Behrendt, Leni Kelter Grosse Ausgabe 0031 Durch Gewitter und Sturm

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LENI BEHRENDT

Durch Gewitter und

Sturm


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Es schien, als halte die Natur den Atem an, eine so
unheimliche Stille brütete über der Landschaft. Unheimlich

war auch die Beleuchtung, die alles ringsum in
schwefelgelbes Licht tauchte. Und schwefelgelbe Wolken
jagten auch am Himmel, worüber sich dann schwarzgraue
wälzten, während es am Horizont reglos wie eine
tintenblaue Wand stand.
Einen Maler hätte dieses einzigartige Farbenspiel
wahrscheinlich entzückt, jedoch dem jungen Mädchen, das
über den Wiesenpfad hetzte, jagte es Furcht ein. Was sollte
werden, wenn es keinen schützenden Unterschlupf
erreichte, bevor das Gewitter mit entfesselter Kraft
losbrach? Daß es bis auf die Haut naß werden würde, war
noch das wenigste, aber die Angst, auf freiem Feld

schutzlos den tobenden Elementen ausgesetzt zu sein,
hätte auch robustere Menschen gepackt als dieses junge
zarte Geschöpf. Es lief, was nur die Beine hergaben, ob den
richtigen Weg oder nicht, war jetzt egal. Nur irgendwo
unterkriechen.
Nun grollte auch schon der Donner auf, der Blitz
zickzackte durch die düsteren Wolken, die jetzt den ganzen
Himmel bedeckten. Und dann tobte der Sturm los, der ja
zur Begleiterscheinung eines heraufziehenden Gewitters
gehört. Nun war es aus mit dem leichtfüßigen Lauf einer
Gazelle, nun hatte das junge Mädchen Mühe, von der Stelle
zu kommen. Keuchend kämpfte es gegen den Sturm an

und mußte sich außerdem noch darüber argem, daß ihm
eine Melodie im Köpf herumspukte. Ausgerechnet jetzt, wo
es der jungen Maid alles andere als nach Singsang zumute
war. Doch hartnäckig tönte es im Hirn:

Durch Gewitter und Sturm
durchs weite Meer,
mein Mädel, ich bin dir nach…

Wenn es nur so wäre und sie jetzt Schutz suchen könnte an
einer starken Männerbrust – egal an welch einer – aber

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leider.
Doch dann weiteten sich ihre Augen. Denn plötzlich sah

sie vor sich eine Männergestalt, weiß der liebe Himmel,
woher die so unvermutet auftauchte. Allein, der Mann
erschien nicht, um sie an seine Heldenbrust zu nehmen,
sondern lief vor ihr mit so langen Schritten, daß der
Zwischenraum zwischen ihm und ihr immer größer wurde.
Und sie folgte seinen Spuren, wenn auch nicht errötend, so
doch mit keuchendem Atem. Alle Teufel schienen
losgelassen zu sein, so tobte es um sie her. Der Donner
krachte, die Blitze zuckten – und nun fielen auch schon die
ersten Tropfen.
Aber auch die Rettung war nah. Denn vielleicht hundert
Meter von ihr befand sich ein Gehöft, auf das der Mann vor

ihr losraste und im ersten Stallgebäude verschwand. Ergo:
Sie ihm nach – und das war höchste Zeit. Denn kaum, daß
sie den Unterschlupf erreicht hatte, prasselte es auch schon
vom Himmel hernieder in unwahrscheinlich großen
Tropfen. Während sie nun ihr »Gott sei Dank«, aufseufzte,
stolperte sie in dem dunklen Raum über ein Etwas, fiel –
und spürte es naß über ihre Beine rinnen. Doch schon
umschlang sie ein starker Arm, hob sie hoch, stellte sie auf
die Erde, und eine lachende Männerstimme sprach:
»Hallo, hallo, man nicht so stürmisch,
mein Fräulein! Haben Sie sich weh getan?«
»Nein«, konnte sie fröhlich mitlachen, da sie sich nun in

Sicherheit befand. Wo, das konnte sie zwar in dem
Dämmerlicht nicht sehen, aber da es um sie herum grunzte
und quiekte, mußte ihr Obdach wohl ein Schweinestall
sein. Schade, daß sie das Gesicht des Mannes, der neben ihr
stand, nicht erkennen konnte. Aber groß war er, fast einen
Kopf größer als sie, die sie mit ihren 1,68 gewiß nicht zu
den kleinsten Mädchen zählte. Gern hätte sie gewußt, wer
er war, aber im Schweinestall pflegt man sich ja nicht
vorzustellen. Aber auf welchem Gehöft sie sich befand, das
mußte sie unbedingt feststellen.
»Ragaltshöfen«, erfolgte die Antwort auf ihre Frage, und da

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lehnte sie sich gegen ein Schweinekoben und lachte so
hellklingend und übermütig, daß darüber die Schweine

erschrocken dazwischengrunzten.
»Dann sind Sie gar der Verwalter hier, mein Herr?« wollte
sie sich ausschütten vor Lachen, was den Mann äußerst
befremdete.
»Gewiß. Ich weiß nur nicht, was daran so lächerlich sein
könnte.«
»Nicht böse sein, Herr Baron«, streckte sie ihm nun leidlich
ernst die Hand hin, die er nach kurzem Druck wieder fallen
ließ. »Ich lache Sie ganz bestimmt nicht aus, sondern
amüsiere mich köstlich darüber, daß unsere Bekanntschaft
ausgerechnet im Schweinestall stattfinden mußte. Ich bin
nämlich Birgit Holmsen, die Tochter des Besitzers des

Gutes.«
»Das war dann allerdings ein unwürdiger Empfang«, fiel er
nun amüsiert in ihr erneutes Lachen ein, nachdem er seiner
maßlosen Überraschung Herr geworden war. »Warum
haben Sie sich denn nicht angemeldet, gnädiges Fräulein?
Dann wären Sie gewiß mit allen Ihnen gebührenden Ehren
empfangen worden.«
»Weiß ich, aber so ist es entschieden amüsanter. Mal was
anderes, so durch Gewitter und Sturm im Schweinestall zu
landen und außerdem mit dem Naß bedacht zu werden,
vor dem ich draußen so ängstlich Reißaus nahm. Aller
Segen soll ja zwar von oben kommen, aber daß es auch

von unten sein kann, hat die Erfahrung schlagend
bewiesen. Hoffentlich war Wasser in dem Eimer drin – kein
Drank.«
»Sie scheinen eine Spottdrossel zu sein, mein gnädiges
Fräulein.«
»Sagen sie ruhig Speilzahn, das klingt vertrauter.«
»Und was wird der Herr Vater sagen, wenn er von dem
sonderbaren Empfang des Töchterleins hört?«
»Er wird schmunzeln: Geschieht dir recht, Marjellchen.
Übrigens erscheint er morgen, ich bin nur sein – Vorläufer,
im wahrsten Sinne des Wortes. Denn die letzte Strecke bis

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hierher legte ich im >Nurmilauf< zurück.
Doch wie ist es, können wir diese penetrant parfümierte

Stätte nicht bald verlassen? Ich bin gewiß nicht zimperlich,
aber jetzt habe ich ein schier unbezwingbares Verlangen
nach frischer Luft.«
Eröffnete die Tür und schaute prüfend in das Gewitter
hinaus, das sich langsam zu verziehen begann. Es regnete
auch nicht mehr ganz so arg, genügte jedoch, um naß zu
werden.
»Wollen wir es wagen?« fragte Birgit.
»Da Sie bis zu den Knien sowieso völlig durchnäßt sind,
kommt es auf eine Dusche von oben auch nicht mehr an.
Nur den Kopf müssen Sie schützen, gnädiges Fräulein. Es
wäre schade um die Lockenpracht. Darf ich Ihnen dazu ein

Taschentuch anbieten?«
Ohne Ziererei nahm sie das saubergefaltete Tuch, band es
um den Kopf und lachte ihn an.
»So – zu neuen Taten gerüstet.«
Ehe sie nach dem Köfferchen greifen konnte, das sie
abgestellt, hielt er es bereits in der Hand.
»Steckt wenigstens Reservekleidung darin, gnädiges
Fräulein, damit Sie sich umziehen können?«
»Das tut’s. Und ich segne meinen Einfall, der mich
Vorsorgen ließ, obwohl es das schönste Maiwetter war, als
ich mich zu Hause auf den Weg machte.«
»Mußte das auf so primitive Art geschehen?«

»Mußte nicht, aber ich geh nun mal gern auf Abenteuer
aus. Und siehe da, ich kam auf meine Kosten.«
»Kann man wohl sagen. Kommen Sie rasch, damit wir ins
Haus kommen, bevor der Regen wieder ärger wird. Denn
den Wolken nach zu urteilen zieht ein zweites Gewitter
auf.«
Hurtig ging es nun über den großen Hof, auf dem das
Wasser in breiten Pfützen stand. Um darüber
hinwegzubalancieren, dafür hatte man es zu eilig; denn es
grollte und blitzte schon wieder stärker. Also ging Birgit mit
ihrem Begleiter sozusagen durch dick und dünn. Ihm

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konnte die Nässe auch nichts anhaben, da er wasserfeste
Stiefel trug, doch ihre leichten Schuhe waren so viel Nässe

denn doch nicht gewachsen, wie sie an den triefenden
Füßen merkte. Trotzdem schritt sie wacker aus, und so lag
das Herrenhaus bald vor ihnen. Ein langgestreckter Bau mit
einem wuchtigen Portal, Obergeschoß und breiten
Mansarden. Balkone und Erker zierten das Gebäude, das
ohne sie gewiß nüchtern gewirkt hätte. So jedoch trug es
den Namen eines Herrenhauses mit vollem Recht,
peinlichst gepflegt und feudal.
In der weiten, hohen und vornehm anmutenden Diele
verneigte der Mann sich artig vor dem Mädchen.
»Darf ich mir erlauben, Sie in Ihrem Hause willkommen zu
heißen, gnädiges Fräulein?«

»Danke, Herr Baron. Kann ich mich hier irgendwo
umziehen?«
»Es ist Ihr Haus, gnädiges Fräulein.«
»Nicht meines – sondern das meines Vaters. Das wollen wir
von vornherein richtigstellen, nicht wahr, Herr Baron?«
»Danke. Gestatten Sie, daß ich vorgehe.«
Sie folgte ihm die teppichbelegte Treppe hinauf, betrat
einen langen, bequemen Gang, der durch ein festes
Glasdach genügend Licht bekam. Rechts und links
befanden sich hohe, breite Flügeltüren, von denen der
Mann eine öffnete.
»Bitte, gnädiges Fräulein, dieses Zimmer ist hier oben das

schönste von allen. Gefällt es Ihnen nicht, können Sie ja
später nach Geschmack wählen. Ich hoffe, Sie beim
Abendessen wiederzusehen.«
Eine tadellose Verbeugung, dann ging er rasch davon,
während Birgit das Zimmer betrat und die Tür hinter sich
schloß. Vor ihr lag ein weites, elegant ausgestattetes
Gemach mit einem Stutzflügel in der Mitte. Indes sie noch
an der Tür, durch die sie gekommen war, stand, um jede
Einzelheit des Raumes geruhsam in sich aufzunehmen,
hörte sie an der Tür links schließen, und gleich darauf
schob sich ein dunkles Lockenköpfchen durch den Spalt.

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Zwei große, hellgraue Augen starrten sie an.
»Was haben Sie denn hier zu suchen?« kam es angstvoll

von den jungroten Lippen.
»Keine Bange, ich bin gut Freund«, lachte Birgit. »Treten Sie
ruhig näher.«
Zögernd schob sich nun eine zierliche Gestalt durch die Tür
– und dann standen sich zwei junge Menschenkinder
gegenüber, welche die Natur gar reizvoll ausgestattet hatte.
Eines mit einem entzückenden schwarzbraunen
Wuschelköpfchen, lichtgrauen Augen, sehr feinem, süßem
Gesichtchen und mittelgroßer, feingliedriger Gestalt. Das
andere mit lichtgoldenen Locken, Augen strahlend blau
und kristallklar wie ein kühler Bergsee, einem schönen, ein
wenig herben Antlitz und einem gertenschlanken, grazilen

Körper. Beide Mädchen zu verschieden, doch beide von
natürlicher, taufrischer Schönheit.
Und zu gleicher Zeit fingen beide an zu lachen.
»Na also«, sprach Birgit zuerst. »Nun wir uns so forschend
betrachtet haben, als müßten wir unsere Seelen ergründen,
kann Nam’ und Art erfolgen. Ich benamse mich mit Birgit
Holmsen.
Ja, warum starren Sie mich denn so angstvoll an?«
»Um Gottes willen, Sie sind doch nicht etwa –?«
»Ich bin’s, jawohl«, kam es mutwillig zurück.
»Und warum sind Sie dann so naß – und so – so – «
»Dreckig, meinen Sie doch wohl?« half die andere

freundlich aus. »Weil ich aus dem Schweinestall komme,
wo sich das Wasser aus einem Stalleimer segnend über
mich ergoß.«
»Aber – aber – Schweinestall – da gehören Sie doch
wirklich nicht hin. Sie sind doch die Tochter des Besitzers
von Ragaltshöfen – und dann Schweinestall – mein Gott,
das geht doch nicht!«
»Nun, ich will Erbarmen haben, und Sie nicht noch
konsternierter werden lassen«, lachte Birgit hellauf. »Das
war nämlich so…«
Mutwillig schilderte sie ihren Einzug auf ihres Vaters Besitz,

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und nachdem sie geendet, lachten die beiden Mädchen um
die Wette.

»Wenn das nicht Glück bringt?« Die kleine Dunkle wischte
sich die Lachtränen aus 4en Augen. Doch dann wurde sie
jäh ruhig und sah ihr Gegenüber zaghaft an.
»Entschuldigen Sie, Fräulein Holmsen. Ich tu hier so wie
mit meinesgleichen.«
»Na und?« unterbrach die andere sie erstaunt.
»Ich bin doch nur Angestellte hier und Sie die Herrin.«
»Na, nun mal hoppla! Der Herr hier ist mein Vater,
nehmen Sie das bitte zur Kenntnis. Welchen Posten
bekleiden Sie hier?«
»Ich bin die Lehrerin der Baronesse Vörswelde – und heiße
Erla Tessau.«

»Wunderbar, da habe ich gleich eine Gefährtin. Ich glaube,
wir werden uns gut vertragen.«
»An mir soll es gewiß nicht liegen«, bekannte die andere
eifrig. »Jetzt werde ich mich nicht mehr so einsam fühlen –
und nicht mehr so schrecklich graulen.«
»Wovor denn?«
»Oh, ich hause hier oben ganz allein. Die Herrschaften
schlafen unten und die Dienerschaft in den Mansarden. Ich
konnte manche Nacht vor Angst nicht schlafen. Es war
gräßlich.«
»Kann ich sogar verstehen. Ist dieses etwa ein
Fremdenzimmer?«

»Jetzt ja. Es wurde aber nie benutzt, weil es hier keine Gäste
gibt. Jedenfalls ist in dem einen Jahr, da ich in
Ragaltshöfen weile, noch nie ein Gast dagewesen. Die
Herrschaften leben vollkommen zurückgezogen. Soviel ich
hörte, haben die Töchter des Vorbesitzers diese beiden
Räume bewohnt, bevor sie heirateten und ihren Männern
ins Ausland folgten. Und da Ihr Herr Vater Ragaltshöfen in
Bausch und Bogen erstanden hat, so ging die ganze
Einrichtung des Hauses auch in seinen Besitz über.«
»Herzlichen Dank für gütige Belehrung«, lachte Birgit das
eifrige Fräulein freundlich an.

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»Sie haben recht, Fräulein Holmsen, ich bin ein Schaf«,
kam die Antwort kleinlaut. »Gebe der Tochter des Besitzers

von Ragaltshöfen eine Erklärung ab wie einer
Uneingeweihten.«
»Nun, so eingeweiht bin ich nun auch wieder nicht«,
beruhigte Birgit. »Zwar weiß ich, daß mein Vater den Besitz
so wie er stand erwarb, aber daß dieses Zimmer hier früher
ein Fräulein Ragalt bewohnte, ist mir dennoch unbekannt,
obwohl ich den Plan des Gutes sowie des Herrenhauses
genau studierte. Jedenfalls werde ich mich hier häuslich
einrichten. Schon deshalb, damit Sie Hasenherz sich nicht
mehr zu graulen brauchen. Das heißt, so ganz allein hier
oben täte ich es auch. Außerdem besitzt der Flügel eine
große Anziehungskraft. Und jetzt möchte ich baden. Ich

lechze förmlich nach einer erfrischenden Dusche, auf daß
ich den Schweinestallgeruch loswerde.«
Lachend verschwand sie hinter der Tür rechts und stand in
einem entzückenden Ankleidezimmer. Daneben lag das
Bad. Birgit empfand es als Wohltat, die nassen,
beschmutzten Sachen vom Körper zu ziehen, ein laues
Duschbad zu nehmen und sich dann von Kopf bis Fuß
frisch zu kleiden. Wie gut, daß sie alles Erforderliche mit
hatte, sonst wäre sie übel dran gewesen. Als sie das Zimmer
wieder betrat, rief sie Erla herbei, die sie nebenan
herumgehen hörte. Sie erschien sofort und sah Birgit
bewundernd an.

»Oh, jetzt schauen Sie ganz anders aus, Fräulein Holmsen.
Die nassen, schmutzigen Kleider und das Taschentuch um
den Kopf störten mich sehr.«
»Kann ich mir denken. Aber das Tuch hat meinem Haar
vorzügliche Dienste geleistet. Wie gut, daß der Baron es mir
zur Verfügung stellte, so blieb wenigstens der Kopf trocken.
Aha, es gongt. Also auf zum Speisen!«
Schon klopfte es, und ein Hausmädchen in der üblichen
schmucken Kleidung trat ein. Die munteren Augen flitzten
neugierig zu Birgit hin.
»Der Herr Baron hat mich beauftragt, das gnädige Fräulein

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zum Abendessen zu bitten.«
»Ist gut, Urte, ich werde das gnädige Fräulein führen«,

winkte Erla ab, worauf die Maid sich zurückzog, einen
letzten Blick auf Birgit riskierend, was diese amüsiert
auflachen ließ.
»Nach der Neugierde des Mädchens zu schließen, muß
mein Hiersein sich bereits herumgesprochen haben. So bin
ich denn gewillt, mich dem staunenden Publikum
vorzuführen. Allons, gehen wir!«
Und so ging man den langen Gang entlang, die Treppe
hinunter, durchquerte die Diele und betrat ein weites
Gemach, wo der inmitten stehende Tisch gedeckt war, wie
es verfeinerter Lebensgewohnheit entspricht. Birgit fühlte
drei Augenpaare mit direkt spürbarer Spannung auf sich

gerichtet und näherte sich der distinguierten Dame, die ihr
zögernd die feine, sehr gepflegte Hand entgegenstreckte.
»Seien Sie willkommen«, begrüßte sie das Mädchen mit
einem Lächeln, das man mit »gefroren« bezeichnen konnte.
»Es berührt mich peinlich, daß sich Ihr Einzug auf so
unschöne Art vollziehen mußte. Was mein Sohn mir da
erzählte, kann nur entwürdigend für Sie gewesen sein.«
Dieser würdigen Dame, die ja sehr von oben herab tut,
scheine ich alles andere als willkommen zu sein, zog es
Birgit blitzschnell durch den Sinn. Kein Wunder, da sie“
bisher hier unumschränkt herrschen durfte unter dem
milden Regiment des nun verstorbenen Herrn Ragalt, das

sogar dem Verwalter nebst Angehörigen ein Wohnen im
Herrenhause gestattete. Es tut mir ja sehr leid, meine liebe
Frau Baronin, aber du wirst mich hier schon dulden
müssen, und meine Lieben gleichfalls.
Das waren Birgits Gedanken, während sie lachend sagte:
»Diese Entwürdigung macht mir nichts aus. Ich hätte den
Einzug in Ragaltshöfen ja feierlicher haben können, wenn
ich auf meinen Vater gehört und morgen in seiner
Begleitung auf regulärem Wege eingetroffen wäre. Aber da
ich gern wandere, zog ich es bei dem herrlichen Maiwetter
vor, auf eigene Faust hinaus in die Ferne zu schweifen. Daß

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ich durch Gewitter und Sturm im Schweinestall landen
sollte, stand gewiß nicht in meinem Programm.«

»Haben Sie sich denn bei dem Gewitter draußen nicht
gegruselt?« fragte das zwölfjährige Mädchen, das neben
seiner Mutter stand und Birgit genauso von oben herab
musterte wie die Frau Mama.
Ein überzüchtetes Treibhauspflänzchen, stellte der
»Eindringling« rasch bei sich fest. Zart, farblos, gewiß über
die Maßen verzögen und somit eine kleine Tyrannin. Nun,
sie würde sich diese immer hübsch drei Schritt vom Leibe
halten – genauso wie die herablassende - um nicht zu
sagen anmaßende – Frau Baronin.
»Gegruselt habe ich mich schon«, gab Birgit jetzt Antwort.
»Wer tut das wohl nicht, wenn er auf freiem Feld schutzlos

den Elementen preisgegeben ist.«
»Da haben Sie recht, gnädiges Fräulein«, sprach nun der
Verwalter, der sich bis dahin schweigend verhalten hatte.
Birgit musterte ihn diskret und kam zu dem Ergebnis: Ein
deutscher Recke, in dem das ritterliche Blut seiner Ahnen
pulst. Stolz, mit starren Grundsätzen, verschlossen und
schwierig zu behandeln.
Als man am Tisch saß, stellte die kleine Irina eine Frage, die
peinlich anmutete:
»Wenn ihr hier einzieht, müssen wir dann fort?« fragte sie
nämlich geradeheraus. Es flammte rot auf der Stirn des
Bruders auf, die Baronin kniff die Lippen ein, und Birgit

war peinlichst berührt.
»Wie kommst du darauf?« gegenfragte sie nicht gerade
freundlich. Doch bevor das Kind antworten konnte, tat es
bereits die Mutter.
»Irina macht, sich eben ihre eigenen Gedanken, Fräulein
Holmsen. Ja, was ich noch fragen wollte: Sind Sie etwa den
Weg von der Stadt hierher zu Fuß gekommen?«
»Gewiß, Frau Baronin. Die zwölf Kilometer sind für eine
gute Fußgängerin wie mich eine Kleinigkeit.«
»So – ja. Wie mein Sohn mir sagte, hat er Ihnen das beste
Zimmer oben angewiesen.«

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»Das der Tochter des Hauses auch zusteht, Mama«, warf der
Sohn kurz ein. »Hoffentlich fühlen Sie sich darin wohl,

gnädiges Fräulein. In Fräulein von Tessau haben Sie eine
angenehme Nachbarin.«
»Das ganz bestimmt.« Ein warmer Blick ging zu dem
jungen Mädchen hin, das wie ein verschüchtertes
Hühnchen dasaß.
Du armes Ding, dachte Birgit mitleidig. Du hast bei dieser
hochfahrenden Dame und ihrer unerzogenen Tochter
gewiß nichts zu lachen. Aber laß gut sein, wir Holmsen
bringen schon frischen Wind in die verstaubte Atmosphäre.
Zwar ist alles äußerst feudal ringsum, selbst ein würdiger
Diener serviert bei Tisch, aber das kann ja auch sein, ohne
daß man wie auf Spinnweben sitzt. Vornehmheit ist etwas,

verehrte Frau Baronin, vor der jeder artig den Hut zieht,
aber wenn sich ihr Überheblichkeit beimischt, hat sie die
erwünschte Wirkung nicht.
Die Dame saß denn auch da wie ein Mensch, den man
schwer gekränkt hat, was zu einer ungezwungenen
Unterhaltung gewiß nicht beitrug. So schleppte sich diese
nur mühsam hin, und die Tochter des Hauses war froh, als
das Mahl beendet war.
»Nun, eine fröhliche Gesellschaft seid ihr hier gerade
nicht«, sagte Birgit zu Erla, als man wieder unter sich war.
»Wenn das immer so trist zugeht, dann tun Sie mir leid,
Fräulein von Tessau.«

»So arg wie heute war es sonst nicht, Fräulein Holmsen. Sie
müssen bedenken, daß der Baron und seine Mutter sehr
niedergedrückt sind, weil sie nicht wissen, was nun aus
ihnen wird, ob sie überhaupt in Ragaltshöfen bleiben
dürfen.
Es war ein harter Schlag für sie, als Herr Ragalt so plötzlich
starb und die Erben, seine beiden Töchter, die mit ihren
Familien im Ausland leben, das Gut zum Verkauf anboten,
weil sie mit ihm nichts anzufangen wußten. Kennen Sie
übrigens die traurige Geschichte der Herrschaften da
unten?«

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»Flüchtig. Einzelheiten zu hören, würde mich
interessieren.«

»So hören Sie zu: Seit sehr langer Zeit sitzen die Barone
Vörswelde auf ihrem Erbgut Weide, das einige Meilen
jenseits der Stadt liegt. Das stattliche Erbe fiel stets dem
ältesten Sohne zu, so auch dem jetzigen. Er lebte mit
seinem jüngeren Bruder solange im besten Einvernehmen –
«
»Bis er heiratete und die Frau, auf ihren Geldsack pochend,
Unfrieden stiftete«, warf Birgit trocken ein, und Erla sah sie
verdutzt an.
»Wie wissen Sie das denn?«
»Wissen direkt nicht, ich kann es mir nur denken. Denn so
was ist zu alltäglich um tragisch zu sein.«

»Und doch ungemein tragisch für den, den es angeht.«
»Das allerdings. Also graulte die Xanthippe die
Angehörigen ihres Gatten mit allerlei Niedertrachten
hinaus, stimmt’s?«
»Ja. Sie gingen aber erst, als Herr Ragalt dem Baron die
Verwalterstelle hier anbot: Er räumte ihnen sogar den einen
Flügel im Herrenhaus ein, dessen Räume die Baronin mit
ihren eigenen Sachen möblieren durfte.«
»Und nun kommt mein böser Vater und jagt die Ärmsten
hinaus«, lachte Birgit dazwischen. »Beruhigen Sie sich nur,
Fräulein von Tessau, dafür ist mein Paps nicht
unmenschlich genug. Er besitzt im Gegenteil ein Herz voll

Güte. Außerdem hat der Baron den Vertrag, der ihm die
Verwalterstelle auf ein weiteres Jahr sichert, in der Tasche.
Mein Vater hat gegenüber dem Notar, der den Gutskauf
vermittelte und auch den Vertrag des Verwalters aufsetzte,
ausdrücklich betont, es bei der Erneuerung des Kontraktes
zu belassen, wie er zu Lebzeiten des Herrn Ragalt war.«
»Auch daß der Baron mit den Seinen weiter im Herrenhaus
wohnen darf?«
»Selbstverständlich. Es ist ja so geräumig, daß wir alle
reichlich darin Platz haben und uns Wunderbar aus dem
Weg gehen können, wenn wir dazu Lust verspüren. Wo

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sollte die Familie wohl auch wohnen, da die beiden
Beamtenhäuser von den Inspektoren, die außerdem noch

die Eleven und den Rendanten in Pension haben, voll
belegt sind? Die Herrschaften in ein Insthaus zu stecken,
das geht wohl nicht gut an. Soweit ich den Baron beurteile,
würde dem das nicht viel ausmachen, aber die Frau Mama
rührte dann bestimmt der Schlag«, schloß sie lachend.
»Das glaube ich auch«, seufzte Erla. »Es wird der Dame
sowieso schon schwer genug ankommen, daß sie jetzt nicht
mehr so unumschränkte Herrscherin im Hause sein kann
wie zu Herrn Ragalts Zeiten. Sie ist nämlich sehr
herrschsüchtig.«
»Habe ich bereits gemerkt.« Birgit schnitt eine Grimasse.
»Damit wird sie wahrscheinlich auch ein gut Teil zu den

unerquicklichen Verhältnissen in Weide beigetragen haben
und ihre verzogene Tochter mit. Wie werden Sie überhaupt
im Unterricht mit der fertig, Fräulein von Tessau?«
»Ganz gut. Denn daß sie lernt, dafür ist selbst die
verblendete Mutter, die einen Abgott in Irina sieht. Außer
den Schulstunden läßt sie diese überhaupt nicht von ihrer
Seite, selbst das Schlafzimmer teilt sie mit ihr. Behandelt
sie immer noch wie ein Baby, das man ängstlich vor jedem
rauhen Hauch schützen muß. Daher kommt es wohl, daß
Irina körperlich hinter anderen Kindern ihres Alters
zurücksteht.«
»Ja, für zwölf Jahre ist sie zu klein und schwächlich«,

bestätigte Birgit. »Der Altersunterschied unter den
Geschwistern ist wohl sehr groß?«
»Achtzehn Jahre. Dazwischen gab es allerdings noch einen
Sohn und eine Tochter, die beide starben. Und da Irina von
Geburt an äußerst zart war, zittert die Mutter nun um ihr
Leben und verzärtelt und verwöhnt sie über die Maßen.
Außerdem pflegt man Nachkömmlinge ja allgemein zu
verziehen.«
»Oh, ja, damit sie zum Kreuz ihrer Mitmenschen werden.
Ich jedenfalls kann so was Vergöttertes bis in den Tod nicht
leiden und bringe daher dem Abgott Irina von vornherein

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meine Abneigung entgegen. Schrumm!«
»O weh, Fräulein Holmsen, damit werden Sie sich aber

sehr unbeliebt machen. Denn nach Irinas Pfeife muß hier
alles tanzen.«
»Traurig genug. Lassen Sie gut sein, bald tanzen andere
Götter hier. Und zwar ich als erster. Denn auch ich bin
etwas wie ein Nachkömmling, meine Brüder sind nämlich
acht und zehn Jahre älter als ich.
Was sehen Sie mich denn so entsetzt an? Sie haben von mir
nichts zu befürchten, nur allein die tyrannische Baronesse.
Die sollte mir mal uneben kommen, dann hat sie aber
auch schon eine Ohrfeige weg.«
»Um alles nicht!« Erla hob abwehrend die Hände. »Mit
dem Augenblick würde der Baron seine Sachen packen.«

»Allein sein Schaden. Wenn ihm die Launen seiner
verzogenen Schwester mehr wert sind als eine gesicherte
Existenz, dann bitte sehr.«
»Sagen Sie mal, Fräulein Holmsen, sind Sie wirklich – so –
so – oder tun Sie nur so?« fragte Erla zaghaft, und die
andere tat forsch:
»Ich bin – so – so. Aber nicht gegen so ängstliche, brave
Wesen wie Sie, sondern gegen Übeltäter. Da allerdings
kennt mein Zorn keine Grenzen.
Und nun husch, husch ins Körbchen! Werden wir leben,
werden wir sehen.«
Am nächsten Vormittag traf dann der Besitzer von

Ragaltshöfen ein. Groß, breit und urgemütlich stand er da.
Er gehörte zu den Menschen, die durch ihr bloßes
Erscheinen zu dem Stoßseufzer Anlaß geben: Jetzt ist er da,
jetzt wird alles gut.
»Da bin ich«, brummte er in seinem gemütlichen Baß.
»Ergebensten Diener, Frau Baronin, guten Tag, Herr Baron.
Wer diese junge Dame ist, ahne ich allerdings nicht.«
»Die Lehrerin meiner Schwester, Fräulein von Tessau.«
»Grüß Gott, gnädiges Fräulein. Da wird sich meine Tochter
aber freuen, daß sie an Ihnen eine gleichaltrige Gefährtin
hier hat. Also ist das Pusselchen da Ihre Schülerin?«

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»Ganz recht, Herr Holmsen.«
»Na schön, damit wäre die Bekanntschaft bewerkstelligt.

Und wo steckt meine Tochter?«
Das wußte keiner zu sagen. Die Baronin bat Platz zu
nehmen, er tat es und lachte alle der Reihe nach an. Wie
sich Birgit hier eingeführt hätte, wollte er dann wissen. Als
der Baron es ihm ausführlich geschildert hatte, lachte er
schallend. In dem Moment trat Birgit ein*
»Tag, Paps, worüber freust du dich denn so?«
»Weil Schadenfreude nun mal die reinste Freude ist,
Marjellchen.«
»Dann weißt du-?«
»Hm – ich weiß. Flügelchen gestutzt?«
»Von dem bißchen? Ich bin doch deine Tochter, die sobald

nichts erschüttern kann.«
»Wohl dir, mein Mädchen. Hast du den Herrschaften schon
erzählt -?«
»Nein, das überlasse ich dir.«
»Sehr bequem. Also setz dich hin, und dann wollen wir uns
alle mal gemütlich unterhalten.
Bleiben Sie hier, gnädiges Fräulein«, sagte er freundlich, als
Erla sich erhob. »Geheimnisse gibt’s keine. Und außerdem
gehören Sie doch wohl zur Familie.
So, meine Herrschaften. Da ich kein Freund von langen
Erklärungen bin, pflege ich mich kurz zu fassen. Ergo: Es
soll hier alles so bleiben wie es ist. Was Ihr Vertrag ja auch

verbrieft und versiegelt, Herr Baron. Nur daß es Zuwachs
durch meine Tochter gibt, die sich hier als Rendantin
niederlassen wird. Dann hört der ewige Wechsel mit den
nichtsnutzigen Leutchen auf, und alles ruht in
zuverlässigen Händen. Dehn von dem Kram versteht meine
Birgit was, sonst wäre auch das Geld für die höhere
Handelsschule hinausgeworfen. Also halte die Ohren steif,
Marjellchen, und mach mir keine Schande.«
»Jawohl, Herr Chef!«
»Nun, der ist in diesem Fall doch wohl der Herr Baron«,
schmunzelte er. »Daher steh dich gut mit deinem

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Vorgesetzten. Wenn er dich mal herunterpudelt, dann legst
du hübsch die Ohren an und sagst dir: Dienst ist Dienst.

Verstanden?
So, das wäre alles, was ich zu verkünden hätte. Hier haben
Sie meine Hand, Herr Baron, schlagen Sie ein, Manneswort
zu Manneswort, dann klappt der Laden schon.«
Zwei nervige Männerhände umschlossen sich mit festem
Druck, dann legte Holmsen sich behaglich im Sessel
zurück.
»Ist das nicht zu wenig, was Sie meinem Sohn zu sagen
haben, Herr Holmsen?« fragte die würdige Dame, und er
lachte.
»Das genügt doch, Frau Baronin.«
»Sie kennen meinen Sohn doch gar nicht.«

»Nicht vom Sehen, aber vom Sagen. Mein Vater und der
Vorbesitzer hier waren nämlich die besten Freunde, und so
ging ich denn schon als Junge in Ragaltshöfen aus und ein.
Beinahe hätte ich auch eine Ragalttochter geheiratet, aber
sie wollte mich nicht«, setzte er vergnügt hinzu.
»Sie nahm lieber einen anderen und folgte ihm ins
Ausland, ihre Schwester tat dergleichen – und ich ging
nicht an gebrochenem Herzen ein. Und das nahm mir
mein lieber Onkel Ragalt so krumm, daß er mich nicht nur
beschimpfte, sondern sogar handgreiflich wurde, was ich
nun wieder krumm nahm. Er war und blieb auch fernerhin
von dem Wahn besessen, daß ich seine Töchter aus dem

Land gejagt hätte.
So wurde denn aus Freundschaft eine Feindschaft, die
Ragalt direkt hätschelte. Ragaltshöfen blieb mir fortan
verschlossen. Ich betrat es nach einunddreißig Jahren heute
wieder zum erstenmal - und zwar als Besitzer. Die armen
>Verjagten< überließen mir käuflich ihr Erbe nur zu gern,
wie mir der Notar, der die Sache vermittelte, schmunzelnd
mitteilte. Sie hätten für die fixe Idee ihres Vaters nie
Verständnis gehabt und hofften, mir mit Überlassung ihres
Väterlichen Genugtuung zu verschaffen. Nun, ich habe die
Genugtuung, sie haben das Geld, somit ist beiden Teilen

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geholfen«, schloß er lachend.
»Aha, nun weiß ich auch, warum du Ragaltshöfen kauftest

– nur um deine Genugtuung zu haben«, fiel die Tochter
fröhlich in sein Lachen ein.
Er besah sie sich zuerst mit väterlichem Stolz und
zwinkerte ihr dann verschmitzt zu.
»Vielleicht wirst du einmal von dieser Genugtuung
profitieren, mein kleiner Speilzahn. Und ich habe mir
hiermit zuerst einmal ein wundervolles Buen Retiro
geschaffen und einen Alterssitz, wenn ich mich zur Ruhe
setzen will. Ist nun alles klar zwischen uns, Herr Baron?«
»Soweit ja, Herr Holmsen. Es steht nur noch die Frage
offen, ob das Fräulein Tochter bei uns verpflegt werden soll
oder ob es eigene Küche führen will.«

»Na, das wäre! Sie ist hier weiter nichts als Rendantin, das
Fräulein Birgit Holmsen und kommt hier in Pension.
Allerdings werden auch wir andern Holmsen uns mit
wenigen Ausnahmen geschlossen zum Wochenende
einfinden. Wird es da gehen, daß wir alle aus einem Topf
essen?«
»Das ist doch selbstverständlich.«
»Und die Mehrarbeit?«
»Spielt keine Rolle. Man stellt dann eben noch eine Kraft
mehr ein.«
»Na schön. Aha, da ruft’s zur Futterkrippe. Habe auch
schon einen Bärenhunger.«

Es wurde ein fröhliches Mahl, was allerdings nur Vater und
Tochter zuzuschreiben war. Ohne sich um die beleidigte
Miene der Baronin zu kümmern, sprach man frisch
drauflos. Man zog auch immer wieder Fräulein von Tessau
ins Gespräch, während man Irina, die oft recht patzige
Bemerkungen machte, überhaupt nicht beachtete. Und das
kränkte das Mutterherz tief.
Nach dem Essen gingen die Herren durch die Wirtschaft
und Birgit schloß sich ihnen an. Man konnte sagen, daß
überall vorbildliche Ordnung herrschte. Holmsen kargte
nicht mit Lob, das der Verwalter verlegen entgegennahm.

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Als sie dann vor den Rassepferden standen, wandte sich der
Vater schmunzelnd der Tochter zu.

»Ich spüre deine bettelnden Blicke bis in der großen Zehe,
Marjellchen. Also, Herr Baron, suchen Sie bitte meiner
Tochter ein geeignetes Reitpferd aus, nach dem schon
längst ihr Sinnen und Trachten geht. Aber das sage ich dir,
mein Kind, sofern du waghalsig werden willst, kommst du
an die Kandare, verstanden?«
»Jawohl.«
»Geht in Ordnung. Auch bei Ihnen, Herr Baron. Haben Sie
noch wichtige Fragen zu stellen?«
»Nein. Ich möchte Ihnen nur für Ihr Vertrauen danken,
Herr Holmsen.«
»Was Sie auch verdienen, mein lieber Freund. Ich weiß

besser über Sie Bescheid, als Sie ahnen«, setzte er lachend
hinzu. »Denn um blind zu vertrauen, dafür bin ich denn
doch zu sehr Kaufmann.«
Die heue Rendantin nahm ihre Arbeit mit großem Eifer auf
und mußte bald feststellen, daß auch hier alles in Ordnung
war. Das gab ihr zu denken. Denn soviel sie wußte, hatten
vier ihrer Vorgänger so vollkommen versagt, daß sie nach
kurzer Zeit entlassen wurden. Sie grübelte jedoch nicht
lange herum, sondern fragte den ersten Inspektor aus, als er
einmal dienstlich in der Rentmeisterei erschien.
»Ja, gnädiges Fräulein, das war nun schon eine verflixte
Schweinerei.« Der biedere Mann kratzte sich den Kopf.

»Pech am laufenden Band hatten wir in den letzten
Monaten mit den Jünglingen und Maiden, die hier ihres
Amtes walten sollten. Den beiden Burschen steckten die
Mädchen im Kopf, den Fräuleins unser schneidiger zweiter
Inspektor und die Eleven. Da blieb für die Arbeit wenig
Zeit übrig. Zuerst ließ der Baron sie ungehindert
herumwurschteln, nahmen sie an – in Wirklichkeit jedoch
war er schwer paßauf. Und wenn die Herrschaften sich am
meisten in Sicherheit wiegten, erschien er plötzlich in
seiner gelassenen Art, revidierte die Bücher – und dann
nuscht wie raus mit der faulen Bande! Dann saß er

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während seiner Freistunden hier am Schreibtisch und
brachte in Ordnung, was die Pflichtvergessenen

verbockten. So ging es viermal – aber jetzt kommt ja wohl
Zug in die Kolonne, was, gnädiges Fräulein?«
»Will ich meinen«, lachte sie fröhlich mit ihm. »Jetzt wird
der Herr Baron es bestimmt nicht mehr nötig haben, seine
wohlverdienten Freistunden zu opfern. Allerdings werde
ich ihn in erster Zeit noch viel mit Fragen belästigen
müssen. Wenn ich auch bereits im Betrieb meines Vaters
gearbeitet habe, so ist in der Landwirtschaft doch manches
anders. Aber ich hoffe, mich bald so gut einzuarbeiten, daß
ich ohne Hilfe vorankomme.«
»Werden Sie das auch wirklich alles allein schaffen,
gnädiges Fräulein?« fragte der Brave treuherzig. »Es gibt

doch so allerlei Schreibkram.«
»Den bewältige ich schon.«
»Hm. Haben Sie es denn eigentlich nötig zu arbeiten?«
»Nötig nicht, Herr Inspektor«, gab sie amüsiert zur
Antwort. »Aber was zu tun muß der Mensch doch haben,
sonst kommt er auf schlimme Gedanken.«
»Sagen Sie das nicht. Ich kenne Gutsfräuleins, die nichts
weiter tun als reiten, sofern sie das können, Tennis spielen,
in Konditoreien, Kinos und Theater fahren, im Sommer
faul wie die Robben am Wasser liegen und so weiter. Und
gerade sind es diejenigen, deren elterlicher Besitz
bedenklich wackelt.«

»Es ist dann traurig genug, so ein Drohnendasein zu
führen. Ich hoffe indes stark, daß ich mir trotz Arbeit
erwähnte Vergnügen verschaffen kann. Man muß sich nur
die Arbeit richtig einteilen, dann bleibt einem schon
Freizeit übrig. Habe ich recht?«
»Und wie, gnädiges Fräulein! Ich spüre schon, es weht hier
der richtige Wind.«
Lachend trennte man sich und kaum, daß der Inspektor
gegangen war, trat der Verwalter ein.
»Kommen Sie, um zu revidieren, Herr Baron?« fragte sie
spöttisch, und gelassen kam es zurück:

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»Ja. Denn schließlich sind Sie Anfängerin, gnädiges
Fräulein.«

Als er wie selbstverständlich am Schreibtisch Platz nahm
und nach den Büchern griff, wollte sie empört auffahren,
besann sich jedoch noch rechtzeitig und »legte die Ohren
an«, wie der Vater ihr geraten hatte. Sie schwieg auch, als er
sie auf diesen und jenen Fehler aufmerksam machte, sah
ihn jedoch dabei so böse an, daß ein Lächeln seinen Mund
umzuckte.
»Feierabend!« kam da eine lachende Stimme von der Tür
her. Sie fuhren herum – und schon lief Birgit auf eine
Dame zu.
»Muttilein, Mutz!« jubelte sie, ihr Gegenüber stürmisch
umhalsend. »Wie schön, daß du da bist!«

»Sehnsucht gehabt, Liebling?«
»Dazu hatte ich bei der vielen Arbeit gar keine Zeit. Darf
ich bekannt machen: Baron von Vörswelde – meine
Mutter.«
Die überaus charmante, noch so jugendlich wirkende Frau
reichte dem Mann mit einem gewinnenden Lächeln die
Hand, über die er sich artig beugte.
»Revision etwa?« Sie zeigte auf die aufgeschlagenen Bücher.
»Nun, die braucht mein gewissenhaftes Mädchen nicht zu
fürchten – oder doch?«
»Gewiß nicht, gnädige Frau. Das Fräulein Tochter hat sich
in der einen Woche schon erstaunlich gut eingearbeitet.«

»Mir hat er vorhin ganz was anderes gesagt«, brummte
Birgit, und die Mutter lachte.
»Wahrscheinlich will der Herr Baron mich in meiner
Muttereitelkeit nicht kränken.«
»Bist du in deinem Auto gekommen, Mutti?«
»Ja, mein Kind. Da auch Paps und Wido um die Kaffeezeit
hier einzutreffen gedenken, hat man mich vorgeschickt, um
Quartier zu machen. Und da ich nicht so abenteuerlustig
bin wie du, so ging meine Antrittsvisite hier auch nicht so
abenteuerlich vor sich. Jedenfalls sauste ich nicht durch
Gewitter und Sturm in den Schweinestall, sondern ging

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hübsch brav bei Sonnenschein dahin, wo ich durch das
geöffnete Fenster eine sonore Männerstimme und das

bekannte Organ meines Töchterleins hörte«, schloß sie mit
einem spitzbübischen Blick auf Birgit, die eine Grimasse
zog.
»Ist doch nur gut, geliebte Mutz, daß du dich über mich
amüsieren kannst.«
Während sie die Bücher vom Schreibtisch wegräumte,
wechselte Frau Gina einige höfliche Worte mit dem Baron,
in dessen Verlauf sie auch die Frage stellte:
»Hoffentlich wird der Besuch Ihrer Frau Mutter nicht zu
viel werden?«
»Bestich, gnädige Frau? Es ist doch Ihr Haus!«
»Sind Sie aber gründlich.«

»Das ist er«, warf Birgit rasch dazwischen. »Leider auch bei
meinem Kram hier.«
Das klang so kläglich, daß man lachen mußte, und somit
war eine Angelegenheit, die für alle Teile peinlich hätte
werden können, harmlos überbrückt.
Man ging zum Herrenhaus hinüber, wo die Baronin, von
dem Eintreffen Frau Holmsens in Ragaltshöfen bereits
unterrichtet, diese steif und förmlich willkommen hieß.
»Ich bin nur die Vorhut«, erklärte Gina liebenswürdig.
»Mein Mann und mein Sohn kommen in einigen Stunden
nach. Wo ist denn das Töchterchen?«
»Es hat Schulstunde wie stets am Vormittag. Darf ich Ihnen

eine Erfrischung anbieten?«
»Danke, ich halte bis zum Mittagessen noch gut aus. Aber
ein wenig frisch machen möchte ich mich.«
»Dann komm, Mutti, ich habe bereits Zimmer für euch
ausgesucht. Hast du übrigens meinen großen Koffer
mitgebracht?«
»Habe; ich. Also empfehlen wir uns einstweilen.«
Die Räume waren recht behaglich, die Birgit für die Eltern
hatte instandsetzen lassen. Ein weites, helles Schlafgemach,
hinter einer Portiere der Ankleideraum und ein lauschiges
Stübchen zum Verweilen.

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»Gefällt dir dein Wochenend- und Ferienheim, Mutz?«
»Sehr, mein Kind. Hier werde ich mich wohl fühlen

können und unser Paps wird es bestimmt auch.«
Sie öffnete die breite Glastür und trat auf den Altan hinaus.
Entzückt ließ sie die Blicke über den Park schweifen, über
die gepflegten weiten Rasenflächen, über blühende Blumen
und Sträucher.
»So wunderschön hätte ich mir Ragaltshöfen nicht gedacht,
Birgit. Es ist ja ein wahres Buen Retiro für uns
Stadtmenschen. Wenn es unsern Lieben hier ebenso gut
gefällt wie mir, dann werden wir oft erscheinen,
mindestens zu jedem Wochenende.«
»Das freut mich, Mutti. Doch nun reiße dich von dem
berauschenden Anblick los, und mach dich frisch! In

zwanzig Minuten gibt es nämlich Mittag.«
»So früh wird hier gespeist?«
»Ja, um zwölf Uhr. Gemeinsames Frühstück um acht,
Kaffee um drei, Abendessen um sieben. Alles pünktlich
nach der Uhr, damit der Baron während der Arbeitspausen
in Ruhe essen kann. Er hält sehr auf Ordnung.«
»Das merkt man hier an allem. Ein Glück für uns, daß
Ragaltshöfen einen so tüchtigen pflichtbewußten Verwalter
hat.
Ah, da steht ja bereits mein Koffer«, nickte sie befriedigt, als
sie wieder das Zimmer betraten. »Habe gar nicht gemerkt,
daß jemand hier hereinkam, während wir auf dem Altan

standen.«
»Dann war es gewiß der Musterdiener Jost«, lachte Birgit.
»Der hat eine wunderbare Art, sich fast geräuschlos zu
bewegen.«
»Etwa in schlechtem Sinne?«
»Wo denkst du hin, Mutz! Der ist die Lauterkeit in Person.
Ein Inventarstück der Vörswelde, der seinem Liebling Odalf
hierher folgte, als es in Weide krachte.«
»Weißt du Näheres darüber?«
»Ja, von Fräulein von Tessau. Ich erzähle es dir später. Jetzt
muß ich an meinen äußeren Menschen denken, daher

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verschwinde ich. Am Ende des Ganges ist übrigens ein Bad,
wahrscheinlich für Gäste bestimmt.«

»Davon werde ich abends mit Vergnügen Gebrauch
machen.«
»Na schön. Gehab dich wohl! Wenn es gongt, hol ich dich
ab.«
Zehn Minuten später betraten sie das Speisezimmer, wo
Frau Holmsen nun auch Erla und Irina begrüßte. Erstere
gefiel ihr gut, die andere nicht, wovon sie natürlich nichts
merken ließ, obwohl ihr die dreiste, schnippische und
vorlaute Art des Kindes auf die Nerven fiel.
Das Mahl, welches der würdige Diener Jost servierte, war
vorzüglich. Es gab zu Ehren Frau Holmsens einen Wein,
bei dem Vorsicht geboten sein mußte. Als Irina in

Befehlston auch ein Glas davon verlangte, sah Frau Gina
sie so erstaunt an, daß dem Baron das Rot der Beschämung
in die Stirn stieg und selbst die Mutter davon abließ, der
Forderung des vergötterten Lieblings Folge zu leisten. Als
dieser empört aufmucken wollte, traf ihn ein so drohender
Blick des Bruders, daß die sonst so patzige Kleine es doch
lieber vorzog, still maulend zu verharren.
Den Hauptteil der Unterhaltung trug Frau Holmsen in
ihrer charmant-liebenswürdigen Art. Sie hatte es glänzend
heraus, auch dem oberflächlichsten Gespräch eine
besondere Note zu geben. Oft perlte ihr Lachen in das der
Tochter hinein zu einem fröhlichen Duett, wie es in dem

feudalen Gemach wohl noch nie erklungen war. Man
merkte nämlich darin in allem, daß die humorlose,
überhebliche Frau Baronin Vörswelde hier residierte.
Nach dem Essen trank man den Mokka in dem
anstoßenden Gemach. An den Wänden hingen Bilder der
Vorfahren des alten Geschlechts und gaben schon deshalb
dem Raum ein seltenes Gepräge. Echte Teppiche,
schwellende Polstermöbel, die silberne Kaffeemaschine,
das feine Porzellan, echte Gediegenheit überall, hier sowie
auch im Speisezimmer.
Ein Glück für die Baronin, daß sie wenigstens ihr

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persönliches Eigentum hinüberretten durfte aus den
Trümmern einstiger Herrlichkeit. So war es ihr wenigstens

vergönnt, sich damit ein sehr wertvolles Heim zu schaffen,
und das bedrückende Gefühl, unter fremden Sachen leben
zu müssen, blieb ihr erspart.
Als der Mokka genippt war, zogen sich die Damen
Holmsen in Birgits Zimmer zurück.
»Schön hast du es hier, mein Kind«, sagte die Mutter
erfreut. »Selbst das Bett stört nicht, es paßt mit seinen
duftigen Vorhängen hinein in die lichte,
sonnendurchflutete Pracht. Sogar ein kleiner Flügel steht
darin in Weiß und Gold. Da lacht wohl dein
musikliebendes Herz, mein Kleines, nicht wahr?«
»Ja, geliebte Mutz, ich fühle mich hier pudelwohl. Wie mir

Fräulein von Tessau erzählte, bewohnte dieses traute
Gemach eine Ragaltstochter vor ihrer Verheiratung, das
danebenliegende gehörte der anderen.«
»Wer wohnt jetzt darin?«
»Fräulein von Tessau.«
»Wie nett für dich, Birgit, da hast du liebwerte
Nachbarschaft. Bildhübsch ist die kleine Lehrerin und
sicherlich auch von untadeligem Charakter. Nur zu
bescheiden, beinahe schon verschüchtert. Wo ist sie
überhaupt geblieben? Nach Aufhebung der Tafel sah ich sie
nicht mehr.«
»Wahrscheinlich sitzt sie nebenan und bläst Trübsal. Will

sie mir gleich mal angeln.«
Sie öffnete die Tür und rief lachend:
»Natürlich wieder ein Buch in der Hand, die kleine
Gelehrte. Lassen Sie ab davon, und treten Sie hier ein.«
»Ich fürchte zu stören, Fräulein Holmsen.«
»Wir fühlen uns nicht so leicht >gestört<, Sie
überbescheidenes Mägdlein. Angetreten marsch, marsch!«
»Kommen Sie her, mein Kind, und nehmen Sie Platz«,
sagte Frau Holmsen herzlich zu dem Mädchen, das nun
mit verlegenem Lächeln im Zimmer stand. »Wir wollen uns
mal gemütlich unterhalten. Hast du die süße Schachtel

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gefunden, die ich obenauf in den Koffer legte, Birgit?«
»Jawohl, Mutti, herzlichen Dank.«

»Dann bring’ sie her, und teile mit uns.«
Dazu war die Tochter gern bereit. Ein Stück nach dem
andern verschwand in den Leckermäulchen, zu denen auch
Frau Gina gehörte. Man plauderte dabei vergnügt, und
langsam wurde Erla zutraulich. Durch geschickte Fragen
bekam Frau Holmsen das heraus, was sie gern wissen
wollte. Nun tat ihr das Mädchen von Herzen leid.
»Sind Sie als Lehrerin der schwierigen Irina nicht zu jung,
Fräulein von Tessau?«
»Mit meinen zweiundzwanzig Jahren eigentlich nicht,
gnädige Frau.«
»Also doch schon zwei Jahre älter als meine Tochter.

Trotzdem sind Sie viel zu jung für das anmaßende
Persönchen, das unter die Fuchtel einer echten
Gouvernante gehört. Ist die Kleine übrigens krank? Sie sieht
doch so blaßschnäbelig und verdrossen aus.«
»Krank direkt nicht, aber sehr zart von Geburt an. Und da
die Baronin zwei Kinder durch den Tod verlor, hütet sie
dieses jüngste nun mit Überängstlichkeit.«
»Kann man verstehen. Aber ob sie der Tochter damit einen
Gefallen tut? So fanatisch behütete Kinder pflegen sich zu
rechten Tyrannen auszuwachsen, von denen sich wiederum
die Menschen ängstlich zurückziehen. Denn
Launenhaftigkeit und krasser Egoismus fallen selbst dem

Sanftmütigsten und Edelmütigsten mit der Zeit auf die
Nerven.«
»Ich darf eben keine Nerven haben, gnädige Frau.«
»Kind, wie klingt das resigniert. Es gibt doch auch andere
Stellen.«
»Nein, bitte nicht.« Das Mädchen wehrte ängstlich ab. »Mir
geht es hier ja nicht direkt schlecht. Während der
Unterrichtsstunden werde ich ganz gut mit Irina fertig,
zumal ihr das Lernen seltsamerweise Freude macht, und
außerhalb der Stunden habe ich nichts mit ihr zu tun.«
»Wird es Ihnen da nicht langweilig?«

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»Nein, ich bin seit jeher an das Alleinsein gewöhnt. Meine
Verwandten, bei denen ich aufwuchs, haben mich nie zu

sich herangezogen.«
»Armes Kind. Na lassen Sie nur, jetzt ist meine Tochter da,
mit der Sie gute Kameradschaft halten können.«
»Darüber bin ich ja auch so glücklich, gnädige Frau. Ich
habe in der vergangenen Woche schon so viel gelacht, wie
Jahre vorher nicht.«
»Hörst du, Birgit? Hier kannst du Freude säen, die auf
dankbaren Boden fällt.«
»Aber dann bitte ich mir auch eine gute Ernte aus«, kam die
Antwort fröhlich. »Und da ein Boden gedüngt werden
muß, so greifen Sie nur ausgiebigst in die süße Schachtel
hinein, Fräulein von Tessau. Soweit ich meinen Paps

kenne, sorgt der bestimmt für Nachschub.«
»Ich finde Herrn Holmsen wunderbar«, bekannte Erla
treuherzig und schaute dann erschrocken drein, als Frau
Holmsen lachend sagte:
»Kind, Sie wollen ihn mir doch nicht womöglich
abspenstig machen?«
»Aber gnädige Frau – bitte – so doch nicht«, stotterte sie
blutrot vor Verlegenheit. »Das ist doch sicherlich nur ein
Scherz?«
»Will ich meinen, Sie kleiner Hasenfuß. Aber Sie haben
recht, mein Mann ist tatsächlich wunderbar.«
»Nun hören Sie sich bloß meine Mutz an. Schwärmt wie

eine sentimentale Braut.«
»Und das ist schön«, kam es Erla so recht aus tiefstem
Herzensgrund. »Einen Menschen lieb haben dürfen, nichts
Beglückenderes kann ich mir denken.«
Gerührt schaute Frau Gina auf das geneigte Köpfchen des
einsamen Menschenkindes und strich dann liebkosend
darüber hin.
»Das werden Sie bestimmt auch einmal dürfen, mein liebes
Kind«, sprach sie sehr herzlich. »Und nun wollen wir nicht
sentimental werden. Immer lachen und fröhlich sein, dann
erträgt man das Leben viel leichter, als wenn man es zu

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ernst nimmt. Ob lachen oder weinen, an seinem Geschick
ändert man ja doch nichts. Daß Sie sich vorher einsam hier

fühlten, kann ich verstehen.
Ich verstehe nur nicht, weshalb sich die Baronin nicht
mehr Ihrer annimmt, daß sie ein so junges Menschenkind
sich allein überläßt.«
»Oh, ich bin so gern hier oben für mich allein«, erklärte das
Mädchen leise. »Unten wäre ich doch nur der Herrschsucht
Irinas ausgesetzt. Und tut man nicht, was die Tochter will,
erzürnt man die Mutter.«
»Unglaublich! Was sagt nun der Baron zu seiner
anmaßenden Schwester? Ich schätze ihn nämlich als
gerechtdenkend ein.«
»Das ist er auch. Aber wenn er Irina scharf zurechtweist, ist

seine Mutter so schwer gekränkt, daß sie tagelang kein
Wort mit ihm spricht. Einmal war es so arg, daß die Frau
Baronin ein Hausmädchen entlassen wollte, weil dieses
Irina wegen einer Ungezogenheit anfuhr. Als jedoch Ihr
Sohn dahinter kam, ging es hart auf hart. Das Mädchen
blieb – aber auch eine schwüle Stimmung im Hause, die
sich nur nach und nach verlor.«
»Na, mir sollte das Gör mal frech kommen, dann hat’s aber
gebumst«, empörte Birgit sich.
»Das scheint ja der rechte Schrecken hier zu sein. Und die
Frau Baronin sollte mich mal zurechtweisen, weil ich vor
dein Abgott nicht anbetend in die Knie sinke, dann...«

»Dann wirst du hübsch artig bleiben, wie es sich für ein
junges Mädchen einer älteren Dame gegenüber gehört«,
unterbrach die Mutter sie mit freundlicher Gelassenheit.
»Ich will mir nämlich nicht nachsagen lassen, daß ich
meine Tochter schlecht erzogen habe, nicht wahr, mein
Kind?«
Birgit brummte etwas, worauf die Mutter sie zu sich
heranzog und herzlich küßte.
»So, mein Kind, somit wären wir uns wieder einmal einig.
Setz dich an den Flügel, und spiel uns etwas vor!«
Wenn auch nicht gern, so doch ohne zu murren, kam die

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Tochter dem Wunsch der Mutter nach. Ein Gewirr von
Melodien klang unter den geübten Fingern auf, bis sich

eine klare herausschälte und die Lippen den Text formten:

»Durch Gewitter und Sturm…«

»Ja, Birgit, was fällt dir denn ein«, lachte die Mutter herzlich
dazwischen. »Gewitter und Sturm – wo draußen die
Maisonne strahlt.«

»O Sonnenschein, o Sonnenschein,
wie scheinst du mir ins Herz hinein,
weckst drinnen lauter Liebeslust,
daß mir zu eng wird die Brust«,


jubelte nun die herzwarme Stimme hinaus. Man hatte
oben keine Ahnung, daß Herr Holmsen nebst Sohn bereits
eingetroffen war und in der Diele von dem Baron begrüßt
wurden.
»Und enge wird mir Stub und Haus, und wenn ich lauf
zum Tor hinaus, dann lockst du gar ins frische Grün die
allerschönsten Mädchen hin.«
»Aha, unsere kleine Nachtigall dehnt ihre Kehle«,
schmunzelte Holmsen sen. Ganz still standen die drei
Herren und lauschten andächtig, wie es da oben jubelte
und lockte in süßseliger Schelmerei


»O Sonnenschein du glaubst es wohl,
daß ich wie Du es machen soll,
der jede schmucke Blume küßt,
die eben erst sich dir erschließt,
hast doch so lang die Welt erblickt
und weißt, daß sich’s für mich nicht schickt,
was machst du mir denn solche Pein -
o Sonnenschein...«

Man hörte jetzt oben Beifall klatschen. Da legte Wido

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Holmsen die gewölbten Hände an den Mund und
schmetterte ein Motiv in die Gegend, auf das die gesamte

Familie zu regieren pflegte.
Sofort öffnete sich oben eine Tür, laufende Schritte den
Gang entlang, die Treppe hinunter, und Birgit umfaßte
Vater und Bruder mit je einem Arm.
»Man immer sachte, du Irrwisch, du wirst dir sonst
bestimmt noch einmal die Beinchen verrenken«,
schmunzelte Martin Holmsen. »Ah, da naht auch die
geliebte Mutz. Sei mir gegrüßt, mein holdes Weib!«
Froh begrüßte man sich und ging dann zur Terrasse, wo
bereits der Kaffeetisch gedeckt war. Die Baronin, die nun
auch den ältesten der Holmensöhne kennenlernte, mußte
feststellen, daß er das verjüngte Ebenbild seines Vaters war.

Man konnte ihn mit einem lieben, netten Kerl bezeichnen,
der keiner Fliege etwas zuleide tat. Ein blonder Hüne mit
einem weichen Herzen – aber auch von unnachsichtiger
Strenge und Beharrlichkeit, wenn es sein mußte. Also auch
charakterlich genauso wie sein Vater.
»Wo ist denn die kleine reizende Lehrerin?« fragte dieser,
als man schon einige Minuten an der Kaffeetafel saß, und
die Baronin entgegnete gleichmütig:
»Wahrscheinlich gongte der Diener nicht, weil er uns
allesamt auf der Terrasse glaubte und so weiß das Fräulein
nicht, daß wir bereits Kaffee trinken. Außerdem kann sie,
wenn Gäste im Hause sind, ruhig auf ihrem Zimmer essen.

Schließlich ist sie nur eine Angestellte.«
»Du scheinst vergessen zu haben, daß Fräulein von Tessau
das Recht auf Familienanschluß hat, Mama«, sprach der
Sohn nun kalt in die peinliche Stille hinein. »Geh, Irina,
und hol die junge Dame her. Das wirkt freundlicher, als
wenn wir den Diener schicken.«
»Vielleicht braucht sie sogar eine schriftliche Einladung«,
bemerkte die Kleine patzig, ohne sich zu rühren. Sie
bequemte sich erst, als des Bruders Blick auf ihr ruhte, der
gewiß nichts Gutes verhieß. Maulend und aufreizend
langsam schob sie davon, dann hörte man wenig später

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ihre durchdringende Stimme von der Diele her:
»Fräulein von Tessau, runter kommen, Kaffee trinken!«

Da sprang Birgit auf, eilte davon und kam dann bald
wieder, die verlegene Erla am Arm.
»Das Mädchen hier war sehr erstaunt, als ich sagte, daß wir
schon lustig kaffee’n. Darf ich bekannt machen: Mein
Bruder Wido – Fräulein von Tessau.«
Wie fasziniert schaute Erla in die lachenden blauen Augen
des Mannes hinein, der sich artig vor ihr verneigte. Auch
Holmsen sen. war aufgestanden, gleichfalls der Baron. Erst
als die junge Dame Platz genommen hatte, setzten auch sie
sich wieder.
Man plauderte frisch drauflos, um Erla Zeit zu lassen, ihrer
Verlegenheit Herr zu werden. Dann jedoch zog man sie

immer wieder ins Gespräch, obwohl man merkte, daß die
Baronin pikiert darüber war. Mochte sie nur, was ging das
die Familie Holmsen an? Sie war von der hochfahrenden
Dame nicht abhängig – Gott sei Dank!
Nachdem der Kaffee getrunken war, äußerte Wido den
Wunsch, das Gut zu besichtigen. Seine Angehörigen
schlossen sich ihm an, und nun wußte Erla nicht, wie sie
sich verhalten sollte. Also schob Birgit den Arm unter den
der Zaghaften.
»Sie kommen doch mit, Fräulein von Tessau?«
»Wenn ich nicht störe, dann gern.«
»Mutti, hör dir das bloß an«, lachte die Tochter. »Vorhin

erst haben wir ihr klargemacht, daß wir nicht so leicht
>gestört< sind, und nun wärmt dieses fast demütig
anmutende Wesen die Angelegenheit wieder auf.«
»Oho, Bescheiden ist zwar eine Zier, mein gnädiges
Fräulein, aber Sie wissen ja, wie es weiter geht«, zwinkerte
Holmsen sen. ihr vergnügt zu. »Gehen wir also. Begleiten
Sie uns, Herr Baron?«
»Bitte mich zu entschuldigen, Herr Holmsen, weil ich noch
etwas Dringendes zu erledigen habe. Wenn das geschehen
ist, komme ich sofort nach.«
»Na schön, gehen wir vor.«

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Als sie sich entfernt hatten, trat Odalf Vörswelde in aller
Gelassenheit auf die Schwester zu und schlug ihr ins

Gesicht.
»So, mein Kind, das war die erste Ohrfeige deines Lebens.
Weitere folgen ohne Erbarmen, sofern du dich noch einmal
so unerhört benimmst. Zwar fühle ich ein Widerstreben,
kleine zarte Mädchen zu ohrfeigen, aber da diese Zartheit
bei dir nur äußerlich besteht, während du es innerlich mit
jedem robusten Tunichtgut aufnehmen kannst…
Ruhig, Mama!« gebot er kurz, als diese empört auffahren
wollte. »Merkst du denn gar nicht, daß Familie Holmsen
bereits Front gegen uns macht, weil Irina in ihrer
unverschämten Art ihnen auf die Nerven fällt? Soll ich
eines ungezogenen Kindes wegen etwa meine gute,

gesicherte Stellung verlieren und wir dann auf der Straße
sitzen? Geh in dich, bevor es zu spät ist, und faß Irina
streng an.«
»Ich soll, nur weil es diesen Menschen so paßt, mein Kind
prügeln?!« Nun schlug die Empörung über der Mutter
zusammen. »Das kannst du doch wohl nicht im Ernst von
mir verlangen, Odalf. Und wenn du schon deinen Posten
hier aufgeben müßtest, so gibt es noch andere.«
»Aber keinen so selbständigen und gutbezahlten wie hier«,
unterbrach er sie scharf. »Außerdem sind die Stellen für
landwirtschaftliche Beamte sehr rar, das weißt du ebenso
genau wie ich. Hast ja erfahren, wieviel Mühe es kostete,

nach Ragaltshöfen zu kommen. Und dann würde es
überall, wohin wir auch kämen, gleichfalls Ärger wegen
Irina geben. Denn kein Mensch hat es nötig, sich von
einem Kind Frechheiten bieten zu lassen.
Das dir, Mama. Und dir, meine liebe Schwester, möchte ich
folgendes klarmachen: Sofern ich noch einmal erfahre, daß
du deiner Lehrerin gegenüber ungezogen bist, dann strecke
ich dich übers Knie und verprügele dich, wie du es nicht
besser verdienst. Nimm dich nur in acht! Fräulein von
Tessau hat an Fräulein Holmsen nämlich einen so starken
Rückhalt, der jedes Unrecht von ihr abwehrt. Und wenn du

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dich bei Tisch nicht manierlich benehmen kannst und
willst, so ißt du fortan auf deinem Zimmer, merke dir das.«

»Na, das werden wir doch mal sehen!« schrie die Mutter
den Sohn an, der noch nie so rücksichtslos mit ihr
gesprochen hatte, zornig an. »Meine Tochter aus meinem
Speisezimmer verbannen zu wollen, das spottet doch nun
wirklich jeder Beschreibung. Eher bleiben die andern dem
Raum fern.«
»Also gut, Mama. Wenn du auf dem Standpunkt stehst,
dann ist es wohl besser, dich von Ragaltshöfen zu
entfernen. Ich werde dir in der Stadt eine kleine Wohnung
mieten, wo du deinen Abgott immer weiter verziehen
kannst. Erst soll dir das zur Warnung dienen, beachtest du
diese nicht, werde ich handeln. Du weißt, daß ich mich nie

mit leeren Redensarten abgebe, sondern immer zu meinem
Wort stehe. Es wird also an dir liegen, ob biegen oder
brechen.«
Damit ging er, und als er sich Familie Holmsen zugesellte,
merkte niemand ihm an, daß er vor zehn Minuten noch
eine harte Auseinandersetzung mit der Mutter hatte.
Höflich und sachlich beantwortete er alle Fragen. Zwar fiel
es allen auf, wie blaß er war, doch taktvoll ging man
darüber hinweg.
Und als man später wieder die Terrasse betrat, fand man
die Baronin nebst ihrer Tochter nicht darauf vor. Diese
saßen voll ohnmächtigen Zornes im Zimmer und klagten

einander ihr Leid – nur wie sie es bessern könnten, darüber
fiel kein Wort.
Verbissen grübelte die Baronin vor sich hin, während die
Gedanken in Irinas Kopf rebellierten. Sie konnte einfach
nicht fassen, daß plötzlich alles so anders geworden sein
sollte wie zu Lebzeiten Herrn Ragalts, der sich nie darum
gekümmert hatte, ob sie artig oder ungezogen war.
Nein, die Familie Holmsen gefiel der anmaßenden kleinen
Person ganz und gar nicht. Am wenigsten Birgit, die so ein
Aufhebens mit Fräulein von Tessau machte, die doch
ebenso wenig hier bedeutete wie die andern Angestellten

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im Haus. Hoffentlich verschwand diese abscheuliche Birgit
bald, und dann würde es auf Ragaltshöfen wieder schön

werden wie früher. Dann durfte sie herumkommandieren,
ohne daß man sie deswegen maßregelte. Und diese blöde
Tessau wollte sie ärgern nach Herzenslust. Und sollte Odalf
dahinter kommen, pah, was konnte ihr da schon viel
passieren? Höchstens, daß er sie ausschalt oder
schlimmstenfalls ohrfeigte – aber dann hatte sie wenigstens
ihren Willen durchgesetzt.
So ging denn Irina daran, ihrer Lehrerin das Leben so
schwer zu machen, daß diese zuletzt kaum noch aus und
ein wußte. Zu ihrem Pech war Birgit für eine Woche nach
Hause gefahren, und so hatte sie niemand, den sie um Rat
fragen konnte. Nachdem nun Irina an einem Tage, als die

Lehrerin sie auf einen Schreibfehler aufmerksam machte,
wütend das Heft zerriß, da konnte die geduldige Erla nicht
mehr weiter. Die eine Woche, in der die Schülerin ihr wie
eine kleine Teufelin zugesetzt hatte, hatten ihre ohnehin
nur zarten Nerven zerrüttet »Und was sagen Sie nun?«
fragte Irina frech. »Da sind Sie wohl machtlos, wie?«
Erla, die bis in die Lippen erblaßt war, sagte nichts,
sondern stand auf und ging hinaus. Wenig später betrat sie
das Arbeitszimmer des Verwalters, der am Schreibtisch saß
und sich bei ihrem Anblick erhob.
»Nanu, Fräulein von Tessau, wie sehen Sie denn aus? Sind
Sie etwa krank?«

Da war es um Erlas Fassung geschehen. Sie ließ sich auf
den nächsten Stuhl fallen, drückte das Gesicht in die
Hände und weinte. Der Mann trat an den großen Schrank,
goß stärkenden Wein in ein Glas und trat damit an die
Schluchzende heran.
»Fräulein von Tessau, nun heben Sie mal hübsch brav das
Köpfchen, damit ich Ihnen den Trank hier einflößen kann.
Sie scheinen mir nämlich mit Ihren Nerven nicht zu knapp
herunter zu sein.«
Gehorsam leerte sie das Glas mit kleinen Schlucken, dann
legte sie sich im Stuhl zurück und schaute verlegen zu dem

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Mann, der nun wieder im Schreibtischsessel saß.
»Entschuldigen Sie, Herr Baron, daß ich mich so gehen

ließ, aber ich konnte nicht anders. Jetzt geht es schon
wieder, und so kann ich Ihnen auch sagen, warum ich Sie
hier aufsuchte. – Es ist heute der 1. Juni – und ich bitte um
meine Entlassung.«
Augenblicklich blitzte es in seinen Augen überrascht auf,
dann fragte er kurz:
»Aus welchem Grunde?«
»Weil ich mit Irina nicht mehr fertig werden kann.«
»Also das ist es. Ich bitte um Ihren Bericht.«
»Leicht hatte ich es mit der störrischen Schülerin immer
nicht«, sprach sie nun in fliegender Hast. »Aber seit dem
Sonnabend, da Familie Holmsen zuletzt hier war, ist sie

dermaßen – anmaßend, daß ich einfach machtlos ihr
gegenüber bin. Während ich spreche, grinst sie
unverschämt, schmiert die Hefte voll, daß es zum Grausen
ist, nennt mich blöd, will alles besser wissen – und riß
heute sogar das Heft mittendurch, als ich sie auf einen
Schreibfehler aufmerksam machte. Außerdem bemerkte sie
noch höhnisch: Und was sagen Sie nun? Da sind Sie wohl
machtlos, wie? Nun, ich war es tatsächlich, sagte nichts,
sondern kam hierher und – «
»Es war das Beste, was Sie tun konnten«, entgegnete er
ruhig. »Haben Sie schon eine neue Stelle, weil Sie diese
aufzugeben wünschen?«

»Nein, Herr Baron. Bis heute hatte ich ja nicht die Absicht,
Ragaltshöfen zu verlassen, weil ich immer noch hoffte, daß
Irina zur Vernunft kommen würde. Aber der heutige Vorfall
ließ mich erkennen, daß ich nicht die richtige Lehrerin für
so eine störrische, unverschämte Schülerin bin. Ich besitze
zu wenig Energie und kann mich daher nicht durchsetzen.
Wenn ich bis zu meinem Fortgang noch keine andere Stelle
habe, um die ich mich natürlich eifrig bemühen werde,
dann miete ich mich in einer Pension ein und suche von
dort weiter. Mit meinen Ersparnissen komme ich, schon
eine Weile aus.«

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»Also schon ein fix und fertiger Plan«, erwiderte er
lächelnd.

»Und wenn ich Sie nun bitten würde, weiter getreulich auf
Ihrem Posten zu verharren wie bisher? Was dann, Fräulein
von Tessau?«
»Nein, Herr Baron, das könnte ich nicht verantworten.«
»Aber ich. Ihnen soll fortan meine Unterstützung zuteil
werden. Und dann wollen wir doch mal sehen, ob wir
nicht mit vereinten Kräften ein störrisches Kind bändigen
können.«
»Dann würde uns die Frau Baronin aber sehr böse sein.«
»Daraus dürfen wir uns nichts machen, Sie ängstliche
kleine Person. Ihnen soll schon kein Unrecht mehr
geschehen, dafür lassen Sie mich sorgen. Allerdings kann

ich im Hause nicht immer zugegen sein, und da könnte es
in meiner Abwesenheit schon geschehen, daß man Ihnen
nicht so begegnet, wie Sie es verlangen dürfen. Und soweit
ich Sie kenne, werden Sie jede Bitternis eher
hinunterschlucken, als sich zu wehren. Aber da ist ja noch
Fräulein Holmsen, das heute oder morgen hierher
zurückkehrt. Und die junge Dame tritt schon für Sie ein,
falls es nötig sein sollte.
Und nun machen Sie nicht so furchtsame Augen, Sie
kleiner Angsthase. Hier haben Sie meine Hand, schlagen
Sie ein auf ein Schutz- und Trutzbündnis.«
Zögernd legte sie die kleine zarte Hand in die schlanke,

nervige, die sie mit festem Druck umschloß.
»So, da fällt mir nun ein Stein vom Herzen. Denn offen
gestanden, hätte ich Sie ungern von hier scheiden sehen.
Was ich von Ihnen zu halten habe, das weiß ich. Aber man
steckt ja in keinem Menschen drin, den man engagiert –
und wenn man die Wahl auch noch so vorsichtig treffen
würde. Haben Sie also herzlichen Dank, Fräulein von
Tessau.«
»Oh, Herr Baron, ich habe doch zu danken, da Sie ein
solches Vertrauen in mich setzen.«
»Na schön, streiten wir uns darüber nicht.«

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Er drückte auf den Knopf und gab dem eintretenden
Diener Bescheid, Irina herzuschicken. Diese erschien denn

auch und meinte keck:
»Also hat die Tessau gepetzt.«
Diesmal klatschte es rechts und links auf den
Kinderwangen, und ruhigen Tones sprach der Mann:
»Du siehst, daß ich mein Versprechen wahr mache, du
unglaublich freche Person. Ich erteile Fräulein von Tessau
die Vollmacht, genauso mit dir zu verfahren, sofern du
dich ihr gegenüber flegelhaft benimmst. Fortan wirst du
mir jeden Tag deine erledigten Schularbeiten vorzeigen,
und den Inhalt des Heftes, das du zerrissen hast, wirst du
fein säuberlich in zwei Tagen abschreiben. Dann wünsche
ich das vernichtete Heft nebst dem neuen zu sehen. Und

nun entschuldige dich bei deiner Lehrerin wegen deines
unerhörten Betragens. – Ach, du willst nicht«, klirrte seine
Stimme auf, als das Kind trotzig verharrte. In seinen Augen
wetterleuchtete es – und da zog das dreiste Persönchen es
doch vor, lieber klein beizugeben.
»Ich bitte um Entschuldigung, Fräulein von Tessau.«
»Ein wenig reumütiger hätte es schon geschehen können«,
bemerkte der große Bruder tadelnd. »Aber für den Anfang
bin ich zufrieden. Du weißt nun, Irina, daß ich nicht lange
fackle. Und nun trolle dich.«
Wie gejagt lief die Kleine davon, und der Bruder lachte
hinter ihr drein.

»Sehen Sie, Fräulein von Tessau, das ging doch wunderbar.
Natürlich darf man nicht verlangen, daß aus dem total
verzogenen Mädchen von heut auf morgen ein Musterkind
wird. Aber nach und nach bekommen wir es schon dahin,
wo wir es haben wollen.«
»Was wird die Frau Baronin dazu sagen?« bemerkte Erla
ängstlich, und da wurde sein Gesicht hart.
»Auf die Gefühle meiner Mutter kann und darf ich keine
Rücksicht mehr nehmen, wenn ich nicht meine Existenz
aufs Spiel setzen will. Darum brauchte ich nicht zu bangen,
solange ich in Diensten des Herrn Ragalt stand, denn den

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störten Irinas herrschsüchtige Allüren nicht – aber Familie
Holmsen stören sie. Man kann den Besitzern ja schließlich

nicht zumuten, sich von der Schwester des Verwalters
beherrschen zu lassen. Geht Ihnen das ein, Fräulein von
Tessau?«
»Das schon, Herr Baron – aber es ist doch so entsetzlich
traurig.«
»Das ist das Leben für manche Menschen nun mal, mein
Fräulein. Damit muß man sich abfinden, wenn man nicht
unter die Räder des Schicksals geraten will. Und nun ist
alles klar zwischen uns?«
»Ja, Herr Baron.«
»Welch ein tiefer Seufzer«, lachte er. »Halten Sie nur die
Öhrchen steif, dann wird’s schon gehen.«

Sie schieden mit warmem Händedruck, und Erla war so
fertig, daß sie in ihr Zimmer flüchtete, sich dort aufs Bett
warf und fassungslos weinte. Als sie sich einigermaßen
beruhigt hatte, nahm sie eine Schlaftablette, kleidete sich
aus und streckte sich auf die Lagerstatt.
So kam es denn, daß Odalf Vörswelde allein am
Mittagstisch saß, weil Mutter und Schwester aus Protest
nicht daran erschienen und Erla über ihre Trübsal
hinwegschlief. Bekümmert streiften die Augen des
servierenden Dieners das harte, blasse Antlitz seines Herrn,
der kaum etwas aß. Alle Ehrerbietung, die er für die Herrin
hatte, aber sie sollte dem Sohn, der so rührend für sie

sorgte, nicht so hart zu schaffen machen. Es gibt eben keine
Dankbarkeit mehr auf der Welt.
Erla schreckte aus tiefem Schlaf auf, schickte den Blick
suchend umher, bis er an einem Gesicht haften blieb, das
nahe über dem ihren war.
»Oh, Fräulein Holmsen, wie schön, daß Sie da sind.« Die
Schläferin war nun hellwach. »Ich habe auch schon so
sehnsüchtig auf Sie gewartet.«
»Scheint mir auch so«, war die trockene Erwiderung.
»Wenn man nämlich Ihre Angstaugen sieht, dann weiß
man Bescheid. Was hat’s gegeben?«

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»Ach, Fräulein Holmsen!«
»Ach, Fräulein von Tessau! Nicht weinen, sondern

erzählen.«
Mit wachsender Empörung lauschte Birgit dem Bericht, der
unter Schluchzen und Stottern endlich zusammenkam.
»Na, das ist ja die Höhe!« legte sie dann los. »Und Sie
haben das bei dem unverschämten Balg so ohne weiteres
durchgehen lassen? Das hätte ich mal bei meiner Lehrerin
riskieren sollen, na, ich danke! Ein Glück, daß der Baron in
seine Schwester nicht so vernarrt zu sein scheint, wie die
Mutter es in die Tochter ist. Dann gäbe es wohl Reibereien
am laufenden Band. Kaum zu glauben, was ein Kind für
Unfrieden stiften kann.«
»Der Baron tut mir schrecklich leid.«

»Mir nicht. Wenn er schon zehn Jahre früher mit der
Dressur der Schwester begonnen hätte, dann bliebe ihm
der Verdruß, den er jetzt mit ihr hat, erspart. Was wollen
Sie denn, etwa aufstehen?«
»Ja, ich muß mich doch unten sehen lassen. Die Frau
Baronin wird mir ohnehin schon zürnen.«
»Eben – deshalb werden Sie sieh heute nicht mehr blicken
lassen, damit sich das gekränkte Mutterherz beruhigen
kann.«
»Sie ist sehr nachtragend, wenn es um Irina geht.«
»Auch das noch! Nun, das gewöhnen wir ihr schon ab. Es
gongt zum Abendessen. Haben Sie auf irgend etwas

besonderen Appetit?«
»Auf ein Omelett schon. Aber die Frau Baronin liebt es
nicht, wenn man Extra wünsche äußert.«
»Mein liebes Fräulein von Tessau.« Birgit stand nun vor
dem Bett, die Hände in die Hüften gestemmt. »Ich bin von
Hause aus zwar nicht gewöhnt, die Herrin herauszukehren,
habe daher auch keine Übung darin – aber ich kann’s
doch, wenn es sein muß, verlassen Sie sich darauf.
Jedenfalls sollen Sie das gewünschte Omelett haben, am
besten gleich zwei. Welche Füllung?«
»Kirschen.«

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»Geht in Ordnung. Gehaben Sie sich wohl – und guten
Appetit.«

Lachend entfernte sich Birgit und kam gerade zurecht, als
man sich an den Tisch setzte. Eine förmliche Verneigung
zur Baronin, die sie bestimmt nicht freundlich musterte,
ein Lächeln zu dem Verwalter hin, dann nahm sie Platz.
»Warum erscheint Fräulein von Tessau nicht zu Tisch?«
fragte die Dame knapp, und ebenso erfolgte die Antwort:
»Weil sie sich nicht wohl fühlt und daher im Bett liegt.«
»Etwas Besorgniserregendes, gnädiges Fräulein?«
»Ich nehme es nicht an, Herr Baron. Wahrscheinlich die
Nachwirkung der Aufregung am Vormittag.«
»Wenn das Fräulein so sensibel veranlagt ist, dann hätte es
nicht Lehrerin werden sollen«, meinte die Baronin

ungehalten. »Fehlte gerade noch, mit einer Angestellten
Aufhebens zu machen.«
»Mama, ich bitte dich!«
»Beruhige dich nur.« Ihre Lippen kniffen sich bitterböse
zusammen. Doch als Irina etwas sagen wollte, was gewiß
recht anmaßend gewesen wäre, winkte die Mutter ab.
»Ruhig. Du weißt doch, daß wir beide jetzt hier nichts
mehr zu melden haben.«
Es flammte rot auf der Stirn des Sohnes auf, aber kein Wort
entschlüpfte dem harten Mund, und auch Birgit hielt eine
unwillige Erwiderung zurück. Zwar war es nicht ihre Art,
älteren Menschen ungezogen zu begegnen, aber bei dieser

aggressiven Dame war ein bestimmter Tön schon am Platz,
wollte man nicht hilflos unter ihre Herrschsucht geraten.
So sagte sie denn zu dem Diener, als dieser ihr die Platte
mit gebackenen Eiern reichte:
»Lieber Jost, sorgen Sie doch bitte dafür, daß Fräulein von
Tessau zwei Omeletts mit Kirschfüllung nach oben
gebracht werden. Dazu eine Tasse leichten Tee.«
»Sehr wohl, gnädiges Fräulein, ich werde das sofort
veranlassen.«
Nachdem er gegangen war, fuhr die Baronin das Mädchen
schroff an:

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»Ich liebe es nicht, wenn über meinen Kopf hinweg etwas
bestimmt wird, Fräulein Holmsen. Es ist hier nicht Mode,

daß Angestellte Sonderwünsche haben. Sie sitzen hier an
meinem Tisch, merken Sie sich das!«
Eiskalt blitzte es in Birgits Augen auf, doch es klang
beherrscht, als sie erwiderte:
»Eine Kranke darf solche Wünsche schon einmal haben,
Frau Baronin zumal Ihre ungezogene Tochter die Ursache
dieser Krankheit ist.«
Da sprang die Dame auf, griff nach Irinas Hand und zog
die Widerstrebende hart mit sich fort. Die Tür klappte ins
Schloß – und unter den Zurückbleibenden herrschte wohl
eine Minute lang bedrückendes Schweigen, das Birgit dann
brach.

»Ob sie mich nun für taktlos halten, das bleibt Ihnen
überlassen, Herr Baron.«
»Das tue ich gewiß nicht, gnädiges Fräulein«, kam es ruhig
zurück. »Sie haben das Recht, meiner Mutter noch etwas
ganz anderes sagen zu können, nämlich: daß es wohl ihr
Tisch ist, aber alles, was darauf steht, aus der Tasche des
Besitzers von Ragaltshöfen bestritten wird. Denn er ist es,
der den großzügigen Haushalt hier bezahlt.«
»Ich bitte Sie, Herr Baron, so doch nicht.«
»Wie denn sonst, gnädiges Fräulein?
Es ist gut, zuweilen die Dinge beim richtigen Namen zu
nennen, finden Sie nicht auch?«

»Nein. Ich meine, daß derartige Unerquicklichkeiten sich
vermeiden ließen, wenn man es will.«
»Ganz recht. Aber meine Mutter will eben nicht und wird
daher die Konsequenzen tragen müssen.«
»Inwiefern?«
»Das werden Sie bald erfahren, gnädiges Fräulein.«
Es klang so hart und bestimmt, daß Birgit schwieg. Der
Appetit war ihr gründlich vergangen. Sofern es nur
angängig war, erhob sie sich vom Tisch und ging davon.
Als sie sich an der Tür noch einmal umwandte, bemerkte
sie, wie der Mann aufstöhnend den Kopf in die Hand

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drückte. Da schloß sie die Tür leise hinter sich und
brummte:

»Alles das wegen eines ungezogenen Kindes. Wie können
Menschen nur so verbohrt sein.«
Unverweilt begab sie sich zu Erla, die ganz vergnügt im Bett
saß und sich die Omeletts schmecken ließ. Um nicht auch
ihr noch den Appetit zu nehmen, schwieg Birgit über das,
was sich unten zugetragen hatte. Zart strich sie über das
dunkle Köpfchen, dann ging sie in ihr Zimmer, setzte sich
an den Flügel und schon brauste es auf:

Durch Gewitter und Sturm...

Meisterhaft wurde es gespielt – und unten saß ein einsamer

Mann und sprach verbittert die Worte mit.
Am nächsten Morgen fand man sich vollzählig auf der
Terrasse zum Frühstück zusammen; denn auch Erla war
dabei. Sie fühlte sich wieder kräftig genug, um etwaigen
Stürmen standzuhalten. Allein, sie blieben aus. Zwar
maulte Irina, griff dabei aber keinen direkt an – und ihre
Mutter verharrte in eisigem Schweigen. Birgit tat so, als
wäre das gestrige peinliche Vorkommnis nicht gewesen,
sondern plauderte in ihrer frischen Art vergnügt drauflos.
Als das Frühstück beendet war, sagte sie zu dem Verwalter:
»Ich möchte Sie bitten, Herr Baron, mir verschiedenes in
der Buchführung zu erklären.«

»Gern, gnädiges Fräulein. Ich habe da einige Anmerkungen,
die ohnehin der Erklärung bedürfen.«
»Ist etwas verpatzt?«
»Im Gegenteil, Sie haben sorgfältig gearbeitet.«
»Das freut mich«, entgegnete sie lachend. »Ich muß
gestehen, daß ich oft Angst schwitze, aber jetzt bin ich
stolz. Denn eine Anerkennung aus Ihrem Munde wiegt
doppelt schwer, Herr Baron.«
»So arg ist es nun auch wieder nicht«, gab er amüsiert
zurück. »Wollen wir gleich zur Rentmeisterei gehen, weil
ich in einer Stunde eine Unterredung mit einem Händler

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habe.«
Sie erhoben sich und traten von der Terrasse ins

Speisezimmer, die Tür hinter sich offen lassend. Doch
inmitten des Gemachs verhielt der Mann den Schritt und
horchte auf die scharfe Stimme seiner Mutter.
»O nein, mein Fräulein, meine Tochter bleibt hier, weil ich
es nicht dulden kann, das Kind von Ihnen im Schulzimmer
drangsalieren zu lassen. Ich habe über alles zu bestimmen,
nicht der Herr Baron, merken Sie sich das. Unerhört, den
Bruder gegen die Schwester aufzuhetzen, Sie intrigante
Person! Und so einer soll ich mein Kind anvertrauen?
Dann würde ich ja unverantwortlich handeln. Sie verlassen
noch heute mein Haus.«
Da taumelte Erla davon, geradeswegs in die Arme des

Barons hinein, der gleich Birgit bis in die Lippen erblaßt
war.
»Nicht schlapp machen, Fräulein von Tessau, hören Sie?
Nehmen Sie sich bitte der Ärmsten an, gnädiges Fräulein.«
Voll Erbarmen umschlang Birgit das zitternde Mädchen,
führte es nach oben und bettete es auf den Diwan. Sie
horchte auf; denn durch das geöffnete Fenster hörte sie
deutlich von der Terrasse her die Stimme Odalfs, eiskalt
und beherrscht:
»Also du hast mich verstanden, Mama. Du beziehst in der
Stadt eine kleine Wohnung, und Irina kommt in ein
Internat.«

»Junge, wie kannst du so entsetzlich hart sein!« schrie die
Frau nun gepeinigt auf. »Mich von dem Kind trennen,
hieße mir das Leben nehmen. Es ist doch mein ein und
alles!«
»Trotzdem handelst du gewissenlos, wenn du das Kind so
unglaublich verziehst.« Der Mann blieb ungerührt.
»Dann wird nichts weiter aus ihm als ein Tunichtgut, der
uns nur Schande macht. Du bist mir einfach unbegreiflich,
Mutter. Deine anderen Kindern hast du doch streng
erzogen – streng oftmals bis zur Härte, und Irina gegenüber
bist du schwach bis zur Lächerlichkeit.«

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»Ich betrachte sie als Gottesgabe – als Ersatz für meine
toten Kinder. Verstehst du das denn nicht?«

»Nein.«
»Außerdem ist sie krank, Odalf.«
»Komm mir doch damit nicht, Mama. Wir haben Irina
noch vor zwei Monaten von einer Kapazität beobachten
lassen, die dann die Diagnose stellte: Gesund, nur
verweichlicht und verzärtelt. Kein Wunder, da du schon in
Aufregung gerätst, wenn die Kleine draußen herumläuft.
Das muß ein Kind, um gedeihen zu können. Laß es sich
unbeschwert austummeln, dann wird es guten Appetit
haben und bald rote Wangen kriegen.
Nun, spare ich mir meine Worte, weil ich genau weiß, daß
sie doch nur in den Wind gesprochen sind. Dir das Leben

zu nehmen, kann ich natürlich nicht verantworten«, setzte
er ironisch hinzu. »Also behalte deinen Abgott, und werde
in der Stadtwohnung selig mit ihm.«
»Odalf, hab doch Erbarmen mit mir! Ich gehe in einer so
engen Behausung einfach zugrunde.«
»Auch wenn du deines Herzens Trost um dich hast?
Merkwürdig. Das mit dem >Zugrundegehen< hättest du dir
früher überlegen sollen, jetzt ist es zu spät. Wenn du mit
Irina weiter hier bleibst, verliere ich meine Stellung. Und
wovon soll ich euch dann unterhalten? Ergo: Da du mit
Familie Holmsen keinen Frieden halten kannst, mußt du
eben weichen. Oder verlangst du das etwa von den

Besitzern?«
»Sie sind ungemein herrschsüchtig.«
»Das bist du und dein vergötterter Liebling«, rief er
dazwischen. »Anstatt Irina dafür zu bestrafen, daß sie sich
ihrer Lehrerin gegenüber so unerhört benimmt, hätschelst
du sie, beleidigst in ihrer Gegenwart die junge Dame und
wirfst sie gar zum Hause hinaus, das dir nicht gehört. Dann
gestern die impertinenten Bemerkungen der Tochter
meines Gebieters gegenüber.«
»Sie war anmaßend.«
»Das ist nicht wahr! Der Tochter des Hauses steht gewiß

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das Recht zu, ein Omelett beim Diener zu bestellen, zumal
ihr Vater den Haushalt hier bezahlt. Ich finde, daß die

junge Dame sich tadellos benommen hat, eine andere,
weniger gut erzogene, hätte dich schon in deine Schranken
zurückgewiesen.
Und nun Schluß! Richte dich darauf ein, daß du, sobald
ich in der Stadt eine passende Wohnung gefunden habe,
was hoffentlich schnell geschieht, dorthin übersiedelst.
Heute habe ich keine Zeit, aber morgen begebe ich mich
auf Suche.«
Er ging, und die Frau weinte herzzerbrechend. Dasselbe tat
oben Erla, die gleich Birgit jedes Wort der
Auseinandersetzung mit angehört hatte.
»Mädchen, so bleiben Sie doch wenigstens ruhig!« Birgit

fuhr sich mit beiden Händen in die Haare. »Wenn ich
gewußt, wie es hier zugeht, keine zehn Pferde hätten mich
hergeschleift!«
»Fräulein Holmsen, sei’n Sie doch nicht so böse.«
»Na was, soll ich mich vielleicht freuen, wenn unten eine
weint, oben die andere und der arme Kerl sich mit euch
abplagen muß? Wenn ich er wäre, dann wüßte ich, was ich
täte. Der rüpelhaften Schwester am Tag dreimal Prügel und
einmal Essen, der verblendeten Mutter die kalte Schulter
und Ihnen etwas Steifes ins Kreuz, auf daß es härter
würde.«
Brummend ging sie hinaus, und als sie zurückkehrte, war

sie schon wieder vergnügt.
»So, jetzt wird der Laden klappen. Und nun hopp ins Bett
mit Ihnen, Sie Zimperlinchen!«
»Darf ich nicht hier liegen bleiben?«
»Aber nur, wenn Sie nicht mehr weinen. Hier haben Sie
eine süße Schachtel, mit der Sie sich amüsieren können.
Ich muß in die Rentmeisterei, wo mein Vorgesetzter schon
ungeduldig meiner harren wird. Wenn ich wiederkomme,
will ich ein fröhliches Gesicht sehen, verstanden?«
In der Rentmeisterei fand sie einen Zettel vor, der sie davon
unterrichtete, daß es dem Baron wegen Zeitmangels nicht

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möglich wäre, sie heute noch zu unterweisen. Falls sie bei
ihrer Arbeit nicht weiter wüßte, sollte sie sich aufs Pferd

setzen und in die prangende Natur hineinreiten.
Das tat sie mit dem größten Vergnügen, und als sie nach
zwei Stunden wiederkam, sah sie das Auto ihres Vaters vor
dem Herrenhaus stehen. Sie lachte in sich hinein, begab
sich an ihren Schreibtisch, wo sie sich bemühte, auch ohne
Erklärung bei der Arbeit voranzukommen.
Indes betrat Herr Holmsen das Arbeitszimmer des
Verwalters, der ihn höflich begrüßte, worauf der Chef
schmunzelnd meinte:
»Ich bin auf Veranlassung meiner Tochter hier.«
»Wie soll ich das verstehen?« fragte sein Gegenüber
erstaunt.

»Werde ich Ihnen gleich erklären. Aber zuerst werden wir
Platz nehmen und uns eine Zigarre ins Gesicht stecken,
dann plaudert es sich gemütlicher.«
Nachdem die Zigarre brannte, begann er ohne
Umschweife:
»Meine Tochter rief mich fernmündlich an und bat um
mein Kommen. Wie sie erfahren hatte, wollen Sie Ihrer
Frau Mutter und Ihrer kleinen Schwester eine
Stadtwohnung mieten. Stimmt das, Herr Baron?«
»Ja, Herr Holmsen.« Der Mann verbarg meisterhaft seine
Überraschung.
»Und warum, wenn ich fragen darf?«

»Weil meine Mutter sich nicht in die veränderten
Verhältnisse fügen kann.«
Kurz gab er wieder, was geschehen, und Holmsen
schüttelte verständnislos den Kopf.
»Sie wollen ein Mann sein und werden nicht mit einem
zwölfjährigen Kind fertig?«
»Ich schon, aber man kann meine Mutter aufs höchste
empören, wenn man nicht gleich ihr in Irina dem Abgott
huldigt. Sie kann dann ungerecht werden bis zum
äußersten. Und das geht doch nun wirklich nicht an, daß
ein Kind das Haus beherrscht, in dem es nur geduldet

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wird.«
»Oha, mein lieber Freund, Sie drücken sich aber

merkwürdig aus. Was heißt hier geduldet. Sie als Verwalter
haben eine Wohnung auf dem Gut zu beanspruchen. Ob
Sie darin nun mit Ihrer Frau und Ihren Kindern leben oder
mit Mutter und Schwester, das bleibt sich egal. Und da
keine andere Wohnung frei ist, muß eben das Herrenhaus
herhalten. Der Kasten ist doch wahrlich groß genug, zumal
meine Familie sich nicht ständig darin aufhält. Zum
Kuckuck, man wird sich doch noch vertragen können!«
»Die andern schon, Herr Holmsen, aber meine Mutter mit
ihrem Abgott nicht. Die greift jeden an wie eine Löwin,
deren Jungen man zunahe treten will.«
»Na ja – gewiß, das ist sogar menschlich verständlich.

Nachkömmlinge pflegen ja vielfach der vergötterte Liebling
der Mutter zu sein, daher wird auch aus ihnen in den*
seltensten Fällen etwas. Werden sie erwachsen, sind sie sich
selbst und anderen ein Greuel. Aber wenn man eine Sache
richtig anpackt, dann muß es doch irgendwie gehen. Wir
sind doch keine Unmenschen, Herr Baron, und haben es
daher nicht vor, Ihre Frau Mutter mit dem Töchterlein von
hier zu vertreiben. Wenn uns das Dirnlein patzig kommt,
na schön, dann stopfen wir ihm das vorlaute
Schnäbelchen, natürlich bildlich genommen. Und wenn
das Mutterherz sich gekränkt fühlt, reagieren wir einfach
nicht darauf.

Bedenklicher ist es schon mit der Lehrerin des kleinen
Unnütz. Die hat ein zu weiches Rückgrat, die ängstliche
Maid. Aber lassen Sie nur, meine Birgit putscht sie schon
auf. Und wenn die Lehrerin ihrer bockigen Schülerin erst
einmal Ohrfeigen versetzt hat, dann läßt diese es auf das
volle Dutzend schon von selbst nicht ankommen.«
Jetzt mußte der Verwalter denn doch lachen.
»Eine einfache Rechnung, Herr Holmsen.«
»Dafür bin ich ja auch Kaufmann. Schalten wir das
Mutterherz mal ganz aus und nehmen das ungebärdige
Füllen an die Kandare. Sollen mal sehen, wie bald es dann

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pariert. Bedenken Sie mal, lieber Freund, wenn Sie Ihre
Frau Mutter, die an das großzügige Landleben gewöhnt ist,

plötzlich in eine enge Stadtwohnung sperren. Die Dame
muß sich da doch kreuzunglücklich fühlen.«
»Ich täte es auch nur der Not gehorchend, Herr Holmsen.
Aber Sie haben ja keine Ahnung, wie aggressiv meine
Mutter werden kann, wenn es um Irina geht. Schließlich
haben Sie und Ihre Familie es nicht nötig, sich auf Ihrem
Besitz beherrschen zu lassen.«
»Wir wehren uns schon, das sei’n Sie gewiß. Und nun
Schluß, es bleibt alles so, wie es ist. Das befehle ich Ihnen
als Gebieter. Haben Sie mich verstanden, Herr Verwalter?«
Betroffen sah dieser Holmsen ins Gesicht – atmete tief auf,
als er die lachenden Augen bemerkte.

»Ich danke Ihnen, Herr Holmsen. Leicht wäre es mir
wirklich nicht gefallen, Mutter und Schwester von hier zu
verbannen.«
»Das weiß ich doch«, lachte der andere gemütlich. »Wie
macht sich meine Tochter auf ihrem Posten?«
Ȇberraschend gut. Die junge Dame besitzt ein helles
Köpfchen und Pflichtbewußtsein.«
»Möchte ich ihr auch geraten haben. Sie ist leider recht
eigenwillig, aber meine Frau versteht sie prachtvoll zu
nehmen. Bei der wird nämlich Liebe und gütiges
Verständnis ganz groß geschrieben, daher konnten meine
Kinder auch so gut einschlagen, obwohl sie eine

Stiefmutter erzog. Doch diese Bezeichnung hassen sowohl
meine beiden Söhne wie auch meine Tochter. Sie können
bitterböse werden, wenn sie fällt. Und sie haben recht
damit, denn eine leibliche Mutter könnte ihre Kinder nicht
inniger lieben.
Drei Jahre war Birgit alt, die Jungen elf und dreizehn, als
meine zweite Frau sie an ihr Herz nahm. Die Bengel ließen
sich leicht erziehen, aber das Marjellchen war ein kleiner
Trotzteufel – und ist es zuweilen heute noch. Doch ein
gütig mahnendes Wort der Mutter richtet mehr bei ihr aus,
als tausend scheltende Worte anderer es zu tun vermögen.

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Ja, unsere geliebte Mutz ist eben die Sonne, um die sich
alles dreht. Und wenn ich sage, daß ich sie heute, nach

siebzehnjähriger Ehe, noch mehr liebe denn als Bräutigam,
so ist das kein leeres Gerede. Da es eben zur Futterkrippe
gongt, wollen wir das Herz ausschalten. Alles klar zwischen
uns, mein lieber junger Freund?«
»Ja, Herr Holmsen, ich danke Ihnen. Sie haben mir mit
Ihrem gütigen Verständnis eine schwere Sorge vom Herzen
genommen.«
»So sollte es immer sein, dann gäbe es bestimmt mehr
Frieden unter den Menschen.«
Bei der Mittagstafel gab es drei verweinte Gesichter – das
der Baronin, das ihrer Tochter und das Erlas. Doch taktvoll
ging Holmsen darüber hinweg. Er tätschelte liebevoll die

Wange Birgits, die mit bangem Blick zu ihm aufsah.
»Hast brav gemacht, Marjellchen, ich bin stolz auf dich.
Hast dich wieder einmal glänzend bewährt – alles ist in
Ordnung.«
»Ach, Paps, hörst du den Mühlstein von meinem Herzen
plumpsen?«
»Will ich meinen«, schmunzelte er. »Da ich den goldnen
Wein in Gläsern funkeln sehe, wollen wir mal anstoßen auf
Friede und Eintracht. Nanu, unser Nesthäkchen soll etwa
leer ausgehen? Jost, ein Glas.
Siehst du, mein Mädchen, jetzt stoßen wir beide extra an.
Schau mal, wie vergnügt die Birgit lacht, die gönnt dir den

guten Tropfen von Herzen – und noch vielmehr dazu.
Halte dich an sie, der ich ein Auto schenkte. Dann nimmt
sie dich öfter einmal mit und deine liebreizende, sehr
geduldige Lehrerin dazu.«
So hatte der gütige Mann mit herzlichen Worten eine
Angelegenheit überbrückt, die recht tragisch hätte werden
können. Er wirkte wie ein Fels in der Brandung, an den
man sich klammern konnte in höchster Not. Schade, daß
der Mann gleich nach dem Essen aufbrach. Und nachdem
die beiden jungen Mädchen sich zurückgezogen hatten,
sagte der Sohn tiefernst zu seiner Mutter:

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»Hoffentlich siehst du nun ein, Mama, welch prächtige
Menschen die Holmsen sind. Die Tochter, die

wahrscheinlich unser Gespräch, das wir am Morgen auf der
Terrasse führten, mit anhörte, rief sofort den Vater
fernmündlich an und bestellte ihn hierher. Er fand Worte,
die mich davon absehen lassen, dir eine Wohnung in der
Stadt zu mieten. Auf seinen Wunsch soll alles so bleiben,
wie es jetzt ist.
Und nun bitte ich dich inständigst, halte Frieden. Tust du
es dennoch nicht, bleibt mein hartes Gebot bestehen. Sei
nicht immer gleich gekränkt, wenn man Irina mal
zurechtweist. Man wird es gewiß ohne Veranlassung nicht
tun. Sei vor allen Dingen nett zu Fräulein von Tessau, die
ein liebenswertes Menschenkind ist. Sollte sie Irina streng

anfassen, so denke daran, daß es der Lehrerin ihrer
Schülerin gegenüber zusteht. Was auch geschehen mag, so
ist es nur zu deiner Tochter Heil.
Ich will dir die Worte wiedergeben, die Herr Holmsen
sprach: Nachkömmlinge pflegen vielfach der vergötterte
Liebling der Mutter zu sein, daher wird aus ihnen in den
seltensten Fällen etwas. Werden sie erwachsen, sind sie sich
selbst und andern ein Greuel.
Nimm dir diese Worte zu Herzen, Mutter, dann ist uns
allen geholfen. Danken wir unserem Herrgott, daß er uns
einen so gütigen, großzügigen Brotgeber bescherte. Es liegt
nun in deiner Hand, ein friedliches, freudvolles Leben

führen zu können. Wenn du jedoch auf deinem
Herrscherwillen beharrst, wird es allein dein Schaden sein.«
Tiefernst wie er gesprochen, ging er auch davon. Er hatte
getan, was er konnte, mehr zu tun stand leider nicht in
seiner Macht.
Und es schien auch tatsächlich, als ob seine mahnenden
Worte nicht in den Wind gesprochen wären, denn die
Baronin gab sich alle Mühe, nett zu den beiden jungen
Mädchen zu sein. Nicht herzlich, aber das verlangte auch
niemand. Sie berief sogar Irina, wenn diese sich ungehörig
benahm, was natürlich noch Ott vorkam, weil ein Kind

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sich nicht schlagartig ändern konnte.
Aber soviel hatte das anmaßende Persönchen denn doch

begriffen, daß der Bruder sich nicht mit leeren Redensarten
abgab. Jeden Tag ließ er sich die Schularbeiten vorlegen
und sofern sie verpfuscht waren, mußten sie ohne
Erbarmen wiederholt werden. Daß die Mutter hinterher
verweinte Augen hatte, schien der Sohn nicht zu sehen.
Er traf jetzt nur noch zu den Mahlzeiten mit ihr zusammen.
Wenn er nicht gerade draußen war, hielt er sich in seinem
Arbeitszimmer auf, wo es genug Schreibereien für ihn gab.
An einem Tag, kurz vor dem Mittagessen, kam Erla zu
Birgit ins Zimmer. Das zarte Persönchen zitterte am ganzen
Körper vor Erregung, in den Augen flackerte Angst.
»Was ist denn mit Ihnen schon wieder los? Sie sehen ja aus,

als ob Sie dem Grabe entronnen wären.«
»Ich – ich – habe – Irina geohrfeigt«, kam es von den
zuckenden Lippen, und da lachte Birgit hellauf.
»Herrlich – endlich einmal! Und nun hat so ein
Dummchen natürlich Angst vor der eigenen Courage.«
»Ja. Was wird bloß die Frau Baronin sagen?«
»Die wird natürlich entrüstet sein«, kam es trocken zurück.
»Aber wie sehen Sie denn aus? Ihre Hände sind schwarz,
und auch das Kleid zeigt dunkle Flecke.«
»Das kommt von der Tinte, deren Flasche Irina umwarf.«
»Absichtlich?«
»Das weiß ich nicht. Ich rügte sie, weil sie sehr nachlässig

las, da fegte sie mit der Hand über’n Tisch. Leider stand die
große Tintenflasche offen, die umfiel und den schwarzen
Inhalt über alles rundum ergoß. Da ich nahe saß, bekam
auch ich meinen Teil ab, was mich so empörte – daß – daß
– «
»Ihre Hand ausrutschte«, fiel Birgit lachend ein. »Schau,
schau, unser Täubchen scheint Galle zu kriegen, recht so.«
»Ja – aber jetzt habe ich Angst. Am liebsten möchte ich gar
nicht zum Essen gehen.«
»Und sich damit womöglich schuldig bekennen? Kommt
gar nicht in Frage! Falls die Baronin Sie anfahren sollte,

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wird ihr Sohn schon eingreifen.«
Nun, das tat er ohnehin schon. Denn als er sich in seinem

Schlafzimmer zum Essen umzog, erschien die Mutter
sozusagen geladen. Sie hielt die Tochter an der Hand, die
so aussah, als wäre sie einem Schonsteinfeger in die Arme
gelaufen. Kleid, Gesicht und Hände schwarzbesudelt.
»Jetzt ist aber Schluß!« schrie die sonst so würdige Dame
krebsrot vor Zorn. »Schau dir mal meinen armen Liebling
an! Unerhört, wie die Tessau ihn zugerichtet hat!«
»Fräulein von Tessau?« fragte Odalf verwundert
dazwischen.
»Ja. Sie warf die Tintenflasche um und behauptete dreist,
Irina hätte es getan. Als diese sich verantworten wollte,
wurde sie von der unmöglichen Person brutal geohrfeigt.«

»Soooo -?« dehnte der Bruder mit einem durchdringenden
Blick auf die Schwester, die das Gesicht an den Arm der
Mutter drückte.
»Also gelogen«, stellte er sachlich fest – und das war der
ohnehin schon schwergekränkten Mutter denn doch zu
viel. Der Zorn tobte so heftig in ihr, daß sie erst einige Male
nach Luft schnappen mußte, ehe es sich ihrer gepreßten
Kehle entrang:
»Du glaubst Irina nicht?!«
»Nein«, kam es gelassen zurück. »Kommentar überflüssig.
Ich werde Fräulein von Tessau fragen und dann die
Wahrheit erfahren.«

»So fest glaubst du an diese Person?«
»Person? Das ist wohl nicht der richtige Ausdruck für so ein
feines, charakterlich einwandfreies Menschenkind, Mama.«
Zuerst wollte sie auffahren – doch dann umzuckte ein
verächtliches Lächeln ihren Mund.
»Ach, nun verstehe ich. Wenn es so ist, dann allerdings.
Und das in meinem ehrbaren Hause. Du bist tief gesunken,
mein Sohn.«
»Mutter!« peitschte nun seine Stimme auf. »Ich verbiete dir,
die junge Dame zu beleidigen! Ich habe nicht gewußt, daß
du so niedriger Gesinnung fähig wärest, wie ich überhaupt

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Charakterzüge an dir entdecken muß, die sich früher nie
bemerkbar machten. Laß mich jetzt allein, damit ich mit

der letzten Ungeheuerlichkeit fertig werden kann.«
Bei der eisigen Haltung des Sohnes hielt die Mutter es für
angebrachter, sich zurückzuziehen. Sie ging mit der Tochter
ins Schlafzimmer, um diese zu säubern. Zehn Minuten
später trat Odalf ein, immer noch eisig in Haltung und
Wort.
»Das einzige, was an Irinas Erzählung stimmt, ist, daß ihre
Lehrerin sie ohrfeigte – und zwar mit Recht. Dein
verlogener Abgott fegte nämlich wutentbrannt die
Tintenflasche vom Tisch, als Fräulein von Tessau ihn wegen
Nachlässigkeit rügen mußte. Zur Strafe wird Irina heute
und morgen das Zimmer nicht verlassen.«

»Dann bleibe auch ich hier.«
»Ganz wie du willst, Mama. Es ist bestimmt auch besser
so.«
Ehe sie etwas erwidern konnte, hatte er sich entfernt. Er
ging zum Speisezimmer, wo die beiden jungen Mädchen
bereits hinter ihren Stühlen standen.
»Bitte, die Damen Platz zu nehmen. Meine Mutter und
Irina bleiben der Mahlzeit fern.«
Es wurde ein recht schweigsames Mahl, bei dem allen der
Appetit fehlte. Man atmete erleichtert auf, als man es
beenden konnte.
»Das hat wieder einmal gebumst«, lachte Birgit, als sie mit

Erla ihr Zimmer betrat. »Machen Sie nicht ein so betretenes
Gesicht, Kleine.«
»Großer Gott, was soll das bloß noch werden!«
»Das geht Sie doch nichts an, Fräulein von Tessau. Tun Sie
Ihre Pflicht als Lehrerin, und lassen Sie getrost den Baron
für alles andere sorgen. Allerdings möchte ich nicht in der
Haut des Mannes stecken. Immer den Ärger mit der
verbohrten Mutter und der rüpelhaften Schwester, das muß
einen Menschen langsam zermürben.«
»Ob ich nicht doch meine Stellung hier aufgebe, Fräulein
Holmsen?«

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»Und was sollte damit gewonnen sein? Bei Ihrer
Nachfolgerin würde es noch ganz andere Auftritte geben,

weil diese Ihre Geduld gewiß nicht hätte und dem
unleidlichen Gör ganz anders käme. Der Baron weiß
schon, weshalb er Sie um Ihr Bleiben bat.«
Hätte die sensible Erla nur gewußt, wessen die Baronin sie
beschuldigte, sie wäre gewiß keine Stunde länger in
Ragaltshöfen geblieben. So jedoch war sie mit Freuden
dabei, als Birgit sie aufforderte, eine Fahrt im neuen Auto
zu machen, das am Vormittag angerollt war. Und während
die beiden Mädchen vergnügt davonfuhren, erschien die
Mutter bei ihrem Sohn im Arbeitszimmer. Zwei rote Flecke
brannten auf ihren Wangen, die Augen funkelten böse.
»Ich möchte ein Fuhrwerk haben, das mich und Irina zur

Bahn fährt«, begann sie ohne Einleitung. »Ich fahre nach
Weide und gedenke dort zu bleiben. Wenn mir und
meinem Kind nicht gerade der Himmel auf Erden dort
beschieden sein wird, so jedoch nicht ein Martyrium wie
hier. Wenn in Weide alles klar ist, gebe ich dir Bescheid,
damit du mir meine Sachen schicken kannst. Alles, außer
deinem Schlaf- und Arbeitszimmer, gehört mir. Und dann
magst du mit der verlogenen, intriganten Tessau glücklich
werden. Hoffentlich nimmt Familie Holmsen keinen
Anstoß daran.«
Ohne den Sohn, der wie erstarrt dastand, noch eines
Blickes zu würdigen, rauschte sie hocherhobenen Hauptes

davon. Eine halbe Stunde später fuhr sie mit der Tochter
davon, ohne von dem Sohn Abschied genommen zu
haben.
»Meine Mutter ist mit meiner Schwester verreist«, erklärte
der Baron den beiden jungen Damen, als er mit ihnen an
der Kaffeetafel zusammen traf. »Wie lange sie fortbleibt, ist
ungewiß.«
»Und was wird aus mir?« fragte Erla bedrückt.
»Sie bleiben natürlich hier, Fräulein von Tessau. Erholen
Sie sich von den Aufregungen der letzten Zeit, Sie sehen
nämlich erbärmlich mitgenommen aus. Wenn Sie mögen,

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können Sie Fräulein Holmsen bei der Arbeit helfen.
Vorausgesetzt, daß diese damit einverstanden ist.«

»Bin ich mit dem größten Vergnügen. Es gibt zeitraubende
Arbeit genug, die ich dem gewissenhaften Fräulein ohne
weiteres anvertrauen kann. Und da ich dadurch mehr
Freizeit erhasche, werden wir beide die weidlich
ausnutzen.«
So geschah es denn auch. Am Vormittag wurde fleißig
gearbeitet, der Nachmittag vergnüglich verbracht. Erla lebte
förmlich auf und schloß sich immer inniger an die
Gefährtin an. Was diese sagte und tat, war für das zaghafte
Fräulein Evangelium.
Aber ach, diese herrliche Zeit sollte nicht von langer Dauer
sein. Am Montagnachmittag fuhr die Baronin ab – und am

Freitagabend war sie schon wieder da. Jedenfalls fanden die
beiden jungen Mädchen, als sie am Sonnabend zum
Frühstück erschienen, die Friedensstörer am Tisch vor. Die
Enttäuschung darüber konnte man ihnen direkt vom
Gesicht ablesen, was die Mutter empörte, dem Sohn ein
verstecktes Lächeln abnötigte.
Und was war mit Irina geschehen? Das Gesicht
verschwollen, das eine Auge blutunterlaufen. Selbst Odalf
wußte nicht direkt, wie die Schwester dazu gekommen war,
erriet jedoch die Wahrheit.
Und die war so: Irina, die natürlich auch in Weide nicht
Frieden halten konnte, verprügelte das dreijährige

Söhnchen brutal – und dessen Mutter, die dazu kam, übte
gerechte Vergeltung. Zu Irinas Pech hielt sie die
Reitpeitsche in der Hand, mit der sie denn auch nicht
fackelte. Anschließend gab es einen Krach, daß
gewissermaßen die Wände wackelten.
Denn die junge Baronin, auf Weide war nicht fein, auch
nicht beherrscht, sondern sehr temperamentvoll,
ausfahrend und – reich. Auf diesen Reichtum, den sie in
die Ehe gebracht, pochte sie nun und stellte den ziemlich
willenlosen Gatten vor die Wahl: Entweder seine
impertinente Mutter mit ihrer rüpelhaften Tochter- oder sie

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und ihr Knabe. Ein Zwischending gäbe es da nicht.
Natürlich zögerte der Mann nicht einen Augenblick, sich

für Frau und Kind zu entscheiden. Es fiel ihm noch nicht
einmal schwer, seiner Mutter, für die er sowieso nicht viel
übrig hatte nahezulegen, Weide sofort zu verlassen und es
nie wieder zu betreten. Er wäre nun in der Lage, sie
vollends auszuzahlen, gleichfalls Schwester und Bruder.
Morgen noch werde er das Geld überweisen. Übrigens täte
Odalf ihm von Herzen leid, daß er sein »Kreuz«
herumschleppen müßte. Aber der wäre ja schon immer
Idealist gewesen und gehörte somit zu den Dummen, die
nie alle werden.
Und so endete die Protestfahrt der Baronin Mildred von
Ragaltshöfen nach Weide. Gedemütigt und das Herz mit

Bitterkeit gefüllt bis zum Rande, erschien sie bei dem
jüngeren Sohn, der gar nicht erstaunt war, als sie plötzlich
vor ihm stand, die zerschundene Irina an der Hand. Er
hatte nichts anderes erwartet, weil er die Verhältnisse auf
Weide genau kannte.
»Ihr werdet sicherlich hungrig sein«, ging er in seiner
gelassenen Art zur Tagesordnung über. »Ich werde Jost den
Auftrag geben, euch ein Mahl zu servieren. Indes macht ihr
euch wohl ein wenig frisch.«
Es zuckte in seinem Antlitz, als die Mutter gesenkten
Hauptes davonging, die kläglich dreinschauende Tochter
an der Hand. Gern hätte er der Frau ein liebes Wort gesagt

– aber er durfte es nicht und wollte es auch nicht. Denn so
herrschsüchtige Menschen müssen durch Erfahrung klug
werden.
Nun saß man am Frühstückstisch und gab sich alle Mühe,
ein harmloses Gespräch in Gang zu halten, wobei sich
Birgit wie stets glänzend bewährte. Sie redete wie ein
Wasserfall, um nur keine schwüle Stimmung aufkommen
zu lassen. Doch als sie mit Erla allein war, schüttelte sie
sich.
»Brrr, das war scheußlich! Die Leichenbittermiene der
Baronin, die entstellte Tochter, der schweigsame Sohn und

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die entsetzten Augen einer gewissen Erla – nein, Kinder,
wenn das so weitergeht, dann reiße ich aus. Habe ja

schließlich nicht nötig, mich in dieser explosiven
Atmosphäre aufzuhalten, wo ich ein Elternhaus besitze, das
von Frieden und Harmonie durchweht ist. Wenn meine
Eltern heute kommen, dann werde ich sie anflehen, mich*
bei der Abfahrt nicht zu vergessen.«
»Und was soll ich hier ohne Sie wohl anfangen?« fragte Erla
tränenerstickt.
»Nanu, Sie haben das doch gewußt, bevor ich auftauchte.«
»Da war alles anders. Die Baronin nebst Irina beherrschten
das Haus, und der Baron ließ alles mit Gelassenheit über
sich ergehen. Aber seitdem Sie hier sind, Fräulein Holmsen,
rebelliert alles – selbst ich.«

Es klang so kläglich, daß Birgit lachen mußte.
»Da seien Sie doch froh, wenn ich entfleuche. Denn, Ihren
Worten nach zu schließen, scheine ich ein arger
Friedensstörer zu sein.«
»O nein, Sie haben nur frischen Wind in die verstaubte
Atmosphäre hineingebracht«, widersprach die andere
heftig, und da lachte Birgit wieder.
»Dafür gelangte ich ja auch durch Gewitter und Sturm
hierher. Kein Wunder, daß ich da alles
durcheinanderwirbelte. Wenn Irina nicht wäre, könnte es
sich hier gut leben lassen, denn mit der Baronin allein
könnte man es zur Not aufnehmen.

Na, abwarten, was meine Eltern zu der Tragödie sagen, die
es in den beiden Wochen, da sie nicht hier waren, gegeben
hat. Die werden schon Rat wissen.«
»Wie schön muß es sein, wenn man noch Eltern hat«, sagte
Erla leise. Obgleich sie Birgit von Herzen leid tat, ließ sie
sich davon nichts anmerken, um das verzagte Fräulein
nicht noch rührseliger zu machen, zum Kaffee waren denn
die drei Holmsen da und mit ihnen eine Welle von
Fröhlichkeit. Der Verwalter entschuldigte das
Nichterscheinen von Mutter und Schwester mit
Unpäßlichkeit, was man mit gemachter Harmlosigkeit

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hinnahm. Daß es im Herrenhaus Gewitter und Sturm
gegeben hatte, wußte man bereits und ließ sich die

Vorgänge von Birgit ausführlich erzählen, als man unter
sich war, wozu man auch Erla rechnete.
»Tolle Sache«, meinte der Senior zu Ende des Berichts. »Wo
auch die Baronin mit ihrer Tochter in den Tagen gewesen
sein mag, so war das bestimmt keine friedliche Stätte.
Denn so wie du das Aussehen Irinas schilderst,
Marjellchen, muß man sie irgendwo windelweich geprügelt
haben. Und wenn die Baronin schon schwer gekränkt ist,
sofern man ihren Abgott nicht liebevoll betrachtet, so mag
sie da wohl in Rage geraten sein, wo man ihm
unbarmherzig das Fellchen versohlte. Und der arme Kerl da
unten hat nun wieder sein Kreuz im Hause.«

»Du hättest ihm doch nicht abraten sollen, Martin, für
Mutter und Schwester eine Stadtwohnung zu mieten, dann
hätte er hier seine Ruhe.«
»Oder auch nicht, Gina. Die unzufriedene Mutter würde
ihm doch ständig zusetzen, wenn nicht mündlich, so doch
schriftlich. Er müßte also immer zwischen hier und der
Stadt pendeln, und da das bei seiner Gewissenhaftigkeit
nicht während der Arbeitsstunden geschähe, würde er seine
Freizeit dafür opfern. Da ist es schon besser so.«
»Aber sehr aufregend und ungemütlich«, bemerkte Birgit.
»Daher verzichte ich auf meinen Rendantenposten und
kehre morgen mit euch nach Hause zurück.«

»Also kneifen will meine Tochter,«, entgegnete der Vater
mißbilligend. »Der hatte ich bestimmt mehr Schneid
zugetraut.«
»Das hat mit Schneid nichts zu tun, Paps. Bevor ich hier
war, soll es bedeutend friedlicher zugegangen sein.«
»Bist du denn, so zänkisch?« fragte er schmunzelnd, und da
mußte sie lachen.
»Natürlich. Bin ich doch bei Gewitter und Sturm hier
hineingeplatzt, und nun wettert es um mich weiter.«
»Und du meinst, wenn du bei Sonnenschein
davonwandelst, so läßt du auch Sonnenschein zurück?

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Mitnichten, mein Kind. Das Gewitter ist nun mal entfesselt
und wird sich austoben – auch ohne daß du Blitzgewirr

und Donnerkrachen mitmachst.
Außerdem möchte ich gern, daß du hier bleibst, damit der
Baron nicht wieder nachts in der Rentmeisterei sitzt und
die Bücher revidiert, wie er es bei deinen Vorgängern tat.
Wenn er dann eines Tages wegen Überbürdung
zusammenklappt, kommen wir um unsern tüchtigen
Verwalter- und dann kann ich mich mit seinem Nachfolger
abplagen. Kapiert, Birgit?«
»Wenn es so ist, Paps, dann will ich doch schon lieber auf
dem Pulverfaß sitzen bleiben.«
»Bist doch unser Liebherz«, sagte die Mutter zärtlich. »Wie
können wir froh sein, Martin, eine so vernünftige Tochter

zu haben. Denke nur, wenn sie wie Irina wäre – einfach
grausig!«
»So hätte sie bei deiner Erziehung niemals werden können,
Fraule. Und nun wollen wir bei dem prachtvollen Wetter
nicht einsitzen und über Dinge debattieren, die wir doch
nicht ändern können, sondern uns auf den Tennisplatz
begeben. Netz, Bälle und Dreß haben wir vorsorglich
mitgebracht, und so wollen wir uns mal unsere Grillen
aushopsen. Sie auch, gnädiges Fräulein?«
»Ich kann nicht Tennis spielen, Herr Holmsen, weil ich nie
Gelegenheit hatte, es zu erlernen. Wenn ich nicht über den
Büchern saß, mußte ich im Haushalt der Verwandten

arbeiten. Freizeit hatte ich nie.«
»Da kann man wohl sagen: O wonnevolle Jugendzeit! Na,
lassen Sie nur, kleines Fräulein, unsere Birgit wird Ihnen
schon noch Freuden verschaffen.«
»Ich bin auch ohne die glücklich, wenn Fräulein Birgit nur
hierbleibt.«
»Bescheidenes Gemüt. Hopp, Kinder, zieht euch um, damit
wir vor dem Kaffee noch ein Spielchen machen können.«
So klang dann bald vom Tennisplatz her Jubel und Lachen,
dem die Baronin, die mit Irina in ihrem Zimmer am
geöffneten Fenster saß, erbittert lauschte.

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»Laß mich doch auch dorthin, wo es so lustig zugeht«,
verlangte das Kind stürmisch, doch die Mutter winkte

müde ab.
»Nein, mein Herzblatt, mit dem zerschundenen
Gesichtchen kannst du dich vor Familie Holmsen nicht
zeigen.«
»Das geht die doch nichts an.«
»Gewiß nicht, aber man würde sich seine Gedanken
darüber machen.«
»Ich sage, daß ich gefallen bin.«
»Dann würdest du wieder lügen, Irina, und du weißt, daß
darauf die Strafe durch Odalf folgt – und ich müßte mit
darunter leiden.«
»Odalf ist jetzt einfach gräßlich geworden, ich kann ihn

schon gar nicht mehr leiden. Früher war er nicht so streng
zu mir.«
»Ja, Kind, früher war auch alles hier anders. Mit den
Holmsen ist unser Unglück ins Haus gezogen.«
»Dann graulen wir sie eben wieder weg.«
»Das geht nicht, Irilein. Sie sind die Herren.«
»Und was sind wir?«
»Nichts weiter als geduldete Kreaturen.«
»Trotzdem gefällt es mir viel besser hier als in Weide. Dort
tyrannisierte man uns ganz fürchterlich.«
Jetzt wäre für die Mutter die passende Gelegenheit gewesen,
ihr Kind durch gütige Ermahnungen auf den rechten Weg

zu führen. Aber sie dachte gar nicht daran, sondern kniff
die Lippen zusammen und starrte verbissen vor sich hin.
Und noch jemand starrte einige Zimmer weiter vor sich
hin, aber nicht verbissen, sondern versorgt und vergrämt.
Auch er hörte das fröhliche Lachen der Menschen auf dem
Tennisplatz und entlockte ihm ein bitteres Lächeln. So
unbeschwert hätte auch er einmal sein mögen, allein, das
kam ihm wohl nicht zu. Das Schicksal hatte ihm eine
Sorgenlast auf die Schulter gepackt, die er nun schleppen
mußte. Und wenn auch die Mutter, die ihm so arg zusetzte,
nach Jahren dahingehen würde, so blieb ihm immer noch

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Irina. Die würde ihm wohl Sorge und Kummer bereiten bis
an sein Ende.

Auch am nächsten Tag ließen Mutter und Tochter
Vörswelde sich nicht blicken. Erst als die drei Holmsen
abgefahren waren, kamen sie zum Vorschein, und zwar
zum Abendessen. Irinas Gesicht sah noch ärger aus als vor
zwei Tagen, weil es jetzt in allen Farben schillerte. Doch
den Mund schien diese Radikalkur nicht gestopft zu haben,
er machte sich schon wieder recht unliebsam bemerkbar.
Die Mutter schwieg dazu, Birgit überhörte die Frechheiten,
weil sie von den Eltern gütig ermahnt worden war,
nachsichtig zu sein, Erla wagte sowieso nichts zu sagen –
und der Bruder schickte die Schwester, die es zuletzt arg
genug trieb, einfach vom Tisch. Brüsk erhob sich die

Baronin und ging mit dem Kind hinaus.
Am nächsten Morgen sollten die beiden jungen Mädchen
eine Überraschung erleben. Als sie die Diele betraten, bat
der Verwalter sie in sein Arbeitszimmer.
»Gnädiges Fräulein, ich habe da eine Änderung geschaffen,
die Sie gütigst verzeihen wollen, weil sie über Ihren Kopf
hinweg geschah. Ich habe nämlich gestern abend noch das
Zimmer, in dem Familie Ragalt früher speiste,
instandsetzen lassen, damit wir dort ohne meine Mutter
und ohne meine Schwester die Mahlzeiten einnehmen
können, sofern Sie, gnädiges Fräulein, einverstanden sind.«
»Ich schon – «, kam die Antwort zögernd. »Mir ist es ganz

gleich, wo ich esse. Aber muß diese Änderung sein, Herr
Baron?«
»Ja, gnädiges Fräulein. Ich habe meine Nerven für die
Arbeit so nötig, daß ich sie mir nicht durch den ewigen
Ärger bei Tisch zermürben lassen darf. Und da ich meine
Mutter aus dem Raum, der mit ihren Sachen möbliert ist,
nicht vertreiben möchte, mußte ich zu einer anderen
Möglichkeit greifen. Zürnen Sie mir deshalb, gnädiges
Fräulein?«
»Um Gott, Herr Baron, so töricht bin ich nicht. Aber wäre
es nicht besser, wenn ich die Mahlzeiten auf meinem

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Zimmer einnehmen würde? Dann könnte alles so bleiben,
wie es vor meinem Erscheinen war.«

»Dann hätte ich immer noch nicht beim Essen meine
Ruhe.«
»Also dann auf an die neue Futterkrippe!«
Das Zimmer war zwar nicht so feudal eingerichtet wie das
der Baronin, aber dafür gemütlich, licht und von Sonne
durchflutet Sogar eine kleine Terrasse war vorgelagert, auf
der ein Tisch mit bequemen Korbsesseln umgeben stand.
Ersterer war bereits zum Frühstück gedeckt.
»Herrlich ist es hier!« rief Birgit fröhlich. »Friede und
Eintracht sollen stets wohnen, wo wir unsere Atzung
nehmen, auf daß sie uns gut bekomme.«
Kaum daß man Platz genommen hatte, brachte ein

Mädchen in Häubchen und neckischer Schürze den Kaffee.
Nachdem es gegangen war, sagte der Baron:
»Ich habe Urte zu unserer Bedienung bestimmt, weil ich
Jost meiner Mutter überlassen möchte: Der kennt seine
Herrin gut genug, um ihr gewachsen zu sein.«
Es wurde das erste gemütliche Mahl, das Birgit in diesem
Hause einnahm. Sie war denn auch von einem Übermut,
daß nicht nur Erla lachte, sondern auch Odalf, wenn auch
nicht so oft.
»Nun noch eine Frage, gnädiges Fräulein. Wie werden Ihre
Angehörigen diese Änderung aufnehmen?«
»Die werden mit ihr sehr einverstanden sein. Es wird ihnen

jetzt so gut gefallen, daß sie noch öfter herkommen
werden.«
»Das sollte mich freuen. Und nun zu Ihnen, Fräulein von
Tessau. Fassen Sie bitte Irina während des Unterrichts so
streng an, wie Sie es für erforderlich halten. Meiner
Unterstützung sind Sie stets sicher.«
»Und wenn die Frau Baronin mich zur Rechenschaft zieht?«
»Dann entfernen Sie sich von ihr.«
»Das wäre doch unhöflich.«
»Besser, als sich ungerecht angreifen lassen. Aber nicht
wieder zaghaft werden, wollen Sie mir das versprechen?«

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»Ja«, entgegnete sie so fest, wie man es noch nicht von ihr
gehört. »Ich will mich von Fräulein Holmsen nicht

beschämen lassen, die das Leben so fröhlich meistert.«
»Ich sage ja, unser Täubchen kriegt Galle«, lachte Birgit.
»Frisch an die Arbeit, da die Glocke draußen zu ihr ruft. Ich
freu mich schon auf das gemeinsame Mittagsmahl. Nicht
etwa, weil ich ein Nimmersatt bin, sondern weil dann ein
gemütliches Plauderstündchen winkt, die ich stundenlang
bei der Arbeit den Schnabel halten muß.«
Lachend trennte man sich und ging seiner Beschäftigung
nach. Als Erla das Schulzimmer betrat, saß Irina bereits
darin und sah ihr herausfordernd entgegen. Aber bald
machte sie ganz große Augen, weil die Lehrerin einen
ungewohnten Ton anschlug, streng, kurz, sachlich. Daß ihr

das Herz dabei bang klopfte, ahnte der kleine Tunichtgut
gottlob nicht, sonst wäre er mehr obenauf gewesen denn je.
So jedoch traute er dem Frieden nicht und benahm sich
ganz passabel. Bis die Schülerin etwas durchaus besser
wissen wollte als die Lehrerin und höhnisch meinte, daß
diese dumm wäre, da wurde die Verhöhnte energisch. Am
liebsten hätte sie dem Frechling ja eine Ohrfeige gegeben,
aber das farbenschillernde Gesicht ließ sie davon absehen.
»Du hältst jetzt deinen vorlauten Mund, Irina, hast du
mich verstanden?!« trumpfte sie zum Erstaunen über sich
selbst auf. »Du schreibst das, was ich dir gesagt habe.«
»Erlauben Sie mal, Sie sprechen mit der Baronesse

Vörswelde«, reckte sich das Persönchen hochmütig.
»Mit einer Baronesse? Daß ich nicht lache! Mit einem
Rüpel spreche ich.«
»Ich werde es meiner Mutter erzählen, welch ordinäre
Worte ich von Ihnen zu hören bekomme.«
»Immer noch nicht ordinär genug für dein mehr als
ordinäres Betragen«, kam es gelassen von der Tür her,
durch die Odalf schritt. »Ich hielt es nämlich für
angebracht, hinter der Tür zu lauschen, was ich übrigens
oft zu tun gedenke. Also bist du vor mir nie mehr sicher,
meine liebe Irina. Worum geht’s, Fräulein von Tessau?«

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»Um diesen Satz.« Sie hielt ihm die französische
Grammatik hin. »Irina hielt es jedoch für richtig, anders zu

schreiben.«
»Unglaublich. Und du willst mit dem
straßenmädchenhaften Betragen eine Baronesse Vörswelde
sein? Da ist die Bezeichnung Rüpel noch viel zu gelinde.
Also, Fräulein von Tessau, greifen Sie ohne Erbarmen
durch.«
Ihr freundlich zunickend, ging er davon, und Irina
bequemte sich zur Arbeit. Sie tat es jedoch so flüchtig und
unsauber, daß die Lehrerin bei Durchsicht das
Geschriebene einfach ausstrich und der fassungslosen
Schülerin das Heft wieder zuschob.
»So, das schreibst du noch einmal, aber tadellos. Tust du es

nicht, geschieht es noch mehrmals.«
Da sprang Irina auf, hochrot vor Wut. Die Tür knallte
hinter ihr zu – und Erla zitterte vor Erregung. Angstvoll
lauschte sie, und tatsächlich rauschte die Baronin ins
Zimmer. Doch bevor sie ihrer Empörung Luft machen
konnte, schlüpfte Erla an ihr vorüber.
»Paß auf, Mama, jetzt läuft sie entweder zu Odalf oder
Fräulein Holmsen«, sagte Irina enttäuscht, die sich schon
auf die Abrechnung, die ihre Mutter halten wollte, gefreut
hatte. »Und da kriegt sie recht.«
»Leider – «, stieß die Dame verbissen hervor. »Wo ist das
Heft?«

»Hier. Ist das denn so miserabel geschrieben?«
»Ja, mein Kind«, mußte sie nun zu ihrer Bestürzung hören.
»Deine Arbeiten gewissenhaft verrichten, das mußt du
schon, sonst wird ja nichts aus dir. Aber dazu gehört die
richtige Anleitung, zu der die Tessau nicht fähig ist.
Unerhört, einfach aus der Stunde fortzulaufen. Ein
Zeichen, daß sie kein reines Gewissen hat. Nun, ich werde
Odalf sagen…«
Indes stürmte Erla in die Rentmeisterei, wo Birgit von der
Arbeit auffuhr.
»Hoppla, hoppla! Was ist denn in Sie gefahren, mein sonst

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so behutsames Kind!«
Als Erla das Geschehnis herausgesprudelt hatte, lachte die

andere amüsiert.
»Olala, Kleine, Sie machen sich. Recht so, speichern Sie nur
die Galle, die Ihnen endlich zu wachsen scheint, brav auf,
dann wird sie Ihnen schon zu gegebener Zeit platzen.«
»Ich finde das gar nicht lächerlich, Fräulein Holmsen«,
schmollte Erla. »Sie sind überhaupt an allem schuld.«
»Ich?«
»Ja – denn Sie haben mich aufgeputscht!«
»Oh, wie mich das freut!«
Auch Odalf freute sich, als er bei Tisch von Erlas Verhalten
hörte.
»So ist es recht, Fräulein von Tessau«, lobte er amüsiert.

»Nun erst einmal der Bann gebrochen, ist mir nicht mehr
bange, daß Sie sich bei Ihrer impertinenten Schülerin
durchsetzen werden.«
Als er dann am Abend die Aufgaben der Schwester, die sich
nicht ganz wohl in ihrer Haut zu fühlen schien, nachsah,
rauschte die Frau Mama herein.
»Was sagst du nun dazu?« legte sie ohne jeden Kommentar
los. »Skandalös, nicht wahr?«
»Das kann man wohl sagen.«
»Es freut mich, mein Sohn, daß du endlich dahinter
kommst, daß man so einer ordinären Person unsere Irina
nicht länger anvertrauen kann.«

»Ich glaube, wir sprechen aneinander vorbei, Mama.« Diese
Antwort ließ die Dame aus den Wolken ihrer
Hoffnungsfreudigkeit fallen. »Ich finde es skandalös, daß
Irina eine so schludrige Arbeit leistete und zwar aus Protest
gegen die Lehrerin. Daß sie exakt arbeiten kann, ersehe ich
nämlich aus der Abschrift, die sie auf meinen Befehl
machen mußte.«
»Du weißt aber noch nicht, daß die Tessau das Kind einen
Rüpel schimpfte.«
»Fräulein von Tessau meinst du doch wohl, nicht wahr,
Mama? Zufällig hörte ich hinter der Tür mit an, in welchem

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Zusammenhang das Wort fiel. Und ich finde, daß die junge
Dame sich noch sehr gelinde ausdrückte, gemäß dem

Betragen deiner Tochter. Ich jedenfalls habe mich meiner
Schwester geschämt.«
Ja, da war die Frau Mama denn doch zuerst sprachlos. Am
liebsten hätte sie vor ohnmächtiger Wut getobt, begnügte
sich ihrer Würde eingedenk denn nun, ihm verächtlich
entgegenzuschleudern:
»Du bist verblendet, mein Sohn!«
»Eben nicht«, kam es in aufreizender Gelassenheit zurück.
»Ich sehe sogar mit scharfen Augen.«
»Und soll das immer so weiter gehen?«
»Was denn?«
»Der ewige Zank und Streit.«

»Meine liebe Mama, wenn du und Irina diesen nicht
heraufbeschwört, dann könnten wir alle in Frieden und
Eintracht leben. Ich habe dir nun doch wahrlich alles aus
dem Weg geräumt, was dich empören und ärgern könnte.
Habe sogar, als du gestern äußertest, die beiden hätten
nichts in deinem Speisezimmer zu suchen, sofort Abhilfe
geschaffen.«
»Die könnten ja auch in ihrem Zimmer essen.«
»Die Tochter meines Gebieters?« Er sah sie so sonderbar an,
daß sie nun doch seinem Blick auswich.
»Du scheinst noch immer nicht begriffen zu haben, daß sie
hier die Tochter des Hauses ist.«

»Na schön«, lachte sie verärgert auf.
»Aber dann könntest du doch wohl mit uns essen.«
»Könnte ich wohl – aber ich will nicht, Mama. Ich möchte
nämlich in Ruhe meine Mahlzeiten einnehmen. Und da
ich das wegen deiner Herrschsucht und wegen Irinas
rüpelhaften Betragens nicht kann, suche ich mir einen
friedlichen Ort aus, wo mir nicht der Bissen im Hals
stecken bleibt.«
»Was bist du doch für ein liebevoller Sohn. Und ich wollte
dich schon fragen, ob wir nicht unser Erbe, daß dein
Bruder uns auszuzahlen verpflichtet ist, zusammenlegen

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sollen und eignen Besitz dafür kaufen.«
»Zu einem kleinen würde das schon langen. Aber bedenke,

daß ich auch einmal heiraten werde. Und wenn das
Mädchen, auf das meine Wahl fällt, nicht deinen
Ansprüchen entspricht, wäre ein Zusammenleben
unhaltbar. Also müßten wir uns trennen, ich müßte dein
und Irinas Geld aus dem Besitz ziehen und könnte dann
selber von ihm gehen. Daher fangen wir damit erst gar
nicht an.«
»Du könntest ja bei deiner Wahl auch auf meine Wünsche
Rücksicht nehmen.«
»Rücksicht würde ich allein auf mein Herz nehmen,
Mama.«
»So, so – «, lächelte sie verächtlich. »Da hat diese Person…«

»Mutter!« peitschte seine Stimme dazwischen.
»Kein Wort weiter vor den Ohren des Kindes, das ohnehin
schon altklug genug ist. Laß mich jetzt bitte allein, bevor
ich die Nerven verliere. Und das möchte ich mir selbst
ersparen.«
Am nächsten Morgen nach dem Frühstück, als Odalf sein
Arbeitszimmer betrat, um einen wichtigen Brief zu
schreiben, schob sich die Schwester durch die Tür und trat
zögernd auf ihn zu.
»Was willst du, Irina?« fragte er unfreundlich. »Ich habe
jetzt keine Zeit für dich.«
»Odalf, ich halte es nicht mehr aus.«

»Ich schon lange nicht. Geli ins Schulzimmer und tu deine
Pflicht.«
Da schlich das Kind davon. Die Lehrerin saß schon auf
ihrem Platz, und auch sie hatte für ihre Schülerin kein
freundliches Wort, keinen freundlichen Blick. Streng und
sachlich begann sie mit dem Unterricht, dem Irina zuerst
auch folgte, dann jedoch brüsk das Buch weg schob und
erklärte:
»Ich halte das nicht mehr aus.«
Und siehe da, sie erhielt dieselbe Antwort wie vorhin von
dem Bruder:

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»Ich schon lange nicht.«
Da sprang die Kleine auf und lief davon. Aber nicht zur

Mutter, um sich zu beklagen, sondern um die Tränen nicht
sehen zu lassen, die ihr übers Gesicht liefen. Sie kam sich
plötzlich verlassen vor, hungerte förmlich nach einem
lieben Wort – aber nach anderm, als die Mutter es für sie
hatte. Sich selbst wohl kaum bewußt, schlug sie den Weg
zur Rentmeisterei ein, wo Birgit sie unwillig empfing.
»Was willst du hier, mich etwa mit deinen
Ungezogenheiten beehren? Mach schleunigst die Tür von
draußen zu.«
Also auch da schroff abgeblitzt. Als hätte sie Blei an den
Füßen, so langsam setzte sie diese voran.
Wo sollte sie nun noch hin? Etwa zur Mutter gehen, sich

ihre verbissenen Klagen anhören, ihre Tränen ansehen, die
seit gestern abend reichlich flossen? Immer wieder
vorgehalten bekommen, daß sie ein undankbares Kind und
so aufopfernder Mutterliebe nicht wert sei? Daß sich die
Mama zu Tode grämen müsse über ihre mißratenen
Kinder? Da ging sie lieber in das Schulzimmer zurück und
ließ sich von der gräßlichen Tessau schikanieren.
Sie atmete ordentlich erleichtert auf, als sie die Lehrerin
noch vorfand. Und diese wiederum hatte Mühe, sich nichts
davon anmerken zu lassen, wie bange Minuten sie
verbracht, seitdem Irina davongestürmt war. Und nun kam
diese wieder ohne die »geladene« Frau Mama, benahm sich

sogar recht manierlich und folgte dem Unterricht
aufmerksam – was Wunder, daß Erla beim Mittagessen ein
strahlendes Gesicht zeigte.
»Was ist Ihnen denn so Erfreuliches begegnet, Fräulein von
Tessau?« erkundigte sich der Baron lächelnd. »Ihre Augen
lachen ja förmlich.«
»Ich habe heute den ersten Sieg über meine schwierige
Schülerin davongetragen.«
Frohbewegt gab sie das Geschehnis zum besten, und Birgit
horchte auf.
»Da möchte ich doch gern wissen, was Irina bei mir in der

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Rentmeisterei wollte.«
»Sie war bei Ihnen, gnädiges Fräulein?« fragte Odalf

überrascht.
»Ja. Aber ich schickte sie fort, weil ich es auf einen
Zusammenstoß nicht ankommen lassen wollte«,
entgegnete sie lachend. »Wenn nämlich Ihre Gnaden Irina
auftauchen, ist allemal Vorsicht geboten.«
»Leider«, gab er seufzend zu. »Das Mädchen hat es hier
schon soweit gebracht, daß es wie der personifizierte
Unfrieden gefürchtet wird. Hätte es mir nie träumen lassen,
daß ein Kind einem so arg zu schaffen machen kann.
Am besten wäre es ja, Irina in ein Internat zu geben, aber
davor schrecke ich immer noch zurück. Denn erstens
würde ich meine Mutter dadurch empfindlich treffen, und

dann ist die Kleine, wenn auch nicht krank, so doch recht
schwächlich. Sie sehen also, meine Damen, daß es nicht
leicht für mich ist, das Richtige zu treffen.«
O nein, der Mann hatte es nicht leicht – aber die kleine
Schwester auch nicht, trotz der Vergötterung der Mutter.
Ständig die verbitterten Klagen mit anhören zu müssen, ist
gewiß nichts für ein zwölfjähriges Kind. Wenn es mit der
unzufriedenen, wehleidigen Frau bei Tisch saß und frohes
Lachen aus dem anderen Speisezimmer hinüberflatterte, so
packte es die Sehnsucht, auch unter der fröhlichen
Gesellschaft sein zu dürfen.
Und da hatte das Schicksal mit der kleinen Irina ein

Einsehen. Die Mutter erkrankte, und so tat es sich von
selbst, daß die Tochter an den Mahlzeiten der anderen
teilnahm. Was der Bruder ihr vorher angedroht, schrieb sie
sich hinter die Öhrchen und benahm sich ganz manierlich.
Wenn der kecke Mund auch manchmal noch durchging,
nun, das sah man ihm schon nach. Denn so wie kein
Meister vom Himmel fällt, konnte aus einem Teufelchen
nicht von heut’ auf morgen ein Engelchen werden.
Die Krankheit der Baronin gab übrigens zu ernstlicher
Besorgnis Anlaß. Zwar ging die Erkältung bald zurück,
doch die Lunge schien ein wenig angegriffen zu sein und

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die, Nerven erst recht. So hielt der Arzt es für ratsam, die
Rekonvaleszentin in ein Bad zu schicken, womit diese auch

einverstanden war. Daß Irina sie begleitete, nahm sie als
selbstverständlich an und geriet mit dem Arzt in erbitterten
Streit, der die Begleitung des Kindes untersagte, weil sie
absolut Ruhe haben müßte. Als die Dame sich recht
kindisch benahm, riß ihm die Geduld und er sagte ihr auf
den Kopf zu, daß die ungezogene Tochter ein Hemmnis für
die Gesundung bedeutete.
Diese unverblümte Sprache kränkte das Mutterherz
natürlich tief. Und wer mußte für alles herhalten?
Natürlich der arme Odalf. Die Mutter machte ihm
dermaßen das Leben schwer, daß er alle erbarmte. Schon
seinetwegen setzte der Arzt alles daran, daß die

rücksichtslose Frau aus dem Hause kam. Endlich war es
denn, soweit, sie reiste unter der Obhut einer zuverlässigen
Pflegerin ab.
Und somit gab es Ruhe nach Gewitter und Sturm. Selbst
die beiden jungen Mädchen atmeten auf, obwohl sie mit
der Baronin nichts zu tun gehabt hatten. Aber es herrschte
eine so große Unruhe im Hause, die alle Bewohner ergriff.
Nun saß man beim Mittagessen, schachmatt. Es war Irina
nicht zu verdenken, als sie dem Stoßseufzer Raum gab:
»Die Mama kann einem aber auf die Nerven fallen. Die
letzten Tage waren einfach gräßlich.«
Man überhörte ihre Bemerkung, die man nur zu berechtigt

fand. Seit einer Woche ließ man sich wieder einmal die
Mahlzeit gut munden und genoß dabei den Frieden im
Hause mit allen Sinnen. Und dann brachte Irina das zur
Sprache, was ihr angeblich am meisten am Herzen lag.
»Wo soll ich nun schlafen, Odalf? Allein in Mamas
Schlafzimmer graule ich, mich zu sehr.«
»Komm doch mit zu mir«, erbot sich Erla bereitwillig. »In
meinem Zimmer ist so viel Platz, daß da kein Bett bequem
aufgestellt werden kann. Oder haben Sie etwas dagegen,
Herr Baron?«
»Wenn das Kind Sie nicht stört, wäre das die einfachste

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Lösung«, gab er, dessen Antlitz in den beiden Wochen sehr
schmal geworden war, Antwort.

Er hatte ja auch so allerlei hinter sich, der bedauernswerte
Mann. Schon Wochen vorher den ständigen Ärger mit der
Mutter und Schwester, dann die Krankheit ersterer, ihr
kindisches Gebaren danach, das konnte einen Menschen
schon herunterbringen. Das weiche Herz Erlas zog sich bei
seinem Anblick aus Mitleid zusammen, wohlgemerkt, aus
Mitleid. Denn um Liebe zu dem Mann, der gewiß kein
Dutzendmensch war, weder im Aussehen noch Charakter,
zu empfinden, dazu war selbst das Herz der kleinen
Lehrerin zu bescheiden. Sie bewunderte ihn, schwärmte
ihn sogar heimlich an, aber das hatte nichts mit Liebe zu
tun.

Also hätte die Baronin ganz beruhigt sein können, die für
ihren Sohn in bezug auf die Gattin die allerhöchsten
Ansprüche stellte. Sie vergaß nämlich, daß er kein freier
Mensch auf eigner Scholle, sondern ein Verwalter war, der
bei einem Gebieter in Lohn und Brot stand. Das Schicksal
hatte es immer noch nicht fertig bekommen, sie so zu
ducken, daß sie sich bescheiden lernte.
Ihr Sinnen und Trachten stand danach, eignen Besitz zu
haben, auf dem sie ihrer Herrschsucht die Zügel schießen
lassen konnte, wie sie es zum Beispiel in Weide getan. Aber
das besaß nun der älteste Sohn, der das Gut hätte
veräußern müssen, wenn sich nicht eine Frau gefunden, die

es sanierte. Also war der Anteil, der Mutter, Schwester und
Bruder von dem einst verschuldeten Erbe zustand, gewiß
nicht so groß, daß es ausreichte, auch nur ein mittleres Gut
zu erwerben. Doch so oft Odalf das auch seiner Mutter
klarmachte, bekam er die Antwort, daß er ja nur so reich zu
heiraten brauchte, wie sein Bruder. Und mit Irina hätte sie
überhaupt die höchsten Pläne.
Nun, das kleine Mädchen war noch lange nicht soweit, um
diese Pläne zu verwirklichen- oder auch nicht. Vorläufig
ging ihr Trachten dahin, im Zimmer der Lehrerin, die sie
doch bisher so gräßlich gefunden, schlafen zu dürfen.

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»Ich werde Fräulein von Tessau gewiß nicht stören, das
verspreche ich dir«, beteuerte sie stürmisch, und da mußte

er lachen.
»Weißt du, Irina, deine Versprechen sind immerhin mit
Vorsicht zu genießen. Doch wir wollen dir die Chance
geben, dich zu bewähren, nicht wahr, Fräulein von
Tessau?«
»Ich bin mit Freuden dabei, Herr Baron.«
Nun sollte Irina zum erstenmal in ihrem Leben
kennenlernen, wie es tut, wenn man vom Rock einer
überängstlichen, überzärtlichen, egoistischen Mutter gelöst
ist und kein Aufhebens mit einem gemacht wird.
Sie mußte zur gewohnten Zeit ins Bett, das Licht wurde
gelöscht, aber dann herrschte nicht die Totenstille um sie

wie im Schlafgemach der Mutter, sondern aus dem
Nebenzimmer, dessen Tür offen stand, hörte sie die beiden
jungen Mädchen lachen und schwatzen. Birgit setzte sich
sogar an den Flügel, und unter den schmeichelnden
Klängen schlief Irina beseligt ein. Als sie erwachte, hatte
Erla bereits das Bett verlassen. Durch das weit geöffnete
Fenster wehte die Morgenluft, Sonnenschein tauchte das
Gemach in goldenes Licht. Draußen sangen die Vögel ihr
jubelndes Lied, von den nahe Weiden brüllte eine Kuh,
wieherte ein Pferd, von irgendwoher flatterte Lachen auf.
Wunderschön ist so ein Erwachen, dachte Irina beglückt.
Ganz anders als bei der Mama, die schon mit ihrer

Überängstlichkeit begann, bevor sie die Augen noch richtig
aufschlug. Ob sie gut geschlafen hätte, ob ihr nichts weh
täte, ob sie sich auch ganz bestimmt wohl fühlte und
lästiger Fragen mehr. Dann wurde sie wie ein Baby gebadet,
angekleidet und alles bei geschlossenen Fenstern, damit sie
nur ja keinen Zug bekäme. Dann die Quälerei hinterher
mit dem Essen, da sollte ein Mensch nicht verdrießlich
sein, zumal die Mutter auch tagsüber auf Schritt und Tritt
hinter ihr her war.
Wie ganz anders war das heute. Während sie sich noch
wohlig im Bett streckte, trat Fräulein von Tessau ein.

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»Einen schönen guten Morgen, Irina. Nun ‘raus aus den
Federn, damit du zum Frühstück zurecht kommst. Urte

wartet unten bereits, um dir beim Ankleiden zu helfen und
deine >Rattenschwänzchen< zu flechten«, schloß sie
lachend.
»Pfui, Fräulein von Tessau, ich bin auf meine Zöpfe so
stolz. Das heißt, mein Bruder findet sie auch scheußlich
und hat der Mama wiederholt geraten, sie abschneiden zu
lassen, damit das Haar dichter wird. Aber meine Mutter
findet es auch so schön, wie alles an mir.«
Ein Zeichen, wie blind vernarrt diese Mutter war. Denn
schön konnte man an Irina nun wirklich nichts nennen.
Zwar war das Gesichtchen fein geschnitten, aber zu blaß
und zu hager. Die Gestalt erschreckend dünn und

schlaksig. Wenn sich das nicht änderte, würde aus der
Baronesse Vörswelde nie eine Schönheit werden, sondern
ein farbloses, kraftloses Treibhauspflänzchen.
»Nun, Iri, gut geschlafen?« empfing der Bruder sie am
Frühstückstisch.
»Herrlich, Odalf! Bei Musik schlief ich ein, und das war
wunderbar. Werden Sie jeden Abend spielen und singen,
Fräulein Holmsen?«
»Wenn dich das nicht stört, dann schon.«
»Sie werden doch womöglich auf das Kind keine Rücksicht
nehmen, gnädiges Fräulein?«
»Bestimmt nicht mehr als erforderlich ist, Herr Baron«,

entgegnete sie lachend. »Dafür bin ich nicht sanft und
milde genug. Mein Vater behauptet, daß ich jeher von allen
am meisten zu Hause zu hören gewesen bin. Singend ins
Bett, singend aus dem Bett und zwischendurch noch
fröhlich gesungen.«
»Das finde ich schön«, sagte Erla. »Ich mußte mich immer
sehr leise verhalten, weil neben meinem Zimmerchen die
beiden Basen schliefen, die auf Tantes strenges Gebot nicht
gestört werden durften. Wenn ich nur ein wenig
Unachtsam war, wurde ich verklagt und das Strafgericht
folgte.«

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»Ihre Verwandten müssen ja Seelen von Menschen gewesen
sein«, bemerkte Birgit kopfschüttelnd. »Kein Wunder, daß

aus Ihnen ein Wesen wurde, welches die andern um
Verzeihung für die Kühnheit bittet, überhaupt geboren zu
sein.«
»Jetzt übertreiben Sie aber fürchterlich«, lachte Erla. »Ich
habe mich unter Ihrem Einfluß ganz gut gemausert, will
ich meinen.«
»War auch die höchste Zeit«, entgegnete die andere trocken.
»Wer so aussieht wie Sie, dazu so klug ist und einen so
vorzüglichen Charakter besitzt, der darf schon mit gutem
Recht seinen Platz im Leben behaupten. Stimmt’s, Herr
Baron?«
»Gewiß, gnädiges Fräulein. Mir wollte die junge Dame das

immer nicht glauben, doch Sie scheinen diese endlich von
ihrem Wert überzeugt zu haben. Ich jedenfalls freue mich
über die Veränderung, die mit Fräulein von Tessau
vorgegangen ist.«
»Ich weniger«, wollte Irina rasch bemerken, hielt jedoch
wohlweislich das Schnäbelchen, damit der Bruder nicht
wieder unangenehm wurde. Sie fragte, wann es
Sommerferien gäbe und erhielt den beglückenden
Bescheid, daß sie bereits begonnen hätten. Zwar sollte
heute, am Sonnabend der Unterricht noch stattfinden, aber
so genau wollte man es nicht nehmen.
»Nun will ich dir mal was sagen, Irina«, bemerkte der

Bruder freundlich. »Tummele dich während der Ferien
recht viel im Freien und sitze nicht ein, wie du es bei der
Mama leider mußtest.«
»Allein macht mir das keinen Spaß, Odalf.«
»Das glaube ich dir und daher werde ich zusehen, dir eine
Gefährtin zu besorgen. Es gibt ja genug Stadtkinder, denen
einige Wochen Erholung auf dem Lande guttäten.«
»Hoffentlich ist das Mädchen auch gut erzogen«, meinte
Irina besorgt, was die anderen herzlich lachen ließ.
»Ausgerechnet du hast es nötig, darüber in Sorge zu sein,
du kleiner Unnütz.«

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»Du brauchst darüber gar nicht zu spotten, Odalf. Die
Mama sagt, daß schlechte Beispiele gute Sitten verderben.«

»Eben – und deshalb wirst du bemüht sein, dem sicherlich
gut erzogenen Mädchen seine guten Sitten nicht zu
verderben. Sieh mich nur so groß an, leider muß man das
bei dir befürchten.«
»Du bist abscheulich, Odalf!«
»Wollen wir lieber nicht ergründen, wer abscheulicher von
uns beiden ist. Aber ich hoffe, daß ich mich meiner
Schwester nicht mehr zu schämen brauche. Und was
gedenken Sie während der Ferien zu tun, Fräulein von
Tessau? Sie wissen ja, daß Sie über diese frei verfügen
dürfen. Haben Sie Lust, zu verreisen?«
»Ich wüßte nicht, wo ich hin sollte, Herr Baron. Zu meinen

Verwandten mag ich nicht und wäre da auch nicht
erwünscht, und allein in der Weltgeschichte
herumzuzigeunern, dazu fehlt mir, offen gestanden, der
Schneid. Daher möchte ich Sie bitten, hierbleiben zu
dürfen.«
»Wie Sie wollen, obwohl eine Abwechslung Ihnen guttäte.
Ihnen steht jedenfalls jederzeit ein Gefährt zur Verfügung,
das Sie zur Stadt bringt, wo Sie Zerstreuung finden
können.«
»So unbescheiden bin ich nicht; um das zu verlangen«,
wehrte sie entschieden ab. »Ich weiß doch, daß während
der Ernte selbst die Wagenpferde heran müssen.«

»Was den übermütigen Rackern sehr dienlich ist«, gab er
lächelnd zurück.
»Außerdem habe ich ein Auto erstanden, das jeden Tag hier
eintreffen muß. Auch der Fahrer, der gleichzeitig Gärtner
ist.«
»Odalf, davon weiß ich ja gar nichts!« rief Irina aufgeregt.
»Bisher behauptest du doch immer, kein Geld zur
Anschaffung eines Wagens zu haben – und – ach, ich
weiß«, unterbrach sie sich frohlockend, »man hat dir in
Weide dein Erbteil ausgezahlt. Stimmt’s?«
»Vielleicht?«

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»Sind wir jetzt reich?«
»Je nachdem, was du darunter verstehst, Kleines«, gab er

lächelnd zur Antwort und erhob sich dann, weil die große
Hofglocke zur Arbeit rief, auch Birgit. So blieben denn
Lehrerin und Schülerin allein zurück, da sie durch die
Ferien aller Pflichten ledig waren.
»Was werden Sie jetzt beginnen, Fräulein von Tessau?«
»Zum See hinuntergehen, um ein Sonnen- und
Schwimmbad zu nehmen.«
»Darf ich mitkommen?«
»Ich weiß nicht, Irina, ob ich die Verantwortung
übernehmen kann. Da müßtest du erst deinen großen
Bruder fragen.«
Schon war das Kind davon, um einige Minuten später

wieder zu erscheinen.
»Odalf erlaubt es«, verkündete sie strahlend. »Ich soll mich
gegen die pralle Sonne schützen und zuerst mal nur mit
den Füßen ins Wasser gehen, da ich noch nie ein Seebad
genommen habe, weil meine Mutter es nicht gestattete.
Oh, ich bin ja so aufgeregt, fast wie zu Weihnachten!«
»Hoffentlich lieferst du mir unten keine Bescherung«,
entgegnete Erla lachend. »Warte hier, bis ich mich
umgezogen habe.«
Als sie dann im Bademantel vor Irina stand, meinte diese
kleinlaut:
»Und ich soll etwa so bleiben wie ich bin?«

»Nicht ganz so. Unten ziehst du dir Kleid, Schuhe nebst
Strümpfen aus.«
»Gut, bescheide ich mich also. Aber mein Bruder muß mir
auch alles das kaufen, was zum Baden gehört.«
»Darum wirst du ihn schon bitten müssen, nicht wahr?«
verbesserte Erla freundlich. Schon wollte die Kleine patzig
werden, ließ es dann jedoch lieber bleiben. Sie sagte sich
ganz richtig, daß es daraufhin ein unerquickliches
Zusammensein werden, und sie sich somit die Freude
verderben würde.
Als Irina am See im Hemd und Höschen stand, sah Erla

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erst, wie mager das Körperchen war. Und das bei einem
Landkind, welches neben bester Verpflegung noch reine

Waldluft hatte. Aber gerade vor dieser hütete die Baronin
ihr Kind ja mit Überängstlichkeit, stets fürchtend, daß ein
Windhauch es berührte. Wie würde die Dame außer sich
geraten, könnte sie ihren Abgott so leicht bekleidet, mit
den Füßen im Wasser plätschernd, sehen.
Fürsorglich hatte Erla die freien Stellen des Kinderkörpers
mit Creme eingerieben und den Kopf durch ein leichtes
Tuch geschützt. So konnte dem Mädchen nichts passieren,
das sich voll Eifer dem bisher unbekannten Vergnügen
hingab. Wohl schwamm Erla wie ein Fisch in dem klaren
Wasser, entfernte sich jedoch nicht weit, weil es ihr zu
unsicher war, Irina allein zu lassen.

Sie waren beide so vertieft, daß sie erschraken, als von der
kleinen Veranda des Badehäuschens eine lustige Stimme
rief:
»Glaubt nur ja nicht, daß ihr allein in Sonne und Wasser
schwelgen könnt!«
Ein Sprung, ein Aufspritzen – und das lachende Gesicht
Birgits tauchte aus dem Wasser auf.
»Oh, Fräulein Holmsen, wie schön, daß Sie da sind«, freute
sich Erla. »Ist es denn schon so spät, daß Sie Mittagspause
halten können?«
»Nein, wir können uns noch eine gute Stunde tummeln.
Ich machte Schluß mit der Arbeit grauer Pflicht, weil ich es

mir leisten kann. Habe mein Pensum geschafft. – Was
haben wir denn da für einen Storch im Salat?« zeigte sie auf
Irina, die am Rande des Wassers mit ihren langen, dünnen
Beinen umherstelzte. »Ist die Kleine etwa ohne Erlaubnis
ihres Bruders hier, Fräulein von Tessau?«
»Werde mich hüten, so eigenmächtig zu handeln. Irina
holte die erste Instanz ein und bewegt sich nun ganz nach
Vorschrift.«
»Nun, in dem lauen Wasser kann das dem
>Spacheisterchen< gewiß nichts schaden.«
Damit schwamm Birgit davon, und die Badekappe

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leuchtete ferner und ferner. Bewundernd sah Erla ihr nach.
Wenn sie auch eine gute Schwimmerin war, so weit wagte

sie sich dennoch nie hinaus.
Außerdem mußte sie auf Irina achten, die sie nun
bedeutete, ihr Fußbad zu beenden.
»Darf ich nicht noch ein Weilchen bleiben?« bettelte das
Kind. »Es ist doch so wunderschön.«
»Das glaube ich dir, aber du darfst dich nicht zu lange der
prallen Sonne aussetzen. Wie leicht könntest du
Sonnenbrand bekommen, der Herr Baron würde mir dann
berechtigte Vorwürfe machen und dir selbst in Zukunft das
Vergnügen untersagen.«
Das sah Irina dann ein und ließ sich von der andern in den
Liegestuhl helfen, den diese so vorsorglich unter den

großen Schirm schob, daß er im Halbschatten stand.
»So, hier kannst du dich nun ohne Bedenken aalen«, sagte
sie fröhlich. »Ich ziehe mir meinen Luftanzug an und tue
dergleichen.«
Später gesellte sich noch Birgit hinzu, und ein netter
Plausch kam zustande. Frohes Lachen perlte immer wieder
auf, in das Irina plötzlich hineinrief:
»Schaut mal, dort schwimmt mein Bruder! Er winkt uns
zu.«
Tatsächlich bemerkte man in Entfernung von gut zwanzig
Metern auf dem Wasserspiegel einen Kopf und aufragend
einen winkenden Arm.

»Von welcher Stelle aus mag der Herr Baron wohl ins
Wasser gegangen sein? Sicherlich ist es ihm zu genierlich
zwischen uns Badenixen zu platzen, daher wählte er einen
anderen Zugang.«
»Ihm genierlich -?« dehnte Erla. »Ich denke, eher müßte
uns das sein. Oder gehören Sie gar zu den Mädchen – «
»Die sich halbnackt vor Männern präsentieren?« fiel Birgit
mutwillig ein. »Eigentlich nicht.«
»Na also, dann sind wir uns ja einig.«
»Meine Mutter sagt immer, die Mädchen von heute wären
schamlos«, bemerkte Irina altklug. »Es wird sie daher

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freuen, daß Sie es nicht sind.«
»Dann nimm, du Naseweis, dir nur ein Beispiel daran«,

kam es von der Stelle her, wo ein Kopf wie selbständig auf
dem Wasser schwamm. Immer näher kam er dem Ufer,
dann streckte sich eine Hand aus der kühlen Flut und warf
drei Seerosen auf den Sand.
»Einen Gruß der Nixen den Nixen!« rief eine lachende
Männerstimme, dann schoß der Kopf in entgegengesetzter
Richtung davon, während Birgit aufsprang und nach den
zarten Blüten griff, bevor eine vorwitzige Welle sie noch
erhaschen konnte.
»Oh, wie schön!« rief Irina begeistert. »Darf ich auch eine
Blume haben, Fräulein Holmsen?«
»Natürlich, es wird redlich geteilt.«

Später erschienen die drei Mädchen an der Mittagstafel, das
duftige Angebinde im Haar, was dem Spender ein
Schmunzeln entlockte. Man war so fröhlich wie schon
lange nicht mehr, ließ sich die Speisen gut munden, wobei
selbst Irina, die bisher stets mangelnden Appetit gezeigt,
eifrig mittat.
»So ist es recht«, lobte der Bruder. »Wenn du immer so gut
ißt, wirst du bald volle, rote Wangen bekommen. Ein
Rosenschimmer liegt bereits auf deinem Gesichtchen.«
»Freut dich das, Odalfbruder?«
»Sehr, Schwesterchen. Sieh also zu, daß ich mich immer
wieder über dich freuen kann.«

Um die Kaffeezeit erschienen di$ drei Holmsen mit einem
Sack voll Neuigkeiten, die sie bei Tisch gleich auskramten.
»Denke dir nur, Birgit, Bodo hat sich verlobt«, berichtete
die Mutter strahlend. »Und zwar mit einer jungen Ärztin,
mit der er in der Klinik zusammen arbeitete. Er will bald
heiraten und dann die Praxis des verstorbenen Sanitätsrats
Waller übernehmen. Wie froh bin ich doch, daß wir den
lieben Jungen ganz in unsere Nähe bekommen.
Hoffentlich hat er eine gute Wahl getroffen.«
»Nach dem begeisterten Brief zu schließen, soll die Liebste
doch ein Ausbund an Schönheit, Klugheit und Herzensgüte

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sein«, spottete Wido gutmütig. »Aber welch ein Mädchen
ist das nicht – mit den Augen der Liebe betrachtet.«

»Wie weise er daherredet«, schmunzelte der Vater. »Dir
könnte das natürlich nicht passieren, nicht wahr, mein
Sohn?«
»Das will ich nicht behaupten.«
»Du bist wenigstens ehrlich«, anerkannte Birgit vergnügt.
»Wann werden wir das Wunderwesen in Augenschein
nehmen dürfen?«
»Schön in den nächsten Tagen«, gab die Mutter Antwort.
»Und wenn die Frau Baronin erst ganz gesund ist,
gedenken wir allesamt unsere Ferien hier zu verleben.«
»Danke für gütige Rücksichtnahme, gnädige Frau«,
schaltete sich Odalf nun ein. »Diese ist jedoch nicht

erforderlich, weil meine Mutter gestern in ein Bad gefahren
ist, um ihre Gesundheit vollends zu kräftigen.«
Das war eine überraschende Nachricht für das Ehepaar
Holmsen nebst Sohn. Es war ihnen gewiß nicht zu
verdenken, daß sie heimlich aufatmeten. Denn sie hatten
schon befürchtet, daß die unangenehme Dame die
Harmonie ihrer Ferien stören würde.
»Wie konnte es geschehen, daß die Frau Baronin ohne Irina
fuhr?« erkundigte sich Gina zögernd, und der Mann konnte
einen Seufzer nicht unterdrücken.
»Das ging gewiß nicht kampflos vor sich, gnädige Frau.
Gottlob hatte ich an dem Arzt einen starken Verbündeten,

so daß der Sieg unser wurde. Ich hoffe, daß die Trennung
Mutter und Tochter gleich guttun wird.«
»Das spüre ich jetzt schon«, bemerkte das Kind vorlaut. »Es
lebt sich ohne die Mama bedeutend besser und – «
»Irina!« rief der Bruder mahnend dazwischen, worauf sie
ein Mäulchen zog, es aber hielt. Gewandt plauderte man
über das Peinlichkeitsgefühl, das die Worte der Kleinen
hervorriefen, hinweg.
Am nächsten Sonnabend rückte dann die Familie Holmsen
sozusagen mit Sack und Pack an. Und zwar in dem großen
Auto, in dem man gerade Platz fand. Denn unter ihnen

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befand sich noch ein neunjähriges Mädchen, mit dessen
Kommen man nicht gerechnet hatte. Verschüchtert stand es

abseits, während die Begrüßung des Brautpaares mit Birgit
erfolgte. Die Schwägerinnen betrachteten sich forschend,
dann lachten sie sich an.
»Na also.« Der junge Arzt rieb sich schmunzelnd die
Hände. Er hätte mit seinem Vater nicht die verblüffende
Ähnlichkeit wie Wido, war nicht ganz so groß und
breitschultrig, nicht ganz so blond, zeigte jedoch große
Familienähnlichkeit.
Das Fräulein Doktor war das, was man mit einem
liebenswerten Menschenkind bezeichnen konnte. Nicht
schön, aber immerhin hübsch genug, um als guter
Durchschnitt zu gelten. Mittelgroß und schlank,

dunkelblondes Haar, klares Gesicht, graublaue Augen und
eine ungemein wohllautende, warme Stimme.
»Die gefällt dir, Schwesterchen, was?« neckte Bodo. »Wie
hätte ich es auch wagen dürfen, mit weniger Liebem und
Wertvollem unter eure kritischen Augen treten zu wollen.«
»Dein Glück!« lachte Birgit fröhlich. »Gefällst mir gut, liebe
Schwägerin.«
»Ein dito«, war die lachende Erwiderung. Dann zog sie das
kleine Mädchen zu sich heran. »Und was sagst du hierzu?«
»Süß«, entgegnete Birgit, überwältigt auf das wunderschöne
Kind schauend. Große dunkle Augen in einem feinen
Gesichtchen, dunkle Locken bis auf die Schultern fallend,

das Figürchen ungemein graziös.
»Wer ist denn das, Nora?«
»Mein kleines Schwesterchen Alexa. Seit dem Tode der
Eltern habe ich mich von ihr nicht mehr getrennt, die als
Nachgeborenes unser aller Liebling war. Und da Bodo mir
zuredete, die Kleine mit in das Haus seiner Eltern zu
bringen, wagte ich es.«
»Und tatest recht damit«, bekräftigte Birgit. In den
Kinderaugen leuchtete es auf, während das rosige
Mündchen eifrig sprach:
»Ich freu mich ja so, daß ich mit durfte, liebe Tante Birgit.

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Ich will auch immer artig sein.«
Während der Unterhaltung hielten sich der Baron, seine

Schwester und Erla abseits. Nun wandte man sich ihnen
zu, sprach einige verbindliche Worte und begab sich nach
der Terrasse zum Kaffeetisch. Ein Gedeck für die nicht
erwartete Alexa wurde rasch eingeschoben und zwar so,
daß die beiden Kinder nebeneinander saßen.
Da merkte man erst, wie kümmerlich Irina eigentlich war,
wie sehr sie neben dem blühenden, gutentwickelten
kleinen Mädchen abfiel. Die beiden Mediziner warfen sich
einen fragenden Blick zu, der dem Baron nicht entging.
Ein bitteres Lächeln umzuckte seinen Mund, während
bange Sorge sein Herz erfüllte. Was sollte werden, wenn
Irina sich mit der kleinen Alexa, die sicherlich auch sehr

verwohnt war, nicht vertrug?
Als Birgit später der Braut des Bruders das Zimmer zeigte,
das sie für sie ausgesucht und wohnlich gestaltet hatte, bat
diese, ein Bett für das Schwesterchen hineinzustellen, weil
es sich allein in der fremden Umgebung fürchten würde.
»Wird gemacht«, versprach Birgit fröhlich. »Graulen darf
sich niemand bei uns. Jeder soll sich hier wie zu Hause
fühlen.«
»Was bei euch guten Menschen bestimmt nicht
schwerfallen dürfte«, entgegnete die andere sehr herzlich.
»Wie glücklich bin ich doch, meinen lieben Bodo gefunden
zu haben und seine nicht minder lieben Angehörigen dazu.

Und nun eine Frage im Vertrauen: Was ist mit der kleinen
Baronesse los? Die sieht ja direkt verkümmert aus.«
In kurzen Worten setzte Birgit der Schwägerin die
Verhältnisse auseinander, worauf diese dann sagte:
»Immer dasselbe Lied bei den Nachkömmlingen. Alexa ist
zwar auch einer, trotzdem haben meine Eltern und ich uns
bemüht, sie zu erziehen. Liebe hat sie allerdings viel
genossen, doch wenn die richtig angewandt wird, kann sie
kein Unheil anrichten.«
»Ganz meine Ansicht, Nora. Jedenfalls rate ich dir, dein
Schwesterchen nicht aus den Augen zulassen, damit es

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nicht hilflos der Willkür der anmaßenden Baronesse
ausgeliefert wird. Vorbeugen ist immer besser als heilen.«

Es herrschte nun ein frohes Leben in dem Herrenhaus von
Ragaltshöfen. Man war ein Herz und eine Seele, vertrug
sich blendend und bedauerte es, daß der Baron sich dem
harmonischen Kreis ausschloß, soweit es nur angehen
wollte. Daß Erla unter ihnen weilte, dafür sorgte schon
Birgit, und Irina fühlte sich einfach als zugehörig. Am
liebsten hätte sie Alexa ganz mit Beschlag belegt, allein,
deren Angehörige hielten Vorsicht für geboten. Es war
immer jemand zur Stelle, wenn die beiden Kinder
zusammenkamen.
Das merkte der Baron sehr wohl. Zwar gab er sich alle
Mühe, nicht ungerecht zu werden, aber daß man die Kleine

vor seiner Schwester so ängstlich hütete, erbitterte
dennoch.
»Der arme Kerl kann einen in tiefster Seele erbarmen«,
brummte Papa Holmsen, der mit den Seinen unter einer
großen Linde im Park beisammen saß, indes Odalf mit
Irina im Auto zur Stadt fuhr. »Nicht allein, daß er als
zweitgeborener Sohn von dem Erbe seiner Väter weichen
mußte und als Verwalter in Lohn und Brot gehen, da muß
er sich außerdem noch mit einer hysterischen Mutter und
einer verzogenen Schwester herumplagen. Wie kann eine
Frau nur so verbohrt sein, ihr letztgeborenes Kind so
maßlos zu verziehen. Denkt sie denn gar nicht daran, daß

dieses, wenn es erwachsen ist, sich selbst und anderen zur
Plage wird?«
»So weit denken solche exaltierten Menschen nicht«, gab
Bodo zur Antwort. »Sie sind krasse Egoisten, die nur an sich
und nicht an das Wohl ihres Kindes denken. Das haben wir
in unserer Praxis oft erfahren müssen, nicht wahr, Nora?«
»Ganz gewiß, Bodo.«
»Und dabei kennt ihr Irina noch nicht einmal in ihrem
vollen Glanz«, meldete sich Birgit. »Da hättet ihr sie mal
erleben sollen, als sie Hinterhalt bei ihrer Mutter fand. Wie
sie sich ihrer Lehrerin gegenüber benahm, kann man nur

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als rüpelhaft bezeichnen. Und griff der Bruder scharf durch,
gab es Krach mit der impertinenten Dame. Fräulein von

Tessau war schon so eingeschüchtert, daß sie ihrer frechen
Schülerin nicht entgegenzutreten wagte und sich geduldig
von ihr drangsalieren ließ. Sie hätte mit Irina überhaupt
nichts anfangen können, wenn diese nicht aus sich selbst
heraus die Gnade gehabt hätte zu lernen.«
»Wo ist das Fräulein eigentlich geblieben?« erkundigte sich
Frau Gina.
»Unten am See, Mutti. Sie fürchtet nämlich, unsern Kreis zu
stören und sucht ihn ohne mein Zutun nie auf. Dabei ist
sie ein so wertvolles Menschenkind, nur viel zu bescheiden
und zaghaft. Das macht das Aschenputteldasein, das sie
jahrelang im Hause ihrer Verwandten führte, außerdem hat

das Leben hier auch nicht dazu beigetragen, sich ihres
Wertes bewußt zu werden. So leidet sie denn direkt an
Minderwertigkeitskomplexen.«
»Das hat sie gerade nötig«, grollte Papa Holmsen. »Zum
Kuckuck noch eins, so ein bildhübsches Dirnlein, dazu von
gutem Charakter, gescheit und aus guter, makelloser
Familie, das muß sich doch überall behaupten können.
Wie kommt die Baronin überhaupt dazu, es wie einen Kuli
zu behandeln? Der müßte man gehörig den Standpunkt
klarmachen, was man leider des Barons wegen nicht kann.
Sie ist immerhin seine Mutter – wenn auch eine
miserable!«

»Aber lieber Mann, du wirst ja anzüglich«, lachte die
Gattin. »Ergrimm dich nicht, es ist umsonst. Denn ändern
kannst du an den Verhältnissen hier doch nichts.«
»Leider. Da naht übrigens die gnädige Baronesse. Na warte,
du anmaßendes Persönchen! Dir werde ich schon deinen
vorlauten Schnabel stopfen, wenn auch nicht in Gegenwart
des Bruders.«
»Ich war mit Odalf in der Stadt«, tat sie sich wichtig, als’ sie
heran war. »Im eignen Auto. Die Tessau sollte mitkommen
– «
»Fräulein von Tessau heißt es«, verbesserte Papa Holmsen,

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und sie winkte herablassend ab.
»Meinetwegen. Aber sie wollte nicht, sitzt lieber unten am

See und heult – «
»Weint – «, knurrte der Mann nun dazwischen wie ein
gereizter Kettenhund, so daß die andern kaum ein
amüsiertes Lachen zurückhalten konnten.
Nur Irina sah ihn erschrocken an, lief zum Bruder, den sie
gerade noch im Arbeitszimmer erwischte. Sie beklagte sich
aufgebracht, daß Herr Holmsen sie grundlos angefahren
hätte, worauf er sie durchdringend ansah.
»Ohne Grund, Irina?« fragte er langsam. »Das kann doch
wohl kaum stimmen. Ich möchte die Wahrheit hören.«
»Du tust ja so, als ob ich immer lüge«, maulte sie, seinem
Blick dabei ausweichend. »Ich habe nur gesagt, daß die

Tessau nicht zur Stadt mitkommen wollte, sondern lieber
am See sitzt und heult.«
»Und da wunderst du dich, daß man dich beruft, wenn du
so wegwerfend von der jungen Dame sprichst’ Mädchen, es
ist schon ein Kreuz mit dir. Ich freute mich, daß du dich in
letzter Zeit ganz manierlich benahmst, aber jetzt beginnst
du wieder mit der alten Tour, so daß ich mich deiner
schämen muß. Schau dir mal die kleine Alexa an, dieses
liebe, wohlerzogene Kind.«
»Laß mich bloß mit der in Ruhe!«, stampfte sie nun
ungezogen mit den Füßen. »Das Getue der andern mit ihr
ist geradezu lächerlich. Was sie auch tun und sagen mag,

darüber ist man entzückt, während bei mir – «
Aufweinend drückte sie das Gesicht an den Arm des
Bruders, der lächelnd bemerkte:
»Also Eifersucht. Nun, die kann, dir nicht schaden,
Benimm dich so wie Alexa, dann wird man dich gleichfalls
lieb’ haben, was man bei einem kleinen Scheusal
unmöglich kann. Einen guten Rat will ich dir geben, Irina:
Laß deinen Ärger an dem Mädchen ja nicht aus. Damit
würdest du Empörung bei der gesamten Familie Holmsen
hervorrufen, die mich zwänge, dich von hier zu entfernen.«
Jetzt hob sie den Kopf, und die verweinten Augen starrten

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ihn schreckerfüllt an.
»Bitte, Odalf, tu das nicht. Ich könnte es nicht ertragen!«

»Sieh mal an, du kannst nicht, aber ich muß mich immer
weiter meiner Schwester schämen. Ist es denn so schwer,
manierlich zu sein, Iri?«
»Manchmal schon«, entrang sich ein Seufzer der beengten
Brust. »Hauptsächlich dann, wenn man Alexa so ängstlich
vor mir hütet.«
»Ist das vielleicht ein Wunder? Man fürchtet, daß du ihr zu
nahe treten könntest.«
»Sie sollen sich bloß nicht so tun – «
»Irina!«
»Na ja, ich bin schon still. Ein Jammer, daß ich auch bei dir
kein Verständnis finde.«

Damit lief sie davon, und er seufzte. Was würde er mit dem
störrischen Kind noch alles erleben müssen! Wie
harmonisch könnte alles für ihn sein, wenn er den kleinen
Störenfried nicht um sich hätte und den großen dazu, die
Mutter. Jetzt war sie allerdings fern, aber einige Wochen
nur. Wenn sie wieder hier weilte und feststellen mußte, wie
sehr man Alexa liebte, während man für Irina nur
Ablehnung fand, gab es Gewitter und Sturm, wovor ihn in
tiefster Seele graute.
Während der Mann seinen schmerzlichen Gedanken
nachhing, stand Birgit vor Erla, die sie am See gesucht hatte
und endlich in ihrem Zimmer vorfand. Die Augen

verweint, um die Lippen ein zaghaftes Lächeln.
»Warum sehen Sie mich denn so böse an, Fräulein
Holmsen?«
»Weil ich Veranlassung dazu habe, Fräulein von Tessau. Ist
es eine Art, sich am See zu verkriechen und zu weinen,
anstatt in unsern Kreis zu kommen und fröhlich mit uns zu
sein? Soll ich Ihnen immer wieder erklären, wie gern meine
Angehörigen und ich Sie mögen?«
»Ich habe Angst.« Erla weinte heiß auf, und die andere
betrachtete sie kopfschüttelnd.
»Wovor denn, um alles in der Welt! Etwa vor uns

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Holmsen?«
»Ja – nein – ja – ach, ich möchte sterben.«

Ratlos stand Birgit vor dem schluchzenden Mädchen und
dachte angestrengt darüber nach, wer ihm etwas zuleide
getan haben könnte. Ihre Angehörigen bestimmt nicht.
Vörswelde? Ausgeschlossen! Bliebe also noch Irina. Aber
deren Frechheiten nahm Erla in letzter Zeit nicht mehr
tragisch, trat ihnen sogar entgegen.
»Wollen Sie Ihr Herz nicht erleichtern?« begann sie
behutsam, doch da starrten sie die grauen Augen fast
entsetzt an.
»Um Himmels willen – nein! Dann müßte ich mich ja
schämen!«
»Na nun schlägt’s dreizehn«, entgegnete Birgit verblüfft.

»Sie und sich schämen müssen? Das wäre ja ganz was
Neues!«
»Neu ist es schon – nämlich mein Größenwahn«, kam die
Antwort ganz verzweifelt – und da lachte ihr Gegenüber
hellauf.
»Größenwahn – Sie – Fräulein von Tessau? Das klingt
direkt wie ein Witz. Leider gongt es in unsere interessante
Unterhaltung hinein.«
»Ich möchte am Mittagessen nicht teilnehmen…«
»Was mit den verweinten Augen auch nicht ratsam sein
dürfte. Wenn man auch taktvoll darüber hinweggehen
würde, aber Ihnen selbst wäre es peinlich. Ich schicke

Ihnen das Essen hierher.«
»Bitte nicht, wenn Urte mich so sieht.«
»Na schön, komm ich eben. Essen müssen Sie, damit der
Weltschmerz nicht noch größer wird.«
Da man allgemein wußte, daß Erla geweint hatte, erwähnte
man ihr Fehlen bei Tisch nicht. Selbst die Kinder ließen
davon ab, was der gewiß nicht taktvollen Irina hoch
anzurechnen war. Doch so vergnügt wie; sonst konnte man
nicht sein, weil es ein bedrückendes Gefühl ist, einen
Menschen in seiner Nähe zu wissen, den Kummer plagt.
Allein, als Birgit mit einem gutbestellten Tablett bei Erla

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eintrat, hatte diese sich beruhigt.
»Entschuldigen Sie meine Unbeherrschtheit«, sagte sie

verlegen und die andere lachte.
»Was heißt hier unbeherrscht? Wenn die Tränendrüsen voll
sind, dann laufen sie einfach über. Sie wissen doch
sicherlich, daß essen und trinken Leib und Seele
zusammenhält, also richten Sie sich danach. Wenn ich Zeit
habe, dann erscheine ich wieder. Jetzt muß ich zu den
Meinen, die mich zum gemütlichen Plausch erwarten, und
dann geht’s flott an die Arbeit. Ich habe ja keine Ferien, wie
Sie beneidenswertes Wesen. Guten Appetit und auf
Wiedersehen.«
Wido Holmsen blieb zurück, als die Seinen zum See
hinuntergingen, weil er einen dringenden Geschäftsbrief zu

erledigen hatte. Wenn sein Vater und er sich auch im
wohlverdienten Urlaub befanden, so ließen sie dennoch
nicht das große Unternehmen, das aus Brennerei und
Ziegelei bestand, nicht außer acht. Sie erhielten von dem
Prokuristen, einem bewährten und äußerst zuverlässigen
Mitarbeiter, tägliche Berichte. Fuhren abwechselnd auch
hin, um im Betrieb nach dem Rechten zu sehen.
So gab es manchmal Briefe zu schreiben, für die der
Prokurist ohne die Chefs nicht die Verantwortung mochte.
Und so ein Brief war es, den Wido erledigen wollte, wozu
er sich zur Rentmeisterei begab, um dort die
Schreibmaschine zu benutzen. -

»Ist’s erlaubt, Schwesterchen, das Allerheiligste zu betreten?
Ich benötige nämlich eine Maschine.«
»Gewährt, mein Sohn. Klappere nur drauflos, mich störst
du nicht.«
Er tat also und konnte bald das wichtige Schreiben in den
Umschlag stecken.
»Mach Feierabend, Kleine!« rief er der emsig Arbeitenden
zu, doch sie schüttelte unwirsch den Kopf.
»Störe mich nicht und verschwinde. Ich bin hier im Dienst,
merke dir das. Du läufst ja in deinem Betrieb auch nicht
einfach von der Arbeit fort.« .

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»Sehr richtig«, schmunzelte er. »Gehab dich wohl. Wenn du
fertig bist, 4arin komm zum See, wo unsere, Lieben es sich

Wohlsein lassen, was auch ich zu tun gedenke. Den Brief
lege ich hierher, damit er mit den andern Postsachen
abgeht.«
Vergnügt vor sich hinpfeifend, entschwand er. War tüchtig
und gewissenhaft, die kleine Schwester, das mußte man ihr
lassen.
In seinem Zimmer zog er die Badehose an, schlüpfte in den
Bademantel, ging hinaus und stieß in dem langen Gang auf
Erla, die ihn so entgeistert ansah, als wäre er ein Gespenst.
»Nanu, gnädiges Fräulein, ich fresse Sie bestimmt nicht«,
spottete er gutmütig.
Sie errötete bis zu dem Lockenköpfchen, murmelte eine

Entschuldigung und verschwand in ihrem Zimmer.
Was hat die Kleine denn, dachte er verwundert. Sollte sie
etwa so prüde sein, daß sie an dem Bademantel Anstoß
nimmt? Ohne ihn, nur in der Hose, das könnte man
verstehen, aber so genügte er doch dem Anstand.
»Sagt mal, ihr Lieben, sehe ich vielleicht unanständig aus?«
fragte er, am See angelangt, wo man in Liegestühlen ruhte.
Die beiden Damen in Luftanzügen, in denen sie dennoch
angezogen wirkten, die beiden Herren in Polohemd und
Shorts.
»Unanständig?« fragte die Mutter verwundert zurück.
»Warum denn?«

»Das möchte ich auch gern wissen. Tatsache ist, daß
Fräulein von Tessau, der ich im Gang der oberen Etage
begegnete, mich so entsetzt ansah, als wollte ich sie beißen
und dann vor mir davon in ihr Zimmer lief. Werdet ihr
daraus klug? Ich nicht.«
»Ich schon«, entgegnete die junge Ärztin, indem sie einen
lächelnden Blick mit ihrem Verlobten tauschte. »Ich habe
meine Beobachtungen gemacht, die ich jedoch für mich
behalten möchte.«
»Mir zu hoch, geliebte Schwägerin. Nun, vielleicht kommt
mir noch die Erleuchtung.«

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Sprach’s, warf den Bademantel ab, streifte die leichten
Schuhe von den Füßen und war gleich darauf mit einem

Hechtsprung von der Veranda aus im Wasser
verschwunden. Die beiden Kinder, die am Rande eifrig
damit beschäftigt waren, aus Sand eine Burg zu bauen,
schrien erschrocken auf und lachten dann über den
Schwimmer, der sich prustend bewegte.
Oben blieb es zuerst still, bis Papa Holmsen schmunzelnd
sagte:
»Noralein, wenn ich das meine, was du meinst, dann liefe
die Karre schon richtig.«
»Ja, Paps, Gedanken lesen kann ich leider nicht. Da mußt
du schon deutlicher werden.«
»Das wird unsere Mutz für mich tun. Denn eine so zarte

Angelegenheit kann nur durch einen Frauenmund erläutert
werden.«
»Oder gar nicht, mein lieber Martin«, gab sie lächelnd
zurück. »Halten wir die Augen offen und warten ab.«
»Hm. Willst du mir dann wenigstens sagen, wie dir die
kleine Erla gefällt?«
»Ich finde sie reizend im Aussehen und liebenswert im
Charakter.«
»Ich auch.«
»Wir dito!« rief Bodo lachend. »Fehlt nur das Urteil der
Hauptperson. Denn Birgits steht schon längst fest, Achtung,
da stelz Irina auf uns zu. Also Vorsicht in den Äußerungen.

Wenn die was aufschnappt, ist unser schönes Geheimnis
futsch.«
Jetzt war das Kind heran und wandte sich an den Arzt.
»Herr Doktor, ich wollte Sie fragen, ob ich mit den Füßen
ins Wasser gehen darf. Ich habe nämlich meinem Bruder
fest versprechen müssen, Sie oder das Fräulein Doktor um
alles erst um Erlaubnis zu bitten.«
»Du darfst es, Irina«, entgegnete er freundlich. »Aber nur
mit den Füßen, nicht weiter.«
»Ich auch?« kam ein Stimmchen von unten.
»Du auch, mein kleiner Schatz.«

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»Ich schwimme aber schon, Onkel Bodo.«
»Das tust du nachher mit mir zusammen. Jetzt mußt du auf

Irina Rücksicht nehmen.«
Sie war’s zufrieden, und so plätscherten denn die beiden
Kinder mit den Füßen vergnügt im Wasser.
»Schau mal an, die Baronesse kann auch manierlich sein«,
schmunzelte Papa Holmsen. »Da muß ihr wahrscheinlich
der Bruder gehörig die Wacht angesagt haben.«
»Ist auch nötig«, bemerkte Bodo. »Die Kleine sieht
erbärmlich aus. Wenn man nicht wüßte, daß hier um sie
her Milch und Honig fließt, könnte man sie tatsächlich für
unterernährt halten. Stimmt’s, Nora?«
»Ja. Wie sollte sie aber auch anders beschaffen sein, da die
verblendete Mütter sie eingesperrt hielt, immer fürchtend,

daß ein kühles Lüftchen das Kind berühre. Ein Segen für
das Kind, daß die unvernünftige Frau nun fern ist. Das mag
vielleicht herzlos klingen, aber ich spreche hier vom
ärztlichen Standpunkt aus. Nur einige Wochen
ungebundenes Tummeln in dieser herrlichen Wald- und
Seeluft, dazu den nötigen Appetit, dann dürfte man die
jetzt so verkümmerte kleine Baronesse kaum
wiedererkennen.«
Prustend näherte sich Wido dem Ufer, und der Bruder rief
ihm zu:
»Schwimm ein wenig mit Alexa!«
»kann unsere Süße das denn schon?«

»Ja.«
»Dann komm, mein Nixlein.«
Jauchzend warf sie sich ihm entgegen und schwamm wie
ein munteres Fischlein umher. Wido hielt sich dicht an
ihrer Seite, während Irina mit sehnsüchtigen Augen
zuschaute.
»Schade, daß man sie nicht an die Angel nehmen kann«,
meinte Nora bedauernd. »Aber dazu muß sie schon öfter
im Wasser gewesen sein. Morgen führe ich sie bis zu den
Knien hinein, heute bin ich zu faul. Da kommt übrigens
Birgit, um ihr Bad zu nehmen – und tatsächlich, sie bringt

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Fräulein von Tessau mit. Der gelingt aber auch alles.«
»Da sind wir«, bedeutete sie strahlend. »Wo ist Irina? Aha,

da stelzt sie ja herum. Komm mal her, wir haben was für
dich.«
Es war rührend, die Freude des Kindes zu sehen, mit der es
die Badesachen betrachtete, die Erla ihm entgegenhielt.
»Soll das für mich sein, Fräulein von Tessau? Wirklich für
mich?«
»Ja, Irina. Der Herr Baron brachte all die Herrlichkeiten aus
der Stadt mit. Komm in das Badehaus und schlüpfe in den
Anzug.«
Als die Kleine wiederkam, lachte sie selig.
»An alles hat mein guter Bruder gedacht. Dieser
entzückende Badeanzug, dann Mantel, Schuhe, Kappe,

sogar den Luftanzug hat er nicht vergessen. Jetzt bin ich
eben so schick wie die anderen. Nehmen Sie mich nun
auch ins Wasser mit, Fräulein von Tessau?«
»Heute nicht, Irina, vielleicht morgen.« Sie warf flugs den
Mantel ab und verschwand im See.
»Die geniert sich vor uns«, lachte Birgit. »Nun steh nicht da
wie ein bedripptes Hühnchen, Irina. Ich nehme dich mit.
Wie weit darf sie hinein, Bodo?«
»Heute erst einmal bis zu den Knien, dann täglich etwas
weiter. Das heißt, wenn das Wetter so warm bleibt. Wenn
es genug ist, dann rufe ich.«
So ging denn Birgit mit Irina an der Hand geduldig im

flachen Wasser hin und her. Indes entstiegen Wido und
Alexa der kühlen Flut und zogen sich um. Entzückend sah
das zierliche Persönchen in dem leuchtendroten Luftanzug
aus. Wido dagegen in Polohemd und Shorts kraftstrotzend
wie ein junger Hüne.
»Was wird das zimperliche Fräulein Lehrerin bloß zu
meinen blanken Beinen sagen, wenn sie schon den
Bademantel beanstandete. Selbst im Wasser riß sie vor mir
aus«, sagte er in so komischer Bekümmernis, daß die
anderen Tränen lachten.
»Laß man, mein Sohn, das gibt sich schon noch«, beruhigte

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der Vater. »Besser so als anders.«
Am nächsten Vormittag streifte Wido durch den großen

Park, um ihn sich in aller Ruhe anzusehen. Alter
Baumbestand, samtene Rasenflächen, blühende Sträucher
und Blumenbeete entzuckten das Auge. Weiter hinten war
alles nicht mehr so peinlich gepflegt, aber immer noch
sauber gehalten. Nur durch einen Wiesenstreifen getrennt,
schloß sich der Wald an. Ganz andächtig wurde dem gewiß
nicht sentimental veranlagten Wido zumute angesichts des
herrlichen Fleckchens Erde. Versunken im Schauen schritt
er weiter und hätte fast die hellgekleidete Gestalt
übersehen, die unter einem Rotdornbaum saß.
»Hallo, gnädiges Fräulein«, sagte er verdutzt. »Sie
verkörpern ja Dornröschen in bezauberndster Weise. Darf

ich mich zu Ihnen setzen und den Prinzen gestalten?«
»Bitte«, entgegnete sie, ihr Erschrecken tapfer bekämpfend.
»Mich entschuldigen Sie wohl.«
»Seien Sie doch nicht so abweisend.« Er sah sie mit seinen
lachenden Blauaugen treuherzig an. »Ich habe Ihnen doch
nichts getan. Schenken Sie mir ein Plauderstündchen. Ich
weiß ohnehin nichts mit mir anzufangen, weil die Meinen
zur Stadt gefahren sind. Da die kleine Baronesse so gern
mitwollte, trat ich ihr meinen Platz im Auto ab. Meine
Schwester sitzt wie angeklebt in der Rentmeisterei – und
ich bin so allein«, klagte er.
Da mußte sie lachen und blieb, obwohl sie lieber

davongelaufen wäre. Er griff nach dem Buch, das
aufgeklappt mit dem Deckel nach oben lag und las:
»Kant, Kritik der reinen Vernunft. Aber gnädiges Fräulein,
wer wird in Ihren jungen Jahren so vernünftig sein und so
was Vernünftiges lesen? Da muß ich ja Respekt vor Ihnen
haben – und das will ich doch nicht.«
»Das könnte Ihnen gar nichts schaden«, lachte sie nun
wieder, was ihn vergnügt schmunzeln ließ. »Sie scheinen
mir nämlich reichlich – keck zu sein.«
»Ich doch nicht«, verwahrte er sich treuherzig. »Ich bin ja
so bescheiden. Begnügte mich sogar mit dem Abitur und

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überließ das Studieren meinem Bruder.«
»Eine sonderbare Bescheidenheit.«

»Nicht wahr? Nun brenne ich brav Ziegel und fabriziere
Schnaps.«
»Es scheint Ihnen dabei recht gut zu gehen, wie ich an Ihrer
Lebensweise feststellen kann.« Sie bewunderte sich selbst,
weil sie einen so gleichmütigen Ton anschlagen konnte,
obwohl ihr das Herz schwer wie ein Hammer in der Brust
schlug.
»Naja – ich bin’s zufrieden. Wie wäre es, gnädiges Fräulein,
wenn wir beide einen netten Spaziergang machten? Durch
diese kleine Pforte, den Wiesenpfad entlang zum Wald, das
wäre doch herrlich, nicht wahr?«
»In zwei Stunden gibt es Abendbrot«, versuchte sie

abzulehnen, allein, da hatte sie nicht mit der
Hartnäckigkeit Wido Holmsens gerechnet. Was der sich
nämlich in den Kopf setzte, das führte er auch beharrlich
durch. Und er dachte es sich ungemein reizvoll, an der
Seite des entzückenden Mädchens durch die prangende
Natur zu schreiten.
»Zwei Stunden sind eine lange Zeit.« Er lachte sie
gewinnend an. »Wir brauchen ja nicht weit zu gehen.«
»Oh, über diesen hartnäckigen Menschen«, schüttelte sie
seufzend den Kopf. »So kommen Sie denn, ich werde Sie ja
doch nicht los.«
»Will ich stark hoffen. Geben Sie die >reine Vernunft< her,

ich stecke sie in die Rocktasche.«
»Und wenn ich nein sage?«
»Dann sagte ich ja«, kam es seelenruhig zurück. Vergnügt
schritt er an der Seite des Mädchens dahin, das die
Befangenheit vollends verlor und munter plauderte.
Ganz reizend plauderte, wie er bei sich feststellte. Wenn sie
gar lachte oder es in den samtgrauen Augen aufleuchtete,
dann war sie einfach unwiderstehlich. Ganz heiß wurde
ihm unter der Weste, obwohl er keine trug.
Die Sonne stand schon ziemlich tief als sie den Wald
betraten. Kirchenstill schien es um sie her zu sein – und

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war doch alles so voller Leben. In der Ferne keckerte ein
Fuchs, hämmerte ein Specht, Eichhörnchen huschten über

den moosigen Grund – und nun begann gar noch eine
Nachtigall ihr schluchzend Lied. Erla sprach kein Wort,
ging mit gesenktem Kopf neben dem Mann her, der
gleichfalls schwieg. Er sagte auch nichts, als eine Träne
glitzernd von der Wimper des Mädchens sprang – nur sein
Herz öffnete sich ganz weit und groß.
Als er zur Umkehr mahnte, erwachte sie wie aus einem
wunderbaren Traum. Wie weltentrückt war der Blick, der
sich zu dem Mann fand. Und was er in den grauen
Augensternen las, ließ ihm einen Herzschlag lang den Atem
stocken.
Scheues, kleines Mädchen, dachte er zärtlich, während er

an ihrer Seite dahinschritt. Wenn du wüßtest, wie sehr du
dich verraten hast. Aber ich werde mich hüten, das auch
nur anzudeuten, sonst bekommst du es fertig, Hals über
Kopf vor mir zu fliehen – und ich habe das Nachsehen. So
einem schüchternen Rehlein muß man sich vorsichtig
nähern, ganz langsam, Schritt für Schritt, sonst vergrämt
man es für alle Zeit.
Als sie die Wiese betraten, übergoldete die sinkende Sonne
alles ringsum mit ihrem Schein. Kühl wehte die Luft. Nebel
stiegen wie milchige Schleier langsam am Boden auf. Die
beiden Menschen sprachen auch jetzt nur wenig, ließen
sich von der traumhaften Stunde einspinnen. Als sie dann

vor der Tür standen, die zu Erlas Zimmer führte, reichte sie
ihm zaghaft die Hand, auf die er zart seine Lippen drückte.
»Ich danke Ihnen, gnädiges Fräulein – es war für mich eine
Feierstunde.«
Rasch ging er davon, seinem Zimmer zu – und die »reine
Vernunft« blieb in seiner Tasche.
Erla jedoch trat in ihrem Zimmer an das geöffnete Fenster,
sah in die prangende Blumenpracht hinunter und legte die
Hände an die heißen Wangen. In ihren Augen stand ein
tiefes Leuchten, in ihrem Herzen war ein Aufruhr, der sie
erzittern ließ.

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»Daß es so was gibt«, flüsterte sie beseligt vor sich hin. »So
ein heißes, heiliges Gefühl. Jetzt will ich ganz zufrieden

sein, will nicht mehr weinen, auch nicht mehr barmen –
denn ich habe heute ein Zipfelchen reinsten, tiefsten
Glücks erhascht.«
Sie schrak zusammen, als im Nebenzimmer eine Tür ging
und gleich darauf Birgit vor ihr stand.
»Da sind Sie ja, Fräulein von Tessau. Ich suche Sie nämlich
seit einer Stunde wie eine Stecknadel.«
»Ich machte mit Ihrem Bruder einen Spaziergang.« Erla
bemühte sich gleichmütig zu tun. »Es war ganz nett.«
Nur ganz nett, mein Kind -! lachte die andere in sich
hinein. Deine Augen reden eine ganz andere Sprache und
deine Wangen glühen wie rote Rosen. Demnach muß der

Spaziergang »himmelhochjauchzend« gewesen sein – und
hoffentlich für meinen Bruder auch. Wenn du dieses treue
Herz gewinnst, scheue, zaghafte Erla von Tessau, dann
ruhst du daran warm und weich für alle Zeit.
Laut jedoch sagte sie harmlos:
»Also hat sich doch jemand gefunden, der sich des armen,
verlassenen Knaben annahm. Er wußte so absolut nichts
mit sich anzufangen, daß er sich sogar erbot, mir bei
meinem Schreibkram behilflich zu sein. Als ich das
ablehnte, zog er betrübt von dannen.«
»Sind die Herrschaften schon aus der Stadt zurück?« fragte
Erla hastig, um abzulenken.

»Das hören Sie doch von der Terrasse her, wo Irina wie ein
Hähnlein kräht. Gleich wird es gongen, und ich muß mich
rasch ein wenig frisch machen.«
Sie ging, während Erla an den Toilettentisch trat, um ihr
Haar zu bürsten. Sie erschrak, als sie in das Spiegelglas
schaute.
Nein, so durften ihre Augen natürlich nicht strahlen. Was
sollten wohl die anderen denken – vor allen Dingen der
Mann, für den ihr närrisches Herz mit jeder Faser schlug.
Das durfte er nie erfahren. Denn der reiche, bedeutende
Wido Holmsen und die unbedeutende, arme Erla Tessau –

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unmöglicher Gedanke!
Gottlob ging es an der Abendtafel so munter zu, daß einer

auf den andern nicht achtete. Obwohl der Bruder Irina
wiederholt berief, führte sie dennoch das große Wort.
»Lassen Sie die Kleine nur«, schmunzelte der Senior. »Wes
das Herzchen voll ist, läuft der Mund einfach über. Erzähle
nur weiter, kleines Mädchen. Wir hören gern zu, wenn du
so lieb plauderst.«
»Ja – dann fuhren wir zur Villa Holmsen, tranken dort
Schokolade und aßen Kuchen mit Schlagsahne«, rührte
sich der Plappermund weiter. »Das schmeckte mir so gut,
wie nie in meinem Leben zuvor. Dann ging Fräulein
Doktor mit Alexa und mir in ein Geschäft, wo sie uns süße
Sonnenhüte kaufte, die wir am See tragen dürfen. Der Herr

Doktor sagt, wenn ich kräftig genug bin, nimmt er mich an
die Angel, damit ich schwimmen lerne. So, jetzt bin ich
fertig, nun redet ihr.«
So drollig klang es, daß man herzlich lachte und
gleichzeitig gerührt war. Wenn die kleine Baronesse sich
über etwas so sehr freuen konnte, was manche Kinder ihres
Alters als Selbstverständlichkeit hinnahmen, wie arm
mußte ihr bisheriges Leben gewesen sein – trotz der
Vergötterung der Mutter.
An diese dachte auch der Baron. Was sollte werden, wenn
sie heimkehrte und Irina wieder vollständig mit Beschlag
belegte, sie nach wie vor mit Überängstlichkeit bewachte?

Das würde bei dem Kind, das sich jetzt unter fröhlichen
Menschen so frei bewegen durfte, einen grenzenlosen
Jammer geben.
Am nächsten Tage regnete es, so daß man sich im Hause
vergnügen mußte. Familie Holmsen, außer Birgit, dazu Erla
und Irina, hielten sich auf der Veranda auf, die dem
hinteren Teil des Hauses vorgelagert und so geräumig war,
daß sie bequem Platz für alle bot.
Wärmer gekleidet als an Sonnentagen saß man in
Korbsesseln um den Tisch an einem Ende, während die
beiden Kinder am gegenüberliegenden Halma spielten.

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Die drei Damen stichelten an einer Handarbeit, die drei
Herren schmauchten in Beschaulichkeit ihr Shagpfeifchen.

Dazu unterhielt man sich an dem Tisch gemütlich,
während es am andern lebhaft zuging. Dort führte wieder
einmal Irina das große Wort.
»Siehst du, da hab ich dich aufs neu«, frohlockte sie, und
Alexa klagte:
»Du spielst aber auch zu raffiniert.«
»Ja, mein Kind, im Spiel kein Freund«, kam die Antwort
großartig. »Da muß man zusehen, wie man am besten
vorankommt. Wenn du aber so ein Schnutchen ziehst,
dann will ich nicht so sein und ab und zu einen Zug
verkehrt machen, wie meine Mutter es früher mit mir tat,
damit ich nicht weinte. Jetzt laß ich mir das natürlich nicht

mehr gefallen, jetzt wünsche ich ein faires Spiel. Doch da
du drei Jahre jünger bist als ich, kannst du dich schon ein
wenig schonen lassen.«
»Das möchte ich aber nicht«, protestierte die Kleine. »Man
darf sich nichts unverdient schenken lassen, sagt meine
große Schwester.«
»Das sagt mein großer Bruder auch. Du, der ist ungeheuer
stolz. Der gibt lieber, als daß er nimmt.«
Am andern Tisch hatte man Mühe, ein herzliches Lachen
zu unterdrücken. Sie war eigentlich gar nicht so übel, die
kleine Baronesse. Ein helles Köpfchen und anscheinend
auch gutmütig. Wenn man ihr die Unarten abgewöhnte,

wobei sie natürlich einen starken Halt brauchte, konnte
schon noch ein liebenswertes Menschenkind aus ihr
werden.
Das dachte auch Erla, die schweigend an einer feinen
Spitze häkelte und kaum den Blick zu heben wagte. Wenn
sie es nämlich tat, schaute sie mitten in zwei lachende,
blaue Männeraugen hinein – und das schien ihr gar zu
gefährlich.
Reizend sah die kleine Lehrerin aus in dem lichtgrünen
Wollpullover und dem weiten Plisseerock. Wie Schlänglein
ringelte sich das dunkle Haar auf dem feinen Köpfchen.

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Das Gesichtchen weich und süß, die Hände kinderklein
und zart. Wahrlich eine Augenweide, bei der einem schon

das Herz aufgehen konnte.
Widos Blick ruhte auch unausgesetzt auf dem geneigten
Mädchenkopf. Die Augen redeten zeitweilig eine so
unbedachte Sprache, daß sich seine Lieben verstohlen
lächelnde Blicke zuwarfen. Endlich konnte der Senior nicht
länger an sich halten und bemerkte vergnügt:
»Somit wäre denn alles in schönster Ordnung.«
»Was denn?« fragte Wido verständnislos. »Warum lacht ihr
denn so übermütig?«
»Über die Kinder«, entgegnete Frau Gina schnell gefaßt.
»Über uns?« war es nun an Irina, verständnislos zu fragen.
»Was tun wir denn so Lächerliches?«

»Lächerliches nicht, mein Kind. Wir freuen uns, daß ihr so
gut miteinander auskommt. Laßt euch nicht stören, spielt
ruhig weiter.«
»Siehst du, Alexa.« Irina war so stolz, als ob man ihr einen
Orden verliehen hätte. »Wir vertragen uns jetzt ganz gut.
Das heißt, du bist immer so brav, während meine Zunge
trotz allen Bemühens doch zeitweilig ausrutscht. Aber laß
man, das gewöhne ich ihr auch noch ab. Mein Bruder soll
sich bald nicht mehr meiner zu schämen brauchen.«
»Tut er das denn?« erkundigte sich Holmsen sen. harmlos.
»Und wie! Wenn er mir das vorhält, sieht er immer ganz
versorgt aus. Dabei hat er es schon ohnehin nicht leicht,

der arme Kerl.«
Ordentlich bekümmert klang es und löste bei den anderen
amüsiertes Lachen aus, in das die Kleine fröhlich
einstimmte.
Indes betrat der »arme Kerl« die Rentmeisterei, wo Birgit
fleißig arbeitete.
»So, gnädiges Fräulein, an diesem Regentag, wo die
Heuernte gezwungenermaßen unterbrochen werden muß,
habe ich auch einmal Zeit für Ihre Angelegenheiten hier.
Gestatten Sie, daß ich die Bücher einsehe?«
»Bitte sehr. Hoffentlich ist alles einigermaßen klar, damit

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Sie nicht gar zu viel in Ordnung bringen müssen.«
»Das glaube ich nicht.« Er nahm ihren Platz am

Schreibtisch ein, den sie bereitwillig räumte und sich in
einen Korbsessel setzte. Während er sich in die Bücher
vertiefte, hatte sie Muße, ihn genau zu betrachten. Sie sah
sein Antlitz im Profil, hart war es geschnitten, stolz und
kühn. Auf dem schmalen Kopf lag das Haar peinlich
geordnet, die rassige Gestalt saß aufrecht im Stuhl. Die
kühlen blauen Augen blickten suchend über die
Zahlenreihen, die nervige Hand wandte Blatt um Blatt.
Man sagte Birgit Holmsen nach, daß wohltemperiertes Blut
in ihren Adern fließe, was sie selbst auch spürte und froh
darüber war. Deshalb erfüllte es sie mit heißem Schreck, als
ihr Herz plötzlich so sonderbare Sprünge tat, so daß sie

hätte lachen und weinen mögen in einem Atemzug.
Nein, du törichtes Herz, das laß gefälligst bleiben – lehnte
sie sich sofort dagegen auf. Verliere dich nicht in einer
blühenden Wildnis, in der du dich an Dornen und Disteln
blutig reißt. Denn das Herz, dem du entgegenstrebst, das
bleibt für dich tabu.
Oder meinst du etwa, daß der stolze Mann seine Hand
ausstrecken würde nach der Tochter des Besitzers von
Ragaltshöfen, wo er Verwalter ist? Wo er außerdem noch
seine herrische Mutter und seine ungezogene Schwester mit
in die Ehe bringen müßte? Mit denen unter einem Dach zu
leben, würde ein Mann wie er seiner jungen Frau nie

zumuten.
Und dann – und überhaupt – sein Herz müßte zu dem
erglühen, dem er sich vermählte. Und daß du es nicht bist,
du törichtes Ding, das laß dir nur klarmachen. Also bleib
hübsch vernünftig.
Sie schrak aus ihren Grübeleien auf, als der Mann sie ganz
unvermutet ansprach:
»Wollen Sie bitte herkommen, und mir verschiedenes hier
erläutern, gnädiges Fräulein?«
Schwer waren ihr die Füße, die sie vorwärts setzte, um
dann neben dem Mann zu verharren. Ein Gemisch von

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feinem Tabak und herbem Parfüm schlug ihr entgegen –
und da schloß sie die Augen unter einem ihr unbekannten

Gefühl, das ihr Herz erzittern ließ in Jubel und Pein
zugleich. Sie biß die Zähne fest zusammen, holte
mehrmals tief Atem – und dann ging es schon wieder.
Aufmerksam folgte sie seinem Finger, der langsam über
eine Zeile fuhr.
»Wie hängt das hier zusammen, gnädiges Fräulein? Ich
kann leider nicht klug daraus werden.«
»So will ich es Ihnen erklären.« Sie bemühte sich, ihrer
Stimme Festigkeit zu geben, was zu ihrer eigenen
Genugtuung auch gut gelang. »Ich mußte es an dieser Stelle
verbuchen, weil ein unverhoffter Eingang dazwischen kam.
Hier ist der Beleg.«

»Danke«, entgegnete er gelassen, nachdem er das Blatt
geprüft hatte. »Jetzt bin ich im Bilde und muß schon sagen,
daß Sie sehr exakt gearbeitet haben. Es ist eine Freude, die
sauberen Bücher einzusehen. Ihr Herr Vater darf mit Recht
stolz auf seine Rendantin sein.«
Birgit ärgerte sich, daß ihr bei dem Lob das Blut heiß ins
Gesicht stieg. Sie war ganz einfach eine dumme Gans!
Wenn er doch endlich seine kühlen, forschenden Augen
von ihrem Gesicht wenden würde. Aber sie ruhten darauf,
als wollten sie ihre Seele ergründen – und das fehlte ihr
gerade noch!
Sich selbst zum Schutz warf sie den Kopf in den Nacken

und meinte von oben herab:
»Mein Vater hat meine Brüder und mich so erzogen, daß
seine Pflicht zu tun eine Selbstverständlichkeit bedeutet.
Stolz darauf zu sein, würde er als übertrieben erachten.«
»Na schön.« Er löste mit bitterem Lächeln nun den Blick
von dem hochmütigen Mädchengesicht. »Wohl dem Vater,
der so prächtige Kinder sein eigen nennt. Aber meine
Anerkennung müssen Sie sich schon gefallen lassen,
gnädiges Fräulein.«
Er stand auf, verharrte vor ihr in tadelloser Verbeugung,
dann ging er rasch hinaus, während sie sich auf den

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Schreibtischstuhl sinken ließ, das Gesicht auf die
verschränkten Arme warf und so jammervoll weinte, als

müßte ihr das Herz brechen.
Zwei Tage hielt das Regenwetter an, dann gab es
strahlenden Sonnenschein aufs neu. Familie Holmsen
tummelte sich wieder im Park und am See, machte
Spaziergänge, vertrieb sich die Zeit auf Ferienart – faul und
behaglich.
Anfangs wollte man nur vier Wochen dazu ausersehen, als
jedoch im Holmsenschen Unternehmen alles wie am
Schnürchen lief, entschloß man sich, noch Juli und den
halben August über in Ragaltshöfen zu bleiben. Dann
wollten die Verlobten mit Eifer daran gehen, das Haus,
welches sie mit der Praxis übernommen, nach ihrem

Geschmack einzurichten. Im September sollte dann die
Hochzeit sein.
Das Familie Holmsen – und Odalf Vörswelde? Er fürchtete
sich vor dem Augenblick, da seine Mutter wieder in
Ragaltshöfen auftauchen würde. Eigentlich beschämend,
daß dem so war. Er müßte vielmehr die Mutter ungeduldig
herbeisehnen und sie nicht mit Bangen erwarten. Ja, wenn
er sich auf eignem Grund und Boden befände, dann sollte
es ihm gleich sein, wie die aggressive Dame sich gebärdete.
Aber da er hier nur ein Angestellter war, gab es auf seinen
Brotherrn und dessen Familien Rücksicht zu nehmen an
allen Ecken und Enden – und das zu tun lag der Baronin

Vörswelde nun einmal nicht. Die wollte überall herrschen,
selbst in dem Hause, das ihr nicht gehörte.
Und dann war zu Mitte des Juli der Tag da, an dem die
Baronin dem Sohn ihre Ankunft mitteilte. Er sorgte dafür,
die wochenlang unbewohnten Räume wieder wohnlich zu
machen. Ließ sie gründlich säubern, stellte Blumen hinein
– aber nur aus einem Pflichtgefühl heraus, nicht aus Freude
und glückseliger Erwartung. Man war gerade vom
Mittagstisch aufgestanden, als der Bruder das Schwesterlein
mahnte:
»Halte dich bereit, Irina. In zehn Minuten fahren wir ab,

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um die Mama von der Bahn abzuholen.«
»Bitte, Odalf, laß mich hierbleiben«, flehte das Kind, doch

er fuhr es hart an:
»Du wirst gehorchen, verstanden? Was soll die Mutter wohl
denken, wenn du zu ihrer Begrüßung auf dem Bahnhof
nicht dabei bist? Es würde sie bitter kränken.«
Dicke Tränen standen in den Augen des Mädchens, als es
wie ein armer Sünder abtrollte.
»Ist doch ein Skandal«, brummte Papa Holmsen, als die
beiden außer Hörweite waren. »Anstatt so ein Kind sich
über die Rückkehr der Mutter freut, sieht es ihr mit Bangen
entgegen. Da fehlt doch gleich mit der Faust auf den Tisch
zu hauen!«
»Laß die Faust, Martin«, mahnte die Gattin gelassen. »Du

würdest damit nur einen Skandal heraufbeschwören, den
wir dem ohnehin schon geplagten Baron unbedingt
ersparen müssen. Also, Kinder, geht der impertinenten
Dame aus dem Wege, soweit ihr könnt. Darum bitte ich
euch von Herzen.«
»Wir können ihr wohl aus dem Wege gehen, aber Fräulein
von Tessau nicht«, sprach Wido mit einem mitleidigen
Blick in das blasse Mädchengesicht.
Unendlich müde kam es von den zuckenden Lippen:
»Was liegt schon an mir? Wie es auch kommen mag, ich
muß zufrieden sein.«
»Na, hören Sie mal, mein kleines Fräulein, es geht doch

nun wirklich nicht, an, in ihren jungen Jahren so
gottergeben zu resignieren.« Der Senior schüttelte
mißbilligend den Kopf. »Donner noch eins, da muß es
wohl einen Ausweg geben! Sie haben doch so niedliche.
Zähnchen, wie wäre es, wenn Sie diese der hochfahrenden
Baronin zu gegebener Zeit zeigten? Wenn das nicht hilft,
geben Sie Ihren traurigen Posten einfach auf.«
»Oh, bitte nicht.« Das Mädchen hob abwehrend die
Hände. »Ich muß hier aushalten, weil ich es dem Herrn
Baron versprach. Außerdem geht es mir gewiß nicht
schlecht.«

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»Natürlich«, stieß Wido grimmig zwischen den Zähnen
hervor. »Sehr gut, muß man sagen, ein Pulverfaß ist gar

nichts dagegen. Wehe, dreimal wehe – «
»Wido!« rief die Mutter dazwischen, die gleich den andern
das Lachen kaum verbeißen konnte. »Ich habe bisher nicht
gewußt, daß du so fürchterlich in deinem Zorn sein kannst
– du, die personifizierte Gemütlichkeit.«
»Ach was«, brummte er verlegen. »Wer soll bei den
miserablen Verhältnissen hier auch noch gemütlich
bleiben?«
Damit stürmte er davon – und Erla sah ihm sehnsüchtig
nach. Ihr ganzes liebeerfülltes Herz lag in dem Blick.
»Hm«, schmunzelte Papa Holmsen. »Da kann man wohl
sagen – «

»Martin-!«
»Was willst du, Gina«, tat er harmlos. »Laß mich doch
ausreden: Da kann man wohl sagen, daß unser Wido sehr
langweilig ist. Nicht wahr, gnädiges Fräulein?«
Das bekam große erschrockene Augen.
»Um Gott, wie könnte ich mich erdreisten, Kritik an Herrn
Holmsen zu üben!«
»Na eben, Sie bescheidenes Mägdlein. Da höre ich unten
das Auto abfahren. Was wird die Baronin wohl sagen,
wenn sie ihr Töchterlein erblickt? In vier Wochen acht
Pfund Gewichtzunahme, ist für ein Kind immerhin
beträchtlich. Dazu braungebrannt und quietschvergnügt.

Bei dem Anblick müßte wohl jeder Mutter das Herz im
Leibe lachen.
Übrigens sieht es so aus, als ob wir Gewitter bekämen. Die
Wetterwolken am Himmel gefallen mir nicht.«
»Gewitter und Sturm – das richtige Omen für den Einzug
der Baronin«, lachte Birgit. Und tatsächlich blitzte und
krachte es, als das Auto vor dem Herrenhaus hielt. Man
hatte unter den Holmsen, außer Wido, der seinen Groll
irgendwo auslief, beraten, ob man sich zum Empfang der
Baronin einfinden sollte. Schließlich kam man davon ab.
Weil man sowieso strenge Distanz zu wahren gedachte,

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wollte man sich erst gar nicht blicken lassen.
Also blieb man in dem behaglichen Gemach, das neben

dem Speisezimmer lag, sitzen und horchte auf das
Unwetter draußen, das sich langsam zu verziehen begann.
Da stürmte Irina selber wie ein kleines Gewitter herein, ein
zorniges Funkeln in den verweinten Augen.
»Da haben wir die Bescherung!« Sie ließ sich auf den
nächsten Stuhl sinken. »Kaum ist die Mama hier,
überschüttet sie meinen Bruder auch schon mit Vorwürfen.
Anstatt sich darüber zu freuen, daß ich mich so gut erholt
habe, kam die ungnädige Bemerkung, daß ich wie ein
dralles, braungebranntes Bauernmädchen aussähe.
Als ich gar von meinen Schwimmübungen an der Angel
erzählte, rang sie die Hände und sah mich schon

umgebracht auf der Bahre liegen. Ferner beanstandete sie
mein Schlafen in Fräulein von Tessaus Zimmer. Und das
alles, während wir im Auto Ragaltshöfen zufuhren. Ein
Wunder, daß Odalf uns nicht gegen einen Baum steuerte.
Und jetzt redet die Mama auf ihn ein, sich mit einer jungen
Dame zu verloben, die sie im Bad kennenlernte. Sie
schilderte diese als so unvergleichlich, wie es bestimmt
keinen Menschen gibt. Außerdem ist die Verherrlichte reich
und würde dem zukünftigen Mann ein Gut schenken.«
»Was sagt dein Bruder zu alledem?« forschte Papa Holmsen
wie beiläufig.
»Er sagte nur einmal: Nein! – und dann nichts mehr. Bei

seiner harten Stimme fuhr mir dermaßen der Schreck in die
Glieder, daß ich hierher flüchtete. Wäre die Mama nur
noch nicht zurückgekehrt – «
»Irina –!« rief Frau Holmsen mahnend dazwischen. »Kind,
wie kann man sich nur so versündigen. Danke Gott, daß
du noch eine Mutter hast – und so eine liebevolle dazu.
Geh jetzt zu ihr, die dich vier Wochen entbehrte. Eine
endlos lange Zeit für ein zärtliches Mutterherz.«
Der Blick, der sie aus den Kinderaugen traf, schien zu
sagen: Sprich doch nicht gegen deine Überzeugung. Allein,
dem zusammengepreßten Mund entschlüpfte kein Wort.

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Brüsk erhob sich die Kleine, hastete davon – und als sie
gerade durch die Tür trat, brach durch die abziehenden

Gewitterwolken die helle Sonne. Wie eine Verheißung
schien es zu sein, daß auf Regen Sonnenschein folgt.
Irina saß mit der Mutter beim Abendessen und stocherte
unlustig in dem Fleischsalat. Zwar gab sie sich alle Mühe,
den Teller leer zu essen, doch es wurde nur ein mühsames
Herunterwürgen zusammen mit den Tränen, die ihr wie ein
Kloß im Hälse steckten. Sehnsüchtig lauschte sie auf das
Lachen, das aus dem andern Speisezimmer
hinüberflatterte. Gestern hatte sie noch dabei sein dürfen,
fröhlich unter den Fröhlichen – und heute…
Heiß aufweinend ließ sie den Kopf auf den Tisch sinken,
wobei die Mutter bis ins tiefste Herz erschrak.

»Mein Goldkind, mein einziges, was hast du denn?! Bist du
krank, tut dir etwas weh? Ich sage ja, die Unvernunft der
Holmsen – «
»Sei still, Mama!« rief das Kind heftig dazwischen. Dann
sprang es auf, lief zum Schlafzimmer und knallte die Tür
hinter sich zu. Als die Mutter sich aus ihrer Erstarrung
soweit erholt hatte, daß sie der Tochter nachzugehen fähig
war, lag diese bereits im Bett. Die Kleider, wahrscheinlich
in fliegender Hast abgestreift, befanden sich auf dem
Fußboden. So viel die Mutter auch schmeichelte und bat,
der blonde Kopf blieb in den Kissen vergraben. Da rief die
Frau angstvoll nach dem Sohn, der sofort herbeieilte.

»Odalf, das Kind-!« Beunruhigt trat er an das Bett, drehte
behutsam das Köpfchen zur Seite und sah in ein nassen
Gesicht. Das Kissen, auf dem sie ruhte, war feucht von
Tränen. Jetzt schlief das Kind, doch immer noch zuckte es
um den Mund wie verhaltenes Weinen. Zart legte Odalf das
Köpfchen in die alte Lage zurück und wandte sich dann der
Mutter zu. Es war ein zornverdunkelter Blick, der sie traf.
»Laß Irina schlafen«, sagte er kurz. »Was hat’s gegeben?«
Sie erstattete Bericht, der mit den Worten schloß:
»Wie konntest du das Kind nur so viel der Familie
Holmsen überlassen, Odalf. Kein Wunder, daß es dabei

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krank werden konnte.«
Nun lachte er hart auf.

»Natürlich, andere haben schuld. Suche sie lieber bei dir.
Gute Nacht.«
Schroff wandte er sich ab und ging nach seinem
Arbeitszimmer, trat an das geöffnete Fenster und starrte in
die Anlagen hinaus, die das Haus vom Wirtschaftshof
trennten. Der Regen hatte die Natur wunderbar erquickt,
wie frischgewaschen sah alles aus. Langsam verblaßte die
Abendröte am Horizont.
Er zuckte schmerzvoll zusammen, als ein herziges Lachen
vom Park her aufflatterte. Das war die kleine Alexa, die
unbekümmert ihr Kinderdasein durchleben durfte –
während Irina…

Hastig trat er vom Fenster fort, setzte sich an den
Schreibtisch und arbeitete bis in die tiefe Nacht hinein.
Als er am nächsten Morgen das Schlafzimmer der Mutter
betrat, lag Irina noch im Bett.
»Guten Morgen, du kleiner Faulpelz«, grüßte er frisch.
»Willst du etwa um dein Frühstück kommen?«
»Laß mich im Bett, Odalf. Ob ich hier liege oder neben der
Mama sitze, bleibt sich gleich. Essen kann ich sowieso
nicht, weil es mir wie ein Kloß im Hals steckt.«
»Bist du denn krank, Kleines?«
»Ja – aber anders als du annimmst. Hör mal, wie Alexa
oben auf dem Altan lacht. Und ich – «

»Aber Iri.« Er strich zärtlich über die Kinderaugen, in denen
dicke Tränen standen. »Das Lachen verbietet dir doch
niemand. Schau mal, die Mama – «
»Laß mich mit der Mama in Ruhe!« rief sie heftig
dazwischen. »Die ist daran schuld, daß ich nun nicht mehr
mit den andern zusammen essen darf.«
»Irina, jetzt bist du wieder ungezogen.«
»Ach was, ich spreche die Wahrheit. Wenn die Mama mich
wirklich so lieb hätte, wie sie immer tut, dann würde sie
ganz anders handeln. Ich mag sie schon gar nicht mehr.«
»Hör auf!« unterbrach der Bruder sie streng. »Wage nicht

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noch einmal, so unerhörte Bemerkungen zu machen. Indes
du dich ankleidest, gehe ich mit der Mama in den kleinen

Salon.«
Ihres Widerstrebens nicht achtend, zog er die Frau zu dem
lauschigen Gemach, drückte sie in einen Sessel und blieb
vor ihr stehen, die nun mit verkniffenem Gesicht dasaß.
»Ist es denn so ungeheuerlich, was Irina von dir verlangt?«
sprach er tiefernst auf sie ein. »Mütter sollen doch dazu
imstande sein, ihrem Kind sogar große Opfer zu bringen –
und dieses wäre doch so winzig klein. Geh in dich, bevor es
zu spät ist. Erfüllst du Irinas Wunsch, wird sie dir gewiß
von Herzen dankbar sein. Tust du es nicht – verlierst du die
Liebe deines Kindes.«
Damit ließ er sie allein. Ging in sein Arbeitszimmer, in das

schon einige Minuten später die Schwester fertig
angekleidet stürmte. Die Augen strahlten, der Mund lachte.
»Odalf, denk dir nur, die Mama will fortan die Mahlzeiten
im Speisezimmer der Holmsen einnehmen! Oh, ich bat
vielmals um Verzeihung, weil ich sie vorhin kränkte. Sie ist
doch gut, unsere Mama.«
Weg war sie – und der Mann atmete auf. Eiligst gab er Urte
Anweisung, zwei Gedecke mehr auf den Frühstückstisch zu
legen. Kaum war das geschehen, gongte es, und die
Baronin trat ein, die strahlende Irina an der Seite. Da ging
der Sohn auf die Mutter zu, griff nach ihrer Hand und
drückte stumm die Lippen darauf.

Nun erschien auch Familie Holmsen geschlossen. Als Alexa
die kleine Baronesse hinter ihrem Stuhl stehen sah, lief sie
freudestrahlend zu ihr hin.
»Iri, du ißt wieder hier? Wie schön! Das war gestern beim
Abendessen gar nichts ohne dich, ich habe immer auf den
leeren -Stuhl schauen müssen. Natürlich sitzen wir
nebeneinander. Wenn wir auch nur reden dürfen, sofern
wir gefragt werden, können wir uns wenigstens anlachen.«
Lächelnd schauten die Erwachsenen auf die Kinder, die sich
glückstrahlend bei den Händen hielten. Dann mahnte die
junge Ärztin, die gleich ihrem Verlobten der Dame

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vorgestellt worden war, das Schwesterlein:
»Begrüße die Frau Baronin, Alexa.«

Artig beugte das Kind sich über die Hand Frau Mildreds,
die es nun für angebracht „hielt, einige konventionelle
Worte zu sprechen: .
»So eine kleine Schwester haben Sie noch, Fräulein
Doktor?«
»Sie ist ein Nachkömmling, Frau Baronin. Das heißt,
zwischen uns gab es noch einen Bruder, der zu unser aller
Schmerz starb.«
Man nahm Platz und gab sich alle Mühe, ein reges
Gespräch in Gang zu bringen, denn die Baronin in ihrem
Speisezimmer zu sehen, überraschte Familie Holmsen
nicht wenig, was man jedoch meisterhaft zu verbergen

verstand – auch daß man die Anwesendheit der Dame als
störend empfand. Wie ein düsterer Schatten saß sie da,
hielt den starren Blick unausgesetzt auf die Tochter
gerichtet, die ihrer Ansicht nach wie ein
»Scheunendrescher« aß. Diese ließ den Milchbecher
nachfüllen, verzehrte zwei Toasts mit Gelee, hinterher noch
eine große, gutbelegte Schwarzbrotschnitte.
»Irina, du wirst dir den Magen überladen«, war das erste,
was die schockierte Dame sprach, doch das Töchterlein
winkte beruhigend ab.
»Laß nur, Mama, ich esse jetzt immer so viel. Ich darf das,
solange es mir gut schmeckt, sagt der Herr Doktor. Und der

weiß eine ganze Menge.«
»Woraus schließt du das?« erkundigte sich der Arzt
amüsiert, während die andern lachten.
»Weil mein Bruder der Ansicht ist. Nehmen Sie mich heute
wieder an die Angel, Herr Doktor?«
»Nur, wenn es deine Mutter gestattet.«
Ein bittender Blick des Kindes ging zu ihr hin, worauf sie
nickte. Zwar widerwillig, wie sich nicht verkennen ließ,
aber sie tat es wenigstens. Anschließend fragte sie:
»Hast du denn noch immer Ferien, Iri?«
»Bis zur nächsten Woche, Mama. Aber ich hoffe, daß Odalf

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sie verlängern wird, bis Alexa zur Stadt zurück muß. Nicht
wahr, du lieber großer Bruder?«

»Schau mal an, wie liebenswürdig du sein kannst!« gab er
lächelnd zurück. »Was meinen Sie, Fräulein von Tessau,
können wir das verantworten?«
»Gewiß, Herr Baron. Irina ist ja bedeutend weiter, als der
Lehrplan es verlangt.«
»Na also. Dann bitte die Mama nur schön, mein Kleines,
daß sie dir weitere Ferien bewilligt.
Aber nicht gleich«, wehrte er amüsiert ab, da das Kind die
gefalteten Hände nach der Richtung streckte, wo die Mutter
saß. »Jetzt mußt du wieder lieb dein Schnäbelchen halten.«
Sie war’s zufrieden und verhielt sich ruhig. Doch nach dem
Frühstück, als die Mutter ihr Zimmer aufsuchte, folgte sie

ihr und umhalste sie stürmisch.
»Nicht wahr, Mama, du erlaubst es? Sag bitte ja, sonst
machst du mich wieder traurig. Ich würde nämlich
während des Unterrichts unaufmerksam werden, wenn ich
unten Alexa lachen hörte.«
»Was fragst du mich überhaupt noch«, kam es pikiert über
die verkniffenen Lippen. »Ich habe hier nichts mehr zu
sagen.«
»Eine irrige Ansicht«, bemerkte der Sohn, der hinzu kam,
gelassen. »Eine Mutter hat immer über ihr Kind zu
bestimmen.«
»Das merkt man hier an allem«, lachte die Frau nun

verbissen auf. »Vier Wochen genügten vollauf, um mir
mein Kind zu nehmen. Ich bedeute nichts mehr als eine
Staffage.«
Betreten stand die Kleine da, und der Bruder strich zärtlich
über das geneigte Köpfchen. Ein Seufzer hob seine Brust.
»Mutter, du machst deinen Kindern wahrlich das Leben
schwer.«
»So kann ich ja gehen«, entgegnete sie spitz. »Liebevolle
Kinder habe ich, das muß man schon sagen. Ein Sohn will
nichts von mir wissen, der andere auch nicht – «
»Jetzt hör aber auf, Mama!« unterbrach er sie unwillig. »Ich

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glaube, daß ich als Sohn dir bisher noch nichts schuldig
blieb. Du könntest hier den Himmel auf Erden haben,

wenn du von deiner starren Unzugänglichkeit lassen
wolltest. Schließ dich der Familie Holmsen an, diesen
prächtigen Menschen, die sich so selbstlos deiner Tochter
annahmen, obwohl sie zuerst recht ungezogen war. Dr.
Holmsen sowie die junge Ärztin hatten es bestimmt nicht
nötig, in ihren Ferien das fremde, unterernährte Kind – «
»Unterernährt – das verbitte ich mir!« rief sie empört
dazwischen, doch er sprach unbarmherzig weiter:
»Jawohl – unterernährt und total falsch behandelt. Was
Irina fehlte, war weiter nichts als ungebundenes Tummeln
in frischer Luft, dazu verständnisvolles Eingehen auf ihre
kindlichen Sorgen. Es mutet wie ein Wunder an, was die

vier Wochen aus dem schwächlichen, verdrießlichen und
unerzogenen Kind gemacht haben. Wenn du das nicht
einsiehst, bist du ungerecht.
Und du mach nicht so entsetzte Augen, Irilein. Verlaß dich
nur auf deinen großen Bruder, der wacht auch ferner über
dich. Lauf zu Alexa, deren frohes Stimmchen ich draußen
höre.«
Nur zu gern trollte das Kind ab, und Odalf sprach weiter
auf die erbitterte Frau ein:
»So werde doch endlich vernünftig, Mama. Werde gut
Freund mit Familie Holmsen.«
»Das kann ich nicht.«

»Nun, mehr, als dir immer wieder zureden, steht leider
nicht in meiner Macht. Wenn du durchaus an deiner
starren Unzugänglichkeit festhalten willst, dann laß
wenigstens Irina davon aus. Hör nur, wie fröhlich sie
draußen lacht. Das ist Musik für meine Ohren, der ich nur
ihr Bruder bin. Wieviel mehr müßte das für dein
Mutterherz sein.«
Er ging – und die Mutter starrte ihm verbissen nach.
Die nächste Zeit sollte lehren, daß doch ein guter Kern in
Irina steckte. Obwohl sie viel lieber weiter im Zimmer der
Lehrerin geschlafen hätte, fügte sie sich dennoch darin, das

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Schlafgemach ihrer Mutter zu teilen. Wenn sie sich im Kreis
der Familie Holmsen vergnügte, lief sie plötzlich davon,

um nach der Mama zu sehen. Und wenn sie diese in ihrem
Zimmer fand, verbissen, murrend und klagend, dann
wurde sie traurig.
Genauso erging es Odalf – und selbst die andern waren
nicht so fröhlich wie sonst, wenn sie mit der
schweigsamen, hochmütigen Dame bei Tisch saßen. So
wenig leid sie ihnen tat, um so mehr Sorge machte ihnen
der Baron. Er sah tatsächlich aus, als ob er krank wäre. Das
Gesicht war beängstigend schmal geworden und wirkte
dadurch noch härter als gewöhnlich. Die Kleider schienen
ihm zu weit geworden zu sein.
»Sie sehen nicht gut aus, Herr Baron«, sagte Holmsen sen.

eines Sonntags am Frühstückstisch. »Kein Wunder, da Sie
sich kaum Ruhe gönnen. Tagsüber draußen strammen
Dienst, bis zum späten Abend am Schreibtisch – dazu noch
das ganze Drum und Dran, das hält kein Mensch auf die
Dauer aus, mag er auch wie aus Stahl und Eisen sein.
Denken Sie denn überhaupt nicht an sich?«
»An mich zu denken habe ich mir längst abgewöhnt«,
entgegnete er mit bitterem Lächeln, und da wurde der
andere ärgerlich.
»Dann werden wir Sie dazu zwingen, mein lieber Freund.
Sie sind für Ragaltshöfen nämlich so wichtig, daß Sie nicht
schlappmachen dürfen. Was gibt es für Sie überhaupt so

viel zu schreiben? Kann das meine Tochter nicht
erledigen?«
»Ich möchte das gnädige Fräulein nicht überanstrengen. Es
leistet schon gerade genug.«
»Ja, ist denn das die Möglichkeit?« Holmsen schüttelte
konsterniert den Kopf. »Mann, können Sie da nicht den
Mund aufmachen und sagen, daß noch eine Hilfskraft
fehlt? Sie bilden ja ein glänzendes Gegenstück zu dem
kleinen Fräulein Lehrerin, das vor lauter Bescheidenheit
auch das Schnäbelchen nicht aufkriegt. Also kurz die Rede,
lang der Sinn: Es wird in der Rentmeisterei eine Hilfskraft

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eingestellt, die dort meiner Tochter die Arbeit zum Teil
abnimmt, damit sie frei für Ihren Schreibkram wird. Was

sie nicht allein erledigen kann, diktieren Sie ins
Stenogramm – nur Ihre Liebesbriefe müssen Sie allein
schreiben«, setzte er schmunzelnd hinzu, was die andern
befreit auflachen ließ. Denn man war mit Bangen der
geharnischten Rede gefolgt.
»Ach, wenn es sein muß, schreibe ich auch die noch«,
erklärte Birgit trocken. »Dann weiß ich wenigstens, wie
man so was zustande bringt.«
»Mein Bruder schreibt überhaupt keine Liebesbriefe«, warf
Irina ordentlich empört ein. »Dafür ist er viel zu
anständig.«
Jetzt mußte selbst die Baronin lachen.

»Ja, Kind, was stellst du dir denn darunter vor?«
»Als etwas Heimliches. Und alles Heimliche ist
unanständig.«
Eine einfache Logik, über die man sich köstlich amüsierte.
Nach dem Frühstück suchte sich jeder sein
Sonntagsvergnügen.
Birgit ließ sich ihr Pferd satteln, einen rassigen Braunen,
doch ohne jede Tücken. Also ein zuverlässiger Kamerad.
Ein herrliches Gefühl, den Sattel unter sich zu haben und
unbeschwert hineinzureiten in die Sommerpracht und
später in den grünen Wald. Es war jedoch so drückend heiß
darin, daß Birgit kehrt machte, dabei nicht auf den Weg

achtete und ihn verfehlte.
Nachdem sie sich dessen bewußt wurde, überkam sie ein
Gruseln. Schauergeschichten fielen ihr ein, die sie über
Wegelagerer, ausgebrochene Strafgefangene und ähnlicher
dunkler Gesellen mehr gelesen oder gehört hatte. Wenn
sich nun ein solches Individuum im Wald verborgen hielt
und ihr entgegentrat, was dann?
Und tatsächlich begegnete sie einem Mann, aber einem
solchen, den sie bestimmt nicht zu fürchten brauchte. Er
war gleich ihr hoch zu Roß, das er dann neben dem ihren
zügelte.

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»Ja, gnädiges Fräulein, wie kommen Sie denn auf diesen
abgelegenen Weg?« fragte Vörswelde erstaunt. »Haben Sie

sich etwa verirrt?«
»Ganz recht.«
»Wissen Ihre Angehörigen, daß Sie in den Wald geritten
sind, den Sie erst so wenig kennen?«
»Nein. Schließlich bin ich ja kein Kind mehr, das für alles,
was es zu tun gedenkt, erst die Erlaubnis der Eltern dazu
einholen muß«, entgegnete sie hochmütig; denn der Ton,
in dem er mit ihr sprach, gefiel ihr ganz und gar nicht. Und
nun sagte dieser Mensch auch noch in aller Gelassenheit:
»Daß Sie sehr eigenwillig sind, mein gnädiges Fräulein,
weiß ich längst. Daher wäre es töricht von mir, mich in
Ihre Angelegenheiten zu mischen.«

»Na also«, entgegnete sie kühl. »Wo befinden wir uns?«
»Eine Reitstunde von Ragaltshöfen entfernt. Ich will
versuchen, Sie einen Weg zu führen, bei dem wir eine gute
Ecke abschneiden können. Hoffentlich ist der Moosboden
fest genug, damit die Pferdehufe nicht zu tief einsinken.
Wir müssen nämlich zusehen, so schnell wie möglich nach
Hause zu gelangen, weil es Gewitter geben wird.«
»Das gibt es in Ragaltshöfen oft«, entgegnete sie
doppelsinnig und ärgerte sich, als er die passende Antwort
darauf fand.
»Das tut es – wenigstens in diesem Jahr.«
Er bog nun in einen Weg ein, auf dem die Pferde

nebeneinander nicht Platz hatten.
»Gestatten Sie, daß ich vorreite, damit ich den Weg prüfen
kann. Es wird gehen, das merke ich schon. Fürchten Sie
sich daher nicht, wenn der moorige Grund Ihnen weich
erscheinen sollte.«
Ohne weiter auf sie zu achten, zügelte er sein Pferd
vorsichtig den Weg entlang, während sie seinem Beispiel
folgte. Sie konnte den Blick nicht wenden von der rassigen
Reitergestalt vor ihr, von dem schmalen Haupt, auf dessen
Blondhaar Sonnenreflexe spielten.
Mein Gott, warum tat ihr denn plötzlich das Herz so weh?

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So sehr, daß dieser heiße Schmerz ihr Tränen erpreßte.
Und ausgerechnet in dem Augenblick mußte der Mann den

Kopf nach ihr wenden. Ein forschender Blick, dann sagte er
ruhig:
»Nur noch einige Minuten Geduld, gnädiges Fräulein.
Dann ist der Weg geschafft, der einem Nichtkenner
unheimlich vorkommen muß.«
Gott sei Dank, er nahm an, daß ihr vor Angst die Tränen in
den Augen standen. Recht beschämend für sie, aber längst
nicht so, als wenn er ihre Gedanken erraten hätte.
Jetzt lenkte er das Pferd auf eine Straße, die so breit war,
daß die Pferde nebeneinander traben konnten. Birgit
mußte sich zusammenreißen und einen Gleichmut
vortäuschen, von dem ihr Herz nichts wissen wollte. Die

Schwüle wurde fast unerträglich. Wie erstarrt standen rechts
und links die hohen Bäume, selbst die Wipfel rührten sich
nicht. Ringsumher herrschte unheimliche Ruhe – die
bekannte Ruhe vor dem Sturm, der bald losbrechen würde.
In der Ferne hörte man bereits den Donner grollen.

Durch Gewitter und Sturm –
Mein Mädel, ich bin da... –

zog es ihr schmerzhaft das Herz zusammen. Da war er
wohl – und doch so fern – so unerreichbar fern – für sie.
Wohl noch fünf Minuten ritten sie dahin, dann war der

Wald zu Ende. Vor ihnen lag ein weites Getreidefeld und
weiter hinten Ragaltshöfen.
»Wo befinden wir uns denn jetzt?« fragte Birgit verwundert.
»Dieses Gebiet ist mir ganz fremd.«
»Das glaube ich, gnädiges Fräulein. In der kurzen Zeit, da
Sie auf Ragaltshöfen weilen, war es nicht gut möglich, es
bis in den kleinsten Winkel kennenzulernen. Doch nun
wird die Sache ernst, der Sturm macht sich auf. Geben Sie
dem Pferd den Kopf frei!«
Darauf hatte das nervöse Tier nur gewartet. Mit dem Sturm
um die Wette sauste es dahin, so daß der Reiterin angst

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und bange wurde. Doch schon griff die nervige
Männerhand in die Zügel, hielt sie eisern fest. Kopf an Kopf

galoppierten die geängstigten Gäule dahin. Die ersten
Tropfen fielen – und als Ragaltshöfen erreicht, waren Roß
und Reiter triefen naß.
Ein Stallbursche nahm die zitternden Vierbeiner in
Empfang, während die Zweibeiner ins Haus liefen. In der
Diele stand Familie Holmsen, schreckensbleich. Doch
kaum, daß der Senior der eintretenden, triefenden
Gestalten ansichtig wurde, lachte er auf wie ein Mensch,
den man aus banger Sorge befreit.
»Ach, Sie waren dabei, Herr Baron? Wenn wir das gewußt
hätten, dann hätten wir um das Gör nicht so große Angst
auszustehen brauchen. Ich dachte mich rührt der Schlag,

als ich hörte, daß es ausgeritten wäre, wo doch das Gewitter
bereits in der Luft lag.«
»Das tut es hier oft«, gab Birgit mutwillig Antwort. »Aber
man kommt immer gut durch Gewitter und Sturm – zumal
bei einem Steuermann wie diesem.« Sie zeigte auf Odalf,
der amüsiert lächelte.
»Das klingt ja fast wie eine Anerkennung, gnädiges
Fräulein.«
»Ist auch eine. Und nun werde ich mich rasch umziehen.
Denn ich sehe es dir an, geliebter Paps, daß du mich
liebend gern bei den Ohren nehmen möchtest. Laß sie
dazu erst trocken werden.«

Lachend lief sie die Treppe hinauf, und der Vater
schmunzelte ihr nach.
»Ist doch ein Mordsmarjellchen, unsere Birgit. Wo andere
Mädchen jammern würden, ist sie quietschvernügt. Wo
haben Sie den Ausreißer denn erwischt, Herr Baron?«
»Unterwegs, Herr Holmsen. Die junge Dame war so
couragiert, daß sie auch ohne meine Begleitung gut nach
Hause gekommen wäre.«
Mit keinem Wort erwähnte er, daß die Reiterin sich im
Wald verirrt hatte. Als er merkte, daß die Eltern Birgits sich
bei ihm bedanken wollten, entfernte er sich mit einer

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hastigen Entschuldigung, und Papa Holmsen sah ihm
kopfschüttelnd nach.

»Daß der Mensch doch keinen Dank vertragen kann. Was
er auch tun mag, alles ist für ihn selbstverständlich. Nun,
jedem Tierchen sein Pläsierchen. Kommt, Kinder, suchen
wir uns ein Plätzchen, wo wir uns setzen können. Mir sind
nämlich noch die Knie weich von dem ausgestandenen
Schreck.«
Nachdem sie sich in dem traulichen Wohngemach
niedergelassen hatten, fragte Frau Gina:
»Wo ist eigentlich Wido geblieben? Auch Fräulein von
Tessau fehlt, gleichfalls Irina.«
»Die ist zu ihrer Mutter gegangen, damit diese bei dem
Gewitter nicht allein bleiben muß«, gab Alexa Antwort.

»Wo die andern stecken weiß ich nicht.«
»Ist ja auch weiter nicht wichtig«, bemerkte der Senior. »Zur
Futterkrippe werden sie sich schon einfinden.«
Während man geruhsam plauderte, nahm Birgit ein Bad,
kleidete sich frisch von Kopf bis Fuß, und ging dann in ihr
Zimmer zurück, wo sie betroffen aufhorchte: Klang von
nebenan nicht ein Weinen? Beunruhigt öffnete sie die Tür.
Tatsächlich, da lag Erla auf dem Diwan und weinte
jämmerlich.
»Fräulein von Tessau, was ist nun schon wieder los?« fragte
Birgit unbehaglich.
»Ich – er – ich – er-«, kam es dumpf aus dem Kissen, worin

das Mädchen das Gesicht drückte. »Er – er – hat sich nicht
schön benommen. Aber er kann sich das ja erlauben – bei
einem Nichts – wie ich – es – bin.«
»Wer, zum Kuckuck?!« wurde die andere jetzt ungehalten.
»Wer ist denn dieser – er?«
»Ihr – Herr – Bruder.«
»Wido?«
»Ja.«
»Nanu, was hat er Ihnen denn Fürchterliches getan, daß Sie
so verzweifelt weinen müssen?«
Keine Antwort, nur hemmungsloses Schluchzen. Da fragte

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Birgit nicht weiter, sondern begab sich auf die Suche nach
dem Bruder, den sie in seinem Zimmer fand. Sein Gesicht

war blaß, die Augen blickten finster. Wie gehetzt lief er auf
und ab, die geballten Fäuste stießen zornig in die
Hosentaschen.
»Was willst du hier?!« schrie er die Schwester an. »Geh
lieber zu deinem Fräulein von Tessau – dieser falschen
Katze!«
Birgit, die ihren Bruder noch nie in einer solchen
Verfassung gesehen hatte, erschrak bis ins tiefste Herz. Am
liebsten wäre sie feige davongelaufen. Aber da sie sich
sagte, daß hier ein Mißverständnis vorliegen müsse, ließ sie
sich mutig in einen Sessel sinken.
»Wido, was ist dir denn geschehen?« begann sie behutsam,

doch er winkte unwirsch ab.
»Laß mich in Ruhe!«
»Darf ich nicht, weil Fräulein von Tessau in ihrem Zimmer
auf dem Diwan liegt und ganz fürchterlich weint.«
»Dazu hat sie auch allen Grund.«
»Inwiefern?«
»Das laß dir von ihr erzählen.«
»Sie tut’s aber nicht. Also wirst du dich dazu bequemen
müssen. Denke daran, daß manche Liebe, manche
Freundschaft einem Mißverständnis zum Opfer fiel.«
Diese ernstgesprochenen Worte verfehlten ihre Wirkung
nicht. Er nahm ihr gegenüber Platz. Sein Gesicht war blaß,

in seinen Augen brannte der Schmerz. Die Hand, die dem
Etui eine Zigarette entnahm und sie in Brand steckte,
zitterte. Er tat einige lange Züge, dann sprach er:
»Daß ich Fräulein von Tessau liebe, brauche ich wohl nicht
zu betonen, weil ich deine Spürnase kenne und die unserer
Lieben dazu. Obwohl die junge Dame scheu und
zurückhaltend ist, glaubte ich aus mancherlei
Beobachtungen entnehmen zu können, daß sie meine
Neigung erwiderte.
Ich wollte heute zuerst mit unserm Paps sprechen, bevor
ich mich ihr erklärte, doch das heraufziehende Gewitter

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brächte dann vorher die Entscheidung. Ich befand mich
gerade im Park, als es losbrach. Und zwar so rasch, daß ich

mich beeilen mußte, um unter Dach zu kommen. Also
rannte ich davon und stieß mit Fräulein von Tessau
zusammen, die aus einem Nebenweg herausflitzte – direkt
in meine weitgeöffneten Arme hinein.
Und als ich das angstzitternde Geschöpf an meinem
Herzen hielt, nun, da schlug die Liebe über mir zusammen
– und ich küßte es. Doch schon saß mir eine Hand im
Gesicht. Todblaß, in den Augen ein empörtes Funkeln,
fauchte mir die kleine Katze entgegen: Das war gemein von
Ihnen, Herr Holmsen! Ich bin kein Freiwild, merken Sie
sich das!
Wie gehetzt rannte sie davon, und ich stand wie erstarrt. Es

ist nicht die erste Ohrfeige, die ich von einem
Techtelmechtel zum Beispiel erhielt, wenn ich zu kühn
wurde. Die nahm ich dann gutwillig hin, weil ich sie
verdient hatte.
Aber hier habe ich sie nicht verdient. Denn ich liebe
Fräulein von Tessau so treu und wahr, daß ich sie zu
meiner Frau begehre. Und daher betrachte ich diese
Ohrfeige als Schmach, die ich mir als aufrechter Mann
nicht bieten lassen darf.
Zum Kuckuck, sie muß doch auseinander halten können,
ob man ein Abenteuer sucht oder sich ihr in lauterer
Absicht nähert!« schloß er zornig, und Birgit lächelte.

»Das bezweifelt sie einfach, mein lieber Wido. Sie ist so
sehr bescheiden, wertet ihre Person so gering, daß sie nicht
einmal daran zu denken wagt, ein Mann wie du könnte sie
zur Frau begehren. Du solltest nur sehen, wie jammervoll
sie weint, dein liebekrankes Herz würde sich umdrehen.«
Ein Klopfen unterbrach ihre Rede. Nach der Aufforderung
trat der Diener ein.
»Was gibt’s, Jost?«
»Die Herrschaften lassen fragen, ob das gnädige Fräulein
schon soweit ist, um an dem Mittagsmahl teilnehmen zu
können. Es ist heute sowieso später als sonst.«

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»Bestellen Sie, daß man nicht länger warten soll. Mein
Bruder und ich kommen nach.«

Der Diener zog sich zurück, und Birgit erhob sich.
»Mach nicht ein so grimmiges Gesicht, Wido. Man kann ja
Angst vor dir kriegen. Das Mißverständnis muß sich doch
aufklären lassen.«
»Etwa von mir, was?« stieß er verbissen hervor. »Und wenn
ich mein Herz auch noch so knebeln und knechten
müßte…«
»Na nun mal nicht so hitzig«, unterbrach sie ihn gelassen.
»Daß du nach diesem für dich entwürdigenden
Vorkommnis zu Kreuze kriechst, dafür bin ich auf keinen
Fall. Erla wird sich bei dir entschuldigen. Aber dann spiele
nicht womöglich den wilden Mann, sondern nimm das

>Häufchen Unglück< diesmal ein wenig stürmischer an
dein Herz, du geliebter Taps. Und nun komm zum
Mittagessen.«
»Du glaubst doch nicht etwa, daß ich bei dieser miserablen
Verfassung auch nur einen Bissen hinunterkriege?«
»Dann tu wenigstens so. Es ist nicht notwendig, daß unsere
Lieben von deinem Zwiespalt erfahren, bevor ich alles
geklärt habe. Erla werde ich an der Tafel glaubwürdig
entschuldigen. Denn ich denke nicht, daß sie bei ihrer
jammervollen Verfassung daran erscheint. Noch etwas,
Bruderherz?«
»Ich möchte dir nur noch sagen, daß – du eine ganz listige

Eva bist.«
Nach dem Essen, das friedlich verlief, ging Birgit sofort zu
Erla, die noch immer auf dem Diwan lag. Zwar weinte sie
nicht mehr, war aber dennoch in jammervoller Verfassung.
Ihr schmerzverdunkelter Blick sah scheu zu dem Mädchen
auf, das sich neben sie aufs Polster setzte und
kopfschüttelnd das »Häufchen Elend« betrachtete.
»Ach, über so ein kleines Schaf! Ich habe nämlich mit
meinem Bruder gesprochen und bin genau orientiert. Er
empfindet die Ohrfeige als Schmach.
Liegenbleiben!« kommandierte sie, als Erla empört auffuhr.

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»Jetzt spreche ich. Jawohl, er empfindet die Ohrfeige als
Schmach, weil er sich Ihnen in keiner unlauteren Weise

näherte, sondern Sie so innig liebt, daß er Sie als Frau
begehrt. Und was sagen Sie nun?«
»Das kann doch aber nicht möglich sein«, rang es sich
mühsam von den entfärbten Lippen.
»Warum nicht?«
»Weil ich so ein Nichts bin – arm und einflußlos.«
»Ich sage ja, daß Sie ein Schaf sind, Erla. Muß man denn
immer einen Geldsack mit sich schleppen und wer weiß
wie mondän tun, um von einem Mann geheiratet zu
werden, der in einem warmen Nest sitzt und immer fünf
Pfennig mehr in der Tasche trägt als er braucht? Nora
verfügt ja auch nicht über Reichtümer – und doch haben

meine Eltern sie als Schwiegertochter freudig willkommen
geheißen.
Nun sehen Sie mich nicht so verzweifelt an, Sie
Dummchen, sondern nehmen mal Ihr Herzchen in beide
Hände. Wenn Sie das nicht tun, machen Sie meinen
herzensguten Bruder unglücklich – und sich mit. Wir
wissen nämlich schon längst, daß Sie ihn lieben.«
»Um Gottes willen, habe ich mich denn so schlecht
beherrschen können?!«
»Das nicht – aber Ihr Herz hat durch die Augen geplaudert,
genau so wie bei Wido auch. Da Sie diese Sprache nicht
verstanden, daraus erkennt man Ihre Weltfremdheit. Doch

ich will nicht wie eine weise, erfahrungsreiche Tante
daherreden, sondern Ihnen den guten Rat geben, so ein
bißchen zu Kreuze zu kriechen. Daß mein Bruder es nach
seiner Abfuhr nicht tun kann, ist selbstverständlich. Sonst
wäre er ja kein Mann mit Ehrbegriffen. Also müssen Sie zu
ihm gehen, lieb die Arme um seinen Hals legen und ihm
ohne Scheu sagen, wie unendlich Sie ihn lieben. Es wird
ihn so unaussprechlich glücklich machen, daß er Sie ohne
jeden Kommentar fest an sein Herz nimmt.«
»Ich habe Angst.«
»Ja, Erla, da hilft nun alles nichts. Meine Mutter steht auf

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dem Standpunkt, daß derjenige, der den Mut hat zu
kränken, auch den Mut haben muß, wieder gutzumachen.

Es wird nicht so arg werden, Erla. Ein liebes Wort, ein
lieber Blick wird genügen, um das Herz Widos butterweich
zu machen. Er ist ganz durcheinander, der arme Kerl. Seien
Sie also mutig und verscherzen Sie sich durch Hemmungen
nicht das große Glück, wie Ihnen ein solches nicht zum
zweiten Mal begegnen dürfte. Am Herzen unseres
prächtigen, grundguten Wido ruht es sich warm und weich,
das können Sie mir schon glauben. Ist alles nun klar?«
»Soweit schon«, kam es niedergeschlagen zurück. »Wenn
ich nur wüßte, ob die Eltern mit der Wahl ihres Sohnes
auch einverstanden sind. Ich bin doch – «
»Ein Nichts, ich weiß«, warf Birgit lachend ein. »Das kann

ich jetzt schon auswendig. Aber aus einem Nichts wird oft
ein Viel. Leben Sie mal erst im Kreis unserer Familie, treu
behütet und geliebt, dann werden Sie bald dahinter
kommen, welch ein beachtenswertes Menschenkind Sie
doch eigentlich sind. Und nun hopp, das flatternde Herz
festgehalten! Nur wenige Minuten, dann sind Sie eine
glückliche Braut.«
»Was fällt Ihnen denn ein!« wehrte sie verlegen, als Erla
voll überströmender Dankbarkeit die Lippen auf ihre Hand
drückte. »Unter Schwägerinnen dürfte so was wohl nicht
üblich sein. Lassen Sie mich lieber nicht immer weiter
reden wie ein Buch, sondern lassen Sie mich Taten sehen.

Ich bringe Sie noch in Widos Zimmer – doch dann müssen
Sie Ihr Schicksal allein in die Hände nehmen.«
Da sprang Erla auf. Wenige Minuten später führte schon
Birgit sie über die Schwelle in des Bruders Zimmer.
»Hier bringe ich dir eine reuige Sünderin!« rief sie lachend.
»Sei gnädig zu ihr – ich laß indes Sekt kaltstellen.«
Die Tür schloß sich – und Erla drückte sich mit zitternden
Knien dagegen. Blaß vor Erregung sah sie zu dem Mann
hin, der in eisiger Haltung vor ihr verharrte. Doch
schließlich rührten die flehenden Blicke, die vor Weinen
zuckenden Lippen, überhaupt das ganze angstzitternde

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Geschöpf sein Herz so sehr, daß er schweigend die Arme
öffnete, um sie dann fest um einen weichen Körper zu

schließen. Ein heißer Kuß, der mehr als tausend Worte
sprach – und es gab ein glückseliges Brautpaar mehr auf
der Welt.
»Nun, mein Mädchen, wirst du mir wieder eine Ohrfeige
versetzen?« fragte der Mann, indem er die feste
Umschlingung lockerte.
»Jetzt nicht mehr, o nein. Ich liebe dich doch so unendlich.
Niemals will ich vergessen, daß du, der einflußreiche
Mann, mich an dein Herz nahmst.«
»Na, so einflußreich bin ich nun auch wieder nicht«,
entgegnete er verlegen. »Ist ja auch so unwichtig. Wichtig
allein bleibt, daß wir uns liebhaben für alle Zeit. Das soll

schon ein herrliches Leben werden, mein scheues Rehlein,
was?«
»Und wie herrlich, Wido. Wie schön der Name klingt, da
ich ihn laut auszusprechen wage – Wido – Wido – Wido -!«
Gerührt küßte er die jungroten Lippen, die so verführerisch
zu ihm emporblühten. Zeit und Stunde darüber
vergessend, in Glückseligkeit.
Indes wartete man im traulichen Wohngemach des
Ehepaares Holmsen geduldig auf das Brautpaar, das Birgit
bereite avisiert hatte. Als es dann endlich erschien, gab es
freudige Erregung. Erla wanderte von einem Arm in den
andern, immer wieder dabei beteuernd, daß sie ihr Glück

nur Birgit zu verdanken hätte. Als sie bei dieser angelangt
war, bedankte sie sich mit herzrührenden Worten.
»Sei doch nicht so unbequem dankbar«, wehrte Birgit
verlegen. »Ihr hättet auch ohne mein Eingreifen zueinander
gefunden. Aber ich hatte es mir nun einmal in den Kopf
gesetzt, euch durch Gewitter und Sturm zuzuführen, weil es
hier schon zum Symbol geworden ist, daß sich große
Ereignisse bei Unwetter abspielen«, schloß sie lachend, und
fröhlich fielen die andern ein.
Als man an der Kaffeetafel die Verlobung bekanntgab, war
der Baron gar nicht überrascht.

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»Das habe ich kommen sehen«, meinte er lächelnd. »Die
Herzen plauderten doch gar zu deutlich aus den

liebesseligen Augen. Ich freue mich ehrlich über Ihr Glück,
Fräulein von Tessau, wenn auch Ihr Scheiden von hier
hauptsächlich für Irina einen Verlust bedeutet. Aber bei so
glückstrahlenden Augen müssen alle egoistischen Wünsche
schweigen. Sie haben eine gute Wahl getroffen, Herr
Holmsen.«
»Hab ich auch«, gab er vergnügt zu. »Nur die übergroße
Bescheidenheit muß ich meinem Mädchen noch
abgewöhnen. So was finde ich nämlich scheußlich.«
Nun brachte auch die Baronin ihre Glückwünsche dar, die
knapp und kühl ausfielen, dann kam Irina an die Reihe.
»Fräulein von Tessau, das finde ich gar nicht nett, daß Sie

mich im Stich lassen wollen«, bemerkte sie vorwurfsvoll.
»Ich hatte mich so an Sie gewöhnt. Wer weiß, was für eine
Lehrerin ich nach Ihnen bekomme«, schloß sie seufzend,
und die andern lachten.
»Hoffentlich eine echte Gouvernante aus dem vorigen
Jahrhundert«, blinzelte Papa Holmsen ihr zu. »Die könnte
dir nämlich gar nichts schaden, du verflixtes Rackerchen.«
»Pfui, Herr Holmsen, wie können Sie nur. Ich war in den
letzten Wochen so brav.«
»Warst du auch«, nahm Frau Gina die Kleine in Schutz und
zog sie liebevoll an sich, als sie mit dicken Tränen in den
Augen klagte:

»Nun gehen alle bald fort, die ich lieb habe.«
»Aber Irilein, wie kann man nur so verzagt sein. Birgit
bleibt doch ständig hier, und wir andern treten zu jedem
Wochenende geschlossen an. Außerdem gibt es oft
Fahrgelegenheit zur Stadt, so daß du rasch bei uns sein
kannst.«
»Darf ich denn das?«
»So oft du magst, mein Kind.«
Da war sie getröstet und wurde fröhlich mit den
Fröhlichen. Sie durfte auch am Abend, als man bei einer
rasch improvisierten Feier gemütlich beisammen saß,

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gleich Alexa eine Stunde länger aufbleiben. Die Kinder
bekamen sogar ein Glas leichten Wein zu trinken, worüber

sie selig waren.
Natürlich hatte man auch die Baronin gebeten, an der Feier
teilzunehmen, was sie jedoch ablehnte. Sie wäre der
Fröhlichkeit bereits so entwöhnt, daß sie nur störend
wirken würde. Man sah es bei diesen Worten rot auf der
Stirn des Sohnes aufflammen – und er tat den andern
wieder einmal von Herzen leid.
»Wie lange gedenkt das neueste Brautpaar die Verlobung
auszudehnen?« erkundigte sich Papa Holmsen soeben.
»Zwei Hochzeiten in einem Jahr dürften unserer geplagten
Mutz denn doch zu viel werden.«
»Da soll ich womöglich bis zum nächsten Jahr warten?«

regte sich Wido auf. »Kommt gar nicht in Frage! In vier
Wochen wird geheiratet – und damit holla.«
»Paßt ja großartig«, lachte Bodo. »Dann steigen wir an
einem Tag in die Ehe. Ein Abwaschen für Mutz.«
»Also Doppelhochzeit – «, dehnte der Bruder. »Nun, mir
würde das nichts ausmachen, aber ob die Bräute damit
einverstanden sind? Die wollen ihren Ehrentag doch wohl
für sich allein haben.«
»Auf solche Äußerlichkeiten lege ich absolut keinen Wert«,
bemerkte Nora. »Das Wie ist mir egal, nur das Nachher
spielt für mich eine Rolle. Da allerdings möchte ich nicht
teilen«, schloß sie lachend. »Da will ich meinen Mann für

mich allein haben.«
»Ich auch!« rief Erla glückstrahlend. »Und wenn ich mit
hundert Brautpaaren zusammen zum Altar schreiten
müßte, die Hauptsache, daß ich dabei meinen Wido am
Arm habe.«
»Vernünftige Marjellchen«, schmunzelte Papa Holmsen.
»So ganz unserer Familie zugepaßt. Ihr habt in den
Glückstopf gegriffen, Jungens. Hätte auch verflixt anders
kommen können.«
»So wie wir gebaut sind, Vater«, schlug sich Bodo stolz in
die Brust. »Ehrensache, daß wir uns die Blumen aus dem

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Mädchenflor pflückten, die nicht bald welken, sondern an
unserm Herzen blühen ein Leben lang.«

»Der Herr Doktor wird poetisch«, lachte die Mutter
herzlich. »Ja, ja, was doch die Zauberin Liebe so alles
zuwege bringen kann.«
Birgit hörte das alles mit an – und das Herz tat ihr bitter
weh. Wie einfach war es doch bei den beiden Paaren. Sie
liebten sich, heirateten, wurden glücklich.
Und sie –?
Verstohlen suchte ihr Blick den Mann, für den ihr Herz so
qualvoll schlug. Zwar war er heute nicht so unzugänglich
wie sonst, aber noch lange nicht aufgeschlossen. Worin
bestand das Hindernis, das sie von ihm trennte? Doch nur
allein darin, daß sein Herz nicht dem ihren

entgegendrängte. Denn ihre Eltern hätten einen solchen
Schwiegersohn mit tausend Freuden begrüßt- und sie selbst
so einen Gatten mit unsagbarer Glückseligkeit.
Birgit beherrschte sich meisterhaft. Ließ durch nichts
erkennen, wie jammervoll ihr zumute war. Und dennoch!
Elternaugen sehen scharf, wenn es um ein geliebtes Kind
geht. So warfen sie sich einen fast entsetzten Blick zu – und
das Mutterherz zog sich schmerzend zusammen.
Nach einer Woche ging es dann endgültig in die Stadt
zurück. Wido nahm von seiner Braut Abschied, als
gedächte er tausend Meilen zwischen sich und sie zu legen.
»Erla, ist es nicht ein Skandal, daß wir nun statt vier

Wochen sechs mit der Hochzeit warten müssen, weil das
andere Paar so saumselig ist? Wieviel Tage sind das
überhaupt?«
»Zweiundvierzig, du Ungestüm«, lachte sie hellauf, und er
sah sie vorwurfsvoll an.
»Findest du das nicht unendlich lange?«
»An den Jahrzehnten gemessen, die wir miteinander zu
verbringen gedenken, ist das eine Lappalie«, gab sie
ungerührt zurück. »Zumal wir uns fast jeden Tag sehen
werden, mein anspruchsvoller Herr. Hörst du, die Eltern
rufen bereits nach dir. Laß sie nicht warten.«

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Noch einen Kuß, dann stürmte er davon, während Erla
langsamer folgte. Man nahm herzlichen Abschied, dann

fuhr der schwere Wagen an – und sie hatte das Gefühl, als
wäre plötzlich alle Sonne fort, die doch so golden vom
Himmel strahlte. Tränen traten in ihre Augen, die Birgit
gutmütig bespottete.
»Schließ die Tränendrüsen, geliebte Schwägerin. Geh nach
oben und lies Chamissos >Frauenliebe und Leben<.«
»Du bist abscheulich, Birgit!« rief das Fräulein von Tessau
empört, das sich in der einen Woche, da sie Braut war,
erfreulich verändert hatte. Sie fühlte sich so sicher im
Schoß der Familie Holmsen, daß alle
Minderwertigkeitskomplexe dahinschmolzen wie Schnee
im Frühlingswehen.

»Warte nur ab, wenn du einmal Braut bist, werde ich dich
genau so hochnehmen.«
»Recht so, Fräulein von Tessau«, lächelte der Baron, der
nebst Mutter und Schwester Familie Holmsen
verabschiedet hatte und nun die Neckerei mit anhörte.
»Lassen Sie sich nicht verspotten.«
»Tue ich denn das?« fragte Birgit harmlos. »Der Mann, dem
ein Mädchenherz zuschlägt, ist doch nun einmal für dieses
das Herzlichste von allen. Außerdem heißt es im Paganini:
>Bist Sklavin mir – <«
»Und Königin«, sang Erla jubelnd weiter. »Darin liegt
nämlich der Unterschied, meine liebe Birgit.«

»Mädchen, du hast dich während deiner kurzen Brautzeit
fabelhaft entwickelt«, stellte diese lachend fest. »Ich sehe
direkt das Krönchen auf deinem lockigen Haupt. Gehab
dich wohl, ich muß zum Dienst.«
Fort war sie, und Erla lächelte ihr nach.
»Ich liebe meine Schwägerin«, sagte sie zu dem Baron und
den Seinen. »Und zwar mit Recht. Denn so ein prächtiges
Menschenkind gibt es nicht oft, Möge der Himmel geben,
daß sie einen Mann findet, der ihrer würdig ist.«
»Will Fräulein Holmsen sich etwa auch verloben?« fragte
Irina interessiert, und Erla lachte.

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»Noch nicht.«
»Gott sei Dank!« atmete das Kind auf. »Verloben finde ich

gräßlich, weil da so ein Mann kommt und fortnimmt, was
einem lieb ist. Laden Sie mich wenigstens zur Hochzeit ein,
Fräulein von Tessau?«
»Natürlich, Iri. Willst du mir Rosen auf den Weg streuen,
wenn ich zum Altar gehe?«
»Dafür bin ich schon zu groß, für eine Brautjungfer noch
zu klein. Es ist schon ein Jammer!«
Lachend trennte man sich. Und als Erla am Abend mit
Birgit beim gemütlichen Plausch saß, sagte sie:
»Ich glaubte nicht recht zu hören, als Wido mir kurz vor
seiner Abfahrt im Vertrauen mitteilte, daß unsere geliebte
Mutz eine Stiefmutter wäre. Zwar zerbrach ich mir

manchmal den Kopf, wie es möglich sein kann, bei so
jugendlichem Aussehen schon einen dreißigjährigen Sohn
zu haben, aber daß sie nicht eure leibliche Mutter ist, kam
mir nicht in den Sinn. Wie alt ist sie überhaupt?«
»Siebenundvierzig.«
»Na, so was, man gibt ihr bestimmt zehn Jahre nach. Macht
das die glückliche Ehe, daß sie sich so jung erhalten
konnte?«
»Wahrscheinlich, Erla. Glaube mir, sie trägt Beträchtliches
dazu bei, daß die Ehe so glücklich ist. Man muß sich an ihr
ein Beispiel nehmen.«
»Das tue ich ganz bestimmt«, beteuerte die junge Braut

eifrig. »Wido wird nie über mich zu klagen haben.«
»Das glaube ich dir aufs Wort. Ein Segen für meinen Bruder
und uns alle mit, daß es dich gibt, Erla.«
»Ich danke dir, Birgit, für dieses Wort. Es macht mich stolz
und froh. Aber wie ist es, willst du nicht musizieren?«
»Erbarm dich, was für Liebeslieder müssen das wohl sein?«
»Gar nicht so schlimm, du Spottdrossel. Die meisten Lieder
handeln ja von Liebe, weil sie nun einmal das Köstlichste
im Menschenleben ist.«
»Danke für gütige Belehrung.«
»Bitte sehr. Kann ich mir erlauben, weil ich darin Erfahrung

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habe und außerdem älter bin als du.«
»Schau mal an, wie schlagfertig das Kind geworden ist. Nur

immer weiter so, dann kannst du mir direkt gefallen.«
Lachend nahm sie am Flügel Platz, und schon klangen
schmeichelnde Weisen auf. Deutlich drangen die Töne
durch das abendliche Haus, bis hin zu dem Mann, der am
Schreibtisch arbeitete, schließlich den Kopf in die Hand
drückte und lauschend verharrte.
Durch Gewitter und Sturm – o ja, so war das Mädchen hier
hineingestürmt, um alles auf den Kopf zu stellen. Gewitter
und Sturm würde es auch für ihn geben, wenn die
unbekümmerte Sängerin da oben sich einen Gatten
erwählte, der gewiß ein Landwirt war – und er von allem
weichen müßte, woran er mit ganzer Seele hing. Es würde

Herzblut kosten.
Unendlich zart klang es nun auf:

»Mein Herz und dein Herz sind ein Herz,
dein Schmerz ist mein Schmerz,
dein Glück mein Glück.
Was du mir gibst, das gebe ich dir,
vieltausendmal zurück…«

O nein, was der jungrote Mund da sang, davon wußte das
kühle, unbeschwerte Herz gewiß nichts. Dieses innige
Bekenntnis wurde für die Braut gesungen, die ihm mit

leuchtenden Augen lauschte.
Das nahm der Mann an. Keine Ahnung kam ihm, daß es
auch anders sein könnte.
In den folgenden Wochen gab es für den Verwalter so
strammen Dienst, daß er tagsüber kaum aus dem Sattel
kam. Daher bedeutete es für ihn eine Entlastung, als eine
Hilfskraft für die Rentmeisterei antrat und er seine
Schreibarbeit, die er am Abend zu erledigen pflegte, der
Rendantin übergeben konnte.
Nur ganz wichtige Briefe gab er nach Feierabend ins
Stenogramm. So rasch er auch diktieren mochte, die zarte

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Hand flitzte mit.
Wenn er schwieg, um nachzudenken, hingen die

wunderschönen Mädchenaugen aufmerksam an seinem
verschlossenen Antlitz. Kein privates Wort wurde
gewechselt, nur strenge Sachlichkeit herrschte vor – und
doch war diese Stunde für Birgit die schönste des Tages, auf
die sie sich schon freute, wenn sie morgens die Augen
aufschlug.
So ging es zwei Wochen, dann machte der nimmermüde
Verwalter plötzlich schlapp. Der Beweggrund dazu war
eigentlich klein. Als er nämlich auf das Dach der Scheune
stieg, um dort zwei junge Arbeiterinnen, die sich wütend in
den Haaren lagen, auseinanderzubringen, stieß er mit dem
Kopf so hart gegen die scharfe Kante eines Balkens, daß

ihm dunkel vor Augen wurde. Aber welch ein echter Mann
mißt dem wohl Bedeutung bei.
Nicht einmal die Wunde, die er sich zwei Finger breit über
der Schläfe geschlagen und aus der nun Blut sickerte,
konnte ihn dazu bewegen, seinen Arbeitsplatz zu verlassen.
Er hielt es noch nicht einmal für nötig, den klaffenden Riß
zu desinfizieren, als er sich vor der Mittagstafel frisch
machte. Bürstete nur die Haare darüber und vertraute
seinem gesunden Blut, das rasch alles zum Heilen brachte.
Aber diesmal sollte er sich denn doch verrechnet haben.
Während des Mittagessens wurde ihm plötzlich wieder
ganz schwarz vor den Augen. Taumelnd erhob er sich, griff

nach einem Halt.
»Odalf!« schrie die Mutter entsetzt auf. »Was hast du
denn?!«
Birgit dagegen erblaßte bis in die Lippen, eilte auf den
Taumelnden zu – und blickte in ein totenbleiches Antlitz.
Ihre Arme umschlossen, die schwankende Gestalt, und
schon war auch Erla zur Stelle.
»Um Gottes willen, er sinkt in sich zusammen«, flüsterte sie
angstzitternd der Schwägerin zu. »Wir müssen versuchen,
ihn in sein Schlafzimmer zu bekommen.«
Zwischen den beiden Mädchen, die ihn fest umfaßt

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hielten, setzte er mühsam Fuß um Fuß, bis er dann
stöhnend auf sein Bett sank. Das Kissen, auf dem der Kopf

lag, färbte sich rot von Blut.
»Großer Gott – er stirbt!« jammerte die Mutter, und Birgit,
die am ganzen Körper flatterte, fuhr sie ganz respektlos an:
»Seien Sie doch ruhig, Frau Baronin! Ihre Hysterie ist hier
ganz unangebracht.
Lauf, Erla, rufe den Arzt an und hinterher den Paps.«
Mit zitternden Knien eilte sie davon. Die Stimme wollte ihr
kaum gehorchen, als sie mit den Erwähnten sprach.
Der Arzt erschien zuerst, nähte die klaffende Wunde und
traf mit der Ruhe des Unerschütterlichen weitere
Maßnahmen. Als er jedoch davon sprach, den stark
Fiebernden in ein Krankenhaus zu überweisen, stieß er bei

dessen Mutter auf Widerstand.
»Nein, Herr Doktor, ich gebe meinen Sohn nicht fort. Ich
will ihn aufopfernd pflegen, Tag und Nacht.«
»Aber nicht ohne die Unterstützung einer erfahrenen
Pflegerin, Frau Baronin. Man kann nicht wissen, wie die
Infektion sich auswirken wird. Außerdem ist der Blutverlust
groß. Daher ist äußerste Vorsicht geboten.«
»Alles will ich tun, was Sie für richtig halten, Herr Doktor.
Nur lassen Sie mir meinen Jungen hier – bitte -!«
Mittlerweile traf auch Holmsen ein. Prüfend ging sein Blick
über die Mädchengesichter. Kein Wunder, daß sie blaß
waren. Aber was da in den Augen seiner Tochter brannte,

ließ auf mehr schließen als auf Angst und Schreck. Nun, sie
würde tapfer durchhalten, seine Birgit, wenn es auch noch
so arg kommen sollte.
Und es wurde arg genug, eine ganze Woche lang, in der das
Fieber durch den Körper des Verletzten raste. Und in den
trostlosen Stunden, während die Baronin um das Leben
ihres Sohnes bangen mußte, zog sie das Fazit – ihrer
Schuld.
Wie hatte sie doch allzeit dem Jungen das Leben schwer
gemacht, sich starrsinnig seinen Bitten, seinen
Vorstellungen und berechtigten Vorwürfen

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entgegengestemmt, in krassem Egoismus ihrer
Herrschsucht nachgegeben, immer nur an sich gedacht,

niemals an ihn.
Wenn er nun starb -?
Großer Gott, alles, nur das nicht! Wie sollte sie dann wohl
das Leben ertragen, mit einem Herzen voll Reue, mit
quälenden Selbstvorwürfen und bohrendem Schmerz um
unwiederbringlich Verlorenes! Zwar hätte sie diese Strafe
verdient, aber war es nicht Strafe genug, daß sie so
angstgefoltert um das Leben des Sohnes bangen mußte? Er
war noch nie ernstlich krank gewesen – und jetzt…
Nun ja, was er tat, das geschah eben gründlich, ganz oder
gar nicht. So auch bei den Fieberphantasien. Entweder
blieben die zersprungenen Lippen fest geschlossen oder sie

taten sich auf zu einem flehenden, erschütternden Ruf.
Dann neigte die gepeinigte Mutter demütig das Haupt und
schickte ein heißes Gebet zum Höchsten empor, um Gnade
bettelnd für den Sohn – und auch für sich.
So heftig wie die Krankheit begann, so riß sie auch ab. Der
Arzt, der zweimal am Tage nach dem Patienten sah, stand
gerade über ihn gebeugt, als die umflorten Augen jäh klar
wurden. Sie bohrten sich förmlich in das Gesicht des
Doktors, der vor Spannung den Atem anhielt. Die Stirn des
Kranken zog sich zusammen, unwillig öffnete sich der
Mund.
»Was wollen Sie eigentlich von mir? Lassen Sie mich doch

endlich in Ruhe!«
»Richtig so«, lachte der Mediziner herzlich. »Ich soll Sie in
Ruhe lassen, mein ungnädiger Freund? Tun Sie es lieber
mit mir, dann läuft die Karre richtig. Sie haben mir
nämlich arg zu schaffen gemacht. Hunger?«
»Nein.«
»Müde?«
»Ja.«
»Denn man hinein ins Traumland! Solche Patienten wie
Sie sind mir ungemein sympathisch.«
Lächeln schaute er auf den Kranken, der nun ruhig schlief.

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Da die Fieberröte aus dem Antlitz gewichen, sah man erst,
wie abgezehrt es war. Der Arzt wandte sich der Dame zu,

die mit angstzitterndem Herzen dem allen folgte.
»Lassen Sie ihn ruhig schlafen, Frau Baronin. Denn der
schläft sich unter Garantie gesund. Eine Natur wie aus
Eisen, kann man wohl sagen.«
»Herr Doktor, ist er jetzt – durch?« rang es sich mühsam
von den zuckenden Lippen, und mitleidig sah er in das
verhärmte Frauenantlitz.
»Wahrscheinlich. Komplikationen sind bei dem Prachtkerl
wohl kaum zu befürchten. Donner noch eins, der kann
einen schon in Atem halten – kurz aber heftig. Nun denken
Sie auch an sich, Frau Baronin, indes die Schwester wacht.
Tun Sie einen erquickenden Schlaf. Wovor Sie sich jetzt

fürchten müssen, ist das Erwachen unseres Patienten«,
setzte er lachend hinzu. »Denn seine Laune wird miserabel
sein.«
Wenig später betrat der Arzt das Speisezimmer, wo Frau
Gina mit Tochter und Schwiegertochter an der Mittagstafel
saß. Erstere war wie selbstverständlich in dem Herrenhause
von Ragaltshöfen erschienen, als sie von der Erkrankung
des Verwalters hörte. Offiziell um nach dem Rechten zu
sehen, in Wahrheit jedoch, um Birgit Halt zu bieten in
deren Herzensnot. Irina hatte man nach dem Holmsenhaus
gebracht, damit das Kind von alledem, was eine schwere
Krankheit mit sich bringt, verschont bliebe.

»Wie geht es dem Kranken, Herr Doktor?« fragte Frau Gina
jetzt bang.
»Er schläft«, erfolgte die Antwort schmunzelnd. »Daß dieser
Staatskerl nicht lange fackeln würde, nahm ich wohl an,
aber dieser kurze Prozeß überraschte mich denn doch. Und
nun werde ich hier mal wacker mithalten; denn in der
vergangenen Woche ist mir der Appetit vergangen.«
Sprach’s und setzte sich an den Tisch. Als Jost ein Gedeck
brachte, musterte der Arzt ihn scharf.
»In Ihrer Haut hätte ich auch nicht stecken mögen, Sie
Getreuer«, bemerkte er trocken. »Aber lassen Sie nur, bald

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werden Sie Ihren Abgott wieder erstanden sehen in
altgewohnter Körperkraft und Frische. Doch wie wär’s,

gnädige Frau – einen guten Tropfen haben wir uns wohl
redlich verdient, wie?« blinzelte er Frau Gina zu, die erst
einige Male tief Luft holte und dann herzlich lachte.
»Will ich meinen. Her damit, Jost! Aber etwas Extragutes,
wenn ich bitten darf.«
Verstohlen streifte ihr Blick die Tochter, die still, aber mit
leuchtenden Augen dasaß.
Mein Liebherz, mein tapferes – dachte die Mutter gerührt.
Wie du dich in den Tagen voll quälender Pein gehalten
hast, das soll dir mal einer nachmachen. Kein Jammern,
kein Klagen. Nach außen hin gefaßt, doch innerlich
schmerzzerrissen. Nicht das über die Lippen bringend, was

tief verschlossen im Herzen ruht. Gott möge dir gnädig
sein, du liebstes Kind, und da Rosen sprießen lassen, wo
jetzt noch alles voller Dornen ist.
»Scheußlich war das«, tat Birgit jetzt burschikos, um nur ja
nichts von dem Jubel in ihrem Herzen zu verraten, und der
Arzt lachte.
»Scheußlich ist gut. Ich habe eine andere Bezeichnung
dafür, gnädiges Fräulein. Die Damen sehen ordentlich
blaßschnäbelig aus. Kein Wunder, wenn Krankheit im
Hause ist. Da streikt der Magen, und die Sorge läßt nicht
schlafen.
Ah, da verteilt unser Jost bereits den guten Tropfen. Verflixt,

wie Öl fließt das Zeug ins Glas.«
»Trinken wir zuerst einmal auf die rasche Genesung des
Barons«, hob Frau Gina das ihre. »Und dann kommen Sie
an die Reihe, Herr Doktor. Oder wollen Sie etwa abstreiten,
daß Sie sich um den Kranken ganz besonders bemühten?«
»Wenn ich nun etwas von Pflicht fasele, lachen die Damen
mich ja doch aus«, entgegnete er schmunzelnd. »Da sage
ich schon lieber: Prosit!«
Und während man es sich an der Tafel gut sein ließ, schlief
Odalf friedlich der Genesung entgegen. Er tat es dreimal
um die Uhr, und als er dann erwachte, verlangte er zu

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essen. Das war Musik für die Ohren der Mutter. So freudig
hatte sie wohl noch nie den Wunsch eines Menschen

erfüllt.
Viel war es nicht, was der Sohn von der leichten Kost zu
sich nahm, doch für den Anfang immerhin ausreichend. Er
schlief der Mutter fast unter den Händen ein. Tat es noch
mit kurzen Unterbrechungen, da er Nahrung zu sich nahm,
drei Tage. Dann hatte er es soweit geschafft, daß es zur
schlechten Laune ausreichte, die sich sogar auf Papa
Holmsen erstreckte, als er seinen ersten Krankenbesuch
machte.
»Da hätten wir den schneidigen Kerl ja wieder.« Er sah
forschend in das Männerantlitz, das wohl schmal, aber
verhältnismäßig frisch wirkte. »Mein lieber Freund, haben

Sie ein Tempo! Brummt der Schädel noch?«
»Nein, der ist klar«, kam es knapp zurück. »Daher halte ich
es für eine Schande, während der Ernte, wo ich an allen
Ecken und Enden nötig bin, hier faul herumzuliegen.«
»Sind Sie aber eingebildet«, meinte der andere erstaunt.
»Sie sollten mal sehen, wie flott es draußen auch ohne Sie
vorwärts geht. Der Roggen ist bereits unter Dach und Fach,
das nächste Getreide folgt.«
»Und der ganze Schreibkram?«
»Den erledigt meine Tochter sozusagen aus dem
Handgelenk.«
»Dann bin ich ja übrig auf Ragaltshöfen.«

»Mann, haben Sie eine Laune! Aber schadet nichts. Wir
sind geduldig und langmütig, nicht wahr, Frau Baronin?«
»Allerdings, Herr Holmsen. Das alles nehme ich schon gern
auf mich. Die Hauptsache, daß mein Junge mir erhalten
blieb.«
Nun fing die Sache an rührselig zu werden, und das konnte
Papa Holmsen nicht vertragen. Das gab immer ein so
seltsames Gefühl in der Magengegend. Rasch
verabschiedete er sich und meinte vergnügt, als er wieder
unter den Seinen saß:
»Die Baronin hat eine Radikalkur hinter sich, die nicht so

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ohne ist. Wozu Krankheiten doch manchmal gut sind. Sie
lehren auch die störrischsten Menschen erst das in voller

Größe schätzen, was sie bisher als selbstverständlich
erachteten. Die wird ihren Sohn fortan nicht mehr quälen
mit ihrem starren Sinn. Die ist so klein und häßlich
geworden, daß es einen fast erbarmt.«
Am nächsten Tage gestattete der Arzt seinem Patienten,
aufzustehen, da dessen Ungeduld sich nicht länger zügeln
ließ. Doch kaum stand Odalf auf den Beinen, merkte er
erst, wie schlapp er war. Kaum schaffte er die Schritte vom
Bett bis zum Fenster, wo ein bequemer Lehnstuhl stand.
Doch von Tag zu Tag ging es immer besser, er merkte
direkt, wie seine Kräfte zunahmen.
So saß er auch heute wieder in dem Sessel und sah durch

das weit geöffnete Fenster hinaus in den sommerlichen
Park. Hinten im Garten sah er das Brautpaar Arm in Arm
lustwandeln, ihr fröhliches Lachen klang bis zu ihm hin.
»Sie sind doch wertvolle Menschen, die Holmsen«, sprach
da die leise Stimme der Mutter neben ihm. »Fräulein von
Tessau paßt zu ihnen. Während du schwer krank
daniederlagst, hat sie den Verlobten gebeten, hier nicht zu
erscheinen, worin er sich auch ohne Murren fügte. Man
brachte dir überhaupt viel Teilnahme entgegen, mein
Junge. Daraus kann man ersehen, wie beliebt du bei der
ganzen Familie bist. Und wie liebreich sie sich Irinas
annahmen, so was findet man nicht oft.«

»Gewiß«, entgegnete er knapp, und die Mutter konnte
einen schmerzlichen Seufzer kaum unterdrücken. Zwar war
Odalf nie besonders zugänglich gewesen, aber jetzt hatte
sie das Gefühl, als umgäbe seine Person ein
undurchdringlicher Panzer. Er lehnte es auch schroff ab, als
sie ihm zu verstehen gab, daß die drei Damen sich nach
seinem Ergehen erkundigen wollten. Durch das Fenster
ließe sich das wohl gut machen.
»Bitte die Damen, davon abzusehen, Mama. Es wäre
beschämend, mich ihnen in dieser Verfassung zu
präsentieren. Das soll geschehen, wenn ich wieder

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vollständig auf den Beinen bin, was bald geschehen
dürfte.«

Und tatsächlich setzte seine kräftige Natur sich so glänzend
durch, daß es mit seiner Genesung rapide aufwärts ging.
Sein fester Wille, seine eisenharte Energie taten ein übriges
und so konnte es kommen, daß er nach drei Wochen
wieder an der gemeinsamen Tafel teilnahm. Es war gerade
ein Sonntag und Familie Holmsen vollzählig zugegen.
Als er das Speisezimmer betrat, lief ihm Irina
freudestrahlend entgegen.
»Wie schön, daß du wieder da bist, Odalf. Ach, was habe
ich geweint, als es dir so schlecht ging! Aber Alexa hat mich
getröstet und gesagt, du würdest ganz bestimmt gesund.
Geht es dir jetzt wirklich schon wieder ganz gut?«

»Ganz wirklich, Irilein. Laß mich los, damit ich die
Herrschaften begrüßen kann.
Gnädige Frau, es tut mir sehr leid, daß ich solche Unruhe
ins Haus brachte.« Er beugte sich artig über die Hand
Ginas, die ihm liebenswürdig zulächelte.
»Wenn die Unruhe nur alles gewesen wäre, Herr Baron.
Alles andere machte uns weit mehr zu schaffen. Jedenfalls
freue ich mich ehrlich, Sie wieder wohlauf zu sehen.«
»Und ich erst«, schaltete sich Wido vergnügt ein. »Zehn
Tage lang verbannte mich mein unbarmherziges Mädchen
aus seiner Nähe.«
»Dafür stand das Telefon nicht still!« rief der Bruder

neckend dazwischen. »Wenn du die Gebühren dafür
bezahlen müßtest, würdest du wohl ein saures Gesicht
machen. Sie sehen tatsächlich schon wieder ganz
ordentlich aus, Herr Baron. Nicht wahr, Nora?«
»Kann ich nur bestätigen. Solche Patienten, die so rasch
wieder auf die Beine kommen, wünsche ich mir zuhauf.«
Auch Papa Holmsen fand für den Genesenen herzliche,
humorvolle Worte – nur Birgit sagte nichts. Sie reichte ihm
die Hand und gab sich alle Mühe, unter einer freundlichen
Miene das zu verbergen, was ihr Herz bewegte.
Das wurde nun ein recht fideles Mahl. All die Fröhlichkeit,

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die bange Tage hindurch eingedämmt worden war, brach
jetzt durch. Man schien wie eine große Familie, die

miteinander lachte und weinte.
Am nächsten Tag trat der Verwalter wieder seinen Dienst
an. Die Leute brachten ihm direkt Ovationen, die er freudig
bewegt entgegennahm.
Und dann ging alles seinen alten Gang. Als Birgit sich im
Arbeitszimmer des Verwalters einfand, den
Stenogrammblock in der Hand, winkte er lächelnd ab.
»Wozu das, gnädiges Fräulein? Sie haben doch auch ohne
mich Hier alles glänzend geschafft.«
»Das wäre! Bin manchmal ratlos genug gewesen. Dann lief
ich zum ersten Inspektor, und wir schwitzten gemeinsam
Angst.«

»Wenn übertreiben – denn. Was soll ich überhaupt
diktieren?«
»Die Beantwortung dieser beiden Briefe, bei der ich mir arg
den Kopf zerbrechen müßte. Und dazu verspüre ich keine
Lust.«
»Na schön«, nahm er die beiden Schreiben zur Hand, die
als einzige noch unerledigt dalagen. Während er sie las,
betrachtete sie verstohlen das rassige Männerantlitz, das
genau noch so verschlossen erschien, wie vor der Krankheit
des Mannes. Nichts war anders geworden – aber auch gar
nichts. Sie schrak zusammen, als er sachlich sagte:
»Schreiben Sie bitte, gnädiges Fräulein.«

Wohl zehn Minuten lang flitzten die Finger über den Block,
dann konnte sie gehen. Hätte er nur eine Ahnung gehabt,
wie ungern sie es tat, wäre er wohl recht betroffen gewesen.
Ein sonnenklarer Septembertag stieg auf, der vier
liebeheißen Herzen die letzte Erfüllung bringen sollte. Die
standesamtliche Trauung, an der Martin Holmsen und
Odalf Vörswelde fungiert hatten, war vorüber, gleichfalls
das anschließende Mahl. Eine knappe Stunde noch, dann
begann das kirchliche Zeremoniell.
Frau Gina betrat das Ankleidezimmer, in dem der Gatte vor
dem großen Spiegel stand und sich mit dem schneeweißen

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Binder abplagte.
»Gut, daß du kommst, Fraule. Ich werde mit dem Dings

einfach nicht fertig.«
»Habe ich mir so ungefähr gedacht«, entgegnete sie
lachend. »Halt mal fein still – siehst du, jetzt ist’s geschafft.
Ein Gesicht machst du, als hätte man dir auf die
Hühneraugen getreten. Und das am Hochzeitstag deiner
beiden Söhne und ihrer prächtigen Auserwählten.«
»Ach was«, brummte er, indem er sich den Frack anzog.
»Daß man doch nie ganz unbeschwert in eine Sache
hineinsteigen kann. Immer setzt das liebe Schicksal einem
einen Dämpfer auf.«
»Birgit -?« fragte sie leise.
»Na was denn sonst?« kam es unwirsch zurück. »Hast du

eine Ahnung, wie unserer Kleinen heute zumute sein muß?
Wenn ich nur so könnte wie nicht, dann würde ich den
verbohrten Baron bei den Ohren nehmen, ihn rütteln und
schütteln, daß ihm Hören und Sehen vergeht. Verflixter
Bengel! Könnte sich so leicht ins warme Nest setzen mit
einer Frau – «
»Die er nicht liebt«, ergänzte die Gattin trocken, und da
brauste er auf.
»Ja, was will der Mann denn überhaupt? Gibt es etwa ein
liebenswerteres Menschenkind als unsere Tochter?«
»Danach fragt die Liebe nicht, Martin. Laß ab von deinem
Zorn, er nützt dir ja doch nichts. Komm, setz dich hin.

Rauche eine Zigarre und gib mir eine Zigarette.«
Nur widerwillig kam er ihrem Wunsch nach.
»So, mein lieber Mann, jetzt wollen wir erst mal geruhsam
verschnaufen, bevor der Rummel weiter geht. Hätte nicht
gedacht, daß so viele Gäste zusammenkommen könnten.
Und dabei sind es nur solche, die unbedingt eingeladen
werden mußten.«
»Das ist doch alles so unwichtig«, winkte er verdrossen ab.
»Den Klimbim übersteht man schon. Zum Kuckuck, dieser
Vörswelde ist einfach ein Narr!« legte er nun wieder los,
doch die Gattin preßte ihm rasch die Hand auf den Mund,

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weil sie Schritte im Nebenzimmer hörte. Gleich darauf
stand Birgit auf der Schwelle.

»Ist das die Möglichkeit!« rief sie lachend. »Unten steht
man fast Kopf vor Aufregung, während unsere >Altchen<
gemütlich sitzen und rauchen. Die ersten Wagen sind
schon unterwegs, um Gäste zur Kirche zu bringen, und hier
tut man so, als befände man sich auf einer einsamen Insel.«
»Das war aber mal eine nette Standpauke.« Der Vater besah
sich schmunzelnd sein Töchterlein. »Potztausend,
Mädchen, du schaust ja aus wie ein Bild in deinem neuen
Festgewand. Wenn ich nicht gerade dein Vater wäre, würde
ich mich unsterblich in dich verlieben.«
»Das könnte dir noch so passen«, tat Frau Gina entrüstet.
»Ich zeige mich dir bereits eine halbe Stunde in meinem

Glanz, den du überhaupt nicht bemerkt hast.«
»Tatsächlich, Fraule«, kratzte er sich verlegen den Kopf.
»Aber weißt du, der Mensch ist nun mal ein
Gewohnheitstier. Wer ständig so was Bezauberndes vor
Augen hat, sieht es zuletzt gar nicht mehr.«
»Echt männlich.«
»Böse, Liebchen?«
»Fürchterlich, Schätzchen.«
»Und das nach zwanzigjähriger Ehe«, besah sich die
Tochter kopfschüttelnd das Elternpaar, das sich verschmitzt
zulächelte.
Gleich darauf stürmte Wido ins Zimmer.

»Birgit, wo bleibst du? Der Baron steht sich unten die Beine
krumm und du plauschst hier in aller Seelenruhe. Läßt den
Wagen warten.«
»Der sich die Räder krummsteht«, fiel sie ihm lachend ins
Wort, und er tat fröhlich mit.
»Kinder, was ist die eigene Hochzeit doch für eine
aufregende Angelegenheit. Noch einmal mache ich so was
bestimmt nicht mit. Komm, Schwesterlein, jetzt bist du am
dransten.«
»Was denn, um zu heiraten?«
»Mädchen, mach mich nicht konfus. In die Kirche fahren

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sollst du mit deinem Kavalier.«
Wenig später stand Birgit vor dem eleganten Mann im

Frack, der ihr mit tadelloser Verneigung einige auserlesene
Blüten überreichte, bevor er ihr den Arm bot. Das Ehepaar
Holmsen sah dem distinguierten Paar nach, und ihr Herz
zog sich schmerzend zusammen.
Wenn doch – ja wenn…
Das Zeremoniell verlief in der Kirche mit üblicher
Feierlichkeit, Irina, die eine solche zum erstenmal
mitmachte, schmiegte sich eigen berührt an die Mutter,
während Alexa es bei Frau Gina tat. Die Orgel spielte leise,
eine sympathische Männerstimme sang, die Ringe wurden
gewechselt – und zwei junge Frauen Holmsen verließen
glückstrahlend die Kirche, von den ergriffenen Angehörigen

gefolgt. Auch weiter verlief alles programmäßig, von der
Festtafel bis zur Abfahrt der beiden jungen Paare.
Jedes einem anderen Ziel entgegen, versteht sich.
»So, das hätten wir geschafft.« Papa Holmsen wischte sich
schmunzelnd den Schweiß von der Stirn. »Jetzt beginnt der
gemütliche Teil.«
Er hakte sich bei seiner Frau ein und gesellte sich mit ihr
der Gruppe zu, wo unter anderen Gästen auch Vörswelde
neben seiner Mutter saß. Vornehm sah die Dame aus in der
schweren Seidenrobe und dem wohlfrisierten. Haupt.
Wenn sie auch jetzt nicht sehr gesprächig war, so ging sie
doch mehr aus sich heraus als gewöhnlich. Mit Staunen

und Zufriedenheit zugleich hatte sie von der glänzenden
Festgestaltung Kenntnis genommen. Wirklich über jede
Kritik erhaben. Sie schienen ein vornehmes Haus zu
machen, die Holmsen.
Eben trat Birgit hinzu, bezaubernd anzuschauen in ihrem
»Gedicht von Kleid«. Voller Stolz besah sich der Vater sein
Töchterlein.
»Wo steckten wir solange, mein Mädchen, hm?«
»Oben bei Irina und Lexi. Die beiden kleinen Damen
haben regelrecht getafelt, dabei ist ihnen der Wein in die
Köpfchen gestiegen. Sie wollen sich über alles und jedes

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halbtot lachen, tanzen dabei zur Rundfunkmusik
quietschvergnügt. Sie meinen, was wir hier unten können,

stände auch ihnen zu.«
Da nun die Musik einsetzte, machten die Herren sich
daran, zuerst einmal ihre Tischdamen aufzufordern. So
verneigte denn Odalf sich vor Birgit, die ihm
bangklopfenden Herzens auf das Parkett folgte. Ein Gefühl,
wonnig und weh zugleich, erfüllte sie, als er den Arm um
ihre Mitte legte. Er tanzte gut, wie man es anders wohl
kaum erwarten durfte. Führte sie sehr korrekt und genug
distanziert. Sein Antlitz blieb hart und verschlossen wie
gewöhnlich.
Und dabei sang doch die Geige so süß, ganz nah war ihm
das zauberschöne Mädchengesicht. Papa Holmsen hatte

recht – der Mann war wirklich ein Narr.
Als er später mit Frau Gina tanzte, sagte sie besorgt:
»Sie sehen blaß aus, Herr Baron.«
»Das macht die Beleuchtung, gnädige Frau.«
»Hoffentlich. Sie sollten sich beim Tanz nicht
überanstrengen, der Sie noch vor Wochen schwer krank
darniederlagen. «
»Das ist doch schon längst vergessen. Außerdem soll der
Tanz doch ein Vergnügen sein, keine Anstrengung.«
»Das sagen Sie nicht. Nehmen wir als Beispiel die
modernen Tänze, bei denen man sich so verrenken muß,
als gälte es Steine zu karren oder Bäume aus der Erde zu

reißen.«
»Scheußlich«, ließ er nun sein dunkles, sonores Lachen
hören. »So ein Kasperletheater mache ich erst gar nicht
mit.«
»Das hören wir Alten gern.«
»Alt, gnädige Frau – Sie?«
»Nun lacht der Mensch mich noch ganz respektlos aus«, tat
sie entrüstet. »Bitte sehr, ich habe zwei verheiratete Söhne.
Das heißt – «
Fragend sah sie zu ihm auf, und er nickte.
»Ich weiß Bescheid, gnädige Frau, durch Ihren Gatten. Eine

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verpönte Bezeichnung in Ihrer Familie – und mit Recht.
Wer eine so vorbildliche Mutter ist, der ist eben eine.«

»Das war ein gutes Wort, Herr Baron«, entgegnete sie warm.
»Ich liebe meine Kinder, deren es jetzt drei mehr gibt; denn
auch Alexa rechne ich dazu. Gäbe Gott, zu ihnen gesellte
sich recht bald noch ein Sohn.«
Schien es nicht, als ob er erblaßte? Wohl nur eine
Täuschung, weil er ruhig antwortete:
»Dazu wünsche ich Ihnen alles Glück, gnädige Frau.«
Oh, über diesen verbohrten Menschen -! dachte sie
ärgerlich. Martin hat recht. Man müßte ihn bei den Ohren
nehmen und gehörig zusammenschütteln.
Gina wurde einer Antwort enthoben, da die Musik schwieg.
An Odalfs Seite ging sie nach dem Tisch zurück, wo jetzt

der Hausherr neben der Baronin saß. Sie waren beide so
vergnügt, daß der Sohn die Mutter erstaunt ansah.
»Siehst du, mein Junge, ich kann auch fröhlich sein«, nickte
sie ihm mit ungewohnter Herzlichkeit zu, worauf er nach
ihrer Hand griff und seine Lippen auf sie drückte.
I du verflixter Bengel! dachte Holmsen, zwischen Ärger und
Humor schwankend. Wie tief sich dein stolzer Nacken
beugen kann – wenn er will. Wenn du es doch auch
woanders tätest, wo es tiefste Glückseligkeit hervorrufen
würde.
Sein Blick suchte Birgit, die mit einem nicht mehr jungen
Herrn vergnügt drauflos steppte. Recht so, mein

Marjellchen, laß dir deine Fröhlichkeit nicht nehmen –
auch von dem stolznackigen Baron nicht.
»Ja, da werde ich wohl wieder mein Dienerchen machen
müssen, bis ich die Damen bepflichttanzt habe.« Er erhob
sich und zog die Weste glatt »Macht Spaß und nicht. Bei
denen ersteres der Fall ist, trete ich gleich an, bei den
andern lasse ich die Musik erst ein Weilchen spielen. Sie
sollten sich meine vernünftige Taktik zunutze machen,
Herr Baron.«
Ihm vergnügt zublinzelnd ging er davon und hielt gleich
darauf eine stocksteife Partnerin im Arm.

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»Man sieht direkt, daß mit dieser Dame zu tanzen eine
Arbeit ist«, bemerkte Frau Gina lachend. »Und gerade sie

hält streng darauf, nur nicht übergangen zu werden.«
»Aber Ihr Gatte scheint mit dieser schwierigen
Angelegenheit recht gut fertig zu werden«, bemerkte die
Baronin lächelnd. »Wie kommt es übrigens, daß keine
Verwandten der beiden jungen Frauen zugegeben sind?
Wurden sie nicht eingeladen?«
»Nein, weil Erla sich dagegen sträubte. Das arme Kind muß
böse Tage bei den herzlosen Menschen gehabt haben, so
daß es jetzt nichts mehr von ihnen wissen will. Nora
hingegen besitzt keine näheren Verwandten und mit den
entfernten hat sie keine Fühlung. Meine Söhne können
froh sein, so prachtvolle Frauen gefunden zu haben.

Doch nun will ich dafür sorgen, daß die fleißigen Musiker
eine längere Pause einlegen, in der sie sich genügend
stärken können. Gleichfalls sollen es die Gäste tun. Bitte
mich daher für ein Weilchen zu entschuldigen.«
Mutter und Sohn blieben nun allein am Tisch zurück.
Einige Minuten herrschte Schweigen zwischen ihnen, dann
meinte erstere:
»Gutes Haus hier.«
»Hast du etwa daran gezweifelt, Mama?«
»Das nicht, aber mancherlei überrascht mich dennoch.
Jedenfalls haben die beiden vermögenslosen jungen Frauen
sich hier ins warme Nest gesetzt.«

Die letzten Worte hörte Birgit, die unbemerkt hinzutrat. Es
war ein spöttischer Blick, der zu der Dame hinging und sie
verlegen machte, während dem Sohn das Blut ins Gesicht
stieg. Das Mädchen jedoch tat ganz harmlos, nahm Platz
und sah vergnügt zu, wie die Gäste sich an den Tischen
gruppierten. Sie waren so gestellt, daß man sich bequem
miteinander unterhalten konnte.
So flog denn auch manches Scherzwort hin und her. Der
Sekt, der zu den Delikatessen gereicht wurde, löste die
Zungen, so daß bald eine unbeschwerte Fröhlichkeit
herrschte.

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»Nun, Fräulein Birgit, jetzt sind Sie am dransten.« Ein
bejahrter Herr hielt ihr sein Glas entgegen. »Sehen Sie zu,

daß Sie uns gleich den Brüdern bald zu so einer vergnügten
Feier wieder verhelfen. Einen Mann hätte ich für Sie.
Wollen Sie ihn mal ansehen?«
»Warum nicht?« gab sie mutwillig zurück. »Ansehen kostet
ja nichts. Ist er schneidig, hat er Geld?«
»Beides. Und Landwirt ist er auch.«
»Großartig, dann müßte die Sache eigentlich klappen.«
»Und das Herz?« rief eine jüngere Dame hinüber.
»Das muß mit.«
So trocken klang es, daß stürmische Heiterkeit ausbrach.
Jedenfalls hatten die Eltern wieder einmal Grund, stolz auf
ihre Tochter zu sein. Wo andere Mädchen, die das gleiche

Herzweh trugen, sich wehleidig aller Freude ausgeschlossen
hätten oder gar am Leben verzagt wären, kämpfte sie sich
tapfer durch ihre Trübsal und brachte die Kraft auf, sich in
Gegenwart anderer darüber hinwegzulachen. Sie vermied
es sogar, die Lieben in ihre Herzensnot hineinzuziehen,
weil sie wußte, daß diese dann mit ihr leiden würden. Also
war das kein Mangel an Vertrauen, sondern nur zarte
Rücksichtnahme.
Nachdem die Gäste und auch die Musiker sich genügend
gestärkt hatten, konnte wieder der Tanz beginnen. Da die
älteren Herrschaften nun nicht mehr daran teilnahmen,
sondern einen gemütlichen Plausch vorzogen, gab es auf

dem Parkett reichlich Platz für die Tanzlustigen.
Hauptsächlich der eine Herr, der leidenschaftlich gern
tanzte, holte immer wieder die Tochter des Hauses, die
auch wirklich eine glänzende Partnerin war. Seine Frau, die
sich aus dem letzten Wochenbett immer noch nicht so
recht erholen konnte, gönnte ihrem Mann das harmlose
Vergnügen von Herzen, weil sie genau wußte, daß dem
treuen Ehekameraden keine Frau gefährlich werden konnte
– und mochte sie auch noch so zauberhaft sein wie Birgit
Holmsen.
Eben tanzte er mit ihr einen Paso doble. Wie ein

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Wirbelwind ging es über das Parkett.
»Das geht aber flott«, meinte ein dicker, asthmatischer Herr

förmlich andächtig. »Wo die Leutchen die Puste herkriegen,
das möchte ich gern wissen.«
Nun, außer Atem waren sie schon, als sie Schluß machten.
Heiß und leicht schnaufend ließ sich Birgit auf den Stuhl
fallen.
»Herrlich war das, aber jetzt habe ich für eine Weile genug.
Laß nur, Mutz, ich trinke vorsichtig«, beschwichtigte sie die
Mutter, die auffahren wollte, als sie nach dem Sektglas griff.
»Du weißt, ich bin nicht unvernünftig.«
»Nein, das bist du wirklich nicht«, betonte sie
nachdrücklich. »Wohl dir, mein Kind.«
Allmählich begannen die älteren Herrschaften

aufzubrechen, doch die jüngeren mochten sich von der
gastlichen Stätte noch nicht trennen. Eine junge Frau, die
über eine liebliche Stimme verfügte, wurde gebeten, etwas
zum besten zu geben. Sie tat es ohne Ziererei, beriet mit
den Musikanten, und ein lustiges Potpourri stieg. Man
lauschte mit Genuß und horchte dann auf, als eine innige
Weise dazwischenklang.

Mein Herz und dein Herz sind ein Herz-

Wie ein jubelndes Geständnis kam es über die Lippen der
Sängerin, die, wie bekannt, mit ihrem Mann in glücklicher

Ehe lebte. Er lauschte mit leuchtenden Augen, und die
anderen hatten ihre Freude daran.
Nur Birgit hatte das Gefühl, als bohre es in ihrem Herzen
herum wie mit eines stumpfen Messers Schneide. Sie wagte
den Blick nicht zu heben, damit er nicht den Augen des
Mannes begegnete, in denen gewiß ein nachsichtiges
Lächeln lag – oder gar verletzende Ironie. Wie eine Marter
erschien ihr die jubelnde Stimme. Sie atmete wie erlöst auf,
als diese endlich schwieg.
Und als später auch die letzten Gäste aufbrachen, da mußte
die bezaubernde Birgit Holmsen feststellen, daß Baron

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Vörsweide auf dem Fest nur einmal mit ihr getanzt hatte –
und zwar den Pflichttanz.

Birgit blieb noch einen Tag im Elternhause, dann fuhr sie
wieder nach Ragaltshöfen und nahm Irina mit. Deren
Plappermaul stand nicht still. So wunderschön wäre es
gewesen, gar nicht zu beschreiben. Am liebsten bliebe sie
immer bei Alexa und den guten Holmsens. Doch als sie
Mutter und Bruder begrüßte, war sie dennoch froh, wieder
bei ihnen zu sein.
Aber still war es im Hause. Obwohl Erla gewiß kein Leben
hineingebracht hatte, spürte man ihr Fehlen trotzdem.
Hauptsächlich Birgit. Als sie ihr Zimmer betrat, kam es ihr
seltsam öde und leer vor. Scheu streifte ihr Blick die Tür,
durch die sich so oft ein dunkler Lockenkopf gesteckt hatte.

Nun, der legte sich jetzt an ein Herz, da unten im Süden,
wo es nur Glückstage gab für die einst so zaghafte, vom
Schicksal stiefmütterlich behandelte Erla von Tessau.
Ich bin ja töricht – sann Birgit verdrossen. Warum bleibe
ich überhaupt hier, die ich ein so harmonisches,
liebedurchwehtes Elternhaus habe. In der Rentmeisterei
sitzt jetzt eine tüchtige Kraft, welche die Arbeit auch allein
schaffen würde, und der Verwalter braucht mich für seinen
Schreibkram auch nicht unbedingt. Bin ich also hier weiter
nichts als eine Staffage. – Ich fahre morgen nach Hause
und komme immer nur zum Wochenende mit den Eltern
her.

Aber kaum hatte sie das gedacht, wurde sie kleinlaut. Die
Eltern, ja, was würden die wohl sagen, wenn sie, die kaum
vor einem halben Jahr aus dem behüteten Nest
frischfröhlich den ersten Flug unternommen, sich mit
gebrochenen Flügeln zurückfand? Nein, das ging nicht,
feige durfte sie nicht sein. Sie wollte und mußte
durchhalten.
Und es ging – wenn auch in den ersten Tagen nur
widerwillig und verdrossen. Zum Wochenende waren dann
wieder die Eltern nebst Alexa da, und schon gab es
fröhliches Leben im Hause.

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Die Baronin, die sich jetzt nicht mehr absonderte, sondern
auch nach den Mahlzeiten mit Familie Holmsen

zusammensaß, machte zumeist einen gedrückten Eindruck,
wozu sie eigentlich keine Veranlassung hatte. Der Sohn war
wieder vollkommen gesund, Irina prächtig erholt und recht
manierlich, also hätte die Mutter von Herzen zufrieden
sein müssen. Doch sie sah zuweilen blaß aus, in ihren
Augen brannte es wie von ungeweinten Tränen. Und da bei
jedem Menschen einmal die Nerven nachgeben, und
mochten sie hart wie Stränge sein, so geschah es auch hier.
Es war an einem Sonntag zwischen Mittag und Kaffee, als
das Ehepaar Holmsen es sich auf der Terrasse in den
Liegestühlen gut sein ließ. Man mußte die Sonnentage
weidlich ausnutzen, die im Oktober rar zu werden

begannen. Drei Wochen später kam der November, der mit
dem schönen Wetter Schluß machte.
Die Bäume prangten in ihrem Herbstschmuck aus farbigem
Laub, gleichfalls die Blumen mit ihren leuchtendbunten
Farben. Es war so still um die ruhenden Menschen, daß sie
behaglich vor sich hin duselten. Weiter im Park hörte man
fröhliches Lachen. Dort spielten die beiden Kinder mit
Birgit Tennis.
Plötzlich hob Frau Gina den Kopf – lauschte, dann rüttelte
sie den Arm des Gatten.
»Hör mal, Martin, weint da nicht jemand?«
»Tatsächlich«, entgegnete er betroffen. »Wer kann das nur

sein? Birgit und die Kinder befinden sich doch auf dem
Tennisplatz.«
Sie standen auf, legten sich über die Brüstung der Terrasse –
da, jetzt klang es schon näher. Beunruhigt stiegen sie dann
die Stufen hinab in den Park, gingen am Haus entlang –
und schon fanden sie des Rätsels Lösung. Im Lehnstuhl am
geöffneten Fenster ihres Zimmers saß die Baronin, hielt das
Gesicht in den Händen und weinte jammervoll. Betreten
schauten die Draußenstehenden sich an. Was war denn
hier richtig, was falsch? Sollten sie sich taktvoll entfernen
oder - In dem Moment hob die Weinende den Kopf,

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erblickte die beiden Menschen, die Hand in Hand wie
arme Sünder dastanden.

»Oh, entschuldigen Sie«, stammelte der zuckende Mund.
»Ich konnte nicht ahnen…«
»Frau Baronin, kann ich Ihnen vielleicht helfen?« fragte
Gina zaghaft, und die andere schüttelte den Kopf.
»Danke – es ist schon vorüber. Ich schäme mich ordentlich
meiner Schwäche.«
»Dann kommen Sie wenigstens hinaus in die Sonne.«
»Das kann ich tun.«
Wenig später erschien sie auf der Terrasse, wohin auch die
Gatten zurückgekehrt waren. Mitleidig schaute Gina in das
verweinte, verhärmte Frauenantlitz, in dem es jetzt wieder
arbeitete und zuckte.

»Nein, Frau Baronin, so geht es denn doch nicht«, sagte sie
entschieden. »Wir gehen in das kleine Zimmer, wo wir
ganz ungestört sind. Dort erzählen Sie uns Ihren Kummer,
und wir werden Ihnen zu helfen Versuchen.«
Damit zog sie die Dame einfach fort, drückte sie in dem
lauschigen Gemach in einen Sessel. Holmsen, der gefolgt
war, schloß die Tür und nahm, gleich der Gattin, Platz,
»Sie müssen nicht etwa annehmen, daß wir neugierig sind,
Frau Baronin«, begann er verlegen. Doch sie winkte mit
einem traurigen Lächeln ab.
»Um das anzunehmen, kenne ich Sie schon zu gut. Es ist ja
auch nichts Direktes geschehen. Ich bin hur in Sorge um

meinen Sohn, habe Angst um ihn.«
»Wie denn, ist etwas von seiner Krankheit
zurückgeblieben?« forschte Gina bang.
»Das nicht. Er trägt aber unstillbares Leid, das, wie ich
fürchte, ihn langsam zermürben könnte.«
»Kennen Sie das Leid?«
»Ja.«
»Und Sie sind nicht in der Lage, ihm zu helfen?«
»Nein.«
»Wir vielleicht?«
»Sie nicht – aber – «

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»So sprechen Sie sich doch aus, Frau Baronin«, bat
Holmsen dringend. »Sie wissen doch, ganz genau, wie

wichtig Ihr Sohn Ragaltshöfen und somit auch für uns ist.
Wer kann ihm helfen?«
»Ihre – Tochter.«
Erst starrten die Gatten sich an – doch dann begriffen sie.
»Ist denn das die Möglichkeit«, entgegnete der Mann
konsterniert. »I, dieser verflixte Bengel!«
Verständnislos schaute die Baronin auf die beiden
Menschen, die absolut kein Mitgefühl zeigten, sondern sich
vergnügt anlachten. Schon wollte sie sich gekränkt erheben,
was Gina aber verhinderte.
»Bitte nicht. Was mein Mann meinte, sollen Sie bald,
erfahren. Hat der Herr Baron Ihnen gesagt, daß er Birgit –

liebt?«
»Nein, dafür ist er viel zu verschlossen. Nur während der
Krankheit, da er zeitweise seiner Sinne nicht mächtig war,
hat er den Namen gerufen – zärtlich, sehnsüchtig, in
überströmender Liebe und Herzensnot. Und
zwischendurch immer das flehende: Mein Herz und dein
Herz sind ein Herz – ach, es war entsetzlich!«
»Und weshalb bewirbt er sich denn nicht um meine
Tochter?« fragte Holmsen mit einer Stimme, die nicht ganz
klar klang.
»Das weiß ich nicht. Ich weiß überhaupt nichts weiter, als
was er in seinen Fieberphantasien verriet. Er ist ja so

unzugänglich, der Junge, so unbarmherzig mit sich selbst.
Fordert von sich eiserne Selbstdisziplin. Nie wird mir
gegenüber das über seine Lippen kommen, was sein Herz
bewegt. Aber heute, als ich in sein Arbeitszimmer ging, um
etwas zu fragen, sah ich ihn versunken am Schreibtisch
sitzen. Sein Gesicht zuckte, in der Hand hielt er ein Bild
Fräulein Birgits. Wo er es her hat, entzieht sich meiner
Kenntnis.
Können Sie sich ungefähr denken, wie mir zumute war? Ich
habe gewiß nicht gut an ihm gehandelt. Habe ihn gepeinigt
und gequält mit meinem unverzeihlichen Egoismus,

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meiner kindischen Unzufriedenheit. Erst als ich um sein
Leben bangen mußte, stand meine Schuld riesengroß vor

mir – ich fürchtete mich namenlos vor der Strafe der
Vergeltung. Zwar blieb er mir erhalten, aber ich muß
büßen fort und fort. Denn meine Schuld wird immer
zwischen uns stehen.«
Dieses trostlose Geständnis erschütterte die beiden Zuhörer
tief. Es folgte eine bedrückende Stille, die Holmsen dann
brach.
»Das ist ja nun eine ganz verflixte Geschichte«, brummte er.
»Wenn man nur wüßte, wie man da hinterhaken könnte.
Da zerquälen sich zwei Herzen, daß Gott erbarm! Stolz
steht gegen Stolz, Zweifel gegen Zweifel. Einer verbirgt
seine Liebe meisterhaft, der andere auch. Ich kann doch

unmöglich hingehen und sagen: Hören Sie mal, mein
lieber Freund, ich biete Ihnen meine Tochter an. Zwar soll
auch so was vorkommen, aber dann ist es ein Geschäft
unter robusten Naturen.«
Es klang so kläglich, daß die Gattin lachen mußte, so wenig
ihr auch danach zumute war. Auf den fragenden Blick der
Baronin gab sie Antwort:
»Es ist so, wie mein Mann sagte. Auch unsere Tochter trägt
Herzweh um ihre Liebe, die sie genauso tief in sich
verschließt wie der Herr Baron.«
»Aber dann kann ja noch alles gut werden«, kam es
zwischen Hoffen und Bangen zurück. »Ob ich meinem

Sohn einen Wink gebe?«
»Nein«, widersprach Holmsen entschieden. »Wir haben es
hier mit zwei stolzen, eigenwilligen Menschen zu tun, die
aus sich heraus zueinander finden müssen. Ein
gutgemeinter Rat oder ein unbedachtes Wort könnte da
mehr schaden als nützen. Nun wollen wir ein frohes
Gesicht machen, denn ich höre Birgit mit den Kindern
kommen.
Habt ihr euch jetzt genügend ausgehopst?« rief er ihnen
vergnügt entgegen. »Und tüchtigen Hunger mitgebracht?«
»Ja!« erfolgte die Antwort dreistimmig. Alexa umhalste ihre

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geliebte Tante Gina stürmisch.
»Wo Irina und ich die Bälle hingeworfen haben, darüber

könnte man sich ausschütten vor Lachen.«
»Aller Anfang ist schwer, Lexilein.« Die Dame strich zärtlich
die Locken aus dem erhitzten Kindergesichtchen. »Birgit
hat genauso begonnen wie ihr, und jetzt kann sie kaum
noch ein Partner schlagen.«
»Mein Bruder schon«, behauptete Irina großartig. »In
Weide schlug er sie alle. Auch bei Ihnen wird er es tun,
Fräulein Birgit. Wetten?«
»Worauf denn?«
»Daß Sie die Partie verlieren. Ich will mal gleich zu Odalf.«
Weg war sie. Gleich darauf stürmte sie ins Arbeitszimmer
des Bruders, der am geöffneten Fenster saß und in einer

Illustrierten blätterte.
»Odalf, man will mir nicht glauben, daß du jede
Tennispartie gewinnst. Sag du es ihnen!«
»Halt ein, du Ungestüm, du bist ja ganz aus Rand und
Band! Es ist lieb von dir, daß du mich so herausstreichst,
aber du weißt auch, wie wenig recht mir das ist. Wer soll
denn überhaupt meine Partnerin sein?«
»Fräulein Birgit. Das heißt, gesagt hat sie es nicht«, gab sie
der Wahrheit die Ehre. »Du müßtest sie also erst zu der
Partie auffordern.«
»Aha, da kommt heraus, daß mein Schwesterlein wieder
einmal auf eigene Faust gehandelt hat. Soll ich mich denn

blamieren? Ich habe länger als zwei Jahre nicht mehr
Tennis gespielt, während Fräulein Holmsen im Training ist.
Da kann ich mich nicht mit ihr messen, siehst du das ein?«
»Das schon«, versetzte sie kleinlaut. »Aber ich kann es nun
durchaus nicht leiden, wenn man Fräulein Birgit
herausstreicht und dich gar nicht beächtet.«
»Irina, was sind das für häßliche Gedanken. Geht es dir
immer noch nicht ein, daß Fräulein Holmsen die Tochter
des Besitzers von Ragaltshöfen ist und ich nur der Verwalter
bin?«
»Du, das vergesse ich tatsächlich«, gab sie unumwunden

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zu. »Weil wir doch hier viel freier leben, als es auf Weide
der Fall war.«

»Siehst du, daher müssen wir Familie Holmsen dankbar
sein, die uns ein so schönes Leben ermöglicht.«
Als man sich auf der Terrasse zum Kaffee zusammenfand,
fragte Holmsen neckend:
»Nun, Irina, wie steht’s mit der Wette?«
»Die fällt ins Wasser«, mußte sie kläglich bekennen. »Mein
Bruder fürchtet, sich zu blamieren, da er schon lange aus
dem Training ist.«
»Ja, gibt’s denn auch so was bei Ihnen, Herr Baron?« fragte
Gina lachend.
»Doch, gnädige Frau. Solange ich auf Ragaltshöfen weile,
habe ich kein Rakett mehr in der Hand gehabt.«

»Wollen wir beide es mal versuchen? Ich bin nämlich auch
schon aus der Übung gekommen.«
»Gern, aber ich bitte um gütige Nachsicht.«
»Sollen Sie haben.«
So stieg man denn nach dem Kaffee in den Dreß. Auch
Birgit, die ihn beim Spiel mit den Kindern vorhin nicht
trug. Diese erboten sich eifrig, die Bälle aufzuheben,
während die Nichtspieler sich außerhalb des Platzes, wo
unter einem großen Baum bequeme Bänke standen,
niederließen. Interessiert verfolgte man das Spiel, das flott
voranging.
»Daß der Baron aus dem Training ist, kann man gerade

nicht behaupten«, schmunzelte Holmsen. »Er macht seiner
Partnerin ganz gut zu schaffen.«
Tatsächlich mußte Gina sich tüchtig rühren. Trotzdem
blieb das Spiel unentschieden. Als sie sich zu den anderen
gesellte, sagte sie lachend:
»Ist der Mann bescheiden! Tut so, als bekäme er den Ball
nicht über das Netz und schlägt ganz raffiniert drein. Los,
Birgit, stell dich ihm. Ganz einfach wirst du es bei dem
Partner nicht haben. Oder sind Sie zu, müde zur neuen
Partie, Herr Baron?«
»Woher denn, gnädige Frau. Ich fühle mich kaum

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angestrengt.«
»Dann auf in den Kampf!«

Es wurde wirklich ein Kampf, den man verbissen ausfocht.
Den Kindern geriet es kaum, die Bälle zu sammeln, so
rasch folgten die Schläge. Man merkte, wie das Mädchen
allmählich nervös zu werden begann, während der Mann
gelassen blieb.
»Paß auf, Gina, der schafft’s«, stellte der Gatte sachlich fest,
und sie nickte.
»Kann sein, da Birgit heute nicht so kaltblütig spielt wie
sonst. Ich gönne ihm den Sieg. Hoffentlich ist das ein gutes
Omen für einen andern, schwerwiegenderen.«
Und er blieb Sieger. Wenn auch nur knapp, aber immerhin.
Ein amüsiertes Lächeln umzuckte seinen Mund, als er mit

der Partnerin zu den Zuschauern trat, die sich
offensichtlich ärgerte. Als sie jedoch das pfiffige Gesicht des
Vaters sah, mußte sie lachen.
»Dich freut wohl gar die Niederlage deiner Tochter, mein
lieber Paps?«
»Gewiß, Marjellchen. Denn so was sorgt dafür, daß die
Bäume nicht in den Himmel wachsen. Es waren ja auch
immer nur mittelmäßige Partner, mit denen du bisher
spieltest. Aber an diesem scheinst du deinen Meister
gefunden zu haben«, setzte er doppelsinnig hinzu, was den
andern beiden Damen ein verstecktes Lächeln entlockte.
Denn sie wußten ja, wie seine Worte gemeint waren.

Seit dem Tage spielte das Paar öfter zusammen, auch am
Alltag. Für Birgit war das ein guter Ausgleich nach dem
stundenlangen Sitzen am Schreibtisch, für Odalf eine
Erholung nach stundenlangem Sitzen im Sattel. Wenn er
auch nicht immer Sieger blieb, so doch größtenteils.
Sie ärgerte sich jedoch nicht mehr darüber, sondern nahm
es gleichmütig hin. Anschließend unterhielten sie sich
friedlich und kamen sich dadurch langsam näher. Es war
wie ein behutsames Hineintasten in das Denken und
Fühlen des andern.
An einem Abend, als sie nach dem Spiel gemächlich dem

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Hause zuschritten, bestellte Birgit Grüße von den beiden
Flitterwochenpaaren, die selbstverständlich im siebenten

Himmel schwebten, wie sie lachend hinzufügte. Und dann,
so ganz ohne Übergang, fragte der Mann das Mädchen um
Rat, was man mit Irina machen könnte, die nun ja wieder
Unterricht haben müßte. Sie hätte ihn gestern darum
gebeten, die Stadtschule besuchen zu dürfen, wobei er
jedoch Bedenken hege. Schon allein die tägliche Fahrt bei
Wind und Wetter zur Stadt hin und zurück. Zwar hätte sie
sich in den letzten Monaten erstaunlich gut herausgemacht,
wäre jedoch immer noch zarter als andere Mädchen ihres
Alters.
»Das ließe sich auch anders einrichten«, entgegnete Birgit
mit einer Sachlichkeit, über die sie sich selbst freute. »Irina

könnte im Hause meiner Eltern wohnen und zum
Wochenende mit ihnen zusammen hierherkommen.«
»Würden Ihre Eltern damit einverstanden sein, gnädiges
Fräulein?«
»Unbedingt. Ich fürchte nur, daß die Frau Baronin
untröstlich sein würde, wenn sie Irina nicht täglich um sich
hätte. Bedenken Sie, wie sehr die überängstliche Mutter
schon hat nachgeben müssen. Man darf ihr auch nicht
zuviel zumuten.
Aber einen anderen Vorschlag will ich Ihnen machen.
Fräulein Tey, die in der Rentmeisterei hilft, hat eine
zwölfjährige Schwester, die in der Stadt das Lyzeum

besucht. Nun ist der Vater, der im Nachbardorf Lehrer war,
vor einem Vierteljahr gestorben und die Witwenpension
Frau Teys nur klein, dazu drei ihrer Kinder noch
schulpflichtig. Die beiden Söhne möchte sie nicht vom
Gymnasium herunternehmen, da sie sehr begabt sind und
auch Freischule bekommen.
Trotzdem langt es nicht hin und her, obgleich die Mutter
sich mit Heimarbeit noch redlich abplagt. Außerdem
betreibt der Bruder, ein Junggeselle, noch eine kleine
Landwirtschaft, die nicht nur den eigenen Bedarf abwirft,
sondern auch noch manche Mark einbringt.

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So schlagen sie sich recht und schlecht durch, doch ganz
will es nicht langen. Daher soll die jüngste Tochter vom

Lyzeum, worüber die Kleine unglücklich ist. Denn auch sie
scheint gleich ihren Brüdern sehr begabt und ehrgeizig zu
sein. Also können Sie ein gutes Werk tun, Herr Baron,
wenn Sie eine Lehrerin ins Haus nehmen, die Irina mit
dem andern Mädchen zusammen unterrichtet. Dann hat
erstere eine Kameradin und dieser ist auch geholfen.«
Aufmerksam hatte er zugehört, und dann trat ein warmer
Schein in seine Augen.
»Ich danke Ihnen, gnädiges Fräulein. Jetzt weiß ich, was ich
zu tun habe. Morgen schon suche ich Frau Tey auf und
spreche mit ihr.«
So kam es denn, daß bald darauf eine Lehrerin antrat, die

Frau Gina ausgesucht hatte. Nicht mehr jung, doch
erfahren in ihrem Fach, gescheit und sehr sympathisch.
Auch die Mitschülerin rückte an. Ein reizendes Mägdlein,
aufgeweckt und bescheiden. Irina war glückselig und
schloß sich rasch an ihre Kameradin an- und somit löste
sich alles in Wohlgefallen auf.
Jetzt war auch das Zimmer neben Birgits nicht mehr leer.
Und wenn die Nachbarin Birgit auch nicht so ans Herz
wuchs wie Erla, so mochte sie diese jedoch gern.
So gab es denn am Abend manch einen gemütlichen
Plausch, und da Fräulein Hedwig vortrefflich Geige spielte,
auch manches Konzert. Daß sie unten dabei dankbare

Zuhörer hatten, ahnten sie allerdings nicht.
Auch heute saßen Mutter und Sohn zusammen und ließen
sich von den schmeichelnden Klängen einspinnen. Wenn
zwischendurch Birgits fröhliches Lachen aufklang, huschte
es wie Qual über das Männerantlitz. Die Mutter sah es
wohl, schwieg jedoch mit sorgebangem Herzen.
Der törichte Junge! Er begriff doch sonst alles so schnell,
doch bei dem, was seine Liebe betraf, schien er direkt
begriffsstutzig zu sein.
Jetzt spielte man oben das »Ständchen« von Schubert. Süß
sang die Geige, und süß sang die Mädchenstimme. So

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zärtlich, so weich, so aus herzklopfender Tiefe heraus:

»Leise flehen meine Lider,
durch die Nacht zu dir – «

Und dann weiter so flehend, wie der Text es verlangt:

»Hörst du die Nachtigallen schlagen,
ach, sie bitten dich,
aus der Ferne mit süßen Klagen,
flehen sie für mich.
Sie versteht des Herzens Klage,
Kennen Liebesschmerz
rühren mit den Silbertönen

jedes weiche Herz... «

Da biß der Mann die Zähne zusammen wie in heißem
Schmerz. Hastig erhob er sich und ging hinaus.
Es war an einem Sonntag Ende Oktober. Wie gewöhnlich
am Wochenende befand sich das Ehepaar Holmsen nebst
Alexa wieder im Herrenhause von Ragaltshöfen. Man
konnte sagen, daß man einen so schönen Spätherbst schon
lange nicht mehr erlebt hatte. Zwar gab es zwischendurch
auch mal Sturm und Regen, aber dann lachte die Sonne
wieder vom Himmel hernieder wie im Sommer. So auch
heute. Direkt heiß war es draußen. Natürlich nutzte man

den herrlichen Tag aus und lag in Liegestühlen auf der
Terrasse, die Baronin, Frau Holmsen, die Lehrerin und die
beiden Kinder.
Eben kam Holmsen mit dem Verwalter von einem
Rundgang durch die Wirtschaft zurück. Da die beiden
Herren gemeinsam die Terrasse betraten, mußte letzterer
wohl oder übel es seinem Chef gleichtun und sich in einen
Liegestuhl sinken lassen.
»Ich glaube, wir kriegen ein Gewitter.« Holmsen wischte
sich den Schweiß von der Stirn. »Denn umsonst ist es nicht
so schwül. Wo steckt denn Birgit?«

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»Ins Dorf gegangen«, gab die Gattin Antwort. »Fräulein Tey
feiert ihren Geburtstag und hat unsere Tochter dazu

herzlich eingeladen. Um nicht das Pferd so lange warten zu
lassen, ging sie zu Fuß. Zum Abendessen wollte sie wieder
zurück sein.«
»Hoffentlich gerät sie dabei nicht ins Gewitter hinein,
Gina.«
»Aber bester Mann, wie kommst du überhaupt darauf, daß
ein solches aufziehen könnte? Schau dir mal den blauen
Himmel an. Dazu rührt sich kein Lüftchen.«
»Eben, die beängstigende Ruhe vor dem Sturm«, beharrte er
eigensinnig. »Am liebsten möchte ich im Auto Birgit
abholen.«
»Wenn du dich von ihr auslachen lassen willst, dann nur

zu.«
»Na schön«, gab er nach, »Warten wir der Dinge, die da
kommen werden.«
Und sie kamen – und zwar so plötzlich, daß man sich
kaum dessen versah. Mit Windeseile überzog sich der
Himmel schwarzblau, die brütende Ruhe verdrängte ein
orkanartiger Sturm. Man eilte ins Zimmer und schaute
bang in das Unwetter hinaus.
»Wie spät haben wir es?« fragte Frau Gina angstvoll.
»Viertel vor sieben«, gab der Gatte Bescheid.
»Großer Gott, dann ist Birgit bestimmt unterwegs! Martin,
du mußt ihr entgegengehen.«

»Da läuft mein Bruder.« Irina zeigte in dem Moment
aufgeregt zum Fenster hinaus. »Er eilt bestimmt Fräulein
Birgit zur Hilfe.«
Nun, laufen war wohl nicht der richtige Ausdruck, wie die
andern, die ans Fenster eilten, feststellen konnten.
Vielmehr war es ein kämpfen durch Gewitter, Sturm und
prasselnden Regen. Es sah gefährlich genug aus, wie der
Mann mühsam davonschwankte. Daher konnten die
angsterfüllten Menschen es nicht verstehen, als Papa
Holmsen vergnügt lachte.
»Martin, wie kannst du nur?!« rief die Gattin empört.

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»Wenn den Baron nun ein Blitzschlag trifft?«
»Der läuft unten durch, verlaß dich darauf.«

Es war kein Wunder, daß diese stoische Ruhe den andern
gehörig auf die Nerven fiel*. Die Kinder weinten, die
Baronin war blaß vor Erregung, Frau Gina und Fräulein
Hedwig gleichfalls – nur Papa Holmsen zündete in
Gemütlichkeit sein Pfeifchen an.
Indes kämpfte sich Odalf mühsam vorwärts. Der Regen,
mit Hagel vermischt, prasselte unbarmherzig auf ihn
nieder. In Strömen rann das unerwünschte Naß von
seinem Wettermantel – doch unentwegt drängte der Mann
durch das Unwetter vorwärts. Nur einen Gedanken dabei
hegend, daß Birgit sich noch im Hause der Lehrerfamilie
befinden möge. Denn diesen tobenden Elementen

schutzlos ausgesetzt zu sein, konnte selbst einen mutigen
Menschen in Angst versetzen.
Allein, seine Hoffnung sollte zuschanden werden. Denn als
er an der Haltestelle der Kleinbahn, die nur durch eine
Blechbude gekennzeichnet war, vorüberhasten wollte,
hörte er eine ihm wohlbekannte Stimme:
»Hierher, Herr Baron!«
Nur noch einige Meter in sorgender Hast davongeeilt, dann
stand er dem gesuchten Mädchen gegenüber. »Um Gott,
gnädiges Fräulein, wie konnten Sie bloß so leichtsinnig in
das Unwetter hineingeraten?«
»Ja, leider. Aber kommen Sie doch herein. Hier ist es

wenigstens trocken, wenn auch unheimlich genug. Die
Angst war nicht so ohne, die ich ausstehen mußte.«
»Gnädiges Fräulein, Ihr Leichtsinn ist bewundernswürdig.«
»Was heißt hier Leichtsinn? Wie konnte man auf den
Gedanken kommen, daß es noch so ein scheußliches
Gewitter geben könnte, wo der November vor der Tür
steht? Das meinte auch Familie Tey und ließ mich ruhig
gehen. Jedenfalls habe ich mit so unheimlicher
Geschwindigkeit noch nie ein Unwetter aufziehen sehen.
Warum mustern Sie mich denn mit so sonderbarem Blick?«
»Weil Sie einem gebadeten Kätzchen nicht unähnlich

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wirken«, kam es gleichmütig zurück. Er entledigte sich
seines Wettermantels und legte ihn um die triefende

Gestalt. Achselzuckend ließ Birgit es geschehen, setzte sich
auf die Bank und schaute in das Unwetter hinaus, das
unentwegt weiter tobte.
Er nahm neben ihr Platz, legte den Kopf gegen die
Blechbudenwand und verschränkte die Arme über der
Brust. Es herrschte ein Schweigen zwischen den beiden
Menschen, das an Herz und Nerven zerrte.
Plötzlich zuckte er zusammen und starrte entsetzt auf den
Feuerkranz, der mit unheimlicher Geschwindigkeit auf den
alten, knorrigen Weidenbaum zuraste. Ein
ohrenbetäubendes Krachen und Splittern, der alte Gesell
sank in sich zusammen- und Birgit schrie laut auf. Fest

legte sich der Arm des Mannes um den zitternden
Mädchenkörper, zog ihn ganz nah zu sich heran. Das
Gesicht drückte sich so eng an seine Brust, als wolle es in
das hartklopfende Herz eindringen.
»Ruhig, kleines Mädchen, es ist ja schon alles vorüber«,
sprach eine unendlich zärtliche, unendlich betörende
Stimme dicht an ihrem Ohr. »Uns hat es nicht erwischt –
und das ist die Hauptsache. Die Zeit des uralten
Weidenbaumes, der nun gefällt daliegt, war längst um. Er
starb einen ehrenvollen Tod – doch das, was ich hier im
Arm halte, ist lachendes, blühendes Leben.«
Der Mädchenkopf hob sich, zwei leuchtendblaue Augen

sahen zaghaft zu dem Mann auf – und da war es um seine
mühsame Beherrschung geschehen. Sein Mund preßte sich
auf den weichen, warmen, der so lockend, so süß zu ihm
emporblühte. Zeit und Stunde schien stillzustehen in
diesem Kuß heißer, beseligender Liebe.
Kein Donnergrollen, kein zuckender Blitz waren stark
genug, um Lippe von Lippe zu trennen. Mochten die
Elemente auch noch so toben, hier pochte Herz an Herz in
glücksverkündender Zweisamkeit. Keine noch so
betörenden Worte hätten dem Mädchen klarmachen
können, wie tief, wie unendlich der Mann es liebte. Daher

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duldete Birgit es nicht, als dieser harte, stolze Mund sich
später zu einem Bekenntnis öffnen wollte.

»Still, Odalf, ich weiß Bescheid. Ich liebe dich, du liebst
mich, alles andere ist unwichtig. Wenn sich durch Gewitter
und Sturm Herz zu Herzen findet, das bleibt unlöslich für
Zeit und Ewigkeit.«
»Birgit, ich liebe dich.«
»Das weiß ich doch bereits, du törichter Mann«, lachte sie
mitten in seine liebesseligen Augen hinein. »Laß ab von
deinen Sorgen und Bedenken. Deine Mutter ist meine
Mutter, deine Schwester meine Schwester, meine Lieben
sind deine Lieben – und mein Herz ist dein Herz. Und
wenn du mir nun noch ein wenig mehr Luft lassen
würdest, wäre ich ganz zufrieden.«

Da lachte der Mann auf, so frei, so froh, so aus
glückszitterndem Herzen heraus, daß dem Mädchen vor
Erschütterung die Tränen in die Augen traten. Und als hätte
sie Freude an diesem Lachen, funkelte die Sonne plötzlich
durch die Gewitterwolken wie ein strahlendes,
glücksverheißendes Omen.
Derweil saß man im Herrenhause von Ragaltshöfen
bangend und hoffend beisammen. Bangend, weil man
Odalf draußen bei den tobenden Elementen wußte,
hoffend, daß der Herrgott ihn beschützen möge vor allem
Ungemach.
Nur Papa Holmsen blieb von aller Not unberührt. Er

rauchte in aller Beschaulichkeit sein Pfeifchen und
schmunzelte zuweilen vergnügt vor sich hin. Er war gar
nicht erstaunt, als das Unwetter sich so plötzlich verzog wie
es gekommen war, und die Sonne aufstrahlte in all ihrer
goldenen Fülle. »Na also«, brummte er zufrieden. »Da bist
du ja wieder, du Sorgenbrecher der Menschheit. Ein gutes
Symbol für uns.«
»Martin, du bist mir einfach ein Rätsel.« Die Gattin besah
sich kopfschüttelnd die personifizierte Gemütlichkeit. »Ehe
man das Unwetter überhaupt ahnen konnte, machtest du
dir Sorge um Birgit, und als es wirklich tobte, bliebst du

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seelenruhig.«
»Aber Fraule, wer wird sich denn ärgern. Freu dich lieber

mit mir, daß wir bald unsern ersehnten Schwiegersohn in
die Arme schließen werden.«
Jetzt wurde sie endlich böse.
»Hör mal, mein lieber Martin, Zuversicht soll ja wohl etwas
Gutes sein. Aber deine fällt einem auf die Nerven.«
»Auch das da?« Er zeigte schmunzelnd auf das junge Paar,
das soeben eintrat, triefend naß, aber in strahlender
Glückseligkeit.
Augenblicklang blieb es beängstigend still – doch dann
brach ein Jubel los, der sich kaum noch überbieten ließ.
Man stürzte sich förmlich auf die beiden Menschen,
umarmte sie, ungeachtet ihrer nassen Kleider.

»Nun, Mutter, benetzte mich nicht auch mit deinen
Tränen, der ich gerade schon feucht genug bin«, lachte
Odalf, der so gar kein Verständnis für die fassungslos
schluchzende Frau aufbringen konnte, die ihm am Halse
hing.
»Mein Junge – ich bin ja so glücklich!«
»Also Freudentränen, die laß ich mir schon eher gefallen.«
Als sie dann Birgit im Arm hielt, sagte sie fast demütig:
»Ich danke dir, daß du meinen Sohn so glücklich machst.«
»Dann müssen wir uns bei dem langen Schlingel gleichfalls
bedanken«, polterte Papa Holmsen über seine Rührung
hinweg. »Denn seinetwegen hat unser Marjellchen ja so

liebesselige Augen. Und jetzt hopp, damit ihr in trockene
Kleider kommt. Indes sorgen wir für ein festliches Mahl.«
Das wurde denn auch in fröhlicher Stimmung
eingenommen. Im Laufe des Gesprächs meinte Papa
Holmsen ein wenig schadenfroh:
»Ja, so geht das nun, geliebte Mutz. Kaum, daß du zwei
Söhne ausgestattet hast, kannst du bei der Tochter von
vorne beginnen. Oder gedenkt das verehrte Brautpaar der
Ärmsten eine längere Atempause zu gönnen?«
»Fünf Wochen, nicht länger«, entgegnete Odalf ungerührt,
und Frau Gina lachte hellauf.

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»Nun hört euch mal den Herrn Baron an. Schau, schau, er
kann sogar egoistisch sein. Aber laß nur, mein Sohn, dein

Wunsch ist mir Befehl. Werde mir Mühe geben, euch in der
kurzen Zeit das mollige Nestchen zu schaffen. Hoffentlich
wird es nicht zu klein, da die ganze Holmserei auch ihren
Platz darin beansprucht.«
»Der soll schon vorhanden sein«, bemerkte die Baronin,
die man heute kaum wiedererkannte. Alles Steife,
Förmliche war von ihr abgefallen, sie strahlte direkt
Herzensgüte aus. »Zwei Speisezimmer sind jetzt ja nicht
mehr erforderlich. Meines hat so viel Raum, um auch eine
noch größere Familie bequem beherbergen zu können. Ich
stelle euch überhaupt meine gesamten Räume zur
Verfügung und richte mich oben ein. Irina bezieht Birgits

jetziges Zimmer, wo auch Alexa schlafen kann, wenn sie
hier ist. Wie gefällt euch mein Vorschlag?«
Ausgezeichnet, wie man von allen Seiten beteuerte. Und
später, als die Kinder schliefen und auch die Lehrerin sich
zurückgezogen hatte, erklärte Holmsen, daß er dem jungen
Paar Ragaltshöfen zum Geschenk mache. Wido würde
später den Betrieb in der Stadt übernehmen und Bodo
hätte durch sein Studium, der Übernahme der Praxis und
dem Kauf des Hauses nebst dessen Einrichtung auch bereits
einen großen Teil seines Erbes weg. Jedenfalls sorgte der
Vater schon dafür, daß keines seiner Kinder benachteiligt
würde.

»Gut«, erklärte Odalf in gewohnter Gelassenheit. »Mein
Geld stecke ich in Ragaltshöfen, Mutters bleibt ihr
ungeschmälert, und Irinas wird mündelsicher angelegt.«
»Bengel, sei doch nicht so unangenehm gründlich!«
»Was denn sonst, Vater?«
»Weil es zwischen dir und Birgit niemals ein Mein und
Dein geben darf.«
»Eben. Deshalb soll auch ihr gehören, was mein ist.«
»Basta, Kommentar überflüssig«, lachte Frau Gina.
»Laßt mir den Jungen in Ruhe, der weiß schon was er tut.
Der paßt in unsere Familie genausogut hinein wie Nora

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und Erla.«
»Na schön.« Der Gatte gab sich geschlagen. »Wie ist es nun,

wollen wir unsere beiden Flitterwochenpaare von der
Verlobung benachrichtigen?«
Man kam überein, daß man davon absehen würde. Diese
Freudenbotschaft sollte eine Überraschung für sie werden,
wenn sie nach zwei Wochen nach Hause zurückkehrten. In
den ersten Tagen des Dezember gab es dann wieder eine
Hochzeit, anschließend die Reise des jungen Paares, und
Weihnachten fand man sich geschlossen unterm
Tannenbaum zusammen.
Nachdem das zur Zufriedenheit aller geklärt war, erhob
sich Birgit und ging zum Flügel. Gleich darauf klang das
Motiv auf, das hier zum Symbol geworden war. Mit dem

Augenblick, wo Birgit durch Gewitter und Sturm in
Ragaltshöfen hineingeplatzt war, stürmte und tobte es
weiter – bis dann die Sonne sieghaft durchbrach, alles
golden überstrahlend.
Das waren die Gedanken der Menschen, die dem Gesang
des glückseligen jungen Menschenkindes ergriffen
lauschten. Es folgte ein buntes Durcheinander von Tönen,
und dann kam es zärtlich und süß von den jungroten
Lippen:

»Mein Herz und dein Herz sind ein Herz – «

Es zuckte und bebte in dem Antlitz des Mannes, dem dieses
herzinnige Geständnis galt. Seine Augen leuchteten, die
Brust schien ihm zu eng zu werden, so weitete sich sein
Herz, das ausgefüllt war von der Liebe zu dem zaubersüßen
Geschöpf.
Sturmvöglein, geliebtes – dachte er zärtlich. Mein Herz und
dein Herz sind ein Herz. So soll es bleiben, bis ein Höherer
Herz vom Herzen löst.

-ENDE-


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