Dawkins Und es entsprang ein Fluss in Eden

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RICHARD

DAWKINS



Und es

entsprang ein Fluß

in Eden


Das Uhrwerk

der Evolution



Zeichnungen von Lalla Ward

Aus dem Englischen
von Sebastian Vogel






GOLDMANN

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Die Serie »Science Masters« erscheint weltweit und umfaßt populärwis-
senschaftliche Bücher, die von international führenden Wissenschaft-
lern verfaßt werden. An diesem einzigartigen Projekt beteiligen sich
sechsundzwanzig Verlage, die John Brockman zusammengebracht hat.
Die Idee zu dieser Serie stammt von Anthony Cheetham vom englischen
Verlag Orion und von John Brockman, der eine Literaturagentur in New
York leitet. Entwickelt wurde die Serie »Science Masters« in Zusammen-
arbeit mit dem amerikanischen Verlag BasicBooks.

Der Name »Science Masters« ist urheberrechtlich geschützt. Er gehört
John Brockman Inc., New York, und ist an die Verlage lizenziert, die die
Serie »Science Masters« veröffentlichen.




Umwelthinweis:

Alle bedruckten Materialien dieses Taschenbuches

sind chlorfrei und umweltschonend.







Der Goldmann Verlag

ist ein Unternehmen der Verlagsgruppe Berteismann

Vollständige Taschenbuchausgabe September 1998

Wilhelm Goldmann Verlag, München

© 1996 der deutschsprachigen Ausgabe

C. Berteismann Verlag, München

© 1995 der Originalausgabe Richard Dawkins

Originalverlag: BasicBooks, New York

Originaltitel: River out of Eden

Umschlaggestaltung: Design Team München

Druck: Presse-Druck Augsburg

Verlagsnummer: 12784

KF • Herstellung: Sebastian Strohmaier

Made in Germany

ISBN 3-442-12784-X

1 3 5 7 9 10 8 6 4 2

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In Erinnerung an Henry Colyear Dawkins (1921-1992),
der am St. John College in Oxford gelehrt hat
und ein Meister in der Kunst war, Dinge zu erklären.



»Und es ging aus von Eden ein Strom, den Garten zu
bewässern...«
Genesis 2,10

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Inhalt



Vorwort 9

Der digitale Fluß 13

Mutter Afrika und ihre Kinder 43

Heimlicher Nutzen 73

Gottes Nutzenfunktion 111

Die Replikationsbombe 153

Quellen und ausgewählte
weiterführende Literatur 183

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Vorwort

Natur, so scheint's, ist nur ein Wort
für Milliarden und Abermilliarden
von Teilchen im unendlichen Spiel
eines kosmischen Billards.
Piet Hein

Piet Hein fängt die klassisch-urtümliche Welt der Physik ein.
Aber wenn die Querschläger des atomaren Billards sich zufäl-
lig zu einem Gebilde zusammenfinden, das eine bestimmte,
scheinbar harmlose Eigenschaft hat, geschieht im Universum
etwas Folgenschweres. Diese Eigenschaft ist die Fähigkeit zur
Selbstverdoppelung, das heißt, das Gebilde kann mit dem
Material seiner Umgebung genaue Kopien von sich selbst
herstellen, und wenn sich gelegentlich kleine Kopierfehler
einschleichen, werden sie ebenfalls verdoppelt. Auf dieses
einzigartige Vorkommnis irgendwo im Universum folgt die
Darwinsche Selektion und damit jenes üppig-sonderbare Phä-
nomen, das wir auf unserem Planeten Leben nennen. Noch nie
wurden so viele Tatsachen mit so wenigen Hypothesen er-
klärt. Die Darwinsche Theorie hat nicht nur eine enorme

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Aussagekraft; ihre Bündigkeit ist von einer geschmeidigen
Eleganz, von einer poetischen Schönheit, die auch die wohl-
klingendsten Schöpfungsmythen der Welt in den Schatten
stellt. Als ich dieses Buch schrieb, hatte ich unter anderem das
Ziel, der inspirierenden Qualität unseres heutigen darwinisti-
schen Verständnisses vom Leben die verdiente Aufmerksam-
keit zu verschaffen. Die Eva der Mitochondrien vereinigt in
sich mehr Poesie als ihre mythologische Namensvetterin.

Das Kennzeichen des Lebens, das, wie David Hume es

ausdrückte, »alle Menschen, die es je betrachtet haben, zur
Bewunderung hinreißt«, ist die komplexe Einzelheit, mit der
ihre Mechanismen - die Mechanismen, die Charles Darwin
»Organe von äußerster Vollkommenheit und Kompliziert-
heit« nannte - offensichtlich einen Zweck erfüllen. Das zweite
beeindruckende Merkmal des irdischen Lebens ist seine über-
schäumende Vielfalt: An der geschätzten Zahl der Arten ge-
messen, gibt es einige Zigmillionen Wege, das Leben zu fri-
sten. Weiterhin möchte ich meine Leser davon überzeugen,
daß »das Leben fristen« soviel bedeutet wie »in DNA codierte
Texte in die Zukunft weitertragen«. Mein »Fluß« ist ein Fluß
aus DNA, der durch die geologischen Zeiträume fließt und
sich verzweigt; die Metapher von den steilen Ufern, die den
genetischen Spielraum der einzelnen Arten begrenzen, er-
weist sich überraschenderweise als wirksames, nützliches Mit-
tel zur Erklärung.

Auf die eine oder andere Weise sind alle meine Bücher

dem Ziel gewidmet, die fast unbegrenzte Kraft des darwinisti-
schen Prinzips zu erläutern und zu untersuchen, eine Kraft,
die jedesmal dann frei wird, wenn soviel Zeit zur Verfügung
steht, daß sich die Folgen der ursprünglichen Selbstverdop-
pelung entfalten können. Und es entsprang ein Fluß in
Eden
setzt dieses Vorhaben fort und führt die Geschichte
der Rückwirkungen, die sich ergeben, wenn das Phänomen
der Replikatoren in das zuvor schlichte Spiel der atomaren

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Billardkugeln einsickert, zu einem extraterrestrichen Höhe-
punkt.

Beim Schreiben dieses Buches wurde ich von folgenden

Personen in unterschiedlichster Weise unterstützt: Michael
Birkett, John Brockman, Steve Davies, Daniel Dennett, John
Krebs, Sara Lippincott, Jerry Lyons und insbesondere von Lalla
Ward, meiner Frau, die auch die Zeichnungen anfertigte.
Einige Abschnitte sind neubearbeitete Fassungen von Texten,
die schon an anderer Stelle erschienen sind. Die Passagen im
ersten Kapitel über digitale und analoge Codes gründen sich
auf meinen Artikel im Spectator vom 11. Juni 1994. Der Bericht
im dritten Kapitel über die Arbeiten von Dan Nilsson und
Susanne Pelger zur Evolution des Auges stammt teilweise aus
meinem Aufsatz in der Rubrik »News and Views« der Zeit-
schrift Nature vom 21. April 1994. Ich danke den Redaktionen
dieser beiden Zeitschriften, die jeweils den Abdruck des be-
treffenden Artikels gestatteten. Und schließlich danke ich John
Brockman und Anthony Cheetham für die Einladung, mich an
der Serie Science Masters zu beteiligen.

Oxford 1994

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Der digitale Fluß

In allen Völkern gibt es Epen und Sagen über die Ahnen, und
häufig sind diese Erzählungen in die Form religiöser Kulte
gegossen. Die Menschen verehren ihre Vorfahren und beten
sie sogar an; warum auch nicht. Immerhin liegt der Schlüssel
zum Verständnis des Lebens bei den wirklichen Vorfahren
und nicht bei übernatürlichen Göttern. Von allen Lebewesen,
die geboren werden, stirbt die Mehrheit, ohne sehr alt zu
werden. Und von der Minderheit, die überlebt und sich paart,
hat nur ein noch viel kleinerer Bruchteil in tausend Generatio-
nen noch Nachkommen. Diese winzige Minderheit einer Min-
derheit, diese Elite der Vorfahren, können alle zukünftigen
Generationen als ihre Ahnen anführen. Vorfahren sind selten,
Nachkommen sind häufig.

Alle Organismen, die jemals gelebt haben - jedes Tier und

jede Pflanze, alle Bakterien und Pilze, alles, was kreucht und
fleucht, und sämtliche Leser dieses Buches - können auf ihre
Vorfahren zurückblicken und folgende stolze Behauptung
aufstellen: Von unseren Vorfahren ist kein einziger als Säug-
ling gestorben. Alle haben das Erwachsenenalter erreicht, und
jedem einzelnen gelang es, mindestens einen heterosexuel-
len Partner (beziehungsweise eine Partnerin) zu finden und

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sich mit Erfolg zu paaren.* Kein einziger unserer Vorfahren
wurde von einem Feind niedergestreckt oder von einem
Virus oder einem falsch eingeschätzten Schritt am Rand einer
Klippe getötet, bevor er mindestens ein Kind in die Welt
gesetzt hatte. Tausende von Zeitgenossen unserer Vorfahren
haben in allen diesen Punkten versagt, aber von unseren
Ahnen selbst passierte das keinem einzigen auch nur in einer
Hinsicht. Diese Aussagen sind so offenkundig, daß man sie
leicht übersieht, aber aus ihnen folgt eine Menge: viel Seltsa-
mes und Unerwartetes, vieles, das erklärt, und vieles, das
verwundert. Von allen diesen Themen wird in dem vorliegen-
den Buch die Rede sein.

Da alle Lebewesen ihre Gene von ihren Vorfahren erben

und nicht von deren erfolglosen Zeitgenossen, besitzen alle
Lebewesen in der Regel auch erfolgreiche Gene. Sie haben
das Zeug zu Vorfahren, das heißt, sie können überleben und
sich vermehren. Deshalb vererben die Lebewesen im allge-
meinen Gene mit der Anlage zum Aufbau einer gut gestalteten
Maschine, eines Körpers, der so funktioniert, als wollte er
unbedingt ein Vorfahr werden. Das ist der Grund, warum
Vögel gut fliegen, Fische gut schwimmen, Affen gut klettern
und Viren sich so gut verbreiten können. Das ist der Grund,
warum wir das Leben lieben, den Sex lieben und Kinder
lieben. Es liegt daran, daß wir alle ohne einzige Ausnahme
unsere Gene von einer ununterbrochenen Reihe erfolgrei-
cher Vorfahren geerbt haben. Die Welt hat sich mit Lebewesen
gefüllt, die das Zeug zu Vorfahren haben. Das ist, um es mit
einem Satz zu sagen, Darwinismus. Natürlich sagte Darwin

* Genaugenommen gibt es Ausnahmen. Manche Tiere, beispielsweise die Blatt-

läuse, pflanzen sich ohne Sexualität fort. Mit Methoden wie der künstlichen
Befruchtung können die Menschen heute ohne Geschlechtsverkehr ein Kind
haben, und - da man die Eizellen für die künstliche Befruchtung einem
weiblichen Fetus entnehmen kann - sogar ohne das Erwachsenenalter zu
erreichen. Für die meisten Fälle ist meine Aussage aber unvermindert gültig.

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noch vieles andere, und heute können wir noch viel mehr
sagen. Deshalb ist das Buch hier auch noch nicht zu Ende.

Man kann den vorangegangenen Abschnitt auf eine natürli-

che und sehr verhängnisvolle Weise mißverstehen. Wenn un-
sere Vorfahren Erfolgreiches geleistet haben, so - ist man
versucht zu denken - müssen die Gene, die sie an ihre Kinder
weitergegeben haben, im Vergleich zu denen, die sie von
ihren Eltern erbten, verbessert worden sein. Man könnte mei-
nen, der Erfolg habe irgendwie auf die Gene abgefärbt, und
deshalb seien die Nachkommen so gut im Fliegen, Schwim-
men, Partnerwerben. Falsch, völlig falsch! Gene werden durch
Gebrauch nicht besser; sie werden nur weitergegeben, und
zwar, von ein paar zufälligen Fehlern abgesehen, unverändert.
Erfolg sorgt nicht für gute Gene. Gute Gene sorgen für Erfolg,
und nichts, was ein Lebewesen während seines Lebens tut, hat
auf die Gene auch nur die geringsten Auswirkungen. Indivi-
duen, die mit den besten Genen geboren werden, erreichen
mit der größten Wahrscheinlichkeit das Alter, in dem sie zu
erfolgreichen Vorfahren werden können; deshalb werden
gute Gene eher als schlechte in die Zukunft weitergegeben.
Jede Generation ist ein Filter, ein Sieb: Gute Gene fallen
hindurch und gelangen in die nächste Generation; schlechte
Gene enden in Körpern, die früh oder ohne sich fortzupflan-
zen sterben. Ein oder zwei Generationen lang können auch
schlechte Gene durch das Sieb fallen, vielleicht weil sie das
Glück haben, ihren Körper mit guten Genen zu teilen. Aber
um sich erfolgreich durch tausend hintereinandergeschaltete
Siebe zu lavieren, braucht man mehr als Glück. Nach tausend
Generationen sind die Gene, die es geschafft haben, wahr-
scheinlich die guten.

Ich habe gesagt, daß die Gene, die über Generationen

hinweg überleben, auch diejenigen sind, denen es gelungen
ist, Vorfahren zu erzeugen. Das stimmt auch, aber es gibt
offenkundig eine Ausnahme, und mit ihr muß ich mich befas-

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sen, bevor der Gedanke daran Verwirrung stiftet. Manche
Individuen sind ein für allemal unfruchtbar, und doch sind sie
anscheinend dazu bestimmt, zur Weiterleitung ihrer Gene an
zukünftige Generationen beizutragen. Die Arbeiterinnen der
Ameisen, Bienen, Wespen und Termiten sind steril. Sie arbei-
ten, nicht um Vorfahren zu werden, sondern damit ihre frucht-
baren Verwandten - in der Regel ihre Schwestern und Brüder
- Vorfahren sein können. Hier muß man zwei Dinge begrei-
fen. Erstens haben Schwestern und Brüder bei allen Tieren
mit hoher Wahrscheinlichkeit teilweise die gleichen Gene.
Und zweitens bestimmen nicht die Gene, sondern die Umwelt
darüber, ob beispielsweise eine einzelne Termite fruchtbar ist
oder Arbeiterin wird. Alle Termiten besitzen Gene, die sie
unter geeigneten Umweltbedingungen zu Arbeiterinnen und
unter anderen Voraussetzungen zu fortpflanzungsfähigen Tie-
ren machen. Die fruchtbaren Termiten geben Kopien der
gleichen Gene weiter, welche die sterilen Arbeiterinnen ver-
anlassen, ihnen dabei zu helfen. Die Arbeiterinnen rackern
sich ab unter dem Einfluß von Genen, deren genaue Kopien in
den fruchtbaren Tieren zu Hause sind. Die Genkopien in den
Arbeiterinnen sorgen dafür, daß ihren eigenen zur Fortpflan-
zung bestimmten Kopien der Durchgang durch das Genera-
tionensieb erleichtert wird. Die Arbeiterinnen der Termiten
können männlich oder weiblich sein; bei Ameisen, Bienen
und Wespen handelt es sich ausschließlich um Weibchen,
aber das Prinzip ist dasselbe. In verwässerter Form gilt es auch
für einige Arten von Vögeln, Säugern und anderen Tieren, die
sich bis zu einem gewissen Grad um die Jungen ihrer älteren
Brüder oder Schwestern kümmern. Zusammenfassend kann
man sagen: Gene können sich ihren Weg durch das Sieb nicht
nur dadurch bahnen, daß sie den eigenen Körper zum Vorfah-
ren zu machen versuchen, sondern auch indem sie dem Kör-
per eines Verwandten helfen, Nachkommen hervorzubrin-
gen.

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Der im Titel meines Buches genannte Fluß ist ein Fluß aus

DNA, und er fließt nicht durch den Raum, sondern durch die
Zeit. Es ist ein Strom der Informationen, nicht der Knochen
und Gewebe: ein Fluß der abstrakten Anweisungen für den
Aufbau von Körpern, kein Fluß aus den festen Körpern selbst.
Die Informationen fließen durch die Körper und beeinflussen
sie, aber sie selbst werden von ihnen auf ihrem Weg nicht
beeinflußt. Der Strom ist nicht nur unbeeinflußt von den
Erfahrungen und Leistungen der aufeinanderfolgenden Kör-
per, durch die er fließt, sondern auch unbeeinflußt von einer
möglichen Quelle der Verunreinigung, die, wie es aussieht,
viel wirkungsvoller ist: von der Sexualität.

In jeder unserer Zellen wirkt die Hälfte der Gene unserer

Mutter mit der Hälfte der Gene unseres Vaters zusammen.
Väterliche und mütterliche Gene treten in enge Wechselwir-
kung und machen uns zu einer raffinierten, unteilbaren Mi-
schung. Aber die Gene mischen sich nicht; das tun nur ihre
Wirkungen. Die Gene selbst haben eine diamantharte Identi-
tät. Wenn der Zeitpunkt gekommen ist, zu dem sie in die
nächste Generation übergehen sollen, wandert ein Gen ent-
weder in den Körper des Kindes oder nicht. Väterliche und
mütterliche Gene verschmelzen nicht, sondern kombinieren
sich unabhängig voneinander neu. Ein einzelnes Gen ist ent-
weder vom Vater oder von der Mutter gekommen. Es stammte
auch von einem und nur einem der vier Großeltern; von
einem und nur einem der acht Urgroßeltern; und so immer
weiter zurück.

Ich habe von einem Fluß der Gene gesprochen, aber

ebensogut könnten wir ihn als eine Gruppe guter Kameraden
bezeichnen, die durch die geologischen Zeiten marschieren.
In einer fruchtbaren Population sind alle Gene auf lange Sicht
gegenseitige Begleiter. Kurzfristig befinden sie sich in einzel-
nen Körpern und sind mit den anderen Genen in diesem
Körper besonders eng verbunden. Über die Zeitalter hinweg

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überleben Gene nur dann, wenn sie Körper bauen können,
die unter den besonderen, von der jeweiligen Art gewählten
Lebensumständen gut leben und sich fortpflanzen können.
Aber das ist noch nicht alles. Um gut überleben zu können,
muß ein Gen gut mit den anderen Genen in derselben An -
demselben Fluß - zusammenwirken können. Um langfristig
erhalten zu bleiben, muß ein Gen ein guter Kamerad sein. Es
muß sich in Gesellschaft der anderen Gene in dem Fluß oder
vor ihrem Hintergrund gut benehmen. Gene einer anderen
Art gehören zu einem anderen Fluß. Gene verschiedener
Flüsse müssen nicht unbedingt gut miteinander auskommen
- zumindest nicht in demselben Sinn -, denn sie brauchen
sich nicht die gleichen Körper zu teilen.

Eine Art ist durch ein entscheidendes Merkmal definiert:

Durch alle ihre Individuen fließt derselbe Genfluß, und alle
Gene einer Art müssen dazu angelegt sein, daß sie gegenseitig
gute Kameraden sein können. Eine neue Art entsteht, wenn
eine Vorläuferart sich teilt. Der Genfluß gabelt sich in der Zeit.
Aus der Sicht der Gene ist die Entstehung neuer Arten ein
»langer Abschied«. Nach einer kurzen Phase der partiellen
Trennung gehen die beiden Flüsse für immer eigene Wege,
oder zumindest so lange, bis einer von ihnen austrocknet und
im Sande verläuft. Innerhalb der von den Ufern gesicherten
Grenzen wird das Wasser jedes Flusses durch die sexuelle
Rekombination immer wieder neu gemischt. Aber nie tritt das
Wasser über die Ufer, um einen anderen Fluß zu verunreini-
gen. Wenn eine Art sich geteilt hat, sind die Gene der beiden
Gruppen füreinander keine Kameraden mehr. Sie treffen
nicht mehr in denselben Körpern zusammen und brauchen
nicht mehr gut miteinander auszukommen. Es gibt zwischen
ihnen keinen Verkehr mehr, und »Verkehr« bedeutet hier
ganz wörtlich Geschlechtsverkehr zwischen ihren vorüberge-
henden Vehikeln, den Körpern.

Warum trennen sich zwei Arten? Was setzt den langen Ab-

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schied ihrer Gene in Gang? Was veranlaßt einen Fluß, sich zu
gabeln, so daß die beiden Arme auseinanderweichen und sich
nie wieder treffen? Die Einzelheiten sind umstritten, aber
niemand zweifelt daran, daß zufällige geographische Isolie-
rung das Entscheidende ist. Der Fluß der Gene fließt durch die
Zeit, aber die physische Vereinigung der Gene findet in greif-
baren Körpern statt, und Körper besetzen einen Platz im
Raum. Ein nordamerikanisches Grauhörnchen könnte sich
mit einem englischen Grauhörnchen paaren, wenn die bei-
den sich jemals begegneten. Aber das ist unwahrscheinlich.
Der Fluß der amerikanischen Grauhörnchengene ist sehr
wirksam, nämlich durch fünftausend Kilometer Ozean, vom
Fluß der englischen Grauhörnchengene getrennt. Die Gene
der beiden Gruppen sind eigentlich keine Kameraden mehr,
auch wenn sie es vermutlich sein könnten, wenn sich die
Gelegenheit ergäbe. Sie haben sich voneinander verabschie-
det, aber es ist kein unwiderrufliches Lebewohl - noch nicht.
Nach ein paar tausend weiteren Jahren der Trennung werden
die beiden Flüsse sich aber wahrscheinlich so weit voneinan-
der entfernt haben, daß sie keine Gene mehr austauschen
könnten. Mit »entfernt« ist dabei nicht der räumliche Abstand
gemeint, sondern die Verträglichkeit.

Etwas Ähnliches ist mit ziemlicher Sicherheit die Ursache

für die ältere Trennung von Grauhörnchen und Rothörnchen.
Diese Arten können sich nicht kreuzen. Ihre Verbreitungsge-
biete überschneiden sich in Teilen Europas, und obwohl sie
sich treffen und gelegentlich wahrscheinlich über die eine
oder andere Nuß in Streit geraten, können sie sich nicht
paaren und fruchtbare Nachkommen zeugen. Ihre geneti-
schen Flüsse sind schon zu weit auseinandergewichen, das
heißt, ihre Gene eignen sich nicht mehr dazu, in ein und
demselben Körper zusammenzuwirken. Vor vielen Genera-
tionen waren die Vorfahren der Grau- und Rothörnchen die-
selben Individuen. Aber sie wurden geographisch getrennt -

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vielleicht durch ein Gebirge, vielleicht durch Wasser, schließ-
lich durch den Atlantik. Nun entwickelte sich ihre genetische
Ausstattung in unterschiedliche Richtungen. Aus der geogra-
phischen Trennung erwuchs die Unverträglichkeit. Gute Ka-
meraden wurden zu schlechten Kameraden (oder sie würden
sich als schlechte Kameraden erweisen, wenn sie durch eine
paarungsträchtige Begegnung auf den Prüfstand gestellt wür-
den). Die schlechten Kameraden wurden immer schlechter,
bis sie überhaupt keine Kameraden mehr waren. Ihr Abschied
ist endgültig. Die beiden Flüsse haben sich getrennt und sind
dazu bestimmt, sich immer weiter zu trennen. Der gleiche
Ablauf liegt auch beispielsweise der sehr viel älteren Tren-
nung zwischen unseren Vorfahren und etwa den Vorfahren
der Elefanten zugrunde. Oder auch zwischen den Vorfahren
des Vogels Strauß (die auch unsere Vorfahren waren) und den
Vorfahren der Skorpione.

Der DNA-Fluß hat jetzt vielleicht dreißig Millionen Arme -

so viele Arten gibt es den Schätzungen zufolge auf der Erde.
Und man hat auch geschätzt, daß die heutigen Arten nur etwa
ein Prozent aller Arten darstellen, die es jemals gegeben hat.
Demnach hätte der DNA-Fluß alles in allem ungefähr drei
Milliarden Verzweigungen. Die heutigen dreißig Millionen
Äste sind unwiderruflich getrennt. Viele von ihnen sind dazu
bestimmt, ins Nichts zu wachsen, denn die meisten Arten
sterben aus. Verfolgt man die dreißig Millionen Flüsse (der
Einfachheit halber werde ich die Flußarme von jetzt an als
Flüsse bezeichnen) zurück in die Vergangenheit, so stellt man
fest, daß sie sich nach und nach mit anderen Flüssen vereini-
gen. Der Fluß der menschlichen Gene vereinigt sich mit dem
der Schimpansengene ungefähr zur gleichen Zeit wie der Fluß
der Gorillagene, nämlich vor etwa sieben Millionen Jahren.
Ein paar Millionen Jahre vorher fließt unser gemeinsamer
Fluß der afrikanischen Menschenaffengene mit dem Fluß der
Orang-Utan-Gene zusammen, und in noch fernerer Vergan-

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genheit kommt der Fluß der Gibbongene hinzu, der sich
weiter stromabwärts in die Flüsse mehrerer Gibbon- und
Siamangarten aufspaltet. Gehen wir weiter zurück in die Ver-
gangenheit, vereinigt sich unser genetischer Fluß mit ande-
ren, die sich, verfolgt man sie wieder in Richtung Gegenwart,
in Alt- und Neuweltaffen sowie die Lemuren Madagaskars
aufspalten. Noch weiter zurück fließt er mit den Flüssen der
anderen großen Säugetiergruppen zusammen: Nagetiere, Kat-
zen, Fledermäuse, Elefanten. Und danach treffen wir auf die
Flüsse, die zu den verschiedenen Reptilien, Vögeln, Amphi-
bien, Fischen und wirbellosen Tieren führen.

In einem wichtigen Punkt müssen wir aber mit der Meta-

pher vom Fluß vorsichtig sein. Wenn wir an den Arm denken,
der zu allen Säugetieren führt (im Gegensatz beispielsweise
zu den Ästen des Stroms, die bei Rot- und Grauhörnchen
enden), liegt die Vorstellung nahe, es handele sich um etwas
Gewaltiges von den Ausmaßen eines Mississippi/Missouri. Im-
merhin sollte sich der Säugetierfluß später immer wieder
verzweigen, bis er schließlich alle einzelnen Säugetiere her-
vorbrachte, von der Zwergspitzmaus bis zum Elefanten und
von den Maulwürfen unter der Erde bis zu den Affen in den
Baumwipfeln. Der Flußarm der Säugetiere nährt so viele tau-
send wichtige Zweigwasserstraßen, muß er da nicht eine ge-
waltige, rollende Flut sein? Aber diese Vorstellung ist völlig
falsch. Als die Vorläufer aller heutigen Säugetiere sich von
denen trennten, die keine Säugetiere waren, hatte dieses Er-
eignis nichts Bedeutsameres als jede andere Artbildung. Kei-
nem Naturforscher, der sich zu jener Zeit umgesehen hätte,
wäre es aufgefallen. Der neue Arm des Genflusses wäre ein
Rinnsal gewesen, beheimatet in einer Art kleiner, nachtaktiver
Geschöpfe, die sich von ihren nicht zu den Säugetieren gehö-
renden Vettern nicht stärker unterschieden als ein Rot- von
einem Grauhörnchen. Nur rückblickend können wir diesen
Vorfahren aller Säugetiere überhaupt als Säugetier erkennen.

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Zu seiner Zeit war es nur eine weitere Art säugetierähnlicher
Reptilien, nicht merklich anders als vielleicht ein Dutzend
weiterer kleiner, langnasiger, insektenfressender Stückchen
Dinosaurierfutter.

Ebenso undramatisch verliefen auch die früheren Aufspal-

tungen zwischen den Vorfahren aller großen Tiergruppen:
Wirbeltiere, Weichtiere, Krebstiere, Insekten, Gliederwür-
mer, Plattwürmer, Quallen und so weiter. Als der Fluß, der zu
den Weichtieren (und anderen) führen sollte, sich von demje-
nigen trennte, der zu den Wirbeltieren (und anderen) führte,
sahen sich die beiden Populationen der (vermutlich wurm-
ähnlichen) Geschöpfe so ähnlich, daß sie sich hätten paaren
können. Daß sie es nicht taten, hatte nur einen Grund: Sie
waren zufällig durch ein geographisches Hindernis getrennt,
vielleicht durch trockenes Land, welches das zuvor gemein-
sam bewohnte Gewässer geteilt hatte. Niemand hätte damals
ahnen können, daß aus der einen Population die Weichtiere
und aus der anderen die Wirbeltiere hervorgehen sollten.
Noch waren die beiden DNA-Flüsse kleine, kaum getrennte
Rinnsale, und die beiden Tiergruppen waren fast nicht zu
unterscheiden.

Die Zoologen wissen das alles, aber wenn sie über die

wirklich großen Tiergruppen wie Weich- und Wirbeltiere
nachdenken, vergessen sie es manchmal. Sie neigen dazu, sich
die Aufspaltung zwischen den großen Gruppen als schicksals-
trächtiges Ereignis vorzustellen. Daß Zoologen so in die Irre
gehen können, hat einen bestimmten Grund: Sie wurden in
dem fast dogmatischen Glauben erzogen, jede der großen
Gruppen im Tierreich sei mit einem ganz einzigartigen Bau-
plan ausgestattet. Dieses deutsche Wort ist auch im Englischen
zu einem Fachausdruck geworden, obwohl es (wie ich mit
leichtem Erschrecken feststellen mußte) in der neuesten Aus-
gabe des Oxford English Dictionary nicht vorkommt. (Da ich
an dem Wort weniger Vergnügen habe als manche meiner

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Kollegen, bekenne ich mich zu einem winzigen frisson der
Schadenfreude über sein Fehlen; diese beiden Fremdworte
stehen in dem Wörterbuch, das demnach keine prinzipiellen
Vorurteile gegen Sprachimporte hegt.) Unter dem Bauplan im
wissenschaftlichen Sinn versteht man oft ein grundlegendes
Konstruktionsprinzip, und das Attribut »grundlegend« (oder
der verlegene Wechsel ins Deutsche, wenn man Tiefgründig-
keit demonstrieren will) ist die Ursache des Übels. Es kann
dazu führen, daß die Zoologen schwere Irrtümer begehen.

Ein Zoologe äußerte zum Beispiel die Vermutung, die Evo-

lution müsse im Kambrium (der Zeit vor etwa sechshundert
bis fünfhundert Millionen Jahren) völlig anders abgelaufen
sein als in späterer Zeit. Er argumentierte, daß heute neue
Arten auftauchten, während im Kambrium die großen Grup-
pen entstanden seien, beispielsweise die Weichtiere und die
Krebse. Welch ein krasser Irrtum! Selbst Geschöpfe, die sich
so stark unterscheiden wie Weichtiere und Krebse, waren
ursprünglich nur geographisch getrennte Populationen der-
selben Art. Eine Zeitlang hätten sie sich bei einem Zusammen-
treffen noch kreuzen können, aber sie taten es nicht. Nach
Jahrmillionen der getrennten Evolution erwarben sie die Ei-
genschaften, in denen wir heutigen Zoologen rückblickend
die Merkmale der Weichtiere beziehungsweise Krebse erken-
nen. Und diese Eigenschaften bezeichnen wir hochtrabend als
»grundlegenden Körperbauplan«. Aber die wichtigen Bau-
pläne des Tierreiches zweigten sich allmählich von den ge-
meinsamen Ursprüngen ab.

Zugegebenermaßen bestehen kleine, allerdings sehr öf-

fentlichkeitswirksame Meinungsverschiedenheiten darüber,
wie allmählich oder »sprunghaft« die Evolution verlaufen sei.
Aber niemand, wirklich niemand, hält sie für so sprunghaft,
daß dabei ein ganzer neuer Bauplan in einem Schritt hätte
entstehen können. Der Autor, den ich zitiert habe, schrieb
1958. Die wenigsten Zoologen würden heute offen seinen

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Standpunkt teilen, aber unausgesprochen tun sie das manch-
mal: Sie reden so, als wären die wichtigsten Tiergruppen nicht
durch die Aufspaltung einer zufällig geographisch isolierten
Population entstanden, sondern plötzlich und in vollkomme-
ner Gestaltung wie Athene aus dem Haupte des Zeus.*

Molekularbiologische Untersuchungen haben in jedem Fall

gezeigt, daß die großen Tiergruppen einander viel näherste-
hen, als man bis dahin gedacht hatte. Man kann den geneti-
schen Code als Wörterbuch betrachten, in dem vierundsech-
zig Wörter einer Sprache (die vierundsechzig Dreiergruppen
eines Alphabets mit vier Buchstaben) den einundzwanzig
Wörtern einer anderen Sprache (zwanzig Aminosäuren und
ein Satzzeichen) zugeordnet werden. Die Chance, zweimal
durch Zufall zu demselben Zusammenhang von 64 zu 21 zu
gelangen, liegt bei eins zu einer Million Millionen Millionen
Millionen Millionen. Und doch ist der genetische Code bei
allen Tieren, Pflanzen und Bakterien, die man jemals unter-
sucht hat, buchstäblich identisch. Alle Lebewesen auf der Erde
stammen mit Sicherheit von einem gemeinsamen Vorfahren
ab. Das stellt niemand in Frage, aber jetzt, wo man nicht nur
den genetischen Code selbst, sondern einzelne Abschnitte der
genetischen Information analysiert, zeigen sich auch einige
verblüffende Ähnlichkeiten beispielsweise zwischen Insekten
und Wirbeltieren. Ein höchst komplizierter genetischer Me-
chanismus ist für den gegliederten Körperbauplan der Insek-
ten verantwortlich, und einen geradezu erschreckend ähnli-
chen genetischen Apparat hat man auch bei Säugetieren ge-
funden. Aus molekularer Sicht sind alle Tiere untereinander
und sogar mit den Pflanzen recht eng verwandt. Um unsere
entfernteren Vettern zu finden, muß man sich schon die Bakte-

Diese Aussagen sollte der Leser im Kopf behalten, wenn er Zufall Mensch liest,
den wunderschön geschriebenen Bericht von S. J. Gould über die Fauna von
Burgess Shale aus dem Kambrium.

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rien ansehen, und selbst die haben den gleichen genetischen
Code wie wir. Daß man über den genetischen Code solche
genauen Aussagen machen kann, nicht aber über die Bau-
pläne, hat einen einfachen Grund: Der genetische Code ist
streng digital, das heißt auf Ziffern gegründet, und Ziffern
kann man genau zählen. Der Fluß der Gene ist ein digitaler
Fluß. Jetzt muß ich erklären, was dieser technische Begriff
bedeutet.

In der Technik kennt man den wichtigsten Unterschied

zwischen digitalen und analogen Codes. Der Plattenspieler
und das Tonbandgerät verwenden - wie bis vor kurzem auch
die meisten Telefone - analoge Codes. Compact Disc, Compu-
ter und die meisten modernen Telefonsysteme arbeiten dage-
gen digital. Bei einem analogen Telefon werden stetig verän-
derliche Luftdruckwellen (Schall) in ebenso stetig veränderli-
che Spannungsschwankungen in einer Leitung umgewandelt.
Ganz ähnlich ist das Prinzip bei einer Schallplatte: Die gewell-
ten Rillen versetzen eine Abtastnadel in Schwingungen, und
diese Bewegung wird in entsprechende Schwankungen der
elektrischen Spannung umgesetzt. Am anderen Ende der Lei-
tung findet der umgekehrte Vorgang statt: Eine vibrierende
Membran in der Hörmuschel des Telefons oder im Lautspre-
cher des Plattenspielers macht aus den Spannungsschwankun-
gen wieder Luftdruckwellen, die wir hören können. Es ist ein
einfacher, unmittelbarer Code: Die elektrischen Schwankun-
gen in der Leitung sind den Luftdruckschwankungen propor-
tional. Innerhalb bestimmter Grenzen sind in der Leitung alle
Spannungswerte möglich, und die Unterschiede zwischen
ihnen sind von großer Bedeutung.

Beim digitalen Telefon wandern nur zwei mögliche Span-

nungen - oder eine andere genau festgelegte Zahl solcher
Werte, beispielsweise 8 oder 256 - durch den Draht. Die
Information ergibt sich nicht aus der Spannung selbst, son-
dern aus dem Muster der verschiedenen Werte. Dieses Prinzip

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nennt man Pulscodemodulation. Die Spannung selbst ent-
spricht zu jedem beliebigen Zeitpunkt kaum einmal genau
einem der beispielsweise acht vorgegebenen Werte, aber das
Empfangsgerät rundet sie zu der nächsten vorprogrammier-
ten Spannung auf oder ab; auf diese Weise kommt am Ende
etwas fast Vollkommenes heraus, selbst wenn die Leitung
selbst nur eine schlechte Übertragungsqualität bietet. Man
muß die abgegrenzten Spannungswerte nur mit ausreichend
großen Abständen festlegen, damit der Empfangsapparat sie
auch bei zufälligen Schwankungen nicht falsch einordnet. Das
ist der große Vorteil der Digitalcodes, und es ist auch der
Grund, warum man nicht nur Audio- und Videosysteme, son-
dern die ganze Informationstechnologie zunehmend digitali-
siert. Computer bedienen sich natürlich für alle ihre Anwen-
dungen ausschließlich digitaler Codes. Aus praktischen Grün-
den handelt es sich dabei um einen Binärcode, das heißt, er
kennt nicht acht oder zweihundertsechsundfünfzig Span-
nungswerte, sondern nur zwei.

Selbst beim Digitaltelefon besteht der Schall, der in die

Sprechmuschel gelangt und aus dem Hörer dringt, noch aus
analogen Luftdruckschwankungen. Digital ist nur die Informa-
tion, die zwischen diesen beiden Stationen hin- und herfließt.
Dazu muß man einen Code schaffen, der die Analogwerte von
Mikrosekunde zu Mikrosekunde in Reihen digitaler Impulse
übersetzt, das heißt, man braucht digital codierte Zahlen.
Wenn eine Frau am Telefon mit ihrem Geliebten flüstert, läuft
jede Nuance, jedes Stocken der Stimme, jedes leidenschaftli-
che Seufzen und jede sehnsüchtige Klangfärbung ausschließ-
lich in Form von Zahlen durch die Leitung. Zahlen können zu
Tränen rühren - vorausgesetzt, sie werden schnell genug
verschlüsselt und wieder entschlüsselt. Die modernen elek-
tronischen Schaltkreise sind so schnell, daß man die Übertra-
gungszeit in Stücke zerlegen kann, ganz ähnlich wie ein
Schachgroßmeister, der seine Zeit bei einem Simultanspiel

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zwischen zwanzig Gegnern aufteilt. Auf diese Weise lassen
sich Tausende von Telefongesprächen über eine einzige Lei-
tung übertragen - scheinbar gleichzeitig, aber in Wirklichkeit
elektronisch getrennt und ohne sich gegenseitig zu stören.
Eine große Datenleitung - häufig handelt es sich dabei nicht
mehr um Drähte, sondern um Funkwellen, die unmittelbar
von Berggipfel zu Berggipfel übertragen oder indirekt von
Satelliten zurückgeworfen werden - ist ein riesiger Zahlen-
fluß. Aber wegen der genialen elektronischen Trennung be-
steht er eigentlich aus Tausenden von digitalen Flüssen, die
nur bei oberflächlicher Betrachtung im gleichen Bett fließen -
wie Rot- und Grauhörnchen, die sich dieselben Bäume teilen,
aber nie ihre Gene vermischen.

Kehren wir noch einmal in die Welt der Technik zurück: Die

Schwächen der analogen Signale fallen nicht besonders stark
ins Gewicht, solange sie sich nicht ständig wiederholen. Das
Hintergrundrauschen bei einer Bandaufnahme ist unter Um-
ständen so gering, daß man es kaum bemerkt - bis man den
Schall und damit auch das Rauschen verstärkt, so daß ein
neues Geräusch hinzukommt. Macht man aber eine Kopie von
dem Band, und dann eine Kopie von der Kopie und so weiter,
bleibt nach hundert »Generationen« nur noch ein entsetzli-
ches Rauschen übrig. Etwas Ähnliches war in den Zeiten analo-
ger Telefone ein großes Problem. Jedes Telefonsignal
schwächt sich über große Entfernungen ab und muß etwa alle
hundertfünfzig Kilometer verstärkt werden. Dieser Vorgang
war in den Tagen der Analogtechnik sehr fehleranfällig, denn
das Hintergrundrauschen wurde mit jedem Verstärkungs-
schritt lauter. Digitale Signale müssen ebenfalls verstärkt wer-
den, aber bei ihnen schleicht sich dabei aus den beschriebe-
nen Gründen kein Fehler ein: Man kann es so einrichten, daß
die Information einwandfrei übermittelt wird, unabhängig
davon, wie viele Verstärkerstationen dazwischenliegen. Selbst
nach vielen tausend Kilometern nimmt das Rauschen nicht zu.

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Als ich Kind war, erklärte mir meine Mutter, die Nervenzel-
len seien die Telefonleitungen unseres Körpers. Aber sind sie
analog oder digital? Die Antwort: Sie sind eine interessante
Mischung aus beidem. Eine Nervenzelle ist nicht wie eine
Elektroleitung, sondern ein langes, dünnes Rohr, durch das
Wellen chemischer Veränderungen laufen, ähnlich wie die
Flamme, die sich an einer Spur von Schießpulver auf dem
Boden entlangfrißt; aber anders als das Schießpulver erholt
sich die Nervenzelle bald wieder, so daß sie nach einer kurzen
Ruhepause erneut »brennen« kann. Die Höhe der Welle, ge-
wissermaßen die Temperatur der Flamme, kann auf dem Weg
am Nerv entlang schwanken, aber das ist ohne Bedeutung. Der
Code spricht darauf nicht an. Der chemische Impuls ist entwe-
der vorhanden oder nicht, wie bei den beiden Spannungszu-
ständen in einem Digitaltelefon. Bis hierhin ist das Nervensy-
stem digital. Aber die Nervenimpulse werden nicht in Bytes
gezwängt: Sie setzen sich nicht zu getrennten Codezahlen
zusammen. Die Stärke der Nachricht (die Lautstärke von
Schall, die Helligkeit von Licht, vielleicht sogar die Heftigkeit
von Gefühlen) ist vielmehr in der Geschwindigkeit der Im-
pulse verschlüsselt. In der Technik kennt man das Prinzip
unter dem Namen Pulsfrequenzmodulation; es war dort sehr
beliebt, bevor sich die Pulscodemodulation durchsetzte.

Die Geschwindigkeit von Impulsen ist eine analoge Größe,

aber die Impulse selbst sind digital: Sie sind entweder vorhan-
den oder nicht vorhanden, dazwischen gibt es nichts. Und
daraus zieht das Nervensystem den gleichen Nutzen wie jedes
andere digitale System. Wegen der Funktionsweise der Ner-
venzellen gibt es auch die Entsprechung zu den Verstärkersta-
tionen - nicht alle hundertfünfzig Kilometer, sondern nach
jedem Millimeter, achthundert Verstärker vom Rückenmark
bis zur Fingerspitze. Wäre die absolute Größe des Nervenim-
pulses - die Temperatur der Schießpulverflamme - von Be-
deutung, würde die Nachricht auf dem Weg durch den

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menschlichen Arm bis zur Unkenntlichkeit verzerrt, vom Hals
einer Giraffe ganz zu schweigen. In jedem Stadium der Ver-
stärkung würden sich neue zufällige Fehler einschleichen, wie
bei einer Tonbandaufnahme, die man achthundertmal ko-
piert, oder wie bei einem Bild, bei dem man immer wieder die
Kopie auf das Xeroxgerät legt. Nach achthundert »Generatio-
nen« des Fotokopierens wären nur noch graue verschwom-
mene Flecken übrig. Die digitale Codierung ist die einzige
Lösung für das Problem der Nervenzellen, und die natürliche
Selektion hat sie pflichtschuldigst übernommen. Das gleiche
gilt auch für die Gene.

Francis Crick und James Watson, die die molekulare Struk-

tur der Gene erschlossen haben, sollten nach meiner Über-
zeugung ebenso über Jahrhunderte hinweg berühmt bleiben
wie Aristoteles und Platon. Ihren Nobelpreis erhielten sie »in
Physiologie oder Medizin«, was zwar richtig, aber auch fast
trivial ist. Eine »anhaltende Revolution« ist zwar fast ein Wider-
spruch in sich, aber die Veränderung des Denkens, die diese
beiden jungen Männer 1953 in Gang setzten, wird nicht nur
die Medizin, sondern unsere gesamte Sicht des Lebens immer
wieder revolutionieren. Die Gene selbst und die genetisch
bedingten Krankheiten sind nur die Spitze des Eisbergs. Das
wirklich Revolutionäre an der Molekularbiologie der Ära seit
Watson und Crick ist die Tatsache, daß sie digital geworden ist.

Seit Watson und Crick wissen wir, daß die Gene selbst mit

ihrer winzigkleinen inneren Struktur lange Ketten digitaler
Informationen sind. Und das ist noch nicht alles: Sie sind
wirklich digital im umfassenden, strengen Sinne der Compu-
ter und Compact Discs, nicht in der schwachen Form des
Nervensystems. Der genetische Code ist weder binär wie die
Computersprache, noch hat er acht Ebenen wie manche Tele-
fonsysteme; er ist ein quaternärer Code mit vier Symbolen.
Die Maschinensprache der Gene ist furchterregend compu-
terähnlich. Sieht man von den Unterschieden im Jargon ab,

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könnte man die Seiten einer molekularbiologischen Fachzeit-
schrift gegen die eines Journals für Computertechnik austau-
schen. Diese digitale Revolution im innersten Kern des Le-
bens hatte neben vielen anderen Auswirkungen die Folge, daß
der Vitalismus den letzten Todesstoß erhielt, jene Überzeu-
gung, wonach Lebendiges sich deutlich von unbelebter Mate-
rie unterscheidet. Bis 1953 konnte man noch glauben, es gebe
im lebenden Protoplasma etwas grundlegend und unauflös-
lich Geheimnisvolles, Danach ging das nicht mehr. Selbst
diejenigen Philosophen, die zu einer mechanistischen Sicht
des Lebens neigten, hätten auf diese Erfüllung ihrer kühnsten
Träume nicht zu hoffen gewagt.

Die folgende Science-fiction-Handlung ist durchaus plausi-

bel, wenn man eine Technologie voraussetzt, die sich von der
heutigen nur durch eine etwas größere Schnelligkeit unter-
scheidet. Professor Jim Crickson wurde von einer bösen frem-
den Macht entführt und gezwungen, in ihren Labors für biolo-
gische Kriegsführung zu arbeiten. Um die menschliche Zivili-
sation zu retten, muß er unbedingt eine streng geheime Nach-
richt an die Außenwelt übermitteln, aber alle normalen Kom-
munikationskanäle sind ihm verschlossen. Es gibt nur eine
Ausnahme. Der DNA-Code besteht aus vierundsechzig Tri-
plett»codons«, genug für ein vollständiges englisches Alpha-
bet mit Groß- und Kleinbuchstaben, zehn Ziffern, einem Leer-
zeichen und einem Punkt. Professor Crickson nimmt ein ge-
fährliches Influenzavirus aus der Schublade und verändert
sein Genom so, daß es seine Botschaft in vollendet gebildeten
englischen Sätzen nach außen trägt. Seine Nachricht wieder-
holt sich in dem Genom immer aufs neue, und außerdem ist
sie mit einer leicht erkennbaren »Markierungssequenz« ver-
sehen, zum Beispiel mit den ersten zehn Primzahlen. Dann
infiziert er sich selbst mit dem Virus und niest es in einem
Raum voller Menschen aus. Eine Grippewelle geht um die
Welt, und die medizinischen Labors in anderen Ländern, die

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einen Impfstoff entwickeln wollen, sequenzieren das Genom
des Erregers. Schnell wird deutlich, daß die DNA ein seltsames
Wiederholungsmuster enthält. Von den Primzahlen alarmiert,
die nicht von selbst entstanden sein können, kommt jemand
auf die Idee, herkömmliche Dechiffrierungsmethoden auf die
Sequenz anzuwenden. Von da an ist es nur noch wenig Arbeit,
bis man die Botschaft lesen kann, die Professor Crickson in die
Welt geniest hat.

Unser genetisches System, das universelle System allen Le-

bens auf der Erde, ist durch und durch digital. Das gesamte
Neue Testament könnte man Wort für Wort in denjenigen
Teilen des menschlichen Genoms verschlüsseln, die heute als
»DNA-Schrott« gelten, weil der Organismus sie - zumindest
in der herkömmlichen Weise - nicht nutzt. Jede Zelle unseres
Körpers enthält die Entsprechung zu sechsundvierzig riesigen
Datenbändern, an denen viele gleichzeitig arbeitende Lese-
köpfe die digitalen Buchstaben ablesen. In jeder Zelle enthal-
ten diese Bänder - die Chromosomen - die gleiche Informa-
tion, aber die Leseköpfe suchen sich in den einzelnen Zellty-
pen unterschiedliche Abschnitte der Datenbank für ihre Spe-
zialistenarbeit heraus. Deshalb unterscheiden sich Muskelzel-
len von Leberzellen. Es gibt keine von einem Geist angetrie-
bene Lebenskraft, kein pulsierendes, knospendes, protoplas-
matisches, geheimnisvolles Gelee. Leben besteht schlicht aus
Bytes und Bytes und Bytes digitaler Information.

Gene sind Information in Reinkultur - und diese Informa-

tion kann verschlüsselt, neu verschlüsselt und entschlüsselt
werden, ohne daß ihr Inhalt zerstört oder verändert wird.
Reine Information läßt sich kopieren, und das, da es sich um
digitale Information handelt, mit unglaublicher Genauigkeit.
Die Buchstaben der DNA werden mit einer Präzision verdop-
pelt, die es mit allen Leistungen moderner Ingenieure aufneh-
men kann. Sie werden von Generation zu Generation kopiert,
und das gerade mit soviel Fehlern, daß Vielfalt entsteht. Die

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ganze Vielfalt dieser Buchstabenkombinationen wird in Kör-
pern kopiert und umgesetzt, und dabei werden in der Welt
offenkundig und ganz automatisch diejenigen Kombinationen
zahlreicher, die ihren Körper dazu veranlassen können, die
DNA-Botschaft aktiv zu erhalten und weiterzuverbreiten. Wir
- und damit meine ich alle Lebewesen - sind Überlebensma-
schinen, die so programmiert sind, daß sie die digitale Daten-
bank, die das Programm enthält, vermehren. Der Darwinis-
mus ist, mit heutigen Begriffen beschrieben, das Überleben
der Überlebenden auf der Ebene des rein digitalen Codes.

Rückblickend betrachtet, konnte es auch gar nicht anders

sein. Ein analoges genetisches System könnte man sich zwar
ausmalen, aber wir haben bereits gesehen, was mit analoger
Information geschieht, wenn sie über viele Generationen hin-
weg kopiert wird. Es ist wie »Stille Post«. Telefonsysteme mit
Verstärkern, Tonbandkopien, Fotokopien von Fotokopien -
analoge Signale sind so anfällig für zunehmende Zerstörung,
daß die Fortschreibung über eine begrenzte Anzahl von Gene-
rationen hinaus nicht mehr möglich ist. Gene dagegen kön-
nen sich über Zigmillionen Generationen hinweg fortpflan-
zen und verändern sich dabei kaum. Nur wegen dieses fehler-
losen Kopiervorganges (abgesehen von abgegrenzten Muta-
tionen, die von der natürlichen Selektion beibehalten oder
ausgemerzt werden) kann der Darwinismus funktionieren.
Unser digitales genetisches System ist in der Lage, den Darwi-
nismus über die Äonen der Erdgeschichte aufrechtzuerhalten.
Das Jahr 1953, das Jahr der Doppelhelix, wird eines Tages
nicht nur als der Endpunkt der mystischen, vernebelten Sicht
des Lebens gelten; die Darwinisten werden darin auch das Jahr
sehen, in dem ihr Fachgebiet endgültig digitalisiert wurde.

Der Fluß der rein digitalen Information, der majestätisch

durch die Erdgeschichte fließt und sich in drei Milliarden
Arme gabelt, ist ein machtvolles Bild. Aber wo bleiben dabei
die vertrauten Eigenschaften des Lebendigen? Wo bleiben

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Körper, Hände und Füße, Augen, Gehirn und Tasthaare, Blät-
ter, Stämme und Wurzeln? Wo bleiben wir selbst und unsere
Körperteile? Sind wir - wir Tiere, Pflanzen, Protozoen, Pilze
und Bakterien - nur die Ufer, zwischen denen die Rinnsale
der digitalen Daten fließen? In einem gewissen Sinne ja. Aber
wie ich bereits angedeutet habe, ist das nicht alles. Gene
stellen nicht nur Kopien von sich selbst her, die durch die
Generationen fließen. In Wirklichkeit sind sie in Körpern zu
Hause, und sie beeinflussen Gestalt und Verhalten der aufein-
anderfolgenden Körper, in denen sie sich befinden. Die Kör-
per sind ebenfalls wichtig.

Der Körper eines Eisbären zum Beispiel bildet nicht nur

zwei Uferböschungen, zwischen denen ein digitaler Bach ver-
läuft. Er ist auch eine Maschine von bärenstarker Komplexität.
Alle Gene der gesamten Eisbärenpopulation sind eine Ge-
meinschaft, gute Kameraden, die im Laufe der Zeit alle einmal
aufeinandertreffen. Aber sie befinden sich nicht ständig in der
Gesellschaft aller anderen Mitglieder ihrer Gemeinschaft, son-
dern tauschen innerhalb dieser Gruppe immer wieder die
Partner. Die Gemeinschaft ist definiert als die Gruppe von
Genen, die sich potentiell begegnen können (aber nicht den
Mitgliedern einer der dreißig Millionen anderen Gemein-
schaften auf der Erde). Das tatsächliche Zusammentreffen
spielt sich immer in einer Zelle im Körper des Eisbären ab.
Und dieser Körper ist kein passives Gefäß für die DNA.

Zunächst einmal entzieht sich schon die reine Zahl der

Zellen, von denen jede die komplette Genausstattung enthält,
jeder Vorstellungskraft: Bei einem ausgewachsenen Bären-
männchen sind es etwa neunhundert Millionen Millionen.
Eine Kette aus den hintereinander aufgereihten Zellen eines
einzigen Bären würde ohne weiteres von der Erde zum Mond
und wieder zurück reichen. Alle Zellen gehören zu ein paar
hundert unterschiedlichen Typen, und diese Typen sind prak-
tisch bei allen Säugetieren die gleichen: Muskelzellen, Ner-

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venzellen, Knochenzellen, Hautzellen und so weiter. Gewebe
bestehen jeweils aus einer großen Masse von Zellen eines
solchen Typs: Muskelgewebe, Knochengewebe und so weiter.
All diese verschiedenen Zelltypen enthalten die genetischen
Anweisungen zur Herstellung sämtlicher einzelner Zelltypen,
aber angeschaltet sind nur diejenigen Gene, die zu dem jewei-
ligen Gewebe gehören. Das ist der Grund, warum die Zellen
der einzelnen Gewebe sich in Form und Größe unterschei-
den. Und, was noch interessanter ist, die Gene, die in den
Zellen eines bestimmten Typs angeschaltet sind, sorgen auch
dafür, daß das betreffende Gewebe eine bestimmte Form
annimmt. Knochen sind keine gestaltlosen Massen aus hartem,
starrem Gewebe. Sie haben bestimmte Formen mit hohlen
Schäften, Gelenkköpfen und Gelenkpfannen, Fortsätzen und
Vorsprüngen. Die Zellen sind durch die in ihnen angeschalte-
ten Gene darauf programmiert, sich so zu verhalten, als wüß-
ten sie, wo sie im Verhältnis zu ihren Nachbarzellen stehen,
und deshalb bauen sie Gewebe in der Form von Ohrläppchen
oder Herzklappen, Augenlinsen oder Schließmuskeln auf.

Die Komplexität eines Lebewesens wie des Eisbären ist

vielschichtig. Der Körper ist eine komplexe Ansammlung prä-
zise gestalteter Organe wie Leber, Nieren und Knochen. Jedes
Organ ist ein komplexes Gebilde aus bestimmten Geweben,
und die Bausteine der Gewebe sind die Zellen, die oft in
Schichten angeordnet sind, vielfach aber auch feste Massen
bilden. Im viel kleineren Maßstab besitzt jede Zelle eine
höchst komplexe innere Struktur aus gefalteten Membranen.
Diese Membranen und das Wasser in ihren Zwischenräumen
sind der Schauplatz zahlreicher verschiedenartiger, kompli-
zierter chemischer Reaktionen. In einer Chemiefabrik von ICI
oder Union Carbide laufen vielleicht ein paar hundert ver-
schiedene chemische Reaktionen ab, die durch die Wände von
Flaschen, Röhren und so weiter voneinander getrennt sind.
Ähnlich viele Reaktionen finden auch im Inneren einer leben-

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den Zelle gleichzeitig statt. Die Membranen entsprechen da-
bei bis zu einem gewissen Grad den Glasgefäßen im Labor,
aber der Vergleich hinkt, und zwar aus zwei Gründen: Erstens
spielen sich zwischen den Membranen zwar viele Reaktionen
ab, aber nicht wenige ereignen sich auch innerhalb der Mem-
bransubstanz selbst. Zweitens werden die Reaktionen in der
Zelle auf eine viel bedeutsamere Art und Weise getrennt: Jede
von ihnen wird von einem eigenen Enzym katalysiert.

Ein Enzym ist ein sehr großes Molekül, das aufgrund seiner

dreidimensionalen Form eine bestimmte chemische Reaktion
begünstigt: Es stellt eine Oberfläche zur Verfügung, an der die
Umsetzung ablaufen kann. Da die Raumstruktur das Entschei-
dende an biologischen Molekülen ist, kann man ein Enzym als
große Maschine betrachten, die genau darauf abgestimmt ist,
Moleküle einer bestimmten Form zu produzieren. Deshalb
können in jeder Zelle auf der Oberfläche der verschiedenen
Enzymmoleküle Hunderte von chemischen Reaktionen gleich-
zeitig und getrennt ablaufen. Um welche Reaktionen es sich
dabei in einer bestimmten Zelle im einzelnen handelt, hängt
davon ab, welche Enzymmoleküle in großer Zahl vorhanden
sind. Jedes Enzymmolekül mit seiner alles entscheidenden
Form wird unter dem bestimmenden Einfluß eines bestimm-
ten Gens aufgebaut. Genauer gesagt, legt die Reihenfolge
mehrerer hundert Codebuchstaben im Gen nach einigen
heute genau bekannten Regeln (dem genetischen Code) die
Reihenfolge der Aminosäuren im Enzymmolekül fest. Jedes
Enzymmolekül ist eine Kette aus Aminosäuren, und jede der-
artige Aminosäurekette verschlingt sich von selbst wie in
einem Knoten zu einer charakteristischen, einzigartigen
Raumstruktur, in der sich Querverbindungen zwischen ver-
schiedenen Teilen der Kette ausbilden. Wie die dreidimensio-
nale Struktur des Knotens im einzelnen aussieht, bestimmt die
eindimensionale Abfolge der Aminosäuren, und damit ist sie
abhängig von der ebenfalls eindimensionalen Sequenz der

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Codebuchstaben im Gen. Über die chemischen Reaktionen in
einer Zelle entscheiden also die jeweils angeschalteten Gene.

Aber was entscheidet nun darüber, welche Gene in einer

bestimmten Zelle angeschaltet sind? Die Antwort heißt: die
Substanzen, die in der Zelle bereits vorhanden sind. Das
Ganze hat etwas von dem Paradox mit der Henne und dem Ei,
aber die Schwierigkeit ist hier nicht unüberwindlich. Die
Lösung ist im Prinzip sogar recht einfach, im Detail allerdings
kompliziert. In der Computertechnik kennt man die Lösung
unter dem Namen Bootstrapping oder Ureingabe. Als ich in
den sechziger Jahren zum ersten Mal Computer benutzte,
mußte man alle Programme mit Hilfe von Papierstreifen la-
den. (Amerikanische Computer bedienten sich damals zu die-
sem Zweck häufig der Lochkarten, aber es war das gleiche
Prinzip.) Bevor man den großen Streifen eines ernsthaften
Programms laden konnte, mußte man ein kleineres Pro-
gramm eingeben, das sogenannte Ureingabe-Ladeprogramm,
das nur eine Aufgabe hatte: Es sagte dem Computer, wie er
Papierstreifen laden sollte. Aber - und hier kommt wieder das
Henne-Ei-Problem ins Spiel - wie wurde das Ureingabe-Lade-
programm selbst geladen? In den heutigen Computern ist das
entsprechende Programm fest verdrahtet, aber in jenen Früh-
zeiten mußte man dazu Schalter in einer festgelegten Abfolge
betätigen. Diese Abfolge war für den Computer der Befehl,
den ersten Teil des Streifens mit dem Ureingabe-Ladepro-
gramm zu lesen. Der erste Abschnitt des Programms gab dann
ein paar weitere Befehle zum Lesen des nächsten Teils und so
weiter. Wenn das gesamte Ureingabe-Ladeprogramm eingele-
sen war, wußte der Computer, wie er jeden beliebigen Papier-
streifen lesen sollte, und damit war er zu einem nützlichen
Computer geworden.

Die Entwicklung eines Embryos beginnt mit der Zweitei-

lung einer einzelnen Zelle, des befruchteten Eies; aus den
zwei Zellen werden durch Teilung vier, aus den vier werden

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acht und so weiter. Nur wenige Dutzend Zellgenerationen
sind notwendig, und schon geht die Zahl der Zellen in die
Billionen - so wirksam ist exponentielle Vermehrung. Aber
wenn das alles wäre, würden die Billionen Zellen einander
genau gleichen. Statt dessen differenzieren sie sich (um den
Fachausdruck zu gebrauchen) zu Leberzellen, Muskelzellen,
Nierenzellen und so weiter, in denen jeweils andere Gene
angeschaltet und andere Enzyme am Werk sind. Wie kommt es
dazu? Durch Bootstrapping, und das funktioniert folgender-
maßen. Die Eizelle sieht zwar wie eine Kugel aus, aber in
Wirklichkeit hat sie im Inneren eine chemische Polarität. Es
gibt ein Oben und Unten, und in vielen Fällen auch ein Vorn
und Hinten (und demnach auch eine rechte und linke Seite).
Diese Richtungen zeigen sich in Form chemischer Gradien-
ten. Die Konzentration bestimmter Substanzen steigt von vorn
nach hinten stetig an, für andere verläuft das Gefalle von oben
nach unten. Diese Gradienten sind anfangs recht einfach, aber
sie reichen aus, um das erste Stadium der Ureingabe zu bil-
den.

Wenn aus der Eizelle beispielsweise zweiunddreißig Zellen

geworden sind, also nach fünfmaliger Zellteilung, enthalten
einige dieser Zellen eine größere Menge der Substanzen von
der Oberseite, in anderen ist der Gehalt an Verbindungen von
der Unterseite unverhältnismäßig hoch. Die Zellen können
sich, was die Substanzen des Vorn-Hinten-Gradienten angeht,
ebenfalls im Ungleichgewicht befinden. Diese Unterschiede
genügen, damit in den einzelnen Zellen unterschiedliche
Genkombinationen eingeschaltet werden, so daß in den ver-
schiedenen Teilen des frühen Embryos jeweils eine andere
Enzymausstattung vorliegt. Das wiederum führt dazu, daß in
verschiedenen Zellen jeweils andere Kombinationen weiterer
Gene eingeschaltet werden. Auf diese Weise gleichen die Ab-
stammungslinien der Zellen im Embryo nicht mehr ihrem ein-
zelnen Vorfahren, sondern sie entwickeln sich auseinander.

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Es handelt sich aber um eine ganz andere Art der Auseinan-
derentwicklung als bei der zuvor beschriebenen Trennung
verschiedener Arten. Der unterschiedliche Werdegang der
Zellen ist programmiert und läßt sich in allen Einzelheiten
vorhersagen, während die Auseinanderentwicklung der Arten
die unberechenbare Folge geographischer Zufälligkeiten ist
und deshalb nicht vorhersagbar. Außerdem entwickeln sich
mit den Arten auch die Gene selbst auseinander, ein Vorgang,
den ich überschwenglich als »langen Abschied« bezeichnet
habe. Wenn die Abstammungslinien der Zellen innerhalb des
Embryos sich auseinanderentwickeln, behalten die Teilgrup-
pen - und zwar alle - die gleichen Gene. Unterschiedlich sind
in den Zellen jedoch die Substanzen kombiniert, die verschie-
dene Genkombinationen anschalten, und manche Gene be-
wirken, daß andere Gene an- oder abgeschaltet werden. Da-
mit setzt sich die Ureingabe fort, bis das gesamte Spektrum der
verschiedenen Zelltypen vorhanden ist.

Der Embryo differenziert sich aber in seiner Entwicklung

nicht nur zu ein paar hundert verschiedenen Zelltypen. Er
macht auch elegante, dynamische Veränderungen der inneren
und äußeren Form durch. Der vielleicht spektakulärste der-
artige Vorgang ist auch einer der ersten: die Gastrulation. Der
angesehene Embryologe Lewis Wolpert ging sogar so weit zu
sagen: »Weder Geburt noch Heirat oder Tod, sondern vielmehr
die Gastrulation ist das wirklich wichtige Ereignis in unserem
Leben.« Was geschieht bei der Gastrulation? Eine Hohlkugel
aus Zellen stülpt sich ein und bildet einen innen ausgekleideten
Becher. Praktisch alle Embryonen im Tierreich machen diesen
gleichen Vorgang der Gastrulation durch. Sie ist die einheit-
liche Grundlage, auf der die vielfältigen Wege der Entwicklung
des Embryos aufbauen. Ich erwähne die Gastrulation hier nur
als besonders augenfälliges Beispiel für die ruhelose, Origami-
artige Bewegung ganzer Zellschichten, die man in der Entwick-
lung des Embryos häufig beobachtet.

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Am Ende einer virtuosen Origami-Vorstellung, nach zahlrei-

chen Vorgängen des Faltens, Nach-außen-Drückens, Ausbeu-
lens und Dehnens von Zellschichten, nach umfangreichem,
dynamisch koordiniertem, unterschiedlich starkem Wachs-
tum von Teilen des Embryos auf Kosten anderer Teile, nach
der Differenzierung zu Hunderten unterschiedlich speziali-
sierter Zelltypen - und wenn die Gesamtzahl der Zellen in die
Billionen geht, ist das Baby endgültig gebildet. Nein, selbst das
Baby ist nichts Endgültiges, denn auch das gesamte Wachstum
des einzelnen über die Erwachsenenzeit bis ins hohe Alter -
wobei wiederum manche Teile sich schneller entwickeln als
andere - sollte man eigentlich als Fortsetzung der Entwick-
lung des Embryos ansehen: Embryologie total.

Die Unterschiede zwischen den Individuen beruhen auf

quantitativen Unterschieden in ihrer gesamten Embryologie.
Eine Zellschicht wächst ein wenig länger, bevor sie sich zu-
rückfaltet, und das Ergebnis ist - was? - eine Adlernase an-
stelle eines Stupsnäschens; Plattfüße, die einem vielleicht das
Leben retten könnten, weil sie einen vor dem Militärdienst
bewahren; eine besondere Form des Schulterblattes, die zu
einer besonderen Begabung für den Speerwurf führt (oder
gegebenenfalls für das Werfen von Handgranaten oder Krik-
ketbällen). Manchmal haben einzelne Abweichungen im Ori-
gami der Zellschichten tragische Folgen, zum Beispiel, wenn
ein Baby mit Armstummeln und ohne Hände geboren wird.
Nicht weniger wichtig sind die Folgen individueller Unter-
schiede, die sich nicht im Origami der Zellschichten, sondern
rein chemisch zeigen: die Unfähigkeit, Milch zu verdauen,
eine homosexuelle Veranlagung, eine Allergie gegen Erd-
nüsse oder die Empfindung, daß Mangos entsetzlich nach
Terpentin schmecken.

Die Entwicklung des Embryos ist ein höchst komplizierter

chemischer und physikalischer Vorgang. Eine winzige Verän-
derung an einer beliebigen Stelle kann im weiteren Verlauf

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beachtliche Folgen haben. Das ist nicht verwunderlich, wenn
man daran denkt, wie stark alles von der Ureingabe abhängt.
Viele Unterschiede in der Entwicklung des einzelnen Lebewe-
sens gehen auf unterschiedliche Umweltbedingungen zurück,
beispielsweise auf Sauerstoffmangel oder die Einwirkung von
Thalidomid (Contergan). Eine Vielzahl weiterer Unterschiede
beruhen auf genetischen Abweichungen - nicht nur in einzel-
nen Genen, sondern auch in ihren Wechselbeziehungen un-
tereinander und mit der Umwelt. Ein derart komplizierter,
kaleidoskopartiger, auf verzwickte Weise wechselseitig von
Ureingaben abhängiger Vorgang wie die Entwicklung des Em-
bryos ist robust und empfindlich zugleich. Robust ist er, weil
er viele mögliche Veränderungen auffangen kann, so daß auch
bei scheinbar übermächtigen Widrigkeiten noch ein lebendes
Baby entsteht. Gleichzeitig ist er aber gegenüber Veränderun-
gen so empfindlich, daß zwei Individuen, sogar eineiige Zwil-
linge, sich niemals in allen ihren Eigenschaften völlig glei-
chen.

Damit sind wir bei dem Punkt angelangt, um den es mir bei

alledem geht. Soweit die Unterschiede zwischen Individuen
auf die Gene zurückgehen (was in größerem oder geringerem
Umfang der Fall sein kann), begünstigt die natürliche Selek-
tion unter Umständen besondere Launen des embryologi-
schen Origami oder der embryologischen Chemie, während
andere beeinträchtigt werden. Soweit der Wurfarm von den
Genen beeinflußt ist, kann die natürliche Selektion ihn bevor-
zugen oder benachteiligen. Wenn die Fähigkeit zum Werfen
auch nur geringfügige Auswirkungen auf die Wahrscheinlich-
keit hat, daß das betreffende Individuum lange genug lebt, um
Kinder zu haben, und wenn die Werferqualitäten in einem
gewissen Umfang von den Genen bestimmt werden, haben
diese Gene eine entsprechend größere Chance, in die nächste
Generation zu gelangen. Jedes einzelne Individuum kann aus
Gründen sterben, die nichts mit der Fähigkeit zu werfen zu

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tun haben. Aber ein Gen, das, wenn es vorhanden ist, zu
besseren Werferqualitäten führt, ist über viele Generationen
hinweg in zahlreichen guten und schlechten Körpern zu
Hause. Vom Standpunkt dieses einzelnen Gens heben sich die
anderen Todesursachen gegenseitig auf. Aus seiner Perspek-
tive gibt es nur die langfristige Aussicht auf den DNA-Fluß, der
durch die Generationen fließt und nur vorübergehend in
bestimmten Körpern verweilt, nur vorübergehend einen Kör-
per mit Genkameraden teilt, die mehr oder weniger erfolg-
reich sein können.

Auf lange Sicht füllt sich der Fluß mit Genen, die aus ver-

schiedenen Gründen gut für das Überleben geeignet sind:
weil sie die Fähigkeit zum Speerwerfen ein wenig verbessern,
weil sie das Schmecken von Giften erleichtern, oder was es
auch sonst sein mag. Gene, die im Durchschnitt weniger gut
zum Überleben beitragen - vielleicht, weil sie zum Astigmatis-
mus führen, so daß ihre aufeinanderfolgenden Körper
schlechtere Speerwerfer sind, oder weil sie ihre aufeinander-
folgenden Körper weniger attraktiv machen, so daß sie schwe-
rer einen Partner finden - werden aus dem Fluß der Gene
verschwinden. Bei alledem muß man daran denken, was ich
zuvor gesagt habe: In dem Fluß bleiben diejenigen Gene
erhalten, die in der durchschnittlichen Umwelt der jeweiligen
Art gut für das Überleben sind. Vielleicht der wichtigste Aspekt
dieser Umwelt sind die anderen Gene der Art; Gene, mit
denen ein Gen sich seinen Körper teilen muß; die anderen
Gene, die mit ihm in demselben Fluß durch die geologischen
Zeiträume schwimmen.

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Mutter Afrika und ihre

Kinder

Oft hält sich jemand für besonders scharfsinnig, wenn er
behauptet, die Wissenschaft sei nichts anderes als unser mo-
derner Schöpfungsmythos. Die Juden hatten Adam und Eva,
die Sumerer Marduk und Gilgamesch, die Griechen Zeus und
und die olympischen Götter, die Nordländer Walhalla. Was ist
die Evolution anderes, so sagen ein paar kluge Leute, als unser
modernes Pendant zu Göttern und Helden, nicht besser und
nicht schlechter, nicht richtiger und nicht falscher. Es gibt eine
modische Salonphilosophie, die sich kultureller Relativismus
nennt; in ihrer extremen Form behauptet sie, die Naturwissen-
schaft habe soviel Wahrheitsgehalt wie ein Stammesmythos:
Sie sei schlicht der Mythos, den unser abendländischer Stamm
bevorzuge. Einmal provozierte mich ein Anthropologe dazu,
die Sache folgendermaßen auf den Punkt zu bringen: »Ange-
nommen«, so sagte ich, »ein Naturvolk hält den Mond für eine
alte Kalebasse, die in den Himmel geworfen wurde und knapp
außerhalb der eigenen Reichweite über den Baumwipfeln
hängt. Behaupten Sie wirklich, daß unsere wissenschaftliche
Wahrheit - der Mond ist etwa 350.000 Kilometer entfernt und
hat ein Viertel des Erddurchmessers - nicht wahrer ist als die
Geschichte von der Kalebasse?« - »Ja«, sagte der Anthropo-

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loge. »Nur sind wir in einer Kultur aufgewachsen, in der man
die Welt mit wissenschaftlichen Augen sieht. Diese Leute ha-
ben gelernt, sie auf andere Weise zu betrachten. Keine der
beiden Arten ist wahrer als die andere.«

Zeige mir einen kulturellen Relativisten in zehntausend

Metern Höhe, und ich zeige dir einen Heuchler. Flugzeuge,
die nach wissenschaftlichen Prinzipien gebaut werden, funk-
tionieren. Sie bleiben in der Luft, und man gelangt mit ihnen
an den gewünschten Bestimmungsort. Flugzeuge, die nach
Stammestraditionen oder mythischen Vorgaben gebaut wer-
den wie die Flugzeugattrappen oder Südseekulturen auf
Dschungellichtungen oder die mit Bienenwachs befestigten
Schwingen des Ikarus, funktionieren nicht.* Wer zu einer
Anthropologen- oder Literaturkritikertagung fliegt, kommt
dort höchstwahrscheinlich auch an, und daß das geschieht
und man nicht in den nächsten umgepflügten Acker stürzt,
liegt nur daran, daß viele in westlicher Wissenschaft ausgebil-
dete Ingenieure richtig gerechnet haben. Auf der Grundlage
überzeugender Beweise, daß der Mond die Erde in einem
Abstand von 350.000 Kilometern umkreist, und mit Hilfe im
Abendland konstruierter Computer und Raketen ist es der
abendländischen Wissenschaft gelungen, einen Menschen auf
den Mond zu bringen. Die Wissenschaft der Naturvölker, für

* Es war nicht das erste Mal, daß ich diese Holzhammermethode benutzt habe.

Ich muß betonen, daß sie ausschließlich auf Leute gemünzt ist, die so denken
wie der Anthropologe über die Kalebasse. Andere bezeichnen sich verwirren-
derweise ebenfalls als Vertreter des kulturellen Relativismus, haben aber ganz
andere und völlig vernünftige Ansichten. Für sie bedeutet kultureller Relativis-
mus nur, daß man eine Kultur nicht verstehen kann, wenn man sie in den
Begriffen des eigenen Kulturkreises interpretiert. Man muß die Überzeugun-
gen jeder Kultur im Zusammenhang ihrer übrigen Überzeugungen betrachten.
Diese vernünftige Form des kulturellen Relativismus ist nach meiner Ver-
mutung die ursprüngliche, und was ich kritisiert habe, dürfte eine extreme,
allerdings beunruhigend verbreitete Perversion davon sein. Vernünftige Relati-
visten sollten sich stärker darum bemühen, sich von dieser einfältigen Art zu
distanzieren.

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die der Mond über den Baumwipfeln hängt, wird ihn außer-
halb ihrer Träume nie erreichen.

Ich halte kaum einmal einen öffentlichen Vortrag, ohne daß

jemand aus dem Publikum sehr gescheit ähnliche Argumente
anführt wie der genannte Anthropologe, und die Folge ist in
der Regel ein Gemurmel und Nicken der Zustimmung. Die
Nickenden halten sich zweifellos für gut und liberal und un-
rassistisch. Ein noch zuverlässigerer Nickauslöser ist der Satz
»Im Grunde ist Ihre Überzeugung, daß es die Evolution gibt,
eine Glaubensfrage, und deshalb ist sie nicht besser, als wenn
ein anderer an das Paradies glaubt«.

Jeder Kulturkreis hat seinen Schöpfungsmythos, seine Ge-

schichte zur Erklärung von Universum, Leben und Mensch-
heit. In einem gewissen Sinn bietet die Wissenschaft tatsäch-
lich etwas Entsprechendes, zumindest für den gebildeten Teil
unserer abendländischen Gesellschaft. Man kann die Natur-
wissenschaft sogar als Religion bezeichnen, und ich habe mich
einmal, nicht nur im Spaß, in einer kurzen öffentlichen Erklä-
rung dafür ausgesprochen, naturwissenschaftliche Themen
im Religionsunterricht zu behandeln.* (In Großbritannien ist
Religion ein reguläres Schulfach, im Gegensatz zu den Verei-
nigten Staaten, wo man es aus Angst, die Vielzahl der unverein-
baren Glaubensrichtungen zu verletzen, verboten hat.) Die
Naturwissenschaft hat mit der Religion eines gemeinsam:
Beide erheben den Anspruch, die schwierigen Fragen nach
Ursprung und Wesen des Lebendigen sowie nach dem Univer-
sum zu beantworten. Aber damit ist die Ähnlichkeit auch
schon zu Ende. Naturwissenschaftliche Überzeugungen wer-
den durch Beobachtungen gestützt und führen zu Ergebnis-
sen. Bei Mythen und religiösem Glauben ist das nicht der Fall.

Unter allen Schöpfungsmythen ist die jüdische Geschichte

vom Garten Eden so tief in unserer Kultur verwurzelt, daß sie

* The Spectator (London), 6. August 1994.

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auch einer wichtigen wissenschaftlichen Theorie über unsere
Vorfahren den Namen gegeben hat: der Theorie von der »afri-
kanischen Eva«. Ihr widme ich dieses Kapitel, unter anderem,
weil ich mit ihrer Hilfe den Vergleich mit dem DNA-Fluß weiter-
entwickeln kann, aber auch weil ich sie als naturwissenschaft-
liche Hypothese der mythischen Urmutter im Garten Eden ge-
genüberstellen will. Wenn das gelingt, wird die Wahrheit inter-
essanter und vielleicht sogar poetisch bewegender erscheinen
als der Mythos. Ich beginne mit einer Übung in reinem logi-
schen Denken. Wozu sie gut ist, wird bald deutlich werden.

Jeder Mensch hat zwei Eltern, vier Großeltern, acht Urgroß-

eltern und so weiter. Die Zahl der Vorfahren verdoppelt sich
mit jeder Generation. Geht man um g Generationen zurück,
ist die Zahl der Vorfahren 2, g mal mit sich selbst multipliziert:
2 hoch g. Nur ist es so, daß man ohne viel Mühe erkennt: so
kann es nicht sein. Um uns davon zu überzeugen, müssen wir
nur ein wenig in der Zeit zurückgehen, beispielsweise bis in
die Tage Jesu vor genau zweitausend Jahren. Unterstellt man
vorsichtig vier Generationen je Jahrhunden - das heißt, die
Menschen zeugen mit fünfundzwanzig Jahren ihre Nachkom-
men -, machen zweitausend Jahre gerade achtzig Generatio-
nen aus. In Wirklichkeit ist diese Zahl wahrscheinlich größer
(bis vor kurzer Zeit bekamen Frauen in sehr jungen Jahren das
erste Kind), aber es ist nur eine theoretische Berechnung, und
das Entscheidende wird auch ohne solche Einzelheiten deut-
lich. Multipliziert man die Zwei achtzigmal mit sich selbst,
gelangt man zu einer beeindruckenden Zahl, nämlich zu einer
Eins mit 24 Nullen. Jeder von uns hatte zu Zeiten Jesu eine
Million Millionen Millionen Millionen Vorfahren! Aber die
gesamte Weltbevölkerung war zu jener Zeit nur ein Bruchteil
eines winzigen Bruchteils der Zahl, die wir gerade für unsere
Vorfahren berechnet haben.

Irgendwo haben wir offensichtlich etwas falsch gemacht,

aber wo? Wir haben richtig gerechnet. Der einzige Fehler liegt

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in der Annahme, daß die Zahl sich in jeder Generation verdop-
pelt. Wir haben vergessen, daß auch Cousin und Cousine
heiraten. Ich habe angenommen, daß wir acht Urgroßeltern
haben, aber jedes Kind aus einer Ehe von Cousin und Cousine
ersten Grades hat nur sechs Urgroßeltern, denn die gemein-
samen Großeltern der Eheleute sind auf zweierlei Weise die
Urgroßeltern der Kinder. Jetzt fragt sich mancher vielleicht:
»Na und?« Manche Leute heiraten ihre Cousine (Emma Wedg-
wood, Charles Darwins Frau, war seine Cousine ersten Gra-
des), aber das kommt doch sicher nicht so oft vor, daß es eine
große Rolle spielt? Doch, das tut es sehr wohl, denn »Cousin
und Cousine« bedeutet in unserem Zusammenhang auch
Cousin und Cousine zweiten Grades, fünften Grades, sech-
zehnten Grades und so weiter. Wenn man derart entfernte
Verwandte mitzählt, ist jede Ehe eine Ehe zwischen Cousin
und Cousine. Manchmal hört man, wie Leute sich brüsten, sie
seien entfernte Verwandte der englischen Königin, aber das ist
ziemliche Angeberei, denn wir sind alle entfernte Verwandte
der Queen und auch jedes anderen Menschen, und zwar auf
mehr Wegen, als daß man es jemals im einzelnen nachvollzie-
hen könnte. Das einzige Besondere an Königshäusern und
Adligen besteht darin, daß sie ihre Abstammung tatsächlich
zurückverfolgen können. Als der vierzehnte Earl of Home
wegen seines Titels von einem politischen Gegner verspottet
wurde, erwiderte er: »Ich nehme an, wenn Mr. Wilson wirk-
lich darüber nachdenkt, ist er der vierzehnte Mr. Wilson.«

Die Quintessenz aus alledem lautet: Wir sind viel engere

Cousins und Cousinen, als uns normalerweise klar ist, und wir
haben viel weniger Vorfahren, als einfache Berechnungen
vermuten lassen. Einmal wollte ich eine Studentin dazu bewe-
gen, ihre Überlegungen in diese Richtung zu lenken, und bat
sie um eine begründete Schätzung für die Zeit, als ihr und
mein letzter gemeinsamer Vorfahr lebte. Sie sah mir unver-
wandt ins Gesicht und erwiderte, ohne zu zögern, in schlep-

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pendem, bäuerlichem Tonfall: »Damals bei den Affen.« Das
war zwar ein verzeihlicher spontaner Lapsus, aber sie lag
damit um ungefähr zehntausend Prozent falsch. Es würde eine
Trennung von mehreren Millionen Jahren bedeuten. Die
Wahrheit ist, daß unser letzter gemeinsamer Vorfahr mög-
licherweise vor nicht mehr als ein paar Jahrhunderten gelebt
hat, vermutlich ein gutes Stück nach Wilhelm dem Eroberer.
Und außerdem sind wir mit Sicherheit auf vielerlei Weise
Cousin und Cousine.

Die Vorstellung von den Ahnen, die zu der fehlerhaft aufge-

blähten Berechnung führte, gründet sich auf das Bild des
Stammbaums, der sich immer und immer wieder verzweigt.
Ebenso falsch ist das auf den Kopf gestellte Modell eines
Baumes von Nachkommen. Ein Mensch hat im typischen Fall
zwei Kinder, vier Enkel, acht Urenkel und so weiter bis hin zu
den unmöglichen Billionen Nachkommen in ein paar Jahr-
hunderten. Ein viel realistischeres Bild von Vorfahren und
Nachkommen ist das von dem Fluß der Gene, das ich im
vorangegangenen Kapitel eingeführt habe. Die Gene sind ein
ständig wogender Strom, der zwischen seinen Ufern durch
die Zeit fließt. Wenn die Gene in ihm hin und her schwimmen,
wirbeln die Strömungen auseinander und vereinigen sich
wieder. An Stellen, die am Fluß entlang verteilt sind, holen wir
immer wieder einen Eimer voll heraus. Die Molekülpaare in
einem solchen Eimer waren auf ihrem Weg im Fluß schon
früher Kameraden und werden es auch später wieder sein. Sie
waren in der Vergangenheit auch schon weit getrennt, und
auch das wird in Zukunft wieder eintreten. Die Berührungs-
punkte im einzelnen zurückzuverfolgen, ist schwierig, aber
aus mathematischer Sicht können wir sicher sein, daß es
solche Berührungen gibt. Wenn zwei Gene an einem be-
stimmten Punkt keinen Kontakt haben, ist mathematisch gesi-
chert, daß wir in beiden Richtungen nicht allzuweit gehen
müssen, bis sie sich wieder treffen.

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Eine Frau weiß vielleicht nicht, daß sie die Cousine ihres Ehe-

mannes ist, aber nach der statistischen Wahrscheinlichkeit
müssen die beiden ihre Ahnenreihe nicht besonders weit
zurückverfolgen, um auf eine Verbindung zu stoßen. Blickt
man in die Zukunft, erscheint es offenkundig, daß die beiden
mit großer Wahrscheinlichkeit gemeinsame Nachkommen ha-
ben werden. Aber hier gibt es einen viel interessanteren Ge-
danken. Wenn Sie das nächste Mal unter vielen Menschen sind
- beispielsweise in einem Konzert oder bei einem Fußball-
spiel -, sehen Sie sich im Publikum um und überlegen Sie
folgendes: Wenn Sie in ferner Zukunft überhaupt Nachkom-
men haben, sind in dem Konzert wahrscheinlich noch andere,
denen Sie als Vorfahren gemeinsamer Nachkommen die Hand
schütteln können. Die Großeltern wissen in der Regel, daß sie
gemeinsame Enkelkinder haben, und es muß ihnen ein gewis-
ses Gefühl der Verbundenheit vermitteln, ob sie nun persön-
lich gut miteinander auskommen oder nicht. Sie können sich
ansehen und sagen: »Nun ja, ich mag ihn nicht besonders, aber
seine DNA hat sich in unserem gemeinsamen Enkel mit mei-
ner vermischt, und wir können hoffen, daß wir auch in Zu-
kunft, wenn es uns längst nicht mehr gibt, gemeinsame Nach-
kommen haben. Das schafft sicher eine Verbindung zwischen
uns.« Worauf ich aber hinauswill: Wenn man überhaupt mit
entfernten Nachkommen gesegnet ist, wird irgendein völlig
Fremder in dem Konzertsaal ebenfalls ein Vorfahr dieser
Nachkommen sein. Man kann das Publikum mustern und
darüber spekulieren, welche Männer oder Frauen dazu be-
stimmt sind, die Nachkommen mit einem selbst zu teilen. Sie
und ich, wer Sie auch sind, welches Geschlecht und welche
Hautfarbe Sie auch haben, könnten gemeinsame Vorfahren
sein. Vielleicht ist Ihre DNA dazu bestimmt, sich mit meiner zu
vermischen. Seien Sie gegrüßt!

Reisen wir nun einmal mit einer Zeitmaschine in die Ver-

gangenheit, vielleicht zu der Menschenmenge im Kolosseum,

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zu einem Markt in Ur, oder noch weiter zurück. Sehen wir uns
wieder die Menschen an, wie wir es mit dem Konzertpubli-
kum in der Gegenwart getan haben. Machen wir uns klar, daß
wir diese längst verstorbenen Menschen in zwei und nur zwei
Gruppen einteilen können: diejenigen, die unsere Vorfahren
sind, und diejenigen, von denen wir nicht abstammen. Das ist
recht naheliegend, aber jetzt sind wir bei einer bemerkens-
werten Tatsache. Hat die Zeitmaschine uns weit genug in die
Vergangenheit befördert, können wir bei den Menschen un-
terscheiden zwischen denjenigen, die die Vorfahren aller
1995 lebenden Menschen sind, und jenen anderen, die 1995
die Vorfahren von niemandem sind. Dazwischen gibt es
nichts. Jede Person, die man erblickt, wenn man aus der
Zeitmaschine tritt, ist entweder ein Vorfahr aller Menschen
oder kein Vorfahr von irgend jemandem.

Das ist ein fesselnder Gedanke, der aber ganz einfach zu

beweisen ist. Man muß sich mit der gedachten Zeitmaschine
nur grotesk weit zurückversetzen, beispielsweise in die Zeit
vor dreihundertfünfzig Millionen Jahren, als unsere Vorfahren
Fische mit lappenförmigen Flossen und einer Lunge waren,
die aus dem Wasser stiegen und zu Amphibien wurden. Wenn
ein bestimmter Fisch mein Vorfahr war, ist es unvorstellbar,
daß er nicht auch der Vorfahr aller anderen Menschen ist.
Wäre es anders, würde das bedeuten, daß die Abstammungsli-
nien, die zu mir und zu einem anderen Menschen geführt
haben, unabhängig voneinander und ohne Querverbindun-
gen entstanden sind, vom Fisch über Amphibien, Reptilien,
Säugetiere, Primaten, Menschenaffen und Hominiden, und am
Ende wäre etwas so Ähnliches herausgekommen, daß wir
miteinander reden und, wenn wir unterschiedlichen Ge-
schlechts sind, uns miteinander paaren können. Und das glei-
che gilt auch für jedes andere beliebige Paar von Menschen.

Es ist also bewiesen: Wenn wir in der Zeit weit genug

zurückgehen, muß jedes Individuum, auf das wir treffen, ent-

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weder ein Vorfahr von uns allen oder von niemandem sein.
Aber wie weit zurück ist weit genug? Offenbar brauchen wir
nicht bis zu den Fischen mit lappenförmigen Flossen zurück-
zugehen - das war die reductio ad absurdum -, aber wie weit
müssen wir uns wirklich in die Vergangenheit begeben, damit
wir auf den allgemeinen Vorfahren aller 1996 lebenden Men-
schen treffen? Das ist eine viel schwierigere Frage, und ihr
möchte ich mich als nächstes zuwenden. Sie läßt sich nicht
theoretisch beantworten. Wir brauchen dazu echte Informa-
tionen, Messungen aus der nüchternen Welt bestimmter Tat-
sachen.

Sir Ronald Fisher, der englische Genetiker und Mathe-

matiker, in dem man sowohl Darwins wichtigsten Nachfolger
im 20. Jahrhundert als auch den Vater der modernen Statistik
sehen kann, traf 1930 die folgende Feststellung:

Die geographischen und anderen Hindernisse für den Ge-

schlechtsverkehr zwischen verschiedenen Rassen... sind das
einzige, was verhindert hat, daß die gesamte Menschheit, von
den letzten paar tausend Jahren abgesehen, die gleichen Vor-
fahren hat. Angehörige der gleichen Nation unterscheiden
sich in ihrer Abstammung jenseits der letzten fünfhundert
Jahre unter Umständen kaum; bei zweitausend Jahren bleiben
offenbar als einzige Unterschiede die zwischen den ethnogra-
phischen Rassen; diese... dürften tatsächlich sehr alt sein;
aber das war über so lange Epochen hinweg nur möglich,
wenn es praktisch keine Vermischung des Blutes zwischen
den getrennten Gruppen gab.

Im Sinne unserer Flußanalogie bezieht Fisher sich eigentlich

auf die Tatsache, daß die Gene aller Angehörigen einer geo-
graphisch zusammengehörenden Rasse in demselben Fluß
schwimmen. Was aber die genauen Zahlen anging - fünfhun-
dert Jahre, zweitausend Jahre, das enorme Alter der Trennung
verschiedener Rassen -, so war Fisher auf begründete Ver-
mutungen angewiesen. Die einschlägigen Tatsachen kannte

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man zu seiner Zeit noch nicht. Heute, nach der molekularbio-
logischen Revolution, stehen sie in Hülle und Fülle zur Verfü-
gung. Die Molekularbiologie hat uns die charismatische afri-
kanische Eva beschert.

Man hat sich neben dem digitalen Fluß auch anderer Meta-

phern bedient. So liegt es nahe, die DNA jedes Menschen mit
einer Familienbibel zu vergleichen. Die DNA ist ein sehr
langer Text, der, wie wir gesehen haben, in einem Alphabet
aus vier Buchstaben geschrieben ist. Diese Buchstaben wur-
den von unseren Vorfahren und nur von unseren Vorfahren
peinlich genau abgeschrieben, mit bemerkenswerter Origi-
naltreue sogar im Falle sehr weit entfernter Vorfahren. Durch
den Vergleich der in verschiedenen Menschen erhalten ge-
bliebenen Texte sollte es deshalb möglich sein, ihre Ver-
wandtschaftsverhältnisse zu rekonstruieren und einen ge-
meinsamen Vorfahren ausfindig zu machen.

Entfernte Vettern, beispielsweise Norweger und australi-

sche Aborigines, deren DNA mehr Zeit für die Auseinander-
entwicklung hatte, sollten sich in mehr Wörtern unterschei-
den. Ähnlich verfahren die Gelehrten mit den verschiedenen
Versionen biblischer Texte. Bei der DNA hat die Sache leider
einen Haken, und der heißt Sexualität.

Die Sexualität ist der Alptraum eines Archivars. Anstatt die

alten Texte, mit Ausnahme eines gelegentlichen unvermeidli-
chen Fehlers, unverändert zu lassen, greift sie mutwillig und
energisch ein und zerstört die Indizien. Kein Elefant hat jemals
einen Porzellanladen so verwüstet wie die Sexualität die DNA-
Archive. In der Bibelwissenschaft gibt es so etwas nicht. Zuge-
gebenermaßen merkt auch ein Gelehrter, der beispielsweise
die Ursprünge vom Hohenlied Salomons aufspüren will, daß
der Text nicht ganz das ist, was er zu sein scheint. Das Lied
enthält seltsame, zusammenhanglose Stellen, die darauf
schließen lassen, daß es sich in Wirklichkeit um Bruchstücke
mehrerer verschiedener Gedichte handelt, von denen nur ein

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Teil erotisch war und die zusammengeflickt wurden. Und es
enthält Fehler - Mutationen -, insbesondere in der Überset-
zung. »Fangt uns die Füchse, die kleinen Füchse, die die
Weinberge verderben« ist eine falsche Übersetzung, an deren
sprachlichen Reiz aber das richtigere »Fangt uns die Fleder-
mäuse, die kleinen Fledermäuse...« nicht heranreicht. Aber
das sind kleinere Fehler, unvermeidliche geringfügige Verzer-
rungen, mit denen man immer rechnen muß, wenn Texte
nicht tausendfach gedruckt oder in Computerdiscs geätzt, son-
dern von menschlichen Schreibern immer wieder von einem
verschlissenen, verletzlichen Papyrus auf den anderen über-
tragen werden.

Aber jetzt kommt die Sexualität ins Spiel. (Nein, in dem

Sinne, der hier gemeint ist, kommt Sexualität im Lied der
Lieder nicht vor.) Die Sexualität, die ich meine, bedeutet
nichts anderes, als daß man ein Dokument zur Hälfte in
kleine, zufällige Schnipsel zerreißt und mit der zweiten
Hälfte eines ebenso kleingehackten Dokuments vermischt.
So unglaublich und sogar barbarisch das klingt, nichts ande-
res geschieht bei der Entstehung einer Geschlechtszelle.
Wenn sich beispielsweise in einem Mann eine Samenzelle
bildet, paaren sich die Chromosomen, die er von seinem
Vater und seiner Mutter geerbt hat, und große Brocken von
ihnen tauschen die Plätze. Die Chromosomen eines Kindes
sind ein unentwirrbarer Mischmasch aus den Chromosomen
seiner Großeltern und weiter zurück bis zu denen der ent-
ferntesten Vorfahren. Von den künftig alten Texten können
die Buchstaben und vielleicht die Wörter über die Generatio-
nen hinweg erhalten bleiben. Aber Kapitel, Seiten, sogar ein-
zelne Abschnitte werden auseinandergerissen und mit einer
so rücksichtslosen Effizienz neu zusammengesetzt, daß sie
als Mittel zur historischen Spurensuche fast nutzlos sind. Was
die Geschichte der Vorfahren angeht, ist Sexualität die große
Verschleierung.

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Man kann anhand der DNA-Archive immer dann die Vergan-

genheit rekonstruieren, wenn Sexualität mit Sicherheit nicht
im Spiel war. Mir fallen dazu zwei wichtige Beispiele ein. Das
eine ist die afrikanische Eva - auf sie komme ich noch zu
sprechen. Das andere betrifft die Rekonstruktion der weiter
zurückliegenden Abstammung, bei der man Verwandtschafts-
verhältnisse nicht innerhalb einzelner Arten, sondern zwi-
schen ihnen betrachtet.

Wenn eine Ausgangsart eine neue Art hervorbringt, teilt sich

der Genfluß in zwei Arme. Nachdem sie sich ausreichend
lange voneinander entfernt haben, ist die sexuelle Vermi-
schung innerhalb des Flusses keineswegs ein Hindernis für
den genetischen Archivar, sondern sie hilft sogar bei der
Rekonstruktion der Abstammungs- und Verwandtschaftsver-
hältnisse zwischen den Arten. Nur bei den Verwandtschaftsbe-
ziehungen innerhalb einer Art bringt Sexualität die Indizien
durcheinander. Geht es dagegen um die Beziehungen zwi-
schen verschiedenen Arten, ist sie eine Hilfe, denn sie sorgt
ganz automatisch dafür, daß jedes Individuum genetisch ein
repräsentatives Beispiel für die gesamte Art darstellt. Welches
Wasser man mit dem Eimer aus einem gut durchgemischten
Fluß schöpft, spielt keine Rolle: Es ist immer repräsentativ für
alles Wasser dieses Flusses.

Man hat tatsächlich die DNA-Texte von Vertretern verschie-

dener Arten Buchstabe für Buchstabe verglichen und auf diese
Weise sehr erfolgreich Artenstammbäume konstruiert. Einer
einflußreichen wissenschaftlichen Schule zufolge, kann man
den Verzweigungsstellen sogar Zeitpunkte zuordnen. Diese
Möglichkeit ergibt sich aus der allerdings noch umstrittenen
Vorstellung von einer »molekularen Uhr«: Man nimmt an, daß
Mutationen in jedem beliebigen Abschnitt des genetischen
Textes sich mit gleichbleibender Häufigkeit pro Jahrmillion
ereignen. Wir werden in Kürze auf die Hypothese von der
molekularen Uhr zurückkommen.

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Der »Abschnitt« in unseren Genen, der ein Protein namens

Cytochrom c beschreibt, hat eine Länge von 339 Buchstaben.
Das Cytochrom c des Menschen unterscheidet sich durch
zwölf veränderte Buchstaben vom Cytochrom c der Pferde,
die mit uns nur ziemlich entfernt verwandt sind. Nur die
Veränderung eines Buchstabens trennt uns von den Affen
(unseren recht nahen Verwandten), ein einziger anderer
Buchstabe trennt auch Pferde und Esel (recht nahe Ver-
wandte), und drei veränderte Buchstaben wiederum unter-
scheiden Pferde von Schweinen (ihren etwas entfernteren
Verwandten).

Zwischen Menschen und Hefe liegen fünfundvierzig verän-

derte Buchstaben, und die gleiche Zahl von Veränderungen
trennt auch Schweine von Hefe. Daß diese beiden Zahlen
gleich sind, ist nicht verwunderlich, denn wenn wir den zum
Menschen führenden Fluß zurückverfolgen, vereinigt er sich
zunächst mit dem zu den Schweinen führenden Strom, und
erst in viel entfernterer Vergangenheit vereinigt sich dieser
gemeinsame Fluß mit dem, der zur Hefe fließt. Dennoch gibt
es in den Zahlen kleine Ungenauigkeiten. Vergleicht man das
Cytochrom c von Pferden und Hefe, sind nicht fünfundvierzig,
sonden sechsundvierzig Buchstaben anders. Das bedeutet
nicht, daß Schweine mit der Hefe enger verwandt wären als
Pferde. Der Abstand ist genau gleich groß, denn beide sind
Wirbeltiere - und überhaupt Tiere.

Die zusätzliche Veränderung hat sich in die Abstammungs-

linie der Pferde möglicherweise erst recht spät eingeschlichen,
zur Zeit des letzten Vorfahren, den sie mit den Schweinen
gemeinsam hatten. Aber das ist im Grunde nicht so wichtig.
Insgesamt entspricht die Zahl der veränderten Buchstaben im
Cytochrom c zwischen verschiedenen Lebewesen ziemlich
genau dem, was man nach der zuvor beschriebenen Vorstel-
lung von der Verzweigung des Evolutionsbaumes erwarten
würde.

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Wie bereits erwähnt, macht ein Textabschnitt nach der Theo-

rie von der molekularen Uhr in einer Million Jahren immer
ungefähr die gleiche Zahl von Veränderungen durch. Von den
sechsundvierzig Buchstabenabweichungen im Cytochrom c,
die Hefe und Pferde trennen, ist dieser Annahme zufolge
die Hälfte während der Evolution vom gemeinsamen Vor-
fahren zu den heutigen Pferden entstanden, die andere Hälfte
auf dem Weg vom gemeinsamen Vorfahren zur heutigen
Hefe (zur Vollendung der beiden Evolutionswege war natür-
lich die gleiche Zahl von Jahrmillionen notwendig). Diese
Annahme erscheint zunächst verblüffend. Immerhin ähnelte
der gemeinsame Vorfahr der heutigen Hefe wahrscheinlich
mehr als einem Pferd. Die Lösung liegt in einer Vermutung,
die zuerst von dem angesehenen japanischen Genetiker Mo-
too Kimura vertreten wurde und sich mittlerweile allgemein
durchgesetzt hat: Danach kann sich der größte Teil des geneti-
schen Textes beliebig verändern, ohne daß das seine Bedeu-
tung beeinflußt.

Ein guter Vergleich ist die Abwandlung von Schriftarten in

einem gedruckten Satz: »Ein Pferd ist ein Säugetier.« »Hefe
ist ein Pilz.« Der Sinn dieser Sätze ist deutlich erkennbar,
obwohl fast jedes Wort in einer anderen Schriftart gedruckt ist.
Auch die molekulare Uhr tickt über die Jahrmillionen hinweg
mit dem Äquivalent bedeutungsloser Schriftartveränderun-
gen. Die Abwandlungen, die der natürlichen Selektion unter-
worfen werden und den Unterschied zwischen Pferd und
Hefe bestimmen - die Veränderungen in der Bedeutung der
Sätze - sind nur die Spitze des Eisbergs.

Bei manchen Molekülen tickt die Uhr schneller als bei

anderen. Das Cytochrom c entwickelt sich relativ langsam:
Ungefähr alle fünfundzwanzig Millionen Jahre verändert sich
ein Buchstabe. Das liegt wahrscheinlich daran, daß Cytochrom
c für das Überleben eines Organismus unentbehrlich ist und
seine Funktion entscheidend von der genauen Gestalt seiner

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Moleküle abhängt. Die meisten Abwandlungen solcher »form-
kritischen« Moleküle werden von der natürlichen Selektion
nicht toleriert. Andere Proteine, beispielsweise die sogenann-
ten Fibrinopeptide, sind zwar ebenfalls wichtig, aber sie funk-
tionieren in vielen verschiedenen Formen gleichermaßen gut.
Die Fibrinopeptide wirken bei der Blutgerinnung mit und
lassen sich in vielen Einzelheiten abwandeln, ohne daß das
ihre nützliche Wirkung beeinträchtigt. Bei diesen Proteinen
liegt die Mutationsrate bei einer einzigen Veränderung in
sechshunderttausend Jahren, und damit ist sie um über vier-
zigmal schneller als beim Cytochrom c. Deshalb eignen sich
die Fibrinopeptide nicht besonders zur Rekonstruktion alter
Abstammungslinien; aber zum Nachzeichnen von Verwandt-
schaftsverhältnissen aus jüngerer Zeit - beispielsweise inner-
halb der Gruppe der Säugetiere - waren sie sehr nützlich. Es
gibt Hunderte verschiedene Proteine, die sich jeweils mit
einer eigenen, charakteristischen Geschwindigkeit pro Jahr-
million verändern und sich unabhängig voneinander zur Re-
konstruktion von Stammbäumen eignen. Dabei ergibt sich im
wesentlichen immer das gleiche Bild von den Abstammungs-
verhältnissen - auch das übrigens ein recht guter Hinweis
(falls er noch notwendig sein sollte), daß die Evolutionstheo-
rie stimmt.

Ausgangspunkt dieser Erörterung war die Erkenntnis, daß

Sexualität die historischen Belege durcheinanderbringt. Wir
haben zwei Wege aufgezeigt, wie man die Auswirkungen der
Sexualität umgehen kann. Von einem davon war gerade die
Rede - er ergibt sich aus der Tatsache, daß Sexualität nicht
zum Genaustausch zwischen verschiedenen Arten führt. Da-
mit eröffnet sich die Möglichkeit, mit Hilfe der DNA-Sequen-
zen den Stammbaum unserer weit entfernten Vorfahren zu
rekonstruieren, die lange vor der Zeit lebten, als wir erkenn-
bar menschliche Züge annahmen. Aber wenn man so weit in
die Vergangenheit zurückgeht - darin waren wir uns schon

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einig -, stammen alle Menschen ohnehin von ein und demsel-
ben Individuum ab. Wir wollten in Erfahrung bringen, wel-
ches der späteste Zeitpunkt ist, zu dem wir noch von einer
gemeinsamen Abstammung aller Menschen ausgehen kön-
nen. Um das festzustellen, müssen wir uns mit anderen Befun-
den beschäftigen, die sich aber ebenfalls auf die DNA gründen.
Hier kommt nun die afrikanische Eva ins Spiel.

Die afrikanische Eva wird manchmal auch Eva der Mito-

chondrien genannt. Mitochondrien sind winzige, bonbonför-
mige Körperchen, die zu Tausenden in jeder unserer Körper-
zellen herumschwimmen. Sie sind eigentlich hohl, aber in
ihrem Inneren bilden Membranen ein kompliziertes System
von Scheidewänden. Die Fläche dieser Wände ist insgesamt
viel größer, als man nach der äußeren Form der Mitochon-
drien vermuten würde, und sie wird genutzt. Die Membranen
sind die Fließbänder einer Fabrik - oder eigentlich eher eines
Kraftwerkes. An ihnen entlang spielt sich eine genau gesteu-
erte Reaktionsfolge ab, die mehr Einzelstufen umfaßt als die
Produktionsprozesse in jeder von Menschen konstruierten
Fabrik. Das Endprodukt ist Energie, die aus den Nährstoffmo-
lekülen stammt; sie wird in geregelten Portionen freigesetzt
und in wiederverwendbarer Form gespeichert, so daß sie
später bei Bedarf an jeder beliebigen Stelle im Organismus
verwertet werden kann. Ohne Mitochondrien würden wir
sofort sterben.

Das ist die Tätigkeit der Mitochondrien, aber uns geht es

hier mehr um ihre Herkunft. Ursprünglich, in der Frühzeit der
Evolution, waren sie Bakterien - so die bemerkenswerte
Theorie der redegewaltigen Lynn Margulis von der University
of Massachusetts in Amherst, die für diese anfangs ketzerische
Idee zunächst widerwilliges Interesse weckte und sie bis zur
triumphalen und heute fast uneingeschränkten Anerkennung
führte. Vor zwei Milliarden Jahren waren frei lebende Bakte-
rien die entfernten Vorfahren der Mitochondrien. Zusammen

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mit anderen Bakterienarten nisteten sie sich in größeren Zel-
len ein. Die so entstandene Lebensgemeinschaft »prokaryonti-
scher« Bakterien wurde zu der heutigen großen »eukaryonti-
schen« Zelle. Jeder von uns ist eine Gemeinschaft von hundert
Millionen Millionen voneinander abhängigen Eukaryonten-
zellen, und jede dieser Zellen ist ihrerseits eine Gemeinschaft
von Tausenden speziell gezähmter Bakterien, die völlig in der
Zelle eingeschlossen sind und sich dort wie Bakterien ver-
mehren. Einer Berechnung zufolge würden alle Mitochon-
drien eines einzigen Menschen, hintereinander aufgereiht,
die Erde nicht einmal, sondern zweitausendmal umspannen.
Jedes Tier und jede Pflanze ist eine riesige Gemeinschaft von
Gemeinschaften, die in interagierenden Schichten angeord-
net sind wie ein tropischer Regenwald. Und wie in einem
Regenwald wimmelt es in dieser Lebensgemeinschaft von
vielleicht zehn Millionen Arten von Organismen, wobei jedes
Mitglied einer Art selbst wieder eine Gemeinschaft von Ge-
meinschaften domestizierter Bakterien darstellt. Dr. Margulis'
Geschichte von den Ursprüngen - die Zelle als umfriedeter
Bakteriengarten - ist nicht nur ungleich inspirierender, aufre-
gender und erhebender als die Geschichte vom Garten Eden.
Sie hat außerdem den Vorteil, daß sie mit ziemlicher Sicher-
heit wahr ist.

Ich gehe heute wie die meisten Biologen von der Annahme

aus, daß Margulis' Theorie stimmt; in diesem Kapitel erwähne
ich sie nur, weil daraus etwas ganz Bestimmtes folgt: Mito-
chondrien besitzen ihre eigene DNA, die wie bei anderen
Bakterien ein einziges ringförmiges Chromosom bildet. Und
damit ist der Punkt erreicht, zu dem das alles hinführen sollte:
Die Mitochondrien-DNA beteiligt sich an keinerlei sexueller
Vermischung, weder mit der Hauptmenge der DNA in den
Zellkernen noch mit der DNA anderer Mitochondrien. Die
Mitochondrien vermehren sich wie viele Bakterien durch ein-
fache Zweiteilung. Wenn aus einem von ihnen zwei gleichar-

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tige Tochtermitochondrien werden, erhält jedes davon - ab-
gesehen von der einen oder anderen seltsamen Mutation -
eine genaue Kopie des ursprünglichen Chromosoms. Jetzt
erkennt man, wie schön das unter dem Gesichtspunkt der
langfristigen Stammbaumforschung ist. Wie wir gesehen ha-
ben, werden die Indizien in unseren gewöhnlichen DNA-
Texten in jeder Generation durch die Sexualität durcheinan-
dergewürfelt, so daß die Beiträge der mütterlichen und väter-
lichen Linie nicht mehr auseinanderzuhalten sind. Die Mito-
chondrien-DNA ist erfreulich zölibatär.

Unsere Mitochondrien erhalten wir ausschließlich von der

Mutter. Samenzellen sind sehr klein und enthalten nur wenige
Mitochondrien, die gerade eben ausreichen, um auf dem Weg
zur Eizelle die Energie für die Schwimmbewegungen des
Schwanzes zu liefern; bei der Befruchtung, wenn der Kopf der
Samenzelle in die Eizelle aufgenommen wird, gehen diese
Mitochondrien zusammen mit dem Schwanz zugrunde. Die
Eizelle ist im Vergleich dazu riesengroß; ihr gewaltiger, flüs-
sigkeitsgefüllter Innenraum enthält eine Fülle von Mitochon-
drien, die in den Körper des Kindes gelangen. Die Mitochon-
drien von Männern und Frauen stammen also gleichermaßen
von diesen anfänglichen, von der Mutter kommen Mitochon-
drien ab. Und ebenso sind bei Männern und Frauen alle
Mitochondrien aus den Mitochondrien der Großmutter müt-
terlicherseits hervorgegangen. Keines davon kommt vom
Vater, keines von einem der Großväter, keines von der Groß-
mutter väterlicherseits. Die Mitochondrien sind eigenstän-
dige Zeugnisse der Vergangenheit, nicht verunreinigt durch
die Hauptmenge der DNA im Zellkern, die mit gleicher
Wahrscheinlichkeit von jedem der vier Großeltern stammen
kann, und ebenso von jedem der acht Urgroßeltern und so
weiter.

Die Mitochondrien-DNA ist nicht verunreinigt, aber sie ist

nicht immun gegen Mutationen, zufällige Kopierfehler. Ganz

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im Gegenteil: Sie mutiert sogar häufiger als unsere »eigent-
liche« DNA, denn (wie bei allen Bakterien) fehlt ihr der
hochentwickelte Apparat zur Fehlerkorrektur, den die Evolu-
tion im Laufe der Zeit in unseren Zellen hervorgebracht hat.
In der Mitochondrien-DNA verschiedener Menschen gibt es
einige Unterschiede, und ihre Zahl ist ein Maß dafür, in
welch ferner Vergangenheit sich die jeweiligen Abstam-
mungslinien der Vorfahren getrennt haben. Nicht aller Vor-
fahren, sondern der Vorfahren in der weiblichen, weib-
lichen, weiblichen... Linie. Wenn die Mutter eine reinerbige
australische Ureinwohnerin oder eine reinerbige Chinesin
oder eine reinrassige Angehörige der !Kung San aus der Kala-
hari ist, findet man in ihrer Mitochondrien-DNA eine ganze
Reihe von Unterschieden zu der einer Europäerin. Wer der
Vater ist, spielt dabei keine Rolle: Er kann ein englischer Lord
oder ein Siouxhäuptling sein, die Unterschiede in den Mito-
chondrien sind immer die gleichen. Und das gleiche gilt für
alle männlichen Vorfahren aller Zeiten.

Es gibt also die eigenständigen Apokryphen der Mitochon-

drien, die zusammen mit der großen Familienbibel weiterge-
geben werden, aber mit der Besonderheit, daß die Vererbung
nur über die weibliche Linie erfolgt. Das ist kein sexistischer
Standpunkt; es wäre genausogut, wenn alles über die männli-
che Linie verliefe. Der Vorteil liegt darin, daß die DNA unver-
sehrt bleibt und nicht in jeder Generation auseinandergeris-
sen und vermischt wird. Zusammenhängende Vererbung
über eines der beiden Geschlechter, aber nicht über beide:
Genau das brauchen wir als DNA-Stammbaumforscher. Das Y-
Chromosom wird - wie bis vor einiger Zeit der Familienname
- nur über die männliche Linie weitergegeben und würde
sich deshalb theoretisch ebensogut eignen, aber es enthält zu
wenig nützliche Information. Die mitochondrialen Apokry-
phen sind das ideale Mittel zur Datierung gemeinsamer Vor-
fahren innerhalb einer Art.

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Mit der Mitochondrien-DNA beschäftigte sich ein Wissen-

schaftlerteam im kalifornischen Berkeley unter der Leitung
des verstorbenen Allan Wilson. In den achtziger Jahren analy-
sierte er zusammen mit seinen Kollegen die Mitochondrien-
DNA aus einer Stichprobe von 135 Frauen aus der ganzen
Welt, darunter australische Ureinwohnerinnen, Bewohnerin-
nen des Hochlandes von Neuguinea, Indianerinnen, Europäe-
rinnen, Chinesinnen und Angehörige verschiedener afrikani-
scher Völker. Die Wissenschaftler untersuchten genau, wie
viele unterschiedliche Buchstaben die einzelnen Frauen
trennten. Diese Zahlen fütterten sie in einen Computer und
wiesen ihn an, daraus den sparsamsten Stammbaum abzulei-
ten. »Sparsam« bedeutet in diesem Zusammenhang, daß man
mit möglichst geringem Aufwand zur Übereinstimmung ge-
langt. Das erfordert ein wenig Erklärung.

Denken wir noch einmal an die zuvor gegebene Beschrei-

bung von Pferden, Schweinen und Hefe sowie an die Analyse
der Buchstabenfolge im Cytochrom c. Wie ich dort erläutert
habe, unterscheiden sich Pferde und Schweine nur in drei
dieser Buchstaben, zwischen Schwein und Hefe liegen fünf-
undvierzig, zwischen Pferd und Hefe dagegen sechsundvier-
zig solche Unterschiede. Die theoretische Aussage, die wir
daraus abgeleitet haben, lautete: Da Pferde und Schweine
über einen gemeinsamen Vorfahren, der in relativ junger
Vergangenheit gelebt hat, verwandt sind, sollten sie von der
Hefe genau gleich weit entfernt sein. Der Unterschied zwi-
schen fünfundvierzig und sechsundvierzig ist eine Anomalie,
die es in einer idealen Welt nicht gäbe. Ihre Ursache kann eine
zusätzliche Mutation auf dem Weg zu den Pferden oder eine
umgekehrte Mutation auf dem Weg zu den Schweinen sein.

Aber so absurd diese Möglichkeit in der Realität auch er-

scheinen mag: Theoretisch ist es denkbar, daß Schweine mit
der Hefe näher verwandt sind als mit Pferden. Theoretisch
wäre es möglich, daß die starke Ähnlichkeit zwischen Schwei-

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nen und Pferden (ihre Cytochrom-c-Texte sind nur um drei
Buchstaben voneinander entfernt, und ihr Körperbau ist ent-
sprechend dem Grundmuster der Säugetiere fast identisch)
sich durch einen riesigen Zufall entwickelt hat. Daß wir das
nicht annehmen, hat einen ganz bestimmten Grund: Die Zahl
der Ähnlichkeiten zwischen Schweinen und Pferden ist bei
weitem größer als die der Übereinstimmungen zwischen
Schweinen und Hefe. Zugegebenermaßen gibt es einen einzi-
gen Buchstaben in der DNA, in dem die Schweine der Hefe
offenbar näher sind als den Pferden, aber dagegen stehen
Millionen von Übereinstimmungen in der anderen Richtung.
Es ist ein Sparsamkeitsargument. Wenn man annimmt, daß
Schweine den Pferden näher sind, muß man nur eine einzige
zufällige Ähnlichkeit unterstellen. Wollte man jedoch eine
engere Verwandtschaft zwischen Schweinen und Hefe postu-
lieren, müßte man eine völlig unrealistische Kette unabhängig
voneinander erworbener zufälliger Ähnlichkeiten vorausset-
zen.

Bei Pferden, Schweinen und Hefe ist dieses Sparsamkeitsar-

gument so übermächtig, daß man es nicht in Zweifel ziehen
kann. In der Mitochondrien-DNA verschiedener Menschen-
rassen gibt es dagegen an den Ähnlichkeiten nichts Übermäch-
tiges. Auch hier lassen sich Sparsamkeitsargumente anwen-
den, aber es sind schwächere, quantitative Argumente, die
keineswegs alles andere vom Tisch wischen. Das ist, zumin-
dest in der Theorie, die Aufgabe des Computers: Er stellt alle
möglichen Stammbäume der 135 Frauen auf, vergleicht sie
miteinander und sucht den sparsamsten heraus, das heißt
denjenigen, der mit der geringsten Zahl zufälliger Ähnlichkei-
ten auskommt. Man muß anerkennen, daß auch der beste
Stammbaum einige zufällige Ähnlichkeiten einschließt, genau
wie wir hinnehmen mußten, daß die Hefe im Hinblick auf
einen Buchstaben der DNA den Schweinen nähersteht als den
Pferden. Aber zumindest theoretisch sollte der Computer in

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der Lage sein, dies in Rechnung zu stellen und etwas darüber
auszusagen, welcher der vielen möglichen Stammbäume der
sparsamste, am wenigsten vom Zufall bestimmte ist.

Soweit die Theorie. In der Praxis hat die Sache einen Haken.

Die Zahl möglicher Stammbäume ist größer, als jeder von uns
und jeder Mathematiker sich vorstellen können. Für Pferd,
Schwein und Hefe sind nur drei Stammbäume möglich. Der
offenkundig richtige lautet ([Schwein Pferd] Hefe): Schwein
und Pferd gehören zusammen in die inneren Klammern, Hefe
ist die entfernter verwandte »äußere Gruppe«. Die beiden
anderen theoretischen Stammbäume lauten ([Schwein Hefe]
Pferd)
und ([Pferd Hefe] Schwein). Nehmen wir eine vierte Art
(zum Beispiel den Tintenfisch) hinzu, steigt die Zahl der
möglichen Stammbäume auf fünfzehn. Ich möchte sie hier
nicht alle aufführen, aber der wirkliche (sparsamste) lautet
([[Schwein Pferd] Tintenfisch] Hefe). Auch hier stehen Schwein
und Pferd als enge Verwandte nahe zusammen in den innersten
Klammern. Als nächstes kommt der Tintenfisch hinzu, der mit
der Abstammungslinie von Schwein und Pferd einen jüngeren
gemeinsamen Vorfahren hat als die Hefe. Alle vierzehn ande-
ren Stammbäume - zum Beispiel ([Schwein Tintenfisch] [Pferd
Hefe]) -
sind eindeutig weniger sparsam. Es ist höchst unwahr-
scheinlich, daß die vielen Ähnlichkeiten von Schwein und
Pferd sich unabhängig voneinander entwickelt haben, wenn
das Schwein tatsächlich ein näherer Verwandter des Tintenfi-
sches und das Pferd ein näherer Verwandter der Hefe wäre.

Wenn für drei Lebewesen drei und für vier Lebewesen

fünfzehn Stammbäume möglich sind, wie viele Stammbäume
kann man dann für 135 Frauen aufstellen? Die Antwort lautet:
eine so gewaltig große Zahl, daß es keinen Sinn hätte, sie
aufzuschreiben. Wenn der größte und schnellste Computer
der Welt alle diese Stammbäume aufführen sollte, wäre das
Ende der Welt da, bevor er mit seiner Aufgabe auch nur ein
merkliches Stück vorangekommen wäre.

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Dennoch ist die Sache nicht hoffnungslos. Wir sind es ge-

wohnt, unmöglich große Zahlen mit Hilfe vernünftiger Stich-
proben in den Griff zu bekommen. Wir können die Insekten
im Amazonasbecken nicht zählen, aber wir können ihre Zahl
abschätzen, indem wir kleine, zufällig über den Regenwald
verteilte Flächen untersuchen und annehmen, daß diese Stich-
proben repräsentativ sind. Unser Computer kann nicht alle
Stammbäume analysieren, die die 135 Frauen verbinden, aber
er kann Stichproben aus der Gesamtmenge der möglichen
Stammbäume ziehen. Wenn man dann feststellt, daß die spar-
samsten Stammbäume in jeder Stichprobe aus den Gigamil-
liarden möglicher Stammbäume jedesmal einige gemeinsame
Eigenschaften haben, kann man schließen, daß vermutlich
auch die sparsamsten aller Stammbäume diese Eigenschaften
aufweisen.

Genau das hat man getan. Aber wie man es am besten

anfängt, ist nicht ohne weiteres zu erkennen. Genau wie die
Insektenforscher, die sich vielleicht nicht einig sind, wie man
am besten Stichproben im brasilianischen Regenwald nimmt,
haben auch die DNA-Stammbaumforscher ihre Stichproben
mit unterschiedlichen Methoden gewonnen. Und die Ergeb-
nisse stimmen leider nicht immer überein. Wegen ihres Wer-
tes möchte ich dennoch die Befunde darstellen, zu denen die
Arbeitsgruppe in Berkeley bei ihrer Analyse der menschlichen
Mitochondrien-DNA gelangte. Ihre Schlußfolgerungen waren
nämlich äußerst interessant und provozierend. Der sparsam-
ste Stammbaum hat demnach seine festen Wurzeln in Afrika.
Das bedeutet, daß manche Afrikanerinnen mit anderen Afrika-
nerinnen entfernter verwandt sind als mit sonst irgend jeman-
dem auf der Welt. Die gesamte übrige Menschheit - Europäe-
rinnen, Indianerinnen, australische Aborigines, Chinesinnen,
Bewohner von Neuguinea, Inuit und alle anderen - bilden
eine Gruppe relativ enger Verwandter. Auch manche Afrikane-
rinnen gehören in diese Gruppe, andere aber nicht. Nach

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dieser Analyse sieht der sparsamste Stammbaum folgender-
maßen aus: (manche Afrikanerinnen [andere Afrikanerinnen
/ [noch andere Afrikanerinnen [wieder andere Afrikanerinnen
und alle anderen]]]). Die Wissenschaftler gelangten deshalb zu
dem Schluß, die große Urmutter von uns allen müsse in Afrika
gelebt haben: eine »afrikanische Eva«. Wie ich schon erwähnt
habe, ist diese Aussage umstritten. Andere behaupteten, man
könne ebenso sparsame Stammbäume finden, deren äußerste
Äste außerhalb Afrikas liegen. Außerdem sei die Gruppe von
Berkeley nur deshalb zu ihren Ergebnissen gelangt, weil der
Computer die Stammbäume in einer bestimmten Reihenfolge
untersucht habe. Natürlich sollte die Reihenfolge der Untersu-
chung keine Rolle spielen. Dennoch würden die meisten
Experten auch heute noch ihr Geld dafür wetten, daß die Eva
der Mitochondrien eine Afrikanerin war, aber sie würden es
nicht mehr mit allzu großer Sicherheit tun.

Weniger umstritten ist die zweite Schlußfolgerung der Ber-

keley-Gruppe. Unabhängig davon, wo die Eva der Mitochon-
drien lebte, können wir abschätzen, wann das war. Wie schnell
die Mitochondrien-DNA sich verändert, weiß man, und des-
halb kann man jedem Verzweigungspunkt in ihrem Evolu-
tionsstammbaum einen Zeitpunkt zuordnen. Und der Zeit-
punkt, der die gesamte weibliche Menschheit vereint - der
Tag, an dem die Eva der Mitochondrien geboren wurde - liegt
zwischen hundertfünfzigtausend und einer Viertelmillion
Jahre zurück.

Ob die Eva der Mitochondrien nun Afrikanerin war oder

nicht, wichtig ist, daß man dies nicht mit etwas anderem
durcheinanderbringt: In einem anderen Sinn gibt es nämlich
keinen Zweifel, daß unsere Vorfahren aus Afrika stammen. Die
Eva der Mitochondrien ist eine Vorfahrin aller heutigen Men-
schen und hat in recht junger Vergangenheit gelebt. Sie ge-
hörte zur Spezies Homo sapiens. Fossilien des Homo erectus,
einer viel älteren Hominidenart, hat man sowohl in Afrika als

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auch auf anderen Kontinenten gefunden. Fossilien noch ent-
fernterer Vorfahren wie Homo habilis und die verschiedenen
Arten von Australopithecus (darunter eine neuentdeckte, die
über vier Millionen Jahre alt ist) kennt man dagegen nur aus
Afrika. Wenn wir also seit einer Viertelmillion Jahren die
Nachkommen einer kleinen afrikanischen Menschenge-
meinde sind, dann war es die zweite kleine afrikanische Men-
schengemeinde. Schon früher, vor vielleicht eineinhalb Mil-
lionenjahren, gab es eine große Wanderung, und der Homo
erectus
besiedelte von Afrika aus auf verschlungenen Wegen
Teile des Nahen Ostens und Asiens. Die Theorie von der
afrikanischen Eva behauptet nicht, es habe diese früheren
Asiaten nicht gegeben, sondern sie besagt nur, daß sie keine
heute noch lebenden Nachkommen haben. Wie man es auch
betrachtet: Wenn wir zwei Millionen Jahre zurückgehen, sind
wir alle Afrikaner. Die Theorie von der afrikanischen Eva
behauptet zusätzlich, man brauche nur ein paar hunderttau-
send Jahre in die Vergangenheit zu blicken, dann seien alle
überlebenden Menschen Afrikaner. Es wäre, falls neue Be-
funde eine solche Ansicht stützen, durchaus möglich, die ge-
samte heutige Mitochondrien-DNA auf eine Quelle außerhalb
Afrikas (beispielsweise eine »asiatische Eva«) zurückzuführen
und gleichzeitig weiterhin die Meinung zu vertreten, daß
unsere entfernteren Vorfahren ausschließlich in Afrika zu
Hause waren.

Nehmen wir einmal an, die Gruppe in Berkeley habe recht

gehabt, und betrachten wir als nächstes, was ihre Erkenntnis
bedeutet und was sie nicht bedeutet. Das Etikett »Eva« hat
unglückselige Folgen. Manche Träumer kamen auf den Ge-
danken, sie sei eine einsame Frau gewesen, die einzige Frau
auf Erden, das eigentliche genetische Nadelöhr, ja sogar eine
Bestätigung der Genesis! Das ist ein völliges Mißverständnis.
Postuliert wird nicht, daß sie die einzige Frau auf der Welt
gewesen sei, nicht einmal, daß die Bevölkerung zu ihrer Zeit

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besonders klein gewesen sei. Sie kann durchaus zahlreiche
und fruchtbare Zeitgenossen beiderlei Geschlechts gehabt
haben. Vielleicht leben sogar heute noch viele Nachkommen
von ihnen. Aber alle Nachkommen ihrer Mitochondrien sind
ausgestorben, weil ihre Verbindung zu uns zu irgendeinem
Zeitpunkt über einen Mann verläuft. In ganz ähnlicher Weise
kann auch ein adliger Familienname (Familiennamen sind in
der Regel an das Y-Chromosom gekoppelt und werden, genau
spiegelbildlich zu den Mitochondrien, über die männliche
Linie vererbt) aussterben, aber das bedeutet nicht, daß die
Träger dieses Namens keine Nachkommen haben. Die Nach-
kommen können über die weibliche Linie sogar zahlreich
sein. Richtig ist nur, daß die Eva der Mitochondrien die letzte
Frau ist, von der man sagen kann, daß alle heutigen Menschen
in der weiblichen Linie von ihr abstammen. Es muß eine Frau
geben, auf die diese Behauptung zutrifft. Fraglich ist nur, ob
sie hier oder dort und zu dieser oder jener Zeit lebte. Die
Tatsache, daß sie irgendwann irgendwo gelebt hat, ist gesi-
chert.

Hier gibt es ein zweites Mißverständnis, und zwar eines, das

verbreiteter ist; ich habe gehört, wie sogar führende Wissen-
schaftler, die sich mit der Mitochondrien-DNA beschäftigen, es
vertraten. Es ist die Ansicht, die Eva der Mitochondrien sei
unsere jüngste gemeinsame Vorfahrin. Ursache ist die Ver-
wechslung zwischen dem letzten gemeinsamen Vorfahren
und der letzten gemeinsamen Vorfahrin in der rein weib-
lichen Linie. In der rein weiblichen Linie ist die Eva der
Mitochondrien tatsächlich die jüngste gemeinsame Ahnin al-
ler Menschen, aber man kann von Menschen außer in der
weiblichen Linie auf vielerlei andere Arten abstammen. Auf
Millionen andere Arten. Kehren wir noch einmal zur Berech-
nung der Zahl unserer Vorfahren zurück (und vergessen wir
dabei die Komplikation durch die Heirat von Cousin und
Cousine, die in der Argumentation zuvor der entscheidende

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Punkt war). Man hat acht Urgroßeltern, aber nur eine dieser
Personen steht in der rein weiblichen Linie. Man hat sechzehn
Ururgroßeltern, aber auch hier gibt es nur eine rein weibliche
Linie. Auch wenn man annimmt, daß die Zahl der Vorfahren in
einer bestimmten Generation durch die Verwandtenheirat
geringer wird, kann man immer noch nicht nur in der weib-
lichen Linie, sondern auf viel, viel mehr Arten zum Vorfahren
werden. Wenn wir den genetischen Fluß durch die ferne
Vergangenheit zurückverfolgen, gibt es vermutlich eine
Menge Evas und eine Menge Adams - Menschen, die zu
Ausgangspunkten wurden und über die man sagen kann, daß
alle 1996 lebenden Menschen von ihnen abstammen. Die Eva
der Mitochondrien ist nur eine davon, und für die Annahme,
sie sei unter allen diesen Adams und Evas die jüngste, gibt es
keinen besonderen Grund, ganz im Gegenteil. Allerdings ist
sie auf besondere Weise definiert: Wir entstammen ihr mittels
eines besonderen Weges durch den Fluß der Abstammung. Es
gibt neben der rein weiblichen Linie eine Riesenzahl weiterer
Abstammungswege, und deshalb ist es mathematisch höchst
unwahrscheinlich, daß die Eva der Mitochondrien unter den
vielen Evas und Adams die jüngste ist. Etwas Besonderes unter
diesen vielen Möglichkeiten ist sie nur in einer Hinsicht (weil
sie die rein weibliche Linie darstellt). Es wäre schon ein
bemerkenswerter Zufall, wenn sie auch noch in anderer Hin-
sicht (nämlich weil sie die jüngste wäre) eine Sonderstellung
unter diesen Möglichkeiten einnähme.

Einigermaßen interessant ist auch, daß unser jüngster ge-

meinsamer Vorfahr mit etwas größerer Wahrscheinlichkeit
ein Adam und keine Eva war. Ein Harem aus Frauen ist wahr-
scheinlicher als ein Harem aus Männern, und sei es nur des-
halb, weil Männer körperlich in der Lage sind, Hunderte oder
sogar Tausende von Kindern zu zeugen. Das Guinness Buch
der Rekorde
gibt als Rekord eine Zahl von über tausend an, die
Moulay Ishmael der Blutrünstige erreicht haben soll. (Neben-

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bei bemerkt, könnten Feministinnen diesen Moulay Ishmael
durchaus als Musterbeispiel für einen unangenehmen Macho
anführen. Angeblich bestieg er ein Pferd, indem er das
Schwert zog und in den Sattel sprang, wobei er, um schnell
loszureiten, gleichzeitig den Sklaven köpfte, der den Zügel
hielt. Das mag nicht ganz stimmen, aber die Tatsache, daß
seine Legende überliefert ist, und zwar zusammen mit dem
Ruf, er habe zehntausend Menschen mit eigener Hand umge-
bracht, gibt uns vielleicht eine Vorstellung von den Qualitäten,
die man bei solchen Männern lange Zeit bewunderte.) Frauen
dagegen können auch unter Idealbedingungen höchstens ein
paar Dutzend Kinder haben. Bei einer Frau ist die Wahrschein-
lichkeit, daß sie die durchschnittliche Zahl von Kindern hat,
viel größer als bei einem Mann. Einige Männer haben an den
Kindern vielleicht einen grotesk großen Anteil, aber das heißt,
daß andere Männer gar keine Kinder haben. Wenn ein Mensch
sich überhaupt nicht fortpflanzt, handelt es sich mit größerer
Wahrscheinlichkeit um einen Mann. Und wenn jemand eine
unverhältnismäßig große Nachkommenschaft hervorbringt,
ist es wahrscheinlich ebenfalls ein Mann. Das gilt auch für den
jüngsten gemeinsamen Vorfahren aller Menschen, der dem-
nach eher ein Adam als eine Eva war. Nehmen wir ein extre-
mes Beispiel: Wer ist mit größerer Wahrscheinlichkeit der
gemeinsame Vorfahr aller heutigen Marokkaner, Moulay Ish-
mael oder eine einzige Frau aus seinem unglückseligen Ha-
rem?

Wir können also folgende Schlußfolgerungen ziehen: Er-

stens gab es mit unumstößlicher Sicherheit eine Frau, die wir
Eva der Mitochondrien nennen können und die in der rein
weiblichen Abstammungslinie die jüngste gemeinsame Vor-
fahrin aller heutigen Menschen ist. Sicher ist, zweitens, auch,
daß es eine Person unbekannten Geschlechts gab, die wir
»Ausgangspunkt-Vorfahr« nennen können und die auf allen
Abstammungswegen den jüngsten gemeinsamen Vorfahren

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aller heutigen Menschen darstellt. Und drittens wäre es zwar
möglich, daß die Eva der Mitochondrien und der Ausgangs-
punkt-Vorfahr ein und dieselbe Person waren, aber die Wahr-
scheinlichkeit dafür ist verschwindend gering. Viertens ist es
ein wenig wahrscheinlicher, daß der Ausgangspunkt-Vorfahr
ein Mann war. Fünftens lebte die Eva der Mitochondrien wahr-
scheinlich vor weniger als einer Viertelmillion Jahren. Sech-
stens gibt es Meinungsverschiedenheiten darüber, wo die Eva
der Mitochondrien zu Hause war, aber die Mehrheit der be-
gründeten Meinungen spricht immer noch für Afrika. Von
wissenschaftlichen Belegen sind nur die Punkte fünf und
sechs abhängig. Die ersten vier lassen sich allein durch logi-
sches Folgern aus den allgemeinen Erkenntnissen ableiten.
Aber wie ich schon gesagt habe, liegt in den Vorfahren der
Schlüssel zum Verstehen des Lebens selbst. Die Geschichte
von der Eva der Mitochondrien ist ein beschränkter, auf den
Menschen bezogener Ausschnitt aus einem gewaltigeren und
unvergleichlich viel älteren Epos. Wir werden wieder zu der
Metapher vom Fluß zurückkehren, zu unserem Strom der
Gene. Diesmal werden wir ihm in eine Zeit folgen, die unend-
lich viel weiter zurückliegt als die Jahrtausende der biblischen
Eva oder die Jahrhunderttausende der Eva der Mitochondrien.
Der DNA-Fluß fließt durch unsere Vorfahren in einer ununter-
brochenen Linie, die nicht weniger als drei Milliarden Jahre
umspannt.

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Heimlicher Nutzen

Der Kreationismus hat auch heute noch seinen Reiz, und nach
den Gründen braucht man nicht lange zu suchen. Sie liegen - zu-
mindest bei den meisten Menschen, die mir begegnen - nicht
im Glauben an den wortwörtlichen Inhalt der Genesis oder an
irgendeinen anderen überlieferten Schöpfungsmythos. Die
Menschen entdecken vielmehr für sich selbst die Schönheit
und Vielfalt der Lebewesen und gelangen zu dem Schluß, sie
müßten »ganz offensichtlich« gezielt gestaltet worden sein.
Manche Kreationisten erkennen auch, daß die Darwinsche Evo-
lution zumindest eine Art Alternative zu ihrer biblischen Theo-
rie darstellt, und greifen dann auf einen etwas raffinierteren
Einwand zurück. Sie leugnen die Möglichkeit evolutionärer
Zwischenformen. »X muß von einem Schöpfer gestaltet wor-
den sein«, sagen solche Leute, »denn ein halbes X funktioniert
nicht. Irgend jemand muß alle Teile von X gleichzeitig zusam-
mengefügt haben; sie können nicht durch allmähliche Evolu-
tion entstanden sein.« So erhielt ich zum Beispiel zufällig gera-
de an dem Tag, als ich mit diesem Kapitel anfing, einen Brief. Er
stammte von einem amerikanischen Geistlichen, der Atheist ge-
wesen war und sich durch einen Artikel im National Geographic
hatte bekehren lassen. Er schrieb unter anderem folgendes:

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Der Artikel handelte von den verblüffenden Eigenschaften,
mit denen Orchideen sich an ihre Umwelt angepaßt haben,
um sich erfolgreich fortzupflanzen. Besonders beeindruckt
war ich von der Reproduktionsstrategie einer Art, bei der
eine männliche Wespe mitwirkt. Die Blüte ähnelt offen-
sichtlich stark dem Weibchen dieser Wespenart; unter ande-
rem hat sie an der richtigen Stelle eine Öffnung, so daß das
Männchen durch Kopulation mit der Blume gerade eben
den von der Blüte produzierten Pollen erreichen kann. Es
fliegt zur nächsten Blüte, wo sich der Vorgang wiederholt,
und dabei findet die Bestäubung statt. Die Blüte wird für das
Wespenmännchen vor allem dadurch anziehend, daß sie
Pheromone ausschüttet (chemische Lockstoffe, mit denen
Männchen und Weibchen vieler Insektenarten einander
anziehen), die denen der weiblichen Wespen dieser Spe-
zies gleichen. Mit Interesse studierte ich etwa eine Minute
lang die Abbildung dazu. Plötzlich wurde mir schockartig
klar, daß diese Fortpflanzungsstrategie nur dann funktionie-
ren könne, wenn sie von Anfang an vollkommen war. Sie
ließe sich nicht mit allmählichen Schritten erklären, denn
wenn die Orchideenblüte nicht wie das Wespenweibchen
aussähe und duftete, und wenn sie nicht eine für die Kopu-
lation geeignete Öffnung besäße, die den Pollen genau in
Reichweite des männlichen Begattungsorgans enthält, wäre
das Ganze ein völliger Fehlschlag.

Ich werde nie das beklemmende Gefühl vergessen, das

mich dabei überfiel, denn in diesem Augenblick erkannte
ich, daß es in irgendeiner Form einen Gott geben muß und
daß dieser Gott ständig mit den Vorgängen verbunden ist,
durch die alles entsteht. Oder kurz gesagt, daß der Schöp-
fergott kein vorzeitlicher Mythos, sondern etwas Wirkliches
ist. Und höchst widerwillig erkannte ich auch sofort, daß ich
mich auf die Suche begeben mußte, um mehr über diesen
Gott zu erfahren.

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Andere Menschen sind zweifellos auf anderen Wegen zur

Religion gekommen, aber vielfach hatten sie sicher ähnliche
Erlebnisse wie dieser Geistliche, dessen Leben sich dadurch
völlig änderte (und dessen Namen ich hier anstandshalber
nicht preisgeben möchte). Sie haben irgendein Wunder der
Natur erlebt oder darüber gelesen. Das hat sie ganz allgemein
mit Ehrfurcht und Staunen erfüllt, und daraus wurde Vereh-
rung. Genauer gesagt, sind sie wie der Verfasser des Briefes zu
dem Schluß gelangt, dieses besondere Naturphänomen - ein
Spinnennetz, Augen oder Flügel eines Adlers oder was auch
immer - könne nicht allmählich und schrittweise entstanden
sein, weil die halbfertigen Zwischenstufen zu nichts nütze
seien. Dieses Kapitel soll das Argument widerlegen, kompli-
zierte natürliche Vorrichtungen müßten vollkommen sein,
damit sie funktionieren. Zufällig waren die Orchideen eines
von Darwins Lieblingsbeispielen. Ein ganzes Buch widmete er
dem Nachweis, daß man »die verschiedenen Einrichtungen
zur Befruchtung der Orchideen durch Insekten« höchst er-
folgreich mit dem Prinzip der allmählichen Evolution durch
natürliche Selektion erklären kann.

Der entscheidende Punkt in der Argumentation des Geistli-

chen ist die Behauptung, »daß diese Fortpflanzungsstrategie
nur dann funktionieren könne, wenn sie von Anfang an voll-
kommen war«. Das gleiche Argument kann man - was auch
häufig geschehen ist - auf die Evolution des Auges anwenden;
ich werde später in diesem Kapitel darauf zurückkommen.

Wenn ich solche Argumente höre, bin ich jedesmal beein-

druckt davon, mit welcher Überzeugung sie vorgebracht wer-
den. Wie, so würde ich den Geistlichen fragen, können Sie so
sicher sein, daß die Orchidee, die eine Wespe nachahmt (oder
das Auge oder was auch immer) nicht funktioniert, wenn nicht
jeder Teil davon vollkommen gestaltet und an seinem Platz ist?
Haben Sie überhaupt mal einen Augenblick lang über diese
Frage nachgedacht? Wissen Sie denn Bescheid über Orchi-

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deen, über Wespen oder über die Augen, mit denen ein
Wespenmännchen sein Weibchen und die Orchideen be-
trachtet? Was gibt Ihnen den Mut zu der Behauptung, Wespen
seien so schwer zu täuschen, daß die Ähnlichkeit der Orchi-
dee vollkommen sein muß, damit sie wirkt?

Erinnern Sie sich doch nur einmal daran, wie Sie das letzte

Mal durch eine zufällige Ähnlichkeit getäuscht wurden. Viel-
leicht haben Sie auf der Straße jemanden gegrüßt, den Sie
fälschlicherweise für einen Bekannten hielten. Filmstars ha-
ben Stuntmen und Doubles, die stellvertretend für sie von
Pferden fallen oder von Klippen springen. Meist ähnelt der
Stuntman dem Star nur sehr oberflächlich, aber bei schnellen
Actionszenen reicht das aus, um die Zuschauer zu täuschen.
Männer lassen sich durch Bilder in Magazinen sexuell anre-
gen. Ein solches Bild ist nur Farbe auf einem Blatt Papier. Es ist
nicht räumlich, sondern zweidimensional und meist nur ein
paar Zentimeter groß. Vielleicht ist es noch nicht einmal eine
lebensnahe Abbildung, sondern nur eine Karikatur aus ein
paar Strichen. Und doch kann es bei einem Mann eine Erek-
tion auslösen. Vielleicht kann eine schnell fliegende männli-
che Wespe nur mit einem flüchtigen Anblick des Weibchens
rechnen, bevor es mit ihr kopuliert. Vielleicht nehmen Wes-
penmännchen immer nur wenige Schlüsselreize wahr.

Wir haben allen Grund zu der Annahme, daß Wespen noch

leichter zu täuschen sind als Menschen. Für Stichlinge gilt das
sicher, und Fische haben sowohl ein größeres Gehirn als auch
bessere Augen als Wespen. Das Stichlingsmännchen hat einen
roten Bauch und bedroht nicht nur andere Männchen, son-
dern auch rohe Attrappen, die eine rote »Bauchseite« zeigen.
Mein alter Guru, der Verhaltensforscher und Nobelpreisträger
Niko Tinbergen, erzählte eine berühmte Geschichte von
einem roten Postauto, das vor dem Fenster seines Labors
vorbeifuhr: Bei dem Anblick sausten alle Stichlingsmännchen
zu der dem Fenster zugewandten Seite ihrer Aquarien und

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machten heftige Drohgebärden. Bei weiblichen Stichlingen,
deren Eizellen herangereift sind, ist der Bauch auffällig ange-
schwollen. Wie Tinbergen feststellte, ruft eine sehr grobe,
leicht verlängerte, silbrige Attrappe, die für menschliche Au-
gen in nichts außer dem geschwollenen »Bauch« einem Stich-
ling ähnelt, bei den Männchen das voll ausgeprägte Paarungs-
verhalten hervor. Neuere Experimente der von Tinbergen
begründeten Forschungseinrichtung zeigten, daß eine soge-
nannte Sexbombe - ein birnenförmiger Gegenstand, die
rundliche Plumpheit in Reinkultur, aber nicht länglich und mit
aller menschlichen Phantasie nicht fischähnlich zu nennen -
die Erregung der Stichlingsmännchen sogar noch wirksamer
auslöste. Die »Sexbombe« der Stichlinge ist ein klassisches
Beispiel für eine über das Normale hinausgehende Attrappe,
die stärker wirkt als der eigentliche Reiz. Als weiteres Beispiel
veröffentlichte Tinbergen das Bild eines Austernfischers, der
versucht, sich auf einem Ei von der Größe eines Straußeneies
niederzulassen. Vögel haben ein größeres Gehirn und kön-
nen besser sehen als Fische, und erst recht gilt das natürlich im
Vergleich zu Wespen; dennoch »denkt« der Austernfischer
offenbar, das straußeneigroße Ei sei ein besonders gut geeig-
netes Objekt zum Brüten.

Möwen, Gänse und andere am Boden nistende Vögel zei-

gen eine stereotype Reaktion, wenn ein Ei aus dem Nest
gerollt ist. Sie strecken den Hals und rollen es mit der Unter-
seite des Schnabels wieder zurück. Wie Tinbergen und seine
Schüler zeigen konnten, tun sie das nicht nur mit dem eigenen
Gelege, sondern auch mit Hühnereiern, ja sogar mit Holzzy-
lindern oder Coladosen, die Camper zurückgelassen haben.
Junge Silbermöwen erbetteln Futter von den Eltern: Sie pik-
ken an dem roten Punkt des Schnabels von Vater oder Mutter
und regen damit den älteren Vogel dazu an, ein wenig Fisch
aus dem gefüllten Kröpf hervorzuwürgen. Zusammen mit
einem Kollegen wies Tinbergen nach, daß auch grobe Pappat-

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trappen des Altvogelkopfes bei den Jungen sehr wirksam das
Bettelverhalten auslösen. Dazu ist nur eines notwendig: der
rote Fleck. Aus der Sicht des Möwenjungen bestehen seine
Eltern aus einem roten Fleck. Wahrscheinlich erkennt es
durchaus auch den übrigen Körper, aber er scheint nicht von
Bedeutung zu sein.

Diese offensichtlich eingeschränkte visuelle Wahrnehmung

findet sich nicht nur bei jungen Möwen. Erwachsene Lachmö-
wen sind leicht an dem maskenartig dunkel gefärbten Gesicht
zu erkennen. Der Tinbergen-Schüler Robert Mash wollte wis-
sen, welche Bedeutung diese Färbung für die erwachsenen
Artgenossen hat, und malte hölzerne Attrappen von Möwen-
köpfen schwarz an. Jeder dieser Köpfe war auf einem Holz-
stock befestigt und mit einem Elektromotor verbunden, so
daß Mash die Köpfe ferngesteuert heben und senken, sowie
nach rechts und links drehen konnte. Die ganze Anordnung
vergrub er in der Nähe eines Möwennestes, und zwar so, daß
auch der Kopf im Sand versteckt war. Dann versteckte er sich
jeden Tag in Sichtweite des Nestes und beobachtete die Reak-
tion der Möwen, wenn der hölzerne Kopf auftauchte und sich
in diese oder jene Richtung drehte. Die Vögel reagierten auf
den Kopf und seine Bewegungen wie auf eine echte Möwe,
obwohl es nur eine Attrappe auf einem Holzstock war, ohne
Körper, ohne Beine, ohne Flügel oder Schwanz, stumm und
mit einem leblosen, roboterhaften Heben, Drehen und Sen-
ken als einziger Bewegung. Für eine Lachmöwe, so scheint es,
ist ein bedrohlicher Nachbar kaum mehr als ein körperloses
schwarzes Gesicht. Körper, Flügel oder irgendwelche ande-
ren Merkmale sind dazu offenbar nicht notwendig.

Um in das Versteck zu gelangen und die Vögel zu beobach-

ten, machte sich Mash wie viele Ornithologengenerationen
vor ihm eine seit langem bekannte Einschränkung des Ner-
vensystems von Vögeln zunutze: Vögel sind von Natur aus
keine Mathematiker. Zwei Personen begeben sich in das Ver-

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steck, und nur eine verläßt es wieder. Ohne diesen Trick
wären die Tiere dem Versteck gegenüber argwöhnisch: Sie
»wissen«, daß jemand hineingegangen ist. Sehen sie aber, daß
eine Person wieder weggeht, »nehmen sie an«, daß beide
verschwunden sind. Wenn schon ein Vogel den Unterschied
zwischen einer und zwei Personen nicht kennt, ist es dann
verwunderlich, daß die männliche Wespe von einer Orchidee
getäuscht wird, die eine nicht ganz vollkommene Ähnlichkeit
mit dem Wespenweibchen hat?

Die nächste Vogelgeschichte ist eine Tragödie. Trut-

hahnmütter beschützen ihre Jungen sehr energisch. Sie müs-
sen sich gegen Nesträuber wie Wiesel oder Ratten zur Wehr
setzen. Ob ein solcher Angreifer in der Nähe ist, erkennt das
Truthahnweibchen nach einer entsetzlich brutalen Faustregel:
Attackiere in der Nachbarschaft deines Nestes alles, was sich
bewegt, es sei denn, es macht Geräusche wie ein Truthahnjun-
ges. Dies entdeckte der österreichische Zoologe Wolfgang
Schleidt. Er hatte einmal ein Truthahnweibchen, das blindwü-
tig alle seine eigenen Jungen umbrachte. Der Grund dafür war
bestürzend einfach: sie war taub. Für das Nervensystem eines
Truthahns ist ein Feind schlicht ein beweglicher Gegenstand,
der nicht die Schreie eines Jungen ausstößt. Diese Trut-
hahnjungen sahen aus wie Truthahnjunge, bewegten sich wie
Truthahnjunge und rannten vertrauensvoll zu ihrer Mutter
wie Truthahnjunge, und doch fielen sie der eingeschränkten
mütterlichen Definition des »Räubers« zum Opfer. Sie
schützte die eigenen Jungen vor sich selbst und brachte sie
alle um.

Einen Anklang an diese traurige Geschichte von den Trut-

hühnern findet man auch bei den Insekten: In den Antennen
der Honigbiene gibt es Sinneszellen, die nur auf eine einzige
chemische Verbindung ansprechen: auf Oleinsäure. (Weitere
Zellen reagieren auf andere Substanzen.) Oleinsäure wird bei
der Verwesung toter Bienen frei und löst das »Beerdigungs-

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verhalten« aus, durch das tote Tiere aus dem Stock entfernt
werden. Markiert man im Experiment eine lebende Biene mit
einem Tropfen Oleinsäure, wird das arme Geschöpf wegge-
zerrt: Obwohl es strampelt und kämpft und ganz offensichtlich
sehr lebendig ist, wird es mit den Toten hinausgeworfen.

Das Gehirn ist bei Insekten sehr viel kleiner als bei Truthüh-

nern oder Menschen. Insektenaugen, selbst die großen Facet-
tenaugen der Libellen, besitzen nur einen Bruchteil der Seh-
schärfe eines Menschen- oder Vogelauges. Und davon abgese-
hen, weiß man auch genau, daß Insekten die Welt optisch ganz
anders wahrnehmen als wir. Wie der große österreichische
Zoologe Karl von Frisch schon als junger Mann entdeckte, sind
sie für rotes Licht blind, aber ultraviolettes Licht, für das wir
unempfindlich sind, können sie sehen und als eigenen Farb-
ton unterscheiden. Insektenaugen sind in erheblichem Um-
fang von einem »Flimmern« erfüllt, das - zumindest wenn das
Tier sich schnell bewegt - teilweise an die Stelle dessen tritt,
was wir »Form« nennen. Wie man beobachten konnte, »wer-
ben« Schmetterlingsmännchen manchmal um verwelkte Blät-
ter, die von den Bäumen segeln. Für uns ist ein Schmetter-
lingsweibchen ein Paar großer Flügel, die auf- und zuklappen.
Der fliegende männliche Schmetterling dagegen sieht es als
Verdichtung von »Geflimmer« und macht ihm dann den Hof.
Man kann das Männchen mit einer Stroboskoplampe täu-
schen, die sich nicht bewegt, sondern nur schnelle Lichtblitze
aussendet. Stellt man die Geschwindigkeit richtig ein, greift
der Schmetterling die Lampe an, als sei sie ein Artgenosse, der
die Flügel entsprechend schnell bewegt. Streifen bilden für
uns ein feststehendes Muster. Einem vorüberfliegenden In-
sekt erscheinen sie als »Flimmern«, so daß man sie mit einer
im richtigen Tempo blitzenden Stroboskoplampe nachahmen
kann. Durch Insektenaugen gesehen, ist die Welt für uns völlig
fremdartig, und deshalb ist jede auf unsere eigene Erfahrung
gegründete Behauptung darüber, wie »vollkommen« eine

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Orchidee sein muß, damit sie das Wespenweibchen nachah-
men kann, von menschlichen Vorurteilen geprägt.

Die Wespen waren selbst der Gegenstand eines klassischen

Experiments, das ursprünglich von dem großen französischen
Naturforscher Jean-Henri Fabre ausgeführt und später von
verschiedenen anderen Wissenschaftlern, darunter solchen
aus der Tinbergen-Schule, wiederholt wurde. Die weibliche
Dolchwespe kehrt mit ihrer Beute, die sie durch einen Stich
gelähmt hat, zu ihrem Bau zurück. Sie läßt ihre Last zunächst
außerhalb der Behausung und geht hinein, offenbar um nach-
zusehen, ob alles in Ordnung ist, bevor sie die Beute hinein-
zerrt. Während sie im Bau ist, entfernt der Experimentator die
Beute ein paar Zentimeter vom Nesteingang. Sobald die
Wespe wieder herauskommt, bemerkt sie den Verlust und
findet die Beute auch bald wieder. Erneut zieht sie das tote
Tier zum Eingang des Baues. Seit sie sein Inneres inspiziert
hat, sind nur wenige Sekunden vergangen. Nach unserer Vor-
stellung gibt es eigentlich keinen Grund, nicht zur nächsten
Tätigkeit überzugehen, die Beute hineinzuziehen und die
Angelegenheit abzuschließen. Aber das Verhaltensprogramm
der Wespe wurde in ein früheres Stadium zurückgespult.
Pflichtschuldigst läßt sie die Beute wieder draußen und inspi-
ziert ihren Bau erneut. Der menschliche Beobachter kann die
Prozedur vierzigmal wiederholen, bis es ihm zu langweilig
wird. Die Wespe verhält sich wie eine Waschmaschine, deren
Programmschalter man zurückgedreht hat und die nicht
»weiß«, daß sie die Wäsche schon vierzigmal ununterbrochen
gewaschen hat. Der angesehene Computerwissenschaftler
Douglas Hofstadter hat für solche unflexiblen, geistlos-auto-
matischen Vorgänge das neue Adjektiv »sphexisch« eingeführt.
(Sphex ist der Name einer charakteristischen Dolchwespen-
gattung.) Demnach lassen Wespen sich zumindest in man-
chen Dingen leicht hinters Licht führen. Es ist eine ganz
andere Art der Täuschung als diejenige, deren sich die Orchi-

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dee bedient. Dennoch müssen wir uns davor hüten, mit
menschlicher Intuition den Schluß zu ziehen, »daß diese
Fortpflanzungsstrategie nur dann funktionieren könne, wenn
sie von Anfang an vollkommen war«.

Vielleicht habe ich jetzt zu überzeugend argumentiert, daß

Wespen leicht zu täuschen sind. Möglicherweise habe ich
damit einen Argwohn geweckt, der dem meines geistlichen
Briefschreibers fast entgegengesetzt ist. Wenn Insekten so
schlecht sehen und Wespen so leicht hinters Licht zu führen
sind, warum macht sich die Orchidee dann überhaupt die
Mühe, ihre Blüten so wespenähnlich zu gestalten? Nun, so
schlecht sehen Wespen auch wieder nicht. In manchen Situa-
tionen haben sie offenbar einen recht guten Scharfblick, bei-
spielsweise wenn sie nach einem langen Jagdflug ihren Bau
finden müssen. Dies untersuchte Tinbergen am Bienenwolf
(Philantus), der zu den bienenfressenden Grabwespen ge-
hört. Er wartete, bis die Wespe im Bau war. Bevor sie wieder
herauskam, stellte er in der Umgebung des Einganges schnell
einige »Wegweiser« auf, zum Beispiel einen Zweig und einen
Tannenzapfen. Dann zog er sich zurück und wartete, bis die
Wespe wegflog. Dabei umkreiste sie zunächst zwei- oder drei-
mal im Flug den Bau, als ob sie sich die Gegend einprägen
wollte, und ging dann auf Beutefang. In dieser Zeit nahm
Tinbergen den Zweig und den Tannenzapfen weg und pla-
zierte sie ein paar Meter entfernt. Als die Wespe zurückkam,
verfehlte sie den Bau und grub statt dessen an der Stelle, die
der neuen Position der »Wegweiser« entsprach, im Boden.
Auch hier hatte der Mensch die Wespe in einem gewissen
Sinne »getäuscht«, aber diesmal verdient sie unseren Respekt
für ihr gutes Sehvermögen. Es schien, als habe sie sich tatsäch-
lich bei ihrem anfänglichen Rundflug »ein Bild von der Ge-
gend gemacht«. Offenbar erkannte sie die Gestalt von Zweig
und Tannenzapfen. Tinbergen wiederholte das Experiment
viele Male und mit unterschiedlichen Wegweisern, unter an-

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derem mit einem Ring aus Tannenzapfen. Das Ergebnis war
immer das gleiche.

Der Tinbergen-Schüler Gerard Baerends machte ein Expe-

riment, das in eindrucksvollem Gegensatz zu Fabres »Wasch-
maschinenversuch« steht. Die Sandwespe Ammophila campe-
stris,
mit der Baerends experimentiete (eine Art, die auch von
Fabre untersucht wurde), hat eine ungewöhnliche Eigen-
schaft: sie ist ein »Dauerversorger«. Die meisten Wespen stat-
ten ihren Bau mit Nahrungsvorräten aus, legen ein Ei hinein,
verschließen das Ganze und überlassen es dann der Larve,
selbst zu fressen. Ammophila ist anders. Sie kehrt wie ein
Vogel jeden Tag zu dem Nest zurück, sieht nach, ob es der
Larve gutgeht, und füttert sie bei Bedarf. Das allein wäre noch
nicht besonders bemerkenswert. Aber jedes Ammophila-
Weibchen versorgt zwei oder drei Nester. In einem davon
befindet sich eine relativ große, fast ausgewachsene Larve, im
anderen ist die Larve gerade erst geschlüpft, und im dritten
befindet sich vielleicht eine im mittleren Alter und von mittle-
rer Größe. Die drei Larven brauchen natürlich unterschied-
lich viel Nahrung, und dementsprechend werden sie von der
Mutter versorgt. Mit einer mühsamen Versuchsreihe, in der
Baerends unter anderem den Inhalt der Nester vertauschte,
konnte er schließlich zeigen, daß die Wespenmutter sich tat-
sächlich nach dem unterschiedlichen Nahrungsbedarf der
einzelnen Nester richtet. Das erscheint ziemlich klug, aber wie
Baerends feststellte, ist es auch wieder gar nicht so klug, und
zwar auf eine sehr seltsame, fremdartige Weise. Die Wespen-
mutter macht jeden Morgen als erstes die Runde, um ihre
Nester zu inspizieren. Der Zustand der Nester am frühen
Morgen ist das, was das Weibchen wahrnimmt, und er beein-
flußt ihr Verhalten während des ganzen Tages. Nach der mor-
gendlichen Inspektion konnte Baerends den Inhalt der Bau-
ten beliebig oft vertauschen, ohne daß die Wespenmutter ihr
Fütterungsverhalten geändert hätte. Es war, als schaltete sie

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ihren Mechanismus zur Nestbeurteilung nur bei der Besichti-
gungsrunde ein und dann wieder aus, um für den Rest des
Tages Strom zu sparen.

Einerseits läßt diese Beobachtung darauf schließen, daß es

im Kopf der Wespenmutter einen raffinierten Apparat zum
Zählen, Messen und sogar zum Rechnen gibt. Jetzt kann man
sich leicht vorstellen, daß sich das Wespengehirn tatsächlich
nur durch eine in alle Einzelheiten gehende Ähnlichkeit zwi-
schen Orchidee und Weibchen täuschen läßt. Aber gleichzei-
tig sprechen Baerends' Befunde auch für die Fähigkeit zu
selektiver Blindheit; die Wespe läßt sich ähnlich leicht täu-
schen wie in dem Waschmaschinenexperiment, und demnach
kann man wieder daran glauben, daß eine oberflächliche
Ähnlichkeit zwischen Orchideenblüte und Weibchen aus-
reicht. Die allgemeine Lehre, die wir daraus ziehen sollten,
lautet: Wende auf die Beurteilung solcher Fragen niemals
menschliche Maßstäbe an. Sage niemals: »Ich kann mir nicht
vorstellen, daß dieses oder jenes durch allmähliche Selektion
entstanden ist«, und nimm auch niemanden ernst, der ähnli-
ches äußert. Ich habe solche Fehler »Argumente aus persön-
lichem Unglauben« genannt. Sie waren immer wieder das
Vorspiel zu einem intellektuellen Ausrutscher.

Das Argument, das ich angreife, besagt: Die allmähliche

Evolution kann bei dieser oder jener Sache nicht stattgefun-
den haben, weil diese oder jene Sache »ganz offensichtlich«
vollkommen und vollständig sein muß, damit sie überhaupt
funktioniert. Bisher habe ich mich in meiner Erwiderung vor
allem auf die Tatsache gestützt, daß Wespen und sonstige Tiere
die Welt ganz anders sehen als wir, und selbst uns zu täuschen,
ist nicht besonders schwer. Aber ich möchte noch andere
Argumente darlegen, die sogar noch überzeugender und allge-
meingültiger sind. Dazu bezeichne ich Einrichtungen, die nur
funktionieren, wenn sie perfekt sind - wie mein Briefschreiber
es von den Wespen nachahmenden Orchideen glaubte -, als

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»empfindlich«. Ich finde es bemerkenswert, daß man sich
kaum einen ganz und gar empfindlichen Apparat vorstellen
kann. Ein Flugzeug ist nicht empfindlich: Zwar vertraut jeder
von uns sein Leben lieber einer Boeing 747 an, deren unzählige
Teile fehlerlos zusammenarbeiten, aber auch ein Flugzeug, bei
dem wichtige Teile - sogar ein oder zwei Triebwerke -
ausgefallen sind, kann noch fliegen. Ein Mikroskop ist nicht
empfindlich: Ein schlechtes Gerät liefert zwar verschwom-
mene, unvollständig ausgeleuchtete Bilder, aber man kann
damit kleine Gegenstände immer noch besser sehen als ohne
Mikroskop. Ein Radio ist ebenfalls nicht empfindlich: Hat es
irgendeinen Defekt, verliert es vielleicht an Tonqualität, und
der Klang ist dünn oder verzerrt, aber man kann die Worte einer
Sendung immer noch verstehen. Ich habe zehn Minuten aus
dem Fenster gestarrt und nach einem guten Beispiel für ein von
Menschen erschaffenes empfindliches Gebilde gesucht, und
mir ist nur ein einziges eingefallen: das Gewölbe. Ein Gewölbe
ist nahezu völlig empfindlich. Wenn seine Seiten vereinigt sind,
ist es sehr kräftig und stabil, aber bevor sie sich berühren, bleibt
keine Seite allein bestehen. Jedes Gewölbe muß mit einer Art
Gerüst gebaut werden, das vorübergehend eine Stütze bildet,
bis das Ganze fertig ist; anschließend kann man es entfernen,
und das Bauwerk bleibt über lange Zeit bestehen.

In der Technik der Menschen gibt es keinen prinzipiellen

Grund, warum ein Gerät nicht empfindlich sein sollte. Den
Ingenieuren an ihren Zeichenbrettern steht es frei, Vorrich-
tungen zu entwerfen, die in halbfertigem Zustand überhaupt
nicht funktionieren. Aber sogar auf dem Gebiet der Technik
haben wir nur mit Mühe eine wirklich empfindliche Konstruk-
tion gefunden. Nach meiner Überzeugung gilt das für lebende
Gebilde in noch viel stärkerem Maße. Sehen wir uns einmal
ein paar der angeblich empfindlichen Apparate aus der Welt
des Lebendigen an, die uns die kreationistische Propaganda
vorgehalten hat. Die Geschichte von der Wespe und der Or-

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chidee ist nur ein Beispiel für das faszinierende Phänomen
der Mimikry. Zahlreiche Tiere und auch manche Pflanzen
ziehen einen Vorteil daraus, daß sie etwas anderem ähneln,
und zwar oft anderen Tieren oder Pflanzen. An irgendeiner
Stelle wurde fast jeder Aspekt des Lebendigen durch Mimikry
gestärkt oder geschwächt: der Beutefang (Tiger und Leopar-
den sind fast unsichtbar, wenn sie sich in einem von der Sonne
gesprenkelten Gehölz an ihre Beute anschleichen; die Angler-
fische ähneln dem Meeresboden, auf dem sie stehen, und
locken mit einer »Angelschnur«, die am Ende einen wurm-
ähnlichen Köder trägt, ihre Beute an; die Weibchen einer
Leuchtkäferart ahmen das Balzblinkmuster einer anderen Art
nach und locken so deren Männchen an, die sie dann auffres-
sen; Säbelzahn-Schleimfische ahmen andere Fischarten nach,
die sich auf das Säubern größerer Fische spezialisiert haben,
und wenn sie sich zu diesen ungehinderten Zugang verschafft
haben, beißen sie ihnen Stücke der Flossen heraus); die Ver-
meidung des Gefressenwerdens (Beutetiere ähneln vielfach
Baumrinden, Zweigen, frischen grünen Blättern, eingerollten
verwelkten Blättern, Blüten, Rosendornen, Seetangwedeln,
Steinen, Vogelexkrementen oder anderen Tieren, die bekann-
termaßen giftig sind); die Ablenkung der Räuber von den
Jungen (Säbelschnabler und viele andere am Boden nistende
Vögel ahmen Haltung und Gang eines Vogels mit gebroche-
nem Flügel nach); das Erlangen von Brutpflege (Kuckuckseier
ähneln den Eiern der Vögel, denen sie untergeschoben wer-
den; die Weibchen mancher maulbrütenden Fische tragen an
den Körperseiten eine ei-ähnliche Zeichnung und ziehen da-
mit Männchen an, die dann die echten Eier ins Maul nehmen
und ausbrüten).

In allen diesen Fällen ist man versucht zu glauben, die

Mimikry könne nur funktionieren, wenn sie vollkommen ist.
In dem speziellen Zusammenhang mit der Wespe und der
Orchidee habe ich besonders die unvollkommene Wahrneh-

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mung der Wespen und anderer Opfer der Mimikry betont. In
meinen Augen ähneln Orchideen gar nicht so sehr den Wes-
pen, Bienen oder Fliegen. Viel größer ist die Ähnlichkeit für
meine Wahrnehmung zwischen einem blattförmigen Insekt
und einem Blatt, vielleicht weil mein Blickwinkel eher der
eines Räubers (vermutlich eines Vogels) ist, gegen den sich
die Mimikry richtet.

Aber die Behauptung, Mimikry könne nur funktionieren,

wenn sie perfekt sei, ist noch in einem allgemeineren Sinne
falsch. So gut beispielsweise die Augen eines Verfolgers auch
sein mögen, die Bedingungen für das Sehen sind nicht immer
optimal. Außerdem existiert zwangsläufig immer das ganze
Spektrum der Sichtbedingungen von sehr schlecht bis sehr
gut. Man stelle sich beispielsweise einen Gegenstand vor, den
man wirklich gut kennt, so daß man ihn wahrscheinlich nie für
etwas anderes halten würde. Oder eine Person, zum Beispiel
eine enge Freundin, die einem so lieb und vertraut ist, daß
man sie nie für jemand anderen hält. Und nun malen wir uns
einmal aus, sie käme aus großer Entfernung auf uns zu. Es gibt
einen so großen Abstand, daß man sie überhaupt nicht er-
kennt, und einen so geringen, daß man alles sieht, jede Wim-
per, jede Pore. Bei einer mittleren Entfernung gibt es keinen
plötzlichen Übergang, sondern eine allmähliche Zu- oder Ab-
nahme der Erkennbarkeit. Sehr deutlich ist das in Armeehand-
büchern über das Schießen formuliert: »Bei zweihundert Me-
tern sind alle Körperteile einzeln zu erkennen. Bei dreihun-
dert Metern zerläuft der Umriß des Gesichtes. Bei vierhundert
Metern ist kein Gesicht zu erkennen. Bei sechshundert Metern
ist der Kopf ein Punkt, und der Körper verschwimmt. Noch
Fragen?« Bei der engen Freundin kommt es zugegebenerma-
ßen vor, daß man sie plötzlich erkennt, aber dann ändert sich
mit der Entfernung allmählich die Wahrscheinlichkeit, daß das
geschieht.

Auf die eine oder andere Weise ändert sich mit der Entfer-

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nung die Erkennbarkeit, und zwar immer ganz allmählich. Bei
jeder größeren oder geringeren, fast vollkommenen oder
nahezu nicht vorhandenen Ähnlichkeit zwischen Vorbild und
Nachahmer muß es eine Entfernung geben, in der die Augen
des Verfolgers getäuscht werden, und eine geringfügig klei-
nere, in der die Wahrscheinlichkeit einer solchen Täuschung
geringer ist. Im Verlauf der Evolution kann die natürliche
Selektion also eine immer perfektere Ähnlichkeit begünstigen,
denn dabei wird die Entfernung, in der die Täuschung noch
besteht, immer geringer. Wenn ich »Augen des Verfolgers«
sage, meine ich damit die Augen von irgend jemandem, der
getäuscht werden soll. Manchmal sind das auch die Augen der
Beute, der Ersatzeltern, des Fischweibchens und so weiter.

Ich habe diesen Effekt in öffentlichen Vorträgen vor Kindern

deutlich gemacht. Mein Kollege Dr. George McGavin vom
Oxford Universitv Museum stellte mir freundlicherweise das
Modell eines Waldbodens mit Ästen, verwelktem Laub und
Moos her. Darauf verteilte er kunstvoll Dutzende toter Insek-
ten. Manche davon, beispielsweise ein metallisch blauer Käfer,
fielen sofort auf; andere, so Gespenstheuschrecken und blatt-
ähnliche Schmetterlinge, waren hervorragend getarnt; und
wieder andere, zum Beispiel eine braune Küchenschabe, be-
fanden sich dazwischen. Ich forderte einige Kinder aus dem
Publikum auf, langsam auf das Modell zuzugehen, nach Insek-
ten Ausschau zu halten und mir laut zuzurufen, wenn sie eines
entdeckt hatten. Waren sie weit genug entfernt, konnten sie
auch die auffälligen Insekten nicht erkennen. Wenn sie näher
kamen, sahen sie zuerst die ins Augen fallenden Tiere, dann
solche wie die Küchenschabe, die mittelmäßig gut zu erken-
nen waren, und schließlich die gut getarnten Exemplare. Die
am besten getarnten Insekten konnten die Kinder selbst dann
nicht entdecken, wenn sie aus unmittelbarer Nähe auf sie
starrten, und wenn ich schließlich darauf zeigte, waren sie
völlig verblüfft.

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Entfernung ist nicht die einzige stufenlos veränderliche Größe,

auf die man eine solche Argumentation anwenden kann. Eine
andere ist das Dämmerlicht. Mitten in der Nacht sieht man
fast nichts, so daß selbst eine sehr grobe Ähnlichkeit zwi-
schen Vorbild und Nachahmer ihren Zweck erfüllt. In der
Mittagssonne dagegen wird nur eine peinlich genaue Nachbil-
dung der Entdeckung entgehen. Zwischen diesen Zeitpunk-
ten, bei Tagesanbruch und gegen Abend, in der Dämmerung
oder schlicht an einem düsteren, bewölkten Tag, in Nebel und
Regen, gibt es ein ununterbrochenes Spektrum der besseren
oder schlechteren Erkennbarkeit. Auch hier wird eine immer
größere Ähnlichkeit von der natürlichen Selektion begünstigt,
denn zu jedem Grad der Übereinstimmung gibt es einen Grad
der Erkennbarkeit, bei dem gerade dieses Ausmaß der Ähn-
lichkeit den entscheidenden Unterschied darstellt. Im Laufe
der Evolution verschafft die stetige Verbesserung der Ähnlich-
keit einen Überlebensvorteil, weil die kritische Lichtintensität,
bei der die Täuschung gerade noch gelingt, immer größer
wird.

Ganz ähnliche stufenlose Veränderungen gibt es auch beim

Gesichtswinkel. Die Tarnung eines Insekts, ob gut oder
schlecht, wird vom Verfolger manchmal aus dem Augenwinkel
erkannt, manchmal in gnadenloser Frontalansicht. Es muß
einen so stark seitlichen Blickwinkel geben, daß auch die
schlechteste denkbare Nachahmung der Entdeckung entgeht,
und ebenso muß eine genau ausgerichtete Ansicht existieren,
bei der selbst die beste Tarnung in Gefahr gerät. Dazwischen
liegt wiederum ein Kontinuum von Blickwinkeln mit unter-
schiedlicher Erkennbarkeit. Für jede Vollkommenheitsstufe
der Mimikry gibt es einen kritischen Blickwinkel, bei dem eine
geringe Verbesserung oder Verschlechterung entscheidend
ist. Im Verlauf der Evolution wird die allmählich immer weiter
verbesserte Ähnlichkeit begünstigt, weil der kritische Blickwin-
kel für eine Täuschung eine immer wichtigere Rolle spielt.

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Als ein weiteres derartiges Spektrum, auf das ich in diesem
Kapitel bereits hingewiesen habe, kann man die Qualität des
Gehirns und der Augen des Verfolgers betrachten. Für jedes
Ausmaß der Ähnlichkeit zwischen Vorbild und Nachahmer
gibt es wahrscheinlich ein Auge, das sich täuschen läßt, und
ein anderes, bei dem die Täuschung nicht gelingt. Auch hier
wird die stufenlos immer weiter verbesserte Ähnlichkeit von
der Evolution begünstigt, weil immer raffinierter gebaute Au-
gen der Verfolger getäuscht werden. Damit meine ich nicht,
daß die Verfolger parallel zu der verbesserten Mimikry eben-
falls verbesserte Augen entwickeln, obwohl auch das gesche-
hen kann. Ich meine vielmehr, daß es irgendwo Verfolger mit
besseren und schlechteren Augen gibt. Sie alle stellen eine
Gefahr dar. Ein schlechter Nachahmer kann nur Verfolger mit
schlechten Augen täuschen, ein besserer dagegen fast alle.
Dazwischen liegt wiederum ein bruchloses Kontinuum.

Mit der Erwähnung von guten und schlechten Augen bin ich

bei einem Lieblingsargument der Kreationisten. Wozu ist ein
halbes Auge gut? Wie kann die natürliche Selektion ein Auge
begünstigen, solange es noch nicht vollkommen ist? Ich habe
mich schon früher ausführlich mit dieser Frage beschäftigt
und eine ganze Reihe von Augenzwischenformen vorgeführt,
wobei ich von Formen ausgegangen bin, die in den verschie-
denen Stämmen des Tierreiches tatsächlich vorkommen. Hier
möchte ich die Augen in meine Rubrik theoretischer bruchlo-
ser Abstufungen aufnehmen. Es gibt ein Spektrum oder Konti-
nuum von Aufgaben, für die man Augen gebrauchen kann.
Derzeit benutze ich sie, um die Buchstaben des Alphabets zu
erkennen, die auf meinem Computerbildschirm erscheinen.
Dazu braucht man gute Augen, mit denen man scharf sehen
kann. Ich bin mittlerweile in einem Alter, in dem ich ohne
Brille nicht mehr lesen kann - zur Zeit ist es eine mit recht
schwacher Vergrößerung. Wenn ich noch älter werde, wird
man mir immer stärkere Gläser verschreiben. Ohne Brille

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werde ich Einzelheiten aus der Nähe immer schwerer erken-
nen können. Damit sind wir bei einem weiteren Kontinuum:
dem Kontinuum des Alters.

Jeder gesunde Mensch, wie alt er auch sei, sieht besser als

ein Insekt. Manche Aufgaben sind auch von Menschen mit
relativ schlechtem Sehvermögen bis hin zur fast völligen
Blindheit gut zu bewältigen. Auch wenn man nur recht ver-
schwommen sieht, kann man Tennis spielen, denn ein Tennis-
ball ist ein großer Gegenstand, dessen Position und Bewegung
man auch dann wahrnimmt, wenn man ihn nicht scharf er-
kennt. Die Libelle hat nach unseren Maßstäben schlechte, für
ein Insekt aber recht gute Augen und kann andere Insekten im
Flug fangen, was sicher ebenso schwierig ist wie das Treffen
eines Tennisballs. Noch viel schlechtere Augen kann man
anwenden, um nicht gegen eine Wand zu rennen oder um
nicht über den Rand eines Felsens in einen Fluß zu stürzen.
Wenn das Sehvermögen noch geringer ist, kann man damit
einen Schatten wahrnehmen, der eine Wolke oder aber auch
einen in der Höhe lauernden Verfolger verrät. Und mit noch
einfacheren Augen bemerkt man immer noch den Unter-
schied zwischen Tag und Nacht, was unter anderem nützlich
ist, um die Paarungszeiten zu koordinieren und um zur richti-
gen Zeit zu schlafen. Man kann das Auge für ein Kontinuum
von Aufgaben benutzen, so daß es für jede Qualität der Augen
- von hervorragend bis miserabel - eine Aufgabe gibt, bei der
eine geringfügige Verbesserung entscheidend ist. Deshalb ist
die allmähliche Evolution des Auges von den primitiven, gro-
ben Anfängen über eine bruchlose Folge von Zwischenstufen
bis zu der Vollkommenheit bei einem Falken oder einem
jungen Menschen ohne weiteres zu verstehen.

Die Frage der Kreationisten, wozu ein halbes Auge gut sei,

ist also recht trivial, und läßt sich mit Leichtigkeit beantworten.
Ein halbes Auge ist genau ein Prozent besser als 49 Prozent
eines Auges, und das ist wiederum besser als 48 Prozent, und

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der Unterschied ist von Bedeutung. Den Anschein einer viel
bedeutungsschwereren Frage erweckt die unvermeidliche Er-
gänzung: »Als Physiker* kann ich nicht glauben, daß genügend
Zeit zur Verfügung stand, damit sich ein so kompliziertes
Organ wie das Auge aus dem Nichts entwickeln konnte. Glau-
ben Sie wirklich, daß die Zeit lang genug war?« Beide Fragen
entstammen den Argumenten aus persönlichem Unglauben.
Dennoch freut sich das Publikum immer über eine Antwort,
und ich habe mich deshalb in der Regel einfach auf die schiere
Größe der erdgeschichtlichen Zeiträume berufen. Wenn ein
Schritt ein Jahrhundert darstellt, schrumpft die gesamte Zeit
seit Christi Geburt auf die Weite eines Kricketschlages zusam-
men. Um in dem gleichen Maßstab den Ursprung der vielzelli-
gen Tiere zu erreichen, müßte man von New York nach San
Francisco wandern.

Aber mittlerweile sieht es so aus, als seien die gewaltigen

Ausmaße der geologischen Zeiträume eine Kanone, mit der
man auf Spatzen schießt. Die Wanderung von Küste zu Küste
zeigt deutlich, welche Zeit für die Evolution des Auges zur
Verfügung
stand. Eine neuere Untersuchung der beiden
schwedischen Wissenschaftler Dan Nilsson und Susanne Pel-
ger läßt jedoch darauf schließen, daß ein lächerlich geringer
Bruchteil dieser Zeit dafür mehr als genug gewesen wäre.
Wenn man »das Auge« sagt, meint man damit, nebenbei be-
merkt, das Wirbeltierauge, aber brauchbare Augen, die ein

* Ich hoffe, das ist keine Beleidigung. Zur Unterstützung meines Arguments

zitiere ich, was der Geistliche John Polkinghorne, ein angesehene Physiker, in
Science and Christian Belief (1994, S. 16) geschrieben hat: »Jemand wie Richard
Dawkins kann ein überzeugendes Bild davon zeichnen, wie sich durch Aussie-
ben und Ansammlung kleiner Unterschiede große Entwicklungen ergeben,
aber als Physiker wünscht man sich instinktiv eine Schätzung, und sei sie auch
noch so grob, in bezug auf die Zahl der Schritte, die uns von einer schwach
lichtempfindlichen Zelle zum voll ausgebildeten Insektenauge führen, und
hinsichtlich der Zahl der Generationen, die für die dazu notwendigen Mutatio-
nen erforderlich sind.«

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Bild liefern, haben sich in vielen Gruppen der Wirbellosen
etwa vierzig- bis sechzigmal von Grund auf neu entwickelt. In
diesen über vierzig unabhängigen Entwicklungslinien wur-
den mindestens neun unterschiedliche Konstruktionsprinzi-
pien entdeckt, darunter das der Lochkamerä, zwei Arten von
Linsenkameras, Hohlspiegelaugen nach dem Prinzip der Sa-
tellitenschüssel und mehrere Typen von Komplexaugen. Nils-
son und Pelger konzentrierten sich auf Augen nach dem Prin-
zip der Linsenkamera, wie sie bei Wirbeltieren und Tintenfi-
schen gut entwickelt sind.

Wie schätzt man nun die Zeit ab, die für ein bestimmtes

Ausmaß entwicklungsgeschichtlicher Veränderung notwen-
dig ist? Man muß eine Maßeinheit für die Größe der einzelnen
Evolutionsschritte finden, und vernünftigerweise drückt man
sie als prozentuale Veränderung des bereits Vorhandenen aus.
Nilsson und Pelger benutzten die Zahl der aufeinanderfolgen-
den Veränderungen von jeweils einem Prozent als Einheit zur
Messung quantitativer anatomischer Veränderungen. Es ist
schlicht eine bequeme Einheit, ganz ähnlich wie die Kalorie,
die als die zur Verrichtung einer bestimmten Arbeit erforderli-
che Energiemenge definiert ist. Am einfachsten läßt sich die
Einheit von einem Prozent anwenden, wenn die Veränderung
immer in derselben Richtung verläuft. Nehmen wir beispiels-
weise den unwahrscheinlichen Fall, daß die natürliche Selek-
tion bei Paradiesvögeln immer längere Schwänze begünstigt.
Wie viele Schritte wären dann erforderlich, damit der
Schwanz sich von einem Meter zu einem Kilometer Länge
entwickelt? Eine Längenzunahme von einem Prozent würde
der Freizeitornithologe nicht bemerken. Um die Schwanz-
länge auf einen Kilometer anwachsen zu lassen, sind dennoch
nur erstaunlich wenige Schritte erforderlich, nämlich noch
nicht einmal siebenhundert.

Die Verlängerung eines Schwanzes von einem Meter auf

einen Kilometer ist ja schön und gut (und schön absurd), aber

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wie ordnet man die Evolution des Auges nach diesem Maßstab
ein? Dabei stellt sich das Problem, daß beim Auge viele Dinge
in vielen Teilen des Organs parallel geschehen müssen. Nils-
son und Pelger konstruierten Computermodelle von Augen,
die sich in der Entwicklung befanden, um damit zwei Fragen
zu beantworten. Die erste ist im wesentlichen die gleiche, die
wir auf den letzten Seiten immer und immer wieder gestellt
haben, aber sie formulierten das Problem systematischer und
mit Hilfe des Computers: Gibt es eine allmähliche Steigerung
der Veränderung von der flachen Haut bis zum kameraähnli-
chen Auge, wobei jede Zwischenstufe eine Verbesserung dar-
stellt? (Die natürliche Selektion kann sich im Gegensatz zu
einem menschlichen Designer nicht bergab bewegen, auch
dann nicht, wenn auf der anderen Seite des Tales ein verlok-
kender höherer Berg liegt.) Und zweitens stellten sie die
Frage, mit der wir diesen Abschnitt begonnen haben: Wie
lange würde die erforderliche Menge entwicklungsgeschicht-
licher Veränderungen dauern?

Nilsson und Pelger versuchten in ihren Computermodellen

nicht, die Abläufe im Inneren der Zellen zu simulieren. Ihre
Geschichte begann bei der Erfindung einer einzigen licht-
empfindlichen Zelle - man kann sie ruhig Photozelle nennen.
Hübsch wäre es, wenn man in Zukunft noch ein anderes
Computermodell konstruierte, welches das Zellinnere simu-
liert und zeigt, wie die erste Photozelle durch schrittweise
Abwandlung einer vorhandenen, allgemeinen Zwecken die-
nenden Zelle entstand. Aber irgendwo muß man anfangen,
und Nilsson und Pelger begannen mit der Erfindung der
ersten Photozelle. Sie arbeiteten auf der Ebene der Gewebe,
also bei dem Stoff, der aus Zellen besteht, und nicht auf der
Ebene der einzelnen Zellen. Haut ist ein Gewebe, die Darm-
schleimhaut ist ein anderes, und wieder andere sind Muskel
und Leber. Gewebe können sich unter dem Einfluß zufälliger
Mutationen in vielerlei Weise verändern. Gewebeschichten

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95

können in ihrer Fläche wachsen oder schrumpfen, dicker
oder dünner werden. Im speziellen Fall der durchsichtigen
Gewebe, zum Beispiel der Augenlinse, kann sich in einzelnen
Bereichen der Brechungsindex (die Fähigkeit, Licht zu bre-
chen) verändern.

Die Simulation eines Auges, beispielsweise im Unterschied

zum Bein eines laufenden Gepards, ist deshalb so schön, weil
man die Effizienz anhand der optischen Grundgesetze leicht
messen kann. Das Auge wird zweidimensional im Querschnitt
dargestellt, und der Computer kann sehr einfach die Seh-
schärfe, das heißt das räumliche Auflösungsvermögen, in
Form einer einzigen Zahl berechnen. Die Effizienz von Bei-
nen oder Wirbelsäule eines Gepards in ähnlicher Weise mit
Zahlen wiederzugeben, wäre wesentlich schwieriger. Nilsson
und Pelger begannen mit einer flachen Netzhaut über einer
flachen Pigmentschicht, und das Ganze war von einer flachen,
durchsichtigen Schutzschicht überzogen. In der durchsich-
tigen Schicht ließen sie Zufallsmutationen ablaufen, die zu
örtlichen Veränderungen des Brechungsindex führten. An-
schließend überließen sie es dem Zufall, das Modell zu verfor-
men; die einzige Einschränkung war die Notwendigkeit, daß
jede Veränderung klein und im Vergleich zum vorherigen
Zustand eine Verbesserung sein mußte.

Sehr rasch ergaben sich eindeutige Ergebnisse. Als das

Augenmodell auf dem Computerbildschirm seine Form ver-
änderte, führte ein Weg der ständig zunehmenden Sehschärfe
ohne Verzögerung von der flachen Anfangsstruktur über eine
flache Einbeulung zu einem immer tiefer werdenden Becher.
Die durchsichtige Schicht verdickte sich, füllte den Becher aus
und wölbte sich außen zu einer leicht gebogenen Oberfläche.
Und dann, fast wie bei einem Zauberkunststück, verdichtete
sich plötzlich ein Teil der durchsichtigen Füllung zu einem
begrenzten, kugelförmigen Bereich mit höherem Brechungs-
index. Er war nicht einheitlich höher, sondern veränderte sich

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96

allmählich, so daß der kugelförmige Bereich eine hervorra-
gende Gleitindex-Linse bildete. Gleitindex-Linsen sind
menschlichen Linsenschleifern nicht vertraut, aber sie sind in
lebenden Augen üblich. Wir stellen Linsen her, indem wir Glas
in eine bestimmte Form schleifen. In zusammengesetzten
Linsen, zum Beispiel in den teuren, bläulich vergüteten Kame-
raobjektiven, werden mehrere Linsen zusammenmontiert,
aber jede einzelne davon besteht in ihrer ganzen Dicke aus
einem einheitlichen Glas. Bei der Gleitindex-Linse dagegen
ändert sich der Brechungsindex innerhalb ihrer eigenen Sub-
stanz. Am höchsten ist er in der Regel in der Mitte der Linse.
Solche Linsen findet man zum Beispiel in den Augen der
Fische. Wie man schon seit langen weiß, ergibt sich bei Gleit-
index-Linsen die geringste Abbildungsverzerrung, wenn das
Verhältnis zwischen Brennweite und Linsenradius einen theo-
retisch zu berechnenden Optimalwert erreicht. Diesen Wert
nennt man auch Mattiessen-Verhältnis. Und das Computermo-
dell von Nilsson und Pelger pendelte sich unweigerlich auf
das Mattiessen-Verhältnis ein.

Nun zu der Frage, wie lange dieser entwicklungsgeschichtli-

che Wandel gedauert haben könnte. Um sie zu beantworten,
mußten Nilsson und Pelger einige Thesen über die Genetik
natürlicher Populationen aufstellen. Sie mußten in ihr Modell
plausible Werte für Größen wie die »Erblichkeit« eingeben.
Erblichkeit ist ein Maß dafür, inwieweit Abweichungen durch
die Vererbung bestimmt sind. Die beliebteste Methode ihrer
Messung ist die Untersuchung der Ähnlichkeit eineiiger (das
heißt »identischer«) Zwillinge im Vergleich zu zweieiigen. In
einer solchen Studie stellte sich heraus, daß die Beinlänge bei
Männern zu 77 Prozent erblich ist. Eine Erblichkeit von 100
Prozent würde bedeuten, daß man nur das Bein eines einei-
igen Zwillings zu messen braucht, um genau zu wissen, wie
lang die Beine bei dem anderen sind, und zwar auch dann,
wenn beide getrennt aufgewachsen sind. Bei einer Erblichkeit

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von 0 Prozent dagegen wären die Beine eineiiger Zwillinge
einander nicht ähnlicher als die zweier zufällig ausgewählter
Angehöriger einer bestimmten Population in einer bestimm-
ten Umwelt. Als weitere Werte für die Erblichkeit hat man bei
Menschen zum Beispiel 95 Prozent für die Kopfbreite gemes-
sen, 85 Prozent für die Größe im Sitzen, 80 Prozent für die
Armlänge und 79 Prozent für den Körperbau.

Die Erblichkeit liegt häufig bei über 50 Prozent, und des-

halb gingen Nilsson und Pelger bei ihrem Augenmodell von
50 Prozent Erblichkeit aus. Das war eine vorsichtige oder
»pessimistische« Schätzung. Im Vergleich zu einer realisti-
scheren Annahme von beispielsweise 70 Prozent führt ein
solches pessimistisches Postulat zu einem längeren Schätz-
wert für die Evolutionszeit des Auges. Sie wollten lieber über-
vorsichtig sein und die Zeit zu lang schätzen, denn intuitiv ist
jeder von uns skeptisch gegenüber einer Schätzung, nach der
etwas so Kompliziertes wie das Auge sich in kurzer Zeit ent-
wickelt haben sollte.

Aus dem gleichen Grund wählten sie auch pessimistische

Werte für den Variationskoeffizienten (das heißt für das typi-
sche Ausmaß der Variation in der Population) und für die Stärke
der Selektion (das heißt für das Ausmaß des Vorteils, den das
verbesserte Sehvermögen verschafft). Sie gingen sogar noch
weiter und unterstellten, daß jede neue Generation sich von
der vorherigen nur in einer Eigenschaft des Auges auf einmal
unterschied: Gleichzeitige Veränderungen in mehreren Tei-
len, welche die Evolution stark beschleunigt hätten, wurden
ausgeschlossen. Aber selbst unter diesen vorsichtig gewählten
Voraussetzungen war die Evolutionszeit von der flachen Haut
bis zum Fischauge extrem kurz: noch nicht einmal vierhundert-
tausend Generationen. Bei den kleinen Tieren, von denen hier
die Rede ist, kann man von einer Generation pro Jahr ausgehen;
es sieht also so aus, als dauerte die Evolution eines guten,
kameraähnlichen Auges weniger als eine halbe Million Jahre.

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98

Im Licht der Befunde von Nilsson und Pelger ist es kein Wun-
der, daß sich »das« Auge im Tierreich mindestens vierzig-
mal unabhängig entwickelt hat. Es hätte in der zur Verfügung
stehenden Zeit in ein und derselben Abstammungslinie fünf-
zehnhundertmal aus dem Nichts entstehen können. Unter-
stellt man die für kleine Tiere typischen Generationszeiten,
erscheint die für die Evolution des Augen benötigte Zeit auf-
grund ihrer Länge keineswegs unglaubhaft; ganz im Gegen-
teil. Es stellt sich heraus, daß sie für Geologen zu kurz zum
Messen ist. Geologisch gesehen, ist sie ein Augenblick.

Heimlicher Nutzen. Ein entscheidendes Merkmal der Evo-

lution ist die Allmählichkeit. Das ist weniger eine Tatsache als
ein Prinzip. Daß es in manchen Phasen der Evolution zu
plötzlichen Wendungen kommt, mag stimmen oder auch
nicht. Vielleicht gibt es Unterbrechungen des Gleichgewichts,
in denen die Evolution sich beschleunigt, oder vielleicht sogar
plötzliche Makromutationen, größere Veränderungen, durch
die ein Kind sich von seinen Eltern unterscheidet. Mit Sicher-
heit gibt es das plötzliche Aussterben, verursacht möglicher-
weise durch Naturkatastrophen wie den Einschlag eines Ko-
meten auf der Erde; solche Ereignisse hinterlassen ein Va-
kuum, das neue Arten mit schnellen Verbesserungen füllen,
wie die Säugetiere, die an die Stelle der Dinosaurier traten. Es
ist durchaus möglich, daß die Evolution nicht in jedem Einzel-
fall allmählich verläuft. Aber sie muß allmählich verlaufen
sein, wenn man mit ihr die Entstehung komplizierter, schein-
bar gezielt konstruierter Gebilde wie der Augen erklären will.
Wäre sie in solchen Fällen nicht allmählich abgelaufen, ver-
löre sie völlig den Charakter einer Erklärung. Dann wären wir
wieder beim Wunder, was nichts anderes bedeutet, als daß es
überhaupt keine Erklärung gibt.

Augen und von Wespen bestäubte Orchideen beeindruk-

ken uns vor allem deshalb so stark, weil sie so unwahrschein-
lich sind. Die Möglichkeit, daß sie von selbst und durch einen

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glücklichen Zufall entstehen, ist so gering, daß man sie in der
realen Welt ausschließen kann. Des Rätsels Lösung ist die
allmähliche Evolution in kleinen Schritten, von denen jeder
ein glücklicher, aber nicht allzu glücklicher Zufall war. Ver-
liefe sie nicht allmählich, wäre sie keine Lösung, sondern nur
eine neue Formulierung des Rätsels.

In manchen Fällen kann man sich nur schwer ausmalen, wie

die abgestuften Zwischenformen ausgesehen haben könnten.
So etwas ist eine Herausforderung an unser Vorstellungsver-
mögen, und wenn es versagt, um so schlechter für es. Das ist
aber kein Indiz, daß es die Zwischenstufen nicht gegeben hat.
Eine der größten Herausforderungen für unsere Phantasie bei
der Vorstellung von Zwischenstufen ist die berühmte »Tanz-
sprache« der Bienen, dargelegt in dem klassischen Werk, mit
dem Karl von Frisch bekannt wurde. Hier erscheint das End-
produkt der Evolution so kompliziert, so genial und so weit
entfernt von allen Tätigkeiten, mit denen man bei Insekten
normalerweise rechnet, daß man sich die Zwischenstufen
kaum vorstellen kann.

Honigbienen teilen einander die Lage von Blüten mit einem

sorgfältig verschlüsselten Tanz mit. Befindet sich die Nah-
rungsquelle sehr dicht beim Bienenstock, tanzen sie den
»Rundtanz«: Er regt andere Bienen nur an, auszuschwärmen
und in der Nachbarschaft des Stockes zu suchen. Das ist noch
nicht bemerkenswert. Sehr bemerkenswert ist aber, was ge-
schieht, wenn das Futter weiter entfernt ist. Der Kundschafter,
der es gefunden hat, führt den sogenannten Schwänzeltanz
auf, dessen Form und Ablauf den anderen Bienen sowohl die
Himmelsrichtung der Futterquelle als auch ihre Entfernung
vom Stock signalisiert. Der Schwänzeltanz findet im Bienen-
stock auf der senkrechten Oberfläche der Waben statt. Dort ist
es dunkel, so daß die anderen Bienen ihn nicht sehen können.
Sie fühlen ihn und hören ihn auch, denn die tanzende Biene
begleitet ihre Vorführung mit leisen, rhythmischen Pfeifgeräu-

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100

schen. Der Tanz hat die Form einer Acht mit einer geraden
Laufstrecke in der Mitte. Die Richtung dieser geraden Strecke
gibt nach einem raffinierten Code die Himmelsrichtung der
Nahrungsquelle an.

Die gerade Linie der Tanzfigur zeigt aber nicht direkt in

Richtung der Nahrung. Das ist gar nicht möglich, weil der Tanz
auf den senkrechten Waben aufgeführt wird, und die Wabe ist
unabhängig von der Richtung der Nahrung immer auf die
gleiche Weise befestigt. Das Futter muß in der horizontalen
geographischen Richtung geortet werden. Die senkrechte
Wabe entspricht eher einer Landkarte an der Wand. Eine Linie,
die man auf einer solchen Karte zeichnet, weist nicht unmittel-
bar auf einen bestimmten Punkt, aber man kann daraus die
Richtung mit Hilfe einer willkürlichen Übereinkunft ablesen.

Um die Übereinkunft der Bienen zu verstehen, muß man als

erstes wissen, daß diese Tiere sich wie viele Insekten an der
Sonne orientieren. Auch wir tun das in erster Näherung. Die
Methode hat aber zwei Nachteile. Erstens ist die Sonne oft
hinter Wolken versteckt. Dieses Problem lösen die Bienen mit
einem Sinnesorgan, das wir nicht besitzen. Auch das entdeckte
von Frisch: Bienen können die Polarisationsebene des Lichtes
erkennen und damit die Richtung der Sonne auch dann fest-
stellen, wenn sie nicht zu sehen ist. Das zweite Problem mit
dem »Sonnenkompaß« besteht darin, daß die Sonne im Laufe
des Tages über den Himmel »wandert«. Damit werden die
Bienen mit Hilfe einer inneren Uhr fertig. Von Frisch beobach-
tete etwas nahezu Unglaubliches: Tanzende Bienen, die nach
dem Erkundungsflug mehrere Stunden lang im Stock einge-
sperrt waren, drehten die gerade Strecke des Tanzes allmäh-
lich in eine andere Richtung wie den Zeiger einer Uhr mit 24-
Stunden-Einteilung. Sie konnten die Sonne im Stock nicht
sehen, und doch richteten sie ihren Tanz so aus, daß er mit der
Bewegung der Sonne übereinstimmte, die sich, wie ihnen die
innere Uhr sagte, draußen abspielen mußte. Faszinierend ist

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101

auch, daß Bienenrassen von der südlichen Erdhalbkugel das
gleiche in umgekehrter Richtung tun, genau wie man es er-
wartet.

Nun zur Bedeutung des Tanzes selbst. Weist die Tanzstrecke

an der Wabe senkrecht nach oben, befindet sich die Nahrung
in der gleichen Richtung wie die Sonne. Senkrecht nach unten
gerichtet, gibt sie genau die entgegengesetzte Richtung an.
Alle dazwischenliegenden Winkel signalisieren genau das,
was man erwartet. Fünfzig Grad von der Senkrechten nach
links bedeutet in der Horizontalen 50 Grad links von der
Sonne. Der Tanz ist allerdings nicht aufs Grad genau. Warum
sollte er auch, nur weil wir unseren Kompaß willkürlich in 360
Grad eingeteilt haben? Bienen unterteilen den Kompaß in
ungefähr acht Bienengrad. Eigentlich tun wir das gleiche,
wenn wir keine Berufsseeleute sind: Wir unterscheiden auf
unserem informellen Kompaß die acht Quadranten N, NO, O,
SO, S, SW, W und NW.

Auch die Entfernung der Nahrungsquelle zeigt der Bienen-

tanz an. Genauer gesagt, haben verschiedene Gesichtspunkte
des Tanzes - die Drehgeschwindigkeit, die Geschwindigkeit
des Schwänzelns und die Abstände der Pfeiftöne - mit der
Entfernung des Futters zu tun, so daß die anderen Bienen an
jedem davon und an jeder Kombination die Entfernung able-
sen können. Je näher die Nahrungsquelle, desto schneller der
Tanz. Das ist zu erwarten, denn eine Biene, die in der Nähe des
Stockes Futter gefunden hat, ist aufgeregter und weniger er-
müdet als eine andere, die weiter entfernt eine Nahrungs-
quelle entdeckt hat. Aber das ist mehr als nur eine Esels-
brücke; wie wir noch sehen werden, bietet es auch einen
Hinweis, wie sich der Tanz in der Evolution entwickelt hat.

Fassen wir noch einmal zusammen: Eine Biene findet auf

einem Erkundungsflug eine gute Nahrungsquelle. Mit Nektar
und Pollen beladen, kehrt sie zum Stock zurück und übergibt
ihre Fracht den Arbeiterinnen. Dann beginnt sie mit dem

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102

Tanz: Irgendwo auf der vertikalen Wabe - wo genau, spielt
keine Rolle - läuft sie immer wieder in einer Achterfigur
herum. Um sie herum sammeln sich andere Arbeiterinnen,
die sie spüren und ihr zuhören. Sie erfassen die Häufigkeit der
Töne und vielleicht auch die Drehgeschwindigkeit. Während
die Tänzerin mit dem Hinterleib wackelt, messen sie den
Winkel der geraden Tanzstrecke relativ zur Senkrechten. An-
schließend eilen sie zum Ausgang des Stockes und schwärmen
aus der Dunkelheit ins Sonnenlicht. Sie beobachten, wo die
Sonne steht - nicht die Höhe in der senkrechten, sondern die
Himmelsrichtung in der horizontalen Ebene. Und dann flie-
gen sie in gerader Linie weg, wobei der Winkel relativ zur
Sonne dem Tanzwinkel der Kundschafterin relativ zur Senk-
rechten auf der Wabe entspricht. In dieser Richtung fliegen sie
nicht unendlich weit, sondern über eine Entfernung, die (dem
Logarithmus) der Piepgeschwindigkeit der Tänzerin (umge-
kehrt) proportional ist. Wenn die Kundschafterin auf dem Weg
zu der Nahrungsquelle einen Umweg geflogen ist, gibt sie
verblüffenderweise nicht die Richtung dieses Umweges an,
sondern die rekonstruierte direkte Himmelsrichtung zu der
Futterquelle.

Die Geschichte vom Bienentanz ist eigentlich kaum zu glau-

ben, und manche Leute glauben sie tatsächlich nicht. Auf diese
Skeptiker und auf die Experimente, die in jüngster Zeit die
endgültige Entscheidung brachten, werde ich im nächsten
Kapitel zurückkommen. Jetzt möchte ich die allmähliche Evo-
lution des Bienentanzes erörtern. Wie könnten die entwick-
lungsgeschichtlichen Zwischenstadien ausgesehen haben,
und wie funktionierten sie, als der Tanz noch nicht vollständig
ausgebildet war?

Nebenbei bemerkt, ist die Frage so nicht ganz richtig formu-

liert. Kein Geschöpf lebt davon, daß es »unvollständig« und
ein »Zwischenstadium« ist. Die früheren, längst verstorbenen
Bienen, deren Tänze man rückblickend als Zwischenstufen

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103

auf dem Weg zum heutigen Tanz der Honigbienen betrachten
kann, lebten ganz gut. Sie führten ein erfülltes Bienenleben
und hatten keine Ahnung, daß sie »auf dem Weg« zu etwas
»Besserem« waren. Auch der heutige Bienentanz dürfte nicht
das letzte Wort sein: Er wird sich ebenfalls zu etwas noch
Sensationellerem entwickeln, wenn wir und unsere Bienen
längst nicht mehr da sind. Dennoch bleibt das Rätsel, wie sich
der heutige Bienentanz in aufeinanderfolgenden Stufen ent-
wickeln konnte. Wie könnten die abgestuften Zwischenfor-
men ausgesehen habe, und wie funktionierten sie?

Mit dieser Frage beschäftigte sich schon von Frisch selbst:

Um sie anzugehen, sah er sich im Stammbaum um, bei den
heutigen entfernten Vettern der Honigbienen. Sie sind nicht
die Ahnen der Biene, sondern ihre Zeitgenossen, aber sie
könnten Eigenschaften der Vorfahren behalten haben. Die
Honigbiene selbst ist ein Insekt der gemäßigten Klimazonen
und nistet in schützenden Baumstämmen oder Höhlen. Ihre
engsten Verwandten sind tropische Bienen, die auch im
Freien nisten können und ihre Waben an Ästen oder Felsvor-
sprüngen aufhängen. Sie können also während des Tanzes die
Sonne sehen und müssen sich nicht mit der Übereinkunft
behelfen, daß die Senkrechte »für die Richtung der Sonne
steht«. Bei ihnen steht die Sonne für sich selbst.

Einer dieser tropischen Verwandten, die Zwergbiene Apis

florea, tanzt auf der waagerechten Fläche an der Oberseite der
Wabe, und die gerade Linie der Tanzfigur zeigt unmittelbar
zur Nahrungsquelle. Hier ist keine Übereinkunft im Sinne
einer Landkarte erforderlich: Der unmittelbare Hinweis reicht
aus. Ein plausibles Übergangsstadium auf dem Weg zur Honig-
biene, ja, aber immer noch müssen wir nach den anderen
Zwischenformen fragen, die diesem Stadium vorausgingen
und nachfolgten. Was könnte der Vorläufer des Tanzes der
Zwergbienen gewesen sein? Warum sollte eine Biene, die
gerade Nahrung gefunden hat, immer wieder in einer Achter-

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figur herumrennen, deren gerade Mittellinie zur Futterquelle
zeigt? Einem Vorschlag zufolge handelt es sich um eine rituali-
sierte Form des Anlaufes zum Wegfliegen. Bevor sich der Tanz
entwickelte, so von Frischs Idee, flog eine Kundschafterin, die
ihre Fracht abgeliefert hatte, einfach wieder in derselben Rich-
tung davon, um zur Nahrungsquelle zurückzukehren. Bevor
sie abhob, drehte sie das Gesicht in die richtige Richtung, und
gleichzeitig machte sie ein paar Schritte. Wenn dieser Anlauf
die anderen Bienen zum Hinterherfliegen angeregt hätte,
hätte die natürliche Selektion alles begünstigt, was zu seiner
Verlängerung und Übertreibung führte. Vielleicht ist der Tanz
eine Art rituell wiederholter Anlauf zum Abheben. Das ist
plausibel, denn Bienen bedienen sich - unabhängig davon, ob
sie einen Tanz aufführen - häufig einer unmittelbareren Me-
thode; sie folgen ihren Artgenossen einfach zur Nahrungs-
quelle. Plausibel wird die Vermutung auch noch durch etwas
anderes: Während des Tanzes spreizen die Bienen ihre Flügel
ein wenig ab, als ob sie gleich losfliegen wollten, und lassen
die Flugmuskeln vibrieren - zwar nicht so stark, daß es zum
Abheben ausreicht, aber immerhin so, daß das Geräusch ent-
steht, das einen wichtigen Teil des Tanzsignals darstellt.

Ein naheliegendes Mittel zur Verlängerung und Übertrei-

bung des Anlaufes ist seine Wiederholung. Wiederholen heißt,
daß man zum Ausgangspunkt zurückgeht und dann erneut ein
paar Schritte in Richtung der Nahrungsquelle macht. Zurück
zum Ausgangspunkt kann man auf zwei Wegen gelangen: Man
wendet sich am Ende des Anlaufes nach rechts oder nach links.
Wenn man sich immer wieder nur nach rechts oder nach links
wendet, ist nicht eindeutig klar, in welche Richtung der Anlauf
zielt und bei welcher Strecke es sich um den Rückweg zum
Ausgangspunkt handelt. Am besten beseitigt die Biene diese
Zweideutigkeit, indem sie sich am Ende des Anlaufes abwech-
selnd nach links und nach rechts dreht. So kam es zur natürli-
chen Selektion der Achterfigur.

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Aber wie entwickelte sich die Beziehung zwischen der Ent-

fernung der Nahrungsquelle und der Tanzgeschwindigkeit?
Wäre die Geschwindigkeit der Entfernung direkt proportio-
nal, ließe sich das nur schwer erklären. Aber wie ich bereits
erwähnt habe, ist es in Wirklichkeit anders herum: je näher das
Futter, desto schneller der Tanz. Das legt sofort den Gedanken
an einen plausiblen Evolutionsweg nahe. Bevor sich der
eigentliche Tanz entwickelte, führten die Kundschafter ihren
ritualisierten Anlauf ohne festgelegte Geschwindigkeit auf. Er
war so schnell, wie es der Biene gerade beliebte. Aber wenn
man, bis zum Stehkragen beladen mit Nektar und Pollen,
mehrere Kilometer weit nach Hause geflogen ist, verspürt
man dann wohl noch das Bedürfnis, mit großem Tempo über
die Wabe zu rennen? Nein, man wäre vermutlich erschöpft.
Hat man dagegen gerade ziemlich nahe beim Stock eine reich-
haltige Nahrungsquelle entdeckt, ist man nach dem kurzen
Rückflug noch frisch und energiegeladen. Man kann sich ohne
weiteres vorstellen, wie die anfangs zufällige Beziehung zwi-
schen entfernter Nahrungsquelle und langsamem Tanz zu
einer formalen, verläßlichen Botschaft ritualisiert wurde.

Damit sind wir bei dem Übergang mit dem größten Frage-

zeichen. Wie wurde aus einem Tanz, dessen gerade Linie
unmittelbar zur Nahrungsquelle zeigte, eine Bewegung, bei
der ein Winkel zur Senkrechten zum Code für den Winkel
zwischen Richtung der Nahrung und Sonne wurde? Dieser
Übergang war aus zwei Gründen notwendig: Erstens ist es im
Bienenstock dunkel, und man kann die Sonne nicht sehen,
und zweitens kann man mit dem Tanz auf einer senkrechten
Wabe nicht unmittelbar in Richtung der Futterquelle zeigen,
es sei denn, die Tanzfläche ist selbst zufällig in dieser Richtung
orientiert. Aber nur zu erklären, daß der Übergang notwendig
gewesen sei, reicht nicht. Man muß auch mit einer plausiblen
Abfolge von Zwischenschritten darlegen, wie er zustande kam.

Eine offenbar vertrackte Aufgabe, aber uns kommt dabei

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eine Besonderheit im Nervensystem der Insekten zu Hilfe. Mit
verschiedenen Insekten, von Käfern bis zu Ameisen, hat man
folgendes bemerkenswerte Experiment gemacht: Man läßt
einen Käfer zunächst bei elektrischem Licht auf einem waage-
rechten Holzbrett entlanglaufen. Dabei zeigt sich als erstes,
daß das Insekt sich am Licht orientiert. Bewegt man die Lampe,
ändert es auch seine Laufrichtung entsprechend. Lag sie bisher
beispielsweise bei 30 Grad relativ zur Richtung der Licht-
quelle, so bleibt dieser Winkel auch in der neuen Position der
Lampe erhalten. Tatsächlich kann man den Käfer mit dem
Lichtstrahl in jede beliebige Richtung steuern. Das war von
den Insekten schon seit langem bekannt. Sie benutzen die
Sonne (auch Mond oder Sterne) als Kompaß, und man kann
sie mit einer Glühlampe leicht täuschen. So weit, so gut. Jetzt
kommt das interessante Experiment. Man schaltet das Licht aus
und kippt das Brett im gleichen Augenblick in die Senkrechte.
Der Käfer läuft unbeirrt weiter. Aber, siehe da, er ändert die
Laufrichtung so, daß sie zur Senkrechten jetzt den gleichen
Winkel bildet wie zuvor zum Licht: in unserem Beispiel 30
Grad. Warum das so ist, weiß niemand, aber es ist so. Offenbar
verrät sich hier eine seltsame Eigenschaft des Insektennerven-
systems: eine Verwirrung der Sinne, eine Überkreuzung der
Verdrahtung für Gewichts- und Gesichtssinn, vielleicht ein
wenig so ähnlich wie bei dem Blitz, den wir sehen, wenn man
uns auf den Kopf schlägt. Jedenfalls war dies vermutlich in der
Evolution die Brücke für die Botschaft »Senkrechte gleich
Sonne« im Tanz der Honigbienen.

Aufschlußreich ist das Verhalten der Honigbienen, wenn

man in ihrem Stock eine Lampe einschaltet. In diesem Fall
richten sie sich nicht mehr nach der Schwerkraft, sondern das
Licht ist ihrem Code unmittelbar gleichbedeutend mit der
Sonne. Diese seit langem bekannte Tatsache nutzte man in
einem der genialsten Experimente aller Zeiten aus, und damit
war endgültig der Nachweis erbracht, daß der Tanz der Honig-

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bienen seinen Zweck tatsächlich erfüllt. Ich werde im näch-
sten Kapitel darauf zurückkommen. Einstweilen haben wir
eine plausible Abfolge abgestufter Zwischenformen gefun-
den, über die der Tanz der Bienen aus einfachen Anfängen
hervorgegangen sein könnte. Die Geschichte, wie ich sie er-
zählt habe, gründet sich auf von Frischs Gedanken und ist
vielleicht nicht in allen Einzelheiten richtig. Aber etwas Ähnli-
ches hat sich mit Sicherheit abgespielt. Ich wollte damit auf die
natürliche Skepsis antworten - die Argumentation aus persön-
lichem Unglauben -, die sich einstellt, wenn man auf ein
wirklich geniales oder kompliziertes Naturphänomen stößt.
Der Skeptiker sagt: »Ich kann mir keine plausible Folge von
Zwischenformen vorstellen, also gab es sie nicht, sondern das
Phänomen ist von selbst und durch ein Wunder entstanden.«
Von Frisch hat die plausible Folge der Zwischenstufen gelie-
fert. Selbst wenn es nicht die richtige Folge sein sollte, wider-
legt allein die Tatsache, daß sie plausibel ist, die Argumenta-
tion aus persönlichem Unglauben. Das gleiche gilt für alle
anderen Beispiele, die wir betrachtet haben, von den Orchi-
deen, die eine Wespe nachahmen, bis zum kameraähnlichen
Auge.

Wer dem gradualistischen Darwinismus skeptisch gegen-

übersteht, kann beliebig viele seltsame und verblüffende Tat-
sachen aus der Natur anführen. Man hat mich beispielsweise
um eine Erklärung für die allmähliche Evolution jener Lebe-
wesen gebeten, die in den Tiefseegräben des Pazifiks zu Hause
sind, wo es kein Licht gibt und ein Wasserdruck von über
tausend Atmosphären herrscht. Dort haben sich um heiße
Vulkanquellen am Meeresboden ganze Lebensgemein-
schaften von Tieren entwickelt. Bakterien nutzen die Wärme
aus dem Erdinneren, setzen Schwefel statt Sauerstoff um und
halten völlig andere biochemische Abläufe in Gang. Die Ge-
meinschaft der größeren Tiere ist letztlich von diesen Bakte-
rien abhängig, genau wie das Leben an der Oberfläche auf die

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grünen Pflanzen angewiesen ist, die die Sonnenenergie ein-
fangen.

Alle Tiere der auf Schwefel basierenden Lebensgemein-

schaften sind Verwandte bekannterer Tiere, die anderswo
leben. Wie und über welche Zwischenformen haben sie sich
entwickelt? Nun, die Argumentation folgt genau dem gleichen
Muster. Wir brauchen dazu nur mindestens einen natürlichen,
stufenlosen Übergang, und solche Übergänge gibt es zur Ge-
nüge, wenn man im Meer immer weiter hinabsteigt. Tausend
Atmosphären sind ein entsetzlich hoher Druck, aber er ist nur
quantitativ größer als 999 Atmosphären, die nur quantitativ
größer sind als 998 Atmosphären und so weiter. Der Meeres-
boden bietet Tiefenübergänge von 0 Meter über alle Zwi-
schenwerte bis 11.000 Meter. Ebenso stufenlos schwankt der
Druck zwischen einer Atmosphäre und tausend Atmosphären.
Die Lichtintensität schwankt stufenlos vom hellen Tageslicht
dicht unter der Oberfläche bis zur völligen Finsternis in grö-
ßerer Tiefe, die nur gelegentlich von Ansammlungen leuch-
tender Bakterien in den Leuchtorganen von Fischen erhellt
wird. Scharfe Abgrenzungen gibt es nicht. Für jedes Ausmaß
von Druck und Dunkelheit, an das die Anpassung bereits
vollzogen ist, gibt es einen Bauplan für ein Tier, der sich nur
geringfügig von dem der vorhandenen Tiere unterscheidet
und das Überleben einen Meter tiefer oder bei einem Lumen
weniger Licht ermöglicht. Für jedes... aber dieses Kapitel ist
schon mehr als lang genug. Sie kennen meine Methoden,
Watson. Wenden Sie sie an!

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110

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111

Gottes Nutzenfunktion

Mein geistlicher Briefschreiber aus dem letzten Kapitel hatte
durch eine Wespe zum Glauben gefunden. Durch eine andere
verlor Darwin den seinen: »Ich kann einfach nicht überzeugt
sein«, schrieb er, »daß ein gütiger, allmächtiger Gott planvoll
die Ichneumonidae geschaffen hat, und das ausdrücklich mit
der Absicht, daß sie innerhalb des Körpers lebender Raupen
fressen sollen.« In Wirklichkeit verlor Darwin seinen Glauben
allmählich und aus komplexeren Gründen, und er spielte es
herunter, weil er fürchtete, Emma, seine fromme Frau, werde
sich darüber ärgern. Die Erwähnung der Ichneumonidae
(Schlupfwespen) war als Aphorismus gemeint. Die makabre
Lebensweise, von der er sprach, teilen sie mit ihren Vettern,
den Dolchwespen, denen wir im letzten Kapitel begegnet
sind. Die weibliche Dolchwespe legt ihre Eier nicht nur in
einer Raupe (oder einer Heuschrecke oder einer Biene) ab, so
daß die Larve sich von dieser ernähren kann, sondern nach
den Beobachtungen von Fabre und anderen zielt sie mit dem
Stich genau auf die Ganglien im Zentralnervensystem ihrer
Beute, so daß diese gelähmt, aber nicht getötet wird. So bleibt
das Fleisch frisch. Ob es sich bei der Lähmung um eine allge-
meine Betäubung handelt oder ob sie dem Opfer wie Curare

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112

nur die Bewegungsfähigkeit nimmt, ist nicht bekannt. Sollte
das zweite zutreffen, bemerkt das Beutetier vielleicht, daß es
von innen her aufgefressen wird, aber es kann keinen Muskel
bewegen, um sich dagegen zu wehren. Das klingt entsetzlich
grausam, aber wie wir noch sehen werden, ist die Natur nicht
grausam, sondern nur mitleidlos gleichgültig. Das ist eine der
Lektionen, die für uns Menschen am schwierigsten zu lernen
sind. Wir können nicht eingestehen, daß etwas weder gut noch
böse, weder grausam noch freundlich, sondern einfach nur
gefühllos ist - gleichgültig gegenüber allem Leiden, ohne
jeden Sinn.

Wir Menschen sind zweckorientiert. Es fällt uns schwer,

irgend etwas zu betrachten und nicht zu fragen, »wozu« es
vorhanden ist, was die Beweggründe sind oder welcher
Zweck dahintersteckt. Wird die Fixierung auf Absichten krank-
haft, sprechen wir von Paranoia - man sieht hinter allem, was
in Wirklichkeit nur zufälliges Pech ist, eine böse Absicht. Aber
das ist nur die übertriebene Ausprägung einer fast ausnahms-
los verbreiteten Täuschung. Sobald wir einen Gegenstand
oder einen Vorgang sehen, können wir der Frage nach dem
Warum kaum widerstehen - der Frage, »wozu es gut ist«.

Der Wunsch, überall einen Zweck zu erkennen, ist nur

natürlich bei einem Lebewesen, das von Maschinen, Kunst-
werken, Werkzeugen und anderen planvoll gestalteten Din-
gen umgeben ist und dessen Gedanken außerdem von per-
sönlichen Zielen beherrscht werden. Ein Auto, ein Dosenöff-
ner, ein Schraubenzieher oder eine Mistgabel geben berech-
tigten Anlaß zu der Frage »Wozu ist es gut?«. Unsere bäuerli-
chen Vorfahren fragten das gleiche bei Donner, Sonnenfin-
sternis, Steinen und Flüssen. Heute sind wir stolz darauf, daß
wir diesen primitiven Animismus abgelegt haben. Wenn ein
Felsen in einem Bach als bequemer Trittstein dient, betrach-
ten wir seinen Nutzen als zufälligen Vorteil, nicht als echten
Zweck. Aber die alte Versuchung kehrt mit Macht zurück,

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113

wenn das Unglück zuschlägt - schon in dem Wort »zuschla-
gen« hallt der Animismus nach: »Warum, ach warum nur
mußte der Krebs/das Erdbeben/der Orkan ausgerechnet mein
Kind treffen?« Im positiven Sinne finden wir an der gleichen
Versuchung oftmals Geschmack, wenn es um den Ursprung
aller Dinge oder und die Grundgesetze der Physik geht, und
das Ganze gipfelt dann in der müßigen, existentiellen Frage:
»Warum ist überhaupt etwas, und nicht vielmehr nichts?«

Ich kann schon nicht mehr zählen, wie oft nach einem

meiner öffentlichen Vorträge jemand aus dem Publikum auf-
stand und ungefähr folgendes sagte: »Ihr Wissenschaftler
könnt die Fragen nach dem Wie gut beantworten, aber ihr
müßt zugeben, daß ihr hilflos seid, wenn es um die Frage nach
dem Warum geht.« Genau dieses Argument führte auch Prinz
Philip an, der Duke of Edinburgh, der einmal bei einem
Vortrag meines Kollegen Dr. Peter Atkins in Windsor unter
den Zuhörern saß. Hinter der Frage steht immer die unausge-
sprochene und niemals gerechtfertigte Annahme, es müsse,
da die Naturwissenschaft die Frage nach dem Warum nicht
beantworten kann, eine andere Disziplin geben, die dazu in
der Lage sei. Diese Vermutung ist natürlich völlig unlogisch.

Ich fürchte, Dr. Atkins machte mit dem königlichen Warum

kurzen Prozeß. Nur weil man eine Frage formulieren kann, ist
sie noch nicht berechtigt oder sinnvoll. Man kann eine Menge
Dinge fragen, zum Beispiel: »Wie warm ist dieses?« oder
»Welche Farbe hat jenes?« Aber nach Temperatur oder Farbe
würde man sich beispielsweise nicht im Zusammenhang mit
der Eifersucht oder dem Gebet erkundigen. Genauso kann
man zwar zu Recht bei den Schutzblechen eines Fahrrades
oder beim Kariba-Staudamm nach dem Warum fragen, aber
zumindest hat man nicht das Recht zu der Annahme, die
gleiche Frage verdiene auch dann eine Antwort, wenn man sie
im Zusammenhang mit einem Felsblock, einem unglückli-
chen Zufall, dem Mount Everest oder dem Universum stellt.

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114

Fragen können einfach unangemessen sein, so sehr sie auch
von Herzen kommen mögen.

Irgendwo zwischen Scheibenwischern und Dosenöffnern

auf der einen Seite und Steinen oder dem Universum auf der
anderen stehen die Lebewesen. Lebende Körper und ihre
Organe sind Gegenstände, die anders als Felsen von einem
Zweck geprägt zu sein scheinen. Bekannt ist natürlich, daß die
scheinbare Zweckbestimmung der Lebewesen die klassische
Argumentation vom großen Plan beherrschte, welche die
Theologen von Thomas von Aquin über William Paley bis zu
den heutigen »wissenschaftlichen« Kreationisten immer wie-
der heraufbeschworen haben.

Der Vorgang, der in Wirklichkeit Flügel und Augen, Schnä-

bel, Nistinstinkte und alle anderen Eigenschaften der Lebewe-
sen mit der starken Illusion gezielter Planung ausstattete, ist
heute gut bekannt. Es ist die Darwinsche natürliche Selektion.
Wir haben diese Erkenntnis erst vor erstaunlich kurzer Zeit
gewonnen, nämlich in den letzten hundertfünfzig Jahren. Vor
Darwin hielten selbst gebildete Menschen, die Fragen nach
dem Warum bei Steinen, Flüssen oder Mondfinsternissen auf-
gegeben hatten, solche Überlegungen weiterhin für berech-
tigt, wenn es um Lebewesen ging. Heute tun das nur noch die
wissenschaftlich Unbeleckten. Allerdings verschleiert das
Wort »nur« die unerträgliche Tatsache, daß es sich dabei um
die absolute Mehrheit handelt.

In Wirklichkeit formulieren auch die Darwinisten eine

Frage nach dem Warum, aber in einem besonderen metapho-
rischen Sinn. Warum singen die Vögel, und wozu dienen
Flügel? Solche Fragen würde ein moderner Darwinist als
Kurzfassung durchaus akzeptieren, und er würde mit Blick auf
die natürliche Selektion der Vorfahren unserer Vögel eine
sinnvolle Antwort geben. Die Illusion des Zwecks ist so über-
mächtig, daß sogar die Biologen die Annahme einer guten
Planung als Arbeitswerkzeug heranziehen. Karl von Frisch,

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115

von dem im vorangegangenen Kapitel schon die Rede war,
entdeckte lange vor seiner epochemachenden Arbeit über
den Bienentanz, daß manche Insekten im Gegensatz zu der
damals herrschenden Lehrmeinung durchaus Farben sehen
können. Der Auslöser für die Experimente, mit denen er den
Nachweis führte, war die einfache Beobachtung, daß die von
Bienen bestäubten Blumen große Energie darauf verwenden,
farbige Pigmente herzustellen. Warum sollten sie das tun,
wenn Bienen farbenblind wären? Die Metapher vom Zweck -
oder genauer gesagt, die Annahme, daß Darwinsche Selektion
beteiligt ist - dient hier dazu, eine begründete These über
einen Sachverhalt aufzustellen. Ein Fehler wäre es gewesen,
wenn von Frisch behauptet hätte: »Blüten sind farbig, also
müssen Bienen auch Farben erkennen können.« Aber mit
dem, was er tatsächlich sagte, hatte er recht: »Blüten sind
farbig, also lohnt es sich zumindest, wenn ich mir eine Zeit-
lang viel Mühe gebe und mir neue Experimente ausdenke, mit
denen ich überprüfen kann, ob Bienen tatsächlich Farben
sehen können.« Als er nun die Angelegenheit im einzelnen
untersuchte, stellte er fest, daß Bienen über ein gutes Far-
bensehen verfügen, wobei das Spektrum aber gegenüber un-
serem eigenen verschoben ist. Rotes Licht können sie nicht
wahrnehmen (was wir Rot nennen, würden sie vielleicht als
»Infragelb« bezeichnen). Dafür sind sie aber empfindlich für
den Bereich, den wir Ultraviolett nennen; Ultraviolett ist für
sie eine eigene Farbe, die deshalb manchmal auch »Bienen-
lila« heißt.

Als von Frisch erkannt hatte, daß Bienen im ultravioletten

Spektralbereich sehen können, bezog er in seine Über-
legungen erneut die Metapher vom Zweck ein. Wozu, so fragte
er sich, nutzen die Bienen ihre Ultraviolettwahrnehmung?
Seine Gedanken kehrten zum Ausgangspunkt zurück: zu den
Blumen. Wir Menschen können Ultraviolett zwar nicht sehen,
aber wir können photographische Filme herstellen, die dafür

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116

empfindlich sind, und wir haben Filter, die ultraviolettes Licht
durchlassen und »sichtbare« Wellenlängen zurückhalten. Aus-
gehend von seinen Vorahnungen, machte von Frisch ein paar
UV-Fotos von Blüten. Zu seinem Entzücken erkannte er darauf
Flecken- und Streifenmuster, die noch kein menschliches
Auge gesehen hatte. Blüten, die für uns weiß oder gelb aus-
sehen, sind in Wirklichkeit mit ultravioletten Mustern ge-
schmückt, die oft als »Landebahnmarkierung« dienen und die
Bienen zum Nektar dirigieren. Wieder hatte sich die Vorstel-
lung von einem scheinbaren Zweck ausgezahlt: Gut gestaltete
Blüten nutzen die Tatsache aus, daß Bienen die ultravioletten
Wellenlängen wahrnehmen können.

Als von Frisch schon ein alter Mann war, stellte ein amerika-

nischer Biologe namens Adrian Wenner sein berühmtestes
Werk - über den Bienentanz, das wir im vorangegangenen
Kapitel diskutierten - in Frage. Glücklicherweise erlebte von
Frisch noch, wie James L. Gould, ein anderer Amerikaner, der
heute an der Princeton University arbeitet, seine Ergebnisse
bestätigte, und zwar mit einem der intelligentesten Experi-
mente der biologischen Forschung insgesamt. Ich möchte es
kurz darstellen, denn es ist wichtig für meine Ansicht über das
Gewicht der Voraussetzung »als wäre es geplant«.

Wenner und seine Kollegen leugneten nicht, daß der Bie-

nentanz sich abspielt. Sie leugneten noch nicht einmal, daß er
alle Informationen enthält, die von Frisch gefunden hatte.
Aber sie bestritten, daß die anderen Bienen den Tanz »inter-
pretieren«. Ja, sagte Wenner, es stimme, daß im Schwänzeltanz
die Richtung der geraden Linie relativ zur Senkrechten der
Richtung der Nahrungsquelle relativ zur Sonne entspreche.
Aber, so meinte er, die anderen Bienen entnähmen diese
Information nicht dem Tanz. Ja, es stimme, daß man die Ge-
schwindigkeit der verschiedenen Tanzbewegungen als Mittei-
lung über die Entfernung des Futters interpretieren könne.
Aber es gebe keinen überzeugenden Beleg, daß die anderen

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117

Bienen die Nachricht deuteten. Sie könnten den Tanz ignorie-
ren. Von Frischs Belege waren nach Ansicht der Skeptiker
fehlerhaft, und als sie seine Experimente mit geeigneten
»Kontrollen« wiederholten (das heißt, sie bezogen auch an-
dere Methoden ein, mit denen die Bienen vielleicht Nahrung
finden konnten), wurde von Frischs Hypothese, daß es eine
Tanzsprache gibt, von den Ergebnissen nicht mehr gestützt.

An dieser Stelle hakte Jim Gould mit seinen genial gestalte-

ten Versuchen ein. Er bediente sich dazu einer seit langem
bekannten Eigenschaft der Honigbienen, von der im vorigen
Kapitel bereits die Rede war. Obwohl sie gewöhnlich im
Dunkeln tanzen und die senkrecht nach oben weisende Linie
der vertikalen Ebene als Code für die Richtung der Sonne in
der Horizontalen verwenden, schalten sie mühelos auf die
entwicklungsgeschichtlich vermutlich ältere Verhaltensweise
um, wenn man in dem Bienenstock Licht anschaltet. Dann
vergessen sie sofort die Schwerkraft und benutzen die Licht-
quelle als Sonnenersatz, an dem sie die Tanzrichtung unmit-
telbar ausrichten. Wenn die Tänzerin ihre Orientierung von
der Schwerkraft zur Glühbirne verlegt, ergeben sich daraus
glücklicherweise keinerlei Mißverständnisse. Die anderen
Bienen, die den Tanz »interpretieren«, orientieren sich eben-
falls neu, so daß die Bewegungen ihre Bedeutung behalten:
Die anderen Bienen schwärmen nach wie vor in der von der
Tänzerin angegebenen Richtung aus.

Jetzt kommt Jim Goulds Geniestreich. Er bemalte die Augen

einer tanzenden Biene mit schwarzem Schellack, so daß sie
die Glühbirne nicht sehen konnte und sich wie üblich an der
Schwerkraft orientierte. Die anderen Bienen jedoch, die ihren
Tanz verfolgten, konnten die Lichtquelle erkennen. Sie inter-
pretierten den Tanz, als gelte nicht mehr die Schwerkraft als
Maßstab, sondern die »Sonne«, die durch die Glühbirne ver-
körpert wurde. Sie maßen den Winkel des Tanzes relativ zum
Licht, während die Tänzerin ihn an der Schwerkraft ausrich-

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118

tete. Eigentlich zwang Gould die Biene dazu, über die Rich-
tung der Nahrungsquelle zu lügen, und zwar nicht in einem
allgemeinen Sinn, sondern indem sie genau die von Gould
gewünschte Richtung angab. Natürlich machte er das Experi-
ment nicht nur mit einer blinden Biene, sondern mit einer
geeigneten statistischen Stichprobe von Bienen und mit unter-
schiedlich eingestellten Winkeln. Und es funktionierte. Von
Frischs ursprüngliche Hypothese über den Bienentanz war
glänzend bestätigt.

Ich erzähle diese Geschichte nicht zum Spaß. Ich wollte

damit sowohl auf die positiven als auch auf die negativen
Gesichtspunkte bei der Unterstellung einer guten Planung
hinweisen. Als ich die skeptischen Aufsätze von Wenner und
seinen Kollegen las, neigte ich anfangs zu offenem Spott. Das
war nicht gut, auch wenn sich schließlich herausstellte, daß
Wenner unrecht hatte. Mein Hohn gründete sich ganz und gar
auf die Annahme einer »guten Planung«. Wenner leugnete ja
nicht, daß der Bienentanz stattfand und daß er alle Informatio-
nen über Richtung und Entfernung der Nahrungsquelle ent-
hielt, die von Frisch behauptet hatte. Er glaubte nur nicht, daß
die anderen Bienen diese Informationen aufnehmen. Und das
konnte ich wie viele andere darwinistische Biologen einfach
nicht schlucken. Der Tanz war so kompliziert, so reichhaltig
ausgestattet, so genau auf seinen scheinbaren Zweck abge-
stimmt, andere Bienen über Richtung und Entfernung der
Nahrung in Kenntnis zu setzen. Diese Feinabstimmung konnte
nach unserer Überzeugung nur durch natürliche Selektion
und durch nichts anderes entstanden sein. In gewisser Weise
tappten wir in die gleiche Falle wie die Kreationisten, wenn sie
über die Wunder des Lebens nachgrübeln. Der Tanz mußte
einfach zu etwas nutze sein, und das bedeutete wahrschein-
lich, daß er den Bienen half, Nahrung zu finden. Außerdem
mußten genau die Aspekte des Tanzes, die so fein abgestimmt
waren - die Beziehung von Winkel und Geschwindigkeit zu

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119

Richtung und Entfernung der Futterquelle - eine nützliche
Funktion erfüllen. Einfach deshalb konnte Wenner in unseren
Augen nicht recht haben. Davon war ich so völlig überzeugt,
daß ich, selbst wenn ich genial genug gewesen wäre, um mir
Goulds Blindekuhexperiment auszudenken (was ich sicher
nicht war), mir nicht die Mühe gemacht hätte, es auszuführen.

Gould war nicht nur so scharfsinnig, daß ihm das Experi-

ment einfiel, sondern er betrieb auch den Aufwand, es wirk-
lich zu machen, denn er war nicht der Annahme von der guten
Planung erlegen. Aber wir wandern dabei immer auf einem
schmalen Grat, denn nach meiner Vermutung hatte Gould -
wie vor ihm von Frisch bei den Untersuchungen zum Far-
bensehen - so viel von dieser Annahme im Kopf, daß er
seinem bemerkenswerten Experiment gute Erfolgsaussichten
einräumte und ihm deshalb Zeit und Mühe widmete.

Ich möchte jetzt die beiden Fachbegriffe reverse engineer-

ing und »Nutzenfunktion« einführen. Dieser Abschnitt steht
stark unter dem Einfluß des hervorragenden Buches Darwin 's
Dangerous Idea
von Daniel Dennett. Als reverse engineering
[eine deutsche Entsprechung zu diesem Begriff gibt es nicht]
ist eine Denkmethode, die ungefähr folgendermaßen funktio-
niert: Ein Ingenieur hat einen Apparat gefunden, den er nicht
versteht, und nimmt vorerst einmal an, daß er zu einem be-
stimmten Zweck konstruiert wurde. Er nimmt das Gebilde
auseinander und analysiert es im Hinblick darauf, welche
Aufgabe es vermutlich gut erfüllen könnte: »Wenn ich eine
Maschine für diesen Zweck bauen wollte, würde ich es dann
so machen? Oder läßt sich der Gegenstand besser als Ma-
schine für jenen Zweck erklären?«

Der Rechenschieber, bis vor einiger Zeit das Wahrzeichen

der ehrenwerten Zunft der Ingenieure, ist im elektronischen
Zeitalter ebenso veraltet wie ein Relikt aus der Bronzezeit. Ein
Archäologe, der in ferner Zukunft einmal einen Rechenschie-
ber findet, wird vielleicht feststellen, daß er sich gut dazu

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120

eignet, gerade Linien zu ziehen oder Butter aufs Brot zu
streichen. Aber die Annahme, eines davon sei sein ursprüngli-
cher Zweck gewesen, verletzt das Sparsamkeitsgebot. Ein
schlichtes Lineal oder ein Buttermesser braucht in der Mitte
keine bewegliche Zunge. Und wenn man die Abstände der
kleinen Striche untersucht, findet man logarithmische Skalen,
die so peinlich genau eingeteilt sind, daß es kein Zufall sein
kann. Jetzt würde dem Archäologen dämmern, daß dieses
Muster in einer Zeit ohne elektronische Taschenrechner ein
genialer technischer Trick zum schnellen Multiplizieren und
Dividieren war. Damit wäre das Rätsel des Rechenschiebers
durch reverse engineering gelöst, und zwar unter der Voraus-
setzung einer intelligenten, sparsamen Gestaltung.

Der Fachbegriff »Nutzenfunktion« stammt nicht aus der

Technik, sondern aus der Wirtschaftswissenschaft. Er bedeutet
»das Maximierte«. Wirtschafts- und Sozialplaner ähneln Archi-
tekten und Ingenieuren insofern, als sie ebenfalls bestrebt
sind, etwas zu maximieren. Im Utilitarismus maximiert man
»das größtmögliche Glück für die größtmögliche Zahl« (eine
Formulierung, die, nebenbei bemerkt, intelligenter klingt als
sie ist). Vor diesem Hintergrund räumen die Utilitaristen der
langfristigen Stabilität vielleicht eine mehr oder weniger hohe
Priorität gegenüber dem kurzfristigen Glück ein, wobei es
Meinungsunterschiede gibt, ob sich »Glück« nach materiel-
lem Wohlstand, beruflicher Erfüllung, kultureller Entfaltung
oder zwischenmenschlichen Beziehungen bemißt. Andere
bekannten sich offen dazu, daß sie ihr eigenes Glück auf
Kosten des Allgemeinwohls maximieren wollen, und rechtfer-
tigen ihren Egoismus möglicherweise mit der Philosophie,
das allgemeine Glück werde maximiert, wenn jeder für sich
selbst sorgt. Wenn man das Verhalten einzelner während ihres
gesamten Lebens beobachtet, sollte man in der Lage sein, ihre
Nutzenfunktion durch reverse engineering zu erkennen.
Durch reverse engineering des Verhaltens einer Staatsregie-

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rung könnte man zu dem Schluß gelangen, daß Beschäftigung
und allgemeiner Wohlstand maximiert werden. In einem an-
deren Land könnte sich herausstellen, daß die Nutzenfunktion
in der dauerhaften Herrschaft des Präsidenten, im Reichtum
der Herrscherfamilie, in der Größe des Harems eines Sultans,
in der Stabilität des Nahen Ostens oder in der Aufrechterhal-
tung des Ölpreises besteht. Entscheidend ist, daß man sich
mehrere Nutzenfunktionen vorstellen kann. Was Einzelperso-
nen, Firmen oder Regierungen maximieren wollen, ist nicht
immer ohne weiteres zu erkennen. Aber die Annahme, daß sie
irgend etwas maximieren, ist höchstwahrscheinlich richtig. Es
liegt daran, daß der Homo sapiens eine zutiefst von Absichten
beherrschte Spezies ist. Das Prinzip gilt selbst dann noch,
wenn sich herausstellt, daß die Nutzenfunktion einer Abwä-
gung entspringt oder eine andere komplizierte Funktion meh-
rerer Einzelfaktoren ist.

Kehren wir zu den Lebewesen zurück, und versuchen wir,

ihre Nutzenfunktion aufzuspüren. Es könnte viele solche
Funktionen geben, aber interessanterweise wird sich letztlich
zeigen, daß sie sich alle auf eine einzige zurückführen lassen.
Um uns diese Aufgabe drastisch vor Augen zu führen, können
wir uns vorstellen, die Lebewesen seien von einem göttlichen
Ingenieur erschaffen worden, und nun versuchen wir durch
reverse engineering herauszufinden, was dieser Ingenieur ma-
ximieren wollte: Was war Gottes Nutzenfunktion?

Ein Gepard ist allen Anzeichen nach hervorragend zu

einem Zweck gestaltet, und es müßte eigentlich einfach sein,
ihn mit reverse engineering zu untersuchen und seine Nutzen-
funktion herauszufinden. Offenbar ist er so gestaltet, daß er
gut Antilopen töten kann. Zähne, Pranken, Augen, Nase, Bein-
muskeln, Wirbelsäule und Gehirn eines Gepards sind ge-
nauso, wie man es erwarten würde, wenn Gott mit der Kon-
struktion des Gepards die Zahl der getöteten Antilopen maxi-
mieren wollte. Wendet man aber das reverse engineering auf

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eine Antilope an, findet man ebenso eindrucksvolle Anzei-
chen für das genaue Gegenteil: das maximale Überleben der
Antilopen und Unterernährung bei den Geparden. Es ist, als
wäre der Gepard von der einen und die Antilope von einer
anderen, konkurrierenden Gottheit gestaltet worden. Wenn
es andererseits nur einen Schöpfer gibt, der den Tiger und das
Lamm, den Gepard und die Gazelle gemacht hat, was für ein
Spiel spielt Er dann? Ist Er ein Sadist, der Spaß an blutigen
Wettkämpfen hat? Versucht Er, bei den Säugetieren in Afrika
die Überbevölkerung zu vermeiden? Greift Er ein, um die
Einschaltquoten für David Attenboroughs Tierfilme zu maxi-
mieren? Das alles sind nachvollziehbare Nutzenfunktionen,
die theoretisch stimmen könnten. In Wirklichkeit stimmen sie
natürlich nicht. Wir kennen heute die einzige Nutzenfunktion
des Lebens ziemlich genau, und sie ist nichts derartiges.

Welches die tatsächliche Nutzenfunktion ist, die in der Na-

tur maximiert wird, dürfte im ersten Kapitel deutlich gewor-
den sein: das Überleben der DNA. Aber die DNA schwimmt
nicht frei herum; sie ist in lebende Körper eingeschlossen und
muß aus den ihr zur Verfügung stehenden Machtmitteln das
Beste machen. DNA-Sequenzen, die sich in einem Gepardkör-
per befinden, maximieren ihre Überlebenschancen, indem
sie diesen Körper veranlassen, Gazellen zu töten. Sequenzen
in Gazellenkörpern maximieren ihr Überleben, indem sie das
entgegengesetzte Ziel verfolgen. Aber in beiden Fällen wer-
den die Überlebenschancen der DNA maximiert. In diesem
Kapitel möchte ich an ein paar Beispielen das reverse
engineering
praktizieren und zeigen, wie alles zusammen-
paßt, wenn man von der Annahme ausgeht, daß das Überleben
der DNA die maximierte Größe ist.

Das Geschlechterverhältnis - das heißt der Anteil von

Männchen und Weibchen - liegt in Wildpopulationen in der
Regel bei 50:50. Bei den vielen Arten, bei denen eine Minder-
heit der Männchen einen Harem und damit ein Monopol auf

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die Weibchen besitzt, scheint das ökonomisch nicht sehr sinn-
voll zu sein. In einer gut untersuchten Population von See-
Elefanten bestritten 4 Prozent der Männchen 88 Prozent aller
Begattungsakte. Daß Gottes Nutzenfunktion hier so unfair
gegenüber der Mehrheit der Jünglinge ist, macht nichts.
Schlimmer ist etwas anderes: Eine kostenbewußte, auf Effi-
zienz schielende Gottheit müßte feststellen, daß die zu kurz
kommenden 96 Prozent die Nahrungsreserven der Population
zur Hälfte verbrauchen (in Wirklichkeit brauchen sie sogar
mehr als die Hälfte, denn männliche See-Elefanten sind we-
sentlich größer als die Weibchen). Die überzähligen Jungge-
sellen tun nichts anderes als auf eine Gelegenheit zu warten,
bei der sie einen aus der glücklichen Vier-Prozent-Gruppe der
Harembesitzer verdrängen können. Wie läßt sich die Existenz
dieser ungerecht behandelten Herden von Männchen recht-
fertigen? Jede Nutzenfunktion, die auch nur entfernt die öko-
nomische Effizienz der Lebensgemeinschaft berücksichtigt,
würde auf die Junggesellen verzichten. Statt dessen würden
gerade so viele Männchen geboren, daß die Befruchtung der
Weibchen gesichert ist. Auch diese scheinbare Anomalie läßt
sich mit eleganter Einfachheit erklären, wenn man die tatsäch-
liche darwinistische Nutzenfunktion versteht: die Maximie-
rung des Überlebens der DNA.

Ich möchte mich mit dem Beispiel des Geschlechterverhält-

nisses noch ein wenig näher beschäftigen, denn seine Nutzen-
funktion eignet sich besonders gut für eine Betrachtung unter
ökonomischen Gesichtspunkten. Darwin selbst räumte ver-
blüfft ein: »Früher dachte ich, wenn das Bestreben, zwei Ge-
schlechter in gleicher Zahl hervorzubringen, für eine Art vor-
teilhaft ist, müsse das eine Folge der natürlichen Selektion sein,
aber wie ich jetzt sehe, ist das ganze Problem so verzwickt, daß
ich seine Lösung lieber der Zukunft überlassen möchte.« Wie
so oft war es der große Sir Ronald Fisher, der Darwins Zukunft
verkörperte. Seine Überlegung sah folgendermaßen aus:

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Jedes Individuum hat genau einen Vater und eine Mutter.

Der gesamte Fortpflanzungserfolg, gemessen als Zahl der
entfernten Nachkommen, muß deshalb für alle lebenden
Männchen zusammen genauso groß sein wie für alle leben-
den Weibchen. Damit meine ich nicht jedes einzelne männli-
che und weibliche Tier, denn manche Individuen haben ein-
deutig einen größeren Fortpflanzungserfolg als andere, und
das ist auch wichtig. Ich spreche von der Gesamtheit aller
Männchen, verglichen mit der Gesamtheit aller Weibchen.
Diese gesamten Nachkommenschaft muß zwischen den ein-
zelnen Männchen und Weibchen aufgeteilt werden - nicht
gleichmäßig aufgeteilt, aber aufgeteilt. Der Fortpflanzungsku-
chen, der zwischen allen Männchen geteilt wird, ist ebenso
groß wie der Kuchen, der zwischen allen Weibchen zu verge-
ben ist. Sind also beispielsweise in einer Population mehr
Männchen als Weibchen vorhanden, erhält jedes einzelne
Männchen im Durchschnitt ein kleineres Stück von dem Ku-
chen als ein einzelnes Weibchen. Daraus folgt, daß der durch-
schnittliche Fortpflanzungserfolg (das heißt, die zu erwar-
tende Zahl der Nachkommen) eines Männchens im Vergleich
zu dem eines Weibchens ausschließlich vom Geschlechterver-
hältnis bestimmt wird. Ein durchschnittliches Tier mit dem
Geschlecht der Minderheit hat einen größeren Fortpflan-
zungserfolg als ein Tier, das zum mehrheitlich vorhandenen
Geschlecht gehört. Nur wenn das Geschlechterverhältnis aus-
geglichen ist, so daß es keine Minderheit gibt, erfreuen sich
beide Geschlechter des gleichen Fortpflanzungserfolges.
Diese bemerkenswert einfache Schlußfolgerung ergibt sich
aus rein theoretischen Überlegungen. Sie ist von keinerlei
empirischen Tatsachen abhängig, abgesehen von der grundle-
genden Erkenntnis, daß jedes Kind einen Vater und eine
Mutter hat.

Das Geschlecht wird in der Regel bei der Befruchtung

festgelegt, und deshalb könnte man annehmen, daß man oder

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125

frau (die umständliche Formulierung ist hier kein Ritual, son-
dern eine Notwendigkeit) darauf keinen Einfluß hat. Unter-
stellen wir aber nun einmal wie Fisher, ein Elternteil habe die
Macht, das Geschlecht seiner Nachkommen festzulegen. Mit
»Macht« meine ich natürlich kein bewußtes oder absichtliches
Eingreifen. Aber in der Scheide einer Mutter könnten bei-
spielsweise aufgrund einer genetischen Veranlagung chemi-
sche Verhältnisse herrschen, die für Samenzellen mit den
Anlagen für einen Sohn etwas ungünstiger sind als für Zellen,
aus denen eine Tochter entsteht. Oder ein Vater produziert
aufgrund einer genetischen Veranlagung etwas mehr Samen-
zellen, aus denen Töchter entstehen, als solche, aus denen
Söhne hervorgehen. Wie es in der Praxis auch aussehen mag:
Stellen wir uns einmal vor, man solle als Elternteil entschei-
den, ob man einen Sohn oder eine Tochter haben will. Auch
hier reden wir nicht von bewußten Entscheidungen, sondern
über die Auswahl von Gengenerationen, die durch ihre Wir-
kung auf den Körper das Geschlecht der Nachkommen beein-
flussen.

Wenn man die Zahl der Enkelkinder maximieren will, soll

man dann einen Sohn oder eine Tochter bekommen? Wie
wir bereits gesehen haben, sollte das Kind dem Geschlecht
angehören, das in der Population in der Minderheit ist, denn
dann kann es mit einem größeren Anteil an der gesamten
Fortpflanzungstätigkeit rechnen, und das führt zu einer rela-
tiv großen Zahl von Enkeln. Ist kein Geschlecht in kleinerer
Zahl vertreten als das andere - liegt also das Verhältnis bei
50:50 -, nützt es nichts, eines der beiden Geschlechter zu
bevorzugen. Ob man einen Sohn oder eine Tochter hat,
spielt dann keine Rolle. Deshalb bezeichnet man ein Ge-
schlechterverhältnis von 50:50 als entwicklungsgeschichtlich
stabil, um einen von dem großen britischen Evolutionsbiolo-
gen John Maynard Smith geprägten Begriff zu verwenden.
Nur wenn das bestehende Geschlechterverhältnis nicht 50:50

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beträgt, zahlt sich eine einseitige Bevorzugung aus. Die
Frage, warum ein Individuum die Zahl seiner Enkel und
späteren Nachkommen maximieren soll, braucht man eigent-
lich kaum zu stellen. Gene, die ihren Körper dazu veranlas-
sen, die Zahl der Nachkommen zu maximieren, verbreiten
sich am stärksten. Die Tiere, die wir heute sehen, haben die
Gene erfolgreicher Vorfahren geerbt.

Man ist leicht versucht, Fishers Theorie so auszudrücken,

daß man 50:50 als »optimales« Geschlechterverhältnis be-
zeichnet, aber das ist eigentlich nicht ganz richtig. Sind Männ-
chen in der Minderheit, ist es für das Kind optimal, wenn es
männlich ist, und bei weniger Weibchen ist das weibliche
Geschlecht optimal. Ist kein Geschlecht in der Minderheit,
gibt es auch kein Optimum. Dann üben gut gestaltete Eltern
keinen Einfluß darauf aus, ob ein Sohn oder eine Tochter
geboren wird. Das Verhältnis von 50:50 bezeichnet man als
entwicklungsgeschichtlich stabil, weil die natürliche Selek-
tion keine Abweichungen von diesen Zahlen begünstigt, und
wenn solche Abweichungen auftreten, wirkt sie darauf hin,
daß das Gleichgewicht wiederhergestellt wird.

Wie Fisher außerdem erkannte, hält die natürliche Selek-

tion die Zahl der Männchen und Weibchen nicht unbedingt
genau bei 50:50, sondern den von ihm so genannten »Eltern-
aufwand« für Söhne und Töchter. Der Elternaufwand ist das
ganze hart erkämpfte Futter, das dem Kind ins Maul gestopft
wird, die gesamte Zeit und Energie für seine Versorgung, die
man auch für etwas anderes aufwenden könnte, beispiels-
weise für die Pflege eines weiteren Kindes. Nehmen wir zum
Beispiel einmal an, die Eltern wenden bei irgendeiner Rob-
benart in der Regel für die Aufzucht eines Sohnes doppelt
soviel Zeit und Energie auf wie für eine Tochter. Robbenbul-
len sind im Vergleich zu den Weibchen so massig, daß man
sich so etwas leicht vorstellen kann (auch wenn es in Wirklich-
keit vermutlich nicht ganz stimmt). Überlegen wir nun, was

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127

das bedeutet. Die Eltern stehen nicht vor der Wahl, einen Sohn
oder eine Tochter zu haben, sondern die Alternative lautet:
einen Sohn oder zwei Töchter. Der Grund ist, daß man mit der
zur Aufzucht eines Sohnes notwendigen Nahrung und ande-
ren Gütern auch zwei Töchter großziehen könnte. Das ent-
wicklungsgeschichtlich stabile Geschlechterverhältnis, ge-
messen an der Zahl der Körper, liegt also bei einem Männchen
zu zwei Weibchen. Mißt man es aber nicht an der Zahl der
Individuen, sondern am Ausmaß des Elternaufwandes, be-
trägt das entwicklungsgeschichtlich stabile Geschlechterver-
hältnis immer noch 50:50. Fishers Theorie postuliert ein
Gleichgewicht im Elternaufwand für beide Geschlechter, und
das ist, wie sich herausstellt, oft gleichbedeutend mit einem
ausgeglichenen Zahlenverhältnis bei den Individuen.

Wie ich schon erwähnt habe, gibt es offenbar selbst bei

Robben keinen großen Unterschied im Elternaufwand für
Söhne und Töchter. Die großen Gewichtsunterschiede entste-
hen anscheinend erst, wenn die elterliche Fürsorge zu Ende
ist. Die Frage für die Eltern lautet also immer noch: Soll ich
einen Sohn oder eine Tochter haben? Auch wenn das Heran-
reifen bis zum Erwachsenenalter bei einem Sohn mehr Auf-
wand erfordert als bei einer Tochter, spielt das nach Fishers
Theorie keine Rolle, solange die zusätzliche Belastung nicht
von denen getragen wird, bei denen die Entscheidung liegt
(also von den Eltern).

Fishers Regel vom ausgewogenen Aufwand gilt auch dann,

wenn ein Geschlecht eine wesentlich höhere Sterblichkeit hat
als das andere. Nehmen wir beispielsweise einmal an, daß
männliche Babys häufiger sterben als weibliche. Dann sind
Frauen, wenn das Geschlechterverhältnis bei der Befruchtung
genau 50:50 beträgt, im Erwachsenenalter in der Überzahl.
Männer sind also die Minderheit, und nun würde man naiver-
weise erwarten, daß die natürliche Selektion Eltern begün-
stigt, die sich auf Söhne spezialisieren. Fisher würde ebenfalls

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128

damit rechnen, aber nur bis zu einem bestimmten, genau
festgelegten Punkt. Nach seinen Überlegungen würden die
Eltern nicht so viele zusätzliche Söhne hervorbringen, daß die
Säuglingssterblichkeit genau ausgeglichen wäre und im fort-
pflanzungsfähigen Alter Zahlengleichheit herrscht. Das Ge-
schlechterverhältnis bei der Befruchtung wäre zwar etwas
nach der männlichen Seite verschoben, aber nur so weit, daß
für die Söhne mit einem ebenso großen Aufwand zu rechnen
ist wie für die Töchter.

Auch hier macht man sich die Sache am besten klar, wenn

man sich in die Lage des Elternteils versetzt, der sich entschei-
den muß. Man fragt: »Soll ich eine Tochter haben, die vermut-
lich überleben wird, oder einen Sohn, der möglicherweise als
Säugling stirbt?« Die Entscheidung, Enkel auf dem Weg über
einen Sohn hervorzubringen, ist mit der Wahrscheinlichkeit
verbunden, daß man mehr Aufwand in einige zusätzliche
Söhne investieren muß, welche die verstorbenen ersetzen.
Man kann sich das so vorstellen, daß jeder überlebende Sohn
die Geister seiner verstorbenen Brüder mit sich herum-
schleppt. »Herumschleppen« bedeutet: Die Entscheidung, zu
den Enkeln den Weg über den Sohn einzuschlagen, belastet
die Eltern mit zusätzlichem Aufwand, den sie auf tote männli-
che Säuglinge verschwendet haben. Fishers Grundregel gilt
auch hier. Die Gesamtmenge an Material und Energie, die in
Söhne investiert wird (einschließlich der Nahrung, mit der die
Söhne, die sterben, bis zu ihrem Tod gefüttert werden) ist
ebenso groß wie die Gesamtmenge, die den Töchtern gewid-
met ist.

Wie sieht es aus, wenn die Sterblichkeit unter den männli-

chen Nachkommen nicht bereits im Säuglingsalter höher ist,
sondern erst später, wenn die Eltern keinen Aufwand mehr
treiben müssen? Das ist tatsächlich oft der Fall, denn vielfach
kämpfen die ausgewachsenen Männchen miteinander und
verletzen sich dabei. Auch das führt in der fortpflanzungsfähi-

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129

gen Generation zu einem Weibchenüberschuß. Vor diesem
Hintergrund sieht es so aus, als wären Eltern, die sich auf
Söhne spezialisieren, begünstigt, weil sie den Mangel an
Männchen in der Population ausnutzen. Bei genauerem Hin-
sehen stellt man jedoch fest, daß diese Überlegung falsch ist.
Die Eltern stehen vor folgender Entscheidung: »Soll ich einen
Sohn haben, der wahrscheinlich im Kampf ums Leben kommt,
nachdem ich ihn großgezogen habe, der aber andererseits
mehr Enkel zeugt, falls er überlebt? Oder soll ich lieber eine
Tochter haben, die mir mit ziemlicher Sicherheit die durch-
schnittliche Anzahl Enkel verschafft?« Die Zahl der Enkel, mit
denen man mittels eines Sohnes rechnen kann, ist auch hier
ebenso groß wie diejenige, die im Durchschnitt mit einer
Tochter zu erwarten ist. Und der Aufwand für die Zeugung
eines Sohnes bedeutet auch, ihn zu füttern und zu beschützen,
bis er das Nest verläßt. Die Tatsache, daß er danach vermutlich
stirbt, beeinflußt die Rechnung nicht.

Bei allen diesen Überlegungen ging Fisher von der An-

nahme aus, daß die »Entscheidung« bei den Eltern liegt. Wird
sie von einem anderen getroffen, ändert sich die Berechnung.
Nehmen wir beispielsweise an, ein Individuum könne sein
eigenes Geschlecht beeinflussen. Auch hier meine ich mit
»beeinflussen« keine bewußte Absicht, sondern ich unter-
stelle hypothetisch Gene, welche die Entwicklung eines Indi-
viduums in die männliche oder weibliche Richtung lenken, je
nachdem, welche Umwelteinflüsse auf sie wirken. Der bishe-
rigen Übereinkunft folgend, bediene ich mich auch hier zur
Vereinfachung der gleichen Ausdrucksweise wie bei der ab-
sichtlichen Entscheidung eines Individuums, das in diesem
Fall sein eigenes Geschlecht bestimmt. Hätten Tiere wie die
See-Elefanten, bei denen das Haremsystem gilt, diese Wahl-
möglichkeit, wären die Folgen dramatisch. Jedes Individuum
würde sich darum bemühen, zu einem männlichen Harembe-
sitzer zu werden. Aber wenn das nicht gelänge, würde es

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130

lieber zu einem Weibchen als zu einem männlichen Jungge-
sellen werden. Das Geschlechterverhältnis in der Population
würde sich stark zugunsten der Weibchen verschieben. Leider
wird das Geschlecht der See-Elefanten aber bei der Befruch-
tung festgelegt, und sie können es sich später nicht anders
überlegen. Bei manchen Fischen ist das jedoch möglich. Die
großen, bunten Männchen des Blaukopfes aus der Gruppe der
Lippfische halten sich einen Harem aus unauffällig gefärbten
Weibchen. Manche Weibchen sind größer als andere, und
unter ihnen gibt es eine Dominanzhierarchie. Stirbt das Männ-
chen, nimmt das größte Weibchen sehr schnell seinen Platz
ein und verwandelt sich in ein leuchtend gefärbtes männli-
ches Tier. Diese Fische picken sich auf beiden Seiten die
Rosinen heraus. Sie vergeuden ihr Leben nicht als Junggesel-
len, die auf den Tod des Harembesitzers warten, sondern sind
in dieser Zeit als fruchtbare Weibchen tätig. Die Blauköpfe
haben ein ausgefallenes System der Geschlechterverhältnisse;
hier fällt Gottes Nutzenfunktion mit etwas zusammen, das ein
Wirtschaftswissenschaftler als umsichtig bezeichnen würde.
Jetzt haben wir uns mit den Eltern und dem Individuum
selbst als Entscheidungsträger beschäftigt. Wer könnte sonst
noch die Entscheidung treffen? Bei den staatenbildenden In-
sekten liegen Investitionsentscheidungen zu einem großen
Teil bei den sterilen Arbeiterinnen, und die sind normaler-
weise ältere Schwestern (und bei den Termiten auch Brüder)
der Jungen, die gerade großgezogen werden. Zu den bekann-
teren staatenbildenden Insekten gehören die Honigbienen.
Die Imker unter meinen Lesern werden bereits erkannt ha-
ben, daß das Geschlechterverhältnis in einem Bienenstock auf
den ersten Blick nicht Fishers Erwartungen zu entsprechen
scheint. Dabei ist zunächst einmal festzuhalten, daß man die
Arbeiterinnen nicht als Weibchen betrachten sollte. Biolo-
gisch gesehen, sind sie das zwar, aber sie pflanzen sich nicht
fort; das Geschlechterverhältnis bestimmt sich also nach

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131

Fishers Theorie durch die Zahl der Drohnen (Männchen) und
der neuen Königinnen, die der Stock hervorbringt. Aus beson-
deren biologischen Gründen, die ich in Das egoistische Gen
erörtert habe und hier nicht noch einmal wiederholen
möchte, erwartet man bei Bienen und Ameisen ein Geschlech-
terverhältnis von 3:1 zugunsten der Weibchen. In Wirklichkeit
ist es aber weit davon entfernt. Es bevorzugt, wie jeder Imker
weiß, stark die Männchen. Ein gesunder Stock bringt in einer
Saison vielleicht ein halbes Dutzend neue Königinnen hervor,
aber Hunderte oder sogar Tausende von Drohnen.

Was ist da los? Die Antwort verdanken wir, wie so oft in der

modernen Evolutionstheorie, dem heute in Oxford tätigen W.
D. Hamilton. Sie ist höchst aufschlußreich und faßt in gedräng-
ter Form die gesamte auf Fisher zurückgehende Theorie der
Geschlechterverhältnisse zusammen. Der Schlüssel zum Rät-
sel des Geschlechterverhältnisses bei Bienen liegt im Phäno-
men des Schwärmens. Ein Bienenstock verhält sich in vielerlei
Hinsicht wie ein einzelnes Tier. Er reift heran, pflanzt sich fort
und geht schließlich zugrunde. Das Produkt seiner Fortpflan-
zung ist ein Schwarm. Wenn ein Bienenvolk gut gedeiht,
bringt es im Hochsommer eine Tochterkolonie hervor: den
Schwarm. Die Produktion von Schwärmen entspricht beim
Bienenvolk der Fortpflanzung. Wenn der Stock eine Fabrik ist,
dann ist der Schwarm ihr Produkt, das die kostbaren Gene der
Kolonie mitnimmt. Ein Schwarm besteht aus einer Königin
und mehreren tausend Arbeiterinnen. Sie verlassen den elter-
lichen Bienenstock und sammeln sich in einer dichten
Traube, die an einem Ast oder Felsen hängt. Das ist ihr vor-
übergehendes Lager, während sie nach einer neuen dauerhaf-
ten Unterkunft Ausschau halten. Innerhalb weniger Tage fin-
den sie eine Höhle oder einen hohlen Baumstamm (oder sie
werden, was heute häufiger der Fall ist, von einem Imker -
vielleicht ihrem ursprünglichen Besitzer - eingefangen und
in einem neuen Stock untergebracht).

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132

Ein gesundes Bienenvolk hat die Aufgabe, Tochterschwärme

hervorzubringen. Der erste Schritt besteht dabei in der Auf-
zucht einer neuen Königin. Gewöhnlich wird etwa ein halbes
Dutzend neue Königinnen produziert, von denen aber nur
eine überlebt. Diejenige, die als erste schlüpft, sticht alle
anderen tot. (Die überzähligen Königinnen sind vermutlich
nur zur Sicherheit vorhanden.) Genetisch sind Königinnen
und Arbeiterinnen nicht zu unterscheiden; aber die Königin-
nen werden in speziellen Weiselzellen großgezogen, die un-
ter den Waben hängen, und erhalten eine besonders reichhal-
tige Ernährung. Zu ihrer Nahrung gehört auch das Gelée
royale, jene Substanz, der die Schriftstellerin Dame Barbara
Cartland romantischerweise ihr langes Leben und ihre könig-
liche Haltung zu verdanken meint. Die Arbeiterinnen wachsen
in kleineren Zellen heran, die später auch den Honig aufneh-
men. Drohnen sind genetisch anders. Sie gehen aus unbe-
fruchteten Eiern hervor. Bemerkenswerterweise liegt es an
der Königin, ob ein Ei zu einer Drohne oder einem Weibchen
(Königin/Arbeiterin) wird. Die Königin paart sich ausschließ-
lich auf einem einzigen Hochzeitsflug zu Beginn ihres Er-
wachsenenalters und speichert den Samen während des gan-
zen restlichen Lebens in ihrem Körper. Wenn dann die Eizel-
len durch den Eileiter wandern, entläßt sie zur Befruchtung
jeweils eine kleine Samenportion aus dem Speicher oder auch
nicht. Die Königin bestimmt also bei den Eizellen das Ge-
schlechterverhältnis. Später scheint aber alle Macht bei den
Arbeiterinnen zu liegen, denn sie sorgen für die Ernährung
der Larven. Sie könnten beispielsweise männliche Larven ver-
hungern lassen, wenn die Königin (aus ihrer Sicht) zu viele
produziert hat. Und ob aus einem weiblichen Ei eine Königin
oder eine Arbeiterin wird, bestimmen ohnehin die Arbeiterin-
nen, denn das hängt ausschließlich von den Aufzuchtbedin-
gungen und insbesondere von der Ernährung ab.
Kehren wir nun zu der Frage des Geschlechterverhältnisses

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133

zurück und sehen wir uns an, welche Entscheidung auf die
Arbeiterinnen zukommt. Wie wir gesehen haben, bestimmen
sie im Gegensatz zur Königin nicht darüber, ob sie Söhne oder
Töchter hervorbringen, sondern ob sie Brüder (Drohnen)
oder Schwestern (junge Königinnen) produzieren. Und damit
sind wir wieder bei der Hauptfrage. Das tatsächliche Ge-
schlechterverhältnis ist offenbar stark zugunsten der Männ-
chen verschoben, was aus Fishers Sicht keinen Sinn ergibt.
Sehen wir uns aber die Entscheidung der Arbeiterinnen ein-
mal ein wenig genauer an. Sie haben, wie gesagt, die Wahl
zwischen Brüdern und Schwestern. Aber Moment mal! Die
Entscheidung, einen Bruder großzuziehen, ist genau das: sie
verpflichtet den Stock, Nahrung und andere Ressourcen zur
Aufzucht einer Drohne aufzuwenden. Aber die Entscheidung,
eine neue Königin heranzuziehen, verpflichtet den Stock zu
viel mehr als nur dazu, den Körper einer einzigen Königin zu
ernähren. Sie bedeutet die Verpflichtung, einen Schwarm her-
vorzubringen. Der tatsächliche Aufwand für eine neue Köni-
gin besteht nur zu einem verschwindend geringen Teil aus
dem bißchen Gelée royale und den übrigen Nährstoffen, die
sie zu sich nimmt. Viel entscheidender ist der Aufwand zur
Produktion der vielen tausend Arbeiterinnen, die dem Bie-
nenstock verlorengehen, wenn der Schwarm sich von ihm
trennt.

Das ist mit ziemlicher Sicherheit die wahre Erklärung für

das scheinbar anormale Übergewicht der Männchen beim
Geschlechterverhältnis. Es handelt sich um ein Extrembei-
spiel für etwas, über das ich schon gesprochen habe. Nach
Fishers Regel muß der Aufwand für Männchen und Weibchen
gleich sein, nicht die Kopfzahl der männlichen und weib-
lichen Tiere. Der Aufwand für eine neue Königin schließt auch
gewaltige Anstrengungen für Arbeiterinnen ein, die dem Volk
sonst nicht verlorengehen würden. Es ist das gleiche Prinzip
wie bei unserer hypothetischen Robbenpopulation, bei der

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134

die Aufzucht des einen Geschlechts doppelt soviel »kostet«
wie die des anderen, so daß dieses Geschlecht nur halb so
zahlreich ist. Bei den Bienen erfordert eine Königin hundert-
oder tausendmal soviel Aufwand wie eine Drohne, denn mit
ihr verbindet sich der Aufwand für alle zusätzlichen Arbeite-
rinnen, die für den Schwarm gebraucht werden. Deshalb sind
Königinnen hundertmal weniger zahlreich als Drohnen. Und
diese seltsame Geschichte hat noch einen weiteren Dreh: In
dem Schwarm, der den Stock verläßt, befindet sich nicht die
neue Königin, sondern die alte. Die Ökonomie bleibt aber die
gleiche. Die Entscheidung, eine neue Königin heranzufüttern,
beinhaltet die Entstehung eines Schwarms, der die alte Köni-
gin zu ihrem neuen Zuhause begleitet.

Um unsere Erörterung des Geschlechterverhältnisses abzu-

runden, kehren wir noch einmal zu dem Rätsel des Harems
zurück, von dem wir ausgegangen waren, jener verschwende-
rischen Situation, in der eine große Herde männlicher Jungge-
sellen fast die Hälfte (oder sogar mehr als die Hälfte) der
Nahrungsressourcen einer Population verbraucht, ohne sich
jemals fortzupflanzen oder sonst etwas Nützliches zu tun. Das
ökonomische Wohlergehen der Population ist hier ganz offen-
sichtlich nicht maximiert. Was ist los? Versetzen wir uns noch
einmal in die Lage dessen, der die Entscheidung zu treffen hat,
beispielsweise einer Mutter, die »entscheidet«, ob sie die Zahl
ihrer Enkel mit einem Sohn oder mit einer Tochter maximie-
ren kann. Auf den naiven ersten Blick scheint die Lösung
eindeutig zu sein: »Soll ich einen Sohn haben, der vermutlich
Junggeselle bleibt und mir überhaupt keine Enkel schenkt,
oder eine Tochter, die wahrscheinlich in einem Harem endet
und mir eine beträchtliche Zahl von Enkeln verschafft?« Die
richtige Antwort für eine solche Mutter in spe lautet: »Aber
wenn du einen Sohn hast, könnte er sich einen Harem zule-
gen, und dann zeugt er dir viel mehr Enkel, als du mit einer
Tochter jemals bekommen kannst.« Nehmen wir der Einfach-

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135

heit halber einmal an, daß alle Weibchen sich mit der gleichen
Durchschnittshäufigkeit fortpflanzen und daß neun von zehn
Männchen niemals Nachkommen haben, während jedes
zehnte Männchen das Monopol über die Weibchen besitzt.
Wenn man eine Tochter hat, kann man mit der durchschnittli-
chen Zahl von Enkeln rechnen. Mit einem Sohn besteht eine
Möglichkeit von neunzig Prozent, daß überhaupt keine Enkel
entstehen, und eine Chance von zehn Prozent, daß er das
Zehnfache der Durchschnittszahl von Nachkommen hervor-
bringt. Die durchschnittliche Zahl von Enkeln, mit der man
rechnen kann, ist also mit Sohn und Tochter die gleiche.
Deshalb begünstigt die natürliche Selektion ein Geschlechter-
verhältnis von 50:50, obwohl ökonomische Überlegungen auf
der Ebene der Art einen Weibchenüberschuß verlangen.
Fishers Regel gilt auch hier.

Ich habe alle diese Überlegungen unter dem Gesichtspunkt

von »Entscheidungen« einzelner Tiere dargelegt, aber - ich
wiederhole es nochmals - das ist nur eine verkürzte Aus-
drucksweise. In Wirklichkeit werden Gene »für« die Maximie-
rung der Zahl von Enkeln im gesamten Genbestand immer
häufiger. Die Welt füllt sich mit Genen, die sich über die
Zeiten hinweg behauptet haben. Und wie soll ein Gen sich
über die Zeiten hinweg behaupten, wenn es nicht die Ent-
scheidungen der Individuen so beeinflußt, daß sie die Zahl
ihrer Nachkommen maximieren? Fishers Theorie von den
Geschlechterverhältnissen erklärt, wie diese Maximierung zu-
stande kommt, und das geschieht ganz anders als die Maximie-
rung des ökonomischen Wohlergehens einer Art oder einer
Population. Es gibt eine Nutzenfunktion, aber sie sieht ganz
anders aus als diejenige, die unserem menschlichen, ökono-
misch orientierten Geist als erstes einfallen würde.

Die Verschwendung bei der Haremswirtschaft läßt sich fol-

gendermaßen zusammenfassen: Die Männchen beschäftigen
sich nicht mit nützlichen Tätigkeiten, sondern vergeuden

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136

Energie und Kraft in nutzlosen Konkurrenzkämpfen. Das
stimmt, auch wenn man die Nützlichkeit im darwinistischen
Sinne im Zusammenhang mit der Aufzucht von Nachkommen
definiert. Würden die Männchen die Energie, die sie mit ihren
Konkurrenzkämpfen vergeuden, in nützliche Kanäle lenken,
könnte die Spezies insgesamt bei geringerem Kraft- und Nah-
rungsverbrauch mehr Junge großziehen.

Ein Rationalisierungsexperte würde die Welt der See-Elefan-

ten entgeistert anstarren. Man kann sich eine ungefähre Paral-
lele ausmalen. Eine Werkstatt braucht für ihren Betrieb nicht
mehr als zehn Leute, denn es gibt dort nur zehn Drehbänke.
Aber die Firmenleitung stellt nicht zehn, sondern hundert
Arbeitskräfte ein. Alle hundert kommen jeden Tag und kas-
sieren ihren Lohn. Dann verbringen sie den Tag damit, um
die Plätze an den zehn Drehbänken zu kämpfen. Dort werden
dann auch Waren produziert, aber höchstens so viele, wie man
auch mit zehn Leuten erzeugen könnte, und vermutlich sogar
weniger, weil die hundert Angestellten so mit Kämpfen be-
schäftigt sind, daß sie die Drehbänke nicht mehr effizient
nutzen können. Der Rationalisierungsexperte würde nicht
lange zaudern. Da neunzig Prozent der Arbeitskräfte überflüs-
sig sind, werden sie auch offiziell so bezeichnet und entlassen.

Die männlichen Tiere verschwenden ihre Mühe nicht nur

auf körperliche Auseinandersetzungen - wobei »Verschwen-
dung« auch hier aus der Sicht des menschlichen Betriebswirts
oder Rationalisierungsexperten definiert ist. In vielen Fällen
gibt es auch eine Schönheitskonkurrenz. Damit sind wir bei
einer anderen Nutzenfunktion, die wir Menschen zu würdi-
gen wissen, obwohl sie wirtschaftlich nicht unmittelbar sinn-
voll erscheint: beim ästhetischen Wert. Betrachtet man ihn,
sieht es fast so aus, als wäre Gottes Nutzenfunktion manchmal
an den Maßstäben der (inzwischen glücklicherweise aus der
Mode gekommenen) Miss-World-Wettbewerbe ausgerichtet,
nur daß hier die Männer über den Laufsteg schreiten. Am

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137

deutlichsten erkennt man das an den Balzplätzen von Vögeln
wie Waldhuhn oder Haustaube. Am Balzplatz zeigen sich die
Männchen traditionell den weiblichen Vögeln. Die Weibchen
suchen diesen Ort auf und beobachten das Renommierge-
habe der Männchen, bevor sie sich eines aussuchen und mit
ihm kopulieren. Die Männchen sind bei solchen Vogelarten
oft bizarr geschmückt und zeigen das mit Verbeugungen und
Tänzelbewegungen oder mit ebenso bemerkenswerten, selt-
samen Geräuschen. Das Wort »bizarr« ist natürlich eine sub-
jektive Werbung. Wahrscheinlich erscheinen die Männchen
des nordamerikanischen Steppenhuhns, die sich bei der Balz
aufplustern und Geräusche wie beim Ziehen eines Korkens
von sich geben, ihren Weibchen durchaus nicht bizarr, und
das ist das einzig Entscheidende. In manchen Fällen haben die
Vogelweibchen offenbar zufällig die gleichen Vorstellungen
von Schönheit wie wir, und dann ist die Folge ein Pfau oder
ein Paradiesvogel.

Der Gesang der Nachtigall, der Schwanz eines Fasans, das

Aufblitzen der Glühwürmchen und die Regenbogenfarben
der Fische an tropischen Korallenriffen - all das sind Maximie-
rungen der Schönheit. Aber die Schönheit dient nicht - oder
nur zufällig - dazu, die Menschen zu erfreuen. Wenn wir das
Schauspiel genießen, ist das eine Zugabe, ein Nebeneffekt.
Gene, die ein Männchen für das Weibchen attraktiver machen,
werden automatisch mit dem digitalen Fluß in die Zukunft
getragen. Es gibt nur eine Nutzenfunktion, durch die solche
Schönheiten sinnvoll werden; es ist die gleiche, die auch das
Geschlechterverhältnis der See-Elefanten bestimmt, Gepar-
den und Antilopen scheinbar nutzlos um die Wette laufen läßt
sowie dem Kuckuck und der Laus, den Augen und Ohren und
Luftröhren, den sterilen Arbeiterinnen und den äußerst
fruchtbaren Bienenköniginnen ihre Eigenschaften verleiht.
Die große universelle Nutzenfunktion, die Größe, die in je-
dem Winkel der belebten Natur gewissenhaft maximiert wird,

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138

ist in allen Fällen das Überleben der DNA, die für die fragli-
chen Eigenschaften verantwortlich ist.

Der Pfau ist mit soviel schwerem, sperrigem Schmuck bela-

den, daß seine Möglichkeiten, etwas Nützliches zu tun, ernst-
haft behindert wären, selbst wenn er sich zu nützlicher Tätig-
keit bemüßigt fühlte - was im großen und ganzen nicht der
Fall ist. Männliche Singvögel verwenden gefährlich viel Zeit
und Energie auf das Singen. Das setzt sie mit Sicherheit einer
Bedrohung aus, nicht nur weil es natürliche Feinde anlockt,
sondern auch weil es Energie verbraucht und Zeit in Anspruch
nimmt, die der Vogel sonst zum Auffüllen seiner Energiereser-
ven nutzen könnte. Ein Biologe, der sich mit Zaunkönigen
beschäftigt hatte, behauptete einmal, eines seiner wilden
Männchen habe sich buchstäblich zu Tode gesungen. Jede
Nutzenfunktion, die das langfristige Wohlergehen der Art
oder auch das dauerhafte Überleben des jeweiligen Männ-
chens zum Ziel hat, würde das Ausmaß des Gesanges, des
Imponiergehabes oder der Kämpfe zwischen den männlichen
Vögeln einschränken. In Wirklichkeit wird aber das Überle-
ben der DNA maximiert, und deshalb kann nichts die Ausbrei-
tung von DNA aufhalten, die keinen anderen Nutzeffekt hat als
dafür zu sorgen, daß die Männchen den Weibchen schön
erscheinen. Schönheit ist selbst keine absolute Tugend. Aber
wenn ein paar Gene den Männchen irgendeine Eigenschaft
verleihen, die für die Weibchen begehrenswert ist, werden
diese Gene nolens volens überleben.

Warum sind die Bäume im Wald so groß? Ganz einfach: um

die konkurrierenden Bäume zu überragen: Eine »sinnvolle«
Nutzenfunktion würde dafür sorgen, daß sie alle klein blei-
ben. Dann würden sie genau die gleiche Menge Sonnenlicht
aufnehmen, und das mit wesentlich weniger Aufwand für
dicke Stämme und gewaltige Stützstrukturen. Aber wenn sie
alle kurz wären, müßte die natürliche Selektion zwangsläufig
eine Variante begünstigen, die ein wenig länger wird. Und

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wenn der Vorreiter größer ist, müssen die anderen ihm auf
dem Fuße folgen. Das ganze Spiel der Eskalation setzt sich
unaufhaltsam fort, bis schließlich alle Bäume lächerlich und
verschwenderisch groß sind. Aber lächerlich und verschwen-
derisch ist es nur vom Standpunkt eines rational-wirtschaftlich
planenden Denkens aus, bei dem es um die Maximierung der
Effizienz geht. Durchaus sinnvoll ist es dagegen, wenn man die
wahre Nutzenfunktion der Bäume versteht: Die Gene maxi-
mieren ihr eigenes Überleben. Vergleiche aus dem Alltags-
leben gibt es zur Genüge. Auf einer Cocktailparty schreit man
sich heiser. Warum? Weil alle anderen auch so laut wie mög-
lich reden. Wenn alle Gäste sich darauf einigen könnten, nur
noch zu flüstern, würden sie einander genausogut verstehen,
und das mit wesentlich weniger Stimmanstrengung und Ener-
gieverbrauch. Aber solche Übereinkünfte funktionieren nur
dann, wenn sie überwacht werden. Irgend jemand bringt sie
immer zu Fall, indem er aus Egoismus ein wenig lauter redet,
und nun müssen die anderen nacheinander mitziehen. Ein
stabiles Gleichgewicht stellt sich erst dann ein, wenn alle so
laut reden, wie es ihnen körperlich möglich ist, und dann ist
die Lautstärke viel größer, als es unter »rationalen« Gesichts-
punkten notwendig wäre. Immer wieder werden Beschrän-
kungen, die der Kooperation dienen, Opfer ihrer inneren
Instabilität. Gottes Nutzenfunktion erweist sich nur selten als
größtmöglicher Nutzen für die größtmögliche Zahl. Gottes
Nutzenfunktion verrät immer wieder ihre Herkunft aus einem
unkoordinierten Durcheinander, in dem es um egoistischen
Gewinn geht.

Die Menschen neigen oft zu der liebenswerten Annahme,

Wohlergehen bedeute Wohlergehen der Gruppe, »Gutes« sei
gut für die Gesellschaft, für das zukünftige Wohl der Spezies
oder sogar des Ökosystems. Aber Gottes Nutzenfunktion, die
sich aus der Untersuchung aller Haken und Ösen der natürli-
chen Selektion ergibt, erweist sich leider als unvereinbar mit

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140

solchen utopischen Vorstellungen. Sicher, in manchen Fällen
maximieren die Gene das egoistische Wohlergehen auf ihrer
eigenen Ebene, indem sie dafür sorgen, daß das Lebewesen
auf seiner Ebene selbstlos kooperiert oder sich sogar opfert.
Aber das Wohlergehen der Gruppe ist immer eine zufällige
Folge und kein vorrangiger Antrieb. Das ist die Bedeutung des
Begriffs vom »egoistischen Gen«.

Ich möchte noch einen anderen Gesichtspunkt von Gottes

Nutzenfunktion betrachten und beginne dazu mit einer Analo-
gie. Der darwinistische Psychologe Nicholas Humphrey be-
richtete etwas Aufschlußreiches über Henry Ford. Er sagte,
angeblich habe Ford, der Schutzheilige der Produktionseffi-
zienz, einmal

eine Untersuchung über Autopannen in den USA in Auf-
trag gegeben, um herauszufinden, ob es am Modell T Teile
gab, die nie versagten. Seine Mitarbeiter lieferten Berichte
über alle möglichen Pannenursachen: Achsen, Bremsen,
Kolben - alles konnte kaputtgehen. Aber sie machten auch
auf eine bemerkenswerte Ausnahme aufmerksam: Die
Achsschenkelbolzen der defekten Autos hatten stets noch
mehrere Lebensjahre vor sich. Mit erbarmungsloser Logik
zog Ford daraus den Schluß, die Achsschenkelbolzen seien
für ihre Aufgaben zu gut, und er ordnete an, daß ihre
Herstellung von nun an geringeren Anforderungen genü-
gen solle.

Vielleicht wissen Sie, wie ich, nicht genau, was Achsschenkel-
bolzen sind, aber das spielt keine Rolle. Sie sind ein unent-
behrlicher Teil eines Autos, und Fords angebliche Erbar-
mungslosigkeit war tatsächlich völlig logisch. Die Alternative
hätte darin bestanden, alle anderen Bauteile zu verbessern, so
daß sie dem Standard der Achsschenkelbolzen entsprachen.
Aber dann hätte er kein Modell T hergestellt, sondern einen

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141

Rolls-Royce, und das war nicht der Zweck der Übung. Einen
Rolls-Royce herzustellen, ist eine ansehnliche Aufgabe, und
das gleiche gilt für ein Modell T, aber der Preis ist ein anderer.
Man muß dafür sorgen - und das ist der springende Punkt -,
daß das ganze Auto entweder nach Rolls-Royce- oder nach
Modell-T-Anforderungen gebaut wird. Produziert man ein
Mischmodell, bei dem manche Teile die Qualität eines Modell
T und andere die eines Rolls-Royce haben, bekommt man von
beiden die schlechteste Seite, denn der Wagen wird verschrot-
tet, wenn das schwächste Teil seinen Dienst versagt, und das
Geld für die hochwertigeren Teile, die sich niemals bis zu
Ende abnutzen, ist schlicht und einfach vergeudet.

Fords Lehre trifft auf Lebewesen noch stärker zu als auf

Autos, denn bei einem Auto kann man defekte Teile innerhalb
gewisser Grenzen ersetzen. Kleinaffen und Gibbons suchen
sich ihren Lebensunterhalt in den Baumkronen, und dabei
besteht immer die Gefahr, daß sie herunterfallen und sich die
Knochen brechen. Angenommen, wir geben eine Untersu-
chung an Affenleichen in Auftrag, weil wir wissen wollen, wie
oft die wichtigsten Knochen im Körper gebrochen sind. Neh-
men wir weiterhin an, es stellt sich dabei heraus, daß jeder
Knochen irgendwann einmal bricht, mit einer Ausnahme: Das
Wadenbein (das ist der Knochen im Unterschenkel, der paral-
lel zum Schienbein verläuft) ist bei keinem der untersuchten
Affen gebrochen. Henry Ford würde unverzüglich fordern,
das Wadenbein nach Maßgabe geringerer Anforderungen zu
konstruieren, und genau das würde auch die natürliche Selek-
tion tun. Mutierte Individuen mit einem minderwertigen Wa-
denbein - es könnte entstehen, weil während des Wachstums
kostbares Calcium aus diesem Knochen abgezogen wird -
könnten das eingesparte Material zur Verstärkung anderer
Knochen verwenden und so den Idealzustand erreichen, in
dem alle Knochen mit der gleichen Wahrscheinlichkeit bre-
chen. Oder die mutierten Individuen könnten das eingesparte

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142

Calcium einsetzen, um mehr Milch zu produzieren und mehr
Junge großzuziehen. Dem Wadenbein kann gefahrlos Kno-
chensubstanz entzogen werden, jedenfalls so lange, bis es
ebenso leicht bricht wie der zweithaltbarste Knochen. Die
andere Möglichkeit - das Rolls-Royce-Prinzip, wonach alle
anderen Teile auf den Qualitätsstandard des Wadenbeins ge-
bracht werden - ist schwieriger zu verwirklichen.

Ganz so einfach ist die Rechnung in Wirklichkeit nicht, denn

manche Knochen sind wichtiger als andere. Ich nehme an, ein
Klammeraffe kann mit einem gebrochenen Fersenknochen
eher überleben als mit einem gebrochenen Arm, und deshalb
sollte man nicht erwarten, daß die natürliche Selektion buch-
stäblich bei allen Knochen für die gleiche Bruchwahrschein-
lichkeit sorgt. Aber die wichtigste Lehre, die wir aus der Ge-
schichte von Henry Ford ziehen können, ist zweifellos richtig.
Ein Körperteil eines Tiers kann durchaus zu gut sein, und
dann sollte man erwarten, daß die natürliche Selektion eine
Qualitätsabnahme begünstigt, allerdings nur bis zum Gleich-
gewicht mit der Qualität der anderen Teile und nicht darüber
hinaus. Genauer gesagt, sorgt die natürliche Selektion in bei-
den Richtungen für einen Qualitätsausgleich, bis sich alle
Körperteile in einem angemessenen Gleichgewicht befinden.

Besonders einfach ist dieses Gleichgewicht zu erkennen,

wenn es sich zwischen zwei recht unterschiedlichen Aspekten
des Lebens einstellt, zum Beispiel zwischen dem Überleben
des Pfauenmännchens und seiner Schönheit in den Augen des
weiblichen Vogels. Nach Darwins Theorie ist das Überleben
immer nur ein Mittel zum Zweck der Genfortpflanzung, aber
das hält uns nicht davon ab, am Körper diejenigen Teile, die
vorwiegend mit dem Überleben zu tun haben (zum Beispiel
die Beine) von anderen zu unterscheiden, die wie der Penis
vor allem der Fortpflanzung dienen. Oder wir nehmen Ge-
weihe und ähnliche Gebilde, die im Konkurrenzkampf zwi-
schen den Individuen eine Rolle spielen, von anderen, wie

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143

Beinen oder Penis, aus, deren Bedeutung nicht davon ab-
hängt, ob Konkurrenten vorhanden sind. Viele Insekten zei-
gen eine strenge Trennung zwischen ihren völlig unterschied-
lichen Entwicklungsstadien. Raupen sind darauf ausgerichtet,
Nahrung aufzunehmen und zu wachsen. Schmetterlinge wid-
men sich wie die Blüten, die sie besuchen, der Fortpflanzung.
Sie wachsen nicht und saugen den Nektar nur, um ihn sofort
als »Flugbenzin« zu verbrennen. Wenn einem Schmetterling
die Fortpflanzung gelingt, verbreitet er nicht nur die Gene für
einen gut fliegenden und sich paarenden Schmetterling, son-
dern auch die für die wirksam fressende Raupe, die er früher
war. Eintagsfliegen leben als Larven bis zu drei Jahre lang im
Wasser. Wenn sie dann als ausgewachsene Fliegen schlüpfen,
bemißt sich ihr Leben nur noch nach Stunden. Viele von ihnen
werden von Fischen gefressen, aber selbst wenn das nicht der
Fall wäre, würden sie ohnehin bald sterben, denn sie können
keine Nahrung aufnehmen, ja sie besitzen noch nicht einmal
einen Darm (Henry Ford wäre von ihnen begeistert gewesen).
Sie haben die Aufgabe, so lange zu fliegen, bis sie auf einen
Paarungspartner treffen. Nachdem sie dann ihre Gene weiter-
gegeben haben - einschließlich der Gene für die Larve, die
unter Wasser sehr gut drei Jahre lang überleben kann -,
sterben sie. Eine Eintagsfliege ist wie ein Baum, der jahrelang
wächst, um dann einen einzigen herrlichen Tag lang zu blü-
hen und anschließend abzusterben. Die erwachsene Eintags-
fliege ist die Blüte, die am Ende des alten und Anfang des
neuen Lebens kurze Zeit aufblüht.

Ein junger Lachs schwimmt den Fluß, in dem er geboren

wurde, stromabwärts und verbringt den größten Teil seines
Lebens fressend und wachsend im Meer. Wenn er geschlechts-
reif ist, sucht er - vermutlich anhand des Geruches - die Mün-
dung seines Heimatflusses. In einer heldenhaften und oft
gepriesenen Wanderung schwimmt er stromaufwärts, springt
über Wasserfälle und Stromschnellen bis nach Hause zu dem

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144

Oberlauf, aus dem er einst gekommen ist. Dort laicht er, und
der Kreislauf beginnt von neuem. An dieser Stelle gibt es
einen charakteristischen Unterschied zwischen Atlantik- und
Pazifiklachsen. Der Atlantiklachs kann nach dem Laichen ins
Meer zurückkehren, und es besteht eine gewisse Aussicht, daß
er den Zyklus noch einmal durchmacht. Pazifiklachse sterben
erschöpft wenige Tage nach der Eiablage.

Der typische Pazifiklachs gleicht einer Eintagsfliege, nur

zeigt er in seinem Lebenslauf nicht die klare anatomische
Trennung zwischen Larven- und Erwachsenenstadium. Strom-
aufwärts zu schwimmen, ist so mühsam, daß er es kein zweites
Mal schafft. Deshalb begünstigt die natürliche Selektion dieje-
nigen Individuen, die jedes Gramm ihrer Ressourcen in die
eine große Fortpflanzungsanstrengung stecken. Alle Vorräte,
die danach noch übrigbleiben, sind verschwendet - ganz
ähnlich wie Henry Fords zu gut konstruierte Achsschenkelbol-
zen. Die Evolution hat das Überleben der Pazifiklachse nach
der Fortpflanzung bis auf Null zurückgeschraubt; ihre Res-
sourcen werden in Ei- oder Samenzellen umgeleitet. Die At-
lantiklachse haben den anderen Evolutionsweg eingeschla-
gen. Bei ihnen können Individuen, die noch Ressourcen für
einen zweiten Vermehrungszyklus zurückbehalten haben, gut
zurechtkommen - vielleicht weil sie im allgemeinen kürzere
Flüsse überwinden müssen, die in weniger hohen Gebirgen
entspringen. Dafür zahlen die Atlantiklachse aber den Preis,
daß sie sich nicht so gut um die Brut kümmern können. Es
besteht eine Balance zwischen Lebensdauer und Fortpflan-
zung, und bei den einzelnen Lachsarten haben sich unter-
schiedliche Gleichgewichte eingestellt. Das besondere Kenn-
zeichen des Lebenszyklus der Lachse ist die grausame Wande-
rung, die einen Bruch darstellt. Es gibt keinen allmählichen
Übergang zwischen einer und zwei Paarungszeiten. Wer eine
zweite auf sich nimmt, vermindert die Effizienz der ersten
drastisch. Die Pazifiklachse sind durch die Evolution unwider-

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145

ruflich auf eine Paarungszeit festgelegt; die Folge ist, daß ein
Individuum unmittelbar nach seiner einzigen gigantischen
Laichanstrengung unausweichlich zugrunde geht.

Eine ähnliche Balance kennzeichnet alle Lebensformen,

aber meist ist sie nicht so dramatisch. Unser eigener Tod ist
wahrscheinlich in einem ähnlichen Sinn vorprogrammiert
wie bei den Lachsen, nur nicht so offenkundig und eindeutig.
Ein Eugeniker könnte zweifellos eine Rasse übermäßig lang-
lebiger Menschen züchten. Dazu würde man solche Personen
kreuzen, die den größten Teil ihrer Ressourcen auf Kosten
ihrer Nachkommen in den eigenen Körper stecken, beispiels-
weise Menschen, deren Knochen besonders kräftig sind und
die deshalb wenig Calcium für die Milchproduktion übrig
haben. Ein wenig länger zu leben, ist einfach, wenn man sich
auf Kosten der nächsten Generation hätscheln läßt. Der Euge-
niker könnte das Hätscheln übernehmen und die Balance
zugunsten einer höheren Lebensdauer ausnutzen. Die Natur
hätschelt nicht auf diese Weise, denn Gene für Geiz gegen-
über den Nachkommen gelangen nicht in die Zukunft.

Die Nutzenfunktion der Natur wertet die Langlebigkeit

nicht um ihrer selbst willen, sondern nur im Hinblick auf
zukünftige Fortpflanzung. Für ein Tier, das sich wie wir, aber
anders als der Pazifiklachs mehrmals fortpflanzt, besteht die
Balance zwischen dem jetzigen Kind (oder Wurf) und zu-
künftigen Kindern. Ein Kaninchen, das seine gesamten Res-
sourcen seinem ersten Wurf widmet, hätte wahrscheinlich
beim ersten Mal kräftigere Junge. Aber für das Austragen
eines zweiten Wurfes wären dann keine Reserven mehr üb-
rig. Deshalb breiten sich die Gene für eine Reserve im Kör-
per der Tiere aus zweiten und dritten Würfen in der Kanin-
chenpopulation aus. In der Population der Pazifiklachse
konnten sich solche Gene ganz offensichtlich nicht durchset-
zen, weil zwischen einem und zwei Laichzyklen eine so große
praktische Hemmschwelle steht.

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146

Die Wahrscheinlichkeit, daß wir im kommenden Jahr ster-

ben, nimmt im Laufe unseres Lebens zunächst ab, bleibt dann
eine Zeitlang gleich und setzt schließlich zu einem langen
Anstieg an. Was geschieht in dieser Phase der langsam wach-
senden Sterblichkeit? Es ist im wesentlichen das gleiche Prin-
zip wie beim Pazifiklachs, nur ist es hier nicht auf eine kurze,
überstürzte Sterbeorgie nach der kurzen Laichorgie zusam-
mengedrängt, sondern über einen längeren Zeitraum verteilt.
Der erste, der sich genauer mit der Evolution des Alterns
beschäftigte, war Anfang der fünfziger Jahre der Nobelpreis-
träger und Medizinwissenschaftler Sir Peter Medawar; seine
grundlegende Idee wurde später von den angesehenen Dar-
winisten G. C. Williams und W. D. Hamilton in verschiedenen
Punkten abgewandelt.

Im wesentlichen geht es dabei um folgende Überlegung:

Wie wir im ersten Kapitel erfahren haben, wird jeder geneti-
sche Einfluß in der Regel zu einem bestimmten Zeitpunkt im
Leben des Organismus wirksam. Viele Gene werden schon im
jungen Embryo angeschaltet, aber andere - beispielsweise
das Gen für Chorea Huntington, die Krankheit, die den Volks-
dichter und Sänger Woody Guthrie auf so tragische Weise
dahinraffte - entfalten ihre Aktivität erst im mittleren Alter.
Und zweitens können die Einzelheiten eines genetischen Ein-
flusses, einschließlich des Zeitpunkts, zu dem er seine Wir-
kung entfaltet, von anderen Genen modifiziert werden. Ein
Mensch, der das Gen für Chorea Huntington trägt, kann damit
rechnen, an der Krankheit zu sterben, aber ob das mit vierzig
oder mit fünfundfünfzig geschieht (so alt war Woody Guthrie),
hängt wahrscheinlich von anderen Genen ab. Durch die Se-
lektion solcher »Modifikationsgene« kann also die Wirkung
eines bestimmten Gens in entwicklungsgeschichtlichen Zeit-
räumen verlangsamt oder beschleunigt werden.

Ein Gen wie das für Chorea Huntington, das erst zwischen

dem vierzigsten und fünfundfünfzigsten Lebensjahr ange-

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147

schaltet wird, hat eine Menge Gelegenheiten, in die nächste
Generation zu gelangen, bevor es seinen Besitzer umbringt.
Würde es dagegen schon mit zwanzig Jahren aktiv, könnte es
nur von Menschen weitergegeben werden, die sich in sehr
jungen Jahren fortpflanzen, und deshalb wäre es in der Selek-
tion stark benachteiligt. Und wenn es seine Tätigkeit bereits im
zehnten Lebensjahr aufnimmt, wird es praktisch nie weiterge-
geben. Die natürliche Selektion begünstigt also Modifikations-
gene, die den Zeitpunkt, zu dem das Gen für Chorea Hunting-
ton angeschaltet wird, möglichst weit hinausschieben. Nach
der Theorie von Medawar und Williams ist das der Grund,
warum die Krankheit erst im mittleren Alter ausbricht. Früher
war es vielleicht ein Gen, das früh aktiv wurde, aber die
natürliche Selektion begünstigte den Aufschub seiner tödli-
chen Wirkung auf ein mittleres Lebensalter. Zweifellos besteht
ein geringer Selektionsdruck zugunsten der Verschiebung in
ein noch höheres Alter, aber er ist nur schwach, weil nur
wenige Betroffene sterben, bevor sie Nachkommen gezeugt
und das Gen weitervererbt haben.

Das Gen für Chorea Huntington ist ein besonders eindeuti-

ges Beispiel für ein tödliches (»letales«) Gen. Viele andere
Gene wirken selbst nicht tödlich, sorgen aber mit ihren Wir-
kungen dafür, daß man mit höherer Wahrscheinlichkeit aus
anderen Ursachen stirbt. Solche Gene nennt man subletal.
Auch bei ihnen dürften Modifikationsgene den Zeitpunkt der
Aktivierung beeinflussen, so daß diese von der natürlichen
Selektion entweder hinausgeschoben oder beschleunigt wird.
Wie Medawar erkannte, sind die Verfallserscheinungen des
fortgeschrittenen Lebensalters wahrscheinlich auf eine An-
häufung letaler und subletaler genetischer Effekte zurückzu-
führen, die im Lebenszyklus immer weiter nach hinten ge-
drängt wurden, so daß sie die Fortpflanzungsbarriere über-
winden und in die nächste Generation gelangen können,
einfach weil ihre Wirkung erst spät einsetzt.

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148

G. C. Williams, der Altmeister der amerikanischen Darwini-

sten, gab der Geschichte 1957 eine weitere wichtige Wen-
dung. Sie gründet sich auf die bereits erwähnten Über-
legungen zur ökonomischen Balance. Um sie zu verstehen,
brauchen wir ein paar zusätzliche Hintergrundinformationen.
Ein Gen hat meist mehrere Wirkungen, und zwar oftmals auf
Körperteile, die bei oberflächlicher Betrachtung sehr unter-
schiedlich sind. Diese »Pleiotropie« ist nicht nur eine Tat-
sache, sondern sie ist auch durchaus zu erwarten, denn Gene
entfalten ihre Wirkung ja schon in der Entwicklung des Em-
bryos, und die ist ein höchst komplizierter Vorgang. Jede neue
Mutation wird also wahrscheinlich nicht nur einen Effekt ha-
ben, sondern mehrere. Einer davon könnte zwar nützlich sein,
aber daß eine Mutation mehrere nützliche Wirkungen hat, ist
unwahrscheinlich, einfach deshalb, weil die meisten Auswir-
kungen von Mutationen schädlich sind. Auch das ist eine
Tatsache, steht andererseits aber auch zu erwarten: Wenn man
von einem komplizierten, funktionierenden Mechanismus -
beispielsweise einem Radio - ausgeht, gibt es viel mehr Mög-
lichkeiten, ihn schlechter zu machen, als solche, ihn zu verbes-
sern.

Wenn die natürliche Selektion ein Gen begünstigt, weil es

in der Jugend einen nützlichen Effekt hat - beispielsweise
indem es die sexuelle Anziehungskraft junger Männchen ver-
stärkt -, dann gibt es meist auch eine Kehrseite. Vielleicht
erzeugt es zum Beispiel im mittleren oder höheren Alter eine
Krankheit. Theoretisch könnten die Wirkungen auch anders
herum verteilt sein, aber nach Medawars Überlegung wird die
natürliche Selektion eine Krankheit in jungen Jahren kaum
begünstigen, nur weil dasselbe Gen sich in höherem Alter
positiv auswirkt. Außerdem kann man auch hier die These von
den Modifikationsgenen heranziehen. Für jeden Effekt eines
Gens, gut oder schlecht, kann sich der Zeitpunkt der Aktivie-
rung in der weiteren Evolution ändern. Nach dem Medawar-

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149

Prinzip würde er sich bei nützlichen Wirkungen immer mehr
in die frühe Lebenszeit verlagern, für schädliche Effekte
würde er dagegen hinausgeschoben. Außerdem gäbe es in
manchen Fällen eine unmittelbare Balance zwischen positi-
ven und negativen Wirkungen. Das ergab sich schon aus der
Geschichte von den Lachsen: Wenn ein Tier nur eine be-
grenzte Menge von Ressourcen verbrauchen kann, um bei-
spielsweise kräftig zu werden, so daß es sich bei Gefahr mit
einem Sprung retten kann, wird jede Neigung, diese Ressour-
cen frühzeitig zu verbrauchen, gegenüber ihrer späteren Ver-
wendung begünstigt. Wer sie erst in höherem Alter einsetzt,
wird mit größerer Wahrscheinlichkeit aus anderen Ursachen
sterben, bevor er seine Ressourcen nutzen kann. Medawars
allgemeine Aussage läßt sich auch in einer Art Umkehrung der
Begriffe fassen, die wir im ersten Kapitel eingeführt haben:
Jeder entstammt einer ununterbrochenen Reihe von Vorfah-
ren, die alle einmal jung waren, aber bei weitem nicht alle ein
höheres Alter erreicht haben. So erben wir alles, was zum
Jungsein notwendig ist, aber nicht unbedingt alle Vorausset-
zungen zum Altwerden. In der Regel erben wir Gene, die uns
erst lange nach unserer Geburt sterben lassen, aber nicht
solche, die schon nach kurzer Zeit den Tod herbeiführen.

Kehren wir noch einmal zum pessimistischen Anfang dieses

Kapitels zurück: Wenn die Nutzenfunktion - die Größe, die
maximiert wird - das Überleben der DNA ist, so ist das kein
Rezept für das Glück. Solange die DNA weitergegeben wird,
spielt es keine Rolle, wer oder was dabei verletzt wird. Für
Darwins Dolchwespen ist es besser, daß die Raupe am Leben
bleibt und frisch ist, wenn sie gefressen wird, gleichgültig wie
hoch dabei der Tribut des Leidens ist. Gene kümmern sich
nicht um Leid, denn sie kümmern sich um überhaupt nichts.

Wäre die Natur freundlich, würde sie zumindest ein kleines

Zugeständnis machen und die Raupe betäuben, bevor sie bei
lebendigem Leibe von innen heraus aufgefressen wird. Aber

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150

die Natur ist weder freundlich noch unfreundlich. Sie interes-
siert sich weder auf die eine noch auf die andere Weise für
Leid, solange das Überleben der DNA nicht beeinträchtigt
wird. Man könnte sich leicht ein Gen vorstellen, das beispiels-
weise die Gazelle sediert, wenn sie im Begriff ist, den tödli-
chen Biß zu erleiden. Würde die natürliche Selektion ein
solches Gen fördern? Nein, es sei denn, durch die Beruhigung
der Gazelle steigt die Wahrscheinlichkeit, daß dieses Gen an
zukünftige Generationen weitergegeben wird. Warum das ge-
schehen soll, ist schwer zu erkennen, und deshalb müssen wir
annehmen, daß Gazellen schreckliche Schmerzen und Ängste
erdulden, wenn sie zu Tode gejagt werden - und dieses
Schicksal steht den meisten von ihnen bevor. Das Leiden hat in
der Natur jedes Jahr ein Ausmaß, das alle erträglichen Vorstel-
lungen übersteigt. In der Minute, in der ich diesen Satz nieder-
schreibe, werden Tausende von Tieren bei lebendigem Leibe
gefressen; andere laufen bebend vor Angst um ihr Leben;
wieder andere werden langsam und von innen heraus durch
gefräßige Parasiten zugrunde gerichtet; Tausende von Lebe-
wesen aller Arten sterben an Hunger, Durst und Krankheiten.
Das muß so sein. Jedesmal, wenn es irgendwo einen Überfluß
gibt, führt das automatisch zu einem Anstieg der Population,
bis der natürliche Zustand von Hunger und Elend wiederher-
gestellt ist.

Die Theologen quälen sich unaufhörlich mit dem »Problem

des Bösen« und einem damit zusammenhängenden »Problem
des Leidens« herum. An dem Tag, als ich diesen Abschnitt
erstmals zu Papier brachte, stand in den britischen Zeitungen
ein entsetzlicher Bericht über einen mit Kindern besetzten
Bus einer römisch-katholischen Schule, der ohne ersichtli-
chen Grund verunglückt war. Der Unfall hatte viele Menschen-
leben gekostet. Und wieder einmal schlugen sich die Geistli-
chen mit der theologischen Frage herum, die der Korrespon-
dent einer Londoner Zeitung (The Sunday Telegraph) so for-

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151

mulierte: »Wie kann man an einen liebenden, allmächtigen
Gott glauben, wenn Er eine solche Tragödie zuläßt?« In dem
Artikel wurde auch die Antwort eines Priesters zitiert: »Die
einfache Antwort ist, daß wir nicht wissen, warum es einen
Gott geben sollte, der solche entsetzlichen Dinge geschehen
läßt. Aber der schreckliche Unfall bestätigt für einen Christen
die Tatsache, daß wir in einer Welt wirklicher Werte leben,
positiver und negativer. Bestünde das Universum nur aus
Elektronen, gäbe es kein Problem des Bösen oder des Lei-
dens.«

Im Gegenteil: Wenn das Universum nur aus Elektronen und

egoistischen Genen bestünde, wären sinnlose Tragödien wie
dieses Busunglück genau das, was wir erwarten würden, zu-
sammen mit einem ebenso sinnlosen glücklichen Zufall. Ein
solches Universum hätte weder gute noch schlechte Absich-
ten. Es würde überhaupt keine Absichten zeigen. In einem
Universum mit blinden physikalischen Kräften und geneti-
scher Verdoppelung werden manche Menschen verletzt, an-
dere haben Glück, und man wird darin weder Sinn und Ver-
stand noch irgendeine Gerechtigkeit finden. Das Universum,
das wir beobachten, hat genau die Eigenschaften, mit denen
man rechnet, wenn dahinter kein Plan, keine Absicht, kein Gut
oder Böse steht, nichts außer blinder, erbarmungsloser
Gleichgültigkeit. Oder, wie der unglückliche Dichter A. E.
Housman es formulierte:

Die geist- und herzlose Natur
Wird weder wissen noch sich sorgen.

Die DNA weiß nichts und sorgt sich um nichts. Die DNA ist
einfach da. Und wir tanzen nach ihrer Pfeife.

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152

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153

Die Replikationsbombe

Die meisten Sterne - unsere Sonne ist ein typischer Vertreter -
scheinen mehrere Milliarden Jahre lang sehr gleichmäßig. In
sehr seltenen Fällen jedoch flammt ein Stern irgendwo in
der Milchstraße plötzlich ohne Vorwarnung auf und wird zur
Supernova. Innerhalb weniger Wochen nimmt seine Hellig-
keit um das Milliardenfache zu; anschließend verlischt er und
wird zu einem dunklen Überrest seiner selbst. In den wenigen
Tagen als Supernova dürfte ein Stern mehr Energie abgeben
als in den gesamten Hunderten von Jahrmillionen als gewöhn-
licher Stern. Wenn unsere eigene Sonne zur Supernova
würde, müßte das gesamte Sonnensystem in wenigen Augen-
blicken verdampfen. Glücklicherweise ist das sehr unwahr-
scheinlich. In unserer Galaxis mit ihren rund hundert Milliar-
den Sternen haben die Astronomen nur drei Supernovae
beobachtet, und zwar in den Jahren 1054, 1572 und 1604. Der
Krebs-Nebel ist das Überbleibsel des Ereignisses von 1054, das
von chinesischen Astronomen aufgezeichnet wurde. (Wenn
ich »das Ereignis von 1054« sage, meine ich natürlich das
Ereignis, das man 1054 auf der Erde sehen konnte. Der Vor-
gang selbst spielte sich sechstausend Jahre früher ab, aber die
Lichtwellen von dort erreichten uns in dem genannten Jahr.)

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154

Seit 1604 hat man Supernovae nur noch in anderen Galaxien
beobachtet.

Ein Stern kann aber auch eine Explosion anderer Art durch-

machen. Statt zur Supernova zu werden, wird er zur Informa-
tion. Diese Explosion beginnt langsamer als eine Supernova
und braucht unendlich viel länger, um sich zu entfalten. Man
kann sie Informationsbombe oder aus Gründen, die im fol-
genden deutlich werden sollten, Replikationsbombe nennen.
Während der ersten Jahrmilliarden ihrer Entwicklung be-
merkt man die Replikationsbombe nur in ihrer unmittelbaren
Nachbarschaft. Später sickern geringfügige Anzeichen der Ex-
plosion auch in weiter entfernte Bereiche des Weltraumes,
und zuletzt ist sie zumindest theoretisch auch in großem
Abstand auszumachen. Wie eine solche Explosion zu Ende
geht, wissen wir nicht.

Vermutlich verlischt sie schließlich wie eine Supernova,

aber wir haben keine Ahnung, wie weit sie sich zuvor im
Normalfall aufbaut. Vielleicht bis zu einer gewalttätigen,
selbstzerstörerischen Katastrophe. Vielleicht bis eher sanft
und immer wieder Gegenstände ausgesandt werden, die sich
nicht auf einer einfachen ballistischen Bahn, sondern gelenkt
von dem Stern wegbewegen und in weiter entfernte Raumbe-
reiche vordringen, wo sie vielleicht anderen Sternsystemen
die gleiche Tendenz zur Explosion übertragen.

Über die Replikationsbomben im Universum wissen wir so

wenig, weil wir nur ein einziges Beispiel gesehen haben, und
ein Beispiel reicht niemals aus, um über ein Phänomen allge-
meine Aussagen zu machen. Und unsere einzige Fallge-
schichte läuft noch. Sie spielt sich seit drei bis vier Milliarden
Jahren ab und steht jetzt gerade an der Schwelle, aus der
unmittelbaren Nachbarschaft des Sterns auszubrechen. Dieser
Stern ist Sol, ein gelber Zwerg, der sich eher am Rande unse-
rer Galaxis in einem ihrer Spiralarme befindet. Wir nennen
ihn Sonne. Die Explosion ging eigentlich von einem der Satel-

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155

liten aus, die sie in geringem Abstand umkreisen, aber die
Energie, welche die Explosion antreibt, stammt ausschließlich
von der Sonne. Der Satellit ist natürlich die Erde, und die seit
vier Milliarden Jahren andauernde Explosion, die Replika-
tionsbombe, bezeichnen wir als Leben. Ein besonders wichti-
ger Ausdruck der Replikationsbombe sind wir Menschen,
denn durch uns - unser Gehirn, unsere Kultur der Symbole
und unsere Technik - kann die Explosion in das nächste
Stadium eintreten und in den entfernteren Weltraum aus-
strahlen.

Wie bereits gesagt, unsere Replikationsbombe ist bisher die

einzige, die wir im Universum kennen, aber das muß nicht
bedeuten, daß solche Ereignisse seltener sind als Supernovae.
Zugegeben, Supernovae wurden im Universum bis heute in
unserer Galaxis dreimal häufiger entdeckt, aber schließlich
sind sie wegen der riesigen Energiemengen, die sie abstrah-
len, auch viel leichter über große Entfernungen hinweg zu
sehen. Bis vor einigen Jahrzehnten, als die ersten von Men-
schen erzeugten Radiowellen von der Erde ausgingen, wäre
unsere Lebensexplosion selbst Beobachtern auf recht nahe
gelegenen Planeten verborgen geblieben. Ihr einziger auffälli-
ger Ausdruck wäre bis vor kurzem wahrscheinlich das Große
Barriereriff gewesen.

Eine Supernova ist eine riesige und sehr plötzliche Explo-

sion. Jede Explosion wird dadurch ausgelöst, daß irgendeine
Größe einen kritischen Wert überschreitet; danach eskaliert
alles und gerät außer Kontrolle, so daß die Folgen viel größer
sind als der Auslöser. Das Ereignis, das eine Replikations-
bombe auslöst, ist die spontane Entstehung sich selbst verdop-
pelnder (replizierender) und gleichzeitig wandelbarer Entitä-
ten. Der Grund dafür, daß die Selbstverdoppelung ein poten-
tiell explosives Phänomen ist, ist derselbe wie für jede andere
Explosion: exponentielles Wachstum - je mehr vorhanden ist,
desto mehr kommt hinzu. Aus einem selbstreplizierenden

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156

Gegenstand werden schon nach kurzer Zeit zwei. Dann stellt
jeder der beiden wieder eine Kopie von sich selbst her, und es
sind vier. Dann acht, sechzehn, zweiunddreißig, vierundsech-
zig... Nach nur dreißig derartigen Generationen der Verdop-
pelung hat man schon mehr als eine Milliarde selbstreplizie-
rende Gebilde... Nach fünfzig Generationen sind es tausend
Millionen Millionen. Und nach zweihundert Generationen hat
man eine Million Millionen Millionen Millionen Millionen
Millionen Millionen Millionen Millionen Millionen. Jedenfalls
theoretisch. In der Praxis kann es nicht soweit kommen, denn
diese Zahl ist größer als die Zahl der Atome im Universum.
Der explosive Vorgang des Selbstkopierens muß begrenzt
werden, lange bevor zweihundert Generationen der ungehin-
derten Verdoppelung abgelaufen sind.

Für das Replikationsereignis, das die Vorgänge auf diesem

Planeten in Gang setzte, haben wir keine unmittelbaren Indi-
zien. Wir können nur schließen, daß es stattgefunden haben
muß, weil sich die Explosion entfaltet hat, zu der auch wir
gehören. Wie das entscheidende Anfangsereignis, der Beginn
der Selbstverdoppelung, im einzelnen ausgesehen hat, wissen
wir nicht genau, aber wir können schließen, was es für ein
Vorgang gewesen sein muß. Es begann als ein chemisches
Ereignis.

Chemie ist ein Schauspiel, das in allen Sternen und auf allen

Planeten gespielt wird. Seine Darsteller sind Atome und Mole-
küle. Selbst die seltensten Atome sind nach den uns geläufigen
Maßstäben des Zählens äußerst zahlreich. Nach einer Berech-
nung von Isaac Asimov beträgt die Zahl der Atome des selte-
nen Elements Astat-215 in Nord- und Südamerika bis in eine
Tiefe von zehn Meilen »nur eine Billion«. Die chemischen
Grundbausteine wechseln ständig die Partner und bilden eine
sich wandelnde, aber immer sehr große Population größerer
Einheiten - der Moleküle. Trotz ihrer gewaltigen Zahl sind
Moleküle - anders als beispielsweise Tiere einer bestimmten

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157

Art oder Stradivari-Violinen - immer völlig identisch. Die
atomaren Tanzfiguren der Chemie führen dazu, daß manche
Moleküle auf der Welt häufiger und andere seltener werden.
Als Biologe ist man natürlich versucht, die Moleküle, die in der
Population zahlreicher werden, als »erfolgreicher« zu be-
zeichnen. Aber es ist nicht hilfreich, wenn man dieser Ver-
suchung nachgibt. Erfolg im aufschlußreichen Sinn des Wor-
tes ist eine Eigenschaft, die sich erst in einem späteren Sta-
dium unserer Geschichte entwickelt.

Was war also jenes folgenschwere kritische Ereignis, das die

Explosion des Lebens auslöste? Ich habe schon gesagt, daß es
in der Entstehung selbstverdoppelnder Entitäten bestand,
aber ebensogut könnte man von der Entstehung der Verer-
bung sprechen, eines Vorganges nach dem Muster »Gleiches
bringt Gleiches hervor«. Moleküle zeigen ein solches Verhal-
ten in der Regel nicht. Wassermoleküle bilden zwar riesige
Populationen, aber nichts an ihnen erinnert auch nur entfernt
an echte Vererbung. Auf den ersten Blick könnte man so etwas
annehmen. Die Population der Wassermoleküle (H

2

O) nimmt

zu, wenn Wasserstoff (H) mit Sauerstoff (O) verbrennt, und sie
schrumpft, wenn Wasser durch Elektrolyse in Wasserstoff- und
Sauerstoffbläschen gespalten wird. Aber obwohl es unter den
Wassermolekülen eine Art Populationsdynamik gibt, findet
man keine Vererbung. Die Mindestbedingung für eine Art der
Vererbung wären zwei verschiedene Arten von H

2

O-Molekü-

len, die jeweils Kopien ihres eigenen Typs hervorbrächten.

Manche Moleküle kommen in zwei spiegelbildlichen For-

men vor. Es gibt beispielsweise zwei Arten von Glucosemole-
külen, in denen die gleichen Atome auf die gleiche Weise
verknüpft sind, nur mit dem Unterschied, daß die Moleküle
Spiegelbilder sind. Das gleiche gilt für andere Zuckermole-
küle sowie für viele weitere Verbindungen einschließlich der
lebenswichtigen Aminosäuren. Hier läge vielleicht eine Ge-
legenheit für das Prinzip »Gleiches bringt Gleiches hervor«,

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158

also für chemische Vererbung. Könnten rechtshändige Mole-
küle rechtshändige Tochtermoleküle erzeugen, während
linkshändige nur linkshändige »Nachkommen« erzeugen? Zu-
nächst einmal ein paar Hintergrundinformationen über spie-
gelbildlich gebaute Moleküle. Entdeckt wurde das Phänomen
im 19. Jahrhundert von dem großen französischen Wissen-
schaftler Louis Pasteur. Er nahm Kristalle des Tartrats, eines
Salzes der Weinsteinsäure, die bei der Weinbereitung von
großer Bedeutung ist. Ein Kristall ist ein festes Gebilde, groß
genug, daß man es mit bloßem Auge sehen und in manchen
Fällen als Schmuck am Hals tragen kann. Er entsteht, wenn
gleichartige Atome oder Moleküle sich übereinandertürmen
und eine feste Masse bilden. Sie lagern sich dabei nicht in
einem wilden Durcheinander zusammen, sondern in geome-
trischer Anordnung wie perfekt gedrillte Wachsoldaten mit
gleicher Körpergröße. Die Moleküle, die sich bereits im Kri-
stall befinden, bilden eine Vorlage für die Anlagerung der
neuen Moleküle, die aus einer wäßrigen Lösung stammen und
sich genau einpassen. Auf diese Weise wächst der ganze Kri-
stall als genau geordnetes geometrisches Gitter. Das ist der
Grund, warum Kochsalzkristalle quadratische Flächen haben
und Diamanten tetraedrisch (rautenförmig) geformt sind.
Wenn eine Form als Vorlage zum Aufbau einer neuen, gleich-
artigen Form dient, haben wir einen Hauch von Selbstverdop-
pelung.

Zurück zu den Tartratkristallen. Pasteur löste Tartrat in Was-

ser und bemerkte dann, daß zwei verschiedene Typen von
Kristallen entstanden; sie waren völlig gleich, sahen aber aus
wie Bild und Spiegelbild. Mühsam sortierte er die Kristalle auf
zwei Haufen. Als er sie anschließend getrennt wieder auflöste,
erhielt er zwei unterschiedliche Lösungen, zwei Arten von
gelöstem Tartrat. Sie waren sich zwar in den meisten Eigen-
schaften sehr ähnlich, aber wie Pasteur herausfand, drehten
sie polarisiertes Licht in unterschiedliche Richtungen. Des-

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159

halb spricht man von rechts- und linksdrehenden Molekülen,
die das polarisierte Licht im Gegenuhrzeigersinn (nach links)
beziehungsweise im Uhrzeigersinn (nach rechts) drehen. Läßt
man die Lösungen erneut kristallisieren, entstehen erwar-
tungsgemäß jeweils Kristalle eines Typs, die sich zueinander
spiegelbildlich verhalten.

Solche spiegelbildlichen Moleküle sind tatsächlich unter-

schiedlich: Wie bei einem rechten und einem linken Schuh
lassen sie sich auch mit noch soviel Mühe nicht so drehen, daß
das eine an die Stelle des anderen treten könnte. Pasteurs
ursprüngliche Lösung war eine gemischte Population aus bei-
den Molekültypen, und beim Kristallisieren lagerten sich je-
weils nur gleiche Moleküle zusammen. Daß es zwei (oder
mehr) unterschiedliche Varianten von etwas gibt, ist eine
notwendige Voraussetzung für Vererbung, aber es reicht al-
lein nicht aus. Echte Vererbung läge bei den Kristallen nur
dann vor, wenn rechts- und linkshändige Kristalle sich bei
einer bestimmten Größe jeweils in der Mitte teilten, so daß
jede Hälfte als Vorlage dienen und wieder zur vollen Größe
heranwachsen könnte. Dann hätten wir es wirklich mit einer
wachsenden Population zweier konkurrierender Kristalltypen
zu tun, und wir könnten von »Erfolg« sprechen: Beide Typen
konkurrierten um dieselben Atome, aus denen sie sich auf-
bauen, und ein Typ könnte auf Kosten des anderen zahlrei-
cher werden, weil er »besser« Kopien von sich selbst herstel-
len könnte. Leider haben Moleküle in ihrer überwältigenden
Mehrzahl nicht diese einzigartige Eigenschaft der Vererbung.

Ich sage »leider«, weil die Chemiker zu medizinischen

Zwecken häufig Moleküle herstellen wollen, die beispiels-
weise ausschließlich linkshändig sind, und dazu würden sie
die Moleküle sehr gerne »züchten«. Aber wenn Moleküle
überhaupt als Vorlage für die Bildung neuer Moleküle dienen,
dann in der Regel für ihr Spiegelbild, und nicht für die eigene
Form. Das macht die Sache schwierig, denn wenn man von der

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160

linkshändigen Form ausgeht, hat man am Ende wieder ein
Gemisch aus gleichen Teilen links- und rechtshändiger Mole-
küle. Die auf diesem Gebiet tätigen Chemiker versuchen, die
Moleküle zu überlisten, so daß sie Tochtermoleküle mit der
gleichen Rechts-Links-Orientierung entstehen lassen, aber das
ist nur sehr schwer zu schaffen.

In einer Form, die allerdings nichts mit Rechts- oder Links-

händigkeit zu tun hat, dürfte die Natur diesen Trick schon vor
vier Milliarden Jahren ganz von selbst geschafft haben, zu
einer Zeit, als die Erde noch jung war, und als die Explosion,
die zu Leben und Information führte, ihren Anfang nahm. Aber
damit die Explosion wirklich ihren Lauf nehmen konnte,
mußte mehr als nur einfache Vererbung stattfinden. Selbst
wenn Moleküle zu echter Vererbung der rechts- oder links-
händigen Form in der Lage sind, kommt bei der Konkurrenz
zwischen ihnen nichts Interessantes heraus, weil es nur zwei
Molekültypen gibt. Hätte beispielsweise die linkshändige den
Wettbewerb gewonnen, wäre die Angelegenheit damit zu
Ende. Weiteren Fortschritt gäbe es nicht.

Größere Moleküle können an verschiedenen Molekülteil-

chen eine unterschiedliche Rechts- oder Linksorientierung
besitzen. Das Antibiotikum Momensin hat beispielsweise sieb-
zehn solche Asymmetriezentren, und an jedem davon ist eine
rechts- und eine linkshändige Form möglich. Multipliziert
man zwei siebzehnmal mit sich selbst, erhält man 131.072, und
in so vielen verschiedenen Formen kann das Molekül vorlie-
gen. Besäßen diese 131.072 Versionen die Fähigkeit zu echter
Vererbung, bei der jede Form nur Moleküle ihres eigenen
Typs hervorbringt, könnte ein recht komplizierter Konkur-
renzkampf einsetzen, wobei die erfolgreichsten der 131.072
Molekültypen im Laufe der Zeit in der Population immer
zahlreicher würden. Aber auch das wäre nur eine einge-
schränkte Form von Vererbung, denn 131.072 ist zwar eine
große, aber doch begrenzte Zahl. In einer Explosion des

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Lebens, die diesen Namen verdient, ist Vererbung zwar eben-
falls notwendig, aber in einer unbegrenzten Form, deren
Ende offen ist.

Mit dem Momensin haben wir, was die Vererbung der

spiegelbildlichen Form angeht, das Ende der Fahnenstange
erreicht. Aber Links- oder Rechtshändigkeit ist nicht der ein-
zige Unterschied, der sich für das Kopieren im Rahmen der
Vererbung eignet. Der Chemiker Julius Rebek und seine Kol-
legen vom Massachusetts Institute of Technology haben sich
ernsthaft mit der Herstellung selbstverdoppelnder Moleküle
beschäftigt. Bei den von ihnen benutzten Abwandlungen han-
delt es sich nicht um spiegelbildliche Formen. Sie nahmen
zwei kleine Moleküle - die genauen Namen spielen keine
Rolle, wir wollen sie einfach A und B nennen. Mischt man A
und B in wäßriger Lösung, entsteht eine dritte Verbindung, die
- richtig geraten - C heißt. Jedes Molekül von C dient als
Matrize oder Gußform. Die frei in der Lösung schwimmenden
A- und B-Moleküle passen in sie hinein. Jeweils ein A und ein B
gelangen in der Gußform in die richtige Lage, so daß sie sich
zu einem neuen Molekül von C verbinden, das genau wie das
vorherige aussieht. Die C-Moleküle haften nicht aneinander -
sonst würde ein Kristall entstehen -, sondern trennen sich.
Jetzt stehen beide C-Moleküle wiederum als Gußformen für
die Bildung neuer C-Moleküle zur Verfügung, so daß ihre Zahl
exponentiell anwächst.

Bis hierher zeigt das System noch keine echte Vererbung,

aber jetzt kommt's. Das Molekül B liegt in mehreren Formen
vor, die sich alle mit A verbinden können und dabei jeweils
eine andere Form von C entstehen lassen. Wir haben demnach
die Verbindungen C1, C2, C3 und so weiter. Jede dieser Ver-
sionen von C dient als Vorlage für die Bildung weiterer C-
Moleküle des gleichen Typs. Die Population der C-Moleküle
ist also uneinheitlich. Außerdem stellen die C-Moleküle ihre
Tochtermoleküle nicht alle mit der gleichen Effizienz her,

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162

sondern in der C-Population gibt es eine Konkurrenz zwi-
schen den verschiedenen Versionen von C. Und, was noch
besser ist, mit ultravioletter Strahlung kann man auch »Spon-
tanmutationen« herbeiführen. Die neuen mutierenden Mole-
küle erwiesen sich als »reinerbig« und brachten Tochtermole-
küle hervor, die ihnen genau glichen. Zur großen Zufrieden-
heit der Wissenschaftler überflügelte die neue Variante ihre
Ausgangsmoleküle und gewann in der Reagenzglaswelt, in der
diese Protolebewesen zu Hause waren, schnell die Oberhand.
Und der Komplex aus A, B und C ist auch nicht die einzige
Gruppe von Molekülen, die sich so verhält. Es gibt auch D, E
und F, um ein vergleichbares Dreiersystem zu nennen. Rebeks
Arbeitsgruppe konnte sogar selbstverdoppelnde Hybride aus
Elementen der Gruppen A/B/C und D/E/F herstellen.

Die sich wirklich selbstverdoppelnden Moleküle, die wir in

der Natur kennen - die Nucleinsäuren DNA und RNA - haben
weitaus reichhaltigere Variationsmöglichkeiten. Rebeks Repli-
kator ist eine Kette aus nur zwei Gliedern, aber DNA ist ein
Kettenmolekül von unbegrenzter Länge; jedes seiner vielen
hundert Glieder gehört zu einem von vier Typen; und wenn
ein bestimmter DNA-Abschnitt als Matrize für die Bildung
eines neuen DNA-Moleküls dient, dient jeder dieser vier Bau-
steine als Vorlage für einen anderen der vier. Die vier Einhei-
ten, Basen genannt, sind die Verbindungen Adenin, Thymin,
Cytosin und Guanin, in der Regel abgekürzt als A, T, C und G. A
dient immer als Matrize für T und umgekehrt, und das gleiche
gilt für C und G. Für A, T, C und G ist jede nur denkbare
Reihenfolge möglich, und immer wieder wird sie originalge-
treu kopiert. Und da die Länge von DNA-Ketten keinen Be-
schränkungen unterliegt, gibt es auch unendlich viele Varia-
tionsmöglichkeiten. Das ist ein möglicher Ausgangspunkt für
eine Informationsexplosion, deren Auswirkungen schließlich
über ihren Heimatplaneten hinausgehen und die Sterne errei-
chen können.

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Der Widerhall der Replikatorexplosion in unserem Sonnensy-

stem beschränkte sich während des größten Teils der vier
Milliarden Jahre, seit sie sich ereignete, auf ihren Heimat-
planeten. Erst in der letzten Jahrmillion ist ein Nervensystem
entstanden, das eine Funktechnik erfinden konnte. Und erst in
den letzten Jahrzehnten hat es diese Technik tatsächlich ent-
wickelt. Jetzt geht eine immer größer werdende Kugel aus
informationstragenden Radiowellen mit Lichtgeschwindigkeit
von dem Planeten aus.

Ich sage »informationstragend«, weil auch schon vorher

jede Menge Radiowellen durch den Kosmos vagabundierten.
Sterne senden nicht nur in dem Frequenzbereich, den wir als
sichtbares Licht bezeichnen, sondern auch im Bereich der
Radiowellen Strahlung aus. Ein gewisses Hintergrundrau-
schen ist sogar vom Urknall übriggeblieben, der die Zeit und
das Universum entstehen ließ. Aber diese Strahlung hat keine
sinnvollen Muster. Sie trägt keine Information. Ein Radioastro-
nom auf einem Planeten des Sterns Proxima Centauri würde
das gleiche Hintergrundrauschen empfangen wie wir, aber er
würde außerdem ein viel komplizierteres Muster von Radio-
wellen messen, das aus der Richtung unseres Sterns namens
Sol kommt. Er würde darin kein Gemisch von vier Jahre alten
Fernsehsendungen erkennen, aber er würde bemerken, daß
es mehr Regelmäßigkeiten enthält und demnach informa-
tionsreicher ist als das übliche Hintergrundrauschen. Die Ra-
dioastronomen bei Proxima Centauri würden mit aufgereg-
tem Trara berichten, der Stern Sol sei in dem informationstra-
genden Äquivalent einer Supernova explodiert (und sie wür-
den vermuten, daß die Explosion in Wirklichkeit von einem
Planeten der Sonne ausgeht, könnten sich in dieser Frage aber
nicht sicher sein).

Wie wir gesehen haben, explodieren Replikationsbomben

langsamer als Supernovae. Bei unserer eigenen hat es ein paar
Milliarden Jahre gedauert, bis die Schwelle der Funkwellen

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erreicht war, also der Augenblick, in dem ein Teil der Informa-
tion den Ausgangsplaneten verläßt und benachbarte Sternsy-
steme mit Wellen der Bedeutung durchtränkt. Sollte unsere
Informationsexplosion den typischen Verlauf genommen ha-
ben, kann man vermuten, daß der Vorgang eine abgestufte
Reihe von Schwellen überschreitet. Die Schwelle der Funk-
wellen und davor die Schwelle der Sprachentwicklung wer-
den während der Entfaltung der Replikationsexplosion erst
relativ spät erreicht. Zuvor gab es - zumindest auf unserem
Planeten - das, was man die Schwelle der Nervenzellen nen-
nen könnte, und noch früher die Schwelle der Vielzeller. Die
erste Schwelle, sozusagen die Urmutter aller weiteren, war die
Schwelle des Replikators. Sie war der Auslöser, der die ganze
Explosion überhaupt erst möglich machte.

Was ist an Replikatoren so wichtig? Wie kann ein zufällig

entstandenes Molekül mit der scheinbar harmlosen Eigen-
schaft, als Vorlage für die Herstellung eines gleichartigen Mo-
leküls zu dienen, eine Explosion auslösen, deren Auswirkun-
gen letztlich über den einzelnen Planeten hinausgehen? Wie
wir gesehen haben, beruht die Durchschlagskraft der Replika-
toren zum Teil auf dem exponentiellen Wachstum. Es ist an
den Repikatoren besonders deutlich zu erkennen. Ein einfa-
ches Beispiel ist der sogenannte Kettenbrief. Man erhält eine
Postkarte mit folgendem Text: »Machen Sie sechs Kopien von
dieser Karte und schicken Sie diese innerhalb einer Woche an
sechs Bekannte. Wenn Sie das nicht tun, wird ein Fluch über
Sie ausgesprochen, und Sie werden innerhalb eines Monats in
einem entsetzlichen Todeskampf sterben.« Wer vernünftig ist,
wirft so etwas in den Papierkorb. Aber ein erheblicher Pro-
zentsatz der Menschen ist nicht vernünftig: Sie sind ein wenig
verunsichert oder von der Drohung eingeschüchtert und
schicken sechs Kopien an andere. Von diesen sechs fühlen
vielleicht zwei sich wiederum bemüßigt, Kopien weiterzu-
schicken. Wenn im Durchschnitt ein Drittel der Personen, die

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eine solche Karte bekommen, den Anweisungen folgen, ver-
doppelt sich die Zahl der umlaufenden Karten jede Woche.
Theoretisch bedeutet das, daß nach einem Jahr 2 hoch 52 oder
viertausend Billionen Karten unterwegs sind, genug, um jeden
Mann, jede Frau und jedes Kind auf der Welt unter sich zu
begraben.

Exponentielles Wachstum, das nicht durch Ressourcenman-

gel begrenzt wird, führt immer in überraschend kurzer Zeit zu
verblüffend großen Folgen. In der Praxis sind die Ressourcen
begrenzt, und auch andere Faktoren tragen dazu bei, das
exponentielle Wachstum einzuschränken. In unserem hypo-
thetischen Beispiel werden die Leute wahrscheinlich nicht
mehr mitmachen, wenn sie den Kettenbrief zum zweitenmal
bekommen. In der Konkurrenz um die Ressourcen könnten
Varianten des Replikators auftauchen, die es zufällig besser
schaffen, sich vermehren zu lassen. Diese effizienteren Repli-
katoren werden auf die Dauer ihre weniger effizienten Rivalen
verdrängen. Wichtig ist dabei die Erkenntnis, daß keines der
sich vermehrenden Gebilde ein bewußtes Interesse an seiner
Vervielfältigung hat. Dennoch füllt die Welt sich ganz von
selbst mit den effizientesten Replikatoren.

Bei dem Kettenbrief könnte die höhere Effizienz zum Bei-

spiel darin bestehen, daß eine bessere Formulierung auf dem
Papier steht. Statt der ein wenig unglaubwürdigen Behaup-
tung »Sie werden innerhalb eines Monats in einem entsetzli-
chen Todeskampf sterben« könnte die Botschaft zum Beispiel
lauten: »Bitte, ich flehe Sie an, retten Sie Ihre und meine Seele
und gehen Sie das Risiko nicht ein; auch wenn Sie Zweifel
haben, folgen Sie den Anweisungen und schicken Sie den
Brief an sechs weitere Personen.« Solche »Mutationen« kön-
nen immer wieder vorkommen. Das Ergebnis ist eine unein-
heitliche Population von Briefen, die alle im Umlauf sind, alle
von dem gleichen gemeinsamen Vorfahren abstammen und
sich dennoch in der Formulierung sowie in Stärke und Art der

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166

jeweils angewandten Überredungskünste unterscheiden. Die
erfolgreicheren Varianten werden sich auf Kosten ihrer weni-
ger erfolgreichen Konkurrenten vermehren. Erfolg ist einfach
gleichbedeutend mit der Zahl der in Umlauf befindlichen
Kopien. Ein bekanntes Beispiel für einen solchen Erfolg ist der
»Judasbrief«. Er hat die Welt schon mehrmals umrundet und
sich dabei vermutlich vermehrt. Während ich dieses Buch
schrieb, schickte mir Dr. Oliver Goodenough von der Univer-
sität Vermont die folgende Version (und wir verfaßten ge-
meinsam für die Fachzeitschrift Nature einen Artikel darüber,
in dem wir ihn als »virus of the mind« (»Virus des Geistes«)
bezeichneten):

»MIT LIEBE IST ALLES MÖGLICH«

Dieses Blatt wurde Ihnen um Ihres Glückes willen ge-

schickt. Das Original befindet sich in Neuengland. Es wurde
neunmal um die Welt geschickt. Ihnen wurde das Glück ge-
sandt. Sie werden innerhalb von vier Tagen nach Erhalt dieses
Briefes großes Glück haben, vorausgesetzt, Sie schicken ihn
Ihrerseits weiter. Das ist kein Scherz. Das Glück wird mit der
Post kommen. Schicken Sie kein Geld. Schicken Sie Kopien an
Menschen, von denen Sie glauben, daß sie Glück brauchen.
Schicken Sie kein Geld, denn Vertrauen kostet nichts. Behal-
ten Sie diesen Brief nicht. Er muß Ihre Hände innerhalb von
96 Stunden verlassen. Ein Offizier der Luftabwehr namens Joe
Elliott bekam 40 Millionen Dollar. George Welch verlor fünf
Tage nach Erhalt dieses Briefes seine Frau. Er hatte ihn nicht
weitergeschickt. Aber bevor sie starb, bekam er 75.000 Dollar.
Bitte schicken Sie Kopien weiter und warten Sie ab, was in den
nächsten vier Tagen geschieht. Der Kettenbrief kommt aus
Venezuela und wurde verfaßt von Saul Anthony Degnas,
einem Missionar aus Südamerika. Seither müssen Kopien um
die Welt laufen. Sie müssen 20 Kopien machen und sie an

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167

Freunde und Bekannte schicken, dann erleben sie in wenigen
Tagen eine Überraschung. Das ist Liebe, auch wenn Sie nicht
abergläubisch sind. Beachten Sie unbedingt folgendes: Canto-
nare Dias erhielt diesen Brief im Jahr 1903. Er bat seine
Sekretärin, ihn abzuschreiben und weiterzuschicken. Ein paar
Tage später gewann er 20 Millionen Dollar in einer Lotterie.
Carl Dobbit, ein Büroangestellter, erhielt den Brief und ver-
gaß, ihn innerhalb von 96 Stunden weiterzuschicken. Er verlor
seine Stellung. Nachdem er den Brief wiedergefunden hatte,
machte er 20 Kopien und schickte sie weiter. Ein paar Tage
später erhielt er einen besseren Posten. Dolan Fairchild be-
kam den Brief, glaubte nicht daran und warf ihn weg. Neun
Tage später starb er. Im Jahr 1987 kam der Brief zu einer
jungen Frau in Kalifornien. Er war verblichen und kaum les-
bar. Sie nahm sich vor, den Brief abzuschreiben und weiterzu-
schicken, aber sie legte ihn auf die Seite und verschob es auf
später. Sie wurde von verschiedenen Schwierigkeiten heim-
gesucht, unter anderem von einem teuren Defekt an ihrem
Auto. Dieser Brief verließ ihre Hände nicht innerhalb von 96
Stunden. Schließlich schrieb sie den Brief, wie versprochen,
ab und bekam ein neues Auto. Denken Sie daran, schicken Sie
kein Geld. Mißachten Sie es nicht - es funktioniert.
St. Judas

Dieses lächerliche Schriftstück trägt alle Kennzeichen dafür,
daß es mehrere Mutationen durchgemacht hat. Es enthält
zahlreiche Fehler und ungeschickte Formulierungen, und es
ist bekannt, daß auch noch andere Versionen kursieren. Nach-
dem unser Aufsatz in Nature erschienen war, erhielt ich aus
der ganzen Welt mehrere Fassungen, die sich deutlich vonein-
ander unterschieden. In einer stand beispielsweise nicht »Of-
fizier der Luftabwehr«, sondern »Offizier der britischen Luft-
waffe«. Der Judasbrief ist bei der amerikanischen Postverwal-
tung bestens bekannt; nach ihren Berichten geht er auf die Zeit

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168

vor Beginn der offiziellen Postaufzeichnungen zurück, und es
kommt immer wieder zu einer plötzlichen epidemieartigen
Verbreitung.

Man beachte, daß die Liste der angeblichen Glücksfälle bei

Gehorsamen und der Katastrophen bei Verweigerern nicht
von den Betroffenen selbst in den Brief hineingeschrieben
worden sein kann, denn das Glück trat erst ein, nachdem der
Brief ihre Hände verlassen hatte, und die Ungehorsamen ha-
ben den Brief nicht weitergeschickt. Die Geschichten sind
vermutlich schlicht erfunden - was man unabhängig davon
auch wegen ihres wenig plausiblen Inhalts vermuten kann.
Damit sind wir bei dem wichtigsten Unterschied zwischen
Kettenbriefen und den natürlichen Replikatoren, von denen
die Explosion des Lebens ausging. Kettenbriefe werden ur-
sprünglich von Menschen abgeschickt, und die Veränderun-
gen ihres Wortlauts werden ebenfalls in menschlichen Gehir-
nen erdacht. Zu Beginn der Explosion des Lebens gab es
keinen Geist, keine Kreativität und keine Absichten, sondern
nur Chemie. Aber nachdem die selbstreplizierenden Mole-
küle erst einmal durch Zufall entstanden waren, hatten die
erfolgreicheren Varianten dennoch ganz automatisch das Be-
streben, sich auf Kosten der weniger erfolgreichen zu vermeh-
ren.

Wie bei den Kettenbriefen ist Erfolg auch bei chemischen

Replikatoren schlicht und einfach gleichbedeutend mit der
Zahl der im Umlauf befindlichen Exemplare. Aber das ist nur
eine Definition und fast eine Tautologie. Erfolg bemißt sich
nach praktischer Kompetenz, und praktische Kompetenz ist
durchaus nichts Tautologisches, sondern etwas sehr Konkre-
tes. Ein erfolgreiches Replikatormolekül besitzt alles, was es
aus Gründen der chemischen Machbarkeit zur Verdoppelung
braucht. In der Praxis kann das fast unendlich viel bedeuten,
obwohl die Replikatoren selbst oft erstaunlich einheitlich wir-
ken.

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169

Die DNA ist sehr einheitlich: Sie besteht ausschließlich aus

allen möglichen Sequenzen derselben vier »Buchstaben«: A,
T, C und G. Wie wir aber in vorangegangenen Kapiteln gese-
hen haben, bedienen die DNA-Sequenzen sich einer verwir-
renden Vielfalt von Mitteln, um sich zu verdoppeln. Sie kon-
struieren beispielsweise bei Flußpferden ein leistungsfähige-
res Herz, bei Flöhen sprungkräftigere Beine, bei Mauerseg-
lern aerodynamisch wirksamere Flügel oder bei Fischen eine
Schwimmblase, die mehr Auftrieb gibt. Alle Organe und
Gliedmaßen der Tiere, alle Wurzeln, Blätter und Blüten der
Pflanzen, alle Augen, Gehirne und geistigen Fähigkeiten, ja
sogar Ängste und Hoffnungen sind Hilfsmittel, mit denen
erfolgreiche DNA-Sequenzen sich in die Zukunft befördern.
Die Hilfsmittel selbst sind fast unendlich wandlungsfähig, aber
das Rezept zu ihrer Konstruktion ist im Gegensatz dazu fast
lächerlich eintönig. Nur A, T, C und G in immer neuer Reihen-
folge.

Das war vielleicht nicht immer so. Wir haben keine Anhalts-

punkte, ob der Ursprungscode zu Beginn der Informationsex-
plosion bereits in DNA-Buchstaben geschrieben war. Tatsäch-
lich ist die ganze auf DNA und Protein basierende Informa-
tionstechnologie so raffiniert - der Chemiker Graham Cairns-
Smith bezeichnete sie als High-Tech -, daß man sich kaum
vorstellen kann, wie sie durch puren Zufall und ohne ein
anderes selbstverdoppelndes System als Vorläufer entstanden
sein kann. Der Vorläufer war vielleicht die RNA; oder er äh-
nelte Julius Rebeks einfachen selbstreplizierenden Molekü-
len; vielleicht war es aber auch etwas ganz anderes. Eine
faszinierende Möglichkeit, die ich in meinem Buch Der blinde
Uhrmacher
genauer erörtert habe, ist der Vorschlag von
Cairns-Smith selbst (siehe Seven Clues to the Origin of Life),
anorganische Tonkristalle könnten die ersten Replikatoren
gewesen sein. Mit Sicherheit werden wir es nie wissen.

Immerhin können wir aber Vermutungen über den allge-

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170

meinen Zeitplan anstellen, nach dem die Explosion des Le-
bens auf einem beliebigen Planeten im Universum abläuft.
Welche Mechanismen dabei im einzelnen am Werk sind,
hängt von den örtlichen Gegebenheiten ab. Das System aus
DNA und Protein kann sich in einer Welt aus eiskaltem flüssi-
gen Ammoniak nicht entfalten, aber vielleicht wäre ein ande-
res System der Vererbung und Keimesentwicklung dazu in
der Lage. Genau solche Einzelheiten möchte ich aber jetzt
beiseite lassen und mich auf die vom einzelnen Planeten
unabhängigen allgemeinen Prinzipien konzentrieren. Ich
werde systematisch die Schwellen behandeln, die wahr-
scheinlich jede Replikationsbombe auf einem Planeten über-
schreiten wird. Manche davon sind wohl tatsächlich allge-
meingültig, andere dürften auf unsere Erde beschränkt sein.
Welche von ihnen universell gültig sind und welche nur lokale
Bedeutung haben, ist nicht immer leicht zu entscheiden; diese
Frage ist auch für sich gesehen sehr interessant.

Schwelle Nummer l ist natürlich die Schwelle des Replika-

tors selbst: Es muß ein selbstverdoppelndes System entste-
hen, in dem es zumindest in Ansätzen erbliche Abweichun-
gen gibt und in dem beim Kopieren gelegentlich Fehler auf-
treten. Das Überschreiten der Schwelle Nummer l hat zur
Folge, daß der Planet von einer gemischten Population bevöl-
kert ist, deren Mitglieder um Ressourcen konkurrieren. Die
Ressourcen sind knapp oder werden es, wenn sich die Kon-
kurrenz verschärft. Manche leicht abweichenden Exemplare
werden sich im Kampf um die knappen Ressourcen als be-
sonders erfolgreich erweisen, andere dagegen werden wenig
Erfolg haben. Damit haben wir also eine Grundform der
natürlichen Selektion.

Zunächst gründet sich der Erfolg der konkurrierenden Re-

plikatoren ausschließlich auf die Eigenschaften der Replika-
toren selbst, beispielsweise darauf, wie gut ihre Form sich als
Vorlage für die Verdoppelung eignet. Aber jetzt, nach vielen

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Generationen der Evolution, erreichen wir die Schwelle
Nummer 2, die Phänotypschwelle. Die Replikatoren überle-
ben nicht mehr aufgrund ihrer eigenen Eigenschaften, son-
dern mit Hilfe von Wirkungen, die sie auf etwas anderes
ausüben. Dieses andere nennen wir Phänotyp. Auf der Erde
erkennt man den Phänotyp leicht: Er besteht aus denjenigen
Teilen der Tiere und Pflanzen, die von den Genen beeinflußt
werden, und das sind praktisch alle Körperteile. Man kann
sich den Phänotyp als Machtmittel vorstellen, mit der erfolg-
reiche Replikatoren sich Zugang zur nächsten Generation
verschaffen. Allgemeiner kann man den Phänotyp als Auswir-
kung eines Replikators definieren, die zum Erfolg des Repli-
kators beiträgt, selbst aber nicht repliziert wird. So entschei-
det zum Beispiel ein bestimmtes Gen bei einer auf den pazi-
fischen Inseln beheimateten Schneckenart darüber, ob das
Gehäuse links- oder rechtsherum gewunden ist. Das DNA-
Molekül selbst ist nicht links- oder rechtshändig, aber seine
phänotypischen Wirkungen sind das sehr wohl.

Möglicherweise erfüllen links- und rechtsgedrehte Schnek-

kenhäuser ihre Aufgabe, den Körper der Schnecke zu schüt-
zen, unterschiedlich gut. Da die Schneckengene in den Ge-
häusen liegen, deren Form sie beeinflussen, werden Gene,
die erfolgreichere Gehäuse hervorbringen, zahlreicher wer-
den als solche, die für die Konstruktion weniger wirksamer
Gehäuse sorgen. Das Schneckenhaus ist ein Phänotyp und läßt
selbst keine neuen Schneckenhäuser entstehen. Jedes Ge-
häuse wird von der DNA aufgebaut, und diese läßt neue DNA
entstehen.

DNA-Sequenzen beeinflussen ihren Phänotyp (zum Bei-

spiel die Windungsrichtung von Schneckenhäusern) über
eine mehr oder weniger komplizierte Reihe zwischengeschal-
teter Vorgänge, die man unter der allgemeinen Überschrift
»Embryologie« zusammenfaßt. Auf der Erde ist der erste
Schritt in diesem Ablauf immer die Synthese eines Proteinmo-

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leküls, dessen Aufbau mit Hilfe des berühmten genetischen
Codes in allen Einzelheiten durch die Anordnung der vier
DNA-Buchstaben festgelegt ist. Aber solche Einzelheiten sind
höchstwahrscheinlich nur von lokaler Bedeutung. Allgemei-
ner gesagt, wird es auf einem Planeten irgendwann Replikato-
ren geben, deren Auswirkungen (Phänotypen) den Vermeh-
rungserfolg der Replikatoren verbessern, mit welchen Mitteln
auch immer. Ist die Phänotypschwelle überschritten, überle-
ben die Replikatoren mit Hilfe ihrer Stellvertreter, das heißt
ihrer Folgen auf die Welt. Auf der Erde beschränken sich diese
Folgen meist auf den Körper, in dem sich das Gen befindet.
Aber das muß nicht so sein. Nach der Theorie vom erweiterten
Phänotyp (der ich ein ganzes Buch mit diesem Titel gewidmet
habe) müssen die phänotypischen Machtmittel, mit denen die
Replikatoren für ihr langfristiges Überleben sorgen, nicht auf
den »eigenen« Körper des Replikators beschränkt sein. Gene
können auch über den einzelnen Körper hinaus die Welt als
Ganzes, einschließlich anderer Körper, beeinflussen.

Wie allgemeingültig die Phänotypschwelle ist, weiß ich

nicht. Nach meiner Vermutung wurde sie auf allen Planeten
überschritten, auf denen die Explosion des Lebens über ein
sehr rudimentäres Stadium hinausgekommen ist. Und ich
nehme an, daß das gleiche auch für die nächste Schwelle auf
meiner Liste gilt. Schwelle Nummer 3 ist die Schwelle der
Replikatorengruppen, die auf manchen Planeten vermutlich
vor der Phänotypschwelle oder gleichzeitig mit ihr überschrit-
ten wurde. In der Anfangszeit sind die Replikatoren vermut-
lich selbständige Entitäten, die zusammen mit konkurrieren-
den einfachen Replikatoren im Oberlauf des genetisches Flus-
ses treiben. Unser heutiges System der DNA-Protein-Informa-
tionstechnologie hat dagegen die charakteristische Eigen-
schaft, daß kein Gen allein etwas ausrichten kann. Das chemi-
sche Umfeld, in dem Gene wirken, besteht nicht aus den
Stoffumsetzungen der Außenwelt, die ohne Hilfe ablaufen. Sie

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bilden zwar den Hintergrund, aber der ist sehr weit entfernt.
Der unmittelbare, lebensnotwendige chemische Zusammen-
hang, in dem der DNA-Replikator steht, ist ein viel kleinerer
Beutel voller konzentrierter Substanzen: die Zelle. Eine Zelle
als Beutel voller Chemikalien zu bezeichnen, ist eigentlich
irreführend, denn viele Zellen haben in ihrem Inneren raffi-
nierte Strukturen aus gefalteten Membranen, und in, an und
zwischen diesen Membranen laufen lebenswichtige chemi-
sche Reaktionen ab. Der chemische Mikrokosmos der Zelle
wird durch das Zusammenwirken von Hunderten - und in
höher entwickelten Zellen Hunderttausenden - von Genen
aufgebaut. Jedes Gen trägt zu diesem Umfeld bei, und alle
nutzen es zum Überleben. Die Gene funktionieren in Grup-
pen. Das gleiche haben wir aus einem etwas anderen Blick-
winkel auch im ersten Kapitel erfahren.

Die einfachsten Systeme, die selbständig die DNA verdop-

peln können, sind auf der Erde die Bakterienzellen. Sie brau-
chen mindestens ein paar hundert Gene, um die Bausteine
herzustellen, die sie brauchen. Zellen, die keine Bakterien
sind, bezeichnet man als eukaryontisch. Zu ihnen gehören
unsere eigenen Zellen ebenso wie die aller Tiere, Pflanzen,
Pilze und Protozoen.

Eukaryontenzellen besitzen in der Regel Hunderte oder

Tausende von Genen, die alle zusammenarbeiten. Wie wir im
zweiten Kapitel gesehen haben, erscheint es heute durchaus
möglich, daß die Eukaryontenzelle selbst ursprünglich eine
Gruppe von vielleicht einem halben Dutzend zusammenge-
ballter Bakterienzellen war. Aber das ist Teamwork höherer
Ordnung, und darum geht es mir hier nicht. Ich spreche
vielmehr von der Tatsache, daß alle Gene ihre Wirkungen in
einem chemischen Umfeld entfalten, das durch die Gesamt-
heit der Gene in einer Zelle geschaffen wird.

Wenn man begriffen hat, daß Gene im Team arbeiten, ist

man natürlich versucht, einen Gedankensprung zu machen

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und anzunehmen, die Selektion wähle heute unter konkurrie-
renden Gengruppen aus. Demnach hätte auch die Selektion
sich auf eine höhere Organisationsebene begeben. Der Ge-
danke ist verlockend, aber nach meiner Überzeugung völlig
falsch. Viel aufschlußreicher ist es, zu sagen: Die Darwinsche
Selektion wählt nach wie vor unter konkurrierenden Genen
aus, aber dabei haben diejenigen Gene einen Vorteil, die in
Gegenwart der anderen Gene
gut gedeihen, welche sich
gleichzeitig gegenseitig nützen. Diese Aussage ist uns schon
im ersten Kapitel begegnet. Dort war davon die Rede, wie
Gene in demselben Arm des digitalen Flusses zu »guten Ka-
meraden« werden.

Die nächste wichtige Schwelle, die bei der weiteren Entfal-

tung der Replikationsbombe überschritten wird, ist die der
Vielzeller, die ich als Schwelle Nummer 4 bezeichnen möchte.
Wie wir gesehen haben, ist in unserer Lebenswelt jede Zelle
eine kleine, räumlich begrenzte Ansammlung chemischer
Verbindungen, in denen eine Gruppe von Genen eingebettet
ist. Die Zelle enthält zwar die gesamte Gruppe, wird aber nur
von einer Untergruppe hergestellt. Nun teilen sich die Zellen:
Sie halbieren sich, und die Tochterzellen wachsen wieder zur
vollen Größe heran. Gleichzeitig verdoppeln sich alle in der
Zelle befindlichen Gene. Wenn die Tochterzellen sich nicht
vollständig trennen, sondern aneinandergeheftet bleiben,
können große Zellverbände aus vielen Einzelzellen entste-
hen. Die Fähigkeit, solche vielzelligen Gebilde hervorzubrin-
gen, dürfte in anderen Welten ebenso wichtig sein wie in
unserer eigenen. Wenn die Vielzellerschwelle überschritten
ist, können Phänotypen auftauchen, deren Formen und Funk-
tionen in einem wesentlich größeren Maßstab von Bedeutung
sind als bei Einzelzellen. Ein Geweih oder ein Blatt, die Linse
des Auges oder das Gehäuse einer Schnecke - alle diese
Formen werden von Zellen gebildet, aber die Zellen sind
keine verkleinerten Ausgaben der großen Form. Mit anderen

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175

Worten: Vielzellige Organe wachsen nicht nach Art der Kri-
stalle. Zumindest auf unserem Planeten entstehen sie eher wie
Gebäude, die ja auch nicht wie überdimensionale Backsteine
aussehen. Eine Hand hat eine charakteristische Form, aber sie
besteht nicht aus bandförmigen Zellen - das wäre nur dann
der Fall, wenn Phänotypen wie Kristalle heranwüchsen. Viel-
zellige Organismen nehmen aber, wiederum wie Häuser, ihre
charakteristische Form und Größe an, weil Schichten aus
Einzelzellen (den Bausteinen) nach bestimmten Regeln im
richtigen Augenblick das Wachstum einstellen. Die Zellen
müssen also sozusagen »wissen«, wo sie sich im Verhältnis zu
anderen Zellen befinden. Leberzellen verhalten sich, als ob sie
wüßten, daß sie Leberzellen sind, ja, sie scheinen sogar zu
wissen, ob sie am Rand oder in der Mitte eines Leberlappens
liegen. Die Frage, wie ihnen das gelingt, ist schwer zu beant-
worten und wird intensiv untersucht. Die Antworten sind
wahrscheinlich für unseren Planeten charakterististisch, und
ich möchte mich hier nicht weiter damit befassen. Wir haben
das Thema im ersten Kapitel bereits angerissen. Wie die Me-
chanismen auch im einzelnen aussehen mögen - sie wurden
auf demselben allgemeinen Weg vervollkommnet wie alle
anderen Verbesserungen des Lebendigen: durch das nicht
zufällige Überleben erfolgreicher Gene, die aufgrund ihrer
Wirkungen ausgewählt wurden - in diesem Fall aufgrund der
Wirkungen, die sie auf das Verhalten der Zellen im Verhältnis
zu den Nachbarzellen ausüben.

Die nächste wichtige Schwelle möchte ich erörtern, weil

ich annehme, daß sie ebenfalls nicht nur räumlich begrenzt
für unseren Planeten von Bedeutung ist. Es ist die Schwelle
der Hochgeschwindigkeits-Informationsverarbeitung. Diese
Schwelle Nummer 5 wurde auf der Erde durch eine beson-
dere Klasse von Zellen erreicht, die Neuronen oder Nerven-
zellen, und deshalb können wir sie für unseren lokalen Be-
reich auch als Nervensystemschwelle bezeichnen. Unabhän-

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176

gig davon, wie sie auf einem Planeten erreicht wird, ist sie
wichtig, denn nun können Tätigkeiten nach ganz anderen, viel
schnelleren Zeitplänen ablaufen als bei der Aktivität der Gene
mit ihrer chemischen Kraftübertragung. Raubtiere können auf
ihr Abendessen springen, und die Beute kann um ihr Leben
laufen. Der Muskel- und Nervenapparat, der das ermöglicht,
agiert und reagiert weitaus schneller als das embryologische
Origami, mit dem die Gene den ganzen Apparat erst einmal
schaffen. Absolut gesehen, können Geschwindigkeit und Re-
aktionszeiten auf anderen Planeten sich stark von den unseren
unterscheiden, aber immer wird eine wichtige Grenze über-
schritten, wenn die von den Replikatoren gebildeten Vorrich-
tungen zum erstenmal Reaktionszeiten haben, die um Grö-
ßenordnungen unter den embryologischen Entwicklungszei-
ten der Replikatoren selbst liegen. Ob die dazu notwendigen
Hilfsmittel unbedingt den Gebilden ähneln müssen, die wir
auf der Erde Neuronen und Muskelzellen nennen, ist nicht so
sicher. Aber wenn eine Grenze überschritten wird, die der
Nervensystemschwelle entspricht, treten höchstwahrschein-
lich weitere Folgen ein, und die Wirkungen der Replikations-
bombe weiten sich aus.

Eine dieser Folgen dürfte darin bestehen, daß Ansammlun-

gen datenverarbeitender Einheiten entstehen, »Gehirne«, die
komplizierte, von »Sinnesorganen« aufgenommene Daten-
muster umsetzen und in einem »Gedächtnis« speichern kön-
nen. Eine verwickeitere und rätselhaftere Folge nach dem
Überschreiten der Neuronenschwelle ist die bewußte Wahr-
nehmung, und diese Bewußtseinsschwelle bezeichne ich als
Schwelle Nummer 6. Wie oft sie auf der Erde überschritten
wurde, wissen wir nicht. Nach Ansicht mancher Philosophen
ist sie untrennbar an die Sprache geknüpft, die sich offenbar
nur einmal entwickelte: bei der zweibeinigen Affenart Homo
sapiens.
Ob Bewußtsein nun Sprache erfordert oder nicht: Ich
unterstelle, daß die Sprachschwelle wichtig ist, und nenne sie

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Schwelle Nummer 7. Sie kann auf einem Planeten überschrit-
ten werden oder auch nicht. Die Einzelheiten, beispielsweise
ob Sprache durch Schall oder andere physikalische Vorgänge
übertragen wird, müssen lokalen Gegebenheiten vorbehalten
bleiben.

So betrachtet, ist die Sprache das System der Vernetzung,

durch das die Gehirne (wie sie auf der Erde genannt werden)
einen so intensiven Informationsaustausch pflegen, daß sie
gemeinsam eine Technologie entwickeln können. Eine solche
gemeinsame Technologie - vom Nachahmen bei der Entwick-
lung von Steinwerkzeug über die Erfindung des Metall-
schmelzens und des Rades bis zu Dampfkraft und Elektronik -
hat selbst viele Eigenschaften einer weiteren Explosion, und
deshalb kann man ihren Beginn mit Fug und Recht als Techno-
logieschwelle oder Schwelle Nummer 8 bezeichnen. Mög-
licherweise hat die menschliche Kultur sogar eine ganz ei-
gene, neue Replikationsbombe gezündet, die von selbstver-
doppelnden Entitäten eines ganz neuen Typs angetrieben
wird. Diese Entitäten, die ich in Das egoistische Gen als Meme
bezeichnet habe, vermehren sich in einem Strom der Kultur
und unterliegen ebenfalls den darwinistischen Prinzipien.
Vielleicht detoniert mittlerweile auch eine Membombe paral-
lel zu der Genbombe, die zuvor mit Gehirn und Kultur die
Voraussetzungen für die neue Explosion geschaffen hat. Aber
auch das ist eine zu umfangreiche Frage für dieses Kapitel. Ich
muß zu dem Hauptthema der planetaren Explosion zurück-
kehren und feststellen, daß nach Erreichen der Technologie-
schwelle höchstwahrscheinlich irgendwann auch die Fähig-
keit entsteht, sich über den Heimatplaneten hinaus bemerkbar
zu machen. Schwelle Nummer 9, die Schwelle der Radiowel-
len, wird überschritten, und nun können Beobachter von
außen bemerken, daß die Replikationsbombe in einem weite-
ren Sonnensystem explodiert ist.

Das erste Anzeichen, das ein äußerer Beobachter bemerken

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178

wird, sind, wie wir gesehen haben, wahrscheinlich die Radio-
wellen, die als Nebenprodukt der internen Kommunikation
auf dem Planeten nach außen dringen. Später werden dann
die technologischen Erben der Replikationsbombe ihre Auf-
merksamkeit wahrscheinlich selbst nach außen und zu den
Sternen richten. Im Zuge unserer eigenen zögernden Schritte
in dieser Richtung haben wir Botschaften in den Weltraum
gesendet, die sich gezielt an fremde Intelligenzen richteten.
Wie kann man eine Nachricht an eine fremde Intelligenz
gestalten, von der man keine genaue Vorstellung hat? Das ist
begreiflicherweise schwierig, und es wäre durchaus möglich,
daß unsere Bemühungen einfach nicht verstanden wurden.
Bisher hat man sich vor allem darauf konzentriert, fremde
Beobachter überhaupt auf unsere Existenz aufmerksam zu
machen, ohne daß die Botschaften einen wesentlichen Inhalt
haben. Es ist die gleiche Aufgabe, der auch mein hypotheti-
scher Professor Crickson im ersten Kapitel gegenüberstand.
Er baute in den DNA-Code die Primzahlen ein, und ein ent-
sprechendes Verfahren ist auch ein sinnvoller Weg, anderen
Welten unser Vorhandensein anzuzeigen. Musik mag als bes-
sere Werbung für unsere Spezies erscheinen, und selbst wenn
die Zuhörer keine Ohren haben, können sie vielleicht auf
ihre Weise etwas daraus entnehmen. Der berühmte Wissen-
schaftler und Schriftsteller Lewis Thomas hat vorgeschlagen,
wir sollten Bach senden, alles von Bach und nichts als Bach;
allerdings fürchtete er, das könne wie Prahlerei wirken. Aber
ein fremdartiger Geist könnte Musik auch fälschlicherweise
für die rhythmischen Signale eines Pulsars halten. Pulsare
sind Sterne, die in Abständen von einigen Sekunden oder
weniger rhythmische Stöße von Radiowellen aussenden. Als
eine Gruppe von Radioastronomen in Cambridge sie 1967
entdeckte, gab es vorübergehend große Aufregung, weil man
sich fragte, ob die Signale eine Botschaft aus dem Weltraum
sein könnten. Bald erkannte man aber, daß es eine nüchter-

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179

nere Erklärung gab: Ein kleiner Stern rotiert sehr schnell und
läßt einen Strahl von Radiowellen kreisen wie ein Leuchtturm
das Licht. Bis heute haben wir noch keine eindeutigen Nach-
richten von außerhalb der Erde empfangen.

Nach den Radiowellen können wir uns bisher bei der weite-

ren Ausbreitung unserer eigenen Explosion nur noch eine
weitere Schwelle vorstellen: Schwelle Nummer 10 ist die
Schwelle der Weltraumfahrt, der tatsächlichen Reise ins All.
Science-fiction-Autoren träumen von interstellar verbreiteten
Kolonien der Menschheit oder der von ihr erschaffenen Robo-
ter. Solche Tochterkolonien kann man als Keime oder Infek-
tionen betrachten, neue Zentren der sich selbst vermehren-
den Information; sie können sich später selbst wieder explo-
sionsartig ausweiten und zu neuen Replikationsbomben wer-
den, die Gene und Meme aussäen. Wenn diese Vision jemals
Wirklichkeit wird, ist es vielleicht nicht vermessen, sich einen
zukünftigen Christopher Marlowe vorzustellen, der zu dem
Bild des digitalen Flusses zurückkehrt: »Sieh nur, sieh, wie die
Flut des Lebens durch die Himmel strömt!«

Bisher haben wir kaum den ersten Schritt nach draußen

getan. Wir waren auf dem Mond, aber so großartig diese
Leistung auch ist - der Mond ist zwar keine Kalebasse, aber er
liegt uns so nahe, daß wir kaum von einer Weltraumreise
sprechen können, jedenfalls aus der Sicht fremder Wesen, mit
denen wir vielleicht irgendwann kommunizieren. Wir haben
ein paar unbemannte Sonden in den weiter entfernten Welt-
raum geschickt, auf Flugbahnen, die kein vorstellbares Ende
haben. Eine davon hat, inspiriert von dem phantasievollen
amerikanischen Astronomen Carl Sagan, eine Botschaft an
Bord, die so gestaltet ist, daß sie möglicherweise von jeder
fremden Intelligenz entziffert werden kann. Sie ist ge-
schmückt mit einem Bild der Spezies, die sie geschaffen hat,
den Zeichnungen eines nackten Mannes und einer nackten
Frau.

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180

Damit, so mag es scheinen, schließt sich der Kreis, und wir

sind wieder bei den Schöpfungsmythen, von denen wir ausge-
gangen waren. Aber dieses Paar ist nicht Adam und Eva, und
die Botschaft, die unter den anmutigen Gestalten eingraviert
ist, legt von unserem Leben ein würdigeres Zeugnis ab als
alles, was in der Genesis steht. In einer Bildersprache, die so
gestaltet ist, daß sie im ganzen Universum verständlich sein
soll, gibt die Metallplatte ihren eigenen Schöpfungsbericht
über den dritten Planeten eines Sterns, dessen Koordinaten in
der Galaxis genau angegeben sind. Als weitere Zeugnisse
enthält sie einige bildliche Darstellungen grundlegender Prin-
zipien aus Chemie und Mathematik. Sollten intelligente We-
sen jemals die Kapsel finden, werden sie der Zivilisation, die
sie geschaffen hat, zumindest ein wenig mehr als nur primiti-
ven Stammesaberglauben zuschreiben. Über die gewaltige
Kluft des Raumes hinweg werden sie wissen, daß vor langer
Zeit eine andere Explosion des Lebens stattgefunden hat und
daß an ihrem Ende eine Zivilisation stand, mit der zu reden
sich gelohnt hätte.

Nun ja, die Aussichten, daß diese Sonde auch nur in die

Nähe einer anderen Replikationsbombe gerät, sind ver-
schwindend gering. Manche Kommentatoren sehen ihren
Wert in der Inspiration für die Daheimgebliebenen. Die Abbil-
dung eines nackten Paares, die Hände in einer Geste des
Friedens gehoben, absichtlich auf eine endlose Reise zu den
Sternen geschickt, die erste exportierte Frucht der Erkenntnis
unserer eigenen Lebensexplosion - sicher wirkt sich das
Nachdenken darüber positiv auf unseren normalerweise recht
beschränkten kleinen Geist aus; ein Echo der poetischen Wir-
kung, die Newtons Standbild im Trinity College in Cambridge
auf den zugegebenermaßen gewaltigen Geist von William
Wordsworth ausgeübt hat:

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181

Von meinem Kissen in der Nacht
im Licht des Mondes und geneigter Sterne
erkannte ich die steinerne Gestalt
des großen Newton, schweigend, mit dem Prisma in der
Hand,
marmorner Mahner eines ew'gen Geistes,
einsamer Wanderer durch seltsame Gedankenwelten.

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183

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