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Ein Engel als Köder 

von Joachim Honnef 

scanned by : horseman 

kleser: Larentia 

Version 1.0 

»Liebe mich, Roland!« 

Es klang wie das zärtliche Schnurren einer Katze, die 

vom Kater ihres Herzens in den Armen gehalten wird. 

Nun, es war keine Katze, wenn auch die grünen, 

funkelnden Augen und die geschmeidigen Bewegungen 
ihres schlanken Körpers an eine Katze erinnerten.
 

Sie hieß Elisabeth Terciere, und sie war eine heißblütige 

Comteß aus Burgund, die den Ritter mit dem 
Löwenherzen um Schutz gebeten hatte  - und jetzt um 
mehr.
 

Roland brauchte keine weitere Aufforderung. 

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Er spürte die Hitze ihres nackten Körpers, der sich 

verlangend an ihn schmiegte, die weichen, warmen 
Lippen, die unter seinem Kuß zu erbeben schienen, und 
ein süßes Prickeln erfaßte ihn.
 

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Der Mond, der durch das kleine Fenster der noblen Herberge in das 
Schlafgemach lugte, schob erregt ein Wölkchen zur Seite, das ihm 
die Sicht auf das Paar verdeckte. 

Auch Ritter Roland war erregt. Sein Herz schien im heißen 

Rhythmus der Liebe zu trommeln, und Elisabeths heftige Atemzüge 
klangen wie Fanfarenstöße zum Lied der Wonne durch das leise 
Knarren des Bettes. 

Knarren? 
Ritter Roland wunderte sich. Das Bett in dieser sündhaft teuren 

Herberge hatte doch bis jetzt nicht geknarrt. Und jetzt quietschte es 
gar leise! 

Einen Augenblick lang war Ritter Roland geneigt, die Geräusche 

auf Elisabeth Tercieres Temperament zurückzuführen. 

Doch dann sah er aus den Augenwinkeln den Schatten, der 

sekundenschnell am Fenster vorbeihuschte, als hätte eine Fledermaus 
den Schein des Mondes verdunkelt. 

Rolands Kopf ruckte hoch, und er lauschte angestrengt. 
Nein, das war keine Fledermaus. Fledermäuse schieben keine 

Fenster auf. Und jetzt nahm Roland wieder ein leises Knarren wahr, 
das nicht vom Bett verursacht wurde. 

Die Tür. 
Wie von Geisterhand schwang sie langsam, langsam auf! 
Elisabeth Terciere spürte wohl Ritter Rolands nachlassende 

Liebesglut, fühlte wohl, wie er sich zurückzog. Ihre Fingernägel 
gruben sich in seinen Rücken. 

»Roland ...« schnurrte sie. »Roland?« 
Er nahm sich keine Zeit für Erklärungen. 
Mit einem gewaltigen Satz schnellte er sich vom Bett. 
Elisabeth stieß einen Laut aus, der  wie ein enttäuschtes Seufzen 

klang. 

Ritter Roland landete neben dem Bett und griff nach dem Schwert, 

das mit seinen Kleidungsstücken auf einem Schemel lag. 

Gerade noch rechtzeitig, denn in diesem Augenblick flog die Tür 

ganz auf, und auch die falsche Fledermaus am Fenster bemühte sich 

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nicht mehr, leise zu sein. 

Drei Männer stürmten in den Raum, drohende Schatten im 

Halbdunkel der Kammer. 

Der Mann an der Spitze hielt ein Schwert in der erhobenen 

Rechten, die beiden anderen waren mit Keulen bewaffnet. Ebenso 
der vierte Kerl, der sich jetzt durch das Fenster hereinschwang. 

Elisabeth Terciere schrie unterdrückt auf und zog das Laken, das 

zerwühlt und bis ans Fußende des Bettes gerutscht war, über ihren 
nackten Körper, auf dem der Schweiß im schwachen Mondlicht 
silbrig schimmerte. 

Doch das sah Roland nicht. Der Ritter mit dem Löwenherzen 

sprang auf und stellte sich tollkühn der Übermacht. 

Die Eindringlinge waren bestimmt nicht gekommen, um ihm und 

Elisabeth viel Spaß zu wünschen. Was immer diese Haderlumpen 
vorhatten, es konnte nichts Gutes sein. Und Roland hielt in dieser 
Situation Angriff für die beste Verteidigung. 

Er stürmte auf den Kerl mit dem Schwert zu. 
Der Mann verharrte wie vom Donner gerührt. Gewiß hatte er sich 

alles viel einfacher vorgestellt. Er hielt die Hand mit dem Schwert 
erhoben, doch er war wohl zu überrascht von Ritter Rolands 
blitzschneller Reaktion, um zu handeln. 

Auch die beiden Kerle hinter ihm blieben unvermittelt stehen, und 

der Mann am Fenster verlor vor Schreck gar seine Keule. 

Er hatte gedacht, es sei die einfachste Sache der Welt, einen Mann 

im Schlaf zu überraschen. Doch dieser Mann mußte einen äußerst 
leichten Schlaf gehabt haben, und er kam über sie wie der Teufel. 

Der Anführer des Quartetts schrie auf, als Rolands wuchtiger Hieb 

sein Schwert traf, daß Funken stiebten. Fast wäre es  Roland 
gelungen, ihm das Schwert aus der Hand zu schlagen, doch der 
Gegner strauchelte nur, konnte sich fangen und hielt das Schwert 
fest. 

Elisabeth stieß einen gedämpften Schrei aus. Wie gebannt starrte 

sie auf die Kämpfenden. 

»Ergib dich!« keuchte der Kerl mit dem Schwert, »oder ich 

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schneide dir was ab!« 

Und wie zur Bekräftigung seiner bösen Worte holte er mit dem 

Schwert aus. Der gemeine Kerl setzte den Schlag ziemlich tief an. 

Gedankenschnell sprang Ritter Roland zurück. 
Natürlich wollte er sich nichts abschneiden lassen. 
Roland prallte gegen die Bettkante und taumelte auf Elisabeths 

Schenkel. 

Der Kerl mit dem Schwert sah seine große Chance gekommen, als 

Roland auf dem Bett lag. 

Er stürmte mit einem triumphierenden Schrei auf Roland zu. 
Verzweiflung stieg in Roland auf. Er hatte sich noch nicht 

gefangen, und wenn der Kerl mit dem Schwert zustieß, war alles aus. 
Es blieb keine Zeit mehr, seinen Stoß zu parieren. 

Ritter Roland sah sich schon auf das Bett und vermutlich noch 

dazu auf Elisabeths Schenkel aufgespießt! 

Doch zu seiner grenzenlosen Erleichterung stieß der Angreifer 

nicht mit dem Schwert zu, sondern er schwang es plötzlich, als 
wollte er Roland mit mächtigem Streich enthaupten. 

Nun, auch das waren keine rosigen Aussichten. Deshalb zog der 

Ritter blitzschnell beide Beine an und stieß sie mit aller Kraft vor, 
just in dem Moment, in dem der Mann mit dem Schwert heran war. 

Er traf den Haderlumpen in die Magengrube. Brüllend taumelte der 

Mann zurück, flog gegen seinen keulenschwingenden Kumpan und 
ging mit ihm zu Boden. 

Roland schnellte sich vom Bett. 
Mit zwei Sätzen war er bei den beiden. 
Der eine preßte stöhnend eine Hand auf seinen Leib. Der andere 

tastete nach seiner Keule, die ihm der eigene Kumpan beim Aufprall 
aus der Hand geprellt hatte. 

Roland verlor keine Sekunde. Er hieb dem Burschen, der die Keule 

ergreifen wollte, die Breitseite der Klinge auf die Finger. 

Der Mann stieß einen erstaunlich hohen Laut aus, fast als setze 

eine Dame zu einer Hymne an. 

Mit einem schnellen Hieb schlug Roland den Anführer nieder, der 

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seine Bauchschmerzen überwunden hatte und nach dem Schwert 
greifen wollte, das ihm beim Sturz aus den Fingern geglitten war. 

Der zweite Keulenschwinger und der Mann am Fenster lösten sich 

aus ihrer Erstarrung. Beide griffen ungestüm an. 

Der eine hielt wohl nichts vom Nahkampf. Er warf seine Keule mit 

voller Wucht. 

Roland duckte sich geistesgegenwärtig. 
Der helle damenhafte Ton hinter ihm verstummte schlagartig in 

einem dumpfen Laut. Kein Wunder, wenn einem eine Keule an den 
Schädel knallt, vergeht einem die Lust, Hymnen zu singen. 

Der Mann sank zu Boden und rührte sich nicht mehr. 
Roland packte den jetzt keulenlosen Mann am Wams und 

schleuderte ihn gegen den Kumpan. Beide gingen zu Boden, und 
Roland glaubte die Atempause zu haben, die er brauchte. 

Doch daraus wurde nichts. 
Der Schwertkämpfer war zu sich gekommen; Roland hatte ihn 

wohl nicht richtig getroffen. Der Kerl sprang mit dem Schwert in der 
Hand auf. 

Roland konnte gerade noch den Kopf zur Seite reißen. Doch das 

Schwert streifte ihn an der Schulter, und ein heißer Schmerz zuckte 
durch Rolands Arm. 

»Du Hund!« keuchte der unbekannte Angreifer, der das Schwert 

schwang. »Ich werde dich ...« 

Er konnte nicht zu Ende darlegen, was er so alles vorhatte. 
Rolands mächtiger Schwerthieb fegte ihn zu Boden. Und diesmal 

blieb der Anführer liegen und rührte sich nicht mehr. 

Jetzt lagen zwei Männer bewußtlos am Boden, und Ritter Roland 

war von grimmiger Zuversicht erfüllt. 

Diese Haderlumpen hatten sich verrechnet. 
Roland wirbelte zu den beiden anderen herum, die sich inzwischen 

aufgerappelt hatten. Die Lumpen sollten ebenso wie ihre Kumpane 
ihr blaues Wunder erleben. 

Das wollten sie jedoch nicht. Der erste warf sich kopfüber aus dem 

Fenster, und auch der zweite ergriff panikartig die Flucht. 

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Roland hätte ihm das Schwert in den Rücken schleudern können, 

doch er tat es nicht. Das hätte er nicht mal getan, wenn er kein Ritter 
gewesen wäre, dem es die Ritterehre verbot, einen feigen Gegner 
hinterrücks anzugreifen. 

Die Burschen hatten es so eilig, daß sie sogar vergaßen, ihre 

Keulen mitzunehmen. 

Roland hob eine auf und warf ihnen ihr Eigentum nach. Er hörte 

ein dumpfes Klatschen und einen Fluch, der in ein Ächzen überging. 
Treffer! 

Schritte entfernten sich eilig. 
Roland warf einen schnellen Blick durch die Kammer. Zwei 

reglose Gestalten am Boden, von denen eine Weile gewiß keine 
Gefahr drohte. Elisabeth, die sich im Bett aufgesetzt hatte, das Laken 
bis zum Busen gezogen hatte und ihn aus großen Augen entsetzt 
anstarrte, fast als sei er der Bösewicht. 

Gewiß war sie immer noch zu Tode erschrocken. 
Die Gefahr war gebannt. Doch Roland wollte die beiden anderen 

nicht entkommen lassen. Elisabeth hatte voller Sorge von den 
Räubern gesprochen, die in dieser Gegend Reisende überfielen, und 
vermutlich hatte er es in einem gewissen Grade ihrer Besorgnis zu 
verdanken, daß er mit ihr so schnell ins Gespräch gekommen war, 
weil sie in ihm einen Beschützer gesehen hatte. 

Die Kerle waren zielstrebig in Elisabeths Kammer eingedrungen, 

und sie konnten weitere Scherereien machen, wenn sie entkamen. 

Roland zögerte nicht. 
»Bring dich in Sicherheit und hol den Wirt!« rief er Elisabeth zu 

und lief zum Fenster. 

Sie streckte eine Hand aus, als wollte sie ihn festhalten. 
»Bleib, Roland ...« 
Er sprang bereits durch das Fenster hinaus. 
Er landete weich. Auf dem Kerl, den er mehr oder weniger zufällig 

mit der Keule getroffen hatte, und der sich gerade stöhnend 
aufstemmen wollte. 

Mit einem schnellen Fausthieb legte Roland ihn wieder hin. 

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Sein Blick zuckte über den Hinterhof. 
Der letzte des üblen Quartetts hatte einen Bretterzaun am Ende des 

Hofes erreicht und kletterte gerade hinauf. 

»Bleib stehen!« rief Roland. 
Der ungehorsame Kerl setzte seine Flucht fort. Wie ein 

Klammeraffe zog er sich am Zaun hoch. 

Roland zögerte einen Lidschlag lang. Ob er nicht doch besser bei 

Elisabeth blieb? Vielleicht war sie zu erschrocken, um die paar 
Schritte aus der Kammer zu tun und sich in Sicherheit zu bringen. 
Rolands Blick zuckte zum Fenster zurück. Dort war jetzt der Schein 
einer Lampe zu sehen und das tiefe Organ eines Mannes zu 
vernehmen. Der Mann erkundigte sich, was der Lärm zu bedeuten 
habe. Elisabeths aufgeregte Stimme antwortete. Roland atmete auf. 
Er erkannte die Stimme des Mannes wieder. Es war einer der Gäste, 
die er am Abend kennengelernt hatte. Er würde sich um Elisabeth 
kümmern. 

»Hier liegt noch einer!« rief Roland. »Hebt ihn gut auf.« 
Dann hetzte er auf den Zaun am Ende des Hofes zu. 
Kurz dachte er daran, daß er nackt war, doch dann sagte er sich, 

daß der Ort zu dieser Stunde in tiefem Schlaf lag und niemand den 
nackten Ritter sehen würde. Allenfalls der flüchtende Haderlump, 
und vor dem würde er sich gewiß nicht genieren. 

Ritter Roland zog sich am Zaun hoch und spähte hinüber. Der 

Bursche war nur etwa zwanzig Klafter entfernt. Gehetzt blickte er 
zurück und übersah dabei ein Loch im Boden. Er stolperte und 
stürzte. 

Roland sah es mit grimmiger Zufriedenheit. 
Er warf das Schwert über den Zaun, weil es ihn beim Klettern 

behinderte und er es  - nackt wie er war  - ja nicht gürten konnte. Dann 
sprang er hinterher. Federnd landete er, packte das Schwert und 
hetzte weiter. Der Räuber hatte sich gerade aufgerappelt. Jetzt rannte 
er davon, als sei der Leibhaftige persönlich hinter ihm her. 

Er schlug einen Haken und verschwand hinter einem dunklen 

Schuppen. Seine Schritte hämmerten durch die Stille der Nacht. 

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Hühner begannen zu gackern, und ein Eber im Stall, der gerade 
zärtlich seiner Sau an den Zitzen spielte, grunzte ärgerlich ob der 
Störung. 

Roland bog vorsichtig um die Ecke des dunklen Stalles. Er hielt 

das Schwert in der vorgereckten Rechten, weil er mit einem Angriff 
aus dem Dunkel rechnen mußte. Doch der Haderlump dachte 
offenbar nicht an Kampf. Roland konnte ihn nicht sehen, doch er 
hörte die Schritte in einer Seitengasse jenseits der Stallgebäude 
davonhämmern. 

Weiter. 
Roland erreichte die Gasse und sah den Flüchtenden gerade noch 

an ihrem Ende über einen Zaun klettern. 

Der Ritter rannte durch die Gasse. 
Als er an die Stelle gelangte, an der der Flüchtende verschwunden 

war, zog er sich am Zaun hoch und spähte vorsichtig hinüber. 

Tiefe Finsternis nistete zwischen den Apfelbäumen und dunklen 

Gebäuden, die sich am Rande eines kleinen Gartens abhoben. 

Roland lauschte mit angehaltenem Atem. Er glaubte nur das 

Pochen seines Herzens zu hören. Kein fliehender Schatten war zu 
sehen, und er konnte keine Schritte hören. 

Roland sprang über den Zaun hinab in den Garten. 
Dann fluchte er. 
Er landete weich, doch es war kein duftendes Federbett, in das er 

tief einsank, sondern ein recht würzig riechender Misthaufen. Den 
Duft hatte er schon wahrgenommen, doch nicht gedacht, daß der 
Haufen ausgerechnet unterhalb des Zaunes war. 

»Verdammt!« 
Fluchend kämpfte sich Roland aus dem Misthaufen. Als er stand, 

rutschte er aus und landete in der Vertiefung, die er zuvor mit seinem 
Aufprall geschaffen hatte. 

Von neuem rappelte er sich auf und wischte sich über Mund und 

Wangen. 

Angestrengt spähte er durch die Dunkelheit. Wo sollte er jetzt nach 

dem Haderlumpen suchen? Vermutlich kannte sich der Kerl besser in 

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den Örtlichkeiten aus. Vielleicht versteckte er sich ... 

Ritter Roland wurde aus seinen Überlegungen gerissen. Hufschlag 

klang auf und entfernte sich nach Nordwesten. Nun, das konnte auch 
Zufall sein, doch Ritter Roland glaubte nicht an solche Zufälle. 

Der Haderlump war entkommen. 
Ritter Roland blickte an seinem nackten Körper hinab, kam sich 

ziemlich klein vor und rümpfte die Nase ob des würzigen Geruchs. 

Es blieb ihm nichts anderes übrig, als zur Herberge 

zurückzukehren. Er tröstete sich mit dem Gedanken, daß immerhin 
drei der üblen Gesellen geschnappt worden waren. 

Der Ritter kletterte wieder über den Zaun und schritt durch die 
Gasse, in die nur ein Streifen Mondlicht fiel. 

»Oh ...« 
Ein Geräusch ließ Roland herumwirbeln. 
Instinktiv riß er die Hand mit dem duftenden Schwert hoch. 
Dann entspannte er sich. In einem offenen Fenster konnte er den 

schwachen Umriß einer Gestalt ausmachen. Unverkennbar eine 
weibliche Gestalt. 

Roland atmete auf. Es drohte keine Gefahr. 
Dann fiel ihm ein, daß es sich nicht geziemte, den nackten Ritter 

einer Dame zu präsentieren, erst recht nicht einen ziemlich 
schmutzigen, und er trat schnell einen Schritt in den tiefen Schatten 
der Hauswand zurück. 

»Was - was tut Ihr da?« 
Eine süße, aber etwas furchtsame Stimme. Gewiß war die Maid bei 

seinem Anblick erschrocken. 

»Keine Sorge, meine Dame«, sagte Ritter Roland beruhigend.  »Ich 

mache nur einen kleinen Spaziergang.« 

Er wollte sich in Bewegung setzen, doch offenbar deutete die Maid 

das falsch. 

»Rührt Euch nicht von der Stelle, oder ich schreie um Hilfe!« 

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Ritter Roland verharrte. 
»Ihr braucht Euch nicht zu ängstigen«, sagte er und lächelte, 

obwohl sie das in der Dunkelheit gewiß nicht erkennen konnte. »Ich 
gehe zurück zur Herberge und ...« 

Roland verstummte, denn die Maid hielt eine Lampe aus dem 

Fenster und beleuchtete ihn. 

Ihr Mund klaffte auf, und sie starrte ihn aus großen Augen von 

oben bis unten an, vor allem bis unten. 

»Oh ...« 
Sie war ein recht ansehnliches Persönchen mit einem weißen 

dünnen Nachthemdchen, aus dem keck ihr prächtiger Busen 
vorragte. 

Der Blick ihrer großen, glänzenden Augen schien sich an dem 

Ritter förmlich festzusaugen. 

Eine aus dem Schlaf geschreckte Jungfer würde gewiß entweder 

vor Schreck in Ohnmacht fallen oder Zeter und Mordio schreien. 

Beides wollte Ritter Roland vermeiden, und so hielt er flugs die 

freie Linke vor ihr Blickfeld. 

Sie  hielt die Lampe noch ein wenig weiter vor und neigte sich aus 

dem Fenster, und Roland befürchtete schon, sie würde mit ihrem 
wogenden Busen das Übergewicht bekommen und in die Gasse 
stürzen. 

»Wer  - wer seid ihr?« Es klang wie ein Hauch und auch ein wenig 

beeindruckt. 

»Roland ist mein Name.« 
»Ich bin Anna«, erwiderte sie unaufgefordert. Immer noch 

musterte sie ihn mit großen Augen. 

Roland war die Situation ein wenig peinlich, vor allem, weil er so 

stank, und er fühlte sich bemüßigt, eine Erklärung abzugeben. Doch 
es wollte ihm nichts Gewandtes und Charmantes einfallen, und 
während er noch überlegte, nahm ihm Anna das Wort aus dem 
Munde: 

»Ihr seid in einen Misthaufen gefallen«, stellte sie heiter fest, und 

im Schein der Lampe sah Roland ihr Lächeln. Es war ein süßes 

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Lächeln, sogar bar jeder Schadenfreude, doch Roland ärgerte sich in 
seiner beschämenden Situation darüber. 

»So ist es!« knurrte er. »Und wenn Ihr mich jetzt entschuldigen 

wollt...»Damit ging er weiter.  Er spürte förmlich ihren Blick auf 
seiner nackten Kehrseite, doch es war ihm gleichgültig. »So wartet 
doch, Ihr könnt bei mir ...« 

Roland schluckte. Hatte er da gerade so etwas wie eine Einladung 

vernommen? 

Er wollte schon stehenbleiben und nachfragen,  wie ihre hastig 

hervorgestoßenen Worte zu verstehen waren, als in dem Haus eine 
tiefe, grollende Stimme ertönte: 

»Anna, was ist da los?« 
Gewiß Annas Mann! 
»Nichts ...« beteuerte Anna zwar, doch Roland hörte ein Poltern 

und stampfende Schritte, und er machte sich flugs davon. Das fehlte 
ihm noch, daß es Schwierigkeiten mit einem erbosten Ehemann ab, 
obwohl er völlig unschuldig war. Gewiß würde man ihn für einen 
abartigen Sittenstrolch halten, der nackt und seltsam parfümiert 
durch den Ort streifte, um bei den Damen einzusteigen. 

Schnell tauchte er in der Dunkelheit unter. Als er einen Blick über 

die Schulter warf, sah er Anna, die sich immer noch weit aus dem 
Fenster lehnte und die Lampe vorreckte, als wolle sie noch bis zu 
ihm leuchten. 

Roland grinste leicht. Dann dachte er an die Haderlumpen, die er 

bewußtlos zurückgelassen hatte, und sein Grinsen verschwand. 

Die Burschen würden ihm ein paar harte Fragen beantworten 

müssen. 

Das taten sie jedoch nicht. 
Als Roland durch das Fenster in die Kammer stieg, lag  nur noch 

einer am Boden neben dem Bett. 

Elisabeth war weg. 

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Roland zündete schnell die Lampe an. Der Mann am Boden war 
keiner der Räuber. Es war der Gast, mit dem Roland am Abend 
geplaudert hatte, ein dicker Weinhändler, der ihm beim Essen mit 
seinem Geschwätz auf die Nerven gegangen war. 

Der Dicke regte sich. Er stemmte sich ungeschickt auf und tastete 

stöhnend an seinen Hinterkopf. Dann blinzelte er zur Lampe und zu 
Roland hin. 

»Was ist passiert?« ächzte er. 
»Das möchte ich auch gern wissen«, erwiderte Roland. 
Er stellte die Lampe ab und nahm seine Kleidungsstücke vom 

Schemel. Es widerstrebte ihm, die Sachen anzuziehen, denn sie 
würden schmutzig werden und den Mistgeruch annehmen, doch er 
konnte schließlich nicht gut nackt durch die Herberge spazieren und 
mit dem Wirt sprechen, der gewiß die bewußtlosen Haderlumpen 
gefangengenommen hatte und mit Elisabeth auf seine Rückkehr 
wartete. 

»Die Räuber!« stieß der dicke Weinhändler hervor. »Sie lagen hier, 

als ich ins Zimmer kam! Und die arme Dame! Ich fragte sie gerade, 
was los war, da hörte ich hinter mir ein Geräusch, und dann traf mich 
etwas am Kopf.« 

Ein schlimmer Verdacht stieg in Roland auf. Wenn der 

Weinhändler niedergeschlagen worden war, dann war 
möglicherweise nicht alles so abgelaufen, wie er gedacht hatte. 

»Hat der Wirt nicht die Kerle ...« 
Roland verstummte und hob lauschend den Kopf. Eine Kutsche 

verließ den Ort. Hufschlag und Räderrasseln entfernten sich in der 
Nacht. Flüchtig fragte er sich, wer zu dieser späten Stunde mit der 
Kutsche davonfuhr. 

Dann dachte er an Elisabeth Terciere, und er fluchte lautlos. Wie 

sehr hatte sie ihn erregt! Und dann hatten ihm diese Kerle alles 
verdorben. 

»Was geht hier vor?« 
Ein kleiner, kahlköpfiger und krummbeiniger Mann stürmte mit 

allen Anzeichen von Aufregung in das Zimmer. Sebastian Wolter, 

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der Wirt. Sein graues Schnurrbärtchen, die letzte Bastion seiner 
Haare, sträubte sich. Die blauen Schweinsäuglein blickten Roland 
vorwurfsvoll an. 

Roland berichtete mit knappen Worten und gürtete sein Schwert. 
»Wo sind die Kerle, und wo ist die Dame?« fragte er dann. 
Die Antwort war wie ein Fausthieb für ihn. 
»Welche Kerle? Hab' keine Kerle gesehen. Und die Dame?« Der 

Kleine zuckte mit den schmächtigen Schultern. »Soeben abgereist.« 

»Abgereist?« entfuhr es Roland verblüfft. 
»Abgereist.« Mehrmals nickte Sebastian. 
»Wieso habt Ihr überhaupt nichts gehört?« fragte Roland 

mißtrauisch. 

Der Wirt zuckte mit den schmalen Schultern. »Ich schlief. Da 

weckte mich die Dame und verlangte, daß ich auf der Stelle 
anspanne.« 

Sonderbar! dachte Roland. Weshalb diese überstürzte Abreise? 
»Hat sie etwas gesagt?« fragte Roland angespannt. 
Er konnte sich einfach nicht vorstellen, daß Elisabeth in der Nacht 

die Reise fortsetzte. Voller Sorge hatte sie von den Gefahren 
gesprochen, die einer nur mit zwei Kutschern reisenden Dame in die-
ser Gegend drohten. 

Irgend etwas stimmte da nicht! 
Sebastian Wolter nickte heftig, und sein Adamsapfel ruckte auf 

und ab. 

»Gewiß hat sie etwas gesagt.« 
»Spann mich nicht auf die Folter!« sagte Roland schroff. Am 

liebsten hätte er dem Glatzkopf die Worte aus der dicken roten Nase 
gedreht. 

»Sie sagte - auf Wiedersehen.« Sebastian grinste dümmlich. 
Roland unterdrückte ein Seufzen. 
»Sonst nichts?« vergewisserte er sich. 
»Sonst nichts.« 
»Ich verlange eine Erklärung!« sagte der Weinhändler zornig. 
Auch Roland hätte gern eine Erklärung gehabt, doch von dem Wirt 

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war nichts zu erfahren. Die Räuber waren weg, und Elisabeth war 
weg. Zum Glück nur mit ihren Kutschern und wohlbehalten, wie der 
Wirt beteuerte, der bei der Abfahrt zugegen gewesen war. Roland 
hatte schon an eine Entführung gedacht. 

Trotzdem war die ganze Sache recht seltsam. 
Er ließ sich noch einmal alles durch den Kopf gehen und kam zu 

dem Schluß, daß er ein rechter Dummkopf gewesen war. Vermutlich 
waren die Eindringlinge kleine Räuber gewesen, die schnelle Beute 
hatten machen wollen. Er hätte bei Elisabeth und den bewußtlosen 
Haderlumpen bleiben sollen, anstatt wie ein Tölpel auf 
Verfolgungsjagd zu gehen und in einem Misthaufen zu landen. Er 
ärgerte sich über sich selbst, und als er Sebastian Wolter grinsend 
schnuppern sah, juckte es ihm in den Fingern. 

»Mich dünkt, das riecht nach ...« Sebastian kratzte sich am Kinn 

und legte die Stirn in Falten. »Laßt mich raten ...« 

»Ja, verdammt!« fuhr Roland ihn so zornig an, daß der Kleine 

erschrocken zurückhüpfte. 

Die Schweinsäuglein blickten erschreckt, dann trotzig, dann 

verschlagen und schließlich schadenfroh. 

»Mich dünkt, Ihr seid  schlechter Laune«, sagte er hämisch. »Doch 

Ihr solltet Euch mäßigen, anstatt Eure Wut an mir auszulassen. Was 
kann ich dafür, daß die Dame so schnell abreiste? Vielleicht wart Ihr 
im Bett nicht gut genug ...« 

Er verstummte. Roland packte ihn am Hals und hielt ihn zur 

Zimmerdecke hoch. 

Zappelnd hing der Kleine in seinem Griff und strampelte mit den 

krummen Stummelbeinen. 

»Laßt mich los, Ihr Wüstling!« japste er mit krebsrotem Kopf. »Ich 

bin hier der Herr im Haus, und ich weise Euch aus der Herberge, 
wenn Ihr ...« 

»Ich gehe freiwillig«, knurrte Roland. »Hier ist es mir zu unruhig. 

Gibt es im Ort einen stilleren Gasthof, den du mir empfehlen 
kannst?« 

Immer noch hielt er den schwitzenden Kleinen hoch, und Sebastian 

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hatte das Strampeln eingestellt. Jetzt grinste er gar boshaft. 

»Mein Gasthof ist der einzige«, sagte er. »Ihr werdet im 

Schweinestall übernachten müssen, wenn Ihr mich nicht sofort 
loslaßt.« 

Nun, das waren schlechte Aussichten, und Sebastian war offenbar 

zu einem Kompromiß bereit, weil er an seinen Verdienst dachte, und 
so ließ Roland ihn los. 

Der Kleine stieß einen quiekenden Laut aus, als er auf die Dielen 

krachte. 

Er rieb sich die rote Nase, die ob des Aufpralls noch ein wenig 

roter geworden war, und bedachte Roland mit einem giftigen Blick. 

Der dicke Weinhändler kicherte. 
Dann wandte er sich an Roland, während der Wirt sich zornig 

fluchend aufrappelte. 

»Könnt Ihr Euch das alles erklären?« Und ohne eine Antwort 

abzuwarten, fuhr er fort: »Was wollten diese Räuber?« 

Roland zuckte mit den Schultern. »Sie haben es nicht gesagt.« 
»Ihr habt das gewiß alles nur geträumt«, keifte Sebastian Wolter. 

»In meinem Haus gibt es keine Räuber.« 

Rolands Zorn war verraucht, und es tat ihm jetzt leid, daß er den 

Wirt etwas unfreundlich behandelt hatte. Schließlich konnte 
Sebastian nichts für die Ereignisse. 

»Aber ich hab' sie mit eigenen Augen gesehen«, ereiferte sich der 

Weinhändler. »Und die Dame hat es mir gesagt. Ich wollte sie gerade 
- äh  - trösten  - und da hat mich einer niedergeschlagen!« Er tastete an 
seinen Hinterkopf. »Keiner kann behaupten, ich hätte die Beule 
geträumt.« 

Sebastian Wolter und der Weinhändler, dessen Name Roland 

vergessen hatte, begannen einen hitzigen Wortwechsel. 

Roland hörte gar nicht mehr hin. Tatsache war, daß er Elisabeth 

und die Liebesnacht vergessen konnte. Kurz spielte er mit dem 
Gedanken, ihrer Kutsche nachzureiten, doch dann entschied er sich 
dagegen. Sie hätte nicht so überstürzt abzureisen brauchen. Er konnte 
sich ihr Verhalten nicht erklären. Er hatte fast den Verdacht, daß sie 

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nur auf ein schnelles Schäferstündchen aus gewesen war. Eine 
wirklich Liebende hätte voller banger Sorge auf seine Rückkehr 
gewartet und sich nicht einfach grußlos davongemacht. Nein, sie 
konnte zum Teufel fahren, die Comtesse aus Burgund. Er wollte sich 
nicht zum Narren machen und ihr nachreiten. Schon gar nicht 
stinkend, worüber sie sich vermutlich lustig machen würde. 

Außerdem mußte er auf die Knappen Louis und Pierre warten, die 

am nächsten Morgen mit der Kutsche in Hohenwarth eintreffen 
würden. 

Sie waren nicht zum Vergnügen unterwegs. 
Sie sollten den Räubern das Handwerk legen, die in diesem 

einsamen Landstrich rund um den Schwarzriegel Reisende 
Überfielen. Gewiß hätte König Artus nicht Ritter Roland beauftragt, 
der Räuberbande das Handwerk zu  legen, die sich bisher mit recht 
bescheidener Beute zufrieden gegeben hatte. Doch die Lumpen 
hatten, ohne es zu wissen, bei einem ihrer Überfälle ein prominentes 
Opfer ausgenommen: Ginevra, König Artus' Gemahlin. Sie hatte 
Verwandte besucht und war nur mit einer kleinen Eskorte gereist. 
Keiner war zu körperlichem Schaden gekommen, doch Ginevras 
Schmuck, den sie getragen hatte, war den Räubern in die Hände 
gefallen. 

Unter anderem und vor allem sollte Ritter Roland diese kostbaren 

Geschmeide wiederbeschaffen. 

Louis und Pierre fuhren in einer der Kutschen, die bereits zweimal 

überfallen worden waren. Sie gaben sich als normale Reisende aus, 
hörten sich unauffällig um und hofften, irgendeine Spur zu den 
Räubern zu finden. 

Ritter Roland hatte das gleiche in Hohenwarth getan, dem kleinen 

Ort, in dessen Nähe der letzte Überfall stattgefunden hatte. Er hatte 
gehofft, das Angenehme mit dem Nützlichen verbinden zu können, 
als er Elisabeth Terciere, diese süße sinnliche Katze, kennengelernt 
hatte. Doch es hatte nicht sein sollen ... 

»Kann man hier baden?« fragte Roland den Wirt, der sich immer 

noch mit dem Weinhändler herumstritt, der geschickt den 

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Zimmerpreis herunterzuhandeln versuchte, weil »man in dieser Bude 
seines Lebens nicht sicher sei«. 

»So spät noch baden?« Sebastian Wolters Adamsapfel hüpfte 

empört auf und ab. Seine Miene war völlig fassungslos. »Ein solches 
Ansinnen wurde bisher von keinem Gast gestellt.« Er kicherte. 
»Allerdings suhlen sich auch die wenigsten in Misthaufen.« 

Er grinste, als er Rolands grimmige Miene sah. 
»Da müßt Ihr schon zu Annas Badehaus gehen«, fuhr er fort. 

»Aber das kostet einiges. Anna nimmt bestimmt den doppelten Preis, 
wenn Ihr zu dieser späten Stunde Einlaß bei ihr begehrt.« 

Roland überlegte, ob er sich stinkend wie er war, zur Ruhe 

begeben sollte. Nein, das kam nicht in Frage. 

»Wo ist der Brunnen?« 
»Am anderen Ende der Stadt. Aber da könnt Ihr gewiß nicht baden. 

Direkt gegenüber wohnt die alte Thekla. Die schläft kaum nachts und 
hat Augen wie ein Luchs. Nein, da kann ich Euch eher Anna 
empfehlen.« 

Anna? Den Namen hatte Roland vor kurzem doch schon gehört. 
»Wo ist dieses Badehaus?« fragte er interessiert. 
Der Wirt erklärte ihm den Weg. Durch die Gasse jenseits des 

Hofes und links das fünfte Steinhaus. 

Kein Zweifel, es konnte sich bei Anna nur um die Maid handeln, 

die er flüchtig kennengelernt hatte. Im nachhinein mußte Roland 
schmunzeln. Jetzt wurde ihm klar, weshalb sie ihn hatte zurückhalten 
wollen. Sie hatte in ihm nichts anderes als einen Kunden gewittert. 

Der Gedanke an ein Wiedersehen mit dieser Anna amüsierte ihn. 
»Ist dieses Badehaus jetzt noch geöffnet  - ich meine für Notfälle?« 

erkundigte er sich. 

»Gewiß, gewiß«, erklärte Sebastian. »Aber das kostet einiges. 

Anna ist kein billiges Mädchen, wenn Ihr versteht, was ich meine.« 

Sebastian grinste von einem Ohr zum anderen und zwinkerte 

Roland zu, sozusagen von einem Schlingel zum anderen. 

Roland glaubte, ihn gut zu verstehen. 
Nun, er war bereit, den Preis zu bezahlen. Nach all dem Ärger 

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hatte er sich wenigstens die Wonnen eines Bades verdient, oder? 

Die Kutsche rumpelte durch die Nacht. Die Knappen dösten vor sich 
hin. Louis und Pierre waren die einzigen Passagiere, mal abgesehen 
von der Fliege, die sich bei der Abfahrt in die Kutsche gemogelt 
hatte und seither alles daran zu setzen schien, die beiden Reisenden 
zu ärgern. 

Die freche Fliege kroch gerade über Louis' Nase. Der Knappe 

gähnte schläfrig und kratzte sich an der Nase. 

Die Fliege flüchtete. Sie umkreiste summend den Kopf des 

Knappen. Louis kratzte sich am schwarzen Bart und hielt finster nach 
dem Störenfried Ausschau. 

Vermutlich ahnte die Fliege die Gefahr und wechselte deshalb 

flugs zu Pierre über, der einen gutmütigeren Eindruck auf sie machte. 

Louis, aus seinem Nickerchen aufgeschreckt, beobachtete 

mißmutig die elegante Landung der Fliege. Pierre schnarchte offenen 
Mundes, und sein Kopf, der auf die Brust gesunken war, ruckte beim 
Holpern der Kutsche auf und ab. 

Die Fliege ließ sich auf Pierres Nase nieder, ruhte sich kurz aus 

und krabbelte dann auf Erkundung über Pierres mollige Wange. Dort 
verharrte sie, und Louis hatte das Gefühl, daß sie ihn irgendwie 
herausfordernd anstarrte. Das war gewiß nur Einbildung, denn im 
schwachen Mondlicht, das durch die Fenster in die Kutsche fiel, war 
die Fliege gerade als dunkler Punkt auf Pierres heller Wange zu 
erkennen. 

Dennoch konnte Louis nicht widerstehen. Langsam holte er mit der 

flachen Hand aus. 

Jetzt! 
Er hielt jäh in der Bewegung inne, keine Handbreit von Pierres 

Wange. Dieses Mistvieh von Fliege hatte die Bewegung im Ansatz 
bemerkt und blitzschnell abgehoben. Im nächsten Augenblick 
summte sie schon um Louis' Nase, und es klang in des Knappen 

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Ohren wie Hohngelächter. 

Louis entschied sich, das blöde Vieh einfach zu ignorieren. 

Gelangweilt blickte er aus dem Fenster. Bäume und Büsche schienen 
vor der hellgelben Scheibe des Mondes vorbeizufliegen. 

Es war eine milde Juninacht. Bestimmt lagen alle vernünftigen 

Menschen in ihren Betten, statt in einer ungemütlichen Kutsche zu 
hocken und durch die Nacht zu rumpeln. 

Louis dachte an den Auftrag und gähnte. Roland hatte sie 

vermutlich umsonst auf Reisen geschickt. Seit vier Tagen gondelten 
sie schon durch die Gegend rings um den Schwarzriegel, um 
Hinweise auf die Räuber zu finden oder gar selbst überfallen zu 
werden. Doch nichts hatte sich getan. Und in dieser Nacht schliefen 
die Räuber sicherlich tief und fest und verpraßten im Traum die 
bisherige Beute. 

Louis seufzte und scheuchte die Fliege von seinem Bart. 
Sie suchte sich einen neuen Ruheplatz auf Pierres Nase. 
Die Kutsche holperte gerade durch ein Schlagloch, und Pierres 

Kopf ruckte hoch, doch die Fliege ließ sich dadurch nicht 
erschrecken. 

Ein ganz gerissenes Luder, dachte Louis und konnte eine gewisse 

Bewunderung nicht unterdrücken. Das Vieh wußte genau, wann 
richtige Gefahr drohte, und wann nicht. 

Die Fliege krabbelte auf Pierres vom Mondschein versilberte 

Wange. Wieder hatte Louis das Gefühl, sie würde ihn herausfordernd 
anstarren. 

Da konnte er sich nicht mehr zurückhalten. 
Klatsch! 
Vom Jagdfieber erfaßt schlug Louis weit fester zu, als beabsichtigt. 

Pierres Kopf flog zur Seite, und das leise Schnarchen hörte 
unvermittelt auf. 

Im nächsten Augenblick hielt Pierre sein Schwert in der Faust, 

sprang auf und stieß sich den Kopf am Kutschendach. Wild zuckte 
sein Blick hin und her, aus dem Fenster, dann zu Louis, der 
vergebens seine Handfläche nach einer zerschmetterten Fliege 

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absuchte, jedoch nicht fündig wurde. 

Louis konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. 
Pierre ließ das Schwert sinken. 
»Was war das?« fragte er mit angespannter Stimme. 
»Was soll schon gewesen sein?« erwiderte Louis harmlos. 
Pierre rieb sich über die Wange. 
»Jemand hat mich geschlagen!« stieß er hervor. »Ich dachte, es 

wäre ein Überfall.« 

Louis spielte kurz mit dem Gedanken, Pierre von seiner 

Fliegenjagd zu erzählen, doch dann entschied er sich dagegen. Wenn 
er das Fliegenbiest erledigt hätte, dann hätte er Pierre stolz die 
Jagdtrophäe präsentiert und einen Beweis gehabt, daß die 
Maulschelle einem guten Zweck gedient hatte. Doch der »Beweis« 
schwirrte putzmunter um Louis Kopf herum und summte höhnisch, 
und Pierre konnte möglicherweise etwas Falsches denken. 

So brummte Louis: »Unsinn, du mußt geträumt haben.« 
Pierre nickte ein wenig zweifelnd, gähnte und reckte sich. 
»Diese verdammte Unbequemlichkeit«, murrte er. »Wenn ich 

daran denke, daß ich jetzt auf einem weichen Bett liegen könnte ...« 

»Du denkst an Gudrun«, stellte Louis grinsend fest. »Ja ja, bei der 

ist gut ruhn, so fein gepolstert, wie die überall ist.« 

»Woher weißt du ...?« fragte Pierre entgeistert und strich sich eine 

blonde Haarsträhne aus der Stirn. 

Louis lachte leise. »Du entwickelst dich in letzter Zeit zum 

Schwerenöter, mein lieber Pierre. Ja, wie heißt es so schön  - stille 
Wasser sind tief. Selbst einem Blinden dürfte kaum entgangen sein, 
daß du was mit dem Wirtstöchterchen in Hohenwarth hast. Kurz vor 
der Abreise sah ich dich gar aus ihrer Kammer kommen.« 

»Ich hatte mich nur verabschiedet«, sagte Pierre verdattert. 
Louis lachte. »Der Abschied muß recht heftig gewesen sein, wenn 

ich daran denke, wie zerwühlt ihr Blondhaar und wie zerknittert ihr 
Nachtgewand war, das sie vergessen hatte, vorne zu schließen, auf 
daß ich einen Blick auf ihre Äpfelchen erhaschen konnte. Ja, mein 
lieber Pierre, ich muß schon sagen ...»Er sagte es nicht. Pierres Hand 

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klatschte ihm ins Gesicht. Louis zuckte zurück. »He, was soll das?« 
fragte er zornig. 

Pierre grinste breit, »'tschuldige«, murmelte er. »Diese verdammte 

Fliege ärgert mich schon während der ganzen Fahrt.« 

»Hast du sie erwischt?« fragte Louis. 
»Nein«, bekannte Pierre, immer noch grinsend, und in Louis stieg 

der Verdacht auf, daß Pierre die Jagd gar nicht ernsthaft betrieben 
hatte. 

»He, mein lieber Pierre, wenn du meinst, du könntest mich 

verarsch ...« 

Wiederum war es dem Knappen nicht vergönnt, auszusprechen. 
Ein Schrei gellte, und mit einem Ruck kam die Kutsche zum 

Stehen, als sei sie gegen eine Barriere geprallt. 

Louis und Pierre flogen durch den Passagierraum und fanden sich 

benommen auf den gegenüberliegenden Sitzen wieder. 

Ein Pferd wieherte schrill und gequält. Hufe stampften. Die 

Kutsche ruckte auf und ab. 

»Ergebt euch, ihr habt keine Chance!« ertönte eine rauhe Stimme 

aus der Nacht. »Runter vom Bock, ihr beiden!« 

»Gnade! Gnade!« 
Louis und Pierre erkannten die Stimme des Kutschers Franz. 
»Mach dich nicht naß«, rief die rauhe Stimme spöttisch. »Keiner 

tut dir was, wenn du brav bist. Solltest du allerdings Dummheiten 
machen, bist du des Todes!« 

»Und jetzt?« flüsterte Pierre und suchte im Halbdunkel der 

Kutsche Louis' Blick. 

»Ruhe bewahren und tun, was sie sagen«, raunte Louis. »Merk dir 

genau die Typen und die Richtung, in die sie verschwinden. Dann 
brauchen wir nur noch die Verfolgung aufzunehmen und 
festzustellen, wo ihr Versteck ist.« 

Er lauschte angespannt. 
Eines der Pferde schnaubte. Hufe stampften. Schritte näherten sich. 
»Runter, hab' ich gesagt!« rief die rauhe Stimme. »Eh, wird's bald, 

oder sollen wir nachhelfen?« 

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»Neeein ...»Der Aufschrei verstummte wie abgeschnitten. Ein 

dumpfer Aufprall folgte. »Wer nicht hören will, muß fühlen«, sagte 
die rauhe Stimme. Jemand kicherte. 

»Eh, ihr Passagiere! Kommt alle mit erhobenen Händen heraus!« 
Louis nickte Pierre aufmunternd zu. Beide legten die Schwerter auf 

die Sitze. Es war abgesprochen, daß sie bei einem Überfall keinerlei 
Gegenwehr leisten sollten. Sie sollten nur beobachten und Hinweise 
sammeln. Bei den meisten Überfällen war alles zu schnell gegangen, 
und die Reisenden waren so erschrocken gewesen, daß sie kaum 
etwas Brauchbares ausgesagt hatten. 

Louis stieg als erster aus der Kutsche. Sein Blick glitt nach vorne 

an der Kutsche entlang. Ein Baumstamm blockierte den Fahrweg. 
Die ersten beiden Gespannpferde lagen zusammengebrochen im 
Geschirr. Pfeile ragten aus ihrem Fell. Die anderen vier Rösser 
scheuten und wollten zurückweichen, doch der Kutscher hatte die 
Bremse festgedreht, und es gab kein Vor und Zurück für die 
erschreckten Tiere. 

Einer der Fahrer stand mit erhobenen Händen neben dem 

Wagenbock. Sein Gefährte Franz lag reglos und verkrümmt am 
Boden. 

Ein hünenhafter Kerl mit wirr abstehendem blondem Bart und 

Haupthaar stand mit einer Keule in der Hand neben ihm. Louis sah 
einen Bogenschützen und zwei weitere Männer, die mit Schwertern 
bewaffnet waren. Die Kerle sahen recht zerlumpt aus bis auf einen, 
der offenbar der Anführer war. Er war groß und schlank, und die 
feine nagelneue Kleidung schien ihm auf den Leib geschneidert zu 
sein.  Vermutlich hatte er sie einem reichen Reisenden ausgezogen 
oder sie sich vom Beutegeld maßschneidern lassen. 

»Ist das alles?« fragte der Elegante. Es war die rauhe Stimme, und 

für die Knappen bestand kein Zweifel mehr, daß es sich um den 
Anführer handelte. 

Der zweite Schwertträger sprang auf die Knappen zu und fuchtelte 

Louis mit dem Schwert vor der Brust herum. 

»Antworte, Schwarzbart, wenn dich Gerold etwas fragt!« 

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Der Bursche beging einen großen Fehler. Er fühlte sich zu sicher. 

Louis hätte das Handgelenk packen und den Kerl überrumpeln 
können. Es juckte ihm in den Fingern, doch er bezwang sich. Da 
waren die anderen, vor allem der Bogenschütze, der abseits stand 
und nachlässig einen Pfeil auf der Sehne hielt. 

»Wir sind die einzigen Reisenden«, sagte Louis und bemühte sich, 

seinen Zorn zu unterdrücken und ruhig zu sprechen. 

Der Kerl in der zerlumpten Kleidung zog sein Schwert zurück und 

blickte den Anführer an. 

»Magere Beute«, murmelte er. 
Der Anführer gab einen herrischen Wink. »Theo, sieh mal nach.« 
Der Mann mit der Keule eilte zur Kutsche. Er verschwand darin. 
Sie hörten einen dumpfen Aufprall wie von einem Schlag. Die 

Haltung des Eleganten straffte sich, und er hob das Schwert. 

»Was ist los?« rief er angespannt. 
»War nur 'ne Fliege«, ertönte Theos Stimme aus der Kutsche. 

»Hab

'

 sie plattgemacht.« 

Es hat sie also doch noch erwischt, dachte Louis. Auch ein Opfer 

des Überfalls ... 

»Zwei Schwerter«, meldete Theo aus der Kutsche. »Sonst nichts.« 
»Ist doch schon mal was«, sagte der Anführer. »Hol das Gepäck!« 
Theo warf die Reisetaschen der Knappen neben die Kutsche. Er 

durchwühlte die Taschen und meldete ein wenig enttäuscht, daß sie 
nicht viel von Wert enthielten. 

»Zieht euch aus, ihr beiden!« sagte der Anführer und gab Louis 

und Pierre einen Wink mit dem Schwert. 

Die Knappen tauschten einen schnellen Blick. Damit hatten sie 

nicht gerechnet. Bisher hatten die Überfallenen nur die Taschen 
leeren müssen. 

»Ich habe fünf Dukaten und ...« begann Louis. 
»Ausziehen!« unterbrach ihn der Räuber namens Gerold. »Oder 

wir ziehen euch aus. Dann aber entkleiden wir eure Leichen!« 

Pierre schluckte. Hastig begann er sich auszuziehen. Nach kurzem 

Zögern gehorchte auch Louis. 

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Theo nahm ihnen die Sachen weg. Er probierte sofort einen von 

Louis Stiefeln an. Ein anderer zog seine zerlumpte Hose aus und 
schlüpfte in Pierres Hose. 

»Zu dick, der Kerl!« beschwerte er sich. Er warf die Hose einem 

Kumpan zu und schlüpfte in Louis' Hose. 

»Genug der Kleideranprobe«, rief der Anführer. »Achim, sorg 

dafür, daß uns keiner folgen kann.« 

Der Bogenschütze nickte. 
Er spannte den Bogen, zielte und traf das nächste Pferd. 
Das gepeinigte Wiehern der gequälten Kreatur stach Louis ins 

Herz. 

»Laßt die Tiere am Leben!« rief er wütend. 
»Du hältst das Maul, oder ich schieße dir einen Pfeil in den 

Hintern!« rief der Bogenschütze und zog bereits den nächsten Pfeil 
aus dem Köcher. 

Louis ballte die Hände in ohnmächtigem Zorn. 
»Laßt meine guten Pferde!« flehte auch der Gefährte von Franz. 

»Ihr könnt sie doch mitnehmen.« 

»Wir haben bereits genug Rösser!« sagte der Anführer. 
»Aber...« 
Ein Keulenhieb schleuderte den Kutscher zu Boden. 
Pierre vergaß, daß er sich Gesichter und Kleidung der Räuber 

einprägen sollte. Er schloß die Augen, als er das qualvolle Wiehern 
sterbender Pferde und das Schlegeln der Hufe im Todeskampf hörte. 

Louis indessen beobachtete genau. Er hatte sich die Namen 

eingeprägt, die er gehört hatte, die Gesichter und Stimmen, und er 
glaubte die Kerle auch in anderer Kleidung wiederzuerkennen. 

Doch was nutzte das? 
Sie verschwanden schließlich im Dunkel der Nacht, und bald 

darauf entfernte sich Hufschlag nach Norden. 

Zurück blieben zwei bewußtlose Kutscher, sechs tote Pferde und 

zwei Knappen in Unterwäsche. 

»Oh Gott«, murmelte Pierre. »Was wird nur Ritter Roland sagen, 

wenn er in Hohenwarth vergebens auf uns wartet?« 

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Ritter Roland sagte derweil artig: »Guten Abend.« 

Anna, die auf sein Klopfen hin geöffnet hatte, lächelte. Sie hatte 

ein bezauberndes Lächeln, bei dem sich Grübchen um ihren 
Mundwinkel bildeten und Roland die ebenmäßigen weißen Zähne 
sehen konnte. Große haselnußfarbene Augen strahlten Roland an. Ihr 
langes blondes Haar fiel wie ein güldenes Vlies über ihre Schultern 
und reichte fast bis zum Ansatz des Busens. Sie trug immer noch das 
Nachthemd. Es war schön geschneidert, fast wie ein Kleid, mit 
spitzenbesetztem Ausschnitt und Rüschen am knöcheltiefen Saum. 
Der Stoff war dünn, und die Konturen ihres Körpers zeichneten sich 
recht deutlich vor dem Schein der Lampe ab. 

»Man könnte fast Gute Nacht sagen«, erklärte sie, musterte Ritter 

Roland interessiert, und ihr Lächeln brachte sein Blut in Wallung. 

»Verzeiht, daß ich zu so später Stunde störe, aber ...« 
Sie unterbrach ihn lachend. »Ich weiß, Ihr wollt baden. Das Wasser 

ist schon angeheizt.« 

Ritter Roland blickte verdutzt. 
»Ich wußte, daß Sebastian Euch schickt«, erklärte Anna. »Er ist ein 

Verwandter, und er schickt uns immer Kunden, die baden wollen. 
Und daß Ihr baden wolltet, verriet mir meine Nase.« 

Sie krauste das zierliche Naschen, und der Blick dieser großen 

seelenvollen Augen beunruhigte ihn. 

Roland mußte an Elisabeth Tercieres grüne Katzenaugen denken 

und an das, was er darin gelesen hatte, als sie miteinander ins 
Gespräch gekommen waren. Es war jetzt fast ein ähnlicher Ausdruck 
in Annas Augen. 

Und dieses Lächeln, dieser kokette Augenaufschlag! 
»Kommt Ihr mit mir?« fragte sie und musterte ihn irgendwie 

prüfend. 

»Nur zu gerne«, entfuhr es Roland. 
Sie lachte leise und wandte sich um. Sie nahm die Lampe vom 

Tisch und schritt zum Nebenzimmer. 

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Er folgte ihr und bewunderte den Schwung ihrer Hüften. Eine 

wirklich wohlgeformte Maid, diese Anna. Anfang Zwanzig, doch 
sehr selbstsicher und gewiß schon erfahren in der Liebe, wie ihr 
wissender Blick verriet. 

Sie wandte den Kopf und ertappte ihn dabei, wie er auf ihre 

wohlgerundete Kehrseite starrte. 

»Gefalle ich Euch?« fragte sie mit lustig funkelnden Augen. 
Zapperlot! dachte Roland, welch offene Maid! Andere wären 

errötet ob seines Blickes, doch sie nahm es wie selbstverständlich 
hin. 

»Sehr«, sagte Roland und ärgerte sich ein wenig, weil seine 

Stimme so belegt klang. 

»Das sagen alle«, erklärte Anna. 
Diese selbstsichere Bemerkung kühlte den Ritter ein wenig ab.  Er 

schalt sich einen Narren. Gewiß sah sie in ihm nur den Kunden. 

Sie stellte die Lampe ab, und Roland schaute sich um. Eine 

einfache Kammer, die zweckmäßig eingerichtet war. Ein großer 
Holzzuber, in dem Wasser dampfte. Daneben ein Lager aus Decken. 
Ein kleiner Tisch, auf dem Badeutensilien standen und lagen: Seife, 
Pulverdosen, Salbe, eine Bürste, Handtücher. Ein großer Spiegel an 
der Wand. Daneben die Bleistiftzeichnung eines nackten Mädchens, 
das gerade aus einem See stieg. 

Das Mädchen kam ihm irgendwie bekannt vor. 
Anna zündete Kerzen an. »Gefällt Euch das Bild?« 
Er hatte das Gefühl, sie könnte Gedanken lesen. Dann sah er, daß 

sie in den Spiegel schaute und genau sah, wohin er blickte. 

Er nickte. 
»Das bin ich«, erklärte Anna in ihrer natürlichen offenen Art. »Mir 

gefällt es nicht. Der Künstler hat meine Schenkel zu breit gemalt und 
die Brüste zu klein. Gewiß war das seine Rache wegen unserer 
Preise.« 

Sie wandte sich ihm zu und lächelte über einen recht verdutzten 

Roland. 

»Er konnte nicht zahlen, und da ließ ich mich malen«, erklärte sie. 

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»Schockiert?« 

Roland schüttelte den Kopf. 
»Das ist gewiß eine charmante Lüge«, sagte Anna. »Ihr seid 

schockiert. Ich weiß, daß Ihr von höherem Stande seid, und in diesen 
Kreisen tun fast alle immer so verschämt, obwohl sie doch auch nur 
Menschen sind, oder?« 

Roland wußte nichts darauf zu erwidern. 
»Woher wißt Ihr ...?« begann er statt dessen. 
»Sebastian erzählte, daß Ihr eine Liebschaft mit einer Comtesse 

habt«, sagte sie in ihrer unverblümten Art. »Da liegt doch auf der 
Hand, daß Ihr ihresgleichen seid. Comtessen geben sich gewiß nicht 
mit irgenwelchen Stallburschen ab.« 

Manchmal schon, dachte Roland amüsiert, doch er wollte Anna bei 

ihrer einmal gefaßten Meinung nicht widersprechen, und so sagte er 
mit einem Lächeln: 

»Mich dünkt, Ihr habt nicht nur eine bezaubernde Gestalt, sondern 

auch ein helles Köpfchen.« 

Das waren die richtigen Worte, die äußerst selten bei den Damen 

ihre Wirkung verfehlten. 

Anna strahlte. »Ein schönes Kompliment von einem schönen 

Schmeichler.« Sie senkte die Lider. »Ist Sie schön, Eure Comtesse?« 

»Sie ist nicht meine Comtesse«, erwiderte Roland. »Wir haben uns 

nur flüchtig kennengelernt. Außerdem ist sie schon abgereist.« 

Da blickte Anna auf, und sie strahlte von neuem. 
Sie sahen einander an, und es entstand ein Schweigen, das Roland 

irgendwie verlegen machte. 

Auch Anna wirkte verlegen. »Nun, sprechen wir über die Preise«, 

sagte sie plötzlich ganz geschäftsmäßig. »Fünf Dukaten für ein Bad, 
und wenn Ihr besondere Wünsche habt...« 

»Zum Beispiel?« hörte Roland sich fragen. 
»Zum Beispiel eine Massage zur besseren Gesundheit«, antwortete 

Anna, ohne ihn anzusehen. »Das macht drei weitere Dukaten.« 

Fünf Dukaten für ein Bad war gewiß ein gesalzener Preis. Da kam 

es auf die drei Dukaten auch nicht mehr an. 

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»Gemacht«, sagte Roland. 
Sie sah ihm lächelnd in die Augen, und ihre Lider flatterten leicht. 
»Ich wußte, daß Ihr ein guter Kunde seid. Ihr könnt Euch schon 

entkleiden. Ich hole derweil noch einen Eimer heißes Wasser.« 

So geschah es. Roland entkleidete sich in Windeseile und stieg in 

den Badezuber. Das Wasser war nicht mehr sehr warm und noch bar 
jeder Seife. Anna kehrte mit heißem Wasser zurück. Ihre Wangen 
röteten sich leicht, als sie in den Zuber blickte. Sie griff ins Wasser, 
um die Temperatur zu prüfen. Gewiß war es Zufall, daß ihre Hand 
dabei Rolands Oberschenkel berührte, was ein seltsames Prickeln in 
Roland weckte. 

»Und was hättet Ihr mit dem angerichteten Bade gemacht, wenn 

ich nicht gekommen wäre?« fragte er, um sich und Anna abzulenken. 

Anna lachte. »Dann hätte ich selbst gebadet oder das Wasser 

morgen wieder aufgewärmt.« 

Sie brachte ihm Seife, die Bürste und Handtücher. 
»Ich werde Eure Sachen saubermachen«, sagte sie und nahm seine 

Kleidungsstücke. »Wenn Ihr fertig  gebadet habt, so ruft zur 
Massage.« 

Ein letztes Lächeln, ein funkelnder Blick ihrer haselnußbraunen 

Augen, dann schritt sie anmutig in den Nebenraum, und Ritter 
Roland war allein. 

Er genoß das Bad und fühlte sich anschließend erfrischt und 

sauber. Doch ein bißchen Gesundheit konnte nicht schaden. Er freute 
sich auf die Massage. Anna hatte zarte, feingliederige Hände... 

Er betrachtete das Bild neben dem Spiegel. Schon darauf war Anna 

eine atemberaubende Schönheit. Und wenn der Künstler tatsächlich 
geschludert hatte, mußte ihr Anblick ja noch überwältigender sein. 

Ritter Roland trocknete sich ab. Kurz spielte er mit dem Gedanken, 

sich nackt auf das Lager zu legen und der Massage und Anna zu 
harren. Doch seltsam  - trotz Annas offener Rede sagte ihm sein 
Gefühl, daß sie kein Lotterweibchen war und auch ihren Stolz hatte  - 
vielleicht mehr als manche Comtesse. 

Er band das Handtuch um seine Lenden und rief leise nach ihr. 

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Nichts tat sich, und er rief etwas lauter. 

Dann klappte nebenan eine Tür, und Schritte näherten sich. 
Doch das konnte nicht die leichtfüßige Anna sein! 
Da stampfte irgendein Riese heran! 
Schlagartig war Ritter Roland alarmiert. Eine Falle? 
Er sprang zu dem Stuhl neben dem Tisch. Sein Schwert hatte Anna 

nicht mitgenommen, wie er aufatmend feststellte. Er ergriff es und 
wirbelte zur Tür herum. 

Dann stockte ihm der Atem. 
Es war kein Riese, sondern eine Riesin. Eine gewaltige Dame, die 

sich ducken und förmlich ihre Massen zusammenquetschen mußte, 
um überhaupt durch den Türrahmen zu passen. 

Roland sah ein rundes Gesicht mit roten Pausbacken und einem 

dreifachen Kinn. Himmelblaue Kulleraugen musterten ihn. Der breite 
Mund verzog sich zu einem Grinsen. Silberne Ringe baumelten an 
den rosigen großen Ohren. Hellblonde Locken umrahmten das Ge-
sicht. 

Eine enorme Dame, gut eine Haupteslänge größer als Ritter Roland 

und gewiß doppelt so groß in Breite und Tiefe. 

Roland mußte unwillkürlich an Hermine denken, die gepanzerte 

Gigantin mit dem goldenen Herzen, mit der er nach den Plänen des 
rothaarigen Luders Hanne hatte kämpfen müssen. 

»Laß den Blödsinn, Jungchen«, sagte die Dame mit tiefer 

grollender Stimme, und Roland erkannte die Stimme wieder. Er hatte 
geglaubt, es sei Annas Mann gewesen. 

»Ich bin Anna«, sagte sie, blieb breitbeinig stehen und stemmte  die 

enormen Hände in die enormen Hüften. Sie kicherte, als sie Rolands 
Miene sah. »Anna die Große  - im Gegensatz zu meiner mageren 
Nichte Anna. Willkommen in meinem Badehaus.« 

Sie stampfte näher und musterte Roland, als wolle sie Maß 

nehmen. Unbewußt sah sich der Ritter mit dem Löwenherzen nach 
einem Fluchtweg um. 

»Anna sagte mir, du seist ein besonders guter und lieber Kunde«, 

fuhr Anna die Gewaltige fort und kicherte. 

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Wenn jemals jemand grollend kichern konnte, dann diese Dame. 

Das Kichern klang, als käme es tief aus ihren gewaltigen Massen. 

»Nun leg dich schon hin, auf daß Anna dich gesundknetet«, sagte 

sie und wies mit einem enorm dicken Finger auf das Lager neben 
dem Badezuber. 

»Ich - bin nicht krank«, wandte Roland ein. 
Sie nickte, und ihr dreifaches Kinn und ihr zweifacher Busen 

wogten heftig. 

»So siehst du auch nicht aus. Aber du hast für eine Massage 

bezahlt und ...« Sie stutzte. »Hast du überhaupt schon bezahlt?« 

»Nein«, sagte Roland. Dann fiel ihm ein, daß Anna, die »Kleine«, 

seine Sachen mitgenommen hatte, und er schalt sich den größten 
Dummkopf aller Zeiten. Er mußte unter besonders gerissene 
Räuberinnen geraten sein! Anna hatte ihn wohl nur abgelenkt und 
bediente sich derweil aus seinen Taschen, während das Riesenweib 
ihn in die Flucht schlagen oder jedenfalls beschäftigen sollte! 
Natürlich würden die beiden bestreiten, ihn ausgenommen zu haben, 
und er würde als Gespött von Hohenwarth dastehen, wenn die Sache 
bekannt wurde. 

Zorn stieg in ihm auf. 
Er wollte gerade ein paar harte Worte mit der Riesendame und 

ihrer offenbar verkommenen Nichte sprechen, doch da tauchte in der 
Tür Anna auf. Sie lächelte und zwinkerte ihm verschwörerisch zu. 

»Doch, doch, Tante«, rief sie hastig. »Roland  - äh  - der Herr hat 

bezahlt. Er hat mir seine Kleidung anvertraut, und ich habe den Preis 
entnommen. Nichts fehlt...« Wieder dieser verschwörerische Blick. 
»Es hat alles seine Ordnung, Anna!« 

Anna die Große holte tief Luft, und der gewaltige Busen schien 

noch anzuschwellen. 

»Er hat dir seine Kleidung anvertraut?« fragt sie mit dröhnender 

Stimme. »Und du nennst ihn Roland?« Ihr Blick zuckte von ihrer 
Nichte zu Roland. »Dies ist ein anständiges Badehaus!« sagte sie 
wütend. 

»Jaja«, murmelte Roland. 

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Ärgerlich wies Anna die Große mit einem dicken Daumen auf das 

Bild.  »Diese Sauerei da verschwindet. Kein Wunder, daß die Kerle 
auf krumme Gedanken kommen ...« 

»Aber es ist doch Kunst ...« wandte Anna die Hübsche ein. 
»Papperlapapp.« 
»... und die Kunden feilschen nicht lange um den Preis, wenn sie es 

sehen«, fuhr Anna fort. 

Dieser praktische Einwand schien ihre Tante zu besänftigen. Sie 

fixierte Roland mit düsterem Blick. 

»Solltest du dir falsche Gedanken gemacht haben ...« 
»Gewiß nicht«, beteuerte Roland. Er sah, wie Anna die Hübsche 

hastig Zeichen machte, auf das Lager wies und mit den Fingern eine 
Massage andeutete. 

Anna die Gewaltige blickte zweifelnd. »Nun, ganz geheuer ist mir 

die Sache nicht. Ich überlege mir, ob ich die Kunden in Zukunft nicht 
selbst begrüßen sollte, damit sie nicht annehmen, die Kleine sei hier 
die Chefin. Nun leg dich hin, wenn du nicht mit Hintergedanken 
gekommen bist, auf daß ich dich massiere.« 

Roland zögerte, dachte an seine Knochen, aber dann sah er den fast 

flehenden Blick der schönen Anna und legte mannhaft das Schwert 
ab. 

Die junge Anna atmete sichtlich auf und zog sich zurück. 
Die nächsten zehn Minuten waren dann wie ein Alptraum für 

Roland. 

Mehrmals spielte der Ritter mit dem Löwenherzen mit dem 

Gedanken an Flucht, doch es gab kein Entrinnen aus den knetenden, 
hämmernden, walkenden, mitleidlosen Pranken der Riesendame. 
Gegen einen Mann hätte sich der Ritter glatt verteidigt, doch einer 
Dame gegenüber, noch dazu einer, die offenbar davon überzeugt 
war, etwas Gutes zu tun, schickte sich das nicht. 

Roland glaubte, sie wollte ihm sämtliche Knochen aus dem Körper 

auslösen und seine Muskeln und das Gewebe zermantschen. 

Mannhaft kämpfte er den Wunsch nieder, um Gnade zu flehen, und 

die Schamröte schoß ihm ins Gesicht bei dem Gedanken, daß ihn 

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König Artus oder die  Ritter der Tafelrunde in dieser hilflosen 
Situation sehen könnten. 

Er schloß die Augen, als Anna die Gewaltige ihm in ihrer 

Begeisterung das Tuch von den Lenden riß und ihre Pranken auf 
seine Hüften eintrommelten und sein Gesäß bearbeiteten, daß ihm 
Hören und Sehen verging. 

Irgendwann ließ sie dann von ihm ab. Ein letzter, fast sanfter Klaps 

auf seine linke Pobacke, der vermutlich einen Pfosten in den Boden 
gerammt hätte, wenn einer da gewesen wäre, und dann richtete sich 
die Riesendame auf und sagte zufrieden: »Das war's, junger Freund. 
Übrigens hast du eine bemerkenswerte Muskulatur, die kaum einer 
Massage bedurfte. Solltest du einmal wirklich verkrampft sein, 
werde ich dich richtig durchkneten. Doch diesmal war nur eine sanfte 
Streichelmassage angezeigt. Empfiehl- mich weiter und beehre mich 
bald wieder.« 

Damit stampfte sie davon. 
Roland blieb wie erschlagen liegen. Er betastete seinen Körper. Es 

schien noch alles drin und dran zu sein. Und seltsam, nachdem sein 
Angstschweiß getrocknet war und sich sein  Puls normalisiert hatte, 
fühlte er sich erstaunlich entspannt und trotzdem frisch. Sollte diese 
Riesendame tatsächlich eine »Gesundkneterin« sein? 

Sie brachte ihm dann seine Kleidungsstücke. Alles war 

ausgebürstet und duftete statt nach Mist nach Jasmin. Sogar die 
Stiefel waren geputzt. 

Gern hätte Roland der schönen Anna gedankt, doch sie ließ sich 

nicht mehr blicken. 

Das Geld war abzüglich der acht Dukaten vollzählig in seinen 

Taschen. Dazu fand Roland einen Zettel. Er entzifferte später auf 
seinem Zimmer die zierlichen Buchstaben darauf. 

Roland, verzeiht mir, wenn ich falsche Hoffnungen bei Euch 

weckte. Wie gerne hätte ich Euch selbst bedient - nicht als Kunden 
und um des Geldes willen - so eine bin ich nicht. Doch Tante wacht 
wie ein Luchs über mich.  Sehe ich Euch wieder? Anna II, die auf 
Euch warten wird. 

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Vögel begrüßten zwitschernd den neuen Tag. Die Sonne lugte über 
die Tannen auf dem Hügel im Osten und färbte das zarte Gespinst 
des Morgennebels mit rötlichem Schimmer. Tau glänzte auf Gräsern 
und Büschen. Eine Eichhörnchen-Familie hielt beim Frühstück inne 
und spähte zu den beiden Menschen, die sich über den Waldweg 
näherten. 

»Papa, was sind das für komische Leute?« fragte der kleine 

Eichhorn-Sohn. 

»Irgendwelche menschlichen Strolche«, brummelte das Oberhaupt 

der Eichhorn-Familie verächtlich. »Iß weiter, damit du groß und 
kräftig wirst wie dein Vater.« 

Die menschlichen Strolche waren Louis und Pierre. 
Sie wirkten in der Tat wenig vertrauenerweckend. Sie trugen die 

zerlumpten Klamotten, die von den Räubern zurückgelassen worden 
waren. 

Louis war nur mit seinem Unterhemd, einer löchrigen Hose und 

einem Schlapphut bekleidet, den er auf dem Weg in einer 
Schäferhütte gefunden hatte. Pierre trug einen von Motten 
zerfressenen Wams, eine schmutzstarrende, geflickte Hose und 
Schnürschuhe, aus denen die Zehen lugten. 

»Ich hab Hunger«, sagte Pierre bekümmert. »Bist du sicher, daß 

das der richtige Weg nach Hohenwarth ist?« 

»Sicher! Sicher!« erwiderte Louis gereizt. »Du hast doch gehört, 

was die Kutscher sagten. Bis zur Weggabelung im Süden und dann 
immer der Nase nach.« 

»Vielleicht hätten wir bei ihnen bleiben und warten sollen, bis 

jemand vorbeikommt«, murmelte Pierre. 

Louis stieß sich den nackten dicken Zeh an einem scharfkantigen 

Stein und fluchte. 

»Da hätten wir lange warten können. Und inzwischen wartet der 

Ritter auf uns. Verdammt, warum haben wir keinen Bauernhof 
gefunden oder einen Ort, in dem wir uns Rösser beschaffen 

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könnten?« 

»Womit?« wandte Pierre bedrückt ein. »Ohne Geld gibt uns  keiner 

einen Kanten Brot.« 

Sein Magen knurrte wie zur Bestätigung-»Du denkst immer nur 

ans Fressen«, bemerkte Louis ärgerlich. 

Gegen Mittag sahen sie eine Kate. Sie schritten schneller aus, doch 

ihre Hoffnung, ein Essen zu bekommen, erfüllte sich nicht. Die 
baufällige Kate war verlassen. Louis fand Zündhölzer und einen 
Kerzenstummel, doch nichts Eßbares. 

»Der nächste Ort kann nicht mehr weit sein«, murmelte er. 
Doch er sollte sich täuschen. Am Nachmittag erreichten sie den 

Weißen Regen. Sie kühlten ihre wunden Füße im klaren Fluß, und 
Louis kam auf die Idee, eine Mahlzeit zu angeln. 

Eine Weidenrute war schnell abgebrochen, und Louis benutzte die 

Kordel, die dem Räuber als Gürtel gedient hatte, als Angelschnur. 

Pierre suchte derweil einen Regenwurm. Es  dauerte eine Zeitlang, 

bis er einen ausgegraben hatte. Der Wurm krümmte sich und schien 
förmlich zusammenzuschrumpfen. 

Mißmutig starrte Pierre auf den kleinen Wurm. 
»Wenn ich Fisch wäre, würde ich ihn aus Mitleid verschonen«, 

murmelte er. 

»Deine Tierliebe geht zu weit«, knurrte Louis. Er nahm Pierre den 

Wurm ab und betrachtete ihn. 

»Wirklich ein mickriges Ding. Na ja, vielleicht sind die Fische 

nicht so verwöhnt.« 

Gnadenlos spießte er den Wurm auf den Holzpsan, den er am Ende 

der Kordel festgebunden hatte. 

Dann watete Louis in den Fluß und warf die provisorische Angel 

aus. Der Wurm zuckte und wand sich auf dem Spieß, als ahne er, 
was auf ihn zukommen würde. 

Doch er fand recht gnädige Fische. Vermutlich wurde sein Flehen 

erhört. Oder er war nicht appetitlich genug. Kein Fisch biß an. 

Nach einer halben Stunde verlor Louis die Geduld und schmetterte 

die Angel mit einem Fluch ins Wasser. 

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Pierre übernahm sie, vom Hunger getrieben. Er sah einen 

huschenden Schatten im klaren Wasser und hielt lockend den Köder 
hin. 

»Nun beiß, nun beiß!« 
Tatsächlich begann sich der Fisch  - Pierre konnte nicht genau 

erkennen, was für eine Art es war - für die Mahlzeit zu interessieren. 

Pierre frohlockte und glaubte schon den Duft gebratener Forelle zu 

riechen. 

»Er beißt an!« raunte er Louis zu, der mit grimmiger Miene am 

Ufer hockte und lustlos Pierres Bemühungen zuschaute. 

»Was ist es?« rief Louis leise. 
»Ein Riesending«, behauptete Pierre. »Schon fast ein kleiner Wal. 

Hei, das wird ein Mahl!« 

Ähnliches sagte sich der Fisch in diesem Augenblick auch. 

Schwups biß er zu. Es gab nur einen kurzen Ruck an der Angel, dann 
sah Pierre den Fisch flossenwedelnd unter einen Stein davongleiten. 

Pierre zog die Angel aus dem Wasser. Der Wurm war weg. 
Der Knappe setzte gerade zu einem längeren Fluch an, als Louis 

ihn unterbrach. 

»Eine Kutsche«, rief er, spähte nach Südosten und sprang auf. 
Pierre ließ die Angel ins Wasser fallen und eilte ans Ufer. Ein 

wenig zu eilig, denn er rutschte auf einem glitschigen Kiesel aus und 
plumpste ins Wasser. 

Louis wollte zwischen den Pappeln und Weiden am Flußufer 

hervor der Kutsche entgegenlaufen. Die gürtellose Hose rutschte 
herunter, und er hielt sie fluchend mit einer Hand fest. Plötzlich 
verharrte er. 

»Was ist?« fragte er  nasse Pierre atemlos, als er heran war und 

Louis' angespannte Haltung sah. 

»Sieh dir das an!« Louis nickte zum breiten Fahrweg hin, der auf 

einer Seite von Pappeln und auf der anderen von Brombeer- oder 
Himbeersträuchern gesäumt war. 

Pierre spähte zwischen den Bäumen am Flußufer hervor, und sein 

Mund klaffte auf. 

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Vor ihren Augen wurde die Kutsche überfallen! 
Die Fuhrpferde des Gespanns brachen von Pfeilen getroffen 

zusammen. Dann sprangen hinter den Büschen am Wegesrand wilde 
Gesellen hervor, schwangen  Keulen und Schwerter und liefen auf die 
Kutsche zu, die in einer Staubwolke stehenblieb. Die Kutscher 
reckten die Hände hoch. 

»Ob das dieselben Kerle sind, die uns überfallen haben?« flüsterte 

Pierre angespannt. 

»Möglich«, brummte Louis. »Läuft jedenfalls nach dem gleichen 

Schema ab. Da! Da ist der Fatzke in der vornehmen Kleidung. 
Gerold. Und der eine trägt meine Hose! Es sind dieselben 
Haderlumpen!« 

»Wenn wir Rösser hätten, könnten wir sie verfolgen und ...« Pierre 

verstummte unvermittelt, und seine Augen weiteten sich. 

Aus der Kutsche sprang eine Gestalt. Unverkennbar eine Frau mit 

wohlgeformter Figur. Sie trug ein langes schwarzes Kleid. Es war am 
Saum und am Dekolleté mit weißer Spitze besetzt. Das Oberteil war 
eng wie ein Mieder gearbeitet, und bei  den Hüften fiel das Kleid 
glockenförmig ab. 

Die langen schwarzen Haare der Frau flogen. Und sie schwang ein 

Schwert! 

Furchtlos sprang sie dem Anführer entgegen. 
Der Kerl riß sein Schwert hoch, um den Hieb zu parieren, doch er 

war wohl von dieser Attacke zu überrascht und reagierte nicht 
schnell genug. 

Die Frau fegte ihm das Schwert aus der Hand und streckte ihn mit 

einem schnellen, fast ansatzlosen Hieb aus dem Handgelenk zu 
Boden! 

Schon wirbelte sie zu einem der anderen Räuber herum. 
Der Bursche vergaß vor Verblüffung, seine Keule zu benutzen. 

Bevor er wußte, wie ihm geschah, traf ihn die Klinge in die Schulter, 
und brüllend ließ er seine Keule los und brach zusammen. 

Die Frau zog ihr Schwert zurück. Die Klinge blitzte im Schein der 

Sonne. 

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Ihre Bewegungen waren geschmeidig, fast katzenhaft, und sie 

handhabte das Schwert mit einer unglaublichen Gewandtheit. 

So hatten die Knappen noch nie eine Frau mit dem Schwert 

kämpfen sehen. Ihre Kampftechnik war ja der eines Ritters 
ebenbürtig! 

Wie gebannt beobachteten die Knappen. 
Ein Pfeil klatschte neben der Frau in den Boden. Sie fuhr herum, 

entdeckte den Bogenschützen zwischen den Pappeln am Wegesrand 
und sprang hinter der Kutsche in Deckung. 

Sie schrie den Kutschern etwas zu. 
Die Knappen sahen, wie die beiden Männer vom Kutschbock 

herabsprangen. Einer ergriff das Schwert des Anführers, das am 
Boden lag. Der Anführer kam zu sich und wollte den Kutscher 
anspringen. Der Kutscher stieß ihm das Schwert in die Brust. 

Und die Frau stürmte wie ein Racheengel auf einen weiteren 

Räuber zu. Der Kerl warf sich herum und ergriff die Flucht. 

Die Frau raffte mit der Linken ihr Kleid und hetzte hinter ihm her, 

mit fliegenden Haaren und blitzendem Schwert. 

Der Bogenschütze gab jetzt ebenfalls Fersengeld. 
Einer der Kutscher machte den Räuber nieder, der von dem 

Schwert der Frau in die Schulter getroffen worden war, aber mit der 
Linken sein Messer auf sie schleudern wollte. 

»Wird Zeit, daß wir was unternehmen«, brummte Louis. 
»Aber sie hat doch schon alles im Griff«, sagte Pierre mit 

unverhohlener Bewunderung. 

Louis nickte. »Ein Teufelsweib. Aber gewiß macht es einen guten 

Eindruck, wenn wir so tun, als wollten wir sie retten. Los!« 

Damit rannte er wild brüllend zum Fahrweg auf die Kutsche zu, als 

gelte es, eine Horde Hunnen zu vertreiben. Pierre folgte ihm und 
stimmte in das Gebrüll mit ein. 

Der flüchtende Räuber warf mit der Keule nach der Verfolgerin. 
Die Frau duckte sich geistesgegenwärtig, stolperte über ihren 

Kleidsaum und stürzte. Der Räuber hetzte davon. 

Die Frau raffte ihr Kleid, erhob sich und lief zur Kutsche zurück. 

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Sie blickte Louis und Pierre entgegen und verharrte. 

Louis hatte die Kutsche fast erreicht und stellte das Schaugebrüll 

ein.  Einer der Kutscher raffte eine Keule vom Boden und stürmte auf 
Louis zu. Der andere riß das Schwert hoch. 

Louis blieb stehen, als sei er gegen ein unsichtbares Hindernis 

geprallt. »Verdammt, wir wollen helfen ...« 

Doch der Kutscher schlug wütend mit der Keule zu. Louis riß im 

Reflex den Kopf zur Seite. Aber die Keule streifte ihn noch an der 
Schulter, und der Knappe hatte das Gefühl, der Hieb hätte ihm den 
Arm abgetrennt. 

Jetzt sah Louis rot. Der ehemalige Räuberhauptmann ignorierte die 

wieder zum Schlag erhobene Keule. Er vergaß, mit einer Hand die 
Hose festzuhalten, die ihm bis auf die Knie gerutscht war, und es 
interessierte ihn in dieser Situation auch nicht, daß die Frau mit 
großen Augen auf seine Unterhose starrte. 

Louis packte den Kutscher am Wams,  fing das Handgelenk mit der 

Keule ab und schleuderte den Mann gegen seinen Partner, der gerade 
sein Schwert vorstieß, um Pierre anzugreifen. Die Schwertspitze 
bohrte sich in den Hintern des Kutschers, und der Mann brüllte wie 
am Spieß. 

Beide gingen zu Boden. Louis zog die Hose hoch und atmete auf. 

Doch zu früh. Die Dame sprang heran wie eine angreifende 
Raubkatze. Ihre grünen Augen schienen Funken zu sprühen, und ihre 
roten Lippen waren aufeinandergepreßt. 

Wild und verwegen stürmte sie  auf den schwarzbärtigen Knappen 

zu, der einen Kopf größer und ihr körperlich weit überlegen, doch 
eben waffenlos war. 

Die schöne Frau mit ihren geschmeidigen Bewegungen bot einen 

erregenden Anblick, doch Louis konnte ihn nicht so recht genießen. 

Er wich zurück. 
»Laßt Euch erklären ...« 
Sie war offenbar keine Frau der vielen Worte. Ohne eine Antwort 

zu geben, schlug sie aus der Drehung heraus Pierre nieder, der wie 
angewurzelt dastand und sie offenen Mundes anstarrte. Dann wir-

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belte sie schon zu Louis herum, und dabei stieß sei einen Laut aus, 
der tatsächlich wie das Fauchen einer Katze klang. 

Louis sah die Schwertklinge aufblitzen. 
»So hört doch ...« 
Er sprang zurück, strauchelte über eine Keule und landete auf dem 

Rücken. 

Im  nächsten Augenblick stand die Frau über ihm und hielt ihm das 

Schwert an die Kehle. Ihr straffer Busen hob und senkte sich unter 
heftigen Atemzügen. 

»Ergib dich, du Lump, oder du bist des Todes!« keuchte sie, und 

ihre grünen Augen schienen Funken zu sprühen. 

»Wir gehören nicht zu den Räubern, wenn Ihr das meint«, sagte 

Louis mit heiserer Stimme. »Wir sahen vom Fluß aus, wie Ihr 
überfallen wurdet und wollten helfen.« 

Sie musterte ihn fast angewidert, wie Louis fand, und er genierte 

sich ob seiner zerlumpten  Hose und seiner hilflosen Lage vor den 
Füßen dieser schönen Frau. 

Er sah den Zweifel in ihrem Blick und fügte schnell hinzu: »Wir 

wurden selbst überfallen, schöne Dame, und ich kann verstehen, daß 
Ihr uns in dieser verkommenen Kleidung für Räuber hieltet.« 

Sie entspannte sich etwas und lächelte kaum merklich, als er 

»schöne Dame« sagte. 

Louis setzte nach. 
»Wir sind die Knappen eines ruhmreichen Ritters, und wir wollten 

Euch zu Hilfe kommen.« 

»Ich kam schon allein zurecht mit diesem feigen Gesindel«, sagte 

sie, und ihre sinnlich geschwungenen Lippen verzogen sich zu einem 
spöttischen Lächeln. 

»Ihr habt bewundernswert gekämpft, schöne Dame«, sagte Louis. 

»Um ehrlich zu sein, nie sah ich eine Dame mit zarter Hand so 
gekonnt das Schwert schwingen.« 

»Das habe  ich in Burgund gelernt«, erwiderte sie, und es klang 

sehr stolz. Sie zog ihr Schwert zurück und musterte ihn prüfend. 
»Die Knappen eines Ritters, behauptest du ...« 

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»Ein verdammter Hundsfott!« rief der Kutscher, der sich mit 

schmerzverzerrtem Gesicht sein Gesäß hielt. Natürlich hatte sein 
Gefährte längst die Schwertspitze aus der Backe gezogen. Gottlob 
war der Stich nicht tief. 

Louis bedachte ihn mit einem grimmigen Blick und verneigte sich 

dann. Es war eine etwas linkische Verbeugung, aber er lag ja immer 
noch der Dame zu Füßen, die zwar das Schwert von seiner Kehle 
fortgezogen hatte, es jedoch immer noch erhoben hielt, als wollte sie 
jederzeit zum Schlag bereit sein. 

»Mein Name ist Louis, mein Gefährte heißt Pierre, und wir sind 

die Knappen eines Ritters, der in Hohenwarth auf uns wartet.« 

»Hundsfott!« giftete der Mann mit dem lädierten Hintern. 
»Wir bitten Euch, uns bis zum nächsten Ort...« fuhr Louis fort, 

doch die schöne Frau unterbrach ihn. 

»Sag nur, ihr seid die Knappen von Ritter Roland?« 
Louis war verdutzt. Er hatte absichtlich Rolands Namen nicht 

genannt. Roland gab sich bei seinen Ermittlungen nicht als Ritter 
aus. Die Räuber sollten nicht gewarnt werden ... 

»Woher wißt ihr ...?« entfuhr es Louis. 
Die wehrhafte Dame, die so meisterhaft den Schwertkampf in 

Burgund gelernt hatte, lächelte. Ihre grünen Augen funkelten 
belustigt. 

»Ich lernte euren Ritter in Hohenwarth kennen«, sagte sie und ließ 

das Schwert sinken. »Allerdings sprach Roland nicht von Knappen, 
sondern von Freunden, die auf dem Weg nach Hohenwarth seien und 
auf die er warte.« 

»Aber woher wißt Ihr dann, daß er ein Ritter ist?« fragte Louis 

verwundert. »Hat er das gesagt?« 

Sie strich mit der Linken eine Strähne des glänzenden schwarzen 

Haares aus der Stirn. 

»Nein - doch ich - sah ihn mal bei Hofe.« 
Sie nagte an der Unterlippe und schien zu überlegen. 
Pierre rappelte sich auf und tastete stöhnend an seinen Kopf. 
»Laßt Euch nicht einwickeln, Comtesse Terciere«, hetzte der 

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Kutscher. »Glaubt diesen Lügnern kein Wort. Gewiß haben sie alles 
nur erfunden, als sie merkten, daß ihre Kumpane verspielt hatten.« 

Elisabeth Terciere schüttelte den Kopf. »Ich  weiß,  daß sie die 

Wahrheit sagen«, erklärte sie bestimmt. »Wie der Zufall so spielt! 
Ich überlegte schon, wie ich Roland wiedersehen ...« 

Sie verstummte, nagte wiederum an der Unterlippe und blickte von 

Pierre zu Louis. Sie schien zu überlegen. 

»Nun, ich hätte nichts dagegen einzuwenden, wenn ihr beide mich 

nach Hohenwarth zurück begleitet«, sagte sie schließlich. »In diesen 
gefährlichen Zeiten kann eine Dame männlichen Schutz 
gebrauchen.« 

Ihr Lächeln war für Louis blanker Hohn. 
»Wir wären für  Euren  Schutz dankbar, schöne Dame«, erwiderte er 

und zeigte grinsend seine kräftigen weißen Zähne im schwarzen 
Bart. 

Meinhardt Ebermann  schob einen Ast in das kleine Feuer. Funken 
stoben zur hohen Decke der großen Höhle auf. 

Der rötliche Schein des Feuers geisterte über Meinhardts Gesicht. 

Es war ein wüstes Gesicht mit schwarzen, stechend blickenden 
Augen unter buschigen Augenbrauen, die über der breiten, mehrmals 
gebrochenen Nase zusammengewachsen waren, ein Gesicht mit 
wulstigen Lippen und einem kantig vorspringenden Kinn. Die Haut 
war großporig und von Pusteln übersät. Sie glänzte fettig. Meinhardt 
rieb ständig die Salbe ein, die ihm ein Quacksalber aufgeschwatzt 
hatte, doch bisher hatte sie nicht gegen Pickel, Pusteln und Mitesser 
geholfen. 

Meinhardt hatte dreierlei Haarfarben  - viererlei genauer gesagt. 

Das Haupthaar, das sich um einen kahlen Fleck auf dem gewaltigen 
Schädel zu  lichten begann, war rötlichblond. Die breiten Koteletten, 
die bis zu den Mundwinkeln reichten, begannen wie das Haupthaar 
rötlichblond und wurden zu den Enden hin dunkler bis zu einem 

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tiefen Rostbraun. Die Augenbrauen waren schneeweiß. 

Die vierte Farbe war von einem leuchtenden Kupferton, doch die 

kannten nur wenige  - zum Beispiel Hildegard, die er sich als 
derzeitige Geliebte hielt. 

Meinhardt war von stämmiger Statur, breitschultrig, groß und 

bärenstark. Kein schöner Mann, doch ein imponierendes Mannsbild 
voller Saft und Kraft, wie Hildegard fand. 

Er trug ein leichtes Kettenhemd, ein Beutestück seiner Räuber, und 

eine engsitzende Reithose, die ein Graf bei einer Jagd getragen hatte, 
bevor ihn Meinhardts Räuber aus dem Hinterhalt ermordet hatten. 

An  dem breiten, mit Silber beschlagenen Ledergurt hing ein 

Schlachterbeil in einer Schlaufe. Meinhardt war mal Schlächter 
gewesen, bis er im Jähzorn statt eines Ochsen den stets meckernden 
Meister getötet hatte. Seither lebte er ständig auf der Flucht. Der 
Schlächter wurde wegen Mordes gesucht, und er lebte mit seiner 
kleinen Räuberschar von den Beutezügen rings um den Schwarz-
riegel, vornehmlich von Überfällen auf Reisende. 

Es war das Hackebeil, auf das die Räuber Achim und Theo 

furchtsam starrten, als sie ihrem Anführer berichteten. 

Meinhardt war in seinem schnell geweckten Zorn fähig, einem den 

Schädel zu spalten, wenn etwas nicht nach seinen Plänen ablief. 

»Wir konnten wirklich nichts tun«, beteuerte Achim, der 

Bogenschütze. »Das war ein Teufelsweib. Gerold ist  -äh  - war der 
beste Schwertkämpfer, den wir je hatten  - äh außer dir natürlich  -, 
doch er hatte nicht die geringste Chance.« 

»Dummsack!« blaffte Meinhardt und legte die Hand auf den  Stiel 

des Schlachterbeils. »Dieses Weib hat wohl einen Zufallstreffer 
gelandet.« 

Achim, der Bogenschütze schluckte. »Nein, Theo kann es 

bezeugen. Sie hat ihn niedergekämpft wie der kampfstärkste Mann.« 

Er warf Theo einen um Unterstützung heischenden Blick zu. 
Theo nickte heftig. »Sowas hab' ich noch nicht gesehen. Sie muß 

den Teufel im Leib haben.« 

»Das kann man exorzieren«, brummte Meinhardt. 

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Er sah die verständnislosen Blicke seiner beiden Männer und 

grinste. »Ihr Heiden wißt natürlich nicht, was das ist. Ich will es euch 
erklären. Wenn eine den Teufel im Leib hat, dann nimmt man sie auf 
Teufel komm raus.« 

Achim und Theo grinsten nun ebenfalls. 
Doch Meinhardts überraschend gute Stimmung war schnell wieder 

dahin. Eine Weile starrte er finster ins Feuer,  und Achim und Theo 
blickten von Zeit zu Zeit besorgt zu dem Schlachterbeil an 
Meinhardts Hüfte. 

Meinhardt bohrte in der Nase, betrachtete interessiert seinen Fund 

und schnippte ihn ins Feuer. 

Dann faßte er seine beiden Mannen ins Auge. 
»Mich dünkt, ihr wollt mir einen Bären aufbinden. Eine Frau, die 

mit vieren von euch fertig wird und besser mit dem Schwerte kämpft 
als Gerold! Daß ich nicht lache!« Und er schickte ein kräftiges »Ha!« 
hinterher. 

»Aber es ist die Wahrheit«, sagten Achim und Theo wie aus einem 

Munde. 

Der Blick der schwarzen Augen schien sie zu durchbohren. 

Obwohl es in der Höhle beim Feuer warm war, fröstelten die beiden. 

Meinhardt kratzte sich am Kinn. Er wirkte unschlüssig. 
»War sie hübsch?« fragte er. 
»Und wie!« schwärmte Achim. »Ein Vollblutweib. Alles Drum 

und Dran.« Er modellierte mit den Händen einen Frauenkörper, und 
Theo grinste dazu bestätigend. 

Eine steile Falte bildete sich auf Meinhardts Stirn, und die 

buschigen weißen Augenbrauen schienen noch mehr 
zusammenzuwachsen. 

»Das ist es!« knurrte er. »Sie hat euch mit ihrem Aussehen 

scharfgemacht! Da habt ihr nur geglotzt und das Kämpfen vergessen! 
Ich sollte euch ...« 

Unbewußt wichen die beiden einen Schritt zurück, aus der 

Reichweite des Schlachterbeils. 

»Aber Gerold doch nicht!« sagte Achim schnell. 

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Meinhardt zog die Hand vom Schlachterbeil. Er kratzte sich wieder 

am Kinn, wo ihn ein Pustelchen juckte. Dann verzogen sich die 
wulstigen Lippen zu einem Grinsen. 

»Da ist was dran«, gab er zu. »Gerold hat sich noch nie was aus 

Weibern gemacht.« 

»Sie hat ihn in Grund und Boden gekämpft!« bekräftigte Achim. 
»So was hab' ich noch nicht gesehen«, sagte Theo. 
»Du wiederholst dich!« knurrte Meinhardt. 
Finster starrte er in das Feuer und nagte an der Unterlippe. 
»Ein Weib, das schön ist und auch noch was kann  -«, er schüttelte 

den Kopf, »- so was ist mir noch nicht untergekommen.« 

Er blickte auf. »Dieses Frauenzimmer interessiert mich fürwahr, 

sollte es so etwas tatsächlich geben.« 

»Und Hilde ...?« entfuhr es Achim, und er verstummte sofort und 

hätte sich am liebsten die Zunge abgebissen. 

Zum Glück erwies sich Meinhardt in gnädiger Stimmung. Sonst 

konnte er fuchsteufelswild werden, wenn man den Namen auch nur 
in den Mund nahm. 

»Hilde!« sagte er und winkte mit einer Grimasse ab. »Gewiß, sie 

sieht ganz annehmbar aus, aber die kann nicht mal bis drei zählen. 
Die tut doch nur, was man ihr lang und breit erklärt, und dann schläft 
sie noch dabei ein. Stellt euch vor, Hilde mit einem Schwert in der 
Hand! Die kann ja nicht mal Käse mit einer Säge schneiden!« 

Er lachte dröhnend, daß es durch die Höhle und die Nebengänge 

hallte. 

Achim und Theo hüteten sich, zu lachen. Oft genug sprach 

Meinhardt abfällig über seine Hildegard, doch er konnte wütend 
werden, wenn man ihm dann beipflichtete. Trotz allem mußte 
Hildegard über irgendwelche Qualitäten verfügen, denn sie hielt sich 
bisher am längsten  - schon drei Monate teilte sie mit ihm das Lager. 
Die anderen hatte er meistens nach drei Wochen durch eine Neue 
ersetzt. 

Meinhardt blickte sie durchdringend  an, als wollte er ihre 

Gedanken erraten. 

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»Wenn ihr die Wahrheit gesagt habt, dann muß das wirklich ein 

Teufelsweib sein«, sagte er nachdenklich und winkte ab, als die 
beiden zu einer Beteuerung ansetzten. »Und solche Weiber interes-
sieren mich. Nun denn, schafft mir diese Wunderfrau heran. Hilde 
langweilt mich seit langem. Vielleicht überlasse ich sie euch, wenn 
ihr mir diese Traumfrau zu Füßen legt.« 

Achim und Theo blinzelten erfreut. Ihnen machte es nichts aus, 

daß Hildegard nicht bis drei zählen konnte. 

Meinhardt grinste. »Nach allem, was ihr berichtet habt, müßte es 

eine gar herrliche Herausforderung sein, ein solches Weib zu 
zähmen«, fuhr er fort. »Ja, ich will sie hier haben. Und zwar schnell. 
Hört zu, wie ich mir die Sache denke ...»Achim und Theo hörten zu. 
Doch sie waren nicht die einzigen, die lauschten. Hildegard hörte 
alles mit, und heißer Zorn tobte in ihr. Sie konnte weder lesen noch 
schreiben, doch sie war nicht so dumm, wie Meinhardt dachte. Und 
bis drei konnte sie allemal zählen:  Eins:  Meinhardt war ihrer 
überdrüssig.  Zwei:  Er wollte eine andere, die angeblich besser war! 
Pah  - nur weil sie mit dem Schwert kämpfen konnte! Meinhardt hatte 
es noch nie nach einem Schwertkampf gelüstet, wenn er sie auf sein 
Lager gezerrt hatte!  Drei:  Die Nebenbuhlerin mußte verschwinden. 
Sie, Hildegard, mußte verhindern, daß Meinhardt die andere nahm 
und sie seinen miesen Kerlen überließ, diesen Habenichtsen, die ihr 
nicht mal das Salz in der Suppe bieten konnten. Ihr Platz war an der 
Seite des Herrn, dort war- ihr Brot mit Schmalz gestrichen. Bei den 
anderen würde sie mit Krümeln vorlieb nehmen müssen  - ohne 
Schmalz. Sie war entschlossen, mit allen Mitteln zu verhindern, daß 
jemand ihr ihren Platz streitig machte.  

Roland lächelte. »Du bist in der Zwischenzeit noch schöner 

geworden«, sagte er zu Elisabeth Terciere. 

Am späten Abend war sie mit den Knappen in Hohenwarth 

eingetroffen. 

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Elisabeth lachte. »Du bist ein Schmeichler, Roland. Genau wie 

dein schwarzbärtiger Knappe, der mich auf der Fahrt mit 
Komplimenten überhäufte.« 

»Ja, Louis und Pierre berichteten mir, du hättest bei dem Überfall 

tollkühn gekämpft wie der beste Ritter.« 

Ihre grünen Augen funkelten. »Es war nur Glück. Gewiß, ich habe 

den Schwertkampf in Burgund gelernt, und ich hatte einen 
gestrengen Lehrmeister.« Ein herber Zug war plötzlich um ihren 
Mund, und sie wich seinem Blick aus. 

»Gewiß ein Meister des Schwertes«, sagte Roland. 
»Ja«, sagte sie mit bitterer Stimme. »Er war ein Meister  - in jeder 

Hinsicht. Aber sprechen wir nicht mehr davon.« 

Sie lächelte, und Roland spürte, daß es ein gezwungenes Lächeln 

war. 

»Doch ich hätte niemals gegen diese vier Räuber bestehen können, 

wenn mir die Kutscher nicht geholfen hätten. Außerdem«, ein kurzes 
Auf und Ab der langen schwarzen Wimpern, »hatte ich zwei Knöpfe 
meines Kleides geöffnet, weil mir in der Kutsche so heiß war, und 
die Kerle starrten, daß ihnen fast die Augen aus dem Kopf fielen. 
Man muß halt als Frau manchmal alle Waffen einsetzen.« 

Roland blickte ihr in den Ausschnitt und dann tief in die Augen 

und sagte: 

»Damit bist du unschlagbar.« 
Sie lachte leise. »Nein, nein, ich bin nur eine schwache Frau. Ich  - 

wäre dir so dankbar, wenn du mich zur Burg Blaibach begleiten 
würdest. Ich habe solche Angst. Der Schreck sitzt mir noch in allen 
Gliedern.« 

Sie sah ihm wieder in die Augen, und es wurde ihm heiß unter 

ihrem Blick. 

»Begleitest du mich?« fragte sie und streichelte über seinen 

Handrücken. 

Roland überlegte schnell. Eigentlich mußte er an den Auftrag von 

König Artus denken. Er hatte vorgehabt, sich am nächsten Morgen 
mit den Knappen zum Ort der beiden Überfälle zu begeben und nach 

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Spuren zu suchen. Doch es widerstrebte ihm, Elisabeths Wunsch 
abzuschlagen. Ihr lockendes Lächeln versprach ihm, wie dankbar sie 
ihm sein würde. Er freute sich auf die Stunden mit ihr. Was machte 
es schon, wenn Louis und Pierre erst einmal allein ermittelten? 
Vielleicht konnte er sogar mehr erreichen, wenn er Elisabeth be-
gleitete. Schon zweimal war sie in Überfälle verwickelt gewesen. 
Vielleicht versuchten es die Räuber ein drittes Mal. 

»Oder hast du Wichtigeres zu erledigen?« fragte sie, und Roland 

entging nicht, daß ihre Miene auf einmal angespannt wirkte. 
»Vielleicht einen Auftrag von Camelot?« 

Roland bemühte sich um eine ausdruckslose Miene. Es genügte 

schon, daß  sie wußte, wer er war, weil sie ihn irgendwann einmal bei 
Hofe gesehen hatte, wie die Knappen erzählt hatten. Es wunderte ihn, 
daß er sich nicht an sie erinnern konnte. Eine solch atemberaubende 
Frau hätte ihm doch in Erinnerung bleiben müssen. Gewiß hatte man 
versäumt, sie einander vorzustellen. 

Kurz war er versucht, seinen Auftrag anzudeuten, doch dann 

widerstand er dem Impuls. Niemand sollte etwas von seiner Misson 
wissen. Möglicherweise hatten die Wände in der Herberge Ohren, 
und wenn sich erst herumsprach, weshalb er sich in dieser Gegend 
herumtrieb, konnten die Räuber gewarnt werden und sich aus diesem 
Gebiet zurückziehen oder ihm und den Knappen einen 
Meuchelmörder auf den Hals schicken. 

Er hatte sich Elisabeth gegenüber als Reisender ausgegeben, und 

sie hatte keinerlei Fragen gestellt. Die ganze Zeit über hatte sie 
gewußt, wer er in Wirklichkeit war, aber kein Sterbenswörtchen 
gesagt. Warum eigentlich nicht? 

Die Tochter des Wirtes Sebastian, die dralle Gudrun  - kam an den 

Tisch, räumte das Geschirr ab und fragte, ob sie noch Wünsche 
hatten, und Roland wurde aus seinen Gedanken gerissen. 

»Noch Wein, die Herrschaften?« fragte Gudrun. 
Roland wollte schon bestellen, doch Elisabeth schüttelte den Kopf. 
»Ich bin müde«, sagte sie zu Roland, und ihr Lächeln ließ sein 

Herz schneller schlagen. Er hielt es für vielversprechend. 

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Als Gudrun gegangen war, wiederholte Elisabeth im Flüsterton 

ihre Frage: »Bist du vielleicht in einem Auftrag des Königs 
unterwegs, Roland?« 

Roland zwang sich zu einem Lachen. »Aber nein. Ich wollte nur 

einen Freund in Waffenbrunn besuchen ...»Elisabeths Miene hellte 
sich auf. Sie drückte seine Hand. »Wie fein. Dann hast du gewiß 
Zeit, mich zu begleiten.« 

»Natürlich«, hörte sich Roland sagen. 
Sie lächelte, und in diesem Augenblick  wirkte sie wie eine 

zufriedene Katze. 

»Schön«, sagte sie, und ihre Stimme klang wieder wie in der Nacht 

in ihrer Kammer, als sie ihm Liebesworte ins Ohr geschnurrt hatte. 
»Dann fahren wir morgen früh los.« Sie drückte kurz seine Hand und 
erhob sich. 

Voller Vorfreude stand auch Ritter Roland auf, um sie zu 

begleiten. 

Sie schüttelte leicht den Kopf. »Danke, ich gehe allein. »Ich  - bin 

wirklich müde, Roland. Gute Nacht.« 

»Gewiß  - Gute Nacht.« Er versuchte seine Enttäuschung zu 

verbergen. Er kam sich ein bißchen dumm vor, als sie geschmeidig 
und anmutig davonschritt. Sie drehte sich nicht mal mehr um. 

Welch atemberaubende Frau! 
Roland fühlte sich noch gar nicht müde. Bekümmert blieb er am 

Tisch sitzen. Ob er an Elisabeths Kammer anklopfen sollte? Eine 
innere Stimme sagte ihm, daß ihre Worte endgültig geklungen hatten. 
Oder wollte sie nur, daß er sie umwarb? War es ihr zu billig, ihn 
einfach mit ins Bett zu nehmen? 

Der Gedanke weckte neue Hoffnung in ihm. Sie war eine schöne, 

stolze Frau, und sie erwartete vielleicht, daß er Himmel und Hölle in 
Bewegung setzte, um ihr Herz und den Rest zu erobern. 

Er wartete noch einen Augenblick. Dann verließ er den Gastraum 

und ging zu ihrer Kammer. 

Er klopfte leise an. 
»Ja?« 

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»Ich bin's - Roland.« 
Stille. 
Es schien eine Ewigkeit zu vergehen, bis Elisabeth antwortete. 
»Verzeih mir, Roland, aber ich bin wirklich müde. Bitte geh. Sei 

ritterlich und laß mich schlafen. Bis morgen.« 

Da war tatsächlich nichts zu machen. Und mit »ritterlich« hatte sie 

ihn bei der Ehre gepackt. Zugleich regte sich ein gewisser Trotz in 
ihm. Gewiß, sie war eine Frau, um die es sich zu werben lohnte, doch 
sein Mannesstolz und Ritterstolz verboten ihm es dann doch, wie ein 
Hündchen zu betteln. 

»Bis morgen«, sagte er und bemühte sich, seine Enttäuschung zu 

verbergen. »Ich wollte nur fragen, um wieviel Uhr wir aufbrechen 
sollen.« 

»Gegen acht«, sagte sie. »Dann sind wir gegen Abend am Ziel.« 
»Gegen acht dann.« 
Er kehrte in den Gastraum zurück und bestellte bei Gudrun ein 

Bier. Das Bier schmeckte ein wenig säuerlich, aber vielleicht lag das 
auch an seiner Stimmung. Mißmutig starrte er in den Krug, und 
selbst das freundliche Lächeln der drallen Gudrun vermochte ihn 
nicht aufzuheitern. 

Schließlich mußte er an Anna und ihre Zeilen denken. Anna war 

ebenfalls schön, doch von ganz anderer Art als Elisabeth ... 

Bei diesem Gedanken erhob er sich. Ein kleiner Spaziergang in 

frischer Luft konnte gewiß vor dem Zubettgehen nicht schaden. 

Er verließ die Herberge und schlenderte zu Annas Badehaus. 

Vielleicht wartete Anna auf ihn. Sie wollte ihn wiedersehen! 
Zumindest verdiente sie eine Antwort auf ihre lieben Zeilen. 

Eine Wolke verdeckte den Mond. In der Gasse war es finster wie 

in einer Bärenhöhle. 

Ritter Roland wollte gerade die Hand heben, um anzuklopfen, als 

ihn eine tiefe grollende Stimme zusammenfahren ließ. 

»Ah, junger Freund!« 
Anna die Gewaltige. 
Sie füllte ein dunkles Fenster neben der Tür aus. 

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»Gewiß willst du massiert werden.« Anna kicherte grollend. 

»Komm nur herein! Aber sei leise. Meine Nichte schläft schon.« 

»Ich  - ich wollte nur ein wenig frische Luft schnappen«, sagte 

Roland und ging hastig weiter. »Guten Abend.« 

»Guten Abend.« Es hallte wie Donnergrollen durch die Gasse, und 

irgendwo begann ein Hund zu bellen, der vermutlich an ein 
drohendes Gewitter glaubte. Gewiß würde Anna die Hübsche davon 
wach werden. Doch ihre Tante hielt Wache und wollte ihn 
massieren! 

Roland beeilte sich, zurück zur Herberge zu kommen. 
Er war nicht recht zufrieden mit der Entwicklung der Dinge. 
In dieser Nacht schlief er ziemlich unruhig. Er träumte von einer 

großen schwarzen Katze, die Elisabeth Terciere hieß, aber aussah 
wie Anna die Hübsche und ihn durchknetete wie Anna die 
Gewaltige. 

Ritter Roland war nicht der einzige, der in dieser Nacht einen 
unruhigen Schlaf hatte. 

Pierre, in Gudruns Kammer, kam lange nicht zum Schlafen. Erst 

gegen Morgen fielen ihm die Augen zu, und er träumte von Gudruns 
Zärtlichkeiten. 

Louis hatte zu stark dem Met zugesprochen, und im Traum 

verfolgten ihn ganze Schwärme von Fliegen, die allesamt Schwerter 
und Keulen schwangen und die Gesichter der Räuber hatten, deren 
Aussehen sich der Knappe eingeprägt hatte. 

Anna die Hübsche hatte den ganzen Tag auf ein Wort von Roland 

gewartet. Doch er hatte sich nicht blicken lassen. Vermutlich hatte 
Tante Anna ihn zu sehr abgeschreckt. Lange lag sie schlaflos in ihrer 
Kammer. Mehrmals nahm sie die Kerze. Sie ging ans Fenster und 
hoffte, der gutaussehende große Mann würde von neuem in der 
Gasse auftauchen. Später, als er tatsächlich auftauchte, war sie 
eingenickt. Im Traum sah sie Roland, wie sie ihn beim ersten Mal 

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gesehen hatte, und mehrmals seufzte sie, als sie sich vorstellte, in 
seinen starken Armen zu liegen. 

In der  Höhle im Schwarzriegel schlief Meinhardt der Schlächter 

unruhig. Er sah im Traum die Frau, von der ihm seine Räuber 
berichtet hatten. Eine unglaubliche Schönheit, die mit 
unnachahmlicher Grazie ein Schwert schwang. Eine gefährliche 
Schönheit  - doch ihm, Meinhardt, würde sie gehorchen. Sie lächelte 
ihn betörend an. »Ich bin dein, Meinhardt«, gelobte sie demütig, und 
er fühlte sich so stolz wie nie zuvor. Das Lächeln der schönen Frau 
erlosch von einem Augenblick zum anderen, und Meinhardt erschrak 
im Traum.  Sie sah plötzlich aus wie Hildegard! Und sie stieß ihm das 
Schwert in die Brust! 

Schweißgebadet schreckte Meinhardt aus dem Schlaf. Unbewußt 

tastete er an seine Brust. Alles in Ordnung. Dann hörte er ein leises 
Schnarchen neben sich auf dem Lager. Er tastete hin und berührte 
einen warmen Körper. Hildegard. 

Er mußte geträumt haben. 
Angewidert hörte er eine Weile dem Schnarchen zu. Dann rüttelte 

er Hildegard ärgerlich an der Schulter. Das Schnarchen verstummte, 
und sie drehte sich im Schlaf auf die andere Seite. Dabei rammte sie 
ihm ein angezogenes Knie gegen die Hüfte. 

»Blöde Kuh«, knurrte er und drehte sich auf die andere Seite. 
Und noch einer schlief unruhig in dieser Nacht. 
Barnabas. 
Der Mann, der ein ganz anderes Spiel trieb als der Räuber 

Meinhardt. 

Barnabas, der wie die Spinne im Netz auf sein Opfer lauerte, um es 

langsam zu töten ... 

Kurz vor Mitternacht wurde Barnabas von Wenzel geweckt. 

Und Wenzel brachte schlechte Kunde aus Hohenwarth. 
Der Überfall war mißlungen. 

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»Es lief alles nach Plan«, sagte  Wenzel zerknirscht, nachdem er im 

groben berichtet hatte. »Er war mit Elisabeth im Bett, und wir 
dachten, da kann gar nichts schiefgehen. Doch als wir in das Zimmer 
stürmten, sprang der Kerl auf, hielt schon sein Schwert in der Hand 
und kämpfte wie der Teufel. Ich hätte ihm noch die Rübe abschlagen 
können, doch ...« 

»Dafür hättest du deine verloren«, unterbrach Barnabas ärgerlich. 
»Jaja. Mir waren also die Hände gebunden. Er schlug Peter und 

Albert nieder. Da blieb uns nichts anderes übrig, als durch das 
Fenster zu verschwinden. Er raste hinter uns her und erwischte noch 
Gebhard. Dann wetzte er nackig und mit dem Schwert in der Hand 
hinter mir her. Ich konnte ihn abhängen, und unseren Jungs gelang 
es, sich unterdessen davonzumachen. Aber das war auch schon alles. 
Wir hatten wirklich keine Chance.« 

Wenzel verstummte mit einem Schulterzucken und sah Barnabas 

entschuldigend an. 

Barnabas blieb erstaunlich gelassen. 
»Ja, der Kerl ist in der Tat ein Teufel«, sagte er. Er kraulte das Fell 

seines schwarzen Lieblingskaters, der darob den Schwanz aufrichtete 
und zu schnurren begann. 

Insgesamt dreizehn Katzen lagen auf dem Lager aus Fellen und 

Decken, das sich Barnabas im ausgebrannten Palas der Burgruine 
hergerichtet hatte. Es waren sieben Kater und sechs Katzen: 
Schwarze, graue, gestreifte, braune, kurzhaarige und langhaarige. 

Katzen waren Barnabas' Leidenschaft. Katzen in allen Arten und 

Größen. 

Die dreizehn schliefen stets bei ihm. Irgendwann in der Nacht 

gingen sie auf Jagd oder zu einem nächtlichen Katzentreff in der 
Burgruine, doch anschließend kehrten sie wieder zu Barnabas 
zurück, und wenn er morgens erwachte, lagen sie auf und neben ihm. 

Das Lager stank ebenso nach Katzen wie Barnabas selbst, doch das 

machte ihm nichts aus. Er hatte sich daran gewöhnt, im Gegensatz zu 
seinen paar Mannen, mit denen er vorübergehend in der Burgruine 
hauste. 

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Barnabas schob den Kater Wunibald von sich  - alle Katzen hatten 

Namen  - hob die grauweiß-gestreifte Katze Ludmilla von seiner 
Brust und setzte sich auf. 

Die Kerzen im Kandelaber neben dem Lager flackerten im 

Luftzug, der durch die offenen Fensterhöhlen in den Raum drang. Ihr 
Schein verlieh Barnabas etwas Dämonisches. 

Barnabas war fünfunddreißig, doch man hätte ihn auf  über Fünfzig 

schätzen können. Vielleicht waren daran die vielen Jahre im Kerker 
schuld, die er hinter sich gebracht hatte. 

Die braungelblichen Augen lagen tief in den Höhlen. Die Wangen 

in dem schmalen Gesicht waren eingefallen, und die Haut spannte 
sich  über die vorstehenden Wangenknochen. Er hatte ein spitzes 
Kinn und einen schmalen Mund mit vorstehenden Schneidezähnen. 
Vom linken Mundwinkel bis zur Schläfe hinauf schimmerte eine 
schlecht verheilte Narbe rötlich. Das linke Ohr war nur ein 
kümmerlicher  Stummel. Ein Schwerthieb hatte ihm das Ohr 
abgetrennt, damals als sie ihn geschnappt hatten. 

»Ja, er ist ein Teufel«, wiederholte Barnabas mit dumpfer Stimme, 

und Haß loderte in seinen tiefliegenden Augen, deren Pupillen wie 
die Lichter eines Raubtieres leuchteten. 

Eine der Katzen miaute, als wollte sie zustimmen. 
Barnabas versetzte ihr einen Stoß mit dem Fuß, als sie verspielt 

ihre Krallen an seinem Bein wetzen wollte. 

Die Katze überschlug sich fauchend und fing sich gewandt. Ihre 

Augen glühten, als sie lautlos in die Dunkelheit davonhuschte. 

»Doch er hat nicht neun Leben wie eine Katze«, fuhr Barnabas mit 

heiserer Stimme fort. »Er hat nur ein einziges, kurzes.« 

Wenzel war zufrieden, daß Barnabas die Schlappe so ruhig 

hinnahm. Er hatte mit einer wütenden Reaktion gerechnet. 

»Sollen wir es nochmal versuchen?« fragte er eifrig. 
Langsam schüttelte Barnabas den Kopf mit dem wirr abstehenden 

Haar, das vorzeitig an den Schläfen ergraut war. 

»Wir haben noch unseren Haupttrumpf«, sagte er. »Du reitest mit 

den anderen nach Hohenwarth zurück, und wenn er dort nicht mehr 

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ist, nehmt ihr seine Fährte auf. Aber fragt euch unauffällig durch. 
Haltet euch zurück und beobachtet nur. Könnte er euch 
wiedererkennen?« 

»Nein. In der Kammer war es fast dunkel, und als er mich 

verfolgte, konnte er auch nicht viel sehen.« 

»Gut«, sagte Barnabas. »Also beobachtet ihn. Wir greifen erst zu, 

wenn unser Trumpf-As nicht sticht. Ich will über jeden seiner 
Schritte auf dem laufenden gehalten werden. Ist das klar?« 

Wenzel beeilte sich, eifrig zu nicken. 
»Reitet sofort nach Hohenwarth. Wenn er sich in Elisabeth 

verknallt hat, wird er sich vermutlich noch länger dort aufhalten oder 
sie begleiten. Wenn nicht, findet heraus, wo er ist und bleibt dran. 
Einer von euch soll mir ständig berichten und die Verbindung halten. 
Ich entscheide dann, wie es weitergeht.« 

»Jawohl.« 
»Sag den anderen, daß ich das doppelte zahle, wenn alles zu 

meiner Zufriedenheit erledigt ist.« 

Wenzel grinste erfreut. 
»Und daß jeder Katzenfraß ist, der irgendeinen Fehler begeht, 

durch den der Kerl gewarnt werden könnte.« 

Wenzel schluckte. Er wußte, daß das keine leere Drohung war. 
Als er gegangen war, saß Barnabas noch lange auf dem Lager und 

streichelte seine Katzen. 

Blicklos starrte er vor sich hin. 
»Bald ist es soweit«, flüsterte er einmal und tastete unbewußt zu 

seinem verstümmelten Ohr. »Bald, Roland ...« 

Es dauerte lange, bis er schließlich wieder einschlief. Und dann 

wurde er mit der Erinnerung an die Vergangenheit im Traum 
gequält... 

Es war ein strahlender Morgen, als Roland Elisabeth galant den Arm 
bot, um ihr in die Kutsche zu helfen. 

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Ein paar Leute hatten sich eingefunden, um die Abfahrt der 

Kutsche zu beobachten: Sebastian, der schmächtige, krummbeinige 
Wirt, seine dralle, schönbeinige Tochter Gudrun, deren Augen so 
glücklich glänzten, als hätte sie in der Nacht herrlich geträumt, und 
ein paar neugierige Hohenwarther, für die jeder Fremde und erst 
recht eine Comtesse aus dem fernen Burgund so etwas wie eine 
Sensation war. 

Als Roland neben Elisabeth Terciere in der Kutsche saß und bei 

der Abfahrt noch einen Blick aus dem Fenster warf, sah er am Rande 
der kleinen Menschentraube Anna. 

Sie sah in ihrem blauen, engsitzenden Kleid frisch und schön wie 

der junge  Tag aus. Doch sie blickte traurig. Er winkte ihr, doch sie 
winkte nicht zurück. 

Ihm fiel ein, daß er noch keine Gelegenheit gefunden hatte, mit ihr 

zu sprechen. 

Er nahm sich vor, das bei seiner Rückkehr nach Hohenwarth 

nachzuholen. Die Knappen waren früh am Morgen zum Ort der 
Überfälle aufgebrochen, um nach Spuren zu suchen, und sie hatten 
verabredet, sich in Hohenwarth wieder zu treffen. 

Rolands Gedanken beschäftigten sich noch eine Weile mit Anna, 

und er stellte verwirrt fest, daß es ihm warm ums Herz wurde, wenn 
er an sie dachte. 

Dann plauderte Elisabeth Terciere mit ihm, und er vergaß Anna. 
An diesem Morgen war Elisabeth nicht so zurückhaltend wie am 

Vorabend, als sie ihn hatte abblitzen lassen. 

Im Gegenteil, den ganzen Vormittag über tat sie alles, um sein Blut 

in Wallung zu bringen, und Roland kam sich vor wie ein Fisch, den 
sie an ihrer Angel zappeln ließ. Er war enttäuscht, als die Kutsche an 
einem Gasthof hielt, gerade als Elisabeth hatte anklingen lassen, daß 
es in einer Kutsche zwar unbequem sei, daß man sich die Reise aber 
gemütlicher machen könne, wenn man nur die richtigen Positionen 
einnehme. 

Sie reckte sich, als sie aus der Kutsche gestiegen war, und Roland 

bewunderte einmal mehr die geschmeidigen Bewegungen ihres 

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Körpers. 

Das Gasthaus war  sauber und gemütlich eingerichtet. Es roch nach 

Braten und Küchenkräutern. 

Der Wirt war ein graubärtiger, rotgesichtiger Kerl, der im 

Gegensatz zu der gepflegten Wirtsstube schmuddelig und ziemlich 
verkommen wirkte. Zudem grinste er ständig recht dümmlich, und 
Roland entging nicht, daß der Mann Elisabeth mit lauerndlüsternem 
Blick betrachtete, als er Wein einschenkte. 

Elisabeth schien es nicht zu bemerken. Sie prostete Roland zu und 

trank ihr Glas in einem Zug leer wie eine Verdurstende. Auch 
Roland verspürte Durst nach der Fahrt. Er hatte wie die Kutscher 
Bier bestellt. Es schmeckte nicht schlecht, doch Roland fand es nicht 
kühl genug und überlegte, ob er nicht doch besser Wein bestellen 
sollte. 

Zwei weitere Männer  - vermutlich Verwandte des Wirtes  - nahmen 

die Bestellungen am Tisch der Kutscher und bei Roland und 
Elisabeth auf. 

Elisabeth wählte gähnend den Rinderbraten mit Rotkohl und 

Knödeln, der als Tagesgericht angepriesen wurde. 

Roland entschied sich für die Rinderroulade. Auch er fühlte sich 

auf einmal schläfrig und ertappte sich dabei, daß er ebenso gähnte 
wie Elisabeth. 

Wieder einmal grinste der Wirt und starrte verstohlen auf 

Elisabeths Busen. 

Roland spielte mit dem Gedanken, den Kerl zurechtzuweisen, doch 

da geschah es. 

Elisabeth Terciere verdrehte die Augen, stieß einen Laut aus, der 

wie ein langgezogenes Seufzen klang und sank vom Stuhl. 

Fast gleichzeitig polterte es am Tisch der Kutscher. Einer der 

Männer stürzte ebenfalls zu Boden, während der Kopf des anderen 
auf die Tischplatte sank. 

Roland sah das Grinsen des Wirtes, und es fiel ihm wie Schuppen 

von den Augen. 

Eine Falle! 

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Er zückte sein Schwert und wollte aufspringen. 
Da traf ihn etwas am Hinterkopf, und die Schleier, die plötzlich vor 

seinen Augen wallten, wurden  pechschwarz, und auf einmal war es 
totenstill um ihn. 

Er spürte nicht mehr, wie er zu Boden schlug. 
»Na also«, sagte der Räuber, der Roland mit einem Bierkrug 

niedergeschlagen hatte. Es war der Kerl, der zuvor die Bestellung 
aufgenommen und sich dann mit dem Abräumen des Nachbartisches 
beschäftigt hatte. In Wirklichkeit hatte er nur darauf gewartet, daß 
das Pulver wirkte, das sie in die Getränke getan hatten. 

Der falsche Wirt blickte grinsend auf Elisabeth. 
»Wirklich ein reizendes Weibchen«, sagte er. »Schade, daß 

Meinhardt auf sie wild ist. So eine könnte mir auch gefallen.« 

Er stieß einen Pfiff aus, und aus der Küche kamen zwei Kumpane. 
»Schafft sie in die Kutsche! Und dann nichts wie weg!« 
Die beiden Räuber packten Elisabeth unter den Achseln und an den 

Beinen und trugen sie zur Kutsche. 

»Er hat nicht viel Bier getrunken«, sagte Achim und wies auf den 

bewußtlosen Roland. 

»Es reicht trotzdem«, meinte der falsche Wirt. »Theo hat ihm eine 

verplättet, daß er schon deshalb mindestens 'ne halbe Stunde schlafen 
wird.« 

In diesem Punkt sollten sich die Räuber irren. Roland hatte nur 

wenig von dem Bier mit dem Betäubungsmittel getrunken, und der 
Schlag war nicht so hart gewesen, wie die Räuber annahmen. 

Als er zu sich kam, fand er die betäubten Kutscher, die ebenso 

durstig getrunken hatten wie Elisabeth Terciere. Ritter Roland biß 
die Zähne zusammen, weil sein Schädel schmerzte, kämpfte gegen 
das Schwindelgefühl an und lief hinaus. 

Die Kutsche war weg, und Elisabeth war weg. 
Es war nicht schwer, sich zusammenzureimen, was geschehen war. 

Man hatte sie in dem Gasthof erwartet, und vermutlich hatte 
Elisabeth schon beim ersten Überfall in der Herberge in Hohenwarth 
entführt werden sollen. 

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Roland eilte in den Gasthof zurück. Er wollte Wasser aus der 

Küche holen,  um die Kutscher mit einem kalten Guß zu wecken. Da 
fand er die gefesselten und geknebelten Wirtsleute. 

Roland befreite sie. Der Wirt stellte ihm sofort sein Wagenpferd 

zur Verfügung. Er hatte die Abfahrt der Kutsche gehört und wußte, 
daß der Vorsprung der Räuber keine zehn Minuten betrug. 

Roland folgte der Wagenspur. 
Den Mann, der schon den ganzen Vormittag über der Kutsche in 

sicherem Abstand gefolgt war und der sich jetzt auf seine Fährte 
heftete, bemerkte der Ritter nicht. 

»Und jetzt?« fragte Pierre ratlos. 

Louis zuckte mit den breiten Schultern. 
»Wir werden wohl unverrichteter Dinge umkehren müssen. Bald 

wird es dunkel, und wo zum Teufel sollen wir noch suchen?« 

Pierre seufzte resigniert. 
Dabei hatte ihre Suche so vielversprechend begonnen. Sie hatten 

sich getrennt, waren zu den Orten der beiden Überfälle geritten und 
dann den Spuren gefolgt, die von dort wegführten. Pierre hatte in 
einem Waldstück die Spuren verloren und war auf gut Glück in der 
bisherigen Richtung weitergeritten und auf Louis gestoßen, der 
seinerseits deutlich sichtbaren Spuren gefolgt war. 

Sie waren überzeugt gewesen, auf der richtigen Fährte zu sein. 

Doch am Fuße des Schwarzriegels hatten sich alle Spuren wie in Luft 
aufgelöst, und alle Suche war vergebens gewesen. 

»Mein Gefühl sagt mir, daß wir nahe daran waren«, sagte Pierre 

betrübt. 

»Nahe dran ist nicht drin, sagte die Maid  - als sie vergebens den 

Faden in die Nadel einzufädeln versuchte«, erwiderte Louis und 
spähte angestrengt in die Runde. 

Die Dämmerung senkte sich über das Land. . Plötzlich verengten 

sich Louis' Augen. 

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Eine Kutsche nahte von Süden. 
Pierre hatte sie ebenfalls bemerkt. 
»Vielleicht haben sie etwas gesehen«, sagte er. »Wir sollten 

fragen... he, das ist ja Elisabeths Kutsche!« 

Louis nickte. Auch er hatte die rotgolden angemalte Kutsche mit 

dem schwarzen Wappenadler auf dem Schlag wiedererkannt. 

»Aber was machen Elisabeth und Roland denn hier? Sie wollten 

doch zur Burg Blaibach im Westen?« 

»Das werden wir gleich erfahren«, brummte Louis. 
Sie warteten auf die Kutsche, doch sie bog vom Fahrweg ab und 

verschwand in einem Eichenwald. 

Louis trieb sein Roß an. Pierre folgte ihm. 
Sie galoppierten zum Eichenwald, folgten den Wagenspuren und 

sahen schließlich ein paar hundert Klafter entfernt die Kutsche, die 
gerade anhielt. Die Fahrer sprangen vom Kutschbock. Einer eilte zur 
Kutsche und riß den Schlag auf. 

Dann stockte den Knappen der Atem. 
Zwei Männer sprangen aus der Kutsche. Sie Zerrten eine Frau 

heraus. Elisabeth. Sie war gefesselt. 

»Zurück«, warnte Louis und trieb sein Roß in die Deckung der 

Bäume. Pierre folgte seinem Beispiel. Angespannt beobachteten die 
Knappen, wie die vier Männer die Frau zwischen Büsche schleppten 
und verschwanden. 

Pierre blickte Louis mit großen Augen an. »Mein Gott, sie haben 

Elisabeth entführt! Aber Roland  - er war doch bei ihr! Ob sie ihn ...« 
Er schluckte und konnte nicht weitersprechen. 

Louis war ebenso betroffen. 
»Kampflos hat der Ritter bestimmt nicht zugeschaut, wie sie 

Elisabeth entführten«, sagte er mit dumpfer Stimme. »Mir schwant 
Schlimmes.« 

Er schwang sich vom Roß. 
»Was willst du tun?« Pierre war noch so verwirrt, daß er kaum 

einen klaren Gedanken fassen konnte. 

»Das fragst du noch? Wir müssen Elisabeth befreien. Sie wird uns 

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sagen, was mit Roland geschehen ist.« 

»Aber es sind mindestens vier ...« wandte Pierre ein. 
»Dann machen wir ein paar weniger draus«, erwiderte Louis 

grimmig. Er wollte sich in Bewegung setzen. 

Da tauchten wie durch Zauberei zwei Männer bei der Kutsche auf. 
Die Knappen verharrten und beobachteten. 
Die beiden Männer stiegen auf den Kutschbock. Einer nahm die 

Zügel und trieb das Gespann an. Die Kutsche rollte davon. 

Louis und Pierre tauschten einen Blick. 
»Die schnappen wir uns zuerst«, sagte Louis.« 

Roland war entschlossen, sich eine Antwort auf seine Fragen zu 
holen. Er schlich sich durch die Büsche, aus denen die beiden Räuber 
gekommen waren. 

Er ahnte nicht, daß er gleich von zwei Augenpaaren beobachtet 

wurde. 

Ritter Roland zügelte das Roß, als er die Kutsche sah. Er hatte 
gehofft, die Entführer eher einzuholen. Doch das Pferd, das ihm der 
Wirt geliehen hatte, war nur ein Wagengaul, ein Kaltblüter, der zwar 
stark und ausdauernd war, aber in punkto Schnelligkeit nicht viel zu 
bieten hatte. 

Roland spähte zu der Kutsche hin. Legten die Kerle eine Rast ein? 

Oder waren sie am Ziel? 

Keiner saß auf dem Kutschbock, und nichts regte sich bei der 

Kutsche. 

Roland saß ab, führte das Roß vom Waldrand fort, tiefer zwischen 

die Eichen und band es fest. Dann schlich er zu Fuß weiter. Dichtes 
Gestrüpp am Fuße des Berges gab ihm Deckung, und zudem 
dunkelte es. 

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Ein paar Minuten später verharrte er bei der Kutsche und spähte 

hinein. Leer. Sein Blick glitt zu den Büschen seitlich der Kutsche. 
Schritte nahten. 

Roland versteckte sich schnell. 
Er lauschte mit angehaltenem Atem. 
Stimmen näherten sich. 
»Hilde ist verdammt sauer, weil Meinhardt die Neue nimmt«, sagte 

ein Mann. »Hast du gesehen, wie wütend sie aussah? Am liebsten 
hätte sie ihrer Nachfolgerin die Augen ausgekratzt.« 

Jemand lachte leise. »Ja, die ist in Fahrt. Laß uns schnell die 

Kutsche wegfahren, damit wir von der Nacht und Hildegard noch 
was haben.« 

Die Männer kletterten auf den Kutschbock. 
Rolands Gedanken jagten sich. Sie hatten Elisabeth in ihr Versteck 

gebracht. Dieser Meinhardt mußte der Anführer sein. Und es gab 
eine Frau, die in Elisabeth eine Nebenbuhlerin sah. Waren es die 
Räuber, die Elisabeth schon zweimal überfallen hatten? Vermutlich. 

Die Kutsche fuhr davon. 
Achim und Theo kletterten vom Kutschbock. 
Sie hatten die Kutsche tief in einen dunklen Tann gefahren. 

Niemand sollte sie in der Nähe des Verstecks finden und bei der 
Höhle herumschnüffeln. 

Achim begann die Pferde auszuschirren. Theo schnitt Zweige von 

einer Tanne ab. Damit wollten sie auf dem Rückweg zur Höhle die 
Wagenspuren verwischen. 

Theo erschrak bis ins Mark, als sich ihm von hinten ein Arm um 

den Hals legte und ihm die Luft abschnürte. Zugleich wurde sein 
Handgelenk umklammert und verdreht, daß er das Messer loslassen 
mußte. 

Es war Louis, der den Räuber in eisernem Griff hielt. 
Louis hieb jetzt mit der Faust zu. Der Räuber wurde schlaff in 

seinem Griff. Der Knappe ließ ihn zu Boden gleiten. 

Er warf einen schnellen Blick zu dem Kerl, der mit den Pferden 

beschäftigt war. Verdammt, wo blieb Pierre? 

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»Bist du soweit, Theo?« 
Achim wollte sich auf eines der Gespannpferde schwingen. 
Louis verharrte zwischen den Tannen, als der Räuber in seine 

Richtung blickte. 

»He, Theo ...?« 
Ein Schatten tauchte hinter ihm auf. Pierre. Ein Schwerthieb 

schleuderte den Räuber vom Pferd. 

Louis atmete auf. Pierre hatte den zweiten Räuber ausgeschaltet. 
Louis sah, wie der Knappe mit erhobenem Schwert angespannt bei 

der reglosen Gestalt verharrte und sein Blick in die Runde zuckte, als 
rechnete er mit dem Angriff einer ganzen Räuberbande. 

»Alles in Ordnung, Pierre!« rief er. 
Pierre atmete erleichtert auf und wischte sich Schweiß von der 

Stirn. 

Sie fesselten die beiden Räuber. Louis nahm sich Theo vor, als er 

zu sich kam. Er setzte dem Mann das Schwert an die Kehle. Theos 
Augen quollen aus den Höhlen. 

Louis grinste. »Der andere hat mir schon alles verraten«, log er. 

»Erst wollte er die Zähne nicht auseinander kriegen, und dann 
nuschelte er ein bißchen durch die Lücken, aber ich weiß im großen 
und ganzen, was wir wissen müssen. Von dir brauche ich nur noch 
ein paar zusätzliche Erklärungen. Wollen wir wetten, daß du mir die 
gibst?« 

Theo hielt nichts vom Wetten. Es war ihm klar, daß er so oder so 

verlieren würde. Und wenn Achim, dieser verdammte Verräter, 
bereits alles gesagt hatte, dann konnte keiner von ihm verlangen, daß 
er seine Zähne oder gar sein Leben aufs Spiel setzte, oder? 

Ritter Roland verharrte zwischen den Büschen und lauschte. 

Gedämpftes Lachen drang an sein Ohr. Es schien aus der Tiefe des 

Berges zu kommen. Er mußte ganz nahe am Versteck der Räuber 
sein. Vermutlich gab es Wachtposten. Er mußte vorsichtig sein. 

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Etwas raschelte seitlich von ihm, und er hob die Hand mit dem 

Schwert. 

Jetzt herrschte Totenstille. 
Roland fühlte sich unbehaglich. Er spürte fast körperlich die 

Gefahr. 

Vorsichtig tastete er sich weiter und bemühte sich, keine 

Geräusche zu verursachen. 

Er zuckte zusammen, als links von ihm ein Vogelschrei ertönte. Es 

klang wie das Krächzen eines Raben. Roland hätte schwören können, 
daß es kein echter Rabe war. Er orientierte sich an dem Geräusch und 
schob sich weiter nach links. Seine Sinne waren bis zum Äußersten 
angespannt. 

Ein Rascheln rechts von ihm. 
Roland wirbelte herum. 
Ein Schatten schnellte auf ihn zu. 
Roland duckte sich zur Seite. Der Schatten schien ins Riesenhafte 

zu wachsen. Dann gab es einen dumpfen Aufprall, und eine Gestalt 
stürzte neben Rolands Stiefelspitze. 

»Achtung, er ...« 
Roland trat blitzschnell zu, und der Alarmschrei verstummte im 

Ansatz. 

Die Gestalt, die im Dunkel zwischen den Büschen am Fuße des 

Berges mehr zu erahnen, als zu erkennen war, rührte sich nicht mehr. 
Roland beugte sich wachsam und angespannt über den Mann am 
Boden. Im nächsten Augenblick taumelte er erschrocken zurück. 

Der vermeintlich Bewußtlose sprang auf und rammte ihn mit dem 

Schädel. Er mußte ihn nicht richtig getroffen haben. 

Roland fing sich und holte mit dem Schwert aus. Da spürte er 

einen Stich im Rücken, und eine Stimme zischte: 

»Laß fallen, oder du hast ein Loch im Balg!« 
Ein eisiger Schauer kroch Roland über die Wirbelsäule. 
Die Gestalt am Boden rollte sich fort und sprang auf. 
Roland unterdrückte einen Schrei, als sich das Spitze  - ein Messer 

oder ein Schwert  - schmerzhaft in seinen Rücken bohrte. Er spürte, 

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wie es warm über seine Haut rieselte. Blut lief seinen Rücken hinab. 

»Wird's bald?« 
Roland wußte, daß er verspielt hatte. Die Dunkelheit war der 

Verbündete dieser Haderlumpen gewesen. Sie kannten sich hier 
blindlings aus, und er war in die Falle getappt wie ein Anfänger. 
Aber was hätte er anderes tun können, als nach dem Versteck der 
Räuber zu suchen? Bei Tageslicht hätten ihn die Wachtposten erst 
recht entdeckt. Außerdem hatte ihn die Sorge um Elisabeth 
angetrieben. 

Ritter Roland ließ sein Schwert fallen. 
Jetzt ertönte hinter ihm der Rabenschrei. Weiter links antwortete 

ein anderer falscher Rabe. Und von rechts näherte sich die 
schattenhafte Gestalt des Kerls, der ihn zuvor angesprungen hatte 
und den er schon bezwungen gewähnt hatte. 

Es waren also mehrere, und er hatte von Anfang an keine Chance 

gehabt. 

»Verschränk die Hände hinter dem Nacken und geh vorwärts!« 

zischte ihm die Stimme in den Rücken. 

»Wohin?« fragte Roland in dem verzweifelten Bemühen, Zeit zu 

gewinnen und die Kerle abzulenken. Doch was nutzte das schon? 

Wieder stach ihm der Kerl in den Rücken. 
»Mein Schwert weist dir den Weg!« 
Roland verschränkte die Hände im Nacken und setzte sich schnell 

in Bewegung. Und als der Druck der Schwertspitze verschwand, 
setzte der Ritter mit dem Löwenherzen noch einmal alles auf eine 
Karte. 

Er wirbelte herum, und sein Bein schnellte aus der Drehung heraus 

vor, um dem Mann das Schwert aus der Hand zu treten. 

Fast hätte er es geschafft, doch der Räuber war auf der Hut. Er 

wich geschickt aus, und dann sah Roland nur noch eine flirrende 
Bewegung, etwas traf ihn an der Schläfe, und er fand sich auf einmal 
am Boden wieder. 

»Du hättest ihn gleich kaltmachen sollen«, sagte eine Stimme wie 

aus weiter Ferne. 

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»Quatsch. Wir müssen wissen, weshalb er hier herumschnüffelt. 

Bringt ihn in die Höhle.« 

Rauhe Hände packten Roland und rissen ihn hoch. Er kämpfte 

gegen eine Ohnmacht an. Er war so schwach, daß seine Knie 
nachgaben. 

Sie schleppten ihn in die Höhle. 
In seinem Schädel dröhnte es, und er wunderte sich, daß er trotz 

der Finsternis gelbliche Schleier vor seinen Augen wallen sah. 

Irgendwann ließen sie ihn einfach fallen wie einen Getreidesack. 

Er prallte hart auf und rang um Atem. 

Feuerschein schien ihm in die Augen zu stechen. 
Eine Gestalt näherte sich. Er hörte gedämpfte Stimmen, die aus 

einer anderen Welt zu kommen schienen. 

Er blinzelte und nahm alles nur verschwommen wahr. 
Ein Schatten fiel auf ihn. Eine Gestalt ragte vor ihm auf. Riesig. 

Drohend. Aus den gelblichen Schleiern nahm ein Gesicht Konturen 
an. Ein wüstes Gesicht, das böse grinste. 

So mußte der Satan grinsen, wenn ihm eine neue Seele abgeliefert 

wurde. 

Roland versuchte sich zu erinnern, was geschehen war, weshalb er 

in der Hölle gelandet war. Doch es wollte ihm nicht einfallen. Er 
mußte einige Zeit ohnmächtig gewesen sein und war immer noch in 
einer Art Dämmerzustand. 

Der Satan grinste plötzlich nicht mehr. Sein Gesicht verzerrte sich 

zu einer Grimasse. 

Roland erschrak. 
Der Satan hielt auf einmal ein Beil in der Hand. 
Rötlich schimmerte das scharfe Blatt durch die Schleier, die vor 

Rolands Augen wogten. 

Die Hand mit dem Beil ruckte hoch. 
»Neeeiin!« 
Der helle Schrei hallte wie aus tausend Kehlen hervorgestoßen 

durch die schmummrige Höhle. 

Roland empfand nichts in diesen schrecklichen Sekunden. Es war 

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ihm, als sei er ein anderer, der das Beil auf sich zusausen sah, als 
geschehe alles in einem Traum. 

Unbewußt schloß er die Augen. 
Er wird dir den Schädel spalten! dachte er noch, doch es war ihm 

seltsam gleichgültig. 

Und dann traf ihn etwas wie Donner und Blitz, und er dachte und 

spürte gar nichts mehr. 

»Du hast ihn erschlagen!« 

Elisabeth Terciere sagte es mit tonloser Stimme. 
Meinhardt richtete sich über Ritter Rolands regloser Gestalt auf. 

Das Schlachterbeil schimmerte im Schein des flackernden Feuers. 

Langsam wandte sich der Räuberhauptmann zu Elisabeth Terciere 

um. Ihre Hände waren weit ausgebreitet und an zwei eiserne Ringe 
gefesselt, die in die Höhlenwand eingeschlagen waren. 

Er grinste. »Na und?« 
Elisabeth senkte den Kopf. 
Breitbeinig schritt Meinhardt auf sie zu. Er schob das 

Schlachterbeil in die Schlaufe an seinem Gurt. Zwei Schritte vor der 
Gefangenen blieb er stehen. Der Blick seiner schwarzen Augen 
tastete über ihren Körper. 

»Mein kleiner Finger sagt mir, du kennst den Schnüffler.« Er 

musterte sie lauernd. 

»Ich ...« Sie verstummte und biß sich auf die Unterlippe. 
»Ja, du kennst ihn. Gewiß ist er dein Freier. Das dachte ich mir 

gleich. Wäre ein zu großer Zufall gewesen, wenn ausgerechnet jetzt 
jemand hier auftaucht. Hast du ihn geliebt?« 

Elisabeth schwieg ihn an. 
Er grinste. »Du wirst ihn vergessen, denn ab jetzt gehörst du mir.« 
»Eher bringe ich mich um!« stieß Elisabeth zornig hervor, und sie 

spuckte voller Verachtung nach ihm. Er wich schnell zurück, und sie 
traf ihn nur am Hosenbein. 

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Sein Grinsen erstarb. Die weißen Augenbrauen ruckten noch mehr 

zusammen, und der Blick seiner scharzen Augen schien sie zu 
durchdringen. 

Sein linkes Augenlid zuckte. Er hob eine Hand, als wollte er sie 

schlagen, doch dann lachte er plötzlich auf und ließ die Hand sinken. 

»Ein gar widerspenstiges Weib!« sagte er. »Ja, meine Mannen 

haben nicht übertrieben. Sie berichteten mir, daß du den Teufel im 
schönen Leib hast. Und ich werde ihn dir austreiben!« 

Sie starrte ihn nur stumm und verächtlich an. 
»Du hast die Wahl«, sagte er, und seine Augen glitzerten 

begehrlich. »Entweder unterwirfst du dich, oder ich lasse dich dort 
an den Eisen, bis du mich anflehst, daß ich mich für dich interessiere. 
Also?« 

Ihre  Antwort verblüffte selbst einen abgebrühten Räuber wie 

Meinhardt. 

Es war ein obszöner Fluch, bei dem Meinhardts fünf Räubern, die 

abseits in der Höhle standen, der Mund aufklaffte. Der Jüngste in der 
kleinen Bande bekam rote Ohren. 

Sie wußten nicht, daß sie eine Comtesse war, und wenn Roland es 

gehört hätte, wären auch ihm erhebliche Zweifel gekommen. 

»Aber nicht doch, so was sagt doch keine Dame!« Meinhardt 

lachte spöttisch. »Und so was tut sie erst recht nicht. Außerdem wirst 
du  dazu  auch keine Gelegenheit haben. Nun, wie steht es? Willst du 
dort eine unangenehme Nacht verbringen, oder eine angenehme mit 
mir?« 

Ihr Blick sagte mehr als alle Worte. 
Meinhardt zuckte mit den Schultern. »Dann eben nicht, du 

Pflaume. Ich kann warten.« 

Er wandte sich ab und hob die Stimme, daß es durch die Höhle 

hallte. »Hildegard!« 

Elisabeth Terciere drehte den Kopf. Eine Gestalt löste sich aus dem 

Dunkel und schritt näher. Es sah aus, als sei sie aus der Felswand 
getreten, doch der Schein trog. Es gab mehrere Kavernen in der 
großen Höhle, Kammern der Natur, die von den Räubern als Lager 

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hergerichtet und mit einem Vorhang aus Decken versehen waren. 
Meinhardt hatte eine dieser Kammern, Hildegard ebenfalls eine, und 
die Räuber schliefen in zwei anderen Quartieren, wenn sie nicht 
Wache hielten. 

Die Frau war nur als Schatten zu erkennen. Sie verharrte außerhalb 

des Feuerscheins. 

Elisabeth konnte nur nackte, schmutzige Füße und Waden sehen. 
»Ja, Herr, was soll ich ...?« 
»Das fragst du noch, du blöde Kuh? Geh schon voraus und bereite 

mir das Lager.« 

Der Schatten wandte sich wortlos um und verschwand in der 

Dunkelheit. 

Meinhardt gab seinen Räubern einen herrischen Wink. »Fesselt ihn 

und bringt ihn in die Felsspalte.« 

Zwei der Räuber eilten zu Ritter Rolands regloser Gestalt. 
»Er - ist nicht tot?« fragte Elisabeth, und es klang fassungslos. 
Meinhardt grinste dämonisch. »Noch nicht. Ich habe ihn nur ein 

bißchen mit dem Beil gestreichelt.« 

Lauernd betrachtete er sie. 
»Es liegt an dir, was mit ihm geschieht«, fuhr er fort. »Ich gebe dir 

diese Nacht Bedenkzeit. Du solltest dir mein Angebot überlegen.« 

Er lauerte auf eine Antwort, doch sie schwieg. 
Da wandte er sich ab und schritt zu seinem Lager. 

Roland spürte tastende Hände an seinem Körper. Elisabeth massierte 
ihn. Nein, plötzlich schien ihr Gesicht zu zerfließen, sich aufzulösen 
und Annas Züge anzunehmen. Anna die Gewaltige massierte ihn! Er 
wunderte sich, daß ihre Hände so sanft waren. Sie streichelte ihn an 
der Wange, tätschelte ihn leicht. 

Roland öffnete blinzelnd die Augen. Er sah nichts als Dunkelheit. 

Doch er spürte heftige Atemzüge an seiner Seite. 

»Anna?« krächzte er. 

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Eine Hand legte sich schnell auf seinen Mund. 
»Still«, flüsterte ihm jemand ins Ohr. Eine weibliche Stimme, die 

aufgeregt klang. 

Roland verhielt sich still. Er fragte sich, weshalb es in Annas 

Badehaus so dunkel war. Dann spürte er die Schmerzen, einen üblen 
Geschmack im Mund, und er hatte das Gefühl, sich übergeben zu 
müssen. 

Anna mußte ihn krankgeknetet haben! 
Vermutlich tat sie deshalb jetzt so freundlich. Gewiß war er ihr 

unter den massierenden Pranken ohnmächtig geworden. Dieses 
verdammte Riesenweib! 

»Heißt sie Anna?« flüsterte die weibliche Stimme in sein Ohr und 

fügte mahnend hinzu: »Sei leise!« 

Die Hand lockerte sich etwas über seinem Mund. 
Roland brauchte einen Augenblick, bis er die Frage verstand. Er 

lauschte dem Klang nach, und es kamen ihm Zweifel, ob das 
tatsächlich Anna war. 

»Du bist nicht Anna?« fragte er leise. 
»Pst!« Wieder legten sich die Finger auf seine Lippen. 
»Nein, ich bin Hildegard«, hörte er sie flüstern. 
Hildegard? überlegte er. Wer zum Teufel mag das sein? 
»Ich will dir helfen.« 
»Warum?« murmelte Roland unter ihrer Hand gedämpft. »Hat 

Anna mich zu hart massiert?« 

»Du phantasierst noch«, flüsterte die Stimme an seinem Ohr. 

»Weißt du noch nicht, was passiert ist?« 

Roland schüttelte leicht den Kopf, und Schmerzen stachen durch 

seinen Schädel. Er unterdrückte ein Stöhnen. 

»Was ist passiert?« raunte er. 
Da sagte sie es ihm. Sie mußte es langsam wiederholen, bis 

Rolands Erinnerung einsetzte, und er alles begriff. 

»Meinhardt schläft«, flüsterte Hildegard. »Er hat sich verausgabt 

und völlig betrunken. Ich befreie dich - unter einer Bedingung.« 

»Und?« flüsterte Roland angespannt. 

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»Du mußt auf der Stelle mit deiner Freundin verschwinden.« 
»Ich wüßte nicht, was ich lieber täte«, erwiderte Roland. 
»Es gibt nur einen Wachtposten vorn an der Höhle«, raunte 

Hildegard. »Doch der rechnet nicht mit Gefahr von hier. Du mußt ihn 
lautlos überwältigen. Dann gehst du mit deiner Freundin ungefähr 
fünfhundert Klafter nach rechts am Berg entlang. Da gibt es eine 
kleinere Höhle. Darin stehen Pferde. Sie werden nicht bewacht. Du 
verschwindest mit deinem Herzchen, und Meinhardt wird annehmen, 
es sei einer von außen eingedrungen und hätte euch befreit.« 

»Gute Idee«, flüsterte Roland, und seine Schmerzen waren 

vergessen. Er verspürte tiefe Dankbarkeit gegenüber der 
unbekannten Helferin. 

Sie machte sich an seinen Stricken zu schaffen. Er stöhnte auf, als 

ihn etwas am Handgelenk ritzte. Ein Messer hatte ihn gestreift. Sie 
schnitt die Fesseln durch. 

»Danke«, flüsterte er und rieb sich die Gelenke. 
Sie neigte sich über seine Fußfesseln. Er hörte das Rascheln von 

Stoff und spürte ihre tastenden Hände an seinen Beinen. 

Auf gut Glück griff er nach ihr, erfaßte etwas Weiches und zog sie 

zu sich. 

»Warum spielst du die gute Fee?« 
Sie entzog sich ihm. Ihr Atem ging heftig. 
»Meinhardt gehört mir«, zischte sie. »Verschwinde mit dieser 

Pute! Wenn du versuchen solltest, dir Meinhardt zu schnappen, 
schreie ich Alarm. Ich werde dich genau beobachten. Du hast genau 
drei Minuten Zeit.« 

Im nächsten Augenblick war er seiner Fußfesseln ledig. Er nahm 

noch eine huschende Bewegung wahr, dann war Hildegard 
verschwunden. 

Jetzt fiel ihm ein, was die beiden Männer gesagt hatten, die er 

belauscht hatte, und  es  war ihm klar, weshalb Hildegard ihn befreit 
hatte. Die gute Fee dachte in erster Linie an sich. Sie wollte Elisabeth 
loswerden, weil sie in ihr eine Rivalin sah. 

Unzählige Fragen stürmten auf Roland ein. Wer waren diese 

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Räuber? War es die gleiche Bande, die Elisabeth schon zweimal 
überfallen hatte? Weshalb war sie entführt worden? Nur, weil der 
Anführer eine neue Geliebte haben wollte? Oder steckte mehr hinter 
allem? 

Er verdrängte die Gedanken. Sie mußten verschwinden. 
Schnell erhob er sich und orientierte sich. Er sah einen schwachen 

Lichtschimmer zu seiner Rechten. Auf Zehenspitzen schlich er 
darauf zu.  Dann sah er, daß er in einer breiten Felsspalte gelegen 
hatte. Er spähte in die Höhle. Das Feuer war heruntergebrannt. Die 
Glut schimmerte rötlich. Keiner der Räuber war zu sehen. 

Roland schlich in die Höhle und hielt sich im Dunkel an der Wand. 
Dann erkannte er Elisabeth. Sie stand gefesselt an der 

Höhlenwand. Ihr Kopf war vornübergesunken. Ihr Kleid war zerfetzt. 
Roland preßte die Lippen aufeinander. Vermutlich waren diese 
Dreckskerle über sie hergefallen. 

Elisabeth nahm ihn erst wahr, als er nach ihren Handfesseln tastete. 

Ihr Kopf ruckte hoch, und sie stieß einen erschreckten Laut aus. 

»Ruhig«, flüsterte Roland. »Ich bin's Roland!« 
Er hörte sie tief ausatmen. 
Er befreite sie von den Fesseln. Sie sank gegen ihn, und er hielt sie 

fest. 

»Wie hast du dich befreit?« flüsterte sie. 
»Das war ganz einfach«, erwiderte Roland leise. »Ich erzähle es dir 

später. Erst müssen wir verschwinden.« 

»Bring mich zur Burg Blaibach«, flüsterte Elisabeth und 

umklammerte ihn. 

»Natürlich«, erwiderte er. 
Dann griff er nach Elisabeths Hand und zog sie mit sich. 
Der Wachtposten war kein Problem. Der Bursche war eingenickt. 

Roland nahm ihm das Schwert ab, ohne daß der Räuber es merkte. Er 
schreckte nur kurz aus dem Schlaf, als Roland mit dem Schwert 
zuschlug. Roland mußte noch einmal nachsetzen. Dann schlief der 
Räuber weiter. 

Roland atmete auf. Der Weg war frei. 

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Es war eine Ironie des Schicksals, daß ausgerechnet die Knappen 
unfreiwillig dafür sorgten, daß Rolands und Elisabeths Flucht 
frühzeitig bemerkt wurde. 

Sie glaubten von Achim und Theo, alles Wichtige erfahren zu 

haben. Kurz nach Mitternacht trafen sie bei der Höhle ein. Die 
Gefangenen hatten sie gefesselt im Tann bei der Kutsche zu-
rückgelassen. 

Den Wachtposten, den Roland gefesselt und geknebelt hatte, und 

der im tiefen Dunkel zwischen Büschen lag, bemerkten die Knappen 
nicht. 

Sie wußten, daß der Zugang zur Höhle bewacht wurde, und daß 

man sie passieren lassen würde, wenn sie den Posten mit dem 
vereinbarten Signal in Sicherheit wiegten. Sie hatten Achims und 
Theos Kleidung angezogen und hofften damit den Posten täuschen 
und leicht überwältigen zu können. 

Louis stieß einen dreifachen Eulenschrei aus. 
Zunächst tat sich nichts, wie die Knappen glaubten. Sie nahmen an, 

daß der Posten eingeschlafen war. 

Doch in der Höhle tat sich so einiges. Einer der Räuber schreckte 

aus dem Schlaf. Früher hätte ihn der Eulenschrei nicht irritiert. Doch 
vor einigen Wochen hatten sie das Erkennungssignal verändert und 
auf Rabe umgeschaltet. Einer der Räuber, Friedbert, hatte sich 
davongemacht und den gesamten geraubten Schmuck mitgehen 
lassen. Alle Suche nach dem vermaledeiten Verräter war vergebens 
gewesen. Meinhardt hatte schon mit dem Gedanken gespielt, das 
Versteck zu wechseln, sich dann jedoch gesagt, daß Friedbert es 
nicht wagen würde, wiederzukommen, um noch einmal Beute zu 
stehlen. 

So hatten sie nur das Erkennungssignal geändert. 
Sollte Friedbert die Frechheit haben, allein oder mit neuen 

Kumpanen noch einmal aufzutauchen, würde es eine böse 
Überraschung für ihn geben. 

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Der Räuber Jakob, der den dreifachen Eulenruf vernommen hatte, 

weckte flugs seinen Anführer. 

Meinhardt war nicht so betrunken, wie Hildegard angenommen 

hatte. 

Von neuem ertönte der dreifache Eulenschrei. 
Meinhardt lauschte und schaltete schnell. 
»Antworte, Jakob«, raunte er. »Vielleicht ist es unser Freund 

Friedbert, der die Wache narren will.« Er rückte das Schlachterbeil 
zurecht. »Dann wird er sein blaues Wunder erleben.« 

Jakob imitierte einen Eulenschrei. Dreimal hallte der Schrei durch 

die Höhle. 

Louis und Pierre atmeten auf. Damit war der Weg in die Höhle 

freigegeben. Man hielt sie offenbar für Achim und Theo, die 
zurückkehrten. 

Die Knappen ahnten nicht, daß sie von den beiden Räubern 

hereingelegt worden waren. Besonders Achim hatte gut 
geschauspielert. Zitternd hatte er scheinbar alles verraten. 

Doch er hatte die Nerven gehabt, das falsche Signal zu nennen. Die 

beiden gefesselten Räuber trösteten sich jetzt in ihrer mißlichen Lage 
mit dem schadenfrohen Gedanken, daß sie ihre beiden Bezwinger in 
eine Falle geschickt hatten. 

In der Höhle blieb alles totenstill, als die Knappen hineinschlichen. 

Kein Wachtposten hatte sich blicken lassen. 

Sie verharrten im tiefen Dunkel an der Felswand am Ende des 

Ganges, der sich zur Höhle verbreiterte. Louis spähte in die Höhle 
hinein. Schwacher rötlicher Schein des herabgebrannten Feuers fiel 
aus der Höhle. Keine Menschenseele war zu sehen. 

»Einer hat auf das Signal geantwortet«, gab Louis leise zurück. 

»Mir gefällt das nicht. Weshalb gab es  keinen Wachtposten vor der 
Höhle?« 

»Vielleicht haben uns die Kerle belogen«, flüsterte Pierre. Der 

Knappe fürchtete sich. 

»Glaube ich nicht«, widersprach Louis. »Die schlotterten doch vor 

Angst.« 

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»Und wo ist Elisabeth?« wisperte Pierre und spähte angespannt an 

Louis' Schulter vorbei. 

»Vielleicht gibt es eine weitere Höhle. Ich sehe mich mal 

vorsichtig um. Bleib hier.« 

Lautlos schlich Louis an der dunklen Felswand entlang in die 

Höhle. 

Am liebsten hätte Pierre ihn festgehalten. Die Höhle wirkte 

gespenstisch und bedrohlich, und Pierre fühlte sich äußerst unwohl. 

Er packte das Schwert fester, und seine Handfläche war feucht. 
Im nächsten Augenblick zuckte Pierre zusammen und erschrak. 
Ein unterdrückter Aufschrei ertönte, fast schon ein Röcheln. Ein 

dumpfer Aufprall folgte. 

Und dann ging alles rasend schnell. 
Bevor Pierre einen klaren Gedanken fassen konnte, flog etwas aus 

dem Dunkel auf ihn zu und riß ihn zu Boden. 

Heißer Atem schlug Pierre ins Gesicht. Hände krallten sich um 

seinen Hals. Das Schwert wurde ihm aus der Hand geschlagen oder 
getreten. 

Pierre war vom Sturz und Schreck wie betäubt. 
Da traf ihn schon ein Fausthieb. Pierre stieß sich den Hinterkopf 

auf dem Felsboden und glaubte, die dunkle Höhlendecke 
verwandelte sich in das Sternenzelt. 

Louis erging es nicht anders. Im Nu war er von drei Männern 

umringt. Er wehrte sich verzweifelt, doch er hatte keine Chance. Der 
Kampf war vorbei, bevor er für die Knappen überhaupt begonnen 
hatte. 

Beide blieben ohnmächtig liegen. 
Einer der Räuber warf trockenes Gestrüpp ins niedergebrannte 

Feuer. Hell loderten die Flammen auf. 

»Ist ja gar nicht Friedbert«, stellte einer der Räuber fest. »Sie 

werden uns sagen, weshalb sie hier herumschnüffelten«, knurrte 
Meinhardt gereizt. »Fesselt sie und bringt sie zu den anderen 
Gefangenen. Morgen früh nehmen wir sie uns in aller Ruhe vor, bis 
sie singen wie die Amseln.« 

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Er wollte zu der Gefangenen blicken und stutzte. Da war ja gar 

nichts an der Felswand! 

Er blinzelte und glaubte, der Met hätte sein Augenlicht 

beeinträchtigt. 

Doch da rief Hildegard: »Das Weib - es ist weg!« 
Alle starrten zur Felswand. 
Meinhardt tobte und fluchte. Es dauerte eine Weile, bis er sich 

wieder gefaßt hatte. Dann gab er zornig Befehle. Sie suchten die 
Umgebung ab und fanden Achim  und Theo. Und bald darauf ritten 
zwei Räuber auf Rolands und Elisabeths Fährte. 

Der Bach plätscherte leise. Mücken tanzten Ringelreihen zwischen 
der Baumgruppe am Ufer, wo Roland und Elisabeth Terciere im 
weichen Gras rasteten. 

Eines der Pferde schnaubte, doch Ritter Roland nahm es gar nicht 

wahr. 

Elisabeth küßte ihn voller Leidenschaft. 
Dann fiel der Schatten über Roland, und es war ihm, als stürze er 

von einer rosaroten Wolke in einen rabenschwarzen Abgrund. 

Ein Schwert bohrte sich in seinen Rücken. 
»Ergib dich, oder du fährst zur Hölle!« sagte eine kalte Stimme. 
Roland war einen Augenblick lang vor Schreck wie betäubt. 
Auch Elisabeth schien in seinen Armen zu erstarren. 
Langsam wandte Roland den Kopf. 
Er sah ein bärtiges, grinsendes Gesicht. Der Kerl hielt ihm das 

Schwert zwischen die Schulterblätter. 

Sie hatten den ganzen Tag über nach Verfolgern Ausschau 

gehalten, doch keinen entdecken können. Sie hatten sich in 
Sicherheit gewiegt, doch Meinhardts Räuber hatten sie gefunden ... 

Rolands Blick glitt zu dem Schwert, das er abgelegt hatte. 
»Was willst du?« fragte er, um Zeit zu gewinnen und um den Kerl 

abzulenken. 

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»Steh auf!« 
Roland erhob sich. Der Druck der Schwertspitze verschwand. 
Der Ritter gab sich resigniert. Langsam wandte er den Kopf zu 

dem Mann. 

»Bei uns ist nicht viel zu holen...« begann er, und noch während 

seiner Worte wirbelte er herum. 

Fast hätte er den Kerl überrascht. 
Aus der Drehung heraus traf er das Handgelenk des Bärtigen. 
Doch der Mann hielt sein Schwert  fest und sprang zurück, als 

Roland auf ihn zuhechtete. 

Roland stürzte ins Gras. Er rollte sich ab, wollte aufspringen, doch 

dann verharrte er in seiner Bewegung. 

Zwei weitere Männer tauchten bei den Pferden auf. Sie mußten 

sich ebenso lautlos angeschlichen haben wie der dritte Kerl. Auch sie 
waren mit Schwertern bewaffnet. Einer stürmte auf Roland zu, und 
der andere packte Elisabeth und riß sie hoch. 

Sie schrie auf. 
Der Räuber hielt die Frau von hinten umklammert und drückte ihr 

sein Schwert gegen den Busen. 

»Gib auf!« keuchte der Bärtige, »oder dein Liebchen ist fällig!« 
Roland erkannte, daß es keine Chance mehr gab. 
»Laßt die Frau in Ruhe. Ich ergebe ...« 
Sie ließen ihn nicht einmal aussprechen. 
Ein Schwerthieb traf Roland, und es wurde dunkel und still um ihn. 
Als er zu sich kam, lag er quer über einem Pferd. Sie hatten ihn an 

Händen und Füßen gefesselt und auf dem Roß festgebunden. 

Er drehte den Kopf und wollte nach Elisabeth sehen, die 

wahrscheinlich ebenso gefesselt war wie er. Doch es war nichts von 
ihr zu sehen. Er war mit dem Bärtigen allein. 

»Wo ist die Frau?« fragte er mit krächzender Stimme. 
»Elisabeth?« Der Bärtige lachte. »Um die brauchst du dir keine 

Sorgen mehr zu machen.« 

Roland preßte die Lippen aufeinander. 
Ohnmächtiger Zorn stieg in ihm auf. Elisabeth war in der Gewalt 

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dieser Schurken! 

Ritter Roland machte sich bittere Vorwürfe. Wäre er doch 

wachsamer gewesen! 

»Wohin reiten wir?« fragte er. 
Der Bärtige lachte. »In die Hölle, mein Lieber. In die Hölle.« 

Düster und drohend ragte die alte Burg auf. Die Mauern waren 
schwarz und verrußt, und Roland sah, daß die Ringmauer eine große 
Bresche auf wies. Die Zugbrücke war ebenso zerstört wie die Dürnitz 
und verschiedene Türme und Zinnen. 

Die Burg war erobert worden, und der Zahn der Zeit hatte an der 

ausgebrannten Ruine genagt. 

Sie ritten durch die Bresche in der zerstörten Ringmauer. 
Roland sah einen grellbemalten Kastenwagen im Burghof beim 

Ziehbrunnen. Der Wagen von Fahrendem Volk, auf dem rote Lettern 
Tierattraktionen anpriesen. 

Der Bärtige zügelte sein Pferd. Das Roß, auf das Roland gebunden 

war, blieb ebenfalls stehen. Der Bärtige löste die Zügel, die er an 
seinen Sattel gebunden hatte. 

Vier Männer tauchten auf. Roland erkannte zwei der Kerle wieder, 

die ihn beim Bach gefangengenommen hatten. 

Einer band ihn los und warf ihn wie einen Mehlsack vom Roß. 

Roland stieß sich beim Aufprall den Kopf. Er konnte sich mit den 
gefesselten Händen nicht abfangen, um den Sturz zu mildern. 

»Bringt ihn zu Barnabas!« befahl der Bärtige. 
Zwei Männer packten Roland unter den Achseln und an den Füßen 

und schleppten ihn in den zerstörten Palast. 

Flackernde Kerzen spendeten nur spärlich Licht in dem großen 

Raum, der offensichtlich als Quartier der Räuber hergerichtet war. 

Roland brauchte einen Augenblick, bis sich seine Augen an das 

schummrige Licht gewöhnt hatten. 

Er sah ein großes Lager aus Decken und Fellen. Rund ein Dutzend 

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Katzen lagen darauf, und jetzt wußte Roland auch, weshalb es so 
durchdringend roch. 

Sie warfen ihn ans Fußende des Lagers. 
In die Katzen kam Bewegung. Einige miauten, ein Kater fauchte, 

und die Tiere wichen vor ihm zurück. 

Da bemerkte Roland die Gestalt auf dem Lager. Er hatte sie zuvor 

nicht erkannt, weil sie mit dem gleichen Fell bekleidet war wie das 
Lager und weil sie fast von den Katzen zugedeckt gewesen war. 

Der Mann hob eine schwarze Katze von seiner Brust, schob eine 

grauweißgestreifte Katze von seinem Oberschenkel und erhob sich. 

Einer der Räuber zündete weitere Kerzen an. 
Roland sah den Anführer der Räuber jetzt genauer. Braungelbliche 

Augen, die tief in den Höhlen lagen, musterten ihn. Dünne Lippen 
zogen sich von den vorstehenden Schneidezähnen. Ein Grinsen, als 
bleckte ein Raubtier  die Zähne. Rötlich schimmerte eine Narbe, die 
vom linken Mundwinkel bis hinauf zur Schläfe reichte. Roland sah, 
daß der Mann ein verstümmeltes Ohr hatte. 

Das Gesicht kam Roland irgendwie bekannt vor, doch es wollte 

ihm nicht einfallen, wo er es schon einmal gesehen hatte. 

»So sieht man sich wieder«, sagte Barnabas mit dumpfer Stimme. 

»Erkennst du mich wieder?« 

»Nein.« 
Breitbeinig blieb Barnabas vor Roland stehen und starrte auf ihn 

hinab. 

»Ich bin Barnabas«, sagte er. »Barnabas du Polignac. Erinnerst du 

dich daran, wie sie mir damals den Prozeß machten?« 

Da fiel es Ritter Roland wie Schuppen von den Augen. 
Barnabas du Polignac - der Schrecken vom Rhein! 
Roland glaubte wieder die grausigen Ereignisse vor seinem 

geistigen Auge zu sehen: 

Er war Sechzehn gewesen und hatte für seinen Vater, den Köhler 

etwas eingekauft, als Barnabas und seine wilde Horde in das Dorf 
eingefallen waren. Die Bande des Schreckens hatte gemordet, 
gebrandschatzt und Frauen geschändet. 

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Roland hatte alles hilflos mit ansehen müssen. Es waren rund drei 

Dutzend Verbrecher gewesen, und der Köhlersohn hatte zu dieser 
Zeit noch nicht einmal ein Schwert besessen. 

Er hatte sich verstecken müssen, denn die Räuber hatten bei der 

Suche nach Beute den ganzen Ort durchkämmt und jeden 
niedergemacht, den sie entdeckt hatten. 

Dann war Roland geflüchtet, um Hilfe zu holen. Sie hatten ihn 

entdeckt, und Barnabas hatte ihm ein paar seiner Räuber 
nachgeschickt, um den Bengel für immer zum Schweigen zu bringen. 

Doch er war ihnen entkommen. 
Ein paar Wochen später waren Barnabas und ein Teil seiner 

Mordgesellen gestellt worden. Wiederum waren sie in einen kleinen 
Ort eingefallen, um zu rauben und zu vergewaltigen. Doch diesmal 
war man vorbereitet gewesen. Einer von Barnabas' Räubern hatte den 
Raubzug verraten. Ein starker Reitertrupp des Königs hatte im 
Hinterhalt auf die Räuber gewartet. Die Falle war zugeschnappt. 

Ein Dutzend Räuber waren im Kampf gestorben, doch 

ausgerechnet einer hatte verletzt entkommen können: Barnabas. 

Man schnappte ihn drei Tage später, weit vom Ort des Überfalls 

entfernt. Er bestritt, jemals in diesem Ort gewesen zu sein und 
leugnete, irgend etwas mit den gefangenen Räubern zu tun zu haben. 
Niemand konnte ihm das Gegenteil beweisen. 

Da holte man den jungen Roland, dessen Aussage nach dem 

anderen Überfall schriftlich festgehalten worden war. 

Roland und ein weiterer Augenzeuge erkannten in Barnabas 

zweifelsfrei den Anführer der üblen Horde wieder. 

Auf ihre Aussage hin wurde Barnabas zum Tode verurteilt. Roland 

hatte nie wieder etwas von der Sache gehört. 

»Sie hätten mich damals um ein Haar aufgehängt«, sagte Barnabas 

mit dumpfer Stimme. Er tastete über die wulstige Narbe zum 
verstümmelten Ohr. »Doch ich konnte dem Henker ein Schnippchen 
schlagen. In der Nacht vor der Hinrichtung entkam ich mit Hilfe 
einer Verwandten aus dem Kerker. Und seither freue ich mich auf 
den Tag der Rache.« 

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Haß loderte in den braungelblichen Augen des Verbrechers auf. 
»Es hat lange gedauert, bis ich dich endlich fand«, fuhr er mit 

rauher Stimme fort. »Ich wollte erst nicht glauben, daß aus dir 
Bengel ein Ritter geworden ist. Ich hörte von dir, als ich mit meinen 
Katzen durch die Lande zog. Roland, der Ritter mit dem 
Löwenherzen! Ich dachte, das muß ein anderer sein. Doch meine 
Nachforschungen ergaben dann, daß du der Köhlerbengel warst, der 
mich damals fast an den Galgen gebracht hätte.« 

Unbeherrscht trat er nach dem gefesselten Gefangenen, der zu 

seinen Füßen lag. Roland schössen vor Schmerz Tränen in die 
Augen. Er preßte die Zähne zusammen. 

»Du wirst sterben!« zischte Barnabas. »Und ich habe mir einen 

besonders feinen Tod für dich Hundsfott ausgedacht. Einen Tod, der 
eines Ritters mit dem Löwenherzen würdig ist!« 

Er lachte, und Roland lief ein kalter Schauer über den Rücken. 
Dann rief Banabas nach einem seiner Räuber. 
Es war der Bärtige. 
»Bereitet alles vor, Wenzel!« befahl Barnabas. 
Wenzel blickte grinsend zu Roland. Dann eilte er davon. Roland 

hörte, wie er im Burghof lautstark Anweisungen gab. Irgend etwas 
sollte aufgebaut werden. 

Welche Teufelei hatte Barnabas vor? 
Barnabas starrte auf ihn herab. 
»Hast du noch einen letzten Wunsch?« fragte er spöttisch. 
Roland schwieg. Es war ihm klar, daß der Verbrecher seine Rache 

auskosten wollte und daß die Frage blanker Hohn war. 

»Das hat man  mich damals auch gefragt«, fuhr Barnabas fort. »Ich 

wünschte mir zur Henkersmahlzeit Rehragout mit Klößen und 
Rotkohl  - mein Leibgericht. Man erfüllte mir diesen Wunsch, und 
deshalb will ich vor deiner Hinrichtung auch so großzügig sein. Also, 
was wünschst du dir?« 

»Fahr zur Hölle!« knirschte Roland. 
Barnabas entblößte grinsend seine vorstehenden Schneidezähne. 
»Sehr lustig. Ja, Elisabeth erzählte mir, daß du ein recht witziger 

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Freier bist.« 

Elisabeth? Wie kam sie dazu, dem Verbrecher etwas über ihn zu 

erzählen? 

»Wo ist Elisabeth?« fragte Roland. Seit seiner Gefangennahme 

hatte er sie nicht mehr gesehen. 

»Sie ist hier«, erwiderte Barnabas grinsend. »Willst du sie noch 

mal sehen, bevor du Katzenfutter wirst?« 

Roland schluckte. Elisabeth war also in der Gewalt dieses 

Verbrechers! 

Er dachte an den Überfall in der Herberge, mit dem alles 

angefangen hatte. 

»Bei dem Überfall in Hohenwarth sollten mich deine Männer 

gefangennehmen?« fragte er aus seinen Gedanken heraus. 

Barnabas nickte. »Stimmt. Du brauchst dir gar nichts einzubilden, 

weil du ihnen einen Strich durch die Rechnung machen konntest. Sie 
hatten den Befehl, dich lebend bei mir abzuliefern. Den Jungs waren 
also die Hände gebunden. Nur deshalb konntest du den Helden 
spielen.« 

»Warum haben mich deine Männer nicht mitgenommen, als sie 

uns in dem Gasthof betäubten?« fragte Roland. »Warum haben sie 
nur Elisabeth gefangengenommen?« 

Barnabas' Miene verfinsterte sich. 
»Das waren nicht meine Männer«, sagte er zu Rolands 

Überraschung.  »Da waren irgendwelche verdammten Räuber am 
Werk.« 

»Dieser Meinhardt mit dem Hackebeil gehört nicht zu deinen 

Leuten?« fragte Roland verwundert. 

»Nein. Und du kannst sicher sein, daß wir dich und Elisabeth aus 

den Händen dieser verflixten Kerle befreit hätten, wenn ihr nicht so 
entkommen wärt. Einer meiner Männer folgte euch ständig und 
beobachtete euch auf Schritt und Tritt.« 

Er genoß sichtlich Rolands Überraschung. 
»Doch kommen wir zu deinem letzten Wunsch zurück«, fuhr 

Barnabas grinsend fort. »Ich höre.« 

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»Laß Elisabeth frei«, sagte Roland. Die Worte kamen ihm ohne 

Überlegung über die Lippen, und als er sie ausgesprochen hatte, 
schalt er sich töricht. Nie würde ihm der Verbrecher diesen Wunsch 
erfüllen. 

»Oh, wie ritterlich«, sagte Barnabas da auch schon spöttisch. »Er 

bittet für die Dame.« Er grinste auf Roland herab. »Nun, du hast nur 
einen Wunsch, den ich dir gewähre. Also überlege gut. Ich gebe dir 
noch ein wenig Bedenkzeit.« 

Er packte einen Kater, der um sein Bein herumstrich, nahm ihn auf 

die Arme und kraulte ihn. 

Rolands Gedanken jagten sich. Meinhardt und Barnabas waren 

also zwei paar Schuhe. Das war die Erklärung, weshalb ihn die 
Räuber vom Gasthof aus nicht mitgenommen hatten wie Elisabeth. 
Meinhardt hatte nur Elisabeth haben wollen. Barnabas dagegen hatte 
es nur auf ihn  - Roland  - abgesehen, um sich zu rächen. Elisabeth 
war für diesen Kerl praktisch nur eine Draufgabe. 

Barnabas blickte auf. »Nun, hast du dir deinen Wunsch überlegt?« 
Roland hegte keine Hoffnung, doch er wiederholte: 
»Laß Elisabeth frei.« 
Barnabas zuckte mit den Schultern. »An deiner Stelle hätte ich mir 

Rehragout gewünscht. Aber du mußt es ja wissen.« Er grinste, und 
Roland glaubte seinen Ohren nicht trauen zu können, als Barnabas 
hinzufügte: »Wohlan, dein Wunsch soll erfüllt werden.« Er hob die 
Stimme: »Elisabeth?« 

Eine Tür klappte. Leise Schritte nahten. Dann tauchte Elisabeth in 

der rußgeschwärzten Türöffnung auf. 

Sie wirkte völlig unbeschwert. 
»Sein letzter Wunsch ist deine Freilassung«, sagte Barnabas. »Ist 

das nicht lustig?« 

Er lachte wie über einen guten Scherz. 
Elisabeth Terciere schritt geschmeidig heran. Ihre grünen Augen 

funkelten. 

Sie blieb neben Barnabas stehen und blickte auf Roland. 
Dann begann auch sie schallend zu lachen. 

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Jetzt verstand Roland überhaupt nichts mehr. 
Endlich verstummte das Lachen der beiden. 
Elisabeth sah Roland verächtlich an. 
»Ein rechter Dummsack, der Ritter mit dem Löwenherzen!« sagte 

sie mit hohntriefender Stimme und einem kalten Lächeln. »Es wird 
mir eine Freude sein, zuzusehen, wie er zu Katzenfutter wird.« 

Die Freude war Elisabeth Terciere anzusehen, als es dann soweit 
war. Eine böse, teuflische Freude, und zu Ritter Rolands tiefer 
Enttäuschung kam der Zorn darüber, daß er sich von dieser Frau so 
sehr hatte hereinlegen lassen. 

Diese zweibeinige Katze hatte ihm nur Theater vorgespielt. Sie 

hatte Liebe geheuchelt, und dabei hatte der Haß in ihr gebrannt. Ein 
Engel als Köder, dachte Roland. 

Sie hatte damals durch Rolands Aussage ihren Geliebten verloren, 

einer der Räuber von Barnabas, mit dem sie übrigens verwandt war. 
Der Mann, der sie den Schwertkampf gelehrt hatte  - ihr Meister. Sie 
war es gewesen, die Barnabas vor der Hinrichtung aus dem Kerker 
befreit hatte. Und sie hatte genauso auf Rache gesonnen wie 
Barnabas. 

Roland glaubte noch ihre Worte zu hören, als sie ihn auf den 

Burghof schleppten, wo alles für seinen Tod vorbereitet war. 

»Es war ein Kinderspiel, dich um den kleinen Finger zu wickeln, 

du Dummkopf. Du hast dir eingebildet,  du hättest mich erobert! 
Dabei bist du nur in meine Falle getappt. Es war mir ein Vergnügen, 
dich scharf zu machen. Mehrmals war ich versucht, dir ein Messer 
zwischen die Rippen zu stoßen. Doch ich hatte Barnabas 
versprochen, dich zu ihm zu locken, damit  er zusehen kann, wie du 
stirbst...« 

Elisabeth Terciere war in Panik geraten, als der Überfall in der 

Herberge gescheitert war. Sie hatte befürchtet, er könnte die beiden 
flüchtenden Räuber schnappen und zum Plaudern bringen. Deshalb 

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hatte sie sich Hals über Kopf davongemacht. Zuvor hatte sie dafür 
gesorgt, daß der Räuber, der den Weinhändler niedergeschlagen 
hatte, seine noch bewußtlosen Kumpane mitgenommen hatte. Sie 
hatte Kontakt mit den Räubern gehalten und später erfahren, daß 
Wenzel entkommen war. Da war ihr die Begegnung mit Rolands 
Knappen ein willkommener Anlaß gewesen, nach Hohenwarth 
zurückzukehren, um das teuflische Spiel fortzusetzen. 

Fast hätte das Zwischenspiel mit dem Räuber Meinhardt ihr einen 

Strich durch die Rechnung gemacht. Doch mit Hildegards Hilfe 
waren sie entkommen, und sie hatte Roland leicht in die Falle locken 
können ... 

Ja, die schöne Elisabeth Terciere war eines der gerissensten Luder, 

die Ritter Roland jemals über den Weg gelaufen waren. 

Sie stand jetzt neben Barnabas und seinen fünf Männern. 

Mitleidlos schaute sie zu, wie er in den Käfig gestoßen wurde. 

Sie hatten ihm die Fesseln abgenommen. Doch was nutzte ihm 

das? 

Wie sollte er mit bloßen Händen den Löwen besiegen? 
Denn das war der Tod, den ihm Barnabas und Elisabeth zugedacht 

hatten: 

Er sollte von einem Löwen zerfleischt werden! 

Achim, der Räuber, zuckte zusammen und riß sein Schwert hoch, als 
es neben ihm im Gebüsch raschelte. Dann atmete er auf. 

Es war sein Kumpan Theo. 
»Gib dich doch zu erkennen, Mann!« knurrte Achim. 
Theo glitt neben ihn. 
»Du hattest recht, Achim«, sagte er. »Es ist ihre Fährte. Sie sind in 

der Burgruine. Ich konnte sie beobachten und ein paar Worte 
belauschen. Weißt du, wer der Kerl ist, der mit dem schönen Weib 
aus unserem Versteck verschwunden ist?« 

Achim hob die Schultern. 

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»Ein Ritter«, erklärte Theo triumphierend. »Roland heißt er. Und 

die beiden anderen, die wir gefangengenommen haben, müssen seine 
Knappen sein. Sie heißen Louis und Pierre, wie er sagte. Und die 
beiden nannten sich doch auch so. Und sie sprachen von einem 
Ritter. Es kann kein Zufall sein, daß sie bei uns auftauchten. ,Na, was 
sagst du dazu? Da hatten wir durch Zufall einen richtigen Ritter 
geschnappt.« 

Achim zeigte sich unbeeindruckt. 
»Na und? Das ändert nichts an unserem Auftrag. Wir sollen den 

Kerl zur Hölle schicken und uns das Weib krallen. Alles andere juckt 
mich nicht.« 

Theo zeigte grinsend schadhafte Zähne. »Vielleicht doch. Ich 

schlage vor, wir bringen den Kerl lebend zu Meinhardt. Da könnte 
ein schönes Lösegeld herausspringen. Bei Rittern ist bestimmt etwas 
zu holen.« 

»Quatsch, ich kannte mal einen, der war arm wie eine 

Kirchenmaus.« 

»Aber selbst wenn er nicht viel besitzt  - diese Ritter haben 

Beziehungen. Irgendeiner bei Hofe wird bestimmt was für sie 
ausspucken.« 

Achim überlegte. Er war nicht so begeistert von der Idee wie Theo. 
»Und wie wollen wir uns den Mann schnappen? Das kompliziert 

doch alles.« 

Theo schüttelte den Kopf. »Du weißt noch nicht alles. Er ist bereits 

geschnappt. Die Leute auf der Burg haben ihn gefangengenommen.« 

Achim blickte überrascht. »Sag nur! Ich dachte, es wären 

Bekannte, bei denen sie Zuflucht gesucht haben.« 

»Nein. Es sind Gaukler oder so was. Da steht jedenfalls ein bunter 

Zirkuswagen auf dem Burghof. Ich nehme an, die Jungs wollen das 
gleiche wie wir: Die Frau und den Ritter als Goldene Kuh.« 

»Ochse, meinst du wohl.« 
»Ochsen kann man nicht melken«, widersprach Theo grinsend. 

»Und genau das werden wir mit dem Ritter tun.« 

Achim lachte leise. »Also gut. Mit wie vielen Leuten haben wir es 

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zu tun?« 

»Genau hab ich das nicht gesehen. Vier oder fünf, denke ich.« 
»Das sind genau vier oder fünf zuviel«, bemerkte Achim. 
»Unsinn. Wir werden nicht kämpfen. Wir haben doch unseren 

Zaubertrunk. Wir reiten zufällig bei der Ruine vorbei und tun, als 
wollten wir rasten. Natürlich werden die Kerle mißtrauisch sein und 
uns schnell wieder los werden wollen, weil sie doch Dreck am 
Stecken haben. Wir reichen die Flasche herum, und schwups 
schlafen sie. Dann brauchen wir nur noch das Weib und den Ritter zu 
befreien, und fertig ist die Bratensoße.« 

»Das klingt einfach.« Achim nickte nachdenklich vor sich hin. 

»Warten wir, bis es dunkel wird und ...« 

Er verstummte, und seine Augen weiteten sich. 
Auch Theo erschrak. 
»Wawas war das?« stotterte er und lauschte. 
»Klingt wie ein ...Löwe!« stieß Theo hervor. 
Da war wieder das Brüllen zu hören, das durch die Burgruine 

hallte. 

»Was mag da los sein?« fragte Achim angespannt. 

Die eiserne Gittertür fiel hinter Ritter Roland zu. Er war in dem 
Löwenkäfig, den Barnabas' Männer aus Eisengittern im Burghof 
errichtet hatten. Der Löwe war durch einen Laufgang aus 
Gitterstäben vom Wagen in den Käfig gelangt. 

Ein gewaltiger Bursche mit enormer Mähne. 
Er wirkte schläfrig, wie eine riesige Schmusekatze, und musterte 

den Zweibeinigen fast gelangweilt. Doch Roland wußte, daß sich das 
schnell ändern würde. Waffenlos war er diesen gewiß sechs Zentnern 
geballter Kraft ausgeliefert! 

Der Löwe tat ein paar lautlose, bedächtige Schritte und legte sich 

dann hin, ohne sich für den Menschen zu interessieren. 

»Der schläft ja ein«, sagte Elisabeth Terciere, und es klang 

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enttäuscht. 

Barnabas lachte. 
»Der Schein trügt, meine Liebe. Löwen greifen Menschen nur an, 

wenn sie von ihnen gereizt werden. Aber dann geht's rund.« 

»So reizt ihn doch!« forderte Elisabeth Terciere die Männer auf. 
Ritter Roland konnte nicht glauben, daß er diese Frau in den 

Armen gehalten und heiß begehrt hatte. 

Elisabeth hob ein Steinchen auf und wollte es auf den Löwen 

werfen. Der Stein prallte vom Gitter ab und traf Wenzel, Barnabas' 
Unterführer. Fluchend rieb sich Wenzel übers Bein. 

»Macht dem Vieh Feuer!« schrie Elisabeth. 
Einer der Männer schob auf einen Wink von Barnabas hin eine 

Lanze durch die  Gitterstäbe. Sie reichte nicht ganz bis zu dem 
Löwen. 

Der Löwe wandte den Kopf und bleckte die Fänge. Es sah aus, als 

gähne er. 

Roland verlor keine Sekunde. Er handelte. 
Mit einem Hechtsprung warf er sich auf die Lanze zu. 
»Vorsicht!« rief Barnabas alarmiert. 
Roland packte die Lanze mit beiden Händen und riß daran. 
Es war eine Aktion, die aus Verzweiflung geboren war. Wenn er in 

diesem Löwenkäfig sterben mußte, so sollte es nicht kampflos 
geschehen. Und mit der Lanze konnte er sich vielleicht die Raub-
katze vom Leib halten. Dann war er zwar immer noch nicht gerettet - 
Barnabas und Elisabeth würden so oder so für seinen Tod sorgen. 
Doch es blieb ihm erspart, von den Pranken und Fängen des Löwen 
zerrissen zu werden. 

Fast hätte Roland es geschafft. 
Barnabas Mann war von der blitzschnellen Attacke überrascht. 

Doch er hielt die Lanze fest umklammert, riß sie zurück, und Roland 
prallte in seinem Schwung gegen die Gitterstäbe, die in den 
Verankerungen klirrten. 

Der Löwe fauchte bei dem Geräusch. 
Bevor Ritter Roland sich fangen konnte, war Barnabas mit einem 

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Satz am Gitter, schob sein Schwert hindurch und hieb Roland auf die 
Finger. 

Roland schrie vor Schmerzen auf. Im ersten Augenblick dachte er, 

der Verbrecher hätte ihm die Hand abgehackt. Rasende Schmerzen 
zuckten seinen Arm hinauf bis zur Schulter. 

Er konnte die Lanze nicht festhalten. Er rutschte aus und fiel. Er 

landete keine drei Schritte von dem Löwen entfernt, der sich bei den 
schnellen und ruckartigen Bewegungen aufgesetzt hatte und jetzt 
sprungbereit wirkte. 

Roland blickte zu seiner verletzten Hand hinab. 
Blut rann über den Handrücken. Der Schwerthieb hatte ihm die 

Haut aufgerissen. 

Der Löwe witterte das Blut. Seine langen Schnurrhaare sträubten 

sich. Er entblößte die gelblichen, scharfen Fänge. Ein grollendes 
Knurren kam tief aus seiner Kehle. 

Langsam setzte sich der Löwe in Bewegung. Majestätisch, lautlos, 

geschmeidig. 

»Na also«, rief Barnabas. »Jetzt hat er Blut gewittert.« 
Elisabeth Terciere rüttelte an den Gitterstäben und feuerte den 

Löwen mit wilden Schreien an. 

Vielleicht war das genau das Falsche. 
Der König der Wildnis verharrte. Seine Lichter funkelten das 

Wesen an, das mit schriller Stimme auf ihn einschrie. 

Fast abwehrend hob die Raubkatze  eine der Pranken. Es sah aus 

wie die tapsige Bewegung eines Kätzchens, das nach einem 
Wollknäuel hascht. Doch der Schein trog. Der Prankenhieb hätte 
Roland vermutlich besinnungslos geschlagen. 

Roland preßte die linke Hand auf die blutende Rechte und starrte 

wie gebannt zu dem Löwen, der jetzt zornig fauchte. 

Elisabeth schrie immer noch. Sie war wie von Sinnen. 
Der Löwe brüllte, daß es über den Burghof hallte. 
Elisabeth verstummte erschrocken und sprang vom Gitter zurück. 
Der bisher schläfrige Eindruck verlor sich schlagartig. Offenbar 

war dem Löwen Elisabeths Geschrei zuviel geworden. Seine Pranke 

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knallte fast ansatzlos gegen einen der Gitterstäbe. 

Der Löwe brüllte auf. 
Es klang zornig und gereizt. 
Elisabeth war blaß geworden und von den Gitterstäben 

zurückgewichen. Auch Barnabas' Mannen verharrten angespannt und 
blickten auf die brüllende Raubkatze. 

Nur Barnabas lächelte. 
»Man darf das Kätzchen nicht unterschätzen«, sagte er. »Es hat 

schon drei ihrer vorherigen Besitzer verspeist, die jede seiner 
Reaktionen zu kennen glaubten.« Er wandte sich an einen seiner 
Männer. »Wenzel, brenn ihm mal einen Pfeil aufs Fell.« 

Wenzel zog seinen Bogen von der Schulter und nahm einen Pfeil 

aus dem Köcher. 

Der Löwe fauchte noch einmal zum Gitter hin und zog sich dann 

zurück. 

Auf Ritter Roland zu. 
Roland lag immer noch wie betäubt am Boden. Die Raubkatze 

wuchs über ihm scheinbar ins Riesenhafte. Roland sah die 
funkelnden Lichter, das Spiel von Muskeln und Sehnen. 

Aus! dachte er und schloß die Augen. 
Er konnte nicht mehr aufspringen. Die Raubkatze wäre mit einem 

Sprung bei ihm gewesen. Und wahrscheinlich würde sie bei einer 
heftigen Bewegung erst recht das Opfer in ihm wittern und ihn 
anfallen. 

Roland spürte den heißen Atem des Löwen, und wie aus weiter 

Ferne hörte er Barnabas lachen. 

Barnabas genoß seine Rache. 
Laut rief er: 
»Der Ritter mit dem Löwenherzen  - noch hält er sein Löwenmaul, 

doch gleich brüllt er vor Schmerzen!« 

Auch Elisabeth lachte, kalt und schrill. 
»Seinetwegen habe ich mein Glück verloren! Ich will sehen, wie er 

stirbt!« 

Roland spürte etwas Weiches, Feuchtes an seiner Wange. Es war 

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ihm, als setzte sein Herzschlag aus. 

»Jetzt hat der große Ritter das Hosenflattern!« johlte Barnabas. 

»Sieh nur, Elisabeth, wie er vor Angst vergeht.« 

Es stimmte. Ritter Roland hatte Angst. Welch ruhmreiche Taten 

hatte er vollbracht! Doch niemals hatte er sich so hilflos gefühlt. 

In diesen schrecklichen Sekunden hatte er nur einen Gedanken: 

Herr im Himmel laß es schnell vorbei sein! 

Das Stoßgebet wurde nicht erhört. 
Das Weiche, Feuchte verschwand, und Roland hörte etwas an sich 

vorbeitappen. 

Er öffnete blinzelnd die Augen und konnte noch nicht fassen, daß 

der Löwe ihn verschont hatte. 

Die Raubkatze glitt tatsächlich an ihm vorbei. Sie hatte ihn 

beschnuppert und offenbar keinen Appetit. 

Roland wagte kaum zu atmen. 
Barnabas lachte. 
»Jetzt hat er sich vor Angst in die Hosen gemacht!« rief er 

höhnisch. »Dabei geht es gar nicht so schnell, wie er gedacht hat. 
Das Kätzchen hat zuvor gut gespeist. Es wird noch ein wenig mit 
ihm spielen. Wenzel, spick den Löwen mit einem Pfeil. Aber so, daß 
er nicht ernsthaft verletzt wird, oder ich werde dich vierteilen!« 

Roland sah, wie Wenzel an das Gitter trat, sorgfältig zielte und den 

Bogen nur ein wenig spannte. 

Der Löwe verharrte etwa vier Schritte von ihm entfernt und wandte 

den Kopf mit der gewaltigen Mähne, als sei er unschlüssig, ob er 
nicht doch zu der Kreatur zurückkehren sollte, die dort am Boden 
lag, um sie als Nachtisch zu vernaschen. 

Langsam und bemüht, jede ruckartige Bewegung zu vermeiden, 

kroch Ritter Roland von der Raubkatze fort. 

Da zischte der Pfeil durch die Gitterstäbe. 
Der Löwe brüllte auf, und Roland erschauerte bei diesem zornigen 

Urlaut. 

Der Pfeil war nicht tief eingedrungen. Er wippte leicht im Fell. Der 

Löwe schüttelte den enormen Schädel. Es hatte fast den Anschein, 

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als sträubte sich die Mähne. Wieder stieß der Löwe ein tiefes, 
grollendes Brüllen aus. Die Raubkatze schüttelte sich, doch der Pfeil 
blieb stecken. 

Und jetzt richteten sich die funkelnden Lichter der Raubkatze auf 

Roland, als sei er für den Angriff verantwortlich. 

Roland hatte fast das Gefühl, der Löwe fühle sich betrogen. Als 

signalisierten die Raubtieraugen: So, du willst frech werden, du 
Mensch! Das hat man von seiner Gutmütigkeit! Aber ich kann auch 
anders! 

Und der Löwe fauchte und duckte sich zum Sprung. 
»So ist's richtig!« rief Barnabas. »Ein guter Schuß, Wenzel. Jetzt 

beginnt das Spiel. Ich wette, daß sich die Katze jetzt die Vorspeise 
holt. Was meint ihr, erst einen Arm oder ein Bein?« 

Er blickte grinsend in die Runde. 
Elisabeth lachte, doch jetzt klang es angespannt und gekünstelt. 

Zudem war sie leichenblaß. Vielleicht hatte sie sich das grausige 
Schauspiel doch nicht so in den Einzelheiten ausgemalt, wie 
Barnabas es jetzt genüßlich beschrieb. 

Der Löwe spannte sich zum Sprung. Er starrte Roland an wie ein 

Riesenkater, der die Maus in die Enge getrieben hat und sie nun noch 
ein wenig zittern läßt, bevor er sie sich schnappt. 

Es war unmöglich, waffenlos gegen diese Raubkatze zu bestehen. 

Langsam richtete sich Roland auf. Er starrte dem Löwen in die 
funkelnden Lichter, und er wünschte, über hypnotische Kräfte zu 
verfügen. 

Totenstille herrschte im Burghof. 
Selbst das Schwalbenpaar im zerstörten Dach der Burgkapelle 

verharrte mucksmäuschenstill und spähte zum Käfig hin. 

Dann sprang die Raubkatze. Mit einem gewaltigen Satz schnellten 

die Zentner Muskeln, Sehnen und Fleisch auf Roland zu, scheinbar 
schwerelos, wie spielerisch. 

Roland wußte, daß er keine Chance mehr hatte. Die Katze war 

gereizt, und jede Abwehrbewegung würde sie noch wilder machen. 

Ritter Roland handelte, ohne zu denken. 

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Auch er sprang. Und es war der gewaltigste Satz, den der Ritter 

mit dem Löwenherzen je gemacht hatte. 

Die Todesangst verlieh ihm ungeahnte Kräfte. 
Er flog förmlich an den Gitterstäben hoch und riß noch im Sprung 

instinktiv die Beine hoch. 

Die Fänge der Raubkatze verfehlten seine Stiefel um eine 

Handbreit. Er hätte gewiß keine Stiefel mehr gebraucht, wenn die 
Fänge zugeschnappt hätten. 

Roland klammerte sich an den Gitterstäben fest und hangelte sich 

höher. 

Der Löwe brüllte. Enttäuscht oder wütend, vermutlich beides. 
Roland gelangte bis oben aufs Gitter. 
Seine Brust hob und senkte sich unter keuchenden Atemzügen. Er 

war schweißgebadet und hatte das Gefühl, sich übergeben zu 
müssen, weil er sich völlig verausgabt hatte. Seine Hände zitterten 
und seine Knie waren weich. Doch er klammerte sich dort oben fest. 

Er war grenzenlos erleichtert. Zumindest im Augenblick hatte er 

überlebt. 

Der Löwe schnellte fauchend am Gitter hoch. 
Sekundenlang stieg neue Furcht in Roland auf, doch dann sagte er 

sich, daß der Löwe trotz seiner Sprungkraft nicht an ihn herankam. 
Natürlich war das Schutzgitter hoch genug. Sonst hätte der Käfig ja 
nicht seinen Zweck erfüllt. Oder konnte die Raubkatze an den 
Gitterstäben hochklettern? 

Roland blickte besorgt zu dem Löwen. Nein, der Bursche schien 

das Interesse verloren zu haben. Rolands Blick zuckte zum Publikum 
außerhalb des Käfigs. 

Keiner klatschte Beifall, aber damit hatte Roland auch nicht 

gerechnet. 

Elisabeths Mund klaffte auf. Ihre Miene war nicht recht zu deuten. 

War es Bestürzung in ihren grünen Katzenaugen oder Bewunderung 
über seinen Verzweiflungssprung? 

Die Männer blickten jetzt zu Barnabas, als wollten sie hören, wie 

es weitergehen sollte. 

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Barnabas lachte. 
»Mit diesem Hopser hättest du gewiß jedes Turnier gewonnen, 

falls ihr Ritter solche blöden Wettkampf-Scherze betreibt«, rief er 
höhnisch. »Doch leider war das völlig umsonst.« 

Er gab dem Bogenschützen einen knappen Wink. 
»Wenzel, schieß ihn mal da runter! Aber vorsichtig, damit er uns 

nicht abnippelt.« 

Wenzel nickte eifrig. Er legte einen Pfeil auf die Bogensehne. 
Bedächtig zielte er. 
Ritter Roland hing hilflos auf dem Gitter. Unter ihm im Käfig 

wartete der gereizte Löwe. Und auf der anderen Seite standen fünf 
bewaffnete Männer und Elisabeth. 

Für einen Augenblick spielte Ritter Roland mit dem Gedanken, 

sich auf sie zu werfen. Er schätzte schnell die Entfernung ab. Zu 
weit. Er würde vor ihnen landen, und selbst wenn er den Sprung heil 
überstand, würde es kein Entkommen geben. Eine Minute später 
hätten sie ihn wieder im Löwenkäfig, und das ganze teuflische Spiel 
würde fortgesetzt werden. 

Nein, eher würde er sich dort oben töten lassen. 
Er sah den Pfeil auf sich zurasen und schloß die Augen. 
Dann zuckte ein glühendheißer Schmerz durch seine Schulter. Der 

Pfeil fetzte ihm eine Furche in den Oberarm. Blut tränkte den Stoff. 

Der Löwe brüllte. 
Rolands rechter Arm war sekundenlang wie betäubt. Er klammerte 

sich mit der Linken fest und versuchte gegen das Schwindelgefühl 
anzukämpfen. Seine Hand war schweißnaß. 

Nur nicht abrutschen! dachte er verzweifelt. Sein Arm begann vor 

Anstrengung zu zittern, als er sich am Gitter festhielt. 

»Du solltest ihn runterschießen!« rief Barnabas und bedachte 

Wenzel mit einem ärgerlichen Blick. 

Wenzel zuckte mit den Schultern. »Ist nicht so einfach. Wenn ich 

ihn nur ritze, hält er sich fest wie'n Affe. Und wenn ich ihn voll 
erwische, wird er kein Katzenfutter - das heißt kein lebendes.« 

»Papperlapapp!« Barnabas' Stimme klang wie ein Knurren. »Wenn 

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du dir keinen perfekten Schuß zutraust, dann machen wir es eben 
anders. Ist doch ganz einfach!« 

Damit gürtete er sein Schwert und schritt auf das Gitter zu. 
Roland spannte sich bereits zum Sprung. Jetzt konnte er sich auf 

Barnabas werfen. Damit war zwar immer noch nichts gewonnen, 
doch wenn er Glück hatte und dem Verbrecher das Schwert entreißen 
konnte ... 

Er konnte den Gedanken nicht fortsetzen. 
Es war zu spät. Barnabas hangelte sich bereits katzengewandt am 

Gitter empor. 

Roland hoffte, der Löwe würde den Verbrecher anspringen und ihn 

zwischen den Gitterstäben mit einem Prankenhieb zerschmettern. 

Doch der Löwe rührte sich nicht von der Stelle und wirkte wieder 

ruhiger Roland wartete angespannt. Barnabas beging nicht den 
Fehler, direkt unter ihm hochzuklettern. Er hielt sich etwa drei 
Schritte rechts von Roland, außer Reichweite. 

Roland sah das grinsende Gesicht, in dem die rote Narbe glühte. 
Barnabas hielt sich mit der Linken am Gitter fest und zückte mit 

der Rechten sein Schwert. 

»So, das haben wir gleich«, sagte er. »Kätzchen, deine Mahlzeit 

kommt sofort. Paß auf, daß er dir nicht auf den Kopf fällt!« 

Lachend holte er mit dem Schwert aus. Er wollte es Roland auf die 

Finger schlagen, damit er die Gitterstäbe loslassen mußte und in den 
Käfig stürzte. 

Roland dachte nur an das Schwert. Wahrscheinlich würde es ihm 

im Kampf gegen den Löwen nichts nutzen. Doch er hatte auch gar 
nicht vor, den ungleichen Kampf gegen die Raubkatze aufzunehmen. 
Wenn es ihm gelang, das Schwert an sich zu reißen, wollte er aus 
dem Käfig in die Tiefe springen. Dann konnte er sich vielleicht 
Elisabeth schnappen oder Barnabas das Schwert auf die Brust setzen, 
wenn der Kerl ihm nachsprang. 

Es war nur eine hauchdünne Chance, doch sie war allemal besser 

als keine. 

Als Barnabas grinsend das Schwert vorstieß, griff Ritter Roland 

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danach wie nach dem rettenden Strohhalm. 

Genau im richtigen Sekundenbruchteil. 
Er schnitt sich einen Finger an der blitzenden Klinge auf, doch das 

nahm er gar nicht wahr. Er hielt das Schwert fest und war von wilder 
Entschlossenheit erfüllt, es nicht mehr loszulassen. 

Barnabas schrie erschrocken auf. 
Mit einer solch tollkühnen, unglaublich schnellen Reaktion hatte er 

nicht gerechnet, sondern mit Angst, mit einem Zurückzucken des 
Opfers. 

Doch furchtlos stieß Roland die Hand zu der scharfen Klinge! 
Ritter Roland, der noch vor Sekunden dem Tod ins Auge geblickt 

hatte, entwickelte in seiner Verzweiflung schier unglaubliche Kräfte. 
Während er mit der Rechten die Schwertklinge umkrampfte und 
Barnabas' Stoßbewegungen abfing, sprang er zwei Gitterstäbe weiter, 
auf Barnabas zu, klammerte sich mit der Linken fest und zog mit 
einem gewaltigen Ruck an dem Schwert. 

Es spielte sich alles so schnell ab, daß Roland es selbst gar nicht 

richtig mitbekam. 

Roland sah plötzlich etwas an sich vorbeiwirbeln und hörte einen 

Aufschrei aus mehreren Kehlen. 

Elisabeth schrie, zwei der Räuber brüllten entsetzt, und am 

lautesten schrie Barnabas. 

Er war von Rolands Ruckbewegung überrascht worden, hatte auf 

dem Gitter das Übergewicht bekommen und stürzte in den 
Löwenkäfig. 

Dann ging sein gellender Schrei im Brüllen des Löwen unter. 
Barnabas war auf die Raubkatze gefallen. 
Und das hatte dieser gewaltige Bursche nicht so gern. 
Roland sah alles verschwommen. Es war ein grausiger Anblick. In 

seiner Panik beging Barnabas,  der sich so gut mit Katzen auskannte, 
einen Fehler, der das Verhängnis nur beschleunigte. Barnabas schlug 
nach dem Löwen. 

Dann ging alles rasend schnell. 
Roland schloß die Augen, als er sah, wie der aufs Äußerste gereizte 

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Löwe über Barnabas herfiel. Es wurde ihm fast schlecht bei dem 
Gedanken, daß er an Barnabas' Stelle jetzt dort unten hatte zerfetzt 
werden sollen. 

Eine Ewigkeit schien zu vergehen, bevor Roland das Unfaßbare 

überhaupt begriff, bis ihm klar wurde, daß er zwar noch lebte, daß da 
aber noch Elisabeth und die anderen waren, die ihm gewiß nicht 
Glück wünschen würden, weil er davongekommen war. 

Sein Blick zuckte von dem schaurigen Anblick im Käfig hinunter 

zu den anderen Gegnern. 

Alle starrten entsetzt und wie erstarrt. 
Roland erkannte, daß er keine Zeit verlieren durfte. 
Er schwang sich über das Gitter, ließ sich an einem Stab ein Stück 

hinabrutschen und sprang den Rest hinab. 

Barnabas' Männer wirkten wie Statuen, und in ihren Augen 

flackerte das Entsetzen. 

Elisabeth war kreidebleich und sah aus, als würde sie ohnmächtig 

umfallen. Doch der Schein trog. 

Roland prallte zu Boden. Er fiel unglücklich auf die Schulter, an 

der ihn der Pfeil gestreift hatte, und die lange Furche riß noch mehr 
auf. Blut schoß aus der Wunde. 

Bevor Roland seine Benommenheit abschütteln und sich 

aufrappeln konnte, lösten sich Elisabeth und Barnabas' Mannen aus 
ihrer Erstarrung. 

Elisabeth verwandelte sich in eine Furie. 
»Mörder!« kreischte sie wie von Sinnen, und sie fiel über ihn her, 

fast wie der Löwe zuvor über Barnabas hergefallen war. 

Sie schlug und biß und zog Roland die Fingernägel durchs Gesicht. 

Und dabei kreischte sie immer wieder: »Mörder! Mörder!« 

Roland blieb keine Wahl. Sie war eine schöne Frau, doch sie war 

auch eine der gefährlichsten, die er je kennengelernt hatte. 

Zudem griffen jetzt Barnabas' Männer ein. 
Roland kämpfte. 
Er packte die rasende Elisabeth Terciere und schleuderte sie gegen 

zwei der Angreifer. Die Frau riß die beiden Männer mit sich zu 

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Boden. 

Roland packte Barnabas' Schwert und fuhr zu Wenzel herum. 
Wenzel hatte einen Pfeil auf die Sehne gelegt und spannte den 

Bogen. 

Ritter Roland schleuderte aus der Drehung heraus das Schwert. 
Er verfehlte den Bogenschützen! 
Der Pfeil schnellte von der Sehne. 
Roland warf sich hin. 
Hinter ihm gellte ein Schrei. Elisabeth. Der Schrei ging in ein 

Röcheln über. 

Elisabeth war aufgesprungen und hatte sich von neuem auf Roland 

stürzen wollen, als er zu Wenzel herumgewirbelt war. 

Wenzels Pfeil traf sie. 
Roland sah, wie sich die Augen des Bogenschützen entsetzt 

weiteten. Noch konnte er den Schreck des Mannes nicht deuten. Er 
erfaßte nur, daß Wenzel noch auf den Beinen stand und seinen 
Bogen in der Hand hielt. Derweil rappelten sich Wenzels Kumpane 
auf und einer stürmte mit erhobenem Schwert heran. 

Und Roland war jetzt ohne Schwert. 
Er hechte auf Wenzel zu. 
Wenzel reagierte überhaupt nicht. Fassungslos starrte er an Roland 

vorbei. Ritter Roland riß ihn zu Boden und schmetterte ihm die Faust 
ans Kinn. Wenzel erschlaffte. 

Ritter Roland schnellte auf das Schwert zu, das ein paar Schritte 

entfernt am Boden lag. Er riß es hoch und fuhr herum. 

Doch von Barnabas' Räubern drohte keine Gefahr. 

Schreckensbleich starrten sie auf Elisabeth. 

Auch Roland erschrak. 
Ein Pfeil ragte aus  Elisabeths Oberkörper. Sie lag auf dem Rücken, 

und ihre gebrochenen Augen starrten in den Himmel. 

Roland schluckte. Er glaubte einen Kloß in der Kehle zu haben. 

Elisabeth hatte seinen Tod gewollt und war von Haß und Rache 
getrieben worden. Doch ihr Anblick rührte ihn. Er verspürte keine 
Genugtuung darüber, daß sie ein solches Ende gefunden hatte. 

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Rolands Blick zuckte zu Barnabas' Männern. Zwei standen wie 

angewurzelt da und starrten in den Käfig zu Barnabas' schrecklich 
zugerichteter Leiche. Zwei andere blickten fassungslos auf die tote 
Frau. Und Wenzel war bewußtlos. 

Roland sprang auf. 
Das Schwert in seiner Hand blitzte in der Sonne auf. 
Roland mußte wie der Leibhaftige aussehen, als er auf die Männer 

zustürmte. Er blutete an der Schulter, an der Hand und aus den 
Kratzwunden im Gesicht, die Elisabeth ihm zugefügt hatte, bevor er 
sie sich vom Leib hatte halten können. 

Und die grauenvollen Ereignisse schienen sich in seinem Gesicht 

widerzuspiegeln. 

Keiner der Räuber dachte mehr an Kampf. Barnabas, ihr Anführer, 

war tot, und Elisabeth, deren Befehle sie ebenfalls befolgt hatten, war 
an einem Pfeil ihres eigenen Kumpans gestorben. Und da stürmte 
Ritter Roland auf sie zu, der aussah, als sei er entschlossen, sie alle 
niederzumachen. 

Sie warfen sich herum und ergriffen die Flucht. 
Einer schrie dabei in weiser Voraussicht schon mal: »Gnade! 

Gnade!« Und es klang wie ein Schluchzen. 

Doch Ritter Roland verfolgte sie nicht. Er verharrte. Sein Herz 

hämmerte, und vor seinen Augen verschwamm alles. Er war so 
mitgenommen, daß seine Knie nachgaben. Er sank neben dem 
bewußtlosen Wenzel zu Boden und rang um Atem. 

Es dauerte eine Weile, bis er wieder klarer sah und das 

Schwächegefühl nachließ. 

Er zwang sich, zum Löwenkäfig zu blicken. 
Die Raubkatze saß neben dem, was von  Barnabas übrig war, und 

leckte sich das blutige Maul. 

Von neuem stieg Übelkeit in Roland auf. Er erhob sich wankend. 

Er vermied es, zu Elisabeth zu blicken. 

Hufschlag entfernte sich. Barnabas' Männer galoppierten davon. Er 

sah sie durch die Bresche in der  Ringmauer verschwinden. 
Vermutlich hatten sie ihre Rösser irgendwo in den ausgebrannten 

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Stallungen gehabt. 

Roland zog Wenzel den Hosengürtel aus und wollte ihn gerade 

damit fesseln, als er ein Geräusch vom Palas her wahrnahm. 

Sein Kopf ruckte herum. 
Zwei Männer rannten auf den Burghof. 
Und Roland erkannte sie sofort wieder. Das waren die Kerle, die 

ihnen im Gasthof den Betäubungstrunk kredenzt hatten  - Meinhardts 
Räuber. 

»Du Hund!« schrie einer der beiden und griff ungestüm mit dem 

Schwert an. 

Achim und  Theo hatten alles beobachtet. Unbemerkt waren sie in 

die Burgruine eingedrungen und hatten an einer Fensteröffnung des 
ausgebrannten Palas praktisch einen Tribünenplatz bei diesem 
grauenvollen Schauspiel gehabt. 

Dann war ihr Entsetzen in wilden Zorn umgeschlagen. Meinhardt 

hätte sie großzügig belohnt, wenn sie ihm die Frau gebracht hätten, 
in die er so vernarrt war. Doch dieser verdammte Ritter hatte alles 
zunichte gemacht. Sie glaubten, nur zu ihrem Anführer zurückkehren 
zu können, wenn sie ihm eine  Art Versöhnungsgeschenk mitbrachten 
- die Leiche des Mannes, der mit der schönen Frau aus der Höhle 
entkommen war. 

Sie sahen, wie Ritter Roland blutend und erschöpft zu Boden sank 

und dachten, leichtes Spiel zu haben, zumal sie zu zweit waren. 

Doch sie sollten sich irren. 
Roland war nicht so erledigt, wie es den Anschein hatte. Und er 

hielt ein Schwert in der Hand. Da konnten ihn diese zwei Lumpen 
nicht schrecken. 

Achim erwischte es als ersten. Ritter Roland parierte den 

Schwerthieb des Räubers. Dann täuschte Roland geschickt, und 
bevor der Räuber wußte, wie ihm geschah, prellte ihm Roland mit 
wuchtigem Schlag das Schwert aus der Hand. 

Achim starrte ihn an, als sei er ein Geist. Er hielt das wohl für 

Zauberei. 

Und Roland gab noch eine Zugabe. 

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Ein Hieb mit  der Breitseite der Klinge schleuderte Achim zu 

Boden. Er verdrehte die Augen und rührte sich nicht mehr. 

Roland rührte sich dagegen umso mehr. Er setzte den Schwerthieb 

fort, der den ersten Angreifer getroffen hatte, drehte sich um die 
Achse und traf den  zweiten Gegner aus der schwungvollen Drehung 
heraus. 

Theo machte brüllend einen Luftsprung, der fast Rolands 

mächtigem Satz am Gitterkäfig hinauf ebenbürtig war, als ihm 
Rolands Schwert gegen die Beine knallte. 

Augenblicklich vergaß Theo jeden Gedanken an Kampf. 
Er ließ sein Schwert los, hüpfte noch ein paarmal vor Schmerz 

schreiend auf und ab und preßte die Hände auf die Beine. 

Roland beendete den Veitstanz, indem er dem Burschen die Klinge 

gegen die Brust tippte. Theo plumpste auf den Hintern und stierte 
Roland mit glasigen Augen an. 

Erst nach ein paar Sekunden schien er seine mißliche Lage zu 

begreifen, und Angst flackerte in seinem Blick. 

»La-laß mich leben«, stammelte er. 
Roland erwiderte nichts darauf. Der Kerl sollte ruhig ein bißchen 

schwitzen. Schließlich war er dabei gewesen, als man ihn und 
Elisabeth betäubt und gefangengenommen hatte, und auch jetzt war 
er nicht aufgetaucht, um sich für seine Missetaten zu entschuldigen. 
Es gab da einige ungeklärte Dinge, die Roland interessierten. Zum 
Beispiel, was dieser Meinhardt außer Entführung so trieb und 
weshalb er Elisabeth entführt hatte. 

»Du wirst mir einige Fragen beantworten«, sagte Roland grimmig. 

»Und zwar schnell und ausführlich, denn ich bin gereizter als der 
Löwe.« 

Theo nickte offenen Mundes und schielte auf das Schwert. 
Achim regte sich und setzte sich auf. Der Kerl fand äußerst schnell 

in die Wirklichkeit zurück. 

»Von uns erfährst du kein Sterbenswort«, sagte er. »Und wenn du 

uns auch nur ein Härchen krümmst, müssen es deine Knappen 
büßen!« 

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Roland verschlug es für einen Moment die Sprache. 
»Meine Knappen?« vergewisserte er sich. 
Achim bekam Oberwasser. Er blickte verschlagen zu Roland auf. 
»Ja«, sagte er hämisch. »Wirf nur ja dein Schwert weg, oder deine 

Knappen fahren zur Hölle! Wir haben sie in unserer Gewalt. Du 
kannst sie freikaufen. Aber das kostet dich einiges.« 

Achim war recht stolz auf seinen neuen Einfall. 
Er blinzelte verwirrt, als Roland lächelte. 
»Das kostet mich ein müdes Grinsen«, erklärte Roland. »Ihr beide 

erzählt mir jetzt alles, was ich wissen will, oder ...« 

Roland fiel nichts Drohendes ein, und er beließ es bei einer 

bedeutungsschweren Pause. 

»Oder?« fragte Theo besorgt und zuckte zusammen, obwohl sich 

das Schwert an seiner Brust überhaupt nicht bewegt hatte. 

Derweil war Roland eine Idee gekommen. 
»Oder ich sperre euch zu dem Löwen in den Käfig«, bluffte er. 
Theo begann zu zittern, doch Achim blieb gelassen. 
»Dann werden deine Knappen in der Höhle verhungern oder ...»Er 

verstummte, als Roland leise lachte. »Sie sind also in der Höhle«, 
stellte Roland fest. »In Ordnung, Jungs. Den Weg kenne ich. Da 
brauche ich euch gar nicht mehr. Da kann ich euch  glatt dem Löwen 
als Abschiedsgeschenk zurücklassen.« 

Theos Nerven waren nicht die besten. 
»Ich - ich sage alles!« keuchte er. 
Achim hätte sich vor Wut die Zunge abbeißen können, weil er sich 

verplappert hatte. Und offenbar kannte er sich nicht mit Rittern aus 
und traute Roland solch üble Tat zu. 

Er wollte nicht zu dem Löwen gesperrt werden, doch er wollte 

auch nicht plaudern. 

So sprang er auf und hatte vor zu fliehen. 
Doch er kam nicht weit. Ritter Roland holte ihn nach ein paar 

Schritten ein und schlug ihn nieder. 

Mit dem ohnmächtigen Räuber über der Schulter kehrte er zu Theo 

zurück. 

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Theo hielt sein Wort und erwies sich als sehr gesprächig. 
Er verriet sogar, daß es einen zweiten Zugang zu der Höhle gab, 

den Meinhardt als »Notausstieg« angelegt hatte. 

Die Befreiung der Knappen müßte eigentlich kinderleicht sein, 

dachte Roland zufrieden, als alle seine Fragen beantwortet waren. 

Der Wachtposten am Zugang der Höhle wurde von einem Niesen aus 
dem Schlummer gerissen. 

Ritter Roland verharrte und unterdrückte einen Fluch. Einer der 

Männer, die er als Helfer mitgenommen hatte, war erkältet. 
Ausgerechnet jetzt mußte der Kerl niesen! 

Der Wachtposten ergriff seine Lanze und starrte angespannt in die 

Dunkelheit. 

Jetzt war alles still. 
Roland wartete noch eine Weile, bis sich die Haltung des Räubers 

entspannte. Dann schlich er vorsichtig weiter. 

Noch vier Schritte. 
Etwas raschelte seitlich von ihm zwischen den Büschen. Diesmal 

war es keine Panne der Helfer. Eine Maus oder irgendein anderes 
Tier machte sich davon. 

Der Räuber packte seine Lanze fester und sprang auf. Mondschein 

fiel auf das Gesicht des Mannes. Roland hatte das Gefühl, der Räuber 
starre ihm direkt in die Augen. 

Er atmete auf, als der Räuber die Lanze sinken ließ, den Kopf 

schüttelte und sich wieder bequem hinsetzte. 

Hoffentlich verhielt sich jetzt der erkältete Polizist ruhig! 
Roland wartete noch eine Weile, bis der Räuber gähnte und sein 

Kopf auf die Brust sank. 

Der Mann schreckte noch einmal auf, doch da war Roland schon 

heran und schlug ihn nieder. Er fing die erschlaffende Gestalt auf 
und ließ sie zu Boden gleiten. 

Dann imitierte er einen Käuzchenschrei. Das Signal für die 

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anderen. 

Gestalten tauchten aus dem Dunkel auf. 
Es waren zwei Polizisten und vier Freiwillige aus Kötzting. Roland 

hatte dort die Räuber Achim, Theo und Wenzel abgeliefert. Die 
Leichen von Elisabeth und Barnabas waren inzwischen begraben 
worden, und der Löwe und die anderen Katzen hatten Interessenten 
in Kötzting gefunden. 

Roland gab den Männern einen Wink. Einer kümmerte sich um 

den bewußtlosen Räuber. Roland und die anderen schlichen in die 
Höhle. 

Mitternacht war längst vorüber, und die Räuber schliefen, als 

hätten sie ein reines Gewissen. 

Ritter Roland befreite zuerst Louis und Pierre, die an der Felswand 

angekettet waren und im Stehen eingenickt waren. 

Im rötlichen Schein des niedergebrannten Feuers sah Roland, wie 

mitgenommen seine Knappen aussahen. 

Pierre sank Roland fast in die Arme. »Am Morgen wollten sie uns 

umbringen«, flüsterte er mit erstickter Stimme. 

»Schnappen wir uns die Hundesöhne«, raunte Louis und rieb sich 

die schmerzenden Gelenke. 

Louis ergänzte schnell die Informationen, die Roland von Theo 

erhalten hatte. Im Flüsterton gab Roland dann seine Befehle. 

Männer schlichen wie gespenstische Schatten zu den Kavernen, 

um die Räuber im Schlaf zu überraschen. 

Roland und die Knappen pirschten sich auf Zehenspitzen zu 

Meinhardts Lager. 

Roland  zog vorsichtig den dicken Vorhang zur Seite. Ein Talglicht 

in einer Halterung an der Felswand spendete nur spärliches Licht. 

Meinhardt lag auf dem Bauch, und neben ihm schnarchte 

Hildegard leise auf dem Lager. 

Beide waren unter der dünnen Decke nackt. 
Roland hob die Hand mit dem Schwert und wollte sich in 

Bewegung setzen. 

»Haaaatschiii!« 

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Das Niesen schien ohrenbetäubend durch die Höhle zu hallen. 
In diesem Augenblick wünschte Roland den erkälteten Polizisten 

in den finsterten Winkel der Hölle. 

Meinhardt schreckte aus dem Schlaf. Sein Kopf ruckte zu Roland 

herum. Und der Räuberhauptmann reagierte schnell und kaltblütig. 
Er war es gewohnt, stets mit Gefahr zu rechnen, denn seit dem Mord 
an dem Schlachtermeister lebte er ständig auf der Flucht. 

Die Ereignisse überstürzten sich. Hildegard wachte ebenfalls auf. 

Sie fuhr auf dem Lager hoch und starrte Roland aus geweiteten 
Augen an. 

Sie war ein großes, üppiges Frauenzimmer, blond und mit 

schweren Brüsten, doch Roland hatte keinen Blick für die Reize des 
Räuberliebchens. 

Das Echo des »Hatschis« war noch nicht ganz verklungen, als 

Roland schon in die Kaverne sprang. 

Hildegard schrie, irgendwo in der Höhle brüllte ein Mann, und 

trotz des Lärms und Rolands Anspannung ärgerte er sich noch über 
einige muntere »Hatschis« des erkälteten Polizisten, der die Gefahr 
heraufbeschworen hatte. 

Roland war noch drei Schritte vom Lager entfernt, als Meinhardt 

aufsprang. 

Der Räuber hielt sein Schlachtermesser in der Hand. Er holte damit 

aus. 

Roland verharrte mitten im Sprung. 
Meinhardt warf das Beil! 
»Vorsicht!« schrie Roland, denn er wußte ja die Knappen hinter 

sich. Zugleich ließ er sich fallen. 

Das Beil flog über Roland hinweg und klatschte gegen den 

Vorhang.. Zum Glück hatten sich die Knappen geistesgegenwärtig 
aus der Kaverne geworfen. 

Roland verlor keine Sekunde. Der nackte Meinhardt war jetzt 

waffenlos. Roland ließ sein Schwert fallen und hechtete auf den 
Räuber zu. 

Er riß Meinhardt um. Sie prallten aufs Lager. Erschrocken wich 

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Hildegard zurück bis zur Felswand. 

Meinhardt stieß mit dem Knie nach Roland. Die Hände des 

Verbrechers preßten sich um Rolands Kehle und schnürten ihm die 
Luft ab. Doch so hatte der Räuber keine Hand frei, um Rolands 
Fausthiebe abzublocken. 

Roland traf ihn mit der geballten Rechten. Der Druck um seinen 

Hals ließ nach. 

Ritter Roland setzte mit einem Aufwärtshaken nach, und diesmal 

erwischte er den Verbrecher genau. 

Louis war auf einmal neben Meinhardt. Der Knappe hatte den 

Tonkrug ergriffen, der neben dem Lager stand, und er schlug ihn 
Meinhardt auf den Schädel, bevor Roland sagen konnte, daß das 
nicht mehr nötig war. 

Der Krug zerbarst, und es spritzte, denn er war mit Met gefüllt 

gewesen. Roland bekam einige Spritzer ab und auch Hildegard blieb 
nicht verschont. 

Roland wälzte sich von dem bewußtlosen Räuberhauptmann fort 

und erhob sich. 

Hildegard starrte entsetzt auf Meinhardt. »Ist er - tot?« 
Louis hatte den Verbrecher untersucht. »Nein«, erwiderte er. »Er 

wird zwar mit einem Brummschädel erwachen, doch bis er am 
Galgen aufgehängt wird, wird er sich wieder erholt haben.« 

»Am Galgen?« Hildegard sah in diesem Augenblick aus, als könne 

sie wirklich nicht bis drei zählen. 

Louis grinste grimmig. 
»Klar. Du wirst dir einen anderen suchen müssen. Aber ich gebe 

dir einen guten Rat  - laß dich nicht mehr mit so einem Verbrecher 
ein.« 

Er tauschte einen Blick mit Roland und raunte ihm zu: »Sie weiß 

zwar von Meinhardts Missetaten, war aber nicht beteiligt. Sie hat 
verhindert, daß ihr Meister uns auf der Stelle mit dem Hackebeil 
tötete. Sie hat uns das  Leben gerettet. Ich meine, wir sollten sie 
laufenlassen.« 

Roland nickte. »Sie hat mich und Elisabeth befreit  - wenn auch 

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nicht ganz uneigennützig.« 

Er warf einen Blick zu Hildegard, die auf dem Lager hockte, 

verständnislos starrte und gar nicht daran dachte, ihre Blößen zu 
bedecken. 

Louis und Pierre fesselten Meinhardt. 
Einer der Polizisten tauchte auf. 
»Alles in Ordnung«, sagte er stolz. »Wir haben die Kerle 

überrascht. Es gab nur einen Verletzten. Haha ...« Es klang, als setzte 
er zu einem Lachen an. Doch dann folgte ein feuchtes »Hahatschiii!« 
Und jetzt erkannte Roland im Halbdunkel, daß es der Unglückswurm 
von Nieser war. 

»Mann, auf dich hätten wir verzichten sollen«, sagte Roland mit 

mühsam unterdrücktem Zorn. »Deine Nieserei hätte uns fast das 
Leben gekostet.« 

Der Ordnungshüter blickte zerknirscht drein. Doch seine Miene 

hellte sich auf, als er an Roland vorbeipeilte und die nackte Frau 
erblickte. 

»Das ist aber ein praller Räuber«, sagte er mit funkelnden Augen. 
»Kümmer dich um den Abtransport der Kerle und zieh die beiden 

Männer am zweiten Zugang zur Höhle zurück«, sagte Roland. »Und 
glotz nicht, als hättest du noch nie eine Dame gesehen.« Er ärgerte 
sich immer noch über den Nieser. 

Der Polizist mußte seinen Blick  von Hildegard förmlich losreißen. 

Er antwortete mit etwas, das wie »Jawollhatschi« klang. 

Roland blickte zu Hildegard, die immer noch dasaß und 

verständnislos blickte, als hätte sie alles nur geträumt. 

»Zieh dich an«, sagte Roland. »Du könntest dich erkälten, und 

wozu das führt, hast du ja gehört.« 

»Eigentlich könnten wir recht zufrieden sein«, sagte Louis, als sie am 
nächsten Abend in Hohenwarth eintrafen. 

»Wieso nur  eigentlich?«  fragte Pierre verwundert. »Wir haben 

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König Artus' Auftrag erledigt und die Räuber geschnappt, die rings 
um den Schwarzriegel ihr Unwesen trieben.« 

»Gewiß«, erwiderte Louis. »Doch wir konnten nicht den Schmuck 

wiederbeschaffen, den Meinhardts Räuber der Königin raubten. 
Verdammtes Pech, daß einer der Räuber seinem Anführer die 
Klunker klaute und damit auf Nimmerwiedersehen verschwand. 
Ginevra wird recht sauer sein, wenn wir mit leeren Händen 
kommen.« 

»Ein kleiner Schönheitsfehler«, gab Pierre zu. Er blickte zu Ritter 

Roland, der auf dem Ritt ziemlich schweigsam gewesen war. 

»Aber Roland hat weitere Taten zu seinem Ruhm vollbracht. Er hat 

Barnabas, den Schrecken vom Rhein besiegt und mit bloßen Händen 
einen Löwen bezwungen. Ein weiterer Schritt zum Ritter der 
Tafelrunde.« 

Roland lächelte leicht. Die Polizisten und die anderen Helfer aus 

Kötzting hatten da ein Märchen in die Welt gesetzt. 

Roland dachte an die Todesangst, die er im Löwenkäfig 

ausgestanden hatte, an seine Hilflosigkeit und Verzweiflung. 

Sicher, es war für ihn alles gut ausgegangen, doch als bravouröse 

Ruhmestat wollte er dieses Abenteuer nicht ganz gelten lassen. 

»Ich hatte einfach Glück«, bekannte er. 
»Das Glück des Tüchtigen«, brummte Louis. »Teufel, da hat 

Volker vom Hohentwiel wieder einen prächtigen Stoff für eine 
Ballade.« 

Roland lächelte. Er nahm sich vor, seinem Freund Volker, dem 

berühmten Minnesänger, zu erzählen, wie sich alles tatsächlich 
abgespielt hatte. Er würde ihn bitten, auf eine Ballade über dieses 
Abenteuer zu verzichten. 

Es machte sich nicht gut, wenn bekannt wurde, daß der ruhmreiche 

Ritter Roland auf Elisabeth, diese schone Katze, hereingefallen war 
wie ein verliebter Jüngling. Dann war er von Räubern betäubt und 
zweimal gefangengenommen worden. Ein Räuberliebchen hatte ihm 
geholfen, und dann war er schließlich voller Angst im Löwenkäfig 
gelandet. Statt sich in Todesverachtung tollkühn der Raubkatze 

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entgegenzuwerfen, hatte er in seiner Verzweiflung den größten 
Hüpfer seines Lebens gemacht. 

Es war besser, über dieses Abenteuer den Mantel des Schweigens 

zu hüllen. 

»Mann, habe ich Durst«, sagte Louis, als sie die Pferde vor 

Sebastians Herberge und Schenke zügelten. 

»Mir tun alle Knochen weh«, bemerkte Pierre beim Absitzen. 
Ritter Roland dachte an die beiden Annas. »Da weiß ich ein 

vortreffliches Rezept: Ein Bad bei Anna mit anschließender 
Massage.« 

Er zwinkerte den Knappen vergnügt zu. 
Er dachte amüsiert an die Gesichter seiner Knappen, wenn sie 

Anna der Gewaltigen ausgeliefert sein würden. 

Roland versetzte die Knappen mit schwärmenden Worten über 

Annas Schönheit und ihre zarten sanften Händchen in Begeisterung 
und spendierte ihnen dann den Preis für die Behandlung. 

Nach einem schnellen Bier im Wirtshaus begaben sich Louis und 

Pierre voller Vorfreude zu Annas Badehaus. 

Anna, die Hübsche empfing sie, und ihre  Wangen glühten, als die 

Knappen Grüße von Roland ausrichteten, der ein wenig später 
kommen wollte. 

Louis war als erster an der Reihe. 
Er grinste wie ein Faun, als er frisch gebadet, aber wie erschlagen 

nach Annas Massage das Bad verließ. 

»Die zarte Dame läßt bitten«, sagte er und zwinkerte Pierre zu. 

»Wahrlich, ein Vergnügen, das du so schnell nicht vergessen wirst.« 

Eine Stunde später gesellte sich ein recht verstörter und zorniger 

Pierre zu Louis, der in der Schenke zechte. 

»Du hättest mich warnen sollen!« beschwerte er sich. »Mensch, ich 

dachte, dieses Riesenweib verbiegt mir die Figur.« Er schüttelte sich. 
»Ich war heilfroh, als sie mich in Ruhe ließ.« 

Erschöpft sank er auf einen Stuhl. 
»Wo ist eigentlich Roland?« 
Louis grinste. »Bestimmt nicht bei Anna. Der lacht sich bestimmt 

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einen Ast, weil er uns reingelegt hat. Ah, da kommt er ja. Sieh nur 
wie er grinst.« Er senkte die Stimme. »Wir sagen einfach, wir wären 
bei der jungen Bademaus gewesen. Da wird er sich ärgern.« 

Und so schwärmten die Knappen Roland vor, wie vortrefflich und 

mit zarter Hand sie von der schönen Anna massiert worden seien. 

Lauernd betrachteten sie Roland, dessen Augen blitzten und der 

strahlender Laune war. 

Roland genoß es, wie die beiden sich bemühten, ihn nach Strich 

und Faden zu beschwindeln. 

Er sagte nicht, daß er die Wahrheit wußte. 
Sie konnten nicht bei Anna der Hübschen gewesen sein. 
Denn da war er gewesen, während Anna die Gewaltige seine 

Knappen durchgewalkt hatte. 

ENDE

 

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»Bald haben wir es geschafft«, sagte Edmar und ließ die Peitsche 
knallen. Der Frachtwagen rumpelte die Steigung hinauf in den 
Bergpaß. »Heute abend feiere ich Wiedersehen mit der heißen 
Gerlinde. Hei, das wird ein Fest der Freude.« - Mitten im nächsten 
Satz stockte Edmar plötzlich. Ein Pfeil hatte ihn mitten in die 
Brust getroffen. Blutige Schleier wallten plötzlich vor seinen 
Augen.  »Wir wissen genau, was ihr befördert!« rief eine rauhe 
Stimme. »Los, Jungs, holen wir uns die Waffen!« 

Verrat! 

dachte Edmar noch. Dann wurde es still um ihn ... 

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