegebenen Möglichkeiten nicht überstiegen. Obwohl die an-
gelsächsischen Könige ihre Zeit zumeist im Süden des Landes
verbrachten – Winchester und London wurden die wichtig-
sten Zentren des Landes –, waren auch die anderen Landestei-
le für den König durchaus leicht erreichbar.

Neben den günstigen geographischen Voraussetzungen

spielte aber auch die äußere Bedrohung bei der Stärkung der
Zentralgewalt und der staatlichen Organisation des Landes
eine wichtige Rolle. Die Einfälle der Wikinger haben durch
die von ihnen geforderten Tribute ebenso wie durch die von
ihnen provozierte Abwehrreaktion in diese Richtung gewirkt.
Die Zahlungen, die den Angelsachsen auferlegt wurden, führ-
ten 865 zur Erhebung des sog. „danegelds“, welches die erste
dauerhafte nationale Steuer wurde. Die zentralisierende Wir-
kung der Verteidigungsanstrengungen wird an dem System
von mehr als dreißig befestigten Plätzen deutlich, mit denen
Alfred d. Gr. Wessex umgeben ließ. Diese „burhs“ (ein dem
deutschen Wort „Burg“ verwandter Begriff, aus dem sich
später die allgemeine Bezeichnung „borough“ für Städte oder
Marktflecken entwickelte) mußten jeweils von ihrem Umland
bemannt und finanziert werden.

Die Erfüllung solcher, dem örtlichen Bereich zugewiesenen

Aufgaben setzte eine ausgebildete und funktionierende Lokal-
verwaltung voraus. Diese ist denn auch über Jahrhunderte
hinweg neben und komplementär zu der Macht der Zentral-
gewalt ein charakteristisches Merkmal der englischen Ge-
schichte gewesen. Das „Prinzip der Selbstregierung“, das nach
dem Urteil Rankes in England „von jeher“ viel kräftiger war
als auf dem Kontinent

1

, wurde in einem relativ gut geordne-

ten System auf verschiedenen Ebenen wirksam. Die oberste

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11

Ebene bildeten die „shires“, die später „counties“ genannt
wurden und mit dem Wort „Grafschaften“ ins Deutsche
übersetzt werden. Bereits gegen Ende des 9. Jahrhunderts war
das Königreich Wessex in „shires“ unterteilt. Im 10. und
frühen 11. Jahrhundert wurde diese territoriale Gliederung
auf ganz England ausgedehnt, das schließlich 37 „shires“
umfaßte. Die „shires“ waren ihrerseits in „hundreds“ oder
„wapentakes“ unterteilt. Die kleinste Einheit der englischen
Lokalverwaltung war das „vill“ oder „tun“, die Gemeinde.

Die „shire courts“ waren neben der Monarchie die wichtig-

ste Institution des angelsächsischen England. Sie traten zwei-
mal jährlich unter dem Vorsitz von Grafen und Bischöfen
oder deren Vertretern zusammen. Sie besaßen eine unbegrenz-
te Fülle von rechtlichen und verwaltungsmäßigen Funktionen.
Prinzipiell waren alle Freien zur Teilnahme an den „shire
courts“ verpflichtet. Die weniger bedeutenden Angelegenhei-
ten wurden von den „hundred courts“ behandelt. Darunter
gab es noch das „tithing“, eine Gruppe von zehn Männern,
die füreinander hafteten und sich bei Verfehlungen oder der
Flucht eines von ihnen vor dem „hundred court“ zu verant-
worten hatten. Insgesamt besaß das angelsächsische England
ein für die damalige Zeit bemerkenswert einheitliches Ge-
richtssystem, in dem zwar nach dem jeweiligen lokalen Recht
geurteilt wurde, wo der König aber jederzeit eingreifen konn-
te. Erst um die Mitte des 10. Jahrhunderts erhielten Grund-
herren („lords“) in größerem Umfang vom König wichtige
jurisdiktioneile Befugnisse, die jedoch stets als delegierte
Rechte verstanden wurden. In England hat der Monarch
grundsätzlich niemals den Anspruch aufgegeben, der direkte
Herrscher über sein gesamtes Königreich zu sein.

Die in angelsächsischer Zeit vorgenommene, für Rechtspre-

chung und Verwaltung maßgebliche, gebietsmäßige Gliede-
rung des Landes hat offenbar einen Vorgang gefördert, den
man als Territorialisierung des Lebenszusammenhangs be-
zeichnen kann. Blutsmäßige Bande traten gegenüber der
durch das räumliche Zusammenleben und die nachbarschaft-
liche Gemeinschaft geschaffenen Zusammengehörigkeit zu-

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12

rück. Die Engländer betrachteten sich in vieler Hinsicht eher
als die Bewohner eines Gebietes und als Mitglieder einer nicht
durch Verwandtschaft konstituierten lokalen Gemeinschaft
denn als Angehörige einer Sippe.

2

Der Individualismus, das

individuelle Privateigentum und die Kernfamilie haben sich in
‘England offenbar früher und ausgeprägter entwickelt als an-
derswo,

3

da dort wegen der relativ starken territorialen Or-

ganisation und befriedenden monarchischen Gewalt die
Schutzfunktion größerer, blutsmäßig miteinander verbunde-
ner Personengruppen weniger notwendig war. Der Historiker
W. L. Warren hat darauf hingewiesen, daß die englische
Sprache kaum Möglichkeiten bietet, über die Kernfamilie und
über zwei oder drei Generationen hinaus Verwandtschaftsbe-
ziehungen genau zu beschreiben.

4

Die vergleichsweise machtvolle Stellung der englischen

Monarchie wurde durch die normannische Eroberung im
Jahre 1066 noch verstärkt. Wilhelm war der Eroberer des
Landes. Er brachte aus der Normandie das Lehnswesen nach
England und stärkte seine Königsherrschaft dadurch, daß er
zugleich oberster Lehnsherr wurde. Er war es in einem radika-
leren Sinne, als es in der Normandie oder in irgend einem
anderen Teil Europas der Fall war. Der König war nämlich
rechtlich gesehen nach der Eroberung bzw. nach der Nieder-
schlagung der gegen ihn gerichteten Aufstände der alleinige
Inhaber des gesamten Bodens in England. Es gab keinen Al-
lodialbesitz, kein volles Eigentum mehr. Die Besitzrechte aller
Grundherren leiteten sich direkt oder indirekt vom König her.
Der radikale Utopist Gerrard Winstanley hat später in der
Englischen Revolution daraus die logische Konsequenz gezo-
gen, daß mit der Abschaffung der Monarchie auch alle Be-
sitztitel am Land hinfällig geworden seien. Der Beseitigung
des Königtums, argumentierte Winstanley, müsse auch die der
Grundherrschaft folgen.

5

England wurde mit dem Jahr 1066 zugleich das am meisten

und das am wenigsten feudalisierte Land Europas. Es war am
meisten feudalisiert, insofern dort jeglicher Landbesitz in den
feudalen Nexus einbezogen war. Es war am wenigsten feuda-

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13

lisiert, weil dort die Macht der Feudalherren gegenüber der
Zentralgewalt am schwächsten war, eine staatlich-öffentliche
Gewalt mit ihren Strukturen weiterbestand und die vorrangi-
ge Treueverpflichtung gegenüber dem König ausdrücklich
festgehalten wurde. Das feudale System wurde der bestehen-
den, territorial-nachbarschaftlichen Struktur aufgepfropft, hat
sie jedoch nicht verdrängt. Der Monarch war der feudale
Oberherr, gleichzeitig aber auch wie vor ihm der angelsächsi-
sche König ein Herrscher, der in einer unmittelbaren Bezie-
hung mit seinen Untertanen verbunden war, die ihm direkt
unterstanden und Gehorsam schuldeten.

6

So bestand die all-

gemeine militärische Gefolgschaftsverpflichtung neben der
besonderen Pflicht der Vasallen zur militärischen Hilfeleistung
fort.

Ein Dokument nicht nur der Macht und des Machtan-

spruchs, sondern auch der Effizienz des normannischen Herr-
schaftssystems in England ist das berühmte Domesday Book
von 1086. Als einer Art von nationalem Kataster ist ihm trotz
seiner Unvollständigkeit im zeitgenössischen Europa nichts an
die Seite zu stellen.

7

Es gelang den normannischen Königen

Englands auch, einige für Westeuropa bemerkenswert frühe
Methoden zentraler Verwaltung zu entwickeln. In bezug auf
das Finanz- und Rechtswesen besaßen sie nach dem Urteil der
englischen Historikerin Chibnell gegenüber Flandern, Frank-
reich oder Katalonien einen Vorsprung von mindestens einer
Generation und standen nicht einmal hinter Sizilien zurück,
das an die byzantinische Verwaltungstradition anknüpfen
konnte.

8

Zu ihren wegweisenden Neuerungen gehörte die am

Beginn des 12. Jahrhunderts eingeführte regelmäßige, jährlich
an einem bestimmten Ort stattfindende Abrechnung der kö-
niglichen Finanzen im „Exchequer“, die mit Hilfe eines leicht
verständlichen Rechensystems vorgenommen wurde. Der
französische König hat eine solche zentrale Rechnungslegung
erst gegen Ende des 12. Jahrhunderts angewandt.

9

Auf die normannischen Herrscher (1066–1154) folgte die

angevinische Dynastie (1154–1272), deren Reich sich nicht
auf Eroberung, sondern auf dynastische Verbindungen grün-

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14

dete. Es umfaßte neben dem englischen Territorium einen
großen Teil Frankreichs und hatte seinen Schwerpunkt an der
Loire. Daß sich die angevinischen Herrscher sehr stark außer-
halb Englands engagierten, war eine der Ursachen der Magna
Carta von 1215. König Johann, der zur Finanzierung der
Kriegführung auf dem Kontinent in England harte Maßnah-
men angewandt hatte und durch den Ausgang der Schlacht
von Bouvines in seiner Position geschwächt worden war, sah
sich bei seiner Rückkehr nach England einer Opposition der
Magnaten gegenüber. Er unterlag im Kampf mit ihnen und
mußte die Magna Carta gewähren.

10

Sie ist, nach ihrer Zu-

rücknahme durch Johann, in einer entschärften Fassung im
Jahre 1225 durch Heinrich III. erneuert worden, wurde bis
zum 17. Jahrhundert insgesamt 32 mal bestätigt oder neu
bekräftigt und seit dem 13. Jahrhundert wiederholt einer
größeren Öffentlichkeit bekanntgemacht.

11

Nicht zuletzt da-

durch hat sie sich tief in das Bewußtsein der Engländer einge-
graben.

Die Magna Carta enthielt unter ihren heterogenen, ganz

verschiedene Gravamina berücksichtigenden 63 Artikeln
Punkte, die nur für die Magnaten bedeutsam waren. Darüber
hinaus gab es jedoch auch Artikel, die schichtenübergreifende
Relevanz besaßen. Dazu gehörte die Erklärung, daß (ab-
gesehen von einigen aufgezählten Ausnahmen) keine Steuer
ohne gemeinsame Beratung des Königreiches erhoben werden
durfte. Von allgemeiner Bedeutung war vor allem der Rechts-
schutz, den die Artikel 39 und 40 gewährten: Jeder „über
homo“ konnte nur durch das rechtmäßige Urteil von seines-
gleichen aufgrund des Gesetzes des Landes verhaftet, geächtet
oder verbannt werden. Der König durfte niemandem die
prompte Gewährung von Recht und Gerechtigkeit versagen.
Besonders diese beiden Artikel wurden zu unverrückbaren
Bezugspunkten des englischen Freiheits- und Rechtsdenkens.

Es ist oft darauf hingewiesen worden, daß die von König

Johann gewährte Magna Carta nicht völlig singular war,
vielmehr im zeitgenössischen Europa manches Gegenstück in
anderen Ländern hatte (z.B. das Privilegio General in Aragon

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15

oder die Goldene Bulle in Ungarn). Fraglos enthielt die
Magna Carta auch einige allgemeine Grundsätze des mittelal-
terlichen Europa: das Recht auf die Aburteilung durch sei-
nesgleichen, das Widerstandsrecht bei Rechtsbrüchen des
Monarchen, die Ablehnung des Kriegsdienstes außerhalb des
Landes und vor allem das Prinzip, daß der König in Überein-
stimmung mit den Gesetzen des Landes handeln müsse. Ein-
zigartig an ihr war jedoch die Tatsache, daß die Magna Carta
überständisch und überregional war;

12

daß die in ihr gewähr-

ten Privilegien nicht die Form adliger oder provinzieller Im-
munität und städtischer Unabhängigkeit annahmen, sondern
allgemeinen Charakter hatten und auf die generelle Kontrolle
der Zentralgewalt gerichtet waren. Die eine Trennung der
Stände transzendierende, allgemeine Gültigkeit der Magna
Carta hat bereits Leopold von Ranke als etwas ihr Eigentüm-
liches und als Unterschied gegenüber anderen Rechtserklä-
rungen der Zeit gesehen. In seiner „Englischen Geschichte“
schreibt er: „Auch in anderen Ländern haben sich Kaiser und
Könige in dieser Epoche zu sehr umfassenden Bewilligungen
an die verschiedenen Stände herbeigelassen: das Unterschei-
dende in England ist, daß sie nicht jedem Stande für sich,
sondern allen zugleich gemacht wurden. Während nun an-
derwärts jeder Stand für sich selbst sorgte, bildete sich hier ein
gemeinschaftliches Interesse aller, welches sie auf immer zu-
sammenband.“

13

Diese für die englischen Monarchen letztlich nachteilige Be-

sonderheit ging paradoxerweise vor allem auf die relativ gro-
ße Macht des Königtums in England und seine vereinheitli-
chende Kraft zurück. Die von den königlichen Gerichten
betriebene Durchsetzung des Common Law als eines Natio-
nalrechts gegenüber lokalen, regionalen und feudalen Beson-
derheiten führte dazu, daß auch im Konflikt mit der Krone im
geringeren Maße als in anderen Ländern partikulare Rechte
beschworen wurden. Die starke Stellung des Königs und sei-
ner Gerichtsbarkeit hatten nach dem Urteil der englischen
Historikerin Susan Reynolds zur Folge, daß es „relativ wenig
an grundherrlicher Gerichtsbarkeit zu schützen (gab), wäh-

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16

rend ein relativ großer Teil der Bevölkerung häufig und direkt
den Bedrückungen durch königliche Amtsträger ausgesetzt
war“.

14

Der in der Magna Carta enthaltene Grundsatz, daß keine

Steuer ohne gemeinsame Beratung des Königreiches erhoben
werden dürfe, hat überdies zur Herausbildung des englischen
Parlaments entscheidend beigetragen. Hier ergab sich ein
weiteres Eigeninteresse des Monarchen an einer repräsentati-
ven Institution, das zu seinen anderen Interessen an einer
solchen Versammlung hinzutrat. Denn die Entstehung des
Parlaments um die Mitte des 13. Jahrhunderts ist zunächst
und vor allem anderen auf die Bedürfnisse des Königs zurück-
zuführen. Ihm mußte daran gelegen sein, daß Männer aus den
verschiedenen Landesteilen ihn einerseits mit Informationen
versorgten und ihm ihre Beschwerden vortrugen, andererseits
die Wünsche und Anordnungen des Monarchen bei sich zu
Hause bekannt machten und seine Politik erklärten.

Da das englische Parlament aus der „curia regis“ (dem

Großen Rat des Königs) hervorging, läßt sich sein definitiver
Beginn, sein historischer Anfang als einer feststehenden Ein-
richtung, nicht genau bestimmen. Sehr oft wissen wir von
einem im 13. oder 14. Jahrhundert tagenden Gremium nicht,
ob es ein Großer Rat oder ein Parlament war. Von entschei-
dender Bedeutung war jedenfalls die Hinzuziehung von Ver-
tretern der „shires“ und „boroughs“, die sie offenbar aus-
schließlich ihrer Unentbehrlichkeit für die Steuerbewilligung
verdankten. An dem Parlament des Jahres 1290 kann man
besonders deutlich erkennen, daß dies der Punkt war, von
dem aus die „Gemeinen“ („commons“) eindrangen. Eine zu-
nächst nur aus Magnaten bestehende parlamentarische Ver-
sammlung hatte bereits von April bis Juli getagt und eine
Fülle von Maßnahmen beschlossen. Zu der vom König ge-
wünschten Steuer gaben die Versammelten ihre Zustimmung
jedoch nur, „insoweit sie dazu berechtigt waren“. Diese aus-
drückliche, von ihnen selber ausgehende Einschränkung des
Repräsentationsanspruchs der Magnaten machte die Beteili-
gung von Vertretern der „shires“ und „boroughs“ notwendig,

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17

die dann Mitte Juli zum Parlament hinzustießen. Aus den
„commons“ als einem zunächst nur aus Gründen der Steuer-
bewilligung hinzugezogenen ergänzenden Element wurden
dann im 14. Jahrhundert die eigentlichen Repräsentanten des
Landes, die man als die wichtigsten Verteidiger seiner Interes-
sen ansah.

Der Zusammenhang von Parlament und Besteuerung war

für die parlamentarische Entwicklung von einer gewissen
Ambivalenz. Daß Parlamente für die Steuerbewilligung not-
wendig waren, hat einerseits die Herausbildung der Instituti-
on Parlament gefördert, weil die Finanznöte der Monarchen
und zumal die Kriegführung immer wieder zu ihrer Einberu-
fung zwangen. Andererseits hat es sie aber auch behindert,
weil Könige, die eine weniger kostspielige Politik verfolgten
bzw. sich andere Einnahmequellen erschlossen, Parlamente
vernachlässigen konnten. Statute aus den Jahren 1330 und
1362 legten zwar fest, daß mindestens einmal jährlich ein
Parlament stattfinden sollte, wurden aber nur vorübergehend
beachtet. Die jeweiligen Bedürfnisse der Monarchen gaben
letztlich den Ausschlag dafür, ob ein Parlament einberufen
wurde oder nicht. Negativ für die Entwicklung des Parla-
ments war die Schlüsselstellung des Steueraspekts aber auch
deshalb, weil die Nichteinberufung bedeutete, daß keine Steu-
ern zu zahlen waren – also von der Bevölkerung durchaus
positiv gesehen werden konnte. Hinzu kam, daß wegen der
Zahlung recht erheblicher Sitzungsgelder an die Abgeordneten
durch ihre „shires“ und „boroughs“ Parlamente auch unter
diesem Gesichtspunkt eine finanzielle Belastung bedeuteten.
Städte, die – etwa durch den Bau von Stadtmauern – finan-
ziell stark belastet waren, beantragten oft eine vorübergehen-
de Befreiung von der Repräsentationspflicht. Dieser Faktor
verlor jedoch in dem Maße an Bedeutung, wie ein Sitz im
Parlament an Prestige gewann, was bereits im 15. Jahrhundert
weithin der Fall war. Ehrgeizige oder auf ihr Ansehen bedach-
te Angehörige des niederen Adels („gentry“) waren gern be-
reit, auf eigene Kosten die Vertretung der „boroughs“ im
Parlament zu übernehmen, so daß schließlich bereits am Ende

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18

des Mittelalters ein großer Teil der Städte von Abgeordneten
aus der „gentry“ „repräsentiert“ wurde und das Parlament in
seiner Gesamtheit immer mehr einen adligen Charakter er-
hielt. Zusätzliche Sitze für „boroughs“ sind sogar eigens für
den Zweck geschaffen worden, die Nachfrage unter dem
niederen Adel in den Grafschaften zu befriedigen.

Für die Monarchen lag der Vorzug der Bewilligung von

Steuern durch das Parlament vor allem darin, daß die Abge-
ordneten durch ihre Zustimmung die jeweiligen „shires“ oder
„boroughs“ banden und zur Zahlung verpflichteten. Aller-
dings konnte es anfangs vorkommen – obwohl in England
nicht die stark eingeschränkte ständische Repräsentation,
sondern die umfassende Repräsentation im Sinne der 1290
und 1294 vom König ausdrücklich geforderten plena potestas
galt –,

15

daß Abgeordnete vor der Gewährung von Geldern in

den Grafschaften Rückfrage hielten. Es konnte auch gesche-
hen, daß ein „county court“ beschloß, nur einen Teil des auf
die Grafschaft entfallenden Steueranteils zu zahlen. Insgesamt
ist es jedoch eindrucksvoll, wie sehr das Parlament von Eng-
land bereits im Mittelalter dem Gedanken einer gesamtstaatli-
chen Gemeinschaft Ausdruck gab. Es entstand, wie Otto
Brunner formuliert, „seit der Mitte des 14. Jahrhunderts die
Idee der communitas regni Angliae als Gesamtgenossenschaft
aller communitates des Königreiches, die tatsächlich England
sind, da der Feudalisierungsprozeß hier die Amtsbezirke nicht
zerrissen hatte. Damit hören aber die Abgeordneten der
communitates auf, ihre communitas zu vertreten. Nun reprä-
sentieren sie alle insgesamt die communitas regnis Angliae.“

16

In Frankreich ist dagegen der Gedanke einer Gesamtrepräsen-
tation erst mit der Umwandlung der Generalstände in eine
Nationalversammlung im Jahre 1789 verwirklicht worden.

Zusammenfassend läßt sich sagen, daß sich England schon

im Mittelalter durch eine relativ starke Staatsgewalt und eine
– abgesehen von den Grenzgebieten im Westen und Norden –
vergleichsweise intensive territoriale Integration auszeichnete.
Der französische Historiker Marc Bloch spricht in seinem
Buch über die Feudalgesellschaft vom mittelalterlichen Eng-

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19

land als einem „bemerkenswert vereinheitlichten Land“ mit
einer „starken Verwaltungstradition“.

17

Es kam dort nicht,

trotz gewisser Ansätze unter König Stefan im 12. Jahrhundert
sowie um die Mitte des 13. Jahrhunderts, zur Herausbildung
einer Territorialherrschaft. Es entstand kein Landesfürsten-
tum wie in Deutschland.

Die von der Monarchie ausgehende zentralisierend-verein-

heitlichende Tendenz kam jedoch nicht nur ihr selber zugute.
Sie stärkte vielmehr auch, wie gezeigt wurde, das Parlament
als ihren potentiellen Gegenspieler. Dieses konnte sich später
im 17. Jahrhundert bei Auseinandersetzungen mit dem König
im Unterschied zu anderen, bloß ständisch-partikularen Re-
präsentativversammlungen glaubhaft als Vertretung der Ge-
samtheit darstellen. Auch hatten die Durchsetzung des Com-
mon Law als eines Nationalrechts sowie die Anerkennung
allgemeiner Rechtsgrundsätze durch die Magna Carta zur
Folge, daß bei Rechtsverletzungen durch die Krone die allge-
meinen Rechte freier Engländer und keine partikularen Rech-
te beschworen wurden. Die Stärke oppositioneller Bewegun-
gen gegen monarchische Übergriffe ist wegen der damit gege-
benen Möglichkeit einer breiten Identifikation vergrößert
worden.

Von der zentralisierend-vereinheitlichenden Prägekraft der

englischen Monarchie – die auch in der Zeit ihrer vorüberge-
henden Schwäche während der sog. Rosenkriege des 15. Jahr-
hunderts nicht gänzlich ausgelöscht wurde – ging eine para-
doxe Wirkung aus. Die frühe Stärke einer durch die lokale
Selbstverwaltung abgestützten monarchischen Gewalt und die
Selbstverständlichkeit gesamtstaatlichen Zusammenhalts ha-
ben dazu beigetragen, daß in der Folgezeit die für andere
Monarchien charakteristischen und sie stärkenden Erschei-
nungen wie ein stehendes Heer und eine große Bürokratie in
England lange Zeit nicht erforderlich waren und sich erst sehr
spät herausbildeten. Das geringe Maß an staatlicher Durchor-
ganisation im England der frühen Neuzeit war möglich, weil
der englische Staat des Mittelalters vergleichsweise stark
entwickelt gewesen war. In ähnlicher Weise läßt sich die ge-

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ringe Wirkung der Ideen von Thomas Hobbes in England
erklären. Der Gedanke von der Notwendigkeit einer unbe-
schränkten Herrschaft des Souveräns war dort weniger anzie-
hend, weil die befriedende Kraft der traditionellen Verfas-
sungsordnung in der Regel groß genug war. Absolutistische
Lehren konnten in England weniger als Möglichkeiten eines
Auswegs aus dem Bürgerkrieg, sondern eher als Ursachen
einer Bürgerkriegssituation erscheinen.

18

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21

II. Die Ambivalenz der Tudorherrschaft



Während der Herrschaft der Tudors (1485–1603) war die
Politik der Monarchen vor allem darauf gerichtet, „over-
mighty subjects“ zu entmachten und eher den niederen Adel
zu bevorzugen. Der „Königsmechanismus“ (Elias) und die
Patronage wurden eingesetzt, um möglichst viele Adlige des
Landes direkt an den Hof zu binden. Die Monarchie verstand
es überdies, den König zur alleinigen „Quelle von Ehre“ zu
machen. Das galt auch in dem ganz konkreten Sinn, daß seit
1530 sein heraldisches Amt allein dafür zuständig wurde,
Adelswappen zu überprüfen und zu verleihen.

1

Die Position

des Monarchen wurde ferner durch die Ordnungspropaganda
und den Gehorsamskult der Tudors gestärkt, die nicht müde
wurden, auf die blutig-wirre Zeit der Rosenkriege zu verwei-
sen und sich als Retter aus der Anarchie sowie als alleinige
Garanten des inneren Friedens darzustellen. Diese Tendenz
spiegelte sich während der spätelisabethanischen Zeit auch in
einigen Dramen Shakespeares wider.

(Bei der starken Betonung des Ordnungsgedankens und der

Gehorsamspflicht gegenüber dem Monarchen handelte es sich
freilich zugleich um eine ideologische Kompensation der phy-
sischen Schwäche königlicher Gewalt, die dazu zwang, Stel-
lung und Bedeutung des Monarchen um so mehr hervorzuhe-
ben. Es gab, abgesehen von einigen Hundert Mann Leibgar-
den und Festungsbesatzungen, kein stehendes Heer. Auch die
von der Zentralgewalt besoldete und ihr hauptberuflich die-
nende Beamtenschaft war zahlenmäßig gering. [Die Regie-
rungsbürokratie umfaßte unter Elisabeth I. gegen Ende des
16. Jahrhunderts 1200 Ämterinhaber. Davon verwaltete die
eine Hälfte die Kronländereien, die andere Hälfte die übrigen
Zweige der Administration. Damit kam ein königlicher Beam-
ter auf etwa 3000 Einwohner, während in Frankreich ein be-
zahlter Beamter auf ungefähr 400 Einwohner kam.

2

Der Ver-

gleich ist zwar etwas problematisch, weil in Frankreich wegen
der dort verbreiteten und in England kaum praktizierten Äm-

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22

terkäuflichkeit viele dieser Ämter nur Sinekuren waren, die
der Effektivität der Staatsgewalt nichts hinzufügten. Dennoch
machen die Zahlen die Schwäche der zentralen Regierungsbü-
rokratie in England deutlich.

Die Verwaltung und die Gerichtsbarkeit beruhten im we-

sentlichen auf den von der Krone zwar eingesetzten, von ihr
aber nicht besoldeten, sondern ihr Amt unbezahlt ausübenden
„Justices of the Peace“. Diesen aus dem Adel entnommenen
Friedensrichtern wurden im Zusammenhang mit dem zuneh-
menden wirtschaftlich-sozialen Iriterventiomsifrius der Krone
in einer Zeit drastischer Bevölkerungsvermehrung mit den sie
begleitenden Ordnungsproblemen immer mehr Aufgaben
aufgebürdet: Sie waren schließlich für die Anwendung von
mehr als 300 Gesetzen zuständig. Von der Instandhaltung der
Brücken und Straßen über die Kontrolle der Armenfürsorge
und des Lehrlingswesens bis zu Erteilung von Schanklizenzen
hatten sie eine Fülle von Obliegenheiten wahrzunehmen. Daß
sich die Zahl der Friedensrichter im 16. Jahrhundert verdrei-
fachte, läßt sich jedoch nicht allein auf ihre wachsenden Auf-
gaben zurückführen; denn nur etwa die Hälfte der
„Commission of the Peace“ war wirklich aktiv. Mindestens
ebenso wichtig waren das wachsende Prestige und die Anzie-
hungskraft des Amtes auf den Adel.

Die Monarchen nahmen Einfluß auf die „Commission of

the Peace“ in den Grafschaften, indem sie Mitglieder des sich
zu einer Art Regierung entwickelnden Privy Council sowie
dem Hof nahestehende Männer in die „counties“ schickten
und zu Friedensrichtern machten, um die Gesichtspunkte und
Interessen der Zentralgewalt im örtlichen Bereich zur Geltung
zu bringen. Sie entsandten auch spezielle Beauftragte mit be-
sonderen Zuständigkeiten, unter denen die mit militärischen
Vollmachten versehenen „lords lieutenant“ wegen der ständi-
gen Kriegführung in den letzten zwei Jahrzehnten der Herr-
schaft Elisabeths zu einer permanenten Einrichtung wurden
und an die Spitze der Grafschaftsverwaltung traten. Aber
obwohl die in dieses Amt berufenen Aristokraten aufgrund
ihrer militärischen Funktion zahlreiche Befugnisse und Ein-

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23

griffsmöglichkeiten besaßen und in ihrer Person das Prestige
der Krone symbolisierten, waren sie bei ihrer Tätigkeit doch
letztlich auf die Kooperation der Friedensrichter angewiesen.
^Die Grenzen der Zentralgewalt in England werden somit
selbst unter den starken Monarchen der Tudorzeit deutlich.
Einerseits bedurfte die Regierung bei der konkreten Verwirk-
lichung ihrer Anordnungen stets der Mitwirkung der „Justices
of the Peace“, die in all den Fällen schwer zu erreichen war,
wo sie deren Interessen oder Ansichten zuwiderliefen. Ande-
rerseits war auch die Freiheit der Krone bei der Auswahl der
Friedensrichter stark eingeschränkt. Sie mußte dafür angese-
hene und einflußreiche Adlige einer Grafschaft auswählen,
denn nur solche verfügten über genügend Prestige, um ihren
Entscheidungen Durchsetzungskraft zu verleihenS Einzelne
unliebsame Adlige konnte die Regierung von der „Com-
mission of the Peace“ ausschließen, aber letztlich folgte das
Amt dem Status. Oft war die aus politischen Gründen vollzo-
gene Absetzung eines Friedensrichters denn auch nur vor-
übergehend.

3

In der Tudorzeit zeigt sich nicht nur am Friedensrichteramt,

sondern mehr noch in bezug auf das Parlament der eigentüm-
liche Sachverhalt,

1

daß die Stärkung der Monarchie in England

fast immer zugleich eine Stärkung von potentiellen Gegen-
kräften und alternativen Einflußzentren bedeutete. Die Positi-
on des Monarchen wurde durch die von Heinrich VIII. voll-
zogene Loslösung von Rom gestärkt. Sie machte den Monar-
chen zum Oberhaupt der Kirche. Der Monarchie gelang es
überdies, sich etwas von deren Heiligkeit anzueignen. Nicht
nur die Position, sondern auch die Aura des Königtums war
in England nahezu cäsaropapistisch. Es war kein Zufall, daß
sich dann sogar chiliastische Erwartungen an den Monarchen
als den „godly ruler“ knüpften.

4

Andererseits gewann aber

durch die „Verstaatlichung“ der Kirche auch das Parlament
an Bedeutung und Prestige. Eine Schlüsselrolle kam bei die-
sem Bedeutungszuwachs dem sogenannten Reformationspar-
lament zu, das 1529 gewählt, aber erst 1536 aufgelöst wurde
und mit dem König die Trennung von Rom vollzog. Treffend

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24

bemerkt Ranke dazu in seiner „Englischen Geschichte“: „In
den Tudorprinzipien und Neigungen Heinrichs VIII. lag es
nicht, daß er das Parlament aufrief; allein für seine kirchliche
Unternehmung war das unentbehrlich.“

5

Die Veränderungen

in der Kirche wurden auf der Grundlage von Gesetzen vorge-
nommen, denen das Parlament seine Zustimmung gegeben
hatte. Noch nie zuvor hatte ein englisches Parlament ein so
riesiges Gesetzgebungsprogramm abgewickelt wie das Refor-
mationsparlament, und bereits dadurch mußte das Gewicht
dieser Institution sich vergrößern. Durch die Wichtigkeit der
bewältigten Aufgabe und die lange Dauer von sieben Jahren,
in der dieses Parlament (mit Unterbrechungen) tagte, wurde
ein starkes Selbstbewußtsein und Gefühl der Kontinuität er-
zeugt.

Der Jurist Sir John Fortescue hatte bereits im 15. Jahrhun-

dert die in England bestehende staatliche Ordnung als ein
„dominium politicum et regale“ bezeichnet und von dem
französischen System eines „dominium regale“ unterschieden.
In Frankreich, so Fortescue, sei der König der alleinige Ge-
setzgeber, in England dagegen könnten Gesetze nur mit Zu-
stimmung des Parlaments gemacht oder aufgehoben werden.
Heinrich VIII. hat die Charakterisierung der englischen Ver-
fassungsordnung durch Fortescue mit seinem Entschluß zur
Ehescheidung von seiner Frau Katharina von Aragon und
dem daraus resultierenden Bruch mit Rom ungewollt bekräf-
tigt. Ausgerechnet dieser „massive Titan von einem Souve-
rän“ (Lacey Baldwin Smith), der es liebte, sich als starke,
allein entscheidende Persönlichkeit darzustellen und der mit
seinen brutalen Zügen den Begriff des Tudor-Despotismus zu
rechtfertigen scheint, wurde durch die rücksichtslose Durch-
setzung einer ganz persönlichen Entscheidung zum Förderer
des Parlaments.

Hinzu kam, daß nicht nur das Reformationsparlament,

sondern auch ihm folgende Parlamente an den Veränderungen
im Bereich der Religion beteiligt waren. Die religiöse Neu-
ordnung nach der Thronbesteigung Elisabeths I. (1558) er-
folgte sogar noch eindeutiger auf einer parlamentarischen

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25

Grundlage, als das unter ihrem Vater der Fall gewesen war.
Sie stellte darüber hinaus eine Entscheidung in Religionsange-
legenheiten auf rein säkularer Basis dar. Der „Act of Uni-
formity“ und der „Act of Supremacy“ fanden unter den Bi-
schöfen im Oberhaus nicht einen einzigen Befürworter. Im
Unterschied zu den 1530er Jahren, als viele Bischöfe Heinrich
VIII. in der Religionsfrage unterstützt hatten, wurde die elisa-
bethanische Kirchenordnung allein von Laien beschlossen.
Die Kirchenversammlung („convocation“) protestierte sogar
ausdrücklich gegen sie. Dieser Tatsache kam für die Frage der
Zuständigkeit des Parlaments große Bedeutung zu. Sir Tho-
mas Smith führte in seiner Schrift „De Republica Anglorum“
um diese Zeit unter den parlamentarischen Kompetenzen
denn auch ausdrücklich auf, es lege „Formen der Religion
fest“.

6

Daß der durch die Reformation und die Aufhebung der

Klöster dem Monarchen zufallende ökonomisch-finanzielle
Gewinn jedoch nicht das Angewiesensein auf Parlamente
reduzierte, dafür sorgte die Kriegführung Heinrichs VIII. in
den 1540er Jahren. Ende 1545 war er nahezu bankrott. Bis zu
seinem Tod waren zwei Drittel des eingezogenen Klosterbesit-
zes verkauft, wodurch der Adel gegenüber der Monarchie
ökonomisch gestärkt wurde. Wegen der Preisinflation, der
mangelnden Flexibilität der Kroneinnahmen bei der Anpas-
sung an die steigenden Preise und der überproportional ge-
stiegenen Kriegskosten wurde der Druck auf die Monarchen
zur Einberufung von Parlamenten eher größer als geringer.

Obwohl Elisabeth Parlamente nicht schätzte und in ihrer

fünf undvierzigj ährigen Regierungszeit nur dreizehn einberief
(in den drei Jahrzehnten vor ihrem Regierungsantritt war das
Parlament achtundzwanzigmal einberufen worden), konnte
sie doch aus finanziellen Gründen nicht auf sie verzichten.
Mit einer Ausnahme bat sie sämtliche von ihr einberufenen
Parlamente um Steuerbewilligungen. Außerdem ist es ausge-
rechnet der Einfluß ihrer eigenen Minister gewesen, welcher
der Institution Parlament zugutekam. Es war die Praktik ihrer
engsten Berater, die in entscheidenden Fragen oft schwanken-

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26

de oder störrische Königin mit Hilfe eines Parlaments unter
Druck zu setzen. So zögerte z. B. Elisabeth, einer Hinrichtung
der sich in ihrem Gewahrsam befindenden Maria Stuart zuzu-
stimmen, da sie von einem starken Gefühl monarchischer
Solidarität durchdrungen war. Das bewog ihre Ratgeber, sich
1586 des Parlaments zu bedienen. Es bedurfte jedoch noch
einer Verschwörung, an der die schottische Königin tatsäch-
lich oder angeblich beteiligt war, um die Hinrichtung Maria
Stuarts am 8. Februar 1587 zu erreichen.

7

Selbst wenn die Aussichten für ein Fortbestehen der Insti-

tution Parlament am Ende des 16. Jahrhunderts nicht ganz
eindeutig waren, besaß sie doch in einer Zeit, in der anderswo
Repräsentativversammlungen verkümmerten oder beseitigt
wurden, in England gute Überlebenschancen. Das Parlament
hatte aufgrund intensiver und maßgeblicher gesetzgeberischer
Tätigkeit nicht nur eine festere Stellung erlangt, sondern war
auch noch stärker mit der englischen Identität verknüpft als
im Mittelalter. Vor allem aber war im Zusammenhang mit
der religiösen Neuordnung das Konzept des „King-in-
Parliament“ entstanden – die „parlamentarische Trinität“
(Elton) von König, Oberhaus und Unterhaus, bei der die sou-
veräne Gewalt des Landes lag. Die Tatsache, daß im 16.
Jahrhundert parlamentarische „statutes“ eine den königlichen
Proklamationen eindeutig überlegene Qualität erhielten,
sprach ebenfalls für seine Unentbehrlichkeit. Sogar Heinrich
VIII. erklärte 1542, daß er in seinem Königtum niemals höher
stehe, als wenn er im Parlament mit den Lords und Commons
zu einem „body politic“ verbunden sei.

8

Selbst wenn man jedoch Oberhaus und Unterhaus – wie

maßgebliche Zeitgenossen es taten – neben dem Monarchen
als integrale Bestandteile der souveränen Gewalt betrachtete,

9

blieb immer noch die Frage der Machtverteilung zwischen
Krone und Parlament ungeklärt. Die Vorstellung von der
Souveränität des „King-in-Parliament“ ließ offen, wie die
Kooperation und Harmonie zwischen den in diesem Begriff
zusammengefaßten Organen dauerhaft gewährleistet werden
konnte und wo im Konfliktfall das Übergewicht lag. Diese

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Fragen stellten sich angesichts des Grundkonsenses zwischen
der Königin und den Führungsschichten des Landes und an-
gesichts des Prestiges der Monarchin, das mit dem Sieg über
die spanische Armada (1588) seinen Höhepunkt erreichte,
nicht in akuter Schärfe. Sie deuteten sich jedoch bereits in der
Spätzeit ihrer Herrschaft an, und die nächsten zwei Jahrhun-
derte englischer Geschichte wurden von ihnen beherrscht.

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28

III. Das revolutionäre Jahrhundert



Der elisabethanische Fundamentalkonsens löste sich in der
Zeit ihrer beiden Stuartnachfolger auf. Unter Jakob I. lag die
Ursache dafür in hochfahrenden Erklärungen des Königs über
die Prärogativrechte des Monarchen und einer mit der Spar-
samkeit Elisabeths kontrastierenden verschwenderischen Aus-
gabenpolitik, die zum Teil allerdings durch die besonderen
Bedürfnisse des aus Schottland kommenden Königs nach Ein-
flußnahme auf den englischen Adel bedingt war. Unter Karl I.
hatte die Entfremdung zwischen dem Monarchen und den
Führungsschichten ihren Grund vor allem in einer als krypto-
katholisch verdächtigten hochkirchlichen Religionspolitik im
Innern und einer beim Kampf zwischen Katholizismus und
Protestantismus abseits stehenden Neutralitätspolitik im
Dreißigjährigen Krieg. Der sich primär an der Frage der Reli-
gion entzündende Konflikt zwischen dem König und den
Führungsschichten des Landes führte Karl I. 1629 zu dem
Entschluß, künftig ohne Parlament zu regieren. Das persönli-
che Regiment des Monarchen, der zum Ausgleich für die
entfallenden parlamentarischen Geldbewilligungen zu recht-
lich fragwürdigen Formen der Besteuerung überging, schien
auch für England die Phase des Absolutismus einzuleiten. Ein
1639 ausbrechender Krieg gegen die Schotten, die sich gegen
ein ihnen aufgezwungenes Gebetsbuch zur Wehr setzten,
nötigte jedoch den Monarchen, aus finanziellen Gründen
1640 zweimal Parlamente einzuberufen. Von ihnen ist das
zweite als sog. „Langes Parlament“ in die englische Geschich-
te eingegangen. Seine Mehrheit sah sich nach einem Aufstand
der katholischen Iren im Herbst 1641 veranlaßt, über die
Sicherung der Eigentumsrechte und der Institution Parlament
hinauszugehen und aus Mißtrauen gegen die Person Karls I.
in die unbestrittenen Prärogativrechte des Monarchen einzu-
greifen, indem man ihm den Oberbefehl über das gegen die
Iren ins Feld zu führende Heer verweigerte. Dieser „Sicher-
heitsradikalismus“ führte viele gemäßigte Abgeordnete in das

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29

Lager des Königs, der damit eine eigene „Partei“ erhielt. Bei-
de Seiten formierten sich für den Bürgerkrieg, der 1642 aus-
brach. Die Parlamentspartei hatte dabei als legitimatorische
Basis die bereits im Mittelalter entstandenen Vorstellungen
von den Rechten freier Engländer und vom Parlament als der
Repräsentation der Gesamtheit. Was ihrem Handeln entge-
genstand – der Gedanke der Unantastbarkeit, ja Heiligkeit des
Monarchen –, wurde einerseits durch eine sehr künstliche
Unterscheidung zwischen der Person und dem Amt des Kö-
nigs und andererseits durch eine starke religiöse Schubkraft
überwunden. Viele der entschlossensten Oppositionellen wa-
ren überzeugte Puritaner. Sie sahen den Kampf gegen den
Monarchen in einem religiösen Kontext und argumentierten,
daß man Gott mehr gehorchen müsse als den Menschen. Die
Berufung auf den Vorrang und die Souveränität Gottes spielte
auch bei der nach den Bürgerkriegen erfolgenden Hinrichtung
des Königs am 30. Januar 1649 eine Rolle. Die offizielle Be-
gründung des von einem Sondergericht zum Tode verurteilten
Monarchen war allerdings rein juristisch und säkular. Sie
lautete, daß er gegen sein eigenes Volk Krieg geführt und den
Tod von Menschen verschuldet habe. Die öffentliche Anklage,
die Hinrichtung des Königs und ihre Rechtfertigung waren
sowohl für die Nationalgeschichte als auch für die Weltge-
schichte von wesentlicher Bedeutung. Sie vor allem legitimie-
ren es, in bezug auf diese Jahre von einer Englischen Revolu-
tion zu sprechen.

Obwohl nach dem Zwischenspiel einer Republik und einer

Protektoratsherrschaft unter dem parlamentarischen Heerfüh-
rer Oliver Cromwell (und seinem Sohn Richard) 1660 mit der
Rückberufung des ältesten Sohnes Karls I. die Monarchie
wiederhergestellt wurde, ist doch ihr selbstverständlicher
Herrschaftsanspruch durch die Revolution erschüttert wor-
den. „Dem Selbstgefühl jeder Nation“, hat Max Weber kon-
statiert, „ist es . . . zugute gekommen, wenn sie einmal ihren
legitimen Gewalten abgesagt hatte, selbst wenn sie, wie in
England, sie später von Volkes Gnaden zurückrief.“

1

Die

Monarchie offenbarte ihre Verwundbarkeit und verlor etwas

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30

von ihrem Nimbus. Ihre Wiederherstellung war überwiegend
pragmatisch-opportunistisch motiviert. Das läßt sich schon an
der Tatsache erkennen, daß die Royalisten den geringsten
Anteil daran hatten. Die Revolution hatte auch dazu beigetra-
gen, ein von der Person des Königs abgelöstes Verständnis des
Staates und des Rechtes hervorzubringen. In England unter-
schied man frühzeitig, spätestens aber seit der Magna Carta,
zwischen dem König und dem Königreich.

2

Diese Unterschei-

dung ist durch die Revolutionszeit, als es einige Jahre keinen
Monarchen gab und dennoch vielfach der Begriff „Kingdom“
als Bezeichnung für das Territorium der Republik beibehalten
wurde, noch verstärkt worden. Das Königreich hatte sich
gleichsam vom König emanzipiert.

Auf der anderen Seite deuteten die Erfahrungen der Zeit des

Interregnums und die vergebliche Suche nach einem „sett-
lement“ darauf hin, daß ein Monarch zur Erhaltung von Sta-
bilität, Rechtssicherheit und traditioneller Herrschaftsstruktur
offenbar unentbehrlich war. Die Folgewirkungen der Engli-
schen Revolution waren somit zutiefst widersprüchlich: Einer-
seits war der Bann des Traditionalismus durch sie gebrochen
worden; andererseits hatte sie jedoch den Vorzug oder sogar
die Unverzichtbarkeit traditioneller Institutionen, Verhal-
tensweisen und Glaubensinhalte als Ordnungsfaktoren de-
monstriert. Die Abneigung der englischen Elite gegen Thomas
Hobbes ging, wie Hans-Dieter Metzger gezeigt hat, nicht
zuletzt darauf zurück, daß er auf sie verzichten zu können
glaubte und die Stellung des Souveräns allein aus dem Eigen-
interesse der Menschen herleitete.

3

Es bedurfte des direkten Angriffs auf die etablierte angli-

kanische Kirche von Seiten Jakobs II., des Bruders und Nach-
folgers Karls II., um eine neuerliche umfassende Entfremdung
zwischen dem Monarchen und den Führungsschichten des
Landes herbeizuführen. Der katholische König wollte die
Gleichberechtigung seiner Religion in England erzwingen und
griff dabei sogar in revolutionärer Weise in die hierarchische
Rangordnung der Grafschaften ein, indem er Katholiken und
Nonkonformisten von geringem gesellschaftlichen Status zu

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31

Friedensrichtern ernannte. Er fand bei der Elite entsprechend
wenig Unterstützung, als sein Schwiegersohn und Neffe Wil-
helm von Oranien, der Statthalter und Generalkapitän der
Niederlande, primär aus außenpolitischen Gründen am 5.
November 1688 in England landete. Wilhelm wollte sicher-
stellen, daß die Engländer nicht als Bündnispartner an die
Seite Frankreichs traten. Aus dieser holländischen Interventi-
on entwickelte sich jedoch wegen der Kopflosigkeit Jakobs,
der nach Frankreich floh, ein dynastischer Wechsel. Wilhelm
und seine Frau Maria, die Tochter des geflohenen Königs,
wurden gemeinsam die neuen Monarchen Englands. Die von
einem „Convention Parliament“ ausgearbeitete „Declaration
of Rights“, die Wilhelm und Maria vor ihrer Krönung am 13.
Februar 1689 verlesen wurde und deren Beachtung sie nach
der Krönung zusicherten, berücksichtigte einige der mit den
bisherigen Stuartmonarchen gemachten Erfahrungen und
versuchte, ihrer Wiederholung vorzubeugen. Sie konstatierte
die Unrechtmäßigkeit vom Parlament nicht bewilligter Steu-
ern. Außerdem wurden in sie das Verbot exzessiver Strafen
oder Kautionen, das Petitionsrecht sowie das Recht der prote-
stantischen Untertanen auf Waffenbesitz hineingeschrieben.
Die Declaration of Rights legte ferner „freie“ Parlamentswah-
len sowie das Recht der Abgeordneten auf Redefreiheit fest,
verbot den Monarchen die Suspendierung von Gesetzen und
untersagte ihnen den Unterhalt eines stehenden Heeres in
Friedenszeiten ohne Zustimmung des Parlaments.

4

Damit

wurde der bis dahin ungewisse Status der Armee geklärt, die
an das Parlament gebunden wurde.

Die Declaration of Rights, ein Triennial Act von 1694, der

Parlamentswahlen im Abstand von drei Jahren vorschrieb,
und die in der Folgezeit fast ununterbrochene Kriegführung
gegen Frankreich und Jakob II. machten das Parlament end-
gültig zu einem integralen Bestandteil des politischen Systems
in England. Seit 1688, so hat man zu Recht gesagt, bewachte
das Unterhaus nicht nur die Regierung, sondern es wurde
selbst zu einem Teil der Regierung.

5

Die englische Entwick-

lung verlief darin, nachdem sich in den 1630er Jahren, später

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32

wieder gegen Ende der Regierungszeit Karls II. und unter
Jakob II. in den 1680er Jahren eine Annäherung an das kon-
tinentale Muster abzuzeichnen schien, definitiv entgegenge-
setzt zu der auf dem europäischen Kontinent, wo z. B. in den
deutschen Territorien seit der Wende vom 17. zum 18. Jahr-
hundert die Landtage nicht mehr einberufen wurden.

Wenn man den durch eine holländische Invasion unter ge-

ringer Teilnahme der Engländer herbeigeführten dynastischen
Wechsel von 1688/89 als Glorious Revolution bezeichnet, so
ist die Verwendung des Revolutionsbegriffs allenfalls dadurch
gerechtfertigt, daß die monarchische Herrschaft ihren Cha-
rakter veränderte. Sie wurde mehr als zuvor durch Parla-
mentsgesetze eingehegt und war faktisch bereits in hohem
Maße parlamentarisch legitimiert. Dieser Charakter verstärk-
te sich noch durch den Act of Settlement von 1701. Dieses
Gesetz war vom Parlament verabschiedet worden, nachdem
das letzte Kind der Königin Anna (einer Schwester Marias)
verstorben und eine Thronfolge in direkter Linie deshalb nicht
mehr möglich war. Es regelte die Erbfolge unter Umgehung
aller katholischen Thronanwärter derart, daß nach dem Tode
von Königin Anna die Krone auf die Kurfüstin von Hannover
und deren Erben übergehen sollte.

Diese parlamentarische Festlegung der Thronfolge blieb

nicht ohne Einfluß auf die Prärogative und die sakrosankte
Aura der Monarchie, die weiter in Mitleidenschaft gezogen
wurden. In den Act of Settlement sind einige Bestimmungen
hineingeschrieben worden, welche die Kompetenzen künftiger
Monarchen einschränkten. Sie wurden schon durch die offi-
zielle Bezeichnung „Gesetz zur weiteren Beschränkung der
Krone und zur besseren Sicherung der Rechte und Freiheiten
der Untertanen“ signalisiert, die wohl kaum in einem anderen
monarchischen Staat des damaligen Europa möglich gewesen
wäre.

6

Zu diesen Bestimmungen gehörte, daß fortab Richter

ihr Amt nur verlieren konnten, wenn sie sich etwas zuschul-
den kommen ließen. Sie durften nicht mehr nach Gutdünken
des Monarchen entlassen werden.

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33

IV. Die parlamentarische Monarchie



Mit der Thronbesteigung Georgs I. im Jahre 1715 auf der
Grundlage des Act of Settlement war England vollends, und
zwar in einem doppelten Sinne, parlamentarische Monarchie
geworden. Die Herrschaft der hannoverschen Dynastie in
England beruhte, wenngleich der Erbfolgeanspruch von ihr
stark herausgestrichen wurde, eindeutig auf parlamentarischer
Grundlage; und das Parlament war unentbehrlicher Bestand-
teil des politischen Systems. Dennoch blieben zwei Fragen
offen: die nach dem persönlichen Anteil des Monarchen an
der Regierung und die nach den Formen der Kooperation
zwischen Regierung und Parlament.

Die erste Frage stellte unter Georg I. und Georg II. kaum

ein Problem dar, da diese beiden Monarchen, auf dem engli-
schen Thron noch unsicher und von den durch Frankreich
unterstützten Prätendenten der Stuartdynastie bedroht, mehr
darauf bedacht waren, ihre Position zu behaupten, als eine
aktive politische Rolle zu spielen. Die zweite Schwierigkeit
erfuhr eine politische Lösung durch Robert Walpole, der von
1721 bis 1742 faktisch die Stellung eines Premierministers
einnahm. Walpole gelang es, das politische System zu stabili-
sieren und eine Verklammerung zwischen Regierung und
Parlament herzustellen.

1

Die Stabilisierung erfolgte mit Hilfe einer Ächtung der

Torypartei, die seit ihrer Entstehung Ende der 1670er Jahre
den Gedanken der strikten Erbfolge vertreten, den Thron-
wechsel von 1689 und erst recht dann den Wechsel zur
hannoverschen Dynastie innerlich nur widerstrebend oder
gar nicht gebilligt hatte. Die von Walpole noch bewußt über-
triebene Neigung der Tories zum Stuartprätendenten diente
nach 1715 dazu, sie von der Macht fernzuhalten. England
war zu Walpoles Zeiten, wie man etwas zugespitzt gesagt
hat, ein „Einparteienstaat“ (Plumb). Allerdings waren die
Whigs, die sich auf den Boden der 1688/89 geschaffenen
Verfassungsordnung und der hannoverschen Dynastie stellten

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34

und deshalb die „natürliche“ Regierungspartei waren, in sich
nicht geschlossen.

Die Verbindung zwischen Regierung und Parlament stellte

Walpole her, indem er nicht nur die Wahlen in den von der
Regierung kontrollierten Wahlkreisen unmittelbar beeinflußte
und für die Wahl regierungstreuer Kandidaten sorgte, sondern
darüber hinaus auch einen großen Teil der übrigen Abgeord-
neten interessenmäßig an die Exekutive band. Das wurde
1716 mit der Verlängerung der Legislaturperioden von drei
auf sieben Jahre erleichtert, wodurch Wahlen sehr viel selte-
ner wurden als in den vorangegangenen zwei Jahrzehnten.
Walpole nutzte alles, was die Krone an Ämtern, Würden,
Kontrakten und Pensionen zu vergeben hatte, um die Legisla-
tive zu beeinflussen und zu lenken. Er kontrollierte persönlich
die königliche Patronage, der er viel Zeit und große Aufmerk-
samkeit widmete und die er rücksichtloser sowie methodi-
scher einsetzte, als seine Vorgänger es getan hatten. Auch die
Ernennung der Bischöfe, die im Oberhaus saßen und deswe-
gen für die Regierung wichtig waren, wurde völlig den politi-
schen Interessen untergeordnet. Walpole akkumulierte Ab-
hängigkeiten und Verpflichtungen, so daß er schließlich von
sich sagen konnte, „von ihm hingen mehr Leute ab als jemals
zuvor von einem einzigen Menschen“.

2

Die Beeinflussung des

Parlaments wurde so systematisch betrieben, daß um die Mit-
te des 18. Jahrhunderts 40 Prozent der Unterhausabgeordne-
ten in das Netz der Regierungspatronage einbezogen waren.
Faktisch bedeutete das, weil gerade die von der Regierung
unabhängigen Grafschaftsabgeordneten bei den Parlaments-
sitzungen oft abwesend waren, eine Mehrheit der regelmäßig
anwesenden Mitglieder des Unterhauses.

3

Die Stärke des Sy-

stems des „influence“ und der Regierungspatronage bestand
darin, daß es sich nahtlos mit einer die gesamte Gesellschaft
durchdringenden privaten Patronage verband. Es fügte sich in
die eher vertikal als horizontal gegliederte Gesellschaftsstruk-
tur mit ihren Abhängigkeits- und Verpflichtungsketten ein.

Das System Walpoles, das gelegentlich allzu simpel als blo-

ßer Kauf der Parlamentsmehrheit beschrieben worden ist, war

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35

in Wirklichkeit sehr viel komplizierter und subtiler. Walpole
war sowohl gegenüber den Monarchen als auch gegenüber
den Parlamentariern politisch ungemein geschickt. Er nahm
das Parlament ernst und hat die Abgeordneten niemals ein-
fach kommandieren können. Seine Macht fand zudem, wie
sich etwa beim Scheitern einer Akzisevorlage im Jahre 1733
zeigte, ihre Grenzen am entschieden geäußerten Widerspruch
der Öffentlichkeit und an dem, was die Engländer für ihre
ererbten Freiheiten ansahen.

Daß die Funktionsfähigkeit von Walpoles System außerdem

an bestimmte Bedingungen geknüpft war und die Unsicherheit
der hannoverschen Dynastie zur Voraussetzung hatte, erwies
sich nach der Jahrhundertmitte. Nachdem 1745 der letzte
große, Panik verbreitende Versuch einer Restauration der
Stuartdynastie gescheitert war, konnte Georg III. 1760 als in
seiner Legitimität kaum angefochtener Monarch den Thron
besteigen. Er war nicht mehr primär mit dem Überleben des
Hauses Hannover befaßt, sondern wollte die Monarchie wie-
der wie in den Zeiten der Stuarts zu einem aktiven Faktor in
der Politik machen. Das Problem der persönlichen Herrschaft
des Königs geriet vor allem infolge höchst eigenwilliger Mini-
sterernennungen und eines ohne Erfolgsaussichten hartnäckig
fortgesetzten Krieges in Amerika in England wieder auf die
Tagesordnung und machte in den Augen der nunmehr in die
Opposition gedrängten Whigs die Regierungspatronage zu
einem gefährlichen Instrument des drohenden königlichen
Despotismus. 1782 vorübergehend unter Rockingham wieder
an die Macht gelangt, führten sie unter der Federführung von
Edmund Burke „ökonomische Reformen“ durch, die zahlrei-
che, für die Beeinflussung durch „Korruption“ benutzbare
Ämter abschaffte. Eine Verwaltungsreform unter William Pitt
setzte kurz darauf dieses Werk fort und schmälerte die mate-
rielle Grundlage für die von Walpole angewandte Strategie.

4

Als Ausgleich wirkte zunächst der integrierende Druck des
1793 begonnenen Krieges gegen Frankreich, der mit dem
Eintreten des größeren Teils der Whigs unter Portland in die
Regierung im Jahre 1794 dieser eine so breite Basis verschaff-

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te, wie sie seit langem nicht mehr bestanden hatte. Auf länge-
re Sicht gewährleistete dann die Schaffung eines modernen
Pärteiensystems die Kooperation zwischen Regierung und
Parlament. Die Parteien und die Fraktionsdisziplin schufen die
Verklammerung, die unter Walpole die Patronage hergestellt
hatte.

Das Problem der persönlichen Rolle des Monarchen zeigte

sich noch 1801 an dem Widerstand Georgs III. gegen den
Versuch, die Union mit Irland durch die Gewährung politi-
scher Rechte an Katholiken abzustützen. Der König verhin-
derte nicht nur die Katholikenemanzipation und zwang damit
Pitt zum Rücktritt, sondern er nahm ihm sogar das Verspre-
chen ab, auch in Zukunft dieses Problem nicht wieder anzu-
schneiden. Die persönliche Rolle des Königs in der Politik
hätte sogar zu einem besonders gravierenden Problem werden
können, weil Georg III. sich seit den 80er Jahren einer zu-
nehmenden Popularität erfreute und ein von der englischen
Regierung gegen das revolutionäre Frankreich und Napoleon
systematisch geförderter monarchischer Nationalismus den
König als Loyalitätsfokus in den Mittelpunkt rückte.

5

Die

Gefahren, die darin angesichts des Rollenverständnisses und
der politischen Versiertheit Georgs III. lagen, schwanden
jedoch durch seine geistige Erkrankung. Der König, der schon
vorher mehrmals erkrankt war, wurde von 1810 bis zu sei-
nem Tode im Jahre 1820 permanent regierungsunfähig. Die
Despotismusfurcht, die das England des 17. und 18. Jahrhun-
derts beherrscht hatte – wobei man entweder die Gefahr einer
direkten königlichen Despotie oder die eines ministeriellen
Despotismus auf der Grundlage von Regierungspatronage
drohen sah –, trat im 19. Jahrhundert angesichts des Macht-
schwunds der Monarchie in den Hintergrund.

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37

V. Adel, Bürgertum und Unterschichten



Verfassungsgeschichtlich betrachtet war England seit dem
ausgehenden 17. Jahrhundert eine parlamentarische Monar-
chie. Sozialgeschichtlich gesehen bestand jedoch bis weit ins
19. Jahrhundert hinein faktisch eine auf nahezu monopolarti-
gem Grundbesitz beruhende Adelsherrschaft, die durch eine
stark eingeschränkte, punktuelle politische Partizipation der
übrigen Bevölkerung legitimiert und modifiziert wurde. Das
Parlament setzte sich fast ausschließlich aus Adligen zusam-
men. Der Adel, der beide Häuser des Parlaments besetzte,
machte – wie Ranke in seinem „Politischen Gespräch“ einen
der beiden Dialogpartner sagen läßt – „im Grunde den Staat“
aus.

1

Im Oberhaus saß die „aristocracy“. Im Unterhaus saßen

Angehörige der „gentry“. Ihre Wahl war im lokalen Kontext
zumeist ein Ritual, in dem sich die führenden ansässigen
Adelsfamilien ihren gesellschaftlichen Vorrang und ihr Anse-
hen bestätigen ließen. Dabei erhielt auch das Unterhaus in der
ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts zunehmend den Charakter
eines erblichen Repräsentationsorgans. 1715 gab es von den
558 Abgeordneten 234, deren Väter bereits im House of
Commons gesessen hatten; 1754 war die Zahl auf 294 ange-
stiegen.

2

Manche Unterhaussitze waren auf lange Zeit im

erblichen Besitz einer Familie. Der Eindruck oligarchischer
Herrschaft entstand vor allem dann, wenn Adelsfamilien sich
untereinander arrangierten, auf Gegenkandidaten verzichtet
wurde und der Wahlakt nur noch eine Akklamation darstell-
te. Besonders in den Grafschaften luden die dort sehr hohen
Kosten eines Wahlkampfes zu einer Verständigung zwischen
rivalisierenden Familien oder Gruppen förmlich ein.

Innerhalb der Adelsherrschaft spielte die „aristocracy“ im

18. Jahrhundert eine herausragende Rolle. Sie trug zum Funk-
tionieren des politischen Systems wesentlich bei. Die Hochari-
stokraten waren eine Art von intermediärer Gewalt, „power
brokers“ zwischen der Regierung und den lokal verwurzelten,
aber oft auch bornierten Angehörigen des niederen Adels. Als

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38

Wahlkreispatrone, die den Wahlausgang in vielen „boroughs“
bestimmten, verhalfen sie dazu, der Regierung eine Mehrheit
zu verschaffen. So gebot etwa der Duke of Newcastle in den
1720er Jahren über 16 Unterhaussitze, die er ihr zur Verfü-
gung stellen konnte.

3

Man schätzt, daß 1715 ein Fünftel der

Unterhaussitze von Peers kontrolliert wurde. Bis zum Jahre
1785 verdoppelte sich dieser Anteil.

4

Insgesamt wird man von

einer Bündelung und Kanalisierung von „influence“ durch die
Hocharistokratie sprechen können.

Wenn man berücksichtigt, daß die „aristocracy“ in den

beiden vorausgehenden Jahrhunderten einen relativen Bedeu-
tungsverlust gegenüber der „gentry“ hatte hinnehmen müssen
und während der Englischen Revolution das House of Lords
sogar vorübergehend abgeschafft worden war, sind der Wie-
deraufstieg und die beispiellose Machtkonzentration dieser
kleinen Gruppe wahrhaft erstaunlich. Es gab während des
ganzen 18. Jahrhunderts insgesamt wenig mehr als tausend
Peers, die von 84 Familien gestellt wurden.

5

Es gelang ihnen,

fast alle hohen, einträglichen Ämter und Posten zu besetzen –
selbst in der Kirche, wo der Anteil von Bischöfen nichtaristo-
kratischer Herkunft zwischen dem frühen 17. Jahrhundert
und der Zeit Georgs III. von 25 Prozent auf 4 Prozent sank.
Man hat im Hinblick auf die zumeist sehr lukrativen und oft
überflüssigen oder wenig arbeitsintensiven Ämter, die von
Aristokraten monopolisiert wurden, geradezu von einem
„Magnatenparasitismus“ gesprochen.

6

Die Einnahmen aus

diesen Ämtern trugen dazu bei, daß die Hocharistokratie sich
stärker sozial abschotten konnte als zuvor und die Zahl der
Eheschließungen mit reichen Erbinnen aus anderen Schichten
zurückging. In seinen „Thoughts on French Affairs“ vom
Dezember 1791 konstatierte Edmund Burke, daß die engli-
schen Aristokratie noch nie so exklusiv gewesen sei und so
wenige Peers aus dem Handelsbürgertum gekommen seien
wie um diese Zeit.

7

Man sollte jedoch die Stellung der Hocharistokratie nicht

zu isoliert betrachten. Gerade im Vergleich mit dem euro-
päischen Kontinent und den dort üblichen starken Abstufun-

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39

gen innerhalb des Adels ist es nicht die Gespaltenheit, sondern
eher die relative Geschlossenheit der englischen Führungs-
schichten und ihrer Adelskultur, die ins Auge fällt und
charakteristisch erscheint. Dabei wurde die Homogenisierung
von „aristocracy“ und „gentry“ auf der Grundlage des
Prinzips der Gleichheit aller Gentlemen durch die bessere
Bildung der Landedelleute ermöglicht. Zwar gab es im nie-
deren Adel auch gegen Ende des 18. und zu Beginn des
19. Jahrhunderts eine groteske Unbildung. Gegenüber dem
frühen 18. Jahrhundert waren in der Bildung der „gentry“
jedoch erhebliche Fortschritte gemacht worden. Sie erleich-
terten es den adligen Führungsschichten Englands, sich primär
kulturell zu definieren und von den übrigen Schichten ab-
zusetzen.

8

Daß die dominierende Stellung des englischen Adels ange-

sichts seiner geringen physischen Machtmittel überwiegend
auf eine kulturelle Hegemonie zurückzuführen ist, darin sind
sich so unterschiedliche Historiker wie E. P. Thompson und
J. C .D. Clark einig. Dieser „hegemoniale Stil“ zeichnete sich
nach Thompson durch ein einschüchterndes Imponiergehabe
und theatralisches Auftreten aus, die vor allem die Gerichtsta-
ge charakterisierten. Er zeigte sich aber auch in der Architek-
tur und in der Landschaftsgestaltung.

Der Adel stellte seine beherrschende Position in Gesell-

schaft und Politik architektonisch dar und versuchte, sie der
Natur als Stempel aufzudrücken. Durch Landschaftsgestal-
tung, der manchmal ganze Dörfer zum Opfer fielen, wurde
für Bewohner und Besucher von Country Houses geschickt
der Eindruck eines grenzenlosen Besitztums geweckt. Das
„Big House“ entrückte man den Behausungen gewöhnlicher
Sterblicher; es wurde imposant und dominant gemacht. Seine
zentrale Bedeutung sollte durch die von ihm in verschiedene
Richtungen ausgehenden Alleen versinnbildlicht werden.
Wordsworth hat die adlige Umgestaltung der natürlichen
Umwelt in dem treffenden Bild wiedergegeben, das ganze
Land werde in eine Adelslivree gezwängt.

9

Der Adel mit sei-

ner Macht wurde gleichsam in die Natur eingelassen; seine

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40

Herrschaft sollte dadurch natürlich und selbstverständlich
erscheinen.

Eine der wichtigsten Grundlagen der Adelsmacht in Eng-

land bestand in der Beteiligung an der lokalen Selbstverwal-
tung. Sie ermöglichte das Geltendmachen von Hegemonie, die
Ausübung von Paternalismus und den Nachweis funktioneller
Notwendigkeit. „Selfgovernment durch Honoratioren (‚Gent-
lemen’)“ war nach der treffenden Beobachtung von Max
Weber bis zum letzten Viertel des 19. Jahrhunderts die Signa-
tur des englischen Staates.

10

Zwar ging das Engagement der

adligen Führungsschichten in der Selbstverwaltung der Graf-
schaften vorübergehend zurück. Es erreichte offenbar in den
1730er Jahren seinen Tiefpunkt. Grundherren ließen sich
gern zu dem ehrenvollen Amt eines Friedensrichters ernennen,
übten es aber vielfach nicht aus und überließen die Arbeit
den Pfarrern, die immer häufiger als „Justices of the Peace“
fungierten. Seit den 1770er und 1780er Jahren nahm man
aber seine Pflichten wieder ernster.

11

Grundsätzlich – und

das ist entscheidend – behielt der englische Adel seine poli-
tisch-administrativen Aufgaben. Er ließ sich nicht wie der
französische Adel von der Monarchie in die Funktionslosig-
keit abdrängen. Er erhielt sich seine Daseinsberechtigung und
machte sich dadurch weniger angreifbar als der Adel in
Frankreich.

Weniger angreifbar als in anderen Ländern wurden Adel

und Adelsherrschaft in England noch durch eine Reihe weite-
rer Eigentümlichkeiten, die sie für das Bürgertum ebenso wie
für die Unterschichten erträglicher machten und ihre Langle-
bigkeit erklären. Dazu gehört, daß die Grenzen des Adels
nach unten hin wenig markiert und relativ offen waren.
Rechtlich gehörten die Angehörigen der „gentry“ ohnehin zu
den „commoners“, unterschieden sie sich nicht von den Bür-
gerlichen.

Gegenüber dem Bürgertum war aber vor allem die Tatsache

von entscheidender Bedeutung, daß sich die adligen Ober-
schichten in England seit Beginn der Neuzeit nicht als Krieger,
sondern kulturell als Gentlemen und ökonomisch als Eigen-

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41

tümer definierten. (Eine Ausnahme bildet allenfalls die Zeit
der Kriege gegen das revolutionäre und napoleonische Frank-
reich, in der sich eine stärkere Militarisierung des Adels fest-
stellen läßt.

12

) Die blutsmäßige Herkunft war weniger wichtig

als anderswo; es gab in England keine Ahnenprobe. Was dort
vor allem zählte und Status verlieh, war der Besitz. Der Hi-
storiker Paul Langford spricht sogar von einer „Eigentümer-
gesellschaft“, die sich bereits im England des 18. Jahrhunderts
herausgebildet habe, wobei die Nation durch eine große
Scheidelinie zwischen Eigentümern und Eigentumslosen ge-
trennt worden sei. Eine solche Darstellung erscheint etwas
übertrieben. Sie ebnet die Unterschiede zwischen den ver-
schiedenen Besitzformen sowie die Statusunterschiede zwi-
schen adligen und nichtadligen Eigentümern ebensosehr ein
wie die innerhalb des Adels zwischen „titular aristocracy“
und bloßer „gentry“. Unbestreitbar ist allerdings, daß sich
eine spezifische Eigentumsmentalität entwickelte, die alle
Bereiche durchdrang und auch vor der Kirche nicht haltmach-
te. Selbst in ihr wurde von der Pfarre bis hin zum vermietba-
ren Kirchengestühl alles in Begriffen des Eigentums gefaßt.
Auch die Funktion des Staates wurde primär im Eigentums-
schutz gesehen, und so war es denn nur konsequent, daß viele
staatliche Aufgaben – sogar die Abwehr äußerer Gefahren –
von privater Seite, durch Zusammenschlüsse und Spenden
von Besitzenden, erfüllt wurden.

13

Joanna Innes hat auf die

wichtige Tatsache hingewiesen, daß die englische Gesellschaft
des 18. Jahrhunderts nach dem vorwaltenden Selbstverständ-
nis der Zeitgenossen eine „commercial society“ gewesen ist.
Der deutsche Englandbesucher Justus Moser hat es seinerzeit
auf die etwas unfreundliche Formel gebracht: „Der esprit de
commerce beherrscht den großen Lord, und der Krämer kuckt
aus dem General.“

14

Damit im Zusammenhang stand auch die Brücken zum

Bürgertum und zur bürgerlichen Erwerbsgesinnung schlagen-
de Kommerzialisierung der Landwirtschaft und die starke
Profitorientierung adliger Grundbesitzer, die freilich zumeist
an dem Prinzip der Prestigemaximierung ihre Grenze fand.

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42

Bemerkenswert ist überdies, abgesehen von einer relativ
kurzen Phase des Protests gegen das „monied interest“ gegen
Ende des 17. und zu Beginn des 18. Jahrhunderts, die Bereit-
schaft des englischen Adels zu Anerkennung und Berücksich-
tigung nichtagrarischer Interessen und Eigentumsformen
sowie seine Flexibilität gegenüber den Erfordernissen wirt-
schaftlicher Entwicklung. So wurden 1722 die meisten Ex-
portzölle auf in England hergestellte Produkte abgeschafft
und die Einfuhrzölle beseitigt oder reduziert, mit denen die
für deren Erzeugung erforderlichen, importierten Rohstoffe
belegt worden waren. Der sogenannten „Transportrevolu-
lion“ des 18. Jahrhunderts, die mit dem Bau von Kanälen und
Überlandstraßen die Infrastruktur des Landes wesentlich ver-
besserte, stellte sich der grundbesitzende Adel nicht in den
Weg. Er hat sie vielmehr sogar aktiv gefördert. Das ökonomi-
sche Interesse an einem verbesserten Verkehrsnetz und das
ästhetische Interesse der adligen Grundbesitzer wurden, wenn
sie aufeinandertrafen, zumeist in der Weise ausgeglichen, daß
man einem Kanal in Sichtweite eines Herrensitzes eine elegan-
te Biegung gab oder ihn verschönerte.

15

Auch die Industrielle Revolution selber ist von adliger Seite

nicht behindert worden. Dazu trug die Tatsache bei, daß in
den neuen Industriegebieten die Grundstückspreise stiegen
und die Grundherren davon profitierten. Auch wurde die
Industrialisierung zunächst nur als ein punktueller Vorgang
wahrgenommen und nicht als ein umwälzender Prozeß, der
letztlich die Herrschaft des grundbesitzenden Adels in Frage
stellen mußte.

Von seiten der neuen industriellen Unternehmer erregte die

fortdauernde Herrschaft des Adels lange Zeit keinen Anstoß,
weil er in der erwähnten Weise flexibel und ökonomisch auf-
geschlossen war und sie ihre Interessen nicht verletzt sahen.
Außerdem wurde die Ungleichheit der Repräsentation im
Parlament und die Tatsache, daß bedeutende Städte wie Man-
chester dort nicht repräsentiert waren, durch verschiedene
Faktoren ausgeglichen und in ihren negativen Auswirkungen
abgeschwächt. Die Unterrepräsentation bestimmter Gebiete

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43

wurde zum Teil dadurch gemildert, daß die Abgeordneten
anderer Landesteile in ihnen wohnten oder Landbesitz hatten
und dadurch interessenmäßig mit ihnen verbunden waren.
Auch entsandten Städte, die im Unterhaus nicht repräsentiert
waren, häufig Beauftragte („agents“) nach London, um ihre
Interessen zwar nicht im, aber am Parlament vertreten zu
lassen. Manchester z.B. tat das regelmäßig.

16

Die Interessen

nicht im Parlament vertretener Städte oder Gebiete konnten
schließlich teilweise überdies von den Abgeordneten anderer
repräsentierter Städte oder Gebiete mit gleicher oder ähn-
licher Interessenlage wahrgenommen werden. Der zuletzt
genannte ausgleichende Effekt ist von den Verteidigern des
traditionellen Repräsentationssystems häufig betont und
mit dem Begriff der „virtual representation“ apologetisch
umschrieben worden. In der Tat wäre es ohne die kompen-
sierende Wirkung der genannten Faktoren kaum begreiflich,
daß das unreformierte Parlament in einer Zeit, in der die
Bedeutung dieser Institution immer größer wurde und sich
zugleich erhebliche Veränderungen in der Bevölkerungsver-
teilung und der Wirtschaft vollzogen, noch so lange bestehen
konnte.

Daß Industriestädte im Parlament nicht vertreten waren,

erschien aus der Perspektive der Unternehmer nicht selten
sogar als ein Vorzug, solange ihre Interessen auf andere Weise
berücksichtigt wurden. Diese Einstellung, die der mittelalterli-
chen Haltung nicht unähnlich war – als man sich gelegentlich
das Privileg verleihen ließ, nicht im Parlament vertreten zu
sein –, ist angesichts des oft tumultartigen Charakters von
Wahlen und ihrer langen Dauer kaum verwunderlich. Zwar
hatte ein Gesetz von 1696 als Höchstdauer einen Zeitraum
von 40 Tagen festgelegt, aber das war eine lange Zeitspanne,
und es ist überdies fraglich, ob man sich immer daran hielt.
Auch ein Zeitraum von 15 Tagen, der 1785 gesetzlich als
Höchstdauer für Wahlen festgelegt wurde, konnte wegen der
damit verbundenen Unruhe und dem Alkoholausschank eine
sehr lange und unerwünschte Unterbrechung der Arbeitszeit
darstellen. Den Niedergang der Stadt Taunton mit ihrer

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44

Tuchindustrie führte man sogar darauf zurück, daß dort im
Jahre 1754 eine besonders erbittert umkämpfte Wahl stattge-
funden hatte.

17

Was die große Mehrheit der Bevölkerung unterhalb des

Bürgertums anging, die von den Zeitgenossen zumeist als „the
working poor“ bezeichnet wurde, so gelang ihr gegenüber die
anhaltende Stabilisierung adliger Herrschaft mit relativ gerin-
gen Machtmitteln durch eine Mischung von Einschüchterung
und Nachgiebigkeit vor dem Hintergrund eines erstaunlich
breiten Korpus gemeinsamer Grundüberzeugungen. Es war
freilich eine Stabilität mit anarchisch-gewalttätigen Ein-
sprengseln und einer relativ hohen Toleranz für Unordnung
auf Seiten der Oberschichten.

Zu den gemeinsamen Grundüberzeugungen gehörte in er-

ster Linie die alle Klassen der englischen Gesellschaft verbin-
dende Vorstellung von den unantastbaren Rechten freier
Engländer und der libertären Besonderheit der englischen
Nation. Die nationale „Wir-Identität“ (Elias) wurde vor allem
über das Bewußtsein gemeinsamer Freiheit hergestellt. Das
Freiheitsdenken war gepaart mit einem allgemeinen Mißtrau-
en gegenüber der Macht und einer hohen Empfindlichkeit
gegenüber allem, was als Verletzung englischer Rechte be-
trachtet wurde. Es äußerte sich zumeist in Argwohn oder
Ablehnung gegenüber Veränderungen im Innern, die aufgrund
einer gemeinsamen politischen Grundhaltung von Angehöri-
gen von Oberschichten verstanden und beachtet werden
konnten, selbst wenn sie diese im konkreten Fall nicht teilten.
Die Rhetorik des „freeborn Englishman“ wurde allerdings
auch gelegentlich nach außen gekehrt. Libertäre Parolen
konnten eine aggressive Verwendung finden. So wurde etwa
die Auseinandersetzung zwischen spanischen Behörden und
englischen Kapitänen über die Frage des Durchsuchungsrechts
bei Fahrten nach Südamerika im Frühjahr 1738 von den auf
einen Konflikt hinarbeitenden Kreisen Englands in das li-
bertäre Raster eingeordnet. Sie stellten die Differenzen mit
Spanien als eine Auseinandersetzung zwischen englischer
Freiheit und ausländischem Absolutismus dar, und die Losung

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45

„keine Durchsuchung“ wurde zu einem freiheitlichen
Schlachtruf.

18

Grundsätzlich läßt sich feststellen, daß dieses

freiheitszentrierte Selbstbewußtsein im England des 18. und
19. Jahrhunderts eine xenophobe und nationalistische Kom-
ponente hatte.

Die Prinzipien „freier Engländer“ und die mit ihnen ver-

knüpften Vorurteile der Bevölkerung wurden zumeist von den
Oberschichten entweder geteilt oder berücksichtigt, selbst
wenn dies umständlich und kostspielig war. So sind z.B.
Soldaten bis gegen Ende des 18. Jahrhunderts sehr mühsam
und friktionsträchtig in Wirtshäusern oder Privatquartieren
untergebracht worden, weil Kasernen mit dem Militarismus
und dem Verlust der Freiheit assoziiert wurden. (Erst in der
Zeit der Kriege gegen das revolutionäre und napoleonische
Frankreich, als man das Heer von einer möglicherweise radi-
kalisierten Bevölkerung fernhalten wollte, wurden in England
Kasernen gebaut.

19

) Ebenso unterließ man es, Verbrecher zu

Strafarbeit oder langen Gefängnisstrafen zu verurteilen, die
als eine Form der Versklavung angesehen wurden. Auch be-
fürchtete man, das Gefängnispersonal könnte einem künftigen
Tyrannen zur Unterdrückung der Nation zur Verfügung ste-
hen. Lieber externalisierte man das Problem und deportierte
Verbrecher in die amerikanischen Kolonien, was auch am
billigsten war und wofür ein Gesetz von 1718 die rechtliche
Grundlage geschaffen hatte.

20

Auch der den Engländern so

verhaßte Militarismus wurde zum großen Teil externalisiert,
indem man Truppen außerhalb Englands stationierte und
überdies in Kriegszeiten auf ausländische Hilfstruppen zu-
rückgriff sowie fremden Fürsten für ihre Kriegführung Subsi-
dien zahlte. Das Bemühen, den Militarismus in England zu
vermeiden, förderte ihn in anderen Staaten.

Bei der Marine, für die man überwiegend auf die eigenen

Kräfte zurückgreifen mußte, aber die Einrichtung einer Flot-
tenreserve nach französischem Muster offenbar für unenglisch
und freiheitsbedrohend hielt, griff man zu dem Mittel des
Pressens. Mit der Aufgabe des „impressment“ beauftragte
Abteilungen der Flotte ergriffen in Kriegszeiten auf offener

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46

Straße Seeleute und andere Männer oder holten sie von den
Handelsschiffen. Für sie galt die berühmte „Freiheit eines
Engländers“ nicht! Viele von ihnen kehrten niemals mehr
nach Hause zurück. Man schätzt, daß im 17. und 18. Jahr-
hundert fast die Hälfte der gepreßten Matrosen auf See
starb.

21

Zu einem ähnlich paradoxen Ergebnis wie der Antimilita-

rismus führte die alle Schichten der englischen Bevölkerung
gemeinsame Abneigung gegen eine Polizei, die man als frei-
heitsbedrohend empfand und als eine militärische Einrichtung
ablehnte. Der Verzicht auf eine Polizei bedeutete, daß man
sich einerseits immer mehr auf den Abschreckungseffekt ex-
trem harter Strafen stützte und andererseits trotz der in Eng-
land so ausgeprägten antimilitaristischen Gesinnung zur Auf-
rechterhaltung von Ruhe und Ordnung dann doch sehr rasch
auf das Heer zurückgreifen mußte. Erst 1829 wurde auf der
Grundlage eines Metropolitan Police Act von dem damaligen
Innenminister Robert Peel zunächst für London eine Polizei
aufgestellt (bei der man im übrigen durch die Art ihrer Be-
kleidung sorgfältig jede Ähnlichkeit mit dem Militär ver-
mied).

22

Obwohl danach die Einrichtung einer Polizei auf

andere Gebiete ausgedehnt wurde, bezeichnete der englische
Kriegsminister noch 1891 in einem Memorandum „die effek-
tive Unterstützung der zivilen Gewalt in allen Teilen des Ver-
einigten Königreiches“ als erste Aufgabe der Armee.

23

Eine weitere, schichtenübergreifende Gemeinsamkeit im

England des 18. Jahrhunderts war das ausgeprägte Bewußt-
sein, eine protestantische Nation zu sein. Dabei verband die
Religion bzw. das religiöse Vorurteil in besonderem Maße
Ober- und Unterschichten miteinander. Bei ihnen bestand
vielfach eine Abneigung gegen die außerhalb der anglikani-
schen Kirche stehenden Nonkonformisten, die zumeist den
Mittelklassen angehörten. Der Adel hatte sich weitgehend mit
dem Anglikanismus identifiziert. Die Nonkonformisten waren
vielen Adligen auch politisch suspekt, weil man sie mit der
Verantwortung für die Englische Revolution belastete und
republikanischer Neigungen verdächtigte. Zum Teil wurden

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47

sie zu Beginn des 18. Jahrhunderts von Angehörigen der adli-
gen Oberschichten auch wegen ihrer Verbindung mit der
Finanzwelt abgelehnt. Innerhalb der Unterschichten spielte
dieses Motiv bei der Ablehnung der Nonkonformisten eben-
falls eine Rolle. Vor allem aber waren sie bei den unteren
Klassen deshalb verhaßt, weil sie den alten puritanischen An-
spruch, die Bevölkerung auch gegen deren Willen moralisch
zu „reformieren“, nie ganz aufgegeben hatten.

Das wichtigste Bindemittel zwischen Ober- und Unter-

schichten bildete der soziale Paternalismus des Adels. Er
konnte von Überzeugung, von Berechnung oder einer Mi-
schung von beiden bestimmt sein. Was aber auch immer die
Motive im einzelnen waren – die paternalistische Haltung
vieler Adliger gab den Unterschichten weithin das Gefühl, daß
man sich ihrer Nöte annahm. Darüber hinaus gab es in Eng-
land die seit Elisabeth gesetzlich vorgeschriebene Armenfür-
sorge der Gemeinden, die ein gewisses soziales Sicherheitsnetz
darstellte. Das Poor Law war eine Art von KoUektivpaterna-
lismus. Selbst ein marxistisch beeinflußter Historiker wie E. P.
Thompson gelangt zu der Feststellung: „Im allgemeinen wa-
ren die englischen Armen durch Armengesetze und Wohltä-
tigkeit vor direktem Verhungern geschützt.“

24

Außerdem gab es eine Art irregulärer Partizipation der von

der förmlichen Teilhabe am politischen Prozeß ausgeschlosse-
nen Bevölkerungsteile in Gestalt von Tumulten („riots“). Mit
ihnen ließ sich eine gewisse Berücksichtigung ihrer Belange
erzwingen. So wie das Bürgertum seine Interessen im Parla-
ment geltend machen konnte, obwohl viele Städte überhaupt
nicht repräsentiert waren und es kaum bürgerliche Abgeord-
nete gab, so konnten auch die ganz überwiegend nicht wahl-
berechtigten und im Unterhaus über keine Abgeordneten
verfügenden Unterschichten ihren Interessen Ausdruck verlei-
hen. Den englischen Staat zur Zeit Walpoles, hat der engli-
sche Historiker G. M. Trevelyan treffend bemerkt, könne
man als „aristocracy tempered by rioting“ definieren – als
eine durch Volkstumulte gemäßigte oder gebremste Adels-
herrschaft.

25

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48

Im England des 18. Jahrhunderts lassen sich die verschie-
densten Formen von Krawallen nachweisen. Es gab „riots“
gegen hohe Lebensmittelpreise, gegen Gebühren für die Be-
nutzung von Überlandstraßen, gegen Einhegungen, gegen das
Pressen von Matrosen für die Marine. Krawalle entstanden
auch bei Lohnkonflikten, bei der Rekrutierung von Soldaten,
bei der Verhaftung von Schmugglern und Wilddieben. Es gab
überdies Tumulte bei Wahlen, die zumeist mit dem Ziel ange-
stiftet wurden, die Wähler eines Kandidaten vom Wahlakt
fernzuhalten. Sie konnten aber auch dadurch ausgelöst wer-
den, daß die Bevölkerung sich auf die eine oder andere Art
provoziert fühlte.

„Food riots“ waren am häufigsten und bildeten mehr als

die Hälfte der Tumulte im England des 18. Jahrhunderts. Sie
sollten die Behörden und die Besitzenden dazu zwingen, gegen
Preissteigerungen vor allem bei Getreide, Mehl und Brot vor-
zugehen und zumal die Kornausfuhr zu verhindern. Sie hatten
durchaus einen ökonomischen Sinn zu einer Zeit, als England
Getreide exportierte und sogar staatliche Zuschüsse bei Ge-
treideexporten gezahlt wurden. Schätzt man doch, daß durch
die den Grundherren und Farmern zugutekommenden Ex-
portprämien der Getreidepreis im Inland um bis zu 19 Pro-
zent erhöht wurde.

26

In der Regel verliefen „riots“ nicht chaotisch und undiszi-

pliniert. Sie waren vielmehr zumeist gut organisiert, verfolg-
ten überwiegend sehr präzise Ziele, wollten etwas Bestimmtes
erreichen oder verhindern. Sie sollten den Oberschichten, den
Friedensrichtern oder auch dem Parlament mit oft symbol-
trächtigen Handlungen vor Augen führen, was die Akteure als
unzumutbar empfanden und wo sie auf Unterlassung oder
Abhilfe bestanden.

„Riots“ hatten für das bestehende System den Vorteil, als

Warnsignale von Seiten der Unterschichten zu fungieren und
Grenzen des Zumutbaren deutlich zu machen. Sie waren
Ventil und Meinungsumfrage zugleich. Sie gaben den Ober-
schichten die Möglichkeit, bei der Abhilfe von Beschwerden
eine paternalistische Rolle zu spielen. Sie vermittelten im Falle

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49

des Erfolges der vom förmlichen politischen Prozeß ausge-
schlossenen Bevölkerung das Gefühl, ihren Forderungen Gel-
tung verschaffen zu können und eine Berücksichtigung zu
finden.

Der Nachteil der Partizipation durch Krawalle bestand

darin, daß Protestaktionen einen gänzlich zerstörerischen
Charakter annehmen konnten. Das geschah bei den sog. Gor-
don Riots von 1780 in London, die denn auch die Toleranz
der Oberschichten gegenüber Tumulten ganz erheblich ver-
minderten. Außerdem hatte die Partizipation durch Krawalle
für die weitere Entwicklung Englands zwei negative Folgen.
Zum einen wurde dadurch trotz mancher verbindender ideo-
logischer Gemeinsamkeiten eine schroffe Zweiteilung der
englischen Gesellschaft gefördert. Eine Elite, die herrschte und
im Parlament die Gesetze machte, und die Masse der Bevölke-
rung, die sich mit Gewalt oder Gewaltandrohung gegen eine
Verletzung ihrer Rechte und Interessen zur Wehr setzte, stan-
den sich gegenüber. Die zweite negative Folge der Symbiose
von Elitehandeln und korrigierender Volksaktion bestand
darin, daß damit bei den englischen Unterschichten die Per-
spektive einer konstruktiven Neuordnung blockiert und eine
rein defensive Mentalität gefördert wurde.

Sämtliche Historiker, die sich mit den Volksaktionen des

18. Jahrhunderts beschäftigt haben, verweisen auf deren
überwiegend defensiven Charakter. Andererseits erblicken
Forscher, die sich mit den heutigen Problemen Englands be-
fassen, vielfach eine seiner Schwächen darin, daß es eine Kul-
tur des Abwehrens und Bewahrens und nicht der aktiven
Gestaltung besitze. Diese Kultur erscheint besonders bei der
Arbeiterschaft sehr ausgeprägt. „Es haftet den Werten der
Arbeiterklasse etwas merkwürdig Passives an“, konstatiert
Ralf Dahrendorf.

27

Auch Richard Hoggart, der selber dem

Arbeitermilieu entstammt, betont, wie stark die Arbeiter von
einem Defensivreflex bestimmt sind und jedem Wandel ab-
lehnend gegenüberstehen.

28

Ebenso hat unlängst Will Hutton

auf die „Tradition einer rein oppositionellen Arbeiterklassen-
kultur“ verwiesen, „die nur mit den Bedingungen am Arbeits-

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platz und alten Erinnerungen an den Widerstand gegen Aus-
beutung“ befaßt ist.

29

Der Historiker muß sich fragen, inwie-

weit nicht bereits das Zusammenspiel von agierender Elite
und reagierenden Unterschichten im 18. Jahrhundert Verhal-
tensweisen eingeschliffen hat, die bis heute nachwirken.

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51

VI. Die erweiterte Adelsherrschaft


Die Herrschaft der traditionellen englischen Elite ist gegen
Ende des 18. Jahrhunderts zwar zunächst von der Französi-
schen Revolution und einer von ihr in England ausgelösten
radikalen Bewegung herausgefordert worden; letztlich konnte
jedoch die um diese Zeit mit den walisischen, schottischen
und anglo-irischen Führungsschichten zu einer britischen Elite
zusammenwachsende englische Führungsschicht ihre Stellung
durch eine insgesamt erfolgreiche Kriegführung sowie den Ab-
schreckungseffekt einer entgleisten Revolution in Frankreich
sogar noch festigen. Großbritannien entging überdies trotz
eines 22 Jahre dauernden Krieges dem Zwang zur „defensiven
Modernisierung“ (H.-U. Wehler), da es dem Ansturm des
revolutionären und napoleonischen Frankreich weniger un-
mittelbar ausgesetzt war als die kontinentaleuropäischen Län-
der. Auch erlaubte es ihm ausgerechnet seine ökonomische
Progressivität, an dem alten Militärsystem als dem hervorste-
chendsten Merkmal des Ancien Regime festzuhalten; seine
finanzielle Überlegenheit machte es möglich, auf eine Um-
wandlung des kostspieligen Söldnerheeres mit seiner aufwen-
digen Logistik zu verzichten.

1

Die Institutionen des Landes

erfuhren in dieser Zeit mächtiger Erschütterungen und großer
Reformen in Europa keine Veränderung. Allenfalls läßt sich
davon sprechen, daß unter dem Eindruck des Schicksals des
französischen Adels die Elite ihren Habitus änderte – aktiver,
religiöser und moralischer wurde.

2

Der Reformgedanke, der in England bereits wegen seiner

Verknüpfung mit der Revolution um die Mitte des 17. Jahr-
hunderts belastet gewesen war, ist durch die Französische
Revolution zudem ein weiteres Mal diskreditiert worden. Jede
Veränderung wurde jetzt suspekt und konnte als revolutionär
gebrandmarkt werden. Jeder alte Mißstand erschien durch die
Tradition geheiligt und zur Aufrechterhaltung der Ordnung
unentbehrlich. Jede abweichende Meinung kam in den Ge-
ruch „französischer Prinzipien“.

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52

Der Gedanke einer Reform des Parlaments, um die Sitz-

verteilung im Unterhaus der Verteilung von Bevölkerung
und Reichtum im Land anzupassen, hatte in den 70er und
80er Jahren des 18. Jahrhunderts innerhalb des Adels viele
Befürworter gehabt. Selbst William Pitt hatte noch nach
seiner Ernennung zum Premierminister im Parlament 1785
einen entsprechenden Vorschlag eingebracht. Gegen Ende des
18. und in den beiden ersten Jahrzehnten des 19. Jahr-
hunderts war der Reformgedanke bei den Oberschichten
durch die Ereignisse in Frankreich jedoch weithin diskredi-
tiert. Eine plebejische Reformbewegung, die sich infolge der
Wirtschaftskrise nach 1815 entwickelte und deren Haupt-
forderungen das allgemeine Wahlrecht sowie jährliche Par-
lamentswahlen bildeten, blieb ebenso erfolglos, wie es die
radikalen Vereine zu Beginn der 1790er Jahre gewesen waren.
Sie scheiterte nicht nur an der (relativ maßvollen) Repressi-
onspolitik des Staates, sondern auch an dem konjunkturellen
Aufschwung der 1820er Jahre, der ihr den Antrieb wirt-
schaftlicher Unzufriedenheit entzog.

Im übrigen ist es auffällig, wie sehr die plebejischen Refor-

mer nach den napoleonischen Kriegen, ähnlich wie vor ihnen
schon die demokratischen Levellers während der Englischen
Revolution und die englischen Radikalen zur Zeit der Fran-
zösischen Revolution, in der Wahlrechts- und Parlamentsre-
form ein Allheilmittel erblickten. Selbst die Chartistenbewe-
gung der 1830er und 1840er Jahre, die sich überwiegend auf
die Arbeiterschaft stützte und deren „Volkscharter“ von 1838
das allgemeine Wahlrecht, die geheime Stimmabgabe, gleiche
Wahlkreise, jährliche Wahlen, Abschaffung der Eigentums-
qualifikationen für Abgeordnete und Zahlung von Diäten
forderte, hat trotz einer antikapitalistischen Rhetorik die
politische Stoßrichtung des älteren Radikalismus im wesentli-
chen beibehalten. Das englische Volk, spottete der dem Par-
lamentarismus und dem Wahlakt nicht sonderlich geneigte
Publizist Thomas Carlyle in seinem 1839 veröffentlichten
Aufsatz über den Chartismus, erliege seit langem immer wie-
der der Vorstellung, daß Reformen in diesem Bereich alle

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53

Übel heilen könnten. Für die Engländer sei das Wahlrecht zu
einer fixen Idee geworden.

3

In der Konzentration selbst der überwiegend von sozialer

Not angetriebenen plebejischen Bewegungen auf eine Reform
des Parlaments und des Wahlrechts schlug sich einerseits die
lange Zeit nicht ganz falsche Diagnose nieder, daß wirt-
schaftliche Übel überwiegend politische Ursachen hatten,
durch Korruption, überflüssige Kriege und übermäßige Steu-
ern entstanden, von Monopolisten, Sinekuristen und Finan-
ziers verursacht wurden. Andererseits sprach daraus aber
auch ganz offensichtlich dieselbe Parlamentszentriertheit, die
für die Oberschichten charakteristisch war und die ein
Merkmal der englischen politischen Kultur darstellt. Diese
starke Ausrichtung auf das Parlament wird schlaglichtartig
daran deutlich, daß der während des amerikanischen Unab-
hängigkeitskrieges amtierende Premierminister Lord North
bereits als Kind von acht Jahren einen Brief schrieb, in dem er
auf eine Wahl zum Unterhaus einging. Sie zeigt sich etwa
auch an der Tatsache, daß bei der berühmten Gründungsver-
sammlung der Liberalen die Teilnehmer in Willis’s Room am
6. Juni 1859 gewohnheitsmäßig eine dem Unterhaus entspre-
chende Sitzordnung herstellten und in der Mitte des Saals ein
Oval freiließen, obwohl der Raum überfüllt war.

4

Das Wirtschaftsbürgertum war an der Agitation für eine

Parlamentsreform lange Zeit unbeteiligt. In den 1820er Jah-
ren wurden die Mittelschichten jedoch aktiv. Ihnen gelang,
was dem plebejischen Radikalismus der Nachkriegsjahre nicht
gelungen war und was auch später dem Chartismus nicht
gelingen sollte. Sie erzwangen eine Reform des politischen
Systems und ihre Aufnahme in die „parliamentary classes“.
Der plebejische Radikalismus hatte, selbst wenn er sich auf
politische Reformforderungen beschränkte und sich aus-
drücklich auf den Boden der Verfassung stellte, stets den Ge-
ruch einer sozialen Gefahr. Das traf für die bürgerliche Re-
formbewegung nicht zu, selbst wenn sie mit der Revolutions-
drohung arbeitete.

Daß bürgerliche Gruppen in den 1820er Jahren die Forde-

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54

rung nach einer Parlamentsreform erhoben, hatte mehrere
Gründe. Wichtig war, daß die abschreckende Wirkung der
Französischen Revolution mit zunehmender zeitlicher Entfer-
nung nachließ. Die von ihr erzeugte „Reformblockade“ wur-
de überwunden. Auch war das Selbstbewußtsein des Bürger-
tums gegenüber den grundbesitzenden Schichten durch seinen
wachsenden Wohlstand gestärkt worden. Zudem beurteilte
die nationalökonomische Theorie die Grundeigentümer jetzt
kritischer. Ricardo konstatierte in der denkbar schroffsten
Weise: „Das Interesse der Grundherren ist stets dem Interesse
jeder anderen Klasse der Gemeinschaft entgegengesetzt.“

5

Am

wichtigsten war aber, daß die fortschreitende Industrialisie-
rung das Mißverhältnis zwischen Bevölkerungs- und Reich-
tumsverteilung auf der einen und der Sitzverteilung im Unter-
haus auf der anderen Seite immer größer gemacht hatte. Die
Industriestädte erlebten in den 1820er Jahren ein besonders
rapides Bevölkerungswachstum. Manchester, Birmingham,
Leeds und Sheffield erhöhten ihre Einwohnerzahl zwischen
1821 und 1831 um mehr als 40 Prozent! Das alte Repräsen-
tativsystem war schließlich für eine große Zahl von Zeitge-
nossen, die um 1830 die Industrielle Revolution überhaupt
erstmals als einen umwälzenden und unumkehrbaren Ge-
samtvorgang erkannten, unerträglich geworden.

6

Das Problem bestand jedoch darin, wie man das unre-

formierte Parlament dazu bringen konnte, sich zu refor-
mieren. Eine Chance dafür bot die nach einer Phase der
parteipolitischen Konturenlosigkeit allmählich erfolgende
Wiederherstellung eines Zweiparteiensystems mit seiner poli-
tisch-ideologischen Konkurrenz und der Suche nach Wett-
bewerbsvorteilen gegenüber dem Rivalen. Die Whigs, die
1797 einen radikalen Reformvorschlag im Parlament einge-
bracht hatten, deren Reformeifer dann aber erlahmt war,
nahmen sich der Forderung nach einer Parlamentsreform von
neuem an. Dazu trug die Tatsache bei, daß sie mit nur zwei
kurzen Unterbrechungen fast ein halbes Jahrhundert auf die
Opposition beschränkt gewesen waren und deshalb kaum
mehr besondere Zuneigung zum alten System empfinden

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55

konnten.

7

Außerdem waren sie, nachdem der alte Schlachtruf

vom Kampf gegen den „geheimen Einfluß“ der Krone an
Überzeugungskraft verloren hatte, auf der Suche nach einer
neuen politischen Daseinsberechtigung. Sie boten sich ange-
sichts der Forderungen von bürgerlicher Seite als Partei des
Klassenkompromisses sowie als ausgleichend-stabilisierendes
Element zwischen den Kräften der Beharrung und den Kräften
der Veränderung an.

8

Eine Parlamentsreform konnte in

Übereinstimmung mit der Whig-Interpretation der englischen
Geschichte als eine der für England charakteristischen, gra-
duellen Korrekturen dargestellt werden, die eine erforderliche
Adaption an veränderte Bedingungen ermöglichten und die
Grundprinzipien der Verfassung durch Veränderung ihrer
„untergeordneten Teile“ aufrechterhielten.

Nachdem das Parlament bereits 1821 der Gemeinde Gram-

pound in Cornwall wegen Korruption das Recht auf Reprä-
sentation aberkannt, ihre beiden Sitze der Grafschaft Yorkshi-
re zugeschlagen hatte und auch durch die Abschaffung der die
nichtanglikanischen Protestanten sowie die Katholiken dis-
kriminierenden Gesetze in den Jahren 1828 und 1829 eine
Bresche in die alte Ordnung geschlagen worden war, schritt
die 1830 von dem Whigpolitiker Lord Grey gebildete Regie-
rung zu einer Reform des Repräsentativ- und Wahlsystems.
Die Periode zwischen der Einbringung der ersten Fassung der
Reformbill durch Lord John Russell am 1. März 1831 und
der Unterzeichnung des Reform Act durch den König am
7. Juni 1832 war politisch außerordentlich bewegt. Es gab
eine Parlamentsauflösung mit Neuwahlen, einen vorüberge-
henden Rücktritt der Regierung Grey, nicht unerhebliche
Ausschreitungen und Zerstörungen in einigen Teilen des Lan-
des, zwei Neufassungen der Reformbill und schließlich die
dem Monarchen abgerungene Bereitschaft zum Pairsschub,
die das Oberhaus zum Einlenken brachte. Das Ergebnis war
eine „Halbrevolution“ (Bagehot), die zwar das Repräsentativ-
und Wahlsystem einschneidend veränderte, aber die gesell-
schaftliche Machtverteilung im wesentlichen unangetastet
ließ.

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56

Der Reform Act von 1832 fügte den etwa 440 000 Wahlbe-

rechtigten in England und Wales ca. 200 000 hinzu, was eine
Steigerung von 45 Prozent bedeutete. (Die Vergrößerung der
Zahl der Wahlberechtigten, die durch ein entsprechendes
Reformgesetz in Schottland erfolgte, war ungleich höher.)
18,4 Prozent der erwachsenen englischen Männer waren
nunmehr stimmberechtigt.

9

Wählen durften alle diejenigen,

die ein Haus besaßen oder gemietet hatten, das steuerlich mit
zehn Pfund im Jahr veranschlagt wurde, und die die Steuern
dafür selber abführten. Die Unterschichten, die in einigen
„boroughs“ vor 1832 das Wahlrecht zum Parlament besessen
hatten, waren nunmehr von der politischen Partizipation ganz
ausgeschlossen. Das erbitterte diejenigen Teile der Arbeiter-
schaft, die die bürgerliche Reformbewegung unterstützt hat-
ten, und bildete ein wesentliches Antriebsmoment für die
Chartistenbewegung der 1830er und 1840er Jahre.

Die Neuverteilung der Unterhaussitze durch den Reform

Act von 1832 bedeutete eine Stärkung des städtisch-bürger-
lichen Elements bei der Repräsentation. 56 „boroughs“ waren
im Unterhaus nicht mehr vertreten, dafür wurden 42 neue
„boroughs“ im Parlament repräsentiert. Diese Umverteilung
bedeutete jedoch keinesfalls einen überwältigenden Sieg des
Bürgertums. Das Gewicht der alten ländlichen Führungs-
schichten wurde in einigen Punkten sogar noch verstärkt. Das
geschah einerseits durch die Erhöhung der Zahl der (von
ihnen beherrschten) Grafschaftssitze, andererseits durch eine
„Reagrarisierung“ der „counties“. „Boroughs“, die eine eige-
ne Repräsentation erhielten, wurden aus den umliegenden
Grafschaften herausgenommen, die infolgedessen einen länd-
licheren Charakter bekamen. Sie waren dadurch der Kontrolle
durch die „gentry“ stärker unterworfen als vorher.

Der grundherrliche Einfluß wurde außerdem durch die

„Chandos Clause“ verstärkt, die der Reformbill hinzugefügt
worden war. Sie verlieh auch solchen Pächtern, die keine
langfristigen Pachtverträge besaßen, das Wahlrecht in den
Grafschaften. Dadurch wurde eine Gruppe, die von den
Grundbesitzern besonders abhängig war und deren Wahlver-

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57

halten bei der nach wie vor offenen Stimmabgabe kontrolliert
werden konnte, den Wahlberechtigten hinzugefügt.

In Anbetracht der erwähnten positiven Auswirkungen des

Reform Act für die Grundherren läßt sich mit einiger Berech-
tigung die Ansicht vertreten, daß deren politische Macht 1832
nicht nur nicht geschwächt, sondern sogar gestärkt wurde.
Auf jeden Fall wird man von einer Konservierung und Festi-
gung des bestehenden Herrschaftssystems sprechen können.
Genau dies lag in der Absicht der Whigs und wurde von ihnen
auch offen ausgesprochen. Der Historiker Macaulay, ihr re-
degewaltiger Wortführer im Unterhaus, stellte seine große
Rechtfertigung der Reformbill vom 2. März 1832 unter das
zusammenfassende Motto: „Reform, that you may preserve.“
Macaulays Rede macht überaus deutlich, daß es das Ziel der
Reformvorlage war, die Mittelschichten wiederzugewinnen,
zufriedenzustellen und dauerhaft zu binden, womit sie als
Stützen der bestehenden Ordnung fungieren konnten.

10

Hier

sollte gleichsam im Großen geschehen, was die traditionellen
Führungsschichten bei einzelnen Bedrohungen von Ruhe und
Ordnung im Kleinen schon vorher oft praktiziert hatten: die
Hinzuziehung von Angehörigen des Bürgertums. George Eliot
läßt denn auch in ihrem Roman „Felix Holt“ einen radikalen
Arbeiteragitator über die Reformbill sagen, sie sei „nichts
anderes als das Einschwören von Hilfspolizisten, um die Ari-
stokraten sicher ihr Monopol behaupten zu lassen.“

11

Und

der Führer der plebejischen Reformbewegung nach 1815,
Hunt, urteilte recht zutreffend, mit der Reformbill sollten die
Mittelklassen kooptiert, die morschen Institutionen des Lan-
des gefestigt und die Whigs in die Lage versetzt werden, „die
Regierung so weit wie möglich auf die alte Weise fort-
zuführen.“

12

Die konservative Intention der Reformvorlage kommt nicht

zuletzt in der Erwartung der Whigs zum Ausdruck, sie werde
endgültig oder jedenfalls für eine sehr lange Periode gültig
sein. Macaulay schrieb 1831 an einen Freund, eine Reform
des reformierten Parlaments werde hoffentlich erst in der Zeit
ihrer Enkel nötig werden.

13

Eine solche Erwartung verkannte,

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58

daß der Wettbewerbsdruck des Parteiensystems, der bereits
dem Gesetz von 1832 den Weg bereitet hatte, noch ungleich
wirksamer werden mußte, nachdem der Bann einmal gebro-
chen war. Tatsächlich rückte dann knapp zwei Jahrzehnte
nach dem ersten Reform Act „die weitere Demokratisierung
zu einem Hauptthema des Wettlaufs zwischen den Parteien
um Zustimmung auf“.

14

Es kam, nach fehlgeschlagenen An-

läufen von beiden Seiten, 1867 zu einem zweiten Reform Act,
der aufgrund der Konkurrenzsituation radikaler ausfiel, als
die meisten Abgeordneten es wünschten. Er gab in den
„boroughs“ nicht nur den steuerzahlenden Haushaltsvorstän-
den, sondern selbst Untermietern das Wahlrecht, wenn sie
mehr als zehn Pfund Miete im Jahre zahlten. Die Anzahl der
Wahlberechtigten in England und Wales wurde durch das
neue Gesetz mehr als verdoppelt.

15

Auch der zweite Reform Act bedeutete jedoch nicht das

Ende der Adelsherrschaft, die erst im letzten Viertel des
19. Jahrhunderts zu zerbröckeln begann. Regierung und Par-
lament verloren nur allmählich ihren adligen Charakter (der
in der Armee und im auswärtigen Dienst am längsten erhalten
blieb). Die Regierung Grey, die den Reform Act von 1832
durchgesetzt hatte, war ihrer Zusammensetzung nach die
aristokratischste Regierung gewesen, die England seit dem
18. Jahrhundert gehabt hatte. Das 1859 von Palmerston
gebildete Kabinett setzte sich aus sieben Peers, zwei Söhnen
von Peers und drei Baronets, aber nur drei Ministern ohne
Adelstitel zusammen. Noch im Jahr 1867 stellten die Han-
dels-, Industrie- und Schiffahrtsinteressen nur 122 Abgeord-
nete im Unterhaus; mehr als 500 Abgeordnete waren dagegen
Vertreter der grundbesitzenden Schichten. 326 Mitglieder des
House of Commons waren überdies verwandtschaftlich direkt
mit der Hocharistokratie verbunden, die im House of Lords
ohnehin ihr eigenes Repräsentationsorgan besaß.

16

Auch die

Parteien behielten noch lange Zeit ihren Adelscharakter, ob-
wohl sich allmählich moderne Parteibezeichnungen durchsetz-
ten, aus den Whigs Liberale und den Tories Konservative
wurden. Die Liberalen waren die Partei, in der nach wie vor

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59

die Mitglieder der großen aristokratischen Whigfamilien den
Ton angaben. Die Konservativen waren vor allem die Partei
der „gentry“.

Die politische Dominanz der Grundbesitzer wurde geradezu

als Verfassungsmerkmal des Landes betrachtet. Man redete
von der „territorial constitution“ Englands. Der Konservative
Politiker Disraeli sprach 1848 von der aristokratischen
Grundordnung („aristocratic settlement“) des Landes, die es
zu erhalten gelte. Noch 1864 konnte der Premierminister
Palmerston schreiben: „Nach unseren gesellschaftlichen Ge-
wohnheiten und unserer politischen Organisation ist der Be-
sitz von Land direkt oder indirekt die Quelle von politischem
Einfluß und politischer Macht.“

17

Daß sich ein solches Verfassungsverständnis und die ihm

entsprechende faktische Dominanz der grundbesitzenden
Führungsschichten solange behaupten konnten, ist auf eine
Reihe von Ursachen zurückzuführen. Es war die Folge der
weiterhin sehr starken ökonomischen Stellung des Adels, einer
Verringerung der Anstößigkeit adliger Herrschaft, einer Be-
rücksichtigung von Massenstimmungen durch Angehörige der
Führungselite sowie des Gefühls der Sympathie für bürgerli-
che, zum Teil sogar für plebejisch-radikale Forderungen.

Betrachtet man zunächst das ökonomische Fundament der

britischen Adelsherrschaft im 19. Jahrhundert, so war diese
weniger anachronistisch, als man meinen könnte. In ihr spie-
gelte sich nicht zuletzt die Tatsache wider, daß die Landwirt-
schaft noch große ökonomische Bedeutung besaß und sich der
überwiegende Teil des Vermögens in den Händen von
Grundbesitzern befand.

18

Die geringe Zahl von Unternehmern

im House of Commons verwies überdies auf den Vorteil, den
adlige Muße für eine politische Tätigkeit bot, sowie auf die
Schwierigkeit für Angehörige des Bürgertums, zugleich im
Wirtschaftsleben und in der Politik aktiv zu sein.

Daß die Herrschaft der traditionellen grundbesitzenden

Schichten weniger angreifbar wurde, war in erster Linie auf
die Abschaffung der Getreideschutzzölle im Jahre 1846 zu-
rückzuführen. Der Konservative Premierminister Sir Robert

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60

Peel, der die Initiative zur Beseitigung der „corn laws“ ergriff
und darüber seine Partei spaltete, wollte ganz bewußt die
Aristokratie von ihrer gefährlichen Verbindung mit einem
selbstsüchtig erscheinenden Agrarprotektionismus befreien.
Sie sollte beweisen, daß sie von übergeordneten Gesichtspunk-
ten geleitet wurde, sich am nationalen Interesse orientierte
und der von ihr regierte Staat bereit war, alles in seiner Macht
Stehende zu tun, um Elend zu lindern.

19

Unter dem zuletzt

genannten Aspekt sollte mithin durch eine Politik des Frei-
handels im Grunde genau das erreicht werden, was die engli-
schen Führungsschichten im 18. Jahrhundert auf sozialpater-
nalistischem Weg mit dem Mittel der wirtschaftlichen Regu-
lierung
und Intervention in Notzeiten erfolgreich praktiziert
hatten.

Die herrschaftsbezogenen Argumente Peels verdeutlichen

die konservative Intention, die mit der Aufhebung der Korn-
zölle ebenso wie mit der Parlamentsreform von 1832 verbun-
den war. In beiden Fällen sollte Veränderung primär der Er-
haltung dienen. Adelsherrschaft sollte weniger anstößig und
damit gesicherter werden. Tatsächlich bestand nach der Be-
seitigung der „corn laws“ kaum noch eine größere Animosität
des städtischen Bürgertums gegen die grundbesitzenden Füh-
rungsschichten. Zeitgenössische Beobachter wie der Roman-
cier Anthony Trollope vermerkten vielmehr, wieviel Hoch-
achtung die meisten Bürgerlichen, die auch für ihre eigene
Stellung gegenüber den unteren Klassen auf soziale Ehrer-
bietung angewiesen waren, dem Inhaber eines Adelstitels
zollten. Die Repräsentanten eines „Unternehmerradikalismus“
(Searle), die den Kampf gegen die Kornzölle nur als ersten
Vorstoß in einer umfassenden Offensive gegen die Adelsherr-
schaft gesehen hatten, zeigten sich von dem unterwürfigen
Verhalten des Bürgertums enttäuscht. „Wie sehr wünsche ich
mir“, schrieb ihr Wortführer Richard Cobden 1862, „ich
könnte den Kaufmanns- und Industriekreisen etwas Selbstach-
tung beibringen.“ Von einem Kampf der prosperierenden
Mittelklassen gegen den „Feudalismus“ erklärte er drei Jahre
später, könne keine Rede sein. Sie seien im Gegenteil damit

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61

beschäftigt, beim Heraldischen Amt nach Familienwappen zu
fahnden.

20

Flexibilität war für eine Adelsherrschaft im England um die

Mitte des 19. Jahrhunderts, nach dem Durchbruch einer (wie
auch immer heute in ihrer Begrenztheit gesehenen) Industriel-
len Revolution, unumgänglich. Sie beschränkte sich nicht auf
die Abschaffung der Kornzölle. Die Liberale Partei identifi-
zierte sich darüber hinaus sogar mit dem Freihandel und stell-
te sich ganz auf den Boden eines städtisch-industriellen Eng-
land. Besonders Gladstone, der selbst einer Kaufmannsfamilie
entstammte, kam als Liberaler Schatzkanzler mit seiner Steu-
er- und Zollpolitik den materiellen Interessen des Bürgertums
entgegen. Seine Religiosität und seine Neigung zur Moralisie-
rung der Politik fanden andererseits eine starke gefühlsmäßige
Resonanz und verschafften ihm vor allem bei den protestanti-
schen Nonkonformisten breite Zustimmung. Sein Charisma
und seine Fähigkeit zur Mobilisierung von Anhängern verwie-
sen bereits auf das Zeitalter der Massendemokratie. Ähnliches
läßt sich sogar schon von Palmerston sagen, der ein starkes
Gespür für nationale Stimmungen besaß. Nach dem Urteil
von Alexander Herzen war Palmerston der „beste Metereo-
graph“ in England, der den Temperaturzustand der Mittel-
schichten stets richtig anzeigte.

21

Palmerston appellierte wie-

derholt an den Chauvinismus der Briten und spielte bei den
plebiszitären Wahlen von 1857 anläßlich eines unbedeuten-
den Zwischenfalls in China mit Erfolg die nationalistische
Trumpfkarte aus. Nach dem Tod Palmerstons im Jahre 1865
hat der Konservative Parteiführer Disraeli diese Strategie von
ihm übernommen. Die drei genannten Politiker, die sämtlich
in ihrer Partei eine gewisse Außenseiterstellung einnahmen
und daher in besonderem Maße auf die Unterstützung einer
breiteren Öffentlichkeit angewiesen waren, schlugen trotz
erheblicher Unterschiede ihrer Herkunft, ihrer Persönlichkeit
und ihrer Standpunkte eine Brücke von der oligarchischen zur
demokratischen Politik.

Nicht unwichtig für die anhaltende Dominanz des Adels

war schließlich auch die Tatsache, daß es seit dem 17. Jahr-

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62

hundert stets gewisse Verbindungen zwischen Angehörigen
der grundbesitzenden Führungsschichten und Volksbewegun-
gen gab. Das erklärt sich zum Teil aus einer starken Affinität
der dem Hof, der Regierung und der Macht im allgemeinen
mißtrauenden „Country-Ideologie“ mit den verschiedenen
Spielarten des populären Radikalismus.

22

Das war aber auch

darin begründet, daß unter den hannoverschen Königen zu-
erst die Tories und dann die Whigs jeweils für lange Zeit von
der Regierung ferngehalten wurden. Das stärkte bei den von
der Macht ausgeschlossenen Angehörigen des Adels das Miß-
trauen gegenüber der Zentralgewalt, schärfte ihren Freiheits-
sinn und begünstigte ihr Werben um die unteren Schichten.
Alle radikalen Reformbewegungen des 18. und des frühen
19. Jahrhunderts haben innerhalb der Oberschichten Befür-
worter gefunden.

Selbst zur Zeit des Chartismus in den 1830er und 1840er

Jahren gab es neben der Entschlossenheit zur Herrschaftsbe-
hauptung auf Seiten der Elite doch auch ein gewisses Quan-
tum an Verständnis und Sympathie für die Belange der unte-
ren Schichten, das diese in der Regel von extremen Schritten
und Verzweiflungstaten abhielt. Paternalistische Tories be-
kämpften das neue Armengesetz, das die Chartisten so erbit-
terte und den Anstoß zu ihrer Bewegung gab. Andererseits
weigerten sich die regierenden Whigs mit ihrem besonders
ausgeprägten aristokratischen Selbstvertrauen, sich von
alarmierten Tories zu Kurzschlußhandlungen gegen die Char-
tisten hinreißen zu lassen. Sie sahen sich als Partei der Freiheit
und als Verteidiger der Volksrechte. Besondere Sympathien
für die chartistischen Arbeiter besaß ausgerechnet ein führen-
der Militär, Generalmajor Sir Charles Napier, der als Befehls-
haber im Norden Englands die Schlüsselrolle bei der Bekämp-
fung des militanten Chartismus zugewiesen erhielt. Er ver-
suchte, jeden Konflikt zu vermeiden. Er hatte aufrichtiges
Mitleid mit den notleidenden Handwebern und identifizierte
sich mit der chartistischen Forderung nach dem allgemeinen
Wahlrecht.

Oft genug war freilich das Eintreten von Adligen für

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Volksbewegungen eher eine Variante exzentrischen Verhal-
tens – eine Art von Gourmandise – und hatte mit einer egali-
tären Neigung ihrerseits nichts zu tun. Der Weber und Dich-
ter Samuel Bamford fühlte sich auf dem Landsitz eines adli-
gen Förderers der plebejischen Reformbewegung in den
Jahren nach 1815 nur als ein „very humble guest“. Die Bar-
rieren der gesellschaftlichen Rangordnung wurden, wie er
erkennen mußte, durch die politische Zusammenarbeit nicht
durchbrochen. Es blieb bestehen, was Bamford ein Gefühl des
„classism“ nannte und, ähnlich wie später George Orwell, als
„Fluch Englands und der Engländer und auch der Englände-
rinnen“ bezeichnete.

23

Der Publizist William Hazlitt hat in seinem Essay über

Lord Byron eine Erklärung für die radikale Haltung mancher
Adliger geliefert. Er verglich sie mit der eines Mannes, der
seiner Stellung überdrüssig sei und ein perverses Vergnügen
daran finde, sich für jemand auszugeben, der er nicht sei. So
verhalte es sich mit Lord Byrons „Liberalismus“. Daß er
„Prinzipien der Gleichheit“ prätendiere, hindere ihn nicht,
sein Privileg als Peer geltend zu machen.

24

In dem Roman

„Portrait of a Lady“ von Henry James wird die Protagonistin
in sehr ähnlicher Weise darüber belehrt, daß der von einigen
englischen Adligen vertretene Radikalismus sehr theoretisch
sei und eine Art von Krönung ihres Luxus darstelle: Mit ihren
„progressiven Ideen“ fühlen sie sich „moralisch, und sie scha-
den dennoch nicht ihrer Stellung. Sie halten sehr viel von ihrer
Stellung; laß’ Dir von keinem von ihnen weißmachen, daß es
nicht so sei. . .“

25

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64

VII. Die Demokratisierung

und die Entwicklung zum Sozialstaat



In den 1870er und 1880er Jahren wirkte eine Reihe von Fak-
toren zusammen, die eine Bresche in die Adelsherrschaft
schlugen. Die Agrardepression und sinkende Getreidepreise
raubten ihr die wirtschaftliche, die Einführung des geheimen
Wahlrechts im Jahre 1872 und die Wahlrechtsreform von
1884 entzogen ihr die politische Grundlage. Das geheime
Stimmrecht war für die Grundherren um so nachteiliger, als
der Franchise Act von 1884 auch den Landarbeitern das
Wahlrecht gab. Insgesamt wurden durch das dritte Reformge-
setz etwa 60 Prozent der Männer stimmberechtigt. Das
Schwergewicht des politischen Systems verlagerte sich vom
Land auf die Stadt.

1

Der mit dem Franchise Act verbundene

Redistribution Act verteilte 138 Sitze neu, wobei Einmann-
wahlkreise jetzt die Regel wurden. London erhöhte die Zahl
seiner Abgeordneten von 22 auf 68.

2

Die Folgen der dritten Parlamentsreform zeigten sich so-

gleich in der sozialen Zusammensetzung des Unterhauses.
Zum ersten Mal bildeten in ihm die Angehörigen der grund-
besitzenden Schichten nicht mehr die Majorität, und ihr An-
teil verringerte sich von Wahl zu Wahl immer mehr.

3

Im letz-

ten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts stellten die kommerziellen
und industriellen Klassen eine knappe Mehrheit von Sitzen im
House of Commons.

4

Die Frage ist freilich, ob dieser Verän-

derung noch sehr große faktische Bedeutung zukam, da um
diese Zeit die grundbesitzende und die wirtschaftsbürgerliche
Elite ohnehin immer mehr zu einer Einheit zusammenwuch-
sen und in der Konservativen Partei ihren gemeinsamen politi-
schen Wortführer fanden.

Ihre beherrschende Stellung im Oberhaus behielten die

grundbesitzenden Schichten sehr viel länger als im Unterhaus.
Am längsten hielten sie ihren überproportionalen Anteil an
den Regierungen. Es war insgesamt ein sich sehr lange hinzie-
hender, allmählicher Rückzug von der Macht. Mit subtiler

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65

Ironie hat David Cannadine diesen Prozeß charakterisiert,
wenn er schreibt: „Im Unterschied zu den anderen großen
Aristokratien Europas waren die britischen Patrizier nicht
die Opfer von Bürgerkrieg, bewaffneter Invasion, proletari-
scher Revolution oder militärischer Niederlage. In angemes-
sener Übereinstimmung mit ihren eigenen Whigvorstellungen
über die britische Vergangenheit stieg die um die Mitte des
19. Jahrhunderts mächtigste Aristokratie allmählich und sacht
ab...“

5

Dem entsprach der Gradualismus bei der Schaffung einer

politischen Demokratie und der Einführung sozialpolitischer
Maßnahmen. Beide Ebenen verbanden sich bei dem auf die
Gesetzgebung von 1884 folgenden, nächsten großen Demo-
kratisierungsschub, der den entscheidenden Schritt zur Ent-
machtung des Adels darstellte: der Verabschiedung des Par-
liament Act von 1911.

Die Unterhauswahl von 1906 hatte, nach einem Jahrzehnt

Konservativer Regierungen, zu einem überwältigenden Sieg
der Liberalen Partei geführt. Die Liberalen hatten offenbar
aus der Sackgasse, in die sie durch das beharrliche Eintreten
Gladstones für die Autonomie Irlands („Home Rule“) geraten
waren, wieder herausgefunden. Sie profitierten davon, daß die
durch den Burenkrieg um die Jahrhundertwende entfachte
imperialistische Stimmung einer Ernüchterung gewichen war
und die Konservative Regierung die Nonkonformisten durch
ein Schulgesetz aufgebracht hatte, das die Finanzierung kirch-
licher Schulen aus öffentlichen Mitteln vorsah und damit
gegen das von ihnen vertretene Prinzip einer Trennung von
Kirche und Staat verstieß. Die Wahlen von 1906 waren die
letzten in der englischen Geschichte, in denen eine religiöse
Frage eine wesentliche Rolle spielte.

Die Liberalen, die unter dem Einfluß eines sozialpolitisch

aufgeschlossenen „New Liberalism“ standen, sahen sich trotz
des großen Wahlerfolgs bei der Verwirklichung ihres Gesetz-
gebungsprogramms durch die Opposition des ganz überwie-
gend aus Konservativen Peers gebildeten House of Lords
behindert. Nachdem das Oberhaus bereits mehrere vom Un-

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66

terhaus verabschiedete Gesetze zurückgewiesen hatte, kam es
über das vom Liberalen Schatzkanzler Lloyd George 1909
vorgelegte „Volksbudget“ zum Konflikt. Dieses Budget sah
zur Finanzierung der Sozialpolitik sowie der wegen der deut-
schen Flottenrüstung notwendig gewordenen Ausgaben für
den vermehrten Bau von Schlachtschiffen eine erhöhte Steuer-
belastung der vermögenden Schichten vor. Besonders die
Grundherren wurden von neuen Steuern betroffen und fühl-
ten sich herausgefordert. Der Haushalt wurde vom Oberhaus
im November 1909 mit 350 gegen 75 Stimmen abgelehnt. Die
alte grundbesitzende Elite reagierte auf das, was der ehemali-
ge Liberale Premierminister Lord Rosebery als „soziale und
politische Revolution ersten Ranges“ bezeichnete, mit einem
verfassungsrechtlich präzedenzlosen Akt des Widerstandes.
Denn bis dahin war es üblich gewesen, daß das House of
Lords bei Finanzgesetzen sein Vetorecht nicht ausübte.

Nach zweimaligen Neuwahlen im Jahre 1910, deren Er-

gebnis die Liberale Regierung faktisch in Abhängigkeit von
den irischen Abgeordneten brachte und damit das Irlandpro-
blem von neuem aufrollte, wurde 1911 der Parliament Act
verabschiedet. Er nahm dem Oberhaus die Befugnis, finanziel-
le Maßnahmen abzulehnen. Darüber hinaus konnte es alle
anderen Gesetzesvorlagen, an denen das Unterhaus festhielt,
nur noch um höchstens zwei Jahre verzögern. Daß diese Neu-
regelung durchging, war vor allem auf die dem neuen Monar-
chen, Georg V., abgerungene Einwilligung zur Drohung mit
einem Pairsschub zurückzuführen. Damit wiederholte sich,
was 1832 beim Zustandekommen des ersten Reform Act
geschehen war. Die von den Lobrednern des englischen Ver-
fassungssystems so oft gepriesene Dreiteilung von King, Lords
und Commons erwies sich in der Tat in entscheidenden Pha-
sen der Verfassungsentwicklung als ein Stabilitätsfaktor, der
evolutionären Wandel ermöglichte.

Im übrigen beschränkte sich der Demokratisierungsschub,

der mit dem Parliament Act von 1911 bewirkt wurde, nicht
auf die Beschneidung der Rechte des Oberhauses. Das Gesetz
verkürzte auch die Legislaturperioden von sieben auf fünf

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67

Jahre. Der Septennial Act von 1716 hatte einst die „Ära der
Oligarchie“ eingeleitet, der Parliament Act von 1911 war ein
Markstein auf dem Weg zur Demokratie in Großbritannien.

Ein weiterer Demokratisierungsschub erfolgte durch den

Representation of the People Act von 1918. Wie in Preußen
das Dreiklassenwahlrecht, so war auch in Großbritannien das
beschränkte Wahlrecht durch den Ersten Weltkrieg unter
Druck geraten. Auch dort hatte, nach der treffenden Formu-
lierung des Historikers Peter Clarke, der Krieg Arbeiter in
Soldaten verwandelt, die den unbestreitbaren Anspruch erho-
ben, als Bürger betrachtet zu werden.

6

Im Unterschied zu den

preußischen Konservativen, die bis zuletzt diesem Anspruch
widerstrebten, gaben die britischen Konservativen nach.

7

Durch den Representation of the People Act von 1918

wurden nunmehr alle erwachsenen Männer wahlberechtigt.
Das bis dahin bestehende Wahlsystem hatte einen großen Teil
der Soldaten, die Empfänger von Armenunterstützung, Be-
dienstete ohne eine eigene Wohnung, eine bestimmte Katego-
rie von Untermietern und Söhne ausgeschlossen, die bei ihren
Eltern wohnten, aber nicht über ein eigenes Zimmer verfüg-
ten. Die traditionelle Verbindung von Wahlrecht und Eigen-
tum war durch die drei ersten Reformen rationaler gestaltet
worden, und man hatte das Eigentumserfordernis vermindert.
Grundsätzlich war es jedoch nicht aufgegeben worden. Jetzt
entfiel es gänzlich, wodurch der faktische Ausschluß von
schätzungsweise 40 Prozent der erwachsenen Männer vom
Wahlrecht, der sich nicht zuletzt auch aus den Wohnsitzbe-
stimmungen ergeben hatte, aufgehoben wurde. Zugleich er-
hielten die meisten Frauen, die älter als 30 Jahre waren, das
Wahlrecht. Das war für den Reformgradualismus charakteri-
stisch, der die britische Entwicklung durchweg auszeichnete.
Erst 1928 wurden auch erwachsene Frauen unter 30 Jahren
wahlberechtigt. Das allgemeine Wahlrecht, das die britischen
Oberschichten lange Zeit so gefürchtet hatten, gerade weil
das Parlament von Westminster im Unterschied zu anderen
Volksvertretungen das tatsächliche Machtzentrum im politi-
schen System bildete, war nahezu hundert Jahre nach der

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68

ersten Reformbill in umfassender Weise Wirklichkeit gewor-
den.

8

Damit wurde zugleich die Grundlage für eine Umbildung

des Parteiensystems und die Voraussetzung für den Durch-
bruch einer eigenständigen Arbeiterpartei geschaffen. Eine
solche hat es nach dem Ende der Chartistenbewegung um die
Mitte des 19. Jahrhunderts nicht mehr gegeben. Es war eine
„Entradikalisierung“ der englischen Arbeiter erfolgt, die sich
ganz überwiegend auf die Wahrnehmung ihrer Interessen
durch gewerkschaftliche Tätigkeit konzentrierten. Sie ist dar-
auf zurückzuführen, daß einerseits Krone und Parlament eine
ideologische Hegemonie ausübten, andererseits die herrschen-
den und besitzenden Schichten freie Lohnvereinbarungen in
Form des „collective bargaining“ gestatteten.

9

Politisch hatten

sich die Gewerkschaften vor allem an die Liberale Partei ange-
lehnt, die seit dem Auszug der Whigs und der Finanzbour-
geoisie Mitte der 1880er Jahre überwiegend zu einer Partei
der unteren Mittelschichten und Arbeiter geworden war.
Obwohl Ende des 19. Jahrhunderts etwa 75 Prozent der Be-
völkerung zur Arbeiterklasse gehörten, kam es erst im Jahre
1900 auf Seiten der Gewerkschaften zu dem Entschluß, der
Arbeiterbewegung auch ein politisches Standbein zu geben.
Die mangelnde Bereitschaft der Liberalen, Arbeiter als Kandi-
daten bei den Unterhauswahlen aufzustellen, und vor allem
die mangelnde Unterstützung bei der gesetzlichen Absiche-
rung von Arbeitskämpfen führten zu der Entscheidung, ein
Labour Representation Committee zu gründen, das dann
1906 in Labour Party umbenannt wurde. Kleinere sozialisti-
sche Gruppen wie die 1893 entstandene Independent Labour
Party Keir Hardies waren an der Gründung beteiligt. Die
Labour Party gab sich jedoch erst 1918 ein sozialistisches
Programm und blieb in vieler Hinsicht ein Annex der Ge-
werkschaften, die mit ihren kompakten Stimmblöcken die
Parteitage beherrschten.

Im Unterschied zu den Arbeiterbewegungen anderer Länder

ist die britische Arbeiterbewegung durch den Ersten Weltkrieg
trotz der in ihr vertretenen unterschiedlichen Positionen nicht

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69

anhaltend gespalten worden. Vielmehr gelang es ihr auf er-
staunliche Weise, die Vorteile einer Kooperation im Rahmen
der Kriegswirtschaft für die Arbeiterschaft zu nutzen und
zugleich von einer kritischen Haltung gegenüber der Außen-
und Kriegspolitik zu profitieren, die wegen der starken mora-
lischen Tradition in England besonders unter Intellektuellen
großen Anklang fand.

10

Bei den Wahlen von 1918 erhielt die

Labour Party 22,7 Prozent der abgegebenen Stimmen. Sie
löste die Liberale Partei als die wichtigste Partei des Fort-
schritts ab. 1924 bildete sie dann zum ersten Mal die Regie-
rung, bei der es sich freilich um ein kurzlebiges Minderheits-
kabinett handelte.

Die Angst der Ober- und Mittelschichten vor dem allge-

meinen Wahlrecht, die den Prozeß der Demokratisierung so
langwierig gestaltet hatte, war mit dem Representation of the
People Act von 1918 nicht erloschen, sondern erhielt jetzt
verstärkt die konkrete Form einer Furcht vor dem Aufstieg
der Labour Party.

11

Als Mittel gegen diese Gefahr betrachtete

man vielfach die Gründung einer großen Sammlungspartei
oder eine dauerhafte Koalition von Konservativen und Libera-
len. Die Koalitionsidee war in Gesprächen zwischen führen-
den Politikern der beiden Parteien angesichts des Problem-
staus der letzten Vorkriegs jähre bereits vor 1914 erörtert
worden. Diese Kontakte führten jedoch zu keinem Ergebnis.

12

1915 kam es dann zu einer Kriegskoalition, wobei zunächst
der Liberale Asquith als Premierminister weiter amtierte,
dann aber 1916 durch seinen Parteifreund Lloyd George ver-
drängt wurde. Die Koalition ist auch nach Kriegsende zu-
nächst fortgesetzt worden, fand jedoch 1922 durch eine Re-
volte der Konservativen Hinterbänkler ein Ende. Das Koaliti-
onskonzept blieb freilich – mit dem Blick auf die Labour
Party – für manche Politiker das Ideal.

Die „Sammlungspolitik“ in Gestalt einer förmlichen Koali-

tion oder in Form einer Parteineugründung erwies sich freilich
kaum als notwendig. Eine Sammlung wurde von der in der
Zeit zwischen den beiden Weltkriegen dominierenden Kon-
servativen Partei im wesentlichen auch allein erreicht. Es

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70

gelang ihr, einen großen Teil der Gesellschaft oberhalb der
Arbeiterklasse zusammenzufassen (und überdies von vielen
Arbeitern gewählt zu werden). Diese Zusammenfassung, die
nach außen hin in der bürgerlichen Einheitsfront gegen den
1926 über einen Konflikt im Kohlebergbau ausbrechenden
Generalstreik sichtbar wurde, erfolgte mit der Spitze gegen
die organisierte Arbeiterschaft. Es entsprach allerdings der
bereits erwähnten englischen Tradition, daß sich einzelne
Angehörige der Oberschichten wie der frühere Liberale
Kriegsminister Haidane und selbst der Sohn des Konserva-
tiven Premierministers Baldwin der Labour Party zur Ver-
fügung stellten. Auch geschah die Zusammenfassung nicht in
der massiv-brutalen Form, wie es im Deutschen Kaiserreich
mit der Agitation gegen die „Reichsfeinde“ und die „vater-
landslosen Gesellen“ versucht worden war. Sie erfolgte viel-
mehr auf die feinere englische Art durch negative soziale
Stereotypen und in Gestalt der Zurückweisung angeblich
maßloser, die wirtschaftliche Stabilität gefährdender ökono-
mischer Ansprüche der Arbeiter.

13

Das Ergebnis dieser Strategie war die weitgehende Neutra-

lisierung des von der Labour Party 1918 erreichten Positions-
gewinns, so daß die von dieser Partei 1924 und 1929 gebilde-
ten Regierungen nur Minderheitskabinette darstellten, deren
Spielraum außerordentlich begrenzt war. Die zweite Labour-
regierung wurde zudem durch ihre eigene Konzeptionslosig-
keit gegenüber der Weltwirtschaftskrise gelähmt. Es kam
1931 über die Frage der Arbeitslosenunterstützung zur Spal-
tung der Partei sowie zu einer „nationalen“ Koalitionsregie-
rung mit den Konservativen und einem Teil der Liberalen, in
welcher der Premierminister Ramsay MacDonald mit einigen
Labourministern weiter amtierte. Das Schwergewicht dieser
Koalitionsregierung, die bei den Wahlen von 1931 und 1935
einen überwältigenden Sieg errang, lag eindeutig bei den Kon-
servativen. Deren Parteiführer Stanley Baldwin übernahm
denn auch nach dem Rücktritt MacDonalds 1935 das Amt
des Premierministers. Ihm folgte zwei Jahre später sein Partei-
freund Neville Chamberlain.

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71

Der auf Erhaltung des Friedens um nahezu jeden Preis ge-

richtete außenpolitische Kurs Chamberlains gegenüber dem
nationalsozialistischen Deutschland, der gemeinhin mit dem
Begriff „Appeasementpolitik“ charakterisiert wird, war eben-
so wie der innenpolitische Kurs seiner Partei nach 1918 in
hohem Maße von der Absicht bestimmt, das gesellschaftliche
System und die Machtverteilung in Großbritannien zu erhal-
ten. Die Außenpolitik Chamberlains wurde nicht zuletzt von
der Intention geleitet, eine Aufwertung der Arbeiterschaft und
eine Stärkung ihrer Organisationen, wie sie sich im Ersten
Weltkrieg vollzogen hatten, zu verhindern.

14

Was Chamberlain als unerwünschte Folge eines Krieges

vorausgesehen hatte, ist tatsächlich eingetreten. Der Zweite
Weltkrieg hat, noch mehr als der Erste Weltkrieg, die Arbei-
terbewegung in Großbritannien gestärkt. Der massige und
selbstbewußte Gewerkschaftsführer Ernest Bevin, der im Mai
1940 zusammen mit anderen Labourpolitikern in die von
Winston Churchill geführte und verbreiterte Koalitionsregie-
rung eintrat, wirkte wie ein Symbol dieser Arbeitermacht.
Umgekehrt war das Prestige der Konservativen Führungs-
schicht durch die Appeasementpolitik und ihre das Land an
den Rand der Niederlage treibende Inkompetenz schwer be-
einträchtigt.

Zu den Konsequenzen der neuen innenpolitischen Macht-

verteilung und des Angewiesenseins auf die Arbeiterklasse im
Krieg gehörte nicht nur eine Berücksichtigung ihrer aktuellen
Forderungen in bezug auf Ernährung, Arbeitsbedingungen
und Sozialleistungen, sondern auch eine veränderte Perspekti-
ve in Hinblick auf die Nachkriegsordnung. Die Erkenntnis
war allgemein, daß es nicht einfach zu einer Rückkehr zum
Status quo ante kommen durfte. Unter dem Einfluß des Krie-
ges vollzog sich eine Ausweitung des Freiheits- und Demo-
kratiebegriffs ins Wirtschaftlich-Soziale. Selbst die „Times“
erklärte 1940, eine Demokratie, die über das Stimmrecht das
Recht auf Arbeit vergesse, verdiene ihren Namen nicht.

15

Der Zusammenhang zwischen dem Kriegseinsatz der arbei-

tenden Bevölkerung und dem Versprechen einer besseren

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72

Gesellschaft nach dem Krieg wurde von Bevin in einer Unter-
hausrede vom 21. Juni 1944 eindrucksvoll dargestellt. Bevin
schilderte, wie er zusammen mit Churchill nach Nordafrika
gehende britische Soldaten verabschiedete und dabei von
ihnen mit einer einzigen Frage konfrontiert wurde: „Ernie,
wenn wir diese Arbeit für dich getan haben, müssen wir dann
wieder von der Arbeitslosenunterstützung leben?“ Seine und
des Premierministers Antwort, so Bevin, sei nein gewesen; und
diese Antwort müsse nicht nur für diese tapferen Männer,
sondern auch für „künftige Generationen zu einer Tatsache“
gemacht werden.

16

Man begann bereits während des Krieges mit Planungen für

die Nachkriegsordnung. Unter ihnen hat der ein umfassendes
und einheitliches System der Sozialversicherung entwerfende
Beveridge Report vom November 1942 die größte Bedeutung
erlangt. Obwohl er unter einem überaus trockenen bürokrati-
schen Titel erschien, wurde er sogleich ein Bestseller, von dem
653 000 Exemplare verkauft wurden. Nicht alle stellten sich
freilich auf den Boden dieses Berichts. Der Direktor der briti-
schen Arbeitgeberorganisation erklärte, man sei nicht in den
Krieg eingetreten, um das Sozialwesen zu verbessern, sondern
um die Gestapo aus England fernzuhalten. Auch Churchill
versuchte zunächst, die vom Beveridge Report angeschnitte-
nen Fragen auf die Zukunft zu verschieben. Er sah sich indes
angesichts der verbreiteten Enttäuschung über diese Haltung
gezwungen, im März 1943 in einer Rundfunkrede für eine
umfassende Sozialversicherung „von der Wiege bis zum Gra-
be“ einzutreten.

17

Meinungsumfragen zeigten jedoch, daß große Teile der Be-

völkerung solche Zusicherungen von Konservativer Seite mit
Skepsis betrachteten, und wiesen auf einen Trend innerhalb
der Wählerschaft zugunsten der Labour Party bereits seit
Ende des Jahres 1942 hin. Bei den Wahlen vom Juli 1945
errang die Partei dann – zur Überraschung ihrer eigenen Füh-
rungsgruppe, die zum Teil sogar die Koalition hatte fortsetzen
wollen – einen großen Wahlsieg. Labour erhielt 47,8 Prozent,
die Konservative Partei nur 39,8 Prozent der abgegebenen

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73

Stimmen. Der Wahlerfolg der Labour Party ist ganz überwie-
gend auf das veränderte Wahlverhalten der Arbeiterschaft
zurückzuführen. Hatten sich in den 1930er Jahren 50 Prozent
der Arbeiterwähler für die Konservativen entschieden, so sank
dieser Anteil jetzt auf 30 Prozent.

18

Diese Veränderung hatte

offenbar mit einem grundlegenden Wandel zu tun und stand
im Zusammenhang mit dem Abbau einer Ehrerbietungshal-
tung gegenüber den Oberschichten. Passivität, Fatalismus und
Fügsamkeit waren einer Untersuchung von „Mass Observati-
on“ aus dem Jahre 1944 zufolge durch den Krieg innerhalb
der Bevölkerung zurückgedrängt worden.

19

Hatte der Erste Weltkrieg zur Einführung einer Demokratie

in Großbritannien geführt, so führte der Zweite Weltkrieg
zur Schaffung eines Wohlfahrtsstaates. Die politischen Bür-
gerrechte wurden im Juli 1945 von den Wählern dazu be-
nutzt, um sie durch soziale Bürgerrechte zu ergänzen. Dabei
knüpften die Sozialreformen der Labourregierung an die
Sozialgesetzgebung der Liberalen Regierung vor dem Ersten
Weltkrieg an, weshalb man nicht zu Unrecht Lloyd George
als den eigentlichen Begründer des britischen Wohlfahrts-
staates bezeichnet hat.

20

1906 hatte man sich entschlossen,

in den Schulen freie Mahlzeiten für Kinder kinderreicher
Familien auszugeben. 1909 wurde eine Altersversorgung für
sozial Schwache, 1911 eine begrenzte Arbeitslosen- und
Krankenversicherung eingeführt. Das Neue an dem National
Insurance Act und dem National Health Service Act der La-
bourregierung im Jahr 1946 war die Tatsache, daß alle von
ihnen erfaßt wurden (obwohl es jedem freistand, sich zusätz-
lich noch privat zu versichern). Durch diese Universalisierung
wurde das der öffentlichen Unterstützung anhaftende Stigma,
das vom Armengesetz des Jahres 1834 durchaus beabsichtigt
gewesen war und geradezu seine raison d’etre gebildet hatte,
beseitigt. Der 5. Juli 1948 wurde in England zum Tag des
Wohlfahrtstaates. An ihm trat der staatliche Gesundheits-
dienst ins Leben, bei dessen Planung der linke Labourpolitiker
Bevan federführend gewesen war.

Daß der Terminus Wohlfahrtstaat in bezug auf das von der

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74

Labourregierung geschaffene System kein leeres Wort war –
selbst wenn sich die Vermögensverteilung kaum änderte und
die Privatschulen sogar einen bis dahin nicht gekannten Auf-
schwung erlebten –, das zeigen die Untersuchungen Rowntrees.
Hatten in York im Jahre 1936 über 30 Prozent der Bevölkerung
unterhalb der Armutsgrenze gelebt (ein schockierender Befund,
der 1941 veröffentlicht wurde und den Beveridge Report maß-
geblich beeinflußte), so waren es 1951 nur noch 2,8 Prozent.

21

An diesem günstigen Ergebnis, bei dem von Rowntree mögli-
cherweise die Wirklichkeit etwas zu positiv beurteilt worden
war,

22

hatte jedoch nicht nur die Sozialgesetzgebung der Re-

gierung Attlee, sondern auch die Vollbeschäftigung der Nach-
kriegsjahre einen wesentlichen Anteil. Das Problem der Ar-
beitslosigkeit schien beseitigt. Sie sank von 1,7 Prozent im
Jahre 1946 auf 1,1 Prozent im Jahre 1951.

23

Die Vollbe-

schäftigung und der unter Attlee geschaffene Sozialstaat blie-
ben auch in der langen Phase Konservativer Regierungen
unter Winston Churchill, Anthony Eden, Harold Macmillan
und Alec Douglas-Home zwischen 1951 und 1964, trotz einer
zu dem Ethos der Attleeregierung im Widerspruch stehenden
starken Betonung des individuellen Konsums, erhalten. Die
Konservativen konnten dabei auf den sozialpaternalistischen
Traditionsstrang ihrer Partei zurückgreifen,

24

der letztlich im

Paternalismus des Adels und dem Prinzip des „noblesse obli-
ge“ seinen Ursprung hatte. Zudem hatte Macmillan in den
30er Jahren zu den wenigen Politikern gehört, die unter dem
Einfluß der Theorie von Keynes ernsthaft an Plänen zur Be-
kämpfung der Arbeitslosigkeit mitgewirkt hatten. 1936 hatte
Macmillan sogar erklärt: „Der Toryismus ist immer eine
Form des paternalistischen Sozialismus gewesen.“

25

Auf die Dauer erwies sich jedoch der 1945 eingeschlagene

Weg wegen der geringen Leistungsfähigkeit der britischen
Wirtschaft als problematisch. Es rächte sich, daß die Regie-
rung Attlee es unterlassen hatte, durch langfristige Planung
eine Produktivitätssteigerung der Wirtschaft zu gewährleisten
und durch Einführung der gewerkschaftlichen Mitbestim-
mung das Arbeitsklima in der Industrie zu verbessern.

26

Hier

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75

zeigte es sich als nachteilig, daß Großbritannien zu den Sie-
gernationen gehörte. Denn das führte verständlicherweise zu
einer gewissen nationalen Selbstzufriedenheit und erschwerte
die notwendigen Reformen sowie die Revision überkommener
und eingeschliffener Verhaltensweisen. Es schien zu genügen,
wenn man die im Krieg bewiesene nationale Solidarität durch
eine fortschrittliche Sozial- und Vollbeschäftigungspolitik
honorierte und in die Friedenszeit hinüberrettete.

Hinzu kam, daß die hohen Militärausgaben eine starke di-

rekte Belastung darstellten und häufig auch indirekt die Wirt-
schaft schädigten, indem sie zum Devisenabfluß beitrugen,
das Pfund unter Druck setzten und die Regierungen zu kon-
junkturdrosselnden Maßnahmen veranlaßten. Die britischen
Militärausgaben lagen stets weit über dem, was etwa die
Bundesrepublik für die Verteidigung aufbrachte. 1950 gab
Großbritannien sogar einen größeren Anteil seines Bruttoso-
zialprodukts für die Verteidigung aus als die Vereinigten Staa-
ten.

27

Teilweise resultierte das aus den Kosten der Britischen

Besatzungszone in Deutschland sowie dem Kalten Krieg.
1950, als ein militärischer Zusammenstoß mit der Sowjetuni-
on unmittelbar bevorzustehen schien, wurde von der Labour-
regierung ein gewaltiges Rüstungsprogramm beschlossen. Es
veranlaßte sie zur Einführung einer Selbstbeteiligung von
Patienten im staatlichen Gesundheitsdienst, die den Rücktritt
Bevans sowie einen anhaltenden Bruch innerhalb der Labour
Party nach sich zog.

Zum Teil ergaben sich die hohen britischen Militärausga-

ben jedoch aus dem beharrlichen Festhalten am Groß-
machtstatus und an imperialen Positionen. Man wird an die
Warnung Cobdens erinnert, der bereits 1835 auf den Nieder-
gang Spaniens infolge seines „transatlantischen Ehrgeizes“
hingewiesen und die Frage gestellt hatte, ob Großbritannien
nicht ein ähnliches Schicksal bevorstehe.

28

Auch Labourregie-

rungen waren nicht bereit, die britische Großmachtrolle auf-
zugeben. Die kostspielige Atomrüstung wurde von Attlee und
seinem Außenminister Bevin mit großer Selbstverständlichkeit
vorangetrieben. Zudem war man durchaus nicht willens,

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76

mehr imperiale Stellungen zu räumen, als man mußte. War
man gezwungen, sich zurückzuziehen – wie aus Indien im
Jahre 1947 –, versuchte man, anderswo strategische Ersatz-
positionen aufzubauen und in den unabhängig werdenden
Staaten im Rückgriff auf die Tradition des „informal empire“
ohne förmliche Herrschaft weiterhin politischen und wirt-
schaftlichen Einfluß auszuüben.

29

Diese relativ flexible Stra-

tegie der Positionsbehauptung fand die Unterstützung der
Vereinigten Staaten, die in der Zeit des Kalten Krieges gegen-
über der Stellung Großbritanniens in Asien und Afrika eine
positivere Haltung einnahmen als während des Zweiten
Weltkrieges.

30

Seine Devisenprobleme gaben Großbritannien einen beson-

deren Grund, an den überseeischen Besitzungen in der einen
oder anderen Form festzuhalten. Man kann sogar sagen, daß
die ökonomischen Zwänge zur Nutzung und Entwicklung
überseeischer Gebiete in der Geschichte des Empire noch
niemals so stark waren wie in den Jahren nach 1945. Auf die
wirtschaftliche Erschließung der afrikanischen Kolonien,
deren Unabhängigkeit man noch in weiter Ferne glaubte,
setzte man innerhalb der Labour Party nach dem Zweiten
Weltkrieg wegen der Dollarknappheit ganz besonders große
Hoffnungen. Es läßt sich behaupten, daß die 1945 gebildete
Labourregierung von den Möglichkeiten einer Nutzung des
Empire großartigere Vorstellungen hatte als irgendeine andere
Regierung seit den Tagen, als Joseph Chamberlain Kolonial-
minister war. Attlee stellte sogar die Frage, ob man nicht
afrikanische Truppen die traditionelle Rolle der indischen
Armee als eines Instruments britischer Außenpolitik und
Kriegführung übernehmen lassen könne.

31

Wie wirtschaftliche Zwänge einerseits, Großmachtillusio-

nen und Furcht vor dem Abstieg andererseits noch lange nach
dem Ende des Zweiten Weltkrieges eine imperiale Vision
erzeugen konnten, macht ein Kabinettsmemorandum des
damaligen Ministers für Wohnungsbau, Harold Macmillan,
vom Juni 1952 deutlich. In ihm verwies der spätere Konser-
vative Premierminister auf die Notwendigkeit, wegen der

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77

Wettbewerbsschwäche der britischen Wirtschaft den Handel
mit dem Sterlingbereich zu intensivieren. Er sah darin jedoch
zugleich die Chance, die „nationale und imperiale Stärke“
Großbritanniens wiederzuerrichten und eine „Vision des ge-
lobten Landes“ zu eröffnen. Macmillan schloß sein Memo-
randum mit den Sätzen: „Wir sehen uns im Innern mit einer
ständigen Intensivierung von Klassenkämpfen und jenem
Gefühl der Frustration konfrontiert, das zur Ablehnung aller
bestehenden Institutionen führt; wir werden uns möglicher-
weise gleichzeitig dem Zerbrechen des Commonwealth und
unserem Niedergang zu einer zweitrangigen Macht gegen-
übersehen. Ich sehe keinen Ausweg aus diesen Gefahren als
die furchtlose Proklamierung einer Politik, die die Massen
inspiriert sowie ihren Stolz und ihr Vertrauen wiederherstellt.
Das ist die Alternative – das Abgleiten in einen schäbigen und
matschigen Sozialismus oder der Marsch in das dritte briti-
sche Empire.“

32

Selten ist eine sozialimperialistische Strategie

so klar und unverhohlen formuliert worden wie in diesem
Memorandum eines führenden Konservativen Politikers in der
Endphase des britischen Weltreiches. Selten ist sie aber auch
so unrealistisch gewesen wie zu diesem Zeitpunkt.

Handelte es sich bei diesem Appell zum Aufbruch in ein

drittes britisches Empire mit seiner ausgeprägten sozial-
imperialistischen Perspektive auch um ein extremes Doku-
ment imperialen Denkens, so bestand doch zwischen den
Regierungen der Konservativen und der Labour Party hin-
sichtlich der Prägekraft der imperialen Tradition letztlich kein
Unterschied. Der Parteiführer der Labour Party, Gaitskell,
mobilisierte auf dem Parteitag von 1962 im Kampf gegen den
Beitritt zur EWG ein historisches Sonderbewußtsein und be-
schwor dabei unter anderem die Schlachten des Ersten Welt-
krieges, in denen die Truppen Großbritanniens und seiner
Dominions gemeinsam gekämpft hatten.

33

Der opportunisti-

sche Labourpolitiker Harold Wilson, der 1964–70 und 1974-
76 Premierminister war, hatte im Grunde nur zwei Überzeu-
gungen: den Glauben an die Monarchie und den Glauben an
das Empire.

34

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78

VIII. Vom Empire zum Commonwealth



Die imperiale Dimension ist für das Verständnis der eng-
lischen Geschichte wichtiger als für das Verständnis der
Geschichte irgendeiner anderen Nation seit dem Altertum.
Dabei erfolgte der Eintritt der Engländer in die Ära der ko-
lonialen Expansion und der Aufbau ihres überseeischen Em-
pire erst relativ spät. An der Besitznahme Amerikas im ausge-
henden 15. und im 16. Jahrhundert waren sie nicht beteiligt.
(Eine 1586 gegründete englische Niederlassung in Virginia
war innerhalb weniger Jahre spurlos verschwunden.) An der
Ausbeutung der amerikanischen Silberschätze nahm England
nur indirekt teil, wenn elisabethanische Freibeuter spanische
Städte plünderten und spanische Schiffe kaperten.

Für die anfängliche Zurückhaltung Englands im kolonia-

len Bereich lassen sich vor allem zwei Gründe anführen.
Einerseits hatte man mit Irland gleichsam eine Kolonie vor
der eigenen Haustür. Man war gegen Ende des 16. Jahr-
hunderts vollauf damit beschäftigt, dieses Land, über das
die englische Monarchie seit dem Mittelalter eine prekäre
Oberhoheit ausübte, zu unterwerfen und zu kolonisieren.
Andererseits reichten die englischen Kräfte auch für weit-
gespannte überseeische Unternehmungen kaum aus. Ins-
besondere waren die Finanzmittel der Krone zu schwach, um
nach dem Vorbild der spanischen und portugiesischen
Monarchen Kolonialunternehmungen in eigener Regie durch-
zuführen, Kolonien durch den Staat zu verwalten und aus-
zubeuten. Selbst die elisabethanische Seekriegführung gegen
Spanien vollzog sich zu einem erheblichen Teil in privater
Form, wobei sich die Monarchin als „Privatunternehmerin“
mit einigen ihrer Untertanen zum Zwecke des Profits zu-
sammentat. Für manche Engländer war die Beteiligung am
Krieg gegen Spanien (1585–1604), wie bereits die am Hun-
dertjährigen Krieg gegen Frankreich (1337–1453), vorwiegend
ein kommerzielles Unternehmen. Der Nachteil dieser Moti-
vierung war, daß die englischen Befehlshaber eher daran

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79

interessiert waren, spanische Städte zu plündern als spanische
Schiffe zu versenken.

Trotz seiner anfänglichen Schwäche verfügte England je-

doch über zwei Voraussetzungen, die auf längere Sicht seinen
Aufstieg begünstigten und es spätestens nach dem Ende des
Siebenjährigen Krieges (1756–63) zur führenden See-, Kolo-
nial- und Handelsmacht der Welt werden ließen. Vor allem
profitierte es davon, daß sich nach der Entdeckung Amerikas
das Schwergewicht in Europa vom Mittelmeer auf den Atlan-
tik verlagerte.

1

England rückte damit von der Peripherie ins

Zentrum eines politisch-kommerziellen Beziehungsgeflechts.
Eine weitere günstige Voraussetzung stellte die Insellage Eng-
lands dar. Sie bot als solche zwar keinen zuverlässigen Schutz
vor einer Invasion. Sie ermöglichte es aber den Engländern,
sich zur Abwehr von Invasionsversuchen ganz überwiegend
auf die Flotte zu konzentrieren, die zugleich das Instrument
weltpolitischer Aktivität darstellte. Das Mittel der Verteidi-
gung war also ebenso das Mittel des Ausgreifens in die Welt.

Wie sehr das eine in das andere auch im Bewußtsein der

Engländer übergehen konnte, macht der von James Thomp-
son verfaßte und dann von dem Komponisten Arne vertonte
Vers deutlich, der über mehr als zwei Jahrhunderte hinweg in
unzähligen Veranstaltungen von Angehörigen aller sozialen
Schichten als eine Art von patriotischer Nationalhymne ge-
sungen wurde: „Rule Britannia, Rule the Waves, Britons
never will be Slaves.“ Die trotzige Versicherung, niemals
Sklaven werden zu wollen, die Entschlossenheit zur Bewah-
rung der eigenen Freiheit und Unabhängigkeit, verknüpfte
sich in diesem Lied in nicht sehr logischer, aber den Eigen-
tümlichkeiten der englischen Seemachtstellung durchaus
Rechnung tragender Weise mit dem Herrschaftsanspruch über
die Weltmeere.

Die Konkurrenten Englands – zuerst Spanien, dann die

Niederlande, lange Zeit Frankreich und schließlich Deutsch-
land – waren aufgrund ihrer geographischen Lage ihm gegen-
über nicht nur seestrategisch benachteiligt, sondern sie konn-
ten sich auch niemals so stark auf die Flotte konzentrieren

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80

wie die Engländer. So hat zwar Frankreich im 18. Jahrhun-
dert mehrmals „Flottenspurts“ eingelegt und seine Seerüstun-
gen intensiv gesteigert; es mußte aber doch jedesmal wieder
davon abgehen, weil die Stärke seines Heeres am Ende wich-
tiger war. In sehr ähnlicher Weise setzte sich die Einsicht in
die Priorität der Landrüstung letztlich auch in Deutschland
kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges durch.

Nur wenn es einer Macht gelungen wäre, die völlige Hege-

monie über den europäischen Kontinent zu errichten, hätte sie
ihre ganzen Ressourcen in die Flottenrüstung stecken und die
maritime Überlegenheit Englands brechen können. Es lag
daher im englischen Interesse, die Herausbildung einer sol-
chen Hegemonialstellung zu verhindern und stets über Bun-
desgenossen auf dem Kontinent zu verfügen, die ein militäri-
sches Gegengewicht gegen den potentiellen Herausforderer
bildeten. Die Finanzierung solcher Bundesgenossen bot für
England die Möglichkeit, das eigene Heer zumeist klein hal-
ten und sich ganz auf die Seeherrschaft konzentrieren zu kön-
nen. Diese Ausrichtung bot auch Vorteile für die innere,
kommerziell-industrielle Entwicklung des Landes, weil sie
eine Militarisierung der Gesellschaft verhinderte und Kräfte
für wirtschaftliche Betätigung zur Verfügung stellte. Die Be-
wahrung einer Gleichgewichtssituation auf dem europäischen
Kontinent, zu der England seit der Intervention Elisabeths in
den Niederlanden während der 1580er Jahre immer wieder
entscheidend beitrug, ermöglichte es ihm, seinerseits im Welt-
bereich und auf den Meeren eine Hegemonie zu errichten.
Das wird überaus deutlich daran erkennbar, daß jeder Frie-
densschluß in Europa zwischen 1697 und 1918, der die fran-
zösische bzw. die deutsche hegemoniale Herausforderung
durch Herstellung eines neuen Gleichgewichts bremste oder
beendete, für England einen Zuwachs im kolonialen Raum
erbrachte.

2

Es hat immer wieder Versuche von französischer

und deutscher Seite gegeben, die öffentliche Meinung Europas
gegen die von England ausgehende Bedrohung zu mobilisieren
und dieses als Weltdespoten darzustellen. Das war nie wirk-
lich erfolgreich, weil einerseits England für die Erhaltung des

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81

europäischen Gleichgewichts erforderlich war, andererseits
die Seehegemonie insgesamt als weniger drückend empfunden
wurde als die Hegemonie einer Landmacht.

3

Die koloniale Expansion Englands begann in Nordamerika

mit der Verleihung einer königlichen Charter an die Virginia
Company im Jahre 1607 und setzte sich auf den westindi-
schen Inseln fort. 1627 wurde der Barbados Company von
Karl I. eine Charter verliehen. Die 1600 gegründete East India
Company, deren Ziel ursprünglich der Handel mit Indonesien
war, faßte auf dem indischen Subkontinent 1608 in Surat
Fuß. Dieser Hafen wurde jedoch zunächst nur als Zwischen-
station für den Handel mit den Gewürzinseln betrachtet.
Territoriale Herrschaft in größerem Umfang übte die East
India Company in Indien erst seit den 1740er Jahren aus.

Obwohl die Kolonialexpansion seit der Mitte des 17. Jahr-

hunderts in Übereinstimmung mit merkantilistischen Vorstel-
lungen konzeptionell mit der Flottenmacht und der exklusiven
Förderung des eigenen Handels zu einem Gesamtsystem ver-
bunden wurde, blieb sie doch faktisch weitgehend der priva-
ten Initiative überlassen. Die amerikanischen Kolonien und
die East India Company verfügten dementsprechend über eine
weitgehende Autonomie. Nach einem vorübergehenden An-
lauf in Richtung auf größere Kontrolle und Militarisierung
während der 1670er und 1680er Jahre wurde von der Regie-
rung des Mutterlandes erst hundert Jahre später wieder der
Versuch einer strafferen Regulierung und finanziellen Nut-
zung des Empire unternommen. Das geschah nach dem Sie-
benjährigen Krieg, als der britische Kolonialbesitz durch den
Erwerb von Kanada, Florida und dem Gebiet westlich des
Mississippi sowie mehrerer westindischer Inseln enorm ange-
wachsen war. Bei den amerikanischen Kolonisten stieß jedoch
vor allem der Versuch einer Besteuerung ohne die Zustim-
mung der Besteuerten oder ihrer gewählten Repräsentanten
auf heftigen Widerstand.

4

Es kam im April 1775 zu militäri-

schen Konflikten zwischen der Miliz von Massachusetts und
britischen Truppen und Anfang Juli 1776 zur Unabhängig-
keitserklärung der dreizehn nordamerikanischen Kolonien,

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82

die in ihrem Krieg gegen das Mutterland von Frankreich,
Spanien und den Niederlanden unterstützt wurden.

• Die Kriegführung in Amerika demonstrierte die Schwäche

einer auf sich selbst gestellten Seemacht. Sie offenbarte letzt-
lich deren Unfähigkeit, ohne fremde Hilfe eine Landmacht –
die auf dem Meer zu wenig verwundbar war – zu besiegen.
Die durch eine kombinierte Armee- und Flottenaktion der
Amerikaner und Franzosen erzwungene Kapitulation briti-
scher Truppen bei Yorktown im Oktober 1781, die eine Fort-
führung des Krieges von englischer Seite unmöglich machte,
war eine Folge der Tatsache, daß die Briten vorübergehend
sogar die Seeherrschaft in den nordamerikanischen Gewässern
verloren hatten.

Für England und seine politische Elite bedeutete der 1783

mit dem Frieden von Paris beendete amerikanische Unabhän-
gigkeitskrieg eine erhebliche Einbuße an Prestige und einen
empfindlichen Rückschlag in der imperialen Entwicklung. Die
nordamerikanischen Kolonien gingen verloren. Minorca und
Florida mußten an Spanien, Santa Lucia und Tobago an
Frankreich abgetreten werden; Ceylon ging an die Niederlan-
de verloren. Diese Scharte wurde dann jedoch bald durch die
Kriege gegen das revolutionäre und napoleonische Frankreich
wieder ausgewetzt.

Diese Kriege sind von britischer Seite, abgesehen von ihrer

letzten Phase, ganz überwiegend als koloniale Expansions-
kriege geführt worden. Fast alle überseeischen Besitzungen
Frankreichs und der ihm angegliederten Staaten wurden von
den Briten besetzt. Davon behielten sie nach dem Friedens-
schluß 1814/15 Malta, die Ionischen Inseln, Trinidad, Toba-
go, Santa Lucia, Guyana, die Kapkolonie und Mauritius. Die
Kriegführung und die Kolonialexpansion dieser Zeit trugen
auch, wie bereits erwähnt, zur Bildung einer einheitlichen
britischen Elite und eines britischen Nationalgefühls bei. Be-
sonders die Schotten, deren Land seit 1603 in Personalunion
mit England verbunden gewesen war und durch die Union
von 1707 mit ihm zum Vereinigten Königreich von Großbri-
tannien verbunden wurde, waren im kolonialen Bereich au-

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83

ßerordentlich aktiv. Ihre Beteiligung rechtfertigt es, von einem
„britischen Empire“ zu sprechen.

5

Durch die weitere koloniale Ausdehnung wurde die seit

dem Siebenjährigen Krieg erkennbare und letztlich für den
amerikanischen Unabhängigkeitskrieg verantwortliche Beto-
nung des Herrschaftsaspekts verstärkt. Das britische Empire,
das sich in Indien unter der nominellen Regierung der East
India Company allein zwischen 1798 und 1805 zwei Drittel
des Subkontinents einverleibte, verlor seinen überwiegend
maritim-kommerziellen Charakter und wurde in seiner terri-
torialen Dimension „Bestandteil der nationalen Identität“.

6

Darin unterschied es sich von dem der Niederlande, die wei-
terhin überwiegend kommerziell orientiert blieben.

Am Ende der napoleonischen Kriege hatte das britische Im-

perium eine vorher nicht gekannte Ausdehnung erreicht. Um
1820 lebten in diesem, oft als „Second Empire“ bezeichneten,
Weltreich mehr als 200 Millionen Menschen, etwa ein Viertel
der Erdbevölkerung.

7

Der Expansionsprozeß wurde auch

weiterhin fortgesetzt – vor allem in Indien, wo Militärs und
Beamte, die formell im Dienst der East India Company stan-
den, eine sehr eigenmächtige Annexionspolitik betrieben.

8

Die

Vorstellung einer britischen Kolonialabstinenz in der ersten
Hälfte oder im zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts ist falsch.
Das britische Empire ist auch in der Ära des Freihandels und
der vermeintlichen Kolonialfeindschaft durch die „men on the
spot“ ständig erweitert worden. Als dieser Vorgang mit der
Annexion des Fürstentums Oudh 1857 in Indien einen Auf-
stand auslöste, kam es in der britischen Öffentlichkeit auch
bereits zu einer jener hysterischen Massenreaktionen, die man
gemeinhin erst mit einer späteren Periode assoziiert. Die Un-
terscheidung zwischen einer vorimperialistischen und einer
imperialistischen Phase des 19. Jahrhunderts ist in bezug auf
die tatsächlich erfolgende britische Expansion wenig realitäts-
adäquat.

Was sich allerdings veränderte, war die Motivmischung bei

den einzelnen Expansionsschüben in der Geschichte des Em-
pire. Hier trat im „Zeitalter des Imperialismus“ seit den

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84

1870er und 1880er Jahren in der Tat ein neues Element hin-
zu: das Bestreben, durch imperiale Expansion und insbeson-
dere durch imperialen Zusammenschluß den relativen Positi-
onsverlust der britischen Industrie infolge der Entstehung
neuer Industriestaaten zu kompensieren und den relativen
Machtverlust auszugleichen, den das Land durch die Konso-
lidierung bzw. Neugründung großer, bevölkerungsreicher
territorialer Gebilde wie der Vereinigten Staaten und dem
Deutschen Reich erfuhr. Man kann in diesem Zusammenhang
geradezu von einem britischen „Kompensationsimperialis-
mus“ sprechen. Das kompensatorische Element wird etwa in
Seeleys Vorlesungen „The Expansion of England“ von 1883
deutlich, in denen er auf die Steigerung des militärischen Po-
tentials durch eine engere Verbindung zwischen dem Mutter-
land und den Kolonien hinwies. Man könne, so der Histori-
ker Seeley, „allmählich eine Organisation schaffen, durch die
im Kriegsfall die ganze Kraft des Reiches für uns verfügbar
wird“.

9

Von Teilen der Konservativen Partei ist seit der

Schutzzollagitation Joseph Chamberlains zu Beginn des
20. Jahrhunderts drei Jahrzehnte lang versucht worden, eine
engere Verbindung innerhalb des Empire in Form eines
„imperialen Zollvereins“ herzustellen. Dieser Versuch, der
der durch die außenpolitische und moralische Isolierung
Großbritanniens während des Burenkriegs in Südafrika
(1899–1902) starken Auftrieb erhielt, hat die Konservative
Partei jedoch in eine schwere Krise gestürzt

10

und ihr wegen

der in England sehr starken freihändlerischen Tradition eher
geschadet als genutzt. Er ist erst auf der Reichskonferenz in
Ottawa (1932) unter den besonderen Bedingungen der
Weltwirtschaftskrise in bescheidenem Umfang gelungen.

Auch die Monarchie erhielt im letzten Viertel des 19. Jahr-

hunderts eine imperiale Dimension und eine kompensatori-
sche Funktion,

11

die an der Erhebung Königin Viktorias zur

Kaiserin von Indien im Jahre 1876 – fünf Jahre nach der deut-
schen Kaiserproklamation in Versailles – exemplarisch deut-
lich wird. Bereits während der Kriege gegen das revolutionäre
und napoleonische Frankreich hatte sich ein auf den König

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85

Georg III. gerichteter Royalismus entwickelt, der von der
Regierung als Gegengift gegen die revolutionäre Gefahr be-
wußt gefördert worden war. Das Ende der Kriegführung und
die wenig attraktive Persönlichkeit seiner beiden Nachfolger
hatten jedoch diesen Royalismus wieder zurücktreten lassen.
Georg IV. war beim Volk höchst unbeliebt. Die Sympathien
galten vielmehr seiner von ihm getrennt lebenden Ehefrau.
Wilhelm IV. wurde nur bei seiner Thronbesteigung und Krö-
nung im Jahre 1831 umjubelt, da man in ihm einen Befürwor-
ter der Reformbill sah. Die Begeisterung verflog, als der neue
Monarch die in ihn gesetzten Erwartungen enttäuschte. Selbst
Queen Viktoria war nach ihrer 1837 erfolgenden Thronbe-
steigung durchaus nicht sogleich populär. Die Stimmung ge-
gen die Monarchie erreichte unter ihr sogar einen Höhepunkt,
als die Königin sich nach dem Tod ihres Mannes, des Prinzen
Albert, aus der Öffentlichkeit ganz zurückzog und ihren Ver-
pflichtungen kaum noch nachkam. Zu Beginn der 1870er
Jahre gab es einen starken Republikanismus in Großbritanni-
en. In der Folgezeit spielte jedoch die Monarchie im öffentli-
chen Bewußtsein eine immer größere Rolle. Sie fand wach-
sende Zustimmung sowie Verehrung und stieß immer weniger
auf Kritik. Diese Entwicklung hing, ähnlich wie die ihr vor-
angehende Phase des Royalismus im ausgehenden 18. und
frühen 19. Jahrhundert, mit einer prekär gewordenen Stellung
des Landes im Außenbereich sowie möglicherweise auch mit
einem zunehmenden sozialen Integrationsbedürfnis infolge
der fortschreitenden Industrialisierung und Demokratisierung
zusammen. Die immer mehr in Erscheinung tretende, sich mit
wachsendem Pomp und minutiös geplantem Zeremoniell
inszenierende Monarchie wurde angesichts dieser Probleme zu
einem wichtigen Element der Selbstbestätigung, zu einem
Symbol der Größe und der Einheit des Landes. Sie konnte
diese Aufgabe um so eher übernehmen, als ihre tatsächliche
Macht zurückging. Diese wurde, wie der Historiker David
Cannadine sehr treffend bemerkt hat, „gegen Popularität
eingetauscht“.

12

Je prekärer die britische Machtbasis wurde,

um so stärker hat man die Monarchie als Symbol des Empire

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86

herausgestellt, wurden bei Orden, Auszeichnungen, Feiern
und Gedenktagen (wie dem 1916 offiziell eingeführten Empi-
re Day) imperiale Akzente gesetzt.

13

Der relative Machtschwund Großbritanniens ergab sich

nicht nur aus dem Verlust seines Industriemonopols und der
Entstehung großer territorialer Gebilde auf nationalstaatlicher
Grundlage, sondern auch aus der Tatsache, daß wegen der
vor allem durch den Eisenbahnbau verbesserten Kommunika-
tionswege die Seemacht gegenüber den Landmächten an Posi-
tionsvorteilen verlor. Nunmehr war es für die Briten kaum
noch möglich, die von der „blue water school“ so hochge-
schätzten Landungsunternehmen selbst in dem bis dahin
praktizierten bescheidenen Umfang bei der Kriegführung in
Europa durchzuführen. Die Pläne der britischen Marinefüh-
rung vor dem Ersten Weltkrieg, die eine Landung in Pommern
vorsahen, waren unrealistisch; sie wurden deshalb von den
Plänen der Heeresführung völlig beiseitegedrängt.

14

Überdies

sah sich England bereits vor 1914 gezwungen, vom Grundsatz
des „two-power Standards“ abzugehen, wonach die britische
Flotte stets stärker zu sein hatte als die beiden nächstgrößeren
Flotten. Nach dem Ersten Weltkrieg war man dann genötigt,
noch einen Schritt weiter zu gehen. Auf der Konferenz von
Washington im Jahre 1922 gab sich Großbritannien mit der
bloßen Parität gegenüber der Flotte der Vereinigten Staaten
zufrieden. Außerdem akzeptierte es eine vertragliche Limitie-
rung seiner Flottenstärke und verzichtete unter amerikani-
schem Druck auf die Fortsetzung des 1902 geschlossenen
Bündnisses mit Japan.

15

In dem Flottenabkommen von 1922 fand der durch den Er-

sten Weltkrieg beschleunigte Machtverlust Großbritanniens,
das einen großen Teil seiner Auslandsinvestitionen verloren
hatte und von den enorm erstarkten Vereinigten Staaten in
den Schatten gestellt wurde, seinen symbolischen Ausdruck.
Allerdings wurde dieser Machtvgrlust durch den Sieg über
Deutschland sowie die Tatsache, daß das britische Empire
noch erweitert werden konnte und den größten Umfang in
seiner Geschichte erreichte, in charakteristischer Weise ver-

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87

schieiert.

16

Er blieb freilich den in den 1930er Jahren führen-

den britischen Politikern der Konservativen Partei nicht ver-
borgen. Stanley Baldwin und Neville Chamberlain waren sich
der Überdehnung der weltweiten Verpflichtungen Großbri-
tanniens und der Knappheit seiner Ressourcen bewußt. Be-
sonders der auch gefühlsmäßig von der Massenschlächterei
des Ersten Weltkrieges traumatisierte Chamberlain sah die
erheblichen Folgen voraus, die ein Krieg sowohl für die Bin-
nenstruktur als auch für die Weltstellung seines Landes haben
mußte. Churchill, der die Appeasement-Politik Chamberlains
angriff und im Mai 1940 sein Nachfolger als Premierminister
wurde, erkannte sie nicht. So wie er in Indien die Zeichen der
Zeit nicht wahrnahm und dem indischen Nationalismus kei-
nerlei Konzessionen machen wollte, so wenig sah er die pre-
käre Grundlage der britischen Weltmacht.

George Orwell hat damals den von ihm durchaus positiv

beurteilten Widerstandswillen des einfachen Mannes in Eng-
land gegen den Faschismus auf mangelnde rationale Lagebe-
urteilung zurückgeführt. Seine Unbeugsamkeit, so Orwell,
ergebe sich aus mangelnder Einsicht.

17

Ähnliches läßt sich

auch von Churchill sagen, wenn er selbst nach dem Zusam-
menbruch Frankreichs im Unterschied zu Außenminister Hali-
fax keine wirkliche Bereitschaft zeigte, einen Kompromißfrie-
den mit Hitler zu suchen.

18

Allerdings muß man sogleich

hinzufügen, daß angesichts der Zukunftspläne Hitlers eine
Verständigung mit ihm stets nur eine vorübergehende hätte
sein können, so daß unter diesem Aspekt Churchills Haltung
sich wiederum als durchaus realistisch erweist. Auf jeden Fall
ging jedoch durch den Zweiten Weltkrieg jene britische
Weltmachtstellung verloren, die Churchill hatte bewahren
wollen und an der ihm noch mehr gelegen war als seinen
Kontrahenten in der Konservativen Partei. Der Sieg gegen
Deutschland, so haben revisionistische Historiker wie John
Charmley argumentiert, habe Großbritannien alles gekostet,
woran Churchill geglaubt habe.

19

Das wurde jedoch zunächst nicht deutlich, weil das Land

wiederum – wie 1918 – Siegermacht war, weil seine indu-

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88

striellen Schwächen wegen der starken Zerstörungen in den
meisten Industriestaaten nicht sogleich erkennbar waren und
weil die Liquidierung des Empire sich allmählich und in einer
das britische Selbstbewußtsein schonenden Form vollzog. Die
in der Zwischenkriegszeit eingeleitete Umgestaltung des Em-
pire zu einem Commonwealth of Nations, bei der den Domi-
nions 1931 im Statut von Westminster als „autonomen Ge-
meinschaften“ Gleichrangigkeit mit dem Mutterland zuge-
standen worden war und man nur an der Krone als
übergeordneter Institution festgehalten hatte, wurde fortge-
führt. Neben die weißen Dominions traten jetzt asiatische
Mitgliedsstaaten wie Indien und Pakistan, denen später auch
afrikanische Staaten folgten. Dabei konnte der Rückzug der
Metropole von der Herrschaft über diese Gebiete geradezu als
Sieg erscheinen. Wenn der Präsident des neuen indischen
Parlaments den Kolonialherren zum Abschied nachrief, die
Unabhängigkeit seines Landes sei „die Erfüllung der demo-
kratischen Ideale des britischen Volkes“,

20

so durfte man sich

auf britischer Seite der Selbsttäuschung hingeben, die indische
Unabhängigkeit sei gewollt gewesen und die Krönung des
eigenen Wirkens.

Die politische Schwäche der britischen Position ist den mei-

sten Briten wohl erstmals durch das Suez-Abenteuer von 1956
und das Nachgeben ihrer Regierung unter massivem Druck
der Vereinigten Staaten klargeworden. Die wirtschaftliche
Schwäche des Landes ist vor allem durch die Zahlungsbilanz-
krise von 1964 sowie die Pfundabwertung im Jahre 1967 ins
allgemeine Bewußtsein gedrungen, nachdem das Versprechen
einer „neuen weißglühenden technologischen Revolution“ des
als „Evangelist der Modernisierung“ (Ben Pimlott) auftreten-
den, 1964 gewählten Labour-Premierministers Harold Wilson
sich als leere Rhetorik erwiesen hatte. Seit der Zeit wird das
Problem des „Niedergangs“ und der „englischen Krankheit“
diskutiert. Dabei war besonders das 1981 veröffentlichte
Buch des amerikanischen Historikers Martin J. Wiener „Eng-
lish Culture and the Decline of the Industrial Spirit 1850-
1980“ ungemein einflußreich, in dem der Niedergang der

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89

britischen Industrie auf die Verbreitung ländlich-adliger Nor-
men im Industriebürgertum und insbesondere auf die Public
Schools zurückgeführt wurde.

Inzwischen hat sich die „Declinology“ geradezu als eine Art

von Wissenschaft etabliert. Unlängst ist allerdings von einigen
Historikern, die sehr unterschiedliche politische und weltan-
schauliche Positionen vertreten, die Ansicht zurückgewiesen
worden, in der Entwicklung des britischen Kapitalismus sei zu
irgendeinem Zeitpunkt des späten 19. oder des 20. Jahrhun-
derts etwas „falsch“ gelaufen. Sie erscheint ihnen vielmehr als
durchaus konsequent und folgerichtig. Aus marxistischer
Sicht wird von Ellen M. Wood die These vorgetragen, Eng-
land zeige als diejenige Nation, die am frühesten und am
entschiedensten den Weg des Kapitalismus beschritten, ihn
bereits auf agrarischer Grundlage und aus dem Innern der
Gesellschaft hervorgebracht habe, am frühesten und klarsten
dessen Widersprüche und Schwächen. Der Niedergang der
britischen Industrie sei durchaus mit der Logik eines Systems
vereinbar, das grundsätzlich nicht an der Produktion, sondern
an der Profitmaximierung interessiert sei.

21

Von Historikern

wie Cain und Hopkins oder Rubinstein wird andererseits die
Auffassung vertreten, daß die dem englischen Kapitalismus
von Anfang an eigentümliche Ausrichtung auf Handel und
Finanz sich seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert wieder
stärker geltend gemacht und schließlich voll durchgesetzt
habe.

22

Für den „Gentlemankapitalismus“ sei der Industria-

lismus eher peripher gewesen.

23

Diese Sicht ist fraglos durch

die neuere wirtschafte- und sozialgeschichtliche Forschung zur
Industriellen Revolution nahegelegt worden. Diese hatte
schon seit einiger Zeit den sehr graduellen und sehr unvoll-
ständigen Charakter des Industrialisierungsprozesses in Eng-
land betont.

24

Rubinstein hat sogar den Thatcherismus als

Ausdruck der Einsicht interpretiert, daß Großbritanniens
Stärke im finanziell-kommerziellen Bereich liege und der Ver-
such einer Wiedergewinnung seiner industriellen Basis chimä-
risch sei.

25

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90

IX. Der Thatcherismus

und die Abkehr von der Konsenspolitik



Das Großbritannien der 1980er Jahre, das von der Konserva-
tiven Premierministerin Margaret Thatcher geprägt wurde,
sah das förmliche Ende des politischen Konsenses, der sich im
Zweiten Weltkrieg angebahnt, in den Jahren nach 1945 eta-
bliert hatte, aber bereits in den 70er Jahren zu zerbröckeln
begann. Die Grundlage dieses Konsenses war das Bekenntnis
zum Wohlfahrtsstaat, zu einer „mixed economy“ und zur
Vollbeschäftigung gewesen.

1

Obwohl in fast allen westlichen

Industrieländern in den ausgehenden 70er Jahren eine Wen-
dung gegen staatliche Regulierung und Sozialpolitik erfolgte,
ist jedenfalls innerhalb Europas diese Tendenz in Großbri-
tannien am doktrinärsten gewesen und am weitesten geführt
worden.

2

Mit der Erklärung Margaret Thatchers, daß es so

etwas wie eine die Individuen und Familien übergreifende
Gesellschaft überhaupt nicht gebe, kam es sogar zu einer Art
ausdrücklicher Aufkündigung des im Zweiten Weltkrieg ge-
schlossenen Sozialvertrags zwischen den Klassen.

3

Wenn der

„backlash“ in Großbritannien so besonders heftig war, so ist
dies auf die 1979 im „winter of discontent“ gipfelnden Kon-
flikte mit den Gewerkschaften, eine sehr hohe Inflationsrate
und die intransigente Persönlichkeit Margaret Thatchers zu-
rückzuführen.

Aus der Sicht des Historikers läßt sich der Thatcherismus

freilich auch in ein allgemeines Muster und eine bestimmte
Konservative Traditionslinie einordnen, erscheint er nicht nur
als das Produkt einer besonderen Situation und Persönlich-
keit. Er gehört nämlich zu einem Verlaufstypus, der sich seit
fast zweihundert Jahren in der britischen Geschichte nachwei-
sen läßt. Nach jedem der drei großen Kriege, die Großbritan-
nien seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert durchzustehen
hatte, ist eine Rhetorik der Klassenversöhnung

4

und eine

Politik der sozialen Beschwichtigung früher oder später durch
eine Sprache der Unerbittlichkeit und eine Politik der sozialen

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91

Härte abgelöst worden. Jedesmal glaubte man, soziale Maß-
nahmen der Kriegszeit sowie generell das Entgegenkommen
gegenüber den unteren Klassen für die wirtschaftlichen
Schwierigkeiten der Nation verantwortlich machen zu können
und einen härteren Kurs einschlagen zu müssen. Mit dem
Zurücktreten der äußeren Gefahrensituation und dem Ver-
blassen der Erinnerungen an das Angewiesensein auf die
Unterschichten traten stets ökonomisches Kalkül und die
Klasseninteressen der Besitzenden in den Vordergrund. So
galt nach 1815 die staatliche Armenfürsorge, und speziell
das während der großen Teuerungen in der Kriegszeit ein-
geführte System der Lohnsubventionierung aus der Armen-
steuer, als unerträgliche wirtschaftliche Belastung und Ursache
einer Demoralisierung der Bevölkerung. Das neue Armenge-
setz von 1834 mit seinem Prinzip der „less eligibility“, das die
Armenunterstützung so unattraktiv wie nur irgend möglich
machen sollte, versuchte hier, Abhilfe zu schaffen.

5

Nach dem

Ersten Weltkrieg hat nicht nur eine deflationäre, einseitig die
Interessen der City berücksichtigende Finanzpolitik der Arbei-
terschaft geschadet, sondern selbst ein so humaner und kon-
zilianter Premierminister wie Baldwin ließ es zur Zeit des
Generalstreiks von 1926 auf eine Kraftprobe ankommen, die
offenbar die Arbeiter in ihre Schranken verweisen sollte. Die
Regierung bestand auf einer bedingungslosen Kapitulation der
Streikenden.

6

Wenn Margaret Thatcher als Regierungschefin

während eines Streiks der Bergarbeiter 1984 von diesen als
dem „inneren Feind“ sprach, so war das nur ein bewußtes
oder unbewußtes Echo der während des Generalstreiks von
1926 erscheinenden, von Churchill herausgegebenen regie-
rungsamtlichen „National Gazette“. Kein Geringerer als der
Konservative Expremier Macmillan wies die Premierministe-
rin darauf hin, daß die Väter dieser Bergarbeiter in zwei
Weltkriegen gekämpft hatten.

7

Der Thatcherismus muß überdies mit einer sehr langen

Traditionslinie in der Torypartei in Verbindung gebracht
werden.

8

So wie die soziale Versöhnungspolitik der Konser-

vativen im Zweiten Weltkrieg und in der Nachkriegszeit an

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92

einen Torypaternalismus anknüpfen konnte, so stellte die
harsche Politik Margaret Thatchers die Wiederbelebung einer
wirtschaftsliberalen und zugleich politisch autoritären Hal-
tung dar, die im ausgehenden 18. Jahrhundert zunächst durch
den jüngeren Pitt verkörpert wurde und schon damals eine
besondere Anziehungskraft auf das Wirtschaftsbürgertum
ausübte. In der von Peel geführten Torypartei hatte sich ein
harter und doktrinärer wirtschaftlicher Liberalismus tiefer
eingegraben als in der Whigpartei. Er setzte sich bei den Kon-
servativen gegen Ende des 19. Jahrhunderts unter Salisbury
fort und wurde durch den „Villa-Toryismus“ des um diese
Zeit vermehrt zur Partei stoßenden vermögenden Bürgertums
der Vorstädte gesellschaftlich gestützt. Eine solche soziale
Stützung des diese Tradition fortführenden Neoliberalismus
der 1970er Jahre stellte die „Entadlung“ (degentrification) der
Partei dar, die sich damit ihrer Wählerschaft stärker anglich,
als es jemals zuvor der Fall gewesen war. In den 1980er Jah-
ren scherzte man, die Partei sei aus den Händen von Grund-
besitzern in die von Grundstücksmaklern übergegangen.

9

Mit

dieser „degentrification“ ist die gesellschaftliche Grundlage
für jene Wende geschaffen worden, die in der Periode der
Opposition von 1974 bis 1979 unter dem Einfluß von „Think
Tanks“ wie dem Centre of Policy Studies und dem Institute of
Economic Affairs ideologisch vorbereitet wurde.

Auch der Stil Margaret Thatchers war nicht ohne Vorläufer

in der britischen Politik. Er imitierte einerseits das heroische
Pathos eines Winston Churchill und wies andererseits eine
starke Ähnlichkeit mit dem einiger Imperialisten am rechten
Rand der Konservativen Partei vor dem Ersten Weltkrieg auf,
die Großbritannien ihre Politik aufzwingen wollten und von
dem Erreichen dieses Ziels das Schicksal der Nation abhängig
sahen. Ein Mann wie Alfred Milner, der als Hoher Kommis-
sar in Südafrika der Hauptverantwortliche für den Burenkrieg
gewesen war und nach seiner Rückkehr nach England für die
imperiale Reichseinheit, Schutzzölle und allgemeine Wehr-
pflicht kämpfte, wollte das Land ebenso aufrütteln und aus
einem schlappen Konsens herausreißen wie später Margaret

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93

Thatcher.

10

Ihn stießen die untergründige Gemeinsamkeit

zwischen Konservativen und Liberalen und die „gegenseitige
Parteicourteoisie“

11

ab, die nach seiner Auffassung die Lö-

sung der großen nationalen Aufgaben unmöglich machten.
Margaret Thatcher gehörte wie Milner zu dem Typus des
„Überzeugungspolitikers“, der ein stark ideologisch geprägtes
Programm realisieren will und an ihm, wenn auch nicht ohne
gelegentliche taktische Konzessionen, konsequent festhält.

Hatte sich unter der Regierung ihres Konservativen Vor-

gängers Edward Heath, der 1970 mit einem neoliberalen
Programm angetreten war, dann doch wieder die Tendenz zu
einer schonend-gemeinschaftsorientierten Politik durchge-
setzt,

12

so gab es eine solche, von ihr scharf kritisierte Kehrt-

wendung („U-Turn“) unter Mrs. Thatcher nicht. Sie lehnte
vielmehr ausdrücklich die Aufforderung von Heath im Jahre
1981 ab, zu einer „Konsenspolitik“ zurückzukehren.

13

Ihr

kämpferisches Temperament drängte zu einer Politik der
Konfrontation. Sie besaß eine Überzeugung von ihrer Missi-
on, den Niedergang Großbritanniens aufzuhalten und rück-
gängig zu machen. „Nichts ist unmöglich“, erklärte sie. „Der
Niedergang ist nicht unausweichlich.“

14

Sie strahlte eine Ge-

wißheit aus, in dem Kampf zwischen Gut und Böse das Gute
zu verkörpern, wie sie seit Gladstone kein Premierminister
mehr besessen hatte.

Man hat Margaret Thatchers Bestreben, in Großbritannien

einen Wertewandel zu erzwingen, die Gesellschaft und Wirt-
schaft des Landes wieder zu dynamisieren und aus einem
schlaffen Stagnationskonsens herauszureißen, nicht zu Un-
recht mit dem Begriff einer „Kulturrevolution“ charakteri-
siert.

15

Das Ziel war die Schaffung einer „enterprise culture“.

Die Premierministerin forderte dabei eine Rückkehr zu den
„viktorianischen Werten“,

16

wobei sie freilich die philan-

thropische Seite des Viktorianismus ignorierte. Sie verkannte,
daß die von ihr beschworenen „Victorian values“ nicht auf
rücksichtslose Förderung des Individualismus und der Markt-
gesetze abzielten, sondern im Gegenteil überwiegend ein
Normensystem propagierten, das der gesellschaftlich auflö-

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94

senden Tendenz von Markt und Wettbewerb entgegenwirken
und soziale Kohäsion ermöglichen sollte. Die „moralische
Ernsthaftigkeit“ der Viktorianer war gleichsam das Gegengift
zum laisser-faire. Am ehesten erinnern die soziale Härte und
Rücksichtslosigkeit in Margaret Thatchers Politik, ihre Auf-
fassung von der demoralisierenden Wirkung der Fürsorge für
die Unterschichten und ihre Erklärung, daß niemand essen
solle, der nicht arbeite,

17

an den Geist, der hinter dem New

Poor Law von 1834 stand.

18

Konkret wirksam wurde die Ideologie Margaret Thatchers

in einer Politik der Privatisierung, die auch Teile der Arbeiter-
schaft interessenmäßig an die Konservativen band und dazu
beitrug, daß sie bei den Wahlen von 1987 36 Prozent der
Arbeiterstimmen erhielten. (Im Süden des Landes, wo die
Arbeiter materiell besser gestellt und die Arbeitslosenzahlen
geringer waren als im Norden mit seiner Konzentration der
„traditionellen Arbeiterklasse“ betrug der Anteil der für die
Konservative Partei abgegebenen Arbeiterstimmen sogar 46
Prozent.)

19

Das ist um so bemerkenswerter, als eine Reihe von

Gesetzen in den 80er Jahren die Rechte der Gewerkschaften
einschränkte. Das Fernhalten von Arbeitswilligen bei Streiks
(„picketing“) und die Einführung eines „closed shop“, bei
dem nur Gewerkschaftsangehörige in einem Betrieb beschäf-
tigt werden dürfen, wurden erschwert. Streikaktionen wurden
an vorausgegangene geheime Abstimmungen der Gewerk-
schaftsmitglieder geknüpft, Gewerkschaften in bestimmten
Fällen bei Streiks schadenersatzpflichtig gemacht.

20

Praktisch wirksam wurde auch Margaret Thatchers Glaube

an die Vorzüge der Ungleichheit. Der seit dem Zweiten Welt-
krieg anhaltende Trend zur Nivellierung der Einkommensun-
terschiede wurde unter ihrer Regierung umgekehrt. Der Ab-
stand zwischen Spitzenverdienern und dem am schlechtesten
gestellten Teil der Bevölkerung vergrößerte sich.

21

Es bildete

sich, auf der Grundlage einer nunmehr offenbar wieder weit-
hin akzeptabel gewordenen und Wahlsiege der Regierung
nicht mehr verhindernden Massenarbeitslosigkeit, eine neue
soziale „underclass“.

22

Die überwiegend von linken Doktrinä-

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95

ren beherrschte Labour Party, von der sich 1981 eine sozial-
demokratische Richtung abspaltete und die es bei den Wahlen
von 1983 nur auf 27,6 Prozent der abgegebenen Stimmen
brachte, mußte ohnmächtig mit ansehen, wie die große Er-
rungenschaft der Regierung Attlee rückgängig gemacht wurde
und sich wieder Massenarmut ausbreitete. 1989 wurde gegen
200 000 Menschen Anklage wegen Vagabundierens erhoben.
Die Zahl der Familien ohne Wohnung stieg von 56 000 im
Jahr 1979 auf 128 000 im Jahr 1989. Nach offiziellen Anga-
ben waren zu diesem Zeitpunkt 370 000 Menschen obdach-
los.

23

Charakteristisch für Margaret Thatchers Abkehr von allem,

was sie für schädliche Sentimentalitäten hielt, waren auch ihre
Distanzierung vom Commonwealth und ihr geringes Interesse
für die verbliebenen kolonialen Besitzungen Großbritanniens.
Es entbehrt deshalb nicht der Ironie, daß sie ihre erste Wie-
derwahl dem siegreichen Falklandkrieg des Jahres 1982 gegen
Argentinien verdankte, obwohl die Besetzung der Inselgruppe
durch argentinische Truppen auf eine unklare Außen- und
Militärpolitik ihrer Regierung zurückzuführen war und die
Argentinier (nach Angaben des damaligen britischen Bot-
schafters in Washington) offenbar sogar von einem hohen
Beamten des Außenministeriums dazu ermuntert wurden.

24

Es

war die wohl letzte der besonders in der zweiten Hälfte des
19. Jahrhunderts so häufigen plötzlichen Aufwallungen der
britischen Öffentlichkeit aufgrund von Vorkommnissen, die
sich an der sonst überwiegend ignorierten imperialen Peri-
pherie ereignet hatten. Auf die demagogischste Weise wurde
von der Premierministerin der Kampf um die ökonomische
Gesundung des Landes mit dem gegen Argentinien zu der
Vision eines wiedererstarkten Volkes verbunden. Sie erklärte:
»Wir haben aufgehört, eine Nation auf dem Rückzug zu sein.
Wir haben stattdessen ein wiedergefundenes Vertrauen, das in
den wirtschaftlichen Schlachten zu Hause geboren und in
8000 Meilen Entfernung erprobt wurde“.

25

Was die Pre-

mierministerin verschwieg, war die Tatsache, daß selbst dieser
Akt zur Demonstration britischer Stärke gegen eine drittran-

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96

gige Macht ohne aktive amerikanische Hilfe nicht möglich
gewesen wäre.

Als Margaret Thatcher 1989/90 zu der wahlpolitisch selbst-

mörderischen Politik überging, in den Kommunen eine ein-
kommensunabhängige Personensteuer („poll tax“) einzufüh-
ren, und der zum Teil gewalttätige Widerstand dagegen einen
Hauch von 18. Jahrhundert nach Großbritannien zurück-
brachte, da half ihr keine äußere Ablenkung aus der selbstge-
schaffenen Sackgasse. Die Mehrheit der Fraktion versagte ihr
die Gefolgschaft und erzwang im November 1990 ihren
Rücktritt.

26

Unter dem neugewählten Parteiführer John Major

konnte die Konservative Partei wider Erwarten sogar die
darauffolgenden Unterhauswahlen vom April 1992 gewinnen,
indem sie sich fast als eine Art Oppositionspartei zu Mrs.
Thatcher darstellte. Die Konservativen, so hat man boshaft
bemerkt, griffen die Forderung der Labour Party auf, daß es
Zeit für einen Wechsel sei.

Inhaltlich hat John Major die Politik seiner Vorgängerin im

wesentlichen fortgesetzt, wobei seine Regierung inzwischen
mit der von Minister Heseltine betriebenen Privatisierung der
Post Schiffbruch erlitt und jetzt auch die Privatisierung der
Eisenbahn auf gefährliche Klippen zusteuert. Majors Stil un-
terscheidet sich jedoch ganz wesentlich von dem Margaret
Thatchers. Der neue Regierungschef ist nicht schroff und
kämpferisch, sondern er ist auf Versöhnen und Heilen ausge-
richtet. Er versucht auch, die Kluft zu verringern, die sich
unter seiner Vorgängerin zwischen der Verachtung von per-
sönlichen Freiheitsrechten einerseits und der Glorifizierung
der Marktfreiheit andererseits aufgetan hatte. Mit seiner
„Citizen Charter“ zeigt er sich bestrebt, den öffentlichen
Dienst transparenter und bürgernäher zu machen. Den Schritt
zu einer Fixierung von Verfassungsrechten der Bürger gegen-
über ministeriellen Übergriffen hat er jedoch nicht getan.
Insofern hat er sich auch in diesem Bereich nicht wirklich von
seiner Vorgängerin abgesetzt.

Im Augenblick der Fertigstellung dieses Buches droht die

durch katastrophal schlechte Wahlergebnisse und Meinungs-

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97

umfragen angeschlagene Konservative Regierung zu scheitern
und sich die Partei zu spalten, da in ihr auch nach dem Bei-
tritt des Vereinigten Königreiches zur EWG im Jahre 1973 die
Auffassungen in bezug auf Großbritanniens Stellung zu Euro-
pa weit auseinandergehen und in jüngster Zeit der Streit sich
durch die in Aussicht stehende europäische Währungsunion
ungemein verstärkt hat. Die Labour Party, die unter ihrem
neuen Parteiführer Tony Blair die Forderung ihres Parteipro-
gramms nach Vergesellschaftung der Produktionsmittel auf-
gab, ist dagegen der Chance einer Regierungsübernahme so
nahe wie lange nicht mehr. Zwar ist John Major der wach-
senden Kritik der Euroskeptiker in den eigenen Reihen mit
einem Präventivschlag entgegengetreten, indem er als Partei-
vorsitzender zurücktrat. Bei der Neuwahl am 4. Juli 1995
gelang es ihm, mit 218 von 329 Stimmen der Konservativen
Unterhausfraktion wiedergewählt zu werden. Diese relativ
schwache Bestätigung und die ihr folgende Kabinettsumbil-
dung haben jedoch die Gegensätze innerhalb der Partei nicht
beseitigt und seine eigene Führungsschwäche nicht behoben.
Wenn die Konservativen noch etwas zusammenhält, dann ist
es das Trauma der Parteispaltungen, die sich 1846 aus Peels
Entscheidung für den Freihandel und 1904 aus Joseph Cham-
berlains Eintreten für den Schutzzoll ergaben.

Obwohl die 1979 einsetzende Periode Konservativer Herr-

schaft an ihr Ende gekommen zu sein scheint, ist es noch zu
früh, um ein genaues und umfassendes Urteil über ihre länger-
fristigen Wirkungen abzugeben. Es läßt sich jedoch bereits
jetzt sagen, daß in den 80er Jahren der soziale Nachkriegs-
konsens durch eine neue Rücksichtslosigkeit und die Losung
des „enrichissez-vous“ zerstört wurde. Mit der zunehmenden
Zerklüftung der Nation

27

ist das Versprechen der Kriegszeit

zunichte geworden. Darüber hinaus hat die Ära Thatcher aber
auch schon jetzt erkennbare politisch-konstitutionelle Folgen
gehabt. So ist vor allem durch die Entschlossenheit der
Premierministerin, eine „Revolution von oben“ durchzu-
führen, die Macht der Zentralgewalt in bedenklicher Weise
gesteigert worden. Unter ihrer Herrschaft war die Zurück-

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98

drängung des Staates im wirtschaftlichen Bereich mit einer
Steigerung der Staatsmacht in anderen Bereichen eigentümlich
verbunden.

Die Machtkonzentration in den Händen der Regierung

erfolgte nicht zuletzt auf Kosten der lokalen Selbstverwaltung.
Die englische Geschichte ist bis weit ins 19. Jahrhundert hin-
ein durch zwei entgegengesetzte, sich ausbalancierende
Merkmale charakterisiert gewesen: einerseits durch eine rela-
tiv frühzeitige und weitgehende Kompetenzzuweisung an die
Zentralgewalt, andererseits durch eine faktische Dezentrali-
sierung in Gestalt lokaler Machtträger, auf welche die Zen-
tralgewalt zur Durchsetzung ihrer Anordnungen angewiesen
war. Mit dem Zurücktreten der Adelsmacht sowie dem
Schwinden einer selbstbewußten Bürgerkultur, wie sie sich
während der Industriellen Revolution im Norden des Landes
entwickelt hatte, wurden die alternativen Einflußzentren und
die Gegengewichte gegen die Zentralgewalt schwächer. Sie
sind durch die bewußt betriebene Entmachtung der Lokal-
verwaltung unter der Regierung Thatcher noch weiter ge-
schwächt worden. Seit den Angriffen auf die elisabethani-
schen Armengesetze sowie der Durchsetzung des New Poor
Law von 1834 ist in Großbritannien eine Politik der sozialen
Demontage traditionell mit einem starken Mißtrauen gegen
die angeblich allzu großzügigen Lokalbehörden und einer
Tendenz zur Zentralisierung verbunden gewesen. Niemand
ist dabei jedoch so rücksichtlos und radikal vorgegangen
wie Margaret Thatcher. In den 1980er Jahren erfolgte in
England tatsächlich das, was Disraeli in seinem 1845 ver-
öffentlichten Roman „Sybil or the Two Nations“ beschrieben
hatte: „ein roher Angriff auf alle lokalen Einflüsse, um eine
streng organisierte Zentralisation durchzusetzen“.

28

England

ist heute faktisch der zentralisierteste Staat Europas gewor-
den.

29

Nach unten hin des Gegengewichts selbstbewußter Lokal-

gewalten beraubt, durch keine geschriebene Verfassung klar
eingegrenzt, mit der nicht unerheblichen Macht der Frakti-
onseinpeitscher („whips“) über die Abgeordneten ausgestattet

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99

und in der Lage, innerhalb der festgelegten Höchstdauer von
Legislaturperioden den Zeitpunkt von Parlamentswahlen zu
bestimmen, droht die Exekutive sich zu verselbständigen. Das
Schreckgespenst des 18. Jahrhunderts – „the overgrown
executive“ – scheint jetzt zur Wirklichkeit zu werden (wenn
auch nicht auf dem damals befürchteten Weg der „Korrup-
tion“ und des „geheimen Einflusses der Krone“).

Der rücksichtslose Einsatz der zentralen Regierungsgewalt

zur Durchsetzung einer konservativen „Konterrevolution“
(Peter Riddell) hat einer wachsenden Zahl von Briten bewußt
gemacht, auf welcher prekären Grundlage ihr politisches
System beruht. Von Margaret Thatcher mit ihrer explizit
konsensfeindlichen Politik wurde das von einem Historiker
sehr treffend als „Clubregierung“ bezeichnete, durch infor-
melle Übereinkunft, ungeschriebene Regeln und Traditionen
charakterisierte Westminster-Modell in Frage gestellt.

30

Selbst

die individuellen Rechte erscheinen nunmehr unzureichend
geschützt.

31

Gegen Ende der Ära Thatcher war Großbritanni-

en der Staat, gegen den die meisten Klagen vor der Europäi-
schen Gerichtshof für Menschenrechte anhängig waren.

32

Nach dem Urteil eines englischen Historikers gibt es im Ver-
einigten Königreich jetzt weniger Schutz gegen den Miß-
brauch von Macht als in irgendeinem anderen Mitgliedsstaat
der Europäischen Union.

33

Das steht in krassem Widerspruch

zur Tradition eines Landes, das sich am frühesten und stärk-
sten mit der individuellen Freiheit und dem Recht identifizier-
te. Der Journalist Anthony Sampson hat den bösen Satz ge-
prägt: „Während britische Politiker sich der einzigartigen
Geschichte der Freiheit ihres Landes rühmen, sehen sich ihre
Wähler dazu gezwungen, in letzter Instanz in Straßburg
Schutz zu suchen“.

34

Das Unbehagen angesichts dieses Zustands führte am

300. Jahrestag der Glorious Revolution zur Gründung der
Gruppe „Charter 88“, die u.a eine geschriebene Verfassung
mit Grundrechtsfixierung und die Unabhängigkeit der lokalen
Selbstverwaltung durchzusetzen versucht. In diesen Forderun-
gen schlägt sich die Erkenntnis nieder, daß die lange Zeit auf

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der Grundlage von Adelsmacht bestehenden Sicherungen,
Kontrollen und Konventionen jetzt durch förmliche konstitu-
tionelle Garantien und geschriebene Regeln ersetzt werden
müssen.

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101

X. Frühe Modernität und die Kraft der Beharrung.

Ein Rückblick



Daß Großbritannien zu den letzten Staaten auf dieser Welt
gehört, die keine geschriebene Verfassung besitzen, wird von
den Anhängern der Gruppe „Charter 88“ zu Recht als uner-
träglicher Mißstand angeprangert. Zugleich verweist diese
Tatsache jedoch auf einen allgemeinen Grundzug der engli-
schen Geschichte, der hier abschließend noch angedeutet
werden soll.

Es scheint, als habe sich in England in verschiedenen Berei-

chen frühzeitig eine vergleichsweise moderne Entwicklung
angebahnt, die in späteren Perioden den Druck zu einer star-
ken Veränderung oder gar Eliminierung bestehender Institu-
tionen und Strukturen gering hielt. Das gilt ganz offensicht-
lich für das Königtum, in dem viele Briten heute zugleich das
augenfälligste Symbol und die wichtigste Ursache der man-
gelnden Modernität ihres Landes sehen. Seine frühzeitige
Beschränkung, seine Zähmung durch Revolutionen und durch
einen erzwungenen Wechsel der Dynastien sowie schließlich
seine Umformung in Richtung auf eine parlamentarische
Monarchie haben ihm einen Lern- und Anpassungsprozeß
aufgezwungen, der die Institution als solche überleben ließ.

Ähnliches gilt ganz unzweifelhaft auch für das Parlament.

Es war bereits im Mittelalter in so hohem Maße repräsentativ
für den Gesamtstaat und so wenig eine exklusive, besondere
Privilegien verteidigende Ständeversammlung, daß es durch
die allmähliche Hinzufügung demokratischer Elemente im 19.
und 20. Jahrhundert verändert werden konnte, dabei aber
seinen adlig-grundherrlichen Charakter sehr lange behielt.

Was von der Monarchie und dem Parlament gesagt werden

kann, läßt sich auch von der Verfassungsordnung insgesamt
behaupten. Sie enthielt bereits in der vorkonstitutionellen
Periode genügend Elemente des modernen Verfassungsstaates,
um überleben zu können. Die Notwendigkeit einer Einhegung
der souveränen Gewalt der „Crown-in-Parliament“ durch

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102

eine geschriebene Verfassung und durch die Fixierung von
Grundrechten wurde (sieht man von den Levellers ab) kaum
empfunden, weil sie eine starke repräsentative Komponente
enthielt und weil die seit dem Mittelalter bestehenden Rechte
durch die Gerichte gesichert erschienen. Die Tatsache, daß die
Revolution in England bereits um die Mitte des 17. Jahrhun-
derts in einem noch ganz überwiegend von Adel und Monar-
chie geprägten Milieu stattfand und die radikalen Energien zu
einem erheblichen Teil auf die Religion gerichtet waren, ver-
hinderte trotz des im Januar 1649 erfolgenden Lippenbe-
kenntnisses des Parlaments zur Volkssouveränität deren
Durchsetzung. Von den beiden kurzlebigen geschriebenen
Verfassungen, die England während der Zeit des Interreg-
nums in den 1650er Jahren gehabt hat, war die erste von der
Armee oktroyiert, die zweite mit dem Parlament vereinbart
worden. Keine ging vom Volk aus. Es erfolgte in England
nicht die Neugestaltung auf der Grundlage des Prinzips der
Volkssouveränität, wie sie in den 1770er und 1780er Jahren
in den Vereinigten Staaten geschah. Erst neuerdings ist, wie
schon erwähnt, angesichts der wachsenden Verselbständigung
der Exekutive und der absolutistischen Implikationen eines
„parlamentarischen Monotheismus“ (Mount) die Unzufrie-
denheit mit dem bestehenden Verfassungszustand groß ge-
worden. Das Prinzip der Parlamentssouveränität wird als
pseudodemokratische Fiktion kritisiert, die eine Entwicklung
Großbritanniens zur modernen Staatsbürgergesellschaft ver-
hindert. Die „Charter 88“ versucht, den Akt der demokrati-
schen „Neugründung“ (Hannah Arendt) nachzuholen, den es
in England nie gegeben hat.

Beharrung durch partielle Antizipation von Modernität läßt

sich auch im religiösen und im gesellschaftlichen Bereich fest-
stellen. Die Gewährung von Toleranz im 17. Jahrhundert
erklärt es, daß es in England noch heute eine Staatskirche
gibt. Der Zwang zur Veränderung war, trotz der heftigen
Proteste der Nonkonformisten gegen die „established church“,
zu gering. Was den sozialen Bereich angeht, so war die stän-
dische Gliederung in England so wenig starr und Status so

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103

frühzeitig mit dem Eigentum verbunden, daß die Ständegesell-
schaft reibungslos in die Klassengesellschaft übergehen konnte
– in eine Klassengesellschaft freilich, in der das adlig-
grundherrliche Element bis zum ausgehenden 19. Jahrhundert
dominant blieb und bis heute ein besonderes Prestige behalten
hat. Die frühe „Verbürgerlichung“ des englischen Adels, die
sich in der Markt- und Profitorientierung der Grundherren
sowie in ihrer Bereitschaft zur Nutzung nichtagrarischer Ein-
nahmequellen zeigte, gab ihm nicht nur eine starke ökonomi-
sche Basis, sondern erleichterte ihm auch den Eintritt in das
„bürgerliche Zeitalter“. Er konnte sich um so besser den
bürgerlichen Werten anpassen und mit dem Bürgertum ar-
rangieren.

Auch daß der Adel in England in seinen unteren Rängen

traditionell sehr offen und aufnahmebereit war, hat ihn aus
bürgerlicher Sicht weniger anstößig gemacht als anderswo.
Nicht zuletzt daraus erklärt es sich, daß Großbritannien noch
heute ein Oberhaus mit erblichen Peers hat, die dort aus eige-
nem Recht sitzen, ohne irgendwie gewählt zu sein. Die Re-
formpläne der jetzigen Labourführung sehen allerdings vor,
den erblichen Peers das Stimmrecht zu entziehen und schließ-
lich das Oberhaus ganz mit den Peers auf Lebenszeit zu beset-
zen, die es dort seit 1958 neben den erblichen Peers gibt.

Die aufgewiesene Verbindung zwischen einer frühen Her-

ausbildung moderner Züge und der Lebenskraft älterer Struk-
turen und Institutionen läßt sich schließlich ebenfalls im Wirt-
schaftsbereich beobachten. Der Übergang zur kapitalistischen
Ökonomie vollzog sich in England relativ frühzeitig und unter
der Herrschaft einer grundbesitzenden Elite. Das gab seiner
Wirtschaft eine starke Ausrichtung auf die Finanz und den
Handel, die nach der Erschütterung des Pariser Geldmarktes
im deutsch-französischen Krieg von 1870/71 und nach dem
Aufkommen technologisch überlegener industrieller Konkur-
renz wieder vorherrschend wurde. Die Überlegenheit dieser
Konkurrenten erklärt sich wiederum vor allem daraus, daß
der Anteil wissenschaftlicher Forschung an der bereits in der
zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts einsetzenden Industriel-

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len Revolution in England gering war und diese Tatsache dort
eine indifferente Haltung in bezug auf die technische Ausbil-
dung und die Einrichtung von Laboratorien in der Industrie
gefördert hatte. Auch hier sind die Prägekraft und die hem-
mende Wirkung eines frühzeitigen Übergangs zu Modernität
erkennbar.

England, so kann man zusammenfassen, nahm im Mittelal-

ter und zu Beginn der Neuzeit so viel von der Moderne vor-
weg, daß es ihr in mancher Hinsicht auf eigentümliche Weise
fernbleiben konnte. Der frühe Eintritt in die moderne Welt
erklärt – neben der geschickten Politik einer Elite, die schwere
innere Erschütterungen und katastrophale militärische Nie-
derlagen mit den daraus resultierenden Umbrüchen vermeiden
konnte – das Defizit an Modernität im heutigen Großbritan-
nien.

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105

Anmerkungen


Vorwort

1 Kurt Kluxen, Geschichte Englands, Stuttgart 1991

4

; Peter Wende,

Geschichte Englands, Stuttgart 1985; Geschichte Englands, Bd. 1:
Karl F. Krieger, Von den Anfängen bis zum 15. Jahrhundert,
München 1990; Bd. 2: Heiner Haan u. Gottfried Niedhart, Vom
16. bis zum 18. Jahrhundert, München 1993; Bd. 3: Gottfried
Niedhart: Im 19. und 20. Jahrhundert, München 1987.


I. Die mittelalterlichen Grundlagen des englischen Staates

und der englischen Freiheit

1 Leopold von Ranke, Über die Epochen der neueren Geschichte,

Darmstadt 1959, S. 118. Zum Englandbild Rankes vgl. Hans-
Christoph Schröder, Rankes „Englische Geschichte“ und die
Whighistoriographie seiner Zeit, in: Rudolf Vierhaus (Hrsg.),
Frühe Neuzeit – Frühe Moderne?, Göttingen 1992, S. 27–47.

2 H. R. Loyn, Anglo-Saxon England and the Norman Conquest,

Paperbackausg. London 1981, S. 303.

3 Diese Auffassung vertritt ganz entschieden Alan Macfarlane, The

Origins of English Individualism, Oxford 1978. Zu einer sehr
ähnlichen Ansicht war jedoch bereits der viktorianische Rechtshi-
storiker Maitland gelangt. Vgl. bes. Frederic William Maitland,
Domesday Book and Beyond, hrsg. u. eingel. v. J. C. Holt, Cam-
bridge 1987, S. IXf., 347–350, 352f. Siehe dazu J. W. Burrow,
Whigs and Liberals, Continuity and Change in English Political
Thought, Oxford 1988, bes. S. 141 f.

4 W. L. Warren, The Governance of Norman and Angevin England

1086–1272, London 1987, S. 3.

5 Vgl. dazu Hans-Christoph Schröder, Die unvollendete Revolution.

Das sozialradikale Programm Winstanleys und Babeufs im Kon-
text revolutionärer Entwicklung, in: Ders. u. Hans-Dieter Metzger
(Hrsg.), Aspekte der Französischen Revolution, Darmstadt 1992,
S. 161–181.

6 Dieses Amalgam wird sehr treffend charakterisiert bei Kurt Klu-

xen, Englische Verfassungsgeschichte, Mittelalter, Darmstadt
1987, S. 23.

7 Vgl. dazu M.T. Clanchy, From Memory to Written Record, Eng-

land 1066–1307, Paperbackausg. London 1987.

8 Marjorie Chibnall, Anglo-Norman England 1066–1166, Paper-

backausg. Oxford 1987, S. 121.

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106

9 Ebd., S. 126.
10 Dazu grundlegend J. C. Holt, Magna Carta, Paperbackausg.

Cambridge 1976.

11 Vgl. dazu Clanchy, S. 212 ff.
12 Holt, S. 184.
13 Leopold von Ranke, Englische Geschichte, Hamburg 1957, Bd. I,

S. 41.

14 Susan Reynolds, Kingdoms and Communities in Western Europe

900–1300, Paperbackausg. Oxford 1986, S. 268.

15 Vgl. J.G. Edwards, The Plena Potestas of English Parliamentary

Representatives, in: E. B. Fryde und E. Miller (Hrsg.), Historical
Studies of the English Parliament, Cambridge 1970, Bd. I, S. 136-
149; Michael Prestwich, Edward I, London 1988, S. 454ff.

16 Otto Brunner, Land und Herrschaft, Wien 1959, S. 422.
17 Marc Bloch, Die Feudalgesellschaft, Frankfurt 1982, S. 326, 397.
18 Martin Kriele, Die Herausforderung des Verfassungsstaates,

Hobbes und die englischen Juristen, Neuwied 1970.

II. Die Ambivalenz der Tudorherrschaft

1 Mervin James, English Politics and the Question of Honour

1485–1642, Oxford 1978, S. 18.

2 D. M. Palliser, The Age of Elizabeth: England under the later

Tudors 1547–1603, London 1983, S. 303.

3 J. H. Gleason, The Justices of the Peace in England, 1558–1640,

Oxford 1969, S. 76. P. Clark, English Provincial Society from the
Reformation to the Revolution: Religion, Politics and Society in
Kent, 1500–1640, Hassocks 1977, S. 127f., 147, 258.

4 W. M. Lamont, Godly Rule, Politics and Religion 1603–1660,

London 1969.

5 Ranke, Englische Geschichte, Bd. I, S. 114.
6 Thomas Smith, De Republica Anglorum, hrsg. v. Mary Dewar,

Cambridge 1982, S. 78.

7 Christopher Haigh, Elizabeth I, London 1988, S. 106ff., 113–118.
8 Zitiert nach Michael A. R. Graves, The Tudor Parliaments, Lon-

don 1985, S. 80.

9 Vgl. für die zeitgenössische Hochschätzung des Parlaments vor

allem die 1577 verfaßte Schrift von William Harrison, The
Description of England, Ithaca 1968, S. 149f.

III. Das revolutionäre Jahrhundert

1 Max Weber, Deutschlands künftige Staatsform, in: Ders. Gesam-

melte Politische Schriften, Tübingen 1958, S. 454.

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107

2 David Starkey, Which Age of Reform?, in Christopher Coleman

u. David Starkey (Hrsg.), Revolution Reassessed, Revisions in the
History of Tudor Government and Administration, Oxford 1986,
S. 21.

3 Hans-Dieter Metzger, Thomas Hobbes und die Englische Revolu-

tion, 1640–1660, Stuttgart 1991, bes. S. 246–256.

4 Der Text ist abgedruckt in: E. N. Williams (Hrsg.), The Eigh-

teenth Century Constitution, Cambridge 1965, S. 26–29.

5 John Brewer, The Sinews of Power: War, Money and the English

State, 1688–1783, London 1989, S. 159.

6 Das Gesetz ist abgedruckt in: Williams (Hrsg.), S. 56–60. – Die

Nachfolgeregelung ließ sich sogar im Sinne einer Wahlmonarchie
interpretieren. 1780 bestritt Charles James Fox – kein plebejischer
Radikaler, sondern ein Mitglied des aristokratischen Establish-
ment, der noch wenige Jahre zuvor dem Ministerium angehört
hatte und bald wieder Minister wurde – in einer Rede, daß Georg
III. ein „hereditary right“ auf das Königsamt besitze. Das Parla-
ment habe ihn zum Nachfolger auf dem Thron gemacht, aber ein
ererbtes Recht auf ihn besitze er nicht: „Er war . . . ein bloß vom
Volk eingesetztes Geschöpf (the mere creature of the people’s in-
stituting), und was er an Rechten besaß, das besaß er nur treu-
händerisch für das Volk, für dessen Nutzen und Wohl“ (zitiert
nach L. G. Mitchell, Charles James Fox, Oxford 1992, S. 32).


IV. Die parlamentarische Monarchie

1 Im Verfassungsdenken setzte sich freilich das Prinzip der Ver-

klammerung und Kooperation von Regierung und Parlament nur
sehr zögernd durch. Noch 1788 konnte Charles James Fox die
Ansicht vertreten, daß die drei Zweige der Verfassung nicht nur
unabhängig zu sein hätten, sondern sich geradezu „feindlich“ zu-
einander verhalten müßten. Andernfalls gehe die politische Frei-
heit verloren (Mitchell, S. 83 f.). Erst Walter Bagehot hat die Fik-
tion der Unabhängigkeit ganz fallengelassen und 1867 in seinem
klassischen Werk über die englische Verfassung „die enge Verbin-
dung, die nahezu vollständige Verschmelzung der exekutiven und
legislativen Gewalt“ ausdrücklich als deren „Erfolgsgeheimnis“
bezeichnet (Walter Bagehot, The English Constitution, Neudr.
London 1955, S. 125). Aufschlußreich ist freilich, daß selbst Ba-
gehot immer noch von einem „secret“ sprach.

2 Rommey Sedgwick (Hrsg.), Lord Hervey’s Memoirs, Harmonds-

worth 1984, S. 114.

3 W. A. Speck, Stability and Strife, England 1714–1760, London

1977, S. 160.

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108

4 Zusammenfassend zum Schrumpfen der Regierungspatronage:

Norman Gash, Aristocracy and People, Britain 1815–1865, Lon-
don 1979, S. 49 ff.

5 Linda Colley, Britons, Forging the Nation 1707–1837, New

Haven 1992, S. 195–236.


V. Adel, Bürgertum und Unterschichten

1 Leopold von Ranke, Die großen Mächte – Politisches Gespräch,

mit einem Nachwort von Theodor Schieder, Göttingen 1955,
S. 50.

2 John Cannon, Aristocratic Century: The Peerage of 18th-Century

England, Cambridge 1984, S. 114f.

3 Reed Browning, The Duke of Newcastle, New Haven 1975,

S. 34, 52.

4 Cannon, Aristocratic Century, S. 106 f.
5 Ebd., S. 137.
6 Roy Porter, English Society in the Eighteenth Century, Har-

mondsworth 1982, S. 76 f.

7 Edmund Burke, Further Reflections on the Revolution in France,

hrsg. v. Daniel E. Ritchie, Indianapolis 1992, S. 215.

8 J. C .D. Clark, English Society, 1688–1832, S. 103.
9 Keith Thomas, Man and the Natural World, New York 1983,

S. 208.

10 Weber, Gesammelte Politische Schriften, S. 331. Die Gentry hielt

sich, wie Weber an anderer Stelle bemerkte, „im Besitz der sämtli-
chen Ämter der lokalen Verwaltung, indem sie dieselben gratis
übernahm im Interesse ihrer eigenen sozialen Macht“ (Max We-
ber, Wirtschaft und Gesellschaft, Studienausg. hrsg. v. Johannes
Winckelmann, Köln 1964, 2. Halbband, S. 1051).

11 Paul Langford, Public Life and Propertied Englishmen, 1689-

1798, Oxford 1991, S. 406f.

12 Vgl. dazu Colley, Britons, bes. S. 178–193. Ein Autor spricht

sogar von einem neuen „Schwertadel“ in England, der in der lan-
gen Kriegszeit geschaffen worden sei (C. A. Bayly, Imperial Me-
ridian, The British Empire and the World, 1780–1830, London
1989, S. 134).

13 Langford, S. 114f.
14 Joanna Innes, Jonathan Clark, Social History and England’s

,Ancien Regime’, in: Past and Present, No. 115, 1987, S. 165-
200. Michael Maurer (Hrsg.), O Britannien, Von deiner Freiheit
einen Hut voll, Deutsche Reiseberichte des 18. Jahrhunderts,
München 1992, S. 161.

15 Langford, S. 336.

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109

16 Ebd., S. 174.
17 Ebd., S. 271.
18 Nicholas Rogers, Resistance to Oligarchy: The City Opposition to

Walpole and his Successors, 1725–47, in: John Stevenson (Hrsg.),
London in the Age of Reform, Oxford 1977, S. 8; Ders., Whigs
and Cities, Popular Politics in the Age of Walpole and Pitt, Ox-
ford 1989, S. 58 f.

19 Bayly, S. 129.
20 Vgl. dazu A. Roger Ekirch, Bound for America, The Transpor-

tation of British Convicts to the Colonies, 1718–1775, Oxford
1987.

21 Marcus Rediker, Between the Devil and the Deep Blue Sea,

Merchant Seamen, Pirates, and the Anglo-American Maritime
World, 1700–1750, Cambridge 1987, S. 33.

22 Clive Emsley, The English Bobby: An Indulgent Tradition, in: Roy

Porter (Hrsg.), Myths of the English, Oxford 1992, S. 115.

23 Correlli Barnett, Britain and Her Army 1509–1870, Harmonds-

worth 1974, S. 353.

24 E. P. Thompson, Customs in Common, London 1991, S. 287.
25 Zitiert nach David Cannadine, G.M. Trevelyan, London 1992,

S. 194. Vgl. auch Charles Townshend, Making the Peace, Order
and Public Security in Modern Britain, Oxford 1993, S. 10.

26 Pat Hudson, The Industrial Revolution, London 1992, S. 84.
27 Ralf Dahrendorf, On Britain, London 1982, S. 63.
28 Richard Hoggart, A Local Habitation, Life and Times: 1918-

1940, S. 130f.

29 Will Hutton, The State We’re in, London 1995, S. 137. Vgl. auch

David Marquand, The Progressive Dilemma, London 1991, S. 22,
68f. Marquand geht sogar so weit zu behaupten, daß England
überhaupt niemals eine „Bürgerkultur“ (civic culture), sondern
stets nur eine „Untertanenkultur“ (subject culture) besessen habe,
die „keinen oder wenig Raum für ein aktives und partizipa-
torisches Bürgerverhalten bot“ (S. 215f.).


VI. Die erweiterte Adelsherrschaft

1 Vgl. dazu das wichtige Buch von A..D. Harvey, Collision of Em-

pipes, Britain in Three World Wars, 1793–1945, London 1992,
bes. S. 143–162.

2 Eine solche Veränderung im Habitus der Elite, der den Prestige-

verlust der 1780er Jahre wieder wettgemacht und ihr eine neue
Herrschaftslegitimation verschafft habe, betont Colley, bes.
S. 147–193.

3 Thomas Carlyle, Chartism, in: Ders., Essays, London 1950, S. 223.

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110

4 D. G. Thomas, Lord North, London 1976, S. 5. T. A. Jenkins

(Hrsg.), The Parliamentary Diaries of Sir John Trelawny 1858-
1865, London 1990, S. 81f.

5 Zitiert nach Donald Winch, Malthus, Oxford 1987, S. 72.
6 Roland Quinault, The Industrial Revolution and Parliamentary

Reform, in: P. K. O’Brien u. R. Quinault (Hrsg.), The Industrial
Revolution and British Society, Cambridge 1993, S. 196. In Man-
chester war es nach Read in erster Linie Unzufriedenheit mit der
Handelspolitik der Toryregierung, die die bis dahin an einer par-
lamentarischen Repräsentation ihrer Stadt nicht interessierten Un-
ternehmer ihre Haltung revidieren ließ (Donald Read, Peterloo,
The jMassacre’ and its Background, Neudr. Clifton 1973,
S. 177 ff.).

7 Im Unterschied zum 18. Jahrhundert waren jetzt auch sehr viel

weniger „close boroughs“ in den Händen von Whigs. Mehr als
doppelt soviele befanden sich im Besitz von Tories (Jonathan Par-
ry, The Rise and Fall of Liberal Government in Victorian Britain,
New Haven 1993, S. 74f.).

8 Joseph Hamburger, Macaulay and the Whig Tradition, Chicago

1976, S. 140.

9 Frank O’Gorman, Voters, Patrons and Parties, The Unreformed

Electorate of Hannoverian England, 1734–1832, Oxford 1989,
S. 179 ff.

10 Thomas Babington Macaulay, Selected Writings, hrsg. v. John

Clive u. Thomas Pinney, Chicago 1972, S. 165–180.

11 George Eliot, Felix Holt, The Radical, Harmondsworth 1975,

S. 396.

12 John Belchem, ,Orator’ Hunt, Henry Hunt and English Working-

Class Radicalism, Oxford 1985, S. 224.

13 John Clive, Not by Fact Alone, Essays on the Writing and Rea-

ding of History, London 1989, S. 182f.

14 Willibald Steinmetz, Das Sagbare und das Machbare, Zum Wan-

del politischer Handlungsspielräume – England 1780–1867, Stutt-
gart 1993, S. 328.

15 W. A. Speck, A Concise History of Britain 1707–1975, Cam-

bridge 1993, S. 89 f.

16 Gash, Aristocracy and People, S. 347; W.L. Guttsman (Hrsg.),

The English Ruling Class, London 1969, S. 153 ff.

17 M. G. Wiebe (Hrsg.), Benjamin Disraeli Letters, vol. 5, Toronto

1993, S. 118; Jasper Ridley, Lord Palmerston, London 1970,
S. 512.

18 Vgl. dazu vor allem W.D. Rubinstein, Men of Property, The Very

Wealthy in Britain since the Industrial Revolution, London 1981.

19 Vgl. dazu Norman Gash, Sir Robert Peel, The Life of Sir Robert

Peel after 1830, London 1986, bes. S. 582, 589f.

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111

20 Zitiert nach Ian Bradley, The Optimists, Themes and Personalities

in Victorian Liberalism, London 1980, S. 54; T.A. Jenkins, The
Liberal Ascendancy, 1830–1886, London 1994, S. 100. Ange-
sichts der Nachgiebigkeit gegenüber dem Adel innerhalb des Bür-
gertums nach Aufhebung der Kornzölle spricht ein Historiker
davon, daß das Jahr 1846 „Triumph für den Freihandel, aber
Niederlage für die Freihändler’ bedeutet habe“ (G. R. Searle,
Entrepreneurial Politics in Mid-Victorian Britain, Oxford 1993,
S. 50).

21 Alexander Herzen, Aus meinem Leben, Memoiren und Reflexio-

nen, Bd. III, Berlin 1962, S. 135.

22 Vgl. dazu Hans-Christoph Schröder, Countryposition und Level-

lerprogramm, Zur Kontinuität’ politischen Denkens im frühneu-
zeitlichen England, in: Mentalitäten und Lebensverhältnisse,
Rudolf Vierhaus zum 60. Geburtstag, Göttingen 1982, S. 121-
142.

23 Samuel Bamford, Passages in the Life of a Radical, Neudr. Lon-

don 1967, S. 219ff.

24 William Hazlitt, The Spirit of the Age, Or, Contemporary Por-

traits, Neudr. New York 1983, S. 132f.

25 Henry James, Portrait of a Lady, New York 1951, S. 101f.

Zu Winston Churchills Forderung nach einer Abschaffung des
Oberhauses und einer Aufteilung des aristokratischen Großgrund-
besitzes während seiner radikalliberalen Phase vor dem Ersten
Weltkrieg bei gleichzeitiger intensiver Pflege seiner eigenen hoch-
aristokratischen Verwandtschaftsbeziehungen vgl. David Canna-
dine, Winston Churchill as an Aristocratic Adventurer, in: Ders.,
Aspects of Aristocracy, New Haven 1994, S. 156.


VII. Die Demokratisierung und die Entwicklung

zum Sozialstaat

1 David Cannadine, The Decline and Fall of the British Aristocracy,

New Haven 1990, S. 40.

2 Speck, Concise History, S. 101f.
3 Cannadine, Decline, S. 189.
4 Malchow, S. 336 f.
5 Cannadine, Decline, S. 703.
6 Peter Clarke, A Question of Leadership, Gladstone to Thatcher,

London 1991, S. 104.

7 Max Weber kontrastierte im Februar 1918 in einem Artikel der

„Frankfurter Zeitung“ die provozierende Behandlung der Wahl-
rechtsfrage durch den „preußischen Klassenlandtag“ mit der
Tatsache, „daß die aristokratischste Körperschaft der Erde, das

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112

englische Oberhaus, eben jetzt das demokratischste Wahlrecht ir-
gendeines Großstaats glatt angenommen hat“ (Weber, Gesammel-
te Politische Schriften, S. 294). Die Ausweitung des Wahlrechts im
Jahre 1918 war allerdings zum Teil von der Absicht bestimmt, die
organisierte Arbeiterschaft zu schwächen und das patriotisch-
konservative Potential weiblicher Wähler zu nutzen. Vgl. dazu
John Turner, Britisch Politics and the Great War, New Haven
1992, S. 121, 414f., 417ff., 432, 434f.

8 Ross McKibbin, The Ideologies of Class, Social Relations in Bri-

tain 1880–1950, Paperbackausg. Oxford 1991, S. 77.

9 Vgl. dazu die subtilen Überlegungen bei McKibbin, bes. S. 9, 81.
10 Vgl. dazu A. J. P. Taylor, The Trouble Makers, Dissent over

Foreign Policy 1792–1939, Taschenbuchausg. London 1969;
Marvin Swartz, The Union of Democratic Control in British Poli-
tics During the First World War, Oxford 1971; J. M. Winter,
Socialism and the Challenge of War, London 1974.

11 Vgl. dazu vor allem Maurice Cowling, The Impact of Labour,

1920–1924, Cambridge 1971.

12 J. Scally, The Origins of the Lloyd George Coalition, Princeton

1975; vgl. auch jetzt den allgemeinen Überblick bei G. R. Searle,
Country Before Party, Coalition and the Idea of National Go-
vernment in Modern Britain 1885–1987, London 1995.

13 McKibbin, bes. S. 275, 281 f.
14 Paul Kennedy, The Realities Behind Diplomacy, Background

influences on British External Policy, 1865–1980, London 1981,
S. 297f. Maurice Cowling, The Impact of Hitler, Cambridge 1975.

15 Robert Pearce, Attlee’s Labour Governments, 1945–51, London

1994, S. 14.

16 Vgl. „Times“, 21. 6. 1994.
17 Paul Addison, The Road to 1945, British Politics and the Second

World War, Paperbackausg. London 1982, S. 227. – Der Konser-
vative Politiker Quintin Hogg hatte während der Debatte um den
Beveridge Report gewarnt: „Wenn ihr dem Volk nicht die soziale
Reform gebt, dann wird es euch die soziale Revolution geben“
(Samuel Beer, Modern British Politics, London 1965, S. 307).

18 McKibbin, S. 288.
19 Peter Hennessy, Never Again, Britain 1945–1951, London 1992,

S. 78.

20 John Grigg, Lloyd George, in: Paul Barker (Hrsg.), Founders of

the Welfare State, London 1984, S. 74.

21 Pearce, S. 53.
22 John Veit Wilson, Seebohm Rowntree, in: Barker (Hrsg.), S. 82.
23 Hennessy, S. 450.
24 Vgl. dazu die Äußerungen Edens und R. A. Butlers bei Beer,

S. 270 f.

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113

25 Zitiert nach Beer, S. 271.
26 Man hat zurecht auf die merkwürdige Tatsache hingewiesen, daß

die Engländer zur gleichen Zeit in Westdeutschland die Bemühun-
gen um die Einführung der Mitbestimmung unterstützten
(Kenneth O. Morgan, Labour in Power 1945–1951, Oxford
1984, S. 136).

27 Vgl. die Tabelle bei Alan Sked, Britain’s Decline, Problems and

Perspectives, Oxford 1987, S. 33.

28 Richard Cobden, Political Writings, London 1903, S. 21.
29 Das ist die überzeugende Hauptthese des Buches von John Dar-

win, Britain and Decolonisation, The Retreat from Empire in the
Post-War World, London 1988.

30 Vgl. dazu Wm. Roger Louis und Ronald Robinson, Empire Pre-

serv’d, How the Americans Put Anti-Communism Before Anti-
Imperialism,’in: The Times Literary Supplement, 5.5. 1995,
S. 14 ff.

31 Robert Holland, The Pursuit of Greatness, Britain and the World

Role 1900–1970, London 1991, S. 225. Hennessy, S. 216ff.

32 David Goldsworthy (Hrsg.), The Conservative Government and

the End of Empire, London 1994, Teil 3, S. 43–50.

33 John Campbell, Roy Jenkins, London 1983, S. 71.
34 Philip Ziegler, Wilson, London 1993, bes. S. 215, 219, 432.

VIII. Vom Empire zum Commonwealth

1 Paul M. Kennedy, The Rise and Fall of British Naval Mastery,

London 1983, S. 17.

2 Ebd., S. 82.
3 Das übersah Carl Schmitt, der in der Hinnahme britischer See-

herrschaft nur eine Folge der geistigen Hegemonie des „großen
Leviathan“ zu erkennen vermochte – einen Beweis dafür, daß die
Völker im Banne „englischer Ideen“ standen (Carl Schmitt, Land
und Meer. Eine weltgeschichtliche Betrachtung, Köln 1981,
S. 88f.).

4 Vgl. dazu Hans-Christoph Schröder, Die Amerikanische Revolu-

tion, München 1982.

5 Colley, S. 130.
6 P. J. Marshall, The Eighteenth Century Empire, in: Jeremy Black

(Hrsg.), British Politics and Society from Walpole to Pitt 1742-
1789, London 1990, S. 199f.

7 Bayly, S. 3.
8 Dazu jetzt ausführlich Stig Förster, Die mächtigen Diener der East

Indian Company, Ursachen und Hintergründe der britischen Ex-
pansionspolitik in Südasien, 1793–1819, Stuttgart 1992.

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114

9 J. R. Seeley, Die Ausbreitung Englands, Berlin 1954, S. 293.
10 Vgl. dazu jetzt ausführlich und in international vergleichender

Perspektive E. H. H. Green, The Crisis of Conservatism, The Po-
litics, Economics and Ideology of the British Conservative Party,
1880–1914, London 1995.

11 Die folgende Skizze stützt sich vor allem auf David Cannadine,

The Context, Performance and Meaning of Ritual: The British
Monarchy and the .Invention of Tradition’, c. 1820–1977, in:
Eric Hobsbawm u. Terence Ranger (Hrsg.), The Invention of
Tradition, Cambridge 1984, S. 101–164.

12 Ebd., S. 121.
13 John M. MacKenzie, Propaganda and Empire, The Manipulation

of British Public Opinion 1880–1960, Manchester 1984, bes.
S. 3 ff., 221.

14 Kennedy, Rise and Fall, S. 256 f.
15 Ebd., S. 275.
16 Über den tatsächlichen Machtschwund Englands konnte auch die

Tatsache hinwegtäuschen, daß es wegen des Isolationismus der
Vereinigten Staaten sowie der vorübergehenden Schwäche
Deutschlands und Rußlands zunächst der wichtigste Akteur auf
der internationalen Bühne war.

17 Vgl. Hans-Christoph Schröder, George Orwell, Eine intellektuelle

Biographie, München 1988, S. 170f.

18 John Charmley, Churchill: The End of Glory, A Political Biogra-

phy, London 1993, S. 398^4-07. In einer unlängst veröffentlichten
Untersuchung wird versucht, die Bereitschaft von Außenminister
Halifax zu Kontaktaufnahmen mit Mussolini wegen eines Ver-
ständigungsfriedens allein mit der Rücksichtnahme auf Frankreich
zu erklären. Bei den Divergenzen Ende Mai 1940 zwischen Hali-
fax und Chamberlain auf der einen, Churchill auf der anderen Sei-
te habe es sich nur um „oberflächliche Differenzen“ gehandelt
(Sheila Lawlor, Churchill and the Politics of War, 1940–1941,
Cambridge 1994, bes. S. 73ff., 78 ff., 87). Diese Argumentation
vermag nicht zu überzeugen.

19 Charmley, bes. S. 648 f.
20 Pearce, S. 68.
21 Ellen Meiksins Wood, The Pristine Culture of Capitalism, London

1991, S. 165, 167.

22 P. J. Cain u. A. G. Hopkins, British Imperialism: Innovation and

Expansion, 1688–1914, London 1993; Dies. British Imperialism:
Crisis and Deconstruction, 1914–1990, London 1993; W. D.
Rubinstein, Capitalism, Culture, and Decline in Britain, 1750-
1990, London 1993.

23 Cain u. Hopkins, Crisis and Deconstruction, bes. S. 299 f. Das Vor-

handensein von fundamentalen Interessengegensätzen sowie einer

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115

Barriere zwischen Industriellen und „gentlemanly capitalists“ be-
streitet M. J. Daunton, „Gentlemanly Capitalism“ and British In-
dustry 1820–1914, in: Past and Present, Nr. 122,1989, S. 119–158.

24 Dazu kritisch David S. Landes, The Fable of the Dead Horse, or,

The Industrial Revolution Revisited, in: Joel Mokyr (Hrsg.), The
British Industrial Revolution, An Economic Perspective, Boulder
1993, S. 132–170.

25 Rubinstein, Capitalism, S. 154.

IX. Der Thatcherismus und die Abkehr von der Konsenspolitik

1 Dennis Kavanagh, Thatcherism and British Politics, The End of

Consensus?, 2. Aufl. Oxford 1990, S. 6.

2 Zur Einordnung des Thatcherismus in die englische Nachkriegs-

entwicklung sowie zum Unterschied zwischen ihm und den gleich-
zeitigen neoliberal-konservativen Politikprogrammen in anderen
Ländern vgl. Hans Kastendiek, Vom Nachkriegskonsensus zum
Thatcherismus, in: Hans-Georg Wehling (Hrsg.), Großbritannien,
Stuttgart 1992, bes. S. 118f.

3 Die Äußerung Margaret Thatchers in einem Interview mit der

Zeitschrift „Woman’s Own“ ist zitiert bei Peter Riddell, The
Thatcher Decade, How Britain has Changed During the 1980s,
Oxford 1989, S. 171. Zu der Vorstellung eines auf das Jahr 1940
zurückgehenden „Sozialvertrags“ siehe Beer, S. 215.

4 Eine solche gab es bereits während der Kriege gegen das revolu-

tionäre und napoleonische Frankreich. Vgl. dazu Emsley, British
Society, bes. S. 117f.

5 Anthony Brundage, The Making of the New Poor Law, London

1978.

6 Vgl. dazu Charles Loch Mowat, Britain Between the Wars 1918-

1940, Paperbackausg. London 1968, bes. S. 325, 329; Martin
Gilbert, In Search of Churchill, London 1994, S. 257 f.; Paul Ad-
dison, Churchill on the Home Front 1900–1955, London 1992,
S. 259–270.

7 Noel Annan, Our Age, Portrait of a Generation, London, S. 425.
8 Dieser Traditionsstrang wird etwas zu stark betont in der knap-

pen Zusammenfassung von Andrew Adonis, The Transformation
of the Conservative Party in the 1980s, in: Ders. u. Tim Harnes
(Hrsg.), The Thatcher-Reagan Decade in Perspective, Manchester
1994, bes. S. 147ff.

9 Ebd., S. 145.
10 Vgl. dazu Hans-Christoph Schröder, Imperialismus und antide-

mokratisches Denken, Alfred Milners Kritik am politischen Sy-
stem Englands, Wiesbaden 1978.

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116

11 Weber, Gesammelte Politische Schriften, S. 359.
12 Vgl. dazu die hervorragende Biographie von John Campbell,

Edward Heath, London 1993, S. 436–483.


13 Hugo Young, One of Us, A Biography of Margaret Thatcher, rev.

Taschenbuchausg. London 1990, S. 224.

14 Zitiert nach Riddell, S. 7.
15 Kavanagh, S. 294.
16 Vgl. dazu Raphael Samuel, Mrs. Thatcher’s Return to Victorian

Values, in: T. C. Smout (Hrsg.), Victorian Values, Oxford 1992,
S. 20.

17 Young, S. 139.
18 Ein Historiker verweist darauf, daß der harsche, Armut und

Schuld assoziierende Thatcherismus eher vorviktorianische als
viktorianische Werte wiederspiegelt (Boyd Hilton, The Age of
Atonement, The Influence of Evangelicalism on Social and Eco-
nomic Thought 1785–1865, erg. Paperbackausg. Oxford 1991,
S. 373f., 393).

19 Young, S. 525.
20 Kavanagh, S. 235 f.
21 Young, S. 535. Die zunehmende soziale Ungleichheit in den

1980er Jahren schlug sogar auf die Sterblichkeitsrate durch
(Riddell, S. 157f.).

22 In der Zwischenkriegszeit hatte die Arbeitslosenquote im Durch-

schnitt 14 Prozent betragen. Von 1941 bis 1970 lag sie bei 1,5
Prozent. In den 1980er Jahren betrug sie durchschnittlich 10 Pro-
zent („Times“, 5. 7. 1994).

23 Martin Pugh, State and Society, British Political and Social Histo-

ry 1870–1992, London 1994, S. 314.

24 Vgl. „Times“, 26. 4. 1994.
25 Young, S. 281.
26 Wie sehr Wahlüberlegungen bei den Abgeordneten die Haltung

gegenüber Margaret Thatcher und die Entscheidung für ihren
Nachfolger bestimmten, verdeutlichen die Tagebucheintragungen
eines damaligen Ministers (Alan Clark, Diaries, London 1993,
bes. S. 368 f.).

27 Vgl. dazu Riddell, S. 149–167.
28 Benjamin Disraeli, Sybil: Or The Two Nations, London 1968,

S. 279. Lord Jenkins sprach in bezug auf die Entmachtung der lo-
kalen Selbstverwaltung unter Margaret Thatcher von „einem
Grad der Herabwürdigung der Bürger, von dem man sich schwer
vorstellen kann, daß er irgendeinem anderen demokratischen
Land hätte aufgezwungen werden können“ (zitiert nach Riddell,
S. 177).

29 Anthony Sampson, The Essential Anatomy of Britain, Democracy

in Crisis, London 1992, S. 148.

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30 David Marquand, The Unprincipled Society, New Demands and

Old Politics, Paperbackausg. London 1988, bes. S. 178, 194, 204.

31 Ebd., S. 197. Bereits 1954 waren zwei amerikanische Politikwis-

senschaftler in einer Untersuchung über die innere Sicherheit in
Großbritannien zu der Schlußfolgerung gekommen, daß dort die
bis dahin so erfolgreiche Sicherung der Freiheit ganz von der Stär-
ke demokratischer Prinzipien und der Klugheit der Regierenden
abhänge. Es gebe „keine förmlichen institutionellen Hindernisse
für die Errichtung eines Polizeistaates“ (zitiert nach Townshend,
S. 135). Nach dem Urteil zweier Juristen geriet unter Margaret
Thatcher die bürgerliche Freiheit in England vor allem aufgrund
der Stärkung der Polizeitgewalt in einen „Zustand der Krise“. Sie
fordern dieselbe Entschiedenheit im Kampf gegen die Konzentra-
tion der Macht und für die Erhaltung der „civil liberties“, wie sie
die Engländer im 17. Jahrhundert gegen den Stuartdespotismus
gezeigt hätten (K.D. Ewing u. CA. Gearty, Freedom under That-
cher, Civil Liberties in Modern Britain, Oxford 1990, S. 255,
275).

32 Christopher Hitchens, For the Sake of Argument, Essays and

Minority Reports, London 1993, S. 160.

33 Marquand, Progressive Dilemma, S. 240.
34 Sampson, S. 160.

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118

Literaturübersicht

Der folgende bibliographische Überblick beschränkt sich im wesentli-
chen auf die neuere Literatur, die den gegenwärtigen Stand der For-
schung widerspiegelt und mit deren Hilfe sich ältere Werke ermitteln
lassen. Genannt werden empfehlenswerte Arbeiten, die der Verfasser
gelesen und benutzt hat.


I. Aus vergleichender Perspektive wird das mittelalterliche England
behandelt in dem klassischen Werk von Marc Bloch, Die Feudalge-
sellschaft, Berlin 1982, sowie in der ausgezeichneten Arbeit von
Susan Reynolds, Kingdoms and Communities in Western Europe
900–1300, Oxford 1984. Die „englische Einzigartigkeit“ wird the-
matisiert von Bernard Guinee, L’Occident Aux XIVe et XVe Siecles,
Paris 1981

2

(engl. Ausg. unter dem Titel: States and Rulers in Later

Medieval Europe, Oxford 1985).

Gute Überblicksdarstellungen sind: H. P. R. Finberg, The Forma-

tion of England 550–1042, London 1976; M. T. Clanchy, England
and its Rulers 1066–1272, Oxford 1983; Anthony Tuck, Crown and
Nobility 1272–1461, London 1985; /. R. Lander, Government and
Community, England 1450–1509, London 1980. Regierung und
Verwaltung Englands im Mittelalter werden in den drei Bänden einer
„The Governance of England“ betitelten Serie behandelt von H. R.
Loyn,
The Governance of Anglo-Saxon England 500–1087, London
1984; W. L. Warren, The Governance of Norman and Angevin
England 1086–1272, London 1987; A. L. Brown, The Governance of
Late Medieval England 1272–1461, London 1989. Eine gute Einfüh-
rung in die Entwicklung des mittelalterlichen Parlaments liefern die
Beiträge in dem Sammelband von R. G. Davies u. /. H. Denton
(Hrsg.),
The English Parliament in the Middle Ages, Manchester
1981, sowie G. L. Harris, King, Parliament and Public Finance in
Medieval England to 1369, Oxford 1975. Die Beschränkungen,
denen die englischen Monarchen im Spätmittelalter unterworfen
waren, beleuchtet die knappe Darstellung von /. R. Lander, The
Limitations of English Monarchy in the Later Middle Ages, Toronto
1989.


II. Die vom Autor für deutsche Leser überarbeitete und ergänzte
Fassung eines in England bereits 1955 in erster Auflage erschienenen
Werkes ist Geoffrey R. Elton, England unter den Tudors, München
1983. Die neueste zusammenfassende Darstellung bietet John Guy,
Tudor England, Oxford 1988. Ausgezeichnete sozialgeschichtliche
Darstellungen sind D. M. Palliser, The Age of Elizabeth, England

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119

under the later Tudors, London 1983; Keith Wrightson, English
Society 1580–1680, London 1982. Wichtige Sammelbände, die neue
Forschungsansätze und Interpretationen bieten, sind Christopher
Haigh (Hrsg.),
The English Reformation Revised, Cambridge 1987;
Ders. (Hrsg.), The Reign of Elizabeth I, London 1984. In dem zuletzt
genannten Band betont Elton, daß das Parlament im 16. Jahrhundert
eine Institution wurde (nicht mehr nur eine Serie von Ereignissen
darstellte) und der King-in-Parliament seit 1559 der „sovereign la-
wmaker“ war. Allerdings hebt Elton zugleich die ausschlaggebende
Rolle der Monarchen sowie die geringe eigenständige Bedeutung von
Lords und Commons hervor. Diese Akzentuierung findet sich noch
zugespitzter in G. R. Elton, The Parliament of England 1559–1581,
Cambridge 1986. Einen ausgezeichneten Überblick über die Diskus-
sion unter den Historikern und eine Zusammenstellung der wichtig-
sten Fakten bietet Michael A. R. Graves, The Tudor Parliaments,
Crown, Lords and Commons, 1485–1603, London 1985. Eine vor-
zügliche, knappe Darstellung der Zeit Elisabeths, in der die verschie-
denen Aspekte ihrer Herrschaftsausübung behandelt werden und
auch auf die Schwierigkeiten eingegangen wird, die sie als Frau zu
überwinden hatte, gibt Christopher Haigh, Elizabeth I, London 1988.


III. Relevante Überblicksdarstellungen zur revolutionären Phase der
englischen Geschichte sind Derek Hirst, Authority and Conflict,
England 1603–1658, London 1986; Hans-Christoph Schröder, Die
Revolutionen Englands im 17. Jahrhundert, Frankfurt 1986. Die
Religionsfrage in ihren verschiedenen Aspekten und das Aufkommen
des Puritanismus werden dargestellt von Patrick Collinson, The
Religion of Protestants, The Church in English Society 1559–1625,
Oxford 1982. Die beste und präziseste Rekonstruktion des Ent-
fremdungsprozesses zwischen Karl I. und der politischen Nation gibt
L. J. Reeve, Charles I and the Road to Personal Rule, Cambridge
1989. Gute Aufsatzsammlungen mit neuen Fragestellungen und Er-
kenntnissen zur Englischen Revolution sind John Morrill (Hrsg.),
Oliver Cromwell and the English Revolution, London 1990; Ders.
(Hrsg.),
Revolution and Restoration, England in the 1650s, London
1992. Die Wiederherstellung der Monarchie und die Restauration-
speriode werden eingehend behandelt von Ronald Hutton, The
Restoration, Oxford 1985; Ders., Charles II, King of England, Scot-
land and Ireland, Oxford 1989. Für die Glorious Revolution sind her-
anzuziehen W. A. Speck, Reluctant Revolutionaries, Oxford 1988;
Robert Beddard, A Kingdom Without a King, The Journal of the
Provisional Government in the Revolution of 1688, Oxford 1988.


IV. Die wichtigste Studie zur politischen Stabilisierung nach der
Glorious Revolution ist das schmale Buch von J. H. Plumb, The

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120

Growth of Political Stability in England 1675–1725, Harmonds-
worth 1969. Eine Zusammenfassung der neueren Forschung gibt
Hans-Christoph Schröder, Die politische Stabilisierung Englands im
18. Jahrhundert, in: Hanna Schissler (Hrsg.), Schulbuchverbesserung
durch internationale Schulbuchforschung? Braunschweig 1985, S.
35–87. Einen knappen, klaren Überblick bietet Jeremy Black, Robert
Walpole and the Nature of Politics in Early Eighteenth Century
England, London 1990. Informativ ist auch der Sammelband von
Jeremy Black (Hrsg.), Britain in the Age of Walpole, London 1984.
In ihm behandelt in einem besonders lesenswerten Beitrag J. A.
Downie – der Verfasser einer Swiftbiographie – die Kritik der zeitge-
nössischen Schriftsteller an Walpole und seinem System. Die außer-
ordentlich komplizierte und verworrene Geschichte der englischen
Parteien nach der Glorious Revolution wird ausführlich dargestellt
von B. W. Hill, The Growth of Parliamentary Parties 1689–1742,
London 1976; Ders., British Parliamentary Parties 1742–1832, Lon-
don 1985. Eine gedrängte Zusammenfassung bietet Frank
O’Gorman,
The Emergence of the British Two-Party System 1760-
1832, London 1982. Einen vorzüglichen Überblick über das englische
Verfassungsdenken vom 15. Jahrhundert bis zum frühen 18. Jahr-
hundert gibt Wilfried Nippel, Mischverfassungstheorie und Verfas-
sungsrealität in Antike und früher Neuzeit, Stuttgart 1980.


V. Eine hervorragende Komprimierungsleistung liefert W. A. Speck,
A Concise History of Britain 1707–1975, Cambridge 1993. Eine gute
und zugleich sehr lesbare, ja unterhaltsame sozialgeschichtliche Ein-
führung gibt Roy Porter, English Society in the Eighteenth Century,
Harmondsworth 1982. Für das Verständnis der Eigentümlichkeiten
des englischen Adels und der Langlebigkeit der Adelsherrschaft in
England ist heranzuziehen Hans-Christoph Schröder, Der englische
Adel, in: Armgard von Reden-Dohna u. Ralph Melville (Hrsg.), Der
Adel an der Schwelle des bürgerlichen Zeitalters, Stuttgart 1988, S.
21–88. Das wichtigste Buch über die Hocharistokratie im England
des 18. Jahrhunderts ist John Cannon, Aristocratic Century, The
Peerage of Eighteenth-Century England, Cambridge 1984. Von zen-
traler Bedeutung für das Verhältnis zwischen „Patriziern“ und
„Plebejern“ sowie die Vorstellungswelt und das Verhalten der engli-
schen Unterschichten sind die bahnbrechenden Arbeiten von E. P.
Thompson. Seine wichtigsten Beiträge wurden, zumeist von Günther
Lottes hervorragend übersetzt, in einer deutschen Ausgabe zusam-
mengefaßt in dem Sammelband: Edward P. Thompson, Plebejische
Kultur und moralische Ökonomie, Frankfurt 1980. Diese Aufsätze
liegen jetzt auch in einer englischen Ausgabe gesammelt und zum Teil
erweitert vor (E. P. Thompson, Customs in Common, London 1991).
Aus der umfangreichen, Thompson teilweise kritisierenden Literatur

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121

über die Volksunruhen seien genannt: Anthony Fletcher u. John
Stevenson (Hrsg.),
Order and Disorder in Early Modern England,
Cambridge 1985; John Brewer u. John Styles (Hrsg.), An Ungovern-
able People, The English and their Law in the Seventeenth and Eigh-
teenth Centuries, London 1980; John Stevenson, Popular Disturban-
ces in England 1700–1870, London 1979; Nicholas Rogers, Whigs
and Cities, Popular Politics in the Age of Walpole and Pitt, Oxford
1989; Mark Harrison, Crowds and History, Mass Phenomena in
English Towns, 1790–1835, Cambridge 1988. Eine gut geschriebene,
freilich durch einen starken Anti-Whig-Affekt bestimmte und der
Tradition des Tory-Paternalismus verpflichtete Zusammenfassung
bietet das Buch des ehemaligen, von Margaret Thatcher ausgeboote-
ten Konservativen Ministers Ian Giltnour, Riot, Risings and Revolu-
tion, Governance and Violence in Eighteenth-Century England, Lon-
don 1992. Zu den Wahlen und ihrem Ritual, in dem die Wähler und
die Nichtwähler wichtige, hochempfindliche Akteure mit eigenen
Erwartungen und Ansprüchen darstellten, ist grundlegend Frank
O’Gorman,
Voters, Patrons and Parties, The Unreformed Electorate
of Hannoverian England, 1734–1832, Oxford 1989; Ders., Cam-
paign Rituals and Ceremonies: The Social Meaning of Elections in
England 1780–1860, in: Past and Present, 135, 1992, S. 79–115.
Unentbehrlich für ein Verständnis des politischen Denkens im Eng-
land des 18. Jahrhunderts ist H. T. Dickinson, Liberty and Property,
Political Ideology in Eighteenth-Century Britain, London 1977. Ein
aufschlußreiches Englandbild, in dem die starke Durchmischung der
sozialen Schichten in der Hauptstadt, der tumultartige Charakter der
Wahlen und das durch Argwohn gekennzeichnete politischen Denken
hervortreten, gibt der Sammelband von Michael Maurer (Hrsg.), O
Britannien, Von deiner Freiheit einen Hut voll, Deutsche Reiseberich-
te des 18. Jahrhunderts, München 1992.


VI. Einen sowohl thematisch als auch regional gegliederten sozialge-
schichtlichen Gesamtüberblick bietet der Sammelband von F. M. L.
Thompson (Hrsg.),
The Cambridge Social History of Britain 1750-
1950, 3 Bde. Cambridge 1990. Ebenfalls klar nach Themen geglie-
dert ist F. M. L. Thompson, The Rise of Respectable Society, A
Social History of Victorian Britain, 1830–1900, London 1988. Der
Einfluß, den die Französische Revolution und die Kriege gegen
Frankreich auf die britische Elite ausgeübt haben, ist ein Hauptthema
des Buches von Linda Colley, Britons, Forging the Nation 1707-
1837, New Haven 1992. David Cannadine betont, daß sich die Ari-
stokratie im ausgehenden 18. und frühen 19. Jahrhundert in einer
nahezu als Neubildung zu betrachtenden Weise durch hinzukom-
menden Reichtum zu stärken und ihre Stellung insgesamt noch unan-
greifbarer zu machen verstand {David Cannadine, The Making of the

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122

British Upper Classes, in: Ders., Aspects of Aristocracy, New Haven
1994). Der gesellschaftliche und innenpolitische Aspekt der Kriege
gegen das revolutionäre und napoleonische Frankreich wird behan-
delt von Clive Emsley, British Society and the French Wars 1793-
1815, London 1979; den militärischen Aspekt sowie seine finanziel-
len und logistischen Implikationen erörtert eingehend A. D. Harvey,
Collision of Empires, Britain in Three World Wars 1793–1945,
London 1992. Folgende Arbeiten sind für den durch die Französische
Revolution ausgelösten Radikalismus sowie für die loyalistische
Gegenbewegung heranzuziehen: H. T. Dickinson, British Radicalism
and the French Revolution 1789–1815, Oxford 1985; Ders. (Hrsg.),
Britain and the French Revolution 1789–1815, London 1989; Ders.,
Popular Loyalism in Britain in the 1790s, in: Eckhart Hellmuth
(Hrsg.),
The Transformation of Political Culture, England and Ger-
many in the Late Eighteenth Century, Oxford 1990, S. 503–533;
Albert Goodwin, The Friends of Liberty, The English Democratic
Movement in the Age of the French Revolution, London 1979; Gün-
ther Lottes,
Politische Aufklärung und plebejisches Publikum, Zur
Theorie und Praxis des englischen Radikalismus im späten 18. Jahr-
hundert, München 1979. Die Arbeit von Lottes geht auch ausführlich
auf die Ideen von Thomas Paine ein. Eine sehr lesbare Biographie des
Mannes, der sich vom Gegner in einen Anhänger Paines verwandelte
und durch seine Veröffentlichungen für den populären Radikalismus
in England höchst bedeutsam wurde, ist Daniel Green, Great Cob-
bett, The Noblest Agitator, London 1983. Sehr gute, knappe Zu-
sammenfassungen der plebejischen Reformbewegung finden sich bei
J. R. Dinwiddy, From Luddism to the First Reform Bill, Oxford
1986; John Belchem, Industrialization and the Working Class, The
English Experience, 1750–1900, Aldershot 1990. Eine gute Biogra-
phie, in der die Eitelkeiten der Führer der plebejischen Reformbewe-
gung und die Reibungen zwischen ihnen dargestellt werden, ist John
Belchem,
‚Orator’ Hunt: Henry Hunt and English Working-Class
Radicalism, Oxford 1985. Den politischen Charakter des Chartismus
der 1830er und 1840er Jahre sowie seinen engen Zusammenhang mit
dem älteren „Radicalism“ betont Gareth Stedman Jones, Rethinking
Chartism, in: Ders., Languages of Class, Studies in English Working
Class History 1832–1982, Cambridge 1983, S. 90–178. Eine zusam-
menfassende Darstellung des Chartismus, in welcher der Rolle der
Frauen ein eigenes Kapitel gewidmet ist, gibt Dorothy Thompson,
The Chartists, London 1984. Das Buch ist engagiert, erscheint aber
gleichwohl im Urteil vorsichtiger und ausgewogener als das berühmte
Werk ihres Mannes, E. P. Thompson, The Making of the English
Working Class, London 1963. Eine wichtige mikrohistorische Studie
über die Anwendung des alten Armengesetzes, dessen Abschaffung
im Jahre 1834 einen der Hauptanstöße der Chartistenbewegung

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123

bildete, liefert der deutsche Historiker Thomas Sokoll, Household
and Family Among the Poor, The Case of Two Essex Communities in
the Late Eighteenth and Early Nineteenth Centuries, Bochum 1993.
Nach Sokoll war die Armenfürsorge, jedenfalls in einigen Gemein-
den, so umfassend, daß man geradezu von einem Wohlfahrtsstaat
sprechen kann. Diese Erkenntnis zwingt zu der Schlußfolgerung, daß
das seit dem Buch von T. H. Marshall, Class, Citizenship, and Social
Development, London 1963, aus der englischen Geschichte üblicher-
weise herausgelesene Verlaufsschema „civil rights“, „political
rights“, „social rights“ nicht ganz aufgeht und etwas modifiziert
werden muß. Unter dem alten Armengesetz wurden soziale Rechte
anerkannt und zum Teil gewährt, lange bevor es gleiche politische
Rechte gab. Der Entzug sozialer Rechte durch das New Poor Law
von 1834 kann sogar als eine Ursache für die vom Chartismus erho-
bene Forderung nach gleichen politischen Rechten, d.h. vor allem
nach dem allgemeinen Wahlrecht, betrachtet werden. Von grundle-
gender Bedeutung für die Pauperismusdiskussion und die Rezeption
des Malthusianismus in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts sind
Rolf Peter Sieferle, Bevölkerungswachstum und Naturhaushalt, Stu-
dien zur Naturtheorie der klassischen Ökonomie, Frankfurt 1990;
Gertrude Himmelfarb, The Idea of Poverty, England in the Early
Industrial Age, London 1984. Himmelfarb geht auch ausführlich auf
die literarische Kritik am sich herausbildenden Industrialismus ein.
Zur britischen Industrialisierung in der zweiten Hälfte des 18. und
der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts liegen jetzt zwei ausgezeichne-
te zusammenfassende Arbeiten vor, in denen die revisionistische
Kritik berücktigt, aber an dem Konzept einer Industriellen Revoluti-
on festgehalten wird: Pat Hudson, The Industrial Revolution, Lon-
don 1992; Joel Mokyr, The New Economic History and the Indu-
strial Revolution, in: Ders. (Hrsg.), The British Industrial Revolution,
An Economic Perspective, Boulder 1993, S. 1–131.

Eine Darstellung der Diskussion um die Parlamentsreform seit dem

ausgehenden 18. Jahrhundert sowie des Zustandekommens der Re-
form Acts von 1832 und 1867 gibt Willibald Steinmetz, Das Sagbare
und das Machbare, Zum Wandel politischer Handlungsspielräume in
England 1780–1867, Stuttgart 1993. An dieser, auf einer breiten
Quellen- und Literaturkenntnis fußenden, klugen Arbeit stört nur
etwas der diskursanalytische Ansatz, der den Verfasser wiederholt
dazu verführt, die Bedeutung von „Sprachhandlungen“ zu überschät-
zen. Unentbehrlich für das Verständnis des historischen Hintergrunds
der Parlamentsreform von 1832 ist noch immer die materialreiche
Studie von John Cannon, Parliamentary Reform, 1640–1832, Cam-
bridge 1973. Neue Aufschlüsse über die Motive der Whigs bei ihrer
Reformpolitik gibt das Buch von Peter Mandler, Aristocratic Go-
vernment in the Age of Reform, Whigs and Liberais 1830–1853,

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124

Oxford 1990. Nach Mandler sahen sie in der Bewältigung des sich
schließlich zu einer allgemeinen Krise ausweitenden Problems der
Parlamentsreform eine ihnen wesensgemäße nationale Aufgabe, die
nicht in dem ihnen weniger zusagenden ökonomischen, sondern im
konstitutionellen Bereich lag. Ihr Selbstverständnis als einer über den
einzelnen „interests“ stehenden, die Gesamtheit im Auge habenden,
politisch konstruktiv wirkenden und volksnahen aristokratischen
Führungsgruppe wurde dadurch bestätigt. Mandler sieht auch die
sozialpolitischen Bemühungen der Whigs in den Jahren nach der
ersten Parlamentsreform im Licht dieses Selbstverständnisses. Daß
der Einfluß des Adels infolge der Parlamentsreform von 1832 noch
gestiegen sei, ist die These von D. C. Moore, The Politics of Defe-
rence, A Study of the Mid-Nineteenth Century English Political
System, Hassocks 1976. Eine interessante Ergänzung dazu, welche
ebenfalls die unmittelbare Bedeutung der Wahlrechtsveränderungen
relativiert, bietet Patrick Joyce, Work, Society and Politics, The
Culture of the Factory in Later Victorian England, Hassocks 1980.
Betont Moore das Fortbestehen und die Festigung überkommener
Ehrerbietungsstrukturen, so hat Joyce in unverkennbarer Anlehnung
an dessen Konzept der „deference communities“ für die Fabrikstädte
des Nordens (vor allem in Lancashire) sogar die Neubildung solcher
Strukturen und einer „politics of influence“ auf der Grundlage der
Fabrik und des Unternehmerpaternalismus nachgewiesen. Er sieht
darin die Ursache für die soziale Stabilisierung Englands im dritten
Viertel des 19. Jahrhunderts nach den unruhigen 1830er und 1840er
Jahren. Erst mit der Gründung und Ausbreitung der Labour Party sei
die auf die Unternehmerfamilie und die Fabrik ausgerichtete, durch
„deference and influence“ geprägte Haltung der Arbeiter überwun-
den worden. An die Stelle eines paternalistisch bestimmten Wahlver-
haltens sei ein klassenorientiertes Wahlverhalten getreten – und zwar
zu einem Zeitpunkt, als der alte Unternehmerpaternalismus ange-
sichts der Zentralisierung der modernen Industrie, der Ausbreitung
von GmbHs und der Ausdehnung der Städte an Bedeutung verlor.

T. A. Jenkins, The Liberal Ascendancy, 1830–1886, London 1994,

gibt einen ausgezeichneten Überblick über jene Phase britischer Ge-
schichte, als Whigs und Liberale das politische System dominierten
und eine „natürliche“, wenngleich durch die Gegensätze zwischen
den verschiedenen Gruppen oft genug handlungsgelähmte, Mehrheit
besaßen. Der hohe Wert dieses schmalen Bandes liegt einerseits in der
klaren Linienführung, andererseits in den zahlreichen neuen Quellen-
funden, die dem Leser durch ausführliche Zitate zugänglich gemacht
werden. Unter den neueren Biographien der herausragenden Politiker
dieser Periode sind hervorzuheben: Robert Blake, Disraeli, London
1966, sowie die knappe Portraitskizze von John Vincent, Disraeli,
Oxford 1990. Eine gut geschriebene, materialreiche Biographie Pal-

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125

merstons bietet Jasper Ridley, Lord Palmerston, London 1970. Die
modernen Züge an Palmerston betont E. D. Steele, Palmerston and
Liberalism, 1855–1865, Cambridge 1991. Richard Shannon, Glad-
stone, Vol. I, 1809–1865, London 1982, ist etwas zu detailliert,
macht aber Gladstones Tendenz zur Moralisierung politischer Fragen
hervorragend deutlich. (Sie kommt noch stärker zum Ausdruck in der
älteren Arbeit von Richard Shannon, Gladstone and the Bulgarian
Agitation 1876, Hassocks 1975

2

.) Besonders wertvoll durch die

intensive Auswertung von Gladstones Tagebüchern sind die beiden
Bände von H. C. G. Matthew, Gladstone, 1809–1874, Oxford 1986;
Ders., Gladstone 1875–1898, Oxford 1995. Eine ausgezeichnete
Biographie ist Nicholas C. Edsall, Richard Cobden, Independent
Radical, Cambridge, Mass. 1986. Es ist einigermaßen überraschend,
dort zu lesen, daß Cobden dem englischen Bürgertum ausgerechnet
das deutsche Bürgertum als Vorbild vor Augen hielt und die Anti-
Corn Law League zum deutschen Hansebund des Mittelalters in
Beziehung setzte. Weniger befriedigend ist Keith Robbins, John
Bright, London 1979.


VII. Eine ungemein klare, fakten- und perspektivenreiche Zusammen-
fassung der letzten 120 Jahre britischer Geschichte gibt Martin Pugh,
State and Society, British Political and Social History 1870–1992,
London 1994. Allenfalls kann man dem Autor vorwerfen, daß er die
Brisanz des Irlandproblems vor 1914 unterschätzt, die Situation der
Liberalen Regierung vor dem Ersten Weltkrieg zu optimistisch beur-
teilt und überhaupt den Liberalen etwas zu wohlwollend gegenüber-
steht. Das sind jedoch geringe Einwände gegen ein Buch, das beson-
ders auch durch die Verknüpfung von politischer Geschichte und
Sozialgeschichte beeindruckt. Eine ganz hervorragende, regionale und
lokale Besonderheiten berücksichtigende sozialgeschichtliche Zu-
sammenfassung bietet Jose Harris, Private Lives, Public Spirit, A
Social History of Britain 1870–1914, London 1993. Die ökonomi-
sche Schwächung und das Schwinden der politischen Macht der
Aristokratie werden eindrucksvoll und detailliert dargestellt von
David Cannadine, The Decline and Fall of the British Aristocracy,
New Haven 1990. Den Verfassungskonflikt und die Wahlen von
1910 behandelt ausführlich Neal Blewett, The Peers, the Parties and
the People, London 1972. Der historische Hintergrund des irischen
Problems, das in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg erbitterte
Auseinandersetzungen auslöste und in Nordirland zu einem Bürger-
krieg zu führen drohte, wird vorzüglich dargestellt von dem irischen
Historiker R. F. Forster, Modern Ireland 1600–1972, Harmonds-
worth 1989. Der Verfasser erwähnt in seiner revisionistischen Ge-
schichte für den irischen Nationalismus so unbequeme Tatsachen wie
die Kriegsbegeisterung der Iren im Jahre 1914. Noch subtiler wird

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126

das höchst komplexe englisch-irische Verhältnis behandelt in der
Aufsatzsammlung von R. F. Foster, Paddy and Mr. Punch, Connecti-
ons in Irish and English History, London 1993. Die beste Gesamtdar-
stellung britischer Geschichte in der Zeit vom Ersten bis zum Zwei-
ten Weltkrieg ist nach wie vor A. ]. P. Taylor, English History 191—
1945, Oxford 1965. Einen guten Überblick über Wahlen und Partei-
en gibt Martin Pugb, The Making of Modern British Politics 1867-
1939, Oxford 1982. Für ein Verständnis der Klassenverhältnisse
sowie ihres Zusammenhangs mit der Wahlrechts- und Parteientwick-
lung unentbehrlich ist die Aufsatzsammlung von Ross McKibbin, The
Ideologies of Class, Social Relations in Britain 1880–1950, Oxford
1990. Die sozialen Zielvorstellungen sowie die Stimmungen der
Kriegszeit und der Nachkriegsperiode werden eingefangen von Paul
Addison,
The Road to 1945, British Politics and the Second World
War, London 1982, und Ders., Now the War is Over, A Social Hi-
story of Britain 1945–51, London 1986. Die Ernüchterung eines
englischen Schriftstellers, der nach Kriegsausbruch mit einer revolu-
tionären Erneuerung der britischen Gesellschaft rechnete, sich in
dieser Erwartung aber bald getäuscht sah, beschreibt Hans-Christoph
Schröder,
George Orwell, Eine intellektuelle Biographie, München
1988. Eine eigenartige, gleichwohl faszinierende Mischung von farbi-
gem Stimmungsbild und historischer Analyse bietet Paul Hennessey,
Never Again, Britain 1945–1951, London 1992. Für den Regie-
rungswechsel des Jahres 1945 und die darauffolgenden drei Jahrzehn-
te britischer Geschichte (einschließlich der Beatles) sind heranzuzie-
hen: Kenneth O. Morgan, Labour in Power, Oxford 1984; De«.,
The People’s Peace, British History 1945–1989, Oxford 1990. Eine
Sammlung von Portraits der wichtigsten Labour-Führer bietet Ders.,
Labour People, Leaders and Lieutenants, Hardie to Kinnock, Oxford
1987.


VIII. Nicht ganz befriedigende Gesamtdarstellungen der imperialen
Entwicklung sind T. O. Lloyd, The British Empire 1558–1983, Ox-
ford 1984; Lawrence James, The Rise and Fall of the British Empire,
London 1994. Die diesen Büchern fehlende analytische Kraft und
begriffliche Schärfe finden sich bei Jürgen Osterhammel, Kolonialis-
mus, Geschichte – Formen – Folgen, München 1995. Neue Ansätze
und Fragestellungen zur britischen Kolonialgeschichte des 17. und
18. Jahrhunderts bietet der sich gegen eine anglozentrische Perspekti-
ve wendende Sammelband von Bernard Bailyn u. Philip D. Morgan
(Hrsg.),
Strangers within the Realm, Cultural Margins of the First
British Empire, Chapel Hill 1991. Die Wirtschaft der nordamerikani-
schen Kolonien Englands und ihr Zusammenhang mit dem Empire
werden hervorragend dargestellt von John J. McCusker u. Russell
R. Menard,
The Economy of British America 1607–1789, Chapel

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127

Hill 1985. Die Kooperation englischer und nordamerikanischer
Interessengruppen und das Abbrechen dieser Verbindungen am
Vorabend der Amerikanischen Revolution werden herausgearbeitet
von Alison Gilbert Olson, Making the Empire Work, London and
American Interest Groups 1690–1790, Cambridge, Mass. 1982. Zur
Amerikanischen Revolution und ihren Ursachen vgl. Hans-Christoph
Schröder,
Die Amerikanische Revolution, München 1982. Das zweite
britische Empire wird mit starker Betonung des militärisch-
autoritären Elements skizziert von C. A. Bayly, Imperial Meridian,
The British Empire and the World 1780–1830, London 1989. Eine
gute Darstellung der britischen Expansion und des Empire in der
Hochphase des Imperialismus gibt Bernard Porter, A Short History
of British Imperialism 1850–1970, London 1984

2

. Einen ausgezeich-

neten Überblick über die Phase der Dekolonisation bietet John
Darwin,
Britain and Decolonisation, The Retreat from Empire in
the Post-War World, London 1988. Darwin rekonstruiert die ein-
zelnen Etappen des Rückzugs aus dem kolonialen Bereich und zeigt
die noch lange bestehenden britischen Illusionen auf. Eine material-
reiche Studie über die propagandistische Seite des britischen Imperia-
lismus ist John M. MacKenzie, Propaganda and Empire, The Mani-
pulation of British Public Opinion 1880–1960, Manchester 1984.
MacKenzie zeigt, daß die imperialistische Propaganda erst nach dem
Ersten Weltkrieg ganz eingespielt war und die sie tragenden Institu-
tionen oder Gruppen voll etabliert waren, als der eigentliche Höhe-
punkt des Imperialismus bereits überschritten war. Er stellt auch
besonders die Verbindung zwischen Imperialismus und Monarchis-
mus heraus.

Die wichtigste Studie über die neue Selbstdarstellung der Monar-

chie und einen populären Monarchismus seit dem letzten Viertel des
19. Jahrhunderts ist David Cannadine, The Context, Performance
and Meaning of Ritual: The British Monarchy and the invention of
Tradition’, c. 1820–1977, in: Eric Hobsbawm u. Terence Ranger
(Hrsg.),
The Invention of Tradition, Cambridge 1984, S. 101–164.
Seltsamerweise übersieht Cannadine jedoch die von seiner Frau,
Linda Colley, aufgewiesenen Vorläufer eines volkstümlichen Roya-
lismus zur Zeit der Kriege gegen das revolutionäre und napoleonische
Frankreich. Eine scharfe Abrechnung mit der britischen Monarchie,
die von ihm als entscheidendes Modernisierungshemmnis betrachtet
wird, findet sich bei Stephen Haseler, The End of the House of
Windsor, London 1993. Eine Reihe von zeitgenössischen Kommenta-
ren, die zumeist kritisch sind und unter dem Eindruck der momenta-
nen Diskreditierung der Monarchie infolge der Ehezwiste in der
Königsfamilie geschrieben wurden, wurde zusammengestellt von
Anthony Barnett (Hrsg.), Power and the Throne, The Monarchy
Debate, London 1994.

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128

Die sich wandelnden Voraussetzungen der britischen Stellung in

der Welt werden hervorragend zusammengefaßt durch Paul M. Ken-
nedy,
The Rise and Fall of British Naval Mastery, London 1983, und
Bernard Porter, Britain, Europe and the World 1850–1986: Delusi-
ons of Grandeur, London 1987

2

. Eine überaus kritische Darstellung

der britischen Außen- und Weltpolitik, die als Ausweichen vor den
inneren Problemen des Landes interpretiert wird, gibt Robert Hol-
land,
The Pursuit of Greatness, Britain and the World Role, 1900-
1970, London 1991. Einen Einblick in die restriktiven Bedingungen
außenpolitischen Handelns und deren Einfluß auf die Leiter der
britischen Politik in der Zwischenkriegszeit geben die knappen Zu-
sammenfassungen von Michael Howard, The Continental Commit-
ment, The Dilemma of British Defence Policy in the Era of Two
World Wars, Harmondsworth 1974; Keith Robbins, Appeasement,
Oxford 1988. Das durch den Soldatentod eines ihm sehr nahestehen-
den Verwandten bedingte persönliche Element in Chamberlains
Ablehnung des Krieges wird herausgearbeitet von Lary William
Fuchser,
Neville Chamberlain and Appeasement, New York 1982.
Eher zur partiellen Benutzung als zum vollständigen Lesen geeignet
sind die acht voluminösen Bände der von Randolph S. Churchill
begonnenen und von Martin Gilbert fortgesetzten großen Churchill-
biographie (London 1966–1988). Gilbert hat ihnen ein Buch mit
persönlichen Reminiszenzen an seine detektivische Arbeit für diese
Biographie und Erinnerungen von Mitarbeitern Churchills folgen
lassen, das zuweilen das Hagiographische streift (Martin Gilbert, In
Search of Churchill, A Historian’s Journey, London 1994). Als Ge-
gengewicht dazu ist empfehlenswert die überscharfe Charakterisie-
rung Churchills durch David Cannadine, Winston Churchill as an
Aristocratic Adventurer, in Ders., Aspects of Aristocracy, New Ha-
ven 1994, S. 130–162. Die neueste einbändige Biographie ist Norman
Rose,
Churchill, An Unruly Life, London 1994. Wie sehr die Konser-
vative Unterfraktion auch nach dem Rücktritt Neville Chamberlains
mit diesem sympathisierte und wie widerstrebend sie sich mit Chur-
chill abfand, zeigt Andrew Roberts, Eminent Churchillians, London
1994. Dieses Buch gibt auch interessante Aufschlüsse über die Unter-
stützung Chamberlains und seiner Appeasementpolitik durch die
Königsfamilie. Den Innenpolitiker Churchill beleuchtet mit etwas zu
starker Hervorhebung seines sozialpolitischen Engagements Paul
Addison,
Churchill on the Home Front 1900–1955, London 1992.


IX. Eine kritische Biographie Margaret Thatchers ist Hugo Young,
One of Us, London 1990. Erste Bestandsaufnahmen der Ära That-
cher bieten: Peter Riddell, The Thatcher Decade, How Britain has
Changed During the 1980s, Oxford 1989; Dennis Kavanagh, That-
cherism and British Politics, The End of Consensus? Oxford 1990

2

;

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Andrew Adonis u. Tim Harnes (Hrsg.), The Thatcher-Reagan^Decade
in Perspective, Manchester 1994. Den Versuch einer Beurteilung der
Politik John Majors unter dem Gesichtspunkt der Kontinuität bzw.
Nichtkontinuität in bezug auf den Thatcherismus unternehmen die
Autoren des Sammelbandes von Dennis Kavanagh u. Anthony Seidon
(Hrsg.),
The Major Effect, London 1994.


X. Die Herausbildung des Konzepts der Parlamentssouveränität
behandelt Ferdinand Mount, The British Constitution Now, London
1992. Mount zeigt, wie es im Zusammenhang mit der Auseinander-
setzung um Home Rule für Irland durch den Verfassungsrechtler
Dicey eine äußerste Zuspitzung erfuhr. Eine spannend geschriebene,
gelegentlich überpointierte Darstellung der Machterweiterung der
Exekutive im Großbritannien des 20. Jahrhunderts gibt Bruce P.
Lenman,
The Eclipse of Parliament, Appearance and Reality in Bri-
tish Politics since 1914, London 1992. Die Parlamentssouveränität ist
nach Lenman zu einem rhetorischen Mittel geworden, um die demo-
kratische Einflußnahme der Briten zu verhindern und dem Führer der
Parlamentsmehrheit eine kaum beschränkte Machtvollkommenheit
zu verleihen. Die wirtschaftlichen Nachteile der Konzentration politi-
scher Macht in Großbritannien betont Will Hutton, The State We’re
In, London 1995. Hutton behauptet, der „halbmoderne Charakter
des britischen Staates“ sei eine fundamentale Ursache der wirtschaft-
lichen und sozialen Probleme des Landes. Er vertritt die sehr ein-
leuchtende These, daß die Idee der Parlamentssouveränität sich in
dem für eine langfristige, stabile industrielle Entwicklung nachteiligen
Konzept der Aktionärssouveränität und der unbeschränkten Unter-
nehmensführung (ohne Arbeitermitbestimmung) widerspiegele.
Mount, Lenman und Hutton verweisen in ihrer Kritik an der Parla-
mentssouveränität und den neoabsolutistischen Tendenzen im heuti-
gen Großbritannien auf die alte libertäre Tradition Englands, an die
sie wieder anknüpfen wollen.

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130

Regententabelle*

Angelsächsische Könige in England (Wessex)
871–899

Alfred d. Große

899–925

Edward der Ältere

925–939 Athelstan
939–946 Edmund
946–955 Edred

Angelsächsische und dänische Könige von England
955–959 Edwy
959–975 Edgar
975–979

Edward d. Märtyrer

979–1013 Ethelred
1013–1014 Swegn

Forkbeard

1014–1016 Ethelred
1016 Edmund

Ironside

1016–1035 Knut
1035–1040 Harold

Harefoot

1040–1042 Harthaknut
1042–1066

Edward d. Bekenner

1066 Edgar

Etheling

(ungekrönt)

Normannische Könige
1066–1087

Wilhelm I. d. Eroberer

1087–1100

Wilhelm II. Rufus

1100–1135 Heinrich

I.

1135–1154 Stephan

Anjou-Plantagenet
1154–1189 Heinrich

II.

1189–1199

Richard I. Löwenherz

1199–1216 Johann

Ohneland

1216–1272 Heinrich

III.

1272–1307 Eduard

I.

1307–1327 Eduard

II.

1327–1377 Eduard

III.

1377–1399 Richard

II.

Lancaster
1399–1413 Heinrich

IV.

1413–1422 Heinrich

V.

1422–1461 u. Heinrich VI.
1470–1471

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131

York
1461–1483 Eduard

IV.

1483 Eduard

V.

1483–1485 Richard

III.

Tudor
1485–1509 Heinrich

VII.

1509–1547 Heinrich

VIII.

1547–1553 Eduard

VI.

1553 Jane
1553–1554 Maria
1554–1558

Philip u. Maria

1558–1603 Elisabeth

I.

Stuart
1603–1625 Jakob

I.

1625–1649 Karl

I.

1649–1660 Republik
1649–1653

Commonwealth

1653–1658

Oliver Cromwell Lord Protektor

1658–1659

Richard Cromwell Lord Protektor

1659–1660

Commonwealth

1660–1685 Karl

II.

1685–1688 Jakob

II.

1688–1689 Interregnum
1689–1694

Wilhelm III. und Maria II.

1694–1702 Wilhelm

III.

1702–1714 Anna

Hannover- Windsor
1714–1727 Georg

I.

1727–1760 Georg

II.

1760–1820 Georg

III.

1820–1830 Georg

IV.

1830–1837 Wilhelm

IV.

1837–1901 Viktoria
1901–1910 Eduard

VII.

1910–1936 Georg

V.

1936 Eduard

VIII.

1936–1952 Georg

VI.

1952-heute Elisabeth

II.

* Quelle: C. R. Chenney (Hrsg.), Handbook of Dates (= Royal Hi-
storical Society. Guides and Handbooks No. 4), London 1991.

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132

Namen- und Sachregister



Absolutismus 23, 44

Bagehot, Walter 55, 107

Act of Settlement 32f.

Baldwin, Stanley 70, 87, 91

Adel 17f., 21f., 25, 28, 37, 39ff.,

Bamford, Samuel 63

46f., 51f., 59, 61f., 65, 74,

Bevan, Aneurin 73, 75

102f., 111, 120, 124; s.a. Ari-

Beveridge Report 72, 74, 112

stocracy, Aristokratie, Gentry

Bevin, Ernest 71f., 75

Adelsherrschaft 37, 40, 47, 51,

Blair, Tony 97

58ff., 64, 120

Boroughs 10, 16ff., 38, 56, 58,

Afrika 76

110

Albert, Prinzgemahl 85

Burenkrieg 65, 84, 92

Alfred der Große 9f.

Bürgerkrieg 20, 29, 65, 125

Altersversorgung 73

Bürgertum 37f., 40f., 44, 47,

Amerikanische Revolution 127

53f., 56, 57, 59ff., 89, 92,

Amerikanischer Unabhängig-

103, 111, 125; s.a. Mittelklas-

keitskrieg 53, 82f.

sen, Mittelschichten

Anglikanische Staatskirche, Ang-

Burke, Edmund 35, 38

likaner 30, 46

Byron, Lord 63

Antimilitarismus 46
Appeasementpolitik 71, 87, 128

Carlyle, Thomas 52

Arbeiterschaft, Arbeiterbewe-

Chamberlain, Joseph 76, 84, 97

gung 49, 52, 56, 68ff., 73, 91,

Chamberlain, Neville 70f., 87,

94

114,

128

Arbeitslosenunterstützung 70,

Chartismus, Chartisten 52f., 56,

72

62,

68,

122f.

Arbeitslosenversicherung 73

Churchill, Winston 71f., 74, 87,

Arbeitslosigkeit 74, 94, 116

91f., 111, 114, 128

Arendt, Hannah 102

Clark, Alan 116

Aristocracy 37ff., 41, 47

Cobden, Richard 60, 75, 125

Aristokratie 38, 60, 65, 121,

Collective bargaining 68

125

Common Law 15, 19

Armee, Heer 19, 21, 28, 31,

Commonwealth of Nations 77f.,

45f., 51, 58, 76, 80, 82, 86,

88, 95

102

Counties s. Grafschaften

Arme, Armut 47, 51, 116

Country-Ideologie 62

Armenfürsorge, Armengesetze

County Courts 11, 18

(Poor Laws) 22, 47, 62, 67,

Cromwell, Oliver 29

73, 91, 98, 122f.; s.a. New

Cromwell, Richard 29

Poor

Law

Asquith, Herbert 69

Danegeld 10

Attlee, Clement 74ff., 95

Declaration of Rights 31

Außenpolitik 71, 76, 84, 128

Dekolonisation 127

background image

133

Demokratie, Demokratisierung

Freiheit, Freiheitsrechte 9, 14,

58, 64ff., 69, 71, 73, 85

23, 31f., 35, 44ff, 62, 79, 99,

Deutschland 9, 19, 71, 75, 79f.,

107, 116

86f., 112, 114

Friedensrichter (Justices of the

Disraeli, Benjamin 59, 61, 98

Peace) 22f., 31, 40, 48

Dominions 77, 88

Führungsschichten 27f., 30, 39f.,

Dreißigjähriger Krieg 28

51, 56f., 59, 60, 62

East India Company 81, 83

Gaitskell, Hugh 77

Eden, Anthony 74, 112

Generalstreik 70, 91

Ehrerbietung (deference) 60, 73,

Gentry 17f., 37ff., 56, 59, 108;

124

s.a.

Adel,

Aristocracy,

Eigentum 12, 28, 41, 52, 67,

Aristokratie

103

Georg I. 33

Einhegungen (enclosures) 48,

Georg II. 33

101

Georg III. 35f., 38, 85, 107

Eliot, George 57

Georg IV. 85

Elisabeth I. 21f., 24ff., 28, 47,

Georg V. 66

80, 119

George, Lloyd 66, 69, 73

Empire 76ff., 81, 83ff., 88,

Getreidezölle (corn laws) 59ff.,

126f.

111

Englische Revolution 12, 29f.,

Gewerkschaften 68, 90, 94

38, 46, 52, 119

Gladstone, William Ewart 61,

Erster Weltkrieg 67f., 71, 73,

65, 93, 125

77, 80, 86f., 91f., 111, 125,

Gleichgewicht, Gleichgewichts-

127

politik

80f.

Europa, europäischer Kontinent

Glorreiche Revolution 32, 99,

9, 12ff., 32, 38, 51, 65, 79f.,

119f.

80, 86, 90, 97f.

Gordon Riots 49

EWG 77, 97

Gradualismus, gradueller

Wandel

55,

65,

67

Falklandkrieg 95

Grafschaften 11, 16ff., 22f., 30,

Feudalismus 13, 18, 60

37, 40, 56

Flotte, Marine 45, 48, 66, 79ff.,

Grey, Charles, Earl 55, 58

86

Grundbesitz,

Großgrundbesitz

Fortescue, Sir John 24

37,111

Fox, Charles James 107

Grundbesitzer 41f., 56, 59, 92

Frankreich 13f., 18, 21, 24, 31,

Grundrechte 99, 102

33, 35f., 40f., 45, 51f., 78ff.,
82, 84, 87, 114f., 121f., 127

Halifax, Earl of 87, 114

Französische Revolution 51f.,

Hardie, Keir 68

54, 121f.

Haus Hannover 32f., 35, 62

Frauen 67, 122

Hazlitt, William 63

Freihandel, Freihandelsbewe-

Heath, Edward 93

gung 60f., 83f., 97, 111

Hegemonie 9, 39f., 68, 80f., 113

background image

134

Heinrich III. 14

10ff., 15, 19, 21ff., 25t., 29,

Heinrich VIII. 23ff.

32ff., 40, 55, 68, 771., 84f.,

Herzen, Alexander 61

88, 99, 101f., 107, 119, 127

Heseltine, Michael 96

Konsenspolitik 90, 93

Hitler, Adolf 87

Konservative, Konservative

Hobbes, Thomas 20, 30

Partei 58f., 61, 64f., 69ff.,

Hogg, Quintin 112

76f., 84, 87, 90ff., 96f., 112,

Hoggart, Richard 49

121, 128

Home Rule 65, 129

Korruption 35, 53, 55, 99

House of Lords s. Oberhaus

Krankenversicherung 73

House of Commons s.
Unterhaus

Labour Party 68ff., 75ff., 95ff.,

Hundertjähriger Krieg 78

124

Hunt, Henry 57

Labour Representation

Committee

68

Imperialismus 83f., 127

Laisser faire 94

Independent Labour Party 68

Landarbeiter 64

Indien 76, 81, 83f., 87f.

Landwirtschaft 41, 59

Individualismus 12, 93

Langes Parlament 28

Industrie 74, 84, 89, 104, 124

Legislaturperiode 34, 66, 99

Industrielle Revolution 42, 54,

Levellers 52, 102

61, 89, 98, 104, 123

Liberale, Liberale Partei 53, 58,

Informal Empire 76

61, 65f., 68ff., 73, 93, 124f.

Irland 36, 65f., 78, 125, 129

London 10, 43, 46, 49, 64


Jakob I. 28

Macaulay,Thomas Babington 57

Jakob II. 30ff.

MacDonald, Ramsay 70

James, Henry 63

Macmillan, Harold 74, 76f., 91

Jenkins, Lord 116

Magna Carta 14ff., 19, 30

Johann Ohneland 14

Major, John 96f., 129

Justices of the Peace s.

Manchester 42f., 54, 110

Friedensrichter

Milner, Alfred 92f.

Mittelklassen,

Mittelschichten

Kanada 81

46, 53, 57, 60f., 68f.; s.a.

Kapitalismus 89, 103

Bürgertum

Karl I. 28f., 81,119

Moderne, Modernisierung,

Karl II. 30, 32

Modernität 51, 88, 101f., 104

Katholiken 28, 30, 32, 36, 55

Monarchie s. Königtum

Keynes, John Maynard 74

Moser, Justus 41

Kirchen 23ff., 30, 38,41, 46,

Mussolini, Benito 114

65,

102

Koalitionsregierungen 69–72

Napier, Sir Charles 62

Kolonien, Kolonialpolitik 45,

Napoleon 36

76, 78–83, 126

Napoleonische Kriege 41, 45,

Königtum, Krone, Monarchie

52, 82ff., 115, 122, 127

background image

135

New Poor Law 94, 98, 123

Reformen, Reformpolitik 35,

Newcastle, Duke of 38

51ff., 55ff, 67f., 75, 123

Niederlande 31, 79f., 82f.

Religion 24f, 28, 30, 46, 102,

Nonkonformismus, Nonkon-

119

formisten 30, 46f., 61, 65,

Repräsentation 16f., 18, 29, 37,

102

42f.,

55f.,

58,

110

Normannen 12f.

Riots (Volksunruhen) 47ff., 121

North, Lord 53

Rockingham, Lord 35

Rosebery, Lord 66

Oberhaus 25f., 34, 37f., 55, 58,

Rosenkriege 19, 21

64ff., 103, 111

Rowntree, Seebohm 74

Opposition 14, 35, 54, 65, 92,

Rußland 114

96

Rüstung,

Rüstungsausgaben

66,

Orwell, George 63, 87

75, 80


Pächter 56

Salisbury, Lord 92

Palmerston, Lord 58f., 61, 125

Sampson, Anthony 99

Parlament 16ff., 23ff., 28f.,

Schmitt, Carl 113

31ff., 42f., 47ff., 52ff., 67f.,

Schottland, Schotten, 26, 28, 51,

88, 101f., 106f., 118f.;s.a.

56,82

Oberhaus, Unterhaus

Schutzzölle 92, 97; s.a. Getreide-

Parlamentarische Monarchie 33,

Schutzzölle

37, 101

Seeley, John 84

Parlamentsreform 52ff., 60, 64,

Selbstverwaltung 19, 40, 98f.,

123f.

116

Parteien 36, 58, 69, 120, 126

Shakespeare, William 21

Parteiensystem 36, 54, 58, 68

Shires s. Grafschaften

Patronage 21, 34ff.

Siebenjähriger Krieg 79, 81, 83

Peel, Sir Robert 46, 60, 92, 97

Smith, Sir Thomas 25

Peers 38, 58, 65, 103

Souverän, Souveränität 20, 24,

Pitt, William (der Jüngere) 35f.,

26, 29f.

52, 92

Sowjetunion 75

Politische Kultur 49, 53

Sozialimperialismus 77

Polizei 46

Sozialismus 74, 77

Privatisierung 94, 96

Sozialpolitik 66, 75, 90, 124,

Privilegien 15, 43, 63, 101

128

Protestanten, Protestantismus

Spanien 44, 75, 78f., 82

28, 31, 46, 55, 61

Staat 9, 19, 30, 32f, 37, 40f,

Puritaner, Puritanismus 29,

45, 47, 52, 60, 65, 76, 78, 82,

119

98f.,

101,

111,

129

Stabilisierung 33, 44, 119, 124

Radikale, Radikalismus 51f., 60,

Städte 10, 17f., 42f., 47, 54,

62f.,

107,

122

78f,

92,

124

Reformation 25

Sterblichkeitsrate 116

Reformationsparlament 23f.

Steuerbewilligung 16ff., 25, 31

background image

Steuern 17f., 31, 53, 56, 66

Wahlen 34, 43, 48, 52, 55, 61,

Streiks 94; s.a. Generalstreik

65f., 68ff., 72, 94ff., 121,

Stuart, Maria 26

125f.

Stuarts 26, 28, 31, 33, 35,

Wahlrecht 52f., 56, 58, 62, 64,

116

67,

69,

111,

123f.,

126

Suez-Krise 88

Wahlrechtsreformen 52

– 1832 55ff., 123

Thatcher, Margaret 90ff., 115f.,

– 1867 58, 123

121

1884

64f.

Thatcherismus 89ff., 115f.

– 1918 67, 69, 111

Thompson, James 79

– 1 9 2 8 6 7

Thronfolge 32

Walpole, Sir Robert 33ff., 47,

Tories, Toryismus 33, 58, 62,

120

74, 92, 110, 121

Weber, Max 29, 40, 108, 111

Triennial Act 31

Westindische Inseln 81

Trollope, Anthony 60

Whigs 33, 35, 54, 57f., 59, 62,

Tudors 21, 23f.

65, 68, 110, 123f.

Wikinger

9f.

Unterhaus 26, 31, 34, 37f., 43,

Wilhelm der Eroberer 12

47, 52ff, 64ff, 68, 72, 96f.

Wilhelm IV. 85

Unterschichten 37, 40, 46ff., 56,

Wühlern von Oranien 31

91, 94, 120

Wilson, Harold 77, 88

Winchester

10

Vereinigte Staaten 75f., 84, 86,

Winstanley, Gerrard 12

88, 102, 114

Wohlfahrtsstaat 73, 90, 123

Verfassung, Verfassungsordnung

Wordsworth, William 39

20, 24, 33, 53, 55, 59, 66, 96,
98f., 101f., 107, 120, 125

Yorktown 82

Viktoria, Königin 84f.
Viktorianismus, Viktorianische

Zentralgewalt 10, 13, 15, 21ff.,

Werte 93f., 116

62, 97f.

Virginia Company 81

Zentralisierung 9

Volkssouveränität 102

Zweiter Weltkrieg 71, 73, 76,

Vollbeschäftigung 74f., 90

87, 90f., 94, 126

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