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Sturzflug ins Glück erscheint in der Harlequin Enterprises GmbH
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Redaktionsleitung:
Claudia Wuttke
Grafik:
Deborah Kuschel (Art Director), Birgit Tonn,
Marina Grothues (Foto)
Erste Neuauflage by Harlequin Enterprises GmbH, Hamburg,
in der Reihe: Digital Edition
© 2007 by Cora Verlag GmbH & Co. KG, Hamburg
Deutsche Erstausgabe in der Reihe TIFFANY LIEBEN & LACHEN
Band 38 - 2007 by CORA Verlag GmbH & Co. KG, Hamburg
Umschlagsmotive: Stockbyte / Thinkstock, Kotenko Oleksandr / Shutterstock
E-Book-Produktion:
, Pößneck
ISBN 9787373380274
Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten.
CORA-Romane dürfen nicht verliehen oder zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden. Sämtliche Personen dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten
mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.
Weitere Roman-Reihen im CORA Verlag:
BACCARA, BIANCA, JULIA, ROMANA, HISTORICAL, MYSTERY
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1. KAPITEL
Eine meerblau-sandgelb lackierte Maschine stieg über dem Flughafen Berlin-Schönefeld in den
strahlenden Sommerhimmel auf. Patrick Lister warf sich die Pilotenjacke über die Schulter.
Dieser Hauch von Flugbenzin in der Luft, die dröhnenden Triebwerke in den Ohren – er wusste,
dass er sich den besten Beruf der Welt ausgesucht hatte. Die 8-Uhr-Maschine von HolidayJet war
schon in der Luft, er musste sich beeilen. Während Patrick in Richtung des Abfertigungsgebäudes
hastete, schaute er mit einem Lächeln der Maschine nach La Palma nach. Der Kollege am
Steuerhebel drehte ungewöhnlich früh nach Süden ab, sicher, weil heute stärkere
Windgeschwindigkeiten als gestern Abend herrschten, als Patrick spät von Zürich gelandet war.
Bald waren nur noch weiße Kondenswasserstreifen am Himmel zu sehen.
Wenn es die Schweiz nicht gäbe, dann wäre Patrick Lister nie Pilot geworden. Eigentlich war
die Bergsteigerleidenschaft seines Vaters Schuld. Der Brückenbauingenieur hatte den damals
sechzehnjährigen Teenager zwei Jahre nach der Wende, als es endlich möglich war, von Leipzig in
die Berge geschleppt. In den blühenden Alpenlandschaften hoch über der Welt hatte Patrick zum
ersten Mal gespürt, was Freiheit bedeuten konnte. Er erinnerte sich genau daran, als die Gondel
der Bergbahn im gleißenden Sonnenlicht über den Gletscher bergauf glitt. Die Schwerkraft schien
wie aufgehoben, die Wolken fast zum Greifen nah, da tauchte vor ihm das mächtige Matterhorn
auf. In diesem Moment hatte Patrick beschlossen, Pilot zu werden.
In der Abfertigungshalle herrschte Hochbetrieb. Die Ferienzeit hatte begonnen, und HolidayJet
erzielte einen Buchungsrekord nach dem anderen. Patrick war froh über die vielen zusätzlichen
Flüge in seinem Flugplan. Er war in der Ausbildung und musste noch etliche Pflichtstunden als
Co-Pilot absolvieren, bevor er seinen ersten Flug als Kapitän fliegen durfte. Acht Monate noch,
vielleicht sechs, dann hatte er alle Pflichtflüge für den abschließenden Stempel zusammen und
war endlich fertig mit der langen und teuren Ausbildung.
Die Schlangen vor den vier HolidayJet – Schaltern reichten fast bis zu den gläsernen
Schiebetüren. Patrick reckte den Hals, um zu sehen, wer vom Bodenpersonal Dienst hatte. Doch er
konnte nicht erkennen, ob Melanie oder Kira oder vielleicht eine von den Neuen eingeteilt war. An
der Eingangssperre für den Personalbereich stand eine Traube der dunkelviolett gekleideten
Stewardessen einer Konkurrenz-Airline. Patrick winkte einer Rothaarigen zu, mit der er schon
mehrmals Kaffee getrunken hatte. Wie hieß sie noch mal? Iris? Oder doch Irene? Er verlangsamte
seine Schritte und wartete in der Nähe der Schalter, bis die Eingangssperre frei war.
In der Warteschlange fiel ihm eine junge Frau auf, die sich ein rosa Handy ans Ohr drückte. An
ihrem Handgelenk baumelte ein glitzerndes Kettchen, sie trug eine eng anliegende hellgrüne
Sweatshirt-Jacke und einen karierten, kurzen Rock. Sehr kurz sogar, wie Patrick mit Kennerblick
bemerkte. Das Kleidungsstück gab den Blick frei auf lange, gebräunte Beine mit genau der Art
von festen Schenkeln, die Patrick zum Wahnsinn treiben konnten. Solche Schenkel deuteten auf
ein Rennrad hin, das oft benutzt wurde, und auf durchtanzte Nächte. Oder Venus hatte dieser Frau
solche Beine einfach als Geschenk mit in die Wiege gelegt. Während Patrick so tat, als ließe er
den Blick über die Schlange schweifen, musterte er die Frau genauer. Groß war sie, mindestens
ein Meter fünfundsiebzig, und damit ein wenig größer als er. Die meisten Frauen, auf die Patrick
stand, waren größer als er. Man konnte eben nicht alles haben, tröstete er sich. Er hatte Glück
gehabt, dass nach der Wende die EU-Regeln für die Pilotenausbildung eingeführt wurden und die
vorgeschriebene Mindestgröße für Piloten genauso wie für Stewardessen auf eine
durchschnittliche Größe gesenkt wurde. Körpergröße hatte nun wirklich nichts damit zu tun, ob
jemand ein guter Pilot war, ganz im Gegenteil. Patrick hatte gestandene Piloten kennen gelernt,
kleiner als er selbst, mit dreihundert Langstreckenflügen und mehr auf dem Buckel. Mit seinen ein
Meter zweiundsiebzig lag er sogar noch ein paar Zentimeter über der EU-Mindestnorm. Doch den
meisten großen Frauen war er zu klein. Ins Gesicht hatte es ihm noch keine gesagt, aber er sah es
in den bedauernden Blicken, mit denen sie seinen muskulösen Körper – immerhin hatte er
jahrelang Judo trainiert – taxierten.
Patrick senkte den Blick, damit die Frau nicht bemerkte, dass er sie beobachtete. Doch sie
schien ganz in ihr Telefonat vertieft zu sein. Sie war vielleicht fünf Jahre jünger als er. Mit der
frechen Stupsnase und den energischen Bewegungen, mit denen sie ihre grüne Reisetasche vor
sich herschob, machte sie einen sympathischen Eindruck. Kurz lächelte sie einer korpulenten
älteren Dame vor ihr in der Reihe zu, und das Lächeln verzauberte ihr Gesicht. Patrick hätte sie
gerne angesprochen. Diese makellosen Beine schrien förmlich danach, dass man sie berührte und
sanfte Fingerspitzen an ihnen hinab bis zum Rand der hohen Lederstiefel gleiten ließ …
Ah, er hatte doch zu auffällig gestarrt. Er spürte, dass sie ihn anschaute. Langsam hob er den
Kopf, nickte ihr wie beiläufig zu. Ein Blick aus grünblauen Augen traf ihn. Sie wusste genau,
wohin er die ganze Zeit gesehen hatte. Patrick wurde heiß, und er musste an sich halten, damit er
nicht mit einer verräterischen Geste den Kragen des meerblauen Hemds, Standardausstattung bei
HolidayJet, lockerte. Die Frau drückte eine Taste auf dem Handy, offensichtlich war das Gespräch
beendet. Sie hatte dunkle Ringe unter den Augen, doch ihr grünblauer Blick war ganz bei ihm. Sie
lächelte nicht, schaute nicht weg, nicht einmal die Wimpern senkten sich über ihre Augen. Dann
rückte die alte Dame einen halben Meter nach vorn, und die junge Frau folgte ihr. Hinter ihr schob
ein Mann mit einem aufdringlich gelben Schlips seinen riesigen Alukoffer weiter und stellte sich
genau so hin, dass er Patrick die Sicht auf den Check-in-Schalter versperrte. Mist.
Die Uhren auf dem Flughafen schienen sich alle gegen sie verschworen zu haben. Annika Frinx
drehte sich um und starrte auf die digitale Zeitanzeige, die neongrün auf schwarz über der
gegenüber liegenden Schalterreihe prangte. Ihre Handyuhr ging offensichtlich falsch, denn die
offizielle Flughafenuhr verkündete, dass es schon 8:32 Uhr war. Es blieben noch dreiundfünfzig
sichere Minuten auf dem Berliner Boden, bis ihr Flug nach Spanien ging. Dann würde die
Maschine die Startbahn verlassen und abheben, mit der Spitze hochschießen in den unendlichen
Himmel. Annika sah das Flugzeug schon von Turbulenzen geschüttelt kilometertief nach unten
sacken, Sauerstoffmasken würden ihr entgegenfallen, ein Inferno aus Rauch und Feuer, es war
völlig klar, dass sie heute über den Pyrenäen abstürzen würde …
Annika biss sich auf die Lippen. Nicht daran denken. Weitaus weniger Menschen kamen bei
einem Flugzeugabsturz ums Leben als beim Überqueren einer Straße. Die Trainerin in dem Anti-
Flugangst-Seminar hatte ihnen Statistiken vorgelegt, die wirklich überzeugend aussahen. Doch
Annika hatte nicht verhindern können, dass ihr trotzdem tausend zweifelnde Fragen durch den
Kopf schossen: Bezogen sich die Statistiken auf Straßenüberquerungen mit Zebrastreifen oder
ohne, mit Ampeln oder ohne? Waren die verunglückten Menschen vielleicht einfach bei Rot
gegangen, weil sie jemand böswillig abgelenkt hatte? Wurden Selbstmörder, die sich mit Absicht
vor heranfahrende Autos geworfen hatten, auch berücksichtigt?
Annika seufzte. Wenn sie sich beim Fliegen wenigstens nach rechts und links, und dann noch
einmal nach rechts umschauen könnte, wie sie es in der 1. Klasse als ABC-Schützin gelernt hatte,
dann ginge es ihr schon viel besser. Doch stattdessen musste sie sich darauf verlassen, dass
irgendein Pilot sich in diesem unendlichen Himmel auskannte und wusste, wohin er den Flieger
steuerte, damit sie wirklich heil nach Barcelona kam.
Vor ihr am Schalter gab es ein Problem mit dem Handgepäck. Vorschriftsgemäß hatte die nette
Dame mit der Wolljacke ihre Medikamente in einem durchsichtigen Plastikbeutel verstaut,
trotzdem stimmte etwas nicht.
„Es tut mir wirklich wahnsinnig leid, aber Sie dürfen keine Flaschen mit Flüssigkeit mit in die
Kabine nehmen.“ Die junge Frau mit dem kurz geschnittenen, blonden Lockenkopf war die
Geduld in Person, sie sprach ruhig und freundlich. „Wir versorgen Sie an Bord ganz bestimmt mit
so viel Wasser wie Sie wollen.“
Die Dame schüttelte den Kopf. „Aber das Wasser ist bloß für meine Herzmedikamente. Sechs
Mal am Tag muss ich eine Pille einnehmen, alle drei Stunden, junges Fräulein. Und das fällt leider
mitten in die Flugzeit.“
Annika musste lächeln, als die Dame mit festem Griff ihre Wasserflasche nicht aus der Hand
gab, die die HolidayJet – Angestellte ihr abnehmen wollte. Annika liebte diese alten Berliner
Witwen mit ihrem überkandidelten, immer ein wenig zum Schrillen neigenden Kleidungsstil. Die
Dame trug einen Kostümrock aus Kaschmir, den sie mit einer grob gestrickten Wolljacke
kombiniert hatte. Unmöglich, würde Annikas Mutter sagen, die nichts auf ihren angestammten
Düsseldorfer Schick kommen ließ. Aber Berlin war eben Berlin, nicht umsonst kamen die wirklich
innovativen Ideen und Modetrends aus der Hauptstadt und nicht vom Rhein.
Annika blickte auf die digitale Flughafenuhr: 8:41. Die Minuten verstrichen unerbittlich, selbst
wenn die Abfertigung der Passagiere durch das Wasserflaschen-Problem aufgehalten wurde. Das
wohlbekannte, matschige Gefühl machte sich in ihren Knien breit. Wie sollte sie so die Gangway
hochkommen? Annika fühlte schon die Enge im Flieger, der immer voll besetzt war. Eine
Sekunde lang mutierte die nette Blonde am Check-in zu einer Roboterfrau wie die Stewardessen,
wenn sie gelangweilt die lebensrettenden Sicherheitsvorkehrungen durchgingen. Ablenken, hatte
die Trainerin ihnen geraten, wenn die Panik hochkam: ablenken, sich beschäftigen, an etwas
anderes denken, an etwas Schönes.
Sie schaute sich in der Abfertigungshalle um. An der Staff-Absperrung ein paar Meter weiter
wartete noch immer dieser Pilot, der vorher so unverschämt ihre Beine angestarrt hatte. Nun war
sich Annika durchaus bewusst, dass ihre Beine optisch mit das Beste an ihr waren. Ansonsten war
sie natürlich zu groß. „Das bleibt so, gewöhne dich dran“, hatte ihre Mutter ihr gleich gesagt, als
ihr Körper mit elf plötzlich anfing zu wachsen und nicht mehr aufhören wollte, bis sie sogar
größer als ihr großer Bruder war. Inzwischen hatte sie sich damit abgefunden. Ein Trost, dass sie
immerhin auf den Zentimeter gleich groß wie Naomi Campbell war. Und es gab genug Männer,
die auf ihre langen Beine standen.
Der Pilot in der meerblauen, mit sandgelben Plissen abgesetzten Uniform flog offenbar auch für
HolidayJet. Gerade redete er mit einer zierlichen Stewardess, die angesichts ihres dunkelvioletten
Outfits zu einer andern Gesellschaft gehören musste. Annika kniff die Augen zusammen und
schätzte die Größe der Flugbegleiterin, höchstens ein Meter achtundfünfzig. Dagegen hatte sie
keine Chance, das war die ideale Ein-Kopf-kleiner-Proportion.
Schade, der Pilot war total ihr Typ. Drahtig, energisch, kein Dreitagebart, dunkel, dazu dieser
offene, fast freche Blick, mit dem er sie vorhin angeschaut hatte. Und er war … klein. Zumindest
für einen Mann. Größe war relativ, die ideale Größe erst recht. Es war das Dilemma in Annikas
Liebesleben: Sie stand einfach auf kleinere Männer. Nicht, weil sie gern auf ihren Lover
herunterschaute, so viel größer war sie ja auch wieder nicht. Aber sie liebte es, wenn der Mann im
Bett neben ihr genau zu ihrem Körper passte, Schultern an Schultern und Oberschenkel an
Oberschenkel. Keine zu langen Arme, die sich fast zweimal um sie wickelten, als sei sie ein
Postpaket, kein Kinn, unter das sie ihren Kopf quetschen musste. Große Männer kamen meistens
nur als schlaksige, dürre Kerle daher, die immer halb neben sich standen, oder in der
muskelbepackten Variante, die eh die gesamte Freizeit mit Bodybuilding verbrachte.
Vor ihr am Schalter blickte die alte Dame ihrer vollen Wasserflasche nach, die die HolidayJet –
Frau nun doch mit einem geübten Wurf in die für derlei Fälle aufgestellte Tonne warf. Dann griff
die Berlinerin sich Ausweis und Ticket und ging mit zielsicherem Schritt und erhobenem Kopf zu
den Gates. Die hat bestimmt keine Angst vorm Fliegen, ging es Annika noch durch den Kopf, dann
war sie an der Reihe.
„Herr Lister, könnten Sie mal kurz herüberkommen.“ Melanies Stimme hätte Patrick noch im
größten Trubel erkannt. Die Chefin des Bodenpersonals verlor einfach nie die Nerven. Vor ein
paar Wochen hatten die Buchungscomputer Freitagabend drei Stunden lang verrückt gespielt, aber
Melanie hatte mit ihren klaren Durchsagen allen wartenden Passagieren das Gefühl vermittelt,
dass HolidayJet sie rechtzeitig in den sonnigen Süden bringen würde. Sie hatte die perfekte,
Vertrauen einflößende Stimme für ihren Job, bei dem man dauernd mit gestressten und nervösen
Menschen zu tun hatte. Für Patrick wäre das nichts. Höhenangst oder Flugphobie waren
gefühlsmäßige Fremdwörter für ihn, er konnte sich einfach nicht vorstellen, warum es jemandem
Angst machen sollte, völlig frei und leicht über den Wolken im Sonnenlicht zu schweben.
Er ging auf den Schalter zu, wo Melanie ihm mit einem Ticket in der Hand zuwinkte. Direkt vor
dem Schalter stand die Frau im hellgrünen Sweatshirt. Patrick verkniff sich den Blick zu den
langen Beinen. Das rosa Handy war verschwunden, dafür hielt die Frau ihren Reisepass in den
Händen. Sie war wirklich sehr attraktiv, doch ihre Finger zitterten. Als Co-Pilot hatte Patrick oft
mit den Passagieren zu tun, deshalb spürte er sofort, dass hier etwas nicht stimmte. Er strahlte sie
– ganz Profi – mit seinem breitesten Pilotenlächeln an.
Melanie, die mit ihrem kurzen Lockenschopf wie ein kleiner Kobold aussah, nickte ihm zu.
„Frau Frinx würde gern einen Upgrade in die Holiday-Premium-Class machen, aber leider sind die
zwölf Plätze in der ersten Klasse ausgebucht.“
„Ich habe gehört, das Flugzeug ist sehr voll.“ Die Frau machte eine unbestimmte Geste über die
Abfertigungshalle, in der es vor Menschen wimmelte. „Die Enge in der Economy, ich komm
damit nicht so gut zurecht … Es wäre sehr nett, wenn Sie mir helfen könnten.“
Ein bittender grünblauer Blick glitt über seine Uniform. Patrick fuhr unwillkürlich ein Schauer
über den Rücken. Trotzdem fragte er sich, warum diese Frau Frinx überhaupt Economy gebucht
hatte, wenn sie mehr Raum für ihre langen, wohl geformten Beine brauchte.
„Ja?“, sagte er gedehnt und stellte sich direkt neben Melanie. Die erste Klasse war bei
HolidayJet nie ausgebucht. Wer beim Fliegen Wert auf gehobenen Komfort und erste Klasse
legte, der buchte selten bei einer Billig-Airline.
Melanie schob ihm die Reiseunterlagen hin. „Vom Ticket her geht es in Ordnung“, sagte sie
leise, deutete dabei mit dem sandgelb-meerblauen Kugelschreiber aber nicht auf das Ticket,
sondern auf den internen Flugplan. Eigentlich hatte der Flugplan nichts an den Passagierschaltern
zu suchen, und Patrick fragte sich, was Melanie ihm wohl damit andeuten wollte. Dann sah er es:
Bei den Stewardessen war der Name Ursini gestrichen. Er blickte rasch auf das Datum des
Ausdrucks. Jenny hatte sich schon vor drei Tage krank gemeldet. Melanie nickte unauffällig, sie
wusste genau wie er, dass das kein Zufall war. Aber warum hatte ihm niemand Bescheid gesagt?
Patrick und Jenny Ursini vermieden es, dass sie für denselben Flug eingeteilt wurden. Leider
klappte es nicht immer, auch wenn die Kollegen sie so gut es ging unterstützten. Niemand war
scharf auf die eisige Stimmung, die plötzlich einsetzen konnte, wenn Patrick und seine Exfrau sich
im Flieger begegneten. Dabei waren sie schon seit dreieinhalb Jahre geschieden. Er hatte die
blonde Jenny mit der Model-Figur in Frankfurt kennengelernt, als sie beide dort in der Ausbildung
waren. Sie lernte Stewardess bei der Lufthansa, er war bei einem Lehrgang zum Thema
Radionavigation. Sie verliebten sich Hals über Kopf und heirateten nach vier Wochen. Patrick
bereute die stürmischen Tage und Nächte nicht, aber sie waren einfach zu jung gewesen. Als dann
der Alltag mit Fernbeziehung, seine vielen Lehrgänge und Jennys ständig wechselndem Flugplan
über sie hereingebrochen war, hatten sie immer öfter Streit bekommen. Nach zwei Jahren war es
aus gewesen, Scheidung. Und wie um sich an ihnen beiden für ihren jugendlichen Leichtsinn zu
rächen, hatte das Schicksal sie kaum acht Monate nach der Trennung zur selben Airline
verschlagen.
„B4 ist noch frei“, sagte Melanie, wobei sie ihm, von der Reisenden unbemerkt, leicht auf den
Fuß trat. Nun fiel bei Patrick endlich der Groschen. Der B4 war eigentlich immer bis zur letzten
Minute für die Chefetage reserviert, weil sie in Barcelona gerade ein Wartungscenter für die
Spanienflüge aufbauten.
„Dann geben wir Frau Frinx doch einfach den B4 in der Premium Class“, sagte er. Jenny als
Chefstewardess hätte niemals geduldet, dass ohne dringenden Grund die Regeln unterlaufen
wurden. Doch der Flieger ging in einer guten halben Stunde, und Patrick wusste aus gut
unterrichteten Quellen im Management, dass beim Wartungszentrum gerade Baustopp herrschte.
Er nickte Melanie zu und lächelte für Frau Frinx das Extra-Wochenend-Ferienflug-Lächeln. So
hieß das bei HolidayJet, wenn man es wirklich ernst meinte, und er meinte es wirklich ernst. „Mit
besonderen Empfehlungen des Cockpits.“
„Vielen Dank. Brauchen Sie meine Kreditkarte für den Upgrade?“
Der Stimme der Frau war Erleichterung anzuhören. Patrick war sich sicher, dass es hier nicht
um zu enge Sitze und zu wenig Fußraum ging. So eng bestuhlt waren die neuen Ferienflieger von
HolidayJet schließlich gar nicht. Aber um was ging es dann? Er schaute zu, wie die Reisetasche
abgefertigt wurde. Lange würde sie nicht in Barcelona bleiben, die hellgrüne Stofftasche erschien
ihm winzig.
„Ich checke Sie als Economy ein. Alles andere erledigt Herr Lister dann für Sie an Bord.“
Patrick stellte sich näher an den Counter und versuchte, den Vornamen im Computer zu
erkennen.
„Herr Lister?“ Melanies dunkle Stimme klang ein klein wenig ungeduldig.
„Ja?“ Annika hieß sie, Annika Frinx. Adresse – was denn? Patrick drehte sich erstaunt zu
Melanie, die ihm schon wieder auf den Fuß trat, aber stärker diesmal.
„Braucht Flug 251 nach Barcelona nicht einen Co-Piloten? Es ist fünf nach neun.“ Der kleine
Kobold grinste ihn an. Melanie hatte natürlich Recht, er war spät dran.
„Bin schon weg. Danke.“ Er nickte Frau Frinx – Annika – zu. „Wir sehen uns gleich. Ich muss
leider durch einen anderen Security-Check.“ Patrick deutete hinter sich auf den Staff-Eingang.
Sie lächelte. Das leider war ihm mehr oder weniger herausgerutscht, doch sie hatte es
offensichtlich gehört. „Bis gleich.“ Die grünblauen Augen blitzten, dann nahm sie ihre Bordkarte
und steckte sie in den Plastikbeutel. Außer dem Ausweis befanden sich nur eine braunes
Glasfläschchen und ein Buch darin. Als Annika Frinx langsam zum Eingang für die Passagiere
ging, versuchte Patrick noch, den Titel zu erkennen, irgendetwas mit Fliegen leicht … dann war
sie zu weit weg. Er starrte ihr nach, als sie wie eine grüne Erscheinung mit Schottenrock die
Abfertigungshalle durchquerte.
Was für Beine! Wie sollte ein Pilot da an Basis-Check und Abhaklisten denken? Nach dem Start
hatten sie auf Autopilot umgestellt, dann war Patrick in die Kabine gegangen. Als Co-Pilot war er
für den Cabin-Check verantwortlich. Er stand hinter den Stewardessen an den Mikrowellen für die
Heißgetränke.
„Der Businesstyp mit dem gelben Schlips in der Premium hat mich jetzt schon drei Mal nach
dem vegetarischen Menü gefragt, richtig fies. Dabei hatten wir noch nicht mal die Türen richtig
zu. Ich habe ihm schon erklärt, dass ich erst nach dem Start servieren darf“, sagte Sariyeh und
deutete unauffällig zu der Sitzreihe.
„Der sieht nicht wie ein Touri aus. Sei lieber total höflich, das ist bestimmt ein Quality-
Supervisor. Ich hab gehört, dass es wieder mehr geheime Überprüfungen geben soll.“ Tanja
räumte die in Alu verpackten Mahlzeiten in die Mikrowelle.
In letzter Zeit hatte es ziemlich viele Neueinstellungen bei HolidayJet gegeben. Die heimlichen
Prüfer von Quality Control konzentrierten sich bestimmt auf das Service-Verhalten der Cabin-
Crew. Patrick räusperte sich. „Und, ist er bis jetzt zufrieden?“
„Ich hab noch nicht wieder nach ihm geschaut.“ Tanja zuckte leicht mit den Schultern.
„Dann hole das mal nach, okay?“, sagte Patrick. Er selbst wollte nach Annika Frinx auf B4
schauen, die ihm nicht aus dem Kopf ging.
Die langen Beine waren nicht zu übersehen, selbst wenn Annika Frinx auf ihrem Erste-Klasse-
Sitz nicht recht glücklich aussah. Sie klammerte sich an den Lehnen fest und saß steif in den
Polstern. Sie war sehr blass.
Patrick beugte sich zu ihr. „Hallo, Frau Frinx. Ist Ihnen nicht gut?“
Mit einem abwesenden Blick schaute sie ihn an, dann quälte sich ein Lächeln auf ihre Lippen.
„Geht so. Meine Tasche, da ist …“ Sie wollte sich aufrappeln. Patrick kam ihr zuvor und öffnete
das Overhead Compartment über dem Sitz.
„Die Ledertasche, bitte.“
Der Mann neben ihr erhob sich. „Wo ist die Toilette, bitte?“
„Gleich hier vorn.“
Patrick ließ ihn in den Gang treten, dann stand Annika Frinx neben ihm und lugte in die Ablage.
Sie hielt sich an der Kopfstütze des Sitzes fest. Schwankte sie? Der Frau war sicher übel. Patrick
schickte Sariyeh einen auffordernden Blick, die schaute aber absichtlich woanders hin. Auch
Tanja war verschwunden. „Ihre Tasche.“
„Ich hole mir nur meine Bachblüten gegen die Aufregung.“
„Wollen Sie nicht lieber ein Glas Wasser?“
Annika schüttelte den Kopf, fiel kurz gegen seine Schulter. Er stützte sie, hielt aber Abstand.
Tuchfühlung mit Passagieren, besonders mit weiblichen Passagieren, das war immer heikel. Sie
kramte in ihrer Ledertasche, zog den Plastikbeutel hervor und nahm schließlich ein braunes
Glasfläschchen heraus. Dann schaute sie sich irgendwie irritiert um, schluckte sichtbar und tastete
sich zurück in den Sitz.
„Alles in Ordnung, Frau Frinx?“
„Ach, jetzt bräuchte ich doch ein Glas Wasser.“
„Kein Problem.“ Patrick schaute sich um, nur war immer noch keine der Stewardessen zu
sehen.
„Müssen Sie nicht eigentlich fliegen?“, fragte Annika. Ganz kurz strahlte ein hinreißendes
Lächeln in ihrem Gesicht auf.
„Mein Kollege hat das alles im Griff, keine Angst.“ Er schaute erneut über die Sitzreihen.
Seltsam, eine Stewardess war eigentlich immer für die erste Klasse verantwortlich. Von der
vorderen Toilette kam mit schwankenden Schritten der Nachbar von Annika zurück. Patrick
machte Platz, um ihn ans Fenster zu lassen. Der Herr warf ihm einen missmutigen Blick zu.
Leise raunte Patrick Annika zu: „In zwei Stunden sind wir in Barcelona, versprochen. Sie
schaffen das schon. Okay?“
„Ja, okay, wirklich. Fliegen Sie ruhig weiter.“ Sie schloss die Augen, hielt dabei aber das
Bachblütenfläschchen verkrampft in der einen Hand. Patrick hatte das deutliche Gefühl, das
irgendetwas gar nicht okay war.
Ganz plötzlich tauchte wie aus dem nichts Tanja mit einem Tablett auf. „Wir servieren heute
als Cocktail in der Premium Class einen Caribbean Hurricane. Mit oder ohne Alkohol.“
„In meinem Kopf ist schon Hurrikan genug“, murmelte Annika mit geschlossenen Augen.
Patrick schaute von Sariyeh zu der Passagierin, die sehr blass und regungslos dasaß. Auf einmal
kapierte er, was hier lief. Die Flugangst dieser Annika Frinx, Tanjas Aufregung über das
vegetarische Menü für den Geschäftsmann, das war alles nur gespielt!
In seinem Kopf schwirrten die Geschichten umher, die in der Ausbildung über die
unangekündigten, gefürchteten Service-Bewertungen erzählt worden waren. Schwangere mit
Sturzgeburt, ganze Sitzreihen, die in schnarchenden Tiefschlaf fielen, ältere Damen, die mitten im
Flug aussteigen wollten, Passagiere, die verborgene Schnapsflaschen oder noch schlimmer, ein
kleines Taschenmesser, aus dem Handgepäck zauberten. Warum für ihn nicht als Test eine hoch
attraktive Frau, die schon beim Einsteigen schwere Flugangst kriegte, bevor sie in der Luft ganz
zusammenbrach?
Okay, er war erstklassig ausgebildet, ein Test von Quality Check konnte ihn nicht schrecken.
Business as usual. Patrick legte einen mitfühlenden Ton in seine Stimme. „Ich lasse Ihnen ein
stilles Wasser bringen.“
Annika öffnete prompt die Augen. Sieh an. Patrick deutete auf den Rufknopf neben dem Sitz.
„Drücken Sie einfach, und Tanja wird sich um Sie kümmern. Ich fliege Sie jetzt sicher nach
Barcelona.“
Er winkte, und Tanja grinste in ihre Drinks mit den bunten Schirmchen. Die wusste doch genau
was lief. „Tanja, würdest du bitte ein Wasser bringen und Frau Frinx helfen, falls ihr schlecht
wird?“
„Natürlich.“ Schon war Tanja bei den Getränkeschränken verschwunden.
„Danke.“ Die Stimme von Annika Frinx klang wirklich dankbar. Patrick drehte sich um. Dieser
blaugrüne Blick war faszinierend, eine Mischung aus flackernder Panik und totaler Neugier.
Konnte eine Prüferin wirklich so gut schauspielern?
Als Patrick ins Cockpit ging, sah er aus dem Augenwinkel, wie Annika Frinx ihre Tropfen in
das Glas Wasser träufelte, das ihr Tanja gebracht hatte. Frauen hatten erstaunliche Tricks drauf,
die Erfahrung hatte er doch wohl schon gemacht, oder? Patrick hätte doch zu gerne gewusst, ob
diese Annika ihn jetzt von hinten cool abcheckte. Aber er sah sich nicht noch einmal um. Auch so
eine „Prüfung“ konnte ihn nicht schrecken.
„Cockpit check – on“, sagte Jan Kosfeld, der Kapitän von Flug 251.
Patrick griff routinemäßig zu den Schaltern und Hebeln über ihm. Aus den Augenwinkeln sah er
die langen Arme von Jan, der sich im Pilotensitz nicht zu strecken brauchte. Mit seinen schwarzen
Haaren und dunkelbraunen Augen sah er wie ein etwas zu groß geratener Italiener aus, auch wenn
er auf einem niedersächsischen Bauernhof aufgewachsen war. Manchmal eckte Jan wegen seiner
Körpergröße in den engen Kabinen an, was ihm trotz seiner langen Flugerfahrung immer wieder
deutlich sichtbar peinlich war.
„Cockpit check – roger.“ Patrick vertraute Jan. Er hatte ihn bei einem Bogenschießwochenende
in Starnberg kennen gelernt, als er kurz vor seiner ersten Flugprüfung unbedingt einmal eine
Pause vom ganzen Stress gebraucht hatte. Den Kurs hatte er sich nur leisten können, weil sein
Vater ihn ihm zum Geburtstag geschenkt hatte. Er hatte Jan insgeheim dafür bewundert, wie lange
er den Zielarm ruhig halten konnte, bis er den Pfeil abschoss – und meistens ziemlich genau ins
Schwarze traf. Beim abendlichen Bier hatten sie über die Vor- und Nachteil des Flachlegens
gefachsimpelt, von Autos allerdings.
Umso größer war Patricks Überraschung gewesen, als Jan ihm später im Flugsimulator als
Ausbildungsprüfer für Landungen bei gestörtem Funkfeuer präsentiert wurde. Jan hatte ihm nichts
geschenkt, mit der A-minus konnte Patrick zufrieden sein.
Ein paar Wochen später hatte Jan ihm den Tipp gegeben, sich bei HolidayJet zu bewerben, wo
gerade eine Co-Piloten-Stelle frei geworden war. Kaum hatte Patrick den Job in Berlin
bekommen, knirschte es in Jans Beziehung mit einer Kinderärztin. Sie zog Knall auf Fall aus, das
leere Zimmer machte Jan wahnsinnig, also bot er Patrick an, bei ihm einzuziehen. Es war ein
ruhiges Zusammenleben, denn Jan machte nicht gerne viele Worte – außerdem war einer von
ihnen immer in der Luft. HolidayJet boomte.
„Jan, was traust du unserem internen Quality Control zu?“
„Alles.“ Der Pilot blickte von den Instrumenten auf, die er gerade justierte. „Wieso?“
„In der Cabin hat eine Frau einen seltsamen Anfall von Flugangst, Sariyeh und Tanja segeln
herum wie Jets ohne Peilung, und die Lady ist auch noch haargenau mein Typ.“
Jan lachte und schüttelte seine dunklen Haare. „Haben die im Headquarter jetzt alle Tricks
durch, dass sie wieder mit dem Allerältesten anfangen? Die haben sich in der Kantine rumgehört,
ob du eher bei Blondinen oder bei dunkelhaarigen Girls schwach wirst, verlass dich drauf!“
„Du meinst, sie könnte wirklich eine Prüferin sein?“
Jan sah herüber. „Junge, ich habe die Frau doch nicht gesehen. Bei den Prüfungen von Quality
Control habe ich mich immer auf meinen Instinkt verlassen. Du merkst selbst am besten, ob du an
der Reihe bist. – Ich nehme jetzt den Autopiloten raus.“
„Roger“, sagte Patrick. In Gedanken war er bei Annika Frinx in der Cabin, die ihm einfach
keine Ruhe ließ. Er kannte sich: Dinge und Menschen, die er nicht verstand, faszinierten ihn, er
musste ihnen auf den Grund gehen. Und bei dieser Frau war sein Sensor ausgeschlagen. Im
Flughafen hatte sie einfach nur sexy gewirkt mit den langen Beinen, an Bord war sie eine fatale
Mischung aus Hilflosigkeit und Gefahr, falls sie eine Prüferin war. Auf jeden Fall hatte es Annika
Frinx bis ganz oben auf seine persönliche Checkliste geschafft, das verriet Patrick dieses
unverkennbare Gefühl im Magen. Aber was genau wollte ihm dieses flirrende Kribbeln eigentlich
sagen?
Roberta wäre stolz auf sie gewesen. Ohne die dezent hinter dem Faltkarton mit den
Sicherheitsvorkehrungen versteckte Brechtüte benutzen zu müssen, hatte Annika den Start
überstanden.
Es war ein furchtbarer Start gewesen, auch wenn der Pilot über Lautsprecher etwas von „kein
Wölkchen am Himmel“ und „freie Sicht bis Barcelona“ gefaselt hatte. Nicht ihr Pilot, Herr Lister,
denn der war ja nur Co-Pilot, sondern der Mann, der dieses Ungetüm steuerte. Auf jeden Fall hatte
sie deutlich gespürt, wie ein Seitenwind sie direkt in dem Moment erfasst hatte, als sie von der
Landebahn abhoben. Die Maschine hatte heftig geschwankt. Sie hatte genau gesehen, wie die
Stewardessen auf ihren Klappsitzen sich besorgt angeschaut hatten. Nein, niemand konnte Annika
etwas vormachen: Fliegen war lebensgefährlich, und selbst bei gutem Wetter konnten einen die
Clear-Air-Turbulenzen erwischen. Den Ausdruck hatte sie von einer Flughafen-Webseite aus dem
Internet, durch das sie gestern Abend noch gesurft war, obwohl die Trainerin in dem Anti-
Flugangst-Seminar ihnen strikt verboten hatte, vor einem Flug zu googeln. Aber sie hatte den Start
alles in allem gut hinter sich gebracht. Roberta wäre stolz auf sie gewesen.
Allerdings wusste Roberta nichts von Annikas Flugangst. Niemals durfte ihre Chefin davon
erfahren, sonst würde Annika nur noch im Flieger sitzen und Connor FashionConsult auf allen
Meetings vertreten, die weiter als fünfhundert Kilometer von Berlin entfernt waren. Roberta war
eigentlich eine tolle Chefin. Doch wenn sie eine Schwäche bei ihren Mitarbeitern entdeckte, dann
fühlte sie sich persönlich dafür zuständig, dass man sich der Schwäche stellte und sie überwand.
Irgendwie. So etwas wie Flugangst würde ihre Chefin nie verstehen. Roberta Connor – eigentlich
Barbara Kramer, aber Mit so einem Namen kannst du im Modegeschäft nichts werden, Kleines –
liebte es, in ihrem neusten Businesskostüm von Versace auf der Gangway zu stehen, die Frisur
perfekt wie im Werbespot für das neueste Haarspray, die Pfennigabsätze zwölf Zentimeter hoch,
mindestens. Wenn sie dann die Treppe hinunterstieg, kam sie sich vor wie Marlene Dietrich in
Casablanca. Sagte ihre Chefin jedenfalls nach jedem Flug. Annika hütete sich zu erwähnen, dass
es in Casablanca Ingrid Bergmann gewesen war, die in ziemlich flachen Pumps mit Victor Laszlo
in den Nebel gestapft war, damit Boogie und der französische Polizeichef ihre
Kumpelbeziehungen mit einem Whisky begießen konnten.
Roberta war, wie gesagt, eine tolle Chefin, doch alles, was sie am Fliegen liebte, löste bei
Annika panische Schweißausbrüche aus. Und deshalb durfte Roberta nie erfahren, dass ihre junge
Mitarbeiterin seit ein paar Monaten immer nur bei HolidayJet buchte, weil die eben im Gegensatz
zu allen anderen Billig-Fluglinien eine Business Class, pardon Premium Class, hatten.
Annika lehnte sich in den breiten meerblauen Sitz zurück. Sie hatte Glück gehabt, B4 war ein
Gangplatz. Doch der Herr neben ihr mit dem unsäglichen gelben Schlips hätte sicher auch die
Plätze getauscht. Annika wagte kurz einen Blick aus dem Fenster. Draußen türmten sich Wolken
zu mächtigen Gebilden auf, die für Annikas Geschmack sehr nach Regenwolken aussahen. Sie
schloss die Augen und umklammerte die gepolsterte Lehne. Praktisch Windstille, hatte der Pilot
vorhin in der Durchsage erwähnt, und die Trainerin im Anti-Flugangst-Seminar hatte ihnen
eingebläut, den Worten des Piloten zu trauen. Die Männer wissen, was sie machen, dafür sind sie
ausgebildet. Solchen hohlen Versicherungen – auch Autofahrer wurden fürs Autofahren
ausgebildet, und trotzdem passierten dauernd Unfälle – schenkte Annika normalerweise keinen
Glauben, doch wenn sie an den überaus netten Co-Piloten dachte, dann fühlte sie sich gleich etwas
sicherer. Die Frau beim Check-in hatte ihn mit „Herr Lister“ angeredet, und vorhin, als er sie zu
ihrem Platz in der ersten Klasse geführt hatte, da hatte die Stewardess ihn „Patrick“ genannt. Der
Name klang interessant, geheimnisvoll irisch. Ob er wohl in Berlin lebte? Sie hatte keinen Ring an
seiner Rechten entdecken können. Annika lächelte still vor sich hin. Irgendwo hatte sie mal
gelesen, dass Frauen bei Männern als Erstes an Heirat, Männer bei Frauen zuerst an Sex denken.
Aber bei ihr war es so, dass sie, weil sie an Sex dachte, logischerweise auf den Gedanken Heirat
kam. Patrick Lister hatte ihr vorhin kurz die Hand auf die Hüfte gelegt. Es war eine leichte, kaum
spürbare Berührung gewesen, aber Annika hatte sofort Herzklopfen bekommen. Und Flugangst
war das in diesem Moment ganz bestimmt nicht gewesen.
„Das ist ja ein ungewöhnlich ruhiger Flug heute, finden Sie nicht auch?“
Annika öffnete die Augen. Der Herr mit dem gelben Schlips neben ihr lächelte ihr freundlich
zu. „Entschuldigen Sie, ich wollte Sie nicht wecken“, sagte er.
„Nein, nein, Sie stören gar nicht.“ Sie setzte sich im Sitz auf. Die Stewardess hatte ihr eine
sandgelbe Decke gebracht, die von ihren Knien rutschte. Der Herr griff sofort danach und fing sie
auf.
„Danke.“ Annika kuschelte sich wieder in die Decke. „Ja, der Flug ist okay.“
„Bei HolidayJet ist das Personal so höflich und zuvorkommend. Das ist man bei Billigfliegern
ja sonst nicht gewohnt.“ Der Mann verzog das Gesicht, offenbar hatte er schon schlechte
Erfahrungen gemacht. Vorhin hatte er die Stewardess ziemlich barsch angefahren, wann er denn
sein vegetarisches Menü serviert bekommen würde. Annika ließ den Blick über seinen dunklen
Anzug gleiten, ein echter Dreiteiler von Armani. Wahrscheinlich ein Geschäftsmann. Dass so
einer auf gesunde Ernährung achtete, wunderte sie ein wenig, aber dann dachte sie an das
Business-Yoga-Studio gegenüber der Agentur. Dort gingen um die Mittagszeit nur Männer und
Frauen im Business-Outfit ein und aus.
„Ach, finden Sie?“, sagte sie. „Die meisten sind doch sehr freundlich.“
Der Mann schwieg, und Annika fügte hinzu: „Aber Sie haben schon Recht, bei HolidayJet ist
das Personal wirklich ausgesprochen serviceorientiert.“
Jetzt hellte sich die Miene des Herrn endlich auf, wahrscheinlich wollte er hören, dass er das
Geld seiner Firma für ein Ticket bei der richtigen Airline ausgegeben hatte. Die Menschen waren
schon seltsam. In den letzten drei Minuten hatte sie kein einziges Mal an ihre Flugangst gedacht,
und deshalb redete Annika einfach weiter. Ablenken, hatte die Trainerin geraten, und Small Talk
mit einem Fremden war genau das richtige.
„Ich konnte sogar kurzfristig noch einen Upgrade in die erste Klasse bekommen“, sagte sie.
Der Mann schaute sie aufmerksam an. „Tatsächlich? Ich habe mich schon gefragt, warum Sie
mit einem Economy-Ticket in der Premium Class sitzen. Ein Upgrade also.“ Er nestelte an seinem
Schlips und murmelte dabei: „Und dazu noch auf den B4.“
Wahrscheinlich hatte der Mann gedacht, Annika würde seine leisen Worte nicht verstehen, doch
sie hatte ein sehr gutes Gehör. „B4? Das ist meine Platznummer.“ Sie drehte sich hektisch im Sitz
um und suchte auf der Rückenlehne nach der Nummer, dabei wurden die natürlich über den Sitzen
angezeigt. „Ist etwas mit meinem Platz verkehrt?“ Sie wandte sich zu dem Mann, der sie amüsiert
beobachtete. Oh nein! „Das ist doch jetzt nicht so ein Platz, bei dem ich im Notfall die Türen
öffnen muss, oder?“
Die Vorstellung, irgendwelche Hebel umlegen zu müssen, schwere Türen aufzuhieven und
zuzusehen, wie ihre Mitpassagiere auf diese lächerlichen Rutschbahnen sprangen, um dann ins
kalte schwarze Wasser zu stürzen, raubte ihr die Luft. Sie hatte Titanic gesehen, nicht nur ein-
oder zweimal wie ihre Freundinnen, sondern mindestens zehnmal. Sie wusste haargenau, wie
schnell man im eisigen Wasser starb. Und dass es bei Billigfliegern nie genug Schwimmwesten
für alle Passagiere gab, konnte man ja jeden Tag in der Zeitung lesen. Dann fiel ihr ein, dass sie ja
über den Pyrenäen abstürzen, an Felsen zerschellen würden. Zwischen Berlin und Barcelona gab
es gar kein Meer. Sie holte tief Luft.
„Nein, natürlich nicht“, sagte der Mann neben ihr. „Von den Passagieren in der Premium Class
wird so etwas nicht erwartet. Außerdem befinden wir uns ja auf einem innereuropäischen Flug.
Dass Passagiere zu Notfallmaßnahmen herangezogen werden, zumindest theoretisch, das gibt es
nur bei Langstreckenflügen.“
Annika verfolgte die bläulich fluoreszierenden Leuchtstreifen auf dem Fußboden bis zum
nächsten Ausgang. Während der Herr sprach, überzeugte sie sich, dass sie viel zu weit entfernt
von der vorderen Luke saßen. Hier konnte niemand von ihr verlangen, anderen dabei behilflich zu
sein, dass sie in den sicheren Tod sprangen.
„Ist alles in Ordnung mit Ihnen?“ Er bückte sich und hob die sandgelbe Decke auf, die nun
wirklich auf den Kabinenboden gerutscht war.
Sie lächelte verlegen. „Ja. Ich habe nur ein bisschen Flugangst.“
Der Mann nickte, als ob er sich das schon gedacht hätte. „Benutzen Sie etwa diese Pflaster? Ich
habe gehört, die sollen Wunder wirken.“
Annika strich mit einem Seufzen ihre Haare zurück, damit er das kreisrunde Pflaster hinter
ihrem Ohr sehen konnte. Dann zeigte sie ihm das andere Ohr und die Innenseiten ihrer
Handgelenke. Das machte ihn erst einmal sprachlos.
„Die Pflaster nützen schon was“, räumte Annika ein. „Aber nicht bei einer wirklichen Attacke.“
„Ich bestell uns mal einen Cocktail“, sagte der Mann und winkte der Stewardess zu, bevor
Annika ablehnen konnte. Alkohol war Gift für sie beim Fliegen.
„Für mich einen Orangensaft“, sagte sie, als die nette Stewardess mit den schwarzblauen
Haaren nach ihren Wünschen fragte.
„Vielleicht möchten Sie lieber am Fenster sitzen“, schlug der Mann vor, als ein Martini, perfekt
mit Olive, vor ihm stand.
„Nein, auf keinen Fall.“
„Der Blick ist wirklich atemberaubend.“ Er lehnte sich in den bequemen Sessel zurück und
nippte an dem Martini, der in der Premium Class – Billigflieger hin oder her – im echten
Cocktailglas serviert wurde.
Zum ersten Mal wirkte der Mann nicht geschäftsmäßig. Annika fiel sein graumeliertes, immer
noch volles Haar auf, das perfekt geschnitten war. Träumte so einer, wenn er im Job alles erreicht
hatte, von einem Leben im Süden ein bisschen näher an der Sonne? Oder hatte der immer noch nur
Erfolg und Geld im Kopf? Helle Strahlen schienen durch die Fenster mit den abgerundeten Ecken
und blitzten im Cocktailglas auf. Annika dachte sich nichts dabei, als sie den Kopf hob und hinaus
in den Himmel blickte. Es war wirklich atemberaubend: Weit unter ihr war alles grün und braun,
nur am Horizont erhoben sich Bergspitzen aus ein paar schneeweißen Wolken. Das Flugzeug
schien stillzustehen, so ruhig glitt es durch die Lüfte. Dann senkte es sich leicht nach links unten
und drehte in einer lang gezogenen Kurve Richtung Süden ab.
Sie stürzten ab. Sie wusste es: Die Flugturbinen waren nicht mehr zu hören, da war kein
Vibrieren wie beim Start. Annika stockte der Atem. Und dann bekam sie wirklich keine Luft
mehr. Sie versuchte ruhig zu bleiben, der Panik keine Chance geben, wie die Trainerin gesagt
hatte. Sie ging im Kopf Zahlenreihen durch, versuchte, ihren rasenden Herzschlag auf ein
normales Tempo zu bringen, aber es war hoffnungslos. Der weite Himmel konnte sie nicht halten,
die Berge und das Grün dort unten waren viel zu tief, niemand würde einen Absturz überleben, sie
würden zerschellen und …
„Der jungen Frau ist schlecht“, hörte sie wie durch eine Wattewolke die Stimme des Herrn
neben ihr. „Stewardess, kommen Sie mal bitte …“
Annika hörte nichts mehr. Ihr Kopf war wie von selbst nach hinten auf die Lehne gekippt, der
Innenraum der Maschine drehte sich in sandgelb und meerblau um sie. Sie tastete nach der
Brechtüte hinter dem Faltblatt mit den Maßnahmen für den Notfall. Gleich würde wirklich ein
Notfall eintreten, doch an die Tüte kam sie nicht heran. Annika stöhnte. Nur gut, dass Roberta sie
jetzt nicht sah.
2. KAPITEL
Patrick stand vor dem Flughafengebäude in Barcelona. Um ein eigenes Profil zu gewinnen, flog
HolidayJet schon seit einem Jahr nicht mehr den weiter entfernt liegenden Billig-Airliner-
Flughafen Girona an. Patrick schaltete das Handy an, das sofort klingelte. Der Name wurde im
Display angezeigt: Jenny. Was wollte denn seine Ex von ihm?
„Hallo?“
„Hallo, Patrick, ich bin‘s. Na, bist du gerade in Barcelona gelandet?“
Typisch Jenny, immer noch hatte sie seinen Flugplan im Kopf. „Ich bin gerade aus dem
Terminal raus. Und selbst? Wieder gesund?“
„Ach, nur eine Erkältung. Ab morgen flieg ich wieder.“
„Freut mich zu hören. Was gibt‘s denn, Jenny?“ Hoffentlich brauchte sie nicht wieder einen
männlichen Vorzeige-Begleiter für eine der vielen Geburtstagsfeiern in Jennys Familie.
„Erzähle ich dir, wenn du wieder in Berlin bist. Ist ja zu teuer, diese Auslandsgespräche auf das
Handy.“
Patrick vermied, sie darauf hinzuweisen, dass sie ja angerufen hatte und er die Roaming-
Gebühren zahlen musste. So etwas gab immer nur Streit, und Streit mit Jenny hatte er genug in
seinem Leben gehabt. „Ja, klar“, sagte er deshalb nur. „Ich wollte jetzt eigentlich zum Marktplatz
in El Prat de Llobregat.“
„Das war ja schon immer dein Lieblingsort in Barcelona. Okay, wir sehen uns dann in Berlin.
Ich will dich nicht weiter stören.“ Sie legte auf. Einen Moment hatte Patrick ein schlechtes
Gefühl, aber schließlich waren sie nicht mehr zusammen. Wahrscheinlich hatte sie erwartet, dass
er trotz Handygebühren hören wollte, was sie ihm zu erzählen hatte.
Sechs Stunden Pause reichten für den Marktplatz in El Prat. Dort gab es immer was zu sehen,
entweder einen Opa, der für die Kinder mit Puppenfiguren am Brunnen spielte, oder die Frauen,
die aus den Boutiquen am Platz bunte Tüten heraustrugen.
Draußen vor dem Terminal war es heiß. Patrick lief zwischen den Trolleys der Reisenden an der
Ankunft vorbei. Er liebte den leichten Geruch nach Flugbenzin, der an jedem Airport zu riechen
war. Wenn er Glück hatte, schaffte er seinen ersten Flug als echter Kapitän sogar noch vor seinem
31. Geburtstag. Er hatte immer mit dreißig Pilot sein wollen. Kaum war er damals vom
Matterhorn herunter und aus der Schweiz zurück, hatte er sich um die Ausbildungsmöglichkeiten
gekümmert. Die Verkehrpilotenausbildung bei der Paderborner Flugschule war zwar anerkannt,
aber sie hatte fünf Jahre lang jeden Euro verschluckt, den er mit Wartungsjobs im Technikcenter
verdient hatte. Sogar Nachtschichten beim Lost-and-Found hatte er geschoben, wenn es ganz
knapp geworden war. In den Stunden am Customer Service war er seiner Mutter, die bei der
Leipziger Messe das Besucherbüro geleitet hatte, richtig dankbar dafür, dass sie ihn schon als
Junge den sächsischen Akzent abtrainiert und seine Aussprache auf perfektes Hochdeutsch
aufpoliert hatte.
Sah er da vorne richtig? Patrick sprang hinter eine Werbetafel, auf der ein Stier in der
riesigroten Abendsonne stand. Am Taxistand wechselte Jan gerade mit Annika Frinx ein paar
Worte. Er trug ihr sogar die Reisetasche. Dieser verfluchte Schweinehund von Kumpel war doch
mit allen Wassern gewaschen. Und diese Annika nicht minder. Jan hatte ihm vorhin noch
versprochen, dass er ihn heute Abend auf dem Rückflug fliegen ließ, damit er seine
Pflichtflugstunden schneller zusammen bekommen konnte. Doch wenn einer etwas von einer
Kontrolle geahnt hatte, dann wohl Jan. Und warum sonst sollte Jan, der viel zu schüchtern war, um
fremde Frauen einfach so anzusprechen, die Sachen einer Passagierin zum Taxi bringen? Annika
Frinx war eine Prüferin von Quality Control, so viel stand fest. Verdammt! Das kostete Jan einen
Drink und ein paar saftige Infos über die wahre Annika.
Die hatte auch nie und nimmer zwei Stunden Flugpanik hinter sich, so lebhaft wie sie sich von
Jan verabschiedete und ihre Reisetasche auf den Rücksitz des Taxis warf. Sie beugte sich vor,
streckte die langen Beine. Wahnsinn. Bei dem Anblick hatte er ihr schon halb verziehen.
Patrick schaute Jan nach, der in Richtung der HolidayJet Staff-Lounge ging, dann trat er aus der
Deckung des Werbeschildes. Den Schnaps, für den der Stier auf der Tafel warb, könnte er jetzt
auch gebrauchen.
„Hallo, Herr Pilot!“, rief Annika mit einem Hauch Ironie aus dem heruntergedrehten Fenster.
„Ohne Sie wäre ich jetzt völlig wattig im Kopf. Das Glas Wasser war genau das Richtige. Wollen
Sie in die Stadt? Ich nehme Sie gerne mit.“ Sie öffnete die Tür des Taxis.
Patrick wollte schon einsteigen, da fing er einen Blick aus diesen grünblauen Augen auf, die ihn
einen Tick zu genau fixierten. Ein persönlicher Kontakt mit Passagieren, der über das dienstlich
Notwendige hinausging oder gar als intime Annäherung missdeutet werden könnte, war bei
HolidayJet ein Grund für eine fristlose Kündigung. Bestandteil des Arbeitsvertrages, hatte
Osterloh, der Personalchef, im Einstellungsgespräch gesagt.
„Eine Bekannte von mir eröffnet heute ihre neue Fashion-Bar. Ein echter Kapitän ist eine super
Überraschung, kommen Sie doch einfach mit zur Vernissage.“
Das bedeutete viel Spaß und lockere Gespräche an einer schicken Bar, aber leider auch Alkohol.
Er seufzte. Für den Rückflug musste er nachher nüchtern sein. Da war nichts zu machen.
Wieder glitzerte es in Annika Frinx‘ Augen.
War er denn blöd? Darum ging es hier doch, ob er es mit dem Alkoholverbot genau nahm. Diese
Frage jetzt war der eigentliche Test!
„Ich … es tut mir leid, ich muss ausspannen für den Rückflug. Und kein Alkohol, Sie wissen ja,
ich bin noch im Dienst.“
Das Glitzern verlosch. Sie ließ sogar die Schultern hängen. „Wirklich?“
Gut gespielt, Lady. Die Quality Control hatte offensichtlich eine Profischauspielerin eingekauft.
„Safety first. So ist das bei HolidayJet und bei mir auch.“
Wie ein englischer Butler schloss er leise die Wagentür. „Viel Spaß!“
Dann drehte er sich um. Die Plaza in El Prat war gestrichen. Quality Control würde ihn nur
verfolgen und sich vielleicht noch etwas anderes ausdenken.
Sein Handy summte, eine SMS war eingegangen. Sorry wegen vorhin. Ruf mich an, ja? Jenny.
Annika konnte es nicht fassen: Der interessanteste Mann, der ihr seit Wochen, ach was, seit
Monaten über den Weg gelaufen war, musste ausgerechnet einer sein, der sich leidenschaftlich
gerne in ein Flugzeug setzte. Denn warum sonst wurde jemand Pilot? Und ein wenig seltsam
wirkte er auf sie schon. Normalerweise konnte sie sich perfekt auf ihre Menschenkenntnis
verlassen, und dieser Patrick Lister signalisierte eindeutig, dass er sie sympathisch fand. Mehr als
sympathisch, wenn sie daran dachte, wie er den Blick nicht von ihren Beinen wenden konnte.
Doch jedes Mal, wenn sie subtil einfließen ließ, man könne sich ja ein bisschen näher kennen
lernen, klappte er zu wie eine Auster vor dem Messer. Schon bei der Verabschiedung in der ersten
Klasse, nachdem sie diesen furchtbaren Flug überlebt und heil auf spanischer Erde gelandet war,
hatte er kaum mehr als eine Floskel mit ihr getauscht. Dabei hatte er sich während des Flugs so
liebevoll um sie gekümmert, als sie hundeelend in ihrem Sitz gelegen hatte. Als er ihr die Tasche
aus dem Overhead Compartment holte, hatten sich ihre Finger kurz berührt. Annika hatte Funken
schlagen sehen, so hatte es da geknistert zwischen ihnen. Und dass, obwohl sie eigentlich mit
ihrem Leben abgeschlossen hatte und nur noch sterben wollte, so schlecht war ihr gewesen.
Der spanische Taxifahrer hatte einen Jazzsender eingestellt, der wunderbar zu der sommerlich
leichten Atmosphäre in Barcelona passte. Sie war schon zum dritten Mal auf der MODA
Barcelona und verliebte sich jedes Mal von neuem in die Stadt und ihre Menschen. Die ersten
beiden Male war sie natürlich mit dem Zug angereist.
Annika schaute dem Piloten nach, der immer noch vor dem Terminal stand und offenbar nach
einem anderen Taxi Ausschau hielt. Sie hätte ihn gerne dahin mitgenommen, wo immer er sich
auch „ausspannte“, damit er auf seinem nächsten Flug fit war. Die meisten fuhren eh zur Plaza
España. Jetzt drehte Patrick sich um, und sie konnte seinen knackigen Po in den modisch
geschnittenen, wenn auch meerblauen Anzughosen von HolidayJet bewundern. Ein Körper wie ein
asiatischer Kampfsportler, wenn auch zu klein für ein Fotomodell. Er war einfach genau ihr Typ.
Langsam kroch das Taxi durch den Verkehr. Die Reisenden, die mit dem Aerobús in die Stadt
fuhren, überquerten die Straße an einer Ampel, die den Strom von Taxis immer wieder zum
Halten brachte. Vor dem Flughafengebäude schaute Patrick auf seine Armbanduhr. Vielleicht
sammelte er Uhren, so ein Hobby passte zu einem Piloten. Uhren waren ein wichtiges Mode-
Accessoire für Männer. Und dieser Patrick hatte Geschmack, eine Jaeger-LeCoultre, das war ihr
noch im Flieger aufgefallen. Aber anscheinend wusste er nicht, wohin er gehen sollte. Da hätte er
doch wirklich mit ihr zu Carlotta gehen können. Sie hätten sicher ein ruhiges Plätzchen in dem
lauschigen Innenhof von Carlottas Laden gefunden, und dann hätte sie schon dafür gesorgt, dass er
entspannt wieder auf den Rückflug kam. Als ob es keine alkoholfreien Cocktails gäbe. Sie schaute
dem Piloten so sehnsüchtig nach, dass der Fahrer sie schon im Rückspiegel beobachtete.
„Ihr Amigo?“, fragte der Taxifahrer, und Annika wollte schon den Kopf schütteln, da wandte
Patrick sich um, sah ihr Taxi, blieb stehen und winkte ihr mit einem so süßen Lächeln zu, dass sie
nur dahinschmelzen konnte. Im selben Moment setzte sich das Taxi in Bewegung, weil die Ampel
vorne auf Grün gesprungen war. Sie fuhren an Patrick vorbei, der immer noch in ihre Richtung
schaute.
„Nein“, rief sie heftiger als beabsichtigt. „Bitte, halten Sie an.“
Der Taxifahrer legte eine Vollbremsung hin, hinter ihnen hupte es laut und eindringlich. Ein
amüsierter Blick traf sie aus dem Rückspiegel. „Ihr Amigo“, wiederholte der Fahrer.
Diesmal widersprach Annika nicht. Sie riss die Taxitür auf und rannte auf den verdutzten
Piloten zu.
„Patrick … äh … Herr Lister, mein ich …“ Sie brach ab, weil sie mit einem Mal nicht mehr
wusste, was sie sagen sollte. Das immer ihr so etwas passieren musste. Offiziell waren sie doch
gar nicht beim Du, und seinen Vornamen kannte sie nur, weil die Stewardess ihn so genannt hatte.
Doch der Pilot lächelte amüsiert. „Also, ich habe mir Ihr Flugticket auch sehr genau
angeschaut. Annika.“
Annika. Er betonte die Vokale ihres Vornamen auf eine so zärtliche, unnachahmliche Art.
Eigentlich war sie mit ihrem Namen nicht so recht glücklich: Ein A zu viel, meine Liebe, sagte
Roberta immer, und bestand darauf sie Nika zu nennen. Aber jetzt konnte sie nichts mehr falsch
machen.
„Wir können uns sehr gerne duzen.“ Sie reichte ihm die Hand, die er feierlich schüttelte. Und
dann fiel Annika auch genau das Richtige ein. Was scherte sie die Eröffnung dieser arroganten
Carlotta, die ohne Connor FashionConsult nie in die Chefetagen von Zara vorgedrungen wäre?
„Und was halten Sie …“ Sie schüttelte den Kopf. „Nein, was hältst du davon, wenn wir etwas
auf unsere neue Freundschaft trinken. Ganz alkoholfrei natürlich.“
Er strahlte sie an wie ein kleiner Junge. Oder eigentlich gar nicht wie ein kleiner Junge, sondern
wie ein erwachsener Mann, der genau wusste, auf was es einer erwachsenen Frau bei einer solchen
Art von Freundschaft ankam. Er verzog die verführerisch sinnlichen Lippen, dann blitzte ein
vergnügter Schalk aus seinen blauen Augen. „Mussten Sie … also, wolltest du nicht auf so eine
Modesache gehen?“
„Abgesagt.“ Sie lächelte, und irgendwie war das nun doch falsch gewesen, denn Patrick
verwandelte sich sofort wieder in den distanzierten Typen, der sie vorher hatte abblitzen lassen.
Sie setzte schnell nach: „Es ist nicht so wichtig, wirklich. Ob ich ein, zwei Stunden später dort
aufkreuze, merkt keiner.“
„Das kann ich mir nicht vorstellen. Mir würde es sofort auffallen.“
Ein Charmeur war er also auch. Annika blickte ihm direkt ins Gesicht, er war vielleicht zwei,
drei Zentimeter kleiner als sie. Doch Patrick schien das überhaupt nichts auszumachen. Oh, sie
mochte Männer mit Selbstvertrauen. Mit einer Kopfbewegung deutete sie in Richtung des
Flughafeneingangs. „Ich habe dort eine Saftbar gesehen.“
Patrick hingegen wandte sich zur Straße. Wollte er nun doch in Stadt fahren? Verblüfft fragte
sie: „Ich dachte, du hast hier nur einen kurzen Aufenthalt?“
„Stimmt, sechs Stunden, das ist für Piloten nicht viel. Dann fliege ich zurück nach Berlin.“
Schade auch. So eine Woche mit Patrick Lister in Barcelona wäre toll gewesen. Sie musste
unbedingt herauskriegen, wo er lebte. Annika ging zwei Schritte auf die breiten Glastüren zu.
Wenn sie das Roxanne erzählte, sie und ein Pilot … Aber warum folgte er ihr dann nicht in den
Flughafen? Aus irgendeinem Grund zögerte er.
„Annika“, setzte er an, „ich glaube, da wartet noch jemand auf dich.“ Er deutete mit der Hand
hinter sich auf … das Taxi! In dem ihre Reisetasche samt Ausweis, Geld und, nicht zu vergessen,
ihre gesamte Abendgarderobe lag.
Himmel, es hatte sie wirklich erwischt. Wegen eines Mannes, den sie gerade mal einen
innereuropäischen Flug lang kannte, hatte sie noch nie ihr Lieblingstasche vergessen!
Patrick lief hinter Annika her, die mit schnellen Schritten auf den Food-Bereich des Flughafens
zusteuerte. Bisher war noch keine Frau seinetwegen wieder aus einem Taxi, das sie zu einem
Mode-Event bringen sollte, wieder ausgestiegen. Aber es passte zu Annika. Oder zog sie nur
konsequent ihre Inkognito-Evaluation durch, egal wie?
Es gab drei Bars, Irish Harp, Juanitas und die Saftbar, die mit Tropicana Juices warb. Sie
setzten sich auf die geflochtenen, rosa-gelben Stühle. Hier gab es alkoholfreie Cocktails aus frisch
gepressten Säften. Er bestellte einen Minz-Cocktail, obwohl die Preise horrend waren, aber er
sparte ja die Taxifahrt nach El Prat. Annika nahm einen Vanilla-Fresa-Shake. Patrick hob sein
Glas mit dem giftgrünen Sirup, der köstlich schmeckte. „Ich weiß nur, was ein Air-traffic-Scout
tut. Du bist also Talentscout.“
Den Strohhalm ihres Shakes zwischen den vollen Lippen, blinzelte sie ihm zu. „Air traffic, das
könnte ich nie. Ich arbeite für eine Modescout-Agentur. Wir suchen für Klienten aus der
Modebranche die passenden Mitarbeiter. Designer, Personalmanager, Vertriebsleiter, so was.“
Offensichtlich dachte Quality Control ja wirklich an alles. Das klang wie typisches
Marketingdeutsch aus einer x-beliebigen Agentur. Gab es den Beruf „Modescout“ überhaupt?
„Was machst du dabei konkret? Visitenkarten sammeln?“ Patrick lächelte und sein Kopf riet ihm,
dass er jetzt lieber ein Bein über das andere schlagen sollte, damit Annika nicht ganz, ganz
zufällig an ihn stoßen könnte. Sein Bauchgefühl dagegen sagte ihm, dass er doch auch sein Knie
ein wenig vorschieben könnte. Er wollte spüren, wie sich diese prächtigen Schenkel anfühlten.
„Das fragen alle.“ Ihr Lachen klang gutmütig. „Also, wir bringen einfach Talente mit
Arbeitgebern zusammen. Wer passt in welches Haus? Oder auch, wer könnte in welches Haus
passen. Man muss sich auskennen in der Modeszene und vor allem tausend Kontakte haben.
Roberta ist da unschlagbar, das ist meine Chefin. Sie kennt jeden.“ Ihre blaugrünen Augen
strahlten ihn an.
Patrick hatte nur einmal eine Modenschau besucht. Da hatte es vor Kreativen nur so
gewimmelt, Russen, Spanier, vielleicht gab es diesen Job wirklich. Nur – wenn sie Profi war in
ihrem Job, dann hatte sie sich für seine Evaluation gut vorbereitet. Eine so komplizierte
Coverstory hätte sie bestimmt perfekt drauf. „Da musst du doch dauernd fliegen, wenn du die
Szene in Europa kennen willst.“
Sie lachte, und es klang ein wenig verzweifelt, so dass er sie am liebsten sofort in den Arm
genommen hätte.
„Ich kenne die Nachtzuglinien in Europa auswendig. Und sogar nach London kann man ja jetzt
mit dem Eurostar durch den Tunnel fahren.“ Sie legte die Beine aneinander und streckte die
Fußspitzen.
Patrick zwang sich, zur großen Anzeigetafel in der Halle zu blicken. Sein Flug war noch nicht
angezeigt, obwohl der 21.30 nach New York schon da stand.
„Bist du gern Pilot?“ Sie fuhr sich mit dem Finger über die Lippen, wischte einen
Vanilletropfen weg. „Ich meine, da bist du doch dauernd unterwegs. Hast du da Freunde überall
auf der Welt oder ist das eher schwierig?“
Sie hatte den Mund leicht geöffnet, irgendwo zwischen Neugier und Küss-mich. Patrick lief ein
Schauer durch die Arme bis in die Fingerspitzen, am liebten hätte ihr über die Lippen gestrichen.
Oder über dieses perfekte, runde Knie. Ihre Augenlider senkten sich ein winziges bisschen. Mist,
sie merkte bestimmt, dass er schon wieder auf ihre langen Beine starrte. Aber eigentlich fand er
noch aufregender, dass sie so direkt-indirekt nach seinem Privatleben fragte. Sie hatte
Selbstbewusstsein und traute sich was. Langweilig wurde es mit ihr bestimmt nie.
Schnell sagte er: „Ich fliege bis jetzt nur innerhalb Europas, da geht es meistens am selben Tag
zurück. Aber Berlin kennen ich gar nicht richtig vor lauter Take-off und Touch-down.“ Und
eigentlich kannte er wenige Leute in der Stadt. Die Frauen, mit denen er in den letzten Jahren
ausgegangen war, hatten alle irgendwie mit dem Fliegen zu. Wahrscheinlich hatte Quality Control
von seinen Abenteuern Wind gekriegt, und deshalb wurde ihm hier so gründlich auf den Zahn
gefühlt.
Annika kramte in ihrer Tasche und holte etwas hervor, das wie ein Stück Samt aussah. Ihre
Finger glitten darüber. „Ich zeige dir gerne ein paar spannende Ecken.“ Sie hielt ihm eine
geschäftlich wirkende Visitenkarte hin.
Annika Frinx, Connor FashionConsult. Darunter stand eine Büroadresse.
„Meine private Adresse steht hinten“, sagte sie und verstaute das Samttäschchen wieder in der
Handtasche.
Er drehte die Karte in seinen Fingern. Es war eindeutig eine Aufforderung, in Kontakt zu treten.
Zu eindeutig und viel zu schnell. Jeder Profi machte Fehler, auch sie. Schade. Frauen waren nicht
so freigiebig, selbstbewusste Frauen schon gar nicht. Die Privatadresse war der übernächste
Schritt, zuerst kam die Handynummer. „Danke.“ Patrick griff zu seinem Uniformjacket. Sorry,
Lady, aber nicht mit mir. Mit seinem harten Abgang musste sie jetzt klarkommen, falls sie
wirklich nicht für Quality Control arbeitete.
Er zog seinen Geldbeutel heraus, legte zwanzig Euro auf den Tisch und stand auf. Auf das
Rückgeld konnte er jetzt nicht warten.
Annika blickte auf den Schein, dann zu ihm auf. Eine schmale Falte stand auf ihrer Stirn. Als er
den Geldbeutel zuklappte, lehnte sie sich zurück. „Oh … Danke.“
„Ich muss zur Crew. Flugvorbereitungen, tut mir leid. Viel Spaß noch bei der Eröffnung.“
Patrick steckte den Geldbeutel weg, seine Visitenkarte blieb drin.
Sie verschränkte die Arme und legte den Kopf schief. „Okay.“
Das Glitzern war erloschen. Verdammt, konnte sie wirklich diesen traurig-verwunderten Blick
schauspielern, mit dem sie in ihren Shake schaute?
Er legte kurz die Hand auf den weißen Stahltisch, dann ging er. An der großen Tafel war sein
Flug endlich angezeigt. Berlin-Schönefeld 21.45.
3. KAPITEL
Berlinkäfer? Im ersten Moment dachte Annika, sie hätte sich verhört. Sie hatte eine für ihre
Verhältnisse geradezu aufgelöste Roxanne Wondratschek am Telefonapparat. Wer die junge Frau
mit den schwarz-pink gefärbten Rastalocken nicht kannte, würde wahrscheinlich nicht ahnen, dass
sie kurz vor einem Nervenzusammenbruch stand. Doch Annika war schon seit vier Jahren mit ihr
befreundet, seit Roxanne aus Hamburg nach Berlin gekommen war. Sie wusste die langen Pausen
und das leise Flattern in Roxannes Stimme genau zu deuten. Bei Sternthaler, dem Modeladen von
Roxanne und ihrer Partnerin, war die ultimative Katastrophe eingetreten.
„Ja, so heißen die Dinger, die gehören zur Gruppe der Speckkäfer.“ Roxannes Stimme wurde
leiser, als ob sie sich kaum traute, das Wort auszusprechen. „Sie sind mit den Stoffen aus
Hamburg gekommen, im Verpackungsmaterial. Die Viecher lieben festes braunes Packpapier.
Aber dann haben sie die Reispapier-Kollektion von Indisha Barclay entdeckt.“ Die Stimme brach
ab, Roxanne kämpfte am anderen Ende der Leitung mit den Tränen. „Es ist alles befallen, überall
kleine, fiese Löcher im Reispapier. Wir konnten nichts mehr retten. Indisha bringt uns um.“
Annika wusste nicht, was sie sagen sollte. Sie ließ sich in den Bürostuhl fallen, wobei sie durch
die Glasscheibe in Robertas Büro linste. Ihre Chefin saß immer noch vor dem Computer.
Wahrscheinlich handelte sie wieder mal einen Megadeal mit Brio oder Levi‘s per Chat aus.
Connor FashionConsult war eine internationale Talentscout-Agentur für die Modebranche, ein
ebenso lukratives wie sensibles Business.
Roberta sah es nicht gerne, wenn ihre Mitarbeiterinnen Privatgespräche führten. Aber eigentlich
plante Annika ja mit Roxanne die Berlinführung für einen japanischen Kunden. Mr. Takano
Yamamoto, ein weitläufiger Verwandter des legendären Designers Yohji Yamamoto, hatte seinen
Besuch für nächste Woche angekündigt. Annika war für das „kulturelle Beiprogramm“ zuständig,
wie Roberta es ausdrückte. Er wünsche hinter die Kulissen zu blicken und angesagte Modemacher
kennen zu lernen. Und da er maßgeblich für das Personalmanagement der Yamamoto-Stores in
aller Welt verantwortlich war, bekam er natürlich, was er wollte. Eigentlich hatte sie Mr.
Yamamoto zu Sternthaler führen wollen, doch von zerlöcherten Reispapier-Kleidern und einer
Berlinkäfer-Plage war der Gast sicherlich nicht angetan. Sie musste Ersatz finden oder …
„Sag mal“, unterbrach sie Roxanne, die gerade aufzählte, welche Materialien der Käfer
verschont und an welchen er sich gütlich getan hatte, welche Kollektionen sie also retten und
welche der Müllabfuhr übergeben konnte. „Habt ihr es schon mal mit einem Kammerjäger
versucht?“
Am anderen Ende war Schweigen, dann fragte Roxanne leise: „Glaubst du, so einer wird mit
den Dingern fertig? Das dauert Wochen, oder? Yamamoto kommt doch schon in ein paar Tagen.“
Annikas Eltern führten ein bodenständiges Lampengeschäft in Düsseldorf – Wir machen Licht
war der Lieblingsspruch ihres Vaters – und dort hatte ein Kammerjäger einmal Wunder bewirkt.
„Ich hör mich um“, versprach sie Roxanne. „Kümmert ihr euch erst mal um die Versicherung,
damit ihr den Kredit weiter zahlen könnt. Und Indisha ist gerade wieder in Indien. Bis sie
zurückkommt, überlegen wir uns eine Strategie, okay?“
„Okay.“
Sie legte auf. Anderen vermittelte Annika Selbstvertrauen und fand praktische Lösungen, wo
denen der Blick versperrt war. Doch bei ihren eigenen Problemen kam sie einfach nicht weiter.
Stundenlang hatten Roxanne und sie schon über „den Traumpiloten“ geredet.
Natürlich, sie hätte wissen müssen, dass er ihr aus gutem Grund seine Visitenkarte nicht
gegeben hatte – er wollte sie offenbar nicht wiedersehen. Nur wieso hatte er dann so glücklich
gelacht, als sie ihm spontan das Du angeboten hatte, warum diese kleinen Berührungen im
Flugzeug, warum diese volle Aufmerksamkeit, die nur ihr galt und die immer – immer! –
eindeutig darauf hindeutete, dass ein Mann wirklich Feuer gefangen hatte? Warum das alles, wenn
Patrick Lister sich nicht auch wenigstens ein bisschen für sie interessierte? Außerdem hatte er sie
doch zu dem Shake eingeladen.
Annika hatte das kurze Treffen in der Tropicana-Bar auf dem Flughafen Barcelona tausendmal
mit Roxanne durchgesprochen. Jedes Wort, jede Geste Patricks hatte sie überprüft und nach
verborgenen psychologischen Hinweisen durchsucht. Er war nicht schwul, da war sich Annika
hundertprozentig sicher. Vielleicht verheiratet, aber er trug keinen Ring. Wahrscheinlich gab es
noch eine andere Frau in seinem Leben – das musste es sein. Zumindest war für Roxanne und sie
keine andere Erklärung für das seltsame Verhalten Patricks übrig geblieben.
Roxanne hatte gesagt: „Aber er liebt die Andere nicht mehr, das ist ganz klar. Also hast du alle
Chancen der Welt.“
Seither setzte Annika alles daran, Patrick wiederzusehen. Er stand nicht im Telefonbuch und
auch über das Internet war nichts Persönliches über ihn herauszubekommen. Sie hatte eine
Familie Lister in Leipzig gefunden, doch sie traute sich nicht, dort anzurufen. Stattdessen wählte
sie fast täglich die Direktdurchwahl zum HolidayJet Abfertigungs-Counter am Flughafen
Schönefeld. Meistens war die nette Melanie, die ihr schon bei dem Hinflug nach Barcelona
geholfen hatte, am Apparat, und erklärte ihr immer sehr deutlich, nein, sie dürfe Privatnummern
des HolidayJet – Personals nicht an Passagiere herausgeben, aber ja, sie würde Herrn Lister gerne
eine Nachricht von ihr übermitteln.
Wenn sie es wirklich tat, hatte Patrick nun schon mindestens ein halbes Dutzend Nachrichten
von ihr, doch er meldete sich nicht. Annika blicke auf die Uhr am Telefon, es war nach 19 Uhr.
Die perfekte Gelegenheit für einen – das schwor sich Annika – allerletzten Anruf bei HolidayJet.
Sie wollte Patrick nur noch einmal wiedersehen, und wenn dann nichts daraus wurde, okay.
Einmal hatte sie sogar von ihm geträumt, dass er sie an einem langen weißen Sandstrand in die
Arme genommen hätte. Im Traum hatte sich sein männlicher Körper so warm und real angefühlt,
dass sie beim Aufwachen instinktiv die Hand ausgestreckt und ihn neben sich im Bett gesucht
hatte. Von diesem Traum hatte sie nicht einmal Roxanne erzählt, aber schon deshalb konnte sie
Patrick Lister nicht einfach aufgeben. Nicht ohne es wirklich versucht zu haben. Ihr Sternzeichen
war Wassermann, und schon ihre Mutter hatte immer gesagt, dass sie, wenn sie sich etwas in den
Kopf gesetzt hatte, ungeheuer hartnäckig sein konnte.
Die Nummer von HolidayJet kannte sie mittlerweile auswendig, doch als sie sie eintippen
wollte, klingelte das Handy von sich aus. Fast wäre ihr das vibrierende Ding aus der Hand
gefallen. Vielleicht gab es ja doch so etwas wie Gedankenübertragung. Schnell drückte sie die
Annahmetaste und meldete sich mit ihrem ganzen Namen, was sie sonst nie tat. „Annika Frinx,
ja?“
„Hier ist Phil. Ich brauche ganz dringend deine Hilfe. Erinnerst du dich an die Vertriebsleiterin,
die Roberta an die Camel Collection vermittelt hat? Toni Dingsbums?“
„Sicher“, sagte Annika. Toni Laverni war so etwas wie ein Star für Roberta, und seit sie sie zu
Camel gebracht hatte, waren sie dicke Freundinnen. Die Italienerin war für den Europavertrieb
einer neuen Reisekleidungs-Kollektion für die neuen Jetsetter zuständig, für die sogar Brad Pitt
Werbung machte. „Was ist mit Toni?“
„Sie hat mich mit ins Boot geholt für eine neue Fotostrecke. Aber bei dem Werbekonzept fehlt
total der Pepp. Wir haben schon zig Vorschläge gemacht, aber Toni ist nie zufrieden. Sie will was
Trendiges, aber gediegen, classy, aber nicht klassisch. Du weißt schon, was sie sagen, wenn sie
nicht wissen, was sie wollen.“ Phil war Modefotograf und eigentlich ein alter Hase im Geschäft.
Doch wenn ihm die Ideen ausgingen, kam er zu Annika. Er war einer ihrer besten Kontakte in die
Welt der Top-Mode, und sogar Roberta hatte schon von ihrer Bekanntschaft profitiert. Außerdem
war Phil ein wirklich guter Freund.
„Classy und gediegen“, murmelte Annika. Da sie nur Patrick im Kopf hatte, fiel ihr natürlich
auch jetzt nur Patrick ein. Wie er, die meerblaue Uniformjacke lässig über die Schulter
geschwungen, vor dem Flughafen gestanden hatte. Patrick, wie er mit sicheren Schritten auf sie
zugegangen war, bei ihrer ersten Begegnung am HolidayJet – Schalter. Die Welt der Flughäfen,
immer auf dem Sprung in ferne Länder, die man innerhalb von Stunden erreichen konnte – für die
meisten Leute war das der Inbegriff des Reisens. Nicht für Annika, die wegen ihrer Flugangst eine
Leidenschaft für Bahnhöfe entwickelt hatte, aber ein gut aussehender, echter Flugzeugpilot, der
käme sicher gut in einer Werbung für Reisekleidung. Sie könnte die Marketing-Abteilung von
HolidayJet anrufen und fragen, ob sie an einer Kooperation Interesse hätten. Sie könnte also
Patrick ganz offiziell bei der Airline anrufen …
Phil wartet geduldig. Er wusste, dass Annika Zeit brauchte, wenn sie etwas ausbrütete.
„Hm“, sagte Annika. „Vielleicht habe ich da eine Idee.“
Patrick schaute vom Balkon hinunter zur Straße. An der Ampel knutschte ein Schüler mit seiner
Freundin eng umschlungen und verpasste die Grünphase. Vor dem Biobäcker biss ein Typ im
Anzug in ein Monster-Cookie, das er dann seiner blonden Freundin reichte. Dafür bekam er sogar
einen Kuss. Die Cookies waren mindestens einen Kuss wert, Patricks Lieblingssorte waren die mit
Kokosraspeln. An der Kreuzung schwang eine Postbotin die langen Beine über ihr bepacktes Post-
Fahrrad.
Der Sommer machte Patrick verrückt: Überall lange, feste, pralle, dünne, dicke Frauenschenkel,
die er sofort mit Annikas Beinen verglich. Aber selbst die Models auf den Titelblättern verloren
gegen sie. Keine hatte diesen blaugrünen Blick, in dem alles so geheimnisvoll verschwamm. Und
doch immer ein Feuer glühte.
Patrick hockte sich vor die Anlage und ging die CDs durch, aber eigentlich hatte er keine Lust
auf Musik. Er wollte einfach mit jemandem über das tolle Wetter plaudern. Oder ins Kino gehen,
ohne vorher zu wissen, in welchen Film. Oder sich auf ein Glas Wein am frühen Abend treffen
und dann vielleicht die halbe Nacht durchreden. Er ließ sich auf die Couch fallen und seufzte.
Eigentlich wollte er mit Annika reden, die halbe Nacht oder auch die ganze. Wann immer, egal
über was.
Junge, wenn du hier nur rumliegst, passiert gar nichts mit der Frau. Patrick sprang auf. Sie
hatte ihm wieder eine Nachricht am Flughafen hinterlassen, aber er konnte nicht Freitagnacht in
diesen Club kommen, weil er da zehntausend Meter über dem Meer auf dem Weg nach Sizilien
schwebte.
„Verdammt!“ Der Zettel, den Melanie ihm zugesteckt hatte, musste doch irgendwo sein.
„Ist Annika Frinx ein Neuzugang in deinem Club der gebrochenen Herzen?“, hatte die Check-
in-Chefin mit einem Schulterzucken gefragt, und Kira am Counter hatte nur auf ihre Fingernägel
geschaut. Vor einem Dreivierteljahr war Patrick kurz mit ihr ausgegangen, aber es war nichts
Ernstes gewesen. Für ihn wenigstens nicht. Später hatte Melanie ihm gesteckt, dass Kira total
verknallt in ihn sei. Er hatte das Techtelmechtel sofort abgebrochen, nur war Kira dann wirklich
sauer auf ihn geworden. Man konnte es den Frauen eben nicht recht machen. Höchstens vielleicht
…
„Na endlich.“ In der Uhrentasche der Hose steckte der blaugelbe HolidayJet – Zettel. Patrick
tippte die Handynummer ein. Die Ziffern auf dem Papier waren rundlich, fast wie eine
Kinderschrift. Kiras Schrift.
Egal wo Annika jetzt in Berlin war, er würde zu ihr fahren. Jemand hob ab. „Jaaah?“
„Annika, hier ist Patrick, ich …“
„‘Schuldigun‘. Hier ist Tri Phan Sen. Thailand Massage. Wann möchten Sie kommen?“
Patrick starrte den Telefonhörer an, aus dem diese seltsame Stimme einer älteren Dame kam.
Hatte er jetzt aus Versehen eine von Jans gespeicherten Nummern gewählt? Aber Thai Massage
war so gar nicht Jans Ding.
„Äh … sorry, falsch verbunden.“ Er beendete die Verbindung und überprüfte die Nummer. Es
war genau die, die Kira für ihn notiert hatte. Wahrscheinlich hatte sie ihm mit Absicht eine
falsche Nummer aufgeschrieben. Dieses Miststück! Patrick zerknüllte den Zettel in der Faust.
Die Visitenkarte, die Annika ihm in Barcelona gegeben hatte! Wo hatte er die bloß hingesteckt?
Schon stand Patrick vor seinem Schrank und wühlte die Uniformen durch, alle Innentaschen, die
außen … Wo war denn die zweite Sommerjacke?
Ein Schlüssel drehte sich in der Wohnungstür. Jan pfiff ein paar Takte im Flur und kam dann
ins Wohnzimmer. In den Händen hielt er ein Päckchen vom Ökobäcker. „Hallo, du bist ja da. Ich
habe gerade die Jacken wie vereinbart in die Reinigung gebracht. Kannst du sie Mittwoch
abholen? Nächste Woche habe ich Langstrecken-Dienst.“
„Mist!“ Die Reinigung hatte Patrick ganz vergessen. Dann verklumpte Annikas Visitenkarte
also gerade in einer Trommel zu bleichen Fusseln.
„Wie bitte?“
„In meiner Jacke war eine wichtige Visitenkarte.“
„Annikas?“
Patrick sah Jans fragenden Blick und nickte.
Jan pfiff ein Oje und hob das Päckchen hoch. „Mehr als Artischocken-Pizza kann ich zum Trost
nicht anbieten. Und eine Flasche Barolo.“
„Ich bin ein Idiot.“
„Stimmt. Ich mache uns die Flasche auf.“
Die Worte, die Jan in der Küche vor sich hinsummte, klangen wie Voll-i-di-ot.
Im Autoradio lief der aktuelle Sommerhit, der Annika nicht aus dem Ohr gehen wollte. Natürlich
handelte er von der großen Liebe. Eigentlich stand Annika gar nicht auf Pop. Ihre Musikwelt
begann beim soften Jazz und endete bei Neo-Punk, den sie manchmal mit Roxanne hörte. Doch sie
war verliebt, auch wenn Patrick Lister auf ihre Annäherungsversuche nicht einging. Annika
korrigierte sich: noch nicht einging.
Sie konnte nicht anders, sie musste lauthals mitsingen: „You are my love, my lover, my a-a-an-
ge-e-l.“ Annika musste über sich selbst lachen. Sie stand gerade im Stau vor der Brücke, die sie
aus dem Industriegebiet am Stadtrand zurück nach Berlin-Mitte brachte. Roxanne hatte ihr den
klapprigen grünen VW Jetta geliehen, denn Annika besaß als Großstadtmensch kein eigenes Auto.
Mit dem Fahrrad kam sie schneller durch jeden Stau, und außerdem sparte sie sich durchs
Fahrradfahren mindestens zwei Stunden in der Woche auf irgendeinem Sportgerät in einem
Fitness-Studio ein.
Der Fahrer neben ihr hatte wohl mitgekriegt, wie sie den Song mitsang, denn er grinste sie
ziemlich unverschämt an. Annika grinste zurück. Bestimmt dachte der, sie käme direkt von ihrem
Lover. Dabei war sie gerade im Laden eines aus Schwaben stammenden Kammerjägers gewesen,
einer heruntergekommenen Klitsche mitten auf einem neu sanierten Fabrikgelände direkt an der
Spree in Oberschöneweide. Im piekfeinen Stuttgart hätte der Mann wohl keinen einzigen Kunden
bekommen, doch in Berlin zählten Resultate, nicht eine schöne Fassade. Kammerjäger Berthele
war der Tipp von Annikas Vater. Sie hatte ihm von der Katastrophe der Berlinkäfer in der
Reispapier-Kollektion erzählt und dann gefragt: „Was habt ihr denn damals gemacht, als das
Lager einen Schädlingsbefall hatte?“
Denn auch Lampenverkäufer waren vor dem Getier nicht sicher. Ein kleiner fieser Käfer hatte
sich auf eine bestimmte Sorte von Stofflampenschirmen spezialisiert, in die er mit Vorliebe seine
Larven legte, die das edle Gespinst dann als Reiseproviant in ihr kurzes Leben mitnahmen. Zuerst
hieß es, das gesamte Lager müsse verbrannt werden, aber dann plötzlich hatte ihr Vater einen
Kammerjäger gefunden, der der Plage innerhalb von 24 Stunden Herr geworden war.
„Deine Mutter darf davon nie etwas erfahren“, hatte Annikas Vater noch gesagt und ihr dann
unter dem Deckmantel der Verschwiegenheit die Telefonnummer des Kammerjägers gegeben. Die
Frinx‘ waren sehr vorsichtige Leute, vor allem, seit Annikas jüngerer Bruder Simon mit seiner
Computer-Zeitung für Senioren bankrott gegangen war, in die ihre Eltern einige zehntausend Euro
investiert hatten. Annika seufzte. Simon hatte jede Woche eine neue Geschäftsidee, die wenigsten
davon setzte er in die Tat um. Senior Launch hatte viel versprechend gestartet, aber nach dem
ersten großen Hype waren die Verkaufszahlen stetig gesunken. Vor drei Wochen war das Magazin
eingestellt worden, und Simon war wegen der aufgelaufenen Schulden untergetaucht. Die Eltern
wussten nicht, wo er steckte, und selbst Annika, die er sonst immer ins Vertrauen zog, hatte keine
Ahnung, wo er war.
Doch sie wollte sich nicht die gute Laune verderben lassen. Herr Berthele, der Kammerjäger
schaute morgen bei Sternthaler vorbei, doch, ja, da „könne mer schoa was macha.“ Annika hatte
die gute Nachricht gleich per Handy an Roxanne weitergegeben.
Das Handy mit der Freisprechanlage lag noch auf dem Beifahrersitz. Eigentlich könnte sie doch
kurz bei HolidayJet anrufen. Vielleicht hatte sie ja dieses Mal Glück, und vielleicht, vielleicht
erwischte sie Patrick endlich einmal.
Hinter der Brücke über die Spree weitete sich die Straße auf vier Spuren, die direkt Richtung
Süden nach Schönefeld zum Flughafen führte. Annika überlegte nicht lange, klemmte die
Kopfhörer in ihre Locken und wählte die wohlbekannte Nummer.
„HolidayJet Check-in, hier spricht Kira. Was kann ich für Sie tun?“, meldete sich nach nur
zweimaligem Klingeln eine heitere Stimme.
Mist, die schnippische Kira fehlte ihr noch. „Äh, also, hier ist Annika Frinx und …“
„Ach, Sie“, unterbrach Kira sie und klang mit einem Mal gar nicht mehr heiter. „Moment, ich
gebe Ihnen Melanie.“
Am anderen Ende raschelte es, als ob eine Hand über den Hörer gelegt würde. Trotzdem konnte
Annika deutlich hören, wie Kiras Stimme durch die Abfertigungshalle dröhnte. „Mel, Patricks
Modeprinzessin ist schon wieder am Apparat!“
Vor lauter Peinlichkeit wäre Annika fast in den Kastenwagen vor ihr gerauscht. Melanie war am
Telefon immer höflich gewesen, sie hatte sich einfach nicht vorstellen mögen, dass die
professionelle Chefin des HolidayJet – Bodenpersonals eine Klatschtante war. Annika schwor
sich, dass dies ihr letzter Anruf war. Entweder klappte es heute, oder sie musste ein Treffen mit
Patrick dem Schicksal überlassen. Annika legte den zweiten Gang ein. Das Schicksal hatte es
schwer in der Millionenstadt Berlin. Annika hatte schon einmal in Bombay Leute kennen gelernt,
die seit zehn Jahren in derselben kleinen Straße wie sie wohnten.
Am Flughafen war offensichtlich Hochbetrieb, durch die Kopfhörer konnte Annika
Stimmengewirr und im Hintergrund die Flugdurchsagen hören.
„Hallo, tut mir leid, dass Sie so lange warten mussten.“ Die Chefin des Bodenpersonals klang
völlig außer Atem. „Aber ich habe gute Neuigkeiten. Sie müssen mir allerdings versprechen, dass
Patrick nie erfährt, woher Sie das wissen.“
Zwei Herzschläge lang saß Annika wie versteinert hinter dem Steuer. Dann hupte der Fahrer
hinter ihr, Annika drückte aufs Gaspedal und sagte: „Hallo, sind Sie noch da? Ich sage Patrick
nichts, hochheiliges Indianerehrenwort. Ich möchte ihn ja nur …“
„Ja, ist schon klar. Das möchten alle. Also …“
Was sollte das nun heißen? Das klang ja fast so, als würden täglich Frauen für Patrick bei
HolidayJet anrufen. Annika schob den unangenehmen Gedanken weit weg.
„Also, Patrick fliegt schon die ganze Woche den Abendflug aus Island von Reykjavik. Die
Maschine landet …“, sie hielt kurz inne, „… in genau acht Minuten. Das Team kommt in zwanzig
Minuten raus. Ich kann Patrick vielleicht zehn Minuten hier festhalten. Schaffen Sie es in einer
halben Stunde?“
Annika wollte „Ja“ sagen, doch die Stimme versagte ihr. Melanie war vielleicht eine
Klatschtante, aber sie war auch der beste Mensch auf der Welt. Annika räusperte sich und sagte
dann: „Ja, ich bin schon fast auf der Autobahn zum Flughafen. Sie sind ein Schatz, Mel.“ Damit
riss sie sich die Freisprechanlage vom Kopf, denn in diesem Moment passierte sie das
Verkehrsschild „Ende aller Streckenverbote“. Die Autos vor ihr starteten durch. Annika wechselte
auf die Überholspur und drückte aufs Gaspedal.
Auf der Anzeigentafel stand immer noch „Flug 776 aus Reykjavik – 10 Minuten Verspätung“.
Annika saß auf dem vordersten Sitz einer Reihe von Stühlen in der Wartehalle. Hier war sie dem
Staff-Ausgang am nächsten. Melanie hatte mit einem Augenzwinkern auf eben diesen Ausgang
gedeutet. Ein Pilot in einer dunkelgrünen Uniform erschien, und im ersten Moment blieb Annika
die Luft weg. Doch die Farbe der Uniform war falsch, der Mann hatte nur entfernt Ähnlichkeit mit
Patrick. Und er war zu groß, und zudem trug er einen schmalen Oberlippenbart. Patrick hatte doch
keinen Bart gehabt, oder? Mit einem Mal wurde sich Annika unsicher, ob sie ihn wiedererkennen
würde. Sie stellte sich sein Gesicht mit den strahlenden blauen Augen vor, genau, wie sie es in der
letzten Woche im Büro, in der U-Bahn, beim Einkaufen und nachts im Bett gemacht hatte. Nein,
Patrick war glatt rasiert.
Sie schaute hinüber zum Staff-Ausgang. Und da stand er! Sie erkannte ihn sofort, hätte ihn
unter tausend Männern wiedererkannt. Annika erhob sich, strengte sich an, wie jemand zu
schlendern, der noch viel Zeit hatte und lief dabei, ganz zufällig, auf den HolidayJet – Schalter zu.
Melanie hatte tatsächlich Patrick in ein Gespräch verwickelt. Sie war noch nicht ganz am Counter,
da drehte er sich um.
Er war deutlich übernächtigt. Dunklen Schatten lagen unter den Augen, und ein Bartschatten
zeigte sich auf dem weichen Kinn. Seine Haare waren verstrubbelt, die Krawatte ein bisschen
gelöst, das Hemd am Kragen darunter stand offen. Annika fand ihn wahnsinnig süß. Doch freute er
sich? War er überrascht? Oder vielleicht genervt, weil sie ihn wiedersehen wollte? Patricks
abrupter Abschied in Barcelona fiel ihr ein, und Annika sank das Herz in die Hose, obwohl sie
einen Rock trug. Sie beobachtete sein Gesicht und seine Hände, die in den Hosentaschen steckten.
Bei allen ihren Anrufen hatte sie sich nie überlegt, was sie bei ihrem Wiedersehen sagen würde.
Doch jetzt war ihr eines klar: Sie brauchte ein Zeichen von ihm, sie musste wissen, dass sie sich
nicht getäuscht hatte. Sie blieb in vielleicht zehn Meter Entfernung stehen.
Patrick zog langsam die Hand aus der Tasche, doch in seinem Gesicht las Annika nur
vollkommene Überraschung. Dann hoben sich die Mundwinkel. Und seine Augen begannen zu
strahlen. Mit einem Mal sah er gar nicht mehr müde aus, er hob die Hand und winkte ihr zu, genau
wie vor dem Flughafen in Barcelona, und Annika wäre am liebsten auf ihn zugerannt und hätte ihn
in die Arme geschlossen.
Natürlich hatte sie Patrick nicht zur Begrüßung umarmt, dafür kannten sie sich noch zu wenig.
Aber er hatte ihr kurz die Hand auf die Schulter gelegt, so als ob er sie auch am liebsten an sich
gedrückt hätte. Nachdem sie sich beide gegenseitig versichert hatten, wie froh sie waren, sich
wiederzusehen, hatte es einen Moment gegeben, in dem sie sich schweigend angeschaut hatten.
Melanie hatte Patrick schließlich aus einem Schubfach zwei Gutscheine von HolidayJet auf den
Tisch gelegt, und er hatte Annika damit zum Kaffee eingeladen. Jetzt saßen sie wieder in einem
Flughafenrestaurant, ein dampfender Latte vor Annika, eine Cola vor Patrick.
„Ich wollte dich wirklich anrufen, aber deine Visitenkarte … Also, mein Mitbewohner hat
meine Jacke zur Reinigung gebracht, und dann war deine Visitenkarte hinüber. Und als du hier
angerufen hast, hat Kira mir deine Handynummer gegeben, aber sie hatte wohl einen Zahlendreher
gemacht.“
„Das gibt‘s doch nicht“, warf Annika ein, und Patrick grinste sie an.
„Doch, wirklich. Kira muss eine Nummer vertauscht haben. Ich habe dort angerufen, und weißt
du, wer sich gemeldet hat?“
Annika schüttelte den Kopf und nahm einen Schluck von ihrem Latte. Sie war zu glücklich, um
irgendetwas zu sagen. Patrick schien sie zu verstehen, denn er fuhr gleich fort: „Ein Thai-
Massage-Studio!“
„Nein!“
„Doch. Die Frau sprach nur ein paar Brocken Deutsch und Englisch. Ich dachte erst, das ist
deine Rache, weil ich mich auf deine Anrufe nicht gemeldet habe.“ Sein Ton wurde ernster, und er
schaute sie über den Rand des Glases hinweg fragend an.
„Ich war schon ein bisschen sauer“, sagte Annika. Männern durfte man nicht zu schnell
verzeihen, sonst nahmen sie einen nicht ernst. Und wirklich, Flugplan hin, Flugplan her. „Du
hättest ja auch einmal eine Nachricht für mich bei Melanie hinterlassen können.
„Tut mir leid“, sagte er und rieb Kondenswasser von seinem Glas. „Aber ich dachte ziemlich
lange, dass du eine hausinterne Qualitätsprüferin von HolidayJet bist.“
Und dann erzählte er ihr die ganze Geschichte: dass alle Fluglinien ihre fast fertigen Piloten
solchen unangekündigten Prüfungen unterzogen, bei denen es vor allem um korrektes Verhalten
den Passagieren gegenüber ging, und dass er einfach nicht ganz überzeugt gewesen sei, dass ihre
Flugangst nicht doch sein Test gewesen sein könnte.
„Aber ich habe wirklich totale Angst vorm Fliegen“, sagte Annika. Das war wieder typisch.
Leute, die das Fliegen liebten, konnten sich einfach nicht vorstellen, wie das war, wenn man in der
Luft eine Panikattacke bekam. „Mir war wirklich schlecht.“
Patrick nickte. „Inzwischen glaube ich dir das. Aber auf dem Flug 251 nach Barcelona dachte
ich, du wärst eine begnadete Schauspielerin.“
„Ich?“ Annika brachte vor Empörung erst mal kein Wort heraus. „Mir war so schlecht, ich
dachte, ich sterbe!“ Sie schüttelte den Kopf. „Aber das habe ich eben davon, wenn ich mich in
einen Piloten verliebe.“
Er hob beide Augenbrauen, und sein Blick versank in ihrem. Hatte sie das eben wirklich gesagt?
Sie lauschte dem Klang ihrer eigenen Worte nach. Wenn ich mich verliebe , klang es ganz deutlich
in ihr nach. Annika spürte, wie sie knallrot im Gesicht wurde. Warum war sie nur immer so
impulsiv und überlegte nicht, bevor sie mit so etwas herausplatzte. Roxanne hatte sie gewarnt:
Lass die Männer zuerst kommen, dann triffst du die Entscheidung, nicht sie. Doch wie immer
hatte Annika ihr Herz offenbart, dabei wusste sie noch nicht einmal, ob Patrick irgendwelche
Gefühle für sie empfand. Vielleicht hatte er sich nur aus Höflichkeit dafür entschuldigt, dass er
nicht zurückgerufen hatte. Vielleicht wollte er nur – und das wäre das Allerschlimmste – eine
unverbindliche nette Freundschaft. Annika hob leicht den Kopf und schaute unter langen Wimpern
hinüber zu Patrick. Seltsamerweise hatte auch er Farbe im müden Gesicht, was ihn entzückend
aussehen ließ. Sie blickten sich über den Bistrotisch hinweg an, dann bewegte Patrick langsam
seine Hand auf ihre zu, die still neben dem Latteglas lag.
„Na, du alter Herumtreiber“, erklang da eine Frauenstimme hinter ihnen. „Bist du schon zurück
aus Island?“
Patrick und Annika zuckten gleichzeitig zusammen, er zog seine Hand abrupt zurück. Eine Frau
im meerblauen HolidayJet – Outfit trat zu ihnen an den Tisch. Die blonde Stewardess war nach
Annikas kurzer Einschätzung sogar noch ein paar Zentimeter größer als sie selbst. Ihre
bewundernswert schlanken Beine schienen gar nicht mehr aufhören zu wollen. Aus
zusammengekniffenen Augen traf Annika ein Blick, der ihren Latte bestimmt eiskalt werden ließ.
„Jenny.“ Patrick holte tief Luft. „Wo kommst du denn her?“
Die Blondine beendete Annikas Musterung und drehte sich mit einem reizenden Lächeln zu
Patrick. „Kira hat mir gesagt, du wärst hier auf einen Kaffee. Hast du meine Nachricht gekriegt?“,
fragte sie.
Das war also eine von den anderen, die für Patrick Nachrichten hinterließen. Annika schaltete
schnell. Roxanne hatte Recht gehabt. Diese Kollegin war die vermutete „Andere“, von der Patrick
nicht loskam oder die ihn nicht gehen ließ, was auch immer. Fragend schaute Annika zu Patrick
hinüber, der halb aufgestanden war, um Jenny die Hand zu geben.
„Annika, das ist Jenny.“ Mit verlegenen Gesten stellte er die beiden Frauen einander vor. „Wir
waren mal zwei Jahre verheiratet“, fügte er nach einer kurzen Pause hinzu.
„Zweieinhalb Jahre“, sagte Jenny, während sie versuchte, den Arm auf Patricks Schulter zu
legen. Der entzog sich durch eine schnelle Bewegung und setzte sich wieder hin.
„Die Scheidung ist schon eine ganze Weile her“, sagte er fast entschuldigend zu Annika. Dann
wandte er sich zu Jenny. „Wir unterhalten uns gerade, Jenny. Ich ruf dich später an.“
„Ich wollte euch nicht stören.“ Sie schob sich die heruntergerutschte Umhängetasche mit dem
HolidayJet- Logo auf die Schulter, dann fuhr sie Patrick schnell mit dem Handrücken über die
stoppelige Wange. Der zuckte irritiert zurück, aber Jenny lachte nur. „Die isländischen Nächte
hast du dir mal wieder nicht entgehen lassen.“ Damit ging sie davon.
Patrick starrte ihr nach und schüttelte dabei den Kopf. „Sie ist doch sonst nicht so“, murmelte
er, mehr zu sich selbst als zu Annika.
Der intime Moment von vorhin war unwiederbringlich verloren. Sie saßen von ihren Gläsern
und wussten nicht, was sie sagen sollten.
Schließlich sagte Patrick: „Ich müsste dann mal los.“
Annika hob den Kopf. „Soll ich dich mit in die Stadt nehmen? Ich bin mit dem Wagen hier.“
Er lächelte, zögerte einen Moment und ergriff dann wirklich ihre Hand. Sehr sanft ließ er seine
Fingerspitze über ihren Handrücken gleiten. „Ich muss wirklich los, Annika. Ich habe einem
Kollegen versprochen, ihm bei einer Reparatur zu helfen.“ In seiner Stimme lag ehrliches
Bedauern, und als er Annikas enttäuschtes Gesicht sah, sagte er schnell: „Einem Freund, meinem
Mitbewohner Jan. Hey, denn kennst du ja schon.“
„Ich kenne einen Freund von dir?“ Annika war viel zu sehr mit Patricks kräftigen Fingern
beschäftigt, die immer noch ihre Hand umschlossen hielten.
„Nicht wirklich kennen.“ Patrick grinste. „Er war der Pilot bei unserem Flug nach Barcelona.“
Unserem Flug. Das klang so romantisch. Sie erinnerte sich vage an den dunkelhaarigen, großen
Mann in Pilotenuniform, mit dem sie auf dem Flughafen in Barcelona ein paar Worte gewechselt
hatte. „Ihr wohnt zusammen?“
Patrick nickte. „Du lernst ihn sicher noch besser kennen.“ Er schaute sie aufmerksam an. „So
wie ich dich.“ Es lag ein fragender Ton in der warmen Stimme, und Annika nickte.
Patrick drückte kurz ihre Finger, dann ließ er sie los. Annika kam ihre Hand mit einem Mal
vollkommen nutzlos vor.
„Ich hab noch was für dich“, sagte Patrick und schob ihr etwas zu. Als er seine Hand wegnahm,
sah sie, dass es eine meerblaue Visitenkarte mit sandgelber Schrift war. „Meine Handynummer
steht auf der Rückseite.“
Es war einer dieser wunderbaren, lauen Berliner Sommerabende, an dem die Menschen vor den
Türen oder in den Cafés saßen und plötzlich Zeit für ein Gespräch unter Freunden hatten.
Schülergruppen aus Spanien oder Schweden drängten sich vor den Clubs, und Annika hätte nichts
lieber getan, als mit Patrick an ihrer Seite durch die Straßen zu spazieren. Vielleicht hätten sie auf
der Terrasse die Sterne beobachtet und sich auf den Terrakottafliesen geliebt. Ein anderes Mal, der
Sommer war noch lang. Mit Patrick wollte sie auf keinen Fall etwas überstürzen. Er war ein ganz
besonderer Mann, vielleicht sogar ihr Mann fürs Leben. Das Gefühl seiner Finger auf ihrer Haut
ging ihr einfach nicht aus dem Sinn.
Annika hatte den Jetta bei Roxanne vor Sternthaler abgestellt und ging hoch zu ihrer Wohnung
im obersten Stock eines renovierten Altbaus in der Mulackstraße. Im dritten Stock hing an einer
Tür ein selbst getöpfertes Schild mit den Namen „Lise und Bernd“. Lise, eine quirlige
Mitzwanzigerin, der der Blumenladen in der Alten Schönhauser Straße gehörte, kannte sie vom
Sehen. Annika blickte auf die Visitenkarte, die sie während der ganzen Strecke von Schönefeld
nicht aus der Hand gelegt hatte. „Annika und Patrick“, murmelte sie. Selbst getöpfert war nun
wirklich nicht ihr Stil, aber ihr gefiel, wie die beiden Namen zusammen klangen. Sie stand vor
ihrer Tür, wo ihr Nachname in das schmale Messingschild eingraviert war.
Sie steckte den Schlüssel ins Schloss, da merkte sie, dass die Tür schon aufgeschlossen war.
Hatte Roxanne noch etwas vorbeibringen wollen? Annika öffnete die Tür und trat in den hell
erleuchteten Flur. Das Licht in der ganzen Wohnung brannte. Wenn sie in Gedanken nicht so mit
Patrick beschäftigt gewesen wäre, hätte es ihr schon unten auf der Straße auffallen müssen.
Im Wohnzimmer am Ende des Flurs rief eine Männerstimme: „Bist du‘s, Schwesterherz?“
Simon! Annika hängte ihre Jacke an die Garderobe, Patricks Visitenkarte ließ sie in der
Schublade unter dem Telefontischchen verschwinden.
Im Wohnzimmer auf dem Couchtisch stand ein Laptop, um den herum etliche Papiere lagen,
die alle irgendwie offiziell und wichtig aussahen. Kulis und Marker waren über dem gesamten
Tisch verstreut. Mitten in dem Chaos saß ihr Bruder Simon, die blonden Haare frech in der Stirn,
und grinste sie an. „Hallo, Annika. Deine Freundin Roxanne hat mich in die Wohnung gelassen.
Ich wusste gar nicht, dass Sternthaler zumacht.“
Roxanne! Wenigstens anrufen hätte sie können. Im nächsten Moment fiel Annika ein, dass sie
ihr Handy auf dem Weg zum Flughafen auf den Beifahrersitz geworfen und dort hatte liegen
lassen. „Sternthaler hat nicht zugemacht, sie haben eine … äh, na ja, das Sommerloch.“ Sie zuckte
mit den Schultern und hoffte, dass Simon nicht nachfragte. Sie hatte Roxanne hoch und heilig
geschworen, dass sie keiner Seele etwas von der Berlinkäfer-Infestation erzählte. Doch Simon war
offensichtlich zu sehr mit seinem Laptop beschäftigt.
„Was willst du hier? Wir haben uns schon alle Sorgen um dich gemacht.“
„Ich brauch einen Platz zum Pennen. Du hast doch nichts dagegen, oder? Ist nur für eine
Nacht.“
Glück im Unglück, dachte Annika. Wenigstens hatte sie Patrick nicht mitgebracht. Im
Gästezimmer brannte ebenfalls Licht, und eine kleine Reisetasche stand ungeöffnet auf dem
Boden.
„Na, eine Nacht ist schon okay. Aber wenigstens vorher Bescheid sagen hättest du sollen.
Schließlich hätte ich ja auch gar nicht da sein können.“
Simon grinste sie an. „Ich bin doch auch so reingekommen.“
„Das sehe ich.“ Annika ging zur offenen Terrassentür und wäre fast über einen Stapel Zeitungen
gestolpert. „Und was ist das hier?“
„Mein mobiles Büro. Mit den neuen Kommunikationsmedien kann man heute praktisch von
jedem Ort der Welt ein Business führen.“ Er tippte etwas in den Laptop, dann seufzte er. „Du hast
nicht zufällig ein Fax in der Wohnung?“
4. KAPITEL
Zusammen mit Phil ging Annika im Fotostudio die geplanten Aufnahmen für die Werbefotos von
Camel durch. Die Auftraggeberin Toni Laverni war von Annikas Idee sofort überzeugt gewesen,
Phil nicht ganz. Und er war der Fotograf.
„Bist du sicher, dass dein Pilot es bringt? Er ist ein Laie, und du weißt selbst, wie steif sich
Laien vor der Kamera bewegen.“
„Patrick fühlt sich wohl in seinem Körper, keine Sorge.“
„Den hast du dir bestimmt genau angeschaut, so wie du schwärmst.“ Phil blätterte in den Seiten.
„Da bin ich ja mal auf den fliegenden Apoll gespannt.“
Annika überhörte die Spitze. „Sind die Sachen von HolidayJet schon geliefert worden?“ Sie
schaute sich im Studio nach dem blaugelben Logo der Fluglinie um.
„Drei Kisten voll Geschirr, Decken, Schwimmwesten, Broschüren. Sogar die Flugzeugsitze
haben sie liefern lassen. Steht alles da vorn.“ Phil deutete mit dem Kinn zum Set.
Annika hatte Patrick auf Sardinien in einer Flugpause erreicht. Erst hatte er fast euphorisch
geklungen, als er ihre Stimme erkannte. Doch kaum hatte sie ihn gefragt, ob er ihr nicht für das
Shooting als männliches Model aushelfen wollte, war sein Ton abgekühlt. Annika hatte die Frage
in seinem Kopf direkt spüren können: War das alles nur Berechnung für einen exklusiven
Werbeauftrag? Dann hatte sie ihm erzählt, dass sie einem Freund helfen wollte. Schließlich war
Phil selbstständig und nicht Teil von Connor FashionConsult.
„Wir könnten uns dann einen ganzen Tag lang sehen, Patrick.“
Er hatte gelacht und ganz weich „Okay“ gesagt, das hatte sie sogar im rauschenden Handy-
Empfang gehört. „Wie viel Honorar gibt es denn?“
Ein bisschen seltsam fand sie Patricks Frage schon. „Keins. Es ist doch nur ein Gefallen.“
Eingesehen hatte sie allerdings, dass sie mit der Marketing-Abteilung von HolidayJet
Rücksprache halten sollte. Und als Annika im Gespräch mit dem Marketing-Menschen den Namen
Camel Collection hatte fallen lassen, war der plötzlich Feuer und Flamme für die Werbe-
Kooperation gewesen. „Sprechen Sie mit dem Piloten und berufen Sie sich auf mich“, hatte er
gesagt. Und genau das hatte Annika gemacht, ein ganz offizieller Anruf auf Patricks
Handynummer.
Phil sah auf die Uhr. „Gleich elf. Pünktlich müsste dein Himmelstürmer ja eigentlich sein.“
„Patrick kommt direkt vom Flughafen. Für Verspätungen kann er nichts. Da ist der Tower
schuld.“ Annika bemühte sich, nicht zu laut zu werden.
Phil hob die Augenbrauen und lächelte nur. Annika schaute schnell zum Kunsthimmel hinter
dem Set. Da verteidigte sie Patrick schon, und dabei kannten sie sich erst ein paar Tage.
Als Annika Patrick gefragt hatte, ob er als echter Kapitän Modell stehen wolle, war er im ersten
Moment nicht gerade begeistert gewesen. Er war zwar nicht schüchtern, aber für eine Werbung
mit dem Slogan „Echte Travelfashion“, wenn dann nachher die Fotos überall auf dem Flughafen
hingen, dafür war er zu wenig Exhibitionist. Doch er wollte Annika nicht noch einen Wunsch
abschlagen. Außerdem konnte er so endlich einmal richtig viel Zeit mit ihr verbringen. Wenn er
nicht Jan hoch und heilig versprochen hätte, bei der komplizierten Reparatur seiner Enduro zu
helfen, wäre er natürlich mit Annika vom Flughafen in die Stadt gefahren. Wann passierte das
einem schon, dass eine Traumfrau nicht locker lässt?
Jetzt hatte ihn eine Visagistin in dem Fotostudio eine Viertelstunde mit ihren Quasten und
Stiften traktiert. Er öffnete die Augen. Sein Spiegelbild sah eigentlich aus wie immer, nur ein
wenig frischer und brauner. Und jünger.
„Fertig“, sagte die Frau mit den rosa Ohrringen und räumte die Stifte zurück.
Patrick trat aus dem Schminkraum und sah erst mal nur weiße Vorhänge, schwarze Strahler an
einem Rohr an der Decke und silberbespannte, riesige Schirme. Und dann tauchte zwischen zwei
Stoffbahnen ein blonder Mann auf, der gebräunt war wie direkt vom Strand. An seinem
Handgelenk leuchtete ein neongelbes Clubbändchen.
„Annika“, rief der Mann, „der Herr Kapitän ist längst da!“
„Phil, du bist unmöglich.“ Annika stand mit zwei ledernen Reisetaschen mit HolidayJet – Logo
neben drei Flugzeugsitzen. Sogar die aktuelle Baureihe, Respekt.
Annika ließ alles fallen, stieg über die Taschen hinweg in einem engen karierten Rock. Sie zog
ihn zur Seite vor den blauen Fotohimmel. „Du hast ja sogar deine Uniformmütze dabei.“ Ihre
grünblauen Augen sprühten Funken.
„Du musst dich sofort umziehen. In dem Karo-Rock siehst du aus wie die ältere Schwester von
Mrs. Moneypenny.“ Der Fotograf zog ihn an der Jacke. „Eure Begrüßungsarie verlegen wir jetzt
sofort ins Set. Ihr beiden fliegt sowieso längst, also setzen Sie sich einfach hierher.“
Phil drückte Patrick in den mittleren Sitz, ging vor ihm in die Knie und musterte sein Gesicht.
„Valerie? Tupfer!“
Die Visagistin steckte den Kopf zur Tür des Schminkraums heraus. „Der Puder auf der Stirn
muss sein …“
„Natürlich, aber nicht auf der Jacke des Herrn Piloten. Bürste das bitte rasch mal aus.“
„Oh, sorry.“ Die Visagistin erschien mit einer weißen Bürste in der Hand.
Annika machte Platz. „Ich sehe zwar keinen Puder, aber Phil ist Perfektionist. Jedes
Staubkörnchen stört.“
„Ist weg, Phil.“ Die Visagistin verschwand wieder in der improvisierten Maske.
Patrick kam sich vor wie beim Zahnarzt, da wusste er auch nie, was los war, nur, dass es gleich
wehtun würde. Annika stand in einem hautengen gelben Kostüm vor ihm, den Rand der Jacke
säumte oranger Kunstpelz. Wow!
„Und was soll ich jetzt tun?“ Patrick schaute sich um, aber der Fotograf schien sich nur für
seine Kameras zu interessieren.
„Du lässt dich gleich von den Models verwöhnen, die Valerie gerade auf Normaltouristin
schminkt“, sagte Annika. „Sie tragen die Kleider der Camel Herbst-Collection: ein bisschen
Safari, ein bisschen Golf, ein bisschen Yacht-Feeling.“
„Das ist alles?“ Patrick kam das Set ziemlich vollgestellt vor. Zig Taschen aus der
Reisekollektion standen am Rand, ein ganzer Ständer mit Damenbekleidung nahm die Sicht auf
die Lampen.
Die Models waren sehr unterschiedlich. Eine Frau war mindestens so alt wie seine Mutter, die
andere war in Annikas Alter, die dritte irgendwo dazwischen. „Sie sehen wirklich aus wie
Passagiere auf dem HolidayJet – Flug nach Teneriffa.“
„Genau das sollen sie auch.“
Phil nickte den Models zu. „Wie besprochen, ja? Die Reisenden bedienen den Kapitän.“
Schon hielt Annika der ältesten ein Tablett mit Gläsern hin. Patrick hatte keine Ahnung, wo sie
das nun wieder herbeigezaubert hatte. Aber sicher gab es in diesem Profistudio eine Küche.
„Dorthin schauen. Lächeln.“ Es blitzte.
„Entspannen Sie sich. Nehmen Sie ein Glas wie bei jeder guten Party. Prosten Sie Erika zu. Ja,
genau so.“
„Ist ja richtig gut!“ Patrick schmeckte eine frische Zitronennote in der Apfelsaftschorle.
„Obwohl ich ja dachte, es sei der Champagner, der bei HolidayJet in der Premium Class serviert
wird.“ Die goldgelbe Flüssigkeit perlte in dem Glas, und Patrick sah, dass Annika ihn mit einem
glücklichen Lächeln anschaute.
„Champagner könnt ihr zu Hause trinken. Hier wird gearbeitet“, meinte der Fotograf lachend.
Er sah auf eine Liste. „Setzt euch um, wie Motiv drei. Die Taschen etwas weiter links.“
Die Models folgten den Anweisungen.
„Du sollst ja auch Spaß dabei haben. Und wir auch.“ Annika nutzte eine Pause und stieß mit
ihm an.
„Bereitest du die Halstücher vor?“, fragte Phil.
„Klar“, sagte Annika.
Der Fotograf bediente zwei Kameras gleichzeitig. Patrick wunderte sich, wie schnell das alles
ging. Kopf links, Hand rechts, Fuß vor. Die Models setzten die Anweisungen sofort um, er
hingegen brauchte gar nichts zu machen, außer immer schön nach vorn gucken. Nur einmal
korrigierte Annika seine Haltung und strich dabei von hinten an seinem Hals entlang. Das wohlige
Gefühl hielt Minuten an.
„Eine Sequenz mache ich mit dir, Annika. Zieh dich um. Dann habt ihr was fürs Poesiealbum.
Ihr drei habt Pause. Valerie soll euch für die Nachtaufnahmen umschminken.“ Phil wechselte
schon das Objektiv vor der Kamera.
Die Models verschwanden im Schminkraum.
Annika holte sich aus einem rollbaren Plastikkleiderschrank eine Hose im Armeestil und eine
weiße Leinenbluse. So schnell wie sie sich umzog, konnte Patrick nicht mehr sehen als einen
Spitzen-BH und lange Beine.
„Ein Erster-Klasse-Menü mit Fisch?“ Annika reichte ihm eine aufgeklappte Karte. „Die
Kamera ist da vorn.“ Sie blinzelte ihm zu. „Nicht mich anschauen.“
Dazu hatte Patrick aber am meisten Lust.
„Doch, war gar nicht schlecht!“ Der Fotograf regelte die Helligkeit einer Lampe. „Er soll dich
ansehen. Das ist die eigentliche Idee. Die Passagiere bedienen den Piloten, also wären sie die
Stewardessen. So zeigen wir die Reisekollektion von Camel mal in ganz anderen
Bewegungsbildern als sonst in den Katalogen. – Annika, ein wenig mehr Rückenlage, die Nase
höher, genau, noch eine. Ja. Und jetzt wie besprochen die Nummer mit der Nackenmassage im
Nachtflug.“
Das Licht wechselte auf Knopfdruck. Mit einer sanften Bewegung nahm Annika Patrick die
Mütze vom Kopf, und eine seidene Schlafbrille glitt vor seine Augen, ihre Finger spielten über
seine Wangen und strichen über die Ohrläppchen. Das zarte Gefühl rieselte durch ihn hindurch bis
zu seinen Fußspitzen. Jetzt glaubte er es wirklich, dass sie sich in ihn verliebt und nicht nur für die
Werbeaufnahmen hatte rumkriegen wollen.
Annikas Finger kreisten über seine Halsmuskeln. Am liebsten hätte er geschnurrt wie ein Kater.
„Still halten.“ Phils Kommando schallte durch das Studio. „Ihr seid perfekt!“
Annikas Linke lag auf seiner Brust, trotz der Schlafbrille sah er Lichtblitze. Sein Herz klopfte.
Und sie musste das durch den Stoff der Uniform spüren.
„Pause!“
Er hörte, wie Phil an den Kameras hantierte. Annika fasste seine Hand und zog ihn vom Sitz.
Mit der Stoffbrille auf der Nase folgte er ihr blind und stolperte prompt über die herumstehenden
Reisetaschen, aber das schien ihr egal zu sein. Ein Vorhang streifte seine Schulter. Dann fühlte er
ihre Fingerspitzen an den Ohren, sie schob die Brille von seinem Gesicht. Und da sah er sie. „Du
hast dich ja schon wieder umgezogen! Wie machst du das nur?“ Perlenohrringe blitzten an ihren
Ohren, sie hatte ein Strandkleid übergeworfen.
„Ich hab das bei den Models abgeguckt, die müssen sich im Gehen umziehen können“, flüsterte
sie. Ihr Blick leuchtete, ihre Lippen berührte seine, ihre Finger wanderten seinen Kragen hoch in
sein Haar. „Ich habe zwar Flugangst, aber ein bisschen Akrobatik macht mir nichts aus.“
Das war es, was ihm immer gefehlt hat, das Quäntchen Überraschung, der Schuss
Unberechenbarkeit und die große Dosis Humor. Patrick fasste sie um die schmale Taille und hob
ein klein wenig sein Kinn, damit er sie voll auf den Mund küssen konnte. Er war fasziniert von
weichen Lippen, die sich langsam öffneten, dann küsste er Annika sanft, einmal, dann ein zweites
Mal. Er hatte ganz vergessen, wie schön es war, wenn die Zeit einfach stehen blieb, zwischen zwei
Berührungen der Lippen, wenn die Welt einfach nur aus blaugrünen Augen bestand, wenn alles so
einfach war. Und grenzenlos wurde. Wie beim Flug über die Alpen im unendlichen Blau. Er küsste
sie wieder. Und noch mal, er streichelte Annikas Rücken, ihre Schultern, ihre Brüste. Es war ein
Gefühl, als ob er direkt durch eine Gewitterbank flog.
Da waren tatsächlich Blitze. Annika machte sich los und drehte den Kopf. „Phil, du bist
wirklich unmöglich.“
Der blonde Fotograf winkte grinsend mit der Kamera. „Keine Angst. Die sind für euch, als
kleines Dankeschön. Seid ihr bereit für die nächste Runde?“
„Kommst du?“ Annika nahm Patrick bei der Hand und zog ihn zurück zum Set.
„Mit dir fliege ich überall hin, wenn‘s sein muss, auch mit der Camel Collection in den
Dschungel.“ Patrick fühlte ihre heiße Hand. Er ließ sich in den Sitz fallen und war so glücklich
wie schon ewig nicht mehr. Eigentlich so glücklich wie damals, als er zum ersten Mal bei einem
eigenen Flug das Matterhorn gesichtet hatte. Und eben hatte sich auch ein Traum erfüllt.
Annika trat hinaus in die Dunkelheit, Patrick folgte ihr. Das Licht aus der Kneipe fiel auf das alte
Pflaster vor dem Restaurant, in dem sie mit dem gesamten Team das erfolgreiche Camel-Shooting
gefeiert hatte. „Alles im Kasten“ hatte Phil lange nach Mitternacht verkündet, dann waren sie zu
seinem Lieblingsitaliener am Hackeschen Markt geschlendert. Annika war froh, dem Rauch und
dem Trubel zu entkommen. Sie wollte endlich mit Patrick allein sein. Morgen musste er schon
wieder los – ein bisschen kam sie sich vor wie eine Seemannsbraut, die immer auf ihren Liebsten
wartet. Dabei waren sie erst seit vier Tagen zusammen. Die stressigen Vorbereitungen für den
Besuch von Yamamoto erledigte sie mit links, sie ärgerte sich nicht einmal darüber, dass Simon
immer noch in ihrem Gästezimmer schlief. Was allein zählte, waren die wenigen Stunden mit
Patrick auf dem Flughafen. Einmal hatten sie zwischen zwei Flügen heimlich in der
Personallounge von HolidayJet geknutscht und waren ziemlich schnell auf der Erste-Hilfe-Couch
gelandet. Sie hatte gerade noch die Jacke überziehen können, während Patrick hektisch sein
Uniformhemd wieder in die Hose stopfte, als eine ahnungslose Kira in die Lounge hereinplatzte.
Annika sehnte sich nach einer Nacht mit Patrick, und als sie heute bei den Foto-Aufnahmen auf
seinem Schoß saß, hatte sie deutlich gespürt, wie sehr auch er sie wollte.
Patrick legte seinen Arm um ihre Taille, und sie kuschelte sich enger an ihn. Wortlos schlug sie
den Weg hinunter zum Spreeufer ein.
„Wir könnten zu mir gehen“, sagte Annika leise. „Nur zum Schlafen. Du fliegst doch morgen.“
„Ja, das könnten wir“, sagte Patrick. Doch sie gingen weiter zum Ufer hinunter, bis sie in dem
kleinen Park waren, in dem tagsüber Kinder spielten und sonnenhungrige Berliner im Gras lasen
oder picknickten. Unter den Bäumen gingen sie langsamer. Patricks Hand wanderte zärtlich unter
Annikas Hemdbluse, ein Teil aus feinem weißen Leinen, das sie noch von der Camel Collection
trug. Seine Hand war warm. Vorsichtig strich er über ihre Taille hoch bis zu ihrem Brustansatz.
Abrupt drehte sich Annika zu ihm. Sie hielt das einfach nicht mehr aus. Mit ein paar schnellen
Bewegungen zog sie sein Hemd aus der Hose und legte ihre Hände auf seine Brust, fuhr über die
Brustwarzen und spürte mehr Patricks kehliges Stöhnen als dass sie es hörte. Sein Mund suchte
ihre Lippen, und sie küssten sich.
„Wann kommst du wieder?“, fragte Annika. Irgendwie war sie mit dem Rücken an einem der
hohen Bäume gelandet, gegen den Patrick sie leidenschaftlich drängte.
„Morgen Abend“, sagte er und legte den Kopf auf ihre Brust. Er atmete heftig, und Annika
strich ihm zärtlich über das Haar. Lange konnte das so nicht mehr weitergehen. Simon musste aus
ihrer Wohnung verschwinden, und zwar so schnell wie möglich.
„Komm morgen Abend zu mir“, flüsterte sie in seine Locken.
„Und dein Bruder?“
„Der wird nicht mehr da sein.“
Patrick hob den Kopf. Im Mondlicht glitzerten seine Augen, und sie sah, dass er lächelte. „Du
willst ihn meinetwegen rauswerfen?“
„Er wollte nur eine Nacht bleiben, und jetzt hängt er schon fast eine ganze Woche bei mir ab
und belagert mein Wohnzimmer. Außerdem können wir ja wegen Jan nicht zu dir. Oder hat er
morgen Abend Dienst?“
Das Glitzern in Patricks Augen wurde stärker, und er drückte sich wieder enger an sie. „Leider
nicht. Jan kommt morgen aus Florida zurück. Da hat er sogar erstmal zwei Tage frei. Aber wir
können auch in ein Hotel gehen.“
Annika lachte leise auf. Was für eine süße Idee. Und sie kannte da sogar ein verwunschenes
Hotel in Charlottenburg, das für eine romantische Nacht genau das richtige wäre. Aber Patrick war
keine Affäre, kein Mann, mit dem sie sich im Hotel einen One-Night-Stand erlaubte. Sie wollte,
dass er in ihr Leben trat, als ihr Liebhaber, ihr Freund und Partner. Sie wollte die ganze Nacht mit
ihm leidenschaftlichen Sex haben und am Morgen mit ihm zusammen auf ihrer Terrasse
frühstücken.
„Ich weiß das Angebot zu schätzen“, sagte Annika, „aber ich möchte lieber zu mir gehen.
Simon wird morgen Abend weg sein, mach dir deshalb keine Gedanken. Dann muss eben er in ein
Hotel.“ Das war überhaupt ihre allerbeste Idee heute Abend.
Patrick nickte, bevor er sich von ihr löste und sie an der Hand von dem Baum wegzog. „Komm,
lass uns weitergehen.“
Annika folgte ihm, und eng aneinandergepresst liefen sie immer weiter die Spree entlang. Ab
und zu kamen ihnen andere Paare entgegen oder einzelne Spaziergänger, die zu nachtschlafender
Zeit ihre Hunde ausführten.
Berlin war eine Stadt, die niemals schlief, aber bei Nacht war sie geradezu verzaubert. Das
Mondlicht verwandelte das Wasser der Spree in einen Silberteppich, und die Äste der alten Bäume
am Ufer ächzten und knackten, als ob sie der Nacht die vielen Geschichten aus ihrem langen
Leben erzählten. Irgendwann fing auch Patrick von seiner Kindheit in Leipzig an und den Reisen,
die er zusammen mit seiner Familie in Osteuropa unternommen hatte. Es war eine fremde Welt
für Annika, die von Düsseldorf erzählte und ihrem Designstudium in Hamburg.
An einer Stelle führte der Uferweg unter einer Fußgängerbrücke hindurch. Dort war es richtig
dunkel, und es roch geheimnisvoll würzig nach dem Wasser, das plätschernd gegen die
Uferbefestigung schlug. Patrick nahm sie in die Arme und küsste sie noch leidenschaftlicher als
zuvor. Er schob die weiten Blusenärmel hoch, streichelte zärtlich die empfindliche Haut in der
Armbeuge. Annika zog ihn näher zu sich, sie wollte jeden Zentimeter seines Körpers spüren.
Nachher wusste sie nicht mehr, wie lange sie sich unter der Brücke berührt und geküsst hatten,
doch als sie unter der Brücke heraus wieder auf den Uferweg traten, war am Horizont zwischen
den Häusern ein rosa Lichtstreifen zu sehen. Gemeinsam setzten sie sich auf eine Bank, auf der
frischer Tau lag. Sie beobachteten, wie der Streifen breiter und heller wurde, das Rosa erst einen
Gelbstich annahm und dann immer leuchtender Orange wurde. Schließlich erschien wie ein
glühender roter Ball die Sonne am Horizont. Als ob sie das erste Sonnenlicht begrüßte, begann in
der Ferne eine Kirchenglocke zu schlagen. Die klaren Töne hallten durch die morgendliche Stille
über das Wasser, und Annika kuschelte sich näher an Patrick und zählte leise die Glockenschläge
mit. „Eins, zwei, drei, vier“, zählte Annika. „Und fünf.“
Patrick fuhr ihr mit dem Finger über die Wange. „Es ist schon sechs Uhr“, sagte er, „wir haben
die Nacht durchgemacht.“
Annika war vollkommen glücklich. Vielleicht konnten sie ja noch irgendwo zusammen
frühstücken nach dieser wunderbaren Nacht, der schönsten ihres Lebens. „Wann geht denn dein
Flug?“
„Mein Flug?“ Patrick starrte sie an, als hätte sie gefragt, wann denn der Butler mit dem Bentley
vorfahre. „Mein Flug!“ Er sprang so abrupt auf, dass Annika fast von der Bank kippte.
„Was ist denn?“, fragte sie vollkommen verdutzt.
„Es tut mir leid, Annika.“ Patrick taste seine Hosentaschen ab, dann zog er das Handy heraus.
„Mist, Mist, Mist.“
„Du hast einen Frühflug“, sagte Annika. Sie kapierte allmählich, was passiert war.
„Den 6.25 nach Rio de Janeiro. Es ist mein erster Interkontinentalflug. Shit, sie rufen mich
schon seit Stunden an. Ich hatte gestern beim Shooting das Handy ausgestellt.“
„Sechs Uhr fünfundzwanzig?“, fragte Annika.
Patrick nickte und schaute sich hektisch nach allen Seiten um. „Vielleicht schaffe ich es mit
dem Taxi. Die Straßen sind morgens leer.“ Er schaute verzweifelt zu Annika.
„Da vorne ist ein Taxistand“, sagte sie und rannte los. Einen Moment lang starrte Patrick ihr
nach, und sie rief: „Komm schon, sonst reicht es nie.“ Dann spurtete er ihr hinterher.
Keuchend kamen sie an dem Stand an, wo ein einzelnes Taxi wartete. Annika war beim Laufen
klar geworden, dass Patrick es nie schaffen konnte. In achtzehn, nein, sechzehn Minuten konnte
nicht einmal der schnellste Berliner Taxifahrer nach Schönefeld kommen.
„Ich muss trotzdem rausfahren“, sagte Patrick, der offensichtlich dieselben Überlegungen
angestellt hatte. „Ich hab eh ein Wahnsinnsglück, wenn ich nicht sofort gefeuert werde.“
Annika klopfte an die Beifahrertür des Taxis und weckte den bärtigen Fahrer, der über seiner
Morgenzeitung eingenickt war.
Plötzlich stand Patrick vor der halb geöffneten Tür und schien es auf ein Mal gar nicht mehr
eilig zu haben. Er starrte auf seine Schuhspitzen.
„Du musst los, Patrick!“, sagte Annika und wollte ihn an den Schultern in das Taxi schieben.
„Ich hab gar nicht genug Geld dabei.“ Er wand sich aus ihrem Griff und schaute ihr ernst in die
Augen. Dabei sah er aus wie ein kleiner Junge, der das Schokoladeneis nicht bezahlen kann, das er
gerade gegessen hat.
Annika schüttelte den Kopf. „Das ist doch kein Problem.“ Sie zog den Geldbeutel aus ihrer
Handtasche. Sein ernster Blick verwirrte sie so, dass sie ihm einen Hundert-Euro-Schein einfach
in die Hosentasche steckte. „Komm bald wieder“, flüsterte sie ihm zu.
„Na, könn‘ Se sich loseisen?“, brummte von vorn die verschlafene Stimme des Taxifahrers.
Patrick wollte sich schon ins Taxi setzen, doch dann wandte er sich noch einmal zu Annika und
ergriff ihre Hände. „Ich ruf dich an.“ Er drückte ihr einen so zärtlichen Kuss auf die Lippen, dass
Annika ihn am liebsten gar nicht gehen lassen wollte. Im nächsten Moment war er weg, und die
Autotür knallte zu.
„Ich liebe dich, Patrick“, rief sie ihm nach, aber ihre Worte gingen unter im Quietschen der
Reifen, als der Taxifahrer in die Mitte der Straße schoss.
Der Taxifahrer war wie der Teufel gefahren, Patrick warf ihm den Hundert-Euro-Schein auf den
Sitz und wartete nicht mal, bis der Mann ihm einen Zwanziger herausgegeben hatte. Er rannte so
schnell von der Taxispur zur Abfertigungshalle, dass er Seitenstechen bekam. Die Halle barst vor
Menschen, alle Abfertigungsschalter waren geöffnet, aber nicht nur die üblichen Schlangen von
Touristen drängelten, überall standen Mitarbeiterinnen in Service-Uniformen und beruhigten
aufgeregte Passagiere. Er musste sofort zum Staff-Raum durchkommen.
Vorne tuschelte Melanie am Check-in, sie reckte gerade das Kinn, erkannte ihn und winkte ihn
zu sich.
„Was ist mit meinem Flug?“ fragte Patrick und starrte in Melanies gestresstes Gesicht.
„Flug 4723 nach Rio de Janeiro hatte vor vierzig Minuten take-off.“ Sie fuhr sich durch die
kurzen blonden Haare. „Alles ist durcheinander. Die Kollegen von der Flugreserve waren schon
weg, weil sie gestern Nacht für Vinzenz eingesprungen sind, der in Chania Maschinenschaden hat.
Die andern Airlines fliegen auch gerade Oberkante Unterlippe, es gab keinen Ersatz für dich.
Osterloh hat notgedrungen den ganzen Flugplan umgestellt, die Jungs neu eingeteilt, aber dann
ging es plötzlich doch nicht auf, weil er da erst merkte, dass keiner deiner Kollegen, die noch da
waren, schon wenigstens mal als Co-Pilot in Rio de Janeiro runter ist … Safety first, Osterloh
kennt da nichts.“
Patrick sah die Verspätet-Anzeigen auf der Tafel der Halle. Die verpassten Slots kosteten
HolidayJet mindestens so viel wie drei seiner Jahresgehälter. Und sein Chef würde einen Malus
ins Flugbuch eintragen lassen, wonach ihn nie wieder eine Airline einstellte. „Osterloh bringt
mich um.“
Gerade weil ihn der oberste Vorgesetzte von HolidayJet eigentlich schätzte und ihm sogar
schon einige Male bei der Flugstundenzahl entgegengekommen war, würde er ihn nun erst recht
fertig machen. Osterloh war nicht umsonst an die Spitze gekommen. Er war hart, aber gerecht.
Und Patrick hatte einen schwerwiegenden Fehler gemacht, da war nichts zu deuteln.
Melanie sah ihn mitfühlend an. „Wahrscheinlich bist du eh schon tot. Osterloh hat auf dem
Monitor zufällig gesehen, dass Jan gerade aus Florida gelandet war. Er hat ihn aus der Maschine
geholt und direkt in das Cockpit des Rio-Flugs gesetzt. Den Safety-Check hatten die Kollegen
schon durch.“
Das war garantiert ein Verstoß gegen zwanzig Bestimmungen auf einmal. „Ich muss sofort zu
Osterloh.“
Melanie hielt ihn am Ärmel fest. Ihre Augen musterten ihn, als ob er schwer krank sein könnte.
„Was war denn los? Du bist doch sonst so zuverlässig.“
Patrick versuchte zu sprechen, aber erst wischte er sich über die Augen. „Ich habe mit Annika
an der Spree den Sonnenaufgang bewundert.“
„Das ist jetzt nicht wahr!“ Melanie warf einen Blick zum Counter, aber die Stewardessen waren
zu beschäftigt, als dass sie etwas gehört hätten. Sie zog ihn rasch weg zur Personaltoilette.
Vor den Spiegeln baute sie sich auf. „Liebe ist nicht alles, und schon gar nicht in deinem Alter.
Auf keinen Fall darfst du gegenüber Osterloh auch nur andeuten, dass eine Frauengeschichte
dahintersteckt.“ Melanies Zeigefinger bohrte sich in seine Jacke.
„Annika kann überhaupt nichts dafür …“
Melanie drehte die Hähne auf. „Mensch, vergiss deine Annika mal für einen Moment. Komm
jetzt sofort zu dir! Du musst deinen Job retten.“
Patrick spritzte sich Wasser ins Gesicht. Die Kälte half ihm zu denken. Gerade lief eine
Katastrophe in seinem Leben ab. Seit Jahren sparte er jeden Euro für die teure Ausbildung, er
leistete sich keine eigene Wohnung, hatte kaum eigene Möbel. Lebte seit Jahren ohne richtigen
Urlaub, und jetzt verpatzte er die endgültige Pilotendauerzulassung, von der er so lange geträumt
hatte, im letzten Moment.
Melanie knabberte an ihren Fingern. „Du musst dir etwas ausdenken, dass Osterloh akzeptieren
kann. Irgendwas.“
„Ich kann so schlecht lügen.“ Patrick starrte in sein bleiches Gesicht im Spiegel. Sein Herz
klopfte wild. „Mein … mein Vater hat einen Herzinfarkt, und meine Mutter dreht durch.“ Er
wandte sich um und schaute Melanie an. „Glaubst du, die Geschichte funktioniert?“
Melanie zuckte mit den Schultern, dann nickte sie. „Besser als nichts.“
Immer noch blass trat Patrick in das Büro seines obersten Vorgesetzten bei HolidayJet ein. Im
grauen Business-Anzug, die Hände in den Hosentaschen, stand Osterloh am Bildschirm, der die
Flugdaten ihrer Airline online zeigte.
„Dass Sie sich überhaupt noch hertrauen.“ Osterloh sah ihn mit einem Ausdruck an, in dem
Patrick fast so etwas wie Verachtung zu erkennen vermeinte. „Wir haben drei Maschinen im
Überhang. Alle ackern wie die Blöden, damit das Boarding noch klappt, bevor drei Time-Slots
verfallen.“ Er sprach ruhig, als würde er Patrick das alles zum ersten Mal erklären. Aber unter der
Oberfläche brodelte es. „Andernfalls kostet uns das viel, viel Geld. Können Sie sich überhaupt
vorstellen, um welche Summen es hier geht, Lister?“
Patrick wusste, dass es besser war zu schweigen. Aber er hätte sowieso nichts sagen können
außer, dass es ihm leidtat. Aber Osterloh war noch blasser im Gesicht als sonst, seine Augen
blitzten, er wollte jetzt bestimmt keine Entschuldigungen hören.
„Ohne Kosfelds Kollegialität hätten wir jetzt horrende Strafen zu zahlen. Sämtliche
Flugaufsichtsbehörden und Berufsorganisationen wären hinter ihm gestanden, wenn er Nein
gesagt hätte. Ich hätte ihn nicht auf Ihren Platz zwingen können, um den Flug nach Rio de Janeiro
zu fliegen. Das war Ihr Flug. Sogar Ihr Premierenflug auf Langstrecke. Wo, verdammt noch mal,
waren Sie, Lister?“
Patrick schluckte. Melanie hatte Recht. Wenn er jetzt die Wahrheit sagte, schmiss ihn Osterloh
eigenhändig aus der Airline. Und zwar noch in dieser Minute. „Mein Vater …“, der saß sicher
quietschvergnügt beim frühmorgendlichen Angeln an der Saale, „… hatte einen
lebensbedrohlichen Herzinfarkt.“ Patrick versank vor Scham im meerblauen Teppich und senkte
den hochroten Kopf. „Er hat es Gott sei Dank überlebt.“ Lügen war schrecklich, Osterloh musste
es doch sehen, dass kein Wort davon stimmte. Aber der erwartete Wutausbruch blieb aus.
Osterloh sah zum Bildschirm. Die Anzeige hinter Monastir sprang auf Take-off. „Na, endlich!“
Osterloh legte die Hände ineinander. „Die Maschine nach Tunesien hat es auch noch geschafft, sie
rollt gerade im Slot auf die Startbahn.“ Der Manager ließ sich in den Sessel fallen. Er schloss
einen Moment die Augen.
Patrick wusste nicht, wohin mit seinen Händen.
„Lister, Sie haben bisher keine Fehler gemacht. Sie sind sogar überdurchschnittlich gut.“
Osterloh beugte sich vor und legte die Arme auf die Schreibtischfläche. „Aber der verpasste Flug
nach Rio de Janeiro war Ihr letzter. Definitiv. Es tut mir leid.“
Patrick biss die Zähne zusammen. All die Jahre waren umsonst gewesen. Verdammt … Er half
nichts, seine Knie wurden weich, er lehnte sich an den Türrahmen.
„Hören Sie gut zu.“ Osterloh erhob sich und kam um den Schreibtisch herum. „Ich weiß, dass
Sie ein Pilot aus Leidenschaft sind, der sich die Ausbildung hart abgerungen hat – wie ich.“
Zu Patricks Überraschung lächelte der Chef ihn sogar mit ein bisschen Mitgefühl an. „Niemand
ist unfehlbar. Sogar ich habe schon mal Bockmist gebaut. Fairness ist eine Tugend der Piloten,
nicht wahr?“ Er klopfte ihm auf die Schultern. „Sie kriegen jetzt eine allerletzte Chance. Aber
einen weiteren Flug dürfen Sie einfach nicht verpassen. Niemals. Verstehen wir uns?“
Für einen Moment schwankte das Büro vor Patricks Augen. „Ja, natürlich. Ich verpasse
bestimmt nie mehr einen Flug.“ Er war so erleichtert, dass er sich gar nicht richtig freuen konnte.
Er war noch mal davongekommen. „Danke.“
„Ich vertraue Ihnen, enttäuschen Sie mich nicht. In einer halben Stunde fliegen Sie nach
Lissabon. Und keine Dummheiten mehr. Sie haben noch fünfundzwanzig Minuten. Und jetzt
raus!“
Patrick schloss die Tür hinter sich. Der Flur des Bürotraktes war leer. Patrick machte einen
Luftsprung. Er durfte weiterfliegen!
Der Schlüssel drehte sich mit einem quietschenden Geräusch in der Wohnungstür. Patrick hatte
diesen Augenblick mehr gefürchtet als den Dauerspott, den die Kollegen am Flughafen über ihm
ausgeschüttet hatten. Er war heilfroh, dass Melanie dichthielt. Alle glaubten an den Herzinfarkt
seines Vaters, manche Kollegen hatten ihm sogar zu verstehen gegeben, dass sie es in so einem
Notfall auch riskiert hätten, einen Flug zu verpassen. Dann hatte Osterloh in einer
außerordentlichen Pilotenbesprechung alle dazu verdonnert, die Sache so hinzudrehen, dass die
Flugaufsicht nicht mitkriegte, was wirklich passiert war. Die Bonuszahlung am Jahresende hatte
der Personalchef davon abhängig gemacht, dass nichts durchsickerte.
Aber Jan würde Patrick ehrlich in die Augen schauen müssen.
Dann kam er herein, Patrick hatte seinen Kumpel noch nie so fertig gesehen. Jan warf die
Pilotenjacke einfach über den Sessel und ließ sich aufs Sofa fallen. Er wirkte wie sein eigener
Großvater. Unter dem dichten Bartschatten war er totenblass, die Ringe unter den Augen waren so
tief, dass er aussah, als sei er für den Karneval geschminkt. „Oh Mann. Ich bin total fertig, Patrick.
Drei Stunden Turbulenzen über Cap Verde, du kannst dir vorstellen, was in der Cabin los war …“
Er ließ den Kopf zurücksinken, dann machte er die Augen auf. „Sorry, ich rede nur von mir. Wie
geht es deinem Vater? Ist er wieder okay?“
Jans Blick war so mitfühlend, selbst jetzt noch. Er wusste, wie viel sein Vater Patrick bedeutete.
Er hatte ihm von den vielen Jugendreisen im Ostblock erzählt, bis auf die Krim und nach
Nowosibirsk hatte ihn sein Vater mitgenommen. Patrick senkte den Kopf. Er spürte, wie ihm das
Blut in die Wangen schoss.
„Er …“ Er brachte es nicht fertig, Jan anzulügen, der ihm immer geholfen hatte, mit dem Job,
und jetzt wieder. „Ich …“
„Patrick?“ Jan richtete sich halb auf und kniff die Augen zusammen. „Du wirst ja rot. Was ist
los?“
„Mein Vater hat gar nichts.“ Es war raus. Patrick schaffte es sogar, Jan anzusehen.
Dem stand der Mund offen.
„Ich habe den Flug verpasst.“
Jan blinkte mit den Augen. „Du hast was?“, rief er. Er schlug mit der Faust auf das Sofa. „Das
gibt es nicht. Ich fliege vierundzwanzig Extrastunden, weil ich denke, dass dir das Schicksal übel
zusetzt, und in Wirklichkeit hast du deinen Arsch nicht rechtzeitig aus den Federn gekriegt. Bist
du noch zu retten, Mann?“
Jetzt war Jan richtig wütend. Er hatte die Lippen fest zusammengepresst und die Fäuste geballt.
„Ich habe nicht verschlafen.“ Wenn Jan ihm jetzt eine scheuerte, würde er sich nicht mal
ducken.
„Wie bitte? Was dann? Hat der Herr Lister vielleicht gesoffen?“ Jan konnte kaum sprechen vor
Wut.
Patrick hob entschuldigend die Schultern. „Ich war mit Annika an der Spree und, die Frau ist …
ist einfach unglaublich, ich habe das noch nie erlebt. Ich habe die Zeit total vergessen. Total.“
Jan stand auf und ging zum Schrank. „Darauf brauche ich einen Whisky, das ist zu viel. Pilot
Lister knutscht irgendwo rum und vergisst wegen einer Frau glatt eine Maschine mit
zweihundertvierzig Leuten.“ Er blickte kopfschüttelnd zum Fenster hinaus. „Kannst du nicht wann
anders rumtreiben?“
Jan hatte allen Grund, böse zu sein. Dabei hatten er und Annika ja nicht mal … Patrick sagte
leise: „So war es nicht. Es ist wirklich ernst. Je mehr ich sie kennenlerne, desto mehr fasziniert sie
mich.“
„Ach, höre doch auf.“ Die Whiskyflasche in Jans Hand zitterte. „Du bist doch dauernd verliebt,
Patrick. Die Frauen stehen auf dich. Wie viele Affären hattest du letztes Jahr? Na?“
„Mit Annika ist es anders. Wirklich.“
„Ach? Und wie ist es?“
Wie sollte er ihm das erklären, er verstand es ja kaum selber. Er fühlte es nur. Klar sah Annika
gut aus, aber da war mehr, viel mehr. Jan musterte ihn immer noch zornig. Patrick holte Luft. Jan
war doch selber verliebt. Schon länger. Vor ein paar Wochen hatte er Patrick gestanden, dass er
Melanie vom Bodenpersonal schon ewig anbetete. Angeblich ignorierte sie ihn aber, wenn er sie
überhaupt einmal am Flughafen traf. Deshalb litt Jan nun stumm vor sich hin, weil er nicht daran
glaubte, dass die lebenslustige Check-in-Chefin sich für einen Langeweiler wie ihn interessieren
konnte.
„Stell dir vor, Melanie sagt auf einmal Ja und hat nur noch Augen für dich, den ganzen Tag und
Abend, und es stellt sich nach dem zweiten Date heraus, dass sie noch viel toller ist, als du immer
gedacht hast.“
Jans Gesichtsausdruck wechselte von Wut zu Überraschung, dann wurde er nachdenklich.
„So war das. Annika ist für mich wie Melanie für dich.“
Jan ließ den Whisky ins Glas gluckern. „So schlimm, Patrick?“
Schlimm war es eigentlich nicht, es war herrlich. „Ja, ehrlich. Könnte dir das mit Melanie nicht
auch passieren?“
„Ich glaube nicht, dass ich einen Flug verpassen würde.“ Jan stürzte das Glas in einem Zug
hinunter. „Schon deshalb nicht, weil Melanie am Check-in stehen würde.“ Er grinste plötzlich.
„Das ist dir wirklich ernst mit dieser Annika, nicht?“
„Ja.“ Patricks Stimme war ganz fest. „Sonst hätte ich doch nie …“
Jan stellte das Glas ab. „Okay, okay. Ich geh jetzt duschen und dann ins Bett.“ Er drehte sich
noch einmal um und drohte ihm mit dem rechten Zeigefinger. „Aber dass eins klar ist: Ich habe
einen Flug bei dir gut, den du für mich fliegst, wann immer ich mal eine Freischicht brauche!“
5. KAPITEL
Annika hatte bis sieben Uhr bei Connor FashionConsult durchgearbeitet und dann im Büro
verkündet, dass sie den morgigen Tag frei nehmen würde. Roberta hatte sie angestarrt wie ein
Wesen von einem anderen Stern. Mürrisch wies die Chefin darauf hin, dass Mr. Yamamoto in ein
paar Tagen kommen würde. Doch Annika war vorbereitet und legte Roberta das ausgefeilte
Besuchsprogramm vor, mit allen Boutiquen und Trend-Shops, mit formellen wie inoffiziellen
Gesprächsterminen. Sie hatte den Abholservice vom Flughafen und das Hotel gebucht, sogar ein
Gespräch mit der Storeleiterin von Joops Wunderkind-Shop hatte sie heute Morgen noch
festmachen können.
„Na gut“, brummte Roberta. „Dann genieß deinen freien Tag morgen, Nika. Da steckt doch
dieser Pilot dahinter. Habe ich Recht?“
Annika zuckte nur mit den Schultern und lächelte geheimnisvoll. Ihr Privatleben ging Roberta
nichts an. Auch wenn sie in einem schwachen Moment vor Frau Rose, der Tratschtante, zu viel
gesagt hatte, aber mehr würde im Büro niemand erfahren, schon gar nicht die Chefin.
„Er soll ja gut aussehen, sagt unser Lieblingsfotograf.“ Roberta genoss sichtlich Annikas
Überraschung. Jetzt verriet sie sogar auch noch Phil! Das würde er ihr büßen. „Er findet ihn zu
klein, aber berichtet von einem prächtigen Po.“ Annika funkelte ihre Chefin an, doch die lachte
nur. „Ich wiederhole nur, was Phil mir gesagt hat.“ Sie hatte noch einen Fussel von ihrer Tao-
Bluse geschnippt und war ins Büro zurückgegangen.
Als Annika jetzt vor dem bodenlangen Spiegel in ihrem Schlafzimmer stand, lachte sie selbst
über Phils Spruch. Wo er Recht hatte, hatte er Recht. Patricks Po war sensationell. Und in weniger
als einer Stunde würden sie zusammen in die Sushi-Bar vorne an der Weinmeisterstraße gehen.
Oder einfach hierbleiben und endlich Zeit füreinander haben, so lange und so intensiv, wie sie
wollten. Annika spürte, wie ihr ganzer Körper zum Leben erwachte bei dem Gedanken, dass sie
heute Nacht endlich miteinander schlafen würden.
Gestern Morgen war sie nach Patricks hektischem Abschied kurz nach sechs heimgekommen.
Um acht Uhr hatte sie Simon geweckt und ihn innerhalb von zwei Stunden in das Hotel in der
Kastanienallee verfrachtet. Ein wenig tat es Annika leid, als ihr Bruder ohne ein Wort des
Abschieds die Treppe hinunterlief, aber dieses eine Mal musste sie zuerst an sich denken. Es ging
um wahre Liebe, und die begegnete einem bekanntermaßen nur einmal im Leben.
Annika drehte sich vor dem Spiegel. Das eng anliegende gelbe Kleid brachte ihre schlanke
Figur zur Geltung, und der orange Kragen ließ ihre braunen Locken leuchten. Roxanne hatte es mit
ihr zusammen ausgesucht. Da hatten sie bei Bread & Butter, der alljährlichen Messe der jungen
Berliner Modeszene, teilgenommen und ein paar wichtige Kontakte vermittelt, dafür hatte Annika
das Kleid behalten dürfen. „Du bist die einzige Frau, die ich kenne, die Gelb tragen kann“, hatte
Roxanne ihr damals gesagt. Annika lächelte ihrem Spiegelbild zu und fragte sich, ob Patrick wohl
Tahiti-Cocktails genau so gerne mochte wie sie.
Während sie in der Küche Rum, Cointreau und Grenadine im Shaker mixte, klingelte das
Telefon. Die Ruferkennung zeigte an, dass es ihre Eltern aus Düsseldorf waren. Bestimmt wollten
sie mit ihr über Simon reden. Annika warf einen Blick auf ihre Handyuhr. Es war noch Zeit,
Patrick wollte um acht hier sein. Sein Flieger aus Lissabon war um 17.30 Uhr gelandet, und er
wollte sich zu Hause umziehen.
Zuerst erzählte Annika ihrer Mutter, dass Simon wohlauf war und bei ihr wohnte – eine kleine
Lüge, die ihr der Himmel bestimmt verzieh –, dann kam ihr Vater an den Apparat und legte
wieder einmal los, wie teuer alles geworden sei. Seit ihre Eltern das in Simons Zeitungsprojekt
investierte Geld verloren hatten, entwickelten sie seltsame Allüren. Ihre Mutter wusch nur noch
zwei Maschinen pro Woche. Annika, bei der so ziemlich jeden Tag die Waschmaschine lief, sagte
gar nichts dazu. Dann berichtete ihr Vater, dass sie sich überall Zeitschalter für das Licht einbauen
lassen wollten. Im nächsten Moment beschwerte er sich über die hohe Tierarztrechnung. Als die
beiden Kinder aus dem Haus waren, hatten sich Annikas Eltern eine Katze angeschafft, und die
kleine Mizi hatte ihre Herzen im Sturm erobert.
„Mizi frisst nicht mehr“, meinte ihr Vater mit tieftrauriger Stimme, „und dabei kriegt sie nur
noch Spezialfutter. Weiß du noch, wie viel das kleine Ding immer weggeputzt hat? Arm gefressen
hat sie uns.“
„So teuer war das doch nicht.“ Das war genau der falsche Satz. In den nächsten fünf Minuten
rechnete ihr Vater haargenau vor, wie viel Gramm eine ausgewachsene Katze am Tag fraß und wie
viel teurer als normales Katzenfutter die Spezialdiät war. Annika schaute auf die Uhr, es war zehn
vor acht.
„Papa“, unterbrach sie ihn. „Papa, ich muss Schluss machen.“
„Wart noch, Kleines. Deine Mutter will dir noch was sagen.“ Am anderen Ende der Leitung war
Getuschel zu hören, doch Annika konnte ihre Eltern nicht verstehen. Dann hörte sie ihre Mutter
sagen: „Annika, wie lange will Simon denn in Berlin bleiben?“
„Ich glaube, das weiß er selbst nicht so genau.“ Annika hatte den Hörer zwischen Ohr und
Schulter geklemmt und holte die Cocktailgläser aus dem Eisfach.
„Aber schon noch ein paar Tage, oder?“
„Mach dir keine Sorgen, ich pass schon auf ihn auf.“ Vorsichtig drehte Annika die Glasränder
im Zucker.
„Ja, das weiß ich. Du warst schon immer verantwortungsbewusst. Sag ihm, er soll anrufen, ja?“
„Mach ich. Tschüss, ihr beiden.“ Endlich konnte Annika das Telefon weglegen und sich den
Tahitis widmen. Der Cocktail floss perfekt ölig in die Gläser.
Es klingelte, und vor Schreck und Freude wäre Annika fast der Shaker aus der Hand gerutscht.
Sie strich den gelben Seidenstoff über ihrer Taille glatt, dann rannte sie zur Tür und riss sie auf.
„Simon!“ Es war nicht zu fassen. Ihr Bruder grinste sie schief an.
„Na, wie war die Nacht mit dem neuen Lover, Schwesterchen?“
„Noch gar nicht. Patrick kommt jeden Moment, wir sind für heute verabredet. Und dich kann
ich jetzt überhaupt nicht brauchen. Was ist denn das hier alles?“
Der gesamte Treppenabsatz stand voller Koffer und Taschen. Vor der Tür ihrer Nachbarn
entdeckte Annika eine Riesenschachtel, in der offenbar ein Flachbildmonitor steckte. „Wie … wie
hast du das denn hierhergebracht?“ Annika hätte sich auf die Zunge beißen können. Wie Simon
seinen ganzen Kram – denn um nichts anderes konnte es sich handeln – hier vor ihre Wohnung
gebracht hatte, war total egal. Wie er es wieder wegbrachte, das war wichtig.
„Meine Sachen“, sagte Simon vollkommen lässig.
„Und? Was wird das jetzt?“ Diesen Typen brachte nichts, aber auch gar nichts aus der Ruhe.
„Das Hotel ist mir zu teuer. Ich stell meine Sachen ins Gästezimmer, dann verdrück ich mich,
hänge ab in einer Kneipe oder geh ins Kino. Wenn ich zurückkomme, seid ihr beiden Lovebirds
bestimmt schon im Bett.“
Annika schüttelte energisch den Kopf. „Nein, diesmal nicht. Ich habe mir morgen extra frei
genommen, damit ich in Ruhe mit Patrick frühstücken kann. Und dieses … Zeug hier, ich will das
nicht in meiner Wohnung.“
„Ich hau morgen ganz früh ab, versprochen, Annika. Du wirst nicht mal merken, dass ich im
Gästezimmer geschlafen habe. Großes Indianerehrenwort.“
Sie seufzte. Es war wie in alten Zeiten, als Simon sie dazu überredet hatte, ihm ihren
Lieblingsteddy zu schenken. Irgendwann konnte sie einfach nicht mehr Nein sagen. Sie trat von
der Tür zurück, und Simon packte mit einem sehr zufriedenen Gesichtsausdruck die Griffe von
zwei riesigen Lederkoffern.
Als er an ihr vorbeiging, ließ er kurz den Blick über ihr Outfit gleiten. „Gelb steht dir nicht,
Schwesterherz“, sagte er und verschwand im Gästezimmer.
An der Bank am Hackeschen Markt klemmte sich Patrick den eingewickelten Strauß rote Rosen
zwischen die Knie. Der Geldautomat war noch auf Polnisch eingestellt, und Patrick wechselte die
Anzeige. Er wollte Annika das Geld für die Taxifahrt nach Schönefeld zurückgeben. Auch wenn er
seinen Flugplan nicht im Kopf hatte, seine Geheimzahl vergaß er wenigstens nie. Obwohl, wenn
Annika jetzt neben ihm stehen würde …
Er dachte an ihre grünen Augen, daran, wie wunderbar weich sich ihre Haut anfühlte.
Gedankenverloren tippte er die vier Codenummern ein. Der Automat piepte, dann kam die
Nachricht: „Die Anmeldung war nicht erfolgreich, da PIN und EC-Karte nicht zueinander passen.
Bitte prüfen Sie Ihre Eingaben.“ Was denn? Patrick holte tief Luft, konzentrierte sich und gab
erneut seine Geheimnummer ein.
Sein Konto stand im Minus. Das Gehalt hätte doch schon vorgestern auf das Konto kommen
müssen. Auch wenn immer am Monatsende die Rate seines Ausbildungskredits abging und am
Monatsanfang die Miete, er müsste trotzdem im Plus sein. Patrick überlegte. Er hatte Kira nicht
genau zugehört im Staff-Room, aber anscheinend hatte das Buchungssystem den letzten System-
Update nicht vertragen. Dauernd gab es Doppelreservierungen und falsche Datumsangaben. Die
Computerprobleme bei HolidayJet konnten sich auf die Buchhaltung ausgewirkt haben. Er
brauchte jetzt mindestens dreihundert Euro. Patrick rechnete schnell, da würde er knapp unter dem
Dispo-Limit bleiben.
Dann drückte er die Taste, und der Automat spie brav das Geld aus.
Patrick steckte die Scheine ein und marschierte mit dem Strauß durch die Touristenmassen, die
sich zwischen Kino, Cafés und Straßenbahnen über den Hackeschen Markt bewegten. Auf den
Wänden des Treppenhauses stoben Rauten in allen Farben durcheinander, so dass Patrick seine
Blumen fast etwas eintönig vorkamen. Er klingelte an der Tür im obersten Stock, an der mit
großen Buchstaben FRINX stand.
Im nächsten Moment wurde die Wohnungstür aufgerissen, als ob jemand direkt dahinter
gewartete hätte. „Ja?“, fragte eine raue Männerstimme.
Das weiße Hemd war drei Knöpfe weit offen, die weiße Hose darunter glücklicherweise nicht.
Ein spöttischer Blick traf Patrick. Rasiert war der Kerl auch nicht.
War das der Bruder? Patrick ließ den Blumenstrauß sinken. Der schmale blonde Mann sah
Annika überhaupt nicht ähnlich.
„Der ist wohl für dich, Schwesterchen!“, rief der Typ in die Wohnung und nahm sich eine Jacke
von der Garderobe.
Patrick sah Annikas Bruder nach, der ihm kurz zunickte und dann die Treppe hinunterpolterte.
Irgendwie seltsam, der Typ. Er betrat zögernd die Wohnung und zog die Tür hinter sich zu.
„Patrick? Bist du schon da?“, rief Annika aus einem Zimmer.
„Ich konnte es nicht erwarten“, sagte Patrick. Dann stand sie vor ihm. Das gelbe, enge Kleid
verhüllte eigentlich gar nichts, Patrick sah im ersten Moment nur Kurven.
„Wow. Was für ein Kleid!“ Gelbe Seide, da waren rote Rosen doch genau richtig. „Die sind für
dich.“
Annika gab ihm einen Kuss über den Strauß hinweg mitten auf den Mund und raschelte gleich
neugierig das Papier auseinander. „Das sind ja unendlich viele Rosen!“ Ihre grünblauen Augen
blitzten wie Smaragde.
„Dreißig.“
„Du bist verrückt. Ich suche nur schnell eine passende Vase.“
Schon war sie in der Küche verschwunden. Im Wohnzimmer hinter der Couch lag ein
Wollplaid, das genauso Wellen schlug, als ob drunter ein Federbett mit Kissen läge. Patrick sah
ein Paar große Männerschuhe in der Ecke neben einem Stapel Modezeitschriften. Der blonde
Bruder eben war aber eher klein. Er scannte das Zimmer wie ein Cockpit vor dem Start, keine
Männersachen, weder Sportzeitschriften noch verlorene Socken. Dafür lag Nähzeug herum, eine
Boa aus Neonfedern und jede Menge Bildbände waren in zwei Regalen aufgereiht. „Alta Moda“,
„New York – back list“ …
Eine Hand schob sich unter seinen Arm. „Brauche ich alles überhaupt nicht für meinen Job.
Aber Design und Mode ist meine Leidenschaft. Nichts ist ja wirklich neu in der Mode. Manchmal
muss ich wissen, ob ein überlanges Revers nicht gerade vor zehn Jahren schon mal in war.“ Sie
schob sich unter seiner Beuge durch und lächelte ihn an. „Die Rosen duften wahnsinnig gut.“
„Nicht so gut wie du.“ Patrick küsste sie. Es stimmte wirklich. Ihr Duft war so würzig und so
erregend wie der Regen in der Karibik. Sie schmiegte sich in seine Arme. Er mochte gar nicht
aufhören sie zu küssen.
„Ich hab uns einen Tahiti gemixt. Gin, Cointreau, Champagner … Ich hoffe, du magst das?“ Sie
strich ihm leicht über den Unterarm.
„Ich mag alles, was du machst.“
Annika holte die Gläser aus der Küche. Er setzte sich aufs Sofa und machte den obersten
Hemdknopf auf. Ihm war jetzt schon heiß.
„Auf uns.“ Sie stießen an und tranken. Langsam zog Annika ihn an der Krawatte zu sich
herüber.
„Eigentlich müssen wir doch gar nicht essen gehen, oder?“, sagte Patrick. Der Edel-Sushi-
Laden, den Annika vorgeschlagen hatte, war rasend teuer. Er streckte die Beine, damit sie besser
neben ihm liegen konnte. Der Kuss bitzelte noch vom Champagner. „Vielleicht ganz einfach Call-
a-Pizza, was meinst du?“
„Vielleicht.“ Annika streifte ihm die Jacke von den Schultern, die auf den Boden glitt. Patrick
schickte seine Hände auf Kurs Südsüdost.
Erst vibrierte es in seiner Jackentasche, dann hörten sie es auch. Sein Handy klingelte. Oh nein,
nicht jetzt!
„Lass einfach klingeln“, flüsterte Annika.
„Ich muss checken, ob es HolidayJet ist, du weißt ja …“ Er streckte sich und fummelte das
Handy aus seiner Hosentasche. „Lister.“
„Überraschung, Patrick. Ich löse jetzt meinen Joker ein. Du musst in zwei Stunden für mich
nach Mallorca fliegen. Sorry, Kumpel.“ Jans dunkle Stimme klang wie der Wetterbericht, wenn
eine Regenperiode angekündigt wurde.
Patrick fühlte, wie seine Erregung zusammenfiel. „Äh … Okay.“ Er legte auf. „Ich muss für Jan
fliegen.“
Annika saß, die Arme neben sich, auf dem Sofa. Sie hatte mitgehört. „Jetzt, nachts?“
„HolidayJet hat dafür eine Sondergenehmigung. Es ist der unbeliebteste Flug überhaupt. Ich
habe es ihm versprochen, weil … du weißt ja.“ Er wollte sie küssen, sah aber noch, wie sie Tränen
wegblinzelte. Patrick strich ihr über die Wangen. „Ich habe mich selber reingeritten, und du musst
darunter leiden.“ Er fühlte sich wie ein ertappter Verräter. Dann ließ sie sich zu seiner
Erleichterung doch küssen.
Annika lächelte tapfer. „Machen wir das Beste daraus. Ich fliege einfach mit.“
Ehe Patrick etwas sagen konnte, schob sie ihn zur Seite und ging zu ihrem Schlafzimmer. Er
sah, wie sie einen Koffer unter dem Bett vorzog.
„Hast du ein bisschen Aufenthalt in Mallorca, dass wir im Meer schwimmen gehen können?
Was meinst du?“
„Die Crew ist im Hotel untergebracht. Nach dem Nachtflug haben wir sogar einen ganzen Tag
frei.“
„Umso besser. Es dauert nur fünf Minuten. Keine Sorge. Rufe schon mal ein Taxi.“
Sie überraschte ihn schon wieder. Patrick lachte, während er Annika beim Packen zusah.
Apropos Taxi … Patrick legte ihr den Hundert-Euro-Schein neben die Reisetasche und tippte die
Nummer ein.
In Schönefeld schüttelte Melanie am Check-in-Schalter den Kopf. „Sorry, ich kann nichts machen,
die Maschine ist sogar überbucht. Und zahlende Passagiere mit Reservierung gehen vor.“
Das durfte nicht wahr sein. Patrick warf Melanie einen bittenden Blick zu. „Und der B4?“
Melanie legte den Kopf schief. „Ist diesmal vom Headquarter belegt.“
Patrick ballte die Faust. Annika seufzte neben ihm. Sie hatten sich die ganze Taxifahrt zum
Flughafen leidenschaftlich geküsst, er hatte sie damit getröstet, dass sie schon bald … Warum
ging in letzter Zeit immer alles schief?
„Wisst ihr was? Das ist doch ganz einfach.“ Melanie checkte noch etwas im Computer, dann
sagte sie: „Nimm du doch einfach die 8-Uhr-Maschine morgen früh.“ Melanie drehte ihren
Wuschelkopf zu Annika und lächelte spitzbübisch. „Dann ist er auch ausgeschlafen, und ihr macht
euch morgen einen schönen Tag auf Mallorca.“
„Mach ich!“ Annika drückte Patricks Hand. „Und du reservierst uns in Palma das schönste
Zimmer, und wir bewegen uns den ganzen Tag nicht vor die Tür.“ Sie legte ihre Arme um seinen
Hals und flüsterte ihm ins Ohr: „Auf die paar Stunden kommt es jetzt auch nicht mehr an. Ich
werde schlafen wie ein Engel und von dir träumen.“
Ein langer Kuss ersparte ihm die Antwort, dass es ihm so leidtue, sie allein zurück in die
Wohnung zu schicken. Aus den Augenwinkeln sah er Jan aus dem Staff-Eingang kommen. Jan
grinste jetzt schon.
Patrick stellte Annika und Jan einander vor.
„Wir kennen uns ja schon ein wenig von dem Barcelona-Flug vor ein paar Wochen“, meinte Jan
etwas geistesabwesend, weil er den Blick nicht von Melanie nehmen konnte, die am Computer
etwas eingab.
„Damals hätte ich mir nicht im Traum vorstellen können, dass ich mal mit einem Piloten …“
Annika legte ihren Arm um Patricks Taille.
Jan drehte sich zu ihr. „Und ich hätte mir damals nicht vorstellen können, dass ich meine Liebe
auf der Arbeit finde.“
Melanie schaute nicht vom Computer auf, doch ein Lächeln in ihrem Gesicht verriet, dass sie
Jans Worte gehört hatte.
Jan reichte Patrick die Hand. „Du musst los, Kumpel. Tut mir wirklich leid. Aber schön, dass du
diesmal pünktlich bist.“ Er klopfte Patrick auf die Schulter.
Melanie räumte ein paar Papiere zusammen. „Hier. Ich habe dir die Bordkarte ausgestellt.
Damit kannst du morgen früh einfach durchgehen.“ Melanie reichte Annika die Karte über den
Schalter. Dann schaltete sie das Servicezeichen auf Off. „Dann ist ja alles geregelt. Wie du siehst,
bin ich auch pünktlich, Jan.“
Melanie schlüpfte einfach über das Kofferband nach vorn und hängte sich bei Jan ein. Die
beiden sahen sich an. Aus Melanies Gesicht verschwand die ganze Spannung eines langen
Arbeitstages, und Jan strahlte wie ein Junge, der den ersten Preis im Seifenkistenrennen gewonnen
hat.
Patrick sah erst Annika an und dann die beiden. Jan hatte sich endlich getraut. Und es stimmte
also doch, was ihm Kira einmal anvertraut hatte. Melanie mochte stille Typen viel mehr als die
ewig coolen Jungs, die Pilot werden wollten, weil sie es schick fanden.
„Na denn. Guten Flug. Und viel Spaß“, sagte Melanie. Jan nickte nur. Sie gingen durch die
Abfertigungshalle Richtung Ausgang und steckten die Köpfe zusammen.
Annika schaute den beiden nach. „Sie sind richtig süß. Eben noch so korrekt und professionell,
und jetzt verliebt wie Teenager.“ Sie deutete zum Staff-Ausgang. „Du musst los. Bis morgen am
Pool in Mallorca.“ Sie küsste ihn. Patrick war es schon fast wieder vollkommen egal, ob er zu spät
ins Cockpit kam …
Aber es half nichts, er musste den Flug machen. Jetzt war er der Kapitän. Die Mallorcaflüge waren
die anstrengendsten Flüge, was gar nichts mit dem Wetter, der Strecke oder dem Flughafen in
Palma zu tun hatte. Nein, es waren die Passagiere, die der Ansicht waren, schon der Ferienflieger
sei eine Außenstation von Ballermann 6. Intern wurde bei HolidayJet diskutiert, ob man auf den
Mallorcaflügen generell keinen Alkohol mehr ausschenken sollte. Das Management befürchtete
jedoch, dass die Reisenden zu anderen Airlines abwandern würden. Wenigstens war Patrick als
Pilot an Bord und musste sich nicht direkt mit den angetrunkenen Passagieren herumschlagen.
Zweimal hatte er per Durchsage des Kapitäns versucht, die randalierende Gruppe Jungs zur Ruhe
zu bringen. Der Erfolg war mäßig. Eine Viertelstunde später war es wieder losgegangen.
Doch nun saß er endlich im meerblau-sandgelben Shuttlebus, der das Flugpersonal von den
Maschinen zum Eingang des Staff-Bereichs im Hauptterminal brachte. Er hatte schon öfters im
Best Western direkt am Flughafen übernachtet, wenn er den letzten Flug nach Mallorca geflogen
war. Zwar war es ein typisch anonymes Flughafenhotel, dafür waren die Räume großzügig
geschnitten. Von den Zimmern im oberen Stockwerk hatte man einen herrlichen Blick zum Meer.
Die Angestellten am Empfang würden ihn sicher das von HolidayJet reservierte Einzelzimmer
gegen ein Doppelzimmer tauschen lassen. Den Aufpreis und notfalls ein Schmiergeld musste sein
Dispo eben noch hergeben. Aber inzwischen war bestimmt sein Gehalt eingegangen.
Er schaltete sein Handy an, auf dem sofort eine SMS von Annika ankam. Liebster Patrick,
Yamamoto kommt schon morgen früh, kann nicht weg. Du hast was gut bei mir! In Liebe, Annika .
Patrick merkte erst, dass er laut „Nein!“ gerufen hatte, als die Köpfe sämtlicher Kolleginnen und
Kollegen zu ihm herumschwenkten. Sein Co-Pilot Georg, ein junger Bayer, den es aus München
zu HolidayJet verschlagen hatte, warf ihm einen fragenden Blick zu.
„Sorry, Crew, keine Panik. Es ist was Privates“, sagte Patrick und ließ das Handy in der
Seitentasche seiner Uniform verschwinden. Er spürte an dem betretenen Schweigen, dass er
ziemlich wütend geklungen hatte, und noch beim Aussteigen fühlte er die Blicke der Kollegen im
Rücken.
Die Bar des Best Western war während der Sommermonate rund um die Uhr geöffnet, ein Service
für das Flugpersonal aller Airlines, die Mallorca im Sommer im Zwanzig-Minuten-Takt anflogen.
Patrick hatte sein Gepäck auf das Zimmer gebracht, sich nach einem traurigen Blick auf das
schmale Einzelbett schnell umgezogen, dann war er schnurstracks in die Bar marschiert. Auf die
Enttäuschung brauchte er jetzt einen Whisky.
Neben ihm am Tresen saß ein älterer Asiate mit glänzend schwarzem Haar, der mit einem edlen
Nadelstreifenanzug fast ein wenig fehl am Platz wirkte. Annika hätte Patrick sicher sagen können,
aus welchem Modehaus der Anzug kam – Armani, tippte er. Er trug privat lieber Jeans, mit
Anzügen kannte er sich nicht aus. Die anderen Touristen waren ausnahmslos mit Shorts und
Tanktops bekleidet. Vor ihm stand ebenfalls ein Whisky, und als Patrick seinen zweiten bestellte,
nickte der Asiate ihm leicht zu.
„Sieht so aus, dass Sie auch Pech beim Poker hatten“, fragte der Mann unvermittelt.
„Poker?“ Wäre Patrick nicht so elend zumute gewesen, dann hätte er loslachen müssen. „Nein“,
sagte er. „Schlimmer, ich habe Pech in der Liebe.“
„In meiner Jugend ist mir das auch mal passiert.“ Der Mann warf ihm ein halb ironisches
Lächeln zu. „Hat sie Sie sitzen lassen?“
„Nein.“ Patrick schüttelte den Kopf. Schließlich sagte er leise: „Wir lassen uns dauernd
gegenseitig sitzen. Mal muss ich ein Date absagen wegen des Jobs, dann sagt sie ab wegen ihres
Bruders oder auch wegen ihres Jobs. Wir wollten heute Nacht hier im Hotel zum ersten Mal …“
Patrick griff nach dem Glas und stürzte den Whisky hinunter. Er wusste nicht, warum er diesem
Fremden von seinem Liebesleid erzählte, und auch noch in solchen Worten, aber es tat gut, sich
den Frust von der Seele zu reden.
„Sie haben Zeit, junger Mann“, sagte der andere und legte ihm kurz die Hand auf die Schulter.
„Genießen Sie die Vorfreude. Das ist doch das schönste am Verliebtsein. Danach geht es immer
nur bergab, bis dann der Alltag die Liebe erstickt.“
„Uns wird das nicht passieren. Mit Annika …“, allein schon ihren Namen auszusprechen,
machte Patrick irgendwie hoffnungsvoll, „… mit Annika ist jeder Tag ein Abenteuer. Da gibt es
keinen Alltag. Sie arbeitet in der Modewelt. In Berlin. Eigentlich kommt sie aus Düsseldorf. Ihr
Bruder ist ein Chaot, sie aber gar nicht …“
Er erzählte dem Mann von Annika, ihrer Flugangst, ihren langen Beinen, wie sie sich getroffen
hatten. Wenn er über sie sprechen konnte, war es fast ein bisschen so, als wäre sie eben nur kurz
an den Pool gegangen.
Der Asiate hörte geduldig zu, der Barkeeper stellte Patrick noch einen Whisky hin und hörte
auch zu, während er die Gläser polierte. Irgendwann wurde Patrick klar, dass er ein Glas zu viel
getrunken hatte. Der Barkeeper schaute ihn fragend an.
„Noch einen“, sagte Patrick, obwohl er eigentlich ins Bett gehörte.
„Fühlen Sie sich jetzt besser?“ Der Mann im Nadelstreifenanzug blinzelte ihn aus schrägen
Augen an. „Sie sind sehr verliebt, junger Mann. Ich bin sicher, die junge Frau wird das erkennen.
Geduld ist das Tor zum Herzen, heißt es in meinem Land.“
Patrick nickte. „So etwas Ähnliches sagt man auch in Deutschland.“ Er kippte den letzten
Whisky hinunter. „Tut mir leid, ich rede nur über mich. Sie hatten Pech im Poker, sagen Sie?“
„Ah.“ Der Mann fuhr sich über das glänzende Haar. „Fortuna ist noch wankelmütiger als
Aphrodite.“ Dann schaute er Patrick mit einem seltsamen Blick an. „Haben Sie schon einmal
gespielt?“
Patrick, dessen Erfahrungen sich auf Roulette in der Spielbank Wiesbaden beschränkte, zuckte
mit den Schultern. „Manchmal mit Kollegen, in Casinos.“ Lächelnd fügte er hinzu: „Ich setze
immer auf Rot, das ist meine Farbe.“
„Aber nein, ich meine Poker“, sagte der Mann, und seine dunklen Augen blitzten mit einem
Mal. „Das Spiel der Könige und Ganoven. Ich habe gehört, in Berlin gibt es exklusive Poker-
Clubs, in denen mit sehr hohen Einsätzen gespielt wird.“ Wieder blickte er Patrick mit diesem
sonderbar fragenden Blick an.
„Nie gehört.“ Kurz überlegte Patrick, wie alt der Mann wohl sein mochte, doch die glatte Haut
und die gepflegten Hände waren alterslos. Fünfzig, vielleicht sechzig Jahre, schätzte Patrick. Er
bemerkte, dass das Glas des Asiaten leer war, und er winkte dem Barkeeper, er solle nachfüllen.
Der Mann im Nadelstreifenanzug bedankte sich mit einem feinen Lächeln, dann breitete er vor
Patrick die Geheimnisse der Pokerszene in Mallorca aus. Er erzählte von den Hinterzimmern in
den Nobel-Fincas, die Herren immer in Smoking, die Damen in den neusten Kreationen der
internationalen Modemacher. Millionen gingen dabei über die Tische, behauptete er. Auch der
Barkeeper trat wieder näher zu ihnen und hörte mit verschränkten Armen zu. Und schließlich
verriet der Asiate Patrick und dem Barkeeper noch eines seiner Geheimnisse.
„In Japan sagt man: Es ist besser, daran zu denken, wie man nicht verliert, als daran, wie man
gewinnt“, sagte er leise, sodass sich Patrick vorbeugen musste, um ihn zu verstehen. „Für einen
Pokerspieler heißt das, ein Bluff ist nicht immer nur ein Bluff.“ Nun lehnte sich auch der
Barkeeper über den Tresen. „Manchmal sollen Ihre Gegner auch denken, Sie hätten ein niedrigeres
Blatt als das, was Sie wirklich auf der Hand haben. Merken Sie sich das, junger Mann: Überlegen
Sie genau, wann Sie Ihr As ziehen.“ Er leerte seinen Whisky, dann stand er auf. Der Alkohol war
ihm nicht anzumerken, er stand gerade wie eine Eins. Er nickte Patrick ein letztes Mal aus den
dunklen Augen zu, bevor er durch die inzwischen menschenleere Bar zur Hotellobby ging.
„Und warum hatten Sie Pech?“, rief Patrick ihm nach.
Der Mann hielt an der Glastür inne und drehte sich um. „Ausnahmsweise zu spät ausgestiegen,
mein Junge“, sagte er mit einem Achselzucken, dann verschwand er Richtung Aufzug.
Eine hochgewachsene Blondine in lilafarbenen Shorts schaute dem Asiaten verwundert nach,
als sie die Bar betrat. Patrick starrte auf die makellosen, langen Beine, die kannte er doch.
„Jenny!“
„Patrick!“ Sie kam mit schwingenden Hüften auf ihn zu und setzte sich auf den Platz, wo eben
noch der alte Spieler gesessen hatte. „Für mich einen Gin Tonic, bitte“, warf sie dem Barkeeper
zu, der wortlos zum Shaker griff. „Was machst du denn hier? Jan fliegt doch den Mallorca-
Spätflug.“
Wie immer hatte Jenny den HolidayJet – Flugplan bestens im Kopf. Patrick erzählte ihr die
Neuigkeiten von Jan und Melanie. Sie würde es eh sofort in Berlin erfahren. Das HolidayJet –
Team war relativ überschaubar, und das Wer-mit-Wem ein Dauergesprächsthema.
„Da freue ich mich für die beiden“, sagte Jenny, aber es klang nicht ganz echt. In letzter Zeit
erschien sie ihm fast verbittert, ein Zug, der gar nicht zu der lebenslustigen Jenny passte, in die er
sich als Pilotenanfänger verliebt hatte. Patrick hatte munkeln hören, Jenny habe eine Affäre mit
einem verheirateten Lufthansa-Kapitän.
„Warum bist du noch hier? Du hattest doch den Frühflug?“ Manchmal kannte auch Patrick den
Flugplan, vor allem, wenn es um Jennys Flüge ging, obwohl man sie nur im Ausnahmefall
zusammen einteilte.
„Die Fluglotsen haben heute früh einen Spontanstreik durchgeführt. Unser Rückflug wurde
abgesagt.“ Sie blickte ihn an. „Du hast Glück, wenn du morgen von dieser Insel herunterkommst.“
Wahrscheinlich sah sie den Schreck in seinen Augen, denn sie lächelte wissend. Patrick wusste
nicht, wie er es aushalten sollte, noch einen weiteren Tag von Annika getrennt zu sein. Sie hatten
sich vage für morgen verabredet, je nachdem, wann Annika sich von ihrem japanischen Gast
würde loseisen können. Genauer wagte sie schon gar nicht mehr zu planen. Aber wenn er morgen
nicht nach Berlin zurückkam, nur, weil auf Mallorca wie immer in der Hochsaison die Fluglotsen
streikten, dann … Nun, dann würde er schwimmen, trampen, als blinder Passagier mit dem TGV
fahren, alles, wenn es ihn nur zu Annika brachte.
„Du bist verliebt“, konstatierte Jenny und nippte an dem Gin Tonic, den der Barkeeper ihr
hingestellt hatte. „Und zwar in diese Modetante. Wie hieß sie noch mal? Andrea, Angela?“ Sie
griff in die Erdnussschale auf dem Tresen. Normalerweise rührte sie solche Snacks nie an, weil sie
ihre Figur ruinierten.
„Annika heißt sie“, sagte Patrick und frage sich, ob Jenny Stress mit dem Lufthansa-Kapitän
hatte. Sie konnte doch nicht immer noch eifersüchtig auf jede neue Frau sein, die in sein Leben
trat.
„Ach genau, Annika. Wie das brave Mädel aus Pippi Langstrumpf.“
„Jenny, lass gut sein, okay?“ Patrick leerte den Whisky und schob das Glas dem Barkeeper zum
Auffüllen hin. Wie viele waren es jetzt? Drei? Oder doch schon vier? Im Spiegel hinter der Bar
konnte er Jenny beobachten, die ihr Haar richtete. Sie sah wirklich toll aus. Unter dem rosa
Tanktop zeichnete sich ihre beträchtliche Oberweite ab, und Patrick musste an ihre erste Zeit in
Frankfurt denken, die Nächte, in denen sie sich bis zum Morgengrauen geliebt hatten. Im Bett
hatte es zwischen ihnen nie Probleme gegeben.
Er riskierte einen weiteren Blick auf Jennys übergeschlagene Beine. Aber die Erinnerung an
Annikas Schenkel in dem knappen, karierten Schottenrock, der sich so verführerisch um ihre
Kurven legte, war einfach stärker. Erregung durchflutete ihn, und er stürzte den Whisky hinunter.
Warum war Annika nur so weit weg, während Jenny … hier bei ihm war?
„Hast du dein Gehalt eigentlich diesen Monat auch nicht bekommen?“, platzte Patrick heraus.
Etwas Besseres fiel ihm nicht ein, aber er musste sich auf andere Gedanken bringen. Und sein
leeres Konto war das beste Mittel, ihn aus dieser gefährlichen Stimmung zu reißen, in der ihm
alles passieren konnte. Wenn er nicht aufpasste, landete er am Ende mit Jenny im Bett. Sie legte
es darauf an, das sah er an der Art, wie sie vor ihm ihre Lippen nachzog. Er war ihre Marlene-
Dietrich-Nummer, und früher hatte er nie widerstehen können. Aber heute, das schwor Patrick
sich, würde Jenny ihn nicht herumkriegen.
„Mein Gehalt?“ Jenny ließ langsam den knallrosa Lippenstift sinken. „Ich glaube schon. Na, ich
weiß es nicht. Ich habe noch nicht nachgeschaut.“ Sie verstaute das Schminkzeug wieder in der
Handtasche. „Glaubst du, HolidayJet ist pleite?“
Patrick musste insgeheim grinsen. Wenn es ein Thema gab, das Jenny noch mehr interessierte
als Sex, dann war es Geld. Sie redeten noch eine Weile über die streikenden Fluglotsen, die
typischen Mallorcaflieger. Schließlich zahlte Patrick seine fünf Whiskys und auch Jennys Gin
Tonics, immerhin waren sie einmal verheiratet gewesen, und er war ein Gentleman.
Im engen Hotelaufzug standen sie dicht nebeneinander, und Patrick spürte Jennys Wärme. Es
war schon verdammt lang her, dass er mit einer Frau geschlafen hatte.
„Mein Zimmer ist diesmal im vierten Stock, da ist es schön ruhig“, sagte sie und rückte dabei
noch etwas näher zu ihm.
Patrick drückte die Vier, dann zögerte er. Sein Zimmer war im zweiten Stock. Die Ziffer vier
leuchtete, und Jenny legte sanft ihren Arm um seine Hüfte. Unwillkürlich stöhnte Patrick auf.
Doch all die Erregung, die sich in den letzten Tagen in ihm aufgestaut hatte, gehörte Annika. Er
wollte mit ihr lachen, mit ihr Berlin erkunden und mit ihr schlafen. Mit Annika. Vorsichtig wand
Patrick sich aus Jennys Umarmung und drückte entschlossen die Zwei. Die Ziffer leuchtete auf,
und Jenny ging wortlos auf Abstand.
„Gute Nacht“, sagte er.
„Träume schön.“
Als Patrick aus dem Aufzug trat, spürte er Jennys bedauernden Blick im Rücken. Doch ihm tat
es nicht leid.
Im Zimmer betrachtete er das schmale, weiß bezogene Einzelbett. Wäre Annika jetzt hier, dann
würden sie sich auf diesem Bett lieben, egal wie schmal es war.
6. KAPITEL
Kammerjäger Berthele trug einen dunkelblauen Kittel über der beigen Stoffhose, in der Rechten
hielt er einen leuchtendgelben Industrie-Sprayer, in der Linke eine Gasmaske, die Annika an die
Gasmaske ihres Urgroßvaters aus dem Ersten Weltkrieg erinnerte, die ihr Vater bei sich im
Schrank aufbewahrte.
„Funktioniert es?“, fragte Roxanne, die in der letzten Stunde nervös vor dem Sternthaler auf
und abgegangen war. Sie versuchte, durch die angelehnte Tür einen Blick in ihren Laden zu
erhaschen. Mit einem Ächzen ließ Herr Berthele den Sprayer auf die Ladefläche seines
Kleintransporters fallen, der von einem Laien ohne eine Firmenaufschrift grün umgespritzt
worden war. Vorne am Kühler deuteten böse Kratzer im Lack auf einem Unfall hin.
„Wann können wir wieder rein?“
„Na, heut wird das nichts mehr.“ Der Kammerjäger wickelte mit einer Seelenruhe das dicke
Verlängerungskabel auf eine farbverkleckste Trommel. „Jetzt ist erst mal die Chemie dran.“
„Aber übermorgen Nachmittag ist der Laden doch wieder begehbar?“ Annika merkte, dass auch
ihre Stimme inzwischen eine leicht panische Tonlage erreicht hatte. Sie hatte Mr. Yamamoto mit
Müh und Not begreiflich machen können, dass es eine Abweichung vom vorab gemailten
Besuchsprogramm gab und sich ihr Besuch bei Sternthaler um einen Tag verschob. Der Japaner
war zwar auch einfach so einen Tag zu früh angereist, trotzdem bestand Yamamoto darauf, dass
seine Termine akkurat eingehalten wurden. Annika könnte sich ohrfeigen dafür, dass sie nicht das
kleine Wörtchen tentative, vorläufig, über das Programm geschrieben hatte. Herr Yamamoto war
ein Korinthenkacker vor dem Herrn und hielt sich strikt an den gemailten Ablauf. Nachher im
Büro musste sie ihm unbedingt eine aktualisierte Version ausdrucken. Denn natürlich hatte auch
die Frau von Joop das Gespräch gleich um zwei Stunden verschieben lassen. Offensichtlich tickten
die Uhren in Berlin anders als in Tokio.
Kammerjäger Berthele zog, nachdem er die hinteren Türen des Kleintransporters geschlossen
hatte, einen zerknautschten Beutel Tabak aus der Brusttasche seines Kittels und drehte sich eine
Zigarette. Annika und Roxanne schauten sehnsüchtig auf die Selbstgedrehte. Natürlich hatten sie
beide schon seit Jahren keine Zigarette mehr geraucht, das waren Jugendsünden, doch es gab
Situationen, die schrien förmlich nach Nikotin.
„Übermorgen also?“, wiederholte Annika.
„Horror, ich muss spätestens morgen wieder in den Laden“, meinte Roxanne. „Wir müssen ja
aufräumen. Du hast nicht gesehen, wie der da drin gewütet hat.“ Sie deutete mit dem Kinn auf den
Kammerjäger.
„Wie giftig ist das Zeug eigentlich?“, fragte Annika, die plötzlich Visionen eines Mr.
Yamamoto mit Allergieschock in der Notaufnahme der Charité hatte.
„Was heißt schon giftig?“ Berthele schnippte mit einer raschen Handbewegung die Asche von
seiner Zigarette auf das Pflaster. Damit kletterte er in seinen Transporter, bei dem das Fenster
noch von Hand heruntergekurbelt werden musste. Er startete, und über dem dröhnenden
Motorengeräusch rief er Roxanne und Annika zu: „In vierundzwanzig Stunden können Sie rein.
Aber lassen Se keine Kleinkinder und keine Schwangeren in den Laden. Die Rechnung schick ich
Ihnen.“ Der Kleintransporter zockelte los und verschwand vorne in der Schönhauser. Nur die
Abgaswolke und der geschlossene Laden verrieten, dass Kammerjäger Berthele sie jemals
heimgesucht hatte.
„Hätte er nicht so eine Art Warnschild an die Tür machen sollen?“, fragte Roxanne, die
vorsichtig die Tür einen Spalt aufschob.
„Seine Methoden sind nicht ganz legal, helfen aber.“ Annika blickte über die Schulter ihrer
Freundin ins Innere von Sternthaler.
„Nein, das sieht ja furchtbar aus. Annika, siehst du die Jacken aus der Blessed-Kollektion? Er
hat sie total mit diesem Zeug eingesprüht.“
„Klar, genau darin stecken die Berlinkäfer.“
Roxanne zuckte zusammen. Auf das Wort „Käfer“ reagierte sie neuerdings allergisch. Dann
kroch ein irgendwie fauliger Geruch in Annikas Nase.
„Das Zeug riecht ja krass.“ Roxanne hielt sich die Hand vors Gesicht.
„Der Gestank verfliegt hoffentlich bis morgen.“
Roxanne schloss gewissenhaft den Laden ab, sogar das Sicherheitsschloss oben an der Tür, das
sie sonst immer offen ließ. Dann klebte sie mit Tesastreifen einen Zettel an das Schaufenster.
„Wegen Umbauten geschlossen“ stand darauf.
Was für ein Tag! Annika schleppte sich die Treppe zu ihrer Wohnung hoch. Zuerst gestern Abend
der Schock, dass Mr. Yamamoto mit der Sieben-Uhr-Maschine morgens in Tegel ankommen
würde und sie nicht zu Patrick fliegen konnte. Trotzdem war Yamamoto doch erst gegen Mittag
eingetroffen, angeblich war er irgendwo festgesessen. Annika war mit dem Japaner den ganzen
Nachmittag kreuz und quer durch Mitte, durch den Prenzlauer Berg und schließlich sogar bis
hinaus nach Pankow marschiert. Annika schätzte Mr. Yamamoto auf Mitte sechzig, aber er war
erstaunlich fit für sein Alter. Zudem liebte er es, zu Fuß zu gehen. Auf eine S-Bahnfahrt zurück
hatte er sich gerade noch eingelassen, doch er weigerte sich, auch nur einen Schritt in die U-Bahn
zu machen. Annika konnte ihm nicht böse sein. Der Mann hatte eine U-Bahn-Phobie.
Sie hatte es Patrick nicht gesagt, aber vor dem Flug nach Mallorca hatte ihr gegraut. Sie wäre
geflogen, für ihn, um endlich mit ihm zusammen zu sein. Aber die Liebe machte ihre Flugangst
nicht weniger schlimm. Zumal Flüge nach Mallorca logischerweise übers Meer führten. Während
sie mit Patrick zum Flughafen gefahren war, hatte sie Horrorvisionen von Abstürzen ins Wasser
gehabt. Patrick hatte sie das natürlich nicht merken lassen, und auch nicht Melanie. Sie und Jan
waren wirklich ein tolles Paar, er ganz schüchtern, sie so lebhaft und kommunikativ. Annika
seufzte. Die beiden arbeiteten bei der gleichen Fluggesellschaft und sahen sich von Berufs wegen
immer wieder. Kein Wunder, dass sie und Patrick dagegen einfach nicht zusammenkamen – ihre
Leben waren einfach zu unterschiedlich.
Annika seufzte, als sie an dem getöpferten Klingelschild ihrer Nachbarin vorbeikam. Aber das
war doch die Liebe, Gegensätze, die sich anzogen. Was sollte sie mit einem Freund aus der
Modebranche? Zum einen gab es da kaum heterosexuelle Männer, und zum anderen wollte sie ja
nicht noch in ihrem Privatleben nur über Modetrends, Vertrieb und Personalentscheidungen reden.
Trotzdem hätte sie fast losgeheult, als am Mittag Patricks SMS gekommen war, dass er wegen
eines Fluglotsenstreiks erst morgen wieder von Mallorca wegkam. Es war wie verhext.
Vielleicht war es aber auch ein Wink des Schicksals. Sie würde mit Roxanne erst mal
Sternthaler wieder auf Hochglanz bringen und dann, am Abend, wenn sie Yamamoto im Hotel
abgeliefert hatte, hatten sie und Patrick endlich Zeit füreinander.
Von oben waren leise Stimmen zu hören. Das klang nicht nach ihrem Nachbar, der sich
manchmal noch lange im Treppenhaus von seinem Freund verabschiedete. Nein, es klang eher …
wie ihr Vater! Annika stürzte das letzte Stockwerk hoch. Tatsächlich!
„Was macht ihr denn hier?“
Wie zwei im Dschungel der Großstadt Gestrandete saßen ihre Eltern nebeneinander auf dem
Treppenabsatz, der hoch zum Dach führte. Ihre Mutter trug ihr neues blassgrünes Chanel-Kostüm,
und ihr Vater seinen teuren Anzug von Boss mit dem weißen Seidenschal, den er sonst für
festliche Anlässe anlegte. Ganz bestimmt hatten sie sich nicht so in Schale geworfen, um vor ihrer
Wohnung herumzusitzen.
Annika blickte von einem zu anderen. „Was ist passiert?“
„Wir wollten deinen Bruder sehen“, sagte ihr Vater und erhob sich.
„Und für heute Abend haben wir Karten in der Staatsoper“, ergänzte ihre Mutter. „Das gehört
alles zu dem Hauptstadt-Sparpaket der Deutschen Bahn.“
„Simon ist wahrscheinlich gar nicht da“, sagte Annika. Sie schloss die Tür auf und hoffte, dass
Simon sich wirklich verdrückt hatte. Sie hatte ihn vorhin angerufen und sich drei Stunden Ruhe
erbeten, bevor er zum Schlafen in ihre Wohnung kam. Simons Habseligkeiten standen natürlich
noch in ihrem Gästezimmer, wo er den riesigen Flachbildschirm aufgebaut hatte.
„Kommt doch rein“, rief sie ihren Eltern zu, die seltsam unentschlossen immer noch vor der
Tür standen. Ihre Eltern kannten die Wohnung doch.
„Mädchen, Annika“, begann ihr Vater.
„Wir sind zu dritt“, sagte ihre Mutter und hob die Katzenreisetasche auf, die hinter ihnen auf
der Treppe gestanden hatte. Jetzt bemerkte Annika, dass neben ihrem Vater ein Sack mit
Katzenstreu und eine dieser viereckigen Plastikschalen stand, die in fast jedem Haushalt als
Katzenklo herhalten mussten.
Sie trat erst mal zwei Schritte zurück. Dann miaute es laut und herzzerreißend aus der
Reisetasche. „Ihr habt Mizi dabei!“
„Sie muss doch versorgt werden.“ Ihre Mutter war der praktisch veranlagte Teil ihrer Eltern.
„Frau Tomaczek gießt die Blumen und kümmert sich um die Post, aber sie setzt sich doch nicht
hin und passt auf, dass Mizi auch frisst. Wir mussten sie mitnehmen.“
„Im Hotel erlauben sie keine Haustiere“, erklärte ihr Vater.
„Und da … und da …“ Annika brachte den Satz nicht zu Ende. Offenbar ging ihre gesamte
Familie davon aus, dass man alles, für das man gerade keinen anderen Ort fand, in ihrer Wohnung
abladen konnte. „Kommt nicht in Frage.“ Nein, dieses Mal würde sie hart bleiben. „Bringt sie in
eine Katzenpension. Oder ins Tierheim. Bei mir bleibt Mizi auf keinen Fall.“ Annika blickte ihre
Mutter bittend an. „Ihr könnt euch ja nicht vorstellen, was gerade hier los ist. Ich bin den ganzen
Tag unterwegs. Abends komm ich nie vor Mitternacht nach Hause.“
„Du willst Mizi ins Tierheim abschieben?“ Die Stimme ihrer Mutter hatte den hohen, empörten
Tonfall, mit dem sie sonst nur mit ihrem Bruder redete, wenn er wieder mal ein Projekt in den
Sand gesetzt hatte. Doch jetzt war es Annika, die das Falsche gesagt hatte. Und wie auf Stichwort
miaute Mizi wieder los und krallte sich gegen das Gitter des Reisekorbes.
„Sie will raus“, meinte Annika tonlos. Schon wieder verloren. Wie kam es nur, dass sie nie
durchsetzte, was sie wollte? Vielleicht gab es dafür auch Seminare, wie gegen die Flugangst.
Stirnrunzeld schaute sie zu, wie ihre Eltern Mizis Futter- und Wassernäpfe in ihrer Küche
aufstellten, und konnte gerade noch verhindern, dass das Katzenklo ins Bad gestellt wurde. „In den
Flur“, sagte sie und beachtete den enttäuschten Blick ihrer Mutter nicht. Soweit kam es noch, dass
ihr morgens die Zahnbürste ins Katzenklo fiel.
Erst jetzt wurde Mizi befreit. Die kleine schwarzweiß getigerte Katze verkroch sich sofort unter
Annikas Couch. Nach langem Hin und Her und genauen Anweisungen, mit welchen Leckerlis Mizi
zu füttern war, damit sie überhaupt etwas fraß, rauschten ihre Eltern endlich ab in die Oper.
Vielleicht schafften sie es ja noch zum dritten Akt.
Annika ließ sich total fertig aufs Sofa fallen. Unter ihr fauchte es. Mizi preschte hervor, direkt
zum Futternapf im Flur. Annika rieb sich die Augen. Das Tier machte sich über die Näpfe her, als
hätte sie seit Wochen nichts zu Fressen bekommen. Von wegen kranke Katze.
Mit den papierverhangenen Schaufenstern und dem „Wegen-Umbauten-geschlossen“-Zettel in der
Tür sah es so aus, als sei der Laden eigentlich geschlossen. Aber Annika wollte sich mit ihm in
einem Modeladen in der Mulackstraße treffen, und Patrick hatte Sternthaler gleich am Anfang der
Straße entdeckt. Er klopfte zögerlich, und es wurde ihm sofort geöffnet.
Drinnen zog er gleich den Kopf ein, er fürchtete schon, dass der Stapel blaue Hutschachteln
vom Regal auf ihn herabstürzen würde. Er hielt sich seitlich an den Fenstern vor zwei nackten
Schaufensterpuppen, die nur noch grüne Miniröcke trugen.
„Dort ist es ganz schlecht!“ Ein lila gepunkteter schwarzer Schleier wedelte durch die Luft. „Ich
muss da ran.“ Roxanne rauschte mit einem Berg Kleider über den Armen an ihm vorbei. „Dieser
Gestank ist un-er-träglich.“
Patrick roch es auch. Moment mal, war da nicht eine Katze? Hinter den zugeklebten
Schaufensterscheiben war unter einer grünen Kappe ein weißer Katzenschwanz zu erkennen, der
hektisch auf und ab wedelte. Annika hielt ein Handy an ihr Ohr und steckte mit der freien Hand
neongelbe Pins auf einem Terminplaner an der Wand um. Sie hatte ihn noch nicht gesehen.
„Das ist völlig unmöglich. Die Models müssen einen Tag früher zur Anprobe … Wie …?“
Annika drehte sich zum Schreibtisch herum und zog ein Papier aus dem Stapel, den sie mit dem
Ellenbogen festhielt. „Nein, nicht schon wieder dieses Make-up-Team vom Theater, diese
Anfänger …“
Ihr Rücken beschrieb einen sexy Bogen in dem orangenen Kleid. Ihre braungebrannten Beine
steckten in weißen Römersandalen, die bis zum Knie hochgeschnürt waren. Annika stieg gerade
auf die Trittleiter vor einem Regal mit Accessoires. Ihre Zehennägel glänzten in Diamantfarbe.
Patrick unterdrückte den Impuls, jetzt einfach vor ihr hinzuknien und ihre Füße zu küssen.
„Patrick!“ Ihre Augen leuchteten vor Freude. Sie hielt das Handy einen Moment auf ihren
flachen Bauch. „Ich mach gleich Pause“, flüsterte sie und winkte ihn heran.
Er trat um einen Stapel Modezeitschriften und einen offenen Koffer, der aussah, als sei er aus
dem neunzehnten Jahrhundert. Schwere Holzbügel und Lederriemen hielten ihn zusammen.
Annika zog Patrick an sich heran.
„Zweihundertfünfzig Euro habe ich gesagt …“ Sie küsste ihn aufs Ohr. „Zweihundertfünfzig
und keinen Euro mehr …“ Sie küsste ihn auf die Nasenspitze. „Definitiv keinen Euro mehr. Wie?
… Okay.“ Sie klappte das Handy zusammen. „Na, bitte. Geht doch.“ Ihr warmer Körper schmiegte
sich an ihn. Er sog ihren Duft ein, da war etwas. „Du vibrierst ja richtig.“
Annika blinzelte. „Das ist in deinen Armen kein Wunder.“ Sie machte sich frei und ließ sich auf
den Stuhl hinter dem Tresen fallen. „Hier ist die Hölle los. Ich muss noch vier Studenten
einweisen, damit die Kollektion gelüftet wird.“
Patrick hob die Augenbrauen. „Wieso stinkt es hier eigentlich so?“
„Der Kammerjäger war da, und dann ist da noch …“ Das Handy klingelte. „Ich erzähle es dir
später. – Sternthaler.“ Annika kritzelte mit ihrer gut lesbaren Schrift Notizen auf einen Block.
„Dort ist es ganz schlecht!“ Roxanne fuchtelte von der Tür her. „Du stehst direkt auf einem
Präsentationsstück.“
Patrick starrte auf den Boden. Eine braune Baumwollstoffbahn schlängelte sich um den
Verkaufstresen herum. Er trat zur Seite und wäre dabei fast über die Katze gestolpert, die ihr
Versteck im Fenster verlassen hatte und sich nun einer halbvoll mit Katzenfutter gefüllten
Plastikschüssel näherte, die unter dem Tresen stand.
Roxanne zog von der Tür her an der Baumwollbahn. „Das ist im Schaufenster der Wüstensand.“
Aha. Patrick wich zum Kleiderständer mit den bunten Blusen aus. In diesem Moment sprang die
Katze auf den braunen Stoff. Roxanne schüttelte den Kopf. „Und das, das ist Mizi.“
Aha, Mizi also. Patrick versuchte, zur Tür zu gelangen, ohne auf die Baumwollbahn oder die
Katze zu treten, die nun offenbar die herabhängenden Fransen eines Schals mit einem
Mauseschwanz verwechselte. In diesem Moment hielt Annika ihn mit einer Hand zurück. „Habe
ich notiert. Natürlich, Signore Franelli. Ciao.“ Sie sprang auf. „Patrick, ich muss, muss, muss
heute fertig werden.“
Es klingelte schon wieder. Sie hangelte sich nach dem Telefon und streckte den langen Rücken
über einen Haufen Halsschals. Annikas linkes Bein schwebte in der Luft. „Schon aufgelegt.
Patrick, rette mich.“ Sie verdrehte die Augen.
Er umfing sie am Rücken und zog sie zu sich. Einen Moment ruhten ihre Hände auf den seinen.
Sie seufzte. „Ich möchte so gern mit dir in weißem Sand unter Palmen liegen. Vielleicht können
wir zusammen wegfahren? In die Karibik, da wollte ich schon als kleines Mädchen hin. Antigua
soll so schön sein, so romantisch.“ Kurz schloss sie die Augen und schmiegte sich an ihn. Dann
sagte sie leise: „Oder lass uns mit dem Nachtzug nach Nizza fahren, das wäre toll.“
„Schlafwagentickets sind ziemlich teuer. Ich habe etliche Flugmeilen auf meinem Bonus-
Mitarbeiterkonto. Die reichen für zwei Erster-Klasse-Tickets.“ Und belasteten sein Konto nicht.
„Die Palmen sind in der Karibik nicht zu übertreffen. Und Antigua ist wirklich wunderschön, ich
habe einmal einen Pausen-Tag am Strand verbracht und Kokosnüsse geknackt.“
„Da muss ich aber über den Ozean fliegen, du weißt doch …“
„Wenn ich bei dir bin, braucht du keine Angst mehr vorm Fliegen zu haben.“ Annika schaute
einen Moment zum Boden, dann lächelte sie ihn tapfer an. „Den Versuch mache ich gern. Ich
fühle mich schon in deinen Armen sehr sicher.“
Es klingelte. Sie entwand sich und drückte auf eine Taste der Telefonanlage, nachdem sie ihn
flüchtig auf den Mund geküsst hatte. „Gleich kommen die Studenten, die hier alles zum Lüften in
den Waschsalon bringen.“
Ging das überhaupt? Waschbenzin kannte er ja, aber wer wusste schon, was es in dieser Branche
noch an Tricks gab? „Ich gehe dann mal lieber.“ Er wollte sie küssen, schaffe es aber nur bis zu
ihrem Ohr.
Sie nahm eine braune Kladde von einem Kleiderstapel und blätterte sie auf. „Ich rufe dich an.“
Patrick sah sich an der Tür noch einmal um. Mizi, die Katze, lag auf der braunen Baumwolle
und ließ sich von Roxanne den Bauch streicheln. Annika blickte auf und fing seinen Blick auf. Die
steile Falte auf ihrer Stirn verschwand sofort. „Bis später, Patrick. Buche uns was Schönes,
Antigua soll ja toll sein.“ Sie blinzelte ihm verschwörerisch zu. „Aber vielleicht doch eher Palmen
am Mittelmeer. Sonst muss ich ja über den Atlantik fliegen.“
„HolidayJet fliegt aber gar nicht nach Nizza.“
Annika tippte schon wieder eine Nummer in ihr Handy und hörte ihn nicht.
„Hier ist es ganz schlecht!“ Roxanne schob ihn mit beiden Händen aus der Tür von Sternthaler,
wobei sie mit dem Fuß Mizi davon abhielt, auf die Straße zu entwischen.
Patrick starrte auf den Monitor, während er überlegte, welche der mit HolidayJet assoziierten
Airlines wohl Nizza anflog. Normalerweise gab es immer billige Stand-by-Tickets für das
Personal der befreundeten Airlines. Doch mit dem Nachtzug nach Südfrankreich – das ging nicht.
Für ein reguläres Bahnticket hatte er einfach nicht die Kohle, auch wenn er Annika diesen Wunsch
zu gerne erfüllen wollte. Und wenn er noch zehnmal hin- und herrechnete, eine Woche Urlaub für
zwei überzog seinen Dispolimit, selbst wenn er alle Sonderangebote der Bahn nutzte und das Geld
für das Hotel auf seine zwei Kreditkartenkonten verteilte. Patrick klickte die Homepage seiner
Bank auf dem Computerschirm weg.
„Probleme?“ Jan lehnte in einer legeren Freizeithose und einem Rio-de-Janeiro-T-Shirt in der
Tür. Sie hatten ausnahmsweise mal zur gleichen Zeit dienstfrei.
„Wenigstens weiß ich jetzt, warum Annika so gern nach Nizza will“, sagte Patrick resigniert.
„Dort gibt es keinen Ballermann. Ob ich ihr vorschlage, dass wir doch nach Antigua fliegen? Es
klang so, als sei die Karibik ein alter Traum von ihr.“ Und irgendwann musste Annika ihre
Flugangst mit seiner Hilfe überwinden. Je früher desto besser.
„Es ist die Trauminsel schlechthin“, sagte Jan.
„Du warst schon mal dort?“, fragte Patrick überrascht.
„Ich nicht, aber Melanie ist mal Langstrecke dorthin geflogen, als sie noch bei der Deutschen
BA war.“ Jan fuhr über den Zuckerhut auf dem Rio-Shirt. „Ich habe ihr von euren Urlaubsplänen
erzählt.“
„Das klingt ja so, als ob du unsere coole Check-in-Frau jetzt häufiger triffst.“ Patrick wusste
genau, dass die beiden fest zusammen waren, aber er wollte Jan zum Reden bringen.
Sein Freund streckte die langen Arme hoch zum Türrahmen. „Yepp!“ Dann lächelte er
verschmitzt. „Melanie ist genial. Sie lässt beim nächsten Sushi-Laden ein ganzes Menü kommen,
dann brauchen wir gar nicht richtig aufzustehen. Sie ist so wunderbar unkompliziert.“ Jan hielt
inne, bevor er leiser fortfuhr: „Und sie will nicht dauernd nur mit mir reden. Sie ist wirklich
einfach gerne mit mir zusammen.“
Patrick hatte genau gehört, wie weich Jans Stimme bei den letzten Worten geworden war.
Melanie war gut für Jan, das spürte er.
Jan räusperte sich. „Na ja, wurde doch auch mal Zeit. Melanie findet auch, dass es mit uns super
läuft. Sie hat mich gefragt …“ Es gelang ihm nicht ganz, sein Honigkuchenpferd-Grinsen zu
verbergen. „Ich werde nächstes Wochenende bei ihr einziehen.“
„Ihr geht aber ran. Gratuliere.“ Patrick hob den Daumen. Wie gut, dass Jan endlich in feste
Hände gekommen war. Er war so schüchtern, dass er gar nicht merkte, wie viele Frauen ihn
interessant fanden, und so war er in den letzten Jahren bis auf die Affäre mit der Kinderärztin fast
immer solo gewesen. Aber das Single-Dasein war nichts für einen Mann wie Jan.
„Ich bin mir sicher, dass es das Richtige ist. Nägel mit Köpfen machen, das sagt Melanie auch.“
„Melanie ist das Risiko Wert. Die Jungs im fliegenden Personal waren alle scharf auf sie.“
„Außer dir.“ Jan kniff ein Auge zu.
„Kein Grund zur Eifersucht. Mein Leben dreht sich um Annika wie die bunten Kreise da.“
Patrick deutete mit dem Daumen auf den Bildschirm des Laptops. „Auch wenn ich den Flug mit
meinen Bonusmeilen bezahle, die Hotels auf Antigua haben gesalzene Preise. Könntest du mir
vielleicht noch mal was ausleihen? Ist das letzte Mal, versprochen?“
Jan verzog das Gesicht wie beim Zahnarzt. „Du bist mein bester Freund, ehrlich. Aber ich habe
auch kein Geld mehr übrig. Ich will für Melanie etwas besonders Glitzerndes kaufen.“ Er strahlte.
„Das ist wirklich toll, Jan.“ Und obwohl Patrick Jan sein Glück von Herzen gönnte, spürte
Patrick einen Druck in der Magengegend. Der Mietvertrag für die Wohnung lief auf Jan. Allein
konnte Patrick die Miete für die drei Zimmer nicht bezahlen, und mit einem anderen Typen
zusammenzuwohnen, das wollte er sich erst gar nicht vorstellen.
Jan schien zu merken, dass sein plötzlicher Auszug für Patrick nicht ganz einfach war. „Ich
spiele gerne weiter den Hauptmieter, wenn du hier wohnen bleiben willst“, sagte er.
„So weit habe ich gar nicht gedacht.“
„Ich ziehe nächsten Samstag um.“ Jan deutete auf den Schreibtisch und das Regal. „Die Anlage
nehme ich dann allerdings auch mit.“
„Ja, natürlich.“ Patrick versuchte zu lächeln. „Dann mache ich mit Annika eben einen billigeren
Urlaub. Vielleicht einfach ein Wochenende in Paris.“ Er zuckte mit den Schultern. Fast körperlich
tat es ihm weh, dass er Annika so enttäuschen musste.
Jan wiegte den Kopf. „Oder du musst ein bisschen Risiko eingehen. Mach aus hundert Euro
zehntausend.“
„Wie soll das denn gehen?“
„Du bist doch der Stratege von uns beiden und kannst schnell kombinieren. Moment!“ Jan
verschwand kurz in seinem Zimmer und kam mit einer Visitenkarte zurück. „Hat mir ein
Passagier in der ersten Klasse zugesteckt. Soll einer der angesagtesten Poker-Clubs in Berlin
sein.“
Poker. Patrick fiel der asiatische Gentleman ein, mit dem er in der Hotelbar auf Mallorca
gesprochen hatte. Er schielte auf das Papier, auf das ein As gedruckt war und eine Adresse im
Osten von Berlin.
Jan klopfte mit zwei Fingern auf den Tisch. „Melanie erwartet mich. Schau dir den Club doch
einfach mal an.“ Dann war er draußen.
No limits beim Einsatz. Formelle Kleidung. Patricks Blick fiel auf den Schrank, der eigentlich
Jan gehörte. Zumindest besaß er einen eigenen Smoking. Er streifte sich die Klamotten vom Leib
und suchte nach diesem weißen Hemd mit dem Stehkragen.
Was hatte der asiatische Gentleman auf Mallorca gesagt? Man muss wissen, wann man sein As
zieht.
7. KAPITEL
Etwas Besonderes hatte Mr. Yamamoto verlangt, etwas Extravagantes, das nicht jeder Japaner in
Berlin zu sehen bekam. Etwas, das mit dem innovativen Spirit der Stadt verbunden war. Annika
ging nach dem geflügelten Wort des amtierenden Bürgermeisters vor: Berlin war arm, aber sexy.
Sie hatte Phil eingespannt, um die Vorlieben des Gastes herauszufinden. Phil holte Yamamoto
vom Hotel ab, und nach einem halbstündigen Spaziergang vom Gendarmenmarkt zur Torstraße
setzte er den Japaner bei Roberta ab. Stockhetero, lautete sein Urteil. Doch auch subtil formulierte
Anfragen, ob Mr. Yamamoto denn eine besondere Begleiterin für die abendlichen Stunden
wünsche, fruchteten nichts.
Schließlich wurde es dem Gast zu dumm. „Es wird doch nicht so schwierig sein, mir etwas zu
zeigen, woher die jungen Modemacher ihre Inspiration beziehen. Sie sind doch Insider! Und,
meine Damen“, er schaute von Annika zu Roberta, die das gediegene Dinner mit dem Gast schon
hinter sich gebracht hatte, „für weibliche Begleitung musste ich noch nie bezahlen.“ Er lehnte sich
in dem Sessel in Robertas Büro zurück und tippte ungeduldig auf die Lehne. „Aber Sex ist nicht
das Geheimnis dieser Stadt. Da sind Ihnen Paris und Warschau weit voraus.“ Er starrte an die
Decke. „Es muss an der explosiven Mischung liegen, wenn Alt und Neu, Ost und West, Tradition
und Moderne aufeinandertreffen“, murmelte er, wobei er die Seiten eines Modekatalogs mit
schnellen Fingern durchblätterte. Ein wenig sah es aus, als würde er mit dem Katalog Daumenkino
spielen. Oder … ein Kartenspiel mischen.
Und da hatte Annika eine Idee.
Als Erstes eiste sie Roxanne von Sternthaler los – die Studenten kriegten das Putzen schon alleine
hin, und die Kleider waren eh noch beim Auslüften. Sie würden Mr. Yamamoto in einen der neuen
Poker-Clubs in Berlin-Mitte schleppen. Annika hatte sich das Bohème Sauvage ausgeguckt, in das
man nur in formeller Kleidung aus den Zwanziger Jahren zur Pokerrunde vorgelassen wurde.
Mr. Yamamoto war begeistert – die wilden Zwanziger, die Zeit von Metropolis – und der Frack
samt passendem Zylinder, den Roberta organisierte, standen ihm ausgezeichnet. Als er erfuhr,
dass im Bohème Sauvage nicht um echtes Geld gespielt wurde, sank seine Begeisterung jedoch
rapide. „Warum pokern, wenn man nichts riskieren will?“, sagte er verdrießlich, und im Grunde
ihres Herzens musste Annika ihm Recht geben. Mit dem Glücksspiel war es wie mit der Liebe:
Wer nicht alles auf eine Karte setzte, der würde nie auf Wolken gehen und Sterne in den Augen
des Geliebten sehen.
Allmählich verstand sie, nach was Mr. Yamamoto in Berlin suchte. Am liebsten hätte sie ihm
eine große Liebe organisiert, aber die konnte man eben weder durch Geld noch durch Connections
bekommen.
Doch sie hatte ja eine Super-Connection, wenn es um Illegales ging, ihren Bruder Simon
nämlich. Seit ihre Eltern in Berlin eingefallen waren, hatte er sich nicht mehr in ihrer Wohnung
blicken lassen. Simon hatte einen sechsten Sinn dafür, unangenehmen Konfrontationen aus dem
Weg zu gehen. Doch wenn er nicht bei ihr wohnte und auch nicht in einem Hotel war, dann konnte
er nur bei seiner Exfreundin Charlie Unterschlupf gefunden haben. Glücklicherweise hatte Annika
noch ihre Nummer. Charlie klang so, als wolle sie Simon am liebsten gestern als heute
hinauswerfen, aber endlich konnte Annika ihn um Rat fragen.
„Warum nicht eines der Spielcasinos?“, fragte Simon, der sofort verstand, was Annika wollte.
„Zu normal, zu spießig.“
„Stimmt.“ Er überlegte kurz. „Dann kommt eigentlich nur Rummelsburg in Frage.“
Annika kapierte nichts. „Das Accessoire-Label?“
„Was? Nee, der Poker-Club in Rummelsburg. Da treffen sich die Profi-Spieler in einer alten
Fabrikanlage beim Kraftwerk Klingenberg.“
Das war genau das Richtige. Mit der Adresse, einem Kontaktnamen und der Aufforderung,
mindestens tausend Euro mitzunehmen, damit Mr. Yamamoto überhaupt an einem Tisch
zugelassen wurde, beendete Simon das Gespräch. Er schob eilige Geschäfte vor, doch Annika
vermutete, dass er nicht mit ihr über die Eltern sprechen wollte, die nur seinetwegen nach Berlin
gekommen waren. Aber sie hatte erreicht, was sie wollte. Auf nach Rummelsburg!
Wenig später schritt Mr. Yamamoto im Zwanzigerjahre-Outfit über den verwahrlosten Vorplatz
einer alten Fabrik, während Roxanne und Annika in langen Abendkleidern mit aufgenähten
Seidenblumen und viel Glitzer – beide Outfits vom Salon Geburzi in der Bergmannstraße – in
Stöckelschuhen in stockdunkler Finsternis hinterherstolperten. Mr. Yamamoto pfiff fröhlich eine
asiatische Melodie vor sich hin, während Annika zum ersten Mal überlegte, ob nicht selbst ein
Flug weniger gefährlich war als diese Expedition in den wilden Osten Berlins.
Natürlich hatte der Club keinen Namen, nur eine einzige trübe Funzel beleuchtete die Stahltür.
Annika flüsterte dem bulligen Türsteher den Kontaktnamen ins Ohr und ließ dabei einen
Hunderteuroschein unauffällig in seine Hand gleiten.
Innen war alles mondän schlicht eingerichtet. Wenige für das Pokerspiel notwendige Möbel
standen in einem Raum, der früher mal eine Werkskantine gewesen sein mochte. Es waren
hundert, vielleicht hundertfünfzig Gäste in Abendgarderobe anwesend. Der Aufzug von Mr.
Yamamoto wurde von einigen mit erhobener Augenbraue registriert.
An einem der acht Tische hatte sich eine größere Menschenmenge versammelt, alle starrten
schweigend auf den grünen Filz, dort schien ein Spieler eine Glückssträhne zu haben. Roxanne
hatte schon herausgefunden, wo es Getränke gab, und brachte drei Sektkelche. Mr. Yamamoto
setzte sich an einen Tisch. „Ich habe schon von diesen Berliner Clubs gehört“, sagte er und
schaute sich neugierig um. „Ich möchte erst einmal die Atmosphäre aufnehmen.“
Es war sehr viel russisches Publikum da, wunderschöne dunkelhaarige Frauen, die mit
bestickten Handtäschchen an den Tischen saßen und Stapel von 100- und 500-Euro-Chips vor sich
aufhäuften. Ganz am Ende des Raums bewachten vier massige Männer einen Schalter, hinter dem
Scheine gegen Spielchips getauscht wurden.
Die vier waren auch Mr. Yamamoto aufgefallen, und er grinste Annika an. „Hier wird wirklich
gespielt“, sagte er. Mit einem Ruck stand er auf. „Meine Damen, machen Sie sich unabhängig von
mir einen schönen und hoffentlich ertragreichen Abend. Ich werde mich nun ganz dem Spiel
widmen.“ Damit schritt er in Richtung Garderobe und Chip-Schalter davon.
„Soll ich ihm das Spielgeld geben, damit er an einen Tisch darf?“, fragte Annika.
„Lieber nicht. Er ist bestimmt beleidigt, wenn du damit andeutest, er habe nicht genug Geld für
seinen Spaß.“ Roxanne puderte sich die Nase wie eine Lady aus einem alten Südstaatenroman.
„Mach dir keine Sorgen, Annika. Der Mann ist nicht von gestern.“
Annika seufzte. „Und was machen wir?“
„Nun“, meinte Roxanne grinsend. „Ich weiß nicht, was du in einem Pokerclub machen willst,
aber ich habe das Geld vom Verkauf des letzten Kleides dabei. Vielleicht gewinne ich ja so viel,
dass ich Indisha ihre vom Ungeziefer ruinierte Kollektion bezahlen kann.“
„Du kannst pokern?“ Man erfuhr doch immer wieder etwas Neues über seine engsten
Freundinnen.
Roxanne beugte sich näher zu ihr. „Ich habe in Hamburg mal einen Sommer lang in einem
Spielclub auf Sankt Pauli als Croupier gejobbt.“ Sie trank den Sekt aus, dann ging auch sie davon
zur Kasse.
Annika ließ den Blick in die Runde kreisen. Ein paar Männer blickten aufmunternd zurück.
Einer erinnerte sie an Patrick, und das gab ihr einen Stich ins Herz. Sie wusste nicht einmal, was
Patrick heute Abend machte. Da waren sie beide zur gleichen Zeit in Berlin, aber sie war so
eingespannt, dass sie ihm nicht einmal ein Date später in der Nacht versprechen konnte. Morgen
hatte Mr. Yamamoto sein Gespräch bei Joop, zu dem ihn natürlich Roberta, die Chefin, begleiten
würde. So gesehen hatte Annika morgen … frei. Sie zog ihr Handy aus dem zum Kleid passenden,
schmalen Handytäschchen. Mist, hinter diesen dicken Betonwänden gab es keinen Empfang.
An dem umlagerten Tisch waren „Ahs“ und „Ohs“ zu hören. Die Menge stand fünf Reihen dicht
um die Pokerspieler, doch das war eine Situation, in der Annika ihre Größe zum Vorteil gereichte.
Sie suchte sich eine Stelle, wo ein paar kleine Chinesinnen in bunten Seidenjacken aufgeregt
miteinander flüsterten. Der ältere Croupier mit einer Goldrandbrille, die vorne auf seiner
Nasenspitze saß, mischte gerade die Karten. Neben ihm hatte eine sehr junge, sehr blasse Blondine
in einem hauchdünnen hellblauen Outfit Platz genommen. Das Kleid war aus der letzten Versace-
Kollektion. Ihr gegenüber am Tisch saß ein vielleicht vierzigjähriger Mann in einer
Trachtenjacke, daneben ein Mittzwanziger, dem die schwarzen Strähnen über die Augen fielen.
Einem Mann mit grauem Haar lugte ein kariertes Einstecktuch aus der Brusttasche des Jacketts.
Ein Engländer vielleicht? Oder einer, der sich auf britisch stylte. Den Fünften in der Runde sah sie
nur von hinten, ein kleinerer Mann im Smoking, vor dem sich mehrere Stapel mit grünen und
schwarzen Chips auftürmten. Direkt vor ihm lagen die weniger wertvollen blauen und roten Chips
in einem Haufen. Das war also der Mann mit der Glückssträhne. Er nahm die Karten auf, die der
Croupier nun verteilte, und hielt sein Blatt nah vor sich, so dass weder die Chinesinnen noch
Annika ihm in die Karten blicken konnten.
Irgendwo hatte sie den Mann doch schon mal gesehen … Dieser Stich Mahagoni-Farbe im
dunklen Haar, diese lässige, aufrechte Haltung. Sie konnte nicht umhin, die muskulöse
Rückenpartie und die breiten Schultern zu bewundern, die in dem perfekt sitzenden Smoking toll
zur Geltung kamen. Dann beugte sich der Engländer mit dem Einstecktuch zu ihm und sagte leise
etwas. Annika stutzte. Das war doch …
Diese süße Art, den Kopf beim Zuhören schief zu legen, das konnte doch nur …
Sie drängte sich nach vorn, näher zu dem Mann hin. Die Chinesinnen warfen ihr böse Blicke zu,
machten aber Platz. Nun stand sie rechts von ihm, die hohe Lehne des Stuhls vor sich. Annika
reckte den Hals, sah die kleinen Löckchen über dem Ohr des Mannes, seinen markanten
Mundwinkel, die vollen Lippen. Das war …
„Patrick!“
Ihr Aufschrei ließ alle im Saal herumfahren, und für ein paar Sekunden starrten alle Gäste nur
sie an.
„Was machst du hier?“, fragte sie ihn und musste ihn berühren, denn vielleicht bildete sie sich
das alles ja nur ein. Doch Patricks Brust unter ihren Händen fühlte sich solide und echt an. Aus
dem Augenwinkel bemerkte Annika, dass die Mitspielerin im hellblauen Versace-Kleid sie
aufmerksam beobachtete, und langsam ließ sie ihre Finger zu Patricks Händen gleiten.
„Ich spiele Poker“, sagte er, als ob es das Normalste der Welt wäre, dass er in einem exklusiven
Berliner Pokerclub, von dessen Existenz nur ausgesuchte Eingeweihte wussten, seine Abende
verbrachte.
„Ich hatte keine Ahnung, dass du … dass …“, stammelte Annika.
Patrick beugte sich zu ihr und flüsterte ihr ins Ohr: „Es ist mein erstes Mal, aber verrat mich
nicht.“ Grinsend deutete er auf die Chips-Stapel. „Das ist alles für unseren Urlaub in Antigua.“
Und da konnte Annika nicht anders, sie küsste ihn vor all den Leuten, egal ob es in diesem
Nobelschuppen gut geheißen wurde. Doch die Gäste nahmen es gelassen, nur die Chinesinnen
beäugten sie mit einem Ausdruck, der Annika wie Neid vorkam.
Das Allerseltsamste an dieser Begegnung war allerdings Mr. Yamamoto. Nach Annikas
Aufschrei war er zusammen mit Roxanne zum Spieltisch geeilt, und nun, wo allmählich wieder
Ruhe einkehrte, wandte er sich an Patrick.
„Welche Freude, junger Mann, Sie hier wiederzusehen.“ Er legte ihm die Hand auf die Schulter.
Annika wollte ihren Augen nicht trauen, als Patrick aufstand und Mr. Yamamoto mit einem
herzlichen Händeschütteln wie einen alten Bekannten begrüßte. „Ohne Sie wäre ich nicht hier“,
sagte Patrick.
Ohne Mr. Yamamoto wäre Patrick nicht hier? Annika stieß ihn vor Neugier in die Rippen, doch
dann bemerkte sie den dunklen Blick des Japaners, der von ihr zu Patrick und wieder zurück zu ihr
glitt. Offensichtlich wusste Mr. Yamamoto mehr, als sie ahnte. „Ihr kennt euch?“, flüsterte sie
Patrick ins Ohr.
Patrick drückte ihr die Hand, raunte „Ich habe ihn in Mallorca getroffen“, und setzte sich
wieder an den Tisch. Annika und Roxanne verfolgten mit angehaltenem Atem, wie Patrick gewann
und gewann, bis er schließlich die blauen und roten Chips in schwarze umtauschte und alles in
allem über zwölftausend Euro gewonnen hatte. Punkt Mitternacht machte er Schluss und
verabschiedete sich mit einer eleganten Verbeugung von seinen Mitspielern.
Mr. Yamamoto und Patrick schüttelten sich noch einmal die Hände. „Man muss im richtigen
Moment aussteigen können“, sagte Patrick mit einem weisen Lächeln, und Annika verliebte sich
gleich noch mal in ihn.
Dann nahm der Japaner Patricks Platz in der Runde ein. Annika warf Roxanne einen fragenden
Blick zu, doch die zuckte nur mit den Schultern. „Er hat sich einen Platz an diesem Tisch
gekauft.“
„Kannst du auf ihn aufpassen und ihn in sein Hotel zurückbringen?“ Heute war ihre Nacht mit
Patrick, das Schicksal wollte es so. Sie konnte einfach nicht hierbleiben, sie musste endlich mit
ihm zusammen sein.
Roxanne lächelte vieldeutig. „Geh nur, Süße. Ich bringe Mr. Yamamoto schon wieder heil
zurück. Ich will ja, dass er morgen meinen Laden bewundert.“
Annika schob ihr die tausend Euro zu. „Lass dir für alles eine Quittung geben“, sagte sie noch.
Roberta würde sie killen, wenn sie von den Ausgaben für diesen Abend erfuhr. Dafür saß Mr.
Yamamoto zufrieden in der Pokerrunde und genoss sichtlich seine ganz besondere Nacht in
Berlin.
Sayonara, Mr. Yamamoto, dachte Annika, als sie Hand in Hand mit Patrick an dem grinsenden
Türsteher vorbei in die Nacht schritt.
Das Taxi setzte sie am Rosenthaler Platz ab, und sie gingen eng umschlungen durch die dunklen
Straßen.
„Ich kann es immer noch nicht glauben“, sagte Annika. „Dass ich mit Yamamoto just an dem
Abend in diesem Pokerclub auftauche, wenn du dort das Kleingeld für unseren Urlaub gewinnst.
Wie hast du das gemacht, Patrick?“
„Glück, Annika, reines Anfängerglück.“ Er lachte laut auf, nahm sie bei der Hüfte und wirbelte
sie herum. Dann schaute er sie ernst an. „Für mich ist das kein Kleingeld, Annika. So viel Geld
habe ich noch nie auf einmal gehabt. Damit können wir uns ein tolles Hotel in Antigua leisten.“
Annika stellte sich auf die Zehenspitzen und küsste ihm die ernsten Falten von der Stirn. Er war
so süß, so verantwortungsbewusst und dann wieder so spontan und leichtsinnig. Für sie wollte er
seinen gesamten Pokergewinn ausgeben, für die Zeit mit ihr. Nur er und sie, unter Palmen, im
Sand am Meer.
„Die Karibik läuft uns nicht weg“, sagte sie. „Patrick, fällt dir etwas auf? Wir haben zum ersten
Mal eine Nacht für uns.“
„Und wir haben morgen früh auch noch Zeit“, sagte Patrick.
„Und ein Zimmer für uns allein“, hauchte Annika. Dass Mizi in ihrer Wohnung auf Futter
wartete, verdrängte sie. Mizi war schließlich nicht Simon.
„Ja.“ Patricks Stimme klang heiser, er zog sie noch enger an sich. „Du kannst dir nicht
vorstellen, wie oft ich mir diesen Moment herbeigesehnt habe.“
„Nicht so oft wie ich.“ Annika fuhr ihm über den Po, dann über seinen Rücken unter die
Smokingjacke. Sie wollte seine Haut spüren, ihn riechen, ihr Gesicht an seiner Brust vergraben.
Patricks Körper vibrierte förmlich. Er drehte sie zu sich und küsste sie überall im Gesicht, Augen,
Nase, Wangen. Vorsichtig fuhr sie ihm mit der Zunge über die Lippen, und er stöhnte.
„Lass uns schnell zu dir gehen“, sagte er und zog sie weiter.
„Ja!“ Annika musste lachen, so glücklich war sie.
Er drückte sie an sich und küsste sie. „Wir haben so lange warten müssen“, sagte er leise. Er
schaute sie an, und die Sterne glitzerten wirklich in seinen Augen.
Annika nahm seine Hand. Sie liefen an der neuen Sushi-Bar vorbei, gingen die Mulackstraße
entlang, die vier Stockwerke hoch, bis sie vor Annikas Tür standen.
Dahinter maunzte und kratzte es furchtbar.
Annika öffnete vorsichtig die Tür, und Patrick konnte gerade noch sein Bein vor den Spalt
stellen, sonst wäre Mizi entwischt. Dafür krallte sich die Katze in den Stoff.
„Oh nein!“, schrie Annika. Im Flur zog sich eine Spur aus Papierfetzen bis ins Wohnzimmer,
dort fand Annika die Überreste des neusten Style-Magazins. Daneben hatte Mizi gleich den Inhalt
von zwei, nein drei Blumentöpfen großzügig verteilt. Irgendwo hatte Annika gelesen, Katzen
ließen es ihre Besitzer auf diese Art spüren, dass man sich zu wenig um sie kümmerte. Aber sie
war nicht Mizis Besitzerin. Wenn schon, dann hätte Mizi die Blumen im Wohnzimmer ihrer
Mutter ruinieren sollen.
„Dieses Mistvieh, das wird sie mir büßen.“ Grimmig lief Annika in die Küche, aber Mizi saß
dort schon vor dem leeren Futternapf, klopfte mit dem Schwanz auf den Boden und blickte mit
leidenden Du-lässt-mich-verhungern-Blick zu Annika auf.
Patrick lachte leise. „Füttere sie erst mal, dann gibt sie bestimmt Ruhe.“
„Du kennst Mizi nicht“, grummelte Annika, doch sie öffnete eine der Dosen mit Filets mit
Enten- und Hühnchenbrust und kippte Mizi das Zeug in den Napf.
Dann war wirklich Ruhe, bis auf die genießerischen Schmatzlaute der Katze. Annika lehnte sich
gegen Patrick, der seine Arme um ihre Taille legte, und gemeinsam schauten sie Mizi beim
Fressen zu.
Annika überlegte, ob sie eigentlich am Morgen die Tür zu ihrem Schlafzimmer geschlossen
hatte, und wenn nicht, was Mizi dort alles angestellt haben könnte, da spürte sie kleine zarte Bisse
in ihrem Nacken. Patrick öffnete mit sanften Händen die Haken an ihrem Kleid, und Annika
stockte der Atem.
„Jetzt?“, fragte sie.
„Hmmm“, machte Patrick und streifte ihr das Kleid von den Schultern. Ihren BH hatte er in
weniger als zwei Sekunden geöffnet, das Spitzenteil fiel einfach auf den Boden. Zärtlich strich er
über ihre Brüste. Annika konnte nicht mehr stillhalten. Sie drehte sich um, nahm ihm die Krawatte
ab, die nur noch lose um seinen Hals hing, zog an seiner Smokingjacke. „Du hast so viel an“, sagte
sie, und Patrick lachte, als er sich das Hemd aufriss.
Als sich ihre Körper berührten, schlugen kleine, bunte Funken, die in den Schnurbarthaaren von
Mizi aufleuchteten. Die Katze maunzte und verschwand im Wohnzimmer.
Annika spürte Patricks Erregung, als er sich an sie presste. Sie streichelte seinen muskulösen
Rücken, fuhr über seine Hüften und öffnete die Gürtelschnalle und den Hosenknopf. Jeden
Zentimeter seiner warmen Haut wollte sie berühren. Patrick ließ seine Zunge unendlich langsam
über ihre Ohrmuschel gleiten und zog ihr dabei das Kleid über die Hüften. Sie öffnete sacht den
Reißverschluss seiner Hose. Sobald sie ihn berührte, zuckte er zusammen, seine Finger krallten
sich unwillkürlich in ihr Haar. Zart biss er sie ins Ohrläppchen.
„Bett?“, murmelte er.
„Bett.“
Auf dem Weg ins Schlafzimmer verlor Annika das Geburzi-Kleid und Patrick seine
Smokinghose. Lachend streifte sie ihm die Socken ab und er ihr den Slip. Sie liebten sich mit
solcher Leidenschaft, wie sie Annika noch nie erlebt hatte, langsam und wild, zärtlich und
ekstatisch. Als draußen der Morgen graute, lagen sie erschöpft nebeneinander in den zerwühlten
Laken. Die Nachttischlampe verbreitete ein schummriges Licht. Unten auf der Straße fuhr jemand
auf einem quietschenden Fahrrad vorbei. Annika fühlte sich frei und geborgen zugleich,
umschlungen von Patricks Körper, der nach Sex und einem zitronigen Männerparfüm roch. In
seinen Haaren meinte sie einen Hauch von Flugzeugbenzin auszumachen, doch das stimmte
wahrscheinlich nicht, und sie bildete es sich vor lauter Liebe nur ein.
8. KAPITEL
An der Wohnungstür stand nur noch sein Name Lister. Patrick grinste, Jan war ein Typ, der
einfach alles genau nahm. Vielleicht war Türschilderbereinigung auch ein Teil des Rundum-
sorglos-Pakets des Unternehmens, das Jan mit dem Umzug beauftragt hatte. Patrick hatte die
wenigen freien Stunden der letzten vollgepackten Flugwoche nur bei Annika verbracht und davon
die meiste Zeit im Bett, wo Annika ihn mit Fingerfood und er sie mit frischen Schrippen vom
Ökobäcker verwöhnt hatte. Aber jetzt brauchte er frische Klamotten und die andere Fluguniform.
Er schloss auf. Im Flur war sogar die Garderobe abmontiert. Patricks Schritte hallten auf dem
Parkett. Er legte die Jacke auf den einen Küchenstuhl, der ihm gehörte. Wenigstens waren der
Herd und der Kühlschrank noch da. Auf der Spüle standen ein paar Becher und Gläser, die er in
den gemeinsamen Hausstand eingebracht hatte, und das Besteck mit den schwarzen Griffen, das er
mal in München auf dem Viktualienmarkt gekauft hatte.
Ein bisschen kam Patrick sich vor wie ein Einbrecher, der in ein leeres Haus einstieg. Jans
Zimmer war komplett ausgeräumt. Die Kabel des Fernsehanschlusses hingen in der Ecke aus der
Wand.
Fast alle Möbel in der großen Wohnung hatten Jan gehört. Nur der alte Ledersessel, den Patrick
aus Leipzig überall hin mitschleppte, glänzte solide wie eh und je. Und das dunkelbraune Buffet
mit dem geschnitzten Obst in den Türen stand verloren im Wohnzimmer. Für Möbel hatte er
wegen seiner Ausbildung zum Piloten nie Geld übrig gehabt.
„Nicht mal ‚ne richtige Anlage habe ich“, brummte Patrick. Er betrachtete seine CD-Sammlung
in den zwei Stahltürmen, die vor dem Buffet verblieben waren. Kurz überlegte er, ob er die CDs
über seinen Laptop abspielen sollte, doch die Vorstellung, was die miserablen Lautsprecher aus
seinen Lieblingssongs machen würden, hielt ihn davon ab. Annikas Anlage hatte einen
Supersound. Patrick konnte sich nicht recht vorstellen, dass sie auch so schnell mit ihm
zusammenziehen wollte wie Melanie mit Jan. Er legte sich die Hand in den Nacken. Die
Wohnungsfrage würde er Ende des Monats lösen müssen. Jan war fair genug gewesen, noch eine
Monatsmiete mitzutragen. Danach müsste Patrick ausziehen oder sich einen Kollegen oder
Bekannten suchen, der eine Bleibe brauchte. Aber Patrick hatte keine Lust auf neue Leute. Er hatte
Lust auf Annika. Morgens, mittags und abends.
„Und deshalb entsorge ich jetzt Altlasten.“ Im Buffet verwahrte er in einer Schublade
Erinnerungsstücke. Zwischen alten Postkarten und dem Album mit den ersten Flugfotos lag in
einem dunkelgrünen Täschchen aus Filz der Siegelring, den Jenny ihm geschenkt hatte. Es war
damals ein Zeichen ihrer großen Liebe gewesen, auch wenn er den Siegelring seines verstorbenen
Schwiegervaters nie getragen hatte. Das Gutsherren-Image, das dem goldenen Ring mit dem
eckigen bordeauxroten Stein anhing, war so ganz und gar nicht sein Stil. Vielleicht wirkte die
Erziehung in der DDR bei ihm nach, aber mit dem Siegelring am Finger kam er sich immer wie
einer vor, den andere bedienen müssen.
Patrick nahm das Filztäschchen aus der Schublade. Am besten packte er den Ring in den
Umschlag zu den fünfhundert Euro, die ihm vom ganzen Pokergewinn übrig geblieben waren, seit
er gestern noch sämtliche Schulden bei Jan beglichen hatte. Das war das Taschengeld für Antigua.
Die Tickets würde er mit seinem Bonus-Konto bezahlen. Und den Siegelring würde er Jenny
morgen beim Abendflug nach Barcelona zurückgeben.
In der Küche griff er nach seiner Jacke, in deren Innentasche der Umschlag steckte, da fiel sein
Blick auf die Spüle. Zwischen seinen Gläsern lag dort eine winzige Schachtel mit dem Aufdruck
„Tiffany & Co.“. Patrick nahm das hellblaue Kästchen mit der weißen Schleife in die Hand. Die
kleine Ringschatulle war leer.
Kein Wunder, dass Jan ihm kein Geld leihen konnte. Patrick stellte sich einen Moment vor, wie
sich sein Kollege wie Audrey Hepburn in dem berühmten Film die Nase an der
Schaufensterscheibe platt drückte, und musste lachen.
„Kommt ja wie gerufen“, meinte er. Eigentlich war Jan sehr ordentlich, aber vielleicht hatten er
und Melanie die Schatulle nach der Ringübergabe einfach vergessen. Patrick zog den alten
Siegelring aus dem Filztäschchen und steckte ihn in die Samteinlage der Schatulle. Dann klappte
er sie mit einem Plopp zu.
Der flache Karton passte sogar in den Geldumschlag. Patrick wandte sich zur Tür. Je eher er
hier rauskam, desto besser. Irgendwie fand er es ziemlich deprimierend in der leeren Wohnung.
Jan war ein wirklich guter Freund. Na, sie würden sich sicher oft sehen. Für das nächste
gemeinsame Wochenende hatte Jan schon angefragt, ob er Lust auf einen Fußballabend bei uns
hatte. Patrick hatte keine Ahnung, ob Annika Fußball mochte. Annika … Sie waren in dem Sushi-
Laden verabredet. Dafür würde sein Geld noch reichen. Und was sie danach noch brauchten, war
für kein Geld der Welt zu haben.
Ein Geräusch hatte Annika aufgeweckt, dem sie nachhorchte. Doch in ihrer Wohnung war es
vollkommen still. Annika drehte leicht den Kopf und blickte zu Patrick, der mit dem Kopf an ihrer
Schulter tief schlief. Seine entspannten Gesichtszüge wirkten unschuldig und frisch wie die eines
kleinen Jungen. Dabei war er im Bett alles andere als unerfahren. Erinnerungen an die letzte Nacht
gingen ihr durch den Kopf: Patricks Körper, der sich auf ihr bewegte, seine Locken, die ihm in die
Augen fielen, als er sich über sie beugte und Worte der Lust in ihr Ohr raunte. Sie spürte, wie ihr
Körper sich schon wieder nach Patricks Berührungen sehnte.
Da war es wieder, ein leises Klirren. Sanft nahm sie Patricks Arm von ihrer Brust und schlüpfte
aus dem Bett. Es war erst Viertel nach fünf, draußen ging gerade die Sonne auf. Annika nahm den
Bademantel vom Haken und ging in die Küche. Hatte sie es doch geahnt! Mizi schob auf dem
gefliesten Boden ihren Futternapf hin und her, der immer wieder gegen die Wasserschale klirrte.
„Du kleiner Schlawiner“, flüsterte Annika. „Es ist doch noch gar nicht Zeit fürs Frühstück.“
Natürlich gab sie Mizi trotzdem einen Klacks Thunfisch, denn wer konnte schon diesem
schnurrenden Fellbündel widerstehen, das einem unentwegt um die Beine strich?
An der Garderobe hing Patricks Lederjacke. Sie roch am schwarzen weichen Leder und sog
seinen Geruch auf, der sie an eine Sommerbrise voller Zitronenduft erinnerte. Sie freute sich so
auf den Urlaub. Den Flug in die Karibik würde sie irgendwie überstehen, wenn Patrick neben ihr
saß. In der Apotheke hatte sie außerdem diese neuen Wundertropfen bestellt, die ihr Melanie
empfohlen hatte.
Der eine Ärmel der Jacke war unordentlich umgeschlagen. Als sie gestern Abend
heimgekommen waren, hatten sie nicht viel Zeit aufs Ausziehen verwendet. Annika strich den
Ärmel glatt. Ein Briefumschlag lugte aus der Innentasche. Behutsam zog sie daran. Das Kuvert
war schwerer, als sie erwartet hatte. Und es war nicht zugeklebt.
Annika horchte in Richtung Schlafzimmer. Patrick war sicher noch nicht aufgewacht. Ganz
vorsichtig zog sie den Umschlag aus der Tasche. Auf der Vorderseite stand das Wort Cashier, und
Annika erinnerte sich, das Patrick seinen Gewinn im Rummelsburger Pokerclub darin ausgezahlt
bekommen hatte. Doch da steckte noch etwas anderes, etwas Eckiges. Eindeutig eine kleine
Schachtel … eine Schatulle. Annikas Herz klopfte. Das konnte doch nur Eines bedeuten. Mit
spitzen Fingern öffnete sie den Briefumschlag und schaute hinein. Fünfhundert Euro lagen darin.
Und eine auffällig hellblaue Schachtel mit schwarzem Aufdruck. „Tiff…“
„Sweetie?“ Patricks Stimme klang verschlafen.
Rasch steckte Annika alles zurück in die Innentasche, drehte die Jacke wieder mit dem Futter
zur Wand und strich sie glatt. Patrick wollte sie mit einem Verlobungsring überraschen. Das hatte
noch nie ein Mann für sie getan. Es war, als ob Patrick ihre geheimsten Wünsche kannte und in
Erfüllung gehen ließ – wie ein Zauberer. Die Reise nach Antigua würde ihre Verlobungsreise
werden. Das durfte sie ihm nicht verderben. Keine einzige Andeutung würde sie machen, sondern
warten, bis er den richtigen Moment für gekommen hielt.
Im Schlafzimmer öffnete Annika den Gürtel des Morgenmantels und ließ ihn am Bett von ihren
Schultern gleiten. Patrick blickte sie aus dunklen Augen an und hob die Decke. Sie küsste ihn mit
einer intensiven Zärtlichkeit, die mehr verriet, als sie ahnte. Doch Annika ging nur ein Satz durch
den Kopf: Ja. Ja, ich will.
„Roger“, antwortete Patrick der Flugsicherung Zürich. Bis zum Mittelmeer war nun Ruhe an Bord.
Er wandte sich an seinen Co-Piloten, mit dem er ganz gern flog. „Übernimm du mal, ich mache
heute den Security-Check mit dem Team.“
Sein Co Sven kaute gerade ein Stück Schokolade, brummte Zustimmung und stellte sofort die
Engine-Control um.
Patrick stand auf und nahm seine Uniformjacke aus dem Fach hinter den Pilotensitzen. Jenny
war mit an Bord, ausnahmsweise hatten sie zusammen Dienst.
Er nickte den Premium-Class-Passagieren zu, zwei von ihnen blätterten in den Katalogen von
HolidayJet.
In der dritten Reihe hob eine Frau im grauen Twinset das Glas. Jenny lächelte. „Darf ich Ihnen
noch nachschenken?“
Patrick wartete, bis Jenny fertig war und zur nächsten Reihe ging. „Jenny, ich möchte was mit
dir besprechen, hast du kurz Zeit in der Pantry?“
„Ja, natürlich.“
Patrick wartete im Winkel vor den Mikrowellen. Hier konnten die Passagiere sie beide nicht
sehen.
„Müssen wir in die Warteschleife? Hatte ich diese Woche schon zweimal.“ Jenny legte ihren
streng gebundenen Zopf über die Schulter. „Soll ich die HolidayJet – Sweets schon mal
vorbereiten?“
Jenny war immer in Sorge, immer unter Strom.
„Es ist nichts Dienstliches.“
Sie hob die linke Augenbraue. „Sondern?“
Patrick zog die Schatulle aus der Innentasche seiner Uniformjacke und klappte sie auf. „Ich
hätte ihn dir längst zurückgeben sollen.“
Jenny legte die Hand an ihre Wange. „Aber ich habe ihn dir doch geschenkt.“
„Ich habe andere schöne Erinnerungsstücke an unsere Zeit. Der Siegelring hat deinem Vater
länger gehört als mir. Und ich weiß, wie sehr du an dem Ring hängst. Nimm ihn, bitte.“
Einen Moment lang tastete sie über das Gold und sah melancholisch auf den roten Stein. Dann
drückte sie Patrick kurz an sich. „Ich habe es einfach nicht übers Herz gebracht, dich darum zu
bitten.“ Sie nahm den Ring aus der Schatulle. Dabei lächelte sie. „Danke. Aber die Schatulle
nehme ich nicht.“
„Wieso?“
„Die gehört zu Melanies Ring. Alle wissen doch, dass Jan ihr einen Riesendiamanten bei
Tiffany‘s gekauft hat.“ Jenny winkte ab. „Das bringt Melanie sonst Unglück, wenn der Ring, den
mein geschiedener Mann mir zurückgibt, in der Schachtel liegt, die Jan für ihren Ehering gekauft
hat.“
Wenn es um Liebesdinge ging, war Jenny ein bisschen abergläubisch. Patrick zuckte mit den
Schultern und steckte die Schatulle ein.
Das Rufzeichen Premium leuchtete auf.
„Die Frau trinkt einen Champagner nach dem andern. Hoffentlich findet die nachher die
Gangway.“ Jenny warf ihm ein kurzes Lächeln zu, bevor sie voranging.
Himmel, er hatte ganz vergessen, wie angespannt Jenny bei der Arbeit sein konnte. Annika
nahm Stress viel leichter, ihr bei der Arbeit zuzusehen, machte sogar Spaß. Patricks Blick fiel auf
eine Checkliste von Jennys Team. Flug 251 nach Barcelona. Es war der Flug, auf dem er Annika
kennengelernt hatte. Und heute gab er seiner Exfrau auf dem gleichen Flug den letzten besonderen
Gegenstand zurück, der sie noch verbunden hatte.
Patrick strahlte, als er durch die erste Klasse zurück ins Cockpit ging. Ein gutes Omen.
Vielleicht sollte er auch ein bisschen abergläubisch werden.
9. KAPITEL
Der Käsewagen rollte an der riesigen Amphore vorbei zurück in die Küche. Annika war so
aufgeregt, dass sie von dem viergängigen Menü fast nichts hatte essen können. Patrick war im
Smoking und mit einem riesigen Strauß roter Rosen vor ihrer Wohnungstür erschienen, um sie,
wie er sagte „edel auszuführen“. Er hatte in einem Sterne-Restaurant am Potsdamer Platz
reserviert. Das konnte nur eines bedeuten: Heute Abend wollte er ihr den Ring geben.
Annika hatte ihm verschwiegen, dass Roberta fast alle ihre Besprechungen beim Business-
Lunch im Facil abhielt, und die lichte Architektur und vorzügliche Speisekarte für sie nichts
Neues waren. Ein Kollege namens Sven habe ihm den Tipp gegeben, Patrick selbst war offenbar
noch nie hier gewesen. Der Türsteher hatte ihm erst einmal freundlich erklären müssen, dass man
zum Restaurant in den fünften Stock des Hotels hochfuhr.
Die Mönchskopf-Käseflocken auf ihrem Teller rochen verführerisch, aber Annika bekam nichts
hinunter. Patrick hatte sich noch Brot zum Käse auf den Teller genommen und verzehrte alles bis
auf ein paar Krümel. Wie lange wollte er sie denn noch auf die Folter spannen?
„Du wirst doch nicht krank, jetzt, wo ich endlich mal da ganze Woche da bin“, fragte Patrick
und legte ihr eine besonders rote und schön geformte Erdbeere auf den Teller.
„Nein, nein.“ Die Frucht war sehr aromatisch. Patrick grinste, als er sah, wie herzhaft sie
hineinbiss. Wenn er nur endlich den Ring hervorholen würde, dann könnte auch Annika den Abend
genießen.
Als er ihr eine sternförmig geschnittene Mangoscheibe auf den Teller legen wollte, ergriff
Annika Patricks Hand. „Verrat mir doch endlich, was der Anlass für dieses tolle Dinner ist.“ Sie
schaute ihm tief und vielsagend in die Augen, aber Patrick blickte sie nur irritiert an. Seinem
Gesichtsausdruck nach zu urteilen wusste er wirklich nicht, auf was sie hinauswollte.
„Du bist der Anlass, Annika, wir beide, dieses unbeschreibliche Glück, dass wir uns lieben und
zusammen sind. Dass wir endlich Zeit haben füreinander. Dass ich noch nie so wahnsinnig
verliebt war. Dass ich … ach, die Sterne könnte ich dir vom Himmel holen, Annika. Gleich hier,
vom Dachgarten hier.“ Er führte ihre Hand an seine Lippen und küsste sie sanft in die Innenfläche.
Annika wurde heiß. Er machte es ja verdammt spannend. Jetzt würde aber doch der Ring
kommen. So eine poetische Rede, das konnte kein Mann aus dem Stegreif, das musste sich Patrick
vorher überlegt haben. „Ja-a?“, fragte sie.
Da war wieder dieser irritierte Blick. „Ja, was?“
„Der Ring.“ Da, es war raus. Geheimnisse waren einfach nicht ihr Ding. Sie ergriff Patricks
Hände. „Tut mir leid, jetzt hab ich dir die Überraschung ruiniert. Das wollte ich echt nicht. Der
Umschlag hat in deiner Jacke gesteckt, und ich hab reingeschaut. Ich hab mir nichts dabei gedacht,
wirklich nicht.“
Beinah mechanisch streichelte Patrick ihre Hände, etwas stimmte nicht. Der Mann, mit dem sie
seit Tagen das Bett teilte, schluckte und räusperte sich, er suchte ganz offensichtlich nach Worten,
um etwas zu sagen, was sie nicht hören wollte.
Leise gestand sie: „Ich habe aber nur die Schatulle gesehen. Ehrlich.“ Sie drückte seine Hände.
„Es tut mir so leid, Patrick. Wirklich, das wollte ich nicht.“
„Aber das war doch Melanies,“ platzte er heraus. „Das heißt, eigentlich war es Jennys Ring. Jan
hat die Schatulle für Melanies Ring in der Wohnung vergessen, und ich hatte den Ring für Jenny.
Den wollte ich ihr schon lange geben.“
Schon lange? „Du wolltest ihr einen Antrag machen?“ Annika zog abrupt ihre Arme zurück.
„Nein, natürlich nicht. Jan hat Melanie einen Antrag gemacht.“ Er legte den Kopf schief und
grinste sie an. „Sie hat Ja gesagt. Jan und Melanie ziehen zusammen.“
„Und warum hast du dann Jenny einen Ring gegeben? Patrick …“ Annika wurde mit einem Mal
schlecht vom Geruch des Käses, und sie schob den Teller weg. „Du hast mir doch geschworen,
dass mit Jenny nichts mehr läuft.“
Er wurde tatsächlich rot. Das durfte jetzt nicht wahr sein. Patrick konnte ihr kaum eine Sekunde
offen in die Augen schauen. „Da ist nichts mit Jenny“, murmelte er, aber überzeugend klang es
nicht. Patrick holte Luft. „Annika, versteh doch, das mit Jenny … ich hab da in Mallorca gesessen
und konnte an nichts anderes denken als an unsere Nacht an der Spree und wie scharf ich auf dich
war. Wie scharf ich auf dich bin.“ Ein spitzbübisches Lächeln blitzte über Patricks Gesicht,
verschwand aber sofort wieder. „Und da kommt sie vorbei und flirtet, wie sie es immer tut. Das
…“
Es lief doch noch was. „Mit Jenny in Mallorca!“ Ihr Stuhl knallte auf den Natursteinboden. Wie
konnte er ihr das antun? Sie erinnerte sich gut an diesen traurigen Abend, als Patrick ihr wieder
einmal abgesagt hatte. „Fluglotsenstreik nennst du das dann, ja? Mit Yamamoto über Poker
geplaudert, wie?“ So verliebt war sie gewesen, während er die erstbeste Gelegenheit beim Schopf
packte und mit seiner Ex in die Kiste stieg.
„Nein, Annika!“ Auch Patrick stand auf. „Ich hatte nichts mit Jenny. Da war nichts!“
„Du kannst dir die Entschuldigungen sparen, Patrick. Das geht nicht zusammen, in die eine
angeblich wahnsinnig verliebt, aber die andere im Kopf. Das ist eine Frau zu viel.“ Sie drehte auf
dem Absatz um und ging. Ihre Tränen sollte er nicht mitkriegen, das fehlte noch, dass sie wegen
diesem Oberidioten im Facil losheulte.
Patrick rief ihr irgendwas hinterher, aber sie ignorierte es.
„Ich habe nicht genug Geld für die Rechnung.“
Annika blieb wie angewurzelt stehen. Nicht genug Geld? Das war das Allerletzte. Am liebsten
wäre sie vor Scham hier auf der Stelle in den fünf Stockwerke tiefer liegenden Boden versunken.
Hatte die Liebe sie so blind gemacht, dass sie einen Schnorrer nicht erkannte?
Betont langsam, als wäre die Szene das Normalste der Welt, ging sie zum Tisch zurück. Patrick
wühlte in seinem Geldbeutel, wenigstens hatte er den Anstand, knallrot zu sein.
„Das tut mir wirklich leid, Annika. Ich dachte, ich hätte mehr Geld eingesteckt“, sagte er leise
und schaute dabei mit hochrotem Kopf auf die Tischdecke.
Was wohl so viel hieß wie, dich Zicke lade ich ganz sicher nicht auch noch zum Essen ein. Was
für ein Loser. Annika legte vollkommen ruhig drei Hundert-Euro-Scheine auf den Tisch und ging,
ohne Patrick auch nur eines Blickes zu würdigen.
Der Fahrstuhl kam nicht. Die Anzeige stand auf 2. Er musste sie unbedingt noch erwischen.
Unbedingt. Patrick rannte das Treppenhaus hinunter, durch die Glastüren am Türsteher vorbei
hinaus auf die Potsdamer Straße. Er reckte den Kopf, er sah sie nicht. Sein Herz raste wie beim
Zirkeltraining vor der Schwerkraftkammer. Mist, dass er nicht größer war. Die Bürgersteige waren
voller Menschen, die ins Kino wollten. Da! Ihr rotes Kleid leuchtete zwischen den Passanten.
„Annika!“ Er rempelte ein japanisches Pärchen an, das einen Stadtplan studierte. „Warte doch!“
Er sah, wie sie in ihrer Tasche kramte. Dann stand er atemlos vor ihr. Sie sah ihn nicht einmal an.
„Brauchst du noch mehr Geld, hat es nicht gereicht?“ Ihre Stimme zitterte. Annika warf ihm
einen kalten Blick zu. „Du bist vielleicht ein Geizkragen, Mann.“
Patrick verstand die Welt nicht mehr. „Was bin ich?“ Jeden Euro hatte er für sie
zusammengekratzt. „Annika, wenn ich mehr Geld hätte, würde ich alles, was ich habe, für dich
ausgeben. Ich zahle dir das zurück, es war doch meine Einladung. Der Umschlag mit dem Geld
steckt in meiner Lederjacke, wirklich.“
„Tatsächlich?“ Ihr Mundwinkel zuckte. Sie nestelte ihre Handtasche wieder zu und schaute zur
Straße hin.
„Ich hätte nie Pilot werden können, wenn ich nicht Schulden für die Ausbildung gemacht hätte.
Die muss ich jetzt zurückzahlen. Die Ausbildung ist wahnsinnig teuer.“
Annika sagte fast gedehnt langsam. „Aber deiner angeblichen Ex einen teuren Ring schenken,
das kannst du. Und mich dann für das Restaurant zahlen lassen. Und ein paar Tage bei mir
umsonst wohnen, weil dein Kumpel dich vor die Tür setzt, das kannst du auch. Für wie blöde
hältst du mich eigentlich, Patrick Lister?“
„So ist es doch überhaupt nicht.“ Patrick versuchte, ihren Blick aufzufangen, aber sie sah
konsequent an ihm vorbei zur Straße.
„Doch!“ Ihr Kopf flog herum. Ihr enttäuschter Blick fixierte ihn. „Genau so ist es. Du hast mit
mir gespielt wie mit einer dummen kleinen Schülerin, die sich in den Flugkapitän verguckt hat.
Du hast mich doch nur als Stop-over-Programm zwischen den guten Zeiten mit deiner Ex
gebraucht.“ Sie wandte sich ab.
„Nein!“ Er griff nach ihrer Schulter, fasste mit der anderen Hand nach ihr. „Annika …“ Er
wollte, er musste sie küssen, damit sie begriff, wie sehr er sie liebte. Von ganzem Herzen.
„Fass mich nicht an!“ Annika stieß ihn ziemlich unsanft weg.
Zwei Handwerker in Blaumännern schauten von der Bushaltestelle herüber. Auf dem
Bürgersteig blieben vier Touristinnen stehen, eine hob eine Digicam.
„Annika, ich liebe dich doch.“ Patrick fand selbst, dass er sich wie ein fremdgehender Ehemann
anhörte. „Da war nichts mit Jenny, wirklich nicht. Sie wollte vielleicht, aber ich nicht. Ich will
dich. Für immer.“
„Ach, hau doch einfach ab, du Mistkerl.“ Ihre Stimme klang heiser, Patrick sah die Tränen in
ihren Augen.
„Sweetie, bitte, nicht.“ Er griff nach ihr, wollte sie in die Arme nehmen und trösten, aber sie
trat hastig zurück.
„Hey, Mann, lass sofort die Frau in Ruhe.“ Die Männer im Blaumann drohten breitbeinig mit
erhobenem Arm.
Annikas Gesicht war Tränen überströmt, sie rannte zum Straßenrand. Aus dem Verkehr scherte
gerade ein Bus aus.
Und dann war sie weg. Einfach vom Verkehr verschluckt. Patrick sah nur noch rote Rücklichter.
Ihm war, als ob sich der Asphalt vor ihm öffnete und eine ungeheure Kraft ihn in die Öffnung
hineinziehen wollte. Patrick versuchte, sich zu wehren, aber der Kloß in seinem Hals wurde immer
größer. Er hätte schreien mögen wie ein Kind. Nun begann es auch noch zu regnen. Das durfte
alles nicht wahr sein. Annika war weg.
Irgendwann drehte er sich um und lief in die Dunkelheit.
Im strömenden Regen waren die roten Laternen vorne an der Straßenecke kaum zu erkennen.
Endlich, gleich war sie zuhause. Annika war mit dem Bus gefahren. Den rauen Kommentar eines
Berliner Taxifahrers angesichts ihres ruinierten Make-ups hätte sie nicht mehr ertragen, auch
wenn sie wusste, dass es als Trost gemeint war. An der Haltestelle war sofort ein Bus gekommen,
und sie war eingestiegen und hatte sich auf einen der dunkleren Plätze gesetzt. Die ganze Strecke
bis zum Hackeschen Markt hatte sie in den Regen gestarrt. Sie verstand Patrick nicht mehr. Er war
doch nicht der Typ, der zwei Nummern auf einmal schob. Oder hatte sie sich so in ihm getäuscht?
Schon wieder kamen die Tränen hoch, und Annika wischte sich rasch übers das nasse Gesicht.
Vor der Sushi-Bar stand ein korpulenter Mann unter einem riesigen Regenschirm und schien
auf jemanden zu warten. Das gelbe Licht aus dem Restaurant leuchtete bis auf die Straße, hinter
den Scheiben konnte Annika ein Paar erkennen, die sich von der Bedienung mit den gepiercten
Saphiren in den Augenbrauen das Menü erklären ließen. Die Bedienung stammte aus Südkorea,
sprach aber Berlinerisch wie eine Einheimische. Annika ging gerne zu ihr, und auch Patrick hatte
sie sofort gemocht. Sie erinnerte sich, wie er zum ersten Mal von der megascharfen Wasabi-Paste
gekostet hatte. Neugierig, draufgängerisch, und er konnte über sich selbst lachen. Sie liebte diesen
Mann.
„Annika?“, fragte eine heisere Stimme.
Sie fuhr erschrocken herum. Der Mann mit dem Schirm war ihr ein paar Schritte nachgegangen.
„Ja?“, sagte sie zögernd und fragte sich, woher der Mann ihren Namen kannte. Sie versuchte,
sein Gesicht zu erkennen, doch der Schirm verdeckte es nach wie vor.
Nun drehte der Mann sich schnell um und rief in Richtung Sushi-Bar: „Da ist sie endlich!
Wusst ich‘s doch, dass das meine Kleine ist.“
Annika starrte zur Sushi-Bar, wo ihre … ja, da stand ihre Mutter im leichten beigen
Sommermantel in der Tür und hatte ein buntes Tuch um den Kopf geschlungen.
„Was …?“, wollte sie fragen, aber dann schob ihr Vater den riesigen Regenschirm über sie und
brachte sie beide darunter ins Restaurant.
„Wir fliegen nachher“, sagte ihre Mutter, als sie alle um den Tisch herum saßen. „Mit dem
Spätflug nach Düsseldorf. Dein Vater hat sich eine heftige Erkältung geholt, er muss dringend ins
Bett.“ Auf dem Sitz neben Annika stand die große Reisetasche ihrer Mutter, und unter dem Tisch
hatte sie kaum Platz für ihre Beine wegen der beiden Koffer und den Einkaufstüten von KaDeWe
und Lafayette.
Die gepiercte Bedienung kam und blickte Annika mit erhobener Augenbraue an, so dass sie
schnell einen Sake bestellte. Kaum war das Mädchen weg, flüsterte ihre Mutter: „Der ist doch viel
zu teuer, die importieren den direkt aus Japan.“
Annika schaute zu dem Bier, das vor ihrem Vater stand, und dem fast leeren Glas
Apfelsaftschorle vor ihrer Mutter. „Ihr habt hier nicht mal was gegessen?“
Ihre Eltern schüttelten den Kopf, ihr Vater nieste. So wie es aussah, warteten sie schon Stunden
hier. Das nächste Mal, wenn sie mit Patrick …wenn sie mit wem auch immer in die Sushi-Bar
kam, würde sie das teuerste Fisch-Menü bestellen. Die Bedienung hatte was gut bei ihr.
„Warum habt ihr mich nicht angerufen?“ Wenn sie sich nicht mit Patrick gestritten hätte, säße
sie immer noch im Facil. Ihr Eltern hätte ewig auf sie warten können.
„Dein Vater hat das Geschäftshandy nicht dabei, ist doch eine Privatreise“, erklärte ihre Mutter,
und ihr Vater nickte. Dann räusperte er sich. „Wir wollten uns noch verabschieden.“
„Und dir was für Simon mitgeben.“ Rasch zog ihre Mutter eine flache Schachtel aus ihrer
Handtasche.
„Das hat deine Mutter auf einem Flohmarkt gefunden.“
Annika lächelte ihren Vater an, der sichtlich stolz auf seine Frau war. „Was ist es denn?“
„Kann er immer brauchen“, meinte ihr Vater.
„Na ja, echtes Leder ist es nicht.“ Ihre Mutter hob den Deckel der Schachtel, in sandgelbes
Seidenpapier eingewickelt lag eine schwarze Brieftasche aus Kunstleder.
„Eine Brieftasche? Für Simon?“, meinte Annika überrascht.
Ihre Mutter klappte die Schachtel mit einem beleidigten Gesichtsausdruck wieder zu. „Das wird
wieder modern, weißt du“, sagte sie. „In Düsseldorf haben die Geschäftsmänner alle so eine.“
Dabei blickte sie Annikas Vater zärtlich an, und Annika wurde plötzlich klar, dass ihre Mutter
sich gerade an ihren Vater erinnerte, wie er ausgesehen hatte, als sie sich kennen gelernt hatten.
Ganz sicher war ihr Vater in seinen Lampenladen immer mit Brieftasche gegangen. Erst musste
Annika grinsen, doch dann wurde sie traurig. Patrick wäre der Mann gewesen, mit dem sie hätte
alt werden wollen. „Dann fliegt ihr heute zurück“, sagte sie leise.
„Ja“, sagte ihre Mutter und schaute irgendwie betrübt auf ihr Apfelsaftschorle.
Ihr Vater nieste wieder. „Tja, da ist noch eine Sache.“
Himmel, hoffentlich wollte sie jetzt nicht Simons Adresse von ihr.
„Mizi“, sagte ihre Mutter.
„Mizi …?“ Annika schaute sich um. Der Katzenkorb war nirgends zu sehen. Logisch, der stand
ja auch noch in ihrer Wohnung. „Ihr wollt doch nicht …?“
„Wir dachten …“, begann ihr Vater.
„Sie versteht sich doch so gut mit dir. Und du hast doch Platz.“ Wie immer hatte ihre Mutter
sich alle Begründungen schon zurechtgelegt.
Annika dachte an das Katzenklo in ihrem Flur, an das zerrissene Style-Magazin, an die
umgeworfenen Futternäpfe bei Sternthaler. Sie konnte keine Katze haben, sie hatte einfach keine
Zeit für ein Haustier.
„Seit sie in Berlin ist, frisst sie wieder“, sagte ihr Vater leise. „Bei uns ist es Mizi wohl zu still.
Sie ist eben eine Großstadtkatze.“
Ihre Mutter starrte schon wieder in das Apfelsaftglas.
Was konnte Annika dagegen noch sagen? Vermutlich würde sie eine von diesen Singlefrauen
mit Katze werden und ihr ganzes Leben lang der großen Liebe namens Patrick nachtrauern.
Annika hatte ihre Eltern zum Alexanderplatz begleitet und in den Schönefeld-Express gesetzt.
Dabei hatte sie ausführliche Erklärungen über das korrekte Katzenklo-Säubern und die diversen
kulinarischen Vorlieben von Mizi erhalten. „Ich schicke dir ihren Impfpass mit der Post“, waren
die letzten Worte, die ihre Mutter ihr aus der schon fahrenden Regionalbahn zugerufen hatte.
Nun stand Annika allein auf dem verlassenen Bahnsteig, und der Regen trommelte auf das Dach
des Bahnhofs. Sie spürte die nassen Kleider, die sie ganz vergessen hatte, und sie erinnerte sich
wieder an den Riesenstreit mit Patrick. Wie konnte er sie nur so anlügen? Nach Weinen war ihr
nicht mehr zumute, und Streiten wollte sie auch nicht. Sie wollte Patrick. Jetzt, hier, neben sich.
Sie wollte sich an seinen warmen Körper schmiegen und mit ihm zusammen durch den Regen
rennen und daheim seine braunen Haare trockenreiben und ihm die Tropfen vom Gesicht küssen.
Doch in ihrer Wohnung begrüßte sie nur eine erbärmlich maunzende Katze.
„Sie sind weg“, sagte Annika.
Mizi allerdings interessierte sich nur für den Kühlschrank und die Schätze, die er barg. Als
Annika Lachs- und Thunfischstücke in den leeren Futternapf füllte, informierte sie Mizi: „Ich bin
jetzt dein Frauchen.“
Die Katze blinzelte Annika kurz aus grünen Augen an, dann wandte sie sich wieder dem
Fressnapf zu. Der Blick war eindeutig: Mizi mit ihrem siebten Katzensinn wusste schon längst,
was Annika erst heute Abend erfahren hatte.
Sie trat in den Flur und hob den Briefumschlag auf, den jemand unter ihrer Wohnungstür
hindurchgeschoben hatte. Mizi hatte ihr keine Zeit gelassen, auf den Absender zu schauen, zuerst
musste die Katze gefüttert werden. Das Papier fühlte sich sehr zart in ihren Händen an, sie konnte
eine feine Struktur spüren.
Als Annika den Brief im Licht der Wohnzimmerleuchte genauer anschaute, sah sie, dass es
japanisches Reispapier war, mit einer verschlungenen Tuschemalerei auf der Vorderseite neben
ihrem Namen. Hinten war nur ein viereckiger roter Stempelabdruck zu sehen, ein Absender stand
nirgends. Doch nur ein Mensch in Berlin konnte ihr solch einen Brief überbringen:
Der Aufenthalt in Berlin hat meine Erwartungen bei Weitem übertroffen. Sie haben mir
gezeigt, was das Besondere an dieser Stadt ist. Poker wird auf der ganzen Welt gespielt, doch
nirgends wird alles auf eine einzige Karte gesetzt. Carpe diem, heißt es, und darin liegt wohl
die kreative Quelle dieser Stadt. Ergreifen auch Sie den Tag und lassen Sie das Glück nicht
mehr los, das Sie gefunden haben. Und grüßen Sie mir Ihre Freundin von Sternthaler. Sie
wird von uns hören.
Ich danke Ihnen, Ihr Takano Yamamoto.
Der Regen prasselte laut auf die Terrasse, an den Fenstern rannen Tropfen über das Glas. Mizi saß
auf der Fensterbank zwischen Patricks Rosenstrauß und Annikas Sammlung bunter Steine von der
Ostsee, wo sie letztes Jahr mit Roxanne im Urlaub gewesen war.
Das rote Kleid von Lagerfeld lag zerknüllt auf der Couch, die Schuhe irgendwo im Flur. Annika
hatte sich ihren grauen Freizeitanzug übergestreift und sich in den Leinensessel an die
Terrassentür gesetzt. Es war ihr Platz zum Nachdenken, ihr Platz zum Traurigsein. In ihrem Schoß
lag der geöffnete Brief von Mr. Yamamoto. Sie hatte Roxanne angerufen. Nur die Mailbox war
angesprungen, trotzdem tat es Annika gut, die ruhige Stimme ihrer Freundin zu hören. Was würde
Roxanne jetzt tun? Mizi doch noch in den Katzenkorb packen und ihren Eltern zum Flughafen
bringen? Patricks Rosenstrauß zum Fenster hinauswerfen? Oder darüber nachdenken, was
eigentlich passiert war?
Gut, sie dachte nach. Grübelte. Natürlich war sie mit den falschen Erwartungen in das
Restaurant gegangen. Patrick hatte ihr keinen Antrag machen wollen, das war Annika inzwischen
klar geworden. Die Sache mit dem Ring war ein Missverständnis gewesen. Aber etwas hatte sich
auf Mallorca zwischen ihm und seiner Ex Jenny abgespielt. Patrick konnte sich nicht verstellen, so
gut kannte sie ihn inzwischen, und was auch immer da gelaufen war, es war ihm wahnsinnig
peinlich. Aber er hatte nicht mit Jenny geschlafen. Das klang nach Roxanne, ruhig und vernünftig,
sie würde das jetzt sagen. Weil Patrick sich nämlich – eben – nicht verstellen konnte. Er konnte
sie nicht anlügen, nicht bei so einer wichtigen Sache, nicht mitten in so einem Streit.
Ich will dich. Für immer. Das war Patricks Stimme. Wie verzweifelt er geklungen hatte. Und sie
hatte ihn einfach stehen lassen. Sie hatte ihm nicht zugehört, hatte ihrem Glück den Rücken
zugedreht. Mr. Yamamoto hatte Recht: Carpe diem, auch wenn es Nacht war! Annika sprang so
abrupt auf, dass Mizi am Fenster zusammenzuckte.
„Du kannst nichts dafür“, sagte Annika und strich über das weiche Katzenfell. Mizi schnurrte
zufrieden, dann drehte sie ihren kleinen klugen Kopf zu Annika.
„Jetzt bin ich am Zug, was?“, flüsterte Annika. Mizi miaute leise, wahrscheinlich wollte sie
Entenbrustfilets als Mitternachts-Snack oder einfach weiter gestreichelt werden. Doch vielleicht
wollte sie auch, dass Patrick wieder zurückkam.
Der Fahrradschlüssel lag auf der Ablage im Flur. Mit ihrem Rennrad war sie schneller als jedes
Taxi oder die BVG, bei jedem Wetter.
„Wart nicht auf mich“, rief sie Mizi zu, dann rannte Annika so schnell sie konnte die Treppe
hinunter.
10. KAPITEL
Patrick saß auf dem Ledersessel, den er von seinem Großvater geerbt hatte. Wenigstens auf ein
paar Dinge im Leben konnte er sich verlassen. Er strich über das Leder, mit der anderen Hand
setzte er vorsichtig das Whiskyglas ab. Jan hatte ihm eine Flasche alten Glenfiddich auf das
Buffet gestellt, mit einem Zettel „Gruß aus Schottland von Melanie und Jan“.
Patrick nahm den nächsten Schluck. Der Whisky schmeckte wunderbar rauchig. Er würde die
Flasche leer machen, ganz langsam wegdämmern aus dieser verdammten Wirklichkeit. Was um
Himmels Willen hatte ihn nur geritten, er hatte selber alles verbockt. Patrick hieb sich mit der
Faust an die Stirn. Wie konnte er nur die leere Ringschatulle eines Vierkaräters von Tiffany‘s mit
sich herumtragen! Annika musste doch gedacht haben, dass er ihr einen Antrag machen …
„Ich verdammter Idiot.“ Und er hätte schon lange mit ihr über seine finanzielle Lage reden
sollen. Spätestens an dem Abend im Pokerclub. Sie hätte ihn doch sicher verstanden, auch wenn
alle dachten, Piloten haben Geld. Er ärgerte sich über seine falsche Eitelkeit.
Draußen quietschten Reifen, ein Hund bellte. Patrick sah durchs offene Fenster in den
Vollmond. Er war schön. Annika war schön. Patrick starrte in das weiße Licht. Sie war weg, er
hatte die Frau seines Lebens für immer verloren.
„Ich war einfach zu blöd.“ Patrick nahm einen großen Schluck, nur schmeckte der Whisky
plötzlich bitter.
Es klingelte. Patrick sah zur Tür. Wahrscheinlich wollte Jan die Lampe im Flur noch
abmontieren, die er vergessen hatte.
Wieder klingelte es. Patrick sah auf das Glas in seiner Hand, so schnell konnte er heute nicht
mehr denken. Hatte Jan nicht noch den Schlüssel?
Dann klingelte es Sturm. „Verdammt!“ Patrick erhob sich, ging zu Wohnungstür und drückte
den Türöffner. Das Mondlicht spiegelte sich auf dem leeren Parkettboden.
Es klopfte heftig an der Tür. Also war es doch Jan, der den Schlüssel vergessen hatte. Patrick
riss die Tür auf. „Mann!“, rief er. „Hat dir Melanie schon so den Kopf verdreht, dass …“
Im ersten Moment sah er nur eine tropfnasse Gestalt in einem grauen Jogginganzug. Dann
erkannte er Annika. Wirklich. Sie war so schön wie nie zuvor, ihre Lippen, ihre schlanke Gestalt,
wie sie die Fäuste aneinanderpresste, als ob ihr furchtbar kalt wäre. Patrick sah an ihr herunter,
und dabei fiel ihm sein offenes Hemd ein, die gelockerte Krawatte und die halbleere
Whiskyflasche, die er mit sich herumtrug. Er wich zurück in die Wohnung. Ihrem Blick konnte er
nicht ausweichen, diese blaugrünen Augen glänzten so seltsam, die hellroten Lippen zitterten.
„Annika?“ Er lief rückwärts durch den mondbeschienenen Flur, die leuchtende Fee vor ihm
schwebte auf ihn zu.
„Patrick? Hey, alles in Ordnung?“
Er wollte etwas sagen, wusste aber nicht was. Vielleicht war er ja sturzbetrunken eingeschlafen
und träumte nur, dass Annika hier vor ihm stand. „Annika?“, sagte er noch einmal.
Er brauchte Luft, einen klaren Kopf. Draußen hatte es aufgehört zu regnen. Dafür war Annika
klatschnass. Der Anzug klebte an ihr wie eine zweite Haut und zeichnete jede Rundung, jede
Erhebung ihres wunderschönen Körpers nach. Patrick drehte sich weg von der Erscheinung und
riss das Fenster auf. Der Mond kam hinter den Wolken hervor, die Nachtluft kühlte seine Wangen.
Was sollte er ihr jetzt noch sagen? Sie brauchte sich ja nur in der Wohnung umzuschauen, dann
sah sie es selbst: Er war ein bankrotter Pilot, der nicht mehr besaß als die Flugerlaubnis für
Passagierflüge. Und einen alten Ledersessel. Und eine halbleere Whiskyflasche. Patrick fühlte
sich erbärmlich. Das war nicht das Leben, das er sich für Annika wünschte. Sie war viel zu
lebensfroh für eine leere Wohnung und immer selber kochen müssen.
Eine zarte Berührung streifte seinen Rücken, zwei Arme schoben sich unter seinen Achseln
hindurch. Wärme durchströmte seinen Körper. Annikas Wärme. „Patrick, ich wusste ja gar nicht
…“
Er griff ihre Hände. Plötzlich verschwamm der Mond. Patrick liefen Tränen über die Wangen.
Aber er schämte sich nicht dafür. Wichtig war nur, dass die Frau, die er liebte, zu ihm
zurückgekehrt war. Er schluckte. „Du siehst ja, Jan hat alles mitgenommen. Mir gehört wirklich
nicht viel.“
„Mann, das ist mir gar nicht in den Sinn gekommen, dass du Geldsorgen haben könntest“,
flüsterte Annika in seinem Rücken.
„Ich habe wirklich mein ganzes Geld in die Ausbildung investiert. Jeden Cent. Nur so habe ich
es geschafft. Fliegen bedeutet mir so viel. Ich habe meinen Traum verwirklicht.“
„Das ist ganz bestimmt wichtiger als Urlaub in der Karibik und jeden Abend Sushi.“ Ihre Hände
streichelten seine Brust. „Ich habe auch einen Traum“, flüsterte Annika. „Ich möchte mit dir
glücklich werden.“
Patrick drehte sich zu ihr. Sein Herz klopfte so laut, dass er dachte, die ganze Wohnung müsste
davon widerhallen. Annikas Augen waren klar, in ihnen spiegelte sich der helle Mond. „Wirklich?
Kannst du mit einem Mann glücklich werden, der die halbe Zeit des Jahres in der Luft ist?“
Sie nickte, er roch den Regen in ihrem nassen Haar. „Wenn du wirklich eine Frau willst, die
sich das halbe Jahr auf Modemessen und in Flagship-Stores herumtreibt.“ Sie lächelte ihn fast
schüchtern an.
„Wir haben immer noch die Nächte.“
„Und manchmal ein Wochenende. Oder auch zwei.“
Sie grinste, und er küsste sie, weil er diese wunderbaren Lippen einfach küssen musste. Sie
legte ihre Arme um seinen Hals und zog ihn dicht zu sich. Er hielt ihren schlanken Körper fest,
sank langsam auf das Parkett, legte sich auf den Rücken und zog Annika auf sich. Mondlicht
glitzerte in den Regentropfen in ihrem Haar. Er streifte ihr die nassen Kleider vom Körper, sie
löste seine Krawatte, das Hemd, den Gürtel seiner Hose.
Die Kleider verstreuten sich um sie herum. Mit ihren langen Beinen umklammerte Annika seine
Hüften, Patrick umfasste ihren Körper fester als je zuvor. Sie bewegten sich langsam in einen ganz
eigenen Rhythmus. „Ich lass dich nie wieder fort von mir“, flüsterte er Annika heiser ins Ohr.
Dann liebten sie sich im weißen Licht, bis der Mond unterging.
EPILOG
„Ohne dich hätte ich mich das alles nie getraut.“ Patrick legte den Arm um Annikas Schultern und
ging mit ihr über den weißen Sand. Alles war so einfach, wenn man nur wollte.
Vor vier Stunden hatte er noch einen Ferienflieger in die Karibik geflogen. Sie winkten Melanie
und Jan, die am Strand vor ihnen entlang liefen, in der weißen Gischt des Meers.
Patrick schloss die Augen.
Jan hatte sofort Ja gesagt, als er ihm seine verrückte Idee unterbreitet hatte. Jan und Melanie
waren genauso unzufrieden mit dem Flugplan wie er und Annika. Deswegen hatten sie das Ding zu
viert geplant.
„Du übernimmst wieder.“ Patrick schaltete den Autopilot aus und griff zum Steuer. Alle
Anzeigen im Cockpit waren im normalen Bereich. „Bearings Funkleitstelle Azoren. Roger“, sagte
er mit Unschuldsmiene. Das war das Zeichen für Jan.
„Roger.“ Jan schaltete die Steuerung um und übernahm.
Patrick ging in die erste Klasse, wo Annika auf B4 saß. Sie war schon kreidebleich. Er lächelte
die Passagiere in den Reihen an und tat so, als ob er zu der Economy weitergehen wollte. Der
Mann auf B5 mit der blauen Krawatte kam ihm irgendwie bekannt vor. Melanie saß ein paar
Plätze hinter Annika, sie flog als vom Dienst befreites Crew-Mitglied mit.
„Wir sind an den Azoren vorbei“, flüsterte Patrick ihr zu.
„Der Frau ist schlecht!“, rief der Herr auf B5 durch die Cabin. Melanie und Patrick stürzten
sofort herbei.
Annika litt wirklich. Sie war blass wie damals auf dem Barcelona-Flug und stammelte kaum
verständliche Sätze. Mit fahrigen Bewegungen stieß sie dem Nachbarn den Martini vom Tablett
und kippte ihn sich über den Rock. „Ich … ich krieg keine Luft mehr.“ Mit den halb
geschlossenen Augen sah sie wirklich aus wie im Delirium. Hätte Patrick nicht Melanies
Mundwinkel amüsiert zucken sehen, ihm wäre angst und bange geworden.
„Herr Kapitän.“ Melanies Stimme war schrill und hoch wie nie im echten Leben. „Wir müssen
sie sofort hinlegen. Gut, dass die erste Reihe frei ist.“
„Ich bringe den Notfall-Koffer.“ Patrick zog am Cockpit in dem Staufach die
Sicherungskapseln ab.
Die Passagiere der ersten Klasse beugten sich über die Sitzlehnen, weiter hinten waren sie sogar
aufgestanden, um besser sehen zu können, was da vorne vor sich ging.
„Es besteht kein Grund zur Sorge, meine Damen und Herren.“ Jetzt verströmte Melanie wieder
Kompetenz und professionelle Gelassenheit. „Setzen Sie sich bitte. Das dient Ihrer eigenen
Sicherheit. Die Passagierin leidet an Flugangst. Ich bin für solche Situationen ausgebildet.“
Patrick gab das vereinbarte Zeichen mit der flachen Hand.
Annika röchelte, dann kippte ihr Kopf zur Seite. Melanie legte ihr einen Eispack auf die Stirn,
bevor sie überzeugend Pulsfühlen und Blutdruckmessen praktizierte. Auf die Passagiere musste es
wie eine ernsthafte Untersuchung wirken.
Mit ernster Miene winkte sie Patrick zu sich. „Ich fürchte, es ist doch schlimmer als ich
dachte.“
„Sind Sie ganz sicher?“, fragte Patrick.
„Das Wohl der Passagiere steht bei HolidayJet an oberster Stelle.“ Melanie nickte den
Sitzreihen der Premium Class zu.
Patrick rang nicht lange mit der gewichtigen Entscheidung. „Code Blue, Mel.“
„Code Blue?“ Der Mann mit der blauen Krawatte war aufgestanden und stemmte die Arme in
die Seiten. „Das dürfen Sie doch gar nicht anordnen!“
„Wie bitte?“ Plötzlich erkannte Patrick den Mann. Er war ein Mitarbeiter von Quality Control.
Mist, sie hatten einen Prüfer an Bord. „Und ob ich das darf! Die Gesundheit unserer Passagiere hat
absoluten Vorrang. Melanie, informieren Sie die Crew. Ich bleibe solange bei der Passagierin.“
Annika öffnete kurz die Augen, ansonsten verriet sie sich mit keiner Bewegung.
„Aber die Regeln …“
Patrick schnitt dem Mann das Wort ab. „… bestimmt in der Luft der Kapitän. Und der Kapitän
bin ich, und niemand sonst.“
Annika stöhnte gequält auf. „Oh Gott … mir ist so schlecht.“
„Sie sehen doch, wie die Frau leidet.“ Patricks Stimme war hart geworden.
Der Mann schüttelte den Kopf und sackte auf B5 zurück.
Melanie kam mit schnellen Schritten zurück. „Alles okay. Jan meldet gerade Code Blue nach
Berlin.“
Patrick ging ins Cockpit und schloss die Tür fest hinter sich.
Jan hob den Daumen. „Der Treibstoff reicht nicht mehr bis Florida“, sagte er augenzwinkernd.
„Wir haben richtig kalkuliert.“
Patrick griff zum Mikrofon und machte seine Durchsage: „Meine Damen und Herren, hier
spricht Ihr Kapitän. Wegen eines bedauerlichen medizinischen Notfalls werden wir in Saint
Barthélemy zwischenlanden. Es besteht kein Grund zur Besorgnis. Wenn Sie Fragen haben, hilft
die Crew Ihnen gerne weiter.“
Über den Notkanal hatte er den Tower des winzigen Inselflughafens gerufen. Die Landebahn
war lang genug für eine HolidayJet – Maschine, doch die Kerosinvorräte auf der kleinen Insel
waren immer viel zu knapp. Jan und er hatten das vorher sehr genau überprüft.
Annika stieg mit Patrick über eine Kokosnuss im Sand. Dort, wo das Meer in kleinen Wellen
gegen den Strand schlug, saßen ein paar Möwen und blickten starr in die Ferne, ohne sich von den
Menschen ablenken zu lassen.
Endlich hatten sie Zeit füreinander. „Und es dauert wirklich zwei Tage, bis die das
Flugzeugbenzin mit dem Schiff hierherschaffen können?“
„Hm.“ Patrick rollte die Kokosnuss mit seinem nackten Zeh im Sand hin und her.
„War es deine Idee?“
„Jan ist ziemlich zeitgleich draufgekommen“, sagte Patrick und ließ die Nuss vor Annikas Füße
rollen.
Weiter vorne hatten sich Jan und Melanie in den Schatten der Palmen gelegt. Der Karibikwind
spielte in Patricks Locken, und Annika wünschte sich, dass sie immer auf dieser Insel bleiben
könnten. Na ja, zumindest bis die nächste Modemesse startete. Und die neue Kollektion von
Indisha bei Sternthaler vorgestellt wurde. Dann musste sie wieder zuhause in Berlin sein. Mizi
konnte ja auch nicht ewig bei Roxanne auf sie warten.
Die Möwen krächzten, und Annika versuchte zu erkennen, was die Vögel da am Horizont
beobachteten.
In diesem Moment hörte sie etwas klacken. Das fatale Geräusch einer Ringschatulle. Sie drehte
sich um. Der Diamant glitzerte im Sonnenlicht.
„Annika, willst du mich heiraten?“, fragte Patrick mit feierlichem Ton. Er sah so süß und
schüchtern aus, trotz der Badehose und der Kokosnuss, auf der er ihr den Ring darbot. „Und frag
bitte nicht, woher ich das Geld …“
„Ach, Patrick.“ Sie küsste ihn zärtlich. Dann fiel sie ihm um den Hals. „Ja. Ja, ich will!“
Annika rief es so laut, dass sogar die Möwen ihre Köpfe drehten.
– ENDE –