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Überfall im 

Morgengrauen 

von Joachim Honnef 

scanned by : horseman 

kleser: Larentia 

Version 1.0 

Gebannt lauschten die Anwesenden im Rittersaal von 
Schloß Camelot. Volker vom Hohentwiel, der berühmte 
Minnesänger, gab seine neue Ballade zum besten. Die 
Ballade von Hektor, dem Tyrann. 

Es war eine Mär von Frevel und Mord, von Verrat, Blut 

und Schrecken - aber auch von Sinnenfreuden. 

Sie handelte von dem Hünen Wolfram mit dem 

Morgenstern, der keine Gnade kannte. Von Räuber Botho, 

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der auf gar schreckliche Weise zum Ritter geschlagen 
wurde. Von der finsteren Höllenklamm mit ihrem so 
grauenvollen Geheimnis. 

Von Prinzessin Charlotte und dem rätselhaften 

Verschwinden ihrer Mitgift. 

Und von Hektors grausamer Rache ... 

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Volkers Ballade riß die Zuhörer zwischen Entsetzen und Entzücken 
hin und her. Selbst Rittern und Junkern lief ein eisiger Schauer über 
den Rücken, als Volker vortrug, wie Ritter Roland blutüberströmt im 
dunklen Tann lag und einen Blick in die Hölle tat. 

Ein anderer Schauer ließ manch Busen der Jungfern und Damen 

erbeben, als Volker berichtete, wie Ritter Roland gegen Räuber und 
böse Trolle kämpfte, kühn und – nackt ... 

Es war eine unglaublich prickelnde Mär. Doch wer Volker vom 

Hohentwiel kannte, der wußte, daß er die Wahrheit zum Besten gab. 

Als Volker den letzten Akkord zupfte, entlud sich die atemlose 

Spannung in begeistertem Applaus und Hochrufen. 

Auch König Artus erhob sich und spendete heftigen Beifall. Er war 

zutiefst bewegt. Und ein bißchen dankbar. Denn Volker hatte taktvoll 
verschwiegen, welch riskanter Plan des Königs und welch kleine 
Fehler zu all dem Schrecken geführt hatten. 

Er lächelte Volker an. 
Volker ahnte, was König Artus beschäftigte, und er lächelte 

zurück. Und er dachte: Nun, auch Könige sind nur Menschen und 
können mal einen Fehler begehen. Aber man muß es ja nicht gleich 
an die große Glocke hängen, oder? 

Das begeisterte Publikum forderte eine Zugabe. Volkers schwarze 

Augen funkelten feurig, als er den Damen zulächelte. Besonders 
Christhilde, der neuen Zofe, die ihn anhimmelte und deren braune 
Augen so glücklich strahlten. 

Nun, auch sie hatte eine Rolle in diesem turbulenten Abenteuer 

gespielt. Und Volker reimte schnell noch einen Vers zu ihrem 
Wohlgefallen ... 

Es war ein gar friedliches Bild. 

Die Morgensonne blinzelte hinter einer Schäfchenwolke hervor 

und erhaschte einen Blick auf die Kutsche, die über den grünen 
Waldweg rumpelte. Ein Kuckuck beschwerte sich über die Störung, 

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und eines der Gespannpferde antwortete mit einem Wiehern, das fast 
wie eine Imitation des Kuckucksschreis klang  - wenn man ein 
bißchen Phantasie besaß. 

Benno, der Kutscher, besaß keine Phantasie. Er ließ die Peitsche 

knallen und spuckte aus. Er verfehlte den Schweif des wiehernden 
Rosses und ärgerte sich. 

Er war in der Stimmung, sich über alles und jedes zu ärgern.  Er 

war nervös. Seit Beginn der Reise hatte ihn das Gefühl des 
Unbehagens nicht mehr losgelassen. 

Helmine, diese verdammte Hexe! 
Helmine war seine Frau, sie hatte ihm mit ihrem abergläubischen 

Geschwätz die ganze Fahrt verdorben. 

Besorgt blickte Benno zum  Himmel. Er sah das Morgengrauen und 

überlegte. Nichts, aber auch gar nichts wies auf das drohende Unheil 
hin, das Helmine prophezeit hatte. Blitz und Donner sollten Benno 
treffen, wenn Helmines Wahrsagerei stimmte. Aber wann war jemals 
eine ihrer Prophezeiungen eingetroffen? 

Blitz und Donner an diesem herrlichen Morgen! Weibergewäsch! 
Er hätte Helmine niemals heiraten sollen. Wie eine Elfe war sie 

gewesen, als er sie vor sieben Jahren geehelicht hatte. Jetzt war sie 
ein draller Drachen, der ständig herumnörgelte, in die gläserne Kugel 
starrte und aus der Sauermilch die Zukunft weissagte  - meistens eine 
äußerst düstere. Wie diesmal. 

Benno seufzte. 
Unbewußt tastete er zur Tasche seines Kamisols. Das Beutelchen 

mit Teufelskralle, Pestwurzel und geriebenem Höllenstein war an 
seinem Platz. Zum Schutz gegen die bösen Geister, hatte Helmine 
beteuert. Hält Blitz und Donner von dir fern. So ein abergläubischer 
Unfug! Typisch Helmine. 

Aber Benno war doch froh, daß er das Zaubermittel dabei hatte. Er 

war weiß Gott  nicht abergläubisch, aber man konnte nicht vorsichtig 
genug sein, oder? 

»Ich glaube, es gibt ein Gewitter«, sagte der alte Thadeus, der 

neben Benno auf dem Kutschbock saß. 

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Benno erschrak. Jäh verstärkte sich das Gefühl des Unbehagens, 

und Benno glaubte schon, Blitz und Donner würden über ihn 
hereinbrechen. 

»Du beliebst wohl zu scherzen«, sagte er mürrisch. 
Der alte Thadeus schüttelte den Kopf. »Ich spüre es in allen 

Knochen.« Er tastete an seine Beine und die Ellenbogen. 

»Das ist die Gicht«, erwiderte Benno verdrossen. »Und die kommt 

daher, weil du immer soviel Met säufst.« 

Thadeus grinste, und sämtliche Fältchen und Runzeln in seinem 

rosigen Gesicht verzogen sich. 

»Auf meine Knochen ist Verlaß«, erklärte er. »Wir können ja 

wetten. Eine Metz Met, daß es bis Falkenried ein Unwetter gibt. He, 
da donnert es ja schon im Norden!« 

Benno blickte zum Himmel. Er lauschte angestrengt. Außer dem 

Rasseln der Wagenräder und dem Stampfen der Pferdehufe konnte er 
nichts vernehmen. 

»Ich höre nichts«, brummte er und bedachte Thadeus mit einem 

mißmutigen Blick. 

Thadeus neigte den Kopf und hielt eine Hand ans Ohr. Trotz seines 

Alters besaß er ein scharfes Gehör, und in froher Runde pflegte er bei 
den Mägden zu scherzen, daß dies nicht das einzig scharfe an ihm 
sei. 

»Da ist es wieder«, behauptete er. Hörst du nicht das dumpfe 

Grollen?« 

So sehr Benno sich auch bemühte, er hörte nichts, was vielleicht 

auch daran lag, daß seine dichten Haare über die Ohren fielen. 

»Du hast wohl einen Furz gelassen«, bemerkte er bissig. 
Dann schnüffelte er. Der sanfte Wind trug in der Tat einen äußerst 

würzigen Duft heran. 

»Ich nicht«, antwortete Thadeus und blickte voraus. »Allenfalls der 

Ritter und seine Knappen.« 

Benno schaute zu dem Hügel, hinter dem die drei Reiter 

verschwunden waren, die der Kutsche als Begleitschutz vorausritten. 

»Ritter furzen nicht«, sagte Benno tadelnd. »Allenfalls ganz 

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vornehm und leise.« 

Thadeus kicherte. 
»Ritter sind auf dem Donnerbalken Menschen wie du und ich«, 

bemerkte er weise und spähte zu dem Wäldchen hin, durch den der 
Wagenweg führte. »Allerdings finde ich es seltsam, daß sie dabei 
blöken wie ...« 

»Schafe!« rief Benno überrascht. 
Jetzt sahen sie es. Eine Schafherde brach von irgendeiner Lichtung 

oder einem Waldweg hervor. 

Siehst du Schäfchen zur Linken, wird Freude dir winken, dachte 

Benno, als er die Kutsche in das Waldstück hineinlenkte. Helmines 
Leib- und Magenspruch. 

Dann fluchte er. 
Die Schafe versperrten den Weg. Immer mehr quollen zwischen 

den Büschen und Bäumen hervor, und ihr Blöken erfüllte die Luft. 

»Hinfort mit euch, ihr blöden Schafe!« brüllte Benno und ließ die 

Peitsche knallen. 

Die Schafe hörten nicht auf ihn. Irgendein Hammel hatte sie auf 

den falschen Weg geführt, und sie bildeten eine blökende Mauer vor 
der heranrollenden Kutsche. 

Benno spielte mit dem Gedanken, einfach weiterzufahren. Wenn 

der Schäfer so schafsdämlich war und nicht aufpassen konnte, dann 
brauchte er sich nicht zu wundern, wenn seine Herde etwas unsanft 
geschoren wurde.  Schließlich gab es im weiten Frankenwald genug 
Platz für Tausende von Schafen. Sie brauchten sich nicht 
ausgerechnet auf dem Kutschweg nach Falkenried zu tummeln. 

Die Wollviecher glotzten ihn blöde an. Benno hatte das Gefühl, 

von hunderten Augenpaaren angestarrt zu werden, und in dem Blick 
des Leithammels glaubte er so etwas wie eine stumme Bitte zu 
erkennen. 

Da besann sich Benno auf seine Tierliebe und zügelte das 

Gespann. 

Die Kutsche hielt. Keine zehn Klafter vor der Herde blieb sie mit 

einem Ruck stehen. 

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Sand und Staub wirbelten empor. Das Blöken der Schafe klang für 

Benno wie eine Danksagung. 

»Weshalb halten wir?« rief eine helle Frauenstimme aus der 

Kutsche. Es war Prinzessin Charlotte, die auf Burg Falkenried mit 
Siegmund von Falkenried vermählt werden sollte. Sie war ein 
hübsches Frauenzimmer, blond, blauäugig und von sehr anmutiger 
Gestalt. 

»Schafe!« rief Benno gegen das Blöken der Herde an. 
»Schafe«, erklärte in der Kutsche Volker vom Hohentwiel den 

beiden Damen, mit denen er galant geplaudert und zur gefälligen 
Kurzweil einige seiner Balladen vorgetragen hatte. 

»Man riecht es«, sagte die Frau, die Charlotte gegenüber saß und 

rümpfte die etwas zu große Nase. Sie hieß Margot und war im 
Gegensatz zu Charlotte von etwas herberem Reiz. Man mußte schon 
zweimal hinblicken, um ihre Schönheit zu bemerken. Sie hatte große, 
dunkelbraune Augen und schwarzes Haar. Vor einiger Zeit war sie 
noch sehr schlank gewesen, am Oberkörper etwas zu schlank, 
worunter sie sehr litt und weshalb sie Charlotte manchmal beneidete. 
Doch irgendein Galan mußte ihre inneren Werte erkannt haben. 
Denn sie war schwanger. Im achten Monat, hatte sie dem besorgten 
Benno erklärt, der schon befürchtet hatte, sie könnte während der 
Fahrt niederkommen. 

Volker bedachte sie mit einem charmanten Lächeln. 
Dann gellte der Schrei, und das Lächeln des Minnesängers erstarb. 
Es war ein markerschütternder Schrei, der ihm und den Frauen 

einen Schauer des Entsetzens über die Wirbelsäule jagte. 

Roland zügelte das Pferd, als er die Schafherde etwa  zweihundert 
Klafter hinter der Wegbiegung erblickte. 

Pierre und Louis, die beiden Knappen, hielten neben ihm an. 
»Alle Wetter«, rief Louis und grinste Pierre an, »hätte nicht 

gedacht, hier im Frankenwald alle deine Verwandten zu treffen.« 

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Die Augen des ehemaligen Räuberhauptmannes funkelten lustig. 
Der mollige Pierre verzog das Gesicht. Ihm behagte der lange Ritt 

ganz und gar nicht. Er wäre lieber in der Kutsche mitgefahren, bei 
den feinen Damen, anstatt Stunde um Stunde im Sattel zu hocken, 
daß ihm schon der Hintern weh tat. 

»Jetzt weiß ich auch, woher der Gestank kommt«, erwiderte Pierre. 

»Dachte schon, du hättest nach Bohnen und Met unten unfein 
ausgeatmet.« 

Roland parierte das graue Roß, das Schwerenöter hieß, obwohl es 

ein Wallach war. Der Graue hatte mal wieder versucht, Pierres Stute 
zu beißen. Roland hatte sich das Pferd für den Weg nach Falkenried 
ausgeliehen, um seinem arabischen Vollbluthengst Samum 
Gelegenheit zu geben, einige Stuten auf Camelot zu beglücken. Der 
Graue war nicht so gut wie Samum und ziemlich eigenwillig, doch 
Roland hatte sich schon an ihn gewöhnt. 

»Pierre, Louis«, sagte er zu seinen Knappen. »Seht mal nach dem 

Schäfer. Die Herde muß vom Weg!« 

Louis trieb sofort sein Pferd an. Pierre folgte ihm. 
Roland blickte zurück. Die Kutsche war nicht fern. Er wollte einen 

unnötigen Aufenthalt vermeiden. Es war ein heißer Augusttag, und 
die lange Fahrt war für die schwangere Margot bereits beschwerlich . 
genug. Und Charlotte wollte so schnell wie möglich in Falkenried 
sein. Sie konnte es kaum erwarten, ihren Zukünftigen zu sehen. 

Nun, das konnte Roland nur zu gut verstehen, und er hatte 

versprochen, sie schnell und sicher nach Falkenried zu bringen. 

Die Knappen waren noch keine fünfzig Klafter von ihm entfernt, 

als es geschah. 

Pierres Stute wieherte und brach zusammen. 
Rolands Kopf ruckte herum. 
Er sah, wie Pierre in zwar hohem Bogen doch wenig elegant vom 

Pferd stürzte. Der Knappe prallte auf dem sandigen Weg auf, 
rutschte noch ein Stück weiter und blieb liegen. Roland stockte der 
Atem. Erleichtert sah er dann, daß Pierre sich aufsetzte, sich 
umblickte und irgend etwas sagte, was Roland wegen der Entfernung 

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nicht verstehen konnte. Aber er konnte sich denken, was es war. 
Vermutlich ein saftiger Fluch oder der Stoßseufzer: »War' ich doch 
nur auf Camelot geblieben!« 

Der ehemalige Page sehnte sich oft nach dem bequemen Leben 

zurück, das er gegen ein abenteuerliches als Knappe eingetauscht 
hatte. 

Ein Unfall, dachte Roland. Das Pferd mußte in ein verstecktes 

Loch getreten sein und  sich etwas gebrochen haben, denn das arme 
Tier versuchte vergebens, sich wieder hochzukämpfen. 

Doch dann weiteten sich Rolands Augen. 
Denn auch Louis' Pferd brach zusammen. 
Louis riß geistesgegenwärtig die Füße aus den Steigbügeln und 

schnellte sich seitlich aus dem Sattel, bevor das stürzende Tier 
aufprallte. Geschickt rollte Louis sich ab. 

In diesem Augenblick tauchten links und rechts des Weges zwei 

bärtige Gesellen auf. Schwerterklingen blitzten in der Sonne. 

Wegelagerer! durchfuhr es Roland. 
Sofort  trieb er den Wallach zum Galopp und zog sein Schwert. Die 

Knappen brauchten Hilfe. 

Louis war bereits wieder auf den Beinen. Er stellte sich einem der 

beiden Kerle zum Kampf. Grimmig kreuzte er mit ihm die Klinge 
und trieb den Halunken mit wuchtigen Hieben zurück. 

Pierre war noch vom Sturz benommen. 
Roland preschte in gestrecktem Galopp auf den Kampfplatz zu. 
Euch Gesindel werde ich's zeigen! dachte er grimmig und hob die 

Hand mit dem Schwert. 

Der Wallach flog förmlich auf den zweiten Wegelagerer zu, der 

Pierre überwältigen wollte. 

Aus voller Karriere hieb Roland zu. Mit einem Aufschrei ließ der 

bärtige Gesell sein Schwert fallen und sank zu Boden. 

Roland parierte bereits den Wallach. In diesem Augenblick hörte 

er ein Sirren, dann glaubte er einen Peitschenhieb gegen die Stirn zu 
bekommen. Er hatte das Gefühl, von einer unsichtbaren Faust aus 
dem Sattel geschleudert zu werden und glaubte in einen 

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pechschwarzen Abgrund zu fallen. Er spürte nicht mehr, wie er vom 
zusammenbrechenden Pferd stürzte und zu Boden schlug. 

Louis kämpfte derweil mit wilder Entschlossenheit. Funken stieben 

von der Klinge, und das Schmettern der Schwerter hallte über den 
Waldweg. Fast hatte Louis den Gegner bis an die Bäume am Rande 
des Weges getrieben. Da hörte er eine rauhe Stimme rufen: »Ergib 
dich, oder dein Freund stirbt!« 

Und aus den Augenwinkeln heraus sah er, daß ein weiterer 

Wegelagerer Pierre ein Schwert an die Kehle hielt. 

Louis erschrak. Einen Lidschlag lang war er abgelenkt, und sein 

Gegner nutzte die Chance. Er hieb Louis das Schwert aus der Hand. 

Louis hätte trotzdem weiter gekämpft. Mit seinem Messer oder mit 

bloßen Fäusten gegen das Schwert, wenn es nicht anders gegangen 
wäre. Doch Pierres Leben war in Gefahr. 

So verharrte Louis mitten in seiner Bewegung und hob die Hände. 
Verdammtes Räuberpack! dachte der ehemalige Räuberhauptmann 

voller Zorn. 

Er schaute sich um und erkannte, daß alle Gegenwehr ohnehin 

nichts genutzt hätte. Fast ein Dutzend finstere Gestalten  sprangen 
zwischen Büschen und Baumstämmen hervor, und ein Mann mit 
Pfeil und Bogen kletterte von einer Buche, auf der er verborgen vom 
Blätterdach gelauert hatte. 

Im Nu waren Louis und Pierre umringt. 
Louis sah Pierres entsetzte Miene. Kein Wunder, dachte Louis. Mit 

einer Klinge an der Kehle ist keinem zum Lachen zumute. Pierre war 
leichenblaß. Seine Augen waren weit aufgerissen und das Grauen 
spiegelte sich darin. Der Mund war wie zu einem Schrei geöffnet, die 
Lippen zitterten. Doch Pierre starrte nicht  auf das Schwert oder den 
Mann, der ihn bedrohte. 

Louis folgte Pierres Blickrichtung, und dann hatte er das Gefühl, 

mit einem Schmiedehammer geschlagen worden zu sein. 

Es war kein Schmiedehammer, sondern eine Keule. Doch das 

erfuhr Louis erst später. 

Auch  ihn hatte bei dem Anblick das Grauen gepackt. Er hatte 

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erkannt, weshalb Pierre so entsetzt gestarrt hatte. Nicht aus Angst um 
sein Leben. Aus Angst um seinen Ritter! 

Denn Ritter Roland lag am Boden, mit blutüberströmtem Gesicht. 
Tot! dachte Louis noch, dann fiel er ohnmächtig vornüber. 
Auch Pierre wurde mit einer Keule niedergeschlagen. 
Der Anführer der wilden Horde gab mit ruhiger Stimme Befehle. 

Geschwind trugen jeweils zwei Männer die bewußtlosen Knappen 
zwischen die Büsche am Wegesrand. 

Der Anführer trat zu Roland, drehte ihn mit der Stiefelspitze weiter 

herum und starrte auf ihn hinab. 

»Dem ist nicht mehr zu helfen«, sagte er finster. »Warum wollte er 

auch den Helden spielen?« 

Er winkte zwei seiner Männer heran. »Laßt ihn im Wald 

verschwinden.« 

Er hob lauschend den Kopf, als er den Kuckucksruf hörte. 
»Beeilt euch«, rief er. »Die Kutsche ist gleich da!« 

Derweil hielt Benno nach dem Schäfer Ausschau. Er sah eine Gestalt 
im Dunkel zwischen den Baumstämmen am Wegesrand, nahm eine 
huschende Bewegung wahr, und er wollte gerade dem Schäfer die 
Meinung sagen, als ihn der Pfeil traf. 

Benno verspürte einen Schlag gegen die Brust und hatte das 

Gefühl, gegen den Sitz geschleudert zu werden. Dann stachen 
Schmerzen durch Bennos Brust, und er glaubte, etwas in seinem 
Innern sei zerrissen. Rote Schleier wallten vor seinen Augen. Er 
wollte schreien, doch er brachte kein Wort hervor, nur ein Röcheln. 
Er konnte sich auf einmal nicht mehr bewegen. Alles um ihn begann 
sich zu drehen, und die Schmerzen brandeten wie eine  Flutwoge über 
ihn hinweg. Er glaubte zu stürzen, doch er fiel nicht vom 
Kutschbock. Der Pfeil hatte ihn gegen den Sitz gespießt. 

Er sah nicht die finsteren Gestalten, die jetzt links und rechts 

zwischen Büschen und Bäumen hervorsprangen. Schwerter blitzten 

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in der Sonne, und für Benno war es, als zuckten feurige Blitze auf 
ihn zu. 

Helmine hat recht gehabt, dachte er. Ich habe es geahnt, daß sie 

irgendwann einmal tatsächlich das Richtige weissagt. Blitz und 
Donner sind da, wie aus heiterem Himmel! Und weder  Ritter Roland 
noch das Zaubermittel haben mich davor bewahren können. 

Er tastete zu dem Beutelchen in der Tasche seines Kamisols. Seine 

Hand war plötzlich naß. Er blickte an sich hinab. 

Alles war rotdunkelrot. Und irgend etwas steckte in seiner Brust. 
Helmine ... 
Wie aus weiter Ferne hörte er einen Schrei. Dann verdunkelte sich 

der blutrote Schleier vor seinen Augen und von einem Augenblick 
zum ändern war alles schwarz und totenstill. 

Thadeus sah seinen Freund Benno zusammenzucken und hörte ihn 

röcheln. Voller Entsetzen starrte er auf den Pfeil in Bennos Brust, 
fassungslos, vor Schreck wie betäubt. Dann zuckte sein Blick in die 
Runde, und er sah die finsteren Gestalten, die auf die Kutsche 
zustürmten, sah wilde, bärtige Gesichter und funkelnde Schwerter. 
Es war wie in einem bösen Traum. 

Thadeus reckte zitternd die Hände hoch. Er wollte um Gnade 

flehen, doch er kam nicht mehr dazu. Einer aus der wilden Horde 
sprang auf das vordere Wagenrad und schwang einen Morgenstern. 

Thadeus schrie in seiner Todesangst, Dann traf ihn der 

Morgenstern, und der Schrei brach jäh ab. 

Thadeus spürte nicht mehr, wie er vom Kutschbock stürzte und auf 

den Waldweg prallte. Eines der Schafe, das vor den wilden Gesellen 
fortgelaufen und hinter die Kutsche gelangt war, floh in den Wald. 

Indessen war Volker vom Hohentwiel aus der Kutsche gesprungen. 

Er zückte sein Schwert. Er hatte nur Thadeus' gellenden Schrei 
gehört und wußte nicht genau, was geschehen war. Er glaubte nicht 
so recht an einen Überfall, denn Roland und seine Knappen ritten 
doch voraus und würden jeden Wegelagerer aufspüren oder den 
Kutscher vor Räubern warnen. 

Volker sah den schwarzbärtigen Gesellen mit dem Morgenstern, 

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der gerade vom Wagenrad herabsprang. Er sah das Blut an den 
Zacken der mörderischen Schlagwaffe  und erfaßte die Situation mit 
einem Blick. 

Furchtlos sprang er mit erhobenem Schwert auf den Kerl zu, der 

schon wieder den Morgenstern schwang. Geistesgegenwärtig ließ 
Volker sich fallen. Der Morgenstern krachte gegen die Kutsche. Holz 
splitterte. 

Die Frauen in der Kutsche schrien auf. 
Verzweifelt wollte Volker das Schwert hochreißen. 
Doch da war plötzlich ein anderer Räuber neben ihm und fegte ihm 

mit einem wuchtigen Stiefeltritt das Schwert aus der Hand. Und 
bevor Volker aufspringen konnte, drückte ihm der Räuber die 
Schwertspitze gegen die Brust. 

»Wolfram, du Narr!« fauchte der Mann mit dem Schwert den Kerl 

an, der bereits wieder mit dem Morgenstern ausholte. 

Wolfram verharrte in der Bewegung. Er wurde vom eigenen 

Schwung noch etwas nach vorne gerissen und es sah aus, als verlöre 
er die Balance. Doch er fing sich ab und blieb breitbeinig stehen. Mit 
funkelnden grauen Augen starrte er auf Volker. 

»Er hat mich angegriffen«, murrte er mit einer Stimme, die an ein 

Donnergrollen erinnerte. »Und wenn mich einer angreift...« 

»Wenn du ihn erschlagen hättest, würde Hektor dich vierteilen 

lassen!« unterbrach ihn der andere. 

Wolfram zuckte zusammen. 
»Warum denn das?« fragte er verständnislos. 
»Denk mal nach, du Schwachkopf!« 
Wolfram schien sich zu bemühen. Er war wohl nicht der schnellste 

im Denken, doch dann hatte seine Anstrengung wohl Erfolg, denn 
seine Miene nahm einen betrübten Ausdruck an. Er wirkte plötzlich 
wie ein gescholtener Junge. 

Wäre die Situation nicht so todernst gewesen, hätte Volker vom 

Hohentwiel gewiß gelacht. Denn es war schon komisch, diese beiden 
so ungleichen Kerle gegenüber zu sehen. 

Wolfram war ein wahrer Hüne. Der andere hätte gut und gerne 

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zweieinhalbmal in ihn hineingepaßt. Dabei war er keineswegs klein 
und schmächtig. Aber im Vergleich zu dem Koloß wirkte er wie ein 
kümmerlicher Wicht. 

Doch er führte das Kommando, und Wolfram fügte sich ihm wie 

ein braver Wauwau dem Herrn. 

Der Koloß starrte betreten auf seine Stiefelspitzen. Seine massigen 

behaarten Hände, fast schon Pranken, hielten den Morgenstern wie 
ein Spielzeug. 

Immer noch drückte der Anführer Volker die Schwertspitze gegen 

die Brust. Weitere wilde Gesellen tauchten bei der Kutsche auf. Sie 
waren mit Schwertern und Keulen bewaffnet, und einer von  ihnen 
mit Pfeil und Bogen. Sie durchsuchten die Taschen der Toten nach 
Beute. 

»Schaff die Schafe aus dem Weg!« befahl der Anführer dem Kerl 

mit dem Morgenstern. 

»Tu ich, Botho«, sagte Wolfram eifrig. Er stampfte davon. 
»Ihr transportiert die beiden anderen Schäflein ab!« wandte sich 

Botho an die anderen Männer. Er nickte grinsend zur Kutsche hin. 
Dann schaute er auf Volker hinab. »Und den Hammel hier!« 

Rauhes Gelächter ertönte. 
Volker vom Hohentwiel wußte, daß er keine Chance hatte. Die 

Übermacht war zu groß. Es mochten fast ein Dutzend wilder 
Gesellen sein, die sich inzwischen bei der Kutsche eingefunden 
hatten. Und Botho hielt ihm immer noch das Schwert auf die Brust. 

Was mochte mit Ritter Roland und den Knappen geschehen sein? 
Ein Reiter sprengte heran. Er trug ein leichtes Kettenhemd, das 

voller Blut war. 

»Alles erledigt«, meldete er. »Wir haben zwei geschnappt. 

Scheinen Knappen zu sein.« Er musterte Volker. »Ist das der 
berühmte Ritter?« 

Bothos dünne Lippen verzogen sich zu einem Grinsen. »Das 

werden wir gleich erfahren.« Er stellte einen Fuß auf Volkers Brust 
und hielt ihm das Schwert an die Kehle. 

»Du bist Ritter Roland«, sagte Botho, und es klang völlig 

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überzeugt. 

Verrat! durchfuhr es Volker. Sie wissen genau, daß Roland die 

Kutsche begleitet. Er zögerte mit der Antwort. Seine Gedanken 
jagten sich. Das waren keine Wegelagerer, die eine Kutsche 
überfallen hatten, um Beute zu machen. Sie hatten es auf Ritter 
Roland abgesehen. Aber niemand außer König Artus und Ritter 
Rudolf wußte, daß Roland Prinzessin Charlotte und ihre Zofe Margot 
nach Falkenried geleitete! 

Der eine Räuber hatte berichtet, daß die Knappen in ihrer Gewalt 

seien. Sie mußten in eine Falle geritten sein. Aber wo war Roland? 
War er entkommen? 

»Was wollt ihr von Ritter Roland?« fragte Volker. 
»Ich will wissen, ob du das bist?« entgegnete Botho. Er gab einen 

herrischen Wink und rief: »Wolfram!« 

Der Mann mit dem Morgenstern, der die Schafe verscheucht hatte, 

stampfte heran. 

»Soll ich ihm doch den Schädel einschlagen?« fragte er 

hoffnungsvoll und nahm Maß. 

»Nicht, wenn er zugibt, daß er Roland ist«, sagte Botho. Er nahm 

den Fuß von Volkers Brust, zog das Schwert fort und trat ein paar 
Schritte zurück, um Wolfram Platz zu schaffen. 

Wolfram schwang den Morgenstern. 
Volker sah das Blut an den Eisenzacken und erschauerte. Er 

zögerte keine Sekunde länger. Was blieb ihm anderes übrig, als sich 
für Ritter Roland auszugeben? 

»Ja, ich bin Roland«, sagte er schnell. 
Wolfram blinzelte enttäuscht und hielt in der Bewegung inne. 
Botho nickte zufrieden. »Wir wußten, daß Ihr  in der Kutsche 

wart«, sagte er selbstgefällig. Er betonte die Anrede spöttisch und 
spuckte aus. »Ich wollte nur die Bestätigung.« 

»So ist es immer«, sagte der Reiter mit dem blutigen Kettenhemd 

und lachte. »Die hohen Ritter sitzen bequem auf dem faulen Arsche 
und schäkern mit den Weibern, und die Knappen schicken sie in die 
Gefahr.« 

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»Laß das nicht den Meister Hektor hören«, bemerkte Botho mit 

einem tadelnden Blick. »Es könnte dich den Kopf kosten, Alfons.« 

Dann wandte er sich grinsend an Volker. »Wo sind die Dukaten?« 
»Welche Dukaten?« fragte der Minnesänger, um Zeit zu gewinnen, 

denn er hoffte, daß Roland noch auftauchen und das Blatt wenden 
könnte. 

»Stell dich nicht dümmer als du bist«, sagte Botho, und in seinen 

blaßblauen Augen blitzte es zornig auf. »Ich rede von der Mitgift der 
Prinzessin!« 

Volker war überrascht. Sie wußten von der bevorstehenden 

Hochzeit auf Falkenried! Vielleicht war dort die undichte Stelle. Sie 
vermuteten, daß Charlotte eine Mitgift bei sich hatte. Aber das war 
doch gar nicht der Fall!« 

»Es gibt keine Mitgift«, sagte Volker. »Ihr sollt alle Dukaten 

bekommen, die wir bei uns haben, vielleicht zehn und ein paar 
Silbergroschen, wenn ihr uns weiterfahren ...« 

»Papperlapapp!« unterbrach Botho ihn ärgerlich. »Ich spreche 

nicht von lächerlichen zehn Dukaten und ein paar Silbergroschen. 
Auch nicht von hundert. Sondern von tausend goldigen Eierchen, die 
Ritter Rudolf seiner Tochter mit auf den Weg gab.« 

»Es gibt keine tausend Dukaten. Jemand muß euch einen Bären 

aufgebunden haben. Ihr könnt alles durchsuchen.« 

»Das werden wir auch«, sagte Botho finster. »Und der Allmächtige 

sei euch gnädig, wenn wir die Dukaten nicht finden.« 

Er wandte sich ab und gab den Räubern einen Wink. »Fesseln und 

seine Sachen durchsuchen!« 

»Die Damen auch?« fragte der Kerl mit dem blutigen Kettenhemd 

und schwang sich vom Roß. Er kicherte. 

Botho bedachte ihn mit einem eisigen Blick. »Alfons, willst du, 

daß Hektor dich vierteilen läßt?« 

Alfons' Kichern verstummte abrupt. 
»N-nein«, stotterte er. 
»Dann benimm dich, wie es sich für Ritter Hektors Knappen 

geziemt!« 

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Volker verstand überhaupt nichts mehr. Hatte der Kerl tatsächlich 

Ritter  Hektor gesagt? Und hielten er und seine mordenden 
Spießgesellen sich wirklich für Knappen? 

Das konnte doch nicht wahr sein! 

Das Blöken der Schafe blieb hinter der Kutsche zurück. Die Räuber 
hatten die Herde vom Weg getrieben und Louis und Pierre in die 
Kutsche geworfen. Die Knappen waren ebenso wie Volker vom 
Hohentwiel gefesselt. Pierre war noch bewußtlos. 

Prinzessin Charlotte heftete den Blick ihrer himmelblauen Augen 

auf Pierre. Sie war blaß und verstört. Zofe Margot wirkte im 
Gegensatz zu der blonden Prinzessin erstaunlich gefaßt. 

»Was ist geschehen?« fragte sie Louis und legte die Rechte auf die 

Wölbung ihres Leibes. »Wo ist Ritter Roland?« 

Louis wischte sich über die Augen. Er sah noch einmal seinen 

Ritter blutüberstörmt auf dem Waldweg liegen und glaubte noch 
einmal einen der Räuber auf seine Frage hin sagen zu hören: »Der ist 
hinüber.« Und sein Herz krampfte sich zusammen. Alles in ihm 
weigerte sich, das Unfaßbare zu glauben. Und doch mußte es so sein. 
Wenn Roland lebte, hätten sie ihn genauso mitgenommen wie ihn 
und Pierre. Zu ihrem Herrn, der angeblich ein Ritter sein sollte! 
Louis spürte, wie seine Augen feucht wurden. Er glaubte einen Kloß 
in der Kehle zu haben. Wie konnte er es den Damen und Volker 
schonend beibringen? 

»Nun  - äh  - wir ritten in einen Hinterhalt«, sagte er mit belegter 

Stimme. »Diese Haderlumpen haben den Schäfer getötet, wie ich 
vorhin hörte, und die Herde von der Lichtung aus auf den Weg 
getrieben, um der Kutsche den Weg zu blockieren. Sie töteten unsere 
Pferde mit Pfeilen und griffen uns an. Es ging alles so schnell, und 
wir konnten euch nicht mehr warnen.« 

»Und Roland?« drängte Margot. Ihre sonst so weiche Stimme 

klang angespannt, fast schrill. 

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»Nun  -  äh  - wir kämpften natürlich, aber die Übermacht war zu 

groß. Ich sah noch, wie Ritter Roland vom Pferd stürzte, und dann 
wurde ich hinterrücks niedergeschlagen. Als ich zu mir kam, war ich 
gefesselt, und dann kam schon die Kutsche  - und da bin ich. Roland - 
muß den Lumpen entkommen sein.« 

Charlottes praller Busen hob und senkte sich unter einem schnellen 

Atemzug. Margot atmete ebenfalls auf, doch bei ihr geriet nicht 
allzuviel in Bewegung. Sie blickte aus dem Fenster, und es war, als 
fiele ein Schatten über ihr Gesicht. 

»Sie halten mich für Roland«, sagte Volker vom Hohentwiel. »Der 

Überfall war wohl geplant. Sie rechneten damit, eine Mitgift zu 
erbeuten. Und da es keine gibt, entführen sie uns, vermutlich um ein 
Lösegeld zu erpressen. Gut, daß Roland entkommen ist. Er wird uns 
folgen, und wie ich ihn kenne, wird er sich schon etwas einfallen 
lassen, um uns zu befreien.« 

Es klang sehr optimistisch. 
Margot musterte Louis prüfend. »Ich glaube nicht, daß Ritter 

Roland uns folgen kann«, sagte sie mit schwerer Stimme. 

»Nicht?« fragten Charlotte und Volker wie aus einem Munde. 
Der Blick von Margots großen, braunen Augen ruhte auf Louis. 
»Ich glaube auch nicht, daß uns Knappe Louis die volle Wahrheit 

gesagt hat.« 

Louis fühlte sich äußerst unwohl in seiner Haut. 
Margot blickte aus dem Fenster und nickte leicht. »Einer dieser 

schrecklichen Männer trägt Ritter Rolands Kettenhemd. Und es ist 
voller Blut.« 

Louis schluckte. 
Volker starrte ihn überrascht an. 
Charlotte preßte erschrocken die Hand mit dem Spitzentüchlein 

vor den Mund. 

»Der Mann trägt auch Ritter Rolands Stiefel«, fuhr Margot mit 

leiser Stimme fort. Ihr Blick schien bis in die Tiefen von Louis' Seele 
vorzudringen. 

Louis räusperte sich. »Vielleicht war er bewußtlos, und man hat 

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ihm Hemd und Stiefel abgenommen, bevor ihm die Flucht gelang.« 

Margot nickte langsam. Ihre Augen schimmerten feucht. »Beten 

wir, daß es so ist«, sagte sie und senkte den Blick. 

In diesem Augenblick regte sich Pierre. Er tastete mit den 

gefesselten Händen an die Beule an seinem Hinterkopf. Blinzelnd 
sah er sich um. 

»Wo - bin ich?« flüsterte er. 
Louis sagte es ihm. Pierres verständnisloser Blick wurde klarer. 

Die Erinnerung setzte ein. Und sein ohnehin bleiches Gesicht schien 
noch eine Spur blasser zu werden. Seine Miene nahm einen 
entsetzten Ausdruck an. 

»Sie - sie haben Ritter Roland umgebracht«, stammelte er. 
Und seine Augen füllten sich mit Tränen. 

Siegmund von Falkenried war frohen Herzens. Vor einer Stunde 
hatte er die gute Botschaft erhalten. Charlotte war auf dem Weg. Die 
Kutsche liege mit einem Achsenbruch im Erlengrund fest. Aber man 
besorge eine neue aus dem nächsten Ort und hoffe, am nächsten 
Morgen in Falkenried zu sein. 

Sofort hatte Siegmund seinen Schimmel satteln lassen und war 

losgeritten, der Kutsche entgegen, um Charlotte zu überraschen. Sein 
Herz brannte darauf, die Jungfer zu sehen. Er kannte sie nicht. Sein 
Vater, Ritter Egbert, hatte sich mit Charlottes Vater geeinigt und 
Charlotte als seine Braut bestimmt. Sie sollte das tugendhafteste 
Mädchen des ganzen Frankenlandes sein, von holdem Liebreiz und 
sanfter Art. 

Wie oft hatte Siegmund sie sich in den letzten Wochen vorgestellt! 

Wie war sein Blut in Wallung geraten bei dem Gedanken, sie in die 
Arme schließen zu können. Und manchmal hatte er sie in kühner 
Phantasie in das Schlafgemach getragen und entkleidet. Mal war sie 
blond, mal stellte er sie sich dunkelhaarig vor, doch immer in 
reizvoller Schönheit. 

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Auch jetzt erbebte sein Herz bei diesen Gedanken. Als er durch 

den Erlengrund galoppierte, glaubte er Charlotte in ihrem ganzen 
Liebreiz vor sich zu sehen. 

Deshalb sah er nicht die Gefahr. 
Der Schimmel erkannte sie. Als sich urplötzlich das Loch vor ihm 

auf tat, sprang er instinktiv, ohne auf ein Kommando seines Reiters 
zu warten, der gerade in Gedanken seidiges Haar und alabasterweiße 
Brüste streichelte und verzückt vor sich hin lächelte. 

Der Schimmel sprang gut. 
Mit einem gewaltigen Satz flog er über den Graben hinweg und 

setzte auf der anderen Seite auf. Doch er hatte nicht mit der 
Heimtücke der Zweibeiner gerechnet, die diese Falle errichtet hatten. 
Seine Vorderläufe brachen durch Zweige, Laub und Gras, die von 
den Halunken über ein weiteres Loch gelegt worden waren. 

Der Schimmel stürzte. 
Siegmund wurde jäh aus seinen süßen und pikanten Träumen 

gerissen. 

Er flog plötzlich wie von einem Katapult hochgeschleudert über 

das Pferd hinweg, das sich mit einem schrillen Wiehern überschlug. 
Die Bäume am Wegesrand schienen vorbeizurasen, und ein Busch 
wuchs vor Siegmund ins Riesenhafte. Unbewußt schrie er auf und riß 
noch schützend die Arme vors Gesicht. Dann krachte er auch schon 
in einen Brombeer- oder Himbeerstrauch, der etwas in den Weg 
hineinragte. Stacheln stachen ihm in Hände und Gesicht und rissen 
ihm die Haut auf. Siegmund blieb die Luft weg. Er hatte das Gefühl, 
sich sämtliche Knochen gebrochen zu haben. Benommen betastete er 
sich und stellte verwundert und erfreut fest, daß noch alles an der 
richtigen Stelle war. Er wollte sich gerade aufrappeln, doch da fiel 
ein Schatten auf ihn. 

Er starrte hoch und sah ein grinsendes Gesicht mit grauen Augen 

und einem zottigen schwarzen Vollbart über sich. 

»Wer - wer seid ihr?« stammelte Siegmund. 
Das Bartgestrüpp klaffte auf, und der Mann, der wie ein Riese über 

Siegmund aufragte, sagte: 

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»Ich bin Wolfram, der Meister des Morgensterns.« 
Drohend hob er die Rechte. Er hielt einen blutbefleckten 

Morgenstern in der behaarten Pranke. 

»Gnade  - Gnade!« schrie Siegmund, und er schlug die Hände vors 

Gesicht, als der Morgenstern auf ihn herabsauste, was natürlich nicht 
viel nutzte. 

Etwas knackte, und ein dumpfer Aufprall folgte. 
Siegmund sah sich schon mit zertrümmertem Schädel an die 

Himmelspforte klopfen. Doch dann hörte er ein rauhes Lachen aus 
vielen Kehlen, das alles andere als himmlisch klang, eher höllisch. 
Ob man dort oben so seltsam begrüßt wurde? Nein, das konnte nicht 
sein. 

Siegmund spreizte die Finger ein wenig und blinzelte dazwischen 

hervor. Er war von finsteren Gestalten umringt. Und der Mann mit 
dem Morgenstern lachte dröhnend. 

Siegmund erkannte, daß er noch auf Erden weilte und 

unbeschädigt war. Er nahm die Hände vom Gesicht und blickte 
furchtsam in die Runde. 

»War das ein Ulk!« prustete der bärtige Hüne und zog seinen 

Morgenstern zwischen zermantschten Brombeeren nur eine 
Handbreit von Siegmunds Kopf entfernt hervor. 

»Siegmund, der tapfere Recke, hat sich vor Angst in die Hosen 

gemacht«, rief er. »Hahahaaaa!« 

Die anderen fielen in das Lachen ein. 
Bis auf Siegmund. Ihm war es verständlicherweise nicht zum 

Lachen zumute. 

»Ihr  - kennt meinen Namen?« fragte er überrascht. »Was  - wollt 

ihr von mir? Ich habe nur ein paar Dukaten und Silbergroschen.« 

»Silbergroschen, hahaha!« Wolfram schüttelte sich vor Lachen. 
Ein anderer Mann schob den Hünen zur Seite. »Vertändelt keine 

Zeit. Fesselt ihn und bringt ihn weg!« 

Siegmund war kaum fähig, einen klaren Gedanken zu fassen. Er 

hatte das Gefühl, von einer rosaroten Wolke hinab in einen finsteren 
Schlund gefallen zu sein. 

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»Wohin wollt ihr mich bringen?« fragte er kläglich. 
»In die Hölle, mein Guter«, sagte der Mann mit dem Morgenstern. 

»In die Hölle!« 

Elfen tanzten auf einsamer Wiese in der Mondnacht. Wundersame 
ätherisch schöne Damen, vom Mondlicht versilbert. Sie waren nackt 
und von unbeschreiblicher Grazie. Sie lockten mit betörendem 
Gesang und verführerischem Tanz. Wichtelmänner tummelten sich 
um sie herum und zupften auf kleinen, goldenen Harfen. Es waren 
immer die gleichen Töne, und sie hallten seltsam laut, wie in einem 
großen Gewölbe. 

Die Elfen wiegten sich im Takt der Musik. Eine tanzte auf ihn zu. 

Er erkannte das Gesicht. Es war Margot. Keck und spitz waren ihre 
kleinen Brüste. Sie war rank und schlank. 

»Roland«, lockte sie mit heller Stimme. »Roland ...« 
Eine andere Elfe schwebte auf ihn zu. Charlotte. Ihr praller, fester 

Busen mit den rosigen Knospen schimmerte wie Alabaster. 

Sie lockte ihn mit betörendem Lächeln. 
Sie zupfte an seiner Hose. Streifte sie ihm ab. 
Und dann zupfte sie an etwas anderem! 
Heiß wallte es in ihm auf. 
Sie streckte mit lockendem Lächeln ihre Hand aus. 
»Komm, Roland«, flüsterte sie. »komm zu mir ...« 
Er wollte die Hand ergreifen, doch da verschwammen plötzlich 

ihre schönen Züge, und vor ihm stand breitbeinig ein hünenhafter 
Mann, der einen blutroten Morgenstern schwang. 

Auch die anderen Elfen verwandelten sich von einem Augenblick 

zum ändern. Eine hielt jetzt einen Bogen, spannte ihn, und ein Pfeil 
raste auf ihn zu. Ein leuchtender Pfeil, fast wie eine Sternschnuppe. 
Aus einer anderen Elfe wurde plötzlich ein nackter dicker Mann mit 
einer Lanze. Er stürmte heran, stieß mit der Lanze zu! 

Roland stöhnte auf. 

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Das Harfenspiel wandelte sich in Paukenschläge. Immer lauter 

wurden sie, und sie schienen in seinem Schädel widerzuhallen. 

Aus einer grazilen Elfe von unglaublicher Anmut war ein bärtiger 

Kerl geworden. Er schwang ein blitzendes Schwert. Er wuchs vor 
ihm ins Riesengroße. 

Er bohrte ihm das Schwert in die Brust! 
Seltsam, daß er nur ein leichtes Prickeln verspürte, gerade so, als 

sei er mit einer Nadel gepiekt worden. 

Es war eine Nadel. Eine Tannennadel. 
Die Trolle hatten die Elfen vertrieben und spielten ihren bösen 

Schabernack mit Roland. 

Sie hatten ihn in einer Mulde unter dem Laub im dunklen Wald 

entdeckt, wo ihn die Räuber als vermeintlich Toten zurückgelassen 
hatten. Sein Oberkörper war nackt gewesen. Nur Socken, Unterzeug 
und Beinkleid hatten ihm die Räuber gelassen. Die Trolle hatten ihm 
auch noch diese Kleidungsstücke ausgezogen, während er im Reich 
der Träume war. 

Jetzt trieben sie ihr gemeines Spiel. Einer hatte sich eine Socke wie 

einen Turban um den Kopf geschlungen und schlug Purzelbäume 
über die reglose Gestalt hinweg. 

Ein anderer stach Roland mit Tannennadeln. 
Roland hielt es für Schwert- und Lanzenstiche. 
Ein dritter kitzelte Roland an den Füßen. Ein vierter zerrte an 

seinen Haaren. Ein fünfter benutzte Rolands Bauch als Trommel. 
Und ein sechster zupfte kichernd an Rolands Männlichkeit, und er 
sah weiß Gott nicht wie Charlotte aus. 

So stachen und kitzelten und zupften und trommelten die Trolle, 

diese nichtsnutzigen Gesellen, und Roland glaubte, Höllenqualen zu 
erleiden. 

Ein grinsendes, runzliges Gesicht beugte sich über ihn. Die 

seltsame Gestalt hielt ein Lichtlein in der Hand. Nein, das Lichtlein 
wuchs zu einer flackernden Fackel. Roland hatte das Gefühl, ein 
glühender Hauch senge seine Stirn an. Er spürte einen stechenden 
Schmerz an der Schläfe. 

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Verzweifelt riß er eine Hand hoch, wollte die brennende Fackel 

wegschlagen. 

Statt dessen traf er Murk, den Troll, der gerade wieder einen 

Purzelbaum über Roland hinwegschlug. 

Aus dem Purzelbaum wurden drei zuzüglich ein Salto, und Murk 

klatschte gegen den Stamm einer Tanne. Das Kichern, das in 
Rolands Kopf wie Paukenschläge hallte, verstummte schlagartig. Die 
Trolle hielten in ihrem bösen Treiben inne. Murk, der so etwas wie 
der Trollenhauptmann war, stieß einen quiekenden Laut aus, als er 
am Stamm der Tanne hinabrutschte. 

Die Trolle erschraken. 
Ihr Hauptmann sah arg lädiert aus. 
Sie erschraken noch mehr, als Roland sich wiederum bewegte. 
Da ergriffen die Trolle geschwind die Flucht, denn sie waren 

äußerst feige. 

Roland öffnete blinzelnd die Augen. Und da sah er sie. 
Huschende, sich drängende Schemen, die nach allen Seiten im 

Dunkel zwischen den Tannen davonstoben. Als sie sich in Sicherheit 
wähnten, stimmten sie ein wütendes Geheul an. Murk schimpfte am 
lautesten und wünschte ihn in die Hölle. 

Nun, Roland hatte das Gefühl, von dort gerade wieder 

zurückgekehrt zu sein. Und abgesehen von den nackten  Elfen hatte 
es ihm dort überhaupt nicht gefallen. 

Was war geschehen? 
Roland schüttelte modrig riechende Blätter und Tannennadeln ab 

und setzte sich ächzend auf. Das Geheul hallte wie mit tausend 
Echos durch seinen schmerzenden Kopf. Er tastete zur Stirn.  Eine 
Beule, so groß wie ein Kuckucksei. Getrocknetes Blut. Eine 
Platzwunde. Er blickte an sich hinab und bemerkte, daß er völlig 
nackt war. 

Sofort begann er zu frösteln. 
Wie kam er nackt in den Wald? 
Er blickte sich um. Die seltsamen Wesen waren im dunklen Tann 

verschwunden. Ihr Geheul war verstummt. Irgendwo schrie ein 

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Kauz, dann herrschte wieder tiefe Stille. 

Die schönen Elfen tanzten nicht mehr. Keine zupfte an ihm. Kein 

Wichtelmann spielte Harfe. Und ebenso wenig war etwas von dem 
Bogenschützen, dem Mann mit dem Morgenstern und den wilden 
Gesellen zu sehen, die mit Schwertern, Keulen und Lanzen auf ihn 
zugestürmt waren und ihn gepeinigt hatten. 

Verrückt. Er mußte das alles geträumt haben, oder? 
Aber er lag nackt in diesem Wald. Das war kein Traum. Irgend 

jemand mußte ihn ausgezogen haben. Wer? Warum? 

Roland brauchte lange Minuten, bis seine Erinnerung einsetzte. 

Und dann fluchte er. 

König Artus hatte ihm den Auftrag gegeben, Prinzessin Charlotte 

und ihre Zofe sicher nach Burg Falkenried zu bringen. Er  - Roland  - 
hatte versagt. Er war wie ein Schaf in eine Falle geritten. 

Schaf? Das weckte eine andere Erinnerung. Die Schafherde! Sie 

mußte absichtlich auf den Kutschweg getrieben worden sein, um der 
Kutsche und der Vorhut den Weg zu blockieren. Ein raffinierter 
Hinterhalt. Er und die Knappen waren stets wachsam gewesen und 
hatten nach Hindernissen oder geeigneten Plätzen für einen etwaigen 
Überfall aus dem Hinterhalt Ausschau gehalten. Nie wäre Roland auf 
die Idee gekommen, daß Räuber eine ganze Schafherde zu einem 
Überfall einsetzten. 

Man lernt eben nie aus, dachte er. 
Was mochte aus den anderen geworden sein? 
Roland schluckte. Sein Mund war trocken. 
Louis und Pierre hatten ebenso wenig eine Chance gehabt wie er. 

Er hatte sie praktisch in die Falle geschickt. Es waren zu viele 
Angreifer gewesen, und es war alles zu schnell gegangen. Er und die 
Knappen hatten nicht einmal mehr Gelegenheit gehabt, die 
Passagiere der Kutsche zu warnen. Höchstwahrscheinlich waren alle 
den Räubern in die Hände gefallen. 

Schreckliche Visionen stiegen vor Roland auf. Im Geiste sah er 

seine getreuen Knappen niedergemacht am Boden liegen. Sah seinen 
Freund Volker mit einem Schwert im Herzen und glaubte die Schreie 

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der beiden Frauen zu hören. Der einen Jungfer und der schwangeren 
Margot. 

Er machte sich bittere Vorwürfe. Man konnte es drehen und 

wenden, wie man wollte: Er hatte versagt. Er hatte König Artus' 
Vertrauen enttäuscht. Und vielleicht hatte er das Leben von Louis 
und Pierre, von Volker und den anderen auf dem Gewissen. Er 
bekam eine Gänsehaut bei diesem Gedanken und hatte das Gefühl, 
Schmetterlinge flatterten in seinem Magen. 

Es mußte etwas geschehen. Er mußte feststellen, was mit den 

Knappen und den Passagieren der Kutsche geschehen war. Er erhob 
sich und stöhnte auf. Sein ganzer Körper schmerzte. Aber er war 
noch einmal davongekommen. Weshalb hatten sie ihn für tot 
gehalten? Nun, vielleicht hatten sie es wegen der nahenden Kutsche 
zu eilig gehabt, um ihn näher zu untersuchen. Er war von einem Pfeil 
getroffen worden und mit der Stirn auf einem scharfkantigen Stein 
aufgeschlagen. Er mußte einen schrecklichen Anblick geboten haben. 

Er lebte. Nur das zählte. Er war entschlossen, alles 

Menschenmögliche zu tun, um  die Räuber aufzuspüren und das 
Schicksal der Knappen und der anderen aufzuklären. 

Wie konnte er König Artus sonst jemals wieder unter die Augen 

treten? 

Der Schein des Lagerfeuers zuckte über Hektors breites Gesicht. Die 
Narbe an seiner rechten Wange funkelte rot wie der Wein, den er aus 
einem Tonkrug in den Becher goß. 

Hektor setzte den Becher an die wulstigen Lippen und trank ihn in. 

einem Zug leer. Dann wischte er sich mit dem Handrücken über den 
Mund und rülpste vernehmlich. 

Er gab Adelgunde einen knappen Wink. Die dralle blonde Maid, 

die in Hektors Lager das Mädchen für alles war, eilte herbei und 
räumte eilig die Zinnteller zusammen. Ein Kanten gesäuertes Brot 
mit gesalzenem Schmalz war wieder einmal übriggeblieben. Bei 

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jedem Mahl ließ Hektor etwas übrig. Das war eine Marotte von ihm. 
Selbst wenn er nach vollbrachten Untaten hungrig wie ein Wolf war 
und im ersten Durchgang auch mit dem letzten Krümel die Soße 
ausgetunkt hatte, so daß der Teller blitzblank war, so ließ er etwas 
darauf zurück. Er bestellte einfach etwas nach und rührte es nicht an, 
weil er ja längst so vollgestopft war, daß er nichts mehr 
hinunterbekommen konnte. 

Es gab eine Erklärung für dieses absonderliche Verhalten. 
Als Kind hatte er immer den Teller leer essen müssen. 
Und wenn er noch so satt gewesen war. Es hatte Hiebe mit dem 

Rohrstock gesetzt, wenn er nicht alles aufgegessen hatte, was auf den 
Tisch gekommen war. Da hatten sein Vater, der arme Köhler, und 
seine Mutter, die noch ärmere Köhlerin, keine Gnade gekannt. 

Jetzt bereitete es Hektor eine Wonne, ja geradezu Befriedigung, 

stets etwas auf dem Teller zurückzulassen. 

Und jetzt kannte er in anderen Dingen keine Gnade. 
Als Adelgunde sich bückte, um das Geschirr aufzunehmen, kniff er 

ihr in den prallen Po. Mit großer Kraft. 

Sie quietschte schrill auf. 
Das gefiel Hektor. Er lachte zufrieden. Es bereitete ihm ein 

Vergnügen, über die Bediensteten nach Belieben zu verfügen. Er 
genoß seine Macht. 

Normalerweise gab er sich Damen gegenüber als vollendeter 

Kavalier. Wie es sich für einen »Ritter« geziemte. Oh, er wußte 
Bescheid, wie sich die hohen Herren bei Hofe aufführten. Er hatte es 
einmal erlebt, damals als junger Bursche. Es war ihm unvergessen 
geblieben. 

Er hatte die feinen Damen in ihren kostbaren Roben angestaunt, 

und er hatte die Ritter bewundert, die sich so ganz anders gegenüber 
dem anderen Geschlecht benommen hatten als sein Vater gegenüber 
seiner Mutter. Die feinen Damen hatten Handküsse bekommen und 
waren mit wohlgesetzter Rede hofiert worden. Seine Mutter hatte 
von Vater im Suff Prügel bekommen und war als blöde Metze 
beschimpft worden ... 

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Ja, Hektor wußte sich feinen Damen gegenüber zu benehmen. 
Doch Adelgunde war für ihn weder fein, noch Dame. Sie war von 

niederem Stand, eine Magd, die früher im Stroh bei den Schweinen 
im Stall genächtigt hatte. Irgendeiner von Hektors wilden Gesellen 
hatte sie nach einem Raubzug mangels anderer Beute angeschleppt, 
und seither lebte sie in der Höllenklamm in Hektors Lager und mußte 
Hektor zu Diensten sein. 

Manchmal sehnte sie sich nach dem Schweinestall zurück. 
So wie jetzt. 
Doch sie war ein sehr duldsames Mädchen und hatte von klein auf 

gelernt, daß man sich in sein Schicksal zu fügen habe. Besonders, 
wenn man es doch nicht ändern konnte. Wenn der Allmächtige es 
wollte, daß Hektor ihr blaue Flecke zufügte, dann mußte er schon 
seine Gründe dafür haben. Und wenn Er nicht wollte, daß sie in der 
Höllenklamm lebte, dann würde Er ihr eines Tages schon einen 
Prinzen oder Ritter schicken, der sie dort hinausholte und auf sein 
Schloß mitnahm. 

Sie hatte schon oft mit dem Gedanken gespielt, fortzulaufen. Doch 

wohin sollte sie? Sie war ein Waisenkind, und der Schweinehirt, der 
sie damals aufgenommen hatte, lebte nicht mehr. Er war von Hektors 
Gesellen erstochen worden. Hier in der Höllenklamm bekam sie satt 
zu essen und zu trinken und hatte sogar eine eigene Hütte. Dafür 
konnte man schon ein paar Unannehmlichkeiten in Kauf nehmen, 
oder? 

Sie schritt mit dem Geschirr davon. 
Hektors wohlgefälliger Blick ruhte auf ihrer Kehrseite. Er nahm 

sich vor, Adelgunde später am Abend ein kleines Geschenk zu 
bringen. Sie konnte sich freuen wie ein kleines Mädchen, wenn ihr 
Herr mal freundlich zu ihr war. 

Hektor pulte sich mit langen Fingernägeln zwischen den Zähnen. 

Er fand ein paar Essensreste, betrachtete sie interessiert, schob sie 
wieder in den Mund und kaute genüßlich von neuem. 

Dann setzte er den Becher an die wulstigen Lippen und trank ihn in 

einem Zug leer. Zufrieden wischte er sich mit dem Handrücken über 

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den Mund und rülpste. 

Erst dann wandte er sich  an Botho, der seit über fünf Minuten 

stumm und ehrfürchtig vor ihm kniete. 

Barsch fuhr er ihn an: »Nun berichte er schon!« 
Darauf warte ich doch nur, dachte Botho. Doch Hektor hatte ihm 

den Mund verboten, hatte ihn angebrüllt, er wolle bei seinem Mahl 
nicht gestört werden und ihm befohlen, auf die Knie zu gehen. 

Manchmal stieg in Botho der Verdacht auf, daß sein Herr ein 

kleiner Tyrann war. Doch er hütete sich, so etwas laut zu denken. 
Das konnte äußerst ungesund sein. Außerdem war es unklug, Hektors 
Mißfallen zu erregen. Botho wußte, wo sein Brot gebuttert 
beziehungsweise mit Schmalz bestrichen war. 

Botho hatte sich alles wohl überlegt, doch jetzt verhaspelte er sich 

in seinem Übereifer, es Hektor recht zu machen. 

»Ritter Hektor, wir sollten die Kutsche  -  äh  - wir ritten wie 

befohlen mit den Pferden ...« 

»Womit sonst, wenn nicht mit den Pferden!« schnauzte Hektor. 

»Faß er sich kurz, oder ich lasse ihn auspeitschen!« 

Nun war Botho kein Meister der fließenden Rede, wenn auch die 

anderen ihn dafür hielten, weil er im Gegensatz zu den meisten von 
ihnen lesen und schreiben konnte. Er war ein Stallbursche gewesen, 
bis Hektor ihn eines Tages zu seinem »Knappen« ernannt hatte. 

Er war bemüht, sich kurz zu fassen. 
»Ritter Hektor, wir haben den Auftrag wie befohlen ...« 
»Noch kürzer!« fuhr Hektor ihn an. 
»... ausgeführt.« Bothos Worte kamen jetzt wie Paukenschläge in 

schneller Folge. »Vier Tote. Fünf Gefangene ...»Hektor grinste, und 
Botho wußte nicht, ob über seine prägnante Kurzfassung oder über 
die Bedeutung der  Worte. Botho setzte nach. Jede Angabe kam so 
knapp und präzise über seine Lippen, daß er stolz auf sich war. 
»Folgende Gefangenen: Prinzessin Charlotte! Nebst Zofe. Selbige 
schwanger! Zwei Knappen  -«, eine winzige Pause vor dem letzten 
Paukenschlag, »- und Ritter Roland!« 

Hektors Grinsen vertiefte sich. Sein breites Gesicht mit den 

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buschigen schwarzen Augenbrauen, den grünen Augen und der 
mächtigen Nase zeigte pure Zufriedenheit und Genugtuung. So 
mußte ein Kater aussehen, der gerade eine besonders schmackhafte 
Maus vertilgt hatte, nachdem er sie eine Zeitlang gequält hatte. Der 
Blick seiner grünen Augen schien plötzlich in weite Ferne zu gehen. 
Der Flammenschein spiegelte sich darin. 

Hektor tastete zur Narbe an seiner rechten Wange. Ein blutroter 

Schmiß von einer Schwertklinge. Oder einem Dolch. Botho nahm an, 
daß die Narbe ein Andenken an einen von Hektors heldenhaften 
Kämpfen war, von denen er so oft erzählte. 

Fasziniert beobachtete er, welche Wandlung mit seinem Herrn 

vorging. Allmählich verlor sich Hektors zufriedenes Grinsen. Sein 
Gesicht nahm einen härteren Ausdruck an. Ein grausamer Zug war 
um seine Lippen. Im Feuerschein hatte sein Gesicht fast etwas 
Dämonisches. Seine breite Brust hob und senkte sich unter einem 
tiefen Atemzug. Die silberne Kette mit den Bärenzähnen, die Hektor 
um den Hals trug, schabte leicht über das Kettenhemd. 

»Wieder einer...« sagte Hektor mit leiser und schwerer Stimme, 

und ein fanatisches Funkeln war in seinem Blick,  der über Botho 
hinweg in weite Ferne gerichtet schien. 

Botho wußte, was sein Herr meinte. Wieder ein Ritter 

gefangengenommen. Das war etwas, was Botho nicht verstehen 
konnte. Manchmal hatte er den Eindruck, daß Hektor sich gar nicht 
so sehr für die Beute  interessierte. Daß ihm sein absonderliches 
Vergnügen viel, viel wichtiger war. 

Hektor sammelte Ritter. 
Wie andere Jagdtrophäen oder kostbare Steine begehrten und 

horteten, so gelüstete es Hektor, sich eine Sammlung von Rittern 
zuzulegen! 

Gegenwärtig waren es sieben, die in der Höllenklamm lebten. 

Noch  lebten. Denn es war nur eine Frage der Zeit, wann ihr 
Dahinvegetieren ein Ende haben würde. Sie lebten angekettet bei 
Wasser und Brot in der Höhle des Berges, den Hektor als sein 
Burgverlies bezeichnete. 

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Warum? 
Das war für alle in der  Höllenklamm ein Rätsel. Hektors 

Geheimnis. Einer hatte mal zu fragen gewagt, ganz zu Anfang, als er 
sich gewundert hatte, weshalb Hektor kein Lösegeld für die ersten 
Gefangenen forderte. Der Mann lebte nicht mehr. 

Langsam kehrte Hektors Blick aus der Ferne zurück. Die grünen 

Augen, über denen sich die buschigen schwarzen Augenbrauen 
wölbten, blickten Botho wohlwollend an. 

»Eine gute Kunde«, sagte er. »Es stimmte also tatsächlich, daß 

Ritter Roland die Prinzessin begleitete. Erinnere er mich daran, daß 
unser Freund eine zusätzliche Belohnung erhält.« Botho nickte eifrig. 
»Berichte er weiter«, forderte Hektor ihn auf und schenkte sich von 
neuem Wein ein. 

Botho hielt es für angezeigt, jetzt mit dem Unangenehmen 

herauszurücken, da Hektor so gut gelaunt war. 

»Keine Beute«, sagte er und blickte seinem Herrn tapfer ins Auge. 
Hektor zuckte mit keiner Wimper. Er blieb so erstaunlich gelassen, 

daß Botho verwirrt hinzufügte: »Wir haben alles durchsucht. Keine 
Mitgift. Nur das, was die Leute in den Taschen hatten. Die 
Abrechnung ...« 

»Hektor winkte gnädig ab. »Kleinkram. Ihr könnt euch das teilen.« 
Botho frohlockte. Damit hatte er nun wirklich nicht gerechnet. 
»Danke, Ritter Hektor, danke ...« Er dienerte ein paarmal. 
Hektor trank Wein und grinste dann Botho an, der nach wie vor 

kniete. 

»Ich hatte schon in meine Pläne einbezogen, daß die Mitgift auf 

anderem Wege nach Falkenried gelangt«, sagte Hektor. »Soll sie nur. 
Ich übernehme sie dann gleich mit der ganzen Burg.« Das war es 
also! 

Hektor  hatte bisher nichts über seine Pläne verlauten lassen. Als 

Botho den Auftrag bekommen hatte, die Prinzessin zu entführen, 
hatte er zuerst geargwöhnt, Hektor wolle seine Sammlung auf 
Prinzessinnen ausdehnen. Doch dann hatte Hektor von einer großen 
Mitgift  gesprochen. Aber soeben war er völlig gelassen geblieben, 

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als er gehört hatte, daß sie die Mitgift nicht erbeutet hatten. Da war in 
Botho wiederum der Verdacht aufgestiegen, daß es Hektor nur um 
seine absonderliche Rittersammlung gehe. 

Doch Hektor hatte offenbar große Pläne. Endlich dachte er mehr 

ans Geschäft als an seine Sammelleidenschaft. »Genial«, entfuhr es 
Botho. Hektor lächelte geschmeichelt. »Nun, ich bin recht zufrieden 
mit ihm«, sagte er gönnerhaft. »Mit Ritter Roland hat er mir eine 
besondere Freude bereitet. Er kann sich erheben.« 

Dankbar stand Botho auf. Seine Knie hatten schon geschmerzt. Ein 

Stein drückte gegen sein linkes Knie, scharf wie ein Dolch. In den 
letzten Minuten hatte Botho das Gefühl gehabt, der Stein wachse zu 
einem spitzen Felsbrocken. Jetzt war er überrascht zu sehen, daß es 
nur ein winziges Steinchen war, kaum größer als ein Popel aus der 
Nase. 

»Wann kommt die Kutsche?« fragte Hektor. 
»Sie müßte bald hier sein. Ich bin mit dem besten Pferd 

vorausgeritten, um Euch so schnell wie möglich die Kunde zu 
überbringen.« 

Hektor nickte. »Eine frohe Kunde.« Er sah Botho wohlwollend an. 

»Vielleicht ernenne ich ihn eines Tages zum Ritter.« 

Bothos Mund klaffte auf. 
Heute war anscheinend sein Glückstag. So gut gelaunt hatte er 

Hektor noch niemals erlebt. 

Botho konnte nicht ahnen, wie schlecht gelaunt er Hektor schon 

bald erleben würde ... 

Roland schritt mit Groll im Herzen durch die kalte Nacht. Ein 
frischer Wind war aufgekommen, und ein Gewitter drohte. 

Hunger und Durst plagten ihn. Seine nackten Füße schmerzten, 

und er fror. Aber schlimmer als alles andere war die Sorge um die 
Knappen, um Freund Volker und die beiden Frauen und auch um die 
beiden Kutscher. Schlimmer waren die bangen Fragen, die quälende 

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Ungewißheit, das Gefühl der Ohnmacht. 

Er wußte, daß die Räuber mit der Kutsche davongefahren waren. 

Das hatte er aus den Radspuren gesehen. Vermutlich waren die 
Frauen entführt worden, möglicherweise auch Volker und die 
Knappen. Wenn man sie nicht getötet und irgendwo verscharrt hatte. 
Er hatte rings um den Ort des Überfalls im dunklen Wald gesucht, 
doch er hatte nichts entdecken können. Er war nahe an den mit Laub 
bedeckten Leichen der Kutscher vorbeigekommen, und wenn er eine 
Fackel gehabt hätte, hätte er sie vermutlich entdeckt. 

Er hatte überlegt, ob er bis zum Tag warten sollte, um im Hellen 

gründlicher zu suchen. Doch das entfernte Donnergrollen hatte ihn 
zur Eile gemahnt. Ein Gewitter zog von Norden heran. 

Thadeus hatte recht gehabt. Er hatte das Unwetter in den Knochen 

gespürt. 

Er mußte den Spuren folgen, bevor sie vom Regen ausgelöscht 

wurden. 

Etwa zweihundert Klafter nördlich der Schafherde hatte er die alte 

Weidehütte gefunden. Vergebens hatte er nach dem Schäfer gesucht. 
Er hatte nur einen toten Schäferhund gefunden. 

Und einen Schlapphut. 
Der war jetzt sein einziges Kleidungsstück. 
Ritter Roland, der den Drachen Fasolt besiegt hatte, lief nackt und 

waffenlos durch den dunklen Frankenwald! 

Welch demütigende Situation! dachte er voller Grimm. 
Er konnte sich nur zu gut vorstellen, welch lustige Balladen Feinde 

und Neider darüber schreiben lassen würden, wenn man je davon 
erfuhr. 

Und man würde zwangsläufig davon erfahren. Denn irgendwo 

mußte er sich Kleidung beschaffen. Und ein Schwert, ein Roß. Er 
konnte nur hoffen, daß er irgendwo einen verschwiegenen Helfer 
fand. Aber wo? 

In diesem Teil des Frankenwaldes kannte er sich nicht aus. Seit 

Stunden war er unterwegs, und es bestand kaum. Aussicht, daß er so 
bald einer Menschenseele begegnete.  Er wußte ja nicht einmal, wo 

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der nächste Ort war. 

Ein kalter Wind trieb ihm die ersten Regentropfen ins Gesicht. Er 

zog den Hut tiefer in die Stirn und schritt schneller aus. 

Ein Rascheln im Dunkel ließ ihn zusammenzucken. Keine zwanzig 

Schritte vor ihm brach ein Schatten zwischen den Bäumen hervor. 
Eine Wildsau! 

Roland entspannte sich. 
Er konnte sich nur mit bloßen Fäusten verteidigen, wenn er von 

irgendeinem Tier angegriffen wurde. Nicht auszudenken, was 
geschehen würde, wenn ein Ungeheuer wie Fasolt auftauchte. 

Er blickte zum Himmel. Dunkle Wolken verdeckten den Mond. 

Das Donnergrollen in der Ferne war schwächer geworden. 

Er hoffte, daß das Gewitter vorbeizog. 
Doch seine Hoffnung erfüllte sich nicht. 
Eine halbe Stunde später setzte heftiger Regen ein. Die Tropfen 

prasselten auf seinen nackten Körper, und das Wasser lief an ihm 
hinab, bevor er Schutz fand. 

Blitze tauchten den Frankenwald in gespenstisches Licht. Donner 

krachte durch das Rauschen des Regens. 

Roland sank in Moos und Laub unter einen Buchenstamm. 
Der Gewitterregen wird alle Spuren auslöschen, dachte er 

verzweifelt. 

»Das ist nicht Ritter Roland!« Hektors Stimme klang grollender und 
bedrohlicher als der Gewitterdonner in der Ferne. 

Botho,  der neben ihm stand und gerade noch von einer rosigen 

Zukunft als Ritter geträumt hatte, starrte seinen Herrn entgeistert an. 

»Nicht...?« 
Dann schaute er offenen Mundes zu den Gefangenen. Sie waren 

von den Fußfesseln befreit worden und standen im Schein der sechs 
Fackelträger in einer Reihe vor der Kutsche. Hektor hatte es sich 
nicht nehmen lassen, den Damen aus der Kutsche zu helfen. Er hatte 

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sich mit salbungsvollen Worten bei ihnen entschuldigt und ihnen sein 
»Ritterwort« gegeben, daß ihnen nichts geschehen werde. Der 
schwangeren Margot hatte er gesagt, daß sie sich keine Sorgen 
machen solle. Er habe einen Arzt unter seinen Bediensteten, und er 
werde auch für eine Amme sorgen. Oh, er war galant und gutgelaunt 
gewesen. Bis ihm Botho mit stolzgeschwellter Brust Ritter Roland 
präsentiert hatte. 

»Aber er hatte gesagt...«, begann Botho verdattert und verstummte, 

als er zu Hektor sah und dessen Blick auffing. Er hatte das Gefühl, 
die grünen Augen seien wie Dolche. Und Hektors verzerrte Miene 
versetzte ihm einen Schock. 

»Das ist Volker vom Dingsbums. Irgendso ein Balladensänger!« 

brüllte Hektor, und die Ader an seiner Stirn schwoll an. »Ich sah ihn 
mal auf einer Feier bei Hofe!« 

Volker lächelte leicht. Das erste Mal, seit er vom Tod seines 

Freundes Roland durch Pierre erfahren hatte. 

»Nicht irgendso einer«, korrigierte er, »sondern der berühmteste.« 
Hektor sah aus, als wolle er sich auf den Minnesänger stürzen und 

ihn auf der Stelle umbringen. 

»Weshalb hast du Hundsfott dich für einen Ritter ausgegeben?« 

schrie  er, und in seinem Zorn vergaß er völlig, daß sich solch derbe 
Sprache vor Damen nicht geziemte. 

»Weil ich einer bin«, erwiderte Volker beherrscht. 
Rektor starrte verblüfft. Sein Zorn schien von einem Augenblick 

zum anderen verraucht zu sein. 

»Tatsächlich?« fragte er lauernd. 
»Tatsächlich«, erwiderte Volker wahrheitsgemäß. 
»Nun gut«, sagte Hektor nach kurzem Zögern. »Das läßt sich ja 

feststellen. Aber wo ist Ritter Roland?« 

»Ihr Dreckskerle habt ihn ermordet!« schrie Louis, und sein 

feuriges Temperament ging mit ihm durch. Trotz der gefesselten 
Hände stürmte er auf Hektor zu, um ihn anzugreifen. 

Er schaffte es nicht. 
Hektor zog sein Schwert, bevor Louis heran war, und dann war der 

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ehemalige Räuberhauptmann auch schon von einem halben Dutzend 
Räubern umringt. 

Alfons, der Kerl, der Rolands Kettenhemd trug, wollte Louis 

niederschlagen. 

Doch Margot schrie auf und legte eine Hand auf die Wölbung ihres 

Leibes, und Hektor gebot Einhalt. 

»Nicht vor Damen«, sagte er. »Schon gar nicht vor einer, die guter 

Hoffnung ist. Hinfort mit ihm!« 

Drei mit Schwertern bewaffnete Männer brachten Louis fort. 
Hektor gab weitere Befehle. »Fackelträger  - geleitet die Damen in 

die Burg.« 

Er wartete, bis einige der Fackelträger und zwei seiner Räuber, die 

er als Knappen bezeichnete, mit den Damen außer Hörweite waren. 

Dann wandte er sich an Botho. 
»Er soll berichten«, sagte er in erstaunlich ruhigem Tonfall. 
Bothos Bericht war mehr ein Stammeln. Doch das Bild rundete 

sich für Hektor ab. Er stellte noch einige Fragen, und dann gab es für 
ihn und auch für Volker und Pierre keinen Zweifel mehr daran, daß 
Ritter Roland tot im Wald zurückgelassen worden war. 

»Was sollten wir tun?« versuchte sich Botho zu rechtfertigen. »Die 

Knappen hatten wir schon, doch dann griff der Ritter an, und 
außerdem wähnten wir ihn in der Kutsche und ...« 

»Schweig!« fuhr Hektor ihn an. 
Eine Weile starrte er dumpf brütend vor sich hin. Schließlich sah er 

wieder auf und sagte mit ruhiger Stimme. 

»Ich hätte Roland lieber lebend gehabt, aber das habt ihr ja 

verpatzt.« Er bedachte Botho mit einem wütenden Blick. Botho sah 
beschämt zu Boden. »Nun denn - Alfons!« 

»Ja, Ritter?« sagte der Mann mit Rolands Kettenhemd eifrig. 
»Du reitest zurück und holst mir Rolands Kopf!« 
Volker und Pierre erschauerten. 
»Ich bitte  Euch ...« begann Volker beschwörend, doch Hektor ließ 

ihn nicht ausreden. 

»Schafft sie weg!« rief er und gab seinen Männern einen 

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herrischen Wink. 

Sie trieben Volker und Pierre mit Schwertern und Lanzen vor sich 

her. 

»Der Ritter kommt zu den anderen!« rief Hektor ihnen nach. 
Dann wandte er sich an Botho. »Ich wollte dich doch irgendwann 

zum Ritter schlagen«, sagte er sanft. »Nun denn, so soll es 
geschehen.« 

»Aber ...« begann Botho verdattert. 
Ein Grinsen spielte um Hektors wulstige Lippen. 
»Gib mir dein Schwert und knie dich nieder«, sagte er ruhig. 
Benommen gehorchte Botho. Er konnte das alles noch gar nicht 

fassen. Hektor steckte wirklich voller Überraschungen. Vorhin hatte 
er noch getobt, und jetzt war er so großherzig und verzieh ihm seinen 
Fehler. 

Er reichte Hektor das Schwert. 
Hektor trat ein paar Schritte zurück. 
»Wolfram!« 
»Ja, Ritter?« Der bärtige Gigant mit dem Morgenstern, der 

abwartend bei der Kutsche stand, blickte überrascht auf. 

»Komm mal her«, sagte Hektor. 
Gehorsam stapfte Wolfram näher. Der Morgenstern wirkte seltsam 

klein in seinen prankenartigen Händen. 

Überrascht blickte Botho zu Wolfram. Ein Gefühl leichten 

Unbehagens erfaßte ihn. Er hatte noch nicht erlebt, wie ein Knappe 
zum Ritter geschlagen wurde. Man hatte ihm erzählt, es sei 
irgendeine Zeremonie. Aber was hatte der Dümmste und Primitivste 
aus ihren Reihen mit dieser Zeremonie zu tun? Der konnte doch 
nichts anderes, als mit dem Morgenstern ... 

»Er wollte gern Ritter sein«, rief Hektor, bevor Botho den 

Gedanken zu Ende führen konnte. »Nun, ich bin ein großzügiger 
Mann, der besondere Verdienste zu würdigen weiß.« 

Bothos Wangen begannen zu glühen. Stolz erfüllte seine Brust. 

Hektor war anscheinend auch mit Ritter Rolands Kopf zufrieden. 

»Danke, Ritter, daß Ihr mir den kleinen Fehler verzeiht«, rief er 

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bewegt. »Danke.« Und er verneigte sich tief. 

Hektor grinste breit. Dann verzerrte sich sein Gesicht, und er 

schrie, daß es durch die Höllenklamm hallte: 

»Wolfram - schlag ihn zum Ritter!« 

Der Schrei gellte durch die Höllenklamm. 

Schaurig hallte er von der kahlen Felswand und gegenüber vom 

bewaldeten steilen Berg wider. 

»Was - was war das?« fragte Pierre entsetzt. 
»Da ist einer zum Ritter geschlagen worden«, erwiderte Hektors 

Gesell, der gerade die Tür hinter dem Gefangenen schließen wollte. 
»Mit dem Morgenstern!« 

Er blickte in die Schlucht hinaus zum Feuer hin. »Wir werden 

wohl einen neuen Anführer bekommen«, sagte er mit einem 
Schulterzucken zu seinem Kumpan, der neben ihm stand und die 
Fackel hielt. 

»Der arme Botho«, murmelte der krummbeinige Mann und 

bekreuzigte sich. Er sah aus, als müßte er sich übergeben. Es war 
auch ein grauenvoller Anblick, der sich ihm da bot. 

»Er war immer ein Angeber«, erwiderte der andere. »Hielt sich für 

besser als unsereins. Ich weine ihm keine Träne nach.« 

Er warf die Tür der Hütte zu und schob den Riegel vor. 
Louis und Pierre waren allein in der Dunkelheit. Die Schritte der 

beiden Kerle, von denen sie eingesperrt worden waren, entfernten 
sich. Die Hütte besaß nur ein kleines vergittertes Fenster, mehr ein 
Luftschacht. 

»Diese Barbaren!« knirschte Louis. »Der Teufel soll sie alle 

holen!« 

»Ach war ich doch niemals von Camelot weggegangen«, seufzte 

Pierre. 

»Sei nicht so weinerlich«, sagte Louis. 
Eine Weile herrschte Stille zwischen ihnen. Dann sagte Pierre aus 

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dem Dunkel: »Ich kann es noch nicht fassen, daß Roland ...« Pierres 
Stimme klang wie erstickt. Er konnte nicht weitersprechen. 

»Ich auch nicht«, murmelte Louis. »Er wollte uns zu Hilfe 

kommen. Er hat sein Leben für uns gegeben.« 

Louis' Augen wurden feucht. Doch das sah Pierre in der 

Dunkelheit nicht. 

»Was haben sie nur mit uns vor?« wisperte Pierre nach einer 

Weile. 

»Keine Ahnung«, brummte Louis. Er zerrte an den Stricken. Sie 

gaben nicht nach. Er fluchte. 

»Eines steht fest«, sagte er dann ruhiger. »Sollte ich hier 

rauskommen, drehe ich diesem Verbrecher, der sich auch noch als 
Ritter ausgibt, den Hals um.« 

»Aber wie sollen wir hier herauskommen?« murmelte Pierre. 

»Selbst wenn wir die Fesseln loswerden, dann ist immer noch die 
Tür verriegelt. Und selbst wenn wir die Tür aufbekommen, dann sind 
immer noch die Wachen am Zugang zur Schlucht. Es gibt kein 
Entkommen.« 

»Eines nach dem anderen«, sagte Louis. »Fangen wir mit den 

Fesseln an. Wo bist du? Komm mal näher.« 

Louis tastete nach Pierres Handgelenken. Die Fesseln waren fest 

verknotet. Louis versuchte, die Knoten zu lösen. 

Mit den aneinandergebundenen Händen gelang es ihm nicht. Nach 

ein paar Minuten gab er es auf. 

»Halt die Hände hoch an mein Gesicht, Pierre.« 
Pierre tat es, und Louis rückte näher zu ihm, bis er die Zähne an 

den Stricken hatte. Louis hatte ein kräftiges Gebiß. 

Er nagte die Stricke durch. 
»Au!« entfuhr es Pierre, denn Louis hatte danebengebissen. 
»Sei nicht so zimperlich«, knurrte Louis mit den  Stricken im 

Mund. Er nagte weiter. 

Bald darauf war Pierre die Handfesseln los. 
»Geschafft«, raunte er Louis zu. »Jetzt noch deine ...« 
In diesem Moment klang Hufschlag auf. Schritte näherten sich der 

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Hütte. 

Pierre und Louis lauschten mit angehaltenem Atem. 
Der Reiter hielt nahe bei der Hütte. 
»Wo willst du denn noch hin?« hörten sie eine rauhe Stimme 

fragen. 

»Was geht das dich an?« 
»Freundchen, sei nicht so frech. Wenn Hektor mich zum neuen 

Unterführer ernennt, werde ich dich ...« 

»Da brauchst du dir keine Hoffnung zu machen. Alfons tritt an 

Bothos Stelle. Hektor hat es soeben verkündet. Wenn Alfons den 
Kopf des Ritters bringt, müssen wir fortan auf Alfons' Kommando 
hören. Du bleibst also genau so ein kleines Licht wie ich, Lambert.« 

Lambert fluchte. 
Der andere lachte. »Aber wenn es dich so sehr interessiert, wohin 

ich reite, will ich's dir verraten. Ich reite mit einer Botschaft nach 
Camelot.« 

»Nach Schloß Camelot?« 
»So ist es.« 
»Und was ist das für eine Botschaft?« 
»Streng geheim.  An König Artus. Aber wenn du mich fragst, so 

wette ich, daß wir bald sämtliche Ritter der Tafelrunde hier 
gefangenhalten. Und König Artus und seine Alte noch dazu.« 

»Ist Hektor denn völlig übergesch ...« 
»Sag es lieber nicht. Oder willst du, daß er dich vom lieben Wolfie 

zum Ritter schlagen läßt?« 

»N-nein«, antwortete Lambert hastig. 
»Ich auch nicht«, erwiderte der andere. »Ich muß jetzt los. Paß gut 

auf die Gefangenen auf. »Freilich.« 

»Wo warst du denn gerade? Solltest du nicht vor der Tür auf 

Wache stehen?« 

»Man wird doch nochmal kacken dürfen«, maulte Lambert. 

»Verstehe sowieso nicht, weshalb wir die beiden nicht einfach in die 
Höhle zu den Rittern bringen. Dann könnte ich mir die Wache hier 
sparen.« 

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»Sie passen nicht in seine Sammlung«, sagte der andere und lachte. 

Dann galoppierte er davon. 

Die Schritte näherten sich der Hütte. 
Pierre und Louis lauschten angespannt. 
Die Schritte verstummten. Lambert war wieder auf Posten. 
»Schnell«, flüsterte Louis. 
Pierre befreite ihn von den Fesseln. 
»Hast du das vorhin gehört?« raunte Louis. 
»Ich glaubte meinen Ohren nicht zu trauen«, wisperte Pierre. 
»Ich auch nicht. Sie wollen König Artus und die Ritter der 

Tafelrunde gefangennehmen! Ungeheuerlich!« 

Die Stricke fielen. Louis rieb sich die Handgelenke. 
»Wir werden  es verhindern!« sagte er zuversichtlich. »Und wir 

werden Roland rächen!« 

In diesem Augenblick wurde der Riegel der Tür zurückgeschoben. 
Louis und Pierre stockte der Atem. 

Das Gewitter war vorüber. Regentropfen schimmerten wie Perlen auf 
Gras, Farn und Blättern. Ein Eichhörnchen huschte über den Stamm 
einer Blutbuche und verschwand unter ihrem Blätterkleid. 

Roland fror in der Morgendämmerung. 
Der Himmel erhellte sich. Dunst lag wie zarte Seidengespinste 

über dem Weg und zwischen dunklen Tannen. Vögel begrüßten 
zwitschernd den neuen Tag. 

Roland schleppte sich über den Waldweg. Seine wunden Füße 

brannten. Er hatte sie an einem Bach gekühlt und sich das Blut 
abgewaschen, so gut es möglich gewesen war. Er hatte  auch seinen 
Durst gestillt. Der Hunger war stärker geworden. 

Von den Wagenspuren war nicht mehr viel zu erkennen. Der 

Gewitterregen hatte den Weg ausgewaschen. Roland vermochte nicht 
mit Gewißheit zu sagen, ob es alte oder neue Furchen waren, denen 
er folgte. Zweimal hatte sich der Weg gegabelt, und er war auf gut 

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Glück in der Dunkelheit weitergegangen. Vielleicht lief er längst in 
die falsche Richtung. 

Wenn der verblichene Wegweiser stimmte, den er vor etwa einer 

halben Stunde gesehen hatte, mußte er bald einen Weiler erreichen. 
Er schritt schneller aus. Je früher er dort eintraf, desto besser. 
Hoffentlich lagen die Leute noch alle in den Federn, wenn er nackt 
dort eintraf. 

Er erreichte den Waldrand und blieb stehen. 
Keine zweihundert Klafter entfernt stand an einem bewaldeten 

Hang eine Kate. Ein kleines Holz- und Lehmhaus und ein 
windschiefes Gebäude seitlich davon, das wohl der Stall war. 
Holzscheite waren an der Mauer der Hütte aufgestapelt. Roland sah 
zwei kleine Felder vor der Kate. Ein bescheidener Landmann lebte 
wohl dort, abseits des Weilers, den Roland jenseits des Hügels 
vermutete. 

Genau das richtige. 
Dort mußte er sich zumindest eine Hose beschaffen. Vielleicht 

sogar Stiefel und ein Hemd. Dann konnte er sich in dem Weiler 
sehen lassen. 

Dieser Gedanke gab ihm neue Energie. Er lief los. 
Ein Hahn krähte, als er sich dem Anwesen näherte. Für Roland 

klang es wie eine freudige Begrüßung. 

Er sah Rauch aus dem Kamin der Hütte aufsteigen und erinnerte 

sich daran, daß er nackt war. Wer immer dort lebte,  er wollte ihm 
nicht unschicklich gegenübertreten. Schnell nahm er den Hut vom 
Kopf und bedeckte damit seinen kleinen Ritter. 

Niemand kam aus der Hütte, als er auf bloßen Füßen über die vom 

Regen getränkte Erde näherschritt. 

Er verharrte bei dem kleinen Fenster und warf einen Blick in die 

Hütte. Eine Küche. Niemand hielt sich darin auf. Er huschte zum 
vorderen Fenster. Ein Wohnzimmer. Ein Mann saß mit dem Rücken 
zu ihm und aß anscheinend etwas. 

Roland ging zur Tür und wollte gerade anklopfen, als ihn der 

schrille Schrei zusammenzucken ließ. 

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Es war zweifelsohne eine Frau, die da schrie. 
Roland ruckte herum. 
In der halb geöffneten Stalltür stand eine junge Maid. Sie mochte 

vielleicht achtzehn sein. Sie hatte pechschwarzes lockiges Haar mit 
einer neckischen roten Schleife darin. Alles an ihr war rund und 
prall. 

Sie starrte Roland aus großen Kulleraugen an, und ihr Mund 

bildete immer noch ein O, obwohl der Schrei verklungen war. 

Dann ließ sie den Korb fallen, den sie in einer Hand gehalten hatte, 

und Roland sah, wie einige Eier zerplatzten. 

Die Maid raffte ihren langen Rock und rannte wie von Furien 

gehetzt davon. Ihr massiger Milchmädchenbusen wogte im 
spitzenbesetzten Ausschnitt. Roland verneigte sich höflich und 
drehte sich mit dem Hute in der Hand, um der jungen Dame nicht 
sein Hinterteil darzubieten. 

»Ein  - Mann!« hörte er sie kreischen. Dann klappte eine Tür, als 

sie im Haus verschwand, und die Stimme klang gedämpfter. 

»Ein nackter Mann!« 
»Du spinnst«, erwiderte eine mürrische Männerstimme. »Das 

hättest du wohl gern, was? Wann verirrt sich schon mal ein Mann her 
- noch dazu ein nackiger. Das sind doch Wunschträume von dir, 
Christhilde! Wo sind die Eier?« 

»Da - da draußen!« antwortete Christhilde. 
Der Mann in der Hütte kicherte. 
Roland genierte sich ein bißchen. Er klopfte mit der Linken an die 

Tür. 

Er hatte die Hand noch nicht weggezogen, als die Tür schon 

aufflog. 

Ein großer, rotbärtiger Mann mit graugrünen, funkelnden Augen 

stand vor Roland. 

Und er hielt ein Schwert in der vorgereckten Hand. 
Seine Miene nahm einen verblüfften Ausdruck an. Doch seine 

Überraschung währte nur kurz. Dann drückte er Roland das Schwert 
gegen die nackte Brust. 

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»Ha, hab' ich dich erwischt!« sagte er mit grimmiger Zufriedenheit. 

»Was schleichst du hier herum, du Haderlump? Dazu noch nackig, 
auf daß meine Tochter vor Freude fast in Ohnmacht fiel!« 

»Laßt euch erklären ...« begann Roland etwas unbeholfen und wich 

zurück, weil ihn das Schwert kitzelte. 

»Darum will ich gebeten haben!« fuhr ihn der Rotbart an. »Herein 

mit dir, oder dein letztes Stündlein hat geschlagen!« 

Er trat zur Seite und winkte auffordernd und drohend zugleich mit 

dem Schwert. 

Roland betrat die Hütte. 
Das Wohnzimmer war einfach eingerichtet und sauber. Auf dem 

Eichentisch stand ein Teller mit Speck und  Brot. Rolands Magen 
knurrte. Seit dem Frühstück am Vortag hatte er nichts mehr 
gegessen. 

Er blickte sich um und stellte erleichtert fest, daß von Christhilde 

nichts zu sehen war. 

Die Schwertspitze drückte jetzt gegen die linke Backe seiner 

nackten Kehrseite. 

»Nimm die Hände hoch, du Haderlump !« 
»Roland hob die Linke. »Ich bin Rit...« 
»Die andere auch!« befahl der Rotbart hinter ihm und verstärkte 

den Druck der Schwertspitze. 

Roland ließ die Linke sinken, hielt den Hut damit fest und hob die 

Rechte. 

Die Situation war ihm äußerst peinlich. Denn er hatte gerade 

gesehen, wie sich der Vorhang, der zum Nebenraum führte, bewegt 
hatte. Jetzt lugte unter ihm, zwischen den beiden Vorhanghälften, ein 
zierlicher Schuh hervor, und Roland hätte gewettet, daß es ein Schuh 
von Christhilde war. 

»Beide Hände hoch, habe ich gesagt!« 
Roland schluckte. Der Vorhang bewegte sich wieder, und Roland 

glaubte ein spähendes Auge auf sich gerichtet zu sehen. Aber 
vielleicht war das auch nur Einbildung. 

»Ich bitte Euch ...« begann er, doch ein Schlag mit der 

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Schwertklinge auf sein Hinterteil ließ ihn verstummen. 

»Dir werde ich's zeigen!« sagte der Rotbart hinter ihm grimmig. 

»Hände hoch, oder ich wetze mein Schwert an deinem Hintern, bis es 
Funken schlägt!« 

Das wollte Ritter Roland nicht. Er seufzte, hängte den Hut auf und 

hob beide Hände. Nun war der Schlapphut vom Regen ziemlich 
aufgeweicht, ja nahezu schlüpfrig, und so geschah es, daß er 
hinabrutschte und zu Boden fiel. 

Roland hörte ein Geräusch von jenseits des Vorhangs, das wie ein 

geseufztes »oooohhh« klang. Er hoffte, daß die Jungfer nicht in 
Ohnmacht fiel. 

Der Rotbart kicherte. 
»Umdrehen!« befahl er. 
Roland tat es. 
Der Rotbart musterte ihn von oben bis unten und wieder zurück. 

Fast wie ein Landmann einen Bullen mustern mochte, von dem er 
sich glückliche Kühe und viele, viele Kälber erhoffte. 

Dann nickte er leicht und murmelte: »Sieht recht gesund aus!« 
Roland spürte, wie ihm das Blut in die Wangen schoß. 
»Darf ich Euch alles erklären?« sagte er. Er hatte von Anfang an 

die höfliche Anrede gewählt, um dem Rotbart zu schmeicheln. 

»Nur zu«, sagte der Rotbart. Er spießte mit der Schwertspitze einen 

Speckwürfel vom Teller auf, schob sich den Speck in den Mund und 
kaute schmatzend. 

Roland lief das Wasser im Munde zusammen. 
»Ich bin Ritter Roland«, sagte er. 
Der Rotbart verschluckte sich. Es sah aus, als bekäme er einen 

Hustenanfall, doch allmählich entwickelte sich daraus ein Lachanfall, 
der so heftig war, daß die obere Gesichtspartie genauso rot wurde 
wie der flammende Bart. 

Das Lachen klang wie Haaarhaaarhaaar uaaaaahhh! 
Als er sich wieder einigermaßen beruhigt hatte, prustete er: »Ritter 

Roland! Daß ich nicht lache!« Er lachte. »Hahahaar uaah  - 
ausgerechnet. Der tollkühne Held. Der Mann, der Gorgar, den 

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Schrecken vom Frankenwald, besiegte! Der stellt hier nackig meiner 
Christhilde nach. Was Besseres ist dir wohl nicht eingefallen, du 
Haderlump!« 

Roland hielt es für angezeigt, schnell zu berichten, bevor der Mann 

erneut von seinem urigen Lachen geschüttelt wurde. 

Er erzählte von dem Überfall und schloß, als er die skeptische 

Miene des Mannes sah: »Ich werde Euch reich belohnen, wenn Ihr 
mir helft.« Inzwischen ging ihm die höfliche Anrede dem Landmann 
gegenüber ganz glatt von den Lippen. Denn er fühlte sich im 
Augenblick gar nicht als Ritter. Er fühlte sich ausgeliefert  - nackt im 
wahrsten Sinne des Wortes. 

»Und ob ich dir helfe!« sagte der Rotbart grimmig. »So wahr ich 

Anton Ehlers heiße.« Er stieß Roland das Schwert vor die Brust. 
»Eine schöne Moritat, die du da zum Besten gabst. Und belohnen 
willst du mich auch  - nackig wie du bist. Greif mal einem nackten 
Ritter in die Tasche, hahhaaar!« 

Er warf den Kopf zurück und brüllte vor Lachen. Dann wurde er 

schlagartig ernst. 

»Ein Lügner bist du! Ein hundsgemeiner Lügner und Sittenstrolch. 

Und ein Hochstapler dazu. Hättest du dir eine andere Geschichte 
einfallen lassen, so wäre ich vielleicht amüsiert gewesen. Aber daß 
du dich ausgerechnet als Ritter Roland ausgibst  - als den berühmten 
Roland! Als den Mann, bei dem die Frauen feucht werden in den 
Augen, wenn sie nur den Namen hören. Das setzt allem die Krone 
auf!« 

Er blickte an Roland vorbei und rief: »Christhilde! Du hast dir den 

originellen Freier ja genau angesehen!« 

Der Vorhang raschelte. »Aber Vater!« rief Christhilde empört. 

»Ich wäre vor Scham im Boden versunken, wenn ich hingeschaut 
hätte!« 

Anton grinste Roland an. Dann schaute er wieder an ihm vorbei. 

»So ist es brav für eine Jungfer. Nun, dann schau ihn dir jetzt an und 
sag mir, ob es Ritter Roland ist.« 

Roland hörte den Vorhang rascheln, einen heftigen Atemzug und 

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dann flugs die Antwort, zu flugs: 

»Er könnte es sein, Vater!« 
Anton stieß wieder sein uriges Lachen aus. »Wie kannst du das so 

schnell erkennen, wenn du vorhin nicht genau hingeschaut hast? Das 
siehst du wohl an seinem Hintern, was?« 

»Aber Vater!« 
»Nun, er scheint dir zu gefallen. Hm, das kann ich verstehen, 

Tochter. Aber schlag ihn dir aus dem Kopf. Ein Hochstapler als 
Schwiegersohn kommt nicht in Frage. Deine Mutter, die selige, 
würde sich im Grabe herumdrehen.« 

Er drückte Roland die Schwertspitze gegen die Brust. »Du bist 

mein Gefangener. Ich reite gleich nach Birkenfeld und schicke von 
dort aus einen Boten zum König, auf daß man dich abholt und in den 
Kerker wirft!« 

Roland kochte inzwischen vor Zorn. Er hatte es im Guten versucht, 

aber mit diesem Anton Ehlers war nicht zu reden. Welch Schmach, 
wenn König Artus ihn von dieser Kate abholen ließ  - womöglich 
immer noch nackt! Ganz abgesehen davon, daß viele Tage vergehen 
würden. Dabei kam es auf jede Stunde an, wenn er noch Spuren 
finden wollte, die ihn zu den Räubern führten. Die Aussicht war 
gering, aber er mußte es versuchen. 

Noch einmal sagte er eindringlich: »Ich habe die Wahrheit gesagt. 

Ich bin Ritter Roland. Wenn Ihr mir mit Kleidung, dem Schwert und 
einem Pferd helft, werdet Ihr reich belohnt werden. Denkt an das 
Schicksal der Frauen und Männer, die höchstwahrscheinlich entführt 
wurden.« 

Anton winkte ab. »Papperlapapp.« Er spießte wieder einen 

Speckwürfel auf. Als er ihn in den Mund schieben wollte, handelte 
Roland. 

Er sprang auf Anton zu und wollte ihm das Schwert entreißen. Er 

umklammerte Antons Arm. 

Anton schrie überrascht auf. Er stieß Roland ein Knie in den Leib. 

Roland taumelte zurück. Anton Ehlers war kräftig und erstaunlich 
behende. Roland erkannte, daß er ihn unterschätzt hatte. Mit einem 

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Ruck riß Anton das Schwert frei. Roland schnellt sich verzweifelt auf 
den Mann zu, wollte ihn zu Boden reißen - und stürzte ins Leere. 

Anton war blitzschnell ausgewichen. 
Roland prallte unsanft auf. Im nächsten Augenblick bohrte sich 

schon die Schwertklinge mit dem aufgespießten Speckwürfel in 
seinen Rücken, und ein Stiefel stellte sich auf sein Gesäß. 

Anton kicherte. »Auf die Nase gefallen, Ritter Roland«,  sagte er 

spöttisch. »Einen wie dich leg ich noch allemal flach. Ich war einst 
fahrender Preiskämpfer, bevor ich mich hier niederließ!« 

Roland kam sich erbärmlich vor. Die Schmach nagte an seinem 

Ritterstolz. Welche Demütigung, noch dazu vor den Augen einer 
Jungfer! 

Anton rief Christhilde herbei. Sie eilte mit wogendem Busen heran. 

Auf Geheiß ihres Vaters hin band sie Roland die Hände auf den 
Rücken. Roland mußte es mit ohnmächtigem Zorn hinnehmen, denn 
Anton bedrohte ihn mit dem Schwert. Der Mann fesselte ihm noch 
die Füße und band ihn zusätzlich an ein Bein des schweren 
Eichenschrankes. Dann legte er Roland den Hut auf den kleinen 
Ritter. Er schickte seine Tochter in die Küche und trug ihr auf, dort 
zu bleiben, bis er zurück sei. 

Kurz darauf hörte Roland den Mann davonreiten. 
Um aus dem Ort einen Boten zu König Artus zu schicken! 
Roland preßte die Zähne aufeinander. 
Doch da hörte er huschende Schritte. 
Christhilde! 
Er drehte den Kopf und sah sie an. Ihre Wangen waren gerötet, und 

ihr Atem ging heftig. Und was er in ihren Augen las, ließ sein Herz 
schneller schlagen. 

Christhilde kam mit guten Absichten. 

Die Tür schwang knarrend auf. Es ging so schnell, daß Louis und 
Pierre, die sich gerade befreit hatten, nichts mehr unternehmen 

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konnten. 

Einer von Hektors Gesellen, wahrscheinlich dieser Lambert, 

tauchte in der Tür auf. 

Er hielt eine Laterne in der Hand. 
»He, ihr seid doch Knappen«, sagte er. »Ich habe mal eine Frage, 

Kollegen. Was verdient ihr denn so bei einem Rit...« 

Er hatte »Ritter« sagen wollen, doch er verstummte jäh, als er im 

Schein der Laterne sah, daß die Gefangenen nicht mehr gefesselt 
waren. 

Louis reagierte als erster. 
Er hechtete auf den überraschten Wachtposten zu. Lambert ließ vor 

Schreck die Lampe fallen. 

Louis fegte ihn von den Beinen. 
Da begann Lambert gellend zu schreien. 
Er schlug blindlings um sich und traf Louis mit dem Ellenbogen an 

der Wange. Louis sah augenblicklich Sterne. 

Immer noch brüllte Lambert wie am Spieß. 
Louis umklammerte ihn und hieb mit der Faust zu. 
Lambert riß das Messer aus der Scheide am breiten Ledergürtel. 

Die Klinge funkelte unheilvoll im Schein der Lampe. 

Lambert holte mit dem Messer aus! 
Doch da war Pierre heran. Bevor das Messer auf Louis zuschoß, 

trat Pierre zu. Lambert schrie auf. Das Messer flog ihm aus der Hand 
und klatschte gegen die offenstehende Tür. 

Louis hatte den Mann jetzt im Griff. Er hielt Lambert mit der 

Linken so fest umklammert, daß die Hilfe-Hilfe-Rufe in ein Röcheln 
übergingen. Dann nahm Louis Maß und schlug mit der geballten 
Rechten zu. 

Lambert wurde stumm und reglos. Doch im Lager wurde es laut 

und betriebsam. 

Aufgeregte Stimmen erschallten. Türen klappten, Schritte waren zu 

hören. 

»Schnell«, raunte Louis Pierre zu. »Das Messer  - und nichts wie 

weg!« 

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Noch etwas atemlos nach dem kurzen aber heftigen Kampf sprang 

er auf. Pierre hetzte bereits zur Tür. 

Vier Männer stürmten heran. 
Pierre hob das Messer auf. Louis rannte los, fort von den vier 

Kerlen, die ihm den Weg zum Zugang zur Schlucht versperrten, 
durch den sie mit der Kutsche gekommen waren. Louis hoffte, daß es 
einen zweiten Weg aus der Höllenklamm gab. Nur kurz spielte er mit 
dem Gedanken, sich den vier Burschen zu stellen, um vielleicht eine 
Waffe zu erbeuten und sich den Fluchtweg freizukämpfen. Doch 
weitere Gestalten tauchten auf, und Louis erkannte, daß bei der 
Übermacht ein Kampf zum Scheitern verurteilt sein mußte. 

Er hetzte an Hütten vorbei und erreichte tiefen Schatten. Doch sie 

hatten ihn natürlich gesehen. 

»Ihm nach!« brüllte einer der Verfolger. 
Louis warf einen schnellen Blick zurück. Sie hatten Pierre in die 

Zange genommen, Pierre versuchte, einen Haken zu schlagen. Einer 
der Räuber warf eine Keule. Sie traf Pierre in die Hacken. Er 
stolperte und stürzte. Im Nu waren die Kerle bei ihm. Pierre hatte 
keine Chance. Er ließ das Messer fallen und reckte die Arme hoch, 
als er Schwerter und Lanzen auf sich gerichtet sah. 

Louis fluchte lautlos. 
»Los, schnappt den anderen!« schrie jemand. 
»Gemach, gemach!« meinte ein anderer. »Der entkommt uns nicht. 

Es sei denn, er könnte klettern wie eine Gemse!" Es gab offenbar 
keinen zweiten Zugang zur Höllenklamm. Und am südlichen Zugang 
standen vier Posten auf Wache, wie Louis gesehen hatte, als sie in 
die Schlucht gefahren waren. Gehetzt sah Louis sich um. Rechts 
ragte steil die Felswand auf. Da hinauf konnte er nicht. Links über 
den bewaldeten Berg? Auch der stieg steil an, und es war viel zu weit 
bis dorthin. Unweigerlich würden sie ihn entdecken, wenn er über 
die freie Fläche lief. Ein Bogenschütze konnte ihn leicht erwischen, 
bevor er ins Dunkel der Bäume gelangen konnte. Und sie hatten 
zumindest einen treffsicheren Bogenschützen in der Bande. Er hörte, 
wie einer der Kerle Kommandos gab. Die Männer schwärmten aus. 

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Hufschlag klang auf. Es gab kein Entkommen. Blieb nur eines: Er 
mußte sich verstecken. Er huschte im Schatten an der Hüttenwand 
entlang. Er spähte durch das Fenster. Alles dunkel in der Hütte. 
Wenn er Glück hatte, war niemand darin. Und wenn jemand darin 
war, konnte er ihn vielleicht im Schlaf überraschen. Dann hatte er ein 
Faustpfand. Die Verfolger waren kaum noch dreißig Schritte 
entfernt. Er glaubte bereits ihr Hecheln zu hören. Es war zu spät, um 
zur Tür der Hütte zu gelangen. Er drückte gegen das Fenster. Es 
schwang nach innen auf! Louis zögerte keine Sekunde. Er stieg 
durch das Fenster in die Hütte. Nichts rührte sich. Doch  - da war ein 
Geräusch gewesen. Ein Mensch hatte scharf eingeatmet. Oder war es 
nur ein keuchender Atemzug von ihm selbst gewesen? Er lauschte 
mit angehaltenem Atem. Stille. Draußen näherten sich die Verfolger. 
»Er muß bei den Quartieren sein! Durchsucht die Hütten!« 

Louis zog schnell das Fenster zu. 
Diese verdammte Dunkelheit! 
Er tastete sich mit vorgehaltener Hand weiter. Offenbar war 

niemand in der Hütte. Aber sie würden sie durchsuchen. Er mußte 
ein Versteck finden. 

Der Schein einer Fackel fiel plötzlich durch das Fenster in die 

Hütte. 

Louis' Blick zuckte in die Runde. Da sah er die Frau. Sie lag im 

Bett und schlief offensichtlich tief und fest. Drei Schritte bis zum 
Bett, vier bis zum Schrank. 

Aus! durchfuhr es Louis. Jetzt mußte der Mann mit der Fackel 

durchs Fenster blicken und ihn entdecken! Oder die Frau mußte von 
dem Lärm erwachen und schreien! 

Gehetzt blickte er zum Fenster. Der" Mann mit der Fackel stürmte 

vorbei! Jemand gab draußen lautstark Kommandos, und offenbar war 
dem Mann eine andere Hütte zugeteilt worden. 

Louis atmete auf. Auf Zehenspitzen schlich er zum Bett. Wieder 

umgab ihn Finsternis. Nach drei Schritten ließ Louis sich auf die 
Knie nieder. Ein Blick zum Fenster. Wieder näherte sich Lichtschein. 
Louis kroch unter das Bett. Die Bettdecke reichte bis zum Boden und 

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verbarg ihn. 

Er lauschte. Die Frau schien immer noch zu schlafen. 
Jemand pochte gegen die Tür. 
»He, Adelgunde!« rief eine rauhe Stimme. 
»Dummbeutel!« ertönte eine andere Stimme vom Fenster her. 

»Damit warnst du ihn doch nur, wenn er da drinnen ist!« 

Das Bett quietschte und drückte auf Louis' Kreuz, daß er kaum 

noch Luft bekam. Adelgunde setzte sich offenbar auf. 

»Was ist los?« rief sie. »Bei dem Krach, den ihr macht,  kann man 

gar nicht schlafen!« 

»Erwin, siehst du was?« ertönte die rauhe Stimme an der Tür. 
»Und ob!« Erwin lachte. 
»Er ist da drin!« brüllte der Mann mit der rauhen Stimme. »Erwin 

kann ihn sehen!« 

Louis hielt den Atem an. Staub kitzelte die winzigen Härchen in 

seiner Nase und reizte ihn zum Niesen. Aber das war jetzt ohnehin 
gleichgültig. Sie hatten ihn entdeckt! 

»Quatsch!« rief da Erwin. »Ich sehe nicht ihn, sondern Adelgundes 

große Augen!« 

Stoff raschelte, und Adelgunde rief: »Du Ferkel, du! Glotz mich 

nicht so an!« 

Erwin lachte. »Man wird doch noch mal gucken dürfen!« 
»Scher dich davon, du lüsterner Kerl, oder ich beschwere mich bei 

Hektor!« 

»Gemach, gemach, ich tue nur meine Pflicht«, erwiderte Erwin 

verdrossen. »Einer der Gefangenen ist abgehauen und muß in einer 
der Hütten stecken. Wir müssen alles durchsuchen!« 

»Hier ist keiner«, sagte Adelgunde, und Louis hätte sie dafür 

küssen mögen. 

»Bist du sicher?« fragte Erwin lauernd. 
»Ganz sicher. Ich hätte doch gemerkt, wenn jemand bei mir 

reingekommen wäre.« 

Erwin lachte. »Das kann ich mir denken. He, ich werde trotzdem 

nachsehen, ob nicht jemand bei dir drin ist!« 

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»Ich weiß genau, was du willst, du Ferkel!« rief Adelgunde. 

»Verschwinde, oder ich rufe Hektor!« 

Stille. 
Louis kitzelte es in der Nase. Er preßte zwei Finger auf die 

Nasenflügel, um ein Niesen zu unterdrücken. Sollte das unglaubliche 
Glück, das er schon nicht mehr erhofft hatte, durch ein verdammtes 
»Hatschi« zunichte gemacht werden? Das fehlte gerade noch. 

»Schon gut, schon gut«, ertönte Erwins verdrossene Stimme. 

»Schlaf weiter, Jungfer Rührmichnichtan. Aber laß die Tür 
verschlossen und gib sofort Alarm, wenn du jemand hörst.« 

Er hob die Stimme. »Weiter, Männer! Hier ist er nicht.« 
Schritte entfernten sich. 
Das Bett ächzte leise, und der Druck auf Louis' Kreuz ließ nach. 

Adelgunde legte sich wieder hin. 

Louis frohlockte. 
Wenn die Räuber weit genug entfernt waren, vielleicht am 

Nordende der Schlucht suchten, und wenn Adelgunde wieder 
eingeschlafen war, dann konnte er... 

Die Stimme riß ihn jäh aus seinen Gedanken. 
»Du kannst rauskommen! Sie sind weg!« 
So ähnlich hatte Louis sich einmal gefühlt, als er einem Schmied 

bei der Arbeit geholfen und statt des glühenden Eisens seinen 
Daumen getroffen hatte. 

»Es hat dir wohl die Sprache verschlagen«, stellte Adelgunde 

treffend fest. Sie lachte leise. »Ich hab' dich schon gesehen, als du 
durchs Fenster stiegst. Was ist nun, willst du ewig unter dem Bett 
liegen, oder bei mir im Bett?« 

Welch eine Frage! Louis vergaß ganz, daß er eigentlich hätte 

niesen müssen. Unbewußt lächelte er und kroch flugs unter dem Bett 
hervor. 

Er mußte sich im Dunkeln vortasten, und was er da ertastete, 

weckte ein Prickeln in seinem Herzen und sonstwo. 

Adelgunde lachte leise, als er sich über sie hinweg tastete und 

schließlich einen äußerst behaglichen Platz gefunden hatte. 

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Sie schmiegte sich an ihn. 
Es wurde ihm heiß. 
Er spürte nackte Haut, die Hitze ihres Körpers. 
»Verzeiht, Jungfer ...«, begann er mit belegter Stimme. 
»Spar dir den Schmus«, unterbrach Adelgunde ihn, und dann 

spürte er ihre heißen, feuchten Lippen an seinem Ohrläppchen. Ihr 
Mund tastete sich über seinen Bart und fand seine Lippen. »Komm 
schon zur Sache. Oder bist du von schüchterner Natur?« 

Nun, Louis wollte auch nicht die Spur eines solchen Verdachtes 

aufkommen lassen. 

Er kam zur Sache. 
Diese Adelgunde war alles andere als ein Rührmichnichtan. 
Und eine Jungfer war sie auch nicht mehr. 

Anton Ehlers grinste. 

Er war nicht weit geritten. Er hatte sein Roß im Wald gelassen, war 

zu Fuß zurück geschlichen und beobachtete jetzt durch das Fenster 
der Kate seine Tochter und Ritter Roland. 

Vergnügt rieb er sich die Hände. 
Bald würde er die Kate gegen ein mittelgroßes Schlößchen 

eintauschen können. 

Er brauchte nur noch ein Weilchen zu warten, dann konnte er 

Ritter Roland in flagranti ertappen. 

Dann hatte er einen Ritter zum Schwiegersohn. 
Klar, daß Roland seine Christine Hildegard nicht entjungfern 

durfte, ohne dafür zu bezahlen. 

Er würde Christhilde heiraten müssen! Wenn nicht freiwillig, dann 

mußte man ihn ein bißchen mit dem Schwerte kitzeln. 

Kitzeln ist gut, dachte er amüsiert, hihi, weiter so ihr beiden! 

Christhilde nimm ihm doch schon den Hut ab! Nicht so verschämt, 
du dumme Gans. Ran an den Ritter! Du machst die Partie deines 
Lebens. Es geht nicht um irgendeinen Schweinehirten oder 

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Bauernlümmel von unserem Stande - es geht um Ritter Roland! 

Er hatte von Anfang an gewußt, daß Roland die Wahrheit sprach. 

Er hatte mal eine Zeichnung gesehen, die ein fahrender Künstler von 
dem berühmten Ritter angefertigt und feilgeboten hatte. Adelgunde 
hatte sich das Bild sehnlich gewünscht, doch der Künstler hatte einen 
Wucherpreis verlangt, den ein armer Landmann wie Ehlers nicht 
zahlen wollte und konnte. Er hatte Christhilde nur einen kurzen Blick 
auf das  Bild werfen lassen und behauptet, Ritter Roland sei gar nicht 
richtig getroffen. So war er den beleidigten Künstler losgeworden. 

Natürlich hatte der Meister des Pinsels Roland nicht nackt gemalt. 

Sondern in voller Rüstung mit dem Schwert am Kopf des 
feuerspeienden Drachen Fasolt. Als strahlender Sieger, von 
Sonnenstrahlen umkränzt, daß es fast wie ein Glorienschein aussah. 
Doch die Gesichtszüge waren unverkennbar dieselben. Und auch die 
Geschichte, die Roland erzählt hatte, stimmte haargenau. Er, Anton, 
hatte die Kutsche bei der Arbeit auf dem Feld in der Ferne vorbei-
fahren sehen. Er hatte sich über die Fahrtrichtung und die vielen 
Begleitreiter gewundert. 

Das waren die Räuber gewesen! 
Ja, es gab keinen Zweifel. Der Mann war der berühmte Ritter 

Roland. Und er - Anton Ehlers - war ein wahrer Glückspilz. 

Wie lange hatte er schon nach einem Mann für seine Christine 

Hildegard Ausschau gehalten  - nach einem wohlhabenden, versteht 
sich. Doch die reichen heirateten selten unter ihrem Stande. Es sei 
denn, man wendete eine kleine List an wie Anton Ehlers! 

Er strahlte. 
Die beiden waren ein schönes Paar. 
Sie küßten sich! 
Weiter Christhilde! flehte Anton Ehlers stumm. Mach ihm Feuer! 

Verdammt, hab' dich doch nicht so! Ja, schon besser. Der Hut, ja ... 
weiter, Goldkind ... 

Ein Scharren riß ihn aus seinen Gedanken. Er ruckte herum und 

wurde jäh aus seinen Träumen von einer goldenen Zukunft gerissen. 

Eine Keule sauste auf ihn herab. 

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Er wollte noch die Hand mit dem Schwert hochreißen, setzte zu 

einem Schrei an - doch es war alles zu spät. 

Der Keulenhieb löschte sein Bewußtsein aus. 
Der Mann, der zugeschlagen hatte, fing ihn auf und ließ ihn zu 

Boden gleiten. Das Schwert, das aus Antons kraftloser Hand glitt, 
konnte er nicht auffangen. Es fiel auf einen Stein. 

Der Mann erschrak bei dem hellen Klingen, und sein Blick zuckte 

zum Fenster der Kate. 

Drinnen blieb alles still. Er atmete auf. Das Geräusch war offenbar 

nicht gehört worden. 

Der Mann war Alfons, Bothos Nachfolger. 
Er hatte vergebens nach Rolands Leiche  gesucht. Er erinnerte sich 

genau an die Stelle, an der sie den Ritter zurückgelassen hatten. Doch 
Roland war spurlos verschwunden! Es war wie verhext! 

Entmutigt hatte er aufgeben wollen. Auf dem Rückritt hatte er sich 

schon ein Märchen ausgedacht, das er Hektor erzählen konnte, damit 
er nicht in Ungnade fiel, wenn er ohne den Ritterkopf zurückkehrte. 
Eine schöne Spukgeschichte. Doch dann hatte er vom Waldrand aus 
einen nur mit einem Hut bekleideten Mann in der Kate verschwinden 
sehen. Er selbst hatte Roland des Kettenhemdes und der Stiefel 
beraubt. Und wie er seine Kumpane kannte, hatte irgendeiner von 
ihnen auch noch Verwendung für die anderen Kleidungsstücke 
gehabt. Außerdem war ihm die Gestalt bekannt vorgekommen. 

Der Mann mußte Ritter Roland sein! Und er lebte! 
Alfons neigte ein wenig zum Aberglauben, und im ersten 

Augenblick dachte er an Magie, Zauber, Hexerei. Doch dann sagte 
ihm ein Rest von Verstand, daß es ganz egal war, ob Ritter Roland 
nun unsterblich oder von einer Hexe oder Fee wieder zum Leben 
erweckt worden war. Das Wichtigste war, daß es ihn noch gab. 

Jetzt konnte er Hektor nicht nur den Kopf bringen, sondern den 

ganzen Mann. Hektor würde vor Freude aus dem Häuschen sein. Bei 
seiner seltsamen Leidenschaft, Ritter zu sammeln! 

Da würde für ihn - Alfons - eine fette Belohnung herausspringen! 
Alfons legte den Knüppel ab und zückte sein Schwert. Auf 

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Zehenspitzen huschte er neben das Fenster. Er spähte vorsichtig in 
die Hütte. Und er grinste wie vorhin Anton. 

Denn es bot sich ihm ein recht pikanter Anblick. 
Roland und die Maid waren zu sehr miteinander beschäftigt, um 

etwas zu hören und zu sehen. Es würde kinderleicht sein, sie beim 
Liebesspiel zu überraschen. 

Einen Augenblick lang genoß Alfons den Anblick, der sich ihm 

bot, und er war äußerst neidisch auf Ritter Roland. Dann seufzte er 
und besann sich auf seinen Auftrag. 

Er packte das Schwert fester und wandte sich zur Tür. 

Christhildes Lippen waren weich und warm. Sie küßte Roland voller 
Leidenschaft. Und die Gefühle, die sie in ihm weckte, waren nicht 
nur Dankbarkeit. 

Sie hatte ihn befreit und war in seine Arme gesunken. Er möge ihr 

verzeihen, daß sie ihn nicht gleich erkannt habe, weil sie so aufgeregt 
gewesen sei. Jetzt sei sie noch erregter. Er möge auch ihrem Vater 
verzeihen. Er sei ein guter Mann. 

»Roland, wie oft habe ich von Euch geträumt«, hatte sie geseufzt. 

»Ich bin vergangen vor Sehnsucht, wenn ich mir vorstellte, in Euren 
starken Armen. zu liegen.« 

Nun, zu diesem Zeitpunkt sehnte sich Roland nach etwas anderem: 

Nach Kleidung, einem Schwert und einem Pferd. 

Doch geziemte es sich nicht für einen Ritter, ein so liebes 

sehnsüchtiges Mädchen wie diese Christhilde einfach von sich zu 
stoßen und zutiefst zu kränken. Zudem schuldete er ihr Dank. 

So nahm er sie in die Arme. Und er bedankte sich. 
Sie roch nach Stall und Schweiß und einem Hauch Lavendel. Eine 

aufregende Mischung. Ihr prächtiger Busen preßte sich gegen seine 
Brust. Ihre zarten Hände glitten über seinen Nacken, seinen Rücken, 
seine Hüften, sanft wie eine Feder. Sie mochte ein Landmädchen 
sein, im Stall und auf dem Feld arbeiten, doch sie hatte erstaunlich 

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zarte Hände. Und äußerst geschickte. 

Bald vergaß Roland alles um sich herum und gab sich ganz dem 

Genuß ihrer Zärtlichkeiten hin. Christhildes Feuer sprang auf ihn 
über und verlangte geradezu, gelöscht zu werden. 

Bis er dann das helle klingende Geräusch hörte. 
Es schien wie aus weiter Ferne in den Trommelwirbel seines 

Herzschlages zu dringen, doch es alarmierte ihn. 

Da war etwas. Etwas oder jemand. Vor der Kate. 
Er wollte sich von Christhilde lösen, doch sie küßte ihn so voller 

Glut und umklammerte ihn, als wollte sie ihn nie wieder loslassen. 

Im Nachhinein betrachtet rettete sie Roland damit, ohne es zu 

wissen. 

Roland erhaschte an ihrem zerzausten Haar vorbei einen Blick zum 

Fenster. Und er sah den Mann, der dort zuerst vorsichtig, dann 
mutiger hindurch spähte. 

Sofort erwiderte Roland Christhildes Zärtlichkeiten mit stärkerem 

Sturm und Drang. Sehr zu Christhildes Entzücken. Sie seufzte vor 
Wonne, und ihr Busen hob und senkte sich unter heftigen 
Atemzügen. 

Roland zog sie ein wenig herum, damit sie noch mehr die Sicht auf 

ihn verdeckte und peilte an ihrer süßen Haarschleife vorbei zum 
Fenster. 

Bis sich der Kerl grinsend zurückzog. Bestimmt nicht, um einen 

Spaziergang zu machen. 

Jetzt mußte etwas geschehen. Und zwar schnell. 
Zum Glück beendete Christhilde gerade den Kuß. Vielleicht war 

ihr bei dem langen Kuß die Luft weggeblieben. Vielleicht hatte er sie 
mit dem leidenschaftlichen Ausbruch zu noch gewagterem Spiel 
ermuntert. Vielleicht spürte sie auch, daß er auf einmal nicht mehr so 
recht bei der Sache war. 

Sie lächelte ihn verliebt an. Ihre Augen strahlten vor Glück. Sie 

streichelte über seinen Oberschenkel, hinauf zu seiner Hüfte und ... 

In diesem Augenblick flog die Tür auf. 
Christhilde hielt erschrocken inne und schrie auf. 

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Und die Ereignisse überstürzten sich. 
Roland sah Alfons mit gezücktem Schwert. Und er sah das 

Kettenhemd. Sein eigenes. Aus hunderten hätte er es wiedererkannt, 
denn es war von einem Schmied besonders gefertigt worden. 

Roland wußte, daß es um sein Leben ging. Deshalb verschwendete 

er keine Zeit mit einem zweiten Blick auf den Mann, sondern stieß 
Christhilde von sich und schnellte sich auf das Messer zu, mit dem 
sie  ihm die Stricke durchgeschnitten hatte. Sie hatte es achtlos fallen 
lassen, um sich in Rolands Arme zu werfen. 

Es war ein Küchenmesser. Kaum geeignet, um damit gegen ein 

Schwert bestehen zu können, aber besser als gar nichts. 

»Hab ich dich!« schrie Alfons siegesgewiß und stürmte mit 

erhobenem Schwert heran. Dann bemerkte er das Messer in Rolands 
Hand und blieb abrupt stehen. 

Christhilde sprang auf und flüchtete durch den Vorhang. Roland 

war froh, daß sie sich in Sicherheit brachte. Sie brauchte sein 
unrühmliches Ende nicht mitzuerleben. Und daß es ein unrühmliches 
werden würde, lag auf der Hand. Denn welche Chance hatte er mit 
dem Küchenmesser gegen das Schwert? 

Den gleichen Gedanken hatte wohl auch Alfons. Denn seine Miene 

hellte sich auf. Sein Lächeln war beinahe mitleidig. 

»Ergib dich, oder ich schneide dich in Scheiben!« erklärte er 

großspurig. 

Roland wußte, daß er nur einen Wurf mit dem Messer hatte. Wenn 

er den Räuber nicht traf, würde er kein zweites Mal zum Zuge 
kommen. 

Alles kam auf den richtigen Zeitpunkt an. 
Roland hob die Hand und tat, als hole er zum Wurf aus. 
»Ha, vor diesem Zahnstocher hab' ich keine Angst«, rief Alfons. 
Roland wich geduckt zur Seite aus. Er wollte zur Tür oder zum 

Fenster gelangen. 

Alfons erkannte Rolands Absicht. »Willst wohl feige davonlaufen, 

wie? Feiner Ritter, ha! Gib dir keine Mühe. Du entkommst mir 
nicht!« 

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»Der Feigling bist du«, erwiderte Roland. Er war jetzt am Tisch. 

»Wirf dein Schwert weg und wir kämpfen  es  aus wie Männer. Du 
kannst wählen zwischen Ring- oder Faustkampf.« 

Viel Hoffnung hegte Roland nicht, daß der Räuber auf seinen 

Vorschlag einging, doch er wollte es versuchen. 

Prompt schüttelte der Mann den Kopf. 
»Mit dem Schwerte bin ich besser! Wirf das Messer weg!« 
Drohend hob er das Schwert und trat geduckt näher. Er hatte nicht 

die Absicht, Roland zu töten. Er wollte ihn lebend. Doch das konnte 
Roland nicht ahnen. 

Statt das Messer wegzuwerfen riß Roland mit der Linken einen 

Stuhl hoch und schleuderte ihn gegen Alfons. 

Der Räuber duckte sich noch geistesgegenwärtig, doch das war ein 

Fehler, denn so hoch flog der Stuhl gar nicht. Alfons wäre besser zur 
Seite gesprungen. Der Stuhl knallte gegen seinen Schädel. 

Alfons schwankte, blieb aber auf den Beinen. Und in diesem 

Augenblick sah er in seinem Zorn rot. Jetzt wollte er Roland mit dem 
Schwert töten. Wutschnaubend sprang er auf ihn zu. 

Roland warf den schweren Eichentisch um. Der Tisch fiel dem 

Angreifer vor die Füße. Ein Teller zerklirrte, und Speckwürfel flogen 
durch den Raum. Alfons prallte erschrocken zurück, und sein 
Schwerthieb zischte ins Leere. 

Roland schnellte sich bereits auf die Tür zu. Das Messer reichte 

nicht zur Verteidigung. Draußen gab es Holzscheite, und er glaubte, 
an der Seitenwand der Hütte unter einem Vordach Werkzeuge 
gesehen zu  haben. Wenn ihn nicht alles täuschte, hing da sogar eine 
Sense. Das war schon eher ein Verteidigungsinstrument als dieses 
lächerliche Küchenmesserchen. 

Roland hatte jetzt große Hoffnung, das Blatt wenden zu können. Er 

war entschlossen, sich zum Kampfe zu stellen. Doch nur mit einer 
annähernd brauchbaren Waffe. Er wollte nicht fliehen, doch für 
Alfons sah es so aus. 

»Du feiger ...«, begann er. Dann jaulte er auf. 
Roland hatte das Küchenmesser geschleudert. Es traf Alfons am 

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linken Arm. Es blieb sogar stecken, doch die Verletzung war äußerst 
geringfügig. Roland hatte das Messer nur geworfen, weil es ihm im 
Augenblick so nutzlos vorkam wie Zitzen bei einem Eber. Er wollte 
freie Hand haben. 

Jetzt gewann er zusätzlich wertvolle Sekunden. 
Alfons starrte auf seinen Arm. Er war im Grunde seines Wesens 

ein wehleidiger Bursche. Er bemitleidete sich ein bißchen, dann 
schüttelte er den Arm, und das Messer fiel zu Boden. 

Mit einem Wutschrei stürmte Alfons hinter Roland her. Er rutschte 

auf einem Speckwürfel aus, strauchelte, fing sich jedoch wieder. 

Roland war schon durch die Tür. Eigentlich auf dem Weg zur 

Sense. Doch da fiel sein Blick auf Anton Ehlers reglose Gestalt, auf 
die Keule und - auf das Schwert! 

Roland sprang hin, ergriff das Schwert und wirbelte herum. 

Gerade, als Alfons aus der Kate stürmte, grimmig entschlossen, 
Ritter Roland den Garaus zu machen. 

Der Räuber sah das Schwert in der Morgensonne funkeln, und er 

blieb stehen, als sei er gegen eine unsichtbare Burgmauer geprallt. 
Ihm fiel ein, was er über Ritter Rolands Fechtkünste gehört hatte, 
und es dämmerte ihm, daß es mit dem Garaus nicht so leicht werden 
würde. 

Ritter Roland frohlockte. Plötzlich fühlte er sich nicht mehr nackt, 

obwohl er es war. 

»Wie war das noch mit dem Scheibenschneiden?« rief er. 
Natürlich dachte Roland nicht daran, den Räuber zu töten. Wenn es 

etwas Wertvolles an diesem verkommenen Kerl gab, dann war es 
sein Leben  - und sein Wissen. Ersteres wollte Roland schonen, um 
zweitgenanntes herauszulocken. Aber der Bursche sollte ruhig 
glauben, es sei blutiger Ernst. So verlor er seine Sicherheit und ließ 
sich vielleicht zu unbedachtem Angriff verleiten. 

Alfons wurde eine Spur blasser. Doch trotzig reckte er Kinn und 

Schwert vor und griff ungestüm an. 

Roland parierte den Hieb. Und schon klirrten die Schwerter in 

wildem Kampf. 

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Alfons war nicht ungeübt im Schwertkampf. Er schlug in der Tat 

eine recht flotte Klinge. Doch schon bald erkannte Roland, daß der 
Räuber kein ebenbürtiger Gegner war. Er schlug nicht mit Verstand, 
sondern mit Wucht, und er handhabte das Schwert nicht mit kunst-
vollem Schwung, sondern mit plumper Kraft, was ihn zwangsläufig 
schneller ermüden mußte. 

Roland hielt sich bewußt etwas zurück, um den Gegner dazu zu 

verleiten, kühner zu werden und einen Fehler zu begehen. 

Hell klangen die Schwerter, daß die Funken stieben. 
Roland wich etwas zurück, um den Räuber von dem bewußtlosen 

Anton Ehlers fortzulocken. Als er ihn weit genug hatte, konterte 
Roland und trieb  den Gegner ein Stück auf die Hüttenwand zu, fort 
von der Tür, damit der Kerl nicht auf die Idee kam, durch das Haus 
zu fliehen und womöglich noch Christhilde als Schutzschild nahm. 

Roland sah seine Chance gekommen. Er wollte gerade einen 

Fehler des Gegners ausnutzen und ihm das Schwert aus der Hand 
schmettern, als er aus den Augenwinkeln heraus Christhilde sah. Sie 
war auf der Türschwelle aufgetaucht. Mit großen Augen verfolgte sie 
den Kampf. Bewundernd und besorgt zugleich. 

Da gab Roland noch eine kleine Zugabe. 
Es ärgerte ihn nämlich immer noch ein bißchen, daß sie gesehen 

hatte, welch jämmerlichen Anblick er bei dem kurzen Kampf mit 
ihrem Vater geboten hatte. 

Wild kreuzte er mit dem Räuber die Klinge. Er trieb ihn zurück bis 

an die Hüttenwand und ließ ihm dann wieder etwas Luft. Er fintierte 
und zeigte ein paar elegante Tricks. Doch dann schalt er sich einen 
Narren, weil er sich zu solch eitler Gebärde hatte hinreißen lassen. 

Er beendete den Kampf. 
Er ließ den Räuber angreifen, tat als stolpere er, und Alfons fiel 

darauf herein. Er sprang plötzlich vor, um Roland den Todesstoß zu 
versetzen. Denn längst hatte er erkannt, welch starker Gegner Roland 
war, und er hatte mit wachsender Verzweiflung auf eine Chance 
gehofft. Jetzt glaubte er, sie sei da. 

»Stirb!« schrie er triumphierend. Dann weiteten sich seine Augen 

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vor Entsetzen. Roland hatte sich im allerletzten Moment blitzartig 
zur Seite geschnellt, und das Schwert stieß an seiner Schulter vorbei 
in die klare Morgenluft. 

Alfons konnte seinen Schwung nicht mehr abfangen und Rolands 

Schlag nicht mehr parieren. 

Mit einem kraftvollen Hieb schmetterte Roland ihm das Schwert 

aus der Hand. 

Alfons strauchelte unter der Wucht des Schlages und verlor das 

Gleichgewicht. Er stürzte. Bevor er sein Schwert vom Boden 
hochreißen und aufspringen konnte, war Roland über ihm und setzte 
ihm die Klinge an die Kehle. 

Alfons' Augen quollen fast aus den Höhlen. Todesangst flackerte 

in seinem Blick. 

»G-gnade«, stammelte er kaum hörbar. 
»Die hast du vermutlich nicht verdient«, sagte Roland. »Aber du 

hast Glück, daß ich ein Ritter bin und es für unlauter und feige halte, 
einem bereits geschlagenen Feinde, der kein ebenbürtiger Gegner 
war, den Todesstoß zu versetzen. Außerdem betrachte ich dich jetzt 
nicht mehr als Feind.« 

»Nicht?« Alfons war erleichtert und verwundert zugleich. 
»Natürlich auch nicht als Freund, mein Freundchen«, erklärte 

Roland lächelnd. »Sagen wir lieber  - als Singvögelchen. Du wirst mir 
alles zwitschern, was ich hören will. Dafür lasse ich dich am Leben. 
In Ordnung?« 

Alfons wollte nicken, doch er schielte nach dem Schwert an seiner 

Kehle und besann sich eines anderen. 

»Ja  - ja«, stammelte er. Er hatte gehört, daß Ritter eine besondere 

Ehre haben sollten. Man hatte unter seinesgleichen Witze darüber 
gemacht und es als Märchen bezeichnet. So ganz glaubte Alfons 
immer noch nicht daran, daß Roland ihn am Leben lassen wollte. 
Hektor war auch ein Ritter, und der war hinterlistig und würde 
keinen verschonen ... 

»Ich  - sage alles!« versprach, »wenn Ihr mich am Leben laßt, Ritter 

Roland!« 

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»Fangen wir mit dem leichtesten an. Wie heißt du?« 
»A-a-alfons.« 
Roland lächelte. »Na fein, A-a-alfons. Zuerst gibst du mir mein 

Kettenhemd und die Stiefel zurück. Ich bin lange genug nackt durch 
die Gegend gelaufen. Deine Hose wirst du mir leihen.« 

»Aber dann bin ich ja nackt!« entfuhr es Alfons. 
»So ist es. Nicht gerade angenehm. Vielleicht borgt dir der Mann 

da eine Hose.« Er nickte zu Anton Ehlers hin, der sich schon seit ein 
paar Sekunden aufgesetzt hatte und wieder klarer sah. 

Anton tastete stöhnend an seinen Kopf und fluchte. »Umbringen tu 

ich den Hundsfott!« ächzte er. 

»Da hörst du's«, sagte Roland zu Alfons. »Du hättest ihn 

freundlicher behandeln sollen.« 

Er warf einen Blick zu Christhilde Ehlers. Sie starrte ihn immer 

noch an. Ihre Wangen glühten, und ihre Augen glänzten. Ihr Blick 
glitt hoch an seinem muskulösen Körper, und sie sah ihm lächelnd in 
die Augen. 

Ein schönes Mädchen, dachte er. Voller Glut und Hingabe. Ein 

Vollblut. Eigentlich zu schade, um hier bei der Landarbeit zu 
verblühen. Auf Camelot wird eine Zofe gebraucht. Vielleicht wird 
sie sich für das Angebot interessieren ... 

Anton rappelte sich auf und bemerkte seine Tochter. »Was starrst 

du mich an wie eine kalbende Kuh!« fuhr er sie an. »Ins Haus mit 
dir!« 

An seinen Worten war einiges falsch. Erstens der Tonfall. 

Zweitens starrte sie nicht ihn, sondern immer noch Ritter Roland an. 
Und wirklich nicht wie eine Kuh, schon gar nicht wie eine kalbende. 
Eher wie eine, die sich in den Stier verliebt hat. 

Sie bedachte Roland noch mit einem langen zärtlichen Blick, dann 

röteten sich ihre Wangen noch mehr, und sie warf sich herum und 
lief ins Haus. 

»Hol ein paar Stricke für meinen Gefangenen«, sagte Roland zu 

ihrem Vater. 

Anton nickte und folgte Christhilde ins Haus. 

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Roland befahl Alfons, sich zu entkleiden. Die Unterhose ließ er 

ihm. Dann kam Alfons mit den Stricken. Auf Rolands Geheiß hin 
fesselte er den Räuber. Anton versetzte ihm einen Tritt und wollte 
sich auf den wehrlosen Mann stürzen, doch Roland ging dazwischen 
und verhinderte das. 

Zornig starrte Anton ihn an. »Der edle Ritter, was? Daß ich nicht 

lache. Ha!« Anklagend wies er mit dem Finger auf Roland. »Ihr habt 
meine Tochter geschwängert! Ich hab es genau gesehen! Und 
deshalb werdet Ihr sie heiraten, um der Ehre genug zu tun!« 

Roland blickte verdutzt. 
»Du beliebst zu scherzen«, murmelte er. 
Da sah er, wie Antons Blick zu dem Schwert des Räubers glitt, das 

nur ein paar Schritte entfernt im Sand lag. Er selbst hatte sein 
Schwert in den Boden gestoßen, nachdem  der Räuber gefesselt war. 
Er hatte sich endlich anziehen wollen. 

»Ich werde Euch zeigen, wer hier scherzt!« brüllte Anton Ehlers. 

Und schon stürzte er auf das Schwert zu. 

Er erreichte es nicht. 
Roland flog förmlich auf ihn zu und stieß ihn zu Boden. Anton 

schlug nach ihm. Roland erinnerte sich daran, daß der Mann erzählt 
hatte, er sei mal fahrender Preiskämpfer gewesen. Nun hatte Roland 
weder Zeit noch Lust, um herauszufinden, wie gut Anton noch 
kämpfen konnte. Deshalb machte er es kurz. Ein schneller Hieb  mit 
der Linken und ein Volltreffer mit der geballten Rechten, und Anton 
sah zum zweiten Mal an diesem Tag Sterne, die immer dunkler 
wurden, bis ihn tiefe Schwärze umfing. 

Roland seufzte und erhob sich. 
Er nahm das zweite Schwert an sich und ging zu dem Gefangenen. 

Er kleidete sich an. 

Dann stellte er Alfons mit grimmiger Miene die ersten Fragen. 
Alfons erwies sich als einer der gesprächigsten Räuber, denen 

Roland je begegnet war. 

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»Siegmund von Falkenried zur Kurzweil der Damen!« sagte der 
Wachtposten mit höhnischem Grinsen und verneigte sich übertrieben 
tief. 

Siegmund blieb an der Tür stehen und schaute zu Charlotte und 

Margot. Sein Herz pochte schneller. Er sah seine Braut, wenn auch 
unter widrigen Umständen. Und sie war noch schöner, als er sie sich 
in seinen Träumen vorgestellt hatte. 

»Nun geh schon, Sigi«, sagte der Wachtposten spöttisch. »Du hast 

nur fünf Minuten für die Hochzeitsnacht. Da mußt du dich schon 
sputen!« 

Siegmund errötete vor Zorn und Scham. Er wollte zu einer 

empörten Erwiderung ansetzen. Doch da gab ihm der Räuber einen 
wuchtigen Tritt. Siegmund stolperte und fiel vornüber. Auf allen 
vieren lag er da, den Damen praktisch vor den Füßen, und er fühlte 
sich gedemütigt wie nie. 

Der Wachtposten knallte die Tür zu und schob den Riegel vor. 
Siegmund war mit Charlotte und Margot allein. 
Er erhob sich und schaute Charlotte an. Sie musterte ihn ebenso 

wie Margot. Er lächelte zaghaft, und Charlotte senkte den Blick. 

Welch wunderschöne blaue Augen, dachte Siegmund bewegt, 

welch anmutige Figur! 

»Verzeiht mir ...«, begann er unbeholfen, und er fühlte sich 

verlegen, weil Charlotte und auch Margot ihn immer noch musterten, 
abschätzend, prüfend, wie ihm schien. 

»Ihr braucht Euch nicht zu entschuldigen«, sagte Charlotte. 
»Hätte ich ein Schwert gehabt, hätte ich mein Leben eingesetzt, um 

solch üble Rede zu unterbinden.« Siegmund blickte zu Margot, deren 
Hand auf der Wölbung ihres Leibes ruhte. »Noch dazu im Beisein 
Eurer Zofe, die guter Hoffnung ist«, fügte er hinzu und verneigte sich 
galant. 

»Es sind rüde Kerle«, sagte Margot und errötete leicht. »Sagt, wie 

kommt Ihr hierhin?« 

Siegmund gab die Antwort Charlotte. »Man lockte mich zum 

Erlengrund.« Er erzählte kurz von dem angeblichen Achsenbruch der 

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Kutsche. »... und so bin ich diesen Räubern in die Hände gefallen. 
Aber sorgt Euch nicht. Ich hörte, dieser Hektor hat einen Boten nach 
Falkenried geschickt. Er verlangt tausend Golddukaten Lösegeld. 
Vater soll es persönlich überbringen. Er wird kommen und uns 
freikaufen.« 

Charlotte nickte leicht. 
»Hat er denn soviel Dukaten zur Verfügung?« Es war Margot, die 

diese Frage leise stellte. 

Siegmund bemühte sich, seine Verlegenheit zu verbergen. Ob 

Charlotte wußte, wie es um Falkenried bestellt war, nämlich 
rabenschwarz? Daß nur die Mitgift die Ehre seines Vaters retten 
konnte? Es mußte so sein, denn sonst hätte ihre Zofe wohl kaum 
solch vorwitzige Frage gestellt. 

»Bestimmt«, versicherte er hastig. »Und wenn nicht  - äh  - nicht 

sofort verfügbar, dann spätestens in zwei Tagen. Wir von 
Falkenried...« 

Charlotte unterbrach ihn mit einer knappen Geste. »Ich bin sicher, 

daß Ihr Vater uns freikaufen wird«, sagte sie mit einem Lächeln. 

Siegmund nickte ein paarmal bekräftigend. 
Dann wußte er nichts mehr zu sagen. Es entstand eine Stille, die 

etwas Peinliches hatte. 

Die Zofe blickte ihn an, und Charlotte blickte ihn an, und er hatte 

nur ein paar Minuten Zeit, und es drängte ihn so vieles zu sagen, 
doch er fand einfach keine Worte. 

Verlegen schaute er von Charlotte zu Margot und wieder zurück. 

Verdammt, dachte er, wäre ich doch mit Charlotte allein! Die Zofe 
machte ihn irgendwie verlegen. 

»Geht es Euch gut«, fragte er, »ich meine unter den gegebenen 

Umständen?« 

Margot lächelte sanft, was ihr Gesicht ungemein verschönte, und 

Siegmund hatte das Gefühl, sie hatte die »Umstände« auf sich 
bezogen. 

Charlotte nickte. »Sorgt Euch nicht. Man läßt uns unbehelligt und 

verpflegt uns gut.« 

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»Das ist gut«, murmelte Siegmund, weil ihm nichts anders einfiel. 
Eine Faust pochte gegen die Tür. »He, Sigi, beeil dich«, rief der 

Posten. »Die Hochzeitsnacht ist gleich um!« 

Siegmund blickte ärgerlich zur Tür. Seine Wangen röteten sich von 

neuem. 

»Nun denn«, sagte er und blickte wieder Charlotte an. Er lächelte 

verlegen. »Dann muß ich wohl gehen.« Er schaute Charlotte in  die 
Augen. »Es - es hat mich gefreut, Eure Bekanntschaft zu machen.« 

Charlotte lächelte huldvoll und nickte leicht. Sie erhob sich und 

trat zu ihm. Sie bot ihm ihre Hand. Er küßte sie galant. Und plötzlich 
verschwand seine Verlegenheit, und er sagte kühn: »Ihr seid noch 
schöner, als ich dachte. Ich sehne die Stunde herbei, in der wir ... in 
Freiheit sind.« 

»Ich auch«, sagte Charlotte und zog ihre Hand fort. Und mit einem 

schnellen Blick zu Margot fügte sie hinzu: »Und vor allem Margot.« 

Margot erhob sich.  Schwerfällig. Sie trat zu ihm, und obwohl sie 

zwei Schritte vor ihm stand, berührte sie ihn fast mit ihrem Bauch. 
Sie lächelte und streckte die Hand aus. Siegmund glaubte schon, sie 
wolle sie ihm ebenfalls zum Handkuß reichen, was ein wenig 
ungewöhnlich für eine Zofe gewesen wäre. Doch sie berührte seine 
Stirn. Sanft, fast mütterlich liebevoll. 

»Ihr Ärmster seid verletzt«, sagte sie und streichelte ganz leicht 

über die Schramme, die er sich beim Sturz vom Pferd zugezogen 
hatte. 

Die Berührung weckte eine seltsames Gefühl in Siegmund. Und ihr 

Blick! Seltsam, solch Prickeln hatte er nicht bei Charlotte verspürt. 
Es war ihm äußerst peinlich, daß die Zofe ihn in Charlottes 
Gegenwart praktisch streichelte. 

»Es - es tut nicht weh«, sagte er und wich unbewußt etwas zurück. 
Der Riegel knarrte. Die Tür schwang auf. Der grinsende 

Wachtposten tauchte auf. In der einen Hand hielt er eine Laterne und 
in der anderen ein Schwert. 

»Ah, Sigi hat die Hosen wieder an«, sagte er spöttisch. »Darf ich 

bitten?« 

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Siegmund preßte die Lippen aufeinander. Seine Haltung straffte 

sich. Er verneigte sich vor Charlotte, dann knapper vor Margot. 

»Dann - auf bald!« 
Charlotte nickte. Margot lächelte ihn an, was ihn verwirrte. Er 

bedachte die Prinzessin noch mit einem langen glühenden  Blick, 
dann wandte er sich ruckartig um und verließ die Hütte. 

Der Räuber verriegelte die Tür. Er brachte Siegmund zu den 

anderen Gefangenen zurück. Nach ein paar Schritten blieb er 
plötzlich stehen. 

»Halt!« sagte er zu Siegmund und drückte ihm das Schwert in den 

Rücken. Siegmund verharrte. 

Der Räuber blickte in das Dunkel zwischen zwei Hütten. Er hatte 

ein Geräusch gehört. Das Kollern eines Steines. 

Er lauschte. 
Jetzt war alles still. 
»Da war doch was?« murmelte er. Er überlegte, ob er nachschauen 

sollte. Dann fiel ihm ein, daß er Siegmund nicht allein lassen konnte, 
und er zuckte mit den Schultern. 

»War wohl 'ne Ratte«, murmelte er. »Weiter!« 
Es war keine Ratte. 
Es war Louis. 
Der Knappe atmete auf, als die Schritte der beiden Männer 

verklangen. Er war  auf dem Weg zu der Höhle, in der die Männer 
gefangengehalten wurden. Auch Pierre hatten sie inzwischen dorthin 
gebracht. Louis hatte sich an den Hütten vorbeigeschlichen und war 
in Deckung gegangen, als der Wachtposten mit Siegmund 
gekommen war. Er hatte  das ganze Gespräch am vergitterten Fenster 
der Hütte, das nur mit einem Fell verhängt war, belauscht und darauf 
gewartet, daß der Räuber wieder verschwand. Als der Kerl mit 
Siegmund auf dem Rückweg gewesen war, hatte Louis um die Hütte 
schleichen wollen und war im Dunkel gegen einen Stein gestoßen. 

Er wollte gerade weiterschleichen, als er eine Frau in der Hütte 

sagen hörte: »Seid doch nicht so eifersüchtig. Was kann ich dafür, 
daß er mich schön findet!« 

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Louis lächelte. Frauenplauderei. Dann stutzte er. Das war 

Charlottes Stimme gewesen. Weshalb entschuldigte sich die 
Prinzessin bei der Zofe? 

»Du hättest ihn nicht so anzustarren brauchen. Und wie er dir die 

Hand geküßt hat!« 

»Wie ein vollendeter Kavalier.« 
»Er gefällt dir also?« Margots Frage klang gespannt. 
Louis zog das Fell am Fenster ein wenig zur Seite und spähte in die 

Hütte. Die beiden Frauen standen sich gegenüber. Fast wie 
Rivalinnen, dachte Louis amüsiert. 

»Er sieht nicht übel aus«, sagte Charlotte. 
»Er sieht  gut  aus«, erwiderte die schwangere Margot heftig, als 

gelte es Siegmund zu verteidigen. 

»Mir gefallen Schwarzhaarige besser«, bekannte Charlotte. »Und 

groß und verwegen müssen sie sein. So wie der Knappe Louis.« 

Louis grinste geschmeichelt. 
»Schade, daß er einen Bart hat«, fuhr Charlotte mit  verträumten 

Tonfall fort. 

»Wenn er keinen hätte, würde ich mich vielleicht in ihn verlieben.« 
Louis kratzte sich am Bart und überlegte, ob er ihn nicht 

gelegentlich abrasieren sollte. 

Charlotte seufzte. »Aber ohne Bart sähe Louis bestimmt nicht 

mehr so wild und kühn aus.« 

Louis nickte zustimmend vor sich hin. 
»Man kann eben nicht alles haben«, sagte Margot. »Ich zum 

Beispiel mag blonde Männer. Und Bärtige. Wenn Roland  - er sei 
selig  - einen blonden Bart gehabt hätte, hätte ich mich unsterblich in 
ihn verliebt. Nun, ich werde dafür sorgen, daß Siegmund sich einen 
Bart wachsen läßt, wenn wir erst verheiratet sind.« 

Louis hatte sich die ganze Zeit über verwundert gefragt, was da 

gespielt wurde. Jetzt war  es  heraus. Die beiden Frauen hatten die 
Rollen vertauscht! Charlotte, die sich als Prinzessin ausgegeben 
hatte, war in Wirklichkeit die Zofe. Und Margot war die Prinzessin. 
Die schwangere Margot! 

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Und Sigi wußte noch nichts von seinem Glück! Er ahnte nichts von 

der besonderen Mitgift. Er war praktisch schon  Vater, ohne einen 
Finger gerührt zu haben! 

Diese Weiber! dachte Louis kopfschüttelnd. Aber irgendwann muß 

der Schwindel doch auffliegen, müssen sie Farbe bekennen! 

Margot strich über die Wölbung ihres Leibes. »Hoffen wir, daß 

alles gut geht.« 

Charlotte lachte leise. »In diesem Fall bin  ich  guter Hoffnung. 

Denn die Zeit arbeitet für uns.« 

Was hat das zu bedeuten? überlegte Louis. Was wird da gespielt? 

König Artus wischte sich müde über die Augen. Der Morgen graute 
bereits, doch der König saß immer noch im Rittersaal. 

Die Kerzen waren fast heruntergebrannt. Ein Diener betrat auf 

Zehenspitzen den Raum und ersetzte die Kerzen durch neue. 

König Artus schien es gar nicht zu bemerken. 
Leise entfernte sich der Diener. Er wußte, in welcher Verfassung 

sich der König befand. Er war dabei gewesen, als König Artus die 
Botschaft erhalten hatte. 

König Artus starrte vor sich hin. Seine sonst so listig funkelnden 

Augen blickten stumpf und waren rotgerändert. 

In dieser Nacht hatte er keinen Schlaf gefunden. Er hatte das 

Gefühl, er würde nie mehr ruhig schlafen können. Es war ihm, als sei 
etwas in ihm abgestorben. 

Wie in Trance starrte er auf die Botschaft, die vor ihm lag, und die 

er inzwischen schon auswendig kannte. Jedes Wort hatte sich 
förmlich in ihm eingebrannt. 

WIR HABEN EURE KUTSCHE MIT MANN UND MÄUSEN! 

SPRICH EURE NICHTE PRINZESSIN CHARLOTTE! WENN 
IHR SIE LEBEND WIEDERSEHEN WOLLT, SO SCHICKT 
RITTER RUDOLF SONNTAGNACHT ZUM ERLENGRUND, 
DORT TRIFFT ER EINEN BOTEN, DER IHM EINE WEITERE 

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BOTSCHAFT MIT ANWEISUNGEN ÜBERGIBT! RITTER 
RUDOLF SOLL ALLEIN KOMMEN! 

Ritter Rudolf, der Vater der Prinzessin, war bereits informiert und 

mußte bald auf Camelot eintreffen. 

Die Nachricht von der Entführung der Prinzessin hatte König Artus 

nicht sonderlich beeindruckt. Damit hatte er gerechnet. Es gehörte zu 
seinem Plan. Es galt einen Verräter zu entlarven und die Spur zu den 
verschollenen Rittern zu finden, die irgendwo tief im Frankenwald 
gefangengehalten werden sollten. 

Im großen und ganzen hatte der riskante Plan geklappt, trotz der 

Fehler. Aber die Fehler waren Ritter Roland zum Verhängnis 
geworden. 

König Artus schluckte und blickte auf die Botschaft der Räuber. 

Die Schrift verschwamm vor seinen Augen. 

P.S. ÜBRIGENS KÖNNEN WIR MIT RITTER ROLAND 

NICHT MEHR DIENEN! ER IST TOT! ABER WENN IHR 
INTERESSIERT SEID, KÖNNT IHR VON UNS ROLANDS KOPF 
KAUFEN! WIR WERDEN IHN EINSTWEILEN GUT 
AUFBEWAHREN. 

König Artus wischte sich mit einer fahrigen Bewegung über die 

Augen. 

Ritter Roland tot! 
Er glaubte ihn vor  sich zu sehen, lächelnd nach einer Ruhmestat. 

König Artus glaubte, einen Sohn verloren zu haben. Ein Stück von 
sich selbst. 

Nie würde er damit fertig werden können. Warum nur hatte er 

Roland nicht in seinen Plan eingeweiht? Warum nur hatte er ihn in 
dem Glauben gelassen, es gelte nur die Prinzessin zu begleiten. Hätte 
er ihm doch von der Mitgift erzählt, von dem ganzen Ausmaß des 
Planes! Aber die Zeit hatte gedrängt. Ritter Egbert von Falkenried 
brauchte Hilfe. Und zwar schnell. Und König Artus hatte gleich 
mehrere Fliegen mit einer Klappe schlagen wollen. 

Er hatte einen Geheimkurier mit schriftlichen Instruktionen zu 

Roland geschickt. Doch der Kurier hatte versagt. Die Botschaft war 

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ihm ins Feuer gefallen. Ein lächerlicher und doch so 
verhängnisvoller Zufall! Der Kurier hatte noch ein Stück des Papiers 
gerettet. Den Anfang der Botschaft. Daraus war nur hervorgegangen, 
daß Roland Prinzessin Charlotte nebst Zofe von Rudolfs Burg aus so 
schnell wie möglich nach Burg Falkenried bringen sollte. Das hatte 
der Kurier mündlich ausgerichtet und in seiner Angst vor Strafe 
verschwiegen, daß die Botschaft wesentlich länger gewesen war. Zur 
Zeit hockte der Unglückselige im Kerker. Bei seiner Rückkehr nach 
Camelot hatte er doch noch den Mut gefunden, sein Mißgeschick 
einzugestehen. König Artus hatte sofort einen Boten losgeschickt, 
um Roland doch noch in Kenntnis zu setzen. 

Zu spät. 
Roland hatte nichts von der Mitgift gewußt, nichts von dem 

Verräter, den es zu entlarven galt, nichts von dem Plan. 

Er war ahnungslos ins Verderben geritten, denn Charlotte und 

Margot, die eingeweiht waren, hatten sich zu strengstem 
Stillschweigen verpflichtet. 

Hätte Roland die Botschaft erhalten, hätte er sich widerstandslos 

gefangennehmen lassen. So mußte er heldenhaft bis zum letzten 
Atemzug gekämpft haben! 

Das Versagen des Kuriers war nicht die einzige Panne gewesen. 

Auch der Späher, der unbemerkt der Kutsche bis zum Versteck der 
Räuberbande hatte folgen sollen, hatte versagt. Sein Pferd hatte ein 
Eisen verloren und gelahmt, und der Mann hatte den Anschluß an die 
Kutsche verloren. Später hatte ein Unwetter alle Spuren ausgelöscht, 
und er war unverrichteter Dinge nach Camelot zurückgekehrt. 

Zwei unglückliche Zufälle! 
Aber das war keine Entschuldigung. König Artus schüttelte 

unbewußt den Kopf. Er hätte andere Männer beauftragen müssen. Er 
hätte auch solche Unwägbarkeiten in Betracht ziehen müssen. 

Nein, es gab keine Entschuldigung. 
Er  - König Artus  - hatte Ritter Roland ahnungslos in den Tod 

geschickt! 

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Nun ist auch ein König nicht allwissend. König Artus konnte nicht 
ahnen, daß Roland zu diesem Zeitpunkt recht lebendig war. 

Roland hatte von Alfons alle Informationen bekommen, die er 

brauchte, und er hatte alle Vorbereitungen getroffen, um die 
Gefangenen zu befreien. 

Christhilde war überglücklich gewesen, als Roland ihr angeboten 

hatte, Zofe auf Camelot zu werden. 

»Sehe ich Euch dann öfter?« hatte sie hoffnungsvoll gefragt. 
Roland hatte duchblicken lassen, daß dies durchaus möglich sein 

könne. Aber versprochen hatte er nichts. Christhilde gefiel ihm, doch 
Zukunftspläne hatte er nicht mit ihr. Das hatte er auch ihrem Vater 
klargemacht, dessen Spiel er durchschaut hatte. 

In Birkenfeld hatte Roland alles bekommen, was er brauchte, 

nachdem Anton Ehlers überall herumerzählt hatte, daß der berühmte 
Ritter Roland ihn besucht hätte und sich für seine Tochter 
interessiere. Nun hatten einige Familien in dem kleinen Ort ebenfalls 
Töchter, ansehnliche und weniger hübsche, und jeder bemühte sich, 
Roland zu Diensten zu sein. Er beteuerte zwar, daß er nicht auf 
Brautschau sei, doch niemand glaubte ihm das so recht. 

Roland saß in der Schenke bei Speis und Met. Der Wirt hatte eine 

dicke Tochter, die ein wenig schielte, sich aber Hoffnungen machte 
und das beste auftrug, was die Küche zu bieten hatte. Gratis versteht 
sich, was Roland nur recht war, denn er besaß zur Zeit ja keinen 
einzigen Silbergroschen. Er nahm sich vor, später all diese 
hilfreichen Leute großzügig zu entlohnen und erfreute sich der 
Annehmlichkeiten. 

Da traf der Bote von König Artus ein. Er war bis nach Falkenried 

geritten und hatte dort erfahren, daß die Kutsche dort nicht 
eingetroffen und daß Siegmund verschwunden war. Er war auf dem 
Weg zurückgeritten, hatte nach dem Verbleib der Kutsche geforscht 
und überall nach Ritter Roland gefragt. Sein Weg hatte ihn auch zu 
Anton Ehlers Kate geführt, und der Landmann hatte ihn nach 

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Birkenfeld zu Roland geschickt. 

Roland fiel aus allen Wolken, als er die Botschaft las. Sie hatten 

ein Vermögen nach Falkenried bringen sollen! Und mit dem Überfall 
war von Anfang an zu rechnen gewesen, ja er war den Räubern 
geradezu angetragen worden! 

Er  - Ritter Roland  - hatte die Damen ganz allein nach Falkenried 

begleiten sollen. Ohne Knappen. Und ohne Volker vom Hohentwiel, 
den er mehr oder weniger durch Zufall mitgenommen hatte. Nicht 
einmal Kutscher hatten dabei sein sollen! 

Denn es galt, den Köder für einen Mann zu spielen, von dem 

niemand etwas wußte, außer, daß er Ritter sammelte und sie 
gefangenhielt. 

Sieben Ritter waren bereits in seiner Gewalt, wie König Artus 

wußte. Roland hatte der achte werden sollen. 

Für ihn hätte keine Lebensgefahr bestanden. Denn der unheimliche 

Räuber ließ von seiner Horde Ritter lebend fangen und hielt sie aus 
irgendeinem Grund gefangen. Auch die Frauen waren nicht 
gefährdet, denn der Räuber gab sich als Ritter aus und behandelte 
Damen wie ein Kavalier. Mit Margots und Charlottes Hilfe sollte 
Roland befreit werden. In einem günstigen Augenblick sollte Roland 
dann die gefangenen Ritter befreien. Zugleich wollte König Artus 
einen starken Reitertrupp zur Unterstützung schicken, der sie alle aus 
dem Versteck befreien sollte. 

Es war ein Plan, der auf einer Reihe von Informationen fußte, die 

ein ehemaliges Bandenmitglied auf dem Sterbebett einem 
Verwandten anvertraut hatte, der daraufhin den König informiert 
hatte. 

An einer Stelle mußte Roland trotz seiner Anspannung sogar 

schmunzeln. Als die Rolle der beiden Frauen erwähnt wurde. Da 
hatte König Artus gleich mehrere Fliegen mit einer Klappe schlagen 
wollen. Ein raffinierter Plan. Und alles wäre gutgegangen, wenn 
nicht ein dummer Kurier und ein Späher versagt hätten, wie Roland 
von dem zweiten Kurier erfuhr, den Artus Roland nachgeschickt 
hatte. 

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Hätte Roland Bescheid gewußt, hätte er nicht seine Knappen und 

Volker mitgenommen. Und das beinahe tödliche Intermezzo hätte 
nicht stattgefunden. Aber warum hatten ihn Charlotte und Margot 
nicht eingeweiht? Nun, sie mußten angenommen haben, der König 
habe ihn über alles in Kenntnis gesetzt und es habe alles seine 
Richtigkeit. Sie  waren zum Schweigen verpflichtet worden und 
hatten sich daran gehalten. 

Würde das ein Wiedersehen geben! 
Roland bedankte sich bei dem Kurier und gab ihm eine Botschaft 

für König Artus mit. 

Dann traf er die restlichen Vorbereitungen für den Aufbruch. 
Er wollte so schnell wie möglich zur Höllenklamm. 

Etwas raschelte in der Dunkelheit. Louis erschrak. Er verharrte und 
lauschte. Es mußte irgendein Tier gewesen sein. Jetzt war wieder 
alles still. 

Louis tastete sich in der stockdunklen Höhle weiter. Es roch 

modrig. Staub rieselte auf den Knappen herab, als seine Hand über 
die rissige Felswand tastete. Er wischte sich Spinnweben vom 
Gesicht. Irgendwo tröpfelte Wasser. 

Der Stollen schien kein Ende zu nehmen. Nach ein paar weiteren 

Schritten gabelte er sich. Rechts war Lichtschein zu sehen. 

Louis huschte nach rechts weiter. 
Eine Fackel steckte in einem Eisenring, der in die Felswand 

getrieben war. Das einzige Licht für die Gefangenen. Sie waren 
angekettet und schliefen. Erbärmliche, abgemagerte Gestalten. 

Einstmals stolze Ritter. 
Louis schluckte bei dem Anblick. Er suchte nach Volker. Der 

Minnesänger war nicht angekettet. Sie hatten wohl keine Eisen mehr 
gehabt. Volker lag an Händen und Füßen mit Lederriemen gefesselt 
abseits von den anderen. Rechts schnarchte einer der Gefangenen, 
und Louis erkannte Pierres Gestalt. Daneben lag Siegmund. 

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Volker schreckte auf, als Louis ihn an der Schulter rüttelte. 
»Bist du das wirklich oder träume ich?« fragte er und blinzelte 

Louis an. 

Louis lachte leise. »Ich bin es«, erwiderte er im Flüsterton. 
»Wie kommst du her?« 
»Der Zugang zur Höhle wird nur von einem Mann bewacht. Ich 

hab gewartet, bis der Knabe sich seitwärts in die Büsche schlug, weil 
er mal mußte, und da bin ich. Den Kerl werden wir nachher lautlos 
überwältigen.« 

Er zog ein Messer hinter dem Hosenbund hervor. Adelgunde hatte 

es ihm besorgt. 

Volkers Augen wurden groß, als er das Messer sah. »Wie hast du 

dich befreien können?« 

Louis erzählte es leise, während er die Fesseln durchschnitt. 
»Und dann hat mir eine gute Fee geholfen«, erklärte er. 
Er lächelte bei dem Gedanken an Adelgunde. Ein prächtiges 

Mädchen. Sie hatte ihm unvergeßliche Wonnen bereitet. Er ihr aber 
auch. Den ganzen Tag über hatte  sie ihn in ihrem Bett versteckt. 
Louis hatte auf die nächste Nacht warten müssen, um im Schutz der 
Dunkelheit etwas unternehmen zu können. 

Adelgunde hatte natürlich Hektor bedienen müssen, doch sehr oft 

hatte sie sich auf ein Stündchen zu Louis stehlen können. 

Immer wieder war sie gekommen. 
Sie hatte Louis alles gesagt, was er wissen mußte. Als 

Gegenleistung hatte sie verlangt, daß er sie mitnehme und ihr eine 
Arbeit bei Hofe verschaffe. Louis hatte versprochen, sich für sie zu 
verwenden. 

Sie wartete jetzt auf ihn. 
In dieser Nacht wollten sie aus der Höllenklamm fliehen. 
Es war schon alles vorbereitet. 
Volker rieb sich die schmerzenden Gelenke. »Ich kann es noch gar 

nicht fassen«, flüsterte er. »Dieser Hektor ist wahnsinnig. Er hält die 
Ritter gefangen,  um sie zu demütigen. Von Zeit zu Zeit bestellt er 
einen zu sich und läßt sich von ihm die Stiefel küssen! Der Mann ist 

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ein gefährlicher Irrer!« 

»Er ist ein Teufel«, krächzte einer der gefangenen Ritter, der 

erwacht war und Volkers Worte gehört hatte. »Wir  haben hier die 
Hölle erlebt!« 

»Wir nehmen den Verbrecher mit«, sagte Louis. »Ich habe 

folgenden Plan ...« 

Er verstummte. 
Schritte näherten sich. 
Gehetzt blickte er sich nach einem Versteck um. Es gab keines. 
Er sprang auf. 
»Bleibt alle liegen«, wisperte er Volker zu. »Ich verstecke mich in 

dem zweiten Gang und komme wieder, wenn die Luft rein ist.« 

Er schlich los. Vorsichtig spähte er um die Biegung. 
Es war zu spät. Er konnte nicht mehr unbemerkt in den anderen 

Gang gelangen. Verzweifelt suchte er nach einem Ausweg. 

Es gab nur eine Möglichkeit. 
Er huschte zurück. Volker sah ihn entsetzt an. Die Schritte 

mehrerer Männer hallten jetzt dumpf zur Höhle hin. 

Louis legte sich hinter Volker, dicht an die Felswand. Er konnte 

nur hoffen, daß die Räuber ihn im schwachen Licht der flackernden 
Fackel nicht entdeckten. 

Er lauschte. Die Männer waren heran. Der Schein mehrer Fackeln 

erhellte plötzlich die Höhle! 

»Vorwärts, Ritter!« sagte einer der Räuber. Louis sah unter halb 

gesenkten Lidern den Gefangenen.  Er erkannte den Ritter. Es war 
Egbert von Falkenried. Man hatte ihn ebenso gefangengenommen 
wie seinen Sohn Siegmund. 

Einer der Räuber gab Egbert einen Stoß. Der Ritter stolperte und 

stürzte. Die Räuber lachten. Es waren drei. Einer trat jetzt zu Egbert 
und fesselte ihm noch die Füße. 

»Ih, stinkt das hier«, sagte er dabei. »Ich möchte wahrlich kein 

Ritter sein.« 

Die anderen lachten. 
»Wenn das so weitergeht, bekommen wir Lagerprobleme«, meinte 

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einer. »Jetzt sind's schon acht, und heute nacht soll noch einer 
eintreffen.« 

Louis sah, wie der Mann seinen Blick über die Gefangenen gleiten 

ließ. 

Es kann nicht gutgehen! durchfuhr es ihn. Sie entdecken mich! 
Da kam es auch schon. Der Mann starrte überrascht in seine 

Richtung und begann laut die Gefangenen zu zählen, von denen jetzt 
weitere aufgewacht waren und apathisch vor sich hinstarrten. 

Zum Schluß wies er auf Egbert und sagte verdutzt: »Neun!« 
»Du kannst nicht zählen«, brummte einer der Kumpane und 

wandte sich schon zum Gehen. 

Louis und auch Volker schickten ein Stoßgebet zum Himmel, daß 

man es dabei belassen würde. Es wurde nicht erhört. Der Räuber, der 
gezählt hatte, war ein hartnäckiger Bursche. 

Von neuem zählte er bis neun. Und er fügte treffend hinzu: »Einer 

zuviel.« 

Die beiden anderen hielten ihre Fackeln  höher und schauten sich 

ebenfalls um. 

»Du hast recht, Wenzel«, sagte einer. »Und ich dachte immer, du 

könntest nicht bis zehn zählen. Na, war ja auch nur bis neun.« Er 
lachte. 

Louis sah, wie sich die drei in Bewegung setzten, und er wußte, 

daß er keine Chance mehr hatte, unentdeckt zu bleiben. 

Er setzte alles auf eine Karte. Er sprang auf und griff die 

überraschten Kerle an. Den ersten fegte er mit einem wuchtigen Hieb 
zur Seite. Der Mann taumelte gegen die Felswand, und sein Schrei 
hallte schaurig durch die Höhle und den Stollen. 

Auch Volker war aufgesprungen. Er griff den zweiten Kerl an. Es 

gelang ihm, ihn mit einem Fausthieb niederzustrecken. 

Doch gegen den dritten hatten Louis und Volker keine Chance. 
Er blockierte mit vorgehaltenem Schwert den Weg. Louis verharrte 

abrupt. Fast wäre er in seinem Schwung gegen die Klinge gelaufen. 

»Bleib stehen, oder du hast ein Loch zuviel!« zischte der Räuber. 
Louis gehorchte und ballte die Hände in ohnmächtigem Zorn. 

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Mußten die Kerle ausgerechnet zu diesem Zeitpunkt einen neuen 

Gefangenen anschleppen! 

Die beiden anderen Räuber rappelten sich auf und bedrohten Louis 

und Volker mit Messer und Dolch. 

»Haben wir dich Hundsfott doch noch erwischt«, sagte einer von 

ihnen grimmig. Den ganzen Tag lang mußten wir die Gegend 
ringsum nach dir absuchen!« Er versetzte Louis einen Tritt. Louis 
taumelte gegen die Schwertspitze. Sie drang in seine Brust. Gottlob 
nicht tief.  Louis sah rot.  Er wirbelte herum. Aus der Drehung heraus 
schlug er mit der geballten Rechten zu und fegte den Kerl, der ihn 
getreten hatte, von den Beinen. 

Der Bursche flog auf einen der angeketteten Gefangenen, der 

erschrocken aufschrie. 

Louis hätte weitergekämpft. Trotz der Waffen der beiden  anderen. 

Doch da drückte der Mann mit dem Schwert Volker vom Hohentwiel 
die Klinge vor die Brust. Und er hörte im Stollen aufgeregte Rufe 
und eilig nahende Schritte. Verstärkung für die Räuber rückte an. Es 
gab kein Entrinnen. 

Adelgunde preßte eine Hand  vor den Mund, als sie sah, wie Louis 
gefesselt zum Lagerfeuer gebracht wurde. Bangen Herzens hatte sie 
auf Louis' Rückkehr gewartet. Sie hatte sich schon in feinen Kleidern 
bei Hofe gesehen und davon geträumt, daß dieser große starke Mann 
sie wieder in seinen Armen halten würde. 

Voller Entsetzen beobachtete sie, was da beim Lagerfeuer geschah, 

das eilig entfacht worden war, nachdem die Räuber Hektor 
informiert hatten. 

Zwei der Räuber stießen Louis zu Boden. Vor die Füße von 

Hektor, der breitbeinig und drohend dastand und finster auf den 
Gefangenen hinab starrte. 

Grollend erhob Hektor die Stimme, und seine Worte hallten durch 

die Höllenklamm und trieben Adelgunde einen Schauer über den 

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Rücken. 

»Du Lump bist dir wohl im klaren darüber, daß du dein Leben 

verwirkt hast!« 

Louis sagte nichts. 
»Es nützt dir auch nichts mehr, wenn du um Gnade bettelst!« 
Louis bettelte nicht. 
Hektor hatte es wohl erwartet. Er starrte Louis an und kratzte sich 

an der Narbe, die blutrot im Feuerschein schimmerte. 

Louis wollte sich erheben, doch einer der Räuber drückte ihm eine 

Lanze in den Rücken. Louis blieb liegen. Er blickte scheinbar 
furchtlos zu Hektor auf. Er verspürte Angst, doch er ließ sie sich 
nicht anmerken. 

»Nun, willst du nicht um Gnade flehen?« fragte Hektor. 
Louis flehte nicht. Er sah den tückischen Ausdruck von Hektors 

Augen und die spöttisch verzogenen Lippen, und er wußte, daß es 
ohnehin sinnlos gewesen wäre. 

»Es hätte auch keinen Zweck«, sagte Hektor grinsend. »Wer Ritter 

Hektors Kreise stört, der ist des Todes. Nun ich will großzügig sein. 
Hast du noch einen letzten Wunsch?« 

»Ja«, sagte Louis. 
Hektors wulstige Lippen verzogen sich zu einem noch breiteren 

Grinsen. »Nun, er hat in seiner Todesangst doch noch nicht die 
Sprache verloren. Laß deinen Wunsch hören, auf daß Ritter Hektor 
überlegt, ob er ihn gewähren wird.« 

Alle warteten gespannt auf Louis' Antwort. 
Und dann sagte Louis klar und vernehmlich: 
»Mein letzter Wunsch ist folgender  - fahr zur Hölle, du 

wahnsinniger Verbrecher!« 

Hektor zuckte zusammen wie unter einem Peitschenhieb. Sein 

Gesicht verzerrte sich. Einen Augenblick lang schien es, als wolle er 
sich auf den gefesselten Gefangenen stürzen. Doch dann hatte er sich 
wieder in der Gewalt. Er lachte böse. 

»Genau dorthin wirst du jetzt sausen!« Er gab einen herrischen 

Wink. »Wolfram!« 

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Der Hüne mit dem Morgenstern löste sich aus der Gruppe der 

zuschauenden Räuber und trat schwerfällig näher. 

»Ja, Ritter?« 
»Es gibt Arbeit für dich.« 
Wolfram, im Denken so schwerfällig wie in seinen Bewegungen, 

blickte  zu Louis und dann wieder zu Hektor. Die Eisenzacken des 
Morgensterns, den er in den Pranken drehte, schimmerte rötlich im 
Feuerschein. 

»Ritter, soll ich ihn ...?« fragte er, und es klang, als freue er sich 

über ein Geschenk, das ihm unerwartet zuteil wurde. 

»Was denn sonst, du Dummkopf!« fuhr Hektor ihn barsch an. 
»Wie bei Botho?« vergewisserte sich Wolfram. 
»Diesmal darfst du dreimal schlagen!« sagte Hektor und trat ein 

paar Schritte zurück. 

»Au fein!« Wolfram packte den Morgenstern fester. Dann blickte 

er auf Louis, und es sah aus, als nehme er Maß. 

Louis hatte mit seinem Leben abgeschlossen. Er schloß die Augen 

und betete, daß es schnell gehen möge. Er wußte, daß ihn nur noch 
ein Wunder retten konnte. Aber wann geschahen schon Wunder? 

Wolfram hob den Morgenstern mit beiden Händen. 
Das Geraune der Räuber war verstummt. Nur das Knacken 

brennender Äste im Feuer war zu hören. Alle starrten gebannt auf 
Wolfram und sein Opfer. 

Da geschah das Wunder! 
Das Wunder hieß Adelgunde. 
»Neiiiiin!« 
Der Aufschrei hallte durch die Höllenklamm. 
Wolfram blinzelte und verharrte. Er hatte gerade zuschlagen 

wollen. Der neue Befehl irritierte ihn. Er blickte fragend zu Hektor. 
Der wiederum wandte überrascht den Kopf und sah zu Adelgunde. 
Sie hatte ihr langes Kleid gerafft und rannte herbei. 

Hektors Miene verfinsterte sich. 
Adelgunde warf sich vor Hektor auf die Knie und rief schluchzend: 

»Verschont ihn, Herr, Gnade! Gnade!« 

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Das war der Tonfall, der einem Mann wie Hektor gefiel. Besonders 

schmeichelte ihm, daß Adelgunde ihn mit Herr angeredet hatte. Das 
war für ihn fast so gut wie »Ritter«. 

»Du flehst für ihn?« fragte er nur leicht grollend. 
»Ja  - bitte  - ich  - ich liebe - so etwas nicht.« Sie hatte sagen wollen: 

»Ich liebe ihn«, sich jedoch noch im letzten Augenblick besonnen. 
Wenn ihr das in ihrer Aufregung über die Lippen gekommen wäre, 
hätte sie damit Louis' Schicksal besiegelt. Denn Hektor betrachtete 
sie als sein Eigentum. Adelgunde konnte nicht lesen und nicht 
schreiben, doch sie war nicht dumm. Sie wußte, welche schwachen 
Stellen Hektor hatte, und sie nutzte ihr Wissen mit weiblicher 
Intuition. »Ich  - ich kann nicht mit ansehen, wie er stirbt«, fügte sie 
schnell hinzu. 

»Nun denn, so blick doch weg!« erwiderte Hektor spöttisch. Einige 

der Räuber lachten. 

Adelgunde, die vor Hektor kniete, verneigte sich. Gerade weit 

genug, damit er einen tiefen Einblick in den Ausschnitt ihres Kleides 
hatte. Sie war nicht gut im Rechnen, doch das war ihr großes 
Einmaleins. Es hatte bisher noch immer bei Männern gewirkt. 

Sie vergewisserte sich, daß Hektors Blick auf ihrem Busen ruhte 

und ein begehrliches Funkeln in seine Augen trat. Dann sagte sie: 

»Ihr verspracht mir neulich, daß ich einen Wunsch frei hätte.« Sie 

blickte demütig zu ihm auf. »Wißt Ihr noch, in der Nacht, als ich 
Euch einen besonderen Gefallen erwies. Nun  - ich verspreche Euch, 
wieder ...« 

Hektor gebot ihr mit einem herrischen Wink Schweigen. Er wirkte 

doch tatsächlich etwas verlegen! 

»Sie hat mir ein besonders scharfes Süppchen gekocht«, rief er zu 

seinen Männern hin. 

Einer kicherte, doch er verstummte sofort, als er Hektors giftigen 

Blick bemerkte. 

Hektor blickte wieder auf Adelgunde hinab. »In der Tat ließ ich 

mich dazu hinreißen, dir die Erfüllung eines Wunsches zu 
versprechen. Aber sag, warum bittest du nicht um Dukaten oder 

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Geschmeide? Warum bittest du für diesen Kerl?« 

»Er tut mir leid«, sagte Adelgunde. »Zeigt Eure Großherzigkeit, 

Ritter Hektor.« Sie blickte zu ihm auf und fügte mit einem 
berechnenden Lächeln leise hinzu: »Denkt an das scharfe 
Süppchen!« 

Hektor nagte an der Unterlippe. Er blickte unschlüssig von 

Adelgunde zu Louis und wieder zurück. 

Alle waren gespannt auf seine Entscheidung. 
Louis war natürlich am gespanntesten. 
Wolfram hielt immer noch den Morgenstern zum Schlag erhoben. 

Louis hoffte, daß dem Kerl nicht die Arme einschliefen, und ihm der 
Morgenstern auf den Kopf fiel. Mehr noch hoffte er, daß Adelgundes 
Wunsch erfüllt werden möge. 

Hektor spannte alle noch ein bißchen auf die Folter. Er genoß das 

Gefühl der Macht. Er fühlte sich als Herr über Leben und Tod. 

»Nun denn«, sagte er schließlich in die atemlose Stille. »Diese 

Nacht soll dieser Lump noch leben.« Er bedachte Adelgunde mit 
einem glühenden Blick. »Und morgen entscheide ich endgültig, was 
mit ihm geschieht.« Er gab seinen Männern einen Wink. »Schafft ihn 
mir aus den Augen!« 

Louis atmete auf. Adelgunde atmete auf. 
Wolfram ließ enttäuscht den Morgenstern sinken. Er ärgerte sich 

über Adelgunde. Nur weil sie gut kochen konnte, hatte Hektor ihn 
nicht zum Zuge kommen lassen! Zum Teufel mit den Weibern, 
dachte er. 

Vier der Räuber brachten den Gefangenen fort. 
Hektor kniff Adelgunde in den Po. Sie kreischte auf. Das gefiel 

ihm. »Nun kannst du Speis und Trank holen, auf daß ich mich stärke 
für später«, sagte er. 

Adelgunde nickte. 
Hektor wandte den Kopf, als er den Hufschlag vernahm. 
Ein Reiter galoppierte heran. Vermutlich Alfons mit Rolands 

Kopfe. Er hätte längst zurück sein müssen. 

Doch es war nicht Alfons. Hektors Miene verdüsterte sich. Aber 

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dann erkannte er den Reiter als Woldemar, und er sah ihm an, daß er 
frohe Kunde brachte. Plötzlich war Hektor von prickelnder Spannung 
erfüllt. 

Woldemar zügelte seinen braunen Hengst. 
Der Braune wieherte, als wolle er Hektor begrüßen. 
Woldemar grüßte ebenfalls. »Guten Abend, Ritter«, sagte er 

atemlos vom scharfen Ritt oder vor Aufregung. »Ich ritt geschwind 
voraus, um Euch ...« 

Hektor unterbrach ihn ungeduldig. »Faß er sich kurz! Habt ihr 

ihn?« 

»Ja«, sagte Woldemar. »Wir haben Ritter Rudolf.« 
In Hektors grünen Augen flammte es auf, und die Narbe an seiner 

Wange schien zu erglühen. 

Hektor war bester Stimmung. Er trank den vierten Becher Wein in 
einem Zug leer. Dann rülpste er leise und schickte einen kollernden 
Furz hinterher. Er hatte soviel gesäuertes Brot mit gesalzenem 
Schmalz zu besserem Durst gegessen, daß es ihm eine unsagbare 
Erleichterung verschaffte, ein wenig Luft abzulassen. Vielleicht war 
auch der Ochsenbraten, den er zu Mittag gespeist hatte, schuld an 
den Darmwinden. Zu anderer Stunde wäre Hektor mißgelaunt 
gewesen und hätte seinen Unmut an den Räubern und an Adelgunde 
und den anderen Mägden ausgelassen. Doch heute überraschte er alle 
mit seiner guten Laune. 

Statt Adelgunde zu kneifen, gab er ihr nur einen mittelstarken 

Klaps. Dann winkte er Wolfram herbei. Der Hüne stampfte mit 
geschultertem Morgenstern an das Feuer. 

»Ja, Ritter?« 
»Ich habe einen besonderen Auftrag für dich«, sagte Hektor. »Du 

kennst den Hohlweg rund dreihundert Klafter südlich von hier?« 

Wolfram kratzte sich mit der Linken an der Kniekehle. Das konnte 

er mühelos, ohne sich zu bücken, denn sein Arm baumelte bis zum 

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Knie hinab. Er überlegte, wo Süden sein mochte und blickte dann 
nach Westen. 

»Da hinten, du Depp!« sagte Hektor und wies zum einzigen 

Zugang der Schlucht. 

»Wolfram blickte in die angegebene Richtung. »Ja, Ritter.« 
»Fein. Dann wirst du dort Wache halten, bis ich dir eine Ablösung 

schicke.« 

»Aber da vorne wachen doch schon vier ...« 
»Besondere Ereignisse erfordern besondere 

Vorsichtsmaßnahmen«, unterbrach Hektor ihn mit einer Spur von 
Unmut. »Du gehst jetzt zu den Wachen und bleibst da, bis unser 
hoher Besuch eintrifft. Dann gehst du zu dem Hohlweg. Und du 
meldest den Wachen jeden, der sich nähert, mit einem Eulenschrei.« 

»Ich kann nur Käuzchen«, sagte Wolfram verlegen. 
»Dann Käuzchen, verdammt! Sprich das mit den anderen ab. 

Hauptsache ist, daß niemand unangemeldet an die Wachen 
herankommt. Es könnte nämlich sein, daß jemand unserem hohen 
Besuch folgt.« 

»Bei mir kommt niemand vorbei!« prahlte Wolfram und nahm den 

Morgenstern von der Schulter. 

Hektor seufzte. »Du sollst nicht kämpfen, sondern nur die Wachen 

warnen. Ist das klar?« 

»Klar.« 
»Gut. Dann troll dich.« 
Wolfram schritt schwerfällig davon. 
Er hatte gerade den Zugang zur Höllenklamm erreicht, als die 

Reiter eintrafen. Wolfram warf einen Blick auf den Gefangenen, der 
gefesselt quer über dem Pferd lag und festgebunden war. Hoher 
Besuch hatte Hektor gesagt. Man konnte beinahe glauben, dieser 
Ritter Rudolf sei etwas Besonderes. Soviel Aufhebens hatte er wegen 
der anderen Ritter nicht gemacht. 

Wolfram zuckte mit den Schultern und setzte seinen Weg fort. 
Derweil erreichten die Reiter das Feuer und zügelten ihre Pferde. 
Hektor erhob sich und gab Anweisungen. Fackeln wurden 

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angezündet. Jemand band Ritter Rudolf vom Pferd und warf ihn 
hinab. 

Ritter Rudolf landete im Dreck, fast vor Hektors Stiefelspitzen. 
»Willkommen, Ritter Rudolf«, sagte Hektor spöttisch. »Es ist mir, 

Ritter Hektor, ein besonderes Vergnügen, dich auf Burg 
Höllenklamm begrüßen zu können!« 

»Du bist kein Ritter, sondern ein erbärmlicher Verbrecher«, sagte 

Rudolf. 

Der Ritter war ein blonder schlanker Mann mit einem schmalen 

Gesicht, das etwas Hochmütiges hatte. Im Augenblick hatte es 
zusätzlich etwas Zorniges. 

In Hektors grünen Augen flammte es auf. 
»Und dies hier ist keine Burg, sondern ein Schweinestall!« fügte 

Rudolf hinzu. 

Hektor blieb jetzt erstaunlich gelassen. »Nun, hier ist es sicherlich 

nicht so schön wie auf Camelot, aber ich residiere hier auch nur 
vorübergehend. Bald werde ich die Höllenklamm gegen Camelot 
tauschen.« 

Rudolf verschlug es die Sprache. Er war von König Artus 

eingeweiht worden. Er hatte mit dem Boten der Räuber verhandeln 
und zum Schein auf alle Forderungen eingehen sollen. Dann sollte 
der Bote ein paar Schatten bekommen, wenn er in das Versteck 
zurückkehrte. Doch statt des Boten hatten ihn die Räuber in Empfang 
genommen. Er hatte damit gerechnet, einen Verbrecher ken-
nenzulernen. Doch er hatte nicht gedacht, daß es noch dazu ein 
Wahnsinniger sein würde, der sich erdreistete, Schloß Camelot 
erobern oder sonstwie in seinen Besitz bringen zu wollen. 

»Bald wirst du für deine Schandtaten dem Henker übergeben 

werden«, sagte Rudolf. 

Hektor lachte leise. »Daran zweifle ich sehr. König Artus 

persönlich wird mir Camelot schenken. Und  ich werde der oberste 
aller Ritter werden. Es wird Artus gar nichts anderes übrig bleiben, 
wenn er nicht will, daß sämtliche Ritter sterben, die ich 
gefangengenommen habe und noch gefangennehmen werde.« 

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Seine Miene hatte einen fanatischen Ausdruck angenommen, und 

sein Blick war wie in weite Ferne gerichtet. Jetzt starrte er wieder auf 
Ritter Rudolf hinab. 

»Auf diesen Tag habe ich lange gewartet«, sagte er mit bewegter 

Stimme. »Erinnerst du dich nicht mehr an mich? Weißt du nicht 
mehr, wer ich bin?« 

»Ein Schweinehund!« keuchte Rudolf. 
Hektors Miene verzerrte sich. Er zog sein Schwert und hieb mit 

einer kaum wahrnehmbaren Bewegung zu. 

Die Klinge streifte Rudolfs rechte Wange. Fast an der Stelle, an der 

Hektor seine Narbe hatte. Blut quoll aus dem tiefen Schnitt. 

»Auch darauf habe ich lange gewartet«, sagte Hektor mit schwerer 

Stimme. »Du wirst gezeichnet sein, wie ich es bin!« Er wies mit der 
Linken auf seine Narbe. »Weißt du immer noch nicht, wer ich bin?« 
Seine Stimme überschlug sich. 

Rudolf schwieg. 
»Antworte!« schrie Hektor und hob drohend das blutige Schwert. 
»Ich weiß es nicht«, sagte Rudolf gepreßt. 
Hektor atmete tief ein und aus. Er ließ das Schwert sinken. Sein 

Blick ging über den Gefangenen hinweg. 

»Dann werde ich dir auf die Sprünge helfen, du Wurm. Du wirst 

dich schnell erinnern. Du warst ein kleiner Bengel, als ich dich aus 
dem Weiher zog. Du warst schon fast ertrunken. Ich rettete dir Lump 
damals das Leben, ich, ein armer Stallbursche. Als ich dich zu 
deinem Vater brachte, versprach er mir, mich für meine Tat reich zu 
belohnen. Ich sollte tausend Golddukaten bekommen, und man 
würde mich zum Ritter schlagen. Voller Stolz und Freude war mein 
Herz, als ich mich eine Woche später wieder auf der Burg meldete, 
wie dein Vater gesagt hatte. Doch dein Alter lebte nicht mehr. Drei 
Tage zuvor hatte ihn der Schlag getroffen. Niemand wollte etwas von 
der Belohnung wissen. Niemand glaubte mir, daß ich dich Balg 
gerettet hatte. Statt Dukaten und Ritterwürde erhielt ich nur Spott 
und Demütigungen!« 

Er starrte wieder auf Ritter Rudolf, bevor er mit dumpfer Stimme 

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fortfuhr. 

»Die feinen Damen auf der Burg haben mich ausgelacht, als ich 

meine Geschichte erzählte. Deine Mutter hat mich einen infamen 
Lügner genannt. Du hättest gesagt, du seist niemals in  einen Weiher 
gefallen. Und als ich aufbegehrte, jagte man mich von der Burg wie 
einen räudigen Köter.« 

Er rammte das Schwert in den Boden, dicht neben Rudolfs Kopf. 

Rudolf zuckte zusammen. Schweiß schimmerte auf seiner Stirn. 
Längst wußte er, weshalb Hektor ihn so glühend haßte. 

Hektors Blick ging wieder über ihn hinweg. 
»Damals brach eine Welt für mich zusammen. Eine Woche lang 

hatte ich wie im siebenten Himmel gelebt. Ich hatte um die Hand der 
Jungfer angehalten, die ich liebte, die aber nicht unter ihrem Stande 
heiraten durfte. Sie war die Tochter eines berühmten 
Kunstschmiedes, und ich war nur ein armer Stallbursche. Sie lachte 
mich aus, als ich ihr bekannte, daß man mich um die Belohnung 
betrogen hatte. Wieder mußte ich Spott und Schmähungen 
hinnehmen. Damals schwor ich Rache. Ich haßte dich so sehr, daß 
ich dich ersäufen wollte, wie es geschehen wäre, wenn ich dich nicht 
gerettet hätte. Doch ich kam nicht an dich heran. Ich sparte mir über 
lange Zeit hinweg fünf Dukaten am Munde ab, um einen von eurem 
Gesinde zu bestehen. Er versprach mir Informationen über dich. 
Doch wiederum betrog man mich. Er sagte mir, du seist zu Besuch 
auf einer anderen Burg. Dort sagte man mir, du seist längst wieder 
zurück. So schickte man mich ein paarmal hin und her. Bis ich 
durchschaute, daß alles ein abgekartetes Spiel war. Als es mir 
schließlich gelang, mich verkleidet in eure Burg zu stehlen, fand ich 
heraus, daß du nach Engelland zu einem Oheim gebracht worden 
warst. Ich schloß mich einer Bande von Wegelagerern an, um  genug 
Dukaten zu haben, um die Reise über das Meer bezahlen zu können. 
Doch ich gab die Dukaten umsonst aus. Ich verlor deine Spur. Du 
hast dich gut versteckt, du Feigling!« 

»Ich habe mich nicht versteckt«, widersprach Rudolf. »Ich lebte 

fünfzehn Jahre in England, bevor ich in die Heimat zurückkehrte und 

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die Burg übernahm.« 

»Ja«, sagte Hektor, »und zum Ritter wurdest du Lump. Ich fand 

dich dann. Ich wollte dich zur Rechenschaft ziehen. Doch du griffst 
zum Schwert, nanntest mich einen Dreckskerl, der in die Burg 
eingedrungen sei und zogst mir die Klinge übers Gesicht. Dann 
ließest du mich von den Wachen hinauswerfen. Seither habe ich 
diese Narbe. Und seither wartete ich auf diesen Tag.« 

Voller Haß starrte er Rudolf an. 
»Jetzt kommt bald meine ganz große Stunde. Ich werde bald 

Camelot besitzen. Und mit all den Rittern, mit König Artus und 
seiner Gemahlin Ginevra als Geiseln im Kerker wird mir niemand 
Camelot jemals streitig machen.« 

Er ist wahnsinnig, dachte Rudolf. 
Triumphierend fuhr Hektor fort: »Ich habe  alles lange geplant. Ich 

habe dafür gesorgt, daß Ritter Egbert von Falkenried eine 
Ehrenschuld zu begleichen hat. Ich wußte, daß er sich an dich oder 
König Artus um Hilfe wenden würde. Und ich wußte, daß Egbert mit 
Prinzessin Charlotte als Schwiegertochter liebäugelte. Ein Freund hat 
mir alles genau berichtet. So weiß ich auch von den tausend 
Golddukaten Mitgift, die Egbert jetzt in seiner Geldnot so dringend 
braucht. Nun, das Geld war nicht in der Kutsche, aber das ist nicht 
tragisch. Ich finde es entweder, wenn ich Burg Falkenried 
übernehme, oder ich finde es in deiner Burg. Und außerdem genug 
Schätze, um den Sold für eine ganze Armee bezahlen zu können.« 

Voller Triumph starrte er auf Rudolf nieder. 
»So ändert sich die Lage, du Wurm«, fuhr er fort. »Früher lag ich 

im Dreck und ihr Ritter wart die Herren, und heute liegt ihr im Dreck 
und ich bin der Herr!« 

»Wahnsinn!« entfuhr es Rudolf. 
Hektors Gesicht verzerrte sich. Seine Hand mit dem Schwert 

ruckte hoch. Doch dann verharrte er in der Bewegung. 

»Ein schneller Tod wäre zu gnädig für dich«, sagte er. »Du wirst 

tausend Tode sterben. Und jetzt wirst du dich entschuldigen für das, 
was du mir angetan hast. Du wirst um Gnade winseln. Los, fang an!« 

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Rudolf schluckte. 
»Ich bitte Ritter Hektor um Vergebung, weil ich als Kind gelogen 

habe!« schrie Hektor. »Wiederhole!« 

»Ich habe nicht mit Absicht gelogen!« sagte Rudolf. »Ich stand 

noch unter einem Schock. Ich konnte mich gar nicht richtig erinnern, 
was geschehen war. Als man mich fragte, wußte ich gar nicht, daß 
ich in den Weiher gefallen war.« 

»Und später?« schrie Hektor. »Als ich dich zur Rede stellte!« 
»Ich hielt dich für einen Einbrecher!« 
Hektor hob das Schwert. 
»Es ist die Wahrheit!« sagte Rudolf. »Ich gebe mein Ritterwort, 

daß ich von alledem nichts gewußt habe!« 

Plötzlich ließ Hektor das Schwert sinken. »Du wirst dich jeden Tag 

von neuem an alles erinnern. Und du wirst den Tag verfluchen, an 
dem du und deine Familie mir das alles angetan habt.« Er gab seinen 
Räubern einen Wink. »Schafft ihn weg!« 

Wolfram staunte. Ein lustiges Gefährt, das sich da im Mondschein 
näherte. Es war ein blauer Kastenwagen, der mit güldenen Sternchen 
beklebt war. Auf dem Kutschbock des Zweispänners saß ein Mann in 
einem purpurnen Gewand mit einem wallenden weißen Vollbart, der 
lustig im Fahrtwind wehte. 

Wolfram grinste. Den Wagen und den Mann hatte er schon einmal 

gesehen. Das mußte der Zauberer sein, dessen Kunststücke er vor 
einem Jahr in Birkenfeld bewundert hatte. Wie hatte er gelacht, als 
der Mann ein Kaninchen aus seinem Zylinderhut gezaubert hatte! 

Wolfram erhob sich hinter den Büschen und trat auf den Weg. 
Der Zauberer zügelte das Gespann. Mit einem Ruck hielt der 

Wagen. Träge senkte sich Staub, wie ein silberner Schleier im 
Mondschein. 

»Hallo, Gevatter«, rief der 

Zauberer. »Geht's hier nach 

Falkenried?« 

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Wolfram schüttelte den Kopf. 
»Aber ich muß nach Falkenried. Man erwartet mich dort auf einer 

Hochzeitsfeier, wo ich zum Wohlgefallen der Braut zaubern soll.« 

»Sagt, seid Ihr der berühmte Zauberer Helfgott?« vergewisserte 

sich Wolfram. 

»So ist es«, sagte Roland, und sein Blick streifte den Morgenstern 

in Wolframs behaarten Händen. 

»Zaubert Ihr mir ein Kaninchen?« fragte Wolfram hoffnungsvoll. 
Roland hatte sich den Trick von Helfgott zeigen lassen. Er hatte 

hin und her überlegt, wie er in die Höllenklamm hinein gelangen 
konnte. Da war der Zauberer wie jedes Jahr nach Birkenfeld 
gekommen. Als Roland ihm erklärt hatte, was auf dem Spiel stand, 
hatte er ihm bereitwillig seine Ausrüstung zur Verfügung gestellt. 
Zusätzlich befand sich im Wagen alles Nötige für die Befreiung der 
Gefangenen. Roland hatte einen Zaubertrank dabei, mit dem die 
Räuber ausgeschaltet werden konnten. Schwerter und anderes war 
unter Requisiten im Wagen versteckt. 

Roland, der ja alles von  Alfons wußte, hatte überlegt, ob er über 

den bewaldeten Berg im Westen in die Höllenklamm hinabsteigen 
sollte. Der Abstieg war möglich, wenn auch äußerst gefährlich. Aber 
eine Flucht mit den Frauen und den sicherlich entkräfteten 
Gefangenen, von denen einige seit Monaten bei Wasser und Brot in 
einer Höhle angekettet waren, war auf diesem Weg kaum möglich. 
Blieb nur die Flucht nach Süden aus der Höllenklamm. Und der Weg 
wurde bewacht. Um die Wachen auszuschalten, war Roland auf diese 
List verfallen. 

Am liebsten hätte er natürlich von Helfgott sämtliche Gefangenen 

in Freiheit und sämtliche Räuber in Gefangenschaft zaubern lassen, 
doch so gut der Zauberer auch war, das brachte er nun doch nicht 
zuwege. Aber er hatte Roland ein paar Tricks gezeigt. 

Roland hatte nicht damit gerechnet, schon vor den Wachen von 

einem Räuber aufgehalten zu werden. Jetzt blockierte ihm der Hüne 
mit dem Morgenstern den Weg. Der Kerl mußte als erster ausge-
schaltet werden. Wenn er den offenbar einfältigen Mann mit ein paar 

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Tricks ablenkte, dann sollte es nicht allzu schwierig sein, ihn zu 
überraschen. So mußte er also zweimal seine Schau darbieten. 

Roland zierte sich noch ein bißchen. 
»Ich bin in Eile, aber ...« 
»Bitte, zaubert mir ein Kaninchen!« Wolfram blickte wie ein Kind, 

das es kaum erwarten konnte. 

»Nun denn«, sagte Roland. Er band die Zügel fest und kletterte 

vom Wagen. Ein bißchen umständlich, denn er trug unter dem weiten 
Umhang das Kettenhemd, das Schwert und allerlei Utensilien  - unter 
anderem auch ein zweites Kaninchen für den Trick. 

Er nahm den Zylinder ab und murmelte ein paar Zauberformeln, 

von denen Wolfram sichtlich beeindruckt war. 

Mit ein paar feierlichen Gesten, über die sich der richtige Zauberer 

sicherlich amüsiert hätte, zauberte Roland das Kaninchen aus dem 
wohlpräparierten Zylinder. 

Wolfram lachte und war entzückt. 
Der Einfältige kann sich noch freuen, dachte Roland. 
Mit ein paar Simsalabims ließ er das Kaninchen wieder im 

Zylinderhut verschwinden und zeigte Wolfram den vermeintlich 
leeren Hut. 

»Bravo, bravo«, rief Wolfram begeistert. 
»Nicht so laut«, mahnte Roland, »sonst erschreckst du den 

Flaschengeist.« 

»Flaschengeist?« Wolfram blinzelte verwundert. 
»Ja, der ist hier drin. Roland griff in eine Tasche des Umhangs und 

zog ein Fläschchen hervor. Er legte den Zylinder ab und trat näher an 
Wolfram heran. Er hielt ihm das Fläschchen hin. Wolfram nahm es. 
Roland murmelte ein paar Abakadabras. »Jetzt kannst du es öffnen«, 
sagte er dann. 

Zögernd und auch ein bißchen mißtrauisch zog Wolfram den 

Stöpsel heraus. Er hatte sich den Morgenstern zwischen die Knie 
geklemmt, um die Hände freizuhaben. 

Er blickte auf das Fläschchen, als befürchtete er, der Flaschengeist 

würde daraus hervorspringen. 

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»Ich sehe nichts«, murmelte er. 
»Das kommt daher, weil ich ihn  weggezaubert habe«, sagte 

Roland. »Jetzt ist nur noch sein Geist darin.« 

»Sein Geist?« Wolfram blickte verständnislos. 
»Ja, und seine Kraft. Wer einen Schluck davon trinkt, kann auch 

Kaninchen zaubern.« 

»Wirklich?« 
»Wirklich.« 
Wolfram blickte wieder auf das Fläschchen. »Das glaube ich 

nicht.« 

Ich auch nicht, dachte Roland. Er nahm den Zylinderhut. »Sieh, ich 

werde es dir zeigen. Du nimmst jetzt einen Schluck aus dem 
Fläschchen und sprichst mir die Zauberformel nach. Und dann sehen 
wir weiter.« 

Wolfram schnupperte an dem Fläschchen. Der Zaubertrunk roch 

nach Holunderwein. Zögernd trank er einen kleinen Schluck. Zu 
wenig für einen Kerl dieser Statur, dachte Roland. 

»Schmeckt gut«, murmelte Wolfram und leckte sich über die 

Lippen. 

»Und es wirkt gut«, sagte Roland. »Sprich mir jetzt nach. 

Simsalabim, dreimal schwarzer Kater ...« 

Wolfram wiederholte. 
»Gut«, lobte Roland. »Und jetzt noch einen kräftigen Schluck aus 

dem Fläschchen und schwupps ...« 

In diesem Augenblick geschah es. Roland hatte nicht viel Zeit zum 

Üben gehabt. Irgend etwas machte er falsch. Das Kaninchen kam zu 
früh aus dem Zylinder. Es war wohl selbst überrascht. Es sprang 
Roland an den falschen Bart und riß ihn herab, bevor Roland es 
verhindern konnte. 

Wolfram starrte verdutzt auf das bartlose Gesicht, das er im Mond- 

und Sternenschein deutlich sehen konnte und das er schon einmal 
irgendwo gesehen hatte. 

Roland schüttelte das Kaninchen ab. Die Zusammenarbeit klappte 

einfach nicht. Das zweite Tier in einer Falte unter dem Umhang, das 

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jetzt eigentlich mit dem »Kollegen« hätte getauscht werden sollen, 
rebellierte plötzlich und wollte sich befreien. Statt auf die Hand des 
Meisters zu warten, schlüpfte es Roland am Kragen heraus und riß 
den Stoff etwas auf. 

Wolfram starrte auf das Kettenhemd unter dem Gewand, und da 

fiel bei ihm der Silbergroschen. 

Er riß den Morgenstern hoch. 
»Du bist nicht Helfgott!« knurrte er und schwang den 

Morgenstern. 

Alles war blitzschnell gegangen, und erst jetzt konnte Roland zum 

Schwert greifen. 

Wolfram hieb mit dem Morgenstern zu. Eingetrocknetes Blut 

bedeckte noch die Metallzacken. Roland sah die mörderische 
Schlagwaffe auf sich zurasen und schnellte sich zur Seite. Der 
Morgenstern zischte so dicht an seinem Kopf vorbei, daß er den 
Luftzug spürte. 

Roland zerrte das Schwert unter dem Umhang hervor. 
Wieder schwang Wolfram den Morgenstern in einer kreisförmigen 

Bewegung. Mit großem Geschick. Es war das einzige, was er richtig 
konnte. Er war in seinem Element. Er dachte nicht, er handelte, wie 
er  es immer getan hatte. Da war ein Feind, den es zu vernichten galt. 
Alles andere interessierte ihn nicht. In dieser Situation dachte er auch 
nicht daran, daß er die Wachen alarmieren sollte. 

Roland hatte das Schwert in der Hand. Doch wieder sauste der 

Morgenstern heran, die gezackte Kugel des Todes. 

Instinktiv ließ Roland sich fallen. 
Der Morgenstern zischte über ihn hinweg. 
Wolfram stieß einen knurrenden Laut aus, während er den 

Morgenstern schwang. 

Roland riß das Schwert hoch. 
Da knallte Wolfram den Morgenstern aus der Drehung heraus nach 

unten. 

Roland rollte sich geistesgegenwärtig zur Seite. 
Das rettete ihm das Leben. 

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Der Morgenstern krachte auf die Erde. Er schlug einen winzigen 

Krater an der Stelle, an der Roland eine Sekunde zuvor noch gelegen 
hatte. Sand spritzte auf. 

Roland wirbelte über den Boden und sprang auf. Wolfram zerrte 

den Morgenstern aus dem Dreck und schwankte, weil ihn bei dem 
wuchtigen Hieb der Schwung nach vorne gerissen hatte. 

Wie ein Hammerwerfer holte Wolfram mit dem Morgenstern aus, 

und diesmal wollte er ihn schleudern. 

Roland blieb keine Wahl. Er warf das Schwert wie eine Lanze. Es 

traf den hünenhaften Räuber in die Brust. Wolfram taumelte zurück. 

Er ließ den Morgenstern noch los, doch er flog fast einen Klafter 

über Roland hinweg und klatschte gegen einen Baumstamm am Rand 
des Hohlwegs. Der Baum erbebte, und Rinde splitterte ab. 

Wolfram schlug zu Boden und blieb auf dem Rücken liegen. Das 

Schwert ragte aus seiner Brust. 

Roland sprang auf und war mit drei Sätzen bei ihm. 
Wolfram bäumte sich auf, umklammerte mit zitternden Händen das 

Schwert und sank dann zurück. 

Wolfram, der Meister des Morgensterns, der viele Menschen 

erschlagen hatte, lebte nicht mehr. Im Grunde war ihm ein 
Kaninchen zum Verhängnis geworden. Hätte das verdammte Tier 
nicht im Sprung Roland den Bart vom Gesicht gerissen, läge der 
Räuber jetzt friedlich träumend zwischen den Büschen am 
Wegesrand. Denn Roland hatte ihn nicht töten, sondern nur betäuben 
wollen. Aber dann hatte er um sein Leben kämpfen müssen. 

Jetzt hatte er keine Kaninchen mehr, und die Aussichten, die 

Wachtposten vor der Höllenklamm zu dem Zaubertrank zu 
verführen, waren längst nicht mehr so gut. 

Er mußte sich etwas anders einfallen lassen. 
Er blickte zu Wolframs Leiche. Da kam ihm die Idee. 

In Hektors Lager herrschte große Aufregung. Der Zauberer Gotthelf 

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hatte Wolframs Leiche gebracht. 

Hektor hatte Roland die Geschichte geglaubt, daß er auf dem Weg 

nach Falkenried eine falsche Abzweigung genommen und durch 
Zufall auf den toten Wolfram gestoßen sei. Er hatte sofort Männer 
ausgeschickt, die rings um die Höllenklamm nach Wolframs 
vermeintlichem Mörder suchen sollten. Für Hektor stand fest, daß 
König Artus jemand hinter Ritter Rudolf hergeschickt hatte, der 
Wolfram im Dunkeln überrascht hatte. 

Roland hatte den Ängstlichen gemimt und um Hektors Schutz 

gebeten. Er könne doch nicht in dieser Nacht weiterfahren, da 
Mörder dort draußen herumschlichen. So stark sei seine Zauberkraft 
nun auch nicht,  daß er sie wegzaubern könne. Hektor hatte gelacht. 
Wolframs Schicksal schien ihm nicht sehr nahe zu gehen. Er hatte 
sich bei dem vermeintlichen Gotthelf bedankt, daß er ihn gewarnt 
hatte, und er hatte ihn als Gast willkommen geheißen. 

Jetzt saß Roland ihm am Feuer gegenüber. Mit Bart. Das 

Kettenhemd und das Schwert hatte er vor der Fahrt in die 
Höllenklamm in dem Sternenwagen versteckt. Niemand hatte den 
Wagen genauer untersucht. Die Wachtposten hatten nur einen 
flüchtigen Blick hineingeworfen. Man hielt ihn für Gotthelf. 

Gotthelf, alias Roland, erfreute Hektor jetzt mit Zaubersprüchen. 

Er sagte ihm in Ermangelung von Kaninchen die Zukunft aus der 
silbernen Kugel voraus. Er hatte genug Informationen, um genau das 
zu prophezeien, was Hektor hören wollte. 

Über kurz oder lang würde ihn ein berühmter Ritter besuchen. Ein 

verblüffter Blick auf die Silberkugel.  Nein, nur ein Teil von ihm. 
Seltsam. 

Hektor dachte an Ritter Roland und dessen Kopf und freute sich. 
Über einen langen Weg stünde eine große Erbschaft bevor. 
Hektor dachte an seine Pläne und lobte die Weisheit des Zauberers. 
In dieser Nacht vergehe eine Frau vor Sehnsucht nach ihm. 
Das sagte Roland ins Blaue hinein, denn er hatte sofort erkannt, 

wie eitel der Mann war. Von Adelgunde hatte Alfons nichts erzählt, 
aber Roland hatte bei seinem Eintreffen ein Mädchen gesehen, und er 

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hoffte, daß Hektor sich bald zu Bett begab, damit die Gefangenen 
befreit werden konnten. 

Hektor dachte an Adelgunde und grinste erfreut. 
Roland dachte: Es gibt also eine hier, die es ihm angetan hat. Er 

setzte nach. Mit einem besorgten Blick in die silberne Kugel fügte er 
hinzu: 

»Sie könnte sich ein Leid zufügen, wenn Ihr sie schmachten laßt.« 
Hektor kratzte sich am Kinn. Das konnte er sich bei Adelgunde 

nicht so recht vorstellen. 

»Ihr Herz steht Euch weit offen«, drängte Roland. 
Hektor trank schnell einen Becher Wein und leckte sich über die 

wulstigen Lippen. 

Roland schob noch ein paar gute Zukunftsaussichten für den 

Verbrecher nach. Er sprach von Reichtum, Ehre, Ruhm und einer 
großen Liebe. 

Das alles ging Hektor wie Honig herunter. 
Dann zog Roland eine besorgte Miene. »Ein Verräter!« sagte er 

und fixierte die Silberkugel. 

»Ein Verräter?« Hektors Miene verfinsterte sich. 
»Nun ja  - ich sehe einen Mann, der Euch bisher zu Diensten war. 

Er gab Euch wertvolle Nachrichten. Doch das nächste Mal wird er 
Euch betrügen.« 

»Balduin?« 
»Ihr wißt den Namen?« tat Roland überrascht. »Ich hätte ihn nicht 

zu sagen vermocht. Ihr seid ja besser als ich! Ich sehe nur eine Burg. 
Burg ...« 

Hektor war so geschmeichelt, daß er Roland die erhoffte Auskunft 

gab. 

»Falkenried«, sagte Hektor mit einem leisen Lachen. 
Roland schaute ihn mit gespielter Bewunderung an. »Ihr solltet auf 

seine Dienste verzichten.« 

»Das werde ich, das werde ich«, sagte Hektor grinsend. »Ich 

brauche ihn nämlich nicht mehr. Er hat seinen Zweck erfüllt.« 

Sie plauderten noch eine Weile. Dann gähnte Roland ein paarmal. 

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Er hielt eine Hand vor den falschen Bart und entschuldigte sich für 
seine Müdigkeit. 

»Verzeiht mir, Ritter, es war eine lange Fahrt und ...« 
Hektor winkte gnädig ab. »Auch ich werde mich jetzt zur Ruhe 

begeben. Ich zeige dir auf einem Weg dein Quartier, Gottheit.« 

»Wenn Ihr erlaubt, schlafe ich lieber in meinem Wagen«, sagte 

Roland. »Daran habe ich mich so gewöhnt.« 

Hektor hatte nichts dagegen. 
Roland sah ihm nach, als er davonschritt. Es hatte besser geklappt, 

als er erhofft hatte. Jetzt brauchte er nur noch ein bißchen zu warten. 
Dann konnte der nächste Teil des Plans in Angriff genommen 
werden. 

Clemens, der Wachtposten, war im Dunkel vor der Höhle nur als 
Silhouette auszumachen. Er hockte auf einem Stein und döste vor 
sich hin. Er nahm seine Aufgabe nicht sonderlich ernst. Er hielt es 
für unsinnig, daß der Zugang zur Höhle bewacht wurde. Wie sollten 
die angeketteten beziehungsweise gefesselten Gefangenen aus der 
Höhle entkommen? Und wer konnte unbemerkt in die Schlucht 
gelangen? Hektor hatte die Wachen dort verstärken lassen. Keiner 
kam unbemerkt, in die Höllenklamm hinein. Es sei denn, jemand 
kam über den Berg im Westen. Dazu mußte er schon fast wie eine 
Gemse klettern können. Außerdem hatte Hektor einen Doppelposten 
losgeschickt, der auf der anderen Seite des Berges Wache halten 
sollte. 

Nein, keine Maus kam unbemerkt in das Lager hinein. 
Seitlich von ihm raschelte es zwischen den dunklen Büschen. 
Eine Maus? 
Clemens blickte hin. 
Ein Steinchen kollerte. 
Muß schon eine größere Maus sein, dachte Clemens. Wieder 

raschelte es. Irgendein Tier? 

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Clemens nahm das Schwert, das er neben sich an den Stein gelehnt 

hatte. 

Seine Haltung spannte sich. Er lauschte und versuchte das Dunkel 

mit den Augen zu durchdringen. Nichts zu sehen, nichts zu hören. 

Doch, wieder ein Kollern. 
Er erhob sich von dem Stein und blickte unschlüssig zu den 

Büschen hin. 

Dort lauerte Roland. Er hatte die Steinchen geworfen, um den 

Räuber in die Büsche zu locken. Die Deckung hatte nur bis dorthin 
gereicht. Er wollte nicht das Risiko eingehen, daß der Mann noch 
Alarm schlagen konnte. 

Komm schon, komm! dachte Roland und packte den Dolch fester. 
Der Wachtposten setzte sich in Bewegung. Dann verharrte er, als 

sei er gegen ein Hindernis geprallt. Er hielt noch einen Fuß über dem 
Boden, wollte ihn gerade aufsetzen. Im nächsten Augenblick 
taumelte er mit einem gurgelnden Laut zurück, und Roland sah den 
Pfeil in der Brust des Mannes. 

Roland war überrascht. Sein Blick zuckte zu den Bäumen am Fuß 

des westlichen Berges. Dort mußte der Schütze stecken. 

Aber wer konnte das sein? War es einem der Gefangenen 

gelungen, sich zu befreien? 

Roland wollte kein unnötiges Risiko eingehen. Er blieb in 

Deckung. 

Er brauchte nicht lange zu warten. 
Ein Schatten tauchte am Fuße des Berges auf. Er huschte näher. Im 

Lager war alles dunkel und still. Die Räuber, die nicht auf Wache 
waren oder in Hektors Auftrag durch die Gegend streiften, schliefen 
in ihren Quartieren. Mitternacht war längst vorüber. Es blieben 
Roland fast zwei Stunden bis zur Wachablösung. Wenn Alfons nicht 
gelogen hatte. Doch Roland bezweifelte, daß Alfons ihm etwas 
falsches gesagt hatte. Bisher hatte alles gestimmt, was der Kerl ihm 
in seiner Angst verraten hatte. 

Der Schatten schlich heran. Den Bogen hatte er sich umgehängt. 

Aus einem Köcher ragten Pfeile. 

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Der Mann verharrte bei der reglosen Gestalt und blickte auf sie 

hinab. Dann schaute er sich sichernd um und gab ein Handzeichen 
zum Berg hin. Dort mußte also noch jemand stecken. 

Der Bogenschütze bückte sich. Er packte den Wachtposten unter 

den Achseln und schleifte ihn in das Gebüsch. Er machte Roland die 
Sache einfach. Er stand mit dem Rücken zu Roland und wollte 
gerade die reglose Gestalt sinken lassen, als er zu Tode erschrak. 

Roland tat das, was er bei dem Wachtposten vorgehabt hatte. 
Er umschlang den Mann von hinten, preßte ihm mit der Linken 

eine Hand auf den Mund und drückte  ihm mit der Rechten den Dolch 
an die Kehle. 

»Kein Laut, oder es ist dein letzter«, raunte er. 
Der Mann mit dem Bogen wurde stocksteif. 
»Wer bist du?« fragte Roland. »Wenn du es nicht ganz leise sagst, 

stoße ich zu.« 

Den Wachtposten hätte er niedergeschlagen, doch dieser Mann war 

offenbar kein Feind. Dennoch wollte Roland ganz sichergehen. Er 
nahm die Hand nur soweit vom Mund des Mannes, daß er sofort 
jeden Schrei im Ansatz ersticken konnte. 

»K-knappe Sebastian«, kam es wie ein Hauch. 
Roland zog den Mann etwas herum und schaute sich das Gesicht 

genauer an. »Sebastian von Schloß Camelot?« 

Die Augen des Mannes weiteten sich vor Überraschung. »Woher 

weißt...« 

»Ich bin Ritter Roland und habe dich schon auf Camelot gesehen.« 

Roland zog den Dolch zurück und gab Sebastian frei. »Sei leise«, 
mahnte er. 

»Aber man sagt, Ihr seid tot«, wisperte Sebastian und starrte 

Roland an, als sehe er ein Gespenst. Der Knappe war also von 
Camelot aufgebrochen, bevor der Kurier mit Rolands Botschaft an 
König Artus dort eingetroffen war. 

Roland lächelte. »Ich fühle mich recht lebendig. Wie kommt ihr 

hierher? Wie viele seid ihr?« 

Sebastian berichtete von Ritter Rudolfs Entführung, die er als 

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Späher beobachtet hatte. Er war den Räubern unauffällig bis in die 
Nähe der Höllenklamm gefolgt und hatte dann den Reitertrupp 
informiert, der sich inzwischen in Birkenfeld zur Verfügung hielt. 
König Artus hatte also Vorsorge getroffen. 

Roland überlegte. Ein Reitertrupp von dreißig Mann. Sie wollten 

die Gefangenen aus der Höllenklamm holen. Aber sie wußten nicht 
so gut Bescheid wie Roland. Ihr Plan wäre zum Scheitern verurteilt 
gewesen. Sie wußten nichts von der Wachablösung, nichts von 
Hektors verstärkten Sicherheitsvorkehrungen. Sie hatten keine 
Ahnung, in welcher der Hütten die Frauen gefangengehalten wurden. 

»Ihr wolltet die Gefangenen über den Berg in Sicherheit bringen«, 

stellte Roland fest. 

Der Knappe nickte. »Ja. Wir haben zwei der Räuber auf der 

anderen Seite geschnappt. Ich habe mich abgeseilt. Es geht zwar sehr 
steil hinab, aber wenn wir ...« 

»Der Aufstieg wäre viel zu zeitraubend. Außerdem müssen wir an 

den Zustand der Gefangenen denken. Die werden sich kaum an 
einem Seil halten können. Außerdem werden bald die Wachen 
abgelöst. Nein, auf diesem Weg ist es kaum zu schaffen. Ich habe 
einen anderen Plan. Du schleichst dich zurück. Und dann tut ihr 
folgendes ...« 

Der dreifache Eulenschrei im Westen der Höllenklamm klang etwas 
verstimmt, gerade so, als sei die Eule heiser. 

Roland atmete auf. Es war das vereinbarte Signal von Knappe 

Sebastian. Die Männer waren bereit. Sie warteten auf sein Signal. 

Sämtliche Gefangenen waren befreit. Sie warteten in der Kutsche 

und im Wagen von Zauberer Gotthelf auf die Abfahrt. 

Es war für Roland und seine Knappen ein leichtes gewesen, die 

beiden Wachtposten vor der Hütte, in der die Frauen 
gefangengehalten worden waren, lautlos zu überwältigen. Der eine 
hatte geschlafen, und der andere hatte gerade  einen Schluck Wein 

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trinken wollen, als Louis' Keulenhieb ihn niedergestreckt hatte. 

Jetzt galt es nur noch, Hektor im Schlaf zu überraschen. Dann 

konnte die letzte Aktion steigen. 

Louis huschte neben Roland, der durch das Fenster in die dunkle 

Hütte spähte. Es war die größte und solideste Hütte im Lager. Sie 
bestand aus mehreren Räumen und war Hektors Hauptquartier. 

»Adelgunde ist nicht in ihrer Hütte«, flüsterte Louis. 
»Dann müssen wir ohne sie verschwinden«, sagte Roland ebenso 

leise. 

»Aber ich habe ihr mein Wort gegeben.« Pierre wischte sich über 

den Bart. 

»Zuviel steht auf dem Spiel«, sagte Roland. Sie hat bisher hier 

gelebt, und von den Räubern droht ihr keine Gefahr. Sie kommt frei, 
wenn wir die Kerle in der Falle haben und sie sich ergeben.« 

Louis hatte Roland kurz über Adelgunde infomiert. Er hatte 

erzählt, daß sie ihm das Leben gerettet hatte. Von seinem amourösen 
Abenteuer hatte er jedoch nichts erwähnt. 

»Sie könnten sie als Geisel nehmen und uns damit erpressen«, 

flüsterte Louis besorgt. 

»Ich denke, sie ist ihresgleichen«, sagte Roland verwundert zurück. 
»Sie ist eine prächtige Frau«, sagte Louis schwärmerisch, und 

Roland ahnte etwas. »Sie hat nichts mit diesem Lumpenpack zu 
schaffen. Ich habe versprochen, ihr eine Stelle als Zofe zu besorgen. 
War da nicht auf Camelot...« 

»Die Stelle ist schon vergeben«, unterbrach Roland und dachte an 

Christhilde. »Aber sicher wird sich noch etwas anderes für die 
Jungfer finden lassen.« 

»Sie ist keine ...»begann Louis, dann verstummte er, als er Rolands 

Lächeln sah. In diesem Augenblick tauchte Pierre an der Ecke der 
Hütte auf. »Zwei Fenster hinten«, flüsterte er. »Eines ist nur 
angelehnt.« 

»Gut.« Roland gab Anweisungen. Pierre blieb an der Tür und hielt 

das vordere Fenster im Auge, Louis folgte Roland nach hinten. 

Alle drei waren mit Schwert und Messer bewaffnet, den Waffen, 

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die Roland ja im Wagen des Zauberers versteckt hatte. Roland hatte 
den falschen Bart und Gotthelfs Gewand abgelegt und trug wieder 
sein Kettenhemd. 

Louis blieb hinten an der Hütte mit gezogenem Schwert stehen und 

behielt die Fenster im Auge. Es durfte kein Entkommen für Hektor 
geben. 

Roland öffnete vorsichtig das Fenster. Es gab nur ein leichtes 

schabendes Geräusch. 

»Das linke Zimmer«, wisperte Louis. Adelgunde hatte ihm diese 

Information in jener Nacht gegeben. Und bei diesem Gedanken fiel 
ihm ein, wo Adelgunde sein konnte. Bei Hektor. 

»Ritter Roland«, flüsterte er. »wenn Adelgunde ...« 
Er verstummte, denn Roland war schon in der Hütte 

verschwunden. 

Wenn sie da ist, wird er sie schon mitbringen, dachte er. 
Dann lauschte er und wartete angespannt. 

Hektor schnarchte im Schlaf. Er träumte von Adelgunde. Sie war 
seine Gemahlin und lebte mit ihm auf Schloß Camelot. Musikanten 
spielten auf, und Elfen tanzten zum Schalmeienklang auf der Wiese 
im Park. 

Etwas kitzelte Hektor am Kinn. Sein Schnarchen verstummte. Das 

Kitzeln wurde stärker. Unbewußt tastete er zum Kinn. Er spürte 
etwas Kaltes, Hartes. Der schöne Traum war jäh zu Ende. 

Er schlug die Augen auf und blinzelte. Der Schein einer Fackel 

blendete ihn. Dann sah er den Mann vor sich und erkannte, was ihn 
da gekitzelt hatte. Ein Schwert. Seine Augen weiteten sich vor 
Entsetzen. 

Louis hatte wissen wollen, warum Roland den Kerl nicht einfach 

niederschlug. Roland hatte ihm erklärt, daß sie Hektor hellwach 
brauchten. Er sollte den Wachen befehlen, die Wagen passieren zu 
lassen. 

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»Was - was soll das?« stammelte er. »Wer seid Ihr?« 
»Ritter Roland. Du wolltest meinen Kopf. Du siehst, ich habe ihn 

noch. Aber du wirst deinen nicht mehr lange haben. Aus dem Bett 
mit dir. Und keinen Lärm, oder du bist des Todes!« 

Er zog das Schwert etwas zurück. Fassungslos starrte Hektor ihn 

an. Er war unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen. Gerade noch 
hatte er sich im siebenten Himmel gewähnt, und jetzt glaubte er 
einen Alptraum zu haben. 

Doch es war kein Traum. 
Roland tippte ihn mit der Schwertspitze an. »Aus dem Bett mit dir! 

Wird's bald!« 

Hektor gehorchte benommen. Nackt stieg er aus dem Bett. 
»Umdrehen und die Hände hoch!«  befahl Roland. Er wollte den 

Verbrecher fesseln für den Abtransport. 

In diesem Moment schreckte Adelgunde aus dem Schlaf. Sie fuhr 

im Bett auf, und sie war ebenfalls unbekleidet, was Roland 
verständlicherweise ein wenig ablenkte. 

Schlaftrunken starrte sie Roland an, und ihr Mund öffnete sich wie 

zu einem Schrei. 

»Still!« mahnte Roland. »Ihr braucht keine Angst...« 
Da handelte Hektor. 
Trotz des Schwertes in Rolands Hand sprang er vorwärts. 
Roland hätte ihn noch mit dem Schwert treffen können. Doch er 

zögerte. Er mochte keinen waffenlosen Mann hinterrücks mit dem 
Schwerte schlagen, auch wenn das ein Verbrecher war. Zudem 
paßten Louis und Pierre draußen auf und brauchten Hektor nur in 
Empfang zu nehmen. 

Hektor hielt nicht auf das Fenster zu und auch nicht auf die Tür, 

wie Roland erwartet hatte. 

Er rannte gegen die Wand! 
Mit voller Wucht warf er sich dagegen. Und es grenzte an 

Zauberei. Die Wand zum Nebenraum schwang herum, einen Spalt 
nur, doch Hektor schlüpfte hindurch, war von einem Augenblick zum 
anderen verschwunden, und die Wand schwang wieder mit einem 

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dumpfen Laut zurück. 

Jetzt kam es auf jede Sekunde an. Wenn Hektor seine Räuber 

alarmierte, war alles aus. Denn die Wagen waren ja noch in der 
Schlucht! Jede Menge Geiseln! 

Roland hetzte ans Fenster und riß es auf. 
»Pierre!« 
»Ja?« 
»Gib das Signal. Und paßt auf, daß er nicht aus der Hütte 

entkommt!« 

Pierre stieß den Eulenschrei aus. Dreimal. Das Zeichen für König 

Artus' Männer, die Wachen anzugreifen. 

Roland hetzte schon zurück. Er nahm Anlauf und warf sich gegen 

die Wand, hinter der Hektor verschwunden war. 

Sie gab nicht nach. Entweder hatte der Kerl den Mechanismus 

verriegelt, oder man mußte eine bestimmte Stelle treffen. 

Roland nahm von neuem Anlauf. 
Und diesmal schaffte er es. 
Er fand sich in einer stockdunklen Kammer wieder. Er hielt das 

Schwert zur Abwehr bereit, denn er rechnete damit, von Hektor 
angegriffen zu werden. Doch nichts geschah. Er lauschte mit 
angehaltenem Atem. Da, rechts von ihm war ein dumpfes Pochen, 
das sich schnell entfernte. Er trat einen Schritt vor und trat ins Leere. 
Der Boden tat sich unter ihm auf, und er stürzte in einen dunklen 
Schacht. 

In der Höllenklamm herrschte ein Chaos. 

Einer der Wachtposten am Zugang zur Schlucht schrie sich die 

Kehle heiser und forderte Verstärkung. Männer eilten aus den 
Hütten, zum Teil nur mit Hose und Stiefeln bekleidet. Schatten liefen 
zu den Pferden. Räuber rannten mit Schwert oder Lanze bewaffnet 
los, um den Kumpanen zu Hilfe zu eilen. 

»Feuer! Feuer!« schrie jemand gellend. 

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In der Tat brannten plötzlich einige Hütten. Flammenschein 

erhellte die Nacht. 

»Rettet die Pferde!« brüllte ein Mann. Es war keiner der Räuber, 

doch das fiel im allgemeinen Durcheinander keinem auf. Niemand 
wußte so recht, was los war. Es fehlte die ordnende Hand. Ein Mann 
rannte zum Stall und führte ein paar Pferde heraus, die 
seltsamerweise schon aneinandergeleint waren. 

Ein paar Räuber rannten mit Eimern zu dem kleinen Bach, um 

Löschwasser zu holen. 

Es waren  nur noch wenige Räuber in der Höllenklamm. Die 

meisten waren jetzt damit beschäftigt, den Angriff der überraschend 
aufgetauchten Reiter zurückzuschlagen. 

Zuerst hatte alles so einfach ausgesehen. Ein paar Schatten zu Fuß 

hatten sich durch Geräusche verraten. Die Wachtposten, nicht faul, 
hatten sie schnappen wollen. Nur zwei waren auf ihrem Posten 
geblieben. Die anderen sechs hatten sich weglocken lassen und 
waren plötzlich von Reitern umzingelt gewesen. 

Die beiden hatten das Schwerterklirren, den Hufschlag und die 

Schreie gehört und Alarm gegeben. Jetzt war ein weiteres Dutzend 
Männer in den Kampf dort draußen verwickelt. Ein paar löschten. 
Doch es half nicht viel. Immer höher schlugen die Flammen. 

Niemand wußte, wer wo genau war, und alle waren beschäftigt. So 

fiel es nicht auf, daß die Männer, die Pferde vor die Kutsche und den 
Wagen des Zauberers spannten, gar nicht zur Bande zählten. 

»Das hätten wir«, murmelte Volker. »Wo mag nur Roland 

bleiben?« 

»Er war plötzlich weg«, sagte Louis. »Als sich nichts tat, sah ich 

mit Pierre nach. Wir fanden nur Adelgunde. Und sie sagte, er sei 
hinter Hektor her. Durch die Wand! Es muß da einen Geheimgang 
oder so was geben. Wir konnten nicht mehr danach suchen, denn da 
ging schon der Zauber hier los, und wir mußten zusehen, daß wir 
wegkamen.« 

Ein Mann mit einem Wassereimer rannte vorbei. Er stutzte, als er 

Louis und Volker sah. Er änderte die Richtung und lief auf die 

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beiden zu. »Was macht ihr denn bei der Kutsche? Helft lieber 
löschen.« 

»In Ordnung«, brummte Louis. »Gib mir den Eimer!« 
Das tat der Bursche, der Louis im Dunkeln nicht erkannte. Louis 

nahm den mit Wasser gefüllten Eimer und stülpte ihn dem Räuber 
über den Kopf. Nicht sehr sanft. Mit einem gurgelnden Laut sank der 
Mann zu Boden und blieb reglos liegen. Louis  zog ihm den Eimer 
vom Kopf, packte ihn unter den Achseln und schleifte ihn von der 
Kutsche fort in den Schatten eines Busches. Dann rieb er sich ein 
paar Wasserspritzer aus dem Bart. 

»Wir müssen weg!« raunte er Volker zu. 
»Wir können Roland nicht einfach im Stich lassen!« 
»Gut, wartet noch fünf Minuten. Ich versuche ihn zu finden. Wenn 

wir bis dahin nicht zurück sind ...« 

Er erschrak, als eine Gestalt aus dem Dunkel der Felswand 

auftauchte. 

»Ich bin's«, raunte Roland und huschte auf ihn zu. 
Louis atmete auf und ließ die Hand sinken, die zum Schwert 

gezuckt war. »Kommst du aus der Felswand oder woher?« 

»So ist es. Er ist mir durch einen Geheimgang entkommen. Durch 

einen Tunnel, der hier vorne in einer Felsspalte endet, die von 
Gestrüpp verdeckt ist.« 

»Dann ist er auf und davon.« 
»Oder er versteckt sich irgendwo«, sagte Roland. 
»Wir müssen weg!« mahnte Volker. 
Roland nickte. »Hektor schnappen wir noch. Erst müssen wir hier 

raus!« 

Roland sah nur vier Männer am Zugang zur Schlucht. Er fuhr vor der 
Kutsche auf dem Wagen des Zauberers, und er trug wieder dessen 
Gewand und den Bart. Louis lenkte den anderen Wagen. 

Die Wachtposten hoben Lanzen und Schwerter. »He, Mann, 

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wohin?« rief einer ihm mißtrauisch entgegen. 

»Ritter Hektor hat befohlen, die Wagen in Sicherheit zu bringen!« 

rief Roland. »Und ihr sollt helfen, das Feuer zu löschen!« 

Ohne das Tempo zu verringern, fuhr er auf die vier zu. Sie wichen 

zur Seite. Dann rollte der Wagen auch schon an ihnen vorbei. Die 
Kutsche folgte. Staub hüllte die Räuber ein. 

»He, wo fahren die denn hin?« rief einer. »Die halten ja gar nicht 

an!« 

Das hatten Roland und Louis in der Tat nicht vor. 
Sie mußten es jedoch. Notgedrungen. 
Sie mochten vielleicht achthundert Klafter von der Höllenklamm 

entfernt sein, und sie hatten mit einem Blick zurück gesehen, daß 
König Artus' Männer die Räuber genau nach Plan zur Schlucht 
zurücktrieben, nachdem sie sie erst weggelockt hatten, damit die 
Wagen entkommen konnten. Die ersten von Hektors wilden Gesellen 
ergriffen bereits die Flucht. Sie waren es gewohnt, aus dem 
Hinterhalt zu kämpfen, und sie legten sich nicht gerne mit starken 
Gegnern an. Sie wähnten sich in ihrem Lager sicherer. Der Kampf 
Mann gegen Mann behagte ihnen gar nicht. Sie hatten schon einige 
Verluste hinnehmen müssen. In der Schlucht glaubten sie sich mit 
Hilfe ihrer Kumpane besser verteidigen zu können. Hektor würde 
schon alles organisieren. Sie hatten ja Geiseln genug. 

Sie ahnten nicht, daß sie in die Mausefalle tappten ... 
»Es hat geklappt!« jubelte Louis. 
Auch Roland atmete auf. 
»Irrtum!« hörte er da eine triumphierende Stimme hinter sich 

sagen. Er zuckte zusammen, und im nächsten Augenblick schob sich 
ein Schwert durch den Luftschacht im Wagen hinter dem 
Kutschbock, und Roland spürte die kalte Klinge im Nacken. 

»Halt an oder du stirbst!« 
Rolands Nackenhaare schienen sich aufzurichten, und es war ihm, 

als streiche eine eisige Knochenhand über seine Wirbelsäule. 

Er erkannte die Stimme. 
Es war Hektor. 

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Rolands Gedanken jagten sich. Er brauchte sich nur vornüber zu 
stürzen, und für ihn war die Gefahr vorbei. Doch damit war nichts 
gewonnen. Im Wagen befanden sich Charlotte, Margot, Siegmund, 
Ritter Rudolf und Pierre. 

»Ich halte der Prinzessin ein Messer an die Kehle!« rief Hektor. 

»Wenn du nicht anhältst, stirbt sie als erste!« 

Roland zügelte das Gespann. 
»Was ist los?« rief Louis. 
Roland sagte es ihm. 
Louis fluchte erbittert und hielt ebenfalls an. 
Roland gab ihm ein Zeichen, wies zum Dach des Kastenwagens 

hinauf und hoffte, daß Louis ihn verstand. 

Louis verstand. Er schwang sich vom Kutschbock hinüber auf das 

Wagendach. 

Roland sprach schnell mit Hektor, um ihn abzulenken und etwaige 

Geräusche zu übertönen. 

»Wie kommst du in den Wagen?« 
»Das war ganz einfach«, sagte Hektor triumphierend. »Ich kann 

nämlich besser zaubern als du falscher Zauberer. Ich versorgte mich 
im Geheimgang mit Waffen, kam aus der Felsspalte heraus und 
wollte mir in dem gerade unbewachten Wagen etwas anzuziehen 
suchen. Schließlich laufe ich nicht gerne nackt herum. Doch statt 
eines Kostüms fand ich Damen und Herren. Jetzt sind sie in meiner 
Gewalt, und sie werden sterben, wenn ihr da draußen nicht genau tut, 
was ich befehle.« 

Ein heller Schrei klang gedämpft aus dem Wagen. Hektor lachte. 
Roland preßte die Lippen aufeinander und blickte zu Louis. Louis 

lag jetzt flach auf dem Wagendach, mit dem Kopf zum Heck. 

»Erbärmlicher Feigling!« rief Roland. Er überlegte verzweifelt, 

wie er Hektor aus dem Wagen locken konnte. 

»Dafür werde ich dich gleich töten!« schrie Hektor. »Aber alles der 

Reihe nach. Zieh dein Gewand aus und schiebe es hier durch den 

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Schlitz.« 

Roland tat es. Er hoffte, daß es Pierre oder einem der anderen im 

Wagen gelang, Hektor zu überwältigen, wenn er sich das Gewand 
überstreifte. Doch seine Hoffnung erfüllte sich nicht. 

»So«, rief Hektor. »Und jetzt runter mit dir vom Bock! Schirr die 

Pferde aus. Auch die von der Kutsche.« 

»Warum?« fragte Roland, um Zeit zum Überlegen zu gewinnen. 
»Ich werde einen kleinen Ausritt machen«, erwiderte Hektor 

höhnisch. »In der Höllenklamm  ist es mir im Augenblick ein bißchen 
zu gefährlich. Ich werde mich auf Burg Falkenried einquartieren. Mit 
meinen Geiseln wird man mir freudig das Tor öffnen, mir die Burg 
übergeben und sich meinen Befehlen fügen. Und dann kann ich in 
Ruhe meinen Plan fortsetzen  - bis ich eines Tages König Artus und 
damit Schloß Camelot habe! Und jetzt spute dich. Ich weiß, daß du 
Zeit schinden willst, bis vielleicht Verstärkung anrückt. Aber meine 
Männer werden eure Leute lange genug hinhalten, bis ich mit meinen 
Gefangenen einen genügend großen Vorsprung habe.« 

Hektor wollte mit seinen Gefangenen zu Pferde fliehen, um 

schneller zu entkommen. Das war die Chance für Louis. 

Louis grinste zuversichtlich, als Roland ihm einen Blick zuwarf. 
Roland schirrte die Pferde aus und führte sie auf Hektors Geheiß 

hin ein Dutzend Schritte hinter den Wagen. Er warf seine Waffen 
hinter den Wagen, wie Hektor es befahl. 

Dann war es soweit. 
Die Heckklappe ging auf. Sie wurde heruntergeklappt und bildete 

eine Rampe. Es war Knappe Pierre, der mit zorngerötetem Kopf 
Hektors Befehl ausgeführt hatte. Roland gab Pierre mit einem 
schnellen Wink zu verstehen, daß er nichts unternehmen sollte. 

Als erste tauchten Margot und Siegmund auf. 
Margot stieg etwas schwerfällig über das Wagenbrett hinab. 

Siegmund stützte sie, und Roland entging nicht, daß Margot sich 
dabei an ihn schmiegte. 

Pierre folgte mit im Nacken verschränkten Händen. Dann kam 

Rudolf. Und schließlich stiegen Charlotte und Hektor vom Wagen. 

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Hektor preßte das leichenblasse Mädchen mit  der Linken an sich und 
hielt ihm mit der Rechten einen Dolch an die Kehle. 

Verzweiflung stieg in Roland auf. Louis konnte nichts tun, solange 

der Verbrecher das Mädchen bedrohte. Und jeden Augenblick mußte 
Hektor den Mann auf dem Wagendach entdecken. 

»Laß  Margot, die guter Hoffnung ist, hier«, sagte Roland, um 

Hektor abzulenken. »Nimm mich an ihrer Stelle mit.« 

»Das könnte dir so passen!« rief Hektor. »Ich werde doch nicht auf 

die Mitgift verzichten!« 

Er zerrte Charlotte ein Stück weiter und rief Margot zu: »Komm 

her, holde Fee!« 

Zögernd trat Margot zu ihm. 
Und dann stockte allen der Atem. 
Hektor nahm den Dolch von Charlottes Kehle, und bevor irgend 

jemand es verhindern konnte, schlitzte er Margots Kleid auf, vorne 
am stark gewölbten Bauch. 

Margot blieb erstaunlich gelassen. 
Siegmund schrie auf. 
Dann starrte er ebenso überrascht wie Ritter Rudolf, der noch nicht 

Bescheid wußte wie Roland und die Knappen. 

Denn aus dem Kleid quollen Golddukaten! Es war, als purzelten 

sie aus Margots Bauch! Einige fielen zu Boden und klimperten hell. 

»Schönes Versteck!« rief Hektor. »Ich gebe zu, daß ihr mich damit 

narrtet. Aber nichts ist so fein gesponnen, daß Hektor es nicht 
durchschauen könnte! Als ich in den dunklen Wagen sprang und auf 
die Jungfer prallte, spürte ich gleich, was sie da am Leibe trägt. 
Freute mich schon auf die Entbindung, ha!« 

Er vergrößerte den Schlitz im Stoff noch etwas, und weitere 

Goldstücke fielen aus Margots »Bauch«. 

Margot wich zurück. 
»Kitzelt es, Jungfer?« fragte Hektor spöttisch. 
Er zog den Dolch zurück, und in diesem Moment handelten Roland 

und Louis gleichzeitig. 

Obwohl die Aktion so gut wie nicht abgesprochen war, wirkte sie 

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wie eingeübt. 

Louis flog wie eine Raubkatze vom Wagen hinab. 
Roland schnellte sich gleichzeitig auf Margot zu, um sie zu 

schützen. Er fegte das Mädchen, das bis vor kurzem noch von allen 
für hochschwanger gehalten worden war, von den Beinen und riß es 
von Hektor fort. 

Hektor stieß mit verzerrtem Gesicht die Hand mit dem Dolch hoch. 

Charlotte schrie auf und  riß sich los. Dann flog Louis auf Hektor 
hinab. 

Er begrub den Verbrecher unter sich, rammte ihn förmlich in den 

Boden. Der Aufprall war so gewaltig, daß Hektor im wahrsten Sinne 
des Wortes Luft abließ. Es gab ein Geräusch, als hätte jemand einen 
Blasebalg  betätigt. Und etwas knackte auch ein bißchen, eine Rippe 
und ein Fingerknöchel, wie sich später herausstellte. 

Louis schlug zu. Hektors Kopf flog zurück, und der Dolch entglitt 

ihm. Louis holte von neuem aus, doch es war nicht mehr nötig. Er 
spürte, wie Hektar unter ihm erschlaffte. Louis bremste seinen 
wuchtig angesetzten Hieb, und es wurde nur ein kleinerer Stoß auf 
Hektors Nase. 

Roland sah mit einem schnellen Blick, daß alles vorbei war. Erst 

jetzt wurde ihm bewußt, daß er mit Margot durch den Staub gerollt 
war und auf ihr lag. Der Bauch war ziemlich hart, aber alles andere 
war weich und angenehm. Er blickte in ihre schönen Augen, und was 
er darin las, ließ sein heftig pochendes Herz noch schneller schlagen. 

»Verzeiht, Prinzessin Charlotte«, sagte er und wälzte sich von ihr. 
»Ihr wißt...?.« begann sie, als er ihr galant auf die Beine half. 
»Ja«, sagte Roland. »Weiß Ihr Bräutigam es auch schon?« Er 

blickte zu Siegmund, der die vermeintliche Margot und Roland 
verständnislos anstarrte. 

Margot errötete. »Ich  wollte es ihm erst nach der >Entbindung< 

sagen.« 

Siegmund trat näher. »Ihr  seid Charlotte?« fragte er verblüfft. »Ich 

dachte. ..« Sein Blick ging zu der blonden Jungfer, die er für 
Charlotte gehalten hatte. Nie wäre er auf die Idee gekommen, daß die 

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Schwangere seine Braut sein könnte. Nun, sie war ja gar nicht 
schwanger. 

»Ja«, sagte Charlotte und senkte den Blick. »Die Jungfer, die Euch 

so gut gefiel und der Ihr Komplimente ob ihrer Schönheit machtet, 
ist Margot, meine Zofe.« 

»Aber ich konnte doch nicht ahnen ... ich meine ...« Siegmund war 

zu verdattert, um weitersprechen zu können. 

»Und ich dachte bis vor kurzem, die Mitgift bestünde aus 

Drillingen«, sagte Louis lachend. Er fesselte den bewußtlosen Hektor 
und warf ihn in den Kastenwagen. 

Es war alles erledigt. Sie konnten nach Falkenried fahren. 
»Gefalle ich Euch auch ein wenig?« fragte die richtige Charlotte 

und blickte den verlegenen Siegmund mit ihren schönen Augen 
prüfend an. 

»Natürlich, aber ...»»Nun, lieber Siegmund, ich werde Euch die 

Frage noch einmal stellen, wenn ich auf Falkenried richtig entbunden 
habe.« Charlotte hielt das aufgeschlitzte Kleid vor dem Bauch 
zusammen, damit nicht noch weitere Golddukaten herausfielen. Die 
Mitgift bestand übrigens nicht nur aus Golddukaten, sondern ein Teil 
der Summe waren Schuldscheine. 

Pierre sammelte Dukaten auf, während Roland und Louis die 

Pferde einschirrten. 

Siegmund überwand seine Verlegenheit und bedachte Charlotte 

mit glühendem Blick. »Sagt,  Charlotte, weshalb habt Ihr mit Eurer 
Zofe die Rollen getauscht?« 

Charlotte zögerte mit der Antwort. »Nun, das gehörte alles zu 

einem geheimen Plan, über den ich schweigen möchte.« 

Sie wollte ihm nicht sagen, daß sie unter anderem auch hatte 

herausfinden wollen, ob er sie nur der Mitgift wegen nehme. 

Bald darauf fuhren die Kutsche und der Wagen des Zauberers gen 

Falkenried. 

Vögel begrüßten mit hellem Zwitschern die aufgehende 

Morgensonne. Ein neuer Tag brach an. Ein friedlicher, sonniger Tag. 

Denn Rektors Schrecken war vorüber. 

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Und in der Kutsche sagte Volker vom Hohentwiel: »Welch 

prächtiger Stoff für eine ergötzliche Ballade!« 

ENDE 

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Hanno war Kutscher. Zahlungskräftige Kunden beförderte er an 
jeden Ort, bei jedem Wetter. Und heute war es wieder einmal 
schlecht. Ein Gewitter braute sich zusammen. Hanno dachte an die 
dralle Barbara, damit ihm die Fahrt trotzdem gefiel. Da traf ihn 
ein Pfeil. Tödlich. 
Eine schwarze Gestalt sprang kurz darauf auf den Bock und nahm 
die Zügel an sich. 
»Was hat das zu bedeuten?« fragte Gotthilf vom Berge, der 
Passagier. 
Der unheimliche Fremde lachte spöttisch. »Wir fahren geradewegs 
in die Hölle. Es erwartet uns 

Gorgar, der Tyrann

 

Liebe Leser, wenn Sie urige Kerle erleben möchten, die kein 
Blatt vor den Mund nehmen, und eine spannende Geschichte 
mit abenteuerlichen Kämpfen lesen wollen, dann besorgen 
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DM1,60